Zwischen Erde und Mond schwebt die Raumstation, die als Forschungslaboratorium für gefährliche Experimente mit dem Atom...
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Zwischen Erde und Mond schwebt die Raumstation, die als Forschungslaboratorium für gefährliche Experimente mit dem Atom dient. Diese Station mit Energie und Verpflegung zu versorgen ist die Aufgabe der Mondstadt. Aber es gibt Mächte auf der Erde, die eine Lösung der Geheimnisse des Atoms nicht wünschen. Deshalb versuchen sie, dies zu verhindern und greifen zu dem ihrer Meinung nach einzig wirksamen Mittel – zur Sabotage. Den ersten Schlag bekommt Joe Kenmore zu spüren, als er und Dr. Moreau mit ihrem Mond-Jeep zur Kuppelstadt zurückfahren. Plötzlich sehen sie, wie eine gewaltige Steinlawine von einer hohen Felsenklippe auf sie herabsaust. Nur eine Explosion kann sie verursacht haben. Sie ist für Joe Kenmore der Auftakt zu einer Serie gefährlicher Abenteuer.
Ullstein Buch Nr. 3251 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: CITY ON THE MOON Aus dem Amerikanischen von Hans Blume
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1957 by Murray Leinster Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03251 6
Murray Leinster
Die Mondstadt SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Die Falle Innerhalb des hermetisch abgedichteten Jeeps hörte man den Motor brummen, aber das war auch das einzige Geräusch weit und breit. Die riesigen Stahlräder rollten über Stein, und innerhalb des Jeeps war das Gerassel zu vernehmen. Draußen herrschte das große Schweigen. Das Riesenfahrzeug bewegte sich trotz seiner klirrenden Ladung mit der Geräuschlosigkeit eines Phantoms durch die Landschaft. Es konnte ja auch außerhalb des luftdicht abgeschlossenen Jeepgehäuses kein Geräusch geben. Es befand sich auf dem Mond, in einer Welt ohne Luft. Das Fahrzeug kroch auf sieben Meter hohen spindeldürren Rädern zwischen Bergen über ein phantastisches Gelände. Die Zeit war Nacht, und die Erde hing rund wie ein Ball am Firmament, umgeben von zahllosen, strahlenden Sternen. Erdlicht schien, Schatten werfend, hernieder, und der Mond-Jeep glitzerte schwach, während er zwischen Berggipfeln und dunklen Abgründen in einem bösartigen Alptraum dahinrollte, der zur Wirklichkeit geworden war. Das war die Mondoberfläche, Szenerie eines früheren Bombardements, bei dem Meteore und Felsen vom Himmel gefallen waren und das Antlitz einer Welt zerfurcht hatten, die schon tot war. Hier herrschte nichts als Verwüstung, Chaos und nacktes Entsetzen. Nur im Inneren des Jeeps spendeten die laufenden Motoren eine Art Trost, und das Klirren und Klappern der
Räder verursachte ein Gefühl der Sicherheit. Natürlich war alles befremdend. Einmal wog alles nur den sechsten Teil des Gewichts auf der Erde. Joe Kenmore, der den Jeep steuerte, würde hier statt seiner 180 Pfund auf einer Waage nur 30 Pfund gewogen haben – wenn er eine gehabt hätte. Er sagte über die Schulter: »Merkwürdig, daß man sich hier so sicher fühlt – sicherer als in der Stadt. Wirklich eine Erholung! Man sollte tatsächlich ab und zu einmal in die Einsamkeit gehen.« Das letzte war reine Ironie. Die Stadt bestand aus drei Staubhaufen und lag einige 70 qualvolle Kilometer hinter den Bergen. Mondstaub, den man über aufgeblasene Halbballons geschaufelt hatte, hielt diese riesigen Luftblasen allein durch sein Gewicht fest. Derselbe Mondstaub isolierte die Halbkugeln gegen die unglaubliche Kälte der zwei Wochen dauernden Mondnacht und bewahrte sie vor der Schmelzofenhitze, die in den folgenden zwei Wochen der glühenden Sonne entströmte und die weder von Winden noch von Wolken gemildert wurde. 150 Männer lebten, arbeiteten und stritten sich in der Stadt. Außerdem gab es noch die Radarstationen, die die Landungen der Lastraketen auf ihren Schirmen verzeichneten, mit denen der Nachschub für die Stadt von der Erde kam. Ferner waren da noch die Abschußrampen für die Fernlenkgeschosse der Wehrmacht, die stets als erste auf jedem Stern angelegt wurden, der nicht von Menschenhand stammte. Ihre Lage war »Geheime Kommandosache«. Und weit jenseits des Monds, in der
Leere des Weltraums, schwebte das Raumlaboratorium. Das war der Anlaß für die Anlage der Zivilistenstadt, für das Vorhandensein des Mond-Jeeps, für die Anwesenheit von Kenmore und Moreau und vor allem für die verrückten Geschehnisse innerhalb und außerhalb der Stadt. Plötzlich meinte Moreau: »Aber ich fühle mich nicht sicher. Ich habe ein ganz anderes Gefühl und mir ist gar nicht wohl dabei. Es gibt eigentlich gar keinen Anlaß dafür, aber ich muß an meine Sünden denken. Ein sehr schlechtes Zeichen!« Kenmore runzelte die Stirn. Manchmal hatte Moreau recht. Er war Mitglied der französischen Gruppe in der Stadt – die international besetzt werden mußte, wenn sie überhaupt bestehen wollte. Die amerikanischen Raketenabschußrampen auf dem Mond hatten ein geradezu hysterisches Mißtrauen bei den anderen Nationen hervorgerufen. Von diesen Rampen aus konnte jeder Punkt der Erde erreicht werden, und niemand konnte die leiseste Hoffnung hegen, diese Fernlenkgeschosse aus ihrer Bahn zu bringen oder vorher abzuschießen. Diese amerikanischen Abschußrampen sorgten für Frieden auf Erden, konnten aber kaum »Wohlgefallen unter den Menschen« hervorbringen. Die Ereignisse in der Zivilistenstadt bewiesen, daß die internationale Besetzung des Projekts Raumlaboratorium die Spannung keineswegs beseitigt hatte. »Ich überlege gerade«, sagte Moreau trocken, »daß nun schon vier Jeeps von Fahrten wie die unserige niemals zur Stadt zurückgekommen sind. Einer ist bestimmt einem
Sabotageakt zum Opfer gefallen, den sich einer unserer Mitbürger in der Stadt ausgedacht hat. Der Ausfall des Motors bei dem zweiten war zumindest verdachterregend. Und die Spuren der beiden anderen führten in Steinlawinen hinein – ziemlich unwahrscheinlich, weil ihre Routen durch vorhergehende Sprengungen gesichert worden waren. Ich halte das nicht für Zufälle und deswegen bin ich unruhig. Ich weiß im Moment nur nicht, warum.« Joe Kenmore knurrte etwas, das ein »Ja« sein konnte, und fuhr weiter. Das Steuern eines Mond-Jeeps erforderte eigentlich vier oder fünf Hände, einen sechsten Sinn, prophetische Begabung und dreidimensionales Sehen. Mond-Jeeps waren exotisch aussehende Fahrzeuge, die man aus den Sattelschleppern der Erde für die luftleere Kälte des Mondes entwickelt hatte. Jedes ihrer vier Räder drehte sich am Ende eines Stiels; jedes konnte für sich gelenkt und über Hindernisse geschoben werden. Die röhrenähnliche Kabine hing zehn Meter über dem Boden; sie enthielt eine isolierte Frachtabteilung und eine große Ansammlung von Geräten. Als der Jeep so zwischen sinnlos aufgeworfenen Steinmassen, zwischen Kratern und Schutt umherkroch, glich er einem silberglänzenden Insekt auf Rädern. Diesmal war seine Ladung eine unbemannte Lastrakete, die hinter den Bergen heruntergekommen war und die der Jeep nun unter der Kabine zwischen den Rädern aufgehängt zur Zivilistenstadt brachte. »Wir sollten auf der rechten Fährte sein«, sagte Kenmore. »Wir fahren ja in unserer Spur zurück.« Der eigenartig verwaschene Abdruck der Jeepräder war
in den Frontlichtern klar zu sehen. Mondstaub war natürlich überall. Die heftigen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht hatten die Steinoberfläche überall gespalten und gelockert und dann die Bruchstücke zermahlen, bis jede ebene Stelle mit einer dicken, tiefen Staubschicht so fein wie Talkumpuder bedeckt war. Am Fuß mancher Abhänge gab es sogar Staubseen – und ein Staubsee war eine Falle für Menschen und Maschinen. Ein Jeep würde darin wie in Schwemmsand versinken, ohne Hoffnung, ihn wieder herauszubekommen. Jede Spur war wie für die Ewigkeit; kein Wind beseitigte sie. Der Mond-Jeep wackelte weiter, unter einem ungeheuren gezackten Monolith und um einen Abgrund herum, der unabsehbar tief war. Die weitere Spur war vollkommen sichtbar. Sie war nach Fotos ausgesucht, die aus dem Weltraum gemacht worden waren, und da der Jeep diese Route bereits einmal sicher gefahren war, sollte sie auch für die Rückfahrt ohne Gefahr sein. »Ich hege die freundlichsten Gefühle für jedermann in der Stadt«, sagte Moreau nachdenklich. »Und trotzdem fürchte ich, daß jemand mich umbringen könnte, nur weil Politik im Spiel ist. Hast du eigentlich nicht schon Ähnliches empfunden?« Kenmore knurrte wieder vor sich hin. In der Bahn des Jeeps lag eine nadelförmige Steinmasse – vor hundert Millionen Jahren hingekracht, aber noch nicht vom Wetter angenagt. Er brachte den Jeep vorsichtig an den gestürzten Giganten heran. Er mußte ihn hinüberbringen – ein Rad ums andere mußte gehoben und vorsichtig auf der anderen
Seite gesenkt werden. Der Jeep hielt in einem Winkel von 45 Grad vor der Barriere. Direkt hinter diesem Hindernis erhob sich ein ungeheuerer Steinwall; ungefähr tausend Meter hoch glühte er im Erdlicht. Glühte zum Teil; oben am Grat, wo das Licht nicht hinkam, waren Schatten von tiefster Schwärze. Die frühere Spur des Jeeps führte an die Klippe heran und drehte dann nach rechts ab, parallel zu ihr. Mit vor Konzentration zugekniffenen Augen begann Kenmore das rechte Vorderrad des Jeeps zu heben. In diesem Augenblick zuckte ein unerträglich heller, blendend weißer Blitz auf, heller als das Erdlicht, als die Erde selbst, heller als die zahlreichen Scheinwerfer des Jeeps. Für eine Sekunde war die ganze Mondlandschaft, dieses zerrissene, verworrene, unglaublich bösartig aussehende Gelände um den Jeep taghell erleuchtet. Dann fiel wieder nächtliches Dunkel ein. Kein Laut war zu hören, nur zitterte der Jeep von dem Stoß, den die Räder übertrugen. Kenmore schaltete, und die Jeepräder, die noch nicht gehoben waren, drehten sich wie irrsinnig. Das Fahrzeug schleuderte im Rückwärtsgang hin und her; dann faßte auch das vierte Rad Boden und der Jeep machte einen Sprung nach rückwärts. Er drehte sich auf der Stelle wie auf einem Zapfen und raste davon. »Du hattest recht«, sagte Kenmore. Der Jeep fuhr los. Seine Räder klirrten und rumpelten über den staubbedeckten Stein; seine Frontlichter fraßen sich ins Dunkel. Diese rasende Fahrt glich einem bösen Traum. Bei einem Sechstel Anziehungskraft fällt kein
Gegenstand schnell. Aufwärtsbewegungen waren abrupt, Landungen jedoch sanft; auf dem Mond fällt ein Gegenstand weniger als ein Meter in der ersten Sekunde im freien Fall. Diese Flucht war ein Alptraum. »Was ...!« »Sieh nach hinten!« schnitt Kenmore ihm den Satz ab. Moreau stürzte zum Ausguck, starrte hinaus und vergaß, Luft zu holen: der tausend Meter hohe, vom Licht angestrahlte Bergwall zerbarst vor seinem Auge. Er bauschte sich, neigte sich. Überall klafften Spalten und Risse. Gigantische Steinmassen gerieten in Bewegung, was um so schreckenerregender war, als es auf dem Mond einen solchen Aufruhr gar nicht geben durfte. Es sah so aus, als fiele die Felswand weniger in sich zusammen als nach vorn. Sie erhob sich über dem fliehenden Jeep und verdeckte die Sterne. Dann schlug sie wie die Pranke eines riesigen Ungeheuers zu. Außer der rasenden Flucht schien hinter allem eine finstere Absicht zu stehen. Die Steinmassen kamen langsam wie an Gummiseilen herab. Auf dem Mond fallen Gegenstände ungefähr 80 Zentimeter in der ersten Fallsekunde, ungefähr 1,50 Meter in der nächsten und etwas mehr als drei Meter in der dritten. Die fliegenden Bruchstücke der Felswand schienen bisweilen über dem dahinrasenden Fahrzeug zu schweben; aber sie kamen herunter und ihre Masse war ungeheuer. Irgendwie brachte es Kenmore fertig, durch einen Hebeldruck die Stahlklappen über den Ausguckfenstern, ausgenommen die vorderen, zu schließen. Sie sollten eigentlich nur Schutz vor der
Bratofenhitze an Mondtagen geben, aber vielleicht bewahrten sie jetzt das Plastikglas der Fenster vor dem Zerspringen. Etwas schlug gegen das Rad; etwas Unglaubliches streifte die Rückwand. Steine, Felsen flogen darüber und ließen sich auf dem Boden nieder – fast lässig. Dort war der Aufprall so gewaltig, daß sie zerbrachen. Der Jeep sprang zur Seite und vermied gerade noch einen haushohen Felsen, der 30 Meter voraus landete. Er war zu groß, um nochmals hochzukommen, spröde wie er war in dieser absoluten Gefrierpunktskälte. Die Masse löste sich im Moment des Falls auf und Sekunden später rollte der Jeep über die Bruchstücke. Dann erlosch das karge Erdlicht – Kenmore fluchte, als ein Felsen, größer als der Jeep, gerade vor seiner Nase herunterkam und in Teile zerfallend vorwärtsrollte. Das Fahrzeug wurde wie zwischen zwei Steinwällen hin und her geschleudert. Das Krachen der Steine auf dem Jeepdach löschte alles Denkvermögen aus. Kenmore bremste, sein Gesicht eine einzige Grimasse. Dann fuhr er langsam hinter den rollenden Felsen her. Und plötzlich ließ das Trommeln der Steinsplitter nach. Es hörte beinahe auf – noch ein fürchterlicher Krach wie von einem Geschoß. Danach war nur noch das scharfe Aufschlagen von faustgroßen Kieseln zu hören. Schweigen! In der plötzlichen Stille dröhnte eins der Räder auf; es war von dem letzten Felsen getroffen worden. Kenmore horchte auf, als er den üblen Laut vernahm. Eine Reparatur war in jedem Fall ein Ding der Unmöglichkeit. Schließlich hielt er
den Jeep an.
Notlandung Moreau kroch aus der Ecke, in die er durch die Sprünge des Jeeps geworfen worden war, und starrte ängstlich auf das Instrumentenbrett; Kenmore tat das gleiche. Hinten im Jeep knackte etwas; die Atemapparatur arbeitete ächzend. Aber der Luftdruckanzeiger rührte sich nicht von der Stelle; es war unglaublich, aber der Jeep verlor keine Luft nach draußen. Die Plastik-Glaswolle-Schicht zwischen der inneren und äußeren Metallschale hatte alle Risse selbsttätig abgedichtet, die in den Außenplatten entstanden sein mußten. »Diese Sprengladung ist zu früh gezündet worden«, sagte Kenmore. »Wenn wir ein Rad über den Stein hinübergehabt hätten, wären wir jetzt unter Steinen begraben.« Moreau schluckte schwer. »Ein Rad ist verbogen«, stellte er mit dünner Stimme fest. »Glaubst du, daß wir damit zur Stadt zurückkommen?« »Hat keinen Wert nachzusehen«, erwiderte Kenmore. »Wir fahren so lange, bis es zusammenbricht – wenn es das tut. Wenn es abtrudelt, sind wir verloren.« Moreau schluckte wieder. »Das könnte ein Meteor gewesen sein. Er könnte den Bergrücken getroffen haben ...« »Quatsch«, sagte Kenmore wütend. »Verdampftes Eisen gibt keine weiße Explosionsflamme. Das war Magnesiumpulver in flüssigem Sauerstoff; wir hätten das
genauso machen können.« Er hatte den Explosivstoff gemeint, der am sichersten mit Raketen transportiert werden konnte – er ist völlig harmlos, solange die Bestandteile nicht gemischt werden – und der zum üblichen Nachschub für die Zivilistenstadt gehörte. Sauerstoff brauchte man natürlich zum Atmen. Magnesium gehörte zur Ausrüstung der Jeeps; falls sie irgendwo liegenblieben, konnte es von Düsenjägern über einige Quadratkilometer verteilt werden, so daß die Position des gestrandeten Jeeps aus dem Raum ausgemacht werden konnte. Es war zwar noch nicht gelungen, einen damit zu retten, solange die Mannschaft noch lebte; immerhin konnte man noch hoffen. »Dann war es also ...« Moreau fluchte lange und ausdrucksvoll. Und angesichts der Tatsache, daß jemand einen Berg in die Luft gesprengt hatte, um diesen Jeep zu zerstören und seine Besatzung zu morden, war das wohl gerechtfertigt. »Das sollte uns ins Jenseits befördern, bestimmt«, sagte Kenmore. »Es würde mich interessieren, herauszubekommen, wer außer uns sich hier in einem Jeep herumtreibt. Das sollten dann unsere ›Möchtegern-Mörder‹ sein.« Er zog eine Schublade heraus und entnahm ihr die weiträumigen Weltraumfotos, die als Übersichtskarten dieses Gebiets der Mondoberfläche dienten. Nach einiger Zeit sagte Moreau vor sich hin: »Natürlich könnten es Gegner der Zivilistenstadt gewesen sein, die nicht in der Stadt leben.«
Kenmore erwiderte nichts. Er befestigte ein Foto an dem Kartenständer, um es gut sehen zu können, und begann, den Jeep aus dieser immer noch unerfreulichen Lage heraus zu lavieren. Der riesenhafte Fels direkt vor ihnen war von seinen eigenen Bruchstücken eingerahmt. Über die kleinsten konnte der Jeep, wenn auch unter Schwierigkeiten, hinüberklettern. Um andere mußte er herumfahren, und über einige mußte er Rad um Rad hinüberstelzen. »Unsere ›Möchtegern-Mörder‹«, sagte Moreau ziemlich unglücklich, »könnten Mitbürger der Stadt sein, die das ganze Projekt mißbilligen, zu dem sie gehören. Oder sie könnten heimlich von der Erde gelandet sein und von einer Basis aus operieren, die sie irgendwie errichtet haben, ohne sich auf den Radarschirmen bemerkbar zu machen. Andererseits behaupten ein paar Leute, daß die Vereinigten Staaten es gar nicht gerne sehen, daß Angehörige anderer Nationen auf dem Mond sind. Sie erzählen, daß eure – äh – Militärs sich entmutigende ›Zufälle‹ ausdenken.« »Du glaubst das doch nicht!« fuhr ihn Kenmore an. »Nein«, gab Moreau zu, »das nicht. Auch glaube ich nicht an eine versteckte Basis unserer Gegner. Aber manche werden dabei bleiben, daß die Vereinigten Staaten das Projekt heimlich sabotieren, zu dem sie andere Länder zugelassen haben. Die Annahme ist verrückt, aber man glaubt daran.« Kenmore brummte vor sich hin. Es bestand eine internationale Spannung auf der Erde, die durch das Mondprojekt beseitigt werden sollte. Etwas über zwanzig
Kulturen hatte die Erde in der Vergangenheit gesehen, erinnerte er sich, und eine jede hatte ihre Krise erlebt und ihr Ende gefunden. China und Babylon, Griechenland und Rom erstanden und vergingen – und sie waren ebensosehr Kulturen wie Nationen gewesen. Zur Zeit war die westliche Kultur mehr auf Maschinenkraft als auf der menschlicher Muskeln errichtet worden; sie hatte sich weiter entwickelt als alle anderen. Mit genug Kraft konnten die Menschen aus der Erde einen Garten machen und die Sterne zu Kolonien. Der Mensch kann das nicht nur, dachte Kenmore, er muß das sogar tun. Andernfalls stirbt seine Kultur ab. Jede Kultur muß sich höher entwickeln oder dahinschwinden! Aber da war nun das Problem der Kraft – ihrer Grundlage. Kohle und Öl waren beschränkt; nur Atomenergie versprach weiteren Fortschritt. Atomenergie hieß aber auch Radioaktivität, und Radioaktivität hieß Gefahr. Schon jetzt hatte sich der Niederschlag aus der Atomzertrümmerung der verhältnismäßig einfachen Reaktoren, die im Gebrauch waren, in der Atmosphäre um das Achtfache vergrößert. Wie sorgfältig man sie auch abgeschirmt hatte, wie peinlich genau man auch den Atomabfall beseitigte, beständig entwichen minimale Dosen von Atomgift in die Luft. Es gab eine Grenze der Kraft, die produziert werden konnte, ohne alles Leben auf der Erde zu zerstören, und diese Grenze war nahezu erreicht. Deshalb hatte man das Weltraumlaboratorium eingerichtet – es war der Versuch, ein neues' Prinzip der
Freimachung von Atomenergie auszuarbeiten. Für die Männer dort war es das gefährlichste Unternehmen, das je von Menschen versucht worden war. Die größten Wissenschaftler der Erde arbeiteten dort fieberhaft inmitten von Atomexplosionen, die schrecklicher waren als Wasserstoffbomben; jeder Herzschlag konnte ihr letzter sein. Sie stellten Untersuchungen an, die zu gefährlich für die Erde, ja für den Mond waren. Das vollzog sich 70 000 km draußen im Raum und der Mond diente als Schutzschild für die Erde gegen das, was jederzeit in dem Laboratorium passieren konnte. Die Zivilistenstadt diente als Nachschubbasis für das Laboratorium und als zeitweilige Erholungsstätte für die Wissenschaftler. Wenn das Laboratorium Erfolg hat, dachte Kenmore, dann wird die Erde zu einem Garten und die Sterne gehören uns. Es war der herrlichste Traum, den Menschen je in Wirklichkeit zu verwandeln suchten. Aber der Mensch ist nun einmal so: auch die Hoffnung hat ihre Feinde. Da bestehen manche Gesellschaftsordnungen nur so lange, wie die Menschen halb verhungert und unwissend sind. Und es gab noch Nationen, die unter einem solchen Regime existieren mußten. Ihre herrschenden Klassen würden davongejagt werden, sobald das Volk wohlhabender würde; ihre Irrlehren vertrugen keine Aufklärung; Fortschritt würde die Regierungen beseitigen. Und für solche Nationen war die Mondstadt und das Raumlaboratorium eine wirkliche Gefahr. Spione und Saboteure konnten also mit jedem Anschlag, der das Mondprojekt in Gefahr oder zum Erliegen brachte,
fabelhafte Belohnungen erwerben. Der Jeep entfernte sich humpelnd immer mehr von der Stelle, wo er erledigt werden sollte. Das Rad würde aushalten oder auch nicht. Für Kenmore und Moreau wäre der Versuch, die Kerle, die die Explosion zuwege gebracht hatten, zu stellen, Narrheit gewesen. Die Schuldigen waren nicht zu fangen; der Jeep war nicht für einen Kampf ausgerüstet. Kein Jeep war das. Merkwürdigerweise waren außerhalb der versteckten militärischen Anlagen alle Waffen verboten. So mußte der rücksichtsloseste Kampf für das höchste Ziel der Menschen mit der Faust ausgetragen werden, dachte Kenmore. Jeeps konnten nur kämpfen, indem sie sich rammten, und die Menschen konnten sich nicht ehrlich bekämpfen, sondern sich nur hinterhältig ermorden. Die Berghänge wichen zur Seite. Das hinkende, dröhnende Fahrzeug kam auf eine weite, offene Ebene hinaus, einen Mondkrater, der sich bis hinter den Horizont ausdehnte. Die Spuren von seiner ersten Fahrt zu der Lastrakete waren im Erdlicht gut zu sehen. Kenmore drehte wieder auf die Bergseite zu. »Sie werden glauben, wir machen einen weiten Umweg, um einem zweiten Hinterhalt zu entgehen«, sagte er höhnisch. »Wir werden ihnen einen Streich spielen – hoffe ich wenigstens. Wir nehmen den direkten Weg, bevor sie sich eine neue Falle ausdenken können. Ich wollte, wir könnten unser Radio benutzen. Mit dem beschädigten Rad ...« Das Rad holperte und dröhnte schrecklich, aber Radio
kam nicht in Frage. Das Fehlen einer Atmosphäre auf dem Mond bedeutete gleichzeitig, daß keine Ionosphäre vorhanden war, die Radiowellen brechen konnte. Radio funktionierte, aber nur auf Sichtweite. Wenn man mit der Erde in Verbindung treten wollte, mußte man Mikrowellen aussenden, um die Erdatmosphäre durchdringen zu können, und mußte über einen 10-Meter-Reflektor verfügen, der sie gebündelt über 400 000 Kilometer Weltraum ausstrahlte. Zivilistenstadt war kümmerliche 70 Kilometer entfernt, aber außer Radioreichweite. Trotzdem suchte Kenmore eine Verbindung herzustellen. Er schaltete den Apparat ein, und sofort war eine blecherne Stimme zu vernehmen. Er zuckte zusammen. Dann hörte er die Worte: »Rufe Zivilistenstadt! Rufe Zivilistenstadt! Wir haben keinen Leitstrahl! Zivilistenstadt, melden!« Moreau sank das Kinn herunter. »Ob unsere Freunde da hinten wohl einen Notruf vortäuschen, um uns zu einer Antwort zu verleiten?«, sagte Kenmore. »Dann könnten sie nämlich einen Richtungsstrahl auf uns einpeilen, und wir wären die Dummen.« Aber die blecherne Stimme ließ nicht nach. Sie rief und rief: »Rufe Zivilistenstadt! Rufe Zivilistenstadt! Wir kommen! Wir müssen landen! Gib uns einen Leitstrahl! Notlandung! Wir müssen einen Leitstrahl haben! Kommen, Kommen!« Das konnte nur die Erdrakete sein – das Passagierschiff, das zweimal im Erdmonat seine Reise machte. Die Rakete
brachte Personal und Nachschub und nahm die zahllosen wissenschaftlichen Berichte mit zurück, die Nebenprodukte des eigentlichen Raumprojekts. Die Erdrakete hatte die Erde vor sechs Tagen verlassen und war zu der Raumplattform hochgeschossen worden, dem künstlichen Erdsatelliten, der der erste Schritt des Menschen in den Weltraum war. Dort hatte sie für den zweiten Abschuß nachgetankt. Etwas über vier Tage lang war sie im freien Fall auf den Mond zugebraust, ohne ihre Rakete zu benutzen. Jetzt jedoch stießen ihre Raketen Flammen aus und das Schiff benötigte einen Leitstrahl für die Landung – denn beinahe alle menschliche Tätigkeit auf dem Mond vollzog sich in völliger Dunkelheit. Kenmore berührte einen Knopf und die Klappen über den Ausguckfenstern rollten zurück. Er und Moreau konnten durch den Beobachtungsschlitz über sich im Dach hinaussehen. Die Sterne und die Erde strahlten furchterregend herein. Sie hatte einen grünlichen Glanz, die leicht verzogenen Konturen der Kontinente waren zu erkennen. Auch nahmen sie eine fast runde Eiskappe an einem Pol wahr. Rund um sie standen die Sterne am Himmel und ihr Licht zuckte in allen Farben. Dicht neben dem Erdrand bewegte sich eine blau-weiße Flamme – Ausstoß einer Rakete. Sie befand sich schon tief im Mondschatten. Sie konnte tausend Kilometer hoch sein, oder vierhundert oder auch einen; sie sah wie ein winziger Komet aus, der zwischen den Sternen einherzog. Kenmore starrte hinauf. Der Punkt, von dem eine schwache Helligkeit ausstrahlte, zog langsam seitwärts. Er mußte in
einem bestimmten Winkel zu der Verbindungslinie zwischen Erde und Mond langsamer werden. Durch Kippen des Schiffes mußte der Pilot die Abdrift zur Mondoberfläche ausgleichen. Die Anziehungskraft des Mondes wirkte auf das Schiff; in diesem Augenblick mußten die gewaltigen Bremsraketen abgefeuert werden, um den Fall vollständig aufzuheben. Dann konnte es sehr, sehr sanft in einer Entfernung von weniger als zwei Kilometer bei den Staubhaufen der Zivilistenstadt landen. Die Bewohner der Stadt sollten diese Rufe aus dem Weltraum längst gehört haben; sie sollten sich schon auf den Nachschub freuen. Einige sollten sich schon ihre Raumanzüge überstreifen, um draußen in der kalten, luftleeren Nacht die Landung beobachten zu können. Vielleicht vollführten sie bereits groteske Willkommenstänze in der geringfügigen Anziehungskraft. Die blecherne Stimme schnappte plötzlich über, als ob dem Sprecher die Nerven durchgegangen wären: »Rufe Zivilistenstadt! Rufe Zivilistenstadt! Hört mal, ihr da unten! Hier ist die Erdrakete! Wir landen! Wir müssen landen! Wir haben drei Passagiere an Bord! Zwei Frauen sind dabei! Gebt uns einen Leitstrahl für die Landung! Antworten! Antworten!« Moreau wurde es unbehaglich. »Kann da einer etwa Sabotage am Leitstrahl verübt haben? Und wieso bringen sie eigentlich Frauen hierher? Ist doch völlig blödsinnig!« Die Stimme des Sprechers wurde mit einem Mal hysterisch. »Ihr Narren«, schrie er wie rasend. »Gebt uns einen Leitstrahl! Wir müssen landen! Zivilistenstadt,
kommen! Wir haben Cecile Ducros an Bord und ein Mädchen namens Arlene Gray –« Joe Kenmore brüllte wie ein Löwe auf. Er schüttelte die Fäuste und drohte zum Himmel hinauf. Da war das Mädchen, das er heiraten wollte, wenn er je wieder auf die Erde zurückkehrte. Sie hieß Arlene Gray und ihr Vater war ein Mitarbeiter des Raumlaboratorium-Projekts. Er gab Vollgas und hetzte den Jeep in wilder Fahrt über den annähernd ebenen Boden des Kraters. Das war natürlich sinnlos; denn Zivilistenstadt war immer noch 70 km weg. Auf so unregelmäßigem Gelände waren 20 Kilometer in der Stunde schon Höchstgeschwindigkeit. Er konnte die Geschwindigkeit vielleicht verdoppeln, wenn er ohne jede Rücksicht drauflos fuhr. Falls es das Rad aushielt! Aber selbst dann konnte er die Stadt erst in zwei Stunden erreichen. Die Rakete mußte aber in zwanzig oder gar nur zehn Minuten landen, wenn nicht noch eher ... Der Mond-Jeep holperte wie verrückt auf einer neuen Route auf die Stadt zu. Er mahlte durch den feinen Staub, der von den Rädern hochgeworfen wurde und langsam wieder zu Boden sank. Sie hörten die Stimme vom Himmel noch dreimal aufgeregt nach einem Leitstrahl rufen. Zuletzt war die Stimme kaum noch zu hören; die Rakete war hinter dem Horizont verschwunden. Der Jeep raste wie ein von Sinnen geratenes Tier weiter. Das Dröhnen, Klopfen und Ächzen der Motoren war kaum zu ertragen im Inneren des Fahrzeugs. Draußen herrschte absolute Stille.
Die verlassene Stadt Der Mond ist eine kleine Welt, aber seine Berge sind hoch. Als der Jeep nun das letzte Hindernis passiert hatte und in Sichtweite der Stadt kam, lag sie tief unter ihm. Das Appenin-Gebirge, das er hinter sich ließ, griff mit steinigen Fingern nach den Sternen, volle 7000 Meter über dem gefrorenen Lavasee des Mare Imbrium. Der Paß, aus dem der Jeep jetzt herausfuhr, lag 5000 Meter höher als die Stadt. Das weite, leicht gewellte Mare schien am Horizont in den Weltraum überzugehen. Ein scheinbar grenzenloses graues Nichts – grau im Erdlicht direkt unter ihnen, allmählich in tiefstes Schwarz übergehend. Aber an der Stelle, wo die Stadt sein sollte, war kein Licht zu sehen. Weit, weit draußen konnten Kenmore und Moreau ein winziges Flämmchen erkennen, aber das war nicht die Stadt. »Ruf die Stadt an«, keuchte Kenmore. »Ich will wissen, ob die Erdrakete sicher gelandet ist.« Moreau rief an. Keine Antwort. Ihr Radio sollte eigentlich bis zur Stadt reichen; er versuchte es wieder und wieder. Nicht eine einzige Antwort. Das Flämmchen weit draußen auf dem Mare hätte vielleicht eine Antwort geben können. Aber es verschwand, als der Jeep sich an die Talfahrt machte. Schweiß trat auf Kenmores Stirn, als das Radio eigensinnig still blieb. Die Stadt selbst konnte er natürlich nicht sehen, da sie ja nur aus drei großen Staubhaufen
bestand, die in dieser Entfernung noch unsichtbar waren. Aber über ihr sollte doch eine Lampe sein, und Scheinwerfer sollten um die gelandete Erdrakete spielen, während ihre Fracht entladen und in die Luftschleusen der Stadt gebracht wurde. Jeeps sollten zu sehen sein, und die Brustscheinwerfer der Leute, die beim Abladen halfen. Nichts, aber auch gar nichts war zu sehen. »Hör mit Rufen auf«, befahl Kenmore böse, als sie den größten Teil des Wegs zwischen Paß und Stadt hinter sich hatten. »Irgend etwas muß passiert sein!« Moreau drehte den Vermittler ab. Der Jeep ratterte den gut markierten Weg hinunter; Räder anderer Jeeps dienten als Wegzeichen. Wer nicht aufpaßte, mußte an manchen Stellen mit einem Sturz von mehreren hundert Metern rechnen. Über einen sich lang hinziehenden, irrsinnig steilen Abhang kam man nur sicher herunter, wenn man zwischen zwei zackigen Monolithen hindurchfuhr, auf deren obersten Spitzen der Mondstaub wie Schnee glitzerte. Dann fuhren sie auf den ebenen, gefrorenen See aus Stein hinaus, über den hinweg Jeepspuren den Weg wiesen. Die 7 Meter hohen Räder des Fahrzeugs rollten unregelmäßig dahin – eins schlug heftig – und Kenmore hatte am Steuer alle Hände nötig. Dann kamen sie an die Staubhaufen der Stadt, und immer noch war kein Licht zu sehen – weder auf der Kuppel, noch an der Luftschleuse. Keine Jeeps standen herum. Völlig verlassen lag sie da. Und keine Erdrakete! Kenmore bremste 80 Meter vor dem tunnelähnlichen
Eingang der Luftschleuse zu der Hauptkuppel. Er schwitzte bei dem Gedanken an Arlene Gray und hätte vor Wut und Angst um sie toben können. Moreau sah es ihm an und versuchte ihn zu beruhigen. »Wenn es wirklich ein Unglück gegeben hätte, wären die Kuppeln in sich zusammengesunken. Sie stehen ja noch.« Tatsächlich – die Kuppeln waren intakt, ihre Umrisse waren unverändert. Mondstaub gleitet leicht ab, und wenn die inneren Luftblasen eingesunken wären, hätte man das sofort gesehen. Trotz seiner Unruhe wegen Arlene mußte sich Kenmore sagen, daß die Zivilistenstadt nicht völlig zerstört war. Er beeilte sich, in seinen Vakuumanzug zu kommen, aber Moreau war schneller. Er klemmte sich in die enge Luftschleuse des Jeeps, die innere Tür schloß sich und die Pumpe begann zu laufen. Kurz darauf hörte Kenmore, wie sich die äußere Tür öffnete. Er warf noch einen Blick hinaus, wo die Scheinwerfer des Jeeps die staubige Seeoberfläche anleuchteten. Moreau erschien, im Licht der vielen Scheinwerfer hatte er mehrere Schatten, die die gleichen eckigen Bewegungen machten. Kenmore kroch in die Luftschleuse. Die Pumpe begann zu laufen, aber ungeduldig wie er war, öffnete er die äußere Tür zu früh, so daß die Luft mit einem Knall ausströmte und sich sofort ins Nichts verflüchtigte. Kenmore kletterte die Strickleiter hinab. Moreaus Stimme – ruhig wie immer – ertönte im Helmtelefon. »Die Tür zur Luftschleuse ist offen. Hier sind viele Fußspuren, alle führen nach draußen.« Für Joe war
nun die schreckliche Einsamkeit, die er im Vakuumanzug auf dem Mond empfand, durch die schreckliche Angst um Arlene noch gesteigert. Zivilistenstadt lag auf der Ebene des Mare Imbrium ungefähr 5 Kilometer vom Fuß des Apennin-Gebirges entfernt. Und der Mond-Apennin ist schon eine Sehenswürdigkeit. In dem sonderbar zurückgeworfenen Erdlicht sahen seine Berge wie riesige Finger aus, die nach dem Himmel griffen. Sie bildeten einen zackigen, hochaufgeworfenen Wall, der sich der sinnlos heiteren Sternenwelt entgegenreckte. Die Erde ließ ihre Strahlen gleichmäßig auf sie und auf den gefrorenen See herniederstrahlen. Das Mare Imbrium lag fast vollkommen flach in ihrem Licht; über ihm breitete sich die dünne Schicht Mondstaub aus. Das Erdlicht erhöhte nur die Einsamkeit eines Menschen in einer Welt, in die er eigentlich nicht hineingehörte. Kenmore kam an die Luftschleuse, und Moreau zeigte ihm die Fußspuren. Sie waren auf dem staubbedeckten Boden klar zu sehen. Es waren viele, zu viele, und alle zeigten nach draußen. Beide traten ein und Moreau drehte das Brustlicht seiner Raumrüstung an. Dann drückte er auf den Knopf und wartete darauf, daß sich die äußere Tür schloß. Nichts geschah. Wortlos zogen sie sie zu. Wieder drückte Moreau auf den Knopf, worauf sich die innere Tür öffnen sollte. Wieder geschah nichts. Kenmore betätigte wütend die Handkurbel. Endlich gab die Tür nach. Sie hörten die Luft ausströmen. Dann betraten sie das Innere der
Doppelschleusen der Kuppel und schlossen die äußere Tür. Sie öffneten die innere Tür – und standen in völliger Dunkelheit. Sie standen in dem mittleren Luftraum der Hauptkuppel und nirgends war Licht außer den kleinen Scheinwerfern an ihren Vakuumanzügen. Es war eigentlich unvorstellbar. Die Luftblase unter dem Staubhaufen war sehr groß. Der Boden war natürlich eben. Der Luftraum hatte die Gestalt eines halben Globus, hatte einen Durchmesser von hundert Metern und war ca. fünfzig Meter hoch. Er war kreisförmig, und rundherum am Rande waren die Abteilungen angelegt, in denen die Büros, Laboratorien und Spielzimmer untergebracht waren. In der Mitte war ein kleiner Wintergarten mit Erdpflanzen angelegt, die die Luft frisch hielten, die Feuchtigkeit regulierten und den Kohlenstoff aufarbeiteten. Aber der Raum war dunkel, die Pflanzen hatten ihre Blüten geschlossen, wie wenn es Nacht wäre, und ihre Blätter hingen welk herab. Kenmores erster Blick galt den Luftdruckmessern. Es war ein rundes Dutzend, und jeder hatte seinen Alarmgong für den Fall, daß der Luftdruck auch nur um einen Grad nachließ. Die Nadeln waren weit, weit über die rote Marke hinaus, was bedeutete, daß sie ihre Vakuumanzüge anbehalten mußten. Kenmore schluckte. »Mach deinen Helm nicht auf«, sagte er warnend zu Moreau über das Helmtelefon. »Die Luft ist noch nicht ganz raus, aber sie wird dünner.« Dann fügte er hinzu: »Sieh mal nach, ob irgendwo ein Toter herumliegt.«
Aber ein Blick an das Gestell für die Vakuumanzüge genügte ihm. Jeder in der Stadt hatte einen solchen Anzug; außerdem gab es noch Ersatzanzüge. Ob ein Vakuumanzug, der ja nur für zwei Stunden Luft hatte, in dieser Situation sehr zweckmäßig war, war ziemlich zweifelhaft. Würde die Luft aus der Stadt vollständig entweichen, käme keiner lebend davon. Immerhin waren die Anzüge für dringliche Fälle brauchbar. Jetzt hatte offensichtlich jeder Stadtbewohner sich einen übergezogen und war hinausgelaufen. Kenmore eilte in die Nachrichtenzentrale, wo der Sender für den Erdstrahl stand. Er war angestellt, aber die Röhren waren kalt; es war kein Strom darin. »Wir müssen die anderen Gebäude untersuchen«, sagte er. »Wir müssen wissen, was mit dem Erdschiff los ist! Es muß gelandet sein. Was kann passiert sein?« Arlene Gray befand sich in dem Schiff. Wenn sie nur auf der Erde geblieben wäre, dachte Joe. Bei dem gegenwärtigen technischen Stand der Dinge in der Stadt und vor allem bei dem Durcheinander in den Gehirnen ihrer Bewohner sollte keine Frau zum Mond kommen. Das verringerte Gewicht und die dauernde Beengtheit gingen einem schon auf die Nerven. Noch schlimmer, geradezu angsteinflößend war die gähnende Leere um die Stadt. Neurosen waren an der Tagesordnung auf dem Mond. So wie die Dinge jetzt standen, mußten noch schlimmere Nervenkrankheiten auftreten. Unzweifelhaft waren Gerüchte darüber auch bis zur Erde gedrungen. So konnte die Fahrt von Cecile Duclos mit dem Erdschiff zum
Mond nur den einen Zweck haben: als beliebtester Fernsehstar dreier Kontinente sollte sie mit dem ganzen Projekt einer Kolonie auf dem Mond einen großen Propagandarummel aufziehen. Trotzdem ... Was war mit dem Erdschiff geschehen? Es hätte vor zwei Stunden gelandet sein sollen. Aber wo? Da es nicht genug Treibstoff hatte, konnte es ebensowenig weiter den Mond umkreisen wie zur Erde zurückkehren. Dazu benötigte es neue Raketen, die mit den Lastraketen heraufgebracht wurden. Aber das Schiff mußte ohne Hilfe gelandet sein, da ja der Leitstrahl ausgefallen war, der es zu dem kleinen Landeplatz geführt hätte, von wo man die Stadt zu Fuß erreichen konnte. Und wenn es nicht wie vorgeschrieben gelandet war, dann mußte es eine Bruchlandung im Apennin gemacht haben. Diese Bergkette übertraf zwar an grausiger Schönheit alle Gebirge der Erde und des Mondes. Wie aber sollte man ein bruchgelandetes Raumschiff zwischen den Tausenden von Gipfeln, die sich auf Tausenden von Quadratkilometern erstreckten, finden ... Kenmore überkam ein Zittern, aber er bezwang sich. Eilig lief er durch die Schleusen in die Kraftstation, den zweiten Ballon unter Mondstaub, in dem die Generatoren und Werkstätten untergebracht waren. Auch hier wuchsen Pflanzen, die die Luft verbesserten. Aber auch hier war alles dunkel. Der Raum war ebenso groß wie die Hauptkuppel. Im schwachen Licht der Brustscheinwerfer an den Vakuumanzügen leuchteten die Maschinen unheimlich auf. Der Luftdruck war noch geringer als in der
Hauptkuppel. Die Generatoren liefen nicht; einer der »Flüchtlinge« hatte sie sorgsam abgestellt. Die großen Reservetanks waren intakt. Unter normalen Umständen kam der Strom für die Stadt natürlich aus den Quecksilbertanks draußen. Während des Mondtags lieferte die Sonne unbegrenzt Strom. Moreau sagte leise: »Wenn sich nicht jemand um die Generatoren kümmert, werden die Quecksilbertanks platzen, wenn die Sonne aufgeht.« Gott sei Dank würde die Sonne erst in einer Erdwoche aufgehen. Kenmore hatte ganz andere Gedanken. Wut und Angst hatten ihn von neuem gepackt. Als erster stürzte er zu den Luftschleusen, die in die Luft-Pflanzen-Kuppel führten. Natürlich war jeder Teil der Stadt gegen den anderen abgedichet. Hier zeigten die Apparate größeren Luftdruck an, auch war es wärmer. Im Scheinwerferlicht sah es aus, als wären sie in einen Dschungel geraten. Die Pflanzen hatten die Ränder der riesigen Wassertanks überwachsen, und es war so feucht, daß sich das Plastikglas ihrer Helme beschlug. Immerhin konnte man es hier ohne Vakuumanzug aushalten. Es war wie auf einem hohen Berg, mit dem Ausgleich der geringeren Schwerkraft. Man brauchte nicht so viel Sauerstoff und hatte es etwas bequemer. »Ich werde jetzt meinen Helm öffnen«, ertönte Moreaus Stimme im Helmtelefon. »Paß auf mich auf!« Er machte es wie angekündigt und sah sich höchst erstaunt um. »Hier muß jemand sein. Ich höre Schnarchen!«
Er machte sich auf die Suche zwischen die Wassertanks, dichtauf gefolgt von Kenmore. Hinten, an der Seitenwand, erblickten sie das schwache Licht einer Notlampe, das heldenmütig gegen die Dunkelheit des weiten Raums ankämpfte. In der Koje darunter lag ein großer Mann mit Schnurrbart und schnarchte friedlich vor sich hin. Kenmore riß seinen Helm auf und Moreau versetzte der Koje einen festen Tritt. »Wach auf!« schrie er. »Was ist hier eigentlich los? Wo sind denn die Leute?« Und Kenmore fragte hastig zur gleichen Zeit: »Das Erdschiff? Wo ist es?« Der Mann öffnete seine Augen, unterbrach sein Schnarchen und starrte sie zuerst dumm an. Dann ging ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. »Da seid ihr ja! Ich habe so auf euch gewartet. Pitkin hat vor nichts Angst – nicht mal vor Amerikanern!« Er erhob sich. »Alle anderen bekamen es mit der Angst zu tun, als die Luft dünner wurde. Der Chef wurde ganz grau im Gesicht vor Furcht. Er las sich flüchtig die Geheiminstruktionen durch und sauste mit dem ersten Jeep ab. Ich hab ja gleich gewußt, daß die Amerikaner kommen würden, ehe die Stadt zerstört wird. So habe ich einfach gewartet. Pitkin hat vor nichts Angst.« »Was ist denn hier passiert?« fragte Moreau, und Kenmore wiederholte seine Frage nach dem Erdschiff. Pitkin blieb ungerührt. »Die Stadt läßt eben Luft, sie ist undicht geworden. Das ist alles. Vor zwei Tagen fing es an, in allen Kuppeln zugleich. Der Chef bekam es mit der Angst zu tun. Er wollte Befehle von der Erde einholen, aber das Radio funktionierte nicht. Dann schrie er was von
Sabotage, das kluge Kind!« Pitkin zwinkerte mit den Augen. »Er hatte etwas davon gehört, daß sich die Amerikaner in den Alleinbesitz der Stadt setzen wollten, und deshalb brachte er alle mit den Jeeps in Sicherheit, zu einer Ferngeschoßbasis. Er hatte seine Instruktionen und er war hysterisch vor Angst. So brauste er ab und die anderen hinterher. Alle, nur Pitkin nicht!« »Aber die Rakete von der Erde!« schrie Kenmore ihn an. »Wo ist sie gelandet?« Pitkin zuckte mit den Schultern, bis sie beinahe seine Ohren berührten. Er sah nach der Uhr und stellte befriedigt fest: »Zwölf Stunden hab ich jetzt geschlafen. Von einer Rakete weiß ich nichts. Aber mit den Amerikanern kenne ich mich aus, was? Ich wußte, daß ihr mich nicht im Stich lassen würdet!« Kurz entschlossen sagte Kenmore zu Moreau: »Ich mache mich auf die Suche! Er war im Begriff zu landen und hat bestimmt Radar. Der Pilot wird doch nicht so blöd gewesen sein und den Apennin mit dem Mare Imbrium verwechselt haben! Ich fahre so lange im Kreis ...« Er lief schon zur Schleuse, als Moreau noch einen Einfall hatte. »Du mußt doch Lecks in der Kuppel gefunden haben, Pitkin? Sonst hättest du dich doch nicht zum Schlafen hingelegt. Wie sind sie entstanden?« »Mit einem Rasiermesser«, sagte Pitkin schlicht. »In der Plastikwand hinter einem Wassertank, an mehreren Stellen. Einige meinten, kosmische Strahlen hätten die Plastikmasse durchlöchert. Lächerlich! Ich hab es gleich erraten. Schließlich bin ich ja kein Dummkopf. Und wenn
die Amerikaner alle anderen aus der Stadt und vom Mond vertreiben, werde ich eben Amerikaner.« Moreau unterbrach ihn: »Du bist ein Narr, Pitkin! Wir suchen jetzt nach der Rakete, und du machst dich an die Arbeit und bringst den Luftdruck wieder hoch. Wir werden nicht lange weg sein – hoffentlich.« Er rannte Kenmore nach, wenn man das bei der geringen Schwerkraft so nennen will. Es sah mehr so aus, als glitte er auf Schlittschuhen über den Boden. Er eilte durch die Schleuse hinüber zur Hauptkuppel und holte Kenmore gerade bei der Ausgangsschleuse ein. Drinnen sagte Moreau trocken zu Kenmore: »Tatsächlich, Joe, die Mondbewohner sind mondsüchtig geworden. Sabotage an der Stadt, völlig wahnsinnig!« Kenmore schien gar nicht zu hören. Er rannte über den staubbedeckten See zum Jeep und kletterte die Strickleiter hoch. An der äußeren Schleusentür machte er eine Pause. Ihm war etwas eingefallen. »Als wir durch den Paß kamen, habe ich doch draußen auf dem Mare ein Licht gesehen«, sagte er zu Moreau. »Es blinkte ein paarmal auf. Wenn es ein Jeep gewesen wäre, müßte er längst hier sein. Könnte es nicht die Rakete gewesen sein?« »Das ist eine Idee«, meinte Moreau. »Wenigstens ein Anhaltspunkt für uns.«
Arlene Gray Kenmore klemmte sich in die enge Luftschleuse. Moreau trat an die Außentür und packte den Griff. Aber als Kenmore die innere Tür schloß, damit sich die äußere wieder öffnen konnte, paßte Moreau nicht auf. Die Schleusentür öffnete sich, er verlor das Gleichgewicht, und schon fiel sie wieder zu. Ihr Gang war automatisch; sie blieb geschlossen, bis sich die innere Tür öffnete, und ging von allein wieder zu. Der Jeep setzte sich sofort in Fahrt, und Moreau, der draußen an der Strickleiter hing, begann wild fluchend gegen die Tür zu hämmern. Aber der Jeep beschleunigte seine Fahrt, denn Kenmore konnte ihn innen wegen der Stöße des beschädigten Rads und der anderen Geräusche natürlich nicht hören. Je schneller die Fahrt wurde, um so mehr schimpfte Moreau. Dann versuchte er es mit SOSSignalen: drei Schläge mit Pausen dazwischen, drei kurz hintereinander und wieder drei Schläge mit Pausen. Jetzt hatte der Jeep mit 70 Kilometer in der Stunde seine Höchstgeschwindigkeit erreicht und sauste über den leicht gewellten Staubsee. Im Erdlicht sah er wie ein zugeschneiter Acker aus. Der weißliche Staub wurde von den Jeeprädern wie eine milchige Flüssigkeit hochgeworfen, die in dem luftleeren Raum langsam wieder zu Boden sank. Zurück blieben die Spuren, zwei parallel laufende Furchen. Moreaus Flüche wurden immer farbiger, je länger er an
der Strickleiter herumgeschleudert wurde. Ließ er jetzt los, würde er wahrscheinlich unter die riesigen Räder geschleudert werden. Und selbst wenn er heil bliebe, wäre ein Rückmarsch zur Stadt praktisch unmöglich. Ohne die Stadtlichter, lediglich den Apennin als trügerischen Wegweiser, konnte es ihm passieren, daß er an der Stadt vorbeilief, ohne sie überhaupt zu sehen. Außerdem hatte er seinen Luftvorrat nicht aufgefüllt. Mit nur einer Hand und beiden Füßen sich festhaltend, holte sich Moreau eine Signalrakete aus der Schultertasche, öffnete die Schutzkappe, versuchte nach vorn zu zielen und schoß sie ab. Rote Funken speiend sprang sie ihm aus der Hand und flog in flachen Kurven, ab und zu vom Boden abprallend, dem Jeep voraus. Kenmore mußte sie sehen und wissen, daß mit Moreau etwas nicht stimmte. Der Jeep hielt, und Moreau hörte, wie sich die innere Schleusentür öffnete. Er öffnete die äußere Tür, kroch hinein und schloß sie mit einem erleichterten Aufatmen hinter sich. Er war noch nicht ganz in der Kabine, da hatte der Jeep schon wieder seine Fahrt aufgenommen. Er riß sich den Helm ab und bedachte Kenmore mit einer Reihe phantasievoller Schimpfworte, die dieser mit Fassung hinnahm, weil er nicht französisch verstand. Als Moreau schließlich die Luft ausging, sagte Kenmore entschuldigend: »Ich hörte die Tür zufallen und dachte, du wärst schon drin. Dann habe ich nur noch an Arlene denken müssen. Wenn wir ein bißchen Glück haben, finden wir sie da draußen auf dem Mond. Wenn aber das Schiff
im Apennin runtergekommen ist ...« Er unterbrach sich und starrte hinaus auf die breiten Bahnen, die die Scheinwerfer des Jeeps legten. Weit konnte er aber nicht sehen. Die Oberfläche des Mare Imbrium war zwar fast völlig eben und der Horizont ungefähr vier Kilometer entfernt. Aber das Erdlicht auf dem Mond täuscht, ebenso wie Mondlicht auf der Erde. Bei Tageslicht würde man das Erdschiff sehen können, wenn es auf dem Mare Imbrium gelandet wäre – aber das Tageslicht war erst in 150 Stunden zu erwarten. Jetzt mußten sie das Schiff finden! Kenmore fuhr also geradeaus und hielt nach allen Seiten Ausschau, bis er sicher war, die Stelle passiert zu haben, wo er das Licht gesehen hatte. Dann fuhr er wieder zurück, bis er in seiner Einbildung beinahe wieder bei der Stadt angelangt war. Er fuhr in Kreisen und Schleifen, versuchte Berechnungen anzustellen, und hatte doch bei jedem Umkehren das scheußliche Gefühl, er hätte nur noch ein Stückchen weiter fahren sollen ... Und er wußte, hinter seinem und Arlenes Unglück lauerte die große Tragödie für die Menschheit. Schließlich waren die Zivilistenstadt und das Raumlaboratorium die höchsten Errungenschaften der menschlichen Kultur, die sie zu ihrer eigenen Sicherung in einer beinahe übermenschlichen Kraftentfaltung ersonnen hatte. Krieg würde das Ende aller Kultur bedeuten, und nur die Ferngeschoßrampen auf dem Mond verhinderten ihn. Solange sie bereitstanden, war die Menschheit auf der Erde vor ihrer eigenen Dummheit sicher, weil sie sich in Händen
von Leuten befanden, die den Krieg für eine Art Selbstmord hielten und seinen Ausbruch nicht zulassen würden. Ein Mann in der Stadt kannte die Stellung der nächsten Ferngeschoßanlage. Ihm hatte man die fest versiegelten Instruktionen anvertraut, nach denen er sie finden könnte, im allerhöchsten Notfall. Und dieser Mann war vor Angst kopfscheu geworden, hatte die versiegelten Instruktionen aufgemacht und brachte nun die ganze Besatzung der Stadt zu einer Ferngeschoßanlage, wo sie gar nicht alle unterkommen konnten. Sie würden auf die anderen Anlagen verteilt werden müssen. Das Geheimnis wäre gelüftet, weil der eine oder andere Flüchtling sich die Lage merken würde, und irgend jemand würde sich einen Spaß daraus machen, mit Atomraketen die Verteidiger des Weltfriedens in den Weltraum zu blasen. Wenn das erst einmal geschehen war, hatte auch das Raumlaboratorium seinen Sinn verloren, und Kriege würden wieder die Erde heimsuchen. Kenmore zwang sich zur Konzentration: Arlene auf dem Mond war im Moment wichtiger. Nach einiger Zeit hörte Moreau, wie er zu schlucken versuchte. Das schien ihm nicht ganz zu glücken. Dann stieß Kenmore hervor: »Es – kann doch nicht mehr als 40 Kilometer gewesen sein. Wir haben es doch gesehen. Nur habe ich mir die Richtung nicht gemerkt. Es ist fast zu viel verlangt, daß einer nur mit Hilfe der Sterne ohne Bodenradar nur 40 Kilometer von seinem Ziel entfernt landen soll. Hoffen – das ist alles, was man noch kann ...«
Tröstend sagte Moreau: »Du bist genauso verzweifelt wie ich vorhin, als ich mich dir nicht bemerkbar machen konnte. Mensch, Joe – die Signalrakete! Damit hab ich's doch auch geschafft!« Kenmore begriff sofort. »Los!« schrie er, »wir feuern sofort eine ab.« Seine Hand schoß zu der Klappe, hinter der die Druckknöpfe für die Signalraketen am Jeepdach lagen. »Warte!« sagte Moreau. »Ich klettere erst in den Beobachtungsstand!« Er kletterte hinter Kenmore zu der Luke hoch, die wie ein Goldfischglas geformt war und aus der man nach allen Seiten Ausblick hatte. Kenmore stoppte den Jeep. Seine Hand zitterte, als er den Knopf drückte. Ein fernes Brummen ertönte, dann Stille. Vor Kenmores Augen nahm die pudrige Oberfläche des Lavasees eine rote Färbung an. Signalraketen für den Mond hinterlassen einen langen roten Schweif; rot ist gegen den Mondhimmel am besten sichtbar. Die Rakete stieg und stieg, viel schneller und höher, als wenn man sie auf der Erde abgeschossen hätte. Die Gipfel des Apennin würde sie allerdings nicht erreichen. Der Jeep stand; Kenmore hörte sich hastig atmen. Das Licht wurde schwächer und schwächer ... schließlich ging es aus. »Anpeilen! Joe! Anpeilen!« rief Moreau. Mit zitternden Fingern peilte Kenmore den dünnen roten Lichtfaden an, der hinter dem Horizont im Norden hochstieg. Dann schoß er zwei weitere Raketen ab, in der berechtigten Annahme, daß die erste gesehen worden war, und gab Vollgas.
Es war eine lange Fahrt und Kenmore schien sie kein Ende zu nehmen. Noch einmal stieg von der anderen Seite eine Signalrakete hoch, so als ob jemand um schleunige Hilfe bat. Kenmore klopfte das Herz; der Jeep schien ihm zu kriechen. »Ich hätte größte Lust, unsere Ladung abzuwerfen«, sagte er grimmig. »Ich finde, der Jeep benimmt sich jetzt schon wie ein Springpferd. Ohne den Ballast würden wir wie eine Rakete in die Luft gehen.« Und so setzte der Jeep seine dröhnende, holpernde Fahrt über einen Boden fort, der wie festgestampft aussah unter seiner Staubdecke. Zähflüssig spritzte der Staub zur Seite, zwei Furchen blieben, lautlos glitt der Jeep dahin, nur drinnen dröhnte das beschädigte Rad ohrenbetäubend. Dann sahen sie eine dritte Signalrakete steigen. Kenmore schlug das Steuer ein – er wäre beinahe daran vorbeigefahren – und fuhr langsam darauf zu. Er zitterte am ganzen Körper, als er den Sucher hin und her wandern ließ. Endlich sah er die Erdrakete. Sie hatte keine glatte Landung gehabt, sondern lag auf der Seite, was an sich schon eine Katastrophe war. Menschen in Vakuumanzügen standen darum herum, was noch schlimmeres bedeuten konnte. Kaum kam der Jeep dicht davor zum Halten, hatte Moreau die Strickleiter bereit. Heiser fragte Kenmore in sein Kehlkopfmikrophon: »Arlene?« Fröhlich kam ihre Stimme aus dem Apparat: »Ich wußte ja, daß du uns finden würdest, Joe!«
Eine männliche Stimme unterbrach sie mit der groben Frage: »Was war eigentlich mit dem Leitstrahl los? Wir bekamen keine Antwort. Was zum Teufel habt ihr hier für einen Betrieb!« Dann kam Moreaus Stimme, und sie war die Sanftmut selbst. »Nur ein kleines Durcheinander in der Zivilistenstadt, Captain. Gewöhnlich leben wir ja am Rande des Weltuntergangs. Jetzt haben wir nur das kleine Durcheinander. Da wissen wir nicht so recht, wie wir uns verhalten sollen.« Im Hörer war deutlich Zähneklappern zu vernehmen, so daß Moreau schnell zum Einsteigen aufforderte. »Die beiden Damen zuerst. Die Strickleiter herauf, mes dames, und hinein in das Ding, das wie eine Milchkanne unter unserem Jeep baumelt. Sie besteigen es und schließen hinter sich die Tür. Oberhalb von Ihnen werden Sie einen Griff entdecken. Erst die untere Tür schließen, dann den Griff betätigen. Dann werden Sie bei uns willkommen sein.« Die Luftschleuse klirrte, und einen Augenblick später tauchte hinter Kenmore ein helmbewehrtes Haupt aus dem Boden. »Dafür wird man mir büßen müssen«, sagte eine weibliche Stimme, und trotz des heftigen Zähneklapperns war ihr die kalte Wut anzuhören. Es war zu dunkel, als daß er hätte erkennen können, wer es war. Er drängte sie beiseite und schloß die Schleusentür; seine Hände waren zum Schutz gegen die Weltraumkälte immer noch behandschuht. Das erneute Schließen der äußeren Tür beruhigte ihn. Einen Augenblick darauf tauchte ein zweites helmgeschütztes Haupt auf. Das Gesichtsfenster öffnete sich. Als Kenmore mit einem
Stoßseufzer der Erleichterung auf sie zutrat, sagte Arlene schnell: »Faß mich nicht an, Joe! Wir sind seit Stunden draußen, ich bin ziemlich unterkühlt!« Kenmore schaltete die Innenbeleuchtung ein und sah sie verlangend an. Ihr Anzug strömte Kälte aus; kein Wunder, denn 200 Grad unter Null waren auch für einen geheizten Anzug zu viel, wenn man sich eine Stunde in ihm aufhalten mußte. Reif bildete sich auf dem Metall und die kalte Luft verdichtete sich zu Nebel. Arlene lächelte ihn ein bißchen zittrig an. »Die Rakete überschlug sich bei der Landung und ein Ausguck ging zu Bruch. Wir haben unsere Atemapparate direkt an die Reservetanks des Schiffes angeschlossen, seit Stunden. Ich bin ziemlich froh, daß du da bist!« Wieder sagte die wütende weibliche Stimme: »Dafür wird mir einer büßen müssen.« Draußen wurde geklopft. Arlene trat beiseite und Kenmore schloß die Schleuse. Ein Mann kam heraus und holte tief Luft. Dann kamen nacheinander noch mehr, bis der Jeep fast unerträglich mit Menschen gefüllt war, als Moreau als letzter erschien. Kenmore gab Gas und schlug die Richtung nach der verlassenen Stadt ein. Der Raketenpilot zwängte sich zu ihm durch und wollte sich beschweren: »Warum hat man uns keinen Leitstrahl gesendet? Wieso waren keine Landelichter zur Stelle? Sollten wir Bruchlandung machen?« Kenmore konnte ihm nur im gleichen Ton erwidern: »Wahrscheinlich. Sabotage am Radio und Radar, Sabotage
in der Stadt.« »Sabotage? Warum denn?« Kenmore wurde wütend: »Das ist nur ein Beispiel für die großartige internationale Zusammenarbeit hier oben. Worin sie besteht? Darin, daß jeder dem anderen die Kehle durchzuschneiden sucht, ohne dabei auf seine eigene zu achten!« »Das ist doch keine Antwort auf meinen Protest«, erwiderte der Pilot verärgert. »Das können Sie ruhig Ihrer vorgesetzten Dienststelle erzählen.« Kenmore hätte gut und gern vier Füße und vier Hände zum Fahren brauchen können, so mußte er aufpassen. Plötzlich sah er die Spur eines Jeeps – vielmehr die Spuren vieler Jeeps, die hintereinander hergefahren waren. Er folgte ihnen in Richtung auf die Stadt und den Apennin. Natürlich waren die Stadtbewohner mit Jeeps weggefahren. Zu der nächsten Ferngeschoßanlage waren es wenigstens 700 km, wenn man den Weg kannte. Die Stadtbewohner konnten sich alle in die zur Verfügung stehenden Jeeps quetschen; nur würde die Luft auf der langen Fahrt ziemlich schlecht werden. Das war ihre Spur. Er fuhr sie in entgegengesetzter Richtung. In einer halben Stunde hatten sie die Staubhaufen der Stadt erreicht. Kenmore fuhr den Jeep dicht ran, und Moreau übernahm das Aussteigen. Die Eingangsschleuse der Stadt war nur ein paar Meter weg, hell erleuchtet von den Scheinwerfern des Jeeps. Moreau ließ die Brustscheinwerfer noch vor dem Eingang andrehen. Wie
ein Schafhirte geleitete er sie zu der Schleuse, sie drängten sich hinein und die Tür schloß sich. Jetzt würden sie also gleich die abgrunddunkle Kaverne betreten, die nur noch in einer Abteilung genug Luft zum Leben hatte. Kenmore hatte sich nicht gerührt, und Arlene war hinter ihm sitzen geblieben. Sie waren endlich allein. »Wenn ich nur geahnt hätte, daß du vorhattest, hier heraufzukommen«, sagte er unglücklich, »hätte ich dich gewarnt. Das ist ein Irrenhaus hier, Arlene. Und manchmal benehmen sich die Leute, als ob sie einem SelbstmörderKlub angehörten!« »Aber du bist doch hier«, gab sie zurück und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Du hast mich noch gar nicht gefragt, wie ich es überhaupt geschafft habe. Cecile Ducros bekam den Auftrag für einige Fernsehberichte vom Mond. Gerüchte erzählten von unerfreulichen Ereignissen. Die Vereinten Nationen erhielten Informationen, daß die NichtAmerikaner hier oben unterdrückt würden. Man hat uns nun mal in diesem Verdacht, weil wir die ersten oben waren und die Ferngeschoßrampen aufstellten. Man warf sich Beleidigungen an den Kopf. Auch im amerikanischen Kongreß wurde ein Antrag eingebracht, das ganze Unternehmen einzustellen. Es gab ein Riesengeschrei bei allen anderen Nationen, so daß man sich entschloß, etwas zu unternehmen.« Kenmore war sprachlos und sank immer mehr in seinem Sitz zusammen. »So wird also«, fuhr Arlene fort, »der Mantel der christlichen Nächstenliebe darüber gebreitet, und das kann
Cecile Ducros großartig. Sie macht ein Geschäft daraus. Ich weiß nicht, was sie für die Sendungen verlangt hat, wenig war es bestimmt nicht. Sie hat sich die ganze Fahrt zu Tode geängstigt. Und sie brauchte jemanden, der ihr einiges abnahm und ihr Material beschaffte. Jemand, der eine schwache Vorstellung von dem hat, was hier vorgeht, und ihr sagt, was davon Frauen interessieren könnte. Das war ich. Freust du dich denn gar nicht?« »Ich hätte dich lieber – ich hab dich sehr lieb«, sagte Kenmore und schnitt eine Grimasse. »Du weißt ganz genau, wie ich zu dir stehe. Eben deshalb gäbe ich alles darum, dich wieder auf der Erde zu wissen. Es ist doch Wahnsinn, was hier vorgeht! Nein, Schlimmeres!« »Was denn?« »Alles! Der eigentliche Sinn der Besetzung des Mondes, abgesehen von den militärischen Anlagen, liegt doch in der Errichtung des Raumlaboratoriums weit draußen im Weltraum. Man hat einige neue Theorien über Atomenergie gefunden, will sie aber nicht auf der Erde ausprobieren, weil es zu gefährlich ist. Selbst der Mond ist nicht der geeignete Platz. Es hat irgend etwas mit Kernverschmelzung zu tun. Ich verstehe es nicht und weiß nur, daß es dringend gebraucht wird. Wenn man am Ende der Versuchsreihe ist, hat man entweder eine Waffe entdeckt, die alles vernichtet, oder etwas so Unschuldiges, daß nicht einmal die Politiker damit Schaden anrichten können.« Arlene schaute ungläubig drein: »So etwas soll es geben?«
»Jawohl«, bestätigte Kenmore. »Abgesehen vom Weltraumverkehr, kann Energie – unbegrenzte Energie für alle auf der Erde erzeugt werden. Energie, um Veilchen am Südpol zu züchten, wenn es einem einfällt. Energie, um Meerwasser trinkbar zu machen und die Sahara zu bewässern, oder die Wüste Gobi in einen Gemüsegarten zu verwandeln. Für die unmittelbare Zukunft ist das ganze Mondprojekt nur dazu da, ein Laboratorium mit Nachschub zu versorgen, in dem die gefährlichsten Versuche, die Menschen sich je ausgedacht haben, ohne Gefahr durchgeführt werden können, freilich nicht ohne Gefahr für die Laboratoriumsinsassen. Aber das weißt du ja alles schon!« »Fast alles«, gab Arlene zu. Sie saßen zwar dicht nebeneinander auf dem Führersitz des Mond-Jeeps, aber die plumpen Vakuumanzüge beengten sie sehr. Arlene lockerte die Verschraubung ihres Helms und nahm ihn ab. Sie schüttelte ihre Haare frei und lächelte Joe an. »Es sollte gar nicht so schlimm sein, hier oben zu arbeiten. Aber es war scheußlich. Es sah so aus, als hätten wir Spione und Saboteure auf der Erde zurückgelassen. Anscheinend sind aber hier oben neue gewachsen. Internationale Zusammenarbeit! Ich kann nur lachen. Mißtrauen, Grüppchen, Stänkereien. Keiner bringt etwas Gescheites fertig, weil jeder den anderen bespitzelt.« Arlene lächelte ihn wieder an, ohne daß er es zu merken schien. Zwei Menschen in einem Mond-Jeep auf dem Mare Imbrium, im silbernen Zwielicht der Erde.
»Ich könnte dir Einzelheiten erzählen«, fuhr Kenmore mit seinem traurigen Bericht fort, »aber das würde dich nur verwirren. Jede Form von verrücktem Verhalten hättest du hier oben studieren können, die es auf der Erde gibt, und noch einige Mond-Spezialkrankheiten dazu.« »Einschließlich der Fahrt eines Fernsehstars und meiner Wenigkeit zum Mond«, sagte Arlene fröhlich, »um ein paar honigsüße Fernsehberichte zu machen.« Kenmore mußte lachen, obwohl ihm gar nicht danach war. »Was sie hier oben zweimal sagte, klang aber gar nicht nach honigsüß. Wie sie das betonte, diese zarte Dame: Dafür wird mir jemand büßen müssen ... Oho!« Arlene lachte leise. »Sie wird bestimmt einen finden. Diese Frau liebt das Geld, sie betet es an, sie wird dafür sogar ihren hübschen Hals riskieren. Sie hat es schon mehrmals getan. Und sie wird ihr Geld beitreiben. Darauf kannst du dich verlassen. Im übrigen soll ihre Übertragung in etwa zweieinhalb Stunden beginnen.« »Die Verbindung zur Erde ist unterbrochen«, stellte Kenmore fest. »Oh, das macht nichts. Sie hat ihren eigenen Elektronenfachmann mitgebracht. Der läßt die Elektronen durch Reifen springen wie ein Dompteur seinen Tiger. Wenn er ihr eine Verbindung zur Erde für nur 15 Minuten zustandebringt ...« »Was dann?« »Dann schilderte sie die Zivilistenstadt wie ein überirdisches Paradies«, versicherte ihm Arlene.
»Schließlich werden wir selbst daran glauben, so überzeugend wird sie es machen! Wollen wir wetten?« Kenmore brummte vor sich hin und schaltete die Innenbeleuchtung aus. »Jetzt wollen wir mal in die Stadt gehen und nach den anderen sehen. Die Luftkuppel scheint ja den Druck zu halten, nur die beiden anderen leeren sich. Sie müssen durchlöchert wie Siebe sein. Komm! Nur ...« Sie standen dicht beieinander. Stille! Vakuumanzüge sind zwar schrecklich plump, aber Arlene hatte ihren Helm abgenommen und Kenmore seinen noch nicht aufgesetzt. Nach einer Weile seufzte Arlene zufrieden auf. »Reizende Einfälle hast du, Joe!« »Setz deinen Helm auf«, befahl er. »Und sieh zu, daß dein Haar nicht eingeklemmt wird. Sonst strömt Luft aus.« Arlene gehorchte. Dann sagte sie: »Wenn man bedenkt, daß ich zu den beiden ersten Mädchen gehöre, die je auf den Mond gekommen sind ... hältst du es für möglich, daß ich das erste Mädel bin, die je auf dem Mond abgeküßt wurde?« Dann fügte sie hoffnungsvoll hinzu: »Wenigstens in einem Mond-Jeep?« »Sehr wahrscheinlich«, stimmte Kenmore ihr zu. »Und wenn du nett zu mir bist, sollst du auch das erste Mädel sein, das je in der Stadt einen Kuß bekommen wird. Und trotzdem gäbe ich eine Menge darum, dich wieder sicher auf der Erde zu wissen!« Er verließ als erster die Luftschleuse und half ihr von der baumelnden Strickleiter. Dann liefen sie auf den dreifachen Staubhaufen zu, diese nun verlassene Behausung der ersten Menschen auf dem Mond.
Cecile Ducros Sitten und Gebräuche der Menschen sind an sich schon merkwürdig, aber ihre Reaktionen auf gefährliche Situationen scheinen bisweilen die von Tollhäuslern zu sein. Das Benehmen der wenigen Leute, die in der Zivilistenstadt zurückgeblieben waren, war ein hervorragendes Beispiel für diese Theorie. Pitkin hatte tatsächlich den Luftdruck in der Luftkuppel um einige Grade hochgebracht. Er hatte einen Schuß ExtraSauerstoff hinzugefügt und geschickt den Reservegenerator der Kuppel in Gang gebracht, der für dringende Fälle bestimmt war. Und das war ja wohl einer! Cecile Ducros legte ihren Helm ab und wies Kenmore das wütendste Frauengesicht, in das er je geblickt hatte. Sie begann Befehle zu erteilen, mit einer eiskalten, manchmal überschnappenden Stimme, die gar nicht zu dem schönen Gesicht passen wollte. Als sie Lezd, ihrem privaten Elektronentechniker, instruierte, was er tun solle, ging sie auf Französisch über. Ihre Worte kamen wie Peitschenhiebe; sie gönnte sich nicht einmal Zeit für ein paar Tränen. Lezd schloß seine Gesichtsplatte und ging zusammen mit Pitkin als Führer hinüber in die Kraftstation. Dort machten sie sich an die Arbeit. Es dauerte nicht lange, da fingen überall in der Stadt die Lampen wieder an zu glühen und schließlich wieder richtig zu brennen; auch die Lampen draußen beleuchteten wieder die drei künstlichen
Kavernen. Alles sah sich sehr heimelig an, nur war in zwei von den drei Kuppeln noch immer nicht genug Luft, um Menschen am Leben zu erhalten. Lezd machte sich an dem komplizierten Erdstrahlapparat in der Hauptkuppel zu schaffen. Kenmore arbeitete an einer Berechnung, die ihm wichtig dünkte, und Moreau saß grinsend neben Cecile Ducros und beantwortete ihre hastigen Fragen, während Arlene ungerührt zuhörte. Cecile Ducros spielte in diesem Moment keineswegs die charmante Dame. Ihr ausgezeichnetes Köpfchen war mit dem Fernsehbericht beschäftigt, den sie in einigen Minuten machen sollte. Sie hätte von der verlassenen, undichten Zivilistenstadt erzählen können, von der haarsträubenden Sabotage, von den schrecklichen Gefahren, die sie überstanden hatte, sie hätte Proteststürme von Seiten ihrer begeisterten Zuhörer erregen können, wenn sie die Fahrlässigkeit richtig beschrieben hätte, mit der man ihr kostbares Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Nichts von alledem! Cecile Ducros sammelte Material für eine Sendung über die bezaubernden Reize der Mondkultur. Eine Stunde vor der Sendezeit hatte ihr Techniker den Erdstrahl wieder zum Funktionieren gebracht. Er stellte eine Verbindung zur Luftkuppel her, und nun schrie Cecile ihre ganze kalte Wut heraus. Man konnte es mit der Angst bekommen, selbst wenn man nicht Französisch verstand. Kenmore kam wieder in die Luftkuppel zurück, um nach Arlene zu sehen. Lächelnd zeigte sie auf Cecile und Moreau. »Sie wird die Sendung bestimmt machen«, sagte Arlene ihm ins Ohr. »Sie hat nach unten berichtet, was hier
passiert ist, und unter heiligen Eiden versichert, daß sie alles bringen wird – wenn man ihr nicht Schweigegeld bezahlt. Und wenn die da unten auf der Erde ihre Sendung nicht abnehmen, wird sie's in der nächsten oder übernächsten bringen. Die müssen für ihre Strapazen ordentlich blechen, oder sie erzählte es der ganzen Welt! Und weil die da unten zahlen werden, wird sie in ihrer Sendung nur von den Annehmlichkeiten des Lebens auf dem Mond berichten.« »Aber warum nur?«, wollte Kenmore wissen, »warum hat die Erde nicht die Ferngeschoßanlage benachrichtigt und einen Leitstrahl für die Rakete angefordert? Oder wenigstens einen Jeep rausgeschickt, der sie einweisen konnte. Was zum Donnerwetter ist eigentlich passiert?« Arlene gab im gleichen Flüsterton zurück: »Der Erdsender schwieg ebenfalls. Auch Sabotage! Die Zeiten waren abgestimmt. Siehst du, was ich meine?« »Ich kann es allenfalls erraten. Jeder Sender dachte, der andere würde die Rakete hereinbringen. So flog sie los – unterwegs konnte sie sowieso nicht halten – und sollte bei der Landung zu Bruch gehen. Alle Insassen sollten getötet werden und überdies sollte die Welt davon Kenntnis erhalten, daß die Streitkräfte in den Ferngeschoßanlagen alle Zivilisten aus der Stadt evakuiert hätten und sie nach der Erde zurück schickten. Ganz Europa sollte glauben, daß wir schurkischen Amerikaner den Absturz der Rakete als Vorwand nehmen wollten, alle Nicht-Amerikaner vom Mond herunter zu befördern!« Böse fügte er hinzu: »Und du wärst auch getötet worden!«
Sie konnte nur nicken. Kenmore knirschte mit den Zähnen. »Eines Tages werde ich dafür jemanden umbringen! Zuerst will ich aber die Lecks in der Hauptkuppel abdichten. Ein paar habe ich schon gefunden. Hilfst du mir ein bißchen?« Sie gingen in die Hauptkuppel hinüber. Kenmore hatte eine Art Schaumlöscher dabei, mit dem er Schaum gegen die verdächtigen Stellen an den Seitenwänden spritzte. Er tat es überall da, wo Maschinen oder Schränke an den Wänden standen, weil es unwahrscheinlich war, daß sich ein Saboteur an den offenen Wänden betätigt hätte. Jedes versteckte Leck würde den Schaum heraussaugen. Es war der alte Trick, einen Autoschlauch ins Wasser zu tauchen und aufzupassen, wo die Luftblasen hochstiegen. Nur wandte ihn Kenmore umgekehrt an. Die beiden Gestalten in den Vakuumanzügen wirkten in der weiten, hellerleuchteten Kuppel sehr klein, wie verloren. Im Vergleich zu ihnen war das Gebäude riesenhaft. Das lag daran, daß auf dem Mond ein Gebäude außer der entsprechenden Zahl Menschen auch noch alle Maschinen, die Lebensmittel, den Gemüsegarten und die Luftreinigungsapparaturen beherbergen muß. Alsbald zeigte sich, daß die Sabotage mit System verübt worden war. Jedes Leck, das Kenmore entdeckte, bestand aus einem glatten Durchschnitt der Plastikwand. Da der Staub so fein war, ließ er die Luft zwar durch, rann aber nicht nach innen, weil noch etwas Luftdruck ihn abhielt. Offensichtlich hatte der Saboteur sich immer die gleichen Stellen ausgesucht. Dort wo die Teilungswände der
Privaträume an die Seitenwand der Kuppel stießen, war ein Schnitt gemacht worden, anscheinend mit einem Rasiermesser. Oder vielmehr zwei Schnitte, einer ein paar Zentimeter über dem Boden, der andere in Höhe der oberen Kante, so daß Kenmore kaum hinkam. Sobald er wußte, wo er die Lecks suchen mußte, legte er den Schaumlöscher beiseite. »Das hat ein einziger Mann getan«, sagte er gleichmütig. »Mehrere hätten gar nicht so hysterisch sein können.« Nun ging Arlene auf die Suche und Kenmore arbeitete auf ihre Anweisung, bis sie die ganze weite Kuppel untersucht hatten. Ärgerlich meinte er: »Jetzt sollte sie endlich dicht sein. Ich möchte bloß wissen, wo der Kerl die Zeit hergenommen hat, um das hier anzurichten.« Plötzlich schrie es böse in seinem Hörapparat. Es war Cecile Ducros. »Wir senden in genau fünf Minuten. Wo stecken Sie denn, Kenmore? Sofort herkommen!« Arlene, die die freundliche Aufforderung ebenfalls gehört hatte, schnitt eine Grimasse und lief zusammen mit Kenmore durch die Schleuse hinüber in die Kuppel mit den hydroponischen Gärten. Eine Kamera war aufgestellt, alles war blendend beleuchtet – und Cecile Ducros lief aufgeregt hin und her, versuchte sich an die geringere Schwerkraft zu gewöhnen und war ganz Konzentration. Sie sah auf und schrie die beiden an: »Ihr bleibt in euren Vakuumanzügen! Nach sieben Minuten kommt ihr dran, vier Minuten lang.« Dann sah sie böse Moreau an. »Die Gesteinsproben, die Barren, her damit!« Auch Pitkin bekam seinen Befehl: »Ein Ton von Ihnen während der
Sendung und ich bringe Sie mit meinen eigenen Händen um!« Es war zwar völlig verrückt, in dieser verlassenen, undichten Geisterstadt, die kaltblütig hatte vernichtet werden sollen, eine normale Fernsehsendung versuchen zu wollen. Aber Cecile Ducros brachte es fertig. Lezd, ihr Techniker, hatte die Fernsehkamera übernommen und führte sie mit lässiger Meisterschaft. Die Beleuchtung war ausgezeichnet. Cecile Ducros paßte scharf auf, daß die Kamera im richtigen Winkel zu ihr stand. Und plötzlich begann sie schläfrig, geheimnisvoll zu lächeln, natürlich in die Kamera hinein, und ihren bemerkenswerten Vortrag zu halten. »Guten Abend, liebe Fernsehfreunde! Hier spricht eure kleine Cecile Ducros, sie kommt heute abend vom Mond. Wir landeten – oder soll ich sagen: wir mondeten hier – vor einigen Stunden. Ich bin entzückt, ich bin hingerissen, ja, ich bin außer mir von dem, was ich hier gesehen habe. Seht nur! Diese Blumen. Sie wachsen hier oben und sind dazu da, die Luft zu reinigen. Seht nur, schaut sie euch richtig an!« Mit einer weiteren Armbewegung wies sie ihrem Publikum die Pflanzen in den Tanks. Dann lächelte sie Moreau an, das Zeichen für ihn, sich vor die Kamera zu stellen. Er tat es ungeschickt genug, schließlich war er ja auch kein Filmstar. »Das ist der Mann im Mond, er lebt hier. Oh, wie bezaubernd, wenn man mit ihm im Erdlicht einherwandeln könnte!« Sie seufzte tief. »Wie leicht ich von ihm zu
verführen wäre!« Kenmore und Arlene standen dabei und sahen alles mit an – die berechneten Tricks, mit denen sich Cecile bei ihrem Publikum beliebt machte, wie sie ihre Stimme und ihre Gesten einsetzte, wie sie den plötzlichen Einfall heuchelte, Captain Osgood vor die Kamera zu rufen, den Piloten des Erdschiffs, die gut gespielte Verwechslung von Navigation und Astrogation. Wie war doch gleich der Ausdruck für die Steuerung eines Raumschiffs? Und wie wunderbar sanft hatte er das Schiff zum Mond gebracht! Sie entließ ihn gnädig, und nun waren Kenmore und Arlene an der Reihe. Von ihnen wurde behauptet, daß sie gerade draußen gewesen seien und im Erdlicht spazieren gegangen seien. Wieder kam etwas Neues und natürlich schwenkte die Kamera ihr nach. Sie zeigte Gesteinsproben vom Mond, darunter einen großen Quarzblock mit Katzengold. Mit großen Kinderaugen erzählte sie von den Bergwerken, in denen dies Gestein gefördert wurde. Aufgeregt beschrieb sie die Barren von Gold, die Tausende und aber Tausende von Dollars drunten auf der Erde kosten würden. Ganz bezaubernd sei auch die Leichtigkeit, mit der man auf dem Mond gehen könne! Vor einem neuen Hintergrund zeigte Cecile Ducros, daß jeder, aber auch wirklich jeder, auf dem Mond Ballett tanzen könne. Sie hob ihren Rock, zeigte ihre berühmt schönen Beine und vollführte mit ihnen bei einem einzigen graziösen Sprung zweiundzwanzig entrechats, nicht ohne ihr Publikum daran zu erinnern, daß der berühmte Tänzer Nijinsky drunten auf der Erde nur zehn gleiche Bewegungen in einem Sprung fertiggebracht
hatte. Die Wissenschaft hatte eben einer schwachen Frau zu einem neuen Triumph verholfen ... Es war eine erstaunliche Vorstellung. Es sah so aus, als habe sie die vielköpfige Bevölkerung einer mittleren Stadt zu ihrer Verfügung, und in Wirklichkeit waren es nur acht Leute außer ihr und Arlene. Böse Gerüchte gab es in ihrem Bericht ebensowenig wie Sabotage. Und die Annahme, die gemeinen Amerikaner wollten etwa unter Zwang die Nicht-Amerikaner vom Mond vertreiben, war geradezu lächerlich. Es war gekonnt. Als sie ihr Publikum unten auf der Erde noch einmal mit ihrem berühmten schläfrigen Lächeln bedachte und zugleich ein wehmütiges Gesicht machte, weil sie es ja nun verlassen mußte, dann Moreau nochmals vor die Kamera zerrte und ihn seufzend anhimmelte: »Oh, wie leicht wäre ich zu verführen!« und endlich ausschalten ließ – bis zu diesem Moment war die Täuschung so großartig, daß sich Kenmore und die anderen von ihr verzaubern ließen. Als aber nun die Kamera abschwenkte, sagte sie fast im gleichen Atemzug: »Wer also hat mich zu ermorden versucht? Welcher Schurke war das?« Und jetzt erst erlaubte sie sich den Luxus eines erstklassigen Wutanfalls. Grimmig bemächtigte sich Kenmore der Verbindung zur Erde. Er hörte nur noch Bruchstücke des Temperamentsausbruchs einer Künstlerin, die ihre Todesangst jetzt erst herausschrie, wo sie es sich leisten konnte. Er bekam die Verbindung zur Erde und ließ sich Major Gray in Bootstrap geben, dem Raumflughafen für den Erdsatelliten und den Mond. Zufällig war Major Gray
der Vater Arlenes, und wahrscheinlich hatte sie es dieser Tatsache zu verdanken, daß man sie als Begleiterin des Fernsehstars ausgewählt hatte. Sie kannte sich in der Spionageabwehr aus und würde Cecile Ducros beschatten. Bild und Ton wurden natürlich verschlüsselt gesendet und mußten auf der Erde entschlüsselt werden, bevor sie das Fernsehnetz übernahm. So konnte Kenmore alles sagen, ohne falsche Rücksicht nehmen zu müssen. Major Grays erste Reaktion war ziemlich explosiv und dann fragte er: »Ist sie jetzt in Sicherheit?« Er meinte natürlich Arlene. »Im Moment, ja«, erwiderte Kenmore. »Aber sie sollte sofort auf die Erde zurückkehren!« Es gab immer eine Pause von etwas mehr als drei Sekunden zwischen dem Ende der Sendung zur Erde und dem Anfang der Rückfragen Grays. Die Hälfte dieser Zeit benötigten die Radiowellen bis zur Erde, der Rest der Zeit verging, bis Grays Worte den Mond erreichten. »Diese Stadt ist ein Irrenhaus«, haspelte Kenmore herunter. »Man brauchte sie gar nicht aufzugeben! Offensichtlich haben alle auf Befehle gewartet. Das sollte hier eine Pionierstadt sein, statt dessen ist sie voll von Regierungsangestellten aus einem Dutzend verschiedener Nationen. Die mögen ganz tüchtige Leute sein, aber ohne Befehl tun sie nichts!« Eine Pause von drei Sekunden, dann wieder Major Grays Stimme: »Soll ich das so weitergeben?« »Das wäre mir recht. Die Instruktionen, die man auf der Erde für diese Stadt ausgearbeitet hat, sind viel zu
engherzig. Gutes Funktionieren war wohl der Sinn dieser Anordnungen. Herausgekommen ist ein glatter Irrsinn. Keiner kann etwas ohne Genehmigung tun, so daß die tüchtigen Leute nur damit beschäftigt sind, Befehle herauszugeben. Das muß damit enden, daß irgendeiner vor lauter Nichtstuerei überschnappt!« Nach langer Pause wieder Gray: »Sprechen Sie weiter!« »Ich schreie so«, sagte Kenmore, »weil ich mich wahrscheinlich hier sehr unbeliebt gemacht habe. Als ich hierher kam, war Pitkin allein in der Stadt. Er schlief friedlich. Ich habe das Kommando übernommen, weil ich anscheinend der einzige hier bin, der sich einen Gedanken darüber gemacht hat, daß überhaupt etwas getan werden kann. Wahrscheinlich wird von der nächsten Ferngeschoßanlage bald Hilfe kommen. In der Zwischenzeit habe ich die Hauptkuppel abgedichtet und lasse Moreau die Kraftstation reparieren. Dann will ich sehen, ob das Erdschiff wieder in Ordnung gebracht werden kann, weil ich Arlene und Cecile Ducros möglichst schnell wieder zur Erde zurückschicken will.« Wieder eine lange Pause und wieder Major Grays Stimme: »Und was dann?« »Dann«, sagte Kenmore wütend, »dann werde ich jemanden umbringen.« Er schaltete ab. Als er sich umdrehte, sah er, daß Lezd, der Techniker von Cecile Ducros, ihm die ganze Zeit zugehört hatte. »Spricht man so mit seinen Vorgesetzten?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Wenn's nötig ist, warum nicht?« erwiderte ihm Kenmore. »Gut gemacht!«, sagte Lezd, nickte beifällig vor sich hin und ging weg. Kenmore war gar nicht glücklich. Er war nur ein kleiner Angestellter hier auf dem Mond. Und wenn er auch zu den ersten gehörte, die hier gelandet waren, und über besondere Erfahrungen verfügte – für ein internationales Projekt wie dieses war das nicht genug, um einen höheren Posten zu bekommen. Solange es hier oben ziemlich sicher für alle war, hatte man die Kommandostellen auf Grund politischer Erwägungen besetzt und dabei eine reichlich unglückliche Wahl getan. Jetzt, im Unglück, mußte ein Mann das Kommando übernehmen, der wußte, was er wollte, weil es sonst keiner tat. Kenmore ließ Moreau wieder den Vakuumanzug anziehen und nahm ihn hinüber in die Kraftstation. Er ging ohne Zögern zu der Stelle, wo die Treibstofftanks mit dem 80%igen Wasserstoffsuperoxyd der Wand am nächsten standen. »Hier mußt du nach Schnitten in der Wand suchen und hier«, er zeigte ihm die Stellen. »Jemand hat sich einen Spaß daraus gemacht, die Luft abzulassen. Schau!« Moreau sah sich verwundert die Stelle an. »Wie hast du denn das herausbekommen?« »Immer das gleiche Muster«, sagte Kenmore, »bring das in Ordnung!«
Der Weltraum-Pendler Er ging zur Luftkuppel zurück, wo Pitkin freundlich lächelnd zusah, wie Cecile Ducros ihre Wut abreagierte. Zu Arlene, die ihn fragend ansah, sagte er: »Ich schau mich mal draußen um. Außerdem muß ich mal sehen, was sich mit dem Jeep machen läßt. Du kannst dich ja inzwischen etwas ausruhen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich könnte jetzt nicht schlafen, ich hab mich an das Mondklima noch nicht gewöhnt. Außerdem gab's auf der Herfahrt nichts zu tun als tagelang zu dösen. Ich bin ganz frisch!« »Dann setz deinen Helm auf und komm mit«, sagte er darauf und zeigte ihr, wie sie den Inhalt ihrer Lufttanks prüfen konnte. Dann sah er nach seinen eigenen Tanks, und beide gingen hinaus. Die Stille der Nacht draußen war die eines Friedhofs. Dabei war eigentlich gar nicht richtig Nacht; die große runde Erdscheibe mit ihren Ozeanen und Polkappen füllte einen großen Teil des Himmels, und das Licht, das sie ausstrahlte, war ziemlich hell. Da auf dem Mond Mitternacht war, war Vollerde, entsprechend Vollmond bei Erd-Mitternacht. Und das Licht, das von den Bergspitzen und den Meeren widergespiegelt wurde, entsprach dem Zwielicht auf der Erde. Äußerste Stille herrschte ringsum, nichts bewegte sich, nichts war zu hören. Natürlich hörte man im Vakuumanzug den anderen atmen, wenn der Funkapparat angestellt war, man hörte auch sein eigenes
Atmen und das Laufen auf dem Mondstaub. Um so erschreckender war die Stille draußen. Kenmore gab Arlene einige Anweisungen: »Siehst du die Lichter über der Stadt, die Generatoren laufen ja wieder, und bald wird es noch heller hier werden. Merk dir: niemals und unter keinen Umständen darfst du dich außer Sichtweite dieser Lichter begeben! Und halte dich jetzt eng an mich!« Eine Antwort war nicht nötig, sie kam gleich zu ihm. Die Verlassenheit dieser Landschaft ließ eine Trennung, ja nur den Gedanken daran, zum Alptraum werden. Zur Mitternachtszeit auf dem Mond hatte der Boden die aufgenommene Hitze fast ganz wieder an den Weltraum abgegeben. Und der Weltraum ist kalt! Der Stein, über den sie liefen, war in Wirklichkeit kälter als flüssige Luft, denn der Erdschein war zwar hell, lieferte aber nur geringe Hitze. Und trotzdem konnte man sich in dieser Kälte besser bewegen als am Tag in der Backofenhitze, wo jede Tätigkeit im Freien sich praktisch verbat. Man kann einen Raumanzug genügend heizen, damit der Träger nicht erfriert, aber man kann ihn nicht genügend unterkühlen, damit er im Mond-Sonnenschein nicht zu Beefsteak brät. Joe Kenmore ging zu dem Mond-Jeep hinüber, der leicht schief auf seinem angeschlagenen vierten Rad stand. Das Erdlicht spiegelte sich in seiner Karosserie. Da keine Luft vorhanden war, gab es auch kein Rosten. Selbst Aluminium blieb spiegelblank, wenn man es draußen einmal poliert hatte. Und wenn die Arbeiter in ihren Vakuumanzügen das Metall aus den Erzadern an den Bergflanken herausschmolzen, dann lief das weißglühende
Erz völlig schlackenlos in die Formen. Selbst Eisenerz sah wie Silber aus, wenn man es im luftleeren Raum gewonnen hatte. Voller Sorgen untersuchte Kenmore den Jeep. Die unbemannte Frachtrakete hing immer noch zwischen den Rädern, ein 12 Meter langer Zylinder, der nach dem Abschluß auf der Erde von der Raumplattform aufgefangen, dort mit neuen Raketen ausgestattet und weiter zum Mond geschossen worden war. Dort wurde er mittels Radar beobachtet und seine Landestelle markiert. Es war nämlich viel einfacher, die Frachtraketen ohne Lenkung landen zu lassen und sie dann in die Stadt zu bringen, als sie auf ein bestimmtes Ziel einzuweisen. Diese Rakete konnte Nahrung oder Treibstoff oder auch Ersatzteile mitführen, nur keine Passagiere. Die rasende Beschleunigung, mit der sie von der Erde abkam, sparte zwar Treibstoff, mußte aber jedes Leben vernichten. An sich war das große Jeeprad mit den Drahtspeichen, das so zerbrechlich aussah, außerordentlich haltbar. Aber schließlich war vor einigen Stunden, da hinten in dem Engpaß, ein Felsen von der Größe eines Hauses dagegen geprallt. Da Masse durch geringere Schwerkraft nicht weniger wird, war das Rad schlimm verbogen. Kenmore untersuchte es im Licht seiner Brustlampe. Immerhin war das Fahrzeug nach dem Zusammenprall seine 70 Kilometer durch die Berge gekrochen und hatte die Jagd nach dem Erdschiff ausgehalten. Die Felge war an einer Stelle eingebeult und hatte einen breiten Riß. Es war ein Wunder, daß der Jeep noch einigermaßen aufrecht stand.
»Ein hoffnungsloser Fall ohne gründliche Reparatur«, entschied Kenmore. »Und die Stadtleute haben auf ihrer Flucht alle anderen Jeeps mitgenommen, diese ...« Er brauchte doch den Jeep für die Fahrt zu dem Erdschiff da draußen auf dem Steinsee. Wenn irgend möglich mußte man versuchen, das Erdschiff wieder aufzurichten, damit es Arlene wieder zurück zur Erde bringen konnte. Und es gab genug Gefahren bei Mondfahrten zu bestehen, auch wenn man ein intaktes Fahrzeug benutzte; geschweige denn mit einem beschädigten. Arlene sah zum Firmament auf und Kenmore hörte, wie sie halb singend sagte, »Sternlein, Sternlein – Joe, weißt du, wieviel Sternlein stehen, an dem weiten Himmelszelt?« »Mehr als genug«, erwiderte Kenmore. »Wir werden einige Jahrmillionen nötig haben, zwischen ihnen nach den Planeten zu suchen, die wir besiedeln wollen.« Für Arlene war der Himmel ein unglaublich schöner Anblick. Von der Erde aus sieht man nur verhältnismäßig wenig Sterne; mit dem bloßen Auge kann man selten mehr als dreitausend sehen. Hier aber waren sie so zahlreich wie Sand am Meer, sie strahlten in allen Farben und keiner glich dem anderen. »Ich brauche diesen Jeep«, sagte Kenmore, der sich nicht ablenken lassen wollte, »denn ich muß irgendein Fahrzeug haben, damit wir hier im Notfall alle wegkommen! Nach allem, was passiert ist, mögen die Leute, die Sabotage an der Stadt verübt haben, gar nicht damit einverstanden sein, daß wir immer noch hier sind. Vielleicht kommen sie zurück!« Er sah finster drein. »Eine
schöne Sauerei ist das! Ich sollte den Luftdruck in den Kuppeln wieder hochbringen, aber ich bin nicht sicher ...« »Ist denn so viel Luft vorhanden?« »Hunderte von Tonnen«, tröstete er sie. »Im gefrorenen Zustand. Wir unterkühlen sie jede Nacht und füllen die Tanks vor Sonnenuntergang von neuem.« Arlene konnte ihre Neugierde nicht zurückhalten. »Eigentlich scheinst du dich über das, was hier geschehen ist, gar nicht so sehr aufzuregen. Du bist so ruhig.« »Im Gegenteil. Aber ich denke nicht nur an die Stadt und an das, was uns passieren kann, sondern vor allem auch an das, was man mit der Stadt erreichen wollte und was ihre Zerstörung für Folgen haben kann.« Arlenes Stimme klang jetzt ein bißchen wehmütig. »Du hast mir doch vom Laboratorium erzählt und daß man dort nach Mitteln und Wegen sucht, unbegrenzte Kraft für die Erde zu finden. Du scheinst aber nur an Raketen zu denken und wie man unbegrenzte Antriebskraft für sie entdeckt. Stimmt das nicht?« »Mit chemischen Treibstoffen kommst du nicht sehr weit«, erwiderte er. »Bis hierher schaffen sie es gerade noch. Wenn wir jedoch Atomraketen hätten, dann wäre es ein leichtes, den Mars zu erreichen, und Saturn – oder wenigstens seine Monde, und die Monde vom Jupiter ... Vielleicht eines Tages sogar Pluto.« »Warum denn nur?« »Weil sie da sind«, sagte Joe, der sich ein bißchen in die Verteidigung gedrängt fühlte. »Raketen sind gerade nur ein Anfang, so wie die Rindenkanus die Vorläufer von
Schiffen waren. Wir brauchen etwas, das besser und schneller als Raketen ist. Vielleicht entdeckt man eines Tages ein Energiefeld, mit dem man die Gegebenheiten von Raum und Licht verändern kann, vielleicht sogar über die Lichtgeschwindigkeit hinauskommt. Möglicherweise stellt sich heraus, daß Masse, die ja mit der Geschwindigkeit zunimmt, eine Funktion des Raums ist und nicht der Materie. Ähnlich wie der Luftwiderstand bei Erreichen der Schallgeschwindigkeit nicht am Flugzeug liegt, sondern an der Luft. Wenn wir es jemals schaffen, Raum mit einem Energiefeld zu verändern, dann werden wir die Fähigkeit erworben haben, zu den Sternen vorzudringen!« »Und dann?« »Wir werden – nun, wir werden eben dahinfliegen und uns dort niederlassen ...« Arlene lächelte vor sich hin. »Ich wette, vor Tausenden von Jahren fragte eines Tages ein Höhlenmädchen ihren jungen Wilden, warum um Gottes willen er unbedingt nach Höhlentigern jagen müsse, wo sie doch an ihrer Höhle einen so urgemütlichen Unterschlupf hätten. Und ich wette, daß er ihr ungefähr dieselbe Antwort gegeben hat wie du mir eben, Joe.« Kenmore sah sie, unsicher geworden, an. »Und ich wette«, fuhr sie unbeirrt fort, »wenn die Menschen auf allen Sternen gewesen sind und alle Planeten besiedelt haben – ich wette, dann fragt eines Tages ein Mädchen draußen in der Milchstraße ihren Geliebten, warum um Himmels willen er zu einer neuen Sterneninsel
fliegen will, wo der Planet, auf dem sie beide geboren wurden, doch ihnen alles zum Leben liefere.« »Vielleicht«, mußte Kenmore zugeben, »vielleicht hast du recht.« »Und bestimmt wird sie ihn sehr liebhaben«, sagte Arlene träumerisch, »wenn er ihr nachgibt, aber sie wird sehr stolz sein, wenn er bei seinem Entschluß bleibt.« Für einige Zeit sagte keiner etwas, bis sich Kenmore zu einem schwachen Protest aufrang. »So wie du es darstellst, gibt es doch gar keinen Sinn, Liebes.« »Doch«, sagte sie ein bißchen traurig. »Das Mädchen würde sich vielleicht damit zufriedengeben, stolz auf ihren Geliebten zu sein – eine Zeitlang wenigstens.« Plötzlich ging mit dem Licht über ihnen eine kaum wahrnehmbare Veränderung vor. Kenmore sah aufmerksam nach oben. Die Auspuffflamme einer Rakete war inmitten der Sternlichter aufgetaucht. Sie kam nicht eigentlich herab, sondern trieb über den Himmel auf sie zu. Und an ihren scharfen Umrissen sah Kenmore, daß sie nicht weit weg sein konnte. Deutlich hob sich die Flamme von dem Kranz der hellen Auspuffgase ab. Ihre breite Basis war vorn, ohne Zweifel also eine Rakete, die im Begriff war zu landen – aber inmitten und hinter den Bergen, wenn sie ihre Geschwindigkeit nicht wesentlich herabsetzte. »Sieh doch!« schrie Kenmore aufgeregt. »Die Pendelrakete zum Laboratorium! Mike Scandia fährt sie – du kennst ihn doch. Er ist viel zu hoch! Der Radarstrahl funktioniert offenbar immer noch nicht.«
Er zerrte eine Signalrakete aus dem Futteral, riß die Kappe ab, zielte nach oben und drückte ab. Funkensprühend sprang sie ihm aus der Hand und stieg und stieg ... Die Raketenflamme leuchtete plötzlich doppelt so hell auf. Ihre Bewegung verlangsamte sich sichtlich. Kenmore krümmte sich unbewußt. »Das sieht böse aus«, sagte er sorgenvoll. »Mike muß unter doppelter Erdanziehungskraft verlangsamen, aber jetzt benutzt er die vierfache! Das ist schwer auszuhalten, wenn man so lange auf dem Mond gewesen ist ...« Der Anblick war gespenstisch: die schwach erleuchteten Staubhaufen der Stadt, die wild gezackten Berge, deren Gipfel von silbernem Staub bedeckt waren und zwischen denen die düsteren Abgründe lauerten, die gründliche Erdscheibe, die da am Himmel hing, und die grellweiße Flamme über ihnen, die in die rote Funkenbahn hineinflog ... Noch ehe die erste Signalrakete ausgebrannt war, jagte Kenmore eine zweite hoch. Er verhedderte sich und Arlene reichte ihm geschwind eine aus ihrem Vorrat. Er wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Mike Scandia – Arlene wußte, daß er Kenmores Freund war. Und nun saß er in der rasenden Rakete über ihnen. Die Flamme zwischen den Sternen hatte nun eine beinahe unerträgliche Helle angenommen, die sogar noch zunahm. Das bedeutete Verlangsamung unter sechsfacher Erdschwere! Kenmore schoß eine Rakete nach der anderen hoch, um Mike klarzumachen, daß sein Landeplatz hier
war. Nirgendwo anders! Die Flamme wurde immer langsamer, bis sie stillzustehen schien. Dann sprang ein Teil von ihr ab und verlor sich im Nichts. Der Rest wurde heller und heller, teilte sich plötzlich, und der jetzt bleibende Rest brannte herniederschwebend aus. Kenmore schoß immer noch Signalraketen ab. Aber im Schwerefeld des Mondes fallen Gegenstände langsam. Dann erschien über ihnen ein schwach erleuchteter Fleck. Er war so tief, daß Arlene angstvoll fragte: »Wird er eine Bruchlandung machen, Joe?« »Jetzt nicht mehr. Der Radarstrahl von der Stadt scheint immer noch nicht zu funktionieren – ich hätte mich darum kümmern sollen! Und Mike konnte es ja nicht wissen. Alle Verbindungen wurden doch unterbrochen, als die Stadt aufgegeben wurde. Niemand wies ihn ein, als er aus dem Raum kam. Bestimmt wäre er in den Bergen runtergekommen ...« Kaum hundert Meter über ihnen leuchtete es plötzlich so grell auf, daß Arlene sich abwenden mußte. Der Lavasee, die Stadt und sogar die Berghänge waren taghell beleuchtet. Ganz langsam kam die Flamme herunter und senkte sich auf die Oberfläche des Mare kaum 500 Meter weit weg. Endlich sahen sie auch, woher die Flamme kam – ein geradezu zierlich gebautes Raketenschiff, das viel, viel kleiner als das Erdschiff war. Noch einmal zuckte die Flamme unerträglich hell auf, schoß dann mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit hoch und entfernte sich über die Berggipfel hinweg, bis sie
erlosch. Das kleine Raketenschiff vom Laboratorium, der Weltraum-Pendler, blieb auf seinen Landestützen aufrecht stehen. Sie sahen, daß sich an der Seite eine Tür öffnete und kurz darauf hörte Kenmore in seiner Ohrmuschel eine heisere, brüchige Stimme, die voller Wut sagte: »Dafür wird irgend jemand Prügel beziehen! Warum zum Teufel, war denn der Landeleitstrahl nicht eingeschaltet?« Eine kleine Gestalt, die in ihrem plumpen Vakuumanzug noch grotesker wirkte, kletterte am Schiff herunter zu dem Lavasee, und Kenmore hörte, wie sie dabei Himmel und Hölle verwünschte. »Mäßige dich, Mike!«, mahnte er. »Arlene hört dir nämlich zu. Sie steht hier neben mir. Und damit du es gleich weißt: die Stadt ist aufgegeben und ein großes Durcheinander herrscht hier.« »Durcheinander?« wütete die brüchige Stimme. »Du solltest mal sehen, wie die Kerle da oben in dem Lab...« Sie brach ab und fragte verblüfft: »Arlene Gray? Aber Arlene, du gehörst nach Hause auf die Erde und nicht hierher. Wer hat dich denn heraufkommen lassen?« Die kleine Gestalt in dem übergroßen Vakuumanzug schwebte in einem langen grotesk aussehenden Mondsprung auf sie zu und landete ziemlich genau neben ihnen. Sie griff mit ihren plumpen Handschuhen nach denen von Arlene. Und diese Begrüßung zwischen dem hochgewachsenen Mädchen und dem Zwerg, denn Mike war tatsächlich ein Zwerg, sah genauso unglaubwürdig aus wie die Umgebung, in der sie standen.
Im Augenblick war Kenmore etwas erleichtert. Der Pendler war zwar nur knapp der Zerstörung entgangen; die Möglichkeit eines Angriffs auf die Stadt von außen bestand nach wie vor; sein Jeep war beschädigt worden, bei dem Versuch, seine Insassen umzubringen, und Lebensgefahr für sie alle drei, ja, sogar für die Ferngeschoßanlagen, bestand nach wie vor. Aber Kenmore fühlte sich so erleichtert über die einigermaßen sichere Landung des Pendlers, daß er nicht recht wahrnahm, was Mike über die geistige Zurechnungsfähigkeit der Besatzung des Raumlaboratoriums zu sagen wußte. Und das war nicht sehr schmeichelhaft!
Sabotage Das Raumlaboratorium hatte Mike Berichte mitgegeben, die für die Wissenschaftler und Verwaltungsbehörden bestimmt waren; denn dieses Projekt der Stadt, des Laboratoriums und des Nachschubs erforderte natürlich eine große Organisation. Er ging in die Nachrichtenzentrale, um sie erst verschlüsseln und dann senden zu können. Bevor er sie verließ, sagte er zu Kenmore: »Das Labor ist ein Irrenhaus, die Kerle da oben haben ihren letzten Verstand verloren.« Dann verschwand er. Inzwischen zeigte Kenmore Arlene die erstaunlich einfachen Navigationsapparate des kleinen Pendlerschiffs. Es wurde von festem Treibstoff angetrieben wie das Erdschiff bei seiner Rückfahrt, weil man festen Treibstoff leicht mit den unbemannten Frachtraketen transportieren konnte. Flüssiger Treibstoff war unbequem zu verfrachten. Voneinander getrennte Düsenrohre waren an der Außenseite des Mantels aufgehängt. Je nachdem konnte Mike eins abfeuern, das mit 12-3 markiert war. Das hieß, der Pendler erhielt während 12 Sekunden eine Beschleunigung von 3 G. Oder er konnte eine 10-2, eine 52, eine 6-3 abschießen. Auch konnte er die Beschleunigung herabsetzen, indem er eine brennende Rakete abstieß, bevor sie ausgebrannt war. Sie flog dann mit irrsinniger Geschwindigkeit davon und verlor sich im Raum oder knallte gegen die Mondberge. So war Mike gelandet. In der Stadt hatte Scandia inzwischen seine Berichte
abgeschickt und sich ordentlich satt gegessen. Dann hatte man ihn Cecile Ducros vorgestellt, wogegen er sich etwas gesträubt hatte, oder zierte er sich nur? Stunden später fand Lezd nach einigem Suchen Kenmore. »Erde ruft«, sagte er dringlich zu Kenmore. »Sind Sie eigentlich hier der Boss?« »Nur im Notfall«, erklärte Kenmore. »Gewöhnlich ist es doch so: Passiert etwas, übernimmt meistens der die Leitung, der sich am meisten ärgert. In diesem Fall habe ich mich weit mehr geärgert als alle anderen. Also habe ich zur Zeit die Leitung.« Lezd nickte. »Ich kenne mich in meinem Handwerk aus. Und ich weiß sofort, wer sein's versteht. Wenn ich Ihnen helfen kann, sagen Sie's mir nur ruhig. Erde verlangt Sie zu sprechen.« »Danke bestens für das Kompliment!« sagte Kenmore und lief in die Stadt. Er nahm die Verbindung an und sagte ungeduldig: »Kenmore, im Mond, was ist?« Die Pause von drei Sekunden. Dann die Stimme von der Erde: »Geben Sie das bitte weiter. Am Schluß dieser Meldung wird eine Meldung in Code durchgegeben, die sofort zum Raumlaboratorium gebracht werden muß. Alle anderen Maßnahmen, auch notwendige Reparaturen, sind zurückzustellen. Geben Sie sofort Befehle, daß die Pendlerrakete Treibstoff nachtankt und sich für die Rückfahrt nach dem Raumlaboratorium fertigmacht.« Kenmore brüllte Mikes Namen. Der erschien mit verdrießlichem Gesicht im Türrahmen. »Sofort fertigmachen zur Rückfahrt zum Laboratorium.
Unverzüglich, sofort!« Mike fluchte und lief hinaus. Kenmore sprach wieder in den Apparat. »Befehl ist erteilt. Was noch?« »Die Ferngeschoßanlagen«, sagte die Stimme von der Erde nach der üblichen Drei-Sekunden-Pause, »berichten, daß noch immer keine Flüchtlinge aus der Stadt angekommen sind. Nach Ihrem Bericht müßten sie längst da sein. Vielleicht haben sie sich verirrt. Man wird jetzt von den militärischen Anlagen aus mit Jeeps auf die Suche gehen.« Kenmore wurde es ganz schlecht, als er das hörte. 150 menschliche Wesen waren in einer Panik vor 20-40 oder gar 60 Stunden von hier weggefahren. Sie konnten u.U. in eine ähnliche Falle gefahren sein, wie er und Moreau, und von einem gesprengten Berg begraben worden sein. Sie konnten sich hoffnungslos verirrt haben, und auch an ihren Jeeps konnte Sabotage verübt worden sein. Im ersten Fall waren sie bereits ermordet. Im zweiten Fall bestand nur noch wenig Hoffnung. Im letzten Fall – nun, es war leicht, sich vorzustellen, wie es in den festliegenden Jeeps aussah, und in den Menschen, die darauf warteten, daß entweder die Luft entwich oder die Sonne aufging. Wenn sie nicht vor Sonnenuntergang erstickten, dann wurden sie von der irren Hitze des Mondtags in ihren Stahlgehäusen schnell und sicher geröstet. Die Stimme fuhr fort: »Bis die Stadt einem neuen Vorgesetzten unterstellt wird, machen Sie alle Reparaturen, die sich machen lassen. Aber erst muß die Codemeldung
zum Raumlaboratorium gebracht werden. Sie darf durch nichts aufgehalten werden, verstanden! Jetzt folgt die Codemeldung.« Das Gesicht des Durchsagers verschwand vom Bildschirm, und die ersten morseähnlichen Zeichen der Codemeldung erschienen statt dessen. Kenmore schaltete die Übertragung ein und Arlene, die inzwischen hereingekommen war, half ihm dabei. Er erzählte ihr ohne Dramatisierung, daß die 15 Jeeps, die fluchtartig die Stadt verlassen hatten, noch immer nicht angekommen waren. »Wenn natürlich irgendwo eine Partisanenstreitmacht auf dem Mond gelandet ist, könnte sie jetzt auf dem Weg hierher sein. Oder sie könnte der Spur eines Jeeps von einer Ferngeschoßanlage nachfahren und sie so finden. Aber ich glaube, es ist viel einfacher. Die Verräter sitzen hier in der Stadt. Mike muß eine Sonderfahrt zum Laboratorium machen, mit der Codemeldung.« Arlene zögerte etwas, dann sagte sie: »Ich sollte mit ihm fahren. Dann könnte ich Material für die weiteren Fernsehsendungen von Cecile holen. Du glaubst doch nicht, daß mir was passieren kann, oder?« »Hier ist jetzt der zweitunsicherste Platz im ganzen Sonnensystem. Wenn es einen noch unsichereren gibt, dann ist es das Laboratorium. Viel Auswahl ist also nicht.« »Dann werde ich mir meinen Atemapparat anlegen«, sagte Arlene. »Paß bitte auf, ob ich es richtig mache.« Er sah, daß sie mit der Ausrüstung Bescheid wußte. Aber er wußte auch, daß die Vorratsbehälter des
Vakuumanzugs nur für zwei Stunden Luft enthielten. Um den Druck von 20 500 Pfund aushalten zu können, müssen die Luftbehälter selbst auf dem Mond starke Wände haben; sie waren also eine ziemlich große Last. Dann gingen sie in das erhabene Schweigen hinaus, das die Stadt umgab. Nichts schien sich verändert zu haben. Ein Mondtag entspricht 14 Erd-Tagen, mit den Nächten ist es dasselbe. Kurz vor Mitternacht war ein Berg über Kenmores Jeep in die Luft gesprengt worden, und noch immer kurz vor Mitternacht hatte er nach dem gestrandeten Erdschiff auf dem Lavasee gesucht. Auch jetzt war knapp die Hälfte der zwei Wochen langen Dunkelheit der Mondnacht um, die Sterne schienen noch immer an den gleichen Stellen zu stehen, und die Schatten in den Bergen waren nicht weiter gewandert. Nur wenn man sich nach der großen schimmernden Erde über einem orientierte, wurde die Veränderung sichtbar, die mit der Stellung der Sterne zur Erde vorgegangen war, und die Kontinente hatten sich mit der Rotation der Erde verschoben. Jetzt hörten sie Mikes Stimme in ihren Kopftelefonen. Sie kam von dem kleinen Pendlerschiff her. »So doch nicht! Langsam! Du hast aber auch den Verstand einer bejahrten Mücke! So herum ...« Pitkin brummelte was vor sich hin und hob eine lange Röhre hoch, damit Mike sie in den Halter einrasten konnte. Natürlich macht das jeder Pilot selbst, schon aus Vorsicht, damit er sicher sein konnte, daß seine Antriebssätze auch funktionierten. In Mikes Bemerkungen über die mangelnde
Intelligenz von Pitkin hinein, sagte Kenmore durch sein Helmtelefon. »Arlene begleitet dich, Mike. Sie will ein bißchen Atmosphäre im Weltraum einfangen – wenn du das wörtlich nimmst, ein hartes Unterfangen – damit Cecile Ducros bei seinen Sendungen so tun kann, als war sie selbst oben gewesen.« Mike erstarrte zu Stein, er hatte gerade nach oben klettern wollen. »Das kommt mir gerade recht. Ich wollte sowieso meutern! Außerdem brauche ich einen Zeugen, damit er meinen Bericht über diese Bande von Eierköpfen da oben belegen kann!« »Warum denn das?« wollte Kenmore wissen. »Das habe ich dir doch schon vorhin gesagt: sie schnappen totsicher über, und das dauert nicht mehr lange«, sagte Mike böse. »Schließlich habe ich ja auch meine Augen im Kopf. Die sind wie Gläser, die einen Sprung haben – ein kleiner Anstoß und du hast nur noch Scherben. Ich dachte ja, mein Bericht zur Erde würde denen da zeigen, was im Labor los ist, und sie dazu veranlassen, wenigstens einige auf den Mond zu holen, damit sie sich hier ein bißchen erholen konnten. Aber das ist hier ja auch kein Sanatorium mehr. Und ich sage dir, die haben nicht mehr alle beieinander in ihrem Oberstübchen. Nur, mir allein wird man nicht glauben!« Arlene sah von einem zum anderen. Ihr Anzug glitzerte unirdisch. »Es steht ganz schlecht!« drängte Mike. »Es steht so schlecht, daß sie es vielleicht nicht einmal Arlene und mir glauben werden.« »Ich rufe Erde an!«, sagte Kenmore kurz entschlossen,
drehte sich um und ging in die Stadt. Als er wieder herauskam, hörte er gerade Arlene fragen: »Kannst du hier eigentlich einen Kompaß benutzen, Mike?« »Was?« fragte Mike. »Nein, brauchst du hier nicht. Sieh nach oben. Die liebe kleine Erde dient dir als Wegweiser hier. Na?« »Ich komme mit«, sagte Kenmore. »Moreau übernimmt das Kommando.« Er stieg hinter Arlene an der Landefinne zum Einlaß hoch, ließ ihr den Vortritt, und in fünf Minuten waren sie startfertig. Jetzt war Mike in seinem Element. Wie ein Fremdenführer einer Gruppe von Touristen begann er ihnen zu erklären: »Also, wir starten mit zwei G, das heißt, die Beschleunigung nach dem Start entspricht der doppelten Erdanziehungskraft. Das ist langsam genug, so daß du das Panorama genießen kannst, Arlene. Ich gebe Feuer – 5 Sekunden, 4 – 3 – 2 –« Er drückte auf einen Knopf, der das Zeichen »5-2« trug, ein dumpfes Röhren ertönte und im gleichen Moment lastete ein großes Gewicht auf ihnen. Gezählt hatte er die Sekunden bis zum Abschluß nur, um sich und den anderen Zeit zum tief Luftholen zu geben. Bei dieser Beschleunigung war's gut, wenn man die Lungen voll Luft hatte. Das Gewicht lastete aber nur 5 Sekunden auf ihnen. 5-2. Fünf Sekunden, zwei G. Dann fühlten sie überhaupt kein Gewicht mehr. Die Stille war geradezu erholsam. Die Rakete trieb höher und höher. Auf einem Druckknopf hin
schoben sich die Schutzplatten vor den Luken beiseite – jenseits des Mondschattens würden sie wegen des Sonnenscheins wieder geschlossen werden müssen – und Arlene konnte auf die unwirklich wirkende Landschaft herabsehen, auf den staubigen, gefrorenen See und die Berge, die immer kleiner wurden. Ungefähr 90 Sekunden lang trieb das Schiff nach oben. Und je höher es stieg, desto weiter wurde der Blick. Immer neue Berge konnte man in ihrer unheimlichen Schönheit erblicken, und als sie 7000 Meter erreicht hatten, lagen auf der einen Seite Tausende von Quadratmeilen Berge und auf der anderen Seite der Lavasee unter ihnen, dessen Ufer sich über den Horizont hinaus erstreckten. »Ganz hübscher Ausblick, nicht wahr, Arlene?« sagte Mike. »Ich dachte, das würde dir Spaß machen. So, und nun drehen wir zum Labor ab. Legt euch zurück, ab geht die Post!« Zu Joe sagte er im Flüsterton: »Eine 6-3, Joe. Das gibt Fahrt.« Mike erzählte wieder wie vorhin: »5 – 4 – 3 – 2 – 1 –« Er drückte auf den Knopf und das Weltall schien zu explodieren. Es war ein Wunder, daß das Schiff sich nicht in seine Bestandteile auflöste. Wohl brannte eine Rakete draußen ab. Die Beschleunigung jedoch, mit der das kleine Schiff vorwärts gerissen wurde, entsprach niemals 3 G. Unter dem ungeheuren, unerträglichen Stoß wurde Joe Kenmore in seinen Konturenstuhl gepreßt, so daß er keiner Bewegung mehr fähig war. Er fühlte, wie seine Wangen nach hinten gezerrt wurden und sein Gesicht sich in eine groteske, zähnefletschende Maske verwandelte. Sein Körper schien immer platter zu werden, und er hatte das
Gefühl, gleich werde er unter dem Druck des sich in seinem Rücken ansammelnden Blutes bersten. Er kämpfte verzweifelt mit einer Ohnmacht, weil alles Blut sich in seinem Hinterkopf staute. Es schien Jahrhunderte zu dauern. Endlich hörte der greuliche Druck auf. Das Bewußtsein kehrte wieder und er versuchte sich zu bewegen. Zuerst wollten ihm Arme und Beine nicht gehorchen; er brachte nur hilflose Gesten zustande. Dann krächzte er heiser: »Arlene, Arlene! Bist du noch am Leben?« Zuerst kam keine Antwort. Er zerrte sich hoch – nun wieder gewichtslos – und das Licht ging wieder an. Nachdem er sich mühsam zu dem Stuhl Arlenes gezogen hatte, sah er, daß ihre Augenlider sich schwach bewegten. Also war noch Leben in ihr. Dann vernahm er Mikes Stimme hinter sich. Keuchend rang er nach Atem. Mikes Körper krümmte sich vor Wut und zwischen hastigen Atemzügen stieß er zusammenhanglos Worte hervor. »Das war – Absicht! Diese Raketen – hab sie selbst überprüft. An denen hat einer herumgepfuscht. Der wollte uns umbringen. Das war eine Erdschiffrakete. Viel zu stark für den Pendler! Diese Hunde ...« Vor Wut versagte ihm die Stimme. Kenmore rief laut, immer wieder: »Arlene – Arlene ...« Endlich ein Flüstern: »Ich denke – ich hab's überstanden ...« Langsam begann Kenmore zu begreifen, was für ein Verbrechen gegen die Stadt, am Laboratorium und an ihnen begangen worden war. Er zog sich zu einer Luke und
sah hinaus. Das Schiff hatte den Mond weit hinter sich gelassen; das wollte noch nichts heißen. Es trieb immer weiter, was auch nicht schlimm war, auch wenn ihre Geschwindigkeit jetzt 1000 Meter pro Sekunde betrug. Selbst das brauchte noch nicht den Tod zu bedeuten. Aber eine der Raketen war mit der falschen Bezeichnung versehen worden. Mike hatte sie selbst aus dem Lager geholt und in ihre Gestelle eingesetzt. Aber anstelle einer Rakete mit festem Treibstoff, der dem Pendler sechs Sekunden lang eine Beschleunigung von 3 G verleihen sollte, hatte Mike eine Rakete abgefeuert, die das große Erdschiff antreiben sollte. Der Pendler war einem Stoß ausgesetzt worden, mit dem sonst ein Schiff gestartet wurde, das das Zwanzigfache wog. Es sah schlimm aus. Was wußten sie denn, was die anderen Raketen enthielten! Noch eine solche Erdschiffrakete und das kleine Pendlerschiffchen würde wie eine Eierschale zerbrechen. Ohne Raketen jedoch ging es nicht. Das Schiff stieg; es mußte zur Rückfahrt gewendet werden. Sonst würde es beginnen, wieder zur Erde zurückzufallen, und beim Eintritt in die Atmosphäre wie ein Meteor flammend aufleuchten und vergehen. Und sollte es ihnen gelingen, wieder zum Mond zurückzukehren, mußten sie den Fall verlangsamen, damit sie nicht in die Mondfelsen krachten. Irgendwie mußte es hinuntergebracht werden, und jedes dieser Manöver erforderte das Abfeuern von Raketen. Jeder Abschluß konnte wieder das Schiff zum Zerbersten bringen, weil es Kräften ausgesetzt wurde, für die es nicht gebaut war.
Überdies hatte es keinen Sinn, irgendwo auf dem Mond zu landen. Auf der ihnen zugewandten Mondseite war ein riesiger Kontinent, größer als ganz Nordamerika. In diesem ganzen riesigen Gebiet, inmitten der Hunderte von Kilometern langen Gebirgszüge, lagen nicht mehr als drei Ferngeschoßanlagen und vier Radarstationen sowie die Zivilistenstadt. Acht Nadeln im Heuschober eines unerforschten Kontinents. Und falls das Schiff heil heruntergebracht wurde, dann trugen sie in ihren Vakuumanzügen einen Luftvorrat für lächerliche zwei Stunden mit sich. Die Chancen ließen sich ausrechnen: für eine Landung ohne Bruch – gering; für Überleben nach einer Landung – winzig; für eine Landung in der Mondnacht in Sprungweite einer Behausung – keine. Überleben schien tatsächlich vollständig unmöglich. Man konnte es auch umkehren: die Chancen gegen sie bewegten sich in astronomischen Zahlen, wenn sie etwa hätten wetten wollen, daß sie es schaffen würden.
Das Wrack Mit spröder Stimme sagte Mike dann in die Stille hinein: »Im Film würden wir jetzt mit magnetischen Schuhen an der Außenwand herumlaufen und alles wieder in Ordnung bringen. Würde sich sehr dramatisch machen, was?« Es sollte spöttisch klingen, aber die Verzweiflung war herauszuhören. Für diese Situation gab es keine einfache oder dramatische Lösung. Eigentlich gab es überhaupt keine Lösung; sie waren im Grunde schon tot. Mike sah, was Kenmore tat. Hoffnung, nein, die hatte er nicht mehr, aber er würde natürlich tun, was Joe sagte. Alle drei hatten noch immer ihre Vakuumanzüge an und nur die Helme abgelegt. Kenmore streifte den oberen Teil seiner Rüstung ab, um besser arbeiten zu können. Er zerriß einen Kissenbezug in Streifen, probierte ihre Haltbarkeit aus und reichte einen Mike. »Sag mir, ob er einen Ruck verträgt«, befahl er. »Ich mach noch ein paar. Wir müssen auf alles vorbereitet sein, falls das Schiff Luft abgibt.« Mit seinen plumpen Liliputanerhänden probierte Mike den Streifen aus und nickte dann. Sein Kopf wirkte in dem Halsring des Vakuumanzugs noch kleiner, als er schon war. »Damit kann ich den Auslöser ziehen.« Er sah jetzt, wo Kenmore hinauswollte. »Kann ich nicht auch was tun?« fragte Arlene ruhig. »Beten!« sagte Kenmore, ohne seine Arbeit zu
unterbrechen. »Das kannst du besser als wir.« »Und ich werde ›Amen‹ sagen«, fügte Mike hinzu. Das kleine Pendlerschiff trieb höher und höher. In seinem Inneren gab's kein Gewicht. Mike saß vor dem Instrumentenbrett seines Schiffes, und Kenmore machte Schlingen in die Tuchstreifen und band sie an die Handauslöser für die außen angebrachten Raketen. Wenn die mechanischen Auslöser versagten, konnte man es immer noch mit der Hand tun. Kenmore prüfte jeden Streifen mehrmals. Er wunderte sich, daß ihm das eingefallen war, daß er überhaupt klar denken konnte. Von Anfang an hatte es bei dem ganzen Projekt, zu dem die Stadt gehörte, Sabotageakte und Mordfälle gegeben. Aber das waren kleine Fische gegen das gewesen, was jetzt offensichtlich geplant war – ein verzweifelter Frontalangriff. Der Jeep Kenmores sollte von der Steinlawine zerquetscht werden. Das Erdschiff sollte ohne den Leitstrahl eine Bruchlandung machen. Der Pendler sollte auf der Rückfahrt vom Laboratorium am Apennin-Gebirge zerschellen, und wenn das nicht klappte, sollte er bei dieser Fahrt zum Laboratorium sich in seine Bestandteile auflösen. Und dann das Verschwinden aller Leute aus der Stadt. All das war im Grunde dazu angetan, sie vor Wut oder Verzweiflung völlig kopflos zu machen. Komischerweise hatte sich keine dieser Reaktionen eingestellt – vielleicht, weil sie zu stolz waren, sich von solchen Schurkereien besiegen zu lassen. Der Rumpf des Pendlerschiffs war schon der äußersten
Beanspruchung ausgesetzt worden; noch ein solcher Stoß konnte es aufbrechen. Zwei oder drei von dieser Sorte, und es würde sich unvermeidlich in ein Gewirr von Metallstücken verwandeln, die statt auf einen Abfallhaufen geworfen zu werden, hilflos im Weltraum umhertrieben. Kenmore hatte die Tuchstreifen um alle Handauslöser geknotet. Fertig! Dann stopfte er die Kissenreste in Arlenes Helm, als Schutz gegen die Stöße. »Schließ deinen Anzug«, befahl er ihr. »Wenn wir so ein falsches Ding an Bord haben, wird dein Hinterkopf besser geschützt sein. Zieh jetzt den Helm auf und schalte deinen Funk ein.« Sie gehorchte, setzte sich in ihrem Konturenstuhl zurecht und lächelte ihn dabei ermunternd an. Kenmores Lächeln war nur eine Grimasse. Mike streifte sich eine Tuchschlinge über die Hand; das andere Ende war an den Handauslöser einer Rakete geknotet. Bei zwei, drei, sogar noch bei vier G konnte er seine Hand noch hochhalten. Wurde die Beschleunigung jedoch größer, wie bei dem letzten Raketenabschuß – er traute sich die G-Menge nicht vorzustellen –, mußte seine Hand dem Druck nachgeben, und mit dieser durch die Beschleunigung erzwungenen Abwärtsbewegung würde er mittels der Tuchschlinge den Handauslöser betätigen. Die Rakete würde sich vom Schiff trennen. »Dreh das Schiff herum!« Kenmore hatte ganz unbewußt das Kommando übernommen. »Ziel nach der Stadt und zähl langsam! Zum Laboratorium schaffen wir's diesmal doch nicht.«
Mit spröder Stimme sagte Mike: »Das sollte jetzt eine 10-2 sein. 5 – 4 – 3 – 2 –« Gewicht machte sich bemerkbar, aber es war erträglich. Es war eine 10-2-Rakete; zwei G zehn Sekunden lang. Das Schiff hatte sich gedreht und zeigte mit der Nase wieder zum Mond. Die Geschwindigkeit, mit der er sich von ihm wegbewegte, war geringer geworden, hatte aber noch nicht ganz nachgelassen. Als der Druck aufhörte, sagte Mike ruhig: »Jetzt also eine 6-3. 5 – 4 – 3 –« Wie von einer Ramme getroffen wurde Kenmore nach hinten in seinen Stuhl gedrückt. Aber auch Mikes Hand wurde niedergedrückt, und der Auslöser betätigt. Die überstarke Erdschiffrakete löste sich von dem Pendler und verschwand mit einer Geschwindigkeit, die auch ein Elektronengehirn nicht hätte errechnen können. Wahrscheinlich würde sie sich ein Loch in die Mondoberfläche bohren. Das Schiff war nach wie vor gewichtlos und seine Geschwindigkeit unverändert. Die Rakete war zur rechten Zeit ausgelöst worden, um sie an ihrem Zerstörungswerk zu hindern. Aber der Schreck langte ihnen auch so. Wütend sagte Mike: »Ist hier etwa noch einer am Leben?« Mit etwas zittriger Stimme kam es von Arlene: »Zufällig ich!« »Und Joe knirscht vor Wut mit den Zähnen. Ich kann ihn bis in meinen Helm hören.« Dann knurrte er wütend: »Wir verlieren Luft. Dieser Stoß war zu hart.« Er riß sein Gesichtsfenster auf und schrie in das
Mikrophon für den Außenfunk: »Ihr Schlafmützen da unten in den Radarstationen! Wenn ihr wissen wollt, was das für ein Klecks auf dem Schirm ist, der da in den Weltraum hinausfliegt – das sind wir. Ich, Mike Scandia, zusammen mit Joe Kenmore und Arlene Gray an Bord des Pendlers. Wir versuchen zurückzukommen. Vielleicht schaffen wir's. Bleibt auf unserer Spur! Jemand in der Stadt hat die Raketen falsch markiert. Sabotage!« Er knallte das Gesichtsfenster wieder zu, und Kenmore hörte, wie er nach Luft schnappte. Die Luft wurde schnell dünner, man sah es am Druckanzeiger. Die Nadel sank rapide ... Die Platten mußten an einer Stelle durch den letzten Stoß einen Riß bekommen haben. Mike hatte die letzte mögliche Sekunde dazu benutzt, seine Meldung herauszubellen. Vielleicht war sie von einer der vier Radarstationen aufgefangen worden, die die unbemannten Lastraketen von der Erde zu beobachten hatten. Die Luftdrucknadel sank auf Null, jetzt war alle Luft entwichen. Aus einem geschlossenen Vakuumanzug konnte man nicht raumfunken, noch in ihm empfangen. Es ließ sich also nicht feststellen, ob Mikes Meldung aufgenommen worden war. Es war nicht sehr wahrscheinlich. Die Radarbeobachter saßen eigentlich nur dann an ihren Apparaten, wenn Lastraketen erwartet wurden. Jetzt war keine gemeldet; wonach sollten sie also Ausschau halten. Giftig sagte Mike in seinen Funkapparat, kaum daß er wieder zu Luft gekommen war: »Ich hätte sie früher anrufen sollen. Keine große Aussicht, mich bemerkbar zu machen, aber immerhin ...! Haltet die Luft
an! Ich schieße jetzt eine 6-3 ab. 5 – 4 – 3 – 2 – 1 –« Wieder ein irrsinniger Stoß, wie von einer Faust. Sie fielen alle in Ohnmacht. Aber auch diese Rakete löste sich selbst durch das Gewicht aus, mit dem sie Mikes Hand in der Schlinge niederdrückte und dadurch den Handauslöser betätigte. »Das sieht bitter aus!« sagte Mike eiskalt. »Fertig, Joe? Ich versuch mal eine 4-3. Wenigstens steht diese Zahl drauf. 5 – 4 –« Es war tatsächlich eine 4-3. Die Rakete arbeitete dem Schub entgegen, der den Pendler hinaus in die Sternennacht trieb. Als sie ausgebrannt war, gab Mike Vorwarnung und feuerte wieder eine ab. Auch die war in Ordnung. Drei Raketensätze später war die Kraft gebrochen, die sie in den Weltraum hinaus getrieben hatte. Noch eine Antriebsflamme und noch eine ... Das Pendlerschiff bewegte sich wieder auf den Mond zu, in seinem Inneren jetzt luftleer. Kenmore sagte in seinen Helmfunk: »Mike, jetzt fliegen wir zurück. Ich glaube, wir lassen uns treiben. Keine Raketen mehr, bis wir's annähernd geschafft haben. Das Schiff hält es kaum noch aus, es kann jeden Augenblick auseinanderfallen. Wenn wir's aber in einem Stück herunterbringen, können wir die Markierungen an den Raketen prüfen und sehen, was wir noch haben. Vielleicht können wir noch mal starten und näher an die Stadt herankommen. Also erst wieder feuern, wenn wir dicht über dem Boden sind!« Widerwillig gab Mike nach: »Hat einiges für sich. In der Zwischenzeit male ich mir aus, was ich mit dem Kerl
anfange, der die Markierungen getauscht hat.« Das kleine Schiff trieb hinunter. Sie trieben dem Mond mit unbestimmbarer Geschwindigkeit entgegen. Wenn die schwache Anziehungskraft auf sie einzuwirken begann, würden sie noch schneller sinken. Man konnte der Meinung sein, daß die Anziehungskraft gar nicht in Rechnung gestellt zu werden brauchte, weil ihre Fallgeschwindigkeit so gering war. Das Schiff würde nur mit dem sechsten Teil der Geschwindigkeit, und deshalb auch nur mit dem sechsten Teil der Kraft, aufschlagen, mit der ein Gegenstand von gleicher Größe aus der gleichen Höhe auf die Erde auftreffen würde. Aus einer Höhe von 5 Metern würden sie nicht härter auftreffen, als wenn sie von 80 Zentimeter auf die Erde herunterfielen. Nur betrug ihre Höhe jetzt 40 000 Meter oder sogar mehr. Natürlich konnten sie jetzt nicht viel tun. Sie konnten gewichtlos in ihrem luftleeren Gefängnis herumschweben. Die Kreiselkompasse des Schiffs liefen noch und hielten seine Nase in die Richtung, in die es die letzte Rakete gedreht hatte. Kenmore hangelte sich zu der vorderen Ausguckluke. Mit einem Seufzer stellte er fest: »Wir werden auf einem See runterkommen.« Scandia gab keine Antwort, und Kenmore hörte ihn voller Wut mit den Zähnen knirschen. Kenmore wußte, daß er sich keine Gefühlsausbrüche erlauben durfte, noch nicht. Er brauchte einen kühlen Kopf. Jede Chance mußte wahrgenommen werden. Nur fiel ihm leider gar keine ein, die er hätte ausnutzen können. Später fiel ihm ein, sich einmal die Reservetanks des
Schiffs anzusehen. Er ließ Arlene den Helm abnehmen, stellte mit Schläuchen eine Verbindung her und so atmeten sie die Luft aus den Reservetanks. Dann nahm er seinen Beobachtungsposten wieder ein. »Wir haben Glück«, sagte er plötzlich. »Ich glaube, ich kann eine Radarstation anpeilen, die hier irgendwo in der Gegend liegen muß. Vielleicht kommen wir bis auf 100 oder 120 Kilometer an sie heran!« »Mit Luft für zwei Stunden in unseren Tanks«, sagte Mike grollend. »Was das betrifft, werden wir ja sehen. Hauptsache, wir kommen ganz herunter. Dann können wir vielleicht noch mal starten.« Aber weder Kenmore noch Mike glaubten daran. In der Theorie ging es vielleicht, aber in der Praxis war es annähernd unmöglich. Und beide wußten das. Kenmore sagte das nur, um Arlene zu beruhigen. Joe merkte, wie sie ihn aus ihrem Helm ansah. Ihr Lächeln war nicht ganz echt und er hatte das dumme Gefühl, sie lese seine Gedanken und wisse ganz genau, daß sie nur eine winzige Chance hatten, ihre Landung kurz zu überleben. Die unwirkliche, pockennarbige Mondlandschaft weitete sich vor ihren Augen. Bei Sonnenschein hätte man nicht hinuntersehen können. Trotz des bleichen Erdlichts waren die Erhebungen dieser toten Welt hell erleuchtet. Sie trieben darauf zu, fielen allmählich schneller. Endlich sagte Kenmore: »Ich glaube, wir sollten etwas langsamer werden, Mike.« Scandia löste seine Luftverbindung zu den Schiffstanks
und setzte sich wieder in den Pilotensitz. Kenmore ging wieder an seinen Ausguck. »Könnte es nicht möglich sein«, sagte er nach einigem Nachdenken, »daß der Mann, der die Rasiermesserschnitte immer wieder an den gleichen Stellen in der Stadt anbrachte, auch die Markierungen auswechselte? Daß er auch immer wieder dieselben benutzte, um die Erdschiffraketen zu kennzeichnen? Vielleicht ist er ein Pedant. Dreimal war eine Rakete mit der Markierung 6-3 falsch. Vielleicht sind die anderen in Ordnung. Die 10-2 waren es doch. Sicher, wir können uns nicht drauf verlassen, aber es könnte doch so sein.« »Ja-a«, sagte Mike; es klang, als habe er einen Kloß in der Kehle. »Aber ich habe doch fast nur 6-3 Raketen geladen. Ich mag nun mal 3 G Beschleunigung. Gut, ich tue, was ich kann.« Er drehte das Schiff wieder in den Kurs. Krater trieben mit offenen Mäulern vorbei. Unter ihnen lag die zerrissene Kette eines Gebirges, das auf keiner Karte verzeichnet war. Kenmore und Arlene sahen durch die Luken hinaus, während das Schiff beidrehte, sich senkte und gleichzeitig seitwärts trieb. Dann schob sich eine tischebene Fläche, ein Mare, ein Lavasee unter dem Schiff vorbei. Mike schaltete einen Radarschirm ein. Doch er funktionierte nicht, wahrscheinlich war er bei einem Stoß aus den verstellten Raketen kaputt gegangen. »Wir landen auf unserem Hosenboden«, sagte Mike böse. »Trenn dich von deinem Tank, Arlene, und schnall dich wieder an.«
Arlene gehorchte. Auch Kenmore schnallte sich wieder an, allerdings nicht sehr fest. »5«, sagte Mike. »4 – 3 – 2 – 1 –« Ein mächtiger Stoß. Kenmore zählte angestrengt bis 10. Scandia hatte eine 10-2 abgefeuert. Dann murmelte Mike wütend vor sich hin, während er aus dem Ausguck starrte. »Nichts, woraus ich die Entfernung errechnen kann, nichts!« Er drehte das Schiff vorsichtig bei, damit die gleiche Rakete, die den Fall des Schiffs stoppte, auch der Seitwärtsbewegung entgegenarbeitete. »5 – 4 – 3 – 2 – 1 –« Wieder ein mächtiger Stoß. Eine 5-2. Als sie ausgebrannt war, sagte Mike ärgerlich: »Meine Raketen gehen zu Ende, Joe! Ich hab nur noch drei 6-3s – und dann ist Schluß!« »Wir müssen es versuchen«, sagte Kenmore und sah zu Arlene hinüber. »Ich wünsch dir was, kleine Arlene!« Sie warteten lange, bis Mike abrupt sagte: »Jetzt sind wir dran! Keine Zeit zum Zählen, wenn's so weit ist, muß ich abfeuern.« Zehn Sekunden. Fünfzehn. Zwanzig. Aufbrüllen einer Rakete, Schwere, dreifache Endschwere. Eine 6-3-Rakete, die nicht vertauscht worden war. Der Schub ließ nach und Mike sagte: »Jetzt brauch ich nur noch eine zum Landen ...« Was jetzt kam, war wie die Explosion einer Bombe. Die Rakete löste sich sehr schnell selbst aus und verschwand. Aber in der Seitenwand der Schiffskabine zeigte sich ein Riß.
»Die letzte Chance«, rief Mike. »Ich kann's nicht ändern. Raus mit dem Ding!« Unerträglich, wahnsinnig, es war der Weltuntergang. Wenn es nicht eine Startrakete für das Erdschiff war, dann war es eine Verlangsamungsrakete, dazu bestimmt, das große Schiff zu stoppen, wenn es über seinem Ziel angelangt war. Aber auch die löste sich aus. Alle Lichter im Pendler waren ausgegangen, tiefe Stille herrschte. Es knisterte und knackte im Schiffsrumpf und dann traf es auf. Es brach auseinander. Dabei rollte es auf die Seite, überschlug sich und schlitterte über den Mondstaub auf dem Lavasee, der wie ein Gleitmittel wirkte. Dadurch zerschellte es nicht schon im Fall. Immerhin war es an allen Seiten aufgerissen, so daß sie durch die verbogenen und auseinanderklaffenden Metallteile die Sterne hindurch scheinen sahen. Kenmore baumelte an den Riemen seines Stuhls und hörte sich laut nach Arlene schreien. Arlene fand kaum Luft. »Ich – glaube, mir ist nicht viel passiert, Joe ... Ich habe Schmerzen, aber ...« Mike schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber wieder. Dann sagte er unnatürlich ruhig: »Bitte, Arlene, schalte deinen Funk ab! Ich muß etwas über den Saukerl sagen, der uns das angetan hat!« Kenmore machte die Riemen los, kroch zwischen den verbogenen Platten und Verstärkern herum, bis er Arlene gefunden hatte, und schnallte auch sie los. Sie war eingeklemmt, und er mußte erst seine Brustlampe einschalten und die Klammer aufbiegen, die sich an dem
Stuhl festgeklemmt hatte. Arlene klammerte sich an seinen Hals, als er sie ins Freie schleifte; sie zitterte am ganzen Leibe. Plötzlich war auch Mike aus dem Gewirr von Drähten und Stangen neben ihnen. Er hatte seine Lampe auch eingeschaltet. »Irgendwas ist mir auf den Helm gefallen«, sagte er. »Er ist eingebeult, ich fühle es. Ich glaube, ich verschiebe meine Schimpfkanonade gegen den Kerl, bis ich wieder in Sicherheit bin. Hier geht's raus!«
Gestrandet Zwei Minuten später standen sie alle drei in dem dicken Staub auf der Oberfläche des Mare. Hell leuchtend hing die Erde über ihren Köpfen. Das Pendlerschiff sah wie eine Konservendose aus, auf der jemand herumgetrampelt hatte. Allerdings hinkte der Vergleich etwas, denn eine Dose hat schließlich kein Gerippe, das durch die Hülle hindurch zu sehen war. Ziemlich verzweifelt besahen sie sich den Schaden. Dann ging Kenmore um das Wrack herum, er mußte trotz der geringen Mondschwere hinken, weil er sich irgendwo gestoßen hatte. Soweit sie sehen konnten, waren sie in der Mitte eines Plateaus, aber das konnte auch täuschen. Ungezählte Millionen von Sternen waren zu sehen, bis der Horizont ringsum eine scharfe Grenze zog, und sie leuchteten mit unverminderter Helligkeit. »Man könnte meinen«, sagte Mike, »wir sind weit draußen auf einem Meer und sehen kein Land. Aber hier gibt es doch nur Land. Wo sind wir eigentlich, Joe?« »Beruhige dich, wir sind doch runtergekommen«, meinte gelassen Kenmore. Ihre Umgebung war in der Tat einsamer und verlassener als sogar die Mondberge in ihrer nackten Schwärze. Sie konnten ungefähr vier Kilometer in jede Richtung sehen, bevor sich das Gelände senkte und unsichtbar wurde – und das war schon der Horizont. Es gab nichts anderes zu sehen
als die staubbedeckte Oberfläche des Mare, buchstäblich nichts. Kenmore starrte nachdenklich zur Erde hinauf, die da oben groß in grünlichem Licht schimmerte. Es kam ihm vor, als stände sie nicht an der gleichen Stelle wie über der Stadt, sie stand nicht im Zentrum des Himmels. Er sagte vor sich hin: »Ein Grad auf dem Mond entspricht ungefähr 32 Kilometer anstatt der 120 Kilometer auf der Erde. Mike, wie weit hat die Erde ihre Stellung verändert, wenn wir unseren Standpunkt bei der Stadt annehmen?« Mike schielte nach oben. Das war sein Fach, hierin kannte er sich aus. Für die Hinfahrten zum Laboratorium bekam er seine Flugroute ausgerechnet mit. Aber bei seinen Rückfahrten war das anders. Bei normalen Fahrten wurde er mittels Radar eingewiesen, aber er mußte für den Fall des Falles auch genau wissen, an welcher Stelle die Erde zu stehen hatte, und natürlich waren die Polkappen und Kontinente viel bessere Wegweiser als ein Kompaß. Jetzt sagte er gewichtig: »Alsdann, peilen wir sie mal an.« Und das taten sie denn auch, machten Zeichen in den Staub und benutzten Kenmores Helmspitze zum Anpeilen. Vielleicht war das nicht gerade ein sehr vernünftiges Beginnen, wenn man bedenkt, daß sie nur noch für zwei Stunden Luft in ihren Tanks hatten und daß sich die bewohnten Stellen auf dieser Seite des Monds an den Fingern der beiden Hände abzählen ließen, wobei bestimmt noch ein paar Finger zu viel waren. Aber das Schiff hatte seine Rückfahrt in Richtung auf eine dieser Stellen
angetreten. Und wenn ein Grad nur 32 Kilometer beträgt und man kann die Erde anpeilen, dann ist es viel leichter, seine Position festzulegen als auf der Erde. Anstatt der Mond- oder Sternbeobachtung machten sie eine Erdbeobachtung, und als sie damit fertig waren, sagte Kenmore: »Es sollte kaum 60 Kilometer weit weg sein, Mike.« »Auf keinen Fall sind es mehr als 120 Kilometer«, stimmte ihm Mike zu. »Los, ziehen wir ab!« Da meinte Arlene ganz sanft: »Joe – Mike – ihr wollt mich nur beruhigen, so lange es geht, aber wir haben doch nur einen Luftvorrat von zwei Stunden. 120 Kilometer in zwei Stunden, das schaffen wir niemals.« »Wieviel Zeit ist zwischen der Landung des Erdschiffs und dem Zeitpunkt, an dem ich auftauchte, verstrichen gewesen, Arlene?« »Aber wir haben doch aus den Schiffstanks geatmet«, widersprach sie. »Sicher ist unser Schiffchen in Trümmern«, gab Kenmore nach. »Aber habt ihr irgend etwas gemerkt, daß die Tanks gebrochen sind?« Mike stieß nur einen Laut des Erstaunens aus und verschwand wie ein Wiesel in dem Wrack. Mit brennendem Brustlicht kroch ihm Kenmore nach. Nach kurzer Zeit sagte Mike durch Funk: »Du scheinst gute Beziehungen zum lieben Gott zu haben, Arlene.« Sie war draußen stehengeblieben und beobachtete, wie die beiden innerhalb des Wracks wie die Wilden arbeiteten. Mike verschwand in das Gestänge und kam wieder. Und da
war der ungewöhnliche Anblick einer Flamme, die im luftleeren Raum brannte; es war eine oxyhydrogene Fackel, deren Flamme keinem Feuer auf Erden ähnlich war. Dichter weißer Rauch stieg auf, dehnte sich aus und glitzerte auf, als wäre es eine Wolke winzig kleiner Diamanten, die in den Raum hinaustrieb. Aber diese Rauchwolke enthielt etwas, das auf dem Mond viel größeren Seltenheitswert besitzt als Diamanten. Oxygen und Hydrogen, oder wie man noch im vergangenen 20. Jahrhundert sagte, Sauerstoff und Wasserstoff, geben Wasserdampf ab, wenn man sie zusammen verbrennt. In der schrecklichen Kälte der Mondnacht kann Wasserdampf nur wenige Zentimeter vor der Flamme existieren, die weißen Rauchwolken waren nichts weiter als winzige Eiskristalle, die mit zärtlicher Langsamkeit herabsanken. Die Schweißflamme arbeitete schnell, kaum zwanzig Minuten, nachdem sie gelandet waren, hatten sie zwei Reservelufttanks draußen auf dem Mondsee. Sie sahen zwar unverhältnismäßig groß aus, hatten aber selbst auf der Erde nur geringes Gewicht, weil sie ja als Fracht zum Mond leicht sein mußten. Und selbst dieses geringe Gewicht verkleinerte sich auf dem Mond um das Sechsfache. Nachdem sie wieder aus dem Wrack herausgekrochen waren, prüfte Kenmore nochmals alle Tanks und stellte zwischen sich und einem großen Stück Metall vom Rumpf, das abgerissen war, mittels jenes Spezialseils, das nicht brüchig wurde und zu ihrer Ausrüstung gehörte, eine Verbindung her, um es wie einen Schlitten hinter sich
herziehen zu können. Dann starteten sie. »Bei diesem Spaziergang mußt du so laufen wie ich«, Mike zeigte Arlene, wie sie es machen sollte. Dieses leicht komisch aussehende Mondlaufen, das manche Leute auch nach Monaten nicht lernen, hatte sich aus der Technik des Wanderns entwickelt. In der Zivilistenstadt kann man es natürlich nicht anwenden und außerhalb wurde meistens im Jeep gefahren. Aber alle, die in den Bergwerken arbeiteten oder die Frachtraketen hereinholten, die von der Erde hochgeschossen wurden, hatten es lernen müssen. Mike machte es vor. Die Technik des Mondlaufens nutzt die Tatsache aus, daß man aus geringer Höhe sehr langsam herunterfällt. Man läuft und stößt sich ein bißchen vom Boden ab; dann läßt man sich treiben. Wenn man langsam herunterkommt, stößt man sich wieder ein wenig vom Boden ab und schwebt weiter. Diese Vorwärtsbewegung ähnelt dem Dahinschweben, das wir manchmal in unseren Träumen erleben. So schwebten die drei in langen sanften Sprüngen über den staubbedeckten See. Kenmore hatte den Schlitten mit den Lufttanks hinter sich am Seil, und sie schafften ungefähr 15 Kilometer in der Stunde. Sie hätten schneller vorankommen können, hätten sie nicht alle Stunden ihre Lufttanks nachprüfen müssen. Zu diesem Zweck hatte Mike die Vakuumbrenner mitgenommen. Nach der ersten Stunde sah der Mondsee noch immer gleich aus, keine Landmarke, keine Vertiefung. Sie befanden sich in der Mitte eines leicht gewellten Staubsees,
der ungefähr 8 Kilometer Durchmesser hatte; dahinter war nichts. Der Horizont war vielleicht 4 Kilometer entfernt. Dort verschwand die Ebene aus der Sicht und sonst waren nur die Erde und die Sterne über ihren Köpfen zu sehen. Nach einer Stunde machten sie halt, und Mike ließ die Flamme des Brenners gegen den Metallschlitten spielen. Sie leuchtete finster rot auf und nährte sich von ihrem eigenen Sauerstoff. Der Schlitten übertrug die Wärme auf den Lufttank, was natürlich den Luftdruck im Inneren erhöhte. Bei der zweiten Pause konnten sie weit hinter dem Horizont die schwachen Umrisse von Bergen erkennen. Sie hoben sich als Silhouetten gegen die Sterne ab. Im roten Licht der Fackel gaben sie in ihren Vakuumanzügen, der kleine Mike in seiner plumpen Ausrüstung neben Arlene und Kenmore, zwischen sich den großen Lufttank auf dem Schlitten, und rundherum der karminrot beleuchtete Staub, ein eigenartiges Bild ab. Beim dritten Halt riet Kenmore Arlene, ein Stündchen zu schlafen. Sie weigerte sich, und so ging es weiter. Noch ehe die vierte Stunde ihrer Wanderung um war, hatten sie die Berge erreicht, die steil aus dem steinernen See emporstiegen. Mike und Kenmore berieten. Schließlich wandten sie sich nach Norden, wobei sie den Felsvorsprüngen und Einschnitten auswichen und sich weiter auf dem flachen Mare hielten. Sie hatten auch nur die Wahl zwischen Norden und Süden. Sie dachten nicht daran, sich in die unerforschten Berge hineinzuwagen. Steinschlag und Staublawinen drohten dem
Spaziergänger überall in den Mondgebirgen. Wenn man es vermeiden kann, fährt man selbst mit dem Jeep nicht in die Berge. Höchstens benutzt man die Pässe, wo die Lawinen vorher mit Sprengladungen ausgelöst worden sind, kleine einpfündige Ladungen, die man in Abständen von 2 Kilometer zur Explosion gebracht hat. So liefen sie unter den ragenden Felswänden nach Norden, immer in der Hoffnung, den Radarposten zu finden, oder wenigstens die Spur seines Jeeps. Denn da jede Spur auf dem Mond für alle Ewigkeit hielt, konnten sie an ihr entlang zu dem Posten finden – wenn sie eine Spur entdeckten. Arlene war todmüde. Ein Sechstel Schwere spart natürlich viel Kraft, aber ein normaler Mensch mußte ja auch mal schlafen. Und sie hatte in den letzten 24 Stunden mehr Aufregung und Angst erlebt, als sie vertragen konnte. Sie stolperte blind vor Müdigkeit, und hörte nach langer Zeit, wie die anderen sich über Funk unterhielten. Sie hatten haltgemacht. Der Schein aus der Brustlampe von Mike Scandia war auf etwas gefallen, das jetzt metallisch zwischen den Steinen hervorblitzte. Arlene wurde wieder so weit wach, daß sie Kenmore spöttisch sagen hörte: »Natürlich ist es wirklich und keine Erscheinung. Nur verschwindet es, wenn du es anrührst.« Mike erwiderte unwirsch: »Du bist ja närrisch! Das ist doch Metall! Es muß einfach einmal Leute auf dem Mond gegeben haben, die das hergestellt haben. Ich würde nur zu gern jenen Kerls von der Wissenschaft etwas mitbringen. Ich glaube, die verlieren den Verstand!« »Aber das ist doch nur Zeitverschwendung«, drängte
Kenmore. »Wir müssen weiter, denk doch an Arlene!« Sie richtete sich auf. »Oh, mir geht's ganz gut!« Aber sie merkte, wie hundemüde sie war. Die beiden sahen nach ihr hin, und sie merkte jetzt erst, daß sie unter einer riesigen überhängenden Felswand standen. Hierhin kam das Erdlicht nicht, es herrschte absolute Dunkelheit, die nur von den Brustlampen der beiden Männer erhellt wurde. Sie nickten sich zu und Mike sagte freundlich: »Wir wissen, daß du Schlaf nötig hast, Arlene. Aber hier ist was, das haben noch keine sechs Leute je zu Gesicht bekommen. Schau! Mondblumen!« Arlene sah hin. Vor ihr stieg die düstere Masse der Felswand unabsehbar hoch, so schwarz, wie sie nur im Todesschatten des Mondes sein konnte. Aber der Strahl aus Mikes Lampe zeigte auf eine Stelle, an der es metallisch aufschimmerte. Es sah aus, wie ein winziger Wald aus Silber, glitzernde fadendünne Zweige, die in feinen Windungen aufwuchsen, sich ausbreiteten und an ihren Enden Blätter trugen. Sie waren so fein, daß man sie nicht zählen konnte, sie bedeckten vielleicht eine Fläche von 5 Quadratmetern, ein unwahrscheinlich schönes, zartes Pflanzengewirr, teilweise bis zu drei Meter hoch, ineinander verflochten. So wuchs es dort glitzernd unter der 2000 Meter hohen tiefschwarzen Felswand an einem steinernen See. Es war ein Wunder. »Wollen wir sie nicht wieder ins Freie bringen?« sagte Mike plötzlich, und Kenmore nahm sie sanft am Arm, um sie wieder aus dem Schatten der Wand herauszubringen, in
das Erdlicht des Sterns, von dem sie gekommen waren. Er setzte eine Vakuumfackel in Brand und sagte streng zu ihr: »Setz dich!« Arlene setzte sich gehorsam auf den Schlitten mit den Lufttanks und genoß den Luxus, einmal ausruhen zu können, so sehr, daß sie kaum zuhörte, als Mike sagte: »Lassen wir ihr doch eine Stunde Zeit! Oder? Inzwischen hol ich mir was davon. Sie hat einen Blumenstrauß verdient.« Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie lange sie geruht hatte. Wahrscheinlich hatte sie abwechselnd geschlafen und gewacht, oder hatte nur ein bißchen gedöst. Immerhin hörte sie Mike ärgerlich sagen: »Es muß doch möglich sein, die Dinger zu tragen, zum Don –« Wieder verstrich eine lange Zeit, und dann stand Scandia vor ihr. Irgendwo weit weg glaubte sie, noch was zu sehen, aber sie war zu müde, um es richtig wahrzunehmen. In Mikes verkrüppelten Händen aber erblickte sie einen Strauß jener unheimlich schönen Silberblumen, und Mike sagte hastig: »Schau schnell hin, Arlene! Sie lösen sich leider bald in Wohlgefallen auf!« Arlene konnte nur flüstern: »Gott, Mike, sind die schön!« Sie waren so fein wie Fäden von Altweibersommer oder wie feinstes Seidengespinst. Es war das Schönste, was sie jemals gesehen hatte. Mondblumen! Arlene nahm sie an sich, während Kenmore sie mit der Lampe anstrahlte. Einen Moment hatte sie sie in ihrer Hand, dann – verschwand ein Blatt. Zweige waren plötzlich nicht mehr da. Arlene griff verwundert nach ihnen, da lösten sie sich in Nichts auf. Der Schreck machte
sie ganz wach. Sie suchte am Boden nach ihnen, aber da war nichts mehr. »Begreifst du, was das ist, Joe?« fragte Mike aufgeregt, sie hörte es in ihrem Apparat. »Es kann gar nichts anderes sein!« »Nein«, stimmte Kenmores Stimme zu, »du wirst recht haben.« Arlene war einigermaßen verwirrt, aber sie war jetzt wenigstens wieder ganz wach. Unsicher sagte sie: »Habe ich denn geträumt? Ich bildete mir ein, ich hätte silberne Blumen in der Hand gehabt. Aber das da draußen, ist denn das auch noch Einbildung?« Sie zeigte hinaus, wo sich ein Licht auf sie zubewegte. Mike stieß einen Schrei der Erleichterung aus und Kenmore brummte vor Vergnügen in sich hinein. Es war ein Mond-Jeep, der völlig lautlos auf sie zukam und vor ihnen stoppte. Eine riesige Gestalt hing bereits an der Strickleiter. »Mike!« dröhnte eine neue Stimme in ihren Kopfhörern, »Joe! Ihr Narren! Warum habt ihr denn nicht weiter gesendet? Haney und ich sind bald verrückt geworden vor Sorge um euch. Was haben wir nach eurem Schiff gesucht! Wenn wir nicht eure Spur zufällig gekreuzt hätten, wären wir nie hierher gekommen!« Höflich sagte Arlene: »Guten Tag, Häuptling!« Dann fiel sie in Ohnmacht.
Verlaßt das Laboratorium! Joe Kenmore wachte nach einiger Zeit in dem Jeep auf, der ihn und seine Gefährten aufgenommen hatte. Er lag auf dem Boden und wurde mit den Bewegungen des Fahrzeugs leicht hin und her gerollt, während es über die sanft gewellte Oberfläche des Mare Imbrium dahinfuhr. Der Geruch von Öl, Ozon und heißem Metall stieg ihm in die Nase. Vor allem aber roch es nach Kaffee. Noch halb betäubt richtete er sich auf. Arlene Gray lag tief schlafend in einer improvisierten Koje im hinteren Teil der Kabine. Der Jeep, das wußte er, fuhr nach der Zivilistenstadt. Viele Stunden mußten bereits vergangen sein, seit ihrer Odyssee, aber es war immer noch Mondnacht. Erdlicht erhellte die Umgebung, wenn diese auch nicht gerade viel Sehenswertes aufwies. Am westlichen Rand der Erde über ihren Köpfen zeigte sich nun die Andeutung eines Schattens. Das bedeutete, daß die Erde wieder abnahm und die erste Dämmerung auf dem Mond herannahte. »Essen ist eine großartige Erfindung!« sagte Kenmore und zwängte sich durch das Wirrwarr von Maschinen nach hinten. »Ich habe einen Bärenhunger!« Haney reichte ihm ein Gefäß mit Kaffee – eine jener Spezialtassen, die früher einmal auf der Erde so in Mode waren, weil man aus ihnen nichts verschütten und trotzdem bequem trinken konnte. Kenmore machte es sich auf einem der Klappsitze bequem, die für Extra-Passagiere bestimmt waren. Dann begann der gleiche hagere Haney ein belegtes
Brot zu streichen, wobei er geschickt die Scheiben aus der Luft holte, in die sie sich unter den schwankenden Bewegungen des Fahrzeugs wie kleine »fliegende Untertassen« erhoben. »Mike«, sagte der dunkelhäutige Häuptling gleichmütig, »hat uns einiges von dem komischen Getue drüben in der Stadt erzählt.« Kenmore grunzte Zustimmung. Ohne das Steuer aus den Händen zu lassen, fuhr der Häuptling, über seine Schulter sprechend, fort: »Mächtig viel Ärger wird das noch geben! Wie willst du denn die Codemeldung hinauf zum Labor bringen – wenn sie so wichtig ist, wie Mike behauptet?« »Das Erdschiff«, sagte Kenmore störrisch, »hat eine verbogene Landeflosse, einige Luken sind kaputt und noch einige Schäden mehr. Außerdem hat es sich überschlagen. Wir müssen es mit dieser Meldung in Fahrt bringen – wenigstens stelle ich mir vor, daß die Erde das von uns verlangen wird. Wahrscheinlich ist es unmöglich, aber vielleicht finde ich noch einen Ausweg. Was sollen wir machen? Wenn's sein muß –« Der Häuptling war ein Mohawk-Indianer. Mit mildem Hohn sagte er: »Wenn der Große Häuptling Mann-imMond das so befiehlt, werden wir uns eben dranmachen. Ist es übel zugerichtet?« »Arlene hat es ganz gut überstanden. Aber das braucht gar nichts zu bedeuten.« Der Häuptling dachte laut vor sich hin. »Nehmen die da unten auf der Erde den Befehl nun so wichtig, weil sie herausgefunden haben, daß der Gelehrten-Klub im
Laboratorium übergeschnappt ist, oder tun sie's, weil sie wissen, daß sie nicht verrückt geworden sind. Beides wäre gut möglich.« Obwohl es so weit weg war, beschäftigte sie das Raumlaboratorium mindestens ebenso viel wie ihr eigenes Schicksal. Seinetwegen waren sie hier auf dem Mond, seinetwegen hatte man die Zivilistenstadt gebaut und mit Leuten besetzt. Außerhalb der Erde waren Zivilangestellte nur deswegen eingesetzt worden, um das Laboratorium in Gang zu halten. Weiter rollte der Mond-Jeep über den staubbedeckten See, der früher einmal aus geschmolzenen Steinen bestanden hatte. Endlich wachte auch Mike Scandia auf, und Kenmore ließ sich von ihm einen genauen und ins einzelne gehenden Bericht über die Lage da oben geben. Während er Kaffee hinuntergoß, erzählte Mike alles, was er wußte. Es war nicht viel mehr, als was er Joe bereits erzählt hatte, aber wenn man's mit der eigentlichen Laboratoriumsarbeit zusammenbrachte, konnte es einen vor Schreck erbleichen lassen, weit, weit weg auf der anderen Seite des Monds – die Entfernung betrug ungefähr ein Fünftel der zur Erde – trieb ein winziger, von Menschenhand geschaffener Gegenstand in der Leere des Weltraums; man konnte es von der Erdseite des Monds aus nicht sehen. In dieser kleinen, innen unterteilten Schachtel hausten acht Männer inmitten der größten Gefahr, die Menschen je freiwillig auf sich genommen haben. Das Raumlaboratorium war eine Werkstatt für Atomenergie und barg Kernspaltungsmaterial, das das Labor mitsamt
seiner Belegschaft in weniger als einer Sekunde in radioaktive Gasmoleküle auflösen konnte. Bei der Explosion würde sich eine Hitze entwickeln, die der dem Kern der Sonne entspräche – wenn auch nur einmal die Aufmerksamkeit nachließe. Es gab ein Energiefeld, das wenigstens in der Theorie sogar Neutronen beeinflußte; die mathematischen Berechnungen darüber waren noch nicht ganz zu Ende geführt, und einige Tatsachen noch unerforscht. In dem einen Fall würde man Kraft für die Erde gewinnen, die für alle Zeiten und für alle Erfordernisse ausreichen würde. Und nichts als eben nur Kraft würde frei werden. Im anderen Fall würde man aus jedem Stück Materie, mochte es auch so dünn sein wie die Gase im Vakuum einer elektrischen Birne, Sonnenlicht gewinnen können. In diesem letzten Fall waren die Arbeiten der Männer im Labor vergeblich gewesen oder gar schlimmeres. In jedem Fall waren die Experimente in dem Laboratorium so gefährlich, daß man das Laboratorium im Weltraum treiben ließ, wo die Anziehungskraft des Mondes fast vollkommen durch die Umlaufgeschwindigkeit des Laboratoriums um die Erde selbst aufgehoben wurde. So trieb es 120 000 km weit draußen im toten Raum. Hätte man nur die Anziehungskraft eines Planeten zu berechnen, so wäre das Laboratorium für alle Ewigkeiten auf seiner Laufbahn gekreist. Dazu kam jedoch die Anziehungskraft der Sonne, und so mußte alle 14 Tage – oder auch alle vier bis sechs Wochen – eine kleine Rakete abgeschossen werden, die
das Laboratorium wieder in das Zentrum des toten Raums brachte, aus dem es sich entfernt hatte. Und dort waren also die acht Männer in das nervenaufreibende Spiel mit der subatomaren Physik vertieft. Sie waren so weit draußen im Raum, weil immerhin die Möglichkeit bestand, daß sie zu einem Ergebnis kamen, bei dem nur noch ein blau-weißer Explosionsblitz die Stelle verraten würde, wo einst das Laboratorium mit seiner Besatzung und seinen Apparaten durch den Raum trieb. Diese Entdeckung auf dem Mond zu machen, wäre nicht gerade sehr klug – der Mond selbst konnte explodieren, was die unerfreuliche Tatsache nach sich ziehen würde, daß auf dem Mond und auf der Erde alles vernichtet würde. Als sich nun der Jeep der Stadt näherte, setzte sich Kenmore neben den Häuptling; er hätte gern selbst das Steuer übernommen, wartete aber noch ab. Viel Zeit war inzwischen vergangen, und der schmale Schatten an der Ostkante der Erde war um ein Geringes größer geworden. Sonst hatte sich nichts verändert. Kenmore behielt den Horizont scharf im Auge, bis die Linie unregelmäßig wurde und allmählich Berge über den Horizont stiegen. Als sich Kenmore seiner Sache sicher war, ließ er den Häuptling anhalten und die Scheinwerfer ausschalten. Der Indianer verfolgte den Verlauf der Bergkette und verkündete: »Die Stadt muß rechter Hand liegen, also auch das Erdschiff. Joe, du steigst in die Beobachtungsluke, ja? Mike, du hältst Ausschau nach dort und Haney nach dieser Seite.«
Arlene war schon seit einiger Zeit wach und fragte jetzt: »Kann ich nicht auch etwas tun?« »Du hast genug im Pendler für uns getan«, sagte Mike. »Bleib du ruhig sitzen!« Der Mond-Jeep wendete nach rechts und fuhr noch 40 km. Dann rollte er noch 2 km näher an die Berge, wendete auf seinen alten Kurs, näherte sich wieder den Bergen ... Endlich fanden sie das Erdschiff; das Wrack lag auf der Seite im Staub, der wie Schnee aussah. Sie fuhren dicht heran, und Kenmore, Haney und der Häuptling gingen hinaus, um es sich anzusehen. So hatte es schon stundenlang gelegen, bis Kenmore es fand; wieder waren seitdem Stunden vergangen. Und die Temperatur, die auf der Nachtseite des Mondes herrscht, ist niedriger als flüssige Luft. Deshalb entzündeten die drei ihre Vakuumfackeln und warteten geduldig. Die karmin-roten Lichter machten sich seltsam genug aus, unter den Myriaden von Sternen, während sie den Schiffsrumpf leicht erwärmten. Dann kletterten sie hinein, und nun strömte das karmin-rote Licht aus den Luken. Jetzt tauten sie das Innere des Schiffes einschließlich der Kissen in den Konturenstühlen auf, weil es in der Mondkälte brüchig wie Glas geworden war. Nach langer Zeit kamen die drei wieder heraus, Kenmore beladen mit einem Damenkoffer. Einer nach dem anderen stieg wieder in den Jeep, und Kenmore sagte wie selbstverständlich zu Arlene: »Hier hast du dein Gepäck. Jetzt kannst du dich feinmachen, wenn du Lust dazu hast. Auch für Cecile Ducros haben wir einiges mitgebracht.«
Der Jeep setzte sich wieder in Fahrt und drehte auf die Berge zu. Nach einiger Zeit erschien ein kleines Licht über der Ebene, und sie fuhren darauf zu. Nichts schien sich verändert zu haben, als sie die Stadt erreichten, die gleichen unzähligen Jeepspuren zeichneten sich im Staub ab, und die gleichen Staubhaufen kündeten von dem hoffnungsvollen Unternehmen und großen Abenteuer, das die Menschheit für ihre eigene Zukunft begonnen hatte. Mit der Hoffnung war es allerdings nicht weit her, so wie es jetzt stand. Als sie eintraten, war die Hauptkuppel erleuchtet, und Pitkin machte sich gerade an den Pflanzen zu schaffen. Er grinste fröhlich Kenmore, Arlene und Mike an, als sie in ihren Vakuumanzügen aus der Luftschleuse traten und betrachtete erstaunt die beiden Leute von der Radarstation, die nach ihnen hereinkamen. »Oho!« sagte er, »Wissenschaftler vom Laboratorium! Ihr wollt uns wohl erzählen, wie wir die Stadt zurechtflicken sollen? Das können wir auch allein!« »Red keinen Unsinn!« sagte Kenmore unwirsch. »Sie kommen gar nicht vom Laboratorium. Gibt's was Neues?« »Nichts Neues!« grinste Pitkin ihn unentwegt an. »Überhaupt nichts!« Kenmore ging hinüber in die Luftkuppel und entdeckte dort Cecile Ducros, die wütend auf und ab lief. Auch Osgood, der Pilot des Erdschiffs, sah aus, als ob er es endgültig satt habe. Für jemanden von der Erde war das verständlich. Er mußte sich denken, daß es nicht die geringste Möglichkeit für ihn gab, mit seinem umgekippten
und luftleeren Erdschiff je wieder zur Erde zurückzukommen. Nur Lezd, der Elektronentechniker, sah ungerührt von dem Foto auf, an dem er gerade arbeitete und das er für eine spätere Sendung zur Erde benutzen wollte. »Haben wir immer noch Verbindung zur Erde?« verlangte Kenmore zu wissen. Lezd nickte nur. Kenmore schaltete den Apparat ein und berichtete ohne Schonung zur Erde, was dem Pendlerschiff passiert war und daß er nicht in der Lage gewesen war, die Vorrangmeldung zum Laboratorium zu bringen. Sie sollten nur Bescheid wissen: auch der Pendler ein Wrack, auch hier Sabotage. Die Antwort war ein Befehl für ihn, am Apparat zu warten. Wütend willigte er ein. Und siehe da, ein ganz hoher Vorgesetzter trat ihm auf dem Bildschirm gegenüber, das Gesicht von Sorgen gekennzeichnet; hinter dem, was er sagte, stand offensichtlich die große Angst. Nichts auf der Erde oder auf dem Mond war wichtiger, lebenswichtiger, als die Fahrt mit der Meldung zum Raumlaboratorium. Irgendwie mußte sie hinaufgebracht werden. Das Schicksal der ganzen Menschheit hing davon ab! Kenmores Antwort war unfreundlich genug: »Es gibt doch Wehrmachtsschiffe, die den Nachschub für die Ferngeschoßbasen heraufbringen. Warum schickt man denn nicht eins zum Labor?« Das würde nicht mehr zurecht kommen, weil es für die Fahrt von der Erde zum Mond wenigstens sechs Tage benötigen würde, und die Botschaft mußte sofort zum Laboratorium heraufgebracht werden. Der Zeitverlust, der
durch die Zerstörung des Pendlers entstanden war, konnte schon das Ende der Menschheit bedeuten. 30 Stunden waren schon verloren, unwiederbringlich, noch einmal sechs Tage war das Ende! »Schließlich gibt es Dinge, die nicht auszuführen sind«, sagte Kenmore unfreundlich. »Außerdem, was ist mit den Leuten aus der Zivilistenstadt? Sind sie in Sicherheit?« Der hohe Vorgesetzte stotterte. Man hatte sie noch nicht gefunden, aber man suchte mit Jeeps von den Ferngeschoßanlagen aus nach ihnen. Irgendwo mußten sie sein – verirrt – überfallen – ermordet vielleicht. Doch das Laboratorium mußte den Befehl bekommen, alle Experimente zu unterbrechen, besonders die Experimente, von denen in den letzten Berichten gesprochen wurde! Schluß mit den Experimenten, Schluß, Schluß! Das Laboratorium muß verlassen und zerstört werden! Der Befehl muß sofort überbracht werden! Bei den letzten Worten rang der Hohe Vorgesetzte sogar die Hände. »Wenn es so ist«, sagte Kenmore, der seinen eigenen Augen nicht traute, »werde ich mich dranmachen.« Trotzdem starrte er noch eine ganze Weile in den Bildschirm nachdem er das Bild abgeschaltet hatte. Das Projekt Laboratorium aufzugeben bedeutete, da alle Versuche eingestellt wurden, je zu anderen Planeten zu gelangen. Also mußte auch die Zivilistenstadt aufgegeben werden, und all die Arbeit, die Kämpfe, die Menschenleben, die geopfert worden waren, waren umsonst verschwendet worden. Alles, aber auch alles hier oben war vergeblich gewesen. Der Mensch kehrte wieder
zur Erde zurück und blieb dort für immer. Immerhin, die Befehle, die er erhalten hatte, ließen an Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig. So übel es klang, daß die vermißten Leute aus der Stadt nicht mehr zählen sollten als die Unterbrechung der Arbeit im Laboratorium – es war anscheinend nichts zu machen, die Arbeit im Laboratorium mußte aufhören.
Verzweifelter Abflug Er sah sich nach den Radarleuten um, die ihn auf dem Lavasee gefunden hatten. Der große Indianer, der den Jeep gefahren hatte, himmelte selbstvergessen Cecile Ducros an. Haney, der andere, war gerade dabei, sich an den Leckerbissen gütlich zu tun, die extra für sie heraufgebracht worden waren. »Häuptling!« rief Kenmore ängstlich. »Haney! Moreau! Mike! Ich brauche euch!« Er ging voran in die andere Kuppel, und die anderen kamen nach. Arlene, die sich unaufgefordert angeschlossen hatte, fragte leicht verstört: »Was gibt es denn?« »Eine Menge Ärger! Wir müssen uns an eine Arbeit machen, die eigentlich über unsere Kräfte geht. Also ...« In knappen Worten entwickelte er ihnen seinen Plan. Sie hatten ja das bruchgelandete Erdschiff vorhin untersucht; eine Landeflosse war verbogen, Luken zersprungen und wenigstens ein Riß im Rumpf. Außerdem war das Schiff luftleer und bis auf die Temperatur der Mondnacht herunter gefroren. Das Metall war völlig spröde geworden und konnte allenfalls mit den Fackeln wieder vorgewärmt werden. Außerdem mußten sie versuchen, es mit dem Hilfsmaterial an Bord wieder dicht zu machen – Reparaturen an Bord während einer Raumfahrt waren noch nie durchgeführt worden und würden auch nie durchgeführt werden. Mit dem Luftschnee aus der Stadt konnte man die Lufttanks wieder auffüllen, auch die
Raketen konnte man von der Stadt herüberbringen ... »So?« fragte Mike mit beißender Ironie. »Mit falschen Markierungen wie die anderen?« »Das ist deine Arbeit«, befahl Kenmore kurz angebunden. »Wahrscheinlich sind die richtigen Markierungen nur überpinselt worden und die falschen drübergemalt. Kratz die Farbe ab, dann mußt du's sehen. Die anderen kommen mit mir!« Als sie zu den Gestellen mit den Vakuumanzügen hinübergingen, sagte Arlene entschlossen: »Ich komme auch mit!« Er sah sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn an. »Bin ich etwa in der Stadt sicherer, als wenn ich mit dir gehe? Die Fahrt muß ja nicht wieder so schlimm werden wie die letzte.« Er konnte nur die Achseln zucken; natürlich war sie in der Stadt nicht sicherer – trotz der Sabotage am Pendler. Wie ein alter Raumschiffer stieg sie in ihren Anzug und schloß die Lufttanks an; er überprüfte nochmals alles. Dabei sagte sie leise zu ihm: »Wie schlimm steht es eigentlich, Joe?« »Schlimmer könnte es nicht sein«, antwortete er verbittert. »Wir müssen alle wieder zur Erde zurück – wenn wir überhaupt am Leben bleiben.« Arlene beobachtete ihn scharf, aber sein Gesichtsausdruck verriet lediglich größte Enttäuschung. Ohne ein Wort stülpte sie sich ihren Helm über. Ihr Lächeln verriet, daß sie über diese Nachricht gar nicht so traurig sein konnte wie er. Kenmore konnte das freilich
nicht sehen. Draußen beluden sie den Jeep von der Radarstation mit Reparaturmaterial, das sie den Außenschuppen entnahmen. Die Vorräte im Freien zu stapeln war das beste, was man auf dem Mond tun konnte, weil es ja kein Wetter gab und das Ersatzmaterial völlig intakt blieb, wenn man es so lagerte, daß keine Sonne drankam. Nicht einmal die Luft benötigte Druckkammern zur Aufbewahrung, da sie ja fest war – Schnee oder schwachblaues Eis. Vor allem versorgten sie sich mit Vakuumbrennern und Oxyhydrogen-Fackeln. Sie schleppten alles in den Jeep, schlossen das Frachtabteil und kletterten einer nach dem anderen durch die Luftschleuse ins Innere. Dann fuhren sie zu dem angeschlagenen und luftleeren Schiff hinüber. Unterwegs sagte der Häuptling überlegend: »Bevor wir starten, müssen wir's wieder aufrichten.« Kenmore knurrte ein paar Worte, aus denen zu entnehmen war, daß sie es mit den beiden Jeeps versuchen würden. Mike Scandia sollte mit seinem hinkenden Jeep und seiner Raketenlast bald nachkommen. Dann mußte man versuchen, mit beiden Jeeps unter die Nase des Erdschiffs zu kommen, und es so weit wieder aufrichten, daß es schräg stand. Den Rest konnte man dann mit Flaschenzügen und Stahlseilen schaffen. Ferner konnten die Jeeps das Schiff aufrecht halten, bis die Landestütze repariert war. Kenmore fuhr; er machte dabei ein Gesicht, als wenn er jemanden erschlagen wollte. Moreau, dem die Stimmung in dem Fahrzeug gar nicht gefiel, sagte, und es klang, als wolle er für seine Anwesenheit um Verzeihung
bitten: »Ich bin ja nur ein ungeschickter kleiner Handwerker. Was soll ich eigentlich hier?« »Sie dürfen das Innere des Schiffs mit Ihrer Fackel anwärmen«, redete ihm Arlene gut zu; sie hatte gemerkt, wo er hinauswollte. »Und ich werde scharf Ausschau halten, falls – nun, falls Sie jemand dabei stören will.« Kenmore versuchte etwas weniger finster dreinzusehen. Außerdem belustigte ihn jetzt der Gedanke, daß die Jagd nach den Saboteuren beinahe unwichtig geworden war gegenüber dem großen Unglück, in das sie nur zufällig hineingeraten waren, wie es jetzt aussah. Trotzdem bestand noch immer die Möglichkeit, daß die Schurken, die Moreau und ihn selbst in die Falle gelockt und Sabotage an der Stadt verübt hatten, und sehr wahrscheinlich auch für die Flucht der Stadtbesatzung verantwortlich waren – daß diese Leute auch versuchen würden, ihre Arbeit an dem Erdschiff zu stören. Die Ironie lag in der Tatsache, daß die Saboteure niemanden mehr umbringen mußten, wenn sie die Stadt und das Laboratorium zerstören wollten. Beide sollten jetzt ja sowieso aufgegeben werden. Nach einer Fahrt von vielen Kilometern kamen sie endlich zu dem umgestürzten Erdschiff; für den Zuschauer entrollte sich nun in Kürze ein Bild, das ihn an die Hölle gemahnen konnte. Grellrote Vakuumfackeln erleuchteten den Mondstaub und der glänzende Rumpf des Schiffes warf ihr Licht weit über den Mondsee. Wie aus einem Schmelzofen leckten die Flammen anderer Fackeln aus dem Innern durch die Luken heraus. Aber die Arbeit ging schnell und wohlgeordnet vonstatten. Die eingeschlagenen
Luken wurden mit Plastikplatten abgedichtet, mittels eines oxyhydrogenen Brenners wurde der Riß im Rumpf geschweißt. Inmitten der blendendroten Flammen, die von ihren winzigen Wolken mikroskopisch kleiner Schneeflocken umgeben waren, glitten die Arbeiter in ihren Vakuumanzügen umher – eine Szene wie aus einem Zukunftsfilm. Plötzlich rief Arlene über Helmfunk alle an, sie habe etwas näher kommen gesehen. Gleich darauf ertönte Mikes Stimme in ihren Apparaten. Er beschwerte sich über sein »Höllenrad«, das ihm sicher bald vom Wagen fallen werde. Hinkend tauchte der Jeep aus der Dunkelheit auf. Aus der offenen Tür seines Frachtraums steckten mächtige Raketen ihre Nasen heraus, einige andere Ungetüme baumelten an Ketten zwischen seinen Rädern. »Pitkin hat mir beim Aufladen geholfen«, sagte Mike verdrießlich. »Vorher habe ich die Markierungen geprüft. Tatsächlich waren einige nur übermalt und falsche Markierungen aufgetragen. Das habe ich bald herausgehabt, und jetzt kann ich für diese da garantieren!« Er wollte sich gerade aus seiner Luftschleuse herauswinden, als ihn Kenmore anrief: »Augenblick, Mike, du mußt das Steuer nochmal übernehmen.« Dann folgte eine schnelle und rein technische Unterhaltung in der luftleeren Stille, bei der nur die Antennen aufglitzerten und ihre Träger hin und her gingen, um sich die genaue Lage des Erdschiffs einzuprägen. Danach stieg Mike wieder in seinen Jeep, der Häuptling kletterte in die Luftschleuse des seinen, und die
hochbeinigen Fahrzeuge machten sich an eine Arbeit, die für die Erde unvorstellbar gewesen wäre. Das Erdschiff wog zwar nur ein Sechstel dessen, was es auf seinem Heimatflughafen gewogen hatte, aber zehn Tonnen Erdgewicht waren überall eine Riesenlast, auch auf dem Mond. In dem unirdischen, blutroten Licht der Fackeln sah es so aus, als ob die beiden Jeeps unter das Erdschiff krochen und seine Nase hochlifteten. Und tatsächlich, sie schafften es. Obwohl die Räder sich auf dem staubbedeckten Stein manchmal wie verrückt drehten, weil er so schlüpfrig war, drückten sie das Riesenschiff immer höher, während Haney, Kenmore und Moreau wie die Wilden an den Flaschenzügen arbeiteten. Endlich schien das Schiff einigermaßen aufrecht zu stehen – da krachte das Rad an Mikes Jeep endgültig zusammen. Trotzdem hielten die beiden hochbeinigen Fahrzeuge, die jetzt wie gefährlich glitzernde Tiere aussahen, die auf den Hinterbeinen standen, das Schiff aufrecht, bis die verbogene Landeflosse wieder gerade geschweißt und die Nähte abgekühlt waren. Schließlich wurden die Ketten und Flaschenzüge langsam abgenommen und das Schiff stand – nun, beinahe vollkommen senkrecht in einem Ring roter Fackeln. Danach befestigten sie die Raketen in ihren Gestellen, ohne sich eine Pause zu gönnen. Schließlich sagte Kenmore: »Jetzt brauchen wir nur noch zu starten, Mike ...« »Na und?« sagte Scandia abwehrend. »Ich übernehme das Steuer, du und Haney, ihr fahrt
wieder zur Stadt zurück, der Häuptling und Moreau kommen mit mir zum Laboratorium. Klar?« Mike protestierte so wütend, daß er zu stottern anfing. Aber Kenmore ließ sich nicht beirren. »Wir haben nur noch einen fahrbaren Untersatz, in den wir alle aufnehmen können, falls es in der Stadt wieder Ärger gibt. Und du kennst die Mondoberfläche hier herum auswendig. Du bleibst also da und kümmerst dich um die Leute, die in der Stadt bleiben.« Wieder protestierte Mike, freilich vergeblich. Haney schwieg. Kenmore hieß die anderen in die Luftschleuse des Schiffs steigen und kletterte als letzter nach. Noch immer leise vor sich hin schimpfend stieg Mike in den unbeschädigten Jeep, gefolgt von dem schweigsamen Haney, und setzte sich von dem Erdschiff in sicheren Abstand ab. Zuerst geschah nichts. Der mächtige silberne Rumpf wies zum Himmel, weiß-gepudert vom Mondstaub, beleuchtet von einigen Vakuumfackeln. Plötzlich spuckten die Raketen ihre Flammen aus, eine Staubwolke erhob sich, und die Auspuffgase lösten sich in Nichts auf. Dann jagte das Riesenschiff mit einem Satz in den Himmel, innerhalb von Sekunden nur noch eine grellweiße Flamme, die kleiner und kleiner wurde. Nur brüllten die Raketen nicht auf wie auf der Erde; denn auf dem Mond gibt es ja keinen Laut ... Viel später, als der bleiche, graue Mond mit seinen Bergen schon weit hinter ihnen lag – viel, viel später – zeigte ihnen Kenmore einen winzigen Lichtfleck. Von
dieser Höhe, aus dieser Entfernung von vielen Kilometern konnte man es kaum erkennen. Aber da war eine kleine Stelle am Ende des Horizonts, die von einem hellen, warmen Licht angestrahlt wurde, Sonnenlicht auf einem namenlosen, weit entfernten Berggipfel. »Die Sonne geht auf«, sagte Kenmore feierlich. »Nur für uns nicht, für uns ist es kein Zeichen, daß schönere Tage kommen.«
Wahnsinnig geworden Das Schiff stieg weiter, während sie hinaussahen. Und als Kenmore alle Luken schließen ließ, so daß die Sterne kaum noch zu sehen waren, protestierte Arlene ein wenig. »Einen kleinen Moment Geduld!« sagte er und nickte nach einer Weile Arlene zu. »Jetzt sieh hinaus!« Das Schiff war inzwischen noch weiter gestiegen, und als sie nun durch das dicke Plastikglas hinaussah, entdeckte sie nach einigem Suchen am Rande des Horizonts helle Lichtstreifen, die sich ständig vermehrten, größer und heller wurden. Und dann ging die Sonne auf. Riesenhaft erhob sie sich über den Mond, in dessen Täler noch die Schatten lagen; breite Lichtströme flossen über seine Scheibe. Dazwischen konnte man dunkle Stellen erkennen – Sonnenflecken –, in Wirklichkeit unvorstellbar heftige Stürme, die sich in ihrer Fotosphäre abspielten. Immer höher stieg das Schiff, immer mehr breitete sich das Licht über den Mond aus und die Schatten in den Mondtälern wurden immer schmaler. Von ihrem Sitz im Erdschiff aus, ihrem Logenplatz im Himmel, hatte Arlene einen Ausblick, der mit nichts auf der Erde zu vergleichen war, den erschreckend schönen Ausblick auf den Mond bei seiner Wanderung aus der Nacht ins Licht des Morgens. Arlene wagte kaum zu atmen. Dann feuerte Kenmore eine Antriebsrakete ab und setzte den Kurs in den Weltraum. Nicht viel später wies Moreau auf die größeren Krater, die Arlene bereits mit Namen kannte, und zeigte ihr
ein Tal, das offensichtlich von einem kleinen Planeten gegraben worden war, der den Mond in rasendem Fall gestreift und dabei einen Graben von 150 Kilometer Länge und 10 Kilometer Breite ausgehoben hatte, bis er wieder in den endlosen Raum geflogen war. Jetzt konnte sie zum ersten Mal auch die merkwürdigen, breiten, weißen Streifen sehen, über die sich die Astronomen auf der Erde nie hatten klar werden können und die so einfach zu erklären waren, wenn man sie sich an Ort und Stelle ansah. Moreau zeigte ihr auch den winzigen Krater, dessen Inneres völlig leer ist, wenn das erste Sonnenlicht in ihn eindringt, und der sich im Laufe des Mondtages allmählich mit Nebel füllt. »Nebel?« Arlene wollte es nicht glauben. »Das gibt es doch gar nicht!« »Doch, Mondnebel«, versicherte Moreau. »Frag doch Joe!« Kenmore, der die Unterhaltung mit angehört hatte, sagte über die Schulter, während er Höhen- und Geschwindigkeitsanzeiger ablas: »Schlimmer als gewöhnlicher Nebel. Es ist trockener Nebel!« Tatsächlich entstand der Nebel durch ein Gestein – keiner im Schiff konnte sich an die Bezeichnung erinnern – , das durch die starken Temperaturschwankungen zwischen Mondtag und Mondnacht in ganz feine Partikel zerrieben worden war, feiner noch als der Staub auf den Lavaseen. Dieser Staub ähnelt stark Talkumpuder; dagegen sind die Staubteilchen in diesem und einigen anderen Kratern wirklich mikroskopisch klein. Vor allem aber sind sie
fotoelektrisch und laden sich bei Sonneneinstrahlung elektrisch auf: Je stärker das Licht, desto stärker die Ladung, so daß sie bei der geringen Anziehungskraft des Monds zu schweben beginnen und sich von einander abstoßen wie elektrisch geladene Holundermarkkügelchen. Das Ergebnis war dieser Nebel, eine Wolke elektrischen Staubs, die sich leise vom Boden löste und von elektrostatischen Feldern getragen wurde, nicht von Luft. »Sie können mir's glauben oder nicht«, sagte Moreau zum Schluß seiner Erklärung, »manchmal blitzt es sogar drinnen!« Aber erst als Kenmore es bestätigte, wollte Arlene es glauben. Er war zwar nicht in diesem Krater gewesen, aber er war einmal in einen Mondnebel geraten und dabei hatte sich sein Anzug aufgeladen, so daß die Staubteilchen in Massen an ihm hängen geblieben waren. Als Kenmore damals zum Jeep zurückgekommen war, hatte er wie ein mit Moos bewachsener Busch ausgesehen, und wenn er sich bei der Entladung nicht besonderer Vorsichtsmaßnahmen bedient hätte, wäre der Anzug völlig durchlöchert worden. Dann erzählte Moreau von der offiziellen Grenze zwischen der zugewandten und der abgewandten Seite des Monds. Sie teilte ihn in zwei nicht ganz gleiche Hälften, da ja von der Erde aus zu bestimmten Zeiten 4/ 7 des Monds zu sehen sind. Moreau zeigte Arlene die Krater und Bergketten, die auf den älteren Mondkarten noch nicht verzeichnet waren, weil sie auf der abgelegenen Mondseite liegen. Und dann erzählte er ihr einiges über die große
internationale Zänkerei: in feierlichen Abmachungen hatte man die unsichtbare Seite des Mondes in Sektoren aufgeteilt, wobei die verschiedenen Nationen das Vorrecht erhielten, Berggipfel und Krater nach ihren nationalen Helden zu nennen. Dabei hatten nicht mehr als 50 oder 60 Menschen von insgesamt zwei Milliarden diese Gegenden zu Gesicht bekommen, und noch viel wenigeren waren die Namen ein Begriff. Aber je länger das Schiff dahintrieb, desto mehr trat die abgelegene Seite des Mondes zurück. Arlene überwältigte allmählich das Gefühl, in einen Abgrund zu sinken, als ihr zu Bewußtsein kam, daß ja die Erde nicht mehr zu sehen war; die andere Seite des Mondes verdeckte sie. Und das Empfinden der Heimatlosigkeit war viel niederdrückender, als sie es je in der Zivilistenstadt gespürt hatte. Auf dem Mond zu sein war aufregend, solange die Erde über einem am Himmel stand; es war jedoch für sie ein niederschmetterndes Erlebnis, von hier aus die Erde nicht mehr sehen zu können. Sie war so mit diesem Gedanken beschäftigt, daß sie kaum noch zuhörte, wie Moreau von der Eiform des Mondes berichtete, deren dickere Seite der Erde zugewandt sei, und daß der Horizont auf der abgewandten Mondseite deshalb nur 4 Kilometer vom Standpunkt des Beobachters entfernt sei. Weiter flog das Schiff und immer kleiner wurde der Mond, der nun mehr einem höckerigen Ball glich, aber nicht mehr dem Mond, den Arlene von der Erde her kannte. Auch erschien die Erde nicht mehr, was um so befremdender war, als der Mond jetzt ungefähr genauso
groß war wie die Erde von der Stadt aus gesehen. Jetzt begann Arlene das schreckliche Gefühl der Einsamkeit zu verstehen, das Weltraumschiffer zu befallen pflegt. Sie flog in einem Raketenschiff durch den Raum und alles, was sie sah, war fremd. Die Sonne war ein fremder Stern, der höllisches Feuer spie und mit Flammenfingern in den Himmel griff; der Mond war ein unheimlicher dunkler Fleck. Und die Erde gab es nicht mehr. Arlene fror, aber bevor sie ihrer Angst nachgeben konnte, begannen die Männer um sie herum, tätig zu werden. Der Häuptling hatte sich an den Radarapparat gesetzt, und Moreau betätigte den Elektronenrechner nach den jeweiligen Angaben des Indianers. Die Ergebnisse rief er Kenmore zu, der nach kurzer Zeit entschied, daß die Fahrt langsamer werden müsse. Er drehte das Schiff und Arlene wurde es schwindelig, als sich der ganze Kosmos im Kreis um sie drehte. Dann sagte Kenmore: »Achtung, Verlangsamung, 5 – 4 – 3 – 2 – 1.« Plötzlich hatte alles wieder Gewicht, nicht unerträglich, aber es schien Stunden auf ihnen zu lasten. Dann drückte Kenmore einen Knopf nieder, und die flammende Rakete schoß in die Weite des Raums hinein. Anerkennend sagte der Häuptling: »Gute Arbeit, Joe!«, und als nun Arlene aus einer Luke auf der Schattenseite des Schiffs hinaussah, hing das Laboratorium direkt vor ihr im Raum. Es war ein Raketenschiff, viel größer als das Erdschiff, und weil es im Raum ständig von der Sonne bestrahlt wurde, war eine Seite silberhell und die andere tiefschwarz.
Die Temperatur wurde je nach der Lage durch Vergrößern der hellen oder schwarzen Flächen geregelt. Man konnte bereits die Luftschleuse und die Luken sehen, sowie einige merkwürdig aussehende röhrenförmige Ausbeulungen; dort hinein konnten von innen her Raketen geladen werden, wie Torpedos bei einem U-Boot, falls das Laboratorium aus seiner Kreisbahn abwich. Arlene hatte den Eindruck von einem Wrack, das im leeren Raum umhertrieb. In der Tat jedoch barg es Männer, die sich ganz nüchtern an eine Arbeit gemacht hatten, die von größtem Nutzen für die Menschheit sein konnte, in der Hoffnung, daß ihre Erkenntnisse nicht einem Verrückten dazu dienen würden, die Menschheit zu vernichten. Über Raumfunk drang die Stimme des Sprechers zu ihnen: »Wer seid ihr und was wollt ihr hier?« »Hier ist das Erdschiff«, antwortete Kenmore ins Mikrofon. »Der Pendler ist zerstört. Wir haben Befehle für euch von der Erde. Öffnet eure Luftschleuse!« Die Stimme wurde undeutlich und sagte dann im gleichen müden Ton: »Wir öffnen. Es wäre ganz komisch, wenn ...« Ein erstickter Laut, dann Schweigen, das lange anhielt. Endlich sagte der Häuptling: »Da ist das Schleusentor, das gefällt mir aber gar nicht!« Kenmore zuckte die Achseln. »Mike sagte ja, daß sie alle übergeschnappt sind. Wahrscheinlich hatte er recht.« Die Schleuse an der Seite des Laboratoriumsschiffes öffnete sich und Kenmore meinte unsicher: »Eigentlich sollte ich es selbst tun, aber – Häuptling, geh du doch bitte zuerst und verankere die beiden Schiffe!«
Der Häuptling schnallte sich los und trieb zu der inneren Schleusentür des Erdschiffs. Sie schloß sich hinter ihm und es dauerte lange, bis die Schiffe sich mit einem unangenehmen Klirren berührten. Von draußen kam die Stimme des Häuptlings über Funk: »Ich nehme die Außenleitern zum Verankern; es bleibt also ein ziemlich großer Zwischenraum.« »Macht nichts«, sagte Kenmore ungeduldig. »Wir gehen gleich an Bord.« »Ich gehe schon«, ließ sich der Häuptling vernehmen. »Erst schließ ich unsere Schleusentür, dann mache ich einen großen Schritt.« Man hörte das Schließen der Tür. Kenmore ärgerte sich ein bißchen. Da kam er nun zum ersten Mal auf das Schiff, für das er gearbeitet hatte, seit es Raumschiffahrt gab, und was hatte er zu überbringen? Befehle, es zu verlassen. Er fühlte sich ziemlich elend. Moreau stieg in seinen Vakuumanzug, und als Arlene es ihm nachtun wollte, sagte Kenmore unfreundlich: »Du bleibst hier. Wir bleiben sowieso nicht lange drüben. Sie haben den Befehl, das Schiff zu verlassen und sofort mit uns zu kommen.« Leise sagte Arlene: »Ich würde so gern mitkommen.« Sie hätte ihm nicht erklären können, warum sie das Laboratorium sehen wollte. So kletterten die drei – Kenmore, Arlene und Moreau – in die Luftschleuse des Erdschiffs und warteten, während die Pumpen gingen und ihre Anzüge in der Luftleere immer praller wurden. Joe knüpfte das eine Ende seines Raumseils in Arlenes Gürtel und Moreau tat das gleiche.
Die Schleusentür öffnete sich, und nun zeigte es sich, daß die Schiffe fast zwei Meter auseinander waren. Die andere Schleuse, durch die der Häuptling in das Laboratorium gestiegen war, hatte sich noch nicht wieder geöffnet. Kenmore trat in den leeren Raum hinaus und ließ sich hinübertreiben. Drüben hielt er sich an den Handgriffen fest und versuchte die Tür zu öffnen. »Die Pumpen laufen immer noch«, sagte er, nachdem er kurz am Rumpf gehorcht hatte. Während sie warteten, schaute Arlene in die Lücke zwischen den beiden Schiffen. Das hätte sie nicht tun sollen. Natürlich war sie an Gewichtslosigkeit gewöhnt, an all die Aufregungen, die Raketenfahrten mit sich brachten. Aber niemand kann sich so recht von dem Gedanken befreien, daß es ein Oben und ein Unten gibt. Arlene sah nach unten zwischen ihren Füßen in einen Abgrund von Sternen. Atemlos vor Entsetzen schaute sie nach oben: der gleiche Abgrund hing über ihr – er war überall. Weder Sonne, noch Mond, noch Erde waren sichtbar. Von der offenen Schleuse aus sah sie nur Sterne, ein Schritt weiter nach draußen, und sie würde bis in alle Ewigkeit in den leeren Raum hineinfallen. Es war ein schrecklicher Gedanke. Aber da gab die Schleusentür auf der anderen Seite unter Kenmores Hand nach, und er stieg ein. Ein Ruck am Seil, panikartiges Erschrecken überfiel Arlene, sie schloß die Augen fest und ließ sich von ihm über den Abgrund hinüberziehen.
Sie öffnete sie erst, als sie hörte wie die Tür zuging, ihre Zähne klapperten und sie traute sich nicht, die Männer anzusehen. Sie fühlte nur, daß Moreau neben ihr stand und daß Luft einströmte. Aber irgend etwas stimmte nicht mit der Luft. Das Gefühl, aufgeblasen zu sein, ließ zwar nach; statt dessen fühlten sie sich wie eingeengt. Kenmore sah auf den Druckmesser, er schien beunruhigt. Dann öffnete er sein Gesichtsfenster und Moreau tat es ihm nach. Hastig sprachen sie miteinander. Als Arlene ihr Fenster öffnen wollte, mußte sie sich anstrengen, und ein kleiner Windstoß streifte ihre Wange. Wie kam Wind in eine Luftschleuse? In ihren Ohren knackte und rauschte es, und sie mußte schlucken. »Joe«, sagte sie, »was ...« Sie erschrak, weil ihre Stimme unnatürlich laut klang. »Da stimmt doch was nicht!« sagte Kenmore grimmig. Er hatte gar nicht laut sprechen wollen, aber er hatte geschrien. »Der Druck ist viel zu hoch!« In den Ohren Arlenes rauschte es wieder, und wieder mußte sie schlucken. Aber das Rauschen ließ nicht nach. »Bei diesem Druck können wir die äußere Tür gar nicht öffnen!« sagte Kenmore mit gekünsteltem Gleichmut. »Drinnen muß in einem Lufttank ein Leck sein, oder einer muß von Sinnen sein ...« Dann hörten sie das Klirren, das sich immer einstellt, wenn die innere Tür einer Luftschleuse aufgeht, nur war es viel lauter als sonst. Die Tür schwang nach innen und sie blickten gerade dem Häuptling ins Gesicht, das merkwürdig bleich unter der braunen Haut aussah. Barsch
sagte er zu Kenmore, kaum daß sie auftauchten: »Schaff Arlene sofort wieder zurück, Joe! Vielleicht lassen diese Verrückten hier mit sich reden!« Seine Stimme dröhnte und fand ein vielfältiges, ohrenbetäubendes Echo. Hinter ihm hatten sich die acht Leute, aus denen die Besatzung des Raumlaboratoriums bestand, um den Schleusenausgang versammelt. Einer von ihnen trieb mit selbstgefälligem Lächeln mitten im Raum und besah die Ankömmlinge mit erstaunt glänzenden Augen. Kopfabwärts klebte ein weißbärtiger Mann mit seinen magnetischen Schuhen an der Decke und blickte herablassend auf sie nieder. Ein dritter saß in einem Stuhl an der Wand. Ein Mann in einem Laboratoriumskittel, der einen Kneifer auf der Nase trug, redete sie in gesetztem Ton an, aber auch er schrie unfreiwillig. »Mr. Kenmore, nehme ich an. Wir hatten Mike im Pendler erwartet, leider können wir Sie nur wenige Minuten hier behalten, falls Sie uns wieder zu verlassen gedenken. Wir haben unsere Reservelufttanks geöffnet, und der Luftdruck entspricht jetzt ungefähr dem, den ein Taucher 80 m unter Wasser zu ertragen hat. Wenn Sie länger als 20 Minuten hier bleiben, bekommen Sie Krämpfe im Moment, wo Sie herauskommen. Wir sind jetzt 72 Stunden diesem Druck ausgesetzt, und unser Körpergewebe ist völlig mit Stickstoff gesättigt. Infolgedessen können wir das Laboratorium unmöglich verlassen. Im schlimmsten Fall wären wir gelähmt, im
besten Fall würden wir sofort sterben. Verlassen Sie uns bitte sofort!« Er sprach zwar mit tödlicher Sachlichkeit, aber seine Hände zitterten schrecklich. Der Häuptling bestätigte das, was sie gehört hatten. »Die Narren haben es tatsächlich getan. Der da drüben wird es dir zeigen, Joe.« Der Mann im Stuhl an der Wand grinste bösartig und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Als das Streichholz zündete, entstand eine Flamme von 25 cm Länge, und als er sie der Zigarette näherte und inhalierte, brannte sie mit einem Lungenzug bis an seine Lippen ab. Das konnte nur bei übergroßem Luftdruck passieren, in komprimiertem Sauerstoff. Plötzlich sagte eine erstaunte Stimme: »Aber, das ist ja ein Mädchen!« Und acht Paar Augen starrten Arlene ins Gesicht, so als sähen sie eine Erscheinung.
»Mit diesem Wissen ...« Abgesehen von dem erhöhten Luftdruck konnte man im Inneren des Laboratoriums nichts Ungewöhnliches feststellen – wozu natürlich zu sagen wäre, daß im Weltraum das Ungewöhnliche zum Alltag gehört. Die langen, weißgestrichenen Korridore hatten natürlich keine Seitenwände und keine Decke, weil alles bei der Schwerelosigkeit als Gang diente. An den Türen, die sich auf bloße Berührung öffneten, waren Namensschilder angebracht, und soweit Arlene wußte, verbarg sich hinter einer Tür ein Raum, in dem ein Versuch begonnen werden konnte, der dann außerhalb des Laboratoriums, im leeren Weltraum, zu Ende geführt wurde. Es genügte dazu, daß man dicke Cadmium-Barrieren zwischen Schiff und Versuchsgebiet treiben ließ, weil man im Weltraum eine Atomexplosion nur nach einer Seite abschirmen muß. Trotzdem konnte natürlich jede Kernspaltung oder Kernverschmelzung das Laboratorium und seine ganze Besatzung zerblasen. Der Mann mit dem Kneifer beriet ernsthaft mit seinen Kollegen, nachdem sie festgestellt hatten, daß eine Frau an Bord war. Gravitätisch sagte ein dicker Herr: »Ich wiederhole meine Worte: Wir sollten sie nach Hause schicken und die Sache ausprobieren.« Darauf erwiderte der Mann mit dem Kneifer und den zitternden Händen bedachtsam: »Dieser Versuch kann nur mit allseitiger Zustimmung unternommen werden. Aber
bestimmt würde es sich nicht schicken, wenn wir sie länger als zehn Minuten hier behielten!« Jemand sagte mit metallischer Stimme dazwischen: »Ihr gemeinen Narren! Ihr ...« Er begann zu fluchen, wobei sich seine Stimme überschlug. Joe Kenmore drehte sich um, aber vier Mitglieder der Laboratoriumsbesatzung waren schneller als er. Sie stürzten sich auf den Burschen. Der Kampf, der nun begann, wirkte wie ein Alptraum, weil alle ja schwerelos waren. Sie wollten auf ihn einschlagen, aber die angewendete Kraft trieb sie von ihm weg. Sie klammerten sich aneinander, trieben kopfüber weg, stießen sich an den Wänden ab und bildeten schließlich einen wirren Klumpen, der wie aufgehängt mitten in der Luft schwebte. Endlich verkündete der bärtige Mann aus der Mitte des Schwarms: »Ich habe ihn. Wenn er unsere Gäste noch einmal beleidigt, erwürge ich ihn.« Die anderen trieben auseinander, und nur zwei blieben übrig; einer hatte den anderen an der Kehle, mit einem Würgegriff. Zynisch meinte der dicke Mann: »Bei diesem Luftdruck kann er aber zehn Minuten die Luft anhalten!« »Aber er kann nicht fluchen, solange ich ihn an der Kehle gepackt habe«, erwiderte der bärtige Herr. »Sie haben recht.« Der dicke Mann gab sich zufrieden und drehte sich nach Arlene um. Das alles war so unheimlich und schien völlig unsinnig; trotzdem waren diese Männer, die sich merkwürdig genug
benahmen, so nüchtern und sachlich. »Überlassen wir die Entscheidung doch unseren Besuchern«, sagte ein anderer fröhlich. »Sie sind in dieser Angelegenheit doch unparteiisch.« Niemand hörte ihm zu, alle schauten Arlene an, sehnsüchtig, vielleicht auch traurig. Der Mann mit dem Kneifer hatte ein Gesicht wie ein Kind, dem man ein schönes Spielzeug zeigt, und der bärtige Mann, der den anderen immer noch an der Kehle hielt, lächelte sie väterlich an. Ein anderer hatte überhaupt keinen Ausdruck von Gefühlen in seinen Augen, und wieder ein anderer begann leise zu weinen. Kenmore richtete sich auf, er hatte das Gefühl, Arlene beschützen zu müssen. Denn diese acht Mann von der Laboratoriumsbesatzung beachteten weder ihn, noch Moreau oder den Häuptling. Sie hatten nur Augen für Arlene, Augen, die bei manchen nichts Gutes verrieten. »Hört mal her!« sagte Kenmore mit erhobener Stimme; er hatte nicht bedacht, daß sie bei dem hohen Luftdruck zum Gebrüll steigern würde. »Ich bin hier, um Ihnen den Befehl zu übermitteln, daß alle Versuche sofort einzustellen sind. Nach den neuesten Berechnungen, die man auf der Erde angestellt hat, kann das Ergebnis Ihrer Versuche nur verhängnisvoll sein.« Der Mann mit dem Kneifer sah Kenmore höchst amüsiert einen Moment lang an. »Lieber Mr. Kenmore, als wenn wir das nicht wüßten!« Dann wandte er sich wieder Arlene zu. Kenmore wurde böse. »Was ist hier eigentlich geschehen? Was ist los mit Ihnen allen?«
Keiner dachte daran, ihm eine Antwort zu geben. Arlene faßte sich ein Herz, zögernd, erschreckt über die Lautstärke ihrer Stimme. »Etwas muß doch geschehen sein! Was für eine Entscheidung sollen wir treffen?« Jetzt sprachen alle durcheinander: »Ob wir jetzt sterben sollen oder ... sollen wir die Kettenreaktion versuchen ... Keiner hat das Recht ... ich will es ihr erklären ...« Kenmore fühlte, wie es ihm heiß und kalt über den Rücken lief. Das waren hier die acht größten Gelehrten der Erde, und sie benahmen sich wie kleine Kinder. Sogar aus der Art, wie sie Arlene ansahen, konnte man ersehen, daß die entsetzliche Spannung, unter der sie hier oben gearbeitet hatten, zuviel für sie geworden war. Sie schauten sie an, als verkörpere sie all das im Leben, was sie in dem Laboratorium so lange entbehrt hatten, Sanftmut und Heimat, normales und natürliches Leben anstatt eines Daseins, in dem Wahnsinn den Alltag beherrschte. Kenmore wies mit dem Finger auf den Mann mit dem Kneifer. Niemals hätte er ihn früher so anzureden gewagt, diesen großen Mann der Wissenschaft. »Sie da! Sie sagen mir, was los ist!« Der große Mann nahm seine Brille ab, und während er sie putzte, sah er zwinkernd, wie Kurzsichtige zu tun pflegen, Kenmore ins Gesicht. Dann lächelte er Arlene ermunternd zu. »Im Grunde ist es ganz einfach«, sagte er, als wolle er um Entschuldigung bitten. »Wir wurden hierher geschickt, die entscheidenden Experimente mit einem Kraftfeld zu machen ...«
Warnungsrufe erschollen von den anderen: »Vorsichtig!« »Ich werde mich vorsehen«, erwiderte der Gelehrte ernst. »Bekannt war, daß das Kraftfeld auf Neutronen einwirkte; nichts hatte sonst diese Fähigkeit. Wir hofften, es als eine Art Linse, so wie die Felder in den Elektronenmikroskopen, benutzen zu können, um einen Neutronenstrahl anstatt eines mit Elektronen auf einen bestimmten Punkt hinzusammeln, zu konzentrieren.« Wieder wurde durcheinander gerufen. »Sie wollen doch die Leute zurückkehren lassen ... Sagen Sie ja nichts mehr ...« Der Mann mit dem Kneifer schüttelte den Kopf. »Ich werde ihnen nichts erzählen, was gefährlich sein könnte.« Dann fuhr er zu Arlene gewandt fort: »Aber wir haben herausgefunden, daß es einen kritischen Konzentrationspunkt für einen Neutronenstrahl gibt ...« und zu den anderen: »Seht ihr?« Der Mann im Stuhl an der Wand nickte glücklich. »Ja! Außer uns kann niemand verstehen, was Sie sagen wollen!« »Eine kritische Konzentration«, fuhr der Mann mit dem Kneifer fort, »die eine Kettenreaktion hervorruft. Beschießen in einem Zykloton heißt, daß nur wenige Veränderungen stattfinden. Die Atomkerne als Ziele sind so klein und relativ so weit auseinander, daß Millionen von winzigen Geschossen abgefeuert werden müssen, wenn man einen Kern treffen will. Aber wir können jetzt einen Neutronenstrahl so konzentrieren, daß kein Atomkern – kein einziger! – der Zerstörung entgeht. Ist Ihnen das
klar?« Zögernd sagte Arlene: »Nicht ganz. Aber Joe wird's verstehen.« Die acht Männer lachten vergnügt. »Bezaubernd!« sagte der Mann mit dem Kneifer und fuhr in seiner Erklärung fort. »Aber nicht nur Atomkerne werden gespalten, sondern, bei entsprechenden Geschwindigkeiten, auch Neutronen. Das muß ja so sein! Und bei dieser Neutronenspaltung muß absolut unzähmbare und unbegrenzte Zerstörungskraft freiwerden. Neutronen und Positronen – jedes subatomare Teilchen muß dann in reiner Kraft schwimmen. Jeder Teil muß sich aufspalten und dabei andere zerbrechen ... und wir haben eine Kettenreaktion, in der jede Substanz – selbst Wasserstoff – ein Atomsprengstoff ist ... Wenn ein einziges Neutron sich aufspaltet, dann verbreitet sich Zerstörung wie eine ansteckende Krankheit. Wenn also dieses Laboratorium zerstört wird, werden Mond und Erde – ja der ganze Kosmos – in diese Zerstörung mit hineingezogen!« Mit ein bißchen Anstrengung brachte Arlene ein Lächeln zustande. »Ich entnehme Ihren Worten, daß sie nicht die Absicht haben, es auf der Erde anzuwenden.« »Wir haben die Absicht«, sagte der Mann mit dem Kneifer in versöhnlichem Ton, »es überhaupt nicht zu benutzen. Da wir aber darüber Bescheid wissen, werden wir nicht mehr zur Erde zurückkehren. Früher oder später wird irgendein Narr, ein Größenwahnsinniger, drohen, damit die Erde in die Luft zu sprengen, falls sie sich ihm
nicht ergibt. Und irgendein anderer Verrückter wird dem ersten mit der gleichen Drohung entgegentreten. Zwei Verrückte oder zehn oder hundert, und jeder von ihnen verlangt alle Macht für sich, unter Androhung der Vernichtungsstrafe für alle – die Menschheit würde zugrunde gehen!« Dann lächelte er sie an, und der Mann mit der metallischen Stimme röchelte halb erstickt durch den Würgegriff bösartig: »Ihr Narren! Ihr –« Großzügig sagte dann der Mann mit dem Kneifer: »Sie sehen ein, meine liebe junge Dame, daß wir nicht zur Erde zurückkehren können, weil wir zuviel wissen. Jeder von uns hier besitzt die Macht, die Menschheit zu vernichten. Macht verdirbt den Charakter – das gilt für alle Zeiten. Und absolute Macht verdirbt den Charakter absolut. Schauen Sie uns an! Wir haben die Macht, uns gegenseitig zu töten, und wir haben sie angewandt, unter Vorsichtsmaßnahmen, damit kein anderer darunter leidet. Wir haben unseren Luftvorrat in das Schiff ausströmen lassen und atmen seitdem Luft, die sechsmal so dick ist wie normal, und das seit 72 Stunden. Wir können das Schiff nicht mehr verlassen, wir würden sofort durch den explosionsartig absinkenden Druck sterben – an schrecklichen Krämpfen. Wir können uns Ihr Schiff nicht aneignen, mit dem wir zum Mond gelangen könnten, weil wir in dem Augenblick sterben würden, wo wir es betreten.« Verzweifelt sagte Arlene: »Aber wir haben doch neue Befehle für Sie mit.«
»Dann sagen Sie uns, was wir tun sollen!« sagte der Mann freundlich. »Ich könnte es doch zur Erde funken«, nun sprach Kenmore, »und die da unten könnten sich die Köpfe zerbrechen, mit dem Problem. Das sollten Sie tun!« »Ja!«, stimmte ihm Arlene zu. »Das sollten Sie wirklich tun!« Ein großes Stimmengewirr erhob sich, so laut, daß Arlene sich die Ohren zuhielt. Als sie das sahen, sprachen sie leiser. »Es tut uns leid«, sagte endlich der Mann mit dem Kneifer. »Sie können uns jetzt verlassen, und wenn Sie sich in acht nehmen, werden Sie auch wieder in Ihr Schiff kommen. Wir dagegen können keinesfalls mit Ihnen gehen. Wir sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie zu uns heraufgekommen sind. Sie sind – wie soll ich es ausdrücken – alles das, was wir hier nicht haben. Trotzdem, wir bitten Sie inständig sofort zu gehen.« Ungehalten meinte plötzlich einer: »Sie haben ihnen viel zu viel erzählt; wenn sie das alles weiterberichten ...« Da riß Moreau die Schleusentür auf und der Häuptling schubste Arlene hinein. Die drei Männer stellten sich in die Tür und behielten die Gelehrten im Auge. Die zankten sich heftig. »Jawohl, Sie haben zuviel verraten! Jetzt wissen sie mehr als gut für sie ist!« Kenmore schmiß die Tür zu und die Pumpen liefen an. Die Anzüge wurden wieder prall und Kenmore sagte über Funk: »Paß auf mein Gesicht auf, Häuptling!« Er öffnete seine Gesichtsfenster und atmete ein, dann nickte er. Die
anderen machten es ihm nach. Weiter liefen die Pumpen, der Luftdruck in der Schleuse verringerte sich mit dem Druck in ihren Anzügen. Kenmore ließ nicht die Augen von dem Druckanzeiger. Plötzlich zitterte die Nadel. »Fenster zu!« kommandierte er. »Sie streiten sich immer noch darum, ob sie uns nicht zu viel mitgeteilt haben oder nicht! Wir müssen uns beeilen! Die sind übergeschnappt. Weiß der Himmel, was denen noch einfällt!« Die äußere Schleusentür ging auf, da war der Abgrund von Sternen zwischen beiden Schiffen, jetzt breiter als vorhin. Moreau flog hinüber und griff nach einem Halt, Kenmore und der Häuptling warfen ihm Arlene über den gähnenden Raum in die Arme, dann hingen sie alle zusammen vor der Schleusentür ihres Schiffes. Als sie sich alle hineingezwängt hatten, riß Kenmore den Notgriff herunter, der die innere Tür öffnete. »Wie viel Zeit haben wir noch, Joe?« fragte Moreau nach Luft schnappend. »Keine Ahnung«, keuchte Kenmore, »– das entscheiden die da drüben! Diese Narren machen sicher was Tolles!« Als alle in der Kabine waren, schrie Kenmore: »Setzt Arlene in einen Stuhl, schnell! Ich feuere ab!« Der Häuptling hob sie in einen Stuhl, alle schnallten sich so schnell es ging an. Kenmore zählte bereits: »5 – 4 – 3 – 2 – 1 –« Unerträgliches Gewicht lastete plötzlich auf ihnen, so daß Arlene in ihrem Stuhl zusammensackte. Sie rang nach Luft, während sie mit ihrem plumpen Anzug gegen die Stuhlkissen gepreßt wurde. Sie sah, wie der Häuptling
unter der Beschleunigung in die Knie ging und wie Kenmore Mühe hatte, die Hebel für die Raketen zu betätigen ... Das Erdschiff drehte sich mitten in der Fahrt und stürzte auf den Mond zu. Mächtige Wolken von Auspuffgasen entströmten den Raketen. Um dem Schiff in kürzester Zeit die höchstmögliche Geschwindigkeit zu geben, feuerte Kenmore die schwersten Raketen ab, die das Schiff hatte. Kaum daß eine ausgebrannt war, ließ er die nächste anspringen. Dann ließ sich Kenmore in seinen Sitz fallen ... Endlich war die letzte ausgebrannt, und das Schiff hatte seine Spitzengeschwindigkeit erreicht. Als der Druck nachließ, fühlte sich Arlene richtig schlecht. Der Häuptling richtete sich langsam auf und fragte mit schwerfälliger Zunge: »Glaubst du, wir schaffen es, Joe?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Kenmore. »Ich trau mich auch nicht, noch mehr Raketen abzufeuern. Wir brauchen noch welche zum Landen.« Noch etwas außer Atem fragte Arlene: »Aber was ist denn eigentlich los?« »Die sind doch wahnsinnig«, antwortete der Häuptling ruhig. »Die wollen doch nicht, daß ihre Entdeckung zur Erde gelangt. Sie haben sogar sich selbst getötet, um das zu verhindern. Und sie stritten sich darüber, ob sie uns nicht zuviel erzählt hätten, kurz bevor die Luftschleuse sich hinter uns schloß. Da sie nun mal verrückt geworden sind, werden sie bestimmt finden, daß sie uns zuviel gesagt haben und versuchen, uns umzubringen. Und sie kennen
nur eine Möglichkeit, das zu tun.« Obwohl ihr alles wehtat, setzte sich Arlene auf. Das Erdschiff trieb im leeren Raum dahin, scheinbar ohne Vorwärtsbewegung. Aber Arlene wußte, daß das ein Irrtum war; nach all der wahnsinnigen Beschleunigung mußte es sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit fortbewegen. Vor sich sah sie jetzt die halbe Scheibe der abgelegenen Mondseite, die die Menschen niemals zu Gesicht bekommen hatten, bevor sie das Laboratorium im Weltraum errichteten. Sie konnte auch die dunkle Stelle im Zentrum erblicken, über die sich die Gelehrten noch immer streiten. Jetzt war sie durch den Schatten des Sonnenuntergangs in zwei Hälften geteilt. Plötzlich, in Sekundenbruchteilen, leuchtete diese Scheibe in grellem, blendendem Licht auf. So etwas wie ein überdimensionales Blitzlicht mußte hinter dem fliehenden Erdschiff aufgezuckt sein und ließ den Mond nun in einem Licht erstrahlen, tausendmal greller, als je die Sonne es tun konnte. Das Laboratorium war explodiert, seine Besatzung hatte ihr eigenes Schiff gesprengt, weil sie sich einbildeten, zuviel verraten zu haben. Noch immer konnte die riesige Explosionsflamme auch das Erdschiff packen. Die vier in dem fliehenden Schiff warteten zitternd darauf. Würden sie sterben müssen? Würde die zerstörende Kraft auch den Mond erreichen und ihn mit der gleichen schrecklichen Gewalt zur Explosion bringen? Wenn das geschah, konnte es ihnen allerdings gleichgültig sein, was mit ihnen passierte ...
Vergessen können, das wäre schön! Auf dem Flug zurück zum Mond wäre schon einiges zu tun gewesen, aber Kenmore konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Für ihn bedeutete die Zerstörung des Raumlabors, daß alle Hoffnungen auf eine ruhmreiche Zukunft für die Menschheit vergeblich gewesen waren, daß jeder Fortschritt ein Ende gefunden hatte – ein völliger Stillstand, bei dem die Menschen in schreckliche Gleichgültigkeit verfallen würden, weil es nichts mehr gab, um das sie sich hätten bemühen können. Vor seinen Augen entstand das Bild von einer Menschheit, die langsam wieder zu Barbaren wurden, weil er überzeugt war, daß nur eine vorwärtsstrebende Gesellschaft gesund bleiben könne. Dazu kam die Entdeckung, die man in dem Laboratorium gemacht hatte: nach wissenschaftlicher Berechnung war es also möglich, das Weltall bis zum letzten Atom des abgelegenen Sterns zu zerstören. Dieser Gedanke war für Kenmore noch unerträglicher, weil damit dem Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen jeder Sinn genommen wurde. Was für einen Zweck sollte denn das Streben der Menschen noch haben, wenn irgendein Verrückter eines Tages alles in die Luft sprengen konnte? Und immer hatte es unter den Menschen Wahnsinnige gegeben. Wenn es also möglich war, so malte er sich aus, dann würde es irgendwann bestimmt einmal passieren ... So war der Flug zurück vom Laboratorium nicht gerade sehr fröhlich. Kenmore steuerte das Schiff mit verbittertem
Gesicht, Moreau stellte völlig unnötige Berechnungen nach den Beobachtungen an, die der Häuptling ebenfalls völlig unnötig machte. Nur Arlene tat nicht so, als sei sie mit unwichtigen Dingen furchtbar beschäftigt. Mitleid mit Kenmore – das war es, was sie ganz erfüllte. Sie wußte schließlich, mit welchem Ehrgeiz und Eifer er sich für die Eroberung des Weltraums eingesetzt hatte. Die abgelegene Seite des Mondes kam näher, das Erdschiff trieb an ihr vorbei, und da kam hinter dem ausgezackten Rand eines Mondkraters die Erde wieder zum Vorschein. Jetzt konnten sie auch wieder die Gebirge sehen, die nach den Helden verschiedener eifersüchtiger Länder benannt worden waren, und die Seen, die noch darauf warteten, von den Vereinten Nationen mit klingenden Namen versehen zu werden. Was jetzt allerdings ziemlich unwichtig erschien. Dann kam die Grenze der abgelegenen Mondseite. Die Erde schwebte frei im Himmel und die Kontinente auf ihr hatten sich wieder verschoben. Sie sah ausgesprochen buckelig aus. Der Mondtag war der Zivilistenstadt näher gekommen, würde sie aber erst in ungefähr hundert Stunden erreichen. Moreau und der Häuptling waren fieberhaft mit ihren Beobachtungen und Berechnungen beschäftigt, deren Ergebnisse sie mit übertriebenem Eifer an Kenmore weitergaben. Er tat ihnen wenigstens den Gefallen, Kurs und Geschwindigkeit des Raketenschiffes etwas zu ändern, um die bestmögliche Landeposition zur Stadt zu erreichen. Etwas später flogen sie aus dem Morgen in den riesigen,
kalten Mondschatten, Kenmore öffnete die Lukendeckel, und sie sahen sich die Augen aus dem Kopf, um sich an den Bergformationen zu orientieren, die vom Erdlicht angestrahlt wurden. Endlich wußten sie, wo sie waren, und Moreau und der Häuptling versicherten Kenmore vergnügt, daß sie auf richtigem Kurs lagen. Dann schob sich das Mare Imbrium über den Horizont und die Bucht nahe am Apennin-Gebirge, in der die Stadt lag. Kenmore wendete das Schiff und machte sich an die kitzlige Arbeit der Verlangsamung und Landung. Es war keine fröhliche Landung nach all dem Unglück. Kenmore war es ganz zufrieden, daß kein Lichtstrahl zum Einweisen da war – es konnte reine Nachlässigkeit sein –, weil er sich sonst hätte über etwas freuen müssen. Tiefer und tiefer trieb das Schiff, stöhnend arbeiteten die Kreiselkompasse und schließlich waren sie so tief, daß sie das einsame kleine Licht über der Hauptkuppel der Stadt sehen konnten, als Kenmore seine letzte Verlangsamungsrakete abfeuerte. Knirschend landeten sie an einer Stelle, die der letzte Raketenausstoß von allem Staub freigeblasen hatte. Die drei künstlichen Erdhügel der Stadt waren zwar groß, wenn man bedachte, daß sie von Menschenhand geschaffen worden waren; aber im Vergleich zu den Bergen, die da kaum 5 Kilometer entfernt aufragten, wirkten sie winzig. Während das Schiff sich herabsenkte, beleuchtete die blauweiße Flamme der Raketen diese Staubhaufen, die die letzte Errungenschaft menschlichen Wagemuts waren. Dann flogen die Raketen, ausgeklinkt, himmelwärts,
verschwanden, und nichts regte sich mehr. Schweigen, Stille, Einsamkeit! Mit müden Schritten stiegen die Raumfahrer aus und gingen zur Stadt hinüber. Kenmore war der letzte, schweigend ging er hinter den anderen her, hinüber zur Luftschleuse der Stadt. Alles um ihn herum sah schmutziggrau aus, die Stadt und die Berge, ausgenommen die Stellen, wo die tiefschwarzen Schatten lagen. Nur die Sterne leuchteten in unzähligen Farben, und Kenmore kam es so vor, als sähen sie gleichgültig auf die Menschen in ihrem Unglück herunter. Selbst die Erde, die nun fast im Zentrum des Himmels lag, sah aus, als sei sie von Motten zerfressen. Als sie in die Hauptkuppel kamen, fanden sie Pitkin, der sich noch immer einfältig lächelnd mit den Pflanzen abgab. Kenmore machte seine Gesichtsscheibe auf und fragte uninteressiert: »Gibt's was Neues?« »Aber ja«, erwiderte Pitkin strahlend. »Rogers und Schmidt sind in ihrem Jeep hierher gekommen. In ihrer Radarstation ist was kaputt gegangen, und sie konnten nicht bleiben. Auf dem Weg hierher begegneten sie den Jeeps, die aus der Stadt geflohen sind. Sie sagten hier Bescheid, und Lezd gab es nach der Erde weiter. Dann sind sie zurückgefahren, um ihnen zu Hilfe zu kommen.« Kenmore knurrte so etwas wie Zustimmung. Denn immerhin konnte es ja passieren, daß die Besatzung einer Radarstation wegen eines zufällig auftretenden Schadens ihren Posten verlassen mußte, ehe die Ablösung kam. Er wußte nicht recht, was er aus Pitkins Bericht machen sollte; beides war möglich – Zufall und auch Sabotage.
Er ging den anderen voran hinüber in die Luftkuppel und fand, daß ein Teil des hydroponischen Gartens verlegt worden war, um Platz für eine erstaunlich gute Nachahmung der inneren Räume des Raumlaboratoriums zu schaffen. Alle möglichen Motorenteile und Einrichtungsgegenstände der Hauptkuppel waren zusammengetragen und geschickt aufgestellt worden. Zuerst konnte er sich keinen Vers darauf machen, beim Durchgehen sah er dann, daß hier wieder eine Fernsehsendung vor sich gehen sollte. Lezd stand davor und betrachtete das Ganze mit sichtlicher Genugtuung. »Von mir aus kann's losgehen mit der Fernsehsendung aus dem Raumlaboratorium«, sagte er selbstzufrieden. »Cecile schläft – hoffentlich. Sie geht einem auf die Nerven, wenn sie nervös wird, und sie wird unerträglich, wenn sie es mit der Angst zu tun bekommt. Momentan hat sie es mit der Angst zu tun.« »Im nächsten Augenblick«, sagte Kenmore, »wird sie auch noch arg enttäuscht werden. Das Raumlaboratorium hat sich nämlich in seine Atome aufgelöst. Wörtlich!« Lezd sah ihn ungläubig an und Arlene meinte hastig: »Laßt mich es ihr beibringen!« Nachdem sie weggegangen war, ließ sich Lezd von Kenmore von der Zerstörung des Raumlaboratoriums berichten – ohne allerdings den Grund dafür zu erfahren. Kenmore sah keinen Sinn darin, hier auf dem Mond Panik zu verbreiten. Wenn es Erde erfuhr, war das noch immer schlimm genug. Aus diesem Grund hatte er auch vom Häuptling, von Moreau und Arlene sich das Ehrenwort
geben lassen, nichts weiter zu sagen. Bedauernd sagte darauf Lezd, dem gleich wieder sein Fernsehen eingefallen war – beneidenswerte Eingleisigkeit des Spezialisten –: »Zu schade, daß das alles umsonst sein soll! Die Kulissen sehen so wunderbar echt aus!« Da sagte der Häuptling vergnügt: »Mach doch daraus das Innere einer Radarstation! Haney und ich können alle Einzelheiten angeben, wir waren ja in einer.« Lezd freute sich: »Das ist ein guter Einfall! Und Miss Gray wäre ja beinahe in eine solche Station gebracht worden, als das kleine Schiff zerstört wurde und ihr sie fandet. Wenn etwas Cecile überhaupt beruhigen kann, dann ist es das.« Kenmore ging wieder hinüber in die Hauptkuppel, in die Nachrichtenzentrale. Er rief Erde an und berichtete über die Zerstörung des Raumlaboratoriums. Der Hohe Vorgesetzte, der damals so aufgeregt Befehl gegeben hatte, eine Botschaft hinaufzubringen, wurde an den Apparat gerufen. Joe Kenmore wiederholte seinen Bericht, worauf der hohe Herr beinahe in Ohnmacht fiel, so erleichtert war er. Er machte richtig schlapp, wie ein zum Tod Verurteilter, dem man im letzten Augenblick mitteilt, daß er begnadigt ist. Er mußte weggebracht werden, und an seiner Stelle erschien Major Gray, Arlenes Vater, auf dem Bildschirm. »Arlene geht's gut?« fragte er als erstes. »Ganz gut«, antwortete Kenmore und fragte nun seinerseits: »Ich hörte, daß die vermißten Jeeps gefunden wurden. Jemand noch am Leben?«
Er wartete die drei Sekunden, in denen seine Stimme die Reise zur Erde machte und die Antwort anfing. »Alles am Leben«, sagte Gray gleichmütig. »Jeeps von den Ferngeschoßbasen fanden sie. Ihr Luftvorrat war zwar ziemlich am Ende, aber noch war keiner tot. Auch an ihnen war Sabotage verübt worden.« Kenmore konnte sich nicht mehr sehr aufregen; er hatte das erwartet. Er hatte genug Beweismaterial in der Hand, um zu wissen, daß die einzelnen Sabotageakte von einem oder mehreren Stadtbewohnern verübt worden waren – ausgenommen die Sprengung der Bergwand, mit der er und Moreau erledigt werden sollten. Aber da das ganze Mondprojekt aufgegeben werden sollte, war das alles nicht mehr so wichtig. Müde fragte er: »Was gibt's sonst noch?« Mit einiger Zurückhaltung erwiderte Major Gray; »Jeeps von den Ferngeschoßanlagen versorgen die FlüchtlingsJeeps mit neuer Luft und bringen die Sabotageschäden in Ordnung. Dann lassen sie sie nach der Stadt zurückfahren. Zivilisten sind in den Ferngeschoßanlagen nicht erwünscht.« »Das kann ich verstehen«, sagte Kenmore. »Sie werden natürlich zur Erde zurückgebracht werden«, sagte Gray weiter. »Der Schreck war für sie zu groß.« »Das habe ich mir gedacht!« erwiderte Kenmore verbittert. »Das wird die Ausrede dafür sein, daß man die ganze Geschichte mit der Weltraumschifffahrt an den Nagel hängen will. Die Menschen können's eben nicht aushalten! Und wenn alles gut geht, wird man Atomkraft
nur noch auf Bezugscheine ausgeben, ebenso wie Kohle und Öl, weil sie ja für alle Zeiten ausreichen müssen. Einige Leute werden alberne Versuche machen, Kraft aus den Gezeiten und dem Wind zu gewinnen, und keiner wird mehr daran denken, daß es Sterne und Welten gibt, die auf mutige Menschen warten. Und eines Tages ...« Major Gray unterbrach ihn: »Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich nicht von solchen Gedanken irre machen zu lassen. Außerdem habe ich ein paar Befehle für Sie. Von dem, was Sie im Raumlaboratorium gehört haben, darf nichts bekannt werden. Wenn die Leute nach und nach in die Stadt zurückkommen, versuchen Sie, sie zu ermutigen. Ergreifen Sie besondere Vorsichtsmaßnahmen gegen weitere Sabotage – wenn irgend möglich. In der Zwischenzeit wird ein Marineschiff nach einer Ferngeschoßanlage hinaufgeschickt, das jemanden mitbringt, der Befehle für sie hat.« Das Gesicht verschwand vom Schirm und Kenmore drehte sich um. Da stand die wütende Cecile Ducros vor ihm. »Was haben Sie angerichtet? Arlene hat mir eben alles erzählt. Und was soll ich jetzt tun? Millionen Menschen warten auf meine Sendung aus dem Raumlaboratorium! Sie wollen von der großen Entdeckung hören, die ihnen und ihren Kindern Reichtum und Glück bringen soll. Und Sie lassen es zu, daß diese Idioten sich selbst und das Laboratorium in den leeren Raum jagen, in kleinen Bruchstücken! Wie konnten Sie nur!« »Diese Idioten«, widersprach ihr Kenmore, »wie Sie sie nennen, hatten vor, Arlene und uns drei Männer zu
vernichten.« »Na schön, aber was soll ich jetzt machen?« verlangte Cecile zu wissen. »Ich habe keine Sendung. Wozu bin ich denn heraufgekommen? Um Fernsehsendungen zu machen. Was tue ich jetzt? Nichts!« Arlene zwinkerte Kenmore zu. Der wappnete sich mit Geduld und sagte: »Der Häuptling meinte, eine Radarstation würde es auch tun. Lezd stellt bereits die Kulissen um. Denken Sie sich doch eine schöne Geschichte über jene unbeugsamen Kerls aus, die allen Gefahren eines einsamen Lebens auf dem Mond trotzten, um den bestirnten Himmel nach kleinen Lastraketen abzusuchen, die von der Erde heraufkommen.« Zuerst stampfte sie noch einmal wütend mit dem Fuß auf, dann machte sie ein überraschtes Gesicht. Schließlich strahlte sie vergnügt lachend. »Ausgezeichnet! Ich will sofort mit diesem Häuptling sprechen. Trotzdem – es war furchtbar dumm, diese Männer nicht an der Zerstörung des Raumlaboratoriums zu hindern! Zu dumm!« Dann ging sie. Kenmore zuckte die Achseln; er konnte nicht mehr klar denken, nachdem alle seine schönen Zukunftspläne so plötzlich gescheitert waren. Arlene legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. »Armer, lieber Joe«, sagte sie zärtlich. »Laß dich doch nicht kleinkriegen! Glaubst du denn, daß es für dich nun gar nichts mehr zu tun gibt? Bestimmt wird sich etwas finden lassen, wenn es auch vielleicht nicht deinen Plänen entspricht. Die Zeit steht nicht still. Laß doch deine Wut heraus, schimpf dich ordentlich aus, meinetwegen auf die
Kerle, die jene Bergwand auf dich und Moreau fallen lassen wollten! Vielleicht wird dir dann besser!« Er schüttelte den Kopf. »Abgesehen davon, daß Moreau und ich dir helfen konnten – wahrscheinlich wäre mir jetzt wohler, wenn ich unter dem Berg läge.« Da sagte Arlene zornig: »Aber sie haben auch mich umzubringen versucht! Das bedeutet dir wohl gar nichts!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen. Und er wäre ihr bestimmt nachgelaufen, wenn er nicht gemerkt hätte, daß ihr kleiner Zornesausbruch gut gespielt war. Er merkte, daß sie ihn herausreißen wollte aus seinem ewigen Brüten über die Sinnlosigkeit seiner Arbeit und seiner Hoffnungen.
Eine Ducros-Sendung Schweren Schrittes ging er hinüber zu seiner Schlafkoje und setzte sich auf seine Bettstelle – es dauerte ein bißchen von dem Moment an, wo er sich zum Setzen anschickte, bis zu dem, wo sein Körper tatsächlich das Bett berührte. In seinen Gedanken versuchte er sich vorzustellen, auf welche Weise die Sabotage verübt worden war und wer die Schuldigen sein konnten. Sehr wahrscheinlich hatten sie sich nach dem Sabotageakt mit den anderen Flüchtlingen in einem Jeep davongemacht, hatten sich dann von der JeepKarawane getrennt und die Sprengung für ihn und Moreau vorbereitet und waren möglicherweise über einsame Radarstationen hergefallen und hatten deren Besatzung ermordet. Auch jetzt konnten sie wieder irgendwelche finsteren Pläne aushecken. Zum bösen Ende würden sie dann eine Geschichte auftischen, für die man keinen Gegenbeweis fand, und würden als glückliche Überlebende der Unglücksfälle auf dem Mond wieder zur Erde zurückkehren. Kenmore gab es auf, er war zu müde. Er hatte zu viele Stunden pausenlos durchgearbeitet und wurde jetzt ein Opfer der Erschöpfung. Er merkte gar nicht, daß er einschlief, und wachte erst wieder auf, als ihn der Häuptling wachrüttelte und ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee unter die Nase hielt. »Die Sendung geht gleich los«, sagte er grinsend. »Ich und Haney sind als Schauspieler engagiert worden. Arlene meinte, du solltest Zuschauer spielen.«
Trotz der geringen Mondschwere kam er nur mühsam hoch. Der Häuptling drückte ihm den Becher in die Hand. »Arlene meinte, wir sollten dich schlafen lassen, aber wir brauchen doch ein bißchen Publikum.« Kenmore schluckte seinen Kaffee. »Von den Jeeps schon einige zurück?« »Ja, sie kommen einer nach dem anderen. Mensch! Die haben aber die Hosen ... Alle haben sich entweder schon erstickt oder geröstet gesehen. Sie wollen von hier weg, nichts wie nach Hause!« »Eingeschlossen diejenigen, die das alles angerichtet haben«, sagte Kenmore böse. »Reizend, nicht? Na, jetzt haben sie wenigstens keinen Grund mehr zu sabotieren und zu morden. Das Labor ist hin und die Stadt wird verlassen.« »Höchstens«, sagte der Häuptling, »könnten diese Schurken Spaß an ihrem Handwerk gefunden haben.« Kenmore stand auf und ging hinter dem Häuptling hinüber durch die Hauptkuppel in die Gartenstadt, wo die hydroponischen Tanks den Miniaturdschungel enthielten, durch den die Luft gereinigt und aus dem Nahrung gewonnen wurde. Cecile probte ihre Sendung bis in die letzte Bewegung. Es gab keinen Regisseur noch ein Drehbuch. Lezd tat nichts anderes, als ihre Befehle ausführen. Manchmal machte er eine Anregung. Sie schien sie überhaupt nicht zu hören, aber fünf Minuten später wiederholte sie die Anregung mit ihren Worten, und nun war's ein Befehl. Aus scheinbarem Durcheinander entwickelte sich
allmählich so etwas wie Ordnung. Lezd brachte einen Vorhang an, es war Ballonseide, die er blau angemalt hatte. Dann ließ er den ganzen Aufbau von einem Projektionsapparat an die Wand werfen und betrachtete sich kritisch das Bild. Von nahem sah es nach nicht viel aus, trotzdem nickte er Kenmore befriedigt zu. »Für die Fernsehkamera genügt es«, sagte er. »Cecile wird in einem Vakuumanzug erscheinen und den Leuten auf der Erde zeigen, wie Mondblumen aussehen. Sie wird behaupten, daß sie sie entdeckt habe. Gott sei Dank gibt es ja Fotos von ihnen.« Unfreundlich sagte Kenmore: »Aber Arlene ist außer Mike der einzige Mensch, der sie je angefaßt hat!« »Was haben denn Tatsachen mit Kunst zu tun?« fragte Lezd beinahe entrüstet. »Cecile ist doch eine Künstlerin!« Nun erschien Cecile Ducros in einem Vakuumanzug mit einem Spezialhelm, den sich Lezd für sie ausgedacht hatte. Außerhalb der Kuppel wäre es nicht gerade sehr praktisch gewesen, ihn zu tragen – er war nämlich nicht luftdicht – aber er stand ihr ausgezeichnet. Sie überprüfte ihr eigenes Abbild in einem zweiten Schirm und gab kurze Befehle. Die Sendung begann damit, daß Ceciles Gesicht mit dem berühmten schläfrigen, geheimnisvollen Lächeln auf dem Bildschirm erschien. Mit zarter Stimme sagte sie: »Guten Abend, hier ist eure kleine Cecile Ducros, sie spricht zu euch vom Mond, oder genauer gesagt, von einer ganz abgelegenen Stelle auf dem Mond, weit weg von der Stadt – aus einer einsamen Radarstation, wo zwei unbeugsame Männer allen Gefahren des einsamen Lebens auf dem
Mond trotzen, um den bestirnten Himmel nach den kleinen Frachtschiffen abzusuchen, die von der Erde heraufkommen.« Sie trug ihren falschen Vakuumhelm mit Charme und geöffnetem Visier. Das Bild in der Kamera wechselte, und jetzt erschien der Kulissenaufbau auf dem Schirm, der zuerst hatte das Raumlabor vorstellen sollen; es sah ganz echt aus. Cecile erklärte die Aufgaben einer Radarstation, wo zwei Männer und ein Mond-Jeep 14 Tage lang in der luftleeren Kälte der Mondnacht blieben. Sie zeigte den Ausblick aus der Luke einer Radarstation. Es sei dicht vor dem Morgengrauen in diesem Teil des Mondes, behauptete sie aufgeregt, und dort – Seht doch nur! – blinkte das erste Sonnenlicht auf den höchsten Bergen. Natürlich handelte es sich um ein projiziertes Foto, aber selbst die Anwesenden fanden es schwierig, nicht an die Echtheit des Bilds auf dem Schirm zu glauben. Es sah wirklich so aus, als zeige die Kamera eine verlassene Landschaft mit geheimnisvollen Bergen, die sich vom Sternenhimmel abhoben. Aber zurück zu Cecile. Sie hatte Haney an ein außerordentlich echt wirkendes Instrumentenbrett gesetzt und jetzt beantwortete er ihr Fragen mit ziemlich unverständlichen Fachausdrücken. Dann trat der Häuptling auf und entwickelte ganz erstaunliche schauspielerische Talente. Es gab vier Radarstationen, begann er in großartiger Form, die nur während der 300 Stunden dauernden Mondnacht besetzt wurden. Ein Mann war stets auf Posten, er lauerte auf die kleinen Lichtpunkte auf dem
Radarschirm; das waren die Frachtschiffe, die mit Nahrungsmitteln und Luft zum Mond heraufkamen. Geschickt flocht Cecile eine oder zwei Anekdoten über Fahrten durch Bergpässe ein, in denen langsam herunterfallende Lawinen eine große Rolle spielten. Dann erzählte sie eine rührende Geschichte von einer Radarstation, aus der die Luft entwich und die deshalb aufgegeben werden mußte. Dann berichtete der Häuptling von einer anderen Station, wie sie dort das Leck abgedichtet hatten, Wasser durch Elektrolyse in Sauerstoff und Wasserstoff spalteten und diese hochexplosive Mischung sechs Tage lang einatmeten, immer in der Furcht, ein einziger Funken statischer Elektrizität könne die Station mit ihnen in Atome zersprengen. Das war ein Mondmärchen vergleichbar mit der uralten Geschichte von dem gehorsamen Maulesel, der mit seinem Reiter in einen Abgrund fiel und mitten im Fall innehielt, als der Reiter »Brrr« rief. Der Häuptling schloß seine aufregende Erzählung mit der dreisten Feststellung, daß das Übelste an diesem Erlebnis darin bestand, daß sie ihre Zigaretten nur draußen vor der Tür rauchen konnten. Cecile lächelte ihn süß an und schloß ihr Visier, wobei sie erklärte, daß »es sehr häßlich wäre, wenn es kaputt gehen sollte.« Jetzt täuschte die Kamera eine Luftschleuse vor, in die sie hineinging, dann veränderte die Kamera ihren Standpunkt, und nun trat sie aus der Schleuse in die völlige Luftleere hinaus. In dem eingeblendeten Hintergrund stand ein Mond-Jeep; sie zeigte auf das Bild und erklärte mit gut gespielter Erregung diese
Lastfahrzeuge. Dann sprach sie über Vakuumanzüge – das hatte sie sich von Arlene sagen lassen. Sie ließ eine Handvoll Mondstaub, der für diesen Zweck extra hereingebracht worden war, aus ihrer handschuhbewehrten Hand fallen, um zu zeigen, wie langsam er hinuntersank. Sie berichtete von Erdrutschen und Staubseen mit geradezu ansteckendem Schauder, der so gut dosiert war, daß ihrem Publikum zwar eine Gänsehaut über den Rücken lief, es aber nicht zu sehr geängstigt wurde. Dann sah es so aus, als klettere sie einen Berg hinauf, wobei die Kamera ihr folgte, und plötzlich hatte man Überblick über einen Mondkrater, an dem Cecile stand und mit verhaltener Stimme über das Wunder seines Entstehens berichtete. Ein riesiger Stern aus Stein und Eisen war mit sagenhafter Geschwindigkeit aus den Wolken – pardon! – aus dem Weltraum herabgefallen und war beim Aufschlagen im wahrsten Sinne des Wortes explodiert. Dieser Bergring mit einem Durchmesser von vielen Kilometern war das Ergebnis; er war der Zeuge einer uralten Katastrophe. Die Sendung ging weiter, und schließlich wurde Kenmore richtig wütend, weil es auf dem Schirm wirklich so aussah, als hüpfe Cecile Ducros in der geringen Mondschwere einen Abhang herunter, bliebe vor einem schwarzen Loch stehen und spreche aufgeregt von einer Entdeckung, die sie selbst gemacht habe. Blumen gab es hier – die Blumen des Mondes! Und sie sei sehr stolz darauf, daß sie, Cecile Ducros, diesen süßen kleinen Garten gefunden habe, obwohl bisher immer nur gerüchtweise von
Mondblumen zu hören gewesen sei, und daß die reizenden Leutchen aus der Zivilistenstadt diesen Garten nach ihr benannt hätten. Und da war er! Sie wies mit gespielter Erregung darauf hin, und es sah ganz so aus, als stände sie im Licht eines Scheinwerfers von einem Mond-Jeep. Und da war der unsagbar zarte Garten mit den dünnen silbrigen Zweigen und hängenden Blättern. Die Kamera schien sich zu nähern, die hauchfeinen Einzelheiten dieser Pflanzenwelt traten deutlich hervor. Und doch wußte Kenmore, daß es nur eine Fotografie war. Er hatte sie selbst gemacht, damals in der Höhle, als Arlene, er und Mike eine Radarstation zu erreichen suchten, nachdem sie mit dem Pendlerschiff Bruchlandung gemacht hatten, eine knappe Stunde, bevor Haney und der Häuptling sie entdeckten. Aber es war eine ausgezeichnete Sendung. Nicht ein Sterbenswörtchen über Sabotage, Mord und plötzlichen Tod, nichts von der Zerstörung des Raumlaboratoriums. Die Vorstellung endete damit, daß Moreau, ebenfalls in einem Vakuumanzug, erschien und sie mit befehlender Geste aufforderte, ihm sofort zu folgen. Sein Helm war echt, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. Durch Ceciles Phantasiehelm war ihr Gesicht jedoch sehr deutlich zu sehen; jetzt lächelte sie ihn kindlich-gehorsam an und machte ein Schmollmündchen in die Kamera hinein. »Man sagt mir, daß es zu gefährlich für mich wird, länger an dieser wunderbaren Stelle zu bleiben. So fahre ich zur Stadt zurück und werde von dort wieder zu euch sprechen.« Sie sah sich nach Moreau um, der wie eine
Statue in seinem Vakuumanzug hinter ihr stand – in Wahrheit hatte man einiges von der Apparatur des Anzugs abgeschraubt, damit er fernsehwirksamer wurde – und seufzte hörbar. »Ich muß tun, was man mir sagt«, vertraute sie ihrem Publikum an. »Er sieht so gut aus!« und dann fügte sie hinzu, »und ich bin so leicht zu verführen!« Damit tänzelte sie an Moreau heran. Der Bildschirm wurde grau, die Sendung war zu Ende, diese einzigartige Propagandasendung für ein Unternehmen, das schon gescheitert war.
Der letzte Streich Von mehr als zwei Milliarden Menschen wußten vielleicht fünfzig, was das Raumlaboratorium berichtet hatte – daß ein weiterer Fortschritt in der Atomwissenschaft den Selbstmord der Menschheit bedeutete. Die meisten von diesen fünfzig reagierten auf diese Nachricht, indem sie sich furchtbar darüber erregten. Drei verübten Selbstmord, ein paar verfielen in eine Bewußtseinsspaltung, in der sie die Wirklichkeit vergaßen. Einige wenige – sehr wenige – rangen sich zu dem Beschluß durch, das Resultat dieses Berichts nicht anzuerkennen. Der Kosmos, so argumentierten sie, hatte einen Sinn; dieser Sinn würde verlorengehen, wenn er durch einen seiner Bewohner, den Menschen nämlich, zerstört werden konnte. Deshalb mußte der Bericht einen Irrtum enthalten. Und während Kenmore der komischen Fernsehsendung Cecile Ducros' zusah, machten sich ein halbes Dutzend Männer an die Arbeit, die Berechnungen zwei- und dreimal nachzuprüfen, die in dem Bericht des Raumlabors standen. Die Einzelergebnisse stimmten fraglos. Es gab ein Kraftfeld, in dem Neutronen gelenkt und beschleunigt werden konnten wie Elektronen in einer Fernsehröhre. Dieses Feld konnte man in Linsen lenken, die einen Neutronenstrom auf einen mathematischen Punkt zusammenführen konnten, während gleichzeitig ihre Geschwindigkeit auf jede beliebige Höhe gesteigert wurde.
Wenn ein solcher geballter Neutronenstrom auf Materie traf – dann konnte natürlich kein Molekül, kein Atom, kein subatomisches Teilchen einem Zusammenstoß entgehen. Wenn diese Neutronen hart genug auftrafen, mußten sie zerbrechen; und wenn ein Neutron zerbrach ... Das Aufbrechen eines subatomischen Teilchens sollte seine sofortige Umwandlung in reine Energie bedeuten, von gleich großer Masse wie das zerstörte Objekt. Hier würde es sich also nicht um die Energie der Kernspaltung oder Kernzusammenfügung handeln, sondern um die eigentliche Energie der Materie – die Energie aus der Substanz selbst. Ein aufgespaltenes Teilchen, gleichgültig von welcher Art, sollte andere Teilchen spalten, die daneben lagen. Diese wieder sollten andere spalten. Die richtige Explosion eines einzigen Atoms sollte jedes andere Atom zur Explosion bringen, mochte es auch so weit wie nur denkbar abseits liegen, und eine Kettenreaktion sollte beginnen, bei der alle Materie explosiv würde und auch explodierte. Hätte das im Raumlaboratorium begonnen, hätte die Detonation sich auf den Mond erstreckt, der 70 000 Kilometer weit weg war. Der Mond hätte die Explosion an die Erde weitergegeben und die Erde an die Sonne; die Sonne hätte die Planeten zur Explosion gebracht und die Sterne in ihrer Nähe, und diese wieder ... Solch eine Explosion sollte selbst in der unendlich fein verteilten Materie im Weltraum sich fortpflanzen – bei einem Atom auf einem Quadratzentimeter. Sie sollte die Riesenräume zwischen den Sternsystemen überspringen
und den Kosmos in Flammen setzen. Diese Schlußfolgerungen hatten die Männer im Raumlaboratorium in den Wahnsinn getrieben; sie meinten, so nicht weiterleben zu können. Aber unten auf der Erde weigerten sich ein paar Leute – Wissenschaftler –, dieses Denkergebnis der Laboratoriumsarbeit zu übernehmen, und machten sich daran, die schwache Stelle darin zu finden. Ein Mann namens Thurston kam bei seiner Überprüfung zum richtigen Ergebnis. Es war derselbe Gelehrte, der schon früher die Annahmen über die kinetische Energie in den Beziehungen zwischen Satelliten und Hauptplaneten als Irrtümer nachgewiesen hatte. Er führte seine Berechnungen an der großen Elektronenrechenmaschine der Harvard-Universität durch. 72 Stunden lang saß er vor der Maschine, trank literweise Kaffee und arbeitete mit geradezu großartigem Eigensinn. Als er fertig war, konnte er vor Müdigkeit kaum noch sehen und taumelte, und sein Kommentar, den er den Wartenden gab, strotzte vor unflätigen Ausdrücken. Es lag einfach daran, daß die Raumleute das Neutron in ihre Berechnungen als ein kleines, festes Objekt eingesetzt hatten. Sie stellten sich ein Neutron als eine Art Nuß vor, es war so bequem. Aber ein Neutron ähnelt im Grunde einem Planeten; es hat einen außergewöhnlich dichten Kern, wird nach außen jedoch immer gasförmiger. Was die Rechenmaschine vor allem herausgebracht hatte, war, daß die Struktur eines Neutron von Wichtigkeit war. Wenn zwei Gegenstände wie beispielsweise Nüsse bei hoher
Geschwindigkeit zusammenstießen, würden eine oder auch beide zerbrechen. Wenn jedoch ein Neutron mit einem anderen Teilchen zusammenstieß, dann zerplatzte es nicht. Bei jeder Geschwindigkeit, bis hinauf zur Lichtgeschwindigkeit, sprang es ab, prallte es ab. Und jenseits der Lichtgeschwindigkeit war es kein Neutron mehr, nicht einmal mehr ein Gegenstand, sondern eine Welle. Auf dem Mond jedoch erfuhr Kenmore nichts von dieser in der Theorie gemachten Entdeckung. Er ließ seinen Ärger nach Beendigung der Fernsehsendung Cecile Ducros' Luft, und zwar ausgiebig. »Unsinn von Anfang bis Ende«, schloß er seinen Ausbruch. »Nur Süßholzraspelei! Außerdem erntete sie den Ruhm für Arlenes Erfahrungen, die ihr beinahe das Leben gekostet hätten!« »Mir macht das nichts aus«, tröstete ihn Arlene. »Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich keine Gelegenheit gefunden, hierher zu kommen.« »Es wäre viel besser für dich gewesen ...« Plötzlich war ein merkwürdiges Geräusch in der Kuppel zu vernehmen, um so merkwürdiger, als es von draußen kam, wo es keine Geräusche gab. Es war ein eigenartig ersticktes Röhren, das lauter und lauter wurde. Wer sich gerade in der Luftkuppel befand, erstarrte zu Stein. Kenmore sah zufällig nach oben und beobachtete, wie ein Streifen von der plastischen Kuppelwand nach außen getrieben wurde wie eine Beule. Dann – und dies geschah im Bruchteil einer Sekunde – glühte die Stelle
rötlich auf und einen Moment später schoß eine hellrote Flamme durch den Plastikballon, der die innere Schale der Kuppel bildete. Einen Schweif roter Funken hinter sich herziehend, sauste ein Geschoß quer durch die Kuppel und knallte gegen die Plastikwand der anderen Seite. Es war, als habe jemand ein rotglühendes Messer durch die Kuppel gejagt. Der Flammenkopf des Geschosses verschwand, nur die Funkenspur blieb. Und auf das Röhren folgte das dünne, zischende Pfeifen entweichender Luft. Kenmore rannte gegen Moreau; die beiden waren im gleichen Moment mit Flickmaterial hochgesprungen. Aber sie waren gesprungen, und es dauerte schrecklich lange, bis sie wieder auf dem Boden waren, neue Flicken packen und wieder hochspringen konnten. Ein 20 Zentimeter großes Loch klaffte in der Decke der Kuppel, 7 Meter über dem Boden. Gott sei Dank kann ein Mann auf dem Mond 7 Meter hoch springen. Kenmore erreichte das Loch, der Flicken aus Plastikmasse wurde von dem Vakuum draußen angesogen und blieb an Ort und Stelle fest kleben. Kenmore fühlte durch den Flicken hindurch, wie der Mondstaub, der von der entweichenden Luft hochgewirbelt worden war, sich wieder herunter senkte. Moreau war an dem anderen Loch beschäftigt, beide wurden fast zur gleichen Zeit fertig und senkten sich wieder langsam zu Boden. »In die Anzüge!« schrie Kenmore noch mitten in der Luft schwebend. »Beeilt euch!« Einige der erstaunlich langlebigen Funken trieben langsam mit ihm zu Boden. Sie verrieten natürlich, was für
ein Geschoß hier durchgeflogen war. Man hatte eine Signalrakete vorn eingekerbt, um eine kleine Düsenflamme an der Spitze zu erzeugen, dann hatte man sie in den Staubhaufen über der Kuppel von draußen her hineingeschossen. Die vordere Flamme hatte den Staub aufgewirbelt, die hintere Flamme hatte die Rakete vorwärts getrieben. Auf der Erde hätte sie bestenfalls den Staub aufgewirbelt. Hier auf dem Mond aber hatte sie sich durch die Kuppel gebohrt, hatte zwei Löcher hineingetrieben. Und es war nicht einmal wahrscheinlich, daß es dabei bleiben würde. Arlene zwängte sich mit der Geschicklichkeit eines alten Raumschiffers in ihren Anzug, und Kenmore, der gerade neben ihr landete, hatte nur eine Locke nachzuschieben, die sich vorwitzig in die Helmverschraubung verfangen hatte. Dann stieg er in seine Rüstung, setzte den Helm auf und sagte hastig: »Jake, sieh in den anderen Kuppeln nach!« Er sah noch einmal nach, ob auch Arlenes Visier in kürzester Zeit geschlossen werden konnte, und sagte grimmig zu Moreau: »Paß auf den Druckmesser auf! Sinkt er, muß es noch irgendwo ein Leck geben, das wir noch nicht entdeckt haben. Sicher kannst du den Druck halten, wenn du Luft aus dem Reservetank nachströmen läßt. Aber wenn du abhauen mußt, dann tu es. Die Luftschleuse ist der beste Zufluchtsort zur Zeit.« Er lief in die Hauptkuppel hinüber. Dort hatte es drei gähnende Löcher in der Plastikdecke gegeben und eine Signalrakete, die sich in einer Metallverstrebung festgefahren hatte, brannte mit roter Flamme 12 Meter über
dem Boden aus. Mike Scandia kletterte gerade an einer anderen Verstrebung hoch, um mit Plastiklappen ein Leck zu schließen. Der Häuptling leistete die gleiche Arbeit wieder an anderer Stelle und Haney – schon im Vakuumanzug – befestigte drei lange Drähte aneinander. Auf das eine Ende spießte er ein Stück Pappe, das er in einem Papierkorb entdeckt hatte, legte den Plastiklappen über die Pappe, kletterte auf eine Zwischenwand und klebte von da aus den Lappen gegen das Leck. Im Sprung wäre er da nämlich nie hinaufgekommen. Der Lappen klebte fest, angesogen von der Luft, die noch in der Kuppel war. Kenmore merkte, daß das dünne Klingeln, das durch seinen Helm durchdrang, von dem Alarmgong der Luftdruckmesser kam. Tatsächlich aber war die Lage jetzt unter Kontrolle. Darum rannte er hinüber in die Kraftstation, wo eine Rakete ebenfalls die Plastikwand durchlöchert hatte. Drei Männer in Vakuumanzügen waren damit beschäftigt, sie abzudichten. Sie gehörten zu den zurückgekehrten Flüchtlingen. Aber wenn sie auch jetzt wieder vor Angst Herzklopfen und zitternde Hände hatten, liefen sie nicht davon. Sie hatten begriffen, daß sie mit der Stadt auch ihr eigenes Leben retteten. Endlich konnte sich Kenmore einen gehörigen Wutanfall leisten. Da brauchte ein Mann nur einige Signalraketen vorn einzukerben, so daß aus ihrer Spitze eine Flamme herausschoß, und schon konnte er die Wände der Stadt nach Belieben durchlöchern. Und dieser Kerl mußte ja draußen gestanden haben ...
Er rannte in die Hauptkuppel zurück. Die Druckanzeiger waren in die rote Gefahrenzone herabgesunken, aber Haney hatte wieder den Boden erreicht und Mike segelte gerade herab; zwei häßliche, aber nützliche Engel ohne Flügel. In seinen Funk schrie Kenmore: »Den Kerl, der das getan hat, greife ich mir!«, rannte nach der Luftschleuse und hörte dabei, wie der Häuptling mit einem grunzenden Schmerzenslaut aufkam; sein Sprung war wohl selbst für die geringe Mondschwere etwas hoch gewesen. Haney rief nur: »Bin dabei, Joe!« und Mike hastete mit seinem »Nicht ohne mich!« hinterher. Aber Kenmore war als erster draußen, wo ihn das unglaubliche Schauspiel eines Mond-Morgengrauens empfing. Die Berggipfel im Westen glühten rot, die Lavabucht mit der Stadt lagen dagegen noch immer im tiefsten Schatten. Das Licht der Sonne beschien die Spitzen des Apennin-Gebirges und wurde von dort zurückgeworfen, so daß man den Eindruck hatte, daß dieses zarte Licht nur durch eine Atmosphäre entstehen könnte – die ja nicht vorhanden war. Von der Erde, die jetzt in ihrem Zenith stand, war nur die Hälfte zu sehen; bald würde sie noch weiter abnehmen, bis nur eine schmale rote Linie von ihrer Existenz künden würde. Aber Kenmore achtete nicht darauf. Sein erster Blick galt den Mond-Jeeps; es waren noch nicht viele, da erst ein Teil der Stadtbesatzung zurückgekehrt war. Die Fahrzeuge waren dicht vor der Luftschleuse aufgefahren, und Kenmore stieß einen wütenden Fluch aus. Denn unter ihnen waren keine Spuren, keine Radabdrücke zu sehen.
Eine Art Nebel schien unter ihnen zu wallen, und es gibt bekanntlich keine Nebel auf dem Mond, außer bei hellem Sonnenschein und an Stellen, wo fotoelektrische Substanzen die Oberfläche bedecken. Solche Nebel sind Staubwolken, deren elektrisch geladene Teilchen sich gegenseitig abstoßen und so im leeren Raum schweben. Das hier war etwas anderes. Mit den längsten Mondsprüngen, die er fertigbrachte, rannte er zu den Jeeps hinüber. Als er zum ersten kam, fand er schnell heraus, daß er hätte den Schaden verhüten können, wenn er ein paar Minuten früher gekommen wäre, und nichts gemerkt hätte, wenn er einige Minuten später herausgekommen wäre. Bewegungslos standen die Jeeps nebeneinander, eingehüllt in einen weißlichen Nebel aus Mondstaub, der gerade im Begriff war, sich wieder herabzusenken. Kenmore benötigte nur Sekunden, um zu begreifen, was los war. Das Luftventil – mit dem man sich an die Lufttanks des Jeeps anschließen konnte – war abgeschlagen. Es war üblich, daß die Männer beim Arbeiten im Freien die Luft über lange Schläuche aus dem Jeep atmeten, mit dem sie zur Arbeitsstelle gekommen waren; dabei blieb die Luft in den Tanks am Anzug unangetastet. Jetzt jedoch war diese Verbindung unterbrochen. Die Tanks hatten ihren luftigen Inhalt in den Staub verströmt, ihn hochgeblasen, und nun senkte er sich wieder. In fünf Minuten wäre Kenmore vielleicht nur dadurch aufmerksam geworden, daß keine Fußspuren zu sehen waren. Hätten sich die zurückgekommenen
Flüchtlinge noch einmal ins Bockshorn jagen lassen, wären sie diesmal in ihren Jeeps erstickt. Jetzt traten Haney, der Häuptling und die groteske Gestalt Mikes in den Morgen hinaus. Kenmore sagte ihnen in wenigen Worten über Funk, was geschehen war. Mike hastete zurück in die Stadt und warnte alle Insassen, sich um Gottes willen keinesfalls den Jeeps anzuvertrauen. Haney und der Häuptling liefen zur Rückseite der Stadt, um sich dort nach Sabotageakten umzusehen. Und dann gellten plötzlich Schreie in Kenmores Funk, sie kamen aus der Stadt. Er raste hin, war in Sekunden durch die Schleuse, hörte Arlene um Hilfe rufen ... Sie war in der Luftkuppel gewesen, also lief er dorthin. Eine Verstrebung war gebrochen und die halbe Decke eingesunken, einige Pflanzentanks unter sich begrabend. Zwei Gestalten zerrten verzweifelt an einer dritten, die unter der runtergesackten Decke eingeklemmt lag, über der sich Meter um Meter Mondstaub auftürmten. Kenmore riß das Notventil am Lufttank herum, zischend strömte Luft in den Raum. Die Decke hob sich ein wenig unter dem neuen Druck, und Kenmore sprang hinzu und half dabei, die Gestalt unter ihrer Last herauszuzerren. Aber es war Lezd, den sie ohnmächtig hervorzogen. Die anderen waren Pitkin und Moreau. Kenmore schrie sie an: »Wo ist Arlene?« Vielleicht lag sie unter dem Plastikballon, den sie noch nicht hochgehoben hatten, und der seiner Verstrebungen beraubt unter dem Mondstaub zusammengesackt war. Mit schriller Stimme machte sich jetzt Cecile bemerkbar: »Da
kam einer herein – durch die Wand! Die Decke kam herunter, und sie – sie –!« Aber das war doch unmöglich. In den Staubhaufen über einer Mondstadt hineinzulaufen war dasselbe, wie wenn man in einen Staubsee rannte – man ging unter, erstickte, ertrank wie in Flugsand. Kenmore rannte zurück und öffnete das Notventil weit. Einen Augenblick lang hob sich die Decke und gab den Boden frei – und ein mannshohes Leck in Bodennähe gegenüber, dann sank sie wieder zusammen. Kenmore fühlte einen dicken Kloß in der Kehle. Arlene war nicht in der Kuppel, weder tot noch lebendig. Er hätte sie sehen müssen. »Einer kam durch die Wand!« wiederholte Cecile wie ein eigensinniges Kind. »Einer –!« Das sah jetzt auch Kenmore. Hinter diesem Versuch, die sterbende Stadt völlig zu vernichten, stand letzte Grausamkeit. Man hatte den gleichen Trick angewandt, wie bei den Löchern, nämlich Signalraketen benutzt. Die hatten einen Schub von fünf Pfund Erdgewicht; sie brannten 20 Sekunden lang. Man konnte sie umgekehrt halten, so daß Flamme und Auspuff eine Straße durch den größten Berg von Mondstaub bliesen. Anderer Staub würde nachrutschen, aber nur langsam. Man konnte sich seine eigene Gasse blasen, wenn man nur schnell handelte und genug Signalraketen dabei hatte. Und hier war Arlene gewesen in ihrem Vakuumanzug ... Kenmore brüllte Befehle heraus und handelte gleichzeitig. Die Stadt war versorgt – wenn das überhaupt noch wichtig war. Die schlimmsten Lecks waren
abgedichtet, außer in der Luftkuppel. Jetzt ging es um Arlene! Moreau war ihm dicht auf den Fersen. Einmal draußen, war Kenmore in zwei Riesensprüngen an den Vorräten. Im gleichen Moment flogen der Häuptling und Haney in langen Sätzen um die Stadt ihm nach. »Wir haben einen Jeep gesehen, in Fahrt auf die Berge zu!« hastete der Indianer heraus. »Haney brüllte, er solle anhalten, aber die wollten ihn überfahren!« Kenmore mußte in seinen Funk husten, weil er zu schnell gelaufen war, und der Häuptling schrie unverständliche Flüche heraus, die blaue Flämmchen an den Rändern hatten, so bösartig waren sie. Kenmore prüfte den nächsten Jeep, wie weit er fahrtüchtig war, Moreau kam schnaufend mit einer Riesenlast Signalraketen gelaufen, Mike verschwand unter einem Sack voll Magnesium-Markierungspuder, der eigentlich zu schwer für ihn war, und der Häuptling balancierte eine ungeheure Walze Luftschnee herbei ...
Verfolgung Es war eine gespenstische Szene. Die beginnende Morgenröte badete die höchsten Gipfel des Apennin in grelles Licht. Das Mare Imbrium lag noch nicht im Licht, wurde aber indirekt von den Bergen angestrahlt. Gestalten trieben hin und her in den grotesken Sprüngen, zu denen sie die geringe Schwere befähigte. Ein Mond-Jeep fuhr den anderen jetzt beladenen Fahrzeugen voraus – im Morgengrauen silbrig schimmernd – auf den Wall der Ungeheuer aus Stein zu, kroch in wenigen Minuten zu dem Paß hinauf, durch den vor kurzem ein anderer Jeep gejagt war, dessen Besatzung glauben mußte, daß die Stadt halb zerstört und die anderen Jeeps infolge der geleerten Lufttanks bewegungsfähig waren. Die Berge stiegen hier 8000 Meter steil an, hinaus zu den Sternen und der Erde. Auch ihre Gipfel lagen im grellweißen Sonnenschein, in ihren Tälern braute die Dunkelheit. Ganz schwacher Erdschein lag über dem Ganzen, durch das sich die zahlreichen Scheinwerfer des Jeeps fraßen. Lawinen drohten ringsum. Bei dem hastigen Aufladen hatten sie einfach die Türen des Frachtabteils aufgerissen und wieder geschlossen, und waren durch die inneren Türen des Frachtabteils mit ihren Lasten hineingeklettert. Das Innere des Fahrzeugs war vollkommen luftleer, so daß sie gezwungen waren, die Luft aus ihren Anzugtanks zu atmen, die aber nur für zwei Stunden reichen würde. Dagegen hatte die Kabine noch
nicht die tiefen Kältegrade der Außenwelt angenommen. Deshalb bohrte jetzt der Häuptling die Walze aus Luftschnee an, die ins Innere ragte, und bald konnte man hören, daß sie sich von innen her in Flüssigkeit verwandelte. Auf diese Weise erzeugte die Innenwärme des Jeeps eine Atmosphäre, die man noch nicht gleich einatmen konnte, die jedoch mit der Zeit die Männer am Leben erhalten würde. Moreau vergrößerte die Öffnung in der Schneewalze und kratzte Schneeballen heraus, die er kundig mit Magnesiumpulver mischte und dann in die eingekerbten Spitzen der Signalraketen stopfte. Für das, was er vorhatte, war es die beste Lösung – es war der Explosivstoff, mit dem man die Bergwand in die Luft gesprengt hatte, um ihn und Kenmore darunter zu begraben. Der kleinste Funke entzündete das Magnesium, das an feste Luft gebunden war; das Magnesium seinerseits schmolz genug Luft, um eine Flamme zu erzeugen. Und dann detonierte das Ganze in einem blendenden, alles um sich herum zerstörenden Blitz. Noch nie zuvor war es an Raketen benutzt worden. Mit ihrem Explosivkopf von Moreaus Hand waren sie also die ersten Geschosse, die jemals im Zorn auf dem Mond abgefeuert werden sollten. Allerdings, Arlene befand sich in dem Fahrzeug, das sie angreifen wollten. Kenmore hatte sich eingebildet, letzte Enttäuschung zu kennen, seit er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, daß es mit Reisen zum Mond und in den Weltraum zu Ende ging. Hier aber empfand er eine Art von Hilflosigkeit, die ihn zur
Weißglut brachte. Natürlich waren die Männer, die sie verfolgten, verloren. Freilich wußten sie es nicht, da niemand ein Verbrechen begeht, der eine leise Hoffnung hat, den Folgen zu entgehen. Unzweifelhaft bildeten sich die Männer in dem anderen Jeep ein, ein perfektes Alibi zu haben. Sie konnten so tun, als gehörten sie zu den Flüchtlingen, die nach der ersten Sabotage die Stadt verlassen hatten, sie konnten eine wunderbare Geschichte erfinden, wie sie von der Karawane abgekommen seien, ihren Jeep hätten reparieren müssen und bei der Rückkehr die zusammengesunkenen Stadtkuppeln vorgefunden hätten. Sie konnten sich ausrechnen, daß Jeeps von den Ferngeschoßanlagen zur Stadt kommen würden, daß die sie mitnehmen und zur Erde zurückschicken würden. Zum Teil war ihr teuflischer Plan bereits gescheitert. Das Schreckliche war nur, daß sie Arlene in die Folgen ihrer Wahnsinnstat hineingezerrt hatten. Und das ist der wüsteste Teil jedes Verbrechens, dachte Kenmore, daß Verbrecher so oft Unschuldige in ihren Tod mit hineinreißen. Moreau sagte plötzlich in den Jeep hinein, ohne seine Arbeit an den Raketen zu unterbrechen: »Lezd muß mit dem Mann gekämpft haben, der Arlene entführte. Sein Luftschlauch war abgedreht. Es wäre gut, wir denken an diesen Trick, wenn wir diese Kerls zwischen unsere Fäuste bekommen.« An der Halskrause jedes Vakuumanzugs ist nämlich eine Luftkontrollschraube. Mit ihr kann man die Luftzufuhr
ändern oder drosseln, je nach der Arbeit in oder an einem Jeep oder beim Eintritt in eine Luftschleuse. Sogar an Ringkampf im luftleeren Raum hatte der Bursche gedacht und hatte sich ein besonderes Jiu-Jitsu für den Mond erfunden; den meisten wäre das gar nicht eingefallen. Mike Scandia knirschte vor Zorn mit den Zähnen, der Häuptling und Haney starrten aus den Luken nach vorn, und Kenmore nahm den Fuß nicht vom Gashebel. Er konnte sich vorderhand nicht ausmalen, wie er den anderen Jeep zerstören sollte, ohne Arlene zu töten. Das einzige, was blieb, war Rache für ihre Entführung – und die war sinnlos, wenn sie auch dabei starb. Seine Wut war gepaart mit Entsetzen über die Frechheit dieser Verbrecher. Sein Jeep erkletterte den Paß in rücksichtsloser Fahrt; trotzdem kam es ihm vor, als kröche er wie eine Schnecke so langsam. Viele Kilometer voraus griffen nadelscharfe Bergspitzen nach dem Himmel. An manchen Stellen war das Gelände neben der Fahrbahn vom Erdlicht angestrahlt, meistens jedoch fuhren sie in tiefem Dunkel dahin, das die Jeepscheinwerfer kaum zu durchdringen schienen. Die Spuren machten an einer Bergflanke eine Kurve um einen Abgrund ohne Boden, der sich an der Seite öffnete. Dann tanzte das Scheinwerferlicht über eine steile Wand dunklen Steins, die vielleicht 2 Kilometer weit weg lag. Wieder eine Kurve, und gerade vor ihnen ragte eine sonnenbeschienene Bergflanke auf, toter Stein, der aber wie verwundet aussah, als habe er sich furchtbar abgemüht, lebendig zu werden oder wenigstens irgendeinem kleinen Lebewesen Schutz zu gewähren.
Aber die Verfolger schauten nur einmal kurz hin, dann senkten sie ihre Blicke wieder auf den Staub, aus dem sich deutlich Spuren abhoben. Wenn die Menschen eines Tages den Mond verlassen würden, – ihre Fußspuren würden bleiben, bis die Sonne ausgebrannt wäre. Wenn also der fliehende Jeep an irgendeiner Stelle abbiegen würde, konnte es den Verfolgern nicht entgehen. Kenmore wußte hier Bescheid, weil er über diesen Paß schon mehrmals gefahren war – das letzte Mal erst, als er und Moreau die Frachtrakete mit ihrem beschädigten Jeep zur Stadt gebracht hatten. Der verfolgte Jeep hatte wahrscheinlich gar kein bestimmtes Ziel; die Besatzung mußte ja glauben, daß die Stadt ein hilfloses Wrack war. Also flohen sie einfach in die Berge und warteten dort die erneute Flucht der Stadtbewohner ab – und diesmal war ihnen der Tod durch Ersticken sicher, weil die Lufttanks leer waren. Dies mußten ihre Gedanken sein; außerdem erwarteten sie natürlich reiche Belohnung von irgendeiner Regierung, wenn sie erst einmal auf die Erde zurückkehrten. Kenmore fuhr wie ein Mann, der von Sinnen war oder der in sich einen sechsten Sinn entdeckt hatte. Um einen Mond-Jeep richtig zu steuern, brauchte man ohnehin schon drei Hände und einige andere Talente. Je schneller man fuhr, desto mehr bedurfte man eigentlich übermenschlicher Begabung. Gut möglich war natürlich, daß Kenmores Jeep den anderen schon deswegen einholen würde, weil dessen Besatzung gar nicht an Verfolgung dachte, in dem sicheren Gefühl, zu viel Panik und Verwirrung in der Stadt
angerichtet zu haben. In jedem Fall hatte Kenmore sich geschworen, sie so schnell wie möglich einzuholen. Und das gelang ihm. Plötzlich sah er den anderen Jeep weit vor sich im Morgenlicht aufblitzen. Er fuhr gerade einen schmalen Abhang hinunter, verschwand wieder in den Schatten einiger riesiger Steinsäulen, hinter denen das absolute Nichts lauern konnte. Kenmore fuhr blindlings hinterher, er kannte die Strecke. Erst kam eine enge Schlucht, dahinter ein ebenes Stück Boden, aus dem sich ein kleiner Mondkrater von kaum zwei Kilometer Durchmesser erhob. Sein Ring war an einer Stelle eingestürzt und hatte eine Art Schneise freigelegt, die am Rande eines steil abfallenden Hangs endete. Dieser Hang schien in einen bodenlosen Abgrund überzugehen; hinuntersehen konnte man nicht. An dieser Stelle mußten früher schon Jeeps gewesen sein. Der verfolgte Jeep hatte kurz vor der Schneise gewendet und dann gestoppt; seine Motoren liefen nicht mehr, die Bremsen waren offensichtlich angezogen. Die Verfolger konnten jetzt schon die erregte Unterhaltung der Flüchtlinge über Funk hören, und sich danach vorstellen, was in dem anderen Jeep geschah. Jetzt schienen die Flüchtlinge das hinter ihnen aufblitzende Licht gemerkt zu haben. Mit ihrer Ruhe war es wohl jetzt dahin. Jetzt mußte ihr Jeep die leise Erschütterung des Bodens aufnehmen, sie blickten wohl erschreckt auf und gewahrten die ferne Staubwolke, die auf sie zukam und aus der sich eine Leuchtspur löste, die wie ein Pfeil auf sie
zuschoß. Dahinter mußten sie jetzt den anderen Jeep erkennen – Kenmores –, der in rasender Fahrt auf sie losfuhr. Eine Strickleiter pendelte an seiner Seite, an ihr hing eine Gestalt, aus deren Händen eine zweite Leuchtspur schoß. Die Flüchtlinge schienen ihren Augen nicht zu trauen; außerdem waren sie vor Schrecken völlig verwirrt. Der Fahrer gab Gas und der Jeep brauste los. Aber er war angehalten worden, ohne daß jemand an einen plötzlichen Start gedacht hatte. Jetzt mußte er erst wieder wenden, um fliehen zu können – und man brauchte viele Hände für einen Mond-Jeep. Offensichtlich war der Fahrer völlig von Sinnen vor Angst. Er riß das Steuer herum und fuhr so ungeschickt los, daß sich ein Rad zwischen zwei großen Steinen festrannte. Er versuchte es mit mehr Gas durchzuzwingen, dann ging er auf Rückwärtsgang. Nichts half, das Rad saß fest. Kenmore beobachtete, wie erst eine Gestalt im Vakuumanzug, gleich darauf eine zweite aus der Luftschleuse des anderen Jeeps sprangen und nach vorn rannten. Verzweifelt zerrten sie an dem Rad, und tatsächlich, es kam frei. Und der Jeep fuhr an. Natürlich sind diese Fahrzeuge für Fahrten im denkbar schlechtesten Gelände gebaut. Sie hatten außerdem eine Vorrichtung, die ihn nach kurzer Strecke automatisch bremste, um ausgestiegenen Besatzungsmitgliedern das Einsteigen zu ermöglichen. Offensichtlich hatte der verängstigte Fahrer diese Vorrichtung nicht betätigt. So fuhr er jetzt mit zunehmender Geschwindigkeit auf
den Abhang zu. Einer der ausgestiegenen Männer brüllte vor Wut auf; sie konnten es in ihren Funkapparaten hören. Der andere schrie mit hoher Stimme etwas Unverständliches. Sie rannten wie besessen hinter ihrem Fahrzeug her, das die Entfernung zu ihnen jedoch immer mehr vergrößerte und mit hoher Fahrt auf den Abhang zusteuerte ... Kenmore trieb seinen Jeep wie ein Rennpferd zu höchster Fahrt an, in der vagen Hoffnung, den anderen Jeep einholen und rammen zu können. Draußen hing Moreau wie ein Kletteraffe an der Strickleiter, schoß eine Rakete nach der anderen ab und fluchte hysterisch vor sich hin, weil er immer wieder sein Ziel verfehlte. Endlich traf eine Rakete das eine Vorderrad, als der fliehende Jeep kaum 50 Meter vor dem Rand des Abhangs war. Das Rad flog ab und der Jeep rutschte noch ein par Meter weiter bis er zum Halten kam. Sekunden später stand Kenmores Jeep neben dem Fahrzeug. Er sprang zur Luftschleuse, aber der Häuptling war schneller. Als Kenmore draußen auf den Boden glitt, hörte er den Häuptling drohend zu den Flüchtlingen sagen: »Entweder ihr ergebt euch, oder macht euch auf was gefaßt! Denkt aber nicht lange nach!« Die beiden Gestalten in den Vakuumanzügen standen etwa 80 Meter weit weg im Erdlicht, eine murmelte etwas Unverständliches. Moreau hob eine Signalrakete hoch. »Soll ich ihnen eine verpassen?« »Überlaß sie mir«, sagte Kenmore hastig. »Laß ...« Da raste der eine Flüchtling mit 15 Meter langen Sprüngen auf
sie zu, aufbrüllend wie ein Besessener. Kenmore wollte ihm gerade entgegentreten – da sah er, daß es noch etwas anderes geben konnte, als ihn mit den bloßen Händen in Stücke zu reißen. »Vorbeilassen!« schrie er so wild die anderen an, daß die instinktiv gehorchten, und warf sich selbst zur Seite. Wer auf der Erde aufgewachsen ist, ist in gefährlichen Lagen leicht geneigt zu vergessen, daß Schwere und Schwung zwei verschiedene Dinge sind. Der brüllende Mann raste wie wild auf die drei Rächer zu – vier, als Mike ausstieg – und hatte schon die Hände nach ihnen ausgestreckt. Auf der Erde hätte er sicher 200 Pfund gewogen; dazu wären noch die 100 Pfund seines Vakuumanzugs gekommen. Hier wog er allenfalls mit seinem Anzug 50 Pfund. Aber der Schwung, in den er sich mit seinen Sprüngen versetzt hatte, war der gleiche wie auf der Erde. Der große Mann konnte nicht anhalten, er trieb durch die Lücke, die Kenmore und seine Leute durch ihre Ausweichen ihm gelassen hatten, und flog – im eigentlichen Sinne des Wortes – auf den Rand des Abhangs zu, vor dem der verfolgte Jeep durch Moreaus Schuß gerade noch zum Halten gebracht worden war. Er brüllte plötzlich hohl auf und machte alle Anstrengungen, sich auf den Boden zu werfen. Aber auf dem Mond fällt ein Gegenstand in der ersten Fallsekunde nur 80 Zentimeter; der Mann brachte seine Beine nicht auf den Boden und sein Körper trieb weiter. Er war noch immer 50 Zentimeter über dem Boden, als
er schon über die Kante des Abhangs flog. Schrill aufschreiend versuchte er im letzten Moment noch, sich an einigen Steinen festzuhalten, aber das gelang nicht. So trieb er schrecklich schreiend über den sich neigenden Abhang hinaus, in einer Kurve, die sich sanft abwärts neigte. Dann verschluckte ihn die Dunkelheit des Abgrunds, in den der Hang überging. In der folgenden Sekunde fiel er nur 1,50 Meter und in der dritten vielleicht 3 Meter. Aber dieser Abgrund war sicher Tausende von Metern tief. Seine Schreie schienen endlos aus dem Todesdunkel heraufzukommen, bis er plötzlich mitten in einem Schrei verstummte. Wenn ihn der Sturz aus dieser Höhe noch nicht getötet hatte, war bestimmt sein Anzug zerrissen oder sein Helm geplatzt. Es hatte keinen Sinn, eine Rettung zu versuchen – auch wenn man es fertiggebracht hätte, zu ihm hinunterzuklettern. »Und jetzt der andere!« sagte Kenmore böse. Die andere Gestalt war stehengeblieben und rang die Hände. Als sie sich ihr von allen Seiten näherten, hörten sie ein verzweifeltes Wimmern. »Wir lassen dich am Leben«, versprach Kenmore, »wenn du mitkommst und uns in der Stadt alles erzählst!« Unverständliche Laute und Seufzer waren die einzige Antwort. Dann drehte sich der Mann unter Wehlauten um und flüchtete wie blind. Moreau schoß eine Signalrakete hinter ihm her. Es ging so schnell, daß Kenmores Gegenbefehl zu spät kam. Die Rakete schoß in gerader Fahrt rote Funken sprühend hinter dem Mann her, der in wilden Zick-Zack-Sprüngen dem
Geschoß zu entgehen suchte. Es sah beinahe so aus, als flöge sie an ihm vorbei. Aber in dem Moment erreichte die Flamme den Explosivstoff im Inneren der Rakete, ein Blitz flammte grell auf, ein lautloser Blitz und eine unerträglich helle Flamme – eine Wolke Mondstaub erhob sich, und als sie sich senkte, war der Flüchtling verschwunden. »Und jetzt wollen wir sehen, ob Arlene noch lebt«, sagte Kenmore heiser. Sie war am Leben.
Thurston behält recht Nun sah es so aus, als werde es keine Überraschungen mehr geben; aber auch die Zukunft versprach nichts mehr. Arlene lebte zwar und war unverletzt. Aber das Unternehmen, das in Kenmores hohem Gedankenflug der Menschheit eine großartige Zukunft bringen sollte, war zu Ende. So sehr er sich über Arlenes Rettung freute, so verbittert wurde er, wenn er an das letztere dachte. Gewiß hatte Major Gray Kenmore gewarnt, sich zu viel Gedanken darüber zu machen, und hatte ein Marineschiff angekündigt. Aber was konnte das schon bringen? In jedem Fall würde es erst nach Sonnenaufgang ankommen, wenn Jeepfahrten nicht möglich waren wegen der großen Hitze. In der Zwischenzeit mußte für Leben und Gesundheit der Stadtbesatzung gesorgt werden, obgleich das letzten Endes auch keinen Sinn mehr hatte. Einer nach dem anderen kamen die Jeeps mit den Flüchtlingen nach der Stadt zurück, von einer Flucht, die weit, weit zurücklag, schien es. Ihre Lufttanks waren von den Soldaten wieder aufgefüllt worden; diese hatten auch die notwendigen Reparaturen gemacht. Als die Rückkehrer von der Zerstörung des Laboratoriums hörten, waren einige von ihnen sichtlich erfreut darüber. Sie konnten wieder zur Erde zurückkehren – es war zwar weder ihr Verdienst noch ihre Schuld – und sie würden sie nie wieder verlassen. Manche allerdings wurden aufsässig, obgleich sie sich
eigentlich hätten schämen müssen. Sie waren weggefahren, während Kenmore und seine Leute sich der Gefahr gestellt hatten. So begannen sie Kenmore zu verdächtigen und Gerüchte zu verbreiten. In unbewachten Momenten flüsterten sie sich zu, daß ja eigentlich nur er, Häuptling und Moreau wüßten, wie das Labor zerstört worden sei, und daß sie also gute Gründe haben könnten, die Wahrheit zu verschweigen. Es kamen Tage, an denen die Stadtbesatzung einen großen Bogen um Kenmore und seine Leute machte. Wieso wußten sie so gut mit den Lecks umzugehen, die in die Plastikwände geschossen und geschnitten worden waren; hatten sie die Lecks womöglich selbst angebracht? Cecile Ducros brachte diese Gerüchte mit dem scharf gegebenen Kommentar zum Schweigen, daß sie nicht mehr am Leben wäre, wenn Kenmore ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre. Sie fügte hinzu: »Ich kann immer noch eine Fernsehsendung zur Erde machen, in der ich einiges über das Benehmen der Leute berichte, die weggerannt sind und Stadt und Landeleitstrahl sich selbst überlassen haben.« Wegen ihrer feigen Flucht aus der Stadt wäre sie um ein Haar getötet worden, und hätte Kenmore nicht mit dem Jeep nach ihr gesucht, wäre sie bestimmt erstickt. Nach dieser Lobrede war Kenmore sehr schnell wieder ein großer Mann, denn niemand wagte Cecile Ducros zu beleidigen. Außerdem wollten alle Besatzungsmitglieder der Stadt zu gern in ihrer nächsten Sendung auftreten und sich dem Publikum auf drei Kontinenten als Helden vorstellen lassen. Sie arbeiteten geradezu fieberhaft auf
dieses Ziel hin, indem sie ununterbrochen Arlene, Lezd und sogar Cecile selbst mit ihren Bitten überfielen. Infolgedessen störten sie dauernd den sehr verständlichen Wunsch Arlenes, mit Kenmore allein zu sein. Schließlich beklagte sie sich bitter bei ihm über diese Belästigung, aber er konnte ihr nur wenig Trost spenden: sie würde noch mindestens zwei Wochen warten müssen. Eher würde das Erdschiff nicht starten dürfen – also erst nach Sonnenuntergang –, um mit der Evakuierung der Stadt zu beginnen. Er würde dafür sorgen, daß Arlene zu den ersten Passagieren gehörte. Was ihn anbetraf, sah er einer langen Zeit nutzloser Arbeit auf dem Mond entgegen – und der danach eine ebenfalls nicht sehr sinnvolle Arbeit auf der Erde, bis er für sich und Arlene etwas Neues gefunden hatte. Das Marineschiff erwähnte er nicht einmal. Es mußte zwar bereits auf dem Weg zu einer Ferngeschoßanlage sein, aber mit ihnen beiden hatte das gar nichts mehr zu tun. Dann mußte er widerwillig seine Zeit für eine höchst offizielle Untersuchung der Sabotagefälle in der Stadt opfern. Das Ergebnis war – sicherlich zutreffend –, daß alle diese Fälle mit den Männern zusammenhingen, die den letzten Überfall auf die Stadt gemacht, Arlene entführt und ihr Ende in den Bergen gefunden hatten. Aber Kenmore konnte sich darüber nicht mehr aufregen. Er blieb sogar ungerührt, als Mike Scandia, Moreau, der Häuptling und Haney sich begeistert als Freiwillige für einen Film meldeten, den sie draußen von einer Sonnenkraftmine für eine spätere Fernsehsendung drehen wollten. Diese
Bergwerke – man konnte sie auch so nennen – waren ganz interessant, aber bisher nicht sehr ergiebig gewesen. Ein Sonnenspiegel konzentrierte aufstrahlenden Sonnenschein in einen Brennpunkt, dessen Hitzegrade der Sonnentemperatur entsprachen. Richtete man diesen Strahl gegen einen Mondberg, schmolz er auch den härtesten Stein zu Lava. Traf man dabei auf eine Metallader im Stein, konnte man das Metall schmelzen, ja, sogar verdampfen lassen. Bei gedrosselter Wärme konnte man das geschmolzene Metall gleich in bereitgehaltene Formen fließen lassen. Dieser Gußvorgang war das Thema der Fernsehsendung. Cecile erschien auf dem Bildschirm, und es sah natürlich wieder so aus, als wäre sie im Bergwerk. Lebhaft erklärte sie, wie man am Tage auf dem Mond reiste – wenn es unbedingt nötig war. Man fuhr mit einem Jeep aus der Stadt weg, jagte so schnell wie möglich durch die Glutofenhitze zu einem schattigen Platz, wo man den Jeep abkühlen ließ. Dann wieder eine schnelle Fahrt durch die Hölle, in die sich die Mondoberfläche während des Mondtags verwandelte, zu einem zweiten Schatten, und so weiter, bis man zu dem Bergwerk kam. Und das Bergwerk bestand in Wirklichkeit nur in einem großen Sonnenspiegel vor einer Bergwand, in der sich ein staubbedeckter Unterschlupf für den Jeep und die Bergarbeiter befand. Cecile machte das sehr eindrucksvoll, wie sie die Gefahr dieser Backofensituation beschrieb. Mit entsprechendem Schaudern erklärte sie, warum die Menschen auf dem Mond Nachtgeschöpfe würden; wohl konnte man einen
Vakuumanzug gegen die Kälte heizen, aber man konnte ihn nicht so abkühlen, daß man lange in der schrecklichen Sonnenhitze bleiben konnte. Nur die Besatzung der Stadt war mit der Sendung nicht einverstanden. Die Rückkehrer hatten sich eingebildet, daß Cecile sie einen nach dem anderen ihrem Fernsehpublikum auf der Erde im Bildschirm vorstellen würde. Kenmore sah sich die Sendung nicht einmal an, so apathisch war er geworden. Als die Nachricht kam, daß das Marineschiff – von dem Major Gray gesprochen hatte – bereits gelandet sei, fühlte er nicht die geringste Neugierde. Nicht einmal die Kunde, daß man einen Jeep mit besonderen Hitzereflektoren und Kühlanlagen ausgerüstet hatte und eine Tagesreise zur Stadt – die erste auf dem Mond – wagen wollte, konnte ihn aus seiner Gleichgültigkeit reißen. Ziemlich aufgeregt kamen der Häuptling und Moreau nach der Filmarbeit zu ihm. Sie waren noch einmal zum Bergwerk zurückgefahren, weil ihnen der ziemlich verrückte Einfall gekommen war, man könne doch ein Raketenschiff hier oben gleich aus dem Berg in die richtige Form gießen. Dann wäre es gewissermaßen seine eigene Fracht. An sich war der Einfall gar nicht so dumm, aber Kenmore dachte weiter. Das Problem bestand darin, ein solches Schiff zur Erde zu bringen. Gewiß konnte man es leicht bis an die Grenze schießen, an der sich die Anziehungskräfte von Mond und Erde aufheben. Dann würde es seinem eigenen Gewicht nach zur Erde fallen. Wie jedoch sollte es landen ...
Bei einer Gelegenheit erzählte er Arlene davon, die ihn aufmuntern wollte. »Die Sache ist gar nicht so schlecht«, sagte er nachdenklich zu ihr. »Sie sind rausgefahren, weil sie mal sehen wollen, ob man nicht ein Schiff gießen kann. Die große Frage ist, wie soll es auf der Erde landen? Treibstoff braucht man zur Landung ungefähr ebensoviel wie zum Start. Hier auf dem Mond kann man natürlich unbemannte Raketen einfach auf den Mares landen lassen, den Mondmeeren, sie auf dem Radarschirm verfolgen, einen Jeep rausschicken und sie hereinbringen. Auf der Erde kann man das nicht. Man kann nicht einfach unbemannte Raketen wie Meteore nach der Erde schießen, es sei denn, man sucht sich den Nordpol und den Südpol nebst Umgebung als Ziel aus. Und man braucht nun einmal drei Tonnen Treibstoff, um ein Schiff von einer Tonne Gewicht sanft herunterzubringen. Diese drei Tonnen müssen erst einmal hier heraufgebracht werden, also über eine Strecke, die der zehnfachen Länge des Erd-Äquators entspricht. Der Treibstoff für eine Landung würde also mehr kosten als das ganze Schiff, ganz gleichgültig, woraus es gegossen worden ist.« Arlene wollte die Unterhaltung weiterführen. Das Thema war im Grunde nicht so wichtig, wenn nur sein ständiges Vor-sich-Hinbrüten unterbrochen wurde. Scheinbar interessiert fragte sie also: »Warum läßt man sie nicht am Nordpol runterfallen? Könnte man nicht dann die Lastraketen von Hubschraubern abholen lassen, statt von Jeeps wie hier?«
»Am Nordpol geht das nicht!« erwiderte Kenmore. »Da ist zu viel Wasser. Sie würden die Eisdecke durchschlagen und im Ozean versinken. Und am Südpol ist das Wetter zu ungünstig; außerdem würden sie in den Schnee einsinken und man würde sie nie finden.« »Aber es muß doch einen Weg geben«, sagte Arlene eigensinnig. »Die Sahara vielleicht?« »Nein, die Raketen würden sich selbst im Sand begraben ... Halt mal!« Kenmore setzte sich überrascht von dem neuen Gedanken auf. »An einigen Stellen sind doch die Ozeane viele Kilometer tief. Man könnte eine unbemannte Rakete entwerfen – Schau! Man könnte den Überschallschiffen auf der Erde nachbauen. Man läßt sie einfach in das Meer fallen, wo es am tiefsten ist, und bringt vorher eine Art Propeller oder so was an, der sie wieder an die Oberfläche bringt ... sie könnten ihre Position funken ... das muß ich mir mal durch den Kopf gehen lassen!« Zum erstenmal seit langer Zeit war er wieder lebhaft geworden, und Arlene gab sich ehrliche Mühe, ihm bei seinen kühnen Gedanken zu folgen. Beide gingen hinüber zu dem Elektronengehirn, und sie war ganz begeistert über die errechneten Endergebnisse. Auf dem Mond gewonnenes und in entsprechende Form gegossenes Metall konnte man an eine Stelle bringen, von der es zur Erde fallen konnte, einige Metalle wenigstens. Dann ergab sich, daß Mörser möglicherweise sich besser eigneten als Raketen, um dem Lastschiff den Startantrieb für den Fall zur Erde zu geben. Da es ja keinen Luftwiderstand gab ... Er war noch tief in weitere komplizierte Berechnungen
versunken, als Moreau und der Häuptling, Haney und Mike Scandia – Mike war als letzter zu der Verschwörergruppe gestoßen – von ihrer Sprung-auf-und-volle-Deckung-Fahrt zu dem Sonnenbergwerk zurückkamen. »Wir können es schaffen«, berichtete Moreau ohne jede Begeisterung. »Das Schiff ist leicht zu gießen. Aber als wir uns daran machten, die Kosten der Landungen zu berechnen, merkten wir, daß das Ganze sinnlos war.« »Sinnlos? So?« fragte Kenmore. »Seht euch mal die Zahlen an!« Er lehnte sich befriedigt zurück, und Arlene war beruhigt; er sah beinahe glücklich aus. Sie saß still wie ein Mäuschen, als Moreau das Streifband überflog, das die Maschine ausgespuckt hatte, und aufgeregt aufschrie. Dann begannen die anderen über den Entwurf eines unbemannten Schiffs zu streiten, wobei sie alle zugleich sprachen und versuchten, sich gegenseitig totzureden, so begeistert waren sie. Dem Häuptling fiel eine Stelle ein, wo er Kobalt in Mengen gesehen hatte, Haney erinnerte sich an eine Erzader, eine Stelle, wo Silber gefunden worden war, kannten sie auch, also war an nützlichen Metallen kein Mangel ... Ihnen fiel sogar ein, daß es schon Gesetze gab, nach denen Privatpersonen Gebiete auf dem Mond abstecken konnten, wo sie Metalladern entdeckt hatten, obgleich sie sie kaum ausbeuten konnten. Wie die Kinder begannen die vier Kameraden mit Gesetzen und Verordnungen zu spielen, um die sich bis dahin kein Mensch gekümmert hatte. Mitten hinein sagte Kenmore grimmig: »Sicher geht es zu machen. Und es läßt sich
propagandistisch so gut auswerten, daß die Banken uns mit Krediten überschütten werden. Da hätte ich also für die Zukunft eine Anstellung. Wie wollen wir den Laden nennen? Mondbergwerke und Metalle, Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftung? Klingt doch gut, oder?« Aber was er sagte, klang gar nicht fröhlich, und Arlene streichelte seine Hand. Konnten sie denn dafür, daß er sich von der Zukunft nichts versprach, die sie da planten? Ein merkwürdiger Zufall wollte es, daß der Jeep mit den Spezialschilden gegen die Sonne und den neuen Kühlapparaturen eine Stunde danach anlangte. Seine Fahrt war ein großes Ereignis. Er trug nicht nur riesige Sonnenreflektoren, sondern war auch gegen die Hitze von unten abgeschirmt. Die Kühlanlagen funktionierten ausgezeichnet. Trotzdem hatte er mehrmals halten müssen, um abzukühlen. Er brachte einen Zivilisten namens Thurston mit, der sofort Kenmore zu sprechen wünschte. Es war ein dürrer Mann, der sich noch nicht an die verminderte Mondschwere gewöhnt hatte, aber offensichtlich sein Handwerk verstand – nämlich gute Denkarbeit zu leisten. »Draußen im Laboratorium fielen sie einem großen Irrtum zum Opfer«, sagte er zu Kenmore sachlich. »Die armen Teufel erlagen der tödlichen Anspannung. Wissen Sie, unter welchen Bedingungen sie arbeiten mußten? Wie Leute, die im Krieg Artilleriegeschosse, Bomben und Minen entschärfen müssen. Sie kündigten jeden Versuch vorher an und führten ihn dann durch. Wenn sie dabei nicht in die Luft – Entschuldigung, in den Weltraum – flogen,
meldeten sie sich wieder und kündigten den nächsten Versuch an. Kein gerade sehr ruhiges Leben, das sie da monatelang führten!« »Nach dem, was passiert ist«, gab Kenmore zu, »kann ich mir das schon denken.« »Sie hatten einen gelenkten, beschleunigten Neutronenstrahl entwickelt«, berichtete Thurston weiter, »aber das werden Sie ja schon wissen. Sie konnten den Strahl so schmal halten, wie sie wollten, und die Neutronen beliebig beschleunigen. Sie fanden heraus, daß der Strahl bei geringer Kraft so dicht wurde, daß er Moleküle spaltete. Prächtige Arbeit, wenn man's für sich nimmt! Dann entdeckten sie, daß bei engerer Brennweite und höherer Beschleunigung sie die schwereren Atome spalten konnten – Wismut zum Beispiel. Die dabei gewonnene Kraft war erstaunlich. Atomspaltung hatten sie unter Kontrolle gebracht, und das meldeten sie.« »Sehr nützlich!« meinte Kenmore ironisch. Er wollte natürlich sagen, daß die einzige Berechtigung für das Bestehen der Stadt und des Raumlaboratoriums darin lag, daß die Atomspaltungen, die auf der Erde vorgenommen werden konnten, eine bestimmte Grenze nicht überschreiten durften, weil sonst die Luft verpestet wurde. Eine Zeitlang hatte man geglaubt, man werde sich auf den Tag freuen, wo man über kontrollierte Atomenergie verfügte. Das war nun nicht mehr der Fall, glaubte er. Aber Thurston entgegnete ruhig: »Ganz brauchbar. Das können Sie doch auch verstehen: bei einem genügend
dichten Strahl könnte ja die freigesetzte Energie nicht in entgegengesetzter Richtung wirken.« Kenmore sprang vor Erregung auf. Kontrollierte Atomspaltung, bei der die Energie in eine bestimmte Richtung freigesetzt wurde, konnte viele Probleme lösen. Die ganze freigesetzte Energie konnte wieder eingefangen und von neuem benutzt werden. Die ganze! Und im Weltraum ... »So fertigten wir eine Anzahl von Atomraketen an, um diese Theorie nachzuweisen«, sagte Thurston. »Das Labor sollte sie ausprobieren. Während sie auf die Raketen warteten, begannen sie sich auszurechnen, was geschehen würde, wenn der Neutronenstrahl auf leichtere Elemente traf, mit einer Geschwindigkeit, die benötigt wurde, sie zu spalten. Aber die geistige Anstrengung war zu groß, sie ging über menschliches Vermögen. Die Anspannung, unter der sie arbeiteten, wurde unerträglich! Als die errechneten Zahlen ihnen zu beweisen schienen, daß ein solcher Strahl eine Kettenreaktion in Gang setzen würde, die das Universum zerstören würde, konnten sie es nicht ruhig überprüfen. Sie glaubten fest, daß dies das Ende ihrer Versuche sei, und gaben auf.« »So habe ich es mir vorgestellt«, sagte Kenmore, »aber weiter!« »Zufällig aber irrten sie«, berichtete Thurston weiter. »Sie hatten die Struktur der Neutronen außer acht gelassen. Sie hatten sie schlicht vergessen. Jetzt habe ich die Raketen mit heraufgebracht. Sie können natürlich explodieren, obgleich ich es nicht glaube. Vor allem aber weiß ich genau, daß sie keine Kettenreaktion hervorrufen werden.
Da das Labor nun einmal nicht mehr besteht, möchte ich sie in die Raketengestelle einsetzen, und zwar des Schiffes, das Sie hier haben. Des Erdschiffs. Ich möchte sie zusammen mit den gewöhnlichen Raketen ausprobieren und von innen prüfen. Mit den gewöhnlichen Raketen möchte ich starten und dann draußen im Weltraum möchte ich die Reaktion in Gang setzten, von der die Laborleute meinten, sie würde den Kosmos in Brand setzen. Es wird nicht geschehen, das weiß ich. Wollen Sie das Schiff führen?« Wie ein Hungernder griff Kenmore nach diesem Angebot. »Wofür halten Sie mich eigentlich! Wann kann ich starten?« Man konnte die Atomraketen innerhalb weniger Stunden in die Gestelle einsetzen und die komplizierten Kontrollapparate in das Schiff einbauen. Aber der Versuch mußte in einem zivilen Fahrzeug durchgeführt werden. Nur Zivilisten konnten die Pläne durchführen, die mit der Stadt und dem Laboratorium zusammenhingen, sonst hätte es internationalen Ärger und Beschuldigungen gegeben. Nachdem das Labor zerstört worden war, durften niemals die Militärs die Arbeit vollenden. Sonst hätte die halbe Welt die Amerikaner des Mordes an den genialen Wissenschaftlern angeklagt, die so viel erreicht hatten. Aus politischen Gründen war es also unbedingt notwendig, diese Aufgabe innerhalb der internationalen Organisation durchzuführen, die man auf dem Mond errichtet hatte. Kenmore fand Arlene, während Techniker von der Ferngeschoßanlage sich an die Arbeit an dem Erdschiff
machten. Hoffnungsvoll lächelte sie ihn an. »Alles –« Er hob sie hoch, umarmte sie und schwang sie so im Kreis, wie ein Mädchen nur auf dem Mond geschwenkt werden kann. Er stotterte vor Glück ein paar Worte, die sie nicht verstand. Dann machte sie sich mit einiger Mühe frei. Völlig außer Atem sagte sie: »Das ist ja alles sehr hübsch, aber was ist eigentlich los?« Er riß sich zusammen und berichtete. Sie war fassungslos. Dann unterbrach Cecile Ducros ihre Unterhaltung: »Das wird meine nächste Sendung! Oh, die wird großartig! Darüber muß ich berichten! Arlene, du fährst mit Kenmore und erzählst mir hinterher alles. Dann mache ich die nächste Sendung aus dem Schiff, wenn es wieder zurück ist, und berichte meinen Hörern von dem großen Triumph der menschlichen Rasse!« Kenmore grinste Arlene an: »Würdest du denn gern mitkommen?« Ganz schlicht sagte sie: »Wo du hingehst ...« Es gab keinen Volksauflauf beim Start des Erdschiffs. Es war am Vormittag auf dem Mond – die Sonne stand schon vier Tage am Himmel – und die Oberfläche des Mare war bereits heißer als kochendes Wasser. Das Sonnenlicht verbreitete eine Hitze wie in einem Hochofen, man konnte daran kochen. So stand nur der Jeep von der Ferngeschoßanlage am Startplatz, der mit seinen enormen Hitzereflektoren wie die Haube einer Krankenschwester aussah, abgesehen davon, daß die Haube einige 12 Meter hoch war und aus Silber war. Die Leute von der
Ferngeschoßanlage zogen sich in ihren Jeep zurück, und Thurston kletterte die heiße Leiter am Schiff hoch und stieg ein. Im Ton eines Verschwenders sagte Mike Scandia über Funk aus dem Schatten des Jeeps heraus: »Arlene, ich habe Ihnen mal einen Blumenstrauß geschenkt, als es ziemlich schlimm um uns stand. Jetzt spendiere ich einen neuen, wo es ganz gut für die Mondbergwerks-Gesellschaft aussieht. Die Herren Direktoren geben sich die Ehre!« In dem Schatten unter dem Jeep wurde das Licht, das draußen herrschte, nur zurückgeworfen. Was aber Mike in seiner handschuhbeschwerten Hand jetzt heraushielt, war einfach unglaublich. Die Mondblumen, die Arlene damals gesehen hatte, waren silbrig. Diese hier waren pures Gold. Von der gleichen unwahrscheinlichen Feinheit und Zartheit, ein Strauß aus Zweigen und Blättern, die ineinander verwachsen schienen und wie goldenes Mädchenhaar aussahen. Etwas, was eigentlich nur in Märchen vorkam, als eine köstliche Gabe für eine Prinzessin. Arlene konnte die Augen nicht davon lassen. »Wie schön sie sind!« seufzte sie. »Aber werden sie sich auch nicht wieder auflösen, Mike?« Der Häuptling kicherte in seinen Funk. »Wir haben uns über diese Mondblumen gestritten«, sagte er beruhigend. »Sie waren natürlich aus Quecksilber. Quecksilberdampf, der im Sonnenschein aus irgendeinem Metall entwichen ist, dann im Schatten gerann, wo er nicht flüssig bleiben konnte, weil es zu kalt war. Einfach
gefroren. Schneeflocken aus Quecksilber. Natürlich lösten sie sich wieder auf, wenn jemand sie in die Hand nahm und anwärmte. Mike, Haney und ich versuchten unser Heil, als wir draußen am Sonnenbergwerk waren. Wir ließen Gold kochen und im Schatten wieder gerinnen. Natürlich konnte man's nur bei niedriger Schwerkraft machen – aber sind sie nicht hübsch?« »Bezaubernd sind sie!« sagte Arlene und machte Augen wie ein ganz kleines Mädchen vor dem Weihnachtsbaum. »Nimm sie doch als Hochzeitsstrauß, wenn Joe und du eines Tags ins Ehejoch steigen«, sagte der Häuptling. Dann trat er zurück, und er, Haney, Mike und Moreau beobachteten aus dem Jeepschatten heraus, wie Arlene vor Kenmore zur Luftschleuse hinaufkletterte. Der Jeep fuhr ein Stück zurück und die vier Männer liefen in seinem Schatten mit. Dann hielt er, und sie sahen zu dem gewaltigen Erdschiff zurück, das blitzend inmitten einer Landschaft stand, die aus Feuer zu bestehen schien und über der sich der schwarze Himmel mit den leuchtenden Sternen ausdehnte. Das Erdschiff spie Flammen und erhob sich blitzschnell zu den Sternen. Eine lange Zeit später sagte Kenmore ruhig zu Arlene: »Du weißt ja, wie's gemacht wird.« Sie nickte nur und legte ihre Hand auf seine. Das Schiff trieb frei dahin, weg von Erde und Mond. Innen war kein Laut zu hören. Thurston beobachtete kühl, wie sich die Hände der beiden jungen Menschen auf die Kontrollhebel
legten, mit denen die Atomraketen zu niedriger Schubleistung ausgelöst werden konnten. »Fünf«, sagte Kenmore. »Vier. Drei. Zwei. Eins. Feuer!« Arlene drückte Kenmores Hand herunter. Ein leises Brummen ertönte, das gleich wieder aufhörte. Sie verspürten Gewicht, leichtes Gewicht. Kenmore drückte den Hebel tiefer. Das Gewicht wurde größer. Er verminderte den Druck. Das Gewicht ließ nach. Dann nahm er den Hebel ganz herunter, da schoß das Erdschiff wie ein wildes Pferd davon ... Kenmore nickte, gegen seinen Willen ergriffen. »Es funktioniert«, sagte er zu Thurston in einem Ton, der nach künstlich erzwungener Ruhe klang. »Wieviel Treibstoff steckt denn da drin?« »Für hundert Stunden bei einem G«, erwiderte Thurston, als ob es ganz selbstverständlich wäre. »Das sind allerdings nur kleine Raketen. Später werden wir größere bauen.« »Mit diesen allein kämen wir bis zum Mars und zurück«, sagte Kenmore leise. »Eines Tages werden wir es bis zu den Sternen schaffen!« Zuversichtlich meinte Arlene: »Bestimmt!«