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ROTE Schlange – DIE DEUTSCHE AUSGABE – erscheint monatlich bei Verlag und Auslieferung Friedr. Petersen, G. m. b. H. Hamburg 1, Schopenstehl 15. Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1951 für Deutschland und die Schweiz by Verlag und Auslieferung Friedr. Petersen, G. m. b. H. Hamburg 1, Schopenstehl 15 – Satz u. Druck: Friedr. Petersen, Husum, Großstraße 9. Die Serie darf nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Verkauf dieses Buches in Österreich verboten!
Die Mission der Roten Schlange
EINFÜHRUNG Mavis Donovan hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Milton Drake ging mit großen Schritten in dem Salon des Hauses der Donovans auf und ab, wohin er gezogen war, solange gewisse Reparaturen in Druid’s Hollow vorgenommen wurden, bevor es die neue Herrin bewohnen sollte. Instinktiv griff er mit der Hand in die Tasche, um sein Zigarettenetui herauszuholen, als seine Finger auf einen dicken Umschlag stießen, den er in Florida erhalten und über der schnellen Folge der Geschehnisse vollkommen vergessen hatte. Er würde nie eine bessere Gelegenheit haben als jetzt, sich mit dem Inhalt vertraut zu machen. Er riß den Umschlag auf, nahm die engbeschriebenen Seiten heraus und griff nach einem Zettel, der zu Boden gefallen war. Er las: „Mein lieber Milton! Ich versprach, Dir die Geschichte meiner Mission mitzuteilen. Du solltest einen ausführlichen Bericht
darüber erhalten, was in den letzten Jahren geschah und wie ich dazu kam, mich in die ganze Angelegenheit einzumischen. Ich erfülle nun mein Versprechen. Beiliegende Bogen enthalten den vollständigen Bericht, und damit er Dir nicht zu langweilig wird, schildere ich Dir die Tatsachen in erzählender Form. Es ist möglich, daß ich an einigen Stellen die Gespräche der handelnden Personen nicht ganz wörtlich wiedergebe, aber das ist ja nicht so wichtig. Doch kann ich Dir versichern, daß ich in keinem Falle von der Wahrheit abgewichen bin. Du wirst bemerken, daß ich alles in einer unpersönlichen Form erzähle. Außerdem füge ich einige Blätter mit Erklärungen über gewisse Punkte bei, die sonst im dunklen geblieben wären. In den Originaltext habe ich einige Berichtigungen eingefügt, denn zum Schluß habe ich manche Dinge erfahren, die ich vorher nicht wußte. Ich habe keinen Namen verschwiegen … außer meinen, der weiterhin zu meinem größten Leidwesen ein Geheimnis bleiben muß. Das ist alles. Es bleibt mir nur noch übrig, Dir zur Hochzeit noch meine besten Glückwünsche auszusprechen und alles Gute zu wünschen. Mavis liebt Dich, und Du liebst sie, und Ihr habt beide ein gutes Herz. Bevor ich diese Zeilen beende, möchte ich noch eine Bitte aussprechen: Bleibe Dir selber treu. Erinnere Dich daran, daß es viele Unglückliche auf dieser Welt gibt, und sehr viel Unrecht, das man gutmachen muß. Fahre in Deinem Werk fort, trotz der Verantwortung, die Du dabei auf Dich ge-
nommen hast. Ich bin sicher, daß Mavis, wenn sie eines Tages die Wahrheit erfährt, stolz auf Dich sein und Dich bitten wird, nicht nur in Deinem Werke fortzufahren, sondern sie auch an Deiner Arbeit teilnehmen zu lassen. Trotzdem öffne ihr nicht vorzeitig die Augen. Sie wird Dein Geheimnis eines Tages von selbst entdecken. Halte Dir immer vor Augen, daß auch ich meine geheimnisvolle Persönlichkeit nicht aufgegeben und den Gedanken niemals verlassen habe, ohne alles zu tun, was in meinen Kräften steht, um jenen Mann zu bestrafen, der Euer Glück bedroht. Bis sich unsere Wege erneut kreuzen, wünsche ich Dir viel Glück. Die Rote Schlange.“ *
* *
Milton las die Botschaft zweimal. Einen Augenblick lang betrachtete er die Zeilen mit Unruhe und Sehnsucht. Er führte den Zettel an die Lippen. Dann griff er nach dem Feuerzeug und zündete das Schreiben an. Er atmete tief auf, lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück und begann, den Bericht jener geheimnisvollen Frau zu lesen, den wir hier wiedergeben, ohne ein einziges Pünktchen daran zu verändern. Auf den folgenden Seiten schildert nun die Rote Schlange die Geschichte ihrer abenteuerlichen Mission …
1. Kapitel KENNETH CLARKSON Der Mann blieb vor der erschrockenen Frau stehen. „Wie oft soll ich dir sagen, daß du taub, blind und stumm zu sein hast?“ schrie er wütend. „Wann wirst du lernen, deine Zunge im Zaume zu halten?“ „Ich habe nicht geglaubt, daß …“ begann die Frau zitternd. „Du hast nicht geglaubt!“ rief der Mann empört. „Der ganze Schwindel von zwei Jahren ging in fünf Sekunden zum Teufel. Alle meine Pläne sind über den Haufen geworfen, weil du unfähig bist, deine schwatzhafte Zunge zu beherrschen!“ „Kenneth!“ stammelte die Frau. „Kenneth, bei Gott …!“ Der Mann zuckte mit den Schultern und schritt unruhig auf und ab. Entsetzt beobachtete die Frau den Wechsel im Gesichtsausdruck ihres Mannes, und jedesmal, wenn dieser sie ansah, schrak sie zusammen, als hätte sie einen Peitschenschlag erhalten. Sie kannte die Wutausbrüche Kenneth Clarksons und wußte, daß irgendeine Geste einen neuerlichen Anfall hervorrufen konnte. Endlich wagte sie zu fragen: „Was gedenkst du zu tun?“ Es schien, als ob Kenneth erneut auffahren wollte. „Was sollen wir tun?“ wiederholte er mühsam beherrscht. „Was bleibt uns denn anderes übrig, als hier wegzugehen? In drei Tagen wird uns kein Mensch auf der Straße mehr grüßen. Alle Türen werden vor uns verschlossen sein. Du bist daran schuld, daß unser Ruf …“ Zorn unterbrach seine Stimme.
„Bereite alles vor“, befahl er, als er sich wieder gefaßt hatte. „Wir gehen fort.“ „Wann?“ „So schnell wie möglich.“ „Unser Haus …“ „Was geht das mich an?“ antwortete Kenneth wütend. „Daran hättest du früher denken müssen.“ „Wohin gehen wir?“ „Irgendwohin, nur fort von hier … nach New York … ich habe es satt, in kleinen Orten zu leben, wo man keinen Schritt tun kann, ohne daß es die ganze Nachbarschaft erfährt.“ Sie reisten aber doch nicht so schnell ab, als sie beabsichtigt hatten. Es dauerte länger als eine Woche, bis der ganze Besitz verkauft war. Und als sie endlich den Staub des Ortes von ihren Schuhen schüttelten, war niemand am Bahnhof, der sich von ihnen verabschiedete, und selbst die Gepäckträger sahen sie verächtlich an. Die Stadt Levelyn schien in der Verachtung der Familie Clarkson einig zu sein. *
* *
New York. Nie endenwollende Tage. Die Geschäfte gingen nicht so, wie Kenneth es erwartet hatte. Sein Gehaben wurde immer unsicherer, und Ethel hatte sich darauf beschränkt, nur noch das Notwendigste zu sprechen, um auf diese Weise wenigstens den bissigen Antworten ihres Mannes zu entgehen. Eines Tages kam Kenneth jedoch nach längerer Abwesenheit mit strahlender Miene nach Hause. Wie durch ein Wunder schien er völlig verändert.
Er ließ sich in einen Sessel fallen, zündete eine Zigarette an und sagte: „Erinnerst du dich an Donovan?“ „Donovan?“ murmelte die Frau und dachte nach. „Ist das nicht ein entfernter Verwandter von dir?“ „Ja, ich glaube, er ist ein Vetter dritten oder vierten Grades. Ich bin aber nicht ganz sicher.“ „Ich habe dich früher einmal von ihm sprechen hören. Was ist geschehen?“ „Bis jetzt noch nichts. Aber es ist möglich, daß wir durch ihn aus der unangenehmen Lage herauskommen, in der wir uns gegenwärtig befinden.“ Die Frau blickte interessiert auf. „Ist er in New York?“, fragte sie. „Hast du ihn gesehen?“ „Ich habe durch einen Freund von ihm gehört.“ „Und du glaubst, daß er uns helfen kann? Wenn ich mich recht erinnere, sagtest du mir damals, daß seine Lage nicht sehr rosig ist.“ „Die Zeiten wechseln, mein Kind. Laurel hat sich selbständig gemacht. Es ist ihm oft schlecht gegangen, aber heute ist er steinreich. Er hat ein glänzendes Geschäft, und man erzählte mir, daß er sogar fünf oder sechs Filialen besitzt. Aus einem Habenichts ist ein Millionär geworden.“ Ethel Clarkson zeigte seit langer Zeit zum erstenmal wieder ihr wahres Temperament. „Alle kommen vorwärts außer du!“ rief sie. „Dieser Mann wird Millionär, während du, der tausendmal mehr Talent hast als er, am Rande des Abgrundes stehst! Ich weiß nicht, wie lange wir mit den fünftausend Dollar, die uns bleiben, noch auskommen werden.“ „Das glaube ich dir. Du bist ja auch nicht fähig, dich
aufzuopfern und jahrelang Not zu ertragen, ohne zu klagen, wie es Lorna Donovan getan hat.“ „Ich denke nicht daran, darüber mit dir zu diskutieren“, erwiderte die Frau, „es wäre verlorene Mühe. Was aber hat die Stellung deines Vetters mit der Möglichkeit zu tun, daß wir aus unserer Lage herauskommen?“ „Alles … wenn wir unsere Karten richtig auszuspielen verstehen. Vielleicht wäre es besser, wenn ich dir meine Pläne überhaupt nicht mitteilen würde. Aber ich sage dir: Wenn dir noch einmal die Zunge durchgeht, dann kannst du was erleben. Hast du mich verstanden?“ Ethel Clarkson erbleichte. Aber sie faßte sich schnell wieder. „Sei unbesorgt“, sagte sie. „Von mir wird niemand etwas erfahren. Ich habe genug von diesem gegenwärtigen Leben.“ „Also höre zu. Wir müssen noch ein paar Wochen in New York bleiben. Es ist nämlich notwendig, daß ich Richard Surrey aushorche, um genauere Einzelheiten zu erfahren.“ „Richard Surrey? Wer ist denn das?“ „Ein Freund aus früherer Zeit. Er hat mir die ganze Geschichte meines Vetters Donovan erzählt.“ „Bist du sicher, daß alles stimmt? Woher weiß er es denn?“ Kenneth unterbrach sie mit einer unwilligen Geste. „Was Surrey sagt, ist in Ordnung. Außerdem hat Laurel Donovan eine Filiale in New York und Richard Surrey ist der Leiter dieser Zweigstelle.“ „Was für Pläne hast du also?“ „Ich behalte sie vorläufig für mich. Je weniger du weißt, desto weniger Schaden kannst du anrichten. Auch sind meine Entschlüsse noch nicht ganz ausgereift. Alles
hängt von gewissen Umständen ab. Jedenfalls werden wir New York verlassen.“ „Wann?“ „Sobald ich klar sehe.“ „Wohin gehen wir?“ „Nach Baltimore. Dort lebt mein Vetter. Und dann muß, ich dir noch etwas sagen.“ „Was?“ „Es ist möglich, daß uns Surrey einmal zum Essen einlädt … und daß du dabei sein wirst. Wenn das geschieht …“ „Muß ich meine Zunge im Zaume halten. Wolltest du das nicht sagen?“ „Es kommt doch manchmal vor“ antwortete Clarkson ironisch, „daß du einige Intelligenz zeigst.“ „Ich weiß, wann es notwendig ist zu sprechen oder zu schweigen.“ „Daran zweifle ich nicht“, entgegnete ihr Mann, „Bis jetzt aber hast du wenig Beweise dafür erbracht. Ich glaube“, fügte er hinzu und stand auf, „die Sache verdient, gefeiert zu werden. Ziehe dich schön an, Ethel, wir gehen ins Waldorf. Heute abend wirst du dich über mich nicht beklagen können.“ *
* * 2. Kapitel
LAUREL DONOVAN „Die Welt dreht sich“, verkündete Kenneth Clarkson und betrachtete dabei nachdenklich den Rauch seiner Zigarette.
Laurel Donovan lehnte sich tiefer in seinen Sessel zurück und nickte mit dem Kopf. „Das stimmt“, sagte er. „Als ich dich das letzte Mal sah, Kenneth, wäre es für mich ein richtiges Opfer gewesen, dich zum Essen einzuladen. Heute …“ „Bist du ein Krösus“, beendete der andere den Satz. „Und ich lebte einmal in anständigen Verhältnissen, wenn ich auch das Silber nicht gerade mit der Elle maß.“ „Gehen denn deine Geschäfte jetzt schlechter?“ „Sie gehen weder schlecht noch gut, Laurel, denn ich mache überhaupt keine. Ich bin nicht ehrgeizig. Es genügt mir, wenn ich in bürgerlichen Verhältnissen leben kann, und ich hätte das ohne weiteres mit dem Gelde tun können, das ich bereits besaß. Aber ich zog mich vorzeitig von den Geschäften zurück und legte mein Geld in die Hände eines Verwalters, der neben seinen Tugenden auch ein geheimes Laster hatte, das mir vollkommen unbekannt war. Er war nämlich ein unverbesserlicher Spieler. In Börsensachen glaubte er sogar ein Luchs zu sein. Als er mein Geld erhielt, glaubte er den Moment gekommen, den Grundstock für seinen Reichtum legen zu können. Er spekulierte auf das Steigen gewisser Papiere …“ „Und die Werte fielen?“ „Ins Bodenlose.“ „Hast du ihn ins Gefängnis stecken lassen?“ „Er brachte sich selbst auf den Friedhof. Als er die Katastrophennachricht erfuhr, schoß er sich eine Kugel durch den Kopf.“ „Und konntest du nichts von deinem Vermögen retten?“ „Ein paar tausend Dollar, von denen ich bisher gelebt habe. Aber mir fehlt das Kapital, um etwas Neues anzufangen.“
„Eine schlimme Geschichte.“ „Schlimmer als du dir denken kannst. Wenn ich mich auch noch so sehr einschränke, so werde ich doch höchstens ein Jahr durchhalten können.“ „Und deine Frau?“ „Ist ein Engel. Sie ertrug unseren Schicksalswechsel mit vorbildlicher Gelassenheit. Sie glaubt an mich. Sie ist sicher, daß ich aus dieser prekären Lage wieder herauskommen werde. Ethel tut mir ja am meisten dabei leid. Die Ärmste ist nicht gewöhnt, Not zu leiden. Bis jetzt hatte sie es nicht notwendig, sich etwas zu versagen oder vor der Zukunft zu bangen. Jetzt leidet sie, obgleich sie es mir zu verbergen sucht. Ich merke es, so sehr sie es auch verheimlichen möchte.“ „Das ist ganz natürlich“, nickte Laurel Donovan. Er schwieg eine Weile nachdenklich und sagte dann: „Hast du heute abend etwas vor, Kenneth?“ Der Angeredete schüttelte den Kopf: „Nein, nichts“, sagte er. „In diesem Falle hoffe ich, daß du bei uns essen wirst. Ich nehme an, daß du weißt, daß ich mich mit Lorna verheiratet habe.“ „Ja, es ist mir zu Ohren gekommen, aber nicht rechtzeitig genug, um dich beglückwünschen zu können. Ich habe es übrigens erwartet. Nachdem ihr so lange verlobt wart …“ „Wir hätten schon früher geheiratet“, sagte Laurel, „aber ich wollte nicht eher, als bis ich ein bestimmtes Ziel erreicht hatte.“ Kenneth nickte verständnisvoll. „Darin“, sagte er, „bist du weitsichtiger gewesen als ich. Kennst du Ethel?“ „Nein … Du hast doch außerhalb Baltimores geheira-
tet und seit dieser Zeit haben wir uns nicht mehr gesehen.“ „Sie ist eine sehr gute Frau. Ich glaube, daß sie dir sympathisch sein und sich mit Lorna gut verstehen wird. Habt ihr Kinder?“ „Nur ein Mädchen. Sie ist fünf Jahre alt. Ihr werdet sie heute abend sehen.“ Laurel erhob sich. „Du entschuldigst mich, Kenneth“, sagte er und streckte dem anderen die Hand hin. „Ich habe noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen. Wenn ich gewußt hätte, daß du kommen würdest …“ „O, ich verstehe vollkommen“, antwortete Clarkson und stand gleichfalls auf. „Du vergißt, daß ich auch Geschäftsmann gewesen bin. Bis heute abend, Laurel, und besten Dank für deine Einladung. Ethel wird sich freuen.“ „Und Lorna wird sich deiner bestimmt erinnern!“ rief Laurel lachend. „Auf Wiedersehen heute abend, Kenneth.“ Er begleitete den Besucher bis zur Tür. Sicher wäre er nicht so liebenswürdig zu seinem Vetter gewesen, wenn er geahnt hätte, welche schrecklichen Folgen dieser unerwartete Besuch später einmal für ihn haben sollte. *
* *
Das Abendessen ging zu Ende. Die kleine Mavis sagte gute Nacht, gab ihren Eltern und den Verwandten einen Kuß und wurde von der Erzieherin zu Bett gebracht. Die beiden Ehepaare blieben allein zurück.
Lorna erhob sich bald darauf. „Wenn zwei Männer nach so langen Jahre wieder beisammen sind“, sagte sie, „so haben sie sich immer eine Menge zu erzählen. Sie tun es freier, wenn keine Frauen dabei sind. Wollen wir sie allein lassen, Ethel?“ Laurel protestierte. „Ich spreche mit Kenneth über Dinge, die euch wahrscheinlich langweilig sind“, sagte er, „aber deswegen braucht ihr doch nicht vor uns zu flüchten. Wir werden in mein Büro hinübergehen, wo wir ungestört sind. Willst du uns dort den Kaffee servieren lassen?“ Er erhob sich. „Gehen wir, Kenneth.“ Clarkson folgte ihm. Sie betraten das Arbeitszimmer und nahmen gemütlich Platz. Ein Diener kam mit Kaffee, Gläsern und einer Flasche Kognak. Er stellte das Tablett auf den Tisch und zog sich wieder zurück. Laurel öffnete eine Kiste HavannaZigarren und reichte sie Kenneth hinüber. Dann sagte der Gastgeber: „Ich habe darüber nachgedacht, was du mir heute sagtest, Kenneth.“ „Es tut mir leid, daß mein Besuch eine Belästigung für dich war. Es war nicht meine Absicht …“ „Du hast mich falsch verstanden“, antwortete Donovan. „Das wollte ich damit keinesfalls sagen.“ Er schwieg eine Weile und legte dann die Zigarre weg, während ihn sein Vetter fragend ansah. „Kenneth“, sagte er endlich, „meine Geschäfte gehen ausgezeichnet.“ „Das freut mich für dich.“ „Danke … Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, daß ich bereits mehrere Filialen eröffnet habe.“
„Ich hörte davon.“ „In letzter Zeit trage ich mich mit dem Gedanken, auch in Kanada eine Zweigstelle aufzumachen. Dabei dachte ich …“ „Was?“ „Hast du dich definitiv von allen Geschäften zurückgezogen?“ „Die Frage ist überflüssig. Ich habe dir meine Lage geschildert. Mir bleibt keine Wahl offen. So schwer es mir auch fällt, ich muß wieder ins Geschäftsleben zurückkehren … oder völlig zugrunde gehen. Warum fragst du?“ Laurel Donovan antwortete nicht sofort. Endlich sagte er vorsichtig: „Für jemanden, der ein eigenes Geschäft gehabt hat, ist es natürlich schwer, plötzlich abhängig zu werden …“ „Was sagst du da?“ unterbrach Clarkson. „Du wirst mich doch nicht für so einfältig halten, daß ich mit den fünftausend Dollar, die ich besitze, noch auf Selbständigkeit poche?“ „Wenn also ein Angebot käme …“ „Würde ich es eingehend prüfen“, erwiderte Kenneth hastig. „Ich habe dir schon mitgeteilt, daß ich die Absicht habe, eine Filiale in Kanada aufzumachen. Irgend jemand wird sie leiten müssen …“ „Und du willst mir diesen Posten anbieten …? Ich danke dir dafür, Laurel. Das ist ein Vertrauensbeweis, den ich, offen gesagt, nicht zu verdienen glaube. Ich hätte mir niemals träumen lassen, nach Kanada zu gehen …“ „Oh, es handelt sich nicht darum, daß du den Posten in Kanada bekommst“, unterbrach ihn Laurel Donovan. „Du müßtest dort am Anfang zu viel arbeiten. Und obwohl ich unbegrenztes Vertrauen zu dir habe, so möchte
ich doch einen jüngeren Mann, der das Geschäft von Grund auf kennt, dorthin schicken.“ „Dann also …?“ fragte Kenneth ein wenig verwirrt. „Ich kann dir etwas Besseres vorschlagen. Für das Geschäft in Kanada werde ich einen Filialleiter verwenden, der bereits bei mir tätig ist, und dessen Platz kannst du einnehmen … natürlich unter besseren Bedingungen, als dein Vorgänger sie hatte. Interessiert dich diese Stelle für den Anfang?“ „Ist diese Frage noch notwendig?“ antwortete Clarkson. „Nun, dann wollen wir der Angelegenheit konkret nähertreten. Du bleibst vorläufig ein paar Monate in Baltimore, um dich mit dem Geschäft vertraut zu machen. Dann werde ich dich zu einer Filiale schicken, wo der gegenwärtige Leiter so lange dort bleibt, bis du ganz eingearbeitet bist. Sobald du ihn nicht mehr brauchst, werde ich ihn abziehen und nach Kanada schicken. Der gegenwärtige Leiter bekommt nur ein Gehalt. Du wirst den Vorteil haben, daß du nicht nur dieselbe Bezahlung, sondern auch einen Anteil am Verdienst haben sollst, und zwar von der Filiale, die du jeweils leitest. Was meinst du dazu?“ „Ich finde den Vorschlag ganz ausgezeichnet. Wie hoch wird das Gehalt sein?“ „Das können wir alles morgen in meinem Geschäftsbüro festlegen. Wann könntest du beginnen?“ „Sofort, wenn du willst.“ „In Ordnung. Ich erwarte dich also um neun Uhr. Heute ist es schon spät“, sagte er nach einem Blick auf seine Uhr. „Wir wollen sehen, was die Damen machen. Vielleicht wollen sie noch ausgehen. Hattet ihr einen besonderen Plan für heute abend?“ „Nein“, antwortete Kenneth.
„Gut, dann mögen die Damen entscheiden.“ Da aber weder Ethel noch Lorna große Lust zeigten, auszugehen, verschob man das Vorhaben auf eine spätere Gelegenheit, und das Ehepaar Clarkson begab sich in das Hotel zurück, wo es während des Aufenthaltes in Baltimore vorübergehend Unterkunft gefunden hatte. Kenneth Clarkson war sehr zufrieden. Er hatte sich vorgenommen, die erste Gelegenheit zu benutzen, um die Hilfe seines Vetters in Anspruch zu nehmen. Die Tatsache, daß dieser selbst ihm ein Angebot gemacht hatte, erleichterte seinen Entschluß ganz wesentlich. Am nächsten Tage war er noch zufriedener, als er hörte, daß ihm die New Yorker Filiale anvertraut werden sollte, wo er während einiger Wochen seinen Freund Richard Surrey als Mentor haben würde. Einen Monat später fuhr Kenneth Clarkson nach New York zurück und begann nun jene Pläne zu entwickeln, die inzwischen in ihm gereift waren. *
* * 3. Kapitel
CLARKSON BEGINNT ZU HANDELN Die Zeit verging. Die Filiale in New York florierte wie noch nie zuvor. Clarkson war intelligent und geschickt. Er hörte sozusagen das Gras wachsen und holte das Bestmögliche aus allen sich bietenden Gelegenheiten heraus. Laurel Donovan beglückwünschte sich selbst dazu, daß er den Gedanken gehabt hatte, ihn an seinem Geschäft zu beteiligen.
„Kenneth“, sagte er eines Tages, „ich bin mit deiner Arbeit sehr zufrieden. Unter deiner Leitung hat die Filiale in New York ihren Umsatz verdreifacht. Ich bin deshalb überzeugt, daß deine Anwesenheit in Baltimore der Gesellschaft einen großen Aufschwung verleihen würde. Daher habe ich beschlossen, dich als Subdirektor in die Zentrale zu versetzen, sofern du mit den Bedingungen einverstanden bist.“ Man kam nun überein, daß Kenneth nach New York zurückkehren, seinen Nachfolger ernennen und sich dann definitiv nach Baltimore begeben sollte, um den neuen Posten anzutreten. „Wen soll ich zu meinem Nachfolger machen?“ wollte er wissen. „Das überlasse ich ganz dir, Kenneth“, antwortete Laurel. „Ich habe dir ja auch bisher alle Einstellungen und Entlassungen des Personals freigestellt. Du hast bewiesen, daß man dir vertrauen kann, und du wirst schon den Besten als deinen Nachfolger auswählen. Hast du an jemand Bestimmten gedacht?“ „Es könnte sein, daß dir meine Wahl merkwürdig erscheint“, meinte Clarkson nach einer kurzen Pause. „Natürlich werde ich mich deinen Weisungen fügen, falls dir mein Vorschlag nicht passen sollte. Aber meiner Meinung nach ist Lasham der beste Mann für diesen Posten.“ „Lasham?“ murmelte Donovan. „Ist das nicht der Mann, den du erst vor zwei oder drei Monaten eingestellt hast?“ „Ja“, sagte Kenneth, „er arbeitet noch nicht lange in der Gesellschaft, gewiß. Aber in der kurzen Zeit, in der er für uns tätig ist, hat er Beweise einer ungewöhnlichen Klugheit, bewundernswerten Fleiß und Geschicklichkeit gezeigt. Wenn ich mit deinem Einverständnis rechnen kann …“ „Natürlich“, beeilte sich der andere zu antworten. „Ich
lasse dir vollkommen freie Hand. Wenn du Lasham für den richtigen hältst, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden.“ Kenneth Clarkson kehrte nach New York zurück und hatte anschließend eine längere Unterredung mit Lasham. Das Resultat mußte sehr befriedigend sein, denn er beendete sie mit einem strahlenden Gesicht. „Die Sache geht gut“, sagte Kenneth zu Ethel an jenem Abend. „Du kannst alles vorbereiten. In ein paar Wochen ziehen wir um.“ „Wieder?“ rief die Frau aus. „Wann werden wir endlich fest an einem Ort bleiben?“ „Unser Wanderleben geht dem Ende entgegen“, bemerkte ihr Mann. „Jede Ortsveränderung ist für uns eine Stufe höher empor gewesen. Nun haben wir nur noch die letzte Sprosse zu nehmen.“ „Wohin reisen wir?“ „Nach Baltimore. Laurel will mich an seiner Seite haben.“ *
* *
Kenneth Clarkson verdiente das Vertrauen, das ihn auf einen so hohen Posten gestellt hatte. Er war so eifrig, fleißig und geschickt in seinen Entschlüssen, daß Laurel ihm allmählich den größten Teil der Verantwortung abtrat. Er machte ihn zu seinem absoluten Vertrauensmann. Deshalb hatte Donovan nichts dagegen einzuwenden, als Clarkson ihm den Vorschlag machte, allen Filialen einen Besuch abzustatten, um die Organisation zu überprüfen und diejenigen Veränderungen vorzunehmen, die er im Interesse des Geschäftes für geeignet hielt. Und wenn bei dieser Gelegenheit mehrere Leiter entlassen und an ihre
Stelle neue Leiter gesetzt wurden, die Donovan kaum kannte, so war dieser dennoch damit einverstanden, da er keinen Augenblick vermutete, es könne sich um eine Verschwörung handeln, um ihn zu ruinieren Etwas später wurde er krank und mußte das Geschäft nun vollständig seinem Vetter überlassen. Die Ärzte fällten ein einstimmiges Urteil. Die Gesundheit Donovans war von übermäßiger Arbeit völlig untergraben. Er hatte seine Kräfte überschätzt. Die Opfer der ersten Jahre, die ununterbrochene Hetzjagd, um so schnell als möglich das erstrebte Ziel zu erreichen, hatten ihn erschöpft. Er mußte zunächst das Bett hüten und dann noch lange Zeit jeglicher Arbeit fernbleiben, um seine Kräfte wiederzugewinnen. Clarkson benutzte diese einmalige Gelegenheit, die ihm der Zufall beschert hatte. Er berief die Leiter der Filialen an einem bestimmten Tag zu einer Besprechung nach Baltimore. Diese fand in dem großen Sitzungssaal der Gesellschaft statt. Man wählte dazu jedoch nicht die Bürostunden, weil man die Gefahr vermeiden wollte, daß irgendein Angestellter erfahren könnte, was bei der Versammlung zur Sprache kommen würde. „Vor einiger Zeit“, eröffnete Clarkson, „verschaffte ich jedem von euch die Möglichkeit, als Leiter in eine der Filialen dieser Gesellschaft einzutreten.“ Er fixierte alle der Reihe nach, doch keiner wagte einen Einwand. „Als ihr mein Angebot angenommen habt“, fuhr er fort, „erklärtet ihr euch auch mit den von mir gestellten Bedingungen einverstanden und …“ „Du hättest dir diese Einleitung sparen können“, unterbrach Surrey. „Das wissen wir doch alle bereits. Warum kommst du nicht auf den Kern der Sache?“
„Diese Einleitung war notwendig. Ich möchte nämlich wissen, ob ihr damit einverstanden seid, weiter das zu erfüllen, was ihr versprochen habt.“ „Solange du bereit bist, auch deine Versprechungen zu halten“, antwortete Surrey. Die anderen äußerten sich im gleichen Sinne. „Ich pflege meine Versprechungen stets zu halten“, meinte Clarkson heftig. „Nun gut“, sagte Lasham, „dann erwarten wir deine Weisungen.“ „Ich versprach, euch reich zu machen, ohne jedes Risiko und allzuviel Arbeit. Die Gelegenheit ist jetzt gekommen. Ich nehme an, daß ihr laut Vereinbarung die ersten Schritte unternommen habt, um unsere Arbeit zu erleichtern.“ Alle nickten bestätigend. „Schön, dann brauchen wir wenig zu reden. In dem Augenblick, wo ihr wieder eure Posten einnehmt, wird sich die Lage des Hauses Donovan & Co. verändern. Die Einkünfte werden langsam zurückgehen.“ „In welchem Verhältnis?“ fragte Surrey. „In dem abgemachten. Diese fünfundzwanzig Prozent werden wir in zwei gleiche Teile teilen. Einen davon legen wir in eine Bank auf den Namen eines bestimmten Mannes. Bevor ihr geht, wird jeder von euch einen Zettel mit dem Namen des Betreffenden erhalten. In jedem Falle wird es ein anderer sein.“ „In Wirklichkeit beziehen sich aber diese Namen alle nur auf den Mann Clarkson, der hier vor uns steht“, sagte jemand. „Ich möchte diese Angelegenheit nicht ausgerechnet mit dir erörtern, Pursdew“, antwortete Kenneth. „Das ist meine Sache und nicht die eure. Jeder einzelne von euch
bucht die restlichen zwölfeinhalb Prozent auf sein eigenes Konto und verfügt darüber nach Gutdünken. Ist das klar?“ „Vollkommen.“ „Wie wir die Unterschlagung verbergen, darüber haben wir schon gesprochen. Ich nehme an, daß ihr die Sache in der Zwischenzeit eingehend studiert habt. Ihr könnt Käufe vortäuschen oder Geschäfte, die einen erheblichen Verlust bedeuten. Das überlasse ich euch. Ihr seid schließlich geschickt genug, um es so zu bewerkstelligen, daß niemand Verdacht schöpft … auch nicht eure eigenen Angestellten.“ „Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir haben die Tricks alle genau studiert“, antwortete Pursdew. „Ihr schickt die Kontoauszüge wie immer hierher“, bemerkte Clarkson. „Wenn ich den geeigneten Moment für gekommen halte, dann werde ich euch anweisen, die Verluste in dem vorgesehenen Verhältnis zu erhöhen. Das hängt von den Umständen ab. Die Verteilung wird dabei immer die gleiche bleiben: fünfzig Prozent für euch und die anderen fünfzig für mich. Dann werden wir den Geschäftsgewinn so weit zurückschrauben, daß wir uns nur noch den Verlusten zuwenden brauchen.“ „Das Risiko“, sagte Surrey, „wird dabei immer größer werden.“ „Keinesfalls“, antwortete Clarkson. „Du vergißt, daß ich der Subdirektor der Gesellschaft bin, und dank der Krankheit Donovans zur Zeit sogar der Generaldirektor. Eure Kontoauszüge gelangen nur in meine Hände. Der einzige, der Einwendungen erheben könnte, bin ich, und ich werde euch sicherlich keine Schwierigkeiten machen. Hat noch jemand eine Frage?“
„Ja“, meinte einer der Filialleiter. „Was geschieht mit uns, wenn man die Hinterziehungen entdeckt?“ „Man wird sie nicht entdecken, denn der einzige, der dazu in der Lage wäre, bin ich. Also …“ „Aber wenn du zum Beispiel krank wirst?“ meinte der Mann weiter. „Oder wenn es Donovan einfallen sollte, die Bücher zu prüfen. Dann würde ihm doch Verschiedenes sehr merkwürdig vorkommen und er könnte unliebsame Nachforschungen anstellen.“ „Ich habe euch doch gesagt …“ „Du hast uns sehr viel erzählt. Wenn aber unglücklicherweise doch einer von uns entlarvt würde und man die Sache vor Donovan nicht verheimlichen könnte, was würdest du dann tun?“ „Ich würde jedes Mittel einsetzen, um diesen Mann zu retten.“ „Wir haben aber nicht die mindeste Garantie dafür, daß du uns im Falle der Not nicht einfach unserem Schicksal überläßt.“ „Wenn ich das tue, dann liegt es bei euch, mich anzuzeigen. Welche Garantie wollt ihr noch?“ „Das“, meinte Lasham, „ist gar keine Garantie. Du selbst hast gesagt, daß Donovan blindes Vertrauen in dich setzt. Wie würde er denn jemals einer Klage von unserer Seite Gehör schenken, zumal er doch ausschließlich von uns geschädigt wurde?“ „Es gibt übrigens noch einen anderen Punkt“, fügte Surrey nachdenklich hinzu. „Diesen scheint keiner von euch beiden beachtet zu haben. Clarkson will Donovan ruinieren und dann die Gesellschaft übernehmen. Glaubt ihr wirklich, daß wir auch nur eine Sekunde länger sicher sind, wenn er einmal seinen Zweck erreicht hat?“ Clarkson sah ihn entrüstet an.
„Was willst du damit sagen?“ fragte er zornig. „Werde nicht wütend, Kenneth“, sagte der andere. „Wir kennen uns seit langem. Es ist nicht das erstemal, daß wir Geschäfte miteinander machen. Aber hältst du es tatsächlich für gut, daß so viele Leute wissen, wie du zu diesem Unternehmen gekommen bist, wenn du es erst einmal in der Hand hast? Die Möglichkeit, daß einer von uns bei dieser oder jener Gelegenheit mehr Geld brauchen und dich zum Opfer einer Erpressung machen könnte …“ „Keiner von euch wird mehr Geld brauchen, denn ihr schneidet euch ohnedies ein hübsches Stück ab“, unterbrach Clarkson. „Aber die Welt dreht sich, Freund Kenneth. Du bist nicht dumm und wirst nicht nur an die Möglichkeit gedacht haben, sondern auch an eine andere, von der ich bisher noch nicht sprach. Wenn du mit irgendeinem von uns Streit bekämst, müßtest du doch fürchten, aus Rache verraten zu werden.“ Kenneth Clarkson lachte. „Du möchtest für alles Vorsorgen, Richard, aber du übertreibst. Wie kann ich fürchten, daß einer von euch mich verrät? Ihr würdet euch bloß selbst schädigen, wenn ihr eine Hinterziehung zugebt, ohne mir damit im geringsten schaden zu können. Mein Wort gilt so viel als das eure, besonders in einem Falle, wo ihr euch selbst eines Deliktes schuldig bekennt. Ihr müßtet Beweise haben, und wo wollt ihr diese hernehmen?“ Ein sonderbarer Glanz flammte in den Augen Surreys auf. „Danke, Kenneth“, sagte er. „Nun hast du dich demaskiert.“ „Ich? Ich verstehe nicht … Wenn du glaubst …?“ Surrey unterbrach ihn mit einer hastigen Geste.
„Gestatte, daß ich dir die Bedeutung meiner Worte erkläre. Du sagtest vorhin, daß du jedes Mittel anwenden würdest, um einen von uns zu retten, falls dieser zufällig entlarvt würde. Dabei versicherst du, daß dir gar nichts anderes übrig bliebe, zumal wir dich ja verraten könnten, sofern du dich weigern solltest …“ „Gewiß.“ „Lasham entgegnete daraufhin, daß dies keine Garantie sei. Du selbst gabst ihm recht, als du jetzt vorbrachtest, daß wir ohne Beweise nichts gegen dich unternehmen könnten. Schön, wir haben von der Möglichkeit gesprochen, entlarvt zu werden, aber wir haben noch gar nicht von einer viel größeren Gefahr geredet.“ „Was meinst du damit?“ „Du selbst stellst diese Gefahr dar, denn je näher du zu deinem Ziele kommst und je weniger du unsere Dienste benötigst, um so mehr Interesse wirst du daran haben, unsere Hinterziehungen aufzudecken und uns in sicheres Gewahrsam bringen zu lassen, ehe wir dir schaden können.“ „Das ist absurd!“ schrie Clarkson wütend. „Wollt ihr denn alle plötzlich Schwierigkeiten machen, gerade jetzt, wo unsere Pläne so leicht durchzuführen sind?“ „Nein“, antwortete Surrey kopfschüttelnd, „wir machen gar keine Schwierigkeiten. Aber wir wollen auf Nummer Sicher gehen.“ „Du siehst Gespenster“, sagte Kenneth. „Außerdem bist du ja hier nicht der einzig Maßgebliche, die anderen sollen auch ihre Meinung äußern.“ „Ich stimme Surrey bei“, sagte Lasham. Die anderen erklärten dasselbe. „Surrey“, fuhr Lasham fort, „hat unsere Meinung sehr deutlich ausgedrückt. Ich glaube deshalb, daß wir Zeit sparen, wenn wir ihn zu unserem Sprecher erklären.“
Kenneth Clarkson runzelte die Stirn und starrte Surrey feindlich an. „Was willst du also von mir?“ fragte er. „Ich gebe euch sämtliche Erleichterungen. Ich verschaffe euch die Möglichkeit, Geld zu verdienen …“ „Und läßt uns das ganze Risiko allein tragen“, beendete Surrey den Satz. „Es hat keinen Zweck, Kenneth, daß wir uns streiten. Wir alle haben das Recht, uns gegen gewisse Eventualitäten zu sichern. Was ich von dir verlange, ist keine große Angelegenheit, und wenn du einverstanden bist, werden wir alle zufrieden sein.“ „Was verlangst du von mir?“ „Du schreibst jedem von uns einen Brief, in dem du uns beauftragst, Donovan zu betrügen.“ „Du bist verrückt! Das wäre genau so, als wenn ich mich an Händen und Füßen gefesselt euch ausliefern würde.“ „Nicht unbedingt. Wir verpflichten uns nämlich, deine Briefe zu beantworten, wobei wir dein Angebot schriftlich annehmen. Du bist in unserer Hand, aber wir sind ebenso in deiner. Du kannst uns bloß nicht verraten, denn dann würden wir dich ans Messer liefern. Und wenn einer von uns strauchelt, dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als ihm zu helfen. Wir aber können dich auch nicht verraten, denn dann würdest du uns schaden können. Die Briefe sind also das Band, das uns zusammenhält. Sie stellen tatsächlich eine sichere Garantie dar. Wir werden alle ruhiger arbeiten, wenn wir diese Dokumente ausgetauscht haben. Sie sind ja bloß gefährlich für jemanden, der uns verraten will.“ „Einer dieser Briefe kann aber in fremde Hände fallen.“ „Bei der Wichtigkeit, die sie für uns bedeuten, werden wir sie schon so aufheben, daß sie niemand auch nur zufälligerweise zu Gesicht bekommt. Solange sie existie-
ren, wird keiner von uns einen Grund sehen, sie aus dem sicheren Versteck hervorzuholen.“ Clarkson begann erregt zu protestieren. Er führte alle Arten von Argumenten an, aber er verlor schließlich doch die Schlacht. Alle fanden nämlich die Idee Surreys ausgezeichnet und unterstützten sie begeistert. Sie weigerten sich, auf die Pläne Kenneths einzugehen, falls dieser dem Vorschlag nicht zustimmen sollte. Clarkson gab sich besiegt. Es blieb ihm für den Augenblick auch gar nichts anderes übrig. Später würde er vielleicht ein Mittel finden, um seinen Komplicen die Briefe, die ihn kompromittierten, wieder abzunehmen. Die Briefe wurden geschrieben und unterzeichnet. Die Versammlung löste sich auf. Die Verschwörung war angezettelt. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie in Erscheinung treten würde … *
* * 4. Kapitel
INGENIEUR DEXTER Donovans Gesundheitszustand näherte sich der Genesung. Der Arzt aber hatte seinen Rat und seine Warnung wiederholt. Er durfte vorläufig seine Geschäfte noch nicht wieder aufnehmen und sollte eine Zeitlang aufs Land gehen, um sich auszuruhen. Im Anfang wollte Laurel davon nichts wissen, aber die vereinten Kräfte seiner Gattin, des Arztes und seines Vetters Clarkson brachen seinen Widerstand. Ein Argument
hatte ihn überzeugt, wie es kein zweites vermocht hätte: die Tüchtigkeit und Geschicklichkeit Clarksons, die seine Frau immer wieder ins Treffen führte. Kenneth hatte das Geschäft während der ganzen Krankheit Donovans souverän geleitet. Donovan gab also nach. Man unternahm die nötigen Schritte, um ein hübsches Häuschen auf dem Lande aufzuspüren, und fand dieses endlich in der Gegend des Okichobi-Sees, in Florida. Dorthin begaben sich Donovan, seine Frau Lorna und ihr Töchterchen Mavis. Solange sich Donovan in der Nähe befand, waren die Gewinne seines Unternehmens langsam zurückgegangen. Als er aber nach Florida fuhr, vollzog sich dieser Prozeß erheblich schneller, weshalb Clarkson es für richtiger hielt, seinen Vetter langsam auf die Katastrophe vorzubereiten, die nun bald eintreten würde. Die Depression, von der man allgemein sprach, hätte jetzt auch ihr Unternehmen ergriffen, schrieb er seinem Vetter in einem Brief. Wenn die Dinge so weiterliefen, würde nichts anderes übrigbleiben, als zu drastischen Mitteln zu greifen. Vielleicht wäre es richtiger, wenn Laurel zurückkäme und selbst das Steuer wieder in die Hand nähme. Die Antwort Laurel Donovans kam sehr bald. Der Niedergang der Geschäfte mache sich auch in Florida bemerkbar. Er verstehe vollkommen, daß die Geschäfte nicht so gut gehen konnten wie bisher. Seiner Meinung nach sei das Übermaß an Eifer und Interesse, das Clarkson an dem Geschäft zeige, der Grund, weshalb er ein wenig zu schwarz sehe. Er, Laurel, habe volles Vertrauen zu Clarkson. Er sei sicher, daß sein Vetter alle Schritte unternommen habe, die zweckdienlich seien. Er glaube nicht, daß seine Gegenwart die Lage günstiger beeinflussen
könne, und Lorna bestehe außerdem darauf, daß er nicht fortgehe. „Ich weiß, daß ich blind auf dich vertrauen kann“, schrieb er zum Schluß, „und ich überlasse alles dir. Du bist nicht daran schuld, daß sich die allgemeine Lage verschlechtert hat, und ich mache dich dafür auch nicht verantwortlich.“ Kenneth Clarkson rieb sich die Hände, als er diese Antwort las. Er führte seine Pläne noch radikaler durch, so daß die Lage sehr bald verzweifelt zu werden begann. Da hielt er den Moment für gekommen, den letzten Schritt zu unternehmen. Er schrieb erneut an seinen Vetter, und bat ihn, sofort in die Zentrale zurückzukehren. „Die Lage ist derart ernst geworden“, schilderte er, „daß ich keine Rettung mehr sehe. Ich erwarte deshalb dringend deine Rückkehr. Damit du siehst, wie wichtig ich deine Anwesenheit erachte, füge ich die Bitte bei, daß du nach Möglichkeit mit dem Flugzeug kommen mögest.“ Es war unmöglich, einen so dringenden Ruf zu überhören. Laurel folgte dem Rat seines Vetters, mietete ein Flugzeug und begab sich eiligst nach Baltimore. Clarkson ließ ihm nicht einmal Zeit, sich auszuruhen. Er erwartete ihn auf dem Flugplatz, und obgleich es schon acht Uhr abends war, fuhr er ihn sofort ins Büro, schloß sich mit ihm ein und gab dem Vetter einen raschen Überblick über die prekären Finanzverhältnisse der Gesellschaft. Laurel hörte ihm offenen Mundes zu. Er hatte die Reise mit der Vermutung angetreten, daß er die Lage nicht rosig vorfinden würde. Niemals aber hatte er erwartet, eine so verzweifelte Situation anzutreffen, wie sie ihm der andere nun vor Augen führte.
„Aber … aber … das ist doch nicht möglich, Kenneth!“ rief er entsetzt aus. „Es ist leider eine unumstößliche Tatsache“, antwortete Clarkson energisch. „Ich werde dir die Kontoauszüge der Filialen zeigen, damit du dich überzeugen kannst.“ Er legte eine dicke Mappe mit Papieren auf den Tisch. „Prüfe die Unterlagen“ sagte er, „und teile mir dann deine Meinung mit.“ Laurel öffnete die Mappe wie ein Schlafwandler. Verwirrt warf er einen Blick auf die Zahlenreihen und richtete sich plötzlich auf. Sein Kopf war wieder ganz frei. Er studierte die Summen, prüfte die Ausgaben, verglich die Transaktionen. Je mehr Abrechnungen er durchsah, um so stärker wurde ihm die Überzeugung, daß hier etwas nicht stimme. Es war ganz unmöglich, daß sich die Gelder der Gesellschaft in so kurzer Zeit verflüchtigt hatten und daß das Institut nun am Abgrund des Ruins stehen sollte. Die Rechnungen waren in Ordnung, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber bei den Eingängen bemerkte er eine Menge abnormer Einzelheiten, die ihm verdächtig erschienen. Sollte es möglich sein, daß der Vetter seine Abwesenheit benutzt hatte, um sich auf seine Kosten zu bereichern? Hatte er sich in ihm getäuscht? Laurel wollte es nicht glauben. Außerdem waren die Kontoauszüge von den Leitern der verschiedenen Filialen unterzeichnet, und es war kaum glaublich, daß er sich mit allen hätte ins gleiche Einvernehmen setzen können. „Die Lage scheint tatsächlich verzweifelt zu sein“, sagte Donovan und blickte seinen Vetter an. „Ich hoffe aber trotzdem, daß wir dabei noch heil herauskommen.“
„Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“ fragte Kenneth. „Als erste Maßnahme schlage ich eine dringende Besprechung mit allen Filialleitern vor. Sobald wir zusammenkommen, werden wir die Angelegenheit eingehend studieren und die nötigen Vorkehrungen treffen, um die Katastrophe aufzuhalten, die uns bedroht. Willst du diese Benachrichtigung übernehmen?“ Clarkson nickte bestätigend. „Wann soll die Sitzung sein?“ „Je eher, desto besser.“ „Wir müssen den Leuten aber etwas Zeit lassen, damit alle hier sein können. Auch brauchen sie zumindest zwei oder drei Tage, um die nötigen Unterlagen zusammenzutragen, ehe sie abreisen können.“ „Du hast recht“, entgegnete Laurel. „Ich fürchte, wir werden wohl oder übel eine Woche abwarten müssen. Trotzdem telegraphiere sofort an die Filialleiter und frage an, wann die Leiter mit den zur Besprechung nötigen Unterlagen frühestens hier sein können. Sobald wir die Antwort erhalten haben, werden wir dann das genaue Datum gemeinsam festsetzen.“ Clarkson sandte noch in derselben Nacht die erwähnten Telegramme ab. Die Antworten trafen am nächsten Tage ein, und aus ihnen ersah man, daß die Versammlung frühestens am nächsten Mittwoch stattfinden konnte. Das hieß also in acht Tagen, denn Mittwoch war der Tag, an dem die Telegramme angekommen waren. Man setzte diesen Tag fest. Die Leiter sämtlicher Filialen wurden entsprechend verständigt. Kenneth Clarkson hatte mit all dem gerechnet. Der Höhepunkt nahte, der erträumte Höhepunkt, und damit jener Tag, an dem seine Pläne in Erfüllung gehen würden.
Er hatte sich niemals darüber getäuscht, daß Donovan seine Manipulationen durchschauen würde, sobald dieses Endspiel kam. Er hatte aber auch vorhergesehen, daß Laurel seinen Verdacht verbergen würde, bis er genügend Beweise hätte. Dazu gehörte eine gewisse Zeitspanne und auch mit dieser hatte Kenneth gerechnet, um seine letzten Schritte tun zu können. Clarkson hatte einen Vertrauensmann, den er schon für viele Betrügereien in der Vergangenheit verwendet hatte. Dank seiner Stellung im Hause Donovan war es ihm gelungen, diesen Kerl als seinen Sekretär einzuschmuggeln. Der Mann hieß Peter Swinburn. Am Donnerstag nach der Absendung der Telegramme rief ihn Clarkson in sein Büro. „Peter“, sagte er, „ich habe eine vertrauliche Aufgabe für dich.“ Er zog. eine Karte hervor und zeigte sie ihm. „Kennst du diesen Mann?“ fragte Swinburn las mit halblauter Stimme: „Clay Dexter, Mineningenieur. – Nein“, entgegnete er. „Sein Name kommt mir wohl bekannt vor, aber ich erinnere mich nicht, ihn jemals gesehen zu haben.“ „Um so besser“, versicherte Kenneth befriedigt. „Es wird nötig sein, festzustellen, ob er Donovan kennt … und ob er ihn persönlich einmal gesehen hat.“ „Soll ich ihn das fragen?“ Der andere schüttelte ablehnend den Kopf. „Wir decken damit doch unser Spiel auf“, knurrte er. „Weißt du keine andere Möglichkeit?“ Swinburn zuckte mit den Achseln. Clarkson überlegte einen Augenblick. „Ich glaube, wir können es so machen“, sagte er endlich hastig.
„Was soll ich tun?“ „Ich will dir erst erklären, wer dieser Mann ist. Clay Dexter ist, wie er selbst auf seinen Visitenkarten angibt, Mineningenieur. Bei einer gewissen Gelegenheit wollte ich selbst einmal in diesem Zweige arbeiten und bat einen Freund, er möge mir einen Mann nennen, der gewisse Gutachten über Minen in dem von mir gewünschten Sinne ausstellte, wenn man ihn gut bezahlte. Mein Freund gab mir diesen Mann an und versicherte mir, daß Dexter alles unterschreiben würde, was ich wollte. Es wäre nur eine Frage der Bezahlung. Verstehst du?“ „Vollkommen. Und was wünschen Sie von ihm?“ „Ich, nichts. Es muß alles im Namen Donovans geschehen. Dann brauchen wir weniger Erklärungen abzugeben.“ „Ich verstehe.“ Clarkson zog ein Papier aus der Tasche. Es war die Kopie einer Eigentumbescheinigung eines Grundstückes, das in Texas gelegen war. Diese Bescheinigung war auf den Namen Laurel Donovan ausgestellt. „Du wirst Dexter aufsuchen“, sagte er, „und zunächst ein wenig sondieren. Du kannst ihm sagen, daß du einen Herrn kennst, der ein Grundstück in Texas besitzt. Dieses Grundstück befindet sich in der Nähe der Ölfelder, und dein Freund vermutet, daß er auch auf seinem Grundstück Petroleum finden könnte, wenn er nur tief genug bohren würde, verstehst du?“ „Vollkommen, Chef.“ „Unglücklicherweise hat dein Freund nicht das notwendige Kapital, um die notwendigen Arbeiten auszuführen. Er hat sich nun an Kapitalisten gewandt und versucht, eine Gesellschaft zu gründen. Aber das ist leider fehlgeschlagen. Das einzige, was er besitzt, ist das
Grundstück, und dessen Aussehen ist so ungünstig, daß niemand glaubt, dort Petroleum finden zu können, auch wenn er noch so tief bohrte. Besäße er aber das Zeugnis irgendeines Mineningenieurs, der das Terrain untersucht hat, und dabei feststellte, daß es dort Petroleum gibt, dann wären alle Schwierigkeiten behoben.“ „Das bedeutet also, daß ich ihn fragen soll, ob er eine falsche Erklärung unterschreiben will.“ „Ja, aber das Ganze ist eine diplomatische Frage“, antwortete Clarkson. „Denn du mußt ihn natürlich bitten, zunächst die Prüfung vorzunehmen und dann die Bescheinigung auszustellen.“ „Er kann aber den Auftrag ernst nehmen, das Grundstück aufsuchen und dann erklären, daß es dort keinen Tropfen Petroleum gibt.“ „So dumm ist er nicht. Wenn du mit ihm entsprechend redest, wird er sofort begreifen, was man von ihm haben will. Du wirst ihm außerdem zu seiner Orientierung erklären, daß das betreffende Grundstück kein Schiefergestein enthält und keines der geologischen Minerale, die in der Nähe von Petroleum vorzukommen pflegen. Gleichzeitig kannst du hinzufügen, daß dein Freund trotzdem davon überzeugt ist, daß sein Grundstück einen unterirdischen Schatz enthält, und er mit allen Mitteln das nötige Kapital suchen will, um ihn zu heben.“ „Und dann …?“ „Frage ihn, welches Honorar er für diese Prüfung haben will. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß ich jeden Preis annehme, den er fordert. Es wäre aber gut, wenn du ihn darauf aufmerksam machst, daß du erst mit den Interessenten sprechen mußt, sobald er dir seinen Preis genannt hat. Du würdest ihm am nächsten Tage Antwort geben.“
„In Ordnung. Aber was den Namen betrifft …“ „Bei deiner ersten Unterredung nennst du gar keinen Namen. Wenn du ihn zum zweitenmal besuchst, um seinen Preis anzunehmen, fragst du ihn ganz offen, ob er Donovan kennt. Falls er diesen nicht kennt, sagst du ihm trotzdem, daß das der Name deines Freundes ist, und übergibst ihm dieses Papier, auf dem er alle Daten finden wird, die mit dem Grundstück zu tun haben, damit er die entsprechende Bescheinigung ausstellen kann.“ „Und falls er ihn wirklich kennt?“ „Wenn er ihm nur dem Namen nach bekannt ist, dann sagst du, daß du in Donovans Auftrag handelst. Laurel gilt als sehr vermögender Mann, was Dexter vermuten lassen wird, daß es sich um ein ungesetzliches Geschäft handelt, denn sonst würde er wohl sein eigenes Geld benützen, anstatt fremdes Kapital zu suchen.“ „Könnte das nicht verdächtig sein?“ „Überhaupt nicht. Wenn Dexter irgendeinen vertrauten Freund hat und mit ihm über die Angelegenheit spricht, dann würde es uns nicht nur nicht schädigen, sondern sogar unseren Plänen entgegenkommen.“ „Und wenn er ihn persönlich kennt?“ „Dann wäre es vielleicht besser, ihm zu sagen, daß das Grundstück Donovan wohl gehört, denn das kannst du ihm nicht verheimlichen, aber daß du im Namen einer dritten Person unterhandelst, die dieses Grundstück von Donovan kaufen will, sofern sie die gewünschte Bescheinigung erhält. In allen Fällen wünsche ich, daß das betreffende Gutachten mir hierher gebracht wird, und zwar zu einer Zeit, wo keine Bürostunden sind. Wenn wir Dexter glauben machen können, daß er selbst mit Donovan unterhandelt hat, so wäre das noch besser. Aber es ist nicht unbedingt notwendig. Verstehst du mich?“
Peter Swinburn ging, besuchte den Ingenieur, wie es ihm befohlen worden war, gelangte mit ihm zu einer Einigung, und drei Tage später empfing Clarkson den Mann in seinem Büro, als es schon dunkelte. Er prüfte die prompt ausgestellte Bescheinigung, die der andere mitgebracht hatte, fand sie in Ordnung und zahlte die vereinbarte Summe. „Und jetzt, Herr Dexter“, sagte er, als dies erledigt war, „möchte ich mit Ihnen über eine andere Sache sprechen.“ „Worum handelt es sich?“ „Die Angelegenheit, die wir gerade abschlossen, ist von untergeordneter Bedeutung … wenigstens für Sie. Ich kann Ihnen auch nicht verheimlichen, daß sie auch mich weniger interessiert, als es den Anschein haben mag …“ Dexter lächelte mit einer gewissen Herablassung. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Donovan“, bemerkte er, „daß ich es satt habe, jemandem einen Gefallen dieser Art zu tun. Ich sehe aber keinen Grund, warum Sie mich täuschen sollten. Außerdem ist das nicht meine Angelegenheit. Ich habe die Summe bekommen, die ich verlangte, und habe Sie um keine Beteiligung an dem Geschäft gebeten.“ „Ich versuche nicht, Sie zu täuschen“, versicherte Clarkson. „Ich sagte Ihnen, daß die Angelegenheit von nur geringem Interesse ist, und ich wiederhole. Einer meiner Freunde sagte mir, daß Sie die Aufträge richtig ausführen und sehr diskret sind. Ich wollte nur einen Beweis Ihrer Tüchtigkeit sehen, bevor ich Ihnen ein Geschäft vorschlage, das mich tatsächlich interessiert.“ „Was haben Sie vor?“ „Etwas, das Ihnen gestatten würde, sich zurückzuziehen und nur von Ihrer Rente zu leben. Glauben Sie, daß Sie das interessieren würde?“
„Jedenfalls genügend, um Ihnen zuzuhören.“ „Ich werde Ihnen alles erklären, kann mich heute aber nicht länger aufhalten. Wenn Sie morgen um dieselbe Stunde herkommen wollen, werden wir in Ruhe darüber sprechen können, weil ich dann mehr Zeit übrig habe. Ich bin fest überzeugt, daß es Sie interessieren wird.“ „Ich werde morgen kommen“, antwortete Dexter. „Jedenfalls verliere ich mit meinem Besuch ja nichts.“ „Sie werden sogar sehr gut dabei verdienen, falls Sie genügend intelligent sind“, antwortete der andere. „Also bis morgen, Herr Donovan.“ „Bis morgen … und vergessen Sie noch etwas nicht.“ „Was?“ „Daß es manchmal nötig ist, verschwiegen zu sein. Die kleinste Unklugheit könnte alles verderben. Ich glaube nicht, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß niemand zu wissen braucht, daß wir uns kennen. Sollten wir uns auf der Straße treffen, dürfen Sie mich weder grüßen noch das Wort an mich richten. Morgen werden Sie übrigens diese Vorsichtsmaßnahmen begreifen.“ Er stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Auf Wiedersehen, Herr Dexter. Es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, daß auch Sie Grund haben werden, dem Augenblick dankbar zu sein, an dem wir einander zum erstenmal begegneten …“ Clarkson begleitete den Ingenieur bis zur Tür. Als er in sein Büro zurückkehrte, rieb er sich triumphierend die Hände. Alles ging wie am Schnürchen, aber bis zu der Zusammenkunft am folgenden Tage hatte er noch sehr viel zu tun. Peter Swinburn befand sich in der Halle des Hauses und wartete auf Anweisungen. Clarkson rief ihn, und während der nächsten Stunde sprach nur Kenneth, und Peter beschränkte sich darauf, zuzuhören und ab und
zu bejahend mit dem Kopf zu nicken. Es genügte, diesen Mann anzuschauen, um zu merken, welche Bewunderung er all dem zollte, was sein Chef zu sagen hatte … *
* * 5. Kapitel
DER MORD Am folgenden Abend kam Clay Dexter wie abgemacht um halb neun in das Büro von Donovan & Co. Wie am vorhergehenden Tage öffnete ihm Peter Swinburn die Tür und führte ihn zu Kenneth Clarkson, der sich wieder im Büro seines Vetters befand. Als der Ingenieur eintrat, saß Kenneth am Tisch Laurel Donovans und hielt seine rechte Hand in einer der halbgeöffneten Schubladen verborgen. „Wie Sie sehen, bin ich pünktlich und erfülle mein Versprechen“, sagte Dexter lächelnd. „Ich hoffe, daß die Angelegenheit, die wir miteinander zu verhandeln haben, so interessant ist, wie Sie es mir gestern zu verstehen gaben. Ich will offen zu Ihnen sein. Um diese Verabredung einhalten zu können, mußte ich ein anderes Geschäft fahren lassen, das bestimmt nicht schlecht gewesen wäre.“ „Ich glaube“, verkündete Clarkson mit feierlicher Stimme, „daß Sie mit niemandem anderen mehr zu verhandeln brauchen, sobald Sie heute abend mit mir gesprochen haben.“ „Das hoffe ich“ antwortete der andere. „Ich habe Lust, von hier fortzugehen und ein ruhiges Leben zu führen. Das Klima von Baltimore bekommt mir nicht … und es wird
mir noch weniger zuträglich sein, wenn eines Tages die Bescheinigung über das Grundstück in Texas, die ich Ihnen gestern übergab, in die Hände der Polizei fallen sollte.“ „Seien Sie unbesorgt, mein Freund. Wenn die betreffende Bescheinigung eines Tages in die Hände der Polizei gerat, dann können Sie ganz sicher sein, daß ich vorher schon alles getan haben werde, damit Ihnen nichts geschieht. Das liegt ja auch in meinem Interesse …“ „Oh“, antwortete der andere, „für Sie ist das Ganze nicht so gefährlich. Sie können so tun, als hätte man Sie einfach getäuscht. Aber ich habe immerhin meine Unterschrift gegeben.“ „Es ist möglich, daß ich von diesem Gesichtspunkt aus gesehen etwas weniger kompromittiert bin. Trotzdem bin ich aber nicht so einfältig, zu glauben, daß Sie meinen Namen verschweigen würden, wenn Sie sich in Gefahr sähen und Ihre Strafe dadurch mindern könnten. Aber wir sind ja heute abend nicht zusammengekommen, um über solche Lappalien zu sprechen.“ „So ist es“, nickte Dexter. „Ich muß gestehen, daß ich direkt darauf brenne, Ihren neuen Vorschlag zu hören.“ „Bevor wir auf den Kern der Sache eingehen“, sagte Clarkson, „wird es wohl am besten sein, wenn Sie sich mit dem Inhalt dieses Schriftstückes vertraut machen.“ Er zeigte mit der linken Hand auf einen Brief, der zusammengefaltet auf dem Schreibtisch lag. Der Ingenieur streckte die Hand danach aus, nahm den Bogen auf und entfaltete ihn. Clarkson zog in diesem Augenblick die rechte Hand aus der Schublade. Sie war behandschuht und umklammerte eine Pistole. Instinktiv blickte Dexter auf, gewahrte die Pistole und las in den Augen des angeblichen Donovan sein Todesurteil.
Das Blut wich aus seinem Gesicht, er wurde weiß wie Wachs, stieß einen unterdrückten Schrei aus und wich zurück. Clarkson drückte die Waffe ab. Der Ingenieur brach zusammen. Ein Kopfschuß hatte ihn getötet. Clarkson warf die Pistole auf den Tisch und zog sich den Handschuh aus. Dann beugte er sich über Dexter, um sich zu vergewissern, daß die Wunde tödlich war. In seiner verkrampften Hand hielt der Ingenieur noch den Brief, den er gerade hatte lesen wollen, und sein Mörder versuchte nicht, ihm das Papier wegzunehmen. Clarkson schaute sich um, um sicher zu sein, daß er nichts vergessen hatte. Dann verließ er das Büro und schloß die Tür hinter sich. Swinburn erwartete ihn in der Halle und beide gingen zusammen auf die Straße. Niemand schien den Schuß gehört zu haben. Das Gebäude war verlassen und die Vorübergehenden hatten nichts wahrgenommen. Clarkson ging nach Hause, aß mit gutem Appetit, ging ins Theater zu einer Erstaufführung, legte sich dann schlafen und schlummerte den Schlaf des Gerechten. Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, läutete das Telephon. „Herr Clarkson?“ fragte eine Stimme. „Am Apparat“, antwortete dieser. „Wer …?“ „Hier spricht Inspektor Cummings“, lautete die Antwort. „Im Büro von Donovan & Co. ist ein Unglück geschehen. Haben Sie die Güte, dorthin zu kommen, um uns bei der Aufklärung zu helfen.“ Clarkson beendete in aller Ruhe sein Frühstück, nahm ein Taxi und fuhr zum Büro. Ein Polizist stand als Posten vor der Tür, und er mußte sich erst legitimieren, um ein-
treten zu dürfen. Ein zweiter Polizist führte ihn zu seinem eigenen Büro hinauf, indem sich Inspektor Cummings zwischenzeitlich niedergelassen hatte. „Was ist geschehen?“ fragte Kenneth und heuchelte atemlose Verwirrung. „Was bedeutet …?“ Der Inspektor unterbrach ihn. „Zunächst, Herr Clarkson haben Sie bitte die Güte, mir zu sagen, wo sich Herr Donovan in diesem Augenblick befindet.“ „Herr Donovan?“ rief der Angeredete erstaunt aus. „Er wird zu Hause sein. Seine Telephonnummer ist …“ „Ich kenne sie“, unterbrach ihn der andere. „Wir haben bereits angerufen. Zu Hause ist er aber nicht. Seine Gattin sagt, daß sie ihn die ganze Nacht über nicht gesehen hat. Er ging gestern abend um halb acht fort und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Seine Frau wollte die Polizei benachrichtigen, wenn sie bis mittag nichts von ihm gehört hätte.“ Das Gesicht Clarksons spiegelte ein geradezu vollkommenes Erstaunen. „Donovan soll eine ganze Nacht nicht zu Hause gewesen sein!“ rief er aus. „Unmöglich! Ich glaube, daß er nicht einen einzigen Abend seines Lebens ohne seine Gattin ausgegangen ist.“ „Das hat uns seine Frau auch gesagt. Wohin mag er aber Ihrer Meinung nach gegangen sein?“ „Ich habe keine Idee, bin aber fest überzeugt, daß ihm irgend etwas Schlimmes zugestoßen sein muß, wenn er nicht nach Hause zurückgekehrt ist oder zumindest seine Frau benachrichtigt hat.“ Der Inspektor schwieg eine Weile und sah den Mann vor sich nachdenklich an. Plötzlich fragte er: „Sie sind ein Verwandter Herrn Donovans, nicht wahr?“
„Ja, ich bin ein Vetter von ihm … ein entfernter Vetter, aber immerhin ein Verwandter.“ Der andere nickte mit dem Kopf. „Herr Donovan hat offenbar sehr viel Vertrauen zu Ihnen?“ „Ich glaube schon. Seit er mich zum Subdirektor der Gesellschaft gemacht hat …“ „Soviel ich hörte, haben Sie in den letzten Monaten das Unternehmen ganz allein geleitet. Stimmt das?“ „Ja.“ „Dann kennen Sie natürlich auch den Geschäftsgang.“ „Selbstverständlich, aber ich verstehe nicht …“ „Sie werden alles sehr rasch begreifen. Sagen Sie mir bloß, Herr Clarkson, wollte die Gesellschaft vielleicht eine neue Geschäftsverbindung aufnehmen?“ „Möglicherweise.“ „Und konnte man dies nicht auch ohne Ihr Wissen tun?“ „Verzeihen Sie, Inspektor, aber diese Frage ist absurd. Während der letzten Monate habe ich, wie Sie selbst sagten, dieses Unternehmen geleitet, und keine Transaktion ist gültig ohne meine Unterschrift oder die des Herrn Donovan. Wie sollte man da etwas tun, von dem ich plötzlich nichts wüßte?“ Cummings antwortete nicht. Er überlegte eine Weile und sagte dann: „Bestand Vertrauen zwischen Ihnen und Ihrem Vetter?“ „Ja, das habe ich Ihnen schon erklärt. Wenn man kein Vertrauen zu einem Mann besitzt, dann ernennt man ihn doch nicht zu seinem …“ „Das meine ich nicht damit. Offiziell schenkte Ihnen Donovan wohl sein ganzes Vertrauen, aber wie stand es in privaten Dingen damit? Waren Sie da auch sein Vertrauensmann?“
„Wollen Sie damit andeuten, daß er verpflichtet war, mit mir auch seine Privatsachen zu besprechen?“ „So etwas Ähnliches.“ „Nein, mein Herr. Es bestand wohl ein gewisses Vertrauen zwischen uns, das stimmt. Letzten Endes sind wir ja Verwandte, wenn auch entfernte. Aber ein intimes Verhältnis … was man so intim nennt … glaube ich, bestand nicht. Sie müssen bedenken, Inspektor, daß wir lange Zeit völlig entfernt voneinander lebten. Er blieb immer in Baltimore, und ich bin inzwischen viel herumgekommen …“ „Ich verstehe … ich verstehe … Eine Frage, Herr Clarkson: Wie ist die augenblickliche finanzielle Lage der Gesellschaft?“ Clarkson richtete sich auf und sagte hochfahrend: „Diese Frage erscheint mir überflüssig, Inspektor. Ich glaube auch nicht, daß Sie das Recht dazu haben, sie zu stellen.“ „Leider bin ich aus schwerwiegenden Gründen doch dazu berechtigt. Verweigern Sie etwa die Antwort?“ „Rund heraus, suchen Sie Donovan auf und fragen Sie ihn selbst. Wenn er Ihnen antworten will, so habe auch ich nichts dagegen einzuwenden. Im Augenblick glaube ich aber nicht, das Recht zu haben, einem Fremden Dinge zu enthüllen, die ihn nichts angehen.“ Cummings lächelte. „Lassen wir das“, sagte er. „Kennen Sie Clay Dexter?“ „Clay Dexter …? Clay Dexter …?“ murmelte Clarkson und runzelte die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte. „Es tut mir leid, aber ich kann mich dieses Namens nicht erinnern.“ „Schade“, ließ sich der Inspektor vernehmen. „Aber
vielleicht kennen Sie ihn unter einem anderen Namen.“ Damit erhob er sich. „Wollen Sie mir bitte folgen?“ ergänzte er. Sie verließen das Büro und schritten den Gang entlang, der zu einer Glastür führte, die den Namen Donovans trug. Ein Polizist stand davor, der sie sofort öffnete, zur Seite trat und seinen Chef eintreten ließ. Cummings beobachtete dabei das Gesicht Kenneths, um zu sehen, welchen Eindruck das Schauspiel auf ihn machen würde. Im Zimmer befanden sich drei Männer. Zwei von ihnen verschnürten gerade einige Pakete. Der dritte suchte nach Fingerabdrücken auf dem Schreibtisch. An der Stelle, wo er zusammengebrochen war, lag noch immer die Leiche Clay Dexters. Clarkson war ein hervorragender Schauspieler. Als sein Blick auf den Toten fiel, fuhr er zusammen, erbleichte und stieß einen Schreckensschrei aus. „Mein Gott!“ stöhnte er. „Kennen Sie diesen Mann?“ wollte Cummings wissen. „Nein … ich sehe sein Gesicht nicht“, antwortete Kenneth. „Wer ist es?“ „Wir möchten gern, daß Sie ihn identifizieren. Nähern Sie sich und schauen Sie ihn an.“ „Ist er tot?“ „Man hat ihn ermordet.“ Clarkson starrte den Inspektor verstört an. „Ein Mord!“ murmelte er erschrocken. Es sah aus, als wollte er sich umdrehen und aus dem Zimmer flüchten. Cummings hielt ihn am Arm fest. „Es tut mir sehr leid, Herr Clarkson, daß ich Ihnen
diesen unangenehmen Augenblick nicht ersparen kann“, sagte er. „Aber es ist nötig, daß Sie sich die Leiche ansehen und sagen, ob Sie den Mann kennen.“ Clarkson machte eine sichtliche Anstrengung, um sich zu beherrschen. Dann richtete er sich auf und sagte: „Ich kenne meine Pflichten als Staatsbürger. Ich bin bereit, der Polizei zu helfen.“ Er ging einen Schritt auf den Tisch zu und beugte sich nieder. Er betrachtete das Gesicht des Toten, richtete sich dann wieder auf und lehnte sich an den Tisch. Einer der Polizisten bot ihm eine Flasche Whisky an und Clarkson trank sie halb leer. „Ich danke Ihnen“, sagte er. „Der Whisky hat mir gutgetan.“ Dann wandte er sich an Cummings. „Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich diesen Mann sehe“, erklärte er. „Was bedeutet das? Wie kommt diese Leiche hierher?“ „Das wollen wir gerade herausbekommen“, antwortete der Inspektor. „Der Tote heißt Clay Dexter und ist Mineningenieur. Sagt Ihnen das gar nichts?“ „Absolut nichts“, versicherte Clarkson und schüttelte verwirrt den Kopf. „Was soll mir das sagen?“ „Black!“ rief Cummings, „wo ist der Brief, den wir in der Hand des Toten gefunden haben?“ „Hier, Chef“, sagte einer der Polizisten und zeigte auf den Tisch. „Öffnen Sie ihn mit einer Pinzette, damit ihn Herr Clarkson lesen kann.“ Er wandte sich an diesen: „Bitte berühren Sie ihn nicht mit der Hand.“ Clarkson beugte sich über das Papier und las:
„Herr Dexter! Wer garantiert mir, daß dies die letzte Summe Geldes ist, die Sie von mir verlangen? Wie kann ich die Sicherheit haben, daß ich nicht mein ganzes Leben lang Ihren Forderungen ausgesetzt bin? Wenn Sie mich davon überzeugen können, daß Sie mich in Frieden lassen werden, wenn ich Ihnen diese Summe gebe, dann ist es möglich, daß wir zu einer Einigung gelangen. Ich erwarte Sie morgen abend um halb neun in meinem Büro. Vielleicht werden wir uns doch noch verständigen.“ Der Brief war von Laurel Donovan unterschrieben. Es war seine richtige Unterschrift, denn Clarkson hatte sich in weiser Voraussicht von seinem Vetter eine Blancounterschrift geben lassen, falls er sie einmal für eine geschäftliche Transaktion benötigen sollte. In Wirklichkeit war die Unterschrift das Unglaublichste an der ganzen Botschaft. Man mußte sehr unvorsichtig sein, ein Schreiben solchen Inhalts zu unterzeichnen. Der Text an sich, in Maschinenschrift, war deutlich genug, um seine Bedeutung zu verstehen, und zu dunkel und undurchsichtig, um wahrscheinlich zu wirken. Clarkson hatte dies alles bedacht, als er ihn aufsetzte. Nachdem er den Brief gelesen hatte, sah er Cummings an und sagte tonlos: „Erpressung! Das kann nichts anderes als Erpressung sein! Aber was sollte denn Donovan zu verbergen haben?“ „Quellen“, sagte Cummings. „Quellen …? Ich verstehe nicht!“ „Wissen Sie, ob Herr Donovan in Texas Eigentum besitzt?“
„Ja, er hat dort Eigentum“, antwortete Clarkson. „Ich war einmal vor vielen Jahren mit ihm drüben.“ „Was halten Sie von dem Grundstück?“ „In welchem Sinne?“ „Ist es sehr wertvoll?“ „Ich glaube nicht. Ich glaube auch nicht, daß ihm Donovan irgendwelchen Wert beimaß.“ „Es gibt viel Petroleum in Texas. Halten Sie es für möglich …?“ „Bah! Petroleum!“ rief Clarkson verächtlich aus. „Dort gibt es kein Petroleum.“ „Verstehen Sie etwas davon?“ fragte der Inspektor sanft. „Nicht das geringste! Aber … man braucht nichts davon zu verstehen, um zu begreifen, daß es dort kein Petroleum gibt. Warum sagen Sie das?“ „Es könnte das Motiv für die Erpressung sein, deren Opfer Donovan wurde, und zugleich eine Erklärung, warum er ein für allemal damit Schluß machen wollte.“ „Zunächst“, sagte Clarkson, „gibt es nicht den geringsten Beweis dafür, daß die Unterschrift Donovans echt ist.“ „Haben Sie sie nicht selbst erkannt? Glauben Sie, daß sie gefälscht sein könnte?“ „Sie scheint allerdings echt zu sein“, antwortete der Mann. „Aber ich traue der Sache nicht. Es gibt Leute, die Unterschriften sehr geschickt zu fälschen verstehen.“ „Aber einen Schriftsachverständigen kann man nicht täuschen. Darüber werden wir bald keinen Zweifel mehr haben. Was wollten Sie noch sagen?“ „Wer weiß, daß es ausgerechnet Donovan gewesen ist, der diesen Mann getötet hat?“ „Wer beweist das Gegenteil? Der Brief, den wir gefunden haben, deutet auf den Beweggrund und …“ „Glauben Sie“, unterbrach Clarkson, „daß Donovan so
dumm gewesen wäre, diesen Mann in seinem eigenen Büro zu töten und ihm den kompromittierenden Brief auch noch zu lassen?“ „Das ist natürlich eine Dummheit“, gab der Inspektor zu. „Aber alle, die ein Verbrechen begehen, machen Fehler. Wenn es nicht so wäre, würde die Polizei keinen Täter fassen. Im gegenständlichen Falle verlor Donovan die Nerven, als er merkte, welche Drohung über seinem Haupte schwebte. In seiner Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein, als sich mit dem Mann in seinem Büro zu verabreden. Vielleicht dachte er zuerst nicht daran, ihn hier zu töten. Aber irgendein Wort Dexters hat ihn vielleicht zu dieser Wahnsinnstat getrieben und ihn gezwungen, einem Impuls zu folgen. Als er sein Opfer dann zusammenbrechen sah, merkte er erst, was er getan hatte. Panik ergriff ihn. Er floh, ohne noch an etwas zu denken …“ „Ich bin sicher“, sagte Clarkson, „daß es nicht so gewesen ist. Wenn Sie ihn finden …“ „Wenn wir ihn finden, wird er beweisen müssen, was er von dem Augenblicke an machte, als er sein Haus verließ. Der Arzt hat festgestellt, daß Dexter etwa zwölf Stunden tot ist. Das paßt alles zusammen. Wissen Sie übrigens darüber etwas?“ Cummings entnahm seiner Tasche einen großen Umschlag, in dem mehrere Blätter steckten. Clarkson las die Dokumente, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und riß entsetzt die Augen auf. Es handelte sich um die Gründung einer Petroleumgesellschaft, die die angeblichen Quellen auf dem Grundstück Donovans in Texas ausbeuten sollte. Dabei lag das Gutachten des ermordeten Ingenieurs. „Aber … aber …“ murmelte Clarkson, „das ist ja
unglaublich! Wo haben Sie denn diese Papiere gefunden?“ „Im Schreibtisch Herrn Donovans. Behaupten Sie noch immer, nichts von dieser Sache zu wissen?“ „Ich weiß nicht nur nichts davon, sondern ich halte es überhaupt für unmöglich, daß Donovan sich jemals zu einem solchen Schritt hergegeben hätte.“ „Man sieht aber doch ganz klar, daß er diese Absicht hatte. Sind Sie jetzt bereit, mit mir über die Finanzverhältnisse der Gesellschaft zu sprechen? Sie werden mir viel Arbeit ersparen. Denn ob Sie nun wollen oder nicht, wir müssen das sofort feststellen.“ „Die Voraussetzungen haben leider inzwischen gewechselt“, antwortete Clarkson. „Ich wußte nicht ein Wort von all diesen Machenschaften. Und noch weniger, daß ein Mord begangen wurde. Ich muß nunmehr gestehen, daß die finanzielle Situation des Unternehmens viel zu wünschen übrig läßt.“ „Hat es Geld verloren?“ „Ja.“ „Seit wann?“ Clarkson zögerte: „Es dürfte sich um eine längere Zeitspanne handeln.“ „Warum machen Sie solche Umschweife, statt offen zu antworten? Sprechen Sie doch deutlich. Wie ist die genaue Lage des Geschäftes?“ „Das Haus steht am Rande des Abgrunds.“ „Jetzt beginne ich alles zu verstehen“, sagte Inspektor Cummings mit einem Seufzer der Erleichterung. *
* *
6. Kapitel DER SIEG CLARKSONS An jenem Abend, als der Mord geschah, befand sich Laurel Donovan um halb acht Uhr in dem Arbeitszimmer seines Hauses und studierte die Kontoauszüge, die er mitgenommen hatte. Da schrillte das Telephon. Es war Clarkson, der anrief, und seiner Stimme nach schien er sehr erregt zu sein. „Laurel!“ sagte er. „Es ist notwendig, daß ich dich sofort spreche! Ich habe eine furchtbare Entdeckung gemacht! Etwas, was ich nie für möglich gehalten hatte. Kannst du ins Büro kommen?“ „Worum handelt es sich?“ fragte Laurel mißtrauisch. „Das kann ich dir am Telephon nicht mitteilen. Nimm ein Taxi und komm sofort hierher. Es ist äußerst wichtig! Die Sache ist schlimmer, als du dir denken kannst. Kann ich dich bald erwarten?“ „Ja, ich komme sofort. Aber …“ „Sage niemandem ein Wort. Es hängt alles davon ab. Auf Wiedersehen, Laurel!“ Donovan verließ mit größter Besorgnis sein Haus, und sagte nicht einmal seiner Frau, wohin er ginge. Er sah ein Taxi vorbeikommen und hielt es an. Er machte den Schlag auf und wollte einsteigen. Da sah er, daß der Wagen bereits besetzt war. Es blieb ihm aber keine Zeit mehr, vom Trittbrett zurückzutreten. Ein paar eiserne Hände faßten nach ihm und zogen ihn hinein, während man ein Tuch mit Chloroform vor sein Gesicht preßte, ehe er auch nur einen Hilfeschrei ausstoßen konnte. Die beiden Männer, die im Taxi saßen, legten den be-
wußtlosen Donovan auf den Boden und spähten durch die Fenster, um sich zu vergewissern, daß niemand diesen Vorfall bemerkt hatte. „Fesseln wir ihn?“ fragte der eine halblaut. „Nein. Von dem Chloroform, das er geschluckt hat, dürfte er für eine Weile genug haben. Außerdem ist es besser, wenn er nicht gefesselt ist, sobald wir mit ihm aussteigen. Hast du den Whisky?“ Der Angeredete holte eine Flasche hervor, die er über dem Anzug Donovans ausschüttete. Das Auto hielt erst, bis es an eine abgelegene Stelle des Kais gekommen war. Dort stiegen die beiden Männer aus und nahmen ihren Gefangenen zwischen sich, so daß es aussah, als hülfen sie einem Betrunkenen. Im Dunkeln erwartete sie ein Boot. Der Mann, der darin saß, nahm den scheinbar Alkoholisierten in Empfang, ebenso das Geld, das ihm die anderen gaben, und fuhr dann in Richtung eines Motorseglers davon, der außerhalb des Hafens ankerte. Es schien, als hätte dieses Schiff nur auf jenen Passagier gewartet, denn kaum war Donovan an Bord, lichtete es die Anker und fuhr den Fluß hinab. Als Laurel wieder zu sich kam und sein Kopf etwas klarer wurde, befand er sich in einer kleinen, schmutzigen Kabine, deren Tür von außen verschlossen war. Als er durch das Bullauge schaute, gewahrte er, daß es zu tagen begann und sie auf hoher See waren. Er trommelte gegen die Tür der Kabine, aber niemand kümmerte sich darum. Er rief, aber niemand kam. Als er schließlich müde wurde, ließ er sich auf das eiserne Bett fallen und überließ sich seinen trüben Gedanken. Er war in eine Falle gegangen, und noch dazu auf die dümmste Weise der Welt. Bei seinem vorgefaßten Miß-
trauen war es unverzeihlich, daß er sich derartig von seinem Vetter täuschen lassen konnte. Der telephonische Anruf hatte ja nur deshalb stattgefunden, um ihn aus dem Hause in das nächste Taxi zu locken, das bereits mit zwei Männern in der Nähe auf ihn gewartet haben mochte. Wenn er bisher noch Zweifel an der Schuld Kenneths gehabt hatte, so waren diese jetzt völlig geschwunden. Aber … was wollte man mit ihm anfangen? Was hatte man davon, wenn man ihn entführte? Sobald er wieder frei war, konnte er nicht nur gegen seinen Vetter vorgehen, sondern dieser hatte sich sogar noch eines neuen Verbrechens schuldig gemacht. Sobald er wieder frei war …? Warum aber sollte man ihn freilassen? War es nicht einfacher, ihn gleich zu liquidieren? Ihn schauderte, als er daran dachte. Nein, das war nicht möglich! Kenneth mochte ein Lump, ein Betrüger, ein Hochstapler sein … aber ein skrupelloser Mörder? Doch warum nicht …? Wer hatte eine Ahnung von dieser Entführung? Nicht einmal Laurels Frau wußte, wohin er gegangen war. Er hatte ihr ja nicht einmal gesagt, daß Kenneth ihn angerufen hatte. Wenn er also vollkommen verschwand, wer würde dieses Verschwinden mit Kenneth in Zusammenhang bringen? Je mehr Donovan darüber nachdachte, desto stärker kam er zu der Überzeugung, daß seine Entführer ihn töten und ins Wasser werfen würden, sobald sie weit genug von den normalen Schiffsrouten entfernt waren. Man würde nicht einmal seine Leiche finden, denn man brauchte ihn ja nur an einer Stelle ins Wasser zu werfen, wo es von Haifischen wimmelte. Endlich kam die Sonne hervor und beleuchtete mit ih-
ren noch bleichen Strahlen das Innere der kleinen Kabine. Draußen hörte man Schritte. Ein Riegel quietschte. Die Tür öffnete sich weit. Donovan, der alle Kräfte zusammengenommen hatte, um sich auf den ersten zu stürzen, der hereinkam, beherrschte sich. Man war offenbar nicht gekommen, um ihn zu töten, noch nicht. Ein untersetzter Seemann erschien am Eingang, mit einem rauchenden Kaffeekrug in der einen und einem Stück Brot in der anderen Hand. „Nehmen Sie“, sagte er zu Laurel. Dieser zögerte einen Augenblick, aber dann griff er zu. „Wohin bringt man mich?“ fragte er. „Was hat man mit mir vor? Warum wurde ich entführt?“ „Sie fragen zu viel, mein Freund“, antwortete der andere. „Ich weiß kein Wort, und wenn ich etwas wüßte, würde ich es Ihnen sicher nicht sagen. Ich habe den Befehl erhalten, Ihnen zu gewissen Zeiten Essen zu bringen, und alles andere interessiert mich nicht.“ „Ich möchte mit dem Kapitän sprechen!“ rief Donovan. „Sie haben zu viele Wünsche“, antwortete der Seemann. Und ohne Laurel Zeit zu lassen, weitere Fragen zu stellen, verließ er die Kabine. Die Tür schloß sich und wieder quietschte der Riegel. Donovan hob den Arm und ließ ihn resigniert wieder sinken. Selbst wenn er stundenlang gegen die Tür schlug, würde er damit nichts erreichen. Da war es schon besser, die Kräfte zu sparen. Zum ersten Male verspürte er richtigen Hunger. Er aß gierig das Brot und trank den ganzen Kaffee. Er betrachtete den leeren Krug und stellte ihn auf den Boden. Wenn es zum Äußersten kam, dann war dieses Gefäß immer noch besser als die bloßen Fäuste.
Er fühlte sich jetzt nicht mehr so niedergeschlagen und überlegte mit größerer Ruhe. Was auch immer die Absichten seiner Entführer sein mochten, im Augenblick wollten sie ihn offenbar nicht töten. Die Lage war verzweifelt, aber die Hoffnung verliert man nur mit dem Leben. *
* *
Der Matrose, der für die leibliche Betreuung der Gefangenen zu sorgen hatte, hieß Bill O’Lara. Wenigstens hatte er sich am dritten Tage der Seereise unter diesem Namen zu erkennen gegeben. Er war etwa vierzig Jahre alt und hatte sicherlich bessere Zeiten erlebt als auf diesem „Seelenverkäufer“, wie er das Schiff, das sie trug, heimlich benannte. Laurel Donovan hatte zunächst vergeblich versucht, mit seinem Wächter ins Gespräch zu kommen. Bill hielt sich streng an die Weisungen des Kapitäns, daß dem Gefangenen keinerlei Auskünfte erteilt werden dürften. Erst allmählich lockerten sich die Hemmungen, die er sich im Verkehr mit Laurel auferlegt hatte. Bill war sich allerdings klar darüber, daß „Käptn“ Sandy mit dieser Umgehung seiner Befehle nicht einverstanden gewesen wäre, aber da der „Alte“ davon ja nichts erfuhr, glaubte der Matrose, getrost dieses Risiko eingehen zu können. Es war am fünften Tage der Gefangenschaft, daß Laurel Donovan, als Bill mit der Essenschüssel erschien, wieder einmal die Frage stellte: „Wohin wollt ihr mich bringen? So sagen Sie doch endlich ein Wort darüber.“ Bill O’Lara setzte die Schüssel auf dem kleinen Tischchen ab und steckte die Hände in die Taschen seiner wei-
ten Hose. „Ich habe Ihnen schon einmal mitgeteilt, daß es keinen Sinn hat, solche Fragen zu stellen“, sagte er bedächtig. „Außerdem weiß ich selbst nichts davon. Wir haben Sie an Bord genommen und sind dann mit unbestimmtem Ziel ausgelaufen. Nur der Käptn weiß darüber Bescheid.“ „Dann will ich mit ihm reden“, rief Laurel beschwörend. Bill lächelte ein wenig einfältig. „Ich glaube kaum, daß er Ihrem Wunsch Folge leisten wird. Mit Verbrechern unterhält sich unser ehrenwerter Chef nicht gerne.“ „Ich bin doch kein Verbrecher!“ schrie Donovan aufgebracht. „Psst!“ machte Bill ängstlich und legte den Finger an die Lippen. „Die Wände haben Ohren. Ich rede ohnedies schon viel zu lange mit Ihnen. Aber warten Sie, heute abend, wenn der ,Alte’ in der Kajüte seinen gewohnten Rausch ausschläft, komme ich auf einen kurzen Plausch zu Ihnen herein. Erzählen Sie mir dann ganz kurz, wieso man Sie auf dieses dreimal verfluchte Schiff gebracht hat.“ Tatsächlich kam Bill am Abend wieder. Er brachte den Kaffeekrug und ein hartes Stück Brot, wozu er aus den unergründlichen Taschen seiner weiten Hose noch ein Stück Kautabak legte. Donovan war von der Hilfsbereitschaft dieses einfachen Mannes gerührt und neue Hoffnung begann sein einsames, verbittertes Herz zu erfüllen. In hastigen, abgerissenen Sätzen schilderte er nun sein Schicksal und der Matrose hörte ihm mit sichtlichem Interesse zu. Als er geendet hatte, sagte Bill ergriffen: „Nun, Ihnen hat man ganz schön mitgespielt. Schätze, daß der ,Alte’ für die Gefälligkeit, Sie auf einen Seelenverkäufer übernommen zu haben, eine ganz schöne Stange Geldes eingesackt haben dürfte.“
„Hören Sie zu“, bat Laurel flehend. „Ich bin noch immer ein sehr reicher Mann, selbst wenn die scheinbaren Verluste meiner Firma auf Wahrheit beruhen sollten, was ich aber nach den letzten Vorgängen mit Recht bezweifle. Ich biete jedem, der mir hilft, aus dieser verzweifelten Lage herauszukommen, bare hunderttausend Dollar, und …“ „Wieviel?“ fragte Bill und riß den Mund auf, da er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Hunderttausend Dollar“, wiederholte Donovan. Bill O’Lara kratzte sich den wolligen Schädel. „Das ist eine ganz schöne Summe, Herr“, sagte er anerkennend. „Aber die Sache ist verteufelt schwierig. Wir sind bereits auf hoher See. Bis zur Küste haben wir mindestens zweihundert Meilen und die Entfernung wird jeden Tag größer.“ „Wie groß sind die Rettungsboote, die an Bord sind?“ fragte Donovan hastig. „Wir haben nur zwei und eines davon ist leck. Das andere ist eine normale Jolle, in der man zur Not noch einen Mast setzen und ein kleines Segel hissen kann.“ „Wir müssen dieses Boot nehmen“, rief Laurel aus. „Ich nehme an, daß wir, sofern uns die Flucht gelingt, sehr bald auf ein Schiff stoßen werden, das uns auffischt. Diese Route wird doch sicherlich von verschiedenen Passagierlinien befahren.“ „Allerdings“, sagte Bill. „Trotzdem ist es ein unerhörtes Wagnis. Wir müssen doch auch etwas Proviant mitnehmen. Und zu diesem Zweck muß ich mindestens noch einen Mann in den Plan einweihen. Ich denke dabei an den Koch, der mir aus der Kombüse ein paar Konservendosen, ein Fäßchen mit Trinkwasser und einige Pakete Trockenbrot geben könnte. Er wäre vielleicht auch der Geeignete, der mir helfen müßte, um das Boot flott zu
machen und aufs Wasser zu bringen. Allein werde ich damit nie fertig.“ Laurel Donovan verhehlte sich nicht, daß die Einbeziehung eines zweiten Mitwissers dem Gelingen des Fluchtplanes neue Schwierigkeiten bot. Andererseits sah er ein, daß Bill außerstande war, das Vorhaben allein zur Ausführung zu bringen. „Nun gut“, sagte er endlich. „Falls Sie den Koch für wirklich verläßlich halten, dann weihen Sie ihn in unsere Absichten ein.“ Am nächsten Tag kehrte Bill um die Mittagszeit etwas niedergeschlagen zu Laurel Donovan zurück. „Es tut mir leid, Herr“, sagte er demütig, „aber ich hätte nicht gedacht, daß dieser Bursche so zäh und unnachgiebig ist. Er verlangt für die Mitwirkung an Ihrer Befreiung zweihunderttausend Dollar. Außerdem stellte er die Bedingung, daß wir ihn mitnehmen müssen, wenn wir flüchten.“ Laurel Donovan erschrak. Die Höhe der Geldforderung gab ihm weniger zu denken, wie die Tatsache, daß nun drei Mann in dem kleinen Boot sein würden. Dies bedeutete eine Erhöhung des mitzunehmenden Proviants und außerdem die Gefahr persönlicher Reibereien, wenn sie längere Zeit ohne Hilfe auf dem Meer treiben würden. Andererseits war eine zusätzliche Arbeitskraft in der Bedienung der Ruder nicht zu unterschätzen. Donovan fügte sich deshalb auch diesem Vorschlag. Um Bill jedoch nicht gegenüber dem anderen zurückzusetzen, erhöhte er auch dessen Prämie auf zweihunderttausend Dollar. Der Matrose schien entzückt zu sein, als er davon hörte. „Herr“, rief er begeistert aus, „wir lassen uns für Sie in Stücke schneiden. Nun geht alles klar. Ich schätze, daß wir spätestens übermorgen nacht die Flucht wagen können.“ Laurel besprach mit Bill noch weitere, ihm wichtig er-
scheinende Einzelheiten. Vor allem drängte er darauf, daß ein Kompaß und ein Reservesegel mitgenommen würden. Auch eine Leuchtpistole könnte ihnen, sofern man sie aufzutreiben in der Lage war, sehr zustatten kommen. Der Matrose versprach, mit Hilfe des Kochs diese Ausrüstungsgegenstände zu beschaffen. Am Vortage vor der vereinbarten Flucht erschien Bill zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit in der Kabine des Gefangenen. Er war sonst immer nur früh, mittags und abends gekommen, um Laurel das Essen zu bringen, diesmal aber kam er am frühen Nachmittag und schien sichtlich erregt. „Herr“, sagte er atemlos, „der Koch hat einen ganz besonders intelligenten Plan, der es ermöglichen würde, daß wir die Flucht mit der Jolle gar nicht wagen müßten.“ Laurel hob erstaunt die Augenbrauen. „Tatsächlich“, berichtete Bill O’Lara, „ist diese Idee wirklich hervorragend. Der Koch meint nämlich, daß es doch gelingen müßte, die ganze Mannschaft zur Meuterei gegenüber dem Kapitän und den beiden Offizieren zu bewegen. Wir würden die drei dann hier im Zwischendeck festsetzen, das Schiff zurücksteuern und Sie könnten dann mit den Behörden an Land alles Weitere in Ordnung bringen. Ist dieser Plan nicht großartig?“ Laurel Donovan wiegte nachdenklich den Kopf. „Wie stark ist die Besatzung?“ fragte er. „Siebzehn Mann und drei Offiziere.“ „Und diese siebzehn werden alle mitmachen?“ „Der Koch ist davon überzeugt.“ „Hat er etwa schon mit jemandem darüber gesprochen?“ fragte Laurel. „Nein. Er meinte, ich solle zuerst mit Ihnen reden. Natürlich müßten auch die Meuterer gewisse Prämien erhal-
ten. Er sagte, insgesamt dürfte Ihnen diese Befreiung auf etwa eine Million Dollar kommen.“ Laurel Donovan runzelte die Stirn. Plötzlich sah er ganz klar. Der Koch war ein geldgieriger Schurke, der bloß alles daransetzte, um selbst möglichst viel Geld bei diesem Unternehmen zusammenzuraffen, und der einfältige Bill war dabei sein ahnungsloses Werkzeug. Es war unmöglich, die Dinge weitertreiben zu lassen, solange dieser Schurke seine Hände im Spiele hatte. „Geben Sie gut acht, Bill“, sagte Donovan mühsam beherrscht. „Sie übersehen die Zusammenhänge vielleicht nicht so wie ich. Aber diese Flucht wird niemals glücken, wenn wir derart viele fremde Leute in unsere Pläne einweihen. Ich halte die Idee einer Meuterei für schlecht und gefährlich, denn möglicherweise ginge es dabei nicht ohne Blutvergießen ab. Das aber möchte ich unter allen Umständen vermeiden. Ich hege auch berechtigtes Mißtrauen gegen den Koch und dessen dunkle Absichten. Der Mann ist nicht ehrlich, Bill, und es war vielleicht ein großer Fehler, daß wir uns bereits so weit mit ihm eingelassen haben. Nun bleibt uns nichts anderes übrig, als die Flucht um einige Tage zu verschieben und so zu tun, als hätten wir es uns anders überlegt. Ich bin überzeugt, daß der Koch dann klein beigeben und sich unseren Anordnungen fügen wird.“ Der Plan Laurel Donovans ergab bereits innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden den gewünschten Erfolg. Als Bill nämlich am Abend des darauffolgenden Tages das Essen brachte, berichtete er: „Der Koch ist mit allem einverstanden, was wir beschlossen haben. Heute nacht, kurz nach ein Uhr, wenn der ,Alte’ die Brückenwache dem Ersten Offizier überläßt, können wir die Sache machen. Das Boot ist bereits verproviantiert, auch
Kompaß und Reservesegel sind beschafft. Der Koch meint, daß er die Leuchtpistole aus der Kajüte des Alten klauen kann, wenn er diesem den Abendgrog bringt.“ „Ausgezeichnet“, sagte Laurel erfreut, aber seine Begeisterung klang nicht ganz echt. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß nicht alles so glatt gehen würde, wie es nun den Anschein hatte. „Der Koch wird Sie kurz nach ein Uhr hier abholen“, sagte Bill hastig. „Zu dieser Zeit haben wir bereits das Boot ins Wasser gelassen und ich warte darin längsseit. Ich würde Sie ja gerne persönlich abholen, aber ich denke, daß mein Platz im Boot wichtiger ist. Vermeiden Sie jedenfalls den Hauptgang, aber ich habe ja dem Koch schon eingeschärft, wie er Sie an Deck bringen soll. Es sind keinerlei Überraschungen zu befürchten. Vertrauen Sie nur auf uns, es wird alles in Ordnung gehen.“ Bill verschwand aus der Kajüte und Laurel Donovan blieb in seltsamer Erregung zurück. Er vermochte auch keinen Bissen des Essens anzurühren, das ihm der Matrose gebracht hatte. Schließlich zwang er sich doch dazu, da er an die Entbehrungen dachte, die ihnen möglicherweise bevorstehen würden, und daß sie mit dem mitgenommenen Proviant sehr sparsam umgehen müßten. Die Zeit verstrich im Schneckentempo. Da Donovan keine Uhr mehr besaß, vermochte er nur ungefähr abzuschätzen, wann es Mitternacht sein konnte. Er wartete dann noch geraume Zeit, aber nichts rührte sich. Plötzlich glaubte er an der Bordwand ein Schaben und Zerren zu vernehmen und schloß daraus, daß nun das Boot ins Wasser gelassen würde. Wenig später hörte er einen klatschenden Aufschlag, dem ein unterdrückter Schrei folgte. Laurels Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was hatte dies alles zu bedeuten?
Ungefähr zehn Minuten später vernahm er schleichende Schritte auf dem Korridor der Kajüte. Die Kabinentür wurde aufgesperrt, und ein vierschrötiger Mann trat ein, der eine blakende Laterne hochhielt. Er hatte häßliche, brutale Gesichtszüge und in seinen Augen funkelte ein seltsamer Triumph. „Ich bin der Koch“, sagte der bullenstarke Mann mit heiserer Stimme. „Sind Sie bereit, Mister Donovan?“ „Ja“, erwiderte Laurel gepreßt. Und plötzlich ergänzte er hastig: „Vorhin hörte ich einen Schrei. Ist irgend etwas passiert?“ „Was soll denn passiert sein?“ knurrte der Koch ungeduldig. „Los, kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bill wartet schon im Wasser auf Sie.“ Den hintergründigen Sinn dieser Worte sollte Laurel Donovan allerdings erst wenige Minuten später erfahren. Zu diesem Zeitpunkt lag er nämlich bereits halb betäubt in einer finsteren, übelriechenden Kammer, in die ihn der Koch auf dem Wege zum Oberdeck mit einem wuchtigen Schlag hineingestoßen hatte. Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein greller Lichtschein fiel auf den am Boden sich Krümmenden. Laurel hob blinzelnd die Augen und gewahrte einen fremden Mann, der ihn mit unverhohlenem Haß betrachtete. „Ich bin Käptn Sandy“, sagte der neue Besucher, „und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie den Rest der Reise in diesem sicheren Gewahrsam verbringen werden. Als Wächter habe ich einen meiner verläßlichsten Leute bestellt … den Koch. Er wird dafür sorgen, daß Ihnen das Vergnügen an weiteren Fluchtplänen vergehen dürfte.“ Laurel stöhnte. „Leider ist Ihr Freund Bill ins Wasser gefallen“, er-
gänzte der Kapitän grinsend. „Und in dieser Gegend gibt es sehr viele Haifische.“ Das war der Augenblick, in dem Laurel Donovan von einer Ohnmacht umfangen wurde, aus der er erst nach wochenlangem schwerem Nervenfieber erwachen sollte. Wieder einmal hatte Kenneth Clarkson gesiegt … *
* *
Die Erklärungen Kenneth Clarksons über die Situation des Hauses Donovan zeitigten wenigstens ein günstiges Ergebnis: die Polizei begnügte sich mit den Daten, die er ihr vermittelte, und verlangte nicht, die Bücher durch Sachverständige überprüfen zu lassen, wie Kenneth einen Augenblick befürchtet hatte. Vom polizeilichen Standpunkt aus gesehen, konnte der Fall gar nicht klarer liegen. Donovan hatte während geraumer Zeit Verluste gehabt, die ihn an den Rand des Ruins brachten. Diese finanziellen Sorgen waren sicher auch die seelischen Ursachen seiner Krankheit gewesen, und als er wieder langsam genas, wollte er mit einer verzweifelten Anstrengung seine zerrüttete Vermögenslage wieder in Ordnung bringen. Er erinnerte sich seines Besitzes in Texas, sah gewisse Möglichkeiten und bereitete einen großen Betrug vor. Auf seinen Wunsch hatte der Mineningenieur Dexter eine falsche Bescheinigung ausgestellt, die Laurel als Köder benutzen wollte. Er hatte offenbar die Absicht, eine Aktiengesellschaft zu gründen, sich von dieser seinen Besitz abkaufen zu lassen und dann seine eigenen Aktien auf den Markt zu werfen, sobald dies möglich war. Wenn die Petroleumgesellschaft sich lange genug hielt, bis er sich von ihr losgemacht und anderen die Sor-
gen aufgebürdet hatte, dann konnte er ruhig in Baltimore den Zusammenbruch abwarten, ohne daß ihn jemand belästigte. Die Tatsache, daß der Besitz einmal ihm gehört hatte, war nicht Beweis genug, daß ihn irgendein Gericht verurteilen konnte. Schließlich konnte er immer sagen, daß es nicht seine Schuld war, wenn ihn der Ingenieur betrogen hatte. Die einzige Möglichkeit, mit der Donovan offenbar nicht gerechnet hatte, bestand darin, daß Dexter ihn zum Opfer einer Erpressung machen könnte. Aber auch hierbei war er bereit gewesen, das Schweigen dieses Mannes zu erkaufen, wie aus dem Briefe hervorging, den man in der Hand des Toten gefunden hatte. Wahrscheinlich war Dexter während der Unterredung zu unverschämt aufgetreten, und Donovan fürchtete, daß zufolge dieser Überforderung alle seine Pläne ins Wasser fallen würden. Blind vor Zorn hatte er dann auf den Ingenieur geschossen. Daß es so und nicht anders gewesen sein mußte, und daß es kein vorbedachter Mord war, ging schon daraus hervor, daß Donovan geflohen war, ohne die Pistole mitzunehmen, mit der er das Verbrechen ausgeführt hatte. Ebenso war der kompromittierende Brief in der Hand Dexters zurückgeblieben. Und auch die Papiere über seine Pläne hinsichtlich der Gründung einer neuen Petroleumgesellschaft hatte er nicht vernichtet. Für alle diese Annahmen lagen Beweise vor. Das schlimmste Indiz war die Pistole. Auf ihr fanden sich Fingerabdrücke, zwar ein wenig verwischt, aber man konnte sie doch einwandfrei identifizieren. Sie stimmten nun genau mit jenen überein, die man im Hause Donovans auf persönlichen Gebrauchsgegenständen gefunden hatte. Die Schießsachverständigen hatten gleichfalls festgestellt, daß die Kugel, die dem Leben Dexters ein Ende
machte, aus der Pistole Donovans abgefeuert worden war. Außerdem war die Waffe auch noch auf den Namen Laurel Donovans im Register eingetragen. Nachdem die Polizei aus allen diesen Gründen von der Schuld des Geschäftsmannes völlig überzeugt war, wurden sofort Steckbriefe ausgesandt und überall nach dem Flüchtigen fieberhaft gefahndet. Lorna Donovan, deren Gesundheit sehr schwächlich war, konnte diesen Schicksalsschlag nicht ertragen. Sie wurde krank und starb zwei Monate später, ohne jedoch auch nur eine Sekunde lang an der Unschuld ihres Mannes gezweifelt zu haben. Clarkson, der bis zum letzten Augenblick seiner Base zur Seite gestanden war und sie zu trösten versucht hatte, machte nun einen Doppelvorschlag. Wenn die Behörden es gestatteten, war er bereit, die kleine Mavis zu adoptieren und auf Grund der Schätzung einer bevollmächtigten und sachverständigen Person wollte er das Geschäft seines Vetters mit der löblichen Absicht kaufen, es wieder auf die Höhe zu bringen, und so vermeiden, daß die Angestellten arbeitslos würden. Die Kaufsumme, die man festsetzen mochte, sollte auf den Namen der kleinen Mavis auf ein Konto eingezahlt werden, über das sie dann bei ihrer Großjährigkeit verfügen konnte. Die anständige Haltung Kenneths wurde von der ganzen Öffentlichkeit gelobt. Die Behörden erhoben keinen Einspruch, da Donovan bereits über ein Jahr unbekannten Aufenthalts war. Clarkson adoptierte also Mavis und erhielt das Geschäft seines Vetters für eine Summe, die, obgleich sie gering war, in zwölf Jahresraten abgezahlt werden konnte. Man einigte sich, daß Mavis einige Jahre mit einer Erzieherin in Florida bleiben sollte, damit sich der Skandal
verflüchtige, falls man Donovan noch finden und aburteilen würde. Aber alle Bemühungen der Polizei schienen vergebens. Donovan war wie vom Erdboden verschwunden. Allmählich vergaß man die ganze Angelegenheit, zumindest in der Öffentlichkeit, wenngleich die Polizei noch nicht alle Nachforschungen aufgegeben hatte. Donovan & Co. änderte den Namen, und die Filialen bekamen neue Leiter. Die Vorgänger hatten bereits genügend eingeheimst, um von ihren Renten leben zu können oder eigene Geschäfte zu gründen. Clarkson dachte nicht daran, ihnen die Gelegenheit zu geben, auch ihn zu betrügen, zumal er sie ja im Betretungsfalle nicht einmal anzeigen konnte. Als Mavis nach Beendigung ihrer Studien schon als junges Mädchen nach Baltimore zurückkehrte, zog sie in die prächtige Villa Clarksons in Peabody Heights ein. Kenneth hatte die Summe für das Geschäft bereits abgezahlt, und dank seiner Geschicklichkeit war es ihm gelungen, das Unternehmen wieder auf jene Höhe zu bringen, die es vor seinem Eintritt unter der Leitung seines Vetters eingenommen hatte. *
* * 7. Kapitel
DAS ECHO AUS DER VERGANGENHEIT Donovan & Co., nun in Clarkson Inc. umgetauft, hatte seinem neuen Besitzer große Gewinne abgeworfen. Dieser glaubte daher den Moment gekommen, sich von seinen
Geschäften zurückzuziehen und den Rest seines Lebens von seinem erworbenen Reichtum leben zu können. Das Normale wäre es gewesen, das Geschäft, so wie es war, zu verkaufen. Aber Clarkson tat die Dinge nie auf normale Weise. Seiner Meinung nach verlor ein Geschäft an Wert, wenn man es zum Verkauf anbot, da die Kapitalisten dazu neigen würden, zu glauben, daß die Gewinne dieses Geschäftes nicht so groß wären, wie es der Verkäufer glauben machen wollte. Die Art, wie Clarkson vorging, war so, wie man es von einem Manne seines Kalibers erwarten konnte. Es gelang ihm, die Aktien der Gesellschaft an die Börse zu bringen. Im ersten Vierteljahr veröffentlichte er eine Dividende, die den Spekulanten die Augen übergehen ließ. Niemals hatte eine ähnliche Aktie einen solchen Verdienst abgeworfen. Der Kurs stieg, aber man fand keine einzige Aktie auf dem Markt. Im zweiten Vierteljahr war die Dividende noch höher. Die Spekulanten begannen noch höhere Preise zu bieten, als sie öffentlich notierten, und um die Käufer noch mehr zu ermuntern, gab Clarkson durch einen Mittelsmann einige Aktien frei, die sofort veräußert wurden. Die eingeschlagene Taktik zeitigte den gewünschten Erfolg. Die Aktien stiegen weiter, und Clarkson warf langsam immer mehr Papiere auf den Markt, um den Appetit der Spekulanten zu nähren, jedoch nie genug, um diesen voll zu befriedigen, damit kein Rückschlag eintreten sollte. Auf diese Art verkaufte er nahezu die Hälfte aller Aktien zu unglaublichen Preisen. Jetzt blieb die Bühne frei für den zweiten Akt des Schauspiels. In gewissen Kreisen lief plötzlich das Gerücht um, daß die Möglichkeit bestünde, die Hälfte der Aktien der Clarkson Inc. zuzüg-
lich einer auf einen Schlag zu erwerben, was dem Käufer die absolute Kontrolle über die Gesellschaft gesichert hätte. Diesem Gerücht folgte ein anderes, daß ein gewisser Multimillionär bereits ein Angebot gemacht habe, welches jedoch zurückgewiesen worden sei. Dann versicherte man, daß diese Gerüchte nicht auf Wahrheit beruhten und die Aktien gar nicht verkauft würden. Es gab angeblich geheime Gründe, wonach sich ihr Besitzer nicht von den Papieren trennen wollte, Gründe, die mit gewissen Staatsplänen zusammenhingen. Ein Mittelsmann, der von einem ernsthaften Käufer befragt wurde, sagte aus, daß es eventuell doch möglich wäre, die Aktien zu erwerben, allerdings zu einem sehr hohen Kurs. Es gäbe da verschiedene Möglichkeiten … Als er an diesem Punkt angelangt war, schwieg er plötzlich, als habe er schon zuviel gesagt. Das Geplänkel ging hin und her, und schließlich wurde Clarkson den Rest seiner Aktien zu einem Preise los, den er auf normale Art nie und nimmer dafür erhalten hätte. Als er das erreicht hatte, trat er von seinem Posten als Direktor der Gesellschaft zurück und zog nach Peabody Heights, um dort von den Millionen zu leben, die er in so kurzer Zeit erworben hatte. Alles war wie am Schnürchen gegangen. Seine Träume hatten sich restlos erfüllt. Er war reich. Außerdem hegte er die Meinung, daß er weder von seinen alten Komplicen noch von sonst jemandem etwas zu befürchten hätte. Er lebte so lange in dieser Illusion, bis eines Tages sein Mayordomo erschien und ihm einen Besuch anmeldete. Clarkson nahm die Visitenkarte, die ihm der Diener auf einem silbernen Tablett überreichte. Er las: WILBOUR TERRACE
Das war der Name seines ehemaligen Buchhaltungschefs. „Was will der Mann?“ fragte er den Mayordomo. „Er weigert sich, es zu sagen, Herr. Er gibt an, daß er nur Ihnen persönlich den Zweck seines Besuches erklären kann. Im übrigen versichert er, daß es sich um etwas sehr Wichtiges und Dringendes handelt.“ „Sagen Sie ihm, daß ich ihn leider nicht empfangen kann, wenn er sich nicht etwas deutlicher erklärt.“ Der Mayordomo ging und kam in wenigen Minuten wieder. Er brachte eine zweite Visitenkarte. Auf dem Rücken stand mit Bleistift geschrieben: „Gegenstand des Besuches: Dexter usw … Wenn Sie mich nicht empfangen wollen, ist es auch gut. Sie werden ja wissen, was Sie zu tun haben.“ Clarkson runzelte die Stirn. „Dexter usw.“ und „Sie werden ja wissen, was Sie zu tun haben“! Gefährliche Worte in einem Augenblick, in dem er sich so sicher glaubte! War es möglich, daß dieser Mann irgend etwas erfahren hatte? Aber wann? Und wenn er es vom ersten Augenblick an gewußt hatte, warum schwieg er dann so lange? Er biß die Zähne aufeinander und sah seinen Mayordomo von der Seite an. Der Mann stand völlig unbeweglich und erwartete die Weisungen seines Herrn. Das Gesicht, das aus Holz zu sein schien, zeigte keinen Ausdruck. Wenn er die Botschaft auf der Karte gelesen und die darin enthaltene Drohung erraten hatte, so merkte man seinem Gesicht nicht das geringste davon an. „Myers?“ „Herr?“ „Sie werden genau fünf Minuten warten. Wenn diese
vorbei sind, lassen Sie Herrn Terrace in mein Arbeitszimmer. Verstanden?“ „Vollkommen, Herr.“ „Fünf Minuten, verstehen Sie? Keine weniger.“ „Jawohl, Herr.“ Der Diener ging. Clarkson verließ das Zimmer und begab sich in jenen Teil des Hauses, wo er ein kleines Büro eingerichtet hatte. Dort griff er nach dem Telephon und wählte eine Nummer. „Swinburn?“ fragte er. Die Antwort lautete bejahend. „Es ist etwas sehr Unangenehmes passiert. Höre genau zu, was ich dir zu sagen habe. Ich glaube mich nicht zu täuschen. Aber wenn ich mich geirrt habe, so macht es auch nichts.“ Er gab seinem ehemaligen Sekretär ein paar hastige Anweisungen. Dann legte er den Hörer wieder auf, gerade als an die Tür geklopft wurde. „Herein“, rief er. Die Tür öffnete sich. „Herr Terrace“, meldete der Mayordomo. Er trat beiseite und ließ den Besucher ein. Wilbour Terrace war ein großer, knochiger Mann, mit unstetem, huschendem Blick. Clarkson bot ihm einen Platz an. Er wartete, bis der Mayordomo sich zurückgezogen hatte, und fragte dann brüsk: „Was wollen Sie?“ „Erstens“, antwortete der andere, ohne sich einschüchtern zu lassen, „sind Sie nicht mehr mein Chef. Zweitens hoffte ich etwas höflicher empfangen zu werden, und drittens wollte ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß Leute wie Sie, denen ein einziges Wort die Existenz kosten
kann, sich nicht den Luxus leisten dürfen, einen Mann wie mich derart abweisend zu behandeln.“ Er ließ sich in einen Sessel fallen, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Clarkson ballte die Fäuste. Es schien, als wollte er sich auf Wilbour stürzen. Aber er beherrschte sich. „Sie sind mit Ihren Drohungen offenbar an die falsche Stelle geraten, mein Freund“, sagte er mühsam. „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie vorhaben, aber ich rate Ihnen, sich schnell zu rechtfertigen, ehe ich die Polizei rufe.“ Wilbour lächelte ironisch. „Ich glaube kaum, daß Sie Ihre Drohung wahrmachen werden, besser gesagt, ich bin sogar sicher, daß Sie es nicht wagen können. Aber ich werde Ihnen mit wenigen Worten den Grund meines Besuches erklären.“ „Darauf warte ich schon, seit Sie in mein Büro gekommen sind. Was wollen Sie also?“ „Viele Jahre lang, Herr Clarkson, bin ich ein ausgezeichneter Angestellter gewesen. Ich habe wie ein Kuli für Donovan & Co. geschuftet, und bin weiter nichts als ein Sklave, nachdem die Kompagnie in neue Hände übergegangen ist.“ „Habe ich Ihnen vielleicht einmal Ihr Gehalt nicht bezahlt?“ „Doch“, versicherte Terrace liebenswürdig, „das besorgten Sie immer. Aber Sie wissen, oder müßten es wissen, daß das Gehalt eines Buchhaltungschefs nicht dazu angetan ist, große Ersparnisse zu machen. Offen gesagt, ich glaube, ich verdiene eine anständige Pension.“ „Das können Sie Ihrem neuen Chef sagen. Sie vergessen, daß ich nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun habe.“ „Mein neuer Chef“, antwortete Wilbour und zündete
sich eine Zigarette an, „könnte mir diese Pension geben oder auch nicht. Ich zweifle aber daran, da er mich für zu jung halten wird, um schon Pensionsansprüche stellen zu können. Doch selbst wenn er es täte, würde diese Pension sicherlich zu klein ausfallen.“ „Das heißt also“, rief Clarkson entrüstet aus, „Sie verlangen, daß ich Ihnen diese Pension zahle?“ „Warum nicht?“ wollte der andere wissen. „Nach allem, was vorgefallen ist, schulden Sie mir ziemlich viel.“ „Ich schulde Ihnen etwas?“ rief Kenneth wütend aus. „Sehr viel sogar. Ich bin nämlich immer ein vorzüglicher Angestellter gewesen, wie ich bereits vorhin erwähnt habe.“ „Ich verstehe noch immer nicht, was Sie eigentlich wollen. Meine Geduld ist langsam erschöpft.“ „Ich glaube, Herr Clarkson, Sie werden sehr bald einsehen, daß Ihre Geduld viel größer ist, als Sie selbst jemals vermutet haben. Gestatten Sie, daß ich noch deutlicher werde?“ „Ich gestatte es Ihnen nicht nur, ich bestehe sogar darauf, da ich Ihnen sonst keine Minute länger zuzuhören gewillt bin.“ Der Besucher blies den Rauch seiner Zigarette durch die Nase und sagte: „Meine Liebe zur Arbeit hat mich oft, selbst ohne Wissen meiner Chefs, Überstunden machen lassen. Es ist wirklich ein Jammer, Herr Clarkson, daß Sie von diesen meinen Tugenden so gar nichts gewußt haben.“ Der andere antwortete nicht. Plötzlich stieg ein furchtbarer Verdacht in ihm auf. „Herr Clarkson“, fuhr Terrace genießerisch fort, „Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß Sie mir bei einer gewissen Gelegenheit ein paar Kontoauszüge
gaben, die uns von den Filialen zugesandt wurden. Ich fürchtete, daß dabei ein Irrtum unterlaufen sei, und ehe ich die Abrechnungen in die Bücher übertrug, beschloß ich, Sie zu befragen.“ „Und?“ sagte Clarkson heiser. „Als ich mich der Tür Ihres Büros näherte, hörte ich Stimmen … und verstand dabei auch einige Worte, die mich höchlichst überraschten.“ „Dann legten Sie Ihr Ohr ans Schlüsselloch, nicht wahr?“ stieß der andere zornig hervor. „Ich beging diesen Schicklichkeitsfehler, ich gebe es zu.“ „Ich nehme an, daß Ihnen das Gehörte zustatten kam.“ „Mehr als Sie sich denken können. Ich hörte, wie Sie Swinburn einige Weisungen gaben, und diese schienen mir so interessant, daß ich, von meiner Arbeitsliebe getrieben, gerade an den beiden Tagen Überstunden machte, an denen Sie die Besuche des Ingenieurs Clay Dexter erhielten. Ich gestehe, daß das Ergebnis des zweiten Besuches für mich geradezu eine Überraschung war. Ich hätte nie geglaubt, daß Sie so weit gehen würden. Glauben Sie nun, daß meine Geschichte interessant genug ist, um dafür eine sehr anständige Pension zu erhalten?“ „Ich glaube, daß Ihre Geschichte eher wert ist, daß man Sie dafür ins Gefängnis steckt, mein Freund“, entgegnete Clarkson eisig „Und das werde ich auch veranlassen, falls Sie mich weiter mit Ihrem Unsinn belästigen.“ „Anstatt also auf meine bescheidene Bitte einzugehen, drohen Sie bloß?“ sagte Wilbour nachdenklich. „Sie können versichert sein, daß ich diese Drohung sofort wahrmachen werde.“ „Welche Undankbarkeit!“ murmelte der andere, ohne auch nur die geringste Erregung zu zeigen. „Ich kenne
Ihr Geheimnis und schweige viele Jahre hindurch. Nun, im Notfalle, mache ich davon Gebrauch. Statt mir dafür dankbar zu sein, daß ich Sie so viele Jahre lang nicht belästigt habe, wollen Sie mich einsperren lassen. Ich hätte das eigentlich nicht von Ihnen erwartet, Herr Clarkson!“ „Sicher haben Sie das erwartet und sogar noch mehr, sonst hätten Sie mich schon längst angegriffen. Was würden Sie denn erreichen, wenn Sie diesen Unsinn der Polizei erzählen? Meinen Sie, daß man Ihren Worten Glauben schenken wird? Ganz abgesehen davon, daß man Sie für einen Komplicen halten könnte, weil Sie so lange geschwiegen haben.“ Wilbour lächelte, griff mit der Hand in die Tasche und zog einen Umschlag heraus. Diesem entnahm er einige Photographien und warf sie auf den Tisch. Clarkson erbleichte, als er sie betrachtete. Sie zeigten eine fast lückenlose Darstellung seiner Zusammenkünfte mit Dexter. Auf einem Bild erkannte man deutlich, wie er Clay Dexter die Hand drückte. Auf einem anderen saß er am Tische Donovans und hielt die rechte Hand in der Schublade, während Dexter sich gerade anschickte, nach einem Papier am Tisch zu greifen. Das dritte Photo war in dem Moment aufgenommen, als er mit dem Revolver auf Dexter zielte. Auf dem vierten brach Dexter zusammen, während sein Mörder noch die Pistole in der Hand hatte, und auf dem fünften lag Dexter auf dem Boden und Clarkson beugte sich gerade über die Leiche. „Gefallen Ihnen die Bildchen?“ fragte Terrace liebenswürdig. Clarkson stieß einen Wutschrei aus, ergriff die Photos und riß sie in Fetzen. „Vergebene Liebesmühe“, meinte der andere seelen-
ruhig und schüttelte den Kopf. „ich besitze ja die Negative.“ Einige Minuten lang ging Clarkson wie ein gehetztes Tier in seinem Büro hin und her. Dann blieb er plötzlich vor seinem ehemaligen Buchhaltungschef stehen. „Wieviel wollen Sie für diese Negative haben?“ fragte er mit erstickter Stimme. „Sie sind leider unverkäuflich. Ich verpflichte mich lediglich, sie weder zu veröffentlichen, noch den Behörden zu übergeben, falls Sie mir dafür eine bescheidene Pension zahlen. Ich möchte nämlich nicht mehr arbeiten.“ „Und Sie glauben, daß ich Ihnen eine Pension zahlen werde, wenn Sie mir diese Negative nicht sofort aushändigen? Welche Garantie habe ich denn, daß Sie sie nicht doch eines Tages gegen mich verwenden?“ „Die Pension“, antwortete Wilbour. „Die Garantie ist durchaus gegenseitig. Mich interessiert es nicht, die Photos zu verwerten, denn dann würde ich ja meine Lebensrente verlieren, und Sie werden mich stets pünktlich bezahlen, weil ich sonst die Bilder den Behörden übergeben werde.“ „Sie messen diesen Aufnahmen anscheinend zu viel Wert bei“, knurrte Clarkson. „Wenn Sie sie vorlegen, dann werde ich beweisen, daß es sich um lächerliche Photomontagen handelt.“ „Die Sachverständigen mögen entscheiden, ob sie das sind oder nicht.“ „Mit Geld …“ „Das wird Ihnen sehr wenig nützen, zumal ich außer diesen Photos auch noch schlüssigere Beweise vorbringen kann.“ „Welche?“
„Ja, das ist gar nicht so schwer, wie es scheint. Erinnern Sie sich daran, daß Herr Donovan für seine Korrespondenz ein Diktaphon benutzte? Ich nahm mir die Freiheit, es anzustellen, bevor ich mich versteckte. Fünf Zylinder tat ich hinein, die alle noch in tadellosem Zustand sind. Ich habe mir sie angehört. Man kann deutlich die Stimmen unterscheiden, sogar der Schuß kommt sehr eindrucksvoll zur Geltung. Werde ich nun meine Pension bekommen, Herr Clarkson, oder wollen wir lieber die Photos und Schallplatten auf ihre Wirksamkeit überprüfen lassen?“ „Welche Pension wollen Sie haben?“ „Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich sehr bescheiden bin. Sie zahlen mir fünftausend Dollar sofort, und dann zu jedem Monatsende genau tausend Dollar. Sie können mir das Geld zuschicken, oder ich kann es auch bei Ihnen abholen. Ganz wie Sie wünschen.“ „Wo haben Sie die Schallplatten?“ „Am gleichen Ort wie die Negative“, antwortete der Besucher lächelnd. „Sie verlangen entschieden zu viel.“ „Zu viel? Sie haben Millionen ergaunert. Ich könnte ruhig eine davon verlangen, und es würde Ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, als sie mir zu geben. Ich begnüge mich aber mit einer so lächerlichen Summe, und da feilschen Sie noch?“ Clarkson ging wieder erregt im Zimmer auf und ab. „Wozu haben Sie sich entschlossen?“ fragte Terrace, als er sah, daß Kenneth stehenblieb. „Zu gar nichts. Sie müssen mir Zeit lassen. Rufen Sie mich morgen um diese Stunde an, dann werde ich Ihnen meine Entscheidung mitteilen.“ Wilbour Terrace erhob sich.
„Bitte sehr“, sagte er, „aber vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen leider nicht länger Zeit lassen kann, als Sie selbst festgesetzt haben. Morgen um diese Stunde erwarte ich Ihre definitive Antwort.“ Es war noch keine Stunde vergangen, als das Telephon läutete. Es war Wilbour Terrace. „Clarkson?“ fragte er. Als dieser zögernd bejahte, fuhr er fort: „Ich habe mir die Sache auf dem Wege nach Hause überlegt. Damit du keine Dummheiten machst (Clarkson biß sich wütend auf die Lippen, als er hörte, daß er auf diese Art angesprochen wurde), will ich dir beweisen, daß ich keinen Unsinn gesprochen habe. Höre also zu.“ Terrace schwieg. Einige Sekunden hörte man nichts. Dann ertönte plötzlich eine Stimme, die Stimme Dexters! Ihr antwortete die Clarksons. Terrace ließ die Schallplatten durch das Telephon ertönen. Clarkson trocknete sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er stieß einen häßlichen Fluch aus. „Hat man alles gut gehört?“ fragte Terrace höflich. Clarkson ballte die Faust. Die Wut erstickte ihn beinahe, aber er fühlte sich gänzlich ohnmächtig. Deshalb sagte er, so ruhig er konnte: „Diese Komödie war überflüssig. Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich vor morgen nachmittag keine bindende Antwort geben kann.“ Kenneth Clarkson hatte kaum den Hörer aufgelegt, als er wieder angerufen wurde. Diesmal war es Swinburn. „Ich bin dem Mann gefolgt, wie Sie es befohlen haben. Ich kenne seine Adresse, was soll ich jetzt tun?“ „Er hat ein paar Negative und vielleicht auch einige Photos, die mich kompromittieren. Dann besitzt er einige
Diktaphonzylinder, im ganzen sind es fünf, die ich dringend benötige.“ Er ergänzte noch einige Einzelheiten und schloß dann: „Sondiere das Terrain. Heute nacht gehst du allein oder mit einem Vertrauensmann in sein Haus. Du mußt dich der Sachen bemächtigen und sie vernichten. Hast du mich verstanden?“ „Jawohl, Chef. Ich werde Sie benachrichtigen.“ Die Botschaft kam aber nicht von Swinburn, sondern von Terrace selbst, und zwar um die frühe Morgenstunde. Clarkson sprang aus dem Bett, als das Telephon schrillte. Er war sicher, daß sein ehemaliger Sekretär anrief und ihm eine gute Nachricht geben wollte. Deshalb war seine Enttäuschung furchtbar, als er die Stimme Wilbours hörte. Dieser sagte: „Ich habe soeben einen unerwarteten Besuch erhalten, Freund Clarkson. Ich nehme an, daß die beiden Maskierten, die in mein Haus eindrangen und mich mit dem Tode bedrohten, von Ihnen geschickt worden sind. Nein … leugnen Sie es nicht. Keiner außer Ihnen wußte, daß ich die Negative und die Zylinder besitze. Die Kerle suchten danach, aber sie fanden nichts. Dann fragten sie mich aus. Sie wollten mich vielleicht sogar umbringen, aber als ein Geräusch auf der Treppe zu hören war, flüchteten sie.“ „Ich verstehe kein Wort von dieser phantastischen Geschichte“, antwortete Clarkson. „Es muß offenbar noch ein anderer davon wissen. Wenn Sie glauben …“ „Ich glaube gar nichts … Ich habe dich nur angerufen, um dich zum letztenmal zu warnen. Es ist ganz unnütz, Leute in mein Haus zu schicken, um dieses zu durchsuchen. Hier wird niemand etwas finden. Ich weiß, wozu du fähig bist, und deshalb habe ich meine Maßnahmen
getroffen. Ich wiederhole, daß keiner die Beweise finden wird. Und wenn du glaubst, daß du mich zwingen kannst, das Versteck preiszugeben, dann täuschst du dich sehr. Ich habe alles sehr gut verwahrt, damit du mir pünktlich meine Rente zahlst. Je eher du dich mit dieser Tatsache abfindest, desto besser. Schicke mir also keinen Besuch mehr. Ich könnte böse werden und die Pension überhaupt zurückweisen. Du weißt wohl, was das bedeutet. Gute Nacht, Kenneth! Oder sollte ich lieber ,guten Morgen!’ sagen?“ Ein Knacken im Apparat zeigte dem fassungslosen Clarkson an, daß Terrace den Hörer aufgelegt hatte. *
* * 8. Kapitel
MAVIS BEKOMMT EINEN BRIEF Indessen wartete ein Mann auf einer Insel im Pazifischen Ozean auf die Erfüllung eines Versprechens. An seinen Gesichtszügen konnte man erkennen, daß es ein Weißer war. Aber die brütende tropische Sonne hatte seine Haut so dunkelbraun gegerbt, daß man ihn eher hätte für einen Eingeborenen halten können. Er ging barfuß, war beinahe nackt und trug eine Art Lendenschurz aus einem alten Lappen. Er hatte nahezu jede Zeitrechnung verloren. Er wußte nicht genau, wieviel Jahre und Monate verflossen sein mochten, seit ihn ein Schiff am Strande dieser Insel ausgesetzt hatte, nachdem er aus Baltimore entführt worden war. Er wußte auch nicht, wie lange die Überfahrt gedauert
hatte. Er wußte nur, daß er nach dem mißglückten Fluchtversuch während der meisten Zeit krank gewesen war. Als man ihn am Strand aussetzte, wäre er sicherlich gestorben, wenn ihn nicht einige Eingeborene gefunden und gesundgepflegt hätten. Sie behandelten ihn freundschaftlich und mit großem Respekt. Er lernte genügend Worte ihrer Sprache, um sich mit ihnen verständigen zu können. So erfuhr er, daß nur selten ein Schiff an diesen Strand kam. Er war der erste Weiße, den man in den letzten zehn Jahren auf dieser Insel gesehen hatte. Er verstand nicht, warum ihn Clarkson so weit hat fortbringen lassen, statt ihn schon unterwegs zu töten. Aber er fand sich mit seinem Schicksal ab und lebte allmählich so wie die Leute, die ihn aufgenommen hatten. Das war nicht schwer und es wäre sogar ganz angenehm gewesen, wenn er sich nicht unaufhörlich nach seiner Frau und nach seinem Töchterchen gesehnt hätte. Was mochte aus ihnen geworden sein? Was würde Clarkson getan haben? Ob er schon tot war? Wenn er sich wenigstens mit der Außenwelt hätte in Verbindung setzen können, um seinen Angehörigen eine Nachricht zu schicken … Die Eingeborenen besaßen Boote, aber diese waren sehr primitiv. Laurel verstand nicht genug von der Seefahrt, um eine lange Reise mit ihnen wagen zu können. Ohne zu wissen, wie er sich orientieren sollte, wäre es Selbstmord gewesen. Die Boote schienen überdies sehr zerbrechlich und gar nicht seetüchtig zu sein. Er wollte einige Eingeborene überreden, ihn nach einem zivilisierten Ort zu bringen. Aber keiner von ihnen hatte sich jemals von diesem Eiland entfernt. Sie hatten Angst und waren abergläubisch.
Eines Tages kamen nach der Insel Pui (es war dies der Name, den die Eingeborenen diesem Eiland gegeben hatten) zwei Polynesier in einem Boot. Es war – wie es schien – nicht das erstemal, daß sie hierherkamen, und die Einwohner der Insel umringten sie und bestürmten sie mit vielen Fragen. So erfuhr Donovan, daß jene beiden Männer von einer Nachbarinsel stammten und deshalb einen so großen Ruf genossen, weil sie den Wagemut besaßen, alle Inseln im Umkreis von hunderten Meilen zu besuchen. Sie blieben etwa eine Woche in Pui, und während dieser Zeit gelang es Donovan, ihr Vertrauen zu gewinnen. Er erfuhr, daß es viele Inseln um jenes Eiland gab, auf dem er sich befand. Sie sagten ihm auch einige Namen, von denen er keine kannte. Sie versicherten ihm, daß auf einer dieser Insel ein Weißer lebe, der ein Priester sei und sämtliche Zauberer besiegt habe. Donovan wollte wissen, ob Schiffe an jener Insel anlegten, von der sie ihm erzählt hatten. Tanehoi und Tanepaua sagten, daß dies geschehen wäre. Neue Hoffnung belebte Laurel. „Wollt ihr dorthinfahren?“ fragte er bebend. „Nein“, antworteten sie, „noch nicht. Eines Tages …“ Donovan gab sich damit nicht zufrieden. Er verlegte sich aufs Bitten. Ob sie ihn nicht mitnehmen wollten? Er hätte gar zu gerne wieder einmal mit einem Manne seiner Rasse gesprochen. Tanehoi sah jedoch keine Möglichkeit. Er und sein Kamerad mußten nach Hapaiti zurückkehren. Donovan verstand nicht, ob sie dort einem Fest beiwohnen wollten oder einer religiösen Zeremonie. Aber er begriff nach langem Hin und Her, daß Tanepaua zurückkommen, ihn holen und zu dem Weißen bringen würde.
Das war das Versprechen, dessen Erfüllung Donovan erwartete. Eine Woche lang begab er sich alle Tage an den Strand und spähte in die Richtung, in der die beiden Polynesier am Horizont verschwunden waren. Eine Woche verging und dann noch eine. Er glaubte schon, daß der Eingeborene sein Versprechen vergessen hätte, als er zu Beginn der vierten Woche in der Ferne ein Boot auftauchen sah. Er konnte die Mannschaft erst erkennen, als das Boot ganz in der Nähe von Pui war. Dabei erlebte er eine große Enttäuschung, denn der Mann, der nach ihm ausspähte, war ihm gänzlich unbekannt. Als dieser aber seinen Kopf seinem Begleiter zuwandte, erkannte er Tanepaua, der sein Versprechen nicht vergessen hatte. Es wäre langwierig, die Reise zu erzählen, die Laurel nun antreten sollte. Gewiß ist, daß Donovan nach vielen Tagen auf die Insel kam, auf der der weiße Priester lebte. Von diesem erfuhr er, daß er sich auf dem PaumotuArchipel, dreitausendfünfhundert Meilen von San Francisco entfernt, befand. Ab und zu kam ein Schiff von Tahiti, das nicht allzuweit abgelegen war. Von dort empfing der Priester zwei- oder dreimal im Jahre Briefe und Zeitungen, und mit einem dieser Schiffe konnte Donovan in die zivilisierte Welt zurückkehren, sofern er dies wollte. Laurel erzählte dem Priester seine Geschichte und die unsägliche Enttäuschung, die er erlitten hatte. Er sprach auch von seiner Frau und dem Töchterchen. Der Missionar meinte, daß sie vielleicht doch etwas über deren Schicksal erfahren könnten. Er bekam ja Zeitungen, obgleich diese stets mehrere Monate zurücklagen. Er warf aber nie ein Blatt weg und nahm sie nach einiger Zeit immer wieder vor, da er ja nichts anderes zu lesen hatte.
Laurel erinnerte sich genau des Datums, an dem er entführt worden war. Sie fanden Zeitungen aus jener Zeit, und der Unglückliche erfuhr so, daß die Polizei ihn wegen eines Mordes suchte, den er niemals begangen hatte. Als er weiterlas, erfuhr er gleichfalls zu seinem großen Schmerz, daß seine Frau gestorben war und Clarkson seine Tochter Mavis adoptiert hatte. „Wann kommt das nächste Schiff, Pater?“ wollte er wissen. „Ich weiß es nicht, mein Sohn, aber es kann nicht mehr lange dauern. Schon vier Monate ist keines mehr hier gewesen. Was gedenkst du zu tun?“ „Ich möchte so schnell als möglich in die Heimat gelangen.“ „Hast du auch die Folgen dieses Entschlusses bedacht?“ „Ich habe nur den Gedanken, meine Tochter wiederzusehen und diesen Elenden der Gerechtigkeit zu überantworten.“ „Du riskierst aber, sofort verhaftet zu werden, wenn du amerikanischen Boden betrittst. Ich glaube die Wahrheit deiner Geschichte, aber wird die Polizei dasselbe tun? Du besitzest doch keine Möglichkeit, deine Unschuld zu beweisen.“ „Was soll ich also tun?“ „Hier warten. Ich werde an Freunde schreiben. Wir wollen sehen, ob wir damit etwas erreichen.“ „Wenn ich hierbleibe, Pater, und darauf warte, bis Sie geschrieben und Ihre Freunde geantwortet haben, dann werde ich vorher sterben. Nein … ich muß fort. Sobald ich einmal drüben bin …“ „Dann wirst du ins Gefängnis kommen.“ „Nein, niemand wird mich erkennen. Ich werde mei-
nen Namen ändern, da ich weiß, was mich erwartet. Jetzt verstehe ich, warum Clarkson mich nicht töten ließ. Er hatte es gar nicht notwendig. Wenn es mir eines Tages doch gelingen sollte, von der Insel fortzukommen und nach Amerika zurückzukehren, würde man mich einfach verhaften. Trotzdem, ich werde bei der ersten Gelegenheit von hier fortfahren!“
„Ich kann dich nicht daran hindern, mein Sohn“, entgegnete der Priester. „Vielleicht vermag ich dir dabei sogar zu helfen. Außer dem Anzug, den ich dir gegeben habe, kann ich dich mit etwas Geld versorgen. Es ist leider nicht viel, du wirst nicht weit damit kommen.“ „Danke, Pater. Ich kann das nicht annehmen …“ Der Priester unterbrach ihn. „Du wirst mir diese kleine Summe schon eines Tages zurückgeben“, sagte er. „Hier brauche ich ja kein Geld. Ich habe es all die langen Jahre aufgespart.“ Er zog seine Brieftasche heraus und zählte Scheine. „Es sind knapp hundert Dollar“, sagte er demütig. „Ich werde mich schon damit durchschlagen, machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin stark, und Gott wird mich nicht verlassen.“ „Gott verläßt einen Gerechten niemals“, erwiderte der Missionar fest. Eines Tages legte endlich das ersehnte Schiff an, und Donovan fuhr darauf nach Tahiti. Dort erkrankte ein Trimmer auf dem Schiff, das nach Mexiko auslief, und Donovan trat den Posten dieses Mannes an. Die Arbeit war sehr hart, aber dank des Lebens, das er in den letzten Jahren geführt hatte, hielt er durch. In Salina Curz ging er an Land, ohne bisher einen Cent von seinem Geld angegriffen zu haben. Er arbeitete mehrere Monate lang, um sein geringes Kapital zu vermehren. Schließlich machte er in Cuba einen kleinen Laden auf, um so das Leben zu fristen, während er unablässig versuchte, mit seiner Tochter in Verbindung zu treten. *
* *
Als Mavis Donovan sich dem Zaun der Villa von Peabody Heights näherte, trat ein Mann auf sie zu, übergab ihr einen Umschlag und sagte geheimnisvoll: „Lesen Sie diesen Brief allein in Ihrem Zimmer. Sprechen Sie mit niemandem darüber und vernichten Sie ihn, sobald Sie ihn gelesen haben.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, und war wenige Sekunden später verschwunden. Neugierig und erregt von diesem seltsamen Abenteuer ging Mavis rasch in ihr Zimmer, schloß sich ein und öffnete den Umschlag. Sein Inhalt, der sehr kurz war, verwirrte sie. Er lautete: „Du bist in der Nähe des Ochikobi-Sees groß geworden. Ich weiß, daß Du aus Sentimentalität dieses Haus kauftest und es manchmal besuchst, um Dich Deiner Kindheit zu erinnern. Komm nach Florida. Deine Erzieherin, die heute das Haus am See hütet, ist eine gute, anständige Frau und besitzt ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Zeige ihr diesen Brief und sage ihr, daß es nicht wahr ist, daß ich tot bin. Sie wird Dir das Geheimnis erklären. Komme bald. Im Namen Deiner verstorbenen Mutter bitte ich Dich darum. Und bei allem, was Dir heilig ist, flehe ich Dich an, diesen Brief niemandem zu zeigen, außer Frau Higgins.“ Der Brief trug keine Unterschrift. Frau Higgins war die Erzieherin, die in dem Schreiben erwähnt worden war. Mavis wußte zunächst nicht, ob sie die Zeilen ernst nehmen sollte. Warum bargen sie soviel Geheimnisse? Weshalb wollte jener seltsame Unbekannte, daß sie ausgerechnet eine Reise nach Florida unternehmen sollte?
Sie überlegte, ob es sich dabei nicht um eine List handeln konnte, um sie nach einem einsamen Ort zu locken und zu entführen, denn in letzter Zeit waren viele solche Verbrechen vorgekommen. Dann aber bedachte sie, daß man, um dies zu bewerkstelligen, ja nicht erst eine so lange Reise zu inszenieren brauchte. Außerdem hatte sie das Lesen dieses kurzen Briefes irgendwie seltsam erregt. Es gab etwas darin, das Erinnerungen wecken wollte. Sie war jung, und die Jugend ist immer zu Abenteuern bereit. Das Geheimnis dieses Briefes zog ihn an. Und außerdem hatte sie Sehnsucht, das Haus wiederzusehen, wo sie lange Jahre ihrer Kindheit verlebt hatte. Beim Abendessen verkündete sie ihr Vorhaben. „Onkel“, sagte sie, „ich möchte gern ein paar Tage nach Florida fahren.“ Clarkson zog die Augenbrauen hoch. „Ist es nicht ein wenig früh dafür?“ fragte er. „Ach, es ist eine Laune von mir. Ich möchte gern Frau Higgins wiedersehen.“ „Dann fahre, wenn du große Lust hast“, sagte er. Mavis packte sofort ihre Handkoffer, holte den Wagen aus der Garage und machte sich allein auf den Weg. Mary Higgins, die schon sehr alt war, ohne dabei ihre Beweglichkeit verloren zu haben, empfing sie freudig. „Mavis! Ich habe dich gar nicht erwartet! Aber für deine Ankunft ist ja immer alles vorbereitet. Wirst du diesmal länger bleiben als gewöhnlich? Sonst fährst du ja immer so schnell fort!“ „Ja“, antwortete das junge Mädchen und umarmte sie. „Weißt du, was mir passiert ist? Ich bin wegen eines Briefes gekommen.“ „Wegen eines Briefes?“ sagte die Alte. „Wer hat dir denn geschrieben, meine Tochter?“
„Ich hoffe, daß du mir das sagen kannst.“ „Ich?“ „Ja, der Brief sagt, daß du das Geheimnis aufklären wirst.“ Mit diesen Worten zog sie das Schreiben hervor und reichte es der Alten. Diese entfaltete den Bogen und wurde bleich, als sie die Schrift sah. Sie las ihn mit fliegender Hast und warf dann, zum Erstaunen Mavis, die Arme um den Hals des jungen Mädchens und weinte. „Aber was ist denn los, Mary? Was hast du?“ rief das junge Mädchen verwundert aus. „Beruhige dich doch! Sage mir, was das alles zu bedeuten hat! Habe ich dir wehe getan, ohne es zu wollen?“ Die Frau trocknete ihre Tränen. „Ich weine nicht aus Schmerz, meine Tochter, ich weine vor Freude.“ Die Alte hob das Papier hoch. „Schau dir genau diese Schrift an, meine Tochter. Erinnert sie dich an nichts?“ „Seit dem Augenblick, in dem ich den Brief öffnete“, entgegnete das junge Mädchen, „habe ich das Gefühl, als würde er mich an etwas erinnern. So sehr ich mir aber auch den Kopf zerbreche …“ „Du hast diese Schrift nicht zum erstenmal gesehen, dein Unterbewußtsein hat sie festgehalten.“ „Von wem stammt sie?“ Mary Higgins schwieg eine Weile und sah das junge Mädchen mit tränenfeuchten Augen an. „Sie gehört deinem Vater, meine Tochter“, sagte sie leise. Mavis starrte sie offenen Mundes an. „Aber … aber das ist doch nicht möglich, Mary! Die-
ser Brief ist erst kürzlich geschrieben worden, und mein Vater starb, als ich noch ganz klein war …“ Mary betrachtete den Brief. Sie las ihn noch einmal und wiederholte laut die Stelle: „Zeige ihr diesen Brief und sage ihr, daß es nicht wahr ist, daß ich tot bin.“ Sie legte den Brief auf den Tisch. „Setze dich zu mir, Mavis“, sagte sie stockend. „Es ist Zeit, daß du die Wahrheit erfährst. Dein Vater starb nicht, wie man dir sagte. Ich will dir die Geschichte erzählen, so wie ich sie kenne …“ Und nun vernahm Mavis Donovan zum ersten Male aus dem Munde ihrer Erzieherin die Geschichte des Hauses Donovan. „Deine Mutter“, schloß sie, „glaubte nie, daß dein Vater diesen Mord ausgeführt oder einen solchen Plan geschmiedet haben könnte, wie schlecht die Geschäfte auch immer gegangen wären. Ich kannte deinen Vater viele Jahre lang und kann dir versichern, daß er ein ehrenwerter Mensch war, der solche Handlungen niemals begangen hätte. Trotzdem muß ich zu meiner Beschämung gestehen, daß ich einen Augenblick an ihn zweifelte, als er plötzlich verschwunden war. Wenn aber auch nur ein Funken von Zweifel in mir verblieben ist, so hat ihn dieser Brief für immer ausgelöscht.“ Mavis schwieg lange Zeit. Die Enthüllung war ihr zu plötzlich gekommen. Endlich fragte sie mit schwacher Stimme: „Meine … meine Mutter …?“ „Starb an Kummer und bis zum letzten Augenblick von der Unschuld deines Vaters überzeugt. Deine Eltern liebten sich sehr, Mavis …“ Zwei Tränen rollten über die Wangen des jungen Mädchens, zwei Tränen, denen ein ganzer Strom folgte.
Endlich fragte sie: „Warum hast du mir das alles nicht früher gesagt?“ „Ich wollte dir den Schmerz ersparen, meine Tochter. Dein Onkel wollte, daß du einige Zeit hierbliebest. Du warst zu klein. Man wollte Gras über die Sache wachsen lassen.“ „Eine Sache begreife ich nicht“, sagte Mavis. „Wenn mein Vater wirklich unschuldig war, warum hat er uns dann verlassen? Wie konnte er zugeben, daß meine Mutter ohne ein Wort des Trostes starb? Warum hat er die ganzen Jahre über geschwiegen? Warum hat er sich nicht gestellt, um die Anklagen zurückzuweisen?“ „Ich ahne, meine Tochter“, murmelte die Alte sanft, „daß wir noch heute die Antwort auf alle diese Fragen bekommen werden. Dein Vater hat dir geschrieben … dein Vater hat dich hierhergebeten … Dieses Haus war für euch ein Ort, wo ihr die glücklichsten Stunden verlebtet … Es schließt sehr viele Erinnerungen ein …“ Eine tiefe, zitternde Stimme unterbrach sie: „Lorna …! Lorna …! Lorna, mein Leben!“ Die beiden Frauen wandten sich um, ein großer, braungebrannter Mann stand im Türrahmen. Seine Arme waren weit geöffnet. In seinem Gesicht stand ein sehnsüchtiger Ausdruck. Mavis sprang auf und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Sie wußte kaum, was sie tat. Schnell lief sie durch das Zimmer in die weitausgebreiteten Arme … *
* *
9. Kapitel DIE ROTE SCHLANGE WIRD GEBOREN „Herr Donovan!“ Die Stimme Frau Higgins drückte Freude und Erregung aus. „Nein, ich bin nicht verrückt, Mary“, sagte Laurel Donovan sanft. „Ich sehe keine Visionen, ich habe nur einen Augenblick träumen wollen. Du siehst ihr so ähnlich … Hebe deinen Kopf hoch, Mavis, damit ich dich anschauen kann!“ Er betrachtete sie sekundenlang schweigend. „Genau … genau wie sie“, murmelte er. „Dieselben Augen … dieselben Züge … dasselbe Haar … Schau in den Spiegel, meine Tochter, und du wirst sehen, wie deine Mutter aussah … Du bist ihr lebendes Ebenbild. Gott ist wahrhaft gut zu mir gewesen.“ „Herr Donovan“, sagte Frau Higgins und näherte sich zögernd. Laurel ließ Mavis los, um sie mit dem rechten Arm zu umfassen, und den Linken um die Alte zu schlingen. „Komm her, Mary“, sagte er. „Ich vergesse nicht, was ich dir schulde. Du bist sehr gut gewesen. Gott möge es dir lohnen. Ich könnte es nicht mit allem, was ich auch immer besäße …“ „Ach … ach …“, sagte sie unter Schluchzen, „und nun habe … ich … Mavis alles gesagt …“ „Alles, was die Zeitungen über mich brachten? Alle die Gemeinheiten, die sie von mir sagten?“ „Alles, Papa, alles …“ antwortete Mavis. „Ich weiß, daß Mama aus Kummer starb und bis zum Schluß an deine Unschuld glaubte. Aber“, ein leichter Vorwurf lag
in ihrer Stimme, „warum hast du es zugelassen? Warum bist du nicht sofort zu ihr geeilt, um sie zu trösten? Ein Wort von dir hätte sie glücklich gemacht … Vielleicht hätte es ihr sogar das Leben gerettet …“ „Ich hätte mein eigenes Leben für sie hingegeben, Mavis“, sagte Donovan einfach. „Mary weiß es. Nichts in der Welt hätte mich dazu gebracht, euch zu verlassen. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich euch die traurige Geschichte meines Leids von Anfang an erzähle.“ Und er berichtete von dem Augenblick an, da er sich mit Frau und Tochter nach Florida begeben hatte, um sich zu erholen, und Clarkson als Leiter seines Geschäftes zurückließ. Er sprach von seinem Verdacht, der ihn beim Durchsehen der Kontoauszüge gekommen war … von dem telephonischen Anruf, der Entführung … dem Aufenthalt auf der einsamen Insel. Dann erzählte er, wie er nach Jahren wieder auf den amerikanischen Kontinent gelangt war … „Ich kam nach Cuba“, sagte er schließlich, „um wenigstens in der Nähe von Florida zu sein. Ich stellte Nachforschungen an. Ich erfuhr, wie du lebtest und daß du noch das Häuschen am Ochikobi-See hättest. Meine erste Absicht war, mich erst mit dir in Verbindung zu setzen, bis ich meine Unschuld beweisen konnte. Aber ich vermochte es nicht länger auszuhalten, dich nicht zu sehen. Deshalb sandte ich dir durch einen Vertrauensmann diesen Brief. Ich hielt es für richtiger, wenn Mary dich vorbereitete. Ich war sicher, daß sie meine Schrift erkennen würde.“ „Und wie willst du jetzt deine Unschuld beweisen, Papa?“ Das Gesicht Laurel Donovans drückte große Niedergeschlagenheit aus.
„Ich weiß es noch nicht, meine Tochter“, gestand er. „Soviel ich bisher erfahren habe, scheint es viel schwieriger zu sein, als ich zuerst angenommen hatte. Clarkson ist sehr schlau gewesen. Meine einzige Hoffnung ist, daß es Komplicen von ihm gibt. Wenn ich einen davon ausfindig mache, kann ich ihn vielleicht vor den Behörden zum Sprechen bringen. Sonst weiß ich nicht, was ich tun soll. Wer wird meinem Bericht Glauben schenken? Er klingt zu phantastisch, als daß man ihn ernst nehmen könnte.“ „Aber Papa“, rief Mavis aus, „da muß doch etwas geschehen! Und ich … wie soll ich denn weiter im Hause eines Mannes leben, der sich so zu uns betragen hat?“ „Du, meine Tochter“, sagte Laurel, „wirst weiter dort leben, da das Haus von meinem Geld gekauft ist und es dir gehört. So schwer es dir auch fallen mag, mußt du weiter deine Rolle spielen. Wenn du dich plötzlich ändern würdest, würde der Mann mißtrauisch werden. Er ist kein Dummkopf. Du kannst sicher sein, daß er bald die Wahrheit erfahren würde, denn er verfügt über genügend Geld, um auch hundert Spitzel zu bezahlen.“ „Aber es muß doch etwas geschehen!“ „Das ist vor allem eine Frage der Zeit … der Nachforschungen … Wir werden schon etwas finden.“ „Um Nachforschungen anzustellen, braucht man Geld. Ich habe etwas, aber ich kann bis zu meiner Großjährigkeit nicht darüber verfügen. Trotzdem wird mir jemand etwas borgen, ohne daß Clarkson es erfährt. Ich werde es dir schicken.“ „Auch ich habe mir ein paar Dollar gespart, Herr Donovan … besser gesagt, ein hübsches Sümmchen. Ich habe nie viel Geld ausgegeben. Wenn Sie nicht gekränkt sind …“
„Warum soll ich gekränkt sein?“ rief der Mann aus und sah die Alte mit feuchten Augen an. „Soll ich mich kränken, weil du ein gutes Herz hast und alles für mich opfern willst? Dein Vertrauensbeweis, dein Angebot sind die größten Ehren für mich, die mir je in meinem Leben erwiesen wurden. Ich bin stolz darauf, dein Freund zu sein.“ „Sie … nehmen es also an?“ wollte die Alte wissen, als sie ihrer Bewegung Herr geworden war. „Nein, Mary, ich danke dir. Ich nehme dein Angebot nicht an und auch nicht das von Mavis. Ich brauche beides nicht. Ich bin immer noch ein guter Kaufmann. Ich habe jetzt ein Büro in Cuba, und wenn ich auch nicht reich bin, so besitze ich doch genügend Geld, um alle diese Spesen bezahlen zu können.“ Er blickte plötzlich nach seiner Uhr. „Aber“, rief er aus und täuschte Erstaunen vor. „Ißt man denn in diesem Hause nicht? Es ist schon halb vier!“ „Ja, das stimmt!“ sagte Mary Higgins. „Ich habe das Essen bereits vorbereitet, aber ganz darum vergessen. Machen Sie sich keine Sorge, Herr Donovan. Ich werde schnell etwas fertigstellen, und wenn es nur ein paar Spiegeleier sind.“ Eilig lief die Alte aus dem Zimmer. *
* *
Es begann zu grauen. Der Expreß hatte einige Minuten Verspätung und wollte die Zeit wieder einholen. Weißer Nebel hüllte die ganze Gegend ein und wurde immer dichter. Der Maschinist zögerte. Er streckte den Kopf aus dem schmalen Fenster und versuchte, den Nebel mit den Augen zu durchdringen.
„Die Brücke kann nicht mehr weit sein“, schrie er. „Nein“, meinte der Heizer und warf Kohle ins Feuer. „Wir haben aber ziemlich viel Verspätung.“ „Ich wage nicht, schneller zu fahren! Versuche, ob du das Signal siehst. Ich sehe nichts.“ Der Heizer spähte zur anderen Seite hinaus. „Ich sehe es auch nicht.“ Er warf wieder Kohle in die Feuerung. Aber er war unruhig. Plötzlich stieß er einen Schreckensruf aus: „Die Signalscheibe zeigt rot! Wir sind schon daran vorbei!“ Jähes Pfeifen dröhnte durch den Nebel. Der Expreß antwortete. Erschreckt zog der Maschinist die Bremsen an. Mit einem furchtbaren Krach stießen die zwei Lokomotiven zusammen. Sie bäumten sich auf wie Pferde. Holz splitterte, Stahl knirschte gegen Stahl. Ein paar Waggons knickten zusammen wie Ziehharmonikas und stülpten sich übereinander. Man hörte Schreckens- und Schmerzensschreie. Ein Kessel explodierte, kochendes Wasser strömte aus. Einige Wagen begannen zu brennen. Die Reisenden, die unverletzt geblieben waren, sprangen heraus. Die mutigsten näherten sich den zersplitterten Wagen, um den Verwundeten Hilfe zu bringen. Unter ihnen zeichnete sich ein hübsches junges Mädchen aus, dessen Hand blutete. Als sie dabei war, einen jungen Mann aus einem der Abteile herauszuhelfen, taumelte sie plötzlich und fiel zu Boden. Jemand näherte sich ihr und entdeckte, daß sie mit gebrochenem Arm Samariterdienste geleistet hatte und dabei ohnmächtig geworden war. Ein Schluck Whisky brachte sie wieder zu sich. Sie erhob sich sofort, um ihre
Tätigkeit fortzusetzen. Die Herumstehenden hinderten sie jedoch daran. Einer der Fahrgäste brachte ein großes Tuch, nahm ein paar Holzstücke und schiente dem Mädchen provisorisch den verletzten Arm. „Sie haben schon genug getan, mein Fräulein“, sagte er. „Wenn Sie durchaus helfen wollen, tun Sie es als Krankenschwester. Sie können jetzt nichts unternehmen, was Kraft erfordert.“ Das junge Mädchen sah dies ein. Sie sprach mit ein paar erschrockenen Frauen, die sie durch ihre Worte und durch ihr Beispiel ermutigte. Mit diesen zusammen verfertigte sie aus Wäschestücken Verbände und Kopfkissen. Ein Mann lag auf der Erde, der durch einen großen Holzsplitter verwundet worden war. Sie ließ sich neben ihm nieder, um ihm Trost zuzusprechen. „Es ist unnütz, Fräulein“, sagte er mühsam. „Ich weiß, daß meine Minuten gezählt sind. Nichts kann mich noch retten … Aber es gibt etwas …“ „Was kann ich für Sie tun?“ meinte das Mädchen mitleidig. „Sehen Sie in meiner Tasche nach, ob Sie dort ein Papier und einen Füllhalter finden. Wenn er nicht zerbrochen ist …“ Das Mädchen fand die Sachen. „Schreiben Sie“, sagte der Mann stöhnend, „es bleibt wenig Zeit und ich habe noch viel zu sagen. Ich möchte nicht mit dieser Schuld auf dem Gewissen sterben. Hören Sie mich, Fräulein … Ich sehe Sie nicht gut … es ist so neblig …“ „Sprechen Sie, ich höre.“ Langsam und stockend erzählte der Mann seine Geschichte. Er war der Leiter einer der Filialen des Hauses
Donovan & Co. gewesen. Er hatte zusammen mit dem Subdirektor eine Verschwörung angezettelt, damit dieser das Geschäft in die Hand bekäme. Er erzählte alles, was er darüber wußte. Er gab auch seine Meinung kund, daß vermutlich Clarkson den Mineningenieur Dexter umgebracht habe, aber Genaueres wußte er nicht darüber. Als er geendet hatte, bat er das Mädchen, sie möge ihm helfen, sich aufzurichten. Dann nahm er die Feder und unterzeichnete die Zeilen, die das Mädchen geschrieben hatte. „Jetzt kann ich ruhig sterben“, sagte er seufzend. „Was soll ich damit tun?“ fragte das Mädchen. „Suchen Sie jemanden von der Familie … Ich glaube, es gibt eine Tochter … Geben Sie ihr das … oder tun Sie sonst, was Sie für richtig halten. Der Raub muß seinem rechtmäßigen Besitzer wiedergegeben werden.“ Seine Stimme wurde so schwach, daß das junge Mädchen ihr Ohr dicht an seine Lippen legen mußte. „Mir fehlen … die Papiere … die Clarkson schwer belasten … Sie befinden sich im Schreibtisch … in meinem Hause … ein Geheimfach, das …“ Mehr konnte er nicht sagen. Er starb, ohne ein weiteres Wort ausgesprochen zu haben. Das junge Mädchen entnahm der Tasche seines Rockes eine Visitenkarte mit seiner Adresse und steckte sie hastig ein. Dann kümmerte sie sich um die anderen Verwundeten. An jenem Nachmittage gab das junge Mädchen, nachdem es in das Krankenhaus der nächsten Stadt gebracht worden war, das Papier, das von dem ehemaligen Filialleiter von Donovan & Co. unterschrieben war, in einem Umschlag und bat eine Krankenschwester, den Brief in den nächsten Postkasten zu werfen.
Ihr Arm wurde eingegipst, und man entließ sie. Sie nahm den Zug nach Baltimore, wo sie wohnte, und dachte auf der langen Reise angestrengt nach. Sie erinnerte sich genau des Inhalts des Briefes, den sie abgesandt hatte, und begriff, wie unzulänglich er war, um das Böse wieder gutzumachen. Die einzige Art, wie die Familie Donovan wieder zu ihrem Besitz kommen und Clarkson und seine Komplicen bestraft werden konnten, war, sich der Dokumente zu bemächtigen, die nach Aussage des Sterbenden jeder der Verschwörer besitzen mußte … Aber … würde Mavis Donovan das zustande bringen? Ihrer Meinung nach konnte nur ein verwegener Mensch, der bereit war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, die Aussicht haben, dieses Vorhaben zu verwirklichen. Und dieser Mensch mußte von allen unerkannt bleiben, um frei arbeiten zu können. Wenn einmal seine Persönlichkeit entdeckt wurde, würden ihn Clarkson und seine Komplicen erbarmungslos liquidieren. Als der Zug in Baltimore hielt, hatte das junge Mädchen einen Entschluß gefaßt. Sie selbst würde die notwendigen Dokumente herbeischaffen und ihr Inkognito bis zum Siege wahren. Sie kannte die Namen aller ehemaligen Filialleiter. Einen nach dem anderen würde sie beobachten und herauszubekommen versuchen, wo sie die Dokumente versteckt hielten. Und eines nach dem anderen würde sie ihnen dann wegnehmen. In den Besitz des ersten Dokumentes konnte sie sich ohne große Gefahr setzen. Sie hatte die Adresse des Toten und wußte, daß die Dokumente in einem Geheimfach seines Schreibtisches lagen. Dieses Fach würde sie zu finden wissen, so verborgen es auch sein mochte. Und in dieser Nacht wurde die Rote Schlange geboren, obgleich das junge Mädchen damals noch nicht daran
dachte, diesen Namen zu gebrauchen. Sie wählte die rote Kleidung, weil sie diese Farbe sonst nie trug. Später sah sie in der Maskierung gewisse Möglichkeiten und zeichnete ihre Briefe stets mit einer kleinen stilisierten roten Schlange. Das gab ihr den Namen. Sie bemächtigte sich der Papiere des Toten. Sie sah zufällig Laurel Donovan und teilte ihm ihr Vorhaben mit. Mit der Zeit gelang es ihr, einen Teil des Versprechens zu erfüllen, das sie sich selbst gegeben hatte. Ein voller Sieg würde es jedoch erst dann sein, wenn Clarkson sich nicht mehr in Freiheit befand und keinen Schaden mehr anrichten konnte. Das ist die Geschichte der Roten Schlange und ihrer Mission, bis zu jenem Zeitpunkt, da dieser Bericht entsteht … *
* *
So endete das Schreiben, das Milton Drake erhalten hatte. Aber es lag noch ein Zettel dabei, auf dem der Multimillionär las: „Du wirst bemerkt haben, daß ich erwähnte, ich sei ein hübsches junges Mädchen. Das ist ein Eingeständnis, das ich meiner und Deiner Eitelkeit machte. Du willst doch, daß ich schön bin, und da mir dies auch nicht unangenehm ist, lasse ich es dabei. Ob ich es wirklich bin oder nicht, das ist Sache des Geschmacks. Wir haben nicht alle dieselben Ansichten. Diese Tatsache beruhigt mich und verhindert, daß ich Gewissensbisse habe. Die Umstände haben mich gezwungen, einige Einzelheiten meines Berichtes zu unterdrücken. Es
ist nicht so wichtig, aber es hätte Dir vielleicht den Schlüssel zu meinem Geheimnis in die Hand geben können. Doch ich muß mein Inkognito leider noch immer wahren. Auf Wiedersehen, mein Freund, denn ich nehme an, daß wir einander früher oder später doch wieder einmal begegnen werden.“ *
* *
Wie gewöhnlich, zeichnete die Rote Schlange ihr Schreiben mit roter Tinte. Milton dachte lange nach. Dann stieß er einen Seufzer aus und steckte die Papiere in die Tasche. Zwei- oder dreimal ging er im Zimmer auf und ab und überdachte alles, was er gelesen hatte, in der Hoffnung, vielleicht so einen Anhaltspunkt für die Persönlichkeit dieser geheimnisvollen Frau zu finden. Aber vergebens. Und trotzdem … Sein Blick richtete sich auf die Tür, hinter der sich Mavis zurückgezogen hatte. Mavis mußte wissen, wer die Rote Schlange war, wenigstens, sofern sie nicht … Aber nein … dieser Gedanke durfte nicht aufkommen. Er war ja auch zu phantastisch … Sie kannte Sonia und Laurel Donovan. Gab es denn gar keine Möglichkeit, daß er dieses Geheimnis enthüllte …? ENDE
Mark Brennan: Existenzen am Rande 9. Folge Spiel mit dem Tod
Gab es noch eine Chance für Robby Todd, der in gewissen Kreisen von San Franzisko immer noch Robby, der Lächler genannt wurde? Wofür eine Chance? Zur Umkehr natürlich, zum sogenannten anständigen Leben! Es gab einmal eine Zeit, da sagte jeder zu ihm „Mister Todd“ und er war wegen seines freimütigen, vertrauenerweckenden Lächelns überall beliebt. Ja, er war beinahe so etwas wie eine Lokalberühmtheit – wegen seiner Fertigkeit als Feinmechaniker. Damals lebte er noch bei seiner alten Tante und spielte mit dem Gedanken, sich bald zu verheiraten und einen eigenen Hausstand zu gründen. Wen er eigentlich heiraten wollte, darüber war er sich noch nicht ganz klar. Gwendolyn Miller vielleicht, die still und hausmütterlich wirkte? Oder Barby Goddon, schwarzhaarig, mit dunklen, feurigen Augen – und einem Hang zum Leicht-
sinn. Schließlich war da noch Rosalinde, Kellnerin in einem Restaurant, amazonenhaft schlank und scheinbar kühl, zurückhaltend. Daß sie ganz anders sein konnte, hatte Robby überraschend an einem Abend erfahren, an dem sie zusammen im Vergnügungspark gewesen waren. In der Schiffsschaukel fiel sie gegen Robby und im gleichen Augenblick küßte sie ihn, wild, mit geschlossenen Augen, wie besinnungslos. Das war auch der Moment gewesen, in dem Robby sich blitzartig klar darüber wurde, daß er eigentlich zwei verschiedene Naturen hatte. Einerseits störte Rosalindas Wildheit seine wohlgehüteten bürgerlichen Vorstellungen vom Wesen einer Frau. Andererseits aber spürte er zugleich wie eine heiße Welle den Wunsch in sich aufsteigen, fortgerissen zu werden von diesem alles mißachtenden Rausch. Absichtlich sah er nach jenem Abend Rosalinda längere Zeit nicht und widmete sich ausschließlich Gwendolyn Miller, die auch die volle Zustimmung seiner Tante fand. Den Tag würde er niemals vergessen, an dem Cock zum ersten Mal zu ihm in die Werkstatt kam. Er kannte Cock bis dahin nicht, aber der erste Eindruck schon stand unter einer unheilvollen Vorahnung. Er sollte Cock einen Sicherheitsschlüssel nach mitgebrachtem Vorbild machen. Robby kannte sich mit allen Arten von Schlüsseln aus, aber ein derartig kompliziertes Gebilde war ihm noch nicht unter die Hände gekommen. Die Arbeit reizte seinen Ehrgeiz und er fertigte das Duplikat in Rekordzeit an. Cock hatte schnellste Erledigung verlangt, er war dann um so erfreuter, als er die beiden Schlüssel früher zurückbekam, als er erwartet hatte. Zwei Tage darauf waren alle Zeitungen San Franziskos voll von dem Einbruch bei dem Ölmillionär Doggert, dessen garantiert diebessicherer Stahlschrank geöffnet
worden war, ohne daß auch nur die geringste Gewaltanwendung entdeckt werden konnte. Das Rätsel schien um so unlösbarer, als nur ein Schlüssel vorhanden war. Einzig bei der Firma, die den eingebauten Stahlschrank geliefert hatte, existierte noch ein Ersatzschlüssel, der aber wohlverwahrt im Safe einer Bank ruhte. Doggert konnte sich nicht erinnern, seinen Schlüssel auch nur eine Sekunde aus seiner Brieftasche genommen zu haben. Bis eben zu dem Tag, an dem er den Schrank aufschloß und entdeckte, daß er leer war, daß die 130 000 Dollar fehlten, die er darin aufbewahrte. Seine Gewohnheit, immer große Geldsummen im Hause zu haben, mußte irgendwie bekannt geworden sein. Eine Woche verging, und wie üblich hatte sich das öffentliche Interesse längst anderen Dingen zugewandt. Inzwischen war jedoch mit Robby Todd etwas sehr merkwürdiges geschehen. Seinem ersten Impuls, der Polizei von der Herstellung des komplizierten Schlüssels Nachricht zu geben, war er nicht gefolgt. Selbstverständlich war Doggerts Originalschlüssel in allen Zeitungen abgebildet worden und Robby hatte festgestellt, daß er tatsächlich ein Doppel davon anfertigte. Nein, er hatte die Meldung unterlassen und abgewartet. Seine unbestimmte Vermutung wurde dann auch zur Gewißheit, als eines Morgens wieder Cock bei ihm erschien. Es wurde nicht viel zwischen ihnen gesprochen. Cock legte eine Zeitung mit den ersten Meldungen über den Einbruch, mit dem Bild des Schrankes und des Schlüssels auf die Werkbank, sagte noch etwas darüber, daß er in den nächsten Tagen nochmals vorbeikommen würde und ging wieder. Als Robby die Zeitung aufnahm, fand er in ihr 5000 Dollar. Er behielt sie und das war der Anfang. Bald sollte er auch erkennen, mit welch kalter, unbedingt sicherer Me-
thode Cock arbeitete. Auch Robby gegenüber. Statt selbst zu kommen, schickte er eines Abends seine Freundin Miriam. Für Robby war die Begegnung so ähnlich wie ein K.O. beim Boxen. Ohne Umschweife gab ihm Miriam schon bei ihrem zweiten Besuch zu verstehen, daß zwischen ihr und Cock schon seit langem nur noch eine platonische Freundschaft bestehe und daß sie beide nahmen, was ihnen die Gelegenheit biete. Bald ging Robby bei Miriam in ihrer eleganten Wohnung ein und aus. Ebenso schnell fügte er sich ihren kostspieligen Ansprüchen und um ihnen zu genügen, mußte er mit Cock zu einer festen Vereinbarung kommen, die ihm ausreichend Geld für Miriam einbrachte. Cock ließ seine Maske fallen. In dürren Worten stellte er seine Gegenforderungen und Robby konnte nichts anderes tun, als zustimmen. Seine andere, bessere Natur meldete sich erst wieder, als ihm Miriam noch am gleichen Abend nach seiner Übereinkunft mit Cock unverblümt darüber aufklärte, daß sie nach wie vor zu Cock gehöre und nur auf dessen Verlangen das ganze Theater mit Robby gespielt habe. Zugleich sagte sie ihm aber auch, daß er nun keine Wahl mehr habe, sondern nur noch zu gehorchen hätte. Und das erkannte auch Robby selbst. Er hatte sich schon von Doggerts Schlüssel an strafbar gemacht, hatte Cocks Geld angenommen und seither nicht nur Nachschlüssel, sondern auch Einbruchswerkzeuge angefertigt. Die innere Explosion bei ihm kam, als Cock von ihm verlangte, daß er Schalldämpfer für Maschinenpistolen machen sollte. Als hätte eine übermächtige Hand alle Zweifel und Schwachheiten in ihm ausgelöscht, so wuchs in wenigen Sekunden der Wille, sich zu weigern. „Gut“, sagte Cock nach kurzem Überlegen, „du weißt,
daß ich zu meinem Wort stehe. Komm heute abend in meine Wohnung, wir werden zusammen Poker spielen. Nur ein Spiel. Gewinnst du, dann gebe ich mein Wort, daß du frei bist und nie wieder etwas persönlich von mir oder meinen Leuten hören wirst. Verlierst du, so mußt du dich entschließen, für ständig in meinem Hause zu bleiben und für mich weiterzuarbeiten. Oder, wenn du das trotzdem nicht willst, dann wirst du dich erschießen, hier in deiner Werkstatt, ganz ordentlich mit entsprechendem Abschiedsbrief, in dem du ja von Liebeskummer oder ähnlichem als Ursache deines Selbstmordes sprechen kannst. Ich erwarte dich also um 9 Uhr heute abend bei mir. Hilltop 19 ist meine Adresse.“ Völlig regungslos hatte Robby in der Werkstatt gesessen, nachdem Cock ihn verließ. Man hätte in ihm kaum Robby den Lächler wiedererkannt. Sein Gesicht sah zermartert aus, war von der innerlichen Erregung gerötet und seine Augen starrten ins Leere. Erst kurz vor neun Uhr, als es schon völlig dunkel war, erhob er sich und ging ans Telephon. Er wählte eine Nummer und sprach längere Zeit mit klarer, aber völlig ausdrucksloser Stimme in die Muschel des Hörers. Dann legte er ihn wieder auf die Gabel, verschloß die Werkstatt und ging auf die Straße. Ein Taxi brachte ihn in wenigen Minuten nach der Adresse Hilltop 19. Er klingelte und im Augenblick als er durch die lautlos geöffnete Tür trat, begann er wieder zu lächeln. Es war zwar nur ein Schatten seines alten Lächelns, aber er schien mit jedem Schritt sicherer zu werden. Ein athletischer Bedienter wollte ihm seinen schönen Cowboyhut abnehmen, aber Robby winkte ab. Er behielt ihn auf und gab auch noch seinem bunten Halstuch einen verwegenen Schwung.
Cock empfing ihn in einem großen, indirekt beleuchteten Zimmer Er war in Gesellschaft mehrerer schweigsamer Männer, die alle an muskulöser Körperbeschaffenheit dem Diener im Hauseingang nicht nachstanden. Das Spiel war kurz. Cock hatte einen Revolver neben sich liegen, den er des öfteren mechanisch streichelte. „Du wirst verlieren, Robby“, sagte er zur Hälfte des Spiels, „hast du dir schon überlegt, wie du dich entschließen wirst, wenn du verlierst?“ „Das hatte ich schon, bevor ich hier ins Haus kam“, erwiderte Robby und sein Lächeln verstärkte sich, „ist übrigens Miriam auch hier?“ „Was geht das dich an“, fragte Cock hämisch, „selbst wenn du bereit bist, als arbeitsamer Dauergast hier in meinem Hause zu bleiben, wirst du Miriam nicht wiedersehen! Aber wozu das Gerede –?“ Cock brach ab und horchte hinaus. Die aufgebrachte Stimme des Bedienten war im Treppenhaus zu hören und lenkte Cock einen Augenblick ab. Seine Hand zuckte zu spät nach dem Revolver, Robby hatte ihn schon in der Hand und hielt ihn auf. „Keine Bewegung“, sagte Robby mit scharfer Stimme, „was du da hörst, ist die Polizei. Ich habe sie benachrichtigt. Ich weiß, was das für mich selbst bedeutet, aber auch hinter Gefängnisgittern werde ich freier sein als wenn ich mein Spiel gegen dich verliere. Und ich habe keine Lust, mir eine Kugel vor den Kopf zu schießen.“ Die Tür wurde aufgestoßen und ein ernster, fast würdiger Mann trat ein. Ihm folgten mehrere uniformierte Polizisten. „Mister Cock, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Kriminalbeamte ruhig, „und mein Gedächtnis müßte mich sehr täuschen, wenn Sie nicht auch Mister William
Block sind, den ich seit 1948 suche!“ Dann wandte er sich an Robby. „Geben Sie mir den Revolver, junger Mann“, meinte er gelassen, „Sie sind wohl Robby Todd. Vielen Dank für Ihren Anruf. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Als Kronzeuge haben Sie Aussicht, glimpflich davonzukommen. Warum lächeln Sie so aufreizend?“ „Verzeihung, Herr Inspektor“, entgegnete Robby, „aber mir ist so leicht zumute!“ Mit einer wütenden Bewegung warf Cock die Karten auf den Tisch, die er immer noch in der Hand gehalten hatte. „Ganz recht“, sagte der Inspektor abschließend, „das Spiel ist aus, Cock! Kommen Sie!“