GG12 - Die Milliardenwelt Die neue Erde - und ihr schweres Erbe! von W. A. Travers ISBN: 3-8328-1236-9
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Einführung
21. März 2453 = Durch einen Terroranschlag verschwinden 7 Menschen mittels eines GG (= Gaarson-Gate = eine besondere Art von Materietransmitter) - und geraten in ein fremdes GG-Netz, das schon lange existiert. Drei von ihnen (Cora Stajnfeld, Petro Galinksi und John Millory) landen unter anderem auf einer Welt, auf der eine neue Eiszeit begonnen hat - mit schlimmen Folgen. Dabei kommen sie in Kontakt mit Wesen, die haargenau aussehen wie Menschen - und sich auch wie solche benehmen. Nur ihre Sprache ist anders, aber die haben die drei durch den Stationscomputer auf Vetusta (ihrer ersten Station) gelernt. Gemeinsam mit den Menschenähnlichen kämpfen sie um ihr Überleben - und für das Ende der Eiszeit, denn die ist künstlicher Natur. Auf dem Höhepunkt ihrer Mission sitzen sie in einer Rakete und werden abgeschossen. Sie fliehen aus der Reichweite der Rakete, weil diese jeden Augenblick explodieren kann. Die Pilotin (eine Superblondine) ist mit dabei...
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1
Der Sicherheitsabstand zur Rakete war so groß, daß sie diese kaum noch erkennen konnten. Wenn sie wirklich explodierte, waren sie nicht mehr so gefährdet. Auf der anderen Seite mußten sie in der Nähe bleiben, denn wenn die Annahme der Blondine wirklich stimmte und sie vom Raumhafen aus geortet wurden, dann blieb die Masse des Raketenflugzeugs ein wichtiger Anhaltspunkt für den Suchtrupp. Sie hofften nur, daß dieser nicht Besseres zu tun hatte, als sich ausgerechnet um sie zu sorgen. Die Anzüge funktionierten einwandfrei. Sie produzierten pausenlos Wärme. Petro Galinksi und John Millory blickten auf die Temperaturanzeige. Zur Zeit hatten sie schon eine Außentemperatur von dreißig Grad minus. Aber als sie wenige Minuten später noch einmal darauf blickten, stellten sie fest, daß die Temperatur inzwischen wieder stieg! John machte die anderen darauf aufmerksam. »Das ist doch nicht möglich!« entfuhr es Ted Hardy. Aber er machte gleich darauf die gleiche Feststellung. »Worauf ist das zurückzuführen?« »Die hochgegangene Versuchsanlage!« vermutete Petro Galinksi. »Wir sind davon ausgegangen, daß das Geheimprojekt der Regierung für die gegenwärtigen Zustände verantwortlich zeichnet. Ein Teil der umgewandelten Energie ist wieder frei geworden. Es blieb zwar nur wenig in der Atmosphäre der Erde, aber es zeigt seine Wirkung, wie wir sehen. Außerdem führt der Ausfall der einen Einheit zu einem Abfall des Negativprozesses.« »Dann dürfen wir wohl wieder hoffen?« Petro schüttelte den Kopf. »Der Zustand ist nur vorübergehend. Bald wird die Temperatur wieder fallen. Sämtliche Anlagen müßten stillgelegt werden. Hoffentlich geschieht das nicht in der spektakulären Art und Weise wie hier. Das würde das Ende nur beschleunigen. Die Welt würde sich in einen Glutball verwandeln. Da sind ungeheure Energien gebunden.« »Ich glaube immer noch an einen Unfall«, sagte Ted Hardy. »Wir wissen nur sehr vage, mit welchen Mitteln bei den Experimenten gearbeitet wird, aber die Wissenschaftler müßten doch längst einen Ausweg gefunden haben - falls sie noch am Leben sind.« Ein anderer mischte sich ein. »Wichtiger ist für uns im Moment, daß wir hier gefunden werden. Solange das nicht geschehen ist, sind uns die Hände gebunden.« Das Gespräch schlief ein. Sie warteten weiter und hofften.
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2
Es erfolgte keine Antwort. Cora wiederholte ihren Ruf. Ohne Erfolg! Die Wissenschaftler blieben stumm. Cora dachte wieder an ihren Verdacht, daß die Wissenschaftler möglicherweise längst das Gate benutzt hatten, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Aber war das Gate denn nicht vor ihren Augen verschwunden? Ein Phänomen, das sie sich bisher immer noch nicht hatte erklären können. Und da sie den Radartimer nicht mehr hatte, war es auch nicht mehr möglich, anzumessen, ob es vielleicht noch ein anderes Gate drüben geben könnte. Tadeo wurde nervös. Er warf mehrmals Blicke über die Schulter zurück. Verzweiflung bemächtigte sich Coras. »Wir müssen unseren Versuch wohl als gescheitert betrachten!« sagte Tadeo brüchig. »Vielleicht ist etwas passiert, das sich unserer Kenntnis entzieht.« Jetzt war Cora klar, daß Tadeo es einfach ignorierte, daß sie die Gesuchte war - aus welchen Gründen auch immer. Hatte er einfach nur das Gebot der Stunde erkannt? Ihre Rechte krallte sich um seinen Oberarm. »Wir dürfen nicht aufgeben, hören Sie! Die Wissenschaftler drüben haben den Schutzschirm aufgelöst, nachdem wir auftauchten. Sie ließen uns ins Freie. Also war bei ihnen alles in Ordnung. Aber zu diesem Zeitpunkt war das Eis schon im Vormarsch und bildete bereits eine weltweite Gefahr. Seit Tagen besteht dieser Zustand.« Der Major kam zu keiner Entgegnung. Ein weiterer Uniformierter trat hinzu. Cora blickte in sein Gesicht und erschrak. Es war der Mann, der sie nach ihrer Gefangennahme verhört hatte! Der Offizier prallte zurück. »Wer ist das?« fragte er Tadeo und deutete auf Cora. »Ein Neuzugang im medizinischen Trakt. Kam eben mit Lorenza herein. Sie hat sie mir so vorgestellt.« Die Antwort erfolgte prompt. »Hast du sie dir nicht genauer betrachtet?« Tadeo tat verständnislos. »Ich habe im Moment Besseres zu tun. Warum fragst du?« Der Offizier winkte nach hinten. Mehrere Soldaten eilten herbei. »Weil das die Gesuchte ist, verdammt!« »Wie bitte?« Tadeo gingen schier die Augen über. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Cora wurde ergriffen. »Führt auch die Ärztin ab! Sie ist seine Komplizin! Sie hat der Frau zur Flucht verholfen!« »Das darf doch nicht wahr sein!« murmelte Tadeo fassungslos. Copyright 2001 by readersplanet
Du bist ein verdammt guter Schauspieler, dachte Cora wütend. »Und ob!« bellte der Offizier. »Du beginnst mich zu enttäuschen.« »Na, ich bin nicht so sicher, ob es dir an meiner Stelle nicht anders gegangen wäre. Bei dem Durcheinander, das im Moment herrscht!« Cora warf einen letzten Blick auf den erhellten Bildschirm. Tadeo schaltete ihn heimlich aus. Sein Kollege durfte nichts davon merken, was sie hier getrieben hatten. Cora hoffte, daß Tadeo die Bemühungen fortführen konnte. Aber was war, wenn sich die Wissenschaftler wirklich meldeten? Cora saß jetzt endgültig fest, und sie konnte sich glücklich schätzen, wenn man nicht gleich kurzen Prozeß mit ihr machte und sie erschoß, weil man im Moment einfach keine Zeit für sie hatte. Unsanft wurde sie hinausbugsiert. Lorenza wehrte sich nicht. Ihre Miene war ausdruckslos und sehr blaß. Nicht ein einziges Mal blickte sie Cora an. Sie resignierte. Das war deutlich zu sehen. Und auch die Astro-Ökologin war nahe daran, aufzugeben.
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»Da!« John Millory deutete mit dem ausgestreckten Arm. Es war nicht viel zu erkennen. Wurde die Eiswolke, die sich ihnen näherte, vom ständigen starken Wind hochgewirbelt? Oder hatte das andere Ursachen? »Sie haben uns geortet!« schrie Ted Hardy. Ein großer Transportgleiter fegte über die endlos erscheinende Eisfläche. Er erzeugte Vibrationen, die sich bis zu der Gruppe hin ausdehnten. Also lag die Pilotin mit ihrer Vermutung richtig. Wie verrückt begannen sie alle, herumzuhüpfen und mit den Armen zu wedeln. Vom Gleiter aus übersah man sie einfach. Der Gleiter hielt genau auf das Raketenflugzeug zu. Kurz davor vollführte er eine elegante Kurve und stoppte ab. Die Menschen winkten weiter - enttäuscht, zornig, verzweifelt. Endlich gab es an Bord des Gleiters eine Reaktion. Ein zusätzliches Licht flammte auf. Der Kegel eines Scheinwerferstrahles tastete über die trostlose Eiswüste, näherte sich ihnen und erfaßte sie voll, so daß sie einen Augenblick geblendet wurden. Der Gleiter ruckte wieder an und schwebte heran, dabei Wolken von Eiskristallen aufwirbelnd. Sie blieben stehen und warteten. John schaute wieder auf seine Temperaturanzeige. »Unter zwanzig Grad minus. Und die Temperatur sinkt wieder weiter, wenn auch sehr langsam.« Beruhigend war das nicht. Der Gleiter hielt vor ihnen und senkte sich auf die Eisfläche. Eine Luke öffnete sich. Darin erschien eine winkende Gestalt, ebenfalls in einen Schutzanzug gehüllt. Sie stiegen ein. Das Innere des Gleiters war groß und geräumig und wirkte auf sie irgendwie gemütlich und behaglich. »Willkommen an Bord!« sagte eine Stimme. »Das ging beinahe ins Auge!« sagte Ted Hardy. Sie klappten die Sichtschirme ihrer Helme hoch. Entgeistert starrte der Retter auf die Blondine. »Wer war euer Pilot?« erkundigte er sich. Petro Galinksi deutete auf die blonde Schönheit. »Frau am Steuer!« bemerkte er bissig. Sie warf ihm einen flammenden Blick zu, beherrschte sich aber. Der Retter ging zu ihr hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich möchte Ihnen für die bravouröse Landung gratulieren. Wir sind herausgekommen, um zu sehen, wieviel eigentlich übrigblieb. Mit Überlebenden rechnete niemand mehr. Wie ich sehe, ist die Rakete sogar noch zu reparieren. Vielleicht sollten wir demnächst mehr Frauen in die Pilotenkanzel lassen.« Wieder traf Petro Galinksi ein Blick aus den himmelblauen Augen. Diesmal nicht vernichtend, sondern triumphierend. Petro machte es nichts aus. Er grinste nur, was sie ein wenig aus Copyright 2001 by readersplanet
dem Konzept brachte. Noch jemand kam in die Passagierkabine. »Alles in Ordnung?« fragte der Mann. »Ja, wir können abzischen. Um die Rakete kümmern wir uns später.« Der Retter wandte sich an die Gruppe. »Wir bringen Sie in die Hauptstadt. Einverstanden?« Ted Hardy nickte. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, wie?« »Erwarten Sie nicht zuviel. Es sieht schlimm aus. Roboteinheiten bemühen sich, die Überlebenden aus den Trümmern zu fischen. Das ist eine furchtbare Katastrophe. Besonders in den Bergen. Wir fragen uns nur, wie es dazu kommen konnte.« Er wechselte das Thema. »Wohin wollen Sie jetzt?« Sie blickten sich an. Petro Galinksi übernahm, es zu antworten. »Wir kehren zurück, wo wir hergekommen sind.« »Nun gut, Ihre Sache. Ich hoffe nur, daß es noch eine intakte Tunnelbahn gibt. Eine ganze Menge Leute sind in die unterirdischen Transportanlagen geflüchtet. Es erschien ihnen dort unten sicherer als auf der Oberfläche. Recht haben sie. Wenn man sich so betrachtet, was aus unserer guten alten Erde geworden ist... Die Versorgung brach inzwischen weltweit zusammen. Die ersten hungern. Das wird sie wieder aus den Transportsystemen nach oben treiben. Aber auch da gibt es nichts mehr. Noch ein paar Tage, mehr gebe ich den Bewohnern dieses Planeten nicht mehr!« Es klang sehr pessimistisch. Und da war keiner, der ihm widersprach. Der Gleiter wendete und verließ die endlose Eisfläche. Sie fuhren mit Volldampf in Richtung Hauptstadt. Der Pilot hatte keine Schwierigkeiten. Er verfügte über ausgezeichnete Instrumente und befand sich ständig mit dem Raumflughafen in Verbindung. Starts zu Raumflügen fanden nicht mehr statt. Die Verbindung zu den Planeten des Sonnensystems war gerissen. Nicht nur, daß Landung und Start bei den gegenwärtigen Witterungsverhältnissen auf Schwierigkeiten gestoßen wären. Die Menschen auf den Nachbarplaneten sahen nicht ein, was sie auf einer sterbenden Welt zu suchen hatten. Und das war diese Erde inzwischen: eine sterbende Weit, die im Eis zu ersticken drohte! Der Gleiter steuerte den Raumflughafen an. Normalerweise wäre wohl die Bürokratie wegen der Rettung aus höchster Not ihre Wege gegangen, aber zu einer Zeit des weltweiten Chaos legte man auf solche Dinge keinen Wert mehr. Die Sache verlief formlos. Die Gruppe wurde vor dem Raumflughafen abgesetzt. Der Gleiter flog ohne sie davon. Angezogen mit den ausgezeichnet funktionierenden Monturen standen die Geretteten am Ende inmitten der Hauptstadt dieser Region. Von der Stadt war nicht mehr viel zu erkennen. Einige der Wohntürme waren bereits dem Eis zum Opfer gefallen. Der Wind trieb Eiswolken über leere Flächen und Trümmerberge. Irgendwo gab es heftige Explosionen. Die Gruppe betrat die Anlage einer Transportröhre. Es gab unterirdische Verbindungen quer durch den Kontinent. Waren sie noch benutzbar? »Sagen Sie, warum wollen Sie eigentlich zurück?« fragte Ted Hardy Petro Galinksi. Petro schaute ihn an. »Wir waren zu dritt, wie Sie wissen. Unsere Begleiterin geriet in Gefangenschaft. Ich setze all meine Hoffnungen auf Cora Stajnfeld - und Sie!« »Auf mich?«
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»Sie besitzen Befugnisse, die uns vielleicht nutzen. Nachdem eine der Anlagen hochgegangen ist, wird man vielleicht ein offeneres Ohr haben.« »Was soll ich tun?« »Wir kehren zur Anlage zurück. Verschaffen Sie uns Eintritt - irgendwie! Die mit Ihnen verbündeten Agenten werden Sie dabei unterstützen. Unsere Begleiterin muß freikommen, Wenn jemand eine rettende Idee hat, dann sie.« »Wie kommen Sie zu dieser Annahme?« Petro Galinksi deutete auf John Millory. »Kann ich einen Augenblick allein mit ihm sprechen?« Ted Hardy nickte widerstrebend. Petro und John gingen etwas abseits. »Denkst du dasselbe wie ich?« fragte John gespannt. Petro nickte. »Ja, ich erinnerte mich an die Phänomene - kurz nach der Materialisierung.« »Du hast recht, Petro, es gibt dafür nur eine Erklärung: Es ist den Wissenschaftlern dieser Welt gelungen, die Raum-Zeit-Ordnung zu manipulieren. Das tut man eigentlich ja auch mit dem Gaarson-Effekt. Aber es gibt eine deutliche Veränderung der Raum-Zeit-Struktur, sonst hätte der Gaarson-Effekt hier nicht so entscheidend nachgelassen. Dennoch gibt es Parallelen zum eigentlichen Gaarson-Effekt, und ich kenne keinen Menschen, der darin ein größerer Experte wäre als Cora Stajnfeld, die irdische Führerin der Astro-Ökologen. Und außerdem kenne ich keinen Menschen, der dies besser beurteilen könnte als ich! Schließlich habe ich ellenlange Diskussionen mit ihr überstanden - und dachte vorher, ich selber sei der größte Gaarson-Experte... Also, wenn Du meine Meinung hören willst: Die Energien, die erzeugt werden, müssen schließlich irgendwo bleiben. Ich fragte mich die ganze Zeit, wie die es anstellen, sie zu speichern. Es müssen unglaubliche Energien sein, wenn man so die weltweiten Auswirkungen betrachtet.« »Der Hyperraum! Die Speicherung soll die Veränderung des Raum-Zeit-Gefüges wieder rückgängig machen - und wieder den Einsatz des Gaarson-Effektes ermöglichen. Einfach fantastisch! Aber das Experiment ist den Händen der Wissenschaftler entglitten. Ja, diese Speicherung erfolgt in der Halle, die wir bereits kennen. Du hast die Entladungen selbst gesehen. Die Energien verschwinden scheinbar im Nichts. Sonst würden sie die Halle zerstören. Die vorhandenen Maschinen haben nur den einen Sinn, die erforderlichen Kraftfelder zu erzeugen. Und sie zerstörten letztlich das Gate...« »Ich bekomme noch im Nachhinein weiche Knie, wenn ich bedenke, was für ein Glück wir hatten. Ein Wunder, daß wir leben!« Sie kehrten zu der Gruppe zurück. »Wie schon erwähnt«, sagte Petro Galinksi, »unsere Begleiterin ist unsere ganze Hoffnung! - Und Ihre auch!«
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Der unterirdische Röhrenbahnhof war überfüllt mit Menschen. Mühsam erkämpften sie sich einen Weg durch das Getümmel. Hier unten war es warm und stickig. Die Lufterneuerung klappte nicht. Sie schlugen ihre Helme zu und regulierten die Thermostate der Anzüge. Niemand störte sich daran, daß Petro Galinksi und John Millory keine Kennmarken an den Schutzanzug geheftet hatten. Ted Hardy und seine Männer kannten ihr Ziel. An einer Tür, die wie Stahl glänzte und aus Kunststoff bestand, blieben sie stehen. Ted Hardy zückte eine Marke, die wie ein Chip aussah. Dieser Chip hatte bestimmte Eigenschaften. Hardy schob ihn in einen dafür vorgesehenen Schlitz. Die Tür wich zur Seite. Sie betraten einen kurzen Gang, an dessen Ende eine Treppe nach unten führte. Nach fünf Stufen standen sie vor der nächsten Tür. Die wurde jedoch von innen geöffnet. Zwei Uniformierte tauchten auf und drohten mit gezogenen Waffen. Ted Hardy und seine Männer gaben sich zu erkennen. Zum ersten Mal wurde Petro und John Millory richtig bewußt, mit wem sie da eigentlich zusammenarbeiteten. Die Befugnisse der Leute waren enorm. Die Uniformierten ließen sie passieren. Über mehrere Gänge und einen Lift erreichten sie die Stelle, von der aus die Transportsysteme gesteuert wurden. Dort wurden sie bereits erwartet. Ted Hardy hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Ist eine Transportröhre frei?« Der Leiter der Zentrale nickte, schaute jedoch verkniffen. »Die einzige, die benutzbar ist. Alle anderen wurden vom Mob besetzt. Wir konnten nichts dagegen tun«, beteuerte er. »Oder wir hätten die Menschen töten müssen.« Ted Hardy winkte ab. »Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig. Es ist schon richtig so, wie Sie es gemacht haben.« Der Mann atmete erleichtert auf. »Ich veranlasse sofort Ihren Transport. Wenn Sie bitte folgen möchten!« Unterwegs beschloß Petro, sozusagen auf den Busch zu klopfen: »Ich wußte gar nicht, daß es eine Institution wie Sie überhaupt gibt.« Ted Hardy lächelte hintergründig. »Es wird immer Agenten der Regierung geben. Wir bleiben im Hintergrund, aber die staatlichen Behörden wissen um unser Vorhandensein und sind gehalten, uns in jeder Beziehung behilflich zu sein, wenn wir an sie herantreten.« »Sagen Sie, wo stehen die anderen Versuchsanlagen?« Ted Hardy gab ausweichend Auskunft: »Ich sagte bereits, daß es insgesamt fünf Anlagen gibt - jetzt natürlich nur noch vier, nach dem Unglück. Sie sind nach einem bestimmten Plan über unsere gesamte Erde verteilt.« Auf Umwegen erreichten sie einen abgesperrten Teil des Röhrenbahnhofs. Das Fahrzeug wartete bereits auf sie - ein projektilartiger Wagen ohne Räder. Sie stiegen ein. Copyright 2001 by readersplanet
Lautlos bewegte sich das Transportmittel in die Röhre hinein, wurde in die Vakuumkammer eingeschleust und mit hohen Werten beschleunigt. Die Gruppe hatte alle Mühe, sich irgendwo festzuhalten, um nicht von den Sitzen getragen zu werden. Sehr unterhaltsam war die Fahrt nicht. Der raketenförmige Wagen schlingerte zeitweise erbärmlich. Nach wenig mehr als drei Stunden war die Rüttelei zu Ende. Ihr erstes Etappenziel war erreicht. Hier wurden sie bereits erwartet. Niemand fragte danach, wieviel Mühe es gekostet hatte, der Gruppe die Weiterreise zu ermöglichen. Sie stiegen um. Der Leiter des Röhrenbahnhofs betreute sie selber. Das eigentliche Ziel war in Reichweite gerückt.
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Man hatte Cora dort eingeschlossen, wo sie zum ersten Mal erwacht war. Seitdem kümmerte sich niemand mehr um sie. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. Sehnsüchtig dachte sie an ihren Radartimer und an ihre beiden Gefährten Petro Galinksi und John Millory. Nach einer halben Ewigkeit, wie ihr schien, wurde endlich die Tür geöffnet. Francesco Tadeo trat ein. Erst dachte Cora, der Major wäre jetzt ebenfalls ein Gefangener, aber sie irrte sich. Der Offizier, der Coras Festnahme veranlaßt hatte, tauchte hinter ihm auf. »Die Situation hat sich grundlegend geändert«, sagte der Mann zerknirscht. »Warum sagten Sie uns nicht, daß Sie mit obersten Regierungsstellen in Verbindung stehen?« Cora verstand kein Wort. Aber sie reagierte geistesgegenwärtig, indem sie auf Tadeo deutete und entgegnete: »Er weiß doch Bescheid!« Francesco Tadeo nickte. »Das habe ich ihm auch gesagt, aber wir zweifelten beide an Ihren Worten. Sie konnten sich schließlich nicht ausweisen.« Der andere Offizier winkte. »Kommen Sie endlich! Es ist jetzt unsinnig, mich bei Ihnen zu entschuldigen, dafür drängt die Zeit zu sehr. Ihre beiden Begleiter befinden sich übrigens auf dem Weg hierher.« Cora dröhnte der Kopf. Aber sie erhob sich. Sie brachten sie in die Zentrale zurück. Das Gesicht auf dem Videoschirm war Cora völlig unbekannt »Cora Stajnfeld?« erkundigte sich der Fremde, und als Cora nickte, fuhr er fort: »Na, die haben ganz schön daneben gegriffen! Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Die Leute haben schließlich ihre Pflicht getan. Wir konnten ja nicht ahnen, daß Ihr Einsatz in der Versuchsanlage zunächst einmal scheitern würde. Sonst hätten wir Sie mit den notwendigen Papieren ausgestattet. Petro Galinksi und John Millory wandten sich an uns. Es ist ihnen nicht gerade leicht gefallen, Kontakt aufzunehmen.« »Man sagte mir, sie befinden sich auf dem Wege hierher!« Der Fremde nickte. »Haben Sie schon versucht, mit den Wissenschaftlern zu sprechen?« »Ja, aber ohne Erfolg.« »Darf ich mich vorstellen? Ted Hardy! Sie kennen zwar mein Gesicht, nicht aber den Namen. Ich bin Ihr neuer Kontaktmann. Die anderen halten sich zurück. Sie verstehen?« »Natürlich! Kommen Sie ebenfalls her?« »Das geht nicht. Sie wissen ja, daß zum Betreten der Anlage Sonderbefugnisse erforderlich sind. Die fehlen uns im Moment. Ich habe den Leuten allerdings erklärt, welche immense Bedeutung Sie drei haben. Die Tatsache, daß eines der Projekte vollends außer Kontrolle geriet, hat ihnen zu denken gegeben. Sie sind bereit, ein kleines Risiko einzugehen und dafür vielleicht ihr Leben zu erhalten. Das Risiko besteht darin, daß wir in der Eile auch für Sie drei keine Vollmachten erstellen konnten.« Copyright 2001 by readersplanet
Cora warf einen Blick auf Francesco Tadeo, der unmerklich nickte. Durchschaute der Major das Spiel? Was war das für ein Mann, dieser Ted Hardy? Ein hohes Tier sicher, sonst hätte sich Tadeos Kollege trotz des Notstandes nicht beeinflussen lassen. »Viel Glück, Cora Stajnfeld!« wünschte Ted Hardy. »Danke!« sagte die Gate-Reisende bewegt. Die Verbindung wurde unterbrochen. Ein weiteres Mal wurden die Wissenschaftler drüben in der Anlage gerufen. Cora sprach selber. Sie machte auf ihre besonderen Kenntnisse als Astro-Ökologin aufmerksam. Dabei sagte sie den Wissenschaftlern auf den Kopf zu, was sie in der Versuchsanordnung überhaupt trieben. Und das hatte endlich Erfolg! Auf dem Sichtschirm tauchte ein weißköpfiger älterer Mann auf. Tränensäcke hingen unter seinen Augen. Der Blick war verzweifelt. »Was wollen Sie?« fauchte er. »Mit meinen beiden Assistenten hinüber zu Ihnen! Das erste Mal hat es Schwierigkeiten gegeben. Jetzt sollten Sie uns freiwillig einlassen.« »Das erste Mal?« »Wir haben erkannt, daß Ihnen das Experiment aus den Händen glitt, und kamen durch das von Ihnen als Fluchtweg initiierte Gate, um den Vorgang zu unterbrechen.« Der Weißköpfige schickte sich an, die Verbindung zu beenden. »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun!« warnte Cora. »Sie haben keine weitere Fluchtmöglichkeit mehr! Sobald Sie ein Gate betreten, materialisieren Sie inmitten unserer Zentrale. Sie werden diesen Planeten nicht verlassen können. Sie werden mit untergehen. Das verspreche ich Ihnen!« Der Bluff zeitigte Wirkung. Cora fuhr fort: »Es geht um den Erhalt der Menschheit dieses Planeten. Sie haben große Schuld auf sich geladen. Soll diese Schuld noch größer werden? Ihre Kollegen in der anderen Versuchsanordnung sind bereits gescheitert. Bald wird es diese Erde nicht mehr geben, wenn Sie nicht zur Vernunft kommen! Egal, was Sie in mir sehen, aber ich bin ein Strohhalm, nach dem Sie greifen sollten! Zu verlieren haben Sie nichts mehr.« Der Bildschirm erlosch. Gleichzeitig rief Tadeo schrill: »Die haben den Energieschild ausgeschaltet! Beeilen Sie sich, Cora, ehe sie es sich anders überlegen!«
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Sie kamen mit einem Fluggleiter und trafen Cora vor dem riesigen Betonei. Petro Galinksi und John Millory starteten keine großartige Begrüßungsszene. Dazu war keine Zeit. Sie betraten gemeinsam die Anlage durch die Tür, die ihnen Francesco Tadeo zeigte. Cora spürte leise Wehmut, als sie zurückschaute. Tadeo stand da. Hinter ihm tauchte Lorenza Guerrien auf. Sie winkte. Cora wußte, daß sie die beiden wahrscheinlich nie mehr sah. Petro Galinksis Augenbrauen rutschten nach oben. »Sie haben doch nicht etwa das Herz der Dame entflammt, meine Gute? Oh weh, oh weh! Dabei fällt mir ein, daß ich immer noch nicht weiß, wie die Blondine hieß! Die konnte vielleicht fliegen...« Sie kamen am Ende des Ganges an. Ein Fahrstuhl nahm sie auf. Mit rasender Geschwindigkeit ging es höher. Die Zentrale lag ganz oben, an der Kopfseite des unförmigen Betoneis. Als sie den Fahrstuhl verließen, sah es genauso aus wie auf dem Bild, das Cora vom Sichtschirm her in Erinnerung hatte. Nur war dieses Bild diesmal belebt. Ungefähr zwanzig Männer und Frauen bevölkerten diese Schaltzentrale. Sie standen von ihren Sitzen auf und umringten die drei. »Sie sind es tatsächlich - die unten in der Anlage so plötzlich auftauchten!« sagte jemand. Das war ihr Empfang. Das Mißtrauen schlug um in gespannte Erwartung. Cora ließ sich in groben Umrissen das Prinzip des Großversuches erklären. Demnach hatte man tatsächlich einen neuen Zugang zum Hyperraum entdeckt - trotz oder gerade wegen der Veränderung des Raum-Zeit-Kontinuums in diesem Teil des Universums. Die umgewandelten Energien wurden in »einer Art Dimensionstasche« gespeichert. Von dort konnte man sie auch wieder abrufen - mittels »traditionellem« Gaarson-Effekt. Allerdings war die Speicherkapazität begrenzt. Das oberste Limit würde in ein paar Stunden erreicht sein. Den genauen Zeitpunkt vermochten die Wissenschaftler nicht festzulegen. Dann würde diese Anlage enden wie die bereits untergegangene! Es lag an der Eigenheit der Anlage, daß Speicherung und Erzeugung eng im Zusammenhang standen. Die »Dimensionstasche« reagierte anders als bei vorangegangenen kleineren Experimenten. So plötzlich und überreichlich mit großen Energien beschickt, entwickelte sie eine Art Durst nach mehr. Ein Teufelskreis entstand. Auch als die Wissenschaftler erschrocken die Energieumwandler abschalteten, konnten sie den Prozeß nicht mehr stoppen. Sie hatten keine Ahnung, was dort unten überhaupt passiert war. Die Kraftfelder waren bestehen geblieben, wurden in sich selbst gespeist und reagierten ähnlich einem Perpetuum mobile. Nur mit dem Unterschied, daß sie weitere Energien von außerhalb an sich rissen. Wie das im Einzelnen geschah, entzog sich der Kenntnis der Wissenschaftler. Auf irgendeine Art und Weise wandelten die Kraftfelder die Wärme in einem großen Umkreis, transportierten sie hierher, um sie übergangslos in die Dimensionstasche zu schicken. Die Männer und Frauen waren einfach machtlos. Und so saßen sie hier, gemäß ihrem Auftrag, und warteten auf das Ende, das wohl niemand mehr aufhalten konnte. Dabei verrieten sie Cora und ihren Begleitern, daß ihr Ankunfts-Gate keineswegs vernichtet war: Sie hatten es nur getarnt, so daß der Eindruck entstand, es würde einfach verschwinden! Weil sie verhindern wollten, daß Cora und ihre Begleiter in der Copyright 2001 by readersplanet
Versuchsanordnung blieben. Die drei waren auch erwartungsgemäß geflohen und von den Wissenschaftlern nach draußen gelassen worden... Cora erkannte sofort die Fehler der Wissenschaftler. Die hatten sich physikalischer Vorgänge bedient, die noch lange nicht erforscht waren - zumindest nicht auf dieser Welt. Oder anders herum: Einstiges Wissen war lange schon verlorengegangen, seit der nachlassende Gaarson-Effekt Wirtschaft und Kultur negativ verändert hatte. Und Cora erkannte auch, daß die Experimente erst hier und heute beim gegenwärtigen Stand der Veränderungen möglich geworden waren. Kein Wunder, daß die Wissenschaftler ihr gegenüber so unbedarft wirkten... Petro Galinksi und John Millory gingen ihr zur Hand. Sie unterbrachen mit einem Kunstkniff den Teufelskreis, indem sie einfach die Anordnung für den Gaarson-Effekt modifizierten! Die Wissenschaftler paßten genau auf und gaben die Lösung des Problems an die anderen Versuchseinheiten weiter. Schlagartig wurde der vernichtende Prozeß in den verbliebenen Anlagen gestoppt. Die Dimensionstaschen saugten nicht mehr weiter gierig und unbeeinflußbar Energien an, um sie irgendwann explosionsartig wieder freizugeben, sondern wurden befähigt, die gespeicherten Energien über den modifizierten Gaarson-Effekt nutzbar werden zu lassen. Die Rückwandlung setzte ein, um wieder Wärme über die Welt zu bringen. Noch in der Schaltzentrale der Wissenschaftler wurden die Gate-Springer Zeugen gewaltiger Energieentladungen in der Atmosphäre. Gigantische Lichtblitze zuckten über die Sichtschirme und rissen das vereiste Land aus dem Bleigrau von Schnee, Kälte und Tod. Die immensen Lichterscheinungen wurden nach zwei Stunden schwächer. Große atmosphärische Veränderungen kündigten sich mit Sturmböen an. »Geschafft!« sagte Cora erleichtert und schaute den leitenden Wissenschaftler an. »So, und jetzt möchten wir drei einfach wieder nach Hause!« Der Wissenschaftler schaute sie entgeistert an. »Ja, richtig erraten«, sagte Cora lächelnd: »Wir wollen das Gate unten wieder betreten und auf demselben Wege verschwinden, wie wir gekommen sind. Ansonsten brauchen Sie das Gate ja jetzt nicht mehr...« Sie zögerte kurz. »Äh, wußten Sie eigentlich, wohin Sie durch das Gate gelangen? Ich meine, haben Sie es denn überhaupt ausprobiert?« Der leitende Wissenschaftler zuckte mit den Achseln. »Natürlich nicht! Wie denn auch? Wir hätten niemals damit gerechnet, daß man das initiierte Gate benutzen würde, um Sie drei hier in die Anlage einzuschleusen. Wir hätten es ja auch nur genutzt als allerletzten Ausweg. Und dann wäre es ziemlich gleichgültig gewesen, wohin es uns gebracht hätte. Denn wir hätten in der Anlage sowieso umkommen müssen.« Das ist ja ein Ding! dachte Cora. Dann wissen wir gar nicht, ob wir wirklich auf Vetusta wieder ankommen! Denn wenn es ein Sieben-Meter-Gate gibt, das sich näher befindet, bleibt uns der Rückweg versperrt. Aber dann beruhigte sie sich: In diesem Teil des Universums werden die Gates seit dem letzten Krieg nicht mehr benutzt! Jedes Sonnensystem hat sich vom anderen abgekapselt. Rückgang von Kultur, Wirtschaft und vor allem von technischen Erkenntnissen ist die deutlich sichtbare Folge. Und die Vorurteile gegenüber der Gate-Technik. Aber sie funktionieren noch, trotz des veränderten Raum-Zeit-Gefüges! Man braucht sie nur zu zünden. Der Beweis ist erbracht. Sonst wären wir nicht hier. Außerdem: Es gab keine Alternative: Sie mußten das Gate wieder benutzen. Sonst würden sie für immer hierbleiben müssen - und dabei ihre Gefährten auf Vetusta im Stich lassen. Außerdem würden sie noch eine ganze Menge Fragen beantworten müssen, falls sie hierblieben... Mit gemischten Gefühlen und mit ihrer ursprünglichen Ausrüstung betraten die drei letztlich das Gaarson-Gate und warteten darauf, daß das FluoreszenzFeld aufzuckte. Copyright 2001 by readersplanet
Als es dann geschah, wagten sie erst gar nicht, hinauszuschauen. Was erwartete sie? Sie hofften: Vetusta! Aber...?
Zwischenbemerkung Bevor wir erfahren können, wie es mit den drei weitergeht, müssen wir dringend umschalten zur Erde, denn dort bahnt sich eine neue Katastrophe an. Zunächst auf relativ leisen Sohlen. Wilfried Hary erzählt es uns! Ihr W. A. Travers
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7
Judy Hamilton erschrak. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und bedauerte es, kleiner als der Durchschnitt zu sein. Vergeblich versuchte sie, durch die Masse der Menschen ringsum den Straßenrand zu erkennen. Auch als sie die vollbusige Dame direkt vor ihr auf dem Rollband zur Seite dirigieren wollte, hatte sie kein Glück. Aber dann erhaschte sie einen kurzen Blick. Tatsächlich, sie hatte den Absprung vom Band verpaßt! Judy Hamilton spürte leise Verzweiflung in sich aufkeimen. Nein, sie war alles andere als eine hysterische Person, doch das, was sie heute zu tun beabsichtigte, belastete sie im höchsten Maße. Die Vollbusige gehörte zu einer größeren Gruppe, die sich angeregt unterhielt. Niemand nahm Notiz von Judy und ihren Bemühungen, sich einen Weg zu bahnen. »Könnten Sie ein wenig auseinanderrücken, damit ich durchkomme?« fragte die Verzweifelte schließlich. Die Vollbusige schaute sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zu. Judy Hamilton ballte in ohnmächtiger Wut ihre zierlichen Hände zu Fäusten. Sie war wütend auf sich, auf die »Stadt« Mega-NY (vor Jahrhunderten: New York!), die im Grunde genommen nichts anderes war als ein einziges gigantisches Gebäude, auf die Leute, die nur ihre eigenen nichtigen Probleme kannten und blind waren gegenüber den Belangen des Nachbarn - kurz, sie war wütend auf den ganzen Planeten! Und diese Wut ließ sie sozusagen über sich selbst hinauswachsen. Sie zwängte sich einfach hinter dem Rücken der Walküre vorbei und benutzte dabei fleißig ihre Ellenbogen. Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Folgen. »He, junge Frau, wohin so eilig?« rief eine männliche Stimme. Judy fühlte sich im nächsten Augenblick am Arm gepackt und aufgehalten. Sie wollte sich aus dem eisernen Griff befreien, was ihr jedoch nicht gelang. So war sie gezwungen, sich dem Fremden zuzuwenden. Er war groß und muskulös, und Judy reichte ihm nicht einmal bis zu den Schultern. »Lassen Sie mich gefälligst los!« rief sie. Der Breitschultrige lachte nur. Der Schmerz an ihrem Arm brachte Judy fast zur Raserei. »Sie unverschämter Kerl, ich muß zur Medostation. Ich beantrage dort ein Kind! Sofort lassen Sie mich los! Ich habe keine Zeit zu verlieren.« »Zur Medostation?« echote der Mann. Er reckte den Hals und spähte zum Rand der Rollstraße hinüber. »Ich kann keine Station sehen. Sind wir denn schon vorbei?« Tränen rannen über Judys hektisch gerötete Wangen. »Bitte, so helfen Sie mir doch! Die Zeit drängt. Um Gottes Willen, wenn ich zu spät komme! Ich muß unbedingt hin. Au, Sie tun mir weh! Lassen Sie meinen Arm los, sonst...« »Sonst? Ah, es ist ein Greuel mit diesen hysterischen Frauen. Wenn Sie wirklich eine Chance haben wollen bei dem Ausleseverfahren, sollten Sie sich bemühen, ruhiger zu Copyright 2001 by readersplanet
werden!« Mit der freien Faust schlug Judy zu - mehrmals. Doch nicht ein einziges Mal traf sie dieses Gesicht. Das Gedränge war zu groß. Judy spürte den Atem des Fremden auf ihrer Stirn. Panik ergriff sie, gewann an Macht und überflutete sie. Die Leute ringsum wurden aufmerksam. »Man sollte seine Ehezwistigkeiten nicht auf der Straße austragen«, tadelte jemand. Judy bekam plötzlich mehr Luft. »Ganz schön schlimm, die Frau«, grollte der Mann vor ihr und ließ endlich von Judy ab. »Hat mich doch tatsächlich schlagen wollen, obwohl ich gar nichts getan habe. Was ist das denn für ein Benehmen?« Für einen Moment war Judy Hamilton Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Sie hörte Lachen ringsum, sah die Gesichter, die wie durch ein Brennglas wirkten, als makabre, monströse Masken, hinter denen nichts mehr stand als Erlebnissucht und Sinnlosigkeit. Die Vielzahl der Stimmen vereinigte sich mit dem Summen des Bandes und dem fernen Rumpeln der Gleitrollen zu einem Geräusch wie Meeresbrandung an einer Steilküste. Das verworrene Konzert von Umweltlauten schwoll an. Ein durchdringender Schrei ertönte. Es wurde Judy Hamilton nicht bewußt, daß sie selbst es war, die schrie. Erschrocken machten die anderen Platz. Hier bahnte sich etwas an, womit sie nichts zu tun haben wollten. Judy Hamilton warf den Kopf in den Nacken. Ihr Körper war hart wie ein Brett, verkrampft. Die Nervenkrise erreichte einen Höhepunkt. Judy war klein, und die Köpfe der Umstehenden bildeten für sie einen Trichter, in dessen Mittelpunkt sie sich befand. Weit oberhalb der Trichteröffnung zog sich die lange Reihe von Beleuchtungskörpern entlang - wie eine glitzernde Perlenkette. An der Decke waren sie befestigt, diese Beleuchtungskörper, denn die Straße war eigentlich ein Tunnel, von zwei Wohn- und Geschäftsetagen zu beiden Seiten eingerahmt. Plötzlich fing die Lichterkette an zu wackeln und zu tanzen. Der Trichter aus Köpfen und Leibern schien Judy verschlingen zu wollen. Der Rand rutschte nach oben hin weg und begann dabei, sich in Rotation zu versetzen. Judy preßte die Hände gegen die Ohren und schrie erneut. Man wich vor ihr zurück. Auch der Fremde hatte anscheinend erkannt, daß er zu weit gegangen war, und tauchte einfach in der Menge unter. Schwer schlug Judy auf dem Boden auf. Zum Glück war das Band elastisch genug, weshalb die junge Frau sich nicht verletzte. Die Menschen starrten schweigend auf die Frau zu ihren Füßen. Begriffen sie in diesem Moment, was aus ihnen geworden war - was sie aus sich und ihrem Heimatplaneten Erde gemacht hatten? Achtzehn Milliarden Menschen lebten offiziell auf der Weltenkugel (ohne die Namenlosen außerhalb der Ballungszentren, die Nichtregistrierten, Vogelfreien, die man hinter vorgehaltener Hand Neniantoj nannte und die es eben offiziell überhaupt nicht gab) - das, obwohl schon im zwanzigsten Jahrhundert von den damals nur sechs Milliarden etwa ein Drittel gehungert hatte! Und das war nun schon über vierhundertfünfzig Jahre her. Nein, Hunger kannte man heute, im fünfundzwanzigsten Jahrhundert, nicht mehr. Er schien für alle Zeiten besiegt zu sein. Synthetische Nahrungsmittel hatten den erbitterten Kampf gewonnen. Nicht einmal zahlen mußte der normale Verbraucher dafür - der Civitano, was so gut wie Bürger hieß. Es wurde gerecht geteilt - ein jeder erhielt seine ausreichende Tagesration, die er zum Leben brauchte. Copyright 2001 by readersplanet
Armut und alles, was damit zusammenhing, gehörte längst der Vergangenheit an. Man mußte dafür in Kauf nehmen, daß man um jeden Quadratmeter Bewegungsfreiheit außerhalb der genormten Wohnungen kämpfen mußte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da ging es wenigstens den Laboristoj, also der arbeitenden Klasse, besser, mit einem gewissen Luxus und dergleichen - und vor allem mit deutlich mehr Platz zum Beispiel in der Form von viel größeren Wohnungen. Das hatte sich mit zunehmend verschärften Platzverhältnissen ebenfalls verschlechtert zumindest für diejenigen, die innerhalb der gigantischen Wohnmaschinen geblieben waren. So zählte allein Mega-NY rund drei Milliarden Einwohner! Das größte Privileg, das der Minderheit namens Laboristoj geblieben war, hieß ARBEIT. Es gab in einer solchen Welt nur eine Möglichkeit, der Enge zu entfliehen, wenn man es nicht schaffte, soweit privilegiert zu werden, daß man nach draußen in die Eigenheimstädte ziehen durfte: Flucht von der Erde, um in einer der Kolonien ein neues Leben zu beginnen. Aber seit der großen Katastrophe, die zu einer Veränderung der Naturgesetzlichkeiten geführt hatte, gab es keine technisch basierte Raumfahrt mehr und damit keine Fortführung der Kolonisierungen. Vorläufig wenigstens nicht, und ein Ende des Stopps war kaum abzusehen, so lange auf der Erde nicht bekannt war, was aus den ehemaligen Machthabern wurde, die rechtzeitig vor der Katastrophe der Erde den Rücken gekehrt hatten und vielleicht immer noch annahmen, die Erde würde es gar nicht mehr geben. Es gab nur eine einzige Ausnahme, und die war nicht mehr als der berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein: Clarks-Planet! Denn nach dort gab es eine Transmitterverbindung - per Gaarson-Gate, eine Technik, die erst seit der Veränderung der Naturgesetzlichkeiten möglich war. Aber eben nur zwischen der Erde und Clarks-Planet. Die anderen Kolonien konnten damit nicht erreicht werden. Da war man auf die neue Psychonauten-Raumfahrt angewiesen, die allerdings noch in den Kinderschuhen steckte. Außerdem mußte man vorsichtig sein, denn wenn die alten Machthaber erfuhren, daß die Erde überlebt hatte, würden sie sich bemühen, ihre alten Machtansprüche wieder geltend zu machen ungeachtet dessen, daß sie ja eigentlich die Menschheit im Stich gelassen hatten...
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In der Ferne klang das Heulen einer Sirene auf. Bald würde eine Patrouille den Schauplatz erreicht haben. Ob es um Judy Hamiltons Zusammenbruch ging? Aber Judy Hamilton spürte ihre alten Kräfte neu erwachen. Sie schaffte es, den Anfall einigermaßen zu überwinden. Was ihr widerfahren war, gehörte fast zum Alltag. Immer wieder erlag jemand dem Streß der Massengesellschaft. Für Judy war es das erste Mal gewesen. Das schrieb sie den besonderen Umständen zu. Und damit dachte sie wieder an ihre Vorladung. Es stand eine ganze Menge für sie auf dem Spiel - für sie und ihren Mann. Seltsam leicht fühlte sie sich, als sie aufstand. Es tat gut, sich ausgiebig zu recken - und das zu einer solchen Zeit auf einer dichtbevölkerten Bandstraße. Der stetige Lärm prallte nunmehr wirkungslos an ihr ab, als habe ihr eine höhere Macht inzwischen einen Schutzschirm verliehen. Ein Schatten raste heran, begleitet vom schrillen Sirenengeheul. Er zischte über die Köpfe der Stadtbewohner hinweg, ohne seine Geschwindigkeit auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu verzögern. Nein, der Auftrag der Patrouille hatte nichts mit Judy zu tun. Das war jetzt offensichtlich. Judy Hamilton verschwendete auch gar keinen Gedanken daran. Wie eine Marionette ging sie jetzt auf die sie umgebende Menschenwand zu, die sich nur zögernd öffnete. Judy fühlte sich noch ein wenig trunken und wie betäubt. Doch das Bewußtsein, möglicherweise den Termin tatsächlich zu verpassen, gab ihr neue Kraft. Endlich hatte sie das Band verlassen. Sie verzichtete auf das Gegenband, um den Weg zur verpaßten Medostation zurückzulegen, und ging zu Fuß. Judy ärgerte sich jetzt darüber, daß sie in einem solch peinlichen Maße die Fassung verloren hatte, obwohl die rasche Überwindung der Krise darauf hinwies, daß ihre Nerven im Grunde genommen doch noch recht stabil waren. Natürlich litten die Menschen unter den Umständen - eigentlich alle. Das taten sie bereits seit den ersten Mietskasernen, und seit damals war alles nur noch schlimmer geworden. Wo waren die himmelstürmenden Ideen längst vergangener Zeiten? Und trotz allem ertrug der Gegenwartsmensch dies. Daran war die Technik schuld. Dieselbe Technik, die zu diesem unerträglichen Zustand geführt hatte, bot Scheinauswege an, Fluchtmöglichkeiten, die eigentlich gar keine waren, sondern künstliche und somit Scheinbefriedigungen einer frustrierten Welt. Judy Hamilton dachte an ihren Mann. Sie sehnte sich nach ihm. Ken war eine starke Persönlichkeit, und allein seine Anwesenheit gäbe ihr inneren Auftrieb. Sie legte trotz ihrer Eile eine kleine Pause ein, drückte ihre heiße Stirn gegen die kühlende Plastikwand. Sonst hatte sie stets alle Gedanken an das traurige Dasein verdrängt. Warum konnte sie es jetzt nicht ebenso tun? Warum quälte sie sich, indem sie sich alles ins Bewußtsein rief? War es, weil die Einladung zur Tauglichkeitsuntersuchung in ihrer Tasche knisterte?
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Anders konnte es nicht sein. Sie wollte unbedingt Mutter werden. Deshalb mußte sie sich jetzt zur Ruhe zwingen. Ausgeruht und gelöst mußte sie erscheinen, wenn sie sich den kritischen Sensoren der Diagnoseautomatik stellte. Sie mußte stark sein - so schwer dies auch fallen mochte. Nur die Starken hatten eine Chance. Es gelang Judy sogar, jetzt etwas heiter zu erscheinen. Sie warf einen Blick auf eine der überall aufgehängten Digitaluhren. Wenige Minuten nach fünfzehn Uhr. Die Hauptverkehrszeit flaute ein wenig ab. Auf diesem Stand würde der Verkehr für die nächsten beiden Stunden bleiben. Der Zyklus war endlos, kannte weder Tag noch Nacht. Allgemeine Arbeitszeiten waren gestaffelt - eben im Zweistundenrhythmus. Freie Tage gab es nicht für die Allgemeinheit, sondern im Wechsel nur für Einzelpersonen. Bis zu wenige Stunden pro Tag mußte der Durchschnitts-Laboristo arbeiten. Manche nur wenige Stunden pro Woche. Die meisten waren allerdings arbeitslos und durften sich nicht mehr Laboristo (Einzahl) oder Laboristoj (Mehrzahl) nennen. Sie waren die Civiatanoj, und sie taten meist genauso beschäftigt wie die echten Laboristoj. Man konnte auf der Straße die eine Kaste nicht von der anderen unterscheiden. Aber das war durchaus so gewollt, um soziale Spannungen zwischen den beiden Hauptkasten klein zu halten. Jede Stadt war ein fast autarkes Gebilde mit eigener Energieversorgung. Selbst von der Sonne hatte man sich weitgehend unabhängig gemacht. Denn Energieprobleme gab es nicht - seit das Genie Tipor Gaarson im Jahre 2052 seine Entdeckung publik gemacht hatte: den nach ihm benannten Gaarson-Effekt. Öl und dergleichen war ungeheuer rar und kostbar und konnte aus diesem Grund nicht mehr zum Verbrennen benutzt werden. Als Rohstoffquelle durfte es bestenfalls in der Chemie dienen, denn es wurden dort eine Menge Substanzen benötigt, die sich nicht völlig künstlich herstellen ließen. Und der Import der meisten Stoffe von den Kolonien war von jeher zu aufwendig gewesen. Nur wenige Wohnungen besaßen so etwas wie ein Fenster. Diese Wohnungen befanden sich in den beiden obersten Wohngeschossen, die für die höchstprivilegierten Laboristoj reserviert waren. Der Rest versteckte sich unterirdisch. Der Begriff Tag und Nacht hatte nur für das Einzelwesen Bedeutung. Jeder richtete es sich in seiner Wohnung so ein, wie es sein Biorhythmus im Zusammenspiel mit seiner Arbeits- und Freizeit (die ja sowieso den Löwenanteil ausmachte) erlaubte. Die einzelnen Stockwerke des zirka zweihundert Meter in der Höhe messenden Monuments wurden in Längs- und Querrichtungen von sogenannten Straßen unterbrochen. Daneben gab es viele Seitenverbindungen ohne Rollbänder, in denen nur Wohnungen lagen. Geschäfts- und Verwaltungsbezirke säumten die Hauptstraßen. Versorgt wurden die einzelnen Wohnungen durch technisch sehr raffiniert ausgeklügelte Rohranlagen. Endlich hatte Judy Hamilton die Medostation erreicht. Sie war für dieses Stockwerk zuständig, also Stockwerk zweihundertdreizehn Alpha und Beta. Die Zahl war eine Kodenummer und sagte nichts über die Anzahl der darunter oder darüber befindlichen Etagen aus. Das breite Portal ließ Judy Hamilton eintreten. Wenige Schritte hinter dem Haupteingang befand sich eine hermetische Sperre. Somit hielt sich Judy nun in einer Art Schleuse auf. Ohne weiteres konnte man die Sperre nicht passieren. Das Portal schloß sich, und eine Automatenstimme fragte: »Sie wünschen?« Judy registrierte, daß ihre Hände feucht wurden. Die Rechte mit der Vorladung zitterte ein wenig. Die junge Frau entfaltete das Blatt. In die sehr widerstandsfähige Folie waren ein paar Angaben eingestanzt, die speziell für den Automaten bestimmt waren und nur von diesem gelesen werden konnten. Copyright 2001 by readersplanet
Judy fühlte sich beobachtet und schaute zu den glotzenden Kameras hinauf, die jede ihrer Bewegungen festhielten. Angewidert steckte sie die Spezialfolie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Es dauerte nur Sekunden, da wurde die Folie wieder ausgespuckt. Judy Hamilton griff danach. Gleichzeitig begann sich die Sperre zu heben. Im selben Augenblick ertönte ein schrilles Alarmsignal. Judy wurde von schwachen Stromstößen getroffen, die nicht gefährlich, aber unangenehm waren, und zur Seite getrieben. Erschrocken wirbelte sie herum. Sie erkannte, was passiert war.
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Es geschah etwa zur gleichen Zeit an einem anderen Punkt der Erde. Hier hatten sich zwei Männer getroffen, um Bedeutsames zu besprechen. Und einer von den beiden würde das Treffen nicht überleben! Das hatte der andere so beschlossen, weil er es als einzigen Ausweg aus einem Dilemma ansah und weil er es sich durchaus leisten konnte, einen Menschen für immer verschwinden zu lassen, ohne daß es für ihn unbedingt Folgen haben mußte. »Was ist los mit Ihnen?« fragte der Gastgeber und betrachtete die finstere Miene seines Besuchers. »Ich frage mich, was Sie vorhaben. Jetzt ist alles vorbereitet, und ich finde zum ersten Mal Zeit, darüber nachzudenken.« Sein Gegenüber lachte gekünstelt. »Ich hasse diese Welt und hasse das Leben, das ich mit achtzehn Milliarden anderen teilen muß. Und ich sehe es als meine Hauptaufgabe an, dies zu ändern.« »Dazu müßten Sie alles zerstören und auf den Trümmern neu aufbauen. Ist es das wert? So schlecht geht es uns doch gar nicht, oder? Wir leben im fünfundzwanzigsten Jahrhundert, in einer Zeit des sozialen Fortschritts. Der Weltfriede ist seit Jahrhunderten Wirklichkeit, die eskalierende Kriminalität erheblich gedämpft, und die Völker der Erde schlossen sich zu einem Staatenbund zusammen. Die überwundene Katastrophe und die daraus resultierende Krise wurde glücklich überwunden, auch deshalb, weil die alten Machthaber rechtzeitig das Weite gesucht haben und somit die Erneuerung nicht stören, geschweige denn verhindern konnten. Jetzt endlich dürfen die Völker wieder die Weltregierung stellen, nach demokratischen Wahlen - und nicht mehr nach dem alten Machtprinzip der Weltkonzerne. Die gewählten Vertreter der Völker bilden die neue Weltregierung, die mit nur ihr unterstellten Staatsorganen die allgemeine Ordnung aufrecht erhält.« »Ja, das stimmt - wenn erforderlich, auch mit drakonischen Maßnahmen. Und damit sind wir bei den Schattenseiten angelangt. Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit, geboren aus der Rolle, die das Einzelindividuum in der Massengesellschaft spielt. Da ist die Tatsache, daß man die über alle Maßen hohe Bevölkerungsquote einfrieren mußte. Zwangsläufig führte man eine drastische Geburtenkontrolle ein. Wer ein Kind haben will, muß dieses offiziell beantragen und eine Menge Peinlichkeiten über sich ergehen lassen, bis dem Antrag stattgegeben wird - oder auch nicht. Und darin liegt eines der größten Probleme unserer modernen Gesellschaft. Durch die strenge Kontrolle wird der Nachwuchs zu einem Privileg sondergleichen und durch das Verbot für die Masse der Bevölkerung zum praktisch Begehrenswertesten überhaupt. Solche Umstände müssen zwangsläufig zur Eskalation führen, zumal der Ausweg zu den Kolonien zur Zeit versperrt ist - was man wiederum der neuen Weltregierung anlastet.« Der Besucher wuchs förmlich aus seinem Sessel hoch. »Eine Eskalation, die von Ihnen gefördert wird!« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich begreife es erst jetzt.« »Erst jetzt?« »Ich war einer der Männer, die für eine Abhilfe gesorgt haben.« »Ja, Sie sind eigentlich ein fähiger Kopf, weshalb mich Ihre verspätete Erkenntnis in Erstaunen setzt. Sie haben viel geleistet, was den Bau der Androiden betrifft. Die technischen Grundlagen zu den sogenannten Puppenkindern, zu diesem totalen Kinderersatz für Eheleute, die den Erfordernissen des Auswahlprinzips nicht entsprechen, Copyright 2001 by readersplanet
wurden zwar von anderen geschaffen, aber Sie haben die Sache in die Praxis umgesetzt gemeinsam mit Kollegen. Ich weiß das sehr wohl. Die Puppen sind ein Ventil und ein wichtiges Regulativ der allgemeinen Lage obendrein. Mit ihnen schenkten Sie der Menschheit Objekte für mit Gewalt unterdrückte Instinkte - und mir das ideale Werkzeug, um zum Ziel zu kommen.« »Sie sind wahrlich wahnsinnig. Haben Sie mich kommen lassen, um mir das alles zu sagen?« »Es war einer meiner Gründe. Die Vorbereitungen sind nunmehr abgeschlossen. Es ist Ihnen gelungen, für uns die Grundlagen zu schaffen, um die Puppen zu verändern. Ein großer Teil davon ist bereits im Umlauf. Wir müssen Ihnen dankbar sein, doch machten Sie einen entscheidenden Fehler. Sie spielten das Unschuldslamm, obwohl Sie unsere Pläne schon vor Wochen durchschaut haben. Damals versuchten Sie, sich mit dem neuen Geheimdienst in Verbindung zu setzen, was Ihnen schließlich gelang. Auch weiterhin lieferten Sie uns gute Arbeit - möglicherweise in Hinblick darauf, daß uns ohnedies bald das Handwerk gelegt werden würde. Ein Trugschluß, denn in Wahrheit waren die Verbindungsleute, an die Sie sich wandten, Männer aus meinen Reihen!« »Das ist nicht wahr!« »Sehen Sie, die Angelegenheit ist Ihren Händen entglitten. Wir brauchen Sie nicht mehr. Es ist Ihre eigene Schuld, daß Sie nunmehr für immer verschwinden müssen, weil Sie eine Gefahr für uns geworden sind.« Schreiend rannte der Besucher zur Tür und riß sie auf. Aber dieser Fluchtweg war versperrt. Ein Uniformierter bedrohte den Fliehenden mit gezückter Waffe. Der Wissenschaftler wandte sich an den Mann, der den Befehl zu seiner Ermordung gegeben hatte. »Damit kommen Sie nicht durch!« »Irrtum, nicht umsonst fiel meine Wahl ausgerechnet auf Sie vom ganzen wissenschaftlichen Team. Bis man auf Ihr Verschwinden aufmerksam wird, ist alles bereits erledigt.« Der Besucher warf sich nach vorn. Er wollte in seiner Verzweiflung dem anderen an die Kehle. Doch dieser brauchte dem Uniformierten nur einen Fingerzeig zu geben. Der machte mit seiner Waffe ein Ende. »Jetzt steht unserer großen Sache nichts und niemand mehr im Weg«, sagte der Gastgeber. In seinen Augen glitzerte so etwas wie Irrsinn. Er wollte das Chaos über die Welt bringen - nachdem die vergangene Katastrophe das letztlich doch nicht geschafft hatte.
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Judy Hamilton war zurückgewichen und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Etwas traf mit großer Wucht das Außenportal und stieß es auf. Es war ein Medorobot, der rücksichtslos eindrang. Judys Augen weiteten sich. Sie konnte es nicht vermeiden, daß sie vor diesen monströs erscheinenden Maschinen immer Angst entwickelte - obwohl sie doch dem Wohle des Menschen dienten. Auf der abgedeckten Pritsche des »künstlichen Sanitäters« lag ein Mensch. Er war zugedeckt. Mit großer Eile fegte der Robot mit seiner Last an Judy Hamilton vorbei. Sie spürte den starken Sog, der an ihren Kleidern zerrte. Ihre schulterlangen Haare flatterten. Für den Bruchteil einer Sekunde entstand die Gefahr, daß die Frau mitgerissen wurde. Aber da war es auch schon überstanden. Summend und zischend passierte der Robot die innere Sperre, die sich augenblicklich hinter ihm schloß, bevor die zierliche Frau Anstalten machen könnte, zu folgen. Die Automatenstimme klang wieder auf: »Sie wünschen?« Judy Hamilton verstand. Der Pförtnerautomat hielt sie für einen neuen Besucher. Um ins Innere der Station zu gelangen, mußte sie sich erneut ihres Schreibens bedienen. Die Prozedur von vorhin wiederholte sich. Als sich die Sperre diesmal öffnete und die zierliche Frau hindurchließ, hörte sie hinter sich: »Das sind alles leider Vorschriften, die ihre Berechtigung haben. Unsere Patienten brauchen zur Genesung absolute Ruhe und dürfen in keiner Weise gestört werden. Da Sie nicht zu den Neueinlieferungen gehören, müssen Sie ein paar unbedeutende Unbequemlichkeiten über sich ergehen lassen. Dafür bitten wir um Ihr Verständnis und wünschen Ihnen einen guten Index!« Für Judy waren solche Worte nichts Neues. Man hörte ähnliches von jedem Pförtnercomputer - egal, um welche Institution es sich handelte, die man besuchte. Änderungen im Text dienten ausschließlich der Anpassung an die jeweiligen Umstände. Kein Mensch dieser Stadt konnte sich völlig frei bewegen - falls er nicht im Besitz entsprechender Papiere war. Mit diesen Maßnahmen war es gelungen, trotz des engen Beisammenlebens von sehr vielen Menschen - mehr als jemals zuvor - die Kriminellenrate ziemlich drastisch zu senken. Der Preis war die Einschränkung der persönlichen Freiheit des einzelnen. Dabei blieben sämtliche Städte der Welt, die alle nach diesem Grund-Konzept gebaut waren, in ihrer Grundstruktur bis in die kleinste Betriebseinheit demokratisch. Jeder Vorgesetzte mußte von seinen Untergebenen gewählt werden, und das hatte auch Auswirkungen auf die Einrichtungen des privaten Lebens. Judy Hamilton betrachtete ihr Schreiben. Es beinhaltete einen genauen Kodeschlüssel, damit sie sich zurechtfand. Bald betrat sie eine Rolltreppe, die sie zum nächsten Zwischengeschoß brachte. Angekommen, wandte sie sich nach links, zur Abteilung Bevölkerung- und Geburtenkontrolle.
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Ihr Herz pochte bis zum Hals. Da halfen keine Selbstbeherrschung mehr und keine kleinen Alltagstricks, mit denen man Nervosität bekämpfen konnte. Der entscheidende Moment rückte unaufhaltsam näher, und sie fühlte sich erregter als vor dem Schiedsausschuß beim Ablegen ihrer letzten Prüfungen als Laboristo. Außerdem war es damals möglich gewesen, heimlich Beruhigungsmittel zu nehmen, während die Anwendung von Medikamenten im vorliegenden Fall von vornherein jegliche Hoffnung zunichte gemacht hätte. Die dritte Tür auf der rechten Seite trug das schlichte Schildchen: »Behandlung von Anträgen«. Ihre Hand zitterte, als sie den Rufknopf betätigte. Wieder ertönte es stereotyp: »Sie wünschen?« Und wieder durfte Judy aufgrund des Schreibens passieren. Die Tür verschwand lautlos in der Wand. Die zierliche Frau war Innenarchitektin. Sie konnte ihre Kollegin, die für die Einrichtung hier verantwortlich zeichnete, nicht loben. Alles wirkte steril, kalt, ja abstoßend. Judys umherirrender Blick fand Halt an dem einzigen Menschen, der sich außer ihr in dem Raum aufhielt. Unwillkürlich ging sie näher auf diesen Menschen zu. Die Frau war füllig und saß hinter einem Schreibtisch, dem eine aufwendige Schalttafel mit Computerterminal angegliedert war. Ihre Finger tanzten über ein paar Tastaturen vor ihr und wirkten dabei wie selbständige Wesen. Der Bildschirm am Terminal war offensichtlich eingeschaltet, doch blieb die Abbildung Judys forschenden Augen verborgen. Sie stand in einem ungünstigen Winkel. Erst als Judy Hamilton den Schreibtisch erreicht hatte, sah die kräftige Frau in der weißen Schwesterntracht kurz auf. Sie grüßte nicht und tat, als wäre sie sehr beschäftigt. Plötzlich schüttelte sie den Kopf, während sie auf den Bildschirm schaute. »Eine Verrückte«, murmelte sie. Hatte die Schwester überhaupt Judys Anwesenheit registriert? Sie fuhr im Selbstgespräch fort: »Habe doch gleich gesagt, da ist mit Medikamenten nichts zu machen.« Judy wußte nicht, worum es ging, aber die menschliche Anteilnahme in der Stimme der Schwester imponierte ihr und löste ein wenig ihre innere Verkrampfung. »Dreht durch, dreht einfach durch. Als wäre sie die erste, die erfährt, daß sie durchgefallen ist.« Im nächsten Augenblick richtete sich die Schwester steil in ihrem Sitz auf. Sie schaute Judy voll an und wirkte sehr verlegen. »Entschuldigen Sie bitte, Miß... eh?« »Nicht Miß«, berichtigte Judy. Sie dachte an die letzten Worte der Schwester. Würde es ihr bald auch so ergehen wie der Frau, von deren Schicksal sie eben zufällig erfahren hatte? »Ich heiße Judy Hamilton und wurde zur Prüfung der Mutterschaftsberechtigung bestellt.« Sie reichte die Vorladung über den Tisch. Die Frau kratzte sich am Hinterkopf. »Tut mir leid, daß Sie mitgehört haben.« »Ich weiß nicht, worum es ging«, log Judy. Die Schwester sah ihr forschend ins Gesicht. Doch dann tat sie die Angelegenheit mit einer Handbewegung ab. »Ist ohnedies ohne Belang«, sagte sie leichthin und nahm das Schreiben entgegen. »Sie sind also Judy Hamilton.« Noch immer wirkte sie auf die junge Antragstellerin leicht abwesend. Was passierte mit der anderen, von der die Rede war? Tatsächlich nahm Judy das fremde Schicksal so sehr in Anspruch, daß sie gar nicht mehr über ihr eigenes nachdachte. Copyright 2001 by readersplanet
Die Krankenschwester stand auf und umrundete ihren Arbeitsplatz. Sanft berührte sie Judy am Oberarm. »Keine Sorge, Mrs. Hamilton, es kommt alles, wie es kommen muß!« Judys Blicke irrten ab. Die Schwester glaubte, die falschen Worte gewählt zu haben, und meinte: »Mrs. Hamilton, Ihr Index ist enorm hoch!« Prompt glomm in Judys Augen wieder Hoffnung auf. »Leider sind wir weder in der Lage, dem Schicksal in die Karten zu blicken, noch es zu ändern, aber denken Sie stets daran, wie gut Ihre Chancen stehen. Das hilft Ihnen ein wenig.« Ich kann ohnehin an nichts anderes mehr denken! fügte Judy im stillen ein wenig verbittert hinzu. Der Index, den sie bereits als Kleinkind verpaßt bekommen und der sich durch ihren beruflichen Erfolg und - nicht zuletzt - durch die günstige Heirat um einige Punkte erhöht hatte, mochte mitunter tatsächlich ausschlaggebend sein. Eine Erfolgsgarantie bot er allerdings nicht. Dabei wäre nämlich die bevorstehende Untersuchung nicht mehr erforderlich gewesen. Die Schwester begann mit der Routinebefragung. Es dauerte nicht lange, bis dieser erste Teil abgeschlossen werden konnte. Der Computer druckte eine blaue Folie aus, die Judy von der Krankenschwester mit den Worten überreicht wurde: »Sie müssen ein Hauptstockwerk tiefer.« »Wie komme ich dorthin?« erkundigte sich die Antragstellerin. Die Schwester deutete in eine Ecke und führte Judy hin. Kaum standen sie davor, öffnete sich eine Tür, die bislang Judys Augen verborgen geblieben war. Ein Aufzugsschacht tat sich auf. Mittels Lichteffekten wurde ein stabiler Boden imitiert. Das ganze Gebilde wirkte wie eine Kabine aus echter Materie. In Wahrheit handelte es sich um ein gravoenergetisches Feld, das von zwei gegenpoligen Projektoren von beiden Enden des Schachtes aus erzeugt wurde und den Transport besorgte. Widerstrebend vertraute sich Judy der Anlage an. Das Feld erfaßte die Frau sogleich. Ein letzter Blick zurück. Judy Hamilton wurde das leise Gefühl nicht los, daß das, was sie hier erlebt hatte, nichts anderes als reine Masche war. Diente es der psychologischen Vorbereitung? Leises Unbehagen beschlich Judy Hamilton und wuchs mit jedem Meter, den sie tiefersank. Ihre Gedanken schweiften ab. Werde ich die Tests bestehen? fragte sie sich wohl zum hundertsten Male. Die Befragung hatte sie gut hinter sich gebracht, doch jetzt wurde es endgültig ernst. Alles hing von den Untersuchungen ab, und die Ergebnisse würden unwiderruflich bleiben. Das war das Schlimmste daran. Judy Hamilton fühlte sich ausgeliefert, und das war sie letztlich auch.
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Die Menschen schrien. Flammen erstickten die furchtbaren Schreie - Flammen, die dem Himmel entgegenrasten, ihn mit feurigem Rot färbten. Entsetzt wich der Mann zurück. Zerstörung, wohin er auch blickte. Das Feuer knisterte und knatterte. Klang es nicht hämisch, zynisch, überlegen? Es zerstörte auch den Rest von dem, was Menschen noch übriggelassen hatten - in ihrem blinden Vorgehen. Und jetzt griff es auch nach ihm. Er konnte nicht mehr weiterfliehen, sah sich von den Flammen umringt, spürte ihre furchtbare Hitze, die sich schließende Umarmung des Feuertodes. Es war, als tanzten ihre Spitzen einen Reigen um ihn - einen tödlichen Reigen, der enger und enger wurde. Er stutzte, vergaß einen winzigen Moment lang seine Qualen. Waren da nicht kleine Wesen, Kindern gleich, die sich in dem Inferno wohlig rekelten wie Teufel in der Hölle? Mit größerer Wut griff die Glut nach ihm. Die Menschen schrien nicht mehr. Sie waren tot. Und er stand hier, auf einer winzigen Insel mitten im Bild der totalen Verwüstung. Wie das klägliche Relikt einer längst vergangenen Zeit fühlte er sich - einer Zeit, in der noch Wesen wie er den Planeten bevölkert hatten - in einer Zahl, die alles andere Leben unterdrückte. Die Lichtung war wie der geöffnete Schlund eines Molochs der Hölle, der ihn mit seinem gierigen Flammenmaul verschlang. Schmerz registrierte er jetzt nicht mehr, nur noch Wehmut und Trauer über dieses unrühmliche Ende einer Rasse. Und die kleinen Teufel tanzten und freuten sich. Die Flammenspitzen zuckten auf und ab und waren auf einmal nur noch lustige Lichter, die unrhythmisch blinkten, bis sie sich vereinigten, zu Feuerrädern wurden, die sich drehten, drehten, immer schneller, das Bewußtsein des Mannes packten und es in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund hinabschleuderten. Schweißgebadet fuhr Cliff Chapman auf. Er hatte Schwierigkeiten, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Als es ihm endlich gelang, atmete er erleichtert auf. Mit einem Tastendruck ließ er die indirekte Beleuchtung aufflammen. Sie blendete ihn nicht. Der stark gedämpfte Schein ließ ihn das Mobiliar des Schlafzimmers erkennen. Es war recht dürftig. Die meisten Möbel konnte man in den Wänden verschwinden lassen. Im Moment waren nur der wandgroße Bildschirm sichtbar, das kreisrunde Bett mit den Luftpolstern, die ständig und kaum merklich den Körper des Mannes belüfteten und den Schweiß trockneten. Cliff Chapman war ein unterdurchschnittlich großer, drahtiger Mann, der aussah wie einer der Milliarden von kleinen Angestellten und dabei einen Posten versah, den ihm niemand zutraute. Auch seine Bettgenossin mit dem fast exotischen Namen Olivia Missouri hatte ihn anfangs hoffnungslos unterschätzt. Beide waren sie bei der nach der neuen Demokratisierung der Erde geschaffenen Weltsicherheitsbehörde (deutsch WeSBe oder auch jargonhaft »Wespe« genannt) beschäftigt. Ursprünglich hieß sie ja nicht WeSbe, sondern in Anlehnung an die Weltsprache Esperanto INSTITUTO POR LA SEKURA MONDO, aber ihr Sitz war hier im deutschsprachigen Genf, weshalb man sich auch international auf diese deutsche Bezeichnung geeinigt hatte. Copyright 2001 by readersplanet
Die WeSBe hatte die Organisation der Schwarzen Garden auf Erden abgelöst, wenn auch nicht völlig und eigentlich mehr im inoffiziellen Bereich der Hochsicherheit und damit der Geheimhaltung. Zur neuen Weltsicherheitsbehörde gehörte ein oberstes Gremium, bestehend aus gewählten Vertretern sämtlicher Großnationen beziehungsweise Interessenverbänden der Erde (einschließlich der Vereinigung der Astroökologen, denen man letztlich die Rettung der Erde verdankte) - kurioserweise außer der Schweiz selbst und auch außer Somaliland und dem vor langer Zeit abgesplitterten mongolischen Teil Rußlands, die alle drei ihre Souveränität behielten. Die Neutralität dieser drei Gebiete gab es allerdings nur noch auf dem Papier. Wirtschaftlich waren sie voll integriert. Anders war das nicht mehr zu machen. Das Gremium stellte im Grunde nichts anderes dar als eine Art Weltregierung. Die drei Neutralen schickten zu jeder Konferenz des Weltgremiums »nicht-stimmberechtigte Beobachter«, wie es offiziell hieß. In Wirklichkeit postulierte das nur, daß sie inoffiziell längst ihre Souveränität aufgegeben hatten. Warum dies nicht auch schon nach außen hin geschehen war, stand in den Sternen - und so würde es nach Lage der Dinge auch bleiben, denn niemand dachte ernstlich daran, diese Frage aufzugreifen. Es lief auch so alles gut. Zum Beispiel auch, indem es wieder zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit einen wirklich von der Bevölkerung gewollten obersten Führer und Repräsentanten der Erde gab: Der Tipor Gaarson der Gegenwart nämlich! In der weltweiten Organisation mit Namen WeSBe bekleidete Cliff Chapman sozusagen den Posten eines Agenten - falls dieser altmodische Begriff überhaupt noch zutraf. Ein Anachronismus war das allerdings nicht, denn jedes Gesellschaftsgebilde hat solche Institutionen. Sie haben die Funktion von Regulativen, damit die jeweils verteidigte Ordnung aufrechterhalten bleibt. Er betrachtete Olivia Missouri. Sie erwachte langsam und reckte ihre wohlgeformten Glieder. Cliff lächelte. Die letzten Reste des schrecklichen Alptraums, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch hartnäckig gehalten hatten, verflogen bei diesem Anblick. Ja, Olivia hatte ihn hoffnungslos unterschätzt - und er sie ebenfalls. Sie hatten sich auf Anhieb gemocht. Das hatte dazu geführt, daß sie zusammengeblieben waren. Erst nach und nach hatte der eine vom anderen erfahren, daß sie einen durchaus ähnlichen Beruf bekleideten. Während Cliff gewissermaßen zur »Feuerwehr« der Weltsicherheitsbehörde gehörte, erstreckte sich das Aufgabengebiet Olivias innerhalb dieser Organisation mehr auf wissenschaftlicher Ebene. Dabei hatten beide ihre »Karriere« ursprünglich innerhalb der Schwarzen Garden begonnen, waren aber als integer gegenüber des neuen Regimes eingestuft und daher übernommen worden. Sogar die schwarzen Uniformen waren großenteils übernommen worden, wenn auch nicht für sie beide, da ihre Aufgaben gemeinhin verdecktes Vorgehen erforderten... Sie erwachte vollends. »Was ist los? Ist es schon soweit? Muß ich aufstehen?« Cliff schüttelte den Kopf. »Du hättest die Sache nicht annehmen sollen. Wir sehen uns selten genug. Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich Urlaub habe, mußt du im Hauptzentrum der FEDERAL PUPPET im norwegischen Narvik arbeiten. Ich beginne, die Hersteller dieser programmierten Puppen als Kinderersatz zu hassen!« Sie winkte lächelnd ab. »Wir haben uns oft genug darüber unterhalten. Du weißt, daß es ein paar unwesentliche Verdachtsmomente gibt. Es sollen bei den sogenannten Puppen Eingriffe vorgenommen worden sein, die niemand genehmigt hat. Reiner Routineauftrag, den ich nicht ablehnen konnte - oder hast du diese Freiheit?« Cliff verzog das Gesicht. »Egal«, brummte er, »auf jeden Fall trennt der Auftrag uns.« Er befragte seinen Chronometer. Copyright 2001 by readersplanet
»Nur drei Stunden, dann mußt du dich fertigmachen. Deine beiden freien Tage sind zu Ende. Du hast einen weiten Weg vor dir.« »Auch diese Arbeit geht einmal vorüber, und wir werden wieder öfter zusammen sein«, versprach Olivia Missouri leise. Keiner von beiden ahnte, daß es sich alles andere als um einen Routineauftrag handelte. Die Saat war ausgestreut und wartete darauf, aufzugehen. In einer Art Wahrtraum hatte Cliff Chapman einen Teil der düsteren Zukunft erfahren. Die Erde ging schlimmen Zeiten entgegen.
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Judy Hamilton dachte an all dieses im Moment nicht. Wie hätte sie auch können? Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie die aufgleitende Lifttür. Der Raum vor ihr glich genau dem, den sie eben erst verlassen hatte. Lediglich die Krankenschwester war neu. Sie war ausgesprochen hübsch und adrett und um keine Spur weniger freundlich als die Kollegin von oben. »Willkommen!« sagte sie nach den Begrüßungsfloskeln. Es klang herzlich und vermittelte ein Gefühl der Wärme und Vertrautheit. Judy trank förmlich das aufmunternde Lächeln, das die Worte begleitete. »Ich sehe nicht viele Antragstellerinnen, die sogar den Index für eine richtige Geburt besitzen. Ich beneide Sie ehrlich darum. Wenn Sie alles gut hinter sich haben, steht der Natur nichts mehr im Wege, und Sie haben das Privileg, den unmittelbaren Kontakt zu Ihrem Nachwuchs für die ersten drei Jahre zu halten - anders als bei vielen anderen Müttern, die lediglich die Erlaubnis bekommen, unter Aufsicht Kontakt mit ihrem Sprößling zu pflegen. Freuen Sie sich!« Die hübsche junge Dame in der Schwesterntracht führte Judy in das Innere des Raumes. Dort nahm sie am Terminal ein paar Schaltungen vor. Ein kurzes, belangloses, weil im Grunde nur bekannte Dinge wiederholendes Gespräch entwickelte sich. Bis die gegenüberliegende Tür aufglitt. Eine zweite, etwas älter erscheinende Frau in der gleichen Tracht trat ein. »Oh, da bist du ja, Ellen«, rief die Jüngere. »Das hier ist Mrs. Hamilton.« Es erfolgte eine herzliche, fast überschwengliche Begrüßung. Judy begann sich allmählich wohl zu fühlen in dieser Umgebung. Es war ihr, als habe sie mit guten Freundinnen zu tun, die nur das Beste für sie wollten. Aber sie war eine Frau, die die psychologischen Tricks sehr wohl durchschaute, obwohl sie sich ihnen gern ergab. Schließlich folgte sie der Schwester, die von der Kollegin Ellen genannt worden war. Kaum waren sie draußen, schloß sich hinter ihnen lautlos die Tür. Für Judy begann nun der dritte Akt des Dramas. »Sie dürfen nicht so nervös sein. Wir können beide nichts tun, was das Ergebnis der Untersuchungen beeinflussen könnte«, sagte Ellen. Anscheinend sollte es beruhigend wirken, wenngleich es in Judy nur neue Unruhe weckte. »Alles geht seinen vorgeschriebenen Weg - fast wie ein Naturgesetz.« Sie schritten gemeinsam einen breiten, freundlich erleuchteten Flur entlang und stoppten vor einer Tür. Judy Hamilton atmete heftiger. Etwas schien sie zu würgen. Schweiß brach ihr aus und bildete kleine Perlen auf ihrer Stirn. Plötzlich faßte sie einen wahnwitzigen Entschluß. Der psychologische Streß der letzten Stunde forderte seinen Tribut. Abrupt wandte sie sich ab. »Am besten, ich verzichte auf das Ganze«, sagte sie mit brüchiger Stimme über die Schulter zurück und setzte sich in Bewegung. Mit ein paar schnellen Schritten holte Ellen sie ein. Die Schwester schien nun doch etwas aus der Fassung geraten zu sein.
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»Hören Sie«, beschwor sie die zierliche Frau, »Sie sind sich offenbar gar nicht darüber im klaren, was Ihr Hiersein bedeutet. Wenn Sie jetzt einen Rückzieher machen, wird jeder weitere Antrag automatisch abgelehnt. Ein Leben lang werden Sie Zweifel plagen. Glauben Sie mir, es ist besser, alles über sich ergehen zu lassen!« Judy barg ihr Gesicht in beiden Händen. Ihre Schultern zuckten. Unbewußt spürte sie, daß die Schwester ihren Arm um sie legte und sie zur Tür führte. Sie betraten einen Raum. Da war ein Stuhl, auf den sie sich niedersetzen konnte. Es dauerte eine Weile, bis Judy wieder zu sich selbst gefunden hatte. Etwas verlegen schaute sie auf, wischte sich die Tränen ab. Die Schwester hatte sich die ganze Zeit über neutral verhalten. »Ich muß mich entschuldigen«, sagte Judy, »es ist nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, daß meine Kräfte versagen.« »Damit sind Sie nicht die erste Aspirantin.« Weiter ging die Krankenschwester nicht darauf ein, sondern begann mit ihren Erläuterungen. »Die Untersuchung beginnt mit der Sichtung der allgemeinen Konstitution.« Judy mußte sich entkleiden und wurde zu einem Ding geführt, das einem elektrischen Stuhl nicht unähnlich sah. Gleich fühlte sie sich von Stahlklammern gepackt, die wahrscheinlich die Funktion von Elektroden hatten. Das Gerät begann sich zu drehen. Es kippte nach hinten und veränderte dabei seine Form. Automatisch brachte es damit auch Judys Körper zur Streckung. Judy schaute zur Seite. Die Krankenschwester steckte den rechten Arm der Patientin in eine Art Strumpf, der an einer kompliziert anmutenden Apparatur hing. Judys linker Arm folgte. Leider fehlte ihr das technische Verständnis, um sich die Prozedur erklären zu können. Die gesamte Anlage senkte sich über sie. Die Arme verschwanden zum größten Teil. Irgend etwas hielt sie fest. Und dann verlor sie zum ersten Mal das Bewußtsein. Es kam ganz plötzlich über sie, ohne Einleitung und ohne unangenehme Begleiterscheinungen.
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Als Judy Hamilton zu sich kam, glaubte sie anfangs, zu Hause in ihrem Bett zu liegen. Erst allmählich wurde ihr klar, daß man sie auf eine Liege gebettet hatte. Ellen war es, die ihre Gedankengänge unterbrach. »Na, wie fühlen Sie sich?« Judy bewegte mißtrauisch ihre Glieder, betrachtete ihre Arme. Alles normal, keinerlei Verletzungen - nicht einmal ein Nadelstich. Sie setzte sich auf. Ellen lächelte. »Wie ich sehe, ist alles in bester Ordnung.« Sie wartete, bis Judy neben der Liege stand. »Und jetzt gehen wir nach nebenan, zur gynäkologischen Untersuchung.« Eine Tür glitt auf. Judy schritt hindurch. Das dahinterliegende Zimmer war geschmackvoll eingerichtet, wie ein Wohnraum. Judy mußte sich hinlegen. Kaum war das geschehen, veränderte sich ein Teil der Decke wie ein selbständiges Wesen und paßte sich genau den Umrissen der Liege und der Aspirantin an. Nur der Kopf blieb frei. Ellen versicherte: »Bis jetzt sieht es großartig aus für Sie. Könnte gar nicht besser sein. Sie sind kerngesund!« Ein Glücksgefühl durchströmte Judy, bevor eine schwarze Wolke ihr Bewußtsein umhüllte, um es einzuschläfern. Judy wehrte sich nicht dagegen. Der Schlaf kam sanft, und zu diesem Zeitpunkt ahnte sie nicht, daß das Erwachen eine böse Überraschung für sie bereithielt.
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Das Rollband war überfüllt wie immer. Olivia Missouri wurde von der Masse einfach mit davongetragen. Sie konnte nichts dagegen tun. Aber sie hatte ohnedies dieselbe Richtung. Die breiten Portale des Rohrbahnhofs nahmen sie auf. Es war nicht leicht, sich in dem Gewimmel zurechtzufinden. Genf II war das Zentrum der Welt, und von hier aus gab es Verbindungen zu sämtlichen Hauptstädten. Aber Olivia wollte nicht über den großen Teich. Ihr Ziel war Narvik, das große Zentrum der weltweiten Firma FEDERAL PUPPET. Diese Einrichtung hatte mit ihren Puppen eine ungeheure Blüte erfahren. Schon die ersten »künstlichen Kinder« hatten sich als Verkaufsschlager erwiesen. In einer Zeit, in der nur Privilegierte, die sämtliche Bedingungen erfüllten, Nachwuchs haben durften, erfreuten sich die kleinen Cyborgs großer Beliebtheit. Das hatte zur Folge, daß sie überall auf der Welt verbreitet waren. Die Menschen hatten sich an Roboter gewöhnt. Viele sahen in ihren Puppen echte Kinder - und in der Tat waren sie kaum von solchen zu unterscheiden. Olivia schaffte es, zur entsprechenden Schleuse zu kommen. Ständig erschienen an der Decke in der überall verständlichen Amtssprache Hinweise - wie von Geisterhand hingezaubert. Das half Olivia, den Weg zu finden. Sie gliederte sich in einen neuen Strom von Menschen ein. Eine der Bahnen wartete bereits. Olivia wurde von der Kabine aufgenommen und fand dort sogar einen guten Platz. Wenig später schrillte der Alarm. Die Bahn wurde hermetisch abgeriegelt. Sie ruckte an, glitt auf einem unsichtbaren Magnetkissen durch die Schleuse in die Vakuumröhre. Übergroße Aggregate heulten auf. Ihr Lärm drang nur stark gedämpft in die Kabine. Der eigene Antrieb der Bahn wurde abgeschaltet. Ein Gaspolster aus ionisierten Atomen wurde in die Röhre gepreßt. Nur die Andruckabsorber verhinderten, daß die Insassen zerschmettert wurden. Sofort wurde das Gas durch die Magnetpumpen wieder absorbiert. Die Bahn raste praktisch ohne Widerstand mit mehr als tausend Kilometern pro Stunde dahin. Sie passierte die ersten Induktionsfelder - und wurde auf das Dreifache beschleunigt. Lange dauerte es nicht mehr. Der Bremsvorgang wurde eingeleitet. Schließlich prallte die Bahn gegen ein zweites Gaspolster. Durch den diesmal langsamer erfolgenden Absaugprozeß wurde sie automatisch bis an die innere Schleuse herangezogen. Sekunden des Wartens vergingen. Dann glitt die Bahn mit eigenem Antrieb in den Bahnhof. Olivia Missouri schaute auf ihre Uhr. Alles in allem hatte die Reise nicht einmal eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Beachtlich, wenn man die enorme Strecke bedachte. Olivia war angelangt. Der Bahnhof von Narvik nahm sie auf. Sie dachte an ihre Aufgabe. Irgendwie war ihr nicht wohl dabei. Bisher hatte sie keine Unregelmäßigkeiten feststellen können. Vor einem Vierteljahr war sie eingeschleust worden. Sie versah einen wichtigen Posten in der Programmierung der kleinen Halbandroiden, die im Volksmund allgemein Puppen genannt wurden. Dazu eignete sich Olivia als Diplompsychologin bestens. Alles erschien normal - so, wie es sein mußte. Doch im Laufe der Zeit hatte sich Olivia eine Art sechsten Sinn angeeignet. Sie sah mit einigem Unbehagen in die Zukunft. Ihre schlimmsten Befürchtungen würden in Kürze schon weit übertroffen werden. Copyright 2001 by readersplanet
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Judy Hamilton hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, denn ihre Uhr hatte sie mitsamt der Kleidung zurückgelassen. Die junge Frau setzte sich auf. Sie war allein. Unruhe beschlich sie, eine dumpfe Ahnung. War etwas nicht programmgemäß verlaufen? Die Tür öffnete sich. Ellens Lächeln war freundlich wie immer, aber unverbindlich. In den Händen trug sie Judys Kleidungsstücke und die Uhr. »Was ist los?« rief Judy Hamilton. Das Lächeln erstarb. Ellen legte die Sachen ab und wandte Judy den Rücken zu. Die junge, zierliche Frau sprang auf. Schwindel erfaßten sie. Ein paarmal atmete sie tief durch, dann ging sie mit hölzernen Schritten zur Krankenschwester, griff nach deren Schulter und wollte die Frau zu sich herumdrehen. Ellen wehrte sich und barg ihr Gesicht in den Händen. »Es - es tut mir leid, Mrs. Hamilton«, murmelte sie kaum hörbar. »Es tut Ihnen leid?« echote Judy verständnislos. Mit einem Ruck wandte Ellen den Kopf. Tränen standen in ihren Augen. Waren sie echt? »Ihr Index war wirklich hoch. Wer konnte denn ahnen, daß...« Sie brach ab. Judy Hamilton ballte die Hände zu Fäusten. »Ich will wissen, was passiert ist!« schrie sie in einem Anfall von Hysterie. Die Schwester wich erschrocken vor ihr zurück. »Sie - Sie sind unfruchtbar!« Es gelang ihr nur unvollständig, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. Judy Hamilton verlor vollends die Beherrschung. Rote Schleier wogten vor ihren Augen. Sie wußte nicht mehr, was sie tat. Ihr Leben war sinnlos geworden. Man hätte es nicht nachdrücklicher zerstören können, und unsinnigerweise gab sie der Krankenschwester dafür die Schuld. Mit einem gellenden Aufschrei, in dem alles lag, was sie empfand, warf sie sich auf Ellen. Es zeigte sich, daß diese gut ausgebildet war und einige Erfahrung hatte. Sie machte einen blitzschnellen Ausfallschritt und ließ die kleine, zierliche Judy, die sich in eine wahre Furie verwandelt hatte, ins Leere gehen. Judys Vernichtungswille blieb ungebrochen. Sie fing sich und startete einen erneuten Angriff. Aber Ellen erstickte ihn schon im Ansatz. Sie ergriff die vorschnellenden Arme und drehte sie mit einer raschen Bewegung auf den Rücken der Angreiferin. Ganz nahe beieinander waren ihre Gesichter. In Judys Augen blitzte es haßerfüllt. Sie stöhnte auf. Ellen ließ nicht locker. »Bitte, Mrs. Hamilton, damit können Sie nichts ändern. Seien Sie vernünftig!« Copyright 2001 by readersplanet
Als Antwort bäumte sich Judy auf, alle Kräfte mobilisierend, um sich aus dem eisernen Griff zu winden. Der Versuch blieb erfolglos. Ellen verstärkte den Druck nur noch. Sekundenlanges, zähes Ringen, bis Judy Hamiltons so plötzlich aufgeflammte Aggression nur noch ein sanftes Glimmen war. Ellen stieß die junge Frau von sich und brachte sich mit schnellen Schritten in Sicherheit. Lauernd beobachtete sie die Antragstellerin. Judy taumelte gegen die Wand. Ihr Atem ging keuchend. Und dann rutschte sie langsam an der glatten Mauerverkleidung herunter. Ihr Körper wurde von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. Sie sank zu Boden und drückte die Stirn gegen die angezogenen Knie. Ihre Schultern zuckten. Ellen näherte sich vorsichtig, in der Hand eine Spritze. Damit brauchte sie nur Judys nackten Oberarm zu berühren. Ein kurzes Zischen. Das Beruhigungsmittel drang mit Hochdruck durch die Hautporen und geriet in die Blutbahn. Lange ließ die Wirkung nicht auf sich warten. Judy hob den Kopf. Ihr Blick wirkte leer. Ellen wartete noch einen Moment, dann half sie der völlig apathischen Patientin auf und führte sie zu einer Sitzgelegenheit. »Wie - wie konnte es nur geschehen?« murmelte Judy. Blicklos starrte sie zu Boden. Die Droge ließ ihren Verstand weitgehend unbeeinträchtigt arbeiten. Keine der beiden Frauen ging jedoch auf den mehr als peinlichen Zwischenfall ein. »Vielleicht ein Geburtsfehler?« vermutete Ellen ruhig. Judy hob den Blick. »Geburtsfehler?« wiederholte sie leise. »Das glauben Sie doch wohl selber nicht.« Sie stand auf. »Ich weiß es nicht sicher, aber es gibt den Verdacht, daß mit der täglichen kostenlosen Grundnahrung ein Präparat verabreicht wird. Jedenfalls glaube ich nicht an das Märchen von der lebenslangen Spritze, die im Babyalter verabreicht wird und deren Wirkung bei Geburtenzuteilung neutralisiert werden kann. Wie groß ist die Möglichkeit, daß das täglich eingenommene Mittel Schuld an meiner Unfruchtbarkeit trägt?« »Mit wem haben Sie über diese Dinge bereits gesprochen?« stieß Ellen erbleichend hervor. »Bis jetzt mit noch niemandem. Ich habe allerdings Grund zu der Annahme, daß noch andere zu diesem Schluß gelangt sind. Von dieser Seite aus wird man es begrüßen, wenn die Angelegenheit endlich publik wird!« »Also gut. Sie haben den Nagel sozusagen auf den Kopf getroffen. Es gibt das Präparat, und die Sache mit der Spritze ist ein Märchen. Schlagen Sie sich jedoch aus dem Kopf, Sie könnten Kapital aus Ihrer Erkenntnis ziehen. Glauben Sie mir, Mrs. Hamilton, mit Erpressung gewinnen Sie nichts, und niemand bedauert Ihr Durchfallen mehr als ich!« »Warum heilt man mich nicht einfach?« fragte Judy bitter. Ellen schüttelte den Kopf. »Aus demselben Grund, aus dem auch die Verabreichung des Präparats an die Bevölkerung nicht eingestellt wird!« Judys Stimme vibrierte: »Dieses Motiv möchte ich einmal von Ihnen hören!« »Sind achtzehn Milliarden Menschen nicht genug? Bedarf es da noch weiterer Erklärungen?« Ellen deutete gegen die Wand. »Denken Sie daran, Mrs. Hamilton, was nur wenige Schritte von hier geschieht! Denken Sie an das brodelnde Leben. Vielleicht ist es Ihnen heute, nach Ihrem Zusammenbruch auf dem Rollband, richtig bewußt geworden. Über uns, neben uns, unter uns leben Menschen. Nicht Hunderte, nicht Tausende: Milliarden! In jeder sogenannten Stadt beträgt die Bevölkerung bis zu drei Milliarden Menschen. Zentren wie Genf II mit dem Sitz des Weltsicherheitsrats in der Weltsicherheitsbehörde sind ein wenig großzügiger gegenüber den Menschen. Dort gibt es nur die Hälfte der üblichen Einwohner, obwohl die Anlage in ihrer Ausdehnung aus dem Rahmen fällt. Überlegen Sie, unter welchen Verhältnissen diese achtzehn Milliarden Menschen ihr Dasein fristen müssen.
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Vielleicht darf ich Sie auch daran erinnern, daß Sie zu den Privilegierten gehören, Mrs. Hamilton. Ihr Index bei der Geburt und die anschließende Erhöhung bei der Festsetzung des Intelligenzquotienten hat Ihnen Türen und Tore geöffnet, die für die meisten ewig verschlossen bleiben. Es gibt viele, die diese Untersuchung hier nicht einmal über sich ergehen lassen dürfen. Wer mit einem niedrigeren Intelligenzquotienten bewertet wird, für den stehen die Chancen gleich Null. Dabei gilt als sicher, daß die Bewertungsmethode einige Mängel aufweist, die nie ganz auszuschließen sind. Das hat zur Folge, daß viele herumlaufen, als unfähig eingestuft, abgestempelt für die Zukunft, und in Wirklichkeit ein Hort von Kapazitäten sind, die ungenutzt und unterdrückt bleiben. Versetzen Sie sich doch bitte einmal in die Lage eines solchen Bürgers! Nur wer privilegiert ist, dessen Index stimmt, darf überhaupt einen Beruf ergreifen. Der schweigende Rest wird kostenlos ernährt und erhält ein lebenslanges Taschengeld. Zugegeben, einige fühlen sich in dieser Rolle durchaus wohl. Doch die Mehrheit dieser sogenannten Civitanoj? Für immer sind sie steril und leben außerhalb der Gesellschaft. Sie bleiben zwangsläufig arbeitslos, weil es nichts zu tun gibt für sie. Sie vegetieren dahin und dürfen nur wenige Bezirke der Stadt betreten, weil sie als potentielle Unruhestifter gelten. Eine Studie vertritt die Ansicht, daß unter diesen Minderbemittelten bis zu fünf Prozent durch einen Fehler in der Testserie bei der Festsetzung des Intelligenzquotienten in diese Lage gekommen sind - also ungerechtfertigterweise! Umgekehrt gibt es natürlich in den gehobenen Schichten nicht wenige, die im Grunde fehl am Platze sind. Die Civitanoj sind nichts anderes als Menschenpotential, Erbmasse für künftige Generationen, unter denen wiederum die Besten der Besten herausgefiltert werden. Die Civitanoj haben darüber hinaus ihre Existenzberechtigung nur noch in ihrer Eigenschaft als Konsumenten, was wiederum das wirtschaftliche Gleichgewicht garantiert. Und diese Bedauernswerten dürfen nicht einmal Puppen besitzen!« Damit hatte Ellen ein Stichwort gegeben. »Puppen?« stöhnte Judy gequält. Ihre Gedanken wirbelten im Kreis. Die Worte der Krankenschwester hallten in ihr wider. Hatte sie eigentlich jemals über diese Dinge ernsthaft nachgedacht?
...Hatte sie natürlich nicht, wie wir uns denken können! Es wäre besser für sie gewesen, denn dann wäre ihr vielleicht das wahre Grauen erspart geblieben, das nicht nur ihr bevorstand - in... Band 13: »Die Künstlichen« "Beliebter Menschenersatz - entartet zum Horrortrip!" Ein Roman von Wilfried Hary
Den bekommt man übrigens auch in gedruckter Fassung, mit farbigem Titelbild von dem bekannten Künstler Gerhard Börnsen. Einfach mal fragen bei: HARY-PRODUCTION, Waldwiesenstraße 22, 66538 Neunkirchen, Internet: www.hary.li, eMail:
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