Die Menschen, sie nennen es Liebe
Roman von Leni Behrendt
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Die Menschen, sie nennen es Liebe
Roman von Leni Behrendt
Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22
2 Hamburg 70, Postfach 70 10 09,
Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Fernschreiber: 213.126, Telefax: (040) 68 28 95 50 Verantwortlich:
Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten.
Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr.
Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.
Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßi gen
Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden.
Printed in Germany
Die Engel, sie nennen es Himmelsfreud, die Teufel, sie nennen es Höllenleid, die Menschen – sie nennen es Liebe Heinrich Heine
Der Frühling war gekommen mit lachendem Ungestüm. Hatte alles hinweggefegt, was noch von dem grimmen Winter übriggeblieben war, und führte jetzt ein gar lustiges Regiment. Auf dem großen See, den noch vor kurzer Zeit eine glitzernde Eisdecke überzog, flutete nun glasklares Wasser, in dem sich die Bläue des Himmels spiegelte. Über den Wiesen lag es wie ein grüner Hauch, unterbrochen von zarten Schneeglöckchen. Im Wald steckten Leberblümchen sowie Buschwindröschen ihre Köpflein aus dem Moos, und auf den Gartenbeeten blühte der Krokus. Und nicht nur in der Natur wirkte der Frühling, er pochte auch an die Herzen der Menschen und begehrte Einlaß. Kein Wunder also, daß die junge Reiterin, die mit verhäng ten Zügeln durch das sprossende Land ritt, mit jauchzender Stimme sang: »Der Frühling ist gekommen mit all seiner Pracht.« Und ebenso jauchzend kam von irgendwoher die Fortset zung des Liedes: »Es läuten die Glocken fern und nah, sie wollen frohlok ken, der Lenz ist da!« Verblüfft schaute das Mädchen, das gerade in den Wald reiten wollte, um sich, aber nirgends konnte es einen Men schen entdecken. Doch bevor es sich noch von seiner Verblüffung erholen konnte, rief eine Männerstimme neckend: »Such mich doch, du kühne Amazone! Oder bist du gar die Elfenkönigin in Person, die blonde Frau auf deinem wei ßen Roß?« »So sehe ich gerade aus!« rief sie zurück. »Und jetzt treten Sie endlich in Erscheinung!« »Das kann ein Waldgeist nur um Mitternacht. Wenn du dich dann herbemühen wolltest, du bezauberndes Men
schenkind.« »Dann würde ich wohl die Bekanntschaft eines kecken Er densohnes machen«, unterbrach sie ihn lachend – und horchte auf, als dieses Lachen wie ein fröhliches Echo zu rückklang. Also mußte sich in der Gesellschaft des Mannes auch noch ein weibliches Wesen befinden. Allein, so große Mühe sich die Reiterin auch gab, die beiden Menschen in ihrem Versteck zu erspähen, es gelang ihr nicht. Das wurde ihr denn doch zu gruselig. Also machte sie kehrt, ritt davon und hinter ihr lachte man ein herzliches Duett. Dann hob der Mann in dem Versteck das Fernglas und schaute lange der Reiterin nach. Er ließ das Glas sinken. »Wohin mag es gehören?« »Das wirst du schon noch erfahren«, entgegnete seine Be gleiterin achselzuckend. »Und jetzt komm endlich hier heraus, du närrischer Kerl. Warum überhaupt das ganze Versteckspiel?« »Schwesterchen, sei nicht so ungehalten«, lachte er ver gnügt. »Du weißt doch, daß wir uns auf Schleichpfaden bewegen müssen.« »Na, schön«, gab sie gleichfalls lachend zurück. »Also schleichen wir. Aber zuerst einmal aus diesem Dickicht heraus.« Kurz darauf hatten sie die glatte Straße erreicht, auf der nun die Reiterin ihr Roß nach den heimatlichen Gefilden lenk te. Auf dem großen Gutshof eilte ihr ein Stallbursche ent gegen, der den rassigen Trakehner in Empfang nahm. »Reibe ihn gut ab, Heinz, ich glaube, er hat es nötig.« »Wird besorgt, Komteß«, verhieß der Jüngling eifrig. »Komm, Schloh, sollst eine Handvoll Hafer extra haben.« Damit trollte er mit seinem Schützling dem Stall zu, indes die Herrin zum Schloß ging. Auf dem weiten Rasen sprühte eine Fontäne glitzernd empor. Ein feudales Zuhause, das die Komteß Thorbrandt ihr eigen nannte, sich dessen jedoch nicht so recht bewußt war, weil vom ersten Schrei an diese Atmosphäre sie behütend um schloß.
Gemächlichen Schrittes stieg sie die Freitreppe hinauf, durchquerte die riesige Halle und betrat ein weites Ge mach, in dem ihre Angehörigen geruhsam saßen. In dem Marmorkamin flackerte ein helles Feuer; denn trotz der milden Frühlingsluft draußen war es in den hohen Räumen immer noch kühl. »Grüß Gott, ihr Stubenhocker!« rief sie fröhlich. »Wie kann man nur bei dem herrlichen Frühlingswetter im weichen Pfühl des Sessels ruhen! Drückt lieber den Sattel, wie auch ich es tat.« »Das tun wir schon an den Arbeitstagen zur Genüge.« Der Vater betrachtete schmunzelnd sein holdes Töchterchen. »Heute jedoch ist Sonntag, mein Fräulein Naseweis.« »Na, schön«, meinte sie friedfertig, indem sie in der trauten Runde Platz nahm. »Und nun hört, was ich erlebte.« »Mutig hast du dich gerade nicht benommen, Schwester lein. Anstatt das Versteck des Kecken aufzuspüren, sahst du dein Heil in der Flucht.« »Dafür bin ich ja auch ein Mädchen«, gab sie schlagfertig zurück. »Denen steht es schon zu, die Vorsicht als Mutter der Wahrheit zu betrachten.« »Recht so, Marjellchen«, bekräftigte der Vater. »Was man sieht, dem darf man sich beherzt stellen. Was im Versteck lauert, dem geht man am besten aus dem Wege.« »Will ich meinen«, nickte die Gattin, eine Dame von noch jugendlichem Aussehen. Die Gestalt wirkte mädchenhaft das Antlitz zart und fein. Durch das wohlfrisierte Haar von sattem Blond zog sich noch kein grauer Faden, die Augen leuchteten in tiefem Blau. Jedenfalls war Gräfin Herma die passende Ehehälfte zu ihrem distinguierten Gatten, dem rassigen Herrenmen schen in edlem Sinne. Der Sohn, sein verjüngtes Ebenbild, würde nach drei Jahrzehnten wahrscheinlich genauso aus sehen wie sein Vater heute. Auch charakterlich glichen sie sich auffallend mit ihrem herrischen Wesen und den har ten Köpfen, wie Frau Herma lachend behauptete. Trotzdem hatte es noch keine ernstliche Differenz zwischen
Vater und Sohn gegeben. Dazu achteten und liebten sie aneinander viel zu sehr, waren die besten Freunde und Kameraden. Und nur deshalb, weil der ältere klug genug war, auch einmal dem jüngeren da nachzugeben, wo ihre Ansichten sich teilten. Da nun auch die Gatten eine gute Ehe führten, wuchsen ihre beiden Kinder in einer Atmosphäre voll Harmonie auf. Sie waren stolz auf ihre schönen, wohlgeratenen Kinder und diese wiederum stolz auf ihre Eltern. Die Seele des Hauses war die Mutter, der Verzug jedoch das liebreizende Töchterlein mit dem feinen Gesichtchen und den sonnen hellen Haaren. Wie ein Vöglein auf dem Ast wuchs es auf, stets frohgemut und guter Dinge. Treu behütet und umhegt von den Eltern und dem um zehn Jahre älteren Bruder. Sich und ihren Kindern ein trauliches Zuhause zu schaffen, danach hatte das gräfliche Paar gestrebt. Wer weiß, was das Schicksal für sie in Bereitschaft hielt und wo Elternliebe nicht mehr ausreichte, um sorgend einzugreifen. Da sollten wenigstens ihre lieben beiden die ersten Jahrzehnte ihres Daseins unbekümmert durchleben. Die Eltern hatten sich auch vorgenommen, in die Heirats absichten ihrer Kinder nicht dreinzureden. Mochten sie die Wahl nach ihrem Ermessen treffen. Daß sie auf Unwürdige fallen würden, war ihrer ganzen Veranlagung gemäß kaum zu befürchten. Um Geld freien sollten sie nicht. Hatte Graf Albrecht es ja auch nicht getan, obwohl es gerade damals um die Herrschaft Güldenrode, den ausgedehnten Besitz der Grafen Thorbrandt, nicht gut stand und sich der Freier eigentlich nach einer reichen Erbin hätte umsehen müssen. Er folgte seinem Herzen. Eine glückliche Ehe, die dreißig Jahre währte. Graf Albrecht, dem sein Vater einen verschuldeten Besitz hinterließ, mußte sich arg plagen, um ihn halten zu kön nen. Aber er verzagte nicht, rang verbissen um das Erbe seiner Väter. Später erwuchs ihm in seinem Sohn ein treuer Helfer, und sie schafften es so weit, daß Soll und haben einigermaßen die Waage hielten. Was nur irgend ging,
wurde in den Besitz gesteckt, für das Leben der Familie nur soviel verbraucht, wie es einer verfeinerten Lebensart ent sprach und einem kultivierten Menschen zukam. Nun waren der junge Graf Randulf bereits achtundzwanzig Jahre und das Komteßchen Heidgar achtzehn Jahre alt ge worden. Es wäre manches Mädchen gern als junge Herrin in das Schloß eingezogen, sogar eine schwerreiche Erbin befand sich darunter. Auf des Vaters Frage, ob ihm das Goldfischchen denn gar nicht genehm sei, antwortete er ironisch: »Wenn ich mich schon vor Gold beugen soll, dann nur vor dem Gold im Herzen, und davon dürfte die junge Dame wenig aufzuweisen haben. Außerdem bist du mir ja bei der Wahl deiner Eheliebsten mit gutem Beispiel vorangegan gen, Vater.« »I, du Schlingel!« hatte der schmunzelnd gedroht und ge rade in dem Augenblick deutlich gespürt, wie sehr der Sohn Blut von seinem Blut war. Komteßchen Heidgar hatte sich über die Liebe noch nie ernstlich ihr reizendes Köpfchen zerbrochen. Noch ganz unberührt von dem Gefühl, das, ganz den Umständen ge mäß, höchste Seligkeit oder tiefsten Schmerz heraufbe schwören konnte, lebte es dahin. Es war vor etwa vier Jah ren, als die Kleine zu den Ihren trat und der Mutter ein Büchlein hinhielt, in dem allerlei Aussprüche standen. Darunter auch dieser, auf den der rosige Finger tippte: Die Engel, sie nennen es Himmelsfreud, die Teufel, sie nennen es Höllenleid, die Menschen – sie nennen es Liebe. »Warum das, Mutti? Ist Liebe denn nicht einfach Liebe?« hatte die Vierzehnjährige gefragt, und zärtlich hatte die Mutterhand über die reinen, klaren Augen gestreichelt. »Um das zu begreifen, bist du noch zu jung, mein Liebling. Der Herrgott möge geben, daß du dieses allmächtige Ge fühl nur als Himmelsfreud kennenlerntest.«
»Hast recht, Mutti, das ist mir auch wirklich zu hoch«, er folgte die lachende Antwort. »Wirst leben, wirst sehen, sagt Nanni, somit tue ich also.« Nanni war etwas, was aus der Familie Thorbrandt einfach nicht weggedacht werden konnte, ebensowenig wie ihr Mann und deren beider Tochter Annette. Man hatte Nanni einst als Pflegerin zu dem Baby Randulf ins Schloß geholt, das sie so lange liebevoll betreute, bis sich der Abc-Schütze stolz der gar zu betulichen Obhut der Getreuen entzog. Und als diese tiefbetrübt von dannen ziehen wollte, bot ihr der Diener Herz und Hand, und man gewann mit David und Nanni ein treues Dienerehepaar, das seiner Herrschaft mit jedem Tropfen Blut ergeben war. Nannis Freude war grenzenlos, als ihre vergötterte Frau Gräfin mit ihr zugleich niederkam und gleich ihr einem Mädchen das Leben gab. Ehrensache für Nanni, das Komteßchen mit dem eigenen Töchterchen zusammen an die treue Brust zu nehmen, die beiden Kindlein zu hegen und zu pflegen. Auch jetzt be trachtete sie Heidgar immer noch als ihr »Kindchen«, liebte sie ebenso wie ihre Tochter Annette, die gutgeschult, als niedliche Zofe vorbildlich treu ihr Amt versah, während die Frau Mama als Beschließerin fungierte. So lagen die Verhältnisse an dem Tage, da Heidgar von Thorbrandt ihr kleines Erlebnis am Rand des väterlichen Waldes hatte. Der griesgrämige April, begann sich langsam zurückzuzie hen, um den Mai jubelnd zu empfangen. Es blühte in dem Park von Güldenrode verschwenderisch. Die Zeit war ge kommen, da sich an Sonnentagen das Leben auf der Ter rasse abspielte, wo man die Mahlzeiten einnahm und sich in den Ruhestunden auf Liege- oder Schaukelstühle wohlig rekelte. Dieses konnten sich die beiden Grafen Thorbrandt aller dings nur an Sonntagen oder während der Ruhepausen der Alltage erlauben. Sonst gab es für sie strammen Dienst im Wirtschaftsbereich, weil die Frühjahrsbestellung der Äcker drängte. Vater und Sohn kamen kaum aus dem Sattel, denn
wo das Auge des Herrn fehlte, da werden die Kühe nicht fett, sagte eine alte Bauernregel. Danach hatte sich Graf Albrecht stets gerichtet, und der Sohn Randulf folgte seinem Beispiel. Sie taten es beide gern, und was man gern tut, wird nie zur Last, schon gar nicht, wenn man dem Beruf eines Landwirts mit Leib und Seele verfallen ist. Also ein Glück für Güldenrode, daß auch der junge Gebie ter der geborene Landwirt war. Und sehr günstig obend rein, daß er nebst der landwirtschaftlichen Hochschule auch die für Tierheilkunde absolvierte. Sogar den »Dr. med. vet.« durfte er führen, worauf er jedoch keinen Wert legte. Die Hauptsache für ihn war, daß er das erkrankte Vieh fachmännisch betreuen und daher manch eine Mark an Tierarztkosten sparen konnte. Das kam Güldenrode sehr zugute. »Unser junger Graf hat nicht nur einen schönen, sondern auch einen klugen Kopf«, pflegte Nanni zu sagen, wobei ihr der Stolz nur so aus den Augen leuchtete. Auch etwas Überheblichkeit zeigte sich dabei. War sie es doch, die ihr »Dulfchen« in seinen ersten Lebensjahren betreute. Und gar ihr »Heidchen«, dem sie Amme sein durfte! Na, so was Herzliches, Schönes und Kluges wies die Welt zum zweitenmal nicht auf. Augenblicklich lag dieses »Wunder« auf der Terrasse im Schaukelstuhl, wippte darin vergnügt und summte ein Liedlein vor sich hin. Mutter und Sohn ruhten in Liege stühlen, hielten die Augen geschlossen und ließen sich von der Frühlingssonne bescheinen. Hauptsächlich Randulf genoß die Ruhe des Sonntagnachmittags mit allen Sinnen. Im Park zwitscherten die Vögel, von den Weiden her klang das gemütliche Brummen der Rinder. »Oft schon erlebt und doch immer wieder neu – o du son nige, wonnige Frühlingszeit!« »Das laß ich mir gefallen«, riß eine frohe Männerstimme die drei vor sich hin duselnden Menschen hoch. Im Nu stand die Gräfin auf den Füßen, lächelte den Gatten an, der
sie liebreich umfing. »Albrecht, wir haben dich erst morgen erwartet.« »Das klingt ja fast bedauernd«, lachte er herzlich. »Laß gut sein, dein treuer Vasall sehnte sich nach seinem trauten Zuhause und entfloh daher der landwirtschaftlichen Ta gung, als sie abgeschlossen war. Gern überließ ich den an deren die feuchtfröhliche Feier danach.« Mit einem behaglichen Schnaufer ließ er sich in den näch sten Liegestuhl sinken. »Wie war's, Vater?« fragte Randulf. »Gibt es was Besonderes zu berichten?« »Was uns Landwirte im eigensten Interesse betrifft, wohl kaum«, kam die Antwort gemächlich. »Die klugen Reden, die da verzapft wurden, sind längst überholt. Aber hinter her gab es etwas, das die Gemüter sämtlicher Landwirte in unserem Kreis bewegte – und zwar, daß Marstein wieder einmal den Besitzer gewechselt haben soll.« »Und wer ist das?« fragte der Sohn interessiert dazwischen. »Ein Mann namens Nor aus Chile, wie einige es ganz genau wissen wollten – hauptsächlich unser Präses der >Cliquehell< davor, dann gibt es den Namen Hellnor.« »Und der sagt dir was, Paps?« Das Komteßchen, dem die Neugierde förmlich aus den Augen sprang, gab dem Schau kelstuhl so einen Schwung, daß er fast vornüber gekippt wäre. »Ja, dann muß ich wohl«, seufzte der Vater, »obwohl ich ungern die alte und traurige Geschichte aus ihrer Versen kung hebe. Aber es ist wohl besser, wenn auch du es weißt, was vor fast fünf Jahrzehnten die Gemüter der Menschen hier im Umkreis bewegte und erregte, was mein damaliges Kinderhirn allerdings noch nicht ganz zu fassen vermochte. Was ich daher erzählen werde, weiß ich von meinem Vater. Schon zehn Jahre vorher, es mögen auch elf sein, gab es in
unserer Gegend schon eine Sensation, von der ich persön lich gar nichts weiß, weil ich damals ja noch gar nicht ge boren war. Aber ich will der Reihe nach erzählen: Schon von altersher hielten die Thorbrandts und die Hell nors miteinander nicht nur treue Freundschaft, sondern sie versippten sogar, weil vor sechs Generationen ein Thor brandt eine Hellnor freite. Erstere saßen auf Goldenrode, letztere auf Marstein, das, wie du siehst, an unsern Besitz grenzt. Allein, diese Grenze blieb unbeachtet, weil man sich als große Familie betrachtete. Bis dann diese herzliche Gemeinschaft in Haß umschlug – und zwar, als mein Vater und Eitel Hellnor gemeinsam in Liebe zu einem Mädchen entbrannten. Die Heißumstritte ne zog den leichtlebigen und liebenswürdigen Eitel vor, wahrscheinlich, weil er ihr mehr bieten konnte, als Heri bert Thorbrandt, dessen Vater Güldenrode durch seinen Leichtsinn heruntergewirtschaftet hatte, während die Herr schaft Marstein gut fundiert dastand. Kurz und gut: Seit dem Tage, da Eitel Hellnor die Liebste heimführte, lebten die Vettern, die bisher ein Herz und eine Seele gewesen, in erbitterter Feindschaft. An der Gren ze zwischen Güldenrode und Marstein wuchs eine unsich tbare Mauer empor. Wo sie sich als Nachbarn nur schädi gen konnten, taten sie es. Das war vor sechs Jahrhunderten und nun weiter: Ein halbes Jahr später als sein Vetter Eitel, heiratete auch mein Vater ein gutes, sanftes Geschöpf, das die liebeleere Ehe mit rührender Geduld ertrug. Ich entsinne mich mei ner Mutter nur schwach, da sie sechs Jahre später, nachdem sie ihre Pflicht getan und dem alten Geschlecht den Erben geboren hatte, ihre müden Augen für immer schloß. Ich lebte nun an der Seite des verbitterten, wortkargen Mannes freudlos dahin. Warum mein Vater den Haß gegen den Vetter immer weiter nährte, werde ich nie begreifen können. Es hätte ihm doch eine Genugtuung sein müssen, daß die junge Herrin von
Marstein gewiß nicht das ideale Wesen war, als das seine blindverliebten Augen es einst betrachteten. Denn nach und nach entpuppte sich die schöne Jenny als oberflächli che, leichtsinnige Frau, die es sogar fertig bekam, das gut fundierte Marstein durch ihre Verschwendungssucht zu ruinieren. Als es so weit war, verschaffte sie sich Geld auf ihre Art, wechselte oft ihre Galane, bis man sie eines Tages im Park von Marstein erschossen auffand…« »Großer Gott, das tat doch nicht etwa ihr Mann!« rief Heidgar entsetzt dazwischen. »Das nahm man allgemein an, mein Kind, natürlich auch dein Großvater. Als sein Vetter ihn in der Verzweiflung aufsuchte, wies er den verstörten Mann mit den Worten von sich, daß es ihm als Edelmann nicht anstehe, einen Mörder zu schützen, worauf der Beschimpfte ihn verfluchte und davonrannte. Tags darauf war er mit seinem Sohn spurlos verschwunden. Was Wunder, wenn sich der Verdacht um ihn verdichtete, bis man den richtigen Täter faßte. Es war einer von Jennys Galanen, der in blindwütiger Eifersucht die treulose Gelieb te niederschoß und, als man ihn verhaften wollte, sich selbst eine Kugel ins Hirn jagte.« »Und der Großvater?« fragte Heidgar. »An ihm fraß die Reue, und das Gewissen peinigte ihn Tag und Nacht. Wie er mir erzählte, hat er alles versucht, um Eitel Hellnor, an dem er sich so schwer versündigte, aus findig zu machen, aber der Mann und sein Kind blieben verschollen. Da Marstein schwer verschuldet war, taten sich die Gläubi ger zusammen, verkauften den Besitz und teilten den Erlös. Die kleinen Gläubiger blieben unbeachtet. Jahre später wurden sie restlos abgefunden, und zwar durch einen An walt aus Chile. Marstein jedoch wechselte sehr oft den Besitz, und aus dem einst so prachtvollen Gut wurde langsam das verwahrloste Anwesen. Wenn also dem neuen Besitzer etwas daran gele gen ist, wird er sehr viel Geld hineinstecken müssen.
So, und jetzt hol mir mal einen Kognak, Randulf.« Nachdem er zwei getrunken und eine zweite Zigarre ange steckt hatte, schaute er lächelnd zu dem Töchterchen hin. »Nanu, Kleines, du bist ja ordentlich blaß geworden. Was bewegt denn dein weiches Herzchen, hm?« »Ach, Paps«, kam die Antwort kläglich. »Ich möchte am liebsten weinen. Wie konnte Großvater nur so hart sein.« »Ja, Kind, so ist nun einmal das Menschenherz, für das von Liebe bis zum Haß nur ein kleiner Schritt ist. Aber was dein Großvater gefehlt, das hat er auch gebüßt, das darfst du nicht vergessen. Es tut mir leid, daß ich dein sonniges Ge müt mit so Traurigem belaste, aber es muß sein, damit du gleich die richtige Einstellung zu dem neuen Besitzer von Marstein und dessen Anhang findest. Denn es wird sich bei so naher Nachbarschaft eine Begegnung nicht vermeiden lassen. Schon damals hieß es in der Umgegend nicht an ders als >Thorbrandt contra Hellnor< und es wird wieder aufleben, sofern ein Hellnor Marstein bezieht. Also ist größte Zurückhaltung geboten, mein Kind. Man weiß näm lich nicht, wie groß der Haß auf uns noch ist. Dir gegenü ber brauchte ich das nicht extra zu betonen, nicht wahr, mein Sohn?« »Bestimmt nicht, Vater. Um mit Nanni zu sprechen: Wer den wir leben, werden wir sehen. Erstens einmal ist es noch gar nicht gewiß, daß dieser Herr Nor ein Nachkomme des Hellnor-Marstein ist. Und wenn, kann es sich höchstens um den Sohn des Baron Eitel handeln; denn dieser dürfte kaum noch leben. Außerdem weiß man nicht, ob der Sohn über das tragische Geschick seines Vaters überhaupt unter richtet ist, ob er ihm den Haß gegen unser Geschlecht ein geimpft hat. Also bin ich dafür, erst einmal abzuwarten.« »Randulf hat recht«, bekräftigte Heidgar. »Ich jedenfalls fühle mich frei von aller Schuld. Ich kann ja schließlich nichts für die Sünden meiner Väter.« Es kam so komisch heraus, daß die anderen lachen muß ten. Und dann sprach der junge Mund das aus, was das Hirn blitzartig durchzuckte:
»Nun weiß ich auch, was die Engel Himmelsfreud, die Teu fel Höllenleid und die Menschen Liebe nennen. Armer Großvater, du hast die Bezeichnung des Teufels an dir er fahren müssen.« Es schien dem neuen Käufer von Marstein viel daran gele gen zu sein, Ordnung auf dem verwahrlosten Anwesen zu schaffen, denn es wurde emsig darauf gearbeitet. In dem verwilderten Park herrschte die Axt. Sie schlug alles um, was da wucherte. Auf hohem Gerüst, das sich um das schloßartige Herrenhaus zog, standen Maurer und Maler. In den weiten, hohen Räumen wirkte ein Innenarchitekt mit seinen Gehilfen, der große Gutshof wurde von allem Gerumpel befreit – kurz und gut: Es wurde gründlichste Generalreinigung gehalten. Natürlich erregte das alles die Gemüter derer, die im Um kreis von Marstein wohnten. Man brannte darauf, den Mann kennenzulernen, der viel Geld haben mußte, um aus dem verkommenen Besitz einen feudalen zu machen. Aber ach, zur Betrübnis der Neugierigen blieb dieser Nabob erst einmal unsichtbar – bis er dann endlich eines Tages doch in Erscheinung trat: Ein vornehmer Fünfziger, mit dem sicheren Auftreten des Weltmannes. Und nun ging das Rätselraten erst recht los. »Was wollte der mit einem Gut? Darauf gehörte doch ein Landwirt, kein Geldmann der Börse aus Chile. Sollte er etwa so einen Spleen haben, einen großen Besitz in Deutschland zu er werben?« Das alles war so aufregend, so sensationell, aber was dann kam, setzte allem die Krone auf – als dieser »Amerikaner« sich plötzlich als Sohn des Eitel von Hellnor entpuppte. Und nun wurden die Großväter des Landkreises plötzlich zu Helden des Tages. Was sie da erzählten, war einfach überwältigend. Thorbrandt contra Hellnor, wie prickelnd interessant! Was nun? Sollte man sich auf die Seite der Gra fen Thorbrandt oder auf die der Barone Hellnor stellen? Am klügsten, man verhielt sich vorläufig neutral. Denn mit den Thorbrandts, die nun einmal tonangebend
im Landkreis waren und außerdem noch zu der beneideten »Clique« gehörte, durfte man es auf keinen Fall verderben, aber mit den Hellnors durfte man es wiederum auch nicht. Nun, die Qual der Wahl blieb den Leutchen vorerst einmal erspart; denn es vergingen Sommer und Herbst und immer wußten sie noch nicht, was eigentlich zwischen den beiden im Brennpunkt des Klatsches stehenden Familien los war. Haßten sie sich, waren sie sich gleichgültig – oder standen sie sich gar freundschaftlich gegenüber? Sie waren sich keins von allen, sie waren sich zuerst einmal vollkommen fremd, auch denen, die im Umkreis von Mar stein und Güldenrode auf ihren Besitzungen saßen. Selbst den Großagrariern, die zu der vielbeneideten »Clique« ge hörten, ein Kreis der Bevorzugten, wie von einer Felswand fest ummauert. Würde man die Marsteiner in den exklusi ven Kreis aufnehmen? Darüber mußte man sich wieder den Kopf zerbrechen. Wenn man die »Amerikaner« erst einmal zu Gesicht bekommen würde! Aber die verkrochen sich ja auf ihrem jetzt so feudalen Marstein wie der Fuchs in sei nem Bau. Aber es kam auch die Zeit, da man die Vielbesprochenen, um die sich bereits ganze Märchen zu spinnen begannen, näher beäugen konnte: Den Herrn von Marstein, der un verkennbar alle Anzeichen seines alten Geschlechts trug, seine Frau, noch jugendlich wirkend und die wirkliche Dame kennzeichnend, den Sohn, der kein bißchen »ameri kanisch«, sondern vielmehr ein echter Hellnor, die Tochter, ein Bild von Mädchen, elegant gekleidet, aber kein bißchen übertrieben. Wie man jetzt genau wußte, besaßen alle vier ihr eigenes kleines Auto, und den großen Mercedes in Luxusausfüh rung steuerte ein hochnäsiger Chauffeur in zwar unauffälli ger, aber schmucker Livree. Wo die Marsteiner auch auftau chen mochten, überall dienerte man vor ihnen. Der älteste Sohn des Gisbert Hellnor war aus der Art ge schlagen. Der beugte sich vor dem Geld. Daher hatte er die Angehörigen auch nicht nach Deutschland begleitet, son
dern war in Chile geblieben und nannte sich nach wie vor »Nor«. Durch die Mitgift seiner Frau, einer schwerreichen Erbin vornehmer spanischer Eltern, befand er sich in der Lage, unabhängig von seinem Vater zu werden. Und als dieser seiner »Sentimentalität« nachgab und den Entschluß faßte, das Erbe seiner Väter anzukaufen, um darauf seßhaft zu werden, da zuckte der Geschäftsmann Frank Nor nur mitleidig lächelnd die Achsel. Nun, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. In der Korrektheit, die ihm eigen war, setzte er sich mit dem Vater auseinander. Er übernahm das Bankhaus, alle weiteren Unternehmen und zeigte sich durchaus damit einverstanden, daß der Vater stiller Teilhaber blieb und es fortan halb auf halb ging. Daß Frank Nor die zweite Hälfte nie übervorteilen würde, dafür bürgte sein vornehmer Cha rakter und die Art des fairen Geschäftsmannes. Ohne Bedauern ließ er Eltern, Bruder und Schwester zie hen. Sie bedeuteten ja nicht sein Glück. Das gipfelte in sei ner Arbeit, im Geldverdienen, allenfalls noch im Besitz seines kleinen Sohnes, des Nachfolgers, und in dem seiner Frau. Seltsamerweise schien ihr der Abschied von den Angehöri gen ihres Mannes nahezugehen. Es war ihr ernst damit, als sie versprach, diese in der neuen Heimat bald zu besuchen. Eben las Gisbert Hellnor einen Brief der Schwiegertochter vor, dabei über das drollige Deutsch schmunzelnd. Sie be diente sich gern der Umgangssprache ihrer Anverwandten, obwohl ihre deutschen Schwiegereltern das Spanisch tadel los beherrschten, deren Kinder ja in Chile geboren waren. Aber da die kapriziöse Donna Florence geheiratet hatte »eine deutsche Mann«, und zwar aus Liebe, paßte sie sich den Gewohnheiten des Hauses Nor mit rührendem Eifer an. Die Nors sprachen unter sich nur Deutsch. So wurde in dem Brief betont, daß »ich haben Bangigkeit nach die liebe Familie«, und wenn ihr Frank nicht wäre, »so ein schreckliches Geldermensch«, dann würde er »fliegen mit mich und die Baby in die neue Haus zu Paps und alle
andere Lieblings von meine Herz.« »Habe ich nicht immer gesagt, daß Florence verkehrt ver heiratet ist«, lachte Roger, der zweitgeborene Sohn, nach dem der Vater den drolligen Brief gelesen hatte. »Mich hätt sie nehmen sollen, dann säße sie jetzt unter >aller Lieblings von ihr HerzThorbrandt contra Hellnor< gibt es in der >Clique< nicht, verstanden? Wenn die Marsteiner noch nicht wissen sollten, wie es in unserer Gemeinschaft zugeht, muß man ihnen das beibringen. Und was haben die anderen dagegen einzuwenden?« Die anderen waren zuerst einmal die Tochter des kurzan
gebundenen Obersten von Orsen-Prangen, die den Leut nant von Blüthner gefreit, dessen Eltern, dann die Frau des gemütlichen Dicken, Agathe von Bessolt, die in ihrer gleichfalls gemütlichen Rundlichkeit so schön zu dem Ehe gespons paßte, deren Sohn, den man als kreuzfideles Haus bezeichnen konnte, die Tochter Edeltraut, ein frisches Landkind, hübsch und liebenswert – sie alle gehörten zur Sippe des Obersten von Orsen, der jetzt grimmige Blicke in die Runde schickte, die Edeltraut absolut nicht einschüch terten. »Onkelchen, wenn du uns so militärisch musterst, bleibt uns ja nichts anderes übrig, als >Jawohl< zu sagen.« »I du Strolch«, mußte er gleich den anderen lachen. »Also, ich eröffne die Wintersaison, fange mit der Einladung an. Leisten die Marsteiner ihr Folge, geht alles in Ordnung. Tun sie es nicht, werden sie die Konsequenzen tragen müssen.« * »Da haben wir die Bescherung!« sagte Baron Gisbert, als er eine Einladung erhielt, zu den Seinen. »Dieser Oberst von Orsen-Prangen scheint ein verflixt kurzangebundener Herr zu sein; denn diese Einladung sagt nichts anderes als: Ent weder – oder! Entweder ihr fügt euch unserer Gemeinschaft oder ihr seid für uns erledigt.« »Na, wenn schon«, meinte Roger achselzuckend. »Wir sind doch wahrhaftig von keinem hier abhängig.« »Denkst du, mein Sohn, aber ich werde dich gleich eines anderen belehren. Ich habe mich nämlich genau über die Verhältnisse hier orientiert und erfuhr folgendes: Die Besit zer der acht großen Güter in der Umgegend – dazu gehört auch Marstein – halten schon seit Jahrzehnten fest und treu zusammen. Der Älteste ist stets der Präses, also jetzt der Oberst von Orsen. Clique – diese Bezeichnung prägte ver ächtlich ein neidischer Landwirt, den man wegen seiner unsauberen Geschäfte in den festgefügten Kreis nicht auf nahm. Der Oberst, der ein ganz besonders strenges Regi ment als Präses führt, griff diese Bezeichnung mit Begeiste rung auf. Clique – so wollte man fortan diese treue Ge
meinschaft nennen, die nur Menschen umschließt, welche über ein blütenweißes Chemisettchen verfügen. In diesen Kreis aufgenommen zu werden, heißt Ehre. Werden wir nun aufgefordert, uns der Gemeinschaft anzuschließen, und lehnen wir es ab, sind wir für die >Clique< erledigt – und somit würden wir auch von den gewöhnlichen Sterbli chen gemieden werden. Und uns anschließen, heißt den Thorbrandts auf Schritt und Tritt begegnen. Und was sagst du nun, mein Sohn?« »Verflixt.« Er kratzte sich den Kopf. »Wenn das man gut geht.« »Ach was«, tat Sidonie einfach ab. »Wir verreisen und kommen erst zurück, wenn die Gesellschaft in Prangen vorüber ist.« »Das wäre nur ein Aufschub, Sido«, lächelte der Vater. »Be denke, daß die anderen aus der >Clique< – dazu gehören übrigens auch noch der Landrat von Blüthner, der die Tochter des Obersten zur Frau hat, und deren Schwiegerel tern – dem Beispiel ihres Präses folgen und uns am laufen den Band einladen werden. Wenn wir da jedesmal verrei sen sollten, würde selbst der Harmloseste stutzig werden. Also mitgefangen, mitgehangen, da hilft uns alles nichts.« »Da bin ich aber neugierig, wie sich die Goldenroder ver halten werden. Ob sie uns auch einladen?« »Wahrscheinlich, mein Junge.« »Dann streike ich«, begehrte Sidonie auf. »In das Haus die ser…« »Stopp ab, Sido«, unterbrach der Vater sie gelassen. »Dir möchte ich es besonders ans Herz legen, dich den Thor brandts gegenüber zu keiner Unbedachtsamkeit hinreißen zu lassen. Vergiß nicht, daß wir im Brennpunkt der Neu gierde stehen.« »Ich mag diese hochmütigen Menschen nicht. Der junge Graf scheint arrogant zu sein.« »Dann sei froh, daß du mit dieser Arroganz nichts zu tun hast, mein Kind. Und was ist mit unserer lieben Nel? Die schweigt sich ja aus in tausend Sprachen.«
»Ich höre und staune über diesen Sturm im Wasserglas«, lächelte sie amüsiert. »Abwarten, meine Lieben, abwarten.« »Das ist wieder einmal unsere Nel.« Der Gatte griff nach der feinen Frauenhand und drückte schmeichelnd seine Lippen darauf. »Unser ruhender Pol, unser Fels in der Brandung. Kinder, was können wir glücklich sein, daß es unsere Nel gibt.« Die Gäste, die Oberst von Orsen nebst Frau zu sich ins Haus lud, kamen bereitwillig der Einladung nach. Da war en erst einmal die Versippten, also seine Tochter mit Gatten und Schwiegereltern, das Ehepaar von Skalden-Wittauren mit Sohn, Domänenpächter Glade mit Frau und Tochter – der Sohn war noch nicht gesellschaftsfähig –, das junge Ehepaar Galt-Dieden und das gleichfalls junge Ehepaar Karsten-Achthuben. Wenn man nun die Thorbrandt-Güldenrode, die HellnorMarstein und die Gastgeber selbst dazu rechnete, war der Kreis der »Clique« geschlossen. Die weiteren Gäste, so zwanzig an der Zahl, setzten sich aus Menschen zusammen, denen gegenüber man sich ver pflichtet fühlte, sie wenigstens einmal im Jahr einzuladen. Das waren die »Offiziellen« aus der naheliegenden Kreis stadt. Also: Der Oberst rief, und alle, alle kamen. Und zwar voller Neugierde, wenigstens die aus der »Clique«. Sie erschienen rechtzeitig, weil sie sich nichts davon entgehen lassen woll ten, wenn die Verhandlung Thorbrandt contra Hellnor ein setzte. Wie eine Welle von Spannung lag es über dem gro ßen Raum. Aha, da rückten die Güldenroder an, vornehm und reser viert wie gewöhnlich. Die Herren elegant im Frack und Lack, die Damen mit auserlesenem Geschmack gekleidet. Entzückend war sie anzuschauen, die kleine Komteß in ihrer lichten, klaren Schönheit, die Mutter distinguiert wie immer. Mit konventionell liebenswürdigem Lächeln be grüßten sie die Anwesenden, die ihnen alle bekannt waren, plauderte mit ihnen, bis ihre Mienen wie zu Eis erstarrten.
Und nun war der Moment der Hochspannung für alle Neugierigen erreicht; denn soeben erschienen die Marstei ner. Der Gastgeber machte sie mit den anderen Gästen be kannt. Das interessierte jedoch weniger – aber jetzt – jetzt -. Nun, die Herren kriegten sich nicht »am Schlips«, die Da men sich nicht »bei den Haaren«, sondern sie begrüßten sich sehr höflich, sehr formell. Die Herren neigten sich artig über die Hand der Damen, die beiden jungen Mäd chen taten bei der Gräfin und der Baronin desgleichen. Dann reichten die Herren sich die Hände – und der Höf lichkeit ward in tadelloser Form Genüge getan. Die Sensationslüsternen waren enttäuscht. Auch über die Aufmachung der »Amerikaner«. Wohl waren sie mit ausge suchter Eleganz gekleidet, aber durchaus nicht extravagant. Während der Tafel geschah nichts Außergewöhnliches, zu mal die Gastgeber den beiden im Brennpunkt der Neugier de stehenden Familien »Städter« als Tischpartner zugesellt hatten, die von dem Thorbrandt contra Hellnor wenig oder gar nichts wußten. Nun hofften die Enttäuschten noch auf den Tanz. Würde man ganz einfach die Pflichttänze ignorieren, oder? O nein, man tat den Leutchen nicht den Gefallen. Man benahm sich sehr reserviert beim Tanz. Eben verneigte Graf Thorbrandt, der junge, sich vor der Baronesse Hellnor, die bereitwillig seinen Arm nahm und sich auf die Tanzfläche führen ließ, ebenso verhielten sich die anderen drei Paare. Man tanzte, wie eben formgewand te Menschen miteinander tanzen. Allerdings, bei dem Pflichttanz blieb es. Die beiden Fami lien gingen sich fortan aus dem Wege, aber das geschah unauffällig. Ohne jeden Mißklang verlief das Fest, das Fa milie Thorbrandt zuerst verließ. Nach und nach verab schiedeten sich auch die anderen Gäste. Nur die »Sippe« hielt beharrlich aus. Als man unter sich war, meinte der Oberst schadenfroh: »Ihr sitzt ja da wie die bedripsten Hühner, denen man den Futternapf wegnahm.«
»Aber, Papa, du tust ja so, als ob wir die ärgsten Klatschba sen wären«, verwahrte sich die Tochter lachend. »Was wir den beiden Familien entgegenbringen, ist nichts weiter als menschliches Interesse.« »Na, wenn man, Marjellchen. Jedenfalls habe ich euch be wiesen, daß die Marsteiner gewillt sind, sich den unge schriebenen Gesetzen der >Clique< zu unterwefen, und daß die Güldenroder einer lächerlichen Fehde wegen diese Gesetze nicht verletzen wollen. Die sind viel zu gut erzo gen, als daß sie diese Fehde im Beisein anderer austragen würden. Wenn ihnen daran liegt, werden sie es immer nur unter vier Augen tun, verlaßt euch darauf.« »Und doch kreuzten sich ihre Blicke wie scharfe Klingen«, schmunzelte der gemütliche Papa Bessolt. »Donner noch eins, die haben es in sich, die Güldenroder und die Mar steiner. Elitemenschen, das muß man sagen, stolz, unnah bar und kalt wie Eis. Ich möchte ja lachen, wenn die Glut der Liebe das Eis bei den jungen Paaren schmelzen würde. Ja, was hast du denn, Hutzelchen?« fragte er verwundert das alte Fräulein, das aufgeregt an seinem Ärmel zog. »Großer Gott, davon habe ich doch in der vergangenen Nacht geträumt«, eröffnete sie weinerlich. »Ich habe solche Angst…« »Angst?« unterbrach sie der Bruder mit dröhnendem La chen. »Freuen müßtest du dich darüber schon deshalb, weil das Geld der Hellnors den Thorbrandts zu einem beque meren Leben verhelfen würde. Hut ab vor den beiden Gra fen, die aus dem verschuldeten Güldenrode einen Besitz machten, der bestehen kann. Dafür mußten sie sich aber auch arg genug schinden und plagen. So auf Posten wie sie, ist kein anderer Landwirt hier im Umkreis. Und wenn ih nen noch ein bißchen mehr Geld zur Verfügung stände, würden sie aus Güldenrode ein Mustergut machen.« »Meiner Ansicht nach besteht deren Reichtum als zweites Hindernis.« »Wie meinst du das, Klärchen?« fragte der Oberst die ältere Frau von Blüthner, als diese verlegen schwieg.
»Nun, ich kann mich ja täuschen«, sprach sie zögernd wei ter. »Aber soweit ich den Grafen Randulf beurteile, wird er um Geld niemals freien.« »Seht ihr, mein Traum!« rief Hutzelchen aufgeregt dazwi schen. »Die Baronesse Sidonie wollte den Grafen Randulf so gern haben, aber er wies sie kaltschnäuzig ab.« »Na, Hutzelchen, dein Traum in Ehren«, lachte der Landrat. »Aber wie ich die Baronesse Sidonie einschätze, geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, als sie mit einem Heiratsant rag auf den Grafen los. Das ist nämlich ein verflixt stolzes Mädchen.« »Will ich meinen«, schmunzelte sein Vater, der Regierungs rat von Blüthner. »In der kleinen Baronesse steckt Rasse drin, olala! Bei ihrem Anblick wird selbst mir altem Kna ben noch ganz heiß unter der Weste.« »Klärchen, laß dich scheiden«, tat der Oberst empört, und der gemütliche Papa Bessolt liebkoste seine Glatze. »Kinder, ihr begebt euch auf ein gefährliches Gebiet. Be denkt: Thorbrandt contra Hellnor – und ihr tragt euch mit Kupplerabsichten. Euer Glück, daß es der Randulf nicht hört.« »Hast recht, Mann«, bekräftigte seine Ehehälfte. »Denn die Menschen, die man hier als Marionetten betrachtet, bei denen man nur am Strippchen zu ziehen braucht, um sie zu dirigieren, sind stolze, unnahbare Lebewesen. Vergeßt das bitte nicht.« So debattierte man hin und her – und lächelnd spann Frau Norne ihre Fäden. Es war an einem Tag im November, als Sidonie von Hell nor in der Stadt, wo sie Einkäufe gemacht hatte, am Steuer ihres kleinen Zweisitzers Platz nahm, um nach Hause zu fahren. Grau und schwer hingen die Wolken am Himmel. Ein eisiger Wind fegte die Straßen entlang. Trotzdem fuhr Sidonie davon, und kaum hatte sie die Chaussee erreicht, warfen die Schneewolken ihre eisige Last ab, schütteten sie auf die Erde nieder. Huuuiiii! orgelte und pfiff es hohnlachend dabei, so daß es
Sidonie angst und bange wurde. Sie stieg aus, bemühte sich, das Verdeck hochzuschlagen, aber es gelang ihr nicht. Sie zerrte und riß voll Ungeduld, klemmte sich dabei die Finger, daß sie bluteten, bis sie es dann doch aufgab und sich an das Steuer setzte. Die Schneeflocken, mit Hagelkör nern vermischt, peitschten ihr ins Gesicht, in die Augen. Der weiße Wirbel nahm ihr die Sicht. Also ein Ding der Unmöglichkeit, den Wagen zu steuern. Dem Weinen nahe, saß sie da, fror erbärmlich, daß ihr die Zähne klapperten – und nirgends ein Mensch zu entdek ken. Sollte sie einfach den Wagen stehen lassen und zu Fuß nach Hause gehen? Wenn sie doch nur das Verdeck hochkriegen könnte, dann wäre ja alles andere ein Kinderspiel. Sie ließ die Scheiben wischer surren, die wohl die Scheibe klar machten, aber von oben schlug ihr das Schneegestöber ins Gesicht. Also noch einmal hinaus und versucht, das störrische Ver deck hochzukriegen. Eisig schlugen die Hagelkörner durch die hauchdünnen Strümpfe auf die Haut. Die feinen Schu he waren im Nu durchnäßt, und naß klebte ihr das Haar um Stirn und Nacken. Sidonie zitterte an allen Gliedern vor Kälte. Die Hände erstarrten, die sich mit dem Verdeck abmühten. Umsonst, der Mechanismus rührte sich nicht. Nun kamen ihr doch die Tränen vor Ratlosigkeit, und ge rade, als sie mit der blutenden Hand über das Gesicht fuhr, um die glitzernden Tropfen wegzuwischen, hielt ein Auto neben ihr. Erwartungsvoll sah Sidonie ihrem Retter entge gen. Sie zuckte zusammen, als dieser Retter sich als der unwill kommenste, den sie sich nur denken konnte, entpuppte. Vor ihr stand nämlich Randulf Thorbrandt. »Um Gott, Baronesse, was ist Ihnen geschehen!« rief er erschrocken. »Sie bluten ja – und weinen außerdem.« »Ach, das sieht nur so aus«, kam die Antwort in einem Ton, wie er einem Retter gewiß nicht gebührte. »Die nassen Haa
re tropfen mir ins Gesicht, und das Blut rührte von der Hand her, die ich mir am Verdeck klemmte.« »So, so«, sagte er, weiter nichts. Und doch hätte sie ihm ins Gesicht schlagen mögen, als sie das ironische Lächeln be merkte, das in seinen Augen blitzte, in seinen Mundwin keln hockte. »Danke, Herr Graf, bemühen Sie sich nicht. Ich werde auch allein fertig.« Schroff wandte sie sich ab, glitt dabei mit den leichten, hochhackigen Schuhen aus und wäre hingeschlagen, wenn der Graf diesen Fall nicht rasch verhindert hätte. Und da er das Mädchen nun schon einmal im Arm hielt, zog er es mit sich fort zu seinem Wagen hin, öffnete den Schlag. »Bitte, Baronesse, nehmen Sie Platz«, erklärte er kurz, aber sie rührte sich nicht. Doch ehe sie sich dessen versah, hatte er sie schon um die Hüften gefaßt und mit seinen stähler nen Armen auf den Sitz gehoben, an dessen anderem Ende Heidgar saß. Jetzt kam Sidonie wieder zur Besinnung. Ihre Augen fun kelten den Mann an, der ruhig vor dem Wagen stand und wieder dieses Lächeln zeigte, das Sidonie unsagbar reizte. »Was fällt Ihnen denn ein, Herr Graf!« rief sie empört. »Ist es etwa ihre Art, mit einer Dame so zu verfahren?« »Wenn die Dame unvernünftig ist, dann ja«, war die gelas sene Antwort. »Ich verstehe vollkommen, daß meine und meiner Schwester Gegenwart Ihnen lästig ist, Baronesse. Wir würden sie Ihnen auch gewiß nicht aufdrängen, wenn Sie nicht augenblicklich ein Mensch wären, der unserer Hilfe bedarf. Und die haben wir Thorbrandts noch keinem versagt.« »So, keinem?« kam es gedehnt von den spottgeschürzten Lippen, und da biß der Mann die Zähne so fest zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten. Als Sidonie jedoch Mie ne machte, den Wagen zu verlassen, fuhr er sie herrisch an: »Baronesse, was Sie jetzt tun wollen, ist ein frevelhaftes Spiel mit Ihrer Gesundheit. Ich ersuche Sie, sich nicht wei ter wie ein ungezogenes Kind zu benehmen, sondern sich
unsere Hilfe gefallen zu lassen, die nichts weiter als Men schenpflicht ist.« Das klang so scharf und kalt, daß sie die Beine, die schon draußen steckten, wieder in den Wagen zurückzog. »Hier, Heidgar, nimm mein Taschentuch und trockne da mit der Baronesse die nassen Haare, so gut es geht«, gebot er. Schweigend nahm die Schwester das Tuch aus der Män nerhand, doch schon zog es Sidonie an sich. »Danke, das erledige ich lieber allein«, sagte sie schroff und begann dann ihren Kopf zu bearbeiten, als wäre es nicht ihr eigener. Unwillig sah sie auf, als der Graf ihr ein Glas mit Kognak hinhielt. »Trinken Sie, Baronesse!« herrschte er sie an. »Der Kognak soll kein Freundschaftstrunk sein, den ein Thorbrandt einer Hellnor kredenzt, er soll nur verhindern, daß Sie sich eine Lungenentzündung holen.« »Wie wichtig!« ironisierte sie. »Sind Sie etwa ein Arzt?« »Gewiß, und zwar Tierarzt, der mit jedem störrischen Ras sepferdchen fertig wird.« Da sah sie ihn mit einem Blick an, der ihn eigentlich hätte in Grund und Boden schmettern müssen, nahm ihm aber schroff das Glas aus der Hand und leerte es in einem Zuge. Und während sie ob des scharfen Getränks zuerst nach Luft rang und sich dann schüttelte, zog ihr Widersacher ihr die nassen Schuhe aus, nahm eine Decke und hüllte das Mäd chen, das nun halbberauscht in dem Polster ruhte, völlig ein. »Wirst du den Wagen bei dem Schneegestöber auch lenken können, Heidgar?« fragte er kurz. »Ja«,“kam es ebenso kurz zurück. »Was wirst du tun?« »Den Wagen der Baronesse nach Marstein steuern.« »Wird es dir gelingen, das Verdeck hochzuschlagen?« »Bestimmt.« »Schön, dann warte ich so lange, bis du startbereit bist. Es ist mir lieber, wenn du vorfährst.« »Geht in Ordnung, Schwesterlein.« Der Schlag flog zu, und Sidonie zuckte erschrocken zu
sammen. Sie schnellte hoch, ließ sich jedoch wieder in das Polster zurücksinken, weil ihr Köpfchen süß benebelt war, was natürlich nicht ausbleiben konnte, wenn ein junges Mädchen ein Doppelglas besten Kognaks ruckartig in das zarte Kehlchen kippte. Wie Feuer brannte das scharfe Ge tränk im Magen. Mit einem zufriedenen Seufzer drückte die stolze, eigenwillige Baronesse Hellnor den flimmernden Kopf in das Polster. Augenblicklich war ihr alles egal – ganz egal. Heidgar dagegen, die hellwach am Steuer saß, steckte den Kopf durch das geöffnete Wagenfenster und sah gespannt zu, wie der Bruder sich an dem Verdeck des Zweisitzers zu schaffen machte. Und siehe da, ihm gehorchte es sofort. Er nahm in dem fremden Wagen Platz, fuhr an, und die Schwester folgte seinem Beispiel. Ganz einfach war es nicht für sie, den Wagen durch das Schneegestöber zu steuern, doch die Schlußlichter des voranfahrenden Autos zeigten ihr den Weg. Ab und zu warf sie einen Blick auf ihre Nachbarin, die sich ganz ruhig verhielt. Der Motor brummte, die Scheibenwi scher surrten, einschläfernd wirkte das. Allein, das Mäd chen am Steuer blieb hellwach. Denn es galt ja, nicht nur sich allein ungefährdet durch das Unwetter zum Ziel zu bringen, sondern auch das Mädchen, das der Bruder unbe denklich der jungen Schwester anvertraute. Ob sie es gern tat oder nicht, spielte für den stets hilfsbereiten Mann keine Rolle. Die Augen des Mädchens verfinsterten sich, die Hände um spannten das Steuer fest. Thorbrandt contra Hellnor. Noch nie hatte die Komteß dessen Bedeutung so gespürt wie jetzt, da sie eine Hellnor durch das Unwetter fahren mußte. Und diese Hellnor hatte die Geschwister Thorbrandt ihre Verachtung spüren lassen. Dieses: So, keinem? war wie ein Schlag ins Gesicht gewe sen. Sie bewunderte den Bruder, daß er die aufsässige Ba ronesse nicht einfach ihrem Schicksal überließ. Aber kaum gedacht, schämte Heidger sich auch schon die
ses unschönen Gedankens. Die wenigen Kilometer hätte man sonst bequem in zehn Minuten zurückgelegt, doch bei dem Unwetter brauchte man dreifach so viel Zeit. Und alles wegen dieser hochfah renden Baronesse. Pfui, Heidgar, schäm dich! rief sie sich gleich wieder zur Ordnung. Der Körper spannte sich, die zarten Hände hiel ten krampfhaft das Steuer. Und dann war endlich das mü hevolle Werk geschafft, die beiden Wagen hielten vor dem Portal des Marsteiner Herrenhauses. Der Schlag des schwe ren Wagens öffnete sich, und eine gelassene Männerstimme sprach: »Bitte, Baronesse, Sie sind zu Hause.« »Wie – was?« fuhr die Angesprochene auf, schaute nicht sehr geistreich um sich, riß die Decke vom Körper, sprang aus dem Wagen, schüttelte sich ob des Unwetters und lief dann auf Strümpfen davon. Sie prallte an der Portaltür fast mit dem verblüfften Diener zusammen und war dann ver schwunden. Da mußten die Geschwister denn doch lachen: »Der gute Kognak scheint seine Wirkung getan zu haben«, schmunzelte Randulf, indem er am Steuer seines Wagens Platz nahm. Ehe der Diener sich noch von seiner Verblüf fung erholt hatte, rollte das fremde Auto schon davon. Das war nun etwas, das in das Hirn des intelligenten, gut geschulten Dieners denn doch nicht hineinging. Verständ nislos starrte er auf den schmucken Zweisitzer der Barones se und ging dann kopfschüttelnd ins Haus. Sidonie jedoch rannte immer noch davon, als müßte sie im Wettlauf den ersten Preis gewinnen. Sie stoppte erst ab, als sie das Zimmer erreichte, in dem die Ihren geruhsam sa ßen. »Sido, wie siehst du denn aus!« rief die Mutter. »Du bist ja ganz naß – und auf Strümpfen – und blutbesudelt das Ge sicht!« Ihre Unruhe steigerte sich noch, als die Tochter sich in den nächsten Sessel fallen ließ, die Hände vor das Gesicht
schlug und weinte. Aber Cornelia hätte ja nicht die kluge,
behutsame Nel sein müssen, wenn sie nicht bald das aus
Sidonie herausgelockt hätte, was zur Aufklärung nötig war.
Als dann die verweinten Mädchenaugen sich hoben und
zaghaft das Gesicht der Mutter suchten, hockte in den
Mundwinkeln das Lächeln.
»Nel, Nel, warum sagst du denn nichts?«
»Ja, was soll ich da sagen?« kam die Antwort gedehnt.
»Doch nur, daß du dich nicht rühmlich benommen hast.«
»Das ist es ja eben!« Der Mädchenkopf senkte sich be schämt. »Aber du hättest nur das aufreizende Lächeln des
Grafen sehen sollen, diese Eiseskälte spüren müssen, die
von ihm ausströmte.«
»Nun, sehr warm wirst du ja auch nicht geströmt haben«,
entgegnete die Mutter trocken. »Ich kenne dich doch, Sido nie.«
»Und dann das fürchterliche Getränk, das der gräßliche
Mensch mir aufzwang. Ich mußte den Inhalt des Glases
leeren, das fast so groß war wie ein Bierseidel.«
Jetzt mußte die Mutter lachen, und erleichtert fielen die
beiden Herren ein, denen der Schreck nicht zu knapp in die
Glieder gefahren war.
»Hm, und dann?« forschte die gründliche Nel weiter.
»Dann ließ ich halbbenebelt alles über mich ergehen und
fühlte mich noch wohl dabei«, bekannte sie trotzig.
»Wer fuhr den großen Wagen, in dem du saßest?«
»Die Komteß.«
»Und deinen?«
»Wahrscheinlich der Graf.«
»Wahrscheinlich – sehr aufschlußreich.«
Sie klingelte nach dem Diener, der sofort eintrat. Der junge
Mensch gehörte auch zum Stab der treuerprobten Bedien steten, die man aus Chile mitbrachte.
»Robert, hast du vielleicht eine Ahnung, wo das Auto der
Baronesse ist?«
»Sehr wohl, Frau Baronin. Als ich den Wagen vor dem Por tal stehen sah, habe ich dem Chauffeur Bescheid gesagt, der
ihn dann in die Garage fuhr.«
»Sehr umsichtig, Robert, besten Dank.«
Er zog sich zurück, und Cornelia wandte sich wieder der
Tochter zu, die sich bemühte, dem gefürchteten Blick trot zig standzuhalten.
»Das ist nun meine Tochter, die ich gut erzogen glaubte«,
sprach sie gelassen. »Sie läßt Menschen, die ihr trotz – hm
– ungehörigen Benehmens dennoch halfen, einfach stehen und läuft ohne ein Wort des Dankes davon. Interessant.« Jetzt flammte der Eigenwille des Mädchens auf, gegen den die Mutter von jeher gekämpft und den sie trotzdem nicht hatte ganz ausrotten können. »Ei, Sidonie, schlucke das rasch hinunter, was du zu sagen gedenkst«, warnte Cornelia ruhig. »Deinen Stolz lasse ich mir gefallen, aber nicht deinen Eigenwillen. Das müßtest du mit deinen nahezu neunzehn Jahren schon begriffen haben.« Da senkte das Mädchen den Kopf und brummte: »Was hätte ich wohl anders machen sollen, Nel, etwa zwei von den Thorbrandts in unser Haus bitten?« »Nein, mein Kind, das erwarteten die Geschwister gewiß nicht von dir. Aber ein >Dankeschön< haben sie nun wirk lich verdient. Sie haben dich schließlich nicht ohne eigene Gefahr durch das Unwetter nach Hause gebracht. Haupt sächlich der Komteß wird es nicht leicht gefallen sein, bei dem beinahe orkanartigen Sturm den Wagen zu steuern. Meinst du nicht auch, daß die junge Dame viel lieber unter dem Schutz des Bruders gefahren wäre bei diesem Schnee gestöber? Aber sie…« »Nel, sprich nicht weiter! Ich weiß auch so, was du sagen willst.« »Na schön, dann weißt du ja Bescheid. Wo hast du übri gens deine Schuhe?« »Die zog mir dieser unausstehliche Mensch von den Füßen, bevor er mich in eine Decke hüllte.« »Das war doch sehr fürsorglich, Kleines«, meldete sich nun auch der Vater, der sich bisher aus der Debatte gehalten
hatte. »Das schon, Paps, aber wie er es tat.« »Wahrscheinlich so, wie man es bei Widerspenstigen tut, die sich durchaus nicht helfen lassen wollen«, lachte Roger, dem die Schwester eigentlich leid tat. Denn das Lächeln der Nel, obwohl es ihm gar nicht galt, war ihm recht unbehag lich gewesen. »Was sagte denn die Komteß zu dem heiteren Spiel?« »Nichts. Die ist genauso eiskalt wie ihr Bruder.« Sie brach ab und sah dem Diener entgegen, der das Zim mer betrat und ein Paar Schuhe in der Hand hielt – zierli che durchweichte Damenpumps. »Meine Schuhe!« rief Sidonie. »Wer gab sie dir, Robert?« »Ein Bote, Baronesse.« »Woher kam er?« »Das weiß ich nicht, Baronesse. Er gab nur die Schuhe ab und verschwand eiligst.« Nachdem der Diener gegangen war, lachte Nel amüsiert. »Oh, Sido, genau so wie die Schuhe aussehen, hast du dich benommen.« Auch in Güldenrode sprachen die Geschwister zu ihren Eltern über das Erlebnis mit der Baronesse, wobei Heidgar deren beleidigende Äußerung, dieses höhnende: »So – kei nem -?« nicht unerwähnt ließ. Darauf zuckte der Vater die Achsel. »Laßt es euch genügen, Kinder, daß ihr einen in Unbill geratenen Menschen trotz seines beleidigenden Benehmens eure Hilfe dennoch nicht versagtet.« Damit ging man zur Tagesordnung über und vergaß bald diesen Zwischenfall. Zwischen Güldenrode und Marstein befand sich eine An höhe, auf der man sich im Winter auf den Skiern zu tum meln pflegte. Und da durch diesen kleinen Berg ausgerech net die Grenze lief, hatte man, als die Feindschaft der Nachbarn begann, einen Stacheldrahtzaun gezogen, damit man nicht mit einem halben Fuß feindliches Gebiet betre ten konnte.
An einem Tag, Anfang Dezember, schwang sich Heidgar, die gleich ihrem Bruder eine vorzügliche Übung im Skilauf besaß, im schneidigen Telemark über das Gelände, hackte dabei mit den Brettern an den ominösen Zaun, verlor das Gleichgewicht und kugelte mit beängstigender Geschwin digkeit hinunter. Das sah schlimmer aus, als es war und ließ den Geschwistern Hellnor, die jenseits des Zaunes am Abhang standen, fast das Herz stillstehen vor Schreck. Blitzschnell warfen sie die Skier ab, setzten in kühnem Schwung über den Draht, und als erster kniete Roger neben dem regungslosen Bündel. »Komteß, haben Sie sich verletzt?« rief er angstvoll, den Mädchenkörper dabei behutsam auf den Rücken legend – und da strahlten ihn zwei blaue Augen an. »Gott sei Dank«, atmete der Mann auf. »Was haben wir für einen Schreck gekriegt!« »Ich auch!« Heidgar wollte die Männerhände, die noch immer auf ihrer Schulter lagen, schroff abstreifen. Doch da fiel ihr Blick auf Sidonie – und die ließ ihre helfenden Hände, wo sie waren. Denn so benehmen, wie die Baro nesse es vor zwei Wochen tat, wollte sie sich wahrlich nicht, obwohl auch sie über ein eigenwilliges Köpfchen verfügte. »Haben Sie Schmerzen, Komteß?« »Keine Spur, Herr Baron«, gab sie zwar kühl, aber nicht unfreundlich zurück. »Wenn Sie die Güte haben wollten, mich von den verhakten Brettern zu befreien, werde ich gleich wieder obenauf sein.« Und tatsächlich stand sie gleich darauf, von vier hilfreichen Händen emporgehoben, wieder aufrecht da. »Geht's?« fragte Sidonie bang. »Danke – ausgezeichnet. Eine Schande, daß mir altem Ski hasen das überhaupt passieren konnte.« »Was heißt hier Schande«, protestierte Roger. »Das Wort sollten wir doch lieber streichen. Soll ich nach Hause lau fen und einen Schlitten holen, Komteß?« »Wozu denn? Mir fehlt doch nichts, Herr Baron.«
Damit griff sie nach den Brettern, legte sie an, ergriff die Stöcke und lächelte den Geschwistern zu. »Besten Dank für tatkräftige Hilfe, sonst wäre ich jetzt noch nicht auf den Beinen.« Damit glitt sie davon, dorthin, wo der Schloßturm sich in den Himmel streckte. Die Geschwister sahen der grazilen Gestalt nach. Dann sagte Roger: »Die benahm sich anders als du damals, Schwesterlein. Zwar spürte man aus ihrem ganzen Gebaren das reservierte >RührmichnichtanGoldlack
GoldlackAb rahams Schoß