2111
Die Malische Mole Die SOL erreicht Wassermal eine Begegnung am Rande der Galaxis Arndt Ellmer
Die Hauptpersonen d...
48 downloads
348 Views
526KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
2111
Die Malische Mole Die SOL erreicht Wassermal eine Begegnung am Rande der Galaxis Arndt Ellmer
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide nimmt an der geheimnisvollen LOTTERIE teil. Mohodeh Kascha - Der letzte Kimbaner weiß mehr über Wassermal, als er preisgeben mag. Icho Tolot - Der Haluter wird zum wichtigen Verbündeten bei der LOTTERIE. Sfonoci - Der Graue Marlite ist für die Malische Mole verantwortlich.
1. Etwas über fünf Stunden ist es her, dass die Ereignisse um Tagira ihr Ende nahmen. Die Feste Tagirathem zieht hinaus in den Kosmos. Sershan hält sich in ihr auf. Als er sich mit Tagira vereinigte, überrollte eine euphorisierende Welle die SOL - und mir floss entscheidendes Wissen zu. Ich weiß nun, was ihm und dem Guten Geist von Wassermal bevorsteht. Aber welche Bedeutung der Vorgang für unseren Aufenthalt in Wassermal haben wird, kann ich höchstens erahnen. Wir werden es sehen. Der Datensatz, der übergangslos in SENECAS Speichern aufgetaucht ist, stammt ohne Zweifel vom Guten Geist von Wassermal. Er entscheidet darüber, wohin die Reise geht. Unser Ziel heißt GISTUNTEN-3. Dort bietet sich uns die Möglichkeit, an der LOTTERIE teilzunehmen. Meine Augen tränen. Die Anspannung der letzten Stunden und Tage entlädt sich. Die Niedergeschlagenheit, kurzzeitig überlagert von der mentalen Euphorie der Entität, weicht gesundem Misstrauen. Was erwartet uns? Ist wirklich alles friedlich, wie der letzte Kimbaner uns gegenüber seit Jahren beteuert? Es gibt keinen Grund, an ihm zu zweifeln, er hat seine positiven Seiten auch während des Fluges oft genug bewiesen, trotzdem bleiben die Bedenken. Lauert hinter der Maske der Freundlichkeit ein Gegner? Wir werden es erfahren. In wenigen Minuten oder erst viel später. Mein Misstrauen wächst, je näher das Flugziel rückt. Frieden ist ein ausgesprochen subjektives Empfinden. Es gibt Wesen und auch Völkerschaften, die ihre Vorstellung von Frieden und Glückseligkeit über den gesamten Lebensraum auszudehnen versuchen und dabei keineswegs friedliche Mittel einsetzen. Dem muss jeder in diesem Universum Rechnung tragen. Leichtsinn können wir uns nicht leisten. * »SENECA an Besatzung. In wenigen Augenblicken erreichen wir die Zielkoordinaten.« Ich sah mich unauffällig um. Die letzten, halblaut geführten Gespräche verstummten. Fee Kellind zupfte ihre Uniformjacke zurecht. Myles Kantor kämpfte mit seiner Haarsträhne, die ihm bis fast zur Nasenwurzel reichte. Der Wissenschaftler strich sie ein halbes Dutzend Male zur Seite, aber immer wieder fiel sie zurück. Lediglich Ronald Tekener und Dao-Lin-H'ay ließen sich nichts von der Spannung anmerken, die sie erfüllte. Und natürlich Icho Tolot. Wie ein Fels in der Brandung stand der Haluter zwischen den Sesseln, die beiden Armpaare verschränkt und die drei rot glühenden Augen auf den Panorama-Holoschifm gerichtet. Und du?, stellte ich mir die Frage. Entscheide dich für Frieden oder Krieg! Wieder stand mir schmerzhaft die Entscheidung des Guten Geistes von Wassermal vor Augen. In mir steckte zu viel Kampf und Krieg. Deshalb hatte die seltsame Entität den Krieger Sershan mir vorgezogen. Als Verlierer war ich vom Schlachtfeld im Leerraum heimgekehrt. Verstohlen musterte ich mich in der spiegelnden Sensorfläche meines Terminals. Nein, so sah kein Verlierer aus.
Narr!, meldete sich der Extrasinh. Es ging nicht um Sieg oder Niederlage, Wann begreifst du es endlich? Ich riss mich von den Gedanken los. Noch immer übten sie eine starke, autosuggestive Kraft auf mich aus. Kein Wunder, die Erlebnisse lagen nur wenige Stunden zurück. Viena Zakata schloss seine Checks der Ortungs- und Tastersysteme ab. Der Blick aus den hellblauen Augen des ehemaligen TLD-Agenten fraß sich förmlich an den Skalen der Anzeigegeräte fest. »Nichts«, flüsterte er. »Da ist rein gar nichts, was auf Krieg und Unruhen hindeutet, alles Frieden. Ortungstechnisch liegt ein Hort der Glückseligkeit vor uns.« Die Kommandantin wandte den Kopf nach rechts. Ihr Blick streifte den letzten Kimbaner. Anschließend blieb er auf mir ruhen. »Sicherheitsstufe Eins!«, sagte sie leise. »Hat jemand Einwände?« Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Schutz des Schiffes und seiner Bewohner hatte Vorrang vor allen anderen Erwägungen. Mohodeh Kascha erhob sich mit einer fließenden Bewegung. »Ja, ich! Ihr irrt euch tatsächlich. Und Viena Zakata hat Recht: Die Galaxis Wassermal ist eine Insel des Friedens. Für die SOL besteht keinerlei Gefahr.« Seit unserer Abreise in Dommrath wies er uns immer wieder darauf hin. Aber auch der letzte Kimbaner wusste nicht zu sagen, ob sich seit seinem Besuch in Wassermal nicht doch etwas geändert hatte. Unabhängig vom Einfluss des Guten Geistes von Wassermal. Ein halblauter Gong kündigte an, dass das Hantelschiff den Hypertaktflug beendete. Auf dem Panoramaschirm tauchte das endgültige Hologramm der Spiralgalaxis auf. Wassermal war ein Sa-Typ, wie wir schon seit Millionen von Lichtjahren wussten. Der Zeitraffer unterschiedlicher Ortungsabbilder, die SENECA alle Million Lichtjahre erstellt hatte, brachte uns die Sterneninsel der Pangalaktischen Statistiker im Wandel der Zeitalter nahe. Bezogen auf das Alter des Lichtes am Beginn unserer Reise waren wir der Gegenwart dieser Galaxis immer näher gekommen, hatten ihre Verjüngung täglich und stündlich mitverfolgt. Nach 680,5 Millionen Lichtjahren Wegstrecke und siebeneinhalb Jahren Flugzeit waren wir endlich da. Die letzten 41.000 Lichtjahre nahmen sich da wie ein Spaziergang zum Nachbarn aus. An den drei Fragen, die wir den Pangalaktischen Statistikern stellen wollten, hatte sich in der langen Zeit von Dommrath hierher nichts geändert. Was sind die wahren Ziele der Thoregons? Wer sind die Helioten? Wer hat die Brücke in die Unendlichkeit erbaut? Übergangslos erfüllten Tausende von Funksprüchen den Hyperäther. Man hatte uns kommen sehen und beobachtete unseren Anflug. Dass das Stijssen-System bewohnt sein würde - wir wussten es aus ein paar spärlichen Andeutungen Kaschas. Der blaue Riesenstern vom Typ A4 besaß 22 Planeten. Die Taster und Orter meldeten, dass mehrere davon dünn besiedelt waren. Der nächste Fixstern zog, mehrere hundert Lichtjahre entfernt, seine Bahn. Wir befanden uns im äußersten Kalo der Galaxis. Vor dem glitzernden Sternenvorhang zoomte die Aufnahmeoptik unter Steuerung von Major Zakata das eigentliche Ziel des Fluges heran, eine Station am Rand des Systems. Der Abstand der Umlaufbahn zum Stern betrug 1,3247 Milliarden Kilometer. »Der Gegenstand ist hauptsächlich zylindrisch«, erklang die Stimme des Orterchefs. »Die Länge beträgt 21 Kilometer, der Durchmesser 1,15 Kilometer. Zwei Kugeln von 1,75 Kilometern Durchmesser teilen das Gebilde in gleich lange Drittel auf.« Von der Walze ragten in unregelmäßigen Abständen Ausleger in den Weltraum, hundertzwanzig Meter dick und drei Kilometer lang. Zweifellos handelte es sich bei dieser Station um GISTUNTEN-3, die schon der Gute Geist von Wassermal erwähnt hatte. Rings um das Gebilde kreiste ein Schwärm aus rund sechshundert Raumschiffen. Viele hielten den Kontakt zu den Auslegern. Der Anblick erinnerte an einen Yachthafen. Uns bot sich eine ungeheure Vielfalt an Formen und Konstruktionen dar, meist zwischen einem und drei Kilometern lang. Es handelte sich anscheinend um Fernraumschiffe aus anderen Galaxien. Kleinere Einheiten gab es nicht. Kein Wunder, denn die Völker von Wassermal mussten sich wohl kaum dieser Prozedur unterziehen, wenn sie Kontakt zu den Pangalaktischen Statistikern herstellen wollten. Ich erhob mich. »Das ist also unser Ziel«, wandte ich mich an den letzten Kimbaner. Sein Gesicht war von intensiverem Blau als gewohnt. »Du erkennst es wieder?« »Natürlich. Es handelt sich um die Malische Mole«, bekräftigte er. Seine Stimme klang etwas zaghafter als in
den vergangenen Wochen und Monaten. »Eine von 54 Stück. Die Einheimischen nennen diese Gebilde in ihrer Sprache Zabaroo-Alzo. Die Weltraumbahnhöfe dienen der Abfertigung der Besucher. In ihrem Innern findet die LOTTERIE statt.« Mohodeh Kascha legte die Fingerspitzen seiner Hände zusammen. »Von hier aus werden wir mit einer Malischen Dschunke nach Wassermal vordringen.« »Du hast uns am Beginn des Fluges mitgeteilt, dein Wissen über die Thoregons nicht von den Pangalaktischen Statistikern, sondern von so genannten Mittelsleuten erhalten zu haben«, sagte ich. »Das hast du uns mehrfach berichtet, ohne weitere Aussagen zu treffen. Soll das heißen, du hast die LOTTERIE nicht mitgemacht?« »Ich habe in der LOTTERIE verloren und Wassermal nie betreten«, gestand er. »Und das konnte und durfte ich euch nie sagen.« Das intensive Blau seines Gesichts ließ nach. »Du glaubst, es diesmal zu schaffen?«, ergriff Fee Kellind das Wort. »Sie werden es in GISTUNTEN-3 nicht riskieren, einen Ritter der Tiefe zurückzuweisen«, lautete die Antwort des letzten Kimbaners. * »Nanu, was kommt denn da? Ein komisches Gerät, fast wie ein Doppelknoten. Damit kann man höchstens zwei Trabanten aneinander hängen, aber keine LOTTERIE gewinnen. Zickzack, wurde das Schiff schon einmal gesichtet?« »Ergebnis negativ«, summte die binäre Präferenz. »Suche in den letzten hundert oder tausend Jahren!« »Antwort identisch. Ergebnis negativ.« »Das versteh ich nicht. Mein Genkode wird doch nicht gestört sein? Oje, jetzt kommt das Ding zur Ruhe. Kannst du nicht den vermaledeiten Holoschirm abschalten?« »Tut mir Leid. Es ist deine Aufgabe, ankommende Schiffe abzufertigen.« »Aber nicht so was. Mir tun jetzt schon die Facetten weh.« »Du solltest jetzt Kontakt zu dem Fremden aufnehmen.« »Kontakt aufnehmen? Schau her! Ich kriege den Arm nicht nach vorn. Den anderen auch nicht und den da und diesen hier sowieso nicht. Eine Muskellähmung oder Nervenstörung. Was weiß ich.« »Du bist krank. Ich rufe einen Heiler.« »Ich brauche einen Schaufler, der mich unter die Erde gräbt. Heimaterde, du verstehst? Und wirst du diesen Krach abschalten? Dieses Sirren hält ja kein Schreckstober aus. Geschweige denn ich. Abschalten, sag ich!« »Du solltest deine plötzlich so gelenkigen Arme von der Schalttafel nehmen. Ja, so ist gut. Das Sirren ist weg. Wieso drehst du dich im Kreis?« »Zickzack, ich - ich falle... Alles dreht sich um mich. Wo ist oben und unten? Mittelarme, helft mir. Fangt mich ab! So ist gut. Auf vier Beinen steht sich's doch besser als auf zwei. Wo ist die Wand? Wo die Schüssel? Ich brauche ein Speiloch. Anhh, das tut gut.« »Du hast soeben die Dateneingabe verschmutzt. Ich schalte mich ab, bevor Kurzschlüsse auftreten.« »Eh, mir geht es schon viel besser.« »Binäre Präferenz mit einer Eilmeldung an die Koordination. Kontakter ausgefallen. Vermutlich ein oxigenisch-epileptischer Anfall. Bitte Abtransport veranlassen.« »Wird veranlasst, Einheit 38-674. Hier Koordination. Wir schicken einen Grauen Marliten.« »Sicherheitsabschaltung erfolgt - jetzt.« * Sfonoci zählte nicht nur zu den führenden Oberoffizieren von GISTUNTEN-3, er war auch ein Generalist. Kollegen behaupteten ab und zu im Scherz, sein Gehirn sei in mehrere tausend Schubladen unterteilt, in denen das Wissen für die jeweiligen Aufgaben schlummerte, denen er sich gerade widmete. Er verstand solche Anspielungen als Lob. Ohne die Vielfalt seiner Kenntnisse wäre ihm der Dienst im Weltraumbahnhof längst langweilig geworden. »Ich übernehme den Fall«, teilte er der Koordination mit. Der Ausfall eines Kontakters stellte ein Novum in der Geschichte von GISTUNTEN-3 dar, wie er sie kannte. Was lange vor seiner Zeit gewesen war, wusste er nicht. Ein Oberoffizier hatte keine Zeit, sich mit Ereignissen aus früheren Jahrzehnten zu befassen.
Der dezentrale Steuerautomat blendete das Abbild des riesigen Schiffes ein. Es bestand aus zwei riesigen Kugeln, verbunden durch einen langen, dreigeteilten Zylinder. An Länge übertraf es die schon vor Anker liegenden Schiffe teilweise um das Doppelte. Neben der Zabaroo-Alzo nahm es sich imposant und Respekt gebietend aus. Fast halb so lang wie der Weltraumbahnhof! In diesem Schiff, das begriff Sfonoci sofort, reisten keine gewöhnlichen Sterblichen. Schiffe dieser Größenordnung gehörten ähnlich wie GISTUNTEN-3 in die Kategorie der Selbstversorger. Alle paar Jahre benötigten sie einen Weltraumbahnhof oder einen Planeten, um ihre Vorräte an Rohstoffen zu ergänzen. Die Nahrungsmittel und das Wasser daraus produzierten sie selbst. »Der Ankömmling wird in die Kategorie >Generationenschiff< eingestuft«, diktierte er dem Logbuch. »Möglicherweise lebt in diesem Schiff ein ganzes Volk. Ich versuche das so schnell wie möglich herauszufinden.« Wissen über die Insassen schadete nie. So hinderlich Kategorien und Schubladen oftmals waren, lieferten sie doch einen wertvollen Beitrag zur Einschätzung der Ankömmlinge. Das wiederum schlug sich in den Liegegebühren und den Preisen für Rohstoffe und Lebensmittel nieder. Die Reichen zahlten mit den Preisen die Subventionen für die Armen. So geschah es seit jener Zeit, als der Besucherstrom für die Galaxis Akhimzabar erstmals geregelt worden war. »Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Herkunft dieses Schiffes«, fuhr er fort. »Warum kommt es nach Akhimzabar?« Die einfachste Erklärung musste nicht unbedingt die wahrscheinlichste sein. Wenn es beispielsweise in einem Hypersturm oder aus anderen Gründen die Koordinaten seiner Heimat verloren hatte, benötigte es nicht unbedingt die Hilfe der Pangalaktischen Statistiker. In vielen Fällen reichte das Wissen der Informationshändler aus. Es war also sinnvoll, wenn er die Insassen des Schiffsriesen zunächst auf diese Möglichkeit hinwies. Aber vielleicht wollten sie etwas ganz anderes. Jede der Einheiten, die an der Zabaroo-Alzo anlegten, besaß einen anderen Grund, an der LOTTERIE teilzunehmen. Ihre Zahl stieg von Stunde zu Stunde. Waren es bis vor kurzem etwas über sechshundert gewesen, so zählten die Automaten der Hyperraumortung inzwischen fünfzig weitere Einheiten, die sich der Peripherie Akhimzabars innerhalb der Himmelsrichtung Gist näherten, in deren drittem Sektor und unterhalb der galaktischen Hauptebene. GISTUNTEN-3 eben. Insgesamt kannte das Koordinatensystem der Galaxis neun Himmelsrichtungen oberhalb und unterhalb der Hauptebene, die sich alle in drei Sektoren unterteilten. Das machte zusammen 54 Sektoren, in denen jeweils eine Zabaroo-Alzo ihren Dienst tat. Mit achthundert Schiffen war deren Kapazität jeweils erschöpft. Weitere Ankömmlinge mussten zu weniger belagerten Molen umgeleitet werden. Im schlimmsten Fall blieb den Kapitänen nichts anderes übrig, als bis zur nächsten LOTTERIE zu warten. Sie fand einmal in jedem Zabarischen Jahr statt. Die nächste war die 22.123ste, vom jetzigen Atemzug an in exakt zwanzig Tagen. Sfonoci erreichte den Kontaktraum 38-674. Die Heiler hatten den Erkrankten bereits abtransportiert. Spuren einer Verunreinigung oder gar deren Geruch ließen sich nicht mehr feststellen. Der Graue Marlite gab seinen Offizierskode ein. Anschließend hievte er die Schalttafel auf eine für ihn angenehme Höhe. Eine Beobachtungssonde im All lieferte erste Nahaufnahmen von dem fiesigen Gebilde. Es erinnerte ihn an einen Stock mit zwei Knoten, einer an jedem Ende, fast wie ein Baumstamm ohne Wurzelteil. Die Symbolträchtigkeit des Bildes versetzte ihn in Staunen. Entwurzelte Wesen in einem riesigen Schiff, waren sie das wirklich? Ohne Bindung an eine Heimat? Der Gedanke an Flüchtlinge tauchte in seinem Bewusstsein auf. In Akhimzabar erhielten sie keine Zuflucht. Dafür bot das Stijssen-System eine Reihe von besiedelten Welten. Jeder, der dort landete, musste sich den Gesetzen der Grauen Marliten unterwerfen. Absolute Friedfertigkeit, gute Nachbarschaft und Rücksicht auf die Natur des Planeten waren die drei wichtigsten. Die meisten Bewohner des Systems waren Gestrandete. Ihre ursprüngliche Absicht, eine Passage nach Akhimzabar zu erhalten, hatten sie nicht wahr machen können. Für den Rückflug in die Heimat fehlte ihnen das Geld. Manchen war schon das lange Warten bis zur nächsten LOTTERIE zum Verhängnis geworden. Sie hatten Schulden bei der Zabaroo-Alzo gemacht. Jetzt schufteten sie in den Bergwerken der Planeten, um das Geld nach und nach zurückzuzahlen. »Welchen Wert hat das Wissen über alle Aspekte des Kosmos und seiner Geschichte für sie?«, fragte sich Sfonoci. »Wie schlimm muss Neugier sein, wenn ganze Familien oder Völker sich verschulden, nur um zu den Pangalaktischen Statistikern vorgelassen zu werden?«
Das Logbuch gab ihm keine Antwort. Es besaß keine derart komplizierte Struktur. Aufzeichnung und Wiedergabe, mehr hatte es nicht zu bieten. Mit jedem Jahr verbreitete sich das Wissen um die Weisen in Akhimzabar weiter über das Universum. Die Zahl der Besucher nahm zu. Millionen waren es jeweils. Jeder Weltraumbahnhof ermittelte hundert Delegationen á fünfzig Personen pro LOTTERIE. Zusammen ergab das 270.000 Extragalaktiker, die in jedem Zabarischen Jahr bis zu den Pangalaktischen Statistikern vorgelassen wurden. Gemessen an den Millionen Anwärtern, stellte es lediglich so etwas wie eine Geste dar. Die Wahrheit kannte nicht einmal der Graue Marlite. Er ahnte sie höchstens und schätzte, dass es mit den Kapazitäten der Weisen zu tun hatte. Auskünfte brauchten ihre Zeit, selbst wenn man sie Maschinen überließ. Und Wissen war wertvoll, besonders wenn es sich um tiefere Zusammenhänge handelte. Die binäre Präferenz meldete sich mit einem Signal. »Ein kugelförmiges Schiff verlässt den Riesen und nimmt Kurs auf die Abfertigung. Du solltest dich mit ihm in Verbindung setzen.« Der Graue Marlite richtete seinen dreigeteilten Körper zurecht. Das untere Armpaar legte er auf die Griff stange. Mit dem oberen schaltete er gleichzeitig Funkgerät und Detailortung ein. »GISTUNTEN-3 an Fremdfahrzeug«, sagte er. »Ich übermittle die Grunddaten für die Kommunikation.«
2. »Alle 658 Fremd-Einheiten unterliegen einem permanenten Check durch meine Instrumente«, verkündete SENECA. »Nichts deutet auf eine Bedrohung hin.« »Was ist mit der Malischen Mole?«, wollte ich von SENECA wissen. »Noch ist uns nichts über deren Waffensysteme bekannt.« »Wenn sie existieren, sind sie desaktiviert«, erwiderte das Bordgehirn. »Bisher weisen keinerlei Emissionen auf ihr Vorhandensein hin. Typische Einrichtungen wie Geschütztürme und Abstrahlrohre sind nicht zu erkennen.« Es beruhigte mich kaum. Im Gegenteil. Wer sich derart waffen- und damit schutzlos präsentierte, regte die Unruhe in meinem Innern nur an. Autarke Steuersysteme von Raumschiffen ließen sich durch die Ausstrahlung einer Entität wie dem Guten Geist von Wassermal nicht beeindrucken. Man brauchte ein Robotschiff nur auf Überfall und Gefecht zu programmieren, und schon richtete es Unheil an. Selbst in absolut friedlichen Zeiten erschien es mir logisch, dass eine Station wie die Malische Mole diesem Sicherheitsaspekt Rechnung trug. Im Zweifelsfall musste sich die Malische Mole auch verteidigen können. Mein Extrasinn war anderer Meinung. Du besitzt noch nicht genug Informationen, um es beurteilen zu können. Und der Kimbaner? Hat er sich bei seinem ersten Besuch nicht darum gekümmert? Offensichtlich bestand dazu kein Anlass. Ich wandte mich an Trim Marath und Startac Schroeder. »Ihr begleitet Mohodeh Kascha und mich. Sicherheitsstufe Eins bleibt in der Zeit unserer Abwesenheit bestehen.« Die beiden Monochrom-Mutanten berieten sich kurz mit Keifan, dem Druiden, ihrem Freund seit den gemeinsamen Abenteuern im Land Dommrath. »Wir sind einverstanden«, sagte der Teleporter. »Wenn alle Stricke reißen, haue ich uns heraus.« Mohodeh Kascha setzte sich in Bewegung. Umschwirrt von seinen vier Protokollrobotern, hielt er auf den Transmitter zu. Nacheinander wechselten wir in den Leichten Kreuzer KAHALO über, ein 100-Meter-Schiff mit Ynkonit-Hülle. Die Malische Mole lag inzwischen fast zum Greifen nah vor uns, keine tausend Kilometer entfernt. Die 100-MeterKugel schleuste aus. Kascha blickte suchend auf das Hologramm-Abbild des Weltraumbahnhofs. »Aus dem mittleren Drittel von GISTUNTEN-3 ragt ein Ausleger in einem Winkel von 78 Grad über die galaktische Hauptebene. Das ist die Anlegestelle für Neuankömmlinge.« Wir fanden sie relativ leicht. Es war der einzige Arm in diesem Bereich des Zylinders, an dem zur Zeit kein Schiff ankerte. Die KAHALO verzögerte. Sie hielt auf die Spitze des Auslegers zu. Ein erster Funkspruch traf ein. Er enthielt einen Symbolkode. Die Positronik der KAHALO funkte sein eigenes Schema zurück. Innerhalb von dreißig Sekunden entstand eine gemeinsame Basis für den Austausch sinnvoller Nachrichten. Es folgten die beiden Sprachsysteme, Interkosmo auf unserer, Diamal auf der anderen Seite. Gleichzeitig mit der Übersetzung der beiden Sprachen erreichte ein geraffter Funkimpuls die SOL und SENECA. Das Bordgehirn erstellte auf Grund dieser Daten erste Programme zur Hypnoschulung und
übermittelte das Sprachsystem an die mobilen Translatoren. Die winzigen Schächtelchen an unseren Gürteln meldeten Einsatzbereitschaft. Die Positronik der KAHALO projizierte ein Hologramm in die Mitte der Zentrale. Vor uns erschien das Abbild eines Wesens, das mich an die Miniaturausgabe einer aufrecht gehenden Hornschrecke erinnerte. Die mittleren und oberen Gliedmaßen schaukelten hin und her. Das galt auch für die viergeteilten Greifzangen am vorderen Kopfende. Ihre beachtliche Größe wies darauf hin, dass das Wesen sehr wohl gefährlich werden konnte. Die Körperoberfläche wirkte, als sei sie mit basaltgrauem Zement gepudert. Es verwischte die Konturen. Ich konzentrierte mich auf die Körperhaltung des Wesens. Es neigte uns den Oberkörper entgegen. Der Kopf war bei dieser Haltung leicht gesenkt. Die beiden Facettenaugen schillerten in den Farben des Regenbogens. Jetzt hob es das obere Gliederpaar und winkte uns. Die zur Schau gestellte Freundlichkeit störte mich. Wir waren in einer fremden Umgebung. Wir mussten uns vorsehen. Verfalle nicht in Hysterie!, mahnte der Extrasinn. Dieses Wesen ist absolut friedlich. Du hast die sich widersprechenden Eindrücke, die du in der Feste Tagirathem gewonnen hast, noch immer nicht verarbeitet. Tu es endlich! Ich lauschte in mich hinein. Das Gefühl starker Niedergeschlagenheit, das ich nach der Rückkehr in die SOL verspürt hatte, glaubte ich längst überwunden. Jetzt entdeckte ich, dass es noch immer da war Misstrauen überlagerte es und deckte es zu. Was wird, wenn der Gute Geist von Wassermal erloschen ist?, stellte ich die lautlose Frage. Wer garantiert, dass es erst in zweitausend Jahren geschieht und nicht in den vergangenen Stunden vor sich ging? Der Umfang dieser Frist war mir von Tagira zugespielt worden, musste also mit der entsprechenden Skepsis jeder subjektiven Aussage beurteilt werden. Der Extrasinn gab mir darauf keine Antwort. Aus dem Translator drang eine sanfte Stimme. »Reisende aus der Ferne, ich bin Sfonoci, ein Grauer Marlite. Kommt ihr wegen der Pangalaktischen Statistiker nach Akhimzabar, oder wollt ihr lediglich Rohstoffe und Proviant aufnehmen? GISTUNTEN-3 bietet euch alles, was ihr für den Weiterflug benötigt.« »Mein Name ist Atlan, unser Schiff ist die SOL. Wir sind hier, um den Weisen von Wassermal ein paar Fragen zu stellen.« »Das wird nicht einfach sein.« Das Wesen namens Sfonoci informierte uns darüber, dass pro Malisches Jahr nur eine begrenzte Anzahl von Besuchern nach Wassermal eingelassen wurde, die in der LOTTERIE gewonnen hatten. So weit waren uns die Fakten schon bekannt. »Dieses Verfahren betrifft grundsätzlich alle Schiffe, die sich Akhimzabar nähern«, erläuterte der Graue Marlite. »Ausnahmen gibt es nicht. Die Einhaltung der Regeln wird vom Guten Geist und den Prinzenkriegern überwacht. Hintergrund für diese Anordnung sind furchtbare Erfahrungen, die es in der Vergangenheit mit einem ungeregelten Besucherstrom gab.« Prinzenkrieger! Davon hatte Mohodeh Kascha bereits gesprochen, eine der wenigen ernsthaften und brauchbaren Andeutungen des Kimbaners. Es existierte also eine Art militärische Aufsicht. Das könnte erklären, warum die Malische Mole keine eigenen Waffensysteme aufwies. Sfonoci verbeugte sich, indem er seinen Körper für einen kurzen Augenblick auf das mittlere Beinpaar sinken ließ und sich ruckartig wieder aufrichtete. »Euer gezielter Anflug auf den Ausleger lässt mich vermuten, dass ihr nicht zum ersten Mal hier seid«, fuhr er fort. »Das Schiff ist mir jedoch gänzlich unbekannt.« »Wir haben einen Passagier an Bord, der schon einmal in GISTUNTEN-3 weilte«, gab ich zur Antwort. »Du siehst ihn neben mir.« Ich trat ein Stück zur Seite, damit der Graue Marlite den Kimbaner genau betrachten konnte. »Mohodeh Kascha!«, rief Sfonoci. »Das ist eine Überraschung. Ich habe nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen.« Der Kimbaner breitete die Arme aus. »Sagte ich damals nicht, dass ich zurückkehren würde? Wenn du nichts dagegen hast, kommen wir jetzt an Bord.« Kascha wirkte ungeduldig. Er konnte es offensichtlich kaum erwarten, endlich zu den Pangalaktischen Statistikern vorgelassen zu werden. »Wie du weißt, sind da zunächst ein paar Formalitäten zu erledigen. Wenn ihr euch für die LOTTERIE eintragen wollt, müsst ihr die Gebührenordnung anerkennen.« »Das tun wir. Wir erkennen sie an«, sagte der letzte Kimbaner schnell. »Ausgezeichnet. Die Prozedur ist dir bekannt. Sobald alle finanziellen Gesichtspunkte geklärt sind, erhaltet
ihr die Zulassung zur LOTTERIE. Die Gewinner besteigen später mit ihren Delegationen eine ZabarooUlisharbunul, die sie in das Innere der Galaxis bringt. Bis zu ihrer Rückkehr verbleiben ihre Raumschiffe hier an der Alzo. Wir Grauen Marliten tun alles, um den zurückbleibenden Insassen die Wartezeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Es gibt Führungen durch die Zabaroo-Alzo, Ausflüge auf die Planeten des Stijssen-Systems und Rundflüge im Halo. Gegen Zahlung einer kostendeckenden Gebühr stellen wir den Raumschiffen Rohstoffe und Ersatzteile zur Verfügung.« Der Graue Marlite wandte sich ab und musterte ein Terminal. Wahrscheinlich las er irgendwelche Scannerdaten ab. »Ich sehe, dass in eurem Beiboot keine Waffensysteme aktiv sind«, fuhr er nach einer Weile fort. »Legt nun an! GISTUNTEN-3 heißt euch willkommen.« Das Hologramm fiel in sich zusammen. Mohodeh Kascha hatte es eilig, zur Schleuse zu kommen. Er schloss den Helm seines Anzugs, als gelte es, durch das Vakuum hinüber zur Station zu schweben. »Wir werden gewinnen«, prophezeite er. »Diesmal steht mir der Weg nach Wassermal offen.« Ich setzte zu einer Antwort an, aber mein Extrasinn bremste mich. Lass ihn! Seine Euphorie hilft ihm, die LOTTERIE erfolgreich zu absolvieren. Was immer darunter zu verstehen ist. Der letzte Kimbaner wusste auf jeden Fall, worum es sich handelte. Aber er rückte noch immer nicht damit heraus. In den Jahren an Bord der SOL war er viel umgänglicher geworden, hatte gar mit Menschen auf freundschaftlicher Ebene verkehrt, aber einen Großteil seiner Eigenbrötelei hatte er nicht abgelegt. Als dem letzten Überlebenden seines Volkes war es ihm vermutlich gar nicht möglich. * Die binäre Präferenz meldete den Anflug der Blau-Zwölf-Container. Wie an einem Fadem aufgereiht überquerten sie die Bahn des 22. Planeten und leiteten das Bremsmanöver ein. Der Schlepper schickte das Bereitschaftssignal. Sfonoci aktivierte den Peilstrahl. Der Automat holte die Kolonne in einem weiten Bogen über der Zabaroo-Alzo heran. Die riesigen Behälter mit ihren Ketten aus Positionslichtern und beleuchteten Ladeluken bildeten eine Abwechslung im eintönigen Alltag des Kommens und Gehens rund um GISTUNTEN-3. Der Graue Marlite dirigierte sie an ihre vorbestimmten Positionen in der Nähe der Kommandokugel. Die Container vom zwölften Planeten Asantho brachten Nahrungsgrundstoffe, aber auch Stahllegierungen und Versorgungsgüter wie Klimaanlagen, Energiespeicher und andere Ersatzteile. Zwei der Container dienten dem Transport von Wasser, der wichtigsten Substanz überhaupt. 14 der 22 Planeten arbeiteten ununterbrochen für die Versorgung der Zabaroo-Alzo sowie der inzwischen 680 Raumschiffe. Die Erzeugung der benötigten Güter war kein Problem. Schwierigkeiten taten sich vielmehr in der Koordination und Belieferung auf. Dieser logistische Teil nahm den größten Teil von Sfonocis Arbeit in Anspruch. Der Graue Marlite war dann nicht so sehr Offizier, sondern einer der führenden Ökonomen des StijssenSystems. Die Ladelisten erschienen auf dem Bildschirm. Er ging sie durch, verglich sie mit den Bestellungen. Alles war da. Die Koordinatoren und Lademeister auf Asantho hatten ganze Arbeit geleistet. Sfonoci erwartete es nicht anders. Sie arbeiteten nach seinen Vorgaben, Fehler führten automatisch zur Reduzierung ihres Anteils am Überschuss. Der Graue Marlite gab die Ladelisten frei. Die binäre Präferenz schickte sie.an alle Verteilstellen. Dort ordneten Kontrolleure sie den Bestellungen zu. Sekunden später eilten die Funkbotschaften ins All hinaus. Die Eigner der Schiffe erhielten Nachricht, dass die bestellten Güter eingetroffen waren. Sfonoci richtete seine Aufmerksamkeit auf die knapp über zweihundert Schiffe weiter draußen im All. In Ortungsweite vom Stijssen-System warteten sie ab. Die Regeln der LOTTERIE besagten, dass Verlierer die Zabaroo-Alzo umgehend zu verlassen hatten. Sie durften frühestens im übernächsten Jahr wieder ihr Glück versuchen. Namen und Daten der Teilnehmer standen in den Datenbänken von GISTUNTEN-3 gespeichert. Zwischen den 54 Alzos gab es einen permanenten Austausch dieser relevanten Informationen. Würde man die Abgewiesenen nicht so abwehren, verstopften die Weltraumbahnhöfe bald mit Schiffen, die zwei Jahre abwarteten. Die Verlierer nahmen Neuankömmlingen die Plätze weg. Das Chaos im All über GISTUNTEN-3 und den 53 anderen Weltraumbahnhöfen wäre so vorprogrammiert. Dass es nicht so weit kam, dazu trug neben dieser »Abwehr« auch die Gebührenordnung bei. Nur wer die
horrenden Liegegebühren und Eintrittsgelder bezahlen konnte, durfte in der Nähe der Alzo bleiben und gar mit dem Schiff oder einem Beiboot anlegen. Sfonoci hätte die Verlierer am liebsten davongejagt. Aber dort draußen, außerhalb des Hoheitsgebiets der Völker dieser Galaxis, besaß er kein Recht dazu. Aus Gründen der Menschlichkeit duldete er sogar, dass solche Schiffe immer wieder nach GISTUNTEN-3 kamen und Versorgungsgüter kauften. Zumindest so lange, wie die Insassen die von ihm diktierten Preise zahlen konnten. Wie zufällig streifte sein Blick wieder die SOL. Er versuchte, sie nach den Gesichtspunkten der Finanzkraft und der Lagerkapazität einzuschätzen. Bildeten die zwei Kugeln und der Zylinder eine Versorgungseinheit oder funktionierten sie getrennt? Oder beides? Wenn der Kommandant nach verlorener Teilnahme an der LOTTERIE auf den Gedanken kam, GISTUNTEN-3 zu belagern, wie sollten die Grauen Marliten darauf reagieren? Das in seiner Größe und seiner schlichten Form beeindruckende Schiff ließ bisher keine anderen Einheiten in seine Nähe. Funksprüche - inzwischen in Diamal - schreckten Neugierige ab. Patrouillierende Beiboote und aufgebaute Prallschirme sorgten dafür, dass niemand sich über den Wunsch der Besatzung hinwegsetzte. Dieses Schiff, das begriff Sfonoci endgültig, stellte etwas Außergewöhnliches dar. Der Name SOL täuschte leicht darüber hinweg. Nein, die Ankömmlinge durfte er auf keinen Fall unterschätzen. Das einzig Beruhigende an der Angelegenheit stellte die Anwesenheit von Mohodeh Kascha dar. Ihm vertraute der Graue Marlite. Wenn die Wesen in dem Hantelschiff seine Freunde waren, brauchte er sich über mögliche Probleme keine Gedanken zu machen. Er beobachtete sie, wie sie die Kugel verließen und das Innere des Auslegers betraten. Ein Kontakter nahm sie in Empfang. Er führte sie in eines der Buchungszentren. Sie verhielten sich wie alle Ankömmlinge: Mit Feuereifer machten sie sich über die Info-Terminals her, die ihnen alles Wissenswerte über die Teilnahmebedingungen an der LOTTERIE vermittelten. Auf diese Weise erhielten sie einen Überblick über die Kosten. Das Terminal gab ihnen Ratschläge im Umgang mit den Insassen anderer Schiffe. Der Fremde mit dem Namen Atlan ließ sich nicht zufrieden stellen. Immer wieder erkundigte er sich nach dem Ablauf der LOTTERIE. Darauf gab ihm das Terminal keine Antwort. Sfonoci erkannte die Ungeduld des Fremden. Er schaltete eine Funkverbindung. »Noch steht nicht fest, wie die LOTTERIE diesmal verlaufen wird«, drang seine Stimme von der Decke auf die vier Besucher herab. »Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Immer wieder versuchten angemeldete Teilnehmer, sich auf dem Weg der Wissenserschleichung Vorteile zu verschaffen.« Das Bild aus dem Buchungszentrum erlosch. Stattdessen tauchte nun die Schwärze des galaktischen Leerraums auf. Am unteren Bildrand erkannte Sfonoci undeutlich die Perlenkette der 22 Planeten mit ihrem Blauen Riesen. Aus dem Nichts materialisierte ein flaches Gebilde, fast so lang wie der Zylinderteil der SOL und ebenso breit. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit schoss das Fahrzeug über das Stijssen-System hinaus auf GISTUNTEN-3 zu. Der Graue Marlite löste Katastrophenalarm aus. Der Zambarische Versorger aus dem Innern der Galaxis flog viel zu schnell. Wenn er seinen Kurs beibehielt, schlug er in wenigen Minuten in die Alzo ein. Noch etwas erkannte Sfonoci. Das Hantelschiff verließ seine Position und raste mit schwindelerregenden Werten in Richtung der fliegenden Plattform. Einen Augenblick lang ruhte der Blick des Grauen Marliten auf dem fremden Schiff. Dann sprang er entschlossen in die Öffnung des Notschachts, der sich dicht neben seinen Beinen aufgetan hatte. »Ein Versorger außer Kontrolle«, sirrte er. »Das hat es noch nie gegeben!« * »Dieses Fahrzeug ist Schrott, sag ich dir. Rühr bloß nichts an. Da! Einmal am Hebel gezogen, schon bricht er ab. Und das Ding soll jemals geflogen sein? Dass ich nicht lache. Guten Tag erst einmal. Du bist ein Grauer Marlite, das seh ich. Wie heißt du?« Sfonoci kümmerte sich nicht um den Schwätzer, der unaufhörlich weiterredete. Der Graue Marlite kommunizierte mit dem Steuerautomaten. Der Zubringer löste sich von GISTUNTEN-3 und taumelte mit Schlagseite ins All hinaus. »Stabilisierungsdüsen einschalten, Kursvektor senkrecht zur galaktischen Hauptebene!«, ordnete der Graue Marlite an. Irgendetwas stimmte mit der Steuerung nicht.
»Wahnsinn, absoluter Wahnsinn!«, knarrte es hinter seinem Rücken. »Du fliegst dem Versorger direkt vor den Bug. Du bist krank, eindeutig. Ich rufe einen Heiler.« Langsam wurde Sfonoci bewusst, mit wem er es zu tun hatte. Es war der Kontakter, den die Roboter in die Krankenstation gebracht hatten. Während der Zubringer mit dem zulässigen Höchstwert beschleunigte, setzte er sich über Funk mit den Heilern in Verbindung. Sie vermissten den Patienten nicht. Im Gegenteil. Sie waren froh, dass er endlich geflüchtet war. »Sperr ihn ein!«, empfahl der Chefheiler dem Grauen Marliten. »Lass nicht zu, dass er die Schleuse öffnet. Er würde selbst das Weltall totreden. Niemand kann voraussagen, ob das nicht Auswirkungen auf die Stabilität Akhimzabars hat...« Der Heiler redete ununterbrochen weiter. Schockiert schaltete Sfonoci ab. Ihm drängte sich der Verdacht auf, dass es sich bei dem Symptom des Dauerredens um eine ansteckende Krankheit handelte. Vielleicht sogar tödlich für die anderen. »He, was machst du?«, knatterte der Kontakter. Er verlor den Boden unter den Füßen und driftete in den hinteren Teil des Steuerraums. Sfonoci bemerkte zu spät, dass der Steuerautomat völlig durcheinander war. Die Andruckabsorber im hinteren Teil des Steuerraums versagten. Der Kontakter klammerte sich mit den beiden unteren Beinpaaren an einen Vorsprung. Die oberen verfingen sich im Öffner einer Wandsektion. Ein zwei mal zwei Meter großes Stück klappte auf. Dahinter verliefen Kabel und Leitungen. Der Kerl zerrte daran. Dabei redete er unaufhörlich. »Das wäre doch gelacht. Ich kriege euch. Würmer als Hauptgang, das gibt viel Protein, viel Energie. Her damit!« In diesem Augenblick fingen die Schwerkraftaggregate wieder zu arbeiten an. Die Gravitation zerrte an dem Kontakter. Gleichzeitig klammerte er sich mit den Beinen noch immer an den Vorsprung. Die Kabel waren der auf sie einwirkenden Zugkraft nicht gewachsen. Sie rissen. Ein Funkenregen brach über das immer noch brabbelnde Wesen herein. Sfonoci umklammerte die Steuerung des Zubringers. Er versuchte, das unaufhörliche Geschwätz des Wesens hinter seinem Rücken zu ignorieren. Der Zabarische Versorger war heran. Mit einem Drittel Lichtgeschwindigkeit raste er knapp über den Auslegern und den Schiffen entlang. Dem Grauen Marliten gelang im letzten Augenblick eine Kursänderung. Wandung an Wandung raste der Versorger über das kleine Fahrzeug hinweg. Die Entfernung betrug höchstens hundert Meter. Eine einzige Berührung mit den hohen Container-Aufbauten, und von dem Zubringer und seinen Insassen blieb höchstens ein bisschen kosmischer Staub übrig. »... wirst du schon sehen, was du davon hast. Hol mich herunter!« Der Kontakter zeterte weiter. Irgendwann ließ er die Kabel einfach los. Da die übrigen Gliedmaßen noch immer den Vorsprung umklammerten, fiel sein Oberkörper rücklings nach unten. Der Kopf und die Scheren krachten gegen die Wand. Für ein paar Augenblicke senkte sich wohltuende Stille über den Steuerraum. Sfonoci nutzte sie. Er schaltete um auf vollautomatische Steuerung. Nicht alle Systeme funktionierten. Immerhin zeigte das Funkgerät Bereitschaft an. Der Graue Marlite schickte einen Notruf zum Weltraumbahnhof. Die Automaten der Kommandokugel griffen ein, holten den Zubringer zurück. Der fehlgesteuerte Versorger raste in den intergalaktischen Leerraum hinaus. Die SOL hielt sich auf gleicher Höhe mit dem Fahrzeug. Auf den Ortern zeichnete sich das energetische Netz aus Zugstrahlen ab. Sie klammerten sich an das fliegende Riesenbrett mit seiner Ladung. Immer wieder ging ein Ruck durch den Zabarischen Versorger. »Er verliert an Geschwindigkeit«, meldete Sfonoci nach GISTUNTEN-3. »Sie schaffen es.« »Gar nichts schaffen sie. Das sind faule Kerle. Ich kann dir sagen, der nächste Versorger ist nicht so blöd wie dieser. Der trifft. Ade, du schöne LOTTERIE. Weißt du übrigens, was die zwei Tepramender letztes Mal gesagt haben, als sie mit hängenden Fühlern abzogen? Die sind ja so was von bescheuert. Sie wollen nie wiederkommen, haben sie gesagt. Da lach ich aber. Beim Guten Geist, was ist denn in dich gefahren?« Sfonoci floh. So schnell ihn seine Gliedmaßen trugen, verließ er den Kommandoraum und verbarrikadierte sich in der Schleuse. GISTUNTEN-3 half ihm. Die Station schickte Roboter zu seinem Schutz. Ein schwebender Gitterkäfig folgte dicht hinter ihnen. Die Automaten fingen den verrückten Kontakter ein und transportierte ihn ab. Sfonoci überlegte, ob es nicht Zeit war, die Kommandantin aus ihrem Schlaf zu wecken. Er entschied sich dagegen. Snotryl durften sie wirklich nur dann behelligen, wenn die Station kurz vor dem Untergang stand oder sich der Lauf der Welt änderte. Gegen dieses eherne Gesetz zu verstoßen, hätte er sich für den Rest seines Lebens nicht verziehen.
»Der Pilot des Zabarischen Versorgers wird genau untersucht«, diktierte er der binären Präferenz. »Ich befürchte, dass er unter ähnlichen Symptomen leidet wie der Kontakter.« An einen oxigenisch-epileptischen Anfall glaubte er nicht mehr.
3. Ich ließ Mohodeh Kascha den Vortritt. Der letzte Kimbaner zögerte erst, dann trat er mit gewichtigen Schritten aus der Schleuse. Trim Marath folgte ihm auf dem Fuß. Der Mutant trug das Chakra auf dem Rücken. Er trennte sich nur ungern von der Monofilament-Klinge, die er seit dem mittlerweile legendären Zweikampf auf Yezzikan Rimba trug. Startac Schroeder hielt sich dicht hinter ihm. Ich machte den Schlussmann. »Startac?«, fragte ich leise. Der Teleporter und Orter konzentrierte sich, schüttelte dann den Kopf. Mit seiner schwachen Orterfähigkeit erkannte er den Aufenthalt von Intelligenzwesen und vermochte ihren Gefühlszustand einigermaßen sicher auszuloten. Zur Zeit hielt sich kein Lebewesen in unserer Nähe auf, das uns hätte gefährlich werden können. Wir gingen weiter. Hinter der Schleuse erstreckte sich eine weiträumige Halle. Ihr Querschnitt war oval. Decke und Wände wölbten sich ebenso wie der Fußboden. Unterschiedliche Korridore führten hindurch, für Zweibeiner, Vier- und Mehrbeiner, für kleine und große Lebewesen. Die Betreiber des Weltraumbahnhofs bemühten sich offensichtlich, jeder erdenklichen Kreatur eine Möglichkeit zu schaffen, zu Fuß die Buchungszentren zu erreichen. Wir durchquerten die Halle und betraten einen Saal. Mehrere Aufbauten entpuppten sich als Info-Terminals, an denen wir mit Feuereifer zu arbeiten begannen. Sfonoci meldete sich. Ich rechnete.mit ausführlichen Informationen, täuschte mich aber. Er erging sich lediglich in Allgemeinplätzen. Ein insektoides Wesen tauchte auf. Sein Chitinpanzer glänzte in hellem Braun mit beigefarbenen Flecken. Die zwei Fühler am oberen Kopfende neigten sich in unsere Richtung. »Willkommen«, zirpte es aus dem Translator vor der Brust. »Ich bin der Kontakter Sfirrffa. Mein Auftrag lautet, euch in das Buchungszentrum erster Klasse zu bringen. Gebaut wurde es, damit die Kommandantin hohe Persönlichkeiten aus unserer Galaxis in würdigem Rahmen empfangen kann. Euch wird also eine hohe Ehre zuteil.« Die Fühler schwankten in Richtung des letzten Kimbaners. »Erhabener Mohodeh Kascha, würdest du mir zusammen mit deinen Begleitern folgen?« »Aber gern, freundlicher Sfirrffa.« Der Ritter von Dommrath ging uns voran. Der Kontakter führte uns in eine zweite Halle. Ein Spezialkode öffnete die Tür in besagtes Buchungszentrum erster Klasse. »Seht nur!«, entfuhr es Mohodeh Kascha. Der Raum erinnerte mich auf den ersten Blick an einen Festsaal, wie ich sie aus französischen Schlössern der terranischen Vergangenheit kannte. Beim zweiten Hinsehen allerdings lösten sich die spielerischen Schnörkel und Fresken terranischer Stuckaturen in millionenfach ziselierte Miniaturen begnadeter Mikrotechniker auf. Sie stellten winzige Begebenheiten aus dem Leben der Insektenwesen dar. Jede der Miniaturen bewegte sich. Ich erkannte Graue Marliten, braun-beige Kontakter und zwei weitere insektoide Erscheinungsformen. Teils agierten sie in getrennten Miniaturen, teils in gemeinsamen. Der gesamte Raum setzte sich aus diesen Kunstwerken zusammen, die Wände, die Decke, die Stützsäulen, selbst das Mobiliar. Nur der Fußboden und die Sitzpolster verströmten eine gewisse Statik. »Bitte geduldet euch. Oberoffizier Sfonoci wird bald hier sein.« Der Kontakter entfernte sich. Von der SOL traf ein geraffter Funkimpuls ein. Fee Kellind informierte uns, dass GISTUNTEN-3 soeben nur knapp einer Katastrophe entronnen war. Ein riesiges Floß hatte die Malische Mole um Haaresbreite verfehlt. Der SOL war es inzwischen gelungen, das Raumfahrzeug einzufangen und abzubremsen. Ein Rettungskommando ging an Bord. Der Gedanke, selbst nur knapp dem sicheren Tod entronnen zu sein, brachte mein Misstrauen zurück. Schweigend warteten wir auf das Eintreffen des Oberoffiziers. Fee Kellind meldete sich ein zweites Mal. Inzwischen stand fest, dass der Versorger durch die Unachtsamkeit des Piloten vom Kurs abgekommen war. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Tür. Sf onoci trat ein. Der Graue Marlite reichte mir bis zur Brust. Sein Chitinkörper war vollständig von mattgrauem Staub überzogen, wie ich es auf dem Hologramm schon erkannt hatte. Die Facettenaugen glänzten unter einem dünnen Geleefilm. »Mohodeh Kascha!«, zirpte das kleine Kästchen an seiner Brust. »Niemand hat dein Ausscheiden damals mehr
bedauert als wir Grauen Marliten. Und ausgerechnet in der Endrunde durch die >WalzeWalze< bildet den Abschluss jeder LOTTERIE. Die vorherigen Runden werden in jedem Jahr neu erdacht. Ich weiß also nicht, was uns im aktuellen Malischen Jahr erwartet. Daher war es in all den Jahren sinnlos, euch Einzelheiten darüber zu berichten. Ihr hättet ein völlig falsches Bild erhalten. Das wäre euch jetzt dabei hinderlich, die LOTTERIE zu gewinnen.« * Reglos beobachtete Sfonoci, wie die vier Personen in die 100-Meter-Kugel und anschließend in die SOL zurückkehrten. Er hegte keine Zweifel, dass es sich um ehrenhafte Wesen handelte. Das belegte allein schon die Anwesenheit Mohodeh Kaschas. Die drei Begleiter des Kimbaners beeindruckten ihn auf kaum zu beschreibende Weise. Ihnen haftete etwas Faszinierendes an, eine Ausstrahlung, wie er sie in dieser Weise selten erlebt hatte. Er aktivierte das Scanner-Display an seinem Gürtel. Das Gerät hatte Daten für ihn gesammelt, seit er das Buchungszentrum betreten hatte. Das Display zeigte Werte, die ihn zu einer sofortigen Reaktion veranlassten. Der Graue Marlite stellte eine Funkverbindung mit der SOL her. Atlan meldete sich. »Während der LOTTERIE sind keine paranormalen Einflüsse erlaubt«, informierte Sfonoci ihn. »Empfindliche PsiOrter sorgen für einen störungsfreien Betrieb. Wer gegen diese Regel verstößt, dessen Team verliert automatisch. Sag das deinen beiden Begleitern!« »Ich kann dich beruhigen«, lautete die Antwort. »Sie nehmen nicht an der LOTTERIE teil.« »Dann ist es gut.« Erleichtert unterbrach Sfonoci die Verbindung. Der Scanner klassifizierte die beiden Begleiter Atlans als leicht begabte Mutanten. Bei einer Teilnahme an der LOTTERIE hätte das zu Problemen geführt. Atlans Entscheidung verstärkte seinen Eindruck, dass er es mit ausgesprochen zuverlässigen und ehrlichen Zeitgenossen zu tun hatte. Aber der Graue Marlite wäre ein schlechter Oberoffizier gewesen, wenn er es damit hätte bewenden lassen. Zu den Aufgaben der Kontakter gehörte auch die Auswertung der Daten des Komplett-Scans, vom Betreten des Auslegers bis zu dessen Verlassen. Die binäre Präferenz bat ihn um Geduld. Die Datenauswertung lag noch nicht vor. Inzwischen dockte der Zabarische Versorger neben der Kommandokugel an. Den unaufhörlich quasselnden Piloten ließ der Graue Marlite nicht in die Klinik bringen, sondern schickte ihn mit einem der 200-Meter-Schiffe zurück nach Akhimzabar. Mochten sich die Heiler seiner Heimatwelt mit ihm befassen. Den durchgedrehten Kontakter wollte er auf diesem Weg ebenfalls loswerden, aber der war aus seinem Käfig ausgebrochen und hielt sich irgendwo im Innern von GISTUNTEN-3 versteckt. In dem Weltraumbahnhof gab es so viele Räume, dass eine Durchsuchung Jahre gedauert hätte. Sfonocis Gedanken gingen andere Wege. Irgendwann kam der Schwätzer von allein wieder zum Vorschein. Es brachte ihm wenig, gegen Wände zu reden. Er musste sich unter Leuten aufhalten. Die binäre Präferenz meldete sich mit dem Ergebnis des Scans. »Das Messergebnis in Bezug auf die Person Atlan ist so ungeheuerlich, dass ich es zunächst mit sämtlichen Speicherbänken von GISTUNTEN-3 abgleichen musste«, lautete die Auskunft des Automaten. »Ich lege dir die Daten in dein Gerät.« Ungläubig starrte Sfonoci auf das Display. Was er sah, sprengte den Rahmen seiner Erfahrungen. Der Fremde namens Atlan besaß eine Aura, die nach Informationen der Grauen Marliten nirgendwo im Universum mehr existierte. Es war die Aura eines Ritters der Tiefe. Sfonoci taumelte geradezu aus dem Buchungszentrum. Seine Gedanken verwirrten sich. Er fand den Weg zu seinem Büro. Mit zitternden Fühlern und bebenden Gliedern lehnte er sich gegen die Konsole mit dem Eingabefeld. Zweimal vertippte er sich, bis er den Kode endlich fehlerfrei eingegeben hatte. »Stiller Alarm für die Kommandokugel!«, ordnete er an. Es bedeutete, dass der Betrieb des Weltraumbahnhofs vorerst normal weiterlief. Bei einer Eskalation allerdings blieb der Kommandantin nichts anderes übrig, als die Prinzenkrieger zu Hilfe zu rufen. Der Graue Marlite zögerte, ehe er den stahlblauen Sensor am oberen Rand des Feldes berührte. Er löste die Weckautomatik für die Kommandantin aus. Ihm blieb in dieser Situation keine andere Wahl.
Sfonoci ließ sich auf alle sechs Gliedmaßen sinken. »Mohodeh Kascha, habe ich mich so in dir getäuscht?«, sirrte er leise. »Nein, es kann nicht sein.« * »Ich tue es nicht gern«, verkündete der Graue Marlite. »Aber es muss sein. Wir haben einen solchen Fall noch nie gehabt.« Der Türsteher, ein alter, fast völlig vertrockneter Artgenosse mit blätterndem Chitinkörper, richtete seine halb blinden Augen auf die Tür. »Die Kommandantin ist schon wach. Sie empfängt dich. Weißt du genau, was du tust?« »Selbstverständlich.« »Es kann das Ende deiner Karriere bedeuten, Sfonoci.« »Die Information ist wichtiger als meine Karriere.« Unter dem Eindruck der folgenschweren Aussage gab der Alte den Weg frei. Er löste die mechanischen Sperren. Lautlos wich die Tür zur Seite. So leise wie möglich trat der Graue Marlite ein. Rosafarbenes Licht erfüllte den Wartesaal vor den eigentlichen Räumen der Kornmandantin. Snotryl besaß Geschmack, das musste man ihr lassen. Ohne diese Eigenschaft hätte sie es vermutlich nicht bis auf diesen Posten gebracht. Und ein paar Jahrzehnte reibungsloser Betrieb der ZabarooAlzo hatte in der Vergangenheit so manchem den Weg in die höchsten Kreise seines Volkes oder gar der Galaxis geebnet. In der Woge aus rosarotem Licht entstand Bewegung. Ein junges Wesen mit zierlichen Gliedern und weichem Hinterleib näherte sich ihm. »Die Kommandantin erwartet dich im Bad.« »Ich bin mir der Ehre bewusst, Jungfer«, antwortete er mit dem zur Sitte passenden Satz. Bloß keine Facette zu viel auf die junge Artgenossin richten! Es hätte ihn nicht nur seinen Posten, sondern ein paar Glieder und vielleicht die Fühler gekostet. Angesichts solcher Schande wäre er nie mehr in der Lage gewesen, sich unter Artgenossen oder andere Lebewesen zu trauen. Die Jungfer ging ihm voran. Eigentlich schwebte sie mehr. Ihr Gang war von einer solchen Anmut, dass Sfonoci sich nur mühsam beherrschte. War sie eine Tochter der Kommandantin? Hinter einem Vorhang aus Dampf tauchte der sumpfige Tümpel auf. Im ersten Augenblick glaubte Sfonoci, er sei leer. Dann sah er die Luftblasen, die emporstiegen. Augenblicke später brach in einer Flutwelle die Kommandantin aus dem Tümpel hervor. Das Wasser schwappte. Eine Ladung traf den Grauen Marliten. »Ich danke dir für deine Gunst«, sagte er, ohne auf sein ramponiertes Make-Up zu achten. Das Wasser hatte einen Großteil des wertvollen Grauzements weggespült. Majestätisch stieg Snotryl aus dem Tümpel. Sie war fast ein Drittel größer und schwerer als der Oberoffizier. Ihre Gliedmaßen bewegten sich heftig wie Peitschen. Ihre Augen funkelten, als sie sich auf der Sitzstange niederließ und sich ihm entgegenbeugte. »Es ist das erste Mal. Daher will ich gnädig sein und dich nicht sofort aus der Schleuse werfen.« Er beugte sich nach hinten zum Zeichen, dass er ihr mit seinem Ansinnen nicht zu nahe treten wollte. In wenigen Worten berichtete er, was vorgefallen war. Snotryl beruhigte sich umgehend. Sie neigte ihm den Oberkörper noch weiter entgegen. »Du hast richtig gehandelt«, lobte sie ihn. Er ließ sich die Erleichterung nicht anmerken und erläuterte die Einzelheiten des Scan-Ergebnisses. »Wenn er kein Ritter der Tiefe ist, weil es die nicht mehr gibt, muss seine Aura eine Fälschung sein«, zog er die Schlussfolgerung. »Nicht unbedingt«, hielt ihm die Kommandantin entgegen. »Es kann auch einen anderen Grund haben. Wir werden das in Erfahrung bringen. Komm mit!« Sie verließ den Erfrischungsraum. Sfonoci folgte ihr in die Steuerzentrale der Kommandantin. Zwei Graue Marliten arbeiteten hier, die er nicht kannte. Sie gehörten zu Snotryls Personal und traten in GISTUNTEN-3 nie in Erscheinung. Die Kommandantin deutete auf ein schrankähnliches Aggregat. »Von diesem Terminal aus erhalten wir Kontakt mit einer speziellen Datenbank im Innern von Akhimzabar. Darin ist Statistikerwissen gespeichert. Ich gehe davon aus, dass sich dort auch die Informationen über die Ritter der Tiefe und ihre Auren befinden.« Die Eingabe führte sie persönlich aus. Anschließend zog sie sich zusammen mit Sfonoci in eine der Ruhenischen zurück. Sie tranken Wasser aus dem Nischentümpel und tauschten ihre Meinungen aus.
Wenn es sich bei dem Wesen Atlan um einen Ritter der Tiefe handelte, war er in GISTUNTEN-3 kein gern gesehener Gast, auch nicht in Begleitung Mohodeh Kaschas. Die Grauen Marliten gingen davon aus, dass die Kosmischen Ordnungsmächte selbst über alle die Informationen und Kenntnisse verfügten, die die Pangalaktischen Statistiker besaßen. Das war zudem die Argumentation der Statistiker selbst, hinter der sie sich verschanzten. Sie bildete den logischen Schutz für Akhimzabar und seine Bewohner. An einer Galaxis mit identischem, aber nicht höherem Wissensstand kam kein Interesse kosmischer Entitäten wie Kosmokraten, Chaotarchen, Superintelligenzen und anderen auf. Nur in den Augen niederer Wesen glichen diese Informationen kleinen Wundern des Universums. Die alles beherrschende Frage blieb also, was Atlan und sein beeindruckendes Schiff hier wollten. Wollte er tatsächlich Fragen an die Pangalaktischen Statistiker stellen, wie er behauptete? Unter den gegenwärtigen Aspekten schien das eher eine Ausrede zu sein. Zwei Stunden dauerte es, bis die Antwort aus dem Innern der Galaxis eintraf. Nach den Informationen der Statistiker existierten in der Tat noch zwei Ritter der Tiefe. Einer hieß Atlan, der andere Perry Rhodan. Beide Ritter hatten ihren Status aufgegeben, was einem Abfall von den Kosmokraten gleichkam. Ihre Auren existierten noch, waren jedoch in Ruhezustand versetzt, was immer das heißen mochte. Es erleichterte Sfonoci ungemein. Er hatte sich in Mohodeh Kascha also nicht getäuscht. Und mit dem vermeintlichen Ritter Atlan trat keineswegs der Ritterorden direkt in Akhimzabar auf den Plan. Atlan hatte die Wahrheit gesagt. Ihm ging es einzig und allein darum, den Pangalaktischen Statistikern ein paar Fragen zu stellen. »Du hast keinen Grund, ihn und seine Leute gesondert zu behandeln«, sagte Snotryl. Sie setzte sich in Bewegung und gab dem Grauen Marliten damit zu verstehen, dass die Audienz beendet war. »Du wirst sie auch nicht von der LOTTERIE ausschließen. Sie erhalten dieselbe Chance wie alle anderen. Und sie tragen dasselbe Risiko.«
4. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte. Um GISTUNTEN-3 herum ging es friedlich zu. Die inzwischen rund 700 Schiffe blieben an den vorgeschriebenen Positionen. Ihre Insassen erledigten die Anmeldung und Buchung, knüpften erste Kontakte mit fliegenden Händlern und bereiteten sich auf die LOTTERIE vor. Im Umkreis von hundert Lichtjahren fanden die Taster der SOL keinen einzigen Hinweis auf eine kriegerische Auseinandersetzung, nicht einmal einen Felsbrocken mit den typischen Schmelzspuren thermischer Waffen. Die Schiffe, die über Stijssen-4 hingen und auf ihren Einflug in die Reparaturdocks warteten, wiesen hauptsächlich Triebwerksschäden auf, entstanden beim aufreibenden Flug zur Galaxis Wassermal. Der Beinahe-Zusammenstoß des Malischen Versorgers mit dem Weltraumbahnhof zählte zu den absoluten Ausnahmeerscheinungen. Nach Auskunft der Funkzentrale war es das erste Mal in der Geschichte des Weltraumbahnhofs, dass eines der Versorgungsschiffe außer Kontrolle geraten war. Siehst du endlich ein, dass deine übertriebene Vorsicht unbegründet war?, meldete sich mein Extrasinn. Tief in meinem Innern steckte noch immer ein Stück angekratzter Stolz. Das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, machte mich gegenüber allem anderen unduldsam. Ich hätte aus der Haut fahren können. Ähnlich musste einem Haluter zumute sein, der unmittelbar vor dem Ausbruch seiner Drangwäsche stand. Du hast Recht, dachte ich ohne Gram. Im Nachhinein betrachtet hatte Sershan, der ehemalige Krieger der Kosmokraten, das schwerere Los gezogen. Und der Gute Geist von Wassermal hatte seine Entscheidung nicht allein unter dem Gesichtspunkt des kriegerischen Bewusstseins gefällt. Er hatte gespürt, dass ich auf die SOL gehörte und sonst nirgendwohin. Mein Platz war hier, im ehemaligen Spoodieschiff. Das Schicksal fügte es, dass ich als Zweifler an Thoregon ausgerechnet mit der THOREGON VI durch das Universum schipperte, um den Geheimnissen und Hintergründen dieses Dritten Weges auf die Spur zu kommen. Ihnen und den Helioten, die damals als Verkünder nach Terra gekommen waren. Meine bohrenden Zweifel schwanden endgültig. Die Niedergeschlagenheit, die in den vergangenen Stunden wie ein dunkler Schleier über meinen Gedanken gelegen hatte, verflüchtigte sich. Mit ihm verabschiedete sich auch der letzte Rest Misstrauen, der mich bisher erfüllt hatte. Entschlossen aktivierte ich den Interkom und setzte mich mit der Hauptleitzentrale in Verbindung. »Sicherheitsstufe Eins wird hiermit aufgehoben«, teilte ich der Kommandantin mit. »Wir sollten dennoch vorsichtig bleiben. Mit bösen Überraschungen muss man überall rechnen.« »Verstanden, Atlan«, antwortete Fee Kellind. »Ich veranlasse alles Nötige. Der von Sfonoci angekündigte
Prüfer ist übrigens unterwegs. Er trifft in wenigen Minuten am Mittelteil ein.« »Ich komme.« In der Hierarchie von GISTUNTEN-3 besaßen Prüfer für technisches Gerät mit Sicherheit einen hohen Stellenwert. Von ihren Kenntnissen und ihrer Erfahrung hing es ab, ob die Besatzung eines Schiffes an der LOTTERIE teilnahm oder nicht. Sie entschieden, welche Technik Einzug in Wassermal hielt. Ich verließ die Kabine und machte mich auf den Weg in die Hauptleitzentrale. Fröhlicher Lärm aus Kindermund drang mir entgegen. Zum ersten Mal seit dem Zusammentreffen mit Tagira durften die 47 Kinder die Schutzzone innerhalb des Wohnsektors verlassen. Kinder in der SOL! Wie lange hatte es das nicht mehr gegeben? Ich dachte an die Geburt des ersten Weltraumkindes, das Helma Buhrlo zur Welt gebracht hatte. Die Buhrlos hatten danach ihren Namen erhalten. Diese Wesen konnten sich sogar ohne Schutzanzug im Vakuum aufhalten. Bei einem solchen Weltraumflug hatten sie mich entdeckt, mitten im All treibend. Danach hatte ich aufregende Jahre an Bord der SOL verbracht. Damals hatten auch Kinder diese Welt aus Stahl und Plastik bevölkert. Ich erinnerte mich an die Irrfahrten der SOL, an die Generationen von Solanern, die in den Jahrhunderten an Bord geboren worden waren und die keine andere Heimat gekannt hatten als das weitläufige Schiff. Die SOL war größer als jede terranische Stadt. In dem Hantelraumschiff gab es so viel zu sehen. Während sich in den Wohnsektoren das Alltagsleben abspielte, die Kleinen den Kindergarten und später die Schule besuchten, ihre ersten Ausflüge ins All unternahmen und zum ersten Mal ihren Fuß auf einen Planeten setzten, flog ihre Heimat von Galaxis zu Galaxis, von Stern zu Stern. Seit der Rückeroberung der SOL von Shabazza galten an Bord andere Regeln. Solange die Geheimnisse der beiden Mittelteil-Flansche nicht endgültig geklärt waren und wir mit Bedrohungen von dort rechnen mussten, hatte es eine unausgesprochene Regel gegeben, keine Kinder zu zeugen. Jedem war jedoch klar gewesen, dass sich eine solche Regel oder ein solcher Grundsatz, der auf normalen Raumschiffen galt, nicht aufrechterhalten ließ, wenn man zu einem Flug an die Grenzen des bekannten Kosmos aufbrach. Die Kommandantin selbst hatte den Anfang gemacht, ausgerechnet die Frau, die als unzugänglich, sogar spröde galt. Das hatte nicht einmal ich für möglich gehalten. Jetzt vernahm ich das Toben der losgelassenen Horde. An der nächsten Korridormündung entdeckten mich die Jungen und Mädchen. »Das ist Atlan«, hörte ich eine Stimme sagen. Sie stürmten auf mich zu und umringten mich. »Atlan, stimmt es, dass die Malische Mole beinahe Opfer einer Katastrophe geworden wäre?« Der Fragesteller war Arlo Kellind, mit sechs Jahren das älteste der SOL-Kinder. Sein Wort zählte unter den Knirpsen. Ohne dass es jemals zu einer Abstimmung gekommen wäre, akzeptierten ihn alle als ihren Anführer oder Wortführer. Sein kräftiger Körperbau trug ebenso dazu bei wie seine schnelle Auffassungsgabe. Der Hauptgrund seiner »Führungsrolle« lag aber wohl darin zu suchen, dass er ein typisches Prominentenkind war. Seine Mutter war die Kommandantin, sein Vater Porto Deangelis der Chef der Bordlogistik. Ich nickte ernst. »Hallo zusammen. Ja, es stimmt. GISTUNTEN-3 ist nur knapp der Vernichtung entgangen.« »SENECA sagt, dass du dich zu dem Zeitpunkt im Innern der Mole aufgehalten hast«, fuhr Arlo fort. »Weißt du etwas über die Sicherheitssysteme dort?« »Nein. Tut mir Leid. Wenn es sie überhaupt gibt...« Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und reichte den Jungen und Mädchen nacheinander die Hand. »Sprich es ruhig aus. Trim, Startac, Mohodeh und ich haben wirklich Glück gehabt.« Mein Armbandkom projizierte eine Holonachricht. Der Prüfer war da. Myles Kantor holte ihn in einem der Ringwulsthangars des Mittelteils ab. Ihr Ziel war einer der Hypertropzapfer. »Dürfen wir mitkommen?« Diesmal war es nicht Arlo, der fragte, sondern das schlaksige Mädchen neben ihm. »Bitte!« »Fee?«, fragte ich. »Gibt es Einwände?« »Eigentlich ja, Atlan. Die von dir und mir gemeinsam ausgearbeitete Schiffsordnung sieht vor, dass Kinder grundsätzlich nichts in den wissenschaftlichen Abteilungen zu suchen haben. Wenn es zu einem Unfall kommt...« »Ich treffe die nötigen Vorkehrungen.« »Also gut. Aber nicht länger als unbedingt nötig.« SENECA meldete sich. Die Kinder rückten enger zusammen. Anschließend baute sich um uns herum ein Antigravfeld auf. Es hob den Pulk vom Boden hoch und beschleunigte ihn. Es ging durch den nächstgelegenen Personentransmitter.
Der Chefwissenschaftler und sein Gast waren schon da. Der Hypertrop arbeitete im Probebetrieb. Der Zapfvorgang fand mit Rücksicht auf die Nähe der Malischen Mole und der anderen Schiffe nur virtuell statt. Bei dem angebotenen Gerät handelte es sich nicht um einen Permanentzapfer, sondern um eines der herkömmlichen Geräte mit stationärem Zapfkegel. SENECA errichtete ein Prallfeld, an dem sich die Kinder vor lauter Neugier fast die Nasen platt drückten. Ich ging zu Kantor hinüber und begrüßte den Malischen Prüfer. Er gehörte einer anderen Gattung als Sfonoci oder Sfirrffa an. Sein Körper besaß nichts von der Eleganz und Feingliedrigkeit eines Oberoffiziers der Grauen Marliten. Er wirkte gedrungen, mit einem plumpen Körper ohne Einschnürung. Ein schildartiger Chitinpanzer bedeckte den Rücken. Die Vorderseite des Körpers zierte ein metallener Harnisch von blauschwarzer Farbe. Myles Kantor erläuterte die Funktionsweise des Hypertropzapfers. Dass es sich um eines von nur zwölf Ersatzgeräten handelte, verschwieg er. Die Information hätte zwar den Marktpreis erhöht, gleichzeitig aber wäre der Eindruck entstanden, als sei die SOL nur mäßig mit Ersatzteilen bestückt und nicht so autark und überlegen, wie wir bisher glauben gemacht hatten. Das Wesen, von dem wir nicht einmal den Namen kannten, reagierte sichtlich beeindruckt. Der Kasten vor seiner Brust spie ein Datenpaket aus. »Dieses Gerät deckt die Kosten eures Aufenthalts bei GISTUNTEN-3 mehr als genug«, verkündete der Translator des Prüfers. »Wir schaffen den Zapfer nach Akhimzabar. Spätestens in drei Tagen kennen wir seinen endgültigen Wert.« Ich setzte mich mit Fee Kellind in Verbindung. Porto Deangelis konnte loslegen. Er ließ eines der Geräte aus dem Lager zum Schiff des Prüfers transportieren. Inzwischen begleitete ich den Abgesandten Sfonocis hinaus. Draußen nahm ihn eine Eskorte aus Robotern in Empfang und brachte ihn zurück zum Hangar. Zusammen mit den Kindern suchte ich die Hauptleitzentrale auf, wo sie zum ersten Mal seit Wochen wieder anwesend sein durften. * »Glaubst du mir endlich? Die Betreiber der Malischen Mole sind friedliche Leute. Sie tun alles für das Wohl der Ankömmlinge. Ihr Gebührensystem hilft den unschuldig in Not Geratenen und schröpft die Reichen. Das ist gerecht. Es trennt die Spreu vom Weizen und schützt die Galaxis vor einer Flut Wissbegieriger.« Mohodeh Kascha redete sich in Fahrt. Die langen Arme bewegten sich auf und ab. »Zugegeben, die mentale Berührung durch den Guten Geist von Wassermal wirkt sich beruhigend auf die Ankömmlinge und auf das Personal von GISTUNTEN-3 aus«, antwortete ich. »Für mein Misstrauen diesbezüglich bitte ich dich um Entschuldigung. Gleichzeitig stellt sich mir die Frage, wieso dieses Wissen so umfassend geschützt werden muss, dass nur ein paar tausend zahlungskräftige Kunden pro Jahr eingelassen werden. Das erinnert mich fatal an Geschäftemacher des terranischen Mittelalters, deren Ruf besser war als ihre Waren.« »Waren, das trifft es auf den Punkt, Atlan. Die Pangalaktischen Statistiker handeln mit Informationen, die sonst nirgends im Universum erhältlich sind. Das macht sie so begehrenswert. Sie können es sich wirklich aussuchen, wen sie zu sich vorlassen und wen nicht.« Der letzte Kimbaner sah es naturgemäß anders als ich. Sein Blick verengte sich auf das Wissen. Ich hingegen versuchte automatisch, die Hintergründe aufzudecken, wie es zu einem solchen System des Wissenshandels kommen konnte. Die drei Fragen, die ich den Pangalaktischen Statistikern stellen wollte, traten in dieser Phase erst einmal in den Hintergrund. »Ich weiß selbst nicht so viel über das System der Pangalaktischen Statistiker, weil ich sie ja selbst nicht getroffen habe«, fuhr Mohodeh Kascha fort. »Ich gehe davon aus, dass sie einfach nicht in der Lage sind, aus technischen und anderen Gründen, jedem Fremden alle Informationen zu geben, die er oder sie wünscht. Es gäbe ein heilloses Durcheinander.« Der letzte Kimbaner blickte über uns hinweg in die Ferne. »Was wissen wir schon von den Ansprüchen, die in dieser Galaxis gelten?«, sagte er nach einer Weile. »Nichts. Wir müssen warten, bis wir drinnen sind. In Akhimzabar.« Akhimzabar - Wassermal. Nach Absolvierung unserer Hypnoschulung in der Landessprache Diamal wussten wir, dass Akhim Wasser bedeutete, und Zabar stand für Mal. Zabaroo war das Adjektiv dazu, und Alzo war das Wort für Mole. Malische Mole hieß also Zabaroo-Alzo. Der Begriff »Die Malische Mole vor Wassermal« wurde also folgendermaßen in Diamal übersetzt: »Zabaroo-Alzo yas Akhimzabar« oder »Akhimzabaroo-Alzo«. »Drinnen in Wassermal finden wir eine absolut identische Situation wie hier draußen an der Malischen Mole,
ja?«, fragte Fee Kellind. »Lauscht in euch hinein. Spürt ihr nicht den besänftigenden Hauch des Guten Geistes? Er lässt nur ein, wer in friedlicher Absicht kommt. Aggressiven Wesen gibt er keine Chance.« Kascha konnte das nicht wissen, höchstens vermuten. Seine Augen fingen bei diesen Worten trotzdem an zu leuchten. Er wandte den Körper in Richtung des Panorama-Bildschirms. Dort war vor wenigen Augenblicken ein Schiff materialisiert. Es ähnelte einer überdimensionalen Taschenlampe mit einer planen Leuchtfläche als Bug. Der Konus und der sich anschließende Zylinder wiesen Reihen von Bullaugen auf, durch die ebenfalls Licht drang. SENECAS Datenprojektion an der Unterseite des Bildschirms entnahm ich, dass das Fahrzeug eine Länge von 400 und einen Zylinderdurehmesser von sechzig Metern besaß. »Ich habe es gewusst«, sagte er leise. »Sechzehn Tage vorher versuchen sie es zum ersten Mal. Ihre Ankunft zum jetzigen Zeitpunkt kommt nicht von ungefähr. Sie versuchen, den paar noch immer in der Nähe wartenden Verlierern des vergangenen Jahres ihre letzten Güter abzuluchsen. Bei den Neuankömmlingen rechnen sie mit der Ungeduld des Wartens.« Ich runzelte die Stirn. Wenn ich ihn richtig verstand, handelte es sich bei den Insassen nicht um Pangalaktische Statistiker. Es hätte zudem das System der LOTTERIEN ad absurdum geführt. »Wer ist das? Sag es schon!«, forderte ich ihn auf. »Die hier hüten das Licht der Information. Sie sind die Wissensmakler von Wassermal. In ihren Datenbanken ist ein Teil des Wissens gespeichert, das die Pangalaktischen Statistiker so gefragt macht. Sie verkaufen es an die Verlierer der LOTTERIE, sofern diese noch über genügend Mittel oder Tauschwaren verfügen.« »Ist das Wissen sinnvoll? Hilft es uns weiter?« »Die Wissensschätze in diesem Schiff sind von unermesslichem Wert«, bekräftigte der letzte Kimbaner. »Wir sollten sie uns nicht entgehen lassen. Vorausgesetzt...«, er warf einen bedeutsamen Blick in Richtung der Konimandantin, »... dass wir die Ersatzteillager der SOL für einen Tausch plündern dürfen.« Nicht nur die Pangalaktischen Statistiker profitierten also von dem Tauschsystem »Wissen gegen High Tech«. »Gesetzt den Fall, wir verlieren in der LOTTERIE, könnten wir in die Verlegenheit kommen, die Dienste der Wissensmakler in Anspruch zu nehmen«, sagte ich. »Wir stellen sie einfach auf die Probe.«
5. Inzwischen schrieben wir den 24. November. Seit unserer Ankunft an der Malischen Mole waren vier Tage vergangen. Bis zum Beginn der LOTTERIE blieben uns sechzehn Tage. SENECA kommunizierte regelmäßig mit GISTUNTEN-3. Von Sfonoci und dem Prüfer lag noch keine Nachricht vor. Der Versorger hatte in der vergangenen Nacht den Rückflug nach Wassermal angetreten, von vorn bis hinten mit High Tech aus den ankernden Schiffen beladen. Den Hypertropzapfer konnten wir nicht orten, aber das wollte nichts heißen. Besonders wertvolle Handelsgüter transportierte man nicht offen auf einer Plattform. Wir verließen die SOL mit einer Space-Jet. Außer dem Kimbaner nahm ich Trim Marath und Startac Schroeder mit. Ähnlich wie in der Malischen Mole hoffte ich, mit ihrer Hilfe mehr Erkenntnisse zu erhalten oder bei einem Zwischenfall gewappnet zu sein. Startac als Orter und Teleporter konnte einen Multimutanten wie Gucky natürlich nicht ersetzen. Seine Leistung entsprach trotz sichtbarer Steigerung nach wie vor der eines Jungmutanten oder Anfängers. Dennoch hatten wir uns auf ihn so gut wie immer verlassen können. In ZENTAPHER zum Beispiel. Bei Trim Marath lag der Fall anders. Sein Schwarzer Zwilling trat immer nur dann in Erscheinung, wenn eine tödliche Gefahr drohte. Das Unterbewusstsein des inzwischen 26 Jahre alten Mannes von Yorname reagierte dann auf eine nicht zu beschreibende Weise und brachte die schwarze Gestalt eines furchtbaren Kämpfers hervor. Inzwischen umschwirrten Dutzende von kleinen Raumbooten die »Taschenlampe« und warteten auf das Andocksignal. Die Wissensmakler ließen sich Zeit. Jeder, der zu ihnen kam, wollte etwas von ihnen und konnte warten. Die Makler spielten ihre Karte geschickt aus. Sie brauchten keine LOTTERIE, um ihr Ziel zu erreichen. Die Uhr reichte ihnen. Erste Werbesprüche trafen ein. »Wozu an der LOTTERIE teilnehmen?«, klang es in Diamal aus dem Funkempfänger. »Unsere Informationen sind ebenso gut.« Der Test würde beweisen, wie viel davon der Wahrheit entsprach.
SENECA schickte uns Informationen. Er ordnete die Raumboote den einzelnen Schiffen zu und diesen wiederum einen Teil des Funkverkehrs, den er seit vier Tagen aufgezeichnet hatte. Auf diese Weise ergab sich ein deutliches Bild über Wissenshungrige, Wissenschaftler, Kosmologen, Spiritisten, Wallfahrer oder einfach nur Neugierige. Einen beträchtlichen Anteil hatten Neuankömmlinge, deren Finanzmittel sich als zu schwach erwiesen, um an der LOTTERIE teilzunehmen. Sie stürzten sich wie die Fliegen auf das Maklerschiff. Die meisten aber versuchten, auf diese Weise und viel billiger an das wahre Wissen und die damit verbundene Weisheit zu gelangen. Nach etwa einer Stunde erhielten wir Andockerlaubnis. Ähnlich wie bei den Grauen Marliten kam ein Tester an Bord, der unsere Waren begutachtete, Antigrav- und Traktorprojektoren und andere Dinge, von denen sich Sfonoci wenig begeistert gezeigt hatte. Das Gesicht des Testers erinnerte mich an Ratber Tostan. Der Totenschädel saß allerdings auf einem ziemlich schmächtigen Rumpf. Das Wesen war einen Meter und fünfzig groß. Aus der schlotternden Kombination ragten dürre, fleischlose Ärmchen. Der hochgestellte Kragen verdeckte den Blick auf den Hals. Die Beine steckten in dicken Stiefeln, die ihnen den nötigen Halt gaben. »Khokoh-Schädel«, murmelte Moho-deh Kascha von hinten. Irgendwie hatte ich den Eindruck, als wolle er sich hinter mir verstecken. »Der Blaue war schon mal da«, krächzte eine Stimme aus der Sprechanlage in der linken Wand. »Ist er ein Spion?« »Ich bin Mohodeh Kascha, ein Ritter von Dommrath.« Nach längerem Schweigen verkündete der Apparat die Antwort. »Ihr könnt passieren.« Der Khokoh-Schädel gab uns mit einem Schnalzen seiner dunkelblauen Zunge den Weg in sein Schiff frei. Ein Gewölbegang nahm uns auf. Mehr schlecht als recht stiefelten wir über den unebenen Boden. Aus der Wandung flüsterten ununterbrochen Stimmen auf uns ein. Sie verhießen uns das unendliche Wissen. »Willst du alles wissen?«, zischte mir ein Akustikfeld ins Ohr. »Dann bist du bei uns richtig. Das Wissen über die Gesamtheit des Universums kostet nicht die Welt.« »Und es ist auch nicht die Welt wert«, antwortete ich. Mein Gürtel meldete, dass das winzige Projektionsfeld übergangslos erloschen war. Die Wissensmakler mussten die Antwort wohl zuerst verdauen. Es war wohl nicht alltäglich, dass sich jemand derart respektlos verhielt. Die Khokoh-Schädel reagierten jedoch schneller, als ich erwartet hatte. Auf halbem Weg öffnete sich im Korridor eine Seitentür. Eines der Wesen vertrat uns den Weg. »Wir sind Händler und verkaufen Informationen. Provokateure haben hier nichts zu suchen.« »Wir bezahlen euch. Ist das nicht genug?« »Die Aggregate in eurem Boot machen einen langlebigen Eindruck«, wechselte der Khokoh-Schädel das Thema. »Ihr könnt damit viele Antworten kaufen. Was wollt ihr wissen?« »Das sagen wir nur den Wissensmaklern direkt«, mischte sich Mohodeh ein. Ich schaute ihn an. »Das sind nicht die Wissensmakler?« »Die Khokoh-Schädel betreiben das Raumschiff der Makler. Mehr nicht.« Wieder hatte ich den Eindruck, als sage er uns nur die Hälfte. Es gab eine kurze Diskussion mit den Khokoh-Schädeln, aber wir blieben hart. Über Funk hielten sie Rücksprache mit der übergeordneten Instanz, vermutlich den Wissensmaklern direkt. Diese saßen irgendwo im Schiff. Erst nach einigen Minuten ging es weiter. * In Sichtweite einer hohen Flügeltür blieben die Khokoh-Schädel stehen. »Geht allein weiter!«, lauteten die wenig freundlich klingenden Worte ihres Anführers. Ich warf Startac einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Anschließend schüttelte er den Kopf. Keine Gefahr!, sollte es heißen. Wir setzten uns in Bewegung. Hinter der Tür lag eine kreisförmige Halle. Die linke und rechte Seite nahmen hohe Aggregatblöcke ein, von denen ein leises Summen ausging. In fünf Metern Höhe hing unterhalb der Decke eine Art Parabolspiegel. All das nahm ich im Bruchteil einer Sekunde wahr. Mein Blick fraß sich an den zehn durchsichtigen Zylindern fest, die auf Sockeln in der Mitte der Halle standen. Im Brennpunkt des Parabolspiegels!, ergänzte der Extrasinn.
In blubbernden Nährlösungen schwammen Gehirne von gut einem Meter Durchmesser. Die Windungen zuckten unentwegt. »Die Wissensmakler erwarten uns.« Mohodeh Kaschas Stimme klang, als stelle es für ihn etwas Alltägliches dar, diesen Wesen gegenüberzustehen. In meinem Kopf entstand ein leichtes Zupfen. Erste Gedankenfragmente drangen in mein Bewusstsein. Fremde aus dem großen Schiff, von weit her aus einem unbekannten Teil des Universums. Ist das richtig? Ja«, sagte ich. »Wir sind hier, um euch ein paar Fragen zu stellen. Bevor wir jedoch unsere Reichtümer in euer Wissen investieren, wollen wir zwei Probefragen stellen.« Unser Wissen ist unfehlbar. Was die Pangalaktischen Statistiker jemals herausgefunden haben, wissen auch wir. Die zwei Probefragen sind genehmigt. Die Gedanken drückten absolute Selbstsicherheit aus. Trim und Startac sahen mich gespannt an. Mohodeh verhielt sich eher gleichgültig. Er glaubte an die Gehirne, denen er seine Informationen zu den Thoregons abgekauft hatte. »Was hat es mit TRIICLE-9 auf sich und was wurde aus ihm?« In den zehn Zylindern fing die Nährlösung an zu brodeln. Startac schloss die Augen. Er lauschte auf die mentalen Empfindungen der Gehirne, die er mit Hilfe seiner Orterfähigkeit wahrnahm. »Du hast sie in helle Aufregung versetzt«, flüsterte er. »Mit einem solchen Hammer haben sie nicht gerechnet. Am liebsten würden sie ihre Genehmigung zurückziehen.« Das Brodeln ging langsam zurück. Die Wissensmakler beruhigten sich. Die Antwort lautet: TRIICLE-9 ist ein Kosmonukleotid und als Bestandteil der Doppelhelix des Moralischen Kodes für die Clustergruppe Behaynien zuständig. Durch eine spontane Mutation verschwand das Kosmonukleotid aus der Doppelhelix. Ordoban machte sich mit der Endlosen Armada auf eine jahrmillionenlange Suche. Die negative Superintelligenz Seth-Apophis entdeckte TRIICLE-9 inzwischen und benutzte es als Depot für ihre Bewusstseine. Das Kosmonukleotid veränderte sich. Es nahm die Form einer Scheibe von 2000 Lichtjahren Durchmesser und 100 Lichtjahren Tiefe an. Seine bisher geradlinige Bewegung veränderte sich in spontane Kurs- und Standortwechsel. TRIICLE-9 begann, jede erreichbare Energie in sich aufzusaugen. Es wurde zum Frostrubin. Den Porleytern, einer Vorläuferorganisation der Ritter der Tiefe, gelang es, den Frostrubin in einer degenerierten Miniaturgalaxis zu verankern. Die Position lag 30 Millionen Lichtjahre von der Ritter-Galaxis Norgan-Tur entfernt. Mit der Aktivierung der Chronofossilien in der Galaxis Milchstraße durch Ordoban und ein Wesen namens Perirothan lockerte sich der Anker der Porleyter nach und nach. TRIICLE-9 kehrte schließlich an seinen ursprünglichen Standort in der Doppelhelix des Moralischen Kodes zurück. Dieser Standort liegt 2,8 Millionen Lichtjahre von Behaynien entfernt. Wollt ihr weitere Details wissen? »Nein, wir verzichten.« Eine derart ausführliche und in ihren Aussagen weitgehend präzise Antwort hatte ich nicht erwartet. Lediglich der Name Perry Rhodan stimmte nicht ganz, aber das lag mehr an den vielfachen Übersetzungen und spielte keine Rolle bei der Beurteilung des Informationsgehalts. »Meine zweite Frage lautet, wie folgt: Was geschah in der Galaxis Kohagen-Pasmereix? Wer war beteiligt, und wann genau ereignete sich die Katastrophe?« Wieder geriet die Nährflüssigkeit in Wallung. Diesmal kochte sie empor wie beim Ausbruch eines Geysirs. Gasblasen bildeten sich. Die Flüssigkeit trübte ein. Die Gehirne verschwanden teilweise dahinter. Dennoch glaubte ich die wilden Zuckungen zu erkennen. »Lass uns von hier verschwinden«, hauchte Trim Marath. »Mir kommt das unheimlich vor. Wenn sie unser Bewusstsein übernehmen, ist es aus mit uns.« Startac schüttelte den Kopf. »Sie sind harmlos und völlig friedlich. Aber ich glaube, sie haben ihren Meister gefunden.« Wir müssen uns beraten, drang die mentale Stimme in mein Bewusstsein. Geduldet euch! Ich wandte mich Mohodeh Kascha zu. Der letzte Kimbaner verfolgte die Entwicklung reglos. Er schien mir leicht verärgert und vermied es, meinen Blick zu erwidern. Zehn Minuten dauerte das Warten. Wieder gerieten die zehn Gehirne für kurze Zeit in Wallung. Die Antwort lautet: Vor mehreren Millionen Jahren erschütterten Weltraumbeben einer außer Kontrolle geratenen Materiequelle den Raumsektor. Sie zerrissen Kohagen-Pasmereix. Die beiden in der Doppelgalaxis beheimateten Raumfahrt-Nationen schoben sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe und rotteten ... »Das reicht«, sagte ich laut. »Wissensmakler, die Antwort stammt aus eurer Phantasie. Ihr kennt die Wahrheit nicht. Damit habt ihr die Probefragen nicht bestanden. Wir entrichten euch eine noch zu bestimmende
Grundgebühr für die Konsultation. Mehr nicht.« Wenn sie bei dieser Frage scheiterten, konnten sie mit Sicherheit auch die drei. von mir formulierten Fragen zu den Thoregons, den Helioten und der Brücke in die Unendlichkeit nicht beantworten. Wieder gerieten die Nährlösungen in Wallung, diesmal schubartig und unregelmäßig. Wir schlagen euch einen Wissenstausch vor, erklang wieder die mentale Stimme in unseren Köpfen. Wir gewähren euch eine kostenlose Fragestunde beliebigen Inhalts. Als Gegenleistung berichtet ihr uns die wahren Ereignisse von Kohagen-Pasmereix. »Wir lehnen das Angebot ab. Ihr werdet auch die anderen Fragen nicht beantworten können.« Stellt uns auf die Probe! »Gut. Wir geben euch noch eine Chance. Wie heißen die ungefähr einen Meter durchmessenden Kugeln, die aus reinem silbernem Licht zu bestehen scheinen und über eine derart positive Distanz-Ausstrahlung verfügen, dass jedes Misstrauen sofort erlischt?« Die Antwort wäre »Helioten« gewesen. Ein kurzes Aufwallen, mehr kam nicht an Reaktion. Die Wissensmakler wussten die Antwort nicht. Sie gaben sich geschlagen. »Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt.« Ich wandte mich an die Gefährten. »Lasst uns gehen.« Wir verließen die Halle und kehrten durch den Korridor zur Schleuse zurück. Die Wissensmakler hatten eine Niederlage einstecken müssen. Vielleicht die erste in ihrer Existenz. Was sie zu bieten hatten, war für den Wissensdurst des Durchschnittsbesuchers ungeheuer wertvoll. An dem Maßstab gemessen, den wir an die Pangalaktischen Statistiker legten, war es jedoch nicht genug. Die Datenbanken des Taschenlampen-Schiffes enthielten unter Garantie zahlreiche Schätze, aber nicht für uns. Wir erwarteten mehr. Und aus diesem Grund mussten wir die LOTTERIE auf alle Fälle gewinnen. Die Khokoh-Schädel ließen sich nicht blicken. Wir kehrten in die Space-Jet zurück. Als Entgelt und Grundgebühr schwebte ein Antigravprojektor hinüber in das Schiff. Wir dockten ab. Mohodeh Kascha wirkte angespannt. Kurz vor dem Hangartor der SOL sagte er mir endlich seine Meinung. »Du hast sie gekränkt. Weißt du, was passiert, wenn sie abfliegen? Wir ziehen uns den Zorn von Hunderten Schiffsbesatzungen zu.« »Wenn die Makler von hier verschwinden, sind sie bald pleite. Schon allein deshalb werden sie bleiben«, hielt ich ihm entgegen. »Aber sie werden sich in Zukunft die Leute etwas genauer anschauen, die sie in ihr Schiff lassen.«
6. Der Bordkalender zeigte den 8. Dezember 1311 NGZ. Die Makler betrieben ihr Geschäft weiter, obwohl Mohodeh Kascha das Gegenteil behauptet hatte. Ihr Raumschiff flog ein Stück weiter draußen im Niemandsland. Ich vermutete, dass sie mit einem Informationsaustausch zwischen der SOL und GISTUNTEN-3 rechneten und deshalb auf Distanz gingen. Mir war klar, dass ich hier einen Anhaltspunkt besaß, hinter die Funktion der Wissensmakler zu kommen. Wenn sie nicht zum »Abschreckungssystem« gehörten, stellte sich die Frage, woher sie ihr Wissen bezogen. Vielleicht aus Diebstählen. Oder sie kauften es jenen Wesen ab, die die LOTTERIE gewonnen hatten und aus Wassermal zurückkehrten. Wieder stieg Misstrauen in mir auf. Diesmal bezog es sich allerdings nicht auf den Guten Geist von Wassermal und seine Prinzenkrieger. Auch nicht auf die Pangalaktischen Statistiker. Es war mehr allgemeiner Natur: Für mich stand fest, dass uns in dieser Galaxis des Friedens noch einige Überraschungen erwarteten. Schon der Gedanke daran reichte, meine Ungeduld ins Unermessliche wachsen zu lassen. Über GISTUNTEN-3 nahmen die Schiffsbewegungen weiter zu. Inzwischen hingen knapp achthundert Einheiten über der Malischen Mole. Der Funkverkehr erreichte eine Dimension, dass sich die Wellen teilweise überschnitten oder gegenseitig auslöschten. Nur Fragmente trafen in der Mole ein. Fee Kellind machte den Vorschlag, die Geräte der SOL einzusetzen und den Funksalat zu entwirren. Ich lehnte ab. Wenn es in dem Chaos zu Missverständnissen und Irrtümern kam, konnte uns das nur recht sein. Jedes Team, das die rechtzeitige Anmeldung verpasste, erhöhte unsere eigenen Chancen, die LOTTERIE zu gewinnen. SENECAS Orter empfingen Hyperfunksprüche, die Viena Zakata Kopfzerbrechen bereiteten. Aus den Akustikfeldern drang ein Summen und Brummen. In unregelmäßigen Abständen schwoll es an und ab. Es erinnerte uns an das Summen eines terranischen Mückenschwarms.
»Schmeißfliegen«, nannte Fee Kellind es. Mohodeh Kascha wusste es wieder einmal besser. »Es sind die Hypermelodien der Riskemischen Vaal«, klärte er uns auf. »Sie stammen ebenso wie die Wissensmakler aus Wassermal und gelten als Issolmad. Da sind sie schon!« In sicherem Abstand zwischen GISTUNTEN-3 und der Bahn des 22. Planeten fiel ein kleiner Verband aus achtzehn Schiffen in den Normalraum zurück. Es handelte sich um dreieckige Gebilde von plumpem Aussehen. Eine Flut aus Funksprüchen deckte die Wartenden an der Malischen Mole ein. Das Echo hielt sich in Grenzen. Während der Betrieb am Schiff der Wissensmakler zunahm, kümmerte sich kaum einer um die Riskemischen Vaal. »Ihre Stunde schlägt, wenn die LOTTERIE vorbei ist«, fuhr der letzte Kimbaner fort. »Sie öffnen ihre Tore jenen, die für die Reise nach Wassermal und die Teilnahme an der LOTTERIE alles investiert und alles verloren haben. Mit Dumpingpreisen locken sie die Gestrandeten.« Issolmad - der billige Jakob dieser Galaxis also. Ihn konnten sich selbst die leisten, die gerade noch die Mittel zur Heimreise aufbrachten und nicht ohne Ergebnis zurückkehren wollten. Bei den Riskemischen Vaal erwarben sie sich Billigwissen, wahrscheinlich sogar nur vermeintliches Wissen, kolportierte Informationen. Für solchen Unfug gaben sie den letzten Rest ihrer Tauschwaren her. Manche dieser Bedauernswerten gehörten sicher zu denen, über die Sfonoci uns berichtet hatte. Ihnen reichte es nicht mehr bis nach Hause. Sie verschuldeten sich und besaßen keine andere Möglichkeit, als ihre Schulden auf Stijssen-4 oder einer anderen Welt des Blauen Riesen abzuarbeiten. Wir ignorierten die Riskemischen Vaal, ich ließ sie aber weiter beobachten. Immerhin wussten wir bereits von Kascha, dass es jedes Mal drei aktive Spieler pro teilnehmendes Schiff sein mussten. Es konnte bald losgehen, und ich hatte meine persönliche Wahl schon getroffen. Die Abstimmung unter den Mitgliedern der Schiffsführung deckte sich damit. Die Namen der Teilnehmer lauteten Icho Tolot, Mohodeh Kascha und Atlan. * Sfonoci gab sich geheimnisvoll. Der Graue Marlite projizierte eine Art Diagramm, dessen Kopf die Umrisse des Hypertropzapfers zeigte. Darunter befanden sich Angaben in einer unbekannten Schrift. »Ritter der Tiefe«, sagte er. »Es gibt gewisse Schwierigkeiten mit eurer Bezahlung.« Ritter der Tiefe! Ich zuckte vor Überraschung mit den Augenlidern. Er kann es nicht wissen, redete ich mir ein. Oder doch? Unterschätzt du etwa die Pangalaktischen Statistiker?, stellte der Extrasinn die Gegenfrage. Manchmal verfluchte ich die ARK SUMMIA, die mir mit der Aktivierung des so genannten Logiksektors einen derartigen Besserwisser zur Seite gestellt hatte. Mohodeh Kascha kam als Informant des Grauen Marliten nicht in Frage. SENECA wachte zudem darüber, dass keine sensiblen Informationen die SOL verließen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sfonocis Informanten im Innern von Wassermal saßen, betrug annähernd hundert Prozent. »Erkläre mir, was du mit >gewisse Schwierigkeiten< meinst«, antwortete ich Sfonoci. »Könnt ihr mit dem Hypertrop nicht umgehen?« »Der Verkehrswert des Aggregats steigt mit jeder Stunde. Die aktuellen Unterlagen, die du als Grafik vor dir siehst, zeigen es deutlich. Der zu erzielende Preis ermöglicht es euch inzwischen, dreimal an der LOTTERIE teilzunehmen. Wollt ihr das Angebot annehmen?« »Nein. Wir haben nicht vor, vier Jahre zu verweilen.« »Dann bin ich ratlos.« »Unterbreite uns doch einfach ein Angebot«, schlug Fee Kellind vor. »Es wäre ein Ausgleich in Rohstoffen möglich«, zirpte das Wesen. »Aber da ihr Selbstversorger seid ... Warte, mir kommt da etwas in den Sinn. Wir könnten euch ein großzügiges Zuschauerkontingent anbieten. Bei den derzeitigen Preisen wären das...«, er neigte sich zur Seite und las von einem Display ab. »...sage und schreibe 800 Plätze.« »Das ist uns zu wenig, Sfonoci«, sagte ich. »Bei 100.000 Besatzungsmitgliedern sollten ein paar mehr herausspringen.« »Es tut mir Leid. Alle anderen Plätze sind schon verkauft. Ich weiß wirklich nicht, wie ich euch helfen soll.« Ich sagte nichts, musterte den Beamten nur mit kritischer Miene. Natürlich konnte er den Gesichtsausdruck eines Arkoniden nicht deuten, aber er wirkte irritiert. Dass ich kein weiteres Angebot unterbreitete, sondern auf ihn wartete, schien ihn zu verwundern.
Irgendjemand schien ihm plötzlich etwas aus dem Hintergrund zu sagen. Seine Facettenaugen, in denen es kurz geflimmert hatte, kamen zur Ruhe. »Ich sehe gerade, dass ein Kontingent frei wird. Der Käufer tritt aus Kostengründen zurück.« »Wie viele?« »Fünfzig mehr, also 850. Das ist mein letztes Wort.« »Das ist eigentlich viel zu wenig und müsste uns zur Rückkehr zwingen. Aber wir wollen den Frieden in und um GISTUNTEN-3 nicht stören. Deshalb sind wir einverstanden. Wir behalten uns jedoch vor, nach der LOTTERIE ein paar Sonderwünsche äußern zu dürfen.« »Das geht in Ordnung«, versicherte der Oberoffizier eilig. Seine Augen kamen endgültig zur Ruhe. Ich nahm es als Zeichen seiner Erleichterung. »Damit sind alle Voraussetzungen erfüllt. Eurer Teilnahme an der diesjährigen LOTTERIE steht nichts mehr im Weg.« Der Graue Marlite unterbrach die Verbindung. Ich wandte mich an die in der Zentrale Anwesenden. »Egal, was kommt, wir fliegen nach Wassermal hinein. SENECA wird mehrere Szenarien erarbeiten, die uns den Vorstoß erleichtern.« »Wann soll es losgehen?«, fragte Fee Kellind. »Sofort nach dem Ende der LOTTERIE.« * »Ich hör sie trampeln. Ganz dicht auf den Fersen sind sie mir. Aber sie haben sich verrechnet. Einen wie mich kriegen die nicht. Die Grauen Marliten sind echt bescheuert. Bilden sich tatsächlich ein, sie könnten mich durch die Zambarische Mole jagen. - Achtung, da ist eine Tür. Die führt wohin. Mal sehen. Der Öffner ist kodiert. Das haben wir gleich. Ich gebe sinnlose Kodes im Stakkato ein, bis der Pufferspeicher überläuft. Tack-tack-tack ... So, da ist die Meldung schon. Speicher Overflow. Knuffig, knuffig. He, die binäre Präferenz reagiert schon.« »Kodefolge irregulär.« »Irregulärfolge als Tageskode speichern.« »Wird erledigt. Tritt ein! Wie lautet dein Name?« »Goschambel.« »Danke. Ende der Aufzeichnung.« »Von wegen Goschambel. Mir fällt heute auch nichts. Gescheites ein. Wieso musste der Graue Marlite den Zubringer auch vor der Kollision retten? Der weiß doch gar nicht, was bei mir auf dem Spiel steht. Die Prinzenkrieger sind Dumpfbacken. Schicken einen wie mich in die Mole zur Arbeit. Die haben alle keinen Geruchssinn! Einen wie mich. Als ob die nicht wüssten, dass ich in kurzer Zeit zur Transformation anstehe. So, da ist der Lichtschalter. Jetzt sehe ich endlich, wo ich bin. Ein Ersatzteillager. Mal sehen, die Nummer da zeigt mir den Standort. Nein, nicht das auch noch. Auf der hinteren Seite der Halle geht es in die LOTTERIE-Kugel. Mann, wie komme ich denn hierher? Und was ist das für ein Lärm? Ekelhaft. Pfff...« »Kontakter, die zentrale Steuereinheit stellt eine Rückfrage. Wie lautet dein Name?« »Warte, ich muss nachdenken. Das ist alles so verwirrend. Mir ist schlecht. Der nächste Anfall steht bevor. Ah, da ist der Ausgang. Einmal drücken, die Tür geht auf.« »Wie lautet dein Name?« »Rutsch mir den Rückenpanzer runter!« »Ein Kontakter Goschambel ist nicht registriert.« »So, ich bin draußen im Korridor. Jetzt kann mich diese aufgeblasene Steuereinheit mal gern haben. Tür zu, Frage weg. Aber wieso kommt der Lärm näher? Das hört sich an, als trampelten Tausende von Robotern mit ihren breiten Latschen durch den Korridor. He, das wird doch nicht ... Fängt die LOTTERIE etwa an? Bloß weg hier. Runter auf die sechse und ab durch die Mitte!« »Hier spricht die binäre Präferenz. Du bist identifiziert. Ich fordere dich auf, an Ort und Stelle zu bleiben. Die Leibgarde der Kommandantin holt dich ab. Du befindest dich in einem kritischen Stadium. Die Heiler werden sich um dich kümmern.« »Ich pfeif auf die Heiler. Bleibt mir bloß von den Fühlern. Dies ist kein Ort für mich. Zerstört den Automaten, der mich hierher abkommandiert hat. Er hat den Rostfraß oder Schlimmeres. Die Prinzenkrieger sind dem Irrsinn verfallen. - Das Trampeln kommt näher. Ich spüre den Luftzug. Er wird immer stärker, verwandelt sich in einen Orkan. Was ist da nur los? Mühsam kämpfe ich mich auf allen sechsen vorwärts. Die Korridorkrümmung ist erreicht. Hilfe! Ich verfalle in Starre. Binäre Präferenz, wo bist du? Wo die Roboter? Horden von Fremdwesen kommen mir entgegen. Es bleibt kein Platz zum Ausweichen.«
»Binäre Präferenz an Morphling. Kehre in den Lagerraum zurück, aus dem du gerade gekommen bist.« »Bin doch nicht blöd. Einmal den Körper herumwerfen - ab geht die Hatz. Schneller, bevor sie dich einholen und dich unter den Stiefeln zertrampeln. Wenn du die Transformation verpasst, hast du umsonst gelebt. Weiter, alter Knabe. Bald bist du mehr. Dann können sie dir nichts mehr anhaben. Weil sie es nicht dürfen. Wer die Transformation erreicht, steht unter dem Schutz des Guten Geistes von Akhimzabar. Verflixt, sie kommen näher. Warum rennen die so? Verpassen die was, wenn sie langsamer machen? Haltet sie auf! Leitet sie um! Flutet den Korridor mit Giftgas! Das stoppt sie endgültig, macht mir aber nicht viel aus. Es verzögert höchstens meine Umwandlung. Morphling nennt die binäre Präferenz das. So ein Unfug! Es ist der Übergang in die herrlichste Phase meines Lebens. Keiner kann mir das streitig machen. Keine Snotryl und kein Grauer Marlite. Es ist Gesetz, dass ich das darf. Jeder von uns darf das, sobald ihn die Transformation einholt. Ein Gauner ist, wer das abstreitet.« »Du hast den Lagerraum verfehlt. Auf der linken Seite siehst du eine Tür. Sie führt in eine Schutzkammer. Benutze sie. Die Leibgarde holt dich dort ab.« »Das würde euch so passen. Ich pfeife auf die Leibgarde. Ich will - nach Hause!« »Derzeit ist keine Passage nach Swelden-Marbot möglich. Die Heiler legen dich in einen Verzögerungsschlaf.« »Die wollten mich aus der Schleuse werfen.« »Ein bedauerlicher Irrtum. Sie erkannten deinen Zustand nicht.« »Ich bleibe hier. Bis nach der Transformation. Dann nehme ich mir die Heiler an die Kieferzangen.« »Heiler sind unantastbar.« »Ich auch. Mist, die Meute naht. Haltet sie auf! Sie überrennt mich, zertrampelt meine Zukunft unter den Stiefeln. Weg da, weicht mir aus! Ich bin ein Kontakter, kein Parasit. Ihr dürft mich nicht einfach ...«
7. Zehntausende winziger Fahrzeuge schwärmten aus und umkreisten GISTUNTEN-3. Die Hyperinpotronik des Hantelschiffes markierte einen der schlanken Pfeile mit einem blauen Umriss und zeichnete die vorausberechnete Bahn zur SOL ein. »Fünf Minuten bis zum Anlegen«, verkündete SENECA. »Ich erhalte das Kodesignal. Die Flugeinheit dient dem Transport der drei LOTTERIE-Teilnehmer.« Eine weitere Markierung in Rot kennzeichnete eine walzenförmige Einheit, die sich von der hinteren Seite der Malischen Mole näherte. SENECA identifizierte sie als Großraumtransporter für die Zuschauer. Achthundertfünfzig von ihnen standen an den Schleusen des Mittelteils bereit, unter ihnen Myles Kantor, Tek und Dao, Startac Schroeder, Trim Marath, Mondra Diamond, Kßifan und andere. Aber auch einige Dutzend junge Mom'Serimer gingen mit von Bord. Für sie stellte der Wechsel in die Malische Mole so etwas wie den Übergang in eine fremde Welt dar, vielleicht sogar in ein fremdes Universum. Viele von ihnen hatten nur vage Erinnerungen an Nacht-Acht. Die SOL war ihre Heimat, und diese hatten sie noch nie verlassen. »Da!« Trim Marath deutete auf das Hologramm neben dem Schleusenschott. Von der SOL aus war es die rechte der beiden Kugeln des Weltraumbahnhofs, die übergangslos in goldenem Licht zu leuchten anfing. Gleichzeitig erwachten die Funkanlagen der Malischen Mole zum Leben. Hunderte von Stimmen sprachen gleichzeitig einen Text, der sehr rituell klang. Mohodeh Kascha bestätigte meine Vermutung. »Willkommen zur 22.123sten LOTTERIE von GISTUNTEN-3. Die LOTTERIE-Arena erwartet euch. Von diesem Augenblick an gelten für euch die Vorschriften und Gesetze der Grauen Marliten. Wer von euch, egal ob Teilnehmer oder Zuschauer, gegen sie verstößt, dessen Team wird automatisch disqualifiziert. Eine erneute Teilnahme an der LOTTERIE ist dann nicht mehr möglich. Folgt den Anweisungen der Steuerautomaten!« Ich warf einen Blick auf das Chronometer. Der 10. Dezember war gerade vier Stunden alt. Zwanzig Tage des Wartens lagen hinter uns. In dieser Zeit hatte Mohodeh Kascha kein einziges Detail über den Wettbewerb verraten. Auch jetzt zeigte das Gesicht des Kimbaners diesen leicht verkniffenen Ausdruck, der mit einem vielsagenden Lächeln eines Menschen zu vergleichen war. Seine Siegesgewissheit reizte mich immer mehr. Da alle Teilnehmer dieselben Chancen hatten, hing ein Sieg in dem Wettbewerb vermutlich von ihrem Geschick ab, vielleicht von ihrer Intelligenz, auf keinen Fall jedoch von ihrer Erfahrung. Dann hätte ein langlebiges Wesen wie der Kimbaner die LOTTERIE ohne Probleme gewonnen. Ein Signal erklang. Der Pfeil hatte angedockt. Die Schleuse öffnete sich. Im Zubringer wartete ein eineinhalb Meter großes, krötenähnliches Wesen auf uns. Es hielt eine Art Scanner in der Hand. Den von Warzen und
Beulen übersäten Körper verbarg es unter einer eng anliegenden Kombination aus roten und gelben Streifen. Die Farben wirkten auf Terraner und Arkoniden geradezu grell. »Die drei gemeldeten Teilnehmer treten bitte vor«, erklang eine knarrende Stimme. »Die Reihenfolge lautet: Atlan, Mohodeh Kascha, Icho Tolot.« Ich setzte mich in Bewegung. Das Krötenwesen hielt den Kopf schief. Der Blick aus den trüben Augen mit ihren Schlitzpupillen verfolgte mich, bis ich die Passagiersessel erreichte und mich niederließ. Der letzte Kimbaner folgte mir, aus gegebenem Anlass ohne seine Protokollroboter. Ihn empfing der Platzanweiser mit einem freundlichen Schnaufen, dem allerdings schnell ein lautes Blubbern folgte. Der Warzenkörper ruckte ein Stück zur Seite. Der Fußboden bebte, als Tolot in das Pfeilschiff stampfte. Die Kröte stieß Brocken einer unbekannten Sprache in eine Art Mikrofonring am rechten Handgelenk. Lass dich nicht täuschen, das ist alles nur Show, sagte der Extrasinn. Es handelt sich um einen Roboter. Ich tat, als betrachtete ich die Einrichtung der Passagierkabine. Dabei ließ ich die Kröte keinen Augenblick aus den Augen. Sie bewegte sich schleppend. Der rechte Fuß zog die winzige Spur einer hellblauen Flüssigkeit hinter sich her. »Meister, du leckst«, sagte ich auf Diamal, das ich mit Hilfe meines Extrasinns und in einer Hypnoschulung gelernt hatte. Die Kröte blieb stehen. »Ich lecke?« »Du verlierst Schmierstoff am rechten Fuß!« Die Kröte erstarrte. Gleichzeitig schloss sich die Schleuse des Pfeils. Ein Signal zeigte an, dass das Kleinfahrzeug zur Malischen Mole zurückkehrte. Wir verbrachten die fünfzehn Minuten schweigend. Die Einschleusung erfolgte ausgesprochen schnell. Wir erhoben uns und verließen das Fahrzeug. Der Roboter in seiner Krötenmaske rührte sich noch immer nicht. Er hatte sich wahrscheinlich selbst abgeschaltet. Draußen erwarteten uns zwei Graue Marliten. Sie wiederholten die zeremonielle Einladungsformel. Anschließend führten sie uns zu einem Antigrav, der uns waagrecht in die LOTTERIE-Kugel hineintrug. Von anderen Teilnehmern sahen und hörten wir in dieser Phase nichts. Das Energiefeld trug uns mit hoher Geschwindigkeit ins Innere der Kugel zu einer Balustrade. Hinter einem Energieschirm lag eine Rundtribüne, ähnlich einem Stadion. Ich schätzte den Durchmesser auf sechshundert Meter. In die Wandung integriert, dienten Zehntausende von Logen der Aufnahme der Zuschauer. Ich schätzte die Kapazität auf dreihunderttausend. Keine der Logen war besetzt, aber das würde sich garantiert bald ändern. Am Grund der Anlage existierte eine plane Fläche von hundert Metern Durchmesser. Wurde hier gespielt? Mohodeh Kascha beantwortete meine unausgesprochene Frage. Er deutete hinab und sagte: »Das Spielfeld!« Die beiden Grauen Marliten führten uns an der Balustrade entlang bis zu einem weiteren Antigravschacht. Es ging aufwärts, in die obere Hälfte der LOTTERIE-Kugel. Der Schacht mündete im Zentrum eines riesigen Saals. Gleichzeitig mit uns trafen weitere Dreiergruppen ein. Innerhalb kurzer Zeit versammelten sich 2400 unterschiedliche Wesen aus allen achthundert teilnahmeberechtigten Schiffen. Hunderte von Grauen Marliten hielten sich zwischen ihnen auf. Sie brachten seltsame Apparate in Position. Ein wenig erinnerten sie an aufklappbare Schränke. Von der gewölbten Decke herab sanken weitere Apparaturen, garantiert auf das Stück genau 2400. »Die Vorbereitungen für die LOTTERIE beginnen«, verkündeten die Grauen Marliten. »Der Scan ist für alle Lebewesen absolut ungefährlich. Nach der Standard-Zeitrechnung von Akhimzabar dauert er ungefähr fünf Horators.« Das waren dreieinhalb Stunden, wie ich wusste. »Du willst uns nicht sagen, wozu dieser Aufwand betrieben wird?«, wandte ich mich an den letzten Kimbaner. »Auf keinen Fall«, gab er zur Antwort. »Genieße es einfach!« Ob das so ein großer Genuss war, bezweifelte ich. Aber das zuversichtliche Gesicht Mohodeh Kaschas beruhigte mich etwas. Der Kimbaner sah aus, als freue er sich auf den Vorgang. Ich trat neben eines der Säulenbeine des Haluters und tat, als verfolge ich fasziniert die Vorbereitungen für den Scan. »Entspanne dich und vermeide alles, was sie deinen Metabolismus erkennen lässt«, flüsterte ich. »Keine Angst, mein Kleines. In meiner Nähe seid ihr sicher.« Eine der Apparaturen senkte sich auf mich herab. Dicht über meinem Kopf klappte sie auseinander. Sie
stülpte sich in der Art eines Zeltes über mich und schirmte mich von der Umgebung ab. Ich verspürte ein leichtes Kribbeln. Es begann an der Kopfhaut. In gleichmäßigen Wellen wanderte es abwärts zum Hals und zur Brust, dann zum Bauchnabel und zu den Lenden. Kurz darauf erreichte es die Zehen und die Fußsohlen. Es war keineswegs unangenehm. Langsam verstand ich den Ausspruch des Kimbaners, es zu genießen. Ich entspannte mich. Gleichzeitig stellte ich mir die Frage, was es bedeutete. Für einen gewöhnlichen Körper-Scan erschien mir der Aufwand zu hoch. Was war das? Dem Aufwand nach zu urteilen, gibt das eine größere Angelegenheit. Es ist durchaus möglich, dass sie ein energetisches Abbild deines Körpers herstellen wollen - zumindest wäre das eine Erklärung. Und das wegen einer simplen Lotterie? Je länger der Scan dauerte, desto überzeugter wurde ich, dass uns Mohodeh Kascha lebenswichtige Informationen über die Zugangsberechtigung zur Galaxis Wassermal vorenthalten hatte. * Auf Rang 378-16-4000 entstand Unruhe. Mehrere Besucher stritten sich um die Plätze einer Loge. Sie taten es lautstark und unter teilweisem Einsatz ihrer Körper. Sfonoci zoomte den Vorgang. Die binäre Präferenz wertete die Bilder aus. Die heimlichen Befürchtungen des Grauen Marliten erwiesen sich als grundlos. Keiner der Streithähne gehörte zur SOL. Die 850 Besatzungsmitglieder saßen in der Nähe, hielten sich aber jeder Konfrontation fern. Der Oberoffizier schickte mehrere der Betreuungsroboter an den Ort der Auseinandersetzung. In höflichem Ton beschwichtigten sie die Gäste, analysierten die Lage und verteilten Geschenke. Sie erfüllten alle erdenklichen Wünsche in Bezug auf Speisen, Getränke sowie die Ausstattung der Logen. Verblüfft von der Tatsache, dass nichts extra kostete, sondern im Preis Inbegriffen war, vergaßen die Streithähne ihren Zwist. Sie vertrugen sich übergahgslos. Sfonoci führte die Zoom-Optik an die Logen mit den Besatzungsmitgliedern der SOL heran. Er suchte lange, bis er die beiden Gesichter entdeckte. Trim Marath und Startac Schroeder saßen schweigend nebeneinander. Sie ließen die Weite des Zuschauerdoms auf sich wirken. Die Arena darunter wirkte vergleichsweise winzig. Auch der Graue Marlite empfand das so. Im Unterschied zu den Zuschauern wusste er, wie die LOTTERIE funktionierte. Was sie sich gemeinsam mit Snotryl ausgedacht hatten, stellte hoffentlich alle Spielideen der letzten zehn Jahre in den Schatten. Ein Signal aus der Halle in der oberen Kugelhälfte erreichte ihn. Die Scans der 2400 Teilnehmer waren abgeschlossen. Die Steuerautomaten führten einen Schablonencheck durch und initialisierten den Mental-Switch. Noch ahnten die Teilnehmer nichts von dem, was ihnen bevorstand. Sie nahmen in ihren Spezialsesseln Platz. Die Roboter schärften ihnen wiederholt ein, dass sie die Sitzgelegenheiten auf keinen Fall verlassen durften. Wer aufstand oder auch nur aus dem Sessel kippte, bevor die LOTTERIE zu Ende war, wurde mitsamt seinem Team sofort disqualifiziert. Probleme gab es mit dem Haluter von der SOL. Das riesige Wesen stellte die Konstrukteure vor Probleme. Der Spezialsessel war noch nicht fertig. Es verzögerte den Beginn der LOTTERIE um eine weitere Stunde. Die Betreuer in ihren warzenübersäten Biokokons schalteten auf halbe Kraft. Sie verlangsamten den Zustrom in den Zuschauerdom. Dadurch schafften sie sich eine Menge Probleme vom Hals. Die Ungeduld der 300.000 in die LOTTERIE-Kugel strömenden Wesen nahm allerdings zu. »Derzeit gibt es keine Schwierigkeiten«, meldete die binäre Präferenz. »Die Zubringer kehren zum letzten Mal zurück. In Kürze erreichen die Restkontingente der Zuschauer ihren Zielsektor. Vom Morphling fehlt jede Spur. Er ist wieder untergetaucht. Im Gedränge der Massen gelang es ihm, sich den Kameras zu entziehen.« Sfonoci übernahm die Verantwortung für die Fehleinschätzung. Er hätte es wissen müssen. Wozu war er Generalist? Aber Transformationen bei den Kontaktern ereigneten sich außerhalb ihrer Heimatwelt so selten, dass es seit zehn Generationen nicht mehr vorgekommen war. In den langen Jahren seiner eigenen Tätigkeit in GISTUNTEN-3 hatte Sfonoci nie Probleme mit den sechs Jelandolids gehabt, den Lebensaltern von den sechs Planetoiden des Swelden-Systems. Er hatte weder verrückte Tespel-Kontakter noch kranke Tepramender erlebt, aber auch keine Problemfälle bei den GondernTechnikprüfern, Magwen-Dockarbeitern und den Grauen Marliten. Die Phenobis erhielten sowieso keinen Zutritt zu den Alzos, da sie nur unter der Hyperstrahlung von Marbot lebensfähig waren. Jetzt war es geschehen, unter seiner Ägide und ausgerechnet bei zwei Tespeln. Ihre Transformation in das Phenobis-Stadium stand unmittelbar bevor. Hoffentlich trat sie erst ein, wenn die LOTTERIE vorbei und die
Besucher in ihre Schiffe zurückgekehrt waren. Der Graue Marlite richtete seine Aufmerksamkeit auf die beiden Mutanten von der SOL. Sie entfalteten keine psionische Aktivität. Er traute den Automaten zu, dass sie die beiden optimal kontrollierten. Der Oberoffizier richtete seinen Blick auf jene Loge im Zentrum des Domes, die bisher leer geblieben war. Grüne und graue Vorhänge schmückten sie. Über eine Horator dauerte es, bis er im Halbdunkel eine Bewegung entdeckte. Die Jungfern traten ein, gefolgt von der Kommandantin. Snotryl kletterte auf ihren Thron. Sie rückte den Hinterleib zurecht, ehe sie mit dem oberen Paar ihrer Glieder das Signal gab. Ein Fanfarenstoß erklang. Der Ton ließ den Dom erbeben. Sfonoci richtete den Blick hinauf zur 700 Meter hohen Decke. Die 300.000 Zuschauer folgten seiner Kopfbewegung. Dort oben tauchten übergangslos zweihundert reglose Gestalten in Kontursesseln auf. Antigravfelder hielten sie an der Stelle. »Der Telepath hat soeben die Wesen gecheckt«, meldete die binäre Präferenz. »Ohne Erfolg, wie es scheint.« Tatsächlich befanden sich die drei Spieler von der SOL nicht unter den Teilnehmern der ersten Gruppe. Der Graue Marlite musterte die Arena. Die glatte Fläche geriet in Wallung. Sie verwandelte sich in eine Pseudolandschaft aus Holografien, Formenergiestrukturen und Prallfeldern. Zoomeffekte verwandelten kleine Gegenstände in riesige Gebirge. Das Spielfeld erhielt eine beängstigende und sich ständig bewegende Dimension. Eine Stimme kommentierte die Vorgänge in Diamal. Sie erläuterte Einzelheiten und holte sie in extremer Vergrößerung herauf in den leeren Raum des Domes. Das Spielfeld nahm seinen endgültigen Zustand an, eine bis ins kleinste Detail wirklichkeitsgetreue Sumpflandschaft. Die 2200 Spieler in der Halle bekamen nichts von dem mit. Ihnen blieb die LOTTERIE bis zu dem Augenblick verschlossen, in dem sie selbst in das Spiel eingriffen. Ein Gong erklang. Der Arena-Dom erzitterte unter den Schallwellen. Die 22.123ste LOTTERIE war hiermit eröffnet. Gleichzeitig schalteten sich die Psi-Taster ein. Die zweihundert Gestalten unter der Decke leuchteten in einem geisterhaften Licht auf. Im selben Augenblick materialisierten sie mitten in der Sumpflandschaft. Ein Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer. Sfonoci kannte es. Jedes Mal besaß es in etwa dieselbe Lautstärke und Ausprägung. Die Gestalten der Spieler unter ihm waren nur wenige Zentimeter groß, Miniaturen in einem weitläufigen Sumpfgebiet. Während sie sich orientierten und die ersten Schritte in der ungewohnten Umgebung taten, materialisierten zwischen ihnen Dutzende reißender Bestien, ebenfalls als Miniaturen, meist jedoch deutlich größer als die Spieler. Sfonoci beobachtete gespannt den Auftakt. Dieses Mal gestaltete er sich für die Spieler besonders schwierig. Viele würden schon in der ersten Runde ausscheiden. Den Beherrschern von Akhimzabar konnte es nur recht sein. Je mehr Verlierer es gab, desto weniger Besucher gelangten in die Galaxis. Die Heimkehrer würden von ihren Problemen berichten und andere vor einem Flug zu den Pangalaktischen Statistikern warnen. Der Abschreckungseffekt lag in Snotryls Absicht.
8. Einen Augenblick lang glaubte ich, in dem Kontursessel mit seinen nach vorn gewölbten Polstern schwerelos zu werden. Die übrigen Sessel verschwanden vor meinen Augen. Die Trägheit der humanoiden Sehorgane erzeugte einen Effekt, als ziehe jemand einen Vorhang zur Seite, auf dem die Umgebung als dreidimensionales Muster abgebildet war. Gedämpftes Licht hüllte mich ein. Ich hing unter der Decke der LOTTERIE-Arena. Der Boden lag über einen halben Kilometer unter mir. Er hatte sich in eine brodelnde Sumpflandschaft verwandelt, deren Gestank bis zu mir herauf drang. Ein paar Augenblicke lang stieg Brechreiz in mir auf. Dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Die voll besetzten Logen ringsum tobten. Die Leiber wogten auf und ab. Ich entdeckte aber auch etliche Gruppen, die seltsam still blieben, als trauerten sie dem verlorenen Spiel nach. Oder den verlorenen Artgenossen? Von den Teilnehmern der ersten Gruppe war nichts mehr zu sehen. Die Spielleitung hatte Sieger und Verlierer bereits abgeholt. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Insgesamt hingen zweihundert Sessel unter der Decke. Zweihundert Kandidaten warteten darauf, dass das Spiel begann, in dem sie ihre Geschicklichkeit oder ihre Intelligenz messen mussten.
In einem stinkenden Sumpf! Mit einer Lotterie herkömmlicher Art hatte es wenig zu tun. Aber das war uns von Anfang an klar gewesen. Mohodeh Kascha hätte sonst keine solche Geheimniskrämerei betreiben müssen. Ich reckte den Kopf und hielt nach den Gefährten Ausschau. In Rufweite entdeckte ich den blauen Eierkopf des Kimbaners. Weiter hinten, fast am anderen Ende des Domes, ragte Tolots wuchtiger Schädel über den Spezialsessel hinaus. Das Möbelstück war immer noch zu klein für ihn. Er klammerte sich mit den Laufarmen daran fest, um nicht herauszufallen. Der Arena-Dom erbebte unter einem gewaltigen Gongschlag. Ich spürte ein Kribbeln auf der Haut wie bei dem Stunden anhaltenden Scan. Übergangslos steckte ich mit den Stiefeln im Sumpf und sank ein. Um mich herum gluckerte es. Ohne Unterlass platzten Gasblasen. Sie pusteten mir ihren fauligen Gestank entgegen. Ammoniak, Schwefel und andere »Wohlgerüche« raubten mir übergangslos den Atem. Du musst dich bewegen!, erkannte ich. Der Sumpf setzte meinem Bemühen Widerstand entgegen. Mit Mühe gelang es mir, die Stiefel herauszuziehen und ein paar Schritte zu machen. Schlickpflanzen wickelten sich um die Schäfte. Mit den Händen zerrte ich daran, allerdings zunächst am falschen Ende. Erst als ich sie dort packte, wo sie mit den Wurzeln im Schlamm steckten, gaben sie mich frei. Irgendwie fand ich es lustig, den winzigen Gestalten zuzusehen, die dort drunten durch den Morast wateten. Eine energetische Linse vergrößerte sie, damit die Zuschauer auf ihre Kosten kamen. Die Gestalten selbst waren kaum mehr als drei Zentimeter groß, Winzlinge in einer lebensfeindlichen Umgebung. Das also war die LOTTERIE, von der Mohodeh Kascha gesprochen hatte, als sei sie das harmloseste Erlebnis des Universums. Ich entdeckte das leuchtende Silberhaar der Gestalt im dunkelblauen Einsatzanzug, kleiner, als ein Siganese jemals sein würde. Das war ich, der Arkonide von edlem Geblüt, inzwischen halb bespritzt mit Schlamm. Nach mehrmaligen Versuchen gelang es mir, eine Ranke zu erwischen und mich auf eine Schlickscholle hinaufzuziehen. Von der schätzungsweise zwei Meter hohen Warte aus bot sich mir ein überwältigender Anblick. Der Sumpf erstreckte sich endlos weit in alle Richtungen. Vereinzelt erkannte ich Angehörige anderer Teams, die sich an peitschende Schlingpflanzen klammerten. Wieder andere schwammen mit hektischen Bewegungen in der trüben Brühe. Von Mohodeh Kascha und Icho Tolot sah ich weit und breit nichts. Mit dem Körper balancierte ich mein Gleichgewicht aus. Dann legte ich die Hände trichterförmig um den Mund. »Kascha, Tolotos!«, rief ich, so laut ich konnte. »Her zu mir!« Ich warf die Arme in die Luft, damit sie mich ausmachen konnten. Die Antwort erreichte mich Sekunden später. Jemand brüllte mir so laut ins Ohr, dass ich für Sekunden taub war. So schnell es die unter mir zerbrechende Scholle zuließ, fuhr ich herum. Schlick und Tang brachen aus dem Sumpf hervor, ein riesiges Gebirge im Vergleich mit der winzigen Gestalt unmittelbar daneben. Ich sah, wie mein winziges Ebenbild den Schwung der sich aufbäumenden Scholle ausnutzte und sich davonschnellte. Unter dem Gewirr aus Pflanzen zeichnete sich die schuppige Gestalt eines Ungeheuers ab. Zwischen den Schuppen wimmelten Hunderte von flachen Tentakeln. Sie peitschten den Schlamm. Immer näher kamen sie der fliehenden Gestalt. »Pass auf, hinter dir!«, schrie ich hinab, aber meine Worte drangen kaum über den schwebenden Sessel hinaus. Schallschutzfelder verhinderten es. Überall im Sumpf tauchten jetzt reißende Bestien auf. Manche besaßen Kiefer, die bis fast zur Hälfte des Körpers reichten. Dafür fehlten ihnen die Reißzähne. Aber in der Vergrößerung des energetischen Zoomfeldes reichten die dicken Hornlippen aus, um jeden der Zwerge dort unten zu zermalmen. Auf unbegreifliche Weise existierte ich sowohl in meinem Sessel als auch im Sumpf. Es ist der Scan, der es bewirkt, stellte ich fest. Fast gleichzeitig erkannte ich die Todesgefahr, in der mein »zweites Ich« schwebte. Das kurze Zaudern kostete mich fast das Leben. Ein einziger Augenblick nur, in dem ich mich mit anderen Gedanken beschäftigte, reichte dem Ungeheuer aus. Aus dem Sumpf tauchte eine Extremität empor, so groß wie ein Baumstamm. Die Bewegung kostete das Schuppenmonster viel Kraft. Aber in dem Augenblick, als die Extremität erst einmal im Freien war, verwandelte sie sich in eine tödliche Waffe. Wie ein Geschoss raste der Arm öder das Bein auf mich zu. Ich duckte mich, schnellte mich von dem letzten Brocken der Schlammscholle weg in den Sumpf hinein. Ich spürte den Luftzug in meinem Nacken, als die Extremität mich nur knapp verfehlte und mit ungeheurer Wucht in den Sumpf einschlug.
Der Schlick unter mir hob sich ruckartig nach oben. Eine Schlammfontäne traf mich. Stechender Schmerz raste durch meinen Körper. Ich ignorierte ihn, rollte mich instinktiv zusammen und warf mich zur Seite. Die Fontäne klammerte sich an mich. Sie riss mich mit sich fort, irgendwohin in den Sumpf. Ein hässliches Trompeten hinter meinem Rücken deutete an, dass ich den Fängen der Kreatur erst einmal entkommen war. Zumindest für Sekunden. Ein Schatten legte sich über mich, dunkel und Unheil verkündend. Ich schlug einen Haken. In kurzen Sprüngen mit möglichst wenig Bodenkontakt suchte ich das Weite. Das Ungeheuer brüllte vor Zorn. Es war zu langsam. Bis es sich herumgedreht hatte, war ich zwanzig Meter entfernt und damit außerhalb seiner Reichweite. Um mich herum brodelte der Sumpf. Ich entdeckte Körper, die hoch in die Luft wirbelten. Sie fielen zurück in die Fänge der Ungeheuer. Der grünlich gelbe Sumpf färbte sich rot. Todesschreie erklangen. Weiter!, schrien meine Gedanken. Nicht stehen bleiben! Schlamm spritzte empor. Er nahm mir die Sicht. Für ein paar Augenblicke entdeckte ich ein blaues Gesicht mitten im Dreck. Der Kimbaner ragte bis zu den Knien aus dem Schlick heraus. Er bewegte sich gleichmäßig vorwärts. Seine Augen strahlten. Das Gesicht drückte Gelassenheit und Freude aus. Fast schien es, als habe er den Verstand verloren. Jetzt entdeckte er mich. Er hob den Arm und winkte. »Das ist das Spiel!«, hörte ich ihn brüllen. Seine Stimme schien von überall zu kommen, nur nicht von dort, wo er sich aufhielt. Von oben? Ich konzentrierte mich, lauschte dem Klang der Stimme nach und legte einen imaginären Gedankenschalter um. Es funktionierte. Durch die Vergrößerung sah ich tief unter mir die winkende Gestalt. Hinter ihrem Rücken pirschte sich ein Ungeheuer heran. Es durchpflügte den Sumpf dicht unter der Oberfläche. Von der Seite her näherte sich ein zweites Monster. »Gefahr hinter dir!«, schrie ich dem Kimbaner zu. Hastig vergewisserte ich mich, dass mein »Fressfeind« die Jagd nach mir aufgegeben hatte. Ich deutete nach rechts, wo der Sumpf im Augenblick frei war. Ein schlammloser Tümpel zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Als guter Schwimmer konnte das meine Rettung sein. Wie durch Zufall wuchsen an seinem Rand HohlstängelGewächse, die sich gut fürs Luftholen unter Wasser eigneten. Der Kimbaner entdeckte den Tümpel ebenfalls. In weiten Sprüngen hielt er darauf zu. Das Ungeheuer unter dem Schlamm jedoch war schneller. Das zweite von links beschleunigte in der Absicht, dem anderen zuvorzukommen. Keine fünf Meter hinter Kaschas Rücken trafen die beiden Giganten aufeinander. Schlamm spritzte. Ein Quieken drang an die Oberfläche. In drei bis vier Metern Tiefe entstand ein Strudel, der sich schnell dunkel färbte. Die Sumpfoberfläche beruhigte sich. Ein dunkler Fleck bildete sich. Langsam trieb er an die Oberfläche. Darunter leuchtete das helle Rot eines Kampf anzugs. »Meine Kleinen!«, sagte Icho Tolot, nachdem er aus dem Loch geklettert war. »Gegen dieses Stachelmonster hättet ihr beide keine Chance gehabt.« »Und du? Willst du damit sagen, sie haben dir deine Fähigkeit der Metabolismus-Verhärtung gelassen?« »Nein. Das war pure Körperkraft. Mein Planhirn funktioniert allerdings. Wie ist es mit deinem Extrasinn, Atlanos?« »Er ist blockiert.« Ich hatte es nicht anders erwartet. Keiner der Spieler erhielt einen unzumutbaren Vorteil. Der Haluter deutete auf das nächste Ungeheuer. Es ähnelte einem ins Riesenhafte vergrößerten Marliten. Der Kopf bestand aus zwei gegenläufig rotierenden Knochelwülsten, bewehrt mit messerscharfen Greifzangen. In seinem Umkreis gab es keine Opfer mehr außer uns. Wir rannten los. An der Wandung des Arena-Domes entdeckte ich, dass die Beleuchtung stroboskopisch flackerte. Ein dröhnender Akustikeffekt imitierte das Wort LOTTERIE. Gleichzeitig verschwand der Riesenmarlite. Seine Gestalt fiel in sich zusammen und ging unter. »Die erste Runde endet mit einem Ereignis. Dieses tritt ein, sobald sich nur noch die Hälfte aller Spieler im Rennen befindet.« Wieder einmal informierte uns Mohodeh Kascha. »Die Effekte deuten, darauf hin, dass es so weit ist.« Aus der Höhe entdeckte ich den Saurier. Er besaß drei Köpfe, sechs Beine und ein dickes Fell, aber seine Gestalt
war eindeutig die einer Riesenechse. Das Monster bewegte sich ziellos vorwärts, getrieben von der Steuerung des Zufallsgenerators. Ein einziger Fußtritt reichte aus, um gleich mehrere Spieler zu zermalmen und aus dem Rennen zu werfen. Der letzte Kimbaner kletterte flink wie ein Wiesel auf Tolots Rücken. Ich selber oder besser mein Abbild rührte sich nicht. Switch. »Schnell, Atlan!«, hörte ich Kaschas Stimme. Hastig kletterte ich zu ihm empor. Mit den Stiefeln hakte ich mich im breiten Kreuzgurt seines roten Kampfanzuges ein. »Du wechselst zu oft zwischen den beiden Ebenen hin und her«, warnte er mich. »Die Grauen Marliten fördern das, um die Teilnehmer abzulenken.« Ich nahm mir vor, es ab sofort zu unterlassen oder nur im Notfall umzuschalten. Der Haluter stürmte los. Der Schlamm spritzte hoch auf, als sich der Koloss auf die Lauf arme sinken ließ. * Sfonoci kannte den Höhepunkt jedes Spiels, diesen Ultimaten Kick mit eingestreuten Zufallselementen. Er machte jede Runde bis zum letzten Atemzug spannend. Das pelzverhüllte Ungeheuer preschte durch den Sumpf. Rasend schnell dezimierte es die Zahl der miniaturisierten Spieler. Der Blick des Grauen Marliten suchte Mohodeh Kascha und seine beiden Mitstreiter. Erst fand er sie nicht. Dann entdeckte er die beiden schmächtigen Gestalten auf dem Rücken des vierarmigen Haluters. »Ihr begeht einen Fehler«, sagte er leise. »Der Pelztöter ist fast so schlimm wie die Walze. Er kann euch mit einem einzigen Tritt zerquetschen. Es wäre besser, ihr würdet euch trennen.« Aber sie taten ihm den Gefallen nicht. Nach einer Weile erkannte er, dass nicht Angst, sondern eine bestimmte Taktik dahinter steckte. Der Haluter fing an, das riesige Monstrum weiträumig zu umkreisen. Es gab sogar Phasen, in denen es die drei nicht wahrnahm, weil sie sich im toten Winkel seiner künstlichen Wahrnehmung bewegten. Sfonoci wusste, dass sie damit längst nicht in Sicherheit waren. Das monströse Geschöpf wechselte seine Taktik und ging rückwärts. Es machte Ausfallschritte nach den Seiten. Tolot erkannte das und reagierte. Aber das Ungeheuer vollführte einen Satz in die Luft und prallte als Geschoss auf die Sumpfoberfläche. Sekunden zuvor wirbelte der Haluter um die eigene Achse. Er warf die beiden Mitstreiter hoch in die Luft, schlug mit allen sechsen in den Sumpf und stieß sich wieder ab. Im Flug fing er die beiden Körper wieder auf. Dort, wo er sich soeben befunden hatte, krachte eine der tödlichen Pranken in den Sumpf. Sie schlug ein tiefes Loch, in das der Haluter mit seinen Begleitern fiel. Das war das Ende, erkannte Sfonoci. Ein kurzes Nachtreten, und die Spieler von der SOL existierten nicht mehr. Aber in diesem Augenblick löste sich das bepelzte Ungeheuer auf. Die Runde war für diese Gruppe beendet. Die miniaturisierten Körper lösten sich auf. Unter der Decke materialisierten zweihundert weitere Sessel mit den neuen Spielern. Und wieder begann der Kampf aufs Neue. Am Schluss der ersten Runde waren von den 2400 Spielern 1800 übrig. Sechshundert hatte der Sumpf verschlungen. Nach dem Sumpf folgte der lebende Hindernis-Parcours. Anschließend warf das Sternenroulette die übrig gebliebenen Spieler aus der Bahn. Und ehe sie sich's versahen, landeten sie in den Gewölben der Angst. Dort lauerten unsichtbare Monster, nur am Geruch und an Geräuschen zu erkennen. Wer sie besiegen wollte, musste taktisches Geschick beherrschen und sich mit positronisch-strategischen Simulationen auskennen. Sfonoci unterbrach seine Beobachtungen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Meldungen, die aus den übrigen Sektionen der Arena-Kugel eintrafen. Wieder war der Morphling seinen Häschern durch die Scheren gerutscht. Er hielt sich an einem unbekannten Ort versteckt. Die Roboter mussten ihn erwischen. Seit Sfonoci die Details der Transformation aus dem Datenspeicher kannte, rechnete er mit dem Schlimmsten. Sie mussten den Kontakter erwischen, egal wie. Tot oder lebendig. Auf keinen Fall durfte er in die Nähe der Zabaroo-Ulisharbunul gelangen. Die Delegationen auf dem Weg nach Akhimzabar durften ihm nicht begegnen. Er, Oberoffizier und Generalist Sfonoci, trug die Verantwortung dafür. *
Ich zählte die Sessel unter der Decke. Nach vier Runden waren es noch 800. Ein Drittel der Teilnehmer hatte die bisherigen Gefahren überstanden. Auf den Rängen hatten inzwischen die letzten der 300.000 Zuschauer begriffen, dass es nicht um das Leben der Spieler ging. Diese blieben unversehrt an Geist und Körper. Lediglich ihre holografischen Abbilder unterlagen dem Stress und der Gefahr. Mohodeh Kascha und Icho Tolot gehörten ebenso wie ich zu den Siegern. Von allen Teams hatten wir anscheinend als einziges alle drei Teilnehmer durchgebracht. Für die anstehenden Runden war das eine gute Ausgangsposition. Es gab Raumschiffe, die schon in der Sumpf-Runde alle drei Teilnehmer eingebüßt hatten. Das hatte zu Unmut unter den zuschauenden Besatzungen geführt. Die Roboter in Krötengestalt waren erschienen und hatten die Störenfriede entfernt. Für sie war die LOTTERIE und auch eine Teilnahme an späteren Veranstaltungen dieser Art gelaufen. Wenn sie noch die Mittel für einen Rückflug in die Heimat besaßen, befanden sie sich inzwischen schon auf dem Weg. Die Grauen Marliten kannten in solchen Fällen keine Gnade. Ein Gong zeigte an, dass die fünfte Runde begann. Wieder schickten die Automaten zweihundert Spieler hinab in die Arena. Diesmal handelte es sich um eine Steppenlandschaft. Noch während ich nach den Gefährten und dem Gegner Ausschau hielt, schlug in meiner Nähe ein Energiestrahl ein. Erdbrocken und kleine Steine prasselten auf mich. Ich warf mich zu Boden, riss die Arme über den Kopf und rollte mich gleichzeitig seitwärts. Der Strahl besaß die Energie einer Thermokanone. Er hinterließ einen zehn Meter durchmessenden und ebenso tiefen Krater. Ich lag in der Nähe hinter einem Dreckhaufen, der mich den Blicken der Angreifer entzog. Gegen den hellen Himmel zeichneten sich schwarze Fluginsekten ab, die den Sternlibellen meiner Heimat ähnlich sahen. Ihr schmaler Leib wies grüne und gelbe Ringe auf, durchbrochen von einem roten Zackenmuster. Der lange Rüssel glühte in grellweißem Licht. Weitere Strahlen suchten sich den Weg zum Boden. Da es in der Spiel-Steppe so gut wie keine Deckung gab, blieb nur ein Weg: Ich sprang auf und lief im Zickzack weiter. Je schneller ich mich bewegte und je unberechenbarer ich meinen Kurs setzte, desto geringer wurde die Gefahr eines Treffers. Zwar steuerten Automaten die Hologramme, aber sie berechneten keine Bewegungsmuster im eigentlichen Sinn. Sonst hätte es bei dieser Runde keinen einzigen »Überlebenden« gegeben. Wie in jeder Runde verloren die ersten zwanzig, dreißig Spieler ihre miniaturisierte Existenz, bevor sie sich richtig orientiert hatten. Hundert Meter entfernt entdeckte ich den Haluter. Er rannte auf vier Beinen über das kurze Gras, schlug dabei Haken. Der Riese beschränkte sich dabei auf ein relativ kleines Gebiet. Die Libellen beachteten ihn nicht. Sie wollten ihn in Sicherheit wiegen. Von meinem Sessel aus konnte ich die Steppe und die Thermo-Libellen gut beobachten. Sie flogen Schleifen und Kreise. Manchmal gingen sie in eine Art Sturzflug über. Enge Kurven oder Wendungen lagen ihnen nicht. Ich beobachtete eines dieser Geschöpfe, das es dennoch versuchte. Es wollte sich hinter den Haiutersetzen und ihn aus dem Spiel schießen. Die Libelle geriet ins Trudeln. Der Luftstrom unter ihren Flügeln brach ab. Haltlos stürzte sie in die Tiefe. Bevor sie auf den Boden schlug, löste sich das Hologramm in einem Funkenregen auf. Diese Art Libellen konnte auch nicht in der Luft stillstehen, wie ich es von ihren natürlichen Artgenossen auf der Erde her kannte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit hinab auf die blaue Gestalt. Mohodeh Kascha war mit seinen 2,30 Metern der zweitgrößte Teilnehmer dieser Runde. Er ragte deutlich über die Köpfe der anderen hinaus. Das leuchtende Blau seiner Haut besaß zusätzliche Signalwirkung. Ich sah, wie er meinem Abbild immer näher kam, als suche er meinen Schutz. Dabei bewegte er sich im Unterschied zu bisher geradlinig vorwärts, als habe er etwas entdeckt, was er unbedingt loswerden musste. »Was ist los?«, rief ich ihm zu. Er verstand mich nicht, aber er ahnte, was ich ihn fragte, und deutete nach hinten. »Die drei Hitzeflügler dort. Sieh sie dir genau an!« Ich rannte im Zickzack weiter und entfernte mich dabei wieder ein Stück von ihm. Dabei behielt ich die Thermo-Libellen fest im Blick. »Sie umkreisen ein bestimmtes Gebiet!«, rief ich. »Was ist damit?« »Sie wollen eindringen, schaffen es aber nicht.« Ich begriff, was er mir klar machen wollte, aber nicht auszusprechen wagte. In zwanzig Metern Entfernung rannte ich an ihm vorbei.
»Hakenschlagen nicht vergessen, Mohodeh. Kümmern wir uns um uns selbst.« Für alles andere waren die Grauen Marliten zuständig. Sie reagierten Augenblicke später. Über dem betroffenen Areal materialisierte ein fassförmiger Behälter. Auf die Arena übertragen, stimmten die Ausmaße mit denen überein, die wir in ZENTAPHER gesehen hatten. Das Fass war eine Nekrophore, ein Transportbehälter für die DORIFER-Pest. Der Deckel öffnete sich. Was immer sich in dem Fass befand, ergoss sich über die betroffenen Spieler. Ein zusätzliches Zoomfeld bildete sich und zeigte an, was genau sich vor Ort ereignete. Die holografischen Körper der Spieler verformten sich. Die Miniaturen quollen auf. Sie vergingen in fürchterlichen Zuckungen. Gespenstisch an dem Vorgang war, dass dabei keinerlei Geräusch entstand. »Glaubst du mir endlich, was die Pangalaktischen Statistiker angeht?«, erkundigte sich Mohodeh Kascha. Ich nickte. Die Tatsache, dass die Grauen Marliten über die DORIFER-Pest Bescheid wussten, sprach für ihre Auftraggeber. Dieses Wissen hatten wir in der Milchstraße bis vor kurzem selbst nicht besessen. In diesem Augenblick musste jedem Zuschauer aus der SOL klar werden, dass der lange Flug nach Wassermal kein Fehler gewesen war. Die Nekrophore verschwand. Augenblicke später schlugen die nächsten Thermostrahlen in den Boden ein. »Lauf!«, zischte ich. Nach einem kurzen Blick über die Schulter fügte ich hinzu: »Lauf Um dein Leben!« Drei Thermo-Libellen stürzten sich auf uns. Wir waren schnell, aber wir konnten nur in drei Richtungen ausweichen. Jede der Angreiferinnen deckte eine davon ab. Ich wendete. In weiten Sätzen und im Zickzack rannte ich ihnen entgegen. Ein erster Strahl schlug ein, keine zehn Meter entfernt. Die Druckwelle jagte mich davon, riss mich vom Boden weg und unter einer der Libellen hindurch. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie die Zuschauerlogen erneut unter stroboskopischen Lichteffekten aufglühten. Was kam diesmal als Höhepunkt der Runde? Die Libellen verwandelten sich übergangslos in Feuer speiende Drachen. Fünf, sechs Thermostrahlen suchten sich von verschiedenen Stellen ihrer Körper aus einen Weg. Die holografischen Bestien tauchten die Steppe in einen feurigen Vorhang. Undeutlich erkannte ich Mohodeh Kascha. Er rannte wie ein Wiesel und vollführte wahre Bocksprünge. Damit hielt er sich außer Reichweite der Strahlen. Ein weiterer Thermostrahl raste herab zum Boden, diesmal aus dem Rüssel einer Libelle. Sie streifte den Kimbaner. Sein Anzug loderte wild auf, ebenso sein Körper. Im Bruchteil einer Sekunde fiel die Gestalt in sich zusammen und bildete einen winzigen holografischen Aschefleck auf dem gelben Gras. Fast gleichzeitig löste sich die Steppe auf. Wie jedes Mal am Schluss einer Runde setzte der UmschaltMechanismus automatisch ein: Ich fand mich in meinem Sessel wieder. Icho Tolot war noch da. Aber der Sessel mit dem Kimbaner war verschwunden. Zum zweiten Mal in seinem Leben war Mohodeh Kascha bei der LOTTERIE ausgeschieden.
9. Ein fürchterliches Unwetter tobte. Kubikmeterweise stürzte das Wasser herab. Nach wenigen Augenblicken war ich nass bis auf die Haut. Erste Orkanböen fegten heran. Es fing an zu hageln. Die Körner waren so groß wie Taubeneier. Ich hielt die Arme über den Kopf. Es nützte nur teilweise. Ein Treffer nach dem anderen ließ mich buchstäblich Sterne sehen. Eine Böe warf mich in den Matsch. Ich spürte Gras zwischen den Zähnen. Mühsam stemmte ich mich hoch, spuckte das Zeug aus und rannte vor dem Sturm her. Eine Orientierung war in dieser Situation nicht möglich. Inzwischen regnete es so stark, dass ich mir wie mitten in einem Wasserfall vorkam, mit einer geschlossenen Wand um mich herum. Die Sicht reichte nur wenige Zentimeter. Von der ersten Sekunde meines Auftauchens her wusste ich, dass irgendwo voraus Büsche und Wald existierten. Mein Instinkt und mein Sicherheitsbedürfnis sagten mir, dass ich dort am besten aufgehoben war. Ich biss die Zähne zusammen. So schnell es ging, kämpfte ich mich durch die permanente Wasserwand. Von oben sah ich auch nicht mehr. Die Arena lag unter einem Sturmgebiet, aus meiner Warte etwas größer als ein Fußballfeld, aber tödlicher als jedes andere Unwetter, das ich bisher erlebt hatte. Und ich sah noch etwas: Über der Wolkendecke hingen zweihundert Gestalten unterschiedlichen Aussehens. Sie
trugen schwere Kampfanzüge. In den Händen hielten sie Impulsstrahler und ähnlich tödliche Waffen. Wie es aussah, warteten sie auf ihren Einsatz. Jedes Hagelkorn hinterließ einen schmerzhaften Bluterguss. Die Einschläge aus der Wasserwand heraus erfolgten ohne Vorwarnung. Zwei Minuten waren es garantiert, die ich jetzt schon durch den Matsch der vorletzten Spielrunde watete. Die Absicht des Veranstalters lag auf der Hand. Er wollte die letzten sechshundert Teilnehmer weich klopfen, sie an den Rand der Erschöpfung treiben und dann die Krieger auf sie loslassen. Es stellte eine neue Qualität der Spielregeln dar. Mit leeren Händen gegen Bewaffnete anzukämpfen war sinnlos. Ein Druck auf den Auslöser, und das Spiel war vorbei. Dass keinem der Teilnehmer wirklich ein Leid widerfuhr, stellte keinen Trost dar. Für die meisten Schiffsbesatzungen, die nur noch einen Kandidaten im Rennen hatten, musste in dieser Runde zwangsläufig Endstation sein. Es sei denn, der Zufall half. Ich schloss die Augen. Blind tastete ich mich voran. Der Grasboden war inzwischen so aufgeweicht, dass ich bis über die Knöchel in den Morast sank. Das war nichts im Vergleich mit der Sumpflandschaft in der ersten Runde. Die Veranstalter wollten die Bewegungsfähigkeit der Teilnehmer diesmal nur leicht einschränken. Etwas streifte meinen Arm. Ich zuckte zurück. Aus zusammengekniffenen Augen tastete ich nach dem Verursacher. Es handelte sich um einen Ast, der aus der Wasserwand ragte. Er gehörte zu einem Busch, der den Beginn einer ganzen Gruppe markierte. Dahinter begann in höchstens zehn Metern Entfernung der Wald. Mit ausgestreckten Armen ging ich weiter. Die Buschgruppe blieb seitlich zurück. Wieder umfingen mich Matsch und Regen. Die Wassermassen verpassten meinem Körper eine Massage, wie er sie sein ganzes Leben noch nicht erduldet hatte. Ich biss die Zähne zusammen. Jeder Laut, jeder Fluch konnte den Kriegern einen Hinweis liefern. Die zehn Meter bis zum Waldrand kamen mir vor wie hundert. Endlich schälten sich die Schatten der Baumstämme aus dem schier undurchdringlichen Wasservorhang. Über mir rauschte und knackte es. Starke Äste fielen herab, unter dem Druck des Wassers abgebrochen. Kleinere Zweige und Blätter regneten auf mich nieder und bildeten eine zweite Haut auf meiner durchnässten Kombination. Es war die perfekte Tarnung in einer solchen Umgebung, allerdings die einzige, die mir blieb. In dem aufgeweichten Waldboden hinterließen meine Stiefel Abdrücke, die minutenlang zu sehen waren. Urplötzlich, ohne dass vermutlich einer der Spieler schon damit rechnete, durchdrang ein Dröhnen das permanente Rauschen des Wassers und des Orkans. Die laute Stimme sprach: »LOTTERIE!« Im selben Augenblick ließ der Orkan nach. Aus der allgegenwärtigen Wasserwand wurde ein Durchschnittsregen. Instinktiv blieb ich stehen und duckte mich unter die überhängenden Äste eines völlig durchnässten Baumes. In Sichtweite tauchte eine Gestalt aus dem Nichts aus, einer dieser Krieger, die hoch oben gewartet hatten. Er kam mir vor wie einer dieser Vielzweckroboter, die ihre Konstrukteure mit einem ganzen Waffenarsenal ausgestattet hatten. Aber der Kerl war kein Roboter. Es handelte sich um einen zwei Meter großen, fetten Schimpansen in lederner Kleidung. Schwarz glänzendes Fell bedeckte die sichtbaren Körperteile. Das war es aber nicht, was mich aus der Fassung brachte. Dieses mir unbekannte Wesen musste eigentlich unter der Last der Waffen zusammenbrechen. Es tat alles andere als das. Es bewegte sich so schnell und geschmeidig, dass meine Augen kaum folgen konnten. Es war eine Projektion, und für eine solche gab es natürlich kaum körperliche Grenzen. Der Krieger zog die Lefzen hoch und bleckte die Zähne. Dabei sog er die Luft ein. Sein Geruchssinn war zweifellos hoch entwickelt. In mir schrillten alle Alarmglocken. Aus einer der Waffen löste sich ein Schuss. Das Feststoffprojektil schlug keinen halben Meter über mir in den Stamm ein. Der fremde Krieger wusste genau, wo ich stand. Mit einer schnellen Bewegung brachte ich mich hinter den Stamm. Der zweite Schuss, diesmal aus einem Thermobooster, riss den Baum über mir weg und schleuderte ihn davon. Geduckt spurtete ich los. Keinen Augenblick durfte ich jetzt verlieren. Den Stumpf des Baumes als Deckung nutzend, verschwand ich hinter dem nächsten und übernächsten. Es blieb seltsam still. Ich wusste, dass der Jäger die Spur aufgenommen hatte. Schnell rannte ich weiter, erst in einer Linie, dann zur Seite weg. Solange ich Bäume zwischen mir und dem Krieger hatte, betrug meine Überlebenschance wenigstens ein Prozent. Jeden Augenblick musste die Runde zu Ende sein.
Aber ich täuschte mich. In dieser vorletzten Runde war alles anders als bisher. Der dritte Schuss kam von vorn. Ich entging ihm nur deshalb, weil ich einen Sekundenbruchteil vorher stolperte und der Länge nach hinfiel. Abrollen, aufspringen und weiterhetzen war eines. Undeutlich entdeckte ich den fetten Kerl, wie er sich geschmeidig und viel schneller als ich auf meinem Kurs mitbewegte. Ich schlug einen Haken, dann noch einen. Zwei Schüsse trafen gezielt meine Absätze. Sie warfen mich erneut aus der Bahn. Diesmal hielt ein Baumstamm mich ab. Durch die Wucht des Aufpralls fiel auch er. Und noch immer endete die Spielrunde nicht. Hinter dem nächsten Stamm sprang ich nach oben. Vielleicht war das die Lösung und Rettung. Diesmal schoss er den Stamm unter mir weg. Ich stieß mich ab und streckte die Arme nach den Ästen des Nachbarbaumes aus. Der Fettkloß ließ sich nicht beirren. Ich spürte ein Kribbeln im Nacken, wie von einer elektrischen Entladung. Im nächsten Augenblick fand ich mich in meinem Sessel wieder. Noch mal Glück gehabt, dachte ich, bis ich feststellte, dass der Sessel nicht unter der Decke des Arena-Domes hing, sondern in der Halle auf dem Boden stand. Über ein riesiges Hologramm verfolgten über 2100 Wesen unterschiedlichen Herkunft, was sich unten in der Arena weiter tat. Da sich hier nur noch Verlierer aufhielten, konnte keiner der hier Versammelten einen Vorteil aus dem ziehen, was er sah. Unten entdeckte ich Icho Tolot. Der fette Schimpanse starb unter seinen Stiefeln. Augenblicke später löste sich die Landschaft auf. Mein Blick suchte Mohodeh Kascha. Der letzte Kimbaner starrte mich schockiert an. Er konnte nicht fassen, dass auch ich ausgeschieden war. »Die Walze«, murmelte er ununterbrochen. »Jetzt kommt die Walze.« Von seiner früheren Euphorie war gar nichts übrig geblieben. * Das Spielfeld setzte sich aus Tausenden von schachbrettähnlichen Feldern zusammen, jedes einzeln illuminiert und sechs mal sechs Meter groß. Sie suggerierten den letzten zweihundert Spielern, dass die Felder eine unterschiedliche Gewichtung besaßen und man nur ein System herausfinden musste, um vor der Walze in Sicherheit zu sein. Für den Haluter mit seinen zwei Gehirnen stellte das kein Problem dar. Der Haken lag mit Sicherheit irgendwo anders. Die schmalen Lippen des kleinen Mundes bebten, als Mohodeh Kascha den rechten Arm ausstreckte und auf die Holoprojektion deutete. »Die Walze!« Aus dem Himmel über dem Spielfeld senkte sich eine optisch nur unzureichend erkennbare Struktur herab. Ein n-dimensionales Gebilde, meldete sich mein Extrasinn. Hier oben funktionierte er wie gewohnt. Nähere Angaben machte er nicht. Sie waren auch mir nicht möglich, da ich keine Messungen anstellen konnte. Überdies, so rief ich mir ins Gedächtnis, handelte es sich um eine Projektion, realistisch zwar, aber ohne eine tatsächliche Verbindung mit dem Kontinuum, in dem ich mich aufhielt. Die Walze gewann an optischer Eindringlichkeit. Sie war fast so groß wie das Spielfeld. Rundherum besaß sie Zacken. Das gesamte Gebilde dunkelte nach und nach ab, bis die Zacken im Schwarz der Walze kaum mehr zu sehen waren. Ein Gong, diesmal übernatürlich laut und kreischend, kündete den Beginn der letzten Runde an. Die Walze begann sich zu drehen. Gleichzeitig bewegte sie sich auf und ab. Alle paar Sekunden änderte sie die Richtung. Im Abstand von etwa zehn Sekunden berührten eine oder mehrere Zacken verschiedene Felder. Richtig sehen konnten wir es von unserer Warte aus nicht. Wir erkannten es daran, dass der Inhalt der getroffenen Felder nach oben in die Zacken gesogen wurde, als handle es sich um Staubsauger oder kleine Black Holes. Die holografische Umsetzung solcher Tricks kostete viel Energie. Deshalb ging ich davon aus, dass die letzte Runde nicht lange dauerte. »Der Effekt ist echt«, hörte ich Mohodeh Kascha sagen. »Ich habe es selbst erlebt. Es sind praktisch kleine Schwarze Löcher, die alles in sich aufsaugen. Da das Prinzip der Walze von Anfang an alle LOTTERIEN begleitet hat, blieb keine andere Wahl, als künstliche Abbilder der Spieler in die Arena zu schicken. Alles andere wäre tödlich und gegen die Intentionen des Guten Geistes von Wassermal gerichtet. Kein Lebewesen darf Schaden nehmen.«
Ich dachte an die vielen Schicksale, die mit dem vergeblichen Flug in diese Galaxis zusammenhingen, an die Pleiten und persönlichen Katastrophen. Wie viele Kommandanten und Verlierer nie mehr die Heimat erreichten, im Leerraum strandeten oder in ihren explodierenden Schiffen den Tod fanden, wie viele sich das Leben nahmen, weil sie das gesamte Kapital nutzlos vergeudet hatten oder die Schande nicht ertragen konnten, wer fragte nach ihnen? Waren sie erst einmal unterwegs zwischen den Galaxien, kümmerte sich kein Guter Geist um sie. Immerhin sorgten die Grauen Marliten in den Malischen Molen dafür, dass es wenigstens in ihrem Einflussbereich keine Toten gab. Aus brennenden Augen beobachtete ich unseren letzten Mann im Rennen. Icho Tolots Planhirn funktionierte. Ich erkannte es daran, dass er manchmal stehen blieb, wo andere weggerannt wären. Er analysierte die Bewegungen der Walze, zählte die Zacken, die sich herab auf die Felder senkten, und richtete sein Verhalten danach ein. Wenn er gleichzeitig auch dem Instinkt seines Ordinärhirns freien Lauf ließ, verfügte er über optimale Voraussetzungen, unbeschadet aus der letzten Runde herauszukommen. Wir fieberten beide mit, der Kimbaner und ich. Ein paarmal geriet der Haluter gefährlich nahe an eine der Zacken. Jedes Mal rettete er sich mit einem schnellen Sprung auf ein benachbartes Feld. Dann wiederum war er weitab vom Schuss. Die ausgelöschten Felder konnten ihm nicht gefährlich werden. Tolot erkannte rechtzeitig, wenn sich der Ring ausgelöschter Felder um ihn herum zu schließen drohte. War er erst einmal eingesperrt, hatte die Walze leichtes Spiel mit ihm. Aber selbst dann war er noch nicht in Gefahr: Mit entsprechendem Anlauf schaffte er Weitsprünge bis zu fünfzig Metern. »Sechzig«, zählte Kascha. »Siebzig. Letztes Mal war bei hundertzwanzig Schluss.« Wieder einmal verschwand der Haluter aus unserer Sicht. Die Walze rollte über ihn hinweg. Was darunter geschah, konnten wir erst im Nachhinein erkennen. Sechs Felder fehlten. Auch Tolot war verschwunden. Aber sein Sessel tauchte nicht hier oben in der Halle auf. Nach einer Weile entdeckte ich ihn weiter hinten. »Neunzig!«, schrie der Kimbaner laut. Der Stroboskop-Effekt setzte ein. Wieder donnerte die Stimme ihr »LOTTERIE!« durch den Arena-Dom. »Die Zahl der Zacken verdoppelt sich jetzt«, flüsterte Kascha rau. »Das Verhalten der Walze wird irregulär.« Meine Augen brannten. Sie sonderten salziges Sekret ab. Ich drückte dem Haluter und uns allen die Daumen. Sekunden noch, die er durchhalten musste. Wenn jemand die Änderung im Verhalten der Walze als Erster erkannte, war er es. Vier Felder erloschen auf einmal. Ich entdeckte Tolots winzige Gestalt an einer Stelle, die mehr als drei Dutzend intakte Felder besaß. Der Haluter änderte seine Taktik. Er wechselte in einen Sektor mit weniger Feldern. Die Bewegungen der Walze gaben ihm Recht. Bald existierte von den drei Dutzend Feldern keines mehr. Und die Zahl nahm weiter ab. Eine der Zacken erwischte drei Teilnehmer auf einem einzigen Feld, einer Insel gleichsam, auf der sie die Runde zu überstehen gehofft hatten. Übergangslos tauchten sie mit ihren Sesseln bei uns auf und fingen an zu lamentieren. Noch einhundertein Miniaturgestalten bewegten sich auf dem Spielfeld. Ich hielt den Atem an. Die Walze ruckte plötzlich seitwärts, raste über die Hälfte der Arena und schoss dann schneller werdend vorwärts. Ich sah nur noch Tolot. Die anderen Spieler besaßen keinerlei Bedeutung mehr. Der Haluter erkannte die Gefahr. Er warf sich mit einem gewaltigen Satz vorwärts, berührte für den Bruchteil einer Sekunde den Boden und warf sich seitwärts davon. Die Walze folgte ihm mit genau dieser Bewegung. Eine der Zacken deutete wie ein Speer hinab auf den Haluter. Wieder sprang Tolot im Zickzack. Wieder verfolgte die Walze ihn in voller Absicht. Zumindest schien es mir so. Mohodeh Kascha riss die Augen weit auf. »Ist das regelwidrig?«, pfiff er schrill. Noch immer verfolgte die Walze den Haluter. Sie hüpfte hoch und wieder runter. Der Zacken setzte sich genau auf das Feld, in das Tolot soeben sprang. Er prallte gegen den Zacken und wurde mitsamt dem optischen Inhalt des Feldes aufgesogen. Noch nicht einmal einen Atemzug später erlosch die Projektion. Die Endrunde war vorbei. Hundert Teilnehmer hatten die LOTTERIE überstanden. Ihnen und ihren Delegationen stand Wassermal offen. Ein Ächzen drang aus dem schmalen Mund des Kimbaners. Im selben Augenblick materialisierte der Sessel mit Icho Tolot in der Halle. »Ausgeschieden«, hauchte Mohodeh Kascha. Sein Gesicht versteinerte. Es erinnerte mich frappant an eine Totenmaske aus Gips, hellblau angemalt. »Ausgeschieden. Wie kann das sein?« »Die Erklärung ist einfach«, erklang die dröhnende Stimme des Haluters. »Mein Planhirn konnte nur
neunundneunzig Prozent der Aktionen des hyperdimensionalen Gebildes vorausberechnen.« »Es ist meine Schuld«, seufzte der letzte Kimbaner. »Ich habe mich wie ein Anfänger verhalten.« Während er noch der verspielten Chance nachtrauerte, aktivierte ich das Komgerät an meinem Handgelenk. Jetzt, da die LOTTERIE vorbei war, erlaubten die Grauen Marliten wieder uneingeschränkten Funkverkehr in der Malischen Mole. Ich setzte mich mit Myles Kantor in Verbindung. »Rückzug in die SOL, so schnell es geht«, sagte ich. »Wir treffen uns zur Besprechung in der Hauptleitzentrale.« Myles schickte ein kurzes Bestätigungssignal, dass er die Nachricht empfangen hatte. Ich erhob mich und wandte mich zum Ausgang. »Auf, Mohodeh!«, rief ich dem wie leblos in seinem Sessel hängenden Kimbaner zu. »Wir wollen keine Zeit verlieren!« Das Dröhnen von Tolots Schritten riss ihn aus der Trübsal. Der Ritter von Dommrath erhob sich schwankend und ließ es zu, dass der Haluter ihn auf seine Handlungsarme nahm und hinaustrug. Die SOL schickte uns ein Beiboot, wir bestiegen es. Während es noch an der Arena-Kugel lag, gingen wir aber durch einen Transmitter in das Hantelschiff. Trim Marath und Startac Schroeder erwarteten mich. Sie trugen schwere Einsatzanzüge. Ein Roboter hielt ein weiteres Exemplar für mich bereit. Während ich hineinstieg, kamen auch Myles Kantor und die wichtigsten Mitglieder der Schiffsführung zu uns. »Du willst es also wagen«, stellte Fee Kellind bei unserem Anblick fest. Ich nickte grimmig. »Hast du einen besseren Vorschlag?«
10. »Was sind das nur für Wesen, he? Weichen mir aus, als sei ich von der Schuppenflechte befallen. Die sehen mich nicht einmal an. Seid ihr blind, Leute? Schaut her! Die gelbroten Flecken auf meinem Körper, was ist das? Dreck? Wie könnt ihr nur so blöd sein! Puh, endlich sind sie weg. Ich glaube, die LOTTERIE fängt an. Wenn Fremde wie die Verrückten in die Arena-Kugel stürmen, ist es stets so weit. Welch eine Vorstellung, mitten in die Runden zu platzen und die Teilnehmer aufzumischen! Kein Grauer Marlite würde mir das verzeihen. Wozu auch? Ich kann nichts dafür. Meine Transformation steht unmittelbar bevor. Je näher sie rückt, desto deutlicher sind meine Gedanken. Ich spüre das erste Zupfen in meinem Körper. Tief drinnen ist es, aber es wird immer weiter nach außen kommen. Ich weiß das einfach. Es zählt zu den Informationen, die mit der Transformation in mein Bewusstsein fließen. Die Genetiker haben vermutlich eine Erklärung dafür. Mein Genkode ist nicht gestört, wie ich anfangs vermutete. Alles nimmt seinen natürlichen Lauf. Mir wird jetzt klar, wieso ich meinen eigenen Namen nicht mehr kenne. Er passt nicht mehr zu mir. Das Programm sorgt dafür, dass ich ihn in dem Augenblick vergesse, da es losgeht. Jetzt erinnere ich mich auch an diesen Piloten, von dem sie sprachen. Auch er wird sich transformieren. Nicht so früh wie ich, aber bald danach. Er hat Glück. Wohin haben sie ihn gebracht? Es gibt zur Zeit keinen Weg nach Swelden-Marbot, haben sie gesagt. Ist das Schiff verunglückt? Der Schmerz peinigt mich. Macht die Bahn frei. Ich halte es nicht mehr aus. Platz da. Geht mir aus dem Weg. Jetzt hilft nur noch eines. Rennen, rennen, rennen! Wieso sind die Korridore plötzlich alle so voll? Die LOTTERIE wird doch nicht zu Ende sein? Mein Zeitgefühl ist flöten. Mist, wo war noch der Ausleger, den ich erreichen muss? Hier lang? Da lang? Du hältst es im Kopf nicht aus. Aber wozu bin ich ein - was bin ich denn? Wer bin ich? Diesmal hält mich nichts und niemand auf. Ich renne, was das Zeug hält. Es wird langsam brüchig. Von den ersten Flecken auf meiner Körperschale steigt grauer Staub auf. Zerfallserscheinungen. Ein neues Leben durch Zersetzung. Transformation durch Desintegration. So ähnlich hat es ein Grauer Marlite mal beschrieben. Damals habe ich das nicht begriffen. Ein Schleusenschott! Es trägt keine Bezeichnung. He, Automat, wo bin ich hier?« »Das ist ein verbotener Bereich. Du kannst hier nicht durch.« »Ich muss nach Hause!« »Die zentrale Steuereinheit kennt dein Problem. Sie wird eine Lösung finden. Warte auf die Roboter! Sie bringen dich zu den Heilern. Dort testet man deine Reaktionen und bestimmt den Zeitpunkt der Transformation.« »Elend verreckten lassen wollen die mich. Wissen die, was eine Transformation in der Fremde bedeutet?
Wahnsinn und Missbildung. Ich muss nach Hause.« »Derzeit gibt es für dich keine Mög...« »Halt's Maul, Leierkasten! Jetzt hilft nur rennen und nochmals rennen. Fort, nur fort von dieser Stätte, dass ich Leib und Leben rette ... Da vorn, das Bullauge. Von draußen glüht ein Licht. Komische Sache. Einen Blick Wagen kostet nichts. Kontakter, du glaubst es nicht. Schau dir diese Masten mit den Hypersegeln an. Sie ist da. Die ZabarooUlisharbunul ist eingetroffen. Alles wird gut! Halt, vergiss die Schleuse! Sie dient den Delegationen der Gewinner. Da lauern die Roboter der Grauen Marliten auf dich. Du benutzt den Hintereingang, wo die Transportgüter verladen werden. Erinnerst du dich? Renne tausend Schritte! Verflixt, ob ich es schaffe? In meiner Schale bilden sich die ersten Risse. Ich hinterlasse ein Rinnsal aus Staub. Es geht los. Brüder daheim, hört ihr mich? Vernehmt ihr das Hyperbeben meines Körpers? Die Transformation - sie beginnt gleich!« * Von Anfang an hatte für mich festgestanden, dass wir uns vom Ergebnis der LOTTERIE nicht aufhalten lassen durften. Unser Anliegen war zu wichtig, als dass wir uns auf ewig dem sicherlich berechtigten Ritual unterworfen hätten. SENECA legte die aktuellen Ergebnisse der hyperphysikalischen Vermessungen zu uns durch. Mehrere Sonden hatten zu diesem Zweck den Rand von Wassermal überquert und waren im Normalraum und im Hyperraum ein Stück in die Galaxis vorgedrungen. Sie fanden keine messbaren Sperren, die ein Vordringen unmöglich gemacht hätten. Dennoch war ich nicht bereit, mit der SOL ein Risiko einzugehen. Darin unterschied ich mich vermutlich von den meisten meiner Artgenossen in der Heimat. Sie wären mit dem beeindruckenden Schiff und einer flankierenden Flotte von Beibooten zu den Pangalaktischen Statistikern geflogen, um ihnen ihre Forderungen zu stellen. Ich bevorzugte die einfache Lösung. Und die bot sich uns in Gestalt eines Schiffes dar, das im Schatten zwischen dem äußeren Zylinderdrittel und der Arena-Kugel von GISTUNTEN-3 lag. Von der Konstruktion her ähnelte es einer chinesischen Dschunke mit einem kastenförmigen Aufbau und vier Masten. Es bestand aus teilweise durchsichtigem Material von kristalliner, glasähnlicher Struktur. An anderen Stellen war die Oberfläche nur durchscheinend und gewährte keine Blicke ins Innere. Das war eine Zabaroo-Ulisharbunul, eine Malische Dschunke. Weitere Gruppen der Zuschauer kehrten in die SOL zurück. Ich warf Fee Kellind einen durchdringenden Blick zu. Sie nickte. Flüsternd informierte sie SENECA. Während sich rings um den Welträumbahnhof die ersten Schiffe für den Heimflug bereitmachten, andere zu den Schiffen der Wissensmakler oder der Riskemischen Vaal flogen, stoppte die Schiffssyntronik den Transmitterverkehr und polte das Gerät um. »Viel Glück!«, wünschte die Kommandantin. »Wir warten hier, bis die Dschunke zurückkehrt. Oder bis wir schwarz werden.« »So schlimm wird es nicht kommen.« Ich grinste und setzte mich in Bewegung. Wir konnten nicht warten. Der Gute Geist von Wassermal musste dafür Verständnis haben. Zwei Jahre Wartezeit bis zur nächstmöglichen Teilnahme an der LOTTERIE, das waren zweieinhalb Jahre TerraStandardzeit. Zu lange für uns, zu lange für die Pangalaktischen Statistiker. Keinem der hunderttausend Bewohner des Hantelschiffes konnte ich ein solches Opfer zumuten. Eine andere Möglichkeit, an das Wissen über Thoregon zu gelangen, existierte nicht. Die Ortung zeigte, dass von den Schiffen der Gewinner die ersten Delegationen an Bord der Malischen Dschunke gingen. Uns blieb keine Zeit zu warten. Der Transmitter stand sendebereit, um uns in das Beiboot an der ArenaKugel zu bringen. Von dort würde Startac uns in die Dschunke teleportieren. »Von GISTUNTEN-3 trifft soeben ein Funkspruch ein«, meldete SENECA. Das ist bestimmt dieser Sfonoci. Er will uns oder eben Mohodeh Kascha sein Bedauern über unser Ausscheiden bekunden, dachte ich. Vielleicht hat er auch Angst, die Mole könnte der geballten Kraft einer angreifenden SOL nicht gewachsen sein. »Bleibt hier«, sagte ich zu Trim und Startac. Die beiden standen schon am roten Kreis des Transmitters und warteten auf mich. »Wir hören uns an, was sie im Weltraumbahnhof von uns wollen.«
* »Manöverkritik«, zirpte die hochedle Snotryl, »ist eine der wichtigsten Angelegenheiten nach einer LOTTERIE. Mein Kompliment, Sfonoci! Selten ging eine Veranstaltung so reibungslos vor sich wie diese. Die Kampfroboter in ihren Warzen-Kokons waren geradezu arbeitslos.« »In der Tat hatten wir keinen einzigen Teilnehmer, der die Beherrschung über seinen Geist verlor«, pflichtete ihr der Graue Marlite eilig bei. »Die Intelligenz der Teilnehmer lag im Schnitt höher als bei früheren LOTTERIEN. Noch ist es allerdings zu früh, um endgültig Entwarnung zu geben.« Snotryl musterte ihn kritisch. Ihr Blick schuf ihm Unbehagen. »Du denkst an ein bestimmtes Schiff?« Der Graue Marlite legte bestätigend die Kopffühler nach außen. »Alle anderen erhalten herabgesetzte Waren für den Heimweg. Sie verlassen GISTUNTEN-3 innerhalb weniger Horators und stellen für uns kein Problem dar. Die SOL hingegen ist durchaus in der Lage, die Zabaroo-Alzo zu zerstören. Und zwar mit einem einzigen Feuerschlag innerhalb weniger Augenblicke. Ihr Team hat in der letzten Sekunde vor dem Ende der LOTTERIE verloren. Das ist unglücklich und noch nie da gewesen.« »Und dennoch ist es völlig korrekt, oder?« »Absolut korrekt. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Mir ist dennoch nicht wohl in meinem Panzer. Wenn in einer Stunde die Zabaroo-Ulisharbunul ablegt, wird die Besatzung der SOL sich nicht länger hinhalten lassen. Sie werden versuchen, dem Schiff zu folgen, das sie als Malische Dschunke bezeichnen. Wenn das nicht gelingt, wenden sie sich unmittelbar an uns.« Er redete sich in Fahrt, aber die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, stammte aus einer anderen Quelle. Sie versetzte ihn übergangslos in einen Zustand der Behaglichkeit und Zuversicht. Snotryl erging es nicht anders. Mechanisch wendeten sie sich in ein und dieselbe Richtung. Die Euphorie in ihrem Innern manifestierte sich äußerlich als geschlechtsloser, makellos geformter Marlite. Sie erkannten es ohne Zaudern an der Ausstrahlung des Wesens. Dies war der Gute Geist von Akhimzabar. »Zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten müsst ihr von den Regeln der LOTTERIE abweichen«, teilte ihnen die freundliche Gedankenstimme mit. »Eine siebenköpfige Delegation der SOL erhält auf Wunsch des Guten Geistes Einlass nach Akhimzabar. Tragt dafür Sorge, dass der Vorgang reibungslos und ohne Aufsehen vonstatten geht!« Die Gestalt erlosch schlagartig. Das euphorisch stimmende Mentalpotential verflüchtigte sich. Der Graue Marlite stand in aufrechter Körperhaltung vor seiner Kommandantin. Snotryl beachtete es nicht. »Dein Wunsch ist uns Befehl!«, zirpte sie. »Oberoffizier Sfonoci, du wirst dich sofort an die Ausführung machen!« »Selbstverständlich, Kommandantin!« Er wankte hinaus. Noch immer wollte er es nicht recht glauben. Ein ehemaliger Ritter der Tiefe - wer war er, dass der Gute Geist ihn auf diese Weise Einzug in Akhimzabar halten ließ? Der Graue Marlite setzte sich mit der SOL in Verbindung. Die Kommandantin namens Fee Kellind nahm sein Gespräch entgegen. »In diesen Zeiten der Niederlagen und der Wunder scheinen Galaxien aus den Fugen zu geraten. Gesetze verlieren ihre ewige Bedeutung, Verordnungen werden ausgesetzt. Wir haben einen Sonderbefehl erhalten. Er besagt, dass Atlan und sechs Begleiter an Bord der Zabaroo-Ulisharbunul kommen sollen. Mehr kann ich nicht sagen. Mehr weiß ich nicht. Ich habe Anweisung, unverzüglich dafür zu sorgen, dass der Befehl ausgeführt wird.« »Wir werden uns dem nicht widersetzen«, klang die Stimme der Menschenfrau auf. Ein wenig beruhigte es den Grauen Marliten, dass auch sie sich ausgesprochen ungläubig anhörte. »Erwarte die Delegation in einer Viertelstunde an der Dschunke!« »Ich werde persönlich anwesend sein.« Sfonoci schaltete ab und wankte hinaus. »Was ist los mit diesem Zambarischen Jahr? Gerät alles aus den Fugen? Ist Akhimzabar danach nicht mehr die Galaxis, die wir bisher gekannt haben?« Ob es an der mentalen Ausstrahlung des Guten Geistes oder an etwas anderem lag, vermochte er nicht zu sagen, aber er war sicher, dass es nicht die letzte Überraschung war, die er erdulden musste.
11. Die Hektik in den äußeren Korridoren der Malischen Mole besaß eine Komponente der Unruhe. Mit der Abreise
der Zuschauer hatte das meines Erachtens nichts zu tun. Ich versuchte, mich in den Funkverkehr der Station einzuklinken. Die Positronik meines Anzugs mühte sich vergebens. Alle Frequenzen waren blockiert. Irgendetwas stimmte nicht. »Flugaggregate ein!«, sagte ich. Wir rasten los. Der Kontakter, der uns führte, protestierte. Seine Worte verhallten wirkungslos. Bis er ausgesprochen hatte, befanden wir uns außerhalb seines Blickfelds. Die Gabelung fanden wir auch ohne sein Zutun. Wir folgten dem Korridor, dessen Sichtluken uns einen Blick hinaus auf die Malische Dschunke gewährten. In Sichtweite entdeckten wir Roboter im Krötenkokon. Sie riegelten den Korridor ab. Der Lärm nahm zu. Irgendwo dort vorn war es zu einem unvorhergesehenen Ereignis gekommen. Wir hörten das schrille Zirpen von Kontaktern, ab und zu unterbrochen vom harten, befehlsgewohnten Klacken eines Grauen Marliten. Die Translatoren schwiegen, ein deutliches Zeichen, dass keiner sich des Diamals bediente. Die Kröten entdeckten uns. Sie versuchten uns aufzuhalten. Dadurch erlahmte ihre Aufmerksamkeit in der Richtung, aus der der Lärm kam. Meine Ohren vernahmen ein Sirren und Knattern, ähnlich dem hektischen Flügelschlagen großer Vögel. Aus einem Seitenkorridor schoss ein Schatten, riesengroß und bedrohlich. Das Zirpen und Klacken der Soldaten erstarb. Eine riesige Libelle schob sich in den Korridor. Das Sirren wurde lauter. Es schmerzte in den Ohren. Myles verzog schmerzgepeinigt das Gesicht und schloss den Helm seines Anzugs. »Keine Bange, meine Kleinen!«, grollte Icho Tolot. »Das sind kleine Fische.« Es war eine der schwarzen Libellen, wie wir sie in der fünften Runde der LOTTERIE als Gegner gehabt hatten. Ihr Leib trug grüne und gelbe Ringe, durchbrochen von einem roten Zackenmuster. Aber diese hier verschleuderte keine Energiestrahlen. Sie fuhr einen drei Meter langen Dolch aus ihrem Hinterleib, warf sich auf die erste der Kröten und stach zu. Der spitze Dorn zerfetzte den Kokon. Die Einzelteile fielen uns vor die Füße. Wieder erklang das Zetern der Kontakter. Es beruhigte mich, dass niemand in GISTUNTEN-3 daran dachte, eine Schusswaffe zu benutzen. Es überzeugte mich mehr von der friedlichen Einstellung der Wassermal-Bewohner als alles andere. Ich entdeckte den Grauen Marliten. Seine Bewegungen und ein paar Reflexe auf seinem Schädel deuteten darauf hin, dass es sich um Sfonoci handelte. Die Riesenlibelle zerfetzte gerade den dritten Krötenkokon. Der Misserfolg des ständig auf Metall stoßenden Stachels heizte die Gier oder Wut des aggressiven Wesens nur noch mehr an. Wir hielten an. »Prallfelder und Traktorstrahlen einsetzen. Paralyse nur, wenn es nicht anders geht!«, ordnete ich hastig an. Unsichtbare Felder griffen nach der Libelle. Behutsam drängten wir sie ein Stück zurück. Sie ließ von ihrem Opfer ab. Der Stachel hing schlaff herab und verschwand nach einer Weile im Hinterleib. Der Rüssel wippte unschlüssig hin und her. Die Libelle gab ihren Widerstand auf. Aus milchig trüben Augen sah sie reglos zu, wie wir sie zum Seitenkorridor bugsierten. Endlich beruhigten sich die Kontakter. Der Graue Marlite hörte auf, sinnlose Befehle zu geben. Er schwankte uns entgegen. Meine Vermutung bewahrheitete sich. Es war Sfonoci. »Erst habt ihr den Zambarischen Versorger eingefangen, jetzt rettet ihr die Bewohner von GISTUNTEN-3. Wie können wir euch nur danken?« »Wir erwarten keinen Dank«, sagte ich. »Aber wir möchten, dass diesem Wesen kein Leid geschieht.« »Wir behandeln es wie alle unsere Brüder«, versicherte Sfonoci. »Aber wir können ihm nicht helfen. Es ist zum Sterben verurteilt. Die Transformation gelingt nur auf seiner Heimatwelt. Swelden-Marbot lässt sich per Schiff zur Zeit nicht erreichen. Es muss hier bleiben. In der Zabaroo-Alzo stellt es jedoch eine beständige Gefahr für die Bewohner dar, bis es nach drei Tagen stirbt.« »Man kann dieses Wesen nicht retten?« »Es ist wahnsinnig. Die fehlende Hyperstimulierung bei der Transformation hat seinen Körper verwandelt, nicht aber seinen Geist. Dieser steckt noch immer im Stadium des Kontakters. Vorher hat es ununterbrochen geredet, jetzt versucht es ununterbrochen, seine Eier in die Körper anderer Lebewesen zu pumpen. Wir sind sehr, sehr traurig, Atlan. Jeder Phenobis, dessen Transformation misslingt, ist ein Verlust für Akhimzabar. Das gilt auch für alle anderen Wesen.« Endlich tauchten Bedienstete der Malischen Mole mit transportablen Fesselfeldprojektoren auf. Wir übergaben ihnen den Bemitleidenswerten und folgten Sfonoci zur Außenschleuse, wo er uns verabschiedete.
Wenige Schritte trennten uns noch von der Malischen Dschunke und der Passage nach Wassermal. »Es kann nur der Gute Geist gewesen sein«, sagte Mohodeh Kascha plötzlich. »Der Befehl, uns mitzunehmen, kommt von ihm.« Diesmal lag die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass der Kimbaner Recht hatte. * »Die Delegation ist an Bord«, bestätigte Sfonoci der Kommandantin. »Die Passage zu den Pangalaktischen Statistikern dauert ungefähr drei bis fünf Wochen. Ich kann dir versichern, dass alle Besucher heil zurückkehren werden.« »Davon gehe ich aus«, lautete die Antwort. »Wir können keinen der sieben Besucher entbehren, weder Atlan noch Myles Kantor, Icho Tolot, Trim Marath, Startac Schroeder, Mohodeh Kascha oder Mondra Diamond.« »Das stellt kein Problem dar. In Akhimzabar gibt es keine Feinde.« Der Graue Marlite richtete seine Aufmerksamkeit auf die Zabaroo-Ulisharbunul. Sie hatte abgelegt und nahm gemächlich Fahrt auf. In weniger als einer Horator würde sie im Hyperraum verschwinden. »Wenn wir schon dabei sind, Sfonoci«, hörte er die Frau sagen, »sollten wir noch einige Verhandlungen führen.« Der Graue Marlite blickte Fee Kellind an. »Ja, das geht natürlich«, sagte er. »Aber über was möchtest du verhandeln?« »Über den Preis. Die Delegation der SOL besteht nicht aus fünfzig Personen wie die anderen Gruppen. Es sind nur sieben Besucher.« Sfonoci blickte die Fremde an. »Du willst ...?« »Ja.« Sie bewegte ihren Kopf auf und ab. »Ich will einen besseren Preis.« Sfonocis ächzte. Er sah kommen, dass dieses Raumschiff und seine Besatzung keine einfachen Besucher an seiner Station waren. Womit hatte er das nur verdient?
ENDE
Die SOL und ihre Besatzung haben die Galaxis Wassermal erreicht. Hier erhoffen sich Atlan und seine Begleiter dringende Antworten auf ihre Fragen, die unter anderem den Charakter der verschiedenen Thoregons betreffen. Mit einem dieser anderen Thoregons beschäftigt sich der PERRY RHODAN-Roman der nächsten Woche. Uwe Anton liefert eine Innenansicht des Reiches Tradom, dessen Machthaber derzeit nach der Milchstraße greifen - sein Roman erscheint unter folgendem Titel: VERSCHOLLEN IN TRADOM