Bernd Schroeder
DIE MADONNINA Roman
Carl Hanser Verlag
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ISBN 3-446-20059-2 © 2001 Carl Ha...
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Bernd Schroeder
DIE MADONNINA Roman
Carl Hanser Verlag
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ISBN 3-446-20059-2 © 2001 Carl Hanser Verlag München Wien Satz: Fotosatz Michel, Hamburg Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
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Für Elena
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Nie mehr wird Severina dieses Gesicht vergessen. Ein Gesicht, das alle Niedertracht und Dummheit, allen Hochmut und alle Machtanmaßung, zu der ein Mensch fähig ist, in sich vereint. Das Gesicht des jungen Carabiniere auf der Wachstation unten im Tal.
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Die gekrümmten und vielfach verzweigten Äste der kaum mannshohen Büsche, über denen sich nur noch mageres Gras mit Gestein abwechselt, halten Severina ihre zähe Lebendigkeit entgegen. Kriechend nur sind sie gewachsen, vielfach haben sie sich ineinander verschlungen, immer haben sie sich an den Boden geduckt, kaum gewachsen, haben sie sich der Erde zugewandt, als hätten sie Ehrfurcht vor dem so nahe über sie gespannten Himmel. Sie sind teilweise so dick wie Severinas Oberarm, sie federn und ächzen, wehren sich, springen von ihr fort, federn zurück, schlagen, einer den anderen vorschickend, nach ihr, zerkratzen sie, verübeln jeden Schlag mit der gut geschärften Machete. Aber, das weiß sie, so zäh sie sich ihr entgegenstemmen, so langlebig geben sie sich auch später im Kamin in den Flammen. Dort singen sie, gerade wenn sie noch nicht ganz durchgetrocknet sind, die schaurigsten Lieder, holen die Musik der einsamen langen Winterabende hier oben aus ihren Eingeweiden. Severina schmerzt der Rücken. Immer wieder läßt sie das blanke Eisen in das Geknäuel der Äste sausen, zieht schließlich einen vielfach verkrüppelten und gekrümmten Ast hervor, wirft ihn hinter sich, den Hang hinunter, zu den übrigen. Oft erscheint ihr diese Arbeit die schwerste von allen, sinnlos, denn sie schlägt jetzt das Holz, das sie im übernächsten Winter wärmen soll. Ob sie dann noch hier sein wird? Sie schwitzt. Die Sonne brennt erbarmungslos, von keiner Wolke getrübt, auf sie herunter. Sie wird jetzt aufhören und am späteren Nachmittag weitermachen, wenn die Sonne hinter dem Gipfel der Madonnina verschwunden ist. Sie steht auf, denn sie hat die Arbeit kniend verrichtet, reckt sich, biegt den Rücken durch, drückt eine Faust an eine Stelle im Kreuz, wo es schmerzt, und es ist ihr leicht schwindelig. Die Bergkuppen, die sich braungelb vom blauen Himmel abheben, scheinen sich zu bewegen, näher zu kommen, sich zu entfernen. Sie sucht Halt an einem Riß im Himmel, einem weißen Strich, der
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ihr Orientierung verschafft, ehe er selbst zerbröckelt, sich verflüchtigt und im Himmel untertaucht. Die vertrauten Umrisse der Bergausläufer, der sich an sie schmiegende, auf halber Höhe zum Hof hinschlängelnde Weg, die silberweißen Bäume im Hof, knochigbleiche Gerippe im Winter, werden wieder schärfer, ehe sie jäh, für den Bruchteil eines Moments, noch einmal erzittern. Ein hoher Ton, ein sirrender Schrei, wie das Geräusch, das dem abgeschossenen Pfeil folgt, durchzieht das Tal, läuft die Hügel hinauf, bricht sich im Gebüsch oder zerschellt am Gestein. Dann folgt eine Stille, die Stille erst ist, weil ihr dieser Ton vorausgegangen war. Die Welt hält für einen winzigen Augenblick den Atem an. Jemand hat aufs Seil geschlagen. Jemand kommt, hat sich angekündigt durch diesen Schlag auf das Seil, will nicht unverhofft kommen, hat sich gemeldet, zu erkennen gegeben, daß er in etwa einer halben Stunde hiersein wird. Wer wird es sein? Franco-Francone, seine Leibesfülle heraufschleppend, treu und liebevoll, um einmal wieder nach ihr und der Alten zu sehen? Der Vater, um auf sie einzureden, sie zurückzuholen ins Dorf? Die Brüder, vom Vater geschickt, diese ungeduldigen Hitzköpfe? Oder Sebastiano, der jetzt ab und zu Touristen zum Gipfel der Madonnina führt? Severina schaut hinüber zum Ende des Weges, wo er das letzte Mal hinter einem Hügel verschwindet, um dann hinunterzuführen ins Tal. Dort hinten muß man jetzt bald den Kommenden für einen Moment sehen, einen kleinen sich bewegenden Punkt, den man von hier aus nur erkennen kann, wenn man seinen Gang, sein Gehabe, seine Statur, seine Art, sich fortzubewegen, genau kennt. Severina weiß sofort, wer da kommt. Franco-Francone mit dem durch sein Gewicht bedingten Watschelgang, der ihn bei einem falschen Schritt jederzeit in den Abgrund zu stürzen droht, ist es nicht. Die Brüder kämen nur zusammen, und der Vater geht schwerfälliger, langsamer, bedächtiger. Sebastiano wäre von leichtfüßig dahertänzelnden Menschen umgeben. Nein, dieser Ankommende geht entschieden, sicher, kennt jeden Zentimeter des Weges, weicht geschickt den kleinen Stolpergefahren aus, elastisch, gezielt, 7
schneller als irgendwer sonst, und verschwindet wieder hinter dem nächsten Hügel. Es ist er.
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Er ist es. Das spürt sie. Das sieht sie. Genau sieht sie das. Das ist er. So geht nur er, so bewegt sich kein anderer. So ist er immer vom Dorf unten heraufgekommen, so hat sie ihn immer gesehen und schon von weitem erkannt, schon ehe er auf das Seil geschlagen hatte zum Zeichen seines Kommens. So ist er selbst im Winter in die Berge hinaufgegangen, zum Holzfällen mit Franco-Francone und Bruno und den anderen, so ist er auch durchs Dorf gegangen, offen oder heimlich bewundert von den Frauen, die schwatzend und kichernd an der Waschanlage standen oder klopfenden Herzens hinter den Gardinen ihrer Wohnstuben ihre Träume versteckten. So geht nur er. Und so ist er damals zum Gipfel der Madonnina hinaufgegangen, dem Felsen, den man so nennt, weil von ihm aus bei gutem Wetter die Madonnina auf dem Mailänder Dom zu sehen ist. Leichtfüßig, aber sicheren Schritts und wie an einem unsichtbaren Faden diese flatternde, kichernde, gänzlich übermütige und betrunkene Schar hinter sich herziehend, direkt hinter ihm sie, diese eine, ein buntes, halbgerupftes Huhn, begleitet von diesen vier dürren Gestalten, aus dünnen Zweigen geschnitzte Kasperlefiguren, an denen die schwarzen städtischen Anzüge schlotterten, daherstaksenden Krähen gleich. Eine lächerliche Prozession, ein Trauerzug für einen Papagei, die Königin der Hexen mit ihrem debilen Hofstaat bei der Erklimmung eines Gipfels. Ein Bild wie aus einem Bilderbuch, lächerlich, faszinierend und zugleich beunruhigend. Massimo vorausgehend, als Fremdenführer, angeheuert wie oft, von Touristen unten in der Bar. Alle miteinander folgten sie ihm ungelenk trippelnd in ihren sommerlichen Freizeitschuhen, immer den Fall in den Abgrund fürchtend, von täppisch-tänzelndem Unverstand hinter ihm her, der kräftig einherschritt und gegen Ende, wo es steil nach oben geht, sich die junge Frau huckepack auf den Rücken lud, nur um sie besorgt. Severinas Blicke folgten ihm, bis er im Nebel über dem Gipfel verschwand. Für immer, schoß es ihr durch den Kopf,
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für lange zumindest, weit über diesen Tag hinaus, an dem man, das dachte sich Severina seither immer wieder zum Trost, die Madonnina, die in Wirklichkeit eine überlebensgroße Madonna sein soll, nicht sah. Heute sähe man sie.
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Massimo ist nach etwa halbstündigem Aufstieg, länger braucht er nicht, an der Bergstation des Transportseils angekommen. Von hier führt der Weg an den Hängen entlang, in vielen Serpentinen, schmal, für Schafe und Ziegen angelegt, für die zu ihnen gehörenden Menschen allenfalls auch. Er atmet schwerer, als er das in Erinnerung hat. Es war mühsamer, denn ihm fehlt die Übung. Zu lange ist er nur flache Straßen entlanggegangen, enge, laute Gassen voller Menschen, mit einem dreckigen Himmel darüber. Das Führungsrad über dem Seil ist verrostet, die Winde ebenfalls. Gras ist ins Getriebe gewachsen, eine Ranke hat sich des Seilanfangs bemächtigt, kriecht an ihm hinunter, als könnte sie ihn würgend ersticken. Hier ist lange nichts mehr transportiert worden. Das Eisenstück, mit dem man auf das Seil schlägt, um zu melden, die Last ist fertig und kann geholt werden oder, ich bin in einer halben Stunde bei euch, liegt noch neben der Winde. Massimo schlägt kurz und hart und mit voller Kraft auf das Seil. Es ächzt, zittert, schießt eine Welle von Zuckungen in die Tiefe und gibt einen hohen, sirrenden Ton von sich, der die blaue Glasglocke, die über die Berge gestülpt ist, zu zersprengen droht. Massimo schaut auf, folgt dem Sausen des Tons, der an den Felsen zerschellt, und sieht am Himmel nur einen langen weißen Riß, der sich schnell im Blau verliert. Nun wird sie wissen, daß er kommt. Sie kennt seine Art, diesen Ton zu erzeugen. Und sie wird ihn vom Hof aus sehen, und sie wird ihn an seinem Gang erkennen. Wie wird es sein, wenn sie sich gegenüberstehen? Wird ein anderer Mann ihm entgegentreten und ihn fragen, was er hier sucht, während sie im Hintergrund, im Halbdunkel des Schuppens versteckt oder hinter dem Glas des Fensters, stumm zu ihm herüberblickt? Wenn da kein Mann ist, der seinen Platz eingenommen hat, wird sie schreien, toben, zetern, ihn beschimpfen, ein Schwein, eine feige Kröte nennen? Ja, das wird sie tun, nichts anderes. Kein Mann wird dasein, der sich schnell noch die
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Hose und das Hemd zuknöpft, ehe er dem entgegentritt, dessen Erscheinen er seit geraumer Zeit fürchtet, dessen Hauspantoffeln er angezogen hat, dessen Wein er trinkt, dessen Arbeit er macht, dessen Bett und Frau er erobert hat. Nein, da wird keiner sein, nur sie wird dasein, mit einer Wut, ihrer Wut, der Wut des langen Wartens auf ihn, einer Wut, genährt von den stillen Vorwürfen der Alten, seiner Mutter, deren Liebe er sich immer sicher sein kann und konnte. Ja, das will er sich wünschen, so soll es sein. Mit ihrer Wut konnte er immer umgehen, die prasselte an ihm ab. Da zog er seinen Kopf zwischen die Schultern, schaute sie nicht an, tat stumm seine Arbeit, wartete ab, bis ihre Wörter verflogen waren. Nein, ihre laute Wut fürchtet er nicht. Aber das weiß sie doch auch. Massimo beschleicht die Angst, sie könnte tatsächlich stumm sein und bleiben, nicht sprechen, einfach schweigen. Sie spricht nicht mehr. Hat Rosanna gesagt. Was macht eine mit ihrer Wut, wenn sie nicht spricht, wenn sie nichts herausschreit? Was für eine Wut wäre das, eine leise Wut? Menschen, die schweigen statt zu streiten, zu antworten, zu argumentieren, waren ihm immer ungeheuer. Er fürchtete sie, denn er hatte das Gefühl, sie waren über ihm, saßen in seinem Genick, trieben ihn mit Peitschenhieben vor sich her. Als sie, diese andere dort in ihrem Bett, ihn nicht mehr beschimpfte, nicht mehr schrie, tobte und fluchte, sondern schwieg und ihn nur noch voller Verachtung und stumm anblickte, da wußte er, daß seine Zeit abgelaufen war und er gehen mußte. Und er war wieder gegangen, war wie schon mehrmals zuvor am Bahnhof angelangt, diesmal von keiner Sehnsucht zurückgehalten, war vielmehr von einer anderen, ganz unbestimmten, noch verschwommenen Sehnsucht getrieben in den Zug gestiegen.
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Eigentlich wollte er noch unten bleiben im Haus, morgen oder übermorgen erst heraufkommen, langsam, vorsichtig wiederkommen, erst einmal ins Dorf zurückkommen und das Gerücht vorauseilen lassen. Nachdem er mit dem Bus auf dem mittäglich ruhigen Platz unter den Platanen mit der schläfrig daliegenden Bocciabahn angekommen war, verabschiedete er sich von Luigi, dem so traurig gewordenen Schwätzer, und ging in die Bar von Teresa, der Wirtin, die ihn mit einem Ah, bist du wieder dal begrüßte, als sei er nur ein, zwei Tage weggewesen und nicht ein ganzes Jahr. Und doch lagen in ihrer beiläufigen Art, ihm das Gläschen Wein hinzustellen und dem leicht gegurrten Na?! Neugier, von ihm als erste, als Bevorzugte, zu hören und Lust, ihm zu erzählen. Doch er ließ sie zappeln, bestrafte sie, indem er seinerseits nun so tat, als sei er tatsächlich gerade einmal kurz in der Stadt gewesen. So glich ihr zweites Na!? schon eher einem Seufzer, denn was sollte sie erzählen, wenn man sie am Abend fragen würde? Massimo trank aus, schulterte sein Bündel und ging. Teresa beschloß, am Nachmittag unter irgendeinem Vorwand bei Rosanna vorbeizuschauen, denn der würde es ganz sicher gelingen, mehr aus ihm herauszuholen. Der schon, die ihn ja, wenn man ihr glauben darf, immer wieder mal in ihr Bett voller Puppen zerrt. Rosanna würde sie ausfragen, und den Rest würde ihre Phantasie schon dazutun. Aber ein paar Anhaltspunkte brauchte man doch. Man wußte ja soviel wie nichts. Und nichts Genaues, nichts Gesichertes, nichts aus berufenem Munde, nur Dahergeredetes, kaum auf seinen Wahrheitsgehalt Überprüfbares. Die Alte oben, seine Mutter, sagte, er sei in Deutschland, andere wollen ihn in Mailand in einer Pizzeria gesehen haben, und noch Schlimmeres wird unter vorgehaltener Hand geredet: Zuhälter sei er in einem Bordell. Man wußte nicht, was stimmt. Ist er nicht mit Luigi gekommen, mit ihm im Bus gefahren, vermutlich den ganzen Weg am See entlang von Como bis Menaggio und
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dann über die Dörfer hierherauf? Sollte sie nicht Luigi ausfragen? Aber was wäre aus dem schon herauszubekommen, das wahr, glaubhaft, gesichert sein würde, gut genug, es weiterzuerzählen? Früher, ja, als Luigi noch nicht der traurige Mann war, da hätte es wohl aus ihm herausgesprudelt. Jetzt aber würde auch er nur schweigen und seines Weges gehen. Man weiß also nichts. Man wird abwarten, die Ohren offenhalten müssen. Jedenfalls, eins muß auch Teresa sagen, er wollte schon immer etwas Besonderes sein, schielte immer nach den Fremden, wollte immer mehr von ihnen wissen als sonst jemand hier. Und da war auch diese Frau damals, diese Frau aus Mailand mit den vier Begleitern. Und dann Severina, die in Panik nach ihm suchte, und er war weg, verschwunden mit dieser Frau. Mit dieser Frau? Ja, bei den Frauen, da konnte er zuweilen reden, erzählen, zuhören, aber auch tänzeln, tiefe Blicke verteilen, Gefallen finden und zeigen und selbst gefallen. Ja, auch das. Massimo ging die Gasse hinauf zum Haus, und er sah mit einem Blick, sie war nicht mehr hiergewesen, hatte hier nicht gewohnt, war nicht im Herbst heruntergekommen, um hier den Winter zu verbringen. Das Tor quietschte, war wie der Zaun mit Ranken zugewachsen, der Vorgarten verwilderte, war voller Disteln, und zwischen den Steinplatten stand das Gras bereits kniehoch. Als hätte sie ein Jahr hinter ihrer Küchengardine auf diesen Moment gewartet, war Rosanna sofort da, und in ihrer Stimme war vom langen Ausharren genährter Spott. Da siehst du es. Was sehe ich? Sie hat alles verkommen lassen. Das sehe ich. Ha, was du siehst! Was du siehst, wenn das alles wäre, das was du siehst mit deinem ersten Blick! Dann werde ich hinter alles andere schon noch kommen. Ich könnte dir Sachen erzählen! Erzähl! Erzähl sie, los, los! 14
Sachen, sage ich dir, kann ich dir sagen, Sachen. Oder laß es. Zweimal war sie da. Zuletzt im Herbst, ganz allein, heimlich, im Dunkeln ist sie heruntergeschlichen wie eine Diebin. Wie eine Diebin, hörst du. Durchs Haus ist sie getappt, durchs eigene Haus wie eine Diebin! Wollte nicht gesehen werden, wollte so tun, als war sie gar nicht dagewesen. Ich hab sie aber gesehen! Weil du alles siehst, du. Gesehen hab ich sie. Alles siehst du, alles, was dich gar nichts angeht, auch das. Das zuerst. Haha, nichts angeht! So willst du dir's zurechtlegen! Was mit uns einmal war und was ich schon vergessen hab und was du erst recht vergessen solltest, das gibt dir kein Recht. Zu nichts. Nicht einmal ein Licht hat sie gemacht. Und doch hab ich sie gesehen. Ich bin rüber, hab ans Fenster geklopft. Auf den Boden hat sie sich geworfen. Wie tot wollte sie sein. Ich hab wieder geklopft, hab an der Tür gerüttelt. Gerufen hab ich, sie aber: wie tot. Und dann ist sie wieder hinauf in die Kammer, hat das Bettzeug runtergezerrt und in den Kamin damit. Das Bettzeug von dem Bett. Du weißt schon, von dem Bett da oben. Jaja. In den Kamin damit und angezündet. Und im Feuerschein hab ich ihr Gesicht gesehen. Jesus und Maria! Ich kann dir sagen! Was? Irr. Irr? Irr war sie. Völlig irr. Naja. Naja? Das wird jetzt alles anders. Jetzt? Jetzt, wo ich wieder da bin. Wo du wieder da bist, aha. 15
Jawohl. Alles wird anders und so, wie es immer war. Weil du jetzt wieder da bist, was? Ja. Ha! Er ließ sie stehen mit ihrem ganzen Eifer und mit dieser Sucht, in der Wunde zu bohren mit einem Messer, tief, immer tiefer, um eine Kugel zu finden, mit der sie nach ihm würde schießen können, wenn es mit ihm und ihr nicht wieder so würde, wie es war, wenn er nicht mehr zu ihr in ihr Puppenbett steigen würde, um ihr für kurze Zeit das Gefühl zu geben, daß einer sie braucht, daß einer sie will, woran sie sich so sehr gewöhnt hatte, und was ihr so fehlte, daß sie zuletzt immer häufiger glaubte, ihr tristes Leben nicht mehr ertragen zu können. Nein, nicht zu ihr war er zurückgekommen. Das nicht. Nicht jetzt. Er ging ins Haus. Moder empfing ihn, und es war derselbe Moder, den das Haus immer hatte, wenn sie nach einem Sommer droben zum Winter heruntergekommen waren, wenn die Mäuse und Spinnen das Haus für sich beansprucht hatten. Und doch war nicht nur dieser Moder im Haus. Auch Severinas eifersüchtig-verzweifeltes Zerstörungswerk war da zu sehen, klagte ihn an, schlug ihm seine Schuld ins Gesicht, begleitet vom Triumph der Rosanna, die ihm folgte, näher war, als er es ertragen konnte, mit ihrem Geruch nach dem gelben Likör auf ihrem Nachtkasten, ihrem weißen Fleisch, ihrem Puder, der Ahnung von ihrer wollüstigen Höhle da drüben, dem Bett, ihrer kaum mehr gezügelten, kaum verheimlichten Sehnsucht, die stumm aus ihr schrie. Da siehst du es. Da kannst du es selber sehn, schau nur hin. Wie der Racheengel ist sie heruntergekommen. War überall und bei allen. Hat sich überall den Spott abgeholt, war bei den Carabinieri und dann überall in den Straßen und auf den Äkkern und in den Küchen, im Waschhaus und in der Kirche, im Feuerwehrhaus und in der Schlachterei von Angelo, rannte wie irr herum, fragte und schrie nach dir. Auf dem Friedhof war sie, bei eurem gerade einmal geborenen und schon gestorbenen Kind rief sie nach dir, wollte dich herbeibeten. Und später ist sie noch einmal heruntergekommen, heimlich den ganzen 16
Weg in der Nacht, wie eine Diebin, wie eine Diebin! Er sah es. Siehst du es? Er sah es. Sah das halbverbrannte Bettzeug im Kamin, die an die Wand geworfenen Champagnerflaschen, diese Überbleibsel jenes Saufgelages, den auf dem Boden zerstreuten Inhalt des Küchenbuffets, die von der Wand gerissenen Bilder mit den Jagdmotiven, das Geschirr, in Scherben auf dem stockfleckigen Boden, den wohl eine Überschwemmung, ein mutwillig aufgedrehter Wasserhahn, hat aufquellen lassen. Da siehst du es selbst. Er sah es. Sah oben die mit einem Messer aufgeschlitzte Matratze des Ehebetts, das Hochzeitsfoto, zertreten, zertrampelt auf dem Boden, zwei zum Puzzle zerstückelte Gesichter. Er sah die Bilder einer rasenden Zerstörung, die seinem Mißbrauch dieses Hauses in jener Nacht gefolgt war. Rosanna suchte Wut in ihm zu schüren, und auch er selbst forschte in sich. Doch er fand sie nicht. Statt dessen war da eine stolze Wärme in ihm, ein Gefühl, das er in diesem Moment als Sehnsucht empfand. Sie hatte alles Gemeinsame zu zerstören versucht, ihre Liebe und Zusammengehörigkeit umgestoßen, weil er gegangen war. Hatte jene dort in der Stadt auch nur ein einziges ihrer vielen Zierkissen zerrissen, als er sagte, daß er jetzt endgültig gehen würde? Nein. Geraucht hatte sie, in ihren Kissen war sie gelegen, halbnackt, denn einzig und allein ihren Körper hatte sie sagen lassen, bleib da, wenn du willst, aber aus ihrem Mund waren unflätige Wörter gekommen. Geh, geh, wenn du willst! Da war er gegangen und wiedergekommen und wieder gegangen, denn ihr Mund hatte plötzlich geschwiegen. Rosanna spürte, was in ihm vorging. Sie sah keine Wut in seinem Gesicht, ein leichtes entrücktes Lächeln vielmehr, und sie wußte nicht, welche seiner möglichen Reaktionen für ihr ureigenstes Interesse an ihm, das Wiederfinden des Geliebten, geeigneter zu sein schien. Da siehst du es. Irr ist sie geworden, weil du weggegangen bist mit dieser - dieser – 17
Mit dieser, dieser. Sei still. Mit dieser Irgendeinen. Mit dieser Irgendeinen? Was fällt dir ein. Rede nicht über eine, von der du nichts weißt. Ich weiß, was ich sehe, und das ist die Wahrheit. Und ich merke mir, was ich gesehen hab. Und? Was willst du schon gesehen haben, was Wahrheit wäre? Dich hab ich gesehn damals. Dich mit dieser Irgendeinen hab ich gesehn. Und deinen überhaupt nicht mehr vorhandenen Verstand. Das hab ich gesehen. Soso, das hast du gesehen. Und jetzt bist du wieder da? Siehst du das nicht, wo du sonst auch alles siehst? Und für wie lange? Was geht es dich an? Er rannte die Treppe hinunter, wollte das nicht mehr sehen, diese Matratze, zerschnitten, wollte nichts als weg, hinauf jetzt zu ihr. Und Rosanna lief hinter ihm her, wollte wenigstens wissen, in der traurigen Verzweiflung ihres Lebens, ob denn ein Stückchen von ihm auch für sie wieder zurückgekommen war, ein Teil wenigstens von dem, was schon immer ihr gehört und auch genügt hatte. Den kleinen, gierigen, von Rache getränkten Triumph hatten längst Angst und Verzweiflung besiegt. Mit Tränen in den Augen stand sie an der Haustür, als könnte sie ihn festhalten, ihm den Weg versperren, ihn dabehalten für ihr Puppenbett da drüben. Wenn Massimo jetzt etwas nicht brauchen konnte, dann waren es Tränen, die nicht Tränen der Wiedersehensfreude waren. Er sah sie nicht an, sah nicht ihr Gesicht in Verzweiflung zerfließen, sah nicht, spürte nicht einmal die Sehnsucht, die sie und ihr ganzes Gebäude aus Liebeshunger und Neugier zerstörte. Und bleibst du jetzt da? Schon. Aha. Ja. 18
Und dann wird wieder alles sein, wie es einmal war? Nichts. Nichts wird sein, wie es war. Wie soll es sonst sein, wenn du wieder da bist? Anders. Ha! Ganz anders. Ha. Du wirst hinaufgehen, und es wird sein, wie es war. Und du wirst runterkommen und in die Bar gehen, und danach wirst du zu müde sein, wieder hinaufzugehen, und du wirst frieren hier, und bei mir wirst du ein Licht sehen, eine Kerze, die ich extra für dich ins Fenster stellen werde, und deine Sehnsucht wird dich herübertreiben. Und du wirst sagen, Rosanna, komm in dein Tausendpuppenbett, und du wirst alle Puppen auf den Boden werfen und wirst mich wollen, das alles hier, mein Fleisch und mich. Und dann Und dann, und dann, was und dann? Und dann wird es sein, wie es immer war. Er kannte sich gut genug, als daß er ihr entschieden hätte widersprechen können. Aber jetzt wollte er nicht in ihre Arme, die sie ihm so bereitwillig entgegenstreckte. Nein. Jetzt hinaufgehen, seine ganze Schuld ihr hinauftragen, wieder seinen Platz einnehmen neben ihr, wieder dasein für sie, wieder leben mit dem Berg, den Tieren, dem Hof, den Leuten oben und hier im Tal und mit ihr. Dann mochte es das Bett der Rosanna wieder geben in den gelegentlichen Nächten, das Bett, das Paolo, ihr Mann, während der Woche in der Schweiz lebend und arbeitend, nur am Wochenende beanspruchte. Und da zumeist betrunken. Rosanna spürte, daß sie ihn jetzt nicht halten konnte, nicht einmal für ein schnelles Wiederfinden in ihrem Bett, und da sie eine leise Furcht beschlich, er könnte sich doch geändert haben in diesem Jahr, könnte anderes als sie und ihren Körper gewohnt sein und sie jetzt verschmähen, spielte sie ihren letzten Trumpf aus, den sie noch in der Hand hatte. So, dann gehst du heute noch hinauf zur Stummen? Zur Stummen? Zur Stummen. 19
Was redest du von einer Stummen? Sie spricht nicht. Sie spricht nicht? Nein. Warum? Warum, warum. Seit wann? Seit sie gemerkt hat, daß du weg bist, daß du mit dieser Irgendeinen weg bist, seit sie überall nach dir gefragt hat, bei den Carabinieri auch, seitdem spricht sie nicht mehr. Mit niemandem? Nein. Mit Franco-Francone nicht, mit Bruno und Paolo und all den anderen Männern nicht, nicht einmal mit ihren Brüdern und ihrem Vater, und mit der Alten, deiner Mutter, auch nicht. Massimo starrte Rosanna an. Oh, wie sie das genoß, die erste zu sein, die ihm diese Nachricht überbrachte! Leise Hoffnung beschlich sie schon, es könnte ihn abhalten, hinaufzugehen, und er würde sich sagen, sie ist irr, was soll ich bei ihr? Rosanna legte nach. Ihr Vater und die Brüder waren oben, damals. Geschlagen haben sie sie, sie hat nicht einen Ton von sich gegeben, wie eine, der sie die Zunge rausgeschnitten haben. Und das ist wahr? Massimo, sie ist irr, verrückt! Gott im Himmel. Sie schlägt die Alte. Sie ist im Winter oben geblieben. Mit den Tieren. Deine Mutter wäre fast erfroren. Er wurde unruhig, nichts hielt ihn jetzt mehr, das Gerede, hinter dem Gier, Eifersucht, Sehnsucht und alle Armseligkeit des Lebens der Rosanna zu stecken schienen, erreichte ihn nur noch von ferne. Er schloß das Haus ab, winkte Rosanna flüchtig zu, wollte los. Sie hielt ihn kurz fest, drückte sich gierig an ihn und flüsterte, obwohl niemand sie hätte hören können. Die Puppen, Massimo, dir waren doch immer die Puppen, meine Puppen im Weg. Ich hab sie alle weggeworfen. Er riß sich los und ging. Energisch, sehnsüchtig, seinen Gang beschleunigend, Höhe 20
gewinnend und freiere Luft, schritt er dahin, den Berg hinauf, den vertrauten schmalen Pfad. Und Rosanna kehrte zu ihren bunten Flaschen auf dem Kaminsims zurück, zu den Likören, die ihr immer mehr Trost geworden waren. Am Nachmittag kam Teresa vorbei. Massimo ist zurückgekommen. Ja. Und? Er ist zurückgekommen. Ja. Erzähl!
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Da kommt er. Wieder sieht sie ihn auftauchen und wieder verschwinden. Er ist es, sicher, ganz sicher. Und er hat sich angekündigt, ihr zu erkennen gegeben, ich komme. Er hätte auch so kommen können, ohne auf das Seil zu schlagen. Einfach kommen und einfach so dasein hätte er können. Sie überraschen, ihre Ohnmacht und ihr Unvermögen in einer solchen Situation hätte er ausnutzen können. Aber das hat er nie getan. Immer hatte sie die Zeit, von seinem Schlag auf das Seil bis zu seinem Kommen sich auf ihn einzustellen, sich zu fürchten, sich zu freuen, ein das oder das bedeutendes Gesicht aufzusetzen. Sie hat das Seil seit damals nicht mehr benutzt. Franco-Francone hat ihr das Notwendigste heraufgetragen. Er wird sofort gesehen haben, daß es nicht mehr benutzt worden ist. Gras wird hineingewachsen sein, das Seil verrostet, diese stählerne Verbindung nach unten, die wollte sie nicht mehr. Er hat auf das Seil geschlagen. Sie hat den hohen, sirrenden, unverwechselbaren Ton, der sie schon aus den tiefsten Träumen gerissen hat, sofort erkannt. Er hat auf das Seil geschlagen und ihr damit wie immer Zeit gegeben, und das ist gut so. Aber jetzt, Zeit wofür? Um zu verschwinden, sich zu verstekken? Zeit, sich zu sammeln, zu fassen, um ihm entschieden entgegenzutreten mit einem Was suchst du noch hier? Zeit, ihm entgegenzurennen mit einem Da bist du endlich? Was verspürt sie jetzt, in diesem Augenblick, da er von Serpentine zu Serpentine größer wird und näher kommt? Was ist in ihr? Angst, Beklemmung, Wut, Freude? Freude?! Ja. Sie erschrickt, denn es ist Freude, die jetzt ihr Herz höher schlagen läßt, eine Freude, vor der sie sich gefürchtet hat in den einsamen Nächten, nur mit dem Säuseln der silbrigen Blätter der Bäume im Hof. Diese Freude droht jetzt alle Verzweiflungen dieses Jahres wegzuwischen. Nein, das darf nicht sein. Das Leiden, das Schweigen, die Einsamkeit, die sie um sich geschaffen hat, ihr Verstummen und der lautlose Krieg mit der
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Alten, die kalten Nächte, die Sehnsüchte und die Erinnerungen an bessere Zeiten und die heimlichen Hoffnungen dürfen nicht an seinem fröhlichen Hier bin ich wieder zerschellen, wie eine Seifenblase, die man mit dem Finger berührt, zerplatzen in ein Nichts, in ein Als-wäre-nichts-gewesen. Nein. Es kann einer nicht einfach hierher zurückkommen, als wäre nichts gewesen, als hätte es nicht ihren erniedrigenden Gang zu den Carabinieri gegeben. Als hätte sie nicht jenes Gesicht gesehen. Hier ist kein Platz mehr am Tisch für einen, der nach einem Jahr einfach so wiederkommt, um sich hinzusetzen, Wein zu trinken, Brot und Salami zu essen, die Reste in den Kamin zu werfen, Geschichten von unten zu erzählen, zu lachen über ihre Gutgläubigkeit, mit der harten rissigen Hand über ihr Gesicht zu fahren, sie an sich zu ziehen. Nein. Da sind nur noch die Ofenbank für die Alte und ihr Stuhl. Den anderen hat sie im Winter verheizt. Den brauchte sie nicht mehr. Oh, hat da die Alte geschrien und ein Wetter gemacht. Das ging sie nichts mehr an, denn mit dem Verstummen war sie zugleich taub geworden für das, was sie nicht mehr hören wollte. Wenn man nicht mehr antworten muß, weil man nicht spricht, dann muß man auch nicht mehr zeigen, daß man hört, was gesprochen wird. Ach, wäre doch jetzt ein Mann da, einer, der ihm entschieden entgegentreten würde mit dem ganzen Recht dessen, der jetzt hier die Hühner schlachtet, das Holz schlägt, die Schafe schert, Wein und Lebensmittel aus dem Dorf heraufträgt und das Schuppendach repariert. Einer, der ihn fragen könnte, was suchst du hier, wer bist du, was störst du unseren Frieden hier mit deinem fremden Gesicht? Und wenn es Franco-Francone wäre, dieses Dreizentnerkind in Männergestalt. Er, der sich immer wieder heraufgeschleppt hat, um ihr sein verschwitztes Ansinnen auf ihren Körper anzutragen. Franco-Francone würde ihm seinen dicken Bauch entgegenhalten, würde ein Bollwerk sein, ihn zerdrücken, ihm seine ganze gemeine Verlogenheit aus den Eingeweiden herauspressen, daß er ins Tal fliehen müßte, zum Gespött aller. Franco-Francone, warum habe ich dich nicht erhört, als du mir 23
dein kleines Schrumpelding in die Hand drücken wolltest? Warum hab ich nicht wenigstens ein einziges Mal deinem babyhaften Stöhnen nachgegeben, deinem heißen Keuchen, deiner Gier, deinen feuchten Fingern, die mich suchten, deiner rotweingetränkten Zunge, die mir die Hand leckte wie ein Hund, warum hab ich dich nicht einmal zu mir genommen, dein Wimmern und Jammern erlöst, damit du mir jetzt Schutz und Mauer oder undurchdringlicher Zaun wärest? Ich weiß, Franco-Francone, er würde vor dir stehen, dir seine starke, braungebrannte, behaarte Hand auf die Schulter legen, würde dich mit seinen hellen Augen unter den dicken schwarzen Augenbrauen ansehen, würde dieses Lächeln lächeln, mit dem er immer alles im Leben erreicht hat, und würde sagen, Franco-Francone, du, Freund, Kamerad, wie schön, daß du sie beschützt hast. Und du würdest deine Tränen der Rührung weinen, Tränen für einen Mann, einen Freund, einen Kameraden, einen Jagdgenossen, klare, redliche Treuetränen für einen Mann, nicht deine schweißgetränkten Enttäuschungstränen, die du für mich geweint hast. Und du würdest ihm mit schlechtem Gewissen in die Arme fallen, ihn um Verzeihung bitten, dir den Freund retten, den du mehr brauchst als dieses schnelle, kurze, hastige, dein Herz überfordernde und deine Vorstellungskraft übersteigende Stöhnen an mir und meinem Leib. Severina schaut hinüber. Wieder sieht sie ihn, sein schwarzes Haar ist jetzt schon genau zu erkennen. Er kommt näher. Er kommt. Er kommt tatsächlich zurück. Sie steht immer noch wie mit dem Boden und dem Gestrüpp verwurzelt da, sie will sich bewegen und kann es nicht, will wegrennen und steht doch da und starrt in diese eine Richtung, wo er hinter einem Hügel, der den Weg schluckt, verschwindet. Gleich wird er wieder zu sehen sein, wieder größer, wieder näher, wieder bedrohlicher, und da ist niemand, der ihm entgegentritt. Da ist keiner. Kein Bollwerk, keine Mauer, kein undurchdringlicher Zaun, nicht einmal ein Franco-Francone. Da sind nur die Bäume im Hof, diese stummen, friedlichen, geduldigen Zeugen all dessen, was passiert ist. Sie schweigen, bewegen sich nicht, heben 24
sich das Erzählen ihrer Geschichten für den Winter auf, wenn sie allein sind hier oben, allein mit der Sprache ihrer letzten gefrorenen herbstlich gefärbten Blätter im eisigen Wind.
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Wie sie hinaufgegangen sind, so sind sie zurückgekommen. Die Frau stöckelte wie ein zerrupfter Vogel hinter Massimo her, der sie das steile Stück hinunter auf dem Rücken getragen hatte und jetzt festen Schritts vorausging. Hinter ihnen die Jungs, Gecken, Hampelmänner, Pinocchios, holzgeschnitzte, zerbrechliche Hungergestalten, maulend, erschöpft und enttäuscht, denn sie hatten die Madonnina nicht gesehen. Sie fluchten, doch Massimo und Renata erreichte das nicht. Sie spielten ihr Spiel. Sie feierten ihr Fest, alle anderen waren weggerückt, waren Staffage. Ob sie maulten, fluchten oder schliefen, der eine Ziehharmonika spielte, der andere mit Löffeln den Rhythmus auf die Weinflasche schlug, sie waren Begleitmusik. Die vier Begleiter, die Schafe, die Ziegen, die Bäume, die Alte auf der Bank vor dem Haus, sie alle spielten den beiden zum Tanz auf. Renata sprang an Massimo hoch, legte ihm die Arme um den Hals und ihre Beine um seine Hüften und küßte ihn, den verwirrten, wie Severina vom Haus aus sah, völlig ohne Verstand mit einer Flasche Wein dort unter den Bäumen stehenden Mann, den sie sich als Opfer ausersehen hatte. Severina erstarrte, zitterte, fror, hatte alle die Ängste, die sie von anderen Frauen kannte, die nie die ihren gewesen waren. Nicht wenn er im Dorf unten war und erst am nächsten Morgen heraufkam und sie ahnte, daß Rosanna ihn in ihr Bett lockte, dieses Bett mit den unzähligen Puppen. Rosanna, das wußte Severina, konnte ihr nichts wegnehmen. Die nahm sich den Mann, der, würde er ihr nicht für die paar glücklichen Stunden in ihrem traurigen Leben zur Verfügung stehen, schnarchend, traumlos, betrunken und wünsch- und gedankenlos im Haus unten schlafen würde. Severina konnte Rosanna nichts übelnehmen, sie schon gar nicht hassen oder verachten. Es war ihr eher sogar eine Beruhigung, wenn sie ihn bei ihr ahnte, nur bei ihr, denn auf Rosanna war Verlaß, daß sie diese nur vermeintlich heimliche Gelegenheitseroberung nicht einer anderen überlassen würde.
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Nein, Rosanna machte Severina keine Angst. Aber die da draußen, die um ihren Massimo herumgackerte, tänzelte, girrte und gurrte, schnürte und schnurrte, hüpfte, tanzte, flatterte, dieses Traumgebilde aus irgendeiner Severina nicht bekannten Welt, drohte ihr die Ordnung in ihren Gefühlen durcheinanderzubringen. War sie verrückt? Sie, nicht er? Sie stand jetzt im Schuppen, im Dunkel, den Blicken derer da draußen entzogen, schaute durch das kleine trübe Fenster hinaus, sah ihn tänzeln, die Flasche herumreichen, sie hofieren, unterhalten, sah alles, was nur der galt, die er, sie hatte es ja gesehen, ein paar Stunden zuvor auf dem Rücken, ihren Atem heiß an seinem Hals, ihre Arme um ihn geschlungen, ihre kleinen Brüste an seinen Schulterblättern, hinaufgetragen hatte zum Gipfel der Madonnina. Sie sah sein Werben um diese Fremde, um ihre Blicke und ihr Lachen, ihre freigebigen Küsse, ihre Nähe, ihren Körper, wie zufällig an ihn gedrückt. All das sah Severina, und sie spürte bis ins Innerste: sie liebte ihn. Sie liebte ihn, während er sich verlor, sie liebte ihn, während er sich von ihr entfernte, sie liebte ihn, obwohl sie schon vor ihm wußte, daß sie ihn an diese Frau und an diese Menschen, an diesen Geruch einer anderen Welt, verlieren würde. Und wie so oft überraschten ihre Gefühle ihr Denken: sie hatte lange nicht mehr so eine Nähe zu ihm empfunden, so ein verlangendes Gefühl nach ihm gehabt, als gerade jetzt. Ja, damals, als sie mit Anna, ihrer Schwester, auf dem Fest oben in Oggia war, schüchtern sich umsehend, die Männer betrachtend und an ihren Reaktionen ihren eigenen Marktwert ermessend, aufgeregt, erwartungsvoll, vom vielstimmigen Gesang der Männer und den umwerbenden Melodien der Klarinetten berauscht, als er plötzlich vor ihr stand, mit ihr tanzte, immer wieder, den ganzen Abend, und sie seine hellen Augen sah, liebte sie ihn sofort und so sehr, wie nie mehr danach. Es war dann ohnehin die Gewohnheit ihres gemeinsamen Lebens geworden, die Selbstverständlichkeit miteinander, das gleiche wie bei allen, immer das gleiche, das die plötzliche Lust aufeinander, die keinen Aufschub duldete, nicht mehr kannte, die zufällige Be27
rührung, an der man Feuer fing, die kleinen Schreie des Glücks, die man ohne Rücksicht auf die Alte nebenan hinausschrie. Das war Erinnerung geworden, nur noch heimlicher Wunsch, Sehnsucht in den Nächten allein hier oben, wenn er im Tal unten war, Sehnsucht, von der Vorstellung genährt, er könnte jetzt bei Rosanna liegen. Jetzt aber, da dieser Unglücksgeier, der von vier schwarzen Raben begleitet über die Berge geflogen ist, ihn zur Beute gemacht hat, jetzt liebte sie ihn wie die Katzenmutter das Junge, das ihr der Bussard gerade im Sturzflug geraubt hat. Sie liebte all das, was er da draußen vorzauberte, sie war innerlich stolz auf ihn und hatte doch panische Angst, die ihr die Stimme verschlug, das Atmen erschwerte, sie hier im Schuppen verwurzeln, zum Holzbalken werden ließ. Massimo draußen ging nicht mehr, er schwebte. Er holte immer wieder Wein, Salami, Brot, Käse, alles im Überfluß, und er plünderte die mühsam heraufgetragenen Vorräte. Er lachte über ihre Scherze, die ihm fremd waren, er sang ihre Lieder mit, die er nicht kannte, und verriet schließlich jene Lieder an sie, die er sonst nur mit seinen Freunden in fast heiliger Handlung vielstimmig zelebrierte. Es war alles Verrat von jemandem, der nicht mehr bei Verstand war. Was war ihm diese Frau, diese dürre, knochige Ziege, behangen mit ein paar losen Fetzen Stoff, die fast nichts verhüllten, da fast nichts zu verhüllen war? Was suchte er bei ihr? Was verführte ihn, der doch der eigentliche Verführer war, der doch immer das Dralle, das Feste, das Rotbackige, das Runde vorzog, der sie, Severina, und nicht Anna, ihre schöne Schwester, gewollt hatte? War es die Ahnung von etwas ganz anderem, das eigentlich zu fürchten war, das er aber, der nichts fürchtete, einfach nicht fürchten, sondern herausfordern wollte? War es viel mehr als diese Frau, wonach er sich sehnte? War die nur Vorbote einer anderen Welt, eines anderen Lebens? Severina verstand nichts mehr. Wie auch, da sie ihn nicht verstand, ihn, der ihr sonst die Welt erklärte und jetzt so vollends ohne Verstand war? Jetzt stand er ganz nahe bei ihr. Sie duckte sich noch mehr ins Dunkel des Schuppens. Er hätte sie eigentlich sehen, vielleicht riechen müssen, hätte er 28
gentlich sehen, vielleicht riechen müssen, hätte er irgendeinen Blick für sie, einen Gedanken an sie gehabt. Er stand an der Vogelvoliere, die er sich vor ein paar Jahren gebaut hatte. Und Severina hörte ihn zum ersten Mal den Namen jener Frau rufen, und es durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Renata! Ja! Komm mal her! Ich komme, ich komme! Sie flötete, wirbelte, rannte, flog herbei, ließ sich halb neben, halb auf ihm nieder, drückte sich an ihn, legte ihre Wange an sein erhitztes Gesicht, atmete förmlich ein, was er sprach. Da schau, siehst du sie, die Vögel, alle meine Vögel, von mir gefangen. Ja. Sind sie nicht wunderschön? Jaja. Severina, die jetzt alles verstehen und das Gesicht dieser dünnen Frau genau beobachten, ihr Parfüm riechen und die rasierten Achselhöhlen sehen konnte, bekam in diesem Augenblick eine Ahnung davon, daß man Macht über einen Mann gewinnen kann, wenn man Interesse vortäuscht, Leidenschaft teilt, die Wörter sagt, die der andere in einem ganz bestimmten Moment erwartet. Ja, sie sind wunderschön, sagte Renata so sachlich und unbeteiligt dahin, daß Massimo, wäre er bei gesundem Verstand gewesen, das sofort als Desinteresse begriffen hätte. So schienen ihm diese Wörter als lieblicher Gesang, als Anteilnahme an seiner Leidenschaft für seine Vögel, so daß sein durch ihren Geruch und ihren Körper und ihren Atem getrübter Blick so glückselig auf den gefiederten Gefangenen ruhte, daß es sich für die junge Frau erübrigte, die Vögel überhaupt anzusehen. Sie war sich, das sah Severina, seiner auch so sicher. Sie war der interessanteste, der bunteste Vogel, den er je gefangen zu haben glaubte. Nie war es Severinas Sache gewesen, Freude oder Anteilnahme zu zeigen, die sie nicht hatte, Gefühle vorzu29
täuschen, die sie nicht empfand. So war es für sie unbegreifbar, daß diese Fremde durch ein nur sparsam hingeworfenes Ja, wunderschön Interesse an den Vögeln behauptete, um Massimo zu gefallen. Daß sie das mit ihm, diesem Überrest seiner selbst, machen konnte, wunderte Severina jetzt schon nicht mehr. Er war nicht mehr er. Sie hatte seine Leidenschaft, die Vögel zu fangen und einzusperren, immer verabscheut. Er wußte das. Die Tiere taten ihr leid. Sie liebte die Vögel, wenn sie über dem Tal kreisten, sich aufschwangen oder niedersetzten, davonflogen vor Katzen und den Geräuschen der Menschen. Nie hatte sie verstanden, was es im bedeutete, den Vögeln ihre Freiheit zu rauben, stolz auf den Fang zu sein wie auf den Abschuß eines Hasen, sich vor den Käfig zu setzen, um ihnen bei ihren vergeblichen Versuchen zuzusehen, das Gitter zu überwinden, die Luft da draußen, den Himmel, die Bäume und die Bergkuppen wiederzuerobern. Warum hatte er Lust und Freude daran? Braucht das der Mann? fragte sich Severina, braucht er das wie das Jagen mit den Freunden, das Fischen, das Schlachten, das Militär, die Rauferei? Ist er nur ein Mann, wenn er den Tieren zeigen kann, wie er über ihr Leben oder ihren Tod zu entscheiden hat? Aber waren nicht ihre Mutter und die Alte, seine Mutter, genauso? Verhöhnten sie nicht das Huhn, ehe sie ihm den Kopf abschlugen, während sie, Severina, sich stets bei ihm für die Unausweichlichkeit ihres Tuns entschuldigte? Immer hatte sie es abgelehnt, die armseligen Gefangenen in der Voliere zu füttern, sich um sie zu kümmern, überhaupt hinzusehen. War Massimo nicht da, so erledigte die Alte, was zu tun war. Sie tat triumphierend, was sie an Stelle von Severina für den geliebten Sohn tun konnte. Als er dann nicht mehr zurückgekommen war, nachdem er diese betrunkene und vollgefressene Gesellschaft nebst seiner Eroberung ins Tal gebracht hatte, und als Severina nach ihrer vergeblichen Suche wieder heraufkam, ging sie an die Voliere, öffnete das kleine Gitter, um die Gefangenen in die Freiheit zu entlassen. Doch dieses Angebot war ihnen so ungewohnt, so fremd, so verwirrend, daß sie genauso hilflos damit umgingen wie 30
Severina mit dem, was geschehen war. Sie flohen nicht, flogen nicht unverzüglich davon, sie saßen ängstlich da wie immer und rannten verzweifelt gegen die Gitter an, dahin, wo sie die Bäume und den Himmel sahen, die Freiheit ahnten. Sie kamen nicht weit. Ihre kleinen Schädel knallten gegen den Draht, betäubten sie zuweilen, so daß sie lange Zeit wie tot auf dem von Kot übersäten Boden saßen und zitterten. Ihre Flügel brachen, zerfledderten, verloren Federn. Hätten sie es geschaft, in die nahe Freiheit zu kommen, und versucht, davonzufliegen, sie wären kläglich irgendwo im Hof gelandet und eine sichere Beute der Katzen geworden. Irgendwann schloß die Alte das Gitter wieder, und von da an sah Severina in diesen Gefangenen Gefährten ihres eigenen Leids.
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Schon sieht Massimo die Bäume des Hofes, das Haus, den Stall, das gestapelte Holz, die Schafe, den Hühnerstall da hinten am Ende des Tales, wo nur noch Felsen sind und der schmale steile Pfad hinauf zum Gipfel der Madonnina führt. Noch zweimal wird das alles hinter einem Hügel, um den er herumgehen muß, verschwinden, dann wird es vor ihm liegen wie ein Bild an der Wand. Diese kleinen Hügel hier, die letzten, kaum mehr bewachsenen, zerklüfteten Felskuppen, über denen zum Greifen nah der blaue Himmel hängt, bieten kaum Schutz vor der Sonne, werfen nur noch in den hintersten Winkel kleine Schatten. Massimo schwitzt, keucht, atmet schwer. Das kennt er nicht von sich. Er ist es nicht mehr gewohnt, auf einen Berg zu steigen, ist ein Jahr lang nur flaches Terrain, Straßen mit riesigen Häusern entlanggegangen mit einem meist schmutzigen Himmel darüber. Hinter diesen Büschen dort kommt die Quelle. Er erreicht sie. Jetzt im Sommer ist es ein Rinnsal, das sich seinen Weg durch blanke Steine, Moos und flaches Gewächs sucht. Massimo schlägt mit dem Stock auf die Steine, scharrt mit den Füßen, macht Lärm, der die Vipern vertreiben soll, die sich an heißen Sommertagen zu gern hier in der Nähe des Wassers aufhalten, in der Sonne liegen, tückisch dem Erdboden angepaßt, kaum zu sehen, nicht von den Steinen zu unterscheiden, scheu, Geräusche fliehend, im Angriff aber dem Menschen gefährlich, den Schafen meist tödlich. Massimos Vater haßte die Vipern, wie er sonst nichts haßte. Immer wieder töteten sie ein Schaf, vor allem die unbekümmerten Lämmer wurden von ihnen gebissen, wenn sie zum Wasser kamen. Die Vipern waren für Massimo in seiner Kindheit die bösen Geister schlechthin. Der Vater lauerte ihnen auf, stand oft stundenlang regungslos da, beobachtete die im Sand und auf den Steinen in der Sonne liegenden silbrigbraunen Tiere, um dann urplötzlich und blitzschnell mit einer Astgabel zuzugreifen. Andere erschlugen die Vipern mit einem
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gezielten Schlag auf den Kopf, nicht so der Vater. Schon früh mußte Massimo lernen, eine Viper zu fangen. Man muß sie mit der Astgabel hinter dem Kopf erwischen und gegen den Boden drücken, dann die Schwanzspitze mit der Hand nehmen und nach oben ziehen, so daß die Viper in der Luft hängt. Sie kommt mit dem Kopf nicht an ihre Schwanzspitze und auch nicht an die Hand des Menschen. Ihr Aktionsradius ist so eingeschränkt, daß sie, wenn man sie mit ausgestrecktem Arm hält, dem Menschen nicht mehr gefährlich werden kann. Ihr Bann ist gebrochen. Der Vater, der die Vipern so abgrundtief haßte, wollte sie nun leiden sehen. Am Abend eines erfolgreichen Schlangenjagdtages stand beim Essen eine zugekorkte Zweiliterflasche auf dem Tisch, in der die Viper langsam starb. Der Vater ließ kein Auge mehr von der Schlange, die immer wieder den Ausweg nach oben suchte, an der glatten Glaswand herunterglitt, zusammengerollt kauerte, um dann von neuem einen Ausweg aus dem Gefängnis zu suchen, das ihr immer weniger Luft zum Überleben gönnte. Es dauerte viele Stunden, bis sie tot war, und der Vater wachte über ihr qualvolles Sterben. Er aß, trank und redete, triumphierte lauthals und war stolz. Als er betrunken war, verhöhnte er sie, indem er ihr Mut zusprach und mit einer Gabel immer wieder an die Flasche schlug, wenn die Viper sich zusammenrollte und kapitulieren wollte. Und er verfluchte sie, rechnete ihr alle Schafe vor, die ihresgleichen auf dem Gewissen hatte, und wünschte sie zu allen Teufeln in alle Schweinehimmel. Wider jede von der Mutter vorgetragene Vernunft bestand der Vater darauf, daß die Kinder nicht den Raum verließen, nicht zu Bett gingen, ehe nicht die Schlange ihren letzten Zuckungen erlegen war. Onkel Gusto, den sie den stummen Amerikaner nannten, schaute gebannt dem Todeskampf der Viper zu, und wenn sie tot war, ging er zufrieden in seine Kammer unter dem Dach. Massimo, der schon als Kind gelernt hatte, zu schlachten, einem Hasen das Fell abzuziehen, Vögel zu schießen oder einen kranken Hund durch einen gezielten Schuß zu erlösen, haßte diese Abende, an denen die Vipern dem Vater die Zeit vertrieben. 33
Einmal, Massimo war noch klein und hatte großen Respekt und auch Angst vor den Vipern, stellte die Mutter beim Tischabräumen die Flasche mit der Viper beiseite, während der Vater Wein im Schuppen holte. Irgendjemand stieß an die Flasche, sie fiel auf den Boden, zerbrach und schenkte der Viper die Freiheit. Die Mutter und die Kinder standen zitternd auf dem Tisch, der Vater, er hatte sichtbar auch Angst, verließ fluchend das Haus, um die berühmte Katze des Don Aurelio von Campanolo zu holen, die man immer dann holte, wenn man Vipern im Haus, Schuppen, Keller oder Stall hatte oder vermutete. Don Aurelio, der ein Auto hatte, kam mit dem Vater und der Katze in einem Pappkarton einer Orangenfirma. Sie sperrten die Katze, eine ganz normale, getigerte, schon zwölf Jahre alte Katze, in das Haus, ließen ein Fenster einen Spalt offen und warteten. Nachbarn kamen dazu, bald stand das halbe Dorf vor dem Haus. Die Frauen verfluchten still jene unbelehrbaren Männer, die immer wieder die Vipern mutwillig ins Haus brachten, die Männer schimpften auf die Frauen und ihre Ungeschicktheit. Sie schlössen Wetten ab auf die Katze oder die Viper, während Don Aurelio wortreich, als handelte es sich um eine Predigt, die Katze namens Binca pries, nicht ohne zu betonen, wie gefährlich das ganze Abenteuer war und wie schnell das auch für diese einmalige Katze unter den Katzen das Ende bedeuten könnte. Es dauerte, und Don Aurelia erzählte wieder einmal, wie es dazu gekommen war, daß Binca sich diesen Ruf erworben hatte. Sie war ein halbes Jahr alt, war mit Don Aurelio im Garten, wo der ein Beet umgrub und plötzlich auf eine Viper stieß. Schon wollte er sie mit der Schaufel erschlagen, da sah er, daß sich Binca und die Schlange bereits musterten, als Feinde gegenüberstanden. Ein spannendes Schauspiel, dem der Don zusehen wollte. Wie würde es ausgehen? Mit dem linken erhobenen, abgewinkelten Arm demonstrierte er die Schlange und ihren Aktionsradius, mit der rechten Faust die Katze, die den Sicherheitsabstand einhält. Die Viper, referierte er weiter, sei feige, sie suche die Flucht. Wenn sie denkt, daß von der Katze keine Gefahr mehr ausgeht, weil die bewegungslos ist, dreht 34
sie ab, und in dem Moment springt ihr die geschickte Katze ins Genick und beißt genau hinter dem Kopf zu, da, wo man sie auch mit der Astgabel erwischen muß. So auch Binca damals. Mit einem halben Jahr! Daraufhin bat Don Aurelio, der das Talent der Katze erkannt zu haben glaubte, alle Bauern, ihm lebende Vipern, die sie gefangen hätten, zu bringen. Immer brachte er Binca in ein Zimmer, stellte die Flasche mit der eingesperrten Viper vor sie, zerschoß dann mit dem Luftgewehr vom Fenster aus die Flasche und wartete. Und immer manchmal ganz schnell, manchmal nach ein, zwei Stunden, kam sie als Siegerin mit der toten Viper, die in ihrem Maul baumelte, durchs Fenster heraus. Mit der Zeit brachte er sie dazu, ihm auf Pfiff die Schlange vor die Füße zu legen. Vierundzwanzig Vipern hat sie schon auf dem Konto. Verdammt! Respekt! Ein einmaliges Tier. Und immer auf Leben und Tod. Eine wird ihre letzte sein. So ist es. Man kann sie nicht abrichten darauf. Ein Talent muß dasein. Sie hat das Talent. Mit einem halben Jahr die erste. Verdammt! Respekt! Eine wird ihre letzte sein. Dann ist es eben so. Das Alter hat sie ja schon. Eine, vielleicht die. Dann ist es eben so. Dann ist sie tot. Sie hat ja dann keinen Wert mehr. So ist es. Beifall brandete auf. Binca kam, von allen bewundert und gefeiert, mit der baumelnden Viper im Maul aus dem Fenster gesprungen, lief auf den stolzen Don Aurelio zu, legte ihm die 35
Schlange hin. Ausgiebig streichelte und lobte er das Tier, sperrte es dann wieder in den Orangenkarton, nahm die Viper hoch, sprach ihr die Ehre zu, die fünfundzwanzigste zu sein, und gab sie - wie man jemandem sein ihm zustehendes, nur für einen Moment ausgeliehenes Eigentum zurückgibt - dem Vater. Der nahm sie, sein Gesicht verzerrte sich plötzlich zur Grimasse, seine Adern an den Schläfen schwollen an, er bekam einen roten Kopf, schlug die Schlange immer wieder, sie am Schwanz festhaltend, auf den Boden, warf sie von sich, folgte ihr, trampelte auf ihr herum, schrie und tobte sich all seine Wut aus dem Leib. Erschrocken bemerkten die Menschen, daß er im Angesicht des Don Aurelio so unsäglich fluchte, daß der ihm später, während die Mutter schon die Naturalien zur Entlohnung in Form von Käse, Eiern, Schinken und Salami zurechtlegte, vorsorglich die Beichte abnahm, denn so unselig wollte er ihn doch nicht zurücklassen. Das hat der Krieg aus ihm gemacht, sagte die Mutter immer wieder entschuldigend. Ob ihm der Herr verzeiht? fragte sie Don Aurelio bange, als der reichbeladen ins Auto stieg. Der Herr hat ihm schon verziehen. Massimo, so klein er damals noch war, begriff den Ausbruch des Vaters. Diese Viper hatte den Kampf mit der Katze vorgezogen, sich dem ihr zugedachten qualvolleren Tod entzogen und damit den Vater um sein ganzes Racheritual gebracht. Wie viele Hiebe und Schläge und Flüche, die über die tote Viper ergangen waren, eigentlich der unachtsamen Mutter zugedacht waren, konnte man nur ahnen. Daß der Vater all seinen Feinden, den Dieben und Mördern, den Weinpanschern und den Polizisten, den Politikern und den Deutschen, den Pizzabäckern und den Beamten im Katasteramt, dem Pfarrer von San Nazzarro, den Fußballern von Juventus Turin, dem Totengräber von Ronco, der seinen Bruder, der Selbstmord begangen hatte, nicht begraben wollte, dem Arzt in Como, der ihn nach einer Kriegsverletzung operiert hatte, seinem Schwager Silvio und allen Tessinern denselben Tod wünschte wie den Vipern, das war für die Mutter, die Kinder, die Verwandten und die Leute im Dorf das eigentli36
che Problem. Es lebte sich nicht gut mit ihm, was die Mutter immer wieder, ohne daß sie darüber Genaueres wußte, auf den verdammten Krieg schob. Als der Vater am Herzschlag gestorben war, hörte Massimo, der etwa vierzehn Jahre alt war, wie die Mutter zu ihrer Schwester sagte, daß es doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit sei, wenn einer wie er, der so vielen den grauenvollsten Tod gewünscht hatte, einen so gnädigen, erlösenden, erstrebenswerten Tod hat sterben dürfen. Massimo setzt sich, sammelt Wasser in der flachen Hand, trinkt, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Da unter ihm, drüben auf dem anderen, niedrigeren Hügel, direkt über dem Dorf liegt Oggia, das seit über dreißig Jahren verlassene Dorf. Man kann es, wie den Hof hier oben, nur über die Maultierpfade erreichen. Auf ihnen transportierten die Bewohner früher Milch und Käse ins Dorf hinunter und weiter zum See, nach Menaggio, nach Porlezza, nach Cadenabbia, in die großen Hotels oder die kleinen Feinkostläden, in private Villen oder auf die Schiffe. Ganz früher, so erzählen die Alten, als es noch keine Kühlmaschinen gab, brachten sie auf Maultiere gepackte Eisblöcke, die sie aus dem Berg schlugen, zu den Hotels. Oggia, da liegt es verschlafen in der Sonne. Kleine graue Häuser aus Stein, windschiefe Dächer, teils aus Steinen, teils aus Holzbohlen, die von an Drähten befestigten Felsstücken gehalten werden. Haus an Haus, aneinandergeduckt, sich gegenseitig kühlend oder wärmend, jetzt von Mäusen, Ratten und Siebenschläfern bewohnt. Nur die kleine Kirche steht etwas abseits auf einem Hügel, kaum größer als die Häuser, bescheiden und unscheinbar. Oggia war für Massimo, der ein Kind war, als die letzten Bewohner den Ort verließen, immer geheimnisvoll, voll von Geschichten aus einer anderen Zeit. Als Kinder kamen sie manchmal herauf, saßen in den schummrigen, verlassenen Häusern, rauchten, spielten, und um sie lag der modrige Mantel aus den schaurigen Erzählungen, die die Alten abends am Kamin von sich gaben, mur37
melnd, nickend, an Namen sich sparsam entlangsuchend, zahnlos. Valerio! Jaja, Valerio! Valerio und Giambattista! Jaja, Valerio und Giambattista! Und der Strick! Ach ja, der Strick! Bei Antonio in der Bar, oben in Oggia. Fernando!? Nein, Antonio hatte damals die Bar. Der Sohn von Fernando. Schwiegersohn. Ah ja, der Schwiegersohn. Valerio und Giambattista. Sie waren ja Brüder. Eben, weil sie ja Brüder waren. Und Teresa war damals schon tot. Jaja. Da waren nur noch die beiden. Valerio und Giambattista. Er hieß nicht Giambattista. Doch, er war Schmied und arbeitete in San Nazzarro. Ja, aber er hieß nicht Giambattista. Doch. Nein. Wie denn dann? Er war Schmied. Und arbeitete in San Nazzarro. Bei Roberto, dem dicken Schmied. Ja, das stimmt. Ja, das stimmt. Aber er hieß Gianluca. Richtig! Gianluca. So hieß er, jawohl. Ja. 38
Und war der Bruder von Valerio. Valerio, der die Vipern mit der bloßen Hand fing. So ist es. Und die beiden, immer streitend. Fluchend, schimpfend. Daß sie sich nicht die Köpfe einschlugen, das war alles. So ist es. So war es. Und jeden Tag bei Fernando in der Bar. Bei Antonio. Bei Antonio in der Bar. Weil damals, als es passierte, da hatte schon Antonio die Bar. Immer beide in der Bar. Und immer betrunken. Und beide alleine in dem Haus und keine Frauen. Nie Frauen. Und auch sonst keine Freude im Leben. Nur Oggia und San Nazzarro und Oggia und die Bar. Antonios Bar. Und immer Streit. Valerio und Gianluca. Und immer laut und schreien. Ich bringe dich um, ich erschlage dich, beim Hundegott! Beim Hundegott und bei allen Hostien dieser verdammten Täler, ich bringe dich um! So jeden Tag. So jeden Abend. Und dann torkelnd ins Bett. Ein Bett. Beide Kerle in einem Bett. Immer betrunken, beim Hundegott. Beim Schweinegott auch. Skandalhostien dieser Täler! Dieser verdammten Täler! Und dann eines Abends. An diesem einen Abend. Valerio allein in der Bar. 39
Gianluca. Neinnein, Valerio. Gianluca war der ältere der beiden. Ja. Und Valerio der jüngere. Und der jüngere war alleine in der Bar. An jenem Abend. Valerio. Jaja, der. Und schweigend. Kein Schreien und kein Fluchen. Und Antonio besorgt. Versteht das nicht. Was ist los? Valerio. Der. Was ist mit Gianluca? Der. Was der? Nichts. Keine Antwort. Und Antonio? Fragt und fragt und fragt. Und auch die anderen. Riccardo, mein Onkel war dabei. Der wohnte auch in Oggia. Und Silvio der Weinhändler. Richtig, der Vater von Ferruccio, dem Weinhändler. Der war dabei. Silvio. Und alle fragen. Was ist mit Gianluca? Warum ist Gianluca nicht da? Und dann? Ja, und dann! Du lieber Himmel! Skandalhostien der Täler, noch einmal, verdammt seid ihr alle! Schweinegötter übereinander! Was sagt Valerio? 40
Er sagt, stell dir das vor, er sagt: Wie soll er hier sein, wenn er doch dort ist? Sagt Valerio. Wo dort? Im Stall. Im Stall? Jaja, im Stall. Gianluca ist im Stall. Was macht denn, alle Bestien seien verdammt noch einmal, Gianluca jetzt im Stall? Ja, sagt Valerio, was wird er da wohl machen. Was macht er da? Was wird er machen. Dort hängen wird er. Dort hängen!? Am Haken, jaja, am Haken. Am Haken? Ja, am Haken, wo man den Hammel zum Abziehen hinaufzieht, an dem Haken. Da hängt er, sagst du? Und er lacht. Nicht ganz richtig im Kopf. Können nichts mit dem Hirn bewegen. Haben Fahrräder im Hirn. Beide. Ja. Und jetzt alle hin zum Stall. Und da hing er. Hatte sich aufgehängt. Und Valerio weiterhin seelenruhig in der Bar. Habt ihr's gesehen, warum er nicht hier sein konnte? Hahaha! Nicht richtig im Kopf. Beide. Und der eine jetzt tot. Aufgehängt und keiner weiß, warum? Das Fahrrad im Hirn. Und sie binden Gianluca ab. Da braucht kein Doktor kommen dafür. Der ist mausetot. Den bringt man auf dem Muli hinunter ins Dorf. Und zum Doktor. 41
Den legt man ihm zum Totschreiben auf den Tisch. Und Valerio sitzt in der Bar. Und lacht. Seelenruhig. Als ob nichts geschehen wäre. Und trinkt und lacht. Und dann macht Antonio zu. Und Valerio torkelt zum Haus. Und da ist kein Gianluca mehr. Und kein Fluchen und Schimpfen. Und verdammt noch mal kein Hostiengeschrei. Und kein Ich schlag dich tot. Weil einer schon tot ist. Und weil einer ohne den anderen keiner mehr ist, kommt es, wie es gekommen ist. Gerade waren sie mit dem Muli wieder heraufgekommen. Da konnten sie Valerio auch vom Haken binden. Und wieder aufs Muli. Und wieder dem Doktor auf den Tisch. Zum Totschreiben. Solche Hirne wie die von den beiden, sagte der Doktor, die legten sie in Padua, wo er studiert habe, in Spiritus. Spiritus sanctus, sagte der Pfarrer, und man grub Gianluca und Valerio, die man seither die fluchenden Brüder nennt, wenn man von ihnen spricht, unter der Selbstmörderregentraufe des Kirchleins ein. Da saßen sie, Massimo, Franco-Francone und Bruno, und rauchten ihre erste Zigarette und starrten zu dem Haken hinauf, die Erzählungen der Alten im Ohr. Sie pissen sich in die Hose dabei. Wer? Die Selbstmörder. Wer sagt das? Mein Vater. Sie bepissen sich, wenn das Genick knackt. Sagt mein Vater. Manche kriegen sogar einen Steifen dabei. 42
Wer sagt das? Mein Bruder. Hat sich dein Bruder vielleicht schon mal aufgehängt? Oder einen Steifen gehabt? Der Pfarrer von Roncolo, der hat sich damals umgebracht. Aufgehängt, jawohl. Und der hatte einen Steifen. Sagt mein Onkel. Wenigstens einmal im Leben. Sagt mein Onkel.
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Er war schon einmal, Wochen bevor Alessandro plötzlich im Hof stand, hier am Bahnhof gewesen, war weggelaufen von ihr, hatte in die hohe Kuppel gestarrt, war von diesem Gebäude und seinen Dimensionen, die den Menschen zur Ameise machen, überwältigt worden und auch vom Trennungsschmerz, vom Gedanken verfolgt an sie dort in diesem vom Sonnenlicht nie verwöhnten Zimmer, an das Liegen bei ihr, an ihren Geruch, ihre Wörter, ihren Körper, der ihm von vielen anderen Männern erzählte, an ihre plötzliche Leidenschaft und ihre traurige Gleichgültigkeit, an ihr wütendes Schreien und ihr trotziges Schweigen. Er hatte Bruno auf dem Handy angerufen. Ich komme heim. Sagte er. Das ist gut. Sagte Bruno. Und dann stand Renata plötzlich da und weinte, und sie kehrten zurück zu ihr, gingen die steile, dunkle, dreckige Treppe hinauf, im Herzen zerrissen, zu ihr ins Bett. Diesmal aber haben die Wörter, die ihm Renata nach Alessandros Auftauchen hinterhergeschleudert hat, alle Lust, alle Sehnsucht erstickt. Nein, es gab kein Zurück mehr für Massimo, die Gedanken flogen längst diesem Zug nach Como voraus, den er bestieg, flogen über den See, die Berge hinauf, machten halt an den Bäumen im Hof, am Haus, mieden den Blick zum Gipfel der Madonnina hinauf, fielen Severina in die ausgestreckten Arme. Er suchte sich einen Platz am Fenster, setzte sich, spürte sein Herz höher schlagen, als der Zug endlich fuhr und ein Zurück damit immer unwahrscheinlicher, schließlich unmöglich wurde. Zum zweiten Mal in seinem Leben fuhr Massimo nun diese Strecke Mailand-Como mit dem Zug. Damals, mit ihr und ihren Gefährten, diesem wilden, verrückten, betrunkenen Haufen, hatte er nichts gesehen, auf nichts geachtet, kein einziges Mal
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aus dem Zugfenster geschaut. Es war ihm nicht aufgefallen, was er jetzt sah, der Zug fuhr durch die Hinterhöfe der Stadt, des Landes, der Welt. Als gäbe es nicht die prächtigen Straßen, die schönen Bürgerhäuser, die Palmengärten, die Paläste oder wenigstens die imposante Fassade des Bahnhofs, fuhr der Zug von einem Seitengleis aus direkt in die Hinterhöfe hinein. An Garagen, Werkstätten, Kohlehandlungen, kleinen Fabriken, Speditionen und Alteisenwarenlagern vorbei. Hinter den Fassaden der prachtvollen Großstadtsackbahnhöfe scheint es nur noch Industrie und graue Vorstadt zu geben. Kinder, die auf verdrecktem Asphalt spielten, grüßten herüber, Frauen auf zum Greifen nahen Baikonen beachteten den Zug nicht, hängten Wäsche auf, fütterten Kanarienvögel, riefen nach den Kindern unten. Immer wieder gab es zwischen den Industrieanlagen, den Lagerhäusern und Tanks, Schrotthalden und Müllbergen langgezogene Häuser mit aufeinandergestapelten Wohnungen, eine wie die andere, alle Balkone gleich, auf allen dieselbe Wäsche aus demselben Kaufhaus, in den dunklen Wohnstuben hinter den Baikonen dasselbe Fernsehprogramm, die Werbung für die Produkte, die in den Vorderhäusern dieser Peripherie verkauft werden. Autos, Nudeln, Möbel, Kaffee, Schinken, Liköre. Massimo kennt die Vorderhäuser. Sie liegen an der Autobahn und winken mit allerlei verführerischen Riesenreklamen nach den Reisenden. Glänzende Glasfassaden, gigantische Möbelhäuser, Großraumbüros, Röstereien, Autosalons, Tankstellen, Supermärkte und wieder und immer wieder Möbelhäuser. Er hatte sie gesehen, als er vor Jahren mit Freunden einmal nach Monza zu einem Autorennen gefahren war. Diese Vorderhäuser, die wie Attrappen sind, wie ein Kinderkasperletheater, vorn schön bunt bemalt, hinter dem Vorhang mit rohen Leisten zusammengezimmert, haben auch Hinterhäuser, Lager, Toiletten, Innen- und Hinterhöfe, Müllhalden. Durch sie fährt der Zug. Wieder graue Wohnblocks, dann kleine, triste Gärten, Kaninchenställe, Regentonnen, Komposthaufen. Und immer wieder und überall Müll - alles seit Jahrzehnten aus den Zugfenstern Geworfene. Dann sogar Büsche und Bäume, 45
schließlich ein Friedhof, über dessen Mauer hinweg eine Kletterpflanze in die bunten Autos eines Schrottplatzes gekrochen ist, durch die kaputten Fenster, über die Dächer, als wollte sie unaufhaltsam der Natur zurückholen, was man ihr genommen hat. Sie wird sich in die Stadt hineinfressen, alles, was Massimo jetzt gesehen hat, zudecken, überwuchern, über die Dächer der Häuser und Garagen und Lagerhäuser klettern, über die Zäune, auf den Mauern entlangkriechen, um irgendwann am großen Bahnhof anzukommen, ihn lahmzulegen. Durch die Gleise und Kioske, Züge und Schalter wird sie wachsen, die Menschen umschlingen und erwürgen, sich weiter in die Stadt hineinfressen. Massimo wachte auf. Er hatte geschlafen. Wie lange? Nicht lange. Und doch: draußen waren jetzt Wiesen, Gärten, kleine Gehöfte, Ziegen, ein paar Schafe, Hühner, Katzen, ein bellender Hund, arbeitende Menschen in der warmen Sonne, ein anderer Himmel, Berge, der glänzende See, altehrwürdige ockergelbe Häuser, Zypressen, Oleander, Como. Der Bahnhof. Der Zug hielt, Massimo stieg aus. Draußen auf dem Vorplatz stand auch schon der vertraute alte, blaue Bus, der dreimal am Tag am See entlang hin und zurück fährt. Der Bus, der die Bewohner aus den Bergen holt und sie wieder hinaufbringt, die Bauern, die einen neuen Anzug brauchen oder beim Notar den Verkauf von ein paar Quadratmetern Wiese an den Nachbarn protokollieren lassen, andere, die zu irgendwelchen Behörden müssen, Frauen, die feingemacht zum Einkaufsbummel durch die Boutiquen kommen, meist zu zweit, am Morgen aufgeregte Erwartung in den Gesichtern, jetzt müde und abgespannt, Kinder, die in die höheren Schulen gehen, ein paar halbwüchsige kichernde Mädchen, die in den Hotels am See als Zimmermädchen arbeiten und voller kleiner Geschichten sind, Hausfrauen und Pendler, die froh sind, hier eine Putzstelle oder einen anderen Job zu haben und nicht im nahen Lugano bei diesen hochnäsigen Schweizern arbeiten zu müssen. Sie alle waren jetzt im Bus, den Mario schon seit vielen Jahren fährt, so daß er beinahe jeden kennt, der zusteigt. 46
Hallo, Luca, na, wieder betrunken? Hallo, Mario, jaja, betrunken. Na, Vittorina, was haben wir denn Schönes gekauft? Unterwäsche, feine, schöne Unterwäsche, na, da wird der Gemahl aber – Halt den Mund, Mario! Ah, da ist ja auch unsere Signora Travella! Oh, Signora, bei allen Heiligen, geben Sie mir die Nummer dieses Friseurs, ich will auch zwanzig Jahre jünger aussehen! Ach, Mario, Sie und Ihre Komplimente! Gern geschehen, Signora, oh, wenn es immer so leicht wäre! Ja, wer kommt denn da?! Hallo, Mario! Hallo, Massimo! Na, auch mal wieder in der Stadt gewesen? Jaja. Hab dich lange nicht gesehen. Jaja, ich war länger nicht hier. Und heute mal wieder in der Stadt, was? Ja. Heute mal wieder. Na dann - ah, da kommt noch Luigi. Na, immer im letzten Moment. Ja, hab's grade noch geschafft. Hallo, Mario. Hallo, Luigi! Ah, da ist ja Massimo. Das - das gibt es doch nicht, he!? Wer hat dich denn hergezaubert? Vom Himmel bin ich gefallen. Vom Himmel gefallen, jaja, hergeflogen, was. Aus Deutschland einfach so hergeflogen, wie, was? Was redest du von Deutschland? Warst du nicht in Deutschland? Ich in Deutschland? Nicht? Was hätte ich denn in Deutschland sollen? Ja, was hättest du da sollen? Ja, was hätte ich da getan? Was du eben da, wo du warst, auch getan hast. 47
Ja, da, wo ich war. Aber wo war ich, Luigi? Bei der einen da. So ist es, Luigi. Hahaha. Hahaha. Du Teufel von einem Kerl, du. Hahaha. Du! Und wie geht es dir, Luigi? Wie ging es Luigi? Darüber schwieg er, und das war ungewohnt, plapperte er doch sonst alles heraus, was ihm widerfuhr oder einfiel. Luigi schwieg. Allein die Frage hatte ihn stumm gemacht, und er schwieg auch noch, als der Bus die kurvenreiche Strecke am See entlangfuhr, laut hupend, sich resolut Platz verschaffend, an den eng an der Straße stehenden Häuserwänden millimeterscharf vorbeischrammend, von Mario seinem Fahrplan entsprechend rigoros vorangetrieben. Menschen stiegen aus, stiegen ein, schoben sich durch den Bus, verstauten Gepäck, fanden Platz, schwatzten, begrüßten oder verabschiedeten sich. Den einen oder anderen kannte Massimo. Man nickte sich zu, hallo, na, auch mal wieder in der Stadt gewesen. Jaja, muß auch ab und zu sein. Doch was war mit Luigi los? Luigi, den man, wollte man seine Ruhe haben oder die Sportzeitung durchblättern, meiden mußte, weil er einen unweigerlich und unentrinnbar vollschwatzte. Luigi saß da und schwieg, verstummt nur durch die Frage nach seinem Wohlbefinden. Er starrte auf den See, kaute malmend auf seinen wenigen Zähnen, schwitzte. Luigi, verdammt, was ist los? Luisa. Er sagte es geheimnisvoll und machte eine wegwerfende Handbewegung. Was ist mit Luisa? Ja, was ist mit Luisa, das möchte ich auch wissen, was mit Luisa ist. Ist sie krank? Krank? Jaja, krank. Krank im Kopf ist sie. 48
Krank, dachte Massimo, krank, nein, verrückt ist sie. Aber das war sie doch schon immer. Und er doch auch. Hat man nicht immer gesagt, was für ein Glück, daß sich da zwei Verrückte gefunden haben? Luigi und Luisa, die sich während ihrer Verlobungszeit ein Baumhaus bauten und dann die Hochzeitsnacht oben im Baum verbrachten. Sogar in der Zeitung war ein Bild davon. Die beiden liebten sich und lebten mit ihrer Verrücktheit, mit ihren wirren Köpfen, ihren seltsamen Ideen, die so oft ihre gemeinsamen waren, wie aus einem Kopf, einem Verstand geboren. Sie waren für alle im Dorf immer Anlaß zu reden, zu lachen, zu schmunzeln, sich an den Kopf zu fassen. Und das Geheimnis war: die beiden hielten einander für normal. Nur um sie herum, die Leute im Dorf, die Nachbarn, die waren etwas verrückt, über die mußten sie oft lachen, aber sie konnten auskommen mit ihnen. Soso, krank ist sie also. Krank im Kopf, ganz, ganz krank im Kopf. Massimo schaute auf den See, wo gerade der »Pfeil der Täler«, ein schnelles Luftkissenboot, über die Wellen sauste wie ein Vogel, knapp über den Wellen, wie von deren Schlägen fortgetrieben. Mario fluchte vorne wie ein Marktschreier über einen Holländer, der schneckengleich mit seinem Caravan durch die engen Straßen schlich. Los, fahr, du, du mit deinem gottverdammten Wohnzimmer auf Rädern. Fahr! Schaut euch das an, der hat die Hosen voll. Den ganzen Haushalt haben sie dabei, beim Schweinegott, dem verdammten, aber können nicht Auto fahren! Führerschein in der Lotterie gewonnen! Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, alles! Alles dabei, verdammt! Unselige Holländer! Ich warte auf den Tag, wo sie Picknick machen, mitten auf der Straße! Holländer, der Teufel soll euch alle holen! Luigi, der sonst der Auffassung war, man stehle dem Herrn die Zeit in jeder Minute, die man schweigt, starrte stumpf vor sich hin. Er schien nichts zu hören, nichts mitzubekommen. Was mochte das mit Luisa sein? Zum ersten Mal traute Massimo sich nicht, Luigi etwas zu fragen, weil er Angst hatte, zu erfahren, daß Luisa nun tatsächlich verrückt geworden war, so ver49
rückt, daß der verrückte Luigi wie ein normaler, aber trauriger Mensch dasaß und keine Geschichten von in seinen Augen verrückten Menschen erzählte. Schon einmal mußte man um Luisa fürchten, damals, es wird etwa zehn bis zwölf Jahre her sein, als der Junge verunglückte. Luisa und Luigi hatten jahrelang keine Kinder bekommen. Sie hatte zwei Fehlgeburten, und ein Kind war nach wenigen Tagen gestorben, wie der kleine Sebastian, sogar im selben Jahr. Luisa und Severina litten damals sehr, jede auf ihre Art. Severina sah man die Trauer äußerlich nicht an. Aber zu Hause lebte das Kind für sie weiter. Noch wochenlang deckte sie für eine imginäre Person den Tisch, monatelang stand die Wiege im Schlafzimmer, und den Winter über ging sie täglich zum Grab, wo sie stundenlang stand, saß oder kniete, frierend, betend oder mit dem Herrn hadernd, das wußte keiner, denn alles geschah stumm. Luisa dagegen schrie ihr Leid heraus. Sie kaufte im Kramladen und in der Stadt für das Kind ein, Babykost, Spielsachen, Kleidung, sie erzählte von den Fortschritten, die es machte, und der Ähnlichkeit, die es mit Luigi habe, denn es war ein Sohn. Tagsüber sprach sie pausenlos zu dem Kind, und nachts schrie sie seinen Namen zum Fenster hinaus, immer wieder, in verzweifelten Schüben. Die Menschen schlössen die Fenster oder stellten die Fernsehgeräte lauter, um sie nicht hören zu müssen. Die Männer, die vor der Bar Boccia spielten, schüttelten die Köpfe. Gingen in die Bar und spendierten Luigi, dem armen Teufel, der nicht wußte, wie ihm geschah und was da mit seiner Luisa passiert war, einen Grappa. Zu reden allerdings gab es darüber nichts. Leid machte sie alle meistens stumm. Valerio! Valerio! Schrie sie, als hätte er als Engel zu ihr kommen können. Im Gegensatz zu Severina war Luisa bald wieder schwanger, und sie bekam einen gesunden Sohn, und wieder nannten sie ihn Valerio. Seine Entwicklung zu einem aufgeweckten, gescheiten, hübschen Jungen galt den Leuten als Wunder, waren doch viele Kinder von klugen und jedenfalls normalen 50
Menschen regelrecht mißraten und boten zu allerlei Sorgen Anlaß. Luisa liebte diesen Sohn abgöttisch, und Severina, das spürte Massimo, war eifersüchtig darauf, denn sie sah es als eine Ungerechtigkeit des Schicksals an. Sie wurde nicht mehr schwanger. Massimo litt sehr darunter. Er sprach immer wieder mit Severina, stritt mit ihr, schrie und beschimpfte sie, denn er wollte mit ihr zum Doktor gehen, sie und auch sich untersuchen lassen, doch sie wollte nichts davon wissen. Einmal fragte Massimo den Doktor in der Bar unten, was denn da los sei mit seiner Frau. Sie kriegt keins, weil sie keins will. Doch, Doktor, sie wollte, sie wäre gerne Mutter, sie leidet ja wie ein Vieh. Trotzdem, sie sperrt sich. Sie will den verstorbenen Sebastiano nicht durch jemand anderen ersetzen. Er lebt in ihr und für sie weiter. Das ist aber nicht einfach, Doktor. Das Fühlen und Denken der Frauen ist nicht einfach, Massimo. So ist es, Doktor. Die fühlen und denken anders als wir. Naja, die müssen die Kinder auch kriegen. Eben, Massimo, darum. Und dann passierte dieser Unfall. Die dumme Wette der Jugendlichen, Valerio, der Held mit dem traurigen Rekord, mit dem Motorrad fuhr er halsbrecherisch den Berg hinunter und brach sich den Hals am Felsen, vor den Augen seiner Mutter. Ein Jahr lang schrie sie wieder seinen Namen in die Nacht. Valerio! Valerio! Dann kehrte sie zu ihrer normalen Verrücktheit, ihrem Leben neben Luigi zurück. Auf den Friedhof ging sie kaum mehr. Severina legte manchmal, wenn sie Sebastiano besuchte, eine Blume auf das Grab der beiden Valerios. Was war jetzt passiert? Etwas mußte doch passiert sein. 51
Wie krank im Kopf, Luigi, was soll das? Sag schon, erzähl es mir, was ist los, raus mit der Sprache, Freund! Luigi atmete schwer, keuchte und schwitzte, suchte mühsam Wörter zu halben Sätzen zusammen, stammelte, stotterte, spuckte die Wörter aus wie Reihen von Flüchen. Das Wetter, du weißt doch, das Wetter. Im März das Wetter, weißt du, hast du davon gehört, da wo du warst? Das Wetter, der Regen, wochenlang der Regen und was runter konnte vom Himmel wie aus Eimern. Und die Berge kommen runter und die Steine, alles auf die Straßen, ein Chaos auf den Straßen und überall, verdammt, ein Chaos, verdammt bei allen Heiligen, so ein Wetter wie lange nicht. Zehn, zwanzig Jahre nicht, das war im Fernsehen. Haben sie gesagt, so lange kein solches Wetter mehr, ich meine so ein Regen, und das Wasser unterspült alles, und kommen Berge runter überall. Und am Donnerstag war es: ich konnte ja nicht in die Arbeit. Weil kein Bus und nichts mehr fuhr. Sitze ich in der Bar, trinke mit Franco-Francone und Bruno und, ja, und Ferruccio war dabei, sitzen wir bei Teresa am Nachmittag. Drei Uhr. Da kommt Albino rein und schreit. Der Friedhof! Der Friedhof! Verstehst du, der steht da und schreit, der Friedhof! Immer, der Friedhof! Er hat es herausgeschrien, wie Albino es geschrien haben muß. Die Leute im Bus schauten zu ihnen herüber. Einige lächelten. Sie kennen Luigi. Luigi, der Spinner, endlich drehte er mal wieder auf, dachten sie zufrieden. Der war so still in letzter Zeit. Man hatte schon beinahe begonnen, sich den einen oder anderen Gedanken über seinen Gesundheits- oder Gemütszustand zu machen. Jetzt aber schien er wieder der alte zu sein, Luigi, der Narr. Alles wieder in Ordnung. Und was war's mit dem Friedhof? Er ist runtergekommen, runter auf die Straße. Unterspült, die Mauer gebrochen und runter, die ganze erste Reihe der Gräber unten vor der Tür des Friseurs, unten auf der Straße, auf dem Platz, verstehst du. Auch unser Grab und zehn andere, alle unten auf der Straße. Und die Knochen und die Schädel, und das ganze Dorf war schon da, die Frauen, die Kinder, die nicht in der Schule waren, und alle Kränze vom frischen Grab 52
des alten Alborghetti und der Sarg hängengeblieben im Gebüsch, halb oben, hängt in der Luft. Und kann jeden Augenblick runterkommen! Und plötzlich Luisa neben mir. Valerio! schreit sie. Valerio! Der Bus fuhr in einen Tunnel, und Luigi nutzte das Dunkel, herauszuschreien, was die Krankheit im Kopf der Luisa verursacht hatte. Da liegt er, Valerio, der Junge, im Dreck, das Skelett, das ganze Skelett und die gelbe Jacke! Die gelbe Jacke, und die ist wie neu, Plastik, verstehst du! Die gelbe Jacke, die wir ihm angelassen haben im Grab, und da drin das Skelett! Arme Luisa. Arme Luisa, ja. Um Gottes willen! Sie hat's nicht ertragen, Massimo. Das, das hat sie nicht ertragen. Das war zuviel. Jesus und Maria, ja. Luigi war zusammengesackt, vergrub das Gesicht in den flachen Händen und weinte. Hilflos saß Massimo daneben, legte seinen Arm um den Mann, der am ganzen Körper zitterte, und schaute zum Busfenster hinaus. Da war wieder das Luftkissenboot auf dem See. Durch die Anlegestellen, dachte Massimo, ist es letztendlich auch nicht schneller als der Bus. Warum, Massimo, warum haben wir ihm die Jacke angelassen? Weil ihr's gut gemeint habt. Er war so stolz drauf. Eben, Luigi, darum.
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Severina kommt den Hügel herunter zum Haus. Da sitzt die Alte auf der Holzbank, kaum zu erkennen, ist fast eins mit dem gegerbten und verwitterten Holz geworden. Ihre Augen erfassen sofort Severinas Gestalt, folgen ihr, lassen sie nicht mehr aus, registrieren und kommentieren stumm ihre Eile, ihr gehetztes Laufen, ihr Stolpern, das Hinwerfen der halbvollen Kiepe. Wie immer verfolgt die Alte Severinas Tun mit zwei Adleraugen und mit leichtem Spott. Was ist denn nun schon wieder, denkt sie, kommt vielleicht wer? Franco-Francone vielleicht? Muß man dafür aufgeregt zum Haus laufen, stolpern, hetzen? Oder ist es Alessandro, ihr Vater, der sie wieder anschreien wird, um sie zum Sprechen zu bringen? Irgend etwas wird sein, irgendwas wird sie sich wieder eingebildet haben, denn sie ist doch verrückt, so verrückt wie Luisa unten. Die Alte, denkt Severina, weiß noch nichts von dem, worauf sie seit einem Jahr wartet, was ihr ganzes Denken und Fühlen bestimmt. Sie gönnt ihr die Freude nicht, sie sagt ihr nichts, sie will vor allem diese Freude nicht sehen müssen, diesen Triumph über sie. Severina wünscht ihr den Tod, nichts als den Tod. Gibt es nicht diesen gnädigen Tod aus freudiger Überraschung, wo das Herz, das nur für diesen einen Augenblick noch geschlagen hat, plötzlich stillsteht, als habe sich sein Sinn erfüllt? Diesen Tod wünscht sie ihr. In Gottes Namen diesen Tod aus Freude, wenn es ihn denn gibt, den soll sie sterben. Sie soll nicht Zeuge seines Zurückkommens zu ihr sein. Soll keinen Triumph über sie haben, soll sie nicht mehr ansehen dürfen, fragend, ja, und jetzt, was ist mit dir, er ist da, mein geliebter Sohn, dein Mann, jetzt rede, sprich, verzeih ihm, wenn es überhaupt etwas zu verzeihen gibt. All das, was sie gesagt hat an den Nachmittagen und an den langen Abenden der Kälte, die beide fast körperlich zwang, vor dem Kamin aneinanderzurücken, um sich zu wärmen, alle Wörter, alle Sätze, alle Blicke sollen in ihr bleiben. Nichts von alldem sollte sie mehr sagen dürfen. Sie soll die Stumme sein, sie. Herr,
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Gott, schenk mir ein Wunder und ich schenke dir eins, das eine, einzige, das ich hab. Dieses Wunder, das mich hat überleben lassen, das jetzt meine Waffe sein muß, mein Schild, meine Abwehr, mein Stolz. Und auch meine Liebe. Mach, Herr, mein Gott, daß sie jetzt und in dieser Stunde für immer schweigen muß, und ich spreche sofort. Ach, der Herr! Der Herr, mein Gott! Was hat sie gebetet zu ihm, was hat sie ihn angerufen, ihm ihre Wünsche zu Füßen gelegt, gebettelt, ach, bring ihn mir zurück, diesen Mann, laß alles ungeschehen sein. Ich brauche ihn doch, diesen Mann, ich liebe ihn doch, ich will doch immer mit ihm sein, bring ihn mir wieder, o Herr! Der Herr! Hat der Herr sie einmal erhört? Nein. Und wo war er, als der kleine Sebastiano starb, kaum drei Tage alt, ungetauft, unschuldig? Was hat er für sie getan, wie ihre Treue zu ihm belohnt, die sie ihm selbst nach Sebastianos Tod unten am Grab mit Hunderten von Rosenkränzen und Vaterunsern aus vollem Herzen und wunder Seele bezeugte? Oder ist der Lohn vielleicht, daß Massimo jetzt zurückkommt? Ist das dein Lohn, o Herr, dein Wille? Das ist sein Wille, das muß er sein! Ja, da war doch ein Zeichen! Wie oft schon hat sie auf den Hügeln Holz geschlagen, die Schafe geschoren, Gras für die Kaninchen gemäht, in die Arbeit versunken, und plötzlich den sirrenden Ton des Seils gehört, wenn jemand darauf schlug, um sich anzukündigen. Aber wie war es denn jetzt? Sie hat die Sichel weggelegt, die Hand über die Augen gehalten, zum Ende des Weges geschaut und ihn gesehen, einen kleinen Punkt zwar. War es so? Doch, sie ist sich sicher, daß es so war. Hat ihr nicht Gott der Herr eingegeben, Severina, da kommt dein Mann, ich habe ihn dir zurückgeschickt, da schau hin, du sollst es sehen?! Es ist doch auch die höhere Macht Gottes, wenn man in einer Sternennacht in die hohe Weite des Himmels schaut und man sieht eine Sternschnuppe, die blitzschnell zum Horizont saust 55
und versinkt. Man sähe sie nicht, wäre da nicht der Herr, der einem befiehlt: Sieh da hin, da passiert es in diesem winzigen Moment. Und jetzt gefällt es dem Herrn, ihr ihren Mann zurückzuschicken. Warum? Was will der Wille des Herrn? Hat er Massimo nicht auch befohlen zu gehen, sie zu verlassen? Oder hat der Herr über ihn gar keine Macht? Sind in einem Mann vielleicht ganz andere Kräfte, Kräfte, die ihm sagen, tu das, was du dir in den Kopf gesetzt hast? Handelt der Mann gegen den Willen Gottes? Darf er das, ohne daß der Herr ihn bestraft? Sie wollte das schon einmal Don Roberto fragen, aber als sie vor ihm stand, traute sie sich nicht, denn es war ihr plötzlich bewußt: Don Roberto ist auch nur ein Mann. Was soll er mehr wissen als ein Mann? Nein, die Männer handeln gegen Gott, denn sie sind es, die weggehen, Frauen und Kinder verlassen, in der Kirche bei der Messe ganz hinten stehen, kaum inbrünstig beten und das Gotteshaus schon verlassen, ehe der Pfarrer das Amen verkündet hat. Sie tun das, weil eine Kraft in ihnen ist, die gottlos ist. Aber warum bestraft Gott dann die Männer nicht, die seine Gebote und vor allem das Sakrament der Ehe verletzen? Warum? Weil er auch nur ein Mann ist? Ist Gott wirklich ein Mann? Severina bringt die Sichel zum Schuppen, kommt an der Vogelvoliere vorbei, sieht darin die letzten armseligen Bewohner, die noch geblieben, die nicht im Winter erfroren oder aus Einsamkeit oder beim Kampf gegen das Gitter gestorben sind. Sie öffnet das Gatter, scheucht mit den Händen nach den Vögeln, die aufgeregt herumflattern. Keiner verläßt das Gefängnis. Sie sind verwirrt. Severina schlägt mit den flachen Händen auf den Maschendraht, verwundert fliehen die Vögel, finden schließlich den Ausgang, können aber mit der plötzlichen Freiheit nichts anfangen. Die einen bleiben einfach hilflos auf dem Boden sitzen, andere fliegen ein Stück, in einen Busch oder auf einen Baum. Sie werden sich in die Lüfte erheben wollen, sehnsüchtig nach den Gefährten dort schauen und festellen müssen, daß sie nicht fliegen können, denn man hat 56
ihnen die Flügel gestutzt. Severina geht ins Haus, eilig, gehetzt, geht in die Kammer, rafft eine Decke zusammen, nimmt das Hochzeitsfoto von der Wand, starrt kurz auf das Kreuz, das über dem Bett hängt, und geht. Sie flieht auf den Dachboden. Und draußen sitzt die Alte, denkt daran, wie sie als Kind auch schon hier saß, rechnet vergeblich, wie viele Jahre wohl dazwischengelegen sind, schaut in die Bäume, als könnten die ihr eine Antwort geben. Sie schläft ein und ahnt nicht, daß ihr altes Herz in wenigen Augenblicken vor Freude und Erfüllung fast stehenbleiben wird.
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So saß die Alte damals auch da, aufrecht, fast bewegungslos, auf den Weg starrend, auf dem ihr Sohn mit den betrunkenen Fremden verschwunden war, um weder am nächsten noch am übernächsten Morgen wiederzukommen. Zwei Tage und zwei Nächte saß sie voller Vorwurf da mit ihrem trotzigen Gesicht, das sagen wollte: Du hast ihn vertrieben, jetzt hast du's, du hast ihn vertrieben, er mußte gehen, weil du ihm eine schlechte Frau warst. Erst stand das alles nur in ihrem Gesicht geschrieben, als sie aber ihren Beobachtungsposten aufgab, um auf die Bank am Kamin zurückzukommen, wurde es Gegenstand langer jammernder Litaneien und hinterhältiger Sticheleien, die sich wie beißender Rauch auf die langen Abende legten. Sie krallte sich mit ihren bösen Wurzeln, die sie schlug, im Haus fest. Ihre Haßtiraden auf Severina verstörten selbst die Tiere im Stall. Sie machte die Nächte zu Tagen, sie ruhte nicht und hörte nicht auf zu sprechen, als ihre Schwiegertochter sich längst nur noch schluchzend, von Weinkrämpfen geschüttelt, die Ohren zuhielt. Severina wollte das alles nicht mehr hören, nicht immer dasselbe. Sie war verzweifelt. Sie lief hinaus und schrie seinen Namen in die Nacht, ins Tal hinunter, zum Berg, zum Gipfel der Madonnina hinauf. Die darauf folgende Stille verhöhnte sie. Um der Alten nicht so nahe zu sein, war Severina auf den Speicher gekrochen, auf diesen kleinen halbhohen Raum über der Wohnküche. Hier schlief sie. Hier wachte sie, hörte auf die Geräusche der Nacht, das Ächzen der Bäume, die Rufe der Käuzchen, das leise Scharren der Siebenschläfer im Schuppen, das Flattern der Fledermäuse. Und es war ihr, als hörte sie das höhnische Gelächter der Männer in der Bar unten im Dorf. Und am Morgen saß die Alte wieder da, ein ganzes, fast zu Ende gelebtes Leben ins Gesicht geschrieben, mit der einzigen noch verbliebenen Hoffnung, den geliebten Sohn noch
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einmal zu sehen. Das würde sie jetzt am Leben erhalten. Dieses Gesicht würde sie jetzt einfrieren. Wie lange, überlegte Severina, wie lange würde sie aushalten? Würde er je wiederkommen? Würde sie je wieder sein Klopfen auf das Seil hören? Würde er jetzt bei dieser Fremden bleiben? Diese Fremde, was war, was bedeutete sie überhaupt? fragte sich Severina. Sie versuchte sie sich vorzustellen. Es gelang ihr kaum. In all der Panik um Massimos Verwirrung hatte sie nur ihn gesehen, nicht diese, deren Gesicht sie sich nicht mehr vorstellen konnte. Wie konnte das sein? Merkt man sich als eifersüchtige Frau nicht alle Gesichtszüge, jede Falte, jede Geste, jedes Wort und seinen Klang? Ruft man sie sich nicht immer wieder ins Gedächtnis, um sie verachten und hassen zu können? Severina konnte diese Frau nicht hassen, weil sie ihr niemand war. Die Männer, sagen Frauen, die mit so etwas Erfahrungen haben, gehen weg, weil sie weggehen wollen. Es ist der ganz bestimmte Zeitpunkt, an dem sie gehen wollen, nicht ein einzelner, bestimmter Mensch, der in ihr Leben getreten ist. Es kommt also nicht auf diese Frau an. Es hätte auch eine andere sein können. Aber wenn das wirklich so ist, dachte Severina, warum wollte er jetzt gehen? Es war doch nichts vorgefallen zwischen ihnen. Alles hatte seine Ordnung. Sie hatten sich doch in ihrem Leben so eingerichtet, mit den Pflichten und Aufgaben. Sogar mit der Alten hatte sie sich ihm zuliebe arrangiert. Weil sie nun mal seine Mutter war. Und sogar seine Abenteuer konnte er haben, unten am Abend in der Bar, und dann bei Rosanna in ihrem Bett. Nie hat sie danach gefragt, nie überhaupt zu erkennen gegeben, daß sie das wußte. Sogar damit, daß sie nach dem Tod des kleinen Sebastiano keine Kinder mehr bekommen hatte, waren sie zurechtgekommen. Sie hatten nicht mehr darüber gesprochen, nicht mehr daran gerührt. Das war doch schon so lange her. Sebastiano wäre jetzt ein erwachsener Mann, er hätte schon ein Auto und eine Freundin, und er wäre vielleicht Lastwagenfahrer und käme in ganz Europa herum und schickte von überall her bunte Postkarten. Oder vielleicht wäre er Carabiniere und säße in einer schönen Uni59
form unten in der Station und wäre wichtig, und die Leute hätten Respekt vor ihm und einige auch etwas Angst. Was auch immer er wäre, er wäre nicht mehr der kleine Sebastiano, der er für sie geblieben ist. Ihr kleiner, unschuldiger Sebastiano. Nun war Massimo also gegangen. Aber er hatte es, wie es seine Art war, nicht heimlich und still und leise getan. Er war gegangen, wie er mit dem Hund am Seil übers Tal geflogen war, vor aller Augen, mit ihrer Bewunderung und ihrem Beifall. Er war aus Severinas Leben gegangen, wie er in ihr Leben gekommen war: lächelnd, stolz, aufrecht, verrückt. Ist er vielleicht verrückt? Hat er es getan, damit sie ihn unten im Dorf wieder bewundern? Werden sie ihn bewundern und sie damit vollends verspotten? Die Männer, die an schwülen Barabenden von solchen Abenteuern nur träumen und allenfalls sehnsüchtig reden, um dann doch zum Gewohnten heimzutorkeln, werden ihn beneiden. Wird einer von ihnen an sie und ihren Kummer und ihre Verzweiflung denken? Franco-Francone vielleicht. Der gute Franco-Francone. Arme Severina, wird er zu seiner Frau sagen. Es hat so kommen müssen, wird sie sagen. Er wird das nicht verstehen, ihr aber nicht widersprechen. Wo sie doch keine Kinder bekommen konnte, wird sie sagen. Ein Wunder, daß er überhaupt so lange geblieben ist. Ja, nun, jetzt ist eine gekommen, aus der Stadt eine, was Besonderes. Hast du sie gesehen? Ja. In der Bar. Und? Was und? Was ist sie für eine? Weiß ich nicht. Hab sie ja nur gesehen. Hör sich einer diesen Menschen an! Weiß ich nicht, hab sie ja nur gesehen! Eben. Ist sie schön, ist sie jung, ist sie dick, ist sie dünn? Irgendwas davon!? Dürr. 60
Und sonst? Was sonst? Was ist sie, hat sie Geld, warum hat sie Massimo mitgenommen, was? Er ist mitgegangen. Warum? Der wollte schon immer mal was anderes wissen. Das ist wegen ihr, wegen der Severina, wegen der ist das. So werden sie reden, dachte Severina. Sie wird die unruhige Neugier der Frauen haben, er die freundschaftliche Treue zu Massimo, die ihn nichts Schlechtes sagen läßt. Sie werden ein großes Stück eines Schweins essen, werden vielleicht darüber rätseln, an wem es gelegen haben könnte, daß Massimo und Severina keine Kinder mehr bekommen haben, und sie werden sich glücklich preisen, ihrerseits zwei Töchter zu haben, die so ganz und in jeder Beziehung, auch gewichtsmäßig, nach ihnen geraten sind. Und die anderen Frauen, dachte Severina, werden eifrig die Wäsche zur Waschstelle am Platz tragen, als hätten sie keine Waschmaschinen zu Hause. Und sie werden die Köpfe zusammenstecken, schadenfroh sein, höhnisch über sie lachen, kichern, Anteilnahme heucheln, besserwissen. Wißt ihr schon, habt ihr schon gesehen? Man stelle sich vor, kaum zu glauben, aber wahr, geschieht ihr recht! Dachte wohl, sie könnte den ein Leben lang für sich behalten, warum nicht eine Fremde, wenn schon nicht eine von uns, er soll ja völlig verliebt in die gewesen sein, sagt man, hat man gehört. Teresa muß man fragen, die weiß alles. Eine Orgie soll dort stattgefunden haben. Eine Orgie, man stelle sich vor! Oh, was wird Rosanna dazu sagen? Wird sie trauern? So werden sie reden, und es wird jeder von ihnen guttun. Zufrieden werden sie ihre Wäsche nach Hause tragen, um sie in der Maschine trockenzuschleudern, und ihre eigenen Probleme werden ganz klein und unbedeutend sein zur Zeit. Aber war er überhaupt weggegangen? War er nicht vielleicht einfach unten im Dorf geblieben, reparierte den Zaun oder war von jemandem um die Mithilfe bei einer größeren Arbeit gebe61
ten worden, schweißte vielleicht mit Ferruccio ein Gartentor oder fuhr mit Bruno Holz zur Pizzeria hinunter an den See. Vielleicht hatte er die Fremde davonziehen lassen, schämte sich etwas, wollte ein paar Tage vergehen lassen, um dann wieder heraufzukommen, als wäre nichts gewesen. So wird es sein, dachte Severina, ich habe mich vom Lamentieren der Alten verrückt machen lassen. Es war der dritte Tag. Die Alte war an ihren Litaneien heiser geworden. Sie war schwach und erschöpft und schwieg. Severina putzte das Haus, den Stall, den Schuppen, fegte den Hof, ordnete, als gälte es, alles fein für seine Rückkehr herzurichten. Und fest und immer wieder nahm sie sich vor, nicht zu suchen, nicht hinunterzugehen und nach ihm zu fragen, nicht seinen Namen in alle Winkel des Dorfes zu rufen, denn sie würden sie belächeln und verspotten. Am vierten Tag suchte sie ihn, ging hinunter und fragte nach ihm und rief seinen Namen in alle Winkel des Ortes. Und sie belächelten und verspotteten sie. Das spürte sie, das hörte und fühlte und sah sie, das war das Echo auf ihre Rufe. Was soll's, Severina, er ist weg. Wer weiß, wofür das gut ist. Man soll keinem nachweinen. Hast du geglaubt, der ist dir treu? Ausgerechnet der. Solche setzen einem immer Hörner auf. Ist der Adler ausgeflogen?! Der kommt wieder. Den behält keine. Ich wäre froh, wenn meiner ginge. Ich auch. Die schlechten Männer bleiben einem. Ich hab immer gesagt, mir ist meiner gut genug, der haut mir nicht ab. Lieber die Taube in der Hand oder so. Hast du's ihm nicht gutgehen lassen, Severina? Ja, der Massimo! 62
Der hat nichts ausgelassen. Auf so einen muß man besser aufpassen. Frag mal Teresa, die weiß mehr. Oder Rosanna. Ja, Rosanna. Die trauert auch um ihn. Aber sie läuft nicht im Dorf herum und ruft seinen Namen. Das wäre was! Zwei, die im Dorf herumlaufen und Massimo rufen. Das wäre was, allerdings. Solche wie der, die haben einmal viele Witwen. So redeten sie. Severina hörte es nicht. Und hörte es doch. Denn aus den Fenstern kam es, von den Mauern hallte es wider, in den Gesichtern stand es, die schnell hinter Gardinen verschwindenden Köpfe sprachen davon, und die zu Boden blickenden Männer, die schnell wichtigen Dingen nachzugehen hatten, verrieten es. Man wußte alles, hatte oder täuschte Mitleid vor und kehrte plötzlich gegen alle Gewohnheit nur vor der eigenen Tür. Teresa wußte genüßlich von Grappa- und Champagnerflaschen, die man ins Haus getragen habe, zu berichten, und sie ließ mehrmals das Wort Orgie fallen. Ja, eine Orgie habe man da gefeiert, eine Orgie bis in den frühen Morgen, bis man gemeinsam mit dem Bus abgereist sei, und Rosanna könne das alles bestätigen und wisse vermutlich mehr. Bis in den frühen Morgen! Eine Orgie! Das konnte Rosanna bestätigen. Kein Auge habe sie zugetan, so sei es zugegangen. Geschämt habe sie sich für ihn, jawohl, geschämt. Und sie schäme sich immer noch. Geh nur hinein ins Haus, und du wirst es sehen mit deinen eigenen Augen, wie sie es getrieben haben. Geh nur hinein. Severina ging nicht hinein. Sie überließ Rosanna ihren Gefühlen, dieser Mischung aus Triumph, Eifersucht und Trauer, in der sie sich nicht zurechtfand, und eilte den Berg hinauf. Noch lange schallten Hohn und Spott an ihr Ohr, die sie oben im Gesicht 63
der Alten wieder erwarteten. Rosanna suchte Zuflucht und Rat bei ihren Flaschen mit den bunten Likören. Drei Tage hielt Severina still. Sie arbeitete für zwei, tat seine Arbeiten auch, machte Holz, reparierte das Stalldach fertig, fütterte, mistete aus, schlachtete mit verbissener Wut ein Huhn, kochte für sich und die Alte und antwortete auf deren Fragen nicht. Sie begann zu verstummen. Nachts lag sie trotz ihrer Müdigkeit von der Arbeit wach da, haßte das selbstgerechte Schnarchen der Alten nebenan, hörte auf die Geräusche draußen und stand in der dritten Nacht auf, um sich anzuziehen und im Schutz des Dunkels wieder ins Dorf hinunterzugehen. Sie lief, sie kannte den Weg, lief schneller als sie sonst diesen Weg ging, stolperte über Steine und Wurzeln, fiel einmal hin, rappelte sich auf, lief weiter, hatte irgendeine Eile. Ein von Jagdtreibern gehetztes Tier. Am Kreuz für den verunfallten Valerio bekreuzigte sie sich. Sie war, als sie Massimo gesucht hatte, nicht ins Haus gegangen. Sie hatte nur nach ihm gerufen. Sie hatte keine Beweise für das, was Rosanna und Teresa erzählten, sie hatte nicht den beschämenden Zeugen seines Abenteuers, seiner Eroberung, begegnen wollen. Was würde sie gesehen haben? Ein zerwühltes Bett, ausgetrunkene Flaschen, überfüllte Aschenbecher. Jetzt, von Rosanna, wie sie glaubte, nicht gesehen, heimlich, wie eine Diebin, ging sie ins Haus. Es roch nicht abgestanden und modrig wie sonst, wenn man nach Tagen von oben herunterkam, es roch anders, so wie es noch nie gerochen hatte, ein Geruch, den Severina nicht kannte, der ihr die Kehle zuschnürte, ihr Herz klopfen ließ. Sie fand das zerwühlte Bett, die ausgetrunkenen Flaschen, die überfüllten Aschenbecher. Und sie begriff, daß Rosanna und Teresa recht hatten. Hier hatte eine Orgie stattgefunden. Beklommen ging sie durchs Haus. Sie schämte sich für ihn. Konnte das wahr sein? Ja, sie schämte sich für Massimo. Wut kam in ihr auf. Sie warf die Flaschen an die Wände, riß das Bettzeug herunter, schleppte es die Treppe hinunter, verbrannte es im Kamin. Rauch schlug ihr entgegen, trieb ihr Tränen in die Augen. Sie tobte. Vor dem Hochzeitsbild auf dem Kaminsims 64
hielt sie inne. Was war sie stolz gewesen damals. Ein schönes Paar. Massimo, einen Kopf größer als sie, blickte strahlend, beschützend zu ihr hinunter, sie leicht verzagt lächelnd, Schutz an ihm suchend. Sie war verliebt damals, konnte nicht mit den anderen Frauen sagen, nur aus Vernunft geheiratet zu haben. Keinen anderen hätte sie damals gewollt. Keinen hatte sie sich auch nur näher angeschaut oder in Betracht gezogen. Stolz war sie durch den Ort gegangen, selig war sie, wenn er sie vor allen küßte, wenn sie am Abend zur Bocciabahn kam, wo er das Wort führte. Meine Kleine, mein Glück, mein Stern, meine Taube, mein Vögelchen, solche Dinge hatte er zu ihr gesagt, und sie hatte es genossen. Was hatte sie für Ängste gehabt, wie hatte sie sich als Mauerblümchen gefühlt neben der schönen Schwester, nach der allein die Männer schauten. Und sie hatte es sehr wohl mitbekommen, daß sich manche hinter ihrem Rücken fragten, warum Massimo nicht Anna genommen hatte. Severina fuhr mit den Fingern übers Glas. Unter Staub wurde das Bild klarer. Für einen Augenblick schien es, als wenn das Betrachten des Bildes sie versöhnen könnte, doch da ging die Haustür, jemand kam durch den Flur zur Küche, im spiegelnden Foto sah Severina, daß Rosanna in der Tür stand, stumm, fragend. Das Bild fiel zu Boden, und in unbändiger Wut trampelte Severina darauf herum, bis das Glas in tausend Stücke zerbrochen war. Immer noch stand Rosanna stumm da, als hätte sie irgendein Recht dazu, als habe sie einer Mutter gleich zu strafen und zu züchtigen, als habe sie ewas zu kontrollieren, als habe Severina sie nach Hilfe gefragt. Man muß ihn suchen lassen, Severina. Als vermißt muß man ihn melden. Was kümmerst du dich drum?! Rief Severina. Weinend setzte sich Rosanna auf die Stufen vor der Haustür und vergrub das Gesicht in den Händen. Mir fehlt er doch auch. Den jungen Carabinieri, die gerade von der Ausbildung kom65
men, geben sie immer den Seitentisch. Statt zu sehen, wer zum Hauptportal hereinkommt oder wer am Seeufer flaniert, blickt man von hier aus auf den Fluß, das Flüßchen, das Bächlein, das sich in einem etwa zwanzig Meter breiten Delta unter einer kleinen Brücke in den See quält. Oben in den Bergen ist das ein reißender Bach, der sich durch tiefe Schluchten nach unten stürzt, doch in der Ebene verliert er an Kraft und Bedeutung, so daß er hier selbst nach mehreren Regentagen nur noch in dünnen Rinnsalen im See das Weite sucht. Mit sich führt er alles das, was man oben hineinwirft, dort, wo Schilder, »Müll abladen verboten, schützt die Natur« Orientierung verschaffen. Plastiktüten, Ratten, Styropor- und Resopalstücke, Katzenkadaver. Hier saß seit einiger Zeit Adriano, blickte stundenlang versonnen auf diesen Vorhof seiner Karriere und träumte. Wenn Adriano auf dieser Carabinieristation auch noch nichts zu sagen hatte, so war er doch der Herr über diese inoffizielle Müllkippe vor seinem Fenster. Dort entging seinem wachen Auge nichts. So hatte er vor einem halben Jahr diese in ein Handtuch gewickelte Fehlgeburt gesehen und beschlagnahmt, die für großes Aufsehen gesorgt hatte, deren Herkunft aber nicht aufgeklärt werden konnte. Und einmal, als er auch so dahinträumte, sah er plötzlich eine Plastiktüte im flachen Wasser. Sie bewegte sich, mehr, als das Wasser das bewerkstelligen hätte können. Er lief hinaus und fand fünf junge, lebende Katzen. Die sausten nun durch den Garten hinter der Carabinieristation, wurden von Adriano und den anderen mit den Resten ihres mitgebrachten Brotes gefüttert und waren ihnen Spielzeug in den Dienstpausen, bis der Chef bestimmte: Die Katzen müssen weg. Da gerade eine dienstliche Schießübung anstand, konnten sie das Problem mit je sechs Schuß aus fünf Dienstpistolen mühelos erledigen, und die toten Katzen landeten da, wo sie lebend ohne die Aufmerksamkeit des Carabiniere Adriano auch gelandet wären, im See. Wenn Adriano träumte, dann träumte er sich in Menschen hinein, die man bewunderte, die Erfolg und Geld hatten. Da saß er statt Schumacher im Ferrari, statt Pantani auf dem Renn66
rad, sang auf Bühnen, spielte in Filmen, war der Mafiaboß, der seine Feinde begnadigte, führte die schönsten Frauen am Arm, nahm gnädig den Jubel der Massen entgegen, badete in der Menge, bereiste alle Länder der Welt, umgeben von Schönheit und Reichtum, von Luxus und Anerkennung. Und natürlich erträumte er sich auch die ideale Frau, was im Verhältnis zu allem anderen Erträumten sehr unrealistisch war, weil er zum einen nur die kleine dicke Berta aus der Nachbarschaft kannte, deren Brüste er einmal anfassen durfte, und ihm zum anderen jede blonde Frau gefiel, die in etwa über Bertas Brustgröße verfügte. Ihm fehlten noch die Erfahrungen, um Vergleiche anstellen zu können. Wenn er an hundert Tagen gerne Schumacher im Ferrari gewesen wäre, so hätte er doch an jedem dieser Tage gerne eine andere Frau gehabt. In bescheideneren Momenten war er der gütige, verständige Chef aller Carabinieri des Landes, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den kleinen Carabinieri, denen, die an den Seitentischen saßen und auf die inoffiziellen Müllkippen schauten, besondere Karrieren einzuräumen, in denen sie sich bewähren konnten. Zu Hause konnte er nicht träumen. Das ließ die Mutter nicht zu. Schon früh hatte sie ihm klargemacht, daß es Gottes Bestimmung ist, was einer wird und was nicht, weswegen das Träumen von irgend etwas anderem gar keinen Sinn habe. Dein Vater war Bäcker, du bist Carabiniere, und Adriano Celentano ist ein berühmter Mann. Und der ist nicht klüger als du und dein Vater. Aber Gott der Herr hat bestimmt, aus Adriano Rossi senior wird ein Bäcker, aus Adriano Rossi junior ein Carabiniere und aus Adriano Celentano ein berühmter Mann. So ist der Wille des Herrn. Er stellt die Menschen da hin, wo er sie braucht. Und darum hast du nichts zu träumen, sondern zufrieden zu sein. Der Herr braucht Carabinieri, damit Ordnung herrscht, und dich hat er auserwählt, obwohl du beileibe nicht der Klügste bist! So sprach sie. Ich hab das Denken vom Vater, sagt die Oma. Rede du schlecht über deinen Vater, der Herr hab ihn selig] 67
Dein Vater, Rossi Adriano senior, war der beste Bäcker aller Täler! Und warum war er so gut? Weil er die besten Brote backte. Und warum waren seine Brote die besten? Weil er in jedes Brot einmal hineinspuckte und sich dabei bekreuzigte, hundertmal am Tag. Und wäre er nicht mit der Raucherei und der Lunge und der Tuberkulose und an der ewigen Husterei gestorben, er würde noch heute die besten Brote backen! Ich erbitte Respekt für deinen Vater, schreib dir das hinter deine Ohren. Deine Ohren! Die hast du auch von ihm. Da kannst du gut aufs Grab hinaufgehen, das Unkraut zupfen, ein paar Blumen hinstellen und deinem Vater für deine Ohren danken. Als Bäcker brauchte er diese Ohren nicht. Für einen Carabiniere sind sie ein Segen. Das wird sich der Herrgott gedacht haben, als er dich Carabiniere werden ließ, denn dir fällt wenigstens deine viel zu große Dienstmütze nicht ins Gesicht, wie diesen anderen Dummköpfen unter deinen Kollegen. Und jetzt geh und schlachte ein Huhn. Aber mit der Axt, nicht wieder mit der Schrotflinte! Was sucht die überhaupt hier im Haus. Ist die erlaubt? Und wenn du das Huhn geschlachtet hast, fütterst du das Schwein und die Kaninchen. Und schlag dich nicht wieder mit den Nachbarsjungen, sonst hast du bald gar keinen Zahn mehr, wo wir für den Zahnarzt kein Geld haben. Und laß die Finger von dieser Berta! Die ist nichts für dich! Für die ist mir mein Sohn zu schade, die hinter jedem herläuft, der einen Schwengel zwischen den Beinen hat, verdammt. Ihr Männer, packen müßte man euch an euren Schwengeln und durchschütteln, bis ihr zu Verstand kommt! Werd du mir nicht wie dein Vater mit den Weibern! Und träume nicht! Das bringt nichts! Und trink nicht! Vor dem Träumen kommt noch das Trinken. Die Trinker und die Träumer, die sind noch alle im Elend gelandet. So ging das zu Hause zu. Sie redete und arbeitete den ganzen Tag und versank immer in einen schweren traumlosen Schlaf. Unter ihren Augen, die überall waren, mußte man immer irgend etwas tun. Sie duldete es nicht, daß einer einfach nur dasaß, las, fernsah oder Musik hörte. Das ist dem Herrgott die Zeit gestohlen, und den bestiehlt man 68
nicht. Sagte sie. Da war es denn kein Wunder, daß Adriano im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die nicht Carabinieri sind, gerne zur Arbeit ging. Hier auf der Wache, in diesem ehrwürdigen hohen Raum, der selbst an heißen Sommertagen angenehm kühl war, herrschte Ruhe, denn aus naturbedingter Müdigkeit sprachen die vier Kollegen nur das Nötigste. Sie saßen unter dem Bild des jeweiligen Präsidenten der Republik, arbeiteten an Papieren weg, was sich gar nicht mehr aufschieben ließ, machten hereinkommenden Hilfesuchenden klar, daß auch sie in den meisten Fällen hilflos sind, weil Wichtiges oben und nicht hier entschieden wird, und sie ruhten sich mit der Gewißheit aus, daß am Feierabend zu Hause auf jeden eine Mutter, eine Frau oder beide warteten, um tausenderlei Aktivitäten von ihnen zu verlangen. Denn daß sich die Carabinieri im Dienst ausruhen können, das hatte sich herumgesprochen. Adriano hatte früh begriffen, daß Eifer als unkollegial angesehen wurde. So träumte er hier am Seitentisch, angesichts des Bächleins, das weit oben in den Bergen auch als bescheidene Quelle beginnt, um am Ende ein See zu werden, seine hochtrabenden Träume. Und hätte jemand dieses Gesicht hinter dem Fenster gesehen, den leicht geöffneten Mund mit dem Speichel in den Winkeln, die beiden Zahnlücken und die halbgeschlossenen Augen, er würde es aufgegeben haben, hier Rat und Tat und Hilfe zu suchen. Nur selten ergab es sich, das war ein Vorteil dieses Platzes, daß Adriano genötigt war, einem Ratsuchenden als Hüter von Gesetz und Ordnung gegenüberzutreten. An jenem Sommernachmittag im vergangenen Jahr ergab es sich Er sah die Frau vom Fenster aus über die Brücke kommen. Er kannte sie, es war Severina, die Frau von diesem Massimo, der einmal an einem Holzbündel über das Tal geflogen ist, die Tochter des Schreiners Alessandro aus Roncolo. Sie hatte es eilig, machte einen energischen Eindruck, verschwand um die Ecke und kam kurz darauf in die Wache. Was die wohl hier wollte? 69
Die Kollegen Giuseppe, Nando und Rinaldo waren unterwegs. Eine Frau aus Naggio hatte angerufen, ihr Mann hätte sie krankenhausreif geschlagen, nur noch die Polizei könne ihr helfen. Die drei waren hinaufgefahren, um in Erfahrung zu bringen, was der Mann für Gründe hatte, seine Frau zu schlagen. Und Gildo, der dicke Gildo, der älteste Kollege, hatte sich zu einem wohlverdienten Nickerchen in den Garten zurückgezogen. Also mußte sich Adriano bemühen. Was gibt es? Ah, du bist es, der Sohn von Adriano dem Bäcker. Was es gibt? Heißt du nicht auch Adriano? Was kann ich für Sie tun, Signora? Massimo, mein Mann, ist weg. Name! Massimo, ich sage es dir ja, du kennst ihn doch. Ihr Name, Signora!? Also! Ich bin Severina, mein Gott, du kennst mich doch, Massimos Frau. Weisen Sie sich erst einmal aus, Signora. Was soll ich mich ausweisen, da du mich doch kennst?! Ich darf Sie nicht kennen. Dein Vater war ein Neffe der Schwägerin meines Vaters. Wir sind verwandt, und du willst mich nicht kennen. Vor dem Gesetz sind alle gleich, und da ich nicht alle kennen kann, darf ich keinen kennen. Unsinn! Das ist Gesetz. Unsinn ist das! Und hier drin gilt das Gesetz. Du lieber Himmel! Da könnte quasi der Präsident selber kommen, den dürfte ich nicht kennen. Erlaubt die Polizei so viel Dummheit?! Der müßte sich auch ausweisen. Bist du der einzige hier? Alle Kollegen sind im Dienst anderweitig beschäftigt. 70
In diesem Moment kam Gildo gähnend herein. Was gibt's? Diese Signora kann sich nicht ausweisen und sucht einen Mann. Hahaha, so, sie sucht einen Mann! Jetzt erst hatte Gildo Severina wahrgenommen. Ah, Severina. Ja, das hab ich mir schon gedacht, daß du kommen wirst. Hab das gehört mit Massimo. Was soll man sagen, wir kennen ihn. Der kommt wieder. Du mußt abwarten. Helfen können wir dir da nicht. Severina, anfangs sehr aufgeregt, war diesem Adriano gegenüber schon einem Wutausbruch nahe. Gildo hatte sie etwas beruhigt. Aber man kann doch eine Anzeige aufgeben. Severina! Ihn suchen lassen. Wenn alle, denen der Mann mal ein paar Tage wegläuft, eine Anzeige aufgeben. Daß man weiß, wo er ist. Also dann möchte ich hier nicht arbeiten. Ratlos stand Severina da, kämpfte mit den Tränen und traute sich vor allem nicht, diesen Adriano anzuschauen, der ihr vergebliches Bitten sichtlich genoß. Noch wollte sie nicht aufgeben. Die drei Kollegen kamen von ihrem Auftrag zurück. Sie polterten gutgelaunt, scherzend, lachend, herein. Du lieber Gott! Sachen gibt es! Die betrügt ihren Alten und ruft die Polizei an, weil er sie dafür durchprügelt. Wenn alle Frauen deswegen anrufen würden! Und hat ihn betrogen. Der arme Mann. Was der gelitten hat. Mit dem Nachbarn betrogen. Erschlagen hätte er sie können. Der arme Mann. 71
War völlig fertig. Severina, geh heim und warte. Und ruft auch noch die Polizei an. Was ist mit der Frau, Adriano? Kann sich nicht ausweisen, aber sucht einen Mann. Ah, einen Mann sucht sie. So, Signora suchen einen Mann! Na, wie wärs mit mir, Signora. Oder Gildo. Ein guter Mann, Gildo. Hört auf. Ihr Mann ist weggelaufen. So, weggelaufen. Gildos Frau wäre froh, wenn er weglaufen würde, was, Gildo. Hört auf, sage ich, laßt die Frau in Ruhe. Wir besorgen Ihnen einen Mann. Jawohl! Es ist die Aufgabe der Polizei, Ihnen, Signora, einen Mann zu besorgen. Wie soll er sein? Schauen Sie uns an, wer gefällt Ihnen am besten? Severina, sie machen ihre Scherze, laß sie. Severina! He, warte! Laß sie. Der wär ich auch davon. Ach, ihr Idioten! Sie tat Gildo irgendwie leid. Da rannte sie heulend hinaus. Vielleicht hätte er ihr nachgehen sollen, sie trösten, in Gottes Namen eine Anzeige aufnehmen. Aber was soll's, da hätte er dann eventuell ein Problem am Hals gehabt, sich kümmern müssen. Massimo wird einen Grund gehabt haben, wegzugehen, so wie der in Naggio einen Grund hatte, seine Frau zu schlagen. Ach Gott, und man kennt doch Massimo! Weinend, verzweifelt, voller Haß gegen diese uniformierten Kerle, überquerte Severina wieder die kleine Brücke über den Bach. Als sie sich noch einmal umsah, sah sie über allem Unrat des Baches am Seitenfenster der Wachstation ein Gesicht. Ein Gesicht, das alle Niedertracht und Dummheit, allen Hochmut und alle Machtanmaßung, alle Dreistigkeit und Einfältigkeit, zu der ein Mensch fähig ist, in sich vereinte. 72
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Wieder bleibt Massimo stehen. Es ist heiß, er wischt sich den Schweiß von der Stirn, setzt sich, hat es jetzt gar nicht eilig, will das Heimkommen, das Wiedersehen, diesen Moment, den er sich seit Stunden auszumalen versucht, hinausschieben. Da drüben liegt Oggia. Verschlafen liegt es da. Die Sonne ist gerade im Begriff, es zu verlassen. Ein junger Mann knattert mit einem Geländemotorrad ins Tal, zum Dorf hinunter, auf seinem Rücken eine große silberne Milchkanne. Einige haben noch Schafe oben, müssen einmal am Tag hinauf, melken, nach den Tieren sehen. Oggia, der schlafende Ort, den nur einmal im Jahr Stimmen füllen und Musik. Am Tag des Schutzheiligen hält der Pfarrer dort eine Messe. Am frühen Morgen schon kommen die Menschen aus allen Richtungen, vom Dorf herauf, über die Berge aus dem Val Rezzo, aus entlegenen Dörfern, oft viele Stunden. Der alte Don Roberto wird seit einigen Jahren zusammen mit ein paar Honoratioren mit dem Hubschrauber gebracht. Dessen Knattern zeigt den Tieren, die sonst den Ort beherrschen, daß sie heute hier nichts zu suchen haben, und bei dem Wind, den er macht, müssen die jungen Frauen ihre Röcke und die alten die Decken der festlich gedeckten Tische festhalten. In der Kirche haben gerade einmal die Kinder und die Frauen Platz. Die Männer und die Jugendlichen stehen schwatzend und rauchend in Gruppen draußen auf der Wiese und schauen schon sehnsüchtig zu den langen Tischen hinüber, wo Käse und Brot, Salami und Schinken und Wein sie erwarten. Musiker bauen ihre Instrumente auf, und immer mehr Gäste kommen den Weg vom Dorf herauf, Begrüßungen hier und dort, freudige Ausrufe, Überraschungen, Umarmungen, fremde Laute, denn an diesem einen Tag im Jahr kommen die ehemaligen Bewohner von Oggia, die vor dreißig und noch mehr Jahren ins Elsaß ausgewandert sind, wo sie alle in einer Fabrik Arbeit fanden, die es hier für sie nicht gab. Sie kommen mit ihren
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Kindern, die die Sprache der Heimat nicht verstehen, und sie haben sie selbst oft verlernt und finden sie erst beim Singen der vertrauten Lieder wieder. Die meisten von ihnen werden erst am Ende ihres Lebens endgültig wieder nach Oggia kommen, denn sie haben ihre Familiengräber hier, auf deren Grabsteinen ihnen zweisprachig die ewige Ruhe in Heimaterde garantiert wird. Es war auf einem dieser Feste, wo er sie zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Es war schon später Abend, immer noch weinten die Klarinetten ihre Melodien ins Tal, und die, die sich noch nicht betrunken auf den Heimweg gemacht hatten, tanzten, tranken, sangen, redeten, starrten in weinseliger Stimmung tieftraurig oder selig lächelnd vor sich hin. Kinder schliefen in Großmütterschößen oder hatten ihre Köpfe müde auf die Tischplatten sinken lassen. Um die Tanzfläche scharten sich die Burschen und Mädchen, balzend, werbend, schüchtern lächelnd, frech. Jetzt war ihre Zeit gekommen, jetzt hatten die Paare und Familien ihrem Spiel Platz gemacht. Massimo, unter ihnen der Strahlendste, der Frechste, der Mutigste, und um ihn herum, häufig mit ihm tanzend, ihn nicht aus dem Auge lassend, Anna, die Tochter des Schreiners Alessandro aus Borgolo, dem Nachbarort. Ein schönes Paar, sagten die älteren Leute, seht sie euch an, sie passen zusammen. Das hatte Massimo zunächst auch gedacht, denn er war stolz auf diese Eroberung, die ihm schon nach kürzester Zeit keiner mehr streitig machte. Aber Anna spielte ihr Spiel, das andere wie Franco-Francone oder Bruno schon durchschauten. Die, so sagten sie, wartet auf den Märchenprinzen. Solange der nicht auftaucht, nimmt sie hier den in ihren und vieler Frauen Augen Stattlichsten. Aber hinter den Bergen, irgendwo, gibt es sicher noch einen, der ist viel wundervoller als dieser hier. Am Ende, so sagten manche, wird sie nichts haben. Das kennt man, das hat man schon öfter erlebt, man kann Beispiele nennen und nennt sie auch, denn dieser so aufdringlich zur Schau getragene Hochmut wird bestraft, da war man sich sicher. Massimo litt bald unter Annas Launen. Mal zog sie ihn an sich, dann schob sie ihn weg. Wenn er sich zu entfernen drohte, 74
hatte sie allerlei Tricks auf Lager, ihn wieder zu sich zu holen. Doch dabei ging das verloren, was Massimo für sie zu fühlen geglaubt hatte, die Liebe. Sein Feuer für sie erlosch. Oft gab es schon ganze Tage ohne einen Gedanken an sie, waren ihm andere Dinge wichtiger. Er blieb ihr fern, ihre Winke und Rufe gingen immer häufiger ins Leere, Anna wurde zur puppigen Hülle für ihn, sie langweilte ihn. Schon schaute er sich, wie er es vorher getan hatte, nach anderen um, gab seinem Hang zu Handfesteren nach, tanzte mit dieser und jener, sagte ihnen allen schöne Wörter, machte Versprechungen, gab kleinen Sehnsüchten nach, liebte, ohne sich wieder zu verlieben, spürte eine Art Freiheitsgefühl, ein Fliegen, wie ja nur er es kannte. Das mit den schönen Wörtern, die Massimo zu den Mädchen sagte, so daß die hingebungsvoll lächelten und verklärt die Augen verdrehten, sehnsüchtig nach ihm umschauten und hochroten Kopfes mit den Freundinnen tuschelten, das verstand Franco-Francone überhaupt nicht. Was sagst du denn zu ihnen? Was mir gerade einfällt. Aha. Ja. Und was fällt dir ein? Ich schau in ihre Augen, und dann fällt mir was ein. Aber was? Das ist immer anders. Ach so. Das hängt von den Augen ab. Aha. Von dem, was ich in den Augen sehe. Also ich mag die Roberta. Ja. Und wenn ich jetzt mit der Roberta tanze und schau in ihre Augen, dann sehe ich nicht etwas, was ich sagen könnte. Ja, da kann man nichts machen. Nicht? Vermutlich nicht. Aber sag mir doch, was ich da sagen könnte zur Roberta. 75
Sag ihr, daß dir ihre schlanke Figur so gefällt, die langen dünnen Beine, das schmale Gesicht, so was. Rührend beleidigt schaute ihn Franco-Francone dann zumeist an, und die anderen lachten, denn wenn man etwas zu und über Roberta nicht sagen konnte, dann war es, daß sie schlank war. Sie war das Gegenteil: groß, rund, schwer, und genau deshalb liebte Franco-Francone sie, mit dem untrüglichen Gefühl dafür, daß es eine Tragödie wäre, läge und lebte eine dünne Geiß neben ihm. Was Franco-Francone seiner Roberta dann letztendlich gesagt hat, was und ob er in ihren Augen gelesen hat und was er für Worte für sie gefunden hat, wußte keiner. Jedenfalls, sie wurde seine Frau, und Ferruccio der Schmied verstärkte das Ehebett mit Eisenschienen. Anna, die wußte, daß sie die Schönste war, weil keine so wie sie umworben wurde, konnte es nicht ertragen, wenn sich ihr und ihrer gnädig verteilten Zuneigung jemand entzog. Da wurde sie zur Kämpferin. Und heute war Kampftag. Schon am Nachmittag richtete sie es so ein, daß sie immer in der Nähe von Massimo war. Sie lächelte, gab sich nachdenklich, sinnlich, leidenschaftlich, sie suchte seinen Blick, gab ihm zu verstehen, daß sie nur für ihn da sei, ließ alle anderen abblitzen, gurrte, schnurrte, ließ Massimo kaum Luft. Sie tanzte wilder denn je, sie küßte ihn, als sie die spärlichen Lichter und die Dunkelheit umhüllten, ungenierter und leidenschaftlicher als sonst, sie hing an seinem Hals, und es gab nur ihn. Er genoß ihren Kampf, denn er spürte, sie würde in ihm nichts mehr entfachen können. Es war zu spät. Er schaute beim Tanz über ihre Schulter, sah, wer kam und wer ging, wer tanzte und wer nicht und wer mit wem und wie, sah die schüchternen Mädchen, die meist sehnsüchtig auf den Bänken saßen, sich an ihren Handtaschen festklammerten und den Tanzenden zuschauten, im Geiste mittanzten, die Schritte zählten, den Schweiß rochen, etwas von der Leidenschaft ahnten und an die Nacht dachten, in der sie wach liegen würden. Vielen der jungen Männer ging es ebenso. Sie alle sah Massimo, wie einen bunten Teppich manchmal, wenn er sich schnell drehte, als für den Augenblick herausgelöste Bilder, wenn er ruhig 76
tanzte. Severina hatte schwarzes Haar, dunkle Augen, dicke Augenbrauen, sehr weiße Haut, leicht gerötete Wangen, und ihr rundliches Gesicht ließ darauf schließen, daß sie auch sonst nicht gerade mager war. Massimo war sich sicher, daß er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn musterte. Scheu schaute sie weg, doch er ertappte sie noch ein paarmal. Er lächelte, sie wurde rot, und ob es in diesem Moment die Abwehr gegen Anna, der Wein oder irgendeine Einbildung war: Massimo glaubte, sich in sie verliebt zu haben. Wer war sie, wo kam sie her? Anna nahm nach dem Tanz direkt neben ihr Platz. Verwirrt und aufgeregt ging Massimo zu den Männern, fand Franco-Francone, fragte ihn, wer das Mädchen neben Anna sei. Das ist Severina. Wer? Severina. Du kennst doch Severina. Ihre Schwester? Ihre Schwester. So ist es. Ach! Ja. Das ist die Severina?! Hat sich halt auch rausgewachsen. Ja. Massimo ließ ihn stehen, holte sich Wein. Franco-Francone schaute ihm nachdenklich hinterher, nahm all seinen noch nicht dem Wein erlegenen Verstand zusammen und dachte: Arme Anna. Jaja, den Hochmütigen bleibt am Ende nichts. Dann ging er zu Roberta, forderte sie zum nächsten Tanz auf und sagte ihr dabei etwas, das, wie gesagt, nie jemand erfahren hat, denn die Klarinetten spielten zu laut, als daß es jemand hätte hören können. Massimo beobachtete, wie Severina da neben ihrer Schwester saß, die herrisch dafür sorgte, daß sie Mittelpunkt war, daß die anderen jungen Frauen und Mädchen an ihren Lippen hingen, sie beneideten. An Severinas Ohren schien das immer hektischer werdende Geplauder der Schwester gar nicht zu dringen. Sie saß da, als wäre sie taub. Massimo aber schien es, 77
als bewegte sie kreisend ihren Körper, ganz sacht, gefühlvoll und versunken mit der Musik. Wieder traf sein Blick den ihren, während er mit einem Glas Wein an einen Baum gelehnt dastand und die Augen nicht von ihr wenden wollte. Er lächelte. Sie antwortete ebenfalls mit einem Lächeln, das aber so kurz, so schüchtern, so ängstlich und fragend war, daß Massimo sich durch die Tische schlängelte und zu ihr ging. Anna sah ihn kommen, strahlte und bezog seine Frage nach diesem Tanz natürlich auf sich. Schon wollte sie aufstehen, da sah sie, daß er Severina an der Hand nahm, sie hochzog und mit ihr zur Tanzfläche ging, ohne Anna auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Klarinetten sangen jetzt, waren Stimmen, nicht mehr Instrumente, der Wein ließ die Tanzenden schweben, und ein über Oggia aufgespannter, wenn auch noch unförmiger Mond zackte die Berge und Bäume zu einem Scherenschnitt und wühlte die Gefühle auf. Massimo führte Severina schwungvoll, drehte sie schnell, so daß ihr Himmel, Mond und Lichter, Gesichter und Hauswände zu einem bunten Fleckenteppich verschwammen und ihr das Blut in den Kopf stieg. Er fühlte ihre leicht füllige Figur, die sich ihm völlig überließ, sah für einen Moment in ihre dunklen Augen und verliebte sich. Er tanzte jetzt jeden Tanz mit ihr, und nicht nur Anna beobachtete die beiden, die allerdings mit Wut, die zu verbergen ihr kaum mehr gelang. Als ihr auch der Versuch, sich gleichgültig zu geben, mißlang, verkündete sie ihren Aufbruch. Severina indessen war schon vollends an ihren Tänzer verloren. Sie wußte nicht mehr, was ihr und wie ihr geschah. Verzagt, wie immer an solchen Abenden im Schatten der schönen Schwester, die alles bestimmte, hatte sie schon bange an das immer wieder gleiche einsame Ende, wach und aufgewühlt im Bett, gedacht, und nun zog er sie in einen Mittelpunkt, in dem sie sich noch nie befunden hatte. Sie schwieg, er erzählte. Daß er im Sommer da drüben auf einem kleinen Hof lebe und im Winter Holzfäller sei, mit Franco-Francone, Albino und anderen Holz schlage für die Pizzerien unten am See, daß sein Großvater der Schwager dieser 78
beiden Trottel gewesen sei, die sich dort drüben an einem Haken am selben Abend aufgehängt hätten, daß er manchmal Touristen, die in die Bar kämen, zum Gipfel hinaufführe, von wo aus man die Madonnina auf dem Mailänder Dom sehen könne, aber nicht jedesmal sehe, und daß er im letzten Jahr mit dem Hund auf den Schultern am Seil übers ganze Tal geflogen sei, geflogen wie ein Vogel. Sie lächelte, sagte aber nichts, auch nicht, daß sie das doch alles schon wußte - von Anna. Dann wurde sie plötzlich von ihm gerissen. Anna hatte endgültig beschlossen zu gehen, und Severina folgte ihr, verwirrt. Einmal noch lächelte sie ihn an, dann war sie verschwunden. Nur schwer gelang es Massimo für den Rest dieser Nacht, am nicht enden wollenden Saufgelage der Freunde teilzunehmen. Franco-Francone, der nach seinen beiden Tänzen mit Roberta seinen massigen Leib an diesem Abend nur noch ab und zu dazu bewegte, an einem Baum oder hinter einem Haus das Wasser abzuschlagen, verstand, was mit dem Freund passiert war. Er legte den Arm um ihn und fing an zu singen. Am nächsten Tag ging Massimo zu Alessandro, Severinas Vater, nach Roncolo in die Schreinerei. Der kleine, magere Mann stand an der Hobelbank und verleimte zwei Bretter. Er schaute nicht hoch, machte seine Arbeit weiter, erkannte Massimo an der Stimme. Ich muß mit dir reden. Sorgfältig setzte Alessandro eine Schraubzwinge an. Ich muß mit dir reden, Alessandro. Das hast du schon gesagt. Ich muß Mußt du oder willst du? Es ist wegen deiner Tochter. Wegen was sonst. Da wollte ich reden mit dir. Also jetzt dann doch. Wie? Man kannte sich ja bisher nicht aus bei der. Ich glaube, du verstehst mich nicht. 79
Ach! Ich verstehe dich nicht! Du kommst hierher, willst meine Tochter, und ich verstehe dich nicht! Es geht um die Severina. Was? Jetzt schaute Alessandro zum ersten Mal von seiner Arbeit auf und sah einen Massimo, dem es sehr ernst zu sein schien. Um die Severina geht es. Alessandro schwieg, starrte auf seine Arbeit, nahm ein feuchtes Tuch und wischte den überquellenden weißen Leim ab. Soso, jetzt also um die Severina!? Ja. Naja. Was? Du wirst wissen, was du willst. Ja. Und sie auch. Massimo schwieg. Alessandro auch. Er brachte behutsam eine weitere Schraubzwinge an, und ein halbes Jahr später heirateten Severina und Massimo. Anna erschien zur Hochzeit nicht.
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Massimo! Massimo! Es hatte geläutet. Herrisch, entschieden, mehrfach hatte es geläutet. Dann das Rufen. Eine vertraute Stimme hatte in Massimos Schlaf hinein seinen Namen gerufen. War das ein Traum? Er wachte auf. Renata stand am Fenster und schaute hinunter. Da ist ein Mann, irgendein Mann. Ich kenne ihn nicht. Was für ein Mann? Ich sag es doch: ich kenne ihn nicht. Laß ihn. Er ruft deinen Namen, hörst du das nicht? Als ginge sie das weiterhin nichts an, ging sie ins Bad. Massimo mußte nicht hinuntersehen. Er wußte, wer da stand. Und er ahnte, daß der nicht mehr gehen würde, solange er ihm, Massimo, nicht gesagt hatte, was er ihm zu sagen hatte. Wie ein Baum würde er da stehen und warten und Wurzeln schlagen. Er war von weit her gekommen, um etwas zu erledigen. Keiner würde ihn verjagen können. Man würde ihm nicht entkommen. Massimo wußte, was der ihm zu sagen hatte. Wie er Anna mit den Kindern aus Bergamo zurückgeholt hatte, weil ihr Mann sie schlug, so beharrlich, entschieden, ohne große Worte zu machen, war er jetzt gekommen, um ihn zu holen. Massimo! Der Mann stand jetzt mitten im Hof, klein, schmal, mit grünem Hut und dunklem Anzug, breitbeinig, felsenfest. Er schaute zu den Fenstern hinauf, sah Menschen zu sich herunterstarren, die sich nicht angesprochen fühlten, er hörte ungerührt das wütende Schließen von Fenstern und den einen oder anderen Ruf nach Ruhe. Das störte den Mann nicht. In regelmäßigen Abständen, in denen ein halbes Vaterunser, der Refrain eines Liedes oder eine Reihe der gängigsten Flüche Platz gehabt hätte, rief er nach Massimo. Der Ton wurde langsam schärfer, die Stimme lauter, drohender.
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Massimo! Massimo schlüpfte in seine Kleider, schaute in den Spiegel, strich seine Haare glatt. Renata kam vom Bad zurück, war mürrisch und kroch wieder ins Bett. Wer ist das? Massimo antwortete nicht. Was will der? Was weiß ich. Geh hinunter, mach, daß Ruhe ist, verdammt. Dann hatte sie plötzlich eine Eingebung. Sie richtete sich im Bett auf, lächelte ganz leicht, mit einem Anflug von Spott, und sagte: Aha, man kommt dich holen! Ist es soweit? Hat sie einen geschickt? Wer ist es? Ihr Vater? Was geht es dich an. Massimo ging hinaus, die Treppe hinunter. Massimo! Er war also gekommen, hatte ihn gesucht und gefunden. Wie, das würde sein Geheimnis bleiben. Damals, als Massimo selbst noch nicht wußte, ob er hierbleiben würde, wie lange das mit Renata gehen würde, ob er es hier in der Stadt aushielte, es ihn hielte, die Sehnsucht nach seiner gewohnten Welt ihn nicht überwältigen würde, da hatte er damit gerechnet, daß ihr Vater ihn holte. Er war nicht gekommen. Jetzt, fast ein Jahr danach, stand er da und schrie seine Drohung an die Häuser hin, die nur aus einem Wort bestand: Massimo! Er bewegte sich nicht vom Fleck, als er Massimo in der Tür unten auftauchen sah. Ein kleines gebieterisches Winken nur, und blitzartig begriff Massimo, daß dieser Mann nicht ohne ein Versprechen, ohne klare Worte und eine Entscheidung von hier weichen würde. Er schlich zu ihm wie ein Hund, gewann Zeit, fragte sich, was nun zu tun sei. Wie sollte er dieser Unerbittlichkeit in Person eines kleinen dünnen Mannes begegnen? Alessandro tat keinen Schritt auf ihn zu, reichte ihm keine Hand, zeigte keine Anzeichen von Erkennen, Freude, Begrüßen. Als hätte er einen wildfremden Menschen oder einen von ihm abhängigen Hund vor sich, dem Befehle zu erteilen 82
waren, teilte er mit, was er zu sagen hatte. So, da bist du. Wie hast du mich gefunden? Jeder hinterläßt Spuren. Massimo schwieg, dachte an Severina, daran, ob die wohl wußte, daß ihr Vater hierherkommen würde, um ihn heimzuholen. Er dachte auch an den stillen, einfachen fleißigen Mann in seiner Schreinerwerkstatt, er dachte an Anna, die traurige, einsame, die dieser Vater aus Bergamo zurückgeholt hatte, er dachte an seine Mutter, die wohl seit fast einem Jahr vor dem Haus saß, um dahin zu schauen, wo er irgendwann wiederkommen würde. Und er dachte an Severina und daran, ob die ihn überhaupt würde wiederhaben wollen. Und an Franco-Francone und Bruno und Ferruccio und an Rosanna dachte er auch und an den Hof oben am Berg und die Bäume und die Schafe und an den verdammten Felsen oben, von wo aus man diese unselige Madonnina sehen kann. Und aus dem Augenwinkel sah er, daß Renata oben im Fenster lehnte, um sich das Schauspiel seiner Erniedrigung durch Alessandro anzuschauen. Du wolltest sie, und ich hab sie dir gegeben damals. Ich hab sie dir aber nicht gegeben, damit du sie für irgendein Flittchen verläßt und sie mit deiner Mutter da oben auf dem Berg sitzt und irgendwann erfriert oder verrückt wird oder beides. Alessandro, ich Halt den Mund! Wenn du was zu sagen hast, sag ich dir das. Aber du hast nichts zu sagen. Halt also verdammt noch mal deinen Mund. Er sprach laut und deutlich und entschieden, mit einer Stimme, die man bei diesem kleinen Mann nicht vermutet hätte. Von den Wänden der Häuser schallte ein Echo zurück. Immer mehr Menschen waren neugierig geworden, schauten in den Hof hinunter, wollten wissen, was da mit dem Bauern passierte, den sich die junge Frau mitgebracht hatte. Du hast meine Tochter Anna ins Unglück getrieben, weil du sie verschmäht hast. Nie hätte sie diesen Cretino aus Bergamo genommen, wenn du ihre Liebe nicht mit Füßen getreten 83
hättest. Aber, ich Halt den Mund, sage ich dir! Du wolltest die andere, ich hab sie dir gegeben. Leicht ist es mir nicht gefallen. Aber ich sage dir, ehe du die auch unglücklich machst oder verrückt oder was weiß ich was, bist du ein toter Mann. Du sollst den Mund halten, verdammt! Bei allen Heiligen, die mir gerade einfallen, bei allen diesen verdammten Heiligen der Reihe nach, du kommst zu deiner Frau und zu deiner Mutter zurück! Verstanden!? Halt den Mund. Massimo schaute zu Boden, konnte ihn nicht mehr anschauen, und er wollte auch nicht die Gesichter der Menschen an den Fenstern sehen. Er stand da wie ein ertappter Schüler kurz vor der Züchtigung. Er wußte nichts zu sagen, keine Rechtfertigungen, keinen Widerspruch. Denn er wußte, dieser Mann hatte das Recht, das zu tun, was er tat. Und er hatte recht. Hier war nicht mehr Massimos Platz. Er mußte gehen, mußte sich trennen, Renata verlassen. Dort gehörte er hin, zu seiner Frau und zur Mutter. Angst durchfuhr ihn plötzlich, die Mutter nicht mehr lebend zu sehen. Sie ist alt, dachte er, sie kann jederzeit sterben, sie ist ganz klein und dünn. Sie vertrocknet. Und er ist doch der einzige, der ihr geblieben ist. Sie liebt ihn. Jajaja, ich muß gehen, dachte er. Noch bin ich allein gekommen. Weil ich an deinen Verstand und an deine Anständigkeit glaube. Weil ich glaube, daß das mit diesem Flittchen wohl auch mal ein Ende haben kann. Ich geb dir zwei Wochen Zeit. Wenn du dann nicht wieder da bist, wo du hingehörst, dann schicke ich meine Söhne. Du kennst sie. Die reden nicht, das weißt du. Und wenn du es nicht weißt, dann frag diesen Cretino aus Bergamo. Er wird es dir erzählen. Und Alessandro drehte sich um und ging. Am Tor des Hofes blieb er noch einmal kurz stehen, um zum Fenster hinaufzuschauen, von wo das höhnische, laute Gelächter einer Frau kam. Massimo rannte wütend ins Haus, die Treppe hinauf, in 84
die Wohnung, riß Renata vom Fenster weg, hielt ihr den Mund zu und schleppte sie zum Bett, um auf sie einzuschlagen. Sie lachte und lachte, und er wurde immer wütender. Aber noch gelang es ihr ziemlich mühelos, aus seiner Wut wilde Leidenschaft werden zu lassen.
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Was ist das? Ist das wieder diese Panik, die sie damals ergriff, als ihr bewußt wurde, daß er fortgegangen war? Sind das jetzt diese unkontrollierten Handlungen, die sie später nicht begreifen wird? Was tut sie da? Warum ist sie zur Vogelvoliere gegangen, hat das Gatter geöffnet, die Vögel hinausgetrieben, so lange, bis auch der letzte hilflos ins Freie tappte? Warum hat sie das Bettzeug vom Lager gerissen, das Hochzeitsfoto an sich genommen und das Gewehr? Ja, sie hat das Gewehr mit hierherauf genommen, auf diesen winzigen Speicher, dieses Dreieck über der Küche, das ihr in diesem Jahr immer wieder Fluchtpunkt vor der Alten war, Trost und Nest. Wie eine hochträchtige Katze, die sich, von Angst getrieben, den vor dem Hund und dem Bauern sichersten Platz zum Gebären sucht, war sie immer wieder hierherauf gekrochen, als hätte sie geahnt, daß sie bald einmal hier Zuflucht würde suchen müssen. Sie kriecht nach vorne zu der Luke von der Größe einer Handfläche, schaut hinaus, sieht ihn. Jetzt ist er schon zu erkennen. Sie liegt, aufrecht kann man hier nicht stehen, sie atmet schwer, ist aufgewühlt, gehetzt, ein Tier auf der Flucht. Sie spürt das glatte, kalte Metall des Gewehrlaufs. Das Gewehr, wieder dieses Gewehr! Was will sie damit? Will sie auf ihn schießen? Sie? Könnte sie das jetzt? Sie hat das doch noch nie getan, nicht einmal im Spiel. Selbst als sie auf dem Jahrmarkt in Porlezza waren und Massimo ihr das Gewehr in die Hand gedrückt und sie ermuntert hat, zu schießen, selbst da, wo es nur darum ging, auf ein weißes Röhrchen unter einer bunten Rose aus Plastik zu schießen, hat sie sich nicht getraut. Zitternd hat sie ihm das Gewehr wiedergegeben, und er hat gelacht und ihr einen ganzen Strauß Blumen geschossen. Würde sie ihn aus der Entfernung treffen? Sie legt den Lauf in die Luke, drückt die rechte Backe an den Kolben, so macht man das, das hat sie oft gesehen, bei den Männern auf dem Jahrmarkt und im Fernsehen. Noch nie, glaubt sie sich zu er-
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innern, hat sie eine Frau so gesehen. Sie schaut durch das Fernrohr auf dem Lauf und sieht zunächst nichts. Sie kneift ein Auge zu, sieht jetzt ein Fadenkreuz im blauen Himmel. Sie bewegt den Lauf nach unten, sieht jetzt die Bergkuppen, das Gebüsch, wo sie gerade noch gearbeitet hat, den Pfad, auf dem er kommen wird, ein zitterndes Bild, Geröll, Steine, Gras, plötzlich Beine, eine Gestalt, Massimo. Ihre Hand zittert und damit das Fadenkreuz, wieder die Bergkuppe, wieder der Himmel, wieder er. Ihre Hand wird ruhiger, ihr Herz klopft weniger, als beruhigte sie die Tatsache, es tun zu können, sein Leben in der Hand zu haben. Langsam folgt sie seinen Schritten, hat mal seinen Kopf, dann seinen Oberkörper, links das Herz, im Visier. Wenn sie jetzt abdrückte, wäre er tot? Sie weiß es nicht. Ist das Gewehr überhaupt geladen? Sie fühlt mit dem Zeigefinger den Abzugshahn. Da ist der Punkt, der kleine Haken, da entscheidet man über Leben und Tod. Warum zögert sie? Kann sie es nicht? Könnte sie es eher, wenn da nicht ein Mensch in ihrem Visier wäre, sondern ein Tier - ein Hase, ein Schaf, ein Fuchs, ein Wildschwein - oder nur das weiße Röhrchen unter der Plastikblume? Erschösse sie ihn jetzt, wäre sie die große Rächerin? Wäre das wirklich die gerechte Strafe für alle Einsamkeit und Schmach, die sein Weggehen für sie war? Würde das die Erinnerungen an Hohn und Spott, die sie ertragen mußte, und an das Gesicht jenes Carabiniere, das sie sehen, und die Vorwürfe der Alten, die sie hören mußte, verändern? Nein, diese Erinnerungen werden bleiben. Man würde sie als Mörderin einsperren, würde ihn auf dem Friedhof unten neben den kleinen unschuldigen Sebastiano legen, und sie könnte nicht einmal beten am Grab und frische Blumen bringen. Sie legt das Gewehr weg. Nein, daß ein Mann, wovon auch immer dazu getrieben, für ein Jahr weggeht, das ist kein Grund, ihn zu erschießen, zumal wenn er vielleicht reumütig zurückkehrt. Es gibt andere Waffen, ihm Verachtung zu zeigen. Sie wird weiterhin schweigen. Ihr Schweigen, das wird ihre Waffe sein. Ob er wirklich reumütig zurückkehrt? Tut es ihm leid, hatte er 87
Heimweh oder Sehnsucht? Wonach? Nach der Alten unten, seiner Mutter, die nur noch für sein Zurückkommen lebt, nach dem Hof, den Tieren, nach den Leuten im Dorf, nach den Freunden und der gemeinsamen Jagd, nach Rosanna, nach seinen Vögeln - oder nach ihr? Warum kommt er jetzt, gerade jetzt? Hat ihr Vater seine Drohung wahr gemacht, ihn aufzuspüren und zu holen, in Mailand, in Deutschland, in Amerika, wohin auch immer er gegangen sein mag? Vom Vater würde sie das nicht erfahren, er würde darüber nicht reden, er ist ein Mann, der keine Worte macht, der tut, was er meint, tun zu müssen, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Wie damals, als er Anna zurückholte. Anna hatte, nachdem ihr hier keiner gut genug war, einen kleinen dicken Vertreter aus Bergamo geheiratet. Sie zog in sein Elternhaus, bekam zwei Kinder, hatte viel Streit mit der Schwiegermutter und schließlich auch mit Alfonso, ihrem Mann. Als Severina einmal mit der Mutter dort war, bekamen sie mit, daß Alfonso Anna schlug. Sie erzählte das zu Hause. Der Vater schwieg, aber am nächsten Tag war er verschwunden, war mit dem Bus nach Como gefahren, mehr wußte man nicht. Einen Tag später kam er mit Anna, der glanzlosen, verbitterttraurigen, und den verschüchterten Kindern und all ihrem Hab und Gut zurück. Anna blieb da. Als Alfonso die Scheidung und das Sorgerecht für die Kinder wollte, da ihn seine Frau ja böswillig verlassen hatte, schickte der Vater seine beiden Söhne Alfredo und Alessandro nach Bergamo. Danach willigte Alfonso in eine Scheidung ohne Sorgerecht ein. Die Brüder erzählten über ihre Fahrt nach Bergamo genauso wenig wie der Vater. Das sei bei den Männern in der Familie schon immer so gewesen, sagte die Mutter. Da geht er, ist ganz nah am Haus. Seine Haare sind länger als früher. Er ruft der Mutter zu und läuft lachend los. Wenn sie jetzt geschossen hätte, sie würde nie mehr dieses Lachen hören, seine rauhe Hand nicht mehr auf ihrer Haut fühlen, seinen Atem an ihrem Hals spüren. All das wäre nicht mehr, wovon sie in den langen Winternächten hier oben geträumt hat. 88
Und er würde nie erfahren, daß sie seinetwegen aufgehört hat zu sprechen.
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So wie sie jetzt da draußen sitzt, um im nächsten Augenblick den geliebten Sohn in die Arme zu nehmen, die Alte, so saß sie damals auch da, als Severina gedemütigt, klein, enttäuscht und verloren wieder heraufgekommen war, von ihrer verzweifelten Suche in allen Winkeln des Ortes und bei den Carabinieri. Da saß sie mit ihrem ganzen Vorwurf, ihrem Hohn und ihrem Spott. Schweigend aßen sie ihr Brot, und zwischen ihnen stand dieser Sohn, der Herrliche, der Unfehlbare, der Jesusgleiche, der einzige, der ihr geblieben war, dessen Handeln sie nicht nur bedingungslos verstand, sondern auch heiligte, mit ihrem mütterlichen Segen versah. Und weil sie dieses Schweigen, das sich plötzlich zwischen sie geschlichen hatte, vor all dem bewahrte, was ein Zusammenleben hier oben unmöglich gemacht hätte, blieben sie dabei. Es war nichts zu sagen, alles war gesagt, zu oft schon, zu laut. Schon die Blicke, die Gesten, die unvermeidlichen Handreichungen sagten zuviel. Es war ein ganz neues Gefühl gewesen, das Schweigen. Einfach nichts mehr zu sagen, am besten die Wörter zu vergessen, die die Dinge bezeichnen, wäre das nicht auch ein denkbares Leben? Severina fand so viel Gefallen daran, daß sie nicht nur nicht mehr mit der Alten, sondern auch mit sonst niemandem mehr sprach, zunächst nicht einmal mehr mit Gott dem Herrn, dem sie sich doch früher so sehr anvertraut, den sie noch beim Herauflaufen von dort unten, wohin sie gewiß nicht mehr zurückkehren würde, gebeten hat, ihr doch all diese Scham zu ersparen, ihr einen gnädigen Tod zu schicken. Ans Seil wollte sie sich hängen, einen Ast ergreifen oder gleich mit den blanken Händen danach greifen und in die Tiefe sausen, auch einmal fliegen, bis das Seil die Hände aufgerieben und aufgerissen hätte und sie endlich in die Tiefe stürzte. Sie hat es nicht getan, sie hat sich weitergeschleppt. Jetzt fand sie im Schweigen Kraft, sie erfreute sich an den nicht ausgesprochenen Wörtern, die freilich als Bilder von
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Dingen noch in ihrem Kopf waren. Es waren ganz andere Bilder als die, die man aussprach. Oft hat sie im Winter unten im Haus bei der Hausarbeit den Fernseher angemacht und ohne Ton die Bilder in den Raum gelassen. Es waren zumeist Bilder, die immer mit denselben Dingen verknüpft waren, mit Schinken, Nudeln, Möbeln, Likören, Kaffee, Pralinen, Autos, Reisen. Aber als diese Dinge nur als Bilder und nicht mehr als Wörter zu ihr sprachen, da hat sie irgendwann die Wörter zu den Bildern vergessen und sich selbst ihren eigenen Sinn auf die Bilder gemacht. Da wurden es schöne Bilder. Bilder von Falken, die Flaschen zwischen ihren Krallen in die Berge trugen, um sie ihren Jungen zu zeigen, Bilder von Menschen, die neue Möbel in ihren Räumen hatten und, um sie zu schonen, auf den Kanten der Sofas saßen und anderen, nicht sichtbaren Menschen erzählten, wie schön ihre Möbel seien und daß die Menschen sie doch besuchen sollten, um mit ihnen auf den Kanten ihrer Sofas zu sitzen und ebenfalls davon zu reden, wie schön diese Möbel seien. Und Menschen flogen in Autos über die Berge, ritten auf Nudeln in die Unendlichkeit, um auf karibischen Inseln zwischen vielen gutgelaunten Leuten zu landen. Schon immer waren für Severina Bilder wichtiger gewesen als die Sprache. Als Massimo damals bei dem Fest in Oggia das erste Mal zu ihr sprach, da hatte sie sich schon so sehr ein Bild von ihm gemacht, daß sie über die Fremdheit seiner Stimme erschrak. Und als wäre ihr vorbestimmt, in ihrem Leben einmal ohne Sprache leben zu dürfen, war sie jetzt an diesem Punkt. Sie sprach nicht mehr. Franco-Francone kam herauf, brachte Lebensmittel, Wein, Salami. Severina redete nicht mit ihm. Er schrie sie an, schüttelte sie, beschimpfte sie, schlug sie beinahe, war außer sich. Er, der schwere Mann, war einem Anfall nahe, tiefrot im Gesicht, zitternd. Er, dem doch das Reden so große Mühe machte, der die Worte in der Tiefe seines Körpers zusammenklauben mußte, um sie unter Stöhnen nach draußen zu befördern, er redete und redete und redete auf sie ein. Severina, du wirst verrückt. 91
Bei allen Schweinegöttern! Verrückt bist du. Nur weil einem der Mann davongelaufen ist, darf man doch nicht verrückt werden und aufhören zu sprechen. Wie viele Frauen wären froh, ihre Männer gingen auf und davon. Meine, glaubst du, die würde mir eine Träne nachweinen? Oder gar schweigen? Schweigen! Ha! Sag jetzt was. Sag verdammt noch mal was! Kannst du nicht sprechen? Bist du krank, soll ich den Doktor raufholen? Sag! Sag! Sag! Er schrie sie an, hielt sich dann an die Alte, drohte schon mit deren triumphierender Leidensmiene eins zu werden, da winkte ihm Severina, zog ihn in den Ziegenstall und küßte ihn auf beide Wangen. Verwirrt packte er seine Sachen und rannte davon, hinunter ins Tal, um dort von der stummen Verrückten da oben zu erzählen. Verrückt war die schon immer. Sagten die einen. Gesprochen hat sie noch nie viel. Meinten die anderen. Und Franco-Francone lief mit verklärtem Gesicht herum, und diese beiden Küsse der Severina brannten ihm bis in den Schlaf auf den Wangen. Er würde wieder hinaufgehen, ganz gewiß. Ob sie mit ihm redete oder nicht. Er wird Zettel schreiben, sie fragen, ob sie die Stimme verloren habe, ob man einen Doktor zu Rate ziehen solle, ob sie krank sei und was es bedeutet, daß sie ihn geküßt habe. Und ob sie einsam sei. Natürlich ist sie einsam, allein mit der Alten, der bösen, giftigen Alten, die er keine Stunde neben sich erdulden könnte. Und ohne Mann. Ohne einen Mann wie Massimo, diesen stattlichen, wunderbarsten Mann ringsum, den man ihr gar nicht zugetraut hätte. Der doch eigentlich die Anna wollte, die ihn verschmähte. Die, auch eine Verrückte. Die jetzt ohne Mann ist. Wegen ihres Stolzes. Ja, dachte Franco-Francone, was ist eine Frau ohne einen Mann? Nichts. Sie wird verrückt, und das Sprechen geht ihr 92
verloren. Ob das seiner Frau auch so gehen würde, ihr, die den ganzen Tag spricht? Würde sie auch schweigen, wenn er fortginge? Er mochte das nicht glauben. Nein, die da oben ist anders als alle. Er wird wieder hinaufgehen. Morgen, übermorgen, vielleicht. Ihr wird ein Mann fehlen ab und zu. Seltsam. Die, die ihren Mann jeden Tag neben sich haben, brauchen ihn für nichts mehr als für die täglichen Verrichtungen in Haus und Hof, für die Befehle, die Nachrichten, die Gerüchte, das Geschnatter, das Übelreden. Die aber, denen der Mann weggelaufen oder gestorben ist, oder die, die keinen mitbekommen haben, sehnen sich danach, daß man ihre Seufzer über das ganze Tal hinweg hören kann. Ob Severina sich nach ihm sehnt? Ob sie ihn deswegen geküßt hat? Ob das ein Zeichen ist? Ob er es wagen kann, sich ihr so zu nähern? Ob er sie mit Liebesworten wieder zum Sprechen bringen würde? Es wäre doch schließlich nichts dabei. Je mehr er sich danach sehnte, desto mehr redete er sich ein, daß es geradezu seine Freundespflicht gegenüber Massimo sei, sich um Severina zu kümmern, und daß dieser ihm verzeihen würde. Danken würde er ihm, da war sich Franco-Francone sicher. So suchten ihn in jenen Nächten wie schon lange nicht mehr Gedanken zwischen Glückseligkeit und Angst heim, denen er sich hellwach hingab, neben seiner Frau liegend, die dieses Bett nur noch aufzusuchen pflegte, um, auf dem Rücken liegend, schnarchend, dem Morgen entgegenzuschlafen, den sie mit einem seufzenden Oh, hat es denn nie ein Ende begrüßte. Ob und wann irgend etwas ein Ende haben würde, dieses Leben, die Arbeit, das Jahr, die Zeitläufte, diese Frage stellte sich FrancoFrancone nie. Für ihn ließ sich alles, was mit diesem Erdendasein zu tun hat, auf zwei Tatsachen beschränken: es gibt ein volles Glas und ein leeres. Und solange er ohne großen Aufwand das volle Glas leer und das leere vollmachen konnte, schien ihm die Welt in Ordnung. Er hatte alles im Leben erreicht, war Holzfäller geworden, hatte immer Arbeit und ohne übergroße Anstrengungen Roberta, seine Frau, erworben, die für ihn bestimmt gewesen, da sie mit ihren 120 Kilo die einzige 93
war, die bis auf zehn Kilo an sein eigenes Lebendgewicht herankam. Er hatte sich bei Ferruccio, dem Schmied, das Bett durch Eisenstangen verstärken lassen, mit Roberta darin zwei Töchter gezeugt, die ihrerseits, jetzt halbwüchsig, bald eiserne spezialgefertigte Betten brauchen würden. Das Leben ging dahin, und er hatte es schon vor Jahren aufgegeben, seinem und Robertas Körper Anstrengungen jenseits von Arbeit und Essen zumuten zu wollen. Etwas war eingeschlafen, doch das hatte Severina mit diesen zwei stummen Küssen wiedererweckt, und das hatte ihn aufgewühlt, so daß er jetzt wach neben der Schnarchenden lag. Gefühle rieselten durch seinen Körper, wie sonst nur der Wein, es zog bis in alle Eingeweide hinein, das Herz klopfte, und sein Kopf sauste im freien Fall durch einen Sternenhimmel. Draußen bellte Fernandos gichtkranker Hund seine Altersbeschwerden in die Nacht hinaus. Dann fiel ein Schuß, und es war still. Franco-Francone schlief ein.
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Die letzten Schritte läuft Massimo. Da sitzt sie auf der Bank vor dem Haus. Sie ist eingeschlafen. Er steht vor ihr, betrachtet sie. Ihr Kopf ist seitlich auf die Schulter gesunken, der fast zahnlose Mund etwas geöffnet. Ist sie älter geworden? Er weiß es nicht. Mamma! Sie schreckt hoch, begreift aber sofort, wer da gerufen hat, breitet ihre Arme aus, steht auf und versinkt in den seinen. Tränen der Freude schießen ihr in die Augen, sie wimmert mehr als sie spricht. Mein Junge! Mamma. Mein Massimo! Mamma. Da bist du! Ja, da bin ich. Und bleibst du da? Ja, Mamma, ich bleibe da. Du darfst nicht mehr weggehen von mir. Ich geh nicht mehr weg von dir. Also bist du doch gekommen. Bruno hat gesagt, du kommst. Das ist schon lange her. Dann bist du doch nicht gekommen. Jetzt bin ich da. Mein Massimo! Mamma! Während er die Mutter, die sich gar nicht mehr von ihm lösen will, immer noch festhält und ihren knochigen Körper fühlt, schaut er über sie hinweg suchend nach Severina. Sie ist nirgends zu sehen. Sie muß doch wissen, daß er kommt. Er hat aufs Seil geschlagen. Das muß sie gehört haben. Die Mutter nicht, die hat geschlafen, und sie hört auch nicht mehr so gut. Aber was hat er erwartet? Daß sie mit ausgebreiteten Armen neben der Mutter steht, um ihn zu begrüßen? Nein, nach dem,
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was Teresa und Rosanna schon angedeutet haben, wird er erst einmal nur zur Mutter heimgekehrt sein. Wo ist sie? Sofort setzt die Alte ein triumphierendes Gesicht auf und flüstert verschwörerisch. Oben ist sie, im Speicher. Sie spricht nicht. Ich hab es gehört. Nichts. Seit einem Jahr keinen Ton. Ja. Komm rein. Du wirst Hunger haben. Gleich. Er geht zum Stall, schaut hinein, sieht vor dem Schuppen das viele aufgeschichtete Holz, den frisch gestrichenen Kaninchenstall. Alles ist perfekt in Ordnung. Sie hat es alleine geschafft. Sie hat ihn nicht gebraucht. Sie hat nicht nur einen Winter mit der Alten hier überlebt, sondern auch den kleinen Hof aufrechterhalten. Er kommt an der Vogelvoliere vorbei. Sie ist leer, das Gatter ist offen. Sie war immer gegen diese Vögel, sie hat sie freigelassen. Die meisten werden das nicht überlebt haben. Er stutzt, bückt sich und sieht auf dem Boden ganz frischen Vogelkot. Sie hat sie jetzt erst freigelassen, als sie wußte, daß er kommt, nachdem er aufs Seil geschlagen hat, zum Zeichen seines Kommens. Ein Racheakt. Es wird nicht einfach werden. Sie braucht und will ihn vielleicht nicht mehr. Was dann? Wird er dann mit der Mutter ins Dorf hinuntergehen und sie hier oben sich selbst überlassen? Komm, du wirst Hunger haben. Lockt die Mutter an der Tür. Er geht ins Haus. Die Alte hat schon begonnen, den Tisch für ihn, nur für ihn allein, zu decken. Schwerfällig schlurft sie durch den Raum, stellt Wein und ein Glas hin, bringt Wurst und ein Brett, Brot und ein Stück Käse. Du wirst Hunger haben. Ja. 96
Wir waren den ganzen Winter hier oben. Ich hab es gehört. Ich hab es nur überlebt, weil ich gewußt hab, daß du kommst. Und ich bin gekommen. Sie flüstert es, als wollte sie verhindern, daß Severina da oben etwas davon hört. Massimo tut von Anfang an das Gegenteil. Alles was er sagt, fragt und erzählt, soll auch für sie da oben sein, soll Nachricht, Botschaft, Entschuldigung sein, soll sagen: Ich bin auch zu dir zurückgekehrt. Er schaut sich um, stellt fest, daß sein Stuhl fehlt. Die Mutter begreift sofort, was er sieht. Sie hat ihn verheizt. Sie zeigt bei jedem geflüsterten Satz mit einer kleinen boshaften Geste zur Decke und verdreht die Augen. Noch weiß Massimo das nicht einzuordnen, noch ahnt er nicht, was sich in diesem Jahr in der Mutter angestaut hat und wie sehr sie jetzt um ihn werben wird, den Sohn, dem die Mutter geblieben ist und verziehen hat, nicht aber seine Frau. Und er ahnt auch noch nicht, daß diese Mutter, die ihn so bedingungslos wiederaufnimmt und an ihr Herz drückt, der Grund sein wird, daß seine Heimkehr zu Severina viel länger dauern wird. Solche Dinge sind ihm fremd. Für ihn gilt, Mutter ist Mutter, Frau ist Frau, alle gehören unter ein Dach, so hat es seine Ordnung. Er, dem in seinem Leben fast alles gelang, der schwierigste Situationen gemeistert hat, die ihn manchmal sogar zum Helden machten, hat nicht gelernt, daß einmal zerstörte Dinge nie mehr wieder zu einem perfekten Ganzen zusammengefügt werden können. Daß Risse und Sprünge bleiben. So präsentiert er der Mutter also den zurückgekehrten Herrn am Tisch des Hauses. Er ißt und trinkt, und der Wein lockert die Zunge, und die liebende Mutter hängt an jedem Wort, das über seine Lippen kommt. Er erzählt, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, schwadroniert, lügt, erfindet, denn da ist niemand, der an irgend etwas von ihm Gesagtem zweifelt. Von der Madonnina erzählt er, die so groß sei wie die Kirche unten im Dorf, von den Millionen Tauben auf dem Platz vor dem Dom, die sich in Scharen auf seine Schultern gesetzt 97
hatten, von den großen Straßen und den prächtigen Häusern, von Straßenfesten und Karnevalsumzügen, vom Flughafen mit den riesengroßen Flugzeugen, von reichen und berühmten Menschen erzählt er. Und die Mutter strahlt. Warum er, um diese Geschichten zu erleben, ein Jahr weggehen mußte, was das mit dieser Frau auf sich hatte, was er so lange in Mailand gemacht, wovon er gelebt, ob er gearbeitet, wo er gewohnt hat, warum er gerade jetzt zurückgekommen ist, davon spricht er nicht. Die Mutter fragt ja nichts. Sie lächelt ihn nur selig an, ist überglücklich, und schläft mitten in seiner Erzählung ein. Vom Glück erschöpft. Er hebt sie hoch. Mein Gott, wie federleicht sie ist. Er bringt sie in ihr Bett, deckt sie zu, setzt sich an den Tisch, trinkt, schaut im Raum herum, zur Decke hinauf, überlegt, ob er hinaufzugehen versuchen soll, ob er sie rufen, ansprechen soll. Er kann sich zu nichts entscheiden, er hat Angst. Er geht in den Hof hinaus, und dort packt ihn ein wunderbarer Stolz: Ich bin wieder da, wo ich hingehöre! Er macht ein paar Schritte, dreht sich um, sieht das Haus, den halbverdunkelten Himmel darüber, Sterne, den Gipfel der Madonnina. Eines Tages sprenge ich ihn weg. Denkt er.
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Es wurde Herbst und das Leben in der Stadt noch ungemütlicher. Das ließ Massimo öfter und immer wieder an zu Hause denken. Er hatte, dessen wurde er sich endlich bewußt, Heimweh. Er schlurfte tieftraurig durch das fallende Laub des armseligen Parks am Ende der Straße und dachte an die Farben der Hügel, des Laubes der Wälder, den stahlblauen Himmel darüber, den blitzblank daliegenden See. Er saß im Café, mit den zittrigen Rentnern, die von der Angst redeten, den kommenden Winter nicht zu erleben. Er hatte wieder mal keine Arbeit und überlebte die Tage nur, weil an deren Ende Renata zu ihm kam, ihn küßte, hochriß, aus den Träumen heraus, zu Aktivitäten, für die ihn das Nichtstun des Tages schon zu müde gemacht hatte. Sie kannte keine Ruhe. Arbeitete sie nicht, dann wollte sie unterwegs sein. Feste, Bars, Partys. Immer war etwas los, ständig waren sie irgendwo eingeladen. Wenn er selbst gerade mal eine Gelegenheitsarbeit hatte, dann ging sie alleine, kam irgendwann im Morgengrauen zurück. Er war eifersüchtig, malte sich aus, daß sie sich mit anderen Männern abgab. Es gab in ihren Augen unnötigen Streit, denn, so sagte sie, Treue kenne sie nicht. Sie stritten immer häufiger, was seine Sehnsucht nach seiner früheren Welt immer deutlicher werden ließ. Wie lange war er jetzt schon hier? Zwei Monate? Drei? Er wollte es nicht wissen. Er war im Sommer gegangen, und jetzt war Herbst. Jetzt sind draußen die klaren Tage, wo der Himmel die Bergkuppen aussägt, wo man deutlicher denn je die »Zähne der Alten«, wie sie den Berg nennen, sieht. Jetzt kann man vom Gipfel aus sehr gut die Madonnina auf dem Mailänder Dom sehen. Wie weit ist es von hier nach dort? Siebzig Kilometer? Eine Stunde mit dem Auto, zwei mit Bahn und Bus. Er könnte doch mal hinausfahren, dachte Massimo, am Wochenende vielleicht. Hinausfahren, in die Bar gehen, Franco-Francone, Bruno, Albino treffen, ein paar Gläser trinken, von diesem
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neuen, anderen Leben erzählen, für das man sich jetzt entschieden hatte. Es würde so sein, wie es war, wenn Leute, die vor Jahren nach Como oder Mailand gezogen sind, mal wieder im Dorf auftauchten. Sie waren schnell wieder zu Hause, vertraut, erkannten alles wieder, fanden wenige Veränderungen vor. Aber sie brachten einen fremden Geruch in die Bar, es war immer, als fotografierten sie ihr Vorleben fürs Familienalbum, um den Enkeln in der Stadt zeigen zu können, wo sie aufgewachsen waren. Man merkte ihnen an, daß sie darüber nachdachten, ob sie hier noch wohnen wollen würden. Man verabschiedete sie herzlichst und war froh, daß sie gingen. Man öffnete alle Fenster weit, um die Luft der Berge hereinzuholen. Aber wenn er hinausgefahren wäre, es wäre doch ganz anders gewesen. Er war doch schließlich einer von dort. War er das noch? Wäre das wirklich einfach so gegangen, in die Bar zu gehen, etwas zu schwatzen und wieder zu verschwinden? Was hätte er ihnen erzählt? Hätte er das Severina und der Mutter antun können? Wäre er nicht gezwungen gewesen, hinaufzugehen auf den Berg? Nein, jetzt gab es keine Möglichkeit für einen Besuch. Er mußte hierbleiben oder für immer zurückkehren. Er wußte, daß es endgültig gewesen wäre, hätte ihn das Heimweh einmal hinausgetrieben. Darum tat er es nicht. Aber kurz darauf ging er nach einem Streit zum Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte, setzte sich in den Zug nach Como, sprang aber aus dem schon anfahrenden Zug, lief wieder zurück, die Treppe hinauf, ins Zimmer, ins Bett zu Renata. Wie warm sie war und wie gut sie roch! Und wie sie seine Niederlage genoß! Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Jetzt mußt du die Schafe scheren. Franco-Francone soll dir helfen. Bald werdet ihr hinuntergehen. Mir geht es gut. 100
Geht nicht zu spät hinunter. Franco-Francone soll euch die Tiere hinuntertreiben. Albino soll ein paar schlachten. Mach dir keine Sorgen. Wie geht es Mamma? Ich bin einmal so. Ich kann nicht anders. Geht es euch auch gut? Ich hoffe das. Gruß Massimo. Gruß Dein Massimo Bis bald. Massimo. Bis bald. Dein Massimo. Euer Massimo. Bis bald? Er wollte einen Brief schreiben. Oder eine Karte. Eine Karte mit der Madonnina drauf. Er hatte sie am Dom gekauft. Aber er wußte nicht, was er schreiben sollte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Brief geschrieben. Und eine Karte würde die Postbotin zuerst lesen. Bis bald. Dein Massimo. Bis bald? Bis wann? Wann sollte das sein? Hatte er vor, zurückzukommen? Sollte und konnte er so was versprechen? Mir geht es gut. Ging es ihm gut? Ja, es ging ihm gut. Manchmal mit Renata. Aber immer öfter ging es ihm nicht gut. Da kamen dann alle die tausend Gedanken und Bilder, aus denen das Heimweh bestand. In Gedanken stand er mit Severina morgens auf, schlürfte den Milchkaffee, brockte Brot hinein, fütterte die Kaninchen, trieb die Schafe auf einen anderen Teil der Weide, mähte die Wiese, schlug Holz, feuerte den Kamin an, briet ein Stück Fleisch, schlachtete, scherte ein Schaf, brachte die Wolle ins Tal, kaufte ein, ging in die Bar, schwatzte, verbrachte die Nacht bei Rosanna, stieg dann am nächsten Morgen wieder 101
hinauf, erzählte von den Neuigkeiten aus der Bar, unterhielt die Mutter mit ein paar Späßchen und Klatsch über die Leute, kroch am Abend zu Severina, drückte sich an sie, liebte sie. Es war alles so nah, wie nebenan. Und wenn er durch die Stadt ging, wenn er mit den alten Männern im Cafe saß und ihre Geschichten aus ihrem Leben hier in der Stadt hörte, dann war es so weit weg wie Amerika, von wo keiner mehr zurückkehrte, wo man eine andere Sprache sprach, wo man ganz andere Wörter für die Dinge hatte und die Menschen von anderswo gar nicht verstand. Gehen wir nach Amerika. Sagte Massimo. Was soll ich da? Fragte Renata. Amerika, so dachte er, wäre die Endgültigkeit, die gar kein Heimweh mehr zuließe. Amerika. Amerika. Amerika. Dreimal sagte er es vor sich hin. Wie damals Onkel Gusto, Vaters Bruder, den sie den Amerikaner nannten. Er war der einzige Mensch, von dem Massimo wußte, daß er aus Amerika zurückgekommen war. Er hatte vor dem Krieg als junger Mensch sein Haus, die Wiesen und sein Hab und Gut verkauft und war mit seiner Frau nach Amerika gegangen. Bald kamen aus Colorado lange Briefe. Das Glück hätten sie gefunden, wahrlich das Glück. Die Briefe wurden weniger, kürzer, sprachen nicht mehr von Glück. Am Ende stand eine Karte aus New York: Paola gestern gestorben, in Trauer grüßt Gusto. Danach nichts mehr, kein Lebenszeichen. Der Krieg kam und ging, die Nachkriegsjahre spülten viele Gestrandete an, der Vater kam mit dem Krieg in seinem Kopf nach Hause, von Gusto kein Lebenszeichen. Niemand nahm mehr an, daß er noch lebte. Eines Tages stand ein Bettler vor der Tür und hielt Massimo, der ein Kind war, einen Zettel hin. Brunetti Gusto aus Amerika. 102
Stand da. Massimo rannte mit dem Zettel zur Mutter. Die erkannte ihren Schwager sofort. Er war zurückgekommen, er lebte, aber er war stumm. Man richtete ihm ein kleines Zimmer unterm Dach ein, und er blieb. Ein schmächtiger, grauer, uralt aussehender Mann von gerade einmal fünfzig Jahren. Unfähig, eine Arbeit zu tun, saß er den ganzen Tag auf der Bank vor dem Haus oder in der Küche oder im Schuppen und starrte vor sich hin. Er blickte in die Ferne, irgendwohin. Was der sieht, das wüßte ich gern. Sagte die Mutter. Da saß sie nun, hatte zwei Männer im Haus, der eine hatte den Krieg im Kopf und polterte laut, der andere hatte Amerika im Kopf und schwieg. Aus den vielen Zetteln, die Gusto vollschrieb, konnte man zwar begreifen, was er im Augenblick sagen wollte, was er aber in Amerika erlebt hatte, erfuhr man nicht. Zu viele amerikanische Wörter standen da geschrieben, die keiner verstand. Böse Zungen sagten, Gusto hätte sprechen können, er wollte nur nicht, um nicht erzählen zu müssen, was ihm widerfahren war. Massimo saß oft vor ihm, versuchte zu erraten, was wohl auf die Zettel geschrieben war, und konnte sich nicht vorstellen, daß einer das durchhalten kann, nicht zu sprechen, obwohl er es könnte. Er selbst probierte es aus und kam nicht einmal auf einen halben Tag. Manchmal stellte er dem Onkel plötzlich Fragen, wollte ihn überlisten, zu reden. Nur in solchen Momenten lächelte der Onkel. Als er starb, soll er am Ende dreimal laut und deutlich dasselbe Wort gesagt haben: Amerika. Amerika. Amerika. Massimo dachte jetzt, da er auch oft untätig herumsaß, an den Onkel, und er fühlte sich mit seinen eigenen Zweifeln ihm nah. Amerika bedeutete ihm nicht wirklich etwas. Er hätte auch von Australien oder Asien träumen können, denn er bildete sich nur ein, daß ein großes Meer zwischen diesem seinem neuen Leben und dem alten sein hätte müssen. Aber würde er dann nicht auch vielleicht eines Tages wie der Onkel abgerissen, arm und stumm ins Dorf zurückkehren? 103
Er schrieb keinen Brief. Er schrieb keine Karte. Er hatte Heimweh, aber er fand nicht den Weg nach Hause. Er war unglücklich und tröstete sich mit den immer weniger werdenden schönen Momenten mit Renata. Die fanden fast ausschließlich im Bett statt. Zum Ende des Jahres, nahm er sich vor, gehe ich zurück. Weihnachten kam, die Stadt war im Lichterglanz, es war kalt und gab keine Arbeit. Er lebte inzwischen von Renatas Verdienst. Sie stritten immer häufiger, schrien sich an, prügelten sich, um dann wieder ineinander zu versinken, sich aneinander festzuhalten. Sie hatte ja, das wurde ihm immer stärker bewußt, auch niemanden. Die Menschen, die sie Freunde nannte, waren gute, nette, oberflächliche Bekannte, die sich für sie auch nur interessierten, wenn es ihr gutging, sie fröhlich war und unternehmungslustig. Zum neuen Jahr fiel auch in Mailand Schnee, Massimo fand vorübergehend Arbeit bei einer Schneeräumtruppe am Flughafen. Seine Arbeitskollegen waren Süditaliener, deren Sprache er nicht verstand, wenn sie sich unterhielten. Es verband ihn mit denen nur das Heimweh. Sie hatten ihre Liebesgeschichten da, wo sie herkamen. Sie hatten Sehnsucht und froren furchtbar. Sie konnten nicht nach Hause gehen, weil es dort für sie keine Arbeit gab. Das Frühjahr kam. Immer wieder schob Massimo die Entscheidung, nach Hause zu gehen, vor sich her. Jeder Streit mit Renata hätte die Möglichkeit geboten. Er schaffte es nicht, hatte mittlerweile schon Angst davor. Im März war er wieder einmal auf dem Bahnhof. Es war noch eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Er kramte einen Zettel aus der Jacke, den er dort vor ein paar Tagen gefunden hatte. Darauf hatte er sich die Handynummer von Bruno notiert. Er rief von einer Telefonzelle aus an. Hallo, Bruno. Wer ist da? Massimo. 104
He, wo steckst du?! Mailand. Bahnhof. Ich bin in Schaffhausen. Kommst du heim? Ja. Gleich fährt der Zug. Wunderbar. Bin in drei Tagen auch da. Dann sehen wir uns. Das ist gut, daß du kommst. Alle brauchen dich. Das Abenteuer muß jetzt ein Ende haben. Ich meine, Massimo, unter uns, ich verstehe das, hab das immer verstanden, aber so lange, also nein. Ich komme! Massimo legte auf, öffnete die Tür der Kabine, ging hinaus. Da stand Renata, klein, traurig und verheult. Sie sprang an ihm hoch, ganz so wie damals, als sei er ein Baum, auf den sie klettern wollte. Sie küßte ihn.
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Lange liegt Severina hier oben wach. Sie hat das Bettzeug über die Luke gezogen, liegt darauf, so daß man sie von unten nicht hochdrücken und öffnen kann. Sie hört jedes Wort, hört ihn atmen und das gluckernde Gekicher der Alten. Sie hört es, wenn er Wein einschenkt, wenn er trinkt, wenn er Schinken abschneidet oder Brot bricht. Und selbst wenn sie unten flüstern, eindeutig über sie reden, versteht Severina das, denn es ist ja nur dieses Brett zwischen ihnen. Sie redet nichts mehr. Ich weiß es schon. Du weißt es schon? Man redet drüber. Erst dachte sie, sie würde das nicht ertragen können, ihn so nahe zu wissen und doch nicht zu sehen und zu spüren. Aber ebensowenig hätte sie ihm einfach so gegenüberstehen können. Weglaufen wäre die andere Möglichkeit gewesen. Aber je länger sie hier liegt und ihn reden und lachen hört, desto ruhiger wird sie. Sie ist ihm nah, näher als seit langem, aber zwischen ihnen ist noch der Vorhang der Leiden dieses Jahres. Er beschützt sie. Severina merkt sehr wohl, daß sein schwadronierendes Erzählen, das lauter ist, als es für die nur etwas schwerhörige Alte nötig wäre, auch für sie ist. Er läßt sie teilhaben, erzählt auch ihr, will ungeduldig den Vorhang wegreißen. Die harmlosen Begebenheiten, die er, wie er es so wunderbar kann, zu Abenteuern macht, sollen seine Entschuldigung sein. So ist er. Und die ganze Geschichte um diese Frau und die Frau selbst werden ganz hinten im hintersten Winkel seines Herzens schlummern, und man wird sehr gut aufpassen müssen, sie dort nicht zu wecken. Er läßt sie teilhaben, erzählt auch ihr. Massimo, das spürt Severina bis hierherauf, ist schon wieder ganz da, als wäre er nie weggewesen, als hätte er gerade einmal einen Tag im Dorf zugebracht. So sind Männer, denkt Severina. Mit Reden machen sie Erlittenes ungeschehen, Unrecht zu Recht, das Opfer
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zum Täter. Sie, Severina, wird ab sofort die Schuldige sein, die, die nicht zur Normalität übergeht, die sich wehrt, die weiterhin schweigt. Für Massimo wird bald die Welt wieder in Ordnung sein. Er wird die Schafe scheren, den Schuppen reparieren, einen Hasen schlachten, die Mutter bei Laune halten und Severinas Körper fordern. Und er wird seine alten Gewohnheiten wiederaufnehmen. Er wird wieder und wieder ins Dorf gehen, und alles wird sein wie immer. Er wird zügig den Eselspfad hinuntergehen, wird nicht an der Kurve mit dem kleinen Plateau stehenbleiben, wo man einen Blick über beide Seen hat, wird dem Dorf zustreben und wird am ersten Haus, Luigis Haus, vorbeikommen. Aber es wird nicht mehr so sein wie früher, wo es Luisa immer so eingerichtet hatte, daß sie gerade in dem Moment, da Massimo vom Berg herunterkam, am Fenster etwas zu bewerkstelligen hatte, um ihm ihren leicht blöden, sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen und zu lächeln. Nein, Luisa wird im dunklen Zimmer sitzen und beten und immer wieder den Namen Valerio vor sich hin sagen. Valerio, Luisas Sohn, hatte bei einer Mutprobe mitgemacht und sie nicht überlebt. Man mußte mit den hochfrisierten, laut knatternden Maschinen über den Eselspfad den Berg hinauf bis zur Bergstation des Transportseils fahren und so schnell es ging wieder herunter. Nach der Kurve, die man langsam fahren mußte, um nicht schon dort aus der Bahn geschleudert zu werden, hatte Valerio noch einmal Gas gegeben und schon die Ziellinie am Ortseingang überquert, als er das Tempo drosseln wollte und sich direkt vor seinem Elternhaus überschlug. Er war sofort tot, der Schädel zerschmettert. Luisa war Zeugin seines Todes, denn sie hatte gerade etwas am Fenster zu tun. In der Mauer, die den Pfad bergwärts schützt, ist eine Gedenknische. Dort erinnern ein Ewiges Licht und stets frische Blumen daran, daß Valerio einen Rekord aufgestellt hat, den danach nie mehr jemand brechen konnte. Franco-Francone hat Severina vom Friedhof erzählt, vom Skelett des Valerio und der gelben Jakke und von Luisa, die jetzt gar nicht mehr verrückt ist, sondern ganz still und traurig. Sie wird nicht mehr gerade am Fenster 107
was zu schaffen haben, wenn Massimo vorbeigeht. Der wird durch den Torbogen gehen, die paar Stufen hinunter, an der öffentlichen Waschanlage vorbei. Oh, wenn da die Weiber sein sollten! Maria-Grazia, Gabriella, Rosanna, die dicke Violetta und Mutter Guaita, die Zahnlose. Wird das ein Geschnatter sein, ein Sichüberbieten im Gackern und Gurren, ein vielstimmiges, von heimlichen Sehnsüchten und täglichen Enttäuschungen und Fernsehliebesgeschichtenseufzern getränktes Schaut-mal-wer-da-kommt. Oh, wie Severina das kennt. Und wie es sie immer stolz gemacht hat, das Gefühl, dieser, den ihr alle bewundert, nach dessen Gunst und Liebe ihr euch alle verzehrt, der ist meiner, meiner allein, um den ihr alle mich beneidet. Wer so viel Neid auf sich zieht, erntet noch mehr Spott. Das mußte Severina im letzten Jahr erfahren, als sie herunterkam und in alle Winkel des Ortes hinein nach ihm schrie, ihn überall und nirgends wähnte, im Bett der einen oder der anderen, und er doch bei keiner von ihnen war, eben aber auch, das krähten sie lauthals über die Waschbottiche in den gnädigen Himmel, auch nicht mehr bei ihr, der Betrogenen, der Gehörnten, der Verrückten, dann auch der Stummen, der Verstummten. Massimo wird weitergehen, am Häuschen von FrancoFrancone vorbeikommen, der schon vor der Tür stehen wird, die Hände in den riesigen Taschen seiner unförmigen Latzhose, einen seit Stunden schon nicht mehr brennenden Zigarrenstummel im Mund. Sie werden zusammen zur Bar gehen. Franco-Francone wird von dem Holz erzählen, das er heute mit Bruno geschlagen hat, das kein anderes Holz sein wird als das, das er gestern geschlagen hat, und das, das er morgen schlagen wird. Vielleicht wird er aber auch nur vom gestrigen Holz erzählen, weil er heute keines geschlagen, sondern mit Gusto ein Schwein geschlachtet hat. Es wird ein wunderbares, ganz vorzügliches Schwein gewesen sein, denn für FrancoFrancone, für den es im Leben keinen größeren Genuß als den Verzehr von Wurst und Schinken gibt, ist das gerade geschlachtete Schwein das beste Schwein, das er je geschlachtet hat. Die Vorfreude adelt das Schwein. Davon wird zu 108
erzählen sein, vom Haus bis zum Platz, auf dem sie Gusto treffen werden, der abschließend seinerseits auch noch einmal bestätigen kann, daß es sich in der Tat bei diesem Schwein um ein ganz besonderes Schwein gehandelt habe. Sag es Massimo, sag es ihm. Es ist so, in der Tat, doch, doch. Was sag ich dir denn! Ein ausgezeichnetes Schwein. Ja. Wie ich es gesagt habe. Ja. Ich glaub es euch. Gusto ist Zeuge. Das bin ich. Gut so. Auf dem Platz werden die Kinder spielen, die jungen Mädchen an der Mauer lehnen und plaudern und sehr heimlich nach den Jungen schielen, die auf ihren Motorrädern quer über den Platz hinweg Kunststückchen machen, für sie, für wen sonst. Die Männer werden um die Bocciabahn herumstehen, fachsimpeln, rufen, aufmuntern, verhöhnen, besserwissen. Einer wird Massimo zurufen. Massimo, he, wer ist näher?! Alberto! Und sie werden lachen, denn jeder wird wissen, daß Massimo gar nicht weiß, welche Albertos Kugel ist, aber es wird ihre Art sein zu sagen, ah, da bist du wieder und seine, ja, da bin ich wieder, seht her. Auch über ihn werden sie - wie damals über sie - reden, tuscheln, rätseln, vielleicht sogar heimlich höhnen. Aber es wird ihm nichts ausmachen, es wird ihm völlig egal sein. Und darin, denkt Severina, ist der Unterschied zwischen ihr und ihm und wohl doch überhaupt zwischen Mann und Frau. Er weiß, daß sie alle wissen, daß er zwar wiedergekommen ist, daß seine Frau aber nicht mehr spricht und auch zu den ehelichen Üblichkeiten nicht zurückgekehrt ist. FrancoFrancone wird es ihnen gesagt haben. Massimo weiß das, aber er wird über den Platz schreiten wie ein König. Das wird 109
das Gerede verstummen lassen, den Hohn und den Spott ersticken. Würde er fragen, welche Kugel Alberto hat, sie würden es ihm zwar sagen, aber seine Autorität hätte einen Riß. Selbstverständlich werden sie sich seiner entschieden vorgetragenen Entscheidung, Albertos Kugel sei näher, beugen. Paolo, gerade noch sicher, daß seine Kugel näher war, wird das Urteil akzeptieren. Und damit wird Massimo, wenn er sich im Bewußtsein der Männer überhaupt entfernt hat, endgültig zurückgekehrt sein und seinen angestammten Platz in ihrer Welt wieder innehaben -früher, als er den neben ihr haben wird, und das ist gut so, denkt Severina. Denn dort werden sie seinen Geschichten zuhören und Staunen oder Zustimmung zeigen. Dann werden sie in die Bar gehen, Teresa wird schon an der Tür stehen und ihn mit all ihrer feierlichen Neugier begrüßen. Und er wird erzählen, und sie werden an seinen Lippen hängen, und sollte einer von ihnen im stillen Massimo einen Vorwurf für sein Verhalten gemacht haben, so wird er das energisch verwerfen. Denn er bringt ihnen die Abenteuer, die sie nicht erleben. Er läßt sie teilhaben. Nein, da wird keiner sein, der ihn verurteilt, und auch Rosanna wird ihn wieder selig in ihr Bett ziehen und ihm verzeihen, ehe er sie überhaupt angefaßt hat. Und ihr, Severina, wird nichts bleiben als ihr Schweigen. Sie weiß, daß sie erst wieder reden wird, wenn er wirklich leidet und ihr Schweigen nicht nur als die Laune der Beleidigten ansieht, wenn er begriffen haben wird, daß ihr Schweigen dasselbe Schweigen ist, das er zwischen ihnen beiden geschaffen hat. Für ein ganzes langes Jahr. Die Zeit wird dann gekommen sein, wenn er alles erzählt haben wird, wenn auch er nur noch schweigen wird. Das spürt sie, da sie ihn jetzt dort unten hört, dankbar für diese ihm ergebene Zuhörerin, wachsend an ihrer Bewunderung, ruhend in ihrer Liebe, übermütig, seinen Geschichten, die sicher nur ein Bruchteil des Erlebten sind, Flügel gebend.
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Daß Severina nicht mehr ins Dorf herunterkam, darüber wunderten sich wenige. Daß sie nicht mehr sprach, das hörte man mit Verwunderung und Bedauern. Es erstaunte zunächst nicht. Viel geredet hat sie nie. Sagte Bruno. Was soll sie sagen? Sagte Franco-Francone. Wenn er wiederkommt, spricht sie wieder. Sagte Teresa. Was soll sie mit der alten Hexe da oben reden. Sagte Albino. Franco-Francone hatte es aufgegeben, auf sie einzureden. Er trug ihr die Sachen herauf, die sie ihm auf einen Zettel geschrieben hatte, er saß ein Stündchen, schwatzte mit der Alten, die über etwas Ansprache hocherfreut war und es an Seitenhieben auf die Stumme nicht fehlen ließ. Er erzählte, was es unten Neues gab. Hier war ein Kind geboren, dort jemand gestorben, ein Kalb verendet, jemand überfahren worden, an Krebs erkrankt, von der Gattin gehörnt oder volltrunken in den Bach gestürzt. Die wichtigeren Nachrichten waren: Rinaldos Frau ist mit dem Sarden, der Koch in der Pizzeria am See unten war, abgehauen. Der Wirt der Pizzeria hat sich seinen Ferrari-Testarossa stehlen lassen, um die Versicherungssumme zu kassieren, Gildo von der Wursttheke des Supermarktes hat es vermutlich doch mit Männern und soll deshalb nicht mehr im Supermarkt arbeiten dürfen, Luigi war letzten Sonntag mit offenem Hosenstall zum Gelächter aller Kirchenbesucher zur Heiligen Kommunion gegangen, und dem jungen Carabiniere Adriano Rossi ist seine Mutter gestorben. Mitten im Reden tot umgefallen. Das ist doch der Sohn von dem Bäcker? Richtig, von Adriano dem Bäcker. Auch schon tot.
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Jaja. Und der Sohn heißt auch Adriano. Sind irgendwie verwandt mit uns. Sagte die Alte. Jaja. Aber wie? Das weiß ich nicht mehr. Ja, und jetzt auch sie tot. Der ist Carabiniere? Jaja. Unten auf der Wache. Einfach tot umgefallen? Mitten im Reden. So was. Hat ja immer geredet. Jaja, ja dann. Die eine redet zuviel, die andere zuwenig. Oder nichts. Oder nichts. Und was ist besser? Für meine Roberta wäre es besser, sie würde weniger reden. So verliefen die Gespräche zumeist, vieles mußte FrancoFrancone wiederholen und lauter sagen, weil Amabilia es nicht verstand, wieder vergessen hatte, noch mal hören wollte. Franco-Francone genoß es, Severina, die nicht erkennen ließ, ob sie den Gesprächen zuhörte, bei der Arbeit zuzusehen. Und im hintersten Winkel seines Denkens ruhten Gefühle, die ihr zu zeigen er sich aber nicht traute, wozu sie ihm allerdings auch keine Gelegenheit ließ. In etwa zwei Wochen, sagte Franco-Francone, würden er und Albino heraufkommen, schlachten, was zu schlachten sei, und ihnen helfen, die anderen Tiere hinunterzutreiben. Severina schaute verwundert auf, sah seinen unsicheren Blick und den giftigen der Alten und ging weg. Die wird doch nicht hier oben bleiben wollen im Winter? Man weiß ja nichts bei der. So weit lassen wir's nicht kommen. Sie sagt ja nichts. Dann kam der Winter. Mit ersten Frösten kündigte er sich an, mit Schnee, den aber die Sonne noch auffraß, dann mit eisi112
gen Winden, die ums Haus und die Felsen jagten. Die Tiere im Stall waren unruhig und froren. Die Männer kamen vor dem ersten tieferen Schnee und boten entschieden ihre Hilfe an, redeten auf Severina ein, warnten, schimpften, gaben zu bedenken, und meinten schließlich, daß Severina wohl verrückt geworden sei und sie jetzt wenigstens die Alte mitnähmen. Doch die weigerte sich, mit ihnen zu gehen. Was soll ich unten allein? Da hast du's warm. Und wer kocht mir? Wer ist da? Rosanna vielleicht. Sagte Franco-Francone. Ha, die, die ist mit Schuld, daß er weg ist, die! Sie gingen unverrichteterdinge. Franco-Francone versprach, wenn nicht allzuviel Schnee lag, zu kommen, Sachen heraufzubringen. Dann waren sie weg, und es wurde stiller denn je. Der Winter kam mit einer Härte, daß selbst die Geräusche in der Luft zu Stille gefroren. Lange kam kein Schnee, der doch gnädiger gewesen wäre als der Frost, Schnee, der das Haus eingehüllt, das Dach gewärmt hätte, und aus dem Severina Wasser zum Waschen hätte schmelzen können. So mußte sie mühsam die Eiszapfen, zu denen die Quelle gefroren war, abschlagen und sie im Kamin auftauen. Severina, die das Überwintern hier oben freiwillig auf sich genommen hatte, ertrug es geduldig. Die Alte aber schrie und schimpfte, jammerte und wimmerte. Daß Weihnachten war, erfuhren sie aus dem kleinen Kofferradio. Als die ersten Weihnachtslieder erklangen, schaltete Severina es aus. Einen Tag vor Weihnachten war FrancoFrancone heraufgekommen und hatte von seiner Frau gebakkene Plätzchen, auf einem weihnachtlichen Pappteller, mitgebracht. Den Teller gab ihm Severina wieder mit. Am Heiligen Abend konnte Severina nicht einschlafen. Sie legte sich die dicke Decke um und ging hinaus. Es war eine kalte, klare Nacht, Sterne standen am Himmel, und Severina mußte gegen eine große Traurigkeit kämpfen. 113
Die Geburt des Herrn. Wofür ist er geboren? Fragte sie sich. Und sie fand keine Antwort darauf. Als sie ins Haus ging, wunderte sie sich, daß sie aus der Bettecke der Alten kein Schnarchen, kein Stöhnen, kein Wimmern hörte. Sie ging hin, das Bett war leer. Sie lief in ihre Kammer, doch da war sie nicht, sie lief hinaus, wollte rufen und merkte zum ersten Mal, daß keine Laute aus ihr kamen. Sie fand die Alte im Stall. Sie hatte sich zwischen die Schafe gelegt, schlief selig, von ihnen gewärmt. Severina ließ in ihrem Kopf nicht die Vorstellung zu, daß das ein friedliches Weihnachtsbild hätte sein können. Es war ihr nichts als der Eigensinn der Alten. Nach Weihnachten, rechtzeitig zum neuen Jahr, kam der Schnee. Severina hatte die ganz heimliche Hoffnung gehabt, zum Ende des Jahres würde sich Massimo besonnen haben und zurückkehren. Mit dem Schnee, der sie so vollends jedem Leben da unten zu entrücken schien, gab sie die Hoffnung auf. Jetzt würde nicht mehr mal Franco-Francone kommen. Jetzt waren sie ganz allein. Sie spürten das beide, und als hätten sie sich schon immer leiden können, als wäre zwischen ihnen schon immer eine enge Beziehung gewesen, rückten sie zusammen. Schulter an Schulter wärmten sie sich am Kamin und hörten, schweigend jetzt auch die Alte, den Melodien zu, die das Holz im Feuer spielte. Lange bevor Severina müde war, schlief die Alte ein, sank von der Ofenbank, und Severina konnte sie nur mit Mühe zu ihrem Bett bringen. Von dort seufzte sie kurz, um dann in ein Schnarchen überzugehen, das man ihrem zierlichen Körper nicht zugetraut hätte. Severina saß meist noch lange da und dachte über ihr Leben nach, das ihr so unnütz und überflüssig erschien, nicht wert, gerettet zu werden. Würde ich jetzt sterben, dachte sie, es wäre in Ordnung, ich würde niemandem wirklich fehlen. Und doch fühlte sie sich so lebendig, daß sie aus ihren vielen Gedanken immer wieder Sehnsüchte mit in ihr Bett nahm. Die Silvesternacht war auch wieder sternenklar und kalt. Die 114
Alte schlief bereits, es war Mitternacht, und Severina stapfte in den Schnee hinaus. Im Tal stiegen leuchtendbunte Böller hoch. Severina mußte an das erste Feuerwerk ihrer Kindheit denken. Unten am See waren viele Menschen zusammengekommen, auch sie und Anna und die Brüder mit dem Vater. Auf der Insel im See sollte wie jedes Jahr ein Feuerwerk abgebrannt werden. In jenem Jahr hatte es die Tage davor viel geregnet, und es war gar nicht sicher gewesen, ob diesmal aus dem Feuerwerk etwas werden würde. Dann sollte es aber doch stattfinden. Zwei Stunden warteten die Menschen auf den Beginn, hatten beste Plätze ergattert. Severina saß auf dem Rücken des Vaters und war sehr aufgeregt. Eine Fanfare ertönte, und es sollte losgehen. Es kam nichts, die Menge wurde unruhig und murrte. Schließlich tat es einen Knall, eine einsame Rakete flog zischend und einen gelbroten Feuerschein hinter sich herziehend etwa zwanzig Meter hoch und sackte dann zur Erde. Und über einen Lautsprecher wurde verkündet, daß das Feuerwerk dieses Jahr leider ausfallen müsse. Das war's, sagte der Vater. Sie machten sich auf den Weg, kamen aber nicht weit, denn vor ihnen tobten wüste Schlägereien. Die aufgebrachte Menge war über die Verantwortlichen hergefallen, alle schlugen aufeinander ein, keiner wußte mehr, wer zu wem gehörte, wahllos schlugen sie zu. So muß Krieg sein, dachte Severina. Aus sicherer Position schauten sie dem Treiben zu. Die Brüder hatten Spaß, feuerten die Kämpfenden an. Der Kampf dauerte länger, als die Feuerwerke zu dauern pflegten. Das war das beste Feuerwerk, das ich je gesehen habe. Sagte der Vater am Abend. Die bunten, in den Himmel gejagten Blumensträuße wurden weniger, ab und zu krachte noch etwas in der Ferne, dann war Ruhe. Severina schaute zum Sternenhimmel hinauf. Ihr war friedlich und warm zumute. Sie legte sich in den Schnee, um nur noch den Himmel über sich zu sehen. Er deckte sie mit seinen unzähligen Lichtern wie eine wärmende Decke zu. Sie schlief ein und flog. Sie flog auf Massimos Rücken, fest an 115
ihn geklammert, über das Tal. Sie spürte seinen Atem, seine Kraft, hörte das Sirren des Seils, sah Himmel und Erde fliehen, flog. Sie flogen, und es hörte nie mehr auf. Einfach sterben wollen, das könnte dir so gefallen! Die Alte schlug mit einem Stock auf ihr herum. Sie war aus dem Haus gekommen, hatte Severina im Schnee liegen sehen, war hinausgestapft. Verwirrt stand Severina auf. Was war passiert? War sie gefallen, ohnmächtig geworden? Benommen ging sie ins Haus. Erst als sie im Bett lag, wurde ihr bewußt: sie war schon im Himmel beim kleinen Sebastiano gewesen. Warum hast du mich nicht gelassen?!
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Nein, gewöhnen will sich Massimo nicht daran, daß sie nicht mehr spricht. Das geht so nicht weiter, das muß sich ändern. Das gibt es doch nirgends. Schließlich ist er doch zurückgekommen, hat versprochen, nicht mehr wegzugehen, hat seinen Fehler eingestanden. Wenn sie weggelaufen wäre, ihm gesagt hätte, daß sie nicht mehr mit ihm leben wollte, dann wäre das etwas anderes gewesen. Oder wenn sie geschrien und getobt, ihn beschimpft hätte, das hätte er ertragen, aber schweigen, einfach schweigen, dasein, die Arbeit tun, gemeinsam aus einer Schüssel essen, zusammen ein Schaf scheren, am Tisch sitzen, aber schweigen, das macht er nicht mehr lange mit. Dann soll sie besser gehen. Mit einer Frau, die nicht mehr spricht, kann er nicht leben. Sie spricht nicht, weil sie ihm nicht verziehen hat. Was hat er nicht alles versucht! Fragen hat er ihr gestellt, Fallen in Form von plötzlichen Fragen. Geredet hat er. Erzählt hat er. Alles das, was er der Mutter schon erzählt hatte, hat er ihr erzählt. Den ganzen Sommer lang redet er. Er glaubt, in seinem ganzen bisherigen Leben noch nicht so viel geredet zu haben. Er redet gegen die Stille an, die er nicht ertragen kann. Und wenn er Stimmen von Menschen hören will, Gespräche braucht, dann geht er hinunter ins Dorf. Er geht öfter als früher. Manchmal kommt er noch am selben Tag wieder herauf, manchmal bleibt er eine Nacht unten. Früher hat er gemerkt, daß sie das immer mit einem gewissen Mißtrauen bedachte. Jetzt scheint es ihr völlig gleichgültig zu sein, ob er unten bleibt oder noch am selben Tag heraufkommt, ob er Neues berichtet oder ob er schweigt. Manchmal hat er den Eindruck, daß sie ihn gar nicht mehr hört, daß sie mit dem Sprechen auch das Hören aufgegeben hat. Früher wollte sie alles wissen, was unten passiert war. Und damals war sie es, die jene Fallen aus Fragen gestellt, wie zufällig Namen von Frauen genannt, nach deren Befinden gefragt hat. Er mußte immer auf der Hut sein. Nach Rosanna hatte sie nie gefragt.
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Schon beginnen die bohrenden Fragen der Leute im Ort ihm die Gänge nach unten zu verleiden. Neugierig sind sie, vor allem die Frauen. Wie ist sie? Wie soll sie sein? Redet sie? Mhm. Sag schon, Massimo, redet sie? Teresa, was geht dich das an? Man fragt ja nur. Wäre besser, du schweigst. Man hört, o mein Gott, sie redet immer noch nicht? Mutter Guaita, ehe sie solchen Unsinn redet wie du, ist es besser, sie schweigt. So sind die Frauen, denkt Massimo. Man muß sie reden lassen, sich nicht darum kümmern oder ihnen irgendwas erzählen, was ihre Phantasie anregt, was sie aufregt, was sie weitererzählen können, egal ob es wahr ist oder nicht. Und die Männer? Sie fragen nicht. Da halten sich, was eine stumme Frau betrifft, Neid und Mitleid die Waage. Irgendwann wird sie wieder reden. Hauptsache, sie arbeitet und ist auch sonst wieder normal. Noch bewundern und bestaunen die Männer Massimo. Immer noch, wie früher, ist er Mittelpunkt an der Bocciabahn oder in der Bar. Durch allerlei wahre und noch mehr erfundene Geschichten hat es Massimo verstanden, ihnen seine Rückkehr interessant zu machen und ihnen das Gefühl zu geben, sie hätten einen Anteil an seinem einjährigen Abenteuer. Nach der Frau, an die sie sich ja alle noch erinnern können, fragen sie allerdings nicht, und nur selten, spätabends, den letzten Trinkern gegenüber, gibt Massimo ihrer Neugier Almosen, indem er geheimnisvoll und vielen auch rätselhaft feststellt, daß so eine ganz andere Frau schon was ganz Besonderes sei, daß sie einen Mann aber zerstören würde, wollte er bei ihr bleiben. Weinselig einigt man sich darauf, daß es sich um ein Feuer handle, an dem der Mann wie ein Nachtfalter verbrenne. Diese Feststellung läßt sie dann doch beruhigter und zufriedener nach Hause gehen in die ehe118
lichen Betten, in denen freilich kein Funken Feuer mehr ist. Und Teresa, die einzige weibliche Zeugin solcher Gespräche, hat nach diesen Abenden, wenn sie die Bar hinter den letzten geschlossen hat, in ihrem Bett oben, in das ihr Mann Andrea nur am Wochenende kommt, um dort seine Räusche auszuschlafen, unruhige Nächte. Sie träumt von Massimo, der zu ihr kommt und sich zu ihr legt. Massimo strebt wieder einmal dem Tal zu. Nach einer Kurve des steil absteigenden Weges sieht er die Dächer des Dorfes. Hinter dem zackigen Profil des Berges, den man die Zähne der Alten nennt, geht die Sonne unter und taucht den See in ein Licht, das ihn wie eine große ölige Pfütze aussehen läßt. Massimo kommt am Denkmal von Valerios traurigem Rekord vorbei. Luisa steht nicht wie früher am Fenster. Sie sitzt, das hat Luigi verzweifelt erzählt, nur noch auf einem Stuhl vor dem Bild des Jungen und weint. Hinter dem Torbogen, durch den man den Ort betritt, sieht Massimo eine Frau aus einem Auto steigen. Es ist Anna. Er hat gehört, daß sie seit kurzem hier wohnt, allein mit den Kindern, nachdem die Brüder geheiratet haben, war für sie kein Platz mehr zu Hause. Er hat sie seit seiner Rückkehr noch nicht gesehen. Sie ist fülliger geworden, die blonden Haare sind von grauen Strähnen durchzogen, um den Mund haben sich kleine Falten gebildet, die Massimo Zeichen des Kummers, den sie über Jahre hatte, zu sein scheinen. Sie ist immer noch schön, denkt er. Vielleicht weil sie keinen Stolz mehr hat. Von jenem Hochmut, den Massimo so sehr zu spüren bekommen hatte, scheint nichts mehr vorhanden zu sein. Anna! Massimo! Warum, denkt Massimo, begrüßen wir uns nicht mit vier Küssen auf die Wange, wie Freunde und Verwandte das doch tun? Sie geben sich fast steif die Hand. Später wird Massimo wissen, warum das so ist. Da ist das Gefühl zwischen ihnen, noch etwas Unerfülltes miteinander nachholen zu müssen. Er selbst hat daran nie wirklich gedacht. Doch jetzt steht Anna wie das Denkmal ihrer verpaßten Gelegenheit vor ihm. 119
So, du wohnst jetzt hier. Jaja, ich wohn jetzt hier. Allein? Jaja, unter der Woche allein. Die Kinder sind in Como auf der Schule, sind nur am Wochenende da. Aha. Während der Woche bin ich allein, wie gesagt. Besuch mich doch mal, wenn du nicht mehr hinaufgehst am Abend. Er schweigt. Da ist wieder diese kleine Aufsässigkeit von damals, das Fordernde und Verhöhnende. Und doch, er sieht es, sie ist nicht die von damals. Sie ist verbittert, einsam und gerade dabei, sich eine Sehnsucht nach etwas Verpaßtem einzureden. Du bist mir jederzeit willkommen. Jaja, jetzt, wo du hier wohnst. Da wird man sich sehen. Könnte ja sein, daß auch bei dir eine Sehnsucht ist, die dich zu mir schickt. Da ist keine Sehnsucht mehr. Das sagst du, wo du nichts bist als eine Sehnsucht nach allem. Meine Sehnsucht nach dir ist gestorben. Vor langer Zeit. Das glaubst du nur. Das weißt du gut. Ich weiß, was ich sehe und höre. Was du siehst und was du hörst, das gibt dir keine Macht über mich. Wer weiß das? Ich. Du? Ich. Da sind sie schon, die Sätze von damals, die Gesten, das Lächeln, das Verführen und Verhöhnen. Massimo ahnt, aber will es nicht wahrhaben, daß Anna wieder ihr feingesponnenes Tuch über ihn zu werfen droht. Dieses Tuch, unter dem Lust und Pein einander jagen. Hatte er das nicht gerade ein Jahr lang? Weg, weg, weg jetzt, denkt er. Und du besuchst mich mal. 120
Jaja. Man ist ja am Ort, man sieht sich, man läuft sich ja über den Weg. Sie lächelt und drückt sich plötzlich an ihn. Er fühlt ihren Körper, riecht ihr Parfüm, spürt ihren Atem an seinem Hals. Es ist nur ein Moment. Schon zieht sie sich, Absicht oder Instinkt, zurück in eine Unnahbarkeit, aus der heraus sie lockt. Könnte ja auch sein, daß du mal reden willst mit einer Frau. Und weg ist sie. Er schaut ihr hinterher. Nein, sie darf nicht mehr nach so vielen Jahren sein Leben stören, dieses Leben, das gerade Normalität annimmt. Nein, jetzt keine Komplikationen, keine Dramen, keine erneuten Verwirrungen. Jetzt nur das Naheliegende, das Gewohnte und Wiedergewonnene, zum Beispiel auch Rosanna. Vor seinem Haus steht Franco-Francone, die Hände in den riesigen Taschen seiner unförmigen Latzhose, einen seit Stunden nicht mehr brennenden Zigarrenstummel im Mund. Laß uns zur Bar gehen. Zur Bar, was sonst. Ein Schwein haben wir heute geschlachtet. Anna wohnt jetzt hier. Ein Schwein, sage ich dir! Habe sie gerade getroffen. Gusto und ich haben es geschlachtet. Ein gutes Schwein. Jetzt ist sie allein. Habe selten so ein Schwein geschlachtet. Mit ihrem Hochmut und allem allein. Da kommt Gusto. Kannst ihn selbst fragen. Aber so geht das Leben. Gusto, erzähl Massimo von dem Schwein. Ein ausgezeichnetes Schwein. Wie ich es gesagt habe. Hat man nicht alle Tage, so ein Schwein. Prächtiges Tier. Ja. Jaja. Das kannst du sagen. 121
Ja. Sie kommen auf den Platz, der in Feierabendstimmung daliegt. Von der Bocciabahn klingen die Rufe der Männer herüber. Junge Männer knattern auf Motorrädern über den Platz, um den Mädchen, die kichernd und flüsternd an der Mauer lehnen und nach den Jungen schielen, zu gefallen. Jaja, die Anna. Sagt Franco-Francone. Jetzt sitzt sie hier. Ist auch alt geworden. Und allein, ganz allein. Hat ihre Strafe gekriegt. He! Massimo! Wer ist näher!? Alberto! Teresa steht schon in der Tür. Sie lächelt, und für einen Moment denkt er, daß er, wenn es nur darum ginge, neben Rosanna noch ein Verhältnis zu haben, über das man im Dorf redet, er doch mit Teresa etwas anfangen könnte. Sie begrüßt Massimo wie immer mit ihrer feierlichen Neugier, die heute etwas Zufriedenes hat. Teresa war vor ein paar Tagen bei Rosanna, um Antwort auf die Frage zu bekommen, die nicht nur sie im Dorf brennend interessierte. Kommt Massimo wieder zu Rosanna? Er kommt. Stolz und glücklich erklärte Rosanna, ihr alter Geliebter komme wieder zu ihr. Und schonungslos, Teresas Vorstellungskraft aufs äußerste strapazierend, erzählte sie von all den Dingen, die Massimo im Bett jetzt forderte, worin sie eine große Bereicherung ihres Gefühlslebens entdeckt habe. Vor etwa einem Monat hatte Teresa im Weinkeller hinten in der Ecke, in der Andrea sein Werkzeug aufbewahrt, hinter einer Schublade abgegriffene Heftchen entdeckt. Die Bilder, die sie darin gesehen hatte, halfen ihr jetzt, sich das vorzustellen, was Rosanna erzählte, und zu der Erkenntnis zu kommen, daß diese Frau da in Mailand, bei der Massimo war, eine Nutte gewesen sein muß. Der Meinung war auch Rosanna, und es gelang ihr, Teresa davon zu überzeugen, daß es die Auf122
gabe der Frauen sein könnte, ihren Männern die Nutte zu sein, die sie anderswo suchten. Jedenfalls habe sie das auch schon in einigen Journalen gelesen, als Empfehlung für die Frauen sozusagen, zwischen Nudelauflaufrezepten und der nächsten Sommermode. Gelinge es den Frauen, ihrem Mann die Hure zu ersetzen, die Männer gingen nicht fremd, hieß es. Dann käme er nicht zu dir! Doch. Aber warum, wenn er bei ihr hat, was er braucht. Rosanna beendete das Gespräch, wie sie selbst auch glaubte, feierlich: Wir sind eine Liebesgeschichte. Zu anderen Zeiten hätte Teresa darüber gelacht. Jetzt ging sie nachdenklich nach Hause, und zum ersten Mal nach einem Besuch bei Rosanna dachte sie nicht darüber nach, wem sie das jetzt unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählen sollte. Sie war aufgewühlt, sie versuchte, sich an das erste Mal mit Andrea zu erinnern. Und sie begann sich für das zu schämen, was aus ihrem sexuellen Leben geworden war. Was war da noch? Träume, romantische Vorstellungen und die Scham, wenn sie sich selbst befriedigte, ohne sich dabei Andrea vorzustellen. Und er, was tut er während der Woche in der Schweiz an den langen Abenden? Geht er mit Paolo zu Nutten, haben sie Freundinnen, hatten sie wirklich in der deutschen Schweiz zu tun, als sie drei Wochen lang nicht heimkamen, nehmen sie Frauen mit in die Baracken, in denen sie hausen? Oder hat er, wie sie auch, nur sich selbst und hilft der Phantasie mit diesen Heftchen nach? Wird man je dahinterkommen, was Männer fühlen, was sie wollen, wie sie sind? Sind Rosannas Erzählungen in Wirklichkeit nur Hirngespinste oder Geschichten, die sie sich aus Romanheftchen zusammenreimt? Es gibt Dinge zwischen Mann und Frau, hat Rosanna gesagt, die haben wir uns bis jetzt nicht vorstellen können, aber sie machen Spaß. Teresa ging, kaum heimgekommen, in den Weinkeller, holte die versteckten Heftchen hervor und blätterte in ihnen. Das ist 123
es also, was Andrea will. So soll sie sein, so muß sie sich ihm darbieten, damit er nicht unverzüglich neben ihr einschläft. Das will er mit ihr und jenes soll sie mit ihm machen. Und so was macht Massimo mit Rosanna. Wollte sie das? Konnte sie es überhaupt? Würde sie sich nicht schämen, Andrea dabei ansehen zu müssen? Wäre das mit einem Geliebten einfacher, mit dem man danach nicht am Tisch sitzt, ißt, redet, über die Dinge des Alltags, was zu tun und zu lassen ist? Ja, so einem Mann, der in der Nacht käme, für eine Stunde, für zwei, heimlich durch die Hintertür ins von Vorfreude angewärmte Bett, mit dem könnte sie anders sein, so vielleicht, wie diese Bilder und Rosannas Erzählungen das wollen. Aber mit Andrea? Was würde er denken von ihr? Daß sie ihn betrogen hätte, daß sie unersättlich wäre? Und könnte sie denn so sein wie diese Frauen auf den Bildern, die wahllos in den Mund nahmen, was Männer ihnen entgegenstreckten, schwarz oder weiß, die mit schlanken Fingern und langgewachsenen roten Fingernägeln in ihrem Innersten wühlten, die sich Männern in Haltungen entgegenstreckten, zu denen Teresa gar nicht in der Lage gewesen wäre? Die Bilder regten Teresa nicht so an wie Rosannas Erzählungen. Sie taten ihr weh, quälten sie, verfolgten sie. Und doch, es sollte, könnte, müßte sich etwas ändern. Als Andrea am Freitag nachmittag aus der Schweiz nach Hause kam, war die Bar geschlossen. Das wunderte ihn. Er eilte ins Haus, rief nach Teresa. Keine Antwort. Im Hof war sie nicht, nicht in der Bar, nicht in der Stube. Er rannte die Treppe hinauf, riß die Schlafzimmertür auf. Da lag sie, nackt, nur mit Strapsen bekleidet, rote Lippen, rote Fingernägel. Sie lächelte und wollte ihn zu sich aufs Bett ziehen. Er starrte sie an und brüllte und tobte. Bist du wahnsinnig! Verrückt geworden!? Komm, Andrea, komm. Bist du eine Nutte geworden?! So willst du es doch, Andrea, komm zu mir. Herr im Himmel! Meine Frau eine Nutte! Am hellichten Tag. Die Heftchen, Andrea, bei deinem Werkzeug unten die Heft124
chen. Ich hab sie mir angesehen, ich wollte so sein für dich. Er rannte hinaus, schrie und beschimpfte alle Heiligen, die ihm einfielen, rannte in den Keller, zerrte die Heftchen hervor, rannte aus dem Haus zum Auto und fuhr weg. Versteh eine die Männer, sagte sich Teresa, und sie wunderte sich darüber, daß sie sich gar nicht schämte, daß sie sich nicht klein fühlte, daß in ihr vielmehr die Gewißheit wuchs, sie würde sich jetzt einen Geliebten zulegen. Sie stand auf, schminkte sich ab, zog sich an, ging hinunter, öffnete die Bar und schaute sich schon an diesem Abend die Männer anders an als sonst. Doch da war keiner unter ihnen. Der eine, der ihr der liebste gewesen wäre, ohnehin nicht. Tief in der Nacht kam Andrea zurück. Betrunken polterte er die Treppe hinauf und fiel, wie jede Nacht von Freitag auf Samstag, rücksichtslos über Teresa her. Diesmal weinte sie danach nicht. Massimo und Franco-Francone betreten die Bar. Ein paar Männer spielen Karten, andere stehen schwatzend an der Theke. Hallo, Massimo. Hallo, hallo. Na, auch wieder mal unten? Jaja. Und Neuigkeiten? Spricht sie wieder? Verdammt, habt ihr keine anderen Probleme? Man fragt. Man macht sich Sorgen. Nein, sie spricht nicht. Vielleicht kann sie nicht mehr sprechen. Ich hab das mal gehört. Da ist plötzlich die Stimme weg. Das ist wie blind werden. Die üblichen Fragen und Antworten, die üblichen Diskussionen und Erzählungen, ein trauriger, gar nicht mehr sprechender Luigi und Teresa. Und die, das fällt Massimo auf, ist anders als sonst. Sie hat rotlackierte Fingernägel. Das hatte sie noch nie. Sie schaut nach ihm, versucht seinen Blick zu erhaschen, 125
um ihn anlächeln zu können. Du lieber Gott, nein, denkt Massimo, nicht mit Teresa. Mit Rosanna ist es wieder, wie es war, und das ist gut. Sie schweigt, sie behält ihn für sich, ihr ist diese Gewohnheit zu wertvoll, als daß sie sie ins Dorf posaunte. Ob zwischen Anna und dem so anderen Verhalten der Teresa ein Zusammenhang besteht? Ob Teresa denkt, wenn Anna hier lebt, dann krallt sie sich den Massimo wieder, dem komme ich zuvor? Denken Frauen so? Natürlich denken Frauen wie Teresa so. Denkt Massimo. Täglich von der schweigenden Severina in seinem Selbstbewußtsein verunsichert, genießt er es, von diesen anderen Frauen begehrt zu werden. Das tut ihm gut, er genießt es und beantwortet mit zunehmendem Alkoholkonsum ihr Werben mit unzweideutigen Blicken. Und doch ist er unsicher. Will er das? Mit Teresa, die er seit ihrer Geburt kennt, die doch als einzige Frau in dieser Bar immer für alle tabu war und Andrea heiraten mußte, weil sie schwanger von ihm war. Nie hat Teresa seines Wissens etwas mit einem anderen Mann gehabt, immer reichte ihr doch das Wissen um die Affären anderer. Viel zuviel wußte sie von den Männern hier, allzusehr kannte sie ihre Schwächen, eher war sie die, bei der sich einer ausweinen konnte, als die Frau für eine Affäre, und sei es auch nur für eine Nacht. Irgendwas muß mit Teresa passiert sein. Andrea ist seit drei Wochen nicht nach Hause gekommen. Stimmt da etwas nicht? Will Teresa auf ihre alten Tage, und sie ist doch auch schon Ende Dreißig und hat eine fast erwachsene Tochter, es noch wissen, wie das ist, einen Geliebten zu haben? Weiß sie vielleicht doch von Rosanna und ihm und ist darauf eifersüchtig? Prahlt Rosanna ihr gegenüber mit ihrem Geliebten? Oder ist es tatsächlich das Auftauchen von Anna hier im Dorf, das sie treibt? Massimo beschließt, sich darauf nicht einzulassen. Obwohl Teresa, das ist ihm noch nie so aufgefallen, doch ganz reizvoll ist. Sie würde es in alle Winkel des Dorfes posaunen, Severina gegenüber triumphieren. Er schaut nicht mehr hin, weicht ihren Blicken aus und atmet doch gierig den Geruch aus Parfüm und Schweiß ein, als sie ihm ein Glas 126
Wein hinstellt und sich dabei leicht, unter dem Vorwand, ein paar leere Gläser einsammeln zu müssen, an ihn drängt. Nein, er wird sich darauf nicht einlassen, nicht jetzt, nicht heute. Er wird nach Hause gehen, vielleicht zu Rosanna kriechen, die so leidenschaftlich seine Rückkehr in ihr Bett, das keine Puppen mehr säumen, zu feiern weiß. Mit den letzten, Bruno, Albino und Franco-Francone, verläßt er die Bar. Ein Ciao, Teresa, ein Bis morgen, gemeinsames Wasserabschlagen an der Mauer des Platzes unterhalb der Bocciabahn, ein Gute Nacht, und jeder geht oder torkelt seines Weges. Massimo schaut sich noch einmal um zur Bar. Normalerweise geht jetzt das Licht des blauen Schriftzuges Bar Sole aus. Doch da steht Teresa noch an den Türrahmen gelehnt und schaut ihm nach. Er winkt, sie winkt zurück, und er geht in die Gasse, zum Haus hinüber. Bei Rosanna drüben brennt im Schlafzimmer ein kleines Licht. Sie weiß, daß er im Dorf ist, sie lockt, wie es Gewohnheit geworden ist, wie immer, mit diesem Licht. Massimo geht weiter, biegt in eine andere Gasse ein und steht, wie ist das gekommen, vor dem Haus, in dem Anna jetzt wohnt. Das Flackern des Fernsehers zeigt ihm, sie ist noch wach. Aber er zögert. Ist es das, was er will? Sicher, es reizt ihn, daß ihn die jetzt lockt, die ihn damals so willkürlich behandelte, wie es ihrer Laune gerade gefiel. Und sie ist immer noch schön. Aber das ist doch alles so lange her, und er ist gerade zu Severina zurückgekehrt, der Schwester. Doch nicht, um sie jetzt mit Anna zu betrügen. Wer ist er, daß ihn diese Weiber so locken können und er bereitwillig zu ihnen kommt? Nein, Anna wird er warten lassen. Er wird sehen, wie die Dinge laufen in nächster Zeit. Er ist müde und leicht betrunken. Er wird jetzt in sein Bett gehen und schlafen und morgen hinaufsteigen und Severina sagen, entweder du sprichst jetzt, oder ich gehe für immer weg. Er geht die Gasse zurück, biegt ab, folgt einer streunenden Katze, kommt zum Platz und sieht noch Licht in der Bar. Teresa räumt auf, spült Gläser. Er steht im Dunkeln und kann sie beobachten. Sie spült Gläser ab, hat die Ärmel der Bluse hochgekrempelt, und man kann ihre Brüste wippen 127
sehen. Eine Strähne ihrer hinten zusammengebundenen Haare hängt ins Gesicht, und Massimo spürt in diesem Moment eine solche Sehnsucht nach ihr, eine Lust, das Neue, das dort so nahe Verlockende zu haben. Er klopft ganz leise ans Fenster. Und als hätte sie gewußt, daß er zurückkommen würde, als wäre sie sich der Wirkung ihrer abendlichen Werbung so sicher, schließt sie auf, zieht ihn herein, löscht das Licht und zieht ihn an sich. Sie reden nichts. Verstehe einer die Frauen, denkt Massimo, als er Stunden später, der Morgen kündigt sich schon hinter den Bergen an, nach Hause geht. Da ist er einer Frau bis nach Mailand gefolgt, war bereit, sein ganzes bisheriges Leben zu zerstören, ist immer wieder ihrem Körper erlegen, und da entdeckt er hier diese Teresa, die alles das auch will und tut, was ihn immer wieder an jenes Bett dort gefesselt hat. Er ist erstaunt, verwirrt und überwältigt. Er mag sich nicht ausmalen, was das werden wird, aber er hat das Gefühl, daß Teresa das, was zwischen ihnen passiert ist, nicht ins Dorf posaunen wird. Arme Rosanna, denkt er, als er sich leise ins Haus schleicht, du hast den Geliebten verloren. Das Licht drüben brennt nicht mehr, und doch ist ihm, als sei da gerade ein Kopf hinter der halb zugezogenen Gardine verschwunden. So, warst du also bei dieser Anna!? Zischt ihm Rosanna schlangengleich entgegen, als er am nächsten Morgen mit der Kiepe auf dem Rücken das Haus verläßt. Hat sie's also geschafft!? Er antwortet nicht. Gewappnet mit dem Recht der Betrogenen, steht sie vor ihm. Bleibt einem mit dir gar nichts erspart!? Selbst hilflos in dieser Situation, läßt er sie mit ihrem Kummer und ihrem Irrtum allein.
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Plötzlich war der Zug in den riesigen Bahnhof von Mailand eingefahren. Massimo wußte nicht wie, hatte unterwegs nichts gesehen, nichts gedacht, sich nicht gefragt, warum er jetzt mit dieser Frau und den vier seltsamen Gestalten in diesem Zug saß. Er war betrunken gewesen, verwirrt und verliebt. Er, der was er tat, immer bedacht tat, war so völlig kopflos, hatte sich so bedingungslos diesen fünf Menschen ausgeliefert, die er nun etwa zwölf Stunden kannte, daß er jetzt, da der Zug plötzlich hielt und alle Menschen aufstanden, ihre Sachen nahmen, zum Ausgang drängten, für einen kurzen Moment erwachte und sich fragte: Was um Gottes willen soll das, was mache ich hier, was will ich, will ich das, was suche ich und was habe ich hier zu suchen? Renata, die ihn diese zwei Stunden im Bus und dann im Zug nicht losgelassen hatte, wie man eine von der Landpartie mitgebrachte antik-rustikale Kostbarkeit nicht losläßt, aus Angst, sie könnte zerbrechen oder gestohlen werden, holte ihn mit untrügerischem Instinkt für seine Zweifel in ihren Bann zurück, indem sie aufsprang, ihn umschlang, hochzog, an sich drückte und küßte. Ihr Mitbringsel, ihre Trophäe, die sie an diesem Wochenende als Lohn für eine Bergbesteigung bekommen hat, ihr Preis! Angekommen! Mailand! Komm! Was hatten sie gelacht und gescherzt im Zug! Die vier Gefährten von Renata, Mitglieder einer kleinen Theatergruppe, hatten gesungen, bekannte Politiker und Showgrößen parodiert, tausenderlei Sprüche, Witze und Grimassen von sich gegeben. Sie waren Adriano Celentano, Zucchero, Pippo Baudo, Raffaela Carra, Berlusconi, Dino Zoff, Schumacher und Barichello, Eros Ramazotti und der Pole von Rom, der Papst. Und auch Massimo war ins Spiel mit einbezogen. Er mußte seine Lieder singen, erzählte Carabinieriwitze und mehrfach die Ge-
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schichte, wie er mit dem Hund auf der Schulter übers Tal geflogen ist. Und er hat dich bepißt?! Aus Angst, ja. Aus Angst pisse ich nie. Ich pisse nur vor Freude. Ich könnte mich bepissen vor Lachen. Und er hat dich wirklich bepißt? Aus Angst, ja. Das gibt es nicht. Das gibt es nicht! Was es alles gibt! Das gibt es nicht! Und dann stand er plötzlich mit Renata allein in der großen, hohen Halle des Bahnhofs, dessen Dimensionen den Menschen so klein erscheinen lassen. Die Theaterleute hatten sich wort-, gesten- und küßchenreich verabschiedet, mußten noch einen Vorortzug erreichen, flatterten davon wie zerrupfte Krähen. Man sieht sich! Man sieht sich! Massimo war nicht das erste Mal hier. Ein paarmal war er mit den Freunden zu einem Fußballspiel im San-Siro-Stadion gekommen, einmal mit Franco-Francone zu einer Landwirtschaftsausstellung, wo Holzfäller um die Wette sägten, auch sie beide. In acht Sekunden hatten sie eine Scheibe von einem dicken Baum geschnitten und waren siebzehnter geworden. Er war sich damals der Größe des Bahnhofs nicht bewußt gewesen. Sie hatten geschnattert, waren unter vielen Fans und Besuchern nur ihrem Ziel zugestrebt, Bussen auf dem Vorplatz, die sie weiterbrachten. Jetzt war alles anders. Die Majestät des Bahnhofs gab Massimo etwas von seinem Verstand zurück. Er würde sich jetzt verabschieden. Vielleicht noch einen Kaffee mit ihr trinken, dann den nächsten Zug nehmen, dann den blauen Bus am See entlang. Er würde dieses Abenteuer abschütteln wie frisch gefallenen Schnee von den Schultern. In drei Stunden würde 130
er auf dem Platz ankommen, in die Bar gehen, vor den Freunden etwas mit dieser neuen Bekanntschaft prahlen, zu Hause sein, wohin er gehörte. Und alles würde so sein, wie es sein sollte. Komm! Was? Komm, komm! Wohin? Zur Madonnina! Zur Madonnina auf dem Dom! Sie umarmte ihn, sprang an ihm hoch, schlug die Beine um ihn wie um einen Baum, auf den sie klettern wollte, küßte ihn. Sie gingen. Ihre kleine Hand verschwand in der seinen. Wie gut sie roch! Sie gingen über den Platz mit den vielen Tauben zum Dom. Sie stiegen auf den Turm, und Massimo stand zum ersten Mal vor der Madonnina. Sie war keine Madonnina, sie war eine mächtige goldenen Madonna von fünf Metern Höhe. Sie, dachte er, hat mich hierhergeführt. Hatte sie sich das gut überlegt? Dann gingen sie durch die Stadt, fuhren mit der Metro ein paar Stationen, ließen sich nicht mehr aus und landeten in Renatas Wohnung und in ihrem Bett. Dort blieben sie mehrere Tage und Nächte, und Renata spürte, daß er Wurzeln schlug. In diesen Nächten lag Massimo oft wach. Draußen dröhnte die Stadt, und alle paar Minuten flog ein Flugzeug donnernd über das Haus. Es waren die Flugzeuge, die man oben am Berg auch sehen konnte. Dort flogen sie in großer Höhe, glänzten silbern und schrieben manchmal einen weißen Strich an den Himmel. Man wußte, daß sie nach Deutschland flogen, und man hörte sie nicht. Hier starteten sie, ein paar Kilometer entfernt, in Linate, und jedes von ihnen übertönte für etwa eine Minute das Gebrodel der Stadt. Wie lange war er jetzt schon weg? Ein paar Tage. Zum ersten Mal war er allein mit seinen Gedanken. Renata mußte wieder arbeiten, als Kellnerin in einem Lokal. Er konnte hier in ihrer Wohnung sitzen bleiben oder durch die Stadt streifen. Noch fürchtete er das Verlorensein in der Stadt, an tausend Men131
schen vorbeizulaufen und keinen zu kennen, niemanden von ihnen zu grüßen, mit keinem ein paar Sätze zu reden. Also saß er am Fenster, schaute hinaus, sah das Stück Himmel, das die Häusergiebel freigaben. Ein Himmel wie ein Putzlappen. Er sah Hausfrauen auf kleinen Baikonen Wäsche aufhängen, Männer in Trainingshosen rauchen, Kinder im Hof spielen. Was wird Severina gedacht haben, was getan, was wird sie der Mutter erklärt haben? Sie wird irgendwann – gestern vielleicht oder heute - ins Dorf gelaufen sein, im Haus nach ihm gesucht, im Dorf nach ihm gefragt haben. Im Haus wird sie die Überreste des nächtlichen Gelages gefunden haben. Rosanna wird voller Anklage daneben gestanden sein, voll Eifersucht. Severina wird weniger Eifersucht als Angst und Panik gehabt haben. Mein Gott, er hat ja keine Spuren verwischt. Wie sie es Hals über Kopf verlassen haben, verrät das Haus alles. Das zerwühlte Bett, die Champagnerflaschen. Komm, wir fahren an den See! Hatte Renata gesagt. Angesicht des Betrugs und des Verrats werden sich Rosanna und Severina vielleicht im gemeinsamen Leiden getröstet haben. Der kommt wieder. Wird Rosanna gesagt haben, denn sie will einfach daran glauben, wird nichts mehr erhoffen als das. Ob Severina weiß oder zumindest ahnt, was zwischen ihm und Rosanna zur Gewohnheit geworden ist? Dann wird Severina nach ihm gesucht haben, nach ihm gefragt, im ganzen Dorf. Oh, werden die einen oder anderen gesagt haben, dein Mann ist weg, ja so was. Ja, sie werden sie verhöhnt haben, im besten Fall vertröstet. Sie wird wieder hinaufgegangen sein, traurig, verwirrt. Mein Gott, was hat er ihr angetan? Sie konnte das doch gar nicht verstehen, zwischen ihnen war doch nichts vorgefallen. Kein Streit, nichts. Und die Alte, seine Mutter, was wird sie gesagt haben? Ihr einziger Sohn, der einzige, der ihr geblieben ist, hat sie verlassen. Wie wird sie damit fertig werden? Wird sie das überle132
ben? Sie ist alt, dünn, klein und zerbrechlich. Sie kann jederzeit sterben. Vielleicht stirbt sie am Schmerz über sein Weggehen. Kann sein, daß er sie nie mehr wiedersieht. Er ist doch ihr einziger. Alle sind ihr weggestorben. Die älteren Söhne, die Tochter, der Mann. Was hat sie für ein Leben gehabt? Die Wutausbrüche des Vaters, der sie geschlagen hat. Auch Massimos Brüder und die Schwester hat er geschlagen. Das war der Krieg in ihm, gegen den sie machtlos waren. Und Massimo war zu jung, um sie zu beschützen. Ihn hat der Vater nie geschlagen. Er wußte nicht, warum. Und die Mutter hat immer alles entschuldigt. Der Krieg, es ist der Krieg. Das hat der Krieg aus ihm gemacht. Massimos ältere Brüder schienen die rastlose Ungeduld des Vaters geerbt zu haben. Wie ihn, so hielt man auch sie für unberechenbar und verrückt. Sie taten alles, um das zu bestätigen. Sie stiegen auf die höchsten Bäume und Kirchtürme, sie kletterten auf jeden Felsen, sie prügelten sich, sie forderten den Tod heraus. Man fürchtete sie, so jung sie noch waren. Mit Motorrädern jagten sie sich gegenseitig über die Dörfer. Sie wollten Rennfahrer werden. Sie fuhren ein einziges Rennen, ein inoffizielles, selbsterklärtes, verbotenes Rennen. In einem gestohlenen Auto rasten sie die Uferstraße des Sees entlang Richtung Como. Beide hatten keinen Führerschein. Sie fuhren frontal auf einen Lastwagen und waren auf der Stelle tot. Das war im selben Jahr, in welchem der Vater und ein Jahr nachdem Onkel Gusto gestorben war. Sie waren gerade siebzehn Jahre alt, die Zwillinge, Silvio und Rhino. Ein Jahr später starb Primina, Massimos ältere Schwester, die zeitlebens krank war, mit zwanzig Jahren. Jetzt hatte die Mutter nur noch Massimo, den Jüngsten. Und sie spürte früh, daß auch in ihm der Krieg des Vaters weiterlebte, daß er rastlos und unruhig war. Und sie fürchtete sich vor dem, was das Schicksal, das er ständig herausforderte, für sie noch bereithalten würde. So viele Menschen sind der Mutter gestorben, und jetzt hat auch er sie verlassen. Zwei Menschen hat er verlassen, die doch nur nebeneinander leben konnten, weil er da war. Was 133
hatte es ihn oft Mühe gekostet, mit Gewalt Frieden zwischen den beiden herzustellen. In Severina hat die Mutter jemand gesehen, an dem sie ihren ganzen Schmerz austragen konnte. Behandelt hat sie die Schwiegertochter, als sei die an allem Unglück schuld. Massimo weiß das alles, aber er hat immer die Augen davor zugemacht. Irgendwie ging es ja auch. Und es hat eine Zeit gegeben, da waren sie alle zusammen eine glückliche Familie. Das war, als der kleine Sebastiano geboren war. Der hatte zwei sorgende Mütter. Aber schon den Tod des Jungen hat die Mutter Severina nicht verziehen, so wie sie ihr das Weggehen des Sohnes jetzt nicht verzeihen wird. Was habe ich getan? Ich habe sie beide verlassen. Das geht so nicht. Und wofür? Für eine Leidenschaft. Das allerdings. Aber was sollte daraus werden? Wie sollte das weitergehen? Konnte er die Tage damit verbringen, zu warten bis Renata wiederkam, um ihn in die Arme zu schließen? Diese Arme, dieser Geruch, dieser Körper, dieses Bett. Würde er ohne das noch sein können? Würde er nicht Geld brauchen? Er müßte sich eine Arbeit suchen. Aber wie sollte er hier in der Stadt Arbeit finden? Die Arbeitslosen saßen vom frühen Morgen an in den Bars und starrten in ihre Gläser. Es würde keine Arbeit geben für einen Bauern, der sich wegen einer Leidenschaft in die Stadt verirrt hatte. Heilige Madonnina, was hast du da angestellt! Er wußte, daß er zurückgehen mußte. Er würde dieses Abenteuer unverzüglich beenden müssen. Abenteuer dürfen nicht dauern. Sie müssen kurz sein und ein rühmliches Ende haben - wie der Flug übers Tal. Er mußte hier weg. Er gehörte hier nicht her. Er war doch hier niemand. Nur der wer weiß wievielte Geliebte dieser Frau, die er kaum kannte, von der er doch nichts wußte. Dieses Zimmer, dieses Bett, dieser triste Innenhof da draußen, der schmutzige Himmel, diese laute Stadt, diese Frau konnten doch nicht sein Leben werden. 134
Aber sie wurden sein Leben. Denn da trat Renata mitten in seine Gedanken, legte wieder einmal ihren Mantel aus betörendem Geruch und verführerischen Wörtern um ihn, verführte ihn, war wild und fordernd, wühlte sich in ihn und ihn in sich und raubte ihm allen Verstand. Nein, er wird nicht zurückgehen, denn er wird auf sie nicht mehr verzichten können. Er war verloren an sie und ihr Leben, das ihm doch noch so fremd war.
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Seit sie damals bei den Carabinieri war, hat Severina den Berg nicht mehr verlassen. Sie wollte das Dorf nicht mehr sehen, die Menschen, die über sie tuschelten oder Mitgefühl heuchelten, das Haus, in dem er diese Orgie gefeiert hatte, Rosanna und ihre unverhohlene Trauer über Massimos Weggehen. Severina wollte, daß es keinen Grund mehr gäbe, hinunterzugehen. Franco-Francone, Bruno, Albino und auch die Brüder brachten ihr das Nötigste herauf, und sie alle taten es, weil sie wußten, sie wäre lieber samt der Alten oben verhungert, als noch einmal ins Dorf zu kommen. Nur eine Sehnsucht gab es für Severina: das Grab. Dort zu stehen, an den kleinen Sebastiano zu denken, für ihn zu beten, das fehlte ihr. Sie erfand sich ein Grab. In eine kleine Nische im Felsen oberhalb des Hauses stellte sie ein Kreuz und ein Bild des Babys. Dort, so wollte sie es sich einbilden, lag er nun. Täglich stand oder kniete sie dort und betete. Und natürlich betete sie laut, denn niemand außer dem kleinen Sebastiano und dem Herrn konnte sie hören. Und sie selbst konnte sich hören. Das tröstete sie, denn manchmal dachte sie, sie könnte das Sprechen vielleicht ganz vergessen, die Wörter nicht mehr wissen. Manchmal, wenn sie im Schlaf von der Angst gepeinigt worden war, ganz verstummt zu sein, saß sie aufrecht im Bett und sprach Dinge, die ihr gerade einfielen. Das beruhigte sie. Es gab keinen Grund für sie, wieder ins Dorf zu gehen. Und jetzt, da Massimo wieder da ist, geht er regelmäßig hinunter. Sie schreibt ihm Zettel, was sie braucht, das bringt er mit. Und während sie den Litaneien der Alten nie mehr zugehört hatte, verfolgt sie neugierig, was Massimo von unten erzählt. Das Dorf und die Menschen dort rücken ihr so wieder näher, wie sich überhaupt das Leben wieder normalisiert. Massimo hat wohl alles erzählt, was er mitteilenswert fand, die Gründe und den eigentlichen Anlaß seines Weggehens aber nicht erklärt. So sind Männer, denkt Severina. Ich bin wieder da, sagen sie,
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ist das nicht wunderbar auch für dich, das Leben geht weiter, laß uns wieder gemeinsam unsere Arbeit machen, an einem Tisch sitzen, in einem Bett liegen. Letzteres tut Severina nicht. Das ist neben dem Schweigen die einzige Waffe, die sie noch gegen seine allzu schnellen Friedensbestrebungen hat. Das kann sie nicht, das will sie nicht, noch nicht. Also kommt er, wenn er ins Dorf geht, erst am nächsten Tag zurück. Ja, Rosanna hat den Geliebten früher zurückbekommen als Severina. Sie klettert jeden Abend unter den höhnischen Blicken der Alten auf den Speicher hinauf. Auch in den Nächten, die er im Dorf ist, schläft sie hier, in ihrem Nest, das ihr allein gehört. Freilich liegt sie manchmal wach, hört Massimo unten mit der Alten Wand an Wand um die Wette schnarchen und hat eine große Sehnsucht, hinunterzugehen, zu ihm zu kriechen, ihn zu riechen und zu spüren. Wäre die Alte nicht, sie hätte es wohl längst getan. Aber der gönnt sie diesen weiteren Triumph nicht. So leben sie nun schon wieder einen Monat miteinander, aneinander vorbei, gegeneinander. Eines Tages kommt Severina am Morgen die Leiter herunter, geht zum Spülstein, wäscht sich, setzt Wasser für den Kaffee auf, schaut zur Tür hinaus, sieht Massimo auf der Wiese mähen, deckt den Tisch, schaut zum Bett der Alten, verwundert, daß die noch gar nicht aufgestanden ist, stutzt, geht hin, sieht die Alte wie leblos auf dem Rücken liegen, fühlt den Puls, bekreuzigt sich, zeigt wortlos auf das Bett, als Massimo zur Tür hereinkommt. Mamma, was ist, Mamma - sie ist tot? Mein Gott, wie - sie ist tot! Er schaut Severina an, die nickt. O mein Gott. Bete, bete für sie, Severina. Sie hat keine Letzte Ölung gehabt, bete. Severina steht da, schaut auf die Verstorbene, rührt sich nicht, faltet nicht die Hände. Massimo rennt verwirrt herum. Ja, dann geh ich hinunter. Man muß den Doktor holen, sie für tot schreiben lassen. Er geht. Severina geht zur Tür, schaut hinter ihm her. Traurig geht er, mit der Ahnung, daß nun hier oben das ewige Schweigen beginnen wird. Ob er wieder137
kommt? Ob er nicht Männer schicken wird, den Leichnam zu holen, und selbst unten bleiben wird? Was hat er hier noch, wo seine Mutter weg ist? Eine Frau, die nicht spricht, die nicht in seinem Bett liegt, wegen der sie ihn vielleicht verhöhnen, nach der zu fragen sie irgendwann aufhören werden, die er auch gar nicht mehr braucht, denn es gibt ja eine Rosanna und wer weiß wen noch. Anna vielleicht? Sie ist ins Dorf gezogen, und er hat sie gesehen, hat Massimo erzählt, ganz nebenbei, zu nebenbei hat er es erzählt. Ob sie längst die Hände nach ihm ausgestreckt hat, um sich jetzt nach Jahren doch noch den zu nehmen, den sie damals nicht bekommen hat? Er wird nicht wiederkommen, denkt Severina und geht wieder ins Haus. Da liegt die Alte mit einem friedlichen, zufriedenen Gesicht. Severina beneidet sie in diesem Moment. Sie konnte den Sohn noch einmal in die Arme schließen, dafür hat sie sich dem Werben des Todes widersetzt, jetzt konnte sie nachgeben und einschlafen. Severina setzt sich auf einen Stuhl und spricht. So, da liegst du. Jetzt bist du die Stumme. Und ich rede. Für deine ewige Ruhe soll ich beten, hat er gesagt, dein Sohn. Dein lieber Sohn! Ein Jahr hat er mich mit dir allein gelassen. Alles hab ich mir anhören müssen. Deine Vorwürfe, deine Klagen, dein Jammern und Schimpfen. Nichts konnte ich dir recht machen, immer nur dein Sohn war dir wichtig. Alles hast du entschuldigt an ihm. Verlassen hat er uns - auch dich, nicht nur mich! Aber du hast mir die Schuld gegeben. Denn dein herrlicher Sohn kann ja an nichts schuld haben. Mein Sohn, mein Sohn, nichts anderes gab es für dich. Ich war nur der Dreck, der Abschaum, die, die dir deinen Sohn weggenommen hat. Und daß wir nach dem Tod des kleinen Sebastiano keine Kinder mehr bekamen, daran war auch ich schuld. Du bist eben keine richtige Frau, hast du einmal gesagt. So warst du, böse, eine böse Hexe. Ich habe es dir nicht gegönnt, daß du ihn noch einmal heimkommen siehst. Jawohl, ich hab dir den Tod gewünscht. Und ich habe kein schlechtes Gewissen deswegen. Was tut dein Sohn jetzt? Betet er ein einziges Vater138
unser für dich und deine ewige Ruhe? Läuft er nicht wieder einfach weg? Glaubst du, daß er an deinem Grab stehen wird mit Blumen? Das bilde dir nicht ein. Nie war er am Grab des kleinen Sebastiano, nie. Und am Grab seines Vaters und der beiden verunglückten Brüder und der Schwester auch nicht. Das ist nicht Männersache, das Beten und ans Grab gehen. Aber, Amabilia Brunetti, du hast Glück. Trotz allem bete ich für dein Seelenheil. Weil ich an den ewigen Frieden glaube, und weil man nicht im Unfrieden leben soll mit den Toten. Nur darum. Der Herr gebe dir die ewige Ruhe. Sie betet laut. Dann schaut sie lange in das Gesicht voller Falten, die noch offenen starren Augen, das dünne graue Haar. Sie sieht keinen geliebten Menschen vor sich. Es ist irgendein alter toter Mensch. So wird man, wenn man alt wird, denkt sie. Die Falten bekommt man, diese Haare, diese Haut, diese Flecken, die Runzeln, das Ausgezehrte, diesen leichten Flaum auf der Oberlippe, diese ausgemergelten Hände, die tiefliegenden Augen. Nie ist Severina das Alter so bewußt geworden. Nie hat sie einen toten Menschen so bewußt betrachtet. Als ihre Mutter starb, war sie noch ein Kind, das nicht begriff, was passiert war, das den Verlust kaum spürte. Sie zieht langsam, fast feierlich, aber auch ängstlich, die Dekke von der Toten. Nie hat sie einen alten Menschen nackt gesehen. Sie erschrickt, starrt auf den kleinen weißen Körper. Bleiche, fast gelbe Haut über ein Gerippe und ein Geflecht von Adern gespannt, dünne Schläuche von Brüsten, die Hüftknochen, die grauen Schamhaare, die dünnen Beine, die wie bleiche Knochen daliegen, als gehörten sie gar nicht zu dem Körper, der runzelige Hals, das faltige Gesicht, aus dem das Blut wie aus dem ganzen Körper längst herausgetreten ist, die wenigen dünnen Haare, aus denen die Kopfhaut weiß herausscheint. Sie deckt die Tote wieder zu, schließt ihr wie zur Entschuldigung die Augen, faltet ihre Hände auf der Bettdecke. Dann geht sie hinaus, setzt sich auf die Bank, auf der die Alte immer gesessen hat, und weint. Aber ihre Tränen gelten nicht der Verstorbenen. 139
Wird sie hier einmal auch so sitzen wie die Alte und auf den Tod warten? Einen Sohn, auf den zu warten sich lohnte, wird sie nicht haben. Wenn Massimo nicht zurückkommt, wird es keinen geben, auf den sie warten kann. Niemand wird mehr kommen, sie wird eins werden mit dem Holz des Hauses, sie wird Holz werden, verschwinden, sich in nichts auflösen und endlich dem kleinen Sebastiano folgen. In diesem Moment wünscht sie sich den Tod, den sie noch vor ein paar Wochen der Alten gewünscht hat. Als Kind hat sie gedacht, man könne die Luft anhalten und würde dann sterben. Heute weiß sie es besser, und sie beneidet die da drin in der Stube. Die hat es geschafft. Massimo kommt mit dem Doktor und den Freunden FrancoFrancone, Bruno und Albino zurück. Sie tragen einen leeren Sarg. Während der Doktor den Tod offiziell feststellt und einen Totenschein schreibt, stehen die Männer schwatzend im Hof. Ja, jetzt wird es ruhig werden hier oben. Sehr ruhig. Armer Massimo. Ich könnte das nicht. Das geht auch nicht. He, Severina, du mußt sprechen. Endlich sprechen! Mit wem soll er denn reden hier oben? Mit den Schafen, oder wie? Severina! Das geht so nicht weiter. Er ist doch zurückgekommen. Sei gescheit, Severina. Das hat er nicht verdient. Wo seine Mutter jetzt tot ist. Doktor, was sagst du dazu!? Ist das normal? Die ist doch krank. Im Kopf, im Kopf! Doktor, sprich du mit ihr. 140
Laßt sie. Aber! Der arme Massimo. Laßt sie. Jetzt, wo seine Mutter tot ist. Sie wird sprechen, wenn sie wieder sprechen will. Sagt der Doktor. Wann will sie? Eben, das ist die Frage. Laßt ihr Zeit. Franco-Francone ist zu Severina gekommen, schaut sie an, sein rundes, rotes, dickes Gesicht ganz nahe dem ihren, flüstert er. Severina, du kannst doch sprechen. Oder? Sie nickt. Dann sprich! Bei allen Heiligen und dem Herrn höchstpersönlich, sprich, sprich, sprich! Dann schaut sie einem seltsamen Trauerzug hinterher. Massimo und die drei Freunde tragen den Sarg, und der Doktor, als einziger schwarz gekleidet, mit seiner Tasche in der Hand, marschiert hinter ihnen her. So verschwinden sie hinter der ersten Kurve, tauchen noch ein paarmal wieder auf, um dann endgültig den Weg ins Tal hinunter einzuschlagen. Der Sarg. Hat Franco-Francone gesagt. Der Sarg ist schwerer als die Tote. Massimo wird unten bleiben, das Begräbnis vorbereiten und die behördlichen Dinge klären. In zwei Tagen wird das Begräbnis sein. Severina wird zum ersten Mal seit über einem Jahr ihr Sonntagsgewand anziehen und ins Dorf hinuntergehen. Die Vorstellung davon schnürt ihr jetzt schon die Kehle zu. Jetzt ist sie allein. Zum ersten Mal ist sie hier oben allein. Das ist fremd, erst unheimlich, dann wird es vertrauter. Sie kann sich darin verlieren, sie kann die absolute Stille hören und sie durch Schreien, Lachen und Singen zerstören. Sie lacht und bekommt ein Echo vom Berg der Madonnina, sie ruft ins Tal 141
hinunter und erschrickt zugleich, denn die da den Sarg nach unten tragen, könnten sie ja hören. Sie singt die Lieder ihrer Kindheit, alle, die ihr einfallen. Dann die Lieder, die sonst nur die Männer singen. Bring mir, wenn ich einst unten liege, Rosen an mein Grab. Würde ihr jemand Rosen ans Grab bringen? Würde an ihrem Grab jemand stehen, wie sie am Grab des kleinen Sebastiano? Wird Massimo ans Grab der Mutter gehen? Mit Schrecken denkt Severina zum ersten Mal daran, daß die Alte jetzt neben oder über Sebastiano liegen wird, daß, wann immer sie dort hingehen wird, um zu beten, die Gebete auch ihr zugedacht sein werden. Sie wird das trennen. Sie wird die Gebete für Sebastiano als solche erklären. Und sie wird, in Gottes Namen, ein Gebet für die Alte beten. Oder wird sie gar nicht hinuntergehen? Warum? Um die Leute zu sehen, die sie verhöhnt haben, um Massimo das Gefühl vor ihnen zu geben, seht, sie ist wieder da, es ist alles in Ordnung? Sollte sie nicht besser für immer hier oben bleiben? Sie geht zu ihrem selbstgemachten Grab für Sebastiano. Sie betet laut. Dann geht sie ins Haus, zieht das Bett der Alten ab, räumt alle Erinnerung an sie hinaus. Auf dem Nachttischchen steht eine Schneekugel mit der kleinen goldenen Madonnina. Severina schüttelt sie, stellt sie hin, wartet, bis sich der Schnee wieder gelegt hat. Dann wirft sie die Kugel ins Feuer. Sie öffnet alle Fenster, setzt sich wieder auf die Bank und ist, sie kann es selbst kaum glauben, glücklich und zufrieden. Es geht ihr gut. Sie denkt an Massimo. Er hat jetzt nur noch sie. Sie, wenn sie nur zu ihnen ginge und mit ihnen spräche, um damit die Mauer zwischen sich und ihnen einzureißen, hätte den Vater, die Brüder, deren Frauen und Kinder, Anna und deren Kinder. Abgesehen von weiteren Verwandten, die jetzt zum Begräbnis kommen werden, ist Massimos Familie ausgestorben. Die beiden älteren Brüder sind als Jugendliche bei einem Autounfall ums Leben gekommen, die Schwester starb als junge Frau an Krebs, der Vater an den Folgen des Krieges, wie die Alte immer sagte. Andere sagten, er sei am Wahnsinn gestorben. Kann nicht der Wahnsinn eine Folge des Krieges 142
gewesen sein? denkt Severina. Ja, jetzt ist sie die einzige Verwandte des Massimo Brunetti. Die stumme Verwandte, die jeden Abend auf den Speicher klettert. Die Frau, die sich so gerne zu ihm legen würde, ihn umarmen und küssen, ihn spüren, die das aber nicht mehr kann. Die daran leidet und doch jetzt hier sitzt, mit zärtlicher Zuneigung an ihn denkt und glaubt, daß sie in diesem Moment glücklich ist. Wird sie das auch sein, wenn sie morgen hinuntergeht, durch den Ort zum Friedhof hinter dem Sarg hergeht, am Grab steht, unter den Blicken all derer, die sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hat? Soll sie überhaupt hinuntergehen? Wenn ich nicht hinuntergehe, denkt sie, dann kommt er nicht mehr wieder. Will sie das? Kann sie das wollen? Kann sie allein ohne ihn hier leben? Überleben? Oder würde sie sich dann einfach auf den Boden oder ins Bett legen, den Atem anhalten, nichts mehr denken, um zu warten, daß der Tod in sie einzieht? Wäre es schön, jetzt zu sterben? fragt sie sich. Alle Kämpfe, aller Kummer, alle Enttäuschungen, die das Leben schon brachte und noch bringen wird, wären nichtig. Massimo könnte sich eine neue Frau suchen, eine jüngere vielleicht, die noch Kinder bekommen kann. Soll sie hierbleiben, nicht hinuntergehen, damit er nicht mehr wiederkommt, damit er ein anderes Leben beginnen kann? Jetzt einfach tot sein, das könnte sie sich vorstellen. Schon einmal, in diesem Winter hier oben, hatte sie sich in den Schnee gelegt, war eingeschlafen, wäre gestorben, hätte nicht die Alte sie ins Leben zurückgeholt. Im Winter ist das möglich. Ein sanfter, schöner Tod. Sie hat damals schon etwas von ihm gespürt. Er hat sie warm gestreichelt, hatte nichts von der Kälte. Aber was müßte sie jetzt im Frühherbst tun, um zu sterben? Sich erhängen, sich erstechen, erschießen, sich vom Felsen hinabstürzen? Das ist Selbstmord, das darf sie nicht tun. Das würde ihr Gott der Herr nie verzeihen. Sich in den Schnee zu legen und zu schlafen, einzuschlafen für immer, das ist neben dem natürlichen Tod der einzige Tod, den sie sich erlauben würde. Verzeih mir, o Herr, ich war müde und bin eingeschlafen im 143
Schnee. Ich hatte vergessen, daß Winter ist. Verzeih mir, o Herr! Nein, so schnell stirbt man im Sommer nicht. Also wird sie einfach nur hierbleiben. Wenn Massimo nicht wiederkommt, wird sie irgendwann verhungern. Sie wird kein Tier schlachten, um zu überleben. Und irgendwann wird der Winter kommen mit dem ersten Schnee. Der Teil des Friedhofes, der im letzten Winter bei den schweren Regenfällen zur Straße hin abgesackt war, ist noch Baustelle. Brettergerüste, Baumaschinen, rotweiße Absperrplastikbänder begrenzen den Friedhof zum Tal hin. Severina hat für nichts Augen. Sie steht neben Massimo am Grab, um sie herum, hinter ihnen, den ganzen Friedhof ausfüllend, alle Leute des Dorfes. Ihre Blicke gelten nicht dem festlich geschmückten Sarg, sondern Severina. Sie spürt das. Sie traut sich nicht, sich umzusehen, jemanden anzuschauen. Sie weiß, was in den Gesichtern steht. Die Verrückte, die nicht mehr spricht, die im Winter oben mit der Alten fast erfroren wäre, wer weiß, ob Amabilia Brunetti nicht vielleicht noch leben würde, der arme Mann, mein Gott. Das steht in den Gesichtern, das denken sie, und deswegen hören sie Don Roberto nicht zu, sondern tuscheln oder wechseln beziehungsreiche Blicke. Severina will das alles von sich schieben, will es nicht bereuen, heruntergekommen zu sein. Sie hat es wegen und für Massimo getan. Und für sich, denn sie wußte, er würde nicht mehr zu ihr kommen, und sie würde doch nicht ohne ihn leben können. Sollen sie flüstern und denken und reden, was sie wollen. Es wird alles normal werden. Ganz verstohlen, sachte, berührt ihre Hand die Massimos. Er schaut sie verwirrt an, und ihr ist, als lächelte er. Später sitzt im kleinen Saal über der Bar Sole eine seltsame Trauergesellschaft beisammen. Als sei Severinas Schweigen ein Virus, der sich um den Tisch herum verbreitet, schweigen alle. Was soll man sagen, was soll man fragen, wenn sie doch nicht antwortet, also schweigt man besser, ißt, trinkt, prostet Massimo still zu und ist froh, daß es auf diese Weise ein kur144
zes Essen wird. Massimo sitzt am Kopfende, rechts von ihm Severina, links Rosanna, als habe sie dasselbe Recht. Auch sie spricht nichts, denn es ist, als sei das Sprechen verboten worden. Nur Teresa kündigt um so lauter die jeweiligen Gänge an, die sie und eine junge Hilfe auftragen. Was geht es doch auf Trauermahlzeiten oft lustig zu, denkt sie. Zu lustig, so daß man oft gar nicht glauben mag, daß da um jemanden getrauert wird. Nicht selten arten die Traueressen in wüste, laute Saufgelage aus, bei denen sich schließlich die Erben in den Haaren liegen, der Verstorbene wegen seines törichten Testaments beschimpft und verdammt wird und die alten Frauen unter heftigem Sichbekreuzigen das Weite suchen. Unten in der Bar sitzen ein paar Männer, die sich auch ihre Gedanken über das Schweigen da oben machen. So sollte es immer sein, wenn jemand gestorben ist. Sagt Teresa. Die Männer lachen. Das Lachen platzt mitten in Massimos gerade mühsam gefaßten Entschluß, etwas zu sagen, den Anwesenden wenigstens für ihr Kommen und ihre Beileidsbezeugungen zu danken. Er sagt nichts, schaut den Tisch entlang, bleibt bei Anna hängen, die ihn unverhohlen gierig, aber auch mit leichtem Spott, einem undurchsichtigen Lächeln hinter einem aufgesetzten Trauergesicht, anschaut. Und wie es so ist, wenn Menschen schweigen statt die Dinge auszusprechen, liegt alles Unausgesprochene offen auf dem Tisch. Man sieht, was gedacht wird, und hat nicht die Möglichkeit, es durch schöne Worte zu verschleiern. So wäre es töricht zu glauben, Rosanna würde nicht Annas Blicke und Absichten sehen und durchschauen. Desgleichen Severina. Sie spürt jetzt zum ersten Mal, wie das ist, wenn auch andere schweigen. Das kennt sie nicht, denn sowohl die Verstorbene als auch Massimo haben immer gegen ihr Schweigen angeredet. Man hört das Klappern des Geschirrs, der Messer, Gabeln und Löffel, das Gluckern aus den Flaschen, das Schlürfen, das Mahlen der Gebisse, das Knacken der Vogelknochen, das Schmatzen und etliche vergeblich versteckte Seufzer. Und von 145
unten schallt immer wieder das Gelächter der Männer herauf. Ist es verhöhnend oder tröstlich? Massimo weiß es nicht. Er will es nicht wissen. Rosanna befindet sich zwischen Bangen und Hoffen. Wird Massimo wahr machen, was er ihr gestern, als er sie wieder einmal so sehr brauchte, gesagt hat? Wird er nicht mehr hinaufgehen, wenn Severina nicht spricht? Wird sie sprechen? Wird sie wieder vom Speicher herunterkommen zu ihm in die Kammer? Oder wird sie, Rosanna, seine Frau für die Liebe sein und bleiben? Die, die diese Fragen beantworten könnte, sitzt stumm da und liest in Rosannas gerötetem Gesicht alles, was die denkt. Mit einem stummen Händedruck verabschiedet sich Severina vor dem Haus von Rosanna, geht dann aber nicht hinein, sondern nimmt den Weg zum Berg hinauf, ohne sich noch einmal umzusehen. Massimo steht hilflos da, schaut hinter Severina her, sieht wieder einmal diesen kleinen Triumph in Rosannas Augen und macht sich mit einem flüchtigen Wir sehen uns auf den Weg. Tränen schießen Rosanna in die Augen, Tränen der Wut und der Enttäuschung. Severina muß sich nicht umsehen. Sie spürt es zunächst, dann hört sie es, daß er ihr folgt. Sie geht schwer, ist das gar nicht mehr gewohnt. An der kleinen Brücke über den Bach bleibt sie stehen, lehnt sich an das Holzgeländer, schaut dem Treiben des Wassers zu und sieht Massimo, der mit kräftigen Schritten näher kommt. Hier war es, vor einundzwanzig Jahren, wo er sie gefragt hat, ob sie seine Frau werden will. Sag, willst du? Ich weiß es nicht, es ist so schnell. Ich hab schon mit deinem Vater gesprochen. Du hast!? Ja. Er hat nichts dagegen. Und bist du sicher, daß er nicht die Anna gemeint hat? Von einer Anna war keine Rede. Ist das so, daß man erst den Vater fragt? Da gibt's keine Vorschrift. Dann küßte er sie und rannte ins Dorf. 146
Damals. Jetzt hat er nur noch wenige Schritte zu ihr. Ob so ein Mann sich jetzt auch an dieser Stelle daran erinnert, was hier war? Nein, denkt Severina, Männer vergessen so was. Er steht neben ihr und schaut ins Wasser. Ist das so, daß man erst den Vater fragt? Hast du gesagt. Mein Gott, er erinnert sich auch daran! Und was hab ich dann gesagt? He, sag's, was hab ich gesagt? Sie schweigt und steht jetzt vor ihm. Sag's! Sie schweigt, lehnt ihren Kopf an seine Brust, riecht seinen Schweiß, den Wein, den Grappa, Weihrauch. Da gibt's keine Vorschrift. Hab ich gesagt. Er legt seine Arme um sie. So stehen sie ein paar Augenblicke da, wie man sich vorstellen kann, daß sie auch damals hier standen. Dann gehen sie Hand in Hand weiter. Das haben wir in unserem ganzen Leben nicht getan. Nicht einmal damals. Denkt Severina. Auch Massimo schweigt. Oben angekommen, ziehen sie sich ihre Arbeitskleidung an und verrichten das Ritual der täglichen Dinge, die zu tun sind. Massimo füttert die Kaninchen, säubert ihren Stall, streut den Vögeln Körner in die Voliere, mistet im Ziegenstall aus und trägt Holz ins Haus. Severina macht Feuer, holt Wasser von der Quelle und füllt es in den Kessel im Kamin. Dann geht sie auf den Speicher hinauf, holt ihr Bettzeug, das Gewehr und alles andere, was sie während dieses Jahres hinaufgeschleppt hat, und trägt es hinunter. In der Kammer bezieht sie das Bett neu und stellt das Hochzeitsfoto wieder auf das Nachtkästchen. Bei einem Blick aus dem Fenster entdeckt sie, daß Massimo sie beobachtet und begriffen hat, was sie tut. Er lächelt, sie setzt sich aufs Bett, starrt auf den Boden, zittert, ist aufgeregt. Dann sitzen sie am Tisch. Massimo trinkt Wein, schaut ins Feuer, vermeidet es, sie an147
zusehen. Während er in den Tagen zuvor immer redete, wenn sie hier saßen, wohl um der Mutter etwas zu beweisen, zu erklären, schweigt er jetzt, so als wollte er Severina damit sagen, sieh, ich kann das auch, es ist nichts mehr zu sagen und zu fragen und zu erklären, es fügt sich alles, ich bin wiedergekommen, ich bin da, hier bei dir, und du weißt es, warten wir, wie es sein und werden wird. Severina holt sich auch ein Glas, schiebt es fordernd über den Tisch. Er nimmt die Flasche, schenkt ihr ein, staunt, denn er kann sich nicht daran erinnern, daß sie je Wein getrunken hätte. Sie wagen es nicht, miteinander anzustoßen. Sie heben nur leicht die Gläser, schauen sich für den Bruchteil eines Augenblicks an und trinken. Es ist, als würde von dem ewigen Frieden, dem sie die Alte heute übergeben haben, jetzt etwas auch über sie beide kommen. Noch nie waren sie so allein hier am Tisch gesessen. Jetzt erst ist er wirklich zu mir zurückgekommen. Denkt Severina. Lange sitzen sie so da, schweigen und hängen ihren Gedanken nach. Draußen wird es dunkel. Dann stehen sie auf, gehen in die Kammer, entkleiden sich im Dunkeln, legen sich ins Bett, jeder auf seine gewohnte Seite, und liegen still da. Dann findet eine Hand eine andere, dann kriechen sie zusammen, genießen jeden Augenblick, jede so lange nicht mehr gespürte Berührung, finden Vertrautes wieder und entdecken Unbekanntes. Am nächsten Morgen sitzen sie da, als müßten sie sich schämen voreinander. Sie brocken das Brot in den Kaffee, trinken schlürfend. Kannst du jetzt immer noch nicht sprechen? Sagt er. Sie schweigt. Was muß ich tun, daß du sprichst? Sie nimmt seine Hand, diese rauhe, behaarte, starke Hand, die sie in dieser Nacht auf ihrem Körper wiederentdeckt hat, und hält sie fest, als wollte sie sagen, laß mir Zeit. Er seufzt. 148
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Warum ist der Mensch kein Murmeltier, dachte Severina, als der Winter sich bis weit in den Februar hinein mit Schneestürmen und eisiger Kälte hinzog. Im Herbst in eine Höhle kriechen, alles Fühlen und Denken, den Herzschlag und den Puls, das Gehirn und den Blutdruck auf einen Schlaf stellen, dessen Ende die ersten Sonnenstrahlen des März bestimmen. Severinas Kraft war am Ende. Die der Alten auch. Schon sprach sie kaum noch. Mehrmals, wenn sie stumm und bewegungslos am Kamin saß, mußte sich Severina vergewissern, daß sie noch lebte. Mit großen leidenden Augen schaute sie zu ihr auf, als wollte sie sagen, was hast du mit mir gemacht, was wolltest du, was sollte das, wolltest du meinen Tod? Aber den Gefallen hab ich dir nicht getan. Ich lebe! Ich lebe so lange, bis er wiederkommt. Zu hart war der Winter. Wie eine undurchdringliche Schale hatte er sich über die Berge gelegt und alles Leben erstarren lassen. Zu kurz waren die Tage, zu groß die Sehnsucht nach Licht. Zu lang waren die Abende und Nächte. Severina hat den Winter noch nie gemocht. Schon als Kind war sie drei Monate lang ein halber Mensch, ein kümmerlich flackerndes Lämpchen, das sich von den Lichtern des Weihnachtsfestes und den krachenden Feuern des neuen Jahres nicht anstekken ließ und in allem Feierlichen nur wenig Trost fand. Als wollte sich die Natur treu an den Kalender halten, war mit dem ersten März der Winter vorbei. Die ersten Sonnentage zerschmolzen den Schnee, und wie wahllos aus dem Farbeimer gekleckst kam erstes Grün hervor. Die Schafe sprangen glücklich hinaus, wälzten sich und begrüßten den Frühling. Und die Alte, noch in eine Decke gehüllt, nahm ihren Platz auf der Bank vor dem Haus wieder ein, um unverzüglich stundenlang dahin zu schauen, von wo der Sohn hätte kommen müssen. Severina war voller Tatendrang. Sie putzte, lüftete, wusch,
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räumte Haus und Hof auf, säuberte den Stall, rechte das Herbstlaub unter den Bäumen zusammen, brachte es zum bereits aufgetauten Komposthaufen, machte allerlei Pläne, wollte zum ersten Mal hier oben Gemüse pflanzen, schrieb Besorgungszettel für Franco-Francone, war rastlos und am Abend müde. Ihr war zumute wie einem Tier, das aus langem Winterschlaf erwacht. Sie war glücklich und zuversichtlich, und beinahe hätte sie laut gesungen, wenn sie nicht noch rechtzeitig an ihren Schwur gedacht hätte. Es entging ihr nicht, daß ihre Stimmung der Alten mißfiel, deutete die es doch als Indiz dafür, daß dieser Severina ihr Massimo gar nicht fehlte. Das war nicht so. Denn mit den neuen Lebensgeistern war auch die Sehnsucht wiedergekommen, für die während des Winters im halberstarrten Herzen kaum Platz war. Immer wieder ertappte sich Severina dabei, daß auch sie in die Ferne schaute, dahin, wo man ihn zum ersten Mal sehen hätte müssen. Dann erschien einer am Horizont. Severina erkannte ihn sofort am Gang, es war Franco-Francone, der treue, der mehrmals im Winter heraufgestapft war, um ihnen das Nötigste zu bringen. Wieder hatte er eine Kiepe voller Vorräte, die er vor ihnen ausbreitete. Und er war sehr aufgeregt. Massimo kommt! Sagte er. Er hat Bruno angerufen, daß er kommt. Gestern oder vorgestern. Severina zeigte, so aufgeregt sie war, keine Regung. Ins Gesicht der Alten kam alles Leben zurück. Mehrmals wiederholte Franco-Francone das Gesagte, damit man es ihm auch wirklich glaubte. Er kommt. Wirklich, er kommt. Bei allen Hostien, war hätte das gedacht! Massimo kommt. Sag was, Severina! Sprich! Du mußt sprechen, wenn er kommt. Severina schaute ihn an und strich sacht mit ihrer Hand über 150
sein verschwitztes Gesicht. Massimo kam nicht. Statt dessen kamen eine Woche später die Männer herauf. Franco-Francone, Bruno, Albino, Luigi und Paolo, eine laute, muntere und angetrunkene Jagdgesellschaft. Sie ließen sich im Hof nieder, packten Käse, Schinken, Brot und Wein aus, tranken und aßen und schwatzten. Bruno wurde nicht müde, zu bedauern, daß Massimo nicht gekommen war, und zu beteuern, daß er ihn wirklich und wahrhaftig auf dem Handy angerufen hatte, als er mit seinem Malertrupp gerade die Villa eines Deutschschweizers renovierte. Hier ist Massimo. Hat er gesagt. Sagte Bruno. Wo bist du? Hab ich gefragt. In Mailand. Hat er gesagt. Auf dem Bahnhof. Hat er gesagt. Ich komme heim. Mit dem nächsten Zug. Hat er gesagt. Sagte Bruno. Ich schwöre, daß es so war. Ich schwöre es. Das sagte er wie alles andere noch mehrere Male mit zunehmender Deutlichkeit. Sie wurden ausgelassener, ließen Jagd Jagd sein, tranken weiter und sangen schließlich. Die Alte sang selig mit, krächzend, aber stimmsicher. Und ihr war genauso bewußt wie Severina, daß Massimos Stimme fehlte. Und nicht nur seine Stimme, auch er. Aber in den Gesprächen der Männer, im Auflebenlassen gemeinsam bestandener Abenteuer war er allgegenwärtig. Er fehlte auch ihnen, darum redeten sie über ihn, als könnten sie ihn herbeizaubern, als säße er jeden Augenblick unter ihnen, klopfte ihnen auf die Schulter, sagte, daß alles wieder in Ordnung sei, und fragte, 151
was ist, warum singt ihr nicht? Sie sangen, tranken und aßen bis in den Abend hinein. Bruno nahm Severina bei der Hand und tanzte mit ihr nach dem Gesang der Männer, und in seinen Schweinsäuglein war ein wunderschönes Funkeln. Severina, sprich. Sprich. Sag was. Wir holen ihn zurück, wenn du ein Wort sagst. Wir fahren nach Mailand. Wir finden und holen ihn. Aber sprich! Sie schwieg, tanzte aber mit ihm und genoß es, bei ihnen zu sein. Herrgott, dieser Massimo! Sagte Bruno. Ich habe keine Frau. Ich finde keine. Mich will keine. Und er hat eine wunderbare Frau und geht weg. Läßt sie allein. Ein Schweinehund ist unser Freund Massimo, ein Dummkopf obendrein. Das ist er nicht. Sagte Franco-Francone. Die anderen lachten nur. Severina! Sagte Bruno. Wenn er nicht mehr kommt, nimm mich. Für mich mußt du nicht sprechen. Ich nehm dich auch so. Ehe es dunkel wurde, polterten sie lauthals ins Tal. Die Alte war längst ins Bett gegangen, und Severina saß noch lange draußen auf der Bank vor dem Haus. Sie fröstelte, denn der Abend war noch kalt. Aber über ihr war ein Sternenhimmel, wie es ihn nur hier oben gab. Aufgewühlt und glücklich, verzagt und leise hoffend, zweifelnd an ihrem Schwur und doch entschieden, spürte sie, daß das Leben zurückgekehrt war. Von den Bäumen fielen, im Mondlicht glänzend wie Sternschnuppen, die letzten Blätter des Herbstes, und der Gipfel der Madonnina sah vor dem Mond aus wie ein großes, fremdes Tier. 152
Noch nie war der Schreiner Alessandro hier heraufgekommen. Diese Wanderungen in die Berge waren seine Sache nicht. Nun hatte er aber die beiden Söhne Felice und Domenico, genannt Mecco, mitgenommen, und hatte sich auf den Weg gemacht, um wieder einmal eine Familienangelegenheit zu klären, die nunmehr keinen Aufschub mehr duldete, die ein Machtwort verlangte, ehe sie zur Tragödie würde. Er ging nicht ins Haus, wollte kein Wasser, keinen Wein, was ihm die Alte anbot, auch nichts zu essen. Wo ist sie? Fragte er die Alte. Im Haus, im Stall, muß dasein. Die Söhne fanden Severina hinter dem Haus. Sie rupfte Grünzeug für die Kaninchen. Kannst du deinen Vater nicht begrüßen kommen?! Sagte Alessandro. Sie schwieg, nickte den Brüdern zu und auch dem Vater. Redest du immer noch nicht? Sie schüttelte den Kopf. Einmal wirst du reden müssen. Wo ist er? Hast du was gehört von ihm? Sprich! Mach's Maul auf und sprich! Schrie Mecco. Wenn dich dein Vater was fragt! Ergänzte Felice. Also weißt du nichts? Hast nichts gehört? Sie schüttelte den Kopf. Die wird man doch verdammt noch mal zum Reden bringen! Schrie Felice und packte und schüttelte sie. Sie schrie nicht, weinte nicht. Er schlug nach ihr. Da ging der Vater dazwischen, schleuderte den Sohn weg. Du wirst nicht deine Schwester schlagen! Die Schläge verdient ein anderer. Und den werden wir suchen. Und wir finden ihn! Und wenn wir ihn herbringen, dann sprichst du gefälligst. Sie schaute ihn traurig an, hatte keine Mittel, ihm etwas mitzu153
teilen. Aber, dachte sie, wenn man mit jemandem etwas tut, was man noch nie mit ihm getan hat, vielleicht versteht er einen dann. Und sie ging auf ihn zu, umarmte ihn und küßte ihn auf die Wangen. Steif stand er da und ließ es geschehen, dann drehte er sich um, sammelte seine Söhne ein, wie man zwei Jagdhunde zurückpfeift, die sich gerade auf die Fährte eines Tieres begeben haben, und ging. Mit Tränen in den Augen schaute ihm Severina nach. Und plötzlich hatte sie nach so vielen Jahren zum ersten Mal Sehnsucht nach ihrem Elternhaus, nach der Küche, in der er meist alleine saß, nach dem kleinen Garten hinter dem Haus, nach dem Geruch der Schreinerei, der auch jetzt, da sie ihn umarmt hatte, in seinen Kleidern war.
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Es wird Herbst und damit kälter hier oben. In ein paar Wochen wird man ins Dorf hinunter aufbrechen. Und immer noch schweigt Severina. Massimo hat alles mögliche versucht. Er hat sie angeschrien, erschreckt, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und ihr plötzlich Fragen gestellt, er hat selbst tagelang geschwiegen, und es ist ihm so schwergefallen, daß er überhaupt nicht begreifen mag, daß ein Mensch das freiwillig tut. Beinahe bewundert er sie. Und wenn er bei ihr liegt und sie spürt und sie es nicht wie eine Duldende, sondern wie eine Genießende geschehen läßt, dann flüstert er ihr ins Ohr, daß er geduldig warten wolle, bis sie wieder Wörter für ihn haben würde, wenn er nur so bei ihr liegen könne. Doch dann kommt wieder Wut auf, Verzweiflung packt ihn, er muß unter Menschen, die sprechen. Er nimmt Arbeiten an, die ihn mit anderen zusammenbringen. Mit Franco-Francone schlägt er Holz, mit Albino fährt er es zu den Pizzerien am See. Tagelang bleibt er unten im Dorf. Und es bleibt nicht aus, daß er Anna wieder trifft, daß sie ihn zu sich zu locken versucht, er sich aber auf ihr Werben nicht einläßt, weil er Angst vor den Schwierigkeiten hat. Anna würde triumphieren, würde alles tun, damit Severina davon erfährt. Und man würde darüber reden im Dorf, laut und selbst für die Stumme oben am Berg unüberhörbar. Massimo zieht an den Abenden mit den Freunden über die Dörfer, wird in allen Bars gesehen, ist nicht selten Mittelpunkt lustiger Trinkrunden. Nach Severina fragt niemand mehr. Er ist wieder da, das zählt, die Täler haben ihn wieder. Und als müßte er allen etwas beweisen, seinen alten Ruhm aufpolieren, fliegt er eines Tages, als sie oben im Wald Holz schlagen, wieder am Holzbündel übers Tal. Natürlich redet man davon. Mehr als davon, daß er ein Jahr weg war und zu seiner Frau zurückgekehrt ist, die seither die Sprache verloren hat, der arme Mann, sagen selbst die Frauen. Die Geschichte mit Teresa blieb, das hat sie so bestimmt, einmalig. Sie hat, was man mühelos als ein Wunder ansehen
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kann, dieses Abenteuer für sich behalten, hat nicht einmal Rosanna gegenüber triumphiert, die jetzt Teresa gegenüber die Rückeroberung des Geliebten sehr genießt. Teresa weiß, daß sie mit einem solchen Dauerverhältnis nicht leben könnte, nicht hier, nicht als Wirtin der Bar. So haben sie und Massimo ihr Geheimnis. Niemand merkt etwas davon, und doch sind sie anders miteinander. Manchmal im Laufe eines Abends sehen sie sich plötzlich an und lächeln. Massimo wäre nicht er selbst, würde er nicht insgeheim denken, daß dieses Abenteuer wiederholbar ist. Aber nicht jetzt, da sein Leben noch nicht normal ist, da er zwar zu allen anderen, aber noch nicht zu Severina wirklich zurückgekehrt ist, oder sie nicht zu ihm, da sie nicht spricht. Die Bar füllt sich in kurzer Zeit mit den aufgeregtesten Männern des Dorfes. Wild schreien sie durcheinander, schimpfen, gestikulieren, sind empört und entrüstet, in ihrer, ihrer Frau und ihres Vaterlandes Ehre angeblich zutiefst verletzt worden. Was ist passiert? Fragt Massimo. Alle reden durcheinander, und es ergibt sich, daß in der heutigen Samstagabend-Fernsehshow ein Japaner aufgetreten ist, der mit bloßen Händen aus einem Teig Spaghetti, feine, als solche nicht zu beanstandende Spaghetti machte. Breitbeinig sei er dagestanden, wie ein Zauberer, als sei Spaghettimachen zaubern, habe sich die Hände bestäubt, den Teig genommen, ihn mit ausgestreckten Armen in die Länge gezogen, dann in der Mitte zusammengelegt und wieder gezogen. Immer dünner sei das Seil aus Teig gewesen, wieder habe er Mehl in die Luft geworfen, darin die Stricke, ja, mehrere Teigstricke seien es schließlich gewesen, geschwungen. Wieder und wieder habe er sie auseinandergezogen, immer dünner seien die Stricke geworden, Schnüre seien es am Ende nur noch gewesen, Schnüre in der Länge zwischen seinen beiden ausgestreckten Armen, quer rüber von einer Hand zur anderen. Und nach wenigen Minuten, man habe seinen Augen nicht getraut, habe er die Enden abgeschnitten und in einen von Frauen hereingetragenen großen Teller einen Haufen 156
bester, perfektester Spaghetti geworfen. Zu allem Überfluß habe man dazu noch dramatische Musik gespielt, als sei Spaghettimachen etwas Dramatisches, als brauche man dazu Musik. Und geklatscht hätten die Leute, als hätten sie noch nie zuvor in ihrem Leben Spaghetti gesehen. Und so was zeigen sie im Fernsehen. Scheißprogramm. Ich habe umgeschaltet. Unseren Frauen zeigen sie das. Und die schaun auch noch zu! Ich habe abgeschaltet. Will ich nichts damit zu tun haben. Seit wann kann ein Japaner Spaghetti machen? Fragt Bruno. Wer weiß, wie die schmecken. Soll der Japaner doch Spaghetti machen. Aber warum muß man das im Fernsehen zeigen? Eine Beleidigung. Unserer Frauen. Eine Beleidigung der Spaghetti meiner Frau. Ruft Albino. Na also, die Spaghetti deiner Frau! Sagt Franco-Francone. Sag du was gegen die Spaghetti meiner Frau. Meine Anna macht die besten Spaghetti der Welt. Ich esse nur Mirellas Spaghetti. Und so was zeigen sie im Fernsehen. Ich schalte gar nicht mehr ein. Und die Frauen schauen sich das noch an. Eine Beleidigung. Ausgerechnet ein Japaner! Steht da. Breitbeinig. Giancarlo macht es vor. So steht er da. Wirft Mehl in die Luft. Jetzt stellt euch vor, meine Grazia steht in der Küche. 157
Breitbeinig. Und wirft Mehl in die Luft! Und zieht den Teig auseinander. Ich stell es mir vor! Sagt Bruno. Überhaupt die Japaner. Und die ganzen Asiaten. Und das Fernsehen. Der Teufel soll sie holen. Habt ihr das von Antonio gehört? Fragt Bruno. Von welchem Antonio? Antonio vom Markt. Der mit den Hemden und Jacken. Antonio aus Grandola. Was ist mit Antonio? Der hat den Hund vom Apotheker aus Osteno erschossen. Warum das? Seine Frau hat ihn gehörnt mit dem Apotheker aus Osteno. Und da hat er den Hund erschossen. Warum den Hund? Weil der Apotheker nicht zu Hause war. So reden sie. Und denken sich mannigfaltige Folter- und Tötungsarten aus, für die Japaner, die Fernsehverantwortlichen, den Apotheker von Osteno und für Antonios Frau sowieso. Und sie sind sogar bereit, den Hund des Apothekers zu bedauern, der doch völlig unschuldig gestorben sei. Massimo ist an diesem Abend seltsam zumute. Er hört die Gespräche und nimmt nicht an ihnen teil, er schaut den Kartenspielern zu, verfolgt ihr Spiel aber nicht, er sieht Teresa an und schaut durch sie durch. Er denkt, das überrascht ihn selbst, an Severina. Immer wieder, immer intensiver. Er sieht sie am Tisch sitzen, wie sie seufzend über all den Unsinn der Welt in Illustrierten blättert, die er immer aus Tizianas Laden mitbringen muß. Sie ist jetzt, da sie nicht einmal mehr seine Mutter hat, an der sie sich reiben kann, sehr allein, lange Tage, lange Nächte. Vielleicht sollte er ihr mal einen kleinen Fernsehappa158
rat hinauftragen. Oder ein Handy, wie Bruno eins hat. Aber wen würde sie anrufen? Er könnte sie anrufen. Ach Gott, nein, sie spricht ja nicht. Er würde sie dann anrufen und würde ihr sagen, wann er kommt, daß er heute nicht mehr, aber morgen kommt, und sie würde nicht antworten. Ob sie auch nicht spricht, wenn sie allein ist? Sie hat doch immer gebetet, laut, zumindest hörbar, lange Rosenkränze. Er kann sich nicht vorstellen, daß sie stumm beten kann. Er kennt keine Frau, die das kann. Es käme ihnen als Betrug an Gott vor. Die Männer tun das, falten die Hände und beten stumm. Nein, in Wirklichkeit beten sie ja nicht, sie denken an was ganz anderes, an die letzte Bocciapartie oder das Rebhuhn, das sie gestern geschossen haben, an ihr Auto oder eine begehrenswerte Frau. Als Kind hat er immer, wenn in der Familie gebetet wurde oder in der Kirche oder am Grab, um Gott zu ärgern, an nackte Frauen gedacht, soweit er damals wußte, wie nackte Frauen aussehen. Sicher spricht sie, wenn sie allein ist. Vielleicht flucht und schimpft sie auf ihn, vielleicht sagt sie alles das, was sie ihm gerne sagen würde, hätte sie nicht diesen Vorsatz gefaßt, nie mehr mit dem Mann zu reden, der sie so schmachvoll verlassen hat. Er hat sie schmachvoll verlassen, das weiß er. Sie haben es erzählt, Teresa, Rosanna, andere, daß sie im Dorf herumgelaufen ist und seinen Namen gerufen hat, daß sie bei den Carabinieri war, und er hat gesehen, wie sie im Haus getobt hat. Würden das andere Frauen auch tun, wenn ihre Männer weggingen? Es fällt ihm keine ein. Luisa vielleicht. Die würde verrückt werden. Ist Severina verrückt geworden? Ist dieses Schweigen ein Zeichen von Verrücktheit? Ob sie nie mehr sprechen wird? Soll er einmal den Doktor danach fragen? Massimo hat Sehnsucht nach Severina. Das Gefühl kannte er gar nicht mehr. Wenn er in Mailand Sehnsucht hatte, dann war es nicht sie, nicht sie allein, es waren die Täler, das Dorf, der Berg, der Hof und die Tiere, die Menschen, die Bar, die Seile über die Schluchten. Er hatte das Gefühl gehabt, in der Stadt ist man niemand, ein Nichts, hier in den Tälern bin ich Massi159
mo, der Adler, der, den sie kennen, der über die Schlucht, übers Tal geflogen ist. Es war seine Sehnsucht, wieder der zu sein, der er einmal war. Jetzt aber sehnt er sich nach Severina. Er sieht sie vor sich, wie sie müde die Zeitschriften beiseite legt, aufsteht, den schmerzenden Rücken reibt, noch einmal hinausgeht, schaut, ob die Stalltür zu ist, hineingeht, sich am Waschstein wäscht, in die Kammer geht, nicht mehr auf den Speicher hinauf, sich auszieht, das lange Nachthemd anzieht, sich seufzend hinlegt, betet, schläft. Jetzt läge er gerne bei ihr, würde den warmen, fülligen Körper spüren, ihren regelmäßigen Atem, die kleinen Schnarcher, die sich da einschleichen. Und sie würde ihm zeigen, daß sie noch nicht ganz schläft, und er würde sagen, stell dir vor, im Fernsehen haben sie einen Japaner gezeigt, der mit bloßen Händen Spaghetti macht. Und sie würde lachen! Ja, sie würde lachen! Und wäre nicht das hörbare Lachen schon fast soviel wie sprechen? Seit er wieder da ist, hat sie noch nicht gelacht, nicht einmal lautlos. Und auch geliebt hat sie stumm. Mit den letzten Männern verläßt Massimo die Bar, die Teresa hinter ihnen zusperrt. Nachdem sie sich an der Mauer des Platzes ein letztes Mal unter Verfluchen des Japaners erleichtert haben, gehen sie nach Hause. Es ist eine klare Nacht. So viele Sterne am Himmel wie Gedanken in Massimos Kopf. Er ist aufgewühlt. Es muß sich ändern. Sie muß sprechen. Sie muß sprechen, weil sie es will, weil er bei ihr ist, weil sie nie mehr Angst haben muß, daß er je wieder fortgeht, weil er ihr zeigt, daß er zu ihr gehört. Weil er sie liebt. Er muß jetzt hinauf. Nicht zu Rosanna gehen, die ihm auch im Bett immer wieder klarmacht, daß sie im Gegensatz zur anderen reden kann, dabei wäre es besser, gerade sie würde einfach einmal schweigen, nicht alles beschreiben, erklären, zerreden. Nein, er sollte jetzt nicht zu Rosanna gehen. Und auch nicht zu Teresa. Und er wird auch nicht zu Anna gehen, in dieses gefährliche Spinnennetz stolpern, das sie da aufgebaut hat. Nein, hinaufgehen. Sich zu Severina legen, sie festhalten, bei ihr sein. Er 160
macht sich auf den Weg. Vor der Bar Sole auf der kleinen Bank saßen neulich zwei junge Leute, ein Paar, die hielten sich an den Händen, schauten sich in die Augen, küßten sich und sagten dann beide zur selben Zeit: Ich liebe dich. Massimo hat sich nicht getäuscht, er stand in der Nähe, beobachtete die beiden verstohlen und hat es genau gehört. Ich liebe dich. Sagten sie sich. Massimo kann sich nicht erinnern, daß er je in seinem Leben zu jemandem gesagt hätte, ich liebe dich. Auch damals in Oggia, als er sich in Severina verliebt hatte, hat er das nicht gesagt, und auch danach nicht, und zu Renata sowieso nicht. Als er sich eine Stunde später zu Severina ins Bett legt, sich an ihren Rücken schmiegt, ihren leisen, regelmäßigen Atem spürt, sagt er: Ein Japaner hat im Fernsehen Spaghetti gemacht. Stille, sie scheint zu schlafen. Er streichelt ihren Hals, legt sich auf den Rücken, schaut zur Decke. Ich liebe dich. Sagt er. Als sie am Morgen ihren Milchkaffee trinken, Brot eintauchen, stumm dasitzen und in Massimo schon wieder die Wut über dieses dumpfe Schweigen aufzukommen droht, lacht Severina plötzlich. Sie lacht! Tatsächlich, sie lacht. Hörbar, laut, bis in die Winkel der Küche, bis zu den Schafen hinaus auf die Wiese, bis zu den Vögeln in den Bäumen dringend, lacht sie. Was lachst du? Ein Japaner und Spaghetti! Sagt sie. Sagt sie! Sie sind beide erschrocken, starren sich an. Severina hält sich entsetzt die Hand vor den Mund, als könnte sie die Wörter, die aus ihm kamen, zurückholen. Du hast gesprochen - du - du hast was gesagt - Herr im Himmel - du hast gesprochen! Sie schweigt. 161
Sprich! Rede, sag noch was, sprich weiter, bitte, sprich! Was? Ich weiß nicht - was? Irgendwas, sag alles, was dir einfällt, lache, singe, bete, ja, Severina, bete, bete ein Vaterunser oder einen Rosenkranz. Sie fängt an zu beten. Vater unser. Und sie betet und betet und betet. Massimo ist vor Freude verrückt, verzückt, wahnsinnig. Er rennt hinaus, schreit gegen den Gipfel der Madonnina hinauf: Sie redet! Rennt wieder hinein, legt sich ihr zu Füßen, weint vor Freude, legt seinen Kopf in ihren Schoß. Und sie betet alle Verse des Rosenkranzes, alle Gegrüßet seist du, Maria, immer wieder ein Vaterunser. Du sprichst! Hörst du, du sprichst! Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Er muß es mitteilen, ihnen sagen, allen sagen, es hinausrufen: Sie spricht. Sie ist wieder ein Mensch, seine Frau, zu der er zurückgekommen ist. Sie spricht! Er geht hinunter, eilt, läuft. Am liebsten würde er fliegen. Er kommt schweißnaß und abgekämpft, schwer atmend in die Bar, steht da, als hätte er den Leibhaftigen gesehen, starrt auf Teresa und die Kartenspieler und die jungen Leute an der Bar. Sie spricht! Sagt er. Kurzes Schweigen, man schaut sich an, dann ihn, sieht, daß er eine Reaktion erwartet, Begeisterung, Freude vielleicht. Franco-Francone erbarmt sich. Ein Wunder, Dank sei dem Herrn. Ja, ein Wunder. Was sagt sie denn? Sie betet. Sie betet? Sie betet. Und schon ist er draußen. Schweigen, Stille im Raum, als hätte jemand eine unfaßbare Todesnachricht hereingetragen. Sie betet! 162
Flötet Luigi und lacht. Aber nicht lange, denn er denkt an seine Luisa zu Hause, an das Skelett mit der gelben Jacke, das ihr nicht aus dem Kopf geht und sie hat verstummen lassen. Ach, würde sie doch wieder sprechen, all ihren Unsinn an ihn hinreden, wie früher. Luisa, denkt Luigi, Luisa betet nicht einmal mehr. Armer Massimo. Sagt Albino. Jetzt ist sie wahnsinnig geworden. Sagt Bruno. Jetzt ist wieder alles, wie es immer war. Sagt Teresa. Und sie lächelt dabei.
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Sie hatten die Madonnina nicht gesehen und kamen wieder herunter vom Gipfel der Madonnina. Nebel, Dunst war dort oben, sie hatten sie nicht gesehen. Nichts hatten sie gesehen, und das hatte Massimo schon vorher gewußt, er, der das Wetter hier kennt. Aber sie wollten es ja nicht wahrhaben. Und, ach, da war ja sie, diese Last, die er hinauf- und heruntertrug. Diese Last, die leichter war als eine vollbeladene Kiepe, die er aus dem Tal hinaufzutragen pflegte. Sie kamen herunter, die jungen Männer verärgert, zerschunden, mit Blasen an den Füßen, zerrissenen Hosen, zerfetzten Schuhen. Gestolpert, gefallen, gerutscht waren sie. Abschürfungen an den Ellbogen, den Knien, den Händen hatten sie. Ihre Aufmachung hatte nicht den Anforderungen eines solchen Aufstiegs zum Gipfel der Madonnina standgehalten. Und sie schimpften und fluchten. Nichts habe man gesehen, was versprochen worden war unten in der Bar, von allen. Von allen, sagte Massimo, nicht von mir. Nichts habe man gesehen, nichts von der beschissenen, verdammten Madonnina. In der Tat, sie verfluchten die Madonnina. Die jungen Männer legten sich ins Gras, lehnten sich an die Bäume, verlangten Essen und Trinken, wenigstens zu trinken, und leckten ihre Wunden. Massimo brachte ihnen, was im Haus war, er lief und holte Wein, brach Brot, schnitt Schinken und Salami ab. Verstohlen schielte er zu Severina. Die verließ zunächst nicht das Haus. Ob sie merkte, was ihm, ehe ihn der Wein davon ablenkte, bewußt wurde: daß er das nicht für diese vier vom Wind zerfetzten Vogelscheuchen tat, sondern nur für sie, die schließlich dem Genörgel ihrer Begleiter Einhalt gebot. Man habe Spaß gewollt und man habe Spaß, und wer keinen habe, der solle hinuntergehen, dort sei der Weg. Sie habe und wolle Spaß. Was man denn mehr wolle als Wein und Brot und Käse und Schinken und einen solch großzügigen Gastgeber?! Sie sprang an Massimo hoch, der nicht wußte, wie ihm geschah, der noch Zurückhaltung übte, um Severina nicht zu verletzen,
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schlang die Arme um seinen Hals und ihre Beine um seine Hüften und küßte ihn auf den Mund. Davon will ich mehr, dachte er. Er schaute ganz kurz zum Haus, sah Severina zum Schuppen gehen, drehte Renata herum, so daß sie etwas weggeschleudert wurde und mit den Füßen wieder die Erde berührte und es binnen einer Sekunde so aussah, als habe sie sich gerade einmal um nicht zu fallen auf ihn gestützt. Sie quittierte das mit einem schallenden Lachen, das ihre schiefen Schneidezähne zeigte, was Massimo schon von Anfang an sehr gefiel. Severina verschwand im Schuppen. Sie schien nicht sehen zu wollen, was sie ahnte und was Massimo bereits wußte: er war verloren, hatte seinen Widerstand, wenn überhaupt einer da war, aufgegeben, es geschah mit ihm, was geschehen mußte. Renata gebrauchte ihn, saugte ihn aus, trieb ihm seinen Verstand aus dem Hirn und das Blut in den Kopf. Er lieferte sich ihr aus, das machte sie süchtig. Auch sie wollte mehr von ihm. Sie wollte den ganzen, in ihren Augen holzgeschnitzten, sonderbaren, charmanten, starken Mann. Selbst die Alte, seine Mutter, schaute befremdet von der Hausbank herüber, sie kannte den Sohn so nicht, den geliebten Sohn, der doch immer alles richtig machte, ihr einziger, der allerdings, das dachte sie sich immer wieder, anders ist als andere, verwegener oft, entschiedener, von vielen bewundert, beneidet auch. Er hatte sich diese Severina ausgesucht, was sie überhaupt nicht verstanden hatte, denn alle Frauen hätten ihn gewollt, stattlichere, reichere, lebenslustigere als die, die er sich ausgesucht, der Schwester vorgezogen hatte. Jetzt schickte die Alte ein paar Seufzer zum Himmel. Was tat er da? Was geschah da mit ihm? Sie, die gern mit krächzender Altweiberstimme mitsang, wenn er mit den anderen Männern die bekannten Lieder andachtsvoll, in korrekter aufrechter Haltung mehrstimmig zelebrierte, schwieg jetzt, da er die Lieder an diese Fremden verriet. Sie schwieg, und es beschlich sie eine unbestimmte Angst, eine Angst, die sie immer gehabt hatte, wenn er als Kind anders sein wollte als andere Kinder. Sie hatte jetzt Angst, es könnte sich etwas verändern, er könnte sie und Severina verlassen, sie beide hier oben allein lassen, 165
was nicht gut wäre, denn es war von Anfang an eine Kluft zwischen ihnen, ein Machtkampf, den sie immer wieder durch kleine Einmischungen, Zweifel, Seitenhiebe und Sticheleien entfachte. Wäre das, was da passierte, möglich gewesen, wenn sie nach dem so früh gestorbenen Kind weitere Kinder gehabt hätten? Würde er einen Sohn verlassen? Sie schwieg, starrte auf das Geschehen, sah, daß sich Severina in dem Maße diesen Besuchern entzog, in dem Massimo sich ihnen hingab. Er sang, lachte, trank, war außer sich, tanzte sich in eine andere Welt und hatte selbst das Gefühl, seinem Leben hier oben verlorenzugehen. Die Trunkenheit ließ ihn leichtfertig werden. Irgendwohin wird das führen, hinunter ins Tal, vielleicht noch in die Bar zu Teresa. Und morgen wird ein anderer Tag sein. Er hing wieder am Seil, Gewitter zog auf, er flog, flog den Vögeln gleich über die kleinen Täler, die Hügel, die Almen, die Häuser und Hütten, über Oggia, den verlassenen Ort, hinweg, irgendwohin. Er flog! Und jeder konnte es sehen!
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Schon in der Nacht ist Schnee gefallen. Der Gipfel der Madonnina ragt weiß verzuckert in den blauen Himmel, ein bleicher Geisterfinger, plötzlich weit entfernt, unbezwingbar scheinend, abweisend. Kalt ist es geworden. Der Schnee wird hier oben liegenbleiben. Früher noch als im letzten Jahr, als wollte er ein Zeichen zum Aufbruch geben, ist der Winter über die Berge gekommen. Selbst die silbrigen Bäume scheinen zu frieren. Sie haben jetzt etwas Unnahbares, wollen allein sein mit dem kommenden Winter. Massimo sichert und versperrt das Brennholz, räumt Gerät in den Schuppen, schlachtet die beiden Kaninchen, die er nicht lebend mit ins Tal nehmen kann, treibt die Ziegen und Schafe im Hof zusammen, die jetzt aufgeregt herumschauend das letzte karge Gras an den Rändern des Hofes und unter den Bäumen abfressen und erwartungsvoll blökend dessen harren, was die Älteren unter ihnen schon kennen, den Abstieg ins Tal, hinunter zu den wärmeren Ställen, dem frischen Heu, den anderen Tönen, die an ihre Ohren dringen. Severina hat den Kamin gereinigt, die Stube und die Kammer gefegt, Ordnung geschaffen, die letzten Vorräte in einer Kiepe verstaut, das Bett abgezogen, die Wäsche oben auf die Kiepe gepackt und das Hochzeitsfoto darin eingewickelt. Fast zärtlich ist sie damit umgegangen, denn es hat für sie wieder einen Sinn bekommen. Bald wird es still hier oben sein. Die Bäume werden ihre Art von halbwachem Winterschlaf machen, die letzten, steifgefrorenen Blätter verlieren, ihre Säfte in den Boden ziehen und den kalten Winden trotzen. Stumm verrichten Severina und Massimo das Gewohnte, das nur Unterbrochene, das Wiedergewonnene. Sie müssen nicht sprechen. Sie sind noch gebannt von dem Frieden, den sie geschlossen haben, von diesem Wiederfinden ihres gemeinsamen Lebens, und sie spüren beide, daß sie der über das Land ziehenden Kälte eine Wärme entgegenzusetzen haben.
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Denn er ist heimgekommen! Was sie jetzt spüren, werden sie sich nie sagen, denn sie haben sich dergleichen nie gesagt, keine Wörter dafür gehabt, geschweige denn große Worte. Severina hat in ihrem Unglück nicht gesprochen. Massimo hat gesprochen in seinem Unglück, das er für Glück hielt, er hat sie zum Sprechen gebracht, jetzt können sie beide schweigen. Es ist alles gesagt. Es ist alles geschwiegen. Ein kleiner Troß, eine Karawane, entfernt sich vom Hof. Die Tiere zuvorderst, die den Weg kennen und ihn den jungen zeigen, dahinter Massimo, hochbeladen mit allem, was man nicht hier oben lassen will, hinter ihm Severina mit der ebenfalls hochbeladenen Kiepe. Er ist wiedergekommen, zu ihr zurückgekommen, hat seinen Platz neben ihr wieder eingenommen! Immer wieder geht dieser Gedanke durch Severinas Kopf. Auch jetzt, da sie seine breite Gestalt vor sich sieht, die Kiepe auf seinem Rücken, die beiden abgezogenen, leicht angefrorenen Kaninchen, die darunter baumeln, da sie Mühe hat, seinen Schritt mitzuhalten, erfüllt sie Wärme darüber, daß er da ist, und sie gibt sich dem glückseligen Gefühl hin, dieser heimlichen kleinen Verstiegenheit ihres so lange bangen Herzens, zu der man nur im Glück fähig ist, daß sie eigentlich nie wirklich daran gezweifelt hat, daß er wiederkommt. Sie ist voller Hoffnung, Stolz und Selbstbewußtsein. Sie weiß nicht, ob sie noch einen Winter hier oben hätte zubringen können, ob sie die Kraft dazu gehabt hätte. Sie weiß nicht einmal genau, wo sie die Kraft hernahm, den letzten durchzustehen. Aus Traurigkeit, Verzweiflung und Einsamkeit allein kann sie nicht gekommen sein. Es muß doch diese kaum sich selbst eingestandene Gewißheit gewesen sein, ein kleines Licht in der Dunkelheit des Winters, das wärmte. Für Massimo, der kräftig einherschreitet, die Tiere immer wieder auf den Weg treibend, wenn sie allzusehr abschweifen, ist die Welt wieder in den Fugen. So muß es sein, wie es jetzt ist. So hätte es immer sein müssen, daran hätte sich nichts ändern dürfen, denn es war doch über die Jahre gut so gewesen. Er weiß sie hinter sich, hört ihre Schritte, ihr Keuchen, glaubt, 168
ihren Atem, ihren Körper, ihre Wärme zu spüren, dieses ganze Glück seines Wiederangekommenseins, diese Zuversicht, dieses Heimkehrergefühl, von dem die Alten erzählen, die lange im Krieg waren. Massimo weiß, es ist nicht gut, von hier wegzugehen, wofür und warum auch immer. Aber warum hat er es doch getan? Was war es? Was hatte ihn dahin gebracht, diesem flatternden Vogel nachzujagen und damit sein ganzes Leben aufs Spiel zu setzen? War es der Sprung des kleinen Jungen über den Bach mit der Chance, ins Wasser zu fallen oder doch am trockenen Ufer zu landen? War es das Andersartige, das Fremde, das nicht zu Lebende und Gelebte, das er heimlich immer gesucht hat, weil ihm das Bekannte und Gewohnte, das Lebbare zur langweiligen Selbstverständlichkeit geworden war? War es das, was man Abenteuer nennt und in den Kinderbüchern mit heißen Ohren gelesen oder später im Fernsehen gesehen hat, die andere Welt? War es das Fliegenwollen, der Traum seit der Kindheit, das Gefühl, das er hatte, als er sich bei aufziehendem Gewitter an das Holzbündel hängte und, mit seinem Leben spielend, der Todesgefahr in der Tiefe gewahr, übers Tal zum anderen Hügel, zum Dorf hinüberschwebte wie sonst kein Mensch je zuvor hier? Es war damals ein Gefühl von unbändiger Kraft und Überlegenheit, von Übermenschlichkeit. Er flog einem Vogel gleich übers Tal. Es war ein Sieg über die eigene Angst. Und die Bewunderung war ihm sicher. Glaubte er, ihm, der in dieser Welt Außergewöhnliches tat, könnte in der anderen, außergewöhnlichen Welt nichts mehr passieren? Oder war es tatsächlich nur diese Frau, dieser exotische Vogel? Waren es ihre schiefen Vorderzähne, die sie zeigte, wenn sie lachte, waren es ihre grünen Augen, ihre kleinen Brüste, der betörende Duft aus Schweiß und Parfüm, der aus ihr aufstieg, ihr heißer Atem an seinem Hals, als er sie zum Gipfel der Madonnina hinauf- und wieder heruntertrug, ihre sanften, weichen Hände, die sie in sein Hemd schob? Sicher, es war all das, was ihn gehen ließ. Und daß er blieb, das waren die vielen Nächte dort bei ihr im Bett, die ihn so betörten, ehe sie Demütigungen und Beschimpfungen wichen. Ob er es will oder nicht, wieder und wieder denkt 169
er an den zarten, zerbrechlichen Vogelkörper, für den er sein bisheriges Leben verraten hatte. Und was wäre gewesen, wenn sie sich nicht so grundlegend geändert hätte? Hätte es überhaupt ein Erwachen, ein Nachdenken, eine Sehnsucht zurück gegeben? Hätte Alessandro da etwas ausrichten können? Wäre er dann jetzt hier, würde er jetzt vor Severina mit hochbepackter Kiepe ins Tal gehen, voller guter Hoffnung auf einen warmen Winter unten im Dorf? Er wagt es nicht, diesen Gedanken weiter nachzuhängen. Da wird das Denken gefährlich. Der Schnee zeigt den Weg, den sie gehen. Severina versucht, in Massimos Fußstapfen zu treten. Als Kind hat sie das immer getan, wenn sie im Winter hinterm Vater herging. Springen mußte sie damals, um in seiner Spur zu bleiben. Und auch jetzt gelingt es ihr nicht lange, Massimos Schritt mitzuhalten. Da ist er! Er ist heimgekommen! Ob er noch an diese Frau denkt? Ob ihm so etwas noch einmal passieren wird? Severina denkt diese Gedanken nicht zu Ende. Sie will verzeihen und vergessen, vor allem vergessen. Sie will ihm ihr Vergessen zeigen. Sie weiß nicht, wie es unten im Dorf sein wird. Sie will ihnen allen da unten entgegenschreien: Er ist wieder da! Ja, sie wird vergessen. Die Zeit wird gnädig sein, wird die Spuren bis zur Unkenntlichkeit verwischen. Aber nie mehr wird Severina jenes Gesicht vergessen. Ein Gesicht, das alle Niedertracht und Dummheit, allen Hochmut und alle Machtanmaßung, zu der ein Mensch fähig ist, in sich vereint. Das Gesicht des jungen Carabiniere Adriano Rossi auf der Wachstation unten im Tal.
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