Obsidian-Zyklus Nr. 11 von 12
Die Macht des von Michael H. Buchholz Mein Zellaktivator pochtein einem furchterregenden...
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Obsidian-Zyklus Nr. 11 von 12
Die Macht des von Michael H. Buchholz Mein Zellaktivator pochtein einem furchterregenden, beinahe schon schmerzhaften Rhythmus; er sandte Stoßwelle um Stoßwelle an belebenden Impulsen durch meinen Körper, pumpte Vitalenergiein nie gekannterMengein mich hinein - und doch war ich längst auf meine Knie niedergesunken und schaffte esgeradenoch, mich mit den Ellenbogen aufzu stützen. Sämtliche Kraft schien mir binnen weniger Sekunden aus allen Muskeln gesogen worden zu sein. Ich hob mühsam eine Hand, wollte rufen, Tamiljon warnen, irgendetwas tun; doch ich brachte nur ein hilfloses Röcheln zu stande.
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Michael H. Buchholz
1.
Atlan: 30. April 1225 NGZ Vinara - Canyon der Visionen Das Knistern der Luft wuchs bedrohlich an, steigerte sich in genau dem Maße, wie mir das Atmen immer schwerer fiel. , Kristallflitter tanzten wild vor meinen Augen, vollführten einen die Sinne verwirrenden Reigen in dem grellweißen Licht, das von dem schräg links vor mir sich am Boden ausbreitenden Juwelenfeld ausging... Zuckende Reflexe, wirbelnde Schatten. Zwei ineinander verkrallte Gestalten, die verbissen miteinander rangen. Tamiljon und Litrak. Ein Sterblicher und ein angeblicher Gott. Steine kollerten, Kies und Erdbrocken spritzten weg, als die beiden Kämpfenden einen kleinen Hügel hinunterrollten, genau in Richtung des Juwelenfeldes. Etwa sechs, acht Meter. Dann fanden T amiljons Stiefel rutschend Halt. Er stieß Litrak so heftig von sich, dass dessen Gottesanbeterinnengestalt sich dabei mehrfach überschlug und gegen einen einzelnen, scharfkantigen, etwa mannshohen Felsen krachte. Keuchend bückte der Schwarzhäutige sich, nahm Anlauf und rammte dem ehemaligen Untoten Gott den haarlosen Kopf mitten gegen die schmale Brust. Litrak schrie. Etwas knackte unüberhörbar in dem beinahe durchsichtigen Insektenkörper. Tamiljon brüllte auf, umfasste die vorgestreckten, mit Dornen versehenen Fangbeine des Gegners, bog sie unter großer Anstrengung zurück - und ließ sie augenblicklich wieder los, wich dem plötzlich vorschnappenden Mund mit den scharfen Beißwerkzeugen aus. Litrak wimmerte; einer der großen Flügel hing in einem grotesken Winkel herab. Trotz seiner Verletzung sprang er
auf, umklammerte im nächsten Moment mit allen Beinpaaren den Oberkörper seines Kontrahenten. T amiljons Arme wurden eng an den Leib gepresst. Der Schwung warf ihn hintenüber. Sein Kopf verfehlte knapp die Kante des Felsens und schlug mit umso stärkerer Wucht gegen einen am Boden liegenden Brocken. Nun war er es, der vor Schmerzen schrie. Litrak hockte wie ein chitinener Albtraum auf seiner Brust. Aus dem zu einem wütenden Fauchen aufgerissenen Mund rieselten feinste Kristalle. Tamiljon bekam irgendwie die Arme frei, wälzte sich halb herum, konnte Litrak aber nicht abschütteln. Wieder rollten sie ineinander verkrallt über den Boden. Immer näher heran an die gleißenden Juwelen. Ich spürte, dass von den hier verstreuten Juwelen eine nicht einschätzbare Ge fahr ausging. Sardaengars beschwö rende Warnung, die er mir mittels einer Holoprojektion in der Silbersäule gegeben hatte, war unmissverständlich gewesen: »Sollte Litrak jemals der Falle entkommen, wird dieser Bereich der Taneran-Schlucht sein erstes Ziel sein.« Litrak durfte nach allem, was ich wusste oder zumindest teilweise verstand, die Juwelen auf keinen Fall erreichend Ihr Leuchten flackerte immer stärker auf, je näher die beiden Kämpfenden dem Feld der bis zu kopf großen Kristalle kamen. Ich sah Licht aufblitzen, ohne die genaue Quelle ausmachen zu können; vereinzelte Strahlen zuckten in Richtung der beiden Gestalten, wurden schillernd von den Flügelpaaren Litraks zurückge worfen. Zu meinem Entsetzen hörte ich Tamiljon lachen. Es klang wie das hysterische Kichern eines Irrsinnigen. Wieder zuckten Lichtstrahlen aus d.em Juwelenfeld empor, begleitet von einem unwirklichen Knacken und Knistern, das immer mehr in ein stakkatohaftes Knattern überging. Wie Überladun gs
Die Macht des Kristallmondes 5
Was bisher g esch ah: Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Qentauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den
zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der
»Außenwelt« aus nicht zugänglich.
Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf
der sogenannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an
die »Vergessene Positronik«. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden dieMilchstraße, ohne dass
Aufgabe und Herkunft bekannt sind.
Ein Transmittersprung geht schief-Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Posi tronik«.
Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen.Doch es kommt zu
einer nicht gewollten irartsition.
Sowohl Atlan als auch dieTOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebietdes Universums her aus - eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer
Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist.
Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab.Die Besatzung wirdgerettet und von ei genartigen Robotern in Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche
nach dem unsterblichen Arkoniden.Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung
zum Hauptkontinent Viina.Nachdemihr Boot kentert,setzen die Gefährtenihren Weg ins Land der Silber säulen mit einer Dampflokomoti ve fort.
Atlan und den Archivar Jörge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden inZwistigkeiten der Afalharo
verwickelt und müssenin der Folge fliehen.Dabei geraten sie in dieFänge termitenähnlicher Tiere, die sie
in Kokons spinnen.
Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit.Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie
nach VinaraDrei befördern soll. Tamiljon muss unter allenUmständen dorthin gelangen, da eine Mission
von größter Bedeutung davon abhängt.
Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle«in einen Hin terhalt. Sie können fliehen und erreichen dieTaneran-Schlucht amRand von Mertras, dem Land der Silber säulen. Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen sie ihre beschwerlicheReise zur Gebirgsfestung Grataar fort.
Zur gleichenZeit befindet sichAtlan auf VinaraDrei in höchster Not.Der Arkonide ist inBegleitung Tamiljons
und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur Casoreen-Gletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit
den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und befreit Litrak aus sei nem Gefängnis.
Auf der Flucht aktiviert der Kristallene verborgene Aggregate, die die Stadtim Eis zum Leben erwecken. Ein
Ruck geht durch den Eisboden. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechen den Eisbrocken erschlagen zu werden. Sie rettensich in die Mitte der Stadtin der Hoffnung, dort Schutz zu finden. Eine Transition versetzt Atlan undTamiljon in ei neunbekannte Gegend und nicht, wie erhofft,in den »Canyon der Visionen«. . Lethem da Vokoban und seine Begleitertrauenihren Augen nicht, als die totgeglaubte Li daZoltral plötzlich auftaucht. Viel Zeit, umsich von dem Schock zu erholen, bleibt ihnen nicht. Gemeinsam versuchen sie, die Oberfläche der Technostadt zu erreichen. Der 2. Pilot der TOSOMA wird mit seinen Gefährten von der alles umfassenden Schwärze verschlungen. Vinara II löst sich auf, der Weltuntergang ist nicht mehr aufzuhalten.
Währenddessen scheint Atlans Kampfgegen die Braune Pest aufVinara V aussichtslos. Die Stadt Yandän
steht kurz vor der Zerstörung, überall breiten sich brauneFlecken aus. Der Unsterbliche steuert ein Obsi diantor an, die einzige Rettung...
Mit Xyban-K'hir finden Atlan undTamiljon einen Verbündeten beim Kampfgegen den Untoten Gott Litrak.
Das Pflanzenwesen hat wichtige Informationen für den unsterblichen Arkoniden.
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Michael H. Buchholz
blitze griffen Lichttentakel nach dem Körperknäuel, das T amiljon und Litrak bildeten. Die Luft vibrierte; ich glaubte Ozon zu riechen. Ich sah Teile von Tamiljons Kleidung verschwinden. Es wirkte, als würde sein Äußeres im Licht der Juwelen regelrecht verdampfen. Zuerst lösten sich nur ein zelne, kaum fingergliedgroße Stellen auf, doch dann wuchsen die entstehenden Löcher rasend schnell aufeinander zu. Selbst harte und schwerere Kleidungs teile wie die Ärmelabschlüsse oder die verstärkten Schulterpolster waren von dem unerklärlichen Phänomen betrof fen. Als würden sie von einer Säure weg gefressen oder von einem Desintegrator aufgelöst, verschwanden der lederne Overall, die T aschen daran, die Unter wäsche, zuletzt der handbreite Gürtel und die wa denhohen Schnürstiefel. Auch das Nanomodulhalsband zerfiel, als hätte es nie existiert. Darunter kam Tamiljons pechschwarze Haut zum Vor schein, doch nicht sie allein. Ich sah es jetzt überall auf seinem Kör per glitzern wie von Diamantstaub. Wie der waberte Licht in wahren Kaskaden heran, traf die Kämpf enden, umlohte sie als bläulich weiß gleißende Flamme. Ta miljon lachte abermals furchterregend, während Litrak hilflos mit den Flügeln schlug und dabei erbärmlich schrie. Ob wohl ich beide Körper für den Moment nur noch als Silhouette wahrzunehmen vermochte, konnte ich Litraks Umrisse im Licht der Juwelen schrumpfen sehen. Die ersten funkelnden Edelsteine be fanden sich nur noch etwa zwei oder drei Meter von den sich am Boden Wälzenden entfernt. Wieder wollte ich mich aufrichten, wieder wollte ich - irgendwie - die Kämpfenden aus dem Bereich des Juwe lenfeldes zerren, und wieder war es, als entzöge mir eine unsichtbare Macht meine gesamte Kraft. T amiljon war es
nicht allein; viel mehr noch als er schwächten mich die über den Boden verstreuten Edelsteine. »Weiter ... nach rechts ...« Das war al les, was ich krächzend herausbrachte. Die Juwelen galten in den alten Le genden als die Hinterlassenschaft einer der Auseinandersetzungen zwischen dem »Uralten Sardaengar« und dem »Ewigen Litrak«. Wer den Juwelen zu nahe käme, hieß es, verlöre sich in einem undurchdringlichen Gespinst aus von ihnen ausgehenden Visionen, Träumen und Halluzinationen. Nur diejenigen, die sich den Juwelen nicht allzu sehr genä hert hatten, waren bisher mit dem Leben davongekommen - doch sie waren bin nen kürzester Zeit zu Greisen gealtert, denn die Juwelen raubten jedem Wesen dessen Lebenskraft. Die Visionen hatte ich erlebt, den Ver lust der Vitalenergie erfuhr ich in diesen Augenblicken. Nur mein Zellaktivator schützte mich davor, hier und jetzt zu sterben. Noch... Hilflos musste ich mit ansehen, wie Ta miljons glitzernde Arme den nun nur hoch knapp einen halben Meter großen Körper des Ewigen Litrak packten. Ob wohl der frühere Untote Gott mit allen Bein- und Flügelpaaren zappelte und sich zu befreien versuchte, kam Tamiljon hoch und trug den sich heftig wehrenden Insektenkörper mit drei, vier ebenso ra schen wie unerwarteten Schritten auf das Juwelenfeld zu. »Nein. - Tamiljon ... Nicht!« Er trug ihn hinein! Obwohl wir in den Canyon der Visionen gekommen waren, um genau das zu verhindern. Litrak durfte die Juwelen -niemals erreichen! Doch es war bereits geschehen. Ich schrie unwillkürlich auf - und schloss im nächsten Moment die geblen deten Augen. Das Knistern schwoll zu einem ohren betäubenden Krachen an. Ein Vulkan
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aus purem Licht eruptierte, explodierte, schleuderte seine gleißende Glut nach al len Seiten. Tamil] on stand hoch aufgerichtet zwi schen den f aust- und köpf großen Juwe lenbrocken; er stierte förmlich auf den durchscheinenden Insektenkörper in seinen Armen. Der Schwarzhäutige bebte vor Anstrengung. Und als sei die ses Beben dafür verantwortlich, lösten sich erste Kristallstücke aus dem Körper des Ewigen Litrak und fielen klickend zu Tamiljons Füßen nieder. Dann rieselten weitere Kristallsplitter herab, und plötz lich prasselten sie zu Boden wie haltlos fallende Murmeln, denen das Netz zer rissen wurde. Klackernd rollten sie zwi schen die Brocken des Juwelenfeldes. Litrak, der Ewige Litrak, der Untote Gott im Eis - er war nicht mehr. Tamiljon schwankte. Verständnislos .starrte er auf seine nun leeren, diamantbestaubten Hände. Wie ein verzerrtes Spiegelbild von mir sackte er auf die Knie, wühlte suchend in den Juwelen herum. Lachte, keuchte - und erstarrte. Mit vor Unglauben weit aufgerissenen Augen sah ich, wie die Juwelen um ihn herum sich zu bewegen begannen. Die Kristalle, die eben noch Litraks insekto iden Körper gebildet hatten, verschmolzen mit denen, die schon zuvor dort gewesen waren. Das gesamte Juwelenfeld kam inner halb weniger Sekunden in Wallung. Die Kristalle rollten, rutschten und schoben sich aufeinander zu, übereinander hin weg, ineinander hinein. Sie verschmolzen, bildeten eine einzige glitzernde, ho mogene Masse, die nur einem Ziel ent gegenstrebte: T amiljon. Der »Juwelen brei« erreichte seine Unterschenkel, floss daran hoch, leckte an den Ober schenkeln... Ich kam in einer verzweifelten An strengung auf die Füße. Halb rutschend taumelte ich den Abh ang hin unter,
spürte das schmerzhafte Hämmern des Zellaktivators, hörte das rasende Rau schen des Blutes in den Ohren. Dann glitt ich wieder aus, schaffte es, mich an dem mannshohen Felsen hochzuziehen, tau melte weiter und kam doch zu spät. Tamiljons Körper glitzerte nicht mehr wie nur von Diamantstaub bedeckt. Er erstrahlte tatsächlich von einer ihn über all umhüllenden, vielleicht einen halben bis mehrere Zentimeter dicken »Kruste« von Diamanten. Arme, Hände, Beine, sein kräftiger Rumpf und auch der Hals und Kopf waren mit einer bläulich wei ßen Kristallschicht überzogen, in denen millimetergroße Facetten in • feurigem Glanz funkelten. Das Gesicht war na hezu frei geblieben; doch über den haar losen Schädel zog sich eine dünne Kris tallschicht bis in den Nacken. Von den Fußknöcheln reichte ein fingerdicker Wulst aus Kristallen bis zur Hüfte her auf; ebensolche Wülste zogen sich an den Außenseiten der Arme vom Handrücken bis zum Schultergelenk. Der Rücken- und Brustbereich erin nerte an einen starren Harnisch, der ihm aus massiven Kristallen gewachsen war. Und doch täuschte der Eindruck der Starre. Mit weit aufgerissenen Augen stierte T amiljon mich an, und ich sah, dass er sich trotz des ihn umhüllenden Kristallpanzers bewegen konnte. Er streckte mir einen Arm entgegen und versuchte sich aufzurichten. »Atlan«, hörte ich ihn flüstern. »Mir geht es... Ich kann...« Was immer er hatte sagen wollen, es.verlor sich in einem äch zenden Stöhnen. In Zeitlupe kippte T a miljon zur Seite und fiel mit einem häss lichen Knirschen in den steinigen Sand, noch ehe ich bei ihm war, um ihn zu stüt zen. Scheinbar tot blieb er am Boden lie gen. Ich ließ mich erschöpft neben ihn fal len. Mein Zellaktivator arbeitete nun nicht mehr wie verrückt; er sandte wie
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der erträglichere, beruhigendere, sanf tere Impulse, und ich fühlte, dass meine Kraft bald zurückkehren würde. Für den Moment allerdings war ich matt und erschlagen wie selten zuvor in meinem Leben. Ich fluchte leise; bis fast auf den Tag genau hätte ich vor 51 Jahren noch mei nen Zellaktivator samt der Halskette ab nehmen und Tamiljon auflegen können. Wie stets, wenn ich in den langen Jahr tausenden zuvor Hilfe hatte spenden wollen, hatte das unbegreifliche Gerät aus den Werkstätten der Kosmokraten anderen Linderung und Heilung ge bracht. Seit jenem Tag aber, seit jenem schicksalhaften 21. Mai 1174 NGZ, trug ich den zum Chip umgewandelten Zell schwingungsaktivator unterhalb des lin ken Schlüsselbeins eingepflanzt - auf Beschluss der Superintelligenz ES, wie alle anderen Aktivatorträger auch. Ob dies wirklich so weise entschieden wor den war? Ich wusste es nicht zu sagen. In diesem Moment hätte ich viel für das alte Gerät gegeben.
Während ich, allmählich ruhiger at mend, neben Tamiljons ausgestrecktem Körper lag, sah ich mich um. Da die wilden Lichterscheinungen mit Litraks Ende verschwunden waren, be merkte ich erst jetzt, dass inzwischen Stunden vergangen sein mussten; Längst war es Nacht geworden; doch es wurde nicht mehr richtig dunkel. Der Kristall mond Vadolon stand doppelt lunagroß als leuchtendes Fanal im Süden über dem Canyon der Visionen. Sein wie in Myriaden geschliffener Facetten reflek tiertes Licht warf scharfkantige Schat ten bis auf den Grund der gezackten, breiten Schlucht, die an den Grand Can-: yon auf T erra erinnerte. Schrunde, Klüfte, T errassen, Einbrüche, Abstürze und Fe lsnade ln be stimmten das Bild.
Lotrechte Felswände, Risse, Simse und schroffe Überhänge zogen sich hin, so weit der Blick reichte. An der tiefsten Stelle der Schlucht, rund fünfhundert Meter unterhalb der Ebene, mäanderte das schmale Wasserband des kleinen Flusses T aneran. Zusätzlich zum Mondschein irrlich terte es aus dem silbrig glänzenden Ob sidianring, der sich von Horizont zu Ho rizont über den Himmel schwang. Immer wieder sah ich stecknadelkopfgroße Ex plosionen auf der Mondoberfläche auflo dern - Trümmer des Obsidianrings, die mit Vadolon kollidierten. »Wir müssen hier weg. Bald ist es zu spät«, murmelte ich und beobachtete eine rasend schnelle Leuchtspur am Himmel. Willkommen im Klub der Einsichti gen, meldete sich plötzlich lakonisch der seit Stunden schweigsame Extrasinn zu rück. Ein kaum hörbares Rumoren lag in der Luft, untermalt von fernem Grollen und Donnern. Jenseits der Felshänge des Canyons und hinter den Bergen erkannte ich ein düsteres Glühen; ein unheilvolles Glosen, das ich im Laufe meines Lebens fürchten gelernt hatte: So sahen eruptie rende Vulkane aus der Ferne aus. Ein jäher Wind brachte den Geruch nach Asche mit sich; dort, woher das Grollen und der Wind zu stammen schie nen, ballten sich gewaltige Wolkentürme zusammen, hinter denen es schwefelgelb wetterleuchtete. Binnen weniger Minu ten frischte der Wind fast bis zu Sturm- ' stärke auf. Schwarze Wolken quollen über den Rand des Canyons und entlie ßen schmierige, rußige Tropfen. Ich beugte mich über Tamiljon und versuchte ihn wieder zu beleben - verge bens. Seine Arme und Beine ließen sich bewegen und wurden von der Kristall schicht nicht behindert. Die Kristalle schienen an den Gelenken ineinander zu fließen oder waren für den Moment der
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Bewegung nachgiebig, um gleich darauf wieder zu erhärten. Der Extrasinn blieb stumm. Ich massierte Tamiljons Brust, bis ich mich an einem der Kristalle schnitt. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung ver lief ebenso ergebnislos wie das letzte aller Wiederbelebungsmittel - Tamil] on steckte die Ohrfeigen weg, als hätte ich sie ihm nicht gegeben. Als der warme Regen heftiger wurde, glaubte ich, Tamiljons Brust bewege sich von allein. Aber es mochte auch der Schlamm sein, der mit dem Regen an uns niederfloss und der meine Augen täuschte. Ich fühlte nach seinem Puls, doch fand ich ihn ebenso wenig, wie ich Tamiljons Atem spürte. Er lag weiter da wie tot, und ich konnte lediglich seinen Kopf mit meinem vorgebeugten Ober körper vor dem prasselnden Schlammregen schützen. So plötzlich, wie der Regen gekommen war, zog er vorüber. Tamiljon und ich sahen aus, als hätten wir uns im tiefsten Schlamm gewälzt. Von allen Seiten rauschte das schmierige Wasser herab und sammelte sich in T ümpeln, an den tieferen Stellen des Canyons ergoss es sich in den T aneran. M ittler we ile schwoll das Flüsschen bedenklich an, und obwohl wir uns gut zweihundert Meter von seinem Ufer entfernt befan den, hörte ich das Schäumen der Wellen. »Noch ein oder zwei dieser Wolken brüche, und ich werde dich schwimmend bergen müssen«, murmelte ich. »Bloß wohin?« Am Himmel zogen etliche Lichtfäden sich kreuzende, feurige Spuren, gefolgt von drei breiten, glühenden Meteoriten bahnen. Ein wiederholtes helles Sirren schnitt durch die Atmosphäre, gefolgt von mehrfachem, scharfem Knall. Noch während ich den allmählich verwehen den Feuerspuren nachsah, bebte der Grund des Canyons. Einschlag, kommentierte der Extra
sinn. Was immer du vorhast, beeil dich damit. Diese Welt liegt im Sterben. Hinter uns rutschte bröckeliges Ge stein mit lautem Getöse den Steilhang hinab. Wieder setzte ein kurzes Beben ein, weiteres Geröll rieselte nach; und dort, wo die feurigen Meteoriten hinter dem Horizont verschwunden waren, glühte es, unter tief hängenden, heran quellenden Staubwolken, rot wie Blut. Die teils rötlichen, teils braunen Steil wände des Canyons erzeugten in dem flackernden Leuchten ein verwirrendes Schattenspiel. Bizarre Schwärze sprang unvermutet hinter eben noch scharf um rissenen Felshängen hervor. Es war, als winde sich der Canyon wie eine viele hundert Kilometer lange Rie sen schlange. Ein nahes Donnern rollte die Schlucht entlang, echote beinahe minu tenlang, ehe es verebbte. Wieder ein Sirren, eine neue Glut bahn, diesmal weiter entfernt - ein Me teorit, der fast genau im Norden zer barst. Abermals hatte uns ein Einschlag verfehlt. Als der ohrenbetäubende Knall die Wände des Canyons erbeben ließ, bilde ten sich in dem großen Tümpel unzählige konzentrische Ringe. In diesem Moment schälten sich aus dem Nichts heraus verschwommene Ge stalten ... 2. Lethem: 30. April1225 NGZ Irgendwo Ich ... ich bin ... ich bin ich ... Lethem klammerte sich an .diesen Ge danken wie ein Ertrinkender an ein zu leichtes Stück Holz. Der Schmerz war die Schwärze - war der Schmerz die Schwärze ... Die Wand war jenseits von Eben. Und der schwarze Schmerz war - was? Zu unerträglich, um bewusstlos zu werden?
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Ich bin ... ich bin ich ... ich bin nicht... Nicht was? Nicht - tot? Verwundert stellte Lethem fest, dass er dachte. Gleichwohl sich der Schmerz, unter dem er seit dem Moment litt, da ihn die Wand aus obsidiandunkler Finsternis verschluckt hatte, immer weiter stei gerte, immer höhere Sphären erklomm, deren namenloses Leiden jenseitig war... Obwohl dies alles geschah, gab es kein Ende, keinen Abbruch, keine Stille, kei nen Tod. Es gab ... Zeit. Momente, die quälend langsam ver strichen - angefüllt mit unsäglicher Pein, doch immerhin angefüllt mit etwas, das er erleben konnte. Lethem klammerte sich an den Schmerz, bekam Angst, ihn zu verlieren, fürchtete sein Nachlassen, weil dieser Schmerz alles war, was er noch hatte. Weil er das Einzige war, was er erleben konnte. Völlige Finsternis umgab ihn. Und der Schmerz war die Schwärze - war der Schmerz inmitten der Schwärze. Der vertrauter wurde mit jedem Mo ment und ihn an irgendetwas erinnerte... Transition!, dachte Lethem. Es ist eine Art Transition. Ich fühle alles, weil ich nichts mehr bin. Einmal, nur ein einziges Mal, während seiner Ausbildung als Raumpilot hatte er, Arkons Göttern zum Dank, eine sehr weite Transition ohne Strukturabsorber durchführen müssen. Und jene Entzer rungsschmerzen waren mit diesen hier nicht vergleichbar - o nein! -, aber ver wandt gewesen ... Doch wenn dies hier eine Transition war, dann dauerte sie ewig. Lethem hatte zwar jedes Zeitgefühl verloren, er ver mochte die Anzahl der durchlittenen Momente nicht in Sekunden, Minuten oder Stunden zu denken, aber da war, in mitten all der Schwärze, ein Eindruck von zurückgelegter Distanz ... Der Übergang geschah so abrupt, dass
Lethem ihn als Nullzeit, als eine Art Ruck empfand. Plötzlich fühlte er seinen Körper wieder, und es war ein so un glaubliches, fast berauschendes Gefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte und für das er keinen Namen kannte. Er stol perte unwillkürlich und spürte fassungs los, dass er stolperte. Er sah seine Hände an und fühlte sie; nichts war ihm wich tiger, als dem Schlagen des eigenen Her zens unter seiner Knochenplatte zu lau schen. Dann wurde .er sich seiner Umgebung bewusst. Er stand am Grund der T a neran-Schlucht. Oder doch nicht? Die Geländeformation war die gleiche: eine breite, gewundene, viele hundert Meter tiefe Schlucht, ausgewaschen in Millio nen von Jahren, dem Grand Canyon Ter ras zum Verwechseln ähnlich. Und doch ließ etwas an dem Bild Lethem zweifeln. Dies war nicht die T aneran-Schlucht. Zumindest nicht jener Abschnitt, den er kannte. Handelte es sich um den Canyon der Visionen? Erst jetzt bemerkte Lethem die vor ihm liegende Gestalt. Sie war nass und schlammbesudelt; aber dort, wo die Nässe den Schlamm fortgewaschen hatte, erblickte Lethem Kristalle. Fast die gesamte Hautoberflä che des reglos liegenden Mannes schien mit Kristallen bedeckt zu sein. Ein zen timeterdicker Panzer verbarg Rücken und Brustbereich, wulstartige Kristall stränge mit kleinen Verästelungen zogen sich entlang der Beine und Arme, und selbst der völlig haarlose Schädel fun kelte und schimmerte im Licht des glei ßenden Mondes. Also bin ich zurück auf Vinara, dachte Lethem mechanisch. Die wenige Haut, die zwischen den Kristallgewächsen des Mannes noch sichtbar blieb, war pechschwarz. Wer war er? Wie kam er' hierher? Ein Geräusch hinter der am Boden lie
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genden Gestalt ließ Lethems Blick nach oben zucken. Dann erst gewahrte er den zweiten Mann, der hinter dem leblosen Wesen stand. Und Lethem erkannte, wie sehr sein Verstand durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit in Mitleiden schaf t .gezogen worden sein musste. Denn er glaubte Atlan vor sich zu se hen, in einer völlig verdreckten, abgeris senen Montur. Mit nassen, schlammbe deckten Haaren und rußverschmiertem Gesicht. Ja sicher, dachte er noch, ehe er be wusstlos zusammenbrach. Übergang Der Wechsel kam in der Nacht. Es war das unruhige Scharren der Kornkäfer, das Gamondio geweckt hatte. Er streckte den Kopf ins Freie und gähnte. Das Dung-Feuer vor dem Zelt war ausgegan gen. Vedoco, der Wache hatte, war nir gends zu sehen; offenbar sah er bei den Reittieren nach dem Rechten. Wieder vernahm Gamondio Geräusche bei den Dendibos, roch ihre Anspannung, die mit dem leichten Wind herüberwehte. Ner vöses Klacken der Geweihe, ängstliches Schnauben. Vielleicht nächtliche Jäger. Treiberechsen? Doch bis auf die Unruhe war alles, wie es sein sollte. Vor dem Lager erstreckte sich die weite Afal-Savanne - T ulig-Gebiet. Der Stamm der Afalharo lagerte jetzt östlich von der Karawanserei Zarband. Gamon dio und Dendia waren glücklich, wieder daheim zu sein. Es hatte Trauergesänge gegeben und Gebete; und manchen guten Wunsch hatte er insgeheim jenem Frem den mit den weißen Haaren nachgesandt, der ein Bote oder was auch immer gewe sen sein mochte ... Und bei aller T rauer über die bei dem T ermitenangriff Gefal lenen - es war ihnen auf dem Rückweg gelungen, ein paar wilde Dendibos z u
fangen, junge, kräftige Tiere, zwei Weib chen und drei -Bullen. Günstige Zeichen für die Z ukunft, sollte man meinen. Wenn da nicht Dendias Visionen von der schwarzen Schlange gewesen wären, die die Sonne zu verschlingen drohte. Dann erst bemerkte der noch schlaf trunkene Gamondio die Helligkeit, sah die scharf gezeichneten Schatten, die von einem unwirklichen Licht in seinem Rücken erzeugt wurden. Ungläubig trat er ein paar Schritte zur Seite und starrte den riesenhaften Mond an, der am Him mel stand und wie ein Edelstein funkelte. Einen Mond, der nicht dorthin ge hörte. Nicht an diesen Himmel. Nicht an den Himmel seiner Heimat. Und er sah das weiß glitzernde Band, das sich von Horizont zu Horizont über das gesamte Firmament spannte. Sah, wie sich immer wieder Bruchstücke daraus lösten. Der Horizont schien an manchen Stellen in einem düsteren, unheilverkündenden Rot zu glühen. Pechschwarze Wolken schoben sich heran, und in der Ferne rumpelte es wie bei einem sich nähernden Gewitter. Heiß war der Wind. Und feurige Speere stürzten vom Himmel. Brandgeruch lag in der Luft. Das war ganz und gar nicht, wie es 'sein sollte. »Dendia!«, brüllte er, um die Schama nin im Zelt zu wecken. Dann eilte er hin über zu den Dendibos. Er fand die Tiere unbeaufsichtigt vor, nervös und einer Panik nahe. »Verdorbener Dendibokot! Wo steckst du, Vedoco?« Der Häuptling der T ulig rief nach ihm. Immer wieder. Er hastete von Zelt zu Zelt, rief und suchte. Doch der junge Krieger blieb unauffindbar. Als hätte es ihn nie gegeben. Und auch nicht Dendia, Amia, Fideco, Riselmo, Viegia und die meisten anderen Stammesangehörigen. Etwas hatte sie - verschwinden lassen. Ihre Zelte waren leer. Das Lager war zum größten Teil verwaist. Jemand kam langsam herbei und legte
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dem verzweifelten Häuptling eine runz lige Hand auf die Schulter. Es war Hir quio, der Älteste des Stammes. Er schüt telte stumm den Kopf. Verzog das faltige Gesicht. Jedes Suchen war sinnlos. Die Endzeit war gekommen. Wie Den dia es prophezeit hatte. Und über ihren Häuptern stand dro hend der fremde Mond. 3. Atlan: 30. April 1225 NGZ
Vinara - Canyon der Visionen
Was ich sah, konnte nicht sein. Wieder machte der Canyon der Visionen seinem Namen alle Ehre. Er überschwemmte mich mit Trugbildern meiner eigenen Fantasie. Ich sah die Gestalten aus einem Flirren, aus wogender, undurchsichtiger Luft hervortreten. Verschwommene Kon turen wurden zu festen Körpern. Da war ein riesenhafter Springer mit schulterlangem rotem Haar, zu Dutzen den Zöpfen geflochten, mit einer zwei schneidigen Axt in der Hand ... Da war ein Luccianer, massig und muskulös ... Meine Vision machte aus ihm Zanargun, den Leiter der Abteilung Außenoperationen der TOSOMA. Da war auch ein schwitzender T erra ner, der bis auf das letzte seiner dunkel blonden Haare unserem Scaul Falk glich. Seine Aufgabe war die Überwachung der internen Schiffskommunikation ... Und da war ein Arkonide, der in mei ner Vision zu Lethem da Vokoban wurde, dem 2. Piloten der TOSOMA ... Wie ein Kind starrte er auf seine Hände, als sähe er sie zum ersten Mal. Trugbilder. Halluzinationen. Illusio nen. Immerhin Visionen mit Spiegelbildern, wisperte der Extrasinn. Erst jetzt registrierte ich bewusst die Reflexionen der Gestalten im Wasser des großen T ümpels. Waren sie womöglich doch
echt? Real? Keine Wunschbilder meiner überreizten Nerven? Natürlich sind sie echt, drängte der Extrasinn. Und sie brauchen Hilfe. Tu et was! Ich trat einen Schritt vor. In diesem Moment brach Lethem zusammen. Ne ben ihm fiel der unbekannte Springer zu Boden, die Axt entglitt klirrend seinen Pranken. Zanargun schwankte, ver drehte die Augen und kippte hintenüber. Scaul hob halb die Hand zum Gruß, doch auch er vermochte sich nicht auf den Bei nen zu halten. Er stürzte der Länge nach in den T ümpel. Was immer sie erlebt und durchge macht hatten, sie waren am Ende ihrer Kräfte. Noch ehe ich zu einem von ihnen eilen konnte, erschien eine weitere Gestalt. Von wegen echt, gab ich verbittert zu rück. Sie natürlich auch, ja? Vor mir stand, in einem golden-metal lischen Paillettenanzug, jene Frau mit den kurzen roten Haaren, deren Körper und Geist ich unabhängig voneinander hatte sterben sehen; jene Frau, von der ich wusste, dass sie tot war. Vor mir stand Li da Zoltral! »Da bist du also«, sagte sie. Das konnte nicht sein.
Keine voreiligen Schlüsse, warnte der Logiksektor. Sie ist so leibhaftig wie die anderen und damit in deinem Sinne echt. Fassungslos sah ich zu, wie die Frau in dem goldfarbenen Anzug neben Scaul niederkniete und den Terraner aus dem knapp knöcheltiefen T ümpel zog. Dann kümmerte sie sich um die anderen Mit glieder der Gruppe, nestelte dabei an ei ner der schwarzen Taschen, die an ihrem ebenfalls schwarzen Gürtel angebracht waren. »Sie werden bald wieder zu sich kom
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men«, hörte ich sie sagen, während sie sich von Lethem abwandte. Ihr feuer rotes Haar schimmerte metallen im un wirklichen Licht, als sie ihr Gesicht dem Mond zuwandte. Ein ferner Donner rollte über den Canyon hinweg. »Lü«, brachte ich endlich stockend hervor. »Ich ... Liebes, wie bist du ...?« Sie ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Frau stieg den ' kleinen Hügel hinauf, entnahm einem der Etuis ein Gerät, richtete es auf Vado lon, nickte kaum merklich und steckte es zurück. Ich folgte ihr wie in Trance. Da stand sie, den Mond beobachtend, schlank, liebreizend, begehrenswert, der wieder wirklich gewordene Traum beinahe aller halb schlaflosen Nächte, die ich im Vinara- System verbracht hatte. Die Frau, die ich liebte mit einer so selten gekannten Intensität, dass mein Herz sich bei ihrem Anblick zusammenzog - und das wollte be i einem Unsterblichen schon etwas heißen. Tausend Fragen schössen mir durch den Kopf, nicht eine wagte ich zu stellen. Da stand sie und war doch tot. Zwei mal hatte ich ihren Tod miterlebt. Zuerst den ihres Körpers, dann den ihres Geis tes im Körper des sterbenden T amrats. Es war unmöglich. Wie viele Möglichkeiten soll ich dir denn nennen?, fragte der Extrasinn lako nisch. Was wäre dir lieber? Kloning? Eine Zeitreise? Das Produkt eines Multiduplikators der Meister der Insel? Eine perfekte Maske? Nein, gab ich mental zurück. Keine Maske. Das ist Li - und sie ist es wieder nicht. Aber ich spüre, dass es die Li ist, die ich kenne. Was du spürst, sind die unbewussten Reaktionen deines Körpers - auf ihren Körper. Du solltest dich zusammenneh men. Li deutete zum Himmel. »Da! Jetzt ge schieht es.«
Im nächsten Moment vergaß ich alle Fragen, die ich stellen wollte und die mir eben noch auf den Lippen gebrannt hat ten. Vadolon... Ich erlebte ein Schauspiel, dessen An blick zweifellos spektakulär war; und dessen Auswirkungen katastrophal wer den konnten. Und aller Wahrscheinlich keit nach auch werden würden. Das weiß glitzernde Band, das sich von Horizont zu Horizont spannte, geriet in Bewegung. Der leuchtende oder in Licht verwandelte ehemalige Obsidianring zog sich mit atemberaubender, weil allen Naturgesetzen widersprechender Ge schwindigkeit zusammen, ballte sich zu einer Wolke, die zu pulsieren begann. Dann bildete sich ein weiß glühender Fa den, der wie eine Peitsche zum Kristall mond fuhr. Binnen weniger Sekunden schwoll der Faden zu einem tornadoähn lichen T richter an, in den das gesamte Licht oder alles Obsidian - oder wa s auch immer die Wolke darstellte -, geso gen wurde. Beide, Wolke und Mond, ver schmolzen miteinander in einer gewalti gen Reaktion, an deren Ende der Mond doppelt so hell erstrahlte. Die Nacht über dem Planeten ver schwand übergangslos. Helligkeit flutete hernieder. Vadolon glich nun einer kalten Sonne, war nur noch grellweißes, blen dendes Licht. Es war mir unmöglich, die noch vor wenigen Minuten deutlich er kennbaren Facetten zu unterscheiden. »Die Psi-Materie reagiert.« Lis Tonfall ließ keinen Zweifel aufkommen. Es war keine Vermutung, sie traf eine Feststel lung. Offenbar wusste sie genau, was ge schah. »Es war, die Vergessene Positronik«, fuhr sie in sachlichem, beinahe kaltem Tonfall fort. »Sie ist mit dem Kristall mond kollidiert; alle ihre Versuche, eine der Versetzungen einzuleiten, sind ge scheitert. Am Ende stürzte sie dem psi
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materiellen Gigantkristall mit hoher Fahrt entgegen. Die heftige Kollision brach dabei riesige Brocken heraus. Der kinetische Impuls war stark genug, die Plattform und den Mond miteinander zu verschmelzen.« Li sah mich an, wie sie einen beliebi gen Fremden angesehen hätte. Ich ließ die Hände sinken, die ich erhoben hatte, um sie in die Arme zu schließen. »Fehlfunktion!« Sie verzog verächt lich die Mundwinkel und wandte sich brüsk a b. Erst als sie we itersprach, merkte ich, dass sie damit nicht mich, sondern den Mond gemeint hatte. Wir begannen, den kleinen Abhang wieder hinunterzugehen. »Eine Kettenreaktion. Eine Fehlfunk tion zog die andere nach sich! Das Back up-System wur de instabil. Verstehst du?« »Ehrlich gesagt, nein. Hat Samkar dich... Ich meine ... Wie konntest du ...?« Lass sie weiterreden!, forderte der Ex trasinn scharf. Und begreif es endlich. Das ist nicht deine Li. Die Frau, die du kanntest, ist tot. Aus dieser Hülle spricht allein das von Samkar aufgepfropfte Be wusstsein. »An sich sind die Zusammenhänge ganz einfach. Das Backup-System hat die Spiegelwelten initiiert und stabili siert. Es hat auch die T echnostädte ge steuert und überwacht. Nachdem sich infolge der Fehlfunktionen deren Aus fälle allerdings häuften, gelang es auch dem Backup-System nicht mehr, die vier Spiegelwelten zentral zu halten. Die in ihnen gespeicherte Kraft der Psi-Materie wurde aufgegeben - eine Ventilfunktion, wenn du so willst.« »Wasmeinst du mit aufgegeben?« »Die Welten sind untergegangen. Sie wurden aufgelöst. Sind nicht länger existent. Such dir einen Begriff aus. Je der passt und passt doch wieder nicht. Gelöscht trifft es vielleicht noch am ehesten. Oder eben - aufgegeben.«
Sie machte eine abwertende Geste, als hätte eine namenlose Instanz die Plane ten einfach weggewischt, »Aber ..:« Meine Gedanken begannen zu rasen. »Dann sind all die vielen Mil lionen Lebewesen dort - sämtliche Intel ligenzen wie Akonen, Blues, Cheborpar ner, Überschwere und all die anderen tot?« Ich packte ihre Oberarme und riss sie zu mir herum. Und schrie ihr ins Gesicht: »Einfach nicht länger existent? Mal eben so untergegangen? Gelöscht, ja? Aufge geben?« »Fehlfunktion«, sagte sie abermals und zuckte die selbst unter dem Paillet tenanzug wohlgerundet anmutenden Schultern. »Auch die Spiegelwesen lie ßen sich nicht länger stabilisieren.« Mit einer beiläufigen Bewegung drehte sie sich mühelos aus meinem Griff und lehnte sich gegen den mannshohen Fel sen, an dem T amiljon beinahe zer schmettert worden wäre. Sie hob ein Knie an und stützte den schwarzen Stie fel gegen den Stein. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah zum Rand des Canyons hoch. Ein Schwärm Flugsaurier von der Art, die mich und Jörge Javales in den Ruinen von Aziin angegriffen hatten, flog in en ger Formation, aber in für uns ungefähr licher Höhe über die Schlucht. Ihre Schreie gingen im neuerlichen heranrol lenden Donnern unter. Dort, woher die Echsen gekommen waren, brannte der Horizont. Auf Vinara Vier waren sie zu Hause, wisperte der Extrasinn. Jetzt sind sie hier. »Und was ist mit den Spiegelwesen ge schehen?«, fragte ich. Eine lauernde Ah nung wurde fast zur Gewissheit. »Rund neunzig Prozent aller Wesen auf allen Vinara-Welten waren Spiegel wesen«, sagte Li, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Diese Angabe deckt sich mit der von
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Cisoph Tonk, bestätigte der Extrasinn. Denk an das Gespräch mit Anee. Unwillkürlich nickte ich. »Wenn dich das beruhigt«, sprach Li weiter, »nur sie wurden aufgegeben. Abgeschaltet, wenn dir das lieber ist. Alle anderen, eben die wirklich existierenden Bewohner, wurden hierher nach Vinara versetzt, dem einzigen echten Planeten. Notfallprogramme des Backup-Systems griffen rechtzeitig ein. Alle Originalbewohner wurden - wie auch Lethem, die anderen und ich - hierher zurücktransportiert.« Li stieß sich von dem Felsen ab. »Doch das alles ist völlig irrelevant.« Für einen winzigen Moment huschten wieder die grausame Härte und die stählerne Kompromisslosigkeit über ihr Gesicht, die mich in den Wochen vor ihrem gewaltsamen Ende oftmals an eine zum Töten bereite Killerin hatten denken lassen. So hatte sie mich angesehen, kurz bevor sie mich in der Bewusstseinstransferanlage angegriffen hatte. Im nächsten Augenblick glätteten sich ihre Züge, verschwand diese raubtierhafte Anspannung so schnell, wie sie entstanden war. Mit der Stiefelspitze zeichnete sie einen Kreis in den Sand, und auf diesem Kreis fünf kleinere - eine schematische Darstellung des Vinara-Systems. »Nur Vinara mit seinem Mond Vadolon verdient die Bezeichnung echt«, sagte sie. »Echt allerdings nur insofern, als es die erste und älteste Welt war, die aus der Psi-Materie Vadolons entstand. Doch einmal konkret materialisiert, unterschied sich Vinaras Materie nicht mehr von jeder anderen normalen Materie. Die später nacheinander entstandenen Spiegelwelten dagegen waren anders - sie glichen stabilisierten Materieprojektionen. Der Stabilisierungsvorgang wurde durch die Silbersäulen und die T echnostädte aufrechterhalten. Säulen wie Städte wurden ebenfalls einst aus der Psi-Materie des Kristallmondes geschaf
fen. Ebenso alle sonstigen technischen Einrichtungen wie, unter anderem, die Ovalroboter.« Mit einigen schnellen Fußbewegungen löschte Li vier der kleineren Kreise aus. Ihre Stiefelspitze drückte eine Vertie fung in die Nähe des letzten Kreises: Vadolon. »Ohne die Vergessene Positronik hätte das Planetensystem vielleicht stabil bleiben können; doch ihre Kollision mit dem Kristallmond war der zündende Funke. Nun brennt die Lunte lichterloh, und sie brennt schnell - und wir sitzen direkt auf dem Pulverfass!« Li streckte den Arm aus und machte eine Geste, die alles, den Canyon, den brennenden Horizont, die sich auftür menden Staubwolken, die fliehenden Flugechsen, umfasste. »Auf Vinara herrscht inzwischen das nackte Chaos. Rund um den Globus schlagen immer mehr Trümmer des Mon des und des auseinander gebrochenen Obsidianbandes ein...« Als wollte ihr die Natur Recht geben, lief ein heftiges Zittern durch den Boden. Li schwankte und taumelte gegen meine Schultern. Ehe ich sie festhalten konnte, hatte sie sich wieder aufgerichtet. Hinter uns ertönte lautes Gepolter. Abermals donnerten lose Steinmassen die Wände des Canyons herab. Diesmal an der Stelle, über der die Flugechsen nach Westen entschwunden waren. Sie lag gut einen halben Kilometer entfernt. Als ich mich wieder zu Li umdrehen wollte, rannte sie bereits zu den anderen Männern hinunter. Lethem richtete sich in diesem Augen blick auf, hockte im Sand und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Die Ellen bogen hatte er auf seine Knie gestützt. Der 2. Pilot der TOSOMA stöhnte leise. Auch die übrigen Männer bewegten sich, erwachten jetzt nahezu gleichzeitig aus ihrer Bewusstlosigkeit. Am schnellsten von allen war der Springer wieder auf
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den Beinen; nach und nach erhoben sich auch die anderen. Bis auf zwei Ausnah men. Tamiljon blieb nach wie vor reglos am Boden liegen. Lethem saß neben ihm und starrte mich an wie eine Erscheinung, während ich zu ihm trat. Ich kniete neben dem Arkoniden nieder. Äußere Verletzungen hatte ich bei keinem der hierher Versetzten entdecken können; ihre kollektive Bewusstlosigkeit musste auf den ungewöhnlichen Trans portvorgang zurückzuführen sein. »Alles mit dir in Ordnung, Lethem?«, fragte ich, stand dabei a uf und. reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und zog sich daran hoch. Kopfschüttelnd musterte er mich von oben bis unten. »Du und wir hier an diesem Ort ... Es ist unglaublich. Wie bist du ... Nein, warte einen Moment«, unter brach er sich plötzlich selbst. Er drehte sich wie suchend im Kreis. »Ondaix! Scaul! Zanargun! - Wo ist Kythara?«, platzte er dann heraus. 4. January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara - Vüngh, die Insel der Verdammten »Kommt weiter. Nun macht schon!« January Khemo-Massai, der Kom mandant der TOSOMA, stand am Fuß ei nes lang gestreckten, flachen Hügels und wartete, bis auch der Letzte seiner Leute an ihm vorübergeeilt war. Er schlug dem Arkoniden T assagol aufmunternd auf die Schulter, der mehr humpelte und sprang, als dass er lief. Der Leiter der Abteilung Funk und Ortung hatte sich beim Absturz den rechten Oberschenkel gebrochen und blieb mit seiner Bein schiene immer wieder hinter den ande ren zurück. » Schaff st du e s noch - e ine ha lbe
Stunde?«, erkundigte sich der Terraner, während er neben dem Arkoniden sein Tempo verringerte. Tassagol nickte seinem Kommandan ten mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Nimm auf mich keine Rücksicht.« »Blödsinn. Zumindest den Hügel helfe ich dir hinauf.« Khemo-Massai griff nach Tassagols rechtem Arm, schlang seinen linken um dessen T aille und zog ihn mit sich. Glücklicherweise war der quer zu ih rer Richtung verlaufende Hügel mit sei nem sanften Anstieg die einzige Erhe bung weit Und breit; seit dem Aufbruch aus der großen Stadt waren sie nur durch ebenes, grasbewachsenes Gelände ge kommen. Immerhin bot seine Kuppe eine gute Aussicht, und ihn zu umgehen hätte viel zu viel Zeit gekostet. »Kommandant!« Der Ruf kam von der Spitze ihres kleinen Zuges. Jemand winkte energisch. Es war Cayrys zierli che Gestalt, die schon vorausgeeilt war und nun oben auf der Kuppe stand. Hasdhor da Honghal, der Stellvertre tende Leiter der Abteilung T riebwerke und Maschinen an Bord der TOSOMA, erreichte sie soeben und verschnaufte, die Hände auf die durchgedrückten Knie gestützt, den platinblonden Kopf vorn übergebeugt. Sechsundsechzig Besatzungsmitglie der liefen hier, er selbst, Khemo-Massai, eingeschlossen. Seit fünf Stunden haste ten sie, ohne Pause, immerzu in südöst licher Richtung. Sie hatten den untersten Ring der Stadt verlassen können, ohne noch von den Ovalrobotern daran gehin dert zu werden. Anschließend hatten sie die weite Bucht des Sees umrundet und waren dann in die mit kurzem Gras be standene Ebene hinausgelaufen. Dort, wo die Raumschiffswracks in schwer ab schätzbarer Zahl verrotteten. In Viinghodor hatte man sie daher die Ebene der Tausend Wracks genannt... Sechsundsechzig unfreiwillige Be
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wohner der Stufenstadt Viinghodor, der einzigen Stadt der Insel der Verdamm ten. Gefangene des Technik hemmenden Einflusses - und der allgegenwärtigen Ovalroboter. Bis zu diesem Morgen ... Mit ihnen waren unzählige Viin eben falls aus der Stadt geströmt, teils ratlos, teils neugierig, teils nur dem Vorbild und dem Gedränge der anderen folgend. Man wusste in Viinghodor um den Wunsch der TOSQMA-Besatzung, den Planeten Vinara, so schnell es ging, wieder zu ver lassen, und anfangs hatte man sie ausge lacht. Die meisten Nachkommen der gestrandeten Raumfahrer hatten sich mit Viinghodor und der Insel der Verdamm ten arrangiert; es lebte sich vergleichs weise gut hier, einmal davon abgesehen, dass die Ovalroboter jeden Zugang zu den abgestürzten oder notgelandeten Raumschiffen unterbanden. Anderer seits versorgten die Roboter die Einwoh ner der Stufenstadt mit Nahrung und Kleidung und schufen den notwendigen Wohnraum... Es gab nur wenige Viin, die bis dahin Vinara wirklich verlassen wollten. In der Nacht waren die Meteoriten ge kommen. Schon seit Wochen hatten die Viingho dorer immer wieder Leuchtspuren am Himmel beobachtet. Unzählige Staub explosionen in der Ebene hatten tags über von kleinen Trümmern gekündet, die dort eingeschlagen waren. Doch bis lang war die Stadt verschont geblieben, und alle Warnungen der Leute von der TOSOMA vor einer drohenden Katastro phe wurden von den Viin in den Wind geschlagen. In unmittelbarer Nähe der Stadt wa ren in der Nacht jedoch drei vergleichsweise große T rümmerstücke niedergegangen. Zwei davon" waren kurz nach einander wie T itanenfackeln außerhalb der Stadt mit einem unheimlichen Schwirren ins Meer gestürzt. Sie hatten, nach einer donnernden Explosion, mit
telstarke Flutwellen ausgelöst, deren Gewalt ein beträchtlicher T eil der im Hafen liegenden Schiffe zum Opfer ge fallen war. Nahezu alle Gebäude im un tersten, ersten Ring wären zerstört oder fortgespült worden; ein weiterer Ein schlag hatte nur wenig später die vierte Ebene der Stadt getroffen und heilloses Chaos ausgelöst sowie etliche Tote und Verwundete unter den Viin gefordert. Ob nun diese Einschläge oder andere, entferntere dafür verantwortlich waren, vermochte letztendlich niemand zu sa gen - jedenfalls begann plötzlich vina rafremde Technik wieder zu funktionie ren. Einige der Geräte, die von den T O SOMA-Besatzungsmitgliedern am Leib oder als Bestandteil ihrer Kleidung ge tragen worden waren, als sie von den ' Ovalrobotern abtransportiert wurden, erwachten mit einem Schlag wieder zum Leben. Die Frauen und Männer der TOSOMA hatten es als Erste bemerkt: Ein Multi funktionsarmband, das zufällig noch eingeschaltet gewesen war, rauschte. Uhren begannen wieder zu funktionie ren. Taschenpads waren wieder benutz bar. Der rätselhafte T echnikausfall war seinerseits ausgefallen, mitten in der Pa nik und der allgemeinen Hilflosigkeit. Doch nicht nur vinarafremde Technik schien wieder zu neuem Leben erwacht zu sein, sondern die vinaraeigene T ech nik versagte schlagartig. Mit dem »Aus fall des Technikausfalls« - ein geflügeltes Wort, das dank des überschweren Barden Umrin Zeles Barbinor blitzschnell die Runde machte - waren auch die sonst jede Flucht vereitelnden Ovalroboter verschwunden, und das im wörtlichen Sinn. January Khemo-Massai hatte selbst gesehen, wie sich zwei der Roboter aufgelöst hatten. Von diesem Zeitpunkt an hatte niemand wieder eines der ova len Maschinenwesen erblickt. Wilde Hoffnung erfüllte von diesem
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Moment an nicht nur die Besatzung der TOSOMA, sondern nahezu alle Viingho dorer. Umrin hatte es für alle in Worte oder in ein Lied, wie er es nannte - ge fasst: »Auf zu den Raumschiffen. Wir können Vinara vielleicht noch lebend verlassen.« Die Leute der TOSOMA waren die Ersten gewesen, die vor dem Aufgehen Verdrans alles stehen und liegen gelassen hatten und in Richtung der Ebene der Tausend Wracks losgerannt waren. Dass die anderen ihnen folgen würden, war nahezu gewiss. Ein kurzer Hyperfunkkontakt mit Le them da Vokoban war über Zuunariks Armbandgerät unmittelbar nach dem Auf bruch zustande gekommen; Lethems Gruppe befand sich auf Vinara Zwei. Sollte es gelingen, die TOSOMA wieder in Betrieb zu nehmen, würde man ihn und seine Leute dort abholen. Wo Atlan sich aufhielt, war nach wie vor unbe kannt. Sechs Stunden später und vierzig Ki lometer weiter drückte Khemo-Massai dem nächsten Arkoniden, an dem er vorbeikam, Tassagols Arm entgegen. Es war der Chef wissen schaftler Rintar da Ragnaari, der den Hügel herauf keuchte. »Hilf ihm weiter. Solange es geht.« Der stämmige Hyperphysiker besaß Kräfte wie ein Bär und hatte außer Prellungen und Stauchungen keine weiteren Blessu ren erlitten. In den rund eineinhalb Mo naten seit dem Absturz der T OSOMA war er, wie die meisten anderen Besat zungsmitglieder, weitestgehend wieder hergestellt. Khemo-Massai hoffte nur, dass Rintars Ungeschicklichkeit ihn nicht über seine eigenen Füße stolpern ließ und er den tapfer weiterhumpelnden Tassagolmit sich riss. »Dort!« Cayry winkte abermals hek tisch und deutete nach vorn. KhemoMassai legte die letzten Meter im Berg a uf sp urt z ur ück. Dann hatte er die
Kuppe erreicht und sah, was die Frau meinte. Raumschiffe, so weit das Auge auch reichte ...
Vor ihnen senkte sich das Gelände sanft den Hügel hinab. Das Gras wuchs auf dieser Seite nur noch spärlich, um schon nach etwa sechshundert Metern, nachdem es waagerechten Boden er reicht hatte, in einzelnen bräunlichen Zungen und halb verdorrten Inselchen auszulaufen. Dahinter begann eine sich bis zum Horizont und darüber hinaus er streckende trostlose Staub- und Geröll ebene. Es gab bis zu den ersten verlasse nen Schiffskörpern absolut nichts, an dem sich das Auge orientieren konnte; keinen noch so armseligen Busch, keine größeren Felsen, keine Geländeuneben heiten. Nur trostlose Weite. Von ihrem Standpunkt, der Hügel kuppe, aus gesehen, ragten die ersten Raumschiffe in etwa zehn Kilometern Entfernung in den Himmel - fast trans parent anmutende, bläuliche Schatten im Dunst. Der scheinbare Ring aus Stahl, der in Wirklichkeit nur die äußere Be grenzung der Ebene der Tausend Wracks darstellte, zog sich nach beiden Seiten bis zum Horizont, wurde an den Rändern immer kleiner und verlor sich in zerfa sernden, verschwommenen Konturen. Der Wind verfing sich in den künstlichen Schluchten aus korrodierendem Metall und wirbelte immer wieder Staubwol ken auf, die es ihnen von hier aus unmög lich machten, Details zu erkennen. Wo war die TOSOMA? Als sie von den Ovalrobotern, in Fes selfelder gehüllt, über die Ebene trans portiert worden waren, hatten sie alle mehr oder weniger mit ihren Verletzun gen zu kämpfen gehabt oder versucht, sich aus den T entakeln der Roboter zu
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befreien. Khemo-Magsai erinnerte sich an den T ransport so gut wie gar nicht; seine schwere Gehirnerschütterung hatte ihm alles Mögliche vorgegaukelt, nur nicht die tatsächlichen Gegebenhei ten gezeigt. Nach und nach ließen sich die auf der Kuppe ankommenden Besatzungsmit glieder ins Gras fallen, wo sie gerade standen. Manche lagen nach Luft rin gend auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt. Andere hockten nur da und trockneten sich den Schweiß. Sie versuchten, zu Atem zu kommen, hielten ihre Nasen in den kühlen Wind. Wasser wäre jetzt hilfreich, dachte Khemo-Mas sai, Wasser und ein Bissen zu essen. Ein Imperium für einen Konzentratriegel. Doch den gab es nicht und auch keine Quelle, keinen T ümpel, kein noch so dünnes Rinnsal. Er sah in hochrote, größtenteils er schöpfte Gesichter. Und obwohl jeder einzelne Muskel in ihm nach einer Pause schrie, wusste er, dass die Anstrengung noch nicht vorbei war. Noch hatten sie das Schiff nicht erreicht. Und selbst dann ... Er blickte sich fragend um. »Irgend welche sinnvollen Vorschläge? Cayry?« Die Stellvertretende Konimandantin kniff die nur schwach rötlich schim mernden Augen zusammen. »Wir können unmöglich das gesamte Landegebiet ab suchen. Dazu ist es zu groß. Schätzungsweise hundertzwanzig Kilometer im Durchmesser. Ich erinnere mich aber, dass wir nicht zwischen allzu vielen Schiffen hindurchgeflogen sind, ehe die freie Ebene begann. Die TOSOMA muss also irgendwo nahe dem Rand,- auf dieser Seite des Feldes nieder gegangen sein.« Khemo-Massai sah Hasdhor auffor dernd an. »Ich erinnere mich an zwei auffällige Schiffstypen.« Der Ingenieur war durch eine Gehirnerschütterung ebenfalls in
Mitleidenschaft gezogen. »Genau weiß ich es nicht mehr, aber ich glaube, die beiden Schiffe standen in entgegenge setzter Richtung. Entgegengesetzt zu der Richtung, meine ich, in die wir dann ge flogen sind.« Hasdhor schloss für einen Moment die Lider, rieb den Schweiß aus den Augen winkeln. Dann nickte er. »Das eine könnte dieser verwaschene Fleck dahin ten sein, dort, wo sich die Wolken sam meln - ein riesiger Wurf elraumer mit ei ner Kantenlänge von bestimmt fünf Ki lometern. Das andere, da drüben ... der hoch aufragende Strich links davon ... Das könnte diese Springerwalze sein, die mir aufgefallen ist ... Wenn der blaue Schatten daneben dieses seltsame Bir nenschiff ist, das sie auf dem Stiel gelan det haben ... Dann steht die TOSOMA irgendwo in dieser Richtung. Die vier buckelartigen Erhebungen weiter vorne, um die der Staub wirbelt - was meint ihr, sind das Arkonraumer?« »Exakt«, rief Rintar da Ragnaari, der mit Tassagol eben die Kuppe des Hügels erreichte und die letzten Worte gehört hatte. »Drei Schlachtkreuzer zu je 500 Meter Durchmesser. Bei dem etwas hö heren Buckel ganz links handelt es sich um ein Schlachtschiff mit 800 Metern Durchmesser. Alle vier sind Raumer des Robotregenten. Letzte Baugruppe, also schätzungsweise um die 2780 Jahre alt. Und davon links, das nächste, viel klei nere Schiff - das ist die TOSOMA. Könnt ihr euch denn gar nichts merken?« Rintar sah sich mit hochgezogenen Brauen um und tippte sich ebenso be zeichnend wie ausdauernd an die Stirn. Der Kommandant schüttelte lächelnd den kraushaarigen Kopf. Dann nickte er erleichtert. Dank Rintars unausgesetzter Missgeschicklichkeit übersah er immer wieder den auf Iprasa. aktivierten Ex trasinn des Hyperphysikers und das mit dieser Aktivierung verbundene fotogra fische Gedächtnis.
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Der dem uralten Adels-Khasurn der da Ra gnaari entstammende Arkonide fuhr sich breit grinsend mit beiden Händen durch das fingerlange Haar. Dabei ließ er Tassagols Arm los, der sich noch immer schwer atmend auf ihn Stützte. Tassagol hatte mit dieser plötzlichen Bewegung nicht gerechnet und verlor taumelnd das Gleichgewicht. Schmerz haft trat er mit seinem geschienten Bein auf und geriet ins Straucheln. In einer gelungenen, wenn auch unfreiwilligen Pirouette stürzte er kopfüber ins Gras und rollte davon. »Au! Verdammt noch mal, Rintar!« Khemo-Massai sprang hinzu und fing den fluchenden Tassagol auf, ehe der wild mit den Armen rudernde Funk- und Ortungsspezialist vollends den Hügel hinunterrollen konnte. »Verzeihung. Ich konnte doch nicht... Ich hatte doch bloß ...« Zerknirscht wandte sich Rintar an Tassagol: »Warte, ich werde dir helfen.« Er eilte mit ausge^ streckten Armen auf den Gestürzten zu. Dabei sah er aus wie ein Bär, der, hoch aufgerichtet, mit den Tatzen voraus, zum Angriff überging. Khemo-Masaai hätte schwören kön nen, dass Tassagol erbleichte. »Halt ein! Rühr dich nicht von der Stelle! Und bitte, rühr mich nicht an!«, rief der ^am Boden liegende Arkonide übertrieben flehend. »Erhabener, er barme dich meiner!« Die umstehenden Besatzungsmitglieder der T OSOMA lachten. Für den Mo ment machte sich spürbare Erleichterung breit. Mit dem aufbrandenden Ge lächter entlud sich die Anspannung, un ter der sie alle infolge der in hohem Tempo zurückgelegten Gewaltstrecke standen. In diesem Augenblick blitzte es bei den Raumschiffen auf, und im selben Se kundenbruchteil krachte ein säulendi cker Thermostrahl donnernd in den Fuß
des Hügels. Glutheiße Luft wurde zur Seite verdrängt, eine kochende Druck welle von Orkanstärke fegte über die Kuppe hinweg. Gras, Staub und Gestein wirbelten mit davon. Alle Schreie gingen im Tosen der brodelnden Luftmassen un ter. Wer nicht von den heranfegenden Luftmassen oder dem heftigen Beben von den Beinen gerissen wurde, warf sich flach auf den Boden. Ein jeder riss die Arme über den Kopf, um irgendwie den hochgeschleuderten, orange glühenden Schlackefladen zu entgehen, die unmit telbar darauf, kaum dass der Lärm ver klungen war, rund um den Hügel mit hässlichem Zischen , niederklatschten und das trockene Gras an unzähligen Stellen in Brand setzten. Übergang T alpeddo stand am Fenster un d kraulte Ruras Nacken, ohne zu bemer ken, was er tat. Zu verwirrend war der Anblick des Mondes, der sich binnen we niger Atemzüge in eine kalte weiße Sonne verwandelt hatte. Obwohl Nacht hätte sein müssen, herrschte fast heller Tag. Das bedrohliche Band, das wochen lang den Himmel gespalten hatte, war indes verschwunden. Er starrte aus dem Fenster und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Unter ihm breiteten sich die Kugelgebäude der Stadt Helmdor aus, deren eine Seite hell im Licht des blendenden Mondes lag, die andere im tiefsten Schatten. Schwarzer Qualm stieg dort auf, wo sich, jenseits des cha rakteristischen Bahnhofsgebäudes, die abfahrbereite Dampflokomotive und die lange Kette der Waggons befinden muss ten, bis auf den letzten Platz beladen mit Flüchtenden ... Ein schriller Pfiff ertönte, gefolgt von dem typischen Zischen, mit dem über schüssiger Dampf aus dem Kessel abge lassen wurde.
Die Macht des Kristallmondes
2.1.
Esturin Virol neben ihm nahm einen langen Zug aus der Wasserpfeife. »Selt same Dinge geschehen wahrlich dieser Tage«, murmelte er in den ausgeblase nen Rauch hinein. »Erst wählt dich un ser Herr Sardaengar aus, statt mich ... Ich verstehe es immer noch nicht. Dann schweigt er wiederum gar völlig ... Da zu die seltsamen Zeichen am Himmel, es ist...« Talpeddo nickte und ergänzte: »Alles höchst sonderbar, in der Tat.« Er griff in eine Schale, in der kleine Fleischbrocken als Leckereien für Rura lagen. Er warf ihr eins der handtellergroßen Stücke zu, ohne hinzusehen. Es war auch nicht nö tig, Rura war in der Lage, jeden Bissen blitzschnell zu fangen. Dieser allerdings platschte hörbar auf den Steinboden. Rura musste sich zudem gebückt haben, denn Talpeddo spürte ih ren Hals nicht mehr. Und auch ihren schweren Körper nicht mehr an seiner Seite'. Das Zimmer hinter dem kleinen Fens ter lag im Dämmerlicht. Auch als er nach Rura tastete, griff er nur ins Leere. »Rura? - Ist Rura bei dir, Esturin?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Es dau erte eine ganze Weile, bis er begriff, dass er sich völlig allein im Zimmer befand. Nein, nicht ganz. Auf dem Bissen Fleisch hockte eine metallen schim mernde Fliege. Und vor dem Fenster flat terte ein Fledermauswe sen zweimal heran und huschte beim dritten Anflug mit einer eleganten Körperdrehung ins Zimmer herein. 5. Atlan: 30. April 1225 NGZ
Vinara - Canyon der Visionen
Li da Zoltral oder besser das Bewusst sein, das in ihrem Körper lebte und sich seiner bediente, schüttelte den Kopf; »Das geht un s nichts an.« Die Fra u
sprach keinen der Anwesenden direkt an. »Wo ist Kythara?«, rief Lethem aber mals. »Weshalb ist sie nicht ebenfalls materialisiert?« Li drehte sich langsam zu ihm um, musterte ihn kurz und schien das Inter esse an ihm oder der Frage schlagartig zu verlieren. Sie wandte sich mir zu. »Wir müssen gehen.« Dann ließ sie auch mich stehen und trat ein paar Schritte zur Seite. Stumm betrachtete sie den Mond, starrte in das gleißende Licht, ohne zu blinzeln. Lethem sprang die Wut förmlich aus den Augen. Er baute sich vor Li auf, er griff ihren Ellenbogen un d riss sie herum. »Ich will wissen, was mit Kythara geschehen ist!«, rief er außer sich. »Was war das für eine schwarze Wand, die uns verschlungen hat? Und wieso sind wir ausgerechnet hier gelan det und überhaupt noch am Leben? Was weißt du darüber?« Es hätte nicht viel ge fehlt, und er hätte sie geschüttelt. Sie streifte seine Hand so beiläufig ab, als besäße er nur die be deutungslose Kraft eines Kindes und nicht den stahl harten Griff eines austrainierten Kämp fers. Sie seufzte. »Nun, obwohl dies alles vollkommen nebensächlich ist ... Also bitte. Durch die Fehlfunktionen des Kris tallmondes ist der T echnik hemmende Einfluss überall zum Erliegen gekom men. Dein Armbandgerät funktioniert wieder, alle meine Anzugsysteme eben falls. Die schwarze Wand ist - vielmehr war - der optische Eindruck der Notf allTransitionseinrichtung, mit der alle ech ten Lebewesen zurück nach Vinara transportiert wurden. Es ist allerdings kein Zufall, dass wir gerade hier heraus gekommen sind. Dank einiger meiner Anzugsmodule war es mir möglich, die Rematerialisierungskoordinaten zu be einflussen.« »Woher wusstest du, wo sich Atlan
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aufhielt?«, fragte Zanargun misstrau isch. »Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, wo sich Atlan befand«, gab sie beinahe gelangweilt zurück. »Das muss dir genü gen.« »Nein, das genügt mir keineswegs«, begehrte Zanargun auf und schob den Zweiten Piloten der TOSOMA zur Seite. »Du hättest es uns gleich sagen können, dass ...« »Ihr habt nicht gefragt. Also wozu? Wir sind doch hier.« »Wir - ja!«, mischte sich Lethem wie der ein. »Aber, bei Arkons Göttern, wo ist Kythara?« Li wandte sich dem Zweiten Piloten zu. »Die Varganin«, sagte sie langsam und ignorierte mein sichtliches Zusam menzucken, »hat ihre eigenen Methoden. Und ihre eigenen Ziele. Ich bin sicher, dass wir ihr zu gegebener Zeit wieder begegnen werden. - Sind wir jetzt endlich fertig?« »Nein, Li«, antwortete ich und trat meinerseits auf sie zu. »Noch nicht ganz. Du verheimlichst uns wesentliche Zu sammenhänge, und ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Lethem hat völlig Recht. Was hat das alles zu bedeuten? Die Fehlfunktionen? Der Technik hemmende Ausfall? Dieser so genannte Zusammen bruch der Stabilisation? Die Auflösung der Spiegelwelten? Was ist mit dem Shainshar-Phänomen? Ist die Braune , Pest auch mit hierher transportiert wor den?« »Die Wucherungen? Nein, die waren nur ein Spiegel-Phänomen. Mit der Auf lösung von Vinara Drei wurden auch diese Erscheinungen aufgelöst. Bist du damit zufrieden?« »Was die Braune Pest anbelangt - ja. Was deine übrigen Erklärungen angeht nein. Du hast vorhin mehrfach dieses Backup-System erwähnt. Backup von was?« Li da Zoltral blickte auf ihre Stiefel
hinab. Sie atmete tief ein und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mich nur an und sagte ausdruckslos: »Du wirst noch ge braucht.« Sie benutzt Samkars Worte!, meldete sich mit einem schmerzhaften Impuls der Extrasinn. Exakt die gleichen Worte, die der kosmokratische Roboter auf der Stahlwelt gesprochen hat. Nie war mir Li fremder erschienen als in diesem Augenblick.
January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara - Viingh, die Insel der Verdammten Das trockene Gras brannte sofort lich terloh. »Dort rüber!«, schrie Khemo-Massai. Er sprang auf, kaum dass der Schlacke regen aufgehört hatte. Der Kommandant winkte mit beiden Armen in eine be stimmte Richtung. Weiter nach links. Die Ersten begannen zu laufen, verstanden offenbar, was er meinte. Sie mussten hin ter die Kuppe zurück, in Deckung, und vor allem raus aus dem Feuer. Der Wind wehte aus Osten, kam also von links; dorthin würden die Flammen nicht ge trieben werden. Khemo-Massai riss noch immer am Boden Liegende hoch, schubste sie in die angegebene Richtung, sah, dass Cayry und die anderen TOSOMA-Offiziere sei nem Beispiel folgten. »Hinterher! Du auch. Los, los, los! - Nein. Du da rüber!« Er gab Mayhel T afgydo einen Stoß und dirigierte sie so zu einer Gruppe von zwei Männern und einer Frau, die ein Stück weit tiefer den Hügel hinab bewegungs los im Gras lagen - außerhalb des Flam menkreises, wahrscheinlich von der Druckwelle mitgerissen. Die Ära-Ärztin nickte und rannte zurück. »Marren! Duhilfst ihr. Tragt sie zu den
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anderen. Vorwärts!« Der kleine T uglante klopfte wütend an seiner schwelenden Kleidüng herum, hörte seinen Komman danten brüllen und vergaß die Anwei sung im selben Moment. Er sprang mit Riesensätzen den Hang hinunter, so dass seine langen Zöpfe hinter ihm herflogen. Einer von ihnen glimmte. Khemo-Massai suchte nach Rintar und T assagol, konnte sie jedoch nirgends finden. Er registrierte im Vorüberhasten, wie Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalla dah III. einen Verwundeten aus den Flammen zog; der Hasproner selbst hatte sein zotteliges Aussehen vollständig ein gebüßt. Sein Schädel war zwischen den Knochenkämmen nahezu kahl gesengt, der Kinnbart be stand nur noch zur Hälfte. Khemo-Massai wich den größeren Flammen aus, spran g über kleinere Feuer hinweg und hustete, als er weiß lich graue Asche aufwirbelte. Er rannte wieder den Hügel hinauf, dorthin zu rück, wo sie gestanden hatten. Die bei den Arkoniden hatten sich am weitesten unten auf der der Geröllebene zuge wandten Lehne befunden. Aufsteigender Rauch und Staub in der Luft nahmen ihm die Sicht, boten zugleich aber auch so etwas wie Deckung. Geduckt überquerte der Af roterraner die Kuppe und verdrängte jeden Gedanken an einen zweiten, diesmal höher gezielten Schuss. Dann hörte er das Stöhnen und Husten, noch ehe er rufen musste. Aus dem Rauch heraus schälten sich Rintars breite Umrisse; er trug T assagol auf der Schulter. Beider Kleidung war an etlichen Stellen verschmort. T assagol blutete aus einer hässlichen Stirnwunde, und Rintars ehemals fingerlanges Haar war bis auf die Kopfhaut versengt. »Ist er...?« , »Nein, er lebt«, ächzte Rintar. »Er hat nur...« Zwei weitere Thermostrahlen zerfetz ten die Luft über der Ebene. Khemo-
Massai riss den Hyperphysiker mit sei ner Last zu Boden, fürchtete einen neu erlichen Angriff. Doch die Energiebah nen fuhren schräg in den Himmel empor und galten nicht ihnen. Ein dritter Ther mostrahl zuckte wenig später fast senk recht in die Atmosphäre; dann schwieg das unbekannte Geschütz. So schnell sie konnten, trugen sie den Verletzten über die Hügelkuppe zu den anderen.
»Bericht!« forderte Khemo-Massai eine knappe halbe Stunde später. Sie hockten im dürftigen Schutz des Hügels, die Offiziere in einem Halbkreis um den Kommandanten versammelt. »Vierzehn Verletzte«, sagte Cayry, »keiner schwer verletzt. Die Verwunde ten mussten nicht getragen werden.« »Roaltin und T umusar sind tot«, mel dete Mayhel Tafgydo niedergeschlagen. Die Ärztin hatte ihre Jacke zerrissen und aus den Fetzen eine Hand voll notdürfti ger Verbände hergestellt. Ihre eigene Schramme an ihrem rechten Unterarm schien sie gar nicht zu bemerken. Der Tu glante hatte die beiden Leichname dort gelassen, wo sie gestorben waren; die da neben liegende, besinnungslose Ashanti hatte er heraufgetragen. Ihre beiden Hände waren gebrochen. Die hagere Ära hatte auch sie behelfsmäßig versorgt. Anisa In'Kasara war inzwischen wieder erwacht. »Was, bitte, war das, Kommandant?«, fragte Zuunarik, der Erste Pilot. »Vermutlich kein gezielter Angriff«, antwortete Hasdhor da Honghal anstelle Khemo-Massais. »Vielleicht eine Fehl funktion ... Immerhin war der Energie fluss durch die Technik der Stadt in den Schiffen nur unterbunden worden. Jetzt laufen möglicherweise einige Aggregate noch - oder fahren wieder hoch.« »Die Schüsse kamen alle von einem
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Schiff, da bin ich sicher«, warf Hintar ein. »Von welchem, konnte ich leider nicht erkennen.« »Auch Erhabene sind nicht länger all wissend«, seufzte Zuunarik übertrieben. »Dieses Universum schwächelt zuse hends, wenn ihr mich fragt.« »Ein Grund für uns, es ihm nicht gleichzutun«, sagte Khemo-Massai leise, mit tödlichem Ernst in der Stimme. Zuunarik hob entschuldigend die Hände. »Wir müssen die Ebene so schnell wie möglich überqueren«, fuhr Khemo-Mas sai fort. »Hoffentlich waren wir nur rein zufällig beinahe in der Schussbahn.« Er biss sich auf die Lippen. »Kaum vorstell bar, was geschehen wäre, wenn wir nicht oben angehalten, sondern stattdessen weitergegangen wären...« Er verscheuch te rasch den Gedanken und stand auf. »Wir bilden Achtergruppen«, ordnete er an. »Jede Gruppe läuft rasch, geschlossen, einzeln und dabei parallel zu den anderen Gruppen. So bilden wir kein gemeinsames Ziel. Verteilt die Verletzten gleichmäßig. Jeder achtet auf seinen Nebenmann. Zuunarik, Gulokhiz, Cayry, Hasdhor, Marren, Rintar, Mayel und ich führen die Gruppen an. Es sind zehn Kilometer Distanz; ungefähr eine Stunde. Teilt eure Kräfte ein. Keine Pausen mehr. Rintar! Du behältst auf jeden Fall TasSagol bei dir. Noch Fragen?« Nur Zuunarik hob die buschigen Au genbrauen: »Gibt's einen Preis für die Siegergruppe bei diesem hübschen Ren nen?« »Ja«, sagte January Khemo-Massai düster. »Das Leben.«
Sie bildeten eine über fast einen Kilo meter auseinander gezogene Linie. Die Gruppen liefen in einem Abstand von etwa hundert Metern zueinander. In Ruf weite: In einer Entfernung, die noch ir
rationale Sicherheit, noch so etwas wie Zusammengehörigkeit vermittelte. Zwanzig Minuten waren seither ver gangen; drei, vielleicht vier Kilometer bereits zurückgelegt. Kein weiterer An griff bis zu diesem Zeitpunkt. Keine Be wegung voraus. Doch die Angst lief mit ihnen mit. In dumpfem, stetem Trab. Acht Gruppen zu je acht Läuferinnen und Läufern. Zuunarik hatte Recht ge habt: Es war ein Rennen. Irgendwann hatte sich ein gemeinsamer Rhythmus eingestellt, ein Stakkato stampfender Raumfahrerstiefel durch aufwirbelnden Sand und Geröll. Für Gespräche fehlte die Luft. Statt dessen verbissenes, Atem sparendes Schweigen. Und die vergebliche Hoff nung, nicht allzu viel Staub zu schlu cken. Die bläulichen Schemen der Schiffe wurden mit jedem Schritt schärfer, ge wannen Konturen, bildeten Einzelheiten aus. Immer deutlicher vermochten sie, lemurische, akonische, terranische und arkohidische Kugelraumer zwischen den anderen, völlig fremden Schiffen zu un terscheiden. Sie sahen halb ausgefah rene Geschütztürme, abgebrochene An tennen, geknickte und abgerissene Lan destützen, offene Schleusen, in die der Wind haushohe Sandverwehungen ge tragen hatte. Dreißig Minuten. Keine weiteren Energieentlädungen. Khemo-Massai bewegte sich inzwi schen wie in Trance. Zuerst die Mara thondistanz zwischen der Stadt und dem Hügel und nun der Hindernislauf über die trostlose Ebene. Überall lagen back steingroße Trümmer herum. Zersplitter tes Gestein, scharfkantige Nadeln ragten unterarmlang aus dem Staub heraus. Immer wieder stießen sie auf Trichter, die von abgestürzten Obsidianbrocken stammten. Manchen mussten sie auswei chen, die meisten konnten sie durchque ren. Der Kömmandant wusste nicht
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mehr, wo in seinem Körper die Schmer zen aufhörten und wo die Empfindungs losigkeit begann ... Schritt um Schritt um Schritt um Schritt. Er spürte die Nässe des Blutes in sei nen Stiefeln, biss einmal mehr die aufge dunsenen Lippen zusammen. Der Kommandant warf einen Blick nach links, hinüber zu Cayrys Gruppe. Alles schien in Ordnung zu sein ... Rintars Gruppe lief zu seiner Rechten. Khemo-Massai sah den stämmigen Hy perphysiker zusammen mit zwei anderen als Letzten der Gruppe hinterdreinren nen - offenbar trugen sie T assagol zwi schen sich. Er musste darauf achten, dass sie nicht noch weiter zurückfielen. Vierzig Minuten. Er stellte sich vor, wie sie die T O SOMA erreichten. Die Schleuse stürm ten. Gleich neben dem Shifthangar gab es Nasszellen. Er wür de hineingehen und sich unter die Dusche stellen, würde das köstliche Nass direkt auf sein Ge sicht prasseln lassen, wür de bis zum Nichtmehrkönnen trinken, immer nur trinken ... Fünfzig Minuten. Noch vielleicht zwei Kilometer bis zum seltsamsten aller Raumschiffsfriedhöfe. Alle wurden jetzt langsamer, fielen in einen taumelnden schleppenden Gang zurück. Khemo-Massai gab das Zeichen zum Sammeln. Rintar und die anderen schlössen zu ihnen auf. Vorsichtig gingen sie weiter, traten in den Schatten des ersten Schiffes. Unter den Bäuchen der vielen Schiffs körper ragten noch weitaus ältere Ver strebungen aus dem Sand, rostzerfres sene Spanten und löchrige, verbogene Metallwände, um die der Wind heulte. Zeichen längst vergessenen Zerfalls. Heftiger Wind pfiff um die sich über ihren Köpfen emporwölbende Schiffs
wand. Es war ein zylindrisches Raum fahrzeug, eirie Scheibe aus stumpf ge wordenem Stahl, zweihundert Meter durchmessend und etwa halb so hoch. Als sie wieder aus dem Schatten her austraten und im hellen Licht blinzelten, sahen sie vor sich die breiten Fußspuren im hellbraunen Sand. Die Ränder der Abdrücke waren an ihrer Vorderseite scharf ausgetreten und tief, obwohl der Wind darüber hinwegstrich und feinen Staub mit sich führte. An der Rückseite waren die Eindrücke nur flach und zu kleinen Wölbungen aufgeworfen. Eine Gruppe von Leuten war hier ge rannt, etwa zehn bis fünfzehn Personen, und das vor kürzester Zeit. Die Spur kam von rechts und führte in einer langen gebogenen Linie durch das nächste Schiffswrack hindurch, dessen dreirippiges Restskelett nur noch aus dünnen, aufwärts gebogenen Roststre ben bestand, die sich weiter oben zu ei ner konischen Spitze trafen. Jenseits des so gebildeten Domes ragte ein abgetrennter Landeteller eines arko nidischen Schlachtschiffes zur Hälfte und beinahe senkrecht aus dem trocke nen Boden auf; das kreisförmige Kon strukt von der Größe eines halben terra nischen Fußballfeldes warf einen langen Schla gschatten nach links; und eben dort hinein verlief die Spur. »Wer, bei allen Raumteufeln, ist hier gegangen?«, fragte Gulokhiz, der Stell vertretende Leiter der Schiffsverteidi gung, mit krächzender Stimme. Er keuchte und war wie alle am Ende seiner Kräfte. »Wer außer uns kann hier gegan gen sein?« »Jemand, der schneller war als wir«, versetzte Zuunarik lakonisch.
Hinter dem amputierten Schiffsfuß, in einer Entfernung von etwa sechshundert Metern, lag das arkonidische Schlacht
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schiff auf den zu einem Gewirr von Spin nenbeinen abgeknickten Landestützen. Die untere Polschleuse befand sich daher direkt am Boden. Sie folgen vorsichtig der Spur, sahen, dass sie bis genau zur Polschleuse und weiter von ihr fortführte, dorthin, wo ir gendwo halblinks die TOSOMA stehen musste. »Was nun?«, fragte Zuunarik. »Folgen wir der Spur, oder verschaffen wir uns Zugang zu diesem einstigen Musterbeispiel imperialer Machtentfaltung?« »Was sollen wir uns mit diesem Robot schiff abgeben?«, wollte Hasdhor wissen. »Wir müssen zur TOSOMA.« »Eben«, grinste Zuunarik. Er deutete auf die Polwandung. »Direkt dahinter stehen wenigstens drei Lastplattformen, wenn ich mich recht entsinne, mindestens ein Shift und diverse Gleiter.« Rintar räusperte sich. »Er hat Recht. Auch wenn das Zeug knapp dreitausend Jahre alt ist - es ist arkonidische Wertar beit. Und die Schleuse ist geschlossen. Es könnte klappen.« »Das ist doch Schwachsinn, mit Ver laub«, ereiferte sich Gulokhiz. »Da drin steht doch nichts mehr so, wie es sollte. Der Schiffskörper ist bei der Notlandung so hart aufgekommen, dass die Lande stützen zerborsten sind. Was glaubst du, wie es hinter dieser Schleuse aussieht?« »Miesmacher«, brummte Zuunarik. »Zweckoptimist!«, schnappte Gulo khiz. »Wie kriegen wir die Schleuse auf?«, fragte Khemo-Massai. »Lasst mal den Chefwissenschaftler ran«, meinte Rintar da Ragnaari und baute sich vor der deutlich sichtbaren Schleusenumrandung auf. »Gib mir dein Multifunktionsarmband, Zuunarik.« Er räusperte sich, schaltete das Gerät . auf die in den Jahren des Robotregenten übliche Flottenfrequenz un d sa gte im damals gebräuchlichen Interkosmo: »Hier spricht T ai-Laktrote Rintar da Ra-
gnaari, Mitglied des Adels-Khasurn der hochwohlgeborenen Ragnaari-Familie von Arkon. Mit der mir gegebenen Hoch rangbevollmächtigung erteile ich der Hauptpositronik des notgelandeten Schlachtschiffes hiermit die Anweisung, die untere Polschleuse unverzüglich zu öffnen.« Siegessicher zwinkerte er den Umste henden zu. Zuunarik verdrehte die Augen. Und riss sie vor Erstauen auf, als sich der Au ßenbord-Interkom des Schlachtschiffes aktivierte und es hörbar knackte. Es rauschte und knisterte, und dann sagte eine unmodulierte Automaten stimme: »Abgelehnt, Du kommst hier nicht rein.« »Wie bitte?«, schrie Rintar außer sich. »Wofür hältst du dich? Du kannst jeder zeit meine Gehirnwellenströme anmes sen. Also tu das gefälligst! Du wirst fest stellen, ich bin kein degenerierter Arko nide, sondern erfülle im Gegenteil alle Anforderungen, die der Robotregent zur sofortigen Kommandoübergabe aufer legt hat. Sogar seine eigene Sicherheits schaltung A-1 würde jederzeit darauf ansprechen. Ich habe, einen aktivierten Extrasinn! Ich bin Iprasa-Absolvent, und ich...« »Du kommst hier nicht rein. Außer dem ist der Verschlusszustand angeord net. Das Schiff ist klar zum Gefecht.« Hoch über ihnen drehte sich knirschend ein Waffenturm aus der Außenwand. Donnernd löste sich ein Thermostrahl und schlug zwei Kilometer entfernt ein. Er traf ein auf die Rückkehr seiner Be sitzer wartendes Diskusschiff der Blues. »Du verblödetes Stück Positronik. Du warst das also? Hör sofort 'm it diesem hirnrissigen Geballere auf! Das ist ein Befehl! Und mach gefälligst diese Schrott-Schleuse auf! Aufmachen!« »Dieses Passwort ist ebenfalls ungül tig.« Khemo-Massai zog den innerlich und
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äußerlich bebenden Hyperphysiker von der Schleuse fort. »Es hat keinen Sinn. Die waren schon immer stur. Komm, wir gehen.« Als sie den zugigen Bereich unterhalb des stählernen Gebirges verlassen hatten und sich über ihnen wieder freier Him mel zeigte, atmeten alle erleichtert auf. Die Spur bog nach links ab, umging einen etwa zweihundert Meter hohen, völlig in sich zusammengefallenen Berg aus Metallbruchstücken und zog sich dann schnurgerade hin. Sie führte auf das nächstliegende Schiff - zur TOSOMA! , Noch hundertfünfzig Meter, und sie waren am Ziel. Jubelschreie brachen aus, und deshalb achtete niemand auf das ferne Schwir ren, dessen Tonhöhe infolge des Doppler effektes sekundenschnell tiefer und tie fer wurde.
Niemand sah den gut 700 Meter durch messenden, flammenden Obsidianbro cken, der weit im Westen, etwa 25 Kilo meter entfernt, in einem Winkel von fast 45 Grad auf den Raumschiffsfriedhof mit einer Geschwindigkeit von mehr als 27 Kilometern pro Sekunde zuraste. Die infernalische Wucht, mit der der Meteorit inmitten der rostenden Rümpfe einschlug, war schier unvorstellbar. Sie reichte spielend aus, das getroffene Schiff und alle weiteren in direkter Nachbarschaft zu pulverisieren. Die freigesetzte kinetische Energie ent sprach 46 Gigatonnen VergMchs-TNT. Eine donnernde Explosion brachte Vinara zum Beben. Ja, sie brachte die In sel Viingh so sehr zum Schwanken, dass alle Besatzungsmitglieder etwa sechs Sekunden nach dem Einschlag den Bo den unter den Füßen verloren. Ein Detonationsfeuerball von gut 11,5 Kilometern Durchme sser wuch s am
westlichen Himmel empor. Das entfes selte Licht, tausendmal so hell wie die Sonne, bestand beinahe 15 Sekunden lang, ehe er in sich zusammenfiel. Ein un geheurer Detonationspilz trat an seine Stelle, der bis in die Hochatmosphäre Vinaras kletterte. Ein Krater von über neun Kilometern Breite wurde in einem einzigen Augen blick in die Ebene der Tausend Wracks gestanzt. Windgeschwindigkeiten von über 600 Metern pro Sekunde entstan den, drückten die Luft nach außen und gegen alles, was sich im Weg der tosen den Massen befand. Die Druckwelle breitete sich konzentrisch aus und warf alles in ihrer Bahn Befindliche buch stäblich über den Haufen. Der arkonidische 500-Meter-Schlacht kreuzer wurde sowohl von dem Beben als auch von der Druckwelle getrof fen. Er stand von den drei in einer Reihe gelandeten Schiffen der Einschlagstelle am nächsten. Seine Landebeine knickten ein wie dünne Streichhölzer unter dem Tritt eines Riesen. Der gewaltige Kugel^ rümpf neigte sich und schlug mit unge heurem Gedröhn auf den felsenharten Boden. Die Druckwelle erfasste die fal lende Arkonitkugel im Moment ihres Abkippens, trieb sie vor sich her, half ihr, sich wie von selbst auf den jetzt senk recht aufgerichteten Ringwulst zu schwingen. Fassungslos und vor Entsetzen starr, sah die Gruppe um Khemo-Massai, wie der fünfhundert Meter durchmessende Gigant aus verdichtetem Arkonstahl wie ein überdimensionalen Spielkreisel langsam auf ihren Standort zuzurollen begann. Tatsächlich verdankten sie dem Stahl ungetüm ihr Leben. Denn es schuf einen fünfhundert Meter breiten Windschat ten, der sie davor bewahrte, von dem rings um sie einsetzenden Inferno mitge rissen zu werden. Oberhalb und zu bei den Seiten des auf sie zurollenden Ar
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konraumers vollzog sich der Weltunter gang - etwa achtzig Sekunden nach dem Einschlag. Dank der herankullernden Arkonitmurmelvon der Größe eines Mit telgebirges wurden den Angehörigen der Besatzung der TOSOMA zusätzlich noch exakt 47 Sekunden geschenkt. Dann war der Koloss heran und würde sie und ihr Schiff unter sich zermalmen. »Lauft!« Das war alles, was KhemoMassai denken - und schreien konnte. Während er rannte, rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben. /• Übergang Die junge Frau mit den kurz geschnit tenen roten Haaren kniete am Ufer des Arocan-Sees, starrte auf die graue Weite hinaus und wischte sich die Tränen aus den Augen. Tod. Überall Tod. Kalitra schauderte. Der Hafenkai, massiver, fester Beton, war fort - einfach fort. Wo früher Fisch kutter ein- und ausgelaufen waren, Bootsleute schwere Kisten an Land ge tragen und in die Lagerhäuser gebracht hatten, ragten nur noch einzelne land einwärts gebogene Stahlgitter aus dem Wasser. Ein einsamer Schornstein stand windschief wie ein erschlaffender Phal lus auf einer Insel aus Mauerresten. Das Dach der riesigen Fabrik, in der das ge waltige Luftschiff LITRAK gebaut wor den war, lag zur Hälfte im See, abgeris sen wie ein bedeutungsloser Fetzen Pa pier; die rechte Seitenwand der Stahl konstruktion war eingeknickt, als wäre sie nur Teil einer billigen Schilf hütte ge wesen. Der Rest der Halle bog sich, aller Fensterscheiben beraubt und seltsam' verdreht, beinahe auf die Seite - ein waidwundes Stück der Ingenieurkunst, das sich nie mehr seinem ursprünglichen Zweck hingeben würde. Die Gewalt der inzwischen verebbten Flutwelle hatte vor nichts und niemand Halt gemacht. Die Stadt Aroc glich ei
nem schlammüberzogenen Trümmer feld. Viele der aus brüchigem Sandstein errichteten, tausendmal mit Lehmschlag geflickten Häuser hatten allein schon dem Druck der Wassermassen nachgege ben. Höhere Gebäude waren eingestürzt, nachdem die Kellerräume voll gelaufen und die Fundamente unterspült worden waren. Die Herberge ihres Onkels existierte nicht mehr; weder die Herberge noch die übrigen Gebä ude der Straße. Alles war zerbrochen und in sich zusammenge sunken. Dieser Bereich der Stadt hatte sich in einen über viele Straßenzüge erstreckenden stinkenden T ümpel aus Schlamm und darin schwappendem Un rat verwandelt. Überall trieben Leichen im Wasser auf den freien Flächen, die früher Straßen und Plätze gewesen wa ren und nun vermodernden Kanälen glichen. Kutron war tot; Nachbarn hatten Ka litras Onkel aus den Trümmern gebor gen. Er war ertrunken wie die meisten in der Stadt. Viele andere waren von Solda ten beim Plündern erschossen worden, in bedingungsloser Erfüllung ihrer angeb lichen Pflicht. Kalitra dachte an den gut aussehenden Fremden, der für kurze Zeit Gast in der Herberge gewesen war. Sie hatte den charismatischen Mann mit den längen weißen Haaren angefleht, mit ihm mit kommen zu dürfen. Doch er hatte abge lehnt. Sie hatte alle Selbstbeherrschung aufbringen müssen bei ihrem Abschieds kuss. Sie hatte sogar so getan, als wären sie nur gute Freunde, hatte sich jeden Vorwurf und jede Wehklage verbissen. Obwohl eine Ahnung ihr zuschrie, dass dies alles falsch war ... »Kutron braucht dich jetzt«, hatte At lan gesagt. Ob er wohl wusste, wo immer er mittlerweile auch sein mochte, wie es hier aussah? Und dass Kutron ganz ge wiss niemanden mehr brauchte? Neuerliche T ränen trübten ihren
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Blick, und sie überließ sich gänzlich ih rem Schmerz. Kalitra bemerkte die vier Soldaten erst, als einer von ihnen sein Gewehr ge räuschvoll durchlud. Sie fuhr herum, da standen sie: leichenblasse Kerle mit un rasierten Gesichtern, in schmutzigen dunkelblauen Uniformen, die roten Zierstreifen an den Hosenbeinen vor Nässe und Schlammspritzern fast nicht mehr erkennbar. Die Pickelhauben hat- • ten sie in den Nacken geschoben, ihre Gewehre erhoben und auf sie gerichtet. »Komm her, Mädchen«, grinste der eine. »Du kannst uns einen lang entbehr ten Gefallen tun.« Das Gelächter seiner Kameraden ließ nicht den geringsten Zweifel daran, welcher Art dieser Gefal len sein sollte. Weit und breit war nie mand sonst am Ufer. Zwei der Soldaten packten sie an den Armen. Der bisherige Sprecher leckte sich die Lippen; der vierte Soldat fuhr sich mit seiner schmutzigen Hand durch die strähnigen Haare. »Keine Angst, meine Kleine«, rief er ihr über das Gelächter seiner Spießgesel len hinweg zu. Kalitra wand sich un willkürlich in dem Griff der Soldaten, doch deren Fäus te waren wie Eisenklammern, und sie wusste, dass es kein Entkommen gab. Sie war keine Kämpferin, und sie ahnte, dass jeder Widerstand die Grobheit der Män ner nur verschlimmert hätte, ihre auf brechende Wildheit nur weiter aufsta cheln würde. Der Gestank tagealten Schweißes geriet ihr in die Nase, und ihr wurde übel, als der vierte ihr Gesicht zu tätscheln begann. Kalitra schrie um Hilfe, obwohl sie es nicht hatte tun wol len und obwohl sie wusste, dass niemand es hören würde. Sie schrie noch immer, als die schwarze Wand heranraste. Kalitra keuchte und würgte vor Entsetzen, als sie im Licht eines gleißenden, nie zuvor gesehenen Mondeskniete und nicht ver
stand, woher er gekommen war - und wohin die vier Männer verschwunden waren. Als hätte es sie nie gegeben. ,7. January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara - Viingh, die Insel der Verdammten Die Schleuse stand offen. So, wie sie verlassen worden war. Die Notbeleuchtung war eingeschal tet. Also gab es im Schiff wieder Ener gie! »Syntron!«, brüllte January KhemoMassai, noch während er die unsichtbar in der Schleusenwandung verborgenen Individualschwingungs-T asterbereiche passierte. Sie dienten der Feststellung der Mannschafts-identitäten. »Legiti mation Khemo-Massai, January. OBKode AB-0102-Coma. Aktivzustand. JETZT!« Schlagartig wechselte der Beleuch tungsmodus. Warme Helligkeit nutete den Raum. Das charakteristische Sum men hochfahrender Aggregate schwoll an. Auf terranischen Schiffen gab es Forced-Landing-Holos in jeder Schleu se. Ein entsprechendes Display neben dem zentralen VEX-Liftschacht zeigte auf arkonidischen Raumern die wesent lichen Statuswerte nach Notlandungen oder einer vorübergehenden Schiffseva kuierung. Schiffszustand: allgemein schlecht. Beide Gravitraf-Speicher: Restener gien vorhanden, 0,015 Prozent. Sekundäreinheiten: beide GravopulsProjektoreinheiten für einmaligen Not start verfügbar. Primäreinheit: Metagrav/Unterlicht/ Überlicht nicht verfügbar. Schiffssicherheit: instabil. Schutzschirmstaffeln: nur Prall
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schirm für 90 Sekunden eingeschränkt verfügbar. Lebenserhaltung: 17 Prozent. Der mehrheitliche T eil der übrigen Angaben leuchtete nicht einmal rot, sondern zeigte dunkles Blau für Ausgefallen/Inaktivität. Einige wenige flackerten in grellem Orange, nicht eine einzige erbrachte Grünwerte. Die Schleusenkammer füllte sich in Sekundenschnelle. Leiber rempelten gegeneinander. Viele stürzten und rap pelten sich sofort wieder auf. Die Besat zung des Schweren Jagdkreuzers warf sich förmlich durch das Außenschott, rollte fort, machte Platz für die Nachfolgenden. Ein Heulen, ein der Hölle entwichenes Geräusch, wie Khemo-Massai noch nie zuvor eines gehört hatte, drang durch die Schleusenöffnung herein und er schütterte die im Innern des Schiffes be findliche Luft. Es kam ihm vor, als ob der gesamte Planet in diesem Moment wie ein misshandeltes Lebewesen schrie. Rintar ließ sich neben dem Eingang fallen. Er begrub T assagol unter sich. Zuunarik taumelte herein. Mayhel Taf gydo folgte. Khim Ganduum, Phaza grilaath und Gulokhiz hechteten hinter her. Über sie hinweg sprang Anisa In'Kasara, die Ashanti mit den gebro chenen Handgelenken. Das Raumschiff TOSOMA erbebte unter den tobenden Gewalten. Ein prasselndes Bersten ertönte. Me tall verbog sich kreischend irgendwo außerhalb des Schiffes. Ein T rommelfeuer aus gegen das Schiff prallenden Gegenständen setzte ein. Die Kugel wandung, obwohl aus beschussverdich teten Ynkon-Legierungen bestehend, schwang wie ein einziger riesiger, miss tönender Gong. Der Stahlboden der Kammer nahm die Vibrationen auf und tanzte, einer in Wellen versetzten Blech platte gleich.
Khemo-Massai hielt sich an einem Geländer fest und warf einen hastigen Blick aus der immer noch offenen Schleuse. Wie eine riesige Wand walzte der alles unter sich zermalmende Ringwulst des Robotraumers heran ... Davor der sich soeben über den Schleusenrand schnel lende T uglante ... Nach ihm galoppierte Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalla dah III. heran, sprang mit wirbelnden Hufen in die Bodenschleuse und stürzte über den am Boden liegenden Marren Charyna. »Schutzschirme hoch!« »Prallfeld steht. Baut kontinuierlich ab ... 99 Prozent... 98 ...« Das Heulen und Krachen erstarb. Ein hartnäckiges Klingeln blieb in den Oh ren, übertönte das Rauschen des eigenen Blutes. »Individüalzählung?« Es war Cayrys Stimme. »Vierundsechzig Personen an Bord«, kam die wohlmodulierte Stimme des Logik-Programm-Verbundes. »Alarmstart!«, brüllte Kommandant Khemo-Massai. »Schnell weg hier, ver dammt noch mal!« »Bestätigt«, antwortete der LPV in das Zischen der sich schließenden Schleuse hinein. »Und >up, up and away