Nr. 356
Die List der Magier Eine alte Legende wird Wirklichkeit von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schrecken...
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Nr. 356
Die List der Magier Eine alte Legende wird Wirklichkeit von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest. Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling ausschalten. Diese Aktion wiederum brachte Atlan sofort dazu, sich den Spercoiden zu widmen und deren Möglichkeiten auszuloten. Während der Arkonide nun nach vielen gefahrvollen Abenteuern an Spercos Hof gelangt ist, wo er von innen heraus die Macht des Tyrannen untergräbt und alles dar ansetzt, den Unterdrückten von Wolcion die Freiheit zu bringen, blenden wir um nach Pthor. Nach dem Sturz der Herren der FESTUNG regieren dort die Odinssöhne. Doch auch einige der Magier von Oth, die sich bisher kaum in die pthorische Politik einge mischt haben, beginnen, lebhaften Anteil am weiteren Schicksal des Kontinents zu nehmen. Sie entwickeln einen Plan der Einflußnahme. Dieser Plan verhilft einer alten Legende zur Realität durch DIE LIST DER MAGIER …
Die List der Magier
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Die Hautpersonen des Romans:
Heimdall, Balduur und Sigurd - Die neuen Herren von Pthor.
Thalia - Odins Tochter bei den Magiern von Oth.
Copasallior, Koratzo, Querllo, Glyndiszorn, Kolviss und Breckonzorpf - Die Magier verhelfen
Odin zu neuem Leben.
1. »Thalia!« Die Stimme klang sehr leise, und der Ruf schien aus unendlicher Ferne zu kommen. Er verhallte ungehört. Die Frau, die in Ko ratzos Wohnhalle schlief, rührte sich nicht. Aber die ferne Stimme gab so schnell nicht auf. »Thalia!« Diesmal bewegten sich immerhin die Hände der Schläferin. Sie zuckten, ballten sich zu Fäusten, strichen ziellos durch wei che Felle und blieben knapp unter dem Kinn liegen. Lange Zeit blieb es still. Es schien, als könne nichts die Tochter Odins aus ih rem magischen Schlaf reißen. Ein Sonnenfleck wanderte langsam über den steinernen Boden der Halle. Je näher er dem Lager kam, desto heller wurde er. Und dann schien um ihn herum die Luft zu flim mern. Es knisterte leise. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde der Fleck zu einer glü henden Säule. »Thalia!« Diesmal war der Ruf laut und deutlich, und die Hitze fauchte über die Schläferin hinweg. Der Bann des Schlafes zerbrach. Die Erscheinung verschwand spurlos. Thalia richtete sich mit hastigen Bewe gungen auf. Sie wirkte hellwach, aber ihre sonst so strahlenden blauen Augen blieben verschleiert. Die Tochter Odins stieß die Felle zur Seite und schwang die Beine über den Rand des Lagers. Erst dann wurde ihr bewußt, daß sie sich an einem ihr völlig un bekannten Ort befand. Verständnislos sah sie sich um. Das Bett stand mitten in einem großen, hellen Raum mit rechteckigem Grundriß. Die Wände schienen aus Glas zu bestehen.
Schlanke, schmucklose Säulen aus grauem Metall stützten die ebenfalls gläserne Decke. Der Raum war größer als der Waffensaal im Schloß Komyr, und das stimmte Thalia nachdenklich, denn sie brachte die Größe der Halle automatisch mit der Frage in Ver bindung, wie mächtig wohl der Besitzer die ses Bauwerks sein mochte. Wie, beim Traum des Fafnir, war sie hier her gekommen? Thalia rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, als könnte sie damit ihr Gedächt nis wieder in Schwung bringen. Es änderte sich nichts. Leider ließ sich auch niemand blicken, der ihr auf ihre Fragen hätte antwor ten können. Helles Licht erfüllte die Halle. Die gläsernen Wände brachen die Sonnen strahlen. Es gab keine tiefen Schatten in ir gendwelchen Winkeln. Die Konturen aller Möbel schienen unscharf zu sein, fließend, beinahe beweglich, als wären all diese Ge genstände in Wirklichkeit lebende Wesen, die sich wartend auf den Boden kauerten. Trotzdem fühlte Thalia sich nicht bedroht. Ein Instinkt sagte ihr, daß keine unmittelba re Gefahr bestand. Zögernd stand sie auf. Sie wollte nach ei ner Tür suchen, um zu sehen, in welcher Ge gend Pthors sie sich befand. Automatisch sah sie an sich herab. Es war ein prüfender Blick, von der Notwendigkeit diktiert, über ungezählte Jahre hinweg die einmal gewählte Tarnung aufrechterhalten zu müssen. Demselben Antrieb entsprang der tastende Griff nach dem Kinn, zum unte ren Rand des Helmes – und dann traf ihr Handrücken nicht auf kühles Metall, son dern auf warme Haut, und auch ihr Blick fiel nicht auf Honirs Rüstung aus Leder und blauem Metall. Thalia stieß einen Laut des Erschreckens aus und betastete verwirrt das Gewand aus
4 federleichtem, schillerndem Gewebe. Wer hatte es gewagt, sie in dieses Zeug zu stecken? Wo war ihr Helm? Hatte man sie überfallen und bestohlen? Sie hörte hinter sich ein leises Klirren. Verschwommen erinnerte sie sich an einen Ruf, der sie geweckt hatte. Sie wirbelte her um, und ihre rechte Hand zuckte zur Hüfte hinab, wo sonst die Vars-Kugel am Gürtel hing, aber die Waffe befand sich natürlich auch nicht an ihrem Platz. Über das Bett hinweg sah Thalia Honirs Helm, der aufrecht auf einem niedrigen Tisch stand. Der Rubin über den Augen schlitzen funkelte in dem eigenartigen Licht. Vorsichtig ging sie um das Bett herum und entdeckte dann auch die Rüstung, die auf dem Boden lag und Thalia hier, an diesem Ort, unversehens an etwas erinnerte, was sie sonst gewissenhaft aus ihren Gedanken fern zuhalten suchte. War es Zufall, daß die Rüstung in ausge rechnet dieser Position liegengeblieben war? Thalia erschauerte. Das Bild vor ihren Augen verschwamm wie hinter einem Strom aus heißer Luft. Dort lag er, Honir, der strahlende Held, Sohn des großen Odin, der nur einmal in ei nem Kampf einen Fehler gemacht hatte … Thalia schüttelte sich. Nur mit Mühe löste sie sich aus dem Netz der Erinnerungen. Die Rüstung war leer. Wenn dennoch die VarsKugel dahin zeigte, wo einst Honirs letzter Gegner gestanden hatte, so war das ein un glücklicher Zufall, sonst nichts. Im übrigen war dort auch nicht der heiße, blutgetränkte Sand der Kampfstätte, sondern glatter, heller Steinboden. Etwas hatte geklirrt, und Thalia konzen trierte sich hastig auf die Suche nach der Quelle dieses Geräusches. Sie fand nichts. Allmählich wurde ihr die Sache unheimlich. In der ganzen Halle fand sie kein lebendes Wesen, und von draußen drang kein Wind hauch herein, den sie für das Klirren verant wortlich machen konnte. Sie gewann den Eindruck, daß das Klirren nur einem einzigen Zweck gedient hatte: sie
Marianne Sydow auf die Rüstung aufmerksam zu machen. Wenn das der Fall war, dann steckte viel leicht doch mehr hinter der Art, wie Helm und Panzer zueinander angeordnet waren. Thalia drehte sich um und starrte zurück – aber dann hörte sie eine Stimme, und jeder Gedanke an vergangene Schrecken erlosch. Diese Stimme! Die Tochter Odins schritt vorwärts wie ei ne Marionette, und mit traumwandlerischer Sicherheit wich sie allen Hindernissen aus und fand die Tür, obwohl es für jeden Frem den nahezu unmöglich schien, auf Anhieb diese getarnte Pforte zu entdecken. Mehr noch – Thalia kannte den Trick, mit dem man den Weg nach draußen öffnen konnte. Wie im Traum bewegte sie die Hände. Fri sche Luft strich herein. Der Wind führte den süßen Duft der Sternblumen mit sich, aber auch den Geruch nach Schnee und Kälte und den herben Kräutern der Berge. Thalia merkte davon nichts. Ihr wurde nicht einmal bewußt, daß sich die Antwort auf eine ihrer Fragen deutlich sichtbar ihren Augen darbot, denn draußen ragten die Gip fel hoher Berge in den Himmel. Dazwischen gähnten düstere Schluchten. Hier und da glänzte Schnee in der Sonne, und Gletscher schoben sich durch den Fels, und all das zu sammen gab es – wenn man die oft wech selnden Außenwelten einmal unbeachtet ließ – nur an einem Ort, nämlich in der Großen Barriere von Oth, in der die Magier lebten. Thalia sah und hörte nichts. Nur diese ei ne Stimme klang in ihren Ohren, und sie war wie betäubt davon. Selig lächelnd trat sie hinaus in den Son nenschein. Direkt vor ihr, am Rand der Schlucht, in schwindelerregender Nähe zu den jäh abfallenden Felsen, saßen zwei Männer und sprachen miteinander. Der eine hatte feuerrotes Haar – Thalia beachtete ihn überhaupt nicht. Aber der andere zog sie un widerstehlich an. Die ersten paar Meter legte sie lautlos zu rück. Dann war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie jubelte auf und sprang vorwärts. Der Mann am Abgrund sprang auf die Füße
Die List der Magier
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und rannte wie von Furien gehetzt einen Pfad entlang, der um das nördliche Ende der Schlucht herum zum nächsten Gipfel der Tronx-Kette führte. Thalia eilte ihm auf nackten Füßen nach. Sie war fest entschlos sen, ihre Chance zu nützen. Einmal mußte sie ihr Ziel schließlich er reichen. Aber sie kam nur ein paar hundert Meter weit. Dann war es, als hüllte warme Watte sie ein. Besinnungslos sank sie auf dem Pfad zusammen. Der blonde Magier, der vor ihr geflohen war, kehrte um und betrachtete Thalia mißtrauisch. »So geht es nicht weiter«, murmelte er kopfschüttelnd und sah dem Luftmagier Haswahu entgegen, der seit der Ankunft die ser Frau in der Tronx-Kette Tag und Nacht in Koratzos Nähe blieb, um bei eben solchen Zwischenfällen helfen zu können. »Das hal te ich nicht länger aus.«
* »Wir müssen den Bann brechen«, erklärte er seinen Freunden etwas später. »Ich verlie re sonst noch den Verstand. Behalte deinen Spott für dich, Estrala, mir ist es verdammt ernst! Ich kann nicht mehr ungestört arbei ten. Wenn ich schlafen will, muß ich mich absichern, als wäre ich in einem fremden Bezirk oder in den Dunklen Tälern selbst. Beim Essen muß ich ständig darauf gefaßt sein, daß sie neben mir auftaucht und ich al les stehen und liegen zu lassen habe.« Estrala kicherte, ohne sich um Koratzos wütende Blicke zu kümmern. Sie wartete seit langem auf eine Gelegenheit, den Stim menmagier für sich zu gewinnen, aber Ko ratzo blieb unnahbar. Estrala war unsterblich wie die meisten Magier aus der Barriere, und so gesehen war sie uralt. Aber sie hatte sich eine fast kindliche Mentalität bewahrt, und darum bereitete es ihr eine Menge Ver gnügen, Koratzo ausgerechnet mit diesem Problem kämpfen zu sehen. Dabei konnte der Stimmenmagier wirk lich nichts dafür, daß Thalia ihn auf Schritt
und Tritt verfolgte, sobald sie einmal zu sich kam. Alles lag nur daran, daß Jarsynthia aus purer Bosheit die Tochter Odins mit einem unglückseligen Liebeszauber belegt hatte. »Hättest du sie nicht hergeholt«, bemerkte Estrala spöttisch, »so hättest du jetzt deine Ruhe. Aber nein, es muß ja immer nach dei nem Kopf gehen.« Sie gähnte, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme und schlief ein. Koratzo warf Haswahu einen vorwurfs vollen Blick zu. »Entschuldige bitte«, murmelte der Luft magier, und die grünen Flecken unter seinen Augen ließen sein blasses Gesicht noch mü der erscheinen. »Meine Nerven sind auch nicht mehr die besten. Ich konnte es einfach nicht mehr mitanhören. Warum kann sie nicht ein einziges Mal den Mund halten!« »Sie hat es nicht so gemeint«, sagte Querllo beruhigend. »Vergiß es. Laß sie schlafen, sie kann uns bei der Lösung des Problems sowieso nicht helfen. Also, was können wir tun?« »Vielleicht wäre es am einfachsten, wenn Koratzo nachgibt«, überlegte Opkul und lös te damit eine mittlere Revolution aus. Antharia, die schwarzhäutige, katzenhafte Pflanzenmagierin, sprang empört auf den Tisch und stürzte sich auf Opkul, daß dieser voller Entsetzen zurückschreckte, mit der Bank nach hinten überkippte und bis unter den nächsten Tisch rollte. Querllo erwischte Antharia am linken Arm und hielt die Ma gierin fest, obwohl sie sich erbittert wehrte. »Soll ich sie auch noch schlafen schicken?« fragte Haswahu verwirrt, und ne ben ihm lachte Rischa, während Torla inter essiert beobachtete, wie Opkul sich in Si cherheit zu bringen versuchte. Zum Glück gab es in seiner Nähe nichts, was Antharia hätte beeinflussen können, sonst wäre er in ernste Schwierigkeiten geraten. »Schläfere ihn ein!« forderte Antharia wild und deutete, immer noch gegen Querllo kämpfend, auf Opkul, der bleich unter dem Tisch kauerte. »Für ein paar Tage können wir auf seine dummen Sprüche wohl ver
6 zichten. Worauf wartest du noch?« Aber Koratzo hatte dem Luftmagier schon die Hand auf die Schulter gelegt, und Has wahu hütete sich, dieses Zeichen zu mißach ten. Antharia fühlte sich nun einmal für Ko ratzo verantwortlich – auch Opkul hätte das bedenken müssen. »Schluß jetzt«, befahl Koratzo ärgerlich. »Antharia, du wirst Opkul in Ruhe lassen, hast du verstanden?« Ihre Augen glühten in mühsam verdräng ter Wut, und in ihre Stimme mischte sich ein drohender Klang, aber sie hörte auf, sich zu wehren, und als Querllo sie losließ, glitt An tharia gehorsam auf ihren Platz zurück. Op kul krabbelte unter dem Tisch hervor und schlug einen großen Bogen um die Pflanzen magierin. Das Schillern seiner violetten Au gen wirkte hektisch, und seine Finger zitter ten. »Das wollte ich nicht«, versicherte er ver stört, und dabei blickte er die anderen fle hend an. »Wirklich – ich habe mir nichts Böses dabei gedacht!« »Das glaube ich gerne«, gab Antharia bis sig zurück. »Mir scheint, daß du nicht nur an nichts Böses, sondern auch an alles andere nicht gedacht hast. Organe, die nicht benutzt werden, verkümmern. Du solltest deinem Gehirn nicht zu viel Ruhe gönnen!« »Das reicht!« fuhr Koratzo dazwischen. »Antharia, Opkul hat sich bereits entschul digt. Du wirst das jetzt auch tun!« »Das werde ich nicht! Er wollte, daß du …« Sie konnte nicht weitersprechen, denn Torla hielt ihr den Mund zu. »Kindchen«, sagte die Blickmagierin sanft. »Hast du nicht zugehört? Sieh dir den armen Opkul an. Du hast ihm übel mitge spielt. Willst du ihn zusätzlich mit all diesen Beleidigungen belasten? Rufe die Sprüche zurück – aber beeile dich dabei!« Das klang zum Schluß gar nicht mehr sanft, und Antharia zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Sie kannte Torlas Waffe, diese seltsamen Blicke, die die Luft knistern ließen und einen Gegner noch gründlicher
Marianne Sydow seines Bewußtseins beraubten, als Haswahus Atem des tiefen Schlafes es vermochte. Au ßerdem war Torla der kleinen Pflanzenma gierin auch in anderen Dingen überlegen. Die Blickmagierin spielte ihre Macht sehr selten aus – unter diesen Voraussetzungen hielt Antharia es für besser, vorerst aufzuge ben. »Also gut«, sagte sie ärgerlich. »Ich ent schuldige mich.« »Nicht so«, warnte Torla. »Die Formel – benutze sie, oder ich halte dich hier fest, bis du dich eines Besseren besonnen hast.« Antharia zog sich wie vor einem Sprung ein paar Zentimeter zurück, schaffte es je doch nicht, sich Torlas Händen zu entziehen. Niemand sprach. Alle starrten Antharia an. Selbst Koratzo traf keine Anstalten, die Pflanzenmagierin in Schutz zu nehmen. Resignierend murmelte sie die fremden, fast vergessenen Laute aus einer uralten Sprache, die die Magier lange vor ihrem Einzug in die Große Barriere benutzt hatten. Aus rein praktischen Erwägungen heraus hatten sie damals das Pthora übernommen. Die Ursprache wurde immer seltener be nutzt. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt gab es noch Situationen, in denen man sich der alten Formeln bedienen mußte. Jeder Magier kannte diese Laute, so daß Antharia keine Möglichkeit hatte, ihre Ent schuldigung mit irgendeiner hinterlistigen Tür für spätere Racheakte zu verbinden. Op kuls Gesicht gewann an Farbe, und er ent spannte sich etwas. Torla gab Antharia frei. Die Pflanzenmagierin sah die anderen der Reihe nach an. Unvermittelt wirbelte sie herum und rannte davon. Man hörte eine Tür zuschlagen, dann blieb es lange Zeit still. »So viel Aufregung um nichts«, seufzte Koratzo schließlich. »Hat denn keiner von euch daran gedacht, daß Jarsynthia eine so einfache Lösung sowieso verhindert hat? Glaubt ihr, ich laufe ohne Grund seit Tagen vor dieser Frau davon? Opkul, ich fürchte, deine Idee war nicht besonders gut!« »Ich habe nur laut gedacht«, verteidigte sich der andere.
Die List der Magier »Dann solltest du dir schleunigst andere Denkgewohnheiten zulegen«, versetzte Torla bissig. »Aber lassen wir das. Ich kann den Bann ebenfalls spüren. Antharia wurde nicht ohne Grund so wütend. Es hilft alles nichts, wir müssen Thalia von diesem Zauber be freien. Hier in der Tronx-Kette sind wir Jar synthia gegenüber im Vorteil. Wenn wir un sere Kräfte vereinen …« »Das reicht nicht«, wurde sie von Koratzo unterbrochen. »Darum geht es ja.« »Wir brauchen also die Hilfe anderer Ma gier?« fragte Rischa ungläubig. »So ist es.« »Aber das Ganze ist völlig aussichtslos! Wer sollte uns helfen? Er würde sich doch automatisch der Rache der Liebesmagierin aussetzen!« »Allerdings«, murmelte Koratzo nach denklich. »Das ist ja das Schlimme.« Er schwieg und sah seine Freunde an, dann nickte er grimmig. »Geht nach Hause, aber haltet euch be reit«, empfahl er. »Haswahu wird Thalia be wachen, und Querllo das Signal geben. Bis es soweit ist, wird über diese Angelegenheit nicht mehr gesprochen. Ich werde die Tronx-Kette verlassen, und es wäre peinlich, wenn Jarsynthia ausgerechnet dann angrei fen sollte. Seid also wachsam!« »Fürchtest du tatsächlich, daß unsere Sperren nicht halten könnten?« fragte Has wahu ungläubig, als er und Querllo mit dem Stimmenmagier allein waren. »Sie hat mich schon einmal belauscht«, erwiderte Koratzo. »Das ist erst wenige Ta ge her, und nicht einmal Glyndiszorn, der keinen Meter von mir entfernt stand, hat es rechtzeitig bemerkt. Ich traue nicht einmal den Stimmenkristallen, ehe wir nicht alle Verbindungen neu überprüft haben. Und da zu bleibt uns jetzt keine Zeit.« »Wenn Thalia von dem Bann befreit ist«, sagte Querllo gespannt, »soll sie dann die sem Fremden folgen?« »Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es bis dahin schon zu spät. Schade, daß wir jede Spur verloren haben. Vielleicht hilft
7 Glyndiszorn uns noch einmal. Es ist jetzt auch nicht so wichtig. Erst müssen wir die ses Problem lösen.« Koratzo wandte sich ab und verließ die Halle. Die beiden Magier sahen ihm schwei gend nach. Sie wagten nicht, ihn nach sei nem Ziel zu fragen, denn schon jetzt mochte Jarsynthia irgendwo im Hintergrund lauern. Haswahu setzte sich neben Thalia auf den Boden. Die Tochter Odins schlief tief und fest. Daran sollte sich nichts mehr ändern, bis Koratzo eine neue Entscheidung traf. Was immer Thalia auch aus diesem Schlaf gerissen haben mochte – Haswahu war fest entschlossen, es von weiteren Störmanövern abzuhalten.
2. Vor sehr langer Zeit, als die Magier noch um Rang und Macht stritten, war ein Weg entstanden, der aus der Tronx-Kette hinaus führte, den jedoch nur sehr wenige Personen kannten. Wa, die Höhlenmagierin, hatte die sen Gang geschaffen, der unbeirrbar einer bestimmten Gesteinsader folgte, unter Ber griesen hindurch, an den Ufern verborgener Flüsse entlang, durch Schluchten, in denen nicht einmal die Seelenlosen sich hatten an siedeln wollen. Jarsynthia kannte diesen Weg nicht. Au ßer Koratzo wußte seit Was Tod nur noch ein Magier über diese Verbindung Bescheid. Das war Parlzassel, in dessen Bezirk der Pfad für eine kurze Strecke ins Freie führte. Auf den Tiermagier war nicht unbedingt Verlaß, denn auch er folgte den Traditionen. Parlzassel interessierte sich herzlich wenig dafür, was außerhalb des Tales der Käfer vorging. Andererseits konnte er Jarsynthia nicht ausstehen, und private Abneigungen mochten ihn dazu bewegen, Koratzo wenig stens nicht absichtlich zu verraten. Denn der Stimmenmagier konnte nicht hoffen, völlig unbemerkt durch Parlzassels Bezirk zu kom men. Dort lebte die »Familie« des Tierma giers – eine Herde der verschiedensten Tie re, die jeden Eindringling aufspürten.
8 Um den Eingang zu dem geheimen Weg zu erreichen, mußte Koratzo in die Schlucht hinabsteigen, in der er die Bestien aus Kalm lech untergebracht hatte, an denen er seine magische Sprache erprobte. Durch die Kri stallhöhle schwebte er nach unten, trat ins Freie und durchquerte unbekümmert den Käfig einer Bestie, die den Magier auch oh ne böse Absicht aus purem Zufall hätte zer trampeln können. Das gewaltige Wesen zog sich vorsichtig zurück, als Koratzo in seine Nähe kam, und hob sich sogar auf die Hin terbeine, damit der Magier ungehindert die Nische im Fels erreichen konnte. Dort be fand sich ein Stein, den man mit einer einfa chen Geste in eine Tür verwandeln konnte. Koratzo fand es ärgerlich, sich – wenig stens vorerst – nur auf seine Füße verlassen zu müssen. Mit magischen Mitteln wäre er schneller vorangekommen. Aber er war fest entschlossen, sich diesmal gegen Jarsynthia durchzusetzen. Dazu gehörte, daß er äußer ste Vorsicht walten ließ. Die Tür schloß sich hinter ihm, und er war allein in der Dunkelheit. Vorsichtig ta stete er nach einem Mauervorsprung und fand dort eine Kerze und eine primitive klei ne Maschine, die auf absolut unmagische Art und Weise Feuer erzeugte. Die brennen de Kerze steckte er in einen winzigen Leuchter aus Kristall, dann machte er sich auf den Weg. An den Wandmarkierungen konnte er ab sehen, wie weit er bereits vorgedrungen war. Als er die Stelle erreichte, an der der gehei me Gang für ein paar hundert Meter ins Freie führte, schlich er lautlos bis an den Rand der Felsen und spähte nach draußen. Die Sonne stand schon tief. Der Sims, den er benutzen mußte, war schmal, und oft kro chen die schwarzen Nebel über ihn hinweg. Die Brücke, an deren einem Ende Howath Wache hielt, zeichnete sich tiefschwarz ge gen den Himmel ab. Mißtrauisch musterte Koratzo ein Rabenpärchen, das ganz in der Nähe seine tollkühnen Flugspiele trieb. Die Tiere benahmen sich völlig normal. Nichts deutete darauf hin, daß sie Beobachter im
Marianne Sydow Auftrag fremder Magier waren. Trotzdem zog Koratzo es vor, die überall in den Felsen schlummernden Energien um sich herum zu konzentrieren. Gegen die Seelenlosen hatte dieses Mittel nicht gewirkt, und auch die meisten Magier würden sich von dieser Tar nung nicht täuschen lassen. Trotzdem war es immer noch besser als gar nichts. Koratzo dachte mit Unbehagen daran, daß er draußen auf dem Sims ausgesprochen wehrlos war. Es war zu spät, um umzukehren und eine Waffe zu besorgen. Sobald er dieses Hinder nis überwunden hatte, würde er schneller vorankommen. Vorsichtig trat er hinaus. Die Nebel gerie ten in Bewegung, quirlten durcheinander und teilten sich in einzelne Wolken. Koratzo eilte den Sims entlang. Der Weg war sehr schmal, gerade breit genug, daß er darauf gehen konnte. Die Raben krächzten aufgeregt. Koratzo hatte keine Zeit, sich nach ihnen umzudre hen. Auch wenn sie ihn bemerkt hatten, galt es jetzt vor allem, sich vor dem Nebel in Si cherheit zu bringen. Das schwarze Zeug war nicht ungefährlich. Es konnte die Sinne ver wirren – und das war in dieser Umgebung mit einem Todesurteil gleichzusetzen. Er konnte den Eingang zum nächsten Teil des Tunnels bereits erkennen, da schob sich eine massive Mauer vor seinen Füßen aus dem Boden. Verblüfft blieb er stehen. Für einen Augenblick vergaß er sogar den Ne bel. Er streckte die Hände aus und berührte das Hindernis. Die Mauer bestand aus ge wachsenem Felsen. Sie reichte bis an den Abgrund heran und fügte sich auf der ande ren Seite des Weges nahtlos in die Wand der Schlucht ein. Koratzo tastete um die Ecke herum. Wenn er auf beiden Seiten Halt fand, konnte er sich vielleicht um die Mauer her um bis auf den Weg schwingen. Aber die Mauer war erstens zu dick, so daß seine Finger das andere Ende gar nicht erreichten, und zweitens war sie glatt, als hätte man sie poliert. Koratzo spürte nur zu deutlich die feindlichen Kräfte, die sich in
Die List der Magier diesem Gestein befanden. Zum Glück ruhten diese Kräfte. Es war eine alte Sperre, eine Falle, die sich selbst auslöste, sobald jemand den Sims betrat. Koratzo prüfte das Hindernis sehr gründlich, obwohl die schwarzen Nebel jetzt schnell vordrangen. Es schien, als würden diese Wolken durch ein gemeinsames Bewußtsein gelenkt. Koratzo war jedoch dieser Frage schon vor langer Zeit nachgegangen. Es gab nichts auf dem Boden der Schlucht, was man für das Verhalten der Nebelschwaden verantwortlich machen konnte. Als das schwarze Zeug ihn fast erreicht hatte, murmelte er ärgerlich eine Formel. Ei ne unsichtbare Sperre entstand. Die Nebel schwaden stießen dagegen und kamen nicht weiter. Aber sie blieben an ihrem Platz, als warteten sie nur auf eine günstige Gelegen heit. Das Krächzen der Raben war inzwi schen verklungen. Und Koratzo hatte immer noch keine Ahnung, wie er an der Mauer vorbeikam, ohne sie einfach zu zerstören. Es lag durchaus in seiner Macht, das Hindernis zu zerschmettern. Leider war damit die Ge fahr verbunden, daß derjenige, der die Falle errichtet hatte, aufmerksam wurde. Koratzo versuchte herauszufinden, mit welchem Magier er es in diesem Fall zu tun bekam. Zuerst hatte er Karsjanor im Verdacht. Der Kristallmagier war am ehesten dazu fä hig, den von Wa geschaffenen Weg zu be einflussen, ohne daß die Kristallmagierin es selbst aus großer Entfernung sofort bemerk te. Die Sperre konnte nicht erst nach Was Tod entstanden sein. Aber wenn Karsjanor diesen Zugang zur Tronx-Kette kannte, warum hatte er ihn dann nicht längst benutzt? Auch wenn es ihm wahrscheinlich nicht gelungen wäre, die »Rebellen« in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen, so hätte er doch für Ärger gesorgt, wenn er die leiseste Möglichkeit dazu sah. Koratzo verglich die Impulse aus der Mauer mit allen nur denkbaren Kräften, oh ne zu einem Erfolg zu gelangen. Das machte ihn nervös.
9 Sollte das Hindernis das Werk eines Sterblichen sein? Vielleicht war der betref fende Magier seit vielen Jahren tot, so daß Koratzo ihn längst vergessen hatte. Dieser Gedanke brachte ihn endlich auf die richtige Spur. Prinzipiell waren die Kräfte der Magier nicht das, als was sie den abergläubischen Bewohnern Pthors meistens erschienen. Ihre Werke hatten nichts mit Zauberei zu tun, auch nicht mit dem Umgang mit geheimnis vollen dunklen Mächten jenseits der Wirk lichkeit. Die Magier von Oth waren die Wis senschaftler dieses Landes. Allerdings arbei teten sie mit Formeln und Erkenntnissen, die ein Sterblicher nur nach intensiver, langer Schulung unter großen Schwierigkeiten überhaupt verstand – von Anwendung konn te dann immer noch keine Rede sein. Darum war die Zahl der Sterblichen, die jemals Be deutung im Reich der Magier erlangt hatten, sehr gering. Wenn sie sich trotzdem in der Barriere halten konnten, dann nur aus einem sehr einfachen Grund: Auch die unsterbli chen Magier waren gegen Unfälle und äuße re Gewalt nicht geschützt. Ab und zu wurde es nötig, den einen oder anderen Platz neu zu besetzen. Die Gesamtzahl der Magier mußte in sehr engen Grenzen konstant sein. Aus diesem Grund war es unwahrschein lich, daß ein Sterblicher die Mauer mit so viel magischer Energie versorgt hatte, daß sie – nach wahrscheinlich sehr langer Zeit – überhaupt noch entstehen konnte. Aber unter denen, die den Umgang mit Gesteinen über ein allgemeines Maß hinweg beherrschten, gab es einen, der – obwohl unsterblich – vor kurzer Zeit ums Leben gekommen war: Der Steinerne. Der Vogelmagier von den Hängen des Skolion war kein Freund der Rebellen aus der Tronx-Kette gewesen. Bei jeder Ausein andersetzung hatte er auf der Seite der Ma gier aus den Dunklen Tälern gekämpft. Jetzt erinnerte sich Koratzo auch daran, daß man einmal den Steinernen am Rand der südli chen Schluchten angetroffen hatte. Man be förderte ihn auf dem schnellsten Wege aus
10 der Tronx-Kette heraus und sah nach, ob der Vogelmagier irgendwo Unsinn angestellt hatte. Damals wurde nichts gefunden. Sie hatten an der falschen Stelle gesucht. Aufatmend wandte Koratzo sich an die Mauer, die ihm so viel Kopfzerbrechen be reitet hatte. Er merkte genau, daß die Falle nicht auf ihn speziell abgestimmt war. Der Vogelmagier hatte sie aufs Geratewohl ein gerichtet und darauf vertraut, daß nur je mand aus der Tronx-Kette durch sie in Schwierigkeiten geraten konnte. Er ließ die Steine zerbrechen. Im Fallen wurden die Trümmer kristallin und zer sprangen beim Aufprall in schimmernde Splitter. Hinter der berstenden Wand sah Koratzo schwarzen Nebel. Hastig verstärkte er die Sperren und weitete den geschützten Bereich aus. Trotzdem kam er nur langsam voran, denn bei jedem Schritt mußte er den Druck des Nebels ausgleichen. Das schwar ze Zeug schien zu ahnen, daß es den Kampf verloren hatte, denn es wich freiwillig zu rück, als er endlich das dunkle Loch in der Felswand vor sich sah. Aber Koratzo blieb wachsam. Einen Schritt war er noch von der schützenden Höhle entfernt, da prallten die Nebelschwaden ein letztes Mal nach vorne. Wenn er da seine Sperren bereits aufgege ben hätte, wäre er mit Sicherheit abgestürzt. Er schritt hastig in die Höhle hinein, bis er sicher war, daß der Nebel ihm nicht folgen konnte. Dann setzte er sich auf den Boden, stellte den Leuchter ab und legte die Hände flach auf die Felsen. Mit geschlossenen Au gen wartete er, während seine Kräfte sich re generierten. Diese tiefen Gesteinsschichten waren besonders reich an Energie, und Wa war einer heilenden Schicht gefolgt. Es dau erte nicht lange, da fühlte Koratzo sich wie neugeboren. Wieder folgte er dem Gang, bis er neue Zeichen an den Wänden entdeckte. Er lä chelte zufrieden und leuchtete die Felsen sorgfältig ab. Da waren sie, die kleinen, kri stallenen Punkte. Von jetzt an konnte er es sich bequemer machen. Vor allen Dingen würde Jarsynthia ihn hier auch dann nicht
Marianne Sydow aufspüren, wenn sie wußte, wo sie bei ihrer Suche anzusetzen hatte. Ein Fingerschnippen genügte. Die Kristalle griffen das Geräusch auf und hoben Ko ratzo an. Die Geschwindigkeit seines seltsa men Fluges konnte er durch seine Gedanken bestimmen, im äußersten Notfall reichte ein einziges Wort, um den rasenden Flug zu un terbrechen. Es verging ungefähr eine halbe Stunde, dann roch er frische Luft und befahl den Kristallen, ihn abzusetzen. Lautlos schlich er bis an den Ausgang. Es war Nacht. Der Himmel war übersät von fremden Sternen – daran war Koratzo gewöhnt, denn für Pthor waren alle Sterne fremd. Das unheilbringende Land hielt sich nirgends lange genug auf, um seinen Be wohnern Gelegenheit zu geben, sich mit dem nächtlichen Firmament auseinanderzu setzen. Der Planet, auf dem Pthor sich zur Zeit befand, schien keinen Mond zu besitzen – wenn doch, so hatte Koratzo ihn jedenfalls noch nicht gesehen. Die Dunkelheit machte dem Stimmenma gier wenig zu schaffen. Fast alle Bewohner der Großen Barriere konnten auch bei Nacht ausgezeichnet sehen. Der Eingang zum Tunnel lag auf halber Höhe des nördlichen Hanges über dem Tal der Käfer. Er war sonst geschlossen. Ein Ge wirr von riesigen Felsnadeln ragte ringsum her auf, viele Höhleneingänge zeichneten sich ab, und wer das Geheimnis nicht kann te, würde in diesem Labyrinth das sorgfältig getarnte Tor niemals finden. Koratzo stellte fest, daß zwischen den Felsen weder der Tiermagier noch ein Mitglied seiner »Familie« herumlief und trat rasch hinaus. Hinter ihm entstand die scheinbar massive Felswand neu. Koratzo schritt zwischen den Felsen hindurch und arbeitete sich quer zum Hang nach Westen vor. Als er auf einen schmalen Pfad stieß, bog er nach Süden ab und erreichte wenig später das Tal der Kä fer. Parlzassels Lieblinge erwarteten ihn be reits.
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Er ließ es zu, daß ein gutes Dutzend selt samer Tiere ihn umringte. Sie führten ihn weiter in das Tal hinein, zu Parlzassels Be hausung, die wie ein zerklüfteter Schemen in der Dunkelheit vor dem Stimmenmagier aufragte. Unter aufgeregtem Brummen, Grunzen, Quietschen und Schnattern drängten die Tie re ihn gegen die rauhe Wand. Koratzo hörte ein seltsames Knirschen, dann fiel Licht durch eine offene Tür. »Bringt ihn herein!« dröhnte Parlzassels Stimme durch die Nacht. Die Tiere schoben ihn vorwärts.
* Parlzassel war ein wahrer Riese, weit über zwei Meter groß und sehr kräftig gebaut. Wenn er seine Arme bewegte, zeichneten sich unter der glatten, braunen Haut dicke Muskelstränge ab. Wie er jetzt scheinbar entspannt in einem Sessel saß, einen riesigen Becher Wein in der Hand und die Füße auf den Rücken einer großen Raubkatze gelegt, glich er selbst einem sprungbereiten Tier, das sein Opfer durch die betont lässige Hal tung nur in Sicherheit zu wiegen versuchte. Koratzo trat aus dem Ring der Tiere her vor und hob die Hände zur Geste der Begrü ßung. »Was hast du hier zu suchen?« fragte Par lzassel düster. »Ich bin nur auf der Durchreise«, antwor tete Koratzo ruhig. »Wohin?« »Zum Crallion.« »Hm. Der neutrale Weg führt weit nörd lich von hier durch die Berge.« »Ich weiß. Leider konnte ich diesen Weg diesmal nicht benutzen.« »Warum das?« »Hör zu, Tiermagier«, sagte Koratzo lä chelnd. »Wir waren niemals Feinde. Ehe ich dir alles erkläre, könntest du mir einen Schluck Wasser und einen Platz zum Sitzen anbieten. Ich habe eine lange Reise hinter mir.«
Parlzassel betrachtete den anderen düster, dann lachte er scheinbar grundlos auf und deutete auf einen zweiten Sessel. »Setz dich da hin«, sagte er. »Jamel, mein Liebling, bringe diesem Mann einen Krug mit Wasser. Er mag keinen Wein.« Koratzo hörte sehr wohl den Spott in Par lzassels Stimme, aber er ging nicht darauf ein. Viele Magier vertrugen keinen Wein, und das wußte Parlzassel auch. Jamel war ein dickes, pelziges Wesen mit geschickten, weichen Pfoten, das lautlos umhereilte und Koratzo nicht nur einen Krug mit Wasser, sondern auch eine Schale mit Früchten brachte. Koratzo dankte dem Wesen. Jamel, der offensichtlich über eine gewisse Portion Intelligenz verfügte, blickte den Stimmenmagier aufmerksam mit seltsa men roten Augen an und kauerte sich dann neben seinem Sessel auf den Boden. »Er mag dich«, stellte Parlzassel trocken fest. »Und das heißt, daß ich dir trauen kann. Jamel irrt sich so gut wie nie. Wärest du in feindlicher Absicht hierher gekommen, oder hättest du mich angelogen, so wärest du jetzt schon nicht mehr bei Bewußtsein.« Er unterbrach sich, um einen Schluck Wein zu trinken, dann lachte er plötzlich laut. »Am schlimmsten hat er es mit Wortz ge trieben«, erklärte er vergnügt. »Der Lebens magier tauchte eines Tages bei mir auf und versuchte mir einzureden, daß Copasallior vergeblich versucht hätte, mich zu erreichen. Angeblich brauchte der Weltenmagier drin gend meine Hilfe. Ich wäre beinahe darauf hereingefallen, aber in Wirklichkeit wollte Wortz mich natürlich nur aus dem Tal locken, um hier eines seiner üblen Spiele vorzubereiten. Naja, Jamel, der den Braten sofort gerochen hatte, war diesem Zwerg weit überlegen. Ich brauchte ihm nicht ein mal zu sagen, was er mit dem Lebensmagier anfangen sollte. Er nahm Wortz am Kragen und schleppte ihn davon. Du hättest unseren alten Freund hören sollen. Er hat geschrien vor Wut und Angst, als Jamel ihn kreuz und quer durch den Fjars schleppte.«
12 Koratzo verzog das Gesicht. Auch wenn er Wortz nicht leiden konnte, erweckte Par lzassels Schilderung sein Mitgefühl. Der Fjars war ein Fluß, der im Tal der Käfer aus einer Höhle zutage trat und stellenweise mehrere hundert Meter breit war. Jeder wuß te, daß Wortz allergisch gegen Feuchtigkeit war. Jedenfalls dann, wenn es sich um kal tes, fließendes Wasser handelte. Keine Macht der Welt konnte den Lebensmagier von dieser instinktiven Angst befreien. »Also«, brummte Parlzassel schlecht ge launt, weil Koratzo von seinem Bericht nicht sehr belustigt zu sein schien. »Was willst du am Crallion?« »Ich habe etwas mit Copasallior zu be sprechen.« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Es wäre auch unwahrscheinlich, daß du dich auf die sen weiten Weg begibst, um die Kurven bis zum Gipfelplateau zu zählen«, versetzte Par lzassel bissig. »Ich habe bis in dein Tal einen geheimen Weg benutzt«, gab Koratzo zu. »Es war not wendig.« »Du hast Angst vor Jarsynthia, wie?« Koratzo schwieg. Er hatte keine Angst, aber es war sinnlos, das dem Tiermagier auseinanderzusetzen. Außerdem mochte es im Moment sogar von Vorteil sein, wenn Parlzassel das glaubte. »Nun, eure Streitigkeiten gehen mich ei gentlich nichts an«, brummte Parlzassel. »Aber mußt du mich unbedingt in diese Sa che hineinziehen?« »Ich habe nichts dergleichen vor.« »So! Und was, glaubst du, wird Jarsynthia annehmen, wenn sie dich hier im Tal der Käfer bemerkt?« »Sie wird von meinem Besuch nichts er fahren«, versicherte Koratzo. »Es sei denn, du selbst erzählst es ihr.« Parlzassel stand schwerfällig auf und blickte Jamel fragend an. Das Pelzwesen er widerte den Blick, sprang dann auf und eilte zur Tür. »Komm!« befahl Parlzassel. Koratzo folgte ihm nach draußen.
Marianne Sydow Parlzassel führte den Stimmenmagier zu einem niedrigen Gebäude. Er stieß eine Tür auf, die sich lautlos in den Angeln bewegte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Tür wieder geschlossen war und kein Licht schimmer nach draußen dringen konnte, hakte Parlzassel eine der überall in der Großen Barriere gebräuchlichen Kristallam pen von der Wand, und Licht flammte auf. Koratzo sah ein seltsames, schuppiges Geschöpf, das lang ausgestreckt auf einem weichen Lager aus Fellen lag. Zweifellos handelte es sich um ein ehemaliges Mitglied der Horden der Nacht. Allerdings war dem Wesen von seiner früheren Wildheit nichts anzumerken. Koratzo bückte sich und be trachtete es aufmerksam, hütete sich jedoch, es mit seinen Händen zu berühren. Das We sen war nicht bei Bewußtsein. Es stand dicht vor der Schwelle zwischen Leben und Tod. »Das ist Glonnis«, sagte Parlzassel leise. »Seit einiger Zeit ist er krank. Langsam, aber sicher wird er immer schwächer, und nun wird er sterben. Bevor er das Bewußt sein verlor, sagte er mir, daß etwas ihn aus saugte. Ich habe getan, was ich konnte, aber es scheint, als reiche meine Kunst in diesem Fall nicht aus.« »Wie lange hat er nicht aus dem Dämmer see getrunken?« fragte Koratzo. »Es ist lange her«, gab Parlzassel zu. »Aber er ist schon seit vielen Jahren bei mir und hat die kritische Phase längst überwun den. Außerdem habe ich sofort einen meiner geflügelten Freunde losgeschickt, als ich die ersten Symptome bemerkte. Glonnis hat mehr von dem Wasser getrunken, als nötig gewesen wäre. Es hat nicht geholfen.« Der Stimmenmagier sah Glonnis nach denklich an. Diese Möglichkeit schied also aus. Korat zo wußte aus eigener Erfahrung, daß die Be stien von Kalmlech lange Zeit ohne das Wasser aus dem Dämmersee auskamen. Oft reichte es auch, in Orxeya etwas Fleisch zu besorgen, in dem die Kraft des künstlich aufgeladenen Wassers konserviert war. Kam es wirklich zu ernsten Komplikationen, so
Die List der Magier reichte normalerweise eine winzige Menge dieses Wassers, um selbst die riesigste Be stie wieder auf die Beine zu bringen. »Kannst du genau sagen, wann es ange fangen hat?« fragte er. »Ein paar Tage, bevor Copasallior uns wegen Ragnarök zum Crallion rief«, antwor tete Parlzassel. »Glaubst du, daß es da einen Zusammenhang gibt?« »Ich weiß nicht recht.« Koratzo dachte an den Großen Knoten, der die Barriere umschloß. Zu dem von Par lzassel genannten Zeitpunkt hatte dieser Knoten sich noch auf einen vergleichsweise winzigen Bereich innerhalb der ORSAPA YA beschränkt. Er konnte sich nicht vorstel len, daß ein so kleines und nebelhaftes Et was aus derart weiter Entfernung Glonnis beeinflußte – und alle anderen Wesen dieser Art verschonte. Er schüttelte den Kopf. »Glyndiszorn hat sicher nichts damit zu tun«, murmelte er. »Darf ich ihn anfassen?« »Ich kann nichts mehr für ihn tun«, erwi derte Parlzassel resignierend. »Du kannst al so nichts mehr verderben. Versuche nur dein Glück.« Koratzo strich vorsichtig über Glonnis' Hals und fühlte das Blut, das träge durch die Adern dicht unter der schuppigen Haut pul sierte. Er wünschte, Querllo wäre zur Stelle, dessen heilenden Hände fast jede Wunde und jede Krankheit spurlos verschwinden ließen. Aber der Lichtmagier wartete im Be reich der sieben Gipfel auf Koratzos Zei chen. Es war schier unmöglich, ihn zu die sem Zeitpunkt aus der Tronx-Kette in das Tal der Käfer zu rufen. Der Konflikt mit Jar synthia und ihren Anhängern spitzte sich zu. Koratzo setzte sich selbst einem kaum ver tretbaren Risiko aus, indem er die Reise zum Crallion wagte. Beinahe unbewußt machte er den Herz schlag des Monstrums hörbar. Es war ein dumpfes, verzerrtes Pochen, denn Glonnis besaß insgesamt vier Herzen, die in einem komplizierten Rhythmus zusammenarbeite ten. Parlzassel stand schweigend daneben. Er litt sichtlich unter seinem Unvermögen,
13 etwas für dieses Wesen tun zu können. Der Tiermagier hatte ein eigenartiges Verhältnis zu seinen Schützlingen. Früher hatte er seine Tiere als lebende Waffen eingesetzt, und oh ne Parlzassels Hilfe wären die Horden der Nacht wahrscheinlich niemals entstanden – wenigstens nicht in der Form, wie viele Welten sie kennen und fürchten gelernt hat ten. Jetzt dagegen betrachtete er all diese Wesen als seine Freunde. Glonnis mochte ein noch so schreckliches Monstrum gewe sen sein – Parlzassel hatte es gezähmt und in seine »Familie« eingegliedert. Koratzo lauschte dem Pochen und über legte, ob es etwas half, wenn er diese trägen Laute beeinflußte. Er versuchte es. Es ging nicht. Das machte ihn mißtrauisch. Wieder tastete er Glonnis ab. Diesmal machte er nur das hörbar, was er mit den Fingern aufspürte. Das erste Herz saß dicht unter dem rech ten Vorderbein, das zweite leicht nach rechts verschoben darunter, das dritte wieder ein Stückchen tiefer, und das vierte … »Es fehlt!« sagte Koratzo verblüfft. Er drehte sich nach Parlzassel um. »Was ist los?« fragte der Tiermagier ver wirrt. »Ich fühle drei Herzen«, erklärte Koratzo. »Aber alles an diesem Körper ist auf vier Herzen abgestimmt.« »Natürlich. Glonnis ist schließlich so ge wachsen. Er braucht seine vier Herzen …« »Eben«, wurde er von Koratzo unterbro chen. »Man hat ihm eines gestohlen.« »Wer könnte so etwas tun? Und außerdem – ich hätte die Wunde bemerken müssen, ganz abgesehen davon, daß ich selbstver ständlich den Pulsschlag untersucht habe.« »Hm«, machte Koratzo und sah Glonnis zweifelnd an. Konnte es so etwas überhaupt geben? Hätte das Wesen nicht sofort sterben müs sen? Aber es gab eine Magierin, der eine sol che Operation mit einiger Sicherheit gelun gen wäre. Nicht nur das, sie hatte auch die Mittel, alle Spuren zu beseitigen und dafür
14 zu sorgen, daß Glonnis noch lange Zeit am Leben blieb. »Du solltest Srika einmal fragen«, sagte er, »ob sie es alleine getan hat, oder ob sie Helfer hatte. Außerdem denke ich, daß sie dieses Wesen heilen könnte – sogar ohne das gestohlene Herz zurückzugeben.« »Ich werde Glonnis niemals diesem sadi stischen Weib ausliefern!« rief Parlzassel impulsiv. »Dann wird dieses Wesen sterben.« Parlz assel starrte Koratzo fassungslos an. »Du meinst es wirklich ernst«, stieß er aus. »Du traust es Srika zu, daß sie unbe merkt ins Tal der Käfer gekommen ist, um Glonnis zu betäuben und zu operieren – und das alles, ohne von mir oder meinen Freun den bemerkt zu werden.« Das klang in der Tat ziemlich unwahr scheinlich. »Hast du ihn nicht irgendwann in der letz ten Zeit fortgeschickt?« fragte Koratzo. Par lzassel setzte seine Tiere oft für Botengänge ein. »Nein. Glonnis nicht. Das Risiko war mir zu groß. Er ist zwar ein recht guter Flieger, aber er ist nicht klein und wendig genug, um sich bei Gefahren schnell in Sicherheit brin gen zu können.« Koratzo nickte. Das leuchtete ihm ein. Dieses Ungetüm mußte Aufsehen erwecken, wo immer es auch auftauchte – erst recht dann, wenn es durch die Luft segelte. Glon nis maß von der Nase bis zur Schwanzspitze etwas über zehn Meter. Flüchtig dachte der Stimmenmagier an die Seelenlosen, die vor kurzem unter sehr mysteriösen Umständen aus der Barriere verschwunden waren. Parlzassel hatte einen als Diener in seinem Tal beschäftigt. Korat zo hatte den Tiermagier sogar in Verdacht, daß er den Seelenlosen als ein weiteres Mit glied seiner »Familie« betrachtet hatte, näm lich als ein gut dressiertes, anpassungsfähi ges Tier. Zweifellos war es eine arge Enttäu schung für Parlzassel gewesen, als er fest stellen mußte, daß auch sein Seelenloser ihn im Stich gelassen hatte. War der Seelenlose
Marianne Sydow auch an diesem Diebstahl beteiligt? Koratzo verneinte diese Frage sofort. Es hätte bedeutet, daß der Seelenlose zumindest mit Srika bewußt zusammengearbeitet hatte, und das war völlig ausgeschlossen. Die Ma gier hatten zwar die weißhäutigen Wesen gerne für grobe Arbeiten benutzt, aber kei ner hatte sich jemals über ein bestimmtes Maß hinaus auf sie verlassen. Ganz und gar undenkbar war es, die Seelenlosen an einer Intrige gegen einen anderen Magier zu betei ligen. Srika hatte allen Grund, gerade Parlz assels Diener zu fürchten, denn sie hatte mehr als einmal versucht, einzelne Bewoh ner des Tales der Käfer zu entführen. »Es gibt nur eine Antwort«, murmelte er schließlich. »Jarsynthia hat die Sache einge fädelt. Sie hat die Mittel dazu, und auch sonst entspricht das alles ihrem Charakter. Srika alleine hätte entweder Glonnis gleich ganz mitgenommen, oder ihm ein anderes Herz eingepflanzt, so daß du niemals eine Veränderung bemerkt hättest. Nur Jarsynthia konnte auf eine so scheußliche Idee kommen und Glonnis langsam zugrunde gehen las sen. So ist es auch zu erklären, daß wir vier Herzen zu hören glauben, wo ich nur drei aufspüren kann.« »Wenn es so ist …« »Halt, Parlzassel! Denke zuerst nach, ehe du zurückschlägst! Jarsynthia tut nichts ohne Grund!« Parlzassel wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah auf Glonnis hinab. »Wie mag sie es angestellt haben?« fragte er und gab sich gleich darauf selbst die Ant wort: »Sie hat ihn zu Srika gebracht und hier ein Trugbild aufgebaut, wie sie es immer macht. Natürlich, das ist die einfachste Lö sung. Wahrscheinlich hat sie zugeschlagen, als ich mit dem Seelenlosen unterwegs zum Rand war. Woher hätte ich wissen sollen, daß es diesmal keinen Weg nach draußen gab? Ich hatte gehofft, ein paar neue Tiere fangen zu können. Wir waren ein paar Tage lang abwesend. Zwar ließ ich aufmerksame Wächter zurück, aber es kann Jarsynthia nicht schwergefallen sein, diese Tiere mit
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ihren magischen Kräften zu täuschen. Wa rum hat sie mir das angetan?« Wieder schwieg er und dachte nach. Ko ratzo sah Glonnis mitleidig an. Er hätte dem Wesen gerne geholfen, aber er wußte, daß er hier nichts ausrichten konnte. Wenn über haupt, dann hatte nur Srika die Möglichkeit, dieses Wesen noch zu retten. Er ahnte aber auch, daß sie die Verbundmagierin kaum noch rechtzeitig ins Tal der Käfer holen konnten – falls sie sich überhaupt bereit er klärte, etwas zu unternehmen. »Sie wird alles leugnen«, sagte Parlzassel, der offenbar dieselben Gedanken verfolgt hatte. »Bis ich genug Beweise zusammenge tragen hätte, wäre es für Glonnis zu spät.« Er bückte sich und strich sanft mit der rechten Hand über den gewaltigen Kopf des Wesens. Koratzo wandte sich schweigend ab. Glonnis war tot. Der Tiermagier hatte die Konsequenz aus seinen Erkenntnissen gezogen. Koratzo kehrte zurück in Parlzassels Wohnhalle. Jamel folgte ihm lautlos, zeigte ihm einen Raum, in dem er die Nacht ver bringen konnte, und eilte dann wieder da von. Als Koratzo am nächsten Morgen die Halle betrat, war Parlzassel gerade beim Frühstück. Er winkte den Stimmenmagier zu sich heran. Schweigend aßen sie. Anschlie ßend gingen sie nach draußen. »Ich bringe dich zum Crallion«, sagte Parlzassel düster und deutete auf zwei riesi ge Vögel, die sattelähnliche Gebilde trugen. Während des Fluges dachte Koratzo plötzlich daran, daß Glonnis' Ende auch sei ne guten Seiten hatte: Wenn es zu einer Ent scheidung kam, wenn die positiven Kräfte der Magie sich doch noch erhoben, um Jar synthia und ihre Freunde in ihre Schranken zu verweisen, dann würde wenigstens Parlz assel nicht zu ihren Gegnern zählen.
3. Parlzassel hielt sich nicht lange am Cralli on auf. Er setzte Koratzo vor Copasalliors Höhlen ab, grüßte den Weltenmagier nur
von weitem und flog mit seinen Riesenvö geln zum Tal der Käfer zurück. »Was gibt es?« fragte Copasallior und starrte Koratzo mit seinen dunklen Basaltau gen unverwandt an. »Ich brauche deine Hilfe«, erwiderte Ko ratzo resignierend. »Es geht um Thalia. Wir können Jarsynthias Bann nicht brechen.« Copasallior überlegte eine Weile, dann drehte er sich abrupt um und ging in seine Höhlenwohnung. Koratzo folgte ihm. Er machte sich darauf gefaßt, daß er seine gan ze Überredungskunst würde aufbieten müs sen, um Copasallior zur Mitarbeit zu bewe gen. Er war sehr überrascht, als der Welten magier sich gelassen an einen Tisch setzte, seine sechs Hände flach auf die Platte legte und so – ohne das geringste Zeichen von Hinterlist – erklärte: »Ich werde den Bann brechen. Ihr müßt mir dabei helfen.« Koratzo war zuerst sprachlos. »Welche Gegenleistung verlangst du von mir?« fragte er schließlich. »Eure Hilfe.« »Wobei?« Copasallior lehnte sich zurück und ent spannte sich. »Ich war in der FESTUNG, wie du ja weißt, und dort habe ich den Söhnen Odins ein Versprechen gegeben. Sie wollen ihren Vater beschwören, wollen ihn körperlich wiedererstehen lassen. Du kannst dir sicher denken, auf welches Hindernis sie dabei sto ßen – Thalia fehlt in ihrem Kreis. Sie kön nen mit ihrer Schwester nichts anfangen, und dagegen sind auch wir Magier einiger maßen machtlos. Die drei würden das leider niemals begreifen. Also bin ich gezwungen, ihnen etwas vorzuspielen.« Koratzo dachte darüber nach, wie Copa sallior die Söhne Odins hereinzulegen ge dachte, aber ihm fiel die richtige Lösung beim besten Willen nicht ein. »Wer soll sich als Odin ausgeben?« fragte er, als Copasallior nach mehreren Minuten immer noch schwieg. »Jemand«, sagte Copasallior gedehnt, »der wie kein anderer für diese Rolle geeig
16 net ist. Der Odin genau kennt – und diese drei Starrköpfe in der FESTUNG dazu. Und der außerdem sein ganzes Leben damit ver bracht hat, anderen in einer Maske entge genzutreten.« Koratzo brauchte einen Augenblick, um Copasalliors Antwort zu verdauen. »Thalia!« stieß er dann hervor. »Natürlich – das ist die Lösung! Wann bist du auf diese Idee gekommen?« »Vor ein paar Minuten«, sagte Copasalli or trocken. »Sonst wäre ich längst zu dir ge kommen, um alles vorzubereiten. Was meinst du, wird sie mitspielen?« »Das wird darauf ankommen, was sie in der Rolle ihres Vaters anstellen soll. Opkul hat sie oft beobachtet. Wir wußten ja, daß Ragnarök irgendwann kommen mußte und daß dann die Kinder Odins mit großer Wahrscheinlichkeit den Platz der alten Herr scher einnehmen würden. Thalia schien noch am ehesten dem Bild jener Herrscher zu entsprechen, die wir aus der Tronx-Kette uns für die Zeit nach Ragnarök erhofften.« »Mit anderen Worten – sie würde mögli cherweise meine Pläne unterstützen.« »Ja.« Copasallior legte zwei seiner sechs Hände übereinander, ein Zeichen dafür, daß er sich unsicher fühlte. Koratzo wartete schwei gend. Er dachte daran, daß noch vor kurzer Zeit ein solches Gespräch zwischen ihm und dem Weltenmagier absolut unmöglich gewe sen wäre. »Du hast deinen Traum niemals aufgege ben, wie?« fragte Copasallior schließlich. Koratzo konnte sich die Antwort sparen. »Also gut«, murmelte Copasallior nach denklich. »Versuchen wir es! Ich hatte ge hofft, daß die Söhne Odins von selbst den richtigen Weg finden würden, aber ohne einen äußeren Anstoß wird sich unter ihrer Herrschaft offensichtlich gar nichts ändern. Allerdings sollten wir über diesen hochflie genden Traumtänzereien nicht vergessen, was da auf uns zu kommt!« »Ich habe nichts vergessen«, versicherte Koratzo. »Aber du mußt zugeben, daß die
Marianne Sydow Entscheidung irgendwann fallen mußte. Wa rum nicht jetzt? Die Zeit ist reif dafür.« »Nicht so eilig«, mahnte Copasallior. »Eine Frist bleibt uns schließlich noch. Wir müssen ja nicht der ganzen Barriere verkün den, was Thalia in der FESTUNG tun soll. Außerdem brauche ich die Zustimmung der anderen.« »Rufe sie zusammen«, sagte Koratzo kalt. »Und bereite ein Begräbnis für Thalia vor. Noch bevor eure Entscheidung gefallen ist, wird die Tochter Odins die Augen für immer geschlossen haben.« »Wer sollte es wagen, sie auch nur zu be drohen, solange sie sich bei euch in der Tronx-Kette befindet?« Koratzo biß die Zähne zusammen. Er war überzeugt davon, daß Copasallior längst wußte, daß Koratzo nicht länger für Thalias Sicherheit garantieren konnte. Es gab genug Hinweise darauf, daß die Sperren durchlö chert worden waren. Fünfmal war Thalia aus dem magischen Schlaf erwacht. Solange Jar synthias Bann nicht zerbrochen wurde, konnte die Liebesmagierin Thalia jederzeit als eine Art Relais benutzen, um die Ge schehnisse in der Tronx-Kette zu beeinflus sen. Copasallior starrte Koratzo an und wartete geduldig. Dem Stimmenmagier blieb keine Wahl. So bitter es auch sein mochte – er mußte eingestehen, daß Jarsynthia ihn in diesem Punkt überlistet hatte. »Jarsynthia und die anderen scheinen ent schlossen zu sein, es diesmal auf die Spitze zu treiben«, sagte er leise. »Reicht dir das? Oder soll ich dir jeden Punkt einzeln ausein andersetzen?« Copasalliors Gesicht blieb völlig aus druckslos. »Du hast einen Fehler gemacht«, stellte er fest. »Du hättest Thalia niemals in die Bar riere holen dürfen.« Koratzo hielt es nicht länger aus. Er sprang auf und verließ die Höhlenwohnung. »Warte auf mich!« rief Copasallior ihm noch nach. »Ich bin in einer Stunde hier fer tig.«
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Der Weltenmagier erhielt keine Antwort.
* Koratzo schritt eilig über das Plateau, ein Stück die Serpentinenstraße hinab und dann über einen schmalen Pfad bis an einen mit Gras bewachsenen Platz, von dem aus er weit über die Berge blicken konnte und sich gleichzeitig halbwegs sicher vor neugierigen Magiern glaubte. Er setzte sich hin und starrte in die Dunkelheit. Die Schneefelder einiger Gipfel glänzten matt im Sternenlicht. In der Tiefe glühten zahllose Lichter. Jeder magische Bezirk zeigte selbst aus dieser Höhe charakteristi sche Einzelheiten. Copasalliors Serpentinen straße war mit dünnen Leuchtsäulen verse hen, die in geisterhaftem Blau schimmerten. Entlang der neutralen Wege zogen sich Ket ten von weißleuchtenden Kristallkugeln da hin. Einige Luftschiffe waren von hier aus zu sehen – ihre Gondeln waren in silbriges Licht getaucht. An anderen Stellen leuchtete es in allen Farben aus tiefen Schluchten oder sanften Tälern. Als er am Tage mit Parlzas sel über die Berge geflogen war, da hatte die Barriere aus der Höhe fast verlassen ge wirkt. Man hätte annehmen können, daß ent weder kein einziger Magier in diesen Bergen lebte, oder daß die Bewohner der ganzen Gegend sich vollzählig in irgendwelchen Höhlen versteckt hatten. Jetzt, in der Dun kelheit, sah alles ganz anders aus. Jemand, der sich in der Barriere nicht auskannte, wä re wahrscheinlich sogar zu dem Schluß ge kommen, daß sich hier nicht rund vierhun dertfünfzig Magier, sondern mindestens ein paar tausend aufhielten. Koratzo war nicht in der Stimmung, die herrliche Aussicht zu genießen. Im Gegen teil – diese vielen Lichter brachten ihm nur noch deutlicher zu Bewußtsein, in welch en gen Grenzen sein Leben verlief. Und es gab keine Chance, daß sich daran jemals etwas änderte. Nie war ihm diese Erkenntnis so de primierend vorgekommen wie in dieser einen Nacht.
Er hatte gewußt, welches Risiko er ein ging, als er ausgerechnet Copasallior um Hilfe bat. Aber er hatte auch gehofft, daß der Weltenmagier sich an die ungeschriebenen Gesetze hielt. Wenigstens hätte Copasallior fair bleiben können. Er wußte schließlich, daß Koratzo nicht für sich alleine sprechen konnte. Die Magier der Tronx-Kette bildeten eine Einheit. Wenn Copasallior dem Stim menmagier vorwarf, einen Fehler begangen zu haben, so traf diese Anschuldigung auch die anderen. Und das war besonders schlimm. Was, beim Geist der FESTUNG, wollte Copasallior auf diese Art erreichen? Es war absolut undenkbar, ihn in die Tronx-Kette zu lassen, ehe nicht dieser Vor wurf aus der Welt geschafft war. Wenn Ko ratzo jetzt so tat, als wäre nichts geschehen, dann bedeutete das, daß er sich – und alle seine Freunde – dem Weltenmagier bedin gungslos unterwarf. Dann waren die Magier in der Tronx-Kette nicht mehr frei. Copasal lior mußte doch wissen, daß Koratzo nicht in dieser Weise über das Schicksal der anderen entscheiden konnte – vorausgesetzt, der Stimmenmagier selbst wäre überhaupt ge willt, sich geschlagen zu geben. Aber wenn er das Problem um Thalia lö sen wollte, brauchte Koratzo den Weltenma gier. Es brachte also auch nichts ein, auf der Stelle in die Tronx-Kette zurückzukehren und dort zu versuchen, durch eine Demon stration der eigenen Kräfte Copasalliors Vorwurf zu widerlegen. Blieb noch ein Weg: Koratzo hatte das Recht, in diesem Fall die Angelegenheit im magischen Zweikampf zu regeln. Copasallior und Koratzo waren einander ebenbürtig. Sie beherrschten verschiedene Arten der Magie, aber ihre persönlichen Vor- und Nachteile hoben sich gegeneinan der auf. Ein Zweikampf war darum sinnlos. Beide Magier würden ihre magischen Kräfte in einem solchen Kampf restlos verbrauchen – und dann nicht einmal mehr beurteilen können, worum es bei ihrem Kampf gegan gen war.
18 »Das wäre doch großartig – für gewisse Leute«, sagte eine sanfte Stimme mitten in Koratzos Kopf. Der Stimmenmagier sprang unwillkürlich auf. »Scher dich weg, Kolviss!« befahl er scharf. »Das ist nicht dein Problem!« »Wirklich nicht?« fragte der Traumma gier mit seiner Gedankenstimme spöttisch. »Es wird alles so kommen, wie es vor langer Zeit vorhergesagt wurde. Allerdings – wenn man ein paar Leute dazu bringen könnte, sich ausgerechnet jetzt auf sinnlose Prüge leien einzulassen … Ja, ich denke, das wäre ein großer Vorteil!« Koratzo schwieg. Er bemühte sich sogar, seine Gedanken vor Kolviss geheimzuhal ten. Das war nicht einfach, denn ihm drängte sich ein fürchterlicher Verdacht auf, und er war sich nicht sicher, auf welcher Seite der Traummagier stand. »Was für eine Frage!« spottete Kolviss ungerührt. »Laß mich allein!« bat Koratzo. »Ich muß in Ruhe darüber nachdenken.« »Von mir aus. Eine Lösung wirst du so wieso nicht finden.« Koratzo hatte keine Ahnung, ob der Traummagier sich damit wirklich zurückge zogen hatte, aber es spielte wahrscheinlich auch kaum eine Rolle. Kolviss konnte sich jederzeit in seine Gedanken einschalten, oh ne daß er etwas davon merkte. Es gab kaum etwas in der Großen Barriere, was dem Traummagier auf lange Sicht verborgen bleiben konnte. Koratzo war sich jetzt sicher, daß mit Co pasallior etwas nicht stimmte. Es war ja auch unsinnig, anzunehmen, der Weltenma gier würde sich freiwillig in eine so unange nehme Lage manövrieren. Es gab auch kaum eine Frage, wer hinter der ganzen Sa che steckte. Aber was, um alles in der Welt, konnte Koratzo unternehmen? Der Liebesmagierin war er nicht gewach sen, besonders dann nicht, wenn diese – wie auch sicher jetzt – vom Lebensmagier Wortz
Marianne Sydow unterstützt wurde. Was mochten die beiden mit Copasallior angestellt haben? Lag ein Bann um ihn, ähn lich wie es bei Thalia der Fall war? Nein, dachte Koratzo entschieden. Das hat bei Odins Tochter funktioniert, aber bei Copasallior kommen sie damit nicht durch. Sie könnten ihn natürlich auch anders über listet haben. Es wäre einfach, ihn an einen Ort zu locken und ihn dort niederzuschla gen. Nur – es gibt kein Gefängnis, aus dem Copasallior nicht entfliehen könnte, sobald er das Bewußtsein wiedererlangt hat. Und dann wäre gerade jener Kampf nicht mehr hinauszuschieben, den die beiden gerne ver zögern möchten. Copasallior wäre ja ge zwungen, zurückzuschlagen … Plötzlich hatte er eine Idee. »Jeder macht Fehler«, murmelte er zufrie den vor sich hin. »Besonders dann, wenn er andere Leute auf besonders raffinierte Weise hereinlegen möchte.« Er stand auf und ging zur Straße zurück. Er sah zum Plateau hinauf – nichts rührte sich dort oben. Wie konnte er den Crallion verlassen, oh ne daß Jarsynthia oder Wortz es bemerkten? Wenn sie ihn aufstöberten, würden sie auf alle weiteren Intrigen verzichten, denn dann ging es um ihre nackte Existenz. Er war erst sicher, wenn er wieder im Bereich der sie ben Gipfel stand, und der Weg dorthin war weit. Weniger weit entfernt war der Gnorden, und wenn Glyndiszorn auch nicht gerade darauf erpicht war, anderen Leuten zu hel fen, so würde er in diesem Fall doch hof fentlich einsehen, daß er dringend gebraucht wurde. Koratzo ging das Risiko ein. Er ließ alle magischen Sperren fallen. Er kam sich nackt und schutzlos vor, als er dann über die Stra ße lief und den steilen Hang hinaufkletterte. Zum Glück gab es genug Büsche und Bäu me, zwischen denen er sich verbergen konn te, und an Wurzeln und Ranken zog er sich immer weiter nach oben, bis er einen der drei Wasserfälle erreichte. Er balancierte
Die List der Magier über einen umgebrochenen Baum über stru delndes Wasser hinweg, und gerade als er auf der anderen Seite wieder festen Boden unter den Füßen hatte, hörte er eine Stimme. »Wo steckt dieser Narr, ich …« Koratzo erschrak, beherrschte sich aber im letzten Augenblick und tat nichts, um sich nach altbewährter Weise zu schützen. Statt dessen zwang er sich dazu, ganz still auf dem Rücken im nassen Moos liegenzu bleiben. Er ließ seine Umgebung auf sich einwirken, nahm – wie er es vor langer Zeit einmal von Antharia gelernt hatte – die ruhi gen, sanften Regungen der Pflanzen auf und paßte sich ihnen an, bis er zu einem Stück in diesem Moosteppich zu werden schien. So lag er lange Zeit, und immer wieder hörte er Rufe und Geräusche, die ihm verrieten, daß jemand nach ihm suchte. Natürlich nahmen Jarsynthia und Wortz an, daß Koratzo geflohen war, und da der Stimmenmagier in Copasalliors Reich seine speziellen Kristalle kaum vorfand, war er gezwungen, sich zu Fuß den Berg hinabzu begeben. Sie kamen gar nicht auf die Idee, ihn ausgerechnet in der Nähe der Wasserfäl le zu suchen, die ja dem Gipfel noch näher waren als die Wohnhöhlen selbst. Später, als sie ihn nirgends gefunden hatten und nun auf magische Weise die Suche fortsetzten, war Koratzos Tarnung so perfekt, daß sie ebensogut über ihn hätten stolpern können – sie hätten ihn für einen Moosklumpen gehal ten. Koratzo blieb aber nicht untätig. Dank seiner »Überstimme« konnte er ei nige Vorbereitungen treffen, ohne sich dabei zu verraten. So kam es, daß Copasallior in Koratzos Wohnhöhle mitgeteilt bekam, wer sich zur Zeit am Crallion herumtrieb. Korat zo warnte den Weltenmagier davor, rache gierig zu seinem Berg zurückzukehren, denn Jarsynthia und Wortz waren so wütend, daß sie alle Hemmungen verlieren mußten, wenn man sie in die Enge trieb. Koratzo konnte Nachrichten aussenden, aber die Antworten nicht empfangen. Darum wartete er lange Zeit besorgt und lauschte,
19 bereit, im Notfall sofort seine Tarnung auf zugeben und Copasallior im Kampf beizu stehen. Aber der Weltenmagier kam nicht. Es war sinnlos, jetzt ein solches Risiko ein zugehen. Später, als schon die ersten Sonnenstrah len die Gipfel ringsum zum Glühen brach ten, rief Koratzo nach Glyndiszorn. Er be schrieb dem Knotenmagier seine Lage und bat ihn um Hilfe. Auch diesmal erhielt er keine Bestätigung dafür, daß seine Nachricht die richtigen Ohren erreicht hatte. Aber we nig später tauchte Glyndiszorn keine zwei Meter von Koratzo entfernt scheinbar aus dem Nichts auf. Der Knotenmagier sah sich verwundert nach Koratzo um. Zweifellos war er erstaunt, als der Stimmenmagier sei ne Tarnung löste, aber das gab er mit keiner Silbe zu. Mit mürrischer Miene watschelte er heran, griff wortlos nach Koratzos Hand – und im nächsten Moment standen die beiden Magier am Ufer des schwarzen Sees am Gnorden. »Warte hier«, befahl Glyndiszorn mit un angenehm keifender Stimme. »Copasallior will sich selbst um alles kümmern.« Er verschwand in der Transportröhre und schwebte ohne weiteren Kommentar zu sei nem Luftschiff hinauf. Koratzo blickte nach oben, wo der silberne Flugkörper der ORS APAYA in der Sonne glänzte, zuckte dann die Schultern und suchte sich einen beque men Felsen aus. Um ihn herum war der Boden mit schil lernden Scherben und den Überresten gebor stener Kristallsäulen bedeckt.Koratzo fragte sich, ob Glyndiszorn das Interesse an diesen Säulen verloren hatte oder ob er das Bild der Zerstörung nur deshalb so lange in Kauf nahm, weil er sich nicht mit Karsjanor ein lassen wollte. Irgendwo ganz in der Nähe lag ein leerer Panzer, eine Rüstung, die einem Spercoiden gehört hatte. Koratzo vermied es, diesem Ding zu nahe zu kommen. Der Gedanke an den Selbstmord des Fremden belastete ihn immer noch. »Hör auf zu träumen!« sagte eine spötti
20 sche Stimme. Er sah auf und entdeckte Co pasallior. Der Weltenmagier blickte ihn aus druckslos an, und Koratzo erschauerte bei dem Gedanken, daß er – wenn Jarsynthias Plan gelungen wäre – schon jetzt in einen aussichtslosen Kampf gegen Copasallior verstrickt wäre. Oder nein, nicht gegen Co pasallior, sondern gegen die Liebesmagierin selbst, die jede Gestalt annehmen konnte. Jetzt fiel ihm auch auf, welch teuflische Fal le sich da wirklich für ihn geöffnet hatte. Nicht im Traum hatte er damit gerechnet, daß Jarsynthia auch die Stelle eines Magiers einnehmen konnte. Es war seines Wissens bisher niemals vorgekommen. Die Liebes magierin hatte diese gefährliche Möglichkeit also sorgfältig geheimgehalten. Koratzo aber hätte die ersten Minuten des Zweikampfes nicht überlebt, denn er hätte seinen Gegner ganz falsch eingeschätzt. Wie sicher durfte er sein, daß dies der echte Copasallior war? Das plötzliche Auftauchen hatte nichts zu bedeuten. Copasallior konnte sich in Gedan kenschnelle überallhin versetzen und auf diese Weise auch die fremden Welten besu chen – daher hatte er auch seinen Beinamen erhalten. Jarsynthia dagegen bediente sich der Fähigkeit, sogenannte Projektionen überall entstehen zu lassen, wo sie aus Grün den der Sicherheit oder Bequemlichkeit nicht selbst erscheinen wollte. Ihre Projek tionen ließen sich von echten Körpern nur schwer unterscheiden. »Was ist los?« fragte Copasallior unge duldig. »Ich will endlich wissen, was am Crallion geschehen ist.« Koratzo wußte, daß er sich allein auf sein Gefühl verlassen mußte, und das sagte ihm, daß dieser Copasallior echt war. Aber am Crallion hatten seine Instinkte ihn ebenfalls im Stich gelassen. Noch gefährlicher wurde die Situation da durch, daß über ihnen die ORSAPAYA schwebte. Glyndiszorn hörte mit Sicherheit jedes Wort mit, und wenn Koratzo seinem Mißtrauen Ausdruck gab, daß Jarsynthia auch im Reich des Knotenmagiers ungehin-
Marianne Sydow dert herumgeistern konnte, dann würde Glyndiszorn dies als offene Beleidigung auf fassen. »Wir sollten in die Tronx-Kette zurück kehren«, sagte er daher. »Ich mache mir Sorgen wegen Thalia. Es ist besser, wenn ich nicht zu lange abwesend bin.« Copasallior warf dem Stimmenmagier einen scharfen Blick zu. Er durchschaute das Manöver sofort. Auch Glyndiszorn mußte wissen, was sich hinter Koratzos angeblicher Sorge um die Tochter Odins verbarg. Aber solange Koratzo es nicht offen aussprach, brauchte niemand sich beleidigt zu fühlen. »Komm«, sagte Copasallior. Sie tauchten für die Dauer eines halben Herzschlags in tiefe Dunkelheit und standen dann auf dem Plateau vor Koratzos Wohn halle. Der Stimmenmagier ließ sich aufat mend auf eine steinerne Bank sinken. Jetzt erst konnte er halbwegs sicher sein, daß er nicht wieder auf eine von Jarsynthias Pro jektionen hereingefallen war, denn bei all ih rer Macht fiel es der Liebesmagierin doch sehr schwer, die vielschichtigen Sperren der Rebellen zu überwinden. Er sah zu Copasallior auf und berichtete.
4. Je länger Koratzo sprach, desto düsterer wurde das Gesicht des Weltenmagiers. Seine seltsamen großen Augen, die wie Halbku geln aus gebrochenem Basalt aussahen, be gannen auf unheimliche Weise zu glühen. Der Weltenmagier stand regungslos da. Sein weites, düsteres Gewand blähte sich im leichten Wind. Die sechs Arme hatte er nach einem komplizierten System vor der Brust verschränkt. Koratzo spürte die Wut, die in diesem Mann loderte wie ein vernichtendes Feuer. Insgeheim beglückwünschte er sich selbst zu seinem Entschluß, erst hier, in der Tronx-Kette, alles zu berichten. Am Gnorden, in Sichtweite seines eige nen Bezirks, hätte Copasallior wahrschein lich die Beherrschung verloren und wäre aufs Geratewohl zum Crallion geeilt, um die
Die List der Magier Eindringlinge zu vertreiben. Die Folgen solch unüberlegten Handelns wagte Koratzo sich nicht auszumalen. »Wie hast du es herausbekommen?« frag te Copasallior schließlich. »Es war nicht schwer«, meinte Koratzo nachdenklich. »Nachdem Kolviss mich miß trauisch hatte werden lassen, war alles ande re ein Kinderspiel. Ich brauchte nur zu über legen, wer einen Vorteil daraus ziehen könn te, wenn wir uns in diesen Kampf hetzen lie ßen.« »Da kann ich eine lange Liste von Namen aufzählen«, grollte Copasallior. Koratzo lächelte. »Ich auch. Aber die meisten Magier auf dieser Liste haben weder den Mut, noch die Fähigkeiten, um eine solche Intrige auf die Beine zu stellen. So blieben schließlich nur Jarsynthia übrig – und Wortz.« »Ich verstehe den Lebensmagier nicht«, murmelte Copasallior mehr zu sich selbst. »Was hat er davon, wenn er Jarsynthia un terstützt?« »Nun, das ist einfach zu erraten«, behaup tete Koratzo. »Es wird früher oder später zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung kommen. Wie es jetzt aussieht, kann es nicht mehr lange dauern. Offenbar glaubt Wortz, daß er auf der richtigen Seite steht. Nach diesen letzten Ereignissen bin ich mir nicht sicher, ob er damit nicht sogar recht hat.« »Nein«, widersprach Copasallior heftig. »Auf keinen Fall.« Koratzo war für einen Moment sprachlos. »Das sagst ausgerechnet du?« fragte er dann verwirrt. Copasallior befreite eine Hand aus dem Gewirr von Armen und winkte verächtlich ab. »Lassen wir das. Eigentlich müßte ich jetzt auf der Stelle Jarsynthia auffordern, sich für ihre Unverschämtheit zu entschuldi gen.« »Sie wartet nur darauf«, versicherte Ko ratzo grimmig. »Dann kann sie dich zum Kampf zwingen und hat wenigstens etwas erreicht.«
21 »Das ist mir klar. Darum lasse ich ihr die sen kleinen Triumph. Sie wird noch früh ge nug merken, daß sie sich selbst betrogen hat. Die Lage ist ernster, als ich angenommen habe. Sie muß auch bei euch eine schwache Stelle entdeckt haben, sonst hätte sie dir meinen Plan auftischen können. Ich war ex tra hierhergekommen – auf sehr zeitrauben den Wegen –, um die Sache mit Thalia mit dir zu besprechen. Sie kann es also nicht vorher erfahren haben.« »Genau das habe ich mir auch gesagt«, bestätigte Koratzo. Er war erleichtert dar über, daß Copasallior sich sehr vorsichtig ausdrückte, wenn es um die Sperren der Re bellen ging. Dem Weltenmagier lag tatsäch lich nichts daran, sich in sinnlose Macht kämpfe verstricken zu lassen. »Vielleicht liegt sie schon wieder auf der Lauer.« Koratzo schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht«, behauptete er. »Auf meine Freunde kann ich mich verlassen. Sie haben erfahren, daß es Lücken gab, und diese sind jetzt samt und sonders geschlossen.« Copasallior setzte zum Sprechen an, und Koratzo unterbrach ihn hastig. »Siebenundzwanzig Magier leben in der Tronx-Kette«, sagte er sanft. »Ihre Kräfte sind in unseren Sperren vereinigt. So ge winnt auch der schwächste unter ihnen an Macht.« Copasallior nickte zögernd. Trotzdem hielt Koratzo es für besser, dem Weltenma gier noch weitere Zugeständnisse zu ma chen. »Eine Gefahr allerdings«, fuhr er fort, »können wir auch dann nicht ausschalten, wenn wir uns völlig auf sie konzentrieren. Du weißt, was ich meine. Es geht um Tha lia.« Wieder nickte Copasallior. »Willst du sie wirklich in die FESTUNG schicken?« Copasallior sah Koratzo nachdenklich an. »Wer sonst wäre geeignet, die Rolle des Odin zu spielen?« murmelte er. »Abgesehen davon, daß es Thalia sicher Spaß machen
22 wird, sich auf diese Weise an ihren arrogan ten Brüdern zu rächen. Sie haben ihr übel mitgespielt.« »Dessen ist sie sich wohl nicht so sicher. Sie glaubt allen Ernstes daran, daß sie eben weniger wert ist.« »Das wird sich ändern«, versicherte Co pasallior grimmig. »Was hast du vor?« fragte Koratzo ge spannt. »Nun, wir werden Jarsynthias Bann bre chen und dann Thalia mit unserem Plan be kannt machen. Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, als zuzustimmen.« »Sie soll es freiwillig tun«, forderte Ko ratzo. Copasallior lächelte schwach. »Selbstverständlich«, versicherte er. »Ich meine es ernst«, entgegnete Koratzo ärgerlich. »Dabei geht es mir nicht so sehr ums Prinzip, sondern um unser aller Sicher heit. Thalia wird auch so noch verletzlich genug sein. Sie braucht eine Maske mit al lem Drum und Dran. Wir müssen ihre Stim me verändern, ihren Gang, ihr Verhalten – wenn sie nicht aus freiem Willen mithilft, werden sich unweigerlich Fehler einschlei chen.« »Hast du Angst, sie könnte Odin nicht ähnlich genug sein?« fragte Copasallior spöttisch. »Eher das Gegenteil«, erwiderte Koratzo. »Auf jeden Fall ist es ein Risiko. Wenn ir gend etwas nicht klappt und man sie in der FESTUNG entlarvt, geht es ihr schlecht. Je mehr sie an magischen Einflüssen mit nimmt, desto leichter können unsere lieben Freunde sie angreifen. Ein solcher Fall wäre genau nach Jarsynthias Geschmack.« Koratzo dachte an diese uralten Regeln, die er oft genug verflucht hatte, weil sie nicht auf die Magier der Gegenwart zuge schnitten waren. Ob sie es nun wollten oder nicht – auch die Liebesmagierin würde zwangsläufig einen Einfluß auf Thalias Maske ausüben. »Schon gut«, sagte der Weltenmagier. Er blickte seufzend über die Schlucht. Auf der
Marianne Sydow anderen Seite erhoben sich steile, wild zer klüftete Felsenhänge. Jenseits dieser Mauer erhoben sich die beiden Gipfel des SkathaHir, der seit sehr langer Zeit unbewohnt war – aus Gründen, an die Copasallior lieber nicht erinnert werden wollte. Noch weiter südlich lebte Wortz am Hang der Töpfer schnecke. Was mochte dieser zerknitterte Zwerg jetzt tun? Saß er vor seinen Spionkri stallen? Oder waren die Sperren der Rebel len wirklich so gut, wie Koratzo ihn glauben machen wollte? »Sie soll frei entscheiden«, fuhr er schließlich fort. »Alles andere wird sich fin den.« »Wer stellt die Maske her?« »Darüber mußt du entscheiden. Oder glaubst du im Ernst, ich werde Srika mit die sem Auftrag bedenken?« »Wenn du an ihren Stolz appellierst, kommt vielleicht sogar etwas Gutes dabei heraus.« »Das sind Wunschträume, Koratzo«, sag te Copasallior betrübt. »Über diesen Punkt haben wir uns längst hinweg entwickelt. Ich wollte, ich könnte das Ziel all dessen deut lich erkennen. Nicht einmal Glyndiszorn kann sagen, was da auf uns zukommt.« »Vielleicht weiß er es und sagt es nur nie mandem. Zuzutrauen wäre es ihm.« Copasallior wischte das Thema mit einer ungeduldigen Handbewegung hinweg. »Können deine Freunde die Maske liefern oder nicht.« Koratzo dachte nach, dann nickte er zö gernd. »Gut«, murmelte Copasallior und sah nach dem Stand der Sonne. »Wir haben noch viel Zeit. Sage ihnen, daß sie in aller Ruhe ihre Vorbereitungen treffen sollen. Es darf keine Nachlässigkeit geben. Bei Son nenuntergang beginnen wir.« Copasallior wandte sich ab und ging den Pfad hinunter. In einiger Entfernung ver schwand er hinter den Felsen. Koratzo ahn te, daß Copasallior die Ruhe suchte, um am Abend mit allen Schwierigkeiten so spielend leicht fertig werden zu können, wie es ihm
Die List der Magier
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als Weltenmagier gebührte. Koratzo lächelte bei diesem Gedanken. In der Tronx-Kette gab es niemanden, der Co pasallior unterschätzte. Allerdings auch kei nen einzigen Magier, der vor dem Sechsar migen Angst hatte. Er ging in die Wohnhalle und unterrichte te Querllo, der die anderen der Reihe nach über alles informierte. Dann trat er neben das Bett, in dem Thalia schlief. Aufmerksam betrachtete er das Gesicht der jungen Frau. Eine Ähnlichkeit mit Odin war zweifellos vorhanden. Er nickte Haswahu zu. Der Luftmagier war restlos übermüdet. Er hatte sich die gan ze Zeit hindurch nicht vom Platz gerührt. Es wurde Zeit, daß er sich etwas Ruhe gönnte. Haswahu taumelte zum nächstbesten La ger, ließ sich auf die Felle sinken und war sofort eingeschlafen. Koratzo setzte sich ne ben das Bett und hing seinen Gedanken nach. Thalia wachte nicht auf. Vielleicht war es den anderen wirklich gelungen, die Lücken zu beseitigen. Koratzo war sich des sen nicht sicher. Er traute Jarsynthia nicht über den Weg.
* Als die Sonne hinter den Bergen ver schwand, trat Copasallior in die Wohnhalle. »Es ist soweit«, sagte er. Koratzo weckte Haswahu. »Brauchst du sie draußen?« fragte er dann den Weltenmagier. Copasallior warf Thalia einen düsteren Blick zu. »Nein«, sagte er schließlich widerstre bend. »Es ist ziemlich unwichtig, wo sie sich aufhält – solange sie nicht ausgerechnet ins Tal der Nebel verschwindet.« »Ich kann Wache halten«, schlug Haswa hu vor. Der kurze Schlaf hatte ausgereicht, um den Luftmagier zu erfrischen. Außerdem hatte Haswahu wie alle anderen Magier auch die Möglichkeit, den Schlaf mit allerlei Tricks zu überlisten. Nach einiger Zeit aller dings erschöpften sich auch die letzten Re
serven an Energie, und dann mußte eine um so längere Pause folgen. Ohne zwingenden Grund nahm niemand ein solches Risiko auf sich. Koratzo folgte Copasallior nach draußen. Natürlich war es eine Art Zugeständnis an die Rebellen, wenn der Weltenmagier darauf verzichtete, Thalia vor den Augen aller von ihrem Bann zu befreien. Unter anderen Um ständen hätte Copasallior sicher ein gewalti ges Schauspiel daraus gemacht. Andererseits war Copasallior auf die Hilfe der anderen angewiesen. Alleine konnte er auch nichts gegen Jarsynthias Liebesmagie ausrichten. So gesehen hatte der Weltenmagier allen Grund, etwas bescheidener als gewohnt auf zutreten. Vor der Wohnhalle hatten sich rund zwanzig Magier versammelt. Howath, der Feuermagier, hielt wie im mer Wache am Rand der Schlucht, die die Grenze der Tronx-Kette bildete. Einige an dere Rebellen hatten sich an besonders ge fährdete Stellen begeben, um im Notfall so fort gezielt eingreifen zu können. Copasallior sah sich düster um. Es paßte ihm nicht, daß alle ihn beobachteten. Es gab aber nicht viel zu sehen. Copasalli or hob seine sechs Arme und sah die ande ren Magier der Reihe nach an. Sie standen in einem Halbkreis am Rand der Schlucht vor ihm. Koratzo und Querllo hatten sich neben die offene Tür zur Wohnhalle postiert. Drin nen wachte Haswahu über Thalia. Lange Zeit standen sie so, und es schien, als dehnte sich eine Zone der Ruhe um sie herum aus, immer weiter, bis sie die TronxKette umschloß und über deren Grenzen hinauswuchs. Alle Tiere, die in diese Zone gerieten, sanken wie leblos zu Boden, der Wind schlief ein, selbst die Pflanzen standen wie erstarrt – man hätte sie für kunstvolle Nachbildungen halten können. Und schließlich, als die endlose Stille schier unerträglich wurde, senkte Copasalli or die Arme. In der Tronx-Kette merkte man nicht viel von den Folgen. Koratzo glaubte, einen fer
24 nen Donnerschlag zu hören. Er taumelte für einen Augenblick, weil der Boden unter sei nen Füßen zu schwanken schien. In Wirk lichkeit hatte Copasallior nur die gesamte magische Energie, die er zusammen mit den Rebellen aufgestaut hatte, in eine Richtung abgeleitet. Die Spannung war weg, und manchem kam es vor, als drohe eine er schreckende Leere die Berge zu verschlin gen. Auch das ging vorüber. Insgesamt dau erte es nur wenige Sekunden, bis für Korat zo und seine Freunde alles wieder normal aussah. Blitzschnell entstanden die normalen Sperren wieder, und Copasallior seufzte tief auf. Auch wenn nichts Spektakuläres gesche hen war, hatte der Weltenmagier sein Bestes geben müssen, um die gewaltigen Energien zusammenzuhalten und zu lenken. Er drehte sich um und ging an Koratzo vorbei in die Wohnhalle. Der Stimmenmagier gab seinen Freunden ein Zeichen und folgte Copasallior. Zur gleichen Zeit krümmte sich Jarsynthia zusammen. Ihre magischen Fühler, die fest mit Thalia verbunden waren, rissen ab und schnellten wie Peitschenschnüre zurück. Die Liebesmagierin schrie laut auf vor Wut und Schmerzen, und für kurze Zeit schien es, als sollte Copasalliors Schlag Jarsynthias Macht für immer brechen. Das Luftschiff LORKI schwankte wie in einem Sturm, und die Haltetrossen schwirr ten und knallten. Die Nebelwände, die das Tal hermetisch von der Außenwelt abriegel ten, bebten und brachen an manchen Stellen zusammen. Jarsynthia war mehr tot als le bendig, als endlich Wortz neben ihr auf tauchte. Der Lebensmagier begriff sofort, was ge schehen war. Er nahm Jarsynthia bei der Hand – im Augenblick interessierte ihn nicht einmal die Frage, ob er die Liebesmagierin diesmal in ihrer wahren Gestalt vor sich hat te oder nicht. Er schirmte Jarsynthia gegen die feindlichen Mächte ab und bemühte sich gleichzeitig, die Nebelwände zusammenzu halten, bis Jarsynthia sich wieder erholt hat-
Marianne Sydow te. Bis es soweit war, vergingen fast zwei Stunden. Inzwischen hatten Copasallior und die Rebellen aus der Tronx-Kette längst alle Verbindungen unterbrochen, die es in Rich tung Tal der Nebel oder zum Hang der Töp ferschnecke gegeben hatte. Die Spionprismen des Lebensmagiers lie ferten keine Bilder mehr. Thalia war dem Einfluß der Liebesmagierin bis auf weiteres entzogen worden.
* »Du mußt selbst entscheiden«, sagte Ko ratzo am nächsten Morgen eindringlich. »Wir können dir nur die Mittel gehen. Alles andere muß von dir kommen.« Thalia betrachtete Koratzo kühl. Seit sie aus dem langen Schlaf erwacht war, betrach tete sie den Magier mit ganz anderen Augen. Jarsynthias Liebesbann war spurlos ver schwunden. Man hatte der Tochter Odins berichtet, was mit ihr geschehen war, aber Thalia glaubte nicht recht an die Version der Magier. Alles kam ihr sehr merkwürdig vor. Zwar konnte sie durch die offene Tür die Gipfel der Berge erkennen, und das sowie einige andere Dinge waren deutliche Beweise da für, daß sie sich tatsächlich in der Großen Barriere von Oth befand. Aber diese Magier … Sie sahen – fand Thalia – überhaupt nicht mächtig aus. Seltsam sahen sie aus, das stimmte. Vor allem der sogenannte Welten magier mit seinen sechs Armen oder der Zwerg namens Querllo, dessen Haut wie die Rinde eines alten Baumes aussah. Aber Tha lia hatte sich unter den geheimnisvollen Ma giern etwas ganz anderes vorgestellt. Sie hatte riesige Gestalten zu sehen erwartet, die ständig mit gefährlichen Dingen hantierten und mit einem bloßen Blick ihre gesamte Umgebung zum Untergang verurteilten. Nach dem Gerede dieser Leute zu urtei len, waren sie ja auch wirklich mächtig. Thalia fand nur, daß man zu wenig davon
Die List der Magier sah. Mittlerweile hegte sie den Verdacht, daß die Macht der Magier sich in maßlosen Übertreibungen erschöpfte. Vielleicht war es früher anders gewesen … »Wir haben nicht viel Zeit«, bemerkte Copasallior nüchtern. »Was ist nun?« »Ich soll also in eine Maske schlüpfen und für meine Brüder die Rolle meines Va ters spielen«, wiederholte Thalia nachdenk lich das Angebot, das man ihr unterbreitet hatte. »Glaubt ihr wirklich, daß das funktio niert? Wie soll eine solche Maske beschaf fen sein? Außerdem – ich rede nicht wie Odin, kann mich auch nicht so verhalten. Man würde das Spiel sofort durchschauen.« »Du hast lange genug in einer Maske ge lebt«, entgegnete Koratzo gelassen. »Niemand hat das gemerkt. So, wie man Honir akzeptiert hat, wird man auch an Odin glauben.« Thalia schwieg und dachte nach. Copasallior stieß den Stimmenmagier an und gab ihm ein Zeichen. Koratzo schüttelte ärgerlich den Kopf. Es mußte auch anders gehen, dachte er. Wenn sie erst einmal sah, was die Magier vermochten, würde sie ihre Meinung schnell ändern. Andererseits fand er den Gedanken lä cherlich und abstoßend. Sollten sie alle sich wie billige Gaukler produzieren, um die Tochter Odins gebührend zu beeindrucken? »Du kannst darüber nachdenken!« sagte er und stand auf. »Bis zum Abend hast du Zeit, aber dann mußt du dich entscheiden.« »Was passiert, wenn ich nicht als Odin auftreten möchte?« fragte Thalia. »Wir bringen dich aus der Großen Barrie re hinaus. Alles andere bleibt dir überlas sen.« »Sie traut uns nicht viel zu«, sagte er draußen zu Copasallior. »Aber ich denke, sie wird es sich noch anders überlegen. Ich wer de mich inzwischen um ihre Ausrüstung kümmern!« »Das ist nicht nötig«, wehrte der Welten magier ab. »Ich habe alles am Crallion, was sie braucht. Bis zum Abend bin ich wieder hier.«
25 Er sah sich nachdenklich um. »Sie wird zur FESTUNG gehen und die Rolle ihres Vaters übernehmen«, versicherte er darnn grimmig. Copasallior verschwand, und Koratzo dachte angestrengt darüber nach, wie er Thalia von der Wichtigkeit dieser Mission überzeugen konnte, ohne sich vor allen an deren Magiern lächerlich zu machen. Er kehrte in die Wohnhalle zurück und ging in die Zelle der freien Gedanken; Tha lia beobachtete ihn, während er mit Parlzas sel sprach, aber Koratzo tat, als merke er es nicht. Parlzassel war zunächst nicht begei stert von dem, was Koratzo vorschlug, aber schließlich willigte er doch ein. »Ich mache mich sofort auf den Weg«, versprach er. »Allerdings – eine Garantie kann ich dir nicht geben. Erstens handelt es sich nicht um normale Raben, und zweitens brauche ich Glyndiszorns Hilfe. Der Kno tenmagier hat schlechte Laune. Er findet, daß man ihn in der letzten Zeit entschieden zu oft bei der Arbeit stört.« »Wenn wir unser Ziel erreichen«, sagte Koratzo, »dann bekommt er so viel Ruhe, wie er nur möchte.« »Von welchen Raben hast du gespro chen?« fragte Thalia, als er draußen in der Halle nach einem speziellen Kristall suchte, den er dringend brauchen würde. »Von Hugin und Munin«, erwiderte Ko ratzo gelassen. »Sie werden deinen Brüdern eine Nachricht von Odin überbringen. Es wird für sie das Zeichen sein, einen neuen Beschwörungsversuch zu wagen.« Thalia schwieg lange Zeit. Koratzo fand endlich seinen Kristall. Er hielt ihn gegen das Licht und betrachtete ihn prüfend. »Gut«, murmelte er und legte den Stein achtlos auf einen Tisch. »Komm, ich möchte dir etwas zeigen.« Thalia folgte ihm, blickte sich aber miß trauisch nach allen Seiten um. Die tiefe Schlucht war ihr nicht geheuer, und den schmalen Pfad, der rechts vom Plateau weg führte, betrat sie mit großem Widerwillen. Der Weg war schmal wie das Laufrad der
26 Windrose. Rechts ragte eine fugenlose Fels wand senkrecht auf, links ging es ebenso steil in die Tiefe. Ein Geländer oder eine Brüstung gab es nicht. Koratzo, wie alle Magier mit den Bergen vertraut und ohnehin vor Unfällen aller Art weitgehend abgesichert, kam gar nicht auf die Idee, daß jemand sich durch solche Ge gebenheiten beeindrucken ließ. Er ging schnell und sicher voran und bog nach etwa zweihundert Metern in eine Rampe ein, die steil und schmal zu einer Höhle hinabführte. Er war schon im Bereich seiner Kristalle, als er über sich Thalias erschrockenes Gesicht sah. »Entschuldige«, murmelte er. »Du konn test es nicht wissen.« Er schnippte mit den Fingern, und die winzigen Kristalle begannen zu klingen. »Komm!« rief er hinauf. Die Tochter Odins streckte vorsichtig die Arme aus. Koratzo schwebte bereits nach unten. Thalia zögerte. Sie traute der Sache nicht. Wollte man sie in eine Falle locken? Koratzo lachte und sah zu ihr hinauf. »So ein Unsinn!« sagte er. »Erstens wür de ich mir damit diese Höhle für lange Zeit ruinieren, und zweitens brauchen wir dich noch. Komm endlich, hier kann dir nichts geschehen.« »Kannst du Gedanken lesen?« fragte sie unwillig, als sie neben ihm landete. »Ich kann sie hörbar machen«, korrigierte Koratzo. »Für mich – aber auch für andere, wie es gerade nötig ist.« Er ging über den Boden des Kristall schachts und öffnete ein weites Tor. Thalia sah den Grund der Schlucht vor sich. Zwi schen den steilen Felsen lag eine große, mit hellem Sand bedeckte Fläche. An den Wän den entlang zogen sich steinerne Bögen. Thalia mußte zweimal hinsehen, ehe sie ih ren Augen zu trauen wagte. »Was hältst du von dem da?« wollte Ko ratzo wissen. Er deutete auf ein grüngeschupptes Etwas, das diese Bewegung anscheinend als Befehl auffaßte, denn es preschte unter dem Stein-
Marianne Sydow bogen hervor und kam quer über den Platz angerast. Thalia prallte erschrocken zurück. Wieder tastete sie nach der Vars-Kugel – dann fiel ihr ein, daß sie die Waffe samt al lem anderen oben in der Halle gelassen hat te. Sie wich blitzschnell zurück. In der Nähe des Tores hing ein breites Schwert an der Wand. Sie erreichte die Stelle, als die grüne Bestie dem Höhlenausgang bereits gefähr lich nahe war. Thalia riß das Schwert an sich und wirbelte herum, bereit, ihr Leben so teu er wie möglich zu verkaufen – da stand die Bestie dicht vor dem Stimmenmagier und verhielt sich so still wie ein total erschöpftes Yassel. Koratzo hatte sich umgedreht. Er sah das Schwert und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Leg das Ding weg!« befahl er. »Dieses Wesen tut dir nichts, wenn du es nicht reizt. Waffen kann es nicht leiden.« Verständnislos beobachtete Thalia, wie Koratzo mit der Bestie sprach und sie schließlich mit sanften Worten dazu beweg te, in ihre Behausung zurückzukehren. »Was ist los?« fragte er Thalia ungedul dig. »Mit den Bestien aus Kalmlech müßtest du dich doch auskennen. Ich dachte, du könntest mir einen Rat geben.« »Worum geht es?« fragte sie vorsichtig. »Ich halte sie schon seit langem hier ge fangen«, erklärte Koratzo, hütete sich je doch, erneut eines der Wesen herbeizu locken. »Jetzt mache ich mir Sorgen. Solan ge der Große Knoten die Barriere um schließt, ist es kaum möglich, Wasser aus dem Dämmersee zu beschaffen.« »Wie meinst du das?« fragte Thalia so fort. »Sind etwa sonst Magier zu diesem See unterwegs gewesen? Sie hätten meinen Ab schnitt des schlafenden Fafnir kreuzen müs sen. Warum habe ich nie einen von euch zu sehen bekommen?« Koratzo lächelte amüsiert. »Erstens«, sag te er, »brauchten wir stets nur sehr kleine Mengen von diesem besonderen Wasser, und zweitens haben wir auch die nicht höchstpersönlich in die Barriere geschafft.
Die List der Magier Wir hätten nicht nur den schlafenden Fafnir kreuzen, sondern quer durch die Ebene von Kalmlech ziehen müssen. Nicht, daß uns das in ernste Gefahr gebracht hätte – uns wäre einfach zuviel Zeit verlorengegangen.« Thalia schwieg. Sie betrachtete die Bestie, die unter einem steinernen Bogen hervor schaute. »Ich weiß so gut wie nichts vom Däm mersee und den damit verbundenen Geheim nissen«, gab sie widerwillig zu. »Und ich habe keine Ahnung, wie ich dir in diesen Dingen helfen könnte. An deiner Stelle wür de ich diese Monstren töten und neue Ver suchsobjekte suchen. Die Monstren aus den Horden der Nacht sind so gut wie ausgestor ben.« »Das weiß ich«, sagte Koratzo ernst. »Gerade das ist ein Grund für mich, diese letzten Vertreter besonders vorsichtig zu be handeln. Nicht alle Mitglieder der Horden der Nacht waren von Natur aus böse. Im Grunde waren sie alle Opfer derselben Macht, der wir Magier viel zu lange gedient haben. Wenn deine Brüder so weitermachen, werden die Bewohner dieses Landes Odin samt seinen Nachkommen bald genauso has sen und verfluchen, wie sie es mit den vor herigen Herren der FESTUNG gehalten ha ben.« »Was hat das Schicksal dieser Bestien mit meinen Brüdern zu tun?« »Nichts«, sagte Koratzo gelassen. »Höchstens eines: Unter der Herrschaft der FESTUNG wurden harmlose Wesen zu rei ßenden Bestien. Und aus den Kindern Odins wurden egoistische, engstirnige Narren, die nur noch auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und ihre Aufgaben vergessen haben.« Thalia war hochgefahren und starrte Ko ratzo drohend an. Der Stimmenmagier ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Das Schwert, das in Reichweite an der Wand hing, konnte ihn nicht verletzen, und er hatte auch nicht die Absicht, sich mit Thalia her umzuprügeln. Er konnte es sich allerdings auch nicht leisten, zu viel Zeit zu ver schwenden.
27 »Ich habe diese Bestien gezähmt«, sagte er und zeigte zu den steinernen Bögen hin über. »Auch andere Magier sind mit ihnen fertig geworden. Dabei hat sich immer wie der gezeigt, wie leicht es ist, die Spuren des Bösen zu tilgen. Deine Brüder sind weder bösartig, noch lehnen sie bewußt die Verant wortung über Pthor und das Schicksal seiner Bewohner ab. Sie sind nur auf einen falschen Weg geraten. Sie brauchen jeman den, der ihren Kurs korrigiert.« »Sie werden auf niemanden hören.« »Doch. Auf Odin.« »Aber ich bin nicht Odin!« rief Thalia wütend. »Du verlangst zu viel von mir! Ich kann diese Rolle nicht spielen! Es geht doch nicht nur um eine Maske, sondern um viel mehr – aber das kann niemand verstehen, der nicht selbst ….« Sie verstummte erschrocken und griff sich an die Kehle. »Was …«, begann sie und unterbrach sich erneut, als sie ihre plötzlich fremd klingende Stimme hörte. Sie starrte Koratzo entsetzt an. Der Stimmenmagier wischte mit der rechten Hand durch die Luft. »Wenn du mithilfst, geht es leichter«, er klärte er. »Es war nur ein Versuch. Ich woll te dich nicht erschrecken.« Thalia räusperte sich und stellte erleich tert fest, daß ihre Stimme wieder den norma len Klang hatte. »Was war das?« erkundigte sie sich ver wirrt. »Magie«, antwortete Koratzo lakonisch. Thalia sah ihn nachdenklich an. Obwohl sie an die Verhältnisse in diesem seltsamen Land gewöhnt war, wußte sie wenig über die unheimlichen Künste der Magier. Einige von diesen Leuten hatte sie getroffen, und sie alle hatten sich als überaus mächtig aus gegeben. Leider standen ihre Leistungen in keinem Verhältnis zu dem Theater, das sie vorher veranstalteten. Die angeblich unbe dingt erforderlichen Zeremonien waren oft so kompliziert, daß Thalia es lächerlich fand, sie wegen etwas heißem Wasser, ei nem plötzlich schmelzenden Stein oder ähn
28 lich unnützen Dingen auszuführen. Die radikale Änderung einer Stimme, noch dazu ohne Einwilligung des Opfers, war dagegen ein sehr beeindruckender Vor gang. Darum fand Thalia es irritierend, daß Koratzo nichts getan hatte, was einer Zere monie auch nur entfernt ähnlich sah. »Was weißt du noch von Odin?« fragte Koratzo. »Es ist lange her, daß du und deine Brüder ihn gesehen haben. Wie genau erin nerst du dich an sein Aussehen?« »Sehr gut«, behauptete Thalia. »Vor al lem weiß ich noch, daß er mich nicht leiden konnte. Er war groß, stark und mutig – und sehr klug. Wenn es meinen Brüdern gelingt, ihn wirklich zu beschwören, so wird er der neue Herrscher von Pthor sein. Niemand kann sich ihm widersetzen.« Koratzo nickte und sah hinauf zum Rand der Schlucht. Für einen Augenblick sah er Querllo dort oben stehen und winken. Thalia war sichtlich erleichtert, aus der Nähe der Bestien von Kalmlech zu kommen. Ohne ihre Rüstung und ihre Waffe fühlte sie sich unsicher. »Du solltest wenigstens ein starkes Gitter vor das Tor spannen«, meinte sie. »Damit sie mich nicht angreifen?« fragte Koratzo belustigt. »Ja«, erwiderte Thalia ärgerlich. »Du warst sicher nicht oft dabei, wenn diese Monstren Pthor verließen, um fremde Planeten zu verwüsten. Sonst wüßtest du, daß es so gut wie nichts gibt, womit man sie länger als einige Sekunden aufhalten kann. Ein Gitter wäre nutzlos.« »Aber dann …« Thalia verstummte erschrocken, weil sie den Halt unter den Füßen verlor. Aber sie faßte sich schnell. Neben dem Stimmenma gier schwebte sie durch die Höhle nach oben. Die Kristalle an den Wänden glitzer ten von innen heraus in sanftem Feuer. »Diese Wesen stecken in einem Käfig, der besser ist als alles, was man aus Metall und Steinen bauen kann«, versicherte Korat zo. »Allerdings sind die Wände dieses Kä figs unsichtbar. Das ist auch der Grund, wa-
Marianne Sydow rum es mir gelungen ist, meine Schützlinge halbwegs zu zähmen, ohne daß sie nach kur zer Zeit krank und teilnahmslos wurden. Sie wissen sehr gut, wo ihre Grenzen liegen. Ich nehme an, daß die ehemaligen Herren der FESTUNG sie auch in dieser Beziehung be einflußt haben. Wenn ein solches Monstrum in eine absolut aussichtslose Lage gerät, geht es zugrunde – niemand hat bis jetzt her ausgefunden, warum das so ist. Vielleicht sollte vermieden werden, daß die Bewohner irgendeines Planeten Angehörige der Hor den einfingen und versteckten, bis Pthor den Planeten verlassen hatte.« »Wer sollte so etwas tun?« »Bei den meisten Planeten reicht ein Be such, aber gerade die, die sich doch immer wieder erholen, sind für die Erbauer von Pthor am interessantesten. In einigen Völ kern lebt die Erinnerung an die Horden der Nacht noch nach vielen tausend Jahren. Wenn solche Leute sich in aller Ruhe mit den Monstren beschäftigen, sie untersuchen, vielleicht sogar züchten können, wäre es nicht ausgeschlossen, daß Pthor bei seinem nächsten Besuch selbst Ziel einer Invasion wird. Dadurch, daß die Bestien regelrechten Selbstmord begehen, ist diese Gefahr ge bannt.« »Aber du selbst hast doch bewiesen, daß man diese Wesen trotzdem am Leben erhal ten kann.« »Vieles, was die Herren der FESTUNG planten und ausführten, erscheint unlo gisch«, sagte Koratzo. »Abgesehen davon konnte ich die Horden der Nacht ausführlich beobachten und untersuchen, ehe ich die er sten Bestien einfing und in diese Schlucht brachte. Die Bewohner der überfallenen Pla neten dagegen hatten oft nicht einmal genug Zeit, um zu erkennen, was da überhaupt auf sie zukam.« Thalia erinnerte sich plötzlich an das, was sie draußen, auf dem Planeten Loors, gese hen hatte. Obwohl diesmal nicht die Herren der FESTUNG die Landung befohlen hatten und auch die Horden der Nacht praktisch nicht mehr existierten, hatte Pthor durch die
Die List der Magier Landung an sich genug Unheil angerichtet. Ein breiter Landstrich war verwüstet, und nördlich der ehemaligen Eisküste stand ein riesiges Roboterheer, das jetzt nur noch Schrottwert hatte, weil es in der Hitzewelle, die das landende Pthor hinter sich herzog, geschmolzen war. Sie versuchte, sich die endlose Spur des Grauens vorzustellen, die dieses Land hin terlassen hatte. Unwillkürlich schüttelte sie sich. »Es ist ein schreckliches Land«, murmelte sie. Koratzo antwortete nicht, sondern ging auf dem schmalen Pfad voraus. »Breckonzorpf hat seine Hilfe angebo ten!« rief Querllo ihm zu. »Er meinte, Odins Auftreten könnte durch Blitz und Donner und einen kleinen Sturm unterstützt werden. Und Parlzassel hat bereits Kontakt mit den beiden Raben aufgenommen. Sie werden den Brüdern mitteilen, wann der günstigste Zeitpunkt gekommen ist, ihren Vater zu be schwören.« Koratzo sah Thalia fragend an. Die Entscheidung fiel ihr schwer. Thalia war mit dem Verhalten ihrer Brü der keineswegs einverstanden. Seit der Er oberung der FESTUNG hatten sie sich sehr verändert. Oder waren sie schon immer so gewesen, und es war ihr nur nicht aufgefal len? Jedenfalls schienen sie nicht die Ab sicht zu haben, in irgendeiner Weise positiv auf Pthor und seine Bewohner einzuwirken, von den fremden Planeten ganz zu schwei gen. Ihr einziges Ziel war es, zu herrschen, Macht zu sammeln und Odin zurückzuholen, damit dieser ihre Macht noch erweiterte, bis nichts und niemand sie wieder aus der FE STUNG vertreiben konnte. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, wor auf das hinauslief. Noch war das Land nicht zur Ruhe ge kommen. Zwar hatten Abgesandte aus allen Teilen Pthors den Söhnen Odins versichert, sie als neue Herrscher anzuerkennen, aber bei dem derzeit herrschenden Durcheinander waren solche Ergebenheitskundgebungen
29 reine Floskeln. Auch Atlan hatte gehofft, eines Tages Pthor steuern zu können – mit der Absicht, begangene Greueltaten wiedergutzumachen, die Auftraggeber in der geheimnisvollen Schwarzen Galaxis zu finden oder doch we nigstens zu verhindern, daß Pthor auch wei terhin blühende Welten vernichtete. Thalia war von diesen Absichten sehr angetan. Aber Atlan war verschwunden, und niemand wußte, ob er jemals zurückkehren würde. Thalia hätte den Magiern gerne geholfen. Was sie zögern ließ, war einmal die unge heure Scheu vor allem, was mit dem legen dären Odin zusammenhing. Der bloße Ge danke, in die Maske ihres Vaters zu schlüp fen und in seinem Namen Forderungen zu stellen, von denen Thalia sich gar nicht si cher war, ob Odin sich zu ihnen bekennen würde, gäbe es ihn wirklich, jagte ihr pani sche Angst ein. Zum anderen hatte sie längst gemerkt, daß Copasallior, Koratzo und die anderen nicht die Meinung aller Magier ver traten. Und sie wußte nicht, ob diese Gruppe genug Macht hatte, um sich gegen die ande ren behaupten zu können. Thalia war noch dabei, sich eine Meinung über die Magier an sich zu bilden, aber soviel wußte sie jetzt schon: Wenn sie zwischen die Fronten ge riet, war sie verloren. Und wenn sie ablehnte? Die Magier würden sie in die FESTUNG zurückschicken. Dort warteten ihre Brüder sicher nicht gerade mit Sehnsucht auf sie. Wenn sie Glück hatte, ließ man sie in Ruhe. Auf keinen Fall würde man ihr eine Gele genheit geben, etwas für die Zukunft Pthors zu tun. Was sollte sie tun? Nach Komyr zurück kehren und sich in dem leeren düsteren Schloß verkriechen, jetzt, da es nicht einmal mehr den schlafenden Fafnir zu bewachen gab? »Ich werde es versuchen«, sagte sie.
5. Bei Sonnenuntergang stand Copasallior
30 vor der offenen Tür. Thalia schrak bei sei nem Anblick zusammen. Sie hatte sich im mer noch nicht an die unheimlichen Augen des sechsarmigen Magiers gewöhnt. Ver blüfft betrachtete sie dann die Gegenstände, die Copasallior auf einen großen Tisch legte. Es waren die Teile einer prächtigen Rü stung. »Woher stammt das?« fragte Thalia be wundernd. »Von einer wilden, barbarischen Welt«, erklärte Copasallior gelassen. »Die Men schen dort glaubten an zehntausend Dämo nen übelster Sorte und meinten, das wäre be reits Magie. Aber die Schmiede waren klug und geschickt. Eine schöne Arbeit, nicht wahr?« Es war mehr als das. Die Rüstung bestand aus einem Metall, das hell wie reines Silber, aber viel härter war. Und leichter. Thalia wog den Helm in den Händen und stellte fest, daß er kaum die Hälfte von dem wog, was sie bisher kannte. Es gab an beiden Sei ten je eine kleine Gitterfläche für die Ohren, die man aber nur von innen fühlen konnte. Von außen waren die Öffnungen unter Bü scheln von dünnen Metallstacheln verbor gen. Die Stacheln waren hohl und beweglich und trugen an den Spitzen dunkelrote Per len. Die Gesichtspartie bestand aus einem glatten Visier, das sich lautlos in seinen Ge lenken bewegen und beliebig verstellen ließ. Der Rest des Helmes war mit Juwelen be setzt und reich verziert. Alle anderen Teile der Rüstung wirkten gegen diesen Helm au ßerordentlich schlicht. Bei genauerem Hin sehen fand Thalia jedoch heraus, daß auch hier überall Zeichen in das Metall eingear beitet waren, winzige Gestalten hatte man eingraviert, die große, runde Köpfe und spindeldürre Körper hatten. Von innen war die ganze Rüstung mit einem weichen Mate rial ausgekleidet, das sich sehr kühl anfühlte. »Das Zeug lebt!« stieß Thalia erschrocken aus und zog die Hand zurück. »Es scheint nur so«, korrigierte Copasalli or. »Es ist sehr nützlich. Es kann Tempera turschwankungen ausgleichen und Feuchtig-
Marianne Sydow keit aufsaugen.« Er legte einen weiten Umhang aus dun kelrotem Samt auf den Tisch und hielt Tha lia einen riesigen Schild und ein Schwert hin. »Die Originale gingen verloren«, sagte Copasallior, und Thalia wunderte sich über den spöttischen Unterton, den sie nicht zu deuten wußte. »Aber auch der echte Odin hätte das als Ersatz angenommen.« »Er war voll nie versiegender Kraft«, flü sterte Thalia ehrfürchtig. Copasallior räusperte sich, und Koratzo warf ihm hastig einen warnenden Blick zu. »Nun, so kann man es ausdrücken«, mur melte der Weltenmagier und wandte sich ab. »Bist du zufrieden, Thalia?« Für einen Augenblick hatte sie ganz ver gessen, welchem Zweck Rüstung und Waf fen dienen sollten. »Ja«, sagte sie zögernd. »Aber das allein reicht nicht aus.« »Immer eines nach dem anderen«, sagte Copasallior gelassen. »Eine Maske ist etwas Besonderes, man muß sich Zeit mit ihr las sen. Koratzo, dein Gast sieht mir bereits halb verhungert aus. An deiner Stelle würde ich Thalia ordentlich füttern, sonst kann sie später dieses Schwert kaum heben.« Thalia hatte plötzlich das Gefühl, den Stimmenmagier verteidigen zu müssen, aber da war Copasallior schon verschwunden. »Am Crallion gibt es genug Wild«, kom mentierte Querllo mißmutig. »Er hätte ruhig einen Braten mitbringen können.« »Er hat jetzt ganz andere Sorgen«, be hauptete Koratzo. »Geh und sage unseren Freunden Bescheid. Wenn es in der TronxKette jemals einen Sieg zu feiern gab, dann an diesem Abend.« »Wieso?« fragte Haswahu, der fast den ganzen Tag verschlafen hatte. »Noch haben wir nicht gewonnen.« »Wir nicht«, nickte Querllo mit übertrie bener Freundlichkeit. »Aber jemand anders hat einen Sieg errungen, um den du ihn mit gutem Gewissen beneiden darfst. Oder hät test ausgerechnet du den Mut, in die FE
Die List der Magier
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STUNG zu gehen?« Thalia wußte nichts über Haswahu. Der Luftmagier tat ihr leid. Er sah so blaß und traurig aus, daß sie es herzlos fand, ihn auch noch zu verspotten. Erst später kam sie da hinter, daß Haswahus Trauermiene ein Dau erzustand war.
* Es dauerte drei volle Tage, bis die Maske fertiggestellt war. Thalia nutzte die Zeit, um möglichst viel über die Magier zu erfahren. Koratzo beantwortete geduldig jede Frage. Den Stimmenmagier schien es wenig zu in teressieren, was sich inzwischen außerhalb der Barriere abgespielt hatte. Erst nach einer ganzen Weile fand Thalia den Grund für das scheinbare Desinteresse heraus. Das war, als Opkul aufgeregt mitten in ein Gespräch hin einplatzte. »Ich habe einen Fremden entdeckt!« be richtete er. »Er ist jetzt in der Feste Grool.« »Ein Fremder?« fragte Koratzo verwun dert. »Ist er von draußen gekommen?« »Das ist ja das Merkwürdige daran! Ich kann seine Spur nur ein kurzes Stück zu rückverfolgen, dann bricht alles ab. Es ist, als wäre der Fremde aus dem Nichts heraus erschienen.« »Wie sieht er aus?« »Er könnte von der Welt stammen, auf der Atlan und dieser Berserker durch den Wölbmantel kamen«, sagte Opkul zögernd. »Aber er ist verkrüppelt, und irgend etwas an ihm kommt mir seltsam vor.« »Vielleicht ist es sogar Atlan selbst!« sag te Thalia überrascht und erschrocken zu gleich. »Wer weiß, was die Spercoiden mit ihm angestellt haben, und sie könnten ihn auf irgendeine Weise nach Pthor zurückge schickt haben, sobald sie ihn nicht mehr brauchten.« »Nein«, wehrte Opkul ab. »Das ist un möglich. Es gibt irgendeine Verbindung zwischen dem Fremden in der Feste Grool und Atlan, aber die beiden sind nicht mitein ander identisch. Und dann ist da noch etwas
…« Er zögerte. »Es hört sich verrückt an«, bemerkte er dann vorsichtig, »aber das magische Bild dieses Fremden weist mehrere Konturen auf. Es ist, als gäbe es ihn in verschiedenen For men, als wären Körper und Geist in dieser Zusammenstellung keine Einheit.« »Was kann das bedeuten?« fragte Koratzo verwundert. »Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Ge fühl, ich sollte diesen Fremden im Auge be halten.« Koratzo nickte, und Opkul ging – in seine Gedanken versunken – davon. »Ich dachte, es gibt gar keine Verbindung zwischen euch und dem restlichen Pthor«, bemerkte Thalia erstaunt. »Das stimmt also gar nicht? Warum haltet ihr ausgerechnet mit der Feste Grool Kontakt?« »Es gibt keine Verbindung«, versicherte Koratzo. »Opkul kann mit Hilfe seiner Ma gie alles sehen, was sich in und um Pthor herum abspielt. Nur die Schirme der FE STUNG waren auch für ihn undurchdring lich.« Thalia brauchte geraume Zeit, um diese Informationen zu verarbeiten und die Kon sequenzen zu überschauen. »Dann sieht er also auch in alle Gebäude hinein«, murmelte sie. »Und in alle Fahrzeu ge. Reicht sein Blick vielleicht sogar bis in jene Tiefen, in denen Atlan die Seele Pthors fand?« »Vielleicht«, erwiderte Koratzo auswei chend. Thalia berührte dieses Thema nicht mehr. Sie wußte Koratzos Offenheit zu schätzen – gerade darum wollte sie ihn nicht in Verle genheit bringen. Offenbar gab es Dinge, über die die Magier nicht reden wollten oder konnten. Koratzo fragte Thalia oft über alles aus, was mit Atlan und dem anderen Fremden zusammenhing. Sie hatte nichts zu verber gen. Außerdem glaubte sie, daß die Magier durchaus die Möglichkeit hatten, Atlan zu helfen. Koratzo äußerte sich nicht sehr deut
32 lich zu dieser Vermutung. »Könntet ihr ihn befreien?« fragte Thalia darum schließlich. Koratzo sah sie nachdenklich an. »Ja«, gab er zögernd zu. »Warum unternimmst du dann nichts?« »Wir holten einen Spercoiden in die Bar riere«, erklärte er zögernd. »Wann?« fragte Thalia überrascht. »Es ist nur wenige Tage her. Er befand sich in jenem Schiff, das bei der Vernich tung des Leuchtfeuers in eine andere Zeit spur gedrängt wurde. Darum konnten wir es überhaupt erst erreichen. Glyndiszorn öffne te einen Tunnel, der direkt zu dem Schiff führte, ohne daß wir die Barriere verlassen mußten.« Thalia verstand das nicht, sagte aber nichts. Sie hatte festgestellt, daß alle Versu che Koratzos, ihr die Wirkungsweise der verschiedenen Magien zu erklären, sie nur noch mehr verwirrten. »Der Spercoide verriet uns den Standort der Zentralwelt dieses Sternenreichs«, fuhr Koratzo fort. »Wir berechneten die Entfer nung, und es stellte sich heraus, daß der Weg für uns zu weit ist. Wir brauchen diese Berge. Es gibt eine Verbindung zwischen ih nen und uns, und wenn diese abreißt, ist das gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Ich hatte gehofft, den Spercoiden so beeinflus sen zu können, daß er in unserem Auftrag nach Atlan suchte und ihm half, so gut er konnte. Leider ging etwas schief. Der Sper coide öffnete seine Rüstung und verglühte.« Thalia dachte an die seltsamen, gepanzer ten Wesen und daran, wie die Spercoiden mit den relativ harmlosen Brangeln umge sprungen waren. Sie schüttelte sich unwill kürlich. »Auch die Spercoiden sind nicht von Grund auf böse«, erklärte Koratzo, der diese Reaktion bemerkte. »Sie wurden beeinflußt, ähnlich wie die Horden der Nacht. Alle posi tiven Gefühle wurden ihnen genommen. Ei nes Tages wird dieser Bann von ihnen abfal len, und dann wird niemand mehr einen Grund haben, sich vor denen, die sich jetzt
Marianne Sydow noch in den Rüstungen verbergen, zu fürch ten.« »Nachdem der Spercoide Selbstmord be gangen hatte«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »dachten wir darüber nach, wen wir an seiner Stelle losschicken könnten. Es mußte jemand sein, der bereit war, ein ge wisses Risiko einzugehen, also jemand, der Atlan kannte und ihm aus eigenem Antrieb helfen würde. Razamon und Kolphyr, die si cher bereit gewesen wären, eine solche Rei se anzutreten, waren in einer sehr wichtigen Anlage in die Senke der verlorenen Seelen unterwegs und schieden daher aus. So ka men wir auf dich.« »Du kannst deinem Freund Opkul aus richten, daß es nicht gerade taktvoll ist, in den Privatangelegenheiten fremder Leute herumzuschnüffeln«, sagte Thalia ärgerlich. »Keine Angst, er sieht immer rechtzeitig weg«, erwiderte Koratzo lächelnd. »Und es gibt wichtigere Dinge zu beobachten.« »Wenn ihr mich aus diesem Grund in die Barriere geholt habt, verstehe ich nicht, wes halb ihr mich nicht längst zu Atlan geschickt habt.« »Zuerst kann uns Jarsynthia dazwischen«, murmelte Koratzo. »Sie verdrehte dir so gründlich den Kopf, daß es völlig sinnlos war, dich auf Atlan anzusetzen. Du hättest absolut nichts für ihn getan.« »Das hat sich geändert.« »Ja. Und vieles andere sieht jetzt auch an ders aus. Opkuls Blick reicht nicht bis in je ne ferne Welt, auf der Atlan sich aufhält, aber irgend etwas ist geschehen, was wir von hier aus nur ungenügend beurteilen kön nen. Es wäre unverantwortlich, jemanden auf diese Reise zu schicken, ehe wir die neue Lage genau untersucht haben.« »Wird Atlan zurückkommen?« fragt Tha lia gespannt. »Ich weiß es nicht«, antwortete Koratzo zögernd. »Unsere Zukunft war noch nie so dunkel und unsicher. Glyndiszorn sagte mir, daß die Linien der Zeit sich verwirren. Es scheint, als wäre alles, was wir bisher erleb ten, nur der Auftakt zu einer gewaltigen Ka
Die List der Magier tastrophe. Es müssen seltsame Mächte im Spiel sein, sonst hätte Glyndiszorn nicht sol che Schwierigkeiten.« »Er kann also normalerweise die Zukunft sehen?« fragte Thalia verblüfft. Koratzo nickte. »Warum habt ihr Magier dann nicht längst in die Geschicke dieses Landes einge griffen?« »Wir sind durch Gesetze gebunden, die wir nicht umgehen dürfen.« Damit war wieder jener Punkt erreicht, an dem alle Fragen sinnlos wurden. Thalia er fuhr nichts über diese Gesetze. Sie fragte, wer sie geschaffen hatte, wie sie lauteten und warum die Magier sich daran hielten, ob es außer den Mächten in der Schwarzen Ga laxis noch etwas gab, was den Mißbrauch der Gesetze bestrafen konnte. Koratzo gab ausweichende Antworten, bis die Tochter Odins es schließlich aufgab. Am Morgen des dritten Tages warteten vor der Wohnhalle fünf Magier, unter ihnen die kleine, schwarzhäutige Antharia, die Thalia finster und drohend betrachtete. Tha lia hatte keine Ahnung, was Antharia gegen sie vorzubringen hatte. Sie wußte nur, daß die Pflanzenmagierin sie nicht leiden konn te. »Wir sind fertig«, verkündete Antharia und deutete auf einen formlosen, graubrau nen Klumpen zu ihren Füßen. Thalia schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, was dieses Zeug mit einer Maske zu tun hatte. »Du wirst es bald sehen«, sagte Koratzo beruhigend und wandte sich an Antharia. »Sind die Gesetze befolgt worden?« »Muß das sein?« beschwerte sich die Pflanzenmagierin und funkelte Koratzo mit ihren gelben Augen wütend an. »Du kennst die Antwort.« »Jarsynthia wird uns für ausgemachte Dummköpfe halten«, behauptete Antharia bitter. »Oder glaubst du, daß sie sich in so einem Fall an die Gesetze halten würde?« »Das geht uns nichts an.« Antharia zögerte. Dann gab sie den ande
33 ren einen Wink. Der unförmige Klumpen wurde von unsichtbaren Händen hochgeho ben und schwebte vor den Magiern her einen Weg entlang, der nach Westen führte. »Du mußt hier bleiben«, wandte sich Ko ratzo an Thalia. »Warum?« »Wir verlassen unseren Bezirk. Nachdem wir dich aus Jarsynthias Bann gelöst haben, bist du in der Tronx-Kette vor nahezu allen Angriffen geschützt. Aber sobald du in neu trales Gelände kommst, werden verschiedene Magier versuchen, dich zu beeinflussen. Es reicht, wenn wir auf die Maske achten müssen.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Manchmal«, murmelte Koratzo mißmu tig, »halte ich diese Gesetze selbst für unsin nig. Aber dies ist Copasalliors Plan, und wir müssen Rücksicht auf den Weltenmagier nehmen. Man erwartet von ihm, daß er die Regeln befolgt.« Thalia sah ihm nach, als er hinter den Fel sen verschwand. Über ihr krächzte ein Rabe. Sie sah über rascht hinauf und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, daß Hugin und Munin an der nebelhaften Wand scheitern mußten, die die Barriere von Oth umschloß. Der Rabe kreiste gemächlich und starrte Thalia neugierig an. Sie zog sich hastig in die Wohnhalle zu rück. Der Vogel war ihr nicht geheuer.
* Am Nachmittag kehrten die Magier zu rück, doch Thalia konnte an dem graubrau nen Klumpen keine Veränderung feststellen. »Jetzt können wir das Ding ausprobie ren«, sagte Antharia und streichelte den Klumpen beruhigend. »Thalia, komm her!« Sie sah Koratzo fragend an, aber der Stimmenmagier gab ihr mit einer kurzen Ge ste zu verstehen, daß er für die Maske nicht zuständig war. Zögernd trat Thalia neben den Klumpen. Sie beobachtete Antharia mißtrauisch. Die kleine Pflanzenmagierin
34 lachte leise und berührte den Klumpen sanft mit ihren schmalen, schwarzen Händen. Die »Maske« begann sich zu bewegen. Thalia wich unwillkürlich vor dem wabbeli gen Zeug zurück. »Du mußt stillhalten«, murmelte Antha ria. Die anderen waren ein Stück zurückgewi chen und beobachteten alles gespannt und aufmerksam. Antharia schien ihre Abnei gung gegen Thalia vergessen zu haben. Sie konzentrierte sich völlig auf die »Maske«, und Thalias Mißtrauen verlor sich. Sie merkte, daß die Pflanzenmagierin sich große Mühe gab, eine Verbindung zwischen ihr und diesem Klumpen herzustellen, und sie bemühte sich, keinen Widerstand zu leisten – was angesichts dieses seltsamen Materials nicht ganz einfach war. Thalia hatte das Ge fühl, in die Nähe eines seltsamen, nicht un bedingt freundlichen Wesens geraten zu sein. »Denke an Odin!« befahl Antharia leise. »Konzentriere dich auf ihn. Es darf keine anderen Bilder in deinen Gedanken geben!« Thalia schloß die Augen, denn solange sie den Klumpen sah, konnte sie sich schlecht mit Odin befassen. Aber allmählich gelang es ihr, das Bild des Vaters heraufzube schwören. Gleichzeitig kam die unbestimm te Angst, die sich stets mit dieser Erinnerung verband. »Halt!« sagte Antharia prompt. »So geht es nicht. Wenn du dich vor deinem Vater fürchtest, so überträgt sich das auf die Mas ke. Du würdest nicht gerade überzeugend wirken.« »Ich kann nichts dagegen tun«, antwortete Thalia bedrückt. »Versuche es noch einmal!« riet ihr An tharia. »Du solltest eine Maske schaffen, keinen Spiegel der Wahrheit«, hörte Thalia die Stimme des Weltenmagiers, dann versank sie in tiefer Konzentration – und diesmal schwand die Angst. Eine Stimme aus dem Unterbewußtsein sagte ihr, daß dieser Um schwung auf einen Magier zurückzuführen
Marianne Sydow war. Wahrscheinlich hatte Koratzo wieder einmal eingegriffen. Aber sie fand das im Augenblick nicht so wichtig. Es war sehr an genehm, sich einmal ohne unerfreuliche Ne bengedanken der Erinnerung hingeben zu dürfen. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit ver strich. Undeutlich nahm sie wahr, daß etwas sie einhüllte. Als sie versuchte, die Augen zu öffnen, stellte sie fest, daß ihre Lider wie eingefroren waren. Im nächsten Augenblick vergaß sie auch das. Und dann war sie mit einem Ruck wach und starrte verwundert auf die langen Schatten, die das Plateau überzo gen. »Was ist passiert?« fragte sie – und er schrak, denn sie hörte Odins Stimme. »Wir sind fertig«, sagte Antharia er schöpft. »Mehr kann ich nicht tun. Ich fürchte, diese Maske birgt noch einige uner freuliche Überraschungen. Sei also vorsich tig, Thalia, bis du sie genau kennst und sie beherrschen kannst.« Thalia bewegte sich vorsichtig – sie spür te die Maske gar nicht. Aber als sie an sich hinabsah, erschrak sie. Es war kein Zweifel möglich: Das war nicht ihr Körper. Für einen Augenblick spürte sie brennende Scham, weil »Odin« splitternackt in einem Kreis neugieriger Magier stand. Im nächsten Moment war dieses Gefühl verschwunden. Es mußte an der Maske liegen. Das Zeug saugte unerwünschte Emotionen einfach auf und ließ sie nicht nach außen dringen. »Nimm das«, sagte Copasallior, und wie der hörte sie diesen spöttischen Unterton in seiner Stimme, mit dem sie einfach nichts anfangen konnte. »Und dann probiere die Maske aus, aber halte dich lieber an die brei teren Wege.« Sie nickte mechanisch. Copasallior reich te ihr ein einfaches, weißes Gewand. Als sie den Gürtel schloß, starrte sie verwirrt ihre Hände an. Sie sahen völlig fremd aus. »Eines kann ich jetzt schon spüren«, mur melte Copasallior besorgt. »Und das ist Jar synthias Einfluß. Es wird sich nichts daran ändern lassen. Wenn du Atlan begegnest,
Die List der Magier Thalia, dann wird diese Maske sich auflö sen.« Sie sah den Weltenmagier erschrocken an. »Es ist halb so schlimm«, sagte Antharia beruhigend. »Erstens ist von Atlan weit und breit noch nichts zu sehen, und zweitens wirst du die Maske nicht lange tragen müs sen.« »Aber ich denke, ich soll in dieser Rolle meinen Brüdern Odins angebliche Befehle erteilen!« »Wir werden dich so ausrüsten, daß du sie einigermaßen schnell überzeugen kannst«, versicherte Copasallior. »Aber zuerst mußt du dich an diese Maske gewöhnen. Als was siehst du dich zur Zeit? Als Odin? Das ist sehr gut. Du darfst nicht zu oft daran den ken, wie du in Wirklichkeit aussiehst, denn diese Maske wirkt nicht nur durch ihre äuße re Form. Sie hat eine Überzeugungsaura. Sie spricht darauf an, wie du und deine Brüder sich Odin vorstellen. Natürlich wirkt es nicht nur auf euch, sondern auf alle lebenden Wesen, denen du in der FESTUNG begeg nest. Nur im Umgang mit Spiegeln mußt du zurückhaltend sein.« Thalia hatte aufmerksam zugehört. Dann merkte sie plötzlich, daß sie langsam, aber sicher auf den Abgrund zumarschierte. Sie versuchte anzuhalten, aber ihre Beine ge horchten ihr nicht. Verzweifelt öffnete sie den Mund, um den Magiern zu sagen, daß sie nicht freiwillig an den Rand der Schlucht trat – aber kein Laut kam über ihre Lippen. Es ist die Maske, dachte sie entsetzt. Die ses verdammte Ding will mich umbringen! Da wurde sie zu Boden gerissen, kaum einen Schritt vom Abgrund entfernt. Blitzar tig löste sich die sanfte Umklammerung der Maske, und ihre Spannung entlud sich in ei nem gellenden Schrei. Verwirrt sah sie zu den Magiern auf, die ihr auf die Beine hal fen. »Das ging noch einmal gut«, seufzte eine zwergenhafte Magierin mit blauer Haut und schneeweißem Haar – Thalia erinnerte sich daran, daß Koratzo Rischa als »Feldmagierin« bezeichnet hatte. »Ich
35 fürchte, wir werden anfangs eine Menge Är ger bekommen.« »Ich …«, begann Thalia, aber die Maske ließ sie nicht aussprechen, was sie von An tharia verlangen wollte: Ihr nämlich dieses Zauberding wieder abzunehmen, denn Tha lia spürte deutlich, daß etwas ungeheuer Bösartiges sie umgab. »Wer werden es besiegen!« versprach Koratzo beruhigend und wandte sich an An tharia. »Kannst du wirklich nichts dagegen tun?« »Leider nein. Und Copasallior hat sich wieder einmal aus dem Staub gemacht.« Sie blickte Koratzo flehend an. »Warum mußten wir uns an diese dum men Gesetze halten?« fragte sie vorwurfs voll. Koratzo antwortete nicht. Thalia stolperte unsicher zur Wohnhalle hinüber und setzte sich auf die Steinbank ne ben der Tür. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. Sie wunderte sich darüber, daß die Maske sich im Augenblick passiv verhielt. »Es ist nicht fest verankert«, sagte Korat zo, der plötzlich vor ihr stand. »Das gibt uns eine Chance, diesen Einfluß zu besiegen. Du mußt dagegen kämpfen, sobald es sich be merkbar macht.« Thalia nickte nur. Sie fühlte sich ziemlich elend. Vielleicht war gar nicht die Maske an all dem Ärger schuld. Vielleicht lag es nur dar an, daß sie, Thalia, eben absolut unwürdig war, wenn es darum ging, ausgerechnet die Rolle des mächtigen Odin zu übernehmen. »So etwas darfst du nie wieder denken!« sagte Koratzo ärgerlich. Gleich darauf schlief sie ein. Einmal wachte sie für kurze Zeit auf, konnte sich aber nicht bewegen. »Du solltest ihr die Wahrheit sagen«, hör te sie Rischa murmeln. »Das würde sie ein für allemal von diesen Komplexen heilen.« »Nein!« antwortete Koratzo wütend. »Warum nicht?« fragte Querllo spöttisch. »Irgendwann wird sie es ja doch erfahren.«
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Marianne Sydow
»Ich will nichts mehr davon hören!« rief der Stimmenmagier, und Thalia hatte ihn noch nie so zornig sprechen hören. Gleich darauf schlief sie wieder ein. Sie wollte Ko ratzo am nächsten Morgen nach dieser an geblichen Wahrheit fragen, aber irgend et was hielt sie davon ab. Sie wußte nicht, ob es an der Maske lag, oder ob nicht sogar der Stimmenmagier selbst sie zum Schweigen zwang.
* Die Maske erwies sich als ein zäher Geg ner. Manchmal schien es, als hätte das Ding wirklich einen eigenen Verstand – den es einzig und allein dazu benutzte, Thalia bei jeder Gelegenheit böse Streiche zu spielen. Im Widerspruch dazu stand die sonstige Vollkommenheit dieses magischen Gebil des. Wenn die Maske sich friedlich verhielt, kam Thalia aus dem Staunen über ein sol ches Wunderwerk nicht heraus. Die Maske war ein Teil ihres Körpers und behinderte sie überhaupt nicht. Sie fühlte den Wind und die Sonne auf dieser künstli chen Haut, sie konnte die feinsten Gravuren auf der silbernen Rüstung mit den Finger spitzen ertasten. Dazu kam diese Stimme, die tief und voll war. Solange sie den frem den Einfluß nicht überwunden hatte, durfte sie es nicht wagen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Aber auch so spürte sie die un geheure Kraft, die Antharias Werk ihr ver lieh. Dieselbe Kraft wurde ihr allerdings oft genug auch beinahe zum Verhängnis. Es waren ständig wenigstens zwei Magier in der Nähe, um auf sie achtzugeben. An fangs schlug die Maske mit Vorliebe zu, wenn Thalia einer natürlichen Gefahrenquel le zu nahe kam. Die Magier hielten »Odin« daher meistens schon auf, wenn er sich auch nur in Richtung Abgrund oder sonstiger heikler Stellen in Bewegung setzte. Das verdammte Ding erwies sich leider als sehr gelehrig. Es merkte, daß es auf diese Weise nicht ans Ziel gelangte.
Gegen Abend, als Thalia zufällig für einen Augenblick allein in der Wohnhalle war, entwickelten ihre Arme und Hände ein gefährliches Eigenleben. Sie hoben sich, und Thalia starrte entsetzt auf diese Hände, die sich zielsicher ihrem Hals näherten. Als Ko ratzo zufällig herein kam, war Thalias Ge sicht – beziehungsweise das Odins – bereits blau angelaufen, und sie war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. »Das reicht«, sagte der Stimmenmagier wütend. »Copasallior besteht darauf, daß er die Verantwortung behält, also soll er sich jetzt auch etwas einfallen lassen!« »Ich würde am liebsten aufgeben«, meinte Thalia betrübt. Die Maske hinderte sie daran, weiterzu sprechen. Koratzo eilte davon, um mit dem Weltenmagier zu sprechen. Thalias Quäl geist schien zu spüren, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Als der Stimmenmagier zu rückkehrte, machte »Odin« sich schon wie der an der eigenen Kehle zu schaffen. Korat zo löste Thalia aus diesem Griff, dann rief er Antharia heran. »Kannst du die Maske wenigstens betäu ben, bis Copasallior hier eintrifft?« fragte er. »Ich werde es versuchen«, versprach die Pflanzenmagierin. Als sie sich umdrehte, sank Thalia gerade zu Boden. »Das Biest versucht, ihr sämtliche Kno chen zu brechen«, rief Koratzo entsetzt. Thalia versuchte zu sprechen, aber es ge lang ihr nicht. Ein Panzer umschloß ihren Körper, und der Druck wurde schier uner träglich. Sie fühlte ein scharfes Stechen in der Brust, und dann verlor sie das Bewußt sein. Sie merkte nicht, wie Antharia mit ver zweifelten Gesten auf die Maske einzuwir ken versuchte. Koratzo stand hilflos dane ben, denn in diesem Fall konnte er mit sei ner Stimmenmagie nichts ausrichten. Antharia spürte deutlich den Widerstand, den die Maske leistete. Eigentlich hätte das Gebilde ihr auf den leisesten Wink gehor chen müssen. Die Pflanzenmagierin ver fluchte in Gedanken Jarsynthia und alle ihre
Die List der Magier Anhänger in die tiefsten Kavernen von Pthor. Sie gelangte an den Punkt, an dem ihr nur noch eine Lösung denkbar schien: Die Maske zu zerstören, um Thalias Leben zu retten. Aber da war endlich Copasallior zur Stel le. Der Weltenmagier sah ausdruckslos auf den sich hilflos in Krämpfen windenden »Odin« hinab. Er schien nicht im mindesten beeindruckt zu sein. Aufreizend langsam beugte er sich über Thalia, streckte alle sechs Arme aus, berührte die Maske und murmelte etwas vor sich hin. Koratzo und Antharia spürten die lautlose Entladung und warfen sich vielsagende Blicke zu. »Das wurde Zeit«, bemerkte Antharia gif tig. »Hat es dir Spaß gemacht, uns so lange zappeln zu lassen?« Copasallior sah sie mit seinen riesigen Augen an. »Nein«, antwortete er gelassen. »Ich ge höre nur nicht zu denen, die unsinnige Ver suche unternehmen.« Antharias Augen sprühten Funken, aber Koratzo ging kein Risiko ein. Es gelang der Pflanzenmagierin nicht, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Copasallior wußte ohne hin, welche Vorwürfe sie ihm machen woll te. Aber er nickte Koratzo friedlich zu. »Gönnen wir ihr etwas Ruhe«, meinte er, ohne näher darauf einzugehen, wen er mein te – Thalia oder Antharia. Koratzo lächelte und nickte, und plötzlich stand Haswahu am Eingang und blickte Antharia mit seinen traurigen Augen an. Die Pflanzenmagierin rollte sich wie eine Katze auf dem kahlen Boden zusammen und schlief ein. Zu dritt brachten sie Antharia und »Odin« auf zwei Lagern im hinteren Teil der Halle unter. »Wenn sie aufwacht, wird sie ganz schön wütend sein«, meinte Haswahu. Er irrte sich. Antharia war viel zu erleich tert darüber, daß die merkwürdige Maske sich endlich friedlich verhielt, als daß sie noch Gedanken an diesen kurzen Zwischen fall verschwendete.
37 Von da an war es für Thalia leicht, sich in ihre Rolle hineinzufühlen. »Odin« wurde immer perfekter. Sogar seine Waffen hand habte er mit derselben Geschicklichkeit und unbändigen Kraft, wie Thalia es sich vorge stellt hatte. Je vollkommener ihre Maskie rung wurde, desto undeutlicher wurde die Erinnerung an den Haß, den Odin seiner Tochter entgegengebracht hatte. Sie freute sich allmählich sogar auf dieses Spiel. Und dann war es eines Tages soweit. Die notwendigen Vorbereitungen wurden getrof fen. Beinahe andächtig legte Thalia die prächtige Rüstung an, schloß den roten Um hang und nahm die Waffen. In wenigen Stunden sollte sie in der FE STUNG erscheinen.
6. Thalias Brüder ahnten nichts von dem, was ihnen bevorstand. Sie machten sich Sor gen. Obwohl es genug zu tun gab, konnten sie sich auf die anstehenden Probleme nicht konzentrieren. Es war etwas schiefgegangen. Es hieß, daß Odin nach dem Tage Rag narök zurückkehren und die Herrschaft über Pthor antreten sollte. Aber Odin kam nicht. Bevor sie zur FESTUNG aufbrachen, war ihnen eine Beschwörung ihres Vaters gelun gen. Damals hatte Odin ihnen recht deutlich zu verstehen gegeben, daß die Zukunft den alten Prophezeiungen nicht unbedingt glei chen würde. Aber sie hatten das Wissen um diese Dinge erfolgreich verdrängt und sich auf das konzentriert, woran sie sich ihr über aus langes Leben hindurch erfolgreich ge klammert hatten. Odin mußte kommen. Wenn er erst über Pthor herrschte, konnte nichts mehr schiefgehen. Mit der ihnen eigenen Arroganz fanden sie auch sehr schnell eine Antwort auf die Frage, warum Odin nicht kam, obwohl doch Ragnarök erfolgreich überwunden worden war.
38 »Es kann nur an Thalia liegen«, behaupte te Balduur. »Er hat sie niemals leiden kön nen.« »Als wir Odin damals beschworen, war Thalia bei uns«, gab Sigurd zu bedenken. »Das stimmt nicht ganz«, erwiderte Bal duur. »Ich erinnere mich, daß sie zuerst in unserem Kreis saß, dann aber davonging, weil unser Vater sich bei ihrem Anblick zu rückzog.« »Und jetzt ist sie bei den Magiern«, sagte Heimdall düster. »Wir haben es wieder ver sucht, und es geht nicht. Das kann nur eines bedeuten: Solange Thalia sich noch in Pthor aufhält, wird Odin uns fernbleiben.« Minutenlang war es still. »Das hieße Verbannung«, sagte Sigurd zweifelnd. »Du scheinst diesen Gedanken nicht gera de zu lieben«, bemerkte Balduur spöttisch. Sigurd sah ihn ärgerlich an. »Sie ist unsere Schwester«, sagte er. »Dafür kann sie nichts. Sie hat nicht darum gebeten, als Mädchen geboren zu werden. Ich finde es lediglich ungerecht, sie dafür verantwortlich zu machen.« »Das ist doch nebensächlich«, behauptete Heimdall. »Ich mache Thalia keine Vorwür fe. Aber du mußt zugeben, daß sie uns alle über sehr lange Zeit hinweg getäuscht hat! Hätte sie damals als Thalia weitergelebt, wä re vielleicht alles anders gekommen. Aber sie hat Honirs Rolle übernommen. Ist es ein Wunder, wenn unser Vater ihr wegen eines solchen Betruges grollt?« Sigurd dachte flüchtig daran, daß Odin in seiner jetzigen Zustandsform eigentlich fä hig sein sollte, die primitive Maskierung des früheren Honir zu durchschauen. Aber er hielt es für sinnlos, die anderen darauf auf merksam zu machen. Abgesehen davon ließ sich das Problem so nicht lösen. Auch er war im Grunde genommen davon überzeugt, daß nur Thalias Existenz daran schuld war, wenn Odin allen Versuchen zum Trotz nicht zurückkehrte. »Die Magier haben uns Hilfe verspro chen«, murmelte er. »Wir sollten sie noch
Marianne Sydow einmal daran erinnern.« »Wie denn?« fragte Balduur ärgerlich. »Wir kommen nicht an sie heran.« »Wir müssen uns nur deutlich genug be merkbar machen. Sie können uns nicht ein fach mißachten. Außerdem können wir das Problem mit Thalia erst dann lösen, wenn unsere Schwester die Barriere von Oth ver lassen hat.« Sigurd beobachtete seine Brüder, während er sprach. Er registrierte Balduurs Ungeduld und Heimdalls mißtrauische Seitenblicke. Sigurd rechnete schon jetzt damit, daß auch nach Thalias Verbannung in die Welt jen seits des Wölbmantels Odin nicht zurück kehrte. Was dann? Er hielt es für besser, rechtzeitig nach einem anderen Schuldigen Ausschau zu halten. Seine Brüder dachten nicht anders. Jeder hatte die anderen in Verdacht, heimlich zu intrigieren und dafür zu sorgen, daß alle Be schwörungsversuche scheiterten. Jeder hatte ein handfestes Motiv, sich so zu verhalten. War Odin erst einmal in diese Welt zurück gekehrt, so wurde man ihn sicher nicht so schnell wieder los. Und der legendäre Vater der drei war – wie sie ihrer Erinnerung an ihn entnahm – ein Mann, dem die Macht ganz von selbst zufloß. Wenn er die Herr schaft über Pthor antrat, hatten seine Söhne nicht mehr viel zu sagen. Die drei Brüder hielten nach außen hin immer noch zusammen wie Pech und Schwefel. Sie konnten es sich auch gar nicht leisten, sich gegenüber ihren »Untertanen« eine Blöße zu geben. Solange sie gemeinsam alle Entscheidun gen trafen, wurden sie akzeptiert. Wenn ei ner allzu offen eigene Wege ging, ließ sich die Katastrophe kaum noch aufhalten. Es schien, als sollte Pthor überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Kaum war die La ge wieder einigermaßen stabil geworden, da mußte irgendein geheimer Mechanismus für neuen Ärger sorgen. In der Senke der verlo renen Seelen ging es drunter und drüber. Die Schläfer waren erwacht und irrten umher, viele von ihnen nicht einmal des Pthora
Die List der Magier mächtig und ohne jede Erinnerung daran, was mit ihnen geschehen war und wer sie in das Tal mit den gläsernen Palästen gebracht hatte. Sie reagierten in ihrer Hilflosigkeit völlig unberechenbar auf alles, was ihnen in die Quere kam. Die Söhne Odins hatten eine Schar von Dellos in die Senke der verlore nen Seelen geschickt. Sie sollten dafür sor gen, daß die ehemaligen Schläfer wenigstens in diesem Gebiet blieben. Um sie zusam menzuhalten, sollten die Dellos Notunter künfte errichten und Nahrungsmittel vertei len, damit die Schläfer zu der Überzeugung gelangten, in der Senke die besten Überle benschancen zu haben. Einige hatten das Tal trotzdem bereits verlassen, wie die Söhne Odins von einigen Boten erfahren hatten. Zum Glück waren diese verwirrten Kreaturen völlig ortsunkun dig, sonst wären sicher bald ganze Scharen von Fremden in der FESTUNG aufgetaucht, um sich an denen zu rächen, die sie für alles verantwortlich machten. Die Unruhen in der Senke hinderten die Söhne Odins daran, endlich ihre mühsam er rungene Position auszubauen und zu festi gen. Während Sigurd sich den Kopf darüber zerbrach, welcher von seinen Brüdern falsches Spiel betreiben mochte, erschien plötzlich Fenrir in dem Raum, in dem sie ih re Beratung abhielten. Der große graue Wolf sah sich aufmerksam um und trabte dann zö gernd zu Balduur hinüber. »Was willst du, Grauer?« fragte Balduur schroff. Fenrir blieb stehen, und seine Ohren be wegten sich unruhig. Das grenzenlose Ver trauen zu seinem Herrn hatte gelitten. Man sah es dem Wolf an, daß er mit sich selbst kämpfte. Er wollte davonlaufen, aber sein Pflichtbewußtsein zwang ihn, sich Balduur zu nähern. Fenrir winselte leise. »Er will dir etwas zeigen«, behauptete Si gurd. »Du solltest es ihm nicht so schwer machen. Folge ihm!« »Das ist meine Sache!« grollte Balduur,
39 stand dann aber doch auf und betrachtete Fenrir düster. »Worauf wartest du noch?« fragte er. Fenrir warf sich herum und glitt lautlos davon. Balduur stapfte schwerfällig hinter ihm her. »Ich sehe nichts!« fuhr er den Wolf unge duldig an, als er vor der Pyramide stand. »Willst du mich zum Narren halten?« Fenrir hob die Nase in den Wind und stieß ein eigenartig helles Heulen aus. Balduur er schrak, denn die Bedeutung dieses Ge räusches kannte er gut. Aber wer sollte ihm jetzt und hier eine Nachricht schicken? Seine Brüder sicher nicht, und so kam eigentlich nur noch Thalia in Frage. Balduur sah plötzlich eine Möglichkeit, sich gegenüber seinen Brüdern einen Vorteil zu verschaffen. Wenn er wußte, wo die Schwester sich aufhielt, lag es allein in sei ner Hand, ob es jemals gelang, Odin in die Wirklichkeit zurückzurufen – wenigstens so lange, wie die Raben das Geheimnis nicht ausplauderten. Fenrir wartete nur noch, bis zwei schwar ze Schatten herangerast kamen, dann warf er sich herum und verschwand in dem noch immer recht zerrupft aussehenden Garten rund um die Pyramide. Gespannt sah Balduur den beiden Raben entgegen. Hugin und Munin umkreisten ihn aufgeregt und stießen dabei ihre heiseren Schreie aus. Balduur lauschte – und als er endlich den Sinn der Nachricht erfaßt hatte, war er wie betäubt. Erst nach mehreren Se kunden gewann er seine Fassung wieder. »Es ist gut«, teilte er den Raben tonlos mit. »Ich habe alles verstanden. Ich brauche euch jetzt nicht mehr.« Hugin und Munin strebten mit energi schen Flügelschlägen nach Westen davon. Balduur kehrte zu seinen Brüdern zurück. »Ich habe eine Nachricht bekommen«, sagte er. »Odin bittet uns, ihm heute abend die Rückkehr in diese Welt zu bereiten.«
*
40 Die Neuigkeit schlug ein wie eine Bombe. Sigurd stierte Balduur stumm an. Heim dall war wie erstarrt, nur seine Hände hatten plötzlich zu zittern begonnen. »Er will zurückkehren«, sagte Balduur, und das Blut schien schneller durch seine Adern zu pulsieren. »Begreift ihr überhaupt, was das bedeutet?« Die Raben hatten zu ihm gesprochen – das war für Balduur das Wichtigste in die sem Augenblick. Er hatte nicht vergebens gehofft und gewartet. Immer hatte er davon geträumt, daß Odin ihm half und seinem lan gen, oft qualvollen Leben nachträglich einen Sinn verlieh. »Heute abend«, flüsterte Sigurd endlich. »Ich kann es noch gar nicht fassen.« »Dabei ist es ganz einfach«, behauptete Heimdall plötzlich. »Er hat uns auf die Pro be gestellt. Wir mußten selbst herausfinden, was ihn an seiner Rückkehr hinderte. Er muß uns die ganze Zeit über beobachtet ha ben! Er hat nur darauf gewartet, daß wir endlich zu einer Entscheidung über das Schicksal Thalias kamen!« Die anderen schwiegen. Was Heimdall da sagte, klang so einleuchtend, daß sie sich darüber wunderten, warum es ihnen nicht selbst eingefallen war. »Wir wollen keine Zeit verlieren«, sagte Balduur. »Laßt uns schnell alle Vorbereitun gen treffen.« Als draußen der Abend hereinbrach, stell te Sigurd den Odins-Leuchter auf den Tisch. Aber noch ehe er beginnen konnte, die vie len Lichter anzuzünden, fauchte ein heftiger Windstoß durch die ganze Pyramide, und der uralte, wertvolle Leuchter polterte auf den Boden. Die drei Männer brachen in einen einstim migen Schrei des Entsetzens aus. »Hier nicht!« wisperte eine unglaublich fremde Stimme aus allen Richtungen zu gleich. »Was war das?« fragte Heimdall verwirrt und sah sich um. »Vielleicht Odin«, flüsterte Balduur. Sigurd bückte sich nach dem Leuchter,
Marianne Sydow aber er zuckte vor dessen Fuß zurück, als für den Bruchteil einer Sekunde zwischen seiner Hand und dem Leuchter ein grellblauer Blitz erschien. »Das ist keine gewöhnliche Beschwö rung!« rief Heimdall in plötzlicher Begeiste rung. »Vater, was sollen wir tun? Wie kön nen wir dir helfen?« Niemand antwortete. Aber von draußen kamen entsetzte Schreie, und das Heulen ei nes Sturmes erhob sich, unter dessen Gewalt die FESTUNGS-Pyramide zu dröhnen schi en. Die drei Brüder liefen aus dem Zimmer und rannten über Gänge und Rampen bis zum Ausgang. Fassungslos blieben sie dort stehen und sahen zum Himmel hinauf. Aus allen Richtungen rasten dunkle Wol ken heran, um sich direkt über der FE STUNG zu einer scheinbar kompakten Mas se zusammenzuballen. Kein Tropfen Regen fiel, aber der Sturm nahm zu – und er kam von oben! Das war kein Unwetter, wie es jeder von ihnen unzählige Male erlebt hatte. Das war eine Erscheinung, etwas, das man sich nicht erklären konnte. Überall sahen sie Dellos und Technos, die zu Boden sanken und sich nicht zu rühren wagten. Sie krallten sich re gelrecht am Boden fest, als der Sturm noch tiefer herabfauchte und den losen Sand auf wirbelte. Heimdall, der in der Mitte stand, griff im pulsiv nach den Händen seiner Brüder. Sie bildeten eine Kette, und angesichts der selt samen Vorgänge draußen fiel es ihnen leicht, sich ganz und gar auf ihren Vater zu konzentrieren. Der Sturm tobte um sie herum, die schwarzen Wolken senkten sich, bis die Spitzen der Pyramiden in ihnen verschwan den. Sie fielen noch weiter, während der Sturm ein wenig nachließ – und von einem Moment zum anderen war es geisterhaft still. Die Luft unterhalb der Wolken war still und klar. Von Westen her drang das fahle Licht der Abenddämmerung bis zur Pyrami de vor, nach Osten streckte sich der Schatten des uralten Raumschiffs lang über den un
Die List der Magier ebenen Boden. Die Wolken hingen in höchstens zehn Metern Höhe fest. Atemlos starrten die Söh ne Odins nach oben. Die Stille wurde uner träglich. Sie versuchten sich vorzustellen, wie Odin aus diesen schwarzen Wolken her abstieg – sie waren überzeugt davon, daß dies die angemessene Art für ihren Vater war, diese Welt wieder zu betreten. Aber noch kam Odin nicht zurück. Statt dessen fuhren Blitze aus der Wolkendecke. Zehn, zwanzig, fünfzig, alle auf einmal, begleitet von ohrenbetäubenden Donner schlägen. Sie bildeten grelle, zerfasernde Bänder zwischen den Wolken und dem fe sten Boden, und auch sie hatten keine Ähn lichkeit mit normalen Blitzen. Sie fuhren fast senkrecht herab, aber wenn an der Stel le, an der sie den Boden erreichen mußten, ein Techno lag oder ein Dello, dann knick ten sie zur Seite weg. Etwa eine Minute dauerte dieses Gewitter. Den drei Männern am Ausgang der großen Pyramide erschien das wie eine Ewigkeit. Und es kam noch schlimmer. Die Blitze rasten plötzlich alle auf einen Punkt ganz in der Nähe zu. Ein leuchtendes Gebilde entstand dort, wo die grellen Ener giebahnen sich trafen. Eine Kugel aus reiner Glut bildete sich und wuchs erschreckend schnell zu einem gigantischen Ball. Diese Blitze kamen lautlos. Kein Donnerschlag zerriß die Stille. Winzige blaue Flämmchen tanzten über den Boden. Jeder Techno und jeder Dello, alle Büsche und Bäume, die sichtbaren Teile der FESTUNGS-Pyrami den, Fahrzeuge und die Überreste der alten Fallen – alles erhielt eine Aura aus flirrendem, blauem Licht. Nur die Söhne Odins standen außerhalb dieser Erscheinung. Die Flammen kamen nie weiter als bis auf etwa zehn Meter an sie heran. Dann krochen sie in den Boden und blieben verschwunden. Als der ganze Raum unterhalb der Wol ken mit blauem Licht und der grellen Kugel aus gespeicherten Blitzen ausgefüllt zu sein schien, trat eine neue Änderung ein: Die
41 Flammen hielten an. Die Blitze blieben mit ten in der Luft stehen. Es war, als sollte die Zeit selbst einfrieren, als wäre die FE STUNG mit all ihren Bewohnern unverse hens in die Ewigkeit geraten. »Die Zeit ist gekommen!« sagte eine kör perlose Stimme, die weit über das Land schallte, dabei aber nicht einmal besonders laut war. »Odin kehrt zurück. Die Söhne ha ben sich als dieses Vaters würdig erwiesen.« Nach dem letzten Wort wurde es schlag artig stockfinster. Nichts rührte sich, selbst der Wind schien zu schlafen, und den drei Brüdern stockte das Blut in den Adern. Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Es war kalt. Da, wo vorher der leuchtende Ball ge schwebt hatte, schob sich eine Lichtbahn ganz langsam aus den Wolken. Eine Art Säule entstand. Mit weit aufgerissenen Au gen beobachteten die drei Männer, wie in der Lichtsäule verschwommen die Umrisse eines Menschen sichtbar wurden.
7. Thalia hatte keine Ahnung, was in der FE STUNG geschah, während sie geduldig dar auf wartete, daß man sie zu ihren Brüdern brachte. Sie war ein wenig verwirrt, denn in den letzten Stunden waren Dinge geschehen, die sie sich nicht erklären konnte. Es war schwer genug, sie wenigstens zu akzeptie ren. Zuerst war Copasallior in der Tronx-Kette erschienen. Allmählich gewöhnte Thalia sich daran, daß dieser seltsame Kerl bei je der passenden und unpassenden Gelegenheit einfach aus dem Nichts erschien. Aber dies mal kam er, um Thalia, Koratzo und Querllo abzuholen. Thalia hatte ein wenig Angst vor diesem Transport durch das Nichts. Hinzu kam, daß die Magier verändert wirkten, beinahe fremd. Thalia spürte eine seltsame Span nung, und als sie neben Copasallior trat und auf seinen Befehl hin eine der sechs Hände
42 ergriff, begann ihre Haut unter der OdinsMaske zu kribbeln. Am liebsten wäre sie da vongelaufen, um sich irgendwo in den Ber gen zu verstecken. Im nächsten Augenblick stand sie in ei nem Hochtal. Ein paar Schritt entfernt war das felsige Ufer eines seltsamen Sees mit schwarzem Wasser. Darüber schwebte, von armdicken Trossen gehalten, ein Luftschiff. Thalia hatte von diesen Flugkörpern gehört. Es hieß, daß einige Magier in den Gondeln der Luftschiffe wohnten. Aber sie hatte sich die Fahrzeuge nicht so groß vorgestellt. Als Verbindung zwischen der Gondel und dem Boden diente eine etwa zwei Meter dicke Röhre. Sie bestand aus einem Materi al, das wie trübes, verfärbtes, innerlich mehrfach gebrochenes Glas aussah. Aus der unteren Öffnung dieser Röhre trat gerade ein höchst seltsamer Mann heraus. Er war fast so groß wie Thalia in ihrer Maske, dabei aber beinahe kugelrund. Er trug eine Art Umhang, der jedoch ziemlich kurz war, so daß man deutlich die großen, seltsam fla chen Füße sah, die in leichten Riemensanda len steckten. Die Haut dieses dicken Ma giers war feuerrot, und das strähnige, schwarze Haar hing ihm bis auf die breiten Schultern hinab. »Das ist der Knotenmagier Glyndiszorn«, sagte Koratzo leise, und Thalia hörte eine deutliche Warnung in seiner Stimme. Er hat te ihr schon gesagt, daß Glyndiszorn sehr empfindlich in bezug auf sein Aussehen war. Wehe dem, der es wagte, offen über den Knotenmagier zu lachen. Glyndiszorn sah seine Gäste düster an. Ei ne Begrüßung hielt er nicht für notwendig. Es fiel Thalia auf, daß Copasallior seine Hände hastig zurückzog, und die Magier es überhaupt vermieden, sich zu berühren. »Da kommt Parlzassel«, murmelte Querl lo und blickte nach Süden. Ein riesiger Vogel kam mit kräftigen Flü gelschlägen näher. Das Tier trug einen Rei ter, der wenig später neben Koratzo auf den felsigen Boden des Tales sprang. Parlzassel war ein wahrer Riese, über zwei Meter groß
Marianne Sydow und muskulös. »Hugin und Munin haben die Nachricht überbracht«, sagte er zu Copasallior und warf Thalia einen abschätzenden Blick zu. »Die armen Kerle waren zuerst ziemlich rat los, denn in die Pyramide wagten sie sich nicht, und die Söhne Odins ließen sich ein fach nickt blicken. Sie haben schließlich den Wolf dazu gebracht, Balduur nach draußen zu lotsen. Übrigens – die Maske hat einen fatalen Fehler.« »Welchen?« »Fenrir wird diesen Odin nicht ausstehen können.« »Kannst du etwas daran ändern?« fragte Copasallior betroffen. »Nein. Jedenfalls nicht schnell genug. Leider ist dieser Wolf nicht bestechlich, sonst könnte man ihn mit einem geeigneten Köder freundlich stimmen. Es heißt, daß Odin den Fenriswolf gern hatte.« »Das stimmt«, sagte Thalia mit Odins Stimme. »Wenn Fenrir mich links liegen läßt oder sogar angreift, werden meine Brü der sofort Verdacht schöpfen.« »Dann gibt es nur eines«, meinte Parlzas sel ernst. »Es liegt mir nicht, ein Tier zu er schrecken – wobei es unklar ist, inwiefern man Fenrir überhaupt noch als Tier bezeich nen darf.« Er trat auf Thalia zu. Sie sah ihn aufmerk sam an und fragte sich, was nun schon wie der mit ihr geschehen sollte. »Es dürfte reichen, wenn Fenrir nach an fänglichem Mißtrauen den mächtigen Odin respektiert – indem er ihm aus dem Weg geht. Schließlich kann auch ein unsterblicher Wolf mit der Zeit die eine oder andere Ge dächtnislücke bekommen.« Er strich mit der rechten Hand über Thali as Schild und murmelte dabei etwas, was die Tochter Odins nicht verstand. Sie fühlte auch nichts, und es schien ganz so, als hätte Parlzassel sich umsonst bemüht. Aber der Tiermagier lächelte zufrieden und kehrte zu seinem Riesenvogel zurück. »Ich muß ins Tal der Käfer!« rief er, be vor das Tier sich in die Lüfte schwang.
Die List der Magier »Breckonzorpf ist schon unterwegs. Er hat ein Unwetter der unheimlichsten Sorte zu sammengemischt!« »Ob es geholfen hat?« fragte Thalia den Stimmenmagier. Koratzo sah sie verständnislos an. »Er wollte etwas wegen Fenrir mit mir machen«, erinnerte ihn Thalia. »Ach so. Ja, selbstverständlich wird es wirken. Dafür ist ja Parlzassel als Tierma gier bekannt. Paß auf, Thalia, ich erkläre dir jetzt, wie du dich beim Transport in die FE STUNG verhalten mußt. Du darfst keinen Fehler begehen, sonst kann es gefährlich für uns alle werden. Sobald Breckonzorpf ein getroffen ist, wird Glyndiszorn einen magi schen Tunnel schaffen, der uns direkt ans Ziel führt. Wir warten, bis deine Brüder mit der Beschwörung beginnen. Sigurd hat den Odins-Leuchter geholt – wir müssen verhin dern, daß sie diesmal damit hantieren, denn in der Trance würden sie unsere Bemühun gen glatt übersehen.« »Warum kann ich nicht einfach vor ihnen auftauchen, wenn sie so eine Beschwörung beendet haben?« fragte Thalia. »Erstens ist das Odins nicht würdig«, sag te Koratzo, und wieder bemerkte Thalia den leisen Spott, mit dem anscheinend alle Ma gier den Namen ihres Vaters nannten. »Und zweitens erfüllt das Ganze noch einen guten Zweck. Die Pthorer sind abergläubisch. Odins Auftritt wird bewirken, daß wenigstens in der ersten Zeit niemand auf die Idee kommt, an ihm zu zweifeln oder sogar ge gen ihn zu arbeiten. Das kann auch für dich sehr wichtig werden, dann nämlich, wenn wider Erwarten deine Brüder die Maskie rung durchschauen und du vor ihnen fliehen mußt. Wir werden dich im Auge behalten und helfen, wo immer es geht, aber manch mal kommt es auf Sekunden an. Drittens schließlich wird jeder von uns bei diesem Vorgang magische Grundenergie auf dich übertragen.« »Das hört sich gefährlich an.« »Es ist das genaue Gegenteil«, versicherte Koratzo. »Du wirst diese Energie gut ge
43 brauchen können. Natürlich beherrschst du damit noch keine Magie, und die Kraft er schöpft sich mit der Zeit, weil du sie nicht selbst ergänzen kannst. Aber du hast eine gute Chance, deine Brüder von Odins Macht zu überzeugen. Du wirst es schnell merken.« »Aber was kann ich mit der Energie ma chen?« fragte Thalia ratlos. »Was immer du willst. Wenn du dich dar auf konzentrierst, das zu sehen, was hinter einer massiven Wand liegt, dann kannst du es auch, solange die Energie noch dazu reicht. Du kannst jemanden mit einem Blick lähmen, schwere Gegenstände bewegen, die deine Brüder gemeinsam nicht vom Fleck bekommen würden, Wasser oder Wein erhit zen oder gefrieren lassen – anfangs wirst du sogar Blitze auslösen können. Eines mußt du beachten: Nur in echten Notfällen darfst du diese Energie zu deiner Verteidigung benut zen. Aber auch dann kannst du mit deinen neuen Kräften nicht töten. Versuchst du es, so wird es dich selbst treffen. Du wirst nicht sterben, aber lange Zeit kampfunfähig sein. Was nun den Transport selbst betrifft, so mußt du Ruhe bewahren, was immer auch geschieht. Du darfst nicht sprechen und dich nicht von der Stelle entfernen, die Glyndis zorn dir zuweisen wird. Copasallior bringt dich in das Gebiet der FESTUNG. Wir wol len es so einrichten, daß deine Brüder alles genau beobachten können. Darum muß der Weltenmagier im Tunnel bleiben, während er dich nach draußen versetzt. Du wirst um dich herum Flammen sehen. Sie sind nicht echt, aber dennoch gefährlich. Sobald die FESTUNG für dich sichtbar wird, mußt du stillhalten, bis die Flammen erlöschen. Erst dann ist der Transport abgeschlossen. Alles andere bleibt dir überlassen.« Thalia hatte gebannt zugehört. Die Aus sicht, über die von Koratzo genannten Kräf te zu verfügen, faszinierte sie. Auch wenn diese Kräfte nicht lange anhielten, konnte sie damit doch Odins legendären Ruf unter mauern. Inzwischen war Breckonzorpf gelandet, ein riesiger, brutal wirkender Magier, dessen
44 Haut schwarz wie Pech war. Die goldfarbene, wallende Haarmähne bildete zu dem dunklen Gesicht einen starken Kontrast. Er stieg aus einem Gefährt, das einem Zugor ähnlich sah. Vier schwarze, große Katzen saßen darin und beobachteten ihren Herrn, ohne jedoch zu versuchen, ihm zu folgen, als er düster zu den anderen herüberschritt. Breckonzorpf schwenkte in der rechten Hand einen seltsamen Speer mit einer golde nen, wie ein Blitz geformten Spitze. »Wann geht es los?« wandte er sich an Glyndiszorn. »Wir haben nur auf dich gewartet«, erwi derte der Knotenmagier mit einer keifenden Stimme, die Thalia unwillkürlich zusam menzucken ließ. Sie erschrak, als Glyndis zorn ihr daraufhin einen düsteren Blick zu warf. Sie mußte plötzlich daran denken, daß sie – wenn irgend etwas geschah, was den Magiern nicht gefiel – diesen Leuten absolut wehrlos ausgeliefert war. Sie unterschätzte die Magier jetzt nicht mehr. Und sie wußte, daß sie im Ernstfall nicht einmal dazu kommen würde, ihr Schwert auch nur zu heben. »Komm«, sagte Koratzo leise. »Und mach dir nicht Gedanken über Möglichkei ten, die wahrscheinlich niemals eintreten werden.« Die Magier folgten Glyndiszorn, der sie zu einem gläsernen Gebäude mit schrägen Wänden führte. Als sie die Tür erreichten, erklang ein langgezogener Ruf aus der Rich tung, wo das Hochtal an die steile Gipfel wand des Gnorden stieß. Copasallior ver schwand und tauchte Sekunden später wie der auf. Er brachte einen bewußtlosen Ma gier mit, einen jungen Mann, in dessen schlaffer Hand eine glitzernde Schnur hing. Das Gesicht des Magiers war hinter einer Maske aus stumpfgrauem Metall verborgen. Copasallior löste die Schnallen und warf die Maske achtlos zur Seite. Neugierig betrach tete Thalia den Fremden. »Karsjanor«, murmelte Glyndiszorn und nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Er hat nicht damit gerechnet, daß ich aus-
Marianne Sydow gerechnet da oben noch eine Falle aufge stellt habe.« Der Magier namens Karsjanor wirkte bei nahe kindlich. Sein Gesicht war weich und hell, und über seiner Stirn ringelten sich blonde Locken. Copasallior sah zur Gipfelwand hinauf. »Hoffentlich sind seine Freunde nicht noch dort oben«, sagte er besorgt. »Sie kommen nicht ins Tal«, versicherte Glyndiszorn grimmig. »Was machen wir mit ihm? Allmählich bin ich es leid, mich mit diesem Kerl herumärgern zu müssen.« »Dies ist dein Bezirk«, antwortete Copa sallior ruhig. »Du mußt entscheiden.« Glyndiszorn nahm Thalia das Schwert aus der Hand und schritt auf Karsjanor zu. »Was …«, begann Thalia, aber Koratzo brachte sie hastig zum Schweigen. Entsetzt sah sie Glyndiszorn nach, der langsam das Schwert hob. Glyndiszorn hatte offenbar die Absicht, Karsjanor kaltblütig zu ermorden. Thalia war entsetzt. Sie hätte es verstan den und gebilligt, hätte der eine Magier den anderen im offenen Kampf besiegt und in folgedessen getötet. Aber einen Bewußtlo sen abzuschlachten … »Warte einen Augenblick, Glyndiszorn«, sagte Koratzo plötzlich. Der Knotenmagier wirbelte mit einer Ge wandtheit herum, die angesichts seiner Lei besfülle sehr erstaunlich war. »Was willst du?« fragte er schroff. »Genügt es nicht, daß du ihm sein erbärmli ches Leben gelassen hast, obwohl die Geset ze dir etwas anderes befahlen? Du siehst doch, was dabei herauskommt!« »Du kannst in die Zeiten sehen, Knoten magier«, antwortete Koratzo gelassen. »Wie sieht es aus für die Magier und die Barriere von Oth?« »Ich weiß es nicht«, gab Glyndiszorn dü ster zu. »Ich kann nichts erkennen. Aber das hat nichts mit Karsjanor zu tun.« »Vielleicht doch. Du weißt, was diese Dunkelheit bedeuten kann.« »Die Situation ist ziemlich verworren«,
Die List der Magier murmelte Glyndiszorn mißmutig, starrte den bewußtlosen Magier an und drehte das Schwert zwischen seinen fleischigen Hän den. »Wir wissen, daß Pthor noch ein paar Geheimnisse birgt. Nicht einmal wir Magier haben diese Dinge ergründen können. Die Dunkelheit mag mit diesen Fragen zusam menhängen. Es ist nicht gesagt, daß sich das, was ich sehe, direkt auf uns bezieht.« »Trotzdem. Wenn es zur Entscheidung kommt, dann kommt es auf jeden einzelnen an. Karsjanor ist wichtig für uns alle. Scho ne ihn noch für dieses eine Mal.« Glyndiszorn schwieg verbissen. Thalia sah verständnislos von einem Magier zum anderen. Offenbar rechneten diese Männer damit, daß es einen Kampf der Magier un tereinander geben würde. Karsjanor gehörte zu den Feinden der anderen. Aber warum berief sich dann Koratzo ausgerechnet auf den bevorstehenden Kampf, um Glyndiszorn zu bewegen, den Bewußtlosen am Leben zu lassen? »Ich sperre ihn in eine Höhle«, sagte Glyndiszorn nach einer Weile resignierend. »Aber die verdammte Kristallschleuder will ich doch lieber für eine Weile aus dem Ver kehr ziehen.« Er warf Thalia das Schwert zu, bückte sich und verschwand mit dem Bewußtlosen genauso lautlos, wie Copasallior es zu tun pflegte. Als Glyndiszorn einen Augenblick später wieder sichtbar wurde, wischte er sich demonstrativ die Hände an seinem faltenrei chen Gewand ab und verschwand schwei gend in dem Gebäude mit den schrägen Wänden. »Wollte er ihn wirklich umbringen?« fragte Thalia leise. Koratzo sah sie überrascht an. »Glyndiszorn pflegt selten Scherze zu machen«, erwiderte er nüchtern. »Aber Karsjanor war bewußtlos. Und er hat euch nicht einmal angegriffen.« »Was meinst du wohl, warum die Falle des Knotenmagiers sich um ihn geschlossen hat? Karsjanor ist ein übler Bursche, der sich sogar schon mit dem Weltenmagier angelegt
45 hat. Es ist nur wenige Tage her, da hätte er mich hier, in diesem Tal, fast getötet.« »Dann verstehe ich gar nichts mehr«, murmelte Thalia ratlos. »Es geht um das Gleichgewicht der Kräfte in der Barriere«, erklärte Koratzo. »Es geht uns ähnlich wie euch vor dem Tage Rag narök. Wir kennen unsere Gegner. Wir könnten den Kampf sofort eröffnen, aber es ist fraglich, ob sie überhaupt darauf reagie ren würden. Bestimmte Dinge müssen ge schehen, um die Zukunft herbeizuführen. Und Karsjanor spielt dabei eine wichtige Rolle. Außerdem«, setzte er nüchtern hinzu, »hatten wir in letzter Zeit zu viele Ausfälle. So schnell können wir den Nachwuchs nicht schulen.« Thalia hätte gern nach diesem Nachwuchs gefragt, denn erst jetzt fiel ihr auf, daß sie nirgends in der Barriere Kinder gesehen hat te. Aber inzwischen stand sie in dem Gebäu de, dessen Wände von innen durchsichtig waren. Allerdings hielt dieser Zustand nicht lange an. Glyndiszorn wies jedem einen Platz zu, hantierte mit seltsamen Geräten und kristallenen Kugeln, und plötzlich ver schwanden die Berge jenseits der Wände. Eben noch hatte die ORSAPAYA vor einem leuchtend türkisfarbenen, mit blutroten Wol ken gesprenkelten Abendhimmel gestanden. Jetzt war dort oben eine nebelhafte, graue Masse. Thalia erschauerte, besann sich aber auf Koratzos Warnung und blieb auf ihrem Platz. In dem grauen Nebel bildeten sich schwach leuchtende Fenster. Thalia hielt den Atem an, als sie plötzlich ihre Brüder sah. Die drei befanden sich in einem Raum in der großen FESTUNGS-Pyramide. Heimdall und Balduur saßen in schweren Sesseln und beobachteten Sigurd, der gerade den OdinsLeuchter hereinbrachte. Ehrfürchtig sah Thalia das geheimnisvolle Gebilde an. Die einzelnen Lichtschalen verschwammen vor ihren Augen und veränderten ständig ihre Position. »Das übernehme ich«, brummte Breckon zorpf.
46 »Sie dürfen die Lichter nicht anzünden«, warnte Copasallior. »Wenn erst eines brennt, geht alles von selbst weiter, und sie versinken in ihren Träumen.« Breckonzorpf nickte nur. Er wartete, bis der Leuchter auf dem Tisch stand und Si gurd eine brennende Kerze hob. Da schüttel te er seinen Speer, und aus der hellen Spitze löste sich ein fahler Nebelstreifen, der durch das »Fenster« im Tunnel direkt in die FE STUNG schlüpfte. Thalia hörte das Fauchen des Windes und den Schrei, den ihre Brüder ausstießen, als der Leuchter polternd umfiel. Sie stellte aber auch fest, daß den Brüdern verborgen blieb, was sich – scheinbar direkt neben ihnen – im Tunnel abspielte, denn sie waren völlig ver wirrt und hatten keine Ahnung, woher der starke Windstoß gekommen war. Sie hörte Koratzos Warnung, als Sigurd erneut nach dem Leuchter greifen wollte, und sie sah das blaue Licht, das Querllos Werk war, und unwillkürlich erschauerte sie bei der Vorstellung, daß diese Magier ähnli che Vorstellungen schon öfter gegeben ha ben mochte. Was blieb da noch von den scheinbar unerklärlichen Vorgängen, die im Leben der Pthorer so großen Raum einnah men? Sie konzentrierte sich wieder auf die FE STUNG, wo die drei Brüder jetzt durch ver schiedene Gänge rannten. Glyndiszorns »Fenster« folgte ihnen. Eine andere Öffnung zeigte den Himmel über den Pyramiden, und Breckonzorpf schwang seinen seltsamen Speer in alle Richtungen. Im Tunnel merkte man nichts von dem Sturm, der sich erhob. Aber Thalia sah deut lich genug, daß die Technos und die Dellos allen Grund hatten, sich zu fürchten. Zu ih rer Erleichterung achteten die Magier dar auf, daß niemand verletzt wurde. Wie im Traum erlebte Thalia den Rest der angebli chen »Beschwörung«, die sich senkenden Wolken und die nervenzerreißende Stille, danach die Blitze und Leuchterscheinungen, und sie wunderte sich darüber, daß ihre Brü der sich nicht ängstlich in die FESTUNG
Marianne Sydow zurückzogen. Im Gegenteil: Sie versuchten in ihrer Unwissenheit, durch tiefe Konzen tration ihrerseits die Rückkehr »Odins« zu erleichtern. Thalia merkte, daß Copasallior und Korat zo unruhig wurden. »Wir müssen sie zurückhalten«, sagte der Weltenmagier schließlich. »Die Kerle brin gen es fertig und holen den richtigen Odin doch noch her!« »Wenn ich ihnen befehle damit aufzuhö ren, ist der ganze Schwindel, aufgeflogen«, antwortete Koratzo niedergeschlagen. »Ich kann nur einen Teil der Energie abziehen, aber das reicht nicht.« Thalia starrte aufgeregt nach draußen. Sie wollte fragen, ob eine wirkliche Rückkehr Odins überhaupt möglich sei – in den letzten Tagen war sie zu der Überzeugung gekom men, daß sie und ihre Brüder auf ein Mär chen hereingefallen waren. Aber sie brachte keinen Laut über die Lippen. Von plötzli chem Schrecken erfüllt, sah sie, wie sich ein neues »Fenster« öffnete, eines, durch das man die trockenen Hügel des Planeten Loors sehen konnte. Koratzo starrte dorthin, und Copasallior schloß die Augen und schwank te, als hätte eine von Breckonzorpfs Sturm böen ihn getroffen. Für einen Moment wur de es hinter dem »Fenster« hell, und Thalia glaubte, dort eine Gestalt zu sehen, aber gleich darauf war alles wie weggewischt, und sie wußte nicht, ob alles nur eine Täu schung gewesen war. Sie kam auch nicht dazu, jemanden zu fragen, denn Copasallior ergriff ihre Hand und zog sie sanft mit sich, tiefer in den Tun nel hinein, auf eine Öffnung zu, hinter der tiefe Finsternis herrschte. Sie hörte Koratzos Botschaft an die Söhne Odins, und noch während er sprach, hatte sie das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. In stinktiv klammerte sie sich an Copasallior fest. »Keine Angst«, sagte der Weltenmagier leise. »Du bist gleich da. Halte still, denn ich muß mich allmählich zurückziehen.« Für einen kurzen Augenblick verschwand
Die List der Magier
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alles um sie herum. Die Magier, die Tunnel wände, das Nichts unter ihren Füßen – dann stand sie in einem Ring aus grellen Flam men, und selbst ohne Koratzos und Copasal liors Warnung hätte sie stillgehalten. Seltsamerweise hörte sie jetzt noch ein mal Koratzo sprechen, und was vorher, im Tunnel, geradezu banal geklungen hatte, er schien ihr jetzt wahrhaftig wie eine Bot schaft aus einer anderen Welt. Gleichzeitig spürte sie eine seltsame Kraft in sich. Die Flammen sanken langsam in sich zu sammen. Thalia wartete regungslos, wäh rend draußen ihre Brüder vorsichtig näher kamen. Jetzt hatte sie keine Angst mehr. Sie war tete, bis die Mauern ihres glühenden Ge fängnisses niedrig genug waren, dann hob sie das Schwert und deutete auf die Flam men. Gebt mich frei! dachte sie dabei. Eine Lücke entstand, und Thalia trat hinaus, sah ihre Brüder an und bemerkte die immer noch am Himmel hängenden, schwarzen Wolken. Im festen Vertrauen darauf, daß die Magier auf ihre Weise noch anwesend wa ren, richtete sie das Schwert befehlend nach oben. Ein Windstoß fauchte durch den gesamten FESTUNGS-Bereich. Die Wolken lösten sich blitzschnell auf. Vom klaren Himmel funkelten die ersten Sterne herab.
8. Auch an anderen Stellen konnte man se hen, daß in der FESTUNG ungewöhnliche Dinge geschahen. Von weitem hatten die schwarzen Wolken die Form eines riesigen Schirmes, der die Pyramiden umschloß. Gleich darauf schien es, als hätte man unter halb dieses Schirmes unzählige helle Lam pen eingeschaltet, Scheinwerfer wie die, die die Technos verwendeten, aber noch viel heller in einer Anzahl, wie man sie sich kaum vorstellen konnte. Die Lichter wech selten in rasendem Tempo Farben und Leuchtstärke. Schließlich wurde es abermals
dunkel, und dann erschien die leuchtende Säule. Was Thalia nicht wissen konnte: Im Be streben, dem falschen Odin von Anfang an ein Maximum an Einfluß zu verleihen, hat ten die Magier noch einen der Ihren in den Plan eingeschlossen, der allerhand bewirken konnte, ohne unbedingt im Tunnel anwesend zu sein. Kolviss hatte Querllos Lichtsäule die Ei genschaft verliehen, immer größer zu er scheinen, je weiter man – innerhalb der Grenzen Pthors – von ihr entfernt stand. Und mit der Säule wurde »Odin« vergrößert. Zwei von denen, die das Geschehen beob achteten, waren Razamon und Kolphyr. Sie hatten die Senke der verlorenen See len längst verlassen und hatten die Absicht, auf dem schnellsten Wege in die Festung zu rückzukehren. Für die ehemaligen Schläfer konnten sie nichts mehr tun. Die Dellos, die im Auftrag der Söhne Odins eine Art Kata strophendienst aufgezogen hatten, wurden ohne ihre Unterstützung fertig. Es gab eigentlich keinen vernünftigen Grund mehr, an eine glückliche Rückkehr Atlans zu glauben. Das Schiff der Spercoi den hatte ihn fortgebracht, das Leuchtfeuer war zerstört, und niemand wußte, ob der Ar konide überhaupt noch am Leben war. Aber sowohl Razamon als auch Kolphyr wollten sich mit vernünftigen Erklärungen nicht zu friedengeben. Sie hofften, Atlan wiederzusehen. Und wenn es dem Arkoniden gelang, nach Loors zurückzukehren und Pthor zu er reichen, dann würde er sich zuerst in die FE STUNG begeben, denn dort war die Chance, seine Freunde zu finden, immer noch am größten – wenigstens solange, wie die Söhne Odins den ehemaligen Berserker und das Antimateriewesen nicht endgültig aus ihrer Nähe verbannt hatten. Sie hatten es zu schät zen gewußt, daß die Fremden am Kampf um die FESTUNG teilnahmen, aber es wäre ih nen zweifellos lieber gewesen, wenn Atlans Begleiter nunmehr aus ihrer Nähe ver schwunden wären.
48 Razamon hatte den Zugor landen lassen, als die dunklen Wolken erschienen. Man konnte nie wissen, was auf Pthor als näch stes geschah. Razamon ahnte, daß der Ärger mit den Einrichtungen der früheren Herren noch lange nicht vorbei war. Seiner Mei nung nach war es nur eine Frage der Zeit, wann jemand – oder etwas – aus der ge heimnisvollen Schwarzen Galaxis kam, um nach dem Verbleib des Dimensionsfahr stuhls zu forschen. Razamon wagte sich nicht auszumalen, was eine solche Kontrolle an Folgen nach sich zog. Er hatte einmal versucht, mit Sigurd darüber zu reden, der ihm von den drei Brüdern noch am vernünf tigsten zu sein schien. Aber die Söhne Odins wollten von kommenden Gefahren gar nichts hören. Von weitem verfolgten Razamon und Kolphyr, wie die Lichtsäule sich senkte und eine Gestalt darin sichtbar wurde. »Was mag das sein?« überlegte Razamon halblaut. Und als das Wesen in der Säule scheinbar immer größer wurde, setzte er hin zu. »Der Kerl sieht ja zum Fürchten aus.« »Armer Razamon«, schmeichelte Kolphyr sofort mit seiner hellen Stimme, die zu dem Koloß überhaupt nicht passen wollte. »Komm zu mir, ich werde dich trösten!« Razamon wich hastig zurück. »Laß das!« befahl er unwillig. »Aha, jetzt hat der Spuk ein Ende. Es scheint, als hätten Odins Söhne hohen Besuch bekommen.« »Sie wollten ihren toten Vater zurückho len«, quietschte der Bera aufgeregt. »Vielleicht ist es ihnen gelungen.« Razamon schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich weiß, daß du ein seltsames Verhält nis zur Zeit hast«, murmelte er. »Aber daß Tote nicht wieder zum Leben erwachen kön nen, sollte auch dir klar sein. Komm, wir se hen uns das an.« Sie waren der FESTUNG schon sehr nahe gewesen, als die Wolken sie zur Landung veranlaßten. In geringer Höhe schwebte der Zugor über den an manchen Stellen immer noch schlammigen Boden, dann über die
Marianne Sydow durch sterilen Sand und Felsen gekennzeich nete Grenze der FESTUNGS-Gärten und zwischen den westlichsten, kleineren Pyra miden hindurch. Es war inzwischen Nacht geworden, aber überall gab es Lampen, die zum Glück noch funktionierten. Nahe der Hauptpyramide ließ Razamon den Zugor auf einem mit Steinplatten abgedeckten Platz landen. Der Bera lief voraus. Er war offensicht lich schon sehr neugierig. Razamon folgte ihm, sah sich dabei nach allen Seiten um und stellte fest, daß immer noch einzelne Technos und Dellos auf dem Boden lagen. Er untersuchte zwei von ihnen und stellte fest, daß sie das Bewußtsein verloren hatten. Sonst fehlte ihnen nichts. Er hörte Kolphyr einen schrillen Ruf der Überraschung ausstoßen und rannte um die Ecke. Und dort stand die Gestalt, die in der Lichtsäule angekommen war. »Deine Söhne grüßen dich, Odin!« sagte Sigurd gerade feierlich. Die drei Brüder standen etwa zehn Meter von dem Mann in der silbernen Rüstung ent fernt und wagten es kaum, ihren Vater anzu sehen. Razamon betrachtete »Odin« zwei felnd. Obwohl der Augenschein dagegen sprach, konnte Razamon an die wunderbare Rückkehr Odins nicht glauben. Aber er war vernünftig genug, um sich in seinem Verhal ten den Erwartungen der drei Pthorer anzu passen. Er verneigte sich, als Odin an ihm vorbei zum Eingang der Hauptpyramide schritt. Für einen Augenblick spürte er ein unangenehmes Zerren am linken Bein. Überrascht blickte er nach unten. Der Zeitklumpen hatte sich seit dem Ende der früheren Herren nur selten bemerkbar gemacht. Sicher war es also ein bedeutsames Zeichen. Aber was bedeutete es?
* Thalia fühlte sich immer noch außeror dentlich stark, und das Bewußtsein, vorüber
Die List der Magier gehend tatsächlich über geheime Kräfte zu verfügen, verlieh ihr eine bisher unbekannte Selbstsicherheit. Sie begrüßte ihre Brüder, wie Odin es ih rer Meinung nach auch getan hätte: Nicht überschäumend freundlich, immer auf Wür de bedacht. Die Söhne Odins bewiesen durch ihr Verhalten, daß Thalia genau den richtigen Ton getroffen hatte. Sie führten »Odin« in die Pyramide und behandelten ihn sehr vorsichtig, als wären sie sich gar nicht so sicher, daß sie in allen Punkten den Wün schen ihres Vaters gerecht geworden waren. Sie boten Thalia einen riesigen Krug mit Beerenwein aus Orxeya an. Sie hatte das Zeug oft genug getrunken und wußte, daß sie es vertrug, und gleichzeitig glaubte sie sich auch deutlich genug an die Trinkge wohnheiten ihres Vaters zu erinnern. Also setzte sie den Krug an die Lippen und trank den Wein – ohne abzusetzen – aus. Als sie den Krug auf den Tisch zurückstellte, fiel ihr die magische Grundenergie ein. Sie lächelte – die Maske ließ dieses Lächeln düster und geheimnisvoll erscheinen – und dachte an gestrengt an neuen Wein. Zufrieden bemerk te sie die Blicke ihrer Brüder, als sie den schweren Krug abstellte. Rasch fügte sie dem für die drei unerklär lichen Vorgang einen weiteren Trick hinzu. Sie strich mit der flachen Hand über den Krug, wie sie es einmal von Koratzo gese hen hatte. »Trinkt!« befahl sie. »Es wird euch hel fen, alles deutlicher zu erkennen.« Sie dachte dem Getränk die erforderlichen Eigenschaften zu. Dabei wurde sie sich der Tatsache unangenehm bewußt, daß Raza mon sie aus dem Hintergrund viel zu auf merksam beobachtete. Abrupt wandte sie sich ihm zu. »Wer ist dieser Mann?« fragte sie ihre Brüder. »Ein ehemaliger Berserker«, erklärte Si gurd eilig. »Er stammt aus der Familie Knyr vom Taamberg. Man verbannte ihn vor lan ger Zeit von Pthor. Er half uns, die früheren Herren der FESTUNG zu besiegen, wie es
49 für den Tag Ragnarök vorausgesagt wurde.« »Brauchen die Söhne Odins neuerdings die Hilfe fremder Leute?« fragte sie düster. Sie beobachtete Razamon. Als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, im Schloß Ko myr, da hatte das Berserkertum ihn noch ziemlich fest im Griff gehabt. Inzwischen hatte die Medizin der Schattenkullja ihn ge fügig gemacht, aber sie spürte, wie wütend der Pthorer über die beleidigende Frage war. In Gedanken bat sie Razamon um Entschul digung. Irgendwann würde er begreifen, daß sie nicht anders hatte handeln können. Odin war nun einmal kein gefälliger Typ. »Es gereicht ihm zur Ehre, Odin gesehen zu haben«, versicherte Heimdall dement sprechend höflich. »Ich werde ihn nach draußen begleiten. Warte auf mich, Vater, ich hoffe, dir eine Freude bereiten zu kön nen.« Thalia sah Heimdall nach, der leise und drängend auf Razamon und Kolphyr einre dete. Die beiden Fremden ließen sich schließlich dazu bewegen, in Richtung Aus gang davonzugehen. Thalia hoffte, daß Raz amon, falls er wirklich einen Verdacht ge schöpft hatte, klug genug war, vorerst den Mund zu halten. Die magische Maske schien zwar perfekt zu sein, aber der Berserker hat te zu lange in einer anderen, nicht von der Magie beherrschten Welt gelebt. Er war mißtrauisch, und die Rückkehr eines angeb lich Toten mußte ihn zwangsläufig reizen. Das galt auch für den Bera. Leider kannten beide die echte Thalia, so daß es durchaus möglich schien, daß sie die Wahrheit ent deckten. Aber vorerst stand ihr ein Schrecken von ganz anderer Art bevor, denn Heimdall brachte den Wolf von draußen mit. Thalia vergaß Razamon und alles andere, als Fenrir sich knurrend heranschlich. Sie sah sofort, daß es keinen Sinn hatte, es auf friedliche Weise zu versuchen. Sie hätte die Tarnung schon aufgeben müssen, denn als Thalia war sie dem Wolf wohlbekannt. So lange sie ihm jedoch in Odins Gestalt entge gentrat, spürte Fenrir nur zu deutlich die
50 Wirkung der Magier, und er konnte das We sen in der silbernen Rüstung beim besten Willen nicht mit dem echten Odin in Ver bindung bringen. Seine Instinkte waren zu mindest in diesem Punkt jenen der Men schen weit überlegen. »Halt!« befahl Thalia mit Odins Stimme leise und drohend, als der Wolf auf Sprungweite heran war. Fenrir legte die Ohren zurück, knurrte und zeigte Thalia die Zähne. Heimdall war er schrocken stehengeblieben. Sigurd und Bal duur hatten noch gar nicht begriffen, was vorging, denn sie beschäftigten sich mit dem von Thalia herbeigezauberten Wein, der in der Tat die Sinne schärfte – und vorüberge hend das Interesse für die Gegenwart min derte. »Du kannst mich nicht erkennen, Fenrir«, sprach Thalia weiter, »denn bei meiner Rückkehr blieben Reste dessen an mir hän gen, was das Leben in der anderen Welt be stimmt.« Das war selbstverständlich gar nicht für den Wolf bestimmt, denn bei all seiner Klugheit vermochte Fenrir mit dieser Erklä rung nichts anzufangen. Aber Heimdall be obachtete die Szene mit wachsamen Augen, und im Hintergrund entdeckte Thalia schon wieder Razamon und den Bera. Die beiden hatten sich also doch nicht zurückgezogen. Das war für Thalia der Beweis, daß in der Tat die Gefahr der schnellen Demaskierung bestand. Vielleicht, wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie nicht nur den Wolf, son dern auch die unwillkommenen Beobachter auf eine falsche Spur locken. »Ich kenne dich gut genug, Fenrir«, fuhr sie fort, und nur die Maske verhinderte, daß angesichts des riesigen Wolfes Schweiß auf ihrer Stirn erschien. »Ich weiß, daß diese fremden Einflüsse dich verwirren. Wenn du es könntest, würdest du mich jetzt zerreißen – und hinterher feststellen, daß du Odin ge tötet hast. Ich wußte, daß es so kommen mußte, es tut mir leid, Grauer, denn es macht mir wirklich keinen Spaß, dir weh zu tun. Später, wenn die Einflüsse dieser Welt
Marianne Sydow alles Fremde von mir genommen haben, werden wir miteinander jagen wie in der alten Zeit.« Fenrir hatte aufmerksam zugehört. Als Thalia eine Pause machte, wurde das Knur ren des Wolfes lauter und drängender. Tha lia sah, wie sich einige Muskeln unter dem grauen Fell zusammenzogen. Sie wußte nicht, wieweit sie sich auf Parlzassels Magie verlassen konnte. Beinahe gegen ihren Wil len entstand in ihren Gedanken das Bild Fenrirs, der mitten im Sprung zu Boden fiel und sich winselnd vor ihr duckte. Eine halbe Sekunden später wurde das Bild zur Reali tät. Heimdall machte eine hastige Bewegung, als wollte er Odin zu Hilfe eilen. Thalia wies ihn mit einer herrischen Geste zurück. Sie sah den Wolf an. Sie spürte das dringende Bedürfnis, das Tier zu streicheln und zu be ruhigen und ihm zu sagen, wie klug und wachsam es sei. Statt dessen sah sie schein bar ungerührt zu, wie Fenrir taumelnd auf die Pfoten kam und sich lautlos und vorsich tig zurückzog. An der Tür blieb der Wolf stehen. Er sah Odin an. Thalia erkannte in Fenrirs Augen die Furcht vor einer unbe kannten, unbegreiflichen Gefahr. Aber es gab keinen Funken Unterwürfigkeit in die sem Blick. Sie würde sich auch weiterhin vorsehen müssen, wann immer sie dem Wolf begegnete. »Geh!« befahl sie leise. Der Wolf trabte davon. Thalia sah ihm nach. Plötzlich stand Razamon neben Fenrir. Der Berserker klopfte dem Wolf beruhigend den Hals und starrte Odin dabei an. Er mißtraut mir immer noch, dachte sie bestürzt.
* Die Nacht verging viel zu schnell für die Söhne Odins. Für Thalia dehnten sich die Minuten zu Ewigkeiten. Aber sie wagte es nicht, ihre Brüder zurückzuweisen, ehe nicht wenigstens die dringendsten Fragen beant wortet waren.
Die List der Magier
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Dabei gab es einen Zwischenfall, der nicht weniger gefährlich als die Begegnung mit dem Wolf war. »Du kennst dich mit den Magiern besser aus«, sagte Balduur plötzlich. »Das ist gut, denn Thalia ist bei ihnen.« »Odin« war für einen Augenblick sprach los. »Thalia«, murmelte die Frau in der Maske schließlich und strich sich über die Stirn, als hätte sie Mühe, diesen Namen mit der ent sprechenden Erinnerung zu verbinden. »Wir haben zu lange gewartet«, gestand Sigurd mit niedergeschlagenen Augen. »Ich selbst wollte es bis zuletzt nicht wahrhaben, aber die Zeichen waren deutlich genug. So bald sie für uns greifbar ist, werden wir sie verbannen. Sie soll nicht noch einmal ver hindern, daß du dich in dieser Welt wohl fühlst.« Thalia schwankte einen Augenblick zwi schen überschäumender Wut und hysteri scher Heiterkeit. Da saßen diese Narren und wollten Thalia verbannen, und sie ahnten nicht, daß die un geliebte Schwester ausgerechnet die Maske des Mannes trug, der sich angeblich durch Thalias Existenz zum Versager gestempelt sah. Was sollte sie ihnen sagen? »Zerbrecht euch darüber nicht den Kopf«, empfahl sie schließlich mit Odins Stimme. »Thalia ist nicht so wichtig, wie sie euch scheint …« Das Gelächter, das ihr in der Kehle saß, ertränkte sie in einem gewaltigen Schluck Kromyat. Es wurden nur unwichtige Dinge bespro chen, Fragen, die mehr in mystische Berei che wiesen, denn in die Gegenwart Pthors. Beim Morgengrauen sahen die Söhne Odins endlich ein, daß es besser war, ihrem
»Vater« etwas Ruhe zu gönnen. Thalia ging erschöpft durch die große Pyramide, die ei gentlich ein Raumschiff war. Fenrir trieb sich in den Gärten der FESTUNG herum. Razamon und Kolphyr hatte sie aus den Au gen verloren. Sie hoffte, daß die beiden das Interesse an »Odin« verloren hatten. Um so erschrockener war sie, als Raza mon plötzlich vor ihr stand. »Wer immer du bist«, sagte der Pthorer leise, und sein Schwert zeigte genau auf die Stelle, an der unter der magischen Maske Thalias Herz wie rasend schlug. »Aus dem Jenseits kommst du nicht. Aber wenn du mir nicht verrätst, was das Theater soll, wirst du dich schon in der nächsten Sekunde dort umschauen können.« Thalia dachte daran, Razamon mit einem magischen Schlag unschädlich zu machen. Aber sie erinnerte sich an Koratzos War nung. Razamon war nicht Thalias Feind. Und er würde weiterforschen, wenn sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Einmal mochte er sie in einer Situation stellen, die heikler war als diese jetzt. »Ist jemand in der Nähe?« fragte sie mit ihrer eigenen Stimme. Razamon starrte sie fassungslos an. Tha lia, die sich vor Müdigkeit ohnehin kaum noch auf den Beinen halten konnte, taumelte vor plötzlicher Erleichterung. Erschrocken sprang er vor und führte sie in ihr Zimmer. Dabei zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er ihr helfen konnte, dieses verrückte Spiel zu einem vernünftigen Ende zu brin gen.
E N D E
ENDE