Die Leichenuhr
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 146 von Jason Dark, erschienen am 25.05.1993, Titelbild: Jill Bauman...
8 downloads
374 Views
356KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Leichenuhr
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 146 von Jason Dark, erschienen am 25.05.1993, Titelbild: Jill Baumann
Als sich Gallio, der Uhrmacher, vor einigen hundert Jahren mit dem Teufel verbündete, bekam er von ihm das Versprechen, Herrscher über einen Teil der Zeit zu werden. Aber Gallio war nicht stark genug. Die Macht ließ sich nicht kontrollieren. Er wollte sein Werk, die Leichenuhr, vernichten. Da er es aus eigener Kraft nicht schaffte, wandte er sich an einen Helfer. Der ließ Gallio im Stich. Der Uhrmacher brachte sich selbst um, und die Uhr überlebte. Generationen später gab es sie immer noch. Und Gallios Geist fand keine Ruhe. Er war auf der Suche nach einem Partner. Diesmal fand er einen - mich. Und so stellte ich mich der mörderischen Leichenuhr.
Noch immer dachte Jules Vangard an das Mädchen, dessen Stimme ihn in den Träumen der letzten Nacht regelrecht verfolgt hatte. In Gedanken streichelte er ihre Schenkel, ihre Brüste und ihre Hüften. »Tu es, nimm mich, ich will es doch!« Lizzys Liebesgeflüster war ein Ohrenschmaus. Die Erinnerung glich einem Ballon, der immer mehr aufgeblasen wurde und sich zu einem großen Mond verformte. Er würde sicherlich bald platzen, nur wollte es Jules nicht so weit kommen lassen. Er mußte Lizzy Lamotte einfach wiedersehen. Er wußte nicht viel von ihr, nur ihren Namen und daß sie Artistin in einem kleinen Wanderzirkus war. Dabei ging er davon aus, daß nicht einmal ihr Name echt war. Er hörte sich nach einem Pseudonym an. Doch echt war ihr Körper gewesen. Er sehnte sich nach ihm. Vangard stellte seinen kleinen Polo am Rand des Platzes ab, wo die drei Buchen standen, die dem Fahrzeug einigermaßen Schutz boten. Von dieser Stelle aus konnte er auf den Platz sehen, wo der Zirkus sein Winterquartier bezogen hatte. Der Flecken Erde war ihm von der Stadt zur Verfügung gestellt worden. Das Vieh überwinterte in den Ställen, und so konnte die Stadt wenigstens einen kleinen Obulus an Miete kassieren. Zirkus war eigentlich nicht der richtige Ausdruck für ein Unternehmen wie dieses. Natürlich wurde ein Zelt aufgebaut, unter dessen Kuppel Artisten ihr Können zeigten und Dompteure Tieren ihren Willen aufzwangen. Clowns gab es ebenfalls, aber alles andere paßte nicht zu einem Zirkus, eher zu einer Kirmes. Der Zirkus >Baresi< reiste noch mit zwei Karussells. Eines war für Kinder, ein richtig altes Kinderkarussel mit hölzernen Pferden, kleinen Autos, Drehsitzen, Schafen und auch Kühen. Der Autoskooter, die zweite Attraktion, wurde mehr von den Jugendlichen frequentiert. Beide Anlagen waren im Winter nicht eingemottet worden. An freundlichen Sonntagen hatten sie geöffnet, das hatte Tonio Baresi höchstpersönlich versprochen. Jeder Benutzer brauchte auch nur den halben Preis zu zahlen. Lizzy Lamotte hatte Jules in den beiden Nächten, die sie miteinander verbracht hatten, viel erzählt. Er erinnerte sich auch an ihr Liebesgeflüster und an eine Warnung. »Komm nie nach Mitternacht!« hatte sie ihn eindringlich gebeten. Erst hatte er über die Warnung gelacht. Dann aber war ihm aufgefallen, daß Lizzy ihn beide Male vor Mitternacht weggeschickt hatte. Bevor ihm das ein drittes Mal passierte, wollte er der Sache auf den Grund gehen. Er würde Lizzy fragen. Jules wußte, daß sie in einem der hellen Wohnwagen ihr Zuhause hatte. Geschichte mal ganz anders, mit diesem Thema lockte Tonio Baresi seine Kunden an. Er hatte auch von einer geheimnisvollen Uhr
gesprochen, die die Zeit zurückdrehte und dem zahlenden Zuschauer einen Blick in die Vergangenheit gewähren konnte. Jules Vangard hatte sich darum nicht gekümmert. Er hatte es wie nebenbei erfahren. Es war auch nicht wichtig, er wollte einzig und allein zu Lizzy. Er hatte sich auch schon seine Chancen ausgerechnet. In diesem Winter würde er sie öfter besuchen. Was aber war, wenn das Frühjahr begann und sich der Zirkus auf die Reise machte? Sollte er dann mitziehen, oder würde ihre Liebe dann schon zu Ende sein? Er hatte oft darüber nachgedacht – auch über die Warnung, sie nie nach Mitternacht zu besuchen. Was soll der Mist? Ich will sie vor Mitternacht und nach Mitternacht haben. Mit seinen siebenundzwanzig Lenzen stand er voll im Saft, wie er immer sagte, und er war es auch irgendwie leid, über die Dörfer zu fahren, sich in beschissenen Discos herumzutreiben und darauf zu warten, irgendwelche Landschönheiten aufzureißen. Da war Lizzy anders. Verdammt, die hätte ihn schon um den Verstand bringen können. Wie sie sich unter ihm bewegt hatte! Wie eine Schlange war sie gewesen. Sie hatte Dinge mit ihm angestellt, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Wächter oder Aufpasser waren zwar nicht aufgestellt worden, wie er von Lizzy wußte, aber Jules war vorsichtig. Er hielt die Augen weit offen, als er sich dem Ziel seiner Sehnsucht näherte. Die Dunkelheit war wie ein Schwamm, jedenfalls kam sie dem jungen Mann so vor. Es war feucht, leicht neblig. Der Rasen war weich, er schien zu dampfen, als wäre unter ihm ein Riese versteckt, der in bestimmten Intervallen immer wieder seinen Atem ausstieß. Das Gras war sehr kurz. Schafe und auch Rinder hatten es abgerupft. Im Winter wuchs es nur langsam. Zahlreiche braune Flecken unterbrachen die grüne Fläche, und auf einem dieser Flecken stand auch Lizzys Wohnwagen. Er war nicht mehr als ein heller Kasten in der Dunkelheit, hinter dessen Fenstern kein Licht schimmerte. Vier Fenster hatte das Gefährt insgesamt, auf jeder Seite eins, wobei ein Fenster direkt neben der Tür lag. Dort wollte der nächtliche Schleicher hin. Stille lag über dem Platz. Selbst die Hunde schlugen nicht an. Sie hatten sich vor der Kühle verkrochen, was Jules natürlich gefiel, und als er auf die Uhr schaute, da hatte er zugleich den Wagen seiner Angebeteten erreicht. Genau Mitternacht! Er lächelte, obwohl ihm Lizzys Warnung einfiel. Die konnte sie sich in die Haare schmieren. Er mußte zu ihr! Vielleicht konnte er sie von diesem Zirkus wegholen und mit ihr in eine andere Stadt verschwinden, in eine Großstadt, wo sie anonym leben konnten.
Vor sich sah er die Tür. Sie war längst nicht so breit wie eine normale Tür, nur ein schmaler Durchgang. Ob Lizzy Lamotte abgeschlossen hatte, wußte er nicht. Am liebsten wäre er in den Wagen hineingestürzt, das aber verbot ihm seine Höflichkeit und auch die Vorsicht. Er klopfte. Dabei erschrak Jules, denn seiner Meinung nach war das Geräusch bis an den Rand des Platzes zu hören gewesen. Unwillkürlich duckte er sich und wartete lauernd ab, doch er hatte Glück. Nicht einmal ein Hund regte sich, geschweige denn ein Mensch. Jules war zufrieden und befand sich auch in der Stimmung, die Tür zu öffnen. Die Klinke klemmte ebenso wie die Tür. Mit viel Kraft zerrte er sie auf. Dann stand sie offen. Sein Blick fiel in den dunklen Wagen. Für einige Sekunden blieb er unbeweglich auf dem Fleck stehen, er zischelte auch den Namen seiner Angebeteten und war enttäuscht, daß sie ihm keine Antwort gab. Wahrscheinlich schlief sie schon. Wer schläft, der träumt oft, dachte Jules. Und er führte den Gedanken weiter. Vielleicht sogar von mir, denn als Liebhaber war er nicht schlecht gewesen. Das hatten ihm auch schon andere weibliche Wesen mehr als einmal bestätigt. Die aber waren vergessen, als er den Wohnwagen betrat und die Tür hinter sich schloß. Er blieb zunächst einmal stehen, leicht geduckt, sonst wäre er mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen. Jules kannte sich aus. Er wußte, daß er nach links gehen mußte, um das Bett der zweiundzwanzigjährigen Lizzy zu erreichen. Obwohl der Wagen ziemlich klein war, hatte ihn Lizzy noch einmal durch einen Quervorhang unterteilt, den sie zuzog, wenn sie schlief. In dieser Nacht war er offen. Das wiederum irritierte den ungebetenen Besucher. Es war nicht so stockfinster im Wagen, als daß er nichts hätte erkennen können. Durch die Fenster sickerte das Sternenlicht, so daß er gewisse Umrisse ausmachen konnte. Auch das Bett sah er. Es war ein altes Metallbett, das stabil war, wie Jules wußte. Nur konnte er nicht sehen, ob auf dem Bett jemand lag. Er ging näher, und mit jedem Schritt wuchs seine Enttäuschung. Als er vor dem Bett stehenblieb, bekam er die Wahrheit präsentiert. Das Bett war leer! Jules fluchte nicht, er atmete nicht einmal lauter. Die Enttäuschung jedoch machte ihm schwer zu schaffen. Wieso war das verdammte Bett leer? Weil Lizzy nicht im Wagen war, gab er sich selbst die Antwort. Er fragte sich aber gleich, wo sie um diese Zeit wohl stecken konnte, und die Eifersucht fing an, in seinem Innern zu nagen. Er spürte, daß er einen roten Kopf bekam. Seine Hände wurden feucht. Jules erinnerte sich an die Warnungen seiner Freundin, sie nie nach Mitternacht zu besuchen.
Er war gekommen, hatte das Bett leer vorgefunden, und Lizzy steckte wahrscheinlich bei einem anderen Liebhaber, womöglich bei einem Typ vom Zirkus, denn unter ihnen gab es einige verflixt heiße Burschen, wie er mittlerweile wußte. Selbst Direktor Baresi hatte ein Auge auf die Kleine geworfen, das hatte ihm Lizzy gestanden. Im Wagen war es stickig. Er schnupperte. Der Geruch erinnerte ihn an Lizzys Parfüm, aber war da nicht noch ein anderer Geruch, der den ersten beinahe überlagerte? So muffig und alt, beinahe schon modrig, als würde im Wagen Aas liegen. Jules schüttelte sich, als er daran dachte. Der Gestank blieb in seiner Nase. Eine Sinnestäuschung war es nicht. Neben dem Bett stand ein Hocker. Dort hatte die kleine Lampe mit dem gelben Schirm ihren Platz gefunden. Jules Vangard überlegte, ob er sie einschalten sollte, um mehr zu erkennen, aber das brauchte er nicht. Was er herausfinden wollte, das konnte er auch im Dunkeln ertasten. Er strich mit der Hand über die Bettmitte. Es kam ihm so vor, als hätte das Laken noch die Körperwärme der Schlafenden gespeichert, demnach konnte Lizzy noch nicht lange fort sein. Er tastete weiter und erschrak. Seine rechte Hand war naß geworden. Er zog sie zurück, ließ sie an einer Stelle auf dem Laken liegen und fühlte erneut. Das Laken war nicht nur naß, es war auch irgendwie glitschig, und da fühlte sich etwas an wie Pudding. Die Kehle des jungen Mannes verengte sich. Sein Unterbewußtsein meldete sich und schickte ihm eine Warnung zu. Es war am besten, wenn er nicht näher nachschaute und auch kein Licht machte. Sich umdrehen und den Wohnwagen so schnell wie möglich verlassen, das war die Parole. Angst peitschte durch seinen Körper. Er richtete sich wieder auf. Sein Herz schlug jetzt bedeutend schneller. Er brachte seine Hand dicht vor die Augen und sah, daß die Fläche dunkel war. Eine dunkle Flüssigkeit also. Etwa Blut? Bei diesem Gedanken rebellierte sein Magen. Jules fing an zu schlucken, und der Drang, den Wagen zu verlassen, verstärkte sich immer mehr. Das war kein guter Platz mehr. Nicht zu vergleichen mit dem der beiden letzten Nächte. Es war am besten, wenn er verschwand und Lizzy am folgenden Tag zur Rede stellte. Lebte sie überhaupt noch? Auf Zehenspitzen zog sich Jules Vangard zurück. Seine rechte Hand war noch immer feucht und glatt. Zwischen dem Schmier spürte er einige Haare, die über seine Haut kratzten. Er traute sich allerdings nicht, seine Hand irgendwo abzuwischen, auch nicht an seiner Kleidung. Die Tür
öffnete er mit der Linken und war wenig später froh über die frische Luft. Den Wohnwagenmief ließ er hinter sich. Leise stieg er die Stufe hinab. Er tauchte in die Stille ein und empfand diese Ruhe schon als unnormal. Das war keine nächtliche Stille, wie er sie kannte. Hier hatte sich etwas verändert. Sogar von einer Stunde zur anderen, denn vor Mitternacht war sie ihm noch nicht so bedrückend vorgekommen. Jules dachte abermals an die Warnungen seiner Freundin. Er schüttelte sich, ohne das beklemmende Gefühl zu verlieren. Es blieb in ihm, es war wie eine innere Klammer. Er wußte, daß etwas passiert war, nur erkennen konnte er nichts. Über den abgestellten Wagen und Buden lastete ein bedrückendes Schweigen. Es mochte auch an dem Schatten liegen, der über ihn fiel. Jules schaute nach links. In unmittelbarer Nähe des großen KuriositätenBaus fühlte er sich nicht wohl. Dieses Gebilde strahlte etwas aus, das ihm nicht behagte. Hätte er es in Worte fassen sollen, es wäre ihm kaum gelungen. Das war einfach da, es war anders als die Dunkelheit der Nacht. Jules kam es sogar vor, als wären die tiefen Schatten mit einem bösen Leben erfüllt. Als eine leichte Windböe über den Platz wehte, hörte er das leise Rascheln der Blätter. Das Laub war erfaßt und in die Höhe geschleudert worden. Es wehte an ihm vorbei. Jules Vangard hörte die Schritte! Er blieb auf der Stelle stehen, konzentrierte und spannte sich. Die Angst saß tief wie ein Stachel in ihm. Vorsichtig schaute er nach links. Die Gestalt war kaum zu erkennen, obwohl sie in seiner Nähe vorbeihuschte. Ihm kam es vor, als würde er auf der Stelle einfrieren. Er hatte sie erkannt, er wollte ihr etwas nachrufen, seine Stimme versickerte jedoch schon im Ansatz. Nur mit den Augen hatte er Lizzy verfolgen können. Er wußte jetzt, welchen Weg sie genommen hatte. Sie war auf die Rückseite des Kuriositätenkabinetts zugelaufen. Wenig später hörte er ein leises Knarzen. Da hatte sich tatsächlich eine Tür bewegt. Jules wußte Bescheid. Lizzy hatte tatsächlich um die Zeit den Wagen betreten, und er fragte sich, was das nun wieder sollte. Wieso ging sie nach Mitternacht dort hinein? Er dachte wieder an ihre Warnung. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Er spürte den Druck im Magen und auch hinter den Augen. Jules überlegte, ob er ihr nachgehen sollte. Er dachte an die Nächte mit ihr und glaubte fest daran, daß es in dieser Nacht nicht mehr dazu kommen würde. Er wollte wenigstens mit Lizzy reden. Er bückte sich und holte ein Taschentuch hervor. Ein Feuerzeug ebenfalls, das er anschnickte und die kleine flackernde Flamme dicht neben seine rechte Handfläche hielt. Er wollte den Schmier endlich sehen. Es war kein Schmier, es war Blut!
Plötzlich ekelte ersieh. Dickes Blut, sogar die dunklen Haare entdeckte er darin. Jules schüttelte den Kopf. Er dachte daran, daß er in das Bett gefaßt hatte, während er seine Hand im Gras zu reinigen versuchte. Dieses Blut hatte sich in Lizzys Bett befunden. Es war eine stockige Flüssigkeit gewesen, der Vergleich mit dem Pudding kam ihm wieder in den Sinn. Wie war das Blut in Lizzys Bett gelangt? War sie etwa verletzt? Konnte er ihr helfen? Vielleicht hatte sie nicht mehr länger in ihrem Wagen bleiben können und suchte jetzt ein Versteck? Im Kabinett würde sie kaum jemand vermuten. Hatte er bisher noch gezögert, so sollte sich dies sehr schnell ändern. Eine Pause gab es nicht mehr, er nahm denselben Weg wie Lizzy und war auch froh, daß er sich auskannte. Im Gegensatz zur Vorderseite war die hintere nicht mit bunten Bildern bemalt. Sie war nicht mehr als eine dunkle Holzfläche, die zudem muffig und feucht roch. Wieder blieb Jules vor einer Tür stehen. Hinter ihr aber lag etwas Fremdes, denn den Wohnwagen hatte er gekannt. Nun kam es ihm vor, als würde er eine fremde, unheimliche Welt betreten, die eine Hölle für sich war. Er hatte einen trockenen Mund bekommen. Die innere Stimme sagte ihm, daß es Wahnsinn war, was er da tat, aber irgendwo gab es auch eine Grenze. Da mußte man sich entscheiden, und er hatte sich entschieden. Er würde den Weg gehen. Allein wegen Lizzy. Und er würde auch über seinen eigenen Schatten springen. Es kam ihm vor wie die erste Mutprobe seines Lebens. Als er daran dachte, mußte er schon lächeln. Dabei verkrampfte er sich. Wenn Lizzy von innen abgeschlossen hatte, würde er sich zurückziehen. Das hatte er sich vorgenommen, und irgendwie hoffte er auch, daß es zutraf. Sie hatte nicht von innen abgeschlossen. Jules öffnete die Tür. Er hörte das Knarren jetzt deutlicher, bekam eine Gänsehaut, die auch blieb, als er den Schritt in das unbekannte, fremde und feindselige Dunkel machte. Er zog auch die Tür zu. Die Angst kam, als sich die Dunkelheit wie ein tiefer Sack über ihn stülpte. Er sah überhaupt nichts. Das Gefühl der Klaustrophobie überkam ihn schlagartig. So wie ihm mußte es jemandem gehen, der lebendig begraben worden war. Er dachte an Lizzy und erinnerte sich wieder daran, daß er ihr mal vorgeschlagen hatte, dieses Kabinett zu besichtigen. Aber Lizzy hatte es strikt abgelehnt. Sie wollte nicht, es wäre nicht gut, hatte sie ihm gesagt. Jetzt wußte er, daß sie recht hatte.
Dieser Bau war kein guter Ort. Er war gefährlich. Trotzdem ging Jules Vangard weiter. Liebe macht bekanntlich blind. Sie kann auch manchmal tödlich sein… ***
Der Traum Wer mich kennt, der weiß, daß ich ein Mensch bin, der sich am Abend, wenn es die Zeit erlaubt, gern früh hinlegt, zumeist vor Mitternacht, und sich darüber freut, tief und fest zu schlafen. Einfach wegsacken, um am anderen Morgen mit einem guten Gefühl und auch erfrischt zu erwachen. So etwas klappt nicht immer, schließlich ist der Mensch keine Maschine, aber in der Regel hatte ich keine Schlafprobleme. Leider hatte sich das geändert! In den letzten drei Nächten war ich zwar zum Schlaf gekommen, aber er war verdammt unruhig gewesen, bedingt durch einen bestimmten Traum, den ich nicht einordnen konnte, über den ich aber mit meinem Freund Suko gesprochen hatte, ohne von ihm eine Lösung serviert zu bekommen. Er hatte nur die Schultern gehoben und davon gesprochen, daß ich mit dem Problem allein fertig werden müßte. Klar, war das meine Sache, auch andere wurden mit den Problemen allein fertig. In meinem Fall sah ich es nur etwas anders an, denn es waren keine verschiedenen Träume, die mich plagten, sondern immer wieder der gleiche. Am vierten Abend glaubte ich nicht mehr an einen Zufall. Auch deshalb nicht, weil sich der Traum intensiviert hatte und ich mit immer mehr Details konfrontiert worden war. Ich hatte über eine Lösung nachgedacht und war auch zu einem Ergebnis gekommen. Dieser Traum mußte mehr als eine Botschaft verstanden werden. Die Botschaft an mich – doch von wem? Das war die Frage, der ich nachgehen mußte, nur kam ich mit Überlegungen nicht weit, denn die Hauptfigur des Traumes war mir unbekannt. Doch beim drittenmal hatten sich bereits mehrere Details herauskristallisiert, und ich wartete voller Spannung auf den vierten Traum. Ich hatte das Gefühl, daß er der entscheidende werden würde, und ich war bereits tagsüber ziemlich aufgeregt. Ich hatte mir einen Tag im Büro auserbeten, um gewisse Dinge zu ordnen. Ich wollte Rechnungen aufarbeiten, mal wieder mit Glenda Perkins reden, wobei ich feststellen mußte, daß sich meine Gedanken immer mehr verloren und ich überhaupt nicht bei der Sache war, sondern schon darauf wartete, den Traum zu erleben.
Vielleicht mit neuen Details. Mit der Botschaft, die ich nun voll und ganz begriff. Das merkte auch Glenda. Sie schlug mir vor, die Zelte abzubrechen und nach Hause zu gehen. Alles andere wäre sinnlos gewesen, und ich stimmte ihr zu. Noch am späten Nachmittag verließ ich das Büro, wobei mir Suko noch androhte, am Abend vorbeizukommen und nach dem rechten zu sehen. Das tat er auch. Ich war froh darüber, ihn zu sehen, denn die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Natürlich hätte ich mich ins Bett legen können, das wäre auch nicht das Wahre gewesen, denn ich fühlte mich noch nicht müde genug. Hinzu kam die Erwartung, wieder denselben Traum zu haben. Ich wurde nervös, was Suko sich nicht erklären konnte. »Du hast eben eine andere Erziehung hinter dir.« »Stimmt, John. Manchmal ist es gut, wenn jemand die alten asiatischen Weisheiten nicht vergißt. Sie geben dir die Kraft, um die Gefühle ordnen zu können.« »Da muß ich wohl noch viel üben.« Suko schaute mir lächelnd nach, wie ich im Zimmer umhertigerte. Ich schaute zu Boden, dachte zum wiederholten Male nach, welchen Sinn dieser Traum gehabt haben könnte. Er war wie ein weit von mir entferntes Gebilde gewesen, nicht zu greifen, auch nicht beim Näherkommen, denn wenn ich das Gefühl hatte, ihn mit den Gedanken erfassen zu können, glitt ich immer wieder ins Leere. Dennoch mußte der Traum eine Botschaft sein! Ich lächelte vor mich hin, als ich Sukos Gesicht sah. Mein Freund sah aus, als würde er sich mehr Sorgen um meinen Zustand machen als ich mir selbst. »Was hast du?« »Ich beobachte dich.« »Ja, das sehe ich.« »Und ich möchte dir einen Vorschlag machen.« »Rück raus damit!« »Sollen wir irgendwo hingehen und eine Kleinigkeit essen? Zum Italiener, Chinesen…« »Du hast Hunger.« »Stimmt. Da ich nicht gern allein im Lokal sitze und mampfe, wollte ich dich fragen, ob du mich begleitest.« Ich nahm in einem Sessel Platz und legte die Handflächen gegeneinander. »Nein, Suko, ich bleibe hier. Nimm es nicht persönlich, aber ich wäre kein guter Unterhalter heute abend. Außerdem habe ich kaum Hunger. Ich müßte mich dazu zwingen, überhaupt einen Happen zu essen. Ist lieb gemeint, doch ich sage danke.« »Dachte ich mir.«
»Ich komme später darauf zurück, Suko. Gib mir einige Tage Zeit, wenn diese Sache vorbei ist.« »In die du dich viel zu tief hineingekniet hast, John. Du mußt alles lockerer nehmen.« Ich schaute ihn zweifelnd an. »Würdest du das tun? Einfach so locker nehmen?« »Klar.« Ich verzog die Lippen. »Das, mein Lieber, glaube ich dir nun nicht. Du würdest ebenso wie ich über die bleiche Gestalt nachdenken, die immer wieder erscheint, um dich zu warnen. Sie ist ja da, sie ist plötzlich präsent, und ich kann ihr nicht entkommen.« »Willst du es denn?« »Nein. Ich möchte herausfinden, was sie von mir will. Das ist kein normaler Traum, Suko. Ich vergleiche ihn mit einem Puzzle. Jede Nacht kommt ein Teil hinzu. Wenn ich in der folgenden wieder anfange zu träumen, dann hat sich das Puzzle geschlossen. Dann ist es fertig, und ich weiß zumindest Bescheid.« »Dessen bist du dir sicher?« »Auf jeden Fall.« Suko wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, aber es ist dein Traum. Ich an deiner Stelle würde vielleicht anders denken und die Lösung von einer anderen Seite anpacken.« »Von welcher, bitte?« Suko winkte ab. »Das habe ich dir doch schon gesagt. Es wäre möglich, daß es etwas in deiner Vergangenheit gibt, das diesen Traum gewissermaßen gesponsert hat.« »Toll gesprochen.« »Dabei bleibe ich auch. Der Traum läßt sich bestimmt auf etwas zurückführen, an das du heute noch gar nicht denkst.« »Der Meinung bin ich auch. Ich denke da an einen Fall.« »Gut.« Er grinste. »An welchen?« »Keine Ahnung.« »Sag das nicht, John. Es müßte ein Fall sein, der nur dich allein etwas angeht. Eine ganz persönliche Sache, denke ich, mit der deine Freunde nichts zu tun haben.« Er ließ mir Zeit zum Nachdenken, und ich nickte. »Ja, da kannst du schon recht haben.« »Meine ich doch.« »Trotzdem bleibe ich skeptisch. Ich bekomme ihn nicht in den Griff. Und persönliche Fälle – Himmel«, ich hob die Schultern. »Soll ich jetzt alle durchgehen?« »Wäre eine Möglichkeit, aber nicht effizient.« »Eben.«
Suko sprach weiter, und er unterstrich seine Worte durch Handbewegungen. »Es ist ja nicht gesagt, daß er mit Dingen zusammenhängt, die du schon erlebt hast. Es kann etwas sehr Persönliches sein, das tief in deinem Innern vergraben ist. Du weißt selbst, daß die Seele des Menschen das Rätselhafteste ist, das man sich auf der Welt vorstellen kann. Neben dem Gehirn natürlich.« »Seele«, murmelte ich. »Wobei wir beim Thema wären.« »Soll ich weit zurückgehen, nicht mehr in der Gegenwart bleiben und tief in die Vergangenheit tauchen?« Suko lächelte. »Ich schätze, daß du dich auf dem richtigen Weg befindest, Alter.« »Eine Vergangenheit, die längst hinter mir liegt und die ich nicht als John Sinclair erlebt habe?« »Das ist sehr persönlich.« »Und darauf wolltest du hinaus.« »Ja.« »Weiter!« forderte ich. »Hector de Valois, Richard Löwenherz, deine Templer-Zeiten, John.« Ich winkte ab. »Hör auf, Mann! Wie sich das schon anhört! Deine Templer-Zeiten!« »Liege ich da so falsch?« Ich schwieg, was so gut wie ein Eingeständnis war. Wenn ich näher darüber nachdachte, mußte ich zugeben, daß mein Freund gar nicht so falsch lag. Denn meine Wiedergeburten waren nun mal sehr persönliche Angelegenheiten. Die Erinnerung daran kann durchaus in meinen Träumen aufgefrischt werden. »Nun, Mister Geisterjäger…« »Gar nicht so schlecht. Das wäre eine Möglichkeit, eine Basis. Ich werde sie ins Kalkül ziehen.« »Untertreibe nicht. Du mußt sie einfach in Betracht ziehen. Du mußt damit leben, und ich bin sicher, daß sich die Vergangenheit immer mehr in die Karten schauen läßt. Da kommt etwas auf dich zu, für daß ich keine Erklärung habe.« »Ich auch nicht.« »Nur wirst du ihm nicht entgehen können.« »Das mag sein«, gab ich zu. »Es ist sogar so.« Wir diskutierten noch eine Weile, und ich merkte kaum, wie die Zeit verging. Zudem schaffte es Suko immer wieder, mich in faszinierende Theorien zu verstricken, über die ich erst einmal nachdenken mußte. Für ihn war es nichts anderes als ein Umkehrprozeß, der mit meiner Wiedergeburt zu tun hatte.
»Ich glaube fest daran, John, daß in der tiefen Vergangenheit irgend etwas stattgefunden hat, das damals nicht gelöst werden konnte. Es hat aber eine Lösung geben müssen, und deshalb hat man sich einfach an dich gehalten. Oder liege ich da so falsch?« »Ich habe keine Ahnung.« »Du willst keine haben, aber du kannst dich auch nicht dagegen wehren. Du bist mit der Vergangenheit konfrontiert worden, und vielleicht mußt du sogar für deren Sünden zahlen.« »So schlimm wird es schon nicht werden.« Ich gähnte, was Suko zu einem Lachen verlockte. »Wunderbar«, sagte er und stand auf, wobei er auf seine Uhr schaute. »Wir haben gleich Mitternacht. Die Zeit ist vorbeigehuscht. Du bist müde, ich ebenfalls, und ich bin gespannt, was du mir am nächsten Morgen berichten kannst.« »Vielleicht gar nichts.« »Das bleibt abzuwarten.« Ich brachte Suko noch zur Tür. Er blieb davor stehen und machte ein ernstes Gesicht. »Wie man es auch dreht und wendet, John, dein Traum ist nicht so leicht zu verkraften. Auch ich hätte meine Mühe damit gehabt. Ich rate dir nur, vorsichtig zu sein. Nimm ihn um Himmels willen nicht auf die leichte Schulter.« »Keine Sorge. Es ist trotzdem nur ein Traum.« Mein Freund hob die Schultern, wünschte mir noch eine gute Nacht und verschwand nach nebenan. Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und ging wieder zurück in meine Wohnung. Das Gespräch mit Suko hatte zwar nicht viel gebracht, ich war auch nicht ruhiger geworden, es tat trotzdem gut, einen Freund in der Nähe zu wissen. Träume sind Schäume, so heißt es manchmal. Ich allerdings wollte daran nicht so recht glauben. In meinem Fall waren sie mehr als Schäume, da hatten sie möglicherweise ein direktes Zeichen gesetzt, und es konnte durchaus sein, daß dieser Traum so etwas wie eine Offenbarung für die Gegenwart oder die nahe Zukunft war. Ich war sehr nachdenklich, während ich mich auszog. Als ich nach der Toilette im Bett lag, ließ ich das Licht auf der Konsole brennen, worüber ich selbst lachen mußte, denn ich kam mir vor wie eine ängstliche alte Jungfer, die Furcht vor dem Einschlafen hatte und trotzdem darauf hoffte, daß ihr Traumprinz erschien, um sie aus ihrem Zustand zu erlösen. Ich wartete auf den Schlaf. Komisch, vorhin war ich müde gewesen, doch nun wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich wartete auf ihn, fühlte mich dabei aufgekratzt und kam mir vor, als würde ich mich dagegen stemmen, obwohl ich doch wollte, daß ich einschlief. Ein paarmal schaute ich auf die Uhr.
Der neue Tag war bereits über zwanzig Minuten alt. Ich hatte nie nachvollziehen können, wann die Träume kamen. Ob kurz nach Mitternacht oder erst in den frühen Morgenstunden, jedenfalls hoffte ich, daß ich in den folgenden Stunden Klarheit bekam. Auch draußen war es ruhig geworden. Ich wohnte am Stadtrand von Soho, und irgendwann, besonders in den langen Spätherbsttagen, schliefen auch hier die Geräusche ein. Irgendwann sackte ich weg, fiel in ein tiefes Loch. Ich hatte dabei das Gefühl, als hätten mich unsichtbare Hände hineingezerrt. Das Loch war bodenlos, und ich schwamm einfach weg. Nichts war mehr zu spüren. Um mich herum versank die Welt, mein Bewußtsein verabschiedete sich. Im gleichen Maße wurde das Unterbewußtsein aktiviert. Plötzlich war die Realität der Welt für mich nicht mehr wichtig. Ich schlief tief und fest, bekam selbst nichts mit, wartete aber auf die Träume. Der Schacht hielt mich fest. Nichts war da. Dunkelheit, tief und schlammig. Ich kam mit mir selbst nicht mehr zurecht. Ich spürte mich nicht, denn ich war nicht mehr John Sinclair. Ich war zu einem anderen geworden. Jetzt war ich eine Person, die ihre Träume absolut realistisch erlebte. Wer war ich? Warum konnte ich mich gegen die Kräfte nicht wehren? Ich ging durch meinen eigenen Traum als eine fremde Person, die ebenso fühlte wie ich. Ich wanderte durch die Dunkelheit, die nur sehr langsam vor mir zurückwich, damit sich ein Bild formen konnte. Ich sah mich in einem fremden, düsteren Ort, wobei ich nicht erkennen konnte, ob ich in einem Dorf oder einer Stadt stand. Jedenfalls befand sich unter meinen Füßen ein holpriges Pflaster. Ich mußte darauf achten, nicht zu stürzen. Alles war anders geworden. Wenn ich den Kopf drehte, schaute ich gegen die düsteren Fassaden buckliger und schiefer Häuser. Lichter brannten keine. Über mir breitete sich ein düsterer Himmel aus, bedrückend wie immer, und ich wußte plötzlich, daß mein Traum schon längst begonnen hatte, denn dieser Anfang war mir nicht neu. Ich kannte ihn, ich hatte mich darauf eingestellt und war zudem gespannt auf seine Fortsetzung. Nur gelang es mir nicht, den Traum selbst zu steuern. Das mußte ich anderen Kräften und Mächten überlassen, die mich durch die Düsternis begleiteten. Eine Straße, die sich in Kurven durch den kleinen Ort wand und sehr eng war. Eine tiefe Stille, deren Anwesenheit mir einen Schauer über den Rücken rieseln ließ. Und dann das Licht.
Ich sah es rechts von mir. Es flackerte. Wahrscheinlich war es das Licht einer oder mehrerer Kerzen. Ich blieb stehen und drehte den Kopf. Vor mir öffnete sich eine schmale Gasse, aus der es roch, weil dort irgendwelcher Abfall vermoderte. Ich mußte sie betreten, ob ich wollte oder nicht, denn sie war der einzige Weg, um so schnell wie nur möglich in die Nähe des Lichts zu gelangen. Es lockte mich… Ich ging hin. Schon dreimal war ich in meinen Träumen diesen Weg gegangen. Nur aber kam ich mir vor, als würde ich ihn zum erstenmal beschreiten, weil ich ahnte, daß ich so etwas wie eine wichtige Entdeckung machen würde. Ich wußte sogar, daß dort, wo das Licht war, jemand auf mich wartete, und ich wollte schneller gehen, was ich nicht schaffte, denn dieser Traum wurde von anderen Gesetzen diktiert. Ich bewegte mich in einer gleichmäßigen Geschwindigkeit und ging durch einen zähen Nebel, weil ich immer das Gefühl hatte, es wären unsichtbare Arme da, die mich festhalten wollten. Als ich das Ende der Gasse erreichte, konnte ich direkt auf das Haus mit dem Licht schauen. Es war ein ebenso kleines Gebäude wie die übrigen Häuser auch. Nur eben das Licht hinter den kleinen Fenstern unterschied es von den anderen. Es drang auch durch die Vierecke und zeichnete helle Inseln auf den Boden vor dem Haus. Wie in den drei Traumnächten zuvor ging ich den Weg direkt auf das Haus zu. Nichts in der Umgebung rührte sich. Die Stille lag schwer wie Blei über allem. Manchmal glaubte ich sogar zu schweben, einfach wegzufliegen und diesen Traum zu verlassen. Es war seltsam. Ich erlebte ihn sehr intensiv, obwohl es mir manchmal vorkam, ein anderer Mensch zu sein. In dieser Nacht war eben alles anders, selbst die Träume. Es mochte damit zusammenhängen, daß es so etwas wie ein Wahrtraum war, aus der Vergangenheit hervorgeholt und nur für mich persönlich bestimmt. Wie immer blieb ich vor der Tür stehen. Sie war aus Holz gefertigt, hing schief in den Angeln und hatte nicht einmal eine Klinke, sondern nur einen eisernen Griff. Damit schob ich die Tür auf. Da der obere Querbalken ziemlich tief lag, mußte ich den Kopf einziehen, als ich das Haus betrat. Wie in den Nächten zuvor begrüßte mich der altbekannte Geruch. Es war jedoch kälter, als hätten sich die Geister der Toten im Haus versammelt. Ich gelangte nicht erst in einen Flur, sondern stand sofort im Raum und schloß die Tür schnell wieder, damit der Wind das Licht der vier Kerzen nicht ausblies. Der eiserne Kerzenhalter stand auf einem kleinen Tisch.
Ich sah eine Holzbank, eine Feuerstelle, Stühle, einen Schrank und stand selbst auf dem harten Boden, der weder von einem Teppich noch von irgendwelchen Steinen bedeckt wurde. Man hatte die Erde kurzerhand geplättet. Ich tat nichts. Stehenbleiben, warten, dem Kerzenschein vertrauen, der mir nicht einmal warm vorkam, sondern einen Eishauch zu verströmen schien. Aus den vorherigen Träumen wußte ich, was geschehen würde. Ich würde die seltsame Stimme hören, die mich aus dem Zimmer in einen anderen Raum lockte, und ich würde ihr folgen. Noch war ich allein. Das Licht malte Schatten auf Wände und Boden. Der kalte Hauch nahm zu, er umfing mich wie ein Netz, das sich auch auf mein Gesicht niederlegte. »John Sinclair…« Da war die Stimme. So weit entfernt und doch so nah. Anders als eine menschliche. Geisterhaft, flüsternd, gleichzeitig aber auch bestimmend und irgendwie quälend, als hätte sich der Rufer mit einem gewaltigen Problem herumzuschlagen. Ich drehte mich um. Es war wieder wie in den vergangenen Nächten. Nichts hatte sich verändert. Ich konnte das Zimmer verlassen, ohne daß mich jemand aufhielt. Die Tür zum anderen Zimmer sah ich erst, als ich davorstand. Sie befand sich neben dem Kamin und lag im Schatten. Ich wußte auch, was mich dahinter erwartete, stieß die Tür auf und fing an zu blinzeln, weil mich die zahlreichen Kerzenflammen doch etwas blendeten. Alle zusammen gaben sie schon eine starke Helligkeit ab, an die ich mich erst noch gewöhnen mußte. Der Raum war kleiner als der, aus dem ich gekommen war. Aber er war dafür höher. Das mußte er zwangsläufig sein, sonst hätte nicht der Gegenstand in ihn hineingepaßt, der einfach alles andere überschattete. Nur auf ihn konzentrierte ich mich. Es war die Uhr! Eine Standuhr aus dunklem Holz, die mit einer normalen nicht zu vergleichen war. Ich sah sie als außergewöhnlich an, als ein wahres Meisterwerk der Uhrmacherkunst. Sie bestand aus einem normalen Unterteil, das ziemlich kompakt wirkte, auch sehr mächtig sein mußte und unten breiter war als oben. So hatte es die nötige Standfestigkeit bekommen. Gleichzeitig wirkte das Unterteil der Uhr wie abgeschnitten oder wie nicht vollendet. Da paßten die Proportionen nicht mehr, und genau das war wichtig, weil zu einer Uhr eben ein Zifferblatt gehört, und dieses hier war überdimensional groß. In seinem Umfang mit der Höhe des Unterteils zu vergleichen. Ein riesiger Kreis mit römischen Zahlen und nur einem Zeiger versehen, was darauf schließen ließ, daß die Uhr sehr alt war,
denn vor einigen Hundert Jahren gab es viele Uhren dieser Art. Der Zeiger wies haargenau auf die Zwölf. Er war ein besonderer Zeiger. Bis zum Rand der Uhr war er noch normal. Dann aber teilte er sich in zwei Spitzen, die wie lange Lanzen wirkten und auch als gefährliche Waffen eingestuft werden konnten. Der Raum zwischen den beiden Zeigerspitzen nahm nicht einmal eine Handbreite ein, doch das alles war es nicht, was mich so erschreckte. Mir ging es um die Farbe des Zeigers, die durch das helle Licht der Kerzen deutlich hervortrat. In der oberen Hälfte schimmerte sie in einem glänzenden Rot. Eine Farbe, die durchaus als Blut hätte angesehen werden können. Für mich hatte der Zeiger die Uhr zu einem regelrechten Mordinstrument gemacht. Obwohl ich sie bereits zum viertenmal in meinen Träumen erlebte, packte mich der Schauer erneut. Er rieselte wie eine Menge kalter Glasperlen über meinen Rücken. Ich wußte, daß mir die fremde Stimme die Chance gab, mich an den Anblick zu gewöhnen. Sie würde sich noch früh genug melden, und so war es auch jetzt. Das Licht der Kerzen begann zu flackern, bevor die ersten Worte gesprochen wurden. »John Sinclair… diesmal freue ich mich besonders. Diesmal bist du gekommen, um zu hören, was zu tun ist…« Das war neu für mich. Wieder bekam mein Rücken Besuch. Ich fing an zu frieren, was auch an der inneren Erwartung lag, die mich überfiel. Ich war darauf gefaßt, weitere Erklärungen zu hören, die allerdings ließen auf sich warten. Dafür geschah etwas anderes. Gleichzeitig erlebte ich die mir nicht bekannte Fortsetzung des Traums, denn in dem Kerzenschein, zwischen und über den Flammen, bewegte sich etwas. Dort materialisierte sich eine Gestalt. Es war der Sprecher. Und es war ein Gespenst! *** Ich träumte weiter, aber ich nahm diesen Traum so realistisch auf, als wäre er Wirklichkeit. Es war nicht zu erkennen, ob sich die Gestalt aus den Flammen gebildet hatte, fast schien es so zu sein, jedenfalls stand sie vor mir, und ich sah sie als ein feinstoffliches Wesen an. Ein Gespenst, ein Geist, eine verformte Seele, die trotz allem normal reden konnte, wie ich ja schon erlebt hatte. Auch jetzt rechnete ich damit, von dem Namenlosen angesprochen zu werden und wartete förmlich darauf. Meine Furcht war verschwunden. Statt dessen hatte sie einer gewissen Erwartungshaltung Platz geschaffen, doch ich wurde
noch mehr auf die Folter gespannt, weil die Erscheinung mit sich nicht zurechtkam. Sie war ein graues und ein weißes Etwas. Im Traum suchte ich nach einem Vergleich. Sie kam mir vor wie ein Mann, der von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt worden war und dabei etwas von der Dichte seines Körpers verloren hatte. Mir persönlich präsentierte er sich als eine Mischung aus Geist und Mensch, was ich einfach hinnahm. Neben der Uhr blieb die Gestalt stehen. Im Licht der Flammen konnte ich sogar die Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen, und entdeckte, daß er ein alter Mann sein mußte, dessen Haut schon ziemlich zerfurcht war. Er stand gebückt vor mir, hatte die Arme leicht gehoben und wies mit den Händen auf die Uhr. »Mein Werk!« hörte ich die geisterhafte Stimme. »Sie ist einzig und allein mein Werk, denn ich bin Gallio, auch Chronos genannt, der beste Uhrmacher des Landes. Man hat mich auch den Herrscher der Zeiten genannt. Ich habe diese Uhr hergestellt. Sie ist mein Lebenswerk geworden, auf das ich stolz war. Meine Meinung änderte ich später, denn ich sah ein, einen Fehler gemacht zu haben. Ich wollte nicht nur zuviel, ich wollte alles. Ich wollte die Zeit begreifen, den Anfang und das Ende, den Himmel und die Hölle, ich wollte gott- oder göttergleich sein, mit den Zeiten spielen, um Menschen damit unter meine Kontrolle zu bringen. Aber die Bäume der Menschen wachsen nicht in den Himmel. Es war bereits zu spät, als ich das begriff. Da hatte mich die Zeit bereits manipuliert. Ich hatte mir den falschen Freund ausgesucht. Luzifer ist kein Helfer der Menschen, er ist ein Tier, der die Geschöpfe nur mißbraucht und benutzt. Er gab mir die Chance, die Zeit zu verändern. An einer Stunde des Tages, zwischen Mitternacht und ein Uhr, konnte ich mit dieser Uhr spielen und wurde zu Chronos, dem Herrscher der Zeit. Ich stellte sie vor und zurück, die Vergangenheit und die Zukunft rückten zusammen. Sie vermischten sich miteinander, so daß es mir gelang, die Zeiten zu überbrücken. Ich bekam viel zu sehen, ich erlebte Dinge, die bisher nur ein Traum für mich gewesen waren, aber ich merkte auch, wie mich die Macht immer mehr in ihre Krallen bekam. Ich wurde verbittert, ich wurde schließlich besessen. Ich war nur noch äußerlich ein Mensch, und ich verlor meine Freunde und Kunden. Aber ich forschte weiter, bis ich merkte, daß es keinen Ausweg mehr gab. Da fing ich an, die Uhr zu hassen, denn sie allein hat mich einsam gemacht. Ihretwegen gingen die Freunde von mir fort. Ich haßte sie sehr, nur brachte ich es nicht fertig, sie zu zerstören. Etwas hielt mich davon ab. Als ich merkte, daß mich die Uhr beherrschte und ich nicht einmal meinen Willen gegen sie durchsetzen konnte, entschloß ich mich, den anderen Weg zu gehen. Wenn ich die Uhr nicht zerstören konnte, dann wollte ich mich vernichten. Das tat ich. Der Zeiger war dafür wie geschaffen…«
Hier stoppte seine Rede, und ich stand bewegungslos auf dem Fleck und mußte das Gehörte zunächst einmal verdauen. Es war für mich etwas viel auf einmal gewesen. Ich kam damit kaum zurecht, und mein Blick wechselte zwischen der Uhr und Gallio hin und her. Als er den Arm hob, da wußte ich, daß er weitersprechen wollte. Ich konzentrierte mich wieder auf ihn. »Mir war klar, daß ich durch meinen Tod das Problem nicht lösen konnte, und so überlegte ich, ob es nicht einen Mann gab, der stark genug war, diese Uhr zu zerstören, wenn ich einmal nicht mehr war. Ich muß dazu sagen, daß die Zeiten sehr wild gewesen sind, von einer Ruhe war nichts zu spüren. Es gab viele Länder, Grafschaften, Herzogtümer und Provinzen. Es gab auch die Kirche, die über allem schwebte. Ich traute mich nicht, ihr meine Bitte vorzutragen, denn man hätte mich als Ketzer verdammt und hingerichtet. Nach langem Überlegen fiel mir jemand ein, der nicht in direktem Kontakt zur Kirche stand, aber sehr gut Bescheid wußte und ein Feind der Hölle und ihrer schrecklichen Dämonen war. Er war ein Templer, nicht nur das, er gehörte sogar zu den Anführern, er war sehr mächtig, und man achtete seine Reden sehr. Er hieß – Hector de Valois…« Komisch, ich war nicht einmal so überrascht. Den letzten Worten nach zu urteilen, hatte es für mich keine andere Lösung gegeben. Es hatte mächtige Templerführer gegeben, doch nur einen aus der Vergangenheit, der einen so direkten Kontakt zu mir hatte wie eben Hector de Valois, der in mir wiedergeboren war. Sollte ich etwas sagen? Wartete diese Gestalt darauf, daß ich meinen Kommentar abgab? Als ich sie anschaute, glaubte ich nicht mehr daran, denn Gallio machte auf mich den Eindruck einer Person, die zu sehr in ihre eigenen Probleme verstrickt war. Er hatte den Kopf gesenkt und bewegte ihn dabei. Er stöhnte leise, und als er seinen Kopf wieder anhob, war sein Gesicht von tiefen Sorgenfalten gezeichnet. Es schien ihm schwerzufallen, über die Vorgänge der Vergangenheit zu sprechen. Er riß sich wieder zusammen und murmelte noch einmal den Namen meines >AhnherrneingestelltJa< war, das er über seine Lippen preßte. Sie strahlte. Ihr Gesicht schien von warmen Sonnenstrahlen beührt zu werden. Von einem Augenblick zum anderen war sie die Person geworden, als die er sie kannte. Sie jubelte innerlich, und alles andere schien sie vergessen zu haben. »Dann komm her!« rief sie ihm zu. »Komm endlich zu mir. Ich warte doch auf dich!« Und Jules hatte auf eine derartige Einladung gewartet. Trotz seiner Furcht hatte sich dies immer in seinem Hinterkopf festgesetzt. Die Barriere war zusammengebrochen, es gab nichts Trennendes mehr zwischen ihnen beiden. Die Liebe hatte gesiegt. Was war schon das Verbrennen der Hexe gewesen? Nichts als ein böser Traum. Schreckliche Erinnerungen, die möglicherweise nicht einmal den Tatsachen entsprachen. Ein Spuk, der vergangen war. Irreale Bilder, geboren aus Phantasien, denn hier war die einzige, die echte Lizzy Lamotte. »Bitte, Jules, du mußt dich beeilen, die eine Stunde ist bald vorbei. Es wird Zeit…« »Ja, ja, ich komme.« Er dachte über die Worte nicht nach und schaute auch nicht auf den Zeiger, der sich immer weiter über das Zifferblatt hinwegbewegte und sich allmählich der vollen Stunde näherte. Noch trennten ihn zehn Minuten davon. Da sich Jules unterhalb seiner Geliebten aufgehalten hatte, mußte er einen Weg finden, der ihn zu ihr führte. Vielleicht führte die Treppe zu ihr, die er rechts vor sich sah. Die Stufen waren schmal und hoch und aus schlichten Holzbrettern zusammengenagelt. Ein eisernes Geländer gab ihm den nötigen Halt. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, wuchs seine innere Spannung. Nein, es war etwas anderes, das in ihm hochstieg. Es war die Sehnsucht danach, Lizzy endlich in die Arme schließen zu können, denn darauf, da war er sich sicher, warteten beide. Das Ende der Treppe. Der Weg nach links, wo sie wartete und ihm bereits die Arme entgegenstreckte. Im Licht der Kerzen wirkte sie noch schöner, weil der Flammenschein ihren Körper mit sehr weichen
Konturen übergoß. Lizzy kam ihm vor wie ein Gemälde, und er konnte es kaum erwarten, sie in die Arme zu schließen. Seine Augen glänzten, die ihren ebenfalls. Zusätzlich spiegelte sich in den Pupillen das Licht der Kerzen und erfüllte sie mit geheimnisvollen Reflexen. Seine Knie waren schon weich, als er die nächsten Schritte machte. Das Herz klopfte schneller, und er erinnerte sich an die erste Begegnung. Da hatte er sich ebenfalls so gefühlt. Auf einmal kam ihm die Zeit zu kurz vor. Er konnte es nicht mehr erwarten. »Lizzy!« Mit einem Schrei auf den Lippen rannte er die letzten Schritte und warf sich in die Arme der Frau. Sie umfing ihn mit einem festen Griff, daß er sich eigentlich hätte wundern müssen, aber Jules war trunken vor Liebe. Er hatte das erreicht, was er sich wünschte, sie noch einmal in dieser Nacht in die Arme zu schließen und seine Hände über ihren Körper gleiten zu lassen, was er auch tat. Der Stoff war sehr dünn. Er spürte unter ihm die festen Brüste mit den steil aufgerichteten Warzen. Er streichelte ihre Schenkel, und seine Hände glitten höher. Dabei fiel ihm nicht auf, wie fest und klammernd ihr Griff geworden war und daß er plötzlich in die Höhe gehoben wurde. Er schwebte mit beiden Füßen über dem Boden, als die Frau einen Schritt vorging. Dann noch einen. Jules küßte sie. Seine Lippen berührten ihren Mund, und er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Er machte weiter. Seine Hände umklammerten ihren Hals, wo die Haut ebenfalls so herrlich weich war, dann fuhren sie an ihrem Gesicht in die Höhe, sie zerwühlten das weiche, braune, so herrlich dichte Haar, während er kaum merkte, daß sie sich bewegte, und im Sturm seiner Gefühle gefangenblieb. Seine Lippen lösten sich von ihrem Mund und begannen mit der Wanderschaft über ihr Gesicht. Er küßte Lizzys Wangen, die Augen, die Stirn. Er hörte sich selbst Worte murmeln, die er selbst nicht fassen konnte, die ihn aber in eine Leidenschaft hineinrissen, wie sie kaum mehr zu begreifen war. Lizzy blieb cool. Eiskalt sogar, als sie sich drehte, dabei stöhnte, ihm ebenfalls Worte zuflüsterte, die ihn noch heißer machen sollten. Als sie langsam die Treppe hochstieg, waren ihre Bewegungen weder eckig noch abgehackt, sondern gleitend. Als würde sie trotz des schweren Gewichts über den Stufen schweben. Jules Vangard hörte sich atmen. Aus seinem Mund floß der Luftstrom über die Wangen der Frau wie ein warmer Wind. Er hatte die Erlebnisse der nahen Vergangenheit vergessen. Für ihn gab es nur noch diese Frau, deren Brüste ihn bei jeder Bewegung noch mehr in Rage brachten.
Er wollte sie lieben! Hier und jetzt, auf der Treppe. Er versuchte schon, ihr Kleid in die Höhe zu schieben. Darunter war sie nackt. Seine Hände sollten über die Seidenhaut hinwegstreichen, die Flamme der Leidenschaft war zu einer Fackel geworden. Er wunderte sich selbst darüber, welche Vergleiche ihm durch den Kopf fuhren, doch er sah ihr Lächeln nicht. Lizzy hatte den Kopf zur Seite gedreht, damit sie an Jules vorbeischauen konnte. Ihre Augen waren verdreht, denn in diesem Augenblick interessierte sie einzig und allein die Uhr. Sie setzte ihn ab. Nicht einmal fest, sondern so sacht, daß Jules es kaum merkte. Beide standen neben der Uhr, und Lizzy stellte mit einem schnellen Blick fest, daß sich der Zeiger weiterbewegt hatte. Nur noch fünf Minuten… Es wurde Zeit! »Komm!« flüsterte sie ihm zu. »Komm endlich…« Er schluchzte auf, obwohl er nur Atem holen wollte. »Wo denn… wo soll ich denn…?« »Hier!« Dieses eine Wort traf ihn. Es riß den Vorhang der Gefühle auseinander. Jules erwachte wie aus einem Traum, er atmete heftig, und über sein Gesicht tanzte nicht allein der Widerschein der Kerzen, sondern auch die roten, hektischen Flecken, die seine Erregung bei ihm hinterlassen hatten. Niemand würde sie hier stören, und er war plötzlich froh, ihre Warnung mißachtet zu haben. Lizzy Lamotte griff zu. Sie tat es raffiniert und geschickt. Plötzlich kippte er zur Seite, lag im nächsten Moment quer auf ihren Armen, war unsicher. Ihr Gesicht schwebte wie eine lächelnde Zeichnung über dem seinen. Dieser Ausdruck beruhigte sie ungemein, und sie hatte den Mund geöffnet, damit sie tief einatmen konnte. »Es ist so wunderbar mit dir!« flüsterte sie Jules entgegen und er ließ sich gern durch ihre Worte einlullen. Es machte ihm auch nichts aus, daß sie einige Schritte mit ihm ging, er blieb gern auf den Armen liegen, nur als sich ihre Bewegungen veränderten, weil sie die Sprossen einer Leiter anstieg, da sah alles anders aus. »Was tust du?« »Ich bringe ihm den Beweis meiner Liebe.« Er überlegte. Lizzy ging weiter. Endlich konnte er seine Frage in Worte fassen. »Wem willst du einen Beweis deiner Liebe bringen?« Ihre Stimme schnurrte. »Das wirst du gleich sehen. Er bekommt ihn immer wieder zwischen Mitternacht und dem Ende der ersten Tagesstunde. Du brauchst keine Angst zu haben, du bist nicht der erste.« Der erste?
Die Frage brandete in seinem Kopf. Sie füllte sein Gehirn aus. Der Mund öffnete sich, denn plötzlich hatte er Angst bekommen und wollte sie hinausschreien. Diesmal erinnerte er sich an das Flammenkreuz, an die brennenden Männer und an das Lachen der Hexe. Hexe? »So, jetzt wirst du es erleben. Die Uhr ist dein Schicksal. Sie wird für mich und ihn da sein. Luzifer freut sich…« Der junge Mann begriff nicht viel. Er merkte nur, daß er noch höher schwebte, und es gelang ihm, den Kopf nach rechts zu drehen. So stark, daß er direkt nach unten schauen konnte. Zwei spitze Pfeile ragten ihm entgegen! Die Zeiger! Noch ein Ruck. Ein Uhr! In dem Moment – es war wirklich der allerletzte – ließ Lizzy ihr Opfer fallen. Sie schaute zu, sie freute sich, in ihren Augen tanzten Funken. Sie lauschte dem fürchterlichen Todesschrei, der wie Musik in ihren Ohren klang, und sie lachte dann in die Stille hinein, die der abgebrochene Schrei hinterlassen hatte. Luzifer würde zufrieden sein, und auch die Uhr hatte wieder einmal ein Opfer bekommen… *** Der Morgen begann mehr als trübe, aber es gab einen Kaffee, der mir schmeckte. Ich trank ihn aus einer Blechtasse, die zugleich meine Handflächen wärmte. Über der Tasse waberte heißer Dampf und stieg mir in die Nase. Eine alte Frau hatte den Kaffee gekocht und sogar die Kanne neben mich gestellt. Tom kaute auf einer Scheibe Brot. Er hatte kaum einen Schluck von der braunen Brühe getrunken und sich lieber auf seinen Durstlöscher verlassen. Irgendein Zeug, das in einer Feldflasche schwappte und entfernt nach Rotwein roch. Der Regen fiel als feiner Sprüh aus den tiefhängenden Wolken und sah aus wie ein nie abreißender Vorhang. Unter dem Dach des Skooters waren wir geschützt. »Willst du eine Scheibe?« Ich schüttelte den Kopf. »Danke, Tom, aber mir hat eine gereicht. Das Zeug schmeckte wie aufgeweichte Pappe.« Er lachte. »Was willst du? Damit werden auch die Tiere gefüttert.« »Toll.« »Wieso?«
»Was die nicht nehmen, das bekommen wir dann.« Er wollte sich ausschütten vor Lachen und schlug sich gleich mehrmals auf die Schenkel. Ich blieb bei meinem Kaffee und schenkte mir die dritte Tasse voll. Tom war ein Gemütsmensch. Ob man ihn als einen Alkoholiker einstufen sollte, war fraglich. Für mich zählte er zu der Sorte von Genußtrinkern, leider schon am frühen Morgen. Wer ihn sah, konnte Angst bekommen. Groß, breit, ein Bär von Mann mit kantigen Schultern, einem Specknacken und mächtigen Armen. Aber auch mit viel Fett, denn auf seinen Bauch war er ebenso stolz wie auf das Gestrüpp in seinem Gesicht, das sich Vollbart nannte. Der Mund war darin kaum auszumachen. Ich brauchte nur dem Geruch der Fahne zu folgen, um herauszufinden, wo sich seine Lippen befanden. »Irgendwie ist es komisch«, quetschte Tom hervor. »Was denn?« Er kratzte durch sein strähniges Haar auf der Kopfhaut herum. »Daß sich der Chef noch nicht hat blicken lassen. Um diese Zeit läuft er bereits zur Höchstform auf.« »Ach ja…« Tom nahm meine Bemerkung zum Anlaß, wieder zu sprechen. Genau das hatte ich auch gewollt. »Ja, John, so war es noch nie. Oder nur einmal in der Zeit, in der ich hier bin.« Er krümelte einen Popel aus der Nase und schnippte ihn weg. »Ist ein echt starkes Stück. Hätte ich einen Kalender, müßte ich den Tag rot anstreichen.« »Das hat bestimmt einen Grund«, gab ich ihm recht. »Und ob.« Ich hob die Schultern. »Aberweichen?« »Keine Ahnung.« Tom stocherte jetzt zwischen seinen Zähnen herum. »Ist auch zu ruhig hier. Schau mal über den Platz. Siehst du irgendwelche Leute, die etwas tun?« »Keiner arbeitet im Freien. Kann am Wetter liegen.« »Nie und nimmer. Es gibt hier einiges am Skooter zu tun. Da muß ein Teil des Bodens ausgewechselt werden. Ist eine Sauarbeit, die Platten zu lösen. Heute morgen sollte damit angefangen werden. Wir beide hätten uns totgeschuftet, aber keiner treibt uns. Das ist sehr ungewöhnlich. Mir soll es recht sein.« »Mir auch.« Er schluckte den Wein, ohne daß sich sein Adamsapfel bewegt hätte. Im Trinken war er wirklich ein Könner. Dann zog er die Nase hoch und spie noch aus. »Von allein fange ich nicht an, das habe ich noch nie getan. Mich muß man immer zur Arbeit treiben. Wenn ich einmal dran bin, dann kenne ich keine Verwandten mehr, Kumpel.« Er schlug mir auf die Schulter. »Auch keine Freunde, das wirst du noch merken. Wenn du nicht schnell genug bist, mußt du dich leider verabschieden.« »Mal sehen.«
Er ließ mich erst die Tasse leeren, dann wollte er meine Hände sehen. »Die Hände?« »Ja, zeig sie her.« »Bitte.« Ich hielt sie ihm hin. Tom besah sie sich genau. Ich mußte sie drehen und wenden. Schließlich hatte er genug gesehen und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht das Wahre.« »Wie meinst du?« »Das sind keine Malocherhände. Die sehen zwar ziemlich kräftig aus, aber viel gearbeitet hast du in deinem Leben noch nicht. Sag jetzt nicht, daß ich lüge, ich kenne mich da aus.« »Stimmt. Die Arbeit und ich sind noch nie große Freunde gewesen. Außerdem bin ich noch nicht lange auf der Straße. Das heißt, ich bin es eigentlich überhaupt nicht. Ich treibe mich eben herum. Zwei bis drei Jahre habe ich mir vorgenommen. Außerdem möchte ich mich nicht unbedingt erwischen lassen.« »Die Bullen?« »Nein, meine Alte.« Er gab ein lautes Ha! von sich. »Immer die Weiber, John. Ich sage es dir, und ich kann es nur ständig wiederholen. Die Weiber sind noch unser Untergang. Die machen dich fertig, die nehmen dich aus, die sind die größten Blutsauger, die es gibt. Kenne das, habe selbst mal in einem ehelichen Knast gesessen.« »Dann brauche ich dir ja nichts zu erzählen.« »Da hast du recht. Und nach zwei Jahren willst du wieder spießig werden?« »Ich hoffe es.« Er winkte ab. »Das ist nicht gut, John, das ist überhaupt nicht gut, sage ich dir.« »Wieso nicht?« »Weil du meist die Kurve nicht kriegst. Dann hast du dich mal an die Freiheit gewöhnt und dir eine Leck-mich-am-Arsch-Stimmung zugelegt. Das sehe ich so.« »Kannst recht haben.« Tom lachte und trank wieder. »Der Chef ist noch immer nicht da. Auch von den anderen läßt sich kaum jemand blicken. Nur Madame Bovary hat ihre Köter ausgeführt.« »Die habe ich noch nicht gesehen.« »Das ist der kleine Blonde mit dem großen Hut.« Tom lachte. »Der Blonde? Ist sie keine Frau?« »Nee, so ein Mittelding. Ist ein Mann, fühlt sich aber als Weib. So ein Travistet oder ähnlich.« »Transvestit.« »Richtig. Kennst dich ja aus.« Er war erstaunt.
»Habe darüber mal was gelesen. Das kann manchmal ganz schön beschissen sein, wenn man sich in seiner Haut nicht wohl fühlt. Nur ist mir gerade etwas anderes eingefallen.« »Was denn?« »Da muß in der Nacht was passiert sein, glaube ich.« »Klar, du warst unterwegs.« »So meine ich das nicht. Etwas anderes, denn ich habe einen Wagen entdeckt. Einen Polo, ist ein deutsches Fabrikat.« »Weiß ich selbst.« »Sorry. Wem gehört der Wagen?« »Von uns fährt keiner einen Polo.« Ich streckte den Arm aus und drückte ihn nach links. »Dahinten ist er abgestellt worden. In guter Deckung.« Tom hob die Schultern. Er wollte noch etwas sagen, hielt aber seinen Mund, denn quer über dem Platz stiefelte der Chef, Tonio Baresi, auf uns zu. Ich mußte grinsen, als ich den Mann sah. Die hohen gelben Gummistiefel paßten nicht zu den kurzen Beinen. Der Mann trug eine Regenjacke und schützte seinen Kopf mit dem wenigen Haar durch eine Baskenmütze vor dem Regen. Beim Gehen sah er aus wie ein zu großer Zwerg in der Kleidung eines Erwachsenen. Mit bösen Blicken schaute er sich um. Er bewegte den fleischigen Mund, ohne zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, daß er es auf mich abgesehen hatte. Dennoch konnte ich mir das Grinsen über seinen Auftritt nicht verkneifen. Vor uns blieb er stehen. Er fixierte mich. »Was grinst du so, verdammt?« »Ich freue mich.« Baresi wußte nicht, ob er sich auf den Arm genommen fühlen sollte oder nicht. Sicherheitshalber gab er eine leicht drohend klingende Antwort. »Die Freude wird dir gleich vergehen, das kann ich dir versprechen. Die Zeit der Faulen ist vorbei!« »Probleme, Chef?« erkundigte sich Tom. »Warum?« Mein Kollege hob die Schultern. »Keine Ahnung, aber ich denke schon, daß es welche gibt. Sonst haben wir schon immer ziemlich früh angefangen, heute sieht es eher nach Urlaub aus.« Baresi schnappte nach Luft. Er konnte das Wort kaum fassen. »Urlaub?« jaulte er. »Ja, Chef, Sie teilen die Arbeit immer ein.« »Das wird auch noch geschehen.« Ich wollte ihn provozieren, denn er konzentrierte sich bereits auf unseren Job, schaute an uns vorbei auf die Plattform des Skooters und wollte uns etwas sagen. »Da steht ein Wagen, Chef!« Der Satz brachte ihn aus dem Konzept. »Was meinst du damit?« »Ein deutscher Wagen, ein Polo. Wem gehört er?«
»Interessiert dich das?« »Ich habe nur gefragt.« »Das hat dich nicht zu interessieren.« »Schon gut, Chef.« Er funkelte mich böse an. Andere als ich hätten vielleicht zur Seite geschaut, der Typ war ich nicht. Ich hielt seinem Blick stand und sah, daß sich noch etwas anderes in den Pupillen des Mannes ausgebreitet hatte. Ein tiefes Mißtrauen, ein Lauern. Ich konnte mir vorstellen, daß ihn meine Frage nach dem fremden Wagen aus seiner relativen Ruhe aufgeschreckt hatte. »Ich kenne den Polo auch nicht«, stand mir Tom bei. Baresi suchte nach einer Ausrede. Er quälte sich. Schließlich hatte er sie gefunden. »Ja, ich habe Besuch bekommen. Es ist eine private Sache. Verstanden?« Tom hob die Hand. »Geht klar, Chef.« »Und ihr könnt anfangen.« »Hier?« »Nein, am Karussell. Ihr werdet die Figuren abbauen, sie unterstellen und überholen. Reinigen, neu lackieren, falls nötig, und damit werdet ihr euch in der nächsten Zukunft beschäftigen, die auch länger dauern kann.« »Wird mal wieder Zeit, nicht?« »Ja, du kennst das, Tom.« Wir standen auf. Baresi ging einen Schritt zurück. Es gefiel ihm nicht, daß wir ihn überragten. Er wandte sich schnell ab und lief stampfend vor uns her. Tom griente in seinen Bart hinein. »Mich mag er nicht besonders, dich schon gar nicht.« »Wen mag er denn?« »Lizzy.« »Wer ist das denn?« »Lizzy Lamotte. Toller Typ, ein heißer Ofen, hätte man früher gesagt. Sie ist der Schuß hier überhaupt. Sie ist Artistin, eine kleine Attraktion. Der Chef und sie sind eng verbandelt.« »Sehr eng?« »Keine Ahnung, ob er sie bumst. Ist eher anzunehmen, obwohl Lizzy unzählige Männer verrückt machen kann.« »Die hätte ich gern gesehen.« Er stieß mir die Faust leicht gegen den Arm. »Laß nur die Finger von ihr. Du wirst sie dir verbrennen, das sage ich dir. Sie ist… sie ist eine gefährliche Frau.« »Tatsächlich?« »Ja, Madame Bovary sagt, daß sie etwas von einer Hexe an sich hätte. Das glaube ich schon.« »Okay, er oder sie muß es wissen.«
Wir hatten das Karussell erreicht, kletterten auf die runde Plattform und gingen durch bis zu dem eingebauten Kassenhäuschen in der Mitte. Es war eng, nur einer paßte hinein, und es war Tom, der sich durch die Tür quetschte. Ich wartete auf ihn, schaute mich um, sah nicht nur die Pferde, Kühe, Wagen und drehbaren Tonnen, sondern auch die grelle Bemalung, deren Motive den fünfziger Jahren nachempfunden waren. Jedenfalls sahen die Gesichter so aus. Ich trat zurück, als Tom kam. Er hatte Werkzeug geholt. In einer Tasche und einer Kiste war es verpackt. Bohrmaschinen, Schraubenschlüssel, Hämmer, Zangen und vieles mehr. »Ich hoffe, daß du damit etwas anfangen kannst und dich nicht so blöd anstellst. Wie schon gesagt, bei der Arbeit kenne ich keine Verwandten und Freunde.« Er räusperte sich. »He, Sinclair, du Hundesohn, du hörst mir ja gar nicht zu.« Das stimmte, ich hatte nicht auf ihn geachtet und war an den Rand der Plattform getreten, um einen Wagen zu beobachten, der auf den Platz rollte. Es war ein dunkler BMW, und ich wußte, daß ich Unterstützung bekommen hatte… *** Suko war schon ziemlich früh gefahren und hatte sich durch das miese Wetter gekämpft. Dem dichten Londoner Morgenverkehr war er entwischt, später hatte er zwar auch nicht sehr schnell fahren können, war aber nicht in irgendwelchen Staus steckengeblieben und hatte sich bis zu seinem Ziel durchgekämpft. Es gab keinen direkten Weg, der bei den abgestellten Wagen endete, und so lenkte Suko seinen BMW mitten auf den Platz. Er stieg aus. Schwungvoll warf er die Tür ins Schloß, schaute sich um und hatte sehr bald seinen Freund John Sinclair entdeckt, der auf dem runden Kinderkarussell ziemlich verloren wirkte, als hätte man ihn dort abgestellt und vergessen. Suko sah das Werkzeug, das zwischen John und einem bärtigen Riesen stand. Da hatte man ihm direkt Arbeit gegeben. Der Inspektor entschloß sich, seinen Freund ein wenig zu ärgern. Er stiefelte über den nassen Rasen auf das Karussell zu und bekam mit, daß John noch nicht das große Sagen hatte, denn der Bärtige schob ihn zur Seite und blieb mit den in den Hüften gestemmten Armen stehen. Auch Suko stoppte. »Sie sind nicht der Chef hier, wie ich annehmen darf?« »Nein.« »Sie denn?«
»Auch nicht«, antwortete John und stellte eine Frage, wobei er ebenso leicht grinste wie Suko. »Suchen Sie Arbeit? Wollen Sie vielleicht Mistkäfer dressieren oder Kellerasseln?« »Das nicht, Mann. Ich bin von der Polizei. Also – wo finde ich den Direktor?« »Er hat den größten Wagen«, antwortete Tom und schnitt eine bedeutungsvolle Fratze. »Danke.« Suko drehte sich grinsend um. Er hoffte, daß Tom nichts bemerkt hatte. Lange brauchte er nicht zu suchen. Der größte Wohnwagen stach ihm ins Auge. Er war weiß lackiert und mit roten Streifen versehen, über denen der Name des Unternehmens gepinselt worden war. Vor dem Wagen stand ein kleiner Mann und lamentierte über das Wetter. Er sprach mit zwei jungen, dunkelhaarigen Frauen, die gertenschlank waren und sich wegen der Kälte Ponchos über die Schultern gehängt hatten. Darunter trugen sie Trikots. »Wir werden das kleine Zelt noch nicht aufbauen. Ich will nicht auch noch den Rasen abdecken. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir werden die Wetterlage abwarten, dann könnt ihr die neue Nummer einstudieren. Ansonsten macht euch anders nützlich.« Die beiden Mädchen zogen ab. Sie wirkten ziemlich frustriert. Eine streckte dem Direktor die Zunge raus, was dieser allerdings nicht sah, denn Suko hatte sich geräuspert, und der Mann drehte sich auf der Stelle, um ihn anzuschauen. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Suko.« »Kann ich auch nichts dafür. Was wollen Sie?« »Einige Fragen stellen.« Das Gesicht des Direktors verdüsterte sich. »Ich hasse Fragensteller und kann Ihnen schon jetzt sagen, daß Sie von mir keine Antworten bekommen werden.« »Dann müßte ich Sie vorladen.« Tonio Baresi war kein Dummkopf. Das letzte Wort hatte sich verdammt amtlich angehört. Er räusperte sich, zog die Augenbrauen zusammen und fragte: »Was soll das bedeuten?« »Polizei.« »Habe ich nichts mit zu tun.« »Doch, sogar mit Scotland Yard.« Baresi schwieg. Er bekam zwar keine Gänsehaut, ihm wurde nur etwas komisch. In seinen Augen flackerte Mißtrauen auf. »Ich wüßte nicht, was ich mit Scotland Yard zu tun hätte…« »Das wird sich herausstellen.« Suko spürte, wie ein Tropfen an seinem Rücken entlangrann. »Es geht um die beiden Vermißten, wenn Sie sich erinnern.« »Das ist erledigt.«
»Für uns nicht.« Baresi merkte, daß er so nicht weiterkam. Fr hob die Schultern, drehte sich um und bekam mit, daß ihn einige Leute schon jetzt beobachteten. Das paßte ihm nicht. »Kommen Sie in meinen Wagen. Da ist es auch trockener, Mister. Wie heißen Sie eigentlich?« »Inspektor Suko.« Baresi bekam auch den Ausweis zu sehen. Er war erst jetzt zufrieden, stand aber unter Druck, denn er riß mit einer wütenden Bewegung die Tür auf. Suko folgte ihm auf den Fuß, stieg die kleine Metalltreppe hoch und betrat den langgestreckten Wagen, in dem der Elektroofen eine bullige Wärme verbreitete. Der vordere Teil des Gefährts diente als Büro, der hintere als Wohn- und Schlafraum. Sie blieben im Büro. Als Suko vor einem kleinen Schreibtisch Platz genommen hatte, hörte er Schritte. Aus dem zweiten Teil des Wagens erschien eine braunhaarige junge Frau, die überrascht war, als sie Suko sah. Er stand auf, um sich vorzustellen, aber Baresi war schneller. »Lizzy, der Mann hier ist von der Polizei.« »Ach…« »Es geht um die beiden, die bei uns abgehauen sind.« Sie griff nach einer Regenjacke und zog sie über. »Was haben wir damit zu tun?« »Das weiß ich auch nicht.« Lizzy zog den Reißverschluß hoch. »Ich kann doch gehen, oder?« »Sicher.« Lizzy nickte Suko zu. Ihm war ihr ziemlich blasses Gesicht aufgefallen. Und die Schatten unter ihren Augen deuteten darauf hin, daß sie eine harte Nacht hinter sich hatte. Er sprach erst, als Lizzy den Wagen verlassen hatte. »Ihre Tochter?« »Nein!« Die Antwort klang wütend. Suko grinste innerlich, ließ das Thema und kam auf die beiden Vermißten zu sprechen. »Es muß eine Lösung geben, Mr. Baresi, glauben Sie mir. Und ich…« »Aber nicht hier bei uns«, fiel ihm der Direktor ins Wort. »Ich habe sie beschäftigt, das gebe ich gern zu, dann aber verschwanden sie bei Nacht und Nebel.« »Sie sind nicht mißtrauisch geworden?« Hinter seinem Schreibtisch wirkte Baresi größer. »Nein, bin ich nicht. Wer bei uns arbeitet und wen ich als Hilfskraft anstelle, der bekommt seinen Lohn, wenn er nicht nur fürs Essen schuftet, am Abend ausbezahlt. Er ist gewissermaßen ein Tagelöhner. Da passiert es schon mal, daß Leute keine Lust haben und sich bei Nacht und Nebel absetzen. So ist das Leben.« »Sie scheinen ein netter Chef zu sein.«
Baresi hatte die Ironie nicht überhört. »Was reden Sie denn da! Was heißt netter Chef? Hier geht es um Existenzen, auch ich muß rechnen. Die Großen wollen die Kleinen kaputt machen. Mich haben sie noch nicht am Boden, das verdanke ich auch meiner Führungspolitik. Ich lasse mir das Geld nicht einfach aus den Taschen ziehen. Ich muß sehen, daß ich zurechtkomme, ich muß die Leute auf Trab halten.« »Stimmt. Aber warum sind die beiden verschwunden?« »Keine Ahnung.« »Sie tauchten auch nicht wieder auf.« »Ist nicht mein Problem, Inspektor.« Suko seufzte. »Aber meines, Mr. Baresi. Leider ist es zu meinem Problem geworden, da muß ich schon einiges einsetzen, um den Fall zu klären.« »Was bedeutet das für mich?« »Ganz einfach. Ich werde mit Ihren Leuten reden müssen.« Baresi zeigte seine dritten Zähne. »Das ist verdammt beschissen.« »Warum?« »Sie bringen Unruhe in unser Lager.« »Haben Sie denn etwas zu verbergen?« »Nein, aber warum hier?« »Ich muß irgendwo anfangen.« »Dann gehen Sie mal nach Ash, Inspektor. Dort sind die beiden auch bekannt gewesen. Die haben so manche Nacht gesoffen. In den Kneipen kennt man sie. Einmal kam ein Wirt und wollte eine Rechnung einlösen. Dem habe ich es gegeben.« »Schade.« »Kann man wohl sagen.« Baresi lächelte. »Hier werden Sie nichts finden, Inspektor. Außerdem können Ihnen meine Leute sowieso nichts erzählen. Die beiden waren Einzelgänger. Sie hockten immer zusammen, um die übrige Crew kümmerten sie sich nicht. Folgen Sie meinem Vorschlag und fangen Sie in Ash an.« »Mal sehen.« Suko schob den Stuhl zurück. »Ich weiß, daß es nicht angenehm für Sie ist, wenn sich hier die Polizei in Gestalt eines fragenden Inspektors herumtreibt. Doch ich bin nicht ohne Grund hergekommen.« »Sie wollen Fragen stellen?« »Das hatte ich mir vorgenommen.« Tonio Baresis Gesicht verfinsterte sich. Er sah jetzt aus wie ein wütender Giftzwerg. »Gut, ich kann Sie nicht daran hindern, das weiß ich selbst. Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber es ist die reinste Zeitverschwendung.« »Mal sehen.« »Ich werde bei Ihnen bleiben.«
Suko hob beide Hände. »Um Himmels willen, nein, das ist nicht nötig. Sie können sich Ihrer Arbeit widmen. Ich denke, daß Sie damit genug zu tun haben.« »Sie wollen mich wohl loswerden.« »Das auch.« Baresi schaute Suko an, als wollte er ihn fressen. Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf und fluchte hinter dem Inspektor her, als dieser den Wohnwagen verließ. *** Ich hatte das Holzpferd aus der Verankerung gelöst und kippte es vorsichtig zur Seite. Dort konnte es bis zu seinem Abtransport liegenbleiben. Noch immer wunderte ich mich über das Gewicht des Pferdes. Es bestand wohl aus massivem Holz. »Das sind ja Hindernisse, die bei der Arbeit stören«, beschwerte ich mich bei Tom. Der rieb über seine Nase und streifte die Hand am Stoff der Hose ab. »Hast recht, Sinclair, deshalb werde ich jetzt eine Sackkarre holen. Damit schaffen wir sie weg.« »Gut. Ich kann dann mal für kleine Mädchen gehen. Der Kaffee drückt mir auf die Blase.« »Bleib nicht zu lange.« »Keine Sorge.« Tom ging noch nicht. Er blieb am Rand der Plattform stehen und schüttelte den Kopf. »Hast du was?« Er deutete auf Sukos BMW. »Ein schicker Wagen.« »Klar, möchte ich auch schon haben. Aber das ist nicht dein Problem, denke ich.« »Stimmt, es ist der Fahrer.« »Dieser Inspektor?« Ich lachte. »Ich habe keine Angst vor den Bullen«, denke ich. »Ich auch nicht«, murmelte Tom. »Ich frage mich nur, was er hier will, zum Teufel?« »Mit Baresi reden.« »Weiß ich auch.« »Kennst du den Grund?« Tom schüttelte den Kopf. »Ist auch nicht mein Problem«, gab er zu und sprang von der Plattform auf den Boden. Er stampfte gebeugt über den nassen Rasen, die Hände in den Taschen vergraben. Mir tat schon jetzt von der ungewohnten Arbeit der Rücken weh. Deshalb war ich nicht hergekommen. Ich wollte einen Fall aufklären. In der letzten Nacht schon hatte ich die Chance gehabt, sie aber nicht nutzen können.
Durch meinen Kopf spukte noch immer die Leichenuhr. Ich war davon überzeugt, sie hierzu finden. Nicht im Freien, sondern versteckt in einem der Wagen oder auch Bauten. Dieses Kuriositätenkabinett wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich war auch jetzt noch davon überzeugt, in der Nacht einen Schrei gehört zu haben, und ich mußte dieser Sache auf den Grund gehen. Dazu konnte sich möglicherweise jetzt die Gelegenheit bieten, denn Sukos Anwesenheit lenkte die anderen von den eigentlichen Problemen ab. Zudem gab mir das Vorhandensein des Polos noch gewisse Rätsel auf. Ich fragte mich, wem er wohl gehörte. Wohl keinem der hier Beschäftigten, eher einem Fremden. Ich stiefelte nicht quer über den Platz, sondern nutzte zunächst die Deckungen einiger Wagen aus. Sie erlaubten es mir auch, von keinem anderen gesehen zu werden. Zudem war das Wetter nicht dazu angetan, sich im Freien aufzuhalten. Noch immer regnete das Wasser als Sprüh vom Himmel. Da blieb man lieber im Trockenen. Alles war feucht und naß. Auf dem weichen Boden waren meine Schritte so gut wie nicht zu hören, und ich arbeitete immer darauf, daß ich in Deckung blieb. Erst in Höhe des etwas versteckt abgestellten Autos verließ ich den Wald wieder. Die normale Welt und damit auch der kleine Zirkus schien meilenweit zurückgeblieben zu sein. Hier umgab mich eine bedrückende Stille. Nicht einmal ein Vogel sang. Ich hörte nur das Aufschlagen der von den Zweigen und Ästen fallenden Tropfen. Der Wagen sah aus, als wäre er in feuchte Tücher eingewickelt worden. Die Nässe hatte sich auf ihm verteilt, perlte allerdings nicht ab, was auf einen nicht eben guten Zustand des Lacks schließen ließ, doch das war mir persönlich egal. Für mich gab es andere Dinge zu tun. Ich wollte ihn mir genau ansehen. Vielleicht entdeckte ich jetzt – hier im Hellen – einen Hinweis auf den Besitzer. Ich schlich um das Fahrzeug wie ein Dieb, der erst sicher sein wollte, daß man ihn nicht beobachtete. Da die Scheiben nicht getönt waren, konnte ich ohne Schwierigkeiten in das Innere schauen, trotz der Tropfen, die außen am Glas ihre Muster hinterlassen hatten. Die Jacke sah ich noch, mehr auch nicht. Er war verschlossen, wie ich schon längst festgestellt hatte, und ich versuchte es noch einmal an der Heckklappe, wo sich auch nichts rührte. Allerdings fiel mir etwas anderes auf, und zwar der Geruch, der so gar nicht in diesen frischen Regenmorgen passen wollte. Er war irgendwie anders, kaum zu erklären, dumpfer, bedrückender. Ich war irritiert. Was roch so?
Bekannt war er mir schon vorgekommen, und ich schnüffelte weiter. Dabei beugte ich meinen Oberkörper der Heckklappe entgegen, denn dort mußte sich die Quelle des Geruchs befinden. Da hatte ich es! Moder… Ich richtete mich wieder auf, überlegte und strich über das nasse Haar. Moder war auch nicht der richtige Ausdruck. Ich dachte an einen Toten. Ja, Leichen rochen so. Ich dachte an das Werkzeug, das am Karussell lag. Gern hätte ich es gehabt, um den Kofferraum aufzubrechen, denn er Leichengeruch verflog nicht, er hielt sich, und so glaubte ich auch nicht an eine Täuschung. Werkzeug holen und… Da hörte ich das Räuspern! Ich fuhr herum und staunte. Vor mir stand eine junge Frau! *** Ich hatte sie schon mal gesehen, ich wußte auch, daß sie Lizzy hieß und daß sie in der besonderen Gunst des Direktors Baresi stand, wie mir Tom versichert hatte. Ihr durfte sich kein anderer Mann offen nähern, sonst spritzte Baresi Gift und Galle. Sie trug einen hellen Regenmantel und hatte die Kapuze über ihr braunes Haar gestreift. Sie schien das Lager verlassen zu wollen. »Guten Morgen«, sagte ich ein wenig aufdringlich. Die Frau schaute mich nur an. Den Gruß erwiderte sie nicht, statt dessen stellte sie mir eine Frage: »Wer sind Sie?« »Ich arbeite hier.« »Sag mir deinen Namen.« Sie sprach vertraulicher, ohne jedoch vertraut zu wirken. »John Sinclair.« »Gut.« Es klang neutral. »Und wer bist du?« In ihrem Gesicht entstand ein überraschtes Zucken. »Ich heiße Lizzy Lamotte.« »Ein schöner Name.« »Red keinen Unsinn und sag mir lieber, was du hier zu suchen hast.« »Ich bin neu hier«, sagte ich schulterzuckend, »und wollte mich mal ein wenig umschauen.« »Du bist Handlanger?« »So kann man es sehen.« »Dann solltest du arbeiten, verdammt.« »Nein oder ja. Ich habe gearbeitet.« Zum Glück war mir Suko eingefallen. »Aber da war dieser Polizist, der seine Untersuchungen
durchführen will. Er hat mich davon abgehalten, die anderen auch. Wir sollen in der Nähe bleiben, falls er noch Fragen hat.« Lizzy kam einen Schritt näher. Sie war jetzt gespannt, hatte sogar die Augen leicht verengt. »Hat er irgendwas gesagt?« »Wie meinst du das?« »Wie lange er noch hier auf dem Gelände bleiben will, zum Beispiel.« »Nein.« »Und worum geht es?« »Um Vermißte, denke ich.« Sie runzelte die Stirn und gab sich erstaunt. »Du hast da in der Mehrzahl gesprochen?« »Ja, das sagte er.« »Kennst du die Zahl der Vermißten, von denen dieser Bulle sprach?« Mit dieser Frage war sie mir praktisch ins Messer gelaufen. Ich stand noch immer in der Nähe des Polos und dachte auch an den Leichengeruch. Um zwei Personen ging es, nun aber war möglicherweise noch eine weitere hinzugekommen. Bisher hatte ich keinen Beweis, aber ich würde einfach so tun, als wüßte der Polizist schon Bescheid. Lizzy zeigte Ungeduld. »Was ist? Kannst oder willst du nicht reden?« »Nun ja, ich weiß nicht…« »Was weißt du nicht?« Ich spielte weiterhin den Dummen. »Es ist so, der Bulle hat gesagt, daß niemand mit einem anderen über die Fragen und Antworten sprechen soll.« Lizzy Lamotte lachte leise. »Daran wird sich wohl keiner halten, aber bitte, wie du willst. Du solltest nur bedenken, daß ich zu denjenigen Personen hier auf dem Gelände gehöre, die viel Einfluß haben. Das könnte sich auch für dich bezahlt machen, ich werde bestimmt nicht undankbar sein.« Ich stellte mich noch immer etwas unterbelichtet an. »Wie… wie soll ich das denn verstehen?« »Eine Hand wäscht die andere. Wenn ich bei Baresi ein gutes Wort für dich einlege, könntest du möglicherweise bei uns bleiben. Ist doch nicht unübel – oder? Im nächsten Jahr geht es rüber nach Irland. Wird ein toller Sommer dort.« Ich strahlte sie an und tat dabei ungläubig. »Das… das würdest du wirklich tun?« »Klar. Vorausgesetzt, du vertraust mir auch und erzählst mir, was der Bulle will.« Ich setzte eine Verschwörermiene auf. »Aber es bleibt unter uns, das mußt du mir versprechen, Lizzy.« »Hältst du mich für eine Quatschtante?« »Nein, das nicht, aber…«
»Komm, John Sinclair. Stell dich nicht so an und rede drei bis vier Takte.« »Ja«, murmelte ich. »Der… der Bulle sucht drei Personen, die verschwunden sind.« Lizzy schrak zusammen und verlor zum erstenmal die Kontrolle über sich. Ihre Haltung veränderte sich, und ich hörte ihr leises Stöhnen. »Das darf doch nicht wahr sein«, hauchte sie. »Was denn?« »Drei Personen.« Ich nickte ihr zu. »Hat er gesagt, das kannst du mir glauben.« »Natürlich glaube ich dir.« Sie hob die Schultern. »Von zwei Vermißten weiß ich ja, aber der dritte…« Den Rest ließ sie unausgesprochen und wartete auf meine Reaktion, die auch nicht lange auf sich warten ließ. »Viel weiß ich auch nicht, aber meine Nase hat so einen komischen Gestank registriert.« Auf einmal lag Eis in ihren Augen. »Einen komischen Geruch, sagst du?« Selbst ihre Stimme hatte sich verändert. Sie klang wesentlich lauernder und schärfer. »Klar, und zwar hier.« Ich deutete auf den Wagen. Sie schaute ebenfalls hin, dann lachte Lizzy auf. »Ach so, den meinst du. Wenn es nicht mehr ist…« »Aber er stinkt.« »Er riecht. Es ist übrigens mein Fahrzeug, und ich benutze es nicht nur zu irgendwelchen Vergnügungsfahrten. Ich transportiere hin und wieder etwas darin, was nicht so ganz astrein riecht. Deshalb auch dieser seltsame Geruch.« »Was denn?« »Ist doch egal.« Ich spielte weiterhin den Naiven, setzte aber trotzdem noch einen drauf. »Für mich roch es nach Leiche.« Dabei nickte ich bestätigend. »Ja, es roch nach einem Toten. Nach verwestem Fleisch.« Die Frau schwieg. Nicht sehr lange, dann hatte sie sich wieder gefangen. »Und das hast du genau herausgefunden, John? Darin bist du Spezialist, nehme ich mal an.« »Stimmt.« »Darf ich fragen, wie es kommt und wo du dir diese Fähigkeiten angeeignet hast?« Ich hatte längst eine Antwort parat. »Auf dem Friedhof, Lizzy. Ich habe mal für eine Weile auf dem Friedhof gearbeitet. Ist zwar schon länger her, aber einen derartigen Geruch vergißt man nicht.« Ich schlug auf die Heckklappe. »Du kannst sagen, was du willst, Lizzy, hier riecht es irgendwie nach Leiche.« Bei meinem Schlag war sie zusammengezuckt, hielt sich ansonsten aber ziemlich gut. Sie hatte auch schon einen Ausweg gefunden und
wechselte das Thema. »Hier ist es mir zu kalt. In meinem Wagen steht der Kaffee. Er ist noch frisch.« »Wie schön für dich«, sagte ich, »dann werde ich auch wieder an meine Arbeit zurückgehen, bevor es Ärger gibt.« »Das glaube ich nicht. Solange sich der Bulle hier aufhält, ist der betriebliche Ablauf gestört.« Sie lächelte mich an. »Wie wäre es denn, wenn wir den Kaffee gemeinsam trinken, John?« Ich holte scharf Luft. »Bei dir?« »Wo sonst?« Ich strich über das nasse Haar. »Ja, das wäre ein Ding«, murmelte ich. »Trotzdem weiß ich nicht, ob…« Sie kam auf mich zu, umfaßte meine Schulter und zog mich in ihre Richtung. »Alles andere laß mal meine Sorge sein. Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich mit dem Direktor sehr gut verstehe. Er wird dir schon keine Steine in den Weg legen, John.« Das glaubte ich auch. Nur dachte ich anders darüber. Die Einladung war nur insofern ehrlich gemeint, als daß ich sie als Falle für mich ansah. Diese Person wollte mich unter Kontrolle haben, um dann so schnell wie möglich zuschlagen zu können. Ich hatte etwas entdeckt, was nicht entdeckt werden sollte, und deshalb sollte ich einfach aus dem Verkehr gezogen werden. Das war eine Logik, die ich gut nachvollziehen konnte. Ich tat so, als wäre ich von dem Vorschlag begeistert, und so ließ ich mich willig wegführen. Ihr Wagen stand zwar nicht einsam, aber doch räumlich relativ weit entfernt von den anderen Unterkünften. Dafür war er der einzige Wagen, der seinen Platz in unmittelbarer Nähe des Kuriositätenkabinetts gefunden hatte, was mir persönlich ein wenig zu denken gab. Dafür mußte es einen Grund geben. Lizzy Lamotte merkte, daß ich mit den Blicken die große Bude abtastete. Sie wollte wissen, was ich an diesem Kasten so interessant fand. »Weiß nicht.« »Das ist keine Antwort.« »Ich würde ihn mir gern mal von innen ansehen. Der muß doch toll sein, denke ich. Kuriositäten, da bekommt der Besucher bestimmt Dinge zu sehen, bei deren Anblick sich ihm die Haare sträuben.« »Das kann durchaus sein.« »Hast du denn damit zu tun?« »Nein, das ist nicht meine Sache.« Lizzy blieb mit mir vor ihrem Wagen stehen. »Ich verspreche dir, daß du dir dieses Kabinett mal von innen ansehen darfst.« »Toll. Und wann?« »So bald wie möglich«, murmelte sie und holte einen schmalen Schlüssel aus der Tasche, den sie in das Schloß steckte, zweimal drehte, um die Tür aufziehen zu können.
Mir schlug eine dumpfe Wärme entgegen, zusammen mit einem Halbdunkel, das die Einrichtungsgegenstände des Wagens in sich hineinschlingen wollte. Ich gab mir den Anschein, mich unwohl zu fühlen und spürte sehr bald den Druck der Hand in meinem Rücken. »Du kannst ruhig hineingehen, John. Es ist niemand da, der dich beißen wird.« »Das glaube ich.« »Dann los!« Ich stieg die Stufen hoch und betrat den relativ schmalen Wagen, der jedoch für eine Person ausreichend Platz bot. Ich mußte den Kopf einziehen, konzentrierte mich auf die schmale Sitzbank und ließ mich dort nieder. Schräg gegenüber befand sich die Kochgelegenheit mit den beiden Platten und eine Kaffeemaschine stand daneben. Der Wagen war an den Stromkreislauf eines Generators angeschlossen worden. Die Wärme stammte von einem Strahler. Wie ein übergroßes Auge war er unter der Decke angebracht worden. »Zieh deine Jacke ruhig aus, mir ist es auch zu warm«, sagte Lizzy und zerrte den Vorhang zurück. Dahinter befand sich das kleine Schlafzimmer. Ihr reichten ein Bett und die schmalen Einbauschränke durchaus. »Ich bin gleich wieder zurück, John. Du kannst ja mittlerweile den Tisch decken.« »Mach’ ich.« Die Tassen hatte ich schon entdeckt. Sie standen, zusammen mit anderem Geschirr, auf einem kleinen Bord über der Spüle. Ich holte sie an den Tisch und stellte die Kaffeekanne drauf. Meine Zigaretten legte ich daneben. Die Jacke hatte ich ausgezogen. Den Pullover zerrte ich nach unten, damit er die Beretta verdeckte. Lizzy Lamotte kehrte zurück. Ich hörte das Rascheln des Vorhangs, schaute hin – und bekam erst mal große Augen… Sie lächelte, als sie mich unbeweglich sitzen sah. »Ist was?« fragte sie schließlich. Ich nickte. »Und ob.« »Wieso?« »Ich… also ich dachte, daß du dich umziehen wolltest.« »Habe ich doch, weil es hier so warm ist.« Sie trug hautenge, bunte Leggins mit dem grellen Pucci-Muster. Über ihren Körper hatte sie ein duftes Oberteil gezogen, das leicht durchsichtig war. Bei Gegenlicht ein netter Anblick. Lizzy kam lächelnd näher und setzte sich im rechten Winkel zu mir auf einen Stuhl an der Schmalseite des Tischs. Für uns beide schenkte sie den Kaffee ein. Ich schaute ihr zu, war rot geworden und gab meinen Fingern ein leichtes Zittern. Sie sollte mich noch immer für den leichten Tölpel halten. Lizzy schenkte Kaffee ein. »Nimmst du Zucker oder Milch?«
»Schwarz.« »Gut, ich auch.« Sie freute sich. »Da haben wir ja schon wieder etwas gemeinsam.« Lizzy hob die Tasse an und prostete mir zu. »Auf eine gute Zeit für dich.« »Ja, danke.« Auch ich trank die heiße Brühe, die mir beinahe die Lippen verbrannte. Lizzy stöhnte auf und lehnte sich zurück. »Es ist schon etwas Besonderes, wenn man an einem Morgen dasitzt und Kaffee trinkt, obwohl man eigentlich arbeiten müßte. Aber das haben wir einzig und allein dem Bullen zu verdanken. Ich denke, daß wir auf ihn anstoßen sollten.« »Ja.« »Aber nicht mit Kaffee.« »Womit dann?« »Laß dich überraschen.« Flugs stand sie auf, während ich demonstrativ auf ihren wippenden Busen starrte. Lizzy verschwand wieder hinter dem Vorhang. Sie ließ mich ziemlich nachdenklich zurück. Ich rechnete ja mit einer Falle oder einer Überrumpelung und war gespannt, welche Pläne sie noch verfolgte. Sie kehrte zurück und lachte. Dabei hielt sie eine Flasche fest, in der eine klare Flüssigkeit schwappte. »Ein Selbstgebrannter, gerade richtig für unseren Freund, den Polizisten. Findest du nicht auch.« »Na ja…« Ich verzog den Mund. »Am frühen Morgen ist das nicht so mein Fall.« »Darum mußt du nichts geben, John. Am schönsten sind doch die Ausnahmen von der Regel.« Sie drehte den Verschluß auf. Gläser hatte sie auch mitgebracht. Keine kleinen, sie hatten schon die Größe von Zahnputzbechern. Zu einem Drittel schenkte sie die beiden Gläser voll und schob mir eines rüber. Schon jetzt stieg mir der Geruch in die Nase. Ich schnupperte. »Hast du was?« »Im Prinzip nicht. Ich überlege nur, aus welchen Kräutern der gebraut ist.« Sie beugte sich zu mir herunter. Ihr Gesicht war feingeschnitten und wirkte trotzdem irgendwo verzerrt. Um die Augen herum spannte sich die Haut. Auch den Ausdruck in den Pupillen konnte ich kaum deuten. Sie waren nicht richtig dunkel, sie waren auch nicht direkt hell, sondern bestanden aus einem Mischmasch. »Es sind die Kräuter des Waldes, John. Ganz spezielle, von mir persönlich gesammelt.« »Toll.« »Im Volksmund heißen sie Hexenkräuter.«
Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wie verhielt ich mich jetzt richtig? Ich tat zunächst nichts, abgesehen von einem harten Räuspern. Sie lächelte schief. »Ist was, John? Habe ich etwas Falsches zu dir gesagt?« »Riech doch mal dran.« Das tat ich schon die gesamte Zeit über, schließlich stieg mir der Geruch permanent in die Nase. Es roch süßlich und gleichzeitig auch scharf. Dieses Zeug in mich hineinzukippen, würde mich Überwindung kosten. Wer wußte denn, was sie in diesen Trank hineingemixt hatte. Es gab ja auch die sogenannten K.o.-Tropfen. Ich traute dieser Person zu, daß sie mich damit betäuben wollte. »Was ist denn, John?« Ich hob den Kopf. Das Glas stand auf dem Tisch, umklammert von meiner Hand. »Ich möchte ja keine Ansprüche stellen, was mir auch nicht zusteht. Ich will auch nichts sagen, aber ein ehrlicher Whisky wäre mir schon lieber.« Sie lächelte. »Mir auch.« »Hast du keinen?« »Leider nein«, sagte sie. »Ich habe nur diesen Hexenschnaps.« Plötzlich lachte sie, und einen Augenblick später wurde alles anders. Etwas wirbelte auf mich zu. Aus so geringer Entfernung geschleudert, daß ich den Kopf nicht zur Seite drehen konnte. Der Schnaps traf mein Gesicht. Und er erwischte meine Augen! *** Er brannte wie eine scharfe Säure. Er machte mich blind. Ich schrie zwar nicht, stöhnte aber auf und merkte, daß ich durch den Schnaps blind geworden war. Mit einer Geste der Verzweiflung riß ich die Hände hoch, den Schutz brauchte ich nicht mehr, denn Lizzy Lamotte kippte mir keine zweite Ladung ins Gesicht. Dafür klatschte ihre Hand gegen meinen Hals. Ich wurde so hart getroffen, daß mir die Luft wegblieb und ich zurückfiel. Sie stützte mich ab. Durch den schrägen Aufprall aber rutschte ich nach links weg und kippte gleichzeitig auf den Rücken. Ich war blind geworden. Die Vorgänge in meiner unmittelbaren Umgebung bekam ich optisch nicht mehr mit, ich mußte mich da schon an die entsprechenden Geräusche halten und lauschte den hastigen Schritten der jungen Frau. Automatisch hatte ich die Hände hochgerissen, schnappte noch immer nach Luft und versuchte zugleich, mir das Zeug aus den Augen zu wischen, was eigentlich Unsinn war, denn es war besser, wenn die
Tränen es herausspülten, so verteilte ich es nur noch mehr. Wer aber behielt in einer derartigen Lage schon den Überblick? Ich mußte mich zurechtfinden, bevor sie wieder zurückkehrte. Zumindest etwas sehen, wenn ich meine Beretta zog und Lizzy damit in Schach hielt. Sie kam wieder. Laut klangen ihre Tritte. Sie flüsterte auch etwas, das ich nicht verstand. Tränen spülten die ersten Reste der fremden Flüssigkeit aus meinen Augen. Zwar konnte ich noch immer nichts richtig erkennen, aber das Dunkel wich einem Grauschleier, der sich wie ein Vorhang ausgebreitet hatte. Dazwischen bewegte sich eine Gestalt. Es war Lizzy, die mit einem heftigen Ruck den Tisch zur Seite schob, der nicht am Boden befestigt war. Jetzt hatte sie Platz. »Du verdammter Hund! Du Lügner! Leichengeruch, hast du gesagt! Das stimmt. Du hast recht, aber es wird dir nichts mehr nutzen, denn du wirst die nächste Leiche sein! Ich lasse mich nicht reinlegen. Spielst hier den Blöden, schleichst dich als Handlanger ein, aber das ist vorbei.« Hoffentlich redete sie noch länger, um so mehr klarte mein Blickfeld auf. Sie tat mir den Gefallen nicht. Ich konnte sie bereits erkennen, sie stand vor mir und bewegte sich. Das heißt, nur an einer Seite, denn etwas raste auf mich herab. Es war ein Schatten, der leider keiner mehr blieb, als er an meinem Kopf explodierte. Da hatte sich der Schatten in einen harten Gegenstand verwandelt, der mich in die tiefe Bewußtlosigkeit hineinriß. Ich fiel in das Loch! *** Obwohl Suko sich ärgerte, ließ er sich nichts anmerken. Er saß in Baresis Wagen, hatte die Leute einzeln antreten lassen und ihnen die entsprechenden Fragen gestellt. Von keinem hatte er eine Aussage erhalten, die ihn weitergebracht hätte. Niemand wußte etwas oder wollte etwas wissen. Man hob nur die Schultern. Das ärgerte den Inspektor. Er kam sich verschaukelt vor, und Baresis Grinsen, der den Verhören des Inspektors doch zuhörte, wurde immer hämischer. Als drittletzte Person hatte sich Suko Madame Bovary vorgenommen. Die Dame hatte auch nichts gewußt und verschwand schließlich mit wütenden Schritten und spitzen Bemerkungen, wobei sie ihre beiden schneeweißen Pudel unter die Arme geklemmt hatte. »Bis auf zwei waren das alle«, stellte Suko fest und schaute Baresi dabei an.
Der hockte auf einem Stuhl und nuckelte an seiner Zigarre. Sein Gesicht war hinter den Rauchwolken verschwunden und sah aus, als würde es zerfließen. »Meine beiden Handlanger.« »Wie heißen Sie?« »Der eine heißt Tom.« »Und der andere?« »John!« »Haben die beiden auch Nachnamen?« Baresi puffte wieder und schuf einen erneuten Rauchvorhang. »Tom heißt noch Packard. Bei dem anderen muß ich nachdenken, der Knabe ist erst seit gestern bei uns.« »Tun Sie das.« »Er heißt Sinclair.« »Aha. Und er ist erst seit gestern bei Ihnen?« »Das sagte ich schon. Deshalb wird er Ihnen kaum etwas über die Vermißten sagen können.« Suko lächelte. »Ich möchte ihn trotzdem sprechen.« »Können Sie, Inspektor, können Sie. Wir haben hier nichts zu verbergen.« Daß es noch eine Frau namens Lizzy gab, das hatte Baresi Suko wohlweislich verschwiegen. »Dann lassen Sie die beiden Handlanger herholen, Mr. Baresi.« »Was ist denn, wenn sie auch nichts wissen?« »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es ist auch mein Problem, nicht das Ihre.« »Man kann ja mal fragen.« Baresi erhob sich. Wütend ging er zur Tür und zerrte sie auf. Die feuchtkalte Luft strömte in den Wagen und vermischte sich mit dem Qualm der Zigarre. Zu rufen brauchte der Direktor nicht, denn Tom Packard hatte sich ausrechnen können, wann er an der Reihe war. Er hatte schon gewartet. »Komm rein, Tom.« Der >Bär< nickte. Mit schaukelnden Bewegungen stampfte er in den Wagen, knetete seine Hände und zeigte so, daß er sich unwohl fühlte. Suko bot ihm einen Platz an. Packard ließ sich vorsichtig auf dem Stuhl nieder und legte seine Hände auf die Oberschenkel. Er fühlte sich unwohl, das war bei den meisten der Fall gewesen und störte Suko nicht. Erst als sich Baresi ebenfalls gesetzt hatte, stellte er die erste Frage. »Sie heißen?« »Tom Packard.« »In welcher Funktion sind Sie hier angestellt?« Tom schaute auf den Direktor und schwieg. Baresi gab für ihn die Antwort. »Er ist so etwas wie ein freier Mitarbeiter. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt. Es steht in
keinem festen Arbeitsverhältnis. Ich setze ihn für Handlangerdienste und einfache Reparaturarbeiten ein.« »Stimmt das, Mr. Packard?« »Ist richtig.« Er knetete noch immer seine mächtigen Hände. »Aber über die beiden Verschwundenen weiß ich wirklich nichts. Die waren plötzlich weg, haben ganz überraschend Leine gezogen.« »Können Sie sich vorstellen, daß die beiden nicht mehr leben?« »Hä?« »Daß sie tot sind!« »Warum das denn?« Suko verdrehte die Augen. »Manchmal werden Menschen ermordet, Mr. Packard. Davon sollten selbst Sie gehört und gelesen haben.« Tom grinste schief. »Mit dem Lesen ist das so eine Sache bei mir, aber gehört habe ich von so etwas. Auch gesehen, in der Glotze. Aber die beiden hatten doch nichts. Keine Kohle, keinen Schotter. Da war nichts mit Geld.« »Darum braucht es auch nicht zu gehen«, sagte Suko. Er mußte wieder einmal eine Engelsgeduld aufbringen. »Für mich ist wichtig, ob Sie persönlich etwas gesehen haben, das mich weiterbringt.« »Überhaupt nicht.« »Sie haben doch bestimmt mit Ihnen zusammengearbeitet.« »Das schon.« »Haben Sie sich da nicht unterhalten?« Tom schaute wieder Baresi an, der aber hob nur die Schultern und überließ Tom das Feld. »Schon.« Suko atmete tief durch. »Wunderbar. Können Sie mir auch sagen, worüber Sie gesprochen haben?« Tom schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie nichts sagen?« »Das gehört nicht hierher.« »Vielleicht doch.« Packard schaute zu Boden. »Das waren doch so… also Männergespräche.« Suko schmunzelte. »Verstehe. Die drehten sich wahrscheinlich um ein bestimmtes Thema.« »Klar. Es ging um Frauen.« »Mögen Sie Frauen.« »Aber immer.« »Auch die beiden Kollegen?« Beinahe hätte sich Tom aufgerichtet, denn Suko hatte durch seine Frage genau das richtige Thema angesprochen. »Und ob die Frauen mochten. Die waren unheimlich scharf.« »Auf wen denn?« »Na ja, auf Lizzy.« Aus dem Augenwinkel entdeckte Suko, daß sich Tonio Baresi spannte. Nur für einen winzigen Moment, doch das hatte ihm gereicht. Mit seiner
Frage hatte Suko wohl einen wunden Punkt getroffen. Allerdings ging er darüber hinweg und tat so, als sei nichts gewesen. »Wer ist den Lizzy?« »Die arbeitet hier.« Suko schüttelte den Kopf. »Nein, glaube ich nicht. Ich habe diesen Namen noch nie gehört.« »Ich muß Ihnen da etwas erklären«, sagte Baresi, hob eine Hand und rutschte auf seinem Stuhl vor. »Da bin ich aber gespannt«, murmelte Suko mit samtweicher Stimme. »Ich habe erwartet, daß Sie mit offenen Karten spielen, Mr. Baresi. Und jetzt so etwas.« »Ich habe mit offenen Karten gespielt, aber eine Person, die nicht hier ist, können Sie nicht befragen.« »Sie meinen, sie ist nicht in der Nähe.« »Wann kommt sie zurück?« »Das kann dauern…« »Wann?« »Ich weiß es nicht, verdammt. Ich habe Sie heute früh weggeschickt. Sie muß in London einige Besorgungen für mich machen. Sie wird mit einer Bank verhandeln, ich brauche da einen kleinen Überbrückungskredit, und sie wird auch noch einige Vorbereitungen treffen müssen, die unsere Gastspielreise im nächsten Jahr betreffen. Es wird Zeit, in nicht einmal zwei Monaten ist das alte Jahr vorbei.« »Das weiß ich.« »Zwei Tage wird Lizzy schon brauchen. Erst dann können Sie mit Ihr reden. Wollen Sie solange hier auf sie warten?« Das hatte Suko nicht vor. Er ging allerdings davon aus, daß ihn dieser Baresi belogen hatte. Für ihn stand nicht fest, daß sich die Frau in London aufhielt. Er konnte sie andererseits auch nicht als Verdächtige einstufen, aber sie mußte möglicherweise mehr über die beiden Männer wissen und auch über andere Dinge, die hier passiert waren. Unter Umständen war sie sogar aus dem Weg geschafft worden. Suko schaute Baresi an. Der hob nur die Schultern und meinte, daß er nicht mehr sagen könne. »Es hat mir auch schon gereicht«, erklärte der Inspektor. Baresi muckte auf. »Wie meinen Sie das denn?« »Wie ich es sagte.« Er wandte sich wieder an Tom Packard. »Ich gehe mal davon aus, daß auch Sie Lizzy kennen.« Toms Augen bekamen einen gewissen Glanz. »Und ob ich die Frau kenne. Die ist einfach spitze, aber für unsereins tabu. Wir können sie nur anschauen.« »Die beiden anderen haben das auch getan, oder war da mehr geschehen?« »Was meinen Sie damit?«
»Ist Lizzy von ihnen angemacht worden?« »Nein. Glaube ich nicht.« »Glauben oder wissen Sie es nicht?« Tom zog ein säuerliches Gesicht. »Kann ich mir nicht vorstellen. Alle haben zuviel Angst gehabt. Die hat sich mit solchen wie uns nicht abgegeben. Die hatte andere Chancen…« Suko wollte zum Abschluß kommen und fragte: »Und sonst wissen Sie nichts, Tom?« »Nein, gar nichts.« »Okay, dann bleibt noch einer, wenn Lizzy nicht hier ist. Sagen Sie Mr. Sinclair Bescheid.« Suko hatte es wie nebenbei gesagt, und schrak schon zusammen, als er die Antwort hörte. »Der ist nicht da.« Suko blieb still sitzen. Er legte die Stirn in Falten und zog die Mundwinkel schief. Es wurde kein Lächeln, höchstens ein knappes, leicht spöttisches Grinsen. »Auch nicht da? Ist er mit Lizzy weg?« »Nein, das nicht.« »Sondern?« »Ich habe mit ihm am Karussell gearbeitet, was Sie ja gesehen haben, Inspektor. Sie sind gegangen. John blieb noch und wollte mal austreten.« »Was er auch tat?« »Ja.« »Was passierte dann?« Tom hob die mächtigen Schultern. »Eigentlich nichts. Er ging weg und kam nicht mehr zurück.« »Ach so. Wo befindet sich denn hier die Toilette?« Packard grinste. »Die benutzen wir nur selten. Der wird im Freien gepinkelt haben. Doch er ist noch nicht zurück.« »Das ist komisch.« »Meine ich auch, Inspektor.« Suko drehte sich und schaute den Direktor an. Der hob beide Arme. »Hören Sie, Inspektor, ich habe damit nichts zu tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich bin ebenso überrascht worden wie Sie. Aber ich versichere Ihnen, daß ich mir Sinclair vornehmen werde. Er ist jetzt schon gefeuert.« »Das bringt mich auch nicht weiter.« »Sehe ich ein. Zudem hätte er Ihnen nichts sagen können. Erst seit gestern ist er bei uns, der kennt die beiden Verschwundenen gar nicht.« »Kann ich jetzt gehen?« fragte Tom. »Ja, Mr. Packard. Herzlichen Dank noch!« »Bitte, keine Ursache.« Tom war froh, den Wagen verlassen zu können. Er stürmte beinahe fluchtartig ins Freie. Zurück blieben Suko und Tonio Baresi. Der Direktor hatte zu seiner alten Sicherheit zurückgefunden. Er
lächelte den Inspektor an. »Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir. Ich mache es gern.« »Im Moment nicht.« Baresi stampfte den Zigarrenstummel im Ascher zusammen. »Heißt das, daß Sie uns noch mal beehren werden?« »Korrekt.« »Hm, komisch.« Er streckte seine kurzen Beine aus. Die Stiefel reichten bis zu seinen Kniekehlen. »Darf ich daraus folgen, daß Sie uns hier noch eine Weile erhalten bleiben?« »Nicht unbedingt. Ich werde fahren.« »Eine gute Idee.« »Nach London.« Baresi nickte. »Noch besser.« »Und Sie sind so nett und geben mir die Adresse, wo ich Lizzy finden kann.« Baresi verengte seine Augen. »Ach ja? Was wollen Sie denn von ihr? Lizzy Lamotte hat zu tun und…« »Befragen will ich sie.« »Ist das so wichtig?« »Für mich schon.« Der Direktor bewegte wild seine Hände. »Das ist doch alles Unsinn! Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wo genau sie Lizzy Lamotte finden werden, denn mir ist nicht bekannt, in welchem Hotel sie gebucht hat. Wenn Sie unbedingt mit ihr reden und ihre Zeit vergeuden wollen, dann kommen Sie in zwei Tagen wieder.« Suko schaute ihn an. »Ja, Mr. Baresi, das werde ich auch. Ich werde Ihnen in zwei Tagen wieder einen Besuch abstatten.« Innerlich atmete Baresi auf, zeigte es allerdings nicht nach außen hin. Nur ein knappes Glitzern in seinen Augen gab bekannt, wie zufrieden er mit dem Ergebnis des Gesprächs war. Er schaute zu, wie sich Suko erhob. An der Tür fragte der Inspektor: »Um welche Zeit könnte sie wieder aus London zurück sein?« »Kommen Sie am besten gegen Mittag.« »Danke für den Tip, Mr. Baresi.« Suko zog die Tür auf und verließ den Luxuswagen. Daß Baresi hinter ihm herlächelte, konnte er sich vorstellen, doch am besten lachte noch immer der, der zuletzt lachte. Das wollte er sein. Der Regen hatte aufgehört. Ein kräftiger Wind, der die Wolken vertrieb, hatte ihn abgelöst. In einem hellen Blau lag der Himmel über dem Land. Suko ging zu seinem BMW zurück, natürlich verfolgt von zahlreichen Augenpaaren. Alle waren froh darüber, daß der Inspektor sie verließ. Er stieg in den Wagen, schnallte sich an und startete den Motor. Er wendete und fuhr zurück. Dabei rollte er auch an den Wohnwagen entlang. Er sah die Menschen entweder in den offenen Türen stehen
oder hinter den Fenstern nach draußen schauen. Madame Bovary warf ihm sogar eine Kußhand hinterher. So komisch die Geste auch wirkte, Suko konnte darüber nicht lachen. Zu tief nagten die Sorgen in ihm, besonders die Sorge um John Sinclair… *** Tonio Baresi wartete so lange, bis der schwarze BMW verschwunden war. Erst dann traute er sich vor die Tür. Er kochte innerlich. Bis auf Tom Packard hatten sich all seine Mitarbeiter wunderbar verhalten. Der dumme Kerl, der hätte ihn beinahe um Kopf und Kragen geredet. Zum Glück war ihm bei Lizzy die Ausrede mit London eingefallen. Sollte der Bulle doch zwei Tage in London herumsuchen. Bis dahin hatte er einige Dinge wieder zurechtgerückt. Es war zunächst wichtig, daß er sich um Tom kümmerte. Er war die Archillesferse. Baresi wußte nicht, was Packard dem Bullen alles gesagt hatte. Da war es schon besser, wenn er ihn aus dem Verkehr zog, für immer. Nur mußte er es raffiniert anstellen, denn Packard war bauernschlau, er roch den Braten leicht. Dann war er nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Baresi schloß seine Tür ab. Der Clown wollte noch etwas mit ihm bereden, aber Tonio ließ ihn abfahren. »Nein, nicht jetzt. Ich habe keine Zeit.« »Geht in Ordnung.« Kopfschüttelnd ging der Mann davon. Er mußte sich >duckenreparieren< können, nur war es aus Zeitgründen – so komisch sich das auch anhörte – nicht mehr dazu gekommen. Gallio hatte sich selbst umgebracht. Die Uhr war zu seinem Mörder geworden, und sie war geblieben. Über lange Zeit hinweg, über Jahrhunderte. Es mußte auch Menschen gegeben haben, die erkannten, welch eine Macht in ihr steckte. Zuletzt hier auf diesem winterlichen Rummelplatz. Die Uhr kannte ich aus meinen Träumen, nur war ich
davon überzeugt, daß ich sie sehr bald in natura sehen würde. Ich konnte mir vorstellen, daß sie nicht mehr weit von mir entfernt war. Die Dunkelheit war nicht so intensiv, wie ich sie schon des öfteren erlebt hatte, wenn ich in einem lichtlosen Raum eingesperrt gewesen war. Hier gab es überall Lücken und Ritzen, wo das Tageslicht hindurchsickern konnte. Ob sich einer meiner Gegner schon in der Nähe befand, konnte ich nicht herausfinden. Sie hielten sich zurück, und seltsamerweise lauschte ich nach einem bestimmten Geräusch. Ich wollte herausfinden, ob irgendwo eine Uhr tickte. Nichts – die Stille blieb. Kein Ticken der Leichenuhr, nur den eigenen Atem hörte ich. Die Beine zog ich langsam an. Sie schabten über den rauhen Holzboden, und ich suchte in der Tasche nach meiner kleinen Leuchte. Die Beretta war verschwunden, die Leuchte hatte man mir gelassen. Immerhin etwas, denn Licht in der Finsternis hat nicht nur Symbolcharakter, es war auch als pragmatisch anzusehen, denn mir brachte es sicherlich einen Erfolg. Ein scharfer überaus heller Schnitt jagte in die Dunkelheit hinein. In dieser Lanze zitterte der Staub. Ich schwenkte die Leuchte, sah plötzlich Ziele aus der Schwärze hervortauchen wie schwebende Geister, und ich konnte mich darüber nur wundern. Eine Fratze starrte mich an. Sie grinste mit widerlich breitem Mund. Glotzaugen stierten ins Leere, aber die Fratze gehörte zum Oberteil eines schmalen Holzschranks, der vor mir stand. Auch in seiner Maserung schimmerten Fratzen, und mir fiel jetzt ein, daß ich mich eigentlich nur an einem bestimmten Ort befinden konnte, eben in diesem Kuriositätenkabinett. Da mußte jemand gesammelt haben, und das über Jahre hinweg. Zeugnisse der Geschichte, Kuriositäten, wo immer ich auch hinleuchtete. Drehorgeln, Spiele für Kinder, ein Schrank mit einer Falltür und immer wieder irgendwelche Masken und schreckliche Gebilde. Des öfteren auch den Teufel in verschiedenen Darstellungen. Sehr schön für denjenigen, der Gefallen daran fand. Ich gehörte nicht dazu, denn mir ging es um die Uhr, und die hatte ich bei meinem ersten Rundblick nicht gesehen. Allmählich wurde ich vom langen Sitzen steif. Ich hatte inzwischen festgestellt, daß ich mit dem Rücken gegen eine Couch lehnte. Als ich mich erhob, quietschte sie. Es hörte sich an wie das Schreien kleiner Kinder, und das war ebenfalls wieder ein Gag. Ich blieb vor der Couch stehen. Die Lampe wanderte, und der Strahl wanderte mit. Staub schimmerte. Ich entdeckte eine Treppe, die in den ersten Stock hochführte. Es war auch ein durch Gitter abgesicherter Weg zu sehen,
den die Besucher gehen mußten. Der Weg setzte sich mehr aus Kurven als aus geraden Strecken zusammen. Ich stand relativ gut. Schwindlig war mir nicht mehr. Auch die Schmerzen ließen sich ertragen. Für mich war der Geruch des in meinem Gesicht klebenden Likörzeugs am schlimmsten. Nur war leider keine Dusche in der Nähe. Der aufgewirbelte Staub kitzelte meine Nase. Ich nieste. Mein Kopf war etwas freier geworden, ich bekam auch wieder besser Luft. Wo befand sich die Uhr? War ich allein hier? Lauerte diese Lizzy Lamotte auf mich? Daß sie etwas mit der Leichenuhr zu tun hatte, stand für mich fest. Möglicherweise hatte sie die Funktion des verstorbenen Uhrmachers Gallio übernommen, und ich mußte nun die des Hector de Valois wahrnehmen. Man sagt, daß sich in der Geschichte alles wiederholt. Möglicherweise erlebte ich es am eigenen Leibe. Man hatte mich abseits des offiziellen Besucherwegs liegenlassen. Da die Leichenuhr sicherlich zu den Hauptattraktionen zählte, würde der Weg bestimmt an ihr vorbeiführen. Deshalb entschloß ich mich, ihn zu nehmen. Bei meinen ersten Schritten konnte ich nicht eben jubeln. Ich kam mir vor wie jemand, der auf Gummi geht. Die nächsten Schritte klappten besser, ich fühlte mich relativ gut, erreichte das Laufgitter, duckte mich darunter hinweg und hatte nun den inneren Weg erreicht. Nach oben oder in der Höhe bleiben? Ich entschied mich für den Weg nach oben. Die Luft war verbraucht. Die hier ausgestellten Gegenstände sonderten zudem einen muffigen Gestank ab. Es roch nach altem Holz und auch nach feuchten Klamotten. Langsam nur ging ich weiter, immer wieder nach rechts und links leuchtend, wobei mich stets weitere Überraschungen erwarteten. Sogar seltsam krumme Schwerter entdeckte ich, stumpfe Lanzen, schiefe Rüstungen, eine Kommode mit verschiedenen Nachttöpfen, zwischen denen verstaubte Perücken lagen. Einen gewissen Humor konnte man dem Aussteller nicht absprechen. Mir allerdings war nicht nach Spaß zumute. Ich stieg die erste Stufe hoch. Vier Stufen weiter begann eine schmale Plattform, von deren rechtem Rand die Treppe weiterhin in die Höhe führte. Die Plattform selbst interessierte mich nicht, viel wichtiger waren die dort abgestellten Gegenstände. Als ich den Arm nach links drehte, da erwischte der schmale Strahl etwas Weißes, Flatterhaftes, das aussah wie ein Gespenst. Zudem bewegte es sich in einem dünnen Luftzug, und es sah tatsächlich aus wie ein Leichenhemd. Sicherlich war es auch eines, auch die beiden Särge, die auf dem Boden standen, paßten irgendwie perfekt zu der makabren Performance.
Zwar waren die Särge zu, doch nicht verschlossen. Als Polizeibeamter muß man einfach neugierig sein, da machte auch ich keine Ausnahme. Leichengeruch! Ich schluckte, ahnte Schlimmes, wollte trotzdem einen Beweis haben, hob zuerst den einen, dann den zweiten Deckel ab und leuchtete in das Innere der Särge. War es bisher noch relativ harmlos gewesen, so hörte der Spaß nun endgültig auf. Beide Särge waren belegt! Zwei Leichen hatte man in die engen Totenkisten hineingequetscht. Zwei Männer, und sie sahen verdammt nicht gut aus. Sie mußten schon eine Weile hier liegen. Ihre Gesichter befanden sich schon im Zustand der Verwesung. Mir stockte der Atem. Ich dachte daran, daß diese beiden den Besuchern wohl niemals gezeigt würden, und ich erinnerte mich auch wieder an den Geruch, der dem Polo entströmt war. Nur war dieser hier viel intensiver und widerlicher. Ich wußte sofort, daß ich die beiden Vermißten vor mir hatte, nach denen sich Suko so intensiv erkundigt hatte. Gingen sie auf Lizzys Konto oder auf das des Direktors? Beiden traute ich nicht über den Weg. Ich drehte mich wieder herum, weil ich höhersteigen wollte. Ich leuchtete probehalber schon einmal in diese Richtung. Das Licht durchdrang die schwadige Dunkelheit, wobei ich als Ziel eine schmale Balustrade entdeckte, hinter der sich eine weitere Plattform ausbreitete. Und dort stand ein längerer Gegenstand. Ich sah noch die Rundung, als gleichzeitig die Stimme aufklang. »Weg mit dem Licht!« Eine zischende Stimme, die ich trotzdem erkannte. Lizzy Lamotte hatte gesprochen. Den Gefallen tat ich ihr nicht. Im Gegenteil, ich wollte sie noch besser aus dem Dunkel über mir hervorholen und leuchtete sie direkt an. Es war kein Fehler, denn als sie die Arme hob, da entdeckte ich den schwarzen Gegenstand, den sie mit beiden Händen festhielt. Es war meine Beretta! Sie zielte damit schräg in die Tiefe, und sie schien mit einer solchen Waffe umgehen zu können. »Ich bin auch mal als Kunstschützin ausgebildet worden«, erklärte sie mir. »Du kannst mir glauben, daß ich dir aus dieser Entfernung dein Schnüfflergehirn aus dem Schädel schießen werde.« »Geht in Ordnung«, sagte ich. Ich löschte die Lampe und steckte sie weg. Die Finsternis umgab mich wie ein lichtloses Gefängnis. Ich hatte mir gemerkt, wo der Aufgang lag, den fand ich auch ohne Licht. Aus dem Dunkel erreichte mich plötzlich die zischende Stimme Lizzy Lamottes. »Du wirst dich erst rühren, wenn
ich es dir befehle. Ansonsten wirst du hier noch einige Überraschungen erleben. Vergiß nicht, wo du dich befindest, Sinclair.« »Ist gut.« In den nächsten Sekunden senkte sich die Stille über uns. Ich hörte das Klopfen meines eigenen Herzens, doch die Stille hielt nicht lange an. Wieder sprach Lizzy. Ihre Stimme tönte mir entgegen. Sie klang drohend, was möglicherweise auch an der Dunkelheit lag. Daß sie etwas vorhatte, bekam ich sehr bald bestätigt. »Du willst die Leichenuhr sehen, Sinclair. Ich weiß, daß du deshalb gekommen bist. Du wirst das vollenden wollen, was einem Hector de Valois nicht gelungen ist. Ich kann dir versprechen, daß du die Uhr zu Gesicht bekommst. Nur etwas Geduld…« Die mußte ich haben, denn hier setzte eine andere die Zeichen. Ich befand mich in der zweiten Reihe. Außerdem war ich gespannt auf die Begegnung mit der Leichenuhr, und ich wunderte mich gleichzeitig darüber, wie gut diese Person Bescheid wußte. Der Name Hector de Valois war ihr glatt über die Lippen gekommen. Man hatte sie eingeweiht, und ich fragte mich, wer diese Person gewesen war. Vielleicht auch Gallio? Irrte der Geist dieses Uhrmachers durch die Zeiten? Fand er keine Ruhe, weil er sich übernommen hatte? Wollte er etwas richten, was er damals versäumt hatte? Meine Gedanken rissen ab, weil ich plötzlich ein Licht sah. Es flackerte unruhig über mir, und sein Widerschein glitt über die Gestalt in der hellen Kleidung. Lizzy hielt das Streichholz in der Hand, bewegte es und hielt die Flamme dann an den ersten Kerzendocht, der sofort Feuer fing. Wenig später leuchteten weitere vier Kerzenflammen auf, und sie durchbrachen die bedrückende Finsternis. Lizzy Lamotte bewegte sich lautlos wie ein Geist. Hin und wieder konnte ich einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Trotz der über die Haut hinwegtanzenden Schatten wirkte es blaß und ungewöhnlich starr, wie auch die Augen. Im Flammenschein war endlich der Gegenstand zu erkennen, auf den ich so lange gewartet hatte. Seinetwegen war ich überhaupt hergekommen. Ich sah die Leichenuhr! Ein Schreck rann mir über den Rücken, wenn ich an ihre Vergangenheit dachte. Ich erinnerte mich sofort an meine Träume und konnte zur Realität keinen Unterschied feststellen. Wichtig war das Zifferblatt! Ein ungewöhnlich großes Rund, aus Holz gefertigt von einem Meister seines Fachs. Die römischen Ziffern waren auch im Licht der Kerzen zu erkennen, das sich gleichzeitig auf dem einen Zeiger widerspiegelte.
Der Zeiger war gleichzeitig eine Mordwaffe. Sehr wohl erkannte ich die dunklen Flecken auf dem Metall und auch die beiden hohen Spitzen. Perfider und perfekter konnte ein Mordinstrument nicht sein. Ich konnte nicht anders und mußte mich einfach schütteln. Lizzy Lamotte bewegte sich um die Uhr herum wie ein Gespenst. Es war nichts zu hören. Sie schien über dem Boden zu schweben, anstatt ihn zu berühren, und sie hatte den Kopf leicht zurückgelegt, um das Zifferblatt anschauen zu können. Sie lächelte. Ein Lächeln, das mir wissend, verloren und gleichzeitig gefangen vorkam. Es vereinigte alles. Es sagte mehr als irgendwelche Erklärungen. Für mich stellte es die intensive Verbindung zwischen Lizzy und dieser verdammten Leichenuhr dar. Es brannten fünf Kerzen. Sie steckten in Haltern oder Leuchtern, waren gut verteilt, so daß sie nur diese eine Lichtinsel innerhalb der Dunkelheit schufen. Mit einem langen Schritt näherte sich Lizzy der Ballustrade und schaute auf mich herab. Die Beretta hatte sie nicht aus der Hand gelegt. Durch sie unterstrich sie den nächsten Befehl. »Komm zu mir!« »Jetzt?« »Ja.« Ich hatte noch eine Frage. »Was ist mit den beiden Toten hier. Sie liegen in zwei Särgen und…« »Sie machten einen Fehler, ebenso wie Jules Vangard.« »Wer ist das?« »Ihm gehörte der Polo. Ich habe ihn in den Kofferraum geklemmt. Werde ihn aber bald wegschaffen.« Ähnliches hatte ich mir schon gedacht, schluckte meine Wut runter und wollte wissen, welche Fehler die Männer begangen hatten. »Das ist ganz einfach, Sinclair. Sie glaubten, mich besitzen zu können. Aber ich lasse mich von ihnen nicht vorführen, das habe ich nicht nötig. Ich bin diejenige, die erklärt, wo es langgeht. Ich habe sie benutzt. Als sie dann die Beziehung intensivieren wollten, mußten sie sterben.« »Ich sah das viele Blut auf ihrer Kleidung. Hast du sie getötet?« »Nein, es war die Uhr!« Das hatte ich wissen wollen. Sie mußten auf die gleiche Art und Weise ums Leben gekommen sein wie auch Chronos, und das hatte er mir in meinen Träumen gezeigt. Es stand auch für mich fest, daß ich der einzige war, der Lizzy Lamottes Mordterror und den der Leichenuhr stoppen konnte. Die Uhr war vorhanden. Sie mußte zerstört werden, weil sie den finsteren Mächten geweiht war. Durch die Kraft Luzifers war es ihr gelungen, die Zeiten zu verändern oder mit ihnen zu spielen. Nur standen meine Chancen ziemlich schlecht, denn Lizzy besaß die Waffe.
»Komm schon!« forderte sie mich auf. Okay, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird klappen. Ich lächelte kalt und ging auf die Treppe zu. Das Licht von oben erreichte sie kaum, ich sah die letzten Stufen nur, über die farblich unterschiedliche Reflexe huschten. An der rechten Seite wurde die Treppe durch ein Geländer gesichert. Meine Finger glitten über den metallenen Handlauf hinweg, während ich Stufe für Stufe hochging. Meinem Verderben entgegen? Daran glaubte ich nicht. Zwar war ich kein unverbesserlicher Optimist, aber man hatte mir eine Waffe gelassen. Es war mein Kreuz, das nach wie vor verborgen unter der Kleidung hing. Es war kein Allheilmittel, aber gegen die Mächte der Hölle konnte ich es wirkungsvoll einsetzen, was auch Hector de Valois gewußt hatte. Er war einmal der Besitzer des Kreuzes gewesen. Lizzy Lamotte erwartete mich. Noch immer hielt sie die Waffe mit beiden Händen fest. Der Kerzenschein umflorte sie. Das weiße Leichenhemd hatte Flecken bekommen, die sich bewegten wie rote, gelbe und auch dunkle Inseln. Die Waffe machte jede meiner Bewegungen mit. Dann war sie auf meine Stirn gerichtet. Die letzte Stufe. Mit einem großen Schritt überwand ich auch sie, um dann vor Lizzy zu stehen. Das heißt, es befand sich noch ein genügend großer Raum zwischen uns. Eine Kugel würde mich immer erwischen, wenn ich versuchte, einen Angriff zu starten. Sie lächelte mich an. »Die Uhr«, flüsterte sie, »hast du sie nicht sehen wollen?« »Stimmt.« »Wolltest du sie nicht auch vernichten?« »Das gebe ich zu.« »Das wirst du nicht schaffen. Sie ist zu mächtig. Durch sie treibt der Geist der Hölle. Schau dir das Zifferblatt an. Ist es nicht wahnsinnig groß?« Ich brauchte nur den Kopf ein wenig nach rechts zu drehen, um dies bestätigt zu bekommen. Es war sehr groß, unnatürlich groß, höher als ein ausgewachsener Mensch. Man mußte schon die Leiter benutzen, um ihre Oberseite zu erreichen, wo sich dann die Zwölf befand, über die beide Spitzen der Zeiger hinwegragten. Mir wurde heiß, als ich daran dachte, wie viele Opfer die Uhr schon gefordert hatte. Der Name Leichenuhr paßte sehr gut zu ihr. »Gefällt sie dir, Sinclair?« »Ich kenne sie.« »Ach ja? Woher denn?«
Es wunderte mich, daß ich sie durch meine Antwort überrascht hatte. »Ja, man hat mich vor dieser Uhr gewarnt. Wirst du es glauben, wenn ich dir sage, daß sie in meinen Träumen erschienen ist? Zusammen mit einer Gestalt, die versucht hat, die Uhr oder die Zeit zu beherrschen, aber aufgeben mußte und sich durch die Uhr hat töten lassen.« »Es war Gallio!« »Ja, das stimmt.« »Ich kenne ihn.« »Woher?« Lizzy hob ihre Brauen und bewegte auch die Brauen. »Weißt du das nicht?« zischte sie. »Hat es dir dein Traumdeuter wirklich nicht erklärt?« »Nein.« »Dann will ich es dir sagen.« »Darauf warte ich.« »Ich war die Geliebte des Chronos!« Sie sprach diesen Satz voller Stolz aus, und ich mußte ehrlich zugeben, daß mich dieses Geständnis total überraschte. Sie war Gallios Geliebte? Davon hatte er mir nichts erzählt. Er hätte es sicherlich getan, wenn auch sie eine Verbindung zu dieser Leichenuhr gehabt hätte. »Du glaubst mir nicht«, stellte sie fest. Mit sicherem Blick hatte sie meine Unsicherheit erkannt. »Stimmt, denn ich bin mehr als überrascht!« »Es entspricht der Wahrheit. Chronos liebte mich. Nur wußte er nicht, daß auch ich mich dem Teufel verschrieben hatte. Ich war eine Dienerin, eine Hexe, und ich spielte für mein Leben gern mit der Zeit.« Sie lachte plötzlich und sagte: »Aber was ist schon Leben bei einer Hexe? Nein, Leben kann man das nicht nennen, denn man hat immer wieder versucht, es mir zu nehmen. Man hat mich verbrannt, nicht nur einmal, man hat mich erschlagen, man hat mich gefoltert. Ich bin verschiedene Tode gestorben, aber immer wieder zurückgekehrt, denn meine Hexenseele fand stets andere Körper. So verfolgte ich den Weg der Uhr, denn auch sie ging durch verschiedene Hände, hatte zahlreiche Besitzer, wobei ich immer in deren Nähe war. Die Leichenuhr ließ ich nicht aus den Augen, denn sie war das Erbe meines Geliebten.« »Wußte Gallio über dich Bescheid?« Lizzy hob die Schultern. »Ich weiß es nicht genau, vielleicht hatte er es geahnt, aber er hat nie mit mir darüber gesprochen. Er schied aus dem Leben, und ich blieb, denn ich war gezwungen, auf sein Erbe zu achten, und das wollte ich nie aus den Augen lassen. Luzifers Geist hielt auch mich umfangen. Nach meinen Toden wurde ich dort wiedergeboren, wo sich auch die Leichenuhr befand. So lernte ich die verschiedenen Besitzer kennen und wickelte sie dabei um den Finger.« »Dann gehört dir die Uhr nicht?«
»Nein.« »Baresi?« »Ja, er ist der neue Besitzer. Aber frag mich nicht, wie er an sie herangekommen ist. Er steht übrigens voll und ganz auf meiner Seite, und ich habe ihn in die Funktionen der Leichenuhr eingeweiht. Er weiß genau, daß er durch sie die Chance hat, andere Zeiten zu erleben, daß er hineintauchen kann in die Vergangenheit, um die Szenen dort so plastisch zu erleben, als würden sie in der Gegenwart stattfinden. Das Vergnügen ist dir noch nicht zuteil geworden – oder?« »Nein, noch nicht.« »Das wird es auch nicht.« Sie sagte es bedauernd, und ich fragte nach dem Grund. »Weil ich nicht bis Mitternacht warten möchte.« »Funktioniert die Magie erst dann?« »So ist es. Nur von Mitternacht bis zum Ende der ersten Tagesstunde entwickelt die Uhr ihre gesamte Macht. Dann erlebt derjenige, der auf den Zeiger vertraut, die Zeitreisen. Jede Minute kann ihn in eine andere Zeit bringen, doch er darf den Zeiger nicht loslassen, der ihm zum Segen geworden ist.« »Wann wird er zur Mordwaffe?« »Man brauchte sich nur auf ihn zu legen und sich aufspießen zu lassen.« »Das habe ich gesehen.« »Bei wem?« »Ich sah Chronos.« »Ach ja?« »Sicher. Er hat mir den Weg gezeigt. Er erschien in meinen Träumen, denn er fand keine Ruhe. Er war ein Wanderer zwischen den Welten. Er weiß nicht, wohin er gehört, und er hat ein schlechtes Gewissen, daß es ihm nicht gelungen war, die Leichenuhr zu vernichten. Er hat Hilfe gesucht, er hat sie nicht bekommen, aber er wußte von mir, und ich bin jetzt hier.« »Um das zu vollenden, was mir nicht gelang?« »So ist es.« »Irrtum, Sinclair. Auch wenn du der Nachfolger eines Hector de Valois bist, an mir kommst du nicht vorbei. Ich werde es nicht zulassen, daß du die Uhr in deine Gewalt bringst oder sie zerstörst. Das Gegenteil wird eintreten, sie wird dich vernichten, damit ich für die Zukunft freie Bahn habe. So lautet mein Plan.« »Und wie sieht er im einzelnen aus?« Wir kamen zur Sache, das wußte auch Lizzy. Sie hob die Waffe an und zielte genau zwischen meine Augen. »Das kann ich dir sagen. Du wirst hochsteigen und dich auf den Zeiger legen. Hat es dir Chronos nicht schon vorgemacht?« »Hat er!«
»Dann bist du sein Nachfolger…« *** Tonio Baresi wunderte sich darüber, wie laut sich der Schuß anhörte. Dabei hatte er doch ein Kissen vor die Mündung gepreßt, das den Schall dämpfen sollte. Dann spürte er den Schmerz! Er war böse, messerscharf und zerriß seinen Rücken. Er lähmte jede seiner Bewegungen, und er spürte gleichzeitig, wie schnell ihn die Kraft verließ. Die Waffe wurde für ihn zu schwer. Er schaffte es nicht einmal, den Finger zu krümmen, und genau da, wurde ihm bewußt, daß nicht er geschossen hatte, sondern ein anderer. Eine Kugel steckte in seinem Rücken! Sie raubte ihm den Atem, sie hatte ihn vernichtet, sie war zu einem tödlichen Messer geworden, das dabei war, seinen Körper in zwei Hälften zu teilen. Er hörte sich selbst stöhnen und spürte im selben Augenblick den Geschmack von Blut auf der Zunge. In seinem Rücken hörte er Schritte. Ungewöhnlich laut und deutlich vernahm er sie, dann wirbelte plötzlich der Boden wie ein rasender Strudel auf ihn zu. Bevor der ihn verschlingen konnte, spürte er noch den Druck an seinem Körper. Jemand war plötzlich da, der ihn auffing. Wenig später fand er sich auf dem Boden wieder, auf der Seite liegend, und ein Gesicht beugte sich über ihn. Baresi kam es vor wie ein gewaltiger Schatten, die Züge waren für ihn nicht genau zu erkennen, weil sie immer wieder verschwammen. Aber in seiner Erinnerung flammte etwas auf. Er wußte plötzlich, daß er das Gesicht schon mal gesehen hatte. Es gehörte einem Mann, der gekommen war, um ihn zu befragen. »Bleiben Sie ruhig liegen, Baresi. Sie sind verletzt.« Er versuchte zu sprechen. Beim ersten Anlauf schaffte er es nicht, beim zweiten brachte er den Satz mehr als mühsam über die Lippen. »Ich werde sterben! Du hast mich gekillt.« Suko kniete neben ihm und schüttelte den Kopf. Auf dem Bett bewegte sich Tom Packard stöhnend. Er hatte nicht gewußt, in welch einer Gefahr er sich befunden hatte. Auch in den folgenden Minuten würde er sich nicht zurechtfinden. »Es war im letzten Augenblick, Baresi. Ich habe Sie vor einer Dummheit bewahren müssen. Es tut mir leid, daß mir nicht mehr die Zeit blieb, genau zu zielen. Als ich kam, war es bereits nach Mitternacht. Sie hätten einen anderen Weg gehen sollen. Nichts auf der Welt ist es wert, ein Menschenleben zu opfern.« Baresi wunderte sich darüber, daß er die Worte verstand. Er konnte sie auch nachvollziehen und darüber nachdenken, und er schaffte es sogar,
eine Antwort zu geben. »Nein, Irrtum. Es gibt die Uhr. Sie ist jedes Opfer wert. Sie ist das Besondere, das mir und Lizzy gehört. Wir beide beherrschen sie. Die Uhr ist ein Wunder, eine Erinnerung an die Magie der Hölle. Durch sie sind wir in der Lage, uns Träume zu erfüllen. Sie muß geschützt werden. Kein Fremder darf sie bekommen, und Tom hat schon zuviel erzählt. Er durfte nicht mehr länger leben.« »Jetzt wird er leben!« »Die Uhr auch!« »Ich weiß nicht, ob John Sinclair das zulassen wird«, erklärte der Inspektor. Der Direktor überlegte. Seine Augenlider flatterten dabei. »John Sinclair?« »Ja, Ihr Helfer.« »Gehört er zu Ihnen?« Suko nickte. »Er ist mein Freund und Kollege, Baresi. Wir haben die Spur der Leichenuhr gefunden, und wir werden sie gemeinsam vernichten. Die alten Zeiten sind endgültig vorbei. Die Leichenuhr stellt für die Menschen eine zu große Gefahr dar. In der Vergangenheit hat es Hector de Valois nicht geschafft, doch John Sinclair ist sein Nachfolger. Er wird Hectors Arbeit beenden.« Baresi hatte zugehört. Er schwitzte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Gleichzeitig fror er, seine Zähne schlugen aufeinander. Der Schüttelfrost blieb, trotzdem stellte Suko eine Frage. Er wußte, daß er John Sinclair dort antreffen würde, wo sich die Uhr befand. »Wo steht die Uhr?« Baresi bewegte die Lippen. Suko sah kleine Blutbläschen auf ihnen zerplatzen. Die Kugel aus der Beretta mußte die Lunge verletzt haben. »Nie… Niemals…« »Wo steht sie?« »Auf dem Platz…« »Im Kabinett?« Baresi schaffte ein Grinsen. »Ja, mein Vater und ich haben eine Sammlung. Die Uhr gehört dazu. Ich fand heraus, was mit ihr los war. Durch Lizzy, die bei mir erschien. Sie klärte mich auf. Sie ist eine wunderbare Frau, die sich auch in der Vergangenheit auskennt, denn sie hat bereits mehrmals gelebt. Sie kennt Chronos, sie war seine Geliebte. Sie weiß viel, sie weiß alles…« »Ist sie bei Sinclair?« Der Direktor riß den Mund auf. Er wollte Luft holen, was er nicht mehr schaffte. Plötzlich war er starr geworden. Der Mund stand offen. Ein Blutfaden rann über seine Unterlippe und >teilte< das Kinn. Tonio Baresi war tot! Suko atmete tief durch, bevor er sich erhob. Das hatte er nicht gewollt. Das Schicksal hatte ihm jedoch keine Sekunde gelassen, sorgfältiger zu
zielen. Er war nicht zu spät gekommen und hatte nur durch Glück herausgefunden, wo sich Tom und der Direktor überhaupt aufhielten. Ihre Stimmen waren durch die Wand des Wagens nach draußen gedrungen. Zu spät für Baresi, früh genug für Tom Packard. So hatte das Schicksal sich trotz allem irgendwo wieder gerecht gezeigt und ausgeglichen. Das Bett, auf dem Tom lag, konnte er mit einem Schritt erreichen. Packard stöhnte noch immer. Als Suko ihn anfaßte und auf den Rücken drehte, da sah er die Kopfwunde. Das Blut war durch die Haare gesickert, hatte auf dem Laken einen feuchten Fleck hinterlassen. Die Lippen des Mannes zitterten. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, doch das Röcheln blieb in seiner Kehle stecken. »Tom…« Packard hörte die Stimme. Er zuckte auch zusammen, aber er schaute an Suko vorbei. »Tom… ich bin es.« Da richtete er seinen Blick in die Höhe. Er schaute in Sukos Gesicht, und in seinem breitete sich plötzlich das Erkennen aus. »Du… du bist es?« hauchte er. »Ja, ich…« Tom verzog die Lippen. »Ich wollte zu Lizzy«, flüsterte er. »Da hat mich Baresi…« »Ich weiß, daß er dich niedergeschlagen hat. Er wollte dich auch töten. Ich war schneller.« »Warum töten?« »Das spielt jetzt keine Rolle für dich. Ich möchte dich nur bitten, hier im Wagen zu bleiben, bis ich dir Bescheid gebe. Es ist alles in Ordnung, Tom. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Tom begriff nicht. Dann verlor er sogar das Bewußtsein. Es war wohl so am besten. Suko richtete sich auf. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Für ihn war das Kuriositätenkabinett jetzt das Ziel aller Wünsche… *** Lizzy, die Geliebte des Uhrmachers Chronos, schoß, und die Kugel huschte so nah an meiner Stirn entlang, daß ich sogar den Luftzug spürte. Damit hatte sie mir bewiesen, daß sie tatsächlich mit der Waffe umgehen konnte. Als das Echo des Schusses verklungen war, befahl sie: »Kletter die Leiter hoch!« »Das wollte ich auch!« »Schneller!«
Verständnis konnte ich für sie zwar nicht aufbringen, aber ich hätte an ihrer Stelle kaum anders gehandelt. Sie wollte mich so schnell wie möglich tot sehen. Ich kletterte an der Seite des Zifferblatts in die Höhe. Dann sah ich es aus der Nähe. Zudem reichte der Kerzenschein aus, um zu erkennen, wie stabil das Material doch war. Sogar das Zifferblatt war aus massivem Holz gefertigt. Ich hatte den Eindruck, in eine dumpfe Totengruft zu steigen. Immer wenn ich Luft holte, schmeckte ich Staub, Moder und das Blut auf meiner Zunge. Gern hätte ich einen Schluck getrunken, doch ich dachte über andere Dinge nach als über ein Glas Wasser. Schon jetzt machte ich mir Gedanken, wie ich mit dem Leben davonkommen konnte. Wenn ich nach links schaute, sah ich Lizzy unter mir stehen. Sie lauerte auf ihrer sicheren Plattform und stand im Schatten. Die Waffe zielte dabei auf meinen Rücken. »Geh nur weiter…« »Ich habe es gleich geschafft!« »Das sehe ich.« Noch zwei Sprossen mußte ich auf der Holzleiter hinter mich bringen. Zum Greifen nahe sah ich bereits den über den Rand hinwegragenden Zeiger. Blutverklebt – eine tödliche und hinterlistige Waffe, die in dieser Art einmalig war. Sie wartete auf das nächste Opfer, auf mich! Ich war stehengeblieben und hörte die schleifenden Geräusche unter mir, als Lizzy Lamotte näher kam. »Du wirst dich jetzt nach vorn bewegen und dich auf den Zeiger legen. Beide Spitzen werden in deine Brust dringen und dich langsam aufspießen, und ich werde zusehen. Es ist die Zeit des Vernichtens. Du wirst keine Zeiten durcheilen, denn nur zwischen Mitternacht und dem Ende der ersten Morgenstunde greift die Kraft der Leichenuhr.« Ich hatte Lizzy angeschaut und dabei in die Mündung meiner eigenen Pistole gesehen. Mir blieb nur die Wahl zwischen einer Kugel und dem langsameren Sterben auf dem Zeiger. Die Kugel war schneller. Sollte ich sie hinnehmen? »Noch etwas«, sagte Lizzy. »Ich weiß, worüber du nachdenkst, doch eine falsche Bewegung deinerseits, und es ist vorbei.« »Ich habe verstanden.« »Dann leg dich auf den Zeiger!« Schweiß bedeckte meine Stirn. Es war eine verfluchte Situation. Ich hatte ja damit gerechnet, an mein Kreuz heranzukommen, doch Lizzys Kontrolle war einfach zu stark gewesen.
Mit beiden Händen umfaßte ich den Rand der Leichenuhr. Das Holz war glatt wie ein Kinderpo. Ich duckte mich und streckte dabei meinen Körper. »Ja, so ist es gut, Sinclair!« kommentierte Lizzy meine Versuche. »Du stellst dich wirklich geschickt an.« Ich schwieg. Jedes Wort hätte mich abgelenkt und hätte zudem auch Kraft gekostet. Die linke Hand löste ich vom Holz, machte den Arm lang und umfaßte zum erstenmal den Zeiger. Ich spürte unter mir nicht nur das glatte Metall, sondern auch die Blutschicht, die sich darauf ausgebreitet hatte. Sie hatte auf der Oberseite eine Kruste bekommen, die durch den Druck meiner Hand brach. Es schüttelte mich innerlich, als das alte Blut meine Hand verschmierte. Ich mußte mich von der Vorstellung befreien, daß hier Menschen gestorben waren. »So ist es gut, Sinclair! Mach weiter.« Bäuchlings lag ich auf dem Rand des Zifferblatts. In Magenhöhe spürte ich den Druck. Mir war speiübel, auch der Schwindel kehrte zurück. Er brachte meine sichtbare Welt durcheinander und teilte mir eben auf seine Weise mit, wie wenig fit ich war. Konnte das noch gutgehen? Ich mußte an mein Kreuz herankommen. Auf der Brust lag es, war körperwarm geworden, hatte sich aber nicht gemeldet, denn die Uhr strahlte zu dieser Zeit nichts Böses ab. Auch der Zeiger bewegte sich nicht, er ragte in die Höhe. Erst um Mitternacht würde es gefährlich werden. Meine Kehle war noch immer trocken. Die schlechte Luft sorgte für eine bleibende Übelkeit. Im Prinzip hatte ich die ideale Position schon erreicht, was auch Lizzy Lamotte auffiel, denn sie befahl mir, mich auf den Zeiger zu legen. »Tu es, Sinclair! Tu es während der nächsten Sekunden!« »Nein!« »Willst du die Kugel?« Ich zögerte diesmal mit der Antwort. Die davor hatte ich schnell geben können, und das nicht ohne Grund. Denn hinter Lizzy, wo sich der Schein der Kerzen in der Dunkelheit verlor, begann die Dunkelheit zu flimmern und sich zu bewegen. Wie aus dem Nichts entstand dort eine Gestalt. Lizzy duckte sich, als hätte sie einen eiskalten Hauch gespürt, der über ihren Nacken kroch. Sie war plötzlich verunsichert, ich aber wußte Bescheid und faßte auch wieder Hoffnung, denn die weißgraue Gestalt kannte ich aus meinen Träumen. »Dreh dich um, Lizzy!« brüllte ich sie an.
Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Mit einem Trick rechnete sie natürlich, gleichzeitig hatte auch sie gespürt, daß etwas nicht stimmte. Die Gesichtszüge entglitten ihr. »Los, mach schon!« Sie fuhr herum. Und sie sah Chronos! *** Er stand auf der Plattform wie auf einer Bühne. Lizzy schrie vor Wut auf. Ihr Schrei erreichte meine Ohren, und die kurze Pause gab mir Gelegenheit, mein Kreuz hervorzuholen. Ich mußte es einfach schaffen, solange Lizzy durch Gallio abgelenkt war. »Du!« rief sie. Chronos rührte sich nicht. »Du bist ein Gespenst!« schrie sie ihn an. »Du gehörst nicht hierher, obwohl du einmal mein Geliebter gewesen bist. Jetzt aber gehört die Uhr mir! Hast du verstanden? Sie gehört mir – mir allein! Ich bin ihre Herrin, denn ich will sie nicht zerstören. Ich habe mich mit Luzifer verbündet. Ich liebe diese Leichenuhr, und ich werde sie immer lieben. Daran kann und wird niemand etwas ändern, auch du nicht, verfluchter Gallio! Du warst zu schwach, um die Uhr zu beherrschen, du hast dich nicht getraut, du bist zu klein gewesen, was mir nicht passiert. Ich bin, ich werde sein, ich stehe unter dem Schutz der Hölle, und ich werde immer wieder die erneute Geburt erleben, hörst du?« Chronos schwieg! Ich hing in meiner unbequemen Lage und versuchte noch immer, das Kreuz in die Hand zu bekommen, was gar nicht so einfach war, denn der Pullover war mir im Weg. Die Halskette hatte ich bereits mit zwei Fingern umfaßt, der Rest mußte auch noch zu schaffen sein. Dann bekam ich Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, weil ich mich nur noch mit einer Hand festhielt. »Was willst du hier?« schrie Lizzy. »Geh zurück in die Welt der Toten, wo du nie mehr Ruhe finden sollst. Hier will ich dich nicht mehr haben!« Chronos gab keine Antwort. Er schien auch nicht auf telepathischem Weg mit ihr Kontakt aufnehmen zu wollen, er stand nur da. Kein Laut war zu hören, als sich das Gespenst aus der Vergangenheit bewegte. Selbst Lizzy bekam so etwas wie Furcht, denn sie wich vor ihm zurück. Chronos ließ sich nicht beirren. Er hatte etwas gutzumachen, und er würde es tun. Sie schoß! So gut, wertvoll und sicher geweihte Silberkugeln auch waren, gegen Geister richteten sie nichts aus. Die waren feinstofflich, und auch hier schlug die Kugel durch den Körper. Sie hielt die wie mit Puderzucker
bestreut wirkende Geistergestalt nicht auf, die endlich ihre Totenruhe finden wollte. Das war auch Lizzy klargeworden. Nur wollte sie nicht aufgeben und fuhr wieder herum. Um Gallio kümmerte sie sich nicht, es gab ja noch mich. Ich hatte endlich mein Kreuz frei, als ich ihre Bewegung sah. Sie entdeckte mich und sah, daß ich mich nur mit einer Hand festhielt. In der anderen hielt ich das Kreuz, und ich wollte es ihr entgegenschleudern. Dabei mußte ich eine gewisse Entfernung überbrücken. Ich konnte es nicht aus dem Handgelenk werfen, holte etwas aus und erreichte dadurch eine Gewichtsverlagerung. Was ich hier so langsam berichte, ging in Wirklichkeit ziemlich schnell. Da wurden mehrere Bewegungen fast zu einer, weil sie zeitgleich abliefen, und ich mutete mir, ohne es selbst nachvollziehen zu können, einfach zu viel zu. Ich hatte meine instabile Lage vergessen und rutschte ab. Da ich schon zum Wurf angesetzt hatte, fiel ich mit der Brust genau auf den Zeiger zu… *** Suko hoffte nur, daß er diesmal nicht auch zu spät kommen würde. Bis zu seinem Ziel waren es nur wenige Schritte. Er verlor noch Zeit, weil er an der Vorderseite des Gebäudes entlanglief. Dort konnte er keinen Eingang entdecken, wenigstens keinen, der offen war. Aus einer gewissen Entfernung hörte er die Stimmen der Zirkusleute. Es war ihm auch egal, ob sie ihn entdeckten. Er sah zu, daß er so schnell wie möglich auf die Rückseite gelangte. Seine Füße bewegten sich stampfend über den nassen Rasen. Der Untergrund war rutschig, und an der Rückseite des Baus schimmerten kleine, mit Wasser gefüllte Mulden wie große Augen. Suko sprang über ein Hindernis hinweg und hatte endlich die schmale Tür gesehen. Er atmete auf, riß sich gleichzeitig zusammen. Er beging nicht den Fehler, wie ein Irrer in diesen Bau zu stürmen. Zu tödlich konnten die Überraschungen sein, die ihn dort erwarteten. Er zerrte die Tür weiter auf, um sich durch den Spalt in die muffige Düsternis zu schieben. Suko stieg ein penetranter Geruch in die Nase. Er sah Licht und hörte Stimmen. Lizzy und sein Freund John Sinclair unterhielten sich. In diesem Augenblick fiel dem Inspektor ein Stein vom Herzen. Die Leichenuhr hatte noch kein neues Opfer bekommen. Er atmete scharf aus. Mit ausgestreckten Armen ging er vor. Hindernisse erschienen vor und neben ihm. Er wußte nicht, um was er sich alles
herumwand, für ihn war wichtig, dorthin zu gelangen, wo sich die Lichtquelle befand. Durch Glück und Zufall fand er den normalen Weg für Besucher. Suko turnte über den Zaun, hörte alles deutlicher und begriff auch, daß es seinem Freund nicht besonders gut ging. Dann fiel ein Schuß! Suko blieb beinahe das Herz stehen. War John getötet worden? Er hätte beinahe vor Wut geschrien, beherrschte sich und dachte dabei an seine Aufgabe. Er mußte weiter und dieses verdammte Wesen vernichten. Noch eine Kurve, er sah die Treppe, und als er dann nach oben schaute, entdeckte er die vom Kerzenschein beleuchtete Szenerie. Ihm stockte der Atem, denn er war in dem Augenblick eingetroffen, wo sich alles veränderte. Über die weiße Gestalt dachte er nicht nach, er sah nur Lizzy Lamotte und vor allen Dingen seinen Freund John, der oben auf dem Zifferblatt der Uhr herumturnte, sogar sein Kreuz festhielt, doch nicht dazu kam, es einzusetzen. Er rutschte ab, und er fiel genau auf die beiden tödlichen Zeiger zu! *** Mein Gott, ich sterbe! Dieser Ruf jagte durch meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, von einer Flamme vernichtet zu werden. Aufgespießt und von Blut besudelt. Das endgültige Aus. Wieso es nicht dazu kam? Ich konnte es selbst kaum fassen, es war wohl der reine Überlebenswille, der mich reflexartig hatte handeln lassen. Die Zeiger hatten meine Kleidung bereits berührt, als ich mir den Ruck und die gleichzeitige Drehung gab. Die Spitzen hakten sich in der Lederjacke fest und durchdrangen sie dann. Da bewegte sich der Zeiger! Ich hörte Lizzys irren Schrei. Plötzlich war mir klar, daß mir in dieser Lage auch mein Kreuz nicht mehr half. Ich würde es nicht einsetzen können, Lizzy konnte schießen. »Ich knall dich ab!« brüllte sie. Und der Schuß fiel! *** Treffer? Suko wußte es nicht. Er wollte nur retten, was noch zu retten war. Er flog die Stufen hoch, um die Plattform zu erreichen, wo die Frau in ihrem Totenkleid stand.
Auch sie hatte damit gerechnet, daß John Sinclair durch den Zeiger aufgespießt werden würde, und sie war um so enttäuschter, daß er hautnah an dieser mörderischen Waffe vorbeirutschte. Sie brüllte wütend auf. Die nähere Umgebung interessierte sie nicht, deshalb sah sie auch nicht den heranjagenden Inspektor. Lizzy richtete ihre Waffe gegen die hängende Gestalt am Zeiger, die sie nicht verfehlen konnte. John war wehrlos. Sie drückte ab. Suko war schon auf dem Weg. Die letzten beiden trennenden Schritte hatte er durch einen gewaltigen Hechtsprung überwunden und prallte genau im richtigen Moment gegen die Frau. Zwar verließ das Geschoß noch den Lauf, aber es jagte schräg in die Decke und nicht in einen Körper. Lizzy war so überrascht, daß sie zur Seite taumelte, sich um die Achse drehte, kein Ziel dabei fand und von der Brüstung aufgehalten wurde. Bevor sie die Beretta auf ein Ziel richten konnte, hatte Suko zugetreten. Seine Fußspitze jagte unter ihr Gelenk. Nicht nur der rechte Arm schnellte in die Höhe, die Beretta machte die Bewegung mit und wurde ihr durch die Wucht aus den Fingern gerissen. Sie drehte sich in der Luft und landete in sicherer Entfernung auf der Plattform und blieb dort liegen. Lizzy starrte ihr nach. Ein Nichtbegreifen stand in ihrem Gesicht. Suko aber packte zu und riß die Frau herum. Wuchtig schleuderte er sie auf den Rücken. Lizzy schrie. Kein Schrei der Angst, sondern der Wut und des reinen Hasses. Ihre Augen leuchteten in einer kalten Farbe, und Suko hatte den Eindruck, das eisige Gesicht des obersten Dämons Luzifer darin zu erkennen. Es glitzerte. Ihn selbst überfiel ein kalter Schauer. Er wußte nicht, ob er es bei Lizzy mit einem Menschen oder einem dämonischen Wesen zu tun hatte, wollte aber auf Nummer Sicher gehen und zog seine Dämonenpeitsche hervor. Bevor er noch den Kreis damit hatte schlagen können, schnellte Lizzy wieder hoch. Sie war noch längst nicht fertig. Sie wollte und sie würde auch kämpfen. Der nächste Tritt schleuderte sie wieder auf die Planken. Sie brüllte. Grüner Schaum stand plötzlich vor ihrem Mund. Die Haut lief rot an, als würde dicht darunter ein höllisches Feuer brennen. Damit rechnete Suko sogar, für ihn war die Person kein Mensch mehr, sondern zumindest eine verfluchte Hexe. Sie fuhr in die Höhe. Es war ein Vorgang, den Suko kaum fassen konnte. Eine andere Kraft spielte mit ihr, schleuderte sie hoch. Die Hexe breitete dabei die Arme
aus. Die Haare standen aufrecht. Rote Flämmchen huschten zwischen den einzelnen Strähnen hin und her. Das Gesicht sah Suko nur mehr entfernt als menschlich an. Es war eine eklige Fratze, und aus den Augenhöhlen quoll Schleim. Er rann an ihren Wangen entlang und verschwand im offenen Mund. Lizzy hatte ihre wahre Gestalt gezeigt und bewiesen, daß sie zur Hölle gehörte. »Fahr zur Hölle!« brüllte Suko und drosch mit der Dämonenpeitsche auf die Gestalt ein. Der Zeitpunkt war außerordentlich günstig gewesen, denn Lizzy Lamotte fiel auf Suko zu. Sie wollte ihn mit den eigenen Händen zerreißen, aber die drei Riemen wickelte sich um ihren Körper. Suko zurrte sie fest. Lizzy hing wie eine Gefangene darin. Sie prallte zu Boden, tickte dort auf, und die drei Riemen umklammerten sie noch immer. Das Wesen heulte und warf sich hin und her. Aus ihrem Körper, der vor Sukos Augen zu einem stinkenden Etwas vermoderte, stieg ätzender Rauch hervor. Lizzy verging. Ihre Kraft fehlte somit der Leichenuhr. Suko löste die drei Riemen von der weichen, beinahe schon gallertartig gewordenen Masse, drehte sich um, denn das zweite Problem, John Sinclair, war noch nicht gelöst… *** Ich hing an dem verdammten Zeiger fest. Beide Spitzen schauten aus meiner Jacke hervor. Durch mein Gewicht war er nach unten gerissen worden und stand praktisch auf halb eins. Dann sah ich Chronos. Die weißgraue Gestalt schwebte herbei und schaffte es, die Botschaft loszuwerden. >Nicht Hector de Valois, sondern du wirst sie vernichten. Ich danke dir, ich habe meinen Frieden gefunden…< Vor meinen Augen löste sich die schwebende Gestalt auf. Sie war eingegangen ins Reich der Toten. Für immer. Mein Problem aber blieb. Ich blickte nach unten. Suko hatte den Kampf gegen die Hexe gewonnen. Sie lag wie ein dicker Klumpen am Boden und hatte ihre Schönheit vollends verloren. Sie war vernichtet. Das war mir noch zu wenig. Ich wollte, daß auch die Uhr zerstört wurde. Aber wie? Mein Kreuz – die Formel – Gut gegen Böse! Mit lauter Stimme rief ich: »Terra pestem teneto – salus hic maneto!«
Ich hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als der Horror begann. Die Uhr spielte plötzlich verrückt. Eine mächtige Kraft löste sich plötzlich, eine Kraft, die stärker war als ich. Es riß auch mich in die Höhe, als sich der Zeiger wild drehte. Es wurden Energien frei, die ich nicht kontrollieren konnte. Ich schaffte es auch nicht, mich dagegenzustellen. Ich wurde hochgezerrt, wieder nach unten gestoßen, abermals in die Höhe gerissen, bevor das Spiel wieder von vorn begann. Und aus der Uhr löste sich das Böse. Ich spürte den immensen Druck einer mächtigen Gestalt und sah plötzlich das kalte Gesicht Luzifers. Es war ein Antlitz, das ich nie in meinem Leben vergessen werde. So kalt, so menschenverachtend, blaß und trotzdem farbig, von einem eisigen Blau unterlegt. Ein Gesicht, das eigentlich keines war, denn es lebte nicht. Es war nur brutal! Ich hörte das Reißen in meiner Nähe. So knackte Holz, und das Gesicht war auf einmal weg. Diesmal erwischten mich die mechanischen Kräfte. Der Zeiger konnte sich nicht mehr am Zifferblatt halten. Er riß ab. Nicht sofort, in mehreren Intervallen, damit ich mich schon auf den Fall einstellen konnte. Ich spürte das Rucken am Arm, und der verfluchte Zeiger drehte sich dabei immer weiter. Wann würde er endlich brechen? Er brach nicht, die Uhr fiel auseinander, und ich raste in die finstere Tiefe. In den letzten Sekunden hatte ich von der eigentlichen Umgebung nichts mehr sehen können und hatte auch nicht mehr an die Plattform gedacht. Auf sie raste ich zu. Der Aufprall war hart. Er raubte mir fast die Luft. Ich spürte die helfenden Hände, die mich abstützten. Mein Freund Suko war mir entgegengelaufen, und ich hatte mich sogar – aus welchen Gründen auch immer – von diesem verdammten Zeiger gelöst. Dabei hatte er seine Richtung geändert und war mit beiden Spitzen in Lizzy Lamottes Überreste hineingerast. *** Suko hatte mir auf die Beine geholfen und mich auch beim Verlassen der Plattform unterstützt. Von unten her schaute ich noch einmal zurück. Es war schon seltsam, aber das Licht der Kerzen hatte den Horror überstanden. Sie brannten noch, und ihr Schein strahlte auch nach oben. Nur traf er diesmal kein
Ziel mehr, es sei denn, man sah die Decke als neues Ziel an, über das Schatten huschten. Die Leichenuhr gab es nicht mehr! Ich nickte. »Wir haben es gepackt, Suko.« Dann lachte ich. »Verdammt noch mal, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Sie hat zum Schluß verrückt gespielt und ihre dämonische Kraft ausgespien. Luzifers kleines Erbstück wird kein Menschenleben mehr kosten, darauf kannst du dich verlassen.« »Ja, dein Kreuz!« Ich hob die Schultern. »Nicht nur das«, sagte ich. »Stell du dein Licht nicht unter den Scheffel. Wenn du nicht die Hexe vernichtet hättest, wäre ich durch die eigene Waffe getötet worden.« Die Worte machten Suko verlegen. »Ach so, ja, Waffe«, sagte er und reichte mir die Beretta. »Ich habe sie für dich aufgehoben.« »Danke.« »Hör auf.« Wir verließen das Kuriositätenkabinett. Auf dem Weg ins Freie berichtete Suko mir, was ihm widerfahren war. Ich war nicht überrascht, daß auch Tonio Baresi mit der Hexe zusammengearbeitet hatte. Beide hatten versucht, die Zeit und auch die Menschen zu beherrschen, doch zum Glück läßt der Liebe Gott die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Einer mußte ja den Menschen ihre Grenzen aufzeigen. Als wir endlich nach draußen traten, schien die Sonne. Ich hatte den Eindruck, als würde sie mir zulächeln und mich in einem neuen Leben willkommen heißen…
ENDE