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DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Das Reich der Pikten ist von Spaltung ebenso bedroht wie von Invasoren. In dieser dunklen Zeit voller Gefahren und großer Not wird der Knabe Bridei, Sohn eines walisischen Königs, dem mächtigen Druiden Broichan zur Erziehung überantwortet. Abgeschottet von der Außenwelt lernt der Junge von seinem strengen Pflegevater alles über die geheimnisvolle Religion der Pikten, über Magie und Politik. Als eines Nachts ein Feenkind auf Broichans Schwelle abgelegt wird, fürchtet der Druide, dass dieses Geschenk des unberechenbaren Guten Volks seine Zukunftspläne für Bridei gefährden könnte. Bridei jedoch kümmert sich um das Findelkind, nennt das dunkelhaarige, zarte Mädchen Tuala, und die beiden werden die besten Freunde. Aber die idyllischen Tage der Kindheit gehen vorbei, und bald müssen sich Bridei und Tuala dem stellen, was der Druide wirklich für sie bereithält: Bridei wurde auserwählt, der neue König der Pikten zu sein, derjenige, der das Land eint und die Angreifer zurückschlägt. Und so finden sich Bridei und Tuala, deren Liebe zueinander erwacht ist, plötzlich inmitten komplizierter und tragischer Geschehnisse, die ihrer beiden Leben verändern und sie auseinander zu reißen droht. Während die Feen Tuala locken, in ihre Heimat zurückzukehren, muss sich Bridei den Anforderungen der Machtpolitik stellen: Diplomatie, Krieg, Verrat und Anschläge auf sein Leben. Und gute Freunde, denen er Zeit seines Lebens vertraute, stehen plötzlich gegen ihn und Tuala ... DIE AUTORIN Juliet Marillier wurde in Neuseeland geboren und wuchs in Dundein, Australien auf. Bereits seit frühester Kindheit begeisterte sie sich für keltische Musik und irische Geschichten. Heute lebt die Mutter von vier erwachsenen Kindern in der Nähe von Perth. Bereits ihr erster Roman, »Die Tochter der Wälder«, wurde zum internationalen Bestseller, und sie wurde fortan in einem Atemzug mit Marion Zimmer Bradley genannt. Juliet Marillier zählt neben Elizabeth Haydon und Jennifer Fallon zu den neuen weiblichen Stars der Fantasy.
JULIET MARILLIER
Die Königskinder UNTER DEM NORDSTERN ERSTER ROMAN Aus dem australischen Englisch von Regina Winter Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der australischen Originalausgabe: THE BRIDEI CHRONICLES BOOK 1: THE DARK MIRROR Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe 11/2005 Redaktion: Ralf Reiter Copyright © 2004 by Juliet Marillier Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung eines Motivs von Larry Rostand Karte: Animagic, Bielefeld Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-52154-4 ISBN-13: 978-3-453-52154-4 http://www.heyne.de Meinen besten Lehrern gewidmet: denen, die mir halfen, selbst zu denken KAPITEL EINS Der Druide stand in der Tür, so reglos, als wäre er aus dunklem Stein gemeißelt, und sah zu, wie die Reiter den Hügel hinaufkamen. Der Abend dämmerte. Der Schlangensee war hinter den Eichen nur als mattes Schimmern
zu sehen, und Saatkrähen flatterten im letzten Tageslicht zu ihren Schlafplätzen und stießen dabei Rufe in ihrer harschen geheimen Sprache aus. Es war Herbst; die Tagundnachtgleiche lag bereits einige Zeit zurück. In der Luft hing eine frische, blaue Kälte, die einem den Atem in der Brust erstarren ließ. Die Bewaffneten hatten nun die ebene Fläche vor dem Haus erreicht und stiegen nacheinander vom Pferd. Zunächst sah es so aus, als hätten sie den Jungen nicht mitgebracht. Der Druide schluckte seine Enttäuschung, seine Frustration und seinen Zorn herunter. Dann sagte Cinioch, der als Letzter eintraf: »Komm, Junge, beweg dich«, und Broichan entdeckte die kleine Gestalt, die vor dem Krieger saß, gut eingepackt in Wollkleidung, eine Gestalt, die die anderen rasch vom Pferd hoben und nach vorn schoben, damit der Druide sie betrachten konnte. Er war so winzig! War dieser Junge tatsächlich fünf Jahre alt, wie Anfreda ihm in dem Brief geschrieben hatte, in dem sie ihm ihre Entscheidung mitteilte? Er war doch sicher noch zu klein, um hierher nach Fortriu geschickt zu werden, -9so weit weg von daheim. Und zweifellos war er zu klein, um etwas zu lernen. Der Druide spürte, wie er zornig wurde, und zwang sich, gleichmäßiger zu atmen. »Ich bin Broichan«, sagte er mit einem Blick nach unten. »Willkommen in Pitnochie.« Das Kind hob den Kopf und ließ den Blick über Broichans Gesicht wandern, über sein dunkles Gewand, den Eichenstab mit der kunstvollen Schnitzerei und das mit bunten Bändern zu zahllosen Zöpfen geflochtene Haar. Die Lider des Jungen waren schwer; er schlief beinahe im Stehen. Es war ein langer Weg von Gwynedd hierher, sie waren zwei Monde unterwegs gewesen. Der Druide sah schweigend zu, wie das Kind sich gerader aufrichtete, das Kinn reckte, tief Luft holte und vor Konzentration die Stirn runzelte. Dann sagte der Junge mit bebender, aber klar verständlicher Stimme: »Ich bin Bridei, Sohn des Maelchon.« Er holte erneut Luft; er strengte sich gewaltig an, alles richtig zu machen. »Möge die ... die Leuchtende deinen Weg erhellen.« Er blickte mit strahlend blauen Augen zu Broichan auf; es stand Furcht darin, das war deutlich zu sehen, aber davon würde sich dieser winzige Bursche nicht abhalten lassen. Und den Göttern sei Dank, Anfreda hatte ihrem Sohn die Sprache der Priteni beigebracht. Das würde Broichans Aufgabe gewaltig erleichtern. Vielleicht war fünf ja doch nicht zu jung. »Möge der Flammenhüter dein Herz wärmen«, erwiderte Broichan, wie es die Höflichkeit verlangte. Er sah sich das kleine Gesicht genauer an. Das feste Kinn hatte der Junge von Maelchon, ebenso wie die aufrechte Haltung und den eisernen Willen, der diese müden Augen offen hielt und die auswendig gelernten Worte inmitten eines seltsamen, plötzlichen Erwachens in einer fremden Welt heraufbeschwor. Die liebreizenden blauen Augen, das lockige braune Haar und das leichte Stirnrunzeln hatte er von Anfreda. Das Blut der Priteni war stark und - 10 echt in diesem Jungen. Die Mutter hatte gut gewählt. Der Druide nickte zufrieden. »Komm«, sagte er. »Ich werde dir zeigen, wo du schläfst. Cinioch, Elpin, Urguist - gut gemacht. Euer Abendessen wartet drinnen auf euch.« Im Haus folgte der Junge Broichan schweigend an den neugierigen Blicken der Diener vorbei in die Halle, wo zwei alte Männer, Erip und Wid, und ein paar große Hunde vor dem Feuer saßen. Die Hunde hoben die Köpfe und knurrten warnend. Der Junge zuckte zusammen, gab aber keinen Laut von sich. Die alten Männer hatten einen Tisch mit einem Spielbrett und Spielfiguren aus Knochen zwischen sich stehen. Bridei betrachtete interessiert die geschnitzten Priesterinnen, Krieger und Druiden, die alle nicht größer waren als der kleine Finger eines Mannes. Er blieb einen Augenblick stehen. »Willkommen, Junge«, sagte Erip und zeigte beim Grinsen seine Zahnlücken. »Magst du Spiele?« Der Junge nickte. »Dann bist du an den richtigen Ort gekommen«, erklärte Wid und strich sich über den weißen Bart. »Wir sind die besten Spieler in ganz Fortriu. Krähenecken, Brich-die-Mauer, Vormarsch und Rückzug, wir sind Experten darin. Du siehst deiner Mutter ähnlich, Junge.« In den blauen Augen des Jungen stand eine Frage. »Das genügt jetzt«, sagte Broichan. »Komm, hier entlang.« Er würde Wid und Erip daran erinnern müssen, dass er derjenige war, der dieses Kind erzog. Brideis neues Leben begann in diesem Augenblick; der Junge musste seinen Weg beschreiten, unbehindert von dem Wissen, wer er war und was er werden sollte. Für solche Dinge war noch Zeit, wenn er erwachsen war. Sie hatten zehn Jahre, fünfzehn, wenn die Götter freundlich gesinnt waren. In dieser Zeit musste Broichan dieses Kind zu einem jungen Mann formen, der in - 11 jeder Hinsicht für die große Rolle geeignet war, die er in Fortrius Zukunft spielen sollte. Brideis Ausbildung musste makellos sein. Tatsächlich war es nur gut, dass er so früh gekommen war. Fünfzehn Jahre würden kaum genügen. »Das hier ist dein Zimmer«, sagte Broichan und stellte seine Kerze auf ein Regal. Bridei sah sich in dem kleinen Zimmer mit dem schmalen Bett, der Truhe und dem winzigen rechteckigen Fenster um, hinter dem rauschende Birken und ein Flecken dunklen Himmels zu sehen waren. »Du siehst müde aus. Schlafe jetzt. Morgen früh beginnen wir mit deiner Ausbildung.« In Pitnochie hatten alle viel zu tun. Bridei lernte bald, der grimmigen Haushälterin Mara und dem schlecht gelaunten Koch Ferat aus dem Weg zu gehen, wenn sie ihren unglücklichen Helfern Befehle zubrüllten oder sich
mit beträchtlicher Energie daran machten, den Staub aus Wandbehängen zu schlagen oder eine Hammelseite am Spieß zu drehen. Mara und Ferat stritten sich häufig, obwohl sie nie wirklich zornig wurden. Es war nur, als könnten sie sich über nichts einigen. Auch Bridei war stets beschäftigt. Broichans Unterricht war eine Herausforderung; er begann mit Pflanzen- und Tierkunde, und bald schon lernte er außerdem Übungen, die innere Ruhe und Konzentration fördern sollten. Broichan sagte ihm, dass er zwar ein paar Jahre jünger war als die Jungen, die zur Druidenausbildung in die Nemetons gingen, aber nicht zu jung, um mit dieser Arbeit zu beginnen. Eine Weile musste Bridei jeden Abend, wenn er in seinem Zimmer lag und auf den Schlaf wartete, gegen Tränen ankämpfen. Aber schon bald verblasste die Erinnerung an seine Mutter, seinen Vater und seine großen Brüder. Ein paar Dinge blieben noch: der Gürtel seines Vaters, breites, dunkles Leder mit einer Silberschnalle in Form eines Pferds. Ein süßer Duft nach Veilchen oder einer anderen Wildblume, - 12 den er mit seiner Mutter assoziierte. Als selbst diese Erinnerungen immer weiter davon drifteten, blieben ihm immer noch die Abschiedsworte seines Vaters im Gedächtnis: Gehorche deinem Pflegevater bei allem. Gehorche, lerne und weine nicht. Die Jahreszeiten vergingen, und Bridei befolgte diese Anweisung aufs Genaueste. Er freute sich, weil er den Erwartungen seines Vaters nachkommen konnte. Erip und Wid, die bei seiner Erziehung ebenfalls eine Rolle spielten, hatten ihm erzählt, wozu der Austausch von Pflegekindern gut war: Er half Familien, Bündnisse zu schließen, und ließ junge Männer stärker und nützlicher wieder nach Hause zurückkehren. Bridei fragte sich allerdings, wieso seine Familie ihn ausgewählt hatte und nicht einen seiner Brüder, und schließlich stellte er Broichan diese Frage. »Weil du der Geeignetste warst«, sagte der Druide. »Und wann werde ich wieder nach Hause zurückkehren?« Broichan sah den Jungen gelassen aus seinen dunklen Augen an. »Das ist eine Frage, die nur die Götter beantworten können, Bridei«, sagte er. »Bist du hier in Pitnochie nicht zufrieden?« »Doch, Herr.« Und das stimmte, denn er mochte den Unterricht. Er fragte sich nur manchmal, warum er hier war. »Dann stelle keine solchen Fragen mehr.« Der kahlköpfige Erip und der hakennasige Wid freundeten sich bald mit Bridei an. Die alten Männer kannten viele Tricks. Im ersten Winter lernte Bridei das Spiel mit den kleinen geschnitzten Figuren. Und Wid zeigte ihm, wie er mit dem Schatten seiner Finger an der Wand einen Raben, ein Reh und einen langohrigen Hasen darstellen konnte, wenn eine Kerze hinter ihm brannte. Während sie noch darüber lachten, produzierte Broichan mit ausdrucksloser Miene ein Schattenbild, das nie durch Hände vor einer Flamme hätte erzeugt werden können - welcher Mann, dem nur zehn Fin- 13 ger zur Verfügung standen, konnte schon einen Feuer spuckenden Drachen erzeugen, der mit ausgebreiteten Flügeln ein ganzes Heer entsetzter Krieger verfolgte? Im Frühjahr, kurz vor der Tagundnachtgleiche, ging Broichan in den Wald, um dort in Ruhe beten und meditieren zu können. Er war drei Tage weg, und während seiner Abwesenheit brachten die alten Männer seinem Pflegesohn bei, wie man einen ganzen Becher Bier ohne abzusetzen leerte. Als Bridei das zum ersten Mal versuchte, spuckte er gewaltig auf die Steinfliesen, und die Hunde mussten es auflecken. Der Druide kehrte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen und bleicher als zuvor zurück. Er sagte nichts über die Zeit seiner Abwesenheit. Aber er entdeckte rasch, was inzwischen mit Bridei geschehen war. Als Bridei am nächsten Abend zum Essen in die Halle kam, waren die alten Männer nicht mehr da. Bridei wusste nicht, dass er einsam war. Die Abschiedsworte seines Vaters bedeuteten, dass er akzeptieren musste, was geschah, dass er damit zurechtkommen und weitermachen musste. Er hatte einmal eine Familie gehabt, und sie hatte ihn weggeschickt. Erip und Wid waren nett zu ihm gewesen, und nun waren sie weg. Dahinter verbarg sich eine Lektion. Broichan sagte immer, man könne aus allem etwas lernen. In Broichans Unterricht ging es im Allgemeinen um Muster: um die sichtbaren, wie zum Beispiel, dass die Blätter an den Birken von vorsichtigem Knospen zu frischem, sich entfaltendem Grün und von leuchtend grüner Mittsommerkraft zum knisternden, trockenen Braun der Frosttage übergingen; dass sie schrumpften und sich immer noch anklammerten und dann doch fielen, um sich in zerbrechliche Skelette zu verwandeln, sich in dem üppigen Humus des Waldes zu verlieren und den Elternbaum zu nähren. Dass neue Blätter in der dunklen Zeit verborgen warteten, wie ein Traum im Hinterkopf, den man nicht recht in Worte fassen konnte. - 14 Und es gab andere Muster, die dahinter lagen, Ketten und Verbindungen so groß und kunstvoll, dass Bridei glaubte, er würde selbst ein alter Mann sein, bevor er sie wirklich verstehen konnte. Aber er klammerte sich an das, was man ihm sagte, hörte angestrengt zu und beobachtete seinen Pflegevater so genau, wie ein junges Tier die älteren beobachtet und die großen Dinge lernt: jage oder hungere, verbirg dich oder werde erbeutet, fliege oder falle. Im Lauf des ersten Jahres stand der Junge bei allen jahreszeitlichen Ritualen an der Seite des Druiden. Als Erstes kam das Torfest, das geheimste von allen, der Beginn der dunklen Zeit, der Ruhezeit, in der die Knochenmutter
einen langen Schatten über die Erde warf, das Gras mit Reif und die Teiche mit Eis überzog und die Nächte länger werden ließ, bis sich alle nach der Sonne sehnten. Beim Torritual wurde das Blut eines Tiers vergossen, und es gab sein Leben direkt vor ihnen auf einer Platte aus uraltem Stein. Broichan bat seinen Pflegesohn nicht, das Messer zu führen - das übernahm er selbst -, aber er erwartete, dass Bridei ohne mit der Wimper zu zucken zusah. Das Blut des Hahns spritzte überall hin. Bridei mochte das Geräusch nicht, das er beim Sterben von sich gab, auch wenn der Druide das Tier schnell und sauber schlachtete. Es war notwendig; die Knochenmutter wollte es so. Überall in ganz Fortriu verlangte sie es. Danach lud Broichan die Geister der Ahnen zum Festessen ein. Am Tisch wurde auch für sie gedeckt. Wenn Bridei die Augen halb schloss, glaubte er, sie sehen zu können, bleiche, durchscheinende Schatten grimmiger Krieger und schlanker Frauen, und hier und da ein stilles kleines Kind. Als Nächstes kam Mittwinter, ein Fest der Leuchtenden. Bei dieser Zeremonie war die Präsenz der Knochenmutter immer noch stark, aber von nun an würde ihr Griff jeden Tag ein wenig schwächer werden und die Sonne jeden Morgen ein winziges Stück weiter östlich aufgehen. Überall im Haus wurden Mistelzweige aufgehängt, zusammen mit - 15 glänzenden Stechpalmenblättern und blutroten Beeren; sie waren ein erstes Versprechen des neuen Lebens, das sich bald schon zeigen würde. Es war ein besonders gutes Vorzeichen für das neue Jahr, erläuterte Broichan seinem Schüler, wenn die Leuchtende sich in der Nacht der Sonnenwende in ihrer strahlenden Vollendung zeigte. Wenn das geschah, war es ein sicheres Zeichen, dass diese Göttin des Lichts dem Haushalt und dem, was darin geschah, ihren Segen gewährte. Es würde eine üppige Ernte und fette Lämmer geben; die Bäume würden sich unter dem Gewicht des Obstes beugen, und Neugeborene würden blühen und gedeihen. Bridei fiel auf, dass es in Pitnochie zwar tatsächlich Hafer, Schafe und Birnbäume gab, aber keine Neugeborenen, ja außer ihm überhaupt keine Kinder. Von der Haushälterin Mara einmal abgesehen, war Broichans Haushalt ein Männerhaushalt. Nach der Sonnenwende gab es weitere Feste: den Jungfrauentanz, der der Blütenreichen, der Göttin alles Wachsenden, heilig war; und die Frühlings-Tagundnachtgleiche, Fest des Aufstiegs genannt, worüber Broichan nicht viel verriet, nur dass an anderen Orten, bei anderen Menschen, noch mehr zu diesem Fest gehörte und dass Bridei diese Einzelheiten erfahren würde, wenn er älter war. Zum Fest des Aufstiegs war es warm, der Duft von Blüten hing schwer in der Luft, Bienen summten, Vögel sangen, und Broichan gestattete den Bewaffneten, die Siedlung südlich von Pitnochie aufzusuchen, ein Vorrecht, das er ihnen nur selten gewährte. Bridei hatte diese Siedlung nie gesehen. Broichan sagte, es gebe keinen Grund für ihn, über Haus und Garten hinauszugehen. Dann folgte Mittsommer, wenn der Flammenhüter am stärksten war; danach das Herbstfest der Reife, und das der Herbst-Tagundnachtgleiche, wenn Dunkelheit und Licht abermals vollkommen im Gleichgewicht waren, bevor das Jahr auf sein Ende, auf ein weiteres Torfest zueilte. - 16 Bridei beobachtete und lernte, und jeden Abend, bevor er einschlief, ging er die Rituale in der Stille seines kleinen Zimmers noch einmal durch und übte die stetigen, rhythmischen Gesten, die Broichan vollzog, versuchte, den Kreis zu ziehen, sprach leise die feierlichen Begrüßungs- und Abschiedsfloskeln. Zuerst arbeitete er wegen der Abschiedsworte seines Vaters so schwer, weil er wusste, dass es von ihm erwartet wurde. Aber schon bald lernte er, weil es ihn danach dürstete, weil er so fasziniert von den geheimnisvollen und mächtigen Dingen war, die Broichan ihm enthüllen konnte. Je mehr er entdeckte, desto mehr wollte er wissen. Die Rituale waren ein gutes Beispiel. Es ging nicht nur darum, alles nachzumachen. Das hatte Broichan von Anfang an betont. Man musste die Götter kennen, soweit man Götter überhaupt kennen konnte; man musste sie lieben und achten und die wahre Bedeutung der Feste so gut verstehen, dass das Gelernte bis tief in die Knochen drang, mit dem Blut floss und in jedem Atemzug mitschwang. Solches Lernen war ein lebenslanger Prozess; man hörte nie auf, eine reinere Verbindung zwischen Fleisch und Geist, Mensch und Gott, Welt und Anderwelt anzustreben. Es war ein gleichermaßen wunderbares und schreckliches Geheimnis, sagte Broichan, und sie würden tatsächlich alt werden, bevor sie sein wahres Herz auch nur berührten. Im Frühling von Brideis sechstem Jahr kam Donal. Donal war ein Krieger mit einem wilden Muster auf Wangen und Kinn und einem weiteren Muster aus ineinander verschlungenen Ringen um die starken Muskeln seines Oberarms. Er hatte eng zusammenstehende Augen, ein Furcht erregendes Kinn und ein Grinsen, das Bridei unwillkürlich lächeln ließ. Sie ritten zusammen aus, Bridei auf Perle, dem sanftmütigen Pony, das Donal für ihn mitgebracht hatte, und der Krieger auf einem knochigen Pferd mit seltsam fleckigem Fell, das er Glückspilz nannte. Es war nicht gerade das typische Streitross, aber andererseits, sagte Donal, war es viel- 17 leicht doch das richtige Tier für ihn, denn schließlich hatte Glückspilz seinen Reiter durch drei Schlachten mit den Galen, diesen jämmerlichen rothaarigen Mistkerlen, getragen, und weder am Mann noch am Tier war auch nur eine Spur dieser Kämpfe geblieben. Nun ja, es gab einen oder zwei abgebrochene Zähne - bei Donal - und eine Kerbe im Ohr - bei Glückspilz -, aber hier waren sie nun, führten ein gutes Leben und ritten mit dem Sohn eines Druiden im Wald umher. Wenn das kein Glück war, was sonst? »Pflegesohn«, verbesserte Bridei. »Was sagst du?«
»Broichan ist nicht mein Vater. Er unterrichtet mich. Wenn ich größer bin, werde ich nach Hause gehen.« Bridei war sich dessen nicht so sicher, wie er sich gab, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, was sein Pflegevater sonst mit ihm anfangen wollte. »Ah ja?« Das sagte Donal immer. Es bedeutete vielleicht Ja, vielleicht Nein - eine unverfängliche Antwort. Es war die Art von Antwort, die dafür sorgen würde, dass Donal länger im Haushalt des Druiden blieb als die beiden alten Männer. »Ich will galoppieren«, sagte Bridei, berührte Perles Flanken mit den Hacken, und schon eilten die beiden unter den Eichen her, am Hügel am See entlang. Es war nicht einfach für Donal, einen hoch gewachsenen Mann auf einem großen Pferd, das Pony auf solch engem Raum einzuholen, und Bridei führte ihn bis zu einer Stelle, wo der Hügel steil in ein Dickicht aus wilden Rosen und Brombeersträuchern abfiel. Am Rand dieses engen Tals wuchsen Eichen, aber in seinem Schatten gab es nur kleine Bäume, deren Art schwer zu bestimmen war, denn sie waren alle schief gewachsen, in seltsamen Formen. Selbst an diesem klaren Tag hing Nebel über der Kluft; von diesem Ort ging eine unheimliche Stille aus, die von Angst sprach. »Was ist das hier?«, fragte Donal, der Bridei endlich eingeholt hatte und mit einem gut eingeübten Überschlag aus - 18 dem Sattel sprang. »Fühlt sich irgendwie böse an, denke ich. Wir sollten uns hier lieber nicht aufhalten.« »Es gibt einen Weg«, sagte Bridei. »Dort!« Der Weg war nicht leicht zu erkennen, denn Farnwedel und die Zweigfinger niedriger Büsche reckten sich darüber, um ihn zu verbergen. Der Nebel hing kaum mannshoch über dem gewundenen Pfad, der schmal war und aus festgestampfter Erde bestand: kein natürlicher Weg, sondern einer, der künstlich angelegt worden war. Donal zögerte. »Warst du schon einmal hier, Junge?«, fragte er. Bridei schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, wie es hier aussieht«, murmelte der Krieger und machte ein Zeichen mit den Fingern. »Wenn wir da runtergehen, finden wir uns vielleicht auf einer kleinen Lichtung wieder, umzingelt vom Guten Volk, das mit uns feiert, und am Morgen wachen wir in einem seltsamen Land auf, aus dem wir nicht gekommen sind.« »Können wir nicht wenigstens schnell nachsehen?«, fragte Bridei, denn für ihn klang das nach Abenteuer. Das Pony schauderte und zuckte mit den Ohren. »An solchen Orten kann man nicht einfach schnell nachsehen«, sagte Donal angespannt und stieg wieder aufs Pferd. »Das ist eins von diesen Portalen, von denen die Leute erzählen, das sehe ich klar; schau dir nur die Steine dort am Beginn des Wegs an. Das ist ein Schutz, aufgestellt von Leuten wie du und ich, damit diese Anderen nirgendwohin gelangen, wo sie nicht erwünscht sind. Oder eine Warnung für uns, nicht dort hinunterzugehen. Komm weiter, Junge.« Bridei war kein trotziges Kind; es wäre ihm nicht eingefallen zu widersprechen. Außerdem sah er deutlich, dass Perle ebenso versessen darauf war wie Donal, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber auf dem Rückweg nagte der Gedanke an das verborgene Tal an Brideis Geist, ein Rätsel, das verlangte, gelöst zu werden. - 19 Es gab eine richtige und eine falsche Art, einem Druiden Fragen zu stellen. Man ließ sie nicht einfach beiläufig beim Abendessen fallen. Wenn man das tat, bestand die Antwort bestenfalls aus einem Hochziehen der Brauen, einem rätselhaften Lächeln und Schweigen. Bridei lernte, einige Fragen überhaupt nicht zu stellen: solche nach seiner Mutter zum Beispiel, oder warum er nicht hinunter in die Siedlung gehen konnte, wo es, wie die Männer erwähnt hatten, andere Jungen etwa in seinem Alter gab. Er würde keine guten Antworten auf diese Fragen erhalten. Der Platz für Fragen war der Unterricht, und sie mussten etwas mit dem Thema des Tages zu tun haben. Zum Glück ging es zu diesem Zeitpunkt in Brideis Ausbildung um häusliche Schutzzauber. Bridei hatte bereits gelernt, dass es drei Arten von Magie gab. Tiefe Magie, die aus der Erde und dem Himmel, dem Fluss und der Flamme, dem trägen Traum im Herzen der Dinge kam, und diese Magie war am schwersten zu erlernen und es dauerte am längsten. Hohe Magie wiederum wurde von den mächtigsten Zauberern eingesetzt, und manchmal von Druiden. Hohe Magie war gefährlich; sie konnte den Verlauf von Kriegen beeinflussen und Könige entthronen. Dieser Tage bekam man sie selten zu sehen. Und als Letztes gab es die häusliche Magie, und damit hatten sie sich beschäftigt. Häusliche Magie oder Herdmagie konnte von jedem angewandt werden, so lange man vorsichtig war. Schon kleine Fehler konnten bewirken, dass alles schief ging; am Ende stellte man vielleicht alles auf den Kopf, weil man die Magie nicht auf die richtige Weise einsetzte. Gewöhnliche Leute wie die Kätner am Seeufer benutzten diese Art von Magie vielleicht, um die mutwilligen Präsenzen abzuwehren, die bei Vollmond aus dem Wald kamen oder sich an nebligen Tagen an Fischerboote auf dem See klammerten. Zum Beispiel Babys. Jeder wusste, dass ein Neugeborenes nicht in Sicherheit war, ehe man ihm einen Schlüssel in die - 20 Wiege gesteckt hatte. Dieser kleine Zauber sorgte dafür, dass das Gute Volk das Kind nicht stahl und an seiner Stelle eine kleine, aus Zweigen und Gras geflochtene Gestalt zurückließ. Oder Türen, die man gegen das mögliche Eindringen aufdringlicher Geister schützen musste. Es gab viele Möglichkeiten, das zu tun, zum Beispiel, indem man Salz oder bestimmte Kräuter vergrub oder Eisennägel ins Holz schlug.
Broichan und der Junge hatten sich schon mehrere Tage mit diesen Dingen beschäftigt, und Bridei wusste nun, warum an den Eingängen der Hütten im Tal Wachholderbüsche wuchsen und wieso die Leute Kreidekreise auf Haustüren malten. Dies waren sehr grundlegende Zauber, einfach zu verhängen, aber von machtvoller Wirkung. Im Wald gab es viele Formen von Leben. Wölfe verfolgten den einsamen Reisenden; ein Wildschwein konnte sich gegen einen Jäger wenden und mit Hauern und Hufen schweren Schaden anrichten. Vernunft und Geschicklichkeit halfen gegen solche Gefahren. Füchse versuchten, sich im Hühnerstall zu bedienen, und Adler wollten Frühlämmer davontragen. Wachsamkeit und Fürsorge konnten solche Gefahren zum größten Teil abwenden. Ein Bauer musste immer mit ein paar Verlusten rechnen; so ging es nun einmal in der Natur zu, damit sowohl Menschen als auch Tiere überlebten. Tiere waren eine Sache, und man durfte sie sicherlich nicht unterschätzen, aber normalerweise konnten Menschen mit ihnen fertig werden. Das Gute Volk war etwas ganz anderes. Gutes Volk - schon die Bezeichnung war irreführend. Die Menschen benutzten sie, erklärte Broichan seinem Schüler, um diese Wesen nicht zu beleidigen. »Du musst wissen, dass es auch andere Namen für sie gibt, Bridei«, sagte er ernst, als sie auf einer Steinbank vor der Asche des Feuers vom Vorabend saßen. Das erste Morgenlicht fiel kalt und rein durch die bunten Scheiben des runden Fensters in der Halle. Es warf ein Muster auf die Steinfliesen, rot, lila, mitternachtsblau. Bridei zog den Umhang hoch um den - 21 Hals und vergrub die Hände in den Falten. Er wollte nicht, dass der Druide sein Zittern bemerkte, aber er fror am ganzen Körper. »Namen, die ich draußen nicht laut aussprechen würde, denn diese Wesen zu verärgern bedeutet, sie geradezu einzuladen, Unruhe zu stiften. Ihre wahren Namen lauten ...« Broichans Stimme verklang zu einem Flüstern: »Der Urisk, der in der Gischt hinter dem Wasserfall lebt, den Menschen bei Nacht folgt und seine Einsamkeit herausweint, und dann gibt es die Tarans, Geister kleiner Kinder, die in der Wiege starben, und das Heer der Toten. Es gibt viele unterschiedliche solche Wesen, alle auf ihre eigene Art gefährlich. Viele haben eine schöne Gestalt, und wir geben ihnen einen schönen Namen. Das allein stellt bereits einen Schutz gegen sie dar.« Bridei nickte und hoffte, der Druide würde nicht bemerken, dass er vor Kälte mit den Zähnen klapperte. »Sie müssen unbedingt und zu jeder Zeit mit Respekt behandelt werden«, fuhr Broichan ernst fort. »Wir müssen sie achten und fürchten, aber ich kann nicht behaupten, dass man ihnen auch vertrauen kann, denn diese Wesen verstehen die Welt nicht auf die gleiche Weise wie wir. Dennoch, ein weiser Mann weiß, wie wichtig sie für den allgemeinen Plan der Dinge sind. Wir alle hängen voneinander ab, Pflanze und Tier, Stein und Stern, Gutes Volk und Menschen. Und jetzt«, Broichan erhob sich, »steh auf, schließe die Augen und sage mir, wo du gesehen hast, dass mein Haus gegen unerwünschtes Eindringen beschützt wird.« Bridei stand auf. Er hatte keine Gelegenheit zum Lernen gehabt, und sie hatten sich das Haus nicht vorher angesehen, sodass er nicht vorbereitet war; Broichan erwartete, dass er stets beobachtete und lernte, jeden Augenblick eines jeden Tages. Die Augen fest geschlossen, sah er nun im Kopf das lang gezogene, niedrige graue Steinhaus, das Strohdach dunkel von Regen und Frost, die Dachgewichte an ihren schweren Seilen. Er stellte sich die unmittelbare Umgebung des Hauses vor, die Pflanzen, die dort wuchsen, das Muster der - 22 kreisförmigen Wege. Dann die Türen, die Öffnungen, jedes Zimmer, jede Ecke. Er nannte dem Druiden alles, was ihm einfiel: Wachholder, Farn und Rosmarin, ein Pfad mit weißen Kieselsteinen, der im Kreis herum führte, ein Kasten mit gelochten Steinen unter der Vordertreppe. Drei Nägel in der Hintertür, die ein Dreieck formten. Kränze aus Blättern und Dornenranken über den Türen und ein Knoblauchzopf. »Und?«, fragte Broichan. Einen Augenblick geriet Brideis Gedächtnis ins Wanken, dann holte er tief Luft und machte weiter. »Das Fenster, das bunte - es ist rund wie der Vollmond. Das ist der Segen der Leuchtenden, der auf uns alle fällt. Das bunte Glas ist dafür da, dass das ... das Gute Volk nicht sehen kann, wo sich der Eingang befindet.« »Und?« »Und ... gewöhnliche Dinge, keine Magie. Mara stellt Schälchen mit Milch nach draußen. Ferat legt einen Laib Brot unter die Ebereschen. Dann wird das Gute Volk den Kühen und Pferden nichts tun.« »Noch etwas?« Bridei schwieg einen Moment. »Man lernt niemals aus«, sagte er schließlich. Das war einer der Lieblingssätze seines Pflegevaters. »Aber das sind alle, die ich im Augenblick aufzählen kann. Und ich habe eine Frage, Herr.« »Du kannst die Augen wieder öffnen, Sohn«, sagte der Druide. Bridei blinzelte und sah zu seiner Erleichterung, dass sein Pflegevater Holz in die Feuerstelle legte. Broichan konnte sehr schnell ein Feuer anzünden; es brauchte nur ein leises Wort von ihm und ein Schnippen seiner schlanken Finger. Flammen zuckten um die Kiefernscheite, das Holz fing Feuer und begann, hell zu brennen. Wärme breitete sich aus, berührte Brideis taube Finger, seine eisige Nase, seine schmerzenden Ohren. »Setz dich, Junge. Und stell deine Frage.« - 23 »Was bedeutet es, wenn ein kleiner Haufen weißer Steine an einem Pfad liegt? Bedeutet es, dass man dort entlanggehen soll, oder das Gegenteil?« Brideis Hände tauten nun angenehm. Broichan schnippte mit den Fingern, und ein Küchenhelfer brachte
Haferbrei, Milch und einen Krug Met auf einem Tablett. »Iss dein Frühstück, Bridei«, sagte der Druide, und seine Augen schienen weit in die Ferne zu blicken. Er hatte die Stirn ein wenig gerunzelt. »Sag mir, hat Donal dich auf einen der Wege geführt, die du nicht betreten solltest?« Bridei, der gerade einen Löffel Haferbrei an die Lippen führte, wurde rot. »Nein, Herr. Ich habe ihn geführt. Wir sind diesen Pfad nicht entlanggegangen, den mit den Steinen. Donal sagte, es wäre besser so. Die Pferde hatten Angst. Donal sagte, ich sollte dich danach fragen.« »Bevor du zurückkehrst und es weiter erforschst, meinst du?« Broichan schien nicht zornig zu sein. »Nicht, wenn du das nicht willst, Herr. Weißt du, welche Stelle ich meine?« Broichan goss sich selbst Met ein und ignorierte den Haferbrei. Er trank einen Schluck, dachte nach und setzte den Becher ab. »Ich habe erst eine andere Frage für dich«, sagte er. Offenbar war die Unterrichtsstunde noch nicht vorüber. Bridei stellte die Schale mit dem Haferbrei wieder aufs Tablett, blieb still sitzen und wartete. »Du bist recht aufmerksam. Du hast ein Auge dafür, was das Haus gegen Eindringlinge schützt. Ich möchte, dass du noch einmal über deine Antwort von vorhin nachdenkst, und diesmal antworte nicht wie ein Kind, das etwas auswendig Gelerntes aufzählt, sondern wie ein Druide: mit deinem Verstand.« Bridei dachte angestrengt nach. Er war nicht sicher, welche Antwort Broichan hören wollte. Vielleicht lag ein Hinweis darauf in der Frage selbst. - 24 »Es ist nicht nur das Gute Volk«, sagte er und dachte über die Möglichkeiten nach. »Es gibt auch andere Arten von Gefahren, gegen die Magie nicht hilft.« »Weiter«, ermutigte Broichan ihn. »Donal bringt mir bei, wie man reitet.« Bridei dachte nun laut. »Aber er ist auch eine Art Wächter. Es gibt hier viele Bewaffnete. Ich weiß, dass du Nebel heraufbeschwören und die Bäume verzaubern kannst, sodass sie sich umherbewegen. Nicht viele Leute kommen her. Und du trägst stets ein Messer in deinem Gewand verborgen. Ich glaube, es gibt noch mehr Gefahren. Du bist die meiste Zeit hier, obwohl du der Druide des Königs bist. Erip sagte, du wärst der einf- einful-einflussreichste Mann in ganz Fortriu.« »Was bedeutet das? Einflussreich?« »Du kannst Leute dazu bringen, dass sie tun, was du willst«, spekulierte Bridei. »Ha!« Das Geräusch, das Broichan von sich gab, war beinahe ein Lachen, aber es lag keine Heiterkeit darin. Bridei schwieg, denn er befürchtete, seine Antwort könnte den Druiden verärgert haben. »Ich wünschte, das wäre so«, fügte Broichan hinzu, griff nach einem Löffel und schob ihn mit sichtlicher Abscheu in den abkühlenden Haferbrei, auf dem sich nun eine gräuliche Haut bildete. »Wenn Weisheit in diesem wirren und umnachteten Land doch nur so viel bedeutete, Bridei! Ein einziger Druide, ganz gleich wie einflussreich, kann nicht genügend Macht heraufbeschwören, um Fortrius Leiden zu heilen.« Bridei hatte sein Frühstück über dem Nachdenken vollkommen vergessen. »Aber du kannst Feuer machen und das Wetter ändern, und du weißt so viel über Zauber und Beschwörungen, und du kennst dich mit Pflanzen und Tieren aus«, sagte er. »Bist du nicht mächtiger als jeder andere? Sogar mächtiger als Könige?« Broichan sah ihn an, die dunklen Augen so wachsam wie - 25 die eines Falken. »Dein Haferbrei wird kalt«, sagte er. »Du solltest lieber aufessen. Selbst der tapferste Krieger reitet nicht mit leerem Magen in den Kampf. Donal wird dir das bestätigen.« Bridei hatte sich inzwischen an Broichans Art zu reden gewöhnt. Er schluckte die klebriger werdende Masse herunter und behielt seine Gedanken für sich. Er nahm an, dass es nicht das Gute Volk mit seinen Streichen und seiner Seltsamkeit war, das sie am meisten fürchteten. Die Gefahr kam aus einer anderen Richtung, aus der Welt der Menschen. Bridei beendete sein Frühstück, und als er die Halle verließ, hatte er immer noch keine Antwort auf seine Frage erhalten. Aber als er zur verabredeten Zeit in den Stall kam, stand Sibel, die schwarze Stute des Druiden, gesattelt neben der kleinen, gut gepflegten Perle und dem langbeinigen Glückspilz. Broichan und Donal unterhielten sich angeregt, aber beide schwiegen, als Bridei näher kam. »Bring uns zu dem Ort, von dem du gesprochen hast, Junge«, sagte der Druide. »Zeig uns die Steine, den Nebel, den Weg nach unten. Nähere dich mit angemessener Vorsicht. Wende an, was du gelernt hast. Wir trampeln nicht einfach im Wald herum. Du kannst vielleicht deinem Pony die Arbeit überlassen, aber du musst ihm helfen, die Schritte zu setzen, als wären seine Hufe deine eigenen Füße, und darfst nie den Herzschlag der Erde unter dir und das Bewusstsein dafür verlieren, was sich über und unter dir befindet. Wann immer du im Wald unterwegs bist, solltest du Teil dieses Waldes sein, Bridei, und kein Eindringling. So wirst du keine Schutzzauber brauchen. Sollen wir aufbrechen?« Es war ein schöner Morgen. Die frische Kälte des Herbstes lag in der Luft; der erste Frost würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auf den Wegen lag das Laub in einer dicken Schicht, und hier und da waren braune, goldene, rotbraune, gelbbraune Blätter aufgehäuft wie der Hort eines Drachen. Das Laub fiel immer noch, wenn Wind die Zwei- 26 -
ge traf, hier ein Flüstern von Gold, dort eine zerbrechliche Träne, so rot wie Blut. Die Pferdehufe verursachten ein leises, knirschendes Geräusch. Bridei konnte die Wolke von Perles Atem und die kleinere Wolke seines eigenen sehen. Er war froh, dass er seine Schaffellmütze aufgesetzt hatte. Er hielt sich an die Anweisungen des Druiden und sah sich sehr aufmerksam um. Von seinen Spaziergängen her wusste er bereits, dass es im Wald seltsame Dinge gab; Dinge, die man glaubte, so gerade eben aus dem Augenwinkel zu sehen, aber wenn man versuchte, sie besser zu erkennen, waren sie verschwunden. Ein Aufblitzen von Rot, das nicht von einem Blatt kam, plötzliche Bewegungen, die nichts mit vorbeifliegenden Vögeln zu tun hatten. Büsche wuchsen, wo es am Vortag nichts als moosbedeckte Steine gegeben hatte; Geräusche wie Lachen oder Gesang erklangen an Orten, an denen es weit und breit keine menschliche Siedlung gab. Bridei schauderte. Gutes Volk war so ein freundlicher, gemütlicher Name. Was Broichan ihm erzählt hatte, klang ganz anders. Die Reiter ritten unter ein paar großen Eichen hindurch und blieben am Rand der Kluft im Hügelabhang stehen. Bridei stieg ab. Der kleine Steinhaufen war immer noch da. Auf der anderen Seite des Wegs befand sich jetzt ein identischer Miniatursteinhügel. Zwischen ihnen hindurch verlief der steile Weg, verschleiert mit einem Tuch aus Nebel, hinab in die Tiefen des verborgenen Tals. Die anderen waren ebenfalls abgestiegen. Donal nahm die Zügel der Pferde. Broichan beobachtete Bridei gelassen unter halb geschlossenen Lidern hervor. »Es ist deine Entscheidung, Junge«, sagte der Druide. »Interpretiere die Zeichen und sag uns, was wir tun sollen.« »Wir gehen weiter«, antwortete Bridei sofort, und sein Herz klopfte in einer Mischung aus Aufregung und Angst. »Perle hatte letztes Mal Angst, hier entlangzugehen. Heute ist das anders, seht ihr?« - 27 »Dennoch«, erklärte Broichan, »wir werden die Pferde hier oben bei Donal lassen. Die Art von Ärger, gegen die wir seinen Schutz brauchten, wird uns nicht an einen solch unheimlichen Ort folgen. Andererseits gibt es gewisse Kräfte in diesen Wäldern, die ein scharfes Auge für gutes Pferdefleisch haben, und dieses verhüllte Tal sieht aus, als wäre es so recht nach ihrem Geschmack. Deine kleine Perle wird hier oben mit einem Eisen schwingenden Krieger aus Fortriu an ihrer Seite erheblich sicherer sein, so gern sie dir auch folgen würde.« Donal schien mehr als froh, von der Expedition ausgeschlossen zu sein. Er band Pferde und Pony locker an, dann ließ er sich an einen massiven Eichenstamm gelehnt nieder, die langen Beine zwischen den Wurzeln ausgestreckt, und schien zu dösen. Aber diese Pose täuschte; der Blick in den halb geschlossenen Augen, die strategische Position von Messer und Dolch, sodass er sie sofort packen konnte, waren Bridei vertraut. Donal hatte ihm bereits ein paar Dinge beigebracht, die nichts mit Pferden zu tun hatten. Als er nun hinter dem Druiden den steilen Pfad entlangging, hatte Bridei das merkwürdige Gefühl, dass sich die Kriechpflanzen und die Büsche, die sich sonst mit Dornen, Stacheln und Kletten an ihn geklammert hätten, so weit wie möglich zurückzogen, dass die erstickende, wirre Decke von Grün sich entschieden hatte, an diesem Tag Eindringlinge durchzulassen. Er fragte sich, ob Broichan einen Zauber wirkte, denn er wusste, dass der Druide die Naturkräfte erstaunlich gut beherrschte. Aber es gab kein Anzeichen von Magie. Broichan ging einfach nur den Hügel hinunter, setzte die bestiefelten Füße vorsichtig auf den unsicheren Boden, den Stab in einer Hand, während er mit der anderen sein langes Gewand raffte. Wenn er tatsächlich einen Zauber wirkte, dann jedenfalls nicht mit Handgesten oder Rezitationen. Bridei nahm an, dass sich die Magie bereits hier befand. - 28 Er war nicht sicher, was er erwartet hatte: vielleicht kleine Leute, die unter Pilzen hockten, oder seltsame Grimassengesichter, die aus dem Unterholz auftauchten, oder den Urisk, der aus Nebel und Schatten aufstieg, ganz traurige Augen und flehentlich ausgestreckte Hände. Aber tatsächlich gab es nur graublaue Nebelschleier und den Weg, der tiefer und tiefer in diesen dichten Dunst führte. Schließlich wurde der Boden ebener, und als wäre er tatsächlich von einem Druiden verzaubert worden, zog sich der Nebelvorhang zurück, und sie fanden sich am Rand eines dunklen, tiefen Teichs. Ein Schritt weiter, und das Wasser hätte Mann und Jungen verschlungen. Bridei schwankte einen Augenblick, dann fand er sein Gleichgewicht. Broichan stand plötzlich sehr still da. Als die Nebelschwaden sich teilten, enthüllten sie andere Orientierungspunkte: Gedrungene, mit Flechten überzogene Steine saßen am Teich wie Tiere, die sich vorbeugten, um das tintenschwarze Wasser zu trinken; eine Kletterpflanze zog und wand sich um alles, die Speerspitzenblätter so dunkel wie Edelsteine, die Blüten kleine Flecken aus reinstem Weiß. Davon einmal abgesehen war die Erde nackt, hier wuchsen keine Büsche mehr, keine Farnwedel ließen den Rand des Teichs weicher wirken oder umkränzten die Steine, wenn man einmal von dieser einen üppigen Pflanze absah, die sich überall hinzog und ihrem eigensinnigen Weg folgte. Es war vollkommen still. Kein einziger Vogel war zu hören, kein Geschöpf rührte sich im Unterholz am Weg, keine Fliege störte die spiegelglatte Oberfläche des dunklen Teichs. Es war wie eine andere Welt, ein Reich unberührt von Menschenhand, von keinem Menschenfuß betreten. Es war so still, dass Bridei glaubte, sein Herz schlagen zu hören. »Diese Senke wird Tal der Gefallenen genannt«, flüsterte Broichan. An diesem stillen Ort war selbst ein so leises Geräusch so störend wie ein Schreien. »Ich werde dir seine Geschichte auf dem Heimweg erzählen. Schau ins Wasser, Bridei. Komm, stell dich hierher.« - 29 -
Bridei spürte die Hände des Druiden auf seinen Schultern. Spürte Broichans Gegenwart hinter sich, solide und stark, was bewirkte, dass er sich erheblich besser fühlte. Er schaute hinab in das dunkle Wasser des Teichs und in seine eigenen Augen, die zurückstarrten. Er konnte auch Broichan in seinem schwarzen Umhang sehen, grimmig, hoch gewachsen und mit bleichem Gesicht. Und hinter Broichan - Bridei kniff die Augen zu und öffnete sie dann wieder. Hatte er das wirklich gesehen? Eine Axt, die durch die Luft pfiff, glitzernd, tödlich, und die Hand des Druiden, die nach oben zuckte, um sie an der Klinge abzufangen, aufschnitt und zum Bluten brachte und »Vorsichtig, Junge«, sagte Broichan und packte Bridei fest an der Schulter. »Verliere nicht den Blick dafür, was Vision und was Wirklichkeit ist. Atme, wie ich es dir beigebracht habe. Langsam und stetig. Es gibt hier viel zu sehen, und nicht jedes Auge nimmt die gleichen Bilder wahr. Tatsächlich erblicken viele nur Wasser, Licht und den einen oder anderen Fisch. Was war es, das dich so erschreckt hat?« Bridei antwortete nicht. Er richtete den Blick weiter auf die Wasseroberfläche, denn dort tanzten nun viele Bilder. Der Teich blitzte leuchtend rot und silbern auf und zeigte ihm eine Schlacht, aber nicht das ganze Schlachtfeld, sondern die kleinen und schrecklichen Einzelheiten, die das Ganze ausmachten: Männer, die aufschrien, Männer, die Angst hatten, Männer, die unerschrocken weiterkämpften, mit zerschmetterten Kiefern, gebrochenen Gliedern und blutigen Gesichtern. Männer, die ihre Verwundeten auf dem Rücken, ihre Toten auf den Schultern trugen und sich anstrengten, sie in Sicherheit zu bringen, während der Feind ihnen gnadenlos und rachsüchtig nachsetzte. Ein kleiner Hund hielt treu Wache neben seinem Herrn, der sich im Tod zusammengekrümmt hatte. Das weiße Fell des Tiers war rot vom Lebensblut des Mannes, sein Blick verzweifelt. Eine abgehackte Hand. Ein Kopf ohne Körper, jung, mit lei- 30 denschaftlichem Gesicht, jemandes Sohn, jemandes Bruder. Die Feinde rollten vorwärts wie eine riesige Woge, sie schrien ihren Triumph heraus, nahmen alles, das sich ihnen in den Weg stellte. Sie zogen weiter, und Bridei sah das Tal wieder ohne das menschliche Strandgut, in dem es nichts weiter gab als eine so tiefe Traurigkeit, dass niemand es mehr gern betrat. Es war ein Reich aus Nebel und Schatten, ein Wohnort unruhiger Geister. Die Bilder wurden grau, dann schwarz, und dann waren sie verschwunden. Es gab nur noch Wasser. Bridei holte tief Luft; er fragte sich, ob er in der Zeit, die er in den Teich schaute, überhaupt geatmet hatte. »Der Dunkle Spiegel«, sagte Broichan, ließ seinen Pflegesohn los und setzte sich neben einen der verwitterten Steine. Nun, als Bridei sie noch einmal betrachtete, erinnerten die Steine ihn ein wenig an uralte Weise, die an diesem nebelverhüllten Teich Wache hielten. Es gab sieben von ihnen: die sieben Druiden. »Du wirst hin und wieder erleben, wie ich ein solches Werkzeug benutze, einen solchen Spiegel, aber nicht hier; ich arbeite mit meinem eigenen Artefakt aus Bronze und Obsidian, und ich wage mich nicht aus dem Schutz meines Hauses, um es zu benutzen. Wie du gesehen hast, lässt dieser Ort nur jene ein, die er selbst auserwählt, und er tut das nur selten. Dir war bestimmt, etwas zu sehen, und daher wurdest du hierher gerufen. Kannst du mir sagen, was dir gezeigt wurde?« Bridei sah ihn überrascht an. »Hast du es denn nicht auch gesehen?« »Ich sah, was ich sah«, sagte Broichan. »Hast du nicht zugehört? Vielleicht war es das Gleiche, vielleicht auch nicht. Und jetzt sag es mir.« »Es war eine Schlacht«, sagte Bridei schaudernd. Plötzlich wollte er nicht darüber reden müssen. Er wollte dort draußen sein, mit Donal im Sonnenschein über die Felder reiten und an nichts Wichtigeres denken müssen als an das Brot - 31 und den Käse, die sie zu Hause erwarteten. »Es war schrecklich. Schreie, Gemetzel, Sterben, für nichts. Blut überall.« »Das ist vor langer Zeit geschehen«, sagte Broichan, als sie wieder zum Weg zurückkehrten. »Die Enkel dieser Krieger sind tot und liegen in ihrem Grab, ihre Enkelinnen sind alte Frauen. Sie haben schon lange ausgelitten.« »Es war falsch«, sagte Bridei. »Falsch, dass Tapferkeit mit Tod belohnt wurde? Mag sein, aber das ist nun einmal das Wesen des Krieges. Woher weißt du, dass die, die dort getötet wurden, von unserer eigenen Art waren, Bridei? Vielleicht waren die Unsrigen die Sieger und die tapferen Verlierer unsere Feinde. Was sagst du dazu?« Bridei antwortete eine Weile nicht. Er hatte noch nie etwas so Schreckliches, etwas so Übelkeiterregendes gesehen wie diese Bilder von Gemetzel und Tod, und er hoffte, es nie wieder sehen zu müssen. »So sollte es nicht sein«, sagte er schließlich. »Es war falsch. Der Anführer hätte sie retten sollen. Er hätte sie rechtzeitig wegbringen sollen.« »Das ist, was du getan hättest?« »Ich hätte einen guten Plan gemacht. Ich hätte sie gerettet.« »Bei einer Schlacht geht es nicht darum, deine Männer zu retten. Es geht um den Sieg. Ein Anführer erwartet Verluste. Krieger erwarten zu sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es liegt im Wesen der Menschen, gegeneinander Krieg zu führen. Aber du hast Recht, Sohn. Es kann besser gemacht werden, erheblich besser. Und Planung ist tatsächlich der Schlüssel. Ah, endlich sind wir oben. Nach diesem Aufstieg habe ich Hunger; ich frage mich, ob Donal wohl Proviant eingepackt hat.« Donal, ein erfahrener Krieger, enttäuschte sie nicht. Seine Satteltasche war voll mit dunklem Brot, salzigem
Käse und kleinen Äpfeln, und sie machten auf einer Anhöhe Rast, wo sie auf den Schlangensee hinabschauen konnten und es - 32 süßes Gras für die Pferde gab. Broichan aß nicht viel, obwohl er angeblich so hungrig gewesen war; er legte bei allem Zurückhaltung an den Tag. »Das Tal der Gefallenen«, sagte er schließlich und schaute auf das silbrige Wasser hinaus, das sich unter ihnen bis zu den dunklen Hügeln auf der anderen Seite zog, »war einmal Schauplatz solch schrecklicher Taten, dass die Menschen es seitdem sowohl mit Ehrfurcht als auch mit Widerwillen betrachten. Es gab eine Schlacht, wie du bereits gesehen hast.« »Und viele Männer wurden getötet«, sagte Bridei, dem plötzlich der Appetit auf den frischen, säuerlichen Apfel verging, den er gerade aß. »Eine ganze Gemeinschaft«, berichtete Broichan, »Väter, Brüder, Ehemänner, Söhne, die Männer aus vielen Siedlungen im Großen Tal. Sie hatten lange und schwer gekämpft; das hier war nur das Ende, das letzte Aufflackern eines Konflikts, der von der Aussaat bis zur Erntezeit dauerte. Unsere Streitkräfte waren bereits besiegt, der Feind hatte die Inseln im Westen und das ganze Land an der Küste erobert und bewegte sich nach Osten wie eine Seuche. Sie schienen mitten durch das Herz von Fortriu toben zu wollen und gaben sich erst zufrieden, als auch der letzte unserer Krieger tot war. Du hast das Ergebnis gesehen. Unsere Männer sind dort gefallen, bis zum letzten Mann. Als der Feind weg war, schlich eine andere Armee aus dem Unterholz, die Vaterlosen, die Alten, und sie sammelten die gebrochenen Überreste ihrer Verwandten ein. Sie brachten sie weg, um sie zu begraben. Dann wurde eine Wache an diesem Ort aufgestellt. Wer diese Wache hält, weiß allerdings niemand so genau. Die Leute sprechen von einem Hund, der in der Nacht dort heult.« »Ein trauriger Ort«, bemerkte Donal. »Das Tal der Gefallenen ist nicht nur ein Schauplatz von Tod und Niederlage«, verbesserte Broichan. »In diesem Tal befindet sich die Essenz der Männer von Fortriu, die dort fie- 33 len. Jeder dieser zum Untergang verurteilten Krieger trug die Liebe zu seinem Land, seiner Familie, seinem Glauben im Herzen. Das dürfen wir über all unserer Trauer nicht vergessen.« »Herr«, wollte Bridei wissen, »wer waren die Feinde? Sie hatten seltsame Augen. Sie haben mir Angst gemacht.« Diesmal war es Donal, der antwortete, und seine Stimme klang bitter. »Die Galen, verflucht sollen sie sein, diese gottverlassene Brut von der anderen Seite des Wassers! Ihre Invasion fand unter ihrem alten König statt. Sein Enkel herrscht nun über sie, er heißt Gabhran. König von Dalriada. Ha!« Er spuckte neben den Weg. »Nichts als ein hochnäsiger Emporkömmling, der sich einmischt, wo er nicht erwünscht ist. Es gibt in dieser Region schon einen König zu viel; wir brauchen nicht noch einen Sumpfbewohner, der hier eindringt und sich selbst bedient.« Broichan warf dem Krieger einen Blick zu, und Donal schwieg. »Wir wollen nicht von Königen sprechen«, sagte der Druide ruhig. »Bridei wird auch diese Dinge einmal lernen müssen. Aber erst später. Er hat kaum begonnen zu lernen, was er wissen muss.« Bridei dachte darüber nach, während sie weiteraßen und schließlich wieder aufbrachen, um sich auf den Heimweg zu machen. Es gab eine Frage, die er Broichan stellen wollte, eine, über die er viel nachdachte. Sein Pflegevater sprach oft von später, von der Zukunft, und von all den Dingen, die Bridei noch lernen musste. Aber der Druide erwähnte nie, wozu das geschah oder was einmal aus Bridei werden sollte, wenn er genug gelernt hatte. Würde er nach Gwynedd zurückkehren, zu seiner Familie, die er begonnen hatte zu vergessen? Würde er ein Druide werden wie Broichan, grimmig und hoch gewachsen und nur aufs Lernen konzentriert? Oder hatte Broichan etwas anderes für ihn geplant? Vielleicht sollte er Krieger werden wie die im Dunklen Spiegel. Er schau- 34 derte, als er wieder daran dachte. Es schien keine Frage zu sein, die er stellen konnte, jedenfalls nicht ganz offen. »Sag mir, Bridei«, riss Broichan ihn aus seinen Gedanken, »kannst du schwimmen?« Das kam vollkommen unerwartet. Andererseits war ein Gespräch mit Broichan stets voller Überraschungen. »Nein, Herr. Aber ich würde es gerne lernen.« »Gut. Dann werden wir Donal den Winter über weiterhin in unserem Dienst behalten, damit er es dir beibringen kann, wenn es warm genug ist. Er wird dir auch zeigen, wie man rudert. Es ist nur gut, dass du nicht in diesen Teich gefallen bist. Er ist ziemlich kalt und extrem tief.« »Ja. Herr.« Es gab nichts weiter zu sagen. Bridei dachte, wenn man in den Dunklen Spiegel fiele, wäre Ertrinken wahrscheinlich noch das geringste Problem. »Und inzwischen«, sagte der Druide und bereitete sich darauf vor, wieder aufs Pferd zu steigen, »gestattet uns der Winter, uns den Nummern und Zahlen, den Spielen und der Musik zu widmen, und ich denke, Donal kann die Halle benutzen, um seine ganz besondere Ausbildung zu beginnen, die dich ein bisschen unabhängiger machen wird. Ich werde vielleicht einige Zeit weg sein. In diesem Fall werde ich andere Lehrer für dich finden.« »Ja, Herr.« Eins war sicher, dachte Bridei: Er würde keine Zeit haben, sich zu langweilen. Wenn Bridei Jahre später auf diese Zeit zurückblickte, fragte er sich manchmal, ob Broichan vergessen hatte, dass sein Pflegesohn immer noch sechs Jahre alt war. Er kam dann allerdings schnell zu dem Schluss, dass das
nicht stimmte. Der Druide hatte ihn einfach danach eingeschätzt, wie schnell er Informationen aufnehmen konnte, wie zäh er war und ob er gehorchen konnte, und dann ein Lernprogramm aufgestellt, das dafür sorgte, dass Bridei so viel Wissen wie möglich aufsaugen konnte. Die Tage waren voll. Er ritt mit Donal aus. Er - 35 verbrachte einige Zeit damit, zu lernen, wie man mit zwei Messern oder mit einem oder mit den Fäusten kämpfte. Er übte, sich rasch und geschickt vom Rücken seines Ponys abzurollen, wie er es zuvor schon bei dem Krieger gesehen hatte. An den Nachmittagen paukte Broichan mit ihm die druidische Überlieferung, beginnend mit Sonne, Mond und Sternen, ihren Mustern und Bedeutungen und den Standorten von Verwandschaftssteinen und den älteren Steinen, die überall in Fortriu zu finden waren. Sie vertieften sich in das Studium der Gottheiten und Geister, der Rituale und Zeremonien. Wie Broichan sagte, sie hatten gerade erst begonnen. Wenn Bridei abends einschlief, wand sich die Überlieferung durch seinen Kopf, und sein Körper tat weh, so müde war er. Er aß wie ein Pferd und wuchs entsprechend schnell. Kurz vor Mittwinter reiste Broichan zum Rat des Königs. Das Land der Priteni war in vier Teile unterteilt: Fortriu, wo Pitnochie lag, das südliche Reich von Circinn und die weiter entfernten Länder der Caitt und die Hellen Inseln. Wenn Bridei fragte, in welchem Teil Gwynedd, das Reich seines Vaters, lag, lächelte Broichan. »Gwynedd ist ein anderes Land, Bridei«, sagte er. »Die Leute deines Vaters sind keine Priteni. Kannst du dich nicht erinnern, wie lange der Ritt von dort hierher dauerte?« Diese Erinnerung war lange verblasst. Bridei schwieg. »Beim Rat werden wir Botschafter zweier Könige treffen«, sagte Broichan. »Unser Land ist geteilt; es war ein finsterer Tag, als Drust, Sohn des Girom, Christ wurde und Circinn sich von Fortriu abspaltete. Hier im Norden sind wir mit einem König gesegnet, der treu zu den alten Göttern steht. Drust, Sohn des Wdrost, bekannt als Drust der Stier, hat die Macht über das gesamte Land des Großen Tals. Wenn sie mich den Druiden des Königs nennen, meinen sie Drust den Stier. Er ist ein guter Mann.« Bridei wollte nicht, dass Broichan ging. Sein Pflegevater lächelte nicht oft; er machte keine Witze und spielte keine - 36 Spiele, wie die alten Männer es getan hatten. Aber der Druide wusste so viele interessante Dinge, und er war stets bereit, darüber zu sprechen. Er hörte gut zu, wenn Bridei etwas erklären wollte, nicht wie Mara, die immer zu viel zu tun hatte, oder Ferat, der den Jungen häufig nicht einmal zu hören schien. Broichan hatte immer Zeit für Bridei, und obwohl der Druide ihn selten lobte, hatte Bridei gelernt, einen bestimmten Ausdruck in den dunklen Augen seines Pflegevaters zu erkennen, einen Blick, der zeigte, dass er zufrieden war. Er wünschte sich, Broichan würde zu Hause bleiben. Dann kam der Tag der Abreise des Druiden. Sibel stand gesattelt im Hof bereit; vier Bewaffnete sollten Broichan eskortieren. Donal würde in Pitnochie bleiben. »Ich werde mich sehr anstrengen, Herr«, sagte Bridei, als Broichan schon neben seinem Pferd stand. »Habe ich irgendwelche Zweifel daran geäußert?« Broichan lächelte beinahe. »Du wirst es gut machen, das weiß ich. Du solltest allerdings bei all deinen Bemühungen, ein besserer Kämpfer zu werden, die geistigen Dinge nicht vernachlässigen. Und jetzt muss ich gehen. Lebe wohl, Bridei.« »Ich wünsche dir eine sichere Reise, Herr«, sagte Donal, der Sibels Zügel hielt. »Ich werde auf den Jungen aufpassen.« »Lebe wohl«, flüsterte Bridei, und plötzlich war ihm seltsam zumute. Er wollte nicht weinen; er hatte seinem Vater versprochen, nicht zu weinen. Er sah schweigend zu, wie Broichan, umgeben von seinen Wachen, auf dem Weg zum Seeufer unter den kahlen Eichen davonritt. Sie hatten eine lange Reise nach Nordosten vor sich, nach Caer Pridne, der großen Festung von Drust dem Stier. »Also gut«, sagte Donal vergnügt. »Wie wäre es heute mit Schwertern? Ich habe irgendwo ein kleines, das du vielleicht so gerade eben heben kannst, wenn du dich ein bisschen anstrengst. Was hältst du davon?« Der Unterricht im Schwertkampf beschäftigte Bridei eine Weile, und so lange es dauerte, hatte er keinen Platz in sei- 37 nem Kopf für etwas anderes außer Kraft, Gleichgewicht und Konzentration. Erst am Nachmittag, als der Himmel grau wurde, der Nieselregen wie ein dünner grauer Vorhang fiel und Brideis Arme in verspätetem Protest gegen die schwere Arbeit des Morgens anfingen sehr wehzutun, spürte er, wie er traurig wurde. Donal war irgendwo draußen bei den Bewaffneten. Mara kümmerte sich um die Betttücher und beschwerte sich darüber, dass sie bei diesem Wetter unmöglich trocknen würden. Ferat war miserabler Laune, was etwas mit feuchtem Feuerholz zu tun hatte. Es gab niemanden im Haus, mit dem man reden konnte. Brideis kleines Zimmer befand sich neben dem Raum, in dem Donal mit den anderen Bewaffneten wohnte, obwohl Donal für gewöhnlich im Flur vor Brideis Tür schlief. Er behauptete, die anderen schnarchten so, dass er nicht schlafen konnte. Durch Brideis winziges Fenster, kaum groß genug, um ein Eichhörnchen durchzulassen, konnte man zwischen den Ästen einer Birke ein Stück des silbrigen Sees schimmern sehen. Manchmal sah Bridei auch den Mond von seinem Fenster aus, und dann legte er ein kleines Opfer auf die Fensterbank, einen weißen Stein, eine Feder oder ein aus Gras geflochtenes Amulett. Broichan hatte ihm beigebracht, wie wichtig der Mond war und dass er die Gezeiten beherrschte, nicht nur im Meer, sondern auch in den Körpern von Mann,
Frau und Tier, wo er ihre Ebben und Fluten mit den Zyklen der Natur verband. Die Leuchtende war sehr mächtig; man musste ihr die entsprechende Ehre erweisen. Heute war kein Mond zu sehen, es gab nur Wolken und Regen, wie endlose Tränen des Bedauerns. Bridei lag auf seinem Bett und starrte zum Fenster hoch, einem kleinen, trüben Rechteck in der Steinwand, grau in grau. Er wusste, was Broichan sagen würde: Selbstmitleid ist Zeitverschwendung, und Zeit ist kostbar. Benutze sie, um zu lernen. Dann würde der Druide über den Regen sprechen, darüber, wie er ins Muster der Jahreszeiten passte und wie das Element des - 38 Wassers dem Mond in seinen Bewegungen ähnelte. Man konnte aus allem etwas lernen. Selbst wenn andere weggingen und einen zurückließen. Aber im Augenblick war Bridei nicht nach Lernen zumute. Ohne seinen Pflegevater schien in Pitnochie nichts so recht zu stimmen. Er setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und rezitierte die Überlieferungen, bis ihm die Augen beinahe zufielen. Dann zwang er sich aufzustehen und übte, auf einem Bein zu balancieren, mit einem Arm hinter dem Rücken, und dabei ein Auge zu schließen, wie es die Druiden zur Meditation taten. Dann faltete er seine Decken perfekt, sodass die Kanten präzise aufeinander lagen, nahm alles aus seiner Vorratstruhe und legte es auf eine neue, ordentlichere Art wieder zurück. Er wichste seine Stiefel. Er schärfte sein Messer. Es war immer noch nicht Zeit zum Abendessen. Bridei stellte sich ans Fenster und schaute in den Regen hinaus. Er dachte über den Tag nach und über den Ausdruck in Broichans Augen, als er sich verabschiedet hatte. Er dachte an das Tal der Gefallenen und an all diese Männer, die viel zu früh gestorben waren, und an ihre Familien, vor denen danach ein ganzes Leben der Trauer gelegen hatte. Er fragte sich, was wohl schwieriger war: gehen zu müssen oder zurückgelassen zu werden. Donal weitete Brideis Ausbildung aus. Er brachte ihm Griffe und Tricks bei, Gleichgewicht, Kraft und Geschwindigkeit, und auch, wie man sich angemessen um seine Waffen kümmerte. Bridei lernte, wie man einen Bogen benutzte und die Mitte einer Zielscheibe neun von zehn Malen traf. Donal begann, das Ziel weiter entfernt aufzustellen und andere Schwierigkeiten hinzuzufügen, wie Ablenkungen in dem Augenblick, in dem Bridei die Sehne losließ, oder die Anweisung, die Augen zu schließen. Sein Unterricht war nie langweilig. Seine sorgfältigen Belehrungen darüber, wie man Klingen säuberte und ölte, wie man Pfeile zurückholte und - 39 neu fiederte oder einen Bogen in hervorragendem Zustand hielt, zeigten Bridei bald, dass der langbeinige, sarkastische Donal auf seine eigene Art ebenso diszipliniert war wie der ernste Druide. An den Nachmittagen, die er zuvor mit Broichan und dem Rezitieren der Überlieferung oder dem Studium der Mysterien verbracht hatte, war er nun sich selbst überlassen. Vor Broichans Abreise hatten sie die Elemente studiert. Bridei strengte sich an, sich an alles zu erinnern, was Broichan ihm beigebracht hatte, nicht nur an die Worte der Überlieferung, die er manchmal nur halb verstand, sondern an die Bedeutung dahinter. Der zunehmende und abnehmende Mond beherrschte das Wasser und war ebenso wie die Gezeiten des Geistes gleichzeitig stark und nachgiebig. Wasser war Sturm, Flut, Regen für die Ernte, die heiße Salzigkeit der Tränen. Wasser konnte in einem gewaltigen Strom tosen, es konnte rauschend von einem Felsvorsprung in die Schlucht stürzen oder still und schweigend warten wie im Dunklen Spiegel. Dann gab es das Feuer, mächtig und verschlingend. Die Wärme des Herdfeuers konnte Menschen am Leben erhalten; das ungezähmte Toben eines Waldbrands konnte sie umbringen. Das besondere Geschenk des Flammenhüters an die Menschen bestand in dem Feuer in ihrem Herzen: einem Mut, der selbst angesichts des Todes weiterbrennen konnte. Luft war kalt und brachte das Versprechen von Schnee und den Duft von Kiefern, Luft stützte die Schwingen des Adlers hoch über den dunklen Falten des Großen Tals. Bridei glaubte zu wissen, wie es für den Adler sein musste, wenn er auf Fortriu in all seinem Glanz hinabblickte. Sein Land. Seine Heimat. Erde war der tiefe Herzschlag unter seinen Füßen, der lebendige, wissende Körper, aus dem alles entspross - Hirschkuh, Adler, Eichhörnchen, glänzender Lachs und blankäugiger Rabe, Mann und Frau und Kind, und die Anderen, das Gute Volk. Erde hielt ihn aufrecht; Erde war bereit, ihn wieder aufzunehmen, wenn seine Zeit - 40 vergangen war. Aus Erde konnte man ein Haus oder einen Weg formen, Erde konnte einen Krieger bei seinem langen Schlaf zudecken. Es gab eine ganze Welt von Bedeutungen in den kleinsten Dingen, einem verkohlten Zweig, einem weißen Kieselstein, einer Feder, einem Regentropfen. Wenn Bridei allein nach draußen ging, musste er sich an bestimmte Regeln halten. Er konnte auf die Adlernarbe klettern, solange er vorsichtig war. Im Wald durfte er bis zum zweiten Bach nach Süden gehen. Der Siedlung durfte er sich nicht nähern, ebenso wie den weiteren Bereichen des Waldes, wo er das Tal der Gefallenen entdeckt hatte. Als er Donal nach dem Grund dafür fragte, sagte der Krieger einfach nur: »Es ist gefährlich.« Da Donal stets sowohl vernünftig als auch freundlich war, akzeptierte Bridei diese Regel. Er nahm an, dass es etwas mit dem Guten Volk zu tun hatte. Und dann waren da die Abschiedsworte seines Vaters, die er nicht vergessen durfte: Gehorche und lerne. Er ging die Wege entlang, stieg auf Steine und Bäume, fand einen Dachsbau, ein verlassenes Adlernest und einen gefrorenen Wasserfall aus zerbrechlichem, messerscharfem Filigran. Er begegnete keiner lebenden Seele. Das veränderte sich abrupt eines Nachmittags, als er von einem Jagdausflug nach Hause kam. Nun ja, vielleicht
hatte er nicht wirklich gejagt, aber er trug den Bogen über der Schulter und das kleine Messer am Gürtel, auch wenn er nicht vorhatte, sie zu benutzen. Ein paar Tage zuvor hatte er ein Kaninchen erlegt, aber Donal war dabei gewesen. Sehr zu Brideis Erleichterung hatte der Schuss das Tier schnell getötet; sie hatten das Messer nicht einsetzen müssen. Bridei, ein Junge, der viel Zeit zum Nachdenken hatte, wusste, es hätte auch anders ausgehen können. Heute hatte er seine Waffen mitgenommen, weil es vernünftig war, das zu tun - das war alles. Trugen Donal und die anderen nicht stets ein kleines Messer im Stiefel? Bridei wollte eigentlich nur bis zum Birkenwald gehen und - 41 sich auf die Steine an dem großen Wasserfall setzen, den sie den Schleier der Herrin nannten, um dort nach Adlern Ausschau zu halten. Die Berge trugen schon Mützen aus frühem Schnee, und das Wasser des Sees spiegelte einen schiefergrauen Winterhimmel. Die Rufe der Vögel klangen traurig und hallten aus entfernteren Bereichen des Waldes in klagenden Fragen und Antworten wider. Vielleicht war es die Kälte, die die Vögel so rufen ließ; wie sollten sie im Winter Futter finden, wenn die Beeren an den braunblättrigen Büschen schrumpelten und das süße Gras mit Schnee bedeckt war? Vielleicht riefen sie auch einfach nur, um Musik für diese großartige, leere Landschaft zu machen. Immerhin stand der Winter kurz bevor, und die wilden Tiere wussten das ebenso gut wie Bridei. Winter war die Zeit, in der die Erde schlief, in der sie träumte und sich auf das vorbereitete, was kommen würde. Das hatte zu Brideis frühesten Lektionen gehört. In einer solchen Zeit sollte sich ein Junge seiner Fantasie öffnen, den Stimmen, die in den anderen Jahreszeiten vielleicht von geschäftigem Lärm übertönt wurden. Man konnte aus allem etwas lernen, aber besonders aus Träumen. Der Schleier der Herrin war nicht gefroren; die Strömung war zu stark, um dem Eis Zugriff zu geben. Der Teich unterhalb des Falls war mit winzigen Kristallen gesäumt, und Reif überzog die Farnwedel. Bridei kletterte über die Steine nach oben. Dort blieb er eine Weile stehen und beobachtete den Himmel, aber keine Adler flogen über ihn hinweg. Er übte das Stehen auf einem Bein und fragte sich, welches seiner Augen die Wahrheit wohl am besten erkennen würde. Nach einer Weile schliefen seine Füße ein, und seine Ohren fingen trotz der Schaffellmütze an wehzutun, also hob er seinen Bogen und den Köcher wieder auf und machte sich auf den Heimweg. Man konnte sich darauf verlassen, dass Ferat an einem solchen Tag heiße Haferfladen bereit hielt, und Bridei hatte Hunger. - 42 Seitlich und unterhalb des Wasserfalls begann der felsige Hügel, und hier drängten sich Stechpalmenbüsche mit ihren glänzenden, dunklen Blättern. Bridei hatte vielleicht zwei Schritte auf dem Weg am Fuß der Felsen zurückgelegt, als er es hörte: ein Schnappen, leise und unbedeutend. Er erstarrte. Dort unter den Bäumen, nicht weit entfernt, hatte sich etwas bewegt, etwas, das sich nun ebenso wenig rührte wie er selbst. Etwas folgte ihm, verfolgte ihn. Ein Wildschwein? Eine große Katze? Brideis Herz begann warnend zu schlagen. Seine Füße wollten unbedingt rennen. Er war für seine Größe ein schneller Läufer, er würde nicht lange brauchen, um die Steinmauer zu erreichen, die Broichans äußeres Feld umgab, und dort stand ein Mann Wache. Sein ganzer Körper war fluchtbereit. Aber sein Verstand sagte Nein. Was, wenn es der Urisk war? Der Urisk brauchte nicht zu rennen. Sobald er einen sah, sobald er einen haben wollte, blieb er wie ein Schatten bei einem, ganz gleich, wie schnell man war. Es gab nur eine Fluchtmöglichkeit, eine Möglichkeit, ihn zu übertölpeln: Man musste so reglos dastehen, dass er einen nicht sehen konnte. Bridei konnte sehr gut still stehen. Dann wurde der knackende Zweig zu Schritten, die überhaupt nicht mehr verstohlen klangen, und als Bridei sich umsah, entdeckte er einen ganz in Braun und Grau gekleideten Mann, einen Mann, der im Winterwald nicht leicht zu erspähen war. Der Mann hatte sich eine Kapuze mit Augen schlitzen über das Gesicht gezogen und trug einen Bogen. Er verharrte und starrte Bridei an. Noch während Bridei zurückstarrte und sich nicht von der Stelle rühren konnte, legte der Fremde einen Pfeil auf und machte sich daran, den Bogen zu spannen. Keine Zeit zu fliehen, kein Versteck in Sicht. Bridei war entschlossen, nicht zu schreien. Er würde auch nicht um Gnade bitten, denn er war Bridei, Sohn des Maelchon, und sein Vater war ein König. Der Angreifer machte einen Schritt - 43 vorwärts, zielte und spannte. Bridei wich gegen die Felsen zurück, die Brust angespannt, das Herz laut klopfend. Die Felsen hinter ihm fühlten sich rau an, sie waren voller Risse und Spalten und mit weichem, feuchtem Moos überzogen. Teil der Erde, Teil des Herzschlags ... Als der Finger des Mannes sich an der Sehne spannte, schlüpfte Bridei rückwärts in die Falten des Steins und die trübe Sicherheit einer winzigen, engen Höhle. Er drückte sich fest gegen den Stein und versuchte, nicht mehr sichtbar oder greifbar zu sein. Draußen fluchte der Mann wütend und ausführlich. Bridei wartete und versuchte das Atmen nicht zu vergessen. Ein Schwert wurde in den schmalen Spalt in den Felsen gesteckt, schnitt nach oben und unten, tastend, suchend. Bridei drückte sich an die Wand und machte sich so klein wie möglich. Das Schwert hackte und stach; es sah aus, als könnte sein Besitzer es nicht in die richtige Position bringen, denn der Spalt war zu eng. Bridei fragte sich jetzt, wie es ihm jemals gelungen war, sich hindurchzuzwängen. »Gottverfluchte Druidenbrut!«, murmelte eine Stimme. »Rauch, das ist es, was wir brauchen ...« Dann gab es andere Geräusche, und Bridei wusste, dass der Mann jetzt Zweige, Laub, Farnwedel sammelte, Dinge, die brennen würden. Sie würden überwiegend feucht sein, aber Bridei hatte schon gesehen, wie Broichan nur mit einem Fingerschnippen Feuer angezündet hatte, und er bewegte sich vorsichtig in der engen Höhle,
sodass er hinausspähen konnte. Der Mann häufte tatsächlich Zweige und Laub am Fuß der Felsen auf und bewegte sich dabei schnell und entschlossen. Es hatte keinen Sinn, um Hilfe zu rufen. Wenn dieser Krieger gut mit einem Feuerstein umgehen konnte, würde schon dichter Rauch in die Höhle dringen, bevor eine Wache von den Feldern auf den Hügel hinaufrennen konnte. Wenn Bridei nicht in diesem Loch sterben oder hinausgehen und dort niedergemetzelt werden wollte, würde er sich selbst retten müssen. - 44 Er mühte sich, in dem engen Spalt in den Felsen einen Pfeil aufzulegen. Seine Hände zitterten, und es gab nicht genug Platz, um den Bogen vollständig zu spannen. Der Mann kniete jetzt, versuchte vielleicht schon, Feuer zu machen. Er war zu niedrig für einen Schuss. Das Messer - Bridei konnte es so benutzen, wie er es bei Donal und den anderen gesehen hatte, die ihre Klingen mitunter zu Übungszwecken in einem wirbelnden Bogen warfen. Er hatte es selbst nie versucht, aber das musste nicht bedeuten, dass er es nicht konnte. Bridei stellte den Bogen beiseite und tastete nach dem Messergriff. Er würde nur eine einzige Gelegenheit haben: wenn der Mann sein kleines Feuer entzündet hatte und zurücktrat, um es zu bewundern. Eine einzige Gelegenheit. Danach würde er wohl irgendwie nach draußen springen müssen, ungeachtet der Flammen. Vielleicht würde das Laub ja kein Feuer fangen. Vielleicht würde sein Dolch nicht treffen. Nein, er war der Sohn eines Königs. Ein dünner Rauchfaden stieg am Eingang des Spalts auf, und beißender Geruch breitete sich drinnen aus. Bridei musste sich anstrengen, um nicht zu husten. Der Rauchfaden wurde zu einem Band, einer kleinen Wolke, und plötzlich knisterte es. Der grau gekleidete Meuchelmörder richtete sich auf und drehte sich um, und einen Augenblick lang drehte er der Höhle den Rücken zu. Bridei zielte, hielt die Waffe im Gleichgewicht und warf sie, und im gleichen Augenblick waren eilige Schritte zu hören, und eine vertraute Stimme rief etwas. Während das Messer durch den dichteren Rauch wirbelte, schoss eine Gestalt durch Brideis Blickfeld, eine wütende, langbeinige Gestalt, die sich auf den grau gekleideten Mann warf, und dann waren sie beide nicht mehr zu sehen. Das Messer war verschwunden. Bridei wich zurück. Ein seltsames Gurgeln erklang und verklang wieder in einem keuchenden Seufzen. Die Flammen begannen niederzubrennen; jemand trat das Feuer aus. Ein anderer sagte: »Du hast ihn umgebracht.« Die kleine Höhle war vol- 45 ler Rauch; Brideis Augen brannten, seine Nase juckte, und es war sehr schwierig, nicht zu husten. Er drückte die Augen zu und kniff die Lippen zusammen. Er hatte es falsch gemacht. Jemand war tot. Sein Messer hatte jemanden getötet. Wahrscheinlich Donal. Donal war gekommen, um ihn zu retten, und statt zu warten, wie es richtig gewesen war, hatte Bridei das Messer geworfen, ohne sich gut genug umzusehen, ohne die Gefahren abzuschätzen, wie Donal es ihm beigebracht hatte. Er hatte etwas wirklich Schlimmes getan, und jetzt zitterte er und weinte wie ein kleines Kind; er konnte einfach nicht aufhören. Stimmen erklangen draußen. »Der ist erledigt. Hab ihm das Genick gebrochen, diesem Abschaum.« »Du hättest ihn lieber am Leben lassen sollen; dann hätten wir rausfinden können, wer ihn geschickt und wer ihn bezahlt hat. Warum hast du ... Donal?« Dann ein Rascheln, als versuchte jemand erfolglos aufzustehen. Es wurde schwieriger und schwieriger, nicht zu husten. Bridei musste unbedingt die Nase hochziehen; sie lief wie ein Bach bei Hochwasser. »Was ist denn, Mann? Du blutest wie ein abgestochenes Schwein! Hat der Kerl dich erwischt?« »Das ist nichts. Nur ein Kratzer. Geht, sucht, ob noch mehr von ihnen in der Nähe sind, und beeilt euch!« Schritte auf dem Weg, viele Schritte, und das Klirren von Metall, und dann Stille. Oder doch beinahe; Bridei konnte Atmen hören - sein eigenes - und sein leises Schniefen, und andere Atemzüge, die ein wenig angestrengt klangen. Donal war am Leben. »Bridei?« Das war kaum mehr als ein Flüstern. »Bist du irgendwo in der Nähe, Junge? Antworte, verdammt noch mal!« Donal klang seltsam. Vielleicht war er wütend. Ein Krieger hätte sich nicht feige versteckt und dann das falsche Ziel getroffen und auch noch angefangen zu weinen. Bridei konnte sich nicht rühren und kein Wort herausbringen. - 46 »Bridei!« Donal versuchte zu rufen. Bridei konnte nun ein wenig von ihm sehen, seine Schulter in dem vertrauten alten Lederwams, und die andere Hand, die er darauf drückte. Zwischen den Fingern lief Blut heraus. »Bridei, du dummer Junge, wenn du dich hast umbringen lassen, dann - dann...« Die Stimme des Kriegers verklang; Bridei hatte ihn noch nie so gehört; es war, als liefe das Leben schneller aus ihm heraus, als Sand durch ein Stundenglas rann. Bridei zwängte sich vorwärts, schlüpfte zwischen den Felsen hindurch, stieg über den schwelenden Laubhaufen und stellte sich klein und still neben Donal. Er versuchte, nicht zu dem anderen Mann hinzuschauen, der nicht weit entfernt lag, den Kopf in einem seltsamen Winkel verdreht. Donal saß auf dem Boden; er hatte die Augen geschlossen, und seine Gesichtsfarbe erinnerte an alten Haferbrei. Es war ziemlich viel Blut an seiner Schulter und dem Oberarm, und er hatte Brideis kleines Messer locker in der rechten Hand. »Es tut mir Leid«, sagte Bridei feierlich und schniefte gewaltig. »Ich wollte den anderen Mann treffen, den, der mich umbringen wollte.« Donal riss die Augen auf. Er grinste plötzlich, und er kam halb auf die Beine, dann sackte er ächzend wieder zusammen. »Die Blütenreiche sei gepriesen! Wo warst du, du kleiner - da drin? Wie ist das möglich? Dieser
Spalt ist nicht mal breit genug für einen Welpen und erst recht nicht für einen großen Junge wie dich! Ich kann es nicht glauben!« Es stimmte. Die Öffnung sah so eng aus, als könnte Bridei kaum eine Schulter hineinschieben, ganz zu schweigen vom Rest. Kein Wunder, dass der Mann ihn nicht mit dem Schwert hatte erreichen können... Der Gedanke an diese zuckende, reißende Klinge bewirkte, dass sich Bridei plötzlich sehr seltsam fühlte, und er setzte sich abrupt neben Donal. »Erzähl es mir.« Donais Stimme hatte sich wieder verändert; nun war er wirklich wütend, aber Bridei spürte, dass - 47 dieser Zorn nicht ihm galt. »Erzähl mir, was hier passiert ist, Junge. Alles, jede Einzelheit, alles, was du gesehen hast.« »Du blutest«, sagte Bridei. »Ich weiß, wie man einen Verband anlegt; Broichan hat es mir gezeigt. Ich werde das jetzt machen, und dann erzähle ich dir auf dem Heimweg, was passiert ist. Du solltest eine Kompresse aus Beifuß und Weinraute auflegen, Met trinken und früh zu Bett gehen. Das würde mein Pflegevater dir raten.« Donal sah ihn schweigend an. »Es tut mir Leid, dass ich dir wehgetan habe«, erklärte Bridei noch einmal und spürte, wie seine Unterlippe Unheil verkündend zu zittern begann. »Ah ja«, sagte Donal, wieder mit seltsam belegter Stimme. »Wir sollten vielleicht ein Hemd in Streifen reißen. Wir werden deins nehmen müssen; meins kann ich nicht über diese Schulter ziehen. Aber zieh danach sofort die Jacke wieder an, es ist kalt hier oben. Und beeil dich. Diese Sache mit dem Met klingt ziemlich verlockend.« - 48 KAPITEL ZWEI Es war ein Versehen gewesen, sagte Donal. Dieser Mann und seine Genossen hatten Broichan umbringen wollen, nicht Bridei. Bridei wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte den Ausdruck in den zusammengekniffenen Augen des Mannes gesehen, hatte beobachtet, wie er mit dem Pfeil auf ihn zielte. Sicher, Broichan hatte Feinde. Ein Mann, der jedermanns Freund war, brauchte keine Wachen und keine Riegel an den Türen. Vielleicht waren diese Angreifer tatsächlich Feinde des Druiden, aber sie hatten Bridei umbringen wollen. Den Grund dafür wusste er nicht. Sicher, sein Vater war ein König, aber Gwynedd war weit entfernt und hatte seine eigenen Ratssitzungen und seine eigenen Kriege, die nichts mit denen der Priteni zu tun hatten. Und sein Vater hatte ihn weggeschickt. Wenn er irgendwie wichtig gewesen wäre, hätte seine Familie ihn doch sicher behalten. Der Angriff war einfach nicht zu erklären. Der Mann, den Donal getötet hatte, wurde in einer Ecke des Schafspferchs begraben. Broichans Wachtposten hatten noch andere gesehen, aber die waren in den Wald entkommen, obwohl die Bewaffneten des Druiden sie in wilder Jagd verfolgten. Man wusste nicht, wo diese Männer hergekommen waren und wer sie beauftragt hatte. Donal hatte darüber geflucht, dass der Mann ihn gezwungen hatte, ihn zu töten, wenn er nicht selbst getötet werden wollte; er hätte ihm - 49 lieber ein paar blaue Flecken verpasst, ihn gefesselt und auf die eine oder andere Art die Wahrheit aus ihm herausgeholt. Aber dafür war es jetzt zu spät; der grau gekleidete Mann konnte seine Geschichte nur noch den Würmern erzählen. Bridei durfte nun nicht mehr allein umherziehen, sondern musste mindestens zwei Bewaffnete mitnehmen, und durfte das Anwesen auch dann nur verlassen, wenn es wirklich notwendig war. Die täglichen Ritte wurden abgekürzt, denn Donal hatte viel zu tun. Es gab viele angespannte, leise Worte, und alle Männer sahen wachsam und nervös aus. Mara murmelte über dem Waschtrog vor sich hin. Ferat fluchte, während er Gänse rupfte, und Bridei lernte ein paar neue Wörter, die er vorsichtshalber nicht wiederholte. Er verbrachte viel Zeit im Stall damit, Perle zu striegeln und mit ihr zu sprechen; ihr warmer Körper und die freundlichen Augen machten sie zu guter Gesellschaft - jedenfalls für ein Pferd. Nachmittags lernte er. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie leer das Haus wirkte, wie still. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie klein er war, wie wenig er wirklich darüber wusste, wie man stark war und wie man sich wehrte. Er versuchte, sich keine Sorgen um Broichan zu machen und sich nicht zu fragen, was ihn so lange aufhielt. Ohne den Druiden hatte der Haushalt zum Torfest, dem Beginn der dunklen Zeit, kein Ritual veranstaltet, aber Fidich hatte an diesem Morgen ein Schaf geschlachtet, da irgendeine Form von Opfer notwendig war. Mara sagte, am Ufer des Schlangensees würde es am Abend ein großes Feuer aus Kiefern-, Eschen- und Eichenholz geben. Bridei wäre gern hingegangen und hätte zugesehen, wie die Leute durch die Flammen sprangen, wie Mara ihm erzählt hatte. Aber es wäre sinnlos gewesen, Donal zu fragen, wenn er ohnehin wusste, dass die Antwort Nein lauten würde. Also hatte Bridei nur eine kleine Schale Met und einen Teller mit Haferkuchen auf die Schwelle vor der Küche gestellt. Das war ein Zeichen des Respekts; er lud die Toten ein, die Gaben des - 50 Haushalts zu teilen, und hieß sie in dieser Nacht willkommen, in der die Grenzen durchlässig wurden und die Welten sich miteinander vermischten. Am Morgen waren Met und Kuchen weg; es waren nur ein paar helle Krümel geblieben. Die Tornacht war nun lange vorüber, und bald würde es Mittwinter sein. Der Rat des Königs war zweifellos
längst zu Ende, aber sie hatten immer noch nichts von Broichan gehört. Die Nächte wurden länger. In Küche und Halle brannten den halben Tag lang Lampen und beleuchteten Räume, die stets voller Rauch waren, denn das Feuer brannte bis auf die Zeit, in der alle schliefen, ununterbrochen. Mara murmelte etwas über Ruß und hortete Ölvorräte. Bridei wickelte sich in seinem kleinen Zimmer in die Decke, betrachtete das Flackern des Kerzenlichts auf den Wänden und versuchte, sich auf die Überlieferung zu konzentrieren. Es fühlte sich an, als wäre sein Pflegevater schon eine Ewigkeit weg. Wann würde Broichan nach Hause kommen? Drei Tage vor Mittwinter fing es an zu schneien. Es hatte schon seit dem frühen Morgen in der Luft gelegen; diese Ruhe und dieses seltsame, trügerische Gefühl von Wärme, als lockerte die dichte Wolkendecke den Griff des Winters, obwohl sie die Sonne verdeckte, waren unmissverständlich. Bridei half den Männern, die Schafe von einem Feld aufs andere zu bringen. Die Bewaffneten hielten in den oberen Bereichen von Broichans Land weiterhin Wache; ihre kräftigen Gestalten und die blau tätowierten Gesichter waren unter den kahlen Eichen am Waldrand deutlich zu sehen. Ihre Wachen waren im Winter kürzer; immer wieder kamen Männer ins Haus, um Bratenfleisch zu essen und gewürztes Bier zu trinken, und andere zogen viele Schichten Kleidung übereinander, griffen nach Fellumhängen, ledernen Helmen und schweren Stiefeln und machten sich für einen weiteren Kampf mit der Kälte bereit. Ferat hatte so viel zu tun, dass ihm nicht mal Zeit zum Murren blieb. Er hatte jetzt zwei Helfer, und beide hatten solche Angst vor dem aufbrausenden - 51 Koch, dass sie ständig so schnell arbeiteten, wie sie konnten, und darum beteten, keine Fehler zu machen. Es fing an zu schneien, als die letzten Mutterschafe von den aufgeregten Hunden durchs Tor getrieben wurden. Brideis Aufgabe bestand darin, auf der Steinmauer am Tor zu stehen und dafür zu sorgen, dass sie die richtigen aussonderten. Die Landwirtschaft auf Broichans Hof war einem Mann namens Fidich anvertraut. Fidich war eindeutig einmal ein bedeutender Krieger gewesen, denn die Muster auf seinem Gesicht waren beinahe so kunstvoll wie bei Donal, und er hatte auch welche auf den Händen, Wirbel und Spiralen vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen. Fidich hatte kräftige Schultern und eine finstere Miene, und sein rechtes Bein endete kurz unterhalb des Knies. Er bewegte sich mit Hilfe einer Krücke aus Eschenholz und konnte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auch das schwierigste Gelände bewältigen. Er wohnte allein in einer Hütte auf der anderen Seite der ummauerten Felder. Kein Schaf lammte zu früh, kein Schwein wagte sich auf ein verbotenes Stück Land, ohne dass Fidich es erfuhr. Das Bein machte allerdings einiges für ihn schwieriger. Also war es nützlich, einen Jungen am Tor zu haben. »Also gut, Junge, das war das Letzte!«, rief Fidich über das aufgeregte Bellen der drei großen Hunde hinweg, und Bridei zog das Tor zu und verriegelte es. Die Schafe auf der anderen Seite, die den Winter über Schutz unter struppigen Büschen finden und von dem Wenigen leben würden, was man im Haus entbehren konnte, wirkten ein wenig verwirrt, dann wanderten sie weiter, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Der Schnee begann mit einzelnen Flocken, die in einem trägen, anmutigen Tanz zur Erde schwebten. Während Männer, Junge und Hunde hügelabwärts zum Haus zurückkehrten, begann ein leichtes Wirbeln und Wehen, und auf dem vom Frost hart gewordenen Schlamm des Wegs sam- 52 melte sich eine dünne Schneeschicht an. Auf der anderen Seite des Sees verschwanden die bewaldeten Hügel hinter einer tiefen Wolkendecke. Mehr Wind kam auf, und die Kiefern ächzten zur Antwort. Als Bridei und die anderen das Haus erreichten, hatten die Hunde eine dünne Schneedecke auf dem zottigen grauen Fell, und nun heulte der Wind ernsthaft. Bridei schaute noch einmal den Hügel hinauf und konnte weder das Feld sehen, auf dem sie gearbeitet hatten, noch die Schafe oder die Wachen, die hinter dem Feld auf und ab gingen. Es gab nur noch Weiß. »Wir werden einschneien«, stellte Fidich fest. »Ich kann nicht bleiben; ich muss nach Hause, so lange ich den Weg noch finden kann. Es wird eine schwere Nacht für die Jungs, die Wache stehen.« »Ja«, sagte ein anderer Mann. »Aber wer immer in einem solchen Schneesturm versucht hierher zu gelangen, muss dumm sein; er wird im Kreis herumirren, und wenn er sich hinlegt, um ein bisschen auszuruhen, wahrscheinlich nie wieder aufstehen. Bist du sicher, dass du nicht erst noch einen Bissen essen willst?« »Lieber nicht; ich muss mein eigenes Feuer anzünden, und ich habe meinen Hafer«, sagte Fidich, wie er es immer tat. Selbst in der Halle vor dem Feuer war es kalt. Bridei hatte es nicht eilig, ins Bett zu gehen, denn er wusste, wie eiskalt es in einer solchen Nacht in seinem kleinen Zimmer sein würde. Alle waren still. Mara flickte im Lampenlicht, Ferat saß auf einer Bank und starrte verdrießlich in seinen Bierbecher. Die meisten Männer hatten sich bereits schlafen gelegt. Donal saß am Tisch und arbeitete an ein paar Pfeilen. Eine Ansammlung kleiner Messer und anderer Werkzeuge lag vor ihm bereit, und außerdem hatte er Federn und Schnur und dünne Holzstäbe. Er pfiff leise vor sich hin. Bridei saß neben ihm, zu müde, um mehr zu tun als zuzusehen. Dann flog plötzlich die Hintertür auf, und alle erschraken. - 53 Kalte Luft fegte aus der Küche in die Halle und ließ Funken aus der Feuerstelle fliegen. Donal packte sein größtes Messer und sprang auf, und auch die anderen Bewaffneten eilten sich, den Durchgang zwischen Küche und Halle zu blockieren. Mara stellte sich schützend vor Bridei, und ihre breite Gestalt verhinderte, dass er etwas sah.
»Was zum...«, konnte Ferat gerade noch sagen, bevor man hörte, wie die Tür wieder zugeschlagen wurde, und die Bewaffneten traten zurück und ließen zwei Gestalten durch, von denen eine die andere stützte. Einer der Männer, die da hereinkamen, war Cinioch, der oben an der Feldmauer im Schnee Wache gehalten hatte, und der andere mit dem bleichen Gesicht, bläulichen Lippen und den Kratzern und blauen Flecken einer ungestümen Schlägerei war Uven, einer der Bewaffneten, die Broichan auf seiner Reise zum Rat des Königs begleitet hatten. Dann gab es Arbeit für Bridei. Er nahm einen Umhang vom Haken an der Feuerstelle in der Küche, holte einen Becher Bier und drückte ihn Uven in die zitternden Hände. Mara scheuchte die Hunde von der Feuerstelle in der Halle weg. Donal zog die Bank näher ans Feuer, und die anderen Männer halfen dem halb erfrorenen Reisenden, sich dort niederzulassen. Uven konnte einige Zeit kein Wort herausbringen; er begann immer wieder krampfartig zu zittern, und der Becher wackelte derart in seinen Händen, dass er sich Bier auf den Waffenrock goss. Schließlich gelang es ihm zu trinken, und ein wenig später aß er etwas heißen Haferbrei, von dem Ferat eine großzügige Portion gebracht hatte. »Gut«, murmelte Uven, und sein bleiches Gesicht bekam ein klein wenig Farbe. Dann sah er Donal an. »Botschaft«, sagte er. »Dringend. Nur für dich.« »Bridei«, sagte Donal. »Es ist Zeit zu schlafen; sei ein braver Junge und verschwinde.« »Was ist passiert?« Bridei hörte, wie jämmerlich seine Stimme klang, schrill und verängstigt. Ein braves Kind wi- 54 dersetzte sich keiner Anweisung, und er war immer brav. Aber er musste die Wahrheit wissen. »Was ist mit Broichan?« Alle sahen ihn schweigend an, dann murmelte Uven: »Keine Zeit, Donal.« »Bridei«, sagte Donal, hockte sich nieder und sah Bridei in die Augen, »das hier ist Männersache, und du bist noch kein Mann, obwohl du eines Tages einen guten Mann abgeben wirst. Wenn du Broichan wirklich helfen willst, tust du jetzt, was ich dir sage. Nimm jetzt deine Kerze und geh in dein Zimmer. Wenn ich gehört habe, was Uven zu sagen hat, komme ich und erzähle dir davon. Das verspreche ich dir.« Er lag im Bett und wartete. Die Decken machten die Kälte seines kleinen Zimmers ein wenig erträglicher. Gegen die Kälte in seinem Inneren, die beißender war als der Winter und tiefer als ein Brunnen, halfen sie nicht. Broichan war tot. Welche andere Erklärung konnte es für solche Eile, solche Heimlichkeit geben? Donal wollte ihn schützen und ihm die Nachricht schonend beibringen. Nun, das würde er nicht brauchen. Das war einfach der nächste Teil des gleichen alten Musters. Man ließ zu, dass einem etwas ans Herz wuchs, und dann war es plötzlich weg. Vielleicht war es besser, überhaupt nichts und niemanden lieb zu gewinnen. Bridei fragte sich, ob der Druide seinem Mörder in die Augen geschaut, ob er beobachtet hatte, wie sich der Finger an der Sehne spannte. Er hatte dem Tod sicher gelassen ins Auge gesehen, dachte er. Man kann aus allem etwas lernen, hätte er gesagt. Die Kerze flackerte in der Zugluft; Schatten zuckten über die Wände, keine Rehe, Adler und Hasen, sondern Gespenster, Visionen, Erinnerungen aus der Anderwelt. Vielleicht war der Druide ja bereits dort. Bridei nahm sich vor, nicht zu weinen. Sie würden ihn jetzt wegschicken, nahm er an. Nach Hause, nach Gwynedd. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht vorstellen, wie das sein würde. Nach einer Weile klopfte Donal an die Tür, kam leise he- 55 rein und setzte sich auf den Rand des schmalen Betts. Im Kerzenlicht erwachten die Muster auf seinem Gesicht zu einem seltsamen Eigenleben, bewegten sich und änderten sich, als wären auch sie Manifestationen der Geisterwelt. Bridei wartete auf die Worte, von denen er wusste, dass sie kommen würden. »Dein Pflegevater hat ein wenig Ärger«, sagte Donal. »Er ist krank und noch weit von zu Hause entfernt.« »Krank?« Bridei spürte, wie irgendwo in ihm Hoffnung erwachte, eine winzige Flamme, die ihr Bestes tat, nicht wieder auszugehen. »Er ist todkrank, Bridei; ich will dich nicht belügen. Es sieht so aus, als hätte jemand versucht, ihm mit einer bestimmten Kombination von Kräutern Schaden zuzufügen, die Broichan ohne es zu wissen bei einer Mahlzeit zu sich genommen hat. Er erholt sich, so gut er kann; ein Druide ist sich selbst der beste Arzt. Aber er kann dort, wo er ist, nicht bleiben; wir müssen ihn nach Hause holen.« »Wir?« Donais grimmige Miene wurde sanfter. Er sah Bridei sehr direkt an. »Ich und ein paar von den Jungs. Es ist ein langer Weg, Bridei; den ganzen Weg die Küste entlang bis beinahe zum Hof des Königs in Caer Pridne und wieder zurück. Wir müssen aufbrechen, bevor wir hier einschneien.« »Ich könnte helfen«, sagte Bridei und setzte sich in dem Versuch, größer zu wirken, gerader hin. »Das weiß ich, Junge. Ich weiß aber auch, wenn ich dich nur einen Schritt über die Grenzen von Pitnochie tun lasse, wird Broichan mich rauswerfen, sobald er davon hört. Selbstverständlich, wenn du so versessen darauf bist, mich loszuwerden...« »Ich wünschte nur, du würdest nicht weggehen«, flüsterte Bridei. »Tatsächlich«, erklärte Donal, »gibt es etwas, das du hier für mich tun müsstest. Ich kann Glückspilz nicht mitnehmen, und er vermisst mich immer, wenn ich weg bin. Ich - 56 brauche dich hier, damit du ihn hin und wieder striegelst und ihm einen oder zwei Witze erzählst, damit er bei
Laune bleibt. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du hier bleiben und dich darum kümmern könntest. Ich weiß, dass es nicht einfach ist.« Bridei nickte. In den Worten des Kriegers lag ein gewisser Trost. Aber er musste trotzdem fragen: »Was, wenn du nicht wiederkommst?« »Nicht wiederkommen?« Donal zog überrascht die Brauen hoch. »Ich, Donal, Held von mehr Schlachten, als du Finger und Zehen hast, um sie zu zählen? Selbstverständlich komme ich zurück! Was redest du da, glaubst du, ich bin nicht im Stande, diesen Auftrag zu erledigen?« Bei seinen herausfordernden Worten klang Ironie durch. Bridei blickte zu dem Krieger auf und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick später streckte er die Hand aus, und Donal packte sie fest. »Wir werden ihn sicher wieder nach Hause bringen, Bridei, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.« »Donal?« »Ja, Junge?« »Es sollte ziemlich schwierig sein, einen Druiden zu vergiften.« Sie hatten zusammen geübt, wie man Kräuter am Geruch erkannte, Broichan und er, beide mit fest verbundenen Augen. Broichan hatte sich nie geirrt. Donal nickte finster. »Glaub nicht, dass mir das nicht auch schon durch den Kopf gegangen ist.« »Wer könnte so etwas tun?« »Das möchte ich gerne herausfinden«, sagte Donal. »Aber eins nach dem anderen. Broichan wird besser heilen, wenn er wieder zu Hause ist, mit dir an seiner Seite und uns anderen auf Wache. Ich lasse das Haus in deinen Händen, Bridei. Du solltest für deinen Pflegevater beten. Wirst du das tun?« »Ja«, flüsterte Bridei. Es gelang ihm, nicht zu weinen, als Donal sich verabschiedete, es gelang ihm, ernst und trocke- 57 nen Auges zuzusehen, wie sein Freund sich zu Fuß im ersten Morgenlicht auf den Weg machte, zusammen mit nur vier Männern, die alle warm gekleidet und schwer bewaffnet waren. Ob er weinte, als Donal weg war und er wieder allein in seinem Zimmer hockte, ging nur ihn und die Schatten etwas an. Wintersonnwende: der See tintenschwarz, die Hügel bläulich weiß unter einem tief hängenden Himmel, Kiefernzweige, die sich unter ihrer Last bogen, bis es zu schwer für sie wurde, der Schnee in einer pulvrigen Lawine herunterfiel und die Nadelbaumzweige stark und zäh wieder nach oben federten. Die Schafe blieben dicht am Haus und drängten sich auf der Suche nach Wärme dicht zusammen. Der Rauch des Herdfeuers stieg nur träge auf und blieb wie ein Tuch über dem Haus hängen, und selbst die Hunde regten sich morgens nur widerwillig. Der Wassertrog war fest zugefroren, und Fidich brach das Eis mit einem Stab, damit sein Vieh trinken konnte. Bridei hatte geholfen, die Mutterschafe zu füttern, die im Stall untergebracht waren. Er hatte auch die Schweine nebenan besucht. Dann hatte er einige Zeit im Pferdestall verbracht, Perle gestriegelt und Glückspilz Witze erzählt. Es waren keine besonders guten Witze, aber Glückspilz war offenbar zufrieden. Perle war heute unruhig; vielleicht spürte sie, dass es eine Zeit der Veränderung war. Heute würde sich das Jahr wieder dem Licht zuwenden, so schwer das an einem solchen Tag auch zu glauben war. Bei all ihrer Angst um Broichan und die Männer, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihn nach Hause zu holen, verstanden die Menschen im Haushalt doch, wie wichtig dieser Abend war. Die Männer hatten einen schweren Eichenklotz hereingebracht, der nun neben der Feuerstelle bereit lag. Bridei, begleitet von zwei Wachen, holte einen guten Vorrat an Stechpalmenzweigen, Efeuranken, Kiefernzweigen - 58 und sogar ein oder zwei Mistelzweige aus dem Wald, an denen noch Beeren und Blätter hingen, denn die Mistel war ein Gewächs, das es an Seltsamkeit mit den Druiden aufnehmen konnte. Mit Maras Hilfe stellte er Girlanden her, und nun hatte jede Tür eine goldene Krone. Ferat besprenkelte den großen Eichenklotz mit Met und Mehl, und Bridei schmückte ihn mit Efeuranken mit glänzenden Blättern. Am Abend löschten sie das Feuer, legten den Festklotz in die Feuer stelle und versammelten sich davor in der Kälte. Sie löschten die Lampe, und bis auf eine einzige Kerze war es vollkommen dunkel. Stirnrunzelnd vor Konzentration tat Bridei sein Bestes, obwohl er sich nicht an alle Worte des Rituals erinnern konnte. Er erzählte die Mittwintergeschichte darüber, wie die Göttin einen verwundeten Uralten die ganze Nacht in ihren Armen gewiegt hatte, bis er sich in ein kleines goldhaariges Kind verwandelte, das in den Himmel aufflog - und zur Sonne wurde, die nach der Dunkelheit wieder aufleuchtete, Hoffnung wiedergeboren aus dem Tod. Jemand löschte die Kerze. Dann schlug Fidich einen Funken, blies auf eine Hand voll Zunder und zündete einen Span an. Damit brachten sie ein kleines Stück verkohltes Holz zum Brennen, das einzige Überbleibsel des Mittwinterscheits vom letzten Jahr. Das wiederum setzte schon bald das neue Scheit in Brand, das Alte wich dem Neuen, und Wärme breitete sich in der Halle aus. Bridei ging in entgegengesetzter Richtung im Kreis herum, um das Ritual zu beenden, und dann war es Zeit, sich zu entspannen und den Rest des Abends zu genießen. Ferat lächelte, als er das Festmahl auftischte: Bier und Met, Gewürzkuchen und sorgfältig gelagerten Käse. Mara packte einen Korb für die bedauernswerten Männer, die Wache standen. Uven, der sich nun vollständig von den Strapazen erholt hatte, war schon beim dritten Becher Bier. Vergnügtes Schwatzen, der Duft von Ferats gutem Essen, das Grinsen und die Witze erweckten das Haus zu neuem Leben, ein
- 59 perfektes Spiegelbild des Rituals, das sie gerade durchgeführt hatten. Aber Bridei war plötzlich müde; er nippte nur an dem verwässerten Met, den sie ihm gegeben hatten, knabberte an seinem Kuchen und gab den Rest heimlich dem nächsten Hund. »Gute Nacht«, sagte er zu allen und jedem, aber einer der Männer erzählte gerade eine Geschichte, und alle lachten und niemand hörte ihn. Sie bemerkten auch nicht, dass er in sein Zimmer davonschlich, sich in die Decken wickelte und zu den Hintergrundgeräuschen des fröhlichen Festes bald einschlief. Das schien ein angemessener Abschluss eines langen und anstrengenden Tages zu sein. Aber die Knochenmutter hatte die Arbeit dieser Jahreszeit noch nicht vollkommen beendet. Bevor sie ihren Griff um das Land lockerte, hielt sie eine letzte Veränderung für Bridei bereit, eine ebenso wunderbare wie schwierige Veränderung. In dieser Nacht der Wintersonnenwende würde sich sein Leben gründlicher verändern, als man sich hätte vorstellen können. Bridei schreckte mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf. Er konnte sich nicht an seine Träume erinnern, nur, dass es dringlich erschienen war, ihnen zu entfliehen. Es war still im Haus. Durch das kleine rechteckige Fenster spähte der Vollmond herein, und sein bläulich weißes Licht verwandelte Brideis gewöhnliches kleines Zimmer in einen Palast der Wunder, ein Reich trügerischer Oberflächen und geheimer Schatten. Es war still, so still, dass selbst das Trippeln einer Maus zu hören gewesen wäre. Und dennoch rief etwas nach Bridei, drängte ihn, gab nicht nach. Schaudernd schob Bridei die Decken beiseite, zog seinen kurzen Umhang über das Nachthemd, öffnete die Tür so leise er konnte und schlich barfuss den Flur zur Halle entlang. In der Feuerstelle flackerte das Feuer immer noch vergnügt; das Mittwinterscheit würde sieben Tage brennen. Mara - 60 schlief friedlich auf einem Stuhl, den Mund ein wenig geöffnet, das Schultertuch ordentlich um sich gezogen. Zwei Bewaffnete, Elpin und Uven, lagen auf Bänken nahe dem Feuer, und die Hunde schliefen auf dem Boden zwischen ihnen. Die Hunde hoben die Köpfe, als Bridei vorbeischlich, dann schliefen sie wieder ein. Die Küche war leer; Ferat war ins Bett gegangen, nachdem er sein kleines Reich aufgeräumt und für den nächsten Tag vorbereitet hatte. Der Schein des Feuers folgte Bridei in diesen Raum, warf seinen kleinen Schatten auf den Steinboden vor ihm. Als er sich der Hintertür näherte, bewegte sich der Schatten die Wand hoch und bog sich in eine unmögliche Form, lang gezogen und schief. Der schwere Eisenriegel war vorgelegt, was Mara für gewöhnlich erledigte, nachdem die Nachtschicht auf Wache gegangen war. Tagsüber blieb diese Tür unverriegelt, denn in Broichans Haushalt gab es viel Kommen und Gehen. Kalte Zugluft flüsterte hinein; Bridei konnte es an den Zehen spüren. Wieder schauderte er. Dieses Etwas, was immer es sein mochte, das Etwas, das ihn geweckt und in die Dunkelheit einer Winternacht gebracht hatte, sagte ihm nun, dass er nach draußen gehen musste. Mit vorsichtigen Fingern und langsam, damit er keinen Lärm machte, zog Bridei den großen Riegel zurück. Er öffnete die schwere Eichentür zum Schnee, der Mittwinterstille, dem blauen Mondlicht. Die Landschaft sah in diesem Licht wahrhaft wunderbar aus. Alles war davon berührt und zu seiner eigenen Magie erwacht. Die dunklen Eichenstämme waren weise alte Druiden, stoisch und stark in der Kälte; die schlanken, anmutigen Birken waren Waldgeister, die von den schönen silbrig grünen Umhängen träumten, die der Frühling ihnen geben würde, um ihre Nacktheit zu bedecken. In der Ferne schimmerte der Teich wie ein Spiegel aus poliertem Silber und zeigte der Leuchtenden ein Bild ihres eigenen liebreizenden Gesichts, gelassen und weise. - 61 Es war eisig kalt. Brideis Zehen wurden schon ein wenig taub. Wahrscheinlich würden sie sich bald blau verfärben. Er warf einen Blick nach unten, um das zu überprüfen. Und da war, weshalb man ihn herausgerufen hatte. Auf der Stufe direkt vor seinen nackten Füßen stand ein kleines Körbchen, ähnlich wie die, in denen Mara Wollstränge aufbewahrte. Aber das hier war kein festes Geflecht aus Weidenzweigen. Dieses Körbchen bestand aus allen möglichen Dingen: Federn, Gräsern, fragilen Blattskeletten, einem kleinen Zweig mit roten Beeren daran, Rinden, Ranken und Blüten, die eigentlich mitten im Winter nicht blühen sollten. Der Korb war mit Schwanendaunen ausgelegt und hatte zwei Griffe aus geflochtenem Ried, auf das in Dreier-, Fünfer- und Siebenergruppen Steine mit einem Loch in der Mitte aufgefädelt waren. Dieses Körbchen war nicht von Menschen gemacht worden. Die Person, die darin lag, war... sehr klein. Außerordentlich klein, und wahrscheinlich halb erfroren. Bridei kniete sich auf die Stufe und wagte kaum zu atmen, während das Mondlicht auf dieses Geschenk fiel, als wollte es ihm genau zeigen, was die Leuchtende ihm gegeben hatte. Die sehr kleine Person schien zu schlafen. Sie trug eine Art Häubchen, das mit weißem Fell eingefasst war, und hatte eine kleine, in vielen Farben gestreifte Decke bis ans Kinn hochgezogen. Ihr Gesicht war perlweiß, mondweiß, so hell wie das Fell eines Hasen im Winter. Sollten Babys nicht rotgesichtig und hässlich sein? Dieses hier hatte zarte Wimpern und einen rosigen, ernsten Mund. Bridei starrte es wie gebannt an. Ein Bruder. Ein kleiner Bruder. Er würde nicht mehr allein sein. Mit laut klopfendem Herzen richtete er sich wieder auf und hob den Blick zu der großen Silberkugel am dunklen Himmel. Mit den Händen machte er die Zeichen für Anerkennung und Ehrfurcht; es war klar, dass er für immer in der Schuld der Leuchtenden stand.
»Danke«, flüsterte er und verbeugte sich so, wie sein Pflegevater es ihn gelehrt hatte. »Ich werde mich um ihn - 62 kümmern, das verspreche ich. Ich schwöre es bei meinem Leben.« Er griff nach unten, um das Körbchen aufzuheben, und hielt inne. Die kleine Person war wach. Sie sah ihn ernst an, und ihre Augen waren mondhell, sternenhell, hatten keine und jede Farbe. Es waren Augen wie ein Traum, wie ein tiefer Brunnen, wie eine magische Geschichte ohne Ende. Vielleicht waren sie blau, aber anders als jedes andere Blau auf der Welt. Die kleine Person regte sich, und eine Hand, nicht größer als eine Eichel, tauchte unter der gestreiften Decke auf und griff nach etwas Unsichtbarem. »Da«, sagte Bridei und bückte sich, um den Arm des kleinen Geschöpfs wieder unter die Decke zu stecken, denn wenn er selbst schon vor Kälte zitterte, was mochte dieser Winzling empfinden? Die kleine Hand packte seinen Finger und hielt ihn fest. Brideis Herz verhielt sich seltsam; es war, als rollte es in seiner Brust herum. »Du wirst hier sicher sein, das verspreche ich dir.« Erst nachdem er das Körbchen und seinen Bewohner nach drinnen gebracht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde Bridei klar, dass er nun schnell handeln musste. In diesem Haushalt herrschten Ordnung und Disziplin, und alle richteten sich nach Broichans Wünschen. Niemand, der hier wohnte, Mara, Ferat, Donal und die anderen, erwähnte je eine Familie. Selbst Fidich, der sein eigenes kleines Häuschen bewohnte, hatte keine Frau und keine Söhne, die von ihm die Landwirtschaft erlernten. Broichans Haus war kein Ort für Kinder. Dieses Neugeborene würde nicht mit offenen Armen aufgenommen werden. Es würde in der Tat doppelt unwillkommen sein, denn es war ohne Zweifel ein Geschenk der Anderen, des Guten Volkes. Der Mond hatte sie zu Brideis Tür geführt. Und während man einen gewöhnlichen Findling wahrscheinlich warm gehalten, mit Milch gefüttert und schließlich einem kinderlosen Paar in einer der Siedlungen übergeben hätte, würde man ein Kind des Waldes - 63 nicht so freundlich behandeln. Bridei hatte gehört, was die Leute sagten; man hielt ein solches Geschenk eher für einen Fluch als für einen Segen. Bei Gelegenheiten wie diesen erwies es sich als nützlich, eine Ausbildung zum Druiden begonnen zu haben. Das Körbchen stand nun auf dem Küchenboden, ein dunkles Oval. Das Gesicht des Kindes war ein weißer Kreis und schimmerte ein wenig, als trüge es etwas vom Mondlicht in sich. Seine Augen blieben offen, und sein Blick folgte Bridei ruhig, als er anfing, sich umzusehen. Ein Schlüssel, er brauchte einen Schlüssel. Dieser Zauber sollte dafür sorgen, dass ein Kind in Sicherheit war - dass es dem Haus erhalten blieb. Wenn er andere davon abhielt, ein Baby zu stehlen, würde er nicht auch die Angehörigen eines Haushalts dazu bringen, ein Kind behalten zu wollen? Er betete, dass das wirklich zutraf. Es musste hier irgendwo einen Schlüssel geben. Er musste sich beeilen; wenn das Baby anfing zu weinen und jemand aufwachte, würden sie das Körbchen sofort wieder nach draußen stellen, und sein kleiner Bruder würde erfrieren, wie es Uven beinahe zugestoßen war. Also schnell, er musste aufhören herumzuwühlen und seinen Kopf benutzen, wie Broichan ihn angewiesen hätte ... Bridei blieb stehen und konzentrierte sich. Ein Schlüssel, er hatte einen gesehen, einen winzigen Schlüssel mit einem Kringel am Griff... ja, der Gewürzkasten, Ferats Schatztruhe aus Eibenholz, hatte einen solchen Schlüssel, und er wusste, wo der Koch ihn versteckte: direkt dort oben hinter dem Ölkrug. Bridei nahm den Schlüssel vom Haken, schlich leise wieder zu dem Körbchen zurück und steckte vorsichtig die Hand an der Seite zwischen die Decke und das weiche Daunenpolster. Der Schlüssel rutschte auf den Boden des Korbs, verborgen, geheim. Niemand würde das Baby mehr wegschicken. Nun wollte Bridei nur noch in sein Zimmer zurückkehren, wo niemand ihn sah, und dieses bemerkenswerte Geschenk so lange wie möglich vor den Blicken der anderen bewahren. - 64 Er konnte einfach nicht aufhören, die winzigen, vollkommenen Züge zu betrachten, diese seltsamen Augen, gleichzeitig unschuldig und wissend, die kleinen Finger wie zarte Blütenblätter. Aber es war kalt in seinem Zimmer. Außerdem wusste Bridei, dass neugeborene Lebewesen wie Frühlämmer viel Pflege brauchten. Sie brauchten warme Milch. Wie sollten sie das mitten im Winter bewerkstelligen? Und wahrscheinlich gab es noch alle möglichen anderen Dinge, von denen er nichts wusste. Er trug das Körbchen in die Halle und stellte es auf den Steinboden in die Nähe der schlafenden Hunde. Einer der Hunde knurrte leise, und Bridei befahl ihm, still zu sein. Er griff in den Korb, ganz vorsichtig, als sammelte er frische Eier, und hob das Kind heraus. Es fühlte sich warm und entspannt an und wog nicht mehr als ein Kaninchen. Es trug eine Art Umhang mit Pelzfutter und ein Gewand darunter, so fein gewoben, so durchscheinend, dass der Faden auch von einem Spinnennetz oder einer Disteldaune hätte stammen können. Der untere Teil war in ein dickes, praktisches Stück Wolltuch gewickelt. Obwohl es unbestreitbar feucht war, fürchtete Bridei, dass er nicht viel dagegen tun könnte, da er kein Ersatztuch hatte. Also hielt er das Baby im Arm, wiegte es ein wenig, und die klaren, seltsamen Augen blickten zu ihm auf, als wollte diese kleine Person herausfinden, was von ihm zu halten war. Eine Haarlocke rutschte unter der Haube vor und kringelte sich rußschwarz über die bleiche Stirn. »Schon gut«, sagte Bridei leise, nur für sie beide. »Ich werde dich nicht allein lassen. Ich werde dir jeden Abend eine Geschichte erzählen und jeden Tag mit dir spielen, und ich werde dafür sorgen, dass du vor dem Urisk sicher bist.«
Vielleicht hatte das Gute Volk dafür gesorgt, dass der Bauch des Babys voll war, bevor sie das Kind dem Mond überließen: Jedenfalls bekam es erst Hunger, als die frühe Winter- 65 sonne ein wenig Licht durch die Ritzen um die Tür fallen ließ, und es begann mit einem schrillen Geschrei, das den gesamten Haushalt sofort auf die Beine brachte. Die Hunde fingen an zu bellen, die Männer ächzten und streckten die verkrampften Glieder, und Mara, eine Hand an der Stirn, kam langsam auf die Beine und machte zwei Schritte auf die Stelle zu, wo Bridei, aus dem Schlaf geschreckt, mit dem heulenden Kind in den Armen saß. Maras scharfer Blick nahm das seltsame Körbchen, das Schwanendaunenpolster, das winzige Gewand mit dem weißen Pelzbesatz wahr; dann betrachtete sie das Kind selbst, das nun ein wenig mehr wie jedes andere hungrige Neugeborene aussah, aber immer noch diese bemerkenswert klaren, hellen Augen, die zarten Hände, die Locke rabenschwarzen Haars hatte. Dann sah Mara Bridei an. Er hielt das Kind fest an sich gedrückt und starrte zurück. Sie sollten lieber nicht versuchen, ihm seinen kleinen Bruder wegzunehmen. Mara bewegte die Finger in einer uralten Geste zur Abwehr des Bösen. Hinter ihr taten die Männer das Gleiche. »Die schwarze Krähe behüte uns«, sagte sie und hockte sich hin. »Was hast du getan, Bridei? Hier, gib es mir.« Bridei hielt das Kind fest. »Komm schon, Junge. Denk doch nach. Kannst du nicht sehen, was es ist? Was würde dein Pflegevater dazu sagen? Gib es mir; schnell jetzt. Je länger es sich innerhalb dieser vier Wände aufhält, desto wahrscheinlicher wird es uns alle in den Abgrund reißen. Und gerade jetzt, wenn Broichan so weit weg von hier dem Tod nahe ist, können wir so etwas wahrhaftig nicht brauchen.« Elpin griff nach unten, als wollte er das Kind nehmen. Er sah aus wie jemand, der gezwungen wurde, etwas zu berühren, das er für widerwärtig oder gefährlich hielt, wie eine Giftschlange. Bridei wich ihm aus. »Er will einfach nur Milch«, sagte er über den Lärm hinweg. Wer hätte gedacht, dass ein so win- 66 ziges Wesen solchen Krach machen konnte? Er konnte spüren, wie die Schreie den zierlichen Körper des Kindes zum Vibrieren brachten. »Seh, seh, es wird schon alles gut«, flüsterte er. »Milch, wie?«, fragte Mara empört. »Und wo, glaubst du, sollen wir die mitten im Winter hernehmen, wenn alle Kühe und Schafe knochentrocken sind?« Sie hatte die Hände auf die Hüften gestützt und stand da wie ein großer Wachhund, der einen Eindringling verscheuchen will. »Wir sollten es schnell wieder nach draußen bringen«, sagte Elpin. »Sie sagen, wenn man das tut, kommen die ... die Anderen und nehmen ein solches Kind wieder weg. Wenn man nicht zu lange wartet.« »Ziemlich kalt da draußen«, stellte Uven zweifelnd fest. »Und das Kind ist sehr klein.« »Was ist denn hier los?« Der Lärm hatte auch Ferat aus dem Bett getrieben, der nun mit wirrem Haar und der Miene eines Mannes mit gewaltigen Kopfschmerzen in die Halle kam. »Wo hast du denn das her, Junge? Hier, gib es mir -ja, so«, und mit einer raschen, geschickten Bewegung nahm der Koch das Kind aus Brideis Armen und ging dichter ans Feuer, sodass er es genauer ansehen konnte. Er schien zu wissen, was er tat; nachdem er die roten, verzerrten Züge betrachtet hatte, legte er das Baby gegen seine Schulter, begann, ihm rhythmisch den Rücken zu tätscheln, und wie durch ein Wunder verstummte das Schreien zu einem dünnen, kläglichen Schluchzen. »Es hat Hunger«, erklärte Ferat. »Und es stinkt wie ein Misthaufen. Mara, bitte geh und hol mir ein paar saubere Tücher. Junge, schüre das Küchenfeuer für mich, wir brauchen warmes Wasser.« Die anderen standen stumm da und starrten ihn an. Der Koch war heute früh eindeutig nicht ganz er selbst. »Geh schon, mach schon«, fauchte Ferat, was seinem üblichen Tonfall ein wenig näher kam. »Das arme Kleine wird - 67 noch verhungern! Was würde Broichan sagen, wenn er hörte, dass wir uns von Albernheiten und abergläubischen Ideen dazu verleiten ließen, ein Neugeborenes schlechter zu behandeln als ein verwaistes Lamm? Ihr solltet euch schämen!« »Das ist ja schön und gut«, sagte Mara, »aber wie sollen wir es ernähren? Außerdem würde Broichan so etwas nicht wollen. Es ist nicht recht, und ich kann nicht glauben, dass du auch nur daran denkst...« Bridei räusperte sich. »Ich bin derjenige, der ihn hereingeholt hat. Wenn mein Pflegevater zornig wird, kann er auf mich zornig sein. Aber ihr könnt den Kleinen nicht wieder in den Schnee legen. Er wird sterben.« »Sieht für mich mehr nach einem kleinen Mädchen als nach einem Jungen aus«, stellte Ferat fest, der immer noch das Baby tätschelte. »Und Mara hat Recht, es kommt von den Anderen. Seht ihr, wie blass sie ist, jetzt, wenn sie nicht mehr schreit? Lange Wimpern wie bei einer schönen Kuh und ein kleiner Rosenknospenmund. Sie könnte aus einem Märchen stammen; ein wirklich schönes Geschenk, finde ich. Mara wird dir sagen, ob es ein Mädchen ist, wenn sie die Tücher gewechselt hat.« »Ich?«, entgegnete Mara verärgert, aber sie legte das Baby auf den Tisch und zog ihm die Windeln aus, und Ferat hatte Recht, es war ein Mädchen. Bridei wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Frisch gewaschen und in das Tuch gewickelt, das Mara geholt hatte, blieb das Mädchen auf dem Arm der Haushälterin, während Ferat mit warmem Wasser und Honig tat, was er konnte, und schon bald brachten sie die Kleine dazu, das Honigwasser aus einem aufgerollten Lappen zu saugen, den sie in die Schale tunkten, und es
wurde stiller. Uven und Elpin standen daneben und sahen zu; keiner schien es eilig zu haben, nach draußen zu gehen. Ferat war in die Küche zurückgekehrt, hatte seine Helfer gerufen und war damit beschäftigt, das Frühstück zuzubereiten. - 68 »Damit wird sie sich nicht lange zufrieden geben«, rief er über das Klappern von Töpfen und Pfannen hinweg. »Hat Cinioch nicht von einer Kusine erzählt, die gerade ihr Kind verloren hat? Ihr wisst, wen ich meine; sie war auf der Schwarzen Insel verheiratet, aber ihr Mann wurde getötet, während das Kind noch in ihrem Bauch war. Sie ist jetzt in der Siedlung unten am See, weil sie das Kind bei ihrer Schwester zur Welt bringen wollte. Aber es war nicht gesund; sie haben es vor einem oder zwei Tagen begraben. Kann mich nicht erinnern, wie das Mädchen hieß.« »Brenna«, sagte Uven. »Schüchternes kleines Ding. Eine traurige Geschichte, das.« »Ja«, sagte Mara. »Traurig. Aber auch nützlich. Immer vorausgesetzt, dass wir die Kleine behalten wollen.« Sie betrachtete stirnrunzelnd das Kind, das nun wieder in Brideis Armen lag, während sie ihm ein paar weitere Tropfen Honigwasser in den kleinen, hübschen Mund drückte. Die hellen, klaren Augen blickten zu ihr auf. »Uven!«, rief Ferat. »Wo steckt Cinioch heute früh?« »Noch auf Wache.« »Gut. Also wirst du frühstücken, und dann gehst du so schnell wie möglich rauf. Sag ihm, er soll vorbeikommen und mit mir sprechen, bevor er etwas anderes tut. Wir brauchen eine Amme; je länger wir warten, desto dringender wird es. Klingt, als wäre diese Brenna genau das, was wir wollen.« »Sie müsste den Verstand verloren haben«, murmelte Mara. »Wer wollte schon eins von denen stillen?« Aber es kam Bridei so vor, als meinte sie diese Worte nicht so recht ernst, denn sonst hätte sie sich nicht so angestrengt, das Baby zum Trinken zu bringen, und nicht bei jedem erfolgreichen Schluck ermutigend genickt. Das kleine Körbchen stand nun leer an der Feuerstelle, der Schlüssel war gut in dem wirren Laub verborgen. Es stimmte, was Broichan ihm gesagt hatte. Manchmal war schlichte Herdmagie stärker als alles andere. - 69 Der Tag schien sehr lang zu sein. Cinioch frühstückte schnell und ging dann zur Siedlung. Das Baby war zunächst still, aber später weinte es und weinte, bis es keine Kraft mehr hatte. Es wollte kein Honigwasser mehr. Bridei nahm es auf den Arm und tätschelte und wiegte es. Die Kleine schien schwerer zu werden, je später es wurde. Ihr leises Schluchzen bewirkte, dass er am liebsten mitgeweint hätte, aber er tat es nicht. Am frühen Abend kam Cinioch mit einer blassen jungen Frau zurück, die dick gegen die Kälte draußen eingepackt war. Ihre Züge waren spitz von der Kälte, ihre Nase und die Augen rot, und sie schauderte selbst unter den vielen Schichten Kleidung. Dennoch, sobald sie das Kind in Ferats Armen sah, warf sie schnell den Umhang und das Schultertuch ab, und drei Schritte brachten sie zu dem Koch, wo sie das Kind sofort an sich zog. »Oh, arme Kleine, armes Kind«, gurrte Brenna, und das Baby gluckste schwächlich. »Ich bringe sie in eine ruhige Ecke, wenn ihr mir eine zeigt«, fügte die junge Frau hinzu. »Das arme kleine Ding hat Hunger, aber das bringen wir bald in Ordnung.« Und das tat sie. Die Frauen baten Bridei, in der Küche zu bleiben, während sie sich ans Hallenfeuer setzten; er konnte hören, wie das Baby leiser wurde, und bald war statt des dünnen Jammerns ein keuchendes, schnaufendes, gieriges Geräusch zu hören, und dann gab es nur noch selige Stille. Bridei seufzte erleichtert; Ferat, der die Suppe rührte, nickte zufrieden vor sich hin. »Wir sollten am besten eine Hammelkeule braten«, sagte der Koch. »Wenn eine Frau stillt, isst sie wie ein Pferd. Deiner Kleinen wird es jetzt gut gehen, Junge, ganz bestimmt.« Als der Tag sich dem Ende zuneigte, warteten im Winterwald vor Broichans Haus zwei Präsenzen. »Es ist geschehen«, sagte das erste dieser Wesen. »Er hat sie hereingeholt, und niemand hat sie wieder vor die Tür ge- 70 bracht. Und sie weint nicht mehr. Sie hat eine gewaltige Stimme für ein so kleines Ding.« »Ich habe die Wette gewonnen«, sagte das andere. »Ich habe dir ja gesagt, dass sie sie behalten werden.« »Das ist zweifellos Brideis Werk. Für einen Menschen ist dieser Junge erheblich gerissener, als man von einem Kind seines Alters erwarten würde. Er hat sicher einen kleinen Zauber angewandt, den der Druide ihm beigebracht hat... Sie hätten sie sonst nie behalten. Sie konnten mit einem einzigen Blick erkennen, dass sie eine von uns ist.« Das zweite Wesen warf dem ersten einen Blick zu. »In gewisser Weise ist sie das. Und andererseits auch wieder nicht. Nun, nachdem wir unsere Pflicht gegenüber der Leuchtenden erfüllt haben, hat diese Sache ein Ende.« Das erste Wesen stieß ein Lachen aus, das an Glöckchenklingeln erinnerte. »Wohl kaum! Das hier ist erst der Anfang. Vor ihnen liegt ein langer Weg, lang und schwer. Und wir werden bei jedem Schritt dabei sein. Wir wollen alle das gleiche Ende für diese Geschichte, sogar der Druide. Es könnte ihn allerdings überraschen, auf welche Art es geschieht.« »Komm, gehen wir nach Hause. Es war eine lange Nacht. Diese Menschen ermüden mich. Sie können so dumm sein, so träge, wenn es darum geht, etwas zu begreifen.« »Die längste Nacht«, sagte das erste Wesen ernst. »Nacht des Vollmonds, Nacht der Veränderung, der Beginn einer großen Reise.«
»Brideis Reise.« »Seine und ihre, und die von uns allen. Wir bewegen uns auf nichts Geringeres als ein neues Zeitalter zu. Und die Füße, die den Weg bahnen, sind klein. Lass uns hoffen, dass sie nicht zu früh ermüden. Lass uns hoffen, dass sie nicht versagen.« Die Magie schien weiterhin zu wirken. Brenna richtete sich im Haushalt ein, als gehörte sie dorthin. Sie war sehr still und hatte stets einen traurigen Ausdruck in den Augen, was bei - 71 einer Witwe von erst neunzehn Jahren, die gerade ihren Erstgeborenen verloren hatte, niemanden überraschte. Mara weigerte sich, ihr Zimmer mit Brenna zu teilen, und verkündete, sie habe nicht vor, die halbe Nacht wach zu sein, weil das Kind krähte und gestillt werden wollte. Also ließ Ferat seine Helfer einen kleinen Vorratsraum räumen, und hier packte Brenna ihre klägliche Habe aus und zog mit offensichtlicher Dankbarkeit ein. Nachts schlief das Baby an ihrer Seite, und das nicht mehr in dem seltsamen, aus Waldmagie gewobenen Korb, sondern in einer schönen Wiege aus Eichenholz, in deren Kopf- und Fußende kleine Zweige mit Blättern und Eicheln geschnitzt waren. Fidich, der Bauer, hatte sie alle eines Morgens überrascht, indem er mit der Wiege auftauchte und sie eher schüchtern als seinen Beitrag zum Unterhalt der Kleinen bezeichnete. Als er die neue Wiege brachte, hatte Mara etwas davon gemurmelt, den alten Korb zu verbrennen, um zumindest diesen Einfluss aus dem Haus zu schaffen, bevor Broichan nach Hause zurückkehrte. Bridei sorgte dafür, dass das Körbchen verschwand, während Mara anderswo beschäftigt war. Nun lag es in Brideis Zimmer sicher verborgen in der Truhe, mit Schlüssel und allem. Ferat war nicht sonderlich erfreut, als er Gewürze brauchte und seine kleine Truhe nicht aufschließen konnte. Zuerst gab er seinen Helfern die Schuld daran, dass der Schlüssel verschwunden war, und verfluchte die beiden, weil er die Truhe mit einem Messer aufstemmen musste, was das Holz verkratzte. Der Anblick des Inhalts in den ordentlichen kleinen Päckchen, der immer noch vorhanden war, beruhigte ihn allerdings schnell. Als Koch hielt er die kleine Sammlung von Muskat, Zimt, Kardamom und feinen Pfefferkörnern für unendlich viel kostbarer als den polierten Kasten, in dem er sie aufbewahrte. Widerwillig gab er zu, dass das Verschwinden des Schlüssels vielleicht ein Zufall gewesen war; wer sollte sich schon die Mühe machen, ihn zu stehlen, und dann den Schatz selbst unberührt lassen? Als er mit seinem Apfel- 72 kuchen fertig war, summte er schon wieder vor sich hin. Seit dem Eintreffen des Babys war er ein ganz anderer Mensch. »Sie braucht einen Namen«, hatte Bridei am zweiten Tag festgestellt, als sie in der warmen Halle beim Abendessen saßen. Brenna, das Kind im Arm, verspeiste großzügige Portionen von Ferats besonderer Hammelkeule mit Klößen. Das Baby selbst war wach, aber ruhig, spähte mit seinen klaren Augen unter den rabenschwarzen Locken hervor und beobachtete alles. Selbst jetzt, als sie satt war, gab es keine Spur von Farbe in ihren Wangen; ihre Haut blieb milchweiß. Seit ihrer Ankunft hatte sie sehr wenig geweint; aber das war nicht überraschend, denn ihr Hauptbedürfnis war das nach Milch, und das hatte Brenna gut im Griff. Tatsächlich schien Brideis kleine Schwester ihn nun, da sie alle Milch hatte, die sie wollte, kaum mehr zu brauchen. Bridei wusste, dass er nicht eifersüchtig sein durfte. Er saß neben Brenna auf der Bank; hin und wieder schaute er auf die Kleine nieder und sie blickte zu ihm auf, und er wusste, dass sie ihn erkannte und das Versprechen verstand, das er ihr im Mondlicht gegeben hatte. Vielleicht brauchte sie ihn derzeit wirklich nicht, aber wenn es so weit wäre, würde er da sein. »Wir sollten ihr einen Namen geben«, sagte er noch einmal, und noch während er das aussprach, tauchte ein Name in seinem Hinterkopf auf, einer, der zu der blassen Haut, dem rabenschwarzen Haar und ihrem unabhängigen Aussehen passte. »Hm«, brummte Mara. »Jetzt soll sie also einen Namen haben. Ich weiß nur eins. Das da ist kein Kind, das ich nach meiner Mutter oder meiner Großmutter benennen würde.« »Warum nicht?«, fragte Brenna. »Weil sie keine von uns ist«, antwortete Mara. »Und wahrscheinlich steht es uns nicht einmal zu, ihr einen Namen zu geben. Wahrscheinlich hat sie schon einen, etwas ganz anderes, fremdartig wie jene, die sie hergebracht haben. Die - 73 schwarze Krähe behüte uns«, fügte sie hinzu und machte das Zeichen gegen das Böse. Brenna sagte selten etwas, und meistens öffnete sie nur den Mund, um um etwas zu bitten oder sich zu bedanken. Ihre Stimme war leise und schüchtern. »Welchen Namen würdest du ihr denn geben, Bridei?«, fragte sie. Bridei legte einen Finger an die weiße Wange der Kleinen; sie fuchtelte mit den winzigen Händen und verzog den Mund zu etwas, das vielleicht ein Lächeln war. »Tuala«, sagte er entschlossen. »Das ist ein alter Name aus einer Geschichte. Es bedeutet Prinzessin des Volkes. Broichan würde das gefallen.« »Es wird ihm überhaupt nicht gefallen, heulende Kleinkinder im Haus zu haben, vor allem, wenn er krank ist«, sagte Mara trocken. »Prinzessin, wie? Armes kleines Ding, sie wird keine große Prinzessin sein, wenn sie hier bei uns bleibt. Höchstens eine Prinzessin des Schweinestalls.«
»Es ist ein hübscher Name«, warf Brenna leise ein. »Ja«, sagte Uven. »Er passt zu ihr. Hör auf, Mara. Wir wissen alle, dass du die Kleine ebenso gern hast wie wir alle.« So erhielt der Findling seinen Namen, Broichans Haushalt wuchs um zwei Personen, und Bridei, der sich daran erinnerte, dass sein Pflegevater dem Tod nahe gewesen war, machte sich erneut ernsthaft an seine Studien, damit er Broichan nicht enttäuschen würde, selbst wenn der Druide sich über die Neuankömmlinge ärgern sollte. Es war schwierig, sich ohne Donal im Zweikampf zu üben, also half er stattdessen Fidich auf dem Hof. Am Nachmittag übte er sich im Geschichtenerzählen. Um diese Zeit war die Kleine meist wach, und Brenna, die nach ihrer Entbindung und dem Tod ihres eigenen Kindes immer noch schnell müde wurde, überließ Bridei Tuala gerne, während sie selbst sich in ihre winzige Kammer zurückzog, um ein Schläfchen zu halten. Bridei kannte bereits viele Geschichten, denn Geschichten waren die Grundlage der Weisheit eines Druiden, weil - 74 sie Schicht um Schicht von Verständnis enthielten, unzählige Symbole, Chiffren und Schlüssel. Jedes Mal, wenn er eine Geschichte erzählte, schien sie eine andere Bedeutung zu gewinnen. Für Tuala wählte Bridei nichts aus, das mit Schlachten und Gemetzel, Ungeheuern und Gespenstern oder Verlust und uralter Trauer zu tun hatte. Er erzählte ihr komische Geschichten, alberne Geschichten, durchsetzt mit Geschichten über Heldentaten und Träume, die Wahrheit wurden. Tuala war eine hervorragende Zuhörerin. Sie lernte besser und besser, still zu sein, und sah wie gebannt zu, wenn er erzählte. Mit ihren hellen Augen verfolgte sie seine Gesten, wenn er ein dramatisches Ereignis beschrieb, und hier und da trug sie ein leises Glucksen oder ein Quieken bei. Sicher, es gab auch ein paar Geschichten, die sie einschlafen ließen. Wenn das passierte, begann Bridei einfach mit einem Lied, das er leise sang, während er die Wiege schaukelte. Er war nicht sicher, woher er das Lied kannte, nur dass er es nicht von Broichan gelernt hatte. Hee-oh wee-oh Spinne, komm und hilf mir aus Spinn ein Netz, zart und fein, Ich wickele mein Kind hinein. Hee-oh, wee-oh Krähenfedern, bläulich schwarz Schwanendaunen, weiß und weich Kleiden die Prinzessin gleich. Hee-oh, wee-oh Blatt von Holler, Birke, Eibe Ein Geflecht ganz wunderbar Krönt das schwarze Mädchenhaar. Und wenn sie schlief, schien sie zu lächeln. - 75 An einem sehr klaren Tag, als ein kalter Wind aus dem Nordosten ins Tal wehte und die Vögel vor sich her trieb, brachten sie den Druiden nach Hause. Der Wind schien auch die Reisenden vor sich her zu blasen, als sie den Weg entlangkamen, der den dunklen See umging und sich durch das täuschende Muster der Eichen zu Broichans Haus wand. Brideis Magen zog sich vor Nervosität zusammen. Er hatte sich nach diesem Tag gesehnt, hatte tatsächlich jeden Abend eine Markierung in den Stein seiner Zimmerwand gekratzt, bis Broichan und Donal endlich nach Hause kamen. Aber nun war seine Erwartung mit Angst vermischt. Was, wenn sein Pflegevater einen Blick auf das Baby warf und beschloss, dass es gehen musste? Niemand im Haushalt hatte sich dem Druiden je widersetzt. Sie hatten nicht unbedingt Angst vor ihm. Er war einfach so stark und so weise. Er hatte einfach immer Recht. An diesem Tag sah Broichan allerdings nicht besonders stark aus. Er stützte sich schwer auf seinen Stab, als er mit Donal auf einer Seite und einem Mann namens Enfret auf der anderen den Weg entlangkam. Der Druide schien geschrumpft zu sein; er wirkte weder so groß noch so breit, wie Bridei ihn in Erinnerung hatte. Und er war blass, beinahe so blass wie Tuala, deren Haut den Schimmer von Mondlicht hatte. Aber eins war unverändert geblieben: In Broichans dunklen Augen glühte immer noch leidenschaftliche Intelligenz. »Willkommen daheim, Herr«, sagte Mara, als die Reisenden die offene Tür erreichten. Sie lächelte, was selten vorkam. »Willkommen, Herr«, wiederholte Ferat hinter ihr. »Es ist gut, dich auf den Beinen zu sehen. Donal, Enfret.« Er nickte den beiden zu. Weiter hinten auf dem Weg näherten sich die anderen Bewaffneten mit einem Packpferd, das mit Bündeln beladen war. »Ihr werdet sicher alle froh über einen Becher warmes Bier und einen Bissen sein«, fügte der Koch hinzu. »Es ist ein kalter Tag.« - 76 In Ferats Ton lag eine Spur von Nervosität, aber das war nichts im Vergleich zu der lähmenden Unruhe, die Bridei erfasste, als er dort an Maras Seite stand. Derzeit befand sich das Baby in Brennas Zimmer und wurde gestillt. Bridei betete, dass Tuala keinen Lärm machen würde, noch nicht; nicht, wenn sein Pflegevater so grimmig und müde aussah. Nicht bevor es Bridei gelungen war, sich wieder zu fassen und zu wissen, was er sagen sollte. »Bridei!« Ein breites Grinsen erschien auf Donais Gesicht, und er trat vor und packte seinen jungen Freund herzlich an der Schulter. Bridei erwiderte das Grinsen und wurde ein bisschen ruhiger; hier hatte er einen Verbündeten, auf den er sich verlassen konnte. »Du bist ganz schön gewachsen, Junge. Sieh nur, wie groß und stark er aussieht, Herr!« Broichan blickte nach unten - dunkle Augen, blasses Gesicht, langes, geflochtenes Haar. Er hatte mehr Falten als zuvor, aber er beherrschte seine Miene mit solcher Disziplin, dass man ihm nicht ansehen konnte, was er dachte. »Bridei«, sagte er ernst. »Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich bin sicher, du hast aufmerksam weiterstudiert.«
»Ja, Herr.« Seit Tuala gekommen war, hatte sich Bridei daran gewöhnt, zu den Erwachsenen zu gehören, ein Teil des Haushalts zu sein, der sich um die Bedürfnisse und Nöte eines kleineren Kindes kümmerte. Nun wurde er abrupt selbst wieder zum Kind. »Ich habe mein Bestes getan.« »Davon bin ich ausgegangen. Und nun werde ich mich eine Weile in mein Zimmer zurückziehen. Donal, bitte hilf mir. Nein, ich brauche nichts«, sagte er mit einer Spur von Gereiztheit zu Ferat und Mara, die so gar nicht zu ihm passen wollte. »Vielleicht ein wenig Wasser. Ich bin sicher, dass die Männer euer Angebot gern annehmen werden; wir haben einen langen Weg hinter uns. Stehen die Männer immer noch Wache? Wie viele habt ihr auf dem Wall im Norden?« Sie waren nun im Haus, und Broichan stellte immer noch Fragen, während er auf sein Zimmer zuhinkte und nicht ver- 77 bergen konnte, wie sehr er sich dabei auf Donais Arm stützen musste. »Ich werde das alles überprüfen, Herr«, versprach Donal ruhig. »Komm, du bist jetzt zu Hause und musst dich ausruhen. Überlass diese Angelegenheiten uns.« »Ruhen, ruhen«, murmelte der Druide verbittert. »Ich habe die letzten zwei Monate nichts anderes getan. Ich kann es mir nicht leisten. Die Zeit vergeht, bevor man auch nur Gelegenheit hat, zwei Gedanken aneinander zu fügen. Zeit, das ist alles, was ich will, nur genug Zeit... die Seuche soll diese Leute holen, die sich in alles einmischen müssen.« Wie es Babys nun einmal tun, gab Tuala ihre Anwesenheit bald bekannt. Es gab einen kurzen Ausbruch, einen schrillen Protest, der schnell von Brennas leiser Stimme zum Schweigen gebracht wurde. Nicht lange danach kam Broichan in die Halle, lila Schatten unter seinen Augen, die Knöchel der Hand, mit der er seinen Stab umklammerte, weiß, und blieb vor ihnen allen stehen, ohne ein Wort zu sagen. Von hinter ihm, aus dem kleinen Zimmer, in dem sich Baby und Amme aufhielten, war nun nichts mehr zu hören. Am Tisch sahen sich Donal und die anderen Männer, die mit dem Druiden zurückgekehrt waren, erstaunt um. Bridei hatte gerade versucht, den Mut zu finden, ihnen die Neuigkeit zu erzählen, und sowohl Ferat als auch Mara hatten darauf gewartet, dass er es tat, denn sie gingen davon aus, dass das allein seine Aufgabe war. Da es aussah, als wollte Broichan die Frage nicht stellen, tat es Donal für ihn. »Sagt mir, dass das kein Baby war, was ich gerade gehört habe«, brachte er heraus. »Hattest du etwa Geheimnisse vor uns, Mara?« Als Witz war das ziemlich schwach. Niemand brachte mehr als ein sehr dünnes Lächeln zu Stande. Mara schaute Bridei an, und Ferat tat das Gleiche. Alle schwiegen. Einen Augenblick später kam Brenna aus dem - 78 Flur, das Kind in den Armen, das Haar in wirren Strähnen um das gerötete Gesicht, weil auch sie geschlafen hatte. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte den Druiden an, der hoch gewachsen und grimmig vor ihr stand. Bridei stand auf. »Herr«, sagte er mit allem Selbstvertrauen, das er aufbringen konnte, »das ist Brenna. Und Tuala. Ich wollte dir gerade erklären ...« »Bring das Kind her.« Broichans Tonfall bewirkte, dass Brenna, deren reizende Rosigkeit plötzlich verschwunden war, ohne ein Wort zu ihm ging und ihm das kleine Bündel hinhielt. Der Druide kniff die dunklen Augen zusammen. Tuala hob eine blütenartige Hand in einer Art von Gruß aus dem Wolltuch und gab ein Gurgeln von sich, das alles hätte bedeuten können. Broichan kniff die Lippen zusammen. Er betrachtete das Kind genau, ohne es zu berühren. »Also gut, Bridei«, sagte er schließlich ruhig. »Ich werde mir deine Erklärung unter vier Augen anhören. Komm.« Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und hinkte davon. Bridei eilte hinter ihm her. Die anderen schwiegen. Broichans Zimmer war nicht die bequeme Domäne eines wohlhabenden Landbesitzers, obwohl er tatsächlich über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Dieses Zimmer passte zu dem, was er wirklich war: ein Gelehrter, ein Mystiker, ein Philosoph. Seine Disziplin, die Klarheit seines Denkens, seine Begeisterung für das Lernen, all das sah man auch diesem ordentlichen, aufgeräumten Raum an, der seine private Zuflucht darstellte. Mara war die Einzige, die in Broichans Abwesenheit hier hereinkam. Auf den steinernen Regalen standen Reihen von Tiegeln, Flaschen, Mörsern und Fläschchen, alles an seinem Platz, alles schimmerte matt im Licht der Kerzen und des Feuers in der kleinen Feuerstelle - ein Zugeständnis an seine Krankheit, denn bisher war es Broichans Gewohnheit gewesen, die Kälte zu ertragen. Er prüfte unentwegt, wie - 79 weit die Herrschaft des Geistes über den Körper ging. Auf dem Lager gab es schöne Wolldecken und frische Laken, aber der Strohsack war schmal und fest: Die geringe Bequemlichkeit in diesem stillen Raum war eher Mara als Broichan selbst zu verdanken, das wusste Bridei. Es gab einen Eichentisch und zwei Bänke. Schriftrollen steckten in einem Rahmen an der Wand, und Schreibmaterial, Gänsefedern, Tintenfässer lagen auf ihrem eigenen Regal. Ein Knoblauchzopf hing nahe dem schlitzartigen Fenster. Getrocknete Kräuter in Bündeln entsandten ihren süßen Duft in die Luft, und verschrumpelte Beeren in einer Messingschale zeigten, dass Broichan schon wieder begonnen hatte, ein wenig zu arbeiten. Früher oder später würde Mara ihn vielleicht dazu
bringen können, dass er sich ausruhte, aber es würde nicht leicht sein. Der Umhang des Druiden hing ordentlich an einem Haken; seine Stiefel standen nebeneinander an der Feuerstelle. Das Zimmer war makellos sauber; kein Staubkörnchen war zu sehen. Broichan schloss die Tür hinter sich, ging zum Tisch und stützte beide Hände darauf. Bridei stellte sich seinem Pflegevater gegenüber. Er stand sehr still da, das war etwas, was er gut konnte, auch wenn sein Herz drohte, ihm vor Nervosität in die Kehle zu springen. Er entspannte seine Hände. Er zwang sich, eine ruhige Miene aufzusetzen. »Ich will dir sagen, was ich hier sehe.« Die Krankheit hatte die Stimme des Druiden nicht gedämpft: Sie klang immer noch so tief und mächtig wie eine uralte Glocke. »Ich sehe ein Kind, das innerhalb der vier Wände einer menschlichen Behausung nichts zu suchen hat; ein Kind, das mit jedem Blinzeln seiner fremdartigen Augen Gefahr bringen kann. Ich sehe mehrere treue Angehörige meines Haushalts, die dieses Kind mit einem Ausdruck vollkommenen Vernarrt seins betrachten. Und ich sehe eine junge Frau, die eindeutig nicht auf meine Einladung hier ist.« »Ich...« - 80 Broichan hob leicht die Hand, und Brideis Worte vertrockneten in seinem Mund. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte der Druide ruhig. »Ich sehe noch etwas. Ich sehe meinen Pflegesohn, der versprochen hat, brav zu sein, während ich weg war, und zu tun, was ich wünschen würde.« In seinen mitternachtsdunklen Augen stand ein schrecklicher, fragender Ausdruck. Es fiel Bridei plötzlich viel schwerer, ruhig zu bleiben. Das hörte sich an, als hätte Broichan bereits eine Entscheidung getroffen. Tuala würde ausgesetzt werden, noch bevor der Abend kam, allein im Wald, wo sie erfrieren oder verhungern würde. Sie würde weinen und weinen, und niemand würde kommen. Nein. Bridei ballte die Fäuste so fest, dass seine Nägel sich in die Handflächen bohrten. Konzentriere dich. Erinnere dich. Man kann aus allem etwas lernen. Er blieb still stehen, atmete langsam, wie man es ihm beigebracht hatte, und erwiderte den Blick des Druiden unbeirrt. Und erkannte plötzlich, dass es bei dieser Befragung nicht um Tuala oder das Gute Volk ging. Es ging um ihn. Es ging nicht darum, was er getan hatte, sondern um das Warum. Und er musste nur die richtigen Erklärungen geben, Erklärungen, die zu Broichans Art, die Welt zu sehen, passten. Das konnte er tun. Er musste einfach nur ruhig bleiben wie Broichan selbst und nicht wie ein Kind sprechen, sondern wie ein Druide. »Herr«, begann er, »Tuala - das Baby - kam am Sonnwendtag um Mitternacht hierher. Der Mond weckte mich, weil er in mein Fenster schien. Ich ging nach draußen und fand sie auf der Schwelle.« Der Druide runzelte die Stirn. »Und wo waren die anderen Angehörigen meines Haushalts, während du mitten in der Nacht allein im Haus umherwandertest?« »Sie schliefen, Herr. Es war nach dem Ritual.« »Ich verstehe. Weiter.« »Ich - ich dachte, sie wäre ein Geschenk, Herr. Ein Geschenk für...« Er sagte nicht für mich, so sehr er auch davon - 81 ausging, dass das der Fall war. »Ein Geschenk für uns alle. Etwas, das uns anvertraut wurde. Die Leuchtende wollte, dass wir Tuala aufnehmen, dass sie bei uns in Sicherheit ist.« »Bridei.« Broichans Ton war streng. »Erzähl mir nicht, dass du zu dumm bist zu erkennen, was dieses kleine Geschöpf ist. Kein Menschenkind hatte je solche Augen, solch blasse Haut und einen so ernsten und wissenden Ausdruck. Sie ist nicht das unerwünschte Kind eines Dorfmädchens, sie ist ein Kind des Guten Volkes.« »Ja, Herr«, sagte Bridei und erkannte, dass es damit zum ersten Mal jemand ganz offen ausgesprochen hatte. »Ihr war kalt. Sie wäre da draußen gestorben.« Broichan schwieg einen Moment. »Ein Menschenkind hätte die Nacht zweifellos nicht überlebt«, gab er zu. »Ja, Herr.« Bridei arbeitete schwer daran, den ruhigen, distanzierten Ton des Druiden nachzuahmen. »Ich weiß, dass Tuala vom Guten Volk kam. Sie haben sie absichtlich hergebracht. Die Leuchtende hat mich aufgeweckt, damit ich sie finde. Es war mir so bestimmt. Wir sollen sie behalten.« Brideis Stimme zitterte gegen seinen Willen ein wenig. »Tuala ist ein sehr braves Baby, Herr. Sie weint kaum. Und wo sollte sie sonst hingehen?« »Ich nehme an, es gab eine Art Behältnis? Einen Korb?« »Ja, Herr.« »Wo ist er?«, fragte Broichan mit ausdrucksloser Stimme. Bridei spürte ein Kribbeln hinter seinen Augen; er biss die Zähne fest zusammen. »Antworte.« Die Stimme des Druiden war wie ein Grabgeläut. »In meinem Zimmer«, flüsterte Bridei. »Hol ihn.« »Ja, Herr.« Bridei sah die anderen nicht an, konnte sie nicht anschauen, als er zu seinem Zimmer eilte und mit der kleinen Waldwiege unter dem Arm zurückkehrte. Dennoch, er sah - 82 sie, erstarrt, als wären sie in Stein gemeißelt, und alle hatten sich zu ihm umgedreht: Donal mit seinen ehrlichen Zügen und einem Staunen im Blick, Enfret und die anderen Bewaffneten ebenso überrascht, Ferat nervös, Mara
finster und Brenna mit ihrem lieblichen Gesicht, die das Baby in den Armen hielt: Tuala, die so schnell zu dem stillen Mittelpunkt geworden war, um den sich alles drehte. Sie war so klein ... Mit bleiernen Füßen kehrte Bridei ins Zimmer seines Pflegevaters zurück. Es war schwer, seine Gedanken zu beherrschen, denn sie wirbelten ihm wild im Kopf herum. Tuala konnte nirgendwo hin, und sie hatte niemanden außer ihm. Die anderen liebten sie wegen des Zaubers, und sobald Broichan diesen Zauber aufhob, würden sie nur allzu bereit sein, die Kleine hinauszuwerfen. Tualas eigenes Volk wollte sie offenbar ebenso wenig, wie Brideis Familie ihn haben wollte - er hatte kein Wort von ihnen gehört, seit sie ihn hierher geschickt hatten. Aber er hatte wenigstens seinen Pflegevater und Donal und die anderen. Er hatte ein Zuhause. Tuala hatte nichts. Bridei war nun an der Tür. Er könnte selbstverständlich betteln. Er könnte weinen und flehen wie das Kind, das er war. Weinen wäre nur allzu leicht; er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, als er den Korb aus geflochtenen Blättern und Gräsern betrachtete, diese seltsamen, immer noch hellen und frischen Winterblüten und die auf die Griffe gefädelten Steine der Macht. Wer verfügte schon über genug Magie, um sich über einen Druiden hinwegzusetzen? Der Schlüssel lag verborgen am Boden des Korbs, dieser Schlüssel, der Tualas einzige Überlebenschance darstellte. Bridei schluckte. Tränen wären Zeitverschwendung; Betteln war die Strategie der Schwachen. Ein Druide hörte auf vernünftige Argumente, auf Logik, auf Beweise. Broichan stand an der kleinen Feuerstelle. Seine Miene, verriet nichts. »Stell es auf den Tisch«, sagte er. - 83 Bridei tat, was man ihm gesagt hatte. Der Korb sah sehr klein aus; Tuala war bereits zu groß dafür. »Herr, darf ich etwas sagen?«, fragte er. Broichans Schweigen schein es ihm zu gestatten. »Ich hoffe, du wirst den Zauber nicht aufheben.« Bridei gab sich große Mühe, selbstsicher zu klingen, obwohl seine Unterlippe zitterte. »Ich weiß, du denkst, ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir Leid, wenn ich dich verärgert habe. Aber es tut mir nicht Leid, dass ich Tuala ins Haus geholt habe. Es tut mir nicht Leid, dass ich den Zauber benutzt habe, damit sie in Sicherheit ist. Ich bin sicher, dass ich Recht hatte. Ich bin wirklich sicher.« Broichan seufzte. Er streckte die Hand nach der kleinen Wiege aus, folgte ihren Linien, ohne das Ding wirklich zu berühren. »Bridei«, sagte er nach einer Weile, »du bist trotz deiner Art zu reden immer noch sehr jung. Du weißt nichts über die Menschen, nichts über die Prüfungen, die wir durchführen, über das Gleichgewicht, für das wir sorgen müssen, um zu verhindern, dass das Land ins Chaos stürzt, Strategien, die erheblich mehr mit den fehlgeleiteten Taten unserer eigenen Art zu tun haben als mit den Machenschaften des Guten Volkes. Außerhalb dieses Tals gibt es eine Welt, von der du nicht einmal einen Bruchteil kennst. Deine Ausbildung hat gerade erst begonnen, Junge. Und sie ist wichtig, so wichtig, dass wir uns nicht leisten können, dass ihr etwas in den Weg gerät. Ich habe keine Zeit, krank zu sein; mein Haushalt hat keine Zeit für ein Kleinkind, vor allem keins, das das Gewicht solcher Unsicherheit auf seinen schmalen Schultern trägt. Diesen Anderen Zuflucht zu gewähren bedeutet, mit großer Gefahr zu spielen, Bridei. Man fordert das Unerwartete geradezu heraus.« Bridei schluckte. »Ein Mann muss lernen, mit Überraschungen fertig zu werden, Herr«, brachte er schließlich heraus. »Das sagt Donal immer. Bei einem Kampf ist das wichtig.« - 84 Broichans Lippen zuckten. »Die Kräfte des Guten Volkes können erheblich gefährlicher sein als ein plötzlicher Tritt zwischen die Beine oder vors Schienbein«, stellte er fest. »Dieses Mädchen mag liebenswert und harmlos wirken. Aber du weißt nicht, zu was sie heranwachsen kann. Ihr Einfluss könnte alles untergraben, das ich für dich ...« Er hielt inne, als hätte er mehr gesagt, als er wollte. »Herr«, sagte Bridei, »ich werde mich so sehr anstrengen, wie ich kann; ich werde alles lernen, was du mir beibringen willst. Ich werde alles tun, was du willst...« »Hör sofort auf.« In Broichans Augen stand ein gefährliches Glitzern. »Ich werde nicht anfangen, mit einem Kind zu feilschen. Und achte darauf, was du sagst, denn sonst werden deine Worte dich noch belasten, wenn du längst vergessen hast, wie feierlich sie gemeint waren. Was, wenn ich nun von dir verlangen würde, dass du die Wiege verbrennst und den Schlüssel seinem Besitzer zurückgibst? Was versprichst du mir dann?« Brideis Wangen glühten plötzlich, nicht vor Scham, sondern vor Zorn, einer hilflosen Wut, die sich mit etwas noch Schlimmerem mischte - dem Gefühl, dass er seinen Pflegevater enttäuschte, dessen gute Meinung ihm alles bedeutete. Beinahe alles. »Ich werde mein Versprechen halten«, sagte er und spürte zu seinem Entsetzen, dass ihm eine Träne über die Wange lief. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest, ob ich ein Druide, ein Krieger oder ein Gelehrter sein soll. Aber ich weiß, dass ich lernen muss, und ich werde so schwer arbeiten, wie du willst, und noch schwerer, wenn ich kann. Herr... ich will, dass Tuala in Pitnochie bleibt. Wie könnte das falsch sein? Die Leuchtende selbst hat sie hergebracht.« Beide schwiegen längere Zeit. Broichan hatte sich umgedreht, um ins Feuer zu starren, und die Hand an die Wand neben der Feuerstellte gestützt. Es war still im Zimmer. Der kleine Korb stand immer noch auf dem Tisch. Eine Feder - 85 oder zwei und ein Fragment eines trockenen Blatts waren auf die polierte Oberfläche des Eichentischs gefallen. »Ich könnte Tuala Dinge beibringen«, fügte Bridei schließlich hinzu. »Zahlen, Geschichten, Lieder. Ich könnte ihr beibringen, wie man reitet. Selbstverständlich nur in meiner Freizeit.«
»Selbstverständlich«, sagte Broichan finster. Er hatte immer noch den Blick abgewandt. »Es gefällt mir einfach nicht, Bridei. Ich hatte ein solches Willkommen nicht erwartet.« Er drehte sich um und setzte sich an den Tisch, mit vorsichtigen Bewegungen, als wäre er ein alter Mann. Bridei sah, wie grau sein Gesicht geworden war und wie er die Fäuste ballte, als müsse er gegen Schmerzen ankämpfen. »Herr?« »Ja, Bridei, was ist? Gieß mir bitte ein bisschen Wasser ein... Danke, Junge.« »Du wirst doch nicht sterben, oder? Sie haben dich doch nicht...« Der Hauch eines Lächelns umspielte die Lippen des Druiden und war dann wieder verschwunden. »Wir sterben alle, Bridei. Aber nein, meine Feinde haben mich noch nicht umgebracht. Auch ich habe Versprechen abgegeben; meins verlangt, dass ich noch weitere fünfzehn Jahre auf dieser Welt bleibe, vielleicht sogar zwanzig, und ich habe vor, aus jedem Fitzelchen Zeit, das mir bleibt, das Beste zu machen. Ich kann mir Ablenkungen nicht leisen. Ich vermeide, mir Ärger ins Haus zu holen, und ich erwarte von denen, die mein Heim mit mir teilen, das Gleiche.« »Ich habe nur getan, was der Mond von mir wollte«, entgegnete Bridei. »Ich habe etwas vom Wilden eingelassen. Erinnerst du dich nicht daran, wie du gesagt hast, dass alles miteinander verbunden ist, das Tal, die Tiere, die Dinge, die wachsen? Wenn du einen Teil davon verletzt, wird alles schwächer. Tuala in Sicherheit zu bringen war etwas Gutes. Für uns alle.« - 86 »Ich habe dich zu gut unterrichtet«, murmelte Broichan. »Was hast du dir also vorgestellt - sollen wir sie aufziehen wie einen verwaisten Fuchs und sie dann wieder freilassen, damit sie Unheil anrichtet?« »Nein, Herr. Wir ziehen sie auf und lassen die Tür dabei offen.« Broichan trank das Wasser, das Bridei ihm gegeben hatte. Er hatte die Stirn gerunzelt; tiefe Falten zogen sich von seiner Nase zu den Winkeln seines schmallippigen Munds. Unerwartet verzog er den Mund nun und lachte leise. »Wenn ich dich zum Mystiker ausbilden wollte, Bridei, hätte ich dich in eins der Nemetons geschickt, wo sie dir die Überlieferung erheblich besser eingebläut hätten«, sagte er. »Und dennoch redest du bereits wie ein Druide.« Bridei wartete. Sein Herz klopfte immer noch heftig, aber in einer Ecke davon war Hoffnung aufgeflackert. »Gib mir den Schlüssel«, verlangte Broichan abrupt. Man konnte nie vorhersagen, was ein Druide tun würde. Mit erneut vor Aufregung heftig schlagendem Herzen trat Bridei vor, griff in den kleinen Korb, holte den Schlüssel heraus und legte ihn in Broichans ausgestreckte Hand. »Und jetzt nimm den Korb.« Bridei stand an der Feuerstelle und hielt das zerbrechliche Ding in den Armen, als wäre es Tuala selbst. Es schien direkt hinter seinen Augen noch einen Rest von Tränen zu geben, die nur darauf warteten, zu fließen, über seine Wangen zu laufen und zu zeigen, dass er tatsächlich immer noch ein Kind war und nichts gegen die Mächtigen ausrichten konnte, selbst wenn sie sich schrecklich irrten. »Ein Mann weint nicht, Bridei«, stellte Broichan fest, als könnte er Brideis Gedanken lesen. Er hatte die Hand immer noch ausgestreckt, der kleine Schlüssel lag immer noch darauf. »Jedenfalls nicht ohne guten Grund.« »Nein, Herr«, flüsterte Bridei. Er konnte es kommen sehen: Broichan würde sich nicht damit zufrieden geben, - 87 Tualas Körbchen, ihr Erbe, ihre einzige Verbindung zu ihren Verwandten zu verbrennen, er würde ihn zwingen, es zu tun, zur Strafe für seinen angeblichen Fehler. »Meine Knochen tun heute weh«, sagte Broichan. »Steig auf die Bank, Junge. Stell den Korb oben auf das Regal neben die Rattenschädel. Mara hat genug damit zu tun, mich bei passabler Gesundheit zu halten, ohne dass sie sich auch noch um gebrochene Knochen kümmern muss. Das genügt. Und jetzt komm wieder herunter.« Bridei gehorchte. Zumindest würde der Korb nicht verbrannt werden. Aber der Schlüssel lag immer noch in Broichans Hand. Vor Brideis Nase schloss der Druide die schlanken Finger um das kleine Eisenstück und steckte es in den Beutel an seinem Gürtel. »Nun gut«, sagte Broichan. »Das hier bleibt von jetzt an bei mir, was bedeutet, dass ich die Verantwortung trage und die Entscheidungen fälle. Wenn ich irgendwann in der Zukunft will, dass dieses Kind geht, wird es gehen, Bridei. Und du wirst mir nicht widersprechen. Ich verdanke meinem langen Leben des Lernens eine gewisse Fähigkeit vorwegzunehmen, was die Zukunft bringt, und kalkulierte Entscheidungen zu treffen. Meine Intuition sagt mir, dass dieses Kind eine Gefahr für uns darstellt. Andererseits gehe ich davon aus, dass es bereits zu spät ist, es loszuwerden. Schlüssel und Korb sind im Augenblick getrennt. Der Schlüssel könnte dorthin zurückgebracht werden, wo er herkam, der Korb könnte in den Flammen enden. Aber ich bezweifle sehr, dass etwas davon eine plötzliche Umkehrung der Menschen dieses Haushalts in ihrer Haltung gegenüber dem Kind bewirkt. Zweifellos haben sie es zunächst wegen des Zaubers aufgenommen, den du gewirkt hast. Aber wenn sie tatsächlich seit Mittwinter im Haus war, hatte deine Tuala genügend Zeit, ihre eigene Magie zu wirken. Wenn ich sie wegschickte, würde ich damit einen Prügel für meinen eigenen Rücken herstellen; ich würde Uneinigkeit schaffen, wo dies hier - 88 doch ein Ort des Lernens sein soll. Und des Heilens. Meine Feinde waren diesmal sehr schlau. Es wäre ihnen beinahe gelungen, mich zu überlisten. Das wird nicht wieder geschehen.«
»War es Gift?«, fragte Bridei. Bei aller ungläubigen Freude über seinen Sieg bei diesem Kampf vergaß er nicht, dass es noch einen anderen Kampf gegeben hatte, einen, der Broichan beinahe das Leben gekostet hätte. »Es war eine ausgesprochen subtile Mischung mit Tollkirschen. Eine Kombination, die man kaum an Geruch oder Geschmack erkennen konnte. Er hielt sich für schlau, aber vielleicht war er ein wenig zu schlau. Es gibt nur wenige mit dem Wissen und den Fähigkeiten, ein solches Getränk herzustellen.« »Du weißt, wer es war?«, hauchte Bridei. »Ich weiß genug. Von nun an werde ich ihn im Auge behalten. Nun gut. Ich glaube, ich wollte gerade meditieren, als die Stimme des Kindes meine Ruhe störte. Sie hat eine gute Lunge. Der Schlüssel bleibt bei mir, Bridei. Vergiss das nicht. Ihre Zukunft liegt nicht in deinen Händen, sondern in meinen.« »Ja, Herr. Und...« »Was ist, Junge?« »Danke, dass du sie bleiben lässt. Und - ich bin froh, dass du wieder da bist. Es wird dir bald besser gehen, jetzt, wo du wieder in Pitnochie bist.« Er versuchte nicht, seinen Pflegevater zu umarmen oder durch eine andere liebevolle Geste zu zeigen, wie er empfand. So etwas machte man nicht mit Broichan. Bridei hoffte, dass seine Worte und sein Gesicht dem Druiden sagten, wie froh er war, seinem Pflegevater nicht offen trotzen zu müssen. Denn Bridei wusste, er hätte das Körbchen nie ins Feuer werfen können; er hätte nie zulassen können, dass sie Tuala wieder in den Schnee hinausbrachten. Er hätte mit Zähnen und Krallen um sie gekämpft, wie ein wildes Tier, das seine Jungen verteidigt. Und - 89 damit hätte er sich gegen alle Belehrungen gewandt, die sein Pflegevater ihm gegeben hatte. »Geh jetzt«, war alles, was Broichan sagte. »Ich habe das sichere Gefühl, dass wir beide irgendwann einen Grund erhalten werden zu bedauern, was an diesem Tag geschah. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre.« - 90 KAPITEL DREI Du kriegst mich nicht!«, rief Tuala, und Perle verschwand wie ein tanzender Schatten zwischen den grauweißen Stämmen der Birken. Nur zu wahr, dachte Bridei und lenkte sein Pony hinter ihr her. Blesse war ein Geschenk von Broichan zu Brideis elftem Geburtstag gewesen. Tuala hatte sofort Perle für sich beansprucht. Sie hatten ihr das Reiten kaum beibringen müssen. Das kleine Mädchen hatte eine quecksilbrige Leichtigkeit, etwas Nicht-ganz-Anwesendes, das sie umgab, ganz gleich, wo sie sich aufhielt. Man wandte nur kurz den Blick ab, und wenn man wieder hinschaute, war sie schon weg. Inzwischen hatten sich alle, die in Broichans Haushalt lebten, daran gewöhnt. Niemand machte sich mehr Sorgen, dass Tuala sich verlaufen oder anderweitig Schaden nehmen könnte. Es war, als verfügte sie über ihre ganz eigenen Schutzzauber, solche, die man in sich trug. Dennoch hatte Tuala eine Mondscheibe um den Hals, ebenso wie Bridei. Broichan hatte darauf bestanden. Diese Knochenscheiben mit ihren eingeritzten Symbolen zu Ehren der Leuchtenden, die um ihren Segen baten, waren ein feierliches Zeichen, dass sich der Haushalt an die uralten Wege der Ahnen hielt. Eine solche Scheibe zu tragen war eine Ehre, es zeigte, dass man vertrauenswürdig war. Es hatte niemanden überrascht, als Broichan Bridei einen solchen - 91 Talisman gab. Aber Tuala, deren Platz im Haushalt weniger gut definiert war, einen solchen Zauber zu geben, war unerwartet. Dennoch, Broichan spielte seine eigenen Spiele, subtile Spiele, die gewöhnliche Leute oft nicht verstanden, und er wusste zweifellos, was er tat. Bridei glaubte nicht, dass Tuala eine Mondscheibe brauchte. Für ihn war mehr als deutlich, dass sie die Macht und den Schutz der Leuchtenden in sich trug und dass das immer schon so gewesen war, seit dieser Mittwinternacht, als er sie gefunden hatte, wie sie gewärmt von Schwanendaunen und von Mondlicht übergössen auf ihn wartete. Seitdem waren mehr als sechs Jahre vergangen, aber Tualas Haut hatte immer noch diese seltsame, durchscheinende Blässe; in ihren Augen stand immer noch diese ernste, klare Ruhe. Wenn die Mondgöttin je eine Tochter hätte, dachte Bridei, wäre dieses Kind genau wie Tuala. »Komm schon!«, rief sie nun von irgendwo weiter den Weg entlang, im Schatten der frühlingsgrünen Birken. Bridei berührte Blesses Flanke mit den Fersen und machte sich daran, Tuala zu folgen. Es war einer der letzten Frühlingstage, ein wolkenloser Tag, und sie waren auf dem Weg zur Adler narbe. Tualas natürliche Begabung zum Reiten hatte dazu geführt, dass sie Sattel und Zaumzeug im Stall ließ und sich einfach an ihr Pony klammerte, als wäre die kleine Stute eine Erweiterung ihrer selbst. Aber Bridei hatte sich sehr angestrengt, wie er es versprochen hatte. Er ritt Blesse gekonnt, und das Pony, ein hübscher Brauner mit einer schmalen weißen Blesse, war schnell und gehorsam. Sie folgten dem Aufblitzen von Perles langem, silbernem Schweif, dem leisen Rascheln ihrer Hufe im Laub, dem weißen Gesicht und dem schwarzen Haar der kleinen Reiterin, die hin und wieder zwischen den Bäumen mit ihrer hellen Rinde auftauchte; sie kletterten die sonnenfleckigen Pfade entlang, umgingen moosbewachsene Steine und wateten durch seichte Bäche, - 92 bis sie zum Fuß des steilen letzten Aufstiegs oben auf der Narbe kamen. Als sie dort eintrafen, knabberte Perle schon neben der massiven Felswand an einem Grasbüschel, und Tuala war nirgendwo zu sehen. Es war nicht notwendig, die Ponys anzupflocken; beide kannten diese Region gut und würden sich nicht weit
entfernen. Tuala war schon weit voraus; sie konnte klettern wie ein Eichhörnchen. Der obere Teil der Adlernarbe bestand aus einem großen Granitblock, vielleicht ein einziger gewaltiger Stein, vielleicht viele, dessen Spalten und Risse ein ganzes Heer von Geschöpfen beherbergten. In all den Jahren, in denen Bridei hier heraufgekommen war, hatte er immer nur einen kleinen Teil des Geländes erforschen können. Jedes Mal, wenn er hinaufkletterte, schien der Weg sich ein bisschen verändert zu haben. Vielleicht spielte ja der Fels selbst Spiele, genau wie es diese Eichen rund um das Haus des Druiden taten. Erdgeheimnisse, die sie mit keinem Sterblichen teilten - es wimmelte hier nur so davon. Bridei stand gern oben auf der Adlernarbe, wo die Vergangenheit bis tief in die Knochen des Landes reichte. Der Boden unter ihm war fest; das Große Tal breitete sich unter ihm aus, und steile Hänge mit ihrem lilagrünen Mantel aus Kiefern und dem helleren Schal aus Birken schützten das lange, glitzernde Band des Schlangensees. An diesem Ort stand er im Gleichgewicht zwischen Erde und Himmel, spürte das Herz des Steins unter seinen Füßen und die Berührung des Winds im Gesicht. Er stellte sich vor, ein Adler zu sein. Heute war Tuala vor ihm oben, drehte sich mit ausgestreckten Armen auf der Stelle und sang vor sich hin: »Fortrenn, Fotlaid, Fidach, Fib, Circinn, Caitt, Ce... Fortrenn, Fotlaid...« Das waren die Namen der sieben Söhne von Pridne, des Ahnherrn, von dem die Priteni abstammten. Die sieben Häuser oder Stämme waren nach ihnen benannt. Bridei hatte Tuala diese Litanei von Namen erst vor kurzem beige- 93 bracht; nun sorgte sie dafür, dass sie sie auch behielt. Sie hatte sich auf den obersten Stein gestellt, und ihre Füße bewegten sich auf einer Fläche, die nicht größer war als eine Haferbreischale. Bridei sah ihre kleine Gestalt vor dem hellen Frühlingshimmel; ihr schwarzes Haar wurde vom Wind zerzaust, ihre Augen waren voller Licht. Hinter ihr, auf der anderen Seite, war die lange, beinahe senkrechte Südseite der Narbe. Todessprung nannten es die Leute. Es war gut, dass Tuala keine Höhenangst hatte. Sie drehte und drehte sich, als wollte sie, dass sich die Welt vor ihren Augen ebenfalls drehte. »Hör auf, Tuala«, sagte Bridei ohne großen Nachdruck. »Mir wird schon vom Zusehen schwindlig.« Er zog sich auf die flachen Steine direkt unterhalb von ihr. Wie er gehofft hatte, hörte sie sofort auf und blieb still und vollkommen im Gleichgewicht stehen, ernst und unerschütterlich. Es war Bridei, der diese wirbelnde Angst spürte, diesen Schwindel erregenden Verlust der Balance. »Was machst du da eigentlich?«, fragte er mit gut eingeübter Ruhe. »Versuchst du zu fliegen?« Tuala kam von ihrem Gipfel herunter und setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Sie trug ein langes Hemd aus schlichtem Wolltuch und darunter eine Hose zum Reiten. Die Hose hatte einmal Bridei gehört; es war schwer, sich vorzustellen, dass er einmal so klein gewesen war. »Ich würde gerne fliegen«, sagte Tuala. »Manchmal glaube ich, ich könnte es.« Bridei packte den Proviant aus, den er mitgebracht hatte: gekochte Eier und dicke Keile Haferbrot. Er reichte Tuala den Wasserschlauch. »Falls du wirklich vorhast, es zu versuchen«, sagte er, »wäre es vielleicht besser, es beim ersten Mal von einer Bank oder einem Fass aus zu versuchen, nicht von einem Berggipfel.« Tuala sah ihn gelassen an. »Ich würde nicht einfach fallen«, sagte sie. »Jedenfalls glaube ich das nicht.« - 94 »Du bist ein Mädchen, kein Vogel«, sagte Bridei. »Manchmal bin ich ein Vogel.« Sie hob die kleine, weiße Hand, um sich das Haar hinters Ohr zu streichen. »Wie meinst du das?« »In meinen Träumen. Der Mond geht auf, und ich werde wach, und ich fliege durch den Wald. Alles ist silbern, alles ist lebendig und wartet.« Bridei antwortete nicht. Es war lange her, seit Tuala nach Pitnochie gekommen war, so lange, dass er manchmal beinahe vergaß, dass sie ... anders war. Und dann sagte sie solche Dinge. »Herabstoßen, zupacken, fressen«, sagte Tuala zerstreut und aß ein Stück Brot. »Auf dem Wind gleiten, jagen. Dann geht der Mond unter, und die Dunkelheit kehrt zurück.« »Träume sind etwas anderes.« Das war keine besonders gute Reaktion, und Bridei wusste es. »Du solltest vorsichtiger sein. Stell dir doch nur vor, du würdest herunterfallen und ... und dir das Bein brechen. Du würdest den ganzen Sommer über nicht reiten können.« Er würde ihr nicht erzählen, dass schon mehr als ein Mensch bei einem plötzlichen Sturz von der Adlernarbe umgekommen war. Immerhin war sie verglichen mit ihm immer noch ein Baby. »Versprich mir, vernünftig zu sein, Tuala.« »Ich verspreche es.« Die Antwort war bereitwillig erfolgt; leider, dachte Bridei, unterschied sich Tualas Vorstellung von Vernunft ein wenig von seiner. »Was möchtest du sein?«, fragte Tuala nun. »Wie meinst du das?« »Was für ein Vogel möchtest du denn sein, wenn du könntest?« »Ein Adler«, antwortete Bridei sofort. »Ich würde über das gesamte Große Tal segeln und auf alles herabschauen, alles beobachten, alles bewachen. Bei deiner Haarfarbe müsstest du eigentlich ein Rabe sein.« - 95 Tuala schüttelte den Kopf. »Eine Eule«, verbesserte sie ernst.
»Du weißt, dass sie sich übergeben und Kugeln mit all den Knochen und Klauen und Schnäbeln ausspucken, nicht wahr? Die Schwänze und Schnurrhaare und ...« Tuala schubste ihn, aber nicht allzu fest. »Ich esse gerade«, sagte sie. »Und überhaupt, was ist mit Adlern, die neugeborene Lämmer stehlen? Mara hat mir erzählt, dass sie einmal sogar ein Baby geholt haben.« »Das ist alles Teil des Gleichgewichts«, sagte Bridei. »Einige müssen ihr Leben geben, damit andere überleben können. Solange du das respektierst, ist alles viel sinnvoller.« Sie aßen eine Weile weiter, ohne sich zu unterhalten, und lauschten stattdessen den Geräuschen des Tals: dem Ruf der Vögel hoch über ihnen, dem Zwitschern und den Pfiffen derjenigen im Wald, dem Seufzen der Bäume im Wind, dem verstohlenen Rascheln von etwas, das sich in einer Felsspalte rührte. Weiter entfernt gab es häuslichere Geräusche: Fidich, der die Hunde rief und ein Bellen zur Antwort erhielt. Der Bauer sah oben in den Hügeln nach den Mutterschafen. »Weißt du was, Tuala?« Bridei reichte ihr das Ei, das er für sie geschält hatte, und fing an, ein weiteres zu schälen. »Als ich noch so klein war wie du, hätte ich nicht allein hier heraufkommen dürfen. Broichan hätte das nicht gewollt.« »Ich bin nicht allein«, sagte Tuala. »Ich habe dich.« »Ja, nun, ich hatte dich damals nicht und auch keine großen Brüder, die auf mich aufgepasst haben.« Tuala öffnete den Mund. Bridei wusste, sie wollte ihm sagen, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte, danke vielmals. »Aber es war nicht deshalb«, fuhr er rasch fort. »Damals war es im Wald gefährlich. Einmal hat jemand versucht, mich zu töten. Und sie haben versucht, Broichan umzubringen. Damals durfte ich nie ohne zwei Wachen ausgehen.« - 96 »Wie wollten sie dich denn töten?« Tualas Augen waren jetzt rund, ihr hübscher kleiner Mund sehr ernst. Bridei bedauerte bereits, dass er dieses Thema angesprochen hatte. »Oh, es war nichts weiter«, sagte er bewusst geringschätzig. »Vielleicht sollten wir jetzt wieder nach Hause ...« »Mit einem Schwert? Mit Magie? Haben sie versucht, dich in einer Falle zu fangen?« »Mit einem Pfeil«, sagte Bridei. »Hast du sie umgebracht?« »Nein. Donal hat es getan. Ich möchte nicht darüber sprechen.« »Warum wollten sie dich töten?« »Das weiß ich nicht. Niemand wollte es mir sagen. Aber jetzt ist es in Ordnung. Das ist lange her. Worin auch immer die Gefahr bestand, nun ist sie vorbei. Früher einmal gab es schon allein auf der Mauer auf der Nordseite fünf Wachen, und jetzt ist dort nur noch ein Mann. Und wir dürfen raus. Also kannst du froh sein.« Tuala sah ihn forschend an. »Du kannst froh sein. Oder du wärst tot, und ich wäre nicht hier.« Bridei schauderte. »Es war kein Glück, das mich an diesem Tag gerettet hat«, sagte er. »Es war etwas anderes.« »Donal?« »Er hat ganz bestimmt dabei geholfen. Aber es gab noch mehr. Es war, als hätte sich die Erde geöffnet und mich eingelassen. Sogar Donal fand das seltsam.« »Sie sorgt für deine Sicherheit«, sagte Tuala mit ihrer leisen, klaren Stimme. »Sie hält dich sicher in ihrer Hand. Sicher, damit du weitermachen kannst.« Ihre Worte bewirkten, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er schob die Eierschalen zu einem ordentlichen kleinen Haufen zusammen und schwieg. »Es wird alles gut, Bridei«, sagte Tuala, als wäre sie die Ältere und er das Kind. - 97 Als sie wieder zu Hause waren, führte Bridei die beiden Ponys zum Stall und kümmerte sich um Blesse, während Tuala mit einiger Anstrengung Perle abrieb. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Mähne des Ponys zu erreichen; zum Glück schien Perle das zu verstehen und senkte gehorsam den Kopf, während das kleine Mädchen die zerzausten Stellen ausbürstete. »Schade, dass sie diesen Gefallen nicht erwidern kann«, stellte Bridei mit einem Blick auf Tualas windzerzauste Locken fest. Als sie zu ihrem Ritt aufgebrochen waren, war ihr dunkles Haar ordentlich zu einem Zopf geflochten gewesen, aber es schien ein Eigenleben zu haben. Alle lachten darüber, wie viele Haarbänder sie schon verloren hatte. Tuala hob beide Hände, um sich die wirre Mähne aus dem Gesicht zu streifen. »Soll ich es machen?«, fragte Bridei. Tuala stellte sich neben ihn und drehte ihm den Rücken zu. Sie suchte in dem Beutel herum, den sie am Gürtel trug, holte einen kleinen Kamm heraus und drückte ihn Bridei in die Hand. Sie brauchten keine Worte; das hier war ein lange eingeübtes Ritual. »Stillhalten.« Bridei war geschickt, denn er hatte viel an Ponys geübt. Er wusste, wie er Tualas Haar auskämmen konnte, ohne auch nur im Geringsten zu ziehen. Und was das Mädchen anging, sie stand vollkommen still, beinahe wie erstarrt; es war eine Pose, die er selbst nur mit Hilfe angestrengter Beherrschung seines Atems, mit Meditation, mit reiner Willenskraft gelernt hatte, während Tuala es schaffte, ohne es auch nur zu wollen. Seine Finger bewegten sich systematisch und flochten den langen Zopf, der ihr bis zur Taille hing.
»Hast du ein Band?«, fragte er lächelnd. Tuala schüttelte mit betrübter Miene den Kopf. »Hab's verloren.« »Dann ist es ja gut, dass ich eins habe.« Er griff in die Tasche und holte ein Stück gelbe, geflochtene Schnur heraus, - 98 eine von mehreren, die er genau für solche Situationen eingesteckt hatte. Tuala verlor ihre Haarbänder überall. Er band die Schnur mit einem festen, ordentlichen Knoten und einer kleinen Schleife wie ein Schmetterling. »Fertig. Und achte darauf, dass du nicht gleich alles wieder verwuschelst, falls Broichan dich sieht.« »Ja, Bridei.« Seit Broichan zum Rat eines Königs gegangen und beinahe umgekommen war, hatte es in Pitnochie ein paar Veränderungen gegeben. Es befanden sich immer noch mehrere Bewaffnete auf dem Anwesen, patrouillierten die Grenzen und eskortierten den Druiden, wann immer er unterwegs war. Aber inzwischen gab es weniger von ihnen und mehr gewöhnliche Leute. Brenna war geblieben; ihre liebenswerte Art und ihre natürliche Schweigsamkeit bildeten ein hervorragendes Gegengewicht zu dem aufbrausenden Ferat und der säuerlichen Mara. Fidich erschien jetzt häufiger im Haus, stand verlegen in der Küche und unterhielt sich mit jedem, der in der Nähe war, über Schafschur, Melken oder das Erneuern von Steinwällen. Das passte überhaupt nicht zu ihm, denn zuvor hatte sich der Bauer nach der Tagesarbeit immer bald in sein kleines Häuschen zurückgezogen und sich offenbar in seiner eigenen Gesellschaft am wohlsten gefühlt. Donal stellte trocken fest, dass Fidichs Besuche beinahe jedes Mal ein kurzes Gespräch mit Brenna einschlössen, er erkundigte sich immer, wie es ihr ging, und tauschte ein paar Bemerkungen über Kleinigkeiten aus. Es hatte lange gedauert, bis die Traurigkeit aus Brennas Augen verschwand. Tuala hatte dazu beigetragen; die Forderungen eines kleinen Kindes hatten der jungen Witwe wenig Zeit gelassen, ihren Sorgen nachzuhängen. In der letzten Zeit war immer deutlicher geworden, dass Fidichs Besuche Brennas Wangen rosiger machten. Die junge Frau und der - 99 Bauer waren beide verlegen und schüchtern, aber vielleicht würde mit der Zeit etwas daraus werden. Und es gab noch weitere neue Bewohner im Haus. Nicht lange, nachdem Broichan immer noch krank von dem Versuch, ihn zu vergiften, nach Hause zurückgekehrt war, war Bridei zum Abendessen in die Halle gekommen und hatte dort die beiden alten Männer, Erip und Wid, vorgefunden, wie sie in einer Ecke über einem Spielbrett saßen, genau wie an seinem ersten Abend in Pitnochie. Er hatte sie erstaunt begrüßt. »Ich dachte, ihr würdet nicht zurückkommen.« Erip, rundlich und kahl, hatte leise gelacht und gleichzeitig eine kleine Kriegerfigur über das Spielbrett bewegt, was dem hoch gewachsenen, weißbärtigen Wid ein verärgertes Zischen entlockte. »Wer, wir?«, hatte Erip gesagt. »Es braucht mehr als den Druiden eines Königs, um uns fern zu halten. Wir waren unterwegs, das ist alles. Nun, du bist wirklich groß geworden. Was hat Ferat dir zu essen gegeben, Stier ...« Der alte Mann brach ab, vielleicht, weil er den Blick bemerkt hatte, den Mara ihm von der anderen Seite der Halle zuwarf. »Oh.« Bridei fragte sich, für welche Teile seiner Erziehung sie zuständig sein würden, die über Brettspiele und Trinken hinausgingen. Wids Finger verharrten über einer kleinen Priesterin aus Speckstein. »Erip ist ein Fachmann für Geografie«, sagte er. »Territorien, Küsten, Stämme und ihre Anführer. Mein Feld ist die Strategie: Wie man in die Köpfe von Männern schaut und noch vor ihnen weiß, was sie vorhaben. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, schwer zu arbeiten, Bridei.« Er nahm die Priesterin vom Brett, stellte sie auf einem anderen Feld wieder auf und sah Erip mit sorgfältig ausdrucksloser Miene, aber hochgezogenen Brauen an. »Die Seuche soll Befehlshaber im Ruhestand holen«, murmelte Erip, warf einen langen Blick aufs Brett und hob - 100 dann die Hände in hilfloser Kapitulation. »Sie sind einem immer drei Schritte voraus.« Erip und Wid waren zu einem Bestandteil des Haushalts geworden, als hätten sie das Anwesen nie verlassen. Nun, sechs Jahre später, wohnten die beiden immer noch drunten am Ende des Männerquartiers und wurden von Ferats guten Mahlzeiten immer fetter. Und sie hatten tatsächlich bewiesen, dass sie ihrem Schüler erheblich mehr beibringen konnten, als wie man sich Ärger einhandelt. Tatsächlich hatte Bridei nur sehr wenig Freizeit. Der Unterricht begann direkt nach dem Frühstück und dauerte bis zum Sonnenuntergang, und das schloss noch nicht die Nachtwachen ein, die Teil von Broichans Belehrungen waren, die hin und wieder zu vollziehenden Rituale bei Sonnenaufgang und das Lernen und die Vorbereitungen, um die Bridei sich in seiner Freizeit kümmern musste. Freizeit, das war wirklich ein Scherz. An manchen Abenden konnte er Tuala nach dem Abendessen gerade noch ihre Gute-Nacht-Geschichte erzählen, bevor er vor Erschöpfung einschlief. Aber diese Pflicht vernachlässigte er nie. Die Geschichten gehörten zu dem Versprechen, das er ihr vor langer Zeit gegeben hatte. Bridei wusste, wie es war, im Dunkeln im Bett zu liegen und auf den Schlaf zu warten, ohne eine Geschichte, die einem Gesellschaft leistete und einem bis in die Träume folgte. Für ihn hatte es viele solche Abende gegeben, und er hatte sich daran gewöhnt. Aber er schwor sich, Tuala sollte nie ein solches Gefühl vollkommenen Alleinseins ertragen müssen.
Morgens arbeitete er mit Erip, dann mit Wid. Als Bridei mehr über das Reich von Fortriu, seine Berge und Täler, seine Seen und Bäche, seine Buchten und Inseln wusste, unterrichteten die beiden alten Männer ihn gemeinsam, und der Unterricht bestand häufig aus hitzigen Diskussionen der drei, denn sie ermutigten Bridei, selbst etwas beizutragen. Von Erip erfuhr er die Geschichte der Priteni, die Muster des - 101 Königtums, das Verhalten von Nachbarn und Feinden. Die Menschen im Norden stammten von den sieben Söhnen ihres Ahnherrn Pridne ab: Von ihm kam die Bezeichnung Priteni, ein Name, den alle Bewohner von Fortriu für sich beanspruchten, die Leute aus Circinn im Süden ebenso wie die an den wenig erforschten Orten des abgelegenen Nordens, wo der wilde Stamm lebte, der als die Caitt bekannt war. Auf den Inseln hinter dieser nördlichen Küste gab es Menschen, die sich einfach nur das Volk nannten. Auch das Volk war von Priteniblut, und ihre Isolation hatte sie mächtig werden lassen; sie hatten ihren eigenen König und ihre eigene Regierung. Fortriu und Circinn waren einmal ein einziges Königreich gewesen, vereinigt in seinem Glauben an die alten Götter, stark und sicher. Das hatte sich geändert, als der letzte König gewählt wurde, denn die abstimmenden Anführer waren nicht im Stande gewesen, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Nun war das Reich geteilt, und der Christ Drust, Sohn des Girom, bekannt als der Eber, herrschte über das südliche Reich von Circinn, und ihr eigener König, Drust der Stier, hielt die alten Traditionen in einem Land aufrecht, das sich • von der Festung des Königs in Caer Pridne nordöstlich durch das Große Tal bis zur letzten Verteidigungslinie gegen die Galen im Südwesten erstreckte. Zwischen diesen beiden Reichen und ihren Königen bestand eine ununterbrochene, lauernde Unruhe. In Wids Unterricht ging es um Machtspiele und Ratsversammlungen, darum, wie man die Gesten und die Miene eines Menschen deutete, und welche Dinge man in einer bestimmten Umgebung aussprach und welche nicht. Sie beschäftigten sich mit der Weitergabe von geheimen Botschaften und damit, wie man nach dem lauschte, was bewusst unausgesprochen blieb. Solche Fähigkeiten waren hier in Pitnochie allerdings nicht leicht zu üben. Es ließ sich nur zu leicht erraten, was zum Beispiel Fidich dachte, wenn er einen - 102 Becher Bier umklammerte und so tat, als sähe er Brenna nicht an, oder wovon Donal träumte, wenn er sein Schwert schliff und dabei leise ein altes Marschlied vor sich hinpfiff. »Ich muss es doch üben können«, erklärte Bridei empört. »Wir sprechen die ganze Zeit von Versammlungen und Ratssitzungen des Königs, aber alles, was ich je zu sehen bekomme, sind dieses Haus und der Bauernhof. Wie soll ich je vernünftig lernen können, wenn ich mein Leben lang hier eingeschlossen bin?« Es war ungewöhnlich, dass er sich so beschwerte; er hatte denen, die er achtete, stets gehorcht. Es war ein langer Morgen der Theorie gewesen. »Dein Leben lang?«, fragte Wid und zog die Brauen hoch. »Ein alter Mann von - hm, zwölf, nicht wahr? Ich glaube, du wirst schon bald mehr Gelegenheiten erhalten. Broichan mag noch nicht bereit sein, dich reisen zu lassen, aber er wird vielleicht etwas von der Welt zu dir bringen. Vielleicht noch nicht sofort, aber bald. Habe Geduld. Er hat seine Gründe.« »Wid?«, fragte Bridei. »Ja, Junge?« »Ich habe nachgedacht. Was wird aus mir, wenn all das hier vorbei ist? Wenn meine Ausbildung beendet ist? Ein Gelehrter? Ein Berater? Sollte ich nicht mehr über mein eigenes Volk in Gwynedd erfahren? Ich nehme an, ich werde irgendwann an den Hof meines Vaters zurückkehren.« »Mag sein«, erwiderte Wid mit einem kleinen Lächeln. Bridei hatte diese Fragen schon öfter gestellt, aber nie zuvor so direkt. »Wir werden noch über Gwynedd und Powys, sein Nachbarland, sprechen, und über andere weit entfernte Länder. Für dich ist Fortriu wichtiger. Und die Erziehung eines Mannes ist niemals zu Ende. Das solltest du inzwischen wissen.« »Aber ich bin kein Priteni«, sagte Bridei. »Ich wollte nicht respektlos sein. Ich lerne gern die Überlieferung und Geschichte des Nordens, aber...« - 103 »Deine Mutter kam von hier«, sagte Wid leise. »Meine Mutter!« Bridei war verblüfft; er hatte lange nicht mehr an sie gedacht. »Sie kam aus Fortriu? Dann habe ich hier vielleicht sogar Verwandte, Tanten und Onkel und vielleicht Vettern. Warum sagt mir Broichan so wenig? Was weißt du über sie?« »Nicht viel«, sagte Wid und fing an, seine Schriftrollen wieder aufzurollen. »Sie hieß Anfreda. Das ist so ziemlich alles, was ich dir sagen kann. Erinnerst du dich nicht?« Bridei schwieg einige Zeit. Schließlich sagte er: »Ich war erst vier Jahre alt, als ich hierher kam. Ich erinnere mich an keinen von ihnen. Vielleicht ein bisschen an meinen Vater. Nicht an die anderen.« »Hm. Broichan könnte dir mehr erzählen.« »Er spricht nicht von ihr. Ich glaube nicht, dass er etwas weiß.« »Nun gut«, sagte Wid. »Alles zu seiner Zeit. Sollen wir jetzt sehen, ob wir etwas zu essen finden können?« Nach dem Unterricht am Morgen war es Zeit, mit Donal zu üben. Bridei konnte inzwischen sehr gut mit Schwert und Stab umgehen, war geschickt mit dem Messer, konnte feststellen, wenn ihn jemand heimlich verfolgte, und den Verfolgern entkommen. Er war ein so guter Bogenschütze geworden, dass ihn nur noch die Größe seines
Bogens von Donais Leistungen unterschied. Er hatte auch einen Sommer lang im kalten Wasser des Schlangensees gelernt, gut genug zu schwimmen, um sich ans Ufer retten zu können, falls es beim Segeln ein Unglück geben sollte. Er war im Stande, ein kleines Boot zu rudern. Sobald er für Perle zu groß geworden war und Blesse bekommen hatte, lernte er, wie man das Pony über Sprünge führte, wie man sich seitwärts aus dem Sattel lehnte und ein Bündel vom Boden riss, und wie man aus dem Galopp einen Speer auf ein Ziel warf. Donais Unterrichtsstunden waren angenehm, und die Zeit verging dabei - 104 nur allzu schnell. Bridei hätte gerne mit jemandem Kämpfen geübt, der etwa die gleiche Größe hatte wie er selbst, aber die Siedlung blieb ihm verboten. Sowohl Donal als auch Broichan sagten, es sei immer noch gefährlich. Manchmal beendete Donal die Übungen früher, und Bridei hatte ein wenig Zeit vor dem letzten, anstrengendsten Teil des täglichen Unterrichts: den Stunden bei seinem Pflegevater. Diese kurze Freizeit war sehr kostbar. Tuala wartete schon auf ihn, stand still und leise unter den Eichen am Rand der Wiese, auf der Donal und Bridei Schwertkampf übten, oder sie hockte auf einer Steinmauer nahe dem Stall und sah zu, wie die beiden Manöver mit Messer oder Stab vollführten. Dann nahm sie Bridei mit, um ihm ein paar komisch aussehende Pilze zu zeigen, die sie gefunden hatte, oder um vorzuführen, dass sie einem der Hunde beigebracht hatte, einem Ball hinterher zu jagen. Oder Bridei erzählte ihr etwas von dem, was er am Morgen gelernt hatte: Könige und Stämme, Schlachten und Reisen. Dann war es für ihn nur zu bald schon wieder Zeit, zu Broichan zu gehen. Bei diesen Unterrichtsstunden konnte Tuala nicht zusehen. Sie fanden nun im Zimmer des Druiden statt, und das durfte sie nicht betreten. »Broichan kann mich nicht leiden«, sagte sie eines Tages zu Bridei, als sie zusammen unter den Eichen saßen und zuschauten, wie Fidich drunten am Stall Holz hackte. Nicht, dass sie sich beschwert hätte; sie stellte einfach eine Tatsache fest. »Er ist nicht an Kinder gewöhnt«, sagte Bridei. »Er weiß nicht, wie er mit dir reden soll, das ist alles. Es wird besser werden, wenn du älter wirst.« »Und was ist mit dir?« »Wie meinst du das?« »Er ist schon an Kinder gewöhnt. Du warst hier, seit du klein warst. Er spricht mit dir und unterrichtet dich und lässt dich in sein besonderes Zimmer.« - 105 »Er hat mich nicht reingelassen, als ich so groß wie du war. Du musst ihm einfach Zeit geben.« Tuala schüttelte den Kopf. »Er kann mich nicht leiden. Sonst würde er erlauben, dass ich auch Unterricht bekomme. Brenna sagt, ich brauche nur Nähen und Kochen zu lernen. Aber ich will alles lernen, was du lernst: alles über die Welt.« Bridei verkniff sich die offensichtliche Antwort: Du bist ein Mädchen. Das entsprach zwar eindeutig der Wahrheit, schien aber nicht die richtige Antwort für Tuala zu sein. In seinen wildesten Träumen konnte er sie sich nicht beim Nähen und Kochen vorstellen. »Ich werde dir so viel beibringen, wie ich kann«, versprach er. Tuala drehte einen Grashalm in ihren kleinen weißen Händen. »Kannst du mir beibringen, wie man den Blick benutzt?« Bridei wurde plötzlich kalt, obwohl er nicht sicher war, warum. »Was weißt du über den Blick?«, fragte er. »Ich weiß, dass Broichan dazu seinen Bronzespiegel benutzt. Ich weiß, dass Weise Frauen und Druiden es tun. Man kann sehen, was passieren wird. Und was früher passiert ist. Ich würde das gerne versuchen. Ich glaube, ich könnte das gut.« In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. »Warum, Tuala?« Bridei glaubte zu wissen, wie die Antwort lauten würde. Sie senkte den Kopf; der Vorhang aus glänzendem dunklem Haar fiel nach vorn und versteckte ihr kleines Gesicht beinahe vollkommen. »Damit ich sie sehen kann«, flüsterte sie. »Sie?« »Die, die mich hier gelassen haben. Meine Familie. Ich denke, ich könnte sie vielleicht sehen.« Brideis Herz zog sich zusammen. »Wir sind jetzt deine Familie«, sagte er liebevoll. - 106 »Du bist es«, stimmte Tuala zu, hob den Kopf und sah ihn bekümmert an. »Aber Broichan nicht. Er will mich nicht hier haben.« »Hat er das ...« »Er braucht es nicht zu sagen. Bridei, wirst du es mir beibringen?« »Wie könnte ich das? Er schließt seinen Spiegel weg, und - nun, ich bin ziemlich sicher, dass er es nicht will. Es ist etwas Geheimes, man braucht sehr viel Vorbereitung dafür, und es kann gefährlich sein, wenn du etwas falsch machst. Er könnte es dir beibringen, aber ich glaube nicht, dass ich dazu im Stande wäre. Ich habe es nur ein paarmal versucht, und es hat nicht allzu gut geklappt. Broichan sagte, das sei egal. Er meint, die anderen Unterrichtsstunden sind wichtiger für mich.« Tuala schwieg einen Augenblick. Sie flocht das Gras zu einem winzigen Körbchen. Dann sagte sie: »Für mich ist es nicht egal. Ich werde es mir eben selbst beibringen müssen.« Bridei runzelte die Stirn. »Sei vorsichtig. Ich habe dir doch gesagt, es ist gefährlich, wie alle magischen Künste.
Und außerdem hast du keinen Spiegel.« »Ich könnte wahrscheinlich einen finden.« Sie stellte den winzigen Korb zwischen die Wurzeln der großen Eiche. »Du wirst zu spät zum Unterricht kommen.« Auf dem ganzen Weg zurück zum Haus konnte er spüren, wie sie ihn beobachtete, obwohl sie geblieben war, wo sie war - unter den Bäumen. Manchmal machte er sich Sorgen um Tuala. Einen Augenblick rannte sie durch den Wald wie ein kleines wildes Ding, und im nächsten klang sie wie eine Großmutter. Dennoch, sie war erst sechs. Mit ein wenig Glück würde sie sich morgen für etwas anderes interessieren und vergessen haben, dass sie eine Seherin sein wollte. Broichan wartete schon auf ihn. »Du bist gerannt«, stellte der Druide fest. Bridei strengte sich an, seinen Atem zu beruhigen. Er wür- 107 de sich nicht entschuldigen. Er war gerannt und deshalb nicht zu spät. Er wollte sich nicht in eine Diskussion darüber verwickeln lassen, wie er seine Freizeit verbringen sollte. »Ja, Herr«, sagte er einen Augenblick später, und seine Stimme war fest und nicht mehr atemlos. »Setz dich«, sagte Broichan. Bridei setzte sich auf die Bank seinem Pflegevater gegenüber, mit dem Eichentisch zwischen ihnen. Auf dem Tisch lagen Stäbchen aus Birkenholz, jedes mit eigenen eingeschnitzten Zeichen. Bridei strengte sich an, sie nicht zu berühren. Das hier war ein Weissagungsmuster. »Sag mir, was du hier siehst.« Broichans Stimme war tief und volltönend, ein Klang, der ebenso von Geheimnis wie von Autorität sprach. Seine Miene war ruhig wie immer; die dunklen Augen hatte er halb geschlossen, das geflochtene Haar fiel ihm auf die Schultern. In den Strähnen befanden sich jetzt auch ein paar graue Haare. Bridei betrachtete die Birkenstäbchen. Er hatte sehr früh angefangen, diese Zeichen zu lernen; schon nach seinem ersten Sommer in Pitnochie war er mit ihrer grundlegenden Bedeutung vertraut gewesen, und nun verstand er, dass es so viele Möglichkeiten gab, ihre Weisheit zusammenzufügen, wie Sterne am Himmel. Die Aufgabe des Deutens bestand weniger darin, eine einzige Bedeutung festzustellen, sondern auszuwählen, was in einer Unzahl von Bedeutungen relevant war. »Suchst du nach einer Antwort auf eine bestimmte Frage?«, fragte er Broichan und betrachtete, wie die Stäbchen lagen, wo sie sich überschnitten und welche über oder unter die anderen gefallen waren. Selbstverständlich war derjenige, der sie geworfen hatte, auch die Person, die das Muster am besten verstehen konnte, und zweifellos hatte Broichan seine eigene Interpretation bereits beendet. Der Druide nickte. »Die Frage, die ich stellte, war kompliziert. Die Antwort hat entsprechend viele Aspekte. Weil - 108 du sie in einfacheren Begriffen sehen wirst, könntest du vielleicht eine klarere Lösung liefern. Es war eine Frage über Anführer und Treuepflichten. Eine tiefsinnige Frage über Fortriu selbst.« Bridei dachte eine Weile nach, sah die kleinen Birkenstäbchen an, dann über sie hinweg, zwang sich zu erkennen, was hinter den eingeschnitzten Mustern aus Linien und Symbolen auf ihren hellen Oberflächen lag. »Ich sehe hier zwei Geschöpfe«, sagte er, »Stier und Eber, jeder mit denen von seiner eigenen Art hinter sich. Feinde kommen aus dem Westen und dem Süden, greifen sie beide an und versuchen, sich zwischen sie zu schieben. Aber hier gibt es ein Stäbchen, das sie verbindet. Den Adler. Es hält sie zusammen, überbrückt die Kluft. Und hier, eins halb verborgen darunter. Der Schatten.« »Und?« »Es braucht nur eine unerwartete Entwicklung, und viele würden fallen: Eber, Stier und Adler zusammen.« »Und dann bliebe nur der Schatten«, sagte Broichan ernst. »Und allein kann der Schatten nichts erreichen. Danke, Bridei, du kannst die Stäbchen wieder in ihren Beutel stecken, und während du das tust, wollen wir sehen, wie gut deine Geschichtslehrer waren. Die symbolische Bedeutung hier ist offensichtlich. Sagen wir, es bezieht sich auf die kommenden Jahre, vielleicht die nächsten zehn oder fünfzehn. Wie würdest du dieses Bild von Stieren und Ebern interpretieren?« »Der Stier muss unser eigener König sein, Drust, Sohn des Wdrost, denn der Stier ist sein Familienzeichen; Erip sagt, dass die Steine, die rings um seine große Festung stehen, voll solcher Bilder sind. Der Eber ist Drust, Sohn des Girom, König von Circinn. Das bedeutet, dass die beiden Stämme, die die Stäbchen gezeigt haben, für die beiden Königreiche der Priteni stehen: wir aus Fortriu, die wir dem wahren Glauben unserer Ahnen folgen, und die aus dem Süden, die Christen.« - 109 »Und alle werden wir von Feinden bedrängt«, murmelte Broichan nachdenklich. »Ja, selbst ein Kind kann das erkennen. Circinn wird an seinen Grenzen im Süden schwer von Barbarenhorden bedrängt. Und was uns angeht, wir stehen Welle um Welle von Galen gegenüber, die um jeden Preis auch noch die letzte Schlucht, das letzte Tal, den letzten See und Bach erobern wollen, die wir unser Eigen nennen. Und dennoch, wir sind ein starkes Volk, Bridei. Ein zähes Volk. Welche Bedeutung schreibst du dieser einen Verbindung zu, dem Adler, der die Kluft so gefährlich überbrückt? Die Anführer der Priteni haben ihren eigenen Kopf, und ihre Könige sind ebenso störrisch. Eber und Stier zu vereinen kommt mir so unwahrscheinlich vor, als wollte man zwei wilde Hirsche vor einen Wagen spannen und erwarten, dass sie wie ein Gespann arbeiten.«
Die Birkenstäbchen waren nun sicher in ihrem Ziegenlederbeutel weggepackt. Bridei band die Lederschnur darum und legte den Beutel auf sein Regal. Weiter oben stand immer noch eine winzige Wiege im Schatten, verwelkt und verblasst. Er saß mit dem Kinn in der Hand da und dachte angestrengt nach. Jede Antwort, die man Broichan gab, musste gut bedacht sein, oder man könnte ebenso gut gar nichts sagen. »Ich glaube«, sagte Bridei schließlich, »dass der Adler für Fortriu am wichtigsten ist. Er wäre ein besseres Symbol für einen König, besser als Stier oder Eber, obwohl diese beiden auf ihre eigene Art ebenfalls sehr stark sind. Der Adler fliegt hoch über allem: Er fliegt über das gesamte Große Tal und darüber hinaus zu den Inseln im Westen und nach Norden zum Land der Caitt und nach Südosten nach Circinn. Er kann über die Reiche beider Könige fliegen; sein klarer Blick zeigt ihm, dass das Land nicht nach Stämmen gespalten ist, sondern ein Ganzes ist, stark und unteilbar. Oder es sollte so sein. Ich möchte natürlich nicht klingen, als stünde ich nicht treu zu König Drust.« - 110 »Nein«, sagte Broichan leise, »und wenn du dich in Gesellschaft anderer befändest, weiß ich, dass du solche Ideen nicht zur Sprache bringen würdest. Zweifellos hat Wid dich vor der Gefahr gewarnt, falsch verstanden zu werden. Hier in Pitnochie jedoch, unter vertrauenswürdigen Freunden, kannst du frei aussprechen, was du denkst. Und deine Ansichten sind bewundernswert, Bridei. Wir alle sähen die Priteni gerne vereint, wie sie es waren, bevor die Geißel der neuen Religion den Süden traf und den Geist von Drust dem Eber vergiftete. Nun haben wir zwei Könige, zwei Reiche und zwei Religionen. Das hat uns sehr geschwächt. Was immer du über Adler sagst, ändert nichts an der Tatsache, dass diese Spaltung unserer Fähigkeit, bewaffneten Eindringlingen zu widerstehen, gewaltig geschadet hat. Die Galen siedeln sich im Westen an; eine neue Generation von ihnen wächst in Dörfern heran, die einmal von unseren Großvätern bewohnt wurden, und ihre Stiefel trampeln über unseren heiligen Boden. Jedes Mal, wenn sie angreifen, dringen sie ein kleines bisschen weiter vor. Könnten wir eine weitere größere Offensive überstehen? Ich bezweifle das. Du hast den Schatten ihrer Grausamkeit im Tal der Gefallenen gesehen, Bridei. Wir können ihnen nicht gestatten, ins Tal einzudringen, wir können keine Wiederholung eines solchen gedankenlosen Gemetzels an guten Männern zulassen, einer solchen Besudelung unseres Herzlands. Leider zeigen sich unsere eigenen Könige ausgesprochen widerstrebend, wenn es darum geht, einander an den Ratstisch zu bitten. Wie können sie auch? Einer steht zu den alten Göttern von Fortriu, der andere ist ein Verräter an seinem bluttiefen Glauben.« »Was den Adler angeht«, warf Bridei ein, »er bedeutet mehr, als was ich gesagt habe. Diese Männer, die gestorben sind, die ich an diesem Tag im Dunklen Spiegel gesehen habe - du sagst, sie hätten nie aufgehört, an Fortriu zu glauben, selbst als sie wussten, dass sie alle sterben mussten. Ich - 111 glaube, darum geht es bei dem Adler, und das ist die Verbindung in dem Muster: der Funke in jedem von uns, der uns zu einem Teil des Landes macht. Das ist es, was wir von unseren Ahnen erhalten und an unsere Kinder weitergeben. Es macht uns stark, selbst wenn wir besiegt werden. Es macht uns zu Verwandten, ob wir nun im Norden oder Süden leben und welchem Glauben wir auch anhängen mögen. Vielleicht könnten wir, wenn sich alle daran erinnern würden, fest gegen die Eindringlinge stehen, wenn sie wiederkommen. An diesem Tag im Tal der Gefallenen habe ich das nicht wirklich verstanden. Ich war noch ein Kind.« »Den Jahren nach, ja«, sagte Broichan und betrachtete Bridei mit seltsamer Miene. »Wie du es immer noch bist. Die meisten würden dich auch jetzt immer noch als Kind bezeichnen.« Bridei spürte, wie seine Wangen brannten. Er schwieg. »Deine Interpretation des Musters ist allerdings die eines Mannes«, sagte sein Pflegevater. »Das Problem liegt selbstverständlich in der Religion. Wenn unser Land je an einen Eindringling fällt, dann weil dieser Schwächling in Circinn seine Grenzen Missionaren geöffnet hat, die die Lehre vom Kreuz predigen. Wenn wir dem nachgeben, Bridei, haben wir die Niederlage vielleicht sogar verdient. Wenn wir der Weisheit unserer Ahnen den Rücken zuwenden, sind wir es dann noch wert zu überleben?« »Herr, du glaubst doch sicher nicht, dass unser Volk das tun würde!«, protestierte Bridei. »Die Knochenmutter, die Leuchtende und die Weisheit, die jede Entscheidung in unserem Leben bestimmt, beiseite schieben? Hier im Norden sind wir stark im Glauben. Drust der Stier würde nie tun, was der andere König getan hat, und zulassen, dass sein Volk vom alten Weg abweicht. Erip hat sogar gesagt, dass er...« Er brach ab. »Erip hat sogar was gesagt?« »Dass König Drust immer noch am Tortag ein Opfer bringt. Im Brunnen der Schatten. Er sagt, während die Wei- 112 sen Frauen hinunter zum Strand gehen, um die Wache der Knochenmutter zu halten, bringt der König dem Namenlosen ein Opfer, der dunkelsten Macht von allen, die unter und hinter der Anderwelt weilt. Ein lebendiges Opfer.« »Erip hat das gesagt?« »Er hat es angedeutet. Und Wid sagte, man solle lieber nicht laut über diese Dinge sprechen, nicht einmal in Gesellschaft vertrauter Freunde.« »Beide haben sie Recht. Du solltest im Augenblick nicht an diese Dinge denken. Und bald schon wirst du ohnehin anderes zu tun haben. Wir werden zu Mittsommer Besuch bekommen.« »Und deshalb«, sagte Bridei Tuala ein paar Tage später, »kann ich alles, was ich gelernt habe, in die Praxis
umsetzen.« Es war spät, und sie saßen in einer dunklen Ecke der Halle und versuchten nicht aufzufallen, damit niemand Tuala ins Bett schickte. »Wirklich alles davon«, fuhr er fort. »Diese Leute, die herkommen, sind solche, wie man sie am Hof trifft: schlau, subtil und hinterhältig. Oft ist das, was sie wirklich von dir wollen, nicht das, was sie als ihr Anliegen ausgeben. Und das, was sie sagen, ist nicht das, was sie meinen. Interessante Leute. Leute, die viel über die Welt wissen. Broichan sagt, es wird mir Gelegenheit geben, auszuprobieren, was er und Erip und Wid mir beigebracht haben.« »Eine Prüfung«, sagte Tuala und nickte weise. Bridei verzog das Gesicht. »So würde ich es nicht ausdrücken. Soweit ich sagen kann, sind es Broichans Freunde. Es ist also mehr eine Gelegenheit.« »Eine Prüfung«, wiederholte Tuala unerschütterlich. »Nun ja, vielleicht. Es wird schön sein, hier ein paar neue Gesichter zu sehen.« Tuala antwortete nicht. Sie war in diesen letzten Tagen immer stiller geworden. Es hatte keine einsamen Ausflüge in den Wald mehr gegeben, um verborgene Wildblumen, ein - 113 Drosselnest oder ein paar Fliegenpilze zu entdecken. Jetzt, als Bridei darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Tuala den größten Teil ihrer Zeit nahe beim Haus verbrachte, seit sie erfahren hatten, dass Besucher kommen würden, und sie wartete stets wie ein kleiner, lautloser Schatten auf ihn. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie, als er erkannte, wie sehr er selbst in der Aufregung und Erwartung versunken gewesen war. Tuala nickte schweigend. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wäre ihr kalt. In ihren Augen stand dieser versonnene Blick, den sie manchmal an den Tag legte, als wüsste sie alles über Geheimnisse, die ein gewöhnlicher Junge niemals hoffen konnte mit ihr zu teilen. »Bist du sicher?« Noch ein Nicken. »Du sollest es mir sagen, wenn du dir wegen etwas Sorgen machst«, erklärte er alles andere als überzeugt. »Das werde ich, Bridei.« Die Stimme war sehr leise und eher zerstreut. »Du bist müde. Sieh nur die Schatten unter deinen Augen! Wie wäre es mit einer Geschichte, und dann kannst du ins Bett gehen?« Tuala schlief nun in dem winzigen Zimmer, das einmal Brennas Zimmer gewesen war und davor ein Lagerraum. Mara hatte schließlich nachgegeben und teilte nun ganz freiwillig ihr Zimmer mit Brenna, eine weitere überraschende Veränderung, die sich seit jener Mittwinternacht im Muster der Dinge in Pitnochie vollzogen hatte. »Ja, bitte.« Tuala rutschte näher, lehnte sich gegen ihn und legte den dunklen Kopf auf seinen Arm. »Also gut«, sagte Bridei. »Aber schlaf nicht ein, bevor ich fertig bin.« »Nein, Bridei.« Die leise Stimme war nun liebevoller, aber dennoch gab es an der Art, wie sie ihren Arm um seinen schlang - wie eine Ranke sich um einen Baum schlingt -, etwas, das ihm Unbehagen bereitete. - 114 »Welche Geschichte möchtest du denn?« »Wie du mich im Mondlicht gefunden hast«, flüsterte sie. »Schon wieder?« Er hatte es ihr schon so oft erzählt, dass es zu einem Ritual geworden war. »Mhm.« »Es war einmal ein Junge ...« »... der hieß Bridei...« »... und er dachte, er wäre ganz allein. Sein Leben war nicht schlecht, er hatte einen Schlafplatz und genug zu essen und wurde ausgebildet. Aber etwas fehlte. Bridei wusste nicht einmal genau, was das sein könnte.« »... eine Familie...« »Ja, aber das wusste er nicht; das fiel ihm erst später auf. Bridei war ein guter Junge. Er lernte gut, er strengte sich an, er versuchte, es allen recht zu machen. Und dann, in der Nacht der Wintersonnenwende, veränderte sich alles.« »Der Mond kam in sein Fenster.« »Ja, die Leuchtende weckte ihn auf, und er ging nach draußen, obwohl es sehr kalt war ...« »... so kalt, dass sogar die Eule sich versteckte ...« »... so kalt, dass die Tränen des Urisk zu Eis wurden, sobald er sie weinte...« »... so kalt, dass die Bäume schauderten ...« »... so kalt, dass Brideis Ohren und Nase anfingen wehzutun, sobald er auch nur den Kopf vor die Tür gestreckt hatte; kalt genug, dass man sich die Zehen abfrieren konnte, wenn man - wie er - dumm genug war, barfuss zu gehen. Als er nach unten schaute, zu seinen Zehen, sah er, was der Mond ihm gebracht hatte.« »Ein Baby.« »Genau, ein seltsames kleines Baby, ganz verschrumpelt und hässlich wie ein alter Apfel...« »War ich nicht!« Bridei grinste. »Ich prüfe nur, ob du auch wirklich zuhörst. Nein, es war ein schönes Baby, die Art Kind, die man - 115 -
erwarten würde, wenn einem die Leuchtende ein Mittwintergeschenk macht. Es lag in einer komischen kleinen Wiege aus den Dingen des Waldes: Büschel von Gras und Blattskelette ...« »... Krähenfedern, Eulenfedern...« »... eine Efeuranke und ein Mistelzweig ...« »... grüne Beeren und Spinnennetze ...« »... und Steine mit Löchern darin, auf Binsen aufgefädelt ...« »Bridei?« »Mhm?« »Wo ist die Wiege jetzt?« Das hatte sie ihn noch nie gefragt. »Sie haben sie weggelegt«, sagte er, denn er wollte nicht lügen, ihr aber auch nicht die ganze Wahrheit sagen. Er hatte ihr nie von dem Schlüssel erzählt, nicht von dem Zauber, den er gewirkt hatte, damit sie ein Zuhause bekam. »Sie ist inzwischen vielleicht vollkommen zerfallen; es ist immerhin schon mehr als sechs Jahre her.« Tuala nickte. »Weiter«, sagte sie. »Also nahm Bridei den Korb und das Baby darin und brachte es nach drinnen.« »Weil es draußen auf der Schwelle zu kalt war.« »Viel zu kalt. Er hielt das Baby warm, bis die anderen aufwachten, und dann kam Brenna, und das Baby hatte ein Zuhause. Und Bridei war nicht mehr allein.« »Er hatte eine Familie«, sagte Tuala mit einem gewaltigen Gähnen. »Ja«, stimmte Bridei zu, »und jetzt ist es Zeit, schlafen zu gehen. Wir sehen uns morgen früh. Träume schön, Tuala.« Sie löste sich von seinem Arm, stand auf und rieb sich die Augen. »Mach schon«, sagte er. »Du schläfst beinahe im Stehen.« »Was, wenn es in dieser Nacht bewölkt gewesen wäre?«, fragte sie plötzlich. »Du hättest mich nie gefunden ...« - 116 »Aber es war nicht bewölkt.« »Ja, aber es hätte bewölkt sein können.« »Dann hätte, wer immer dich auf die Schwelle gelegt hat, dich nicht hingelegt.« »Denen war es egal. Sie hätten mich erfrieren lassen wie die Vögel, die im Winter von den Bäumen fallen.« »Es war ihnen nicht egal«, sagte er und sah ihr fest in die Augen. Ihr Blick war erschreckend trostlos; es war kein Ausdruck, der gut zum Gesicht eines kleinen Kindes passte. »Deshalb haben sie dich mir gegeben, damit ich auf dich aufpasse. Weil sie wussten, sie können sich darauf verlassen, dass ich es gut mache. Und dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass du genug Schlaf bekommst. Also los, ich bringe dich ins Bett.« Zu Mittsommer würde der Mond voll sein. Das war verheißungsvoll. Als das Fest näher kam, begann Broichans Haushalt, sich abermals zu verändern. Sie erwarteten vier Gäste: drei Männer und eine Frau. Es waren persönliche Freunde des Druiden, und man konnte sie nicht bitten, neben den Bewaffneten in deren Quartier zu schlafen. Also wurde die Scheune mit ihren Mauern aus Erde so gut wie möglich gesäubert - wenn es auch immer noch Mäuse gab -, und die Männer schleppten ihr Bettzeug dort hinaus und überließen ihr Quartier den männlichen Besuchern. Erip und Wid führten ihre knarrenden Gelenke und schmerzenden Rücken als Grund gegen einen Umzug an und blieben verschont. Und Bridei wurde zu seinem Entzücken eine Schlafstelle in einer Scheunenecke neben Donal zugewiesen. In seinem kleinen Zimmer würde die Weise Frau schlafen, die zu Besuch kam. Sie hieß Fola. Wer ihren Ruf kannte, nannte sie vielleicht auch die Furcht erregende Fola, aber nie, wenn Broichan es hören konnte. In der Küche, wo es immer geschäftig zuging, wurde das Tempo nun noch größer. Ferat wollte, dass der Festtagstisch - 117 Broichans Stellung als älterem Druiden und Landbesitzer von beträchtlichem Einfluss entsprach. Forellen wurden vom See gebracht und geräuchert, Käse aus den Lagerhöhlen geholt, Blutwurst gemischt und in Blasen aufgehängt und das beste Jungrind geschlachtet und eingesalzen. Ferat plante Pasteten, was seine Gewürztruhe beträchtlich leeren würde. In Vorbreitung auf den Besuch übten sämtliche Lehrer stärkeren Druck aus. Wo es zuvor an den meisten Tagen zumindest Zeit für einen Spaziergang, ein Spiel, einen Austausch von Neuigkeiten gegeben hatte, war jetzt nur noch Zeit zum Lernen, für die Mahlzeiten und zum Schlafen. Tuala beobachtete und hörte zu. Sie konnte sehr unauffällig sein, konnte beinahe mit dem Schatten verschwimmen, als wäre sie gar nicht da. Sie stand unter den Eichen, als Bridei und Donal mit Stäben kämpften. Donais tätowiertes Gesicht und die Ledermütze ließen ihn wild aussehen, aber Bridei, das weiche braune Haar zu einem disziplinierten Zopf geflochten, die blauen Augen konzentriert zusammengekniffen, stellte für seinen Lehrer eine echte Herausforderung dar. Es wäre ihm beinahe gelungen, Donal mit einer schlauen Seitwärtsbewegung des Stabs in Kniehöhe umzuwerfen, aber Donal wich im letzten Augenblick mit einem Sprung aus und wehrte den Schlag mit einem Gegenschlag ab. Bridei schwankte, kämpfte um sein Gleichgewicht und fand es beinahe sofort wieder. Lehrer und Schüler wechselten einen Handschlag und grinsten. Der Kampf war vorüber, aber Tuala rührte sich nicht. Heute würde Bridei keine Zeit haben, mit ihr zu sprechen, und morgen auch nicht. Und auch nicht am Tag danach oder dem Tag nach diesem. Broichan würde sofort nach
seinem Pflegesohn rufen und dafür sorgen, dass er bis zum Abendessen beschäftigt war. Er tat das absichtlich. Es war, damit Tuala Bridei nicht sagen konnte, dass sie weggehen würde. Das war ungerecht. Broichan sollte wissen, dass sie es nicht verraten würde; er hatte sie schließlich selbst dazu gebracht, es zu versprechen. Es war - 118 nicht notwendig, ihr auch noch diese kleinen Geschenke von Zeit zu nehmen. Es war nicht notwendig, ihr auch noch diesen Schatz zu stehlen. Es gab nicht viel, was Tuala fürchtete. Sie liebte alle Tiere, sogar die Mäuse in der Scheune und die kleinen huschenden Insekten im Strohdach. Sie hatte keine Angst vor Spinnen oder Fledermäusen und legte selbst gegenüber gefährlicheren Tieren wie Wölfen, Schlangen oder Wildschweinen nur eine natürliche Vorsicht an den Tag. Aber Broichan erfüllte sie mit einem Schrecken, der bis tief in die Knochen ging, einem betäubenden, kalten Gefühl, das sie stumm und hilflos machte, wann immer der Druide sie ansah. Tuala hatte nichts dagegen, allein lange Ausflüge in den Wald zu unternehmen. Sie konnte auf den höchsten Baum und die steilste Felswand hinaufklettern; sie war daran gewöhnt, mit sicherem Schritt über das ummauerte Feld zu gehen, auf dem der Zuchtstier des Hauses graste. Die Hunde waren ihre ergebenen Freunde, und sie war beliebt bei den Bewaffneten. Mara tolerierte sie; Brenna kümmerte sich mit entschlossener Freundlichkeit um ihre kleinen Bedürfnisse. Ferat war eine zuverlässige Quelle für Honigkuchen, obwohl Tuala, wie der Koch sagte, so wenig aß, dass es nicht einmal einen Zaunkönig am Leben erhalten hätte. Bei Broichan war es anders. Nicht, dass er viel mit ihr gesprochen hätte. Die meiste Zeit verhielt er sich, als wäre sie nicht da. Aber sie konnte seine Ablehnung spüren, sie konnte spüren, dass er ihr nicht traute. Sie konnte seine Macht spüren, und das machte ihr Angst, wie es nichts anderes konnte. Er hatte sie vor einiger Zeit zu sich gerufen, als all das Gerede von Besuchern begann. Brenna brachte sie zu ihm, nachdem sie ihr rasch das zerzauste Haar neu geflochten und mit einem feuchten Tuch das blasse kleine Gesicht abgewischt hatte. Tuala war zum ersten Mal im Zimmer des Druiden. Hier gab es viele interessante Dinge, aber das lau- 119 te Hämmern ihres Herzens bedeutete, dass sie sie sich nicht richtig ansehen konnte. Bridei war mit Donal ausgeritten und würde den ganzen Tag weg sein. Sie wünschte sich, er wäre hier. Brenna stand still da, die Hände auf dem Rücken. Tuala drängte sich ein wenig näher an Brennas Röcke und tat so, als wäre sie unsichtbar. Der Druide stand an der Feuerstelle, hoch gewachsen, so groß in seinem nachtschwarzen Gewand. Seine Augen waren so dunkel wie Schlehen und sein Mund fest zusammengepresst, als wäre er zornig oder als hätte er Schmerzen. Tuala hatte gesehen, wie Donal die Lippen so zusammengepresst hatte, als Glückspilz ihn aus Versehen getreten und ihm eine Beule so groß wie ein Ei am Schienbein verursacht hatte. Es gab ein paar Kerzen im Zimmer; sie ließen die Flaschen auf den Regalen geheimnisvoll schimmern und zeigten halb ihren Inhalt, vielleicht bleiche Schlangen oder eine verschrumpelte kleine Gestalt mit einem Koboldgesicht oder Schichten um Schichten fetter, grüner Schnecken. Dann gab es Steintiegel mit Stöpseln und eiserne Werkzeuge und Becher aus gebranntem Ton. Es roch durchdringend nach Kräutern. Tuala begann im Kopf zu zählen, damit sie nicht solche Angst hatte. Sie konnte jetzt schon bis fünfzig zählen; Bridei hatte es ihr beigebracht. »... Familie weiter drunten im Tal?« Broichan hatte etwas gesagt, aber Tuala hatte den größten Teil davon nicht verstanden. »Ja, Herr.« Brenna klang, als wäre auch sie ein wenig aufgeregt. »Meine Mutter und meine Tante - Ciniochs Mutter - wohnen am Eichenhügel, wo der Weg zu den Fünf Schwestern abzweigt.« »Ein abgelegener Ort«, stellte Broichan fest. »Das ist besser, als ich dachte.« Tuala beobachtete seine Hände; seine Finger waren schlank und knochig, und an einem trug er einen silbernen Ring mit einem Schlangenkopf darauf, mit hellgrünen - 120 Augen. Sie zwinkerte der Schlange zu und glaubte, sie zurückblinzeln zu sehen. »Wie kommt das Kind voran?« Der Blick des Druiden ruhte plötzlich auf Tuala, durchdringend, suchend; sie drückte sich wieder gegen Brenna, aber sie konnte diesem Blick nicht entkommen, und sie würde sich nicht abwenden. Das wäre wie aufgeben. Sie musste tapfer sein, wie Bridei es sein würde. »Sie ist ein braves Kind, Herr.« Brenna schien sich wegen der Frage keine Sorgen zu machen; sie schob Tuala ein wenig von sich weg, damit sie allein dastand und besser betrachtet werden konnte. »Sie ist sehr still. Niemals lästig. Alle mögen sie.« »Hm«, sagte Broichan nachdenklich. »Dennoch, sie ist, was sie ist. Leicht zu erkennen und erkennbar anders. In Zeiten wie diesen ist das eine Ablenkung, die wir uns nicht leisten können.« »Wegen der Besucher, Herr?« Brenna hatte nun die Hand ausgestreckt, um Tualas Hand zu nehmen; ihr warmer Griff war tröstlich. »Ich kann dafür sorgen, dass sie niemandem im Weg ist, solange sie hier sind. Sie kann bei uns schlafen, bei Mara und mir ...« Broichan hob die Hand, damit sie schwieg. »Es geht nicht darum, dass sie meine Gäste stören würde. Es geht um die Ablenkung für Bridei.« Zorn überflutete Tualas Herz. Ablenkung war nicht gut, und sie würde nie etwas tun, das schlecht für Bridei war. Er war ihre Familie. »Ich würde nie ...«, begann sie, aber als sie Broichans Gesicht sah, schloss sie den Mund
schnell wieder. Der Druide sprach weiter mit Brenna, als wären die beiden allein im Zimmer. »Du wirst bis zum Neumond nach Mittsommer Urlaub vom Haushalt nehmen. Besuche deine Mutter und nimm das Kind mit. Ferat wird dir einen Korb mit Lebensmitteln mitgeben, ein Geschenk für deine Familie - du brauchst mir nicht zu danken, du hast es verdient. Ich möch- 121 te dass das Kind im Haus deiner Mutter eingeschlossen und seine Anwesenheit dort verschwiegen wird. Wir wollen nicht, dass sich überall im Tal Geschichten verbreiten. Ich weiß, dass ich mich auf deine Verschwiegenheit verlassen kann, Brenna. Soviel ich weiß, werden wir in der nahen Zukunft von einer Verlobung hören?« Brennas helle Wangen wurden scharlachrot. »Ja, Herr«, murmelte sie. »Fidich hatte vor, mit dir zu sprechen, wenn alles vorbei ist, der Besuch, meine ich ...« »Es hängt einiges davon ab, dass du dich an meine Anweisungen hältst. Wenn alles nach Plan verläuft, wirst du ein schönes Zuhause haben, mit mehr Bequemlichkeit, als Fidichs Häuschen dir jetzt bieten kann. Wenn nicht...« Er beendete den Satz nicht. »Ich bin sicher, du verstehst, dass du in dieser Sache vorsichtig sein musst.« »Ich verstehe, Herr«, erwiderte Brenna. »Schon um Tualas willen. Wann sollen wir aufbrechen?« Der Druide runzelte die Stirn. »Cinioch hat leider erst kurz vor dem Festtag Zeit, um euch zu begleiten, aber sobald ich ohne ihn zurechtkomme, werdet ihr aufbrechen. Mara weiß, was ich geplant habe, ebenso wie Ferat und Donal. Es soll allerdings nicht weiter verbreitet werden. Hast du mich verstanden?« »Ja, Herr«, sagte Brenna. »Aber ...« »Aber was? Meine Anweisungen waren doch sicher klar genug.« »Herr, die beiden stehen einander sehr nahe. Tuala und Bridei. Man kann nicht einem von ihnen etwas erzählen, ohne dass der andere das innerhalb eines Tages erfährt.« Broichans Mund wurde wieder zu einer dünnen Linie. »Es gibt in diesem Haushalt eine Priorität«, sagte er, »und das ist Brideis Erziehung. Was an Mittsommer hier geschieht, ist wichtig für seine Zukunft. Es darf keine Ablenkungen geben. Du wirst gehen, und das Kind wird gehen, und sobald ihr euch auf den Weg gemacht habt, werde ich den Jungen über - 122 eure Abwesenheit informieren. Wie er damit zurechtkommt, sollte selbst eine Art Prüfung sein, eine Prüfung seiner Reife. Vor eurer Abreise darf nicht darüber gesprochen werden. Hast du verstanden?« »Ja, Herr«, sagte Brenna. »Ich werde kein Wort darüber sagen, das verspreche ich. Aber ...« »Du darfst jetzt gehen.« Broichan drehte sich abrupt um und starrte in die kalte Feuerstelle. »Ja, Herr.« Tuala konnte hören, wie erleichtert Brenna war; Hand in Hand gingen sie zur Tür. Ihr eigenes Herz war kein bisschen ruhiger. Was sie da gehört hatte, war falsch, ganz falsch. Sie wurde weggeschickt und durfte es Bridei nicht sagen. Wie konnte das sein? Sie sagte ihm immer alles. »Lass das Kind hier.« Erschrocken über den plötzlichen Befehl ließ Brenna Tualas Hand fallen, dann bückte sie sich einen Augenblick später, um eine Locke, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr des kleinen Mädchens zu schieben und ihm »Sei brav« zuzuflüstern, bevor sie nur zu schnell durch die Tür verschwand und sie hinter sich schloss. Das Zimmer schien plötzlich viel größer und viel dunkler zu sein. Der hoch gewachsene Druide ragte über Tuala auf wie ein Schatten, ein Gespenst, wie ein Zauberer aus einer von Brideis Geschichten. Sie konnte sehen, wie die Schlange auf dem Ring sie ansah und züngelte. Sie wartete, die Hände auf dem Rücken, damit Broichan nicht sah, dass sie zitterten. Nach einem Zeitraum, der ihr sehr lang vorkam, wandte der Druide sich ihr wieder zu und setzte sich auf die Bank. Tuala musste nun nicht mehr so weit aufblicken, um seine Augen zu sehen. Die Miene des Druiden war unverändert finster. »Sag mir«, forderte er, »hast du etwas von dem verstanden, worüber wir gesprochen haben?« Tualas Mund wurde plötzlich trocken; ihre Zunge fühlte sich ganz seltsam an und so, als wäre sie geschwollen. Sie - 123 brachte kein einziges Wort heraus. Und sie musste unbedingt zur Latrine, aber es war unmöglich, Broichan zu bitten, sie gehen zu lassen. Es gelang ihr zu nicken. »Sag es mir.« »Ich - ich ...« Sie konnte einfach nicht sprechen. Es war wie Magie, ein Schweigezauber, der sie im schlimmstmöglichen Augenblick befallen hatte. Broichan seufzte. »Die schwarze Krähe behüte mich vor Kindern«, sagte er. »Komm schon. Ich habe dich oft genug schwatzen gehört. Ich weiß, dass du vernünftige Sätze sprechen und verstehen kannst, was andere sagen. Ich will es noch einmal ganz von Anfang an erklären. Du wirst weggehen, und wenn du tust, was ich sage und was Brenna dir sagt, dann erlaubt man dir vielleicht, ich betone vielleicht, in dieses Haus zurückzukehren, wenn der Mittsommerbesuch weg ist. Ah, du verstehst das; ich sehe es deinen Augen an. Und es scheint dir wichtig zu sein. Selbstverständlich betrachtest du dieses Haus als dein Heim; es gibt nirgendwo in Fortriu einen anderen Haushalt, der dich aufgenommen hätte.« »Ja, Herr.« Das kam als ein Flüstern heraus, das Geräusch einer Brise in trockenem Gras.
»Verstehst du, was ich über Brideis Erziehung gesagt habe?« Ein Nicken. »Ich glaube nicht, dass du es vollkommen verstehst. Mein Pflegesohn kann es sich nicht leisten, Zeit an kleine Mädchen zu verschwenden und sich von dem sehr wirklichen und sehr anstrengenden Weg der Vorbereitung ablenken zu lassen, der vor ihm liegt. Bridei wird in Zukunft mehr Zeit mit anderen Menschen verbringen, hier in Pitnochie oder anderswo. Wenn ich irgendwann zu der Ansicht komme, dass du ihm dabei im Weg bist, werde ich dafür sorgen, dass du schnell und dauerhaft aus diesem Haushalt verschwindest. Hast du das verstanden?« - 124 Sie bebte nun am ganzen Körper, überwältigt von etwas so Starkem, dass sie sich kaum beherrschen konnte: Zorn oder Entsetzen, vielleicht beides. »Ja«, sagte sie, denn obwohl sie die Worte nicht vollkommen verstanden hatte, war ihr die Bedeutung schmerzlich klar. »Du bedeutest Bridei nichts«, sagte Broichan. »Seine Freundlichkeit hat dafür gesorgt, dass du für einige Zeit sicher bist. Mehr ist es nicht.« Sie holte tief Luft und ballte auf dem Rücken die Hände zu Fäusten. »Bridei ist meine Familie.« Ihre Stimme klang in dem großen Zimmer sehr leise. »Ich lüge meine Familie nicht an.« Broichan schüttelte ernst den Kopf. »Das stimmt nicht. Wenn du überhaupt eine Familie hast, dann ist sie da draußen, im Wald. Bridei ist ein gutherziger Junge, der Mitleid mit dir hatte, wie er es auch mit einem verwaisen Lamm haben würde. Er ist nicht mit dir verwandt.« »Mit dir auch nicht!«, brach es aus Tuala heraus, denn der Schmerz hatte ihr alle Vorsicht genommen. Broichan wartete einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Er ist mein Pflegesohn«, sagte er dann ruhig. »Er wurde mir aus Gründen anvertraut, von denen du keinerlei Ahnung hast.« Das konnte sie nicht unbeantwortet lassen. »Und ich wurde ihm anvertraut«, flüsterte Tuala. Er sollte lieber bald aufhören und sie gehen lassen, denn sonst würde sie sich schrecklich blamieren und eine Pfütze auf dem Boden verursachen, und dann würde er sie wirklich für ein Baby halten. Broichan kniff die Augen zusammen. »Der Mond hat mich hier zurückgelassen«, sagte Tuala. »Hat ihnen den Weg gezeigt, als sie mich herbrachten. Der Mond hat Bridei geweckt und ihm geholfen, mich zu finden. Die Leuchtende hat ihm vertraut, dass er sich um mich kümmert. Ich bin seine Familie. Das bin ich.« Sie biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen ihre Tränen an. - 125 »Hör zu, Tuala.« Es war das erste Mal, dass Broichan ihren Namen benutzte; sie hatte sich schon gefragt, ob er ihn vergessen hatte. »Verstehst du, was das Wort Schicksal bedeutet?« Sie nickte. »Sag mir, was es bedeutet.« »Es kommt in den Geschichten vor«, sagte Tuala. »In denen, die Bridei mir vor dem Schlafengehen erzählt. Schicksal, das sind die großen Dinge, die passieren. Schlachten und Reisen, Hochzeiten und Königreiche. Kämpfe gegen Drachen. Schätze finden. Geheimnisse lüften.« Broichan sah sie ernst an, aber die Strenge in seinem Blick hatte ein wenig nachgelassen, als er sagte: »Ich sehe, Bridei war bei deiner Erziehung sehr fleißig«, sagte er. Er hatte die schlanken Hände jetzt im Schoß gefaltet: Tuala sah, wie die kleine Silberschlange den Kopf hob und sie anschaute. »Ich hätte gerne mehr Erziehung«, sagte sie, ermutigt von der Tatsache, dass es ihr offenbar gelungen war, eine Frage zu seiner Zufriedenheit zu beantworten. »Über die Sterne und die Stämme und all die Sachen, die Bridei lernt. Er kann es mir nicht beibringen, er hat zu viel zu tun.« Der Druide kniff die Lippen wieder zusammen. »Für dich würde zu viel Lernen nur zu Unglücklichsein führen«, sagte er. »Welches Leben dich auch erwarten mag, es kann darin keinen Platz für Wissen wie dieses geben. Du solltest dich lieber den häuslichen Dingen widmen und auf eine gute Heirat hoffen. Dafür können wir sorgen, wenn es Zeit ist.« Tuala schwieg. Irgendwo in seinen Worten lag eine schreckliche Beleidigung, aber sie konnte nicht genau herausfinden, was es war. Die Kränkung war jedoch unmissverständlich. »Tuala«, sagte der Druide, »komm ein wenig näher. Setz dich hier zu mir. Du fragst dich vielleicht, warum ich von Schicksal spreche. Kind, du betrachtest Bridei als deinen Freund, deinen Spielgefährten, obwohl er in so vieler Hin- 126 sieht ein junger Mann ist, selbst mit zwölf, und du noch ein kleines Kind bist. Es ist nicht schlecht, wenn ein Junge Mitleid mit den Schwachen hat. Bis zu einem gewissen Punkt. Es ist eine gute Sache für einen Jungen, dem alten Weg zu gehorchen und willig etwas zu erfüllen, was er für eine Forderung der Leuchtenden hält. Dennoch, glaube nicht, dass du in Pitnochie geblieben bist, weil Bridei wollte, dass der Haushalt dich aufnimmt. Du bist nur deshalb hier, weil ich bis jetzt noch nicht beschlossen habe, dich wegzuschicken. Du bist keine von uns und kannst es niemals sein. Dein Schicksal liegt vollkommen in meinen Händen, Tuala. Vergiss das nicht. In meinen Zukunftsplänen ist Bridei alles, was zählt. Wenn du glaubst, ihm etwas schuldig zu sein, wenn du willst, dass er sein Leben so gut wie möglich führt, dann wirst du genau tun, was ich dir sage. Bridei hat ein Schicksal. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass er auf die richtige Art erzogen wird; dass nichts und niemand
der Zukunft in den Weg gerät, die ihm bestimmt ist.« Tuala schluckte. »Warum bin ich dann immer noch hier?«, krächzte sie und spürte Bitterkeit, die in ihrer Kehle festsaß und sie zum Sprechen trieb, wenn Schweigen so viel sicherer gewesen wäre. »Wenn ich so schlecht für ihn bin, warum hast du mich überhaupt bleiben lassen?« »Du hörst nicht zu«, sagte Broichan. »Es war eine Pflicht zu erfüllen, die Pflicht Brideis den Göttern gegenüber, wie er sie verstand. Bei all solchen Entscheidungen wägt man die Argumente ab und kommt zu einem Gleichgewicht. Ich tue die Geschichte meines Pflegesohns darüber, wie du hierher gekommen bist, nicht ab, seine Erklärung, dass die Leuchtende etwas damit zu tun hatte. Ich akzeptiere seine Überzeugung, dass er sich verpflichtet fühlt. Tatsächlich wäre es gefährlich, das zu missachten. Du brauchst von dieser ganzen Sache nur zu verstehen, dass du meinen Anweisungen Folge leisten wirst, wenn du ihn gern hast und willst, dass er - 127 alles erreicht, was er kann. Und meine Anweisungen bestehen diesmal darin, dass du eine Weile mit Brenna weggehst und dass du Bridei nichts davon sagst. Du wirst diese Themen ihm gegenüber nicht zur Sprache bringen. Er wird alles verstehen, wenn die Zeit gekommen ist.« Die kleine Schlange bewegte sich nun über Broichans Hand; er schien es nicht bemerkt zu haben. Die Schlange zischte, die winzige gespaltene Zunge zuckte aus dem kleinen, klaffenden Maul. Tuala legte die Hand mit der Handfläche nach oben neben die viel größere des Druiden, und die Schlange kroch zu ihr, rollte sich ordentlich auf ihrer Handfläche zusammen und schaute sie aus grünen Augen an. Sie fühlte sich für ihre Größe schwer an und hatte die Wärme vom Körper des Druiden. Tuala hätte darüber gelächelt, wie anmutig sie war, über diese unabhängige Vollkommenheit der Form, aber sie fühlte sich, als läge ein kalter Stein in ihrem Herzen. Auch Broichan schaute nun die Schlange an. Er ließ sich nicht anmerken, ob er überrascht war, aber er sagte: »Das allein zeigt schon mit verblüffender Deutlichkeit, wie anders du bist. Du magst unter uns aufgewachsen sein und hast zweifellos geglaubt, dass man dich akzeptiert. Aber das hier ist der Haushalt eines Druiden, Kind. Was hier geschieht, spiegelt nicht unbedingt das Verhalten oder die Ansichten in der Menschenwelt wider. Wenn du älter wirst, wirst du das besser erkennen. Es ist durchaus möglich, dass Bridei, unschuldig wie er war, dir keinen Gefallen getan hat, als er dich in dieser Nacht hereinholte. Seine mitleidige Tat hat dich praktisch von beiden Welten abgeschnitten: vom Reich deiner wahren Verwandten auf der anderen Seite des Rands und von der Welt der Sterblichen, in die du nie gehören kannst. Tatsächlich hat sein Bedürfnis, dir Zuflucht zu schaffen, dir jedes wahre Heim genommen.« »0 nein!« Tuala sprang auf, und die kleine Schlange erschrak, wand sich um ihr Handgelenk und klammerte sich - 128 an sie. »Bridei würde nie etwas tun, was mir schadet! Er würde nie etwas Böses tun; das könnte er nicht!« Broichan sah sie an. Er streckte die Hand zu ihrer aus, und die Schlange bewegte sich erneut, glitt zu seinem Finger, umkreiste ihn und rollte sich wieder zu einem silbernen Ring zusammen. Die grünen Emailleaugen starrten nun ohne zu blinzeln die kleine, bebende Tuala an. »Und du würdest nie etwas tun, was ihm schadet«, sagte der Druide ruhig. »Du würdest nichts tun, das ihm im Weg steht, nicht wahr, Tuala? Dann tu, was ich dir sage. Jetzt und in Zukunft. Das ist das Beste für Bridei, das Beste für uns alle.« Tuala starrte ihn schweigend an. Eine Weile hatte er beinahe freundlich gewirkt, wie jemand, mit dem sie sprechen konnte, jemand, der ihr interessante Dinge zu sagen hatte. Nun war er abrupt wieder wie zuvor, und sie hatte das Gefühl, irgendwie betrogen worden zu sein. Ihre Angst kehrte zurück, und wieder raubte sie ihr die Worte. »Du musst es mir versprechen«, sagte Broichan. »Ja.« Das Wort fiel, als wäre es aus ihr herausgedrückt worden, trotz ihrer Anstrengung, es drinnen zu behalten. »Ich werde gehen, wenn du das willst. Und ich werde Bridei nichts davon sagen.« »Gut. Tatsächlich hast du keine andere Wahl.« »Aber ich werde ihn nicht belügen.« So sehr sie auch dagegen angekämpft hatte, das rutschte ihr dennoch heraus. »Ich lüge nicht. Nicht, wenn es um Bridei geht.« Broichan lächelte dünn. »Dann wirst du sehr genau aufpassen müssen, was du sagst«, meinte er. »Du weißt, was geschieht, wenn du einen Fehler machst, Tuala. Glaube mir, ich bin nicht so mitleidig veranlagt wie mein Pflegesohn. Wenn ich einen Feind sehe, ganz gleich in welcher Gestalt, schlage ich sofort und wirkungsvoll zu, noch bevor mein Feind Zeit und Gelegenheit hat, Schaden anzurichten. Bridei muss erst lernen, dass so etwas notwendig sein kann.« - 129 Tuala wurde kalt. Der Druide schien zu behaupten, dass sie böse war; dass sie nicht Brideis Freundin sein sollte. Das war falsch. Es war so falsch, dass sie überhaupt nicht verstand, wie jemand so etwas denken konnte. Bridei war ihr das Liebste auf der Welt. Hatte nicht die Leuchtende selbst Tuala hierher geschickt, damit sie seine Familie war? Sie sah Broichan in die tief liegenden Augen und schauderte. »Ich bin kein Feind«, flüsterte sie. »Noch nicht«, erwiderte der Druide. - 130 KAPITEL VIER Bridei wusste, dass es unwahrscheinlich war, aber er erwartete dennoch ein Eintreffen der Gäste, wie es in alten Geschichten beschrieben wurde: Sie würden in Festkleidung auf Pitnochie zureiten, mit einem großen Gefolge
von Bewaffneten und Dienern und schwer beladenen Packpferden. Er stellte sich Banner und glitzernde Waffen, Seide und Schmuck vor. Tatsächlich kamen die vier einzeln und Tage voneinander entfernt, und jeder auf seine eigene einzigartige Weise. Donal hatte Brideis Fähigkeiten im Spurenlesen geprüft und ihn vier Tage hintereinander vom Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung mit in den Wald genommen. Wenn die beiden ins Haus zurückkehrten, mit vor Müdigkeit schmerzenden Beinen und knurrenden Mägen, war Tuala nirgendwo zu sehen; sie schlief zweifellos schon lange, und die Gelegenheit für die Geschichte war verpasst. Aber das war vielleicht gut so. Bridei bezweifelte, dass er auch nur die Energie für die kürzeste Geschichte aufgebracht hätte. Er wäre selbst eingeschlafen, bevor die Prinzessin auch nur Gelegenheit erhalten hätte, einen ersten Blick auf den Frosch zu werfen. Eine schnelle Mahlzeit und dann direkt ins Bett, das war alles, was er noch fertig brachte; er schlief schon, bevor sein Kopf den Strohsack neben dem von Donal in der Scheune berührte. Am nächsten Morgen traf der erste Gast in Pitnochie ein. - 131 Es gab keinen großartigen Auftritt. Was Broichan tat, tat er diskret und mit Blick auf den Schutz seiner Abgeschiedenheit und seiner eigenen Interessen. Als Erstes traf ein schlanker, drahtig aussehender Mann mittleren Alters ein, der sein ergrauendes Haar kurz geschnitten trug und dessen Gesicht von großer Verantwortung mit vielen Falten gezeichnet worden war. Seine Augen blitzten jedoch vor Leben und Intelligenz. Sie waren grau wie sein Haar, und das Wollgewand des Mannes hatte die gleiche Farbe - so viel zu Seide und Pelzen. Er kam mit zwei Leibwächtern, großen, kräftigen Burschen, und sein Gepäck bestand aus ein paar Bündeln, die hinter den Sätteln seiner Leute angebracht waren. Alle drei Männer waren gut bewaffnet; teuer bewaffnet. Bridei kannte sich nun gut genug aus, um ein gutes Schwert erkennen zu können, wenn er eins sah, und das Gleiche galt für eine gut geschliffene Axtklinge. Da die beiden Wachen in der Scheune bei Broichans Bewaffneten untergebracht waren, gab es viel Gelegenheit für Vergleiche. Der Adlige hieß Aniel, und er war ein Berater an König Drusts Hof. Bridei wusste, er sollte nicht zu viele Fragen stellen, aber es war schwer, sich zurückzuhalten. Es gab so vieles, was er wissen wollte. Beim Abendessen sprachen sie über die Galen und die Gefahr im Westen. Bridei hatte dieses Thema in allen Einzelheiten studiert, er hatte Landkarten in Sand gezeichnet, mit Steinen und Zweigen als Landschaftsersatz; er hatte sich vorgestellt, Armeen überall im Tal aufzustellen, hatte viel über das Wesen dieser Feinde und die Geschichte ihrer vernichtenden Vorstöße erfahren. Das Bild in seinem Kopf schuldete allerdings wenig der Gelehrsamkeit. Seit er in den Dunklen Spiegel gesehen hatte, kannte Bridei die Galen nicht als Feind, den man herausforderte und erledigte wie eine Bande von Räubern, sondern als eine Macht, die den Funken im Herzen jedes treuen Sohns von Fortriu auslöschen wollte. Sie waren stark, grausam und vollkommen skrupellos. An je- 132 nem längst vergangenen Tag im Tal der Gefallenen hatten sie Verwundete und Fliehende getötet, hatten sie ohne Skrupel niedergemäht. Was Bridei an diesem Ort gesehen hatte, würde er nie wieder vergessen. Tuala war beim Abendessen nicht anwesend, ebenso wenig wie Brenna. Bridei nahm das zur Kenntnis, aber es überraschte ihn nicht; Broichan glaubte wohl, dass Tuala zu klein war, um mit solcher Gesellschaft zu speisen, und hatte sie mit Brenna früh schlafen geschickt, damit sie still war. Das war wirklich schade. Tuala hätte sicher gerne zugehört, denn Aniel wusste viel über die Welt, und Tuala lernte leidenschaftlich gern. Ihr entging hier etwas, und sie verpasste auch ihre Gute-Nacht-Geschichte ein weiteres Mal. Broichan saß am Kopf des Tisches. Rechts von ihm saß Aniel, und zu seiner Linken Bridei, eine herausfordernde Platzierung, denn es bedeutete, dass Bridei jedes Mal, wenn er von seinem Fleisch aufblickte, direkt in diese klugen grauen Augen schaute. Ihm war klar, dass er abgeschätzt wurde, und er hatte das Gefühl, dass das noch drei weitere Male passieren würde, bevor die Festzeit zu Ende war. Aniels Wachen standen hinter ihm, und einer aß einen Bissen von jedem Gericht, bevor sein Herr aß. Es war nur gut, dass Ferat in der Küche beschäftigt war; er wäre zutiefst beleidigt gewesen. Was Broichan anging, so zog er bei diesem Zeichen des Misstrauens nur die Brauen hoch. Bridei erinnerte sich, dass sein Pflegevater einmal beinahe selbst an Gift gestorben war, und das am Tisch eines Freundes. Man musste akzeptieren, dass überall Gefahren lauerten. Als Nächste am Tisch saßen Erip und Wid, und dann kamen Donal, Uven und der Rest der Männer. Mara hatte sich Ferats erbarmt und half mit ausdrucksloser Miene, das Essen aufzutragen. »Ich hatte Glück, dass ich noch hier vorbeikommen konnte«, sagte Aniel. »Meine Mission nach Circinn war lang und anstrengend, und die Herausforderungen waren nicht bloß - 133 der jämmerliche Zustand der Wege und das Wetter. Diese Dinge habe ich gelernt zu erwarten, und ich kann mit ihnen umgehen. Es waren die Art, wie man mich empfing, und der Starrsinn meiner Gastgeber, die dafür sorgten, dass es so lange dauerte. Ich muss sagen, ich sehe meiner Rückkehr nach Caer Pridne nicht mit Freude entgegen. Dieser kurze Aufenthalt in Pitnochie ist mir höchst willkommen. Ich hoffe, hier wieder ein wenig zu Kräften kommen zu können, bevor ich dem König die schlechten Nachrichten überbringen muss.« »Drust der Eber war also unnachgiebig?«, fragte Wid durch einen großen Bissen Brot. Aniel lächelte ironisch. »Unerbittlich, ja, aber das hat nichts mit Willenskraft zu tun. Die Berater dieses Mannes erweisen ihm wirklich einen schlechten Dienst; sie vergiften seinen Geist mit ihren falschen Berichten und sorgen dafür, dass er weiterhin fest jeder Versöhnung unseres Volkes entgegensteht. Er verlässt sich auf den Rat
von Wieseln. Vielleicht gibt es tief in seinem Herzen immer noch einen Funken wahren Königtums, aber es fehlt ihm die Kraft, diesen Funken selbst zu nähren, und daher sind seine Berater im Stande, alle Entscheidungen so zu verbiegen, wie es ihren Zwecken passt. Kein Wunder, dass der christliche Glaube in Circinn so gut Fuß gefasst hat. Der Hof ist korrupt, der König wankelmütig, die Weisen Frauen, die es gab, hat er verbannt, die Druiden weggeschickt. Falls die Rituale in diesem Reich immer noch befolgt werden - und ich habe Grund zu glauben, dass der alte Weg nicht vollkommen unterdrückt werden konnte -, dann geschieht das im Geheimen.« »Dennoch, der alte Glaube überlebt«, sagte Wid und zupfte sich ein kleines Stück Fleisch aus dem Bart. »Wenn auch nur eine einzige Kohle noch unter der Asche glüht, kann der richtige Wind die Flammen wieder anfachen.« »Man muss dafür sorgen, dass das Feuer nicht vollkommen ausgeht«, warf Erip ein. - 134 »Was das angeht«, sagte nun Broichan, der den größten Teil der Mahlzeit geschwiegen hatte, »gibt es da gewisse Möglichkeiten. Menschen, die schwieriges Gelände rasch durchqueren und Botschaften weitergeben können. Ich hätte allerdings gerne mehr. Ein Verbündeter im Haushalt des Ebers wäre nützlich.« »Ein Spion in der Festung der christlichen Missionare könnte ebenfalls brauchbar sein«, warf Donal ein. »Er könnte herausfinden, wie sie arbeiten, wie sie ein Land infiltrieren und wer wirklich ihre Freunde sind. Die meisten dieser Priester kommen aus Erin, habe ich gehört. Ich würde gerne wissen, ob sie Verbündete in Dalriada haben. Wenn das der Fall wäre, wüssten wir, wieso man uns von beiden Seiten bedrängt.« »Würde der König in Circinn versuchen, mit den Galen Frieden zu schließen?«, fragte Bridei, der nicht länger still bleiben konnte. Aniel betrachtete ihn forschend. »Broichan sagt mir, du verstehst, dass wir hier so frei sprechen, wie es außerhalb des Heims eines alten, vertrauenswürdigen Freundes undenkbar wäre«, sagte er. »Ich wünschte mir sehr, dass ich deine Frage mit einem eindeutigen Nein beantworten könnte, Bridei. Drust der Eber hat Circinn nicht regiert, wie das Land es verdient. Ein Mann, der sich vom Glauben seiner Ahnen abwendet und zulässt, dass sein Volk ihm ebenfalls den Rücken zukehrt, ist kein Mann, dem man trauen kann, ob er nun König ist oder nicht.« »Aber leider brauchen wir ihn«, sagte Broichan. »Oder doch zumindest seine Streitmacht. Die Anführer von Circinn haben vielleicht ihre Schwüre an den Flammenhüter gebrochen, aber sie haben nicht vergessen, wie wichtig es ist, weiterhin gut ausgebildete Krieger zu haben. Sie können nicht anders; ihre eigene Südgrenze ist alles andere als sicher. Briten hier, Angeln dort; es scheint, als wolle jeder ein Stück von unserem Land. Und um eine volle - 135 Offensive gegen Dalriada zu führen, braucht unser König nicht nur die Streitkräfte des Nordens, sondern auch die aus Circinn.« »In der Tat.« Aniel faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich habe mit Drust dem Eber über dieses heikle Thema gesprochen, oder es zumindest versucht. Ich sehe kaum eine Möglichkeit, ihn derzeit auf unsere Seite zu ziehen. Die Atmosphäre war alles andere als herzlich. Er muss eine beträchtliche Streitmacht an der Südgrenze behalten, das verstehe ich. Dennoch, ich hatte gehofft, er wäre bereit, über künftige Pläne zu sprechen.« »Oder zumindest einer gemeinsamen Ratssitzung zuzustimmen«, fügte Broichan hinzu. »Ich habe mein Bestes getan.« »Das bezweifelt niemand hier, mein Freund«, sagte der Druide. »Der König hat dich geschickt, weil du seine beste Chance warst, Circinn zu beeinflussen. Dass selbst deine Anstrengungen keine Übereinkunft herbeiführen konnten, zeigt, wie verzweifelt unsere Situation ist.« »Wenn die Galen sich entscheiden, in diesem oder dem nächsten Jahr anzugreifen, werden wir kaum mehr tun können, als eine einzelne Front zu halten«, sagte Donal säuerlich. »Und das ist wahrscheinlich nicht die Front, die wir wollen. Ich hätte gerne eine gut geplante Offensive, nicht nur eine wirre Reaktion auf das, was sie uns entgegenschleudern. Es ist ein stetiger Stachel im Fleisch, zu wissen, dass unsere eigenen Verwandten keinen Finger rühren werden, um uns zu helfen.« »Wir wollen alle, dass die Galen verschwinden«, stellte Aniel fest. »Gabhran und seine Leute zurück übers Meer nach Erin zu treiben, das ist eine gewaltige Herausforderung, ein Ziel, das es anzustreben gilt. Es lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen, nicht mit dieser bitteren Teilung unseres Landes. Den christlichen Glauben zu vertreiben und die Herzen der Menschen in Circinn wieder für den wahren - 136 Weg zu gewinnen, stellt vielleicht eine noch größere Herausforderung dar. Solange die Länder der Priteni nicht wieder vereint sind, halte ich das nicht für möglich.« Alle schwiegen. Es kam Bridei so vor, als könnte er beinahe hören, wie angestrengt die anderen nachdachten. »Herr?«, wagte er sich vor. »Ja, Junge?« Aniels graue Augen waren sehr scharf. Wie Broichan war auch er ein Mann, dem gegenüber man keine leeren Worte machte. »Ich habe mich nur gefragt - wenn der Süden uns im Kampf gegen Dalriada nicht hilft, sollten wir vielleicht andere Verbündete suchen. Das würde es uns - dem König -ermöglichen, zumindest mit den Plänen für die Zukunft zu beginnen.« »An welche Verbündeten dachtest du da? Es gibt dieser Tage nicht viele verlässliche Freunde, wie deine Lehrer
dir zweifellos schon deutlich gemacht haben.« »Ja, Herr.« Bridei hatte mit Erip und Wid lange über dieses Thema debattiert und war nicht besonders weit gekommen. »Es gibt den Stamm auf den Hellen Inseln, der sich einfach das Volk nennt. Sie sind gute Krieger, sagt man mir, und mit unserem eigenen Volk verwandt. Wir könnten uns an sie wenden. Ich weiß, wir waren nicht immer Verbündete, aber ihre Mitarbeit könnte durch Geiseln gesichert werden. Und ...« Er zögerte. »Weiter, Junge.« »Und dann gibt es da die Caitt«, sagte Bridei und hoffte, dass der Berater des Königs nicht einfach höhnisch schnauben würde. Aniel zog die Brauen hoch. »Man könnte ebenso gut versuchen, eine Armee von Wildkatzen zu beherrschen«, stellte er fest. »Ihr alter Name, der von dem Wort für >Katze< kommt, ist tatsächlich eine gute Beschreibung ihres Wesens. Welcher Mann, der noch bei Verstand ist, würde diese Grenze als Botschafter überschreiten wollen? Man würde ihn - 137 wahrscheinlich in Einzelteilen zurückschicken und ohne eine weitere Botschaft.« »Dennoch«, sagte Bridei, froh, dass Aniel ihn nicht ausgelacht hatte, »sie sind von unserer Art, folgen dem alten Weg von Sonne und Mond, und sie können kämpfen, das wissen wir. Sie sind leidenschaftliche, entschlossene Krieger. Niemand scheint ihre Grenzen zu bedrohen. Wildkatzen oder nicht, sie können uns vielleicht etwas beibringen.« »Ein interessantes Argument«, sagte Aniel. »Aber ein falsches. Es ist das Wesen ihres Landes, das die Caitt vor einer Invasion schützt. Verglichen mit diesen Klippen und Schluchten im Nordwesten wirkt das Große Tal wie eine einzige grüne Weide.« »Außerdem«, warf Wid ein, »und das weiß Bridei bereits, sind die Caitt ebenso gespalten wie wir. Sie haben keine Eindringlinge, an denen sie sich die Zähne ausbeißen können, also kämpfen sie untereinander, Kleinkönig gegen Kleinkönig, Anführer gegen Anführer, Stamm gegen Stamm. Es würde schon einen sehr beeindruckenden Anführer brauchen, um dieses Durcheinander zu einer zusammenhängenden Streitmacht zu machen. Und leider haben wir keinen solchen Anführer.« »Könnte König Drust der Stier das nicht leisten?«, fragte Bridei. Das darauf folgende Schweigen zeigte ihm, dass er eine Frage zu viel gestellt hatte. »Es ist spät«, sagte Broichan zu seinem Besuch, »und du hast eine lange Reise hinter dir. Wir können uns vielleicht noch ein wenig unter vier Augen über einem Krug Met unterhalten, und dann möchtest du dich sicher zurückziehen.« Aniel ignorierte das vollkommen. »Spielst du Brettspiele, Bridei?«, fragte er. »Krähenecken vielleicht, oder Brich-die-Mauer?« »Ja, Herr.« »Gut. Wir haben Zeit für ein Spiel, bevor ich schlafen gehe, wenn mein Gastgeber es gestattet.« Sein kluger Blick be- 138 gegnete dem des Druiden für einen Moment, dann nickte Broichan zustimmend. Die Regeln der Gastfreundschaft gestatteten ihm kaum etwas anderes. »Nichts ist besser, um einen Tag zu beschließen, als eine Prüfung des Geistes«, fügte Aniel hinzu und stand auf. »Es wird auch eine gute Übung für dich sein, einem anderen Gegner gegenüberzustehen, einem, der dich ordentlich beanspruchen wird. Selbstverständlich nur, wenn du willst.« Einen Augenblick zögerte Bridei, denn er musste daran denken, dass Tuala sicher noch nicht schlief, sondern einsam und ruhelos auf ihre Geschichte wartete. Sie war in letzter Zeit so anders gewesen; etwas beunruhigte sie, etwas, das sie ihm nicht sagen wollte. Das machte Bridei Sorgen, denn sie hatten ansonsten keine Geheimnisse voreinander. Broichan beobachtete ihn. Broichan, dachte er, kannte ihn nur zu gut. Und das hier war tatsächlich eine Prüfung. Während des gesamten Besuchs würde jedes Wort, das er sagte, abgewogen, jede Entscheidung, die er fällte, gemessen werden. Warum, wusste er nicht. Er wusste nur, dass es wichtig war, so wichtig, dass er sich keine falsche Bewegung erlauben konnte. »Es wäre mir eine Ehre, gegen dich zu spielen, Herr.« Bridei ging, um das Spielbrett mit der Einlegearbeit zu holen, und setzte es auf einen kleinen Tisch, während Erip die aus Knochen geschnitzten Spielfiguren auspackte und Donal und Uven Stühle bereitstellten. Die Mahlzeit war vorüber, und die Bewaffneten machten sich einzeln oder zu zweit durch die Küche zu ihrer derzeitigen Unterkunft in der Scheune auf. Donal blieb und setzte sich auf die Bank an der Wand, und Broichan ließ sich im Schatten nahe der Feuerstelle nieder. Auch einer von Aniels Leibwächtern war geblieben, wachsam, aber in diskretem Abstand. Das Spiel dauerte lange. Als die Spieler über die ersten Vorstöße hinaus zu ernsthafteren Manövern übergingen, bei denen ein Fahnenträger, ein Meisterkrieger und ein Priester - 139 verloren gingen, verstand Bridei, dass er in der Vergangenheit zwar im Stande gewesen war, Erip oder Wid zu besiegen, die zweifellos fähige Strategen waren, aber um gegen den Berater des Königs anzukommen, würde es erheblich mehr Subtilität und Tücke brauchen. Trotz seiner verschwitzten Hände und des hin und wieder heftig klopfenden Herzens genoss Bridei diesen Kampf. Dennoch konnte er Tualas blasses Gesicht und umschattete
Augen nicht ganz aus seinen Gedanken verbannen. Er hatte versprochen, dass er da sein würde, um ihr jeden Abend eine Geschichte zu erzählen. Sie war beinahe mit Sicherheit bereits eingeschlafen. Selbstverständlich würde sie nicht mehr wach sein; es war nach Mitternacht. Er musste sich konzentrieren ... »Ah«, sagte Aniel leise. »Wenn ich nun diesen Zug mache, und dann diesen - ich glaube, dein Fürst sitzt in der Falle. Und er hat keinen Druiden mehr, der ihm mit Hilfe der Magie einen Ausweg verschaffen kann.« In diesem Stadium des Spiels stand Erip auf einer Seite hinter Bridei, Wid auf der anderen, und sie flüsterten ihm Ratschläge zu. Broichan hatte sich weder gerührt, noch hatte er etwas gesagt. Konzentration. Brideis Situation schien hoffnungslos zu sein; Aniel hatte seinen Druiden gefangen genommen und die meisten seiner winzigen Bewaffneten vom Brett geworfen. Brideis Fürst stand stolz allein, so groß wie der kleine Finger eines Mannes, und beinahe umzingelt von Aniels knöchernen Kriegern. Vom Rand des Bretts aus schauten die Weisen Frauen, seine und die des Feindes, zu. Die Weisen Frauen waren die Verkörperung der Göttin, der Leuchtenden ... der Leuchtenden, die Wege bahnte, die die Zukunft erhellte... »Eine unhaltbare Situation«, sagte Aniel. »Es wäre durchaus akzeptabel, wenn du dich jetzt geschlagen gibst, Bridei. Du bist ein sehr fähiger Spieler, und immerhin bist du, wie Broichan mir sagt, nicht einmal dreizehn Jahre alt. Ich schätze, deine Schlafenszeit ist längst gekommen.« - 140 Das war eine Beleidigung, so freundlich er auch klang. Man musste Beleidigungen über sich hinwegrauschen lassen. Das war eine von Donais Lektionen gewesen. Wenn ein Gegner im Kampf einem Dinge wie Du Sohn einer fetten, schlaffen Sau oder Blaugesichtiger Wilder zuschrie, durfte man nicht zulassen, dass es einen ärgerte, sonst hatte man einen Speer im Bauch, ehe man auch nur mit den Fingern schnippen konnte. Man musste es über sich hinwegschwappen lassen und unbeirrt weitermachen. Was in Donais Fall bedeutete, etwas zurückzubrüllen wie Karottenköpfiger Feigling, du verkriechst dich hinter den Röcken deiner Frau und dem anderen mit dem Speer zuvorzukommen. Also schau dir das Brett noch einmal genau an und denk über die Weisen Frauen nach. Dort war seine eigene, klein und ernst in ihrem Kapuzengewand aus geschnitztem Knochen und mondweiß. Und dort, beinahe ihr gegenüber, aber nicht ganz, stand Aniels Weise Frau, identisch bis auf die Farbe, denn ein Satz Figuren hatte eine leichte Verfärbung, eine Spur von Goldbraun auf der ursprünglichen Knochenfarbe. Erip und Wid gaben nun keinen Laut mehr von sich. Bridei bewegte die Weise Frau in den Weg der anderen. Erip schnappte nach Luft; Wid gab ein leises Zischen von sich. »Ein Opfer«, stellte Aniel fest. »Bist du sicher?« Die Leuchtende, die Wege bahnt. »Ich mache keinen Zug, wenn ich nicht sicher bin«, sagte Bridei. »Es tut mir weh, das tun zu müssen.« Aniel griff nach seiner eigenen Spielfigur und bewegte sie nach vorn, um Brideis kleine Priesterin vom Brett zu schubsen. »Manchmal wirkt dieses Spiel geradezu respektlos gegenüber den Göttern. Hoffen wir, dass sie es mit Humor betrachten. Ich glaube, wir sind fertig.« »Nicht ganz«, sagte Bridei und bewegte eine unbedeutende Figur, einen vergessenen Fußsoldaten, ein Quadrat - 141 weiter nach links. »Ich glaube, dein Fürst kann jetzt nicht mehr fliehen.« Aniel kniff die Augen zusammen. Erip und Wid beugten sich näher heran. Es stimmte. Welchen Zug der Berater des Königs auch machte, es gab nur ein Ergebnis: Brideis Fürst würde die Weise Frau seines Gegners vom Brett nehmen, und beim nächsten Zug würde sein einfacher Speerkämpfer sich um Aniels Fürst kümmern und das Spiel gewinnen. Bridei hoffte sehr, dass er Aniel nicht beleidigt hatte und dass Broichan nicht zornig werden würde. Erip und Wid waren, ihrem Grinsen nach zu schließen, außer sich vor Entzücken. Eine Spur von Missmut zeigte sich auf Aniels gefassten Zügen, und die vielen müden Falten auf seiner Stirn wurden noch mehr. Er starrte das Brett an, wie es jeder wahre Spieler im Augenblick der Niederlage tut, und versuchte sich zu überzeugen, dass ihm nicht irgendwo ein Faktor entgangen war, der ihm immer noch einen Triumph erlauben würde. Dann sah er wieder Bridei an, und einen Augenblick später lachte er leise. »Schau nicht so verzweifelt drein, Junge, ich werde dir nicht den Kopf abbeißen! Ich bin hin und wieder besiegt worden, aber ich gebe zu, noch nie von einem Jungen deines Alters. Du hast dich sehr, sehr gut geschlagen. Ich muss müder sein, als ich dachte. Sag mir, was hat dich auf diese Idee gebracht? Es war ein ungewöhnlicher Zug; selbstverständlich erlaubt, aber weit außerhalb des konventionellen Spielflusses.« »Erip und Wid haben mir beigebracht, wie man spielt. Alles, was ich weiß, habe ich von ihnen gelernt.« Bridei warf seinen alten Lehrern einen anerkennenden Blick zu, wie es sich für einen respektvollen Schüler gehörte. »Manchmal denke ich auch über diese Belehrungen hinaus. Ich meine, es ist immerhin nicht nur ein Brettspiel, oder? Es ist wie die wirkliche Welt, nur kleiner: Krieger, Fürsten und Göttinnen, und was immer in der wirklichen Welt passiert, kann einem - 142 Strategien für das Spiel liefern. Oder anders herum. Ich musste einfach nur daran denken, dass die Leuchtende uns mit ihrem Licht Wege zeigt und dass sie unerwartete Geschenke bringt, und dann sah ich den Zug vor meinem geistigen Auge, das war alles. Ich danke dir für das Spiel, Herr.« »Das Vergnügen war ganz meinerseits«, erwiderte Aniel höflich. »Ich werde wieder gegen dich spielen, wenn du fünfzehn bist. Wenn ich jeden Tag übe, sollte ich bis dahin in der Lage sein, dich zu schlagen. Komm, mein
Freund.« Er stand auf und wandte sich dem schweigenden Broichan zu. »Wir wollen uns noch ein wenig unterhalten, wie du vorgeschlagen hast, und dann muss ich wirklich schlafen. Du hast hier einen vielversprechenden Jungen.« »Ja«, sagte Broichan. Ob er damit der Einschätzung des Ratsherrn über Bridei zustimmte oder nur der Bemerkung, dass es Zeit zum Schlafen war, hätte man nicht sagen können. Am nächsten Tag setzte Donal als Erstes Übungen im Bogenschießen an, und Bridei hatte keine Zeit, nach Tuala zu sehen, wie er vorgehabt hatte, und sich dafür zu entschuldigen, dass sie wieder hatte auf ihre Geschichte verzichten müssen. Der Unterricht wurde zu einem Wettbewerb, denn einer von Aniels Leuten hatte den Ruf, ein hervorragender Bogenschütze zu sein, und erklärte sich bereit, gegen jeden anzutreten, der sich dafür interessierte. Als Ferat davon erfuhr, schickte er das Frühstück in abgedeckten Körben nach draußen: frisches Gerstenbrot, Honig in einem Krug und Scheiben vom Hammelbraten des vergangenen Abends. Die Küchendiener kamen ein zweites Mal und brachten Bier. Niemand konnte sich über solche Gastfreundschaft beschweren. Ein paar Männer waren selbstverständlich nicht da, denn sie mussten stets an den Grenzen von Pitnochie Wache halten, aber die meisten machten gerne mit. Sie vereinbarten Ziele und schössen in Paaren. Einer nach dem anderen wur- 143 den die Verlierer ausgeschlossen. Als der Wettbewerb weiterging, wählte man die Ziele kleiner und schwieriger. Die Gruppe der Besucher wuchs, als mehr Männer ausgeschlossen wurden; sie wurde auch lauter, weil die Aufregung zunahm. Breth, Aniels Leibwächter, war ausgesprochen geschickt. Er war ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann, jung und stark, und bot einen schönen Anblick, wenn er seinen großen Eibenbogen spannte, zielte und schoss - etwa so, als beobachtete man ein wildes Tier, das seine Beute schlug, oder ein Segelboot, das vor dem Wind läuft. Bisher hatte er noch kein Ziel verfehlt. Ebenso wenig wie Donal, Enfret und Bridei. Fidich ließ sich von seinen Arbeiten auf dem Hof weglocken und kümmerte sich um die Ziele. Erip und Wid hatten sich herausgewagt, um zuzusehen; die Bewaffneten hatten den beiden alten Gelehrten leere Fässer aufgestellt, auf die sie sich setzen konnten, aber die beiden sprangen schon bald auf und jubelten wie jeder andere, wenn ein Schuss ins Ziel ging. Etwas später kamen auch Aniel und Broichan heraus, gefolgt von dem anderen Leibwächter des Beraters, um aus der Ferne zuzuschauen. Bridei warf einen Blick zu den Eichen hin, zu der Stelle, wo Tuala immer saß und zusah, wenn er und Donal hier im Hof hinter dem Stall arbeiteten. Sie war nicht da, und das machte ihm Sorgen. »Du bist dran, Bridei«, sagte Enfret. Diesmal war das Ziel ein Fichtenzapfen, der auf dem Steinwall am anderen Ende des südlichen umwallten Felds lag, dreihundert Schritt weit entfernt. Nur gut, dass die Schafe oben auf den Hügeln auf ihren Sommerweiden grasten. Bridei legte den Pfeil auf, spannte, zielte und ließ die Sehne los. Ein Schwirren, ein leises klatschendes Geräusch, und der Zapfen war vom Wall verschwunden. »Gut gemacht, Junge«, sagte Breth. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dein Lehrer gewesen zu sein. Selbstverständlich ist dein Bogen kleiner und leichter zu spannen.« - 144 »Es ist ein kleinerer Bogen mit weniger Kraft«, stellte Donal ruhig fest. »Hast du in seinem Alter einen Bogen dieser Größe benutzt?« »Er kann sich nicht mehr erinnern«, grinste Enfret. »Zu lange her.« »Beim letzten Durchgang des Wettbewerbs sollten nur Männer zugelassen sein«, sagte Breth. »Ich bin nicht hierher gekommen, um gegen Kinder anzutreten. Nur Männer mit gleich großen Bögen, damit es gerecht zugeht.« »Hast du Angst, dass der Junge dich mit seinem Kinderbogen besiegt?«, wollte Uven wissen. »Komm schon, gib dem Jungen eine Chance.« Fidich bereitete das neue Ziel vor, einen glitzernden Silberlöffel, der an einer Schnur vom unteren Ast einer einzeln stehenden Eiche hing. Die Sonne ließ das Metall aufblitzen und in die Augen des Schützen zucken. Der aufkommende leichte Wind ließ das Ding tanzen wie ein Irrlicht. Breth schoss als Erster und durchtrennte die Schnur, was das gewünschte Ziel war. Der Löffel fiel zwischen die Eichenwurzeln. Alle applaudierten, sogar Donal; es war ein ausgesprochen kluger Schuss gewesen. Fidich band den Löffel wieder an. Enfret schoss als Nächster und fehlte; sein Pfeil bohrte sich schaudernd in den Stamm des großen Baums. Der Bogenschütze murmelte leise etwas; keinen Fluch, wie Bridei hörte, sondern eine Entschuldigung. Man legte sich nicht leichten Herzens mit den Mächten einer Eiche an. Donal schoss als Nächster. Der Pfeil bewirkte, dass der Silberlöffel sich an seiner Schnur drehte, aber er fiel nicht. »Du bist dran, Bridei«, sagte Donal dann. Bridei war ziemlich sicher, dass er es tun konnte. Dann würde es noch ein Ziel geben, und noch eins, und irgendwann würde er Breth demütigen, indem er siegte, oder Breth würde der Sieger sein und er selbst ein guter Verlierer, denn seine Jugend erlaubte ihm zu verlieren und dennoch gut da-
- 145 zustehen. Es war tatsächlich ungerecht. Er warf einen Blick den Hügel hinauf zu der Stelle, wo Broichan, blass in seinem schwarzen Gewand, neben Aniel stand und zusah. Es war möglich, dachte Bridei, dass Sieg bei diesem Wettbewerb nicht das Richtige war. Breth war ein Besucher, ein Gast und ein fähiger Mann, dessen Ruf man bedenken musste. Öffentlich vor seinem Kameraden und Aniel zu verlieren, würde ihn zutiefst beschämen. War das die kurzfristige Befriedigung für Bridei wert? Außerdem hatte Breth Recht gehabt, Brideis Bogen war viel leichter zu spannen. Andererseits war es nicht gut zu lügen, und absichtlich zu verlieren war ein bisschen wie eine Lüge. Tuala hätte gewusst, was das Richtige war. Selbst mit sechs Jahren hatte sie diese Begabung, schlichte Wahrheiten in ein paar wohl gewählte Worte zu kleiden. Aber Tuala war nicht hier. Der Platz unter ihrem Lieblingsbaum war leer. Bridei spannte den Bogen. Der Wind war auf seiner Seite und abgeflaut; das Ziel bewegte sich beinahe nicht mehr. Alle schwiegen nun. Bridei warf einen Blick zu Donal und hoffte auf eine Andeutung. Donais Lippen zuckten in einem kleinen Lächeln. Er schüttelte den Kopf so geringfügig, dass kein anderer es bemerkt hätte. Es hätte bedeuten können: Schieß lieber daneben. Oder vielleicht auch nur: Das hier ist dein Problem, erwarte keinen Rat von mir. Es zählte nicht. Bridei wusste, was das Richtige war. Man gewann nicht die Loyalität eines Mannes, man beeinflusste ihn nicht, das Richtige zu tun, indem man ihn vor seinen Freunden schwach aussehen ließ. Manchmal war es gut zu siegen, aber es gab Ausnahmen. Man musste lernen, welche Wettbewerbe wichtig waren und welche dem größeren Ganzen geopfert werden konnten. Bridei seufzte, sah das hängende Silber wie ein Aufblitzen von Mondlicht im dunklen Laub der Eiche, und ließ die Sehne los. Sein Pfeil traf den Löffel mit einem leichten metallischen Klirren und fiel unter dem Baum auf den Boden. Beinahe so- 146 fort kam wieder Wind auf und machte das Ziel zwischen den rauschenden Blättern nun beinahe unsichtbar. Man konnte gerade noch erkennen, dass es immer noch intakt war. »Oh, was für ein Pech, Bridei!«, rief Erip. »Du warst so nahe dran.« Donal, der die Regeln der Gastfreundschaft sehr genau kannte, gratulierte Breth als Erster und schlug vor, einige von ihnen sollten in den nächsten Tagen auch Wettbewerbe im Schwertkampf oder im Ringen durchführen. Andere drängten sich um sie, schlugen dem Sieger auf den Rücken und lobten ihn. Breth grinste nun; sein Stolz war gerettet, und er schüttelte hier eine Hand, machte da einen Witz. Es war ein guter Wettbewerb gewesen. Und der Junge hatte erstaunlich gut abgeschnitten. Er würde einmal ein wirklich guter Schütze werden. Donal hatte mit ihm gute Arbeit geleistet. Als die anderen weg waren, sammelten Bridei und Donal die Pfeile und die diversen Ziele ein. »Bridei?«, fragte Donal. »Was?« »Würdest du jemals schlechter schießen, als deine Fähigkeiten dir gestatten?« Bridei hatte Zeit gehabt, über seine Antwort nachzudenken, denn er wusste, dass Donal ihm diese Frage früher oder später stellen würde. Sein Lehrer kannte ihn zu gut, um diesen Fehlschuss anders zu interpretieren. »Würdest du je einen deiner Schüler ermutigen, etwas falsch zu machen?«, fragte er zurück. »Das hängt von den Umständen ab.« »Dann ist das meine Antwort.« »Es könnte eines Tages den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen«, stellte der Krieger fest. »Deines Lebens, nicht das des anderen Mannes.« »Wenn es um Leben und Tod ginge, würde ich ganz bestimmt nicht daneben schießen«, erklärte Bridei. »Aber wenn es nur um Stolz geht, würde ich das in die Gleichung - 147 einbeziehen. Und mich dann entscheiden, was ich tun sollte.« »Mhm«, sagte Donal, zog einen Pfeil aus dem Boden und packte ihn zu den anderen. »Ich hätte nicht tun können, was du heute getan hast. Das habe ich nicht in mir.« »Du brauchtest es auch nicht. Du hast ohnehin daneben geschossen.« Bridei grinste. Donais Lächeln war eher eine Grimasse. »Warte, bis dieser Breth sieht, wie gut ich mit dem Stab bin. Er wird am Boden liegen, bevor er weiß, wie ihm geschieht. Und jetzt geh; der Unterricht fällt nicht aus, nur weil der Berater eines Königs im Haus weilt. Die beiden alten Schurken lauern dir sicher schon irgendwo mit einer Dosis lange vergessener Geschichte auf. Verschwinde.« »Donal?« »Was?« »Hast du Tuala in den letzten Tagen gesehen? Ich weiß, wir hatten alle viel zu tun, aber sie war gestern nicht beim Abendessen, und auch nicht vorgestern, und Brenna ebenfalls nicht. Und sie ist heute früh nicht hier.« »Nun«, sagte Donal schließlich, »das Mädchen ist im Augenblick nicht hier. Sie macht einen Familienbesuch. Mit Brenna.« Bridei wurde plötzlich kalt. Donais Tonfall war zu lässig, die Antwort kam zu glatt heraus. »Sie ist weg?«, fragte er und bemühte sich, das zu begreifen. »Was für ein Besuch? Was für eine Familie?« Tualas Familie befand sich hier. Was hatte Broichan getan?
»Immer mit der Ruhe, Junge. Broichan hat Brenna ein paar Tage freigegeben, damit sie ihre Mutter am Eichenhügel besuchen kann, das ist alles. Tuala ist mitgegangen, und Cinioch passt auf die beiden auf. Sie werden inzwischen schon ihr Ziel erreicht haben.« »Er hat sie weggeschickt.« Bridei bemerkte, dass er die Fäuste ballte; er zwang sich, sie wieder zu entspannen, aber - 148 er konnte nichts gegen den Zorn tun, der in ihm immer stärker wurde. Kein Wunder, dass Tuala so traurig und still gewesen war. Kein Wunder, dass er geglaubt hatte, sie hätte Geheimnisse vor ihm. Womit hatte Broichan ihr gedroht, dass sie nichts verriet? »Du hättest es mir sagen sollen«, fügte er hinzu. »Und gegen einen Befehl deines Pflegevaters verstoßen? Er hat uns angewiesen, es dir gegenüber nicht zu erwähnen, Bridei, nicht bevor Tuala schon auf dem Weg ist. Er hätte es dir selbst gesagt, wenn du lange genug gewartet hättest.« »Warum tut er das?«, wollte Bridei wissen. »Warum schickt er sie weg?« »Damit du dich Broichans Gästen vorstellen kannst, ohne dabei abgelenkt zu werden. Es ist wichtig, Bridei. Dein Pflegevater möchte, dass du einen guten Eindruck machst. Und hör auf, so mit den Zähnen zu knirschen, das macht mich nervös.« »Sie war traurig. Sie wollte nicht gehen.« »Hat sie das gesagt?« »Das konnte sie ja nicht! Broichan hat ihr gedroht, damit sie nichts sagt. Sie ist erst sechs, Donal. Ohne eine Gute-Nacht-Geschichte kann sie nicht einschlafen. Sie fürchtet sich im Dunkeln.« »Brenna ist bei ihr.« »Und sie wird Mittsommer verpassen. Das Ritual.« Donais Mundwinkel zuckten. »Vielleicht war es das, was Broichan wollte. Lass es gut sein, Bridei. Es ist nur eine Kleinigkeit. Es spielt bei den Plänen deines Pflegevaters keine große Rolle. Bridei?« Aber Bridei rannte bereits aufs Haus zu. Er wollte Rechenschaft; sein Pflegevater schuldete ihm zumindest eine Erklärung. Verflucht sollte er mit seinen geheimnisvollen Intrigen sein! Man drohte Kindern nicht, als wären sie nichts weiter als eine Ungelegenheit, die man aus dem Weg fegte, wenn sie einem nicht passte. Man schickte sie nicht weg, - 149 sodass sie einsam und verängstigt waren. Und ganz besonders zwang man sie nicht zu Geheimnissen vor ihren Freunden. Das würde er Broichan sagen, und wenn sein Pflegevater die Wahrheit nicht hören wollte, dann war das sein Problem. Rechtschaffener Zorn trieb ihm alles aus dem Kopf außer dem, was er sagen wollte. Aber als er um die Hausecke kam, blieb er abrupt stehen. Reiter standen vor der Tür, eine Gruppe von sechs Männern, die von Osten gekommen sein musste, wo man sie wegen der Birken zwischen dem Haus und dem Weg am See nicht sehen konnte. Broichan begrüßte sie gerade; Aniel stand mit einem seiner Leibwächter neben ihm. Die Neuankömmlinge waren Krieger, deren Gesichter mit Verwandtschaftszeichen und den Zeichen der Schlachten, an denen sie teilgenommen hatten, geschmückt waren. Sie trugen Kleidung, die für Bewaffnete unterwegs praktisch war, Mützen und Brustplatten aus Leder, Filzumhänge und schwere Waffenröcke, enge Hosen im gleichen dunklen Blau, weiche Reitstiefel und schützende Handschuhe. Alle hatten Waffen. Es gab auch ein Packpferd, aber das war nur leicht beladen. Die Pferde der Krieger waren stämmig, hatten klare Augen und sahen kräftig aus. Ein Mann, hoch gewachsen und mit lockigem Haar, stieg an den Stufen zum Haus ab und redete mit Broichan. Sie unterbrachen das Gespräch, als Bridei erschien. »Ah, ich bin sicher, das ist dein Pflegesohn. Ich grüße dich, Bridei! Ich bin Talorgen von Rabenbrunn. Es ist mir ein Vergnügen, dich endlich kennen zu lernen. Ich war ein Freund deiner Mutter, bevor sie sich in den Kopf setzte, Maelchon zu heiraten und nach Süden zu ziehen.« Wieder seine Mutter. Bridei ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes. Talorgen hatte ein so entwaffnendes Lächeln, dass es unmöglich war, nicht zurückzulächeln und ihn mit echtem Wohlwollen zu begrüßen. - 150 »Ich habe einen Sohn in deinem Alter«, fuhr Talorgen fort. »Er heißt Gartnait. Er kommt gut mit Bogen und Schwert zurecht, aber nach allem, was ich höre, ist er nicht so gelehrt wie du.« »Schade, dass du ihn nicht mitgebracht hast, Herr«, erwiderte Bridei. »Ach, das machen wir ein andermal«, erwiderte Talorgen leichthin. »Seine Mutter wollte, dass er bei ihr bleibt, und es ist nicht einfach, ihr zu widersprechen.« »Komm«, sagte Broichan. »Ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Deine Männer werden in der Scheune bei meinen übernachten. Bridei, könntest du sie zum Stall bringen und Donal bitten, ihnen alles zu zeigen?« Die dunklen Augen des Druiden betrachteten das Gesicht seines Pflegesohns forschend. Zweifellos, dachte Bridei, zeigte sich der Zorn immer noch in seiner Miene, obwohl Talorgens freundliche Art geholfen hatte, ihn zu zügeln. Bridei starrte nur gerade lange genug zurück, damit Broichan begriff, dass er wütend war, und weshalb. Dann wandte er sich Talorgens Männern zu und winkte ihnen, ihm zu Stall und Scheune zu folgen. Was er zu sagen hatte, würde warten müssen.
In der Abenddämmerung dieses Tages traf Broichans dritter Gast ein. Wenn Bridei an Druiden dachte, stellte er sich im Allgemeinen seinen Pflegevater vor, den Einzigen dieser Art, den er kannte: einen Mann von entschlossenem Denken und einschüchternder Intelligenz, einen Mann, der nicht nur von weltlicher Macht, sondern vor allem von einer tiefen Ehrfurcht vor den Mysterien geprägt war. Er hatte allerdings noch von einer anderen Art von Druiden gehört, der Art, wie sie in alten Geschichten vorkam. Sie waren wilde Bewohner von Eichenhainen tief im Herzen des Waldes; Männer, so versunken in der Überlieferung, so auf Magie eingestimmt, dass sie der Außenwelt häufig wie verrückt vorkamen, als wären sie über eine Grenze hinausgegangen und stünden nur noch mit einem Fuß in die- 151 ser Welt und dem anderen in der nächsten. So einer war Uist, den die Abenddämmerung zur Schwelle von Pitnochie brachte. Er kam auf einer milchweißen Stute, die sich mit einem zierlichen, tänzelnden Gang bewegte und ihren seidigen Schweif hin und her fegte. Uist hatte wirres, weißes Haar, geflochten wie das von Broichan, aber nicht annähernd so ordentlich; in den Zöpfen steckten Federn, Zweige und Samenkapseln, und hier und da hatten sich Strähnen gelöst, die ihm wild um den Kopf standen wie eine Strahlenkrone. Er roch nach Moschus wie ein Waldtier. Uists Züge waren schwer zu beschreiben, seine Augen von wechselhafter Farbe, das Gesicht einmal so, dann wieder so, als passte es sich ununterbrochen an, damit niemand sich erinnern konnte, wie er aussah. Er wirkte alt, aber er hielt sich gerade und entspannt, eine Hand an einem langen Birkenstab mit einem polierten Stein von hellstem Grau an der Spitze, der wie ein Ei Flecken in einer dunkleren Farbe hatte, und drei darunter angebundenen weißen Federn. Seine Kleidung wirkte fließend; sie bewegte sich auf seltsame Weise mit ihm, als hätte der Stoff ein Eigenleben, das über die Bewegungen des Trägers hinausging. Hier und da konnte man Risse im Stoff sehen, als wäre der Druide durch ein Dornengebüsch gegangen. Die Stute hatte allerdings nicht den geringsten Kratzer an ihrem schimmernden Fell. Uist versuchte nicht, irgendwen in ein Gespräch zu verstricken, und begrüßte auch niemanden außer seinem Gastgeber. Als man ihm ein Bett im Männerquartier bei Talorgen und Aniel anbot, erklärte er, er habe schon zu lange nicht mehr unter einem anderen Dach geschlafen als dem Wipfel einer Eiche und den Sternen. Er würde die Nächte im Wald verbringen und die Tage in Broichans Haus ertragen, wenn das unbedingt nötig war. Er brauchte die Hände der Knochenmutter unter seinem Rücken, sagte er, und die Augen der Leuchtenden, die auf ihn herabschauten. Ohne das wür- 152 de er Pitnochie spätestens nach zwei Tagen verlassen müssen oder verrückt werden. »Du meinst wohl verrückter, als du bereits bist«, bemerkte Talorgen mit einem Lächeln, und der alte Druide zog die buschigen Brauen zusammen. Die Bemerkung kam Bridei alles andere als höflich vor, aber Uist sagte nur: »Oh, ich war für deine Art von Gesellschaft schon vor Jahren verloren, mein Freund, und sie fehlt mir kein bisschen. Vielleicht die Musik. Davon einmal abgesehen interessieren mich Königshöfe nicht. Das Leben in der Wildnis gefällt mir, und es gefällt auch denen, die mir nachts Dinge zuflüstern. Ich werde allerdings den Mond nicht anheulen, so viel kann ich dir versprechen.« Bridei wartete auf einen Moment, in dem er Broichan allein antraf. Aber sobald das Abendessen vorüber war, zog sich der Druide mit seinen drei Gästen in sein eigenes Zimmer zurück und schloss die Tür fest hinter ihnen, und zornig oder nicht, Bridei konnte dieses Gespräch nicht unterbrechen. Später kam Talorgen heraus und ließ sich am Feuer nieder, und bald schon hatten Donal, Uven und zwei andere Männer ihn in ein Gespräch über die Galen verstrickt. Das wiederum führte dazu, dass sie alle Messer, Becher und Schalen auf dem Tisch herumschoben, um einen großen strategischen Vorstoß über das westliche Ende des Großen Tals und bis hinter die Inseln darzustellen, einen Vormarsch, bei dem sie die Eindringlinge vor sich her trieben, zurück nach Erin, wo diese Missetäter hingehörten. Talorgen hatte erst vor kurzem gegen einige von Gabhrans Leuten gekämpft; Rabenbrunn, sein Territorium, lag westlich von Pitnochie und damit den Siedlungen des Feindes erheblich näher. Er hatte Informationen über die derzeitigen Stellungen der Galen, die neu für Donal waren, und sein Bericht über die wilden Scharmützel mit ihren vordersten Truppen schlug alle in seinen Bann. Als das vorüber war, löschten sie die Lampen, und es war Zeit, schlafen zu gehen. Es kam Bridei zu spät vor, um seinen Pflegevater noch auf- 153 zusuchen. Aber als er an Broichans Zimmer vorbeiging, um seine Kerze zu holen, bevor er in die Scheune ging, öffnete der Druide die Tür und kam heraus. »Du hattest mir etwas zu sagen«, stellte Broichan fest. Es war keine Frage. Brideis Zorn war nicht mehr so glühend wie zuvor. Talorgen hatte gesagt, er könne nach Rabenbrunn zu Besuch kommen, sobald Broichan das erlaubte, und die aufregende Aussicht darauf, einmal etwas anderes als Pitnochie zu sehen und seine Fähigkeiten im Zweikampf mit diesem Jungen namens Gartnait zu messen, hatte seine Stimmung erheblich verbessert. Aber er hatte die Ungerechtigkeit nicht vergessen, ebenso wenig wie sein Bedürfnis nach Rechenschaft. Es war niemand sonst in der Nähe, und Broichan hatte die Tür hinter seinen einflussreichen Gästen geschlossen. »Du hast Tuala weggeschickt«, sagte Bridei und benutzte dabei die Techniken, die ihm sein Pflegevater beigebracht hatte, damit seine Stimme ruhig und sein Körper entspannt blieb, obwohl es einen guten Teil des Zorns zurückbrachte, davon zu sprechen. »Sie war unglücklich, das habe ich ihr angesehen. Und du hast allen
verboten, es mir zu sagen. Das war ungerecht.« Broichan wartete schweigend und betrachtete seinen Pflegesohn, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich glaube, ich habe eine Erklärung verdient«, sagte Bridei. Broichan antwortete nicht. Sein Schweigen konnte Furcht erregend sein, aber im Lauf der langen Jahre seiner Erziehung hatte Bridei gelernt, damit zurechtzukommen. »Warum sind diese Leute hier?«, fragte er, als er zu dem Schluss kam, dass eine direkte Frage erforderlich war. »Und warum sollen sie Tuala nicht sehen? Schämst du dich ihrer?« Broichan verschränkte die Arme. »Du bist zornig«, stellte er fest. »Atme gleichmäßiger. Beherrsche deinen Blick. Du musst lernen, solche Gefühle zu verbergen, denn wenn ein - 154 Mann mit anderen im Rat sitzt, kann es schaden, wenn man ihm ansehen kann, wie er empfindet.« Bridei glaubte, seine Gefühle recht gut beherrscht zu haben. Zumindest schrie er nicht und warf keine Gegenstände, wie es Ferat manchmal tat. »Wirst du meine Fragen beantworten?«, fragte er. »Meine Gäste sind hier, um dich kennen zu lernen. Um dich zu beobachten und einzuschätzen, was du bisher gelernt hast. Es ist äußerst wichtig, dass du dich von deiner besten Seite zeigst. Tuala wird zurückkehren, wenn sie abgereist sind. Es ist unangemessen, dass das Mädchen sich zu solchen Zeiten hier aufhält. Sie gehört nicht hierher.« »Sie ist ein Teil von Pitnochie«, widersprach Bridei. »Sie gehört zu mir.« Etwas, das Bridei nicht deuten konnte, zuckte über Broichans bleiche Züge. »Ich hätte dich beinahe für einen Mann gehalten, Bridei«, sagte der Druide. »Du zeigst an diesem Abend, dass du immer noch ein Kind bist. Dies ist eine triviale Angelegenheit, und du wirst in den nächsten Tagen all deine Energie brauchen. Wir werden nicht weiter über diese Sache sprechen.« Damit öffnete er die Tür, ging wieder in sein Zimmer, und das Gespräch war beendet. Es war alles andere als zufrieden stellend, aber Bridei wusste, dass er von seinem Pflegevater nicht mehr erfahren würde. Als er sich umgeben von schnarchenden Männern zum Schlafen hinlegte, erzählte er lautlos im Kopf eine Geschichte und hoffte, auf diese Weise sein Versprechen zu erfüllen, obwohl Tuala es nicht hören konnte. Es war einmal... Brenna hatte gesagt: »Geh nicht weiter als zu den Stechpalmenbüschen. Ich will dich nicht im Wald suchen müssen. Es gibt hier oben Wölfe.« Aber Tuala konnte nicht gehorchen. Es war anders hier; es war falsch. Das Haus war klein und rauchig, und Brennas Mutter betrachtete Tuala mit zusammengekniffenen, miss- 155 trauischen Augen. Brennas Tante war sogar noch schlimmer. Sie wollte Tuala überhaupt nicht ansehen und machte immer wieder dieses Zeichen, das bedeutete, dass sie Tuala für etwas Böses hielt. Brenna selbst war ungewöhnlich bedrückt. Ihre Mutter wollte Fidich nicht als künftigen Schwiegersohn, wegen seines Beins und weil er das Land eines anderen Mannes bebaute, nicht sein eigenes. Am ersten Abend hatte Brenna sich in den Schlaf geweint. Nur der Wald war der gleiche. Hier am Eichenhügel, auf dem Weg hinauf zu den hohen Gipfeln, die man die Fünf Schwestern nannte, umschlangen die Bäume das Häuschen wie ein Umhang. Brennas Vater hatte vom Holzhacken gelebt und die Stämme auf einem flachen Boot über den See gebracht. Er war im Wald gestorben, als er den Fall einer Esche falsch berechnet hatte. Tuala hielt das nur für gerecht, aber das sprach sie lieber nicht aus. Brennas Brüder hatten das gleiche Handwerk ergriffen, aber dann die Gelegenheit genutzt, Krieger für König Drust den Stier zu werden. Man konnte eine gute Axt auf unterschiedliche Weise nutzen. Nun beherbergte der Haushalt nur Frauen und war derzeit ein Ort der zornigen Worte und der Bitterkeit. Jeden Tag floh Tuala sofort nach dem Frühstück zu der Stelle, wo die dunklen, stachligen Blätter der Stechpalmen einen Schirm bildeten, der das Haus von dem wilderen Teil des Waldes trennte. Dort blieb sie eine Weile sitzen und wartete, bis Brenna nicht mehr nach ihr sah, und dann schlich sie sich davon, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht ihren Rock an den Stacheln zu zerreißen und ihr Haar nicht in allzu große Unordnung zu bringen. Ein Stück weiter hügelaufwärts fand sie eine kleine Senke zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche, eines Baums, der ihrem Lieblingsbaum in Pitnochie ganz ähnlich war. Wenn sie ihren Rock fest um sich zog und sich ganz klein machte, passte sie dort hinein und fühlte sich, als wäre sie ein Teil des Baums und der Baum ein Teil von ihr. Wenn sie angestrengt lauschte, glaubte sie, eine Art - 156 Herzschlag im Baum zu hören, stark und tief; sie hörte eine Stimme, eine gewaltige, träge, alte Stimme, die ihr etwas sehr Bemerkenswertes und Weises erzählte. Was hatte dieser Baum alles gesehen, in all den Jahren, in denen er den Hügelabhang mit seinen Wurzeln festgehalten und den kleineren Pflanzen mit seinem erhabenen Wipfel Schatten gespendet hatte? Es gab so viele Geschichten aus der Zeit, in der er über dem Tal gewacht hatte, Geschichten von Liebenden, von Suchen und Reisen, Geschichten von großen Schlachten, glorreichen Siegen, bitteren Niederlagen: dieser Älteste der Bäume hatte alles in seine monumentale Geschichte aufgenommen und summte diese Geschichte nun Tuala vor, während er sie mit seinen Wurzeln wiegte. Manchmal konnte Tuala über und hinter der tiefen Stimme der Eiche auch andere Stimmen vernehmen, hoch, ätherisch und spöttisch,
oder leise, raschelnd und verstohlen. Sie versuchte, diese Stimmen auszuschließen. Abends erzählte sie sich die Geschichten der Eiche noch einmal, als Hintergrund zu Brennas unterdrücktem Schluchzen. Es war einfach nicht richtig. Nichts davon. Aber Tuala wusste, sie musste brav sein, was auch geschah. Wenn sie nicht brav war, würde Broichan sie nicht wieder nach Hause zurückkehren lassen, und dann musste sie vielleicht immer hier bleiben, wo niemand glücklich war und es keinen Bridei gab. Brenna war sehr entschieden gewesen, was die Notwendigkeit anging, dass Tuala sich nicht sehen ließ. Auf dem Weg hierher waren sie früh am Morgen aufgebrochen, hatten kaum auf den Sonnenaufgang gewartet, und Tuala hatte einen Umhang mit Kapuze getragen, damit man ihr Gesicht nicht sah. Es kamen nur selten Besucher, denn dieses Haus am Eichenhügel war ziemlich abgelegen. Dennoch, Brenna war sehr deutlich gewesen. »Broichan will nicht, dass jemand dich bemerkt. Ich werde dich nicht im Haus einsperren, das wäre zu viel verlangt von einer Sechsjährigen. Aber du darfst nicht mit Fremden sprechen. Kein Wort, hast - 157 du verstanden? Wenn du siehst, dass jemand den Weg entlangkommt, kommst du sofort nach drinnen. Es ist sehr wichtig, Tuala. Wenn jemand auf dich aufmerksam werden sollte, werden wir beide Ärger bekommen.« »Mach dir keine Sorgen, Brenna.« Tuala hatte das ganz ernst gemeint, denn sie hatte die dunklen Ringe unter den geröteten Augen der jungen Frau bemerkt. »Ich werde brav sein.« Am dritten Tag hockte sie wieder unter der Eiche, mit einem Ohr am Stamm, und lauschte mit geschlossenen Augen. Ihr Kopf war voll von der dunklen, trägen Stimme des Baums. Dann bemerkte sie plötzlich, dass sich etwas verändert hatte. Tuala öffnete die Augen. Jemand saß da, ganz ähnlich wie sie selbst, eine grau gewandete, stille, schattenhafte Gestalt, die ein Stück weiter um den Baumstamm herum saß und sich bequem gegen einen niedrigen Bogen knorriger Wurzeln lehnte. Wer immer das war, hatte bei seiner Ankunft keinen Laut verursacht. Tualas Kopfhaut prickelte. War das einer vom Guten Volk, eines jener Wesen, die sie mitten in der Nacht auf Brideis Schwelle gelegt hatten? Zählte ein solches Wesen als ein Fremder? Während sie die Gestalt noch reglos anstarrte, drehte diese den Kopf, und Tuala sah, dass es eine alte Frau war, nicht mit einem faltigen Gesicht wie Wid, sondern mit kleinen, ausgeprägten Zügen, einer gekrümmten Nase und dunklen Augen wie polierte Obsidianperlen. Tuala hätte nicht sagen können, ob es sich um eine Menschenfrau oder etwas anderes handelte. Sie hielt ihr Versprechen an Brenna und sagte kein Wort. »Guten Morgen«, sagte die Fremde. Es schien irgendwie unhöflich, nur mit Schweigen zu reagieren. Tuala nickte. »Ein schöner Platz zum Lauschen; gut für dich, ihn gefunden zu haben. Und ein schöner Platz für eine Reisende, - 158 um ihre Füße ein wenig auszuruhen. Du hast doch nichts dagegen, wenn wir ihn uns eine Weile teilen?« Tuala schüttelte den Kopf. »Du bist vorsichtig«, stellte die Fremde fest. »Das verstehe ich. Ich möchte mich vorstellen. Ich heiße Fola. Ich bin nicht von deiner Art; das siehst du wohl. Aber du läufst trotzdem nicht weg.« Tualas Herz setzte beinahe aus. Nicht von deiner Art... das bedeutete, dass sie tatsächlich zum Waldvolk gehörte, diesen tückischen Geschöpfen, die einem einen kurzen Blick auf eine weiße Hand oder einen flatternden Flügel gewährten, einen Schatten eines spinnennetzfeinen Umhangs oder einen Schimmer silbernen Haars, und wenn man versuchte, genauer hinzusehen, waren sie weg, als hätte es sie nie gegeben. Aber nein, das war falsch. Sie selbst, Tuala, war aus dem Wald gekommen. Sie war diejenige, die anders war. Diese Frau, Fola, stammte aus der Menschenwelt und glaubte, über ein Kind des Guten Volkes gestolpert zu sein. Worte der Erklärung lagen Tuala auf den Lippen: Ich wohne bei Menschen. Ich wohne im Haus eines Druiden, aber sie schwieg. »Redest du heute nicht?«, fragte Fola ruhig. »Ich nehme allerdings an, dass du mich verstehen kannst. Ich habe viele interessante Dinge zu erzählen; das gehört zu meiner Arbeit - ich lehre die Jungen so viel Weisheit, wie ich kann. Die Welt verändert sich schnell. Dinge geraten leicht in Vergessenheit, wenn wir nicht an ihnen arbeiten.« Wieder nickte Tuala. Sie hatte etwas ganz Ähnliches von Bridei gehört. Er hatte ihr erzählt, dass im Süden viele Menschen die Rituale zu Ehren der Götter nicht mehr vollzogen; dass die Menschen die Weisheit der Ahnen vergaßen. »Hier im Wald erfährst du wahrscheinlich wenig von diesen Dingen«, fuhr Fola fort und verschränkte die kleinen Hände vor den Knien. Für eine erwachsene Frau war sie erstaunlich klein, klein genug, dass Tuala sich nicht fürchtete. - 159 Sie war selbst so viel kleiner als jeder andere in Pitnochie, selbst Bridei. »Die Geschichte ist kostbar, Rituale sind kostbar. Wenn man den Faden der Abstammung, wenn man die Geschichten verliert, driftet man ohne Identität einher. Wie alt bist du, Kind? Vielleicht ist das eine alberne Frage; ihr zählt die Zeit nicht, wie wir es tun.« Tuala hob eine Hand, fünf Finger, und den Daumen der anderen Hand. »Ah. Sechs Jahre alt. Ein hervorragendes Alter. Mit einem Ohr kannst du immer noch die Magie von Erde, Himmel und Meer in ihrer wahren, reinsten Form hören; mit dem anderen kannst du beginnen, eine konventionellere Art des Wissens zu lernen: Logik, Urteilsvermögen, Zahlen, Sprachen und Zeichen. Oder du würdest es jedenfalls tun, wenn du ein Menschenkind wärst und man dir die Möglichkeit dazu gäbe. Meine
jüngsten Schülerinnen sind nicht viel älter als du. Ich sehe, das interessiert dich; es lässt deine Augen blitzen. Du möchtest gerne lernen?« Tuala nickte heftig. Sie hatte die Hände jetzt fest gefaltet. Das hier war aufregend; sie konnte es kaum erwarten, Bridei davon zu erzählen. »Ach«, sagte Fola nachdenklich. »Wenn es doch nur unter uns einen Platz für eine von deiner Art gäbe, wie viel könnten wir lernen, sowohl du als auch ich ... aber ich würde so etwas selbstverständlich nie versuchen. Hab keine Angst. Es gibt nichts Grausameres, als ein Kind von allem wegzubringen, was es kennt und liebt, nur weil jemand das für das Beste hält. All meine Schülerinnen sind freiwillig zu mir gekommen. Man kann nicht lernen, wenn das Herz nicht dabei ist. Selbstverständlich gibt es Leute, die behaupten, Erziehung sei an ein Mädchen nur verschwendet.« »Das ist falsch!«, brach es aus Tuala heraus, denn dass Broichan ihre Wünsche so abgetan hatte, hatte eine Wunde gerissen, die noch nicht geheilt war. »Ich wollte lernen, und das hätte ich auch tun können - Erip und Wid hätten nichts - 160 dagegen gehabt -, aber er wollte mich nicht lassen!« Dann schloss sie schnell den Mund, aber es war zu spät. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen. Sie hatte mit einer Fremden geredet. Etwas an diesen Worten hatte eine Veränderung in Folas Blick bewirkt. »Wer hat dich nicht lernen lassen?«, fragte sie vorsichtig. »Komm, Kind, du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin ungefährlich.« »Broichan«, flüsterte Tuala. Fola schwieg einen Moment, und dann fragte sie: »Und wer ist dieser Broichan? Dein Vater?« Tuala schüttelte den Kopf. »Nein, er ist Brideis Pflegevater. Und Bridei erhält eine Erziehung, er verbringt den ganzen Tag damit, zu lernen, aber als ich gefragt habe, ob ich auch lernen könnte, wurde Broichan böse. Er sagte, ich brauchte nur zu wissen, wie man näht und kocht. Aber diese Dinge kann ich überhaupt nicht gut. Es ist ungerecht.« »Was kannst du denn gut?« »Ich kann nicht kämpfen oder Sport treiben. Bridei lernt das alles; er ist der beste Bogenschütze in Pitnochie. Aber ich kann gut reiten; Bridei hat es mir beigebracht. Und ich bin sicher, ich könnte lernen, wovon du gesprochen hast: Geschichte, Zahlen und Sprachen. Ich will nur dabeisitzen, wenn Erip und Wid Bridei unterrichten. Ich würde ganz still sein. Ich würde sie nie unterbrechen. Aber Broichan lässt mich nicht. Bridei versucht, mir Dinge beizubringen, aber er hat so viel zu tun, dass nie genug Zeit bleibt.« »Interessant«, sagte Fola. »Habe ich mich geirrt? Über das, was du bist?« Widerstrebend schüttelte Tuala den Kopf. »Und dennoch ist klar, dass du nicht hier im Wald lebst.« Wieder schüttelte Tuala den Kopf und erkannte, dass sie schon viel mehr gesagt hatte, als irgendwer wünschen konnte, wenn man von der alten Frau einmal absah. Vielleicht war diese Fola nicht, was sie sagte. Vielleicht war sie eine Fein- 161 din, die versuchte, eine Falle zu stellen. Hatte nicht jemand vor langer Zeit versucht, Bridei umzubringen? »Wie heißt du, Kind?« »Tuala.« Ein Name konnte jetzt kaum mehr etwas ändern. »Ein hervorragender Name, ein Name für eine Prinzessin. Dieser Broichan hat dich falsch eingeschätzt, glaube ich. Männer neigen dazu, selbst die intelligenteren. Und jetzt sag mir, wenn du in Pitnochie wohnst, was machst du dann ganz allein hier auf halbem Weg zu den Fünf Schwestern mitten im Wolfsland?« »Du bist auch ganz allein mitten im Wolfsland«, sagte Tuala. »Ich bin erwachsen und kann auf mich aufpassen. Ich bin nur den Göttern Rechenschaft schuldig«, sagte Fola leise. »Du bist, wie du selbst sagtest, sechs Jahre alt und nicht das wilde Wesen, für das ich dich zunächst gehalten habe, sondern du gehörst zum Haushalt eines Druiden. Sag mir, hat er dich weggeschickt?« Ein Nicken. »Ah ja. Das kann ich mir gut vorstellen. Du bist ihm peinlich. Er hat dich aufgenommen - so weit wollte er gegen die Regeln verstoßen -, aber es ist ihm zu viel, dass andere es erfahren. Typisch Mann; stets an Konventionen gebunden.« Eine Sache bedurfte der Verbesserung. »Broichan hat mich nicht aufgenommen. Es war Bridei. Die Leuchtende hat ihm gezeigt, wo er mich finden konnte.« Fola hörte aufmerksam zu. »Bridei«, sagte sie nachdenklich. »Der Junge?« Tuala nickte. »Er ist größer als ich«, sagte sie, »und er kann alles wirklich gut. Broichan sagt, ich wäre im Weg. Er sagt, ich störe seine Erziehung.« »Tatsächlich? Nun, vielleicht lag darin ein wenig Wahrheit. Ich nehme also an, dass du über Mittsommer wegbleibst?« »Woher weißt du das?«, fragte Tuala herausfordernd. »Und woher weißt du, dass Broichan ein Druide ist?« - 162 »Ich bin eine Weise Frau, Tuala. Es ist meine Aufgabe, Dinge zu wissen. Und jetzt«, sie stand auf und schüttelte ihren langen grauen Umhang aus, »muss ich mich wieder auf den Weg machen und hoffen, dass die Wölfe
keinen Hunger haben. Oh, ich habe hier etwas, das dir vielleicht gefallen wird. Wo steckt es nur?« Fola hatte ein Bündel dabei, ein großes Tuchbündel, das mit Schnüren gebunden war. »Da ist es«, sagte die Weise Frau, griff in eine Seitentasche und holte etwas Pelziges, Graues und eindeutig Lebendiges heraus. »Ich habe sie unterwegs gefunden. Ich habe schon eine Katze, und Schatten hat nichts für Eindringlinge übrig. Diese hier sollte zu dir passen; sie hat etwas sehr Unabhängiges an sich.« Tuala warf einen einzigen Blick auf das weiche Fell des Geschöpfs, auf die hübsche rosa Nase und die großen, seltsamen Augen, und war sofort verliebt. Sie streckte die Hände aus und zog das Kätzchen, das sich trotz seiner langen Gefangenschaft nicht wehrte, liebevoll an die Brust. Der Schwanz des kleinen Tierchens war wie eine Bürste, sein Haar lang und fedrig. »Sie ist keine Bauernkatze, sondern ein wildes Ding, ein Geschöpf des Waldes«, sagte Fola. »Ich denke, sie wird mit dir gehen, wie sie mit mir gegangen ist. Sie erkennt ihresgleichen. Und jetzt muss ich mich wieder auf den Weg machen; es ist noch weit nach Pitnochie.« Tuala, ganz versunken in dieses wunderbare, unerwartete Geschenk, brauchte einen Augenblick, um zu reagieren. »Pitnochie? Du gehst nach Pitnochie?« Fola nickte und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »In der Tat. Ich kenne deinen Druiden gut, aber ich muss diesen Jungen, seinen Pflegesohn, erst kennen lernen. Du allerdings warst wirklich eine Überraschung für mich. Soll ich jemandem in Pitnochie etwas von dir ausrichten?« Tuala hatte viele Botschaften. Für Bridei: Du fehlst mir. Ich vermisse die Geschichten. Für Broichan: Ich will wieder nach Hause. Aber keine davon konnte sie ausrichten lassen. Tuala - 163 balancierte das Kätzchen mit einer Hand, griff in den Beutel an ihrem Gürtel und holte ein Stück Band heraus, das einmal blau gefärbt gewesen, aber nun vollkommen ausgebleicht war. Ihr Haar hatte sich längst aus dem Zopf gelöst und hing ihr wild um die Schultern. »Könntest du das hier Bridei geben? Wenn Broichan nicht dabei ist? Es würde ihm nicht gefallen, wenn ich Botschaften schicke.« »Ich soll es ihm einfach geben?« »Und sag ihm, dass ich hier glücklich bin.« »Du würdest diesem Freund eine Botschaft schicken, die eine Lüge ist?«, fragte Fola. Plötzlich wirkte sie größer, und ihre Miene war streng, beinahe so streng wie die von Broichan. Tuala schwieg. Das Kätzchen an ihrer Brust fühlte sich warm und tröstlich an; sein Schnurren vibrierte durch seinen ganzen Körper und drang bis in den ihren. »Du bist überhaupt nicht glücklich hier; ein einziger Blick, und dein Freund könnte das erkennen. Du möchtest nicht kochen und nähen, du möchtest eine Gelehrte sein. Warum sagst du Dinge, die nicht stimmen?« »Ich will nicht, dass er sich Sorgen um mich macht«, erklärte Tuala ernst. »Nur weil ich traurig bin, braucht er nicht auch traurig zu sein. Und...« Nein, das würde sie um keinen Preis erwähnen. Sie durfte ihr nicht von ihrem Versprechen an Broichan erzählen, dem Versprechen, von dem ihre gesamte Zukunft in Pitnochie abhing. »Also gut«, sagte die Weise Frau, steckte das Band weg und lud sich das Bündel wieder auf den Rücken. »Ich werde ihm sagen, dass ich dich getroffen habe und dass du an ihn denkst und dich darauf freust, wieder nach Hause zu kommen. Das ist ein Kompromiss, und es ist ehrlich. Ich werde keine unwahren Botschaften ausrichten.« »Danke«, sagte Tuala, als Fola sich bückte und einen Stab aufhob, der unbeachtet neben den Eichenwurzeln gelegen - 164 hatte. Sie bemerkte, wie das Weidenholz sich hob, um in die Hand der Weisen Frau zu gleiten. »Ich danke dir für die Katze und für die Botschaft. Es tut mir Leid, dass ich ...« Sie brach ab, denn sie wusste nicht, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte. »Es tut dir Leid, dass du mir misstraut hast? Oder dass du mich für etwas anderes gehalten hast, als was ich bin? Dafür solltest du dich nicht entschuldigen, Tuala. Ein wenig Vorsicht ist stets angeraten. Außerdem habe ich ebenfalls zunächst einen falschen Eindruck von dir gehabt. Pass gut auf das kleine Geschöpf auf. Es ist von einer seltenen Art, und es könnte dir eines Tages gut zustatten kommen. Und nun lebe wohl. Möge die Leuchtende deinen Weg erhellen, Kind.« »Möge die Knochenmutter dich in ihren Händen halten«, erwiderte Tuala. Das Muster dieser alten Abschiedsworte gehörte zu den ersten Dingen, die Bridei ihr beigebracht hatte. Fola lächelte. »Ich hoffe, wir werden uns eines Tages wieder sehen.« »Ich auch«, flüsterte Tuala, aber sie wusste, wie unwahrscheinlich das war, solange ihre Zukunft in Broichans Händen lag. Das Kätzchen regte sich; Tuala schaute es an und streichelte seinen winzigen Kopf, und als sie wieder aufblickte, war die Weise Frau verschwunden, als wäre sie nie mehr als ein Traum gewesen. Von hoch oben in den Zweigen der Eiche hatten zwei Augenpaare dieses Gespräch sehr interessiert beobachtet. Ein Augenpaar war klar und leuchtend, die Besitzerin silberhaarig, in Spinnennetze gehüllt und eindeutig weiblich. Die anderen Augen waren rund und nussbraun und gehörten einem rotwangigen Jungen, der dicht belaubte Ranken und Farnwedel trug. Beide waren keine Menschen. »Sie wächst schnell«, stellte das Mädchen fest. »Sie ist stark, schlau und weise, wie zu erwarten war.«
- 165 »Das war eine interessante Begegnung«, stellte der Junge fest. »Sie könnte einmal nützlich sein. Es wird eine Zeit kommen, in der die Angst des Druiden vor dem Einfluss dieses Kindes sich über seine Loyalität gegenüber der Leuchtenden hinwegsetzt. Und die Weise Frau will das Mädchen haben. Sie sieht seine Kraft und erkennt sein Potenzial.« »Du gehst zu weit«, sagte das Mädchen und warf das glänzende Haar zurück. »Tuala ist noch ein Kind, und selbst Bridei ist noch sehr jung. Beide werden lange und streng geprüft werden. Die Berufung, die den Jungen erwartet, verlangt die größte Selbstdisziplin, tiefste Ergebenheit an die Götter und noch wichtiger, die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Er muss lernen, seinem eigenen Urteilsvermögen zu trauen.« »Tualas Rolle dabei wird ebenso schwierig sein«, sagte der Junge. »Sie ist unglücklich. Sie wird bereits geprüft, und nicht von uns.« »Das da?«, schnaubte das Mädchen. »Eine kleine Reise in Gesellschaft einer freundlichen Amme? Sei nicht so weich! Warte, bis dieses kleine Ding zur Frau wird; dann werden wir sie wirklich prüfen. Bridei muss sich des Vertrauens der Leuchtenden als würdig erweisen, und Tuala muss es an Kraft mit ihm aufnehmen können. Beiden steht Schweres bevor. Sie wurden auserwählt, und die Göttin erwartet nichts Geringeres, als dass sie all diese Prüfungen bestehen.« Der Junge schwieg eine Weile und ließ die Beine von seinem hohen Zweig baumeln. Tief drunten saß Tuala im Schneidersitz mit der kleinen Katze auf dem Schoß, eine winzige Gestalt zwischen den knorrigen Eichenwurzeln. »Mhm«, murmelte er. »Es wird eine Zeit kommen, wenn Broichan sie wieder wegschickt, und dann wird es keine Rückkehr geben. Bevor er stirbt, wird der Druide darüber noch heiße Tränen weinen.« Das Mädchen sah ihn mit blitzenden Augen an. »Du hältst ihn für so blind?« - 166 »In dieser einen Hinsicht ist er es. Er ist vollkommen auf Bridei konzentriert, darauf, ihn vorzubereiten.« »Also gut«, sagte das Mädchen. »Dafür ist nicht mehr allzu viel Zeit. Komm! Wir brauchen uns hier nicht mehr aufzuhalten. Tuala wird in den Wald zurückkehren, an die geheimen Orte. Sie kann nicht anders. Sie liegen ihr im Blut, ebenso wie uns. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. Der Ruf der Verwandtschaft ist unsere Möglichkeit, ihr Kraft zu geben.« »Mag sein«, sagte der Junge mit einem letzten Blick nach unten. Die kleine Gestalt kehrte zurück zu den Stechpalmen, ihren neuen Schatz liebevoll wiegend. »Komm!«, rief das Mädchen abermals, und mit einem Aufblitzen und einem Flattern silbriger Flügel waren die Boten der Leuchtenden verschwunden. - 167 KAPITEL FÜNF Wir sind also endlich alle beisammen«, sagte Broichan. Sie saßen zu fünft in seinem Zimmer, und Aniels Leibwächter Breth stand auf der anderen Seite der Tür. Dahinter hatte der Haushalt sich zur Ruhe begeben. Draußen schien der Mond auf eine Sommernacht murmelnder Vögel und leichter Brisen; die Leuchtende war noch einen oder zwei Tage von ihrer Vollendung entfernt, und die Sonnenwende stand kurz bevor. An diesem Abend hing Verschwörung in der Luft. Diese fünf hatten lange auf eine solche Beratung gewartet. »In der Tat.« Aniel saß am Eichentisch und hatte Pergament, Gänsefeder und Tintenfass vor sich. »Und wir sollten das Beste aus dieser Gelegenheit machen, denn zumindest ich werde von meinen Feinden scharf beobachtet, und ich weiß, für Broichan gilt das Gleiche. Sollte auch nur ein einziges Wort über unser Zusammentreffen an die falschen Ohren gelangen, könnte das gesamte Unternehmen in Gefahr sein, und Jahre der Anstrengung wären verschwendet. Ich bin immer noch der Ansicht, dass wir von einem viel früheren Stadium an in die Öffentlichkeit treten sollten, vielleicht am Hof und mit König Drusts öffentlicher Unterstützung.« »Wir wissen, dass du das denkst, Aniel.« Fola stand vor dem Feuer, ihre schlanke, aufrechte Gestalt von den Flammen umrissen. Der tadelnde Blick in ihren dunklen Augen - 169 war einer, den sie häufig mit vernichtender Wirkung bei ihren widerspenstigeren Schülerinnen anwandte. »Wenn du deine eigenen Worte ernst nehmen würdest, würdest du keine Zeit damit verschwenden, dich darüber auszulassen, wie die Dinge hätten sein können, und dich stattdessen auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren. Und ich kann dir versichern, ihr beiden habt die Gefahr nicht gepachtet. Ich bin immerhin die Lehrerin der Töchter der Mächtigen. Und nun sagt mir eins. Ich hatte noch keine Gelegenheit, den Jungen kennen zu lernen, weil ich so spät eingetroffen bin. Gebt mir euer Urteil, wenn ihr zu einem gelangt seid. Ist Broichans selbstzufriedene Miene gerechtfertigt?« »Immer gerade heraus, Fola«, sagte Talorgen mit leisem Lachen. »Nun, mir gefällt, was ich von dem jungen Bridei gesehen habe. Er spricht bereits wie ein Erwachsener, flüssig und dennoch umsichtig. Er weiß viel und hat keine Angst, sich in eine Debatte zu wagen, aber er kennt auch seine Grenzen. Und er kann ungewöhnlich gut mit einem Bogen umgehen.« Aniel lächelte kühl. »Er weiß, wann er gewinnen und wann er verlieren soll«, sagte er. »Ich glaube, mit der Zeit wird er sich zu einem jungen Mann entwickeln, der die Herzen der Menschen für sich gewinnen kann. Er ist noch jung; sein reifes Verhalten täuscht. In den nächsten Jahren werden seine Lektionen schwieriger sein. Die
Entscheidungen, denen er als Erwachsener gegenüberstehen wird, werden ihn schwer belasten; er muss die Kraft entwickeln, sie gefasst zu fällen.« Draußen stieß ein Vogel einen hohen, widerhallenden Ruf aus, als er über den Wald flog. Das Feuer spuckte, und Fola trat beiseite, damit die Wärme die Männer erreichte, denn selbst in dieser Sommernacht war es in Broichans Zimmer eher kühl. »Uist?« Fola zog fragend die Brauen hoch. Der alte Druide stand am Fenster und starrte durch den schmalen Schlitz nach draußen, als könnte er nur überle- 170 ben, wenn zumindest ein Teil von ihm immer noch frei von der Einengung menschlicher Behausungen, von Stein und Strohdach war. Als er sich ihnen wieder zuwandte, war sein Blick vage und unkonzentriert. »Es ist ein schwerer Weg für einen braven Jungen«, sagte er leise. »Ein Weg mit vielen Wendungen, mit Messern im Rücken, mit falschen Freunden und ungetreuen Verbündeten. Schlichte Ehrlichkeit, ein nobles Ziel, scharfsinniges Denken und Mitgefühl werden ihn relativ weit bringen. Der Junge kennt die alten Mächte, liebt und achtet sie. Dafür werden die Menschen ihn ehren. Sie werden zu ihm strömen, um ihm zu folgen. Das sollte euch freuen; es wird uns die Ergebnisse verschaffen, die wir in all diesen Jahren geplant haben. Aber Bridei wird dafür zahlen. Ich sehe, dass ihm eine Entscheidung bevorsteht, die auch den stärksten Mann in ganz Fortriu brechen würde. Vergesst das nicht, denn wenn das geschieht, wird er jeden Freund brauchen können.« Uist wandte sich wieder dem Fenster zu; ein Schauer kleiner Partikel löste sich von seiner Kleidung und rieselte auf den gut gefegten Boden des Zimmers. »Mein Pflegesohn wird stark genug für jede Entscheidung sein.« Broichans Stimme war tief und sicher. Uist widersprach ihm nicht. Nach einiger Zeit erhob Talorgen noch einmal die Stimme. »Mittsommer wird eine Prüfung sein. Die Götter zeigen uns vielleicht, ob der Junge der Zukunft würdig ist, die wir für ihn vorgesehen haben. Es wird viele Bewerber gegeben, wenn es so weit ist. Wenn wir sicher sind, dass Bridei der Richtige ist, müssen wir planen, was als Nächstes geschehen soll. Seine Erziehung war vernünftig, das wird bei jedem Wort, das er sagt, deutlich. Aber der Junge braucht jetzt mehr Gelegenheit...« »Seine Erziehung liegt in meinen Händen.« Broichans Tonfall gestattete keine Herausforderung. »Darüber waren wir uns einig, als wir uns entschieden, diesen Weg zu gehen. - 171 Es ist an mir festzulegen, welche Gelegenheiten Bridei erhält und wann.« »Talorgen hat nicht Unrecht«, sagte Aniel und sah Broichan an. »Du hast den Jungen hier lange genug verborgen, und du hörst dich beinahe an, als wäre dies deine persönliche Angelegenheit. Wir sind ein Rat von fünfen. Keiner von uns sollte das aus den Augen verlieren. Wir teilen die Verantwortung; wir teilen die guten oder schlechten Konsequenzen unseres Plans. Der Junge muss lernen, selbst zu denken. Donal sagt mir, dass Bridei nie auch nur in den Siedlungen am See war, nicht zu reden von Anwesen, in denen es andere Jungen seines Alters und seines Rangs gibt. Das wird er brauchen, wenn er ein Anführer sein soll. Du erziehst hier keinen Druiden, mein Freund, sondern einen König.« Das Wort blieb lange in der Luft hängen, voller Hoffnung und Gefahr. »Außerdem«, sagte Fola schließlich forsch, »muss er sich irgendwann bei Hof sehen lassen. Wenn nicht jetzt, so doch sicherlich in den nächsten Jahren. Er muss Drust bald vorgestellt werden. Die Gunst des Königs jetzt zu erwerben, kann Brideis Chancen später nur erhöhen. Es gibt andere junge Männer, die dem König näher verwandt sind. Carnach von Dornenband zum Beispiel. Mit einem unbekannten Kandidaten werden wir nicht weit kommen, so geeignet er auch sein mag.« »Kommt«, sagte Broichan, »wir wollen uns setzen und diesen Met miteinander trinken. Und ihr sagt mir ehrlich, was ihr denkt.« Es war der Berater des Königs, den er beobachtete, Aniel mit seinem vorsichtigen Blick und der zurückhaltenden Miene. »Wie lange haben wir noch? Weitere fünf Jahre? Sieben?« Aniel räusperte sich. »Wir müssen hoffen, dass es mindestens so viele sind«, sagte er, »oder dieser Junge, so geeignet er auch ist, wird einfach zu jung sein. Die Gesundheit - 172 des Königs lässt zu wünschen übrig; er neigt zu Erkältungen, und er hat Beschwerden beim Atmen. Dennoch, wenn nichts Ungünstiges geschieht, könnte er weitere sieben Jahre leben. Mehr, wenn die Götter uns wohlgesonnen sind.« »Wir sollten darum beten«, sagte Fola. Sie wandte Broichan ihren klugen Blick zu, und der Druide sah sie aus dunklen, undurchschaubaren Augen an. »Drust braucht dich am Hof, alter Freund«, fuhr die Weise Frau fort. »Er vermisst deine weisen Urteile, deine stets zutreffenden Ratschläge.« »Es gibt andere, die ihn anleiten können«, sagte Broichan entschlossen. »Aniel an vorderster Stelle; wer wäre besser geeignet? Drust kommt ohne mich zurecht.« »Es fiele ihm leichter, die einzelnen Fraktionen unter Kontrolle zu behalten und an der Front im Westen wirklich voranzukommen, wenn du an seiner Seite wärst«, stellte Aniel fest. »Er vertraut dir; das hat er immer getan, denn er weiß, dass deine Macht von den Göttern kommt. Mich toleriert er nur.« »Dann musst du daran arbeiten, seine Haltung zu ändern.« In Broichans Tonfall lag nun eine Spur von Schärfe, und Aniel kniff die Lippen zusammen. »Ich habe geschworen, dieser Aufgabe fünfzehn Jahre meines Lebens zu
widmen, und genau das werde ich tun, und mehr, wenn es sein muss. Drusts Befürchtungen sind eine Sache. Aber heute Abend sprechen wir von der Zukunft Fortrius, von nichts weniger als dem Überleben unseres Volkes.« »Gut gesprochen«, bemerkte Talorgen, »aber das alles wird nichts nützen, wenn die Gälen sich in zwei, vier oder fünf Jahren sammeln, um zuzuschlagen. Wie lange können wir auf unseren neuen König warten, wenn der alte langsam schwächer wird und unsere Feinde näher kommen? Deine Anwesenheit am Hof würde Drust neuen Mut geben. Dein Einfluss könnte vielleicht dazu führen, dass Circinn sich wieder an den Ratstisch setzt. Du würdest ein sichtbares Hindernis für alle darstellen, die die Herrschaft des Königs - 173 schwächen und die besten Möglichkeiten für sich selbst nutzen wollen. Der Junge könnte mit dir nach Caer Pridne kommen. Ich verstehe, dass er Schutz braucht, aber dafür könnten wir sorgen.« »Schutz hat das Gift nicht von meinen Lippen fern gehalten, als ich mich zum letzten Mal an den Hof von Drust dem Stier wagte. Schutz hat die Attentäter nicht davon abgehalten, in meinen Wald einzudringen. Ich habe nun bessere Vorkehrungen getroffen, aber wir sprechen hier über Angelegenheiten von großer Tragweite, und die Zeiten sind gefährlich. Bridei ist jung, jung und unschuldig. Er weiß nicht, was wir für ihn geplant haben; ich habe die wahre Identität seiner Mutter vor ihm verborgen. Er wird besser lernen können, wenn die schwere Last unserer Erwartungen nicht auf seinen Schultern liegt. Es ist nicht ratsam, ihn den Gefahren des Hofes auszusetzen; glaubt mir das.« Nun sahen ihn alle an. »Was ich tatsächlich glaube«, sagte Aniel recht spitz, »ist, was bisher unglaublich war: dass Broichan, der immer so distanziert war, seinen Pflegesohn lieb gewonnen hat und ihn einfach noch ein bisschen länger zu Hause behalten möchte. Solch weiche Gedanken könnten gefährlich sein, mein lieber Druide; sie könnten in den Weg unserer gemeinsamen Ziele geraten.« »Kommt schon«, sagte Uist, ohne sich umzudrehen. »Wir können uns keine Streitigkeiten leisten. Fola, du schlägst einen Kompromiss vor. Dann stimmen wir dem zu, und danach sollten die Götter ein für alle Mal die Entscheidung für uns treffen.« Fola faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Also gut«, sagte sie. »Er bleibt noch ein paar Jahre hier, denn du hast Recht, er ist immer noch jung. Aber von nun an erlaubst du Besucher. Vielleicht können Talorgens Kinder einen Sommer hier verbringen. Das wäre sicher ungefährlich. Und du lässt Bridei ein bisschen mehr nach draußen, mit angemessenem - 174 Schutz. Ein Junge sollte die Dorffeste erleben und ein wenig gute Musik und gute Gesellschaft genießen können. Die schwarze Krähe allein weiß, was für ein Familienleben du dem Jungen geboten hast - ein bedauernswertes Kind allein in diesem Haushalt voll säuerlicher Diener. Brideis Mutter wäre entsetzt. Es muss schwer genug für sie gewesen sein, sich von ihm zu trennen. Anfreda hat immer verstanden, wie wichtig der Glaube ist, welche Rolle die Macht des alten Wegs bei einer möglichen Vereinigung der Priteni und der Aufrechterhaltung der Kraft unseres Volkes spielt. Sie hat uns den Sohn gegeben, der am besten geeignet schien, die große Aufgabe zu erfüllen, die vor uns liegt: den weisesten, den stärksten, den, in dem ihr eigenes Blut am reinsten floss. Aber sie ist eine Mutter; es muss ihr schrecklich wehgetan haben, ihn wegzuschicken. Sie glaubte, dass er zusammen mit anderen Kindern aufwachsen würde, sonst hätte sie ihn uns niemals überlassen.« Broichan schwieg. »In einem oder zwei Jahren wirst du ihn zu Talorgen nach Rabenbrunn schicken«, fuhr die Weise Frau fort. »Er wird bis dahin ein junger Mann sein und einige Zeit im Haushalt eines Kriegsführers verbringen müssen. Dreseida ist eine Verwandte seiner Mutter; sie wird ihn sicher gern aufnehmen. Bis dahin wirst du ihm von seiner Abstammung und seinem Schicksal erzählt haben. Von dann an kann Talorgen ihn zusammen mit seinen eigenen Söhnen bei Hof vorstellen. Auf diese Weise wird der Junge nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen. Er wird selbstverständlich auch einige Zeit hier verbringen. Erip und Wid sind als Lehrer nicht zu übertreffen. Ich weiß nicht, wie du diese beiden alten Gauner aus ihrem selbst auferlegten Exil gelockt hast, aber du hättest es nicht besser machen können.« Broichan starrte ins Feuer, als hätte er sie nicht gehört. »Du machst dir Sorgen«, sagte Talorgen. »Bewaffne ihn mit Wissen und Fähigkeiten. Und gib ihm auch gute Leibwäch- 175 ter. Donal ist der Beste; er wird den Jungen begleiten. Ich werde andere liefern, selbstverständlich diskret. Er wird in Caer Pridne einfach als der Freund meines Sohns vorgestellt werden. Auf diese Weise können wir, denke ich, unnötige Aufmerksamkeit vermeiden.« »Wenn wir wüssten, welche Feinde wir fürchten und welche wir nur im Auge behalten müssen, wäre alles erheblich einfacher. Wenn der Zeitpunkt kommt, wird es mehrere wahrscheinliche Kandidaten für den Thron geben. Alle werden ihre Verbündeten haben. Alle werden verwundbar sein.« »Das liegt weit in der Zukunft«, sagte Fola. »Wir haben noch viel Zeit zum Planen. Und, sind wir uns einig?« »Lasst uns bis zur Sonnenwende warten.« Falls Broichan einen Augenblick unsicher gewesen war, war das nun vorbei; sein Tonfall war so bestimmend wie eh und je. »Wenn die Götter sprechen, wenn sie bestätigen, was wir
für wahr halten, dann soll es so sein, wie ihr sagt.« »Und wenn nicht?« Aniel zog fragend die Brauen hoch. »Wenn nicht, dann werde ich ihn zu seinem Vater nach Gwynedd zurückschicken«, sagte Broichan, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und nun wollen wir uns zurückziehen; wir können uns morgen weiter unterhalten. Wenn ich mich recht erinnere, hat Talorgen sich zu einem Morgenritt verpflichtet. Mein Pflegesohn sorgt dafür, dass er beschäftigt ist. Gute Nacht, meine Freunde; möge die Leuchtende über eure Träume wachen.« Die Männer verabschiedeten sich nacheinander höflich. Fola jedoch blieb am Eichentisch sitzen, und als er ihren Blick sah, schloss Broichan die Tür hinter den anderen und setzte sich der Weisen Frau gegenüber. »Nun?«, fragte er. »Habe ich dich auf irgendeine Weise verärgert?« Folas Miene legte nahe, dass ihm ein Verhör bevorstand. »Verärgert? Nein, alter Freund. Aber du hast der Überraschung, die ich auf meinem Weg hierher ins Tal hatte, eine - 176 weitere hinzugefügt. Es gab heute Abend Bemerkungen darüber, wie isoliert Bridei aufgewachsen ist und dass er in einem Haushalt voll erwachsener Männer und Frauen keine Gesellschaft hat.« »Und?« »Das stimmt nicht, nicht wahr?«, sagte die Weise Frau, goss sich Met ein und füllte auch einen Kelch für den Druiden. »Es gibt nicht nur ein Kind in der Festung des rätselhaften und mächtigen Broichan, einstmals königlicher Magier und Berater. Es gibt zwei.« Broichan runzelte kaum wahrnehmbar die Stirn. Er sagte kein Wort. »Wie ist sie hierher gekommen?«, fragte Fola sanfter. »Ich habe eine kleine Geschichte über den Mond und die Wintersonnenwende gehört.« »Wer hat dir das erzählt?« Sein Ton war eisig. »Das ist unwichtig. Du schuldest mir eine Antwort. Brideis Erziehung ist nicht nur dein Privileg, so sehr dein Bedürfnis, alles selbst in der Hand zu haben, dich auch beherrschen mag, mein Freund. Die Götter haben diese Aufgabe uns allen übertragen. Und die Mitglieder unseres Rats lügen einander nicht an.« »Das habe ich auch nicht getan.« »Du hast uns die Wahrheit vorenthalten. Das ist das Gleiche. Das hier ist eine Angelegenheit, die die Zukunft des Jungen beeinträchtigen könnte. Du hättest es uns sagen müssen. Sie ist seit sechs Jahren hier, nehme ich an. Warum hast du sie behalten? Sentimentalität war nie Teil deines Wesens, und Mitgefühl gehört nicht zu deinen ausgeprägteren Eigenschaften.« Der Druide gestattete sich ein eisiges Lächeln. »Du bist wie immer sehr ehrlich, Fola.« »Ich sehe keine Notwendigkeit, dir gegenüber zurückhaltend zu sein. Du bist stark genug, die Wahrheit zu hören.« - 177 »Sag mir, wie du von dem Kind, dem Mädchen, erfahren hast. Sie ist jetzt nicht hier. Du kannst sie nicht gesehen haben.« »Du hast doch nicht etwa vor zu feilschen? Ein Austausch von Informationen, Stück für Stück?« Fola zog die Brauen in gekünsteltem Staunen hoch. »Würde ich so etwas wagen, wenn Fola ihren missbilligenden Blick auf mich richtet? Es war nur eine Bitte. Mein Haushalt hat in dieser Sache Geheimhaltung geschworen, wie auch in vielen anderen Dingen. Ich muss wissen, wer dieses Versprechen gebrochen hat. Es gibt in Pitnochie keinen Platz für Ungehorsam.« »Gilt diese Regel auch für Kinder?«, fragte Fola unbeschwert. »Alle müssen gehorchen. Es gibt keinen Bruch der Disziplin ...« Broichan hielt inne. »Was sagst du da? Bist du dem Mädchen selbst begegnet? Hat Tuala mit dir gesprochen?« »Tuala, sechs Jahre alt und dabei, mit bemerkenswerter Kraft gegen ihr Heimweh anzukämpfen«, sagte die Weise Frau und verschränkte die Arme auf dem Tisch. »Ich bin direkt an der Stelle vorbeigekommen, wo du sie hingeschickt hast, damit wir sie nicht sehen. Sie wollte ihr Versprechen nicht brechen, Broichan. Sie hat grimmig geschwiegen; es war nicht einfach, die Geschichte aus ihr herauszuholen.« »Sie wird ihre Strafe erhalten«, sagte der Druide ruhig. »Ihr Platz in meinem Haushalt ist gefährdet genug; das Kind mag klein sein, aber es versteht, worin die Strafe für Ungehorsam besteht.« »Und welche Strafe ist das?« Folas Tonfall zeigte nicht, was sie dachte. »Sie kann nicht länger in diesem Haushalt bleiben, wenn sie sich nicht an die Regeln hält.« »Und wohin willst du sie schicken?« Broichan runzelte die Stirn. »Du hast zweifellos gesehen, was sie ist. Die Geschichte stimmt: Das Kind wurde zu Mitt- 178 winter auf meine Schwelle gelegt, unter dem Vollmond. Bridei wachte auf und holte sie herein; er glaubt, dass die Leuchtende ihm dieses Kind anvertraut hat, dass es ein Geschenk der Göttin an uns war. Er hat meinen Haushalt mit schlichter Herdmagie auf seine Seite gezogen. Als ich aus Caer Pridne zurückkehrte, war sie das schlagende Herz des Hauses, und es war unmöglich, sie wegzuschicken.« »Ein Problem«, stellte Fola ruhig fest. »Komm, trink deinen Met und hör auf, so mürrisch zu sein. Ich verstehe deine Gefühle und deine Schwierigkeiten. Ich war nicht umsonst all diese Jahre Lehrerin junger Frauen. Mir ist
klar, dass das Mädchen große Zuneigung zu Bridei empfindet, und er verspürt zweifellos das Gleiche, basierend auf seiner Überzeugung, dass die Geister ihn zu ihrem Beschützer gemacht haben. Dass du ihm die Gesellschaft anderer Kinder vorenthalten hast, hat die Verbindung zweifellos noch gestärkt. Sie betrachten sich als Bruder und Schwester; sie brauchen einander, da sie beide keine Familie hatten.« »Als sein Pflegevater habe ich mein Bestes getan, den Jungen anzuleiten und zu unterstützen.« Broichans Stimme war angespannt. »Er hat die besten Lehrer und einen Haushalt, in dem all seine täglichen Bedürfnisse befriedigt werden.« »Wie traurig«, stellte Fola fest, »dass du das für ausreichend hältst. Warum hast du Tuala weggeschickt? Sie scheint ein stilles, höfliches Kind zu sein, das kaum stören würde, nicht einmal in Gesellschaft von vier Furcht erregenden Fremden.« »Komm schon, das ist ein wenig hinterhältig. Sie ist, was sie ist. Und darin besteht das Dilemma. Ich muss die Götter respektieren; ich kann mich nicht gegen die Leuchtende stellen, falls Brideis Theorie korrekt sein sollte. Ich habe ihm beigebracht, alles Leben zu achten und alle Wesen als Teil eines verflochtenen Ganzen zu betrachten. Also ist Tuala geblieben. Eine Kleinigkeit, wäre Bridei mein wahrer Sohn und für ein Leben als Magier oder Krieger bestimmt. Aber er ist - 179 nicht mein Sohn. Er ist der Sohn einer Prinzessin der Priteni, und sein Schicksal besteht darin, unser Volk anzuführen, wie es ein wahrer König tun sollte. Er ist unser auserwählter Kandidat. Was, glaubst du, hat es Anfreda gekostet, uns einen ihrer Söhne für diesen Zweck zu versprechen, noch bevor sie Fortriu verließ, um in einem fremden Land zu leben? Jeder Schritt von Brideis Weg ist geplant; jede Wendung dieses Wegs muss kontrolliert werden. Wenn seine Zukunft nicht von unserem Rat der fünf gelenkt wird, wird alles zerstört, und unsere traurige Heimat wird nie im alten Glauben vereint werden. Ich stimme zu, dieses kleine Mädchen wirkt harmlos. Aber sie ist das einzige unberechenbare Element in diesem Unternehmen, der einzige kleine Faktor, den wir nicht beherrschen können. Du weißt, wie launenhaft das Gute Volk ist. Wir können es uns wirklich nicht leisten, dass eine von ihnen sich in unsere Pläne mischt wie ein verzogener, verdrehter Faden in einem großen, perfekten Wandbehang.« »Dennoch«, sagte Fola ausdruckslos, »du kannst sie nirgendwo hinschicken. Wer würde sie aufnehmen? Wie kannst du sie verbannen, ohne das Vertrauen der Leuchtenden zu verlieren? Wie kannst du sie ausstoßen, ohne die Liebe und den Respekt deines Pflegesohns für immer zu verlieren? Kein Wunder, dass du so mürrisch dreinschaust.« »Ich spüre Gefahr in diesem Kind. Sie ist nur ein winziges Ding, aber sie verfügt über eine Kraft, die man ihr zunächst nicht zutraut. Sie fürchtet mich und misstraut mir, das ist ihr deutlich anzumerken. Es kommt mir so vor, als wartete sie nur darauf, sich wie ein wildes Tier umzudrehen, um die Hand zu beißen, die sie füttert. Ein solches Geschöpf könnte unsere Pläne untergraben. Wenn sie unangemessenen Einfluss auf Bridei nimmt, könnte sie ihn von seinem Plan ablenken.« »Vielleicht langweilt sie sich«, spekulierte Fola. - 180 »Langweilen?« In der Stimme des Druiden lag unendlicher Unglaube. »Unmöglich. Niemand hat hier Zeit, untätig zu sein.« Fola sah ihn an. »Mein Lieber«, sagte sie. »Ich verspüre so etwas wie Mitleid für Bridei, und noch mehr für Tuala, denn all dein Gerede von wilden Tieren und Beißen sagt mir, dass du überhaupt nicht verstehst, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Warst du nie jung? Hast zu vergessen, wie es sich anfühlt, außen vor zu stehen, einsam zu sein, nicht zu erhalten, was anderen gegeben wird? Oder bist du schon erwachsen und kompetent zur Welt gekommen und konntest sofort mit allem zurechtkommen, was sich dir entgegenstellte?« Broichan antwortete nicht. »Ich habe etwas gegen Feilschen und Kuhhandel.« Die Weise Frau trank den Rest ihres Mets. »Dennoch, ich glaube, ich kann dir einen Handel anbieten, der dir dabei hilft, dein Dilemma zu lösen, und außerdem meine Sorgen darüber, wie diese Kinder aufwachsen, beruhigen wird.« »Sag es mir.« Fola stand auf. »Noch nicht. Zuerst möchte ich den Jungen kennen lernen und sehen, ob mich meine Intuition nicht täuscht. Und ich werde warten bis nach dem Sonnenwendritual. Das wird uns vielleicht die Antworten der Götter geben. Danach werde ich wieder mit dir darüber sprechen.« »Hast du vor, in der Zwischenzeit mit den anderen darüber zu reden? Ihre gelehrten Meinungen über meine Mängel als Pflegevater einzuholen?« Fola hielt inne, bevor sie antwortete. »Das hat dich gekränkt. Verzeih mir, ich hätte nie gedacht, dass du so zu treffen wärst, alter Freund. Im Augenblick soll diese Sache unter uns bleiben. Und was deine Mängel angeht, das kann ich erst beurteilen, wenn ich mit Bridei gesprochen habe.« Es war ein angenehmer Morgen gewesen. Er war mit Donal, Talorgen und Aniels zweitem Leibwächter, der Garth hieß, zur - 181 Adlernarbe geritten, und auf dem Rückweg hatten sie ein Rennen veranstaltet, bei dem Bridei und Blesse sich gut geschlagen hatten. Talorgen hatte auf seiner untersetzten Stute mit den kräftigen Beinen gewonnen. Dann
hatten Erip und Wid ihn über den Gebrauch von Verwandtschaftszeichen belehrt, und während des Unterrichts waren sowohl Berater Aniel als auch der wilde Druide Uist hereingekommen, um zuzuhören. Beide hatten nicht lange schweigen können, und viele Theorien und Widersprüche hatten diese Unterrichtsstunde zu einer der besten gemacht, an die Bridei sich erinnern konnte. Danach hatte er sich entschuldigt und war zu den Eichen gegangen, um eine Weile allein zu sein. Es kam ihm richtig vor, selbst wenn Tuala nicht da war und erst nach der Sonnenwende zurückkehren würde. Wenn er still an ihrem Lieblingsplatz saß, dachte Bridei, würde sie vielleicht seine Nähe spüren, auch wenn sie am Eichenhügel war, so weit drunten im Tal. Die Magie von Orten funktionierte auf diese Weise. Die Knochenmutter hielt das ganze Land zusammen; ihr Körper war das Land, stützte und vereinte das Leben, das darauf wuchs. Wenn er hier zwischen den Eichenwurzeln saß, so, als wäre er Tuala selbst, und daran dachte, wie der Baum sich nach unten streckte, zum Kern der Erde, konnten seine Gedanken vielleicht von einem Teil des Körpers der Knochenmutter zum anderen wandern, von Pitnochie zu einem kleinen, sicheren Ort im Wald, an dem Tuala saß und dachte und träumte. Alles ist in Ordnung, sagte er ihr in Gedanken. Du wirst bald wieder nach Hause kommen. Er schloss die Augen und sah ihr kleines, ängstliches Gesicht, ihre großen seltsamen Augen. »Ich scheine öfter junge Personen unter Bäumen zu finden«, sagte eine muntere Stimme. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Bridei, nicht wahr? Ich bin gestern Abend zu spät eingetroffen, um dich zu begrüßen.« Bridei sprang auf, wischte sich die Erde von der Kleidung und nickte der alten Frau, die vor ihm stand, höflich zu. »Tut - 182 mir Leid«, sagte er. »Ich habe dich nicht kommen sehen. Ja, ich bin Bridei.« »Und ich heiße Fola; ich erspare dir die Verlegenheit, fragen zu müssen. Normalerweise findet man mich in Banmerren, wo ich eine Art Schule leite, in der junge Frauen die Wege der Göttin in all ihren Gestalten kennen lernen. Ich habe eine Botschaft für dich.« Sie zog ein viel benutztes Band heraus, das einmal blau gewesen war, und legte es in seine Hand. »Oh.« Er erkannte es sofort; er hatte diesen Zopf öfter neu gebunden, als er zählen konnte. »Bist du am Eichenhügel vorbeigekommen?« »Mein Weg hat mich durch diesen Teil des Tals geführt, ja.« »Geht es Tuala gut?« »Selbstverständlich. Warum sollte es ihr nicht gut gehen?« Darauf gab es mehrere mögliche Antworten: Weil sie klein ist, weil sie nicht weggehen wollte, weil sie Angst vor Broichan hat. Weil sie ohne ihre Gute-Nacht-Geschichte nicht einschlafen kann. »Es ist weit weg«, sagte Bridei. Fola lächelte. »Du bist von einem Mann ausgebildet worden, der sehr begabt ist, wenn es darum geht, Fragen nicht zu beantworten«, stellte sie fest. »Deine Schwester war bei guter Gesundheit. Du hast ihr gefehlt, obwohl sie das nicht ausgesprochen hat. Ich glaube, sie wird froh sein, nach Pitnochie zurückzukehren.« Bridei nickte und steckte das Band in die Tasche. »Sie ist nicht wirklich meine Schwester«, sagte er. »Nein.« »Nicht genau. Wir sind beide Broichans Pflegekinder.« Fola lächelte. »Ich bezweifle sehr, dass Broichan das so ausdrücken würde«, bemerkte sie. Bridei schwieg. Das war vermutlich eine weitere Prüfung; eine schwierigere, denn bei dieser alten Frau mit der Hakennase und den klaren Augen ließ sich schwer feststellen, - 183 was die richtigen Antworten waren. Eins war jedoch sicher: Er würde keine Kritik an seinem Pflegevater zulassen, selbst wenn Broichan Tuala weggeschickt hatte. »Vielleicht nicht«, sagte er vorsichtig. »Aber wir sind es dennoch. Ich wurde von meinem Vater hierher geschickt, um erzogen zu werden. Tuala wurde von der Leuchtenden selbst gesandt.« »Um erzogen zu werden?« »Zu einem Zweck«, sagte Bridei. »Und ich versuche, ihr etwas beizubringen. Sie kann jetzt bis fünfzig zählen; sie weiß schon einiges über Rituale und kennt viele Geschichten. Aber ich habe nicht viel Zeit dazu.« »Ich werde mit Broichan sprechen«, sagte Fola knapp. »Diese Situation ist lächerlich. Sie muss am Unterricht teilhaben. Vieles davon wird sie nicht verstehen, aber sie wird aufnehmen, was sie kann.« Ihre Selbstsicherheit war beeindruckend. Bridei zweifelte gewaltig daran, dass man Broichan dazu bringen konnte, diesem Vorschlag zuzustimmen, aber er sprach es nicht aus. »Das würde ihr gefallen.« »Ich weiß. Und nun sag mir eins, Bridei. Ich kenne die Geschichte, wie du sie gefunden hast. Ich weiß, dass du ihren Hintergrund verstehst, wer sie ist und wo sie herkommt, aber ich bin nicht sicher, ob du begreifst, wie schwierig das einmal für sie werden könnte. Denk darüber nach. Denk daran, wie es sein wird, wenn du erwachsen bist und Tuala auch. Denk an die Welt, in der ihr beiden leben werdet. Was wird sie tun? Wie wird ihr Leben aussehen?« Bridei wusste nicht so recht, was die Weise Frau meinte. »Hier in Pitnochie haben sie alle gern.« Dieser Teil stimmte nicht ganz. Man konnte im Zusammenhang mit Broichan nicht von »Gernhaben« sprechen. »Sie ist hier glücklich. Sie gehört hierher.«
»Du wirst nicht immer hier leben, Bridei. Eines Tages wirst du ein Mann sein, deiner eigenen Berufung folgen und dei- 184 ne eigenen Wege gehen. Es scheint mir, dass du für dieses kleine Mädchen den Mittelpunkt ihres Lebens darstellst. Wo wird sie ohne dich sein? Die Menschen misstrauen dem Guten Volk. Tuala wird in der Welt dort draußen nicht immer auf Freundlichkeit stoßen.« »Wie meinst du das?«, fragte Bridei verblüfft. »Bist du ebenfalls der Ansicht, ich hätte sie im Schnee lassen sollen? Ich werde mir das nicht anhören, ich ...« Plötzlich war er zornig. »Ich sage dir überhaupt nichts«, warf Fola rasch ein. »Nimm meine Frage als das, was sie ist. Es liegt keine Lektion darin und kein Urteil. Ich will nur, dass du nachdenkst und mir dann antwortest.« Bridei zwang sich, in einem Muster zu atmen, bis der Zorn vorüber war. Er zwang sich, der Weisen Frau direkt in die dunklen, durchdringenden Augen zu schauen. »Tuala ist stark«, sagte er. »Sie wird ihren eigenen Weg finden. Ihr Leben kann alles sein, was sie will.« »Und du?« »Ich? Ich werde ihr helfen und sie beschützen und dafür sorgen, dass sie nicht einsam ist. Wie ein Bruder, obwohl ich nicht wirklich ihr Bruder bin.« »Ich verstehe. Aber was ist mit deinem eigenen Leben? Was, wenn dein Weg dich weit weg führt und du diese Verantwortung gegenüber einer kleinen Schwester, die nicht wirklich deine Schwester ist, nicht erfüllen kannst?« Bridei runzelte die Stirn. »Mein Pflegevater hat mir noch nicht gesagt, was er für mich geplant hat. Selbstverständlich werde ich eine Weile weggehen müssen - Talorgen sagt, ich könnte nach Rabenbrunn kommen -, aber Tuala wird dann schon größer sein. Und wenn wir erwachsen sind, können wir unser eigenes Haus haben. Es müsste nahe dem Wald sein; Tuala braucht Bäume in der Nähe.« »Mhm«, sagte Fola, und um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Die meiste Zeit neigt man dazu, zu vergessen, wie - 185 jung du bist, Bridei. Broichan hat dir beigebracht, wie ein Gelehrter zu sprechen und auch wie einer zuzuhören. Nur hin und wieder erkenne ich den Jungen dahinter und sehe, dass du tatsächlich noch genau das bist: ein Junge. Sag mir, was willst du denn sein? Welche Zukunft wünschst du dir für dich?« Die einzige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, war die Wahrheit. »Ich möchte die Königreiche der Priteni wieder zusammenbringen«, sagte Bridei schlicht. »Ich möchte Circinn wieder zu einem Teil von Fortriu machen. Ich möchte, dass die Menschen sich wieder dem alten Glauben anschließen, sodass wir alle die Ahnen ehren, wie es sich gehört. Und ich möchte die Galen vertreiben und dem Land den Frieden bringen. Das möchte ich tun.« »Ist das alles?« Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass sie scherzte. Er spürte, wie er rot anlief. »Es hört sich wohl ziemlich vermessen an; ich meine, wie kann ich auch nur hoffen, einen Anfang zu finden? Es ist eine Aufgabe für einen großen Anführer. Ich verstehe, warum du über mich lachst. Aber du hast gefragt, und ich habe dir eine ehrliche Antwort gegeben. Jeder Mann und jede Frau in Fortriu sollte diesen Ehrgeiz haben, im Herzen und im Kopf. Wir sollten alle danach streben.« Fola nickte. »Ich habe dich nicht ausgelacht, Sohn«, sagte sie. »Ich begrüße deinen Mut und deine Ideale, und ich bete darum, dass du dein Ziel erreichen wirst. Aber jetzt habe ich eine andere Frage für dich.« Es war ein schwieriges Gespräch gewesen. Bridei hatte keine Ahnung, was als Nächstes kommen würde. »Sag mir«, bat Fola, »was würdest du tun, wenn Broichan dich wieder nach Gwynedd zurückschickte?« Entsetzen erfasste Bridei. Wusste diese Weise Frau etwas, das Broichan ihm nicht gesagt hatte? »Du bist so gut mit dem Rest meiner Fragen zurechtge- 186 kommen, aber nun fehlen dir die Worte. Ich frage mich, warum das so ist?« »Hat er das gesagt?«, brach es gegen seinen Willen aus Bridei heraus. »Wird er mich zurückschicken?« Sie sah ihn so feierlich an wie eine Eule. »Möchtest du denn deine Familie nicht sehen?« Er verkniff sich die erste Antwort, die ihm auf der Zunge lag: Meine Familie ist hier; Broichan und Donal und Tuala sind meine Familie. »Selbstverständlich möchte ich das«, erklärte er höflich. »Ich glaube dir nicht«, sagte Fola. »Alles, was du sagst, ist von Vorsicht geprägt, es sei denn, wenn es um etwas geht, was dir wirklich am Herzen liegt. Dann verändert sich dein Gesicht, deine Augen blitzen, und du hörst auf zu reden wie ein vorsichtiger alter Mann oder ein Druide, der einen verwirren will, und gewährst mir einen kleinen Einblick in das, was du wirklich bist. Fortriu und das Tal sind dir wichtig, die Leuchtende ist es, und selbstverständlich das Kind, das die Göttin in deine Obhut gegeben hat. Gwynedd hast du vergessen. Wie lange warst du in Pitnochie - sieben, acht Jahre? Ich bezweifle, dass du dich auch nur daran erinnern kannst, wie deine Eltern aussehen.« Bridei senkte den Kopf. »Das muss sehr einsam gewesen sein«, sagte sie leise. »Es war in Ordnung.« »Hm. Aber du hast dafür gesorgt, dass es für sie nicht so war, nicht wahr?«
»Broichan ist ein guter Pflegevater. Der beste.« »Und du bist ein loyaler Sohn. Pflegesohn. Sehr gut, Bridei, du hast dich bewundernswert geschlagen; er hat dich in dieser Art von Zweikampf hervorragend ausgebildet. Auch deine kleine Schwester ist darin nicht schlecht, obwohl sie nicht viel größer ist als eine Maus. Du weißt, dass das Sonnenwendritual eine Art Prüfung darstellt, nicht wahr?« Plötzlich sah sie ihn wieder sehr scharf an. - 187 »Ja«, sagte Bridei. »Obwohl ich nicht genau weiß, was eigentlich geprüft wird. Ich werde einfach mein Bestes tun müssen und hoffen, dass die Götter mir den Weg zeigen.« »Ich bezweifle nicht, dass sie genau das tun werden«, erwiderte die Weise Frau. Tuala wusste, was es mit der Sonnenwende auf sich hatte. Bridei hatte ihr gezeigt, wie man die Sonne beobachtete, wenn es auf den Mittsommertag zuging, wie man ihren Stand im Verhältnis zu einem bestimmten Punkt wie einem Baum oder einem Stein überprüfte, bis zu dem Morgen, an dem sie wieder weiter südlich aufging, um bei ihrer Reise einen engeren Bogen zu nehmen. Drei Tage lang wurde bei Sonnenaufgang Wache gehalten, und jeder dieser Tage hatte sein eigenes Ritual. Zu Hause in Pitnochie führte Broichan die feierliche Zeremonie durch, und Bridei half ihm. Hier am Eichenhügel wurde die Sonnenwende nicht sonderlich beachtet. Es gab eine Quelle nicht weit von der Hütte, und sie gingen dorthin, wenn die Morgenarbeit getan war, die beiden älteren Frauen, die jüngere und Tuala selbst, während die kleine Katze, die Tuala Nebel genannt hatte, im Unterholz mit ihnen Schritt hielt, sich hier duckte, dort ein wenig vorausrannte, ihr Schwanz ein graues Flüstern zwischen den Farnwedeln. Das Wasser quoll zwischen Steinen hervor und ergoss sich in einen kleinen runden Teich, über den Holunderbäume ihre langen, dünnen Zweige streckten. Die Frauen banden dort jede einen Streifen buntes Tuch an - Tuala hätte das ebenfalls getan, aber sie hatte wieder ihr Band verloren und nichts, was sie ansonsten verwenden konnte -, und Brenna und Tuala formten ein Muster aus weißen Steinen am Teichufer. Sie sprachen ein schlichtes Gebet an die Göttin; selbst das taten Brennas Mutter und die Tante mit säuerlichen Mienen und finsterem Blick. Tuala hatte noch nie solch traurige, solch zornige Menschen gesehen. Es gab so vieles, worüber man lächeln konnte, selbst - 188 wenn man einsam war: die aufgehende Sonne, das Muster der Farnwedel rings um die moosigen Steine, der angenehm feuchte Geruch der kleinen Lichtung, das Flüstern der Stimme der Göttin... »Darf ich noch ein bisschen hier bleiben?«, fragte sie Brenna. »Nur ein kleines bisschen? Ich kann das Haus von hier aus sehen; ich werde sofort zurückkommen, das verspreche ich.« Die älteren Frauen hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht. Brenna zögerte. »Ich verspreche es«, sagte Tuala noch einmal und versuchte auszusehen wie das gehorsamste Kind der Welt. »Also gut«, erwiderte Brenna. Sie sah nun glücklicher aus, denn es war beinahe Zeit für Cinioch, vorbeizukommen und sie nach Hause zu begleiten; ihre Augen waren fast nicht mehr rot, und sie bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Du warst ein braves Mädchen, Tuala. Aber sei vorsichtig und mach deine Sachen nicht nass.« »Ja, Brenna.« Tatsächlich war Tuala bereits mehrmals hier gewesen, nur von Nebel begleitet. Seit dem Morgen, an dem sie zufällig entdeckt hatte, dass der Blick tatsächlich sehr einfach zu meistern war und sie kaum üben musste, hatte der Teich laut nach ihr gerufen, und sie hatte ebenso viel Zeit damit verbracht, in das dunkle Wasser zu schauen, wie sie in der Wiege der alten Eichenwurzeln saß. Beim ersten Mal hatte sie im Wasser nach Fischen Ausschau gehalten; aber noch bevor sie die Gelegenheit gehabt hatte zu sehen, ob es welche gab, hatte sich ein Bild auf der Oberfläche gezeigt, ein Bild von Bäumen, Himmel und Waldwegen, kein Spiegelbild, denn was sie sah, waren die Hügel oberhalb von Pitnochie, und dort mitten in dem kleinen Teich ritt Bridei auf seinem Pony Blesse zur Adlernarbe. Sie brauchte nur ruhig zu bleiben und in einem Muster zu atmen, damit das Bild blieb. Es war überhaupt nicht schwer. - 189 Als sie den Ort häufiger aufsuchte und zu unterschiedlichen Tageszeiten in den Teich schaute, sah Tuala Bilder, die sie beunruhigten. Es gab dort Dinge, die unmöglich jetzt gerade geschehen konnten, es musste entweder lange her oder noch nicht geschehen sein. Es war schade, dass Bridei nicht hier war; sie hatte so viele Fragen! Warum waren die Menschen so grausam zueinander; warum kämpften sie und stritten sich und wurden zornig, wenn das doch nie etwas löste? Wer waren diese rothaarigen Krieger, die sie immer wieder im Wasser sah, mit ihren ruhigen, kalten Augen, in denen der Wunsch zu töten stand? War der junge Mann dort, der mit den braunen Locken und den leuchtenden Augen, wirklich eine erwachsene Version von Bridei? Und wenn ja, warum konnte sie nie sich selbst sehen? War das immer so, dass man ein seltsames Prickeln spürte, wenn man den Blick hatte, als gäbe es überall rings um das kleine Tal, in dem die Quelle sprudelte, unsichtbare, stille Beobachter? Auch heute waren sie wieder hier. Tuala konnte es spüren: ein Kreis von Augen, die auf sie gerichtet waren, ein Kreis von Wesen, der sie umgab. Sie konnte nichts weiter erkennen als ein schwaches Schimmern in der Luft, eine leichte Störung in der Art, wie die Dinge sein sollten. Ihre Augen sagten ihr, dass niemand da war. Aber sie wusste, sie war nicht allein. Wenn sie sich an den Teich kniete, unter den Holunderbaum mit seiner Fracht aus kleinen Wollstreifen, Lederschnüren und verblassten Bändern, den Opfern von Jahreszeit um Jahreszeit, konnte sie sie neben sich spüren, ihr gegenüber, hinter ihr, wie sie jeder Bewegung folgten, die sie machte, jeden
Atemzug zählten, als wären sie ein und dasselbe. »Wer seid ihr?«, flüsterte Tuala beinahe zornig. »Warum zeigt ihr euch nicht?« Aber es gab keine Reaktion bis auf eine leichte Brise im Laub, und dann wurde es still. - 190 In dem Bild im Wasser war es Mittag, Mittag in Pitnochie, denn dort stand Broichans Haus zwischen den trügerischen Eichen, und das Wasser des Schlangensees glitzerte in der Sonne, geschützt von dunklen, von Bäumen überzogenen Hügeln. Sie sah Fidich, der über einen steilen Weg unter Kiefern zu einer kahlen Hügelkuppe hinkte, wo sich Menschen versammelten. Tuala kannte diesen Ort. Sie nannten ihn den Morgenbaumhügel, denn eine einzelne Eiche stand dort, ein ehrwürdiger alter Baum, der das Licht der aufgehenden Sonne in seinem belaubten Wipfel einfing. Hier hatten Broichan und Bridei sicherlich in der Nacht zuvor und den beiden Nächten davor Wache gehalten und festgestellt, an welchem Ort sich der Flammenhüter über den Horizont erheben würde. Auf den flachen Steinen auf der Kuppe wurde ein Kreis gezogen; der Haushalt von Pitnochie hatte sich bereits versammelt. Sie sah Broichan, hoch gewachsen und ernst in seinem dunklen Gewand, den Ritualdolch in der Hand, Hörn und Silber. Er trug einen Kranz aus Eichenblättern im geflochtenen Haar. Seine Miene ließ Tuala schaudern. Dort waren Menschen, die sie kannte, und andere, die sie nicht kannte. Mara, Donal und Ferat waren anwesend, ebenso wie die meisten Bewaffneten. Dann gab es andere Krieger, die sie noch nie gesehen hatte und deren Gesichter mit Verwandtschaftszeichen und Schlachtenzeichen geschmückt waren. Ein Druide im weißen Gewand hatte ein Bündel Stöcke mitgebracht. Sie konnte auch die alte Frau sehen, die sich Fola nannte; Fola hielt eine Bronzeschale mit Wasser, die sie nun im westlichen Viertel des Kreises absetzte. Tuala bewegte sich ein wenig und beugte sich dichter an die Oberfläche des Teichs. Nebel hockte neben ihr, die Pfoten ordentlich unter die Brust gezogen, die zusammengekniffenen Augen auf das stille Wasser konzentriert. Vielleicht hatte sie ihre eigenen Katzenvisionen. - 191 Die Bilder bewegten sich wie ein feierlicher Tanz: Broichan, der im Kreis ging, mit der Dolchspitze den heiligen Bereich absteckte und in jedem Viertel die rituellen Grußworte sprach. Wasser wurde rings um den Kreis gesprüht; Rauch von brennenden Stöcken stieg auf, eine elementare Läuterung. Dann sah Tuala, wie die Weise Frau den Kreis aus dem Norden betrat, den Platz der Erde. Jetzt sah Fola alles andere als klein und harmlos aus, sie wirkte stark und mächtig, die Verkörperung der Knochenmutter. Sie hob die Arme und rief eine Herausforderung: Wer bist du? Warum kommst du her? Sag es uns! Tuala konnte nichts hören; kein Laut störte die Stille der kleinen Lichtung. Aber sie kannte die Worte; Brideis Unterricht war so ausführlich gewesen, wie die Zeit es zuließ. Männer traten aus dem Kreis. Einer war der weiß gekleidete Druide, ein alter Mann mit durchdringenden hellen Augen und einer verrückten Masse weißen Haars, in dem Samenkörner, Zweige und Blätter steckten. In seinen knochigen Fingern hielt er eine Feder, die so weiß war wie sein Gewand. »Das Licht der Sonne erhellt den Geist«, sagte er, »und lässt den Weg klar werden. Flammenhüter, lass unsere Augen nur Wahrheit sehen.« Der Mann, der als Nächster sprach, war ein Krieger, hoch gewachsen und mit aufrechter Haltung, auf dem Gesicht die blauen Tätowierungen seines Standes. Sein Blick war scharf, seine Haltung selbstsicher. Er hielt einen Pfeil vor sich, der mit den gestreiften Federn des großen Adlers gefiedert war. »Das Licht von Mittsommer ist das Licht der Tapferkeit.« Seine klare Stimme hallte weit durch die kühle Luft auf der Hügelkuppe. »Flammenhüter, du gibst uns die Kraft, Männer zu sein. Dein strahlender Glanz inspiriert uns zu mutigen Taten. Durch dich sind wir wahre Söhne von Fortriu.« Der dritte Mann trug einen Knochen; Tuala konnte nicht sehen, was für eine Art Knochen es war, aber er war lang - 192 und hell, wie ein Teil eines Beins. Der Mann hatte graues Haar und ein graues Gewand; sein Gesicht war faltig, seine Stirn von vielen Sorgen gefurcht. Er sprach mit stiller Würde: »Flammenhüter, mit deiner Wärme hast du die Priteni seit Urzeiten genährt, noch bevor die Großväter unserer Großväter das Tal durchschritten. In deinem Leben liegt unser Leben. In deiner Weisheit liegt unsere Weisheit. Wir grüßen deinen hellen Schein.« Danach schwiegen alle lange Zeit. Tuala wusste, dass jeder Mann und jede Frau tief im Geist geheime Worte der Inspiration sprachen, und sie spürte selbst, wie die Macht in jedem Teil von ihr summte. Ihre unsichtbaren Beobachter blieben, ein Kreis unsichtbarer Präsenzen rings um die Quelle. Tuala glaubte, aus dem Augenwinkel bleiche Hände und umschattete Gesichter zu sehen, Gewänder aus grüngrauen Weidenblättern und weichen Federn, silbrige Flügel und Strähnen langen Haars in unmöglichen Blautönen. Die Augen dieser Wesen waren ein Spiegel von Tualas Augen: farblos und klar, hell wie Eis. Sie würde sich nicht umdrehen, um näher hinzusehen; sie musste sich auf das Bild im Wasser konzentrieren. Denn nun sah sie Bridei; er trat vor - er hatte am Stamm des Morgenbaums gestanden - und hielt eine brennende Kerze vor sich. Tualas Herz begann, schneller zu schlagen. Er sah so ernst aus, so besorgt, als glaubte er, die Götter würden unzufrieden sein, wenn er auch nur einen falschen Schritt tat oder bei den Worten den geringsten Fehler machte. Und er sah müde aus; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Das war wohl von den Nachtwachen. Broichan ließ seinen Sohn am
Vorabend des Mittsommertags immer Nachtwache halten. Bridei biss sich nervös auf die Lippe. Alberner Junge; selbstverständlich würde er keinen Fehler machen. Selbstverständlich würden die Götter nicht böse sein. Er ruhte in der Hand der Knochenmutter; der Flammenhüter brannte in ihm. Die Leuchtende hatte ihn auserwählt. Er war Bridei, der immer alles richtig machte. - 193 Wieder trat er vor, ging in den Kreis und folgte einem spiralförmigen Weg vom Rand aus nach innen, wobei die Kerze weiterhin stark und stetig brannte. Sein lockiges Haar, braun wie Eichenrinde, war ordentlich zurückgebunden; in seinen Augen stand das Blau des Sommerhimmels warm und hell, und seine Schritte waren vollkommen ruhig. Er hatte ein kleines Stück von einem sehr verwaschenen Band ums Handgelenk geschlungen. Tuala lächelte unwillkürlich; sie hatte sich so sehr danach gesehnt, dort zu sein, ein Teil davon sein zu können. Nun war sie in gewisser Weise wirklich dort; er trug sie mit sich. Sie hoffte, dass Broichan wegen des Bands nicht böse sein würde. Brideis Weg führte ihn in den Mittelpunkt des Kreises, wo sein Pflegevater nun zusammen mit der Weisen Frau stand. Bridei hob die Hände, hob die Kerze hoch. »Dies ist die Flamme der Hoffnung und das Versprechen von Gerechtigkeit und Frieden überall im Land!«, verkündete er. In seiner Stimme lag keine Spur von Nervosität. Sie klang klar wie eine Glocke; das Geräusch ließ Tuala schaudern, obwohl sie es nur mit den Ohren der Seherin hörte, zu der die Stille spricht. »Ich rufe die Macht des Flammenhüters herab, und ich beschwöre die Kraft unserer tiefen Mutter, der Erde, herauf, und die Herrin der Gezeiten, die Leuchtende! Die Sonne hat triumphiert; heute erreicht sie ihren höchsten Stand. Das Leben des Flammenhüters hat uns geweckt und das Land, auf dem wir leben, fruchtbar gemacht. Nun beginnt er seinen langen Rückzug. Nun nehmen wir sein Licht in uns auf, um unseren Weg zu beleuchten. Möge jeder von uns wie eine brennende Lampe sein; möge jeder von uns erfüllt vom strahlenden Glanz der Wahrheit weiterschreiten.« Als Nächstes hätte Broichan sprechen sollen, aber bevor er den Mund öffnen konnte, hörte man ein Flügelrauschen, und aus dem Osten kamen zwei Adler herangeflogen. Sie glitten auf den Luftströmungen über dem Großen Tal und bildeten ein perfektes Paar, schwebten erst, dann schlugen - 194 sie in langsamen, machtvollen Bewegungen mit den starken Flügeln, um sie zu der Stelle zu tragen, wo der Junge stand, aufrecht und stolz mit der Flamme der Hoffnung in seinen jungen Händen. Broichan sagte kein Wort, während die Vögel den Hügel in ihrem Tanz uralter Symmetrie umkreisten, in ihrem Verflechten von Feder und Knochen und Atem. Tuala sah mit tiefem Staunen, dass dem Druiden Tränen über die Wangen liefen. Dreimal kamen die Vögel vorbei, und dann landeten sie, beide im gleichen Augenblick, auf den oberen Ästen des Morgenbaums. Sie falteten die gewaltigen Flügel und ließen sich nieder, eine wachsame Präsenz. Die Sonne berührte Brideis lockiges Haar, hellte das Braun zum tiefen Rot von Herbstbuchen auf, und die Mittagssonne ergoss sich auf die Hügelkuppe wie die Wärme eines Segens. Dann nahm Broichan ohne ein Wort die Kerze von seinem Pflegesohn entgegen und entzündete damit ein kleines Feuer aus den Stöcken, die der alte Druide mitgebracht hatte. In diesem kleinen Bündel waren, wie Tuala wusste, alle Bäume des Waldes vertreten, Eiche und Esche, Kiefer und Holunder, Stechpalme und Eberesche, und alle gaben etwas von sich selbst, um die Magie dieses Tages zu stärken. Der Eichenkranz, den Broichan getragen hatte, wurde im Kreis herumgereicht, und jeder Mann und jede Frau setzten ihn sich für einen Augenblick auf den Kopf. Dies war der Moment, in dem sie lautlos ihre Schwüre an die Götter erneuerten. Am Ende kehrte der Kranz zu dem Druiden zurück. Broichan hielt ihn hoch, dann warf er ihn in die Flammen. Tuala schluckte; sie hatte gewusst, dass es geschehen würde, und dennoch schockierte es sie, kam ihr so brutal vor wie der Tod von Träumen. Aber so war es nicht. Nun reichten sich alle die Hände, um das alte Friedensgebet zu sprechen. Die Flammen trugen ihre Träume hoch in die Luft über dem Großen Tal, höher noch als der höchste Baum aufragte, höher als die Adler flogen, über die Wolken hinaus ins Reich der - 195 Leuchtenden und - Feuer zu Feuer - zu der Leben spendenden Sonne, deren Aufstieg sie heute feierten. Dann wurden Brot und Met gesegnet und geteilt, und Fola und Broichan boten die rituelle Mahlzeit zunächst einander an, dann verteilte Bridei den Laib und goss allen Anwesenden ein wenig von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Donal tätschelte Brideis Schulter, was die Metflasche wackeln ließ. Erip und Wid grinsten, als hätten sie einen Preis gewonnen. Tuala spähte angestrengt ins Wasser des spiegelnden Teichs und stellte fest, dass auf Broichans gelassenen Zügen nun keine Spur von Tränen mehr zu erkennen war. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Vielleicht zeigten diese Bilder nicht etwas, das war, sondern etwas, das sein könnte. Der Blick war eine schwierige Sache. Dennoch, sie sah den Stolz in den Augen des Druiden, als er beobachtete, wie sein Pflegesohn am Kreis entlangging, und sie glaubte, den gleichen Stolz in vielen anderen Gesichtern dort zu erkennen, auch in dem der Weisen Frau. »Tuala!« Brenna rief nach ihr. Tuala schob das Geräusch von sich, beugte sich dichter über das Wasser. Nebel hockte reglos neben ihr und starrte ebenfalls hinein. Rings um den Teich waren die unsichtbaren Präsenzen immer noch so gerade eben aus dem Augenwinkel wahrnehmbar. Das Fest war vorüber, der Kreis wurde aufgelöst. Die Menschen suchten ihre Sachen zusammen und gingen wieder hügelabwärts nach Hause. Oben auf der einsamen Eiche hatten sich die Adler nicht mehr gerührt, seit sie
dort gelandet waren. Aber als Bridei nun die Kuppe verließ und den steilen Weg zum Haus betrat, flogen beide Vögel erneut auf, flatterten hierhin und dahin, kreuzten jeweils den Weg des anderen mit großer Präzision und folgten schließlich dem Jungen. Die Bäume wuchsen dicht an diesem Hügel, drängten sich in kleinen Gräben, überzogen Hänge, Wiesenpfad und Grenze mit üppigem Sommergrün und dunk- 196 len Kiefernnadeln, und unter ihnen wuchsen Farnkräuter und Stechpalmen mit ihren glänzenden Blättern. Dennoch, Adler haben einen scharfen Blick, sind Fürsten unter den Raubvögeln. Als das Bild vor Tuala sich änderte und abermals änderte, kam es ihr so vor, als bildeten diese großen Vögel eine Eskorte, eine Leibwache für Bridei, und als wollten sie ihm voranfliegen, als wäre er ein uralter Magier aus einer Geschichte oder ein neuer König, der an die Macht kam. Sie flogen über ihm, als er durch die hohen Birkenwälder und in das tiefe Dunkel der Kiefern kam; sie tanzten über ihm, als er unter den ehrwürdigen Eichen und den schwer beladenen Holundersträuchern hindurchging, die Bach und Teich säumten. Über dem Haus des Druiden kreisten sie noch einmal, als Bridei den Wald am Steinwall verließ, dort, wo Broichans Wachen standen. Dann flogen sie mit einem Schrei, der Tuala Gänsehaut verursachte, nach Westen und verließen das Bild im Wasser. Sie sah Bridei, der sich seinem Pflegevater zuwandte und lächelnd etwas sagte, aber sie konnte die Worte nicht hören. »Tuala!« Zeit zu gehen. Sie wollte Brenna, die ohnehin genug Schwierigkeiten hatte, nicht verärgern. Also stand sie auf und bückte sich, um die kleine Katze aufzuheben. Rings um den Teich raschelte es, und es gab ein Geräusch wie ein Zischen, nur dass es vielleicht auch Worte waren:... eine von unsss ... Dann waren sie plötzlich verschwunden. Als Tuala an diesem Abend wach lag, während Brenna neben ihr schlief, erzählte sie flüsternd eine Geschichte. Nebel war eine gute Zuhörerin, ihre kleine, warme Präsenz im Halbdunkel der Sommernacht machte die Einsamkeit erträglicher. »Du weißt doch, dass die Priteni zwei Könige haben, Nebel? Sie haben beide unterschiedliche Verwandtschaftszeichen, die in die Steine ihrer großen Häuser gemeißelt sind, damit jeder weiß, wer sie sind. Es gibt Drust den Stier und Drust den Eber.« Tuala streichelte das weiche - 197 Fell der Katze, die sich tief in die dünne Decke gekuschelt hatte. Nebel schnurrte so gewaltig, dass ihr ganzer Körper bebte. »Aber ich werde dir nicht von ihnen erzählen. Ich erzähle dir von einem anderen König. Es ist eine Geschichte, die sein könnte, wie die Bilder in dem Teich. Dieser König heißt Bridei, und sein Zeichen ist der Adler ...« Es war eine gute Geschichte, voller Abenteuer, Mut und Hoffnung. Es war eine Geschichte über Schicksale, und sie kam Tuala zutiefst wahr vor, wie sie es sonst nur bei den ältesten und beliebtesten Geschichten empfand. Es gab nur eins daran, was sie beunruhigte: So sehr sie es auch versuchte, sie konnte in der Geschichte keinen Platz für sich selbst finden. - 198 KAPITEL SECHS Ja, sie konnten sich glücklich schätzen. Tuala erinnerte sich immer wieder daran, Jahr um Jahr, wenn sie zusah, wie Bridei sich auf den Weg zu einem weiteren Besuch in Rabenbrunn machte, oder zu einer weiteren Zeit der Zurückgezogenheit in den Nemetons mit Uist, dem wilden Druiden, denn auch dies war Teil der Erziehung, die Broichan seinem Pflegesohn angedeihen ließ. Es war mehr als sechs Jahre her, seit sie zum Eichenhügel geschickt worden war, seit der Zeit, die sie bei sich als den Sommer der Adler bezeichnete. Während Bridei von einem ernsten Kind zu einem hoch gewachsenen, scharfäugigen jungen Mann herangewachsen war, hatte sie ihn so oft davonreiten sehen, dass sie es nicht mehr hätte zählen können, wäre da nicht der Talisman gewesen, den sie in ihrem kleinen Zimmer im Haus des Druiden in Pitnochie versteckt hatte. Es war eine Doppelschnur aus sehr festem Garn, und die beiden Teile waren auf eine besondere Art miteinander verwoben. Tuala hatte die Geschichte von sich selbst und Bridei in diesem Gegenstand eingefangen: Die beiden Schnüre waren für jede Zeit der Trennung von Bridei ein wenig geteilt und hatten einen zarten Knoten für jede wunderbare Wiedervereinigung. Sie zeigten das Muster ihres Lebens, zwei Wege, die voneinander abwichen und wieder zusammenkamen und bei allen Trennungen grundlegend ein und derselbe blieben. Dieser - 199 Gegenstand war klein, aber mächtig; Tuala achtete darauf, dass niemand ihn zu sehen bekam, nicht einmal Bridei selbst. Sie war im Lauf der Jahre wachsamer geworden, selbst als ihre Privilegien in Broichans Haushalt wuchsen, denn sie spürte stets das grundlegende Misstrauen des Druiden. Broichan hatte nie mehr darüber gesprochen, nicht seit diesem ersten Mal, als er sie weggeschickt hatte. Das brauchte er auch nicht zu tun. Sie erkannte es an seiner verschlossenen Miene, seinem kühlen Ton, an der Distanz, die er zwischen sich selbst und dieses Geschenk der Leuchtenden legte, das er nie wirklich gewollt hatte. Ja, sie konnten sich glücklich schätzen. Broichan hätte Tuala für immer wegschicken können. Er hätte Bridei an den Hof mitnehmen und dort bleiben können. Er hätte Tuala alles Lernen verweigern können bis auf das Wenige, das sie selbst aufschnappte. Stattdessen hatte sie wunderbarerweise, als sie vom Eichenhügel zurückgekehrt war, einen offenen Weg vorgefunden. Erip und Wid durften ihr gestatten, bei Brideis Unterricht zuzuhören, ihr angemessene Aufgaben erteilen und deren Ausführung bewerten. Tuala hatte sich begierig auf diese unerwartete Vergünstigung gestürzt und nicht gefragt, was zu einer solchen Wendung geführt hatte. Es
genügte, dass diese Tür nicht mehr verschlossen war; sie warf sich mit der gleichen Begeisterung aufs Lernen, wie sie es bei jeder neuen Entdeckung tat. Im Lauf der Zeit veränderte sich das Muster ihres Lebens. Brenna heiratete und zog zu ihrem Mann. Nun waren sie und Fidich die stolzen Eltern zweier kleiner Kinder, und Brenna hatte auf dem Hof und mit der Familie viel zu tun. Was Erip und Wid anging, so wurden sie nicht nur Tualas Lehrer für Geschichte und Geografie, Könige und Symbole, Überlieferung und Geschichten, sondern auch gute Freunde. Der Unterricht ging auf eine etwas weniger förmliche Art sogar weiter, wenn Bridei nicht da war. Bridei bewegte sich in immer weiteren Kreisen und war häufig vom Fest des Aufstiegs - 200 bis Mittsommer oder vom Tortag bis zum Jungfrauentanz, der Zeit der ersten Frühlämmer, nicht mehr im Haus. Ohne die Geduld und die Freundlichkeit der beiden alten Männer und Broichans Erlaubnis, sich am Morgen mit ihren Schriftrollen und Federn und ihrer kleinen Schülerin ans Hallenfeuer zu setzen, wäre das Leben wirklich trostlos gewesen. Wenn Bridei weg war, wusste Tuala, dass ihr ein wesentlicher Teil ihrer selbst fehlte, ein Teil, der so wichtig für ihre Existenz war wie Augen oder Ohren oder ein schlagendes Herz. Dieser Winter würde besonders schwer werden. Bridei ging nach Rabenbrunn zu Talorgen und seiner Familie, und Tuala wusste, weil sie es auf dem Wasser gesehen hatte, dass es Kämpfe, Tod und Kummer geben könnte. Ihre Vision hatte ihr Bridei mit einem Gesichtsausdruck gezeigt, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, einem Ausdruck, der bedeutete, dass er etwas gesehen hatte, von dem er hoffte, es nie wieder sehen zu müssen, aber zugleich wusste, dass er sich ihm noch oft stellen musste. Sie hatte zerschlagene Männer und Blut auf dem Heidekraut gesehen. Sie hatte mit den Ohren des Geistes einen Schrei unerträglichen Schmerzes gehört, einen Schrei, der sie zutiefst erschütterte und die Götter anflehen ließ, ihm ein Ende zu machen, schnell, bevor sie den Verstand verlor. Aber sie sagte ihm nichts davon. Tuala wusste, dass man sich auf solche Visionen nicht verlassen konnte; sie waren kein klares Bild dessen, was geschehen würde. Solche Bilder als Grundlage für einen Plan zu benutzen, war ausgesprochen gefährlich. Bridei war nun ein Mann: Er war achtzehn Jahre alt. Zweifellos würde er kämpfen müssen und Verluste erleben, wie es allen Männern zustieß, ob Tuala es nun vorhersah oder nicht. Sie konnte nichts tun, um den Augenblick zu verhindern, in dem sich dieser schreckliche Schatten über seine Augen senkte; sie konnte nur da sein, wenn er nach Hause kam, zuhören und ihn trösten, denn sie war die Bewahrerin seiner geheimsten Ängste und die Hüterin seiner Träume. - 201 Sie waren zum Abschied noch einmal zur Adlernarbe geritten. Es war immer schwieriger geworden, Zeit miteinander zu verbringen, nun, da Broichan mehr Besucher in Pitnochie zuließ und mehr Kommen und Gehen herrschte. Im Augenblick war Talorgen mit seinem Sohn Gartnait im Haus, einem schlaksigen, sommersprossigen Jungen, der rasch ein guter Freund für Bridei geworden war, wenn auch nie ein Freund von Tuala. Gartnait hielt sie für ein Kind, und für ein ziemlich seltsames. Er neckte sie wegen ihres Schweigens, wegen ihres Ernstes, wegen ihrer seltsam blassen Haut und ihren großen Eulenaugen. Es war nicht böse gemeint, aber Tuala wusste nicht, was sie mit solchen Neckereien anfangen sollte. Sie kamen ihr sinnlos vor; wozu war es gut, außer um zu betonen, was sie ohnehin im Haushalt des Druiden am unsichersten machte: ihr Anderssein? Sie wollte nicht auffallen, wollte keine Sonderbehandlung. Sie wollte sein wie alle anderen. Erip und Wid schienen sich nie daran zu stören, was sie war und was sie ohne nachzudenken tat, wenn sie zum Beispiel die kleinen Könige und Priesterinnen auf dem Spielbrett bewegte, ohne sie zu berühren, oder das bunte Licht, das durch das runde Fenster fiel, in einen Tanz winziger, wie Edelsteine schimmernder Insekten verwandelte, die sich in einen Schauer glitzernden Staubs auflösten. Erip räusperte sich vielleicht, Harrumpf, und Wid strich sich über den weißen Bart und nickte weise, und dann machten sie einfach mit dem Unterricht weiter, Kräuterkunde, Astronomie oder Könige und Königinnen. Nun, als sie mit Bridei auf den flachen Steinen oben auf der Narbe saß, erinnerte sie sich wieder an die Könige und Königinnen. Es war Herbst. Morgen würde er weggehen, und das Jahr wandte sich der dunklen Zeit zu. »Bridei?« »Mhm?« Er schaute hinab ins Tal, nach Westen, hielt vielleicht nach den Adlern Ausschau oder nach dem Weg nach Rabenbrunn, auf dem er sich bald befinden würde. - 202 »Wenn du in Gwynedd geblieben wärst, hättest du eines Tages König sein können«, sagte sie. Er wandte ihr abrupt seine Aufmerksamkeit zu, die blauen Augen hell und scharf. »So einfach ist das nicht«, sagte er. »Dein Vater ist König von Gwynedd«, stellte Tuala fest. »Sie bestimmen dort ihre Könige anders als hier, hat Erip mir erzählt. Sie wählen sie nicht unter den Söhnen königlicher Frauen, wie es die Priteni tun, mit Kandidaten aus jedem der sieben Häuser. In Gwynedd und Powys kann ein Mann als König seinem Vater nachfolgen. Und das hättest du auch tun können, wenn du dort geblieben wärst. Du könntest es immer noch, wenn du nach Hause gingest.« Bridei schwieg eine Weile. »Pitnochie ist mein Zuhause«, sagte er schließlich. »Es ist unser Zuhause, deins und meins. Ich habe früher immer gedacht, Broichan hätte genau das vor: mich zu erziehen und mich dann nach Gwynedd zurückzuschicken. Aber selbst wenn das so wäre, könnte ich nicht König werden. Ich kann mich nicht an meine Brüder erinnern, aber ich weiß, dass ich zwei Brüder habe, und sie sind beide älter als ich. Ihr
Anspruch wäre stärker; sie sind an der Seite meines Vaters aufgewachsen. Außerdem hat Broichan mich nicht zurückgeschickt.« »Was hat er dann also mit dir vor?« Tatsächlich kannte Tuala die Antwort bereits; die Zeichen waren ihr vollkommen klar gewesen, schon seit jenem Tag vor Jahren, als Bridei am Mittsommer tag die Flamme getragen hatte und die Adler gekommen waren. Aber sie war nicht sicher, ob Bridei selbst es wusste, sogar jetzt noch nicht. Broichans Strategie war tief schürfend und subtil und erstreckte sich über viele Jahre. Der Druide hatte Recht, musste Tuala widerwillig zugeben, er hatte Recht, im Verborgenen zu arbeiten und seinen Plan vor allen zu verbergen, die versuchen könnten, ihn zu vereiteln, auch bis zu dem Punkt, dass er sogar dem jungen Mann, auf dem seine Hoffnungen ruhten, verheimlichte, um was es ging. Ohne die Last zu großer Erwartungen - 203 war er den Weg seiner Jugend leichtfüßiger gegangen und hatte freier lernen können. Unbelastet vom Wissen über seine Zukunft war er besser gegen die Intrigen jener geschützt gewesen, die für sich selbst Macht und Stellung suchten und deshalb ihre eigenen ausgewählten Figuren aufs Spielbrett brachten. »Ich habe eine gewisse Ahnung«, sagte Bridei. »Broichan spricht nicht über meine Mutter. Aber ich habe entdeckt, dass sie eine Verwandte von Talorgens Frau Dreseida ist. Und Dreseida wiederum ist eine Kusine von König Drust. Je nachdem, wie eng sie verwandt sind, könnte das gewisse Möglichkeiten eröffnen; ich wäre ein armseliger Gelehrter, wenn ich sie nach Wids und Erips Unterricht in Genealogie nicht erkennen würde. Aber ich bin jung und als Anführer unerprobt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Broichan mich in eine ähnliche Position bringen will, wie er sie selbst innehatte, dass ich ein Berater des Königs werden soll. Nicht als Druide, sondern eher wie Aniel, der reist, verhandelt, an Waffenstillstandsverträgen arbeitet und Bedingungen für Übereinkünfte festlegt. Ein Berater des Königs. Vielleicht auch ein Krieger; ein Mann muss vieles sein können.« »Du bist ein bisschen jung, um König Drust zu beraten«, sagte Tuala tonlos. Brideis Wangen glühten, und sofort tat ihr Leid, was sie gesagt hatte, obwohl es die Wahrheit gewesen war. »Es wird andere Könige nach ihm geben. Ich bin ein Mann, Tuala, und kein Kind. Ich werde meine Rolle spielen.« Tuala schwieg, obwohl sie eine lautlose Botschaft spürte, die sie kränkte: Ich bin ein Mann, und du bist immer noch ein Kind. Du verstehst das nicht. Das war ungerecht; sie verstand es sehr wohl und hatte es schon verstanden, als sie tatsächlich noch ein kleines Mädchen gewesen war, das nicht einmal sein eigenes Haar flechten konnte. Und jetzt war sie tatsächlich eine Frau, so klein und zierlich sie auch sein mochte. Zu Mittwinter würde sie dreizehn Jahre alt sein. Sie - 204 hatte bereits dreimal ihre Blutung gehabt und staunend die anderen Veränderungen in ihrem Körper beobachtet, Anzeichen dafür, dass die Leuchtende in ihr floss wie in der Tiefe des Ozeans. Aber das konnte sie Bridei selbstverständlich nicht sagen. Er war zwar ihr bester Freund auf der Welt, aber er war ein Junge, und es gab Dinge, über die man mit Jungen einfach nicht sprechen konnte. »Tuala?« »Mhm?« »Wir werden diesmal vielleicht den ganzen Winter weg sein. Es gibt einen Frühjahrsfeldzug gegen die Galen; es geht darum, das Land rings um Galanys Höhe zurückzuerobern, wo der Magierstein steht. Talorgen wird Gartnait und mich vielleicht mit seinen Kriegern reiten lassen.« Brideis Augen strahlten: Es war, als sähe er es bereits vor sich, eine Vision von Bannern, Waffen, die im Sonnenlicht glitzerten, donnernde Hufe, ein ruhmreicher Sieg. Tuala schauderte. »Sieh mich nicht so an«, sagte Bridei. »Ich werde irgendwann in den Kampf ziehen müssen. Wenn Broichan nicht wäre, wäre es wahrscheinlich schon vor Jahren geschehen.« »Du wirst mir fehlen. Es ist lange hin bis zum Frühling.« »Und du wirst mir fehlen, Tuala. Ich werde so bald wie möglich nach Hause kommen, das verspreche ich dir. Ich werde dir viel zu erzählen haben.« Tuala nickte. Das war zweifellos wahr; Bridei sprach auf eine Art mit ihr, wie er es nie mit anderen tat, ganz offen und direkt aus dem Herzen, ohne sich in Acht nehmen zu müssen. Und er würde tatsächlich viel zu erzählen haben. Geschichten geboren aus Tränen und Wut, aus Trauer und Zorn. »Was ist denn, Tuala? Was beunruhigt dich? Du weißt, dass ich zurückkommen werde. Ich komme immer wieder zurück nach Pitnochie.« Besorgt rückte er näher und legte den Arm um ihre Schultern. Es fühlte sich seltsam an; nicht so wie früher, wenn er sie an sich zog, um sie zu trösten, und - 205 sie ihn zum Dank dafür umarmen konnte. Nun fühlte es sich unbehaglich an - anders. »Es ist nichts.« Sie löste sich von ihm und stand auf. »Wann wirst du gehen? Ich möchte dir etwas zeigen.« »Ich habe noch Zeit. Aber nicht viel. Was ist es denn?« »Komm mit. Es liegt ein bisschen weiter im Westen. Ich muss es dir zeigen.« Aber als sie den Ort erreichten, diesen besonderen, geheimen Ort, den sie eines Tages entdeckt hatte, als sie allein im Wald unterwegs gewesen war, zügelte Bridei sein Pferd, wollte aber nicht absteigen. »Nein, nicht dorthin«, sagte er. Er war plötzlich bleich geworden. »Das ist kein guter Ort für dich, Tuala. Es ist nicht richtig. Wir sollten jetzt nach Hause zurückkehren.«
Tuala war verblüfft. »Nicht richtig? Wie meinst du das? Ich bin oft hier. Ich muss hierher kommen. Hier sehe ich...« Ihre Stimme verklang, als Erinnerungen an Verrat, an Blut und Tod auf sie eindrangen. »Hier siehst du was?« Nun stieg Bridei doch ab. Wie es das Muster der Dinge war, ritt Tuala nun sein altes Pony Blesse, während er selbst Schneefeuer hatte, mit langer Mähne und Schweif, kräftig und sicher und von hellem Grau, wie Schatten auf Winterhügeln. Tatsächlich wog Tuala so wenig, dass sie vielleicht immer noch die kleine, liebe Perle hätte reiten können, aber Perle war alt und schien damit zufrieden zu sein, im Stall oder auf dem Feld vor sich hinzuträumen und zu beobachten, was in der Welt vorging. »Hier kann ich dich sehen«, flüsterte Tuala, ohne ihn anzusehen. »Damit ich weiß, wo du bist und was du tust, wenn du nicht hier bist.« Bridei schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Es gibt schreckliche Visionen in diesem Teich, Tuala. Broichan nennt ihn den Dunklen Spiegel. Ich bin nur einmal hingegangen, und das war mehr als genug. Ein Mädchen deines Alters sollte solchen Einflüssen nicht ausgesetzt sein. Broi- 206 chan würde nicht wollen, dass du dort hingehst, und ich will es auch nicht.« »Wie alt warst du, als du in den Dunklen Spiegel geschaut hast?« Er antwortete nicht. »Es ist nicht nur das. Nicht zu wissen, wo du bist und ob du in Sicherheit bist. Es gibt auch noch ... andere Dinge.« »Wie meinst du das - andere Dinge?« Bridei wurde immer unruhiger; Tuala sah es daran, wie fest er Schneefeuers Zügel hielt. »Das kann ich dir hier nicht sagen. Wir müssen nach unten gehen, in das kleine Tal.« »Das Tal der Gefallenen.« Er sprach den Namen mit finsterer Miene aus. »Es gab hier vor langer Zeit einmal ein schreckliches Massaker. Dieser Ort ist erfüllt von Erinnerungen an den Tod.« »Und an das Leben. Komm schon, Bridei.« Sie wartete nicht, um zu sehen, ob er ihr folgte, sie eilte einfach den schmalen Weg durch das dichte Unterholz entlang. Der Nebel des Tals hob sich ihr entgegen. Einen Augenblick später hörte sie Brideis Schritte hinter sich. Als sie den Rand des Teichs erreichten, verschwand der Nebel und zeigte die gebeugten Gestalten der dunklen Druidensteine und die sich windenden Girlanden der Rankenpflanze mit ihren sternförmigen Blüten, die das Ufer mit ihrem üppigen Wuchs umgab. Das Licht war trüb und grünlich und spielte auf dem Wasser vor ihnen, denn es sah an einer Stelle dunkel und tief und gleich daneben seicht aus, und winzige Fische schössen nicht weit von der Oberfläche entfernt hin und her. Tuala setzte sich an den Rand des Teichs. »Sieh nicht hinein«, sagte Bridei. »Warum bleibst du nicht bei deiner Bronzeschale? Du kannst damit sehen, wann immer du willst, warum kommst du hierher? Das hier ist ...«Er brach ab. Einen Augenblick später spürte Tuala, wie er sich - 207 neben sie setzte; er berührte sie nicht, aber er war nahe genug, dass sie seine Wärme spürte, das einzig Menschliche im Tal der Gefallenen. Den Blick zu benutzen war Tuala immer leicht gefallen. Sie wusste nun, dass andere, Bridei zum Beispiel oder selbst Broichan, der so von Magie erfüllt war, den Blick mühsam erringen mussten; dass sie ihre Fähigkeiten nicht immer nutzen und nicht bei jeder Gelegenheit Visionen heraufbeschwören konnten. Für sie selbst war es vollkommen anders, und sie hatte widerstrebend erkannt, dass das mit ihrem Ursprung zu tun hatte, damit, was sie war: anders, eine von denen. Das bereitete ihr Unbehagen, aber die Gabe selbst schätzte sie sehr. Sie lieferte ihr ein Fenster zur Welt außerhalb von Pitnochie, außerhalb des Großen Tals, außerhalb des Hier und Jetzt. Sie konnte ein Bild in einem Regenbogen heraufbeschwören, in einem Wasserfass, in einem Krug Met. Aber nirgendwo sonst konnte sie das Staunen und den Schrecken finden, die ihr im Dunklen Spiegel enthüllt wurden. Bridei hatte Recht; das Tal und sein verborgener Teich enthielten tiefe Erinnerungen, eine Geschichte von schrecklichem Verlust und unbeschreiblichem Mut. Mehr als das, der Dunkle Spiegel zeigte, was geschehen würde oder geschehen könnte. Er warnte, prophezeite und leitete an. Und es war ein Ort des Guten Volkes. Sie hoffte, hier irgendwann die von ihrer eigenen Art von Angesicht zu Angesicht sehen und fragen zu können, warum sie sie ohne ein Wort ausgesetzt hatten. Vielleicht hatte die Leuchtende es so gewünscht. Vielleicht war es einfach nur ein Schabernack gewesen. Wenn Bridei in dieser Nacht weitergeschlafen hätte, wäre sie erfroren. Je älter sie wurde, desto öfter musste sie daran denken. Heute zeigte der Teich keinen Kampf. Stattdessen sah sie das Mittsommerritual noch einmal, bei dem der Haushalt sich auf dem Morgenbaumhügel versammelte und ein braunhaariges Kind den Spiralweg zum Licht ging. Aber - 208 diesmal erblickte sie die Zukunft. Das Kind war klein, nicht älter als sechs Jahre alt. Der Mann, der die Zeremonie leitete, der den Kreis zog und die Gebete anführte, war nicht Broichan, sondern Bridei; kein Druide im dunklen Gewand, sondern ein noch junger Mann, breitschultrig, groß und gut aussehend, mit leuchtend blauen Augen und einem langen Zopf aus lockigem Haar in der Farbe reifer Kastanien. Die Weise Frau, die mit der Stimme der Knochenmutter sprach, war nicht die hakennasige Fola, sondern eine jüngere Priesterin, schlank
wie eine Birke, mit bleichem Gesicht und klaren Augen; ihr dunkles Haar fiel auf den Rücken ihres strengen grauen Gewands. Die Blicke dieser beiden begegneten sich immer wieder, aber als das Ritual vorbei und der Met und das Brot geteilt waren, stand eine andere Frau an Brideis Seite, ein Mädchen, dessen wohlgeformte Gestalt in das schöne Kleid und den mit Pelz besetzten Umhang einer Adligen gehüllt war, ein Mädchen, das einen kleinen Blütenkranz im rötlichen Haar trug und den Mann anlächelte, der nun den Kopf mit vertraulicher Freundlichkeit senkte, um zu hören, was sie sagte. Der Junge, der die Kerze getragen hatte, stand nun neben ihnen, eine kleinere Version seines Vaters. Es gab vertraute Gesichter: Ferat, Mara, Fidich und Brenna mit ihren Kindern. Donal war nicht da, und auch Erip und Wid fehlten. Tuala konnte auch Broichan nirgendwo erkennen. Aber sie sah sich selbst, als das Ritual vorüber war, allein unter dem Morgenbaum, ihr Gesicht im Schatten, ihre Augen voll unendlicher Trauer. Sie sah, wie sie sich umdrehte, lautlos wieder in den Schutz der Birken zurückkehrte und die Familie von Pitnochie ihrem freudigen Fest überließ. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie waren kein Teil der Vision, sondern vollkommen wirklich. Bridei saß dicht neben ihr und hatte den Blick selbst auf den Dunklen Spiegel konzentriert. Tuala konnte sich nicht dazu bringen, noch einmal hinzuschauen. Sie schloss die Augen und zwang die Bilder aus ihrem Kopf. Sie musste sich erinnern, dass das, - 209 was sie im Spiegel sah, nicht unbedingt wirklich geschehen würde. Es konnte ebenso gut etwas sein, was geschehen konnte. Alles war möglich. Jeder Weg konnte betreten werden, wenn man es wirklich wollte. Immerhin war sie hier, oder? Sie war im Haus eines Druiden aufgewachsen. Sie hatte eine Erziehung erhalten. Sie war aufgewachsen, als wäre sie ein Menschenkind. Sie musste diese Version der Zukunft wegzwingen, musste daran denken, was sein sollte. Es war schwer. Sie waren hier; Tuala war umgeben vom Rascheln ihrer leichten Bewegungen, dem schleichenden Flüstern ihrer seltsamen Stimmen.... eine von uns... komm zurück zu uns... Sie hatten sich nie wirklich gezeigt, nicht in all diesen Jahren. Vielleicht hatten sie Grund, ihr nicht zu trauen; vielleicht gab es niemanden, dem sie trauten. Aber sie waren immer hier, drängten sich um den Teich, bereit, in Tualas Ohren zu zischeln, ihren Arm, ihre Wange zu streifen, ihr Interpretationen der Visionen zuzuflüstern. Komm zurück, lockten ihre sanften Stimmen nun, komm zu uns zurück. Hier kannst du eine Königin sein... »Ich bin keine von euch«, murmelte sie. »Ich bin ein gewöhnliches Mädchen, und ich lebe unter Menschen. Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich schwebe nicht durch den Wald, flüstere keine Lügen und spiele keine Streiche.« Ahhh..., seufzten die Stimmen. Er hat dir einen Streich gespielt, als er dich hereingeholt hat. Er hat dich um Familie und Heim gebracht... kehre zu uns zurück... Wir brauchen dich... Wir werden dich lieben ... »Wie könnte ich jemals zurückkehren? Ich kann euch nicht einmal sehen!«, flüsterte Tuala wütend zurück. »Und ihr liebt mich nicht; das ist nur eine weitere Lüge. Ihr habt mich draußen im Schnee gelassen. Nun, jetzt habe ich mein eigenes Leben. Ich brauche euch nicht.« Von einem Dutzend Stellen gleichzeitig murmelten die Stimmen im Chor: Du brauchst uns ... oh, du brauchst - 210 uns ... Deshalb kommst du hierher, und wieder und wieder... du brauchst uns... Bridei regte sich und streckte die Arme; abrupt waren die Präsenzen verschwunden, als hätten sie sich innerhalb eines einzigen Atemzugs ins Land zurückgefaltet. »Du hast geweint«, sagte Bridei überrascht. »Was ist denn? Was hast du gesehen?« »Es geht mir gut«, sagte Tuala und wischte sich die Wangen. »Was hast du gesehen?« Brideis Züge waren ernst und angespannt. »Für mich gibt es nur ein einziges Bild im Dunklen Spiegel«, sagte er und stand auf. »Ich wollte heute nicht hierher kommen. Aber ich glaube, es war dennoch der richtige Zeitpunkt, dies hier noch einmal zu sehen, da ich im Frühjahr selbst gegen die Galen kämpfen werde. Ich werde es benutzen, um meine Entschlossenheit zu stärken. Wir sind es den tapferen Seelen schuldig, die hier gestorben sind, den Feind für immer aus dem Tal zu vertreiben. Es wird ein Akt der reinsten, endgültigen Rache sein. Ich bin froh, dass du mich hierher geführt hast, Tuala. Aber es tut mir Leid, dass deine Vision dich zum Weinen brachte. Es beunruhigt mich, dich so traurig zu sehen.« »Es geht mir gut«, wiederholte sie, obwohl das nicht stimmte, und sie wusste, dass er das wusste. »Manchmal gibt es hier traurige Dinge, aber man zeigt sie uns zu einem bestimmten Zweck.« »Gab es noch etwas, das du mir zeigen wolltest?«, fragte er. Die Freundlichkeit in seiner Stimme, die Höflichkeit, mit der er sich zu ihr beugte, erinnerten sie so schmerzlich an die Vision, dass sie es wie einen Schlag spürte. »Nein«, sagte sie. Sie hatte vorgehabt, ihm von den unheimlichen Präsenzen zu erzählen, die ihr immer häufiger folgten, Wesen zwischen Substanz und Schatten. Sie hatte nie in Worte fassen können, wie sehr sie sich danach sehnte, etwas über ihre wahren Eltern herauszufinden, über die - 211 Gründe, wieso man sie auf Broichans Schwelle gelassen hatte, und darüber, was diese Dinge für ihre Zukunft bedeuteten. Sie hatte ihm von der Angst erzählen wollen, die mit einer solchen Suche nach Wissen kam. Was, wenn sie ihre wahre Identität fand und feststellte, dass sie sich tatsächlich vollkommen außerhalb der Grenzen der Menschenwelt befand? Was, wenn dieses Wissen sie für immer von der einzigen Person auf der Welt abschnitt, die zählte? Und dennoch, wie konnte sie ohne dieses Wissen weiterleben? »Sicher?«
»Ich bin sicher. Es wird spät. Donal fragt sich bestimmt schon, wo du steckst. Wir sollten gehen.« »Tuala?« »Was?« »Wenn etwas nicht in Ordnung wäre, würdest du es mir sagen, oder?« »Es ist alles in Ordnung.« »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Bridei. »Ich lasse dich nicht gern zurück, besonders nicht, wenn du so aussiehst.« »Wenn ich wie aussehe?« »Traurig. Unruhig. Wie damals, als Broichan dich weggeschickt hat, als du noch klein warst.« Er streckte die Hand aus und wischte ihr die Tränen ab. Bei seiner Berührung, leicht wie die eines Schmetterlings, spürte Tuala, wie sich etwas tief in ihr regte, etwas gleichermaßen Wunderbares und Beängstigendes, etwas, wovon sie nicht gewusst hatte, dass es da war. Sie schloss die Augen einen Moment. Sie musste stark sein, ganz gleich, wie elend sie sich fühlte. Bridei hatte keine andere Wahl, als zu gehen; es genügte, dass er an sie denken würde, wenn er weg war. Und er trug immer noch ein Band um sein Handgelenk. Wenn er Pitnochie verließ, nahm er stets etwas von ihr mit. »Ich bin einfach nur traurig, dass du wieder weggehst, das ist alles«, sagte sie. »Wenn du weg bist, muss ich alle Fragen - 212 beantworten, die Wid und Erip stellen, und nicht nur die Hälfte.« Durch das Große Tal, diesen tiefen Spalt in der Erde, erstreckten sich vier lang gezogene Seen, die durch schmale Wasserwege miteinander verbunden waren. Man konnte mit dem Boot den ganzen Weg von der Küste im Norden nahe der Festung des Königs in Caer Pridne bis zu den Inseln im Westen bewältigen, wenn man über die Seen segelte und die Boote an den sie verbindenden Kanälen über Land trug, denn dort war die Strömung zu stark und es gab zu viele Felsen. Jeder See hatte seinen eigenen Namen und sein einzigartiges Wesen. Der Schlangensee erstreckte sich von der nördlichen Förde bis vorbei an Broichans Residenz unter den Eichen. Er war tief und dunkel; Schatten uralter Präsenzen weilten in diesem Wasser. Menschen, die dort fischten, trugen Amulette aus Eisen um den Hals und achteten darauf, in der Abenddämmerung wieder zu Hause zu sein. Südlich des Schlangensees lag der kleinste See in der Kette, der Jungfernsee, der den Beginn des Wegs hinauf zu den Fünf Schwestern kennzeichnete. Es war ein steiler, aber schöner Aufstieg. Die nebelverhüllten Täler und verborgenen Wasserwege, die von Bäumen überzogenen Hänge und hohen, kahlen Felsen boten Reisenden eine wunderbare Aussicht. Es gab Wölfe hier; die Menschen achteten darauf, nicht allein unterwegs zu sein, es sei denn, ihr Leben war ihnen nicht viel wert. Nur jene, die von der Hand der Leuchtenden berührt oder auserwählte Krieger des Flammenhüters waren, konnten sich auch allein sicher in diese Landschaft wagen, denn die wilden Tiere respektierten, was sie waren, sie wussten es tief in ihrem Blut. Einem solchen Menschen mochte sich ein Reh vielleicht selbst als Nahrung anbieten, und ein Wolfsrudel heulte einen Gruß spät in der Nacht, wenn der Reisende an einem kleinen Feuer in diesen - 213 gewaltigen, dunklen Hügeln saß. Der Weg dort entlang führte zum Meer im Westen und den Inseln, die im Wasser lagen wie schlafende Meeresgeschöpfe, im Sommer in eine Decke aus hellem Dunst gehüllt und in der dunklen Jahreszeit von Wind und Gezeiten gepeitscht. Der andere Weg, der nach Südwesten am Jungfernsee entlang führte, brachte einen zum Magiersee. Dieser weite See war ein unheimlicher Ort. In den Hügeln konnte man Trommelschlag hören, ferner Hörnerklang ertönte in einer geisterhaften Erinnerung daran, was einmal gewesen war. Dieses einsame Ufer war zweifellos der Schauplatz eines längst vergangenen Siegs oder einer Niederlage, einer uralten Schlacht, deren Schreie von Schmerz und Herausforderung ein Teil der Erinnerung des Sees geworden waren. Dieses Wasser hatte viele Menschenleben gesehen, die Steine und Bäume am Ufer umfingen alles mit ihrem Schweigen. Auf den östlichen Hängen oberhalb des Jungfernsees stand Rabenbrunn, Heim des Fürsten Talorgen, seiner Frau Dreseida und ihrer vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Der Haushalt war nicht klein. Talorgen hatte seine eigene private Streitmacht sowie die zugehörigen Waffenschmiede, Hufschmiede und Stallknechte, und er musste diese kleine Armee ernähren. Er hatte Pächter, die das Land bebauten und ihm die Vorräte lieferten, die er brauchte, das Vieh, das Leder und das Holz, und denen er im Gegenzug Schutz und Arbeit für ihre jüngeren Söhne als Krieger oder als Handwerkslehrlinge bot. Talorgen wurde überall geachtet, ebenso wie seine Frau. Als Kusine mütterlicherseits von König Drust konnte Dreseida rechtmäßig behaupten, vom königlichen Blut der Priteni zu sein. Rabenbrunn stand hoch oben an der Flanke des Krähennests, mit einem Blick über den Jungfernsee hinweg zu einem verborgenen Tal auf der anderen Seite. Im Südwesten, hinter der unheimlichen Weite des Magiersees, lag der Königssee, groß und breit, und öffnete sich schließlich zum - 214 Meer im Westen. Dies waren gefährliche Gewässer, ein gefährliches Ufer: Hier standen die Festungen der Galen. Und es gab noch mehr an der Westküste von Fortriu; von dieser Stelle nach Süden zur alten Grenze und weiter nach Norden bis zum wilden Land der Caitt hatten die Eindringlinge Fuß gefasst, und auch die besten Anstrengungen der Priteni, von Drust dem Stier und anderen Königen vor ihm, hatten diese Parasiten nicht
vertreiben können. Im Süden hatte der selbst ernannte König von Dalriada an einem Ort namens Dunadd eine Festung errichtet und sowohl in der Umgebung als auch auf den Inseln selbst Siedlungen errichtet. Die Galen machten es sich dort gemütlich. Die Lage von Rabenbrunn war perfekt geeignet für geheime Ausfälle in das Land von Dalriada. Aber sie setzte Talorgen auch großer Gefahr aus; seine Männer waren Ziele für Angriffe, wann immer sie zu ihren Missionen auszogen. Bridei erkannte bald, dass es in Rabenbrunn andere Gefahren gab als in Pitnochie. Von hier aus würden die Priteni vordringen und einigen Schaden anrichten können. Wenn es so funktionierte, wie Talorgen und die anderen Anführer hofften, würden sie im Sommer wieder am Magierstein stehen. Dann würde der Flammenhüter singen, und die Leuchtende würde vor Freude am Himmel über dem Tal tanzen. Ein solcher Sieg konnte dem Land große Hoffnung bringen. Nun, da Bridei und Gartnait junge Männer von achtzehn waren, beteiligten sie sich an den Grenzpatrouillen um Rabenbrunn. Im Allgemeinen wurden sie dabei von Donal oder einem von Talorgens ausgewählten Männern begleitet. Es war sinnvoll, zu dritt loszuziehen. Drei Männer konnten sich versteckt im Wald bewegen und durch geheime Signale miteinander in Kontakt bleiben: den Schrei einer Eule, das Rascheln eines Eichhörnchens im Unterholz. Wenn das Schlimmste geschehen sollte und einer verwundet wurde, konnte einer bei dem verletzten Mann bleiben und der andere Verstärkung holen. - 215 Es war ein frischer Herbsttag, und die Luft drang schmerzhaft kalt in die Lunge. Kleine Wolken standen vor Brideis und Gartnaits Mündern, als sie leise am oberen Rand des Kiefernwaldes entlangschlichen und Augen und Ohren nach Gefahren aufhielten. Heute waren sie nur zu zweit, denn die älteren Männer berieten sich mit einem neu in Rabenbrunn eingetroffenen Anführer, einem Mann, dessen Unterstützung Talorgen unbedingt gewinnen wollte. Donal sollte ebenfalls an der Beratung teilnehmen, ebenso wie der andere Mann, der für gewöhnlich mit den jungen Männern auf Patrouille ging. Gartnait und Bridei zogen es vor, ohne einen Dritten unterwegs zu sein. Sie hatten sich beide schnell miteinander angefreundet und wetteiferten miteinander, seit der schlaksige, sommersprossige Gartnait seinen ersten Sommer in dem wohl geordneten Haushalt von Pitnochie verbracht hatte. Es war schwer zu sagen, wer sich unbehaglicher gefühlt hatte, Gartnait in dieser Welt von Gelehrsamkeit, Ritual und Magie, oder Bridei im kommenden Sommer, als er den Lärm, die Scherze und die leidenschaftlichen Familienstreitigkeiten von Rabenbrunn ertragen und nicht nur mit Gartnait zurechtkommen musste, sondern auch mit seinen beiden jüngeren Brüdern und einer kleinen Schwester. Dreseida, die Mutter, war mit ihrem scharfen, abschätzenden Blick und ihren unerwarteten Fragen am schwierigsten. Im ersten Sommer, den er dort verbrachte, hatte sich Bridei nach Pitnochie gesehnt, nach Broichans ernster Disziplin, der stillen Ordnung im Haus, nach dem scharfen Geist und dem respektlosen Humor der beiden alten Männer. Aber vor allem hatte ihm Tuala gefehlt, denn wenn sie nicht an seiner Seite war, klein und ernst mit ihren Eulenaugen, die so vieles wahrnahmen, konnte er seine tiefsten Gedanken nicht aussprechen, sondern musste sie alle in sich anstauen. In diesem Sommer hatte er sehr beunruhigende Träume gehabt. Inzwischen war er an Rabenbrunn gewöhnt. Er hatte gelernt, über Scherze zu lachen, obwohl er immer noch nicht so - 216 recht wusste, wie man selbst welche machte. Er wusste, er hätte nie lernen können, was er für den Feldzug im kommenden Frühjahr brauchte, wäre nicht Gartnait gewesen, mit dem er üben konnte, während die beiden zu Männern heranwuchsen. Gartnaits kleine Brüder blickten bewundernd zu beiden auf. Ferada war etwas anderes. Bridei spürte, dass Gartnaits Schwester ihm ebenso wenig über den Weg traute, wie ihre Mutter es tat. Sie waren schwer zu deuten, die Frauen von Talorgens Haushalt; einen Augenblick lächelten sie und waren höflich, im nächsten waren sie plötzlich gekränkt, stellten Fragen, die er nicht beantworten konnte, oder wahrten eisiges Schweigen. Es war nicht überraschend, dachte Bridei, als er geduckt an den Überresten eines alten Steinwalls entlangschlich, dass er nie wusste, was er zu ihnen sagen sollte, denn er hatte überhaupt keine Übung. Die einzigen Frauen in Pitnochie waren Mara, die mehr an einen großen Wachhund erinnerte als an irgendetwas anderes, und die schüchterne Brenna. Tuala zählte nicht; sie war noch ein Kind. Wenn er jemals Zeit am königlichen Hof in Caer Pridne verbringen würde, würde er dort vielleicht ein paar Damen des Hofs kennen lernen und wissen müssen, wie er mit ihnen sprechen sollte. Diese Aussicht war alles andere als reizvoll. Ein leises Pfeifen: Gartnait, der vor ihm war, warnte ihn vor einer Gefahr. Bridei erstarrte. Eine Weile hörte man nur den Wind in den Kiefern und einen entfernten Vogelruf. Bridei konnte seinen Freund nicht sehen, aber er wusste, dass Gartnait ein paar hundert Schritt entfernt unter den ersten Bäumen stand und sich ebenso wenig regte wie er selbst. Bridei spürte, wie sein Herz raste, und zwang sich, gleichmäßig zu atmen, als er den Bogen von der Schulter nahm und einen Pfeil auflegte, jede Bewegung ein Schritt in einem Ritual, ausgewogen und sorgfältig. Unter diesen Kiefern wurde der Weg schnell dunkler, denn zwischen den massiven Stämmen der älteren Waldbewohner erhoben sich auch ihre hohen, schlanken Abkömmlinge zum Himmel und ver- 217 langten ihren Anteil am Licht. In ihrem Schutz gab es genügend Deckung: Felsvorsprünge, umgestürzte Bäume, die von Grün überwuchert waren, kleinere Pflanzen, die in geschützten Rissen oder plötzlichen engen Schluchten wuchsen. Es war nicht einfach, jemanden durch die oberen Bereiche dieses Waldes zu verfolgen; Talorgens Leute und Bridei hatten Tag und Nacht auf solchem Gelände geübt.
Selbstverständlich war es möglich, dass Gartnait nur ein Reh oder ein Wildschwein gesehen hatte. Dieser Tage, so kurz vor dem Feldzug, waren die Männer nur allzu bereit, jeden Schatten als Feind zu betrachten, ein Geweih als erhobenen Stab und einen Hauer als geschärfte Klinge. Wieder erklang das Pfeifen; ein einzelner Ton, kurz und dringlich. Mit ihm kamen eine Bewegung unten am Hügel im Farnkraut und eine Farbe, die nicht zum natürlichen Braun, Grau und Grün des Waldes gehörte: der helle Ton eines Menschengesichts, das schnell wieder verschwand, als der Mann Deckung suchte, hinter einem Busch, einem umgestürzten Baum, einem Steinhaufen. Er war schnell gewesen. Einen Augenblick später sah Bridei Gartnait links an sich vorbeieilen und hinter einer dichteren Kiefernreihe verschwinden. Sie hatten oft genug über eine solche Lage gesprochen, hatten Situationen wie diese mit den älteren, erfahreneren Männern geübt, vor allem mit Donal. Heute waren sie allein, und sie hatten keinerlei Erfahrung in echten Zweikämpfen. Bridei bewegte sich nach rechts und damit in die Gartnait gegenüberliegende Richtung. Sie würden den Eindringling in die Zange nehmen. Selbstverständlich, dachte Bridei, als er mit dem Bogen in der Hand über den mit Nadeln bestreuten Waldboden schlich, war es auch gut möglich, dass dieser Mann sie in eine Falle führte. Es konnte eine ganze Gruppe im Hinterhalt liegen. Er musste vorsichtig sein und durfte sich nicht sehen lassen, bis er wusste, was der Feind vorhatte. Das Ziel bestand nicht darin, den Mann zu töten. - 218 Spione verfügten über Informationen; sie mussten diesen hier lebendig erwischen. Bridei und Gartnait waren sich nach mehreren Jahren der gemeinsamen Ausbildung darüber im Klaren, dass jeder dem anderen gewisse Fähigkeiten voraus hatte. Gartnait würde nie ganz so gut wie Bridei mit dem Bogen umgehen können. Bridei konnte es im Laufen nicht mit seinem langbeinigen Freund aufnehmen, und er hatte auch nicht Gartnaits natürliche Begabung für alles, was mit dem Wasser zu tun hatte. Sehr zu Dreseidas Ärger machten viele im Haushalt Witze darüber, dass Talorgens ältester Sohn einen vom Seehundstamm unter seinen Ahnen haben müsse. Gartnait konnte nicht so gut mit Tieren umgehen wie Bridei, würde nie das Beste aus seinem Reitpferd herausholen oder Katze oder Hund eines Haushalts für sich einnehmen können. Und niemand in Rabenbrunn konnte sich so lautlos durch den Wald bewegen wie Bridei - eine Fähigkeit, die, wie Dreseida auf ihre trockene Weise feststellte, nur von jemandem gemeistert werden konnte, der von einem Druiden aufgezogen worden war. Damit hatte sie nicht Unrecht. Eine von Broichans frühesten Lektionen hatte sich seinem Schüler tief eingeprägt: Bewege dich immer durch den Wald, als wärst du ein Teil davon, Bridei, nicht wie ein Eindringling. Nun verursachten seine Füße kein Geräusch, oder zumindest keins, das von Menschen wahrzunehmen gewesen wäre. Er bewegte sich wie ein Waldtier, vorsichtig, aber sicher, spürte jede Erhöhung, jede Senke, jede Wurzel, jedes Blatt und jeden Stein, als wären seine Füße eine Erweiterung dessen, was unter ihnen lag. Seine Ohren waren auf das leiseste Geräusch eingestellt, seine Augen offen für das geringste Zeichen, das die Anwesenheit eines Fremden anzeigen könnte, seine gesamte Wahrnehmung zielte darauf ab, etwas zu bemerken, das nicht hierher gehörte. Er wusste, wo Gartnait war; das leise Knirschen eines vorsichtigen Stiefels auf dem Kiefernnadelteppich, das Flüstern - 219 von Atem zeigte an, wo sich sein Freund befand. Außerdem gab es bei dem, was sie taten, ein Muster, und sie kannten beide ihre Rollen, wie sie die alten Kinderreime kannten, beinahe instinktiv, irgendwo in ihrem schlagenden Herzen, dem pulsierenden Blut. Seite an Seite schlichen sie den Hügel hinab, bis sie dicht an der Stelle waren, an der der Feind sich geduckt hatte. Sie hätten einen dritten Mann gut brauchen können. Zu zweit, das wusste Bridei, mussten sie nun warten, denn er konnte sehen, dass ihr Mann sich in einer Senke zwischen Steinen versteckte, wo ein umgestürzter Baum, dessen gesplitterte Äste immer noch dichte Nadeln trugen, eine natürliche Barriere und ein Versteck bot. Einen Angriff auf eine solch sichere Stellung zu wagen wäre dumm, vielleicht sogar selbstmörderisch. Selbst ein einzelner Mann, der sich an einer solchen Stelle verbarg, konnte sich dort eine Weile gut verteidigen und dabei einigen Schaden anrichten. Zwei oder mehr konnten so lange aushalten, wie ihre Bewaffnung es erlaubte. Wenn sie einen Vorrat an Pfeilen oder Wurfmessern hatten, konnten sie zwei Angreifer leicht außer Gefecht setzen. Es war eine gute Wahl für ein Versteck gewesen. Aber nicht gut genug: Der Feind saß nun selbst in der Falle, denn seine Zuflucht hatte nur einen Ausgang, und wenn Bridei und Gartnait lange genug Wache hielten, würde er sich schließlich zeigen müssen. Dann würden sie ihn packen. Oder sie. Bridei hoffte, dass es nicht mehr als zwei waren. Erfolg bei diesem Unternehmen war von äußerster Wichtigkeit. Hier ging es nicht nur darum, einen Spion gefangen zu nehmen und den elenden Galen einen Schlag zu versetzen. Wenn sie es richtig machten, bot sich hier eine Gelegenheit, als Männer unter Männern akzeptiert zu werden, als Krieger, die es verdient hatten, zusammen mit Talorgens Elite ins Feld zu ziehen. Gartnait zeigte sich seinem Freund und signalisierte, dass er das Gleiche dachte wie Bridei. Sie ließen sich zu beiden - 220 Seiten und ein wenig oberhalb der Senke nieder, die Waffen bereit. Von dort unten würden sie nicht zu sehen sein. Nun waren die einzigen Geräusche im Wald das Plätschern eines Bachs, das Seufzen des Windes zwischen den Bäumen und das Rascheln von kleinen Tieren im Unterholz.
Es fiel Bridei leicht, still zu stehen, denn er war durch seine Erziehung an Disziplin gewöhnt. Für Gartnait war es schwieriger. Als ihre Wache immer länger dauerte und der Mann oder die Männer im Versteck sich weder regten noch einen Laut von sich gaben, konnte Bridei sehen, wie sein Freund das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte, den Griff am Messer änderte, ein Gähnen unterdrückte. Dennoch, beide junge Männer schwiegen weiter. Je länger das dauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass andere hier erscheinen würden, bevor es zu einer Konfrontation kam. Wenn einer von Talorgens Bewaffneten vorbeikam, um nach den jungen Männern zu sehen, würde das gesamte Muster sich ändern. Dann wäre es weniger wahrscheinlich, dass einer von ihnen verwundet oder getötet würde. Andererseits würden sie allerdings auch die Gelegenheit verlieren, allein mit der Situation fertig zu werden und endlich beweisen zu können, dass sie wahre Krieger waren. Bridei fand solche Gedanken beunruhigend, denn er wusste, dass sie eines erfahrenen Kriegers nicht würdig waren, für den die allgemeine Strategie mehr zählte als sein persönlicher Ehrgeiz. Lass sie nicht kommen, ehe wir mit der Arbeit fertig sind. Es war schließlich der Feind, der die Stille brach. Ein geflüstertes Wort erklang, nicht zu verstehen, aber mit einer Schärfe, die Bridei den Atem anhalten ließ. Der Mann benutzte die Sprache von Dalriada; es handelte sich tatsächlich um ihren Hauptfeind, und jetzt würde er sich vielleicht bewegen. Gartnait, das Messer in der Hand, warf Bridei einen Blick zu und zog die Brauen hoch. Angreifen? Jetzt? Bridei schüttelte den Kopf: Noch nicht. Dann machte er eine Reihe von - 221 Zeichen, von denen er hoffte, dass Gartnait sie verstand. Finger über die Kehle, dann ein Kopfschütteln: nicht töten. Er zeigte auf Gartnait, dann auf sich selbst, dann auf die Stelle, wo sie sich auf den Mann stürzen würden. Handgelenke zusammen wie gefesselt: Wir packen sie und fesseln sie. Sie hatten keine Zeit für mehr, aber Gartnait, in dessen Gesicht die Sommersprossen sich deutlich vor plötzlich blasser Haut abzeichneten, machte mit einem kleinen Nicken deutlich, dass er verstanden hatte. Sie waren zu nahe, um den Bogen benutzen zu können. Es würde ein Kampf Mann gegen Mann mit Messern werden. Brideis Mund wurde trocken; sein Atem war plötzlich schwerer zu beherrschen. Was, wenn der Feind sich nicht leicht besiegen ließe? Sie mussten einen längeren Kampf vermeiden, denn sie durften diesen Feind nicht zu schwer verletzen, damit er ihnen verraten konnte, was er wusste: Mit einigem Glück würden sie Gabhrans Stellungen erfahren, seine Bewaffnung, seine Streitkräfte, seine Pläne. Ein Spion war wie ein Schatz, und einen Schatz musste man vorsichtig behandeln, selbst als sehr junger Mann, der nie einem wirklichen Feind gegenübergestanden hat. Brideis Herz klopfte laut, sein Blut rauschte. Jede Faser seines Körpers war angespannt. Er benutzte die Techniken, die Broichan ihm beigebracht hatte, verlangsamte seinen Atem, beruhigte seine Gedanken. Wenn der Augenblick kam, musste er in jeder Hinsicht beherrscht vorgehen, denn sonst würden sie Talorgen, Donal und dem Rest dieses einflussreichen Haushalts nur die Geschichte einer vergeudeten Gelegenheit mitbringen können. Wer würde sie dann schon bei einem größeren Feldzug mitnehmen wollen, wenn sie mehr Verantwortung als Gewinn waren? Ein leises Hüsteln erklang aus dem Versteck, ein Geräusch beinahe so subtil wie ihre eigenen Zeichen, und einen Augenblick später brachen zwei Männer aus der Deckung und rannten rasch über das schwierige Gelände, so - 222 schnell, zu schnell. Gartnait verfolgte sie. Bridei schob das Messer in die Scheide, griff nach dem Bogen, legte einen Pfeil auf und schoss, alles in einem Zeitraum, der nicht einmal einen Atemzug zu umfassen schien. Er war immer ein hervorragender Schütze gewesen. Sein erster Schuss traf einen der Männer in die Schulter und ließ ihn taumeln, bevor er in den Kiefern verschwand; der zweite traf den anderen in den Oberschenkel. Dann rannte Bridei. Gartnait hatte einen der Feinde zu Boden gerissen und rang mit ihm im Unterholz; er fluchte, während er versuchte, dem Mann die Waffen abzunehmen, und sein Gegner schien die Flüche in seiner eigenen Sprache zurückzugeben. Bridei hielt inne. Der andere Mann, der mit der verletzten Schulter, schien auf magische Weise verschwunden zu sein. Er konnte sich nicht so viel schneller als sein Verfolger bewegt haben, nicht mit dieser Wunde. Bridei hatte genau gezielt; der Mann würde geschwächt sein und Schmerzen haben. Aber er würde immer noch ein Messer benutzen können, und es brauchte nur einen Augenblick, um aus der Deckung zu springen und einem Feind die Kehle durchzuschneiden. Bridei hielt den Atem an, lauschte nach einem Geräusch außer den wilden Flüchen, die Gartnaits Gefangener von sich gab, und dem Zischen von Gartnait selbst, der nun offenbar versuchte, dem Burschen die Hände zu fesseln. Er schloss diese Dinge aus, benutzte einen von Broichans Tricks, wandte seine Ohren einem einzigen anderen Geräusch zu, einem keuchenden Atemzug, einem Hecheln des Schmerzes; er benutzte seine Nase wie ein jagendes Tier und wartete auf den Geruch der Angst. Und da war er, der Feind, nicht weit entfernt unter dem Farnkraut, tief geduckt, und wartete. Wartete darauf, dass Bridei nur ein wenig näher kam... wartete darauf, zuzuschlagen ... Ein Schritt vorwärts, entschlossen und mutig. Den Bogen hielt er bereit, den Pfeil perfekt ausgerichtet. »Steh auf!«, rief Bridei. »Beide Hände auf den Kopf! Und - 223 jetzt komm raus, wo ich dich sehen kann, oder ich treffe beim nächsten Mal dein Herz!« Stille. Nichts rührte sich. »Ich ziele gut.« Bridei bemühte sich, einen befehlsgewohnten Ton anzuschlagen, und glaubte, Erfolg zu haben. »Willst du einen Vorgeschmack?« Und als er keine Antwort erhielt, ließ er den Pfeil los und betete, dass er den
Schuss richtig eingeschätzt hatte; den Atemgeräuschen nach zu schließen, gab es weniger als zwei Handspannen Spielraum. Er hörte, wie sein Pfeil sich in Holz bohrte - twack! - und war erleichtert, dass er sich nicht verrechnet und den Mann getötet hatte. Einen Augenblick später stand der Feind auf, eine Hand auf dem Kopf, den anderen Arm nutzlos an der Seite baumelnd. Rot breitete sich über die Schulter seines Waffenrocks und auf dem Hemd aus. Sein Gesicht war kreidebleich, sein Kinn angespannt, als bisse er vor Schmerz die Zähne zusammen. Sein Blick war kühl und abschätzend. »Komm her!«, befahl Bridei und wies mit dem Kopf in die entsprechende Richtung, denn der Mann würde kaum die Sprache der Priteni verstehen. Der Gäle gehorchte und ging zu der bezeichneten Stelle drei Schritte von Bridei entfernt im Schatten der Kiefern. Er starrte Bridei in die Augen, dann spuckte er ihm mit großer Präzision ins Gesicht. Bridei holte tief Luft. Er hob nicht die Hand, um den Speichel von der Wange zu wischen. »Dreh dich um«, befahl er. Der andere zog die Brauen hoch, um anzuzeigen, dass er nicht verstand. Er hatte nun einen leeren, ruhigen Ausdruck im Gesicht; tatsächlich schien er die ganze Sache ein wenig lächerlich zu finden. Er war jung, sah Bridei, vielleicht nicht viel älter als er selbst, obwohl seine Augen die eines viel älteren Mannes hätten sein können. »Dreh dich um!«, fauchte Bridei, zeigte mit dem Messer und griff nach dem Seil, das er in seinem kleinen Bündel trug. Der Feind drehte ihm den Rücken zu. Einen Augenblick später, als Bridei ihm die Handgelenke fesseln wollte, zuckte der Fuß des Galen, um Brideis Schienbein einen schwe- 224 ren Tritt zu versetzen, und er riss den unverletzten Arm fest zurück und traf Bridei in die Rippen. Aus dem Gleichgewicht gebracht und atemlos, tat Bridei das Einzige, was ihm übrig blieb: Er sprang vor und packte den Galen am verwundeten Arm, zog ihn mit seinem eigenen Gewicht nach unten, bis er seinen Gegner nach einem schmerzvollen Kampf am Boden auf den Rücken gedreht hatte, wo er keuchend liegen blieb und Brideis Messer an seinem Hals spürte. »Versuch das noch einmal, und ich breche dir auch den anderen Arm«, keuchte Bridei. »Gartnait!« Obwohl der Gäle verwundet war, war er sicher bereit für einen weiteren Trick, und noch einen; er würde weiterkämpfen. Bridei konnte es ihm ansehen; in den Augen dieses Mannes stand nicht die geringste Spur von Angst. »Binde seine Hände«, murmelte er, als Gartnait näher kam; Talorgens Sohn hatte seinen eigenen Gegner offensichtlich ordentlich verschnürt, denn es war kein Fluchen mehr zu hören. Gartnait beschäftigte sich mit dem Seil. Der Gefangene wand sich, versuchte, sich Brideis Griff zu entziehen. »Halt still, Abschaum!« Gartnait versetzte dem Mann einen Schlag gegen das Ohr und riss so fest an der Schnur, dass sie tief in die Handgelenke des Galen einschnitt. Bridei zuckte zusammen, stellte sich vor, wie die Schmerzen den Arm entlang bis zur verletzten Schulter zogen. Der Mann selbst zuckte nicht mit der Wimper. »Kann der andere laufen?«, fragte Bridei seinen Freund. »Wir sollten uns lieber beeilen. Es könnten noch mehr von ihnen da draußen sein.« »Ich habe meinen geknebelt«, sagte Gartnait. »Wir sollten es mit dem hier genauso machen.« »Ihr habt schon genug Krach gemacht, um ihre Verstärkung zu alarmieren, falls es welche gibt«, stellte Bridei trocken fest. »Geh schon, hol deinen Mann, ich kümmere mich um diesen hier. Und danke.« - 225 Gartnait grinste. »Keine Ursache. Du wirst sicher bald Gelegenheit erhalten, den Gefallen zu erwidern.« Auf Gartnaits Wange war ein wenig Blut - nicht sein eigenes - und in seinen Augen stand ein Ausdruck, den Bridei bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte es nicht so recht deuten, aber das Ganze bewirkte, dass ihm plötzlich kalt wurde. Ohne sich umzudrehen, spürte er den Blick des Gefangenen, der auf ihm ruhte. Bridei schlang das Ende des Seils um eine Hand und hatte den Mann damit an der Leine wie einen Hund. Er richtete sein Messer auf den Rücken des Galen. »Beweg dich«, befahl er, und sie machten sich auf nach Rabenbrunn. Hinter ihm zerrte Gartnait seinen Gefangenen ungeschickt weiter, denn die Beinwunde bedeutete, dass der Mann nicht ohne Stütze laufen konnte. Bridei wurde langsamer, um nicht zu weit nach vorn zu geraten und damit Lob einzuheimsen, das ihm nicht allein zustand. Sie hatten gute Arbeit geleistet; Talorgen würde das anerkennen müssen. Auch Donal würde auf seine ruhige Art beeindruckt sein. Warum fühlte sich Bridei dann immer noch unbehaglich und angespannt, warum nagte etwas an ihm, das sich nicht richtig anfühlte? Lagen mehr Feinde hinter den Kiefern auf der Lauer und waren bereit zuzuschlagen? Sicher nicht; der ideale Augenblick für einen solchen Hinterhalt war lange vorüber. Würden ihre Gefangenen plötzlich versuchen, sich zu befreien, und diesmal bessere Arbeit leisten? Kaum; Gartnaits Gefangener wurde schwächer, sein Gesicht war gruselig weiß, die Beine gaben unter ihm nach; der da würde eine Weile nicht mehr rennen. Brideis Gefangener hatte aufgehört, sich zu wehren, obwohl seine Miene nicht die eines besiegten Mannes war. Dieser Bursche hatte nicht das rote Haar und das breite, blasse Gesicht, das unter den Männern von Dalriada so verbreitet war. Sein Gesicht war eher lang gezogen, sein Haar dunkel, sein Körper drahtig und muskulös. Der Mann hätte beinahe ein Pri- 226 teni sein können, nur dass er keine Spur der Nadeln eines Tätowierers im Gesicht trug. Jeder erfahrene Priteni-
Krieger trug seine Kampfzeichen mit Stolz, neben seinen Verwandtschaftszeichen, den Tieren und Symbolen, die anzeigten, zu welcher Familie er gehörte. Nach dem Frühlingsfeldzug würden auch Bridei und Gartnait sich ihre ersten Kampftätowierungen verdient haben. Die Haut dieses Mannes zeigte keine solchen Muster, und das kennzeichnete ihn an diesem Ort besser als alles andere als einen Fremden. Obwohl seine Wunde stetig blutete, ging der Gefangene entschlossen weiter, den Blick nach vorn gerichtet, die Schultern gerade. Bridei konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er selbst abgeschätzt wurde. Wenn man mit einem Druiden als Lehrer aufwuchs, lernte man, andere Menschen auf subtile Art zu deuten, den Atem zu beobachten, die geringste Veränderung im Blick. Es waren die Augen dieses Mannes, die ihn mehr als alles andere verstörten. Sie waren wie die Augen der Mörder im Dunklen Spiegel, der Krieger, die vor langer Zeit durch das Tal der Gefallenen gefegt waren und alles getötet hatten, was sich ihnen in den Weg stellte. In diesen Augen standen weder Mitleid noch Hoffnung; sie sahen nur die Aufgabe, die vor ihnen lag, und kannten nur den Willen, sie zu erledigen. Eine Armee mit solchen Blicken würde schwer aufzuhalten sein und, dachte Bridei schaudernd, beinahe unmöglich anzuführen. Solche Männer kämpften ohne ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit, sie töteten, ohne zu wissen, dass ihr Feind ein Mensch war. Eine wahrhaft mörderische Truppe. Als sie die Steinwälle erreichten, die die inneren Höfe von Rabenbrunn umgaben, stützte sich Gartnaits Gefangener schwer auf die Schulter des jungen Mannes und schien kurz davor zu stehen, das Bewusstsein zu verlieren. Der andere bewegte sich hoch aufgerichtet wie ein König und hatte den Mund geringschätzig verzogen. Bald schon erschienen Talor- 227 gen und Donal; die Beratung war von der Nachricht, dass die beiden jungen Männer Gefangene brachten, unterbrochen worden. Es war alles, worauf Bridei gehofft hatte. Männer sammelten sich um sie, um ihnen zu gratulieren, und als die Gefangenen weggeführt wurden, bemerkten mehrere, dass man ihnen wahrscheinlich wichtige Informationen entreißen konnte. In Talorgens Augen stand überraschter Respekt, in Donais zurückhaltender Stolz. Und dennoch, während des gesamten restlichen Tages und des Abends wurde Bridei seine Unsicherheit nicht los. Er konnte den Grund dafür nicht herausfinden. Es war in mancher Hinsicht ein Fluch, von einem Mann wie Broichan aufgezogen worden zu sein. Gartnait hatte gelernt, wie man kämpfte, wie man sich in Gesellschaft verhielt, wie man ritt. Er lernte nun, wie man ein großes Anwesen wie das seines Vaters beaufsichtigte. Bridei hatte stattdessen andere Fähigkeiten erworben: Man hatte ihm beigebracht, wie man hinsah und zuhörte, wie man Überraschungen erwartete und darauf vorbereitet war, wie man die Stimmungen eines Menschen deutete und manchmal seine Gedanken aus einer winzigen Geste schließen konnte, einem kaum merklichen Flackern des Blicks. Man hatte ihm beigebracht, wie man aus allem, womit man zu tun hatte, lernen konnte: aus dem Guten, dem Schlechten, aus Triumphen und Demütigungen. Heute hatten Gartnaits blitzende Augen seine Freude über ihren Erfolg gezeigt; seine geröteten Wangen machten deutlich, wie sehr er sich nach der Anerkennung seines Vaters sehnte. Bridei nahm Talorgens Glückwünsche entgegen, wie sein Freund es tat, und nickte höflich und erklärte, dass er seinen eigenen Mann ohne Gartnaits Hilfe verloren hätte. Aber was ihm auffiel und Gartnait nicht, war ein geringes Zögern in Talorgens Stimme, ein kleines Zucken der Lippe, als wäre das, was sie getan hatten, so mutig und geschickt es gewesen sein mochte, auf gewisse Weise nicht, was sie dach- 228 ten. Und später beobachtete Bridei, dass Cenal, ein zurückhaltender Schatten von einem Mann, dessen Aufgabe im Verhör von Gefangenen bestand, tatsächlich nach ihrer Ankunft für beträchtliche Zeit verschwand und es gewisse Hinweise gab, dass die üblichen Prozeduren angewandt wurden, aber es erklang nur eine einzige Stimme aus der isolierten Hütte hinter dem Pferdestall, und Bridei war sicher, dass nicht sein Gefangener da schrie. Das ließ sich selbstverständlich leicht erklären. Es galt als klug, Gefangene voneinander zu trennen und sie gegeneinander auszuspielen. Aber Brideis Unbehagen blieb, und die Geräusche aus der Hütte verklangen zu leisem Schluchzen und Stöhnen, und schließlich hörte man gar nichts mehr. Was hätte Bridei tun sollen? Man ging nicht zu einem mächtigen Mann wie Talorgen und verlangte Erklärungen, besonders nicht, wenn die eigenen Zweifel auf nichts weiter als einem vagen Gefühl beruhten. Beim Abendessen erwähnte Talorgen, dass die Gefangenen beim Verhör gestorben waren, und dass man ein paar nützliche Tatsachen von ihnen erfahren hatte. Ihr Tod war ein wenig verfrüht gewesen; nach allem, was Cenal ihm gesagt hatte, hatten die Wunden von Brideis Pfeilen und die Blutungen danach beide Männer sehr geschwächt und ihren Widerstand gegen die Folter verringert. »Ich verlasse mich darauf, dass du nicht zu heftig warst«, hatte Talorgen zu Cenal gesagt, der am nächsten Tisch saß. »Nein, Herr. Ich verstehe mein Handwerk.« Ein gekränkter Ausdruck lag auf Cenals unauffälligen Zügen. Bridei legte das Messer hin; der Appetit auf das gute Rindfleisch war ihm plötzlich vergangen. Er sagte nichts; es wäre unangemessen gewesen, seine Meinung darüber kundzutun. Vielleicht hätte er die Männer gefangen nehmen sollen, ohne ihnen so schwere Wunden beizubringen. Aber nun wünschte er sich beinahe, sie gleich getötet zu haben. Alle wussten, dass jeder Gäle, der dumm genug war, sich auf Talorgens Land erwi- 229 -
sehen zu lassen, gefoltert wurde; Gabhrans Anführer taten das Gleiche mit den Spionen der Priteni, wenn die Situation umgekehrt war. Aber es war etwas anderes, wenn man den Mann selbst gefangen genommen, ihn zu Boden gerungen, ihn an einem Seil geführt, ihm in die Augen geschaut und gesehen hatte, wie sein Blut aus einer Wunde lief, die man selbst verursacht hatte. Es war etwas anderes, wenn man ihn selbst abgeliefert hatte, damit er zu Tode gefoltert wurde. Bridei erinnerte sich an das Gesicht des Mannes, unerbittlich wie in Stein gemeißelt. Der dunkelhaarige Gäle hätte nicht nur keine Geheimnisse verraten, er wäre auch ohne einen Laut gestorben, da war Bridei sicher. Und das bedeutete, dass Talorgen gelogen hatte, als er behauptete, beide Gefangene hätten nützliche Informationen verraten. Es gab nur einen Menschen, mit dem Bridei darüber sprechen konnte, und das war Donal. Er musste auf eine Gelegenheit warten: Das Abendessen dauerte für gewöhnlich lange; die Familie saß am oberen Tisch, der große Haushalt an langen Tischen in der Halle, während die vielen Bewaffneten, die bereits in Vorbereitung auf den Feldzug im Frühjahr in Rabenbrunn lebten, auf langen Bänken an den Wänden saßen. Hunde streiften umher, Fackeln qualmten, Bier floss. Als Brideis Lehrer und Leibwächter saß Donal am Tisch der Familie. Bridei versuchte, seinen Blick einzufangen, ihm zu bedeuten, dass er später mit ihm sprechen wollte, aber Donal debattierte mit Talorgen über eine Feinheit seiner Strategie, und es war die Dame Dreseida, die an diesem Abend offenbar unbedingt mit Bridei sprechen wollte. Das dunkle Haar fest unter einem Kopfputz mit Perlenfransen zurückgebunden, die schlanken Hände mit den beringten Fingern elegant auf dem Tisch vor sich gefaltet, beugte sie sich vor und versetzte Bridei einen forschenden Blick. Ihre Verhöre waren unvorhersehbar und erfüllten den jungen Mann mit tiefem Unbehagen; er wusste bereits aus Erfahrung, wie immer er auch antwortete, Dreseida war nie damit zufrieden. - 230 »Nun, Bridei, du hast dich heute als Held erwiesen. Ich nehme an, Broichan wird sehr stolz auf dich sein.« Bridei setzte zu einer Antwort an, aber Gartnaits Schwester Ferada war zu schnell für ihn. »Broichan ist ein Druide, Mutter.« Ihre Stimme triefte nur so vor Verachtung. Sie war Dreseidas Stimme sehr ähnlich, und das Gleiche galt für Feradas aufrechte Haltung, ihre majestätische Art, den Kopf zu heben, und ihr makelloses Aussehen, jedes Haar an Ort und Stelle, jede Falte ihres Gewands dort, wo sie hingehörte. Ferada war jünger als Gartnait, aber man konnte sie nicht ansehen, ohne zu wissen, was für eine Furcht erregende Frau sie eines Tages sein würde. »Druiden interessieren sich nicht für mutige Taten und Waffenkunst. Wenn Broichan hier wäre, würde er Bridei fragen, ob er etwas daraus gelernt hat, zwei Männer mit seinen Pfeilen aufzuspießen und sie dann nach Hause zu schleppen, wo sie von der Hand von Vaters Schurken eines qualvollen Todes starben. Stimmt das nicht, Bridei?« Es wurde still, und Ferada erkannte, dass das Reden und Lachen in ihrer Nähe verklungen war, während sie sprach, und alle am oberen Tisch ihre Worte gehört hatten, auch ihr Vater. Beschämte Röte stieg in ihre Wangen. »Ferada hat Recht.« Bridei sprach schnell, um das unbehagliche Schweigen zu beenden. »Mein Pflegevater würde vor allem danach fragen, was ich aus der Erfahrung gelernt habe, nicht unbedingt nach dem Ereignis selbst. Dennoch, Druiden interessieren sich auch für die Fähigkeiten eines Mannes im Kampf; es ist noch nicht so lange her, dass Broichan an König Drusts Seite ritt, als dieser gegen die Armeen von Dalriada kämpfte. Es gehört auch zu den Aufgaben eines Druiden des Königs, den Herrscher in Kriegsfragen zu beraten: die Vorzeichen zu befragen, Prophezeiungen zu machen, den besten Zeitpunkt für einen Vormarsch oder einen Rückzug zu finden. Er hilft dem König bei seinen Entscheidungen und beschwört das Wohlwollen der Götter auf ihn herab.« - 231 »Ferada mag die Wahrheit gesagt haben«, stellte Talorgen mit einem verärgerten Blick auf seine Tochter fest, »aber es bestürzt mich, dass sie ihre Zunge nicht genügend im Zaum hat, um ihre Bemerkungen mit Zurückhaltung zu formulieren.« Ferada kniff die Lippen zusammen, und sie blinzelte mehrmals. »Dennoch«, warf ihre Mutter ein, »deine Tochter verdient eine Antwort auf ihre Frage, wie unelegant sie sie auch gestellt haben mag.« Dreseida wandte Bridei ihren durchdringenden Blick zu und zog die Brauen hoch. »Welche Frage?«, wollte Gartnait erstaunt wissen. »Sie hat keine Frage gestellt.« Nun beobachtete Talorgen Bridei, und Donal tat das Gleiche. »Das ist wahr«, sagte Bridei so ruhig er konnte, »aber die Frage war deutlich, wie unausgesprochen auch immer. Broichans Frage: Was lässt sich aus den heutigen Ereignissen lernen?« »Und?«, hakte Gartnait nach. Es war klar, dass er selbst nicht antworten wollte. »Man lernt nicht so schnell.« Bridei sehnte sich zutiefst danach, wieder zu Hause in Pitnochie zu sein, wo es Stille genug gab, um über solche Fragen nachzudenken, wo es Raum genug gab, um die Stimmen der Götter zu hören, wo die Menschen ruhig dasaßen und ihm Zeit ließen, um nachzudenken. Er brauchte Broichan, er vermisste Wid und Erip, und er sehnte sich nach Tuala und ihrem Schweigen. »Ich möchte nicht den Eindruck machen, als hielte ich mich für so weise wie meinen Pflegevater. Das hier war Gartnaits und meine erste Begegnung mit dem Feind.« »Und ihr habt es gut gemacht«, sagte Talorgen. »Ihr habt euch gut geschlagen«, fügte Donal hinzu. Aber in seinem Tonfall lag eine Frage.
Bridei wusste, dass er mehr sagen musste, obwohl er sei- 232 ne Gedanken lieber für sich behalten hätte. Aber zumindest um Gartnaits willen sollte er fortfahren, so zu tun, als wäre es ein vollkommener Triumph. Ferada sollte verflucht sein; sie mischte sich in alles ein und war klüger, als gut für sie war. »Ich war überrascht festzustellen, dass dieser Feind ein menschliches Gesicht hatte«, sagte er. »Das hat mich beunruhigt, denn alles in der Geschichte unseres Volkes macht mich zu einem Feind der Galen, und das werde ich bleiben bis zu dem Tag, an dem wir sie von unserem Ufer vertreiben. Ich muss immer noch lernen, mit diesen Dingen fertig zu werden. Mit der Zeit wird es mir gelingen. Auf dem Schlachtfeld können wir uns solche Skrupel nicht leisten. Ich habe heute Mut erlebt. Cenal wird uns sicherlich sagen können, dass der gleiche Mut bis zum Ende demonstriert wurde.« Zum Glück schien Talorgen Brideis kleine Ansprache nicht übel zu nehmen. »Das mag sein«, sagte der Anführer, »aber wir werden nicht in Einzelheiten gehen, nicht solange Frauen und Kinder anwesend sind. Krieg ist ein brutales Geschäft. Ihr seid noch junge Männer. Das hier war nur ein Vorgeschmack dessen, was euch bevorsteht. Glaubt mir, wir alle hatten am Anfang solche Gefühle, aber sie dauern nicht lange. Wenn wir sie nicht unterdrückten, würden sie nur unserer Entschlossenheit im Weg stehen. Und nun wollen wir von anderen Dingen sprechen. Uns steht eine Veränderung bevor; unser Unternehmen im Frühling wird bedeutend sein. Sobald die Feindseligkeiten begonnen haben, wird Rabenbrunn nicht mehr sicher sein. Dreseida wird vor dem Jungfrauentanz das Tal hinauf reisen und die Familie in den Schutz von Drusts Hof bringen.« Er wandte sich Ferada zu, die sich wieder gefasst hatte und nun seinem Blick mit einem eindeutig herausfordernden Ausdruck begegnete. »Das wird dir eine Gelegenheit bieten, ein wenig Zurückhaltung zu lernen, Tochter«, sagte Talorgen nicht unfreund- 233 lieh. Es war bekannt, dass er es vorzog, wenn seine Kinder aussprachen, was sie dachten, selbst wenn das Ergebnis hin und wieder peinlich war. Tatsächlich hatte er irgendwann einmal geäußert, wenn Gartnait so viel Interesse an den Angelegenheiten von Fortriu zeigte wie seine Schwester, könnte er einmal mehr aus sich machen, als nur ein fähiger Kämpfer zu sein. »Du wirst im Haus der Weisen Frauen in Banmerren untergebracht werden«, fuhr der Anführer fort, »wo du den hervorragenden Unterricht erhalten wirst, den sie Mädchen von adliger Geburt erteilen. Meine Gemahlin wird am Hof bei ihren Verwandten bleiben, zusammen mit den Jungen.« Talorgen musste sich des Schweigens von Gartnait und Bridei bewusst sein; ihre eigenen Plätze in diesem Plan mussten noch erläutert werden. Oder betrachtete man sie immer noch als Jungen, die in Sicherheit gebracht wurden, sobald etwas Interessantes passierte? Donal räusperte sich. »Bridei, Broichan erlaubt dir, an dem Feldzug gegen die Galen teilzunehmen«, sagte er. »Er ist nicht gerade froh darüber, aber er weiß, dass es Zeit ist, mehr als Zeit, wenn ich ehrlich sein soll. Tatsächlich wird er eine kleine Truppe aus seinem eigenen Haushalt schicken, sodass wir ein paar alte Freunde wieder sehen werden, wie Uven und Cinioch. Ich nehme an, Talorgen wird Gartnait mit dir reiten lassen. Ihr habt heute gezeigt, was ihr gemeinsam leisten könnt.« Talorgen lächelte. »Wir werden euch beide gut gebrauchen können. Seid jedoch gewarnt: Es wird nicht wie heute zugehen; in einer Schlacht gibt es keinen ausgeglichenen Kampf Mann gegen Mann. Krieg ist schmutzig, grausam und gefährlich. Jeder gute Mann fühlt sich hin und wieder davon angewidert. Aber es ist notwendig, solange es Abschaum wie die Galen auf dieser Welt gibt. Sie haben lange genug unsere Küsten besudelt und unser Land verwüstet. Im Frühjahr sollten sich die Gezeiten wenden. Wenn wir Galanys Höhe - 234 einnehmen, wird uns das Hoffnung geben, Hoffnung auf größere Dinge. Und ihr beiden werdet ein Teil davon sein.« »Wenn du noch breiter grinst, Gartnait«, meinte Ferada, »dann zerfällt dein Kopf in zwei Teile.« Gartnait zog eine Grimasse und konnte dennoch sein Entzücken nicht verbergen. Was Bridei anging, so waren seine Gefühle gemischter, als er erwartet hätte. Endlich als Mann und Krieger akzeptiert zu werden, war gut und wärmte sein Herz. Dennoch, nach den heutigen Ereignissen fragte er sich, ob er auch nur im Geringsten verstand, was es wirklich bedeutete. Die Bilder aus dem Dunklen Spiegel waren nun viel näher an der Oberfläche seiner Gedanken, voller Trauer und Verwirrung, voll von schrecklichem Mut wie dem des jungen Mannes, dessen Tod er heute verursacht hatte. Aber dieser Mann war ein Spion gewesen. Er war der Feind gewesen, von der gleichen Art wie diese Krieger mit dem leeren Blick aus dem Tal, die getötet hatten, ohne nachzudenken. Wie konnte man kämpfen, wie man sollte, wenn man solche Bedenken hatte? »Das ist ungerecht.« Gartnaits jüngster Bruder Uric, eine explosive Präsenz von sieben Jahren, war aufgesprungen und schlug nun so heftig auf den Tisch, dass Bretter und Messer tanzten. »Wir werden nie alt genug sein, um in den Krieg zu ziehen! Wer will denn schon wieder den Hof besuchen? Ein Haufen alter Männer, die in den Ecken sitzen und murmeln, das ist alles, und Leute, die uns sagen, wir sollen still sein.« Talorgens Blick wandte sich nachdenklich seinem jüngsten Sohn zu, und Uric schwieg. »Er hat Recht«, warf Bedo, ein Jahr älter und geringfügig weiser, ein. »In Caer Pridne müssen wir uns die ganze Zeit gut benehmen. Wir würden lieber zu Hause bleiben, wenn hier endlich einmal etwas geschieht, Vater! Wir
könnten helfen. Es gibt alle möglichen Dinge, die wir tun könnten. Wenn Gartnait bleiben darf, warum dann nicht wir?« - 235 »Ja, ihr würdet wirklich viel nützen«, sagte Gartnait leise und versetzte seinem kleinen Bruder einen Rippenstoß. »Du hast nicht die geringste Vorstellung, um was es geht, Bedo.« Feradas Stimme hatte wieder ihren üblichen Unterton ruhiger Überlegenheit. »Gartnait und Bridei sind Männer. Ihr beiden seid kleine Kinder. Gartnait und Bridei könnten am Ende des Frühjahrs tot sein. Habt ihr daran schon einmal gedacht? Seid froh, dass ihr zu jung seid. Ihr werdet schon noch früh genug drankommen. Und wenn ihr das für ungerecht haltet, versucht einmal, ein Mädchen zu sein.« »Lasst uns nicht mehr von Ungerechtigkeiten sprechen«, sagte ihre Mutter und stand auf. »Ihr tut, was euer Vater und ich euch sagen, und dabei bleibt es. Und jetzt ist es Zeit für euch Jungen, zu Bett zu gehen. Ferada, ich habe etwas für dich zu tun; überlassen wir die Männer ihren Kriegsgesprächen.« Viel später fand Bridei Donal allein beim nördlichen Wall, wo er auf den dunklen Hang und zu dem trüben, bleichen Band des Jungfernsees hinausschaute. Ihm war klar, dass Donal auf ihn wartete; nach so vielen Jahren als Lehrer und Schüler und dann eher als Freunde verstanden sie einander sehr gut. Eine Weile standen sie in geselligem Schweigen beisammen und lauschten den leisen Geräuschen der Nacht. »Was heute geschehen ist...«, begann Bridei. »Mhm?« »Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Ich könnte es nicht vor Talorgen aussprechen, es würde sich dumm anhören. Es sah nach außen so aus, als hätten wir einen guten Fang gemacht, als hätten sich die Gefangenen als nützlich erwiesen. Aber etwas daran stimmt einfach nicht.« »Ah ja?« »Ich kann nicht viel über den Mann sagen, den Gartnait erwischt hat. Aber der, den ich gefangen genommen habe, hätte nicht so schnell unter der Folter nachgegeben. Und er - 236 hat vielleicht geblutet, aber die Wunde war nicht schwerwiegend genug, um ihn umzubringen. Ich habe sorgfältig gezielt; das tue ich immer. Warum sind sie also mit ihnen so grob umgegangen? War das nötig?« »Sag du es mir«, forderte Donal. »Ich bin es wieder und wieder durchgegangen«, sagte Bridei nachdenklich. Er sprach leise; es waren immer noch andere in der Nähe. »Dieser Mann hätte nützlich sein können, das habe ich gespürt. Vielleicht hätte er nicht geredet, aber er hätte einigen Wert gehabt, vielleicht als Geisel. Es wäre besser gewesen, ihn wieder zusammenzuflicken und zu behalten. Was Cenal getan hat, war einfach ...« »Unmenschlich? So sind die Dinge nun einmal. Es gibt keinen Platz für Skrupel, wenn Spione bis an die Schwelle eines Mannes gelangen. Diese Leute haben gezeigt, dass sie nichts für Nettigkeiten übrig haben, wenn unsere Krieger in ihre Hände fielen. Ihre Methoden würden dich anwidern.« »Es war roh«, sagte Bridei unbeirrt. »Roh, und wie ich fürchte, vollkommen erfolglos, was immer Talorgen darüber verlauten ließ. Warum hat er diesen Kurs eingeschlagen? Talorgen ist weder dumm noch grausam. Es gibt etwas, was er uns nicht verrät.« Donal nickte. »Mag sein. Dennoch, wenn du ihn nicht offen fragen willst, wirst du wohl nicht herausfinden, was es ist.« »Du glaubst nicht«, verlieh Bridei seiner größten Sorge Ausdruck, »dass die ganze Sache geplant war?« »Wie meinst du das, geplant?« »Ich meine, dass es vollkommen vorgetäuscht war, sodass Gartnait und ich Gelegenheit erhielten, unsere Fähigkeiten als Krieger zu demonstrieren, ohne wirklich in Gefahr zu geraten. Ein falscher Hinterhalt, Männer, die sich als Feinde ausgaben, eine seltsam passende Gelegenheit für uns beide, sie ohne Hilfe gefangen zu nehmen. Es beunruhigt mich, dass sich Broichan so um meine Sicherheit sorgt. Das war - 237 alles schön und gut, als ich noch ein Kind war, damals, als es aussah, als wollte jemand ihn treffen, indem man mich umbrachte. Aber ich bin jetzt ein Mann. Stört es dich nicht, dass du immer in meiner Nähe sein musst, du oder ein anderer ausgesuchter Wachtposten, dass du vor meiner Schwelle schlafen und mein Wachhund sein musst, statt mein Freund zu sein? Talorgen behauptet, ich sei ein Mann, aber die Sicherheitsmaßnahmen meines Pflegevaters zeigen mir, dass ich für Broichan immer noch ein Kind bin, das vor Schaden bewahrt werden muss. Vielleicht war der kleine Triumph dieses Tages der eines Kindes, den andere für mich arrangiert haben.« »Ich bin dein Freund, Bridei.« Donais Stimme war sehr leise. »Das weiß ich; und du bist ein besserer Freund, als ich mir je wünschen könnte. Aber man muss mir irgendwann gestatten, auf meinen eigenen Füßen zu stehen.« »Ich kann dir eins sagen«, erwiderte Donal. »Die Leiche, die heute Nachmittag aus Cenals Haus der Schmerzen geschleppt wurde, war echt.« Wieder wurde Bridei kalt, und die Kälte schlang sich um sein Herz wie die Hand eines Gespensts. »Leiche? Welcher Mann war es?« »Ein Bursche mit einem Verband um das Bein. Ich weiß nichts über den anderen; ich bin nicht stehen geblieben, um zu sehen, wie er ebenfalls rausgebracht wird. Diese Männer sind Dreck, Bridei. Sie sind nicht einmal wert,
unter deiner Stiefelsohle zu kleben. Du solltest keine Gedanken mehr an sie verschwenden.« Bridei schwieg. »Was Jungen und Männer angeht«, sagte Donal und legte die Hand auf Brideis Schulter, »so wirst du beim Feldzug deine Rolle als Krieger unter Kriegern spielen; das ist etwas, dem du dich stellen musst, ebenso wie Gartnait. Aber Broichan hat Recht, wenn er dich schützen will. Viel- 238 leicht hätte er die Gründe besser erklären sollen. Ich denke, du hast das Recht, das von ihm zu verlangen, wenn dieser Feldzug vorüber ist. Es ist Zeit, dass er dir mehr sagt. Was mich angeht, so tue ich, was man mir befiehlt. Ich weiß, du glaubst, dass solche Wachsamkeit nicht notwendig ist. Aber das stimmt nicht. Du bist immerhin der Sohn eines Königs.« »Wir sind weit von Gwynedd entfernt«, wandte Bridei ein. »Dennoch. Nach dem Frühling könnten sich die Dinge verändern. Bis dahin wirst du mich noch ertragen müssen.« Bridei warf dem tätowierten Krieger einen Blick zu. Donais Miene war in dem trüben Licht nicht zu deuten. »Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren«, sagte er leise. »Wenn du nicht hier wärst, fände ich es unerträglich. Du bist mein Stück Zuhause, wenn ich nicht in Pitnochie bin. Du hilfst mir, die Dinge zu verstehen. Aber wenn ich in den Kampf reite, möchte ich auf der gleichen Ebene stehen wie die anderen Männer, die gleichen Gelegenheiten haben, die gleichen Risiken eingehen. Du solltest dich nicht meinem Schutz widmen, sondern den Feind verfolgen. Ich weiß nicht, welche Anweisungen Broichan dir gegeben hat, aber ich hoffe, du wirst respektieren, was ich gerade gesagt habe.« »Ah ja.« Es war unmöglich zu sagen, wie Donal das meinte. »Ein Mann ist heute wegen etwas, das ich getan habe, gestorben.« »Und noch mehr werden sterben, wenn du in den Krieg reitest, deine eigenen Leute ebenso wie Feinde. Du wirst spüren, wie sich dein Messer im Herzen eines Mannes dreht. Du wirst den Ausdruck in seinen Augen sehen, wenn er nach seiner Mutter schreit, während du ihm den Speer in die Eingeweide stößt. Das erste Mal ist es am schlimmsten. Aber es wird niemals einfach, es fällt einem nie leicht. Du musst dich daran erinnern, was sie getan haben, diese dreckigen Mistkerle. Du musst dich jeden Augenblick, den du da draußen - 239 bist, an das Unrecht erinnern, das sie unserem Land angetan haben, die Vergewaltigungen, das Gemetzel an Kindern, das Niederbrennen unserer Siedlungen, die Zerstörung unserer heiligen Orte. Halte dir das vor Augen, und deine Hand wird nicht zögern, nach dem Schwert zu greifen und einen Schlag für die Freiheit zu führen.« »Und heute?« »Lass es hinter dir. Frage dich, ob du solche Zweifel hättest, wenn du heute früh hättest mit ansehen müssen, wie Gartnait die Kehle durchgeschnitten wurde. Du hast das Richtige getan. Du hast getan, was ein Mann tun muss. Das ist alles, was zählt.« Eine Bemerkung Feradas nagte an Brideis Gedanken, lenkte ihn von den so wichtigen Vorbereitungen für den Krieg ab. Wenn das Frühjahr zu Ende ist, könnten Gartnait und Bridei tot sein. Das hatte er selbstverständlich gewusst. Leibwächter oder nicht, er erkannte, dass er bald einer sehr wirklichen Chance gegenüberstehen würde, in den Weg eines gälischen Speers oder Pfeils zu geraten. Es war nicht die Aussicht auf den Tod selbst, die Bridei so beunruhigte. Es war der Gedanke zu sterben, ohne die Wahrheit zu wissen, ohne sicher sein zu können, ob die Zukunft, die Broichan so sorgfältig für ihn vorbereitete, tatsächlich jene war, die er immer mehr annahm zu haben. Er wollte nicht warten, wie Donal vorgeschlagen hatte, und Broichan im Frühjahr um eine Antwort bitten. Im Frühjahr konnte es zu spät sein. Es war schwierig. Er konnte Talorgen, Broichans Freund, nicht um eine solche Antwort angehen, nicht, solange er dieses Thema nicht zuerst gegenüber seinem Pflegevater aufgebracht hatte. Dreseida wäre im Stande, ihm die Information zu geben, die er brauchte, aber es widerstrebte ihm, sich an sie zu wenden. Ihre Haltung machte Bridei unsicher, denn sie grenzte ohne jeden ersichtlichen Grund an Feindseligkeit. Dreseida würde es ihm sagen, wenn er fragte, aber - 240 nicht ohne eine weitere Reihe bohrender Fragen, deren Sinn er einfach nicht verstand. Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit, und er ergriff sie, als sich die Gelegenheit bot. Eines Morgens, bevor die Tagesarbeit begann, ging er auf der Suche nach ein wenig Einsamkeit in den Küchengarten von Rabenbrunn. Es war ein ruhiges Fleckchen mit einem kleinen Teich in der Mitte, in dem der angenehme Geruch von Kräutern in der Luft hing und niedrige, ordentlich geschnittene Hecken die Beete voneinander trennten. Es gab nicht viele Orte in Rabenbrunn, wo man allein sein konnte; Meditation war so gut wie unmöglich. Selbst in dieser kleinen Zuflucht konnte man von Uric oder Bedo unterbrochen werden, die einem Hund hinterherjagten, oder von jemandem mit einem Messer und einem Korb, der Petersilie für eine Pastete brauchte. An diesem Morgen setzte sich Bridei eine Weile auf eine Steinbank und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Spione im Wald, der Gäle mit seinem ruhigen Blick und der überlegenen Haltung, die bevorstehende Schlacht. Broichan und seine Pläne. Bridei dachte an seine Familie, weit weg in Gwynedd, diese Familie, die er so gut wie vergessen hatte. Es hatte lange Zeit so ausgesehen, als wollte Broichan ihn großziehen, ihn ausbilden und ihn dann wieder nach Gwynedd schicken, damit er bei seinem eigenen Volk lebte. So war es für die meisten
Söhne adliger Familien, die in Pflege geschickt wurden: Sie sollten früh ihren Horizont erweitern, damit sie später als Berater, Weiser oder Krieger mehr beizutragen hatten. Bridei nahm an, dass seine Brüder inzwischen erfahrene Kämpfer waren und stolz an der Seite seines Vaters ritten. Vielleicht hatte er sogar noch mehr Geschwister, jüngere, von denen er nichts wusste. Vielleicht eine Schwester. Das war ein seltsamer Gedanke. Keine Schwester hätte ihm je näher stehen können als Tuala, Blutsverwandte oder nicht. Bridei musste lächeln. Obwohl sein kleines wildes Geschöpf inzwischen zu einem - 241 Mädchen von beinahe dreizehn Jahren herangewachsen war, konnte er nicht an sie denken, ohne sich an diese Nacht zu erinnern: das Mondlicht, der Schnee, seine kalten Füße und der Augenblick, als er zum ersten Mal das bemerkenswerte Geschenk der Leuchtenden gesehen hatte, der beste Augenblick seines Lebens. Er würde stets dankbar dafür sein. Was seine eigene Familie anging, so rückten sie mit jedem Jahr, das verging, weiter in die Ferne. Dennoch, es wäre gut, sie irgendwann einmal zu sehen, besonders seinen Vater. Wenn der Kampf vorüber war, würde Broichan ihn vielleicht reisen lassen. Vielleicht. Es sei denn, er hatte Recht, was die Pläne des Druiden anging. »Guten Morgen.« Ferada kam durch den Garten auf ihn zu, ein winziges gebundenes Buch in einer Hand; mit der anderen hatte sie ihren Rock gerafft, um ihn vor dem Tau im Gras zu schützen. Sie trug ein vollendet geplättetes Gewand in einem rötlich braunen Ton, ganz ähnlich dem ihres Haars, das in ihrem Nacken zu einem komplizierten Knoten aus Zöpfen zusammengesteckt war. Eine einzige helle Locke hing an ihrer rechten Schläfe und betonte, wie blass ihre Haut war. Bridei stand auf. »Bleib ruhig sitzen«, sagte Ferada und ließ sich neben ihm nieder. »Ich suche das Gleiche wie du: Ruhe und Frieden. Uric hat ein schreckliches Verbrechen begangen; ich glaube, er hat einen von Bedos Glückssteinen verloren, und da drinnen geht es zu wie auf einem Schlachtfeld. Ich will nur allen aus dem Weg gehen, vor allem Mutter.« Bridei lächelte. »Das kann ich gut verstehen.« Ferada schlug ihr Buch auf, aber sie richtete den Blick nicht auf die ordentliche Handschrift, die die Pergamentseiten bedeckte. Sie starrte in den Garten hinaus, als das frühe Morgenlicht die Reihen von Wintergemüse und die Brachbeete mit ihrem nackten, dunklen Boden beleuchtete, wo eine Unmenge kleiner Vögel bereits nach schmackhaften Bissen suchten. »Ich frage mich manchmal«, sagte sie, »ob es - 242 das königliche Blut ist, das sie so sein lässt. Es ist, als wäre nichts wirklich genug für sie. Keiner von uns kann je dem Bild entsprechen, das sie in ihrem Kopf von uns entworfen hat. Tut mir Leid«, fügte sie eilig hinzu, »ich sollte nicht so mit dir sprechen, Bridei, das ist ungerecht. Unsere Familienprobleme sind unsere Sache, wir müssen unsere eigenen Lösungen finden.« »Ich höre gerne zu«, sagte Bridei, »aber ich fälle kein Urteil über das, was ich höre. Ich bin wohl kaum in der Position, das zu tun, nachdem ich ohne wirkliche Familie aufgewachsen bin.« »Danke.« Ferada wollte offensichtlich nicht weiter über das Thema sprechen. »Darf ich dich etwas fragen?« »Selbstverständlich, Bridei.« »Ich würde gerne wissen, wie deine Mutter und meine Mutter miteinander verwandt sind. Und meine Mutter und König Drust.« Ferada starrte ihn an. »All diese Jahre der Gelehrsamkeit, und du weißt das nicht?« Bridei spürte, wie seine Wangen zu glühen anfingen. Man konnte sich auf Feradas Ehrlichkeit verlassen, aber Takt war nicht ihre starke Seite. »Es kommt mir so vor, als hätte man mir diese Information bewusst vorenthalten. Aber ich möchte es gerne wissen. Ich halte es für wichtig, mehr darüber zu erfahren, bevor wir nach Westen aufbrechen.« »Mhm«, stellte Ferada fest und sah ihn forschend an. »Damit du, wenn du im Kampf stirbst, weißt, dass du eines Tages hättest König sein können, wenn du nicht einem Gälenschwert im Weg gestanden hättest?« Bridei schwieg einen Augenblick. »So etwas Ähnliches«, sagte er schließlich. »Es ist ganz einfach«, sagte Ferada. »Die Mutter meiner Mutter und die Mutter von König Drust waren Schwestern. Das bedeutet, dass sowohl ich als auch meine Brüder das Blut - 243 der königlichen Linie haben - der weiblichen Linie. So schauerlich die Aussicht auch sein mag, ich bin gezwungen zu akzeptieren, dass alle meine Brüder das Recht haben, wenn Drust der Stier stirbt, Anspruch auf den Thron zu erheben. Ich hoffe sehr, dass das noch viele Jahre lang nicht geschehen wird; der König ist kein alter Mann. Ich kann mir Uric wahrhaftig nicht auf dem Thron vorstellen; Bedo ist zumindest im Stande, zwei Gedanken aneinander zu reihen, wenn er es versucht. Was Gartnait angeht«, sie zuckte die Schultern und verdrehte die Augen, »so ist er der Unwahrscheinlichste von allen. Er würde es hassen. Selbstverständlich gibt es noch viele andere Kandidaten. Es gibt in den Königreichen der Priteni viele Söhne mit königlichem Blut.« Bridei wartete. »Für mich bedeutet das eine besondere Heirat, da alle Söhne, die ich einmal haben werde, ebenfalls Anspruch auf den Thron erheben könnten. Ich kann nicht einfach irgendwen heiraten. Es muss ein Anführer oder ein
anderer Mann von hoher Stellung sein, wenn möglich ein Priteni. Wenn ein Bewerber von außerhalb der Grenzen kommt, ist er selbstverständlich ebenfalls akzeptabel, solange er ein König ist. Und genau so war es mit deiner Mutter.« »Also kennst du ihre Geschichte?« Ferada warf den gepflegten Kopf zurück. »Selbstverständlich. Solche Dinge sind für meine Mutter von großer Wichtigkeit; sie spricht oft darüber. Ich bin überrascht, dass sie noch keine Gelegenheit gefunden hat, dir selbst alles zu erklären.« »Sie nimmt wahrscheinlich an, dass ich es bereits weiß. Wirst du es mir sagen, Ferada?« »Deine Mutter ist eine etwas weiter entfernte Verwandte. Anfredas Großmutter war die Schwester der Großmutter von König Drust.« Er wartete. »Erneut die weibliche Linie, Bridei. Auch du bist ein mög- 244 licher Kandidat für den Thron. Das hast du dir selbstverständlich schon gedacht.« Bridei konnte nicht antworten. Zu spekulieren war eine Sache; plötzlich zu wissen, dass er mit seinen Spekulationen Recht gehabt hatte, bewirkte, dass sich seine Gedanken überschlugen und sein Herz wie eine Trommel schlug. Er arbeitete daran, gleichmäßiger zu atmen. »Anfreda stand ihnen allen ziemlich nahe«, sagte Ferada. »Das hat Mutter jedenfalls erzählt. Drust und seine Frau mochten sie; Vater kannte sie, und Broichan muss sie ebenfalls gekannt haben, denn er war in diesen Jahren am Hof. Maelchon kam nach Caer Pridne, weil es Probleme im Norden seines Landes gab; seine Feinde heuerten Priteni-Soldaten als Söldner an, und er wollte dem ein Ende machen. Er blieb ein wenig länger als geplant, und als er nach Gwynedd zurückkehrte, nahm er seine neue Frau mit. Wie ich schon sagte, das ist durchaus akzeptabel. Frauen vom königlichen Blut heiraten manchmal außerhalb der Priteni-Stämme. Man hält es für eine gute Idee, weil es die Linie stärkt. So, nun weißt du es, und ich muss sagen, dass du meiner Meinung nach nur einen geringfügig besseren potenziellen König abgibst als Bedo.« »Oh.« Bridei fand das ein wenig kränkend. »Und warum?« »Du bist zu sehr Gelehrter«, sagte Ferada schonungslos. »Du denkst zu viel. Und du bist zu freundlich.« »Ich verstehe.« »Es kommt mir so vor«, sagte Ferada, »als brauchte man als König eine sehr dicke Haut, und zu viel Fantasie kann nur störend sein. Außerdem braucht man viele schlaue Berater. Drust der Stier hat zweifellos welche.« »Nun ja.« Bridei zuckte die Schultern. »Es kann noch Jahre bis zur nächsten Wahl dauern. Und wie du sagtest, es könnte viele Bewerber geben.« »Sieben, wenn jedes Haus von Pridne einen aufstellen - 245 wird. Der König von Circinn, Drust der Eber, wird sicher versuchen, Fortriu seinem eigenen Land einzuverleiben. Er möchte, dass das gesamte Priteni-Land christlich wird; das behauptet Vater jedenfalls.« Bridei verspürte ein Schaudern, eine Vorahnung finsterer Veränderungen. »Die Fürsten von Fortriu werden das niemals zulassen«, erklärte er grimmig. »Ebenso wenig wie der Flammenhüter.« Ferada betrachtete ihn neugierig. »Mhm«, sagte sie. »Es hängt davon ab, wie gespalten wir untereinander sind. Aber das ist wohl tatsächlich der Schlüssel. Ein Anführer, ein Land, ein Glaube. Ich denke, das ist es, was Circinn vorhat. Solange Fortriu nicht über die gleiche Einigkeit verfügt, werden wir beim nächsten Mal vielleicht sogar die Herrschaft über unser eigenes Land verlieren.« Bridei lächelte. »Ich finde, du solltest königlicher Berater werden, Ferada.« Sie erschreckte ihn, indem sie aufsprang und ihn wütend anstarrte. »Wage bloß nicht, mich gönnerhaft zu behandeln!«, fauchte sie. »Ich wollte nicht...« »Das genügt! Du brauchst nicht versuchen, es zu erklären; du bist genau wie Vater - du lässt das Gespräch bis zu einem bestimmten Punkt kommen, und dann setzt du diesen Blick auf, der sagt, nun ja, du bist schließlich nur ein Mädchen, was zählt es schon, was du denkst?« »Wirklich, ich...« »Lass es sein, Bridei.« Er sah ihr hinterher, als sie davonging, sehr gerade aufgerichtet und mit hoch erhobenem Kopf. »Du hast mich falsch verstanden«, sagte er leise, aber er wusste nicht, ob Ferada ihn hörte. - 246 KAPITEL SIEBEN Die Veränderungen waren zunächst so geringfügig, dass Tuala sie kaum bemerkte. Der Winter ihres dreizehnten Geburtstags war besonders schwer, und in dem isolierten Haushalt von Pitnochie waren alle schlecht gelaunt. Wenn Ferat ihren Morgengruß nur mit einem Grunzen erwiderte, nahm Tuala einfach an, dass er sich auf die schwierige Aufgabe konzentrierte, das Feuer am Brennen zu halten, obwohl der Vorrat an trockenem Holz gering war und der Wind den Kamin hinunterfegte, um seine Anstrengungen zu vereiteln. Wenn Cinioch nach dem Abendessen nicht mit ihr reden wollte, glaubte sie, dass er sich wegen des bevorstehenden Kampfs Gedanken machte, denn Broichan hatte seine Bewaffneten informiert, dass sie im Frühjahr an dem Feldzug
gegen Dalriada teilnehmen sollten, und das bedeutete Blutvergießen und Trauer. Mara war brüsk und kühl, aber das war nichts Ungewohntes. Für sie war Broichan der Mittelpunkt der Welt; alle anderen waren unwichtig. Erst als Fidich Tuala verbot, das Häuschen zu betreten, in dem er mit Brenna und den Kindern wohnte, erkannte sie, dass die Kühle des Haushalts mehr Gründe hatte als die allgemeine schlechte Stimmung in einem schweren Winter. An diesem Tag spürte sie die Berührung von etwas erheblich Kälterem, und ihr wurde klar, dass man sie außerhalb einer Grenze platziert hatte und ihr nie wieder gestatten würde zu- 247 rückzukommen. Warum das geschehen war, wusste sie nicht. Sie hatte nichts getan, um die anderen so gegen sich aufzubringen, aber sie alle hatten sich verändert. »Es tut mir Leid«, flüsterte Brenna, als sie Tuala auf dem Heimweg einholte, nachdem Fidich verkündet hatte, dass sie in seinem kleinen Heim nicht mehr willkommen war. »Er macht sich Sorgen um die Kinder, das ist alles.« »Die Kinder? Wie meinst du das?« Tuala war verdutzt. »Tut mir Leid«, sagte Brenna noch einmal, das Gesicht zu einer hilflosen Bitte um Verzeihung verzogen. Fidich hinkte bereits wieder den Weg entlang, den ältesten Jungen an der Hand, die Hunde dicht neben ihm. »Ich weiß, dass du es nicht böse meinst, es ist nur ...« »Nur was?« Eine schreckliche Ruhe überfiel Tuala, ein Vorgefühl dessen, was geschehen würde. »Es sind die Geschichten. Die Männer kennen alle die Geschichten von der Eulenfrau und von Amna mit dem weißen Tuch, und noch andere. Sie haben Angst, und Angst schafft mehr Angst. Ich habe versucht, mit Fidich zu reden; er ist ein guter Mann, aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, sie denken alle ...« »Was? Was hat er sich in den Kopf gesetzt?« Aber Brenna flüsterte nur: »Es tut mir Leid, Tuala«, und dann eilte sie hinter ihrem Mann her. Als Tuala wieder ins Haus kam, schien es ihr, als wichen alle ihrem Blick aus. Ferat konzentrierte sich aufs Kräuterhacken, seine beiden Helfer waren mit dem Feuer beschäftigt - einer machte rasch die Geste, die das Böse abwehren sollte, als sie vorbeikam -, und Mara faltete Bettwäsche, die Lippen verärgert zusammenkniffen, den Blick in die Ferne gerichtet. Broichan war wie üblich in seinem Zimmer. Er kam manchmal heraus, aber da Bridei nicht hier war, waren seine Beziehungen zum Haushalt auf das beschränkt, was für die Verwaltung von Pitnochie unerlässlich war. Vielleicht, dachte Tuala, wartete er einfach nur auf Brideis Rückkehr, so - 248 wie sie es tat. Broichan sprach nur selten mit ihr, und darüber war sie froh, denn ihre Angst vor ihm war mit den Jahren nicht geringer geworden. Ein Blick aus diesen dunklen Augen hatte immer noch die Macht, sie zum Schweigen zu bringen; ein Wort der Kritik konnte ihr Herz auf der Stelle mit einer lähmenden Mischung aus Angst und Entsetzen erfüllen. Fidichs Erklärung zwang Tuala, eine Bestandsaufnahme zu machen, und sie erkannte, dass sich dieser Zustand schon seit Monaten angebahnt hatte. Es zeigte sich auf unterschiedliche Weise: ihr Gedeck am Tisch wurde immer weiter zur Seite gerückt, eine gute Wolldecke verschwand ohne Erklärung aus ihrem Zimmer, und dann lag plötzlich ein raues Ding da, nicht besser als eine Pferdedecke; man verweigerte ihr einen Ausritt auf Blesse, selbst an einem schönen frischen Tag, der vollkommen angemessen gewesen wäre, und das, wo das Pony unbedingt Bewegung brauchte. Und dann war da diese plötzliche Stille, immer, wenn Tuala einen Raum betrat, als hätten die anderen in ihrer Abwesenheit über sie gesprochen, und nicht auf freundliche Art. Sie dachte über diese Dinge nach, aber begreifen konnte sie sie nicht. Wenn Bridei hier wäre, würden die anderen nicht wagen, so unfreundlich zu sein. Wenn Bridei hier wäre, wäre Broichan zufriedener, Ferat würde lächeln, und die Bewaffneten würden wieder anfangen, abends am Feuer Geschichten von Kriegen und von Wundern zu erzählen. Bridei erweckte den Haushalt zum Leben. Sie sehnte sich nach dem Frühling, wenn dieser Feldzug vorbei sein und Bridei wieder nach Hause kommen würde. Es gab allerdings jemanden, an den sie sich immer noch wenden konnte. Ihr Unterricht ging weiter. Er war nun kürzer, denn in diesem Winter ging es Erip nicht gut. Er konnte den Husten nicht loswerden, der seine Brust zerriss, und er wurde dünn - ein verblüffendes Phänomen bei einem Mann, der bis dahin stets durch seine vergnügte Rundlich- 249 keit aufgefallen war. Broichan hatte ihm einen Heiltrank gebraut, bei dem der Duft von Muskat und Honig nicht ganz den Geschmack nach etwas Beißendem, Starkem überdeckte, einem Druidenkraut, das gegen die Krankheit helfen sollte. Alle hofften, dass dies den alten Mann noch vor Ende des Winters wieder gesund machen würde. Erip saß am Feuer, mit einem dicken Tuch um seine nun schmalen Schultern; er weigerte sich, sich ins Bett zu legen, behauptete, dann könnte er sich auch gleich geschlagen geben, und wenn er schon sterben müsste, würde er es lehrend tun. Wid sagte, tatsächlich würde er streitend sterben, und Erip antwortete unter explosiven Hustenanfällen, dass das auf das Gleiche hinauslief und sie jetzt endlich weitermachen sollten. Dieses Gerede vom Tod bedrückte Tuala. Wids Blick machte ihr noch mehr Sorgen, denn wenn der bärtige alte Mann seinen alten Freund überredete, seine Arznei zu trinken, ihn wärmer einpackte oder bei ihren üblichen Streitereien erheblich sanfter reagierte, konnte sie den unmiss-verständlichen Schatten künftiger Trauer auf seinem faltigen Gesicht sehen. Die beiden alten Männer standen einander sehr nahe. Tuala hatte nie ihre Geschichten gehört, woher sie kamen, wieso sie sich hier in Broichans Haus niedergelassen hatten, warum sie scheinbar keine eigenen Familien und kein Zuhause hatten. Was hatte sie bewogen, diesen riesigen
Wissensschatz anzuhäufen? Welches Leben hatten sie als junge Leute geführt, dass sie so viel über so unterschiedliche Gebiete wussten? Erip und Wid sprachen nie von diesen Dingen; wenn man sie fragte, gingen sie schnell zu einem allgemeineren Thema über. Tuala fing an sich zu fragen, ob sie es je erfahren würde. Heute saß Nebel auf Erips Schoß und knetete die Schichten weicher Wolle, in die der alte Mann gewickelt war. Die Katze schnurrte tief. Selbst erwachsen war sie nicht besonders groß; unter dem nach allen Seiten abstehenden - 250 grauen Fell befand sich ein Körper, der vielleicht halb so groß war wie der einer normalen Bauernkatze. Aber sie war eine hervorragende Rattenfängerin und hatte sich ihren Platz in Pitnochie schon lange verdient. Tuala setzte sich neben Wid auf eine Bank. Im Winter fand der Unterricht immer am Feuer statt; sonst war es nirgendwo warm genug. »Kennt ihr die Geschichte von Amna mit dem weißen Tuch?«, fragte Tuala. »Jemand hat sie erwähnt. Und dann gibt es eine über eine Eulenfrau. Könnt ihr sie mir erzählen?« Sie versuchte, beiläufig zu klingen, als empfände sie nur vage Neugier. So, wie die beiden alten Männer sich umdrehten, um sie anzustarren, und ihre Blicke plötzlich schärfer wurden, war ihr allerdings schnell klar, dass sie sie zu gut kannten, um sich so einfach täuschen zu lassen. »Hmpf«, krächzte Erip und nahm seine Geschichtenerzählerhaltung an. »Manchmal bittet ein Kind um eine Geschichte, und sie wird erzählt, und es stellt fest, dass eine Wahrheit darin liegt, die es nicht hören möchte. Das verstehst du, da bin ich sicher.« Wieder wurde es Tuala kalt - der kalte Atem einer unwillkommenen Zukunft. »Ich muss es wissen«, sagte sie. Den Göttern sei Dank für diese beiden alten Männer; zumindest brauchte sie ihnen nichts vorzumachen. »Dann werde ich anfangen«, sagte Erip, »Und mein Freund hier wird weitererzählen. Es war einmal ein Mann namens Conn. Er war ein Brauer; er braute das beste Bier diesseits des Schlangensees und war deshalb sehr beliebt bei den Leuten. Er selbst trank nicht mehr, als er sollte, nur genug, um sich zu überzeugen, dass andere das Beste bekamen, was er herstellen konnte, und alles in allem war er als ein vernünftiger, praktisch denkender Mann bekannt, einer, bei dem man davon ausgehen konnte, dass er nichts Dummes tat.« Erip hielt inne, um zu husten. Es fiel ihm immer schwerer, nach diesen Anfällen wieder zu Atem zu kommen, und sei- 251 ne Hand zitterte, als er nach dem Becher mit Wasser griff, den Tuala ihm reichte. »Bist du sicher, dass du weitererzählen willst?«, fragte sie. »Widkann...« »Unsinn«, erwiderte Erip mit einer Stimme wie das Rascheln des trockenen Rieds im Herbst. »Wenn ich aufhöre, Geschichten zu erzählen, könnte ich ebenso gut auch aufhören zu atmen. Wo war ich stehen geblieben?« »Er war ein praktisch denkender Mann.« »Ja, und da er praktisch dachte, war er bereit zu heiraten und eine Familie zu gründen; er hatte einen Schatz gefunden, die Tochter eines Bauern, und er besaß sein eigenes kleines Haus, und alles sah rosig aus. Der Vater des Mädchens war wohlhabend. Sie würde einen Beutel Silber und ihre eigenen drei Felder mit in die Ehe bringen. Dann war Conn eines Abends noch spät unterwegs, weil er Freunde besucht hatte, und er nahm eine Abkürzung, einen kleinen Weg unter Buchen, der an einem hübschen kleinen Bach mit Farnen am Ufer vorbeiführte. Es war Vollmond. Es war dumm von ihm, dort entlangzugehen; die alten Leute hätten ihm das sagen können. Conn war glücklich, und vielleicht machte ihn das übermütig, denn er musste gewusst haben, was die Leute über diesen Ort sagten. Aber er ging vergnügt diesen Weg entlang, und dort, am Rand des Bachs, sah er sie.« »Amna?«, fragte Tuala. »Ja, aber er wusste nicht, wer sie war. Er wusste nur, dass er das hübscheste Geschöpf vor sich hatte, das er sich vorstellen konnte, ein Mädchen so blass wie eine Perle, dessen Haut im Mondlicht schimmerte, mit langem Haar wie ein Fluss aus weichem Schatten und einem weißen Tuch, dem einzigen Kleidungsstück, mit dem sie ihre Nacktheit bedeckte. Sie hatte eine Hand an den Mund gehoben, als wäre sie überrascht, dass ein Mann des Nachts hier vorbeikam. Ein Blick auf sie, und jeder Gedanke an seine Liebste verschwand augenblicklich aus Conns Kopf.« - 252 »Er folgte der Frau mit dem weißen Tuch bachaufwärts in den Wald«, fuhr Wid mit der Geschichte fort, als Erip sich zurücklehnte und die Augen schloss. »Was zwischen ihnen in dieser Nacht geschah, sollte ein alter Mann wie ich einer leicht zu beeindruckenden jungen Frau wie dir, Tuala, nicht erzählen. Es genügt zu sagen, dass es Conn vollkommen veränderte. Am nächsten Morgen kehrte er nach Hause zurück, und statt wieder mit der Arbeit anzufangen und sich auf seine Hochzeit vorzubereiten, konnte er nur in der Tür stehen, zum Wald hinschauen und davon träumen, Amna wieder zu finden. Tag und Nacht stand er dort, und er braute keinen Tropfen Bier mehr, vom Jungfrauentanz bis in den Hochsommer. Jedes Mal, wenn die Leuchtende ihre volle Schönheit erreichte, schlüpfte er unter die Buchen davon, und wenn er am Morgen zurückkehrte, war er müde und abgehärmt, und in seinen Augen stand ein wildes Entzücken, das dem Wahnsinn recht nahe kam, als hätte er solche Wunder geschmeckt, dass schon die Sehnsucht nach mehr ihn umbringen könnte.« »Alle sagten es ihm«, nahm Erip das Garn wieder auf, »seine Mutter, sein alter Großvater, seine Liebste, in
Tränen aufgelöst, die Ältesten der Siedlung. Es war für sie klar, dass ihn eine Frau vom Guten Volk verführt hatte, und er musste den Bann brechen, oder er würde sterben. Aber Conn wollte nicht zuhören. Wenn der Mond voll war, hatte er seine Nacht der Ekstase, und dazwischen mussten jene, die ihn liebten, zusehen, wie er vor Sehnsucht immer schwächer wurde, bis er nichts weiter war als eine Puppe aus Haut und Knochen, in deren Augen Wahnsinn stand. Was wollte Amna von ihm? Niemand wusste das. Auch andere hatten sie dort am Wasser gesehen, das Weiß des Tuchs überstrahlt von ihrer schimmernden Haut, der tiefe Schatten der Nacht niemals dunkler als ihr hübsches Haar. Andere waren so vernünftig, den Blick abzuwenden und weiterzugehen. Nicht jedoch Conn.« - 253 »Wie ging es weiter?«, fragte Tuala und dachte, wie dumm Männer doch waren, sich so verlocken zu lassen; Conn hätte doch sicher erkennen können, dass diese Begegnungen sein Leben zerstörten, und es Amna einfach sagen sollen. »Es ist eine traurige Geschichte«, sagte Wid. »Seine Familie versuchte, etwas zu unternehmen. Als es wieder Vollmond wurde, gelang es ihnen, Conn zu fesseln, damit er sich nicht mit Amna treffen konnte. Sie glaubten, wenn sie das Muster unterbrachen, könnten sie vielleicht den Bann brechen und ihn wieder zur Vernunft bringen. In dieser Nacht, so sagten die Leute, hörte man Amnas Schreie draußen im Wald, Schreie, die einem das Blut gerinnen ließen. Es klang nicht wie der Ruf eines jungen Mädchens nach ihrem abwesenden Geliebten, sondern wie der Schrei eines wilden Tiers nach seiner Beute.« »Und konnten sie Conn retten?« Erip schüttelte den Kopf. »Man legt sich nicht leichtfertig mit dem Guten Volk an. Einer wie Broichan hätte vielleicht eine Chance, aber nicht einfache Leute wie diese. Conn verfluchte sie die ganze Nacht, kämpfte gegen die Fesseln an, und danach verschloss er ihnen sein Haus. Er wartete, bis die Leuchtende wieder in vollem Glanz am Himmel stand, und ging erneut in den Wald zu seiner Geliebten. Am nächsten Morgen fanden die Leute Conn mit dem Gesicht nach unten im Teich, tot und kalt. Sie glaubten, er hätte sich ertränkt, bis sie ihn umdrehten. Er war weiß wie ein Laken, und es gab kein Blut mehr in ihm. Man konnte die Spur ihrer Zähne an ihm erkennen.« Tuala schauderte. »Das ist eine schreckliche Geschichte.« Schrecklich, und sie half ihr überhaupt nicht weiter; eine solche Geschichte hatte nichts mit ihr zu tun. »Was ist mit der anderen, der von der Eulenfrau?« Wid sah sie ernst an. »Recht ähnlich«, sagte er. »Ein Mann wird in den Wald gelockt, diesmal von einer weißen Eule, einem seltenen, schönen Geschöpf. Sie verwandelte sich am - 254 Tag in eine Frau und stimmte zu, ihn zu heiraten, vorausgesetzt, dass er ihr Anderssein respektierte und ihr nicht folgte, wenn die Zeit für sie kam, sich zu verwandeln. Dies ist zumindest für eine Weile eine glücklichere Geschichte. Sie schenkte ihm Töchter, er schwand nicht vor Begierde dahin, er war nur immer unzufriedener mit dem, was er hatte, denn er wünschte sich, seine Frau könnte in seinen Armen liegen, wenn er schlief. Bald schon dachte er, das wäre doch nicht zu viel verlangt. Schließlich führte ihn sein Wunsch, sie zu etwas zu machen, was sie nicht sein konnte, dazu, ihr bei Vollmond in den Wald zu folgen. Er sah den seltsamen Augenblick ihrer Veränderung, und in dieser Nacht verlor er sie für immer. Der Mann starb nicht, so wie Conn gestorben ist. Er streift immer noch auf den dunklen Wegen unter den Eichen umher und ruft nach der Frau, die nie wieder zu ihm zurückkehren wird.« Alle schwiegen. Tuala erkannte selbstverständlich, worin die Verbindung zwischen diesen Geschichten bestand. Dennoch, so sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht erkennen, was die Verbindung zwischen den Geschichten und der plötzlichen Kälte des Haushalts ihr gegenüber sein sollte. Immerhin wussten alle, dass sie ein Kind des Waldes war, hatten es von dem Augenblick an gewusst, als sie nach Pitnochie gekommen war. Und sie hatten sie aufgenommen. Sie hatten gelächelt und ihr Geschichten erzählt und sie wie eine Freundin behandelt. »Was ist denn, Mädchen?« Erips heisere Stimme war voller Freundlichkeit, und plötzlich war Tuala den Tränen nahe. »Fidich«, flüsterte sie. »Und Ferat und die Bewaffneten ... Sie schließen mich aus. Ich bin kein Teil des Lebens in Pitnochie mehr. Fidich sagt, ich darf Brenna und die Kinder nicht mehr besuchen. Und Brenna sagte, die Männer machten sich Sorgen wegen dieser Geschichten, der von Amna und der von der Eulenfrau. Aber ich verstehe es nicht. Wa- 255 rum sollten sie jetzt mehr Angst vor mir haben als zuvor? Ich würde den Kindern doch nie etwas tun, das sollten sie wissen ...« Jetzt weinte sie wirklich. Wid beugte sich vor und reichte ihr ein Stück Tuch. »Tu, was wir dir beigebracht haben«, sagte er ruhig. »Denke darüber nach. In den Geschichten geht es um Männer, die von Frauen vom Guten Volk verführt wurden, Männer, die von einer Macht überwältigt wurden, die so stark war, dass sie sich ihr nicht widersetzen konnten, selbst wenn sie sehr vernünftige Personen waren wie Conn.« Tuala dachte so angestrengt nach, wie sie konnte. Es schien nicht viel zu helfen. »Du fragst dich«, sagte Erip und streichelte sanft die Katze, »warum sich offenbar alle verändert haben. Ich fühle mich verpflichtet, dich darauf aufmerksam zu machen, dass Wid und ich uns nicht verändert haben; ich glaube,
wir können von diesem Phänomen nicht mehr berührt werden. Aber du musst beim Nachdenken eine andere Richtung einschlagen. Vielleicht hat sich noch etwas anderes verändert.« Tuala sah ihn lange an. »Meinst du mich? Es hat damit zu tun, dass ich mich verändere, dass ich erwachsen werde? Aber ...« Sie schwieg erneut, weil sie erkannte, dass er das tatsächlich gemeint hatte. Nun, da sie darüber nachdachte, kam sie tatsächlich zu dem Schluss, dass sich die Kälte im Haushalt ausgebreitet hatte, als ihr Körper begann, sich zu verändern, hier runder und dort schmaler wurde und ihr die Gestalt und die Rhythmen einer Frau gab. Als Kind war sie in Pitnochie offenbar akzeptabel gewesen, so anders sie auch sein mochte. Man hatte sie freundlich, sogar liebevoll behandelt. Nun schlichen jene, die ihre Freunde gewesen waren, auf Zehenspitzen um sie herum, als wäre sie auf irgendeine Weise gefährlich. Sie glaubten doch sicher nicht, dass sie als Frau die gleiche Art von Geschöpf war wie Amna mit dem weißen Tuch? - 256 »Ihr müsst euch irren«, sagte sie tonlos. »Amna hatte diese unirdische Schönheit, sie war die Art von Frau, die Männer um den Verstand bringt. Die Art von Frau, die es nur in Geschichten gibt. Niemand könnte annehmen, dass ich ...« Das war einfach albern. Sie konnte kaum glauben, dass sie überhaupt über diese Dinge sprachen. »Schau einmal in deinen Spiegel, Mädchen«, sagte Wid. »Was jetzt dort ist, wird nächsten Winter hundertmal mehr sein, und tausendmal mehr im nächsten. Die Männer sehen das und bekommen Angst. Die Frauen sind vernünftiger, aber auch sie werden misstrauisch. Es ist traurig, aber wahr; du bist jetzt beinahe vierzehn, und von nun an wird dieser Schatten auf deinem Weg liegen, ganz gleich, wie sehr du dich anstrengst, eine von uns zu sein.« Tuala fehlten die Worte. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie war keine große Schönheit, sie interessierte sich überhaupt nicht für Männer und für die Dinge, die Männer und Frauen in der Abgeschiedenheit ihrer Schlafräume taten. Der Gedanke, dass Ferat, Fidich und die anderen so etwas von ihr annahmen, bewirkte, dass ihr übel wurde. Sie wollte nicht einmal im Traum daran denken, dass das die Wahrheit sein konnte. »Was ist mit euch?«, fragte sie. »Ihr seid immer noch meine Freunde. Ihr habt euch nicht verändert. Und was ist mit Broichan? Er verändert sich nie. Das kann nicht die Erklärung sein.« Erip begann zu husten; diesmal hatte er Blut auf der Hand, die er vor den Mund hielt. Es dauerte eine Weile, bis der Anfall vorüber war. Schließlich beruhigte sich der alte Mann wieder. »Wie ich schon sagte ...« Seine Stimme war fadendünn. »Wir sind vielleicht zu alt für solche Albernheiten. Oder vielleicht liegt es daran, dass wir uns schon in dich verliebt haben, als du uns gerade eben bis zum Knie reichtest und nicht aufhören konntest, Fragen zu stellen, und wir dich immer noch so sehen: Brideis kleiner Schatz, ein seltenes Mitt- 257 wintergeschenk. Was Broichan angeht, so hat er eine ganz besondere Art, die Dinge zu sehen. Zweifellos hat er dich von Anfang an abgeschätzt, und wägt immer wieder die Möglichkeiten und die Gefahren ab, für die du stehst.« Tuala nickte. Sie konnte sich an jedes Wort erinnern, das Broichan vor langer Zeit zu ihr gesagt hatte, als er sie wegschickte. Es bestand kein Zweifel daran, dass er sie von Anfang an als Gefahr betrachtet hatte. »Was kann ich tun?«, fragte sie sie. Die beiden alten Männer sahen sie schweigend an, mit freundlichem Blick, aber grimmig zusammengekniffenen Lippen. »Warte ein wenig und hab Geduld«, sagte Wid schließlich. »Dir steht eine schwierige Zeit bevor.« »Sei auf Veränderungen gefasst«, fügte Erip hinzu. »Du musst tapfer sein, Tuala.« »Es wäre alles in Ordnung, wenn Bridei nach Hause kommen würde.« Ihre Stimme war kläglich; sie hatte nicht vorgehabt, das laut auszusprechen, aber es kam gegen ihren Willen heraus. Wid setzte dazu an, etwas zu sagen; dann sah sie, wie Erip den Kopf schüttelte, als wollte er nicht, dass sein Freund sprach, und dann wurde Nebel unruhig, sprang vom Schoß des alten Mannes und stolzierte zur Küche. Als wäre das ein Ruf gewesen, kamen auch die drei Hunde, die unter dem Tisch geschlafen hatten, hervor, und plötzlich war es nicht mehr still in der Halle. »Einsamkeit ist manchmal schwer zu ertragen«, sagte Wid und stand auf. »Ein guter Freund ist das kostbarste Geschenk auf der Welt. Das ist eine Lektion, die ich weder dir noch Bridei beibringen muss. Und jetzt wollen wir diesem alten Mann ein bisschen Suppe holen. Er fängt an, einer Vogelscheuche ähnlich zu sehen, und das können wir nicht zulassen. Ich dachte, ich hätte Ferat vor einiger Zeit mit ein paar Schinkenknochen gesehen; der Duft ist ausgesprochen viel versprechend.« - 258 Der Winter ging vorüber, und die Tage wurden merklich länger, aber die Knochenmutter tat wenig, um ihren gnadenlosen Zugriff auf das Land zu lockern. Eis überzog die Teiche, und Schnee lag auf Broichans Haus unter den Eichen. Die Männer murrten, wenn sie auf Wache gehen mussten, und ständig hingen dampfende nasse Kleidungsstücke vor dem Küchenfeuer und erfüllten das Haus mit einem durchdringenden Geruch. Nicht einmal die Hunde wollten nach draußen gehen. Nebel verbrachte den größten Teil der Zeit auf Erips Schoß vor dem Feuer, oder später zusammengerollt auf seinem Bett hinter seinen gebeugten Knien. Denn es kam eine Zeit, in der der alte Gelehrte nicht mehr die Kraft hatte, von seinem Strohsack aufzustehen, sein Zimmer zu verlassen und so zu tun, als ginge es ihm bald wieder besser. Sie brachten ihn in Brideis Zimmer unter; Wid hielt Wache bei ihm, gab Erip kleine Schlucke Wasser oder abgemessene Portionen von Broichans neuestem Heiltrank,
wischte ihm die Stirn und erzählte ihm Geschichten, als wäre er ein krankes Kind. Mara verbrannte aromatische Kräuter in der Nähe der Tür und trug die fleckige Bettwäsche weg. Tuala wollte helfen, aber man verbannte sie aus dem Zimmer. Mara hatte die Herrschaft übernommen; sie entschied, wer kommen und gehen durfte, und sie war der Ansicht, dass zu viele Besucher den alten Mann nur anstrengten. Wid, der mit seinem eigenen Kummer und seiner Erschöpfung rang, hatte nicht die Kraft zu widersprechen, aber er ließ Tuala ein- oder zweimal herein, wenn die Haushälterin anderswo zu tun hatte. Erips Hände waren nun so schmal geworden, dass die Finger sich wie Zweige anfühlten, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Tuala glaubte, eine neue Art von Licht in seinen Augen zu entdecken, ein Leuchten, als schauten sie bereits über die Welt der Sterblichen hinaus in eine andere Welt voller Frieden und Möglichkeiten. Es war, als hätte er eine großartige neue Geschichte erfunden und wartete nun darauf, sie zu erzählen. Tuala hielt seine Hand und - 259 schluckte die Tränen hinunter, und als Mara zurückkehrte, glitt sie davon wie ein Schatten. Sie bat höflich, wieder hereingelassen zu werden, und wies darauf hin, dass sie mit Erip befreundet war, dass er nach ihr gefragt hatte, dass sie sich nützlich machen konnte. »Du wirst nicht gebraucht, Tuala«, sagte Mara dann. »Geh schon, Mädchen«, sagte Ferat in freundlichem Ton, aber mit einem Blick irgendwo zwischen Ungeduld und Unbehagen. Er zumindest schien ein schlechtes Gewissen zu haben, jemanden zu verraten, der einmal ein geliebtes Kind, eine Freundin gewesen war; dennoch, es war deutlich genug, wie unangenehm er sich in ihrer Nähe fühlte. Als es auf das Ende zuging, blieb ihr nichts anderes übrig, als Mara anzuflehen. »Bitte. Er ist ein alter Freund. Bitte schließ mich nicht aus.« »Erip ist unser aller Freund«, sagte Mara. »Du wirst hier nicht gebraucht. Geh, und nimm dieses Geschöpf mit«, und sie wollte Nebel vom Bett scheuchen, aber Nebel schlug Zähne und Krallen in Maras Finger und blieb schließlich, wo sie war, an Erips aufgehäufte Decken gekuschelt. Erip selbst war nun zu schwach, um zu widersprechen, und Wid döste auf seinem Stuhl, erschöpft von langen Nachtwachen. Schweigend zog Tuala sich zurück. Einige Zeit saß sie allein in ihrem kleinen Zimmer und starrte die Wand an. Das hier war falsch; es war so falsch, dass man wirklich überhaupt nichts daraus lernen konnte. Wie konnten sie sie so ausschließen? Wie konnten sie nicht einmal zulassen, dass sie ihm Lebewohl sagte? Sie war eine von ihnen, war bei ihnen aufgewachsen, war in ihrem Haushalt willkommen gewesen und von diesem alten Mann zum Wissen geleitet worden, der nun unter dem Dach, das ihnen beiden Zuflucht gegeben hatte, im Sterben lag. Verflucht sollten Amna mit dem weißen Tuch und die Eulenfrau sein! Es war einfach nur dumm und hatte nichts mit ihr zu tun. - 260 Plötzlich musste Tuala unbedingt etwas tun. Sie griff nach ihrem warmen Umhang, zog die schweren Stiefel an und eilte nach draußen. Die Kälte drang schmerzhaft in ihre Lunge, sobald sie aus der Küche kam; die Luft war wie Eis auf ihrer Haut. Aber sie musste fliehen, sie konnte nicht mehr in der Nähe von Mara, Ferat und Fidich bleiben, von Uven und Cinioch, von den misstrauischen Blicken aller, die ihr einmal wie Freunde vorgekommen waren. Sie würde nicht darum bitten, Blesse reiten zu dürfen; sie wollte keine weitere Weigerung hören. Sie würde zu Fuß gehen. Sie würde den ganzen Weg zum Tal der Gefallenen gehen, und dort würde sie ein paar Antworten verlangen. Im Lauf der letzten Jahre hatte Tuala begriffen, dass manche Begabungen, über die sie verfügte, anderen nicht so leicht zugänglich waren. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass sie diese Fähigkeiten lieber verbergen sollte, denn sie zu zeigen, würde nur betonen, dass sie anders war, und sie wollte nicht anders sein, sie wollte nach Pitnochie gehören. Erip und Wid wussten ein wenig darüber, was sie konnte, ebenso wie Bridei. Wozu sie wirklich im Stande war und wie leicht es ihr fiel, hatte sie für sich behalten. Es wäre vielleicht besser gewesen, sagte sie sich mit Bitterkeit, als sie den Weg entlangstapfte und die Stiefel tief in die Schicht feuchter, verfallender Blätter unter den kahlen Eichen sanken, wenn sie diese geheimen Künste niemals ausgeübt hätte, wenn sie sogar sich selbst gegenüber so getan hätte, als verfügte sie nicht über solche Kräfte. Dann hätte sie es vielleicht wieder verlernt. Sie hätte vielleicht vergessen, wie man diese Begabung anwandte, wie man Bilder von Königinnen, Drachen und Riesen aus einem Lichtstrahl durch buntes Glas heraufbeschwor, wie man ein Eichhörnchen aus seinem Versteck lockte und es auf eine Weise begrüßte, die es verstand, wie man Binsen, Gras und Samenkapseln zu einer Puppe, einem Korb oder einer Kette flocht, die fest zusammenhielten, nicht nur durch das Muster aus Knoten und - 261 Drehungen, sondern durch lebendige Macht. Sie hätte vielleicht die Fähigkeit verloren, die Zeichen im Wald zu deuten, Zeichen, die von den Anderen, vom Guten Volk hinterlassen wurden. Dann hätte sie sie nicht finden können, so sehr sie sich auch gezwungen fühlte zu suchen. Diese kleinen Kratzer auf Rinden oder Steinen, die Art, wie sie hier und da das Gras verdrehten oder Laub aufhäuften, das alles waren Botschaften, und ohne dass man ihr je beigebracht hätte, was sie bedeuteten, hatte Tuala sie schon vor langer Zeit verstanden. Jene, die die Botschaften hinterließen, ließen sich allerdings immer noch nicht sehen. Halb sichtbare Schatten und leise Stimmen, mehr war nicht zu entdecken. Aber ihre Botschaften waren für sie, das wusste Tuala. Sie riefen nach ihr, sie wollten sie in ihrer Nähe haben - ganz anders als die Menschen. Bei ihnen würde sie vielleicht ein
Zuhause finden. Es war ein Weg, aber ein unmöglicher. Wenn sie diese andere Welt betrat, musste sie Bridei zurücklassen. Und sich von ihm zu trennen war unmöglich. Das wäre, als würde sie sich selbst zerreißen. Tief in Gedanken versunken legte Tuala den langen Weg von Broichans Haus zu dem verborgenen Tal zurück, beinahe ohne es zu bemerken. Der Nebel war heute dicht; sie konnte kaum ihre eigenen Füße sehen, als sie den steilen Weg zum Teich entlangging. Der Dunst schien sich um sie zu schließen, eine erstickende, bedrängende Decke. Irgendwo im Wald heulte ein Hund, ein Laut reiner Verzweiflung. Am Rand des Dunklen Spiegels hockte sich Tuala hin. Zuerst spürte sie die Kälte nicht, denn die Bewegung hatte sie gewärmt, aber schon bald begannen ihre Nase, ihre Ohren, ihre Finger und Zehen zu kribbeln und dann von der knochentiefen Kälte zu schmerzen. Ihre Zähne klapperten. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen; sie war weit von zu Hause entfernt, und keiner wusste, wo sie hingegangen war. Nicht, dass sie das interessierte, dachte Tuala. Wenn sie nie zurückkäme, würden sich Mara, Ferat und die anderen - 262 wahrscheinlich freuen. Keine störende Präsenz mehr, keine Versucherin aus der Anderwelt, die ihre jungen Männer davonlocken würde. Das war so dumm, dass sie es immer noch nicht begreifen konnte. Sie, Tuala, sollte eine unirdische Schönheit sein, die Magie wirkte, damit Männer vor Begierde wahnsinnig wurden? Sie hätte über eine so fehlgeleitete Theorie einfach gelacht, wäre nicht die schreckliche Wirklichkeit dessen gewesen, was es für sie bedeutete. Sie hätte dieses Denken vollkommen verachtet, hätten nicht Erip und Wid, die sie für sehr vernünftige Männer hielt, ihr gesagt, dass man sie im Haushalt nun tatsächlich so betrachtete. Sieh in den Spiegel, hatten sie gesagt. Also tat sie es, beugte sich über das stille Wasser des Teichs und suchte diesmal keine Visionen oder Vorzeichen, sondern nur ihr eigenes Spiegelbild. Sie schien nicht sonderlich anders auszusehen als zuvor. Ihr Gesicht war oval, die dunklen Brauen gebogen, die Augen groß und hell, vielleicht blau, wenn sie denn eine Farbe hätte nennen müssen. In den Augen stand ein fragender Blick, und sie waren von Schatten umgeben; sie hatte um Erip geweint, und um Wid, und auch ein bisschen um sich selbst. Die Nase war gerade, der Mund klein, geschwungen und rosa wie eine Rosenknospe. Ihre Haut war zweifellos sehr blass. Tuala war gezwungen zuzugeben, dass sie zumindest in dieser Hinsicht Amna aus der Geschichte ähnlich war, denn ihre Haut war immer weiß und durchscheinend gewesen, als hätte die Leuchtende ihr den Schimmer ihrer Mondstrahlen geliehen. Ihr Haar war rabenschwarz, lang und glänzend, obwohl sie es eher vernachlässigte, was das Bürsten anging. Auch das ließ sie wie das Mädchen in der Geschichte aussehen. Aber sie war noch jung, hatte erst vor kurzem angefangen zu bluten, und sie schreckte vor dem Gedanken daran zurück, was Amna unter dem Vollmond mit ihrem Geliebten getan hatte. Amna war eine Verführerin gewesen, eine Frau von erdhafter Leidenschaft, die sich ihrer - 263 Sinnlichkeit bewusst war. Wie konnte irgendwer glauben, dass sie, Tuala, die gleiche Macht hatte wie dieses gefährliche Geschöpf der Nacht? Tualas praktische Kleidung, Umhang, Schultertuch, Hemd und langer Rock über dicken Winterstiefeln, verbarg ihre wahre Gestalt; das Mädchen, das aus dem dunklen Wasser zu ihr zurückblickte, hätte absolut formlos sein können. Aber noch während sie hinsah, veränderte sich das Bild, und sie sah sich selbst schockierenderweise ohne einen Faden Kleidung am Leib, stand ohne jede Scham da, die Arme erhoben, die hübschen runden Brüste wie zwei kleine Monde, die Brustwarzen rosa, eine zierliche Taille, rundere Hüften, schlanke Schenkel, und alles nackt und bloß und für alle sichtbar. Selbst das kleine, neue Dreieck aus dunklem Haar zwischen ihren Beinen war zu sehen. Entsetzt versuchte Tuala, sich mit den Händen zu bedecken, obwohl sie hier am Rand des Wassers immer noch Schichten von Wolle trug. Dort im Dunklen Spiegel drehte sich ihr Spiegelbild, lächelte und winkte, und sie erkannte hoffnungslos, dass ein Mann ein solches Geschöpf aus Perlen, Ebenholz und Rosen tatsächlich verlockend finden könnte. Sie sah in der Vision ihre eigene Unschuld, und die Gefahr, die genau darin lag. »Verschwinde!«, murmelte Tuala, und Zornestränen traten ihr in die Augen. »Ich will dich nicht sehen! Deshalb bin ich nicht hergekommen!« Sie schloss fest die Augen und wollte ihr eigenes Abbild wegzwingen. »Angst, dich der Wahrheit zu stellen?«, sagte jemand links von ihr. »Das passt nicht zu dir.« Tuala riss die Augen auf. Das war keine leise, zischelnde Stimme, wie sie sie schon zuvor in dieser geheimen Falte des Landes gehört hatte. Diese Stimme war selbstsicher und klang wirklich, war ohne Zweifel die Stimme einer Frau aus Fleisch und Blut. Tuala hatte kaum Zeit zu blinzeln und einen kurzen Blick auf eine verhüllte Gestalt neben sich zu werfen, dicht genug, um sie zu berühren, als auch schon eine zwei- 264 te Stimme erklang. Tuala sprang auf und drehte sich in die andere Richtung. »Außerdem«, stellte die zweite Person fest, »ist es ein erfreulicher Anblick. Das kannst du nicht abstreiten. Ein hübsches Bild. Man braucht nur einen Blick darauf zu werfen, um zu wissen, dass jeder Mann nur zu gerne entdecken würde, dass die Wirklichkeit noch hübscher ist.« Es war ein junger Mann, der da sprach. Tuala bekam bei diesen Worten Gänsehaut; sie konnte sich gut vorstellen, was Donal oder Bridei und sogar Broichan darüber zu sagen hätten, wie dumm es gewesen war, allein mitten im Winter hier herauszukommen und niemandem zu sagen, was sie vorhatte. Sie stand sehr reglos da und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Sie zwang sich zu beobachten, wie Bridei es ihr beigebracht hatte. Das hier war kein Mensch, nicht wirklich. Er war nicht viel größer als sie selbst, und sein wildes, wirres Haar hatte eine moosige, grünliche Färbung. Hier und da schienen seine Locken in Ranken überzugehen, belaubte Ranken wie
Efeu. Seine Augen waren sumpfbraun und rund wie die einer Eule. Nein, sicher kein Mann, trotz des boshaften Grinsens, mit dem er sie bedachte und das sie schmerzhaft an Erip in seinen besseren Tagen erinnerte. »Du zitterst.« Das war die andere Person, und Tuala spürte, wie ihr ein weicher Umhang um die Schultern gelegt wurde. Er fühlte sich an, als bestünde er aus Disteldaunen, zerbrechlich und beinahe gewichtslos, aber ihr war sofort so behaglich warm wie einer Katze, die sich vor der Feuerstelle zusammengerollt hat. Das Mädchen begegnete ihrem Blick ruhig. Sie war ein wenig größer als der junge Mann, wenn man ihn denn einen Mann nennen konnte, und ihr Haar war lang und silbrig blond, kunstvoll geknotet und geflochten und mit glitzernden Fäden, Blattskeletten, Spinnennetzen und winzigen weißen Beeren verziert. Ihr Kapuzenumhang bestand aus blaugrauem Tuch und bewegte sich um sie her wie Holzrauch. Auch sie schien jung, ihre - 265 Haut war winterweiß, so blass wie die von Tuala, ihre Gestalt schlank und ihre Haltung anmutig. »Du spürst die Kälte; das überrascht mich nicht. Du bist unter Menschen aufgewachsen. Ihre Gezeiten sind kürzer und intensiver. Schon stimmt dein Körper sich auf ihre Muster ab. Du bist gerade noch rechtzeitig zu uns gekommen.« Die Worte, die Tuala für eine solche Situation vorbereitet hatte, waren plötzlich verschwunden. Sie hatte sich so nach einer solchen Begegnung gesehnt, hatte schon lange die Fragen vorbereitet: Wer bin ich? Wer war es, der mich verlassen hat, und warum? Nun hatte sie solche Angst vor den Antworten, dass sie sich nicht dazu durchringen konnte, sie zu stellen. Schließlich sagte sie: »Warum jetzt? Warum zeigt ihr euch jetzt? Ich bin so oft hier gewesen; ich habe Visionen im Dunklen Spiegel gesehen, und andere von eurer Art haben mich geneckt, sich aber nie wirklich gezeigt. Was hat sich verändert?« Die Antwort befand sich bereits in ihrem Kopf, noch während sie sprach, und es war die gleiche Antwort, die sie an diesem Tag schon einmal erhalten hatte: Du hast dich verändert. »Die, denen du begegnet bist, waren nicht von unserer Art«, sagte der Blättermann. »Sie sind ein geringeres Volk; viele von ihnen teilen sich den Wald mit uns. Diese Anderen haben sich nicht in ihrer wahren Gestalt gezeigt, und das werden sie auch nicht tun, solange du noch mit einem Fuß in einer Welt von Druiden und Helden, Königen und Beratern stehst.« »Mit einem Fuß?«, musste Tuala fragen. Sie glaubte nicht, dass sie Angst hatte, obwohl er so ganz und gar seltsam aus- j sah; sie staunte nur darüber, dass diese Geschöpfe sich endlich entschlossen hatten, ihr zu erscheinen, und sie empfand ein gewisses Misstrauen, das davon kam, dass sie die Geschichten kannte. »Ich lebe in Pitnochie; ich gehöre zu Broichans Haushalt. Niemand weiß wirklich, wo ich herkam. Ich könnte das unerwünschte Kind eines armen Mädchens sein. - 266 Ich könnte ein ganz gewöhnliches Menschenmädchen sein.« Sie sollte sie einfach fragen. Sie wünschte, sie könnte sich dazu überwinden. Wisst ihr, wer ich bin? Das Lachen, das nun erklang, hielt sie jedoch davon ab, die Worte laut auszusprechen. Das vergnügte Lachen hallte in dem kleinen Tal wider wie Samen, die in einer Kapsel rasseln, und bewirkte, dass es Tuala im Nacken kribbelte. »Gewöhnlich?«, fragte das Mädchen spöttisch. »Das glaubst du ebenso wenig wie wir. Du bist eine von uns, ein Kind des Waldes. Du hast Magie in jedem Haar auf deinem Kopf, in jeder Berührung deiner Fingerspitzen. Sag uns, warum du heute hierher gekommen bist, Tuala. Sag uns, wieso du uns aufgesucht hast.« Der junge Mann setzte sich hin; seine Kleidung schien ebenso wie sein Haar eine Verlängerung des Laubs zu sein, Matten aus grünem, miteinander verwobenem Pflanzenwuchs. Er roch ein wenig nach verrottenden Blättern. Mit langen, knochigen Fingern tätschelte er einladend den Boden; das Mädchen mit dem grauen Umhang kniete nun auf Tualas anderer Seite. Tuala setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, angespannt und aufmerksam. Wenn sie davonlaufen musste, wollte sie bereit sein, das sofort zu tun. Ihr Herz klopfte heftig; es gab hier viele Möglichkeiten, und sie musste auf alle vorbereitet sein. »Ich suchte Antworten«, sagte sie. »Und die Fragen sind nicht mehr die gleichen, die ich früher einmal gestellt hätte, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die Menschen haben sich verändert; Menschen die einmal meine Freude waren, haben plötzlich Angst vor mir, sind misstrauisch und seltsam. Meine Lehrer sagten, das ist, weil... weil sie mich als Frau für gefährlich halten.« Sie schluckte. »Wie Amna mit dem weißen Tuch«, fügte sie widerstrebend hinzu. »Und nun liegt ein alter Mann, der mein Freund ist, im Sterben, und sie wollen nicht zulassen, dass ich seine Hand halte und mich von ihm verabschiede.« Sie war entschlossen, nicht zu wei- 267 nen; es war wichtig, die Situation zu beherrschen. Sie würde schon bald genug Zeit zum Weinen haben. »Amna, hm«, sagte der Blättermann. »Menschenfrauen erfinden solche Geschichten, damit ihre Männer sich nicht herumtreiben.« Tuala starrte ihn an. Seine Wangen waren so braun und glänzend wie reife Kastanien. »Erfinden?«, wiederholte sie. »Willst du damit sagen, dass es nur eine ausgedachte Geschichte ist? Und was ist mit der Eulenfrau, ist das ebenfalls erfunden?« »Vielleicht«, sagte der Mann. »Vielleicht auch nicht.« »Das hilft mir nicht weiter«, entgegnete Tuala. »Ich brauche Antworten. Ich muss den Leuten zeigen können, dass ich nicht gefährlich für sie bin. Ich muss sie überzeugen, dass ...« Ihre Stimme verklang; es war einfach zu peinlich, um es auszusprechen.
»Dass du nicht einen ihrer Männer begehrst?« Das Mädchen schob die Kapuze zurück und faltete die Hände im Schoß; sie trug viele Ringe, kunstvolle Silbergebilde mit hellen Steinen in Fassungen, die aussahen wie kleine Zweige. »Das ist unwichtig, Tuala. Nach ihrer Ansicht besteht die Gefahr darin, dass ein Mann dich begehren könnte. Sie meiden dich, weil sie glauben, dass es von nun an gefährlich ist, dich anzusehen oder zu berühren. Sie glauben, wenn sie dich in ihre Nähe lassen, kommt das einer Todesstrafe gleich. Wir kennen deine Geschichte. Bridei hat dich aufgenommen. Er war damals ein Kind und wusste nicht, was es bedeutete. Der Druide sah, was geschehen würde, aber er sah es zu spät. Er kann dir nicht gestatten, in Pitnochie zu bleiben. Das zu tun, würde tatsächlich Tod bedeuten: den Tod seiner Vision. Das glaubt er zumindest.« Tualas Herz war kalt. »Aber du sagtest, die Geschichte von Amna sei erfunden. Und ich bin ohnehin nicht so. Ich bin aufgewachsen wie ein Menschenmädchen. Ich werde einfach weiterleben, wie ein gewöhnliches Mädchen es tun wür- 268 de. Ich werde niemandem etwas tun.« Die Zukunft, die sie sich wünschte, umfasste sie und Bridei und Pitnochie; wie sollte sie etwas anderes ertragen können? Die beiden schwiegen. In diesem Schweigen hörte Tuala das Echo dessen, was sie selbst gesagt hatte, und erkannte, wie kindlich es klang, wie simpel. Es war zu spät für solch einfache Lösungen. Sie konnte nie wieder Kind sein. »Woher wisst ihr das alles überhaupt?«, fragte sie schließlich herausfordernd, obwohl die Antwort darauf vor ihr lag, im stillen Wasser des Dunklen Spiegels. »Was interessiert es euch schon?« Das Waldmädchen lächelte. Es war ein seltsames Lächeln, in dem Kummer und Resignation von einer Freundlichkeit gemildert wurden, die beinahe widerstrebend schien. »Du überraschst mich, Tuala«, sagte sie. »Du stellst die eine Frage nicht, die dich am meisten beunruhigt. Ist diese Frage nicht die Antwort auf alle anderen?« Tuala schwieg. Diese Wesen waren anders, sie waren ihr so unähnlich wie wilde Tiere. Wenn sie eine von ihnen war, hätte sie es beinahe lieber nicht gewusst. »Also gut«, sagte das Mädchen seufzend, »du hast dir das Recht zu einer solchen Antwort noch nicht verdient, also könnte ich sie dir nicht einmal geben, wenn ich sie wusste. Diese Wahrheit ist für später bestimmt, wenn du gezeigt hast, dass wir dir trauen können. Und was die Quelle unseres Wissens angeht: Wir beobachten dich, und wir beobachten Bridei. Unsere Muster sind von längerer Dauer als die der Menschen, aber das bedeutet nicht, dass wir kein Interesse an Königen und Druiden, an Schlachten und Kriegen und daran haben, wer in Fortriu herrscht. Es steht eine große Veränderung bevor. Dein Freund steht in der Mitte von allem, oder er wird es zumindest tun. Wir nehmen an, dass du das weißt.« Tuala nickte, weigerte sich aber, die Antwort auszusprechen. Schon als kleines Kind hatte sie verstanden, welche Zukunft Broichan für seinen Pflegesohn vorgesehen hatte. - 269 »Welche Rolle erwartest du bei diesen großartigen und bedeutsamen Ereignissen zu spielen?«, fragte der Blättermann mit brutaler Offenheit. »Das ist die Frage, die du dir stellen solltest, denn es kann nicht mehr lange dauern, bis Pitnochie dir für immer verschlossen ist.« »Hör auf«, murmelte Tuala und steckte sich die Finger in die Ohren, aber sie hörte weiter hin; immerhin hatte sie Antworten gesucht, und die erhielt sie nun, so ungern sie sie auch hören mochte. »Broichan hat ein Problem«, sagte das Waldmädchen. »Er kann dich nicht einfach verstoßen. Brideis gute Meinung bedeutet ihm erheblich mehr, als er auch nur sich selbst jemals eingestehen würde. Der Druide des Königs hat eine Schwäche, und das ist seine Zuneigung zu dem Jungen. Außerdem ist Broichan zutiefst loyal zu den Göttern; er würde nicht wagen, die Leuchtende zu verärgern, indem er ihre Tochter ausstößt. Zum Glück für ihn gibt es eine Lösung. Wenn ich Broichan wäre und mein Geist wie der eines sterblichen Mannes funktionierte, wäre ich froh, dass du das gefährliche Alter erreicht hast. Jetzt braucht er dir nur einen Mann zu suchen und kann dich vollkommen achtbar loswerden, ohne jemanden zu verärgern.« »Schau nicht so entsetzt drein«, sagte der Blättermann und ^ leckte sich die Lippen mit einer langen, grünlichen Zunge, was Tuala eine Gänsehaut verursachte. »Das ist doch üblich bei Menschenmädchen, sobald sie angefangen haben zu bluten. Hast du nicht versucht, uns davon zu überzeugen, dass du ein ganz gewöhnliches Menschenmädchen bist? Selbstverständlich könnte es schwierig sein, einen Mann für dich zu finden. Jeder, der die Geschichte von Amna vom weißen Tuch kennt, wäre verrückt, dich zu nehmen. Aber ein einsamer Witwer, ein älterer Mann vielleicht, könnte sich von einem Blick auf diese zarte Haut, diese hübsche Figur verleiten lassen. Und Broichan ist nicht arm; er könnte dir eine solide Mitgift geben. Ich wette, bis Mittsommer ist er dich - 270 los. Es sei denn, du nimmst die andere Gelegenheit wahr, jene, die wir dir bieten können.« Tuala fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Bridei würde das nicht zulassen«, flüsterte sie. »Er würde ihn aufhalten.« Wieder lächelte der Mann. »Bridei ist viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte er und zeigte auf den Teich, wo in einem Schimmern von Bewegung sofort Bilder auftauchten. »Angelegenheiten von Leben und Tod, die nicht nur seine eigene Zukunft beeinflussen werden, sondern die von ganz Fortriu. Sollte sich alles so entwickeln, wie Broichan es plant, wird Brideis Schicksal ihn weit von dir wegführen. Sieh selbst.« »Ich werde nicht hinsehen.« Tuala hörte, wie sehr ihre Stimme zitterte. »Ihr könnt diese Bilder manipulieren; ihr
zeigt mir nur, was ich sehen soll. Ihr könnt mich nicht zwingen hinzusehen.« »Warum bist du hergekommen, wenn nicht, um ihn zu sehen?«, fragte das Mädchen leise. »Warum gehst du an diesen einsamen Ort, wenn nicht, um ihm nahe zu sein, wenn er weit weg ist? Wenn dieses Wasser dir sein Gesicht zeigt, dann musst du einfach hinsehen.« Tuala nickte. Sie hatten Recht: Diesen ganzen Weg in der Kälte hierher gekommen zu sein und Bridei nicht zu sehen, wenn sie doch wusste, dass sein Bild dort auf der Oberfläche des Dunklen Spiegels wartete, ging tatsächlich über ihre Kraft. Aber sie war verlegen, als sie sich wieder über den Teich beugte. Es war noch nicht lange her, dass ihre eigene Gestalt bleich und seltsam im Wasser zu sehen gewesen war, und es beunruhigte sie, nun auf der gleichen Oberfläche nach einem Bild ihres guten Freundes Ausschau zu halten. Etwas daran war nicht richtig. Sie glaubte keinen Augenblick, dass ihre Gefährten aus der Anderwelt die Botschaft des Dunklen Spiegels nicht so verzerrten und veränderten, wie es ihnen passte. Dennoch, sie musste einfach hinsehen. - 271 Es gab nur kurze Blicke, und jedes Bild war schon beinahe verschwunden, bevor sie Zeit hatte, es wirklich wahrzunehmen: Bridei, der neben Gartnait ritt, und beide trieben ihre Pferde in unausgesprochener Rivalität an. Das überraschte Tuala nicht. Sie hatte während der Sommer, die Gartnait in Pitnochie verbracht hatte, oft Gelegenheit gehabt, Talorgens lachenden, rothaarigen Sohn zu beobachten. Hinter seiner fröhlichen Fassade hatte Tuala etwas anderes bemerkt: das leidenschaftliche Bedürfnis, was Kraft und Geschicklichkeit anging, besser zu sein als Bridei, da er keine Hoffnung hatte, es in Sachen der Gelehrsamkeit mit ihm aufnehmen zu können. Sie hatte die Verzweiflung erkannt, mit der Gartnait versuchte, seinen Vater zu beeindrucken, und verstand, was Bridei entging: dass sein unbeschwerter, scherzender Gefährte von leidenschaftlichem Ehrgeiz getrieben wurde. Einem Jungen wie Gartnait mochte es so vorkommen, dass Bridei alles zu leicht gemacht wurde. Gartnait wusste nichts von den langen Zeiten der Einsamkeit, den geduldigen Stunden der Selbstdisziplin. Er begriff nicht, was es bedeutete, von zu Hause weggeschickt zu werden, wenn man noch zu klein war, um zu verstehen, warum. Das Bild änderte sich, und Tuala sah Bridei, der mit einem anderen Mann rang, ein Kampf um Leben und Tod mit Messern. Es war nur ein Augenblick. Dann sah sie Bridei allein bei Nacht, wie er in die Dunkelheit starrte. Eine einzelne Kerze zeigte seine umschatteten Augen, die kleine Falte zwischen seinen Brauen, seinen angespannten Mund. »Er braucht mich«, flüsterte sie. Dann war es nicht mehr Nacht, sondern Tag, und er saß auf einer Bank neben einem Fischteich, und da war ein Mädchen. Das Mädchen hatte rotes Haar wie Gartnait und ein paar kleine Sommersprossen auf ihrer zarten Nase. Sie war auf eine Weise gekleidet, die zeigte, dass sie eine Adlige war, ihr Haar war mit einem bestickten Band zurückgebunden, - 272 und sie hatte es nur einer einzelnen Locke erlaubt, über einem Ohr aus der strengen Frisur zu entkommen. Ihr Kleid war aus einem weichen rotbraunen Stoff mit Borten im gleichen Grün und Blau wie im Haarband. Ihre Füße steckten in feinem Ziegenleder. Das Mädchen saß neben Bridei; sie wirkte ebenso ruhig und gelassen wie er, und sie lauschte aufmerksam, als er sprach. Bridei neigte den Kopf höflich zu ihr, und sie sagte ein paar Worte und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Trotz ihrer scharfen Züge war sie sehr hübsch, wie eine kleine Füchsin. Tuala konnte in Brideis Augen sehen, dass er sie bewunderte. »Sehr angemessen«, stellte der Blättermann trocken fest, als dieses Bild zerbrach und verschwand. »Die Tochter eines Freunds der Familie, mit Beziehungen zum Königshaus, gesund und in jeder Weise präsentabel und nur ein oder zwei Jahre jünger als er. Er muss selbstverständlich zunächst in die Schlacht ziehen; in diesem Frühjahr muss er sich auf dem Feld beweisen. Aber man sieht schon, wie es sich entwickeln wird. Er vertraut sich ihr bereits an.« »Er braucht mich.« Tuala schauderte, so warm sie der seltsame Umhang auch hielt. »Er muss nach Hause kommen.« Kein elegantes Mädchen mit Verbindungen zum Königshaus konnte so gut zuhören wie sie, wusste, wie man diesem ernsten Gesicht ein Lächeln entlockte, wie man an seiner Seite stand, wenn er mit den großen Fragen rang, die ihn bedrängten und die ihn nun nur mehr und mehr bedrängen würden. Keine blendende Vision konnte sie von etwas anderem überzeugen. All das bedeutete nur, dass niemand außer ihr selbst und Bridei die Verbindung verstand, die zwischen ihnen bestand. »Nein, Tuala«, sagte das Waldmädchen. »Er fliegt bereits weit außerhalb deiner Reichweite; würdest du denn die Flügel eines Adlers beschneiden?« »Selbst der Adler kann nicht pausenlos fliegen.« Tuala bemühte sich sehr, weiterhin selbstsicher zu klingen. »Er muss - 273 ruhen, damit er mutig weiterfliegen kann. Und dafür braucht er mich.« »Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte der Blättermann. »Solltest du nicht lieber deinen eigenen Weg finden und deine eigene Begabung nutzen? Du hast kaum begonnen zu entdecken, was du bist.« »Bridei braucht dich nicht mehr.« Die Stimme des Mädchens war so beruhigend wie Honigmet, so sanft wie die einer Mutter. »Es war eine Kinderfreundschaft, die euch beiden geholfen hat. Diese Zeiten sind nun vorbei. Er zieht auf seinem eigenen Weg weiter. Es ist Zeit, dass du anfängst, über den deinen nachzudenken.«
»Du scheinst Broichans Plan für dich zu fürchten«, sagte der Mann. »Du brauchst nicht zu tun, was er will. Wähle den anderen Weg. Deshalb bist du hierher zu uns gekommen. Streite es nicht ab. Du weißt, dass es für dich im Wald einen Weg gibt. Wir werden dir zeigen, wie du ihn finden kannst. Wir werden dir das Tor öffnen, damit du über die Schwelle treten kannst.« »Wir bringen dich nach Hause.« Nun war die Stimme des Mädchens wie der Klang eines süßen, unirdischen Instruments, der über das dunkle Wasser schwebte. Tualas Kopfhaut kribbelte. Ein Zauber, das war es, ein Bann, eine Falle; sie hatte dem Blättermann mit seinem tückischen Lächeln und seinen anzüglichen Blicken misstraut, aber es war die andere, so hübsch und freundlich, die gefährlicher war. Sie war dumm gewesen, sich von dieser sanften Stimme beeinflussen zu lassen, von diesen Visionen, die sie verhöhnten. Sie versuchte, sich das Spinnwebgewand von der Schulter zu schieben. Sie spannte sich an, war bereit zu fliehen. Sie brauchte nur aufzustehen und zu laufen, sie kannte den Weg den Hang hinauf, am Rand des Tals entlang, unter Birken, Eichen und Stechpalmen hindurch zurück zur Grenze von Broichans Land und der Sicherheit. Sie würden ihr nicht folgen, nicht, sobald sie an den weißen Steinen am Eingang - 274 zum Tal der Gefallenen vorbeigekommen war. Das hoffte sie zumindest. Aber wenn sie floh, würden sie wissen, dass ihre Pfeile getroffen hatten. Sie würden wissen, dass es ihnen zumindest gelungen war, sie zu verängstigen. Nein, Tuala würde ihnen diesen kleinen Sieg nicht gewähren, nicht, nachdem sie ihr mit ihren grausamen Bemerkungen so wehgetan hatten. Sie waren nicht die Einzigen, die die Bilder einer Seherin verzerren konnten, um ein bestimmtes Argument zu unterstreichen. Tuala holte tief Luft und schaute noch einmal in das Wasser des Dunklen Spiegels. Sie konzentrierte sich auf die Leuchtende, sie stellte sich die helle Silberkugel vor, beschwor das Bild einer hoch gewachsenen und schönen Frau herauf, die ein kleines, in Pelze gehülltes Kind in den Armen hielt. Das Wasser schimmerte, bewegte sich, wurde wieder ruhig. Dann war auf seiner spiegelnden Oberfläche der kleine Bridei zu sehen, die kleinen nackten Füße blau von der Kälte unter dem Saum seines Nachtgewands, wie er um Mitternacht auf der Schwelle stand. Er schaute nach unten. Der Spiegel zeigte nicht, was er sah, nur die wunderbare Veränderung seines Gesichts, eines Gesichts, das zu ernst, zu misstrauisch war für ein Kind dieses Alters, dessen Gedanken sonnigen Tagen, wilden Spielen und seiner Familie gelten sollten. Er kniete sich auf dem Bild im Wasser nieder und sah sich an, was da vor ihm lag, und plötzlich leuchteten seine Augen, sein ganzes kleines Gesicht strahlte vor Freude. Er stand wieder auf und blickte nach oben, und die Leuchtende schaute auf ihn hernieder und berührte sein Gesicht mit unirdischem Silber. Tuala konnte nicht hören, was er sagte, aber sie erkannte die Bedeutung in ihrem Herzen: Es war ein Versprechen, tief und bindend, eine Bestätigung seiner Verantwortung. Er bückte sich, um aufzuheben, was vor seinen Füßen lag, und er lächelte. Nun hatte er einen anderen Ausdruck in den Augen, einen Blick, der nur für sie gedacht war. Das Bild verblasste und verschwand. - 275 Plötzlich war es im Tal der Gefallenen sehr still, so still, als wäre die Zeit stehen geblieben, während dieses Bild sich auf dem Dunklen Spiegel zeigte. Tuala blinzelte, rieb sich die Augen und schaute nach links und rechts. Sie war allein. So lautlos, wie sie gekommen waren, waren ihre Gefährten aus der Anderwelt wieder verschwunden. Die Vision, die sie sich gewünscht hatte, hatte ihnen nicht gefallen, so viel war sicher. Tuala verstand das nicht ganz; waren sie nicht selbst getreue Untertanen der Leuchtenden? Vielleicht war es Tualas Starrsinn, der sie vertrieben hatte. Vielleicht hatten sie erwartet, dass sie sie an den Händen nehmen und mit ihnen schon heute in den Wald gehen würde, um nie wieder ins Reich der Sterblichen zurückzukehren. Sie hatte sie nicht einmal nach ihren Namen gefragt. Es fing an zu regnen, und dieser Regen steigerte sich mit erschreckender Schnelligkeit zu einem Guss, der durch Tualas Umhang, Tuch und Hemd drang. Sie setzte die Kapuze auf und ging weiter. Ihre Stiefel waren bald dick mit Schlamm überzogen. Sie hatte sich lange gewünscht, dass das Gute Volk sich zeigte und begann, ihre Fragen zu beantworten. Jetzt hatten sie es endlich getan, aber sie hatte nur wenig erfahren. Vielleicht gab es bei diesem Volk tatsächlich eine Art Heim für sie. Wir werden dir das Tor öffnen, damit du über die Schwelle treten kannst, hatten sie gesagt. Sie würde gerne herausfinden, was das bedeutete, aber nur, wenn sie genau wusste, dass sie wieder zurückkehren könnte. Und Tuala hatte zu viele alte Geschichten gehört, um zu glauben, dass das möglich wäre. Wenn man dieses andere Reich betrat, war man dort für immer gefangen, oder man blieb für einen einzigen Tag des Festessens und der Tänze und kehrte zurück und entdeckte, dass alle, die man kannte, schon hundert Jahre tot waren. Außerdem würde sie nicht ohne Bridei irgendwo hingehen, und Brideis Weg lag eindeutig in der Welt menschlicher Angelegenheiten, einer Welt aus Druiden, Königen und Schlachten. Und ganz - 276 gleich, wie viele liebreizende Fuchsmädchen man ihr auch zeigte, sie würde nicht glauben, dass irgendeine andere ihren Platz in seinem Leben einnehmen könnte. Sie beide gehörten zusammen - so einfach war das. Sie kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause, frierend, durchnässt und erschöpft. Als sie unter den kahlen Eichen hervorkam, mit matschigen Stiefeln, den durchnässten Umhang fest um sich geschlungen, sah sie die blassen Gesichter der Männer auf Wache, die um ihr kleines Feuer saßen, sich ihr kurz zuwandten und schnell wieder wegschauten. Die Küchentür war verriegelt. Tuala tat ihr Bestes, mit frierenden, schmerzenden Händen zu klopfen. Sie dachte
an das Bild im Teich, an ein Kind, das genau an dieser Stelle gestanden und auf ein Baby hinabgeschaut hatte, das im Schnee einer Sonnenwendnacht zurückgelassen worden war. Sie wartete, geschüttelt von heftigem Zittern. Diesmal gab es keinen Bridei, der sie hereinholte. Sie hob die Hand, um noch einmal zu klopfen, aber bevor sie das tun konnte, wurde der Riegel zurückgezogen und die schwere Tür öffnete sich zu Laternenlicht, der Wärme des Feuers und Maras säuerlicher Miene. Tuala stolperte nach drinnen. »Erip geht es sehr schlecht«, sagte Mara und rammte den Riegel wieder an Ort und Stelle. »Zieh diese nassen Sachen aus und bring sie zu mir, dann gehst du zu ihm.« »Wie schlecht?«, fragte Tuala durch klappernde Zähne. Der plötzliche Schock der Wärme bewirkte, dass ihr elend und schwindlig wurde. Mara kniff die Lippen zusammen. »Es könnte eine lange Nacht werden«, sagte sie. »Geh schon, zieh trockene Sachen an. Und gib mir diese Stiefel. Du machst nur Ferats sauberen Boden schmutzig.« Tuala zog die tauben Füße aus den nassen Stiefeln, nahm die Kerze, die Mara ihr reichte, und floh in ihr kleines Zimmer. Sie zog sich zitternd vor Kälte aus, rieb sich mit einem Tuch halbwegs trocken, zog saubere Unterwäsche und ein - 277 Wollkleid an und wickelte sich in ein altes Schultertuch von Brenna, das immer noch an einem Haken an der Tür hing. Sie bündelte ihre nassen Sachen und kehrte in die Küche zurück. Sie empfand eine gewisse Dankbarkeit gegenüber Mara - man konnte die Haushälterin wirklich nicht freundlich nennen, aber zumindest war sie beständig. Aber Erip! Wie hatte Tuala so lange draußen bleiben können, wenn ihr alter Freund an der Schwelle des Todes stand? Mara nahm die triefenden Sachen ohne weitere Bemerkung entgegen und fing an, sie am Feuer aufzuhängen. Ein Topf Suppe stand auf dem Herd, und eine Schale davon stand auf dem Steinregal, das Ferat für seine Vorbereitungen benutzte, mit einem Stück Schwarzbrot daneben. »Iss«, sagte Mara. »Ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern, wenn du krank werden solltest, und das nur, weil du auf die verrückte Idee gekommen bist, allein in den Wald zu rennen. Also iss, es wird dich wärmen.« »Du sagtest, ich sollte reingehen«, brachte Tuala heraus, nachdem sie den größten Teil der Suppe gegessen hatte. »Heißt das, dass die Regeln sich wieder geändert haben?« »Regeln? Ich folge nur den Regeln der Vernunft - ein alter Mann, ein kleines Zimmer, da braucht man keine Ansammlung von Leuten, die ihn überanstrengen. Du hast es nicht mir zu verdanken, dass du heute Abend hineingehen darfst, sondern ihm. Er hat nach dir gefragt.« »Er hätte es auch schon vorher getan, er hätte mich dort haben wollen«, fühlte sich Tuala verpflichtet zu sagen. »Er war zu schwach, das ist alles. Ich habe es dir ja gesagt.« Mara warf ihr einen Blick zu, verbiss sich aber jede weitere Bemerkung. In Brideis kleinem Zimmer mit seinem quadratischen kleinen Fenster ruhte Erip an einen Berg von Kissen gelehnt; es half ihm, so zu sitzen. Trotzdem rasselte und keuchte sein Atem an diesem Abend in seiner Brust, als zöge man einen Stock über Knochen; eine garstige Todesmusik. Wid saß - 278 ruhig und gefasst an seiner Seite, die schmalen, knorrigen Hände im Schoß gefaltet. Das Licht der Lampen, die in der Kammer aufgestellt waren, fiel auf seine Hakennase, den schneeweißen Bart, die tief liegenden Augen. Am Fuß des Strohsacks, hoch gewachsen und reglos in seinem langen Gewand, stand Broichan. Tuala erstarrte in der Tür. Der Blick des Druiden begegnete dem ihren ungerührt. »Oh ...«, begann sie, unsicher ob sie eine Ausrede vorbringen sollte, eine Entschuldigung oder eine Bitte, hier bleiben zu dürfen, da ihr alter Freund gesagt hatte, er wolle sie sehen. »Komm herein«, sagte Broichan ernst. Er deutete auf einen Hocker neben dem von Wid, direkt neben dem Strohsack. Tuala verkniff sich die Worte und erkannte plötzlich, dass es der Druide gewesen sein musste, der nach ihr gefragt hatte; er war der Einzige, dem Mara sofort gehorchen würde. Tuala setzte sich neben Erip und nahm die Hand des alten Mannes. Sie sah Broichan nicht an. Wenn sie den Blick abwandte, würde er vielleicht nicht erkennen, wie feige sie war. Es kam ihr vor, als könne sie nicht in seiner Nähe sein, selbst jetzt nicht, ohne wieder fünf Jahre alt zu sein und außer sich vor Entsetzten. Erip sagte etwas; seine Stimme wie ein rauer Faden von Geräuschen. »Draußen... Regen«, brachte er hervor. »Dummes Mädchen...« Tuala nickte und schluckte die Tränen herunter. In einer solchen Situation weinte man nicht; man schickte einen Freund mit Hoffnung, Freude und Liebe auf die Reise. »Ah«, sagte sie, »ich war spazieren, und der Regen hat mich überrascht. Ich hätte mein Haar ordentlich trocknen sollen, aber ich wollte dich sofort sehen. Mara sagte, ich könne hereinkommen.« Sie drehte sich immer noch nicht um, obwohl ihre Sinne ihr sagten, dass Broichan sie angespannt beobachtete. - 279 »Wir haben ein paar Geschichten erzählt«, sagte Wid, »haben ein paar Lieder gesungen, uns an alte Zeiten erinnert.« Tuala warf ihm einen Blick zu. Es schien, dass die Trauer, die in den letzten Tagen seine Züge gezeichnet hatte, ein wenig geringer geworden war, obwohl Erips Hinscheiden kurz bevorstand. Vielleicht hatte das
Geschichtenerzählen beiden alten Freunden geholfen. Wie Broichan hier hineinpasste, konnte sie sich nicht vorstellen. Er schien kein Mann zu sein, der Freunde hatte. »Wo warst du?«, fragte er abrupt, die Frage so plötzlich wie der Sprung einer Katze, die eine Maus mit ihren Krallen fangen will. Tuala zwang sich, langsam zu atmen, wie Bridei ihr beigebracht hatte. »An einem Ort im Wald, wo ich... wo ich Bilder dessen sehen kann, was geschehen könnte.« »Sieh mich an, Tuala.« Sie wandte sich dem Druiden zu; sein Blick war direkt auf sie gerichtet. Broichan war an diesem Abend sehr blass; die Linien von der Nase zum Mund schienen tiefer zu sein. »Welche Bilder? Wessen Weg wolltest du sehen? Deinen eigenen?« Sie wollte es ihm nicht sagen. Sie wollte ihm überhaupt nichts sagen. Der Dunkle Spiegel und die Wahrheiten, die er erzählte, waren geheim, persönlich. Es auszusprechen wäre ein Vertrauensbruch, und Broichan war der Letzte, dem sie sich je anvertrauen würde. Ihm misstraute sie mehr als jedem anderen. Außerdem, wenn sie über das sprach, was heute geschehen war, würde sie vielleicht einen Fehler machen und verraten, dass sie nicht allein am Teich gewesen war. »Ich suche nicht nach etwas Bestimmtem«, sagte sie, hörte den angespannten, spröden Ton ihrer Stimme, der deutlich anzeigte, dass sie log. »Ich sehe, was immer mir gezeigt wird.« Sie konnte seinen Blick nicht mehr ertragen; sie starrte ihre Hände an, die Erips Hand wie eine Rettungsleine umklammerten. - 280 »Sprich die Wahrheit«, sagte Broichan. »Das ist das Mindeste, was ich von jedem Kind erwarte, das in meinem Haushalt aufgezogen wurde. Du hast das von Bridei gelernt, wie? Ich kann nicht glauben, dass er dir nicht auch ein paar Feinheiten beigebracht hat.« Dann fing Erip an zu husten und um Atem zu ringen, und eine Weile konnten sie alle nichts anderes tun, als ihm in seinem Kampf zu helfen, den er bereits verloren zu haben schien. Er war zu schwach geworden für dieses Würgen und verzweifelte Röcheln. Endlich ließ der Anfall nach; der alte Mann atmete wieder, aber nur flach, und jedes Einatmen war ein schmerzerfülltes Ächzen. Es war Blut auf den Laken. Wid hielt Erip einen Becher Wasser an die Lippen; Erip schüttelte schwach den Kopf. Er versuchte, etwas zu sagen, er hatte seine geröteten, schmerzerfüllten Augen auf Tuala gerichtet. »... Bridei...«, flüsterte er. »In der Tat«, sagte Wid und blickte auf zu dem Druiden. »Was Broichan dich fragen wollte, Tuala, was er irgendwann auf seine gewundene druidische Weise gefragt hätte, ist, ob dein Ausflug in den Wald dir heute Neuigkeiten von unserem Jungen gebracht hat. Erip ist traurig, weil sein bester Schüler nicht zu Hause ist, und auch Bridei wird traurig sein, dass er in einer solchen Zeit nicht in Pitnochie sein konnte. Wenn du an diesem Ort etwas von ihm gesehen hast und es uns erzählen könntest, würde das Erip sehr beruhigen. Es ist schwer für dich, wir wissen das.« Es wäre nicht schwer, dachte Tuala, wenn dieser Mann mich nicht mit Augen voller Macht und Hass anstarren würde. Mit meinen alten Freunden würde ich gerne darüber sprechen. Bei all ihrem Unbehagen wusste sie, dass sie erzählen musste, was sie gesehen hatte, zumindest einiges davon. »Ich habe ihn gesehen.« Das kam als Flüstern heraus; Tuala räusperte sich und bemühte sich um einen selbstsichereren Ton. »Ich sah ihn im Zweikampf Mann gegen Mann, ich - 281 sah ihn, wie er mit Gartnait ausritt und wie er mit einem Mädchen sprach, ich glaube, es war Gartnaits Schwester. Es schienen Bilder der Gegenwart zu sein, es war Winter, und Bridei sah ganz ähnlich aus wie zu dem Zeitpunkt, als wir uns zum letzten Mal verabschiedet haben.« »War er gesund? Zufrieden?« Es war Broichan, der da sprach, und in seiner Stimme lag eine Schärfe, die zuvor nicht da gewesen war. Tuala wusste plötzlich, dass er diese Neuigkeiten mehr für sich selbst als um Erips willen hören wollte. »Es schien ihm gut zu gehen.« Sie erinnerte sich an das Bild, von dem sie nicht gesprochen hatte: Bridei in der Nacht, gequält von einem gewichtigen Problem. Gegen ihren Willen platzte es aus ihr heraus: »Er will nach Hause kommen.« Alle schwiegen. Dann sagte Broichan: »Woher weißt du das?« , »Ich sah es in seinem Gesicht. Er hat... Bedenken.« Nun hatte sie zu viel gesagt, und so sehr Broichan sie auch bedrängen würde, sie würde nicht mehr darüber sprechen. Erip seufzte. Seine Finger bewegten sich, um ihre zu tätscheln, die Berührung wie ein trockenes Blatt, ein Grasbüschel, weich und substanzlos, als hätte er bereits begonnen, seine Existenz in dieser Welt aufzugeben, und sich auf die Reise ins Reich reinen Geistes aufgemacht. »Danke«, sagte er und schloss die Augen. »Er kann nicht nach Hause kommen, bevor Talorgens Feldzug vorüber ist.« Broichans Tonfall gestattete keinen Widerspruch. »Und der wird nicht vorüber sein, bevor der Sommer beginnt, selbst wenn alles nach Plan verläuft. Der Junge muss das, was er braucht, in sich selbst finden. Was sonst hast du gesehen? Ein Kampf, sagst du? Eine Schlacht? Ein größeres Gefecht?« Tuala blickte zu ihm auf. »Ich habe nichts dergleichen gesehen«, sagte sie. »Nur einen Kampf zwischen Bridei und
- 282 einem anderen Mann. Sie hatten Messer. Ich weiß, dass er in Sicherheit ist.« »Woher weißt du das?« »Ich würde wissen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Ich brauche nicht in den Dunklen Spiegel zu schauen, um das zu wissen.« »Der Dunkle Spiegel«, wiederholte Broichan leise. »Du gehst also den ganzen Weg hinauf zum Tal der Gefallenen. Warum dort? Was siehst du dort, das nicht auch näher am Haus gefunden werden kann? Welche Geheimnisse? Welche Präsenzen?« »Nichts, dass du nicht ebenfalls sehen könntest, Herr, da bin ich sicher. Deine eigenen Fähigkeiten in dieser Kunst müssen meine bei weitem übertreffen, so ungeschult wie ich bin.« Tatsächlich staunte sie gewaltig, dass er sie so befragte. Er war immerhin der Druide eines Königs; er konnte doch sicher unendlich machtvollere Visionen heraufbeschwören als sie. »Ich habe Erip bereits erzählt, dass es Bridei offenbar gut geht und ihm sein Zuhause und seine alten Freunde fehlen. Er ist zufrieden mit diesen Nachrichten, und sie entsprechen der Wahrheit. Mehr werde ich nicht sagen.« Danach herrschte Schweigen, ein Schweigen, in dem Tuala darauf wartete, dass Broichan ihr befahl, das Zimmer zu verlassen. Sich ihm zu widersetzen hatte bewirkt, dass ihr kalter Schweiß ausgebrochen war. Aber Broichan sagte nichts, und als sie schließlich wagte, ihm einen Blick zuzuwerfen, stand er einfach am Fuß des Strohsacks, beobachtete Erip, und seine zerstreute Miene zeigte, dass seine Gedanken an einem ganz anderen Ort verweilten. In diesem Augenblick erinnerte Tuala sich an etwas, das das Waldmädchen gesagt hatte. Der Druide des Königs hat eine Schwäche, und das ist seine Zuneigung zu dem Jungen. Es war durchaus möglich, dass Broichans bohrende Fragen weniger mit seinen Strategien und Plänen oder mit seiner Ablehnung ihrer Person zu tun hatten, sondern erheblich mehr mit etwas - 283 viel Einfacherem: der Liebe und Sorge eines Vaters, dessen Sohn abwesend war. Das war eine bedeutende Erkenntnis. Je mehr sie darüber nachdachte, desto wirklicher kam sie ihr vor. Und je wirklicher es schien, desto eher wurde es möglich, Broichan als Menschen und nicht als eine Präsenz von schrecklicher, überwältigender Macht zu sehen. »Haben wir dir je erzählt«, fragte Wid, »wie wir Bridei beigebracht haben, Bier zu trinken wie ein Mann?« Tuala grinste. Sie hatte diese Geschichte viele Male gehört. »Es war so ...« Und danach gab es eine andere Geschichte, und dann noch eine. Tuala trug selbst einige bei, Kindergeschichten, die Brenna ihr erzählt hatte, Geschichten von wunderbaren Ungeheuern und tapferen Helden, die Bridei Abend um Abend an sie weitergegeben hatte, bevor sie einschlief, Geschichten, die er wahrscheinlich von genau diesen beiden gelehrten Alten gehört hatte. Gegen Morgengrauen, als Erip ihre Geschichten nicht mehr hören konnte und sowohl Tuala als auch Wid heiser vom vielen Reden und bleich vor Erschöpfung waren, begann Broichan Gebete zu sprechen. Er sprach leise, aber seine Stimme war dennoch wohltönend und stark, als er den Segen der Leuchtenden und des Flammenhüters herabbeschwor und schließlich eine feierliche Bitte an die Knochenmutter, die Hüterin des großen Tors richtete, durch das dieser müde alte Gelehrte schreiten musste. Tuala weinte nun, aber Wid nicht, auch wenn das graue Vordämmerungslicht, das durch das kleine Fenster fiel, ungeweinte Tränen in seinen tief liegenden Augen zum Glitzern brachte. Erips Atemzüge waren flacher geworden, bis sich die Brust kaum mehr hob und senkte und seine Lippen nur noch ganz wenig zitterten. Seine Augen waren geschlossen. Tuala hielt eine seiner Hände, Wid die andere. »Ein Mann, der gerne gab, stark in seiner Großzügigkeit«, sagte Broichan. »Ein Mann, dessen Reise lang war; er hat viele Wege beschritten und in allem, was ihm zustieß, etwas - 284 Lehrreiches gefunden, im Angenehmen und Unangenehmen. Er war stark in den Lehren der Ahnen, so gut er es auch verbergen konnte, wenn es ihm passte. Er erfüllte treu die Aufgaben, die er im Namen der Götter auf sich nahm. Und er war ein guter Lehrer. Nimm ihn nun auf in Anerkennung all dessen, denn ein solcher Lehrer ist selten; er weiß nicht nur, wie man einen Jungen zum Gelehrten, sondern auch, wie man ihn zum Mann macht. Erleichtere seinen Übergang, denn er wurde sehr geliebt und hat im Gegenzug ebenso geliebt, aber seine erste Liebe galt der Wahrheit. Nimm seine Hand, führe ihn von hier, Mutter von Allem, in die Zuflucht des Schlafes. Lass ihn eine Weile in deiner Obhut ruhen und schenke ihm gute Träume von seiner nächsten Reise. In deinem Namen, dunkle Mutter, bitten wir um dies für unseren lieben Freund. Und wenn wir seine Geschichten erzählen, werden wir ihn ehren und uns an ihn erinnern.« Ob es das feierliche Gebet des Druiden eines Königs war oder einfach Freundlichkeit gegenüber einem guten alten Mann, die Knochenmutter ließ Erip so sanft hinübergleiten, wie es einem Sterblichen möglich war. Es gab keinen letzten Krampf, kein grausiges Ringen nach Luft; Erip atmete noch einmal aus und war dann still. Tuala berührte mit den Lippen seine schmale Hand und legte sie auf seine Brust, und Wid legte die andere darüber. Sie saßen still da, als die Vögel draußen zu singen und zu schwatzen begannen, als das Morgenlicht hell und klar durch Brideis kleines Fenster fiel, wo die Talismane, die er dorthin gelegt hatte, bevor er nach Rabenbrunn aufbrach, immer noch lagen: drei weiße Steine und die braune Feder eines Adlers. Tuala bemerkte, dass andere draußen in der Tür standen, vielleicht schon seit einiger Zeit dagestanden hatten: Mara, Ferat, einer der
Küchenjungen, Uven und ein zweiter Bewaffneter. »Er ist also gegangen«, sagte Mara schließlich. »Ihr solltet lieber alle zum Frühstück kommen; Erip würde nicht wollen, dass ihr seinetwegen hungert. Er hat seine Mahlzeiten im- 285 mer genossen. Danach werde ich ihn waschen und bereit machen. Brenna kann kommen und mir helfen. Es gibt hier ein paar Leute, die Schlaf brauchen; der alte Mann wird so lange warten.« Sie betteten Erip unter einem Hügel behauener Steine oben auf dem Hügel zur Ruhe, nicht weit entfernt vom Morgenbaum. Der Regen ließ gerade lange genug nach, dass sie das Ritual durchführen konnten. Danach tranken sie Bier, aßen Pudding mit getrocknetem Obst und Gewürzen aus Ferats besonderem Vorrat und erzählten Geschichten über Erips Zeit in Pitnochie. Aus Achtung vor Erip blieb Broichan an diesem Abend in der Halle, aber er trug wenig zu den Geschichten bei, und es kam Tuala so vor, als verursachte seine wachsame, schweigende Gegenwart nicht nur ihr selbst, sondern auch allen anderen Unbehagen. Sie hatte den ganzen Abend neben Wid gesessen und war so still gewesen, wie sie konnte. Ihr einziger Versuch, etwas beizutragen, eine Geschichte über einen Streich, den Bridei Erip einmal gespielt und darüber, wie der alte Gelehrte sich gerächt hatte, war auf ausdruckslose Mienen und Schweigen gestoßen, als hätte sie kein Recht, etwas zu sagen, kein Recht so zu tun, als hätte sie zu Erips Freunden gezählt. Nur Wid hatte leise gelacht und ihr die Schulter getätschelt. Von den anderen ging solche Ablehnung aus, dass sie es beinahe körperlich spüren konnte. Am Tag nach Erips Begräbnis erschien ein Besucher: der alte, zerzauste Druide Uist, der im Sommer, als Tuala weggeschickt worden war, in Pitnochie gewesen war, und der hin und wieder auf geheimnisvollen Missionen durch das Tal kam. Er grüßte Broichan auf seine übliche Weise, also mit vollkommener Nichtachtung aller förmlichen Höflichkeit, aber er war zumindest ehrlich. Er ging zu dem Steinhaufen und sprach Gebete, die niemand so recht verstand. Dann wurde Tuala klar, dass Uist nicht in Pitnochie bleiben wür- 286 de, und Wid ebenso wenig. Wid erschien in der Halle mit seinem warmen Umhang und einem kleinen Rucksack, und Uist, der gerade von seinem Besuch an Erips Steinhaufen zurückgekehrt war, fragte: »Bist du bereit?« Es war eisig kalt draußen; dichter Nebel hing über den Hängen oberhalb von Pitnochie und verdeckte das Wasser des Schlangensees. Hier und da erhob sich der Stamm einer großen Eiche moosüberzogen und seltsam grün aus dem grauweißen Dunst. Es war kein Tag, an dem alte Männer in den Wald gehen sollten; es war nicht einmal die Jahreszeit für so etwas. »Zeit zu gehen«, verkündete Wid ruhig und griff nach seinem Stab, der an dem üblichen Platz neben der Feuerstelle lehnte. Er sah Tuala an, die am Feuer stand. So entsetzt und bedrückt sie war, sie konnte dennoch in seiner Miene die Wahrheit über das erkennen, was zunächst wie ein schrecklicher, plötzlicher Verrat erschien. Sie sah, dass seine Trauer ihn überwältigen würde, wenn er hier bliebe. Um zu überleben, musste er ebenfalls eine Reise beginnen, wie Erip es getan hatte. »Es tut mir sehr Leid, dass du gehst«, sagte sie leise. Andere waren in der Nähe, und sie konnte nicht alles aussprechen, was sie empfand. Sie konnte nicht aussprechen, wie grausam es war, den letzten Freund zu verlieren, der ihr hier geblieben war. »Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Aber ich verstehe dich.« Es gelang ihr sogar zu lächeln, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihren alten Freund erst auf eine Wange zu küssen, dann auf die andere. »Möge die Leuchtende deinen Weg erhellen.« »Sei tapfer, Kleines«, sagte Wid. »Möge der Flammenhüter deinen Herd und dein Herz erwärmen. Wir werden uns wieder sehen, daran habe ich keinen Zweifel. Dann wirst du mir zeigen müssen, was du auf der hervorragenden Erziehung aufgebaut hast, die wir dir gegeben haben, der alte Mann und ich.« Seine Lippen zitterten. - 287 »Ich verspreche, ihr werdet beide stolz auf mich sein«, erwiderte Tuala und setzte eine so selbstsichere, ruhige Miene auf, wie sie konnte. Aber als sie sie gehen sah, den weiß gewandeten, geheimnisvollen Uist voran und die hoch gewachsene, bärtige Gestalt ihres alten Lehrers, der ihm mit stetigem Schritt folgte, bis der Nebel sie beide verschlang, spürte sie die kalte Schwere vollkommener, quälender Trauer in ihrer Brust. Alle waren gegangen. Nun war sie wirklich allein. 288 KAPITEL ACHT Der Magierstein wurde allgemein für den beeindruckendsten aller Verwandtschaftssteine gehalten, die im alten Territorium der Priteni standen. Er war größer als ein hoch gewachsener Mann und auf allen Seiten mit komplizierten, anmutigen Mustern überzogen. Die Nordseite zeigte die Geschichte eines großen Konflikts: Ganz oben zogen ein König und seine Krieger in die Schlacht, der Herrscher auf einem kräftigen kleinen Pferd, seine Männer zu Fuß hinter ihm, Speere bereit, das lockige Haar bis auf die Schultern fallend, den Blick geradeaus gerichtet. Die Mitte zeigte den Kampf selbst, wo die Priteni auf ihren Feind stießen; hier trieb der König seinen Speer durch die Brust seines Gegners. Am Fuß sah man die Köpfe der Feinde auf Speeren zur Schau gestellt und die Leichen der Gefallenen, die in ordentlichen Reihen lagen. Neben ihnen verschlang ein Hund eine Gans. Vielleicht waren Hund und Gans die Verwandtschaftszeichen der jeweiligen Könige. Die Südseite hatte ein weniger förmliches Muster: Sie war ein leidenschaftlicher, freudiger Tribut an die Götter,
die gesamte Oberfläche mit kleinen Bildern aller Tiere gefüllt, die man in den Königreichen der Priteni fand: Wolf, Hirsch, Fuchs und Dachs, Marder und Wühlmaus, Aal und Lachs, Stier, Wildschwein und Widder, alle sprangen in einer wunderbaren bildlichen Darstellung reiner Lebensfreude über - 289 den Stein. An der Ost- und der Westseite des Magiersteins gab es große Wirbel ineinander verflochtener Schlangen, und hier und da die kleinen, grinsenden Gesichter von Mann, Frau oder Tier. Bridei hatte den Stein nie gesehen. Er befand sich weit im Westen, wo der Königssee sich zum Meer hin öffnete, und eines unseligen Jahres waren die Galen gekommen und hatten den Hügel erobert, von dessen Hang er Generation um Generation herabgeschaut hatte. Es war Broichan, der Bridei als Erster den Stein beschrieben hatte: »Er ist ein wahres Wunder, Bridei, nicht nur ein Wunder der Steinmetzkunst, sondern durchtränkt von der Überlieferung unseres Volkes und voll von den Mysterien unserer Ahnen.« Erip hatte Bridei später erzählt, dass die seltsamen kleinen Gesichter an den Seiten der persönliche Beitrag des Bildhauers zu dem Gesamtwerk gewesen waren; an allen großen Kunstwerken, hatte er gesagt, fand man solche Beweise des Bedürfnisses, sich von etablierten Mustern zu befreien, wenn man nur ausführlich genug danach suchte. Das hatte zu einem hitzigen Streit mit Wid geführt. Bridei erinnerte sich liebevoll daran. Er stellte sich vor, wie die beiden alten Gelehrten zu Hause in Pitnochie immer noch ihre Tage mit endlosen Debatten über Philosophie verbrachten. Es war gut, dass sie jetzt Tuala unterrichteten; sie war klug und würde dafür sorgen, dass die alten Schurken genug zu tun hatten. Sich vorzustellen, wie die drei vor dem Hallenfeuer saßen, half Bridei, sich besser zu fühlen. Zu wissen, dass die Welt in Pitnochie weiterhin auf seine Rückkehr wartete, das war, als hätte er einen Anker, der für seine Sicherheit sorgte, oder wie eine Versicherung, dass sein Geist stark bleiben würde, selbst wenn er Undenkbares erblicken und sich unvorstellbaren Gefahren stellen musste. Nicht, dass Bridei sich gefürchtet hätte. Man hatte ihm beigebracht, eine Situation einzuschätzen, Möglichkeiten und Gefahren abzuwägen, eine Entscheidung zu treffen und ent- 290 sprechend zu handeln. Jahre von Broichans Unterricht hatten dafür gesorgt, dass er auf seine Weise reagierte, ganz gleich, um was es ging; Talorgen hatte, als Bridei in Rabenbrunn mit der Ausbildung zum Krieger begann, einmal festgestellt, dass Broichans Pflegesohn wenig zu lernen hatte, was Strategien, Entschlossenheit und gesundes Urteilsvermögen anging. Andererseits wusste kein junger Mann, ganz gleich wie viel versprechend, was er tatsächlich leisten kann, bevor er seinen ersten wirklichen Geschmack vom Krieg bekommen hat. Das kleine Scharmützel, bei dem Bridei und Gartnait jeder einen Gefangenen genommen hatten, war eine Sache. Eine echte Schlacht war etwas vollkommen anderes. Talorgen hatte sie ausführlich ausgebildet. Es hatte lange Ritte über Land gegeben, auch bei Wetter, das selbst den kräftigsten Mann zum Frieren brachte; sie waren hungrig, erschöpft, zornig und gelangweilt gewesen. Es kam Bridei so vor, als wären sie jetzt für den wirklichen Krieg bereit. Dennoch wusste er, dass man vielleicht nie vollkommen bereit sein konnte. Es half, Donal in der Nähe zu haben. Donal tat sein Bestes, offen und ehrlich zu sagen, um was es ging, und Bridei auf das Beste und das Schlimmste vorzubereiten. »Vergiss nicht, was ich dir einmal gesagt habe«, begann Donal, wenn die beiden miteinander allein waren und einen Augenblick der Ruhe zwischen den endlosen Übungsstunden genossen. Sie ritten nach Süden, und das Tempo war gnadenlos. »Das erste Mal ist es immer am schlimmsten. Dann denkst du noch über den Mann nach, den du tötest, wie ist sein Name, hat er eine Frau und Kinder, hat er Angst und so weiter. Du stichst trotzdem mit deinem Messer zu, denn wenn du es nicht tust, erwischt er dich. Danach lernst du, diesen Teil von dir zum Erlöschen zu bringen, diesen Teil, der Fragen stellt wie: Sollte ich das hier wirklich tun? Du betrachtest sie nicht mehr als Menschen, wie du selbst einer bist, du betrachtest sie als den Feind, als stinkende Galen, die - 291 das Blut deiner Landsleute an ihren Händen und reine Finsternis in ihren Seelen haben. Dann schlägst du nicht zu, um einen Sohn, einen Ehemann, einen Vater zu töten; du schlägst zu, um den Fluch von Fortriu zu vernichten. Es gibt keine andere Möglichkeit, Bridei. Es scheint seltsam, das zu sagen, aber der beste Weg zu kämpfen ist nicht mit dem Herzen oder auch nur mit dem Bauch, du musst mit dem Kopf kämpfen, kühl, sauber, distanziert. Kein Mord, nur eine Hinrichtung.« Darauf reagierte Bridei mit Schweigen. »Glaub mir«, sagte Donal, »du kannst dir keine Skrupel leisten. Deshalb üben wir wieder und wieder, Schwerter, Speere, Messer, bloße Hände - damit wir es, wenn es so weit ist, einfach können. Es hilft auch gegen die Angst, wenn man die Bewegungen so gut kennt, dass man sie im Schlaf beherrscht. Sieh mich nicht so an, Bridei. Du wirst Angst haben. Das haben wir alle. Sogar Talorgen.« Bridei warf ihm einen Blick zu. »Ich dachte nicht, dass du Angst hättest«, stellte er fest. »Donal, Sieger von mehr Schlachten, als ich Finger und Zehen habe, um sie zu zählen - hast du mir das nicht einmal erzählt?« Donal grinste. »Ich bezweifle, dass dir das auffallen würde, wenn ich im Feld stehe. Angst ist gut, wenn man sie richtig benutzt. Sie lässt dich scharfsinnig bleiben und hält dich wach.« »Ich glaube nicht, dass ich Angst haben werde«, sagte Bridei. »Ich glaube, ich werde es schaffen.« »Ja«, sagte Donal. »Daran zweifle ich nicht. Aber du wirst Dinge sehen, die dir nicht gefallen, Dinge, mit denen ein Mann schwer zurechtkommt. Es gibt keine Möglichkeit, sich auf den Tod seiner Freunde vorzubereiten, und
auch nicht auf die Grausamkeit, die das tägliche Brot dieser Galen ist. Das mag dich eine ganze Weile begleiten.« Bridei stellte die Frage nicht, sondern schaute seinen Freund nur an. - 292 »Ich habe gelernt, es wegzuschieben«, sagte Donal leise. »Ich schließe es in mir weg, wo es am besten aufgehoben ist. Manchmal kehrt es zurück. Manchmal träume ich. Nicht oft. Ein Mann kann sich das nicht gut leisten, wenn er als Kämpfer zu etwas nütze sein will.« Bridei dachte nicht zum ersten Mal über die Tatsache nach, dass Donal, ein Mann in mittleren Jahren, weder Frau noch Kinder hatte. Wenn man ihn nach solch persönlichen Dingen fragte, neigte der Krieger zu plötzlicher Schweigsamkeit. Bridei hatte gelernt, nicht zu fragen. »Ich werde bei dir sein, Junge«, sagte Donal. »Erwarte einfach nicht, dass es leicht ist, mehr sage ich nicht.« »Ich bin nicht dumm«, entgegnete Bridei und spürte, wie ihm Röte in die Wangen stieg. »Nein«, sagte der Krieger, »und das habe ich auch nicht gesagt. Ich sage nur, dass die Weisheit eines Druiden dich sicher vieles lehren kann, Dinge, die weit über das Verständnis eines einfachen Mannes, wie ich einer bin, hinausgehen. Aber sie kann dich nicht auf den Krieg vorbereiten, ebenso wenig wie all die Kampfübungen, die Talorgen und ich mit dir durchführen. Das solltest du einfach wissen.« »Ich weiß es.« Bridei dachte an den Dunklen Spiegel. »Die Götter haben's mir gezeigt.« »Sie zeigen kurze Blicke, Bilder, Schatten«, sagte Donal. »Aber es geht um Blut, Eingeweide, abgehackte Glieder, abgetrennte Köpfe, Frauen, die am Boden liegen, wo dieses Ungeziefer sie liegen gelassen hat, Kinder zerschmettert, Häuser angezündet. Es sind die Gerüche und die Geräusche, die dazu gehören. Und noch schlimmer: Deine Kameraden verwandeln sich plötzlich in Fremde. Das ist der schlimmste Teil.« Donais Stimme hatte sich verändert. Bridei warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wie meinst du das?« Donal verschränkte die Arme. Seine eng zusammenstehenden Augen schienen weit in die Ferne zu blicken. »Viel- 293 leicht wird es nicht passieren«, sagte er. »Vielleicht wirst du unberührt durch all das hindurchwandeln, geschützt vom Atem der Götter. Ich wünsche, das wäre so. Und jetzt glaube ich, dass Elpin uns ruft. Wahrscheinlich sind wir mit Speerwerfen dran. Kommst du?« Sie brachen aus Rabenbrunn auf, sobald die Knospen an den Birken zu schwellen begannen, und zogen in Zehnergruppen ins Tal hinunter. Eine kleine Streitmacht wurde zurückgelassen, um Talorgens Eigentum vor Überfällen zu schützen; seine Familie war den Schlangensee entlang gezogen, auf dem Weg zur Sicherheit des Hofes. Talorgens Armee zählte beinahe hundert Mann, als sie aufbrach. Sie war, entsprechend einer Entscheidung ihres Anführers, überwiegend eine Armee von Fußsoldaten, obwohl es auch Pferde gab, Packponys für ihre Vorräte und ein paar Reitpferde, die ihnen gestatteten, rasch Botschaften zu überbringen, wenn das Gelände geeignet war. Es hatte eine Debatte darüber gegeben, ob das Problem, die Tiere füttern zu müssen, nicht ihre Nützlichkeit wieder aufwog, obwohl sie einem Mann im Feld bessere Sicht, Reichweite und Geschwindigkeit verliehen. Es gab außerdem einen Disput über die Benutzung der Seen; Männer und Gegenstände konnten rasch von einem Segelschiff oder einem Boot transportiert werden und einem lange, ermüdende Märsche ersparen, die die Energie der Männer erschöpften und ihre Laune verschlechterten. Das Gegenargument bestand darin, dass Boote für Spione oben auf den Hügeln oberhalb des Magier- und des Königssees deutlich zu sehen waren; sie würden das Überraschungsmoment verlieren, wenn sie die Wasserwege benutzten. Außerdem war es beinahe so ermüdend, die Boote zwischen den Seen über Land zu tragen, als legte man den ganzen Weg zu Fuß zurück. Am Ende wählten sie den langen, langsamen Weg, die geschütztere Strecke. Die kleinen Gruppen machten sich ge- 294 trennt auf den Weg, lagerten nahe beieinander, blieben aber unter sich, verbargen ihre Spuren, so gut sie konnten und nutzten die natürlichen Verstecke von Felsen und Bäumen am Ufer. Es war kalt und nass; die Kleidung trocknete nach dem ersten Regen, der alles durchnässte, nicht wieder richtig, und Bridei gewöhnte sich an den Geruch schlecht getrockneter Stiefel, schweißdurchtränkter Wolle und ungewaschener, dicht zusammengedrängter Körper. Wenn sie konnten, jagten sie unterwegs, um die Vorräte zu sparen, die die Ponys trugen. Sie hatten sich nicht lange nach der Tagundnachtgleiche auf den Weg gemacht und waren so lange unterwegs, dass man einige Männer verbittert darüber witzeln hörte, sie würden ihr Ziel nicht vor dem Fest des Aufstiegs erreichen. Wenn es möglich war, legten sie jeden Tag eine größere Entfernung zurück, aber die Jahreszeit war ihnen nicht immer freundlich gesinnt, und es gab Zeiten, zu denen Nebel oder Regen sie nur quälend langsam vorankommen ließen. Eine Krankheit, die zu Erbrechen und Durchfall führte, hielt sie viele Tage am Südufer des Magiersees auf. Sie verloren zwei Männer, begruben sie mit einem kurzen Ritual und zogen dann weiter. Der Tag ging in die Nacht über und die Nacht in den Tag; die Mahlzeiten wurden überwiegend schweigend eingenommen, die Männer wie dunkle, verzagte Schatten an ihren kleinen Feuern. Bridei zählte die Tage, indem er Kerben in einen Birkenzweig schnitt, den er in seinem Rucksack hatte. Sie
verbrachten viele Tage auf den Beinen, viele Nächte mit ruhelosem Schlaf. Sie schickten Späher voraus, aber der Feind ließ sich nirgendwo sehen. Gartnait murrte, sie sollten sich beeilen, seine Hände juckten nach einem Gälenhals, und er würde nicht so sorgfältig auf die Gesundheit des Burschen achten wie beim letzten Mal. Donal wies ihn an, den Mund zu halten, und das tat er. Es hatte an diesem Abend nur ein paar Kaninchen für die gesamte Gruppe gegeben, und ihre Mägen beschwerten sich. - 295 Zu einem Zeitpunkt, als sie sich der Brücke an der Nordspitze des Königssees näherten, rief Talorgen die Gruppen zur Beratung zusammen. Was als Streitmacht von beinahe hundert Männern aufgebrochen war, war auf dem Weg durch das Große Tal deutlich angeschwollen. Es gab noch zwei andere Fürsten: Morleo von Langwasser, hoch gewachsen, schlank und mit dunklem Bart, und Ged von Abertornie, ein lebhafter, vergnügter Mann, der offenbar Kleidung in bunten Farben und kunstvolle Muster aus Streifen und Karos liebte. Beide brachten ihre eigenen beträchtlichen Truppen mit; Geds Leute kleideten sich auf die gleiche Art wie ihr Anführer, und Donal bemerkte hinter vorgehaltener Hand, dass die Galen sie schon auf halbem Weg den Königssee entlangkommen sehen würden, weil sie in ihrem Rot, Gelb und Grün so hell wie Leuchtfeuer waren. Bei der Beratung ging es sachlich zu; es mochte mehrere Anführer geben, aber alle verstanden, dass dies Talorgens Feldzug war, unternommen im Namen von König Drust und ganz Fortriu, und dass Entscheidungen rasch und wirkungsvoll getroffen werden mussten, mit einer einzigen Stimme. Talorgen setzte sich zuerst mit Ged und Morleo und denen unter seinen eigenen Männern zusammen, denen er am meisten vertraute - darunter auch Donal -, dann sprach er zu den versammelten Männern. Sie befanden sich an einem Ort, wo ein Felsen hinter einer natürlichen Lichtung aufragte. Ein Bach verlief in der Nähe, und der moosige Boden fühlte sich an wie ein feuchter Schwamm, aber es war das einzige offene Gelände, das alle Männer aufnehmen konnte und wo sie alle ihren Anführer sehen konnten. Bridei stand mit Gartnait weit hinten; er fragte sich, wie er sich wohl fühlen würde, wenn Talorgen sein Vater wäre. Er nahm an, da sein Vater Maelchon ein König war, würde auch er zu Zeiten vor seinen Truppen gestanden und sie zu Mut ermahnt haben. Bridei hätte das gerne einmal gesehen. Er wusste nicht, ob Gartnait stolz auf seinen Vater war; Gartnait - 296 schien dieser Tage nichts anderes im Sinn zu haben als die Erwartung, bald Galen zu töten. »Wir sind eine starke Armee«, sagte Talorgen, »mutig im Herzen und beständig im Geist. Aber das hier ist nicht die Art Schlacht, bei der wir in großer Anzahl voranstürmen, den Feind angreifen und ihn mit der reinen Kraft unseres ersten Angriffs überwältigen können. Gabhran von Dalriada kennt dieses Land inzwischen.« Bei der Erwähnung des Namens erklang ein allgemeines missbilligendes Zischen. »Seine Leute haben sich überall auf Territorium niedergelassen, das einmal uns gehörte.« »Und das uns wieder gehören wird!«, war jemand mutig genug zu schreien, und andere Stimmen erhoben sich zur Unterstützung. »Auf Galanys Höhe, wo der Magierstein steht, befindet sich nun eine befestigte Siedlung. Unsere Spione sagen uns, dass sie nicht allzu viele Männer haben. Eine Truppe von dreißig vielleicht; mehr, wenn sie bereits wissen, dass wir kommen. Es gibt auch gewöhnliche Leute dort; Frauen und Kinder, Handwerker, Sklaven.« »Abschaum«, murmelte jemand. »Unsere Streitmacht könnte den Ort leicht einnehmen. Aber wie ihr sicher erkennt, wäre es eine ganz andere Sache, ihn auch zu halten. Dieser Hügel und das einsame Tal darunter waren einmal das Land von Duchil von Galany, einem unserer tapfersten Fürsten. Duchil wurde bei dem letzten großen Kampf gegen die Galen getötet.« Talorgen senkte kurz den Kopf. »Wer von seinen Leuten überlebte, wurde vertrieben; sie verbringen ihr Leben im Exil. Fokel, Sohn des Duchil, wird zusammen mit seinen Kriegern zu uns stoßen.« Ein paar Männer brachen in halbherzigen Jubel aus; die meisten schwiegen. Vielleicht, dachte Bridei, hatten sie das Gleiche über Fokel gehört wie er: Der Name dieses Mannes wurde selten genannt, ohne dass Worte wie verrückt, wild oder unberechenbar ihn begleiteten. - 297 »Wir wissen«, sagte Talorgen, »dass wir die Siedlung und den Hügel einnehmen können. Wir wissen auch: Sobald unsere Streitmacht aus dem Wald kommt, um die Brücke bei den Fuchsfällen zu überqueren, werden die Wachen des Feindes ihre Anführer benachrichtigen. Sie werden all ihre Festungen informieren, und bald wird auch ihr König in Dunadd davon hören. Das Tempo ihrer Reaktion hängt davon ab, wo ihre Krieger im Augenblick eingesetzt sind; unsere Informationen zu diesem Thema sind, fürchte ich, ein wenig überholt. Wir könnten Galanys Höhe bestenfalls für einen Mond halten. Wahrscheinlich werden wir schon lange zuvor von Gabhrans Leuten umzingelt sein und auf der Hügelkuppe belagert werden. Ich sage es euch ganz ehrlich, Männer: Das hier ist ein symbolischer Feldzug, ein Vorgeschmack, was auf Dalriada zukommt. Wir stoßen vor, greifen an und ziehen uns wieder zurück. Wir zerstören ihre Garnison und nehmen Geiseln: ihren Anführer, die Frauen und Kinder. Dann ziehen wir uns zurück.« Bridei fand das vernünftig. Genau so würde er selbst den Feldzug durchführen, wenn er der Anführer wäre. Erip und Wid hatten ihm die lange Geschichte dieses Kampfes beigebracht. Sie hatten zu dritt ausführlich die großen und blutigen Schlachten zwischen Fortriu und Dalriada analysiert, die heldenhaften Vormärsche das Tal entlang, die gehetzten Rückzüge, die Abfolge von Sieg und Niederlage. Bridei erkannte deutlich, dass eine Streitmacht von der Größe, wie sie ihnen zur Verfügung stand, kein Gelände lange halten konnte, das so weit im Westen lag.
Ohne die Unterstützung der Armeen von Circinn würde Fortriu die Galen nie wieder in ihre Heimat zurücktreiben können. Die meisten Männer hatten jedoch keine so ausführliche Erziehung genossen wie er. Ihr Blut glühte vom Bedürfnis nach Rache; ihre gesamte Energie war auf das Töten von Galen gerichtet. Also erklang ein Chor von Protesten. »Rückzug? Wir sind nicht hier, um davonzulaufen!« - 298 »Was, wir sollen dem Abschaum das Land überlassen, das sie gestohlen haben? Das wollen wir doch mal sehen!« »Ich sage, wir bringen sie alle um!« Morleo von Langwasser, der neben Talorgen stand, hob die Hand, und das Gebrüll verklang zu zornigem Gemurmel. »Dieses Unternehmen«, sagte er ernst, »wird ihnen zeigen, dass wir mutig, schnell und schlau sind, dass wir immer mehr werden und unsere Verbündeten treu zu uns stehen. Dass wir das Unrecht nicht vergessen haben, das unserem Volk angetan wurde. Wir erheben das Banner von Drust dem Stier, und daneben flattern die von Rabenbrunn, Langwasser und Abertornie.« Er nickte Ged bestätigend zu. »Wir marschieren auch unter den Sternen und der Schlange, was die uralten Symbole von Galanys Höhe selbst sind.« »Und dann«, sagte der bunt gekleidete Ged, »veranstalten wir eine Zeremonie. Vielleicht die zum Fest des Aufstiegs, vielleicht ein anderes Ritual. Wir stehen auf dieser Hügelkuppe rings um den Magierstein und weihen ihn erneut unseren Göttern: dem Flammenhüter und der Leuchtenden, der Knochenmutter und der schönen Jungfrau, der Blütenreichen. Wir sorgen dafür, dass unsere Gefangenen anwesend sind und es sehen. Wir lassen einen oder zwei von ihnen frei, um Gabhran und seinen Handlangern davon zu berichten. Dann ziehen wir uns zurück. Aber wir werden wiederkommen. Wir kehren mit einer größeren Armee zurück, als diese Galen sich je träumen ließen.« Die Krieger brüllten zustimmend; Ged hatte eine ermutigende Art zu sprechen, und die Schlichtheit seiner Rede berührte etwas im Geist der Männer. Bridei jubelte nicht. Er dachte an eine Armee, eine Streitmacht, die groß genug sein würde, um das Land für immer von dieser Plage zu befreien, eine Armee, die nie versammelt werden könnte, solange Circinn Fortriu nicht zur Hilfe kam. Eine solche Armee würde erst marschieren, wenn das geteilte Königreich der Priteni wieder vereint war und ein einziges Ziel verfolgte. Er sah die - 299 leuchtenden Augen der Männer, ihre stolzen, entschlossenen Blicke, und er wusste, sie glaubten, das würde im nächsten Sommer oder vielleicht dem danach geschehen. Sie dachten nicht über diese lebhaften Worte der Hoffnung hinaus. Sie wussten nicht, dass ein wahrer Sieg noch lange auf sich warten lassen würde. Vielleicht sollte das am Vorabend einer Schlacht so sein. Am Morgen zogen sie weiter, nun in größeren Gruppen. Sie blieben bei ihren eigenen Anführern, Talorgens Leuten, Geds und Morleos, obwohl einer oder zwei Freunde in den anderen Gruppen hatte, und die Lagerfeuer teilten sie sich, vor allem, wenn es hin und wieder ein ganzes gebratenes Schaf gab - man würde den Bauern später entschädigen - oder sie das Glück hatten, ein paar fette Forellen zu fangen. Geschichten wurden erzählt und Lieder gesungen, aber stets leise. Das Wetter wurde besser; Talorgen befahl zwei Tage der Ruhe, und an den unteren Ästen von Erlen und Weiden hingen Kleidungsstücke, die in der schwachen Wärme der Frühjahrssonne dampften. Sie waren nicht mehr weit von der Brücke an den Fuchsfällen entfernt. Der Haupttrupp würde nicht weiter vorstoßen, bis Fokel mit seinen Leuten zu ihnen gestoßen war. Diese Krieger im Exil hielten sich in den Bergen in der Nähe der Fünf Schwestern auf. Es war ein karges, grimmiges Land, und nach allem, was Bridei gehört hatte, hatten Fokel und seine kleine Gruppe treuer Gefolgsleute einen zu dieser Region passenden Charakter entwickelt. Bridei fragte sich, ob Fokel sich mit einem eher symbolischen Vorstoß auf das Land seiner Ahnen, für das sein eigener Vater gekämpft hatte und gestorben war, zufrieden geben würde. Er sagte etwas in dieser Richtung zu Donal, als sie am Bach hockten und versuchten, den Dreck auszuwaschen, der sich in ihrer Unterwäsche gesammelt hatte. »Du solltest so etwas lieber nicht laut sagen«, murmelte Donal, »so wahr es auch sein mag. Wenn du mich fragst, hät- 300 te Talorgen besser daran getan, Fokel nicht einzuschließen. Aber das konnte er nicht. Es ist immerhin Fokels eigenes Land. Wie hätte Talorgen ihm verschweigen können, was er plante? Ein kalkuliertes Risiko. Hat ihm ein paar schlaflose Nächte eingebracht. Dennoch, es gibt uns mehr Männer, und sie sind gute Kämpfer.« »Mhm«, sagte Bridei. »Die Frage ist, wessen Befehlen sie gehorchen?« Die ganze Angelegenheit machte ihn immer unruhiger. Er war mit Talorgens Plan einverstanden; es war der einzig vernünftige, wenn man ihre Anzahl und die Lage ihres Ziels bedachte. Ihm gefiel auch die Idee eines Rituals auf Galanys Höhe, denn es war wichtig, bei einem solchen Unternehmen entsprechend anzuerkennen, welche Rolle die Götter dabei gespielt hatten. Dennoch, er fühlte tief drinnen, dass das nicht genügte. Wozu sollte dieser symbolische Sieg gut sein, wenn die Fahne von Fortriu heruntergerissen wurde, sobald Talorgens Leute außer Sichtweite waren? Was half ein freudig begangenes Fest des Aufstiegs, wenn der Magierstein sich immer noch auf feindlichem Gelände befand und ignoriert, belacht und vielleicht sogar besudelt wurde? Zeigte das den angemessenen Respekt für die uralten Mächte, die Knochen und Atem dieses Landes darstellten? Tief drinnen wusste Bridei, dass es nicht genügte.
»Selbstverständlich«, stellte Donal fest und wrang ein nasses Kleidungsstück von nicht mehr festzustellender Farbe aus, »wird Drust die Geiseln benutzen, um Gabhran Zugeständnisse abzuringen, wenn er kann. Wenn man einen Anführer von hoher Geburt oder die Verwandten eines solchen Mannes gefangen nimmt, kann man einigen Spielraum gewinnen. Talorgen denkt wirklich voraus. Aber du siehst aus, als hättest du Zweifel, Bridei. Was nagt an dir? Hast du wieder Skrupel?« »Ich denke nur nach.« Bridei hängte seine Unterwäsche an einen biegsamen Weidenzweig, befürchtete aber, dass sie bis zum Abend nicht trocken sein würde. Er setzte sich auf - 301 einen moosigen Stein und beobachtete die Männer, die diese unerwartete Rast genossen: Einige angelten, andere zogen mit Bögen und Köchern in die Hügel, wieder andere kümmerten sich um kleine Reparaturen. Viele hatten sich einfach nur in ihre Decken gerollt und schliefen fest. »Über was?«, fragte Donal lässig. Aber Bridei antwortete nicht. In seinem Hinterkopf bildete sich ein Plan heraus, ein so wilder Plan, dass er nicht glauben konnte, ihn selbst ausgeheckt zu haben. Es war eine verrückte Idee, eine, die aus Gefühlen entsteht und nicht aus dem sorgsamen Abwägen von Gefahren und Gelegenheiten. Dennoch, der Plan war da, großartig, wenig überzeugend und vollkommen verrückt: eine symbolische Tat, die in Fortriu widerhallen würde wie eine große Glocke der Hoffnung. »Nein«, murmelte er leise. »Nein, ich denke nicht.« »Was?«, fragte Donal. »Du warst schon auf Galanys Höhe, oder?«, fragte Bridei ihn. »Wie weit ist es vom Hügel zum Seeufer? Kannst du mir eine Karte zeichnen, hier auf den Boden?« Tuala schwor sich selbst und der Leuchtenden, dass sie von jetzt an stark sein würde. Sie rief sich in Erinnerung, dass Bridei als sehr kleiner Junge in dieses Haus gekommen war, dass auch er weder Freunde noch Familie gehabt hatte und dennoch erstaunlich gut zurechtgekommen war. Er hatte sich sogar mit Broichan angefreundet. Sicher, wenn Bridei anders aufgewachsen wäre, würde es ihm vielleicht nicht so schwer fallen zu lächeln. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass er das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht hatte, und sie war es ihm schuldig, das Gleiche zu versuchen. Nachdem Erip zur Ruhe gebettet und Wid gegangen war, gab es keinen Unterricht mehr. Mara machte deutlich, dass sie Tualas Hilfe im Haus nicht wollte. Brennas Haus war ihr verboten, und die Männer redeten nicht mit ihr. Was sollte - 302 sie machen? Es wäre dumm, noch einmal zum Tal der Gefallenen gehen zu wollen, da das Land immer noch fest im Griff des Winters lag und alles, was sie tat, verstohlen von dem einen oder anderen Haushaltsmitglied beobachtet wurde, als bestünde die Gefahr, dass sie sich plötzlich in eine böse Zauberin verwandelte und sie verhexte. Es gab Augenblicke, in denen sie sich wünschte, genau das tun zu können, und sich fragte, was wohl passieren würde, wenn sie es versuchte - aber sie tat es nicht. Es war eine Sache, diese Kräfte ein wenig in Gegenwart zuverlässiger Freunde wie Erip und Wid zu üben. Sie vor jenen zu zeigen, die sie bereits fürchteten, wäre, als hielte man ein Zündholz an trockenen Zunder. Sie übte den Blick in der relativen Abgeschiedenheit ihres kleinen Zimmers und benutzte dazu eine kleine Bronzeschale, die sie in einem Lagerraum gefunden hatte. Es war ein seltsames Gefäß mit Klauenfüßen und Drachengriffen. Sie erinnerte sich an die Empfehlungen ihrer Lehrer und daran, was Bridei ihr gesagt hatte, versuchte, ihre Fähigkeiten zu vergrößern und neue Möglichkeiten zu ihrer Benutzung zu finden. Wozu sollten solche Aktivitäten gut sein, wenn nicht zum Lernen? Also übte sie das Heraufbeschwören von Bildern im Zusammenhang mit einem bestimmten Thema wie Königtum oder der alten Überlieferung der Symbole oder Pitnochie selbst: die Geheimnisse und Erinnerungen, die tief in den dicken Steinmauern, den schweren wollenen Wandbehängen, den dunklen, rauchigen Räumen hingen. Das Haus hatte schon viele Bewohner gesehen, Anführer, Familien, andere Druiden wie Broichan, wenn auch weniger von diesen. Broichans Weg war recht ungewöhnlich gewesen. Er hatte lange Jahre am Hof verbracht, als Berater des Königs fungiert und sich unter Männern der Tat bewegt. Später war er zurückgekehrt, um hier zu wohnen, als wäre er eher ein wohlhabender Landbesitzer als ein spiritueller Führer. Aber solch äußerliche Dinge konnten täuschen; Tuala - 303 brauchte die Bilder auf dem Wasser nicht, um zu wissen, dass Broichan beides war, und noch erheblich mehr. Zu lange über die Schale gebeugt zu sitzen machte ihren Hals steif und die Augen müde. Manchmal wurde sie von den Visionen traurig, manchmal drehten sie ihr den Magen um. Sie konnte nicht immer herausfinden, was es daraus zu lernen gab. Die zerschlagene und verstümmelte Leiche eines Kindes; Männer, die in ihrem Blut lagen, andere, die sie nicht retten konnten; ein kleiner Hund, der neben seinem gefallenen Herrn saß: Was erzählten diese Bilder anderes, als dass die Welt grausam und traurig war und dass die Menschen ihre Tragödien selbst über sich brachten? Das wusste sie bereits; es war nicht nötig, dass das Wasser ihr diese Lektion wieder und wieder vorführte. Manchmal träumte sie in der Nacht von den gleichen Vorzeichen, auch wenn die Schale leer und in einem Kasten eingeschlossen war. Wenn das passierte, hörte sie eine Weile auf zu üben. Bridei hatte sie einmal vor solchen Dingen gewarnt: Gewisse magische Fähigkeiten im Übermaß zu benutzen, konnte zu
Besessenheit und zu Wahnsinn führen. Ein wichtiger Teil des Handwerks bestand darin, zu wissen, wann man aufhören musste. Sie merkte, dass sie müde wurde. Sie konnte nicht besonders gut schlafen, und ihre Träume waren ein Durcheinander aus starrenden Augen und krallenden Fingern, aus Messern im Herzen und Seilen um den Hals, und von Menschen, die davongingen und nie zurückkehrten. Häufig war ihr nicht nach Essen zumute. Bei Tisch war es, als existierte sie nicht; die Blicke der anderen glitten über sie hinweg, ihre Gespräche schlössen sie aus. Der Einzige, der ihr in die Augen sah, war Broichan, und in seinen strengen Blicken schien entweder distanzierte Missbilligung oder etwas Abschätzendes zu stehen, das sie nur noch mehr beunruhigte, denn es sagte ihr, dass der Druide Pläne schmiedete. Als der Winter vorüberging, wurden die Tage wieder klarer, und Tuala floh aus dem Haus und wieder in den Wald - 304 hinauf. Es schien jetzt viel länger zu dauern, das Tal der Gefallenen zu erreichen, und ihre Füße schmerzten vom Gehen. Die Vorfrühlingskälte tat in ihrer Brust weh, und jeder Atemzug war anstrengend. Wie sich alles verändert hatte, dachte sie, als sie sich gegen den moosbedeckten Stamm einer Birke lehnte, um sich ein wenig auszuruhen. Wie hatte sie so in ihrem Elend versinken können, dass sie nicht einmal die Kraft aufbrachte, sich umzuschauen und zu sehen, worüber Bridei und sie in den Tagen ihrer Kindheit stets gestaunt hatten? Es gab hier so viel Schönes: die ordentlichen kleinen Spuren eines Tiers auf der Suche nach Futter, ein Wiesel oder Marder, die zarten Linien eines Blattskeletts, das sich immer noch vergeblich an den Mutterbaum klammerte, während die Zeit ihm nach und nach die Substanz nahm und nur diese zerbrechliche Erinnerung an das zurückließ, was einmal gewesen war. Die vielen hellen Schattierungen von Weidenrinde, das erste mutige Grün von Glockenblumenblättern in geschützten Senken, der Schrei eines Raubvogels hoch am Himmel und das plötzliche Rascheln, wenn ein kleines Tier im Laub Deckung suchte. Hatte sie die Magie vergessen, die in diesen alltäglichen Dingen lag? Was war mit ihr los? Das Tal war an diesem Tag trüb. Die Frühlingssonne konnte nicht bis auf seinen Boden vordringen; das Unterholz triefte vor Feuchtigkeit, und der Nebel hing tief über dem schwarzen Teich. Die Gestalten der sieben Druiden duckten sich unter ihren Flechtenumhängen; Tuala konnte beinahe sehen, wie sie schauderten. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie einen kleinen Hund heulen, ein klagendes Geräusch, das ihr ans Herz ging und mit seiner verlorenen Trauer ihren eigenen Kummer weckte. Tuala setzte sich auf die flachen Steine. Sie hatte sich gesagt, dass sie heute nicht ins Wasser schauen würde, sie wollte nur sehen, ob ihre beiden seltsamen Besucher wieder auftauchten, und ihnen ein paar Fragen stellen und dann - 305 nach Hause gehen. Sie war zu müde für die Visionen des Dunklen Spiegels; ihre Vernunft sagte ihr, dass ihre Macht sie heute überwältigen würde. Sie wartete lange. Sie wartete, bis ihr vom Stillsitzen der Rücken wehtat und sie im Kopf mindestens fünfzigmal alle erdenklichen Gründe für das Nichterscheinen der beiden durchgegangen war. Selbstverständlich würden diese Geschöpfe der Anderwelt nicht einfach auftauchen, nur weil sie es wollte; wofür hielt sie sich denn? Vielleicht hatte sie sie beim letzten Mal beleidigt, als sie den Dunklen Spiegel Bilder zeigen ließ, die ihr gefielen. Vielleicht hatten die beiden sie aufgegeben, weil sie so lange nicht zurückgekehrt war. Vielleicht wollten sie sie bestrafen; sie hatte immerhin das, was die beiden ihr angeboten hatten, nicht besonders freundlich aufgenommen. »Kommt schon, kommt schon«, flüsterte sie. »Ich will nicht viel, nur eine Antwort oder zwei.« Aber die Zeit verging, und über dem engen Tal zog die Sonne näher zum Abend hin, und Tuala wusste, dass sie diesmal nicht kommen würden. Sie war schon zu lange geblieben; sie musste nun gehen, oder sie würde nach Einbruch der Dunkelheit noch im Wald sein. Nur ein kurzer Blick, sagte sie sich, nur einer, damit sie nicht vollkommen umsonst hergekommen war. Sie würde sich beherrschen und sich nach kurzer Zeit zwingen aufzuhören. Wenn sie ihn sah, nur ein kurzer Blick, ein einziges Bild, würde es den langen Weg wert gewesen sein. Bridei bei Tisch, unter Männern, und Donal links von ihm, den sie sofort an seinem ausgeprägten Kinn, den eng zusammenstehenden Augen, dem Fluss blauer Symbole auf seiner Gesichtshaut erkannte. In diesem Bild trug auch Bridei Kriegerzeichen, Zeichen der Männlichkeit, frisch auf der hellen Haut der rechten Wange, die zeigten, dass er auf dem Schlachtfeld gekämpft und es überlebt hatte. Gartnait, der auf seiner anderen Seite saß, hatte das gleiche Muster, aber - 306 Gartnait hatte auch die Verwandtschaftszeichen, die ein junger Mann von hoher Geburt für gewöhnlich zur gleichen Zeit wie die anderen erhielt. Auf der linken Wange, gegenüber dem Kriegerzeichen, trug Talorgens Sohn den Jagdhund und den Schild des Klans seines Vaters, und darüber den Halbmond und den gebrochenen Stab der Familie seiner Mutter, der königlichen Linie der Priteni. Sie waren vergnügt und entspannt; Donal machte Witze, Gartnait trank große Schlucke Bier und lachte, und selbst Bridei lächelte beinahe, als er ihnen zuhörte, obwohl in seinen Augen ein Schatten stand. Auch andere saßen am Tisch; Männer, die Tuala nicht erkannte, einige in Kriegerkleidung aus Leder, Filz und grobem
Wollgewebe, andere besser gekleidet, und hier und da sah man einen rot gefärbten Mantel, einen Gürtel mit Silberschnalle, ein geflochtenes Stirnband. Es stand Fleisch auf dem Tisch, ein Wildschenkel, von dem nicht viel übrig war. Es gab ein Feuer. Es musste eine Siegesfeier sein. Jemand rief nach einem Trinkspruch. Tuala konnte die Stimmen nicht hören, aber die Stimmung und der Zweck der Versammlung waren eindeutig. Alle standen auf. Ein hoch gewachsener Mann sprach ein paar Worte. Alle hoben ihre Becher und tranken. Sie spürte den Schmerz schon einen Augenblick, bevor sie es sah; ihre Kehle zog sich zusammen, ihr Herz zuckte. Dann warf Bridei dort auf dem Wasser den Becher hin, hob beide Hände an die Kehle, sein Gesicht plötzlich grau, die Augen schrecklich starr und grotesk, der Mund weit offen. Eine kleine Weile bemerkte es keiner; sie riefen, tranken, davongetragen von der Flut ihrer Ausgelassenheit. Tuala bekam keine Luft mehr; sie hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihre Nägel in die Handflächen schnitten. Tu etwas, schnell, schnell... Donal sah es, bewegte sich wie der Wind, machte mit kräftigen Armen Platz, legte den nach vorn gestürzten Bridei auf - 307 eine Bank, rief nach mehr Raum, nach Hilfe. Gartnait schien vor Entsetzen erstarrt und starrte nutzlos seinen Freund an. Tuala konnte nicht mehr hinsehen, aber sie konnte sich auch nicht abwenden. Irgendwo in der Ferne hörte sie ihre eigene Stimme wimmern wie die eines geschlagenen Kindes: Nein, nein, nein... Es ist kein schöner Anblick, wenn ein Mann vergiftet wird. Zumindest ging es schnell. Sie sah, was Donal versuchte, die ehrlichen Züge von Verzweiflung geprägt, sah seinen Kampf, Bridei was immer es war wieder ausspucken zu lassen, die Finger in Brideis Hals, den Salztrunk, den er in den schäumenden Mund goss, wo er sinnlos wieder heraus und über die Kleidung lief. Dann ein Versuch, Bridei auf die Beine zu bringen, damit er umherging, auch das zum Scheitern verurteilt, als die Krämpfe begannen und seinen starken jungen Körper zu dem einer zuckenden, gruseligen Marionette machten. Und am Ende gab es nichts anderes zu tun, als ihn zu halten, während er starb, und zu weinen. Seine Augen zu schließen, seine Wange mit einer rauen, sanften Hand zu berühren, nach Worten zu ringen und festzustellen, dass es keine gab. Noch während die Bilder verblassten und verschwanden, warf sich Tuala auf den kalten Boden und krallte die Finger in die Erde. Eine Klage brach aus ihr heraus wie der Schrei eines verwundeten Tiers, ein Laut, von dem sie nicht geglaubt hätte, dass sie ihn hervorbringen konnte. Die Macht dieser Bilder zerriss ihre Eingeweide, zerfetzte ihr Herz; es war unerträglich. Sie schluchzte und schrie in hemmungsloser Wut und Qual. Über die Stimme ihrer eigenen Trauer hinweg konnte sie immer noch dieses einsame Heulen hören, das an diesem Ort beinahe ununterbrochen erklang: die Klage eines kleinen Hundes. Es war, als säße das Tier direkt neben ihr, als betrauerten sie den gleichen Verlust. Sie wünschte sich, die Erde möge sie verschlingen; wie konnte sie nach einer solchen Vision weitermachen? Den- 308 noch raffte sie sich nach einiger Zeit auf, von Schluchzen geschüttelt, wischte sich den schlimmsten Schlamm von der Kleidung, saß mit vors Gesicht geschlagenen Händen da und zwang sich, vernünftig zu sein, wie Erip und Wid ihr raten würden. Die Schlacht war vorüber, sowohl Bridei als auch Gartnait bereits mit Kriegerzeichen versehen: Das war keine Vision, die die Gegenwart zeigte; was sie gesehen hatte, würde erst weit im Frühjahr geschehen, denn eine solche Gruppe von Kriegern konnte nicht vor der Tagundnachtgleiche das Tal entlang ins Land der Galen ziehen, das hatte Wid gesagt. Wenn sie zu früh aufbrachen, würden sie von Schneestürmen, Hochwasser, dichtem Nebel und Steinschlag aufgehalten werden. Bridei war nicht tot. Sie würde wissen, wenn er tot war, würde es tief im Herzen wissen, und zwar sofort. Dieses schreckliche Ereignis war noch nicht geschehen. Es war immer noch Zeit, es aufzuhalten. Tuala stand auf, schwach und wirr. Broichan; sie musste es Broichan erzählen. Sie hatte bereits genug Zeit mit ihrem Heulen und Klagen verschwendet, Zeit, die zu verschwenden sie sich nicht leisten konnte. Sie schlang den Umhang fester um sich, biss die Zähne zusammen und rannte. Von einem Ast hoch über dem Tal der Gefallenen schauten die beiden ihr hinterher. »Sie ist immer noch jung«, stellte der efeugekleidete Junge fest. »Das ist eine schwere Prüfung, und eine, die selbst mich bedrückt.« »Und es wartet noch eine weitere Prüfung auf sie, wenn sie nach Hause kommt«, sagte das Mädchen, »eine, die Broichan für sie vorbereitet hat. Wenn dieser Druide im Spiel ist, wird unsere Arbeit leichter.« »Aber nicht für Tuala.« Das Mädchen wandte ihm die leuchtenden Augen zu. »Es ist notwendig.« Ihr Ton war kühl. »Sie müssen vollständig ge- 309 prüft werden, sie beide. Einer muss sich als so stark erweisen wie der andere. Sie müssen Pflicht mit Treue, Liebe mit Entschlossenheit ausgleichen. Würdest du mit einer nicht gehärteten Waffe in den Kampf ziehen? Würdest du ein Haus aus grünen Balken errichten?« »Ich verstehe es ja«, sagte der Junge. »Es fällt mir einfach nur schwer, daneben zu stehen und zuzusehen. Sie ist ein braves Kind. Und am Ende wird sie uns gehören.« »Brav?«, schnaubte das Mädchen. »Was soll das schon wert sein, wenn sie beim ersten Anzeichen von
Unfreundlichkeit ihre Pflichten vernachlässigt? Vor Tuala liegt ein schwerer Weg. Wir müssen dafür sorgen, dass sie genug Zähigkeit entwickelt, diesen Weg so zu gehen, wie die Leuchtende es wünscht.« »Und der junge Mann?« »Brideis Weg ist vorgezeichnet. Ihn brauchen wir einfach nur weiterhin zu beobachten. Es kommt eine Zeit, wenn die Götter ihn ein letztes Mal prüfen; wir werden dabei vielleicht eine Rolle spielen. Aber bis dahin ist noch Zeit. Im Augenblick steht er den Prüfungen der Menschen gegenüber.« Die schrecklichen Bilder gingen Tuala auf dem gesamten Heimweg nicht aus dem Kopf und verliehen ihren Füßen Flügel. Sie traf am Haus ein, als die Sonne gerade unterging. In der Küche waren Ferat und seine Helfer mit einem saftigen Spießbraten beschäftigt, aber sie drehten sich um und starrten sie an, als sie vorbeieilte, das Haar in den Augen und schwer atmend. Mara deckte den Tisch in der Halle. Als Tuala an ihr vorbeirannte, um laut an die Tür von Broichans Zimmer zu klopfen, wollte die Haushälterin etwas Scharfes, Missbilligendes sagen, aber Tuala beachtete sie nicht. In ihrem Kopf war kein Platz für etwas anderes als dieses eine Bild, die schreckliche, düstere Zukunft, die sie um jeden Preis verändern musste. Als Broichan nicht antwortete, stieß Tuala die Tür auf und fiel beinahe ins Zimmer. - 310 »Ich muss dir etwas sagen - Bridei...«, keuchte sie. »Du musst ihm ...« Sie sah ins Zimmer und schwieg abrupt. Ihr Herz hämmerte von dem langen Lauf in der Kälte. Broichan war nicht allein. Er hatte an der kleinen Feuerstelle gestanden, einen Bierbecher in der Hand, und neben ihm war ein anderer Mann, ein kräftig gebauter Fremder, vielleicht einer der Landbesitzer aus der Umgebung oder ein unwichtigerer Anführer. Der Mann sah sie nun mit unverhohlener Neugier und nicht geringer Überraschung an. Erst jetzt fiel Tuala die Schlammspur auf, die ihre Füße auf dem sauberen Boden hinterlassen hatten, die wirren Strähnen in ihren Augen, die Art, wie sie mit beiden Händen das Tuch packte wie mit verzweifelten Krallen. Ihr Blick war wahrscheinlich starr wie der einer Verrückten. Broichans einzige Reaktion hatte darin bestanden, die Brauen ein wenig hochzuziehen. Seine Selbstbeherrschung war wie stets bemerkenswert. »Es ... es tut mir Leid«, brachte sie hervor und nickte kurz dem Fremden zu; ganz gleich, wie die Umstände waren, man musste solche Personen immer höflich behandeln. »Das Licht der Leuchtenden möge dir in diesem Haus leuchten. Es tut mir Leid, dass ich störe, aber ich muss dringend mit dir sprechen, Herr.« Nun sah sie wieder Broichan an. »Bitte, ich muss dir sagen ... es geht um Bridei, er ist in schrecklicher Gefahr...« »Das genügt jetzt, Tuala.« Die Stimme des Druiden war tief und ruhig. »Aber ich...« »Das genügt.« Broichan wandte sich seinem Gast zu. »Ich bedauere diese Störung, Garvan. Würdest du mir einen Augenblick erlauben, um mich darum zu kümmern?« »Selbstverständlich«, sagte der Besucher freundlich, stellte den Becher auf den Tisch und verließ das Zimmer, nicht ohne Tuala auf dem Weg einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Die Tür schloss sich hinter ihm. - 311 »Sprich, und zwar vernünftig«, sagte Broichan. »Kurz, zusammenhängend und die Unterbrechung wert. Ich hatte gehofft, du würdest einen besseren Eindruck auf Garvan machen. Nach diesem Auftritt wird er dich für so ungezügelt halten wie eine junge Wölfin. Und jetzt erkläre, was dieser Auftritt zu bedeuten hat.« Tuala war so aufgeregt, dass sie Broichan nicht mehr fürchtete; sie verstand nicht einmal wirklich, was er da gesagt hatte. »Ich sah - im Wasser - ich sah Bridei, aber nicht jetzt, sondern bald, nach der Schlacht. Sie feierten, und jemand hat sein Bier vergiftet und ...« Nein, sie konnte es nicht aussprechen. Wie konnte sie die schlimmsten Nachrichten ihres Lebens kurz und zusammenhängend wiedergeben? Sie glaubte, ihr Herz würde vor Schmerz zerreißen. Das Zimmer schien sich um sie zu drehen, die Kerzen wirbelten in einem verrückten Tanz, die seltsamen und erstaunlichen Gegenstände auf den Regalen mischten sich auf groteske Weise; die Welt stand auf dem Kopf; nichts war, wie es sein sollte. »Setz dich. Hier.« Broichan führte sie zu einer Bank, bedeutete ihr, sich hinzusetzen, und gab ihr einen Becher Bier. Nun kniete er sich neben sie und sah ihr fragend und konzentriert in die Augen. Er war sehr bleich geworden; sein Aussehen spiegelte vielleicht das ihre wider. »Sag es mir«, verlangte er. »Sie haben ihn umgebracht«, flüsterte sie, und der Becher in ihrer Hand zitterte so, dass Bier auf ihren Umhang floss. »Ich sah ihn sterben. Donal, Gartnait, die anderen, sie konnten ihn nicht retten. Er - er - es war schrecklich ...« »Trink.« Er sah zu, wie sie einen Schluck trank. »Und jetzt noch einmal. Es war kein Bild der Gegenwart? Bist du sicher?« Tuala nickte. »Ich habe es dir doch gesagt. Es war später, nach der Schlacht. Gartnait hatte sowohl Verwandtschafts- als auch Kriegertätowierungen, Bridei nur die Krie- 312 gerzeichen. Es ist noch Zeit, es aufzuhalten. Wir müssen es aufhalten.« »Trink noch einen Schluck. Und dann sieh, dass du wieder zu Atem kommst. Du bist weit gelaufen, um mir diese Nachrichten zu bringen.« Tuala spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie schniefte und rieb sich die Augen wie ein Kind. »Nun beginnt es also wieder«, sagte Broichan. Er stand auf und setzte sich ihr gegenüber. »Tuala, ich weiß, dass
deine Begabung in dieser Hinsicht nur wenig dem Unterricht verdankt; sie ist etwas Natürliches und deshalb vielleicht nicht besonders verlässlich. Andererseits scheinst du den Mangel an Kontrolle durch Intensität wettzumachen. Ich nehme an, dir ist klar, dass die Visionen des Dunklen Spiegels nicht immer ein genaues Bild dessen zeigen, was geschehen wird. Sie stellen nicht immer die schlichte Wahrheit dar.« Sie starrte ihn an. »Selbstverständlich weiß ich das. Wenn es die Wahrheit wäre, könnten wir nichts daran ändern. Bridei würde auf diese Weise sterben, ganz gleich, was wir unternähmen. Das hier ist nur eine mögliche Zukunft, und wir dürfen es nicht geschehen lassen.« »In der Tat nicht. Zum Glück werden ein paar schlichte Vorsichtsmaßnahmen genügen, um diese Ereignisse zu verhindern. Ich werde dafür sorgen müssen, dass sie begriffen werden, obwohl es einige Zeit brauchen wird; ich muss eine Botschaft nach Rabenbrunn schicken, und der Weg oberhalb des Jungfernsees ist wahrscheinlich zugeschneit. Es ist die allgemeine Gefahr für Brideis Sicherheit, die mir mehr Sorgen macht. Wenn ein Attentäter es einmal auf diese Weise versucht, wird er es auch ein zweites Mal versuchen. Wenn sich Gift als wirkungslos erweist, wird er andere Mittel anwenden.« »Du meinst, Bridei wird auf jeden Fall getötet werden?« Tualas Stimme war nicht mehr als ein dünner Faden. »Nein«, sagte Broichan, »das kann ich nicht zulassen. Bri- 313 dei wird gebraucht. Die Zukunft der Priteni hängt von ihm ab.« »Ich weiß«, sagte sie, obwohl sie dem Druiden ansehen konnte, dass er nicht wirklich mit ihr sprach. »Bedeutet das, dass er nicht in den Kampf ziehen wird? Kann er nach Hause kommen? Hier wird er doch bestimmt in Sicherheit sein.« »Nach Hause?« Broichan schien verblüfft über diese Idee; es war, als hätte er Tuala vergessen, während sich ein großer Plan in seinem Kopf entwickelte. »Du meinst, hierher nach Pitnochie? Nein, das kann er nicht, nicht vor dem Ende des Sommers. Und er muss im Frühjahr kämpfen; es ist wichtig, dass er auf dem Schlachtfeld zeigt, was er kann. Was das Danach angeht, denke ich, dass nun die Zeit gekommen ist, meinen Platz in der Welt dort draußen wieder einzunehmen. Es war ein langes Exil. Drust wird seinen Druiden zurückbekommen, wenigstens für kurze Zeit.« »Für kurze Zeit?«, fragte Tuala und versuchte, seine Worte zu verstehen, während sie die bittere Enttäuschung über das herunterschluckte, was sie bereits verstanden hatte. »So lange, wie es braucht.« Wieder sah Broichan sie an, diesmal mit einem kritischen Blick. »Das bedeutet auch für dich eine Veränderung. Du kannst nicht hier in Pitnochie bleiben, wenn ich weg bin. Der Haushalt könnte das nicht verkraften; es gibt ohnehin schon zu viel Gerede. Geh jetzt und wasch dich, wechsle deine Kleidung, und wir wollen sehen, ob du beim Abendessen einen besseren Eindruck machen kannst.« Nun dämmerte es ihr, und sie war entsetzt. »Du brauchst nicht so dreinzuschauen«, sagte Broichan ruhig. »Garvan ist ein guter Mann, wohlhabend und beständig. Er wird freundlich zu dir sein. Und er würde dich nehmen, oder er wollte es zumindest, bevor du wie eine verrückte Waldfee hier hereingestürzt bist. Du hast wenig Auswahl, Tuala. Und er ist wahrscheinlich das Beste, was du erwarten kannst.« - 314 Wieder fehlten ihr die Worte. Der alte Schrecken, den sie in dem überwältigenden Bedürfnis, ihre Nachricht loszuwerden, vergessen hatte, verschlang alles, was sie hätte sagen können. »Mach dir keine Sorgen.« Er musste sie falsch verstanden haben. »Ich werde mich darum kümmern, dass Bridei nichts zustößt. Geh jetzt; ich erwarte, dass du meinem Gast zeigst, dass du auch eine Dame sein kannst. Du kannst dich beim Abendessen dem Gespräch anschließen und deine Bildung zeigen. Ich denke, Garvan wird das interessant finden. Und Mara soll etwas mit deinem Haar anfangen.« Sie war schon beinahe draußen, als er noch einmal die Stimme erhob. »Tuala?« Sie wartete, ohne sich umzudrehen. »Es war richtig, mir diese Nachricht sofort zu bringen.« Tuala hörte in seinem Tonfall, wie schwer es dem Druiden fiel, das auszusprechen. Sie nickte und floh. Das Abendessen war eine Prüfung. Tuala begriff, dass sie vorgeführt und inspiziert wurde, als wäre sie eine Kuh auf dem Bauernmarkt. So sehr der Besucher auch versuchte, dies mit einem höflichen Gespräch über sichere, allgemeine Themen zu verbergen, konnte sie doch das Interesse in seinen Augen erkennen, und das Spiegelbild davon bei allen, die am Tisch saßen. An diesem Abend war es eine viel kleinere Gruppe als sonst: Broichan und Garvan, Tuala selbst, Mara und nur vier Bewaffnete, alle schon lange im Dienst und relativ alt. Die anderen hatte man zum Essen in die Küche geschickt, von wo sie zweifellos jedes Wort belauschten. Sie zählten wahrscheinlich die Tage, bis der untersetzte, stiernackige Garvan Tuala auf seinen Wagen laden und mit nach Hause nehmen würde, eine gute Investition für die Zukunft, jung, gesund und auch noch gebildet. Je mehr Tuala darüber nachdachte, desto mehr wurde ihre - 315 Angst von Zorn verdrängt. Wie konnten sie es wagen, ihre gesamte Zukunft auf diese Weise zu besiegeln? Wie konnte Broichan eine solche Entscheidung fällen, ohne auch nur zu fragen, was sie selbst davon hielt? Und was das Quälendste war, wie konnten sie das tun, während Bridei weit weg unten im Tal war und nichts davon
wusste? Verstanden sie das denn nicht? Garvan versuchte sein Bestes, das sah sie deutlich. Es war nicht seine Schuld, dass er ein großer Klotz von einem Mann war mit einem Gesicht, als hätte es jemand aus einer Rübe geschnitzt. Er fragte sie nach ihren Lehrern, sprach über die Jahreszeiten, brachte sogar beiläufig das Thema Verwandtschaftszeichen auf und schien sich damit überraschend gut auszukennen. Er strengte sich sehr an, sie nicht anzustarren. Sie hatte einen sauberen Rock und ein Hemd angezogen. Sie hatte ihr Haar gekämmt und geflochten; wie dumm von Broichan zu denken, dass sie für etwas so Vertrauliches jemals Maras Hilfe erbitten würde. Als sie den Kamm durch die wirren Locken zog, war es unmöglich gewesen, sich nicht daran zu erinnern, wie Bridei das für sie getan hatte, als sie noch klein gewesen war, und sie mit einem Lächeln in der Stimme gefragt hatte, was sie denn diesmal mit dem Haarband angestellt hatte. Seine Abwesenheit verursachte ihr ein ununterbrochenes Ziehen im Herzen. An diesem Abend stand Wein auf dem Tisch, der den ganzen Weg von Armorica hierher gebracht worden war, wie Broichan sagte; er erlaubte Tuala einen kleinen Becher. Es war ein berauschendes Getränk und erinnerte sie an Sommer, an vergangene Tage, an denen sie und Bridei auf die Adlernarbe geklettert und mit ihren Ponys durch den Wald galoppiert waren und versucht hatten, die Forellen aus dem See zu locken. Vorbei, alles vorbei; wenn es nach Broichans Wünschen ging, würde sie verheiratet sein, noch bevor Bridei wieder nach Hause kam. Sie ballte die Fäuste. Etwas Gefährliches begann sich in ihr zu regen, wie eine kleine Flam- 316 me. Etwas flüsterte in ihrem Kopf: Zeig es ihnen. Wehre dich. Tuala blinzelte verblüfft. Die Stimme hatte nicht laut gesprochen, das war eindeutig; das Gespräch am Tisch ging unbeirrt weiter. Seltsam, sie hätte schwören können, dass es eine Stimme war, die sie kannte, eine Anderwelt-Stimme. Dieser seltsame junge Mann, der ganz aus Zweigen, Ranken und Blättern des Waldes zu bestehen schien, hatte genau die gleiche Art zu sprechen. Aber die Worte waren in ihr erklungen, als kämen sie aus ihren eigenen Gedanken. »Wir könnten den Abend mit ein paar Geschichten beschließen«, schlug Broichan vor. Das war überhaupt nicht typisch für ihn; er strengte sich wirklich an, den guten Gastgeber zu spielen. »Möchtest du eine erzählen, Garvan? Dein Handwerk hat doch sicher einen großen Schatz an Überlieferungen, es geht gar nicht anders. Möchtest du uns etwas darüber berichten?« Garvan wirkte eher verlegen. »Meine Hände erzählen für mich«, sagte er und errötete ein wenig. »Ich habe nicht die Gabe, diese Geschichten in schöne und machtvolle Worte zu fassen. Aber ich bin sicher, Tuala hat viele Geschichten gehört, die es wert sind, erzählt zu werden. Es klingt, als hätte sie eine bemerkenswerte Erziehung genossen. Vielleicht möchte sie uns mit etwas unterhalten.« Er warf ihr einen beinahe schüchternen Blick zu. Vielleicht, dachte sie, hatte er sich plötzlich mit dem gleichen Leiden angesteckt wie die anderen Männer, mit dieser Angst, dass sie ihn mit ihren unheimlichen Verführungskünsten bestricken würde. Die Seuche sollte ihn holen. Die Seuche sollte sie alle holen. Zeig es ihnen. Erzähle deine Geschichte und zeig es ihnen. Broichan wollte gerade etwas sagen, vielleicht höflich in ihrem Namen ablehnen. »Selbstverständlich«, sagte Tuala freundlich. Es fühlte sich beinahe als, als spräche da eine andere Person. Sie war kalt und ruhig, und eine neue Geschichte entfaltete sich plötzlich vollständig und perfekt in ihrem Kopf, eine Geschichte, die - 317 ihre Kraft zeigen und gleichzeitig ihre Zuhörer prüfen würde. »Aber sag mir zuerst, welches Handwerk du ausübst, Herr. Du sagtest, deine Hände erzählen die Geschichten für dich. Was bedeutet das?« »Ich bin ein Steinmetz.« »Ein wenig mehr als das, mein Freund«, sagte Broichan leise. »Er ist einer der besten Handwerker und Künstler, Tuala; die Ahnen sprechen durch ihn.« »Du tust mir zu viel Ehre an«, sagte Garvan und schaute seine großen, vernarbten Hände an, die er locker auf dem Tisch vor sich gefaltet hatte. »Kaum«, sagte Broichan. »Befinden sich deine Arbeiten nicht sogar am Hof des Königs von Fortriu? Ich kann mir kaum einen Beruf vorstellen, der enger mit allem verbunden ist, was in unserem Land heilig ist, als den deinen.« »Bis auf den einer Weisen Frau oder eines Druiden«, sagte Garvan lächelnd. »Ich hoffe, das ist, was du wissen wolltest, Tuala.« »Sagen wir also, es geht in dieser Geschichte um einen Steinmetz.« Tuala war hervorragend ausgebildet, Geschichten über Helden und Magie, Ungeheuer und mutige Taten zu erzählen. Die Geschichte dieses Abends würde anders sein: weit entfernt vom Repertoire ihrer lieben alten Lehrer. »Ich werde ihn Nechtan nennen. Dieser Nechtan war ein einsamer und stolzer Mann. Er hatte sein Handwerk, und darin war er hervorragend. Er hatte auch einmal eine Frau gehabt, aber sie war tot, und seine Söhne waren davongegangen, um für den König zu kämpfen; keiner hatte auch nur das geringste Interesse an den Tag gelegt, das Handwerk seines Vaters zu lernen. Nechtan arbeitete den ganzen Tag mit Hammer und Meißel und mit seinen bloßen Händen, entlockte dem Herzen der Steine die schönsten Geheimnisse, weise Eulen, stolze Stiere und seltsame Wassergeschöpfe, Speere und Schilde und Männer zu Pferd, die in den Kampf ritten. Tagsüber versank der Steinmetz in sei- 318 ne Träume und verlieh ihnen wunderbare, ewige Gestalt. Nachts lag er mit offenen Augen wach da und spürte seine tiefe Einsamkeit bis zum Grund seines Herzens. Nachts verschwanden die Träume, und es blieb nur eine
dunkle Kluft der Verzweiflung. In diesen trostlosen Stunden überkam Nechtan ein Sehnen, leidenschaftlich und dunkel, aber wonach wusste er nicht. Es geschah, dass Nechtan im Frühjahr das Tal hinaufreiste, denn der König wollte ihm einen Auftrag erteilen, und daher musste der Steinmetz den Hof aufsuchen, um über die Einzelheiten zu sprechen. Das Wetter war angenehm; die Tage waren frisch und hell, kleine Vögel flatterten geschäftig in den Haselbüschen herum, die ersten Blätter zeigten sich zögernd an den kahlen Zweigen, und am Boden war ein Teppich aus Schneeglöckchen zu sehen. Wenn es zu dunkel war, um weiterzureisen, schlug Nechtan sein Lager an einem kleinen Bach auf und zündete ein Feuer zwischen Steinen an, dann legte er sich, in die Decke gerollt, zum Schlafen nieder. Er war an Kälte gewöhnt, es störte ihn nicht, die Nacht über im Wald zu sein. Wenn er hätte schlafen können, hätte er das getan. Aber der Steinmetz konnte nie gut schlafen. Er lag wach unter dem hell leuchtenden Mond und rollte sich zusammen, um es wärmer zu haben, als das kleine Feuer zu glühenden Kohlen niedergebrannt war, die sich ihrerseits bald in pulvrige Asche verwandelten und vom kalten Flüstern des Nachtwinds davon geweht wurden. Nechtan lag da und sehnte sich nach etwas, das er nicht beim Namen nennen konnte. Was immer es sein mochte, er brauchte es mit Körper, Herz und Seele; wenn er es nicht bekam, würde er zweifellos vertrocknen wie die letzten Ebereschenbeeren, die noch an den Zweigen hingen. >Mann?Wer bist du?Was willst du?< >Ich habe einen Herd und ein Haus für einen Gast, besser als du es hier hastIch fühle mich hier recht wohlDas Feuer und das Bett sind warm, traumloser Schlaf, ganz ohne HarmWarte!Die Leuchtende segne euren HerdDie alte Frau sagte, ich könnte hereinkommen und mich wärmen. Es ist sehr freundlich von euch.< Die Frau lächelte. Ein reizendes Grübchen zeigte sich an einem Mundwinkel, ihre Augen wurden strahlender, und sie griff nach Krug und Kelch, um ihm Bier einzugießen, aber sie konnte die Arme nicht weit genug strecken. Die Alte kam vor sich hin murmelnd zum Tisch und tat es für sie. >Es tut mir LeidIch kann mich nicht bewegen; meine Freundin, Anet, die dich hergebracht hat, muss viele Arbeiten für mich erledigen. Bitte, setz dich, trink und wärme dich. Danach möchte ich dir einen Vorschlag - 321 unterbreiten, oder eine Herausforderung, wenn du willst. Du bist ein Mann mit Urteilsvermögen, das sehe ich in deinen Augen. Du weißt also, welche Grenze du überquert hast, um mich heute Nacht zu besuchend
Nechtans Hand verharrte mit dem Kelch auf halbem Weg zu seinen Lippen. >Du kannst ungefährdet trinkenDu befindest dich bereits in unserem Reich, aber ich werde dich nicht gegen deinen Willen festhalten, und Anet wird es ebenso wenig tun. Welche Entscheidungen ein Mann in meinem Haus auch treffen mag, es werden seine eigenen sein.< Sie seufzte, und Nechtan hörte in diesem Seufzen eine seltsame Spiegelung seines eigenen geheimen Kummers, der Leere des Herzens, die zu bannen er so viel gegeben hätte. Er hob den Becher an die Lippen und trank, und er beobachtete sie über den Rand hinweg. >NechtanDas ist also dein Name. Ein Hersteller schöner Dinge, starker, hübscher Dinge. Warum steht im Blick eines solchen Mannes, eines Mannes mit einem Handwerk und einer Stellung im Leben, eines Mannes mit einem eigenen Haus und der Gunst des Königs, solcher Kummer?< >Ich weiß es nichtSag mir, da du meinen Namen bereits kennst, wie der deine lautet, Herrin.< Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, dessen Traurigkeit ihm nur zu vertraut vorkam. >Sie nennen mich bei vielen Name», sagte sie. >Namen wie Krummbein oder Krüppel. Ich kleide mich nicht umsonst auf diese Art; niemand darf sehen, wie ich unter diesen Hüllen aussehe, bis auf Anet, die sich um mich kümmert/ >Ich würde dir gern einen Namen geben, wenn du erlaubst, sagte Nechtan zu seiner eigenen Überraschung. Sei- 322 ne Wangen wurden heiß, als er seine Waghalsigkeit erkannte; was würde die Dame von solcher Dreistigkeit halten? >Und was für ein Name wäre das?ElaDas ist ein Name für einen Schwan, und an ein solches Geschöpf erinnerst du mich, bleich und einsam und von einer Schönheit, die über das Verständnis eines Menschen hinausgeht. Verzeih mir, ich kenne dich nicht, ich hätte das nicht sagen dürfen ...< >Ela.< Sie wiederholte es, und der Name hing in der Luft des kleinen rauchigen Häuschens, süß wie ein Versprechen. >Das ist... akzeptabel ...< Sie wartete, während er eine Schale Suppe aß und sich am Feuer wärmte. Dann machte sie ihren Vorschlag. Sie hatte, so sagte sie, die Macht, ihm seine Einsamkeit zu nehmen und seinen geheimen Kummer zu heilen. Wenn er bei ihr bleiben, in ihrer Hütte leben und nachts ihr Bett teilen würde, würde sie ihm traumlosen Schlaf gewähren, und am Tag stand es ihm frei, in seine eigene Welt zurückzukehren und weiter sein Handwerk auszuüben. >Denn ich sehedass du nur vor deiner Zeit dahinwelken würdest, wenn du deinen Beruf aufgeben müsstest. Bleibe ein Jahr und einen Tag bei mir. So lange die Sonne am Himmel steht, wirst du ehrliche Arbeit leisten, und beim Mondschein Nächte so süßer Zufriedenheit erleben, dass dir kein Platz mehr für Kummer bleibt.< >Aber, Herrin - Ela ...du sagtest - verzeih mir -, niemand außer deiner Freundin dürfte je sehen, wie du wirklich aussiehst. Wie kannst du einen Mann in deinen Armen und deinem Bett willkommen heißen, wenn das zutrifft?< >Du brauchst mich nicht unbekleidet zu sehenUnd mich auch nicht an dich zu drücken, Haut an Haut, damit diese Magie funktioniert. Glaub mir, du willst nicht sehen, was sich unter diesen Hüllen befindet, die ich trage/ >Wie also ...< - 323 >Vertrau mir, Steinmetz, und nimm an, was ich dir anbiete. Du wirst danach besser schlafen können.< Nechtan schwieg. Sein Kopf war voller Fragen, die er nicht stellen konnte. >Du glaubst mir nichtOder du traust mir nicht. Bleibe heute Nacht, nur diese eine Nacht, und ich werde dir zeigen, dass es wahr ist.Denn ich sehedass wir zwar miteinander glücklich sind und dich die Einsamkeit nicht mehr quält, aber neue Traurigkeit steht in deinen Augen. Was bedrückt dich, mein Lieber?verkaufen< gesprochen, aber das stimmt nicht. Er wollte, dass du das weißt.« »Aha.« »Daher bleibt dir diese Möglichkeit offen. Es kam mir gestern Abend so vor, dass es eine Verbindung zwischen dir und ihm gab, und sei es nur, was eure Interpretation von Geschichten angeht.« Broichan sah sie mit hochgezogenen Brauen an; offenbar erwartete er einen Kommentar dazu. »Ich will nicht heiraten.« Tuala spürte, wie ihr kalt wurde. »Und ich will nicht weggeschickt werden.« »Was das angeht, hast du keine Wahl. Ob du nun diese Ehe irgendwann in der Zukunft in Erwägung ziehst oder nicht, ich werde dich nicht in Pitnochie lassen. Es gibt allerdings eine andere Möglichkeit, eine, die durch einen Boten aus Rabenbrunn heute früh noch praktikabler geworden ist.« »Aus Rabenbrunn? Wie lautet die Botschaft? Geht es Bridei gut?« »Es ging nicht um Bridei«, sagte Broichan, »aber wir können davon ausgehen, dass er bei guter Gesundheit ist. Der Bote überbrachte die Bitte, dass Dreseida, die Herrin von Rabenbrunn, und ihre Familie einen oder zwei Tage in Pitnochie Unterkunft finden können; sie sind unterwegs zu Drusts Hof, wo sie bleiben werden, bis der Feldzug beendet - 333 ist. Die Dame wird hier eintreffen, sobald das Wetter es zulässt. Ich werde bis dahin schon aufgebrochen sein, aber Mara wird sich um alles kümmern.« Talorgens Frau und Familie. Fuchsmädchen. Und Broichan brach eilig zum Hof auf, nachdem er so lange nicht dort gewesen war ... Er musste sich wirklich um Brideis Sicherheit sorgen, nicht nur im Kampf und bei dem Vorfall, den Tualas Vision ihr gezeigt hatte, sondern auch nachher. Sie wartete auf mehr.
»Dies würde dir eine ausgesprochen gute Eskorte bieten«, sagte Broichan. »Und es bedeutet, dass wir, wenn nötig, dem anderen Weg folgen können, der dir offen steht. Es ist nicht der Weg, den ich vorziehe, und die Geschichte, für die du dich gestern Abend entschieden hast, verstärkt nur meine Zweifel daran, dass es ein wünschenswerter Kurs für dich wäre.« »Welcher Weg?« »Vor langer Zeit hat Fola, die Weise Frau, dir einen Platz auf ihrem Anwesen in Banmerren angeboten, sobald du ein gewisses Alter erreichst. Sie wollte, dass du zuvor hier erzogen wirst; was Erip und Wid dir bieten konnten, war der Ausbildung, die die meisten Mädchen aus hohen Familien erhalten, weit überlegen. Dir ist vielleicht nicht klar, wie privilegiert du in dieser Hinsicht warst.« »Ich weiß, wie viel ich meinen Lehrern schulde.« »Banmerren liegt an der Nordküste, auf der anderen Seite der Bucht von Caer Pridne«, sagte Broichan. »Es ist ein abgelegenes Haus, was zu der Erziehung passt, die dort angeboten wird. Ob eine junge Frau von deiner Herkunft je die heiligen Pflichten einer Dienerin der Leuchtenden erfüllen kann, müssen Fola und die anderen Lehrerinnen dort selbst herausfinden. Sobald du dort akzeptiert wirst, brauchst du nicht nach Pitnochie zurückzukehren. Und du brauchst selbstverständlich auch nicht zu heiraten. Das sollte dir gefallen.« - 334 Tuala war vollkommen verwirrt. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie sagen sollte. »Ich habe diese Möglichkeit zuvor nicht erwähnt«, fuhr der Druide fort, »weil ich ernsthaft bezweifle, dass es wirklich wünschenswert ist. Fola ist eine Freundin, deren Weisheit ich hoch schätze. Ich fürchte dennoch, dass die Gefahr besteht, dass du dort... ausgenutzt wirst. Deine Fähigkeiten und deine Begabung, verbunden mit deiner ungewöhnlichen Ausbildung, werden dir in einer solchen Umgebung keine Freunde machen. Und du trägst eine Gefahr mit dir: Wenn deine Fähigkeiten nicht weise angewandt und streng überwacht werden, könntest du Unheil anrichten.« Unter der Kälte, die der bevorstehende Verlust ihr eingab, spürte Tuala nun Empörung. Worte drängten auf ihre Lippen: Warum hast du mich dann nicht entsprechend ausgebildet? Wer wäre besser dafür geeignet, mich in den Mysterien zu unterrichten, als der Druide eines Königs? Sie schluckte sie herunter. Es war zu spät dafür. »Vielleicht war dir nicht bewusst, welchen Eindruck deine Geschichte vom Vorabend hinterlassen würde«, sagte Broichan. »Ich glaube, dir ist so manches nicht bewusst, Tuala. Dich ins Reich der Sterblichen zu bringen, war nicht weise.« »Muss ich denn gehen? Könnte ich nicht hier bleiben und ...« Und was? Bleiben und Mara im Weg sein, bleiben und jeden Mann in Pitnochie in Angst versetzen, schon durch ihre bloße Existenz? Eine Erinnerung kam Tuala in den Kopf: ein kleines, einsames Mädchen, das sich einer alten Frau anvertraute, die nicht viel größer war als sie selbst, ein Kind mit verzweifelter Hoffnung in der Stimme. Ich will lernen, aber er lässt mich nicht. Und dann das unerwartete Geschenk des Unterrichts bei Wid und Erip. Es schien, dass Fola ebenso langfristig plante wie Broichan selbst. »Nach meiner Einschätzung wärst du besser beraten, Garvan zu heiraten«, sagte Broichan. »Sein Schutz würde dir - 335 ein Zuhause bieten, in dem du stets willkommen wärst. Sein Einfluss würde dir Respekt und Sicherheit erkaufen. An anderen Orten würdest du wahrscheinlich auf das gleiche Misstrauen und die gleiche Ablehnung stoßen, die dich hier in Pitnochie verfolgen, ganz gleich, wohin du gehst.« »Wann werden sie kommen?« Tualas Stimme bebte. »Die Dame Dreseida und die anderen? Wann muss ich gehen?« Broichan seufzte. »Sobald das Wetter besser wird, werden sie aufbrechen«, sagte er. »Sie kommen mit dem Boot die Seen hinauf und bringen Männer mit, die das Boot tragen, wo die Wasserwege nicht schiffbar sind. Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, solltest du lieber sofort anfangen zu packen. Mara wird wissen, was du brauchst.« »Es kommt mir nicht sonderlich wie eine Entscheidung vor«, sagte Tuala, und die Bitterkeit tat ihr bis in die Brust weh. »Kann ich nicht wenigstens bis zum Sommer warten?« »Es wäre dumm, nicht die Eskorte zu nutzen, die Dreseidas Wachen bieten. Ihre eigene Tochter reist ebenfalls zu Fola, um dort unterrichtet zu werden; die Weisen Frauen bilden nicht nur andere zu Priesterinnen aus, sondern betreiben auch eine Schule für die Töchter adliger Familien. Das kommt mir sehr gelegen. Ich kann keinen meiner eigenen Männer entbehren, mit dir zu reisen, und es wäre auch keiner von ihnen glücklich über einen solchen Auftrag. Ich selbst werde sofort aufbrechen, denn ich muss Drust jetzt unbedingt sehen. Und ich reise nicht auf den gleichen Wegen wie gewöhnliche Menschen.« Es geschah viel schneller, als sie erwartet hatte: Das Wetter blieb einige Zeit trocken, und dann erschienen vier Boote auf dem See, die die Dame Dreseida, ihre rothaarige Tochter und zwei sehr laute kleine Jungen brachten, zusammen mit einem ganzen Berg von Gepäck und einer Schar von Wachen mit finsteren Mienen. Die Gegenwart der hohen - 336 Dame schien das Haus zu erfüllen; selbst Mara welkte unter ihrem kritischen Blick. Es wäre sicher einfacher gewesen, wenn Broichan noch in Pitnochie gewesen wäre. Aber so zog sich die ohnehin bedrückte Tuala
vollkommen in sich zurück. Sie beantwortete Fragen im Flüsterton und lernte bald, nach draußen zu verschwinden, wenn ein neues Verhör bevorzustehen schien. Uric und Bedo waren bei all ihrem Geschrei und Umhergerenne erheblich besser zu ertragen als die Frauen von Talorgens Haushalt. Wenn die Jungen Fragen stellten, geschah das ganz offen und mit unschuldiger Neugier. »Stimmt es, dass du unter einem Weißdornbusch gefunden wurdest?«, fragte Bedo. »Nein. Man hat mich auf der Türschwelle abgesetzt. Ich bin ein Findling.« »Du bist sehr weiß im Gesicht. Weißer als alle, die ich je gesehen habe.« »So bin ich eben.« »Ferada sagt...« Uric senkte die Stimme und brüllte nicht mehr ganz so laut. »Dass du nicht wirklich ein Mensch bist. Sie sagt, du bist eine Tochter der du-weißt-schon.« »Ich bin ganz normal«, sagte Tuala. »Ich tue alles, was andere Mädchen auch tun.« Kurzes Schweigen. »Bridei hat uns nie erzählt, dass er eine Schwester hat.« Bedos Tonfall war ein wenig anklagend. »Ich bin nicht seine Schwester. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir sind Freunde.« Ein kleines Wort wie Freunde war jämmerlich unangemessen, es zu erklären, aber der Junge schien die Antwort zu akzeptieren. »Mutter sagt, du wirst mit uns nach Caer Pridne gehen.« »Das ist wahr. Aber nicht wirklich nach Caer Pridne, sondern in die Schule für Weise Frauen.« »Willst du eine Weise Frau werden?« Ein Hauch von Kälte wehte über Tuala hinweg; sie er- 337 innerte sich an eine beunruhigende Vision, die sie selbst in einem grauen Gewand gezeigt hatte, eine Außenseiterin, während Bridei seine Frau anlächelte und seinen kleinen Sohn an der Hand hielt. »Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Kannst du zaubern? Dinge verwandeln und so?« Die sicherste Antwort wäre ein glattes Nein gewesen, aber Tuala stellte fest, dass sie die Jungen nicht offen belügen konnte. »Das hängt davon ab, was ihr unter Magie versteht«, sagte sie. »Wenn du wolltest, könntest du mich dann in etwas anderes verwandeln, eine Kröte oder so?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Tuala lässig. »Soll ich es mal versuchen?« Ein Ausdruck vollkommenen Entsetzens erschien auf Bedos kleinem Gesicht; er war so weiß wie Leinen geworden. »Sie macht doch nur Spaß, Dummkopf.« Urics Tonfall ließ allerdings vermuten, dass er von seinen eigenen Worten nicht vollkommen überzeugt war. »Vielleicht ein andermal«, sagte Tuala. »Ist das deine Katze?« Uric hatte Nebel entdeckt, die neben dem Holzstapel saß und sich wusch; es war eine gute Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Beißt sie?« Bedo zischelte seinem Bruder etwas zu. »Stimmt das?«, wollte Uric wissen. »Ist sie dein Schutzgeist?« Bedo lief plötzlich rot an und wandte sich ab. »Ebenso wie ich«, sagte Tuala, »ist Nebel vollkommen gewöhnlich. Sie hat nichts dagegen, gestreichelt zu werden, solange ihr es sanft tut.« Nebel - noch ein Freund, den sie zurücklassen musste. Tuala hatte ein gutes Gedächtnis. Sie hatte nicht vergessen, was Fola ihr gesagt hatte, als sie so freundlich gewesen war, ihr das Kätzchen zu geben - dass sie eine eigene Katze hatte, die keine Eindringlinge zuließ. Nebel wäre hier besser dran, in ihrer vertrauten Umgebung, wo es genügend Mäuse gab. Aber eine Nacht ohne diese - 338 tröstliche Wärme neben sich zu schlafen, ohne die Versicherung, dass sie nicht vollkommen allein war, das würde wirklich schwer werden. Sie hatte für die letzte Vollmondnacht, die sie in Pitnochie verbrachte, etwas geplant. Es war etwas, das sie tun musste, weil sie nicht da sein würde, wenn Bridei nach Hause kam. Leider hatte man die kleinen Jungen in Brideis altem Zimmer untergebracht, wo sie auf dem schmalen Strohsack lagen, und das erschwerte Tualas Aufgabe. Sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Dreseida schüchterte sie ein; Feradas fragende Blicke und abfällige Bemerkungen beunruhigten und ärgerten sie. Die herablassende Art, wie diese beiden sich hielten, ihre makellosen Gewänder und das perfekt frisierte Haar schienen Tualas eigene schlichte Kleidung und ihr allgemein zerzaustes Aussehen zu verspotten. So fest sie ihr Haar auch flocht, irgendwie entkamen immer ein paar Strähnen und lockten sich rings um ihre Ohren oder fielen ihr in die Augen. Sie hatte stets Ersatzhaarbänder dabei, nur für den Fall. Vielleicht hatten die kleinen Jungen Recht, vielleicht würde sie immer wild aussehen. Anders. Es gab einen Zauber, der in dieser Nacht unter dem Blick der Leuchtenden gewirkt werden musste. Sie hatte vorgehabt, in Brideis Zimmer zu schlüpfen, wenn alle schliefen, und ihr Ritual als Teil einer Nachtwache zu vollziehen. Das war nun unmöglich, aber Tuala nahm an, dass Kinder nach den Aktivitäten eines langen Tages sehr fest schliefen. Den wichtigsten Teil konnte sie also immer noch erledigen, wenn sie vorsichtig war. Sie wartete in ihrem eigenen Zimmer und lauschte, während die üblichen Abendgeräusche des Haushalts erklangen. Stimmen ertönten aus der Halle, wo Talorgens Männer Geschichten austauschten mit den wenigen
von Broichans Bewaffneten, die man zurückgelassen hatte, um Pitnochie zu bewachen, während die anderen mit Talorgens Streitmacht unterwegs waren. Die Dame selbst und ihre Tochter würden - 339 ebenfalls in der Halle sein, aber die kleinen Jungen lagen bereits im Bett. Tuala hatte ihre hellen Stimmen vor einiger Zeit aus Brideis Zimmer gehört. Nun waren sie still und beinahe mit Sicherheit eingeschlafen. Aus der Küche war Klappern zu vernehmen: Ferats Helfer scheuerten die Kochtöpfe vom Abendessen und spülten die Holzbretter. Ferats mürrische Stimme begleitete diese Geräusche. Es wurde immer schwieriger, sich daran zu erinnern, dass der Koch einmal einem kleinen Mädchen geholfen hatte, aus Brotteig Kaninchen, Frösche und kleine Männchen zu formen und sie mit seinen starken Armen umhergewirbelt hatte, bis sie vor Aufregung quiekte; dass dieser Mann voller Stolz zugehört hatte, wie sie ihr erstes auswendig gelerntes Gedicht aufsagte, und über ihre kindlichen Witze gelacht hatte. Nun knarrte die Tür zum Quartier der Männer; Stiefelschritte kamen vorbei. Bald schon war Schnarchen zu vernehmen. Die Männer hatten einen langen Arbeitstag hinter sich. Die Besucherinnen waren sehr still und bewegten sich anmutig in weichen Schuhen, wie man es von Damen erwartet. Auch sie zogen sich nun in ihr Zimmer zurück, oder genauer in Maras Zimmer; solange sie hier waren, schlief die Haushälterin in Broichans Zimmer. Das hatte Tuala beeindruckt; eine solche Aussicht kam ihr über alle Maßen erschreckend vor. War es nicht möglich, dass der Druide dort erschien, als Mitternachtsschatten seiner selbst, ganz durchdringender Blick und grimmige, anklagende Worte? Und was, wenn diese Dinge in den Gläsern und Tiegeln begannen, sich zu bewegen? Die Tatsache, dass sich Broichan weit entfernt in Caer Pridne befand, machte keinen Unterschied. In der Küche war es nun still. Ferat und seine Helfer waren fertig und hatten sich in ihr eigenes Schlafquartier zurückgezogen. Maras langsame, schwere Schritte erklangen im Flur. Es knarrte: Sie deckte das Feuer ab und stellte den Schirm davor. Mehr Schritte. Sie ging in die Küche und sah nach, ob auch dort das Feuer abgedeckt war. Mara sah sich bestimmt - 340 noch einmal mit Adleraugen nach dem geringsten Anzeichen von Unordnung um - Staub auf den Steinfliesen, ein Schöpflöffel, der nicht ordentlich weggelegt war, ein vom Haken gefallener Umhang. Dann erklang das knirschende metallische Geräusch des massiven Riegels, der vorgeschoben wurde und die Hintertür verriegeln würde, bis die Nachtschicht der Wache zu einem frühen Frühstück hereinkam. Maras Schritte kehrten zurück, verharrten einen Augenblick in der Halle - woran dachte sie? Glaubte sie Broichan zu sehen, der nun weit weg am Hof des Königs verweilte? -, dann ging sie zum Zimmer des Druiden. Die Tür ging auf und wurde wieder geschlossen. Es war still bis auf Nebels Schnurren, als die Katze in der Nähe von Tualas Knien die raue Decke knetete. Auch jetzt wartete Tuala noch. Sie hatte keine Angst einzuschlafen; was getan werden musste, war zu wichtig. Tuala übte es im Kopf, bis genügend Zeit vergangen war, dass alle eingeschlafen sein mussten, umfangen von ihren Träumen. Dann zog sie ihren Lieblingsrock und ihr Lieblingshemd an, weiche Kleidung aus schöner heller Wolle mit schmalen Bordüren aus blauer geflochtener Schnur. Die Sachen hatten einmal Brenna gehört und waren ein wenig zu groß, aber sie waren die erste Erwachsenenkleidung, die Tuala erhalten hatte, ein Geschenk, bevor Fidich sie aus dem Haus verbannte, und sie wusste, dass Brenna kostbare Zeit damit verbracht hatte, den Rock zu flicken und die Tunika zu ändern, damit sie besser passte. Der Stoff roch schwach nach Lavendel; schon vor langer Zeit hatte Brenna ihrer kleinen Schutzbefohlenen gezeigt, wie man getrocknete Kräuter zwischen einzelne Schichten von Kleidungsstücken legte, damit sie frisch blieben, und Tuala mochte, was das Falten von Kleidung anging, zwar alles andere als ordentlich sein, aber sie vergaß nie ihren Vorrat an duftenden Kräutern. Einen solchen Duft im Haus ließ sie sich dem Wald und der Welt der Pflanzen und Tiere näher fühlen, einer erheblich sichereren Welt als die der Menschen. Tuala flocht ihr Haar - 341 nicht mehr neu, sie bürstete es nur und ließ es über ihren Rücken fallen, eine dunkle Kaskade, die bis unter die Taille reichte. Sie zog die Pantoffeln aus. Barfuss war sie leiser. Um ihren Hals hing die Mondscheibe, die sie immer trug, der blasse Knochen warm an ihrer Haut. Sie schlüpfte lautlos aus ihrem Zimmer und ging auf Zehenspitzen zur Tür von Brideis kleiner Kammer. Die Tür war nur angelehnt; vielleicht hatten diese kleinen Jungen ja Angst vor dem Dunkeln und brauchten das Licht der Lampen, die im Flur die ganze Nacht brannten, damit es über ihre Träume wachte. Tuala schlüpfte hinein. Die Jungen schliefen fest. Uric war ein Kuschler, in die Decke gewickelt, Knie angezogen, Arme vor der Brust, das Gesicht ins Kissen gedrückt. Bedo war ein Strecker. Er nahm nicht nur seine Hälfte des Betts ein, sondern auch noch die Hälfte des für seinen Bruder bestimmten Platzes. Seine Decke lag auf dem Boden; Tuala hob sie hoch und deckte ihn vorsichtig wieder zu. Der Junge regte sich nicht. Durch das winzige quadratische Fenster warf die Leuchtende einen Strahl kühlen Lichts herein; sie bewegte sich nun in den Fleck dunklen Himmels, der aus dieser Öffnung zu sehen war, und bis ihre volle, vollendete Gestalt dort gerahmt war, musste Tuala mit den Vorbereitungen fertig sein. Auf der Fensterbank lagen Brideis eigene Opfer immer noch; Tuala konnte sehen, dass jemand die kleinen Gegenstände verschoben hatte. Jungen sind neugierige Geschöpfe, und diese beiden hatten sich zweifellos die Adlerfeder genau angesehen und mit den weißen Steinen gespielt. Das war gleich; eine unschuldige Berührung kann dem Heiligen nichts schaden. Tuala legte die Talismane wieder so hin, wie Bridei es getan hatte, dann griff sie in ihren kleinen Beutel und legte andere Dinge hinzu, jedes mit seinen eigenen Worten der Macht.
Ein verkohlter Zweig, hell an einem Ende, holzkohlenschwarz am anderen: - 342 »Helle Flamme, leuchte du Auf die Klinge von Fortriu ...« Eine Feder - diesmal nicht vom Adler, sondern eine weiche Daune, vielleicht von der Brust einer Schneeeule, eines Wintergeschöpfs. »Weiche Flügel, flugbereit, Bannen weise jeden Streit...« Tuala nahm ein kleines Fläschchen aus dem Beutel, zog den Stopfen heraus und goss Wassertropfen auf das Fensterbrett, einmal, zweimal, dreimal. »Wildes Wasser, stark und wahr, bleibe ehrlich, bleibe klar ...« Und als Letztes eine Hand voll Erde, üppig und dunkel, die sie zuvor im Wald aufgehoben hatte. Sie legte sie sanft neben die anderen Gegenstände. »Ahnen wahren, schützen, führen, bald zum Herrscher sie dich küren, wie im Frieden so im Krieg, führest du dein Volk zum Sieg ...« Die Leuchtende bewegte sich langsam. Ihr gemessener Tanz brachte sie ins Fenster, in den Rahmen dieser alten Steinränder, und sie ließ ihr Licht auf die Opfergaben und dahinter auf Tualas blasses Gesicht fallen, als diese zu ihr aufblickte und ihren Zauber flüsterte. Nun kam der wichtigste Teil, der Teil, den sie aussprechen musste, bevor man sie für immer aus Pitnochie wegbrachte. Die Göttin musste verstehen, wie wichtig dies war. Wenn Tuala selbst nicht für Bridei da sein konnte, musste ein anderer die Aufgabe übernehmen, musste zuhören, musste beobachten, und vor allem ihn um dessentwillen lieben, was er war, und nicht für das, was aus ihm werden würde. Ohne einen solchen Wächter würde seine Last mit der Zeit für jeden Mann zu schwer werden. Um das zu wissen, brauchte Tuala keine Visionen auf dem Wasser. Wieder griff sie in die kleine Tasche und holte den letzten - 343 Gegenstand heraus: den Talisman, der ihre und Brideis unbeendete Geschichte darstellte, die gemeinsam und die getrennt verbrachten Zeiten, die frohen Wiedersehen und die schrecklichen Abschiede. Wenn sie die Macht einer Göttin hätte, dachte Tuala bitter, würde sie die beiden Schnüre einfach miteinander verflechten, sie umeinander winden, eine in die andere weben, und dadurch würden sie für immer unzertrennlich werden. Aber sie war kein übernatürliches Wesen. Sie mochte ein Kind des Waldes sein, aber die Macht, die sie hatte, war sicher nichts weiter als eine Begabung zur Herdmagie, jener Art von Magie, die jeder leisten konnte, wenn er es nur wollte, kleine Zauber, deren Wirkung eingeschränkt war und die keine große Gefahr darstellten. Sie würde nie im Stande sein, ein Kind in eine Kröte zu verwandeln, selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie es wollte. Und sie konnte Bridei nicht vor einer Zukunft der Einsamkeit, Verwirrung und schrecklichen Entscheidungen bewahren, nicht, wenn sie für immer von ihm getrennt wurde. Aber die Leuchtende konnte es, und wenn Tuala jemandes Tochter war, dann die des Mondes, geboren aus Winterschatten und Schnee unter den Eichen, aus Frost, der im kalten Licht glitzerte und aus kahlen Birken, die sich karg vor dem Mitternachtshimmel abzeichneten. Also musste sie daher nun das feierlichste Gebet sprechen, so lange die Göttin ihren Blick auf ihre kleine, blasse Tochter richtete, so lange die Leuchtende ihr Licht in dieses kleine Fenster entsandte. Tuala wand sich die Schnur um die Hände und begann zu flüstern. »Hör mich, strahlende Mutter, höre deine Tochter. Ich rufe deine Macht an, deine Liebe, deine leuchtende Reinheit. Durch dich rufe ich auch den Flammenhüter, Verkörperung wahren Muts, und die schöne Blütenreiche, die ihren sanften Blick auf alles richtet, das auf der Erde lebt und atmet. Durch dich rufe ich die Knochenmutter, Hüterin uralter Geschichten, Bewahrerin der Lieder der Priteni seit Urzeiten.« - 344 Der Mond schaute schweigend herab. Das einzige Geräusch im Raum war der leise Atem der beiden schlafenden Kinder. »Ich will nichts für mich selbst. Wenn es dein Wunsch ist, dass ich diesen Ort verlasse und dir als Weise Frau diene, dann muss ich das akzeptieren. Ich beuge mich fraglos deinem Willen. Es ist Bridei, für den ich Hilfe erbitte. Du kennst den Weg, der ihm bevorsteht. Ich sehe auf dieser Reise Entscheidungen, die selbst den vernünftigsten Mann um den Verstand bringen würden, Verrat, der ihn bis ins Herz verwunden wird, Gefahren überall und eine Einsamkeit, die das wärmste Herz erfrieren ließe. Wenn ich nicht bei ihm bin, wer wird dann wissen, wann er Rat braucht? Wenn ich nicht bei ihm bin, wie kann er seine Tränen fließen lassen? Allein wird er eine Last tragen müssen, die selbst für den stärksten Mann zu schwer ist. Kein Anführer kann seinen Weg von einer solchen Last gebeugt zurücklegen. Aber er muss es tun. Und ich kann nicht bei ihm sein. Was einmal mein Zuhause war, ist kein Heim mehr.« Die Leuchtende begann, sich aus dem Fenster zu schieben, und setzte ihre Reise fort. »Also bitte ich dich«, sagte Tuala durch kaum mehr zurückzuhaltende Tränen, »dass ich diese Fürsorge in deine Hände legen kann, große Göttin, strahlende Mutter, die uns allen leuchtet. Du weißt, dass er König sein wird; du
weißt, welche Kraft er hat. Aber du weißt auch, dass er über etwas verfügt, was einige als Schwäche bezeichnen würden, wie bereit er ist, den Geist und das Herz eines Feindes zu verstehen, und dass diese Offenheit ihn selbst dann noch innehalten lässt, wenn sein Arm das Schwert der Gerechtigkeit führt. Halte deine Hände über ihn, strahlende Herrin; tröste ihn in der dunklen Nacht, wenn sein Herz verzagen will. Wenn der Schatten des Zweifels auf ihn fällt, wiege ihn in deinem Atem und lass ihn Ruhe finden. Ich bitte dies im Namen aller Götter und im Namen alles dessen, was heilig ist...« - 345 Tuala trug ein kleines Messer am Gürtel; nun legte sie die Schnur nieder, griff nach der Waffe und hob sie, um eine lange, dicke Locke ihres dunklen Haars abzuschneiden, was ein fransiges Ende über ihrer Stirn zurückließ. Danach gab es nur noch eins zu tun, und dann, wenn sie es alles richtig machte, würde die Leuchtende ihr ein Zeichen geben, und sie, Tuala, würde wissen, dass Bridei ungeachtet der Tatsache, dass ihr eigener Kummer ihr wie ein Stein in der Brust lag, unter dem Schutz der Göttin wandeln würde. Sie hob die Hände und holte Luft für den letzten Teil des Zaubers. »Was hast du hierzu suchen?« Tuala fuhr herum, die Arme ausgestreckt vor sich. Das Mädchen, das hinter ihr gestanden hatte, wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Das Messer war direkt auf ihre Brust gerichtet. Tuala holte keuchend Luft und senkte die Arme. Ferada eilte mit zwei Schritten ins Zimmer, ein Rachegeist in weichen Pantoffeln und einem bestickten Nachtgewand, das rote Haar ordentlich zu einem Zopf geflochten. »Sag es mir!«, zischte sie. »Was machst du im Schlafzimmer meiner Brüder? Wieso hast du ein Messer?« Tuala schien ihr Herz einfach nicht beruhigen zu können, ebenso wenig wie ihren Atem. Die Leuchtende hatte das Fenster beinahe verlassen, und das Ritual war nicht beendet. Sie versuchte, Fuchsmädchen mit Gedanken wegzuzwingen. Geh weg, schnell, damit ich das hier beenden kann und er in Sicherheit ist, aber das rothaarige Mädchen wich nicht von der Stelle, hatte die Lippen fest aufeinander gepresst und starrte Tuala mit blitzenden Augen an. »Nun?«, fragte sie. »Sprich!« »Ich will deinen Brüdern nichts tun.« Tualas Stimme war weniger stetig, als ihr lieb war. »Und es ist nicht ihr Zimmer, es ist Brideis Zimmer. Das hier ist mein Haus und nicht das deine. Ich kann gehen, wohin ich will.« - 346 Ferada verzog den Mund zu einem Lächeln, das ganz und gar nicht freundlich war. »Meine Mutter wird von solch kindischen Argumenten nicht beeindruckt sein, wenn ich ihr sage, dass ich dich mitten in der Nacht hier gefunden habe, mit einem scharfen Messer in der Hand«, sagte sie. »Wenn du willst, dass sie dich in unserem Gefolge mit nach Caer Pridne nimmt - und du solltest wissen, dass sie von dieser Idee ohnehin alles andere als begeistert ist -, dann musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.« Der Mond war beinahe nicht mehr zu sehen; es blieb kaum mehr Zeit. »Bitte«, zwang sich Tuala zu sagen. »Bitte lass mich weitermachen.« Sie biss die Zähne zusammen. »Du kannst zusehen, du kannst dich überzeugen, dass ich nichts Falsches tue. Das hier muss jetzt geschehen, so lange der Mond noch ins Zimmer scheint. Es muss geschehen, bevor sie mich wegschicken.« Etwas in ihrem Ton bewirkte, dass Feradas Miene sich veränderte, obwohl in ihrem Blick immer noch Misstrauen stand. Das rothaarige Mädchen ging näher zu dem Strohsack, auf dem ihre kleinen Brüder lagen. »Also mach schon«, sagte sie. Es war schwierig, mit dem Ritual fortzufahren; schwierig, ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen, die Tränen hinunterzuschlucken, ruhiger zu atmen. Das hier musste richtig gemacht werden, oder es würde ganz sicher nicht funktionieren. Bridei hatte Tuala von Anfang an beigebracht, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten; er hatte immer wieder betont, was für ein immenses Privileg es war, dass einem die Götter bei solch feierlichen Gelegenheiten ihr Ohr liehen. »Ich biete diesen Teil von mir«, sagte Tuala und legte die lange, glänzende Locke auf das Fensterbrett zu den anderen Gegenständen. »Den Rest werde ich dem Feuer übergeben, sodass der Flammenhüter, Beschützer von Kriegern, ebenfalls weiß, dass ich mein Leben lang treu zu ihm stehen wer- 347 de. Ich opfere außerdem dies hier.« Eine kurze Bewegung mit dem Messer über ihre rechte Handfläche, schnell, bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte - sie hörte Ferada keuchen -, und dann hielt sie die Hand hoch, damit Blut aus dem tiefen Schnitt auf die Amulette der Macht im Fenster laufen konnte. »So zeige ich meine Verehrung der alten Götter, die so lange andauern wird, wie Blut in meinen Adern fließt, so lange, wie Atem in meinen Körper dringt, so lange meine Füße den Weg der Frauen gehen, so lange mein Herz die Wahrheit kennt.« Die Leuchtende war beinahe verschwunden; nur noch ein dünner Rand ihrer schönen Gestalt war durch das Fenster zu sehen, obwohl ihr Schein sich auf den zarten Birken hinter dem Haus abzeichnete. »Du weißt, dass er weise, stark und gut ist«, flüsterte Tuala. »Aber er ist auch ein Mensch, er kennt Angst, Zweifel, tiefe Trauer. Ich bitte dich nur darum, dafür zu sorgen, dass er seine dunklen Zeiten nicht ohne einen treuen Freund erlebt, der ihm den Weg erhellt, wenn ich schon nicht an seiner Seite sein kann. Dies erbitte ich im Namen des Bands, das du zwischen uns geschaffen hast, strahlende Mutter ...« Sie hätte noch mehr gesagt, aber Feradas Anwesenheit machte das unmöglich. Tatsächlich war es nicht nur beunruhigend, sondern fühlte sich in gewisser Weise sogar
gefährlich an, dass eine andere diese Worte mit anhörte. Tuala steckte das Messer wieder in den Gürtel und umklammerte den Beutel in einem Versuch, die Blutung an ihrer Hand zu stillen. Sie vollzog eine tiefe Verbeugung, gerade als der Mond hinter den Fensterrahmen glitt und nicht mehr zu sehen war, dann wurde ihr plötzlich schwindlig, und sie musste sich aufs Ende des Betts setzen. Die Kinder schliefen ungestört weiter. »Die Ahnen mögen uns beistehen!«, rief Ferada leise und hockte sich neben sie. »Das hätte ich ganz bestimmt nicht erwartet. Zeig mir deine Hand - du brauchst Salbe und einen Verband...« - 348 »Es ist nichts.« Feradas scharfe Züge waren einen Moment lang klar zu sehen, dann verschwammen sie wieder. In Tualas Kopf summte es. »Es geht mir gut. Und ich bin fertig. Du kannst jetzt gehen.« Ferada zog die schön geschwungenen Brauen hoch. »Du siehst nicht aus, als ginge es dir gut. Außerdem kann ich dich ja wohl kaum hier bei Uric und Bedo lassen. Komm. Ich hole ein Stück sauberes Leinen; Mutter hat welches ...« »Nein! Wecke niemanden auf. Mit mir ist alles in Ordnung, ich gehe jetzt einfach ins Bett...« Als Tuala aufstand, wurde ihr abermals schwindlig, und das Zimmer drehte sich um sie. »Dummes Mädchen!«, sagte Ferada. »Wo ist dein Zimmer?« Sie waren bald schon dort und blieben in der Tür stehen. Fuchsmädchen in den einzigen Teil von Broichans Haus zu lassen, der nur ihr allein gehörte, war nichts, was Tuala vorhatte, jetzt oder jemals. »Danke«, sagte sie so entschlossen sie konnte. »Gute Nacht.« »Nicht so schnell.« Ferada hatte den grob gewebten Vorhang beiseite gezogen, der alles war, was dieser kleine Raum an einer Tür aufzuweisen hatte, und spähte in die Dunkelheit dahinter. »Du kannst die Wunde nicht selbst verbinden. Außerdem habe ich ein paar Fragen.« »Ich brauche dich nicht. Ich will dich nicht.« Die Schmerzen in ihrer Hand und der Schwindel machten Tuala unhöflich direkt. Dahinter stand die Erkenntnis, dass die Leuchtende ihr kein Zeichen gegeben hatte, dass sie nicht gezeigt hatte, ob sie die Gebete und das Opfer annehmen würde. Die Unterbrechung hatte wahrscheinlich alles verdorben. Die Göttin war verstimmt und würde Bridei und Tuala auseinander reißen, ohne Freunde, die ihm halfen. »Das ist mir egal«, sagte Ferada, griff nach einer Laterne, die auf einem Steinregal nahe der Tür brannte, und trug sie in Tualas kleines Zimmer. »Bei den Ahnen! Ich hielt schon - 349 Brideis Zimmer für klein, aber das hier muss sein, als schliefe man in einem Schrank. Wie seltsam. Schau mich nicht so wütend an. Du weißt genau, wenn ich meiner Mutter sage, was du getan hast, wird sie dich nicht mit nach Banmerren nehmen. Aber vielleicht willst du das ja. Vielleicht willst du nicht gehen.« Wieder zog sie die Brauen hoch; ihre Augen sahen im Lampenlicht sehr klug aus. »Das geht dich nichts an«, fauchte Tuala und wusste schon, während sie das sagte, dass sie keinen Krieg der Worte gegen diese selbstsichere junge Frau gewinnen konnte. Wie alt konnte Fuchsmädchen sein - fünfzehn, sechzehn? Nicht viel älter als sie selbst und dennoch Welten entfernt. »Das ist es, nicht wahr?«, fragte Ferada herausfordernd. »Wo bewahrst du deine Sachen auf - hier drin?« Sie wühlte in der Truhe. »Du willst nicht wirklich auf Folas Schule gehen, obwohl das deine beste Chance ist, dem Ehebett zu entgehen und etwas aus dir zu machen. Du würdest lieber hier in Broichans seltsamem Haus vermodern und hoffen, dass dein Bruder wieder nach Hause kommt. Ich kann es einfach nicht glauben.« Während dieser Worte fand Ferada Leinen, nahm der stummen Tuala das Messer ab, schnitt einen brauchbaren Streifen ab und begann geschickt, sich um die verwundete Hand zu kümmern. »Hast du Salbe? Gut, hier - nur ein bisschen, dann verbinde ich es. Weißt du eigentlich, dass es Hunderte von Mädchen gibt, die für die Chance, nach Banmerren gehen zu dürfen, töten würden? Fola nimmt nicht jede auf.« Tuala fühlte sich gewaltig versucht zu antworten: Sie hat dich aufgenommen, oder?, aber solch billige Bosheiten waren sinnlos. Außerdem war Feradas Mutter eine Kusine des Königs. Tuala war mit Erips Unterricht in Genealogie aufgewachsen und wusste, welche Vorrechte und Verantwortungen eine solche Herkunft mit sich brachte. »Wenn ich nicht gehe, muss ich heiraten«, sagte sie leise. »In Banmerren zu sein ist immer noch besser, als mich an einen Mann zu binden, den ich nicht liebe.« - 350 »Liebe?«, wiederholte Ferada spöttisch. »Liebe hat damit nichts zu tun. Ich würde mich an deiner Stelle glücklich schätzen, wenn dieser zukünftige Ehemann alle zehn Finger und Zehen und die nötigen Einzelteile dazwischen hat. Mutter sagt, man kann einen Mann formen. Liebe ist etwas für Geschichten. Mit dir, mir oder dem Leben der meisten anderen jungen Frauen in Fortriu hat das nichts zu tun. Wir können bestenfalls hoffen, eine Spur von Einfluss auf den Weg zu haben, den wir gehen müssen. Eine winzige Spur.« Einen kleinen Augenblick klang sie anders, so, als lebte hinter dieser erschreckend kompetenten Fassade auch noch ein ganz anderes Mädchen. »Ich wollte selbst wählen«, sagte Tuala. »Aber am Ende waren es nur Broichans Entscheidungen.« Das stimmte nicht ganz; es gab eine Entscheidung, von der sie nicht sprechen konnte. »Für wen hast du dieses Gebet gesprochen?«, fragte Ferada. »Ich nehme an, für deinen Bruder.« Tuala antwortete nicht. »Ich denke nicht, dass er ein solches Maß an Ergebenheit braucht«, sagte Ferada. »Er ist mir immer sehr fähig
vorgekommen. Es fehlt ihm ein bisschen an Humor, und vielleicht ist er ein wenig langweilig, aber er kommt mit seinen eigenen Angelegenheiten sehr gut zurecht. An deiner Stelle würde ich aufhören, mir wegen ihm Gedanken zu machen, und mich um mein eigenes Leben kümmern. Sei realistisch, Tuala. Ein Platz in Banmerren ist für solche wie dich eine gute Gelegenheit. Wohin würdest du sonst gehen?« Dass es sich bei diesen Worten um die reine Wahrheit handelte, machte sie nicht weniger quälend. »Komisch«, fuhr Ferada fort. »Bridei spricht nie von dir. Ich wusste nur, dass es dich gibt, weil Gartnait es mir erzählt hat. Ich denke, du verschwendest deine Zeit.« Tuala wartete ein wenig und zwang sich, ruhig zu atmen, bevor sie sprach. »Ich möchte jetzt schlafen«, sagte sie spitz. - 351 »Wenn es dich nicht stört. Danke, dass du meine Hand verbunden hast. Ich wäre dir dankbar, wenn du deiner Mutter nichts erzählen würdest.« Er hat mich nicht erwähnt, weil das, was zwischen uns ist, etwas ganz Besonderes und Kostbares ist, das man nicht teilen kann. Ferada sah sie forschend an, als versuchte sie, ein Rätsel zu lösen. »Hm«, sagte sie. »Sie wird es schon bald wissen, wenn die Jungen gebeten werden, das Durcheinander aus Haar und Blut auf der Fensterbank zu erklären.« »Ich bitte dich ja nicht zu lügen«, sagte Tuala. »Wir werden sehen«, erwiderte Ferada. »Hm, das könnte wirklich interessant werden. Ich denke langsam, dich nach Banmerren zu schicken ist ein wenig, als setzte man ein herrenloses Kätzchen in einen Käfig mit wilden Hunden.« »Kätzchen haben Krallen.« »In der Tat. Wenn schon nichts anderes, dann könnte es sehr unterhaltsam werden. Es wäre wohl das Beste, wenn Mutter so wenig wie möglich erfährt. Zumindest im Augenblick.« Tuala hob die Hand, um ein Gähnen zu verbergen. »Ich würde es an deiner Stelle nicht übertreiben«, sagte Ferada. »Ich habe noch mehr Fragen. Aber sie können warten. Gute Nacht, Tuala.« »Möge die Leuchtende deine Träume bewachen.« Selbst in einem solchen Augenblick mussten die richtigen Abschiedsworte gesprochen werden. Der Vorhang wurde gehoben und fiel wieder. Leise Schritte verklangen. Tuala war wieder allein. Sie zog sich das Tuch fest um die Schultern und spürte, dass das tiefe Pochen in ihrer Hand zu einem brennenden Schmerz geworden war, der sich ihren Arm entlangzog; sie spürte die Tränen, die erst drängten und dann tatsächlich fielen, heiß und bitter. Nebel schlief ungerührt weiter. Was in ihrer Katzenwelt vorging, hätte man nicht sagen können. Ihre Pfoten zuckten hin und wieder; vielleicht träumte sie von Ratten. Was Tuala anging, - 352 so dachte sie über bestimmte Dinge nach, die Fuchsmädchen gesagt hatte, Dinge, die Lügen waren, schreckliche, verletzende Lügen. Er ist nicht langweilig! Er ist der beste Mensch der Welt, er erzählt wunderbare Geschichten, und er hört einem immer richtig zu. Die Götter lieben ihn. Und ich mache mir keine Gedanken, sondern ich kümmere mich um die Zukunft. Jemand muss es für ihn tun, und er hat nur mich. Diese Gedanken schienen es nicht besser zu machen; die Tränen flössen noch heftiger und zu schnell, als dass sie sie noch wegwischen konnte. Sie strengte sich sehr an, keinen Laut von sich zu geben; auf keinen Fall würde sie Fuchsmädchen oder irgendwen sonst wissen lassen, dass sie sie zum Weinen gebracht hatten. Was, wenn die Leuchtende ihr Opfer nicht annahm? Was, wenn Bridei seinen Weg ganz allein zurücklegen musste? Er wird nicht allein sein, erinnerte eine leise innere Stimme sie. Was ist mit der Vision, Mittsommer am Morgenbaum? Dort war er nicht allein, oder? Was glaubst du wohl, wer das war, mit dem rotbraunen Haar und dem eleganten Kleid? Eine angemessene Frau für einen König. Tuala legte sich hin, kniff die Augen fest zu und drückte sich die Hände auf die Ohren. Aber die Stimme konnte auf diese Weise nicht zum Schweigen gebracht werden, diese hinterhältige, einschmeichelnde Stimme des Blättermannes, eines Wesens von ihrer eigenen Art, das entschlossen war, ihr vorzuführen, wie dumm sie war. Das war doch sie, nicht wahr? Sehr angemessen. Und wenn Liebe sie nicht interessiert, dann interessiert sie auch nicht, dass er langweilig ist. Er wird König sein. Das ist alles, was zählt. Am Ende wachte Nebel auf, oder doch halbwegs, schlich zum Kopfende des Betts, drehte sich dreimal um sich selbst und schmiegte sich dann an Tualas Hals. Viel später, erschöpft von Traurigkeit, die verbundene Hand auf dem weichen Fell der Katze, ließ sich Tuala vom Schlaf überwältigen. - 353 Es musste in der Nacht starken Wind gegeben haben, einen launenhaften Wind, der zu Wirbeln neigte. Als Bedo aus dem Fenster schaute, um zu sehen, wie das Wetter war, bemerkte er, dass die Adlerfeder verschwunden war. Das enttäuschte ihn; er hatte vorgehabt, sie insgeheim in sein Gepäck zu stecken, bevor sie weiterreisten. Er sah sich um; sie lag auch nicht auf dem Boden oder auf dem Bett zwischen den wirren Decken. Nach dem Frühstück ging er nach draußen, um nachzusehen, aber auch dort gab es keine Spur davon. Der Wind hatte auf dem Fensterbrett nur die drei weißen Steine zurückgelassen. Am nächsten Morgen ritten sie weiter nach Caer Pridne und nahmen das Hexenmädchen mit. Ihr Haar sah seltsam aus; es war etwa auf der Höhe ihrer Ohrläppchen kunstlos abgehackt und erinnerte nun ein wenig an
Bedos eigenes Haar, nur dass es erheblich unordentlicher war. Das Mädchen war sehr still. Sie hatte den Mund zu einer dünnen Linie zusammengekniffen, als versuchte sie nicht zu weinen. Als das Haus des Druiden hinter ihnen zwischen den Eichen verschwand, schaute sie nicht zurück, kein einziges Mal. Broichans Mann hatte sich schon auf den Weg gemacht, bevor sein Herr Pitnochie verließ, ausgerüstet mit einem kleinen Rationspaket, Waffen, um sich zu verteidigen, und einer Botschaft an Talorgen im Kopf. Die Botschaft war nicht schwierig, sie bestand nur aus zwei Teilen. Erstens, der alte Erip war tot, und diese Nachricht sollte dem Jungen schonend überbracht werden. Und zweitens sollte der Junge von nun an einen Vorkoster haben. Das konnte er sich leicht merken. Der Bote war daran gewöhnt, schnell voranzukommen, selbst unter den ungünstigsten Bedingungen. Man erwartete, dass er die Armee innerhalb von zwölf Tagen einholen würde, vielleicht noch schneller, wenn es nicht wieder anfing zu regnen. Er wusste, wie man Wölfe, Kämpfe und - 354 Spione aus Dalriada mied. Er wusste, wie man mit knappen Rationen und zu wenig Schlaf auskam. Aber dem Steinschlag oberhalb des Jungfernsees war er nicht gewachsen. Es war nass gewesen; er bewegte sich auf einem schmalen Pfad hoch über dem Wasser, als er das un-missverständliche Grollen über sich hörte, das rasch zu einer splitternden, brüllenden Kakofonie herunterstürzender Felsen wurde. Grimmig klammerte er sich fest, drückte sich in eine Nische, biss die Zähne zusammen und betete zur Knochenmutter, dass es noch nicht Zeit war, ihn an ihre Brust zu ziehen. Der Tumult wurde leiser; nur noch kleinere Steine bröckelten vom Hang und sprangen über den massiven Geröllhaufen drunten. Und tatsächlich war es noch nicht Zeit, noch nicht ganz. Der Bote blinzelte sich den Staub aus den Augen. Er holte tief Luft, voller Freude, dass er verschont geblieben war. Sein Bein tat allerdings weh; er schaute nach unten, um zu sehen, was geschehen war, und spürte, wie er blass wurde. Ein großer Stein hatte sich an der Felswand verklemmt, an der er Schutz gesucht hatte. Zwischen Stein und Felswand war sein Bein bis zum Oberschenkel eingeklemmt. Kalter Schweiß brach ihm aus. Dieser kurze Blick hatte ihm schon gesagt, dass sein Bein beinahe bis zur Unkenntlichkeit zerdrückt war und er nie wieder würde gehen können Einige Zeit strengte er sich an, sich zu befreien, indem er mit den Händen gegen den Stein drückte und versuchte, ihn mit einem kleineren Stein zu zerschlagen. Er hatte immer noch seinen Rucksack; er rieb das Messer an der festen Oberfläche stumpf, hinterließ ein Netz verzweifelter Kratzer. Er hatte Essen für viele Tage und Wasser für drei. Zuerst rationierte er es, nur kleine Schlucke, weil er hoffte, gerettet zu werden. Aber niemand kam. Als ihm das Wasser ausging, dachte er daran, das Messer zu benutzen, um sein Bein irgendwie abzutrennen, so lange er noch die Kraft dazu hatte, und dann... und dann was? Er würde verbluten, während - 355 er über Wege kroch, die nur Dachs und Eichhörnchen, Marder und Käfer kannten. Aber es würde zumindest schneller gehen. Aber das Messer war stumpf, und er konnte sich nicht überwinden, es zu versuchen. Am Tag, nachdem er seinen Wasserschlauch leer getrunken hatte, regnete es. Er leckte den Regen von dem Stein, der ihn festhielt, und staunte durch den Nebel des Fiebers über seinen Willen, trotz allem am Leben zu bleiben. Die Botschaft hatte er vergessen. Er hatte alles vergessen bis auf den Schmerz und die Kälte und seine finstere Verzweiflung. In dieser Nacht, leise wie die Boten des Todes, kamen die Wölfe. Am Ende war es nicht möglich, viel nachzudenken. Als sie gerade eine Rast einlegten und durch das einsame Tal nach Galanys Höhe aufblickten, sahen sie, dass dort Rauch aufstieg, dass eine Fahne über der Siedlung flatterte, und sie wussten, dass die Galen bereit für sie waren. Auf den Wehrgängen hinter der Palisade aus angespitzten Pfählen standen Bogenschützen Schulter an Schulter. Auf dem Hügel dahinter war selbst aus dieser Entfernung der hoch aufragende Magierstein zu erkennen, beschützt von Ebereschenbäumen. Er zog die Blicke an und ließ die Männer wieder entschlossener werden. »Es sind nicht so viele«, sagte Talorgen, der die Augen zusammengekniffen hatte. »Deshalb sind sie hinter der Palisade geblieben, um sich zu verteidigen, statt herauszukommen und uns anzugreifen. Wir gehen weiter vor wie geplant. Seid ihr bereit? Morleo? Ged? Fokel?« Zustimmendes Brummen erklang. Geds Leute, strahlend in ihren Regenbogenfarben, sollten die rechte Flanke übernehmen, Morleos die linke, und die Hauptstreitmacht würde direkt auf das Tor zumarschieren. Dicht hinter Talorgens Leuten ritt Fokels kleine Truppe. Bridei hatte den gefährlichen Blick dieses Anführers bemerkt, seine kaum beherrschte Energie, als stünde er kurz davor, zu explodieren. - 356 Dass seine grimmigen Männer bis an die Zähne bewaffnet waren, trug nicht dazu bei, Bridei zu beruhigen. Diese Männer erinnerten an anderweltliche Wesen, die willkürlich und sinnlos Gewalt ausübten. Vielleicht würde es sie tatsächlich nicht sonderlich interessieren, wohin sie schlugen, bis alles vorbei war. Ihre Nähe war alles andere als tröstlich. Aniel, der Berater des Königs, hatte seine beiden Leibwächter geschickt, um im Namen Drusts des Stiers an diesem Feldzug teilzunehmen. Nun trat Garth vor, die Fahne des Königs in der Hand, und andere hoben die Zeichen aller anwesenden Anführer: Langwasser, Abertornie und Rabenbrunn, und die alte Fahne von Galany. Talorgen stieß die geballte Faust in die Luft und schrie laut und hallend: »Fortriu!« Stolz rauschte durch Brideis Blut, heiß wie die Berührung des Flammenhüters selbst. Er erhob die Stimme ebenso wie alle anderen: »Fortriu!«, und dann marschierten die Priteni in die Schlacht.
Man näherte sich der Siedlung durch ein breites Tal, durch das ein Bach zum Königssee hinabfloss. Der Boden war sumpfig, und die Stiefel der Männer sanken tief ein. Es gab kaum Deckung, nur ein paar Büsche und magere Bäume klammerten sich weiter stromaufwärts an die Ufer. Als sie sich dem Bach näherten, schwangen die Tore der Siedlung auf, und der Feind kam ihnen entgegen. Es war also doch keine verzweifelte Verteidigung eines unterbesetzten Außenpostens, sondern ein gut geplanter Gegenangriff, Armee gegen Armee; jemand hatte die Galen gut informiert, und sie hatten ihr Wissen genutzt. »Wie viele?«, rief Bridei Donal zu, der grimmig an seiner Seite marschierte, den Speer in der Hand. »Genug«, sagte Donal. »Aber wir werden es schaffen. Sie werden versuchen, uns in Reichweite der Bogenschützen zu locken. Talorgen wird die Männer zurückhalten, jedenfalls, wenn dieser verrückte Fokel nicht gleich angreift. Bleib in meiner Nähe, Bridei. Ich muss dich im Auge behalten.« - 357 Selbst kurz vor Beginn der Schlacht, dachte Bridei, hält Broichan noch seine Hand über mich, als wäre ich ein Kind, das behütet werden muss. Wann werde ich endlich ein Mann sein dürfen? Dann begannen die Männer neben ihm, vor ihm und hinter ihm zu laufen und zu schreien, und der geordnete Marsch wurde zum Chaos. Die Rufe klangen in seinen Ohren wie das Schmettern von Fanfaren; sein Herz, das bereits raste, schlug nun im Rhythmus einer wilden Trommel, seine Beine trugen ihn vorwärts in dieser Flut, in diesen hitzigen Wellen menschlicher Körper, und dann begannen die Pfeile auf sie niederzuregnen. Männer fielen mit Pfeilen in Auge, Kehle oder Schulter, er trat auf sie, Blut leuchtete hell auf Umhang oder Helm, auf klammernder Hand, starrem Auge oder zerschmettertem Arm. Er konnte nicht stehen bleiben, um ihnen zu helfen, es ging weiter, weiter, seine Füße trugen ihn voran. Die Flut von Männern war nun dünner geworden, und seine eigene Stimme erhob sich mit denen der anderen über den Lärm: »Fortriu! Fortriu!« Sie stürzten sich vorbei an den Pfeilen und in den Nahkampf, Wurfspeere wurden zum Stechen benutzt; Donal mit einem Krieger, den er aufgespießt hatte wie eine Forelle und der sich am Schaft wand; Gartnait zwischen keuchenden, ringenden Gestalten, spießte das Herz eines Mannes mit einem wilden Stoß seines Dolches auf. Gartnaits Blick war seltsam begeistert, beinahe, als befände er sich in der Gewalt eines Gottes. Breth, ein großer, kräftiger Mann, hatte eine kleine Erhebung entdeckt, die von niedrigem Gebüsch gekrönt war, und setzte von dort aus seinen Bogen kühl und stetig ein, um einen Feind nach dem anderen mitten aus diesem Gewirr von Männern zu schießen. In der Nähe bleiben?, dachte Bridei. Was für ein Witz. Er rannte den Hügel hinauf zu Breth, bereitete seinen eigenen Bogen vor und begann mit großer Sorgfalt zu schießen; die geringste Abweichung, und ein Pfeil, der für einen hoch auf- 358 ragenden Gälenkrieger bestimmt war, würde stattdessen in die Brust eines Kameraden dringen. »Da drüben im Süden«, murmelte Breth. »Siehst du, hinter der Hauptmasse von Geds Leuten? Gib Fokel Deckung.« Von hier war es so gerade eben möglich zu sehen, was Fokel tat, obwohl es im Durcheinander der Schlacht alles zufällig wirkte und das Muster des Tages reduziert war auf einen einzelnen Mann mit einem großen Messer, der versuchte, einen umzubringen, und einen anderen mit einem Speer, der gerade einen Kameraden getötet hatte. Dort drunten geschah alles von Augenblick zu Augenblick: zuschlagen, atmen, überleben, weiterkämpfen. Von der kleinen Anhöhe aus sah Bridei, dass Talorgens Leute nun langsamer vorankamen, sie hatten kaum das Bachbett hinter sich gebracht und standen einer beträchtlichen Anzahl von Galen gegenüber, und viele Männer von beiden Seiten lagen reglos oder zuckend am Boden, ihr Stöhnen übertönt von den anfeuernden oder beleidigenden Rufen, dem Klirren der Klingen, dem Pfeifen von Pfeilen. Ged und Morleo kamen kaum besser voran. Ihre Leute, ein wenig weiter von der Palisade entfernt, waren das Hauptziel der Bogenschützen. Von dort unten konnte niemand Fokel und seine kleine Gruppe von Kriegern sehen. Fokel hatte seine Männer weiter bachaufwärts geführt, hatte die Büsche am Ufer als Deckung benutzt, und nun kamen sie dem Chaos vor den Toren immer näher. Bridei folgte Breths Beispiel, zielte und schoss wieder und wieder, versuchte, die Galen hinten im Gedränge zu erwischen, die wahrscheinlich im Weg sein würden, wenn Fokels Männer aus der Deckung kamen und den Hügel hinauf auf die Palisade zurannten. Es war verrückt und genau das, was man von Fokel erwarten würde. Wahrscheinlich würden all seine Männer sterben, bevor sie die feindliche Stellung erreichten. Dennoch, dieser Mann, dessen Brust gerade von Brideis Pfeil durchbohrt worden war, würde sie nicht kom- 359 men sehen, und auch nicht der Bursche, auf den Breth nun zielte, und der nicht und der nicht... »Ich habe immer gewusst, dass aus dir ein guter Schütze werden würde«, murmelte Breth, zielte und schoss noch einmal. »Wie viele Pfeile hast du noch?«, fragte Bridei. »Zwei. Hier.« Sie schössen gemeinsam; zwei Galen fielen. Dann eilten sie wieder den Hügel hinab, hinein in den Albtraum. Donal war nirgendwo zu sehen, und auch Gartnait war im Durcheinander verschwunden. Talorgen, dem Garth wie ein Schatten folgte, setzte sein Schwert vernichtend ein; er war ein Anführer, der sein Leben ebenso aufs Spiel setzte wie seine Männer. Geds Leute, deren bunte Hemden nun von Blut bespritzt waren, ihrem eigenen
und dem der Feinde, drängten auf der anderen Bachseite den Hügel hinauf. Und nun gab es hinter der brodelnden Masse von Männern etwas Neues zu sehen. Hinter der ordentlichen Palisade aus zugespitzten Pfählen leuchtete es hell, man hörte Knacken und Knistern und die erschrockenen Schreie von Frauen. Fokels Männer hatten die Siedlung angezündet. Es war ihnen gelungen, sich nahe genug anzuschleichen, und Brandpfeile hatten den Rest erledigt. Die Bogenschützen oben auf der Palisade verließen ihren Posten; es war wichtiger, das Feuer zu löschen. Grimmig hielten die Galen draußen vor den Toren die Stellung. Vielleicht waren ihre Frauen, ihre Kinder dort drinnen, wo die Flammen gierig einen Getreidespeicher, eine Gerberei und Wohnhäuser verschlangen, wo die Menschen verzweifelt nach Eimern rannten, wo Jungen, die zum Kämpfen noch zu klein waren, mit dünnen Armen Pumpen bedienten, wo Frauen mit Säcken und Decken auf die alles verzehrenden Flammen einschlugen. Die Männer kämpften weiter, mit finsteren Mienen, als der Rauch über das Schlachtfeld wehte und Schwert und Speer, splitternden Schild und blut- 360 durchtränkte Fahne in ein unheimliches Halblicht tauchte, rosa und golden und schattengrau. Bridei hatte keinen Wurfspeer gehabt; er war mit einem kurzen Schwert, einem Messer und seinem Bogen bewaffnet, der nun nutzlos war, solange er nicht einem Feind ein paar Pfeile abnehmen konnte. Es war unmöglich zu sehen, was geschah, oder zu wissen, was die Anführer von ihnen wollten. Es ging nur noch darum, sich weiter den Hügel hinaufzubewegen und dabei nicht umbringen zu lassen. Erst ein kleiner, verzweifelter Kampf, dann noch einer und noch einer. Bridei benutzte sowohl das Schwert als auch den Dolch. Dort lag ein junger Krieger, ein Gäle, mit einer schrecklichen Bauchwunde, seine Eingeweide hingen heraus, sein Gesicht war bleich vor Entsetzen. Bridei hatte nicht geglaubt, dass er sich bücken und einem Mann aus Mitleid die Kehle durchschneiden könnte, aber als er sich nun dieser Entscheidung gegenüberfand, tat er es ohne zu zögern und murmelte ein Gebet an den Gott, an den dieser Mann glaubte - welcher es auch immer sein mochte. »Nimm seine Hand.« Nach langer Zeit, nach sehr langer Zeit, in der sein Körper sich einfach weiterbewegte und die Waffen in den gut eingeübten Mustern schwang, zustieß, auswich, stach, seine Augen von Rauch, Schweiß und Tränen brannten und sein Hals vom Schreien wehtat, wurde offensichtlich, dass sich die Gezeiten gewendet hatten. Oben war durch den grauen Vorhang hell flackerndes Feuer zu sehen, und davor zeichneten sich nicht mehr die Galen von Galanys Höhe in undurchdringlichen Reihen ab, sondern Fokels wilde Krieger, ganz gefletschte Zähne und lange, gezähnte Messer, die sich von hinten wie Rachegeister auf den Feind stürzten. Es war ein schrecklicher Anblick; dass sie auf Brideis Seite standen, machte es nicht besser. Fokels Männer metzelten alles nieder, was in ihrem Weg stand. Sie kämpften mit wilder Geschicklichkeit, die an die gefährlichsten Raubtiere des Wal- 361 des erinnerte, vielleicht an die großen wilden Katzen und ihren starren Blick, wenn sie ihre Kiefer um die Kehle der Beute schlössen und nichts mehr kannten außer dem Geruch von Blut. Bridei fand sich direkt am Rand dieses schrecklichen Angriffs, wo er Schwerthiebe mit einem breitschultrigen Krieger aus Dalriada austauschte, während Fokel neben ihm einen Gefangenen brutal festhielt, ihm den Arm auf den Rücken drehte und ihn vor sich auf die Knie zwang. Fokel hielt dem Gefangenen das Messer vor die Augen. Brideis Angreifer war ein kräftiger Mann mit einem Lederhelm, sein Haar so rot und wild wie das Feuer, das nun hinter ihm sein Heim und seine Familie verschlang. Bridei sah seinem müden Gesicht an, dass es ihm egal war, ob er leben oder sterben würde. Dennoch, er kämpfte finster weiter, und da er größer und breiter war als Bridei, bestand der einzige Vorteil, den er nicht auf seiner Seite hatte, in jugendlicher Beweglichkeit. In Brideis Hinterkopf war das Feuer, die Notwendigkeit, die Frauen und Kinder herauszuschaffen, bevor es zu spät war. Talorgen sollte den Befehl geben. Er sollte Männer dort hinaufschicken. Wenn er das nicht bald tat, würden alle sterben, und die Priteni würden sich als ebenso barbarisch erweisen wie ihre Feinde... »Ah!« Bridei keuchte, als Schmerz durch seinen Oberschenkel zuckte; das Schwert seines Gegners hatte ihn getroffen, und er geriet ins Taumeln. Der Gäle hob die Waffe abermals, zielte diesmal nach Brideis Hals. Bridei hielt sich nicht mit Denken auf. Er warf sich zur Seite, duckte sich, drehte sich um und stieß fest zu. Es war vorbei, ehe der Mann auch nur blinzeln konnte. Der Krieger fiel nach vorn, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht und Brideis Schwert bis zum Griff in seiner Brust. Bridei kniete schwer atmend am Boden; er rollte den toten Mann herum und zog die von Blut glitzernde Waffe he- 362 raus. Er streckte den Arm aus, um die Klinge auf Gras abzuwischen, das bereits von allen erdenklichen unaussprechlichen Dingen bedeckt war. In diesem Augenblick sah er einen Mann, der hinter Fokel vom Boden aufstand, einen Mann, in dessen Hand sich eine Stachelkeule befand, die jeden Augenblick mit gewaltiger Wucht auf dem Kopf des Fürsten landen würde. Bridei sprang. Er stieß gegen Fokel, und beide fielen zu Boden und waren außer Reichweite. Die Keule krachte fest auf den Galen, der Fokels Gefangener gewesen war, den Mann, der sich einen Augenblick zuvor der Spitze eines Messers gegenübergesehen hatte. Das Messer würde nicht mehr nötig sein; die Keule hatte ihm den Schädel zerschmettert. Bridei lag auf Fokel, mit dem Gesicht im Blut und Schlamm des Schlachtfelds. Er holte tief Luft, spürte, wie sein Herz raste, und versuchte, es zu beruhigen. Er kam auf die Beine, alle Knochen taten
ihm weh, und er streckte Fokel die Hand hin. Der Gäle mit der Keule, der einen seiner eigenen Leute getötet hatte, lag am Boden, aufgespießt von nicht weniger als drei Priteni-Speeren. »Die schwarze Krähe steh uns bei!«, stotterte Fokel, als er auf die Beine gekommen war und den Dolch aufgehoben hatte, der ihm aus der Hand gefallen war. »Du junger Narr! Hast du vollkommen den Verstand verloren?« Bridei sah ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Der Kampf schien sich von ihm zu entfernen; durch den dichten Rauch konnte er Männer sehen, die immer noch in ihrem eigenen Albtraum gefangen waren, aber nun fand offenbar eine allgemeine Bewegung den Hügel hinauf zur brennenden Siedlung statt. Er konnte Morleos tiefe Stimme hören, die Befehle brüllte, und sah die Fahne von Fortriu, weiß mit den königlichen Symbolen in Blau, hoch über einer Menge jubelnder Männer. »Hast du nicht das Messer in meiner Hand gesehen? Um Haaresbreite hättest du das im Hals gehabt!«, knurrte Fokel, - 363 steckte sich die Waffe in den Gürtel und versetzte dem toten Galen noch einen Tritt. »Wer hat dir das Kämpfen beigebracht, ein Wahnsinniger?« Bridei lächelte. »Ein Mann namens Donal. Er ist so weit vom Wahnsinn entfernt, wie man nur sein kann.« »Wie heißt du, Junge?« Fokel war ein Mann, der niemals freundlich aussehen würde; sein Gesicht war wie das eines wilden Tiers, misstrauisch und gefährlich selbst in Augenblicken der Ruhe. Dennoch, es kam Bridei so vor, als sei der Anführer nicht unzufrieden, so barsch seine Worte auch klangen. »Bridei, Sohn des Maelchon. Ich bin der Pflegesohn von Broichan, dem Druiden des Königs.« »Broichan, wie?« Fokel kniff die Augen zusammen. »Das erklärt es vielleicht. Kein Glücksfall, sondern ein kalkuliertes Risiko. Ich sehe, man muss dich im Auge behalten, junger Bridei.« »Herr.« Bridei verbeugte sich höflich. Fokel starrte ihn an und brach dann in Gelächter aus. »So gute Manieren und so unbesonnen im Kampf! Du bist wirklich etwas Besonderes. Bist du sicher, dass du dich nicht den wilden Männern von den Fünf Schwestern anschließen willst, Junge? Nein, nein, du brauchst nicht nach einer höflichen Antwort zu suchen - dein Druide hat zweifellos andere Pläne für dich. Und jetzt sollten wir uns bewegen. Es sieht aus, als wäre der Kampf hier zu Ende, und ich möchte hinter dieser Palisade sein, bevor zu viele andere da sind; wir müssen das Feuer löschen und die Ordnung wieder herstellen.« Er begann, den Hügel hinaufzustapfen, und schaute dabei noch einmal über die Schulter. Einen Augenblick später folgte Bridei ihm. Die Schlacht schien vorüber zu sein. Und nun fing er an, sich wirklich sehr seltsam zu fühlen. »Ich schulde dir einen Gefallen, Pflegesohn des Druiden«, sagte Fokel. »Lass es mich wissen, wenn der Zeitpunkt ge- 364 kommen ist. Der Fürst von Galany zahlt stets seine Schulden.« Bridei hätte beinahe etwas Höfliches gesagt wie: Keine Ursache oder Das ist nicht notwendig, aber dann nickte er nur und ging weiter. Das hier war ein Pakt unter Männern; nicht zu akzeptieren wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Später fiel Bridei auf, dass es nicht der Kampf selbst war, der sich so schwer verarbeiten ließ; der war in einem Nebel aus wilden, chaotischen Taten vorübergegangen, aus Entscheidungen, die so schnell getroffen werden mussten, dass es kaum Zeit gegeben hatte, darüber nachzudenken, was sie bedeuteten; ein Wirbelwind aus Zeit, klopfendem Herzen und keuchendem Atem, hin und her gerissen zwischen dem kalten Schweiß äußersten Entsetzens und der berauschenden Begeisterung, die auf der anderen Seite der Angst liegt. Die grausigen Bilder waren immer noch irgendwo in seinem Kopf und würden ihn zweifellos in seinen Träumen heimsuchen. Er hatte sie inmitten von allem wahrgenommen, und dann einfach weitergemacht. Der schwierigere Teil kam, als der Kampf vorüber war, als das Herz wieder langsamer schlug und der Atem ruhiger wurde. Nun kehrte der Geist zu sich selbst zurück, und die Augen begannen, mit Ruhe und Überlegung zu sehen. Erst jetzt, als er durch die Überreste der Siedlung von Galanys Höhe ging, erkannte Bridei, was Krieg wirklich bedeutete. Morleos Männer löschten das Feuer. Sie hatten einen großen Teil der brennenden Palisade niedergerissen und demolierten die Hütten, die sich dahinter drängten; Wasser wurde in Eimern herangeschleppt, Männer standen in einer Reihe, um sie weiterzureichen, während andere nach den Flammen schlugen oder Erde darauf schaufelten, um sie zu ersticken. Hier und da lagen Decken über reglosen Gestalten im Gras; unter einer davon ragte ein kleiner, nackter Fuß hervor. Es waren jetzt auch Männer von Talorgen hier; Bridei sah einen jungen Mann, mit dem er in Rabenbrunn Übungs- 365 kämpfe ausgefochten hatte, vornübergebeugt dasitzen, die Hände vors Gesicht geschlagen und von wildem Zittern geschüttelt, als hätte er ein Fieber. Neben ihm hockte der große, kräftige Breth, seine ruhige Stimme ein Kontrapunkt zu dem hilflosen Schluchzen des jungen Mannes. Es hatte angefangen zu nieseln; bald schon würde das Feuer gelöscht sein. Morleos Männer arbeiteten ordentlich und diszipliniert weiter. Geds Krieger befanden sich noch vor den Toren und erledigten den letzten Widerstand. Ein paar von Talorgens
Leuten hatten angefangen, das Schlachtfeld nach ihren Verwundeten zu durchsuchen. Einige waren sicher schon heraufgeschickt worden, um Frauen, Kinder und alte Männer aus der Siedlung zu schaffen, Gefangene zu nehmen und mit dem letzten Widerstand hinter den Palisaden fertig zu werden. Bridei folgte Fokel durch das zersplitterte Tor in die Siedlung, wo es durch den Rauch seltsam dunkel war, die Luft schwer von Partikeln schwebender Asche und glühende Funken. Es schien möglich, dass trotz des Regens hier und da das Feuer wieder aufflackern könnte; einige Häuser waren aus Stein gebaut, aber viele waren nur Hütten aus mit Schlamm bestrichenem Geflecht, und es hatte sich bereits gezeigt, wie heftig diese Palisaden brennen konnten. Die Wege zwischen den Häusern waren eng und aus gestampfter Erde; hier und da gackerten Hennen hysterisch und Schweine fügten ihren eigenen lautstarken Protest hinzu. Nun waren keine Frauenstimmen mehr zu hören und auch nicht die von Kindern, nur die Rufe von Morleos Männern, die sich um das Feuer kümmerten, und weiter in der Ferne tödlichere Laute von hinter der Palisade, wo selbst jetzt noch die Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder von Galanys Höhe starben. Nein, was er da tat, war falsch. Was hatte Donal gesagt? Man durfte sich nicht erlauben, so zu denken. Wenn man den Feind als Menschen sah, als einen Mann, wie man es selbst - 366 war, konnte man sich nie dazu überwinden, ihm ein Messer in den Bauch zu rammen. Und wenn man das in der Hitze der Schlacht nicht tun konnte, verlor man. Dann war man selbst derjenige, der starb, und mit der Zeit würde auch alles sterben, was einem wichtig war. Also musste er Söhne, Brüder, Väter vergessen. Nur »der Feind« denken. Sich daran erinnern, dass sie den Magierstein gestohlen hatten und verdienten zu sterben. Es gelang Bridei, sich das so lange vor Augen zu führen, bis sie eine Abzweigung erreichten. »Du rechts, ich links«, sagte Fokel. »Halte nach Überlebenden Ausschau. Die ganze Siedlung könnte niederbrennen, Morleo oder nicht. Schaff alle, die du findest, vor das Tor, solange noch Zeit ist. Wenn ihr Anführer noch lebt, gehört er mir.« Nur für den Fall, dass daran auch nur der geringste Zweifel bestand, fletschte er die Zähne zu einem wilden Grinsen und machte eine scharfe Geste mit den Fingern über seine Kehle. Dann eilte er nach links und verschwand im Rauch. Der Weg nach rechts schien verlassen zu sein. Bridei ging vorsichtig weiter, das Schwert in der Hand, denn er wusste, dass eine solche Patrouille eigentlich von mindestens zwei Männern durchgeführt werden sollte, besser von vieren: einer, der die Türen aufbrach, einer, der ihm dabei Deckung gab, und zwei, die mit gezückten Waffen abwarteten, was auftauchen würde. Allein würde er keine Türen aufbrechen. Stattdessen schlug er gegen eine nach der anderen und rief: »Raus! Schnell! Feuer!«, und dankte dabei in Gedanken seinem alten Lehrer Wid für die wenigen gälischen Worte, die er ihm beigebracht hatte. Keine Spur von Leben. Wenn nur fadenscheinige Vorhänge in den schmalen Eingängen hingen, zwang er sich, sie beiseite zu ziehen, hineinzuschauen und in den dunklen Räumen nach Frauen oder Kindern Ausschau zu halten, die sich dort versteckten. Er fand keine. Er ging weiter, das Herz - 367 von einer wachsenden Unruhe beschleunigt, die wenig damit zu tun hatte, dass er sich an einem Ort befand, wo vielleicht gut bewaffnete Galen auf ihn warteten, und erheblich mehr mit den Instinkten eines Mannes, der von einem Druiden ausgebildet worden war. Etwas stimmte hier nicht, das spürte er. Er bog um eine Ecke und fand sich auf einer offenen Fläche wieder, einem Versammlungsplatz, um den sich bescheidene Gebäude drängten. Über allem hing Rauch, aber Bridei konnte einen Pflaumenbaum sehen, der gerade angefangen hatte zu blühen, und daneben ein Kreuz aus Stein mit schlangenartigen Mustern darauf. Dahinter hörte er Männer lachen und in seiner eigenen Sprache sprechen, und er sah Bewegungen, die halb vom Rauch verborgen waren. Bridei ging weiter, vorbei an dem Kreuz, und blieb abrupt stehen. Die Frauen und Kinder, die sich in diesen jämmerlichen kleinen Hütten versteckt hatten, waren jetzt alle hier, an eine Wand gedrängt, und drückten sich gegeneinander, um einem Halbkreis von Priteni-Waffen zu entgehen, die auf sie zielten. Eine junge Mutter hielt ein weinendes Baby im Arm, das Gesicht in Angst und Zorn verzerrt. Eine alte Frau hockte am Boden und umarmte zwei weinende Kleinkinder. Andere standen schweigend und bleich da. Bridei starrte die Szene ungläubig an. Die Männer, die sie hierher getrieben hatten und nun mit Speeren bedrohten, waren nicht Fokels wilde Krieger, denen er alles zugetraut hätte. Es waren nicht Gads bunt gekleidete Leute und nicht die Männer von Morleo von Langwasser; nein, die waren alle mit dem Feuer beschäftigt. Dies hier waren Talorgens Leute. Und obwohl ihre Waffen auf ihre jämmerlichen Gefangenen gerichtet waren, waren es nicht diese Galen, auf die die Krieger ihre Aufmerksamkeit konzentrierten. Nicht weit entfernt hatten zwei Priteni-Krieger eine junge Frau an die Wand gedrückt, und ein dritter, der seine Hose heruntergelassen hatte, nestelte an - 368 ihrem langen Rock herum. Noch mehr standen hinter ihm und sahen grinsend zu. Empörung erfüllte Bridei: Er packte sein Schwert fester und öffnete den Mund, um irgendetwas herauszuschreien, er wusste nicht was, eine Reihe von Flüchen, einen Befehl, etwas, worauf sie zweifellos nicht reagieren würden, denn er war jung, unbekannt, hatte keine Stellung bei ihnen. Einen Augenblick später machte sich Broichans Ausbildung bemerkbar, zusammen mit der von Donal, und kalte Ruhe überkam ihn. Er trat vor, die Waffe in der Hand. »Bei allem, was heilig ist«, sagte er und spürte in seiner Stimme ein kleines Echo der Macht, die Broichan bei
den großen Ritualen heraufbeschwor, eine Tiefe, die aus Reichen außerhalb des Menschlichen kam. »Im Namen der Leuchtenden und der Schwüre, die ihr abgelegt habt, eurem König mutig und wahr zu dienen, lasst diese Frau sofort los!« Er ging auf den halb nackten Soldaten zu und hob das Schwert. »Hör auf! Ist das eines wahren Kriegers des Flammenhüters würdig? Ihr beiden, lasst sie los!« Der Mann trat zurück, die Wangen glühend, vielleicht vor Scham, vielleicht auch nur, weil er keine Gelegenheit erhalten hatte zu tun, was er wollte. Die Männer, die die Frau festgehalten hatten, ließen ihre Arme los, und sie sackte zusammen und schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie das unsichtbar machen. »Wofür hältst du dich eigentlich?«, rief einer der Männer, die weiter hinten gestanden hatten, herausfordernd. »Für einen selbst ernannten Anführer?« »Die da sind Abschaum«, sagte ein anderer. »Wozu sonst sollten sie gut sein?« »Stimmt«, sagte der Erste. »Es ist lange her, Druidenjunge. Aber ich nehme an, von solchen Dingen weißt du nichts. Bist kaum aus den Windeln. Du solltest uns dabei zusehen, vielleicht kannst du etwas lernen ...« »Das reicht jetzt!« Brideis Stimme war nun leiser, aber es - 369 lag etwas darin, das die anderen zum Schweigen brachte. »Ihr wisst, dass es falsch ist. Es verhöhnt die Tapferkeit eurer Kameraden auf dem Schlachtfeld; es beschämt all unsere Männer, die gefallen sind. Die Leuchtende würde mit Entsetzen darauf hinabschauen; ihr könnt nicht behaupten, in ihrem Namen zu kämpfen, wenn ihr solche Dinge tut.« Er streckte der hockenden Frau die Hand entgegen, weil er ihr aufhelfen wollte. Sie hob den Kopf und spuckte ihn an, und in ihren rot geränderten Augen stand Hass. Er fragte sich, wie viele sie missbraucht hätten, vor den Augen ihrer Freundinnen, ihrer Mutter, ihrer Kinder vielleicht, wenn er nicht rechtzeitig gekommen wäre. »Ihr werdet diese Leute nicht mehr anrühren. Talorgens Befehle lauteten, Gefangene zu machen, nicht sie zu misshandeln«, sagte er. »Es sind viele von euch hier, mehr als genug, um diese Leute sicher vor die Siedlung zu bringen. Tut das jetzt, und geht davon aus, dass ich eurem Anführer darüber Bericht erstatten werde, was geschehen ist. Wenn diesen Frauen noch etwas zustößt, wird er erfahren, wer daran beteiligt war.« Hinter einer Hütte wurde es nun unruhig. Als Bridei sich umdrehte, sah er zwei Männer herauskommen, die eine weitere Gälin mit sich zerrten. Die beiden lachten und machten anzügliche Bemerkungen. Die Gefangene war ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren, ein dünnes Kind in einem formlosen, ausgebleichten Hemd. Ein Mann hielt ihren dürren Arm in einem Knochenbrechergriff, der andere hatte die Finger in ihrem langen dunklen Haar und riss sie mit. Der wirbelnde Rauch verbarg seine Züge, aber sein Anblick, seine Haltung, sein Gang verursachten Bridei ein unerklärliches Schaudern. Ohne die Worte wirklich zu verstehen, wusste er, worüber die Männer witzelten. Das Mädchen war so bleich wie sein abgetragenes Hemd, ihre Augen starr vor Entsetzen. Bridei musste plötzlich an Tuala denken, und der Stich ins Herz, den ihm das verursachte, drohte, ihn ganz - 370 und gar wehrlos zu machen; was war das für eine Welt, in die er plötzlich geraten war? »Lasst sie los!«, fauchte er, eilte zu den Männern und benutzte den Griff seines Schwerts, um einem der Männer einen festen Schlag auf den Unterarm zu versetzen. Der Mann heulte auf und ließ das Haar des Mädchens los. Als der andere zum Widerspruch ansetzte, traf Brideis linke Faust ihn am Kinn; es war ein Schlag, den er so manchen Morgen mit Donal bis zur Perfektion geübt hatte. Der Mann fiel nach hinten, und die Gefangene war plötzlich frei. Sie fuhr herum, ganz knochige Beine und wehendes Haar, und floh in die Richtung, aus der sie gekommen war. Bridei zwang sich, wieder hinzuschauen, und sah den Mann, dessen Arm er beinahe gebrochen hatte, einen der Verbrecher, die dieses Kind hatten misshandeln wollen, und erkannte, dass es Gartnait, Sohn des Talorgen war, sein Freund Gartnait. Es war nicht nötig, noch mehr zu sagen; vielleicht hätte er es in diesem Augeblick ohnehin nicht tun können. Fokels Männer kamen nun auf den Platz. Bei ihrem Anblick wurden die Frauen noch bleicher und versuchten, ihre Kinder mit ihren eigenen Körpern zu schützen. Es war etwas Unheimliches an diesen Kriegern; jede ihrer Bewegungen kündete von Gefahr. Fokel gab ein paar knappe Befehle; alle Männer, seine eigenen und die von Talorgen, gehorchten sofort. Die Gefangenen wurden weggeführt, die Waffen nun in einigem Abstand, aber immer noch blank; es hieß, die Frauen von Dalriada könnten ebenso leidenschaftlich kämpfen wie ihre Männer. Wer wusste schon, ob eine nicht die Gelegenheit nutzen würde, um zu fliehen oder ein Messer zu packen und zuzustechen? In dem Wirbel von Rauch mischten sich die Krieger der unterschiedlichen Truppen, und andere kamen hinzu. Nun war Talorgen selbst hier und berichtete, dass das Feuer beinahe gelöscht war und sie den Anführer der Galen gefangen genommen hatten, und er erinnerte sie daran, dass es keine Plünderung geben würde und jene, die keine Krie- 371 ger waren, nicht verletzt werden durften. Die Männer nickten zustimmend, alle nickten, und man sah ihnen nicht an, dass es hier einen unschuldigen Mann gab, dort einen Frauenschänder, hier einen mutigen Kämpfer, dort einen Burschen, der vorgehabt hatte, ein Kind zu missbrauchen. An der Oberfläche sahen sie alle gleich aus. Nur die Götter wussten, was in ihren Herzen vorging. An diesem Abend, als Talorgens siegreiche Streitmacht an ihren kleinen Feuern saß, die Freude am Sieg gedämpft von Erschöpfung, Wunden und dem Verlust so vieler Kameraden auf dem Schlachtfeld, wurde Bridei von einer machtvollen Sehnsucht erfüllt, oben auf der Adlernarbe zu sitzen und ins Große Tal hinabzuschauen,
mit der Sonne im Gesicht und dem Wind im Haar, und keinen Laut zu hören außer den hohen, reinen Schreien der Vögel. Tuala würde bei ihm sein, klein und still an seiner Seite. Er würde die Schönheit der Landschaft in sich aufnehmen, ihre wilde Freiheit, ihre karge Lieblichkeit. Und dann würde er seine Geschichte erzählen können und weinen. Sie würde zuhören, die großen Augen ernst und weise, sie würde wissen, was zu sagen war. Dann konnte er vielleicht anfangen, einen Weg durch all dies zu finden. »Bist du in Ordnung, Bridei?« Donal war leise näher gekommen und setzte sich nun neben ihn, um an einem Knochen zu nagen. Es hatte viel Vieh gegeben, das sie schlachten konnten, Schweine und Gänse; nach dem langen Weg durch das Tal bei knappen Rationen war das ein Festessen. Sie hatten die Bierfässer geöffnet, die sie in der Siedlung gefunden hatten, aber die Stimmung war nicht fröhlich. Die Leichen ihrer gefallenen Kameraden lagen unter Decken und warteten darauf, begraben zu werden. Die Leichen der Feinde waren hoch aufgehäuft, inmitten von Stapeln aus Zweigen und Farnkraut. Am Morgen würde hier ein neues Feuer brennen. Bridei nickte, weil er seiner Stimme nicht so recht traute. »Nein, das bist du nicht«, sagte Donal. »Es wird eine Wei- 372 le dauern. Wie ich schon sagte, beim ersten Mal ist es am schlimmsten. Die Männer reden über dich.« Bridei kniff den Mund zusammen. Gartnait hatte bereits versucht, mit ihm zu sprechen, ein Gartnait voller Geschichten über ein Missverständnis, über eine schlichte Gefangennahme, die Bridei ungerechterweise als etwas anderes interpretiert hatte. Darauf war etwas zwischen einer Bitte und einer Drohung gefolgt: wenn Talorgen jemals von Brideis Version der Ereignisse erfahren sollte, würden die Dinge zwischen Gartnait und Bridei nie wieder wie früher sein. Bridei hatte ihm den Rücken zugewandt. Was konnte er sagen? Die Dinge waren ohnehin nicht mehr die gleichen. Schon der Klang der Stimme seines Freundes bewirkte, dass ihm übel wurde. Er konnte sich vorstellen, was die anderen Männer über ihn sagten: junger Emporkömmling, der sich aufspielte, wofür hielt er sich eigentlich, für den persönlichen Botschafter des Flammenhüters? Und was die anderen Bemerkungen anging, die über Frauen und was er mit ihnen getan oder nicht getan hatte, davon würde er sich nicht durcheinander bringen lassen. Seine Ansicht über Angelegenheiten des Schlafzimmers konnte er nicht einmal seinen Freunden erklären; solche Männer würden ihn für einen Dummkopf halten. Nur Donal wusste die Wahrheit, da Erklärungen nötig gewesen waren, um Verlegenheit zu vermeiden. Donal kannte viele willige Frauen, eine in jeder Siedlung entlang des Sees, und einige von denen hatten Freundinnen. Statt weiterhin gut gemeinte Einladungen abzulehnen, hatte Bridei schon früh, um die Zeit seines vierzehnten Geburtstags, erklärt, wie er dachte. Er erinnerte sich deutlich daran. Sie waren gerade von einem Ritt im Wald oberhalb von Pitnochie zurückgekehrt, nur er und Donal, und hatten sich im Stall um Glückspilz und Schneefeuer gekümmert. Niemand war in der Nähe gewesen. Donal hatte wieder eins seiner Angebote gemacht: Bridei sollte mit ihm in die Siedlung in der Nähe kommen, und eine gewisse liebenswerte, - 373 großzügige junge Frau wäre nur zu willig, ihm ein paar Dinge beizubringen, die er nun vielleicht lernen sollte. Dies war recht zurückhaltend vorgebracht worden; es war klar, dass Donal ihn nicht bedrängen wollte. »Danke«, hatte Bridei damals ein wenig förmlich gesagt. »Aber ich kann nicht. Noch nicht.« »Du kannst nicht?«, hatte Donal wiederholt. »Was versuchst du mir da zu sagen, Junge?« Bridei hatte sich bemüht, nicht verlegen zu erröten, obwohl Donal sein bester Freund war. »Nicht was du denkst. Nicht, dass ich zu jung wäre, um... dazu in der Lage zu sein. Oder dass ich etwas gegen solche Aktivitäten hätte.« »Aber?« »Ich habe ein Gelübde abgelegt. Ein Versprechen. An den Flammenhüter. Es hatte zu tun mit...« Es war nicht möglich gewesen, zu genau zu sein; hier ging es um Vermutungen, um Spekulation, um diese Sache, die niemand im Haushalt ihm so recht verraten wollte. »Es hat damit zu tun, die Zukunft so gut ich kann vorzubereiten«, sagte er, denn das entsprach durchaus der Wahrheit, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. »Es kommt mir so vor, als müsse ich größte Loyalität gegenüber den Göttern wie auch perfekte Selbstdisziplin üben. So perfekt ich es eben kann. Ich habe feierlich geschworen, dass ich nicht bei einer Frau liegen werde bis zu dem Tag des Händereichens. Dass ich es nur im Ehebett tun werde. Ich will damit ebenso der Leuchtenden Respekt erweisen, da alle Frauen Spiegelbilder ihrer Reinheit sind, wie dem Flammenhüter, der Kraft und Selbstbeherrschung bei einem Mann schätzt. Also kann ich nicht mit dir in die Siedlung gehen.« »Ah ja«, hatte Donal gesagt, offenbar nicht überrascht. »Und wer hat zugehört, als du das geschworen hast?« »Nur die Götter.« »Ah ja.« Donal hatte wieder angefangen, Glückspilz zu striegeln, und das war alles gewesen. - 374 »Es heißt, dass du heute mindestens einem Mann das Leben gerettet hast.« Donais Stimme brachte Bridei wieder in die Gegenwart zurück. »Es heißt, wenn du nicht gewesen wärst, wäre Fokel von Galany heute Abend nicht mehr hier, um das Land wieder zu beanspruchen, für das sein Vater gestorben ist. Das hast du gut gemacht, Bridei. Du warst mutig, Sohn. Wie geht es deinem Bein?« Bridei warf einen Blick nach unten. Die Wunde war nun mit Leinen verbunden, gesäubert und behandelt von Talorgens eigenem Wundarzt. Er konnte sich kaum mehr erinnern, wie er zu diesem Schnitt im Bein gekommen war. »Er wird das Land nicht wiederbekommen«, sagte er. »Nur einen oder zwei Tage, dann müssen wir
umkehren. Es wird schwer für ihn sein, bis hierher zu kommen und das Land dann wieder verlassen zu müssen.« Donal sah ihn an. »Wir werden ein Ritual veranstalten«, sagte er. »Das wurde beschlossen. Ein symbolischer Sieg, eine Weihung an die Götter.« »Ich denke nicht, dass wir das tun sollten«, sagte Bridei. »Nicht jetzt. Nicht nach dem, was geschehen ist. Die Leuchtende kann auf uns nur noch in Scham und Trauer herabschauen.« Donal ließ sich nicht anmerken, ob ihn das überraschte, und er stellte auch keine Fragen. »Dennoch«, sagte er, »es sollte etwas geben. Ein Zeichen des Siegs, der Hoffnung. Was immer du gesehen hast, was immer du davon hältst, unsere Männer haben hier heute tapfer gekämpft, Bridei, sie haben gekämpft, und viele sind im Namen von Fortriu und von Drust dem Stier gestorben. Und Fokels Vater hat gekämpft und ist gefallen, und zahllose andere mit ihm, als die Galen zum ersten Mal nach Galanys Höhe kamen. Ganz gleich, wie du empfindest, wir sollten nicht davongehen, als wäre das Opfer unserer Kameraden Grund, uns zu schämen.« Bridei schwieg. »Und immerhin«, sagte Donal, »hast du eine Lösung ge- 375 funden. Eine verrückte Lösung, aber Fokel ist schließlich auch irgendwie verrückt. Wirst du ihm deinen Vorschlag unterbreiten?« Bridei antwortete nicht. In dieser so veränderten Welt schien es keinen Platz mehr für heldenhafte Pläne zu geben, für Gesten, die dazu gedacht waren, das Herz zu erheben. In dieser Welt wandelte die Finsternis und trug ein Menschengesicht. »Bridei«, sagte Donal. »Sag es mir, komm schon. Es geht nicht um das, was ich dachte, oder? Es geht nicht um den Kampf, sondern um etwas anderes. Sag es mir, Sohn.« »Ich bin kein Kind mehr«, fauchte Bridei. »Wenn es ein Problem gibt, dann überlass es bitte mir, es selbst zu lösen. Wer bist du, mein Kindermädchen?« Er schlug die Hände vors Gesicht, als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte, deren Gereiztheit seine Worte Lügen strafte. »Ich bin dein Freund.« Donal blieb ruhig; er verurteilte ihn nicht für seinen Ausbruch. »Die Männer, einige von ihnen«, begann Bridei, »sie wollten - ich habe sie in der Siedlung überrascht, bevor Fokels Leute eintrafen. Sie wollten - sie haben die Gefangenen verängstigt, haben sie bedroht, und ...« »Du solltest mir lieber alles erzählen, nachdem du schon angefangen hast.« »Sie wollten eine Frau vergewaltigen. Ich habe es gesehen. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, hätten sie es getan. Und ...« Nein, das genügte. Es war mehr als genug. »Wer war es?«, zischte Donal. »Hast du sie erkannt? Kennst du ihre Namen?« Bridei schluckte. Er hatte mehrere Gesichter erkannt, aber es war das von Gartnait, das er nicht vergessen konnte, Gartnait, in dessen Augen keine Scham und kein Bedauern stand, sondern Zorn, Ablehnung, Herausforderung. Gartnaits Stimme, hin und her gerissen zwischen lügenhaften Ausreden und der Bitte, ihn nicht vor seinem Vater zu beschämen. - 376 »Talorgens Männer«, sagte er. »Ich werde ihre Namen nicht nennen. Es ist zu spät, um es bei denen, die verletzt wurden, noch ungeschehen zu machen, und die Gefangenen sind nun in Sicherheit.« Geds Leute hatten es übernommen, die Frauen und Kinder zu bewachen, bis die Frage der Geiseln gelöst war. Der feindliche Anführer befand sich in Ketten bei Fokels Leuten. Seine Männer waren tot; alle, die nicht im Kampf gefallen waren, hatte man hingerichtet. Eine größere Truppe von Kriegern das Tal entlangzuführen, hielt man für zu gefährlich, und niemand hätte je daran gedacht, sie freizulassen. »Das solltest du aber«, sagte Donal grimmig. »Talorgen würde es von dir erwarten. Du weißt, was er davon hält, wenn die Disziplin gebrochen wird. Ganz gleich, ob das hier elende Gälinnen sind, kaum besser als ihre von allen guten Geistern verlassenen Männer, oder nicht.« Bridei schwieg einen Augenblick. Eine unausgesprochene Frage schien in der Luft zu hängen. »Ich glaube, Talorgen wird diese Namen nicht hören wollen«, sagte er schließlich. »Ich habe ihnen klar gemacht, dass ich es ihm sagen würde, falls ich noch einmal davon höre, dass jemand Hand an die Gefangenen legt. Und das werde ich auch tun.« »Ah ja?« »Ja. Ich habe es gesagt, und ich meinte es ernst. Aber ich hoffe, dass ich es nicht tun muss. Donal?« »Mhm?« »Ich habe mir heute neue Feinde gemacht. Diese Männer lehnten ab, was ich getan habe. Unsere eigenen Männer.« »Sie hätten es auch abgelehnt, wenn Ged es getan hätte, oder Morleo oder Talorgen selbst. Diese Männer hatten lange Zeit keine Frau, Bridei. Sie glauben wohl irgendwie, dass es ihnen deshalb zusteht, sich an die Gefangenen zu halten.« »Es ist eine seltsame Haltung, eine Frau nur als einen Gegenstand zu betrachten, den man sich nimmt, und sich so von den Bedürfnissen des Körpers überwältigen zu lassen, - 377 dass man sie sogar um einen solchen Preis befriedigen muss. So etwas stellt sicher die bitterste Beleidigung der Leuchtenden dar.«
Donal sah ihn fragend an. »Wir verfügen nicht alle über deine druidische Disziplin«, stellte er schließlich fest, »und über dein Ausmaß an Selbstbeherrschung. Das da sind einfache Leute, Bridei. Sie sehen die Dinge in Schwarz und Weiß. Es ist erheblich einfacher.« »Im Kampf vielleicht«, sagte Bridei und erinnerte sich an die kalte Ruhe, die ihn den Hügel hinaufgetragen hatte, die automatische Abfolge von Verteidigungs- und Angriffsbewegungen, die ihn für kurze Zeit zu einem wirkungsvollen und leidenschaftslosen Kriegswerkzeug gemacht hatte. »Aber so kann man doch nicht leben! Männer, die trotz der Götter solche Dinge tun. Wenn ich ein Anführer wäre, würde ich nicht wollen, dass solche Männer mir folgen.« »Sie haben dir heute gehorcht«, sagte Donal. »Wenn sie aufgehört haben, als du eingeschritten bist, haben sie dir gegen ihren Willen gehorcht.« »Sie haben es mit bitteren Blicken und höhnischen Bemerkungen getan.« »Du bist jung, das macht es schlimmer. Es gibt Männer, die die Wahrheit nicht von einem hören wollen, der so viel jünger ist als sie selbst, ganz gleich, wer er ist.« Sie saßen noch eine Weile länger zusammen, während die kleinen Feuer langsam niederbrannten und sich die Männer in der Nähe zum Schlafen niederlegten, weil Erschöpfung und volle Bäuche ihren Preis forderten. An diesem Tag hatten die Priteni gesiegt, und bald schon würde sich diese Nachricht überall in Dalriada ausbreiten und Furcht im Herzen der Feinde bewirken. Bridei fragte sich, ob Krieg immer so war. Vielleicht fühlte sich selbst der triumphierendste, der reinste, der edelste Sieg immer noch in so mancher Hinsicht wie eine Niederlage an. Ein wenig später, als Donal neben ihm eingeschlafen war, - 378 sah Bridei einen Mann, der den Hügel hinauf hinter die Siedlung ging, eine brennende Fackel in der Hand. Er stand auf, wickelte sich in seinen Umhang und folgte dem Mann. Der andere benutzte den gewundenen Weg, der zur Hügelkuppe führte, wo der große Stein zwischen seinen Schutzbäumen stand. Es war ein rascher Aufstieg, aber der Hang war ebenmäßig und es gab keine großen Felsen oder Büsche, nur Wiese. Als Bridei das Ende des Wegs erreichte, sah er den anderen am Magierstein stehen, und das Licht der brennenden Fackel zeigte das kunstvolle Muster von Konflikt, Triumph und Tod in seiner ganzen komplizierten Verflochtenheit. Es hätte beinahe eine Abbildung der Ereignisse dieses Tages sein können. Er sprach Fokel leise an, um seine Anwesenheit anzukündigen; sich einem solchen Mann schweigend von hinten zu nähern hätte bedeutet, sich ein Messer zwischen den Rippen einzuhandeln. Bridei ging zu ihm, die Stiefel leise auf dem Gras. Sie standen Seite an Seite, als das Fackellicht auf die Geschichte von Fokels Ahnen fiel, den wahren Beschützern von Galanys Höhe. »Ich hatte schon befürchtet, diesen Stein niemals als Erwachsener sehen zu können«, sagte Fokel mit seltsam belegter Stimme. »Dass die Götter mir keine Möglichkeit gewähren würden, ihn zu sehen: dieses Zeichen des heiligen Bundes, für den mein Vater starb, und meine Onkel, und so viele andere Verwandte. Ich war erst drei Jahre alt, als die Galen unser Land eroberten, zu klein, um zu verstehen, was wir verloren haben. Hier, nimm die Fackel. Lass mich die andere Seite sehen.« Schweigend umkreisten sie den Monolithen; er war tatsächlich beeindruckend, ein massives Ding, höher als der größte Mann und beinahe zwei Handspannen dick. Er musste auch tief in der Erde stecken, dicht am Herzen der Knochenmutter, um sich so fest ans Land klammern zu können. Sie betrachteten das ausgelassene Muster auf der Südseite, - 379 Geschöpfe von Erde und Meer, Bach, Hügel und Waldland, Schlucht und Höhle und des weiten, offenen Himmels. In dieser wilden Schöpfung war auch irgendwie Brideis eigene Vorstellung eingefangen, in der er auf einem Hügel stand, mit dem klaren Blick eines schwebenden Adlers ins Tal sah und dabei dennoch den Herzschlag von Fortriu unter seinen Füßen spürte. Und obwohl er nicht vorgehabt hatte, es zu sagen, obwohl die Ereignisse des Tages immer noch so schwer auf ihm lasteten, dass es kaum Platz für etwas anderes gab, sprach er es aus: »Wir sollten ihn mitnehmen.« »Was?« Aus Fokels Ton wurde klar, dass er es nur halb gehört und überhaupt nicht verstanden hatte. »Wir können den Stein nicht hier lassen; das käme einem Eingeständnis der Niederlage gleich. Wir wissen, dass wir mit der Streitmacht, die wir haben, Galanys Höhe nicht halten können. Aber wir können den Stein mitnehmen. An einen Ort, an dem die Galen ihn nicht berühren können.« »Du bist wirklich verrückt.« Fokel stand neben dem Stein und lehnte die Stirn an seine hohe, kalte Form, die Handflächen auf der Oberfläche, als könnte er dadurch etwas von seiner uralten Macht in sich aufnehmen. »Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Wer bist du, ein Held aus einem Mythos der Vorzeit, der die Kraft von fünfzig Riesen hat? Du siehst, wie groß er ist, und kannst dir denken, wie viel er wiegt. Oder werden wir Druidenmagie benutzen?« Trotz dieser Worte zeigte das Fackellicht eine Veränderung in Fokels Augen; irgendwo dort im Dunkeln gab es einen Funken der Erregung, ein Zeichen der Verrücktheit, die auf Brideis verrückten Plan antwortete. »Das, und ein paar praktischere Mittel«, sagte Bridei ruhig. »Es wird viel Arbeit sein, und wir haben nicht viel Zeit. Aber wir haben eine beträchtliche Anzahl von Männern, immer vorausgesetzt, dass wir Talorgen und die anderen überzeugen können. Und ich weiß genau, wie sich das erreichen lässt.«
- 380 KAPITEL ZEHN Jetzt bist du also endlich hier«, sagte Fola. »Du bist ein so kleines Ding, es ist schwer zu glauben, dass du schon beinahe fünfzehn Jahre alt bist. Aber Broichan hat es mir bestätigt. Willkommen in Banmerren, Kind.« »Danke, Herrin.« Tuala versuchte nicht zu zeigen, wie durcheinander und wie bedrückt sie war. Es war seltsam gewesen, in dieses ungewöhnliche, von einer Steinmauer umgebene Anwesen zu kommen, mit Mädchen überall, die sie staunend ansahen, und es war regelrecht unangenehm gewesen zu hören, wie die einschüchternde Dreseida, die Folas Studierzimmer als Erste betreten hatte, sie mit den Worten »Wir haben dieses seltsame Kind aus Pitnochie mitgebracht« ankündigte. Nun waren Ferada und ihre Mutter gegangen; man hatte sie zu jenem Teil von Banmerren gebracht, wo die Töchter adliger Familien wohnten, die die geheimeren Aspekte der Ausbildung, die hier angeboten wurde, nicht brauchten. Tuala stand vor der Weisen Frau, und außer ihnen beiden war nur noch eine weitere Person anwesend, eine kurz angebundene, schroffe Frau mittleren Alters, die sich als Kethra vorgestellt hatte. So elend ihr auch zumute war, Tuala staunte über die Stille, den hellen Stein, aus dem die Gebäude gemauert waren, die kleinen Figuren, die hier und da in Nischen standen, die hängenden Girlanden aus Kräutern und die seltsam gearbeiteten Lampen. - 381 »Du darfst mich Fola nennen. Wir haben es hier nicht mit Förmlichkeit; für den Blick der Leuchtenden sind alle gleich. Bist du froh, hier zu sein, Tuala?« Diese schwierige Frage kam vollkommen überraschend. »Ich bin dankbar für die Gelegenheit, Herr... Fola.« Es fühlte sich seltsam an, die Weise Frau so anzusprechen, als wäre sie eine vertraute Freundin. So klein sie sein mochte, Fola sah eindrucksvoller aus, als Tuala sie in Erinnerung hatte: Ihr Haar, das nun nicht von einer Kapuze verborgen war, war silbrig grau und lang und in einem schweren Knoten in ihrem Nacken zusammengerollt. Um den Hals trug sie über dem weichen grauen Gewand eine Mondscheibe in einer klauenartigen Silberfassung, die an einer feinen Kette hing. Folas Augen waren so, wie Tuala sie in Erinnerung hatte: dunkel, abschätzend, intensiv; ihr Lächeln war warmherzig. Hinter ihr hatte sich auf einem Steinsims ein pechschwarzer Kater von gewaltiger Größe zusammengerollt; seine ausgefransten Ohren und die Narben im Gesicht entsprachen offenbar den Tätowierungen eines Kriegers. Er beobachtete Tuala mit halb geschlossenen Augen. »Aber?«, fragte Fola. Tuala sah sie direkt an. »Ich werde sehr hart arbeiten«, sagte sie, »und alles lernen, was ich kann. Das bin ich dir schuldig, weil du bereit bist, mich hier aufzunehmen. Und ich schulde es auch denen, die mich zuvor unterrichtet haben.« »Du bist nicht ganz ehrlich mit mir, Kind«, sagte Fola. »Ich weiß, dass du schwer arbeiten wirst. Wenn ein Mädchen dazu nicht bereit ist, wird es nicht lange in Banmerren bleiben. Kethra kann dir das bestätigen.« Sie warf einen Blick auf die andere Frau, die mit vor sich gefalteten Händen an der Seite stand und deren Lippen nun leicht zuckten, aber es sah nicht sonderlich nach einem Lächeln aus. »Du musst es mir sagen, Tuala. Wenn du irgendwelche Bedenken hast, muss ich es jetzt erfahren. Hier in Banmerren sind wir alle Die- 382 nerinnen der Leuchtenden. Sie beherrscht uns vollkommen: Körper, Herz, Verstand und Seele.« Tuala nickte. »Ich bin ihre Tochter«, sagte sie. »Ich diene ihr in allem. Wenn es ihr Wunsch ist, dass ich ihre Priesterin werde, dann werde ich mich dieser Berufung so gut zuwenden, wie ich kann. Aber es war nicht meine Entscheidung, herzukommen. Nicht wirklich meine Wahl.« Bilder drangen ihr in den Kopf: Perle im Stall, die an Tualas Hals knabberte und nicht wusste, dass es das letzte Mal sein würde; Nebel, die protestierend hinter einer geschlossenen Tür schrie, als wüsste sie, dass Tuala sie verließ; der Mond, der durch ein kleines Fenster fiel, auf dessen Fensterbank eine Adlerfeder lag. Sie warf einen Blick zu der schweigenden Kethra, die ungerührt zurückstarrte. »Du kannst uns jetzt verlassen, Kethra«, sagte Fola. »Und würdest du Odha um eine kleine Kanne von ihrem Pfefferminztee und ein wenig Honig bitten? Danke.« Kethra rauschte hinaus, gerade aufgerichtet, Missbilligung in jeder Faser ihres Körpers. Fola seufzte. »Kethra ist für die jüngeren Schülerinnen zuständig«, sagte sie. »Meine wichtigste Helferin. Und jetzt setz dich, Tuala. Du hast eine lange Reise hinter dir; Dreseida hat mir einiges darüber erzählt. Und da ihre Tochter Ferada ebenfalls eine Weile bei uns bleiben wird, gibt es für dich zumindest ein vertrautes Gesicht.« Tuala gelang ein angespanntes Nicken. »Dennoch«, fuhr Fola fort, »ich denke, es sind mehr als nur die ermüdenden Tage auf dem See und im Sattel, die dich so verzweifelt aussehen lassen. Ich weiß, dass du bisher die Wahrheit gesagt hast. Aber es ist sicher mehr an dieser Sache.« »Es sollte eine Wahl sein«, brach es aus Tuala heraus. »Aber es war seine Wahl, nicht die meine.« Fola wartete einen Augenblick, dann sagte sie: »Seine Wahl? Die von Broichan?« - 383 Tuala nickte bedrückt. »Ich hatte zwei Möglichkeiten: hierher kommen oder einen Mann mit einem Gesicht wie eine Rübe heiraten. Nein, das ist ungerecht. Er schien ein guter Mann zu sein. Aber ich wollte nicht heiraten, und ich wollte nicht...« »Du wolltest nicht nach Banmerren kommen?«, fragte Fola sanft.
»Nicht weggehen«, flüsterte Tuala. »Nicht aus Pitnochie weggeschickt werden. Er versteht das nicht. Ich muss da sein.« Es klopfte an der Tür, und ein Mädchen kam mit einem kleinen Tablett herein. Sie trug das blaue Gewand, das Tuala an den meisten jungen Frauen in Banmerren gesehen hatte. Es waren viele im Garten unterwegs gewesen, waren die Pfade entlanggeeilt oder mit Schriftrollen oder Wasserbecken oder Kräuterbündeln beschäftigt gewesen. Ein paar trugen auch Grün; nur die älteren wie Kethra und Fola selbst waren ins Grau der Weisen Frauen gekleidet. Das Mädchen stellte das Tablett ab und zog sich schweigend zurück. Der Kater regte sich, streckte sich ausführlich und sprang vom Regal, dann kam er näher, um zu sehen, was das Mädchen gebracht hatte. »Ich verstehe.« Fola nahm eine kleine Kanne vom Tablett und goss ein dampfendes, aromatisches Getränk in zwei winzige Tassen, löffelte Honig hinein und reichte Tuala eine Tasse. Da es nichts Essbares gab, verlor der Kater das Interesse und fing an, sich zu putzen. »Ich gehorche der Leuchtenden«, sagte Tuala. »Ich liebe sie; warum sollte ich mich ihrem Willen widersetzen? Aber ich hätte nie gedacht, dass ich Pitnochie verlassen soll. Wenn sie vorhatte, dass ich als Weise Frau diene, warum hat sie dann dafür gesorgt, dass es Bridei war, der mich vor all diesen Jahren fand?« Sie hörte ihre eigenen Worte, zu viele Worte, und klappte den Mund zu. Fola trank ruhig ihren Tee. »Nehmen wir also einmal an, - 384 dass Broichan sich geirrt hat«, begann sie. »Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass Broichan nicht gerade für falsche Entscheidungen bekannt ist; mitunter ist für längere Zeit nicht ganz klar, was er anstrebt, aber das hat im Allgemeinen damit zu tun, dass seine Pläne weiter reichen, als wir gewöhnlichen Sterblichen es uns vorstellen können.« Es war schwer einzuschätzen, ob sie scherzte oder nicht. »Aber sagen wir einmal, die Leuchtende will nicht, dass du ihre Priesterin wirst. Was, glaubst du, hat sie für dich geplant?« Tuala schwieg weiter. »Das frage ich mich«, sagte Fola und setzte die Tasse wieder auf dem Tablett ab. »Trink, Kind. Es wird dir Mut geben. Broichan erinnert andere immer gerne daran, dass man selbst aus der anstrengendsten Erfahrung, selbst der verzweifeltsten Enttäuschung noch etwas lernen kann. Du wirst auch hier in Banmerren etwas lernen, und uns anderen wird es ebenso gehen: Wir hatten noch nie zuvor ein Kind des Waldes unter uns. Es wird für dich nicht leicht sein. Eine Herausforderung, aber ich bin sicher, du genießt Herausforderungen. Trink. Dann werde ich Kethra zurückholen, damit sie dir zeigt, wo du schlafen wirst. Du kannst dich vor dem Abendessen ein wenig ausruhen. Danach gibt es nur noch schwere Arbeit. Die Leuchtende wird uns mit der Zeit schon wissen lassen, was sie mit dir vorhat.« Tuala folgte Kethra durch einen Flur, einen Speiseraum und ein Unterrichtszimmer in einen Lagerraum, wo ein Mädchen, das Tuala unverhohlen anstarrte, ihr einen Stapel Kleidung in die Hand drückte: ein blaues Gewand ganz unten und andere Dinge obenauf. Sie kamen wieder durch den Garten, und Tuala bemerkte mehr Mädchen, die sich um ein Gemüsebeet kümmerten, Stroh verteilten oder Ranken festbanden; sie hörte Gesang von irgendwo im Haus, den reinen klaren Klang junger Stimmen, die ein Lied an die jungfräuliche Blütenreiche sangen. Aus einer offenen Tür drang der angenehme Duft von frisch gebackenem Brot. - 385 Das gesamte Anwesen von Banmerren war von einer Mauer umgeben; Stein bezeichnete seine Grenzen und hielt die Welt fern. Der einzige Eingang, den Tuala sehen konnte, befand sich dort, wo sie hereingekommen war - ein schweres Eisentor mit Riegeln davor. Es hatte draußen etwas gegeben, das sie sich gerne ausführlicher angesehen hätte, eine Landschaft, die sich so sehr von den zerklüfteten Hügeln und dem alles bedeckenden Wald von Pitnochie unterschied wie eine Möwe von einer Eule: Sie hatte weite, leere Sandflächen gesehen und dahinter das flüsternde Meer. Aber diese Mauern versperrten nun den Ausblick darauf. Mehrere Mädchen, nicht alle in den blauen Gewändern, sondern in schöne Röcke und Tuniken in unterschiedlichen Farben gekleidet, saßen auf einer Bank im Garten und unterhielten sich. Wie eine einzige Person drehten sie sich um und starrten Tuala an, als diese vorbeieilte, um mit dem forschen Tempo ihrer ungeduldigen Führerin Schritt halten zu können. Sie hörte das Flüstern, das unterdrückte Lachen. Die Worte verstand sie nicht. Ein Mädchen, das ein wenig abseits saß, lächelte sie an, ein warmherziges Lächeln in einem Gesicht, das Tuala besonders wegen seiner schönen grauen Augen und dem Ausdruck von natürlicher Gelassenheit auffiel. Dieses Mädchen hatte Haar, das in der Sonne schimmerte wie gesponnenes Gold und ihr in Wellen lang auf den Rücken fiel. Sie trug ein Kleid in einem hellen Rahmton mit einer Spur von Blau an Hals und Handgelenken. Tuala nickte ihr höflich zu. Das Lächeln zu erwidern war mehr, als sie jetzt über sich bringen konnte. »Hier hinauf«, sagte Kethra. Sie hatte mehr als klar gemacht, dass sie keine Zeit verschwenden konnte und ausgesprochen ungern Kindermädchen für ausgerechnet diese neu eingetroffene Schülerin spielte. Tuala fand das alles so bedrückend wie die letzten Tage in Pitnochie. »Fola sagt, du sollst im Turm schlafen. Er hat eine Weile leer gestanden. Es ist vielleicht das Beste so. Die anderen werden misstrauisch - 386 sein. Ich nehme an, du weißt das.« Sie ging vor Tuala eine Treppe hinauf, die außen am Gebäude verlief, und über einen gefährlich schmalen Laufgang zu einer Tür, die sich beinahe auf der Höhe von Banmerrens
Außenmauer befand. Das Zimmer hinter dieser Tür war ziemlich dunkel. Ein Rascheln in der Ecke hörte plötzlich auf, als sie hereinkamen. »Du wirst eine Kerze brauchen«, sagte Kethra. »Bitte in der Küche danach, wenn du zum Abendessen herunterkommst.« »Wann...« »Beim nächsten Läuten. Zieh das blaue Gewand an. Es wird noch lange dauern, bis du das grüne brauchst. Falls das überhaupt je geschieht. Hast du noch Fragen?« Tuala räusperte sich. Im Zimmer stand ein hölzerner Bettrahmen mit einer Strohmatratze darauf, aber Tuala konnte keine Bettwäsche sehen. Und es gab auch kein Feuer. »Könnte ich...« »Sprich!«, sagte Kethra. »Ich habe zu tun. Du bist wahrscheinlich daran gewöhnt, dass andere sich um dich kümmern und deine Arbeit tun. Das gibt es hier nicht. Wir leisten alle unseren Beitrag, ganz gleich, was wir sind.« »Eine Decke«, sagte Tuala mit fester Stimme, denn sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen würde. »Zwei, wenn das möglich ist. Ich sehe, dass es hier keine Feuerstelle gibt. Ich werde herunterkommen und sie selbst holen; niemand braucht...« »Noch etwas?« »Im Augenblick nicht«, sagte Tuala höflich. »Du wirst warten müssen; der Lagerraum ist im Augenblick abgeschlossen, und alle haben zu tun. Frag nach dem Abendessen noch einmal. Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss unterrichten.« Kethra drehte sich auf dem Absatz um und war verschwunden. Tuala warf ihre Tasche aufs Bett und zog ihren Umhang fester um sich. Es war vollkommen unmöglich, dass sie sich - 387 hier ausruhte; es war so kalt im Zimmer, dass ihr Atem eine kleine Wolke vor ihrem Mund bildete. Man hatte ihr ein seltsames Quartier zugewiesen. Es gab viele Mädchen hier, und auf ihrem Weg durch das Anwesen hatte sie mehrere lang gezogene Schlafräume gesehen, in denen Reihen von Betten standen. Sie war auch sicher, dort Feuerstellen erspäht zu haben, in denen Torf zum Anzünden bereit lag. Sie hatte erwartet, bei den anderen Mädchen untergebracht zu werden, in einem gemeinsamen Schlafraum, ähnlich wie die Bewaffneten in Pitnochie. Vielleicht sollte diese Isolation noch weiter unterstreichen, wie anders sie war. Aber wenn sie ehrlich war, erleichterte es Tuala gewaltig, allein zu sein, so trostlos dieses kleine Zimmer auch sein mochte. Ihre Augen gewöhnten sich mehr und mehr an das trübe Licht. Es gab tatsächlich eine Art Fenster, aber es war kaum mehr als ein Schlitz zwischen den behauenen Steinen und hatte keinen Laden. Kalter Wind fegte herein und brachte einen salzigen Geruch mit - das musste das Meer sein. Vögel schrien harsch und seltsam und erzählten eine andere Geschichte als Zaunkönig und Drossel, Eule und Rabe. Die hiesigen Vögel waren Reisende, die von langen Flügen über gefährliche Gewässer berichteten. Mit der Zeit würde Tuala lernen, sie zu verstehen. Dann raschelte es wieder, und ein leises Kratzen war zu hören. Offenbar würde sie ihr Zimmer mit Mäusen teilen müssen. Nebel hätte es hier gefallen. Tränen brannten in Tualas Augen, aber sie war entschlossen, nicht zu weinen. Nebel hatte ein gutes Zuhause, viel zu essen und Menschen, die nett zu ihr sein würden, nun, nachdem Tuala weg war. Es würde Nebel dort gut gehen; Tuala litt mehr unter der Trennung als die Katze, denn ihr würde Nebels tröstliche Wärme in diesem kalten Bett fehlen. Im Winter würde es sehr unangenehm sein, im Turm zu schlafen. Aber vielleicht gehörte das zur Ausbildung. Vielleicht sollte sie die Kälte akzeptieren und nicht um Decken bitten. Sie wusste, dass Dru- 388 iden sich Prüfungen durch Erde und Feuer, durch tiefes Wasser und durch die Luft unterzogen. Sie hängten sich in Ochsenhäuten an Bäumen auf und warteten auf prophetische Träume. Was waren verglichen damit schon ein paar unbequeme Nächte? Es wäre angenehm gewesen, sauberes Wasser zu haben, um sich den Staub der Reise von Gesicht und Händen waschen zu können. Aber das war gleich. Vor Kälte zitternd öffnete sie ihre Tasche und fing an, ihre kärgliche Habe auszupacken. Es gab eine Truhe hier, ein uraltes, schweres Ding voller Spinnennetze. Spinnen lebten immer noch in den Rissen und Ecken; Tuala tat ihr Bestes, sie nicht zu stören, schließlich waren sie vor ihr hier gewesen. Mara hatte dafür gesorgt, dass Tuala Unterwäsche zum Wechseln, zwei Unterhemden, warme Strümpfe und ein Nachthemd hatte. Dann gab es den Rock und die Tunika, die sie getragen hatte, als sie die Geschichte von Nechtan dem Steinmetz und seiner geheimnisvollen Liebsten Ela erzählte. Dazu gab es zwei weitere solche Röcke und Tuniken, ähnlich im Stil, aber von schlichterem Stoff und ohne Verzierungen. Schaudernd stieg Tuala aus dem Kleid, das sie zum Reiten getragen hatte, zog sich das blaue Gewand über den Kopf und band es mit dem passenden Gürtel um die Taille, den sie in dem kleinen Wäschestapel fand. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, wie sie darin aussah, aber das Gewand schien einigermaßen zu passen. Sie nahm an, es war das kleinste, was sie hatten. Die meisten anderen Mädchen hatten erschreckend groß und wohl geformt ausgesehen; sie waren vielleicht ebenso alt wie Tuala, sahen aber viel mehr wie junge Frauen aus. Es war schön und gut, dass die Männer in Pitnochie sie für eine Art geheimnisvolle Verführerin hielten; das
geschah alles nur in ihren Köpfen. Aber neben den Mädchen in Banmerren war sie tatsächlich immer noch ein Kind. Als sie ihre Kleidung weggepackt hatte, holte Tuala die kleineren Gegenstände heraus, die sie ganz nach unten ge- 389 steckt hatte, wo sie vor den neugierigen Augen von Feradas kleinen Brüdern verborgen gewesen waren. Ihr besonderes Messer, ihre Sammlung von Federn, die sie auf dem Waldboden gesammelt hatte, ihre Haarbänder, oder zumindest die, die sie finden konnte, bevor sie Pitnochie verließ. Haarbänder brauchte sie im Augenblick allerdings nicht. Sie hatte sich das Haar etwa auf Kinnhöhe abgeschnitten und die langen dunklen Locken dem Feuer in Broichans Halle übergeben. Die Leuchtende wusste bereits, wie ergeben ihre Tochter den Göttern und der Zukunft Fortrius war; mit diesem kleinen Opfer hatte Tuala es auch dem Flammenhüter deutlich gemacht, dem Gott, der Krieger inspirierte und beschützte. Ob einer von ihnen ihre Geschenke angenommen hatte, würde man sehen müssen. Immerhin war Tuala jetzt hier, und das fühlte sich falsch an. Die Haarbänder: grasgrün, himmelblau, blutrot, sonnengelb. Als sie klein gewesen war, hatten die Leute sie ihr mitgebracht. Bewaffnete gingen auf einen Feldzug und kamen zufällig an einem Markt vorbei. Ferat kaufte jeden Sommer ein paar von einem Mann, der mit Waren am Haus vorbeikam. Brenna fand ihre eigenen alten Haarbänder oder stellte mit Nadel und Faden neue aus Stoffstreifen her, die von anderen Näharbeiten übrig geblieben waren. Diese Bänder erinnerten sie an zu Hause, sie erinnerten sie an Bridei, der ihr Haar mit vorsichtigen Händen und einem kleinen Scherz flocht, an Ferats Haferkuchen und Maras sauberes Leinen, an Uven und Cinioch, die Geschichten erzählten, und an Nebel, die auf Brennas Schoß zusammengerollt lag und schnurrte. Diese Haarbänder standen für einen Haushalt, den es nicht mehr gab, für Liebe, die nie wirklich gewesen war. Tuala steckte sie in die Truhe. Das blaue Gewand war wärmer als ihre eigene Kleidung, aber nicht warm genug, um gegen den Durchzug zu helfen. Draußen hatten Wolken die Sonne zugedeckt, und der Wind fegte frisch und stark vom Meer herein. Wer wusste schon, - 390 wann die Glocke zum Abendessen läuten würde? Sie konnte selbstverständlich wieder die Treppe hinuntergehen und versuchen, nicht auf die neugierigen Blicke der anderen Mädchen, ihr schlecht unterdrücktes Lachen und die geflüsterten Bemerkungen zu achten. Sie konnte sich ins Gras setzen und vielleicht einige Zeit meditieren. Dort würde sie einigermaßen geschützt sein. Wenn die Mädchen sie störten, konnte sie sie einfach ignorieren. Tuala verzog das Gesicht. Sie machte sich nur etwas vor, wenn sie so tat, als ob das möglich wäre. Nach Kethras Bemerkungen hing das Überleben hier in Banmerren davon ab, die Regeln so schnell wie möglich zu lernen und sich gefälligst daran zu halten. Das war seltsam; selbstverständlich brauchte ein solches Unternehmen seine Verhaltensregeln, aber mangelnde Flexibilität und ungenügende Sorgfalt gehörten nicht zu den Fehlern, die Tuala in einer von Fola geleiteten Schule erwartet hätte. Sie erinnerte sich an Fola von ihrer Begegnung im Wald vor einiger Zeit als an eine Frau, die nicht nur verstand, was Regeln bedeuteten, sondern auch wusste, wann es Zeit war, sie zu brechen. Tualas Hände verharrten an dem letzten Gegenstand in ihrer Tasche: der gedrehten Schnur, die die Geschichte von ihr und Bridei erzählte. Es sah so aus, als wäre es den beiden Teilen von nun an bestimmt, für immer getrennt zu bleiben. Es war dumm von ihr gewesen, tief im Herzen zu glauben, dass es anders sein musste. Tuala rollte das kleine Ding zu einer Kugel zusammen und versteckte es unter ihrem Nachthemd. Dann schloss sie die Truhe und ging nach draußen. Es war genauso kalt, aber zumindest konnte sie den Himmel sehen. Die gleichen Wolken, die über Banmerren die Sonne verdeckten, würden später auch über den Wald von Pitnochie geweht werden und ihre bewegten Schatten auf das tiefe Wasser des Schlangensees werfen. Vielleicht würden sie sogar, bevor sie sich auflösten, noch über Talorgens Armee hinwegziehen, die das Tal entlang marschierte, um sich den - 391 wilden Kriegern von Dalriada zu stellen. Dort schoben sich die Wolken vielleicht erneut vor die Sonne, und ein junger Mann mit lockigem braunem Haar und Augen von leuchtendem Blau würde vielleicht nach oben schauen und plötzlich an zu Hause denken. Vielleicht. Der schmale Laufgang führte an ihrer Tür vorbei noch weiter. Wenn sie sich nach rechts wandte, würde sie wieder zum Garten gelangen, wenn sie der von Moos überzogenen Steinmauer folgte. Links gab es ein schräges, mit Schindeln gedecktes Dach, und von dort ging eine weitere Mauer aus, die im rechten Winkel auf die Außenmauer von Banmerren stieß. Dicht an dieser Außenmauer wuchs eine uralte Eiche, deren oberste Äste hoch über das Steinwerk aufragten. Ihr Stamm war knotig und knorrig, die Wurzeln bildeten ein großes Nest aus Bögen und Drehungen und Nischen und breiteten sich über ein umfangreiches Areal aus, bevor sie tief ins Herz der Erde vorstießen. Der Frühling war noch nicht weit fortgeschritten; an den Spitzen der dunklen Zweige waren erst die winzigsten Schwellungen neuer Knospen zu sehen. Die Nester vom Vorjahr hingen hier und da noch in den Zweigen und zeigten an, dass dieser Riese Jahr um Jahr Leben der verschiedensten Art beherbergte. Der Wipfel der Eiche erstreckte sich nicht ganz bis zum Schindeldach. Es gab einen Teil der Mauer, drei Schritte lang und vielleicht eine Handspanne breit, über den man balancieren musste, um den Baum zu erreichen. Die Höhe war beträchtlich; bei einem Sturz würde man sich zumindest ein paar Knochen brechen. Tuala steckte den Rock ihres Gewands in den Gürtel, breitete die Arme aus und ging darüber, ihre kleinen Füße sicher auf dem
schmalen Stein. Sie hatte nie Angst vor Höhen gehabt. Das war schon besser. Ein wenig Klettern brachte sie zu einer Gabelung im Baum und einem Ast, der breit genug war, um sie aufzunehmen, mit dem Rücken zum moosüberzogenen Stamm, die Füße beide auf einem Ast, und nun - 392 konnte sie auch über die Außenmauer hinweg sehen, was die Welt außerhalb von Banmerren zu bieten hatte. Sie würde auch sogar durch den Wipfel auf diese äußere Mauer klettern können, wenn sie das wirklich wollte, denn der Baum breitete seine Äste großzügig in alle Richtungen aus. Aber vermutlich würde die Abendessenglocke genau dann läuten, wenn sie auf halbem Weg nach draußen war, und sie würde schon an ihrem ersten Tag zu spät kommen. Und sie brauchte sich auch nicht weiter vorzuwagen; dieser Baum hielt sie sicher, stützte ihren kleinen Körper mit seinem eigenen, uralt und stark. Wenn sie still war und ihre Ohren seinem Geist öffnete, würde er bald schon anfangen, ihr Geschichten zuzuflüstern. Sie konnte über eine breite, helle Bucht hinweg zur Landspitze auf der Ostseite schauen. Dort stand eine Festung. Fahnen flatterten über den Steinzinnen, blaue Zeichen auf Weiß. Von der obersten Ebene der Festung aus würde es möglich sein, weit aufs Meer hinauszuschauen, schon früh zu wissen, wann sich Feinde auf dem Seeweg näherten. Es gab auch Wälle und Gräben; wenn Tuala die Augen ein wenig zusammenkniff, konnte sie kleine Gestalten erkennen, die sich dort bewegten. Caer Pridne: die Festung von Drust dem Stier, Herrscher von Fortriu. Es war so nahe. Dreseida war vielleicht schon eingetroffen, richtete sich mit ihren kleinen Söhnen am Hof ein, tauschte mit Freundinnen Nachrichten aus und war zweifellos erfreut, dass sie die lange Reise endlich hinter sich hatte. Dreseida hatte sich sicher nicht länger in Banmerren aufgehalten, als es notwendig war, um ihre Tochter unterzubringen, denn außer Druiden wurden keine Männer oder Jungen auf das Gelände gelassen, und Tuala konnte sich nicht vorstellen, dass Uric und Bedo sonderlich geduldig vor der Steinmauer auf ihre Mutter warteten. Caer Pridne. Es gab seltsame Geschichten über diese Festung. Oder genauer gesagt hatten Erip und Wid Andeutun- 393 gen darüber gemacht, dass es Geschichten gab, die zu seltsam waren, als dass man sie erzählen könne, und dann geschwiegen. Es gab einen Brunnen, dessen Zugang tief unter der Erde lag, ein Ort dunkler Zeremonien. Mehr hatten ihre alten Lehrer nicht sagen wollen. Wenn die Fahnen gehisst waren, bedeutete das, dass König Drust anwesend war, während seine Krieger tief drunten im Großen Tal gegen die Galen kämpften. Broichan würde ebenfalls in Caer Pridne sein, nachdem er wieder seinen Platz als Druide des Königs eingenommen hatte, einen Platz, den er lange Jahre aufgegeben hatte, während Bridei vom Kind zum Mann heranwuchs. Es schien, dass Broichan Bridei begleitete wie ein dunkler Schatten, wohin er auch ging. Er mochte vielleicht nicht auf dem Schlachtfeld an der Seite seines Pflegesohns stehen, aber er würde bereit sein, wenn Bridei an den Hof kam. Tuala hatte plötzlich ein Bild vor Augen, auf dem Bridei ein reifer Mann war, die braunen Locken von Grau durchzogen, und Broichan war uralt, aber immer noch in seiner Nähe, von wo aus er alles beherrschte und immer noch jede Spielfigur bei diesem lange andauernden Spiel manipulierte. Fola hatte etwas darüber gesagt, dass die meisten Menschen die Pläne des Druiden nicht verstanden. Tuala schloss ihre Gedanken gegenüber der Zukunft ab, damit nicht eine gewisse rothaarige Frau darin erschien. Druiden wussten nicht alles. Selbst die forderndste Selbstdisziplin und das tiefste Wissen versetzten einen Mann nicht in die Lage, die Götter zu betrügen. In Banmerren begann für Tuala ein vorhersehbarer Ablauf aus Mahlzeiten, Lernen, Hausarbeit und Schlaf. Sie entdeckte, nachdem sie den Mut aufgebracht hatte zu fragen, dass jedes Mädchen ein Kissen und zwei Decken erhielt und dass sie, weil sie im Turm keine Feuerstelle hatte, sogar drei bekommen konnte. Sie lernte, was die Glocken bedeuteten, und gehorchte ihnen, wenn sie daran dachte. Wenn sie im - 394 Baum saß oder vor einer Regenpfütze oder einem Becken mit Waschwasser in Trance fiel, vergaß sie manchmal die Zeit und bewegte sich außerhalb der Welt gewöhnlichen Hörens. Kethra versäumte nie, sie deshalb zu ermahnen. »Wie meinst du das, du hast nicht gewusst, dass es geläutet hat? Wo warst du denn, in einer anderen Welt?« Kethras Worte trafen sie; obwohl Tuala sich sehr anstrengte, so wie alle anderen in Banmerren zu sein, konnte sie ihrer Herkunft nicht entkommen. So unauffällig sie auch zu sein versuchte, sie würde immer anders aussehen, und solche Bemerkungen halfen nicht. »Man kann die Glocke in jeder Ecke von Haus und Garten hören, Tuala. Das nächste Mal wirst du pünktlich sein.« »Ja, Kethra.« Früher einmal hatte sie Mara für herrisch gehalten. Verglichen mit dieser reizbaren Lehrerin erschien Broichans Haushälterin im Nachhinein ebenso freundlich wie vernünftig. Dem Muster des Tages konnte man leicht folgen. Sie standen früh auf. Die Schülerinnen wechselten sich mit den Hausarbeiten ab, vom Wasserholen bis zur Vorbereitung und dem Auftragen von Mahlzeiten, vom Schrubben der Böden bis zum Holzhacken, von der Versorgung der Feuer bis zum Nähen und Flicken von Kleidungsstücken. Diese Pflichten fanden rings um die Lernzeiten statt; wer an einem bestimmten Tag keine Arbeit im Haushalt zu erledigen hatte, war angehalten zu üben, was Kethra oder andere ihnen beigebracht hatten: die Herstellung von Kräuterbalsam und Tinkturen, das Auswendiglernen der Worte und Bewegungen für die
Rituale, Sterndeutung, und für jene, die dazu begabt waren, Sprachen, Schreiben und Lesen. Banmerren verfügte über eine eigene kleine Bibliothek. Außerdem wurden die blau gewandeten jüngeren Schülerinnen in die Kunst der Deutung von Vorzeichen und der Weissagung eingeführt. Das ernsthafte Studium dieser Aspekte des Handwerks war überwiegend Sache der Älteren, die bereits eine gewisse Ebe- 395 ne der Kompetenz und des Verständnisses erreicht hatten. Tuala mochte die älteren Schülerinnen. Es gab nur sieben von ihnen, und sie hatten alle einen so ruhigen Blick und eine freundliche Art, die Tuala wünschen ließ, zu ihnen zu gehören und nicht nur eine Anfängerin zu sein, die sich mit einer Schar kichernder Mädchen abgeben musste, die offenbar kaum zwischen Geografie und Genealogie, Astrologie und Arithmetik unterscheiden konnten. Sie war an die intensiven, manchmal leidenschaftlichen Belehrungen der belesenen alten Gelehrten gewöhnt und versank nun während des Unterrichts in Schweigen. Schon ihre Anwesenheit während dieser Unterrichtsstunden erregte Aufmerksamkeit; sie wollte nicht auch noch die hochgezogenen Brauen und das gequälte Lächeln ertragen müssen, mit denen die anderen für gewöhnlich auf ihre Fragen reagierten. Zwei Monde vergingen auf diese Weise, und es war Sommer. Tuala entdeckte, dass der beste Unterricht des Tages die Geschichtsstunde war, bei der die Töchter adliger Familien ebenso anwesend waren wie jene, die Dienerinnen der Leuchtenden werden wollten. Tuala hätte nie geglaubt, dass sie einmal für die Anwesenheit von Fuchsmädchen dankbar sein würde, aber Ferada war zumindest offen und ehrlich, statt nur zu kichern und zu flüstern. Schon in den ersten Tagen in Banmerren fiel Tuala auf, dass Ferada sie beim Abendessen beobachtete, wenn die adligen Töchter an ihrem eigenen Tisch saßen und die anderen an drei langen Tischen unter Aufsicht der Älteren. Bei den Mahlzeiten saß Tuala immer allein da. Die anderen hielten auf beiden Seiten Abstand, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Das führte häufig dazu, dass das Brot ihr erst dann gereicht wurde, wenn nur noch ein winziges Stück übrig war, und manchmal war so gut wie gar nichts mehr für sie übrig. Tuala, die selten mehr Appetit hatte als ein Vogel, weigerte sich, sich deshalb Sorgen zu machen. Zumindest befreite diese Isolation sie von der Notwendigkeit, mit den - 396 anderen sprechen zu müssen. Aber Ferada war offensichtlich beunruhigt; sie sah mit einer kleinen Falte auf der sonst so glatten Stirn zu und sprach mit dem Mädchen neben ihr, dem mit dem Haar wie ein goldener Wasserfall und dem freundlichen Blick. Dieses Mädchen war interessant. Tuala hatte herausgefunden, dass sie Ana hieß und eine königliche Geisel von den Inseln im Norden war; sie befand sich im Gewahrsam von König Drust, um sicherzustellen, dass ihre Verwandten nicht versuchten, die Küste von Fortriu anzugreifen. Ana hatte ihre Heimat und ihre Familie zurücklassen müssen, aber das war nicht ihre Schuld gewesen. Sie lebte nun seit vier Jahren entweder in Caer Pridne oder Banmerren, abgeschnitten von allen, die sie liebte. Und sie war jung; kaum ein Jahr älter als Tuala selbst. Es hieß, sie wurde jedes Mal, wenn sie Banmerren verließ, von vier großen, kräftigen Wachen begleitet, falls ihre Verwandten zu dem Schluss kommen sollten, dass ihre Freiheit wichtiger war als die Risiken, sich Drust dem Stier zu widersetzen. Auch am Hof folgten ihr Bewaffnete beinahe überall hin. Anas Vetter war König der Hellen Inseln und von geringerem Status als der Herrscher von Fortriu. In ihren vier Jahren als Geisel hatte die Familie nicht versucht, ihre Freilassung zu erreichen. Wie es dem blonden Mädchen gelang, so gelassen, so ausgesprochen ruhig zu sein, konnte sich Tuala nicht vorstellen. Wenn es Zeit für den Geschichtsunterricht wurde, bei dem beide Gruppen von Schülerinnen anwesend waren, setzte sich Ferada auf einer Seite neben Tuala und Ana auf der anderen, und danach saßen die drei jeden Morgen beisammen. Zumindest während dieser Stunde konnte Tuala sich einbilden, sie wäre nicht vollkommen allein. Eine der grün gekleideten Älteren, Derila, unterrichtete dieses Fach; eine willkommene Abwechslung zu Kethras scharfen Fragen und ätzenden Bemerkungen. Derila war klug und gerecht; sie erwartete, dass alle Schülerinnen teilnahmen, und blieb - 397 auch noch freundlich, wenn eine einen Fehler machte. In Derilas Klasse schwieg keine. Auch Ferada war klug. Sie hob die Hand bei jeder Frage; wenn sie anderer Meinung war als andere, argumentierte sie geistreich und schlüssig. Tuala begann, noch einmal neu über sie nachzudenken. Ana war ebenfalls für dieses Fach begabt. Sie neigte weniger zum Widerspruch, aber sie konnte ihren Standpunkt bei Debatten verteidigen und lernte rasch, denn sie war die Art von Schülerin, die morgens früh aufstand und schon lernte, wenn andere noch im Bett lagen. Ana konnte auch wunderbar mit Nadel und Faden umgehen und gleichzeitig die Ahnen der Könige des Volkes aufzählen, ohne bei einer dieser Tätigkeiten einen Fehler zu machen. Sie konnte Landkarten auf einem Tablett mit Sand zeichnen und identifizieren, welche Sterne eine glückliche Zukunft für ein Neugeborenes bedeuteten und welche ein Leben des Kampfs und der Anstrengung prophezeiten. Sie konnte singen und Harfe spielen. Was Tuala selbst anging, so war dieser Unterricht eine der wenigen Situationen, in denen sie keine Angst hatte, etwas zu sagen. Sie antwortete vorsichtig erst auf eine Frage, dann auf eine andere, und schließlich fragte Derila sie, was sie über Verwandtschaftszeichen wusste und über die unterschiedlichen Weisen, wie sie auf den gemeißelten Steinen benutzt wurden, je nachdem, ob man sich in Circinn oder in Fortriu befand. Diese Erläuterung brauchte ihre Zeit, denn es war ein kompliziertes Thema, und Wid und Erip hatten häufig darüber debattiert. Die Klasse saß schweigend da und hörte zu, und Derila tat das Gleiche. Von diesem Zeitpunkt an bat
die Lehrerin Tuala häufig, etwas näher zu erklären, und verwickelte sie manchmal auch nach dem Unterricht in ein Gespräch. Es war nicht ganz wie in den alten Zeiten in Pitnochie, aber es war angenehm. Der Unterricht, bei dem es um die Anwendung des Blicks - 398 ging, war ganz das Gegenteil. An diesen Klassen nahmen die adligen Töchter nicht teil; zu diesen Zeiten durften sie ausreiten, da ihre eigenen Pferde auf dem Bauernhof vor der Mauer untergebracht waren. Anas Wachen waren nie weit entfernt; auch sie hatten ihr Quartier auf dem Bauernhof, solange ihre Schutzbefohlene sich in Banmerren aufhielt. Bei schlechtem Wetter saßen die adligen Mädchen zusammen und nähten und unterhielten sich; nach allem, was Tuala hörte, ging es bei diesen Gesprächen meistens um einen ausführlichen Vergleich der jungen Männer, die sie kannten. Tuala und die anderen jüngeren Schülerinnen versammelten sich unter Kethras Blick in einem kalten Zimmer, und vor ihnen auf dem Tisch stand eine Bronzeschale. Kethra erklärte die Grundlagen. »Ihr werdet wahrscheinlich nichts weiter sehen als euer eigenes Spiegelbild ... durchaus üblich ... müsst euch konzentrieren ...« Tuala starrte einen Fleck an der Wand an, der irgendwie die Gestalt eines kleinen Hundes hatte; sie betrachtete die Kratzer auf den Bänken, die Binsen am Boden, die gefalteten Hände des Mädchens neben sich. »Konzentriert euch ... schließt Ablenkungen aus ... versucht langsam und stetig zu atmen, wie ich es euch gezeigt habe...« Odha, bleich vor Anspannung, beugte sich über die Schale, die ein anderes Mädchen aus dem schweren Krug auf dem Tisch gefüllt hatte. Tuala starrte Odhas Filzpantoffel an, den Türrahmen, Folas Kater Schatten, der mit mürrischem Blick in einer Ecke saß. Alles, alles, um den Blick nicht auf die schimmernde Oberfläche richten zu müssen, auf der es vor Geheimnissen nur so wimmelte. Alles, um nicht akzeptieren zu müssen, was sie dort sehen konnte. »Atme, Odha. Mach deinen Geist ganz leer ...« Sie warteten lange schweigend. Schließlich richtete sich Odha mit besorgter Miene auf. »Ich konnte überhaupt nichts sehen«, verkündete sie niedergeschlagen. - 399 »Diese Fähigkeit ist ein Geschenk der Leuchtenden«, sagte Kethra nicht unfreundlich zu ihr. »Sprich bei deinen Gebeten mit ihr und bitte um ihre Weisheit; sie wird dir die Gabe mit der Zeit gewähren, wenn sie glaubt, dass du dafür bereit bist. Solche Aspekte unseres Handwerks lassen sich nicht an einem Tag oder in einer Jahreszeit erlernen, nicht einmal in einem Jahr, sie entwickeln sich mit strenger Disziplin und fleißiger Übung im Lauf eures gesamten Dienstes. Das hier ist keine Prüfung, Kind, es ist nur ein Anfang. Tuala!« Kethras Tonfall hatte sich vollkommen verändert; nun lag Eis in ihrer Stimme. Tuala zuckte zusammen. »Ja, Kethra?« »Du findest diese Binsen auf dem Boden sicher ausgesprochen faszinierend; vielleicht gibt man sich dort, wo du herkommst, nicht mit solchen kleinen Feinheiten ab. Aber du bist hier, um zu lernen, nicht um zu träumen. Aber vielleicht bist du ja der Ansicht, dass ich dir nichts beizubringen habe - ist es das? Dass du alle Fähigkeiten, die ich lehren kann, bereits gemeistert hast?« Leises Lachen erklang, das rasch wieder verstummte, als Kethra den Blick durch den Kreis wandern ließ. Tuala senkte den Blick auf ihre Hände. Sie wollte nicht lügen; es kam ihr so vor, als erwartete die Leuchtende, dass hier im Haus ihrer Weisen Frauen stets die Wahrheit gesagt wurde. »Ich glaube nicht, dass ich in dieser Klasse sein sollte«, sagte sie leise. Nun lachte niemand mehr; stattdessen schnappten alle entsetzt nach Luft. Alle fürchteten Kethras scharfe Zunge; niemand hatte sie je herausgefordert. Außerdem galt Kethra als eine Quelle der Weisheit - schließlich war sie Folas wichtigste Helferin. Dass ihr Unterricht etwas war, das man eher ertrug als genoss, tat dem keinen Abbruch. »Da könntest du Recht haben«, sagte Kethra trocken. »Es gibt Schülerinnen, die die Kunst der Weissagung niemals meistern, denen der Blick für immer versagt bleibt. Aber wir - 400 erwarten zumindest, dass alle es versuchen. Nur die, die über dir stehen, können entscheiden, ob du die Fähigkeit hast oder nicht. Für jene ohne Begabung lassen sich andere Aufgaben finden.« »Fußböden schrubben«, murmelte jemand. »Das meinte ich nicht«, sagte Tuala verzweifelt. Sie wollte unbedingt ruhig bleiben, aber sie konnte unter dem Blick der Weisen Frau nicht den Mund halten, denn Kethra schien sie auf die gleiche Ebene zu stellen wie etwas, was man unter der Stiefelsohle zerdrückte. »Ich würde es nur nicht gerne hier tun, beim Unterricht - es ist am besten, wenn man allein ist, mit Gebeten und dem angemessenen Ritual...« Kethras Blick veränderte sich abermals; nun stand etwas wirklich Beunruhigendes in ihren Augen. »Verstehe ich das richtig?« Ihr Ton passte nicht zu ihrem Blick; er war seidenweich. »Du, eine neue Schülerin, ein Kind des Waldes, das nur wegen der Freundlichkeit der obersten Priesterin hier aufgenommen wurde, will mir sagen, wie ich meinen Unterricht durchführen soll?« Tuala schüttelte den Kopf; Verzweiflung rang in ihrer Brust mit Zorn. Sie schaute Kethra an und versuchte dabei immer noch, das glitzernde Wasser nicht einmal mit einem Blick zu streifen. »Nein«, sagte sie so höflich, wie sie
konnte. »Ich bin weder Weise Frau noch Lehrerin. Aber man hat mich erzogen, die Götter zu lieben und mich strikt an die Rituale zu halten. Ich habe diese Dinge studiert, seit ich ein kleines Kind war. Ich bin sicher, du weißt, was für deine Schülerinnen das Richtige ist. Ich kann nur sagen, dass die Anwendung des Blicks für mich und die anderen in meinem Haushalt immer eine Sache der Einsamkeit war, ein Ritus, der nur zwischen Seher und Geistern stattfand.« Das stimmte nicht ganz; sie hatte Seite an Seite mit Bridei in den Dunklen Spiegel geschaut, und beide hatten ihre eigenen Visionen gesucht. Aber Bridei war ein Teil ihrer selbst, und sie ein Teil von ihm; das war etwas anderes. »Ich möchte bitte von die- 401 sem Unterricht entschuldigt werden; ich werde die Zeit damit verbringen, allein zu üben. Oder Fußböden zu schrubben, wenn du das für angemessen hältst.« Kethra sah sie lange an. Dann trat sie beiseite, und die Bronzeschale war plötzlich gut zu sehen; das ruhige Wasser fing das Licht zweier hoher Kerzen ein, die neben ihr auf dem Tisch standen. Auf der Oberfläche tanzten Bilder und zogen Tuala gegen ihren Willen an. Es wurde sehr still im Raum. »Du bist dran«, sagte Kethra leise. »Sag uns, was du siehst, kleines wildes Mädchen.« Inzwischen hatte sie keine Wahl mehr. Das Wasser rief sie; die Vision verlockte sie, und sie musste hinschauen. Tuala ging näher heran, und die Welt von Lehrerin und Schülerinnen, von flackernden Kerzen, stillem Zimmer und Steinmauern löste sich rings um sie her auf, als das Auge des Geistes sie in die Trance zog. Eine hoch gewachsene Frau war auf dem Wasser zu sehen, die Verkörperung der Leuchtenden selbst, in einem silbernen Gewand, ihr Gesicht so strahlend, dass Tuala es nicht ansehen konnte, sie konnte weder Züge noch Ausdruck erkennen, aber sie wusste, sie waren von unvergleichlicher Schönheit und voll liebevollsten Mitleids. Auf der Schulter der Frau hockte eine Eule, die Augen rund und schimmernd, das Gefieder rein weiß. In den Armen der Göttin lag ein Baby, in weißen Pelz gehüllt; sie hielt es liebevoll, als wäre es etwas sehr Kostbares. Sie verblasste, und an ihre Stelle trat eine so seltsame Szene, dass Tuala eine Weile die Einzelheiten nicht zusammensetzen und sie begreifen konnte. Es war eine Szene hektischer Aktivität; Männer fällten Bäume, glätteten die Stämme zu gleichmäßigen Balken; Männer arbeiteten mit Seilen und knüpften ein Netz oder eine Art Geschirr wie für Zugpferde; Männer gruben tief in die Erde. Männer am Ufer bauten ein großes Floß; andere standen Wache, als erwarteten sie einen Angriff. Ein paar dieser - 402 Männer kannte Tuala: Donal befand sich bei denen, die an den Seilen arbeiteten; Enfret stand Wache, Feradas Bruder Gartnait lehnte sich an eine Mauer und tat überhaupt nichts, sondern sah nur mit verächtlich verzogenem Mund zu. Dann ein schrecklicher Anblick: ein großer Berg von Leichen auf einem brennenden Scheiterhaufen. Tuala biss sich auf die Lippen und hörte mit den Ohren der Seherin die Schreie von Frauen, eine verzweifelte Abschiedsklage. Offenbar war die Schlacht vorüber, und Fortriu hatte gesiegt. Aber was machten sie da? Dann erschien endlich Bridei: Tuala spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, als sie ihn sah. Er lebte noch, war immer noch in Sicherheit. Er stand oben auf einem Hügel, und der Wind zauste sein Haar. Er erteilte Befehle, und die Männer eilten sich, ihm zu gehorchen. Er sah so groß aus, so ernst. So sehr ein Mann. Es wurde mehr gegraben; verblüffenderweise schien es, als lockerten sie einen riesigen stehenden Stein aus seinem Bett tief in der Erde, legten ihn mit Hilfe von Seilen um, wobei viele Männer das Gewicht hielten, bis der Monolith sachte auf Baumstämme gelegt wurde, die als Rollen fungierten. Vor Tualas staunenden Augen wurde das massive Ding den Hügel hinuntergeschafft; Männer eilten sich, die Stämme von hinten nach vorn zu schaffen; andere legten sich fest in die Seile, um den Abstieg zu verlangsamen, und die ganze Zeit war Bridei neben ihnen, ermahnte sie, ermutigte sie, veränderte den Winkel der kostbaren Last, damit sie sie nicht noch einmal heben mussten; eine Aufgabe, die sicher selbst eine so große Anzahl von Männern nicht leisten konnte. Ein dunkelhaariger, wild aussehender Mann hielt sich stets in Brideis Nähe auf. Sein verrücktes Grinsen schien nicht so recht zu den Tränen in seinen Augen zu passen. Es war ein langer, anstrengender Marsch; die Männer stemmten sich in die Seile und zogen den Stein nun über flaches Gelände, und die Läufer waren weiterhin mit ihrem endlo- 403 sen Heben und Versetzen der schweren Rollen beschäftigt. Endlich erreichten sie das Ufer, und eine komplizierte Verschiebung mit Hilfe von Keilen, langen Hebeln und dicken Seilen fand statt, die den Stein von einem erhöhten Ufer auf eine Art Netzwiege in einem flachen Boot brachte. Tuala fragte sich, ob der Stein jetzt nach all dieser Mühe ohne jede Spur versinken würde; ob die Götter die Männer von Fortriu für etwas bestrafen würden, was wie ungeheuerliche Possen aussah, obwohl das Ding, das sie stahlen, zweifellos ihnen gehörte. Aber unter wildem Jubel - es war ein Wunder, dass diese Männer noch Atem für mehr als ein Flüstern hatten schwamm der Magierstein in seiner Hängematte aus Seilen. Und das Schiff bewegte sich auf ein unruhiges Gewässer zu, wahrscheinlich den Königssee am westlichen Ende des großen Tals. Talorgen schlug Bridei in einer herzlichen Geste auf die Schulter. Donal war ganz in der Nähe, und auf seinem tätowierten Gesicht zeigte sich deutlich, wie stolz er war. Gartnait war nirgendwo zu sehen. Bridei lächelte. Tuala kannte dieses kleine Lächeln, und sie sah an dem Schatten in seinen Augen und der bleichen Haut und daran, wie die Knöchel an den Händen weiß wurden, dass dieser doppelte Sieg für ihn auch eine Niederlage enthielt, etwas, das er für Versagen hielt. Nun war es vorüber, und sie würden nach Hause kommen. Sie würden nach Hause kommen, und Bridei würde reden wollen, er würde jemandem sagen müssen,
was ihn belastete, was diese Finsternis in seinem Geist hinterlassen hatte, die seine Gedanken verwirrte und an seinem Herzen zehrte. Über solche Geheimnisse konnte er nicht einmal mit Donal sprechen, er konnte ihm nicht alles sagen. Er würde Broichan seine Tränen nicht sehen lassen. Bridei würde Tuala brauchen, und sie würde nicht da sein. Sie war hinterher nicht sicher, ob sie das Bild weggezwungen hatte oder ob es von selbst verblasst war. Lange Zeit stand sie wie betäubt da, hatte sich bereits aus der Welt - 404 der Seher verabschiedet, war aber noch nicht ganz in die andere zurückgekehrt. Dann sagte eine Stimme: »Sie weint.« Kethra war die Nächste, die etwas von sich gab, in einem ruhigen, misstrauischen Ton. »Still, Reia. Zu den ersten Dingen, die ihr lernen müsst, gehört, dass man eine Person in Trance nicht stören darf. Man muss ihr Zeit lassen, aus der Trance wieder aufzutauchen, Zeit, zu sich zurückzukehren.« Und dann, nach einer sorgfältig bemessenen Wartezeit: »Tuala?« Tuala blinzelte; die Kerzen flackerten, ein Kreis von Gesichtern war zu sehen, junge Gesichter, ihre Augen alle groß vor Staunen. Tuala fühlte sich schwach, krank; es war so lange her, seit sie ihn gesehen hatte, zu lange, und jetzt das ... »Setz dich«, sagte Kethra. »Odha, hol ihr einen Becher Wasser. Ihr anderen, macht ihr ein wenig Platz. Atme langsam, Tuala.« Der große Kater, Schatten, entschied sich, gerade in diesem Augenblick neben Tuala auf die Bank zu springen; er drückte seinen Kopf schnurrend gegen den ihren, und sie streckte die Hand aus, um ihn hinter den ausgefransten Ohren zu kraulen. Diese Berührung war beruhigend; sie brachte die alltägliche Welt auf eine Weise zurück, wie es den Worten der Menschen nicht gelungen war. »Trink«, sagte Kethra und schob Tuala einen Becher Wasser in die Hände. »Mädchen, ihr könnt hier viel lernen. Vor allem zeigt es uns die Gefahren des Experimentierens ohne Anleitung. Tut das nicht. Eine solche Erfahrung erschüttert sowohl den Körper als auch den Geist. Solange ihr nicht ein gewisses Maß an Beherrschung erlangt habt, braucht ihr stets einen Beobachter.« Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Tuala zu. »Du hast uns also die Wahrheit gesagt«, stellte sie fest. »Was hast du gesehen? Teile es mit uns.« Zu widersprechen wäre sinnlos gewesen; eine Weigerung hätte ihr nur noch mehr Aufmerksamkeit verschafft. Kethra würde sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie eine Antwort er- 405 halten hatte. »Ich glaube, es waren Bilder aus der Gegenwart oder der nicht lange zurückliegenden Vergangenheit«, sagte Tuala. »Selbstverständlich zeigen diese Visionen nur, was sein könnte oder was hätte sein können. Es ist nicht immer möglich zu sehen, was man glaubt sehen zu müssen. Manchmal erhält man keine Antworten. Zu anderen Zeiten sind sie da, aber verborgen. Ich habe Bilder von König Drusts Männern auf ihrem Feldzug gesehen. Ihr wisst, dass sie unter dem Befehl des Fürsten Talorgen weit das Tal hinabgezogen sind, in der Hoffnung, das Territorium von Galanys Höhe zurückzuerobern, wo der Magierstein steht.« Ihre Zuhörerinnen schwiegen gebannt und warteten auf mehr. »Die Bilder schienen zu zeigen, dass sie den Kampf gewonnen haben. Und ... sie haben den Stein bewegt. Haben ihn mit Seilen und Balken aus der Erde gehoben und ihn den Hang hinunter zu einem Boot gebracht, damit er zurück in unser eigenes Land gebracht werden kann.« Sie würde nicht von der Leuchtenden sprechen, und sie würde auch Bridei nicht erwähnen. Kethras Miene war ein wenig verärgert. »Warum sollte einem Kind wie dir eine solche Vision gesandt werden?«, fragte sie. »Was kannst du schon von diesen Dingen wissen?« »Sie bewegen den Magierstein?«, fragte Reia verblüfft. »Heißt es nicht, er sei größer als ein Riese und so dick wie der Hals eines Stiers? Wie können sie ihn bewegen?« Tuala sah wieder Brideis junges, entschlossenes Gesicht, seine leuchtenden Augen, in denen sich ein Bewusstsein der Götter nie tief unter der Oberfläche befand. Mit dem richtigen Anführer können Männer das Unmögliche erreichen. »Sie haben es mit Druidenmagie und mit Schlauheit getan«, sagte sie. »Hm«, sagte Kethra. »Das ist wirklich eine seltsame Geschichte. Eine unwahrscheinliche Geschichte; warum sollten sie das tun, wenn doch die Steine als Symbol der Abstam- 406 mung unseres Volkes von den sieben Söhnen von Pridne aufgestellt wurden? Sie kennzeichnen Territorium und Blut; sie zu bewegen, schient beinahe eine Beleidigung der Götter darzustellen, eine schlecht beratene Tat. Wer sollte so etwas tun, und nach einem Sieg im Kampf?« »Ich kann mir den Grund vorstellen«, erwiderte Tuala. »Es scheint eine seltsame Tat zu sein, eine Tat, die ein Ungleichgewicht im Wesen unseres Lands bewirken kann. Aber dieser Ort, Galanys Höhe, befindet sich jetzt auf dem Territorium von Dalriada. Fortriu hat es schon vor Jahren verloren. Talorgens Streitmacht konnte die Siedlung einnehmen, sie aber nicht halten; sie liegt zu weit von unseren eigenen Festungen entfernt. Bei diesem Feldzug ging es nie darum, das Gelände von Galanys Höhe zurückzuerobern. Es war ein symbolischer Schlag; eine Warnung, dass noch mehr passieren wird, falls Dalriada versucht, seinen Zugriff auf das Tal zu erweitern. Dass sie den Stein zurückbringen, ist eine mutige Tat, eine, die Kühnheit und Einfallsreichtum zeigt. Es ist schwer und ungemein anstrengend, aber es inspiriert die Menschen auch. Es muss unseren Männern viel
Zuversicht gegeben und unseren Feind noch weiter beunruhigt haben. Zumindest«, fügte sie hinzu, als ihr klar wurde, dass sie erheblich mehr gesagt hatte als beabsichtigt, »sehe ich das so.« »Woher weißt du das alles überhaupt?«, fragte eins der Mädchen. »Schlachten und Territorien und alles?« »Sie erfindet es einfach«, murmelte jemand hinter vorgehaltener Hand. »Ich hatte hervorragende Lehrer«, sagte Tuala. »Ich hatte Glück.« »Glück spielt sicher eine Rolle«, erklärte Kethra kühl. »Dieses Glück klug zu nutzen, ist ebenso ein Vorteil. Und dann gibt es die natürliche Begabung. Mädchen, ich höre die Glocke. Im Speisesaal wartet euer Essen auf euch. Nicht rennen, Odha, du bist nicht am Verhungern.« - 407 Der Raum wurde leer; nur Kethra blieb noch, und Tuala, die auf der Bank saß und wusste, dass es für sie noch nicht vorbei war. »Es tut mir Leid«, sagte sie, und das meinte sie durchaus ernst. »Ich habe versucht, nicht hinzusehen, aber manchmal passiert es einfach. Die Visionen sind da und warten auf mich.« Kethra holte tief Luft und atmete wieder aus. »Du wusstest offensichtlich schon über diese Dinge Bescheid, bevor du nach Banmerren kamst. Wer hat es dir beigebracht? Broichan?« Tuala hätte gelacht, wenn sie nicht so nervös gewesen wäre. »Meine beiden alten Lehrer haben mir vieles beigebracht, aber nichts, was zum Handwerk eines Druiden oder einer Weisen Frau gehören würde. Und Broichan hat mich überhaupt nichts gelehrt.« Nur, wie man Angst hat. »Er glaubte, dass ich keine Bildung brauche.« »Es sieht so aus«, stellte Kethra fest, als sie das Becken kippte und den Inhalt wieder in den Krug goss, »dass er bezüglich des Blicks vollkommen Recht hatte. Willst du behaupten, dass du es dir alles selbst beigebracht hast? Dass du diese Visionen ohne Technik heraufbeschwören kannst, einfach nur durch Willenskraft?« »0 nein«, sagte Tuala schockiert. »Solche Bilder werden von den Göttern gesandt; kein Mann und keine Frau kann sie allein zu sich rufen. Manchmal ist es möglich, sie mit dem Geist zu beugen oder zu formen. Man kann bestimmte Teile ausschließen und andere intensiver sehen.« Das hatte sie getan, als das Gute Volk versucht hatte, ihren Spiegel mit Bildern zu füllen, die sie nicht haben wollte. Dann hatte sie zur Leuchtenden gebetet, und die Göttin selbst hatte sich ihr im klaren Wasser gezeigt. »Ich denke, wenn der Seher etwas Bestimmtes unbedingt sehen muss, zum Beispiel, um Vorzeichen für die Zukunft zu deuten, formen die Götter die Visionen auf eine Weise, die helfen wird. Zumindest ist das meine Erfahrung.« - 408 »Ich verstehe.« Kethra wirkte vollkommen verblüfft. Sie wischte das Becken geschickt mit einem Tuch aus, deckte den Krug zu und faltete die Hände, bevor sie zu Tuala ging und sich vor sie stellte. Tuala stand respektvoll auf. »Tuala«, sagte Kethra. »Ja?« »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn das, was heute geschehen ist, nicht offen unter den Mädchen besprochen wird. Wenn sie dich danach fragen, was geschehen ist, gib ihnen eine kurze, wahre Antwort und belasse es dabei. Lass dich nicht in Gespräche über Technik ziehen oder dazu verleiten, etwas davon zu demonstrieren. Diese Mädchen sind Anfängerinnen und verwundbar. Verstehst du das?« »Selbstverständlich. Sie werden mich ohnehin nicht fragen. Sie sprechen nicht mit mir.« Einen Augenblick schwiegen beide. »Haben wir einen Fehler gemacht, als wir dir ein Zimmer ganz für dich gaben?«, fragte Kethra. »O nein!« Tuala war entsetzt bei dem Gedanken, in eines der Gemeinschaftszimmer verlegt zu werden und Tag und Nacht von flüsternden Mädchen umgeben zu sein. Der Turm gehörte ihr, war sicher und still; die Eiche war ihre Zuflucht, ihr Stück von Pitnochie hier in dieser fremden Umgebung. Wer immer die Entscheidung getroffen hatte, sie im Turm unterzubringen, hatte damit Weisheit und Freundlichkeit demonstriert. »Ich fühle mich wohl, wo ich bin. Es passt gut zu mir.« »Mag sein«, sagte Kethra. »Du darfst jetzt gehen. Morgen wirst du nicht zu diesem Unterricht kommen, sondern stattdessen mit Fola sprechen. Sie wollte einen Bericht über deine Fortschritte, und es ist Zeit. Ich werde ihr sagen, dass sie dich erwarten soll. Und jetzt beeile dich, oder du wirst nichts mehr zu essen bekommen.« Tuala war schon beinahe draußen, als Kethra noch einmal etwas sagte. - 409 »Glaubst du, es ist wahr? Haben sie den Magierstein wirklich das Tal hinauftransportiert?« »Das werden wir erst wissen, wenn Talorgens Männer nach Hause kommen«, sagte Tuala, aber sie sah Brideis Gesicht vor ihrem geistigen Auge und wusste tief im Herzen, dass jede Einzelheit ihrer Vision eine wahre und exakte Wiedergabe der tatsächlichen Ereignisse war. Ein anderes Bild schob sich vor diese strahlende Erinnerung: Ein Mann hob die Hände an die Kehle und starb unter Qualen. Auf den Bildern dieses Tages hatte Bridei noch nicht seine Kampfzeichen getragen. Aber Broichan hatte versprochen, etwas zu unternehmen: Bridei würde nun einen Vorkoster haben und zusätzliche Leibwachen. Dennoch, sie konnte es kaum erwarten zu hören, dass Bridei wieder in Pitnochie und in Sicherheit war. »So ist es wohl«, sagte Kethra. »Wenn es stimmt, könnte es ein machtvolles Vorzeichen dafür sein, dass den Priteni bessere Zeiten bevorstehen.« Wieder änderte sich ihr Ton. »Und jetzt geh«, sagte sie. »Du magst nichts
weiter zu tun haben, aber ich schon.« Als die anderen am nächsten Morgen zum Unterricht gingen, wartete Tuala am Eingang von Folas Zimmer. Auch Schatten befand sich vor der Tür; sie hatte ihn zuvor im Garten gesehen, wo er Vögeln auflauerte. Nun saß er hier, die Ohren gespitzt, der Schwanz zuckend, und wartete ungeduldig darauf, hereingelassen zu werden. Der Kater hatte seine gewohnten Aktivitäten wie alle anderen in Banmerren und mochte es nicht, wenn man ihn dabei unterbrach oder aufhielt. Aber Folas Tür war geschlossen; von drinnen war die gemessene und ruhige Stimme der Weisen Frau zu hören. Tuala beugte sich vor, um Schatten zu streicheln; Schichten alter Narben hatten sein Fell rau und dünn werden lassen. Er betrachtete sie mit dem skeptischen Blick einer alten Katze, aber er schnurrte dennoch. - 410 Die Tür ging abrupt auf, und das Mädchen, das herauskam, musste beide Arme ausstrecken, um nicht über die beiden auf den mit Binsen bestreuten Boden zu fallen. »Oh - es tut mir Leid - hier ...« Tuala streckte die Hand aus, um ihr zu helfen. Das Mädchen wich zurück, die Augen weit aufgerissen. Tuala erinnerte sich vage aus ihren ersten Tagen in Banmerren an sie, ein dünnes, ernstes Ding, sehr still. Wie hieß sie noch? Morna? Morva? Sie hatte in der letzten Zeit nicht am Unterricht teilgenommen; nun, als Tuala darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie das Mädchen auch länger nicht mehr im Garten oder bei den anderen am Tisch gesehen hatte. Vielleicht war sie krank gewesen. Ihre Augen waren sehr seltsam. Nun drehte sie sich um und verschwand wie ein Schatten, nicht im Gemeinschaftsbereich, sondern in dem Flügel, in dem die älteren Frauen ihre Schlafräume hatten. Erst als Morna weg war, fiel Tuala auf, dass sie nicht das blaue Gewand der jüngeren Mädchen getragen hatte, sondern reines Weiß. »Komm herein, Tuala.« Folas Tonfall ließ keinen Schluss auf ihre Stimmung zu. Schatten war bereits im Zimmer und auf der Bank neben der Weisen Frau und ließ sich dort auf einem Kissen nieder. Tuala fragte sich, ob der Kater je wagte, auf dem Schoß seiner Herrin zu sitzen. Vielleicht wäre das für beide zu würdelos. »Kethra hat mir erzählt, was gestern geschehen ist«, fuhr Fola fort, »und von deiner Bitte, den Blick nicht zusammen mit den anderen üben zu müssen. Du hast sie überrascht.« »Es tut mir Leid. Ich habe versucht, es ihr zu sagen, und...« »Ich war vielleicht ungerecht, sowohl dir als auch Kethra gegenüber. Mich überrascht nicht, was geschehen ist; meine Intuition irrt sich selten, und ich habe etwas bei dir gespürt, als wir uns begegnet sind, etwas, von dem ich annahm, dass es mit der Zeit fruchten würde und machtvoll - 411 und gefährlich sein könnte. Ich habe lange darauf gewartet, dass du zu uns nach Banmerren kommst, gewartet, während deine Lehrer in Pitnochie eine Grundlage legten, die über alles hinausgeht, was wir hier in diesem Haus der Frauen bieten können. Ich hätte Kethra und die anderen vorwarnen können, aber es schien mir besser, den Dingen eine Weile ihren Lauf zu lassen und zu sehen, was du mit Banmerren anfängst und was Banmerren mit dir macht.« Tuala schwieg. Das hier fühlte sich unangenehm ähnlich an wie Broichans Strategiespiele, Spiele mit menschlichen Spielfiguren. Sie erinnerte sich, dass Fola und der Druide des Königs alte Freunde waren. »Glaubst du, die Vision, die du hattest, zeigte Bilder aus der Gegenwart? Eine Spiegelung der Wahrheit?« Nun lag ein gewisser Eifer in der Stimme der Weisen Frau, ähnlich wie zuvor bei Kethra. Beiden war die wahre Bedeutung von Tualas Vision nicht entgangen. »Ich weiß, dass es so ist«, sagte Tuala. »Du weißt es?«, fragte Fola scharf. »Das ist überheblich, Kind; wir können nicht wissen, was die Götter wünschen, bis diese Vorzeichen sich als wahr erweisen.« »Ich weiß es. Ich weiß es, weil Bridei darin vorkam, und was ich über ihn sehe, ist immer wahr. Außer, wenn es die Zukunft zeigt, die noch verändert werden kann.« Sie schauderte; wenn Broichan nicht schnell gehandelt und diese Warnung geschickt hatte, würde diese Zukunft wahrhaft trostlos sein. Fola kniff die Augen zusammen. »Bridei. Du hast Bridei Kethra gegenüber nicht erwähnt; nicht nach dem, was sie mir erzählt hat. Worin bestand seine Rolle bei dieser Sache?« Tuala biss sich auf die Lippen; plötzlich widerstrebte es ihr, mehr zu sagen, selbst dieser Frau, die ihr immer wie eine Freundin vorgekommen war. »Ich will ihm nichts Böses, Tuala«, sagte Fola. »Ganz im Gegenteil. Wie Broichan habe auch ich mich an Brideis - 412 Zukunft gebunden. Du kannst mir vertrauen; das ist die Wahrheit.« »Er leitete das Unternehmen, als sie den Magierstein hinunter zum Königssee brachten«, sagte Tuala. »Es war seine Idee. Sie folgten ihm alle, Krieger ebenso wie Anführer. Er hat das Licht der Inspiration in ihren Augen aufleuchten lassen, die Berührung des Flammenhüters. Ich glaube, die Männer werden sich noch lange daran erinnern.« Fola nickte. »Broichan wird sehr froh sein, das zu hören«, sagte sie. »Und der König ebenfalls. Wir leben in der Tat in einer interessanten Zeit. In einer sehr bedeutsamen Zeit.« »Fola?«
»Ja, Kind?« »Ich habe versucht, schwer zu arbeiten, seit ich hierher gekommen bin. Ich habe versucht, mein Versprechen zu erfüllen. Es tut mir Leid, wenn ich Kethra erzürnt habe.« Fola schaute sie einen Moment schweigend an. »Kethra ist nicht zornig«, sagte sie. »Vielleicht ein bisschen wütend auf sich selbst, weil sie es nicht früher bemerkt hat, aber sie ist nicht verärgert über dich. Wie ich schätzt auch sie begabte Schülerinnen; wir sehen sie selten genug. Ich habe all deine Lehrer um einen Bericht über dich gebeten. Kethra hat empfohlen, dass du in den meisten Aspekten des Handwerks, die sie unterrichtet, Privatunterricht erhältst, entweder bei ihr selbst oder bei mir. Derila sagt, dass dein Hintergrund in Geschichte, Geografie und Politik hervorragend ist; sie würde dich gerne in ihrer Klasse behalten, denn es sieht so aus, als wären einige der adligen Töchter recht gebildet, und ihr könnt alle bei gesunden Debatten noch viel mehr lernen.« Tuala nickte. »Derila hat viel Spaß mit euch«, sagte Fola lächelnd. »Die beste Gruppe von Schülerinnen, die sie je hatte, sagt sie. Hast du schon ein paar Freundinnen gefunden, Tuala?« »Freundinnen.« Tuala konnte sich kaum vorstellen, was das bedeutete, hier unter diesen Mädchen, die ihr so anders - 413 vorkamen, als stammten sie aus einer anderen Welt. »Nicht wirklich. Fuchs- Ferada setzt sich zu mir, und Ana ist freundlich zu mir gewesen. Sie sind Töchter von Fürsten; ich bin... was ich bin. Ich glaube nicht, dass wir je Freundinnen sein können. Die anderen, nun ja, sie schauen mich an und flüstern und lachen hinter vorgehaltener Hand. Aber das ist gleich. Es war schon in Pitnochie so, bevor ich hergekommen bin.« Etwas in ihrer Stimme oder ihrer Miene bewirkte, dass Fola sich vorbeugte und sie forschend ansah. »Wie meinst du das, Tuala?« Tualas Stimme kam unsicher heraus, obwohl sie sich sehr anstrengte, ruhig zu bleiben. »Ich war plötzlich nicht mehr willkommen. Broichan hat mich dort nie haben wollen. Aber die anderen schon. Bis ich älter geworden bin. Dann hatten sie Angst vor mir. Es war dumm, aber ich konnte nichts daran ändern. Und dann hat Broichan gesagt, ich müsse gehen.« »Was ist mit deinem Freund? Mit Bridei? Hat er auch Angst vor dir, nun, da du eine Frau bist?« Tuala starrte sie an, so empört, dass sie kein Wort herausbrachte. »Es ist eine vernünftige Frage«, sagte Fola ruhig. »Eine sehr angemessene, denke ich, denn der junge Mann ist in dem Alter, in dem man für solche Dinge am verwundbarsten ist, würde ich sagen.« »Er war nicht da«, sagte Tuala und musste plötzlich gegen Tränen anblinzeln. »Und selbstverständlich hat er keine Angst vor mir. Natürlich nicht. So ist es nicht zwischen uns ...« »Nicht wie?« Tuala kniff die Lippen fest zusammen. Das war ungerecht und grausam. Niemand verstand, wie es war, niemand außer ihr und Bridei. Niemand außer der Leuchtenden, die sie an Mittwinter zusammengebracht hatte, vor langer Zeit. - 414 »Lassen wir das im Augenblick, da es dich bedrückt«, sagte Fola. »Vielleicht bist du gerade zur rechten Zeit hergekommen. Was diese anderen Dinge angeht, so werden wir deinen Tagesablauf ändern, damit du morgens Privatunterricht bei mir haben kannst, statt in Kethras Klasse zu sitzen. Du nimmst weiterhin an Derilas Unterricht teil. Ich spüre, dass du etwas daraus beziehen kannst, als natürliche Gelehrte. Die Töchter der Adligen werden an den Hof zurückkehren, sobald Talorgen nach Caer Pridne kommt; wenn deine Visionen zutreffen, wie du es glaubst, wird das vielleicht schon bald geschehen. Danach kann Derila dich vielleicht einsetzen, damit du ihr hilfst, ein paar der anderen Mädchen zu unterrichten, wenn du nichts dagegen hast.« Tuala starrte sie an. »Ich glaube nicht, dass sie mich als Lehrerin akzeptieren würden - sie würden mich nur noch mehr ablehnen.« Fola zog die Brauen hoch. »Wenn es im Dienst der Leuchtenden geschieht, würdest du es doch trotzdem tun, oder?«, fragte sie. »Ja, Fola.« Man kann aus allem etwas lernen, sagte Broichan immer. Selbst daraus, irgendwie über jene gestellt zu werden, die einen für eine geringere Lebensform hielten, für immer anders, für immer vollkommen unakzeptabel. »Außerdem«, sagte Fola, »möchte ich, dass du mit Ferada und Ana über Bündnisse durch Heirat sprichst, darüber, was sie als Fürstentöchter erwartet und welche Regeln die Entscheidungen diktieren, die für sie getroffen werden.« »Aber...« Fola bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen. »Ich weiß, dass du schon alles darüber weißt. In der Theorie. Königliche Abstammung, die Wichtigkeit von Querverbindungen zwischen den sieben Häusern und so weiter. Das, glaube mir, ist etwas ganz anderes als ein Gespräch mit Mädchen deines eigenen Alters, deren persönliche Zukunft vollkommen von diesen Regeln bestimmt wird.« - 415 »Wenn du das willst. Aber ich verstehe nicht, warum.«
Die Weise Frau sah Tuala einen Augenblick an. »Es ist nur vernünftig, dass du eine Erklärung möchtest«, sagte sie. »Es würde mich ein wenig beruhigen, glauben zu können, dass du Banmerren als etwas akzeptierst, das gut für dich ist, dass wir dir tatsächlich etwas Wertvolles beibringen können.« »Ich wollte nicht...« Fola hob die Hand. »Und das hast du auch nicht gesagt, aber du hast mir genügend Hinweise darauf gegeben, was du denkst, Tuala. Ich glaube, du stellst dir eine andere Zukunft für dich vor, nicht die einer Priesterin der Leuchtenden, nicht die einer Gelehrten und Lehrerin, so hervorragend du auch dafür geeignet sein magst. Du sprichst häufig von Pitnochie, in einem Ton und in Worten, die über das natürliche Heimweh hinausgehen, das all meine neuen Schülerinnen befällt. Du sprichst nicht oft über Bridei. Aber wenn du es tust, wird mir klar, dass du viel an ihn denkst.« Tuala schwieg. Sie wusste nicht, worauf Fola hinauswollte oder was es mit dem zu tun hatte, was zuvor gesagt worden war. »Es ist sehr wichtig, dass du erkennst, was für eine Gelegenheit dir hier geboten wird, Tuala«, fuhr Fola ernst fort. »Sprich mit Ana und Ferada. Denk über deine anderen Möglichkeiten nach, die vielleicht geringer sind, als du denkst. Denk über das Leben nach, das wir hier führen, und was es für uns bedeutet. Wir befinden uns vielleicht hinter hohen Mauern, aber der Schutz, den sie bieten, gibt uns auch eine besondere Art von Freiheit, Freiheit des Geistes und des Verstandes, die wirklich kostbar ist. Ich zweifle nicht an deiner Liebe zur Leuchtenden, mein Kind. Ich möchte nur, dass du die Dinge einmal von einer anderen Warte aus betrachtest.« »Ja, Fola. Ich werde mit den adligen Töchtern sprechen.« »Gut. Du darfst jetzt gehen. Kethra sagt, du magst den Turm. Du denkst nicht, dass du bei den anderen wohnen - 416 solltest? Dass sie dich vielleicht ein wenig bereitwilliger akzeptieren würden, wenn das so wäre?« »Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass ich es lange ertragen könnte. Ich sehe den Himmel so gern. Und ich bin an Stille und ans Alleinsein gewöhnt.« Fola nickte. »Und du magst Bäume«, sagte sie. »Ich erinnere mich, dass ich vor langer Zeit einmal ein Kind unter einem Baum gefunden habe. Nun gut, geh jetzt. Ich freue mich darauf, mit dir zu arbeiten; ich erwarte, dass wir beide etwas lernen können.« Was für die Weise Frau eine einfache Angelegenheit zu sein schien, erforderte tatsächlich gewissen Mut. Außen zu stehen, ausgeschlossen zu sein, konnte zu einer eigenen seltsamen Art des Stolzes führen. Die adligen Töchter außerhalb des geregelten Rahmens einer Geschichtsstunde anzusprechen war, als suchte sie Zugang zu einem Kreis, in den sie nicht gehörte. Es war, als forderte sie die Demütigung heraus. Ana und Ferada hatten ihr Brot und ihren Käse mit in den Garten genommen. Sie saßen auf ihrem üblichen Platz, einer Steinbank unter einem Birnbaum, umgeben von mehreren anderen Mädchen. Es war ein hübscher Anblick; sie hätten beinahe zwei Manifestationen der jungfräulichen Blütenreichen sein können: Ferada als Abbild des Herbstes mit ihrem rotbraunen Gewand, dem feurigen Haar, das sie hochaufgesteckt trug, die scharfen Züge ein wenig lieblicher durch ein paar Sommersprossen über der Nasenwurzel. Ana war ganz Frühling, mit ihren aschblonden Locken, die ihr auf die Schultern fielen, im traditionellen, gerade geschnittenen Rock und der Tunika ihres Inselvolkes, gewebt aus hellster rahmfarbener Wolle mit Bordüren in Vergissmeinnichtfarben. Sie trug eine silberne Brosche an der Schulter, mit der sie ihr Tuch befestigt hatte; das Schmuckstück hatte die Form eines Meerestiers, ein Teil Pferd, ein Teil See- 417 hund und ein Teil etwas anderes: eines der uralten Abstammungszeichen der Hellen Inseln. Als Tuala diese beiden beobachtete und sich fragte, was sie zu ihnen sagen sollte, kam es ihr so vor, als ob etwas sie von den anderen unterschied. Ob es ihr adliges Blut, die Vorteile von Erziehung und Bildung waren oder die Berührung der Göttin selbst, beide sahen reizend, einflussreich und - bei all ihren Vorbehalten gegen Fuchsmädchen - auch irgendwie wie gute Menschen aus. Tuala ertappte sich dabei, dass sie sie anstarrte. »Komm, setz dich zu uns, Tuala«, sagte Ana mit ihrer leisen, melodischen Stimme. »Die Sonne ist heute so warm; ich glaube, der Flammenhüter lächelt auf Fortriu herab.« Sie rutschte ein wenig zur Seite, um auf der Bank Platz zu machen; Ferada blieb, wo sie war, und sah mit leicht amüsierter Miene zu. Als Tuala auf die beiden zuging, erhoben sich alle anderen Mädchen ohne ein Wort und ließen sich außer Hörweite wieder nieder. »Tut mir Leid«, murmelte Tuala. »Ich wollte nicht...« »Schon gut«, sagte Ana. »Setz dich, und stör dich nicht an denen, das sind nur dumme Mädchen. Ah!«, fügte sie triumphierend hinzu, als Tuala sich zwischen sie setzte. »Du schuldest mir etwas, Ferada.« Tuala schaute von einer zur anderen, und Ana errötete ein wenig. »Eine Wette«, sagte Ferada. »Wie lange du brauchen würdest, um den Mut aufzubringen, zu uns zu kommen und dich hinzusetzen. Leider haben wir hier in Banmerren nicht viel, um das wir wetten können. Ich muss heute Abend Anas Haar waschen; etwas, das wir ohnehin füreinander tun, während wir hier sind.« Fuchsmädchen klang beinahe menschlich. Es war überraschend; außerhalb des Geschichtsunterrichts hatte sie bisher Abstand gehalten. »Ich höre, ihr geht an den Hof«, begann Tuala. »Wenn dein Vater zurückkommt.« - 418 Ferada verzog das Gesicht. »Unvermeidlich«, sagte sie. »Wir sind eine Weile hier, hinter diesen hohen Mauern
eingeschlossen, und eine Weile dort, um höflich zu Männern zu sein, die unsere Familien für passend halten. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was schlimmer ist.« »Aber du willst doch sicher deine Familie sehen«, sagte Tuala überrascht. »Deine Mutter und deine kleinen Brüder.« Ferada zog die Brauen hoch. »Hättest du es eilig, Uric und Bedo zu sehen, wenn sie deine Brüder wären? Frösche im Bett, lautes Gebrüll, wenn du versuchst, etwas zu lernen, und jämmerliche Witze darüber, welchen von den Männern du am liebsten hast?« Tuala musste gegen ihren Willen lächeln. »Ich fand, sie sind liebe kleine Jungen«, sagte sie. »Sie haben mich zum Lachen gebracht.« »Hast du nicht gedroht, Bedo in eine Kröte zu verwandeln? Ich bin sicher, dass er mir das erzählt hat.« »Kann sein, dass ich so etwas gesagt habe«, erwiderte Tuala. »Er wusste, dass es ein Scherz war. Jedenfalls nach einiger Zeit.« Ana lachte. »Kleine Brüder wären nett«, sagte sie. »Ich habe nur viel ältere. Und eine Schwester.« Sie war ernst geworden. »Sie ist jetzt beinahe elf. Sie hat mich wahrscheinlich vollkommen vergessen.« »Hm«, sagte Ferada, brach ein Stück Brot ab und warf es einer Drossel zu, die auf dem Gras wartete. »Große Brüder können einem Sorgen machen, denkst du nicht auch, Tuala?« »Ich weiß es nicht«, sagte Tuala. »Ich habe weder Brüder noch Schwestern.« Sie hatte plötzlich ein Bild der Waldleute im Kopf, das Mädchen mit dem Spinnwebhaar und den hellen Edelsteinen an den Fingern, der Junge ganz aus Nüssen, Beeren und Ranken. Wenn das ihre Verwandten waren, war es kein Wunder, dass die anderen Mädchen sie schief ansahen. - 419 »Hast du doch«, sagte Ferada. »Du hast Bridei. Einen Pflegebruder.« Sie schwiegen eine Weile. »Ich muss euch etwas fragen«, sagte Tuala. »Dann tu das.« Feradas Interesse war erwacht; in ihren Augen stand ein Glitzern. »Fola wollte, dass ich mehr darüber herausfinde, was ... was von jungen Frauen wie euch erwartet wird. Über Ehen und Bündnisse.« »Warum solltest du uns fragen müssen?« Ana war verblüfft. »Fola sollte dich im Geschichtsunterricht hören. Du weißt bereits mehr als wir alle zusammen.« »Das meint sie aber nicht«, sagte Ferada. »Sie spricht von den Dingen, die einem ältere männliche Lehrer nicht beibringen können.« »Du meinst doch nicht...« Ana errötete erneut, ihre Wangen färbten sich rosig. Ferada grinste schief und warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu. »Ich bezweifle, dass Fola von uns erwartet, ihr Unterricht in Angelegenheiten des Schlafzimmers zu erteilen«, sagte sie trocken. »Es geht eher darum, was von uns erwartet wird, und von anderen wie uns. Oder?« Tuala nickte. »Das hat sie gesagt. Ich weiß, dass ihr beide Töchter des königlichen Hauses seid; Ferada, deine Mutter ist eine Kusine von König Drust, die Tochter der Schwester seiner Mutter, und Ana stammt von einem entfernteren Zweig der königlichen Linie ab, dem, der auf den Hellen Inseln herrscht. Das bedeutet, dass eure Söhne einmal Anspruch darauf haben, König zu sein; es schränkt ein, wen ihr heiraten könnt.« »Und unsere Auswahl«, sagte Ferada finster. »Sei froh, dass du die Möglichkeit hast, in Banmerren zu bleiben, Tuala. Du bist hier vielleicht von der Außenwelt abgeschnitten, aber es ist erheblich besser, als eine königliche Zuchtstute zu sein. Es klingt zwar danach, als hätten wir - 420 Macht, weil so viel von uns abhängt, aber es liegt keine wirkliche Macht darin. Am Ende sind es immer die Männer, die die Entscheidungen treffen; wir sind nur Zuchtvieh.« »Es geht uns nicht so schlecht«, warf Ana ein. »Verglichen mit der schweren Arbeit einer Bauersfrau oder einer Dienerin ist es ein privilegiertes Leben.« »Wie kannst du das sagen?« Ferada war empört. »Du bist hier eine Gefangene; du sitzt Jahre und Jahre an Drusts Hof fest, und du kannst nirgendwo hingehen, ohne von großen Männern mit Messern umgeben zu sein. Wie lange ist es her, seit du deine Familie zum letzten Mal gesehen hast?« Ana senkte den Blick und sah ihre Hände an. »Lange Zeit«, sagte sie. »Sie kommen nicht hierher. Mein Vetter hat wohl Angst, dass jeder, der zu Besuch kommt, ebenfalls als Geisel genommen werden könnte. Meine Anwesenheit hier hat dafür gesorgt, dass meine Verwandten friedlich sind. Sie hat erreicht, was sie erreichen sollte.« »Du wirkst immer so ruhig«, wagte sich Tuala vor, die ihre Worte sorgfältig wählte, »als störte es dich nicht, eine Gefangene zu sein.« »Es hat keinen Zweck, sich zu beschweren«, sagte Ana. »Anfangs war ich traurig - traurig und verängstigt. Meine kleine Schwester fehlte mir schrecklich. Aber der König und die Königin waren sehr freundlich. Und es hilft, dass ich einen Teil meiner Zeit hier in Banmerren verbringen darf. Ich lerne gern. Und ich bin gern mit den anderen Mädchen zusammen. Besonders mit Ferada.« »Und wenn du hier bist, brauchst du nicht immer diese Männer in deiner Nähe«, sagte Ferada trocken. »So ist es«, stimmte Ana zu. »Die Regel, dass außer Druiden keine Männer dieses Anwesen betreten dürfen,
wirkt sich sehr positiv aus.« »Ana?«, fragte Tuala. »Mhm?« »Was, wenn dein Vetter ... wenn er...« Es war zu schreck- 421 lieh, es vollständig auszusprechen; die ganze Situation schien wirklich unvorstellbar zu sein. »Schwierige Frage.« Es war Ferada, die antwortete. Ana hatte die Hände im Schoß gefaltet, die grauen Augen plötzlich umschattet. »Was, wenn ihr Vetter beschließt, dass er nicht mehr so gehorsam sein will? Wenn er beschließt, Drust den Stier anzugreifen oder sich mit einem Feind zu verbünden, zum Beispiel mit den Galen? Ich möchte keine Antwort wagen, ich weiß nur, wenn ich eine Geisel wäre, wäre ich nicht so heiter wie Ana.« »Ich glaube nicht, dass sie mich umbringen werden«, sagte Ana leise. »Aber es wäre schon möglich; wenn sie nicht bereit sind, dieser Drohung Taten folgen zu lassen, hat es wenig Sinn, mich hier in Fortriu zu behalten. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass sie es wirklich tun würden. Königin Rhian ist sehr gut zu mir gewesen.« »Du bist in Sicherheit, solange dein Vetter glaubt, dass sie es tun würden«, sagte Ferada. »Dann ist es nur gut, dass er nicht zu Besuch kommt. Ein Blick darauf, wie man dich in Caer Pridne behandelt, und er würde erkennen, dass der König sich nie dazu durchringen könnte, dir auch nur ein Haar zu krümmen.« Tuala wusste nicht, ob Ferada das tatsächlich glaubte oder diese kleine Ansprache nur gehalten hatte, um ihre Freundin zu trösten. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist sehr schwierig für dich; ich hätte nicht fragen sollen.« »Ich habe es akzeptiert«, sagte Ana. »Unsere Herkunft macht uns bedeutsam, nicht nur als das, was meine Freundin hier königliche Zuchtstuten nennt, sondern auch als Spielfiguren, die in diesem Spiel politischer Strategie nach Belieben aufgestellt werden können. Ich habe das früh im Leben gelernt. Für mich mag diese Zeit als Geisel nicht viel länger dauern; man hält mich jetzt für heiratsfähig, und es ist sehr wahrscheinlich vorteilhafter für König Drust, mich an einen gefährlichen Fürst oder Kleinkönig zu verheiraten, - 422 den er an sich binden will. Dann wird er wohl neue Geiseln nehmen.« »Wie kannst du so ruhig darüber sprechen?«, rief Ferada. »Das alles macht mich manchmal so wütend, dass ich schreien könnte, wenn man Damen erlauben würde, etwas so Ungehobeltes zu tun. Wir haben so viel zu geben, so viel zu bieten, aber weil wir zufällig in diese Stellung geboren wurden, haben wir überhaupt keine Wahl.« »Still«, warnte Ana. »Lass Kethra nicht hören, dass du von zufälligen Geburten sprichst. Das klingt gefährlich nach einer Beleidigung der Götter. Wir müssen das Leben akzeptieren, das sie uns gegeben haben, Ferada. Wir müssen innerhalb des Wegs arbeiten, der uns zugeteilt wurde.« »Hm«, sagte Ferada und verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. »Um wieder auf deine Frage zurückzukommen, Tuala, man erwartet, dass wir an den Hof zurückkehren und dort weiteren jungen Männern vorgestellt werden, die unsere Familien für angemessene Bewerber halten. Es stehen nicht viele zur Auswahl. Sie müssen von hoher Geburt sein, gesund, von gutem Charakter und unbeirrt dem alten Glauben von Fortriu anhängen. In anderen Worten, sie müssen in jeder Weise geeignet sein, Vater eines künftigen Herrschers zu werden. Ich bin noch keinem begegnet, dessen Berührung ich auch nur ertragen könnte, von den Dingen, die ein Mann mit seiner Frau tut, gar nicht zu reden. Die meisten sehen mich von oben bis unten an, als wäre ich ein besonders gutes Stück Fleisch. Sie können nicht anders.« »Das ist ein bisschen ungerecht«, sagte Ana stirnrunzelnd. »Es sind würdige Männer unter ihnen.« »Würdig!« Ferada schnaubte höhnisch. »Wen interessiert denn schon >würdig