Dray Prescot, Abenteurer und Schwertkämpfer auf dem wilden Planeten Kregen unter der Doppelsonne von Antares, war urspr...
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Dray Prescot, Abenteurer und Schwertkämpfer auf dem wilden Planeten Kregen unter der Doppelsonne von Antares, war ursprünglich Offizier der Royal Navy und ein Zeitgenosse Napoleons. Plötzlich – Ende des 20. Jahrhunderts – tauchen auf der Erde geheimnisvolle Kassetten auf, die von ihm besprochen sind. Sie schildern seine unglaublichen Abenteuer in einem fernen Sonnensystem im Sternbild des Skorpions. Und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Dray Prescot nach fast 200 Jahren immer noch lebt, weil ihm eine rätselhafte Macht ein tausendjähriges Leben verliehen hat.
Wie Geier stürzen sich machthungrige Intriganten auf den verwaisten Thron von Tolindrin. Wird das Testament des toten Königs nicht gefunden, droht dem Land ein schrecklicher Bürgerkrieg. Da überreicht ein sterbender Schwertkämpfer Dray Prescot seine Waffe – ohne ihm das Geheimnis zu verraten. Und schon ist Dray in eine tödliche Intrige verwickelt und merkt zu spät, daß von ihm die Rettung des Landes abhängt. Denn das Schwert ist der Schlüssel ...
Aus der SAGA VON DRAY PRESCOT erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Roman: 2. Roman: 3. Roman: 4. Roman: 5. Roman: 6. Roman: 7. Roman: 8. Roman: 9. Roman: 10. Roman: 11. Roman: 12. Roman: 13. Roman: 14. Roman: 15. Roman: 16. Roman: 17. Roman: 18. Roman: 19. Roman: 20. Roman: 21. Roman: 22. Roman: 23. Roman: 24. Roman: 25. Roman: 26. Roman: 27. Roman: 28. Roman: 29. Roman: 30. Roman: 31. Roman: 32. Roman: 33. Roman: 34. Roman: 35. Roman: 36. Roman: 37. Roman: 38. Roman: 39. Roman: 40. Roman: 41. Roman: 42. Roman: 43. Roman: 44. Roman:
Transit nach Scorpio · 06/3459 Die Sonnen von Scorpio · 06/3476 Der Schwertkämpfer von Scorpio · 06/3488 Die Armada von Scorpio · 06/3496 Der Prinz von Scorpio · 06/3504 Die Menschenjäger von Antares · 06/3512 In der Arena von Antares · 06/3534 Die Flieger von Antares · 06/3547 Die Waffenbrüder von Antares · 06/3567 Der Rächer von Antares · 06/3585 Die fliegenden Städte von Antares · 06/3607 Die Gezeiten von Kregen · 06/3634 Die Abtrünnigen von Kregen · 06/3661 Krozair von Kregen · 06/3697 Geheimnisvolles Scorpio · 06/3746 Wildes Scorpio · 06/3788 Dayra von Scorpio · 06/3861 Goldenes Scorpio · 06/4296 Ein Leben für Kregen · 06/4297 Ein Schwert für Kregen · 06/4298 Ein Schicksal für Kregen · 06/4357 Ein Sieg für Kregen · 06/4358 Die Bestien von Antares · 06/4359 Der Rebell von Antares · 06/4394 Die Legionen von Antares · 06/4395 Die Verbündeten von Antares · 06/4396 Die Labyrinthe von Scorpio · 06/4472 Delia von Vallia · 06/4510 Die Feuer von Scorpio · 06/4511 Die Klauen von Scorpio · 06/4554 Die Masken von Scorpio · 06/4593 Seg der Bogenschütze · 06/4624 Die Werwölfe von Kregen · 06/4642 Die Hexen von Kregen · 06/4675 Sturm über Vallia · 06/4717 Die Omen von Kregen · 06/4789 Der Kriegsherr von Antares · 06/4806 Wiedergeborenes Scorpio · 06/4849 Meuchelmörder von Scorpio · 06/4864 Invasion von Scorpio · 06/4882 Scorpio in Flammen · 06/4923 Die Trommeln von Scorpio · 06/4928 Der Triumph von Scorpio · 06/4989 Die Intrige von Antares · 06/4807
Weitere Bände in Vorbereitung
ALAN BURT AKERS
Die Intrige von Antares Vierundvierzigster Roman der Saga von Dray Prescot
Fantasy
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4807
Originaltitel: INTRIGUE OF ANTARES Deutsche Übersetzung von Andreas Decker Das Umschlagbild malte Ken Kelly Die Karte zeichnete Erhard Ringer Umschlaggestaltung mit einem Motiv von Vicente Segrelles/Norma durch Atelier Ingrid Schütz, München
Redaktion: F. Stanya Copyright © 1993 by Kenneth Bulmer Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1993 Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-453-06585-9
EINLEITUNG
Mit dem Band Die Intrigen von Antares treten die Abenteuer Dray Prescots, die er auf Kregen zu bestehen hat, der prächtigen und gleichzeitig so schrecklichen Welt, vierhundert Lichtjahre von der Erde entfernt, in eine gänzlich neue Phase. Es bleibt ungewiß, was seit seiner letzten Begegnung mit den Herren der Sterne geschehen ist – diesen übermenschlichen Wesen, die ihn nach Kregen geholt haben, damit er ihnen als Kregoinye dienen und sie bei ihren geheimnisvollen Plänen für diese Welt unterstützen sollte. Bekannt ist lediglich, daß Delia, die glorreiche Delia von Delphond, Delia von den Blauen Bergen, den Herren der Sterne mittlerweile ebenfalls als Kregoinya dient. Dray Prescot wurde von Menschen, die ihm auf der Erde begegnet sind, als ein mittelgroßer Mann mit braunem Haar und gelassenen braunen Augen beschrieben. Sein Blick ist nachdenklich und gebieterisch. Er hat außerordentlich breite Schultern und ist sehr kräftig; er bewegt sich wie eine wilde Raubkatze, leise und tödlich. Von ihm gehen eine schonungslose Ehrlichkeit und ein draufgängerischer Mut aus. Aufgewachsen unter den harten Lebensbedingungen von Nelsons Navy, blieb ihm auf der Erde der Erfolg versagt; auf Kregen hat er sein Glück gefunden.
Man nennt ihn den Herrscher aller Herrscher, den Herrscher von Paz, aber diese Titel bedeuten ihm nichts. Paz, eine gewaltige Ansammlung von Kontinenten und Inseln, beherbergt unzählige Rassen und Nationen, und es gibt eigentlich keinen Grund, warum sie sich unter Prescots Führung vereinen sollten. Die Herren der Sterne haben ihn jedoch für diese schwere Aufgabe ausgesucht, denn er hat das Yrium, dieses besondere Charisma, das andere Sterbliche veranlaßt, sich ihm anzuschließen. Nun haben ihn die Herren der Sterne in Amintin abgesetzt, einer Stadt auf dem Kontinent Balintol. Und so stürzt sich Dray Prescot unter dem strömenden, vermengten Licht der Sonnen von Scorpio in sein neues Abenteuer. Alan Burt Akers
1 Die beiden Burschen, die mir in Amintin in die stinkende Gasse folgten, hielten sich recht geschickt in den Schatten. Doch als sie im verschwommenen rosafarbenen Mondlicht verstohlen an den Einmündungen der kreuzenden Gassen vorbeihuschten, erfüllten sie nicht einmal die grundsätzlichen Anforderungen der schlechtesten Meuchelmördergilde. Vermutlich waren es ganz gewöhnliche Straßendiebe, die mich in dem Augenblick als Opfer auserkoren hatten, in dem ich erstmals den Fuß in die Gasse gesetzt hatte. Natürlich war nicht auszuschließen, daß sie mir aus ganz anderen, wesentlich finsteren Gründen folgten. Nun, da würden sie Pech haben. Die Herren der Sterne hatten mir eine Aufgabe übertragen, die hier zu erledigen war, und da durfte ich mich durch solche Bagatellen wie Diebe oder Meuchelmörder nicht aufhalten lassen. »Du wirst von einem Mann namens Fweygo erwartet«, hatten mir die Herren der Sterne mitgeteilt. »Er wird dich über deine Pflichten informieren.« In jenen Tagen brachten mir die Herren der Sterne noch immer einen Hauch ihrer alten Überheblichkeit entgegen, obwohl sich unsere Beziehung grundlegend verändert hatte. Dieses Abenteuer war ein neu-
er Anfang, der Beginn einer neuen Phase in meinem turbulenten Leben auf Kregen. Sie hatten sich natürlich nicht herabgelassen, mir zu sagen, worum es bei diesem Auftrag eigentlich ging. Dafür hatten sie mich aber mit Kleidung und Waffen ausgestattet, und das allein war schon ungewöhnlich genug. Die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln tauchte die unsichere Gasse in ihr verschwommenes rosafarbenes Licht. Die Herren der Sterne hatten mich auf den von einer Mauer abgegrenzten Docks des Flußhafens abgesetzt. Einige der Wehrbauten waren für das Auge eines alten Kriegers recht ungewöhnlich, jedoch handelte es sich um ein fremdes Land. Ich wollte zu der Schenke mit dem Namen Netz und Stichling und hatte diesen trostlosen Weg gewählt, da man hier weniger auffiel als auf der Hauptstraße. Man hatte Amintin etwa zehn Meilen von der Küste entfernt am linken Flußufer erbaut. Überraschenderweise war der Fischgestank erträglich. Die beiden häßlichen Kerle, die sich auf meine Fährte gesetzt hatten, stanken vermutlich wesentlich schlimmer. Gelegentlich vergewisserte ich mich, daß ihnen nicht das Blut in die kleinen, spitzen Köpfe stieg und sie sich auf mich stürzten. Hin und wieder verhüllten dichte Wolken den Mond. Zwischen den Spalten des uralten unebenen Kopfsteinpflasters befanden sich Pfützen mit schmut-
zigem Wasser, doch ihre Oberflächen lagen reglos da, weil sich in der Gasse kein Windhauch regte. Die vor mir liegende Ecke sah vielversprechend aus. Dort konnte ich mich unbemerkt verbergen und mich im genau richtigen Augenblick auf meine Verfolger stürzen. Ihre Gründe waren mir, zumindest in diesem Augenblick, völlig egal; ich verspürte lediglich den Wunsch, die Aufgabe zu erledigen, wegen derer die Herren der Sterne mich nach Amintin gesandt hatten. Die Ecke war ein ausgezeichnetes Versteck, in dem ich die beiden Männer erwarten konnte. Der eine war ein Apim, also ein Homo Sapiens Sapiens wie ich auch. Der andere war ein Polsim mit spitzen Ohren und einem schmalen Teufelsgesicht, einem V-förmigen Mund und verschlagenen Gesichtszügen, die ein Leben voller verbrecherischer Erfahrungen in seine lederige Haut eingegraben hatte. Er hatte genau wie ein Apim nur zwei Arme und Beine und verfügte auch über keinen beweglichen tödlichen Schwanz. Die beiden trugen zerlumpte Gewänder, die die Brust frei ließen. Die Keulen in ihren Fäusten sahen gefährlich aus, und ihre Messer waren gewiß scharf genug, um einem die Haut vom Leibe zu ziehen, ohne daß ein Tropfen Blut floß. Die Gasse führte zum Hintereingang des Netz und Stichling. Obwohl diese kleine Hafenstadt recht trostlos war, bestand die Hoffnung, daß die Parallelstraße
nicht ganz so schmal und düster und die Schenke selbst etwas einladender war. Die huschende Bewegung am Rand des nächsten baufälligen Gebäudes fiel mir sofort ins Auge. Also gut, sagte ich mir, das macht dann drei Köpfe, die ich aneinanderschlagen muß. Ich ging leise weiter – wobei ich kein warnendes Kribbeln im Rücken spürte – und stieß auf ein größeres Gebäude, dessen drei Stockwerke hohe Wand an die Gasse angrenzte. Das mußte die Schenke sein. Ein gelbliches, mattes Licht brannte über einer geschlossenen Tür. Fenster gab es nur in den oberen Stockwerken. Für einen alten Seemann wie mich war das ein bedeutsames Zeichen. Das graue Haus machte einen verdammt deprimierenden Eindruck, was mir in meiner gegenwärtigen Stimmung gar nicht zusagte. Bei Vox! Befand ich mich nicht auf Kregen, dieser zugleich wunderschönen und schrecklichen Welt, auf der alles zu finden war, was das Herz begehrte, wenn man nur lange genug danach Ausschau hielt? Ich würde zusehen, daß ich die drei Schurken loswurde, die Schenke betreten, mich mit diesem Fweygo treffen, wer auch immer das sein mochte, den Auftrag erledigen und dann, beim Schwarzen Chunkrah, nichts wie nach Hause, zurück nach Esser Rarioch und Delia! Ja – genau da, wo die vom Mondlicht beleuchteten
Pflastersteine im tiefsten Schatten verschwanden, das war die richtige Stelle. Die Gasse wurde von Kochgerüchen erfüllt, die sich mit den Ausdünstungen von Reittieren vermischten. Einen Augenblick lang wurde der Mond von einer Wolke verhüllt, und ich tauchte in den Schatten unter. Dort drehte ich mich um, blieb dann völlig reglos stehen und wartete mit äußerst angespannten Sinnen. Plötzlich ertönte das charakteristische Klatschen kräftiger Schläge. Doch ich wartete vergeblich darauf, daß leblose Körper auf die schmierigen Pflastersteine sanken. Dann kam ein Bursche geschmeidig auf mich zugeschlendert, wobei er fast lautlos vor sich hinpfiff. »Hai, Dom«, sagte er mit einer tiefen, melodiösen Stimme. »Du mußt Dray Prescot sein.« Die Wolken gaben den Mond wieder frei, und als er ins Licht trat, erkannte ich, daß es sich um einen Kildoi handelte. Er schüttelte den Kopf. »Ein Huhn, das nur noch gerupft zu werden brauchte. Die Everoinye haben mich gewarnt, daß du schwierig sein würdest.« »Llahal, Fweygo.« »Llahal und Lahal, Dray Prescot.« »Lahal. Ich würde es vorziehen, wenn du mich Drajak nennst.« »Das haben die Everoinye auch gesagt.« Er kam näher heran. Er trug ein einfaches lederfarbenes Gewand mit einem breitem Gürtel, in dem
zahlreiche Waffen steckten. Sein Greifschwanz ruhte entspannt auf einer Schulter. Vermutlich hatte er keine Waffe gebraucht, um die beiden Burschen zu überwältigen. »Gehen wir in die Schenke. Du kannst sicher einen Becher oder zwei vertragen.« Ich sparte mir einen Seufzer, denn ich war daran gewöhnt, daß sich Kregoinye – Personen, die den Everoinye, den Herren der Sterne, dienten – mir gegenüber so benahmen. »Gut.« Wir verließen die Gasse. Fweygo pfiff fast lautlos weiter. Er bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, die nicht zu seiner massigen Gestalt zu passen schien. Die beiden Diebe hatten es bestimmt bereut, daß sie auf den goldenen Kildoi gestoßen waren. Dieser Gedanke brachte mich auf eine Frage. »Du hast sie doch nicht umgebracht?« »Die haben nur Kopfschmerzen. Zwar gibt es hier keine richtigen Ordnungshüter, doch ich vermeide es nach Möglichkeit, unnützes Aufsehen zu erregen.« Darauf gab ich keine Erwiderung. Mein treuer Kamerad und Schildträger Korero hatte mir in den vielen Perioden, die ich ihn nun schon kannte, nur einen geringen Einblick in das Wesen der Kildoi gestattet. Sie waren sehr zurückhaltend und beherrscht. Daß sie außerordentlich begabte und fähige Kämpfer waren, wußte ich nur zu gut.
Die Straße vor der Schenke war nur einen Hauch breiter als die Gasse. Über einer Flügeltür brannte eine etwas hellere Lampe, und der Geruch nach Reittieren wich dem Duft von zubereiteten Speisen und Wein. Oder zumindest nach den alkoholischen Getränken, die hierzulande als Wein durchgingen, dachte ich im stillen, als wir die Veranda betraten und die Tür aufstießen. In der Schenke wurden wir von Wärme, Gerüchen, Gelächter und einem Gefühl der Geborgenheit begrüßt. Die durchaus respektabel erscheinende Kundschaft saß an den Tischen, aß, trank und unterhielt sich. Genau in der Mitte des Raumes gab es einen freien Platz, wo zu den entsprechenden Zeiten vermutlich getanzt wurde. Fweygo führte mich zu einem von einem Vorhang verhüllten Durchgang, hinter dem eine Treppe nach oben führte. Er sagte kein Wort, bis wir vor einer der Türen des im oberen Stockwerk befindlichen Korridors standen. Er hob den Greifschwanz, um anzuklopfen, zögerte dann aber. Das schwache Licht einer einzelnen Lampe fiel in sein ausdrucksstarkes Gesicht mit den zusammengezogenen Augenbrauen, dem kräftigen Kinn und den dichten goldenen Wimpern, die tiefliegende Augen beschatteten. Meiner Erfahrung nach waren alle Kildoi beeindruckend; dieser Fweygo schien ein zuverlässiger Bursche zu sein.
»Die Everoinye haben gesagt, daß du schwierig bist, Dray Prescot – Drajak. Diese beiden Straßenräuber – du mußt aufmerksamer sein. Und sei respektvoll zu der Prinzessin – Prinzessin Nandisha.« Er warf mir einen Blick zu, als wollte er durch die Kraft seiner Persönlichkeit dafür sorgen, daß ich mich zusammenriß. »Sprich die Prinzessin nicht als Majestrix an. Sie ist inkognito.« Ich nickte bloß. Er ballte die sehnige Schwanzhand zur Faust und pochte zweimal leise an. Die Tür flog sofort auf, und ein gewaltiger Numim stand uns gegenüber; die abgedunkelte Beleuchtung brachte sein Fell zum Funkeln, und die löwenähnlichen Gesichtszüge blickten uns streng an. Er hielt ein Schwert in der Faust. »Das ist Drajak, Ranaj, ein Freund«, sagte Fweygo schnell. Ranaj entspannte sich sichtlich. Er trat wortlos zur Seite, und wir betraten den Raum. Dort saßen zwei Personen, von denen eine aufstand. Es handelte sich um eine Numim, die die gleiche prächtige goldene Farbe wie Ranaj hatte. Sie war auf diese besondere löwenhafte Weise schön, um die jede andere Diff-Rasse einen Numim beneidet. Die Frau, die sitzengeblieben war, mußte Prinzessin Nandisha sein. Sie war eine Apim, und meiner Einschätzung nach trug ihr Gesicht normalerweise
einen erhabenen, selbstsicheren Ausdruck. Doch nun war der Blick aus den dunklen Augen getrübt, und auf der Stirn zeigten sich Sorgenfalten. Die fest zusammengepreßten Lippen verrieten eiserne Entschlossenheit. Sie hatte sich in einen weiten, dunkelblauen Reiseumhang eingehüllt und hielt den Saum mit einer juwelenübersäten Hand bis ans Kinn. »Wir haben schon gedacht, Fweygo«, sagte sie, hielt dann inne und leckte sich über die Lippen, »wir haben schon gedacht, du hättest uns im Stich gelassen.« »Niemals, meine Dame. Ich mußte mich nur vergewissern, daß Dra – ähm – jak sicher den Weg fand ...« »Gab es Probleme?« fragte Ranaj dröhnend. Die Numim-Dame, bei der es sich nur um seine Frau handeln konnte, legte beklommen die Hand an die Brust. »Nein, nein, meine Dame.« Fweygos Stimme verriet unerschütterliches Selbstvertrauen. »Kein Grund zur Sorge, Ranaj. Wir brechen sofort auf, sobald die Reittiere hier sind.« Die Prinzessin zupfte aufgeregt an dem blauen Stoff. »Ich wünschte, sie würden sich beeilen.« Nun wurde mir langsam klar, was Fweygo und ich im Auftrag der Herren der Sterne erledigen sollten. Wir mußten Prinzessin Nandisha und ihr Gefolge si-
cher aus Amintin herausbringen. Warum die Everoinye das wollten, konnte ich natürlich nicht sagen. Ihre Pläne trugen oft erst in ferner Zukunft Früchte. Die Personen, denen ihre Kregoinye beistanden, würden vielleicht einmal Dynastien gründen, Regime stürzen oder ganz Kregen ein neues Antlitz geben. Mir war das gleich. »Was ist unser Ziel?« fragte ich. »Schweig, Drajak! Du sprichst nur dann, wenn du dazu aufgefordert wirst«, sagte Ranaj. Sein Tonfall war beherrscht, sogar höflich, doch seine Autorität war unüberhörbar. Nun, die Numim würden ausgezeichnet mit dem Kildoi zurechtkommen, dachte ich im stillen. In dem Zimmer schwärte eine furchtbare Anspannung, eine mühsam unterdrückte Furcht. Entweder hatten diese Leute etwas Schreckliches erlebt oder fürchteten, daß etwas Schreckliches passieren würde, und deshalb waren Fweygo und ich hier, entweder um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen oder um sie zu verhindern. Ein leiser, schriller Aufschrei, der hinter der Tür zum Nebenzimmer ertönt war, ließ die Numim herumwirbeln. Sie eilte sofort auf die Tür zu. »Das war Nisha, das arme Wurm.« Sie verschwand im Nebenzimmer. Ranaj sah mich an und sagte: »Du bist hier, um
Fweygo und mir zu helfen. Wir müssen die Kinder meiner Dame, der Prinz ... die kleine Nisha und Lord Byrom beschützen ...« »Du darfst deine Kinder nicht vergessen, Ranaj«, wurde er von Nandisha unterbrochen. »Deine Zwillinge Rofi und Rolan.« »Aye, meine Dame. Ich danke dir.« Hm! dachte ich wenig erfreut. Vier Kinder unbeschadet durch eine unbekannte Gefahr zu bringen – und ich wußte so sicher, wie Zim und Genodras jeden Tag am östlichen Horizont aufgehen, um Kregen mit ihrem Licht zu erfüllen, daß viele Gefahren vor uns lagen, bei Krun! »Drajak wird seinen Teil der Aufgabe erledigen«, sagte Fweygo mit überraschender Zuversicht, wenn man die geringschätzigen Bemerkungen in Betracht zog, die er über mich gemacht hatte. »Wir müssen die Hauptstadt so schnell wie möglich erreichen«, sagte die Prinzessin mit deutlich hörbarer Verzweiflung in der Stimme. »Die Kinder ... Wir sind nicht sicher.« »In Bharang werden wir Flugboote finden, meine Dame«, sagte Ranaj. Das ängstliche Wimmern des Kindes im Nebenzimmer verstummte. Die Besorgnis dieser Leute, die fast schon an Panik grenzte, gefiel mir kein bißchen. Sie hatten Angst vor jemandem. Nun, wenn sie von
mir erwarteten, daß ich ihnen zur Hilfe kam, hätten sie mir ruhig sagen können, um wen oder was es sich dabei eigentlich handelte, oder? Doch natürlich dachte ein typischer Adliger, in diesem Fall eine stolze Prinzessin, nicht soweit. Gewöhnlichem Volk – zu dem ich in ihren Augen gehörte – sagte man, was es zu tun hatte; man befahl ihm, den Mund zu halten und in einem blutigen Gemetzel zu sterben, damit der Prinzessin kein Haar gekrümmt wurde. Ich fing Fweygos Blick ein und deutete mit dem Kopf zur Seite. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und schaute weg. Was auch immer hier im Gange war, seine Verpflichtung den Herren der Sterne gegenüber kam bei ihm an erster Stelle, und deshalb würde er sich auf keine unnötigen Schwierigkeiten einlassen. Da wir uns auf Kregen befanden, wo nun buchstäblich alles geschehen kann und den Worten eines unsterblichen Liedes zufolge auch geschehen wird, konnte man unmöglich abschätzen, wer unsere Gegner eigentlich waren. Es konnten Ungeheuer, Dämonen oder Regimenter dem Wahnsinn verfallener Bogenschützen sein. Ein leises Klopfen an der Zimmertür ließ Nandisha zitternd hochfahren. Sie erbleichte. Ranaj huschte mit gezogenem Schwert zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Ein paar leise Worte wurden ausgetauscht, dann kam er zurück. »Die Reittiere sind da.«
Als es nun endlich losging, verschwendeten diese Leute keine Zeit. Ranajs Frau, die auf den Namen Serinka hörte, brachte die Kinder. Sie waren alle etwa im gleichen Alter, so etwa sieben oder acht, und diese ungewöhnlichen nächtlichen Aktivitäten sorgten dafür, daß sie trotz ihrer Müdigkeit die Augen offen hielten. Die vier Erwachsenen nahmen jeder ein Kind, so daß ich der einzige blieb, der die Arme frei hatte. Ranaj übernahm die Spitze. Wir gingen den Korridor weiter entlang, bis wir zu einem niedrigen Durchgang kamen, der zu einer an der Außenwand der Schenke befindlichen Treppe führte. Das Mondlicht versah alles mit einem rosaroten Schimmer, und ich behielt die Schatten im Auge. Zwei Burschen hielten die Zügel von fünf Freymuls. Keiner sprach ein Wort. Das Freymul, ein nützliches Reittier, das oft als die Zorca des kleinen Mannes bezeichnet wird, hat gewöhnlich ein schokoladenbraunes Fell; diese Tiere waren eher cremefarben. Mit Hilfe der schweigenden Stallknechte saßen alle auf. Ich hoffte, daß sich mein Tier nicht als allzu schlecht erweisen würde, obwohl ich sicher schon auf minderwertigeren Tieren geritten war. Ranaj trieb sein Freymul mit einem leisen Zungenschnalzen an und hielt auf das offenstehende Hoftor zu. Der Weingeruch ließ nach und wurde vom Stadtgestank ersetzt.
Es fing an zu regnen. Die Kinder wurden von den Reitumhängen der Erwachsenen geschützt. Ich hatte keinen Umhang. Mein Gewand saugte sich langsam voll Wasser. Im leichten Trab ritten wir die Seitenstraße entlang und näherten uns der stinkenden Gasse, in der Fweygo die beiden Straßenräuber ausgeschaltet hatte. Ich bildete die Nachhut. Selbstverständlich blickte ich mich ständig um, behielt die Straße im Auge und unterzog jeden rosafarbenen Schatten einer genauen Überprüfung. Vor uns lag eine breitere Straße, in der es ein paar flackernde Lampen gab, deren Licht durch den fallenden Regen in einen bunten Schein verwandelt wurde. Dort würden wir schneller vorankommen. Fweygo zügelte sein Freymul, bis ich an ihn herangekommen war, und wir ritten Steigbügel an Steigbügel. Das Kind, das vor ihm auf dem Sattel saß, war endlich eingeschlafen. Er sprach so leise, daß nur ich ihn hören konnte. »In Bharang müßten wir einen Voller bekommen. Dann dürfte die Reise in die Hauptstadt eigentlich kein Problem mehr darstellen. Bharang liegt etwa achtzig Dwabur entfernt. Halte deine Augen und Ohren offen.« Es ist recht nützlich, wenn man wie ein Kildoi vier
Arme hat; so kann man die Zügel führen und ein Kind festhalten, während man gleichzeitig noch eine Hand für die Waffen frei hat. Die bewegliche Schwanzhand kann währenddessen dem Reittier öfters einen Klaps geben, damit es sich benimmt und brav weiterreitet. Apim wie ich, die nur über zwei Arme und keine Schwanzhand verfügen, sind auf Kregen manchmal erheblich im Nachteil. »Wovor haben diese Leute Angst?« fragte ich. »Wer verfolgt sie?« »Ihr Flieger hat versagt, und sie mußten hier notlanden. Nandishas Onkel ist vor kurzem gestorben. Es gibt Probleme bei der Thronfolge. Die Everoinye haben sich da nicht klar ausgedrückt.« Ich hielt mich zurück und sparte mir einen Kommentar wie: »Bei Krun! Wie ungewöhnlich!« Vermutlich hatten die Herren der Sterne diesem goldenen Kildoi Fweygo eine ganze Enzyklopädie an Informationen anvertraut. Was mich betraf, so machten sie sich gewöhnlich nicht einmal die Mühe, mich einen Blick auf die erste Seite werfen zu lassen. Allerdings mußte ich zugeben, daß sich ihr Verhalten mir gegenüber in letzter Zeit geändert hatte. In Zukunft würde ich den Herren der Sterne ganz behutsam gegenübertreten. »Wir müssen eine der Brücken überqueren, wenn wir nach Westen wollen.« Fweygo hörte sich nicht
übermäßig beunruhigt an. »Es sei denn, Ranaj hat ein Boot organisieren können.« Ich sah nach hinten und entdeckte ein paar Leute, die auf der Straße herumschlichen. Außerdem war gerade eine Gruppe von Reitern um eine Ecke gebogen, die sich etwa hundert Meter hinter uns befand. Sie waren zu viert und hatten sich in Umhänge eingehüllt. Bestimmt wegen des Regens, sagte ich mir. Sie trabten gemächlich hinter uns her. Unsere kleine Gruppe bog nach links auf eine Straße ab, in der hohe Holzhäuser für tiefe Schatten sorgten. Auf der Straßenmitte flossen Rinnsale. In der Ferne erhob sich am Flußufer ein gedrungener Turm, der das Tor bewachte. Da Ranaj an der Spitze ritt, war es seine Aufgabe, diese Hürde für die nächtliche Reisegruppe aus dem Weg zu räumen. Ich nahm an, daß er dafür über genug Autorität und Überzeugungskraft verfügte. Ein Blick zurück bestätigte, daß die vier Reiter uns noch folgten. Ranaj bog wieder nach links ab, so daß wir uns von der Brücke entfernten. Wir ritten an erbärmlichen Gebäuden vorbei; es waren nicht mehr als baufällige Hütten, deren Dächer sich unter der Last des Regens bogen. Die Hufe der Freymuls stapften durch nachgiebigen Schlamm. Ich kauerte mich in meinem nassen Gewand zusammen und blickte nach hinten. Die vier Reiter waren nicht mehr zu sehen. Falls sie
uns verfolgten – und da meine Unternehmungen auf Kregen gewöhnlich eher verzweifelter Natur waren, konnte man wohl davon ausgehen –, nahmen sie vermutlich eine Parallelstraße, um den Fluß zu erreichen. »Also doch ein Boot«, sagte Fweygo. »Vier Reiter. Es könnte sein, daß sie uns verfolgen«, sagte ich. Fweygo sah sofort nach hinten. Er schüttelte den Kopf. Wir ritten weiter durch den Regen auf den Fluß zu. Das Gewirr der Hütten endete in einer unregelmäßigen Linie an einem breiten, schlammigen Platz, hinter dem sich die Stadtmauer dunkel gegen das Flußufer abzeichnete. Netze hingen auf Holzgestellen. Kleine, Skiff-ähnliche Boote waren an Land gezogen. In der Mauer befand sich ein unbewachtes, schmales, aus Gitterstäben bestehendes Tor, das auf den Fluß hinausführte. In Vallia hätte man so etwas nicht geduldet. Wie dem auch sei, das war unser Weg aus der Stadt. Der Mann, der auf uns zukam, war ein Gon, der seinen Glatzkopf mit der Kapuze seines Umhangs bedeckt hatte. Seine Augen waren gerötet, seine Nase war gerötet, und gelegentlich nieste er so laut, daß es sich anhörte, als würde eine Signalrakete abgefeuert. Er zeigte auf das Boot, das wir benutzen sollten. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Ranaj war gerade im Begriff abzusteigen, als plötzlich lautes Geschrei ertönte. Dunkle Gestalten stiegen behende über die direkt vor uns aufragende Stadtmauer. Im funkelnden rosafarbenen Mondlicht blitzten tödliche Speere auf. Es waren nur ein einziger Blick und eine einfache Schlußfolgerung nötig, um die Situation richtig einzuschätzen. »Piraten!« kreischte der Gon und stürmte wie ein Besessener zurück in die Schatten der Netze. »Numi Hyrjiv! Komm sofort zurück!« rief ihm Ranaj hinterher. Der Numim schwang sich wieder in den Sattel, wobei er die ganze Zeit das Kind festhielt. Die Prinzessin rief etwas Unverständliches, dann griff Ranaj nach der Trense ihres Reittieres und riß Freymul und Reiterin gewaltsam herum. Fweygo schnappte sich das andere Tier und führte Serinka auf die gleiche Art, wie ihr Ehemann Nandisha führte. Die Gruppe galoppierte auf den Schutz der Hütten zu. Die Angreifer schwärmten über die Mauer und ließen sich einfach wie fette schwarze Fliegen fallen. Dabei machten sie laute, platschende Geräusche, als sie in den Schlamm einsanken. Vermutlich hatten sie nicht damit gerechnet, innerhalb der Stadtmauern auf eine so große ungepflasterte Fläche zu stoßen; ich wäre zweifellos überrascht gewesen, denn so etwas war
ungewöhnlich. Wie dem auch sei – dieses Hindernis verschaffte uns einen Vorsprung. Das Freymul ist ein gefügsames Tier, auch wenn es nicht so kräftig ist, wie man es sich wünschen würde. Doch die fünf Tiere gehorchten. Wir galoppierten an den Netzen vorbei auf die niedrigen Hütten zu. Ein paar Pfeile verfehlten uns; in dieser Nacht würde der Regen zielsicheres Schießen verhindern. Die Plünderer mußten nach Einbruch der Dunkelheit den Fluß heraufgerudert sein und wollten nun morden und rauben. Also waren die Piraten der Grund gewesen, warum man Amintin zehn Meilen flußaufwärts von der Küste entfernt errichtet hatte; darum gab es bei den größeren Gebäuden auch keine Fenster im Erdgeschoß. Zweifellos hatten die Wachen, die auf der Stadtmauer patrouillierten, vor dem Regen Unterschlupf gesucht. Doch das war jetzt egal. Nun zählte nur noch, daß Piraten in die Stadt eingedrungen waren und wir keinen Weg nach draußen gefunden hatten. Die Hufe der Freymuls hämmerten ein Stakkato auf die Pflastersteine, nachdem sie den Schlamm hinter sich gelassen hatten. Die Nacht wurde von lauten Rufen erfüllt, als die Einwohner Amintins erwachten und entsetzt feststellen mußten, was auf sie zukam. Eines war sicher, dachte ich, als wir auf die Hauptstraße zuritten: diese unheilige Horde, die uns brül-
lend auf den Fersen war, würde nicht die einzige Piratengruppe sein, die in dieser dunklen und stürmischen Nacht über die Stadtmauer kam. Und als hätte Pixirr, der Gott des Unheils, meinen Gedanken gelauscht, stürmten aus der nächsten Seitenstraße verängstigte Amintiner, die von einer Bande Plünderer begeistert verfolgt wurden. Die Piraten blockierten uns den Weg. »Hier entlang!« brüllte Ranaj. Er riß sein Tier herum und zerrte Nandishas Freymul quer über die Straße. Fweygo schloß sich ihm mit Serinka an. Da ich den Platz kannte, den sie mir zugestanden, bildete ich wie gewöhnlich die Nachhut. Aus welcher Richtung der Pfeil kam, der sich in Nandishas Freymul bohrte, hätte nicht einmal der erfahrenste und hingebungsvollste Anhänger Erthanfydds sagen können. Vermutlich hatte ihn sogar einer der verängstigten Städter abgeschossen. Nandisha und das Kind stürzten in den Matsch, und Fweygo konnte nur mit Mühe einen katastrophalen Zusammenstoß verhindern. Das arme Freymul lag am Boden und trat um sich. Ranaj grollte etwas Unverständliches, und Serinka wollte absteigen, um ihrer Herrin zur Hilfe zu kommen, doch ich war vor ihr an Ort und Stelle. Die Prinzessin erhob sich, wobei sie ihr Kind fest umklammerte.
»Bist du unverletzt?« »Ich – ich glaube schon.« Der Lärm hinter unserem Rücken wurde lauter. Uns blieb keine Zeit. Ich hob sie hoch, und um Zair die Ehre zu geben, viel war nicht an ihr dran. Ich setzte sie auf mein Freymul, und die ganze Zeit ließ sie ihr Kind nicht los. Fweygo fauchte etwas, und ich rief ihm zu: »Reite los, Fweygo!« Ich gab dem Freymul einen gewaltigen Schlag auf die Kruppe, und es galoppierte erschreckt los. Nandisha hielt sich verzweifelt fest; dabei schwankte sie wie ein Betrunkener auf einem Schenkenhocker. »Drajak!« rief Fweygo. Ranaj ließ die Zügel des verwundeten Freymuls los und jagte Nandisha hinterher. Serinka sagte kein Wort. »Drajak!« rief Fweygo erneut. »Reite!« brüllte ich ihn an. »Du weißt, warum!« Selbst jetzt spiegelte das Gesicht des Kildois Unentschlossenheit wider. Vielleicht war er noch nie von den Herren der Sterne bestraft worden so wie ich; mit Sicherheit würde man ihn keine vierhundert Lichtjahre durch den leeren Raum schleudern, um ihn für seine Fehler büßen zu lassen. Es lag nicht in seiner Natur, vor einem Kampf davonzulaufen oder einen Freund im Stich zu lassen, egal, wie kurz er ihn kannte. Doch als guter Kregoinye wußte er, was zu tun
war, wenn die Everoinye einen Befehl gegeben hatten. »Ich sehe dich später«, rief ich ihm zu und zog das Schwert aus der Scheide, mit dem die Herren der Sterne mich ausgerüstet hatten. »Ja, Drajak«, erwiderte er, wandte sein Tier herum und zerrte Serinka mit sich. »Ja. Sieh bloß zu, daß es auch dazu kommt.« Dann galoppierte er los. Und ich drehte mich um, damit ich mir einen Überblick verschaffen konnte, was zum Teufel ich aus dieser gefährlichen Situation machen konnte. Überall schienen Piraten durch das rosafarbene Mondlicht zu stürmen. Städter schrien auf, flohen und wurden niedergemacht. Trotz des Regens standen bereits ein oder zwei Häuser in Flammen, und bald würde der Feuerschein so hell sein, daß das Morden noch problemloser vonstatten gehen würde. Man mußte die Piraten daran hindern, Fweygo zu folgen. Das war meine Aufgabe. Als sich die Flammen weiter ausbreiteten und der Regen nachließ, konnte man mehr sehen. Der Gestank von Feuer und Feuchtigkeit hing über der Stadt. Ich stand direkt vor der Gasseneinmündung, in der Ranaj mit dem Rest unserer Gruppe verschwunden war. Dort würde ich kämpfen. Leider hatte ich keinen Bogen. Nun, falls dies das Schicksal sein sollte, das Kregen für mich bereithielt, konnte ich es auch
nicht ändern. Ich würde tun, was in meiner Macht lag, bevor sie mich töteten. Ich straffte die Schultern und machte mich bereit. Ich, Dray Prescot, Lord von Strombor und Krozair von Zy, schritt zu der Stelle, an der ich meinen letzten Kampf ausfechten wollte. Da rutschte ich auf einer bösartig schimmernden, schlammigen Stelle aus, versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu behalten und stürzte schwer. Da ich dabei alle viere ausstreckte, sah ich aus wie eine Schildkröte, die man auf den Rücken gedreht hatte. Soviel zu dem Versuch, mich heldenhaft in Positur zu setzen!
2 Ich stand auf. Ich sagte kein Wort – nicht ein einziges. Gewand und Lendenschurz, die mir die Herren der Sterne gegeben hatten, waren klatschnaß und verdreckt. Klebriger Schlamm war in die Stiefel eingedrungen. Die Schwertscheide, ein billiges Ding aus dünnem Leder, Holz und grünem Messing, war verbogen, zusammengeschrumpft und verdreht. Das Schwert, eine ordentliche Waffe mit gerader, scharfer Klinge, hatte einen drahtumwickelten Holzgriff, eine fadenscheinige Parierstange und eine Spitze, war also in der Hauptsache eine Hiebwaffe. Ich hob es auf und blickte mich um, konnte aber nicht viel erkennen, weil mir triefendes und schlammverkrustetes Haar in die Augen fiel. Mit einer schwungvollen Geste, die etwa zu gleichen Teilen Resignation wie auch Wut ausdrückte, strich ich das Haar aus der Stirn, wischte mir mit der Hand durchs Gesicht und hielt dann nach Piraten Ausschau, die an mir vorbei wollten. Die Situation war alles andere als neu und ziemlich häßlich. An den Küsten wimmelte es von Piraten, und nun, da die Bedrohung durch die Shanks zumindest für den Moment abgewehrt war, gab es für die See- und Küstenräuber kein Halten mehr. Leute
rannten ziellos umher. Der Lärm schwoll an und verebbte wieder, scheinbar im Rhythmus der Rauchwolken, die sich über den Dächern verbreiteten. Bei Zair, Amintin war ein armseliger Ort; dennoch gab es für die verdammten Halsabschneider lohnende Beute. Ich kannte mich mit Piraten aus – schließlich war ich lange genug mit Viridia, der reizenden Piratin, unterwegs gewesen – und hatte das Gefühl, daß es sich bei dieser üblen Horde um den Bodensatz und den Abschaum der Gesellschaft handelte. Ich stand wie ein Dummkopf vor der Gasseneinmündung; so konnte man leicht überrannt und getötet werden. Also tauchte ich schnell im Schatten des nächsten Hauses unter, überprüfte die Gasse, die nun verlassen dalag, und wandte mich dann wieder der Straße zu. Falls irgendwelchen Piraten die Flucht unserer Gruppe aufgefallen war, kam im Augenblick jedenfalls keiner herangelaufen, um nachzusehen. Also dachte ich darüber nach, mich durch die Gasse zurückzuziehen und mir ein Reittier zu organisieren, damit ich die anderen einholen konnte. Zu diesem Zeitpunkt meines Lebens auf Kregen kämpfte ich nur, wenn es unbedingt sein mußte, und selbst dann nur sehr zögernd. Doch wenn ein Handgemenge unumgänglich war, warf ich mich wie jeder erfahrene Krieger mit wilder Entschlossenheit in den Kampf, um ihn so schnell wie möglich zu beenden.
Der größte Lärm kam nun aus einem weiter entfernten Stadtteil. Vermutlich hatten die Seeräuber erkannt, daß der Überraschungsmoment vorbei war, und dieses Viertel längst hinter sich gelassen. Sie konzentrierten sich jetzt auf die Ziele, wo sie fette Beute erwartete. Die Leute im Netz und Stichling beispielsweise hatten sich bestimmt verbarrikadiert und würden heftigen Widerstand leisten. Als ich diese Entscheidung getroffen hatte, verschwendete ich keine Zeit mehr. Mit dem Schwert in der Faust wagte ich mich in die Gasse, und bei Krun, dabei hielt ich die Augen weit offen. Der Regen hatte spürbar nachgelassen, und die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln sandte ihr rosafarbenes Licht durch Lücken in der Wolkendecke. Es war sogar einer von Kregens zwei Monden zu sehen, der dort oben funkelte und die Ereignisse hier unten gleichgültig betrachtete. Beinahe hätten sie mich trotz meiner unablässigen Aufmerksamkeit erwischt. Doch ich bin ein alter Leem-Jäger und nicht so leicht aus dem Hinterhalt zu überfallen. Vier Piraten stürzten sich aus einem dunklen Hauseingang auf mich. Sie wollten mich mit Speeren und Dreizacks massakrieren, und es kam zu einem schnellen und tödlichen Austausch von Hieben, Vor-
stößen, Ausweichmanövern und Drehungen, bevor sie alle zu Boden sanken. Das Schwert war verdammt unhandlich. Ich schüttelte es wütend. Hinter der nächsten Abzweigung ertönten heftige Kampfgeräusche. Der gewöhnliche Plünderer greift sich seine Beute gern so problemlos wie nur möglich. Zweifellos waren die Piraten dem Blutrausch verfallen. Das kann passieren. Ich näherte mich vorsichtig dem Kampf. Rosafarbenes Mondlicht fiel auf eine Hauswand. Sieben oder acht Halsabschneider tänzelten herum und versuchten die vier Männer zu töten, die mit dem Rücken zur Hauswand standen. Auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster lagen ein paar Leichen. Für Unentschlossenheit war keine Zeit. Ich sprang vor. Natürlich hatten sie mir den Rücken zugewandt, doch ich hatte keine Bedenken, sie in dieser Position anzugreifen. Die ersten drei sanken mit entsetzten Schreien zu Boden, bevor ihre Kumpane erkannten, daß sich die Gleichung durch eine neue Größe verändert hatte. Ein bärtiger Pirat stach mit aller Kraft mit einem langen Speer nach meinem Leib. Mit der linken Hand, die mich schon in wütenden Orkanen die Wanten hochgebracht hatte, riß ich ihm den Speer
aus der Hand. Dann benutzte ich die Waffe kurzerhand dazu, sie ihrem ehemaligen Besitzer um die Ohren zu schlagen. Er ging zu Boden. Irgend jemand in dem Handgemenge vor dem Haus lachte. Es war ein unbeschwertes, eigentümliches, eindeutig amüsiertes Lachen, das den Kampfeslärm kristallklar durchdrang, und es kam völlig unerwartet. Es verriet mir, daß da jemand war, der diese kleine Auseinandersetzung nicht allzu ernst nahm. Da ich mich gerade mit einem neuen Gegner herumschlagen mußte, bildete ich mir unbewußt ein Bild des Charakters und der Persönlichkeit dieser Person, und – doch das sollten Sie selbst entscheiden. Die Piraten trugen hauptsächlich Lederrüstungen, die sich aus schlecht zusammenpassenden Teilen zusammensetzten. Der Kerl, der mir jetzt gegenübertrat, ein bösartiger Chulik, hatte eine Eisenrüstung. Seine gelben Hauer waren mit Silberringen geschmückt. Der gedrungene Körper schien den Eisenharnisch sprengen zu wollen, als unsere Waffen klirrend aufeinanderprallten und wir uns dann wieder einen Schritt zurückzogen, deshalb vermutete ich, daß er die Rüstung irgendwo erbeutet hatte und sie ihm nicht richtig paßte. »Hinter dir!« rief jemand. Das konnte eigentlich nicht mir gelten, doch auf Kregen bleibt man nicht lange am Leben, wenn man
auch nur die leiseste Warnung ignoriert. Ich sprang zur Seite, wirbelte herum und wandte mich sofort wieder dem Chulik zu, um dessen hinterhältigen Schlag auszuweichen. Als er an mir vorbeistürmte, versetzte ich ihm einen Hieb. Das verdammte Schwert zerbrach in zwei Stücke. Er stürzte sich auf mich, und er war bis an die gelben Hauer bewaffnet. Die Chuliks haben menschliche Charaktereigenschaften – in gewisser Weise. Mein Gegner weidete sich offensichtlich an meiner mißlichen Lage. Mit seinen runden schwarzen Augen und der öligen gelben Haut unterschied er sich durch nichts von Tausenden seiner Artgenossen. Aber er blickte mich höhnisch an. »Sich von hinten anschleichen, was? Bei Likshu dem Verräterischen, das hast du nun davon!« Er kam heran und wollte mich mit seinem Schwert durchbohren. Ich wich nach rechts aus, drehte mich in seinen Schlag hinein und konnte seinen Schwertarm auf diese Weise mit dem Unterarm beiseite zwingen. Ich setzte ihm die Faust auf die Stupsnase und ließ dem Schlag einen tückischen Tritt folgen, den die Ausbilder der Krozair von Zy ihren Schülern in der Disziplin des waffenlosen Kampfes ganz zu Anfang beibringen. Er brüllte. Er schrie sich die Seele aus dem Leib. Dort unten trug er keine Eisenrüstung – dort trug
er gar keine Rüstung, sondern lediglich einen schmutzigen braunen Lendenschurz. Er krümmte sich zusammen, und die Kraft meiner Faust, die sein Kinn traf, wurde noch durch seine eigene Bewegung unterstützt. Ich sprang sofort ohne nachzudenken zur Seite, denn bei solchen Kämpfen ist es von entscheidender Bedeutung, keinem Gegner eine Angriffsfläche zu bieten. Die Axt mit der einfachen Klinge durchteilte die Luft an der Stelle, wo sich noch eben mein Kopf befunden hatte, und traf klirrend auf die Pflastersteine. Der Schlag war so kräftig geführt worden, daß dem Rapa, der mir den Schädel spalten wollte, die Axt aus der Hand geprellt wurde. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Schwert des Chuliks in der Hand, und noch bevor die Sekunde vergangen war, steckte es im Leib des Rapa. Die Klinge war stark gekrümmt, fast wie bei einem dieser albernen Säbel, doch sie erledigte mühelos das, was der Rapa eigentlich mir zugedacht hatte. Ein schneller Blick in die Runde verriet mir, daß alle Piraten am Boden lagen. Der Chulik lag zusammengekrümmt da und stöhnte. Ich muß zugeben, daß ich ziemlich hart zugetreten hatte. »Ich danke dir, Freund. Llahal.« Die Stimme klang unbeschwert und amüsiert.
Ich sah mir den Mann an, als er sich von der Wand löste und auf mich zukam, in der rechten Hand das blutige Rapier, in der anderen den dazugehörigen Dolch. Er sah aus wie ein Stutzer, o ja, doch sein ganzes Erscheinungsbild erinnerte an einen Raubvogel, der harmlos aussieht, weil ihm sein prächtiges Federkleid ein hübsches Aussehen verleiht. Der Mann war wie der kalte Stahl seines Rapiers, dessen Griff mit hübsch bunten Juwelen verziert war. »Llahal«, sagte ich. Seine drei Freunde waren sichtlich erleichtert, noch unter den Lebenden zu sein. Sein Blick fiel auf den stöhnenden Chulik. Er runzelte leicht die Stirn. Seine roten Lippen bildeten eine dünne, harte Linie. Er trat heran und stieß dem Chulik das Rapier mit feinfühliger Präzision bis ins Herz. Da der Pirat zusammengekrümmt dalag, stach ihn dieser freundliche Zeitgenosse in den Rücken. Mir war klar, daß die Rapierspitze direkt zwischen Wirbelsäule und Rippen eingedrungen war und das Herz mit unnachahmlicher Treffsicherheit zerfetzt hatte. Das war mir klar. »Es ist besser, wenn man aufräumt. Ich habe gern alles ordentlich.« Sein Gesicht war durch den hitzigen Kampf kaum gerötet. Über dem schmalen Mund wuchs ein dün-
ner, schwarzer Schnurrbart. Als er seine Waffen gereinigt hatte, strich er sich als erstes mit dem Zeigefinger über die elegante Manneszierde. Nachdem der unmittelbare Kampfeslärm verklungen war, kamen mir andere Geräusche zu Bewußtsein. Die Stadt war von lautem Geschrei erfüllt. Die niedrige Wolkendecke spiegelte einen rot wabernden Schein wider. Die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln beleuchtete das Bild noch zusätzlich mit ihrem rosafarbenen Licht. »Was sollen wir jetzt tun, Notor?« fragte einer der Männer. Es war ein kleiner, drahtiger Bursche. Unter seiner runden Ledermütze ragte ein strohfarbener Haarschopf hervor, in der Hand hielt er ein kurzes Schwert mit blutbefleckter Klinge. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er ständig jemanden brauchte, der ihm sagte, was zu tun war; die Weise, wie er die Lippen verzog und die Augen zusammenkniff, zeigte jedoch eine gewisse eiskalte Berechnung. »Tun, Fambly, tun? Nun, wir werden diesem Ehrenmann die Hand schütteln und ihm für seine Hilfe danken.« Die beiden anderen Männer, die bereits ihre Waffen reinigten, trugen widerstandsfähige Lederrüstungen, und es war ziemlich offensichtlich, daß es sich um Leibwächter handelte. Sie hatten sich ihren Lohn verdient, wie die Leichen zu ihren Füßen verrieten.
Der Edelmann musterte mich berechnend. »Wie heißt du, mein Freund?« »Drajak«, sagte ich freundlich. »Und du?« Sein Diener holte erschrocken Luft. In vielen Teilen des kregischen Kontinents Paz ist Notor die gebräuchliche Anrede für einen Adligen. Ich hatte mich in der letzten Zeit genug vor Adligen dukken müssen und dachte nicht daran, schon wieder damit anzufangen. Auf mich warteten dringende Angelegenheiten – ich mußte Fweygo und den anderen folgen und auf die Gütigen Geister von Uttar Soblime vertrauen, daß sie nicht alle getötet worden waren. Er runzelte einen Augenblick lang die Stirn, dann entspannte das unbeschwerte, amüsierte Lachen die Situation – zumindest was ihn und seinen Diener betraf. Mir war völlig egal, wer er war. Ich wollte weiter. »Ich bin Amak Dagert – Dagert von Paylen. Lahal.« »Lahal. Wenn du mich nun entschuldigst, ich habe ...« Er hatte ein gelbes Tuch unter dem kurzen Umhang hervorgeholt, den er über der Rüstung trug, und reinigte damit das Schwert. Dann faltete er das Tuch wieder zusammen und steckte es mit den gezierten Bewegungen eines Höflings zurück. Seine Stimme klang wie geölter Stahl, der aus der Schwertscheide gezogen wird.
»Ich glaube, Drajak, du wirst deine Pläne ändern müssen.« Ich drehte mich gleichmütig um und folgte seinem Blick. Eine ganze Horde Piraten kam auf uns zu. Sie trugen Fackeln, da der Regen mittlerweile aufgehört hatte, und das grelle Licht wurde von den feuchten Häuserwänden und dem Kopfsteinpflaster zurückgeworfen, während es das dunkle Blut zu unseren Füßen mit einem rötlichen Schimmer versah. Die beiden Leibwächter standen reglos da und starrten Dagert von Paylen an. Ihre Augen schimmerten wie Kieselsteine. Der Diener des Amaks zitterte. Er befeuchtete sich die Lippen und fingerte nervös an seinem Kurzschwert herum. Ich sah mich nach einer anderen, schätzungsweise besseren Waffe um. Dagert gab wieder dieses leise, amüsierte Lachen von sich; es war fast schon ein selbstzufriedenes Kichern. Er sah über die Schulter. Dort führte eine Straße in eine Dunkelheit, die wesentlich undurchdringlicher war als die Finsternis in der gegenüberliegenden Gasse. Ich hob ein Schwert auf, das anscheinend von einer besseren Qualität als die beiden eben benutzten Waffen war, und dabei wurde ich den Eindruck nicht los, daß dieser Dagert von Paylen seinen Diener absichtlich quälte. Er ließ den armen Teufel schwitzen. Nun, das ging nur die beiden etwas an.
»Notor ...« Die feuchten Lippen des Dieners schimmerten, als er erneut darüberleckte. »Oh, mittlerweile kennst du mich doch, Palfrey. Nur wenn die Chancen richtig stehen – sonst nicht. Es war nett, dich kennenzulernen, Drajak, und ich danke dir noch einmal. Nun ist die Zeit zum Rückzug gekommen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und lief geschmeidig in die Gasse. Er hatte recht; und ob er recht hatte, bei Krun! Ein Merkmal von Dagert von Paylen, das im Gedächtnis haften blieb, waren seine Augen. Sie waren dunkel und unergründlich. Was er sagte, war eine Sache; was er dachte, eine gänzlich andere. Es hatte keinen Sinn, hier noch länger zu verweilen. Meine Pflicht lag bei den Schützlingen, die die Herren der Sterne in meine Obhut übergeben hatten. Ich folgte Amak Dagert eilig in die Schatten der Gasse. Nun stellte sich das Problem, Amintin zu verlassen. Ich mußte die Stadtmauer überwinden, und zwar an einer Stelle, die leicht zu erklimmen war und sich vorzugsweise weder im Blickfeld der Städter noch der Piraten befand. Die Wolken trieben weiter, und wenn sich der Himmel noch mehr aufklärte, würden viele der schützenden Schatten verschwinden.
Die Piraten waren nicht nur über den Teil der Stadtmauer gekommen, die am Fluß lag, und nun hatten sie sich im ganzen Ort festgesetzt. Der unheilverkündende Lärm ließ nicht nach. Brände flackerten unter den sich auflösenden Wolken. Menschen liefen ziellos umher, verzweifelt auf der Suche nach Schutz. Es schien völlig nebensächlich zu sein, was die Wache von Amintin unternahm oder der befehlshabende Stadthalter anordnete. In dieser schrecklichen Nacht waren die Piraten die Herren von Amintin, und sie taten, was ihnen gefiel. Die mir am nächsten befindliche Stadtmauer war vermutlich im Osten. Ich mußte mich mehr als einmal in die Einmündung einer Gasse ducken, um plündernden Mörderhorden aus dem Weg zu gehen. Sie hatten schnell und plötzlich die Oberhand gewonnen, und nun waren sie die absoluten Beherrscher der Straßen. Ich stieß bald auf ein Viertel, in dem es nur Lagerhäuser gab. Hier wurden zweifellos die Handelsgüter gelagert, die über die Karawanenstraßen weiterverschickt wurden. Andere, viel interessantere Gerüche wetteiferten mit dem Fisch- und Flußgestank. Natürlich würde so ein Stadtteil voll kostbarer Beutestücke von gewissenhaften Plünderern garantiert nicht übersehen werden. Auf gar keinen Fall! Ich schlich vorsichtig an einer weißgetünchten Häuserwand vorbei und schaute mich um. Dabei
entdeckte ich kleine Gruppen, die bereits fleißig damit beschäftigt waren, Amintins Reichtümer abzutransportieren. Direkt hinter diesem Lagerhaus, aus dessen geöffnetem Tor gelbes Laternenlicht strömte, erstreckte sich ein leerer Platz, der an einem Stadttor endete. Zweifellos hatte dieses Tor einen Namen. Natürlich kannte ich den nicht; außerdem war er mir auch egal. Ich wußte nur, daß dieses Tor keinesfalls der Weg aus der geplünderten Stadt sein konnte. Nein, der würde sich ein Stück entfernt befinden, und zwar an der Stelle, wo Stufen zur Brustwehr führten. Ich stürmte nicht planlos los. Der Erfolg meiner Idee beruhte auf der Geschwindigkeit, mit der die Plünderer in die Stadt eingedrungen waren und sie erobert hatten. Ich bewegte mich schnell und vorsichtig zugleich über den offenen Platz, auf dem an einem normalen Arbeitstag die Packtiere und Wagen entladen wurden, und lief dann zwischen den beiden letzten Lagerhäusern entlang. Die Mauer befand sich noch etwa fünfzehn Schritt entfernt. Dieser Weg, der mir durch die Notwendigkeit aufgezwungen wurde, den Piraten zu entgehen und die Ostmauer zu erreichen, führte auch andere Flüchtlinge zusammen. Rosafarbenes Mondlicht beleuchtete flinke Gestalten, die die Stufen zu der Brustwehr mit ihren seltsam geschnittenen Zinnen hinaufhasteten.
Ich blieb stehen. Zweifellos würde jeden Augenblick ein Pfeilhagel auf die Flüchtlinge niederregnen. Doch es passierte nichts, und sie liefen aufgeregt über die Brustwehr und verschwanden in einem der kleinen Türme, die sich dort in regelmäßigen Abständen befanden. Ich runzelte die Stirn. Das sah nicht gerade vielversprechend aus. »Verdammt!« fauchte ich. »Zur Hölle mit der Vorsicht!« Ich sammelte meine Kräfte und lief auf die Schatten am Fuß der Treppe zu. Bevor ich die Mauer erreichte, erschien eine Gruppe von Leuten von der Seite, die alle mit gesenkten Köpfen daherstürmten. Obwohl sie anscheinend von blinder Panik erfaßt waren, hielten sie doch Waffen in den Fäusten. Wir kamen gleichzeitig an der Stadtmauer an. »Kommt schon, ihr Hulus. Bratch!« rief Dagert von Paylen. Wir liefen dicht aneinandergedrängt und keuchend die Stufen hoch. Dagerts schmales, männliches Gesicht mit dem sauber gestutzten Schnurrbart und den dunklen Augen verriet keine Regung. »Wir müssen schnell sein, Drajak«, sagte er. »Beeil dich, Palfrey, verdammt noch mal«, fauchte er dann. Sie liefen im Schatten der Brustwehr auf den nächststehenden kleinen Wehrturm zu. Ich blieb stehen und sah über die Zinnen und dankte Zair!
Ich hatte recht behalten! Von der Mauer baumelten die Strickleitern herab, die die Piraten benutzt hatten, um Amintin zu plündern. Dagert und seine drei Leute liefen auf den Turm zu. »Dagert!« rief ich. »Dieser Weg ist sicherer!« Er blieb stehen und wirbelte herum, eine geschmeidige, angespannte Gestalt im mondbeschienenen Chaos. Ich schwang mich auf den Sims zwischen zwei Zinnen und nahm das Seil in beide Hände. Ich hatte nicht vor, mich mit Pfeilen spicken zu lassen, während ich auf andere wartete. »Die Strickleitern, Dagert!« rief ich und hangelte mich abwärts. Seine Stimme peitschte durch die Nacht, und es hörte sich an, als würde man zwei dieser flachen Holzbretter eines Shenshi-Spiels aneinanderschlagen, wo es nur um Possenreißer und marionettenhafte Bewegungen ging. »Hier entlang!« Ich hatte die Mitte der Strickleiter noch nicht ganz erreicht, da spürte ich sein Gewicht über mir. Er kletterte behende die Sprossen herunter. Als ich in den Graben vor der Mauer sprang – der zwar kein Wasser führte, dafür aber voll stinkendem Schlamm war –, hatte er die Mitte erreicht, und seine Gefolgsleute folgten ihm dicht auf. Sogar in diesem hektischen Augenblick nahm ich mir die Zeit, über die vielsagende Tatsache nachzu-
denken, daß seine Leute zum Abstieg dieselbe Leiter wie er und ich gewählt hatten. Schließlich hingen noch mehr Strickleitern an der Mauer. Das verriet mir eine ganze Menge. Er lief auf mich zu, als ich die andere Seite des Grabens erklomm. »Wir müssen schnell den Schutz der Bäume erreichen.« Ein paar hundert Schritte entfernt erhoben sich dunkle Bäume, die Schutz versprachen. »Aye«, erwiderte ich und lief über das lehmige Gras. »Mein Flieger ist im Norden versteckt«, sagte er und schwieg dann, um seinen Atem fürs Laufen zu sparen. In diesem Augenblick zischten die ersten Armbrustbolzen an unseren Köpfen vorbei.
3 Palfrey stieß einen Schrei aus – nun ja, eigentlich hörte es sich eher wie das erschrockene Piepsen einer Maus an. Die beiden Leibwächter liefen mit erhobenen Köpfen und ausgestreckter Brust weiter und wichen Dagert von Paylen keinen Schritt von der Seite. Das war ihre Pflicht, dafür wurden sie bezahlt. Ich sah zurück. Palfreys strohblonder Haarschopf wogte wild umher, während er versuchte, sich gleichzeitig den Knöchel zu halten und dabei weiterzulaufen. Dagert widmete ihm keinen Blick. »Mach schon, Palfrey, du Hulu! Bratch!« »Ich bin verletzt! Ich bin verletzt!« Die Worte wurden von weinerlichem Gejammer und keuchenden Atemzügen unterbrochen. »Ich bin von einem Bolzen durchbohrt worden!« »Stimmt nicht!« Dagert hatte nicht einmal nachgesehen. »Ein Kratzer.« »Möge Mama Thehico die Heilerin mir beistehen! Hilfe!« Ich wußte nicht, ob ich lachen oder wütend sein sollte, aber ich lief zurück, packte den Diener unter den Achselhöhlen und schleppte ihn wie einen Sack voller Gerümpel weiter. Er hatte einen langen Kratzer
am linken Schienbein, und das Blut sah dunkel und schmierig aus. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, doch er war so klug, sich nicht gegen meinen Griff zu wehren. Da ich einerseits so schnell wie möglich laufen mußte und es andererseits äußerst wichtig war, Haken zu schlagen, trug ich den armen alten Palfrey nicht gerade mit der Vorsicht, die bei einem Verwundeten eigentlich angebracht war. Er jammerte etwas, hielt sich aber still und machte sich schlaff. Als wir die Distanz vergrößerten, ließ der Beschuß erfreulicherweise nach, und als sich das Blätterdach der ersten Bäume über unseren Köpfen schloß, waren die Pfeile keine Gefahr mehr. Ich setzte Palfrey ab und gab mir Mühe, Dagert keinen Blick zuzuwerfen. Der Diener legte sich auf den Rücken, streckte das Bein hoch und hielt sich den Knöchel, als würde der Fuß gleich abfallen. »Au, au, au«, stöhnte er. »Um Harmonias willen, Palfrey, nun hör schon auf!« Dagert schien die ganze Angelegenheit lustig zu finden, obwohl sein unbeschwertes Gelächter nicht so ganz zu seinen Worten paßte. »Bedank dich einfach nett bei Tyr Drajak.« »Ich danke dir, Herr, vielen Dank«, stammelte Palfrey, der noch immer das Bein umklammerte, das wie eine auf Halbmast gezogene Flagge in der Luft kreiste. »Ich habe einen Durchschuß erlitten.«
»Das hast du nicht, du Fambly. Jetzt komm endlich wieder auf die Füße und lauf weiter. Oder soll ich dich hier allein zurücklassen – bei all den Piraten?« Das Bein kam herunter wie eine Zugbrücke, und der Diener kam blitzartig auf die Füße. »Notor! Das würdest du doch nicht ...« »Laß es nicht darauf ankommen, mehr sage ich nicht.« Mit diesen Worten marschierte Dagert von Paylen in das Gehölz. Sein Gang war selbst in diesem trügerischen, von Schatten erfüllten Unterholz äußerst geschmeidig; der typische Abenteurer, der schneidige Kavalier, wie er im Buche stand. Ich bückte mich, nahm Palfreys Fuß in die Hand und drehte ihn, um mir die Wunde besser ansehen zu können. Er schrie auf. Die Wunde war ein oberflächlicher Kratzer, der etwas geblutet hatte. Er würde es überleben. »Sobald wir in Sicherheit sind, halten wir an und verbinden es. Und jetzt komm.« Ich gab ihm einen freundlichen Schubs in die richtige Richtung. »Oh, was muß ich nicht alles erdulden!« stöhnte er, hielt dann aber mühelos unser Tempo mit. Nun, dachte ich, als wir uns einen Weg zwischen den Bäumen suchten, ich hatte das zum Untergang verurteilte Amintin verlassen und somit mein erstes Ziel erreicht. Nun mußte ich zu Fweygo und unseren Schützlingen stoßen. Obwohl ich Fweygo gerade erst
kennengelernt hatte, setzte ich großes Vertrauen in seine Fähigkeiten, und da sich der kräftige Numim Ranaj ebenfalls bei der Gruppe befand, mußten sie es mit dem Vorsprung, den ich ihnen verschafft hatte, eigentlich geschafft haben. Sie waren auf dem Weg nach Bharang, das sich im Westen befand. Doch dazu mußten sie den Fluß überqueren, vorzugsweise unbeobachtet. Also noch in dieser Nacht. Falls dieser durchtriebene Dagert tatsächlich irgendwo im Norden einen Flieger versteckt hatte, war es vielleicht möglich, daß er mich dorthin brachte. Wegen des allgemeinen Durcheinanders dieser Nacht, der Unterbrechung meines Auftrages, der Entschlossenheit, die Angelegenheit zu einem glücklichen Abschluß zu bringen und sofort nach Hause zu Delia zu eilen, befand ich mich in der richtigen Stimmung, dafür zu sorgen, daß Dagert von Paylen mir auf jeden Fall anbieten würde, mich ein Stück mitzunehmen. Palfrey blickte sich immer wieder um, während er weiterhumpelte. »Sie werden sich nicht die Mühe machen, ein paar Flüchtlingen zu folgen, Dom«, sagte ich ihm. »Sie können ihre Schiffe besteigen und wie Geister verschwinden, lange bevor wir mit einem Rettungsheer wieder da sind. Und das wissen sie.« »O Herr, erwähne bitte keine Geister!« jammerte er,
und nun erinnerte seine Stimme an das Quieken einer Maus, die in die Falle gegangen war. »Besonders jetzt nicht, in der Nacht, im Wald! Das ist ein böses Omen!« Jedem das seine. »Trotzdem«, sagte ich ernst, »du brauchst dir wegen der Halsabschneider keine Sorgen mehr machen.« Palfrey, der Leibdiener des Dagert von Paylen, hatte abgesehen von dem ungebändigten strohblonden Haarschopf eine Stupsnase, und der berechnende Schwung seiner Lippen verriet, daß er viel mehr verstand, als er zugab. Bei dem Straßenkampf war sein Kurzschwert mit Blut in Berührung gekommen, doch es waren nur ein paar Tropfen gewesen, als hätte er einem Plünderer lediglich einen Stich versetzt und wäre dann der Meinung gewesen, seine Pflicht damit erfüllt zu haben. Der halblange Umhang, den er gelegentlich nervös zurechtrückte, war geflickt, schien jedoch von guter Qualität zu sein. Zweifellos handelte es sich um ein Kleidungsstück, das der Amak ausgemustert und dann seinem Diener überlassen hatte. Ich war nicht der Meinung, daß Freund Palfrey so ohne weiteres richtig einzuschätzen war. Wir verbrachten die nächsten paar Burs damit, uns einen Weg zwischen den Bäumen zu suchen – es handelte sich keinesfalls um einen richtigen Wald, auch wenn Palfrey das gesagt hatte –, bis wir schließ-
lich einen steilen, mit hartem Gras bewachsenen Hügel erklommen, hinter dem sich der schmale, dunkel schimmernde Fluß befand. Wir schwiegen. Es war Palfrey, der die Stille brach. »Notor! Können wir jetzt eine Rast machen – bitte? Mein Bein brennt wie Feuer. Ich bin überzeugt, mein Fuß ist ...« »Dein Fuß wird das tun, wozu Füße auf Kregen da sind. Und jetzt beweg dich!« »Notor!« jammerte der unglückliche Palfrey. Aber er marschierte weiter. Wir hatten einen großen Bogen um Amintin gemacht, um den nördlich an der Stadt vorbeifließenden Strom zu erreichen. Ich fragte mich, warum Dagert von Paylen ausgerechnet hier gelandet war, wo es innerhalb der Stadtmauern garantiert ein Vollerdrom gab, egal wie klein auch immer. Das Ganze roch nach Heimlichkeiten. Dieser Bursche war klug, doch er hatte zweifellos auch etwas Verschlagenes an sich. Am Himmel zu unserer Linken war ein matter rötlicher Schein zu sehen. Der Wind trug die Geräusche von uns fort. Im allgemeinen sind Piraten unerfreulicher Abschaum, obwohl es da natürlich ein paar bemerkenswerte Ausnahmen gibt. Ihr Wagemut in dieser Nacht des Schreckens hatte für die anderen Küstenstädte nichts Gutes zu bedeuten und ließ eine Stärke erahnen, der es nichts ausmachte, eine Hafen-
stadt zu zerstören. Im allgemeinen lohnt es sich für Diebe nicht, die Gans, die goldene Eier legt, zu schlachten. Palfrey stieß mit dem verwundeten Fuß gegen einen im Gras verborgenen Stein oder ein anderes Hindernis, stolperte und fiel gegen mich. Ich schlang einen Arm um seine schmale Taille und riß ihn hoch. Er stöhnte schmerzerfüllt auf. »Er ist hart«, sagte er halb flüsternd und halb stotternd. »Ein harter Mann!« »Der Notor wird jeden Moment eine Pause einlegen.« »Erst wenn wir die Ruine und den Voller erreicht haben.« Da die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln ständig von dichten Wolken verdeckt wurde, nahm ich an, daß es noch vor Morgengrauen wieder regnen würde. Obwohl ich so abgehärtet bin, daß mir keine Witterung etwas ausmacht, halte ich mich wie jeder normale Mensch bei Regen lieber im Trockenen auf. Diese Ruinen würden einen Unterschlupf bieten. Das heißt, falls ich es mir überhaupt leisten konnte, dort eine Rast einzulegen, statt meiner Pflicht unverzüglich nachzukommen. Aber davon einmal abgesehen, was in einer Herrelldrinischen Hölle führte dieser Stutzer Dagert von Paylen eigentlich im Schilde, daß er seinen Flieger in
einer Ruine verbarg, um sich dann zu Fuß in Amintin einzuschleichen? Eigentlich konnte man das mit der Art und Weise vergleichen, mit der die Herren der Sterne mich in der Stadt abgesetzt hatten. Und dann – Ruinen! Wir gingen mittlerweile in südlicher Richtung am Flußufer entlang, und zwar auf den Feuerschein zu. Die Umgebung sah verwildert aus. Es ist eine seltsame Sache mit alten Gebäuden: den Engländern wird nachgesagt, sie würden sie umbauen und neue Flügel hinzufügen. Die Amerikaner reißen sie kurzerhand ab und bauen sie neu und größer, und die Iren geben sie einfach auf und errichten ein Stück weiter die Straße entlang ein neues Gebäude. Soweit ich wußte, befand ich mich hier in einem uralten, geheimnisumwitterten Land, dem Einwanderer eine neue bauliche Kultur aufgezwungen hatten. Ein erfahrener Abenteurer sieht Ruinen mit gemischten Gefühlen entgegen, wobei zwei Gedanken absoluten Vorrang haben. Erstens: die aufregende Aussicht auf mögliche Reichtümer. Zweitens: die mögliche Konfrontation mit Gefahr und Tod. Palfrey hatte die paar Bäume als Wald bezeichnet. Dagert hatte seinen Voller lieber in einem verfallenen Gebäude statt zwischen den Bäumen versteckt. Daraus konnte man schließen, daß sie möglicherweise Stadtmenschen waren. Wie Opaz in der Gestalt von Whetti-Orbium ver-
fügt hatte, fing es in dem Moment an zu regnen, in dem wir die von Pflanzen überwucherte Ruine erreichten. Es war schwer zu sagen, was sie in besseren Tagen dargestellt hatte: ein Kloster, ein Schloß, eine befestigte Villa. Es handelte sich um eine Reihe von Gebäuden von beträchtlichem Ausmaß, die an einem Abhang errichtet worden waren, der zum Flußufer hinunterführte. Der Regen prasselte gegen die uralten Steinquader. Der Weg war schlammig. Ich hoffte, daß der Wolkenbruch das flammende Sterben Amintins beenden würde. Dagert von Paylen zögerte nicht. Er ging zwischen verfallenen Säulen hindurch und betrat einen halb im Dunkeln liegenden Hof. Zerborstene Pflastersteine umgaben eine Struktur, die einst ein Springbrunnen gewesen sein mußte. Ringsum ragten niedrige, scharfkantige Mauern in die Höhe. Es gab keine Dächer mehr. In jedem Spalt wuchsen widerstandsfähige hellrote und tiefgrüne Disteln und helle Brennesseln. Vor uns befand sich ein Torbogen aus zerbrökkelnden Steinen, der in eine undurchdringliche Finsternis führte. Also mußte dieser Teil des Gebäudes noch überdacht sein. »Hol ihn, Palfrey«, sagte Dagert leise. »Ja, Notor.« Palfrey überquerte den Hof. Merkwürdigerweise schien es ihm überhaupt nichts auszumachen, bei
Nacht durch unheilvolle Ruinen zu gehen; dabei hatte er sich zwischen den Bäumen doch so vor Geistern gefürchtet. Eigentlich hätte man annehmen sollen, daß ihm in finsteren Ruinen unwohl zumute war; dabei spielte es keine Rolle, wie sehr er an die Straßen einer Stadt gewöhnt war. Der allgegenwärtige Geruch nach feuchten Pflanzen konnte nicht verhindern, daß mir der durchdringende Gestank nach Weihrauch in die Nase stieg, noch bevor ich den monotonen Singsang hörte. Palfrey blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Dagert griff nach dem Rapier. Palfrey drehte sich halb um, und das Weiß seiner aufgerissenen Augen hob sich von dem im Schatten liegenden Gesicht ab. »Hierher!« Dagerts Stimme klang wie Seide, die raschelnd über eine Schwertklinge gezogen wurde. Er deutete auf die Hausruine zu unserer Rechten. Die beiden Leibwächter, die sich leise und mit der Geschmeidigkeit von Stoffpuppen bewegten, verschwanden in den Schatten, während Dagert seinen Diener hinter sich her zerrte. Hier konnten wir alles beobachten, während man uns nicht sehen konnte. Ich sah Palfrey an. Der arme Kerl; seine Angst vor den Geistern des Waldes war durch die plötzliche Angst vor diesen Ruinen ersetzt worden. Der Weihrauchgestank nahm trotz des niederge-
henden Regens zu. Der leise, monotone und hypnotische Singsang wurde lauter. Eine Prozession schälte sich aus der Finsternis. Fackelschein flackerte rot über die zerstörten Mauern und die zerborstenen Steinplatten des Hofes. Vermummte Gestalten erschienen, die mit gesenkten Köpfen nebeneinander hergingen. Das Fackellicht beleuchtete ihre Gewänder, die alle die gleiche düstere dunkelrote Farbe aufwiesen. Die Gesichter lagen in den Schatten der Kapuzen verborgen. Regen verdampfte zischend in den Flammen der Fackeln. Ich konnte nicht genau verstehen, was sie sangen. Ein Wort wurde oft wiederholt. Oltomek. Es konnte auch Altamek sein. Der Regen fiel, die Fackeln zischten, die Gestalten sangen und schritten weiter nebeneinander her. Der Vermummte an der Spitze trug eine vergoldete Stange, auf deren Spitze die vergoldete Statue eines Ungeheuers hockte, das nur einem Alptraum entsprungen sein konnte. Das Ding verfügte über große Schwingen, Krallen und Reißzähne, und die aus Rubinen bestehenden Augen funkelten im Fackelschein. Der Götze verbreitete eine Aura des gestaltgewordenen Bösen. Der vergoldeten Blasphemie folgte eine zweite, diesmal versilberte Stange, auf der ein Symbol hin und herschwankte. Es schien sich um die stilisierte,
ovale Nachbildung eines ausgebreiteten Schwingenpaares zu handeln, dessen Spitzen sich am unteren Ende fast berührten. Die Prozession sang Ultumak oder Oltomek, überquerte den Hof und verschwand auf der anderen Seite. Der ekelerregende Weihrauchgestank blieb noch einen Augenblick lang in der Luft hängen, dann wurde sie durch den Regen gereinigt. Der Fackelschein verschwand. »Notor ...«, sagte Palfrey zitternd. »Verrückte«, sagte Dagert von Paylen. Sein unbeschwertes Lachen klang diesmal ernster als gewöhnlich. »Hanitcha der Verheerende soll sie holen! Bei Krun! Mit denen will ich nichts zu tun haben!«
4 »Brassud!« fauchte Dagert von Paylen. »Oder ich werde dir den Hintern versengen, bei Malahak!« Palfrey versuchte, sich zusammenzureißen. »Notor«, winselte er. »Möge Kaerlan die Gnädige nun auf uns herablächeln! Verschwinden wir von diesem schrecklichen Ort, bevor uns die ganze Verderbtheit von Kuerden dem Gnadenlosen befällt.« Einer der Leibwächter murmelte: »Das ist wahr, Notor, bei Havil dem Grünen.« »Los! Los!« befahl Dagert. »Bratch!« Palfrey bratchte, sprang wie ein aufgeschrecktes Reh auf und lief in das dunkle Gebäude. Augenblicke später schwebte ein kleiner viersitziger Flieger durch den Torbogen und setzte neben Dagert auf. Palfrey saß hinter der winzigen Windschutzscheibe vor den Kontrollen, und seinem Gesicht war abzulesen, daß ihm übel war. Die Leibwächter warteten ab. »Steigt ein!« befahl Dagert. Er wandte sich mir zu und lächelte, und die weißen Zähne hoben sich deutlich von der Dunkelheit ab. »Ich muß mich nochmals bei dir bedanken, Tyr Drajak. Ich werde dich nicht vergessen. Nun muß ich losfliegen, und zwar so schnell, wie es Wheesh-Amakler, der Geist der Winde, es erlaubt.«
»Falls du nach Westen fliegst, könntest du mich ...« Bevor ich zu Ende gesprochen hatte, war er über die polierte Reling des Vollers gesprungen und sah mich mit einem spöttischen Lächeln an. Er versetzte Palfrey einen Stoß. »Nach Westen? Ah – nein. Wir fliegen nach Norden.« Ich bin mir bis zum heutigen Tage nicht darüber im klaren, ob genug Zeit gewesen wäre, um auf den Flieger aufzuspringen. Palfrey war verdammt schnell. Das kleine Flugboot hob geräuschlos ab, wobei es nur ein paar am Boden liegende verwelkte Blätter durcheinanderwirbelte, und schoß in den wolkenverhangenen Himmel. Ein kaum verständliches »Remberee, Drajak!« ertönte. Dann war der Voller mitsamt Dagert, Palfrey und den beiden Leibwächtern verschwunden. »Remberee!« flüsterte ich angewidert. »Bei MakkiGrodnos verseuchter Leber und seinem fehlenden Augenlicht! Du läßt nach, Dray Prescot, du läßt verdammt noch mal nach!« fügte ich dann hinzu. Also, ich hatte ein einigermaßen vernünftiges Schwert, das nicht in die Scheide paßte und sowohl das feuchte Leder wie auch das angebrochene Holz zerschnitten hatte. Ich trug einen roten Lendenschurz, ein vernünftiges Gewand und ein Paar ordentlicher Stiefel. In der Vergangenheit hatte ich,
Dray Prescot, Lord von Strombor und Krozair von Zy, mich mit weniger Ausrüstung ins Abenteuer gestürzt. Weitaus weniger, bei Djan! Und so marschierte ich los. Die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln tauchte im Westen hinter den Horizont. Dafür erschienen jetzt ein paar von Kregens kleineren Monden am Himmel, doch ich konnte sie wegen der Wolken nicht sehen. Die Nacht würde bald vorüber sein, und ich wollte den Fluß vor Einbruch der Morgendämmerung überquert haben. Ich schritt den Abhang hinunter und stand bald am Flußufer. Falls sich hier irgendwelche Schurken verbargen, würde ich mit ihnen in der üblen Stimmung, in der ich mich befand, kurzen Prozeß machen. Andererseits hatte ich großartig verkündet, wie ich Dagert zwingen würde, mich in seinen Voller zu lassen, und Sie haben ja gesehen, was mir diese dumme Prahlerei eingebracht hatte. Der Amak hatte sich nicht nach meinem Beinamen erkundigt, denn dann hätte ich gesagt, daß man mich Drajak den Schnellen nennt. Einer der Leibwächter hatte sich mit seinem Kameraden über Dagerts Diener unterhalten und ihn Palfrey den Pfiffer genannt. Die beiden Männer hatten nicht viel gesprochen; sie waren damit beschäftigt gewesen, ihren Herrn zu beschützen und sich ihren Sold zu verdienen. Es ist schon erstaunlich; obwohl es auf Kregen viele regio-
nal bedingte Bräuche und Lebensumstände gibt – genau wie auf der Erde –, ist doch vieles überall gleich. Auf jeden Fall konnte ich den Fluß ohne jede Schwierigkeit durchschwimmen. Ich kletterte am anderen Ufer naß, jedoch von neuer Zuversicht erfüllt, aus dem Wasser und stieg die Uferböschung hinauf. Zim und Genodras stiegen in der mehrfarbigen Pracht eines kregischen Sonnenaufgangs in den Himmel. Ich folgte dem Pfad, der sich zwischen hohen grünen Feldfrüchten erstreckte. Vögel zwitscherten. Mein Zwillingsschatten ging mir voraus. Die Sonnen von Scorpio haben es bei Kregens außergewöhnlich breiten und gemäßigten Klimaregionen nicht schwer, die vom nächtlichen Regen feuchte Erde zu trocknen. Die Luft war bald von diesem wunderbaren Duft erfüllt, den es nur auf Kregen gibt. Und ich litt unter einem gewaltigen Hunger und einem entsprechend großen Durst; außerdem hatte ich Lust, meinen Kopf an einem geeigneten Plätzchen niederzubetten und den versäumten Schlaf nachzuholen. Doch ich entschied mich, erst noch ein Stück weiterzugehen und nach einem vernünftigen Ruheplatz Ausschau zu halten. Selbst die Herren der Sterne verstanden, daß einfache Menschen – also so jemand wie ich – gelegentlich etwas Schlaf brauchten. Die Everoinye waren einst sterbliche, menschliche Wesen gewe-
sen – das glaubte ich zumindest. Allerdings hatten sie ihre ganz eigene Vorstellung, wieviel Schlaf jemand braucht, um sich zu erholen, und die deckte sich absolut nicht mit der meinen. Während ich weitermarschierte, dachte ich über die Männer mit den roten Kutten nach. Vermutlich gehörten sie irgendeinem verrückten religiösen Kult an. Bei Zair, davon gab es auf Kregen genug, um eine Million Enzyklopädien zu füllen. Die Vermummten hatten Palfrey einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn ich mich auf den Flieger gestürzt, ihn verfehlt und mich nur mit den Fingerspitzen an der Reling festgeklammert hätte, wäre Palfrey trotzdem gestartet. Davon war ich überzeugt. Die Wolken hatten sich nicht vollständig aufgelöst. Eine bunt schillernde Mischung aus Farben, Schatten und dem Licht der Sonnen tauchte das Land in ein rotgrünes Kaleidoskop von beträchtlichem Reiz. Der Fluß beschrieb eine Biegung, und der Uferpfad bog in einem fast rechten Winkel ab und führte mich nach einer Bur zu einer richtigen Straße, die in einer geraden Linie durch die Landschaft führte und gepflastert war. Sie kam zwar nicht ganz an die alten irdischen Römerstraßen heran, verriet aber einen technischen Standard, der dazu angetan war, für einen schnellen Transport von Menschen, Waren und Truppen zu sorgen. Zwar gibt es in vielen pazani-
schen Ländern die schnelle Reise mit dem Flugboot, doch natürlich wird der Bedarf an diesem Transportmittel bei weitem nicht gedeckt. Die Fortbewegung auf Flüssen und Kanälen ist weit verbreitet. Hier verliefen die Flüsse von Nordnordwesten nach Südsüdosten. Die Straße führte nach Westen. Das war meine Richtung, also marschierte ich entschlossen los. Diese Route mußte mich nach Bharang und von dort aus zu der viel weiter entfernt liegenden Hauptstadt bringen. Nach dem Eindruck zu urteilen, den ich von Fweygo gewonnen hatte, handelte es sich bei ihm um einen gerissenen Burschen. Die Herren der Sterne hatten ihm Prinzessin Nandisha und ihr Gefolge anvertraut. Ihm standen Reittiere zur Verfügung, die man pfleglich behandeln mußte, wenn man mit ihnen weite Entfernungen zurücklegen wollte. Er würde also aus Sicherheitsgründen in der Nacht reisen und am Tag rasten. Wenn ich mir nur kurze Ruhepausen gönnte, würde ich ihn in nicht allzuferner Zukunft einholen. Ich wußte nicht, von wem Nandisha eigentlich bedroht wurde. Und es war ziemlich wahrscheinlich, daß Fweygo das ebenfalls nicht wußte. Die Nachricht von der Plünderung Amintins hatte sich bereits herumgesprochen. Normalerweise hätte um diese Zeit auf der Landstraße reger Verkehr herr-
schen müssen, da die Bauern jeden Tag ihre Produkte auf Wagen in die Stadt brachten. Ich begegnete niemandem. Zweimal kamen mir Soldatentrupps entgegen, und bei diesen Gelegenheiten hielt ich es für angebracht, die Straße zu verlassen und mich im Gebüsch zu verstecken. Beim drittenmal lächelte der fünfhändige EosBakshi auf mich herab. Der vallianische Glücksgott sorgte dafür, daß ich ein ganzes Regiment Kavallerie entdeckte, das gerade sein Lager abbrach und aufsaß. Als sie in der Ferne verschwunden waren, durchstöberte ich das Lager. Mir war aufgefallen, daß sie es anscheinend nicht besonders eilig hatten, Amintin zu erreichen. Außerdem waren sie bestens ausgerüstet gewesen, denn das Lager erwies sich als wahre Fundgrube. Von dem, was sie an Lebensmitteln zurückgelassen hatten, hätte sich eine arme Familie einen ganzen Monat lang ernähren können. Das Regiment war vorbildlich eingekleidet und ausgerüstet gewesen; außerdem waren die Männer auf Zorcas geritten. Ihre Standarten hatten im Licht der Sonnen gefunkelt. Ich fand einen weggeworfenen Futterbeutel für die Zorcas und konnte ihn fast bis zum Rand mit Brotkrusten, hart gewordenem Haferbrei und einem viertelvollen Topf Honig füllen. Unter einem Busch stolperte ich fast über einen ganzen
Schinken, der eine höchst willkommene Bereicherung meines Proviants darstellte. Natürlich füllte ich zuerst meinen Magen, bevor der Futterbeutel dran war. Ein paar Ulms weiter floß ein kleiner Bach unter dem Fundament der Landstraße her, und ich konnte mein Frühstück herunterspülen. Danach fühlte ich mich viel besser und sah mich nach einem Ruheplatz um. Ein paar Burs Schlaf würden mich genug erfrischen, daß ich die ganze Nacht durchmarschieren konnte. Das tat ich dann auch. Die nächsten drei Tage vergingen nach dem gleichen Muster. Indem ich gerade genug aß, um bei Kräften zu bleiben, würde der Proviant in dem Futterbeutel noch ein paar Tage lang für prächtige Mahlzeiten sorgen. Die Straße verlief durch Wälder und über die Heide, und wenn sie durch eine Stadt oder ein Dorf führte, hielt ich es für angebracht, einen Umweg zu machen und möglichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Gelegentlich war der Straßenbelag aufgebrochen und etwas überwuchert; allerdings hielten sich diese Schäden in Grenzen und machten an keiner Stelle das Weiterkommen unmöglich. Am vierten Tag umging ich einen Reparaturtrupp, der fleißig damit beschäftigt war, beschädigte Pflastersteine auszutauschen. Als Fundament benutzten sie gelben Sand, dessen
Helligkeit darauf hinwies, daß sie ihr Handwerk verstanden. Zu beiden Seiten der Straße gab es Gräben, die als Abflußrinnen dienten und die sauber und unkrautfrei gehalten waren. Die ausgeklügelte Wölbung der Rinnen sorgte dafür, daß Regenwasser unbehindert abfließen konnte. Das alles verriet mir eine Menge über den zivilisatorischen Standard dieser Menschen. Am fünften Tag begegneten mir mehr Leute. Da ich es mittlerweile für sicher hielt, auf der Straße zu bleiben, begegnete ich ihnen mit einem höflichen Gruß. An diesem Tag erblickte ich auch erstmals eine seltsame Bergformation, die sich weit im Norden befand. Sie erinnerte mich stark an den Ayer's Rock im irdischen Australien. Die Oberfläche war mit Zacken versehen, doch auf diese Entfernung konnte man unmöglich feststellen, ob es sich bei den Erhebungen um natürliche Felsen oder Gebäude handelte. Das vermengte, strömende Licht von Zim und Genodras traf auf die Bergseite und schuf tiefe Schatten. Zwei Tage später hatte ich das Gefühl, daß ich Fweygo und seine Schützlinge langsam einholte. Am frühen Morgen – das Gras war noch naß vom Tau – führte die Straße in eine tiefe Senke. Ich fühlte mich gut. Meine einzige Sorge war die verdammte Schwertscheide, die sich allmählich in ihre Bestand-
teile auflöste. Meine Stiefel waren in perfektem Zustand; ich hatte das Gewand ausgezogen und über die Schulter gelegt und atmete die prächtige kregische Luft in tiefen Zügen ein. Ich war ganz allein auf der Straße. Doch dann entdeckte ich zwei Gestalten, die mir langsam entgegenkamen. Ich marschierte weiter und bereitete mich auf den Austausch eines höflichen ›Llahal, Dom‹ im Vorbeigehen vor. Eine der Gestalten war ein Mann, der die Blüte seines Lebens schon lange hinter sich gelassen hatte. Auf Kregen bedeutete das, daß er weit über zweihundert Jahre alt sein mußte. Er stützte sich schwer auf einem mit Schnitzereien versehenen Stab. Er trug eine braune Kutte. Die zurückgeworfene Kapuze enthüllte einen schmalen Kopf mit ein paar strähnigen Haaren. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, der Mund zu einem dünnen Strich verzogen. Die Augen waren merkwürdig, denn sie wurden von rot angeschwollenen Fleischwülsten verdeckt. An seiner Seite ging ein Junge, der ihn offensichtlich führte. Der Junge trug ein braunes Gewand. Auf seinem unschuldigen Gesicht zeigte sich Besorgnis. Er war barfuß. Der alte Mann hatte die Füße mit Lumpen umwikkelt. Zwischen alten, rostbraunen Flecken schimmerten frische Blutungen durch.
Der alte Mann stolperte. Der Stab entglitt ihm. Er stützte sein ganzes Gewicht auf den Jungen. Doch der war nicht stark genug und ging sofort in die Knie, und der alte Mann stürzte trotz seiner verzweifelten Versuche, das Gleichgewicht zu halten, zu Boden. Ich sprang vor. Der alte Mann richtete sich mühsam auf und blieb auf der staubigen Straße sitzen. Er befeuchtete die trockenen Lippen und sagte: »Es tut mir leid, Nath, von ganzem Herzen leid. Meine Kraft hat mich verlassen.« »Herr!« Der junge Nath war den Tränen nahe. Er unternahm keinen Versuch, dem alten Mann wieder auf die Beine zu helfen. Ich blieb genau vor den beiden stehen, denn meine Eile war unüberlegt und nutzlos gewesen. Nath sah mich an. In seinen Augen schimmerte es feucht. Ich sagte: »Llahal.« Dann zögerte ich, da ich nicht genau wußte, was ich jetzt machen sollte. Der alte Mann überraschte mich – und Nath auch, wie dessen instinktive Reaktion verriet, als er hilfreich die Hand ausstreckte –, indem er sich an seinem Stab festhielt und sich mühsam auf die blutenden Füße erhob. Obwohl er in meine Richtung blickte, war ich mir nicht sicher, ob er mich tatsächlich sah.
»Llahal, mein Freund. Du siehst mich in einer schlimmen Notlage. Bitte beachte meine Schwäche nicht.« Ich fühlte mich absolut hilflos und starrte Mann und Junge einfach an. Nath fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte entschlossen: »Das ist San Padria na Fermintin. Lahal.« »Wir sind Pilger auf dem Weg nach Farinsee«, sagte San Padria. Sein Stimme war heiser, aber fest. Vermutlich predigte er mit dieser Stimme vor großen Versammlungen. »Der Weg war lang und beschwerlich, doch wir haben es fast geschafft.« »Ja, Herr«, mischte sich Nath ein. »Es ist nicht mehr weit. Doch deine Füße ...« »Die hat mir Cymbaro der Gerechte gegeben, damit ich auf dieser Welt umhergehen kann. Sie müssen mein Gewicht tragen, bis sie ganz versagen. Junger Nath, habe ich dich nicht gelehrt, daß Schmerz lediglich ein Auswuchs der Sinne ist, den man genauso wie die anderen Sinne auch behandeln muß?« Er stand mit blutenden Füßen auf der staubigen Straße und stützte sich schwer auf seinen Stab, und die von ihm ausgehende Würde war eine spürbare Macht. Die dünnen Beine des jungen Nath, die unter dem braunen Gewand hervorragten, erinnerten an die Beine eines Spatzen. Er sah irgendwie verhungert
aus. San Padria auch. Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Wann habt ihr das letzte Mal etwas gegessen?« »Als es Cymbaro gefallen hat. Man lebt nicht vom Brot allein.« »Oh, aye«, erwiderte ich und zog am Riemen des Futterbeutels. Ich fischte zwei schwalbenschwanzförmige Brotkrusten heraus und hielt sie ihnen entgegen, während ich mit der anderen Hand den Schinken herausholte. Der war zwar mittlerweile wesentlich dünner geworden, doch es war noch mehr als genug übrig, um die Mägen dieser beiden Pilger mit reichhaltigerer Nahrung als Cymbaros metaphysischem Brot zu füllen. Ich sah auf. Sie hatten das Brot nicht genommen. »Bitte«, sagte ich. »Ich glaube, Cymbaro hätte bestimmt nichts dagegen«, fügte ich recht dreist hinzu. Nun, sie zierten sich eine Weile, nahmen dann aber schließlich Brot und Schinken und schlangen es heißhungrig herunter. San Padria sah direkt kräftiger aus. Blieb nur noch das Problem mit seinen verdammten Füßen. Sie erzählten mir, daß Bharang noch sechs Tagesmärsche entfernt lag; ich würde es vermutlich in einem Tag schaffen. Farinsee entpuppte sich als der Berg, der dem Ayer's Rock so ähnlich sah. Bei ihrer Reisegeschwindigkeit würden sie also noch mindestens zwölf Tage unterwegs sein. Ich zögerte nicht länger. »Ich folge meinen eigenen Lebensmaximen.«
Ich versuchte, mit einer Überzeugung zu sprechen, die ich eigentlich gar nicht verspürte. Schließlich war das Ganze so offensichtlich. »Du wirst mir große Gewissensqualen bereiten, wenn du das nicht annimmst.« Ich zog die festen Stiefel aus, überreichte sie Nath und widmete ihm einen sehr eindringlichen, sehr herrischen Dray Prescot-Blick. »Sie werden gut passen, junger Nath, da es offensichtlich Cymbaros Wille ist, daß San Padria Farinsee erreicht. Hilf dem San, sie anzuziehen.« Er fiel sofort auf die Knie und machte sich an die Arbeit. Die Stiefel paßten tatsächlich wie angegossen. Sie hatten eine harte Sohle und weiches Oberleder. Der junge Nath suchte Stoffstreifen heraus, die weniger blutverschmiert waren, und verband damit die Füße des Sans. Dieser Mann verfügte zweifellos über eine große innere Stärke, die er auch ausstrahlte. Die Religion, der er anhing, kam ihm sehr zu Gute. Ich mußte zugeben, daß dieser Glauben ihn offensichtlich geformt hatte, und zumindest in seinem Fall war es eine befriedigende Verbindung. »Ich danke dir, Herr«, sagte Nath, der wieder den Arm des San hielt. »Nein, Nath. Ich bin es, der sich bei dem San und dir bedanken muß, daß ihr meine Gabe angenommen habt«, erwiderte ich in dem Gefühl, daß diese Antwort die einzig richtige war.
San Padria wandte mir das Gesicht zu; es war durchaus möglich, daß diese Augen, die unter den angeschwollenen, krank aussehenden Fleischwülsten verborgen waren, mich gar nicht sehen konnten. »Das war fast ein Zitat aus dem Fünften Buch von Cymbaros frühester Lehre, bevor er in den Himmel aufstieg.« »Kapitel zehn, dritter Vers«, fügte Nath prompt hinzu, als hätte man ihn dazu aufgefordert. Der San unternahm versuchsweise einen Schritt auf dem Straßenpflaster. »Sehr schön. Ich spüre, daß ihr Ibma mich willkommen heißt.« Er tastete den Weg mit dem seltsam verzierten Stab ab und machte die ersten Schritte auf der letzen Etappe seiner Reise nach Farinsee. Der junge Nath ging entschlossen an seiner Seite. Ich konnte nicht stehenbleiben und ihnen nachsehen, bis sie außer Sicht waren. Bei ihrem Schneckentempo hätte das eine unzumutbar lange Zeit in Anspruch genommen. Ich seufzte. Ich wußte mit absoluter Gewißheit, daß die Stiefel ihren Daseinszweck jetzt viel besser erfüllten; schließlich war ich daran gewöhnt, barfuß zu laufen. Ich warf dem seltsamen Paar noch einen letzten Blick zu, drehte mich um und nahm wieder den Marsch nach Bharang auf, wo Fweygo und unsere Schützlinge auf mich warteten.
5 Aus meiner beträchtlichen Erfahrung mit Meuchelmördern wußte ich, daß sie gern nach einem genauen Zeitplan arbeiten. Die letzten, hektischen Momente des Handgemenges, das sich ein paar Burs, nachdem ich San Padria und dem jungen Nath Remberee gesagt hatte, auf der Landstraße vor mir abspielte, verrieten mir, daß diese Meuchelmörder einen ganz dringlichen Auftrag ausführten. Denn sie hatten den kleinen Reitertrupp ganz offen am hellen Tag angegriffen. Ich muß hinzufügen, daß sich zu beiden Seiten der Straße ein dichtes Gehölz befand. Die Zwillingssonnen von Scorpio tauchten den widerwärtigen Anblick in ihr prächtiges Licht; meistens handeln Meuchelmörder im Schutz der Nacht – am liebsten im undurchdringlichen Dunkel von Notor Zan. Schreie und das Klirren von Stahl hatten mich schon in einiger Ferne auf den Kampf aufmerksam gemacht, und als ich die Stelle endlich erreichte, lagen bereits mehr als genug Leichen auf der Straße. Das Schwert aus der eingelaufenen und verdrehten Scheide zu ziehen, hielt mich nur den Bruchteil einer Sekunde auf. Zwischen den Bäumen stand eine Gruppe unruhi-
ger Zorcas. Sie mochten den strengen Gestank frisch vergossenen Blutes nicht, und mir ging es ebenso. Als ich endlich dort angekommen war, hatten die Meuchelmörder ihr schreckliches Werk gerade zu Ende gebracht. Während ich auf sie losstürmte, stieß ich einen lauten Schrei aus, um sie aufzuschrecken. Vielleicht rettete ich einem armen Kerl auf diese Weise das Leben, denn dann hatten sie keine Zeit, ihm den Rest zu geben, bevor sie sich mir zuwandten. »Ihr feigen Stikitche!« brüllte ich. »Hai!« Zwei von ihnen wirbelten mit wallenden schwarzen Umhängen herum und ließen von dem Mann ab, der auf der Straße saß und mit dem Oberkörper an einer verzierten Kutsche lehnte. Drei schwarzgekleidete Männer lagen bäuchlings vor ihm auf dem Boden, und unter ihnen breiteten sich Blutlachen aus. Von der Seite kam ein dritter Meuchelmörder auf mich zugestürmt; er schwang eine Axt. Die beiden anderen Männer erblickten mich, griffen ihre Waffen fester und schlossen sich ihrem Kameraden an. Sie kamen näher, und offensichtlich hatten sie viel Erfahrung darin, als Gruppe zu arbeiten. Zwei Schwerter und eine Axt gegen ein Schwert, über dessen Herkunft und Verläßlichkeit ich starke Zweifel hegte – nun denn! Sie versuchten, mich auf ganz normale Weise einzukreisen. Sie waren nicht auf die Schnelligkeit vorbereitet, mit der ich mich auf sie warf.
Die Axt hieb ins Leere, als ich ihren Träger niederstreckte; im nächsten Augenblick wirbelte ich schon herum, um mich den anderen beiden entgegenzustellen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Unsere Klingen trafen sich nur zweimal. Ein abgeschrägter Hieb trennte dem einen die Hand ab, dann folgten ein schneller Sprung nach vorn und ein Stoß nach links, der den anderen durchbohrte. Es war alles sehr schnell und tödlich abgelaufen. Wäre das nicht der Fall gewesen, würde ich jetzt nicht hier sitzen, um Ihnen davon berichten zu können. Natürlich brach die Klinge in der Mitte durch, ganz wie ich es vorher befürchtet hatte. Der Stikitche taumelte zurück, spuckte Blut und brach mit einem Stück Stahl im Leib zusammen. Ich versicherte mich mit einem schnellen, aber außerordentlich gründlichen Blick, daß keiner der anderen Meuchelmörder noch unter den Lebenden weilte. Jetzt konnte ich mich um den Sterbenden kümmern. Seine ersten Worte waren unverständlich. Blut rann aus seinem Mund und lief ihm übers Kinn. »Ruhig, Dom, ganz ruhig.« Es war sinnlos, ihn in eine bequemere Lage zu bringen. Das hätte seine inneren Verletzungen nur noch verschlimmert, und er kämpfte mit aller Kraft gegen den Tod an, weil er mir noch etwas sagen wollte.
Das Schwert fiel ihm aus den blutverschmierten, behandschuhten Fingern. Er packte meinen Arm mit nachlassender Kraft. »Strom Korden. Laha...« Ein frischer Blutschwall machte seine Worte undeutlich. Die Brust unter dem hellen Gewand und der aus Eisenbändern bestehenden Rüstung bewegte sich kaum. »Nimm das Schwert und ...« Er mußte qualvoll husten, nahm einen neuen Anlauf, brachte jedoch nur sinnloses Gestammel zustande. Er schluckte mit einer gewaltigen Kraftanstrengung, die ihn Mund und Gesicht verziehen ließ, dann erzitterte sein ganzer Körper. Sein Kopf rollte zur Seite. Er war ein starker Mann in der Blüte seines Lebens gewesen. Er hatte einen dichten braunen Schnurrbart. Sein böse eingedellter Helm war ihm vom Kopf gefallen und unter die Kutsche gerollt. »Zu Hyr Kov Brannomar.« Seine Stimme wurde leiser. Seine Kräfte ließen rapide nach. »Du mußt ...« Er schloß die Augen und bewegte mühsam die Lippen. »Schwöre es beim Namen Cymbaros des Gerechten!« Diese Worte hatten ihn die letzte Kraft gekostet. Er hustete, und der Blutstrom schwoll an. »Nimm ... Nimm das Schwert ... Nimm das Schwert, und zwar mitsamt ...« Die letzten Silben waren kaum verständlich. Ich beugte mich vor und sprach leise in sein Ohr.
»Cymbaro sei mein Zeuge, Strom Korden, ich werde das Schwert Hyr Kov Brannomar übergeben.« Opaz allein weiß, ob er mich noch gehört hat. Als ich mich wieder aufrichtete, war der Lebensfunke aus ihm geflohen, und er war tot. Ich blieb einen Augenblick lang dort hocken und übergab ihn im Geiste in die Obhut von Cymbaro, dem Gerechten. Obwohl derartige Vorkommnisse auf Kregen oft genug stattfinden, haben sie jedoch immer wieder die Kraft, einen sehr nachdenklich zu machen. Ich hatte keine Ahnung, in welchem Auftrag dieser Edelmann unterwegs gewesen war und warum dieser Kov Brannomar unbedingt dieses Schwert erhalten mußte. Doch ich hatte nicht anders handeln können. Nicht als Krozair von Zy, nicht als Krovere von Iztar, und erst recht nicht als Koter von Vallia. O nein, denn ich hatte einen heiligen Eid geleistet. Ich hoffte nur, daß er mit dem tröstlichen Wissen gestorben war, seine Pflicht so gut wie möglich erfüllt zu haben. Es mußte sich um das Schwert handeln, mit dem er seinen letzten Kampf ausgefochten hatte. Ich bückte mich und hob es auf. Es gab genug schwarzen Stoff, um die Klinge zu säubern. Es war ein Schwert von der Art, die man häufig in den östlicheren Regionen von Paz fand. Man nannte es Braxter. Im wesentlichen eine gerade Hieb- und
Stichwaffe, wies die Klinge eine leichte, sehr raffinierte Krümmung auf. Der Stahl war von ausgezeichneter Qualität, wie an dem hellen Ton zu hören war. Der Griff war schlicht, hatte eine feste Parierstange und war mit Silberdraht umwunden. Die Waffe unterschied sich nur durch ein Merkmal von Tausenden Braxter dieser Art: im Schwertknauf war ein Rubin eingesetzt. Der Edelstein schien echt zu sein, wenn auch nicht gerade von übermäßigem Wert. Ich holte tief Luft und stieß sie angewidert wieder aus. Die sonst so süße kregische Luft schmeckte abgestanden und schal. Der Versuch, dieses Schwert in meine eingelaufene und damit nutzlose Schwertscheide zu zwängen, war völlig sinnlos. Strom Korden trug einen einfachen Ledergürtel, der von einer Bronzeschnalle gehalten wurde. Die Haken, an denen die einfache Schwertscheide hing, bestanden ebenfalls aus Bronze. Das alles war sehr schlicht und funktionell, das Schwertgeschirr eines Schwertkämpfers. Dieses Schwert gehörte in diese und keine andere Scheide. Ich nahm dem Strom den Gürtel mit der gebotenen Pietät ab, säuberte ihn, schnallte ihn mir um und schob das Schwert in die Scheide. Und es fühlte sich richtig an, bei Kurins Klinge, viel besser als das Schwertgeschirr, das ich beiseite geworfen hatte. Ich sah mir die am Boden liegenden Männer an, da
eine geringe Möglichkeit bestand, daß der eine oder andere vielleicht noch am Leben war, doch es war keine Überraschung, als ich nur Leichen vorfand. Die Stikitche hatten ihr Handwerk verstanden, und Strom Korden hatte es nur seiner tapferen Gegenwehr zu verdanken gehabt, daß ihm noch der Moment geblieben war, um sich von seiner Pflicht zu entbinden. Keine der Rüstungen paßte mir, das war auf den ersten Blick klar. Jeder vernünftige Krieger oder Paktun Kregens trägt so viele Waffen wie möglich, ohne daß die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Also suchte ich mir einen weiteren Braxter, der dem Schwert, das ich Kov Brannomar überbringen mußte, sehr ähnlich war. Ich nahm auch das dazugehörige Schwertgeschirr. Dann fand ich noch ein hübsches Messer, das in seiner Form an ein Bowie-Messer erinnerte und ausgezeichnet an die Stelle paßte, wo ich solch eine Waffe gewöhnlich trage, nämlich über der rechten Hüfte. Zusätzlich rüstete ich mich mit einem Köcher voller Pfeile und einem Bogen aus; der Bogen gehörte von der Machart her zu der kleinen, aus mehreren Teilen zusammengeleimten und stark gekrümmten Sorte. Zweifellos hätte mein guter Klingengefährte Seg Segutorio das Gesicht verzogen, doch es war nun mal keiner dieser großartigen lohischen Langbögen da. Was nun das Transportmittel anging, verschwen-
dete ich an die Kutsche keinen Gedanken. Schließlich stand mir eine prächtige Remuda voller Zorca zur freien Auswahl. Ihre spiralenförmigen Hörner schimmerten im Licht der Sonnen. Ihre temperamentvollen und klugen Augen betrachteten mich wachsam; ein Klansmann der Großen Ebenen von Segesthes weiß, wie man Voves, Zorca oder Chunkrah zu behandeln hat; ich hatte keine Probleme. Auf der Kutschentür war ein Schturval aufgemalt, und dieses Wappen, das den Namen, die Familie, das Haus oder den Klan verkündet, sah aus wie die stilisierte Abbildung eines vierflügeligen Tieres mit einem langen Schwanz und einer Doppelreihe bösartig aussehender Reißzähne. Es stammte aus der Mythologie, und ich hatte keine Ahnung, wie es hieß. Auf dem furchteinflößenden Schädel saß ein Helm, der von einer goldenen Krone geziert wurde, und an den Seiten flatterten geschmackvoll zwei rotblaue Flaggen. Es war auch eine Menge Proviant vorhanden, wie ich außerordentlich dankbar feststellte – Lebensmittel und Getränke von guter Qualität. Ich nahm ein Mahl von einer Güte zu mir, wie ich es schon lange Zeit nicht mehr genossen hatte. Während ich dort saß und aß, kreisten meine trüben Gedanken um die Ungerechtigkeiten, die es auf dem wunderbaren und schrecklichen Kregen gibt. Unter den Leichen befanden sich sechs Männer, die
das gleiche braune Gewand trugen, mit dem schon San Padria bekleidet gewesen war. Sie waren alle niedergemacht worden, und offensichtlich hatten sich nur drei von ihnen mit Waffen zur Wehr gesetzt. Und dann gab es da noch Leichen, bei deren Anblick ich wütend die Lippen aufeinanderpreßte. Es waren fünf junge Mädchen, die gerade an der Schwelle zum Erwachsenenalter gestanden hatten und von denen jedes auf seine Weise hübsch gewesen war. Nun lagen sie ihrer Zukunft beraubt tot da. Sie trugen bunte Gewänder mit kurzem Saum, und ihre nackten Beine boten einen traurigen Anblick. Einige hatten Glöckchen an den Knöcheln befestigt, und wie Sie wissen, habe ich mir noch immer keine Meinung gebildet, ob diese Sitte geschmackvoll oder einfach nur vulgär ist. Meine Gefühle geboten mir, diesen schrecklichen Ort sofort zu verlassen, andererseits war ich es diesen armen Menschen wenigstens schuldig, ihnen ein vernünftiges Begräbnis zukommen zu lassen. Doch als ich plötzlich entdeckte, daß Reisende aus der Richtung kamen, aus der ich auf die Meuchelmörder gestoßen war, traf ich eine Entscheidung. Ich wollte mir die langwierigen Erklärungen ersparen, die unweigerlich fällig waren, wenn ich blieb. Außerdem mußte ich weiter, und die Neuankömmlinge konnten die Begräbnisriten sowieso viel besser als ich vollziehen.
Die Zorca spitzten die Ohren, als mich ihnen näherte, und einige scharrten mit den Hufen. Ein Tier schien genau das Richtige zu sein, es war eine graue Zorca, deren Augen scheinbar verkündeten: »Reite mich! Ich bin die Beste!« Ich ging auf sie zu, beruhigte sie und griff nach dem Zaumzeug. Ein Lichtreflex in dem Sonnenschein unter den Bäumen und der dumpfe Laut, mit dem sich der Dolch in den Baumstamm grub, ließen mich instinktiv herumwirbeln, niederducken, einen Pfeil aus dem Köcher ziehen und mit halb gespannten Bogen in die Richtung zielen, aus der geworfen worden war, bevor ich einen bewußten Gedanken gefaßt hatte. Eine schrille Stimme rief: »Meuchelmörder!« »Ich bin kein Meuchelmörder, du Fambly!« brüllte ich entrüstet zurück. »Cymbaro sei mein Zeuge, ich bin kein Stikitche!« Dann beruhigte ich mich etwas und rief weniger aufgebracht, aber genauso laut: »Sehe ich so aus?« »Nein!« erwiderte die Stimme zögernd und halb schluchzend. »Aber ...« »Ich kann dich sehen, du versteckst dich hinter der Kutsche. Komm heraus und zeig dich, oder ich werde dich zwischen den Radspeichen hindurch mit Pfeilen spicken.« »Wenn ich noch einen Dolch hätte, würdest du anders reden!«
»Hier!« gab ich erbost zurück. Ich griff in die Höhe und riß die hübsche juwelenverzierte Waffe aus dem Holz. »Da hast du ihn zurück!« Ich warf ihn so, daß er am unteren Ende der Kutschenrückwand steckenblieb. »Da hast du ihn!« »Du stiehlst die Zorca des Stroms!« sagte sie zögernd und unterdrückte wieder ein Schluchzen. Ich atmete ganz ruhig durch die Nase aus. »Ich stehle sie doch nicht! Ich leihe sie mir aus!« »Das sagen alle, wenn sie erwischt werden.« »Bei dem wippenden Hängebauch und den von Krampfadern durchzogenen Schenkeln MakkiGrodnos!« brüllte ich, erhob mich und ging auf die Kutsche zu. »Mir reicht's! Komm raus, Mädchen, Bratch!« Ich muß einen einschüchternden Anblick geboten haben, denn in der linken Hand hielt ich den Bogen, während die Finger der rechten Hand gleichzeitig den Pfeil hielten und sich um die Sehne krallten und sie bis zur Hälfte zurückzogen. Außerdem wird auf meinem Gesicht jener dämonische Ausdruck geleuchtet haben, den viele Leute als den Dray PrescotTeufelsblick bezeichnet haben. »Raus!« sagte ich, und ich bellte das Wort förmlich heraus, als würde es sich um einen Befehl auf dem Kasernenhof handeln. »Komm da raus!«
Sie kroch unter der Kutsche hervor wie ein Kätzchen, das sich durch einen engen Spalt zwängt. Ihr rosafarbenes Kleid war an der linken Seite zerrissen und wurde nur noch von ein paar Fäden zusammengehalten. Sie machte einen halbherzigen Versuch, es zurechtzurücken. Dann stand sie keuchend auf und hielt mit der Hand ein blutiges Fellbündel. Dabei liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Ihre linke Gesichtshälfte war blutverkrustet. Die Spangen, die ihre Haarmähne zusammengehalten hatten, waren vermutlich bei dem bösen Schlag, der sie verletzt hatte, verlorengegangen, doch selbst Schmutz und Blut konnten ihrem Haar nicht seine Pracht nehmen. Sie bemerkte, daß ich auf das blutige Bündel starrte, das sie so eng gegen ihre nackte Haut drückte, wo das rosafarbene Kleid aufklaffte. Dabei veränderte sich die Farbe ihrer im Licht der Sonnen hell funkelnden Augen auf seltsame Weise, es war, als würde eine Öllache auf der Wasseroberfläche schwimmen oder Seide zwischen gespreizten Fingern durchgezogen. Ihre grünen Augen wurden grau, als sich die Veränderung meines Gesichtsausdrucks in ihnen widerspiegelte. »Bandi«, sagte sie leise. »Mein kleiner Bandi.« Die Tränen rannen ihr die schmutzigen und blutverschmierten Wangen herunter. Bei dem Tier handelte es sich um ein Mili-Milu.
Das waren anschmiegsame, affenähnliche Geschöpfe, die Frauen oft als Haustiere hielten. Die Tiere hockten dann auf ihren Schultern. Sie waren schnell und durchtrieben, aber immer entzückend. Dieser kleine Bursche hatte seiner Herrin das Leben gerettet, denn der brutale Hieb, der sie sofort getötet hätte, hatte zuerst den Mili-Milu getroffen und war auf diese Weise abgeschwächt worden. Das Mädchen hatte die ganze Zeit bewußtlos und unbemerkt in dem hohen Gras unter der Kutsche gelegen. »Gib mir Bandi«, sagte ich so behutsam, wie ich konnte. »Ich werde ...« »Nein!« brauste sie auf. »Da hinten kommen ein paar Reisende. Ich muß los, bevor sie hier eintreffen. Sie werden sich um die Begräbnisse kümmern. Bitte.« Sie war jung, gerade an der Schwelle zum Leben. Sie war mittelgroß und voll entwickelt, und ihre Beine waren in jener besonderen Weise muskulös, wie man sie nur bei ausgebildeten Tänzerinnen findet. Trotz des Schreckens, den sie durchgemacht hatte, bewahrte sie die Fassung und hielt den Kopf aufrecht. »Also gut. Strom Korden hat mir mit seinem letzten Atemzug den Schwur abgenommen, seine Mission zu Ende zu bringen. Das werde ich tun. Remberee.« Ich sah sie streng an, drehte mich um und ging auf die
graue Zorca zu. »Dein Dolch steckt in der Rückwand der Kutsche«, rief ich ihr über die Schulter zu. Meine Reaktion auf ihre Weigerung, mir die blutigen Überreste ihres Schoßtieres zu überlassen, schien sie offensichtlich zu überraschen. Wenn sie ein normales junges Mädchen war – ich hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen –, würde sie unter Schock stehen. Es war von entscheidender Bedeutung, jetzt ganz normal mit ihr umzugehen. Dem ersten, ziemlich anmaßenden Eindruck, den ich bei ihr hinterlassen hatte, war sie mit ihrem angeborenen Mut entgegengetreten. Sie war eine Tänzerin, und es freute mich auf eine unbestimmte Weise, daß sie keine Glöckchen um die Fußgelenke trug. Sie war recht muskulös, gelenkig und zweifellos sehr sportlich. Also eine zähe kleine Dame, deren Ausdauer sich in geschmeidigen Muskeln und weiblichen Formen ausdrückte, die alle an der richtigen Stelle saßen. »Sag mir wenigstens deinen Namen.« »Drajak.« »Du bist sehr barsch.« »Manche Leute nennen mich Drajak den Schnellen. Also, wenn du ...« »Ich heiße Tiri.« Als ich darauf keine Erwiderung gab und statt dessen nach den Zügeln der Zorca griff, sagte sie aufbrausend: »Tiri ist die Kurzform von Tirivenswatha.«
Ich konnte mich nicht beherrschen. »Das höre ich gern«, sagte ich trocken. »Ich habe meine Probleme mit langen Namen.« »Ich glaube, die Dame Balsitha hat dein Ibma verdreht.« »Da ich weder weiß, wer die Dame Balsitha ist noch was sich hinter dem Begriff Ibma verbirgt, mußt du schon verzeihen, wenn ich nicht in den Stiefeln bebe, wie man in Clishdrin sagt.« Und sie lachte. »Was für Stiefel?« Ich sah überrascht nach unten – und bei Krun –, es stimmte. Für mich als abgehärteter Abenteurer und Seemann war es nichts Neues, barfuß zu gehen. Doch ein paar vernünftige Stiefel waren nicht zu verachten. Also marschierte ich etwas brummig wieder zurück. Es dauerte nicht lange, und ich hatte ein gutes Paar mit harter Sohle und weichem Oberleder gefunden, das ich dann sofort anzog. Die Gruppe von Reisenden war fast da. Ich richtete mich auf, und da überraschte mich das Mädchen zum zweitenmal. Sie übergab mir mit ernster Miene den blutigen Kadaver Bandis, ihres Mili-Milus. Ich nahm den armen Kerl mit gleichem Ernst entgegen und legte ihn neben Strom Kordens Leiche ab. »Sie werden ihm ein vernünftiges Begräbnis mit den
erforderlichen Riten bereiten.« Ich drehte mich zu ihr um. Sie hatte sich einen Gürtel mit Schwertgeschirr genommen und schnallte ihn sich gerade um. Der Dorn mußte ins letzte Loch, da sie so schlank war. Entschlossen schob sie den Braxter in die Scheide. Ich nickte, halb zustimmend und nicht zuletzt etwas amüsiert. »Sehr gut, junge Tiri. Nun heißt es Remberee. Leb wohl.« »Nein.« »Nein?« Einen verrückten Augenblick lang dachte sich, sie wollte mich zum Duell herausfordern. Sie nahm eine verzierte Tasche auf, die neben der Kutsche im Gras lag, und ging auf die Zorcas zu, die noch immer im Schutz der Bäume grasten. »Nein. Ich komme mit dir.« Und mit diesen Worten sprang sie geschmeidig auf die graue Zorca, die ich mir ausgesucht hatte, und griff nach den Zügeln. »Komm schon, Drajak der Schnelle. Worauf wartest du denn noch?« Sie zog den Kopf der Zorca zur Seite und trabte auf die Straße. Notgedrungen suchte ich mir schnell ein anderes vernünftig aussehendes Tier aus und saß auf. Als ich es antrieb, folgten uns die anderen Zorca.
Resigniert ritt ich hinter Tiri her; dabei fühlte ich mich wie jemand, der sich in einem Wirbelsturm wiederfand, wo er doch nur einen sanften Windhauch erwartet hatte. Mit was für einer temperamentvollen jungen Dame hatte ich es wohl diesmal zu tun?
6 Tiri sprach kein Wort, als wir unsere Tiere gemächlich nach Bharang traben ließen. Sie ließ den Kopf hängen. Ihr schlanker Körper zitterte. Hin und wieder stöhnte sie. In Gedanken durchlebte sie wieder und wieder den Alptraum, den sie durchgemacht hatte. Ich konnte nichts tun; das mußte sie allein durchstehen. »Warum?« fragte sie, und das Wort verriet den in ihrem Inneren brennenden Schmerz. »Warum bin ich verschont worden? Warum darf ich leben, wenn alle meine Freundinnen sterben mußten? Und warum ist es geschehen?« Was nun diese letzte Frage anging, wußte sie vermutlich viel mehr über die Gründe des Attentats als ich. Als wir an sauber bestellten Feldern vorbeiritten und uns den ersten Gebäuden Bharangs näherten, hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. Sie saß aufrecht im Sattel, und das Licht der Sonnen liebkoste die langen, schlanken und gebräunten Tänzerinnenbeine. Eine Sache bereitete mir Sorgen. Hatte ich etwas versäumt, weil Tiri zugesehen und sich dann eine bestimmte Meinung gebildet hätte? Ich bin ein erfahrener Söldner, ein Zhan-Paktun, und jeder Paktun,
der auch nur etwas taugt, hätte nach einem Kampf wie dem Gemetzel an der Kutsche die Besitztümer der Toten durchsucht. Ich hatte darauf verzichtet. Mir war klar, daß das sehr nachlässig gewesen war. Mit Ausnahme der Fälle, wo die Habe eines in der Schlacht Gefallenen an die nächsten Angehörigen übergeben wird, gehört die Beute dem Sieger, was allgemein akzeptiert wird. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann soll Delia bestimmte Gegenstände erhalten. Der Rest gehört dem Sieger. Auf jeden Fall hatte ich kein Geld, mit dem Tiri und ich in Bharang leben konnten. Nun ja, vielleicht konnte ich eine der Zorca verkaufen. Ich muß zugeben, daß ich mich der Sünde des Stolzes schuldig gemacht hatte, denn ich hatte mich schon darauf gefreut, Fweygos Gesicht zu sehen, wenn ich mit einer Remuda erstklassiger Zorcas im Schlepptau ankam. Als wir noch etwa hundert Schritt von den Stadttoren entfernt waren, schaute ich auf und sah einen prächtigen rotgoldenen Vogel, der über meinem Kopf kreiste. Er hatte die großen Schwingen ausgebreitete und zog dort oben mühelos seine Kreise. Ich kannte ihn. Es war der Gdoinye, der Spion und Bote der Herren der Sterne. Er beobachtete mich mit seinen scharfen, runden Augen. Tiri ritt einfach weiter, denn sie konnte ihn nicht sehen.
Ich wartete ab. Der Raubvogel stieg in die Höhe und verschwand im strahlenden Himmel Kregens. Er hatte kein verächtliches oder mahnendes Krächzen ausgestoßen. Das gab mir neuen Mut. Also erfüllte ich meine derzeitige Aufgabe zur Zufriedenheit der Everoinye. Bei den wurmzerfressenen Nasenlöchern der Heiligen Dame von Belschutz, wäre das nicht der Fall gewesen, hätte mich der Skorpion in die geheimnisvolle blaue Strahlung stürzen lassen und mich an den Ort versetzt, an dem ich hätte sein sollen, bei Krun! Die Stadtmauern schienen in gutem Zustand zu sein, und die Speere und Helme der Wachen waren deutlich hinter den Zinnen zu sehen. Innerhalb der Stadt erhoben sich hohe, zwiebelförmige Türme, und durch das offene Tor war eine bunte Vielfalt von Mauern und Dächern zu sehen. Eine Karawane Calsanys kam uns entgegen; jedes der Packtiere war mit prall gefüllten gelben Tragekörben behängt. Die Eskorte war beeindruckend, sowohl was die Zahl als auch das Erscheinungsbild anging. Ich zog die Zorcas zur Seite, um die Karawane vorbeizulassen. Die Torwachen widmeten Tiri, den Zorcas und mir einen flüchtigen Blick und sagten nichts, als wir die Stadt betraten. Es war früher Nachmittag, und vor Einbruch der Nacht gab es dringende Angelegenheiten zu erledigen.
Bharangs Gerüche waren nicht widerwärtig; die Gerüche von Tieren, Staub und Schweiß, die sich zwischen den dicht nebeneinanderstehenden Häusern miteinander vermischten, sorgten irgendwie für ein Gefühl der Sicherheit, da man sich nun hinter wuchtigen Stadtmauern befand. Die Aktivitäten der nächsten Burs sind schnell erzählt. Ich fand einen einohrigen Rapa mit einem ungepflegten grünen Federkleid, der mir eine Zorca abkaufte, ohne Fragen zu stellen. Von dem Benehmen des Rapas zu urteilen, würde jedes Brandzeichen geschickt entfernt werden. Tiri sagte gedankenverloren: »Ich habe etwas Geld, Drajak. Einen Silber-Bhin und sieben Kupfer-Obs.« Ich nickte, lächelte und erwiderte: »Als nächstes kaufst du dir ein paar vernünftige Kleidungsstücke. Mit diesem rosafarbenen Kleid kannst du dich nicht mehr sehen lassen, und nicht nur wegen der Farbe.« Wir fanden ein hübsches rotes Kleid – Rot war ihre Lieblingsfarbe, wie sie mir sagte – und vernünftige Unterwäsche. Dann wurde es Zeit, eine ordentliche Unterkunft für die Nacht zu finden. Keiner von uns erwähnte den Überfall auf der Straße oder die seltsamen Umstände, unter denen wir uns kennengelernt und die zu diesem merkwürdigen Bündnis geführt hatten. Das Gasthaus Zur Flötenden Henne, das sich in einer Seitenstraße befand, sah vielversprechend aus. Die
Wände waren gelb angestrichen, und die Fenster funkelten im letzten Licht der Sonnen. Ich bedeutete Tiri stehenzubleiben, und dann schauten wir uns einen Augenblick lang die Kundschaft an, die das Gasthaus betrat und auch wieder verließ. Es schien sich um achtbare Bürger zu handeln. Also traten wir ein und mieteten zwei Zimmer für die Nacht. Ich hatte es vermieden, mich nach Fweygo und seinen Schützlingen zu erkundigen. Das konnte ich immer noch tun, nachdem wir uns eingerichtet hatten. Die Zorcas wurden im Stall untergebracht und versorgt. Dann nahmen wir im Schankraum Platz, um dort zu Abend zu essen. Eine Gruppe Männer trat ein. Sie waren in voller Rüstung und schienen von ihrer Wichtigkeit überzeugt zu sein; allerdings hatten sie die Waffen nicht gezogen. Sie wurden von einem Jüngling angeführt, der für seine Rüstung noch etwas zu klein zu sein schien. Er war ein Apim, doch die meisten seiner Männer waren Hytaks. Das sind Krieger, vor denen man sich in acht nehmen sollte; gute, verläßliche Kämpfer. Ich bestellte das Essen und schenkte den Neuankömmlingen keinen weiteren Blick. Nun wissen Sie ja, daß ich es an fremden Orten stets vermeide, mit dem Rücken zur Tür zu sitzen. Wenn ich also eben gesagt habe, daß ich die Neuankömmlinge nicht weiter beachtete, dann habe ich
damit den Eindruck gemeint, den sich ein zufälliger Betrachter gebildet hätte. Als eine schlurfende Bewegung meine nähere Aufmerksamkeit erregte, wußte ich, daß nun schnelles Handeln gefordert war. Ich schüttete ein halbes Dutzend der abgegriffenen GoldRhoks aus der Börse, die mir der Rapa überlassen hatte, und drückte sie Tiri unter dem Tisch in die Hand. Dann schnallte ich Strom Kordens Schwert mit täuschender Langsamkeit ab und gab es ihr. »Du sagst nichts, und du weißt nichts. Verwahr dieses Schwert – du darfst es auf keinen Fall verlieren!« Dann erhob ich mich langsam. »Solltest du einem goldenen Kildoi namens Fweygo begegnen, sag ihm Bescheid.« Ich nahm den Becher und schob mich zwischen den Tischen durch, als wollte ich mir selbst noch etwas zu trinken holen, da mir die FristleBedienung zu langsam war. Der Besitzer, ein kleiner Och, der die mittleren Hände rang und in der oberen rechten Hand ein blaues Tuch hielt, mit dem er die schweißglänzende Stirn abtupfte, eilte dem Jüngling entgegen, der die Wachmannschaft anführte. »Hikdar Ortyg! Welch eine Freude, dich hier zu sehen.« »Ich bin im Dienst, Olabal.« Der Och schien nicht besorgt zu sein; wir hatten ein anständiges Gasthaus ausgesucht. Das schlurfende Geräusch ertönte wieder, und der Rapa, dem ich die
Zorca verkauft hatte, wurde nach vorn gestoßen. Seine Federn waren noch mehr durcheinandergebracht. Zwei Hytaks hielten ihn fest im Griff. »Ist das der Mann, du Blintz?« fragte Hikdar Ortyg, der Jüngling, mit seiner piepsigen Stimme. »Ja, Herr, ja, Herr ...« Ortyg legte die Hand auf den Schwertgriff. »Du kommst bitte mit uns.« Er sagte es mit ausgesuchter Höflichkeit. Ich trug noch immer den zweiten Braxter. Er wußte natürlich nicht, daß ich ihn durchbohren und dann den Rest seiner Mannschaft niederkämpfen konnte, noch bevor er überhaupt das Schwert gezogen hatte. Aber vielleicht konnte er es sich denken. Er versuchte, amtlich auszusehen; dabei rann ihm der Schweiß über die Stirn. »Gibt es Probleme, Hikdar?« fragte ich. Eins mußte man ihm lassen. Er erfüllte mannhaft seine Aufgabe. »Du wirst mich bitte begleiten.« Er nickte seinen Leuten zu, und die vier restlichen Hytaks traten vor und nahmen um mich herum Aufstellung. Ich ließ sie gewähren. Ein Kampf hätte niemandem genutzt. Ich sagte: »Natürlich.« Wir verließen das Gasthaus und betraten die Straße, und als wir uns schließlich auf der Hauptstraße befanden, hatte er noch immer nicht daran gedacht,
mir das Schwert abzunehmen. Entweder er war zu sehr von sich überzeugt, oder er war ein blutiger Anfänger. Doch die Hytaks sahen fähig aus, und er war klug genug, sich auf sie zu verlassen. Schließlich gelangten wir zu einem grauen Steingebäude, und das Geräusch des hinter mir zuschlagenden Gitters war ein mir vertrauter und zugleich trübseliger Laut. Die Nacht verging schnell. Ich wurde des Verkaufs gestohlener Zorca beschuldigt; man hatte weitere der Tiere im Stall des Gasthauses gefunden. Alle trugen das Brandzeichen von Strom Korden. Ich erzählte ihnen meine Geschichte, wobei ich das Schwert und Tiri unterschlug. Nun, um gerecht zu sein: ich wurde nicht sofort in eine Zelle geworfen. Sie hörten mir zu. Trotz der späten Stunde wurde ein Magistrat geholt. Es war ein ziemlich beleibter Kerl, ein Numim, der mich genau musterte. Er strich sich durch die dunklen Schnurrbarthaare und verkündete dann sein Urteil. »Du wirst eingesperrt, bis wir deine recht abenteuerliche Geschichte überprüft haben. Solch schreckliche Neuigkeiten, wenn sie denn nun der Wahrheit entsprechen sollten, werden sich bald herumgesprochen haben. Strom Nath wird deinen Fall entscheiden, sobald die Beweise erbracht worden sind. Führt ihn ab!«
Sie nahmen mich in die Mitte und hatten so endlich die Gelegenheit, mich in die Zelle zu stecken. Mittlerweile hatten sie mir Schwert und Messer abgenommen. Nicht zu vergessen die Strohbörse mit den Gold-Rhoks, um meine Schuld zu beweisen. Es war keine neue Erfahrung für mich, in einer Gefängniszelle einschlafen zu müssen. Meinen letzten Gedanken widmete ich wie immer derselben Person, dann schlief ich ein und träumte, wenn ich mich richtig erinnere, von sonnenerfüllten, glücklichen Tagen in Esser Rarioch. Das hört sich vielleicht ziemlich herzlos an, deshalb will ich noch etwas klarstellen. Ich dachte vor dem Einschlafen auch an die junge Tiri. Denn ich hatte nicht aufgehört, mir um die junge Tempeltänzerin Sorgen zu machen, seit ich ihr das erste Mal über den Weg gelaufen war – oder, um genauer sein, seit sie den juwelenverzierten Dolch nach mir geworfen hatte. Auf den ersten Blick schien sie ein temperamentvolles junges Mädchen zu sein, wohlgeformt und voller Anmut. Diese überschäumende Lebendigkeit war durch die schreckliche Erfahrung erschüttert worden, den Mord an ihren Freundinnen mitansehen zu müssen. Ihr war nicht einmal der kleine Bandi geblieben. Was wußte sie denn schon, wie es in der weiten Welt zuging? Tempeltänzerinnen müssen sich einer strengen und unbarmherzigen Ausbildung unterziehen,
allerdings gibt es auf Kregen die verschiedensten Religionen. Vielleicht blieb sie ja lediglich eine Tänzerin, bis sie dafür zu alt war und ihre Glieder zu steif wurden. Es war auch durchaus möglich, daß sie innerhalb des Tempels in höhere Ämter aufstieg. Sie konnte aus dem Orden austreten, heiraten und eine Familie gründen – es gab Tempel, in denen verheiratete Tänzerinnen an der Tagesordnung waren. Möglicherweise hatte sie auch höhere Ziele. Irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, daß Tiri dazu bestimmt war, die Höhen der Inneren Mysterien zu erklimmen, bis zu den verborgenen Heiligtümern vorzudringen und an den geheimsten aller Riten teilzunehmen. Ob es sich bei den Doktrinen von Cymbaro dem Gerechten nun um eine Religion, einen modischen Kult oder einen Magischen Kreis handelte, eines Tages würde Tiri dem obersten Führungskreis angehören – falls sie bis dahin überlebte. Das spürte ich ganz einfach. Doch jetzt zu dieser Bur, wo sie in Bharang war, ein junges Mädchen mit begrenzten Erfahrungen, das noch immer unter den Auswirkungen eines schrecklichen Erlebnisses litt, wie sollte man da von ihr erwarten, daß sie sich ganz normal verhielt, so als würde das Leben seinen üblichen Gang weitergehen? O ja, bei Zim-Zair, und ob ich mir in diesem verflixten Gefängnis Sorgen um Tiri machte!
Zusätzlich zu den Problemen der jungen Dame Tirivenswatha mußte ich mich noch um die Angelegenheiten der Prinzessin Nandisha kümmern. Fweygo war ein zuverlässiger und umsichtiger Kregoinye, da bestand kein Zweifel, und er würde Rückschläge und Widrigkeiten mit der gleichen Selbstsicherheit zu nehmen wissen wie Erfolge und Triumphe. Ein altes kregisches Sprichwort lautet: Würfele nie mit einem vierarmigen Burschen! Und ich hatte oft genug mit Korero gespielt, um zu wissen, welche Wahrheit in diesen Worten steckte, bei Vox! Von diesem widerwärtigen und absolut erbärmlichen Cramph Mefto den Kazzur einmal abgesehen. Ich verbrachte den größten Teil des folgenden Tages in der Zelle; es gab einen streng geregelten Tagesablauf, und man sorgte dafür, daß ich aß, trank und mich frischmachte. Das verriet mir, daß Bharang in der Tat einer Zivilisation angehörte, mit der ich mich identifizieren konnte. Bharang war die Hauptstadt des Stromnat desselben Namens, und der Strom hieß Nath B'Bensarm. Er hatte die Stadt verlassen und wurde erst in ein paar Tagen zurückerwartet. Der Kapitän der Stadtwache war ein erfahrener Veteran namens Mogper, ein Apim. Er kam vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte er ernst. »Man hat die Leichen gebracht, damit sie ein anständiges Begräbnis
erhalten können. Der arme Strom Korden!« Er sah mich mit seinen hellen, wachen Augen an, blieb dabei aber entspannt. »Du wirst mit dem Strick Bekanntschaft machen.« »Was ist mit den Stikitches?« »Du meinst, mit deinen Komplizen?« Er verzog das Gesicht. »Sie hätten es verdient, im Straßengraben zu vermodern. Doch wir beschmutzen unsere Abwässer nicht auf diese Weise.« Ich öffnete den Mund, um ihm gehörig die Meinung zu sagen, und schloß ihn dann wieder. Es wäre sinnlos gewesen. Die Unterhaltung half mir, eine Entscheidung zu treffen. Später sagte ich dann zu einem der HytakWachtposten: »Hol den Kapitän.« »Wofür, Apim? Willst du gestehen?« »Das geht nur mich und Mogper etwas an. Und jetzt bratch!« Als Mogper hereinkam, wischte er sich mit einer gelben Serviette Soße aus dem Schnurrbart. Er trug ein sehr schickes, fließendes Gewand aus wasserblauer Seide, einen silbernen Gürtel und einen hübschen Dolch. Die bequemen Pantoffel liefen in gebogenen Spitzen aus. Ich hatte mich nicht mehr rasiert, seit mich die Herren der Sterne zu sich zitiert hatten, und mein Bart und Schnurrbart ähnelten dem Mogpers. Der gute alte Deb-Lu-Quienyin, der Zauberer
aus Loh, ein verläßlicher Kamerad, hatte mir vor langer Zeit beigebracht, wie ich meine Gesichtszüge verändern konnte. Durch viel Übung war ich endlich soweit, daß mein Gesicht dabei nicht mehr wie nach tausend Bienenstichen brannte. »Was ...?« konnte der Kapitän der Stadtwache noch hervorstoßen, bevor ich ihn ins Reich der Träume schickte. Ich vollendete den Satz mit einer passablen Imitation seiner barschen Stimme. »... ist so wichtig, daß ich mein Essen unterbrechen muß?« Ich ließ ihn langsam zu Boden sinken, und einen Augenblick später trug ich das blaue Gewand. Ich schnallte mir den silbernen Gürtel um, zog die Pantoffel über und war bereit. Ich sagte ein paar ausgesuchte Worte und achtete darauf, öfter den Begriff ›Blintz‹ fallen zu lassen. In diesem Teil der Welt war das eine deftige Beleidigung. Der Hytak, der vor der Zelle gewartet hatte, nahm Haltung an, als ich in Mogpers Gehweise an ihm vorbeimarschierte. »Er will auf den Strom warten!« sagte ich. Dann schritt ich die Stufen hinauf und ging durch die Korridore, durch die man mich am vorangegangenen Abend zur Zelle gebracht hatte. Ich hatte Jiktar Mogpers Gesichtszüge. Niemand hielt mich auf. Ein Hytak öffnete mir das Tor, und ich trat in das rote Licht der Abenddämmerung; der grüne Genodras
war bereits untergegangen. Ich atmete die frische Abendluft tief ein. Bei Zair! Die roch so süß wie Wein aus Jholaix! Der Erfolg meiner List munterte mich auf. Es funktionierte nicht immer. Das eine Mal, als ich das Gesicht eines Diffs aus dem Volk der Quavens in Sharversende angenommen hatte – das waren Leute mit apimähnlichen Gesichtszügen, die allerdings über seltsam proportionierte Körper verfügten – ärgert mich bis zum heutigen Tag. Ein Blick, und sie hatten sich auf mich gestürzt. Nun ja, das liegt schon weit zurück. Jetzt war ich frei. Ich entspannte meine verzerrte Gesichtsmuskulatur etwas und machte mich entschlossen auf den Weg zum Gasthaus Zur flötenden Henne.
7 Ich kletterte an einem üppig mit Grünzeug bewachsenen Spalier über die Hinterhofmauer des Gasthauses. Das blaue Gewand hatte ich hochgezogen und an der Taille festgebunden. Die Pantoffeln hatte ich ausgezogen und in den Gürtel gesteckt. Dann grub ich die nackten Zehen in die Mauerspalten und zog mich in die Höhe, bis ich leise an Tiris Fenster klopfen konnte. Das Fenster wurde schnell aufgestoßen – unter diesen Umständen sogar außerordentlich schnell –, und ich mußte mich ducken, um nicht mit dem Kopf gegen den Rahmen zu stoßen. Dann zog ich mich geschmeidig über den Fenstersims in das Schlafzimmer. Es war stockfinster. Zwar flackerte dort ein winziges Licht, doch die Flamme wurde vom Metallzylinder der Lampe verborgen. Schweres Atmen war zu hören. Dann ertönte ein raschelndes Geräusch. Eine süßliche, leidenschaftliche Frauenstimme gurrte: »O Ferdie, mein Liebling! Ich habe gewußt, daß du kommen wirst, nachdem ich dich so ermuntert habe!« Der Metallzylinder wurde an seinem Holzgriff von der Flamme gezogen. Es wurde schlagartig hell. Die Frau wandte sich von dem Lampentisch am Bett ab. Sie hatte ihr Nachtgewand in einer Weise zu-
sammengerafft, die sie vermutlich für verführerisch hielt, und es war vom Kragen bis zum Saum geöffnet. Sie war fett. Dicke, wabbelige Speckringe begruben die nichtexistierende Taille unter sich, und auf dem Hängebauch und den schwellenden Schenkeln zeichneten sich die weißen Narben erfolgloser Schönheitsoperationen wie eine Karte der Hölle ab. Ihr Gesicht war vor leidenschaftlicher Sehnsucht verzerrt, und ihr Schnurrbart machte Mogpers Manneszierde Konkurrenz. »Ferdie, mein Geliebter! Deine kleine Mimi hat solche Sehnsucht nach dir!« In dem Herzschlag, in dem ich nacheinander Erwartung, den Drang zum Lachen und Mitleid verspürte, entschied ich mich, das verständnislose Gesicht eines Einfältigen aufzusetzen. Sie drehte sich um und sah mich. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte, doch auf keinen Fall hatte ich damit gerechnet, daß sie sich auf mich stürzte. Die fetten Arme waren weit ausgebreitet, und das Nachtgewand verhüllte ihre weiße Haut nur unvollkommen. »Du bist ja gar nicht Ferdie! Aber egal, mein Liebling – du tust es auch!« »Meine Dame. Das ist ein Mißverständnis ...« »Du mußt nicht schüchtern sein, mein kleiner Herzensbrecher. Du hast mich mit Ferdie gesehen, und nun verzehrst du dich in Sehnsucht nach mir! Das verstehe ich doch! Komm zu mir!« Ihre feuchten Lip-
pen hatten in dem Licht der Lampe die Farbe von Pflaumen, und ihre breite Nase war vor Leidenschaft verzerrt. Sie kam mir entgegen, und ich wich zurück, während ich verzweifelt nach der Tür Ausschau hielt. Sie stapfte hinter mir her, stolperte über das Nachtgewand und wäre fast hingefallen. Sie bot einen furchteinflößenden Anblick. So mußte es den Bauarbeitern einer Abbruchkolonne ergehen, die einen Tempel niederreißen mußten und um die dann der Boden erbebte. Ich erreichte die Tür. Sie unternahm den krampfhaften Versuch, das Gleichgewicht zu behalten, wobei alles wie Wackelpudding bebte. »Geh nicht! Geh nicht! Die kleine Mimi braucht dich!« »Ich versichere dir, meine Dame, daß ich dein großzügiges Angebot durchaus zu schätzen weiß. Doch ich bin anderweitig verbunden und muß deshalb mit tiefem Bedauern ablehnen.« Das konnte man nicht netter sagen, bei Shansi, dem Kobold der Liebe, der seine zusammengeflochteten Blumenringe zielsicher wirft, um zwei Liebende zu vereinen. »Bitte ...« Spucke floß wie ein Wasserfall über ihre diversen Kinne. Ich hatte das Gefühl, daß sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde, und das wollte ich nicht auf mein Gewissen laden. Ich riß die
Tür auf. »Madam Mimi, dein ergebener Diener. Remberee.« Und ich floh nach draußen. Bei der widerwärtig entzündeten Leber und dem nachlassenden Augenlicht Makki-Grodnos! Was für ein Erlebnis! Ich wünschte Ferdie alles Glück der Welt, wer er auch immer war. Wenn nun das ganze Gasthaus durch den bevorstehenden Tumult aufgeweckt wurde, war ich erledigt. Wo in einer Herrelldrinischen Hölle war Tiris Zimmer? Schritte ertönten. Der schwache Lichtschein einer am Ende des Ganges stehenden Lampe tauchte eine Tür in Schatten und beleuchtete den Rest. Ich drückte mich in den Schatten. Ein Mann ging vorbei. Er trug einen blauen Morgenmantel, der eine große Ähnlichkeit mit Mogpers Gewand hatte. Er war hochgewachsen und spindeldürr, allerdings schien es sich nicht um einen Ng'groganer zu handeln. Wenn Mimi jeden in ihre fetten Arme schloß, würde sie mit dem dürren Ferdie zufrieden sein. Er erblickte ihr feistes Mondgesicht, das aus der Tür sah, und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Mimi! Meine kleine Turteltaube!« Sie verschwanden im Zimmer und schlugen die Tür hinter sich zu. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und sah Tiri, die den Kopf aus der nächsten Tür steckte. Sie schien eher neugierig als alarmiert zu sein.
Ich trat aus meinem Versteck und legte den Finger an die Lippen, dabei fiel mir noch gerade rechtzeitig ein, den einfältigen Gesichtsausdruck fallen zu lassen, der Mimi so verzaubert hatte. Im nächsten Augenblick standen wir in ihrem Zimmer und schlossen leise die Tür. Sie trug ein hübsches kurzes Nachtgewand und sah einfach phantastisch aus. »Drajak!« flüsterte sie anklagend. »Wo hast du gesteckt? Was ist geschehen? Die Stadtwache ...« »Es ging um Strom Kordens Zorca. Ich dachte, ich hätte mich auf das gaunerische Geschick dieses Rapas verlassen können. Vielleicht war er zu sorglos. Wie dem auch sei, ich hielt es jedenfalls für angebracht, mich dort abzusetzen, vor allem nachdem die Neuigkeiten bekannt wurden.« »Es ist das Stadtgespräch. Es hat sogar den Tod des Königssohns in Vergessenheit geraten lassen. Was hast du ...« »Ich muß dieses hübsche Gewand loswerden und ein paar vernünftige Kleidungsstücke finden. Du hast Strom Kordens Schwert sicher verwahrt?« »Ja, natürlich.« Ich musterte sie sorgfältig. Sie sah müde aus. Dennoch konnte einem keinesfalls ihr trotzig erhobenes Kinn entgehen. Das schöne Haar war zurückgekämmt und glänzte mit einem goldenen Schimmer.
Sie war tatsächlich ein tapferes Mädchen, das sich dem Schrecken, der ihre Welt zerstört hatte, mutig entgegenstellte und darum kämpfte, sich mit den Geschehnissen abzufinden. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich mir um die junge Tirivenswatha keine großen Sorgen mehr machen mußte. »Bist du von der Stadtwache vernommen worden?« »Nein. Ich habe mich ruhig verhalten. Aber ...« »Aber was?« Wir flüsterten angespannt. »Ich sollte zu ihnen gehen und alles erklären. Dann würde bald ...« Diese Möglichkeit hatte natürlich die ganze Zeit auf der Hand gelegen, und möglicherweise war es dazu noch nicht zu spät. Ich hatte mich von Anfang an dagegen entschieden. »Ich möchte nicht, daß du in die Sache verwickelt wirst, Tiri.« »Oh, ich weiß, daß man in Bharang Tolaar anbetet. Cymbaro wird hier lediglich als ein Kult angesehen. Doch ich bin eine von Cymbaros Tänzerinnen, und man wird mir zuhören.« »Ich halte das für keine gute Idee. Es wären zu viele Erklärungen fällig.« Ich dachte dabei natürlich an Strom Kordens geheimnisvollen Auftrag, den ich auf jeden Fall ausführen wollte.
»Doch du bist jetzt ein Flüchtling! Ein Leemkopf!« »Das erlebe ich nicht zum ersten Mal, und es wird garantiert nicht das letzte Mal sein. Nun ist es Zeit zum Schlafengehen, junge Dame. Ich werde mich auf den Boden legen, und morgen früh können wir mit klarem Kopf besser nachdenken.« Sie legte sich ins Bett und deckte sich zu. Ihre graugrünen Augen musterten mich nachdenklich. »Glaub bloß nicht, daß du mir für alle Zeiten sagen kannst, was ich zu tun habe, Drajak. Wenn ich in Oxonium bin, werde ich im Schrein um Trost und Rat nachfragen.« Sie schien davon überzeugt zu sein. »San Paynor wird mir alles erklären.« Mit diesen Worten kuschelte sie sich in ihre Decke und war gleich darauf eingeschlafen. O ja, die junge Tiri war tatsächlich ein temperamentvolles Mädchen, bei dem das Herz auf dem rechten Fleck saß. Im Verlauf des folgenden Morgens nahmen die Ereignisse eine völlig unerwartete Wendung. Tiri ging mit ein paar Gold-Rhoks und Silber-Bhins in die Stadt und kam mit Kleidung zurück. Ich hatte ihr gesagt, wie lang das rote Tuch für den Lendenschurz zu sein hatte, außerdem brachte sie noch einen Shamlak mit. Er hatte Ähnlichkeit mit einem langen Hemd, das auf der ganzen Länge etwa eine Handbreit aufklaffte. Ich mußte sofort an Mimis Nachtgewand denken. Es
wurde auf der Brust mit Schnüren zusammengehalten, die man an den gegenüberliegenden Knöpfen befestigte. Der Shamlak erinnerte an den Dolman der Husaren; er wurde sowohl von Männern wie von Frauen getragen. Die Damen trugen darunter einen Wickelrock, und die Herren kurze Kilts. Das Ganze sollte leicht, luftig und bequem sein, und war für ein Klima gedacht, das die meiste Zeit über freundlich und angenehm war. »Drajak! Stell dir vor!« sagte sie etwas atemlos. Ich mußte lächeln. Das fiel einem leicht, soweit es Tiri betraf und man die dunklen Gedanken über die schrecklichen Erlebnisse verdrängen konnte. »Was denn, junge Dame?« »Du wirst es nie erraten! Ich habe Prinzessin Nandisha gesehen!« »Oh«, meinte ich und wußte nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Es stimmt! Ich habe direkt neben ihr gestanden. Der goldene Numim war auch da, und ich bin sicher, daß die Prinzessin versucht hat, ihr Gesicht zu verbergen. Das war irgendwie merkwürdig. Sie ist doch sehr beliebt.« »Du hast nicht zufällig auch einen goldenen Kildoi gesehen?« »Nein.« »Hör zu, Tiri. Du mußt noch einmal gehen und erst
Nandisha und durch sie Fweygo finden. Erzähl ihm, was passiert ist. Alles.« »Aber ...« »Das geht schon in Ordnung. Du wirst sehen.« Allerdings muß ich gestehen, daß ich im Innersten gar nicht so sehr davon überzeugt war, daß alles in Ordnung war. Doch ich hoffte es ehrlich. Fweygo würde schon einen Weg finden, die Sache in Ordnung zu bringen. Da ich zur Zeit in Tiris Schlafzimmer gefangen war, wartete ich ab. Einige Zeit verging. Als sie endlich zurückkam, brachte sie Nandisha, Ranaj und Fweygo mit! Ihre Freude und Erleichterung, das verlorengegangene Mitglied ihrer Gruppe zu finden, hielt sich sichtlich in Grenzen. Ranaj runzelte die Stirn. Allein Fweygo schien die Ruhe zu bewahren. Man ließ mir nicht einmal die Gelegenheit zu einem höflichen Lahal. »Die Prinzessin hat es nur dir und deinem onkerischen Benehmen zu verdanken, daß sie sich zu erkennen geben mußte«, fuhr mich Ranaj an. »So schlimm ist das nun auch wieder nicht.« Nandisha nahm auf dem einzigen Stuhl Platz, den es im Zimmer gab. Sie schien weitaus entspannter zu sein als in der Nacht, in der wir getrennt wurden. »Ich hätte es vermutlich sowieso machen müssen, um einen Flieger zu besorgen.«
Ich vermutete, daß sie jetzt, wo sie sich mit einem Flugboot in die Sicherheit der Hauptstadt Oxonium begeben konnte, den Eindruck hatte, daß alle Gefahren der Vergangenheit angehörten. »Du hättest sehen sollen, wie die Wachen gesprungen sind, als die Prinzessin zu ihnen sprach«, sagte Fweygo. »Sie sind in dem Bestreben, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, fast über die eigenen Füße gestolpert. Du bist entlastet, Drajak. Stikitche haben die böse Tat vollbracht.« »Was ist mit Strom Nath B'Bensarm na Bharang?« Ich benutzte den vollständigen Namen, weil mich die Sache interessierte. »Er hat sich für den Übereifer seiner Leute entschuldigt«, sagte Nandisha huldvoll. »Ich habe gelacht«, meinte Fweygo. Ich warf ihm einen Blick zu. Er schien tatsächlich ein guter, vielversprechender Kamerad zu sein. Nandisha erhob sich. »Wenn alle soweit sind, können wir fliegen.« Das war ein unmißverständlicher Befehl. Als wir das Zimmer verließen, sagte Ranaj: »Trotzdem gefällt es mir gar nicht, daß nun der Aufenthalt der Prinzessin in Bharang allgemein bekannt ist.« Fweygo sah mich vielsagend an. Wir beide wußten, was Ranaj befürchtete. Die Bedrohung, der die Prinzessin und ihre Kinder ausgesetzt waren, war noch
nicht ausgestanden. Wir befanden uns noch immer in der Gefahrenzone. Die Herren der Sterne hatten uns noch nicht von dieser Aufgabe entbunden. Bevor wir an das strömende, vermengte Licht der Sonnen von Scorpio traten, sagte ich zu Olabal, dem Wirt: »Im Schlafzimmer der Dame findest du ein blaues Gewand, ein Paar Pantoffeln, einen silbernen Gürtel und einen Dolch. Kümmere dich bitte darum, daß die Sachen Jiktar Mogper vom Stadtgefängnis zurückgegeben werden.« »Natürlich, Herr, natürlich. Und vielen Dank.« Er blies die Wangen auf, rang alle vier Hände und hörte nicht auf, sich vor der Prinzessin zu verbeugen. Sie nickte ihm auf jene erhabene, königliche Art zu, die Adligen angeboren zu sein scheint. O ja, so dann und wann genieße sogar ich es, Dray Prescot, wenn sich Türen durch Einfluß öffnen lassen! Auf den Straßen herrschte lebhaftes Gedränge. Die erstaunliche Vielfalt des kregischen Lebens war zu sehen; Rassen, die sich in jeder Hinsicht so voneinander unterschieden wie Hühner von Katzen. Wir gingen zügig auf den Vollerplatz zu, wo wir bereits erwartet wurden. Eine Pastang Underkers marschierte vorbei; ihre langen Borzoi-Gesichter verrieten gehörigen Hochmut. Sie hatten ihre Bögen über die Schulter gehängt. Eine Pastang Chuliks folgte ihnen mit sturer, blinder Zielstrebigkeit. Die Chuliks mit ihren gel-
ben Hauern, den langen Zöpfen und der glänzenden gelben Haut sind ausgezeichnete Kämpfer, die von Geburt an aufs Söldnerhandwerk vorbereitet werden. Der Bursche, der die Oberaufsicht über den Vollerpark hatte, war ein Xuntalese. Sein ebenholzfarbenes Gesicht mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen erinnerte mich an Balass den Falken. Seine Helfer stammten ebenfalls alle von der Insel Xuntal. Sie brachten uns einen hübschen kleinen Achtsitzer, der eine enge Kabine aus lackiertem Holz und echte Glasscheiben hatte. Das Flugboot erinnerte mich an die niedlichen Dampfer mit hohem Schornstein und polierten Messingaufbauten, die auf Seen fahren und bei jeder Gelegenheit die Dampfpfeife erschrillen lassen. Es fand keine große Zeremonie statt, und es mußten auch keine Formulare ausgefüllt werden. Ranaj und seine Frau Serinka setzten sich in die Mitte, die Kinder verschwanden unter Deck, und Nandisha und Tiri saßen nebeneinander am Heck. Die Prinzessin und die Tempeltänzerin steckten die Köpfe zusammen. Es war offensichtlich, daß hier eine neue und ziemlich ungewöhnliche Freundschaft geschlossen wurde. Ich setzte mich neben Fweygo. »Ein schmuckes Boot«, sagte er, und das war auch schon alles. Wir hoben ab und flogen in den duftigen Himmel
eines strahlenden kregischen Tages. Ich genoß das Gefühl, wieder einmal durch die Luft unter den Sonnen fliegen zu dürfen. Fweygo richtete die Kontrollen nach Westen aus und schob den Geschwindigkeitshebel bis zum Anschlag nach vorn. Als wir eine angenehme Flughöhe erreicht hatten, nahm er die Kontrollen zurück, und wir traten die Reise nach Oxonium an. Bald waren Fweygo und ich in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, wobei wir so leise sprachen, daß man uns nicht belauschen konnte. Außerdem spielten die Kinder auf jene zwanglose Weise miteinander, die deutlich machte, daß zumindest für sie die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Adel und Dienstboten keine Geltung besaßen. Ihr Lärm übertönte mühelos unsere Unterhaltung. Wie ich bereits vermutet hatte, war Fweygo im Schutz der Nacht gereist, und ich hatte ihn irgendwann überholt, während er fernab der Straße rastete. Er erzählte mir noch einmal, wie sehr er sich über Strom Naths Unbehagen gefreut hatte, als die Prinzessin ihm mit gerunzelter Stirn die Meinung gesagt hatte. Meine Ausrüstung war vollständig übergeben worden, und ich trug das Schwert, das Tiri sicher verwahrt hatte, wieder am Gürtel. Dann sagte Fweygo: »Ich stehe nun schon seit einiger Zeit in ihren Diensten – du weißt schon, wen ich meine –, und ich
glaube, hier geht es um die Thronfolge. Sohn und Enkel des greisen Königs sind schon vor einiger Zeit gestorben, deshalb hatte man den Urenkel Prinz Nazrak zum Königssohn ausgerufen. Er und seine ganze Familie sind vor kurzem bei einem dummen Unfall ums Leben gekommen.« »Und du glaubst, daß Nandisha nun Thronfolgerin wird?« Fweygo schürzte die Lippen. »Schwer zu sagen. Das ist ja gerade das Problem. Sie ist die Tochter des jüngeren Bruders des Prinzen Majisters, der gerade mit seiner Familie umgekommen ist.« »Und?« »Ihr Vater war Prinz Vanner. Ihre Tante, Prinzessin Shirree, also Nazraks und Vanners Schwester, lebt noch und ist wie sie eine direkte Verwandte des alten Königs. Ihr Sohn steht auch in der Thronfolge.« Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier das Salische Gesetz zur Anwendung kommen würde. »Also ist es einer Frau verboten, Thron und Krone zu erben?« »Stimmt. So ist das Gesetz.« »Aber die Erbfolge kann durch eine Frau weitergegeben werden?« Wieder schürzte Fweygo die Lippen und pfiff fast lautlos durch die Zähne. »Da liegt das Problem. Das scheint keiner genau zu wissen. Es gibt Streit.«
»Nun, wenn es darüber Auseinandersetzungen gibt, dann heißt das doch, daß es irgendwo einen Abkömmling einer direkten männlichen Linie geben muß.« »Ha! Eine direkte Linie? Das würde Hyr Kov Khonstanton gern alle glauben machen. Doch es gibt ernste Zweifel, was die Legitimität einer der Verbindungen seiner Ahnen betrifft. Sein Großvater war Naghan, ein jüngerer Bruder des Königs. Naghan hatte einen Sohn und eine Tochter. Es bestand absolut keine Möglichkeit, daß sie jemals für die Thronfolge in Betracht kamen, solange eine direkte männliche Linie des alten Königs existierte. Aber jetzt ...« Fweygo überprüfte die Kontrollen und steuerte den Voller sanft um eine weiße Wolke, die von rosaund chromgrünen Sonnenstrahlen durchzogen wurde. »Khonstanton behauptet, Naghans Sohn wäre sein Vater gewesen. Doch man ist allgemein der Ansicht, daß er von der Tochter abstammt.« »Äh«, sagte ich. »Ein interessantes Problem.« »Oh, das ist noch nicht alles. In den Palastgemächern machen sich noch andere Verwandte bereit.« Er verzog das Gesicht. »Es ist wirklich ein Problem, und du, Dray Prescot, und ich, wir stecken mittendrin!«
8 Fweygos Bericht enthielt viel Stoff zum Nachdenken. Auf den ersten Blick schien die Tatsache, daß zwei Kregoinye zum Schutz dieser kleinen Gruppe abgestellt worden waren, darauf hinzuweisen, daß Nandishas Sohn – wenn es nach dem Willen der Herren der Sterne ging – nach dem Tod des Königs den Thron besteigen sollte. So griffen sie in den Lauf der Welt ein. Nandisha und ihre Kinder befanden sich in Gefahr, ihr Leben stand auf dem Spiel. Also wollte sie jemand töten und auf diese Weise dafür sorgen, daß sie beim Kampf um die Krone ausschieden. Bei all den Todesfällen und Unfällen, die sich laut Fweygo in der königlichen Familie abgespielt hatten, war da bereits jemand fleißig am Werk. Obwohl Fweygo den Flieger auf eine hohe Geschwindigkeit gebracht hatte, übertönte Nandishas Stimme mit ihrem kultivierten und gleichzeitig so schneidenden adeligen Tonfall mühelos die Geräusche des Fahrtwindes und den Lärm der Kinder. »Mabal und Matol nähern sich dem Horizont, Ranaj. Wir werden landen, essen und uns ausruhen.« »Sofort, Prinzessin.« Der Numim wandte sich Fweygo zu. »Lande den Schweber, Kildoi, aber sanft.«
Fweygo machte sich nicht die Mühe, darauf eine Antwort zu geben. Er drückte die Nase des Vollers nach unten, und wir sanken schnell in die Tiefe. Er nahm die Geschwindigkeit zurück. Wir fielen noch immer. Er rüttelte ungeduldig am Geschwindigkeitshebel. Wir stürzten weiter. »Das Ding klemmt«, sagte er angewidert. »Sieh dir mal die Silberkästen an.« »Sofort. Vielleicht solltest du besser ...?« »Natürlich.« Er schob die Kontrolle für den Steigflug wieder vor. Doch unsere Fallgeschwindigkeit nahm nicht ab. Wir stürzten dem sich mit unglaublicher Schnelligkeit nähernden Erdboden entgegen und konnten weder die Geschwindigkeit verringern noch an Höhe gewinnen. Ich verlor keine Sekunde und riß den Deckel des schwarzen Kastens auf, in dem sich der Antriebsmechanismus befand. Unwillkürlich mußte ich an das erste Mal denken, als ich so etwas getan hatte. Damals flogen Delia und ich über die Großen Ebenen von Segesthes; diese durchtriebene Füchsin ließ uns einfach dahintreiben, dabei waren wir unsterblich ineinander verliebt und sahen keine Möglichkeit, unseren leidenschaftlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – o ja, und ob ich mich daran erinnerte! In den seitdem vergangenen Perioden hatte es beim Flugbootebau einige Verbesserungen gegeben,
denn die Technologie in Paz auf Kregen stagniert keinesfalls. Heutzutage waren die Kontrollen präziser und funktionierten wesentlich eleganter. Ich sah sofort, was passiert war. Man hatte einen scharfen Nagel in das Balassgestänge getrieben, und zwar auf ausgeklügelte Weise. Als der Sturmholzrahmen beim Start darübergeglitten war, hatten die Kontrollen nicht blockiert. Doch als der Rahmen für das Landemanöver zurückgezogen worden war, hatte sich der absichtlich verbogene und zugespitzte Nagelkopf in das Holz gegraben und verhinderte nun, daß die Silberkästen voneinander getrennt wurden. Ein zweiter Nagel, der in der Geschwindigkeitsapparatur steckte, sorgte dafür, daß sich die Kästen nicht um die eigene Achse drehen konnten. Die Anordnung in diesem Voller – hierzulande hießen sie Schweber –, unterschied sich geringfügig von den Flugbooten, die in Hamal und Hyrklana gebaut wurden. Ich begriff das System. Die Kästen waren hintereinander plaziert. Brachte man sie zusammen, stieg der Flieger in die Höhe, trennte man sie wieder, ging er tiefer. Jeder Kasten konnte sich um die eigene Achse drehen; befanden sie sich auf derselben Höhe, stieg die Geschwindigkeit rapide an. In einer Position von neunzig Grad hörte jede Vorwärtsbewegung auf. Der ganze Mechanismus war mit einem Gestänge verbunden, das sich seitlich
drehte, um eine Bewegung nach Backbord oder Steuerbord zu erlauben. »Beeil dich!« rief Fweygo von den Kontrollen, die sich über mir befanden. »Der Boden kommt uns immer schneller entgegen, und er sieht verflixt hart aus!« Irgendwo im Hintergrund ertönten schrille, alarmierte Stimmen. Ich machte mich mit dem schweren Messer, das ich seit dem Massaker am Straßenrand besaß, an die Arbeit. Es war unmöglich, die Nägel herauszuziehen. »Schieb die Kontrollen langsam nach vorn«, rief ich nach oben. »Der Rahmen muß sich nach vorn bewegen, er wird von einem Nagel blockiert.« Er verstand sofort, und der Rahmen bewegte sich millimeterweise nach vorn. Durch meine Bemühungen löste sich der zugespitzte Nagel. Benutzt man eine Messerspitze für solch eine Arbeit, kann man davon ausgehen, daß sie abbricht. Das war jetzt egal. Ich zwang die Klinge unter den zurechtgebogenen Nagel, der das Gestänge blockierte. Der kam zuerst dran! Ich bog den Nagel mit einer Verzweiflung gerade, die von der düsteren Vorstellung angefacht wurde, auf dem Erdboden zu Feuerholz zu zerschellen. Dann trieb ich ihn ganz ins Holz. Ohne darauf zu warten, daß Fweygo wieder in den Steigflug überging, stemmte ich die Kästen auseinander, so wie ich es zusammen mit Delia über den Großen Ebenen von Se-
gesthes gemacht hatte. Allerdings war damals kein hinterhältig angebrachter Nagel im Spiel gewesen. Zuerst widerstand das sperrige Holz meinen Bemühungen, dann brachte ich die ganze Kraft meiner Schultern ins Spiel, und der Sturmholzrahmen glitt über das Balassgestänge und somit über den blockierenden Nagel. Ich hielt mich nicht damit auf herauszufinden, ob unser steiler Fall nun verlangsamt wurde oder nicht. Ich trieb die Messerspitze unter den zweiten Nagel und hebelte, die Messerspitze brach ab, und wir trafen auf den Boden auf. Der Schweber brach auseinander. Ich stieß krachend mit der Schulter gegen die Kontrollen und wurde Hals über Kopf in die Höhe katapultiert. Ich überschlug mich mehrmals und landete flach auf dem Rücken mitten in einem Gebüsch aus verflixten Brennesseln und Dornen. Ich blieb einen Augenblick lang atemlos so liegen und rang keuchend nach Luft. Zwar dröhnten nicht alle Glocken von Beng Kishi in meinem Schädel, doch die meisten klingelten mit einer Inbrunst, als würde eine verrückt gewordene Versammlung wahnsinniger Mönche das Ende der Welt einläuten, bei Vox! Nandisha schrie, und Ranaj gab lautstark seiner Meinung über onkerische, inkompetente KildoiSchweberpiloten Ausdruck. Ich rollte mich aus den
Dornen und sagte kein Wort. Die kleine Numim Rafi hockte in der Nähe am Boden. Ihr niedliches Löwenmädchengesicht drückte Besorgnis aus, dann rappelte sie sich auf und lief los. Dank Opaz war zumindest einer der Passagiere unverletzt. Rafi half der kleinen Prinzessin Nisha auf die Füße, die sich an dem Numim-Mädchen festklammerte. Ranaj hörte auf zu brüllen, und Nandisha hörte auf zu schreien. Serinka wiegte die Prinzessin an der Brust und machte beruhigende Geräusche. Blieben also nur noch Fweygo, Tiri und die beiden Jungen übrig. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Rolan, der Numim-Junge, half Prinz Byrom und beruhigte ihn. Ich stieß die angehaltene Luft aus. Wo war Fweygo? Erforschte er vielleicht Cottmers Höhlen? Oder, kam mir die düstere Befürchtung, befand er sich auf der langen Straße zu den Eisgletschern von Sicce? Und die junge Dame? War sie wie der Voller zerschmettert worden? Ich sah mich um, und dabei war ich besorgter, als mir lieb war. Wir waren auf einem Abhang gelandet, der zu einem Fluß führte. Es waren keine Gebäude in Sicht, und der Boden bestand aus rauhem Heideland. Die letzten Strahlen der Sonnen verbreiteten rote und grüne Schatten unter den Bäumen am Flußufer. »Fweygo!« rief ich mit der alten kräftigen Vordecksstimme. »Tiri!«
Keine Antwort. Überall lagen Holztrümmer herum. Glassplitter bedeckten den Boden, grünen und roten Dolchen gleich. Ich sah mich nach allen Seiten um, und meine Besorgnis wuchs. Der leichte Schweber war zerschellt wie ein Kinderspielzeug unter dem Fuß eines achtlosen Erwachsenen. Allein die Tatsache, daß wir auf den zum Fluß führenden Hügel geprallt waren, hatte uns gerettet. Unser Aufschlagwinkel war dadurch drastisch verändert worden. Die Wrackteile lagen nicht nur auf dem Abhang, sondern auch unter den Bäumen und am Flußufer; es sah aus, als hätte ein Riese seinen Abfallkübel willkürlich übers Land ausgeleert. Ich sah mich im schnell weichenden Licht der Sonnen um; von den Bäumen zu dem sanft ansteigenden Hügel und wieder zurück. Und ich rief ihre Namen! O ja, und ob ich rief! »Fweygo! Tiri!« Ranaj warf mir einen Blick zu und fauchte ärgerlich: »Mach nicht solchen Lärm, Apim! Tolaar allein weiß, was du sonst aufscheuchst.« Ich ließ mich davon nicht beeindrucken und ging in Richtung Fluß. Dabei dachte ich, daß sich dieser prächtige goldene Numim Ranaj seine Befehle dahin stecken konnte, wo die Sonne niemals schien, und dieser Gedanke kam mir mit der Schnelligkeit eines Shiftik, der eine Fliege aus der Luft schnappt. Meine Kameraden lagen viel-
leicht verwundet oder tot in der Nähe. Da waren ein paar laute Rufe nun mal angebracht. Dann fiel mir beschwichtigenderweise ein, daß der Löwenmann lediglich sein Bestes gab, um die Prinzessin so zu beschützen, wie er es für richtig hielt. Ich ging weiter und rief nach meinen Kameraden. Ein vollständiges Deckteil war in die Äste eines Baumes geschleudert worden. Ein Stück weiter breiteten sich noch mehr Planken und Glas fächerförmig auf dem Abhang aus; ein trauriger Anblick in der hereinbrechenden Abenddämmerung. Etwa fünfzig Schritt weiter erwachten plötzlich drei flammende Lichter zum Leben. Sie bildeten ein aufgerichtetes Dreieck und hingen in Mannhöhe in dem Zwielicht unter den Bäumen. Ich blieb stehen und hielt den Mund. Dieser verflixte Numim; Ranaj hatte recht behalten. Ich wurde durch eine Art Lichtung von den Lichtern getrennt, und als ich stehenblieb, kam das funkelnde Dreieck auf mich zu. Es bewegte sich langsam auf und ab und wurde größer und heller. In diesem Augenblick sandte die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln ihr erstes rosafarbenes Mondlicht auf die Lichtung, und aus dem Dreieck wurden drei Augen, die in einem Antlitz saßen, das nur in der Hölle entstanden sein konnte. Ich kann nicht sagen, was das Ding eigentlich dar-
stellte. Es sah groß und gefährlich aus. Es bewegte sich auf vier mit Krallen versehenen Beinen und fuchtelte mit vier Tatzen vor einem alptraumhaften Kopf herum, in dem die drei Augen funkelten. Und ausgerechnet in dem Moment, in dem das Mondlicht die Lichtung überflutete, erhob sich aus den Schatten am Boden eine Gestalt. Es war Tiri, die über einem reglosen Körper stand. Mein Bogen war beim Absturz zerbrochen und unter den Trümmern verschwunden. Ich zog beide Schwerter, stürmte wie ein Verrückter los und stellte mich vor Tiri. »Ich wollte wegen dieses Ungeheuers nicht laut rufen«, sagte sie leise. »Fweygo lebt.« »Kannst du ihn von da wegschleifen?« Ich knurrte die Worte förmlich. »Ich werde es versuchen.« Ihre innere Ruhe griff auf mich über. Ich konzentrierte mich. Dray Prescot hat auf Kregen schon des öfteren gegen Monster kämpfen müssen, und wie Sie wissen, wurden für diesen Fall bestimmte Kampftechniken entwickelt. Ich ließ die Schwerter wirbeln, daß sich das Mondlicht in ihnen widerspiegelte. Das Ding kam gnadenlos näher. Es bewegte sich lautlos. Das war eine nervenzerreißende Erfahrung, das kann ich Ihnen sagen; ein großes, häßliches Ungeheuer mit Krallen und Reißzähnen, das im Mondlicht lautlos auf einen zukam.
Es ist eine unangenehme Sache, Kämpfe mit Tieren zu schildern; dabei spielt es keine Rolle, wie wild und tödlich sie verliefen. Dieses Ungeheuer lebte sein Leben und mußte deshalb fressen. Ich hatte Freunde zu beschützen und einen Auftrag zu erledigen; außerdem mußte ich um Delia willen am Leben bleiben. Also trat ich gegen das arme Wesen an, verwundete es und wurde selbst verwundet – ein Klauenhieb hinterließ einen langen Striemen an meiner Seite und ruinierte nebenbei den neuen Shamlak –, bis das Ungeheuer glücklicherweise genug hatte. Da hatte es aber bereits zwei Augen verloren, war blutverschmiert, und eine Tatze baumelte leblos herab. Ich hob das Schwert des Stroms zum Salut, als es langsam zwischen den Bäumen verschwand. Tiri hatte Fweygo ein ganzes Stück fortgeschleift. Sie war trotz ihrer attraktiven Schlankheit recht muskulös und kräftig. Sie sagte – und dazu werde ich mich nicht äußern, bestimmt nicht, bei Krun – mit ihrer hellen Stimme: »Ich hätte dir das Jikai erwiesen, wenn ich nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, Fweygo von dort wegzuschleppen.« Ich reinigte die blutverschmierten Klingen mit den Überresten des Shamlaks. Es fiel nicht leicht, nicht mehr daran denken zu müssen, was dieses Blutvergießen angerichtet hatte. In einer gewalttätigen Welt war das wahrlich keine leichte Aufgabe, bei Krun!
Und als wollte sie meine düsteren Gedanken noch vertiefen, rief Prinzessin Nandisha plötzlich: »Warum hast du es nicht getötet, Drajak?« »Ja«, sagte ich, wischte die Klingen sauber und stieg den Abhang zu den anderen hinauf. »Ja, dieses Tier hatte nur noch ein Auge und war schwer verwundet. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, es zu töten, statt es am Leben zu lassen.« »Ein Obachnin«, meinte Ranaj. »Sie versetzen die ganze Gegend in Angst und Schrecken. Es ist besser, wenn sie tot sind.« Ich wandte mich Tiri zu. »Wie geht es ihm?« »Oh, er wird es überleben. Sein Schädel muß so dick wie eine Lenkenholztür sein.« Wir trugen Fweygo zusammen den Hügel hinauf und brachten ihn dann in eine bequeme Position, doch noch bevor wir uns richtig um ihn kümmern konnten, schlug er die Lider auf und sagte mit dieser melodischen, immer etwas rauhen Stimme: »Was ist passiert?« »Bleib still liegen!« Tiris jugendliche Strenge war beeindruckend. Doch in diesem Zusammenhang war etwas anderes von Interesse. Fweygo akzeptierte die Dienste der jungen Dame ohne zu murren, und das trotz unserer Notlage und seinem für die Kildoi so typischen Selbstbewußtsein, das mit kühler Zurückhaltung verbunden war. Er vertraute eben ihren Fer-
tigkeiten auf diesem Gebiet. Ich hielt meine schwarzzähnige Weinschnute geschlossen. Als endlich wieder etwas Ruhe in unsere aufgewühlten Gefühle eingekehrt war und wir die blauen Flecken der Kinder mit Serinkas magischer Salbe behandelt hatten, zogen wir erst einmal eine Bilanz unserer Situation. »Wir sind hier in der Mitte des Nichts«, sagte Ranaj. Der größte Teil der umliegenden Landschaft war reine Wildnis, die sich zwischen den Städten erstreckte. Die Landstraßen wurden in gutem Zustand gehalten. Andere Wege waren nicht mehr als Buschpfade, falls sie überhaupt existierten. »Überall schleichen Bestien wie dieses Obachnin umher. Ein schwieriger Marsch liegt vor uns.« Ranaj hatte nicht resigniert; er hatte sich nur mit der Tatsache abgefunden, daß uns eine unangenehme Erfahrung erwartete. »Mach ein Feuer, Ranaj«, sagte Nandisha. Der Numim sprang sofort auf, zögerte dann aber. Bevor er sein Unbehagen in Worte kleiden konnte, fuhr die Prinzessin in diesem nörgelnden Tonfall fort, der eigentlich nicht zu einer Dame von so hohem Rang paßte. »Die Trümmer des Schwebers dürften als Feuerholz reichen.« »Äh«, sagte Fweygo, als Ranaj weiterhin schwieg. »Äh, Prinzessin, ist das klug? Wir könnten unwillkommene Besucher anziehen.«
»Das Feuer wird die dummen Tiere verscheuchen.« »Ich dachte da eigentlich weniger an ein paar dumme Tiere.« »Oh!« meinte sie und legte erschrocken die Hand auf die Brust. »Oh, ich verstehe.« In diesen Breiten waren die Nächte nicht sehr kalt. Die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln sorgte für ausreichend Licht. Falls es regnen sollte, würden wir eben alle naß – nun, Serinka würde schon dafür sorgen, daß die Kinder irgendwie im Trockenen blieben. Wir hatten alle einen schweren Tag hinter uns und waren müde, also würden wir problemlos einschlafen können. Ranaj teilte die Wachen ein. Fweygo und ich wollten mit dem Löwenmann über die beiden tödlichen Nägel im Antrieb des Fliegers sprechen. Wir unterhielten uns flüsternd, während sich die anderen auf dem Boden ausstreckten und einschliefen. Ranaj war zuerst entsetzt, dann erfaßte ihn eine wilde Wut. Er besaß den Anstand, sich bei Fweygo dafür zu entschuldigen, daß er ihn als unfähigen Schweberpilot beschimpft hatte. »Wer hat es getan?« fragte ich. Ranaj hob hilflos die Hände im rosafarbenen Mondlicht. »Es paßt alles zusammen. Mir kam es schon komisch vor, daß unser Schweber in Amintin versagt hat, selbst wenn man ihre Unzuverlässigkeit in Betracht zieht. Prinzessin Nandishas Freunde sind
entschlossen, dafür zu sorgen, daß ihr Sohn Byrom als rechtmäßiger Thronerbe benannt wird, aber ...« »Aber Freunde der anderen Interessengruppen möchten, daß man ihren Favoriten diese Ehre erweist.« Ich hatte den Eindruck, daß Fweygos Worten ein zynisches Vergnügen anhaftete, als wäre das alles nur ein Spiel. Nun, das war es auch, aber auf eine sehr ernste Weise. Fweygos Sarkasmus war hinsichtlich unserer Aufgabe, diese Leute am Leben zu erhalten, auch völlig gerechtfertigt. Was darüber hinausging, wer nun letztendlich der Thronfolger werden würde oder nicht, ging Fweygo und mich nichts an. Ranaj pflichtete ihm mürrisch zu. »Aye. Andere Blintze glauben, das wäre ihr Recht. Aber sie haben nicht das Recht, uns deswegen umzubringen.« Fweygo wollte etwas sagen, schüttelte dann aber den Kopf und ließ es sein. Ich konnte mir denken, was er hatte sagen wollen. Recht ist das, wofür man bereit ist einzutreten, und das gilt sogar für die strengen Maximen eines religiösen Glaubensbekenntnisses. Zum Beispiel würde Ranaj für sich das Recht in Anspruch nehmen, jeden davon abhalten zu dürfen, ihm Steine in den Weg zu legen. Also hielten wir abwechselnd Wache, schliefen so viel, wie wir konnten, und stellten uns mit dem Aufgehen von Mabal und Matol einem neuen Tag auf dem schönen Kregen. Während sich Ranaj und Serinka fleißig um ihre
Schützlinge kümmerten und aus den geretteten Vorräten ein Frühstück zubereiteten, sagte ich zu meinen Gefährten: »Wir müssen die Silberkästen finden.« »Was?« Es gab verständnislose Blicke. »Natürlich. Ich werde einen neuen Schweber bauen. Falls die Kästen funktionstüchtig sind.« »Ach so!« Diesmal blickten mich zwei weit aufgerissene Augenpaare an. Tiri fand den Vaol-Kasten und Fweygo den PaolKasten. Beide waren unversehrt. Ich seufzte erleichtert auf, dankte Opaz und machte mich an die Arbeit. Da uns die Trümmer zur Verfügung standen, war es nicht schwer, eine Art Schweber zu bauen. Wir brauchten lediglich ein floßähnliches Gebilde. Die Silberkästen würden der Konstruktion Auftrieb und Antrieb verleihen. Es stellte sich nur das Problem, wie man sie befestigen sollte. Das Balass- und Sturmholzgestänge war zersplittert, die dazugehörigen Bronzeteile verbogen. Natürlich hätte ich die Kästen in den Händen halten und sie auf diese Weise umeinander kreisen lassen können. Die Kästen gaben eine Art Kraftfeld ab. Daher war es nicht erforderlich, an einem genau ausgerechneten Punkt für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zu sorgen. Es reichte aus, die Kästen mit dem Objekt zu verbinden, das sie bewegen sollten. Schließlich entschied ich mich, aus Holzbalken eine
einfache Gleitschiene zu konstruieren, mit deren Hilfe man für Auftrieb und Bewegung sorgen konnte. Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln war es einfach unmöglich, eine komplizierte Mechanik zu konstruieren. Wir würden aufsteigen und geradeaus fliegen. Fweygo stieß einen fast lautlosen Pfiff aus und nickte. »Das werde ich fliegen können.« Der Theorie, daß Teile des menschlichen Gehirns ungebraucht brachliegen, ist öfters heftig widersprochen worden. Warum hat Gott sie geschaffen, wenn sie keine Funktion haben? Natürlich kann man dem die Frage entgegenhalten, warum Gott uns einen Blinddarm gegeben hat. Es ist darüber spekuliert worden, daß der Mensch eines Tages über Telekinese, Teleportation und die anderen psionischen Mysterien gebieten wird. Zur Zeit ist das noch unmöglich, und die besagten brachliegenden Teile unseres Gehirns gleichen dem Blinddarm. Spekulationen zufolge warten diese besonderen Teile nur auf den Zeitpunkt, an dem wir wissen, wie wir sie zu benützen haben. Dann können wir das Wunder der PSI-Kraft ausschöpfen. Eine andere Theorie vertritt den Standpunkt, daß diese Gehirnteile schon längst benutzt werden und uns einfach das Wissen oder die Instrumente fehlen, um festzustellen, was sie genau tun. Als ich nun dem Kildoi bei der Konstruktion eines
neuen Vollers zusah, beschlich mich die leise Ahnung, daß auf Kregen zumindest ein Teil dieser brachliegenden Gehirnteile aktiv genutzt wird. Fweygo hob einen Holzbalken mit der Schwanzhand auf, packte ihn dann mit seiner oberen linken Hand und hielt ihn zusammen mit der unteren rechten Hand genau an die Stelle, die ich ihm zeigte. Dann griff er mit der linken unteren Hand nach einem der Nägel, die Tiri wieder geradegebogen hatte, und schlug ihn mit dem Hammer ein, den er in der rechten oberen Hand hielt. Eine Schwanzhand und vier Hände an der Arbeit, und ihr Zusammenspiel war großartig. Sein Gehirn konnte seine Gliedmaßen in einer Weise kontrollieren, um die ihn jemand mit nur zwei Armen und ohne Schwanzhand nur beneiden konnte. Wie oft hat sich eine arme Frau mit einem Stall voll Kindern, die waschen, bügeln und kochen muß, schon gewünscht, doch ein paar Hände mehr zu haben. Das behelfsmäßig zusammengezimmerte Flugboot wurde fertiggestellt, und alle gingen an Bord. Dann hob Fweygo in Richtung der Hauptstadt Oxonium ab, und allein Opaz wußte, welche neuen Gefahren auf uns warteten.
9 »Nun, ich werde gehen«, sagte Tiri mit trotzig erhobenem Kopf. »Ich werde unverzüglich aufbrechen. Und das ist mein letztes Wort.« Wir, also die junge Tempeltänzerin und zwei Kregoinye, standen auf einer der hohen Terrassen von Prinzessin Nandishas Palast, der sich hoch oben über Oxonium befand. Die Prinzessin und ihre Kinder hielten sich in ihren Gemächern auf und erholten sich von den Strapazen ihrer schweren Reise. Fweygo warf mir einen Blick zu. »Einer von uns muß aber bei der Prinzessin bleiben.« »Ich gehe mit ...« Ich konnte nicht zu Ende reden, da ich rüde unterbrochen wurde. »Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen«, fauchte Tiri. »Ich brauche kein Kindermädchen.« Ich schaute auf die Stadt, die in das strömende und vermischte Licht der Zwillingssonnen getaucht wurde. Oxonium war ein faszinierender Ort voller Widersprüche, der sich in einem einzigartigen engen Talkessel befand. Die Bewohner lebten in Luxus und Pracht auf den Plateaus einer Reihe von steilen, hohen Hügeln. Zwischen diesen Hügeln verliefen Kanäle; einige führten Wasser zum Zentralhügel, an des-
sen Fuß sie sich vereinigten. Andere wiederum waren voller Morast. Doch dann gab es auch viele, die man trockengelegt hatte. Das waren die Gräben, wie sie von den Hügelbewohnern genannt wurden. Hier befanden sich die Hütten der Sklaven und Armen. Das Licht der Sonnen erreichte den Grund der Gräben nur um die Stunde des Mid herum. Das vielleicht ungewöhnlichste Merkmal Oxoniums waren jedoch die miteinander verbundenen Seilbahnen, die sich von einem Hügel zum anderen erstreckten. Die Tragseile ruhten auf gewaltigen Stützen, die in regelmäßigen Abständen über den Talboden verteilt waren. Als ich mich leise danach erkundigt hatte, warum die Armen und Sklaven, die den Reichen nichts als Haß entgegenbrachten, diese Stützen denn nicht niederbrannten, erhielt ich eine einfache und brutale Antwort. In diesem Fall würden sich die Reichen zusammentun, in die Gräben steigen und die Hütten niederbrennen – mitsamt ihren Bewohnern. Also hatte sich ein Gleichgewicht gefunden, wie so oft auf Kregen. Ein paar Schweber flogen über die Stadt, doch es waren nicht viele. Dafür segelte eine große Anzahl von Luftsegelschiffen mit ihren bunten Segeln vorbei, die das Licht der Sonnen widerspiegelten. Diese Ovverers tauchten einen aus ätherisch-magnetischen
Kräften bestehenden Kiel in jene geheimnisvolle Auftriebskraft, für die fünf der in den Silberkästen befindlichen Mineralien sorgten. Da diesen Luftseglern die restlichen vier Mineralien fehlten, die einem Schweber Antrieb verleihen, konnten sie sich nur mit der Kraft des Windes fortbewegen. Die Ovverer segelten über die gewundenen Seilbahnen hinweg, die sich von einem Hügel zum anderen erstreckten, und sorgten für einen regen Verkehr über den Flüssen und Palastmauern. Es bot sich ein prächtiges und faszinierendes Bild. Die verschiedenen, so unterschiedlichen Transportsysteme warfen viele Fragen auf. Fweygo sagte: »Ich halte es für besser, wenn Drajak dich begleitet, Tiri.« Sie schmollte. »Ich muß doch bloß einen Calimer nehmen.« So wurden die Seilbahnkabinen bezeichnet. »Das kostet nur ein paar Kupferstücke. Ich muß nicht einmal die Kabine wechseln, denn der Palast der Prinzessin befindet sich direkt neben dem Großen Hügel. Ich bin doch kein Kind mehr.« »Cymbaro behüte!« sagte ich, und ich muß demütig zugeben, daß ich sie dabei schon etwas auf den Arm nahm. Sie wurde knallrot. Wäre sie meine Kregoinye-Kameradin Mevancy gewesen, dann hätte diese Röte Zims Sonnenuntergang Konkurrenz gemacht. Außerdem hätte sie gesagt: »O du!«
Tiri sagte: »Wenn du schon darauf bestehst, mich zu begleiten, vergiß nicht, daß ich eine Dame bin.« Fweygo pfiff fast lautlos vor sich hin und sagte nichts. »Dann akzeptiere auch als Dame die Ehrenbegleitung eines Herrn«, erwiderte ich. Diese Auseinandersetzung war ganz nett und völlig belanglos – dachte ich zumindest. Sie nickte. »Also gut. Machen wir uns auf den Weg.« Ich interessierte mich sehr für das Seilbahnsystem. Die Antriebswinden befanden sich in einem kleinen Gebäude am Rand des Plateaus. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dort eine Gruppe abgemagerter, schmutziger Sklaven vorzufinden, die mit der Peitsche und dem verhaßten, bösartigen ›Grak!‹ angetrieben wurden. Statt dessen befand sich dort ein sauber gepflasterter Kreis, in dem Calsanys unaufhörlich um die Winde getrieben wurden. Ein paar Leute warteten bereits auf die Seilbahnkabine, die sich an dem Tragseil anmutig auf unsere Höhe schwang. Ein Blick nach unten machte deutlich, wie tief hinunter es ging. Die Kabine rastete an der Haltestelle in ihrer Verankerung ein. An dem Tragseil bewegten sich noch zwei weitere Calimer. Alles schien funktionell und gut durchdacht zu sein. Wir stiegen ein, und die Reise durch die Luft begann. Es war eine unglaubliche Erfahrung. Wir schweb-
ten über der armseligen Ansammlung von Hütten und Baracken in den Gräben, die an irdische Favelas erinnerten. Auf unserer Höhe blieben wir von dem dort herrschenden Gestank verschont. Die Laufrollen bewegten sich fast lautlos, und eine leichte Brise versetzte die Kabine in leichte Schwingungen. Der Große Hügel erwies seinem Namen alle Ehre. Es handelte sich um den größten Hügel Oxoniums, und hier befanden sich der königliche Palast, Tempel und Gerichte, alles großartige Bauten, die einer wichtigen und geschäftigen Hauptstadt dienten. Wie man mir erzählt hatte, wurden die Tragseile aus unglaublich langen und zähen Pflanzenfasern hergestellt, die durch speziell präpariertes Schilfrohr von den Drosselseen im Norden des Landes verstärkt wurden. Zusätzlich flocht man noch Bronzefäden ein. Seilbrüche waren seltener als Schnee in den Gelben Wüsten von Caneldrin, der Nation im Norden. Wie jeder galante Herr, der eine Dame begleitet, trug ich Tiris verzierte Tasche in der linken Hand. Mir entging natürlich nicht, daß sie von Zeit zu Zeit in Gedanken die Hand zur Schulter führte und in dem Augenblick, bevor die Erinnerung einsetzte, zärtlich streichelnde Bewegungen machte. O ja, die junge, unschuldige Tirivenswatha hatte durch das schreckliche Erlebnis zweifellos mehr als nur ihr Schoßtier Bandi verloren, dennoch hatte sie dieser
Verlust am stärksten getroffen. Und das trotz all der anderen Morde und des vergossenen Blutes. Die junge Tempeltänzerin teilte meine tiefe Überzeugung, daß der Tod der Unschuld der schrecklichste aller Tode ist. Die Endstation, in der wir ankamen, war viel aufwendiger als die Haltestelle auf Prinzessin Nandishas Hügel. Vor uns erstreckte sich ein mit Steinplatten ausgelegter Kyro, der von imposanten Gebäuden flankiert wurde. Der Platz vibrierte vor Leben. Vertreter aller möglichen kregischer Diffrassen gingen vorbei, Sklaven drängten sich durch die Menge und erledigten die Aufträge ihrer Besitzer. Statt der sonst allgemein üblichen grauen – und abscheulichen – Sklaventuniken trugen viele braune Gewänder. Tiri ging mit erhobenem Kopf einen Schritt vor mir. Das erfüllte mich mit Freude und amüsierte mich. Wäre sie mit gesenktem Kopf hinter mir hergeschlichen, hätte ich mir über ihren Gemütszustand Sorgen gemacht. Natürlich war es durchaus möglich, daß sie diese Ausgeglichenheit lediglich vortäuschte und in dem Augenblick zusammenbrach, in dem sie sich in die Sicherheit des Tempels begeben hatte. Ich hatte mich bei Ranaj über die Gesetze erkundigt, die das Tragen von Waffen regelten, und erfahren, daß sie nicht sehr streng bis nichtexistent waren. Männer und Frauen trugen alle Arten von rassenty-
pischen und nationalen Waffen. Da die Spannungen an der Grenze mit bestürzender Häufigkeit in offenen Kampf umschlugen, neigten die Leute dazu, gut gerüstet in den Tag zu gehen. Genau wie in Bharang gab es auch in Oxonium unter den vielen prächtigen Diffrassen auffallend viele Chuliks, Underker und Xuntalesen. Obwohl die meisten Hügel Oxoniums eine flache Oberfläche aufwiesen, die entweder auf natürliche Weise entstanden oder aber das geduldige Werk vieler Arbeiter über den Zeitraum vieler Perioden waren, gab es einige, die recht bergig waren. In der Mitte des Großen Hügels ragte ein steiler Berg empor, auf dem sich der königliche Palast befand. Das war der Stammsitz der Familie T'Tolin. Der Name war heilig. Nandishas toter Gemahl Nath hatte bei seiner Einheirat in die königliche Familie natürlich den Namen T'Tolin angenommen und dieses als die einzigartige Gnade angesehen, die es auch war. Fweygo und ich nahmen an, daß wir in Oxonium waren, um Nandisha dabei zu helfen, den Anspruch ihres Sohnes Byrom auf den Thron der T'Tolins durchzusetzen. Eigentlich war es ein ganz normaler, prächtiger, hektischer und arbeitsamer kregischer Tag; doch es gab eine ins Auge fallende Besonderheit. Jeder Balkon, jedes Dach und jede Kreuzung ver-
fügte über eine Flaggenstange, an denen düstere Fahnen hingen. Die Flaggen waren weiß mit einem schwarzen Kreis in der Mitte. Das war die Kaotresh, die Flagge des Todes. Um den Arm trug ich eine weiße Binde mit schwarzem Kreis; das Symbol des Todes. Die ganze Stadt war in Trauer. War nicht vor kurzem der Sohn des Königs gestorben? Die Menschen, die an uns vorbeigingen, waren ernst, doch keiner weinte offen oder war von den Neuigkeiten am Boden zerstört. Das Leben mußte weitergehen. Der greise König würde einen neuen Thronfolger aussuchen, und wenn die Zeit gekommen war, daß er die letzte lange Reise zu den Eisgletschern von Sicce antreten mußte, würde eben der neue König die Krone tragen. Mir persönlich war es egal, ob das nun Byrom oder einer der anderen Anwärter sein würde. Ich habe schon zu viel Blutvergießen wegen königlicher Erbstreitereien mitansehen müssen. Dennoch hatte es den Anschein, als wären Fweygo und ich in die Kontroverse um den rechtmäßigen Erben verwickelt worden. Wie dem auch sei, dachte ich, als wir den Kyro der Liebhaber betraten, der König würde schon die richtige Entscheidung treffen. Nandishas Bedienstete hatten mich mit neuen Kleidern ausgestattet, einem feschen dunkelblauen
Shamlak mit schwarzen Stickereien und Schnüren. Auch Tiri trug ein neues Kleid, einen hellblauen Shamlak mit silbernen Verzierungen. Sie sah hübsch aus. Als unser Calimer eben auf dem Großen Hügel angelegt hatte, war mir ein Rapa mit kanariengelben Federn aufgefallen, der dort herumgelungert hatte. Als wir jetzt um die Ecke bogen, sah ich, daß er hinter uns herschlenderte. Er hatte ein ganzes Waffenarsenal über seinen olivgrünen Shamlak geschnallt, und seine Füße steckten in abgelaufenen Sandalen. Ich behielt ihn mißtrauisch im Auge. Als ich über den ganzen Schlamassel nachdachte, in dem Fweygo und ich steckten, fiel mir eine der ernsteren Erkenntnisse San Blarnois ein. Er hatte einst gesagt: »Die Führung eines Landes sollte man der zufälligen Erbfolge überlassen!« Da riß mich Tiri aus meinen Überlegungen. »Sieh dich nicht um. Wir werden von einem schurkenhaft aussehenden Rapa verfolgt.« »Der gelbfiedrige Schnabel? Aye.« »Du hast es gewußt?« »Wenn du überleben willst, mußt du solche Dinge bemerken.« »Ja, dann!« Wir gingen an der übertrieben verzierten Fassade eines Tempels entlang, dessen massive Pracht den
fehlenden Geschmack nicht aufwiegen konnte. Tiri hielt den Kopf noch höher und beschleunigte ihren Schritt. Ihr hübsches junges Gesicht verriet heftigen Abscheu. Ich sagte nichts, und als wir den einschüchternden Steinhaufen ein Stück hinter uns gelassen hatten, stieß sie hervor: »Sie beten den falschen Gott Dokerty an.« Ich blickte zurück und konnte gerade noch einen Blick auf eine kleine Prozession von Priestern erhaschen, die in dem Säulengang verschwanden, der sich an die flachen Eingangsstufen anschloß. Sie trugen weder Flaggen noch Armbinden. Sie gingen paarweise nebeneinander her. Sie waren in düsterrote Gewänder gekleidet. Oho! dachte ich. Sie besitzen diesen bombastischen Tempel auf dem Großen Hügel der Hauptstadt; warum müssen sie dann verstohlen durch Ruinen schleichen? »Ich hatte gedacht, Tolaar sei die Religion ...« »Es gibt viele Glaubensrichtungen. Tolaar ist vermutlich die mit den meisten Anhängern«, sagte Tiri angespannt. »Es gibt ständig Streit zwischen ihnen. Manchmal kommt es sogar zu Kämpfen. Es ist eine häßliche Sache.« Cymbaros Tempel entpuppte sich als ein kleines und unauffälliges Gebäude. Tiri erklärte, daß es diesen Schrein auf dem Großen Hügel allein wegen der
Notwendigkeit gab, in Oxonium in Nähe des königlichen Palastes Präsenz zu zeigen. »Manchmal hört der König auf unsere Ratschläge.« Wir betraten einen schattigen Hof, in dem ein Springbrunnen plätscherte. Es gab keinen Zweifel, daß hier eine Atmosphäre tiefen Friedens herrschte, eine Gelassenheit, die die alltäglichen Probleme der Stadt und des Landes weit hinter sich ließ. Diese Leute waren sicherlich große Metaphysiker. Es war niemand zu sehen. Blumen verströmten einen angenehmen Duft. Der Brauch, in Tempeln Weihrauch zu verbrennen, ist vermutlich deshalb entstanden, weil die versammelten Gläubigen ein ungewaschener, stinkender Haufen waren. Doch heutzutage ist der Weihrauchgestank wesentlich schlimmer als ehrlicher Schweißgeruch. Tiri ging voraus. Wir passierten ein paar Säulen und kamen in einen anderen Hof, der von einem Kreuzgang umgeben wurde. Ein jung aussehender Mann in einem braunen Gewand kam uns lächelnd entgegen. »Tiri! Wir haben die schreckliche Nachricht erhalten. Bist du wohlauf?« »Ja, vielen Dank, Logan. Das hier ist – äh – Drajak. Sein kräftiger Arm hat in Cymbaros Sinn gehandelt. Aber jetzt würde ich gern mit San Paynor sprechen.« »Natürlich.« Logan breitete die blassen Hände aus. »Im Augenblick hat er gerade wichtigen Besuch. Ich
darf ihn nicht stören. Doch ich bin sicher, daß es nicht mehr lange dauern wird. Darf ich euch eine Erfrischung anbieten?« Also setzten wir uns auf eine Bank und warteten. Parclear, Sazz und Miscils wurden gebracht. Wir mußten einige Zeit warten. Gelegentlich gingen Priester vorbei, und jeder nickte Tiri freundlich zu. Eine aufgeregte Mädchenschar mit rosigen Gesichtern und wallenden Gewändern tänzelte herbei, und alle bedrängten Tiri, doch ihre Abenteuer zu erzählen. Als sie dann vom Tod ihrer Freundinnen erfuhren, wurden sie sehr still. Sie fingen an zu weinen. Ich, Dray Prescot, stand auf und spazierte über den Hof, dabei sah ich mir die Türen an und verschaffte mir einen Eindruck über die Örtlichkeiten. Schließlich tauchte Logan wieder auf und winkte uns heran. Tiri und ich folgten ihm durch den Kreuzgang bis zu einer schmalen Tür. Wir durchquerten einen dunklen Korridor und betraten einen Vorraum. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich, und Stimmen ertönten. In dem Vorraum saßen ein halbes Dutzend kräftiger Burschen, die sich alle sofort erhoben. Sie trugen Rüstungen, waren gut bewaffnet und machten einen fähigen Eindruck. Alle verfügten über ein Abzeichen mit der Darstellung eines springenden Zhantils.
Zwei Männer, die sich angeregt unterhielten, traten durch die Tür. Die Audienz mochte vorbei sein, doch man war sichtlich nicht zu einer Einigung gekommen. Der eine Mann mußte San Paynor sein. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit San Padria, denn er verriet die gleiche selbstlose Hingabe an die Sache seines Glaubens. Der andere war ein junger, gutaussehender Bursche mit einem ehrlichen Gesicht und glattem blonden Haar. Der Schwung seiner Lippen ließ vermuten, daß er viel lachte. Er trug einen blauen Shamlak von fast der gleichen Farbe wie mein Gewand. Natürlich besaß sein Shamlak goldene Schnüren. Er hatte Rapier und Main-Gauche umgeschnallt. Mir fiel auf, daß beide Waffen an demselben Gürtel befestigt waren. Ihre Worte gingen im plötzlich ertönenden Lärm unter, als die hinter uns befindliche Tür gewaltsam aufgestoßen wurde und Chaos über uns hereinbrach. Ich wirbelte herum. Die Wachen des jungen Burschen eilten auf ihren Herrn zu, um ihn zu beschützen, während ich mich sofort vor Tiri stellte. Drei Priester taumelten blutverschmiert und mit zerfetzten Gewändern in den Vorraum. Die Holzstäbe, die sie in den zitternden Händen hielten, konnten nichts gegen die hereindrängende Übermacht ausrichten.
Eine Horde Männer mit blankem Stahl in den Fäusten drang brüllend ins Zimmer ein, die Gesichter vor Blutdurst verzerrt. Sie trugen olivgrüne Gewänder. Sofort hallte der Vorraum von Kampfesgeräuschen wider.
10 Ich, Dray Prescot, Mann zweier Welten, neige eigentlich dazu, alles als Waffe zu benutzen, was mir gerade zwischen die Finger kommt. Tiris verzierte Tasche, die ich noch immer in der Linken hielt, beschrieb einen hinterhältigen Bogen und traf den ersten Möchtegern-Mörder am Kopf. Ich weiß nicht, was die junge Dame da alles mit sich herumschleppte. Es wog genug, bei Krun! Der Bursche jaulte auf und ging zu Boden. Ich gab ihm noch einen Tritt mit auf den Weg und schnappte mir sein Schwert, als es seinen schlaff gewordenen Fingern entglitt. Soviel zu den zur Waffe umfunktionierten Handtaschen der holden Weiblichkeit! Die beiden Rapas, die dem zu Boden gegangenen Burschen auf dem Fuß folgten, sprangen vor, um Tiri und mich niederzustechen. Zwei klirrende Abwehrhiebe, gefolgt von einem sauberen Stoß, schalteten den ersten aus. Ich war mir des allgemeinen Aufruhrs in dem Zimmer durchaus bewußt; doch der trat jetzt erst einmal in den Hintergrund. Der zweite Rapa führte einen wilden Hieb aus. Eine gleitende Abwehr mit der geborgten Klinge öffnete seine Deckung. Ich traf ihn genau dort, wo der Kopf unter dem gelben Federkleid in den Hals überging. Er brach zusam-
men, doch das verdammte minderwertige Schwert zersprang mit einem höhnischen Klirren in zwei Teile. »Hinter dir!« rief Tiri, doch ich duckte mich bereits und wirbelte herum. Der Brokelsh war offensichtlich der Überzeugung, daß ich mich im Nachteil befand. Das schwarz behaarte Gesicht verriet Vergnügen. Ich schleuderte den Schwertgriff in die häßliche Fratze, riß den Braxter, den ich dem Opfer des Hinterhalts abgenommen hatte, aus der Scheide und streckte den ungehobelten Brokelsh nieder. Ein schneller Blick zur Seite verriet mir, daß sich Tiri mit dem Schwert in der Faust gegen einen schwerfälligen Brokelsh zur Wehr setzte. Ich sah einen Herzschlag lang aufmerksam zu, bevor ich nach vorn sprang. Sie konnte mit einer Klinge umgehen, soviel stand fest. Bei einem unübersichtlichen Kampf dieser Art muß man sich auf die unmittelbare Bedrohung konzentrieren. Gleichzeitig ist man sich des allgemeinen Kampfverlaufs bewußt. Ich vermute, daß die meisten Soldaten im Auge behalten, ob sie tapfer weiterkämpfen oder die Flucht ergreifen sollen. In diesem Fall setzten sich die Wachen des jungen Edelmanns nach der ersten Überraschung heftig zur Wehr, und die Angreifer kamen nicht so richtig voran. Der junge Edelmann zerrte San Paynor zur Seite, und der Prie-
ster versuchte mit aller Kraft, sich aus seinem Griff zu befreien. Der Brokelsh wurde von meiner Vorwärtsbewegung völlig überrascht. Die Tempeltänzerin und ich nahmen ihn in die Zange und schickten ihn zu Boden. »Geh zum San rüber, Tiri.« »Ja, das ist das Beste«, sagte sie bissig. »Und wenn du mein Besoulon zerbrochen hast, wirst du es büßen.« Einmal davon abgesehen, daß ich nicht wußte, was ein Besoulon war – ich hatte nur soviel verstanden, daß in ihrer Tasche etwas Zerbrechliches gewesen sein mußte –, fiel mir natürlich auf, wie sehr sie sich jetzt von dem Mädchen unterschied, das ich auf der Straße aufgelesen hatte. Unsere Verteidigung hatte uns Raum verschafft, und so eilten wir an die Seite des Sans, der noch immer gegen den Griff des Edelmannes ankämpfte. Paynor stellte seine Gegenwehr ein und sagte: »Tiri!« Er hörte sich an, als wüßte er nicht, ob er froh oder bestürzt sein sollte, sie zu sehen. »San! Es ist furchtbar!« »Oh, aye«, sagte der junge Edelmann. »Und du wirst mir helfen, diesen großartigen, aber sturen San in Sicherheit zu bringen – und zwar sofort!« Einige seiner Leibwächter lagen tot am Boden, und
einer stolperte uns mit einem Speer im Leib entgegen. Hinter ihm stürmten Angreifer heran, und es folgte ein häßliches, schnelles Handgemenge. Wir mußten uns ducken, parieren und einen Ausfall machen oder zuschlagen, bevor wir den Raum vor uns gesäubert hatten. Ein übergroßer Fristle griff uns an und brüllte den anderen zu, ihn zu unterstützten. Sein olivgrünes Gewand war mit schäbiger Goldspitze buchstäblich übersät. Das schnurrbärtige Katzengesicht war vor Wut gerötet, und er fuchtelte mit einem gewaltigen Krummschwert herum, voller Lust, Köpfe abzuschlagen. Der junge Edelmann handhabte sein Rapier mit einigem Geschick, doch ich sah, daß ihm die feineren Fertigkeiten fehlten, die man für den Gebrauch dieser präzisen Waffe brauchte. Zumindest ließ er sie im Moment vermissen. Ein geschleuderter Speer raste auf Tiris Kopf zu, und ich riß mein Schwert hoch, um die tödliche Waffe abzuwehren. Die Klinge des Fristles sauste auf meinen Körper zu. Tiri stieß mit ihrem Braxter nach dem Katzenmann, während ich auswich. Ich spürte einen brennenden Schmerz an der linken Hüfte. »Kommt schon! Kommt schon!« brüllte der Fristle, während seine Rüstung unter Tiris Stoß nachgab. »Schnappt euch die Blintze!« Einen Augenblick lang wurde alles irgendwie ver-
zerrt und vage, als würde das alles anderen Menschen passieren. Der Hytak, der die Mannschaft des Edelmannes anführte, rief: »Geht, Notor! Schnell!« San Paynor hatte genug. Er lief auf die innere Tür zu und rief nach Tiri. Sie wollte nicht von der Stelle weichen, und ich versetzte ihr einen Stoß, so daß der junge Edelmann und ich der Horde einen Moment lang allein gegenüberstanden. Es war wirklich nur ein kurzer Augenblick. Als die Angreifer heranstürmten, fauchte er: »Geh durch diese Tür. Ich werde dich decken. Bratch!« Nun war es noch nie meine Gewohnheit, denjenigen zu gehorchen, die mir ein ›Bratch!‹ entgegenrufen. Natürlich waren die Absichten dieses jungen Draufgängers höchst ehrenvoll. Außerdem wissen Sie ja mittlerweile, daß Dray Prescot manchmal vor Feinden die Flucht ergreift; allerdings muß ich dazu sagen, daß das nur sehr selten geschieht, wenn Kameraden zurückbleiben. O ja, ich weiß ... Also sagte ich hochmütig und von dummem Stolz erfüllt: »Du gehst zuerst, Dom!« In demselben Augenblick war es erforderlich, einen weiteren Speer abzuwehren. Das alles fand natürlich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit statt. Ich sah den Edelmann an und erkannte, daß er gar kein Jüngling war, sondern ein Mann, der die erste Phase sei-
nes kregischen Erwachsenendaseins erreicht hatte. »Geh, Fambly!« knurrte ich. Vermutlich hätte sich nun eine wütende Diskussion entwickelt, wenn wir nicht gezwungen gewesen wären, den nächsten Angriff abzuwehren. Sein Kommandant erreichte uns und hieb auf dem Weg einen Polsim nieder. »Notor!« »Uns bleibt keine Zeit, dieses Gespräch weiter zu verfolgen«, sagte der Edelmann. »Aber ich ...« Ein Schrei durchschnitt den Kampfeslärm, und er kam aus der offenen Tür, durch die Tiri und der Priester gegangen waren. Ich stürmte wie ein Besessener durch die Tür und den sich anschließenden schmalen Korridor. Zur Hölle mit den Artigkeiten, wer sich nun zuerst vom Feind absetzte. Zwei Männer versuchten Tiri und den Priester zu töten, und die Tempeltänzerin führte geschickt ihr Schwert. San Paynor hatte den Schrei ausgestoßen. Kluger Bursche! Ich warf mich auf die beiden Männer – es waren Apim – und machte kurzen Prozeß mit ihnen. »Sie sind durch den Innenhof gekommen«, keuchte Tiri; das Haar hing ihr in der Stirn. Ein Ruf des Edelmannes ließ mich herumwirbeln. Er kam mit dem Kommandanten seiner Wache durch die Tür und den Korridor entlang geeilt. Sein Gesicht war verzerrt. »Lauft!« brüllte er.
Mir kam der Gedanke, die Tür hinter ihnen zu verbarrikadieren, doch ich verwarf diese Idee sofort wieder. Sie würde Muskelkraft, Gewicht und Äxten nicht lange standhalten. San Paynor suchte bereits hastig das Weite, gefolgt von Tiri und mir. Der Edelmann und sein Leibwächter schlossen sich uns an. In dem Innenhof kam das schräg einfallende Licht der Sonnen besonders zur Geltung; die Blätter niedriger Bäume funkelten wie grüne Münzen. Ihr Duft paßte in keiner Weise zu dem Gestank vergossenen Blutes, der diesen friedlichen Hof sicherlich gleich verpesten würde. Weitere Männer – Apim – kamen über die Mauer zur linken Seite. Sie trugen alle olivgrüne Gewänder. »Das haben sie fein ausgeklügelt«, sagte Tiri angespannt. »Es hat seine Vorteile, wenn man sich hier auskennt«, sagte ich mit bitterer Ironie. »Tiri! Du und der San! Ich weiß nicht, was diese Rasts hier wollen, doch sollten sie es auf dich und den San abgesehen haben, werden sie Pech haben, bei Krun. San Paynor! Bring Tiri in Sicherheit – und zwar sofort!« Mein Tonfall war unmißverständlich. »Aber Drajak ...« »Sofort!« Diese dringende Bitte an Cymbaros Priester, etwas Vernünftiges zu tun, hatte ihren beabsichtigten Ef-
fekt. Er schien direkt etwas größer zu werden. Er nahm Tiri bei der Hand und sagte: »Dein Freund hat recht, meine Liebe. Komm!« Sie verschwanden unter einem langen Säulengang aus lemonenfarbenem Marmor, der mit früchtetragenden Büschen bewachsen war. Ich, der typische harte, ungehobelte Kämpfer par excellence, stellte mich dem Feind entgegen, bereit zum Kampf bis in den Tod, um die Sicherheit meiner Freunde zu gewährleisten. Nun ja, so etwas kommt auf Kregen öfters vor. Das Handgemenge nahm seinen Verlauf; ein paar Männer stürzten tot zu Boden, und es floß Blut. Der Wachkommandant des Edelmannes war ein guter Kämpfer, wie man es von einem Hytak erwarten konnte, und wir schlugen uns tapfer. Doch die schiere Überzahl trieb uns zurück. »Kennst du den Grundriß dieses Tempels?« fragte ich den Hytak während einer jener Pausen, die in Kämpfen dieser Art unweigerlich entstehen, wenn sich beide Seiten zurückziehen, um Luft zu schöpfen. »Nein, Dom.« Er wischte Blut von der am Schwanz festgeschnallten Klinge. »Du bist ein ordentlicher Kämpfer. Ich bin Chulgar ti Daster. Ich verdiene meinen Sold und kämpfe für meinen Herrn bis in den Tod, und ...« »Und du redest zuviel, Chulgar, mein Freund«,
wurde er von seinem Herrn unterbrochen. Chulgar verstummte und beschäftigte sich weiter mit der Säuberung der Schwanzklinge. Doch ich wußte, was er hatte sagen wollen. Nun war die Zeche für Sold und Dienst fällig. »Ich bin Drajak. Wir müssen einen Weg aus diesem Schlamassel finden. Und falls das bedeuten sollte, daß wir flüchten müssen« – ich blickte den Edelmann mit gerunzelter Stirn an und bedachte ihn mit einem teuflischen Blick – »dann werden wir das tun!« »Es ist nicht meine Art ...«, sagte er steif. »Meine auch nicht, Dom«, unterbrach ich ihn. »Aber ...« Ich verstummte. Ich hatte sagen wollen ›Seit ich auf Kregen bin‹, doch das war hier fehl am Platz. »Aber ich habe lange genug überlebt und dabei gelernt, wann man kämpfen muß und wann man ... äh ... sich zurückzieht und neu formiert.« Dann fügte ich etwas leiser das Wort für ›Kapiert?‹ hinzu, das, wenn man es im Befehlston ausspricht, die Leute ziemlich aufbringt. »Nun?« Er versuchte meinen wilden Blick mit aller Kraft zu erwidern. Dann wandte er sich ab und sah wieder in den Innenhof. »Da kommen sie. Möge Cymbaro sie verfaulen lassen!« stieß er hervor. Mit diesen Worten konnte er mühelos jegliche Verwirrung verbergen, die er in diesem Augenblick möglicherweise empfand.
Ein paar Rapa und Polsim kamen zusammen mit den Apim vorsichtig auf uns zu. Ein Geräusch in unserem Rücken ließ mich nach hinten sehen. Priester in braunen Gewändern traten in das Licht der Sonnen. Sie hielten Waffen und kamen entschlossen näher, doch ich hatte kein großes Vertrauen in ihre Kampfkraft. Natürlich war die junge Dame bei ihnen. Die beiden Seiten trafen mit lautem Gebrüll aufeinander, und es hieß parieren, zur Seite springen und zustoßen. Der Kampf breitete sich über den ganzen Innenhof aus. Natürlich war ich dazu entschlossen, mir Tiri zu greifen und mit ihr bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu fliehen. Wie bereits gesagt, hatte ich keine Ahnung, was die olivgrün gekleideten Schurken eigentlich wollten. Doch je schneller Tiri und ich uns aus der Angelegenheit heraushalten konnten, desto besser. Die Dinge nahmen nicht ganz den Verlauf, den ich erwartet hatte. Nun, so ist das eben auf Kregen, und das hätte ich eigentlich wissen müssen. Der häßliche Fristle mit dem gewaltigen Krummschwert war da, hieb Priester nieder und brüllte dabei wie ein Verrückter. Auf der Steuerbordseite seiner Nase hatte er eine häßliche, große haarige Warze. Einen kurzen Augenblick lang standen wir uns wieder gegenüber, dann wich er zur Seite aus und stürzte sich auf ein paar Priester, die sich erstaunlich gut
schlugen. Ich verfolgte ihn, das Kampfgetümmel verschluckte uns, und plötzlich wurde ich von olivgrün gekleideten Mördern umzingelt. Die Schmerzen an der Hüfte, wo mich dieser verflixte schnurrbärtige Katzenmann getroffen hatte, waren im Verlauf des Kampfes in Vergessenheit geraten. Als ich nun gegen ein halbes Dutzend Angreifer kämpfte und mein Bestes gab, um nicht aufgespießt zu werden, bemerkte ich erst, was der Krummschwerthieb des Fristle noch angerichtet hatte. Ich ließ einen Brokelsh zu Boden gehen, verschaffte mir etwas freien Raum und zog mich zu den Priestern zurück. Ein klirrendes Geräusch ertönte, das deutlich über dem ganzen Lärm zu hören war. Eine Art Lasso schlang sich um meine Beine, und ich stürzte der Länge nach hilflos auf die Steinplatten. Ich strampelte meine Beine frei, drehte mich zweimal um die eigene Achse und kam mit einem Wutschrei wieder auf die Füße. Der warzennasige Fristle brüllte seinen Triumph heraus und sprang. Er stürzte sich nicht auf mich. Er packte ein in der Scheide steckendes Schwert am Griff und hob es auf. Ich verstand. Ich stellte mich ihm in den Weg. Er riß Strom Kordens Schwert aus der Scheide und stand mir nun mit dem Braxter in der einen und dem Krummschwert in der anderen Hand gegenüber. Der Treffer an der Hüfte hatte nicht nur meine Haut auf-
gerissen, sondern den Schwertgürtel des Stroms so weit beschädigt, daß er nach meinen wilden Bewegungen gerissen war. Der Fristle brüllte noch einmal triumphierend auf, drehte sich um und flüchtete. Andere Angreifer stellten sich mir in den Weg. Der Zorn, der in meinem Inneren loderte, vermischte sich mit der Wut über meine eigene Dummheit. Der Innenhof wurde von den Geräuschen aufeinandertreffenden Stahls erfüllt. Die Olivgrünen zogen sich überall zurück, dafür liefen nun andere Männer heran, Männer in Rüstungen. Die Neuankömmlinge waren über dieselbe Mauer gekommen, die schon die Angreifer benutzt hatten. Der Kampf verlagerte sich, und Amak Dagert von Paylen schlenderte lässig auf mich zu und reinigte dabei das Rapier. »Hai!« sagte er. »Damit habe ich ja wohl meine Schuld bezahlt, mein Freund.« »Zweifellos«, erwiderte ich, hob die leere Schwertscheide auf und warf sie über die Schulter. Das Schwert des Stroms würde wieder an den ihm zustehenden Platz zurückfinden, und wenn es meine letzte Tat sein sollte. Dann erkannte ich die lächerliche Schwülstigkeit dieser Prahlerei. »Ich bin froh, dich zu sehen, Amak. Diese Blintze wurden zur Plage.« »Alle Plagen landen in den Eisgletschern von Sicce, wenn Hanitcha der Verheerende ihre Zeit für ge-
kommen hält. Nun sag aber, was hat dich an diesen Ort gebracht?« Palfrey der Pfiffer kam heran. Sein Kurzschwert war verdächtig sauber für einen treuen Diener, der seinem Herrn in einem Kampf beigestanden hatte. »Sie sind alle geflohen, Notor.« »Palfrey«, sagte ich und nickte ihm zu. »Was meine Anwesenheit an diesem Ort betrifft, so handelte es sich um Tempelangelegenheiten.« Paylen hörte mir gar nicht zu. »Hat man sie verfolgt?« verlangte er tyrannisch zu wissen. »Oh, aye, Herr.« Palfrey klang gekränkt. »Darum kümmert sich Nath der Iarvin und seine Leute.« Dagert nickte. Er hörte auf, sein Rapier zu polieren, und steckte es weg. Dann strich er sich charakteristischerweise mit dem schlanken Zeigefinger über den bleistiftdünnen schwarzen Schnurrbart. »Sie haben etwas mitgenommen, das mir gehörte ...«, sagte ich und wurde dann von dem Geräusch heraneilender Schritte, dem Geraschel von Röcken und einer atemlosen Stimme unterbrochen. »Cymbaro sei Dank!« stieß Tiri hervor. »Ich dachte schon, du wärest tot!« Sie hielt noch immer das Schwert in der Hand, und die Klinge war blutig. »Ich bin froh, dich heil zu sehen«, sagte ich recht trocken. »Der San und der junge Edelmann?«
»In Sicherheit. Dank ...« Ihr Blick verweilte auf Dagert. Ich machte das nötige Pappattu, um sie einander vorzustellen, und fragte mich beiläufig, ob es einer Tempeltänzerin gestattet war, einen Amak zu heiraten. Und wenn es möglich war? Doch das war nicht meine Sache. »Anscheinend bist du nicht einmal im Schrein sicher«, sagte ich Tiri. »Der junge Edelmann ist in Sicherheit?« fragte Dagert. »Ja, Notor.« Mich beschäftigten nur zwei Gedanken. Erstens: Tiri mußte zurück in Nandishas Palast, um ihrer eigenen Sicherheit willen. Zweitens: Ich mußte mich auf die Spur von Strom Kordens Schwert setzten, und zwar schnell. Sein Verlust war ärgerlich. Plötzlich ertönte das Getrampel eisenbeschlagener Stiefel, die den nächsten Akt des Dramas einläuteten. Wir wurden von waffenstarrenden Männern in vollständiger Rüstung und mit harten, gebräunten Gesichtern eingekreist. Ein Hikdar trat vor. Es war alles sehr förmlich. Er sprach mich an. »Bist du Drajak, der auch als der Schnelle bekannt ist?« Ich nickte. »Du wirst dich zu meiner Verfügung halten.« Er wandte sich seinen Männern zu. »Führt ihn ab!«
11 »Also, Drajak, den man auch den Schnellen nennt, wo ist es? Gib es sofort heraus!« Ich stand in einem Saal mit Parkettboden und wurde von bewaffneten Wachen umgeben, die alle ausgesprochen beeindruckend aussahen. Vor mir befand sich ein großer Thron, und auf dem saß ein Adliger, den es nur ein Fingerschnippen kosten würde, mich einen Kopf kürzer machen zu lassen. Ich saß, wie man in Clishdrin sagt, bis zum Hals darin. Die Waffenträger hatten sich als Mischung aus Stadtwache und Gefolge eines bestimmten Adligen entpuppt. Man konnte den Unterschied an ihren Abzeichen und Insignien ablesen. Ich war an den verschwenderischen Bauten Oxoniums vorbeigeführt worden; überall flatterten die Kaotreshes im Wind. Es war nicht erforderlich gewesen, den Großen Hügel zu verlassen, da der Palast des Adligen in der Nähe des Königspalastes stand. Der König und der Adlige besaßen ihre private Seilbahn, die zwischen zwei Türmen verlief, die jeweils aus den Außenmauern herausragten. Die Bahn überspannte den künstlich angelegten Burggraben, der den königlichen Palast umgab. Ich befand mich hier in einflußreicher Gesellschaft. Der Hikdar des Kommandos, Tygnam ti Fralen,
versetzte mir einen aufmunternden Stoß mit dem Ortband seiner Schwertscheide. Der Adlige hielt eine Hand hoch. »Laß ihm Zeit zum Antworten, Hikdar Tygnam.« »Quidang, Notor!« Ich entspannte mich. Der diensteifrige Hikdar hatte mich völlig korrekt behandelt, und obwohl ich ihm nur allzugern einen kräftigen Tritt an der Stelle versetzt hätte, wo es wirklich weh tat, hatte diese Vorstellung auch etwas Abstoßendes. Was nun das Problem anging, mit dem ich hier konfrontiert wurde, sah ich keine Möglichkeit, mich ihm irgendwie zu entziehen. Auf jeden Fall keine Möglichkeit, bei der ich mit heiler Haut davonkäme. Offensichtlich besaß die an diesem Ort herrschende Autorität menschliche Züge. Das hatte ich aus dem geschlossen, was ich gesehen und gehört hatte. Trotzdem würde man keine Ausrede tolerieren. Natürlich konnte ich lügen und einfach abstreiten, daß sich das verdammte Ding jemals in meinem Besitz befunden hatte. Doch so ein Verhalten konnte ich nicht mit dem für mich heiligen Versprechen an Strom Korden in Einklang bringen. Außerdem würde diese Lüge sofort auffliegen, da diese Leute über mich, meinen Namen und meine Tat auf der Landstraße Bescheid wußten. Konnte ich behaupten, daß es die Meuchelmörder
mitgenommen hatten? Sei nicht kindisch, Dray Prescot, rief ich mich zur Ordnung. Tirivenswatha wußte Bescheid. Also erwiderte ich furchtlos den Blick dieses mächtigen Adligen. Es war Hyr Kov Brannomar. Er war etwa mittleren Alters, obwohl man auf Kregen so etwas immer nur schwer einschätzen kann. Auf diesem Planeten gibt es einen körperlichen Zustand – die Gelehrten und Ärzte haben noch nicht herausgefunden oder sich entschieden, ob es sich dabei um eine Krankheit handelt –, bei dem das Haar einer Person bereits in frühen Jahren grau oder weiß wird, statt seine ursprüngliche Farbe viele Perioden lang zu behalten. Kov Brannomars Haar erinnerte an eine silberne Haube. Der Vollbart wies dieselbe Farbe auf. Er hatte ein gebräuntes, selbstsicheres Gesicht, in das die Last der Verantwortung harte Linien eingegraben hatte, funkelnde dunkle Augen und einen dünnen, lebhaften Mund. Zusammen mit dem silbrigen Haarschopf bot er das prächtige Erscheinungsbild eines wahren, an Lebenserfahrung reichen Adligen. Die lange Narbe auf der linken Wange, die sich hell gegen die übrige Haut abhob, unterstrich die Ausstrahlung grenzenloser Macht noch. »Kov«, sagte ich. »Notor. Das Schwert ist mir bei dem Handgemenge in Cymbaros Tempel abhanden gekommen.«
Der Mann, der auf den Stufen direkt unterhalb des Thronpodestes stand, stieß einen leisen Seufzer aus. Mein Instinkt sagte mir sofort, daß ich ihn besser im Auge behielt. Es mußte der Hauptberater des Kovs sein, ein Pallan, der fast über die gleiche Macht wie Brannomar gebot. Er trug ein rubinrotes Gewand – genau wie Brannomar –, doch im Gegensatz zu seinem Herrn wies sein Gewand aufwendige Verzierungen auf. Brannomars Kleidung war so nüchtern wie der Mann selbst. Was nun das Gesicht des Pallans anging, wurde ich hier mit einem Rätsel konfrontiert, für das ich zumindest im Moment keine Antwort wußte. Wie der Kov war er ein Apim, doch die dunkle Färbung seiner Gesichtszüge, die allerdings nicht die ebenholzschwarze und samtige Tönung eines Xuntalesen erreichte, schien darauf hinzuweisen, daß in seinen Adern etwas von dem stolzen Blut der Inselbewohner floß. »Was hast du in Cymbaros Tempel gesehen, Hikdar Tygnam?« Die Worte wurden leise ausgesprochen, doch sie trugen unmißverständlich den Stempel der Macht, die dieser Mann unter dem Befehl des Kovs besaß. »Dort herrschte ein großes Durcheinander, Lord Jazipur«, erwiderte der Hikdar sofort. »Als ich den Mann namens Drajak das erste Mal sah, war der
Kampf schon vorbei, und er unterhielt sich gerade mit seinen Gefährten.« Kov Brannomar beugte sich ein Stück vor. »Erzähl es mir, Drajak.« Ich gehorchte und schloß mit den Worten: »Dieser Fristle, der das Schwert genommen hat, dürfte leicht zu finden sein. Mit deiner Erlaubnis werde ich ...« »Er wird schon lange in den Gräben untergetaucht sein«, warf Lord Jazipur ein. »Dann werde ich ihm dorthin folgen!« fauchte ich mutig, denn ich war mir durchaus bewußt, daß ich hier um meine Freiheit kämpfte, wenn nicht sogar um mein Leben. Der Kov lehnte sich zurück. Er fuhr sich mit der kräftigen Hand, die weder von Ringen noch von Juwelen geschmückt wurde, übers Kinn. »Man wird Erkundigungen einholen. Ja, Drajak, den man auch den Schnellen nennt, ich glaube dir, daß du dich in die Gräben zwischen den Hügeln wagst und diesen Mann finden wirst. Und ich bin ebenfalls davon überzeugt, daß du mir das Schwert zurückbringen wirst.« Er erwähnte mit keinem Wort, was passieren würde, wenn ich es nicht tat. Das war auch unnötig. Die Entscheidung des Kovs entspannte die Situation keinesfalls. Die Wachen blieben aufmerksam an Ort und Stelle stehen. Ein paar Leute, die alle ihrer
Stellung und ihrem Rang entsprechend gekleidet waren, warteten an den Wänden des Saales. Große Fenster ließen das weiche, bunt schillernde kregische Licht herein. Dann fragte der Kov: »Drajak, warum hast dir mir das Schwert nicht sofort nach deinem Eintreffen in Oxonium gebracht?« Das war die Frage, die ich erwartet hatte, und das keinesfalls mit großer Freude. Es gab noch andere drängende Fragen, die er stellen konnte und zweifellos auch würde. Das Schwert in die Hände zu bekommen, war für ihn von vorrangiger Wichtigkeit gewesen, und diese Frage hatte alle anderen in den Hintergrund gedrängt. »Es war erforderlich, eine Dame zum Tempel zu begleiten«, sagte ich scharf. »Und das war wichtiger? Deine Geliebte?« »Nein.« Ich blieb kurz angebunden. Er ignorierte meine Unhöflichkeit. Hikdar Tygnam meldete sich zu Wort. »Herr, dort war eine Tempeltänzerin.« Einen Augenblick lang kehrte Stille ein, in deren Verlauf man sich zweifellos alle möglichen schrecklichen Strafen vorstellen sollte. Auch die nächste Frage war offensichtlich. »Was hat Strom Korden dir gesagt?« »Er lag im Sterben, hatte Schmerzen und seine Worte waren fast nicht zu verstehen. Er sagte ledig-
lich, ich solle das Schwert nehmen und es Hyr Kov Brannomar übergeben.« »Das war alles?« »Es war schwer, ihn zu verstehen. Ich hielt ihn für einen tapferen Edelmann, und es tat mir leid, ihn in diesem Zustand sehen zu müssen. Das war alles.« »Nimm das Schwert, und bring es zu Hyr Kov Brannomar?« »Genau.« »Strom Korden war ein tapferer Edelmann. Ich betrauere seinen Tod. Ich hoffe, ich werde nicht auch den Verlust seines Schwertes betrauern müssen.« »Wenn man es aufspüren kann, werde ich ...« »Hör auf zu prahlen«, wurde ich von Lord Jazipur unterbrochen. »Und mache keine Versprechungen, die du vielleicht nicht einhalten kannst.« Seine eiskalten Augen sahen mich an, als wäre ich ein hübsch angerichteter Fisch auf einem Tablett. »Du haftest mit deinem Kopf dafür.« Kov Brannomar hob die Hand und ließ sie dann wieder zurückfallen. War das eine reflexartige Geste gewesen, die Protest ausdrücken sollte? Da sein Erster Pallan nun die Drohung ausgestoßen hatte, würde auch der Kov daran gebunden sein. Das nahm ich zumindest an. »Du wirst ihm jemanden zur Seite stellen, Lord Jazipur?«
»Aber sicher, Herr. Einen meiner besten Männer.« »Sieh zu, daß es dein bester Mann ist, Lord Jazipur«, sagte Brannomar leise. Jazipur sparte sich ein ›Quidang!‹, doch die Weise, wie sich sein Rücken straffte, sagte genug. Ich lächelte nicht. Damit war die Audienz vorüber. Sie brachten mich hinaus. Als hätte jemand einen verborgenen Schalter betätigt, kam wieder Bewegung in die im Saal versammelten Leute, und sie setzten ihre Verrichtungen im Dienste des Kovs fort. Als wir durch die Tür gingen, machte uns eine dicht zusammengedrängt stehende Masse von Leuten Platz, da die Wache mich noch immer mit militärischer Präzision umringte. Unter den Sekretären und Bediensteten befand sich ein Mann, der einen fast schwarzen Shamlak trug. Er sah mich. Dann fing er an zu lachen, und zwar so schallend, daß ihm Tränen über die dicken, geröteten Wangen liefen. Wir marschierten durch Säle und Gänge auf das Haupttor zu. Bei den warzenverseuchten Achselhöhlen der Heiligen Dame von Belschutz, was hatte Naghan Raerdu, Naghan das Faß, in Oxonium zu suchen? Naghan war der beste meiner persönlichen Spione. Ein Teil des Netzwerks war an meinen Sohn Drak übergegangen, als er Herrscher von Vallia wurde.
Doch ich hatte ein paar der Männer auf meine private und geheime Soldliste gesetzt. Naghan gehörte zu ihnen. Nun, was für eine Wendung, bei Vox! Wir verließen den Palast, und meine Schritte waren beschwingter. Die Zukunft sah rosiger aus. In der Tat. Tygnam wollte mich zu den Männern bringen, die Jazipur dazu abkommandiert hatte, mich in den Gräben zwischen den Hügeln im Auge zu behalten. Ein sehr selbstsicherer Mann stellte sich dem Hikdar in den Weg. »Hikdar!« Seine Stimme war so schneidend wie geschliffener Stahl, doch der träge, sorglose Unterton war nicht zu überhören. »Ich würde gern mit dem Mann sprechen.« »Aber nur kurz, Notor.« Dagert von Paylen ignorierte die Bemerkung und kam zwanglos auf mich zu; eine Hand ruhte auf dem Rapiergriff. »Wie ich gehört habe, jagst du diesem Fristle nach.« »Das ist richtig.« Woher er das so schnell in Erfahrung gebracht hatte, war nicht schwer zu erraten. Leute hatten vor mir den Thronsaal verlassen, und mit der richtigen Menge Gold ... Die Intrige ist ein wild wucherndes Gewächs. »Palfrey glaubt, daß er den Burschen kennt.«
»Tatsächlich.« Wenn er dieses kühle, überlegene Spielchen spielen wollte, bitte, das konnte ich auch. Er strich sich über den Schnurrbart, und einen Augenblick lang blitzten seine Augen, als er mich ansah. »Ich schulde dir einen Gefallen, Freund.« »Ich dachte, wir wären quitt.« »Eine Lappalie.« Er machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Hand. »Palfrey und ich – wir werden dich begleiten. Das wird heiter. Den Abschaum durch die Gräben hetzen. Ihnen zeigen, wer der Herr ist.« Dagert von Paylen zeigte sich von einer ganz neuen Seite. Oh, ich beziehe mich da nicht auf seine geschmacklosen Bemerkungen über die Armen. Selbst das konnte vorgetäuscht sein. Nein, er interessierte sich für Strom Korden Schwert. Das spürte ich deutlich. »Vielen Dank. Einverstanden.« Er nickte mir und dem Hikdar zu und schlenderte fort. Er enthielt sich jeder Bemerkung über die Weise, in der ich ihn angesprochen hatte. Ich hatte auf diesen ganzen Unsinn mit dem Notor verzichtet, und er hatte es einfach zugelassen. Warum? Warum? Weil er das verdammte Schwert haben wollte, darum!
12 Sie waren nicht knausrig, daß mußte man ihnen lassen. Sie servierten ein ordentliches Mahl mit einer großen Auswahl an Gemüsen und Obst, dazu wurde ein für die Gegend typisches, leichtes Bier ausgeschenkt – na ja, zumindest wurde die braune Flüssigkeit als Bier bezeichnet. Es schmeckte ziemlich schal und hatte eine winzige Schaumkrone, als wäre es mit Wasser gestreckt worden. Zum Nachtisch gab es Palines. Wir aßen in der Wachstube, und als sich die Sonnen hinter die westlichen Hügel zurückziehen wollten, trat Lord Jazipurs Mann ein. Hikdar Tygnam begrüßte ihn mit gebotener Vorsicht und stand sogar auf. Ich blieb sitzen und genoß die frischen, saftigen Palines. Der Bursche gehörte zu der Sorte, die sich in die Nischen der Gesellschaft einschleichen und aus dem Klatsch winzige, wertvolle Informationshäppchen herausschnüffeln konnte. Er trug ein tristes, lohfarbenes Gewand – keinen Shamlak – und einen dreiviertellangen Umhang, den er zurückgeschlagen hatte. Er war mit drei Schwertern und einem übertriebenen Dolcharsenal bewaffnet. Er war ein Apim mit einem glattrasierten, schmalen Gesicht, dessen Mund tiefe Falten aufwies, die sich bis zum Kinn herunterzogen.
Der federlose Hut paßte zu ihm; er hatte eine breite, nach unten gezogene Krempe. Er stellte sich als Naghan vor – Naghan der Ordsetter. »Meine Männer warten draußen. Bringen wir es hinter uns.« Hikdar Tygnam war sichtlich erleichtert, daß er sich nicht in die aus den Nähten platzenden Armenviertel zwischen den Hügeln begeben mußte. Er wünschte mir ein höfliches Remberee, und wir schritten in das grüne und rote Zwielicht. Es hatte vorhin geregnet, und die Luft auf dem Großen Hügel roch süß. »Amak Dagert und seine Männer haben ihre Hilfe angeboten.« Naghan der Ordsetter hatte eine seltsam piepsige Stimme. »Er wird uns von Nutzen sein, falls sein Mann den Aufenthaltsort dieses Fristle kennt.« Eine Antwort erübrigte sich. Dagert von Paylen und Palfrey stießen an der Seilbahnstation mit ein paar Mann zu uns. Wir mußten nach Norden, zu Rondjas Hügel. Bis auf Palfrey, der aufgeregt erklärte, daß wir von dort weiter zu Sturgies Hügel mußten, schwiegen alle, als wir in die Kabine stiegen. Die Räder surrten über das Tragseil, und die Brise wehte in die offenen Fenster. Andere Calimer fuhren an uns vorbei und schaukelten sanft an den Tragseilen, die sich von Hügel zu Hügel erstreckten. In der ganzen Stadt wurden Lampen entzündet. Ihr
Funkeln erinnerte an Irrlichter. Als wir die schmalen Tragseile entlang durch die Luft schaukelten, konnte ich mich der Atmosphäre des ganzen Unternehmens kaum entziehen – irgendwie hatte sie die Unwirklichkeit eines Traumes. Ein Schweber schoß aus dem Himmel, flog dicht an uns vorbei und hielt auf Rondjas Hügel zu. Nur die kleinen Positionslichter brannten. Die Kabine legte sich in die letzte Kurve vor der Haltestelle. Das Gebäude war bei weitem nicht so aufwendig wie sein Gegenstück auf dem Großen Hügel, doch es hatte seinen eigenen architektonischen Reiz. Eine kleine Gruppe Leute wartete schon darauf, unsere Kabine besteigen zu können. Wir stiegen aus – eine Gruppe in dunkle Umhänge vermummter Männer – und überquerten schnell den Kyro. Er mündete in einer breiten Straße, die uns zur nördlichen Haltestelle bringen würde. Dort wartete schon der Calimer zu Sturgies Hügel. Palfrey plauderte drauf los, und Dagert von Paylen knurrte: »Halt den Mund!« Die Wolken war weitergezogen, und am Himmel glitzerten die Sterne. Der nächste Abschnitt der Fahrt glich dem ersten in jeder Hinsicht. Die Kabine schaukelte durch die Nachtluft und passierte die Lichter der Stadt, die entlang der tief unter uns befindlichen Kanäle immer weniger wurden.
Die Haltestelle wurde von einer einsamen Lampenreihe erhellt und sah verlassen aus. Die Kabine berührte die Rampe und kam mit einem Ruck zum Stehen. Die Tür öffnete sich, und wir stiegen aus, dabei behielten wir die enge Formation bei. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, dem andere folgten. Im nächsten Augenblick standen wir inmitten einer stinkenden, schwarzen Rauchwolke. In der Sekunde, bevor uns die Sicht endgültig geraubt wurde, sah ich einen Tontopf, der durch die Luft geflogen kam, auf den Steinplatten zerschellte und sengenden, undurchdringlichen Rauch entließ. Ein riesiges Durcheinander entstand; Männer schrien und wedelten mit den Händen vergeblich gegen den Qualm an. Ich stieß mit jemandem zusammen und versuchte gleichzeitig, das Gleichgewicht nicht zu verlieren und den Mann festzuhalten. Eine Hand schloß sich um meinen Oberarm. Ich wollte herumwirbeln und dem Angreifer einen Hieb versetzten, doch da vernahm ich eine leise, gepreßte Stimme, die drängend in mein Ohr flüsterte. »Majister! Jis... hier entlang!« Diese Stimme kannte ich. Ich entspannte mich. Welchen Verlauf die Ereignisse nun auch immer nehmen sollten, am besten ließ ich es geschehen und kümmerte mich später um die Folgen. Die Hand führte mich zielsicher durch den Qualm. Der Stim-
men der fluchenden Männer wurden leiser. Dieser verdammte Rauch biß in Augen und Nase. Er hüllte die ganze Haltestelle ein. Meine Augen tränten, bei Krun. Man zerrte mich weiter, und obwohl ich wegen der Tränen kaum etwas sehen konnte, bemerkte ich plötzlich, daß wir die Haltestelle hinter uns gelassen hatten und aus dem aufdringlichen Rauch heraus waren. »Jis ... Bist du unverletzt?« »Aye, Naghan, abgesehen davon, daß meine Augen schlimmer als die Höllenfeuer von Inshurfrazz brennen.« »Das ist immer noch besser, als den Kopf zu verlieren. Hier entlang.« Wir wurden noch von anderen Männern umgeben, während wir die Straße entlangliefen, die um den Hügelrand entlangführte. Den Echos nach zu urteilen handelte es sich um eine schmale Straße. Diese Burschen trugen weiche Schuhe. Naghan Raerdu hatte mich als Gefangenen gesehen. Also hatte er kurzerhand einen Plan geschmiedet, um mich zu befreien. Das war genau das, was ich von so einem Meisterspion erwartet hätte. Was würde er sagen, wenn ich ihm die Situation erklärt hatte? Er würde schallend lachen, bei Vox, das war mir klar! Kurz darauf blieben wir stehen. Man führte mich ein paar Holzstufen hinauf, wies mich an, den Kopf
einzuziehen, und setzte mich dann auf einen gepolsterten Sessel. Ich konnte noch immer nichts sehen. In einiger Entfernung unterhielten sich Männer mit gedämpften Stimmen, vermutlich im Nebenzimmer. »Hier ist eine Salbe, Jis; allerdings hat der Zauberer gesagt, daß man besser wartet, bis sich die Augen von selbst erholt haben.« »Wie lange?« »Maximal eine Bur. Wir haben Masken mit Augengläsern, die für freie Sicht sorgen, und einem Filter, der uns das Atmen erlaubt. Doch es war sinnlos, dir eine aufzusetzen, nachdem sich der Rauch verteilt hatte. So hättest du lediglich den Qualm im Gesicht behalten.« Er lachte leise und herzhaft. »Diese Cramphs haben sich die Lunge aus dem Leib gehustet! Der Zauberer hat sich sein Gold wirklich verdient.« Ich spürte eine vertraute Bewegung unter mir, einen Ruck, dem eine gewisse Leichtigkeit folgte. »Ist das der Voller, der an dem Calimer vorbeigeflogen ist?« »Aye, Jis. Wir haben dich nicht mehr aus den Augen gelassen, seit ich dich in Kov Brannomars Saal gesehen hatte.« »Und wer ist wir?« »Oh, ein paar meiner vallianischen Kameraden und eine Handvoll Ortsansässiger. Ich habe in Oxonium ein Spionagenetzwerk aufgebaut. Hier leben merk-
würdige Leute. Die Magier sind ganz anders als die Zauberer in der Heimat. Und es ist unglaublich, was die Armen in der Tiefe für Blutfehden und Vendettas austragen. Es ist gar nicht so leicht, zwischen den durch die Hügel getrennten Gräben Verbindungslinien zu knüpfen.« »Ist dir eine Bande bekannt, die olivgrüne Gewänder trägt?« »Nein, Jis. Ich werde mich erkundigen.« »Das kann warten, bis ich wieder sehen kann. Es gibt andere Fragen.« »O ja. Tolindrin will mit Vallia ein Bündnis schließen. Es ist in einer eigentümlichen Position, was den Bau von Flugbooten angeht, und das gilt auch für Caneldrin, den Nachbarn im Norden, und Winlan und Enderli, die sich daran anschließen. Die anderen Nationen des Subkontinents setzen sich eigentlich nur aus von ihnen abhängigen Königreichen zusammen. Es gibt ständig Spannungen an allen Grenzen – für sie ist das eine Lebensart. Sollte jedoch ein richtiger Krieg ausbrechen, stellt sich die Frage, ob Vallia Partei ergreifen soll. Die Herrscherin Delia hielt es für angebracht, daß Vallia besser informiert sein sollte.« Ich bewunderte die Korrektheit, mit der er über seine Mission berichtete. Doch wie lieblich erklang der Name Delia in meinen Ohren! Bei Zair! Jawohl. »Und die Herrscherin?« fragte ich.
»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, blühte sie wie eine Rose, Jis. Deine Augen ...?« »Brennen wie der Teufel. Gibt es etwas zu trinken ...?« Ich hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als schon ein Pokal meine Lippen berührte und ich herben Wein schmeckte. Es war genau das richtige Getränk, um den Mund von dem widerwärtigen Geschmack des verdammten magischen Rauchs zu reinigen. Naghan das Faß sprach weiter. »Wir können noch immer nicht darauf verzichten, der einen oder anderen Nation Persinias oder Balintols Flugboote abzukaufen. Wenn wir hier die falsche Entscheidung treffen, verlieren wir unseren Nachschub. Da nun in Tolindrin der Sohn des Königs gestorben ist, ist die Wahl des Nachfolgers für uns von entscheidender Bedeutung.« Er gab dieses ansteckende, kurzatmige Gelächter von sich, das immer seinen ganzen Leib erzittern ließ. »Darf ich dich fragen, Jis, was dich hierher verschlagen hat?« Also erzählte ich ihm von Strom Kordens Vermächtnis. Ich fügte hinzu, daß ich Prinzessin Nandisha zu beschützen hatte, verschwieg ihm allerdings den Grund dafür. »Dieser Cramph von einem Fristle hat das Schwert. Und nun ist Dagert von Paylen meiner Meinung nach ebenfalls dahinter her. Ich bin entschlossen, den Schwur, den ich Korden gegeben habe,
zu erfüllen und das verdammte Ding Brannomar zu übergeben.« »Dagert von Paylen? Das ist ein geheimnisvoller Mann. Keiner weiß, für wen er arbeitet, doch es steht fest, daß ihn jemand bezahlt.« »Nun verstehst du auch, Naghan, warum es mir irgendwie gelingen muß, mich Naghan dem Ordsetter und Dagert wieder anzuschließen. Dieser undurchsichtige Schurke Palfrey behauptet, den Fristle zu kennen.« »Das kann ich arrangieren. Man kann wohl mit Sicherheit davon ausgehen, daß dieses Schwert etwas Wertvolles enthält. Das scheint kein gewöhnlicher Braxter zu sein.« »Aye. Ein hohler Griff und ein paar Bleigewichte, um die Balance wieder herzustellen.« »Also geht es um ein Papier?« »Das ist mehr als wahrscheinlich. Es könnte aber auch ein Ring sein, ein kleines Schmuckstück.« »Der müßte von großem Wert sein; ein mächtiges Siegel, ein religiöses Symbol – oder ein magischer Gegenstand.« »Aye.« »Hm.« Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sich in seinem verschlagenen Gehirn die Räder drehten. »Dann dürfte es von Nutzen sein, als erster einen Blick darauf zu werfen.«
Ich rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. »Ja«, sagte ich dann langsam. »Doch nach dem Versprechen, das ich Korden gegeben habe, wäre das sehr unmoralisch.« »Ganz wie du sagst, Majister. Unmoralisch.« Es war klar ersichtlich, wie der gute, treue Naghan darüber dachte. In der Schweberkabine befindliche Gegenstände nahmen Konturen an, und das Brennen in meinen angegriffenen Augen ließ nach. Naghan wischte mir das Gesicht ab. Er sagte: »Ich werde mich nach dem Fristle mit dem Krummschwert und dem olivgrünen Gewand erkundigen.« »Er hat eine haarige Warze an der Nase.« »Er hätte genausogut seinen Namen von den Dächern rufen können.« »Sturgies Hügel. Dort wollte Palfrey hin.« »Es dauert nicht lange, Jis. Hier ist mehr Wein.« Ich hatte gerade gemütlich den dritten Schluck genommen, als er schon wieder da war. »Einer der Ortsansässigen, Lingurd, ein schmalgesichtiger Polsim, kennt ihn. Wir fliegen bereits in die Richtung.« »Ich werde mich ihnen allein anschließen müssen, Naghan.« »Oh, aye, Jis. Doch wir werden in der Nähe bleiben.« Und bei Krun, ich muß zugeben, das war ein beruhigender Gedanke.
Dann fiel mir etwas ein. »Wer ist zur Zeit unser Konsul in Oxonium?« »Ein prächtiger, kluger Edelmann, bei Vox! Elten Larghos Invordun na Thoststurboin. Er wird es noch weit bringen, daran besteht kein Zweifel.« Larghos Invordun, erinnerte ich mich, hatte seinen Titel Elten nach der Schlacht von Vendalume verliehen bekommen, bei der wir gegen den verräterischen Layco Jhansi gekämpft hatten. Nach jenem schicksalhaften Tag war er dem Diplomatischen Dienst beigetreten. Eines Tages würde er Botschafter mit allen Vollmachten werden. Er machte unaufhaltsam Karriere. Ich nickte. »Nun, er braucht nicht zu wissen, daß ich hier bin.« »Wie du wünschst, Jis.« Das dicke, rote, freundliche Gesicht von Naghan dem Faß schälte sich aus dem dunklen Schleier vor meinen Augen. Es schwamm im Raum wie ein Fisch im Aquarium. Ich blinzelte und spürte die Tränen fließen. Naghan wischte sie fort. »Nun, Jis, was ist mit dem Namen? Nennst du dich Jak irgendwas? Chaadur?« »Drajak der Schnelle.« »Sehr gut, Drajak.« »Bei Vox, Naghan, es war ein verflixt glücklicher Zufall, daß du in diesem Augenblick in Brannomars
Saal gewesen bist«, sagte ich, von einem innigen Gefühl erfüllt. »Zufall, Drajak? Wohl kaum. Ich treibe mich an den Stätten der Macht herum. Brannomar ist nach dem König der mächtigste Mann im Reich. Er hält die Zügel in der Hand. Er ist unbestechlich. Sein Reichtum ist märchenhaft.« »Wird Brannomar der Unbestechliche nach dem Tod des greisen Königs die Hand nach der Krone ausstrecken?« Naghans rosiges Gesicht, das wie ein Ballon in meinem Gesichtsfeld schwebte, trieb von einer Seite zur anderen, als er den Kopf schüttelte. »Nein, Drajak, nicht in einer Million Umläufe der Dame der Schleier. Er würde den Wünschen des Königs bezüglich eines Nachfolgers gehorchen. Es könnte höchstens sein, daß Brannomar die Regentschaft übernimmt. In diesem Fall besteht allerdings kein Zweifel, daß er die Autorität treu ergeben verwalten und von seiner Position zurücktreten wird, wenn der Thronfolger alt genug ist. Überhaupt kein Zweifel.« »Du bestätigst meinen Eindruck. Er scheint aber ziemlich kühl zu sein. Abweisend.« Mein Meisterspion mußte grollend lachen; es sprudelte aus ihm heraus wie Lava aus dem Vulkan Muruaa. »Ich habe seine Gesellschaft bei einem Shbilli-
ding genießen können, nach dem sogar ich am nächsten Tag die Glocken von Beng Kishi hören konnte.« »Es erleichtert mich, das zu hören. Es macht ihn zu einem richtigen Mann.« Wir unterhielten uns weiter, während meine Sehkraft zurückkehrte, und wir tauschten Fragen, Antworten und Informationen aus. Naghan erzählte mir eine Neuigkeit, die mich traurig stimmte. Won Dimeholl war berühmt für sein Wissen um hochgeistige Schriftrollen und Manuskripte. Er hatte sich sehr für Antiquitäten interessiert, und seine größte Leidenschaft waren Bücher mit Prophezeiungen gewesen. Er war oft von Krankheit heimgesucht worden und hatte sich dagegen immer tapfer zur Wehr gesetzt. Nun war er ihr erlegen und aus unserem Leben getreten. Sein Tod bereitete mir großen Kummer, und nur das Wissen, daß er gesagt hätte, daß das Leben weitergehen muß, konnte mir Trost spenden. Er war tot; wir mußten weiterleben. Der tiefe Ernst, der sich auf Naghans Gesicht zeigte, spiegelte die Trauer über Won Dimeholls Tod wider, eine Trauer, die alle empfanden, die ihn gekannt hatten. Naghan schwieg einen Augenblick lang und sprach dann heftiger als vermutlich beabsichtigt weiter. »Du weißt, Drajak, daß du da ein ziemlich großes Risiko eingehst.« Er war an die verrückte Vorstellung gewöhnt, daß
der Mann, den er als Herrscher von Vallia gekannt hatte, in allen möglichen Gegenden Kregens angetroffen werden konnte, wo er meist in irgendwelche Schurkereien verwickelt war. Er akzeptierte dieses Benehmen auch bei dem Mann, den man den Herrscher aller Herrscher, den Herrscher von Paz, nannte. Obwohl das, zumindest im Augenblick, nicht mehr als ein Scherz war, auch wenn die Herren der Sterne es angeordnet hatten. Als Meisterspion kannte sich Naghan das Faß in Schurkereien, Verkleidungen und Listen aus. Er wußte, daß ich es auch tat. »Die Herrscherin Delia hat dich gebeten, nach Tolindrin zu reisen, Naghan. Doch was ist mit dem offiziellen vallianischen Spionageapparat, der von Naghan Vanki geleitet wird? Hat der Herrscher Drak nichts in dieser Richtung angeordnet?« »Doch. Vanki hat die Voidal-Zwillinge geschickt.« »Nun ja, ich denke, Drak und Vanki haben sich bestimmt etwas einfallen lassen.« »Die Voidals haben sich auf den König konzentriert. Er ist offiziell in Trauer, und seit Tagen hat ihn niemand zu Gesicht bekommen. Die VoidalZwillinge wissen übrigens nicht, daß ich hier bin. Vanki auch nicht.« Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Die wissen nicht einmal, daß es dich gibt!« »Hoffen wir bei Opaz, daß das auch so bleibt.«
Ich hatte mir auch eine andere Frage beantworten lassen, und zwar, bevor wir schließlich mit Lingurd an der Spitze zu dem Abenteuer dieser Nacht aufgebrochen waren. »Diese Religion von Dokerty, die gegen das Glaubensbekenntnis von Tolaar ist. Rotgewandete Priester, die nebeneinander hergehen, mit verdammt großen Götzen auf Stangen. Ist etwas darüber bekannt? Warum schleichen sie des Nachts in Ruinen herum, wo sie doch über geschmacklose und viel zu prunkvolle Tempel verfügen, in denen sie herumstolzieren können?« Naghan hatte die stämmigen Schultern gezuckt. »Die Dokerty-Kultisten sind ein ungesunder Haufen. Das ist mir bekannt. Was nun den Rest angeht, nein, darüber weiß man nichts. Ich werde es herausfinden.« »Gut.« Ich wusch mir das Gesicht, bevor wir aufbrachen, und das Wasser in der Schüssel sah aus wie schwarze Tinte. Während unserer Unterhaltung hatte Naghan mir ein oder zweimal den häßlichen Schädel abgewischt. Er mußte sich während der ganzen Zeit auf die Zunge gebissen haben, um bei meinem Anblick nicht in sein dröhnendes Gelächter auszubrechen. Der Schweber landete auf einem schrägen Abhang am Fuß von Sturgies Hügel. Ein Stück weiter ver-
suchten schwache Lichter, die Dunkelheit der Gräben mit ihrem blassen Schein etwas aufzuhellen. Die Monde wurden von Wolken verdeckt. Wir nahmen unsere Waffen und begaben uns in die Finsternis.
13 Die schmale Straße, die zwischen gleichermaßen heruntergekommenen Holz- und Steingebäuden vorbeiführte, wurde an ein paar Stellen von qualmenden Fackeln erhellt. Am besten dachte man nicht zu lange darüber nach, was sich hinter den baufälligen Wänden abspielte. Die Leute, die den schlammigen Weg entlanggingen, versuchten sich zwischen der dreckigen Abflußrinne in der Straßenmitte und dem Straßenrand zu halten, wo es passieren konnte, daß alle möglichen üblen Flüssigkeiten auf ihre Köpfe ausgeleert wurden. Als Lingurd der Polsim und ich tiefer in die Gräben zwischen den Hügeln vordrangen, waren mehr Fackeln zu sehen. Türen standen offen und enthüllten geheimnisvolle Räume voller gedämpftem Licht und sich bewegenden Schatten. »Sie nennen das Schenken«, sagte Lingurd, und sein schmales Polsimgesicht verzog sich verächtlich. »Fallen für Einfältige. Dopahöhlen. Hirnzermanscher.« »Sie haben aber ihre Stammkunden«, bemerkte ich, denn ständig gingen in dunkle Umhänge vermummte Gestalten ein und aus. Mehr als nur ein armer Teufel wurde herausgeworfen und landete mit der Nase in der Gosse, obwohl die Vergnügungen dieses Abends erst begonnen hatten.
Wir gingen nebeneinander weiter. »Das hier ist alles verdorben. Doch die jungen Herrn und Adligen steigen von den Hügeln herunter, um etwas Aufregendes zu erleben.« Lingurds Körperhaltung verriet, was er davon hielt. »Und das tun sie auch, bei Tolaar.« An diesem Ort zwischen den luftigen Hügeln pulsierte ein eigenständiges, finsteres Leben. An fast jeder Ecke boten hastig zusammengezimmerte Buden alle Arten von Waren und Dienstleistungen an, kleine Leckerbissen, heiße Getränke, geröstete Nüsse und protzige Schmuckstücke. Wahrsager hielten hübsch formulierte Geschichten für die Dummköpfe parat, und junge Burschen belästigten die Vorbeigehenden, indem sie die köstlichen Freuden anpriesen, die in dubiosen dunklen Gassen und Hütten zu finden waren. Alle Leute sahen ausgemergelt aus, auf der verzweifelten Suche nach dem nächsten Bissen. Ja, es waren zweifellos alles Gauner und Halsabschneider. Und doch floß hier unten in den Gräben ein rauher, völlig zwangloser, urwüchsiger Lebensstrom. Unsere düsteren Umhänge und die Schlapphüte paßten perfekt zur Umgebung. Wir suchten uns unseren Weg und mieden Beutelschneider, Taschendiebe und diejenigen, die uns auf weniger offensichtliche Weise unseres Geldes – oder falls nötig, unseres Lebens – berauben wollten.
»Ich bin hier ganz in der Nähe aufgewachsen«, sagte Lingurd. »Die Territorien der Banden haben sich verändert, doch bis zur Messinglilie sind wir sicher.« Es fiel nicht schwer, sich die Bandenkämpfe um die Territorien mit ihren verschiedenen Einkünften aus gesetzeswidrigen Unternehmungen vorzustellen. Der Polsim sprach weiter. »Der Herr Nath Shivenham hat mich gut behandelt, und ich arbeite gern für ihn.« Er meinte natürlich Naghan Raerdu. Naghan das Faß war wie ich viel zu klug, um bei solch verzweifelten Unternehmungen seinen richtigen Namen auszusprechen. Kurz darauf erreichten wir ein Gebäude von etwas größeren Ausmaßen, vor dem eine ganze Reihe von Fackeln ihren flackernden roten Lichtschein auf die schlammige Straße und die schmutzigen Wände warfen. Über der Tür hing die funkelnde Messingnachbildung einer Lilie, die den Namen der Schenke verkündete. »Wir gehen hinten rum«, sagte ich und ließ mich auf keine Diskussion ein. Wir betraten die Seitengasse, und unsere Stiefel versanken im Schlamm und den Pfützen der kürzlich niedergegangenen Regenschauer. Überall lagen Abfallhaufen. Die Gerüche waren nach dem reinigenden Regenguß noch gerade eben zu ertragen. Lingurd der Polsim verstand sein Handwerk. Er hatte hier gelebt und wußte natürlich, womit man an
diesem Ort zu rechnen hatte. Er packte meinen Arm und zog mich in den Schatten eines vorstehenden Strebepfeilers. »Still, Dom!« Ich rührte mich nicht. Dann vernahm ich das Geräusch eisenbeschlagener Stiefel auf der Straße, und es verstand sich von selbst, daß ich mich still verhielt. Ich wartete ab und sah zu. Sie gingen an der Gasseneinmündung vorbei. Sie hielten Lampen, die auf hohen, eisenverstärkten Stäben saßen und einen flackernden Lichtschein auf die Umgebung warfen. Ihren Typ kannte ich zur Genüge. Sie stolzierten vorbei, hartgesichtige, bärtige Männer, die eine Art Uniform mit Rüstungsteilen trugen, die sie ihren Opfern abgenommen hatten. Ihre Waffen waren gezogen und funkelten bedrohlich. Es waren Vertreter aller möglichen Diffrassen Kregens. An der Spitze marschierte ein stämmiger, wilder Kataki; die an die Schwanzspitze geschnallte Klinge war stolz erhoben. Verdammte Katakis, dachte ich im stillen. »Aye, Dom«, flüsterte Lingurd. Wir warteten, bis die Bande vorbei war. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Das ist ein schlimmer Haufen. Doch das schlimmste ist, daß das Gesetz auf ihrer Seite ist.« »Das Gesetz? Eine von Tolaar verlassene Horde Sklavenjäger?« »O nein, Dom. Ja, sie handeln mit Sklaven. Aber sie sind die Wache ...«
»Die Wache!« Ich war verblüfft. Katakis betätigen sich außerhalb der Heimat eigentlich nur im Sklavenhandel. »Willst du damit sagen, daß der König diese Horde Masichieri – stinkende Banditen, die sich selbst als Söldner bezeichnen – zur Wache ernannt hat, damit sie hier unten für Ordnung sorgen?« »Das stimmt. Er hat Trako Eisenbauch zum Befehlshaber der Wache ernannt. Ein Blintz von einem Peitschenschwanz. Er sorgt hier unten in den Gräben für Ordnung.« »Das verrät deutlich, was die Menschen auf den Hügeln von dem Recht halten, das sie hier unten vollstrecken lassen. Bei Chozputz! Das stinkt!« Der Unterschied zwischen der Wache hier unten, die sich aus dem Abschaum sogenannter Soldaten zusammensetzte und von Katakis befehligt wurde, und der fähigen und prächtigen Stadtwache oben auf den Hügeln war schmerzhaft deutlich. »Hier herein, Dom!« Lingurd zeigte auf eine schmale Tür. »Du wartest.« Er tauchte lautlos in der Gasse unter und verschwand um die Ecke. Ich wartete notgedrungen mit der Hand am Schwertgriff. Als er zurückkam, zeigte sich auf seinem scharfgeschnittenen Polsim-Gesicht ein Lächeln. »Ich habe in den Hauptschankraum reingesehen. Es sind alle da, von denen wir dich mit
dem Rauch des Zauberers befreit haben. Sie warten ab und geben vor, junge Draufgänger auf der Suche nach Vergnügungen zu sein.« »Und der Fristle?« »Fonnell der Reizbare ist so verschlagen wie ein Leem. Er hat Privaträume im Hof der Schenke.« »Ich hoffe bloß, daß er noch da ist. Wenn er seine Beute schon weitergegeben hat, stecke ich in noch schlimmeren Schwierigkeiten.« Ich konnte mir den Ablauf der Geschehnisse vorstellen. Dagert von Paylen und die anderen hatten sich nach meinem Verschwinden – nachdem sie sich wieder erholt hatten – dazu entschieden, am besten wie geplant weiterzumachen und der Messinglilie einen Besuch abzustatten. Palfrey kannte Fonnell, den Fristle; keiner von ihnen wußte, wie das Schwert aussah. Vermutlich warteten sie wider besseres Wissen darauf, daß ich zu ihnen stieß. Nach einer gewissen Wartezeit würde sich Dagert von seinem Diener Fonnell zeigen lassen und ihn dann befragen. Das war mit beträchtlichen Risiken verbunden, zog man in Betracht, daß sich der Fristle auf ihm vertrauten Boden befand und von seinen olivgrün gekleideten Handlangern umgeben war. »Wenn Fonnell hier ist, wird er in seinen Räumen sein.« »Zeig mir den Weg.« Wir gingen vorsichtig durch die Gasse, betraten
das Gebäude und schlugen den zum Schankraum entgegengesetzten Weg ein. Lampen verbreiteten Dämmerlicht. Geschlossene Türen auf beiden Seiten des Korridors ließen vermuten, daß hinter ihnen gegen alle möglichen Gesetze verstoßen wurde. Wir schlichen weiter. Am Ende des Korridors führte eine Tür in den Hof, an dessen entgegengesetztem Ende ein Steingebäude stand. Hinter seinen schmalen Fenstern brannte Licht. »Das ist es.« Lingurd befeuchtete sich die Lippen. Wir überquerten lautlos den Hof. Das schrille Gelächter einer Frau zerriß die nächtliche Stille. Wir drückten uns neben einem Fenster an die Wand und spähten vorsichtig hinein. Der Raum war gut beleuchtet und komfortabel ausgestattet. Der warzennasige Fristle saß an einem Tisch. Vor ihm lag Strom Kordens Schwert. Ich gestattete mir ein erleichtertes Seufzen. Der Auftraggeber des Fristle – wer auch immer das sein mochte – war noch nicht vorbeigekommen, um die Beute abzuholen. Da ertönte eine Stimme im Inneren des Zimmers, und ich erkannte, daß ich mich geirrt hatte. »Du hast gute Arbeit geleistet, Fonnell. Nun ist es Zeit für die Bezahlung.« Ein Mann trat in mein Blickfeld. Er drehte mir den Rücken zu und trat mit geschmeidiger Anmut auf
den Fristle zu, der gerade nach einem Weinpokal griff. Fonnell hob den Pokal an, und der Besucher durchbohrte den Fristle mit einem Stich seines Rapiers von hinten. Er tat das mit einem Geschick, das mir vertraut war. Der Mann nahm sich Kordens Schwert. »Das ist der Gegenstand«, flüsterte ich Lingurd leise zu. Der Polsim war von dem heimtückischen Mord genausowenig überrascht wie ich. »Er ist ganz schön schnell mit dem Rapier.« »Ja.« Nun, das war auch kein Wunder. Ich kannte diesen Typ Kämpfer, obwohl ich den Mann, der sich in dem hellen Lichtschein umdrehte und zur Tür ging, noch nie gesehen hatte. Leute seines Schlages fand man auf den Straßen und Kanalpromenaden Zenicces. Er war der typische Bravo-Kämpfer. Ein Rapier und Dolch-Mann, verschlagen und von außerordentlichem Geschick und Fingerspitzengefühl. Er konnte einen wie ein Hühnchen aufspießen, eine paar wohlgesetzte Worte von sich geben und dann seine Klinge mit einem blütenweißen Spitzentaschentuch vom Blut säubern. O ja, ich sah ihn mir genau an. Es war nicht festzustellen, für welches Haus er kämpfte, denn auf der hellgrauen Kleidung fehlte jede Farbe, die möglicherweise etwas über ihn verraten hätte.
Derjenige, der Fonnell den Reizbaren mit dem Diebstahl des Schwertes beauftragt hatte, beschäftigte auf einer viel höheren Ebene auch diesen BravoKämpfer. Es würde keine Spuren geben. Kordens Schwert mußte der Schlüssel zu einem Rätsel sein. Nur – ich wußte nicht, was für ein Rätsel. Die Tür gab kaum einen Laut von sich, als der Bravo-Kämpfer auf den Hof trat. Im nächsten Augenblick blieb er stehen, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen, bäumte sich auf und stürzte schwer zu Boden. In seinem Auge steckte ein Dolch. »Mein Dolch war doch der schnellere«, sagte Lingurd. Es war sinnlos, dem Polsim irgendwelche Vorwürfe zu machen. Er hatte die Situation erkannt und gehandelt. Der Mann aus Zenicce würde mir nun nicht mehr verraten können, was ich wissen wollte. Ich lief los und holte mir Kordens Schwert. Willens, die Aktivitäten dieser Nacht zu beenden, wandte ich mich von der Leiche ab. Dann blieb ich stehen. »Hier«, zischte ich und reichte Lingurd das Schwert. »Halt es einen Moment und verlier es nicht.« Dann beugte ich mich zu dem Toten hinunter. Er trug seine Waffen, den Jiktar und den Hikdar, an zwei Gürteln, wie es sich für einen Rapier und Main-Gauche-Kämpfer auch gehörte. Ich nahm ihm die beiden Gürtel hastig ab und schnallte sie mir um die Taille. Ich mußte die Schnalle ein paar Löcher en-
ger ziehen, denn der vorherige Besitzer hatte ein ordentliches Bäuchlein gehabt. Vielleicht war er zu fett und zu langsam für Zenicce geworden und hatte, wie so viele andere vor ihm, Arbeit und Reichtum in fremden Ländern gesucht. Als ich mich wieder Lingurd zuwenden wollte, ertönte in der Schenke plötzlich ein gewaltiger Lärm. Rufe, Schreie und Waffengeklirr zeugten beredt von dem heißen Kampf, der in der Messinglilie ausgebrochen war. Frauen kreischten. Eine Flügeltür, die sich ein paar Schritt neben der Tür befand, die Lingurd und ich benutzt hatten, wurde plötzlich aufgestoßen. Eine Frau lief schreiend und mit wild fuchtelnden Armen ins Freie. Sie trat sich fast auf die verrutschten Unterröcke. Zwei Männer verfolgten sie; beide lachten und riefen spöttische Bemerkungen. Ein vergnügliches Beisammensein hatte plötzlich eine häßliche Wendung genommen. Lingurd rief: »Dom – die Wache!« Ich hörte es, ignorierte es aber. Ja, ich hätte es nicht tun sollen. Ich gebe in aller Offenheit zu, daß ich einen schweren Fehler beging. Das Gesicht der Frau war voller Blut, das im Licht der offenen Tür neben uns dunkel schimmerte. Wie hätte ich, Dray Prescot, Onker aller Onker, anders handeln können? Ich sprang vor. Die Frau sah mich und kreischte noch lauter. Of-
fensichtlich hielt sie mich für einen weiteren Angreifer. Sie taumelte zur Seite, geriet ins Stolpern und stürzte gegen die Hofmauer. Die beiden Männer jubelten triumphierend auf, und ich lief auf die Frau zu. Sie verschwand. In dem einen Augenblick war sie noch da, im nächsten hatte sie der Boden verschluckt. Und da ich, Dray Prescot, seines Zeichens ein Dummkopf, meinen Lauf nicht mehr stoppen konnte, stürzte ich kopfüber in die offene Falltür des Kellers und landete auf dem harten Steinboden. Dann gab es nur noch die schwarzen Schwingen Notor Zans, die mich in ihre finstere Umarmung zogen.
14 Vier der Gefangenen starben während der Nacht an ihren Verletzungen, und am Morgen schleiften die Kerkermeister ihre Leichen mit langen Eisenhaken aus der Zelle. Viele von uns befanden sich in einem üblen Zustand, und die ganze Nacht über hatten die Aufseher gebrüllt, daß wir Abschaum aus der Gosse uns ruhig zu verhalten hätten. Dieser Ort hatte viel Ähnlichkeit mit einem unterirdischen Verlies; der geräumige Raum hatte eine tiefe, gewölbte Decke, die von vielen massiven Steinsäulen getragen wurde. Der Boden war mit einer dünnen, feuchten und ungezieferverseuchten Strohschicht bedeckt. Ich hatte eine Steinwand gefunden, an die ich den Rücken lehnen konnte. Ich schonte meinen Kopf, in dem nicht nur alle Glocken von Beng Kishi beharrlich Sturm läuteten, sondern auch Jen Jorahs Eispickel erbarmungslos in beide Schläfen stachen. Ich wartete zusammen mit den anderen Schurken, Betrunkenen, kleinen Dieben und Schlägern, die man aus der Gosse der Gräben Oxoniums zusammengetrieben hatte, auf mein Urteil. Das würde von dem Adeligen verkündet, der zufällig mein Schicksal in seinen Händen hielt.
Das letzte, an das ich mich erinnern konnte, war Lingurds Ruf: »Dom – die Wache!« Ich hatte ihre Bekanntschaft gemacht. Ein oder auch zwei blaue Flecken waren der Beweis dafür. Man hatte mir Waffen und Ausrüstung abgenommen. Der dunkelblaue Shamlak, den ich bekommen hatte, bestand glücklicherweise aus Baumwolle und nicht aus Seide. Dieser Teil Kregens ist berühmt für seine Seide. In dem Kerker waren nur wenig seidene Gewänder vertreten, und die waren so abgetragen, daß der fadenscheinige und verschlissene Stoff reif für den Abfall war. Es gab nichts, durch das ich mich von den etwa fünfzig armen Kerlen unterschied, die im Verlauf der Nacht verhaftet worden waren. Es waren mehr Tuniken als Shamlaks vertreten; das war es auch schon, wenn man einmal davon absah, daß viele der Männer anstelle von Kilts kurze Hosen trugen. Sklaven mit gebrochenem Willen brachten uns eine Mahlzeit, die man mit viel bösartiger Phantasie als erstes Frühstück bezeichnen konnte. In einer mit Sprüngen versehenen Tonschale schwammen ein halbes Dutzend unidentifizierbarer Klumpen in einer fettigen Flüssigkeit; ein Brotkanten, den man nur mit einer Säge zerteilen hätte können, vervollständigte das Mahl. Doch man sollte immer alles von der guten Seite betrachten. Immerhin hatten wir zu essen bekommen, obwohl die Wache von Katakis befehligt
wurde. In dem Kerker waren keine Frauen. Ich hielt mich abseits, pflegte die Blutergüsse und den schmerzenden Kopf und dachte darüber nach, wie sich ein Ausbruch am leichtesten bewerkstelligen ließ. Nachdem die Tonschalen von den gehorsamen Sklaven eingesammelt worden waren, flog die aus Gitterstäben bestehende Tür wieder auf. Ein Kataki trat ein und hielt nach Opfern Ausschau, während er mit der Peitsche spielte. Hinter ihm baute sich eine prächtige Auswahl der sogenannten Wache auf; es waren schmierige, unrasierte Männer mit grellen, übermäßig verzierten Gewändern. Die Gefangenen wichen zur Seite, manche auf allen vieren. Einige schluchzten vor Angst, und sie alle teilten das schreckliche Wissen, daß sie verloren waren. Neben den Wachen stand ein einfältiger junger Relt, ein Schreiber, der überhaupt nicht ins Bild paßte. Er trug einen sauberen weißen Shamlak mit Kilt, und am Gürtel hingen die Beutel, in denen er sein Handwerkszeug verwahrte, also Feder, Tinte und Papier. Sein Gesicht mit dem spitzen Schnabel und den hellen Augen paßte absolut nicht zu dem Schrekken dieses Ortes. Er hielt sich die ganze Zeit ein parfümiertes Taschentuch unter den Schnabel. »Die Messinglilie?« grollte der Kataki. »Wir haben sie gleich sortiert, Schreiber.«
Die Wachen bahnten sich rücksichtslos einen Weg zwischen den Gefangenen hindurch. Sie wußten genau, wen sie wo erwischt hatten. Ich wurde mit etwa einem Dutzend anderer Männer herausgegriffen, und man trieb uns zu einer Zweierreihe zusammen. Die Peitsche knallte. »Grak!« Die Gefangenen erschauderten bei diesem verhaßten Wort sichtlich. Wir grakten und stolperten los. Die Peitsche schnitt ein paar Mal in meine Haut. Es war weder die Zeit noch der Ort, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. Es würde sich schon eine Gelegenheit bieten, falls man uns aus diesem elenden Verlies brachte. Unter den Männern entdeckte ich keinen, der Olivgrün trug. Doch das war nicht weiter verwunderlich und lag in der Gossenpolitik der Gräben begründet; zweifellos hatte die Wache mit einigen der Banden Übereinkünfte getroffen. Ich sah weder einen von Dagerts noch von Brannomars Männern. Diese armen Teufel hier waren alles Gäste der Messinglilie gewesen und ins Kampfgetümmel geraten, als die Wache eingegriffen hatte. Und ich war mit ihnen aufgegriffen worden. Lingurd der Polsim war nicht dabei. Ich konnte nur hoffen, daß er so klug gewesen war, Kordens Schwert sofort Naghan dem Faß zu übergeben.
Wir stiegen Steintreppen hoch, marschierten Gänge entlang und mußten Gittertore passieren. Gefängnisse sind alle gleich. Der Schreiber ging voraus. Der Gestank ließ in dem Maße nach, in dem wir höher kamen und die Luft frischer wurde. In einem Raum, der vermutlich der Anklageniederschrift diente, wurden die Formalitäten erledigt. Der Schreiber unterzeichnete für uns die Papiere, und wir wurden Wachmännern eines ganz anderen Formats übergeben. Es waren alle möglichen Diffs vertreten, und sie trugen eine Halb-Rüstung mit vielen schwarzroten Verzierungen. Ihre Waffen waren solide, und sie marschierten wie ehemalige Soldaten, die zur persönlichen Leibwache eines Adeligen geworden waren. An der Spitze gab ein dicker Deldar mit vielen Ordenfedern das Tempo vor. Wir stolperten zwischen den Bewachern dahin. Sie gingen kein Risiko ein. Das Gefängnistor, das sich in einer langen, schmucklosen grauen Wand befand, führte auf einen Kyro. Einige der Passanten drehten sich nach uns um und starrten uns an, doch die meisten wandten die Augen von dem unangenehmen Anblick. Man zwängte uns nacheinander unter Bewachung in eine Seilbahnkabine und transportierte uns an zwei Hügeln vorbei. Der Duft der frischen Brise war nach dem Kerkergestank eine wahre Erleichterung. An un-
serem Ziel wurden wir wieder zusammengetrieben. Dann ging es im Laufschritt breite Straßen entlang, bis wir durch einen niedrigen Torbogen in einen Hof kamen. Es handelte sich um den Hintereingang eines prächtigen Palastes. Wir marschierten durch Korridore, die von Mal zu Mal prunkvoller wurden, kamen zu Türen, vor denen noch prächtiger gekleidete Wachen standen, die uns jedesmal überprüften. Schließlich gelangten wir in einen großen Saal, in dem das strömende, vermengte Licht der frühen Morgensonnen auf Marmor, vergoldete Oberflächen und Gobelins fiel. Hier also würde sich unser Schicksal entscheiden. Wir wurden in die Saalmitte getrieben. Dort blieben wir stehen, scharrten mit den Füßen und sahen uns um. Auf einem Podest stand die Art von throngleichem Stuhl, auf dem ich Brannomar hatte sitzen sehen. Dahinter hingen pflaumenfarbene Vorhänge. Ein paar Bedienstete kamen herein und leerten die Säcke, die sie trugen, auf einem an der Seite stehenden Tisch aus. Eine wunderbare Sammlung bösartiger Mordwerkzeuge kam zum Vorschein, ein Arsenal für Straßenraub und Verstümmelung. Zwischen den Totschlägern, Dolchen und Schwertern entdeckte ich das Rapier und die Main-Gauche, die ich dem BravoKämpfer abgenommen hatte. Daneben lag mein Braxter. Es handelte sich also um Beweisstücke.
Aus Gründen des gesunden Menschenverstandes hatte ich im Kerker den Namen Nalgre der Unster angegeben. Falls Prinzessin Nandisha auch diesmal versuchen würde, mich aus dem Gefängnis zu holen, würden Fweygo oder Tiri schnell die Wahrheit erkennen. Und so wartete ich, Nalgre der Unster, inmitten einer vor Angst zitternden Horde Schurken auf die Dinge, die da kommen würden. Direkt neben mir stand ein ungepflegter Gauffrer, der wie ein Bündel Kehrbesen aussah. Er rollte die Augen, bis das Weiße zu sehen war. »Khon der Mak«, stammelte er. »Er ist der personifizierte Tod. Mak Khon.« Ich kann nicht sagen, ob jemand in diesem verlorenen Haufen wirklich religiös war, doch der nächste Bursche, ein Gon mit einem glattrasierten Kopf, auf dem die ersten Stoppeln des nächtlichen Wuchses im Licht dunkel funkelten, sagte: »Möge Tolaar uns erretten.« Er kam, ohne von Fanfaren angekündigt zu werden, obwohl es meinem ersten Eindruck nach angebracht gewesen wäre. Nachdem seine Gefolgschaft um das Podest Aufstellung genommen hatte, schritt er nach vorn und nahm auf dem Thron Platz. Ich sah ihn mir an. Nun, vermutlich würde der ganze Ablauf dem in Hyr Kov Brannomars Palast ähneln. Das war nur natürlich. Mächtige Adelige wohnten in Palästen,
saßen auf Thronsesseln und stellten Bedienstete ein, die ihnen jeden Wunsch von den Augen ablasen. Durch die Macht, die ihnen vom Gesetz her zustand, konnten sie Verbrechern wie meinen unglücklichen Gefährten – und damit auch mir – jederzeit die Köpfe abschlagen lassen. Tatsächlich hatten viele von ihnen sogar ihren Spaß daran, diesen grausamen Befehl zu geben. Er war ein Apim, und sein Gesicht war so blaß wie der Tod. Sein Haar war sehr dunkel, blauschwarz wie die Schwinge eines Raben, wie man in Clishdrin sagt. Er trug ein schwarzes Gewand, das ein paar goldene und rote Verzierungen aufwies und unter dem eine Rüstung durchschimmerte. An den Fingern steckten schwere Ringe. Sein Blick war durchdringend, und er war geübt darin, einen Ausdruck unerschütterlicher Entschlossenheit auf die blassen Gesichtszüge zu legen. O ja, er war schon ein eindrucksvoller Mann, dieser Hyr Kov Khonstanton, doch auf eine bösartige, prahlerische Weise. Wie ich bereits einmal an anderer Stelle erklärt habe, wird den Hyr Kovs von Kregen – der irdische Titel, der dem am nächsten kommt, ist Erzherzog – das Hyr verliehen, weil ihnen dieser Rang vom Adel her zusteht oder sie einem Kovnat vorstehen, das zwischen verschiedenen Rassen aufgeteilt ist. In Mak
Khons Fall verkündete das Hyr seine Blutsverwandtschaft mit dem Königshaus, genau wie es bei den Erzherzögen von Österreich-Ungarn der Fall gewesen war. Das war also einer der Burschen, vor denen Fweygo mich gewarnt hatte und die sich um die Erbschaftsfolge des Throns von Tolindrin stritten. Hatte also er Fonnells olivgrüne Bande angeheuert? Er schaute uns erbärmliche Schurken finster an, dabei stützte eine beringte Hand das bleiche Kinn. Seine Lippen waren dünn und fast blutleer. Ich muß gestehen, daß ich seine Art und sein Benehmen sofort abstoßend fand. Sollten Sie der Meinung sein, daß dieses Urteil vielleicht durch meine Lage beeinflußt worden war – bei Krun, dann muß ich Ihnen recht geben! Ein fetter, in Schwarz und Rot gekleideter Seneschall klopfte mit seinem vergoldeteten Stab auf den mit Teppichen ausgelegten Steinboden. »Shastum! Ruhe!« Jedes Wort hörte sich geziert an. Auf seiner Stirn und den dicken Wangen waren Schweißperlen zu sehen. »Wer von euch ist Drajak, den man auch den Schnellen nennt?« Die Gefangenen sahen sich schweigend an und fragten sich, wer von ihnen wohl der arme Teufel sein mochte. Ich blieb reglos stehen. »Tritt vor, oder du wirst es bereuen.«
Ich, Dray Prescot, Lord von Strombor und Krozair von Zy, den man auch unter dem Namen Drajak der Schnelle kannte und der sich zur Zeit Nalgre der Unster nannte, sagte kein Wort. Ich wußte ganz genau, daß ich hier mit allen möglichen unerfreulichen Eventualitäten rechnen mußte, und die Situation konnte mich nicht im geringsten beeindrucken, bei Zair! Es war offensichtlich, daß sie mich nicht kannten und auch nicht wußten, wie Kordens Schwert aussah, und sie waren viel zu klug, um die beschlagnahmten Waffen auf Verdacht auseinanderzunehmen, da sie befürchten mußten, das Objekt ihrer Suche zu zerstören. Sie würden eine Methode finden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und diese Methode würde außerordentlich schmerzhaft und unangenehm sein. Ein Wort von Khonstanton und ein scharfer Befehl des Hikdars sorgten dafür, daß die Hälfte der Wachen ihre Armbrüste anlegten. Sie spannten sie mit den entschlossenen Handbewegungen von Männern, die genau wußten, was sie taten. Der Seneschall sorgte schwitzend dafür, daß sich die Gefangenen in eine Reihe aufstellten. Dann mußten wir einer nach dem anderen an den Tisch herantreten und unsere Waffen an uns nehmen. Zwischen den Totschlägern und Schlagringen lag eine Vielzahl verschiedener Schwertarten – natürlich
nannte jeder einen Dolch sein eigen. Unter anderem lagen dort drei Rapiere und drei Main-Gauches, also bestand die Chance, daß es keinem auffallen würde, wenn ich mich auf die Waffen beschränkte, die ich dem Bravo-Kämpfer abgenommen hatte. Ein großer Rapa nahm sich mit großem Unbehagen das eine Rapier, ein mutloser Apim das andere. Vermutlich waren das ganz normale Gefühle, wenn man es mit Mak Khon zu tun hatte. Als ich an der Reihe war, nahm ich den Jiktar und den Hikdar und trat einen Schritt zurück. Zum Schluß war nur noch mein Braxter übriggeblieben. Der Seneschall wollte uns anbrüllen, doch Khonstanton gab ihm zu verstehen, daß er den Mund halten sollte. Sein bleiches Gesicht verzog sich zu einem bedeutungsvollen Lächeln. »Es scheint«, sagte er mit seiner leisen Stimme, »wir haben unser Schwert.« So ist es recht, Sonnenschein, dachte ich, und ich wünsche dir schlechtes Cess! Eins war klar. Khonstanton war schneller als Brannomar gewesen und hatte seine Macht dazu benutzt, sich die Gefangenen der Wache ausliefern zu lassen. Und man konnte ebenfalls zweifellos davon ausgehen, daß zwischen den beiden bittere Feindschaft herrschen würde. Davon war ich überzeugt, jetzt, wo ich beide mitsamt ihren Charakteren kennengelernt hatte.
Der Seneschall wurde zum Thron zitiert, und ein hagerer, graugesichtiger Mann, der sich auf einen runenverzierten Stab stützte und ein schwarzes, wallendes Gewand trug, das mit roten Symbolen bestickt war, gesellte sich zu ihnen. Die drei steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Wir warteten. Der Gauffrer, der einen bösartig aussehenden Totschläger an sich genommen hatte, zitterte. Natürlich hatte man uns nicht erlaubt, die Waffen zu behalten. Nachdem wir sie an uns genommen hatten, mußten wir sie am anderen Ende des Tisches wieder ablegen – weit von meinem einsam daliegenden Braxter entfernt. Die Armbrüste zielten weiter auf uns. Der Hikdar erhielt seine Befehle, und wir wurden alle aus dem Saal getrieben. Den anderen Gefangenen war noch immer die Angst anzusehen. »Khon der Mak ist so schlimm wie ein Kataki«, sagte der Gauffrer. »Schlimmer«, grollte der Gon. Die Bedrohung war noch nicht vorbei. Meine neuen Gefährten hielten sich noch immer für verloren. Mak Khon oder der Kataki, der die Wache befehligte, was für einen Unterschied machte es, wer das Todesurteil vollzog? Ich hatte mir die in Khonstantons Saal versammelten Männer verstohlen angeschaut, doch es war kein dickes, freundliches Gesicht dabeigewesen, das statt
einer Nase einen dicken Knorpel hatte und unter dessen geschlossenen Augenlidern Tränen hervorquollen, während ein tiefes Lachen ertönte. Naghan das Faß wurde durch mein Verschwinden sicher langsam in die Verzweiflung gestürzt. Ich konnte mich blind auf ihn verlassen; würde er mich auch diesmal retten? Man führte uns durch kostbar ausgestattete Korridore, deren Pracht immer mehr abnahm, desto tiefer wir in den Palast vordrangen. Khonstantons Verliese waren wie alle Verliese. Wie Sie wissen, habe ich einen großen Erfahrungsschatz, was Kregens Verliese angeht, und ohne jeden Zweifel hält die Zukunft noch genug Gelegenheiten bereit, um auf diesem Gebiet weitere Kenntnisse zu sammeln. Ich hockte mich in eine Ecke und versuchte nachzudenken. Der Gauffrer, Nath der Sonnige, und der Gon, Nath die Nase, wollten sich weiter unterhalten, um sich von ihrer Angst abzulenken. Ich drehte mich auf die Seite und ließ sie reden, und kurz darauf kamen die Wachen, die in ihren schwarzen und roten Uniformen ein beeindruckendes Bild boten. Laternen erfüllten den Kerker mit Licht. Meine furchtsamen Gefährten verstummten und starrten die Wachen mit entsetzter Faszination an. Wir erwarteten unseren Urteilsspruch. Die Wachen schleiften einen Mann herein und ris-
sen ihn auf die Füße. Er sah schrecklich aus. Sie zwangen ihn, uns anzusehen. Er trug ein am Hals offenstehendes Hemd und blaue Hosen. Beide Kleidungsstücke waren blutgetränkt. Sein Gesicht war blutig; das galt auch für den Verband um seinen Kopf. Seine Augen waren zusammengekniffen. Er zitterte. Doch selbst in diesem Augenblick, in dem die Wachen ihn auf den Beinen halten mußten, versuchte er noch, sich mit einem bebenden Finger über den dünnen, schwarzen Schnurrbart zu streichen. »Nun, Blintz?« grollte der Deldar. »Wer von dem Abschaum ist es?« Dagert von Paylen zeigte mit dem zitternden Finger genau auf mich. »Er!«
15 Die Wachen trieben uns durch den Gang, und sie gingen dabei nicht gerade sanft mit uns um, in keiner Weise, bei Krun! Sie brachten Dagert und mich in einen kleinen, rechteckigen Raum, in dem es ein winziges Fenster direkt unter der Decke gab. Wir wurden mit groben Seilen an Stühlen festgebunden, die man im Boden verankert hatte. Keiner von uns sagte ein Wort. Der Raum enthielt noch einen anderen Stuhl – der war allerdings mit einem Kissen versehen – und einen Tisch, der an der Wand stand. Vier Laternen brannten. Bei einer hätte man den Docht nachstellen müssen, denn sie sonderte eine dünne, schwarze Rauchfahne ab. Die Wachen nahmen ihre Posten ein. Khon der Mak kam geschäftsmäßig hereinstolziert. Ein paar Bedienstete trugen zwei Rapiere, zwei MainGauches und die Einzelteile eines Braxters. Die Waffen wurden auf dem Tisch abgelegt. Khonstanton setzte sich auf den Stuhl und blickte uns unheilvoll an, das spitze, bleiche Kinn auf die Hand gestützt. »Ich brauche euch nicht daran zu erinnern«, sagte er, als er den Eindruck gewonnen hatte, daß wir durch sein Schweigen genug eingeschüchtert worden waren, »daß ihr tote Männer seid. Es sei denn« – er
wedelte nachlässig mit der mit Ringen übersäten Hand – »ihr sagt mir die Wahrheit.« »Ich weiß nur, daß er der Gesuchte ist.« Das Sprechen schien Dagert Schmerzen zu bereiten. »Zu meinem Bedauern ...« »Ja, ja, Amak. Wir teilen dein Bedauern. Du ...« Seine Augen erinnerten an zwei flammende Punkte. »Sag du es mir.« Ich sah zu dem Tisch hinüber. Sie hatten den Braxter in seine Einzelteile zerlegt: Klinge, Parierstange, Griff, Lederbänder – alles. »Ich weiß nichts über das Schwert.« Mehr konnte ich nicht sagen. Ich sah meiner unmittelbaren Zukunft nicht gerade mit Begeisterung entgegen, das kann ich Ihnen versichern, bei Krun! Khonstanton stand auf. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich werde euch jetzt allein lassen, damit ihr über eure Situation nachdenken könnt. Bei meiner Rückkehr erwarte ich Antworten.« Er nickte den Wachen zu. Sie verließen die Zelle und ließen uns allein. »Mein lieber Freund. Es tut mir leid. Was kann ich sagen ...« »Versuch es erst gar nicht. Der Schmerz lockert die Lippen.« »Ja, doch bei Havil dem Grünen! Oh, möge Hanitcha diese Retche holen!«
Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Die Wunde unter dem Verband auf seiner Stirn fing wieder an zu bluten; das Blut rann ihm über die Wange und tropfte auf das zerfetzte weiße Hemd. »Ich bin ein Amak, also haben sie mich herausgegriffen. Doch dabei erhielt ich einen Schlag auf den Kopf, wie du siehst. Wo zum Teufel dieser Schurke Palfrey abgeblieben ist, weiß allein Hito der Jäger.« Darauf gab es keine vernünftige Erwiderung. Dagert leckte sich über die Lippen. »Man sollte annehmen, daß sie einem etwas zu trinken geben. Aber nein! Weit gefehlt! Kov Khonstanton ist ein harter Mann, mein Freund. Wir stecken in einer bösen Klemme. Wenn ich etwas über dieses von Malahak verfluchte Schwert wüßte, würde ich es sagen. Das würde ich, bei Hanitcha!« Ich fragte mich, wann er auf die Idee kommen würde, mich zu fragen, wie ich den Weg zur Messinglilie gefunden hatte. Ich würde irgendeine phantastische Geschichte erfinden müssen. Doch wider Erwarten fragte er nicht. Statt dessen belegte er Khonstanton und seine Handlanger mit gotteslästerlichen Flüchen, und das nicht zu knapp. Ein klirrendes Geräusch ertönte an der verschlossenen Tür. Sie öffnete sich ganz langsam. Sie wurde nicht aufgestoßen! Ein rundes Gesicht mit einer spitzen Nase, das von einem ungebändigten gelben Haarschopf ge-
krönt wurde, schob sich am Schloß vorbei in den Raum. »Notor!« »Palfrey, du Hulu! Komm schon rein und schließ die Tür!« Dagerts Diener glitt hinein. Er hielt einen Dietrich in den Fingern, und sein Gesicht verriet große Furcht. »Die Wache draußen ... ich mußte ihn ... ich habe ihn nicht getötet, doch ...« »Komm schon her, du Schurke, und binde mich sofort los.« Der Dietrich verschwand und wurde von einem Dolch ersetzt. Einen Augenblick später fielen Dagerts Fesseln. Palfrey musterte mich. »Nun mach schon, du Onker!« Dagert rieb sich die Handgelenke. Nachdem ich frei war und die Arme geschwungen hatte, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, war mein erster Gedanke, Rapier und Dolch an mich zu nehmen. Dagert folgte meinem Beispiel. Er warf mir einen durchtriebenen Blick zu. »Das sind doch nicht deine Waffen, mein Freund, oder?« »Nein. Sie sind mir aufgrund eines Dolchwurfes in die Hände gefallen.« »Ah! Nun, wir wollen gehen. Palfrey!« »Ja, ja, Notor.« Palfrey huschte zur Tür.
Ich nahm den in Stücke zerlegten Braxtergriff. Dagert sah überrascht zu. »Ist das ...« »Nein«, sagte ich. »Doch sollte dieser Rast Khonstanton zu der Überzeugung gelangen, daß in dem zerlegten Schwert doch das Geheimnis verborgen war, dem er auf der Spur ist, wird er etwas zum Nachdenken haben.« »Ha!« rief Dagert von Paylen aus. »Mir gefällt dein Stil.« Die Wache schlummerte friedlich. Ich bückte mich und nahm ihm den Gürtel mitsamt Schwert ab. Es war ein Qualitätsbraxter. »Ja«, nickte Dagert wissend. »Das ist schon eher deine Waffe. Der Jiktar und der Hikdar sind harte Lehrmeister, um damit die Kunst des Rapier- und Dolchkampfes zu erlernen. Es braucht Jahre, um die Feinheiten zu begreifen.« Ich schenkte mir eine Erwiderung und ging los, dazu bereit, jeder Wache entgegenzutreten, die sich mir mit Braxter, Rapier oder Dolch in den Weg stellte. Ich schaute ungeduldig zurück. Palfrey kam mir bereits nach, doch Dagert war stehengeblieben und zupfte an seinem Hemd herum. Sein Gesicht drückte absoluten Widerwillen aus, als er den blutdurchtränkten Stoff von der Haut zog. Er sah mich an. »Die haben mir ein ausgezeichnetes Hemd ruiniert.
Die Leute hier scheinen nicht zu wissen, was ein vernünftiges Hemd ist. Schon gut, mein Freund, ich komme.« Dagert von Paylen schnallte sich endlich den Rapiergürtel um und schloß sich uns an. Palfrey der Pfiffer flüsterte: »Ich habe dein Gold ausgegeben, Notor. Ein niederer Kämmerer, ein winselnder kleiner Och, kannte den Grundriß des Palastes.« Dagerts genüßliche Erwiderung hätte jeden Zuhörer entweder amüsiert oder abgestoßen, je nach dessen Sympathien. »Ich verstehe, du Schurke. Wenn du es zustande bringst, uns aus diesem von Havil verlassenen Palast herauszubringen, werde ich vielleicht davon absehen, dir das Gold von deinem Lohn abzuziehen.« Ich hörte Palfreys Antwort, die er kaum hörbar vor sich hinmurmelte. »Falls ich überhaupt meinen Lohn bekomme, bei Atchel dem Usurer!« O ja, bei Clichol dem Neidischen, Herr und Diener lagen sich wie immer in den Haaren. Unsere Umgebung erinnerte mittlerweile an eine Mischung aus Verlies und den ebenerdigen Räumen des Kovs. Der Boden war mit Teppichen bedeckt, die Wände wurde von Gobelins geschmückt, und die Lampen brannten immerhin so hell, daß wir genug sehen konnten. Jasminduft versüßte die Luft. Es waren keine Wachen zu sehen. Palfrey blieb gelegentlich
an Abzweigungen stehen, führte uns aber doch selbstsicher weiter. »Wo ist die verfluchte Tür, du Hulu?« wollte Dagert wissen. »Ganz in der Nähe, Notor, ganz in der Nähe!« Man durfte sich nicht von der Atmosphäre dieses Palastes einschüchtern lassen. Sie war unangenehm und bedrückend, und die Gewißheit, daß wir im Falle einer Gefangennahme einer extrem widerwärtigen Folter unterzogen werden würden, half unserem Seelenfrieden auch nicht. Voraus ertönten Stimmen, und wir sprangen geistesgegenwärtig in die Schatten eines mit Vorhängen verborgenen Torbogens. Wir rührten kein Glied, während die Leute vorbeigingen. An der Spitze befanden sich ein paar Wachen in rotschwarzen Gewändern, die durch zusätzlichen purpurfarbenen Besatz verziert wurden. Sie sahen recht kräftig und satt aus und schienen mächtig von sich überzeugt zu sein. Ihnen folgte eine Gruppe Dienerinnen; es waren hübsche, mit Federn und Perlen geschmückte Mädchen, ganz wie in den alten Geschichten und Sagen. Die Frau in der Mitte erregte sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihr Gesicht war gescheit, tapfer und erinnerte an das Antlitz eines Falken, obwohl sie wie ich eine Apim war. Ihre Kleidung war sehr kostbar; der Shamlak wies ein tiefes Dekolleté auf. Alles an ihr verriet Macht und Au-
torität, doch in den nach unten gezogenen Lippen und den Fältchen um die Augenwinkel entdeckte ich Unzufriedenheit, einen tiefsitzenden Groll, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Als die Wachen der Nachhut außer Hör- und Sichtweite waren, stieß Palfrey den angehaltenen Atem aus. »Die Lady Vita. Wir sollten zu Kaerlan dem Gnädigen beten, daß wir ihr nicht in die Hände fallen.« Er leckte sich die Lippen. »Sie führt ihren Mann, Lord Jazipur, ganz schön an der Nase herum.« Ich war verblüfft. Lag ich denn mit meiner Annahme so sehr daneben, was die Feindschaft zwischen Brannomar und Khonstanton anging? Offensichtlich teilte Dagert von Paylen meine Überraschung. »Was will sie denn im Palast von Khon dem Mak? Sie war doch keine Gefangene, oder?« »Sah nicht so aus«, stimmte ich ihm zu. »Wir sollten uns beeilen, Notor«, sagte Palfrey und setzte sich wieder in Bewegung. Man kann nicht sagen, daß er lief, doch wir mußten uns schon beeilen, um mit ihm mitzuhalten. Wir folgten Palfrey in einen Saal, der mit Wandteppichen geschmückt war, auf denen die Jagd der neun verschleierten Hexen dargestellt wurde, und kamen von dort aus in einen schmalen Gang, in dem Dagert mich überholte. Dabei warf er mir einen prüfenden Blick zu. »Eine Sache bereitet mir Kopfzerbre-
chen, Drajak. Wenn es sich bei dem Schwert, daß Khon der Mak hat auseinandernehmen lassen, nicht um Strom Kordens Schwert gehandelt hat – und es war in deinem Besitz, das ist allgemein bekannt –, wo ist das richtige Schwert jetzt?« »Havil sei mein Zeuge«, erwiderte ich, »ich habe nicht die geringste Ahnung.« »Fonnell hatte es. Das wissen wir. Und der Fristle ist tot. Also, was hat er mit dem Schwert gemacht?« Nun befand sich Dagert vor mir und ging leise hinter Palfrey her. »Glaubst du, die diebischen Katakis der Wache haben es mitgehen lassen, bösartig wie die Peitschenschwänze nun einmal sind?« »Falls dem so ist, werden sie es an den Meistbietenden verkaufen.« Sein leises, amüsiertes Gelächter hörte sich in der gegenwärtigen Lage seltsam an. »Ja, da gibt es viele Interessenten, bei Krun.« Wir gelangten an eine Abzweigung, und Palfrey zögerte. »Nun, Fambly?« »Laß mich nachdenken, Notor ...« »Ha! Nachdenken! Da kann man genausogut ein Calsany ins Boudoir lassen!« »Hier entlang.« Palfrey ging los. »Er ist bei mir, seit er ein Stallbursche war. Damals ließ man ihn bloß das Heu zusammenkehren, das so gelb wie seine Haare war. Ich habe ihn in meine per-
sönlichen Dienste aufgenommen, ihn ausgebildet, verwöhnt und mich um ihn gekümmert.« Dagert holte tief Luft. Sein Gesichtsausdruck war verkniffen. »Und so dankt er es mir.« »Bei Krun, Dagert!« sagte ich ungläubig. »Er hat uns gerettet, und nun führt er uns aus diesem Höllenpalast heraus. Was erwartest du denn noch? Daß er sein Blut für dich gibt?« »Falls nötig.« Als ich darauf keine Antwort gab, sondern schweigend weiterging, sagte Dagert: »Mir ist aufgefallen, daß du Krun anrufst.« »Ich habe einige Zeit in Hamal gelebt.« »Ah! Kennst du Ruathytu?« »Die Hauptstadt? Ich bin mal dort gewesen.« Ich führte das nicht weiter aus. Palfrey blieb stehen und winkte uns heran. Wir blickten ihm über die Schultern. Ich nahm mir vor, meine schwarzzähnige Weinschnute geschlossen zu halten. Denn ich wollte nach Möglichkeit vermeiden, daß Dagert von Paylen erfuhr, daß ich mit den Schwertkämpfern des Heiligen Viertels von Ruathytu herumgezogen war. Solche Informationen konnten mir hier schaden. Vor uns erstreckte sich ein mit Steinplatten ausgelegter Saal mit hohen Fenstern, durch die Licht drang. Am anderen Ende gab es eine Flügeltür. Der Saal war menschenleer.
»Da wären wir, Notor«, sagte Palfrey selbstzufrieden. »Verflucht noch mal!« rief Dagert gedämpft aus. »Hier gibt es überhaupt keine Deckung.« »Je schneller, desto besser«, sagte ich und stürmte los. Sie schlossen sich mir an. Ich gewann einen Vorsprung, erreichte die Tür und riß sie auf. O ja, das war leichtsinnig! Doch ich hatte die Nase voll von diesem Palast, der nach dem Bösen stank. Vermengtes Sonnenlicht strömte in den Saal, und ich trat durch die Tür. Ich hatte gerade genug Zeit, um einen Innenhof zu erkennen, an dessen anderem Ende Stallknechte Baltrixe an den Ställen vorbeiführten. Dann wurde ich von der blauen Strahlung ergriffen. In dem einen Augenblick war ich noch bereit, einen Schritt nach vorn zu machen; im nächsten hatte ich das Gefühl, kopfüber durch die Luft zu fliegen, während mich die Kälte bis ins Mark traf. Um mich herum erstreckte sich die gigantische Gestalt des blauen Phantomskorpion und löschte jede Realität aus. Ich stieg immer höher, der Begegnung mit den Herren der Sterne entgegen. Mir war ein letzter Blick auf die Zwillingssonnen von Scorpio gestattet, die Blut und Grünspan in den Himmel tropften, dann stürzte ich Hals über Kopf in die grausige Mischung aus Rubinrot und Saphirgrün,
während um mich herum der blaue Mahlstrom wirbelte. Etwas Weiches, Nachgiebiges bremste meinen Fall. Ich saß in einem bequemen Sessel. Die Luft wurde von Lavendelduft gesüßt, und die Umgebung, die sich noch eben aus wirbelnden roten Farbmustern zusammengesetzt hatte, verblaßte wie die letzten Herbstblätter im goldenen Sonnenschein. Ich saß in einem eleganten Raum, dessen Wände mit Bildern von Blumen und Vögeln geschmückt waren. Elegante Fenster wurden von purpurroten Vorhängen eingerahmt; Kerzenleuchter warfen ein sanftes Licht auf kostbare Möbelstücke wie Stühle, Tische und Sofas von ausgesuchtem Geschmack. Dann verschwanden die letzten blauen Überreste der Schwingen des Phantomskorpions. Ich holte tief Luft. Nun würde meine Audienz mit den Herren der Sterne beginnen. Es gab keine Verzögerung. »Du bist hergebracht worden, Dray Prescot, um gewisse Fragen zu beantworten.« »Gern«, sagte ich nach einem genau bemessenen Zögern. Meine Beziehung zu den Everoinye hatte sich in der letzten Zeit so verändert, daß ich ganz normal mit ihnen sprechen konnte – nun, fast normal. Sie waren einst menschlich gewesen, und ich wußte, daß sie noch immer einen Sinn für Humor hatten. Natürlich war es nur ihm zu verdanken, daß sie nicht den Verstand verloren hatten; bei ihrer unglaublichen Macht hatte be-
stimmt nur ein gelegentliches herzhaftes Lachen verhindern können, daß sie nicht in den schwarzen Abgrund des endgültigen Wahnsinns getrieben worden waren. »Außerdem hätte ich da eine Frage.« »Ihr geht es gut.« Die heisere, körperlose Stimme wurde freundlicher. »Die Herrscherin Delia hat sich als eine unserer besten Kregoinya erwiesen. Was sie sich vornimmt, gelingt ihr auch, und zwar mit Stil.« »Natürlich«, sagte ich. »Sie ist Delia.« »Wir hatten die Hoffnung, daß ihr Mann ein ähnliches Geschick sein eigen nennt und sein Verhalten ändert. Leider bist du ein rebellischer Ketzer geblieben.« Die Stimme klang nicht drohend oder einschüchternd; doch die alte verurteilende Schärfe, die mir aus Perioden der Auseinandersetzung mit den Everoinye so sehr vertraut war und die ich immer versucht hatte, ihnen heimzuzahlen, war unüberhörbar. Ich setzte mich aufrecht hin. »Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?« »Du bist wieder einmal anmaßend, Dray Prescot.« »Wieso das denn?« fragte ich verblüfft. »Prinzessin Nandisha befindet sich in Sicherheit. Fweygo und ich haben ...« »Du hast deine Schützlinge im Stich gelassen, um andere Ziele zu verfolgen.« Ich holte tief Luft. Ich wollte auf keinen Fall, daß
sich meine Beziehung zu den Herren der Sterne wieder in den alten Bahnen bewegte und ich ständig mit der lähmenden Furcht leben mußte, vierhundert Lichtjahre zur Erde zurückgeschleudert zu werden. »Ich habe nur das Versprechen erfüllt, das ich einem Sterbenden gegeben habe. Doch wie dem auch sei, dieses verflixte Schwert scheint viel mit Nandishas Kindern und ihrem Bestreben zu tun zu haben, aus ihnen Thronfolger zu machen. Habe ich da recht?« Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie mit dem verhaßten ›Das brauchst du nicht zu verstehen‹ geantwortet hätten. Doch statt dessen wurde es still. Dieses Schweigen war mir vertraut, und schließlich sagte die heisere, flüsternde Stimme: »Du hast die Situation mißverstanden, Dray Prescot. Wir hatten gedacht, deine Tage als Onker seien vorbei. Doch anscheinend bist du der Onker aller Onker geblieben, ein Get-Onker, und ...« An dieser Stelle übernahm eine andere Stimme meine Verdammung. »Du bist nicht länger der Prinz aller Onker, sondern ein wahrer Herrscher aller Herrscher der Onker!« »Ihr habt mich in Amintin abgesetzt, und die Prinzessin befindet sich in Sicherheit.« Ich hatte noch ein anderes Hühnchen mit ihnen zu rupfen, also sagte ich heftig: »Ihr habt mir ein schlechtes Schwert gegeben. Das nutzlose Ding ist fast schon beim ersten Schlag zer-
brochen. Ich bin zwar durchaus dankbar, daß ich in letzter Zeit nicht mehr nackt und waffenlos durchs Nichts geschleudert werde ...« »Möchtest du, daß wir wieder zu dieser Methode zurückkehren?« Bevor ich darauf eine Antwort gab, kam mir zu Bewußtsein, daß ich im Verlauf der Perioden tatsächlich eine Technik entwickelt hatte, wie ich mich bei einer Auseinandersetzung mit den Herren der Sterne zu verhalten hatte. Ich wechselte einfach ständig das Thema, und sie folgten öfters dem neuen Gedankengang und ließen Fragen fallen, die ich doch lieber nicht beantwortet wissen wollte. Ich hoffte also, daß die Sache mit dem Onker endgültig erledigt war, und sagte: »Nein. Auf Kregen ist eine Waffe lebenswichtig, und das wißt ihr genau. Ich mußte während der ganzen Perioden alle möglichen Verrenkungen machen, um für mich selbst zu sorgen – was euch ebenfalls wohlbekannt ist.« »Ja. Und da du das Yrium hast, bist du auch immer erfolgreich gewesen.« »Das mag schon sein«, erwiderte ich mürrisch. »Doch es paßt mir nicht, wenn mein Schwert beim ersten Hieb auf den Kopf des Feindes zerbricht.« »Dray Prescot, du bist ermüdend. Du weißt ganz genau, daß Tolindrin seine Probleme hat, guten Stahl zu schmieden.«
»Es hat Geld, Gold und Silber, oder etwa nicht? Sollen sie doch Schwerter aus Zenicce kaufen. Die wissen, wie man Schwerter schmieden muß.« »Du bist mit der Ausrüstung eines gewöhnlichen Soldaten nach Tolindrin geschickt worden. Wenn du Waffen von überlegener Qualität haben willst, an die nur schwer heranzukommen ist, mußt du sie dir selbst besorgen. Wie du es immer getan hast.« »Ist ja schon gut. Fweygo und ich werden dafür sorgen, daß Nandisha nichts zustößt, damit ihr Sohn eines Tages die Krone ...« Lag in der körperlosen Stimme ein Hauch ärgerlicher Schärfe? Ungeduld wegen Dummheit? »Wir haben dir doch gesagt, daß du die Situation mißverstanden hast.« Das hatten sie, doch ich hatte das Thema gewechselt. »Ihr wollt nicht, daß Nandisha ...?« »Im Moment ist es für uns nicht von Interesse, wer in Tolindrin zum Thronnachfolger ernannt wird. Dir ist gesagt worden, Dray Prescot, daß du zum Herrscher aller Herrscher, dem Herrscher von Paz aufsteigen wirst. Das schließt doch auch Tolindrin ein, oder nicht?« Es war nicht das erste Mal, daß ich, hätte ich einen Hut besessen, ihn während einer Unterhaltung mit den Herren der Sterne vom Kopf gerissen, ihn zu Boden geworfen und darauf herumgetrampelt wäre.
Mit aller Selbstkontrolle, die ich aufbringen konnte, sagte ich gepreßt: »Und ich habe euch gesagt, daß diese Aufgabe so gut wie unmöglich in die Tat umzusetzen ist! Bei Zair! Eine ganze Gruppe von Kontinenten und Inseln, und das soll alles von einem Sterblichen regiert werden? Das ist Wahnsinn!« »Nein, ist es nicht. Du sagst selbst, daß es ›so gut wie‹ unmöglich ist. Du hast das Yrium. Es wird gelingen.« Es hatte keinen Sinn, weiter darüber zu streiten. Meine Meinung über machtlüsterne Irre, die über große Gebiete herrschen wollen, die sie nie zu Gesicht bekommen werden, ist allseits bekannt. Trotzdem würde ich tun, was in meiner Macht stand. Sonst ... Ich verwarf den Gedanken. Nein, ich wollte jetzt nicht über die entsetzlichen Folgen nachdenken. »Ich werde es versuchen«, knurrte ich äußerst ungnädig. »Gut.« Da begriff ich erst, was sie gesagt hatten. »Es ist nicht Nandisha? Es ist euch egal, wer den Thron erbt? Wen sollen Fweygo und ich denn dann beschützen?« »Die Numim-Zwillinge Rofi und Rolan natürlich. Wen denn sonst?«
16 »Wo bist du gewesen?« fragte Fweygo. »Du siehst schlimm aus.« »Ich werde es dir sagen.« Ich ließ mich in dem Gemach, das uns in Nandishas Palast zur Verfügung gestellt worden war, auf einen Stuhl fallen. Der blaue Phantomskorpion der Herren der Sterne hatte mich diesmal in einer stillen Gasse ganz in der Nähe des Palastes abgesetzt, so daß ich lediglich die Straße der Musks entlanggehen und den Kyro der Parfumhändler überqueren mußte. »Doch zuerst brauche ich einen ordentlichen Schluck, bei Beng Dikkane.« Fweygo legte das Schwert nieder, mit dem er herumgespielt hatte, und schob mir den Krug zu. Ich schenkte mir ein und trank. Dann wischte ich mir mit der Hand über den Mund. »Bei der gesegneten Mutter Zinzu! Das habe ich gebraucht!« Fweygo blieb ernst. Er erkannte meine Stimmung und gestand mir zu, ihm alles zu erklären, wenn ich soweit war. Er nahm das Schwert und hielt es waagerecht ausgestreckt. »Deine Meinung, Drajak?« Es handelte sich um einen Drexer, jene besondere Art von Schwert, die Naghan die Mücke und ich zusammen entwickelt hatten. Es war in Vallia geschmiedet worden. Der Griff hatte für meinen Ge-
schmack zu viele Verzierungen. Waffen werden für einen ganz bestimmten Zweck hergestellt. Verschönerungen erscheinen da entweder überflüssig oder geschmacklos. Dennoch werden in den Auktionshäusern der Erde derartige Waffen zu völlig überhöhten Preisen versteigert. Im siebzehnten Jahrhundert ersetzte Perlmutt Knochen als Material für Einlegearbeiten. Dieses Schwert hier würde eine feine Waffe sein; alles Perlmutt der Welt konnte es nicht besser machen. Ich führte ein paar Hiebe und Stöße aus. »Sehr gut.« »Ich habe es in den Aracloins gefunden. Es hat Gold gekostet, doch ich denke, daß es seinen Preis bis zum letzten Kupfer-Ob Wert ist.« Die Herren der Sterne hatten erwähnt, daß Tolindrin bei der Herstellung von erstklassigem Stahl seine Probleme hatte. Fweygo hatte hier wirklich ein gutes Geschäft gemacht. »Wie ich sehe, trägst du ein Rapier und den dazugehörigen Dolch für die linke Hand«, fuhr er fort. »Also nehme ich an, daß du weißt, wie man damit umgehen muß – man nennt sie auch Jiktar und Hikdar.« »Ich habe schon früher damit gekämpft.« Erst als die Worte verklungen waren, fiel mir auf, mit welchem Unmut ich gesprochen hatte. Ich mußte mich zusammenreißen, mich auf diese neue Situation einstellen.
Fweygo musterte mich genau und nahm einen Schluck Wein. Dann stellte er den Becher wieder auf den Tisch. »Mein Vater ist bei solchen Gelegenheiten immer im Wald spazierengegangen und hat mit dem Stock, den er immer bei sich trug, nach verwelkten Blumen geschlagen«, sagte er. »Ich habe diesen Stock gelegentlich auch zu spüren bekommen. Er war ein guter Mann, streng und aufrecht. Er hat nie eine blühende Blume geköpft. Nie.« »Ich hatte eine Begegnung mit den Everoinye. Weißt du, warum wir hier sind?« Der Kildoi stieß einen Pfiff aus. »Ich nehme an, mein schneller Freund, daß du es mir sagen wirst.« »Oh, aye.« Ich gab ihm den vallianischen Drexer zurück. »Es ist gar nicht Nandisha. Es sind die Numim-Zwillinge, Rofi und Rolan.« Er sog scharf die Luft ein, sparte sich aber sein Pfeifen und sagte: »Die Everoinye hatten mir die ganze Gruppe anvertraut. Sie haben ihre eigenen Methoden, um jene großen Angelegenheiten zu erledigen, denen sie verpflichtet sind. Das verstehe ich.« Ich sah ihn böse an. Als ein guter Kregoinye im Dienst der Herren der Sterne wäre er nicht einmal im entferntesten auf die Idee gekommen, ihre Motive in Frage zu stellen. Allerdings vermittelte er irgendwie den Eindruck, daß er – im Gegensatz zu Pompino
und Mevancy – ein etwas differenziertes Verhältnis zu ihnen hatte. Meine beiden Gefährten blickten ehrfurchtsvoll zu den Herren der Sterne auf – was bei Krun auch durchaus vernünftig und angebracht war! Das tat Fweygo auch, aber er zeigte weniger von der fast anbiedernden Verehrung anderer Kregoinye. Ich fragte mich, wie sie ihn rekrutiert hatten. Zweifellos würde er es mir erzählen, wenn er dazu bereit war. »Wenn das so ist«, sagte er und schob den Drexer in die Scheide, die er an dem Waffenarsenal befestigt hatte, das er mit sich herumschleppte, »war es sehr vernünftig, für den Schutz der Prinzessin zu sorgen. Ihre Macht erstreckt sich auch auf ihre Dienerschaft.« »Da stimme ich dir zu. Es ist nur schön zu wissen, wo wir stehen. Trotzdem denke ich oft darüber nach, aus welchen Motiven die Everoinye letztendlich ihre Wahl treffen. Dir geht es bestimmt ähnlich. Werden dieses Numim-Zwillinge die Zukunft verändern? Werden sie das Schicksal von Nationen beeinflussen?« Wie Sie sicher bemerkt haben, befand ich mich in einer seltsamen Stimmung. Also ließ ich meine schwarzzähnige Weinschnute weiterplappern. »Ich habe einmal einen jungen Mann und ein Mädchen gerettet, die dann geheiratet und einen Sohn bekommen haben. Auf Befehl der Everoinye. Perioden später hat dieser Sohn, der zu einem mächtigen König geworden war, meine Tochter ermordet.«
Seine Augen weiteten sich, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. Kildoi sind nicht für überschäumende Gefühlsausbrüche bekannt. »Das tut mir ehrlich leid«, sagte er. Ich schenkte mir noch einen Becher ein. Meine Hand zitterte nicht. »Ich nehme an, du hast den Blintz in die Eisgletscher von Sicce geschickt?« fragte Fweygo. »Dort ist er gelandet. Doch nicht durch meine Hand. Der Mann meiner Tochter hat diese unumgängliche Pflicht erfüllt.« »So muß es sein. Ich glaube, mein Freund Drajak, du brauchst eine kleine Luftveränderung.« »Das ist möglich.« Um der Wahrheit die Ehre zu geben, vermutlich war es die Erwähnung Delias durch die Everoinye gewesen, die mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sie war dickköpfig, einfallsreich und von tiefer Entschlossenheit beseelt. Die Herren der Sterne hatten mich oft ohne jedes Mitleid in haarsträubende Situationen geschickt, und falls sie bei ihr genauso verfuhren, konnte ich mich nur an den Gedanken klammern, daß sie sich treu blieb und die Probleme mit ihrem Temperament und ihrer Willenskraft meistern würde. Sie würde lächelnd, großartig und siegreich aus den Kämpfen hervortreten ... Ich hielt den Becher so fest umklammert, daß meine Fingerknöchel weiß wie Totenschädel hervortraten.
»Was deine anderen Aktivitäten betrifft, nun, die gehen mich nur dann etwas an, wenn sie etwas mit unserer Aufgabe zu tun haben.« Er machte eine anmutige Bewegung mit der Schwanzhand. »Ich muß zugeben, daß mir Oxonium nicht besonders gefällt.« Es gab keinen Grund, meinem Kameraden die Geschichte mit Kordens Schwert und den Mißgeschikken, die der Verlust der Waffe nach sich gezogen hatten, vorzuenthalten. Er zupfte an einem Schnurrbarthaar. »Und du bist der Meinung, daß das Schwert wichtig genug war, um deine Pflichten den Everoinye gegenüber zu vernachlässigen ...« »Oh, nun mach aber halblang, Fweygo! Du bist hier, und du allein bist ein ganzes Regiment wert.« Er hatte den Anstand, diese Worte mit einem Lächeln zu kommentieren. »Kommt auf das Regiment an.« Da mußte auch ich lächeln, was ein angenehmes Gefühl hinterließ. Einer von Nandishas Dienern trat leise ein und sagte: »Ich bitte die Horter um Entschuldigung. Hier ist ein Mann, der zu Horter Drajak dem Schnellen möchte.« In Tolindrin benutzte man außer dem havilfarischen Notor – die Bezeichnung für Herr – auch das havilfarische Horter – die Bezeichnung für Ehrenmann. Ich nickte. »Wenn er vertrauenswürdig aussieht, Tafnu, schick ihn herein.«
Tafnu verbeugte sich und ging. »Erwartest du jemanden?« fragte Fweygo beiläufig. »Nein. Eigentlich nicht. Ich kenne keinen in Oxonium.« »Vielleicht ist es angebracht, deine Klinge in der Scheide zu lockern.« Angedenk meiner kürzlichen Erfahrungen stimmte ich Fweygo von ganzem Herzen zu. Gleichzeitig hoffte ich natürlich, daß es sich um Naghan das Faß oder einen seiner Männer handelte, der mir das verflixte Schwert endlich zurückbrachte. Ich stand auf und sah zur Tür. »Wenn es sich um einen erzürnten Vater mit gespannter Armbrust handeln sollte, kannst du auf mich nicht zählen«, sagte Fweygo leichthin und vergnügt. Der Bursche, der in einem seltsam gleitenden Gang hereinkam, war Nalgre der Ron. Ich erkannte ihn wieder. Es handelte sich um einen von Naghans Männern, die bei meiner Befreiung geholfen hatten. Er verdankte seinen Beinamen seinem rötlichbraunen Haar, und obwohl es sich nicht um das echte rote Haar eines Lohers handelte, hatte es da in der fernen Vergangenheit sicher einmal einen lohischen Ahnen gegeben. »Horter«, sagte er höflich, schluckte und schwieg. Fweygo erhob sich langsam. »Also keine gespannte Armbrust. Gut. Ich habe
noch was zu erledigen.« Er verließ das Gemach und hatte sich somit taktvoll aus der Affäre gezogen. Ich musterte Nalgre den Ron. Er war mit einem braungelben Shamlak mit schwarzen Schnüren bekleidet, von denen eine zerrissen war. Auf der linken Wange hatte er eine häßliche Schramme. Fweygo hatte bei seiner lockeren Bemerkung genau gewußt, daß Nalgre keine gespannte Armbrust versteckt hielt, denn er trug gar keine Waffen. Dafür hatte schon Nandishas Wache gesorgt, und zwar bevor Nalgre überhaupt bis zu Tafnu vorgedrungen war. Er sprach sehr leise. »Horter, ich bin gekommen, um dich an den Ort zu führen, den du besuchen möchtest.« »Ist jemand verletzt oder getötet worden?« »Es gab nur Verwundungen.« »Ich verstehe. Ich bin bereit. Wenda!« sagte ich. »Gehen wir!« Draußen sagte ich zu Tafnu: »Ich werde nicht lange fort sein, bestell das bitte dem Kildoi. Eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit.« Tafnu verneigte sich, und Nalgre und ich eilten durch die Gänge auf die Eingangshalle zu. Hier gab ihm die diensthabende Wache seine Waffen zurück. Ein Dolch wurde weggesteckt; diese Waffe ist auf Kregen fast schon ein fester Bestandteil der Kleidung. Dann folgte eine klotzige, kurzschäftige Axt. Er besaß auch eines jener
Schwerter, die man Slikker nennt und deren Klingenlänge zwischen Braxter und Kurzschwert rangiert. Sie werden gern gekauft, wenn Stahl übermäßig teuer ist. Der Tag war warm, also verzichtete ich auf einen Umhang oder ein Cape. Nalgre sagte kein Wort, bis wir den Palast verlassen hatten und den Kyro der Parfumhändler eilig überquerten. Mabal und Matol, die Zwillingssonnen von Scorpio, verbreiteten ihr strahlendes jadegrünes und rubinrotes Licht auf den Steinplatten und ließen die kuppelförmigen Dächer und Simse glitzern. »Lingurd wurde aufgeschlitzt, und Roidon der Riscus hat ein paar Federn verloren und den Schnabel eingedellt bekommen. Man sollte Trako Eisenbauch, diesen vom Teufel gezeugten Kataki, mit abgeschlagenem Schwanz zu den Eisgletschern von Sicce schicken.« Wir gingen die Fernown Straße entlang, bogen nach rechts ab und kamen so aus der entgegengesetzten Richtung zu der Seilbahnhaltestelle. Dort warteten ein paar Leute, und als der nächste Calimer anlegte, gab es keine Probleme. Wir zahlten unseren Kupfer-Ob für die Fahrt und schaukelten zum nächsten Hügel. Schließlich gelangten wir zu Sturgies Hügel. Dort führte mich Nalgre durch mir unbekannte Straßen zu einem kleinem, aber ordentlich aussehenden Haus, das in einer Seitengasse stand. Er klopfte.
Ein haariger Brokelsh, Tarbak der Sohan, öffnete. Auch er hatte ein paar Schrammen abbekommen. »Beim strahlenden Bridzilkelsh! Du hast dir aber Zeit gelassen. Lingurd geht es sehr schlecht.« Naghan das Faß kam aus einem Zimmer; das dicke Gesicht war sehr ernst. »Hier entlang.« Der arme alte Lingurd der Polsim lag in dem abgedunkelten Zimmer auf einem Bett und hustete Blut. Er war von einem Schwert durchbohrt worden, und die Verbände an seiner Brust waren blutdurchtränkt. Eine kleine Och-Frau versuchte gerade, die Verbände zu wechseln. In verschiedenen Körperteilen steckten Akupunkturnadeln, die seine Schmerzen lindern sollten. Blut rann ihm aus dem Mund, als er sprach. »Mach dir keine Sorgen, Mutter Ivy. Mit mir geht es zu Ende. Ich hoffe nur, daß Impolimar mich zu sich nimmt.« »Dein heiliger Impolimar wird über dich erzürnt sein, Lingurd der Halsstarrige, wenn du mich nicht helfen läßt.« Sie legte ihm mit der oberen linken Hand ein kaltes, nasses Tuch auf die Stirn und hielt mit der oberen rechten Hand seinen Körper fest, während sie mit den beiden unteren Händen die Wunden geschickt neu verband. »Bleib still liegen, du Stryler.« Während ich Lingurd ansah, kam mir der Gedan-
ke, daß er gar nicht in der Lage war, um stryle zu sein – was die kregische Bezeichnung für halsstarrig ist. Jedenfalls nicht bei dieser energischen kleinen Nadelstecherin, die ihn versorgte. Die Wunde sah böse aus, doch vermutlich würde er überleben. »Erzähl, Lingurd«, sagte Naghan das Faß. Seine Stimme klang so sonor wie immer; allerdings war eine gewisse Gereiztheit zu hören. »Ich habe auf den Notor gewartet«, sagte Lingurd mühsam. »Der Schwertstoß ... und die Wache ... doch ich habe nicht versagt.« »Davon bin ich überzeugt, Lingurd«, sagte ich freundlich. »Sie sind über uns hergefallen. Der Gegenstand – ich habe ihn versteckt.« Er versuchte sich ruhelos zu bewegen, und Mutter Ivy beruhigte ihn. Er sprach mit dieser schwachen Stimme weiter. »In einem Faß – Notor, erinnerst du dich an die Fässer?« Ich nickte. »Welches ist es?« »Ein Kreidezeichen – gelb.« »Soweit ich mich erinnere, hatten alle ein gelbes Kreidezeichen.« »Ja. Das Zeichen der Dame mit dem Schleier. Und die Zahl Ord.« Das Zeichen stand für den achten Umlauf von Kregens viertem Mond, der Dame mit dem Schleier.
Bevor ich antworten konnte, stieß Raerdu hervor: »Das hättest du uns auch schon früher sagen können! Ich werde sofort ein paar Mann nach unten schicken ...« »Und«, unterbrach ich ihn scharf, »ich werde sie begleiten.« »Aber ...« »Aber – komm mir nicht mit einem Aber, wie man in Clishdrin sagt, mein Freund. Ich werde gehen.« Naghan Raerdu kannte mich schon lange. Er versuchte erst gar nicht weiter, mich davon abzubringen. Unser Unternehmen würde im Schutz der Nacht stattfinden, und in der kurzen Zeit, die noch übrigblieb, nahm ich eine schnelle Mahlzeit zu mir. Nalgre der Ron stimmte leise eine Melodie an, andere fielen ein, und bald ertönte ein lebhafter Gesang. Ich hatte nicht den Eindruck, daß diese Raufbolde sangen, nur um sich für die Nacht Mut zu machen. Die meisten Kreger – nicht alle – singen leidenschaftlich gern und ergreifen jede Gelegenheit, um alte Lieblingslieder zu singen. Und so sangen wir neben anderen, auf ganz Paz verbreiteten Liedern unter anderem ›Die Jungfrau mit dem einsamen Schleier‹ und ›Zakrysts Prächtiges Kriegsroß‹. Ein lustiges Lied aus Tolindrin, das für einen Fremden eher ergreifend sein dürfte, da in ihm alle Wünsche wahr werden, ist ›Nath der Iarvin in den Wolken‹. Es erzählt die Geschichte von
Nath dem Iarvin, der als einfacher Sohn eines Kerzenmachers nach Caneldrin ging, dem Land nördlich von Tolindrin, um dort sein Glück zu finden. Eines Tages fand er sich auf einem der Volgendrins wieder, die die Lüfte dieses Landes durchkreuzen. Er rief Tolaar den Mächtigen an, und der schickte die Winde, von denen die fliegende Insel den ganzen Weg bis ins südlich gelegene Tolindrin getrieben wurde. Das Lied endet mit der stürmischen Willkommensfeier, die man Nath dem Iarvin bereitet. Warum am Himmel über Tolindrin keine Volgendrins schweben, nun, das ist eine andere und wesentlich schmerzhaftere Geschichte, die in der Geographie des Landes begründet liegt. Schließlich erhob sich Naghan Raerdu, und der Gesang war zu Ende. Ein paar seiner Männer verließen das Haus, um die Nachbarschaft zu überprüfen. Falls jemand Nalgre den Ron oder mich verfolgt hatte, war er auf jeden Fall wesentlich geschickter als die beiden Kerle in Amintin, um die sich Fweygo gekümmert hatte. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, von jemandem verfolgt worden zu sein, und Nalgre bestätigte, daß es ihm genauso gegangen war. Man fand für mich noch einen Schlapphut mitsamt kurzem Umhang, und so brach ich in der Verkleidung eines draufgängerischen Schurken aus den Gräben mit dieser Horde von Halsabschneidern auf.
Der Umhang verbarg das neue Rapier mitsamt dem dazugehörigen Dolch; das Schwert, das ich dem von Palfrey bewußtlos geschlagenen Wachmann abgenommen hatte, war so festgeschnallt, daß ich es schnell zücken konnte. Wir verzichteten auf den Schweber und stiegen vorsichtig den mit losem Geröll übersäten steilen Abhang hinunter. Gelegentlich durchstieß das Licht der Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln die Wolkendecke, doch im allgemeinen hüllte die Dunkelheit unsere schändlichen Aktivitäten ein. Die von Naghan angeführte Bande war mir in der vorigen Nacht bis zur Messinglilie gefolgt. Wir wußten, welchen Weg wir entlang der traurigen Etablissements einzuschlagen hatten und wo man die Abfallhaufen und den klebrigen Schlamm, der nie zu trocknen schien, umgehen mußte. Wieder raubte uns der Gestank den Atem, und die seltsamen Schreie, die zwischen den Gebäuden widerhallten, kündeten beredt und auf schreckliche Weise von den teuflischen Machenschaften, die dort stattfanden. Wir blieben am vorletzten Hüttenblock stehen. Die Schenke war durch den dünnen, feuchten Nebel zu sehen. Eine Hündin trottete schwerfällig über die Straße bis zu einem Unrathaufen, in dem sie mit der Pfote scharrte. Wir umgingen sie vorsichtig, bis wir die Hinterseite der Messinglilie erreicht hatten. Vorn
ertönten die gedämpften Geräusche einer ausgelassenen Zecherei. »Da ist der Hintereingang in den Hof«, knurrte Naghan in mein Ohr. »Und das da hinten ist Fonnells Schlupfwinkel«, flüsterte ich und zeigte auf das Gebäude, in dem der Fristle zu Tode gekommen war. »Nicht, daß er jetzt noch dafür Verwendung hätte.« »Und wo stehen die verdammten Fässer?« »Direkt neben dem Schlupfwinkel, wo der arme Lingurd stand. Von hier aus kann man sie nicht sehen. Doch da vorn ist die verflixte Falltür, durch die ich gerutscht bin wie Innereien durch den Fleischwolf.« Naghan wollte losprusten, konnte seine Heiterkeit aber noch rechtzeitig unterdrücken. Hier in Tolindrin benutzte man neben den Amphoren der südlichen Länder auch die Fässer der nördlichen Länder. Sowohl Fässer als auch Amphoren bereisten ganz Kregen. Das Küferhandwerk setzt eine peinliche Genauigkeit voraus – das gilt natürlich auch für das Tonhandwerk –, und deshalb wurden Fässer sehr pfleglich behandelt. Dieser Stapel hier war leer und sollte zu den Händlern zurückgebracht werden. Der dicke Naghan trat entschlossen vor. »Liftu, du und Nath die Nase, ihr paßt da vorn auf«, erteilte er flüsternd seinen Befehl. »Ich gehe rein und ...«
Ich packte ihn am Arm. »So nicht! Ich bin derjenige, der als erster geht.« Dann fügte ich überflüssigerweise noch hinzu: »Eigentlich müßtest du mich mittlerweile kennen, mein Freund.« Er grunzte kurzatmig. »Oh, aye, ich weiß. Ich kenne die Geschichte von dem kopflosen Zorcamann.« Also ging ich los und schaute dabei in dem Dämmerlicht in alle Richtungen. Wie Sie wissen, hatte ich den Eindruck, daß die Herren der Sterne mir die Fähigkeit verliehen hatten, bei schlechten Lichtverhältnissen besser als jemand mit normalem Augenlicht sehen zu können. Natürlich konnte ich nicht mit Gewißheit sagen, ob dem auch so war. Die Einzelheiten des Hofes waren jedenfalls leicht auszumachen. Von der Vorderseite der Messinglilie drang Lärm in die Nacht. Ich huschte auf den Hof und wandte mich Fonnells Schlupfloch und dem Fässerstapel zu. Alle waren mit gelben Kreidezeichen gekennzeichnet. Die Fässer waren anders gestapelt, als ich es in Erinnerung hatte. Falls das Schwert entdeckt worden war ... Ich suchte eilig nach dem gelben Kreidezeichen, das den achten Monat der Dame mit dem Schleier darstellte. Es gab viele Markierungen zu sehen, und etliche waren halb verwischt und vom Regen abgewaschen. Einige Zeichen waren über alte darübergezeichnet
worden. Meine Suche blieb sowohl bei der ersten wie auch bei der zweiten Reihe erfolglos. Die beiden oberen Reihen standen schief nach vorn geneigt wie eine überhängende Hauswand. Es blieb mir nichts anderes übrig, als nach oben zu klettern. »Ich kann es nicht finden«, flüsterte Naghan neben mir. »Hilf mir hoch.« Mit Naghans kräftiger Hand unter dem Schuh stemmte ich mich in die Höhe. Ich packte den Deckel des obersten Fasses und zog mich mit den vorsichtig schlängelnden Bewegungen eines Aals ganz rauf. In dieser Stellung verharrte ich einen Augenblick lang und sandte ein Stoßgebet zu Opaz, daß der Lärm, den ich gerade gemacht hatte, von dem ausgelassenen Treiben in der Schenke übertönt werden würde. Die gelben Kreidemarkierungen schwankten vor meinen Augen wie ausgelassene Sarabande in einem heidnischen Tempel. Ich blinzelte den Schweiß aus den Augen, schaute genauer hin – und da war es, so schlicht wie eine Lanzenstange, das Zeichen des achten Umlaufs der Dame der Schleier. Der Deckel des leeren Fasses war leicht anzuheben, und ich griff tastend ins Innere. Im nächsten Augenblick brach der ganze Stapel mit einem höllischen Getöse zusammen und donnerte wie eine Lawine zu Boden. Die Fässer rollten über den ganzen Hof. Ich
stürzte in die Tiefe wie ein Skispringer bei einem mißratenen Salto. Der Aufprall trieb mir die Luft auf den Lungen, und ich blieb keuchend wie ein gestrandeter Fisch dort liegen. Die Fässer landeten noch immer polternd am Boden und rollten knirschend über den Hof. »Da soll doch Krug dreinschlagen!« rief Naghan, als er von einem Faß von den Füßen gerissen und durch die Luft geschleudert wurde. Ich wollte mich aufsetzen und wurde von einem dämonischen Ungeheuer, das von der noch stehenden hinteren oberen Reihe stürzte, wieder zu Boden geschickt. So mußte es sein, wenn man sich dem Kavallerieangriff eines Vove-Regiments in den Weg stellte. Keuchend setzte ich mich erneut auf und starrte entsetzt die rollende Verwüstung an, die auf dem Hof stattfand. Der Trommelschlag eines ganzes Bataillons hätte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen können. Die Hintertür der Schenke flog auf, und im Schein der Lampen stürmten bewaffnete Männer nach draußen. »Bei dem leprösen linken Ohr und dem widerwärtig verfaulten rechten Nasenloch Makki-Grodnos!« brüllte ich und sprang auf die Beine. »Wie kann man ein leises, geheimes, ruchloses Unternehmen auf diese Weise durchführen!«
17 Trotzdem konnte man sich ein Lachen nicht verkneifen, bei Krun! Ein Faß kreiselte um seine Achse wie ein wirbelnder Derwisch. Ein Bursche aus der Schenke gab einen Schuß darauf ab, und der Bolzen prallte von den rotierenden Dauben ab und surrte in die Nacht. Auf dem Hinterhof der Messinglilie herrschte das nackte Chaos. So schreiend komisch das ganze Bild auch war, die Zeit wurde unerbittlich knapp, Sandkorn für Sandkorn. Wo in einer Herrelldrinischen Hölle war dieses von Djan verlassene Schwert? Die Männer aus der Schenke waren zweifellos davon überzeugt, daß eine rivalisierende Bande diese Nacht zu einem Überraschungsangriff auf die Messinglilie ausgesucht hatte. Sie stürmten auf den Hof und schossen auf alles, das sich bewegte. Pfeile und Armbrustbolzen bohrten sich in die Fässer oder flogen als Querschläger in die Nacht. Es wurden Befehle gebrüllt und sofort widerrufen, während sie versuchten festzustellen, was hier eigentlich genau passierte. Da vollführte ein Faß seine letzte Drehung und kam neben mir zu stehen, und ich stieß einen Freudenschrei aus und dankte Opaz in seiner Güte. Dort
funkelte das gelbe Kreidezeichen, das ich gesucht hatte, und zwar so deutlich wie die Nase im Gesicht. Ich stürzte mich darauf. Das zweifach verdammte Faß war leer! »Oh, bei der Heiligen Dame von Belschutz!« stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du und Makki-Grodno, ihr seid wie füreinander geschaffen!« Nun hatten sich Naghans Männer während der ganzen Aufregung außerordentlich geduldig verhalten. Sicher, sie hatten am Tor zum Hof gestanden und Wache gehalten. Und ja, sie waren bezahlte Helfer. Doch man darf dabei nicht vergessen, daß sie für eine Aufgabe nach ihrem Geschmack gutes Gold bekamen, und als nun auf sie geschossen wurde, ärgerten sie sich darüber. Sie schossen zurück. Der Erfolg trat sofort ein. Die Männer aus der Messinglilie konnten in dem flackernden Mondlicht, das immer wieder von vorbeitreibenden Wolken verschluckt wurde, nicht viel sehen und stießen überraschte Schreie aus. Sie drehten sich auf dem Absatz um und eilten in die Schenke zurück. Soviel zu ihrem tapferen Vorstoß gegen den Feind! Ich suchte in der Zwischenzeit nach dem verdammten Schwert, und ich kann Ihnen sagen, meine Laune war auf dem Tiefpunkt. Da versucht man, etwas Gutes zu tun, will das Versprechen erfüllen, das
man einem Sterbenden gegeben hat, und was bringt einem das ein? Einen teuflischen Schlamassel wie den hier! Ich trat Fässer aus dem Weg und rollte sie auf die Schenke zu, doch nicht, bevor ich in sie hineingeschaut hatte wie ein Bettler, der im Küchenabfall nach etwas Eßbarem sucht. Ein mattes Funkeln in der Dunkelheit, eine kleine Kraftanstrengung – und da lag es. Das verflixte Schwert fing einen Strahl Mondlicht ein und schien mir frech zuzublinzen und sich über meine Sorgen lustig zu machen. Ich schnappte es mir und brüllte: »Alle Mann Rückzug! Wenda!« Wir stolperten hastig aus dem Hof und liefen durch die Gasse. Die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln hatte ein Einsehen und gestattete den vorbeitreibenden Wolken, ihr rosiges Licht zu verhüllen. Wir hasteten durch die stinkende Dunkelheit. Naghan das Faß, so listig wie immer, rief leise: »Hier entlang!« und führte uns in eine schmale Gasse, die noch dunkler und abstoßender als die vorherige war. Die Seitenstraße führte zur nächsten Abzweigung. Naghans Orientierungssinn ließ ihn nicht im Stich, und obwohl ich hier fremd war, spürte ich dennoch, daß wir uns in die richtige Richtung bewegten. Wir eilten weiter. Naghan riß die Hand hoch und blieb
ruckartig stehen, und wir stießen alle gegeneinander, bis der letzte zum Halt gekommen war. Voraus befand sich eine breite Straße, die von Lampen erhellt wurde. Das unheilverkündende Getrampel eisenbeschlagener Stiefel hallte durch die Nachtluft. Es war nicht nötig, daß Naghan oder sonst jemand ›Shastum! Ruhe!‹ befahl. Wir warteten wie ängstliche Mäuse, unterdrückten unser Atmen; unsere Augen glänzten matt wie schlecht gewordene Eier, während wir die Waffen in schmutzigen Fäusten hielten. Die Wache marschierte vorbei. Der Kataki-Hikdar, der sie anführte, war natürlich nicht Trako Eisenbauch; zweifellos stammte er aus ähnlich schlechter Familie und war fast genauso schlimm. Obwohl es uns allen in den Fingern juckte, diese Schurken, die durch einen bösen Streich des Schicksals hier das Gesetz verkörperten, in Grund und Boden zu prügeln, verhielten wir uns alle still. Wir ließen der Wache genug Zeit, um ein ganzes Stück weiterzumarschieren. Marschieren! Ha! Sie stolperten ohne Ordnung vor sich hin, alles ehrlose Masichieri! »Sie sind verschwunden«, flüsterte Nath die Nase. »Aye«, grollte Naghan. »Ich hoffe, in Cottmers Höhlen.« Danach fiel es uns leicht, die düsteren Gräben hin-
ter uns zu lassen. Wir kamen zu dem Abhang und stiegen den Hügel hinauf, wo wir bald bessere Luft atmen konnten. »Hier kann doch jeder raufsteigen«, sagte ich zu Naghan. »Machen sich die Leute auf den Hügeln keine Sorgen? Werden keine Wachen aufgestellt?« »Der Abschaum kann noch oben klettern – doch was soll er dort schon tun? Die Wachen stehen an den strategisch wichtigen Punkten. Man würde ein halbes Dutzend Heere brauchen, um jeden Weg zu bewachen, der aus den Gräben zu den Hügeln führt.« »Außerdem wissen sie, daß in diesem Fall eine Streitmacht in die Tiefe steigen und Vergeltung üben wird. Das wäre kein schöner Anblick«, fügte Liftu hinzu. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. Und bei Krun, das konnte ich tatsächlich. Nalgre der Ron, der trotz seiner Schrammen und blauer Flecken darauf bestanden hatte, uns zu begleiten, bildete die Nachhut. Er hielt genau Ausschau und konnte zu unserer Erleichterung berichten, daß uns niemand folgte. Wir kehrten in das unauffällige Haus zurück, wo wir uns als erstes nach Lingurds Zustand erkundigten. Mutter Ivy sagte uns, daß er in einen tiefen Schlaf gefallen war. Niemand stellte weitere Fragen. Kregen ist schließlich Kregen, und die ärztliche Kunst
schließt sehr oft magische Elemente mit ein. Wir versammelten uns alle im Nebenzimmer, um etwas zu trinken. Obwohl unsere Abenteuer unten in der Messinglilie scheinbar eine ganze Ewigkeit gedauert hatten, war in Wirklichkeit nur wenig Zeit vergangen, und die Nacht war noch jung. Es wurde Zeit, mich endlich von dem Schwert und meiner Verpflichtung Strom Korden gegenüber zu entledigen. Ich verabschiedete mich, wie es sich gehörte, und bedankte mich noch einmal, dann teilte ich Naghan Raerdu mit, daß man mich in Prinzessin Nandishas Palast erreichen konnte. Danach brach ich zum Palast des Hyr Kov Brannomar auf. Naghan wollte natürlich nichts davon hören, daß ich allein durch die nächtlichen Straßen Oxoniums ging, obwohl die Wache des Kovs durchaus für Sicherheit sorgte. Also begleitete mich eine kleine Gruppe bis zum Großen Hügel, und die ganze Fahrt über unterhielten sie sich leise über die, wie sie fanden, Dummheit, den Palast des Hyr Kovs mutwillig zu betreten. Ich bedankte mich noch einmal bei ihnen und versprach, sie später zu besuchen. Dann ging ich zum Palast. Brannomar führte ein strenges Regiment. Unter dem ersten Säulengang wurde ich von den Wachen angehalten. Sie waren zwar sehr höflich, doch ihre
Armbrüste blieben ungerührt auf meinen Magen gerichtet. Ihre Schwerter schienen brauchbar zu sein; sie waren so scharf und widerstandsfähig, wie es die Qualität des Stahls erlaubte. »Der Herr hält gerade eine Zusammenkunft ab«, sagte der Deldar scharf und steif. Seine Uniform war makellos, und seine Rangabzeichen funkelten im Licht der Lampen. Er war ein Pachak, und das gelbe Haar unter dem Helm war sauber gestutzt. »Dann überbring dem Hyr Kov bitte eine Nachricht. Sag ihm, daß Drajak der Schnelle das hat, was er ...« »Du bist Drajak der Schnelle?« »Aye.« Sofort war alles anders. Die Wachen nahmen mich in die Mitte, und ein Hikdar erschien, der sich den Mund mit einer gelben Serviette abwischte. Dann marschierten wir in den Hof. Offensichtlich hatte man mich erwartet. Eine Anzahl von Kutschen stand hier, und die Diener und Kutscher warteten auf ihre Herrn. Wir schritten durch diverse Korridore, bis wir den Teil des Palastes erreichten, den ich von meinem früheren Besuch her kannte. Dort wurde ich bereits von der durch einen Läufer alarmierten Hauswache erwartet, und es ging weiter. Dabei ruhte meine linke Hand am Griff von Kordens Schwert, das in der Scheide steckte, die Naghan mir
gegeben hatte. Diese Klinge hatte mich eine Menge Schweiß und Schwierigkeiten – von Schmerzen ganz zu schweigen – gekostet, und der Gedanke, es im letzten Augenblick eventuell doch noch zu verlieren, wäre unerträglich. Ohne Verzögerung brachte man mich zu der Zusammenkunft. Flügeltüren wurden aufgestoßen, und die Wachen führten mich in einen freundlichen Raum, der offensichtlich der Entspannung diente. Er war mit Stühlen, kleinen Tischchen und Sofas möbliert. Auf den Tischen standen Getränke und andere Erfrischungen. Den Gesichtern der Anwesenden war zu entnehmen, daß es sich hierbei um alles andere als eine amüsante Abendgesellschaft handelte. Ich musterte sie der Reihe nach, während Brannomar vortrat und die Hand ausstreckte. »Hast du es?« »Aye, Notor.« Ich zog die heißbegehrte Klinge aus der Scheide, ließ sie geschickt herumkreiseln, daß sie auf meinem Arm zu liegen kam, und hielt ihm den Griff entgegen. Er nahm sie andächtig in die Hand wie ein eifriger Verehrer Kurins und stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich danke dir.« Wie ich bereits gesagt habe: er war ein höflicher Adeliger, bei Zair! Die anderen Anwesenden standen da wie Wachsfiguren, völlig gefesselt von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Nandisha und Ranaj runzelten verblüfft die Stirn. Der temperamentvolle junge Bursche,
den ich in Cymbaros Tempel kennengelernt und mit dem ich mich darüber gestritten hatte, wer als erster durch die Tür gehen sollte, schien genau wie die neben ihm sitzende blasse Frau von meinem Auftritt mit dem Schwert überrascht zu sein. Khonstanton war da ganz anders. Er blickte mich mit zusammengekniffenen Augen finster an. Der junge Mann, der in offenkundiger Gereiztheit neben ihm stand, hätte beinahe einen Schritt nach vorn gemacht. Doch er blieb stehen und verharrte wie die anderen. Beim Anblick Khonstantons verspürte ich den Drang, eine passende Bemerkung zu machen, doch gesunder Menschenverstand hielt meine Lippen versiegelt. Ich wünschte ihm schlechtes Cess – er hatte das kostbare Schwert nicht bekommen! Lord Jazipur starrte erst Brannomar und dann das Schwert an, und ihm stand deutlich das Verlangen ins Gesicht geschrieben, das Schwert an sich zu reißen. Brannomar drehte sich um und ging zu einem Tisch; er hielt das Schwert in der linken Hand. Mit der Rechten zog er ein Messer. Nun würde ich endlich erfahren, was Strom Kordens letzte Worte zu bedeuten hatten. Die Atmosphäre in dem Raum vibrierte förmlich vor Anspannung. Man konnte sie schmecken. Mein Auftritt hatte offenbar einen erbitterten Streit unter-
brochen. In diesen Leuten brodelten Leidenschaften, die jeden Augenblick unkontrolliert auszubrechen drohten. Nandishas Verblüffung über mein Erscheinen und Brannomars Reaktion war mit einem Anflug damenhafter Verbitterung gefärbt. Was hat dieser Mann Drajak hier zu suchen? Dieser Gedanke war deutlich ihrem verkniffenen Gesicht abzulesen. Das möchte ich selbst gern herausfinden, meine Dame, dachte ich unfreundlich. Bis auf den Numim Ranaj befanden sich nur Apim in dem Raum. Der jung aussehende Mann, der unruhig neben Khonstanton stand, trug einen schwarzen Shamlak mit einer Doppelreihe vergoldeter Schnüre. Sein wieselähnliches Gesicht wurde von einem abstoßenden Stirnrunzeln verunstaltet, und ich wurde den Eindruck nicht los, daß es sich hierbei um eine ständige Entstellung handelte. Nun war es mit seiner Selbstkontrolle zu Ende, und er eilte auf Brannomar zu. Wenn sich dieses Würstchen mit Hyr Kov Brannomar anlegen wollte, dann war er ein genauso großer Narr, wie er ein unangenehmer Mensch zu sein schien. Doch man kann eine Zorca nicht immer nach der Länge ihres Horns beurteilen, und ich konnte mit meiner Einschätzung dwaburweit danebenliegen. Allein die Tatsache, daß diese hochrangigen Adeligen mitten in der Nacht hier zusammengekommen waren, war ein deutliches Zeichen, daß es sich um ei-
ne Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit handelte. Als Brannomar sich mit dem Messer an dem Schwert zu schaffen machte und ihn jeder dabei anstarrte wie ein blutgieriger Piranha, zog ich mich leise zurück, bis ich mit dem Rücken an der mit einem Gobelin geschmückten Wand stand. Die Anwesenden verfolgten jede Bewegung des Hyr Kovs mit einer solchen Konzentration, daß sie mich, einen bezahlten Paktun, der seine Pflicht erfüllt hatte, ganz einfach aus den Gedanken strichen. Wer waren eigentlich die Leute, die ich nicht kannte? Der junge Mann, der mit mir Schulter an Schulter in Cymbaros Tempel gekämpft hatte, hatte mir einen überraschten Blick zugeworfen und sich dann wieder auf Brannomar und das Schwert konzentriert. Bei der blassen Frau mußte es sich um seine Mutter handeln, denn die Familienähnlichkeit war verblüffend. Und der andere unangenehm aussehende Wichtigtuer? Vermutlich waren das die anderen Prinzen, die meinen Informationen nach für die Thronfolge in Frage kamen. Also mußte der eine Ortyg und der andere Tom sein. Aber wer war wer? Das Wieselgesicht zögerte, als es den Tisch erreicht hatte. Offensichtlich war ihm der verspätete Gedanke gekommen, daß Brannomar kein Mann war, den man
drängen konnte. Nun kamen auch die anderen heran. Die Hauptbeteiligten rückten etwas näher, und ihre Diener oder Helfer sahen ihnen über die Schultern. Mein junger Freund aus dem Tempel half seiner Mutter beim Aufstehen und hielt einen ehrerbietigen Abstand zu ihr ein. Das Wieselgesicht schwitzte vor Erwartung. Wie bereits gesagt, sollte man ein Schwert nicht nach seinen Verzierungen bewerten; die Unterschiede traten hier mit schmerzlicher Deutlichkeit zutage. Brannomar fuhr mit der Messerspitze um den Schwertgriff direkt unterhalb des Knaufes. Wie Naghan und ich bereits vermutet hatten, war der Gegenstand, der diese Edelleute in so heftige Aufregung versetzte, mit aller Wahrscheinlichkeit in dem hohlen Griff verborgen. Das Messer durchtrennte die Lederbänder. Brannomar schnitt mit Sorgfalt und Präzision, und seine Hände zitterten dabei nicht im geringsten. Mein Eindruck, daß es sich bei dem Kov trotz seines weißen Haares um einen harten Burschen handelte, wuchs von Minute zu Minute. Der Knauf löste sich, fiel zu Boden und blieb irgendwo am Boden zwischen den sich zusammendrängenden Füßen stecken. Brannomar drehte das Schwert um und schüttelte es. Ein Stück Blei fiel heraus. »Ah!« rief Lord Jazipur aus. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.«
Der junge Bursche, gegen den ich eine sofortige, und wie ich zugeben muß, fast irrationale Abneigung gefaßt hatte, drängte sich näher heran. Dabei stieß er gegen Khonstanton. Mak Khon zuckte zusammen. Sein Gesicht war zorngerötet. »Paß auf, Ortyg!« »Du hast doch gar keine Chance, Kov!« fauchte Prinz Ortyg zurück. »Du solltest derjenige sein, der achtgibt!« »Wir werden sehen, was uns Tolaar beschert, Prinz. Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.« »Und du solltest lieber daran denken, welches Schicksal alle Verräter erwartet!« Allein Opaz weiß, wie sich die Situation hätte entwickeln können. Brannomar schüttelte das Schwert. Jeder erwartete, daß etwas aus dem Griff rutschte, und ich vermutete, daß Khonstanton und Prinz Ortyg schon seit einiger Zeit gewußt hatten, worum es sich bei diesem Gegenstand handelte. Nandisha und der andere junge Prinz, bei dem es sich nur um Tom handeln konnte, hatten es erst kürzlich erfahren – vermutlich zu Beginn dieser nächtlichen Zusammenkunft. Brannomar schüttelte das Schwert. Er schüttelte es mit aller Kraft. Vergeblich. Die Narbe auf seiner linken Wange hob sich weiß von der gebräunten Haut ab.
»Nun, Kov?« fragte Khon der Mak. Sein dichtes, blauschwarzes Haar bot einen auffallenden Kontrast zu dem blassen, entschlossenen und gebieterischen Gesicht. Gewöhnliche Sterbliche dürfen nicht vergessen, daß es sich bei den in diesem Raum versammelten Leuten um hochrangige Adelige handelte, die allesamt über aufbrausende Charaktere verfügten und sofort mit Ungeduld reagierten, wenn nicht jeder noch so kleine Wunsch unverzüglich erfüllt wurde. Sie waren es gewohnt, ihren Willen zu bekommen. Und das traf für sie alle zu, ohne jede Ausnahme, wie ich durch frühere, unschöne Erfahrungen auf Kregen wußte. »Laß mich mal ran«, stieß Ortyg hervor. Er griff nach dem Schwert. Ich verzichtete auf ein bedauerndes, leises Seufzen, obwohl es mir durchaus zugestanden hätte. Das Ganze erinnerte an den Kampf eines bösartigen Leems gegen ein Zhantil. »Ich bin durchaus in der Lage, das zu schaffen, vielen Dank, Prinz Ortyg«, sagte Brannomar leise. »Übertreib es nicht, Junge.« Ortygs Gesicht und seine Erregung verrieten den auf Ruhm ausgerichteten Ehrgeiz, der ihn innerlich verzehrte. Doch er hatte genug Verstand, in diesem Moment den Mund zu halten.
»Diese von Dokerty unterwanderten Priester von Cymbaro«, wütete Khonstanton. »Sie haben uns hintergangen!« »Im Gegenteil«, meldete sich Prinz Tom ruhig zu Wort; er hatte seine Gefühle fest unter Kontrolle. »Sie sind absolut vertrauenswürdig.« »Wie du uns erzählt hast«, sagte Nandisha, »war der König derselben Meinung.« »Der König war im Alter von zweihundertundfünfzig Perioden der Senilität verfallen!« fauchte Ortyg. Brannomar würdigte ihn mit keiner Antwort, doch Khon der Mak benutzte die Gelegenheit, um Ortyg seine Anmaßung heimzuzahlen. »Der König lag halb im Sterben, als er diese dumme und sinnlose Scharade inszeniert hat. Doch dich hätte er noch immer vor dem Frühstück verschlingen und wieder ausspucken können!« Das Gesicht des jungen Ortyg erinnerte an jene kleinen sich windenden Viecher, die in den Augenhöhlen der im Mausoleum von Trannimora aufgestapelten Totenschädel herumkriechen. Gab es denn trotz seines Erscheinungsbildes und seiner Art nicht wenigstens einen kleinen Funken Würde und Anstand in seinem Inneren? Hatte er von seinen Ahnen denn rein gar nichts geerbt? Oder war das nur Wunschdenken meinerseits? Da stand er, ein junger
und ehrgeiziger Prinz, der offen sein Verlangen zeigte, zum rechtmäßigen Nachfolger des Königs ernannt zu werden, und alle seine Standesgenossen stutzten ihn zurecht. Jeder temperamentvolle junge Mensch verabscheut die hochnäsige Einstellung seniler alter Männer, die alles zu wissen glauben und ihm oder ihr sagen, was sie zu tun oder zu denken haben. O ja, ich konnte ihn verstehen, obwohl ich ihm gegenüber eine tiefe Abneigung verspürte, die, wie ich zugeben muß, meiner nicht würdig war. Man mußte sie sich doch nur einmal ansehen, wie sie hier zu einem nächtlichen Geheimtreffen zusammengekommen waren! Mir kamen sie wie vier Spinnen vor, die ein Netz aus Täuschung und Verrat webten. Nandisha, die alles nur für ihre Kinder und insbesondere für ihren Sohn tat. Prinz Tom, der die nackte Gier nach der Krone nicht zu teilen schien – zumindest nicht so offensichtlich. Prinz Ortyg, der nach der Macht und all dem verlangte, was damit zusammenhängt. Und Hyr Kov Khonstanton, der entschlossener und tödlicher als die anderen war, der Außenseiter, der dunkle Reiter, derjenige, der sich von niemandem seine Ränke durchkreuzen lassen würde. Auch nicht von Dray Prescot, falls ihm wieder einfiel, daß ich seine Pläne durchkreuzt hatte. Brannomar schüttelte Kordens Schwert erneut.
Dann versuchte er, in den Griff zu schauen. Er wollte mit dem Messer darin herumstochern. Doch die Klinge war zu breit. Sofort erschien ein langer, dünner Dolch in Ortygs Fingern. Im ersten Augenblick war die tödliche Klinge nicht zu sehen gewesen, doch ein Augenblinzeln später war sie da. »Hier«, sagte er knapp. »Versuch es damit.« Brannomar nahm den Dolch, murmelte etwas Unhörbares und stocherte damit im Schwertgriff herum. Er hatte keinen Erfolg. Alle beobachteten ihn mit gebannter Faszination. Ranaj sah zu und strich sich dabei über die goldenen Schnurrbarthaare; er war nur als Gefolgsmann von Prinzessin Nandisha hier, deshalb ging ihn die Angelegenheit noch weniger an als Lord Jazipur oder Toms Mutter. Der hohle Schwertgriff schien tatsächlich leer zu sein. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Raum voller Leichen gewesen, bei Krun! Die Habsucht und der gegenseitige Haß, der diese Leute antrieb, waren fast greifbar. Das erstickende Gefühl kaum unterdrückter, gewalttätiger Leidenschaften vergiftete die Atmosphäre. Es ließ einen frösteln, das kann ich Ihnen sagen! Zwar erschienen alle wie kleine Kinder, die über die genaue Verteilung eines Obstkuchens stritten, doch die Macht, die jeder von ihnen hatte, machte sie zu furchterregenden
Gegnern. Keiner von ihnen würde Gnade zeigen, egal an welchen Pantheon sie auch glaubten. Und mochte sich Opaz derjenigen erbarmen, die als erste aus dem Rennen schieden! Brannomar sah auf, und die Enttäuschung auf seinem gebräunten Gesicht verwandelte die Narbe in eine elfenbeinfarbene Schlange. »Es muß da sein, in Strom Kordens Schwert! Es muß da sein!« »Dann laß mich es versuchen«, stieß Khon der Mak hervor. Er streckte die Hand aus, und zu meiner Überraschung gab Brannomar ihm die Klinge. »Ich vermute Verrat.« Hyr Kov Brannomar holte tief Luft. »Wenn wir es nicht vor dem Fest von Beng T'Tolin gefunden haben, werde ich das Abkommen mit Vallia unterschreiben!« Khonstanton, der an dem Schwertgriff herumgefingert hatte, richtete sich ruckartig auf. »Du! Allein der König darf ein Abkommen unterzeichnen, das von solcher Bedeutung für Tolindrins Wohlergehen ist!« »Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt, Kov. Doch wenn kein König da ist, muß ich ...« »Nicht so schnell!« Ortyg trat vor; er zitterte vor unterdrückter Wut. »Ich habe den begründetsten Anspruch, und deshalb sollte ich unterzeichnen!« »Unsinn, Junge«, fauchte Khonstanton, ohne den Rang des Prinzen auch nur im geringsten zu beach-
ten. »Dazu braucht man einen Mann mit Erfahrung, einen Mann wie mich.« Nandisha legte mit weit aufgerissenen Augen einen Finger an den Mund. Prinz Tom sagte gar nichts, sondern beobachtete nur; dabei umspielte ein kleines Lächeln seine Lippen. Bei der Stimmung, die hier herrschte, hätte es mich nicht überrascht, wenn sie alle ihre Schwerter gezückt hätten und aufeinander losgegangen wären. Die Erwähnung des Abkommens mit Vallia faszinierte mich. Also hatte sich mein Sohn Drak doch für Tolindrin entschieden. Als Herrscher von Vallia konnte er den Rat der verschiedenen Pallane und des Presidios einholen. Außerdem hatte er den nicht zu unterschätzenden Vorteil, Silda, die Tochter meines Klingengefährten Seg Segutorios, als Herrscherin von Vallia an der Seite zu haben. Vallia brauchte Flugboote, zuverlässige Voller, die nicht nach kurzer Zeit abstürzten. Die Schweber von Tolindrin mußten das Rennen gemacht haben, und zwar gegen die drei anderen Nationen, die sich hier im Schweberbau hervortaten. Ich hatte viel über die verwickelte politische Situation dieses Landes gelernt. Was hier gesagt worden war, hatte mir die Augen über viele Dinge geöffnet, die sich seit meiner Ankunft in Amintin zugetragen hatten. Noch fehlten ein paar Teile des Puzzles. Doch die
würde ich bald entdecken, da war ich mir sicher, beim kämpferischen Wohlwollens Djans! Wieder wurde das Schwert, das im Mittelpunkt dieser ganzen Angelegenheit stand, kräftig geschüttelt. Doch das im Griff befindliche Geheimfach gab weiterhin nichts preis. »Zwei Tage!« fauchte Khon der Mak. »Bei Slissurs Ibma! Es sind noch zwei Tage bis zum Fest von T'Tolin.« Er wollte noch etwas sagen, doch Brannomar schnitt ihm das Wort ab. »Zwei Tage, in denen wir die Nachfolge regeln können.« Er sah von Khonstanton weg. »Wir werden eine Einigung finden, keine Angst. Bis dahin behalte ich mein Amt und ...« »O nein!« Ortygs schmales Gesicht wurde von dem Ehrgeiz verzerrt, der ihn antrieb. Die Berechnung, die ihn bis jetzt hatte Zurückhaltung üben lassen, war verflogen. Doch bevor er weitersprechen konnte, übertönte Khonstanton ihn. »Zum erstenmal stimme ich mit dem kleinen Wichtigtuer überein. Bis dahin wird nichts geregelt sein, Brannomar. Das müßtest du mittlerweile eigentlich erkannt haben. Ich bin mit meiner Geduld am Ende. Das bedeutet nur eines: Krieg!« Brannomar wirbelte herum und starrte Mak Khon an. »Wie kannst du nur so ein Narr sein ...«
»Krieg!« stieß Ortyg aus seinem verzerrten Mund hervor. Brannomar hob eine Hand. »Und dann noch die schlimmste Art des Krieges. Bürgerkrieg.« »Aye!« Khon der Mak drückte den Rücken durch. »Ein gerechter Krieg, um das Erbe zu erlangen, das rechtmäßig mir gehört!« »Das ist Geschwätz, Kov.« Ortygs Finger tasteten automatisch und deshalb um so verräterischer nach dem Griff des Dolches, bevor ihm wieder einfiel, daß er ihn Brannomar gegeben hatte. »Das Volk verabscheut dich, Khon der Mak. Es schaut zu mir auf, zur Jugend, zur Zukunft ...« »Meine Zwillinge«, sagte Nandisha schwer atmend, »stammen direkt von ...« »Das stimmt nicht!« brüllte Ortyg. »Unsinn!« brüllte Khonstanton. Prinz Tom trat einen Schritt zurück und zuckte hilflos mit den Schultern, zu gleichen Teilen amüsiert und angeekelt. »Ich will damit nichts zu tun haben.« »Dann überlaß dieses Geschäft jenen, die den Mut dafür aufbringen!« Mak Khon schüttelte wild das Schwert. »All deine Intrigen sind gescheitert, Brannomar. Meine Heere stehen bereit. Wir werden in Oxonium einmarschieren ...« »Meine Heere stehen ebenfalls bereit!« brauste Or-
tyg auf. »Wir werden ja sehen, wer schneller marschieren kann ...« »Ihr Narren!« brüllte Brannomar. »Ihr werdet diese Nation vernichten!« Khon der Mak wandte sich Nandisha zu, und zwar in einer Weise, die zugleich überheblich und abstoßend war. Er blickte auf sie nieder und versuchte ein Lächeln auf das starre Gesicht zu zaubern. »Ich habe deine Zwillinge schon seit langer Zeit ins Herz geschlossen, Nan. Schließ dich mir an, und ...« Ortyg stieß ein dröhnendes Lachen aus, das so verächtlich klang wie das Wiehern eines Calsanys. Opaz allein weiß, wie sich die Dinge weiter hätten entwickeln können. Brannomar hob die Hände und brachte die beiden allein durch die Kraft seiner Persönlichkeit zum Schweigen. Er stieß die Worte knirschend aus, so wie die Mühlen von Dahemin das Schicksal der Sterblichen ausstoßen. »Wenn ihr kämpfen müßt, dann nur, weil Tolaar so entschieden hat. Doch eine Sache solltet ihr dabei nicht vergessen. Vallia! Das Abkommen darf nicht in Gefahr gebracht werden. Verschiebt euren verbrecherischen Krieg bis nach dem Fest von T'Tolin.« Die Vernunft in Brannomars Worten drang sogar durch die kochenden Leidenschaften aus Gier, Zorn und Stolz, die in den unbeugsamen Köpfen dieser Adeligen brodelten. Obwohl sie sich nicht von der
Stelle rührten, standen sie sich wie zwei sich lauernd umkreisende Kampfhähne in künstlichen Posen des Hochmuts gegenüber, warteten mit gezückten Schwertern auf die Öffnung in der Deckung des Gegners, die den tödlichen Stoß ermöglichte. »Ja«, sagte Khonstanton schließlich und nickte. »Ja. Ortyg?« Das Wieselgesicht drehte sich herum, und ein Schatten fiel auf die schmalen Gesichtszüge. »Ja. Wir mögen Vallia verfluchen, doch wir brauchen die hochmütigen Shints nun mal. Ja, Khonstanton, bis nach dem Fest von T'Tolin.« Ich kann nicht sagen, ob Khon der Mak ihm nun glaubte oder nicht. Ich weiß nur, daß ich keinem von ihnen so weit vertraut hätte, wie ein Säugling ein Langschwert werfen kann. »Es darf kein Wort nach außen dringen.« Brannomar sprach mit leiser Eindringlichkeit, die einen starken Gegensatz zu den noch eben erfolgten Ausbrüchen darstellte. »Sollte Vallia ...« »Von mir werden sie es nicht erfahren!« fauchte Mak Khon. »Von mir auch nicht. Aber ...« An dieser Stelle wirbelte Ortyg herum, so daß der Schatten sein Gesicht in eine gefleckte Maske verwandelte. Er starrte mich an. »Keiner darf es erfahren.« »Das ist kein Problem.«
Khonstanton zog das Schwert. Nandisha stieß ein ersticktes Keuchen aus. »Nein!« »Der Blintz ist wertlos.« Ortyg hielt das Schwert in der Faust. Prinz Tom hielt sich unübersehbar unentschieden zurück. Egal was er oder Nandisha dachten oder Brannomar für ein Bedauern verspüren mochte, die beiden anderen würde nichts von dem Versuch abhalten, mich zu töten, um den einzigen Zeugen ihres Plans für immer zum Schweigen zu bringen. Ortyg und Khonstanton kamen mit erhobenen Schwertern direkt auf mich zu.
18 Ich stieß die Flügeltür auf und lief, und zwar schneller als der Hase, der vor dem Jagdhund flüchtet. Die beiden Wachen, die vor der Tür gestanden hatten, sahen mir mit weit aufgerissenen Augen nach. Ich stürmte den Korridor entlang, und die wütenden und überraschten Rufe Khonstantons und Ortygs verliehen mir zusätzliche Kraft. Natürlich hätte ich mich ihnen in dem Gemach der Geheimnisse stellen können und ohne jeden Zweifel den Sieg davongetragen. Doch das wäre absolut närrisch gewesen, und diese Art von Dummheit hatte in meinen Plänen nichts zu suchen. Ich lief um die erste Abzweigung, rutschte auf einem Teppich aus, gewann das Gleichgewicht wieder und stürmte weiter. Sobald ich die Gemächer der hohen Herren ein Stück hinter mir gelassen hatte, konnte ich in dem Labyrinth aus Korridoren, Gängen und Sälen untertauchen. Kregens prächtige Paläste sind im allgemeinen von Geheimgängen durchzogen, die ich schon des öfteren bei meinen wilden Unternehmungen auf dieser Welt, die vierhundert Lichtjahre von dem Planeten meiner Geburt entfernt liegt, benutzt hatte. Nun mußte ich das im Verlauf vieler Perioden erwor-
bene Wissen nur noch dazu benutzen, einen geheimen Eingang zu finden. Und zwar verflixt schnell, bei Krun! Der Staatsarchitekt der großen Deren von Vondium hatte mir viel beigebracht, und ich hatte die Kunst gemeistert, die Wand oder den Stützpfeiler zu erspähen, die sich durch besondere Dicke oder merkwürdige Winkel von der Umgebung abhoben. Ein halbes Dutzend Gänge weiter stieß ich auf einen Rapa, der sich auf seine Hellebarde lehnte und eine mit Delphinen verzierte Tür bewachte, die in ein mittelgroßes Gemach führte. Ich schickte den gefiederten Burschen ins Reich der Träume, noch bevor er einen Ton von sich geben konnte. Als ich ihn dann langsam auf den Marmorboden gleiten ließ, erregte die Dicke der Wand, in der die Tür eingelassen worden war, sofort meine Aufmerksamkeit. Diverse Wölbungen in dem mit geschnitzten und vergoldeten Blättern und Früchten verzierten Architrav verdienten nähere Untersuchungen. Es war sinnlos, nach einem durch Gebrauch abgewetzten Knauf zu suchen. Wenn man über einen Geheimgang verfügt und möchte, daß er geheim bleibt, kündigt man seine Existenz nicht an. Nachdem ich eine Zeitlang gezogen, gedreht und gedrückt hatte, gab eine hübsch gerundete Dillope-Frucht, eine saftige Abart der Satsuma, dem Druck meiner Finger nach. Ein lau-
tes Klicken unterblieb; ein verästelter Baumstamm drehte sich zur Seite und enthüllte eine schmale, finstere Öffnung. Ich schlüpfte schnell hinein wie ein Spürhund, der im Fuchsbau verschwindet, und die Täfelung schloß sich hinter mir. Es erwies sich als unnötig, auf die von den Everoinye verbesserte Nachtsicht zurückzugreifen, denn durch die vielen Gucklöcher drangen bleistiftdünne Lichtstrahlen. Ich fühlte mich sofort heimisch. Mittlerweile war es mitten in der Nacht, doch der Palast war so lebendig wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Daran war ich schuld, bei Vox! Nun, ich wünschte ihnen allen böses Cess! Ich wußte, was ich zu tun hatte. Es stellte sich lediglich die Frage, wie ich es schaffen wollte. Hyr Kov Brannomar würde gut bewacht sein. Außerdem gab es da noch ein anderes Problem, eine Angelegenheit, die auf Kregen von äußerster Wichtigkeit ist, bei Krun! Ich brauchte eine Mahlzeit. Und vor allen Dingen etwas zu trinken! Also drängte ich mich lautlos und vorsichtig durch die schmalen Gänge zwischen den Wänden und richtete meine Schritte in die Richtung, in der die Küchen liegen mußten. Als mir die Gerüche verrieten, daß ich mich meinem Ziel näherte, dämmerte es mir, daß es zwar nicht ungewöhnlich war, wenn Tag und Nacht Essen zube-
reitet wurde – zum Beispiel für Diener, Wachen und Sklaven –, diese hektischen Aktivitäten aber nur den Schluß zuließen, daß alle auf den Beinen waren. Aye, die Nachtruhe war vorbei, denn alle suchten nun nach mir! Nachdem ich an ein paar Lagerräumen vorbeigekommen war, entdeckte ich schließlich eine Küche. Ich sage eine Küche, weil es in einem Palast dieser Größenordnung zweifellos mehrere Küchen gab. Eine rundliche, dralle, schwitzende Frau drosch unbarmherzig auf einen dürren Jungen ein, der erbarmungswürdig schrie. Verblüfft blieb ich stehen und schaute zu. Wäre es ein großer Mann gewesen, der ein junges Mädchen verprügelte, hätte es kein Problem gegeben. O ja, ich bin mir durchaus der vielen Widersprüche in der widersprüchlichen Natur dieses Burschen namens Dray Prescot bewußt. Es war durchaus möglich, daß der Junge etwas so Schlimmes angestellt hatte, daß er die Bestrafung, die für das barbarische Kregen nicht ungewöhnlich war, auf jeden Fall verdient hatte. Doch die kräftige Frau mit den schwellenden Muskeln übertrieb es. Der Junge war fast nur Haut und Knochen. Das Nudelholz, mit dem er verprügelt wurde, hätte einen Zhan-Paktun mit einem fünf Fuß langen Pakai zu Boden geschickt. Und da ich nun einmal so bin, wie ich bin, und es Dray Prescot noch nie ge-
schafft hat, seine Nase aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszuhalten, schob ich den Riegel der Geheimtür beiseite und sprang in die Küche. Mein Fuß landete auf etwas Glitschigem, und ich schoß über den Boden, wobei ich verzweifelt wie ein verrückt gewordener Orang-Utan mit den Armen ruderte. Der hilflose Griff nach dem Tisch hatte nur zur Folge, daß ich ihn umstürzte und eine Reihe von Töpfen und Pfannen kaskadenartig zu Boden schepperten. »Herr im Himmel!« rief die Frau. Sie benutzte natürlich den entsprechenden kregischen Ausdruck; der Sinn war der gleiche. Da war ich aber schon bis zu ihr hin geschlittert und hatte die Arme um ihre massive Gestalt geschlungen, um nicht hinzufallen. Sie ließ den Jungen los. Das Nudelholz nicht. Der Junge stieß noch einen letzten Schrei aus und stürmte wie vom Teufel gehetzt los. Das Nudelholz sauste herunter und riß mir fast das Ohr ab. Ich brüllte lautstark auf – der Schlag mit dem verflixten Nudelholz hatte weh getan! – und stieß die Frau zur Seite. Dabei ging sie zu Boden und riß mich mit. »Mörder!« schrie sie. »Hilfe! Wachen! Zur Hilfe!« Der Junge war mittlerweile weit weg. Hier blieb nichts mehr für mich zu tun außer den verzweifelten Schlägen mit dem Nudelholz auszuweichen. Irgendwie gelang es mir, auf die Füße zu kommen,
obwohl ich mich in einer fettigen und stinkenden Schürze und einem voluminösen Unterrock verfangen hatte. »Verschwinde! Verschwinde! Mörder! Zu Hilfe!« Ich, Dray Prescot, Herrscher, König, Prinz, Lord von diesem und jenem, ergriff die Flucht. Nun bin ich ja bloß ein Apim, ein Homo Sapiens Sapiens, mit zwei Armen und Händen. Unter diesen Umständen hätte mein Kamerad, der Kregoinye Fweygo, ein Kildoi, viel mehr erreicht. Als ich wieder in den Schutz des Geheimgangs hinter der Küchenwand eintauchte, hielt ich lediglich einen dicken Schinken in der einen und eine Flasche in der anderen Hand. Die Wandtäfelung fiel hinter mir ins Schloß, nachdem ich der Geheimtür mit dem Hinterteil einen Stoß gegeben hatte. Ich blieb nicht stehen. Die Gänge waren allesamt staubig, überall gab es Spinnennetze, und in jedem Winkel lagen ausgetrocknete Insekten. Vielleicht hatte Brannomar für Geheimgänge keine Verwendung. Ich schon. Als ich mich ein ordentliches Stück von dem Debakel in der Küche entfernt hatte, ließ ich mich zu Boden sinken, lehnte den Rücken bequem an die Wand und widmete mich dem Proviant. Was für eine Nacht! Zuerst waren es rollende Fässer gewesen, dann Nudelhölzer. Was kam wohl als nächstes dran?
Der Schinken war gut, der Wein verwässert. Nach einer gewissen Zeit stand ich auf und machte mich wieder auf den Weg. Diesmal nahm ich die Gänge, die aufwärts führten. Es ist überflüssig, all die Gänge und Spalten näher zu beschreiben, auf die ich im Verlauf meiner Suche stieß. Es reicht, wenn ich sage, daß ich gegen Morgengrauen mein Ziel endlich erreicht hatte. Verhalten atmend spähte ich durch den Spalt in der Mauer in Kov Brannomars persönliches Gemach. Der Raum war wie ein Arbeitszimmer möbliert; es gab wohlgefüllte Bücherregale, einen Schreibtisch, einen bequemen Sessel, ein Sofa und einen Tisch, an dem Brannomar gerade saß. Das andere Ende des Tisches war von meinem Blickpunkt aus nicht zu sehen; das war das einzige Guckloch. Ich blieb reglos stehen und lauschte. Brannomar sprach in einem entschiedenen, unnachsichtigen und fast bedrohlichen Ton. »... für deine Dummheit verdienst du, am Schwanz eines Calsanys einmal um den Palast geschleift zu werden. Ist dir überhaupt klar, welchen Schaden du angerichtet hast?« Eine Frauenstimme antwortete. Als sie sprach, trat sie in mein Blickfeld. »Für meine Kinder, Kov! Nur ihretwegen – bitte, du mußt mir glauben!« »Das kann ich nicht.«
Sie trug ein fließendes dunkelblaues Gewand, das mit viel Goldspitze besetzt war. Ihr gescheites Gesicht, das so sehr an einen Falken erinnerte, drückte nun abgrundtiefe Verzweiflung aus. Sie bettelte um ihr Leben. Ihre Hände verkrallten sich in den Spitzenbesatz über ihrer Brust, und das Haar fiel ihr wirr über die Schultern. »Bitte, Notor, ich habe euch doch nicht schaden wollen! Ich schwöre es!« »Von mir aus kannst du bei allen Göttern schwören, die es gibt, Lady Vita, dieses ganze Unheil ist trotzdem deine Schuld. Das Königreich wird untergehen. Bei Beng T'Tolin, Frau, deine selbstsüchtigen Intrigen haben einen Krieg verursacht!« »Aber ich wollte doch nicht, daß ...« »Ich weiß, was du gewollt hast, Vita. Lord Jazipur war gut genug für dich, als du ihn geheiratet hast. Er ist ein anständiger, aufrechter Mann ...« »Ja!« sagte sie aufbrausend. »Er ist so aufrecht, daß er jeden Ehrgeiz verloren hat!« »Er dient mir und meinem Kovnat, und dadurch dem Königreich. Er versteht, was seine Position bedeutet. Ich schätze ihn als Freund. Aber du ...« »Ich habe nicht gewußt, daß sie so schreckliche Dinge tun würden!« »Hättest du deinen Mann um Rat gefragt, hättest du auch die Realitäten der Politik besser verstanden.
So wie es aussieht, haben deine vom Ehrgeiz getriebenen Einmischungen den Punkt überschritten, an dem noch etwas rückgängig zu machen wäre. Die Würfel sind gefallen. Es wird Krieg geben, Frau! Einen Krieg, den du verursacht hast!« Sie wich zurück, da sie anscheinend endlich das Ausmaß ihres Verrates begriffen hatte. Ich hatte sie in Khonstantons Palast gesehen. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, was sie dort getan hatte. Jeder Frau steht ein gesunder Ehrgeiz zu, und sie hat auch das Recht, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen. Der Ehrgeiz der Frauen hat schon Schicksale vollendet, Reiche begründet und gestürzt. Bei der Geburt haben Männer und Frauen nur die Rechte, die ihnen Abstammung und Zivilisation verleihen. Mißbrauch führt zur Tragödie. Die arme Lady Vita hatte ihren Ehrgeiz übertrieben, und er hatte sie nun zu Fall gebracht. Die beiden machten auf diese Weise noch eine Zeitlang weiter, Anschuldigungen und leidenschaftliche Verteidigungsreden wechselten einander ab, und vieles ergab einen Sinn. Um ehrlich zu sein, verlor ich langsam die Geduld mit ihnen. Brannomar stritt sich doch tatsächlich mit der Frau. So etwas hätte ich nie von ihm gedacht. Aus dem Gesagten entnahm ich, daß Lady Vita einst die Absicht gehabt hatte, Hyr Kov Brannomar zu heira-
ten. Er hatte sie abgewiesen. Ihr erster Mann war gestorben; aus der Verbindung entstammten zwei Kinder. Es stellte sich natürlich die Frage, ob Vita beim Tod ihres Mannes nicht nachgeholfen hatte. Wie dem auch sei, sie hatte dann Jazipur geheiratet, Brannomars geschätzte rechte Hand. Jazipur besaß uneingeschränkt Brannomars Vertrauen, und soweit ich es beurteilen konnte, war dieses Vertrauen auch immer gerechtfertigt gewesen – bis auf das eine Mal, bei dem Jazipur geheiratet hatte. Schließlich stand der Kov auf. Er stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und blieb so stehen, während er finster auf Lady Vita herabschaute. »Ich werde die Entscheidung über dein Schicksal noch hinausschieben. Ich muß zuerst mit Lord Jazipur sprechen. Zu deinem verbrecherischen Verrat kommt noch der Schmerz hinzu, den du einem guten und rechtschaffenen Mann zugefügt hast. Wachen!« Sie kamen in ihren Rüstungen herein und brachten Lady Vita fort. Zu ihrer Ehrenrettung muß gesagt werden, daß sie zu diesem Zeitpunkt mit dem Schluchzen aufgehört hatte. Sie ging mit erhobenem Haupt, von bewaffneten Wachen umringt. Und zu meinem Leidwesen schloß sich Brannomar ihnen an. Ich blieb wütend in meinem Versteck hocken.
Es stellte sich folgendes Problem – würden die Herren der Sterne all diese Intrigen als einen berechtigten Teil des Auftrages anerkennen, den sie Fweygo und mir zugeteilt hatten? Falls sie es nicht taten, konnte ich mich schon einmal darauf gefaßt machen, vierhundert Lichtjahre zur Erde zurückgeschleudert zu werden und dort so lange zu bleiben, bis sie sich meiner erbarmten oder mich wieder dringend brauchten. Ich durchdachte die Möglichkeiten, die ich hatte. Schließlich kam ich zu dem Schluß, daß es am besten war, hier zu verweilen, bis Brannomar zurückkam. Er würde sicher in diesem komfortablen Gemach allein an seinen Staatspapieren arbeiten, und da nun ein Krieg unmittelbar bevorstand, würde eine Menge Arbeit auf ihn warten. Ich blieb also dort. Da ich auch nur ein fehlbarer Mensch bin, grübelte ich ununterbrochen über die Richtigkeit dieser Entscheidung nach und fragte mich, ob ich nicht einen schrecklichen Fehler beging. Ich machte eine unvorsichtige Bewegung, und mein Kopf wurde von einer gewaltigen Wolke aus Staub und Spinnweben eingehüllt. Der klebrige Staub stieg mir sofort in die Nase. Ich spürte, wie Vater und Mutter eines ungeheueren Niesens die Herrschaft über meinen Körper übernahmen. Also krabbelte ich wie eine einfältige Krabbe auf allen
vieren durch den dunklen Gang und ließ ein mächtiges Niesen los! Meine Augen tränten! Ich nieste noch einmal. Ich nieste ein halbes Dutzend Mal und wischte mir dann über Augen und Nase. Jetzt fühlte ich mich besser und ging vorsichtig zu meinem Guckloch zurück. Brannomar drehte sich gerade um, als ich einen Blick riskierte. Er ließ sich nicht anmerken, ob er das ohrenbetäubend laute Niesen gehört hatte, und in meinem aufgewühlten Bewußtseinszustand begriff ich gar nicht, was er da gerade machte. Ich griff nach dem Riegel und zog kräftig. Die Geheimtür öffnete sich, und ich stolperte ins Gemach. Er war schnell. O ja, Hyr Kov Brannomar war kein Versager, was den Schwertkampf anging. Der Braxter fuhr aus der Scheide, und die Spitze glitt auf mich zu. Ich wollte etwas sagen, so in der Art von: ›Schon gut, Kov. Beruhige dich‹. Doch ich hatte den Mund noch nicht richtig geöffnet, als sich mein Körper verkrampfte. Meine Fußsohlen brannten, meine Glieder zitterten, und mit der Urgewalt eines ausbrechenden Vulkans bahnte sich ein weiteres Niesen seinen Weg. Ich durchnäßte alles in der unmittelbaren Umgebung. Tränen behinderten meine Sicht. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Blick zu bekommen. Als ich mich endlich soweit unter Kontrolle hatte, um den Kov erneut anzusprechen, stieß jemand,
der sich in dem Teil des Raumes aufhielt, der sich meiner Sicht entzogen hatte, ein erstauntes Keuchen aus. Ich wirbelte herum. Der Mann, der in das Gemach geleitet worden war – die Tür schloß sich gerade hinter ihm –, trug robuste lederfarbene Kleidung. Ich erkannte die Jacke mit den breiten Schultern, die Kniebundhose und die hochschäftigen schwarzen Stiefel sofort. In der Hand hielt er den breitkrempigen Hut mit den beiden Schlitzen an der Vorderseite und der kecken rotgelben Feder. Ich kannte den Mann. Er starrte mich ungläubig an. Doch er war mit meinen Ansichten gut genug vertraut, um nicht sofort in eine sklavische, tiefe Verbeugung zu verfallen. Diese unwürdige Ehrerbietung hatte ich sofort abgeschafft, nachdem ich Herrscher von Vallia geworden war. Er drückte die Brust raus. »Majister!« sagte Elten Larghos Invordun na Thothsturboin. »Bei Vox! Majister!«
19 »Majister?« Brannomar senkte das Schwert nicht. »Was soll der Unsinn?« »Eines solltest du unbedingt wissen, Kov«, sagte Elten Larghos mit stählerner Stimme. »Falls du den Versuch unternehmen solltest, diesen Ehrenmann zu verletzen, werde ich dich töten, und zwar sofort und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.« Brannomar sah ihn an, und es war ziemlich offensichtlich, daß er Larghos noch nie in diesem bedrohlichen Tonfall hatte sprechen hören. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Lahal, Larghos. Für Freunde gibt es keinen Grund, gegeneinander zu kämpfen.« »Majister!« stotterte Brannomar. »Was zum Teufel geht hier vor?« »Hyr Kov Brannomar«, sagte Elten Larghos in seinem normalen diplomatischen Tonfall, »du hast die Ehre, dich in Gegenwart von Dray Prescot aufzuhalten.« Brannomar öffnete den Mund, schloß ihn wieder, ging mit dem Schwert zu seinem Sessel und setzte sich. Nun ja, eigentlich ließ er sich hineinfallen. »Dray Prescot! Herrscher von Vallia!« Und dann wurde ihm natürlich plötzlich das Ausmaß des Desasters be-
wußt, das seine Pläne zunichte gemacht hatte, wie er nun glaubte. »Du hast alles gehört!« Larghos ignorierte den Kov und fragte: »Alles in Ordnung, Majister?« Er musterte meine staubige Kleidung und die Spinnweben in meinem Haar. Da es auf Paz unzählige Bücher, Bühnenaufführungen und Puppenspiele über Dray Prescot gibt, in denen er ununterbrochen mit rotem Lendenschurz und Krozairschwert in der Faust in ganz Kregen unterwegs ist, überrascht es kaum jemanden, wenn ich unvermutet an den entlegensten Orten auftauche – so wie in diesem Augenblick. Nach dem ersten Schreck wunderte sich Larghos überhaupt nicht mehr über meine Anwesenheit; ihn interessierte angesichts meines beklagenswerten Zustands nur die Frage, ob mit mir alles in Ordnung war. »Alles bestens, danke, Larghos. Ich glaube, wir sind dem guten Kov hier ein paar Erklärungen schuldig.« Betrachtete man die ganze Situation einmal von einem objektiven Standpunkt aus – was natürlich unmöglich war –, erschien sie natürlich völlig unwirklich. Hier war ein großer und mächtiger Adeliger, der nichts Böses ahnend in seinem Gemach in seinem Palast saß und plötzlich mit einer staubigen und mit Spinnweben behangenen Gestalt konfrontiert wird, die sich aus der Wand auf ihn stürzt. Dann entpuppt
sich dieser Wahnsinnige als der frühere Herrscher des Landes, mit dem der gute Kov so verzweifelt ein Bündnis schließen will. Kein Wunder, daß Brannomar plötzlich so verhärmt aussah. Der vallianische Konsul in Tolindrin sah mich mit einem schiefen Lächeln an. »Aye, Majister. Ich bin nur gekommen, um ein paar lose Enden zu verknüpfen, die es noch in dem Abkommen gibt. Doch jetzt werde ich wohl noch eine ganze Menge mehr wissen müssen, bevor ich im Namen von Herrscher Drak und Herrscherin Silda und Vallia unterzeichne.« »Allerdings, und das gilt auch für mich. In Oxonium werden Intrigen geschmiedet. Über einiges weiß ich Bescheid, und vieles kann ich mir denken. Das meiste ist ziemlich offensichtlich. Doch es gibt noch ein oder zwei Dinge von außerordentlichem Interesse.« Ich wandte mich direkt an die Gestalt, die zusammengesunken am Tisch hockte. »Brannomar! Reiß dich zusammen, Mann!« »Dray Prescot!« flüsterte er wieder, halb im Selbstgespräch. Natürlich hatte er die Bücher über diesen wilden Teufelskerl Dray Prescot gelesen! Larghos verhielt sich in seiner Funktion als Konsul recht diplomatisch und goß dem Kov ein Glas Parclear ein. Brannomar nahm es, trank und stellte das Glas direkt vor sich hin. Er sah auf. Man konnte zusehen, wie er zu seiner Selbstbeherrschung zurück-
fand. Ein Teil jener harten Entschlossenheit kehrte zurück. »Ich glaube dir, daß du Dray Prescot bist. Du weißt nun, wie wichtig das Abkommen für uns ist. Ich stehe im Dienste Tolindrins. Ich könnte die Wachen herbeirufen, und man würde weder von dir noch von dem vallianischen Konsul jemals wieder etwas hören ...« Elten Larghos machte sich nicht die Mühe, Rapier oder Main-Gauche zu ziehen. »Aber du würdest der erste Tote sein, Kov«, sagte er beiläufig. »Was soll diese Prahlerei, Elten? Glaubst du etwa, ich würde, anders als du, vorher überlegen, welchen Preis ich für meinen Dienst an König und Vaterland zu bezahlen habe?« Ich seufzte. »Ich könnte jetzt etwas zu trinken gebrauchen, Brannomar. Außerdem ist dein König tot.« Sein Kopf fuhr in die Höhe. Dann bleckte er die Zähne. »Du hast uns zugehört. Es war nicht schwer zu verstehen, was da eigentlich vor sich ging.« »Das stimmt. Es wird erwartet, daß sich der greise König beim Fest von Beng T'Tolin dem Volk zeigt, also mußt du bis dahin einen neuen König haben.« »Und ausgerechnet du mußtest derjenige sein, der uns das Testament des Königs bringt!« Er schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Nun, du weißt ja, daß sich das Testament nicht in Strom Kordens Schwert befand. Der Thronfolger ist nicht bekannt. Der König
hat Cymbaros Priestern vertraut, und sie haben ihn verraten.« »Hätten sich die vielen Thronbewerber dem Willen des Königs unterworfen?« »Ja.« »Und du hast nicht die geringste Idee, wen er ausgesucht haben könnte, Kov?« »Nein.« »Was für ein Durcheinander! Ich vermute, Lady Vita hat die Seiten gewechselt?« Er war weit über den Punkt hinaus, an dem ihn neue Enthüllungen darüber, was von den Intrigen, die Oxonium vergifteten, bekannt war, hätten überraschen können. »Lady Vita ist eine temperamentvolle Dame, vielleicht zu temperamentvoll. Ich habe sie abgewiesen und diese Entscheidung nie bereut. Der arme Jazipur hat einen schlechten Handel gemacht. Ihr Verrat wurde von Naghan dem Ordsetter entdeckt. Welche Ironie, daß Jazipurs Meisterspion die Frau seines Auftraggebers überführt. Ihre Pläne waren meisterhaft, das muß man ihr lassen.« Mir kam die Idee, den Eindruck, den er von Dray Prescot hatte, mit Hilfe einer durchtriebenen Prahlerei noch zu verstärken. Zu meiner Verteidigung muß ich sagen, daß das nicht aus pompösem Stolz geschah, sondern aus reinem Kalkül.
»Ich habe Lady Vita in Khonstantons Palast gesehen.« Ihn schien nichts mehr erschüttern zu können. »Sie hat eine Enkelin. Sie hat Khonstanton von dem im Schwert verborgenen Testament erzählt. Dafür hat sie ihm das Versprechen abgenommen, daß sein Sohn ihre Enkelin heiratet. Vita hat absolute Macht über ihre Kinder und Enkel.« »Daher hat dieser Teufel es also gewußt. Nach dem zu urteilen, was ich von Khon Mak gesehen habe, war sie eine Närrin, seinem Wort zu vertrauen.« »Der Ehrgeiz hat sie verblendet.« Er machte eine müde Geste. »Ihr Enkel sollte Prinz Ortygs Tochter heiraten, die noch im Kindesalter ist ...« »Bei Krun!« rief ich. »So hat sie den einen gegen den anderen ausgespielt! Egal, wer schlußendlich der Erbe gewesen wäre, sie glaubte, im Hintergrund die Macht ausüben zu können.« »Ortyg hat diesen Fristle, Fonnell den Reizbaren, und seine olivgrün gekleidete Mörderbande bezahlt. Er hat geglaubt, niemand könnte ihn damit in Verbindung bringen, weil ...« »Er hat einen Bravo-Kämpfer aus Zenicce als Mittelsmann benutzt.« O ja, alles fügte sich nun zusammen. Welche Chancen Nandisha inmitten dieses Durcheinanders hatte, konnte ich nicht sagen. Sie schienen jeden Moment
mehr dahinzuschwinden. Dann fügte Brannomar ein weiteres Puzzlestück hinzu. »Prinz Tomendishto hat Pläne, die den Schrein von Cymbaro betreffen. Er interessiert sich nicht für den Thron. Ich glaube ihm.« »Und falls der König Prinz Tom die Krone hinterlassen hat?« »Ich weiß auch nicht. Es war Tom, der den König für Cymbaro interessiert hat. Als der Sohn des Königs gestorben war, wollten sie aus Gründen der Sicherheit und der Geheimhaltung, daß die Priester das neue Testament nehmen und in Farinsee bewachen.« Aus dem, was ich aus der Entfernung hatte erkennen können, schien es sich bei Farinsee um eine wichtige Festung zu handeln, die man auf dem seltsamen Berg errichtet hatte, der so sehr an den Ayer's Rock erinnerte. Selbst wenn die Priester und ihre Wachen nur mäßig geübte Kämpfer waren, hätte man ein paar gute Regimenter und Pioniere gebraucht, um diesen Ort einzunehmen. »Man vertraute Strom Korden das neue Testament an, in dem der Thronerbe benannt wurde. Dann starb der König plötzlich, und das Testament mußte vollstreckt werden. Es mußte sofort nach Oxonium gebracht werden.« Er breitete hilflos die Hände aus. »Du selbst bist Zeuge geworden, was Lady Vitas schlimmer Verrat als erstes angerichtet hat, Dray Prescot.«
»Ja«, sagte ich in einem häßlichen Tonfall. »Gute Männer und junge Mädchen, die sterben mußten.« »Und kein Testament«, sagte Larghos, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. »Kein Testament, kein Erbe, also Bürgerkrieg«, sagte Brannomar teilnahmslos. In das bequeme Arbeitsgemach im Herzen des mächtigen Palastes kehrte Schweigen ein. Die Unvermeidbarkeit dessen, was der Hyr Kov prophezeit hatte, lastete auf uns allen. Larghos räusperte sich und sagte: »Dann wird das Abkommen zwischen Vallia und Tolindrin nicht Zustandekommen.« Brannomar schaute müde auf; die Narbe war fast unsichtbar. »So scheint es. Doch ich bitte dich inständig, dir das noch einmal zu überlegen ...« »Das ist nicht meine Entscheidung«, sagte ich. »Vallia wird dank Opaz nun von meinem Sohn Drak und seiner Gemahlin Silda geführt. Aber sie sind vernünftige Menschen.« Larghos nickte ernst. »Sollte in Tolindrin ein Bürgerkrieg ausbrechen, kann Vallia nicht davon ausgehen, viel Baltrixe, Seide oder Schweber geliefert zu bekommen.« »Und wir brauchen neben anderen Handelsgütern dringend gute vallianische Waffen.« Der Hyr Kov breitete wieder die Hände aus. »Und da gibt es noch einen anderen häßlichen
Aspekt bei der ganzen Angelegenheit«, sagte ich scharf, da ich bei dem Thema in Wut geriet. »Zusätzlich zu dem Diebstahl von Kordens Schwert hat es Anschläge auf Prinzessin Nandisha und ihre Kinder und auf Prinz Tomendishto gegeben. Opaz allein weiß, wie sie es bis jetzt geschafft haben, dem Tod zu entkommen.« Diese Information schien Brannomar aufzurütteln. Er stand auf. »Ich versichere dir, Majister, daß die Dinge in Tolindrin gewöhnlich nicht auf diese Weise geregelt werden. Zumindest nicht in den Tagen des greisen Königs.« »Doch nun ist es an der Tagesordnung.« Unter Larghos' diplomatischer Art kam jetzt der vallianische Kämpfer zum Vorschein. »Das Vertrauen ist dahin.« Ich erinnerte mich an die Schwierigkeiten, die die arme Nandisha und ihre Kinder hatten durchmachen müssen. Soweit es die Herren der Sterne anging, hatte meine unmittelbare Sorge nicht ihnen zu gelten. Trotzdem ... »Ich habe keinen Zweifel, daß es Khon der Mak oder Ortyg wieder versuchen werden. Mir würde es gefallen, wenn ihre Pläne durch die Bemühungen dem Reich treu ergebener Tolindriner zunichte gemacht würden. Was nun die Thronfolge angeht, wäre es nicht schlecht, wenn Nandishas Zwillinge – also der Junge – zum Thronfolger benannt
würde und du bis zu seiner Volljährigkeit die Regentschaft übernähmest, Brannomar.« »Allein der König darf den Nachfolger bestimmen.« »Ja, aber ...« »So ist das nun einmal, Majister. Wenn wir das Testament nicht finden, wird der Thronerbe durch einen Krieg bestimmt werden.« Bei den verlausten Haaren und wurmzerfressenen Eingeweiden Makki-Grodnos! Am liebsten hätte ich mich meiner Verpflichtung den Numim-Zwillingen gegenüber, mit deren Schutz Fweygo und ich beauftragt worden waren, entledigt und wäre dann schnurstracks nach Esser Rarioch geeilt, in die Heimat. Diese ganzen Ränke ließen meinen Kopf dröhnen. Die Erwähnung des Testaments ließ Brannomar nicht zur Ruhe kommen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wenn wir bloß das Testament finden könnten! Strom Korden muß es gut versteckt haben. Es befand sich nicht im Schwert. Also, wo in Tolaars Namen ist es dann?« Elten Larghos trat vor. Er war Angehöriger der vallianischen Befreiungsarmee gewesen, ein Freiheitskämpfer in der Zeit der Unruhen. Jetzt war er Diplomat. Seine Gedanken bewegten sich nun in anderen Bahnen. »Majister«, sagte er leise. »Du warst dabei.
Was hat Strom Korden zu dir gesagt? Ich möchte den genauen Wortlaut wissen.« Ich rief mir den schrecklichen Anblick auf der Landstraße nach Amintin zurück ins Gedächtnis. Die erschlagenen Männer, die Mädchenleichen, das Blut und der Gestank. Und die junge Tiri, die sich zitternd hinter der Kutsche verbarg. Was hatte der Sterbende gesagt? »Es war nur schwer zu verstehen. Sein Mund war voller Blut. Er sagte: ›Strom Korden. Lahal. Nimm das Schwert und übergib es Hyr Kov Brannomar. Schwöre es im Namen Cymbaros des Gerechten.‹« »Das war alles, Majister?« hakte Larghos nach. »Aye, Larghos. Das war alles. Einige der Worte hat er in dem verzweifelten Drang wiederholt, seinen Auftrag doch noch zu erledigen.« »Nimm das Schwert und übergib es Hyr Kov Brannomar.« »Das waren seine Worte. Und genau das habe ich nach ein paar Umwegen getan.« »Und er lag die ganze Zeit über im Sterben? Konnte immer nur ein paar Worte sagen?« »Genau.« Und da begriff ich auf einmal. O ja, im nachhinein ist es immer ganz leicht. Im nachhinein versteht man immer mit erstaunlicher Klarheit, was einem die ganze Zeit über verborgen geblieben war. Zweifellos rin-
gen Sie, die Sie sich meine Erzählung angehört haben, während sich die Spulen der Tonbandkassetten langsam drehen, schon die ganze Zeit über wegen meiner Blindheit verzweifelt die Hände. Nun, zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, daß ich die ganze Zeit über damit beschäftigt gewesen war, mich zu ducken und zur Seite zu springen, um den vielen Schwerthieben zu entgehen und den Kopf nicht von den Schultern zu verlieren – von den Köpfen anderer ganz zu schweigen, bei Krun! Jetzt war alles so offensichtlich. Der arme Strom Korden, der in dem schrecklichen Bewußtsein sterben mußte, bei seiner Mission für den König versagt zu haben, hatte es sich nicht leisten können, kostbare Worte zu verschwenden. Und so hatte er mit dem letzten Atemzug noch versucht, dem fremden Kämpfer, der sich über ihn beugte, die ungeheure Wichtigkeit einzuhämmern, die diese Mission für ganz Tolindrin hatte. »Nimm das Schwert und übergib ...«, hatte er noch hervorstoßen können. »Nimm das Schwert, und zwar mitsamt ...« Weiter war er nicht gekommen. Ich wußte, was er noch hatte sagen wollen. Jetzt wußte ich es. Sollte das Testament Khon dem Mak oder Ortyg in die Hände fallen, würden sie es ohne zu zögern vernichten, falls ihr Name dort nicht verzeichnet war. Oder sie würden das Testament, was noch wahr-
scheinlicher war, zu ihren Gunsten fälschen. Die nötigen Leute, für die so etwas ein Kinderspiel war, standen zu ihrer Verfügung. Für Gold zu fälschen ist nicht nur auf der Erde weit verbreitet. Wie dem auch sei, falls das Testament verschollen blieb und man seinen Inhalt nicht öffentlich verkündete, würden die beiden Rivalen ihre Intrigen fortsetzen, und zwar bis zu dem Augenblick, in dem der Krieg ausbrach. Das durfte man nicht zulassen – nicht nur um Vallias, sondern auch um Tolindrins willen. Mein Gesicht fühlte sich maskenhaft starr an, als hätte man es in hart werdenden Gips getaucht. Keiner dieser turbulenten Gedanken zeigte sich in meinem Ausdruck. Larghos sah mich noch immer stirnrunzelnd an. Und was Kov Brannomar anging, so war dieser noch immer in seinem eigenen inneren Aufruhr gefangen und quälte sich mit dem Gedanken, wo das Testament abgeblieben war, während ihn die Aussicht, was mit seiner Heimat passieren würde, mit Entsetzen erfüllte. In seiner Konzentration hatte er unser Gespräch gar nicht bewußt wahrgenommen, und nun sprach er einen Punkt an, den er im Moment für den wichtigsten hielt. Ich war da anderer Meinung, doch ich widersprach ihm vorerst nicht. »Majister. Ich verstehe, daß das Testament sowohl für die vallianischen als auch für die tolindrinischen Interessen von entscheidender Bedeutung ist. Tolaar
weiß, es muß gefunden werden. Doch du, du agierst hier unter dem Namen Drajak der Schnelle, und ich habe genug über Dray Prescot gelesen, um das verstehen zu können. Wirst du dich nun als Herrscher zu erkennen geben und Tolindrin das Abkommen verweigern?« »Mein Sohn Drak ist jetzt Herrscher von Vallia. Wie du weißt, nennt man mich den Herrscher aller Herrscher, den Herrscher von Paz. Nun, darüber werden wir uns später unterhalten. Im Augenblick möchte ich Drajak der Schnelle bleiben. Ich möchte, daß du das nicht vergißt, Brannomar.« Die letzten Worte hatte ich mit aller Schärfe gesagt. »Drajak der Schnelle. Natürlich, Majister.« Larghos, der mich noch immer anstarrte, sagte: »Sehr gut, Majister.« Er rückte die Schwertgürtel zurecht. »Gehen wir und holen dieses verflixte Testament, damit dieses ganze Durcheinander endlich zu Ende ist, bei Vox!« »Elten?« fragte Brannomar, der plötzlich gar nichts mehr verstand. »Oh«, sagte ich, und meine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. »Ich möchte nicht, daß Larghos jetzt vor Stolz kaum laufen kann. Doch man hätte ihn kaum zum Mitglied des Diplomatischen Dienstes von Vallia gemacht, wäre er schwer von Begriff.« Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, mich weiter darüber auszu-
lassen, doch jedes weitere Wort wurde von dem Dröhnen abgeschnitten, mit dem die heftig aufgestoßene Tür gegen die Wand prallte. Eine seltsame, zusammengekrümmte Gestalt trat ein, die scheinbar in einen Haufen Lumpen gekleidet war und wild mit einem Morntarch herumfuchtelte. »Schwester«, sagte Brannomar ungerührt. »Du triffst uns in einem unpassenden Moment an. Ist es wichtig?« Unter der hoch aufgetürmten und zerzausten Haarpracht war ein weibliches Gesicht zu erkennen. Die strahlenden Augen schienen nach innen zu blicken, die spitze Nase schnupperte ununterbrochen, und die Lippen – deren Schwung große Ähnlichkeit mit Brannomars Mund hatte – waren fest aufeinandergepreßt. Sie beachtete uns nicht weiter. Sie schlich durch das Gemach und schüttelte dabei den Morntarch. Der Stab war mit Bändern umwickelt, und an seiner Spitze hingen nur drei kleine Totenschädel an Seidenfäden. Sie verursachten dieses unheimliche, klappernde Geräusch, dem vermutlich nur die Zauberer etwas entnehmen können, die einen Morntarch für ihre Thaumaturgie benutzen. Sie roch nach Lavendelwasser, das sie allerdings etwas zu großzügig benutzt hatte. Sie ging einmal in dem Gemach herum. Larghos und ich blieben reglos stehen. Die meisten Kreger sind überaus vorsichtig, wenn sie es mit einem Ver-
treter der arkanen Künste zu tun haben. Brannomars Narbe hob sich pulsierend von der gebräunten Haut ab. »Besti!« sagte er scharf. »Schwester!« Die Zauberin ignorierte den Hyr Kov einfach und sah in jede Ecke. Ich fand die Atmosphäre in dem Gemach plötzlich unglaublich bedrückend. Brannomar biß sich in die Wange; er enthielt sich jeder weiteren Bemerkung. Als die seltsame weibliche Erscheinung anscheinend mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden war, widmete sie Brannomar einen langen, berechnenden Blick. »Du bist schon immer ein leichtgläubiger Fambly gewesen, Bran.« Sie fuchtelte ihm mit dem Morntarch vor dem Gesicht herum, eine zugleich ärgerliche und resignierte Geste. »Doch deine Leichtgläubigkeit erstreckt sich leider nicht auf die Gebiete, auf denen sich deine geliebte Zwillingsschwester betätigt ...« »In Tolindrin sind die Ansichten des Königs maßgebend, Besti. Du und deinesgleichen werden nur so lange geduldet, wie ihr euch benehmt. Kein Zauberer darf ...« »Nun, Bruder, ich tue es aber! Ich weiß, daß der König tot ist. Und andere wissen es auch. Du schwafelst hier herum, und dieser rückgratlose, feige Zauberer Wocut, den man nach Sicce schicken sollte, hört die ganze Zeit über mit. Er hat eindeutige Spuren hinterlassen.«
»Drajak, Wocut ist ein Zauberer in Diensten von Khon dem Mak«, sagte Larghos sofort. »Er soll über große Macht verfügen ...« »Ha!« spie diese bemerkenswerte Hexe Besti aus. Wider Erwarten war ihre Stimme nicht schrill. Sie erinnerte eher an das Wassergeplätscher an Stromschnellen. »Macht, die er dem leichtgläubigen San Nath dem Weitsehenden geraubt hat.« Dieser Wocut mußte der Zauberer sein, den ich zusammen mit Khonstanton und dem dicken Seneschall gesehen hatte. Falls er zugehört hatte – welchen Schaden konnte er schlimmstenfalls anrichten? Larghos sagte: »Sie haben nicht die Macht eines Zauberers aus Loh – nun, wer hat die schon? –, doch man sollte sich vor ihnen in acht nehmen, Drajak.« »Schön, dich kennengelernt zu haben, Sana Besti«, stieß ich hervor. »Los, komm schon! Zur Wachstube, Larghos! Brannomar – sag deinen Wachen Bescheid, daß wir unterwegs sind.« Der Hyr Kov sprang von seinem Sessel auf und lief uns zur Tür nach. »Verdammt, wartet auf mich!« rief er. So ist's schon besser, sagte ich mir. Er weiß wieder, daß er ein Kov ist. Die ersten Wachen, die sich unserem Lauf in den Weg stellen wollten, stießen wir einfach zur Seite. Doch da rief Brannomar auch schon stimmgewaltig
seine Befehle, und ein Hikdar schloß sich uns an. Nun gab es keine Unterbrechungen mehr. Wir erreichten die Wachstube der Palastwache. Ich stürmte hinein und hielt sofort auf die Stelle zu, an der ich die Mahlzeit zu mir genommen hatte. Ein gemütlich aussehender Apim, dessen Fettleibigkeit die Eisenbänder seiner Rüstung einer ganz schönen Belastungsprobe unterzog und der sich gerade Palines in den breiten Mund stopfte, stotterte protestierend, als ich ihn kurzerhand von der Bank zerrte. Meine Hand schoß in die Spalte zwischen Sitz und Rückenlehne. Da hatte ich das verdammte Ding hineingestopft. Meine Finger ertasteten Staub, Brotkrümel, ein Stück schimmeligen, grünen Käse, etwas widerlich Klebriges – und sonst nichts. Verzweifelt zwängte ich die Hand tiefer und fing an, das Holz wegzureißen. Meine Bewegungen wurden immer hektischer, bis ich schließlich die Bank in ihre Einzelteile zerlegt hatte. Nichts! Ich hatte es in der Nacht, in der ich mich in die Gräben gewagt hatte, genau an dieser Stelle zurückgelassen. Bei den behaarten, pendelnden Brüsten der Heiligen Dame von Belschutz! Warum mußte ich mich immer in diese teuflischen Machtkämpfe verstricken lassen? Man hat mich im Verlauf meiner unbeständigen Karriere auf Kregen oft genug als Onker beschimpft, und tatsächlich war ich der Onker al-
ler Onker. Ich schaute mich wild um, obwohl ich genau wußte, daß das verdammte Ding nicht da war. Hikdar Tygnam ti Fralen hatte die Wachstube betreten und sprach mit Kov Brannomar. Brannomar nickte und sagte: »Drajak. Strom Kordens Besitztümer wurden alle in seine Villa gebracht.« Als ich diese Information verdaute, traf mich eine neue und schreckliche Erkenntnis wie ein Blitzschlag. »Diese beiden verschlagenen Schurken! Wenn wir darauf kommen, können sie es auch. Und ich habe zu lang dafür gebraucht.« Mittlerweile war ich so tief in diese Angelegenheit verstrickt, daß ich den verzweifelten Wunsch hatte, sie endlich hinter mich zu bringen. Falls die Herren der Sterne zu dem Schluß gelangten, daß ich meine Verpflichtungen ihnen gegenüber vernachlässigte, konnte es passieren, daß ich im nächsten Augenblick haltlos durchs Nichts zurück zur Erde taumelte. »Wo ist Kordens Villa? Ich muß sofort dahin, bevor sie da sind.« Brannomars Schwester, die Hexe Besti, legte eine Hand auf meinem Arm. »Ja, sie wissen genug, um zur Villa des Stroms zu gehen. Du wirst zu spät kommen ...« »Ich muß es versuchen!« Ich schrie sie fast an. »Es gibt einen Weg. Ich kann ...« Brannomar zuckte gewaltig zusammen. Seine Narbe leuchtete, als wäre sie ihm eben erst in die Haut
gebrannt worden. »Besti! Du kennst den Erlaß des Königs. Und es wird dich sämtlicher Kräfte berauben ...« »Der König wird nicht einschreiten können, Bruder. Der Preis ist das Ergebnis wert. Dieser – Drajak – ist der Mann.« Durch meine Erfahrungen mit den zauberischen Künsten Deb-Lu-Quienyins und dem Kolleg der Magier konnte ich mir denken, wovon Besti sprach. Ich starrte sie an und versuchte den Eindruck ernster Entschlossenheit zu verbreiten. Dabei muß ein Hauch des alten Dray Prescot-Teufelsblick in meinem Gesichtszügen aufgeblitzt sein, denn sie hob unwillkürlich den Morntarch und schüttelte ihn einmal. Die Totenschädel stießen aneinander. »Ich verstehe, meine Dame. Bitte beeil dich.« »Ja. Du bist tatsächlich der richtige Mann dafür. Aber kennst du auch die Gefahren?« »Ja. Ich habe schon mit den Zauberern aus Loh zu tun gehabt.« Ihre Augen weiteten sich, als sie das hörte. Ich hätte sie am liebsten vor Ungeduld gepackt und heftig geschüttelt. Sie leckte sich die Lippen. »Du wirst verwirrt sein ...« »Um deines Bruders willen, um Tolindrins willen. Sana Besti – tu es!«
Sie schloß die Augen und hob die Arme. Die Totenschädel des Morntarchs klapperten wie wild – und die Welt um mich herum versank.
20 Sind Sie jemals auf einer Bananenschale ausgerutscht? Sind Sie jemals einen vereisten Abhang heruntergerutscht und haben dabei die Körperbeherrschung verloren? Sind Sie jemals von einem störrischen Muli in den Allerwertesten getreten worden? Sind Sie jemals vom Weg abgekommen und mußten sich einen Pfad durch dichtes, schneebedecktes Gebüsch bahnen? Sind Sie jemals im Dunkeln gegen einen unbeleuchteten Laternenpfahl gelaufen? Erfahrungen dieser Art, die noch mit der Währung von Googol multipliziert wurden, versuchten mich in kleine Stücke zu reißen. Bei Zair! Ich kann Ihnen sagen, es war ein ganzes Leben voller teuflischer Erfahrungen, die alle zu ein paar hektischen Augenblicken komprimiert wurden; das würde ich bestimmt nicht gern jeden Morgen vor dem Frühstück durchmachen müssen! Als ich das Ziel erreichte, an das mich die Hexendame Besti versetzt hatte, war ich völlig verwirrt und halb blind. Meine Ohren dröhnten wie die Niagarafälle, und ich verspürte einen Schmerz, als hätte man mir die Eingeweide herausgerissen und auf meine Haut genagelt. Und ja, irgendwo in all dem steckte auch noch die Erfahrung, sich in einem Faß die Niagara-Fälle hinuntergestürzt zu haben.
Diese Erfahrung unterschied sich von der Versetzung zu den Herren der Sterne, oder wenn man von Deb-Lu-Quienyin über die Ebenen geschickt wurde. Und zwar beträchtlich, bei Krun! Ich konnte lediglich einen grauen Schimmer erkennen, doch der hatte nur eine geringe Ähnlichkeit mit staubigen Spinnweben. Flammende Funken rasten auf mich zu. Ich war fest davon überzeugt, auf dem Kopf zu stehen, während ich zugleich auf den Füßen stand. Die ganze Zeit über wurde ich so wild herumgewirbelt, daß eine Fahrt mit Montezumas Rache – den Panditen zufolge die wildeste Achterbahn von ganz Kalifornien – einem Ausflug mit einer Limousine auf einer glatten Fahrbahn entsprochen hätte. Ich schildere diesen ganzen Katalog gräßlicher Eindrücke aus zwei Gründen. Die Erfahrung selbst war viel schlimmer, als ich mich überhaupt erinnern möchte. Meine Ankunft in Strom Kordens Villa erfolgte ganz und gar nicht im üblichen Dray PrescotStil. Die Yunivils, eine Rasse von Diffs, die sich gehörig von den Apim unterscheidet – trotzdem ein nettes Völkchen –, hängen dem Glauben an, daß die Toten mit hinter dem Rücken befindlichen Armen und um die Fußknöchel verschränkten Fingern begraben werden müssen. Falls das unterbleibt, werden sie nicht im Himmel aufgenommen, sondern zur Hölle
geschleudert. Ihre Hölle heißt Makchun, die sich tief unter den Eisgletschern von Sicce befindet. Hingerichtete Verbrecher werden mit den Händen auf den Köpfen begraben. Sie haben überhaupt keine Chance, jemals ins yunivilische Paradies zu kommen. Jetzt wußte ich, was ein armer, verurteilter Yunivil fühlte, wenn er mit auf dem Kopf liegenden Händen begraben wurde. Ich bekam überhaupt nicht mit, was um mich herum vorging. Die Dame Besti hatte mich wohl mit Hilfe ihrer arkanen Macht transportiert. Ich war auch am Ziel eingetroffen, denn ich spürte harten Boden unter den Füßen. Doch ich wurde von einem höhnisch wirbelnden Miasma umgeben. Ich konnte nichts sehen. Eine Hand packte meinen Arm, und eine schroffe Stimme brüllte mir ins Ohr. »Du bist erledigt, Shint.« Eine andere Stimme rief in einem harten Befehlston: »Halt ein, Larghos! Dieser Mann gehört mir! Bring ihn her.« Eine weiteres Händepaar half, indem es sich in mein Haar vergrub. Und so schleifte man mich über den Marmor zu dem Besitzer der harten Stimme – Khon dem Mak. Wenn ich es doch nur geschafft hätte, die Hände vom Kopf zu nehmen und um die Fersen zu legen, dann hätte man mir den Zutritt zum Paradies gestattet – nein, nein! Ich war ein Apim, ich war Dray Pres-
cot, Lord von Strombor und Krozair von Zy. O nein! Ich durfte nicht zulassen, daß man mich umbrachte, o nein, bei den warzenverseuchten Achselhöhlen und den faulenden Nasenlöchern Makki-Grodnos. Ich versuchte verzweifelt, etwas in dem Nebel zu erkennen. Ich war noch immer völlig verwirrt, als man mich auf die Knie zwang und den Kopf zurückriß. Der unverwechselbare Kuß kalten Stahls berührte meine bloßgelegte Kehle. Meine Augen brannten, als hätte man frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer hineingestreut. Nahm da ein unscharfer Umriß Gestalt an, oder war das nur meine fiebernde Einbildungskraft, die mir Phantome vorgaukelte? Der Umriß bewegte sich. Er wurde fester und nahm Konturen an. Tintenschwarzes Haar, pergamentweißes Gesicht, o ja, da stand er und starrte triumphierend auf mich herab. Meine Sinne kehrten mit schmerzlicher Langsamkeit zur normalen Funktion zurück. Meine Umgebung erschuf sich selbst – zumindest kam es mir so vor. Ich befand mich in einem atriumählichen Raum in einer gemütlich eingerichteten Villa. Überall gab es Säulen, Statuen und Topfpflanzen. In kleinen Becken schwammen Fische. Jasminduft kühlte die Luft. Und dieser verfluchte Rast Khonstanton hielt alle Trümpfe in der Hand, da mich seine Schurken vor ihm auf die
Knie gezwungen hatten und ich einen Dolch an der Kehle spürte. Falls ich diesen Schlamassel lebend überstand, würde ich mich mal ernsthaft mit der guten Sana Besti unterhalten müssen. Ja, bei Krun! Was für eine Methode, einen von einem Ort zum anderen zu versetzten. Die Stimme von Khonstantons Zauberer ertönte außerhalb meines Blickfelds. »Der Mann stinkt förmlich nach Zauberei, Notor. Man hat ihn durch das ... Also, ich will es mal so erklären ...« »Nun sag schon, wenn es so wichtig ist, San Wocut. Du verzögerst bloß den Tod dieses Rasts.« »Ich wollte lediglich sagen, Notor, daß er durch thaumaturgische Kunst, die unser verschiedener König niemals geduldet hätte, hierher versetzt wurde. Dazu war große Macht erforderlich, daran besteht kein Zweifel.« Vielleicht war die Macht der Dame Besti ja eine Art Kharma, die ich nicht verstand; ich wußte nur, daß sie einem eine Folter bescherte, wie sie der alte Hanitchik in Ruathytu oder die traurige, fette Königin Fahia von Huringa nicht besser hätte vollbringen können. Meine Augen verfügten fast schon wieder über ihre alte Sehkraft. Dieser Larghos hielt seinen verdammten Dolch ziemlich nahe an meinem Hals. In jenen ersten benebelten Momenten wäre es nicht
einmal verwunderlich gewesen, wenn ich mir eingebildet hätte, daß Larghos, der vallianische Konsul, die Klinge hielt. Ich blinzelte heftig und erkannte, daß er ein Chulik war. Die goldberingten Hauer funkelten im Licht; ihm machte diese Art Arbeit Spaß. »Es ist doch völlig egal, wie er hergekommen ist«, knirschte Mak Khon. »Außerdem kann man sich das leicht denken. Brannomar, dieser selbstgefällige Mistkerl! Dieser Abschaum da wird es uns erzählen, bevor er stirbt.« Nachdem ich über diese interessante Bemerkung eingehend nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluß, daß ich hier wirklich nicht länger bleiben konnte. Der Dolch schnitt mir unangenehm ins Fleisch. Zwei Männer hatten mich gepackt; ich konnte nicht sehen, wer mir den Kopf zurückhielt, doch er mußte als erster ausgeschaltet werden. Mit einer außerordentlich schnellen Bewegung – sehr schnell, bei Vox! – trat ich mit der Ferse dorthin, wo er stehen mußte. Im selben Augenblick riß ich den Kopf mit der gleichen Schnelligkeit zur Seite, wodurch mein Hals von diesem aufdringlich scharfen Dolch befreit wurde. Der schrille Aufschrei des hinter mir stehenden Burschen verriet mir, daß mein blinder Tritt genau ins Schwarze getroffen hatte. Der Chulik krümmte sich zusammen, und ich wirbelte herum, um den anderen zu erledigen.
Allein die Schnelligkeit rettete mich. Nach zwei brutalen Hieben stürmte ich auf Khonstanton zu. Der Kov wurde von meiner Schulter zur Seite gestoßen und keuchte etwas Unverständliches. Ich hielt mich nicht damit auf, ihm noch einen Tritt zu versetzen, obwohl er es durchaus verdient hätte, sondern tauchte in den Schatten der Arkade unter. Es gelang keinem von ihnen, mir einen Pfeil nachzuschicken. Ich lief mit großer Schnelligkeit weiter und passierte mehrere Bogengänge und Korridore. Dieses Gebäude hatte zwar bei weitem nicht die gleiche architektonische Klasse wie die großen Paläste Oxoniums, aber es war eine hübsche Villa mit vielen Zimmern, Gängen und Treppen. Obwohl ich eigentlich davor zurückscheute, mit Strom Kordens Bediensteten rauh umzuspringen, ließ mir die verzweifelte Situation keine andere Wahl. Der erste Diener, den ich am Kragen packte, bekam vor Angst kein Wort heraus. Ich stieß ihn beiseite und lief weiter, bis mir ein rundlicher Gon entgegenkam, gerade als ich um eine Ecke bog. Ich packte ihn und starrte ihn wild an. Er hatte mit der großzügigen Anwendung von Butter nachgeholfen, daß der rasierte Kopf auch schön glänzte; seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. »Wo liegen die Privatgemächer des Stroms, Gon?« Er stotterte, zitterte am ganzen Körper und sabberte.
»Der Strom ist tot.« »Du gleich auch«, sagte ich unwirsch, »wenn du mir nicht den Weg zeigst.« Er trug eine ordentliche gelbe Tunika und weiche Sandalen, also war er ein Hausdiener und würde sich hier auskennen. Ich versetzte ihm einen Stoß. Der Anblick meines Gesichts überzeugte ihn. Leise jammernd und wimmernd ging er voraus. Ja, ich verabscheue diese Art von Benehmen, doch es hing soviel davon ab, daß ich als erster die Besitztümer des Stroms in die Hände bekam, und darum blieb jetzt keine Zeit für Nettigkeiten. Die Mörderbande war mir mittlerweile bestimmt dicht auf den Fersen. Der Gon versuchte nicht, mich hereinzulegen. Opaz allein weiß, was ich in meinem aufgewühlten Zustand sonst mit ihm gemacht hätte. Wir eilten durch die Korridore, und ich ließ meine Umgebung keinen Augenblick lang aus den Augen. Die schwächenden Nebenwirkungen von Bestis Zauberei klangen ab, als wir eine Treppe nach oben stiegen und auf eine Anzahl geschmackvoll möblierter Gemächer stießen, von denen aus man das Atrium übersehen konnte. Ein paar Diener, die uns erblickten, versteckten sich eilig. Ich wurde den Eindruck nicht los, daß bereits vor mir gewisse Leute Fragen gestellt und keine Antworten bekommen hatten.
Vor der Tür zu den inneren Gemächern hielt ein Hytak Wache, doch bevor er sich uns in den Weg stellen konnte, schlummerte er schon friedlich. Ich stieß den Gon durch die Tür. »All die Besitztümer des Stroms, die man gebracht hat.« Ich blickte ihn streng an. »Bring mich zu ihnen – sofort.« »Ja, ja, Notor, ja. Bitte töte mich nicht.« »Dein Name, Gon?« »Affleck der Weinkrug, wenn es dem Notor gefällt.« Ich mußte lachen. »Ein Becher vernünftigen Weines würde mir schon gefallen, Affleck der Weinkrug. Vielleicht später.« Er sah mich merkwürdig an, hörte aber auf zu zittern. Wir betraten das Schlafgemach des Stroms. Strom Korden hatte das einfache, spartanische Leben eines Kriegers geführt, und die praktische Möblierung seines Schlafraums bestätigte das. Ein Blick genügte, um zu erkennen, wie er vor seiner hinterhältigen Ermordung durch Khon dem Mak oder Prinz Ortyg gelebt hatte. Eine mit breiten Eisenbändern beschlagene Truhe, die am Fuß des Betts stand, sah vielversprechend aus. Ich ließ den Gon los. »Stell dich da hin und rühr dich nicht, Affleck!« Er machte einen Satz und stand wie eine Salzsäule. Ich warf den Dekkel der Truhe zurück.
Es war ein trauriger Anblick – dort lagen das Gewand, der Harnisch, die Stiefel, der eingedellte Helm mit den Federn und der Braxter. Strom Korden war wohl in seiner Gruft draußen in Kaodrin hinter den Hügeln Oxoniums bestattet worden. Dort waren die Steinmetze bereits fleißig damit beschäftigt, die gewaltigen und ehrfurchteinflößenden Totenhäuser für den Königssohn und den König zu errichten. Der König würde erst dann bestattet werden, wenn das Volk offiziell von seinem Tod erfahren hatte. Strom Kordens Gruft würde natürlich weitaus weniger prächtig sein, doch sie würde die sterblichen Überreste eines Mannes beherbergen, der genauso ehrenvoll wie der König und sein Sohn gewesen war – wenn nicht sogar ehrenvoller. Ich holte das verflixte Ding, dem meine Suche gegolten hatte, aus der Truhe – man hatte es doch tatsächlich geflickt – und schnallte es um. Ein leises, amüsiertes Lachen ertönte an der Tür. »Bei Krun, mein lieber Freund, du hast wirklich die Gabe, immer am richtigen Ort zu sein.« Ich hielt den Braxter in der Faust, da ich vorgehabt hatte, ihn in dem Augenblick, in dem der Gürtel festgeschnallt war, in seine Scheide zu stecken. Also drehte ich mich langsam mit dem Schwert in der Hand um. Er betrat das Schlafgemach des Kovs und blieb stehen, den rechten Fuß etwas vorgesetzt, die behand-
schuhten Hände in die Hüften gelegt, den Kopf zurückgeworfen und das Kinn vorgestreckt. Er wußte genau, was für ein schneidiges Bild er abgab. Das Hemd hatte er endlich gegen einen tolindrinischen Shamlak aus einem silbergrauen, kostbaren Stoff getauscht, und die silbergraue Hose steckte in schwarzen Stiefeln. Er war, was er war, was das Schicksal vom Moment seiner Geburt an für ihn vorgesehen hatte; nicht mehr und nicht weniger. Ob ich ihn mochte? O ja, mittlerweile war er mir richtig sympathisch geworden. Seine Worte wurden von einem unbeschwerten, unverwechselbaren Gelächter unterstrichen. Er hob die Hand und strich sich mit dem Zeigefinger über den dünnen schwarzen Schnurrbart. »Das Spiel hat sich bis zuletzt gelohnt, Drajak, mein Freund. Aber jetzt ...« Wie alles andere im Leben nahm er auch das hier nicht ernst. Er streckte die Hand aus. »Jetzt kümmere ich mich darum, alter Freund. Wenn du so freundlich wärst.« Er begriff überhaupt nicht, wie unangebracht seine Bitte unter diesen Umständen war, ihm fehlte jedes Verständnis für den Standpunkt anderer. Er war im höchsten Grade ichbezogen. Vorsichtig sagte ich: »Ich glaube nicht, daß ich ...« Plötzlich ertönten Schreie und Geräusche der Zerstörung, die mich rüde unterbrachen. Ich trat schnell
zur Seite und sah durch die großen Fenster des Schlafgemachs auf das Atrium hinaus. Ein ganzes verdammtes Heer von Kämpfern schwärmte dort aus. Es gab keinen Zweifel an der Identität des Mannes, der ihre Bemühungen übellaunig steuerte. Dieses Wieselgesicht und diese hektischen Bewegungen gab es nur einmal. Ich wandte mich wieder Dagert zu. »Prinz Ortyg. Er wird uns die Leber herausschneiden und sie rösten ...« »Das ist hochdramatisch, wirklich, trotzdem halte ich es für das beste, wenn du es mir jetzt gibst. Ich wäre dann viel beruhigter.« »Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen hier raus.« Er nickte. Auf seine dunkle und verlebte Weise war er recht ansehnlich, und die scharfgeschnittenen Gesichtszüge verrieten keine Gefühlsregung. »Natürlich.« »Affleck!« rief ich. Der Gon war weg. Affleck der Weinkrug hatte die Gelegenheit ergriffen, um zu seinen Fässern zu flüchten. Ich starrte Dagert von Paylen an. »Kennst du dich in dieser verflixten Villa aus?« »Komm!« Ohne zu zögern schritt er zur Tür. Ich folgte ihm. Doch den Braxter schob ich nicht in die Scheide – vorsichtshalber, bei Djan. Wir liefen durch lange Korridore und angenehme
Gemächer. An einer Flügeltür stießen wir auf einen verwundeten Hytak, dessen Seite blutüberströmt war. Er hob unter Schmerzen eine Hand. Dagert durchschritt die offene Tür, und ich trat ihm in meiner Hast fast in die Hacken. Als ich registrierte, wer sich in dem Raum versammelt hatte, und begriff, daß sich das Blatt gewendet hatte, kam ich rutschend zum Stehen. Dagert befand sich noch immer vor mir. Das Gemach war voller Männer, die die Farben von Hyr Kov Khonstanton trugen, eine ganze verdammte Armee. »Halt, Dagert! Komm schon! Das ist zu ungesund für uns!« rief ich. Dagert drehte sich zu mir um. Auf dem männlichen Gesicht zeichnete sich Vergnügen ab. Einen Augenblick lang gab ich mich der Annahme hin, daß es ihm Spaß machte, allein gegen diese Horde anzutreten. Er zückte Rapier und Main-Gauche mit den geübten Bewegungen eines Schwertkämpfers. Dann löste sich Khon der Mak aus den Rängen seiner Männer. »Gut gemacht, Amak. Ich war sicher, daß ich mich auf dich verlassen kann.« Und so trafen sich unsere Blicke: Dagert von Paylen und Drajak der Schnelle. »So ist das, mein lieber Freund. Es ist besser, wenn du es mir einfach aushändigst.«
»Du!« sagte ich ziemlich närrisch. »Du hast die ganze verdammte Zeit für Mak Khon gearbeitet.« »Das ist allerdings richtig. Es ist nur zu meinem Vorteil, wie du sicher als erster erkennen wirst.« Der Augenblick dehnte sich. Eine Reihe von Zwischenfällen wurde mir allmählich klar. »Du hast diese verfluchten Nägel in Nandishas Schwebersteuerung gehämmert.« »Das war nicht ich, sondern Palfrey. Er hat auch dafür gesorgt, daß sie in Amintin notlanden mußte.« »Und Strom Korden?« Er machte mit dem Rapier eine elegante Geste. »Wäre diese traurige Angelegenheit mir anvertraut worden, dann hätte sie ein anderes Ende genommen, das kann ich dir versichern, bei Krun!« »Das glaube ich dir.« Und bei Vox, das tat ich! »Nun gut, jetzt hör endlich auf, es hinauszuzögern. Ich versichere dir ...« Er konnte mir alles mögliche versichern. Ich wußte, daß seine Worte den Atem nicht wert waren, den er für sie verschwendete. Ich schüttelte den Kopf, wie es in der Natur eines Onkers liegt, und er warf sich mir mit funkelnder Klinge entgegen. Er war wie ein Leem, schnell und tödlich. Der Braxter parierte einen Stoß, und eine Körperdrehung ließ den Dolch ins Leere zischen. Ich hieb nach ihm, sein Rapier glitt in die richtige Verteidigungsstellung – und die Klingen
trafen mit einem harten Klirren aufeinander. Guter Stahl aus Ruathytu prallte gegen Metall aus Tolindrin. Der Braxter zerbrach. Ich warf ihm wütend den Griff ins Gesicht, wirbelte herum und lief. Er würde keine Probleme haben, dem Wurf auszuweichen und sich unverzüglich auf meine Fersen heften. Und so floh ich, Dray Prescot, Lord von Strombor und Krozair von Zy. Ich stürmte den Korridor entlang, sprang über den verwundeten Hytak und lief weiter, während Dagert von Paylen die erbarmungslose Verfolgung aufnahm. Und so lieferten wir uns eine verrückte Jagd, Zimmer um Zimmer, Gemach um Gemach. Nach kurzer Zeit verrieten mir die Geräusche, daß Dagert allein war – wir hatten die Meute abgehängt. Schließlich kamen wir in einen großen Saal mit niedriger Decke. Die vielen Bänke und Tische ließen vermuten, daß es sich um einen Speisesaal handelte. Am anderen Ende gab es eine schmale Tür. Wo führte sie hin? Ich wußte es nicht, außerdem war ich es leid, ständig flüchten zu müssen. Sobald ich Dagert von Paylen abgeschüttelt hatte, würde ich mich hier schnellstens aus dem Staub machen. Ich blieb unvermittelt stehen und drehte mich zu ihm um. »Ah, endlich, mein lieber Freund.« Er schien kein bißchen außer Atem zu sein. Seine Klingen fuhren in
die Höhe. »Sieh mal, warum gibst du es mir nicht, und wir vergessen die ganze Sache?« Seine behandschuhte linke Hand, die den Main-Gauche hielt, hob sich, und er strich sich mit dem Finger über den bleistiftdünnen Schnurrbart. »Die Männer des Kovs werden nicht so verständnisvoll sein.« Ich zückte kommentarlos das Rapier und den linkshändigen Dolch. Er sah mich ungläubig und zugleich amüsiert an. »Was denn! Mein lieber Freund, ich versichere dir, daß ich dir gegenüber keinerlei Feindschaft hege, doch eigentlich müßte dir das klar sein. Du hast keine Chance mit dem Jiktar und dem Hikdar.« »Du hast versucht, Nandisha und ihre Kinder zu ermorden ...« »Das war wohl kaum Mord! Ich ziehe da nämlich eine klare Grenze. Es handelte sich lediglich um eine kleine Sabotage, damit sie notlanden mußten. Das war alles. Und jetzt sei endlich vernünftig.« »Wenn du das verdammte Ding haben willst, mußt du es dir nehmen.« »Dann hast du dir die Konsequenzen selbst zuzuschreiben, wie man in Clishdrin sagt.« Er sprang. Unsere Klingen trafen mit einem markerschütternden Klirren aufeinander. Zwei Dinge bedurften keines weiteren Gedanken. Dieser Kampf mußte schnell beendet werden. Und
Dagert von Paylen würde ein erstklassiger Schwertkämpfer aus Ruathytu sein. Der Kampf war recht interessant. Wie Sie wissen, bin ich mir stets bewußt, daß ich eines schönen kregischen Tages auf einen anderen Mefto den Kazzur stoßen kann, der mir im Schwertkampf überlegen ist. Ich will an dieser Stelle nicht behaupten, der beste Schwertkämpfer zweier Welten zu sein – was ich im übrigen nie getan habe. Doch nach ein paar Hieben war klar, daß Dagert von Paylen kein zweiter Mefto der Kazurr war. Sein Gesicht, auf dem sich zuerst die gelangweilte Unbekümmertheit eines Mannes abzeichnete, der eine lästige Arbeit zu erledigen hatte, nahm langsam einen ernsteren Ausdruck an. Seine Einstellung veränderte sich. Seine ersten Angriffe waren recht einfach gehalten, und ich war der festen Überzeugung, daß sie mich nur entwaffnen sollten. Meine Verteidigung hatte einen entschlosseneren Vorstoß zur Folge. Nach ein paar weiteren komplizierten Paraden und Ausfällen zog er sich zurück. »Wie ich sehe, habe ich dich falsch eingeschätzt, Drajak. Anscheinend verfügst du doch über gewisse Fertigkeiten. Nun, das macht jetzt keinen Unterschied mehr; Rauch, der vom Wind fortgeweht wurde. Solltest du verletzt oder durchbohrt werden ...« Mitten im Satz warf er sich mit leemgleicher
Schnelligkeit auf mich. Eine Drehung, ein Manöver mit dem Dolch, und ich stieß zu. Er wich mit wild durch die Luft sausenden Klingen zur Seite aus. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Ich nutzte meinen Vorteil und drängte ihn zurück. Er war ein vortrefflicher Schwertkämpfer, und ich durfte nicht leichtsinnig werden. Der Kampf tobte durch den ganzen Saal; wir sprangen auf Bänke und Tische, parierten und stießen zu, und die Klingen waren verschwommene Schemen aus tödlichem Licht. Wie ich bereits erwähnt habe: es war ein interessanter Kampf. Schließlich erkannte er, daß er mich nicht bezwingen konnte. Und mir kam dann irgendwann die Erkenntnis, daß ich ihn nicht töten wollte. Dafür war er einfach ein zu interessanter Mann. Er lief ein paar Schritte von mir fort und wirbelte dann herum. Die nackte Brust unter dem Shamlak hob und senkte sich nun schneller. »Ja«, sagte er. »Ich sehe, daß ich dich ernsthaft unterschätzt habe. Zum Teufel damit! Dann muß Hyr Kov Khonstanton seine schmutzige Arbeit eben selbst erledigen.« Mit einer Gewandtheit, die ich bewunderte, warf er das Rapier hoch und fing es aus der Luft, ohne sich dabei zu verletzen. Er drückte einfach blitzartig den
Arm an den Körper und klemmte die Klinge ein. Gleichzeitig erschien – scheinbar aus dem Nichts – ein Dolch in seinen Fingern. Er warf ihn. Ich ließ das Rapier mit der instinktiven Reaktion eines in den Disziplinen der Krozair von Zy geschulten Kämpfers hochschnellen, und die Klinge wehrte den Dolch ab. Er wirbelte sich überschlagend durch die Luft und bohrte sich in eine Tischplatte. »Ha!« rief er aus, ließ die Klinge los, fing sie mit der Hand auf und schob sie in die Scheide, während er mit der gleichen Bewegung den linkshändigen Dolch wegsteckte. »Ein wahrer Meisterkämpfer!« Mit diesen Worten drehte er sich plötzlich um, sprang auf das mannhohe Fenster zu und stürzte sich inmitten eines Schauers aus zersplitterndem Glas und zerbrechender Rahmen hindurch. Er verschwand. Ich lief zu dem zerstörten Fenster und blickte hinaus. Er sprang wie eine Gazelle über die Dächer – spielte die Rolle des charmanten Draufgängers bis zum bitteren Ende. An einem Schornstein verharrte er, drehte sich um und winkte mir mit der behandschuhten Hand zu. Es war fast ein ironischer Salut. Dann verschwand Dagert von Paylen, Schwertkämpfer, Mörder, Stutzer, doch bei weitem kein finsterer Verbrecher. Der Rest ist schnell erzählt. Während ich nach draußen schaute, ertönte neuer Lärm. Männer riefen
»Khonstanton!« und »Ortyg!« und glücklicherweise auch »Brannomar!« Mit der gebotenen Vorsicht kehrte ich ins Atrium zurück. Der Palast wimmelte von bewaffneten und gerüsteten Männern. Sie waren alle da. Brannomar brachte mit seinem charismatischen Auftreten Ordnung in das Chaos. Leute liefen zusammen. Khonstanton, Ortyg und Brannomar standen beieinander und hatten einen hitzigen Wortwechsel. Der kleinste Funke würde genügen, damit sich all diese Kämpfer an die Kehle gingen. Prinz Tom und Prinzessin Nandisha trafen ein und gesellten sich zu den anderen. Plötzlich standen Fweygo und Tiri neben mir und redeten auf mich ein. »Ich weiß ja nicht, was du dir dabei gedacht hast ...«, fing Fweygo an. »Drajak! Dir ist nichts passiert, Cymbaro sei Dank!« Tiri nahm meinen Arm. »Fweygo – die Numims?« »In Sicherheit.« »Ich werde euch gleich alles erzählen. Doch zuerst habe ich noch eine Pflicht zu erfüllen.« Ich drängte mich durch die Leute auf die Adeligen zu. Brannomar sah mich. Ich nickte, und zwar so gewichtig, daß er sofort verstand. Auf seinem gebräunten Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab. Ich trat vor ihn.
»Nicht hier«, sagte er drängend. »Kommt alle mit. Bringen wir es hinter uns.« Wenige Augenblicke später hatte sich der Adel in Strom Kordens bestem Empfangszimmer versammelt. Nandisha sah aufgeregt aus, und ich versuchte, ihr aufmunternd zuzulächeln. Tom schien die ganze Aufregung wie immer nichts anzugehen. Was nun Ortyg betraf, so zeigte sein schmales Gesicht all die Schattierungen, die mit Gier, Ehrgeiz und Überheblichkeit in Verbindung zu bringen sind. Khonstanton stemmte die Hände in die Hüften. »Und? Drajak der Schnelle, du ...« »Keine Sorge, Notor«, erwiderte ich. »Es ist alles unter Kontrolle.« Das sollte ihm zu denken geben! Brannomar streckte die Hand aus. »Drajak?« Ich schnallte den Schwertgürtel ab, den ich aus Strom Kordens Truhe geholt hatte, und überreichte ihn. Das war der Gegenstand, der für soviel Schmerz, Blutvergießen und übelsten Streitigkeiten gesorgt hatte. Es war der Schwertgürtel gewesen, um den sich die Intrige gedreht hatte, nicht das Schwert! Brannomar nahm ihn, zückte das Messer und machte sich entschlossen an den Säumen zu schaffen. Eine Naht nach der anderen wurde durchtrennt und das Geheimnis enthüllt. Korden und die Priester von Cymbaro hatten das Testament des Königs genom-
men – es war ein beeindruckendes Dokument aus festem Pergament, wie sich das gehörte – und es in Form eines Schwertgürtels zusammengefaltet. Darüber hatten sie dann das Leder gelegt und es ganz korrekt vernäht. Nun wurden die steifen, gelben Seiten unter unseren faszinierten Blicken glattgestrichen. »Überspring die Legate«, fauchte Khonstanton. »Der Erbe!« Jeder König verfügt, daß nach seinem Tod freigiebig Legate verteilt werden, und deren Niederschrift nimmt stets viel Raum in Anspruch. Ortyg drängte sich nach vorn, um die widerspenstigen Seiten festzuhalten. Er verzehrte sich förmlich. Die Gier hatte ihn voll im Griff. Falls der König seine Verwandten gekannt hatte, was meiner Meinung sicherlich zutraf, dann – ich verspürte ein gewisses Mitleid mit diesem vermessenen Prinz. Nandisha biß sich auf die Unterlippe. Nun ja, ihr Sohn würde einen guten Thronfolger abgeben, und Brannomar konnte das Land als Regent führen. Das würde Vallia und mir gut gefallen. Khonstanton würde hingegen einen noch schlimmeren Erben als Ortyg abgeben. Wer in einer Herrelldrinischen Hölle war es nun? Brannomar las. Er schüttelte den Kopf und las es noch einmal von vorn. Er sah auf. »Was ist, Mann?« sagte Khonstanton drängend.
Ortyg versuchte, das für ihn auf dem Kopf stehende Testament zu lesen. Hyr Kov Brannomar drehte sich langsam um. Er sah Prinz Tom in die Augen. »Lang lebe König Tomendishto!« rief er mit lauter und fester Stimme aus. »Lang lebe der König!« Nandisha fiel in Ohnmacht. Ortyg fluchte, packte das Pergament, drehte es hastig herum und las stotternd den Text vor, von dem ihm jedes Wort verhaßt war. Khonstanton setzte zum Sprechen an, sagte dann nichts und verließ wortlos das Gemach. Der neue König sagte zögernd: »Aber ...« Dann schwieg er. Um der faulenden Eingeweide und der eiternden Haut Makki-Grodnos willen! Opaz sei Dank, daß diese Angelegenheit endlich geklärt ist! Das waren meine Worte, doch ich sagte sie nur in Gedanken. Dann ging ich zu Nandisha herüber, um zu sehen, was ich für sie tun konnte. Soweit es mich betraf, war die Sache erledigt. Die Zukunft mußte sich um das Schicksal der Numim-Zwillinge Rofi und Rolan drehen. Die Herren der Sterne hatten große Zurückhaltung bewiesen, indem sie mir gestattet hatten, mich in Tolindrins Staatsangelegenheiten einzumischen. Nun mußten Fweygo und ich dafür sorgen, daß den Numim-Zwillingen nichts zustieß. Und wie lange würde das dauern? Beim Schwarzen Chunkrah! Ich
wollte nur nach Hause, nach Esser Rarioch, und mit Delia ein friedliches Leben führen. »Es gibt eine Menge zu erledigen«, verkündete Brannomar. Er sprach über Toms Machtübernahme und die Krönung und ähnlich langweilige Dinge. Ich stimmte ihm zu, und zwar aus Gründen, die er niemals erfahren würde, Gründen, die mit den Everoinye und vierhundert Lichtjahren leeren Raums zu tun hatten. Ich nahm Nandisha auf die Arme und verließ das Gemach, um Fweygo und Tiri zu finden. Eins stand fest: so schnell würde ich Amak Dagert, Dagert von Paylen, nicht vergessen. Er war schon ein Teufelskerl, bei Krun! Nandisha rührte sich, als ich das Atrium betrat. Fweygo und Tiri erblickten mich und eilten herbei. Zim und Genodras, die Zwillingssonnen von Scorpio, die in Tolindrin Mabal und Matol hießen, tauchten alles in ihr strömendes, vermengtes Licht. Ich sah meine Freunde und versuchte zu lächeln. Bei Zair! Ich kannte das Schicksal nicht, das mich auf dem wunderschönen und schrecklichen Kregen erwartete. Ich wußte nur eins, und das mit großer Gewißheit – ich brauchte etwas, mit dem ich mir die trockene Kehle befeuchten konnte! Möge Delia mir verzeihen. Bei der gesegneten Mutter Zinzu – jawohl!