Strugatzki Die hässlichen Schwäne 1 Irma war hinausgegangen, mager, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf ih...
127 downloads
741 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Strugatzki Die hässlichen Schwäne 1 Irma war hinausgegangen, mager, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf ihrem großen Mund mit den leuchtend roten Lippen, die denen der Mutter so glichen. Sie hatte die Tür sorgfältig hinter sich angelehnt. Viktor zündete sich bedächtig eine Zigarette an. Das ist kein Kind mehr, dachte er bestürzt, Kinder sprechen anders. Das ist keine Grobheit bei ihr, das ist Grausamkeit, eigentlich auch keine Grausamkeit, ihr ist einfach alles egal. So als hätte sie uns hier einen mathematischen Lehrsatz bewiesen. Zuerst rechnet sie uns alles vor, analysiert und teilt uns das Ergebnis sachlich mit; dann geht sie in aller Ruhe hinaus und schüttelt ihre Zöpfchen. Viktor fühlte sich unbehaglich. Er nahm sich zusammen und blickte zu Lola. Rötliche Flecken brannten auf ihrem Gesicht. Die roten Lippen bebten, als würde sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Natürlich hatte sie gar nicht vor zu weinen, sie war nur außer sich vor Wut. »Siehst du«, brachte sie mit schriller Stimme hervor, »eine Göre, eine Rotznase... Ein dreckiges Biest! Nichts ist ihr heilig, jedes Wort eine Beleidigung, als wäre ich nicht die Mutter, sondern ein Putzlappen, an dem man sich die Schuhe abwischt. Ich schäme mich schon vor den Nachbarn, so was von gemein und frech.« Ja, ging es Viktor durch den Sinn, mit dieser Frau habe ich also gelebt. Damals gingen wir zusammen in die Berge. Ich las ihr Baudelaire vor; als ich sie berührte, zitterte ich. Ihren Duft habe ich heute noch in Erinnerung... Ich glaube, ich habe mich ihretwegen sogar geschlagen. Bis jetzt ist mir ein Rätsel, was sie sich dachte, als ich ihr Baudelaire vorlas, Nein, ich kann es nicht glauben, daß ich ihr entkommen konnte; es ist unfaßbar. Wieso ließ sie mich ziehen? Wahrscheinlich war ich kein Honiglecken und jetzt vermutlich auch nicht. Damals habe ich mehr getrunken als heute. Außerdem hielt ich mich für einen großen Dichter. »Du hast natürlich andere Sorgen, ganz klar«, sagte Lola. »Das Großstadtleben, deine diversen Tänzerinnen und Schauspielerinnen... Das weiß ich doch alles. Bilde dir bloß nicht ein, daß Wir hier nichts wissen. Daß du in Geld schwimmst und Weibergeschichten und endlose Skandale am Hals hast... Mir ist das egal, wenn du es genau wissen willst. Ich stand dir da nie im Wege. Du hast so gelebt, wie du wolltest...« Das eigentlich Schlimme an ihr ist daß sie so viel redet. Als Mädchen war sie stiller, schweigsam und geheimnisvoll. Es gibt solche Mädchen, die von Geburt ah wissen, wie sie sich geben sollen. Sie wußte es. An sich wäre sie auch heute
nicht übel; wenn sie da so auf dem Diwan sitzt, eine Zigarette raucht, mal nichts sagt und ihre Knie zeigt, oder wenn sie die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sich räkelt. Bei einem Provinzadvokaten müßte das Wunder wirken... Viktor stellte sich einen gemütlichen Abend vor: das Tischchen an den Diwan gerückt, eine Flasche, und in den Gläsern perlender Sekt. Eine Bonbonniere mit Schleifchen, und dann den Advokaten in gestärktem Hemd mit Fliege. Wie bei normalen Leuten eben. Und plötzlich käme Irma herein... Eine Schreckensvorstellung, dachte Viktor. Eine unglückliche Frau ist sie, weiter nichts. »Du mußt selbst verstehen«, sagte Lola, »daß es keine Frage des Geldes ist. Geld ist im Augenblick nicht das Entscheidende.« Sie hatte sich bereits beruhigt, die rötlichen Flecken waren verschwunden. »Ich weiß, du bist auf deine Art ein ehrlicher Mann, zwar unausgeglichen und unbesonnen, aber nicht böse. Du hast uns immer geholfen, und in dieser Hinsicht kann ich dir auch nichts vorwerfen. Jetzt brauche ich aber eine andere Art von Hilfe... Glücklich kann ich mich nicht gerade nennen, aber mich unglücklich zu machen, hast du auch nicht geschafft. Du hast dein Leben und ich das meine. Im übrigen bin ich noch keine alte Frau, ich habe noch viel vor mir...« Das Mädchen muß weg von hier, dachte Viktor. Sie hatte ihre Entscheidung offensichtlich schon getroffen. Wenn Irma im Hause bleibt, wird hier bald die Hölle los sein... So weit, so gut, aber wo stecke ich sie denn hin? Also mal ganz aufrichtig, dachte er, aufrichtig und sonst nichts. Schließlich ist das alles kein Kinderspiel. In dieser Aufrichtigkeit ließ er sein Leben in der Hauptstadt an sich vorbeiziehen. Da schaut es schlecht aus, dachte er. Ich könnte mir natürlich eine Haushälterin nehmen; das würde bedeuten, eine Wohnung auf Dauer zu halten... Aber darauf kommt es ja gar nicht an. Das Mädchen müßte mit mir sein und nicht mit der Haushälterin. Es heißt doch, daß die Kinder die besten sind, die von ihren Vätern erzogen werden. Und abgesehen davon gefällt sie mir auch, wenn sie auch etwas Merkwürdiges an sich hat. Und überhaupt ist es ja meine Pflicht als Ehrenmann und als Vaten Und ich bin schuldig vor ihr. Aber das ist ja alles wie im Roman. Und trotzdem, in aller Aufrichtigkeit, ich habe Angst davor. Sie wird nämlich vor mir stehen, mit ihrem großen Mund lächeln wie eine Erwachsene, und was werde ich ihr schon sagen können? Lies, lies noch mehr, lies jeden Tag, das ist viel wichtiger als alles andere, nur lies! Aber das weiß sie auch ohne mich, und sonst habe ich ihr nichts zu sagen... Deswegen habe ich auch Angst... Aber ich bin immer noch nicht ganz aufrichtig. Ich habe nämlich keine Lust dazu, das ist es. Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt, und ich schätze es sehr. Um ehrlich zu sein: ich will es gar nicht mehr anders haben. Das hört sich abscheulich an, wie jede Wahrheit. Zynisch ist das,
selbstsüchtig und gemein. Ganz ehrlich. »Warum sagst du nichts?« fragte Lola. »Hast du vor, noch länger zu schweigen?« »Nein, nein, ich höre dir ja zu«, sagte Viktor eilig. »Was kannst du mir schon zuhören? Ich warte schon eine halbe Stunde, bis es dir genehm ist, mir zu antworten. Es ist schließlich nicht nur mein Kind. . . « Muß ich mit ihr auch so aufrichtig sein? fragte sich Viktor. Mit ihr habe ich überhaupt keine Lust dazu. Wahrscheinlich hat sie sich vorgestellt, ich würde so eine Frage an Ort und Stelle, so zwischen zwei Zigaretten, lösen. »Begreif doch«, sagte Lola, »ich spreche ja nicht davon, daß du sie zu dir nehmen sollst. Ich weiß, du würdest sie gar nicht nehmen, und Gott sei Dank kann man da nur sagen. Zu so was taugst du überhaupt nicht. Aber du hast doch Verbindungen und Bekanntschaften, immerhin bist du ein berühmter Mann. Dann hilf wenigstens, sie irgendwo unterzubringen. Da gibt es bei uns doch privilegierte Lehranstalten, Internate und Fachschulen. Das Mädchen kann doch was, für Sprachen hat sie Talent, für Mathematik und Musik auch...« »Ein Internat«, sagte Viktor. »Natürlich... Ein Internat. So ein Waisenhaus... Nein, ich mache nur Spaß. Das wäre zu überlegen.« »Was gibt es da lange zu überlegen? Jeder andere wäre froh, wenn er sein Kind in einem Internat oder einer Fachschule unterbringen könnte. Die Frau unseres Direktors...« »Hör zu, Lola!« sagte Viktor. »Das ist ein guter Gedanke. Ich versuche, irgendwas für sie zu tun. Aber so einfach geht das nicht, das braucht Zeit. Selbstverständlich schreibe ich... « »Schreiben?! Das ist alles, woran du denken kannst. Da schreibt man nicht, sondern geht persönlich hin und bittet. Und dann läßt man nicht mehr locker. Du faulenzt hier sowieso nur herum. Nichts als Saufgelage und Weibergeschichten. Sollte es da so schwer sein, für die leibliche Tochter...« O Gott, dachte Viktor, wie soll ich ihr das erklären? Er zündete sich wieder eine Zigarette an, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Draußen wurde es dunkel. Es regnete immer noch. Die großen, schweren Tropfen fielen ohne Hast. Der Regen wußte um seine Fülle und verriet keine Eile, den Ort zu verlassen. »Ach, wie du mir auf die Nerven gehst!« sagte Lola mit unerwarteter Gereiztheit. »Wenn du das wüßtest...« Es ist Zeit, daß ich gehe, dachte Viktor. Der heilige Zorn einer Mutter, der Groll einer Verlassenen und was sonst noch dazugehört, beginnen sich zu entladen. Heute bekommt sie ohnehin keine Antwort von mir. Und versprechen werde ich ihr auch nichts. »Auf dich kann man sich in nichts verlassen«, fuhr sie fort. »Als Ehemann zu nichts nütze, als Vater ein Versager… Aber ein Schriftsteller, der in Mode ist!
Unfähig, seine eigene Tochter zu erziehen... Jeder dahergelaufene Bauer hat mehr Menschenkenntnis als du! Was soll ich denn jetzt tun? Von dir ist nichts Vernünftiges zu erwarten. Ich stehe allein da, arbeite mich auf für sie und kapn nichts ausrichten. Für sie bin ich eine Null. Jeder von diesen Naßmännern ist ihr hundertmal wichtiger als ich. Aber das macht nichts, du wirst schon noch daraufkommen. Du bringst ihr nichts bei; die tun das an deiner Stelle. Du wirst noch erleben, daß sie dir ins Gesicht spuckt, so wie m i r . . . « »Hör schon auf!« sagte Viktor stirnrunzelnd. »Immerhin hast du irgendwie... Ich bin der Vater, das stimmt. Aber du bist doch die Mutter... Und alle sind bei dir schuldig...« »Hau ab!« sagte sie. »Da haben wir's!« sagte Viktor. »Ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten. Und Hals über Kopf irgendwelche Entscheidungen treffen will ich auch nicht. Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen. Und du... « Hochaufgerichtet stand sie da, geradezu zitternd im Vorgefühl einer Anschuldigung, derentwegen sie mit Genuß einen neuen Streit vom Zaune brechen könnte. »Und du«, sagte er ruhig, »versuch mal, dich nicht aufzuregen! Irgendwas werden wir uns schon ausdenken. Ich ruf dich an.« Er ging in den Vorraum und zog sich den Regenmantel über. Der war noch naß. Viktor warf einen Blick in Irmas Zimmer, um sich zu verabschieden, aber sie war nicht da. Das Fenster stand weit offen, der Regen plätscherte auf das Fensterbrett. An der Wand prangte ein Plakat, auf dem mit schönen großen Buchstaben die Aufschrift stand: »Bitte nie das Fenster schließen.« Das Plakat war zerknittert, eingerissen und voller dunkler Flecken, als hätte man es schon öfter abgerissen und wäre mit den Schuhen darauf herumgetrampelt. Viktor lehnte die Tür an. »Auf Wiedersehen«, sagte er. Lola gab keine Antwort. Draußen war es bereits völlig dunkel geworden. Der Regen tropfte auf Schultern und Kapuze. Viktor zog die Schultern ein und steckte die Hände tiefer in die Taschen. In dieser Anlage haben wir uns zum erstenmal geküßt, erinnerte er sich. Dieses Haus stand damals noch nicht, da war eine freie Fläche und dahinter ein Müllplatz; da gingen wir mit Steinschleudern auf Katzenjagd. Damals gab es in der Stadt eine Unmenge Katzen, aber hier habe ich jetzt noch keine einzige gesehen. Einen Teufel haben wir uns damals um Bücher geschert. Aber Irma hat das Zimmer voll mit Büchern. Was war denn zu meiner Zeit schon ein zwölfjähriges Mädchen? Ein sommersprossiges, kicherndes Wesen, Schleifchen, Puppen, Häschen- und Schneewittchenbilder, immer zu zweit oder zu dritt, einander zuwispernd, Bonbontütchen, schadhafte Zähne, Reinlichkeitsfimmel und Gepetze. Die besten von ihnen waren ganz so wie wir: aufgeschürfte Knie, Wildkatzenaugen und eine Leidenschaft fürs
Trittbrettfahren... Sollte eine neue Zeit angebrochen sein? Nein, dachte er. Das ist keine neue Zeit, obwohl es wiederum nicht auszuschließen i s t… Vielleicht habe ich ein Wunderkind. Das soll ja Vorkommen. Ich bin Vater eines Wunderkindes. Ehrenvoll, aber mühsam, mehr mühsam als ehrenvoll, eigentlich überhaupt nicht ehrenvoll... Dieses Gäßchen habe ich immer geliebt, weil es so schmal war wie kein anderes. Schau mal, da hätten wir auch schon eine Schlägerei! So ist's recht, ohne das geht es bei uns nicht, das gehört bei uns einfach dazu. Das ist schon seit jeher so. Und zwei gegen einen... An der Ecke war eine Straßenlaterne. Am Rand der erleuchteten Fläche stand ein Auto mit Planenverdeck, das vor Nässe troff. Daneben waren zwei in glänzenden Regenmänteln, die einen schwarzgekleideten, durchnäßten Dritten auf das Pflaster niederzudrücken versuchten. Angestrengt und schwerfällig tappten sie auf dem Kopfsteinpflaster herum. Viktor blieb zunächst stehen, ging aber dann näher heran. Es war schwer auszumachen, was hier eigentlich vor sich ging. Nach Schlägerei sah es nicht aus, denn keiner schlug den anderen. Nach einer Rauferei aus purem jugendlichen Übermut noch viel weniger, dazu fehlte das hitzige Kampfgeschrei und das wiehernde Lachen... Plötzlich riß sich der dritte los und fieLauf den Rücken. Die beiden in den Regenmänteln stürzten sich sofort auf ihn. Jetzt bemerkte Viktor, daß die Wagentüren weit offenstanden. Entweder hatte man den Schwarzgekleideten vor kurzem von dort herausgezogen, oder man wollte ihn hineinbefördern. Viktor ging dicht heran und schnarrte: »Aufhören!« Die beiden in Regenmänteln wandten sich unvermittelt um und blickten Viktor aus ihren übergestreiften Kapuzen einige Augenblicke lang an. Viktor bemerkte nur, daß es junge Männer waren und daß ihre Münder vor Anstrengung offenstanden. Dann aber tauchten sie blitzschnell in den Wagen, die Türen schlugen zu, der Motor heulte auf, und der Wagen raste in die Dunkelheit. Der Schwarzgekleidete erhob sich langsam. Viktor blickte ihn an und wich einen Schritt zurück. Das war ein Kranker aus dem Leprosorium, ein »Naßmann«, oder ein »Brillentyp«, wie man sie wegen der gelben Ringe um ihre Augen nannte. Die untere Gesichtshälfte war mit einer festen, schwarzen Binde umwickelt. Sein Atem ging quälend schwer. Bei jedem Atemzug zog sich der Rest seiner Augenbrauen schmerzhaft zusammen. Wasser rann über seinen kahlen Schädel. »Was ist passiert?« fragte Viktor. Der Brillentyp blickte an ihm vorbei. Seine Augen traten aus den Höhlen. Viktor wollte sich gerade abwenden, da traf ihn krachend ein Schlag an den Kopf. Als er zu sich kam, merkte er, daß er mit dem Gesicht nach oben unter einer Regenrinne lag. Warmes Wasser überspülte seinen Mund. Es schmeckte nach Rost. Spuckend und hustend rückte er weg, setzte sich auf und lehnte sich gegen die Ziegelmauer. Das Wasser, das sich in der Kapuze angesammelt hatte,
ergoß sich in den Kragen und rann am Körper hinunter. Der Kopf dröhnte. Viktor schien es, als vernähme er dort Glockenläuten, Trompetenschall und Trommelwirbel. Inmitten dieses Lärms gewahrte er ein mageres, dunkles Gesicht. Ein Jungengesicht, das ihm bekannt vorkam. Irgendwo habe ich ihn gesehen. Das war noch, bevor es in meinem Kiefer krachte... Er bewegte seine Zunge und probierte seine Kiefer aus. Die Zähne waren in Ordnung. Der Junge nahm eine Handvoll Wasser und spritzte es Viktor in die Augen. »Es reicht schon, guter Junge«, sagte Viktor. »Mir schien es, als wären Sie noch nicht zu sich gekommen«, sagte der Junge ernst. Viktor langte vorsichtig mit der Hand in seine Kapuze und betastete seinen Nacken. Dort war eine Beule, sonst nichts, keine zersplitterten Knochen, nicht einmal Blut. »Wer hat mich denn da erwischt?« fragte er nachdenklich. »Ich hoffe, nicht du.« »Können Sie allein gehen, Herr Banev?« fragte der Junge. »Oder soll ich jemanden rufen? Mir sind Sie nämlich zu schwer.« Jetzt entsann sich Viktor des Jungen. »Ich kenne dich«, sagte er. »Du bist doch Bol-Kunaz, ein guter Freund meiner Tochter.« »Ja«, sagte der Junge. »Das ist gut. Du brauchst niemanden zu rufen und niemandem etwas zu sagen. Bleiben wir hier ein bißchen sitzen und versuchen wir, uns Klarheit zu verschaffen.« Beim näheren Hinsehen bemerkte Viktor jetzt, daß auch der Junge etwas abbekommen hatte. Über seine Wange zog sich eine frische, dunkle Schramme; seine Oberlippe war angeschwollen und blutete. »Trotzdem werde ich jemanden rufen«, sagte Bol-Kunaz. »Ist das die Sache wert?« »Sehen Sie, Herr Banev, mir gefällt das nicht, wie Ihr Gesicht zuckt.« »Wirklich?« - Viktor befühlte sein Gesicht. Es zuckte nicht. »Das scheint dir nur so... Also. Und jetzt stehen wir auf. Was ist dazu notwendig? Es ist notwendig, die Beine an den Körper zu ziehen...« Er zog die Beine an, aber es schienen ihm fremde Beine zu sein. - »Dann muß man sich leicht von der Wand abstoßen und den Schwerpunkt verlagern...« Es wollte ihm nicht gelingen, den Schwerpunkt zu verlagern; irgend etwas hinderte ihn daran. Womit hat man mir eine draufgegeben? überlegte er. Ein wahrer Meisterschlag... »Sie stehen auf Ihrem Regenmantel«, teilte ihm der Junge mit. Aber Viktor hatte sich mit Armen und Beinen, mit Regenmantel und dem Orchester in seinem Kopf bereits zurechtgefunden. Er erhob sich. Anfangs mußte er sich noch an die Wand stützen, aber dann ging es besser.
»Aha«, sagte er. »Du hast mich also von dort zur Regenrinne geschleift. Danke.« Die Straßenlaterne stand noch da, aber es fehlten der Wagen und der Brillentyp. Niemand war da. Nur der kleine Bol-Kunaz, der mit der nassen Hand vorsichtig über seine Schramme strich. »Wo sind die alle hin?« fragte Viktor. Der Junge gab keine Antwort. »Habe ich da alleine gelegen?« fragte Viktor. »War da sonst keiner mehr da?« »Ich werde Sie begleiten«, sagte Bol-Kunaz. »Wohin gehen Sie jetzt am besten? Nach Hause?« »Wart mal«, sagte Viktor. »Hast du gesehen, wie sie den Brillentyp verschleppen wollten?« »Ich habe gesehen, wie man Sie geschlagen hat«, sagte Bol-Kunaz. »Wer war es denn?« »Das konnte ich nicht erkennen. Er stand mit dem Rücken zu mir.« »Und wo warst du?« »Verstehen Sie, ich lag um die Ecke... « »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Viktor. »Entweder ist mit meinem Kopf was los oder... Wieso l a g s t du dort um die Ecke? Wohnst du dort?« »Wissen Sie, ich lag dort, weil ich noch vor Ihnen einen Schlag bekommen habe. Das war nicht der, der Sie geschlagen hat, sondern ein anderer.« »Ein Brillentyp?« Sie gingen langsam weiter und versuchten sich auf der Fahrbahn zu halten, um dem Wasser, das sich von den Dächern ergoß, zu entgehen. »N-nein«, sagte Bol-Kunaz nach einigem Nachdenken. »Soviel ich gesehen habe, waren sie alle ohne Brille.« »O Gott«, sagte Viktor. Er langte mit der Hand unter die Kapuze und betastete die Beule. »Ich spreche doch von den Aussätzigen, die heißen doch Brillentypen oder so. Du weißt, die aus dem Leprosorium. Die Naßmänner.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Bol-Kunaz mit Zurückhaltung. »Meiner Meinung nach waren sie alle völlig gesund.« »Na, so was!« sagte Viktor. Irgend etwas beunruhigte ihn, und er blieb stehen. »Willst du mir etwa weismachen, daß dort kein Aussätziger war? Mit einer schwarzen Binde, und überhaupt ganz in Schwarz...?« »Das ist überhaupt kein Aussätziger«, brauste Bol-Kunaz plötzlich auf. »Der ist viel gesünder als Sie... « Zum erstenmal zeigte sich in ihm ein kindlich jungenhafter Zug, der allerdings sofort wieder verschwand. »Mir ist nicht ganz klar, wohin wir gehen«, sagte Bol-Kunaz nach einer Weile. Seine Stimme klang wie früher, ernst, ohne eine Spur von Leidenschaft. »Anfangs hatte ich den Eindruck, Sie würden nach Hause gehen, aber jetzt sehe
ich, daß wir in entgegengesetzter Richtung gehen.« Viktor stand immer noch da und blickte ihn von oben bis unten an. Zweimal zwei ist vier, dachte er. Alles hat er durchgerechnet, analysiert und dann ganz sachlich den Entschluß gefaßt, das Ergebnis für sich zu behalten. Er erzählt mir also nicht, was hier vorgefallen ist. Ich möchte bloß wissen, warum. Sollte das alles ein abgekartetes Spiel sein? Aber so schaut es nicht aus. Und wenn es doch so ist? Es sind ja neue Zeiten angebrochen... Aber das ist ja Quatsch, unsere Kriminellen von heute kenne ich doch... »Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte er und setzte sich wieder in Bewegung. »Wir gehen ins Hotel, ich wohne dort.« Der Junge ging neben ihm her, aufrecht, streng und durchnäßt. Nach einigem Zögern legte ihm Viktor die Hand auf die Schulter. Nichts Besonderes geschah; der Junge duldete es. Wahrscheinlich dachte er, seine Schulter würde für einen nützlichen Zweck gebraucht, als Stütze für einen Verwundeten. »Ich muß dir sagen«, sagte Viktor mit vertraulicher Stimme, »Irma und du, ihr habt eine komische Art zu sprechen. In meiner Kindheit haben wir anders gesprochen.« »Wirklich?« sagte Bol-Kunaz höflich. »Wie haben Sie denn gesprochen?« »Na ja, deine Frage jetzt zum Beispiel. Da hätten wir gesagt: >Was?wichtiger< nicht das passende Wort...« »Ich meine das Physiologische auch nicht«, sagte Viktor. »Ich will sagen, daß es Situationen gibt, in denen der Wissensstand bedeutungslos ist.« Bol-Kunaz wurden aus dem Saal zwei Zettelchen gereicht, die er an Viktor weitergab. >Kann ein Mensch anständig und gut sein, der für den Krieg arbeitet?< und >Was versteht man unter einem klugen Menschen?< Viktor begann mit der zweiten Frage; sie war einfacher.
»Ein kluger Mensch«, sagte er, »das ist ein Mensch, der sich seiner Unvollkommenheit und der Begrenztheit seines Wissens bewußt ist, der bestrebt ist, diese Lücken zu füllen, und darin Erfolg h a t. . . Stimmt ihr zu?« »Nein«, sagte ein hübsches Mädchen, das aufgestanden war. »Weshalb nicht?« »Ihre Definition ist nicht funktional. Jeder beliebige Idiot kann sich mit Hilfe Ihrer Definition als klug bezeichnen. Besonders dann, wenn ihn seine Umgebung in seiner Meinung bestärkt.« Ja, dachte Viktor. Ein leichtes Gefühl von Panik ergriff ihn. Du denkst wohl, du kannst mit denen wie mit deinen Schriftstellerkollegen sprechen? »In gewisser Hinsicht haben Sie recht«, sagte er. Zu seiner Überraschung war er zum >Sie< übergegangen. »Aber es geht darum, daß es sich bei den Bezeichnungen >Dummkopf< oder >klug< um historische oder eher noch subjektive Begriffe handelt.« »Das heißt, Sie trauen sich nicht zu, einen Dummkopf von einem Klugen zu unterscheiden?« Das kam aus den hinteren Reihen. Ein dunkelhäutiges Gesicht, biblische Augen, glattrasierter Kopf. »Wieso?« sagte Viktor. »Das tue ich schon. Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß Sie mit mir immer einer Meinung sind. Es gibt einen alten Aphorismus: >Ein Dummkopf ist ein Andersdenkender...schlecht< bzw. >gut< versehen waren. Genau dasselbe wie bei seinen Schriftstellerkollegen. »Ich habe mich dadurch täuschen lassen, daß ihr wie Erwachsene sprecht«, sagte er. »Ich habe sogar vergessen, daß ihr keine Erwachsenen seid. Ich weiß, daß es pädagogisch unklug ist, so zu sprechen, aber ich muß es sagen, sonst kommen wir nie ins reine. Der Haken liegt darin, daß ihr offenbar nicht begreift, daß ein unrasierter, hysterischer und ständig betrunkener Mann ein bemerkenswerter Mensch sein kann, den man einfach gern haben muß, vor dem man den Hut zieht, bei dem man es sich zur Ehre anrechnet, seine Hand zu drücken. Er hat nämlich eine Hölle durchgemacht, wie man sie sich schrecklicher nicht vorstellen kann, und ist dabei trotzdem ein Mensch geblieben. Alle Helden meiner Bücher sind für euch Abschaum, aber das ist noch nicht das schlimmste. Ihr denkt nämlich, daß ich zu ihnen genauso stehe wie ihr. Und das ist schlimm, denn auf diese Weise werden wir uns nie verstehen...« Weiß der Teufel, welche Reaktion er auf seine gutmütige Zurechtweisung erwartet hatte. Vielleicht würden sie sich betreten anschauen, vielleicht würde sich auf ihren Gesichtern plötzliches Verständnis malen, vielleicht würde ein leiser Seufzer der Er- leichterung durch den Saal gehen zum Zeichen dessen, daß sich das Mißverständnis glücklich aufgeklärt hatte und man jetzt einen neuen Anfang auf einer neuen, realistischeren Grundlage machen könne... Aber nichts dergleichen geschah. In der hinteren Reihe erhob sich der Junge mit den biblischen Augen und fragte: »Könnten Sie uns sagen, was Fortschritt ist?« Viktor war beleidigt. Gleich werden sie fragen, dachte er, ob eine Maschine denken kann und ob es Leben auf dem Mars gibt. Alles kehrt in seine geregelten Bahnen zurück. »Fortschritt ist die Entwicklung einer Gesellschaft zu einem Stadium hin, in dem sich die Menschen nicht mehr töten, zertreten und quälen.« »Und womit werden sich diese Menschen beschäftigen?« fragte der dicke Junge von rechts. »Sie essen und trinken ihr quantum satis«, murmelte jemand von links. »Und warum auch nicht?« bemerkte Viktor. »Die Geschichte kennt nicht gerade viele Epochen, in denen die Leute ihr quantum satis essen und trinken konnten. Für mich ist Fortschritt die Entwicklung zu einem Stadium hin, wo man sich nicht tötet oder zertritt. Womit sich die Menschen dann beschäftigen werden, das ist meiner Ansicht nach nicht so wesentlich. Für mich müssen, wenn ihr so wollt, die notwendigen Bedingungen für den Fortschritt vorhanden sein; hinreichende Bedingungen dafür ergeben sich dann von selbst.« »Erlauben Sie«, sagte Bol-Kunaz. »Betrachten wir folgendes Schema. Die
Automatisierung schreitet mit der gleichen Geschwindigkeit wie jetzt fort. Das heißt, in einigen Jahrzehnten wird die überwiegende Mehrzahl der arbeitenden Erdbevölkerung aus dem Produktionsprozeß und dem Dienstleistungsbereich ausgegliedert, weil sie nicht mehr benötigt wird. Alles wird gut sein: jeder ist satt, man braucht sich gegenseitig nicht zu zertreten, niemand stört den anderen - und keiner braucht den anderen. Natürlich wird es einige hundert Leute geben, die für das reibungslose Funktionieren der alten Maschinen und die Entwicklung neuer Maschinen sorgen, aber die restlichen Milliarden brauchen sich gegenseitig nicht. Wäre das gut?« »Ich weiß nicht«, sagte Viktor. »So ganz gut an sich nicht. Irgendwie ist es beleidigend... Aber ich muß euch sagen, daß es auf alle Fälle besser wäre als das, was wir im Augenblick sehen. Ein gewisser Fortschritt ließe sich also schon nachweisen.« »Würden Sie selbst gerne in so einer Welt leben?« Viktor dachte nach. »Wißt ihr«, sagte er, »ich kann sie mir nicht so recht vorstellen, aber, um ehrlich zu sein, es wäre nicht schlecht, es auszuprobieren.« »Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der es kategorisch ablehnt, in so einer Welt zu leben?« »Natürlich. Es gibt Leute, und ich kenne welche, die sich dort langweilen würden. Staatliche Macht wäre dort überflüssig, niemand wäre herumzukommandieren; zertreten bräuchte man sich auch nicht. Diese Leute würden sich zwar kaum weigern - immerhin wäre es eine günstige Gelegenheit, ein Paradies in einen Schweinestall zu verwandeln - oder in eine Kaserne. Sie würden so eine Welt mit Vergnügen zerstören... Deswegen kann ich mir also doch keinen solchen Menschen vorstellen.« »Und Ihre Helden, die Sie so lieben, würden die so eine Zukunftswelt bauen?« »Natürlich. Und dort bekämen sie dann ihre verdiente Ruhe.« Bol-Kunaz setzte sich, dafür stand der Junge mit dem Pickelgesicht auf. Er nickte bekümmert und sagte: »Genau darum geht es. Nicht darum, ob wir das wirkliche Leben verstehen oder nicht, sondern darum, daß Ihnen und Ihren Helden so eine Zukunft völlig annehmbar erscheint, daß sie in unseren Augen jedoch einer Grabstätte gleichkommt, dem Ende aller Hoffnungen, dem Ende der Menschheit. Einer Sackgasse. Deswegen sagen wir auch, daß wir unsere Kräfte nicht vergeuden wollen, um für das Wohl Ihrer Typen zu arbeiten, Typen also, die nach Ruhe dürsten und so viel Dreck am Stecken haben. Denen kann man keine Energie mehr einhauchen, damit sie zu einem vollgültigen Leben imstande sind. Wie Ihre Absichten auch sein mögen, Herr Banev, aber Sie haben uns in Ihren Büchern - interessanten Büchern, da stimme ich vollkommen zu - keine Menschen gezeigt, die einer Anstrengung unsererseits wert wären, im
Gegenteil, Sie haben uns gezeigt, daß es auf der Welt keine solchen Menschen gibt, zumindest in Ihrer Generation... Sie haben sich selbst aufgefressen, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, Sie haben sich verausgabt in Bürgerkriegsscharmützeln, in Lügen und dem Kampf gegen diese Lügen, den Sie führen, indem Sie neue Lügen ausdenken... Wie heißt es so schön bei Ihnen: >Wahrheit und Lüge, so verschieden seid ihr nicht, die Wahrheit von gestern wird heute zur Lüge, die Lüge von gestern verwandelt sich morgen in lautere Wahrheit, in gewohnte Wahrheit... Menschen< bezeichnet!« Der pickelübersäte Redner machte eine verächtliche Handbewegung und setzte sich. Dann stand er nochmals auf und sagte: »Als ich >Sie< sagte, meinte ich nicht Sie persönlich, Herr Banev.« »Ich danke«, sagte Viktor wütend. Er befand sich in höchster Erregung. Dieser Pickelknirps hatte nicht das Recht, so kategorisch zu sprechen! Das war unverschämt und anmaßend. Man sollte ihm eine überziehen und ihn am Ohr aus dem Saal führen. Er fühlte sich verunsichert, denn vieles von dem Gesagten war wahr, und er selbst dachte ebenso; nur war er jetzt in die Lage eines Menschen geraten, der gezwungen ist, etwas Verhaßtes zu verteidigen. Er empfand Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie er sich weiter verhalten sollte, ob er das Gespräch fortsetzen sollte und ob das überhaupt der Mühe wert war... Er blickte im Saal umher und sah, daß man auf seine Antwort wartete, daß Irma auf seine Antwort wartete, daß all diese rosawangigen, sommersprossigen Ungeheuer gleich dachten, daß der pickelige Frechling nur die allgemeine Ansicht wiedergegeben hatte, und zwar ehrlich, aus tiefster Überzeugung, und nicht deswegen, weil er gestern eine verbotene Broschüre gelesen hatte. Sie verspürten wirklich nicht das geringste Gefühl von Dankbarkeit, oder sei es auch nur elementarer Achtung, ihm gegenüber, und dabei war er doch damals als Freiwilliger zu den Husaren gegangen, war in der Kavallerieformation gegen Panzer angegangen, war fast an der Ruhr gestorben, als sie eingekreist waren, hatte die Posten mit einem selbstgefertigten Messer erledigt, hatte dann schon in der Zivilzeit einem Sonderbevollmächtigten ins Gesicht geschlagen, als dieser ihm eine
Denunziation zur Unterschrift vorlegte, hatte sich als Arbeitsloser mit einem Loch in der Lunge herumgetrieben, hatte mit Früchten gehandelt, obwohl man ihm einträgliche Tätigkeiten anbot... Aber warum sollten sie mich wegen dieser Sachen eigentlich achten? Deswegen, weil ich mit blankem Säbel gegen einen Panzer anging? Man muß ja ein Idiot sein, wenn man eine Regierung hat, die die Armee zu so einem Zustand verkommen läßt... Hier zuckte er zusammen. Er stellte sich vor, welch gewaltige Denkarbeit diese Küken verrichtet haben mußten, um in völliger Unabhängigkeit zu Schlüssen zu gelangen, zu denen Erwachsene erst fähig waren, wenn sie ihre Haut abgezogen, ihre Seele in eine Ruine verwandelt, ihr eigenes Leben und viele Leben um sich herum zugrunde gerichtet hatten - und es waren bei weitem nicht alle dazu fähig, nur einige, die Mehrheit war bis auf den heutigen Tag der Ansicht, alles sei richtig gewesen, eine prima Sache, notfalls wären sie bereit, erneut anzutreten... War denn wirklich eine neue Zeit angebrochen? Fast mit Schrecken blickte er in den Saal. Es schien, als hätte die Zukunft es trotz allem vermocht; ihre Fühler mitten ins Herz der Gegenwart auszustrecken. Diese Zukunft war kalt, erbarmungslos, sie pfiff auf alle Verdienste der Vergangenheit, seien es nun tatsächliche oder vorgegebene. »Kinder«, sagte Viktor. »Wahrscheinlich merkt ihr es gar nicht, aber ihr seid grausam. Ihr seid grausam aus den besten Beweggründen, aber Grausamkeit bleibt Grausamkeit. Sie kann nur neues Leid, neue Tränen und neue Gemeinheiten bringen. Vergeßt das nicht! Und bildet euch ja nicht ein, ihr würdet was ganz Neues sagen. Die alte Welt zu zerstören und auf ihren Gebeinen eine neue zu bauen, das ist eine ziemlich alte Idee. Und kein einzigesmal noch hat es zu den ersehnten Ergebnissen geführt. Eben das, was in der alten Welt besonders vernichtenswert erscheint, paßt sich dem Zerstörungsprozeß, der Grausamkeit und Unbarmherzigkeit überaus leicht an, es wird zu einem unverzichtbaren Bestandteil dieses Prozesses und bleibt erhalten, es schwingt sich zum Herrn der neuen Welt auf und vernichtet schließlich die kühnen Zerstörer. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, mit Grausamkeit läßt sich Grausamkeit nicht ausrotten. Ironie und Mitleid, Kinder! Ironie und Mitleid!« Plötzlich erhob sich der ganze Saal. Das kam völlig überraschend, und Viktor durchzuckte der verrückte Gedanke, es wäre ihm nun doch gelungen, mit seinen Worten seine Zuhörer zu beeindrucken. Aber schon sah er, daß zur Tür ein Naßmann hereingetreten war, hager, schwerelos, fast körperlos, als wäre er ein Schatten. Die Kinder schauten ihn an, mehr noch, sie strebten zu ihm. Er macht eine gemessene Verbeugung zu Viktor, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich an die Seite, direkt neben Irma. Die Kinder setzten sich ebenfalls. Viktor blickte zu Irma und sah, daß sie glücklich war, daß sie
versuchte, es zu verbergen. Aber sie sprühte geradezu vor Freude und Vergnügen. Bevor Viktor sich gesammelt hatte, sprach Bol-Kunaz. »Ich befürchte, Sie haben uns nicht richtig verstanden, Herr Banev. Wir sind keineswegs grausam, und wenn wir es von Ihrem Standpunkt aus auch sind, so ist das nur theoretisch. Wir beabsichtigen nicht im mindesten, Ihre alte Welt zu zerstören. Wir wollen eine neue bauen. Aber Sie sind grausam. Sie können sich den Bau einer neuen Welt nicht ohne die Zerstörung der alten Welt vorstellen. Wir werden Ihrer Generation sogar beim Bau Ihres Paradieses helfen, so daß Sie nach Herzenslust essen und trinken können. Wir wollen nur bauen, Herr Banev, nur bauen. Nichts zerstören, nur bauen.« Viktor riß sich endlich vom Anblick Irmas los und konzentrierte sich. »Ja«, sagte er. »Sicher. Macht schon, baut! Ich bin ganz auf eurer Seite. Ihr habt mich heute erschüttert, trotzdem bin ich auf eurer Seite - vielleicht gerade deswegen. Notfalls verzichte ich sogar auf Essen und Trinken... Aber vergeßt nicht, daß man die alten Welten immer deshalb zerstören mußte, weil sie hinderlich waren - hinderlich beim Bau des Neuen, weil sie das Neue nicht mochten und es unterdrückten. . . « »Die heutige alte Welt«, sagte Bol-Kunaz geheimnisvoll, »wird uns nicht hinderlich sein. Sie wird uns sogar helfen. Die frühere Geschichte hat ihren Lauf eingestellt, man braucht sich nicht mehr auf sie zu berufen.« »Na ja, um so besser«, sagte Viktor müde. »Ich freue mich, daß sich bei euch alles so schön zusammenfügt...« Prachtkinder, diese Jungen und Mädchen, dachte er. Merkwürdig, aber doch Prachtkinder. Leid tun sie mir, das ist es halt... Da wachsen sie heran, kriechen aufeinander, vermehren sich, und dann beginnt die Arbeit ums tägliche Brot... Nein, dachte er verzweifelt. Vielleicht geht es auch ohne das. Sie sind, ganz anders als wir. Vielleicht geht es auch anders... Er nahm die Zettel vom Tisch. Es hatte sich eine Menge angesammelt. >Was ist eine Tatsache?< - >Kann man einen Menschen ehrenhaft und gut nennen, der für den Krieg arbeitet?< >Warum trinken Sie' soviel?.< - >Was halten Sie von Spengler? und der man im gleichen Moment einen elektrischen Schlag verpaßte, vor ihrer Nase einen Knallkörper hochgehen ließ und die man gleichzeitig mit einem Scheinwerfer blendete... Ja, ja, sagte Viktor mitfühlend zu der Katze, deren Zustand er sich jetzt sehr gut vorstellen konnte. Unsere Psyche ist auf solche Schocks nicht vorbereitet, wir beide können bei solchen Sachen draufgehen ... Plötzlich merkte er, daß er festsaß. Man umringte ihn und ließ ihn nicht durch. Einen Augenblick lang ergriff ihn panischer Schrecken. Er hätte sich nicht gewundert, wenn man ihn im gleichen Moment schweigend und routiniert getötet und ihn als Objekt für Ideologieuntersuchungen seziert hätte. Aber man wollte ihn nicht sezieren. Die Kinder streckten ihm aufgeschlagene Büchlein, billige Abreißblocks oder lose Blätter entgegen. Sie plapperten: »Ihr Autogramm, bitte!«, sie piepsten: »Hier, bitte«, sie stotterten: »Seien Sie so freundlich, Herr Banev!« Er holte seinen Füller hervor und schraubte die Kappe ab, wobei er wie ein unbeteiligter Beobachter seinen Empfindungen nachspürte. Er wunderte sich nicht, als er Stolz entdeckte. Das waren Boten der Zukunft, und es war alles in allem ein angenehmes Gefühl, bei ihnen bekannt zu sein.
6 Als Viktor in seinem Hotelzimmer ankam, öffnete er unverzüglich seine Hausbar, goß sich Gin ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter wie eine Arznei. Von den Haaren strömte ihm das Wasser übers Gesicht und in den Kragen. Ganz offensichtlich hatte er vergessen, die Kapuze überzuziehen. Die Hosenbeine waren naß bis zum Knie und klebten an den Beinen. Wahrscheinlich war er blindlings nach Hause marschiert, ohne auf die Pfützen zu achten. Er hatte ein unmenschliches Verlangen zu rauchen; anscheinend hatte er während der vergangenen zwei Stunden keine einzige Zigarette geraucht. Beschleunigte Entwicklung, sprach er zu sich selbst, als er den nassen Regenmantel auf den Boden warf, sich umzog und sich den Kopf mit dem Handtuch abfrottierte. Allein eine beschleunigte Entwicklung, beruhigte er sich. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und machte die ersten gierigen Züge. Da haben wir ein Paradebeispiel, dachte er mit Schrecken, als er an die selbstsicheren Kinderstimmen dachte, die ihm so viel Unsinniges einreden wollten. O Gott, rette die Erwachsenen, rette ihre Eltern, erleuchte sie und mache sie klüger, jetzt ist die Zeit... In Deinem eigenen Interesse bitte ich Dich darum, Gott, sonst bauen sie sich einen babylonischen Turm, einen Grabstein für sämtliche Dummköpfe, die Du, ohne die Folgen beschleunigter Entwicklung zu durchdenken, auf diese Erde gesetzt hast, damit sie fruchtbar seien und sich mehren... Ein Einfaltspinsel bist du, Viktor. Er spuckte die Kippe auf den Teppich und zündete, sich eine neue Zigarette an. Weshalb rege ich mich eigentlich so auf? dachte er. Die Fantasie ist mir durchgegangen... Na ja, Kinder, beschleunigte Entwicklung, was soll's, eben frühreif. Als hätte ich noch nie frühreife Kinder gesehen. Wie komme ich darauf, daß sie sich selbst alles ausgedacht haben? Da haben sie in der Stadt allerlei Schund gesehen, irgendwelches Buchzeug verschlungen, alles vereinfacht... Natürlich mußten sie den Schluß ziehen, daß es nötig sei, eine neue Welt zu bauen. Und es sind ja beileibe nicht alle so. Die haben auch ihre Wortführer und Schreihälse. Da ist der Bol-Kunaz... Dieser Pickelige... dann noch das hübsche Mädchen. Das sind die Anstifter. Die übrigen waren Kinder wie andere Kinder auch, die saßen nur da, hörten zu und langweilten sich... Viktor wußte, daß das nicht stimmte. Na ja, nehmen wir mal an, sie langweilten sich nicht, sondern hörten mit Interesse zu. Trotzdem, Provinz, berühmter Schriftsteller ... Wie dem auch sei, ich hätte jedenfalls in diesem Alter keines von meinen Büchern in die Hand genommen. Ich wäre ebensowenig anderswo hingegangen außer in einen Abenteuerfilm oder einen Wanderzirkus, um die Schenkel der Seiltänzerin zu bewundern. Auf die alte Welt pfiff ich, ebenso auf die neue, von der ich keine Vorstellung hatte. Da gab es nur Fußball bis zum Umfallen, irgendwo eine Birne rausschrauben und gegen die Wand schmeißen,
oder irgendeinem Muttersöhnchen auflauern und ihm die Schnauze vollhauen... Viktor legte sich im Sessel zurück und streckte die Beine von sich. Alle erinnern wir uns gerührt an die Bilder einer glücklichen Kindheit und sind überzeugt, daß es seit den Zeiten Tom Sawyers immer so war, noch ist und auch sein wird. So muß es sein. Wenn es nicht so ist, heißt es, das Kind sei nicht normal, es wird mit Abstand betrachtet, zum Objekt geringfügigen Mitleids, bei direkter Konfrontation ruft es den Unwillen des Pädagogen hervor. Und das Kind betrachtet dich mit sanftem Blick und denkt: >Du bist natürlich erwachsen, kräftig gebaut, kannst mich verprügeln, allerdings bist du von Kindheit an ein Dummkopf und wirst es auch bleiben und wirst als Dummkopf sterben. Aber dir genügt das nicht, du möchtest auch aus mir einen Dummkopf machen...< Viktor goß sich nochmals Gin ein und begann darüber nachzudenken, wie alles gewesen war, und er mußte einen hastigen Schluck nehmen, um vor Scham nicht aufzustöhnen. Wie anmaßend und selbstsicher war er vor diese Kinder getreten, alle von oben herab betrachtend, mit welchen Plattheiten und frommen Dummheiten hatte er sogleich begonnen, welch modisches Gesäusel hatte er von sich gegeben; wie hatten sie ihn bestürmt, doch er hatte keine Ruhe gegeben und weiterhin sein schreiendes intellektuelles Unvermögen demonstriert, wie ehrlich hatten sie versucht, ihn auf den wahren Weg zu führen, sogar gewarnt hatten sie ihn, er jedoch hatte weiterhin Banales und Triviales verzapft, in der Vorstellung befangen, ein glücklicher Zufall würde ihm schon aus der Patsche helfen, irgendwie würde es schon gehen... Als man ihm schließlich eine aufs Haupt gegeben hatte, hatte er feige Tränen vergossen und sich beklagt, man würde zu hart mit ihm umgehen... Wie schmachvoll war sein Jubel, als man von ihm Autogramme wünschte... Viktor heulte auf; er hatte begriffen, daß er ungeachtet seiner forcierten Aufrichtigkeit nie und nimmer die Ereignisse des Tages weitererzählen würde, daß er in etwa einer halben Stunde zur Erhaltung seines seelischen Gleichgewichts das Geschehene mit Scharfsinn so hinstellen würde, als sei die ihm zugefügte Ohrfeige der größte Triumph seines Lebens oder wenigstens eine ziemlich alltägliche, nicht allzu interessante Begegnung mit untypischen Wunderkindern gewesen; es waren halt Kinder, was sollte man von ihnen schon erwarten, deswegen kannten sie sich auch so mangelhaft in der Literatur und im Leben aus... Mein Platz wäre im Ministerium für Aufklärung, dachte er haßerfüllt. Solche wie mich hat man dort schon immer gebraucht... Der einzige Trost liegt darin, daß es von dieser Sorte Kindern vorläufig noch sehr wenige gibt; selbst wenn die beschleunigte Entwicklung im heutigen Tempo vonstatten geht, werde ich zu dem Zeitpunkt, da es ihrer viele gibt, mit Gottes Hilfe selig hinscheiden. Eine wunderbare Sache ist das, rechtzeitig zu sterben...! Es klopfte an der Tür. Viktor rief »Ja!«, und Pavor kam herein, einen falschen
Bucharaschlafrock umgehängt, wirr und mit geschwollener Nase. »Endlich«, sagte er mit verschnupfter Stimme. Er setzte sich Viktor gegenüber, zog ein großes, nasses Taschentuch hervor und begann zu niesen und sich zu schneuzen. Er bot einen jämmerlichen Anblick. Vom früheren Pavor war keine Spur mehr zu sehen. »Was heißt - endlich?« erkundigte sich Viktor. »Wollen Sie Gin?« »Ach, ich weiß nicht...«, gab Pavor schniefend und hustend zur Antwort. »Diese Stadt macht mich fertig... Ha-ha-ha-ha- tsch-sch-schi! Ach...« »Gesundheit«, sagte Viktor. Pavor blickte ihn mit tränenden Augen an. »Wo verstecken Sie sich eigentlich?« fragte er herausfordernd. »Dreimal habe ich bei Ihnen geklopft, wollte mir was zum Lesen holen. Ich gehe hier drauf, mache nichts anderes als niesen und schneuzen... Im Restaurant keine Seele. Zum Portier bin ich dann gegangen, und dieser alte Trottel hat mir das Telefonbuch und alte Prospekte als Lektüre vorgeschlagen... >Besuchen Sie unsere sonnige Stadt!< Haben Sie was zum Lesen?« »Kaum«, sagte Viktor. »Zum Teufel, Sie sind doch Schriftsteller! Na ja, ich verstehe, Sie lesen keine anderen, aber Ihre eigenen Sachen werden Sie doch wohl hin und wieder durchblättern... Von allen Seiten tönt es: >Banev, Banev.. .< Wie ist der eine Titel da? >Der Tod nach Mittag