Buch Lauren Dane kehrt in ihre Heimatstadt Cat Creek zurück und kauft das Haus, in dem sie geboren wurde. Hier findet s...
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Buch Lauren Dane kehrt in ihre Heimatstadt Cat Creek zurück und kauft das Haus, in dem sie geboren wurde. Hier findet sie einen großen, mit schwarzer Farbe bemalten Spiegel vor. Neugierig entfernt sie die Farbe - und erblickt eine fremdartige Landschaft. Von einem seltsamen Drang getrieben, den sie weder verstehen noch unterdrücken kann, tritt sie durch den Spiegel in die Parallelwelt Oria ein. Zur gleichen Zeit gelangt auch Molly McColl in dieses magische Reich, doch sie tut es nicht freiwillig: Sie wird aus ihrem Trailer-Heim in die andere Dimension entführt. Dort enthüllt ihr Seolar, der Meister des Kupferhauses, dass sie über große magische Kräfte verfügt. Sowohl Molly als auch Lauren, die sich in ihrem bisherigen Leben völlig fremd waren, müssen erkennen, dass sie Teil einer vielschichtigen schicksalhaften Verstrickung sind. Ihre Entscheidungen können für die Erde wie für Oria, ja sogar für das ganze Universum, katastrophale Auswirkungen haben ... Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem, Ohio, geboren und wuchs in den USA, in Costa Rica und Guatemala auf. Zunächst arbeitete Holly Lisle als Musikerin, bevor sie sich in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley auf das Schreiben konzentrierte und schon bald ihre ersten Erfolge als Autorin feierte. Von Holly Lisle bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551), 3. Der Flug der Falken (26552)
Holly Lisle
Die Höllenfahrt Das Gesetz der Magie 1
Aus dem Englischen von Michaela Link BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Memory of Fire. The World Gates, Book 1« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24126 Redaktion: Sabine Wiermann UH • Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24126-X www.blanvalet-verlag.de Für Matthew Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Memory of Fire. The World Gates, Book 1« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24126 Redaktion: Sabine Wiermann UH ■ Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24126-X www.blanvalet-verlag.de
Für Matthew 1 Ballahara, Nuue, Oria Als Molly McColl erwachte, war es dunkel - und mehrere Männer zerrten sie aus ihrem Bett und zur Tür ihres Schlafzimmers. Die Tür erglühte in einem beängstigenden, grünen Licht. Sie verschwendete keine Zeit darauf zu schreien; sie wehrte sich. Sie trat beherzt zu; es fühlte sich an, als hätte sie gegen einen Stein getreten, aber sie hörte das befriedigende Bersten von Knochen unter ihrem Fuß und anschließend einen schrillen Schmerzensschrei. Sie rammte einem anderen Mann ihren rechten Ellbogen in die Rippen und in den Magen und konnte ihre Hand aus den dünnen, heißen starken Fingern des Mannes befreien, der sie von hinten festhielt. Dann drehte sie sich um und biss in die Finger, die ihr linkes Handgelenk umklammerten, und wurde mit einem Aufheulen belohnt. Sie kratzte, sie trat um sich, sie biss und kämpfte mit jedem Trick, der ihr zur Verfügung stand, und mit der ganzen Kraft ihres Körpers und der Angst und dem Zorn, die in ihr tobten. Aber die Männer waren in der Überzahl, und obwohl sie diejenigen, die sie verletzt hatte, zusammengekrümmt auf dem Boden liegen sah, zerrten die übrigen ihrer Angreifer sie nach wie vor auf diese Mauer aus Feuer zu. Sie schrie, aber als die Gruppe hoch gewachsener Männer um sie herum sie in die Flammen hineindrängte, erstarb ihr Schrei und mit ihm alle anderen Geräusche. Kein Schmerz. Keine Hitze. Die Flammen, die über ihre Haut strichen, verletzten sie nicht - im Gegenteil, das kalte 7 Feuer fühlte sich wunderbar an, es war erfrischend und belebend gleichzeitig. Während ihre Entführer sie mit Gewalt in den gewölbten pulsierenden Tunnel zerrten, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf »Ja«. In der Sekunde oder der Ewigkeit -, in der sie an jenem seltsamen Ort schwebte, hielt niemand sie fest, niemand versuchte, ihr wehzutun, und zum ersten Mal seit langer Zeit löste sich aller Schmerz in ihrem Körper vollkommen auf. Sie hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte; auf der einen Seite hatte sie das Gefühl, um ihr Leben kämpfen zu müssen, und auf der anderen Seite kam es ihr so vor, als bewege sie sich in etwas ganz und gar Wunderbares hinein. Und dann wurde sie aus dem Tunnel grünen Feuers in eine Welt aus Eis und Schnee und Dunkelheit katapultiert, und alle Zweifel waren vergessen. Die Männer hielten sie nach wie vor gefangen, und einer von ihnen rief jetzt: »Holt Seile und einen Wagen - sie hat Paith und Kevrad und Tajaro verletzt. Wir werden sie fesseln müssen.« Sie steckte in Schwierigkeiten; was immer hier vorging, es konnte nichts Gutes dabei herauskommen. »Es sind nur zwei Leguas bis zum Kupferhaus.« »Das wird ihr genügen, um einen von uns umzubringen. Fesselt sie.« »Aber der Imallin hat gesagt, sie dürfe nicht verletzt werden.« Jetzt griffen andere Hände nach ihr, hielten ihre Füße fest, umklammerten ihre Ellbogen und Handgelenke, die Knie und die Waden.
»Du sollst sie auch nicht verletzten«, sagte der Mann, der ihrem Kopf am nächsten war. »Du sollst sie lediglich fesseln, damit sie uns nicht verletzen kann, verdammt. Und wo ist dieser nutzlose Torhüter geblieben, den der Imallin damit beauftragt hat, das Tor zu schaffen? Einige unserer Leu8 te sind immer noch drüben! Schick jemanden zu ihnen, der sie herausholt, bevor er das Tor schließt!« Molly wehrte sich aus Leibeskräften, aber die Männer -dünn und hoch gewachsen, aber stark - zwangen sie, weiterzugehen. Immer mehr von ihnen packten ihre Arme und Beine, bis sie sich einfach nicht mehr bewegen konnte. Als sie einsah, dass sie sich nicht mehr wehren konnte, entspannte Molly sich vollkommen. Zum einen wollte sie ihre Energie nicht sinnlos verschwenden. Zum anderen würde sich ihr, wenn sie ihre Gegenwehr einstellte, vielleicht die Möglichkeit bieten, die Männer zu überraschen und auf diese Weise zu entkommen. »Torhüter - kannst du das Tor noch ein Weilchen offen halten?«, rief jemand hinter ihr. »Wir gehen noch einmal hinüber, um die anderen zurückzuholen!« »Er taugt nichts«, murmelte einer ihrer Entführer. »Näher konnte er uns an die Stadt nicht heranbringen. Ein guter Torhüter hätte uns das Ding fast auf den Hof gestellt.« »Mir gefällt die Atmosphäre hier im Wald heute Nacht auch nicht«, sagte der Mann, der ihr am nächsten stand. »Sorgt dafür, dass die Soldaten einen engen Ring um uns bilden.« Molly stand mit ihren nackten Füßen auf festgetretenem Schnee, und sie trug nichts als einen Flanellpyjama. Als sie ihren Widerstand aufgab, kam ihr diese Tatsache mit erschreckender Deutlichkeit zu Bewusstsein. »Wenn ihr mir nicht ein Paar Stiefel und einen Mantel beschaffen könnt und vielleicht auch eine Mütze und Handschuhe, braucht ihr euch keine Sorgen mehr darum zu machen, wie ich dorthin komme, wohin ihr mich bringen wollt, weil ich nämlich an Ort und Stelle erfrieren werde.« Jemand zerrte ein großes, schnaubendes Tier durch die Dunkelheit auf Molly zu, und hinter dem Tier erkannte sie einen großen hölzernen Wagen, wie Bauern ihn benutzten. 9 Aber was zum Teufel war das für eine Kreatur, die den Wagen zog? Es war kein Pferd, und es war auch nichts, was Ähnlichkeit mit einer Kuh gehabt hätte; es sah ungefähr so aus, wie man sich eine Kreuzung aus einem Elch und einem Karibu vorstellen musste, und Molly glaubte Knochen zu erkennen, wo sie nicht hingehörten. Alles in allem hatte das Geschöpf keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Lasttier, das Molly je gesehen hatte. Und seine Augen glühten in der Dunkelheit wie rote Höllenfeuer. »Du brauchst weder die Schuhe noch den Mantel«, sagte der Mann, der bisher am meisten mit ihr gesprochen hatte. »Du wirst auf dem Heuwagen fahren, eingehüllt in ein paar Decken. Falls du beschließen solltest, einen Fluchtversuch zu unternehmen, kannst du barfuss durch den Schnee laufen.« »So kannst du doch nicht mit der Vodi reden«, protestierte einer der anderen Männer. »Bisher weiß niemand, ob sie wirklich die Vodi ist. Vorerst ist sie die Kreatur, die Byarriall die Brust zerschmettert und Loein ein Bein gebrochen hat. Welche Vodi würde so etwas tun?« Molly wusste nicht, was eine Vodi war. Es interessierte sie auch nicht. »Vielleicht eine, die mitten in der Nacht aus ihrem Bett entführt wurde?«, sagte sie, aber die Männer schienen ihr nicht mehr zuzuhören. Der Mob hob sie hoch und stieß sie auf die Ladefläche des Wagens, und die meisten der Männer kletterten ebenfalls hinauf. Dann bückten einige von ihnen sich, um ihr ein weiches Seil um die Knöchel zu schlingen und dann ein weiteres um ihre Handgelenke. Als sie sie gefesselt hatten, packten sie sie in dicke Decken und schoben sie tief zwischen die Heuballen auf dem Wagen. Sofort wurde ihr wärmer. Verdammt, sie fror wirklich nicht mehr. Aber als der Wagen sich schlingernd und knarrend in Bewegung setzte, hörte sie, dass sich links und 10 rechts von ihr Soldaten formierten. Die Geräusche waren ihr zutiefst vertraut: das Knarren von Stiefeln und Rucksackriemen, die leisen Flüche, die rhythmischen Schritte von Menschen, die schwer an Ausrüstung und Waffen zu tragen hatten. Sie erinnerte sich nur allzu gut an ihre Grundausbildung - auch wenn sie es bei der Luftwaffe ziemlich einfach gehabt hatte im Vergleich zu den Rekruten bei der Armee oder der Marineinfanterie, war sie doch lange genug marschiert, um den Drill zu kennen. Sie hatte eine Militäreskorte. Was zum Teufel ging hier vor? Aber die Männer, die sie entführt hatten, waren keine Soldaten. Sie waren zu selbstsicher gewesen, zu wenig auf Widerstand gefasst. Soldaten wussten, dass sie überall mit Ärger rechnen mussten, und ergriffen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Mehr noch beschäftigte sie jedoch der Gedanke an das Gefühl dieser Hände auf ihrem Körper -heißer, dünner, trockener Hände. Sie beschloss, nicht einfach darauf zu warten, dass diese Männer sie dorthin schleppten, wo sie hinwollten, und ihr dann ... anzutun, was immer sie mit ihr vorhatten. Sie hatte bei der Luftwaffe gelernt, dass man eine Gefangennahme als Geisel am ehesten überlebte, wenn man keine Geisel blieb. Also machte sie sich daran, sich von dem Seil um ihre Handgelenke zu befreien, was ihr durch Beharrlichkeit und eine hohe Schmerztoleranz gelang. Es ging nicht ganz ohne Verletzungen - Molly trug Kratzer und Schürfwunden von den Metalldrähten davon, die sich unter der weichen Außenhülle ihrer Fessel verbargen, und sie spürte die warme Feuchtigkeit von Blut, das ihr über die Hand sickerte -, aber das alles bekümmerte sie nicht weiter. Ich wickele mir eine Decke um jeden Fuß und binde sie mir mit dem Seil fest, dachte sie. Nur ein schwacher
Ersatz für Stiefel, aber es wird genügen, um nach Hause zu kom11 men. Die anderen Decken benutze ich als Poncho, und dann nichts wie weg hier. Sie konnte den Spuren im Schnee folgen. Allerdings gab es da noch ein paar lästige Kleinigkeiten. Sie hatte sich nicht gestattet, darüber nachzudenken, während sie kämpfte, während sie sich von den Fesseln um ihre Hände und Füße befreite, während sie aus den Decken Stiefel faltete und sie festband. Seit sie aus dem Tunnel aus Feuer herausgekommen war, hatte sie kein Motorengeräusch gehört, sie hatte kein Auto vorbeifahren hören oder irgendetwas gesehen, das auch nur im Entferntesten an elektrisches Licht erinnerte; ebenso wenig hatte sie ein Flugzeug am Himmel gehört. In der Dunkelheit konnte sie vage die Umrisse von Bäumen erkennen, aber das war auch so ziemlich alles. Kein Stern leuchtete vom Himmel herab, der ihr sehr nah schien und von weiterem Schnee kündete. Wenn es ihr gelang, den Soldaten zu entkommen, die zu beiden Seiten des Wagens marschierten, und wenn sie es außerdem fertig brachte, die Wagenspuren bis zu der Stelle zurückzuverfolgen, an der sie aus dem Tunnel aus Feuer herausgekommen war, würde dieser Tunnel wahrscheinlich nicht mehr da sein. Und sie hatte große Angst, dass es keinen anderen Weg nach Hause gab. Sie lauschte dem Gespräch der Männer, die die Wagen fuhren, und konnte es ohne Mühe verstehen, aber wenn sie sich zwang, auf die einzelnen Worte zu achten, so hörte sie ein Übermaß an miteinander verschmelzenden Vokalen, die mit denen der englischen Sprache wenig Ähnlichkeit hatten. Die Hände auf ihren Armen hatten sich sehr seltsam angefühlt, und zwar nicht nur wegen ihrer Trockenheit, ihrer Wärme und ihrer Zartheit. Als Molly die Augen schloss, ihre Atmung beruhigte und sich auf ihre Entführung konzentrierte, wurde ihr klar, dass die Hände dieser Männer zu viele Finger gehabt hatten. Und als sie sich zur Wehr gesetzt 12 hatte, hatte sie mit den Ellbogen Rippen getroffen, wo gar keine Rippen hätten sein dürfen. Wenn die Sonne aufging oder sie an einen Ort mit Lichtern kamen, so dass sie ihre Entführer zum ersten Mal richtig sehen konnte, ging es Molly durch den Kopf, würde ihr dieser Anblick nicht gefallen. Denn wenn sie wirklich darüber nachdachte, hatte sie das starke Gefühl, dass sie nicht länger auf der Erde war - und dass diese Männer keine Menschen waren. Sie hatte ihre improvisierten Stiefel an den Füßen und ihren Deckenponcho um die Schultern gelegt und verknotet, aber sie würde nirgendwo hingehen. Noch nicht. Sie machte sich bereit, bei der ersten Gelegenheit loszurennen, aber nicht in einen kalten, dunklen, weglosen Wald, über dem sich ein Schneesturm zusammenbraute und in dem sie nirgends ein Zeichen von Zivilisation entdeckt hatte. Sie legte sich wieder in das Heu und ließ sich von der Wärme, dem Schaukeln des Wagens und den Stimmen um sie herum einlullen, ohne wirklich zu schlafen. Eilige Schritte und im Zorn erhobene Stimmen rissen sie aus ihrem Dämmerzustand. Ein Streit! Sie wünschte, sie hätte gewusst, wo sie sich hinwenden musste, denn ein Streit würde ihr eine perfekte Gelegenheit liefern, um sich in die Dunkelheit davonzustehlen. Aber dann sprang jemand zu ihr auf den Wagen. Jemand riss ihr die Decke vom Gesicht. In der Dunkelheit, die weder vom Mond und den Sternen noch von irgendeiner künstlichen Lichtquelle erhellt wurde, sah sie nicht mehr, als sie vorher unter ihrer Decke hatte sehen können. Schnee wehte ihr ins Gesicht, und die dichten, stetig fallenden Flocken ließen einen unmittelbar bevorstehenden Schneesturm ahnen. »Vodi - oh, Vodi - ich bringe dir mein Kind«, sagte der 13 Mann, der auf den Wagen gesprungen war. Er kniete im Stroh neben Molly nieder, und sie machte die Umrisse eines in eine weiße Decke gehüllten Bündels in seinen Armen aus. Es war klein. Reglos. Stumm. Er legte das Bündel neben Molly und drückte die Stirn auf den strohbedeckten Boden des Wagens. »Sie stirbt, Vodi«, sagte er. »Du kannst sie mit einem Wort retten. Mit einer einzigen Berührung.« Molly hätte schweigen können. Sie hätte das Gesicht abwenden können. Aber plötzlicher Zorn wallte in ihr auf, und sie schrie: »Ihr habt mich entführt, mich gefesselt und mich den ganzen Tag und einen Teil der Nacht ohne Wasser und Nahrung auf diesem kalten Wagen gefangen gehalten! Und jetzt bittest du mich, dir zu helfen? Wer wird denn mir helfen?« Der Mann sagte nichts. Stattdessen berührte er mit zitternden Fingern ihre Hand. »Meine anderen vier Kinder sind in den vergangenen drei Tagen gestorben. Ewilla ist mein letztes. Ein Wort von dir ist alles, worum ich bitte. Ein einziges Wort, um sie zu heilen, sie zu retten, damit meine Gefährtin und ich nicht alles verlieren, was wir lieben. Verfluche mich, und ich werde die Last deines Fluchs mit Freuden tragen - selbst wenn es der Tod sein sollte. Aber sprich ein einziges Wort für ein sterbendes Kind.« Mollys Magen krampfte sich zusammen. In ihr tobten Furcht und Zorn, aber gleichzeitig wusste sie auch, dass dies ihre Bestimmung war. Es war ihr Beruf, es war ihr Leben. Sie streckte die Hand aus, und der Mann legte ihr das reglose Kind auf den Schoß. Molly berührte die trockene Haut von Ewillas Gesicht und spürte schreckliches Fieber und eine unbarmherzige Verkrampfung des Fleisches über Knochen, die sich bereits tot anfühlten. Was sie nicht fühlte was sie bisher immer in der Gegenwart der Kranken und der Sterbenden gefühlt hatte -, war der Schmerz des Lei14
denden. Sie spürte nur ihre eigene Wange dicht über dem Gesicht des Kindes und die schnellen, heißen Atemstöße, die über ihre Haut strichen und ihr sagten, dass Ewilla noch lebte. »Ich kann ihre Krankheit nicht fühlen«, erklärte Molly. »Sie ist krank. Sie ist dem Tode sehr nah.« »Du verstehst mich nicht. Ich kann ihren Schmerz nicht fühlen. Ich kann nicht fühlen, was sie fühlt, ich weiß nicht, ob ich ihr helfen kann.« »Bitte. Oh, bitte. Sie ist alles, was ihre Mutter und ich noch haben.« Molly schloss die Augen, und ihre Finger, die noch immer auf Ewillas Wange ruhten, zitterten. Seit ihrer Kindheit hatte Molly den Kranken geholfen, indem sie die rasiermesserscharfen Schmerzen ihrer Krankheit aufgenommen und ihren unmittelbar bevorstehenden Tod in ihren eigenen Körper gezogen hatte, und sie hatte das Grauen dieser Menschen gefühlt, wenn es durch sie selbst hindurchströmte. Jetzt fühlte sie nichts; ein gewisses Mitleid mit dem Vater, ja. Einen gewissen Zorn über ihre eigene Situation, auch das. Aber keinen Schmerz. Keine Furcht. Kein ... kein Gift. »Genese«, flüsterte sie ohne echte Hoffnung, ohne wirklich zu erwarten, dass es etwas nutzen würde, nur erfüllt von der vagen Entschlossenheit, dass sie, wenn sie helfen konnte, es auch tun würde. Sie berührte das Gesicht des Kindes. An der Stelle, an der ihre Finger Ewillas Haut berührten, erglühte ein winziger Punkt grünweißen Feuers, das sich schnell ausbreitete. Es war das Feuer des Tunnels, der sie an diesen Ort gebracht hatte, und es erschreckte und ängstigte sie. Molly riss ihre Hand zurück, aber die Verbindung blieb bestehen. Sie konnte das kühle, belebende Dahinfließen eines mächtigen Stroms bei Flut spüren, und dieser Strom 15 floss durch sie und das Kind hindurch, er umspülte sie beide, dann fuhr er in das Kind hinein und veränderte es. Er veränderte Ewilla Zelle um Zelle, Molekül um Molekül und ersetzte Krankheit durch Gesundheit, Schwäche durch Stärke, Tod durch Leben, entriss sie dem Tod, als sei dieser nicht mehr als ein oberflächlicher Makel. Leben floss in das Kind hinein, so rein und kraftvoll wie die Schöpfung selbst. Molly, die wie gebannt war von dieser unvorstellbaren Macht, dieser aberwitzigen Magie, konnte kaum atmen. Sie hatte das Gefühl, dass sie aus dem Nichts einen Wirbelwind heraufbeschworen und Götter wie Dämonen herbeigerufen und ihnen zu tanzen befohlen hatte, und sie hatten ihr gehorcht. Berauscht überließ sie sich dem Strudel der Macht, der sie umfing und liebkoste. Und dann sah sie zum ersten Mal das Kind, das in ihren Armen lag, wirklich an. Es war eingehüllt von grünem Feuer, von Licht umstrahlt wie das Zentrum einer unirdischen Sonne. Und all ihre Ängste wurden Wirklichkeit durch den Anblick dieses Gesichtes. Es war keine bloße Krankheit, und es war auch keine Entstellung; Molly konnte das kleine Geschöpf unmöglich betrachten und sich einreden, dass das Kind im Mutterleib verformt worden war. Die Kleine war ein wunderschönes Geschöpf. Aber sie war kein Mensch, war es nie gewesen. Ihre Augen, die schräg standen wie die einer Siamkatze und so groß waren wie Limonen, waren von einem Winkel zum anderen smaragdgrün, ohne Lederhaut, ohne Pupille, ohne Iris. Es waren zwei polierte Edelsteine, eingefasst von einem Gesicht mit hohen Wangenknochen und federgleichen Brauen, einem Gesicht, das ebenso liebreizend wie erschreckend war. Als das Kind seine winzige Hand aus der weichen Decke, die es einhüllte, herauszog, hatte diese Hand zu viele Finger, und jeder Finger hatte zu viele Gelenke. Molly blickte in das Gesicht des Vaters auf, und die gleichen 16 Augen, die gleichen spitzen, verbogenen, fremdartigen Gesichtszüge sahen ihr entgegen. Dann wurde das letzte Gift aus dem kleinen Mädchen herausgespült, und das Feuer, das durch Molly floss und nicht länger benötigt wurde, strömte zurück in das Herz des Universums, das es hervorgebracht hatte, und das Licht erstarb. Das Kind richtete sich auf, sah sich um und stieß mit den so weich fließenden Lauten, die Molly merkwürdigerweise ohne Schwierigkeiten verstand, mit unglaublicher Geschwindigkeit einen wütenden Wortschwall aus. Die Kleine rutschte von Molly weg und streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Molly konnte den Vater weinen hören. Seine Stimme klang rau, und hätte sie jemals einen Menschen auf diese Weise schluchzen hören, hätte sie es vielleicht für ein Würgen gehalten. Aber Molly verstand. Der Vater des Kindes schlang beide Arme um seine Tochter und drückte sie fest an sich, als wolle er sie durch seine Brust hindurch in sein Herz ziehen. Schluchzend sagte er: »Ich muss sie nach Hause bringen - aus der Kälte heraus.« Für einen kurzen Augenblick löste er sich von seiner Tochter und fügte hinzu: »Wenn du mich am dringendsten brauchst, werde ich für dich da sein. Ich schwöre es.« Molly, die immer noch unter Schock stand, starrte ihre Hände an, als gehörten sie nicht zu ihr. Grünes Feuer war aus ihrer Berührung erwachsen, und ein unirdisches Monstrum schwor ihr Treue. Sie wollte sich verstecken. Sie wollte schreien oder ohnmächtig werden. Stattdessen flüsterte sie ihm zu: »Bring mich nach Hause.« »Du bist bei Freunden«, antwortete er. »Du musst uns vertrauen. Man wird dich jetzt in deine Burg bringen. Du wirst eine Göttin sein, Vodi. Und solltest du mich jemals brauchen, sprich nur meinen Namen. Sag >Yaner, YanerChaosInteressantem