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Die Hexe von Florenz Ein Gespenster-Krimi von Mike Shadow Renata Pascalo trat durch die Holztür ins Freie. Das Stimm...
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Die Hexe von Florenz Ein Gespenster-Krimi von Mike Shadow Renata Pascalo trat durch die Holztür ins Freie. Das Stimmengewirr im »Ristorante Marisa« blieb hinter ihr zurück. Draußen flutete helles Sonnenlicht über sie herab und ließ das lange schwarze Haar bläulich aufleuchten. Renata riskierte einen Rundblick über die asphaltierte Fläche vor dem Hotel und dem Ristorante. Ein paar Pkw waren hier geparkt und zwei große Busse. Und von der Autostrada rollte gerade ein weiterer Wagen heran, ein weißer Rolls-Royce. Renata nahm ihn nicht wahr, denn in ihr klang plötzlich eine Stimme auf, die sie noch nie gehört hatte. »Drachenzahn und Hexenschrei, Riese, eile flugs herbei!« So ein Blödsinn, dachte Renata und wollte sich nach dem Sprecher dieser Worte umdrehen, als ihr aufging, daß die Worte nicht laut erklungen waren. Sie waren nur in ihrem Kopf gewesen. »Ja, bin ich denn verrückt?« stieß sie hervor. Aber dann – dann wurde um sie herum alles anders! Sie wollte schreien und konnte es nicht mehr. Sie sah den Riesen, der durch den Zauberreim herbeigerufen worden war, und dieser Riese nahm Renata Pascalo mit sich! Seine Pranke umschloß ihren Körper, und dann war Renata im hellsten Sonnenlicht verschwunden, als habe jemand das Licht ausgeknipst! Jeder Bastei-Gespenster-Krimi ist eine deutsche Erstveröffentlichung Klaus Rollnitz sah den weißen Rolls-Royce auch, aber solche Autos, überlegte er in seinem jugendlichen Leichtsinn, sah man alle Tage. Schöne Mädchen wie die Schwarzhaarige, die gerade aus dem kleinen Restaurant kam, waren es schon eher wert, betrachtet zu werden. Und das tat er ausgiebig. Er lehnte im Schatten eines Baumes. Klaus hatte sich vom kühlen Deutschland in den warmen Herbst Italiens gerettet, hatte die Berufsschule sich selbst überlassen 2
und machte Urlaub von der Welt der Ordnung. Vorher hatte er nicht vergessen, sich mit Stoff einzudecken, weil er doch in Italien keinen Dealer kannte und auch nicht an die falsche Adresse geraten wollte. Mehr brauchte er als Handgepäck nicht. Interessiert beobachtete er die schwarzhaarige Schönheit. Wie alt mochte sie sein? Siebzehn, achtzehn? Vielleicht konnte es sich lohnen, ihr einen guten Tag zu wünschen, und Klaus strich sich einmal durch das schulterlange Haar und kratzte seine paar Brocken Italienisch zusammen. Den Zauberspruch, der mit Drachenzahn und Hexenschrei einen Riesen herbei rief, vernahm er nicht. Dafür sah er aber plötzlich etwas, das ihn erstarren ließ. Was war das, was drüben hinter dem Ristorante Marisa im Sonnenlicht aufblitzte? War das nicht ein geschupptes Ungeheuer, wie man es in japanischen Horror-Reißern sah? Nur für einen Sekundenbruchteil sah er das geschuppte Ungeheuer, und genauso lange währte der schreckliche Schrei, von Kichern durchmischt, wie eine Hexe schreien mochte, wenn sie den Teufel beschwor. Auch den Riesen sah er. Der war plötzlich da, griff zu, und im nächsten Moment waren der Drache, der Riese und auch das Mädchen verschwunden. Auch den Schrei einer Hexe konnte Klaus Rollnitz nicht mehr vernehmen. »Ich bin doch nicht auf ‘nem Trip?« fragte er sich selbst und rieb sich die Augen. Vor dem Eingang des kleinen Restaurants befand sich niemand mehr. Aber er war doch sicher, daß dort das Mädchen gestanden hatte! Er stieß sich vom Baum ab und lief hinüber. Niemand mehr zu sehen. Und er war stocknüchtern. An diesem Tag hatte er noch kein Milligramm Stoff zu sich genommen. Was hatte er dann aber gerade beobachtet? Er mußte geträumt haben, am hellen Tag. Grell schien die Sonne vom Himmel herab und schuf schillernde und blitzende Reflexe am Zierrat des Wagens, der jetzt auf dem asphaltierten Vorplatz ausrollte. Sämtliche Chromteile glänzten in Gold, während die Karosserie in unschuldigem Weiß erstrahlte. Der Wagen mußte ein kleines Vermögen gekostet haben, aber 3
darüber machte Klaus sich weniger Gedanken. Geld war für ihn nur ein Begriff, soweit er es direkt übersehen konnte. Der Wagen stoppte dort, wo das schwarzhaarige Mädchen verschwunden war. * Der Rolls-Royce war mit drei Personen gut besetzt. Hinter dem Lenkrad saß ein junger Mann mit dem Aussehen eines Wikingers auf Raubzug, zu dem der weiße Silver Shadow eigentlich gar nicht paßte. Normalerweise erwarb man erst in gesetzerem Alter das nötige Kleingeld, um sich eine solche Luxuskarosse leisten zu können, und in Italien, dem Land der Kleinwagen und hohen Benzinpreise, war ein Rolls geradezu eine Sensation. Ted Ewigk, der Fahrer und Besitzer des Wagens, war kein Italiener, sondern hatte sein kleines Vermögen im Heimatland Germania gemacht. Er war Reporter, um dessen Berichte sich die Medien förmlich rissen, und entsprechend konnte er seine Preise diktieren. Er hatte eine Blitzkarriere hinter sich, die ihresgleichen suchte. Jetzt war er auf dem Weg nach Neapel, um dort eine Reportage zu machen, und die beiden anderen Männer im Wagen hatten sich ihm angeschlossen, weil sie alte Freunde waren und die Gelegenheit zu einem Kurzurlaub in Italien wahrnehmen wollten. Einfacher ging’s wirklich nicht mehr. Auf der Rückbank lümmelte sich Roger Benjamin Stanton, Südamerikaner mit deutscher Staatsangehörigkeit und von Beruf Schriftsteller. Sein stohblondes Haar sprach seiner Herkunft Hohn, war dafür aber nur sehr spärlich vertreten und gab eine prachtvoll hohe Denkerstirn frei, unter der hinter einer mächtigen Brille ein leicht eulenhaftes Antlitz prangte. Stanton machte sich um die Reise keine großartigen Gedanken, genoß die sommerlichen Temperaturen und die Sonne und ließ die Dinge auf sich zukommen. Zudem konnte er Daten sammeln für seinen nächsten Roman. Der Mann auf dem Beifahrersitz, Rolf Michael, hatte einen anderen Grund für den Italien-Trip. Als Hobby-Römer wollte er wieder einmal die Kulturstätten der klassischen Weltreicheroberer aufsuchen und antike Kunst genießen. Ted Ewigk lenkte den Rolls-Royce von der Autostrada zum 4
etwas abseits liegenden Autobahnhotel Firenze. Bis Florenz waren es nur noch ein paar Kilometer, aber bevor man sich hungrig durch die unbekannte Innenstadt quälte und nirgendwo einen Parkplatz für den fünfeinhalb Meter langen Wagen fand, war es besser, hier einen Imbiß einzunehmen. »So etwa ein oder zwei oder drei Portionen Pizza würden gerade reichen«, hatte Rolf vorgeschlagen. Ted überflog das, was ihn erwartete, mit raschem Blick. Ein mehrstöckiges, großes Hotelgebäude, daneben ein kleines Häuschen mit den riesigen Lettern auf dem Dach, die den Namen der mutmaßlichen Besitzerin darstellten: MARISA. Davor ein großzügiger Parkplatz mit wenigen Autos und zwei Bussen. Rolf grinste. »Schau an, Italien ist fest in deutscher Hand«, stellte er fest und deutete auf die deutschen Kennzeichen der beiden Touristenbüchsen. Ted bremste den Wagen auf dem Platz ab. Ein langhaariger Lümmel in Jeans mit T-Shirt, schätzungsweise siebzehn Jahre jung, zuckte zusammen und trat ein paar Schritte zurück. Ted ließ den Motor verstummen, holte einen kleinen, blau funkelnden Kristall aus dem Handschuhfach und strich mit zwei Fingern leicht über die Oberfläche. Dann legte er ihn über dem Lenkrad vor der Windschutzscheibe ab. Fast geräuschlos klickend fielen drei Autotüren ins Schloß, und die drei Männer warfen dem Langhaarigen einen prüfenden Blick zu, ehe sie sich etwas von dem in der Sonne blitzenden Wagen entfernten. R. B. Stanton deutete auf das Hotel, in dessen Erdgeschoß ein nobel wirkendes Restaurant lockte. »Da gibt’s was zu Knabbern«, verkündete er. »Wetten, daß sich da sämtliche Touristen häuslich niedergelassen haben und Eisbein mit Sauerkraut mampfen?« Ted Ewigk grinste. »Wenn ich nach Italien fahre, will ich italienisch essen. Den anderen Fraß bekomme ich zu Hause billiger.« »Aber da drin speisen wir nicht«, bestimmte Rolf. »Ich habe keine Lust, zehn Stunden lang auf den Kellner zu warten, weil der mit hundert Touristen voll beschäftigt ist, und dann auch noch zu viele Lire bezahlen! Mir nach!« Wir ein Feldherr in der Schlacht den Säbel schwingt, so streckte er den Arm aus und setzte sich mit weit ausgreifenden Schritten in Bewegung. Sein Ziel war das einstöckige Holzgebäude, auf dessen Dache die Buchstaben MARISA prangten. 5
»Wir essen dort, wo die Italiener essen. Die wissen nämlich, warum sie dort einkehren.« Stanton und Ted folgten ihm. In der Tür des kleinen Ristorante warf Ted einen Blick zurück und schmunzelte. Der Langhaarige würde gleich eine kleine Überraschung erleben, denn daß der plötzlich auf den nicht abgeschlossenen Wagen spitz geworden war, sah man ihm auf zehn Meilen Abstand an. Das Stimmengewirr im gut besetzten Restaurant nahm sie in Empfang. * Klaus Rollnitz fielen die deutschen Töne auf. Dann sah er das deutsche Nummernschild am Wagen und pfiff leise durch die Zähne. Die drei Insassen des Wagens registrierten wohl seine Anwesenheit, beachteten ihn aber nicht weiter. Dafür interessierte ihn jetzt plötzlich der Wagen. Er mußte sich irgendwie vom spurlosen Verschwinden der Schwarzhaarigen ablenken. Und von dem Drachen und dem Riesen, die Halluzinationen gewesen sein mußten. Der weiße Rolls mit dem goldenen Kühler war keine Zwangsvorstellung. »Mann, müssen die Brüder stinkreich sein«, murmelte Klaus, dachte sich dabei aber nicht sonderlich viel, weil sein Vater auch zu denen gehörte, deren Konto sich von selbst vermehrte. Langsam ging er näher heran und stellte fest, daß der Wagen nicht einmal abgeschlossen worden war. Leichtsinn!, dachte er. Eine bessere Einladung für Autodiebe gab es nicht, und eine bessere Beute als einen Rolls konnte kaum ein Autoknacker machen, um den Wagen im Blitztempo in den Orient zu verschieben. Und selbst hier, auf dem offenen Gelände, war ein Diebstahl nicht ausgeschlossen. Klaus wollte den Wagen nicht klauen. Erstens besaß er keinen Führerschein, zweitens brauchte er keinen Wagen, weil er mit dem erhobenen Daumen auch überall hin kam, und drittens hätte er momentan auch nicht gewußt, an wen er die Kiste verscherbeln sollte. Aber einen Blick ins Innere wollte er werfen und dann, spaßeshalber, die Sicherungsknöpfe arretieren. Es blieb beim Wollen. Zehn Zentimeter vor dem Türgriff wurde seine Hand durch ein unsichtbares Hindernis gestoppt. Verblüfft versuchte er es noch einmal, kam aber auch diesmal nicht durch. 6
Etwas, das er nicht sehen konnte, verhinderte jede Berührung. Bei den anderen Türgriffen war es nicht anders, und als er sich bückte, um sich der vergoldeten Radkappen anzunehmen, konnte er die auch nicht erreichen. Er begriff es nicht. Was war das für eine phänomenale Diebstahlsicherung? Wer sich den Trick ausgeknobelt hatte, brauchte sein Auto wirklich nicht abzuschließen! Dann eben nicht, dachte er enttäuscht, weil er jetzt dem Besitzer den Streich mit den verriegelten Türen nicht spielen konnte. Aber gewußt hätte er doch gern, wie dieses Unsichtbare zustandekam. Die Hände in die Hosentaschen geschoben, den Beutel mit seinem Reisegepäck um die Schulter gehängt, entfernte er sich wieder von dem Luxuswagen. Im nächsten Moment glaubte er seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Seine schwarzhaarige Schönheit, die vor zehn Minuten spurlos verschwunden war, verließ das kleine Restaurant! * Als Ted Ewigk als dritter das Restaurant betrat, dachte er weder an schreiende Hexen, Drachenzähne, noch an Riesen, aber er sah an einem kleinen Tisch ein schwarzhaariges Mädchen sitzen, das sein Interesse erweckte. Ted ging dem schönen Geschlecht nie aus dem Weg, aber hier konnte es sein, daß hinter dem nächsten Stützpfeiler der große Bruder des Mädchens lauerte und sofort auf Hochzeit drängte. Das Marisa war gut besetzt. Dennoch fand sich ein kleiner Tisch, der gerade frei geworden war. Zwei, drei Kellner huschten geschäftig hin und her, und eine etwa vierzigjährige Frau in langem, schwarzen Kleid wanderte aufmerksam hin und her, wies hierhin und dorthin und sorgte dafür, daß die Bediensteten nie arbeitslos und die Gäste nie ärgerlich wurden. Mamma Marisa, wie Ted die offensichtliche Besitzerin des Ristorante in Gedanken nannte, registrierte die deutschen Klänge, die ihr da entgegen hallten, und winkte heftig. Die drei saßen noch nicht, als bereits einer der Kellner aufgetaucht war und Speisekarten verteilte. »Jetzt müßte man italienisch können«, murmelte Stanton und 7
radebrechte eine Bestellung. Gemeinsam entschieden sie sich für ein Spaghetti-Gericht und jede Menge Wein. Mamma Marisa schenkte ihnen einen aufmunternden Blick. Ted bekam es nicht mit, weil er sich gerade im Saal umschaute. Am Nachbartisch tafelten zwei Ordensbrüder, die wohl aus einem nahegelegenen Kloster den Weg hierher gefunden hatten, weil ihnen das, was Bruder Koch ihnen daheim servierte, zum Hals heraus hing. Das schwarzhaarige Mädchen, das ihm so gefallen hatte, erhob sich gerade und schritt dem Ausgang entgegen. Schade, dachte Ted und ärgerte sich, daß er das Mädchen ohne Anhang nicht doch angesprochen hatte. Dann war sein Ärger schon wieder vorbei, weil aufgetragen wurde. »Wetten, daß die drüben ihr Eisbein mit Sauerkraut noch nicht haben, obwohl die Busse schon seit einer halben Ewigkeit vor der Tür stehen?« vermutete Rolf. Roger B. begann gegen seine Spaghetti anzukämpfen, nachdem er ausgiebig mit kühlem Wein gegurgelt hatte. Plötzlich stand Mamma Marisa hinter ihm, nahm ihm fürsorglich Löffel und Gabel aus der Hand und stand ihm hilfreich bei, indem sie das ganze Gericht erst einmal verquirlte, wie es sich gehörte, ihn dann anstrahlte und vergnügt zuschaute, daß der Kampf jetzt weniger schwierig geworden war. Rolf schmunzelte. »Weißt du jetzt, wie man Spaghetti ißt?« fragte er. Stanton duckte sich etwas. Mamma Marisa lachte und rasselte etwas auf Italienisch herunter. Stanton antwortete auf deutsch, dann auf spanisch, und keiner verstand den anderen, aber jeder wußte, was gemeint war. Mamma hatte ihre Gäste aus Germania im Blitzverfahren ins große Herz geschlossen und lud zu einer Besichtigung der Küche ein. »Ich werd’ verrückt«, murmelte Ted. »Fehlt bloß noch, daß wir uns die Schinkenbrötchen am grunzenden Schwein aussuchen dürfen!« Die Stimmung war blitzschnell um hundert Prozent in die Höhe geschnellt. Als sie die Küche wieder verließen, hatte Ted die Schwarzhaarige fast schon wieder aus dem Gedächtnis gestrichen. Ein paar andere Gäste sahen die kleine Prozession wieder in den Speiseraum kommen und grinsten. Einige 8
tauschten Bemerkungen aus. »Mamma« hatte wieder mal ihre Freundschaft zuschlagen lassen. »Heute abend kehren wir hier noch einmal ein, egal, was uns Florenz bietet«, behauptete Rolf. »Und dann holen wir mein Banjo aus dem Kofferraum und singen ein Lied.« »Du wirst nicht singen«, drohte Stanton, der Rolfs Gesänge kannte und fürchtete. »Spielen darfst du – nichts gegen deine Stimme, aber Kreissägen gehören in die Werkstatt!« Die beiden Mönche am Nebentisch waren von Pizza auf Wein umgestiegen und machten sich jetzt daran, der Sache auf den Grund zu gehen. »In unseren Krügen ist ja auch noch was drin«, bemerkte Stanton, als die Tür aufflog und das schwarzhaarige Mädchen hereinstürmte. Ihre Stimme überschlug sich förmlich, so daß Ted, der nur wenige Brocken Italienisch verstand, nichts mitbekam. Nur ein Wort verstand er, weil es immer wieder erklang. »Strega!« Strega – Hexe! Im gleichen Moment wurde er hellwach und die beiden Mönche am Nebentisch unheimlich blaß. * Klaus rieb sich die Augen und fragte sich zum zweiten Mal an diesem Mittag, ob er nicht doch auf dem Trip war. Aber er konnte sich nicht erinnern, heute schon am Stoff genascht zu haben. Aber warum sah er jetzt das Mädchen auf den Platz hinaus treten, das vorhin vor seinen Augen unter mysteriösen Begleiterscheinungen verschwunden war? »Wenn ich nicht verrückt werden will, muß ich sie fragen«, entschied er und ging direkt auf das Mädchen zu, das leicht zusammenzuckte, als es ihn sah. Suchend sah es sich um. Und dann stand Klaus vor ihr und wußte im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. »Schönes Wetter heute, nicht?« Ich Idiot!, schalt er sich in der nächsten Sekunde. Erstens ist hier immer schönes Wetter, und zweitens bist du hier in Italien und hast gefälligst italienisch zu sprechen! Das konnte er nicht, aber englisch, und auf englisch sprach er sie jetzt noch einmal an. »Haben Sie zufällig eine 9
Zwillingsschwester, die vor zehn Minuten das Haus verlassen hat?« Sie sah ihn etwas überrascht an, wußte scheinbar nicht, wie sie ihn einzuschätzen hatte. Dann kratzte sie ihre eigenen Englischkenntnisse zusammen und antwortete mit einem geradezu schauerlichen Akzent. Ihre Muttersprache mußte dagegen wie ein Engelschoral wirken. »Ja, und ich suche sie gerade, weil wir zurück nach Florenz wollen! Haben Sie zufällig gesehen, wohin sie gegangen ist?« »Dann leide ich ja doch nicht unter Wahnvorstellungen«, platzte er heraus. »Ich dachte gerade, doppelt zu sehen.« »Wo ist denn Renata hingegangen?« wollte das Mädchen wissen. Er antwortete, ohne zu überlegen, was er damit anrichten konnte. »Sie ist überhaupt nicht gegangen. Sie stand ungefähr da, wo jetzt der Rolls parkt, und dann war sie verschwunden.« »Verschwunden? Wie kann jemand verschwinden?« fragte die Schwarzhaarige erstaunt. Klaus dachte sich immer noch nichts, weil er sein Erlebnis selbst noch nicht richtig verarbeitet hätte. »Ein Riese hat sie geholt – ups, ich weiß, das klingt blöd, aber was ist denn jetzt – was…« Erstaunt verfolgte er die Veränderung, die mit seiner namenlosen Bekanntschaft vor sich ging. Ihre Augen weiteten sich etwas, und ihr Gesicht wurde erst rot und dann kalkweiß. »Meine Güte, ich glaube ja selbst zu träumen, weil es Riesen nicht gibt und…« stammelte er. Da wirbelte die Schwarzhaarige herum und lief zum Ristorante zurück. »He, was ist denn los?« stieß Klaus hervor. Er wollte ihr nachlaufen, aber dann blieb er wieder stehen. Er begriff die Welt nicht mehr, noch weniger das Verhalten des Mädchens. Sie lief davon, als sei sie von etwas zu Tode erschreckt worden. Von dem, was er erzählt hatte? Von diesem unüberlegten und unausgeborenen Blödsinn, daß ein Riese ein Mädchen hatte verschwinden lassen? »Himmel, wenn die jetzt ihren großen Bruder holt, damit er mich vermöbelt«, durchzuckte es ihn, und jetzt wurde ihm doch ein wenig mulmig. Dabei ahnte er nicht im Entferntesten, was er mit seinem Bericht angerichtet hatte… 10
* Ted registrierte nur so nebenbei, daß die Mönche ebenfalls hellhörig wurden. Rolf sah auf. »Strega? Hexe?« murmelte er. Ted Ewigk stand schon. Er ging auf das schwarzhaarige Mädchen zu, das sich an Mamma Marisas mächtiger Brust ausweinte und immer wieder schluchzend das Wort Strega hervorstieß, und hin und wieder auch Gigante und Drago. Hexe, Drache, Riese – alle drei paßten nicht in die moderne Welt. Aber für Ted waren sie dennoch nicht märchenhaft. Oft genug hatte er schon erleben müssen, daß die Welt des Fantastischen, des Unheimlichen und der Magie äußerst real war. Er hatte gegen Dämonen, Vampire und Zauberer ebenso gekämpft wie gegen teuflische Druiden, Hexen und antike keltische Gottheiten. Und Apollo, einer der griechischen Götter, nannte sich sein Freund. Dinge, über die so mancher lächeln mochte, und deshalb trat Ted damit auch nicht an die Öffentlichkeit. Andererseits machten ihn diese Erlebnisse empfindlich für Phänomene, die den Hauch des Übersinnlichen trugen. Er kramte sein spärliches Italienisch zusammen. Er stellte sich als das vor, was er war – als Reporter, und er versäumte nicht, von vornherein darauf hinzuweisen, daß er Übersinnlichem nicht ablehnend gegenüber stand. »Sie wollen einen Riesen und eine Hexe gesehen haben, Signorina?« »Tina Pascalo heiße ich«, stellte sie sich vor. »Nicht ich – meine Schwester ist verschwunden! Am hellen Tag draußen vor dem Platz! Ein Junge hat es beobachtet! Der Riese der Hexe hat sie geholt!« »Der Riese der Hexe«, wiederholte Ted langsam. Die Menschen im Restaurant waren verstummt und hörten zu. Genug Wirbel hatte Tina Pascalo mit ihrem Hereinstürmen verursacht, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Tina Pascalo! In Teds Ohren klang der Name wie Musik. Bildschön war das Mädchen mit dem schmalen, zarten Gesicht, den ausdrucksvollen braunen Augen und dem weich fließenden, funkelnden schwarzen Haar. Achtzehn Jahre mochte sie sein und damit zehn Jahre jünger als der Reporter, aber was machte das schon? 11
Der Riese der Hexe! Ted glaubte ihr jedes Wort, weil er ähnliche Dinge schon selbst erlebt hatte. Aber der Zeuge dieses Vorgangs interessierte ihn doch. »Wo ist der Junge, der den Vorgang beobachtet hat, Signorina Pascalo? Darf ich mich mit Ihnen beiden darüber unterhalten?« Sie wischte sich Tränen aus den Augen und sah an ihm vorbei zu den beiden Mönchen. Ted drehte den Kopf. Die Mönche waren immer noch blaß wie die gekalkte Wand und krochen förmlich in sich zusammen. Wußten sie etwas? Oft genug wußte die einheimische Bevölkerung viel über geheimnisvolle Dinge in der Welt, und noch mehr wußte die Geistlichkeit, aber noch öfter mußte man dieses Wissen fast mit Gewalt zutage locken. War diese Hexe mit ihrem Riesen ein solches Geheimnis? »Bitte, Signore… draußen«, flüsterte Tina Pascalo. Ted wollte ihr folgen, da lag eine Hand auf seiner Schulter. Mamma Marisa sah ihn an. Sie sagte nichts, aber der Blick aus ihren Augen sagte alles. »Deine Bambina?« fragte er leise. Marisa schüttelte den Kopf. »No, niente Bambina…«, und ein Wortschwall folgte, aus dem Ted nur heraushörte, daß er mit dem Mädchen keine bösen Scherze treiben sollte, weil sie Mamma Marisa gut bekannt war. »Keine Sorge«, sagte er und lächelte der stämmigen Gastwirtin zu. Dann folgte er Tina nach draußen. Rolf und Stanton schlossen sich ihm an. Tina zeigte auf den schlaksigen Burschen mit den langen Haaren, der sich auf einen großen Stein gesetzt hatte. »Da… der hat den Riesen der Hexe gesehen!« Der Jüngling sprang auf, als er die Stimmen hörte. Erleichterung war ihm anzusehen, als er in Begleitung des Mädchens nicht dessen große Brüder mit großen Fäusten sah, sondern die drei Deutschen mit dem Prunkschlitten. »Hallo«, sagte er. »Ganz schön leichtsinnig sind Sie mit Ihrem Wagen, den offen stehen zu lassen… bloß wie haben Sie ihn gesichert?« Ted schmunzelte und zeigte seine Überraschung nicht, einen Landsmann zu sehen. »Das erleichtert ja alle Sprachprobleme«, und dann stellte sich heraus, daß Tina besser englisch sprach als 12
Ted italienisch, und der Rest der Unterhaltung spielte sich dann in englisch ab. »Was, ich soll über diesen Blödsinn noch einmal reden?« wehrte sich Klaus Rollnitz, dem inzwischen aufgegangen war, daß ihm kaum jemand sein Erlebnis glauben würde. »Damit das Mädchen wieder Tränen in die Augen bekommt und es schreiend wegläuft?« »Hier läuft niemand mehr weg«, versicherte Ted und sah Tina nachdenklich an. Er sah wieder die braunen, großen Augen und langen seidigen Wimpern und glaubte darin zu versinken. »Und der Riese der Hexe ist mit Sicherheit mehr als eine Sinnestäuschung, sonst wären vorhin im Ristorante nicht so viele Leute still geworden. Das muß eine teuflisch bekannte Figur sein, und zwar eine, die sich nicht gerade freundlich verhält.« »Leute verschwinden zu lassen, ist nämlich wirklich nicht die feine englische Art«, mischte Rolf sich ein. »Deshalb möchte ich soviel wie möglich über diesen Riesen und die Hexe in Erfahrung bringen, damit ihnen das Handwerk gelegt werden kann und die Verschwundene wieder auftaucht.« Klaus schüttelte nur den Kopf. »Und weshalb interessieren Sie sich dafür?« »Vielleicht bin ich so etwas wie ein Geisterjäger«, sagte Ted leise. »Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst, Alter«, fauchte Klaus und wollte sich abwenden. Ted hielt ihn fest. »Erzähl, Junge. Es kann wichtig sein. Wenn Menschen verschwinden, nennt man das bei der Polizei Entführung.« »Wenn’s dich glücklich macht, Alter…«, brummte Klaus. »Schön, sie kam also aus dem Restaurant. Ich stand da drüben im Schatten. Die Schwarze ging bis etwa da hin, wo euer Superschlitten steht. Dann sah ich für einen Sekundenbruchteil ein Ding, das wie ein Drache aussah, und hörte jemanden schrill schreien. Der Riese erschien, packte die Schwarze und verschwand wieder.« »Wohin?« drängte Ted. »Er verschwand einfach«, wiederholte Klaus. »Licht an – Riese da. Licht aus – Riese weg. Wohin, weiß ich nicht, weil er ja nicht gegangen ist.« Stanton pfiff durch die Zähne. »Teleportation?« Ted ging nicht darauf ein. Er sah Tina an. »Keine Angst, 13
Signorina. Ihre Schwester bekommen Sie unbeschadet zurück. Ich muß nur eben etwas ausprobieren.« »Und was will der große Meister jetzt machen? Mit ein bißchen Hokuspokus den Riesen kitzeln?« Stantons Hand schoß vor und erwischte das T-Shirt des Jungen am Halsausschnitt. »Freundchen, du bist ein bißchen vorlaut für dein Alter. Wie wäre es, wenn du mal ein wenig zurücksteckst?« Er ließ ihn wieder los. Beleidigt zupfte Klaus sein T-Shirt zurecht. »Vorsicht«, warnte er. Stanton lächelte kühl. Inzwischen war Ted Ewigk am Wagen angelangt, und Klaus, der vorhin mehrmals vergeblich versucht hatte, die unsichtbare Sperre zu durchdringen, bekam Stielaugen. Ted Ewigk griff einfach zu und hatte die Wagentür geöffnet. Dann griff er nach dem blau funkelnden Kristall. »Wo genau hat Renata Pascalo gestanden?«, fragte er. Widerwillig schlenderte Klaus heran. »Hier«, sagte er und malte mit dem Fuß ein unsichtbares Kreuz auf den Asphalt. Ted Ewigk wog den Kristall locker in der Hand und senkte den Kopf. Dann umschloß er den funkelnden Stein auch mit der zweiten Hand. Da zuckten Blitze zwischen seinen Fingern hervor, die aber sofort wieder erloschen. Ted wurde von Urgewalten beiseitegeschleudert, weil es dort, wo er gerade stand, plötzlich keinen Platz mehr gab. Da stand nämlich schon ein anderer. Ein Riese! Und wie groß er war, dieser Riese! Ted landete auf dem Boden, hielt den Kristall immer noch umklammert und sah an der mächtigen Gestalt des Riesen empor, der stumm blieb. Eine Hexe schrie. Im Moment des Schreis bewegte der Riese sich. Aus zehn Metern Höhe kam seine Faust mit Schwung herab, und Ted gelang es gerade noch, sich zur Seite zu rollen. Wo er gelegen hatte, schlug die Faust wie ein Hammer krachend ein. Er schnellte sich empor, aber die vergoldete Kutsche mit den weißen Pferden war ihm im Weg. Hart prallte er dagegen und stieß mit dem Kopf an, daß er die Engel im Himmel singen hörte. Der Riese richtete sich wieder auf. Diesmal schlug er nicht zu, 14
aber mit einem wuchtigen Tritt wollte er Kutsche und Ted Ewigk zermalmen. Der wußte, daß er nicht mehr zur Seite springen konnte. Seinen Degen einzusetzen, war ein Witz, aber er umklammerte immer noch den Kristall. Und er warf ihn! Alle Kraft legte er in den Wurf, der den Dhyarra-Kristall steil in die Höhe steigen ließ, allen Gesetzen der Schwerkraft Hohn sprechend und dabei noch im Flug schneller werdend. Er traf wie ein Geschoß. Explosionsartig flog der stumme Riese auseinander. Lichtblitze hüllten den Vorplatz ein und blendeten Ted, obgleich er sofort die Augen geschlossen hatte und die Arme vors Gesicht preßte. Wieder hörte er eine Hexe schreien, lauter als zuvor. Aber dann konnte er seine Augen wieder öffnen. Die Blendung war vorüber. Er trug keinen Degen mehr an der Seite, und die von weißen Pferden gezogene Kutsche war wieder sein Rolls-Royce, an dem er lehnte. Dort, wo der Riese gestanden hatte, lag der Kristall auf dem Boden und funkelte blau im Sonnenlicht. Aber da, wo die Riesenfaust zugeschlagen hatte, war der Asphalt aufgeplatzt und der Boden eingedrückt. Da wußte Ted, daß es keine Sinnestäuschung gewesen war. Der Riese, der ihn hatte ermorden wollen, war echt. Der Riese der Hexe…? * »Den Rest des Tages fährst du, Rolf, weil ich jetzt erst mal eine kleine Stärkung brauche«, murmelte Ted und hob den Kristall wieder auf. Er lag genau da, wo der Riese gestanden hatte – wo er zweimal gestanden hatte und wo Renata Pascalo verschwunden war. Ted legte den Dhyarra-Kristall in den Wagen zurück, um diesen mit Hilfe der Magie wieder abzusichern. Dann nickte er den anderen zu. »Gehen wir hinein. Ich brauche jetzt etwas Stärkeres als Wein.« »Was war denn los?« fragte Stanton. »Wir sahen dich herumfliegen und den Kristall schleudern – aber sonst nichts.« »Einen Hexenschrei habt ihr auch nicht gehört? Ja, dann hatte ich das Vergnügen wohl allein, den Riesen zu sehen.« Tina Pascalo zuckte zusammen. 15
»Der Riese – der Riese der Hexe war wieder da, Signore? Und Sie leben noch? « »Mordet er denn immer, wenn er auftaucht?« fragte Ted zurück. Das schwarzhaarige Mädchen zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß es wirklich nicht, Signor Ewigk.« »Ted heiße ich«, sagte er. »Und ich Tina«, strahlte sie ihn an. Für Ted Ewigk ging der Himmel auf. Er hielt ihr die Tür zum Ristorante auf, und im Eintreten lächelte sie und formte die Lippen kurz zum Kußmund, aber ohne ihn zu berühren. »He, werde jetzt bloß nicht rot an den Ohren«, warnte Rolf grinsend. Ted versetzte ihm einen Rippenstoß, und dann saßen sie zu fünft am kleinen Tisch gegenüber dem der beiden Mönche – Klaus Rollnitz war auch mitgekommen. Mamma Marisa persönlich servierte Ted einen Ouso. Er trank ihn wie Wasser und bestellte Wodka hinterher. »Und jetzt will ich wissen, was es mit dem Riesen und der Hexe… und dem Drachen auf sich hat, der mir noch in der Raupensammlung fehlt.« Fragend sah er dabei Tina an. Die Antwort kam vom Nebentisch. »Scusi, Signore – das mit der Hexe ist eine böse Geschichte, die kaum jemand richtig kennt«, sagte einer der beiden Mönche vom Nebentisch. * »Sie kennen diese Geschichte, Monsignore?« fragte Stanton. »Nicht Monsignore«, wehrte der Angesprochene ab. »Nur Bruder, Bruder Antonio.« Sein Kollege nannte sich Bruder Salvatore. Beide hatten ihren kleinen Tisch an den der Ausländer gerückt und sich zu ihnen gesellt. Eine neue Karaffe Wein stand auf dem so vergrößerten Tisch, und unaufgefordert bediente sich Klaus Rollnitz. »Auch uns ist nur ein Teil der Geschichte überliefert«, nahm Bruder Antonio den Faden wieder auf. »Doch unter der einheimischen Bevölkerung gibt es viel Gemunkel, gerade weil niemand Genaues weiß. Man schreibt der Strega viele Dinge zu, die sie nie getan hat, und dennoch wird sie noch verharmlost.« 16
»Widerspricht das eine nicht dem anderen?« hakte Ted nach. »Nein, Signor Ewigk, denn das wenige, was sie tat, war schlimm genug!« wandte Bruder Salvatore ein. Er nippte am Weinglas, verzog genießerisch das Gesicht und meinte: »Da hat unser Herrgott mal wieder ein ganz besonders gutes Tropfchen reifen lassen…« Insgeheim beschloß Rolf Michael, sich für die Weiterreise mit ein paar Fläschchen dieses besonders guten Tröpfchens einzudecken. »Wer war diese Strega, diese Hexe?« fragte Ted. »Sie reden immer in der Vergangenheit von ihr, aber das Auftauchen des Riesen zeugt doch davon, daß sie auch heute noch aktiv ist!« »Wieder aktiv geworden ist, Signor Ewigk! Der Fama nach soll sie vor«, Bruder Antonio schaute sich um, als suche er einen Kalender an der Wand, »vor fast vierhundert Jahren unter der Ponte San Nicolo in Firenze ihren letzten Atemzug getan haben, aber immer wieder tauchten Berichte auf, daß sie und ihre Helfer gesehen wurden. Und angeblich soll sie bereits damals, als sie starb, über zweihundert Jahre alt gewesen sein!« »Unglaublich«, flüsterte Klaus. »Bitte, Bruder – was wissen Sie von der Strega?« forschte Ted Ewigk weiter. »Ein Mädchen ist von ihrem Riesen entführt worden, und um sie wieder zurückzuholen, muß ich alles wissen!« Der Mönch sah Ted prüfend an. »Sie wollen sich mit der Hexe und ihren Helfern anlegen? Allein der Riese reicht aus, um…« »Signor Ewigk hatte bereits eine kleine Auseinandersetzung mit diesem Riesen«, warf Stanton ein. Fast wäre Bruder Antonio aufgesprungen. Seinem Amtsbruder warf er einen bestürzten Blick zu. Bruder Salvatore beugte sich vor. »Sind Sie sicher, nicht einer Sinnestäuschung unterlegen zu sein?« »Wenn das Loch im Asphalt draußen eine Sinnestäuschung ist, dann war es auch die Faust des Riesen«, gab Ted gelassen zurück. Die beiden Mönche mußten es ihm glauben, daß er die Auseinandersetzung lebend überstanden hatte. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. »Vor fast vierhundert Jahren«, sagte Bruder Antonio langsam, »wirkte die Strega in Florenz. Manchmal sah man sie, wie sie auf ihrem Drachen durch die Luft ritt, und dann war auch stets der 17
Riese in der Nähe, den sie nach Belieben kommen und verschwinden lassen konnte. Wenn aber der Hexenschrei erklang, war äußerste Gefahr im Verzug, denn dann wurde der Riese zum Mörder…« Tina Pascalo schrie leise auf, warf sich gegen die Lehne ihres Stuhls zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Dann ist es also wahr«, flüsterte sie erstickt. »Der Riese, der Mörder… dann ist Renata tot, denn er hat sie doch geholt, und Signor Rollnitz hat den Schrei der Hexe gehört!« Der »Signor« wuchs gleich um zwei Zentimeter mit seinen siebzehn Lenzen. Und er nickte dazu, weil seine Beobachtung doch so wichtig war. Ted Ewigk beugte sich zu der Schwarzhaarigen, bog ihr langsam die Arme nach unten und wischte mit einer sauber gebliebenen Serviette die Tränen von ihren zarten Wangen. »Tina, ich glaube nicht daran, daß Renata tot ist! Mich hat der Riese doch auch nicht umgebracht!« »Ich möchte dieser Hexe den Hals umdrehen, aber das kann kein Mensch«, flüsterte Tina hilflos. »Weiter, Bruder«, verlangte R. B. Stanton. »Hat sich niemand gegen die Hexe zur Wehr gesetzt? Vor vierhundert Jahren gab es doch noch jede Menge Hexenprozesse, in denen aber tausende Unschuldige gemordet wurden. Warum dann nicht eine echte Hexe?« »Weil sie zu stark war«, murmelte Bruder Salvatore. »Die Strega, deren Name nie überliefert wurde, war nicht zu fassen, und niemand wagte sich in ihre Nähe, wenn er nicht von dem Drachen gefressen werden wollte. Dieser soll ein besonders menschenfreundliches Exemplar gewesen sein, der Feuer speien konnte und dieses Feuer benutzte, die vorher gar zu rösten, die er danach fraß! Niemand wagte die Strega anzuklagen, weil sie zu mächtig war. Gegen ihren Riesen gab es kein Mittel.« »Das kann und will ich nicht glauben, Bruder!« wandte Ted ein. »Die Kirche hat doch Mittel genug, das Böse zu bekämpfen…« »… aber nur da, wo etwas existiert, das bekämpft werden kann!« hielt ihm Salvatore entgegen. »Wo ein Mann der Kirche erschien, um dem Ungeheuer mit der Kraft des Herrn entgegenzutreten, gab es diesen Riesen plötzlich nicht mehr, weil es der Strega gefiel, ihn mit ihrem Ruf zum Verschwinden zu bringen! Ihre Zaubersprüche haben im Gegensatz zu ihrem 18
Namen und vielen Wahrheiten die Jahrhunderte überdauert, aber selbst heute wagt niemand sie auszusprechen…« »Sie kennen Sie?« fragte Ted. Knapp war Bruder Salvatores Nicken, und auch Antonio bekannte, über die Zauberworte informiert zu sein. »Aber auch wir werden sie niemals aussprechen. Die Macht der Strega wurde nie gebrochen, und die Worte sollen den Riesen angeblich immer noch in die Welt holen können.« »Aber auch zurückschicken?« warf Stanton ein. »Kennen Sie die Geschichte vom Zauberlehrling?« fragte Antonio zurück und lächelte dabei sogar. »Aufschreiben können Sie sie aber«, schlug Ted vor, hatte schon Stift und Notizblock in der Hand und schob beides über den Tisch zu den beiden Mönchen hinüber. Beide rührten weder Block noch Kugelschreiber an. »Wir wollen Sie nicht ins Unglück stürzen, Signori!« Ted hielt es jetzt für nötig, ein wenig von seinen Kämpfen gegen die Mächte des Bösen zu berichten. Die Gesichter der Mönche zeigten ungewöhnliche Düsternis. »Ich habe nicht vor, die Macht der Hexe zu mißbrauchen«, sagte Ted. Endlich entschloß sich Salvatore doch noch, die Formeln aufzuschreiben. Antonio fuhr in seinen Erzählungen fort. »Eines schönen Tages will man dann die Strega unter der Ponte San Nicolo gefunden haben. Sie soll mausetot gewesen sein, aber man hat ihr, weil sie eine Hexe und ein Geschöpf Satans war, das christliche Begräbnis verweigert. Man wollte sie am folgenden Tag verbrennen, aber als der Scheiterhaufen stand und man den Leichnam holen wollte, war dieser verschwunden. Es heißt, Riese und Drache hätten ihre Herrin in Sicherheit gebracht. Seit jener Zeit soll vor allem der Riese hier und da wieder aufgetaucht sein, und in vielen Dörfern in nächster Umgebung drohen Eltern ihren unartigen Kindern immer noch mit dem Riesen.« »Anderswo mit dem Schwarzen Mann«, schmunzelte Stanton und warf Klaus Rollnitz einen bezeichnenden Blick zu. Aber der langmähnige Jüngling fühlte sich absolut nicht angesprochen. »Mehr ist auch uns nicht bekannt«, beschloß Bruder Salvatore die Erläuterungen. Er hatte den Kugelschreiber aus der Hand gelegt und erhob sich jetzt fast etwas zu hastig. 19
»Scusi, Signori, aber für uns ist es jetzt Zeit, sich zu verabschieden… wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« »Wohin müssen Sie? Wir könnten Sie an Ihr Ziel fahren«, bot Ted Ewigk an. Bruder Salvatore lächelte. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, und Bruder Antonio auch, aber wir möchten doch lieber zu Fuß gehen und dabei die Sonne genießen, die der Herr so prachtvoll scheinen läßt. Vielleicht führt er unsere Wege wieder zusammen, und dann hoffe ich, daß Sie sich noch in bester Verfassung befinden.« Sie verabschiedeten sich. Ted Ewigk sah ihnen nach und merkte nicht einmal, daß er seinen Arm um Tinas schmale Schultern gelegt hatte, bis das Mädchen sich dieser Umarmung plötzlich bewußt wurde und Teds Hand sanft, aber bestimmt entfernte. Dabei lächelte sie ihn aber an, und wieder wurde ihm warm ums Herz. Ungefragt griff Klaus Rollnitz nach dem Notizblock. »Zaubersprüche«, sagte er etwas abfällig. »So ein Blödsinn… damit soll man etwas bewirken können? Zwei Stück sind’s nur, aber… den hier kenne ich doch! Das ist doch der, den ich vorhin hörte, als der Riese erschien!« Und ehe jemand es verhindern konnte, hatte er die Worte bereits vom Papier abgelesen: Drachenzahn und Hexenschrei, Riese, eile flugs herbei! Da flog das Dach des Ristorante krachend davon! * Tinas gellender Schrei hallte in Teds Ohren. Unwillkürlich duckte er sich. War der Riese der Strega erschienen? Das Ristorante besaß kein Dach mehr. In Fetzen flogen die Reste davon, und die gewaltige Schwinge eines riesigen Drachen wirbelte durch den Raum. Fauchen ertönte, überlautes Brüllen, und eine Flammenzunge raste in noch ungefährlicher Höhe durch die Luft. Der Riese ließ sich nicht blicken. Ted sah nach oben. Wie der Riese, so besaß auch der Drache gigantische Abmessungen. Jetzt stieß er sich mit kräftigem Schwingenschlag in die Höhe, drehte unter azurblauem Himmel und wollte im Sturzflug wieder herunter kommen. Da glaubte Ted eine Stimme zu hören. Eine Stimme, die nur in 20
seinem Kopf laut wurde. Drachenzahn und Hexenblick, Riese, kehre nun zurück! Im gleichen Moment waren stampfende Schritte zu hören. Die Erde dröhnte unter dem Tritt des Riesen. Ted sah, wie das Monstrum über dem Restaurant erschien, den Arm ausstreckte und den herabstoßenden Drachen auffing wie ein durchgehendes Pferd. Im nächsten Augenblick schwang der Riese sich auf den Drachenrücken, riß an unsichtbaren Zügeln und ritt mit ihm in luftige Höhen, um blitzartig zu verschwinden. So, als habe es ihn niemals gegeben. Diesmal hatte die Hexe nicht geschrien. * »Du Narr! Man sollte dir den Hosenboden strammziehen, verflixter Bengel!« fauchte Stanton, kam um den Tisch herum und machte Anstalten, das Angekündigte auch sofort in die Tat umzusetzen. Klaus sprang auf und zog sich vorsichtshalber ein paar Meter zurück. »He, Alter, langsam!« protestierte er. »Ganz vorsichtig! Immerhin wissen wir doch jetzt, wie wir die olle Hexe und ihr Viehzeugs aus dem Versteck kitzeln!« Der Sicherheitsabstand nützte nichts. Roger Benjamin Stanton hatte nicht nur einen langen Namen, sondern auch einen langen Arm, mit dem er sich den Jüngling jetzt schnappte. Mit dem anderen Arm holte er weit aus, als Klaus sagte: »Kraft vor Verstand, wie?« Stanton ließ ihn los. »Bei dem ist Hopfen und Malz verloren«, murmelte er. Ted Ewigk kümmerte sich inzwischen um Tina Pascalo und hatte es endlich geschafft, sie zum Augenöffnen zu überreden. »Es ist doch nichts passiert! Alles in bester Ordnung«, beruhigte er sie. Es stimmte. Das Dach befand sich nach wie vor auf dem Haus. Diesmal war das Ungeheuerliche nicht wirklich gewesen, sondern nur eine Sinnestäuschung. Bestürzend war nur, daß sie alle das gleiche Erlebnis gehabt hatten. »Aber warum war’s diesmal nicht echt?« rätselte Rolf. »Weil diesmal nicht die Strega die Zauberworte gesprochen hat, sondern ein anderer?« 21
»Wir können ja die Probe aufs Exempel machen«, schlug Klaus vor und öffnete bereits den Mund, als Stanton herum fuhr und ihn wie ein Orkan anblies: »Halt die Klappe, oder du hast zum letzten Mal bei uns Wein geschnorrt!« Klaus Rollnitz klappte den Mund zu. »Schon gut, Alter«, preßte er zwischen geschlossenen Lippen hervor. »Ich sage ja gar nichts.« »Beim Asterix«, verkündete Stanton grimmig, »gibt’s auch so eine Figur wie diesen Burschen. Der Jüngling Grautvornix aus Lutetia. Die gleiche große Klappe, die gleichen langen Haare, die gleiche Dummdreistigkeit. Dem graut auch vor nix!« Damit hatte Klaus seinen Spitznamen weg. »He, wo ist der Notizblock geblieben?« fragte Ted und sah sich danach um. Kurz vor der Tür fand er ihn auf dem Fußboden: Vom Schwingenschlag des Drachen dorthin geweht? Vorsichtig wie eine hochexplosive Nitroflasche steckte er ihn in die Hemdtasche. »Was machen wir jetzt?« fragte Rolf. »Die Rechnung begleichen«, sagte Ted. »Mamma Marisa guckt schon ganz komisch herüber. Anschließend fahren wir nach Florenz hinein, um uns wie geplant die Stadt anzusehen. Mich interessiert dabei ganz besonders die Nikolausbrücke, wo diese Strega gestorben sein soll. Vielleicht finde ich mit dem DhyarraKristall Anhaltspunkte.« Rolf sah auf die Uhr. »Dann sollten wir wirklich zusehen, daß wir in die Gänge kommen«, sagte er. »Sonst ist der Tag vorbei, ehe alles erledigt ist. Außerdem wollen wir hier oben doch am Abend noch ein kleines Fest feiern.« Aber was das Fest anging, hatte Ted immer noch seine Bedenken. * Zwei Mönche, die sich zu Fuß über die Straße bewegten, gingen unwillkürlich schneller, weil sie das Krachen gehört hatten, mit dem das Dach vom Ristorante Marisa flog, und dann sahen sie den Drachen über der Autobahnraststätte seine Kreise ziehen. »Sie haben die Worte dennoch gebraucht«, murmelte Bruder Antonio erschrocken. »Du hättest sie wirklich nicht aufschreiben 22
sollen!« Salvatore bekreuzigte sich. »Schau«, sagte er. »Der Drache ist wieder verschwunden, und das Dach ist auch wieder auf dem Haus!« »Das verstehe ich nicht«, wunderte sich Antonio. »Hat denn die Strega ihre Macht verloren?« »Der Herr möge geben, daß es wahr ist«, sagte Salvatore. Aber obwohl er hoffte, wollte er doch nicht daran glauben. Seit vierhundert Jahren wirkte die Macht der Strega, und warum sollte sie ausgerechnet heute erlöschen? Und dieser Ted Ewigk aus Germania mußte ein Narr sein, wenn er glaubte, die Strega herausfordern und besiegen zu können. Bruder Salvatore sah sich schon an Ted Ewigks Grab das Gebet sprechen. Vertrauen in die Zukunft hatte er in diesem Falle nicht! * Rolf Michael fuhr den Rolls-Royce nach Florenz und in die Stadt hinein. Zwar fühlte Ted sich noch fahrtüchtig, aber er war vorsichtig und wollte nichts riskieren. Er hatte Alkohol getrunken, und die spätsommerliche Wärme verstärkte dessen Wirkung mit Sicherheit. Und wenn dann zufällig eine Kontrolle der polizia stradale stattfand… Rolf selbst hatte es von Anfang an für Wahnwitz gehalten, mit diesem Schlachtschiff in Italien einzufallen. Aber entweder hatte Ted keine Angst vor Beulen, hoffte auf den Respekt der anderen Verkehrsteilnehmer vor dem sündhaft teuren Wagen, oder er vertraute in dessen massives Blech. Ted Ewigk hatte es sich im Fond auf der Rückbank bequem gemacht. So konnte er den Arm um Tina Pascalos Schultern legen, was diese diesmal nicht verhinderte. Im Gegenteil. Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf an Teds breite Wikingerschulter. Sie hatte erwähnt, bei ihren Eltern in Florenz zu wohnen, und Ted hatte sich großzügig bereit erklärt, sie nach Hause zu bringen. Stanton saß auf dem Beifahrersitz. Das fünfte Rad am Wagen spielte »Grautvornix« Klaus Rollnitz, ebenfalls auf die Rückbank geklemmt. Er wollte auch in die City von Florenz. »Wenn er an der Straße stände und den Daumen hochhielte, 23
würden wir ihn auch mitnehmen«, hatte Ted gebrummt. »Da können wir ihn auch direkt mitnehmen.« »Wenn er Theater macht, stecke ich ihn persönlich in den Kofferraum«, hatte Stanton gedroht. Aber Grautvornix hielt sich ziemlich zurück und schaute nur interessiert aus dem Fenster. Das kurze Stück bis nach Florenz kostete noch einmal Autobahngebühr. »Es würde kaum auffallen«, mokierte sich Stanton, »wenn die Mafia hier und dort ein paar zusätzliche Mautstellen eröffnen würde.« »Wer weiß. Mit kommt’s bald so vor, als sei es so, so oft haben wir jetzt schon bezahlt«, knurrte Rolf ungnädig und gab Gas. Bis Florenz war es nur noch ein Katzensprung. Während Ted gedankenverloren Tinas schwarzes Haar streichelte, versuchte er sich vorzustellen, wie es möglich sein konnte, daß man hier vierhundert Jahre lang die Macht der Hexe fürchtete und nichts gegen sie unternahm. Und wo befand sich der schwache Punkt dieser Hexe, ihre Achillesferse? Wohin Renata Pascalo verschwunden war, wußte er nicht, hatte es nicht herausfinden können, weil ihm der Riese dazwischengekommen war. Aber vielleicht ließ sich am mutmaßlichen Todesort der Hexe etwas herausfinden. Ted beschloß, dann vorsichtiger zu sein und dem Riesen vorbereitet entgegenzutreten, wenn der sich wieder sehen ließ. Grautvornix’ Schweigsamkeit kam ihm plötzlich merkwürdig vor. Als er nach rechts blickte und den Jüngling betrachtete, sah er, daß dessen Hände leicht zitterten, während er nach draußen schaute. Ted benutzte die Seitenscheibe als Spiegel. Auch die Lider zuckten. War der Boy krank? Wirkte die Magie des leichtsinnig heruntergerasselten Zauberreims böse nach? Oder…? Ein unangenehmer Verdacht keimte in ihm auf. Drogeneinfluß? Ted beobachtete noch genauer. Grautvornix war ungewöhnlich nervös, obgleich es eigentlich momentan keinen Grund zur Nervosität gab. Je länger Ted seine Reaktionen studierte, desto stärker wurde der Verdacht auf Entzugserscheinungen. Hätte der Zauberreim eine Nachwirkung gezeigt, hätte sie irgendwie anders ausfallen müssen. 24
Himmel, dachte Ted, dann steht uns ja noch einiges bevor, denn daß sie den Jungen seinen Rauschmitteln überlassen sollten, kam überhaupt nicht in Frage. Ihm mußte geholfen werden, so lange es noch möglich war. Als wenn wir mit der Hexe und ihrem Viehzeug nicht schon genug Probleme hätten! dachte Ted ergrimmt. Dem Dealer, der den Jungen zum Süchtigen gemacht hatte, wünschte er die Pest auf den Hals – und in einem Anflug von schwarzem Humor die Strega mitsamt Drache und Riese. Rolf schwenkte von der Autobahn ab und hielt auf die Stadt zu. »Wohin?« fragte er gegen den Rückspiegel. Ted erwachte aus seinen Gedanken, stellte fest, daß Tina gemeint war, und stupste ihre Nasenspitze mit dem Zeigefinger an. »He, bella Signorina, wohin dürfen wir Sie bringen?« Auch Tina schien geträumt zu haben. »Ich möchte noch nicht nach Hause«, sagte sie. »Bringen Sie mich irgendwo hin. Ich finde dann allein weiter.« »Darf ich Sie dann noch zu einem Glas Wein einladen, ehe wir uns trennen?« bot Ted an. »Oh, ja«, erwiderte sie, und es klang ziemlich begeistert. Hatte sie irgendwie diese Brücke erwartet, die zwischen der Trennung und dem Jetzt entstanden war? Das Verkehrsgewühl von Florenz nahm sie auf und forderte dem Fahrer all sein Können ab. Es war ein Vorgeschmack auf das organisierte Chaos, das sie weiter südlich in Rom und Neapel erwarten würde. Am Lenkrad des riesigen Wagens brach Rolf der Schweiß aus, aber er schaffte es, ohne Beulen überall durch zu kommen. Offenbar hielten die Florentiner tatsächlich aus Respekt Abstand, wenn sie die Kühlerfigur erkannten, weil so ein Geschoß wirklich nicht alle Tage auftauchte. »He – da ist eine Parklücke!« schrie Stanton begeistert auf. Genau vor ihnen scherten gleich zwei Kleinwagen vom Straßenrand in den Verkehr ein. Rolf trat heftig auf die Bremse, ignorierte das Hupkonzert von hinten und lenkte den Wagen in die Lücke. Er füllte sie komplett aus. »Und da vorn ist eine kleine Bodega«, stellte Tina fest. »Da gibt es vorzüglichen Wein.« »Wir sind schon fast drin«, versicherte Ted. Wieder verzichtete er darauf, den Wagen abzuschließen und 25
legte nur den Dhyarra-Kristall ab, nachdem er ihn durch Bestreichen mit zwei Fingern aktiviert hatte. Der Kristall funkelte schwach unter der getönten Windschutzscheibe. »Wo finde ich euch eigentlich wieder?« erkundigte sich Grautvornix. »Du willst dich absetzen?« fragte Stanton hoffnungsfroh. »Aber ich komme wieder«, kündete Klaus an. »Ich kann euch doch nicht mit dem Riesen allein lassen, nachdem ich ihn so gut herbeizaubern kann. Ich sehe mir ein wenig die Stadt an.« »Es gibt ein paar prachtvolle Kirchen«, erklärte Rolf. »Wenn du etwas für Kunst übrig hast, solltest du sie dir ansehen. Du…« »Ich will nur wissen, wann ich euch wo treffen kann«, unterbrach Grautvornix ihn respektlos. Der nachdenkliche Blick Ted Ewigks entging ihm. Der Reporter sah auf die Uhr. »Wir trinken jetzt ein Gläschen Wein und sehen dann zu, daß wir zur Nikolausbrücke kommen. Dort werden wir so in etwa zwei Stunden sein. Weißt du, wo sie ist?« »Quer über dem Arno«, behauptete Grautvornix. »Okay, tschüß bis nachher. Und kitzelt mir nicht die Hexe.« »Irgendwann«, drohte Stanton hinter ihm her, »trete ich ihn sehr kräftig in den Hintern, und dann registriert die Luftraumüberwachung mal wieder ein Unbekanntes Flugobjekt!« »Ob er sich jetzt wohl erst mal Stoff besorgt?« fragte Rolf plötzlich. »Hä?« machte Stanton. »Er braucht wieder was«, sagte Rolf. »Hast du nicht bemerkt, wie käsig er aussah? Er ist süchtig, jede Wette.« »Ein Problem mehr, um das wir uns kümmern müssen«, sagte Ted. »Woran hast du es gemerkt?« »Ich habe die dumme Angewohnheit, meine lieben Mitmenschen ein wenig zu beobachten«, sagte Rolf. »Und dabei fällt mir dann so einiges auf. Wollen wir hier anwachsen?« »Bestimmt nicht«, verkündete Ted, hatte seinen Arm wieder um Tinas Schultern liegen und strebte allen voran der kleinen Bodega entgegen. * Klaus Rollnitz brauchte sich nicht erst Stoff zu besorgen, obwohl 26
er einmal von Freunden gehört hatte, wo es in Florenz und auch in Rom die einschlägigen Basare gab. Aber er hatte ja seinen Reiseproviant dabei, und in einer stillen Seitengasse versorgte er sich unbeobachtet mit einer kleinen Portion. Nach kurzer Zeit ging es ihm wieder erheblich besser, und der Tag, der in den letzten zwei Stunden ein wenig grau geworden war, war jetzt wieder hell und sonnig. Die Geschichte mit der Hexe und dem verschwundenen schwarzhaarigen Mädchen konnte er jetzt mit ganz anderen Augen betrachten. Viel lockerer. Locker und lässig bewegte er sich auch durch die Straßen, blieb hier und da vor einem Geschäft stehen und bewunderte die Schaufenster-Auslagen. Was es da zu sehen gab, lockte ihn nicht, wenngleich es interessant aussah. Nur eine Wasserpfeife in einem Antiquitätenladen erweckte leise Sehnsüchte, aber das Ding war zu teuer, um es zu kaufen, und zu groß, um es so mitgehen zu lassen. Klaus kannte die Grenzen seines Könnens und Wollens sehr gut. Aber dann standen überall die Straßenhändler mit ihren Ständen, die kleine Figuren aus Marmorstaub gepreßt anboten. Die Figur eines Zwerges fiel ihm auf, und von Zwergen zu Riesen war es nicht weit. Er dachte an den Riesen der Hexe. Wie hatte doch noch dieser komische Zauberreim gelautet? Drachenzahn und Hexenschrei, Riese, eile flugs herbei! Im gleichen Augenblick war alles anders. * An den Augen, die braun und so unergründlich tief wie ein Moorsee waren, konnte Ted sich nicht sattsehen. Er mußte sich dazu zwingen, beim Thema zu bleiben, das ihn interessierte. »Tina, welchen Grund kann die Hexe haben, durch ihren Riesen ausgerechnet Ihre Schwester zu entführen? Gibt es versteckte Verbindungen zwischen Ihrer Familie und diesem Ungeheuer in Menschengestalt? Hat vielleicht in ferner Vergangenheit einmal jemand die Hexe gereizt?« Tinas braune Augen waren so traurig. Ted tat es in der Seele weh, daß er sie mit seiner Frage quälte. Aber wenn er eine Möglichkeit finden wollte, Renata zurückzuholen, dann mußte er alles wissen, jede noch so winzige Kleinigkeit. 27
Er mußte so gründlich vorgehen wie bei seinen Reportagen, um die sich die Medien rissen. Sogar noch gründlicher. Gründlicher als jeder, der es vielleicht bislang versucht hatte, der Hexe an den Kragen zu gehen. Denn alle anderen hatten es nicht geschafft. Aber Tina wußte nichts. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Familie mit der Strega zu tun haben könnte. »Könnte es sein, daß sonst jemand aus Ihrer Familie Bescheid wissen mag?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, Ted! Ich weiß es wirklich nicht! Niemand von uns hat je in irgend einer Weise mit der Strega zu tun gehabt. Ich selbst habe bis heute nicht an ihre Macht glauben wollen und alles für Kindermärchen gehalten… bis dann Renata verschwand und dieser Junge… dieser Grautvornix… den Zauberreim zitierte.« Vorsichtig zog Ted wieder den Notizblock aus der Tasche und betrachtete die beiden Reime, die untereinbander geschrieben worden waren. Nur die zwei, sonst nichts. Grautvornix hatte damit eine Halluzination erzeugt. Den Drachen, der nicht wirklich gewesen war, oder hatte es ihn doch gegeben? Plötzlich ritt ihn der Teufel. War ihm der Wein zu Kopf gestiegen, oder gab er einer all zu menschlichen Schwäche nach, vor Tina Pascalo den Helden spielen zu wollen? Später konnte er es nicht mehr sagen. Er las den ersten Zauberreim vom Block ab – den, der den Riesen aufforderte, flugs herbeizueilen! * Grautvornix hatte nicht mehr die Zeit sich zu ducken. Plötzlich waren die Straßenhändler um ihn herum auf der Via Calzaiuoli verschwunden. Anstelle des Asphalts gab es Pflastersteine. Die Häuser sahen plötzlich anders aus. Irgendwie älter und doch jünger, und die wenigen Menschen, die hier über die Straße gingen, waren unheimlich altmodisch gekleidet. Mittelalterlich! durchzuckte es ihn, als es über ihm in der Luft rauschte. Da schrie eine Frau und begann zu laufen. Andere folgten ihr. 28
Binnen Sekundenbruchteilen war die Straße mit dem unaussprechlichen Namen leergefegt. Grautvornix fühlte sich mit einem heftigen Ruck vorwärtsgestoßen und verlor den Boden unter den Füßen. Er schwebte. Er flog! »Aber ich habe doch keine Flügel!« schrie er entsetzt und war schon über zehn Meter hoch. War dies sein bisher stärkster Horror-Trip? War die Prise, die er vorhin genommen hatte, zu stark gewesen? Er schrie auf, als er sich zu drehen versuchte und erkannte, wer ihm da beibrachte, daß nur Fliegen schöner sei. Der Drache hatte ihn in seinen Klauen und schwang sich mit ihm in den Himmel empor! Und auf dem Drachen ritt der Riese der Hexe! Der Riese war nicht mehr stumm. Er lachte, und sein brüllendes Lachen ließ Klaus Rollnitz erschauern. War es nicht das Lachen eines Wahnsinnigen? * Vergeblich wartete Ted auf eine Reaktion. In den Gesichtern der drei anderen spiegelte sich Erschrecken, aber dann entspannten auch sie sich wieder, weil nichts geschah. Nichts! Alles blieb unverändert! »Nicht mal ‘ne Halluzination«, brummte Stanton fast enttäuscht. »Es hätte aber auch ins Auge gehen können«, warf Rolf ein. »Ted, hast du vorher gewußt, daß nichts passieren würde?« Ted schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hatte den anderen Spruch schon auf der Zunge, um Riese wie Drache wieder heim zu schicken.« »Es sieht so aus, als hätte sich die Bevölkerung umsonst vierhundert Jahre lang nicht getraut, die Reime auszusprechen«, stellte Stanton heiter fest. »Offenbar haben sie nur Wirkung, wenn die Hexe sie selbst anwendet.« »Sie… und euer Grautvornix«, sagte Tina leise. Betroffen sahen die drei Männer sich an. »Stimmt, ja«, stieß Stanton hervor und schlug sich mit der Hand vor die Stirn, daß es klatschte. »Der hat doch den Drachen herbeigezaubert und…« 29
Seine Augen weiteten sich. »Und… wenn jetzt Riese oder Drache sich Grautvornix vornimmt?« »Dann können wir nur hoffen, daß er rechtzeitig den anderen Zauberspruch murmelt«, sagte Ted Ewigk leise. Der Wein schmeckte ihnen allen plötzlich nicht mehr. * Luigi, der Fuchs, staunte Bauklötze, als er sah, was da für ein Auto in seinem Jagdrevier parkte. Ein Auto? Ein Traum! Ein echter Rolls-Royce, Ein Traum in Weiß und in Gold. Für Gold hatte Luigi der Fuchs schon immer eine Schwäche gehabt, und es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht die Möglichkeit fand, etwas von dem Gold zu versilbern. Die Kühlerfigur hatte es ihm besonders angetan, jene Dame, im Volksmund »Emily« genannt, die dem Fahrer mit geschwungenen Flügeln vorauseilte. Die würde kaum schwerer abzubrechen sein als ein Mercedesstern, im Gegensatz zu jenem aber echtes Geld einbringen. Luigi sah schon ein paar Millionen Lire griffbereit vor sich liegen, je nachdem, wieviel Gold man für das Prachtstück aufgewendet hatte. Und selbst wenn es nur eloxiert war, reichte das auch schon für einen Urlaub in Marokko. Völlig unbeteiligt schlenderte Luigi über den Gehsteig. Dem Rolls-Royce schenkte er keinen Blick. Keinen einzigen. Er wußte ja, daß der da stand und von selbst nicht weglief. Und dann mußte Luigi ganz zufällig die Straße überqueren, zufällig zwischen dem Rolls und einem Fiat. Und auch ein anständiger Mensch muß mal stolpern und hält sich dabei an allem fest, was ihm in die Quere kommt. Das kann dann auch schon mal ganz zufällig eine »Emily« sein. Woher sollte ein ehrlicher Mensch wie Luigi auch wissen, daß die bei einem bestimmten Druck, hervorgerufen durch das Körpergewicht eines schwungvoll Stürzenden, abbrechen konnte? Woher sollte er ferner ahnen, daß der Kühler dieses Autos überhaupt ab Werk eine Zierfigur mitbekam? Er kam doch aus ärmlichen Verhältnissen und hatte so ein teures Auto nie gesehen! Aber dann stürzte Luigi wirklich und fluchte schauerlicher als ein sizilianischer Fischer, dem gerade das Netz gerissen ist. Seine Hand hatte es nicht geschafft, an der Kühlerfigur Halt zu finden! 30
Luigi küßte den Straßenbelag. Wie ein Rohrspatz schimpfend kam er wieder hoch, verwünschte die stinkreichen Bonzen, die ihre Autos so dämlich parkten, daß ein ehrlicher Fußgänger stolpern mußte, und gestikulierte wild mit beiden Händen. Aber zum zweiten Mal schaffte er es nicht, die Figur zu berühren! Sein Fausthieb verpuffte in der Luft. Da wurde Luigi der Fuchs doch etwas blaß um die Nase, beschwor alle Heiligen – und gerade in Italien gibt es recht viele davon – und ergriff die Flucht. Ein paar Menschen sahen ihm überrascht nach und konnten sich seine panische Flucht nicht erklären. Aber Luigi hatte zumindest für heute die Nase gestrichen voll. Das Zauber-Auto verfolgte ihn noch im Traum. * »Nein!« flüsterte Klaus Rollnitz entsetzt. »Nein, ich will das nicht!« Die Wirkung seiner Droge war blitzartig verschwunden. Grautvornix war stocknüchtern und spürte vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben Angst. Angst vor dem Unglaublichen, das ihn in seinen Bann gezwungen hatte! Er war schon dreißig Meter hoch. Der Drache strebte ostwärts. Auf seinem Rücken lachte der Riese immer noch. Was hat er mit mir vor? fragte Klaus sich. Das Mädchen, das an der Autobahnraststätte entführt worden war, war einfach verschwunden. Er aber wurde durch die Luft getragen. Aber er wollte nicht entführt werden. Er wollte sein Leben weiter führen wie bisher. Das Zeug zum Helden hatte er nie gehabt. »Aufhören«, flüsterte er. Die Angst vernebelte ihm fast den Verstand. Und in fünfunddreißig Metern Höhe schrie er in seiner Angst den zweiten Zauberreim. Drachenzahn und Hexenblick – Riese, kehre nun zurück! Im gleichen Moment ließ der Drache ihn los, öffnete seine Klauen! Grautvornix schrie gellend, als er in die Tiefe stürzte. Das hatte er nun auch wieder nicht gewollt! Er hatte gehofft, der Drache würde ihn auf dem Boden absetzen. Aber dem war nicht so! Wie immer schuf unüberlegtes Handeln höchste Gefahr. 31
Rasend schnell flog der Boden auf Klaus Rollnitz zu, und es gab nichts mehr, was ihn bremsen konnte! * »Für uns wird es langsam Zeit«, stellte Ted nach einem kurzen Blick auf die Uhr fest. »Wenn wir der Ponte San Nicolo einen Besuch abstatten wollen, ehe der Tag herum ist, sollten wir uns allmählich auf die Socken machen.« »Zu Fuß?« fragte Stanton. Ted nickte. »Wir sind hier ziemlich im Zentrum, außerdem haben wir einen Parkplatz. Am anderen Arno-Ufer kann das günstiger sein, aber man kann’s nie im Voraus wissen. Außerdem tut uns ein kurzer Fußmarsch ganz gut.« »Kurz?« Tina Pascalo schaute ihn verwundert an. »So kurz ist der Weg doch nun auch wieder nicht…« Sie versuchten es trotzdem. Die Straßen von Florenz und das bunte Treiben der Stadt nahm sie auf. Dabei konnten sie es nicht lassen, einen kleinen Umweg zu machen und die prachtvollen Bauwerke Battistero und Duomo wenigstens von außen zu bewundern. Vor allem die fantastische Außenfassade des Doms schlug sie in ihren Bann, wenngleich das Bauwerk, größte Kirche von Florenz, gleich mehrere Baustile zugleich aufzuweisen hatte. Bereits 1296 in Angriff genommen, wurde der Bau erst 1461 vollendet, und die jetzt so prachtvolle Fassade stammte erst aus dem 19. Jahrhundert. Das tat der Schönheit des Bauwerks aber keinen Abbruch, das sich geradezu wohltuend von tristen grauen Kirchen Deutschlands abhob. Aber die Italiener hatten schon immer die schönsten Kirchen Europas gebaut und der Welt mit Michelangelo einen ihrer berühmtesten Künstler geschenkt. Der Weg führte sie weiter in Richtung Arno über die Via Calzaiuoli, deren Namen nur Einheimische ohne zu stolpern aussprechen konnten. Daß Klaus Rollnitz vorher eben diesen Weg genommen hatte, ahnten die vier nicht, auch nicht, daß diesen hier der Drache der Hexe erwischt hatte. Das Leben und Treiben in der Straße war normal, als sei hier niemals etwas geschehen. Vor einem der Stände der fliegenden Händler, die allerlei Krimskrams anboten, blieb Ted stehen. Rechts gab es Ledermoden, links Uhren, die vielleicht schon ein paar Vorbesitzer 32
besessen haben mochten, und dazwischen bot ein Händler Figuren und Figürchen an. Nachbildungen der berühmten Michelangelo-Skulpturen waren ebenso vorhanden wie aller möglicher und unmöglicher anderer Schnickschnack. Sogar ein Zwerg war darunter, und plötzlich entdeckte Ted die Statuette eines etwa fünfzehn Zentimeter hohen Mädchens. Es war nackt wie nahezu alle weiblichen Figuren im Angebot. Aber das war es nicht, was sie für Ted interessant machte. Interessanter war die detaillierte Gestaltung der Gesichtszüge, die ihn an jemanden erinnerten. »Quanta costa?« fragte Ted und begann radebrechend um den Preis der Figur zu feilschen. Achttausend Lire wollte der Händler dafür haben und Ted nicht bezahlen. Bei viertausend waren sie sich handelseinig, als dem Händler ebenfalls auffiel, was er da für ein Schmuckstück verkaufen wollte. Er kam jetzt um seinen Stand herum, nahm die Statuette Ted aus der Hand und hielt sie so neben Tina Pascalo, daß beider Gesichter nebeneinander zu erkennen waren. »Wahrhaftig, Signore! So eine Ähnlichkeit! Das ist ja kaum zu fassen! Geradezu, als habe die hübsche Signorina dem Künstler als Modell zur Verfügung gestanden…« Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend und fiel jetzt auch Rolf und dem Südamerikaner auf. »Unter diesen Umständen – es ist zwar mein geschäftlicher Ruin«, verkündete der Händler, »aber ich werde es irgendwie überleben – schenke ich Ihnen die Figur!« »Mille grazie«, bedankte sich Ted und wog die Mädchengestalt in den Händen. Hier hatte ein Künstler gewirkt. Kaum vorstellbar, daß es noch mehr Preßfiguren in dieser Präzision geben sollte, aber noch weniger vorstellbar war es wiederum, daß dies ein Einzelstück sein sollte. Die Figuren, die von diesem und ein paar hundert anderen fliegenden Händlern angeboten wurden, waren entweder aus Kunststoff gegossen oder aus Marmorstaub gepreßt. Für beides benötigte man Formen, und wer eine Form hergestellt hatte, fertigte in aller Regel mehr als eine Figur an. Es wäre sonst doch ein wenig zu unrentabel geworden. Dennoch fanden sie kein zweites Stück bei einem anderen Verkäufer! »Mir unverständlich«, murmelte Ted, als sie Palazzo Vecchio und Palazzo di Uffizi hinter sich gelassen hatten und sich an der 33
Uferstraße des Arno an die Mauer lehnten. »Von jeder anderen Figur gibt es bei ein und demselben Händler mindestens zwanzig Exemplare, und diese hier ist so einzigartig…« »Sie ist wirklich schön«, sagte Tina Pascalo verträumt. Ted betrachtete die Figur des nackten Mädchens eingehend, dann wanderte sein Blick zum »Original«, das neben ihm stand. »Kommen Sie bitte nicht auf dumme Gedanken«, sagte Tina da, und Ted bekam tatsächlich rote Ohren. »Wie werde ich denn, Tina«, flötete er. »Auch in Gedanken haben Sie bei diesem Vergleich wirklich einen süßen Bikini an!« »Gut lügen können Sie schlecht, Ted«, lachte sie und berührte mit dem Zeigefinger seine Nasenspitze. »Oder ist der Bikini in Ihrer Fantasie zufällig durchsichtig?« Jetzt lachte auch er. Er streckte ihr die kleine Figur entgegen. »Wollen Sie sie haben? Dann bringt sie mich wenigstens nicht mehr auf die dummen Gedanken, die Sie in mir vermuten, und Sie haben gleichzeitig ein Stück von sich selbst!« Sie strahlte ihn an. »Grazie, Ted«, aber als er dann einen wenigstens flüchtig hingehauchten Kuß erwartete, wurde er enttäuscht. Ihr strahlendes Lächeln mußte ihm genügen. Trotzdem hätte es ihn brennend interessiert, warum die Figur ausgerechnet genauso aussah wie Tina Pascalo. Oder wie Renata! durchzuckte ihn der Gedanke an ihre entführte Schwester. »Weiter«, verlangte Rolf Michael jetzt. »Meine Dame, meine Herren, da drüben sehen Sie die berühmte Ponte Vecchio, aber wir müssen jetzt in die andere Richtung.« Sie bewegten sich über die Lungarno Diaz ostwärts, die in kurzen Abständen noch ein paarmal den Namen änderte, nicht aber ihr tristes Aussehen. Das wurde nur linkerhand von der Capella dei Pazzi und der Biblioteca Nazionale aufgelockert, aber wenn sie nach rechts über die Mauer schauten, zeigte sich der Arno von seiner trostlosesten Seite. Früher mußte er einmal blauer gewesen sein, jetzt konnte auch der strahlendste Sonnenschein nur graues Wasser hervorzaubern. Während sie sich der Ponte San Nicolo näherten, achtete Ted nicht auf seine Umgebung. Ihn bewegte immer noch die Frage, warum diese Figur Tina so ähnlich sah und warum sie ein Einzelstück war. 34
Plötzlich stieg in ihm die Ahnung auf, daß diese Figur der Schlüssel zu einem fantastischen Geheimnis sein mußte. Aber was dieses Geheimnis war, konnte diese Ahnung ihm nicht verraten. * Klaus Rollnitz, genannt Grautvornix, hatte mehr Glück als Verstand. Sein Sturz aus größten Höhen wurde von mächtigen Baumkronen jäh gestoppt. Der Drache, der auf seinem Rücken den Riesen der Hexe getragen hatte, hatte mit wildem Schwingenschlag den Arno überquert und das enge Gewühl der aneinandergepreßten Häuser und schmalen Gassen hinter sich gebracht. Hier begann freies Land, hier hatte auch vor vierhundert Jahren freies Land gelegen, aber vor diesem kam noch der Palazzo Pitti mit seinen großangelegten Grünanlagen. Ein Baumriese, fast zwanzig Meter hoch, fing mit seinen mächtigen, hölzernen Armen Grautvornix auf, der wie ein Geschoß in den Baum schlug und zwischen den federnden Ästen hängenblieb. Benommen atmete er durch. Benommen sah er sich um. Erst langsam wurde ihm klar, was geschehen war. Daß er den Absturz überlebt hatte und in einem Baum saß, mit zerrissener Kleidung und Schrammen, die nicht nur von den Drachenklauen, sondern auch von den Ästen herrührten. Deutlich fühlte er, wo ihn Äste aufgefangen hatten. Da würden sich prachtvolle blaue Flecken und Blutergüsse bilden, und daß kein Knochen gebrochen war, war wirklich nicht sein eigener Verdienst. Langsam bog er einen Ast zur Seite und konnte über sich blauen Himmel sehen. Von dem Drachen war dort oben keine Spur. Klaus sah wieder nach unten. Die Wirkung seiner Droge war schlagartig verflogen und ließ ihn die Sache wieder klar sehen. Bis zum Boden waren es noch einmal fünfzehn Meter. Wenn er eine falsche Bewegung machte und weiter stürzte, rettete ihn diesmal nichts mehr. »Nie wieder«, murmelte er, »nie wieder spiele ich mit diesem 35
verdammten Zauberspruch herum… nicht mal in Gedanken…« Ihm war plötzlich klar geworden, warum Bruder Antonio und Bruder Salvatore ihr Wissen erst nicht hatten preisgeben wollen und warum es seit dem ominösen Tod der Hexe kein Mensch mehr gewagt hatte, diese Sprüche zu rezitieren. Zu groß war die Gefahr, die damit einherging. Grautvornix hatte diese Gefahr gerade am eigenen Leib erlebt und nur durch ein halbes Wunder lebend überstanden. Noch einmal, dessen war er sich sicher, würde er dieses Risiko nicht eingehen. Nie wieder! Jetzt aber mußte er erst einmal zusehen, daß er von diesem Baum nach unten kam. Oben bleiben bis zum jüngsten Tag konnte er nicht. Vorsichtig arbeitete er sich zwischen dem Astwerk in Richtung Stamm vorwärts und hangelte sich dort von Ast zu Ast tiefer. Insekten umschwirrten ihn, und kleinere Äste rissen ihm weitere Schrammen, aber das konnte ihn nicht mehr aufregen. Jetzt nicht mehr… Aber dann hing er wieder acht Meter über dem Boden. Da endete der unterste Ast, und darunter befand sich Rasen. Klaus Rollnitz murmelte eine Verwünschung. Wenn er sich nach unten hängen ließ, nahm er vielleicht zwei Meter weg. Blieben immer noch sechs; der Sprung von einem Hausdach. Ohne Knochenbrüche ging das nicht ab. Es blieb ihm nur eine einzige Möglichkeit. An der borkigen Baumrinde hinabrutschen… »Oh, du verfluchte Hexe, der Teufel soll dich holen«, stöhnte er und biß in den sauren Apfel. * Besonders sehenswert war die Brücke des heiligen Nikolaus nicht, und mancher der Einheimischen mochte sich wundern, was die Touristen da herumzukrauchen hatten. An die Geschichte der Hexe, die unter dieser Brücke tot aufgefunden worden sein sollte, um am nächsten Tag spurlos verschwunden zu sein, dachte von den wenigen Zuschauern bestimmt niemand. Ted Ewigk hatte sich kurz entschlossen über das niedrige Mäuerchen geschwungen und kletterte an der Uferböschung nach unten. Der Arno führte Niedrigwasser und ließ einen breiten Streifen schmutzigen Sandes rechts und links an seinen Ufern 36
hervortreten. Sauberes Wasser war hier auch Mangelware. Ted störte es momentan nicht. Ihn interessierten andere Dinge. Er verschwand unter der Brücke. Oben fragte Tina Pascalo: »Glaubt er im Ernst, da unten eine Spur von der Hexe zu finden? Das ist doch mehr als vierhundert Jahre her!« Stanton sah auf seine Schuhspitzen. »Keine gewöhnlichen Spuren, Signorina… Ted sucht Spuren, die sich auf magische Weise eingeprägt haben, und die können selbst Jahrtausende nicht auslöschen.« Von unten kam nichts. Ein paar Italiener, die vorüberschlenderten, wunderten sich wohl, was es unter der Brücke zu sehen gab, aber niemand sprach die kleine Gruppe an. Plötzlich ertönte von unten Teds Ruf. »Rolf… Roger, Tina… hier ist etwas! Das müßt ihr euch ansehen! Schnell, ehe es weg ist!« Irritiert hob Stanton den Kopf. »Ehe es weg ist?« fragte er halblaut. »Was ist denn da unten?« rief Rolf. Aber Ted Ewigk antwortete nicht mehr. »Ja, dann wollen wir mal«, sagte der Römer-Fan, kletterte ebenfalls hinüber und half Tina Pascalo beim übersteigen. Stanton folgte als letzter. Dann standen sie unter der Brücke und sahen sich verwirrt um, aber von Ted Ewigk war nichts mehr zu sehen. Der Geisterreporter war verschwunden wie Renata Pascalo. * Klaus Rollnitz hatte es geschafft. Er war unten. Hose und T-Shirt waren jetzt graugrün längsgestreift, überall aufgeschrammt und angerissen, und seine Hände hatten die Tortur auch nicht heil überstanden. Aber er war unten, ohne abgestürzt zu sein. Ein paarmal sah er noch nach oben, sah den Baum hoch über sich aufragen und wußte, daß man so etwas einmal überleben kann, aber kein zweites Mal. Und sein Vorsatz, mit den Zaubersprüchen der Hexe nicht mehr zu spielen, festigte sich weiter. 37
Dann sah er an sich herunter. Er mußte einen furchtbaren Anblick bieten, schlimmer als der heruntergekommenste Straßenräuber. Was er benötigte, war heile Kleidung und vor allem Wasser. Vorsichtig sah er sich um. Ringsum Rasen, dazwischen Bäume und Sträucher. Im Nordwesten stand der Palazzo Pitti. Grautvornix sah in ihm kein architektonisches Kunstwerk, sondern eine Gefahr. Dort liefen mit Sicherheit Unmengen von Menschen herum, die sofort nach den Carabinieri schreien würden, wenn sie ihn in seinem Aufzug sahen. Er mußte also in die andere Richtung und dabei nach Möglichkeit an den Arno kommen. Dort gab es Wasser, mit dem er sich wenigstens halbwegs säubern konnte. So kehrte er dem Bauwerk, das im neunzehnten Jahrhundert Palast der Könige von Italien gewesen war und jetzt als Kunstmuseum fungierte, den Rücken und marschierte durch den Park drauflos, in dem erstaunlich wenige Menschen unterwegs waren. Grautvornix hielt sich in den Schatten von Büschen und Bäumen. Er wußte, daß er sich damit mehr als nur verdächtig machte, wenn einer der wenigen Spaziergänger einmal näher hinsah, aber das Risiko war geringer als das in der Nähe des Palazzo. Dann erreichte er das Ende des Parkes. Vor ihm begann freies Land, das aber nur einen schmalen Streifen bildete. Dahinter ragten die graubraunen Rückfronten der Häuser auf. Zwischen ihnen gedachte Rollnitz zunächst einmal unterzutauchen. Das klappte nicht mehr. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich ein hochgewachsener Mann vor ihm. Grautvornix, dem plötzlich vor allem graute, fuhr auf dem Absatz herum, aber er war nicht schnell genug. Der andere hielt ihn fest, und da erst kam das Erkennen. »Lieber Himmel, wie siehst du denn aus?« fragte Ted Ewigk. * Ted Ewigk hatte sich unter dem Brückenbogen umgesehen. Genaugenommen war es eine Narretei, nach vierhundert Jahren 38
noch Spuren lesen zu wollen. Das hatten damals bestimmt schon genug Leute getan, ohne fündig zu werden. Aber in Ted war etwas aktiv geworden. Sein Gespür! Eine Art sechster Sinn, der ihm sagte, daß dort unten etwas zu finden war. Diese Witterung hatte ihn noch nie im Stich gelassen und gehörte zu dem Repertoire übersinnlicher Fähigkeiten, die er schwach ausgeprägt besaß. Sein Gespür verriet ihm aber nicht, worauf er zu achten hatte. Hier unten war es dämmrig. In Kürze würde auch oben auf der Brücke die Dämmerung einsetzen. Eine rötliche Feuerspur brach sich schon auf den Arnowellen, weil die Sonne untergehen wollte. Wo mochte die Hexe gefunden worden sein? Auf dieser Uferseite, oder auf der anderen? Ted sah gemauerten Stein vor sich. Und aus diesem Stein sah ihn ein Augenpaar an. Er zwinkerte mit den Augen. Aber dieses andere Augenpaar, das im Stein steckte, war kein Spiegelbild, sondern weitete sich zu einem Gesicht. Eine Halluzination? Nein! Was er sah, war echt. Und er kannte das Gesicht doch! Er hatte es doch auch fein modelliert auf der kleinen Statuette gefunden! Tina Pascalos Gesicht! Aber hier unten in Stein und immer größer und deutlicher werdend? Und Tinas Zwillingsschwester Renata war oben an der Autobahnraststätte verschwunden… Plötzlich wurde die Befürchtung in Ted groß, daß er etwas sah, was es gar nicht gab, und noch größer war die Befürchtung, daß dieses Bild wieder verschwinden würde. Aber er wollte es nicht allein gesehen haben. »Rolf!« rief er nach oben. »Roger, Tina… hier ist etwas! Das müßt ihr euch ansehen! Schnell, ehe es weg ist!« Rolf rief etwas zurück, das Ted hier unten nicht verstand. Aber er nahm es auch schon gar nicht mehr wahr. * Das Gesicht besaß jetzt auch einen Körper, und mit diesem 39
schickte es sich an, den Stein zu verlassen! Der schlanke, wunderbar proportionierte Körper eines jungen Mädchens, das nackt war. Nackt wie auch die kleine Statuette! Da hatte das Stein-Mädchen die Steinbrücke verlassen, aber hinter ihr gab es kein Loch. Da war die Mauer so glatt und geschlossen wie vorher auch. Wo blieben Rolf und die anderen? Das Stein-Mädchen kam jetzt auf ihn zu. Ted stand wie erstarrt, unfähig, eine Lösung für das Rätsel zu finden. Stein bewegte sich. Stein-Augen öffneten sich, sahen ihn an, und Stein-Lippen bewegten sich. Aber kein Wort erklang. »Renata?« flüsterte Ted erschrocken. »Renata Pascalo?« Im gleichen Moment hörte er in seinem Kopf den Zauberspruch aufklingen. Drachenzahn und Hexenschrei – Riese, eile flugs herbei! Aber diesmal schrie die Hexe nicht, und auch der Riese kam nicht. Dafür berührten steinerne Hände Teds Arme. Das ist nicht Renata!, durchfuhr es ihn. Im gleichen Moment warf sich das Mädchen rückwärts in die Steinbrücke zurück und zog Ted Ewigk mit sich. Unter der Brücke San Nicolo gab es ihn nicht mehr. * Von einem Moment zum anderen hatte die Umgebung sich verändert. Ted Ewigk steckte nicht mehr im Stein, in den das steinerne Mädchen ihn gezogen hatte. Er hatte sich nie darin befunden! Es war wie das Tor in eine andere Welt. Jetzt stand er in einem großen, geschlossenen Raum ohne Fenster, der von Pechfackeln erhellt wurde und damit an finsterstes Mittelalter gemahnte. Und vor ihm stand das schwarzhaarige Mädchen, das jetzt nicht mehr steinern wirkte. Jetzt war sie aus Fleisch und Blut, atmete und sah ihn aus den gleichen braunen Augen wie Tina Pascalo an, aber sie war immer noch so nackt wie vorhin, als sie der Statue geglichen hatte. Nur erweckte diese Nacktheit in Ted seltsamerweise keinen Reiz. Sie ließ ihn kalt. Sollte das wirklich Renata Pascalo sein, die Verschwundene? Die 40
Ähnlichkeit war mehr als verblüffend. Trotzdem warnte Teds Gespür. Er wollte in dieser Ähnlichkeit nur einen Zufall sehen. Aber konnte es solche Zufälle geben? Kurz dachte Ted an seine Freunde, die jetzt unter der Brücke nach ihm suchen würden. Er fragte sich, was sie unternehmen würden. Immerhin war er für sie jetzt ebenso spurlos verschwunden wie Renata. Renata, die vor ihm stand? Sie sah ihn an, sie lächelte, und dann wandte sie sich ab und drehte ihren Körper mit katzenhafter Geschmeidigkeit, die jeden anderen Mann um den Verstand gebracht hätte. Nicht Ted Ewigk! Er blieb eiskalt und wunderte sich selbst darüber. Die schöne Nackte ging zur Wand, die aus braunen, halbmetergroßen Steinquadern gemauert worden war. Obgleich es keine Fenster gab, roch die Luft hier drinnen nicht verbraucht und auch nicht feucht, wie es sonst in uralten Gemäuern die Regel ist. Trocken und frisch war es. Vor der Wand blieb die schwarzhaarige Schönheit stehen, streckte beide Arme aus und strich mit ihren schlanken Fingern über den Stein in einer gleichmäßig fließenden Bewegung, die von oben nach unten führte. Im gleichen Moment war die Wand nicht mehr geschlossen. In einem Rechteck von ein mal zwei Metern hatte sie sich geöffnet und dabei nicht eine zurückschwingende Quaderplatte präsentiert, sondern sich einfach entstofflicht. Und hinter dieser Lücke im massiven Mauerwerk war freie Natur. Die Schwarzhaarige, die wie Renata oder Tina Pascalo aussah, trat hindurch und ins Freie. Ted Ewigk folgte ihr. Draußen wehte ein frischer Windzug. Die spätnachmittägliche Helligkeit umgab ihn; Italiens Herbstsonne schien warm auf ihn und das Mädchen herab, das sich hier draußen wohl zu fühlen schien. Der schlanke, geschmeidige Körper schimmerte in sanftem Goldton, als er vom Gegenlicht bestrahlt wurde. Ted pfiff leise durch die Zähne. Das nackte Mädchen fuhr herum und lachte ihn an. Ihr Lachen war der erste Laut, den Ted über ihre Lippen kommen hörte, aber auch jetzt sprach sie ihn noch nicht an. Sie lächelte nur wieder und winkte ihm, ihr zu folgen. Nur zu gern folgte er ihrer Aufforderung und wunderte sich 41
dabei, daß sie im prüden Italien hier draußen nicht eine Sekunde lang daran zu denken schien, sich etwas anzuziehen. Oder gab es hier keine Zuschauer? Es gab keine! In einem kleinen romantischen Tal waren sie zu zweit allein. Aber ringsum wuchsen Bäume und Sträucher, wie Ted sie in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Das Gras hatte einen leichten Blauschimmer, und auch unter den prachtvollen Blumen, die einem Ozean gleich das Gras bedeckten, herrschte der Blauton vor. Ein kleines Paradies Aber nur ein ganz kleines… Die Schwarzhaarige hatte sich plötzlich umgedreht und war stehengeblieben. Erwartungsvoll sah sie Ted an, streckte beide Arme aus und drehte sich einmal im Kreis, um auf all die Blumenpracht und die Schönheit des kleinen Tals hinzuweisen, das ringsum von aufragenden, zum Teil schneebedeckten Bergen umgeben war. War das noch die Toskana? War das noch die Umgebung von Florenz? Oder war das hier etwas ganz anderes? Eine Fantasiewelt? Aber wer hatte sie erschaffen? Und warum hatte dieses schöne Mädchen Ted hierher geholt? Unheimlich viele Fragen, auf die sich Ted keine Antwort erhoffte, weil er am Sprechvermögen des Mädchens zweifelte. Warum sagte sie kein Wort? Bis auf ihr erfrischendes, perlendes Lachen hatte sie keinen einzigen Ton von sich gegeben. Aber mit ihrer weitausholenden Geste glaubte er sie zu verstehen. Wollte sie ihn damit nicht auffordern, an dieser Schönheit teilzuhaben, die allem Anschein nach ihr gehörte? Er ging blitzschnell in die Knie, pflückte eine große blaue Blüte und trat mit ihr auf das Mädchen zu. Dann steckte er ihr die Blüte ins Haar und lächelte. »Hübsch«, sagte er. Ihre braunen Augen leuchteten. »Wo befinden wir uns hier?« fragte er. »Kannst du es mir sagen? Oder kannst du nicht sprechen?« Sie sah ihn nur schweigend an und griff wieder nach seiner Hand, um ihn mit sich zu ziehen. Er ging über weiches Gras und glaubte sich wie im Traum. Um so befremdlicher erschien es ihm 42
selbst, daß der Körper des Mädchens keinen Reiz auf ihn ausübte, obgleich sie wirklich eine Schönheit war. Er fühlte nicht einmal das Bedürfnis, ihre roten Lippen zu küssen. Warum? fragte er sich. Als sie wieder stehenblieb und sich einfach ins Gras setzte, versuchte er es noch einmal. »Ich bin Ted«, sagte er. »Wie heißt du? Renata?« Sie schwieg immer noch und streckte sich aus. Wie eine Katze, so geschmeidig und elegant waren ihre Bewegungen. Dann streckte sie ihren Arm aus und deutete auf die andere Seite des Paradies-Tales. »Schau!« Er schaute. Im gleichen Moment wurde das Paradies zur Hölle. * »Lieber Himmel, jetzt hat es auch Ted erwischt!« behauptete Rolf Michael. »Das hat uns gerade noch gefehlt…« »Glaubst du daran?« zweifelte Stanton. »Ich habe weder eine Hexe schreien gehört noch einen Drachen oder diesen Riesen gesehen… nichts davon war festzustellen!« »Bitte«, knurrte Rolf, »dann zeige mir doch, wohin Ted sich begeben hat. Oder ist dir bekannt, ob er neuerdings unter die Zauberkünstler gegangen ist, die sich unsichtbar machen können?« Keine Antwort war auch eine Antwort. Auch Tina Pascalo sah sich verwirrt unter der Brücke um, und zwischen ihren Fingern drehte sie dabei die kleine Statuette, die Ted ihr geschenkt hatte. »Wenn wir nur wüßten, was er hier unten gesehen haben will«, knurrte Rolf aufgebracht. »Denn dieses etwas muß ihn unsichtbar gemacht oder ihn verschwinden lassen haben… Roger, hast du eine Ahnung?« Der Südamerikaner hatte nicht. Er starrte auch die Steine des Brückenunterbaus an und konnte die gleiche Beobachtung wie Ted Ewigk nicht machen, weil es das Mädchengesicht im Stein nicht mehr gab, nicht einmal das Augenpaar. »Drachenzahn und Hexenschrei…« »Bist du verrückt geworden?« brüllte Rolf ihn an. »Willst du uns diesen verdammten Riesen auf den Hals schicken?« 43
Stanton brach abrupt ab. »Bei Ted hat’s doch auch nicht geklappt«, verteidigte er sich lahm. »Aber bei Grautvornix! Und ich möchte nicht ausprobieren, ob du den Riesen auch herbeizaubern kannst.« Tina Pascalo drehte immer noch die Statuette zwischen den Fingern. Plötzlich entfiel sie ihr und schlug auf harten Stein. Tina schrie erschrocken auf, weil sie glaubte, die Figur müsse in tausend Stücke zersprungen sein. Aber dem war nicht so. Überrascht starrten drei Menschen die kleine, helle Figur an, die heil geblieben war. Schneller als die anderen hatte Stanton sich gebückt, sie aufgehoben und trat dann ins Freie, um sie bei Licht zu betrachten. »Donnerwetter, ist das ein Prachtstückchen… nicht mal ein kleiner Kratzer?« Er gab Tina die Statuette zurück, die sie ebenfalls ungläubig betrachtete. »Eine heil gebliebene Preßfigur, die sich damit als Phänomen erweist, bringt uns aber Ted nicht zurück«, murrte Rolf. »Spuren gibt’s hier auch keine, die wir verfolgen könnten…« »Vielleicht liegt er im Arno!« warf Tina ein. »Im Fluß? Dann hätten wir ihn doch vorübertreiben sehen müssen… und so tief ist er hier am Ufer auch nicht, daß man ertrinken könnte. Nein, bella Signorina… daran kann ich nicht so ohne weiteres glauben. Außerdem ist Ted ein guter Schwimmer.« »Wir gehen wieder nach oben und warten dort eine Weile ab«, bestimmte Stanton schließlich. »Wenn wir hier Wurzeln schlagen, hält uns ein zufällig vorüberkommender Carabiniere möglicherweise noch für Landstreicher und sperrt uns ein! Daß wir hier auf jemanden warten, der verschwunden ist, nimmt uns nämlich keiner ab…« * Die fantastische Schönheit des Tales konnte Ted Ewigk nicht mehr begeistern. Erschrocken sprang er auf. Drüben, am anderen Talende, weidete gemütlich ein mittelprächtiger Flugsaurier, oder was immer das auch für ein Viech sein mochte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Ted, daß diese graugrüne Bestie keinem einzigen Saurier-Typus entsprach, der jemals auf der Erde gelustwandelt war. Riesige 44
Schwingen lagen zusammengefaltet auf ihrem Rücken, der ein paar wunderhübsche Stacheln in den Himmel ragen ließ. Ted konnte sich lebhaft vorstellen, daß man zwischen diesen Stacheln hervorragend sitzen und sich an ihnen festhalten konnte. Der weidende Saurier hatte sich auf alle Viere niedergelassen, was ihm trotzdem noch das Ausmaß einer Dampflokomotive verlieh. Und der kantige Schädel mit dem Supergebiß sprach seinem friedlichen Verhalten Hohn. Auch wenn er da hinten Gras und Sträucher fraß, war das ein Killer-Gebiß, das für rohes Fleisch bestens eingerichtet war. Möglicherweise besorgte sich das liebe Tierchen gerade den Salat zum Hauptgericht… Aber zu dem wollte Ted Ewigk nicht werden. Er sah in der graugrünen Bestie den Drachen der Hexe. Aber wo war dann der Riese? Sein Blick fiel wieder auf das schwarzhaarige Mädchen, das nicht die entführte Renata Pascalo sein konnte. Die nackte Schönheit zeigte sich von der Bestie fast unbeeindruckt. Ganz beiläufig war ihre Annbewegung erfolgt, und das »Schau« war wie das eines Fremdenführers gewesen, der auf einen Meilenstein an der Via Appia hinweist. Abgesehen davon, daß es das erste Wort war, das sie gesprochen hatte! Aber wenn sie nicht Renata war, wer dann? Da setzte sich der Saurier, der Drache mit den Flügeln, in Bewegung und kam in lockerem Tempo herangetrabt. Ted hatte kein Interesse daran, nähere Bekanntschaft mit den riesigen Zähnen zu machen. Er rief den zweiten Zauberspruch, der den ganzen Hexenspuk zum Verschwinden bringen konnte. Aber nichts veränderte sich. Beim ihm war der Spruch unwirksam! Und das, obgleich ich Para-Fähigkeiten besitze! dachte Ted in einem Anflug von Ironie. Aber da sprang auch die Schwarzhaarige wieder aus dem Gras hoch, und sie lächelte nicht mehr. Traurig sah sie Ted an. »Du willst nicht bleiben?« sprach sie ihn betrübt an. »Schade, Ted Ewigk… aber wir werden uns wiedersehen!« Mit schlanken Fingern berührte sie seine Stirn. Und war verschwunden. 45
* Es stimmte nicht. Nicht sie war verschwunden, sondern Ted Ewigk. Von einer Sekunde zur anderen hatte er das paradiesische, blaue Tal verlassen. Das schwarzhaarige Mädchen, das ihn durch die Brücke in ihre Welt geholt hatte, hatte ihn wieder in seine zurückgeschickt. Es gab keine blauen Blumen unter sonnigen, warmen Himmel mehr. Es gab keinen herantrabenden Drachen mehr und auch keine nackte Schönheit in diesem Paradies. Freies Gelände war ringsum, und vor Ted begann eine Parklandschaft. Aber auch diesmal war kein Hexenspuk bemerkbar gewesen. Kein Schrei, kein Drache und kein Riese! Aber der Drache war doch in dem blauen Tal gewesen…! Dafür tauchte jemand anderes direkt vor Ted auf. Eine laufende, verschrammte und abgerissene Gestalt mit langen Haaren, die er in den letzten Stunden nur zu gut kennengelernt hatte. »Lieber Himmel, wie siehst du denn aus?« stieß er hervor und stoppte die Fluchtbewegung von Klaus Rollnitz. Grautvornix zappelte nur kurz in Teds Griff. Der Reporter ließ ihn los. Der Junge drehte sich langsam um. »Ich sehe aus wie Klaus life in action, Alter«, sagte er trotzig. »Klapp deine Augendeckel hoch, dann siehst du’s und brauchst nicht dusselig zu fragen.« Ted grinste, obgleich ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. »Tatsächlich«, stellte er fest. »Grautvornix life in action. Bist du vom Drachen gefallen?« Da sah ihn der Junge an wie ein Gespenst. »Woher weißt du das denn, Alter? Bist du unter die Hellseher gegangen?« Ein unheimlicher Verdacht stieg in Ted auf. »Du hast ein bißchen Zauberer gespielt, nicht wahr?« fuhr er ihn an und fragte sich unwillkürlich, ob Klaus’ gemurmelte Zaubersprüche die Schuld daran trugen, daß Ted von der schwarzhaarigen Schönheit in die Fantasiewelt geholt und wieder zurückgeschickt worden war. Und er erinnerte sich automatisch an seine Freunde unter der Brücke. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er nicht mehr als 46
fünf Minuten drüben zugebracht haben konnte. Demnach würde man ihn unter der Brücke noch suchen, aber wo befand er sich hier? Er sah über den Park hinweg ein großes Bauwerk. Konnte das der Palazzo Pitti sein? Er war fast sicher, weil er sich während der Annäherung an Florenz den Stadtplan angesehen hatte, der noch dazu bebildert war. Wenn das das ehemalige Königshaus der Toskana war, mußte der Arno in entgegengesetzter Richtung liegen und die Ponte di San Nicolo auch nicht sonderlich weit entfernt sein. »Paß auf, mein leichtsinniger Freund«, sagte er. »Wir setzen uns in Richtung Nikolaus-Brücke in Marsch. In meiner Begleitung wird man dich wohl nicht so leicht verhaften, als wenn du allein unterwegs wärst, und zwischendurch erzählst du mir, was du angerichtet hast.« »Was zum Teufel geht es dich eigentlich an?« fauchte Grautvornix, der sein unrühmliches Erlebnis am liebsten jetzt schon vergessen hätte. »Ich kann dir auch an Ort und Stelle den Hosenboden versohlen«, fuhr Ted ihn grimmig an, weil er ihn immer noch für den Verursacher en passant seines eigenen Abenteuers hielt, »oder zur berühmten Mafia-Methode greifen, deine Füße einbetonieren und dich in den Arno werfen, wenn dir das lieber ist!« Drohend hatte er sich vor Grautvornix aufgebaut und sah in diesem Moment furchterregend aus. Klaus Rollnitz glaubte ihm die Drohung aufs Wort! Er sprudelte sein Erlebnis hervor. Teds Gesicht wurde dabei länger und länger, weil der Zeitvergleich einfach nicht stimmte. Klaus’ Abenteuer hatte sich vor seinem abgespielt. Aber erklärte das nicht auch, warum der Drache jetzt friedlich im Tal weidete? Das war nicht nur beruhigend, weil der geflügelte Bursche demzufolge nicht an zwei Stellen zugleich auftauchen konnte, sondern bot auch noch andere Anhaltspunkte: Die Hexe war nicht Beherrscherin des Zeitablaufs – weil eben ihr Drache nur an einer Stelle sein konnte. Und man konnte ihn irgendwohin locken und unterdessen anderswo versuchen, der Hexe an den Kragen zu gehen. »Ich glaube fast«, murmelte Ted versöhnlich, »du hast mir einen kleinen Gefallen getan.« »Das hört sich gut an«, stellte Klaus Rollnitz unbekümmert fest. 47
»Hoffentlich denkst du auch noch daran, wenn du mir wieder mal eine scheuern willst, Alter.« Ted Ewigk seufzte. »Auch meine Dankbarkeit«, sagte er grimmig, »hat Grenzen! Merke dir das, Freundchen!« * Die anderen zeigten ihre Erleichterung offen, daß Ted wieder aufgetaucht war. Weniger erfreut waren sie über die Anwesenheit des jugendlichen Großmauls, bis Ted erklärte, daß dieser ihm unwissentlich bei seinen Überlegungen geholfen hatte. Sie machten es sich auf der Brücke gemütlich. Mit gemischten Gefühlen berichtete Grautvornix noch einmal von seinem Drachenflug, der sein Ende in den Baumkronen gefunden hatte. »Großes Haus mit Obstgarten!« fauchte Rolf aufgebracht. »Bist du irre, Knäblein? Das ist der Palazzo Pitti, Regierungssitz der Könige im…« »Kann ich was dafür?« maulte Grautvornix. »Banause!« knurrte Rolf. »Der Drache hätte dich schlucken sollen, statt dich spazieren zu tragen.« »Er will’s auch nie mehr wieder tun«, versicherte Klaus. Ted Ewigk hatte sich an die Brückenmauer gelehnt und sah Tina Pascalo nachdenklich an. »Tina, haben Renata und Sie noch eine dritte Schwester, die genauso aussieht wie Sie beide?« schoß er seine Frage ab. Verwirrt schüttelte die Schwarzhaarige den Kopf. »Scusi, Ted… wir sind immer nur zu zweit gewesen! Aber wollen Sie damit ausdrücken, daß Sie Renata gesehen haben?« Ted zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein junges Mädchen gesehen, das aussah wie eine von Ihnen beiden, aber nur schwer Renata sein konnte…« Tina sprang ihn fast an. »Wie können Sie das wissen? Wo haben Sie sie gesehen?« Ted schilderte sein Erlebnis. Dabei verglich er in Gedanken wieder Tina mit dem Mädchen im blauen Tal. Die gleichen Bewegungen, das gleiche Gesicht, die gleichen Augen… wie bei eineiigen Zwillingen. Aber dennoch wollte er nicht glauben, daß er im Tal, in dieser anderen Welt, Renata begegnet war. Hätte die nicht alles daran setzen müssen, aus der 48
Gefangenschaft zu entkommen? Statt dessen hatte sie sich dort pudelwohl gefühlt, hatte Ted unter der Brücke hervor zu sich geholt und sich nicht im mindesten von der Nähe des Drachen beeindrucken lassen. Es war so, als sei sie die Beherrscherin dieses kleinen Tals in einer Art eigenen Welt – und das war es, was Ted stutzig machte. Dieses Verhalten hinderte ihn darin, in ihr die entführte Renata Pascalo zu sehen. Jetzt war es ihm klar. Aber Tina Pascalo wollte es ihm nicht abnehmen. »Sie muß Renata sein, Ted… es gibt keine andere Möglichkeit, weil wir keine dritte Schwester haben… sie muß es sein, aber bei der Madonna, wie kommt Renata dazu, sich einem völlig Fremden so schamlos zu zeigen?« Ted korrigierte sie. »Nicht schamlos, Tina… mir kam es eher völlig natürlich vor. So natürlich, wie Sie jetzt vor mir stehen, nur daß Sie bekleidet sind… aber dennoch ist es nicht Renata gewesen! Ich bin mir da völlig sicher!« »Aber wer denn?« Das konnte auch er ihr nicht sagen. Er starrte nur die kleine Statuette an, die sie immer noch in Händen hielt, und fragte sich verzweifelt, was sich an dieser verändert hatte… * Auf Tinas Drängen waren sie dann alle noch einmal nach unten geklettert, unter die Brücke. Tina ließ sich nicht davon abbringen, daß das Mädchen, das Ted in die andere Welt geholt hatte, ihre entführte Schwester sein sollte, und sie bestand darauf, daß Ted die gleiche Aktion noch einmal durchzuführen versuchte, die sich vorhin abgespielt hatte. Auf alle Fälle wollte sie dabei versuchen, die Aufmerksamkeit Renatas auf sich zu lenken. Jetzt standen sie alle unter der Brücke, auch Klaus Rollnitz. Das leise Murmeln der Arno-Wellen an den Ufersteinen und im flachen Schlick überhörten sie alle. Ted Ewigk versuchte die Stelle wiederzufinden, an der ihm das Augenpaar entgegengetreten war. Er versuchte sich daran zu erinnern, wo genau sich das abgespielt hatte, und zählte schließlich die Steine ab. 49
Aber da gab es keine Augen im Stein, die sich zu einem Gesicht und schließlich einem kompletten Körper erweiterten. Nichts geschah. Wenn es hier wirklich ein Tor in eine andere Welt gab, so blieb es verschlossen. »Nichts… gar nichts…« Teds Hand glitt zu seinem Nacken; eine Verlegenheitsgeste. »Vielleicht könnte ich einen Kontakt schaffen, wenn ich den Dhyarra-Kristall hier hätte. Aber der liegt ja im Wagen…« R. B. Stanton breitete die Arme aus und sah einem flatternden Uhu noch ähnlicher. »Kein Problem, mein Lieber«, sagte er. »Schau dir mal Grautvornix an.« »Lieber nicht«, murmelte Ted unfroh. »So abgerissen, wie er aussieht, können wir uns nicht durch Florenz wagen. Also muß einer lostigern und den Wagen hierher holen. Und dann ist auch zugleich der Dhyarra hier. Dann könntest du es noch einmal versuchen.« Ted nagte an der Unterlippe und sah nach dem Stand der Sonne. Nur noch rotes Feuer gloste am Himmel über den Dächern der Stadt. »Es neigt sich der Tag«, sagte er salbungsvoll. »Es würde uns besser anstehen, erwähnten Versuch auf den kommenden Tag zu verschieben und lieber eine Unterkunft zu suchen. Sonst stehen wir nämlich über Nacht auf der Straße. Ein bequemes Bett möchte ich doch wohl haben.« Stanton grinste. »Nur schlafen ist schöner«, spöttelte er. »Du hast keinen Sportsgeist, Kamerad.« »Flaschengeist, du Flasche«, schmunzelte Ted gutmütig. »Da ihr den Dhyarra nicht abschalten könnt, muß ich wohl den Rolly selbst holen. Meine Güte, den ganzen langen Fußmarsch wieder zurück…« »Trimm dich«, feixte Stanton. »Versuchs mal mit Jogging, dann wird zwar der Weg nicht kürzer, aber der Schweiß fließt lockerer.« »Ach, ihr seid ja alle verrückt«, murmelte Ted und verschwand nach oben. »Sauft nicht den Arno leer, das ist Umweltschmutz und kein Wein.« »Na, ein bißchen Wasser wird doch wohl drin sein«, lästerte Stanton. Und Ted Ewigk machte sich auf den langen Fußmarsch. 50
* Die Fahrt wurde noch schlimmer. Der Rolls-Royce war ein riesiges Fahrzeug, für das die schmalen italienischen Straßen nun wirklich nicht gebaut sind. Und trotz eifrigen Gebrauchs der Hupe und des beeindruckenden Äußeren des Wagens blieb Ted mehr als einmal an Kreuzungen stecken, weil die kleinen Fiats wendiger und rascher in die winzigsten Lücken schlüpften. Erstaunlicherweise ging die ganze Fahrt ohne eine einzige Beule ab, obgleich Ted einmal in einer schmalen Gasse nicht weiterkam. Er hatte sich eine Abkürzung davon versprochen, weil er wie jeder Tourist dem Stadtplan unbedingtes Vertrauen entgegenbrachte, aber in diesem Stadtplan hatte nicht gestanden, wie schmal die Straße war und daß rechts und links Autos geparkt waren. Plötzlich gab es kein Weiterkommen mehr; der Rolls war zu breit, und Ted mußte zurück. Allmählich wurde ihm auch klar, daß es eine Kateridee gewesen war, mit diesem Schlachtschiff in Italien einzufallen. In Rom und weiter unten in Neapel würde es noch schlimmer werden. Ted fehlte die Routine und das angeborene Selbstbewußtsein, das den Italiener das schlimmste Gewühl souverwän meistern läßt. Schließlich schaffte er es, rückwärts wieder aus der Seitenstraße zu kommen und nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich die Ponte di San Nicolo zu erreichen. Auf dem Armaturenbrett glitzerte nach wie vor der Dhyarra-Kristall, jener blaufunkelnde, magische Stein, der über geradezu unglaubliche Kräfte verfügte. Es hieß, daß es nur noch sehr, sehr wenige Dhyarras gab, die aus einer Zeit stammten, da Götter und Dämonen noch auf der Erde wandelten. Diese Kristalle vermochten magische Kräfte unglaublich zu verstärken und auch von sich aus unglaubliche Dinge zu bewirken. Ted hatte Djuschins Abhandlung über die Straße der Götter und die Dhyarras im Besonderen gelesen und wußte, daß es Dhyarras verschiedener Stärke gab, in insgesamt zwölf Abstufungen. Es hieß, daß ein Kristall zwölfter Ordnung seinerzeit nicht einmal von mehreren Göttern oder Dämonen gemeinsam kontrolliert werden konnte. Und ein Kristall, der zu stark war für die vorhandenen magischen Kräfte des Benutzers, konnte diesem ohne Weiteres, ihn überfordernd, das Gehirn ausbrennen und einen lallenden Idioten zurücklassen. Es war ein Risiko, das Ted bei jedem Benutzen erneut einging. 51
Denn bislang war es noch niemandem gelungen, die Stärke seines Kristalls wirklich auszuloten. Die Druidin Teri Rheken hatte es einmal versucht und erkennen müssen, daß der Kristall nicht seinesgleichen kannte. Der stärkste Kristall, dessen Kraft sie einmal erfühlt hatte, war elfter Ordnung gewesen. Doch Teds Dhyarra war weitaus stärker. Von zwölfter Ordnung konnte er nicht sein, weil es davon nur zwei Exemplare gab, die künstlich erschaffen worden waren und deren Verbleib sehr genau bekannt war. Merlin, der legendäre Zauberer, hatte sie in seinen Besitz genommen… Es blieb nur eine einzige Schlußfolgerung. Teds Kristall mußte noch höher dimensioniert sein… Das war etwas, was Ted nicht begreifen konnte. Seine eigenen Para-Kräfte waren viel zu schwach, einen Kristall dieser Stärke einzusetzen, vor dem sogar Zeus und Apollo, die sich seine Freunde nannten, kapituliert hatten. Und doch hatte ihn der Kristall bislang noch nicht geschädigt… aber immer noch klang ihm Zeus’ Warnung im Ohr: Überschätze deine Kräfte nicht! Sagte diese Warnung nicht alles? Bedeutete sie nicht, daß Ted auf Dauer dem magischen Kristall nicht gewachsen sein würde? Er wußte es nicht. Er konnte nur auf seinen Erfahrungen aufbauen und hoffen, daß auch weiterhin alles gut ging. Denn völlig auf den Dhyarra verzichten wollte und konnte er nicht. Zu sehr hatte er sich in seinem Kampf gegen die schwarze Magie schon exponiert. Er stand auf der Schwarzen Liste der Dämonischen. Vielleicht konnte ihn nur der Dhyarra schützen… Ted stoppte vor der Brücke ab und stieg aus. Die anderen hielten sich immer noch unten auf. Der Reporter nahm den Kristall und kletterte nach unten. »Kurzversuch«, sagte er lakonisch. »Danach verschwinden wir und suchen uns ein Hotel. Hoffentlich ist nicht schon jedes Bett belegt.« »Wahrscheinlich. Brauchst du immer so lange, um ein paar Meter zu fahren?« Ted sah Stanton verächtlich an. »Kennst du nicht das elfte ewigksche Gebot? Du sollst nicht lästern wider deinen Chauffeur! Aus dem Weg!« Auch unter der Brücke war es inzwischen finster geworden. 52
Dennoch fand Ted die entsprechende Stelle diesmal schneller und sicherer wieder. Er drückte den blaufunkelnden Kristall, der selbst jetzt im Dunkeln schwach glomm, gegen den Stein. Gleichzeitig versuchte er seine Gedanken auf den Kristall und auf das Erscheinen des rätselhaften Mädchens zu konzentrieren. Aber nichts zeigte sich. Und weil Tina Pascalo die kleine Statuette vorübergehend aus der Hand gelegt hatte, weil die unter der ständigen Dauerberührung warm wurde und sie die Hände auch mal für ein paar Minuten frei haben wollte, fiel auch ihr nichts auf. * Sie fanden kein Hotelzimmer in der Stadt. Der Einfachheit halber hatte Ted Telefonmarken besorgt und die Hotels telefonisch abgeklappert, statt umständlich von Tür zu Tür zu fahren. Der Herbst war Spätsaison. So blieb ihnen nichts übrig, als einen letzten Versuch am Autobahnhotel zu machen. Vorher setzten sie Tina bei sich zu Hause ab. »Was soll ich bloß Papa und Mama erzählen?« fragte sie bedrückt. »Daß Renata spurlos verschwunden ist…« »Sollen wir mit hineinkommen und erzählen helfen?« hatte Ted angeboten. Fast erschrocken hatte die schöne Florentinerin abgewehrt. »Oh, no, mio dio! Papa schlägt euch tot und mich auch, weil ich mich mit fremden Männern, noch dazu tedesci, abgegeben habe…« So streng waren hier noch die Sitten der uralten Familientradition. Ted hätte Ähnliches eher auf Sizilien erwartet und nicht im fast schon nordeuropäischen Norditalien. Aber vielleicht stellte Tinas Familie die berühmte Ausnahme dar. »Aber Sie helfen doch weiter, nicht wahr? Renata muß zurückgeholt werden!« bat sie zum Schluß. »An nichts anderes denken wir!« versicherte Ted. »Wir sind morgen wieder da.« Sie verabredeten noch einen Treffpunkt, dann schloß sich die Haustür hinter der schönen Tina. Ted blieb noch eine Weile nachdenklich stehen. R. B. Stanton schnalzte mit der Zunge. »Feuer gefangen, wie?« 53
Ted zuckte mit den Schultern und stieg wieder ein. »Hoffnungslos, das war mir von vornherein klar. Aber man wird doch wohl noch träumen dürfen, verflixt! Schlimm genug, daß wir für diesen Taugenichts hier morgen neue Klamotten besorgen müssen! Hoffentlich schmeißen die uns im Hotel nicht achtkantig raus…« Sie schmissen nicht. Der weiße Rolls-Royce mit der Goldverzierung, der nun schon zum zweiten Mal an einem Tag das Autobahnhotel erreichte, erregte Aufsehen. Mit so etwas tauchte einmal im Jahrhundert ein Ölscheich hier auf. Daß nicht noch ein roter Teppich ausgerollt wurde, war ein Wunder, und über den höchst abgerissenen Aufzug des Jungen sah man großzügig hinweg. Wer einen Rolls fährt, darf ruhig ein wenig wundersam aussehen. »Kleider machen Leute«, grinste Ted vergnügt, als sie sich in den Luxuszimmern umsahen, die immerhin über Dusche und WC verfügten, »und Autos machen Herrschaften! Kommt, Freunde, wir werfen uns in die Räuberkluft und machen bei Mamma Marisa Banjo-Randale…« * Tina Pascalos Eltern hatten anders reagiert, als sich das Mädchen es vorgestellt hatte. Mit versteinerten Mienen hatten sie sich angehört, daß Renata oben an der Raststätte von Drache und Riese der Hexe entführt worden war. Daß die beiden Mädchen sich dorthin begeben hatten, war nichts Ungewöhnliches, weil sie Mamma Marisa oft besuchten. Ungewöhnlich war nur, daß die Hexe wieder einmal zugeschlagen hatte. »Mit ein paar Freunden haben wir versucht, Renata zu finden, aber es war erfolglos«, schloß sie. »Morgen wollen wir es noch einmal versuchen.« Giuseppe Pascalo fragte nicht einmal, wer diese Freunde waren! Er saß nur da wie eine Steinsäule. Genauso starr kauerte Maria, die Mutter, in ihrem Sessel. Entsetzen in ihren Zügen. Die Strega war wieder aktiv… die Strega hatte sich Renata geholt, ihre Renata… Tina schaffte es nicht mehr, gute Nacht zu wünschen. Das 54
Schweigen ihrer Eltern schmetterte auch sie nieder. Warum sagten weder Papa noch Mamma etwas? Erst jetzt begriff sie, was wirklich geschehen war, was Renatas Verschwinden bedeutete, und sie begriff auch, daß ihre Eltern nicht mehr damit rechneten, Renata lebend wieder zu sehen! Und keine Sekunde lang hatten sie an Tinas Wort gezweifelt! Sie mußten ihrer Tochter angesehen haben, daß sie nicht log, daß sie kein Märchen erzählte, um ein anderes Geschehen zu verschleiern. Aber als Tina in ihr Zimmer gegangen war, erhob sich Giuseppe Pascalo und ging zum Telefon. Die Questura rief er an, das Polizeipräsidium. Dort meldete er seine Tochter als vermißt. Von der Hexe und ihren teuflischen Vasallen erwähnte er kein Wort, weil er den Polizisten damit nicht kommen durfte. Hexerei hatte in Polizeiprotokollen des zwanzigsten Jahrhunderts keinen Platz mehr. Die Zeit der Inquisition war seit ein paar hundert Jahren vorbei. Man versprach, nach Renata zu fahnden. Giuseppe setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er hatte getan, was er tun mußte, aber Hoffnung, Renata jemals wieder zu sehen, hatte er auch jetzt nicht. Die Strega hatte noch niemals ein Opfer wieder freigegeben. Als der Morgen graute, saß Giuseppe immer noch auf seinem Stuhl, und sein Herz war zu Stein verhärtet. * Im Ristorante Marisa war die Hölle los. Rolf Michael hatte das Banjo ausgepackt und spielte auf. Binnen Sekunden entwickelte sich die Szene zum Volksfest, das ein paar Stunden andauerte und mit Wein, Weib und Gesang sein Ende fand. Strahlende Gesichter verabschiedeten sich schließlich, und lange nach Mitternacht bewiesen nur die tedesci, die Deutschen, noch, wie standhaft sie waren und verringerten Mamma Marisas Weinvorräte. Grautvornix fand mit übermenschlicher Zielsicherheit das Fettnäpfchen und tappte hinein, indem er es wagte, Marisas ausladendes Hinterteil zu betätscheln. Marisa betätschelte seine linke Wange weit weniger zart. Strafend sah sie erst Klaus Rollnitz an, dann Rolf, der neben ihm 55
am Tisch saß. »Deine Bambina?« radebrechte sie, wirkte dabei aber keineswegs verärgert. »Meine Tochter? Das fehlte mir gerade noch!« wehrte Rolf erschrocken ab. »Der sieht nur so aus, weil er so lange Haare hat… nix Bambina! Casanova!« »Egalo. Bambina…« Selbstverständlich hatte »Bambina« nicht genug Kleingeld, die Zeche zu bezahlen. Die anderen hatten gefälligst einzuspringen. Mit einer geradezu unheimlichen Menge weiterer Flaschen des ausgezeichneten Weins bepackt, schickten sie sich schließlich an, das Ristorante zu verlassen, als Ted Ewigk auf seinen Stuhl zurücksank und mit beiden Händen seine Schläfen berührte. Rasende, stechende Schmerzen tobten sich plötzlich darin aus, und mit den Schmerzen kam noch etwas anderes. Die Umgebung, der Gastraum, verschwamm vollkommen, und irgendwo in den wallenden Nebeln, die sich um Ted ausbreiteten, war etwas, das er kannte, aber nicht näher einzuordnen wußte, bis wie mit Hammerschlägen Worte in sein Bewußtsein drangen. Drachenzahn und Hexenschrei… Klar und deutlich vernahm er den Zauberspruch, obgleich niemand in der Nähe war, der ihn rief. Aber weder Riese noch Drache tauchten auf. Dafür ließ der stechende Schmerz wieder nach, aber Ted sah immer noch nur graue Nebel und in diesem etwas, das sich in weiter Ferne bewegte. Die Hexe? Die Hexe rief nach ihm? »Nein«, hörte er sich selbst aufstöhnen. »Nein, du bekommst mich nicht in deine Klauen…« Da sah er Tina Pascalo! Für eine Sekunde nur blitzte ihr Bild durch sein Bewußtsein, aber er zweifelte keine Sekunde daran, daß es Tina war. Sie mußte es sein. Er sah nicht die verschwundene Renata und auch nicht die Schwarzhaarige aus dem blauen Tal, sondern Tina, der er die Statuette geschenkt hatte. Und Tina rief nach ihm wie Sekunden zuvor die Hexe, aber wie er jener nicht folgen wollte, so konnte er Tina nicht helfen. Im nächsten Moment klang der zweite Zauberspruch in seinem Bewußtsein auf, der den Riesen zur Rückkehr bewegte und allen Spuk verschwinden ließ. 56
Aller Spuk war verschwunden. Im gleichen Augenblick konnte Ted wieder die Gaststätte um sich herum sehen und vor sich Mamma Marisa, die ihn rüttelte und dabei höchst besorgt wirkte. »Grazie, Signora«, brachte er hervor. »Alles klar, ich bin wieder in Ordnung…« Er erhob sich, und stand wieder auf den Beinen, was Marisa sehr beruhigte. Prüfend sah er Klaus Rollnitz an. Sollte der die Zaubersprüche gemurmelt haben? Ted fragte ihn. »Ich? Nie im Leben, Alter!« protestierte Grautvornix. »Ein Flug mit dem Drachen reicht mir!« Das klang glaubhaft. »Dann habe ich gerade die Hexe selbst gehört«, sagte Ted leise. »Sie rief nach mir, und dann… irgend etwas muß mit Tina passiert sein.« Stanton und Rolf Michael zuckten zusammen. »Du hattest Kontakt mit der Hexe?« Ted nickte nur. »Kommt, laßt uns gehen«, sagte er. »Damit unsere fröhliche Wirtin endlich Feierabend kriegt. Über die Hexe unterhalten wir uns im Hotel weiter.« Und als sie die Gaststätte verließen, flippte Grautvornix aus. * Tina Pascalo konnte nicht einschlafen. Sie fand einfach keine Ruhe. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um das Verschwinden ihrer Schwester und die Reaktion ihrer Eltern. Zumindest von ihrem Vater hatte sie erwartet, daß er einen Wutanfall bekommen und sofort zum Autobahnristorante hinauf fahren würde, um sich persönlich auf die Suche zu machen. Aber er saß nur da und rührte sich nicht… Die Hexe! dachte Tina immer wieder. Die Hexe hat Renate zu sich geholt, aber warum? Und warum hatte sie sich diesem deutschen Reporter auf so eigenartige Weise gezeigt? Tina hatte einen Stuhl ans Fenster gezogen und sah hinaus. Weit reichte der Blick nicht, nur die schmale Straße entlang. Und am Himmel jagten sich die Wolken und schoben sich immer wieder vor die bleiche Mondsichel. 57
Das Mondlicht fiel auch auf die Statuette. Tina hatte sie auf den kleinen Rundtisch in ihrem Zimmer gestellt. Wieder sah sie die Figur an. Wie paßte das alles zusammen? Die Statuette, die ihr Gesicht trug, die ihrem Körper bis ins letzte Detail nachgebildet war… aber weder sie noch Renata hatten doch jemals einem Former Modell gestanden! Es war unmöglich… So unmöglich wie das, was Ted Ewigk erlebt hatte? Wieder gab eine Wolke den Mond frei. Wieder fiel weißes Licht auf die Figur, deren Augen funkelten. Funkelten? Wieso konnten die Augen funkeln? Langsam, ganz langsam erhob sich Tina aus ihrem Stuhl und ging auf den Tisch mit dem Figürchen zu. Jetzt verdeckte ihr Körper das Mondlicht, warf einen langen, drohenden Schatten über die Statuette. Aber auch jetzt im Schatten funkelten die Augen. Den viel größeren Schatten sah Tina nicht, in dem sie selbst sich bewegte… Ihre Hand streckte sich aus, um die Statuette zu berühren. Aber mitten in der Bewegung verharrte sie. Drachenzahn und Hexenschrei, Riese, eile flugs herbei! Wer hatte es ausgesprochen? Die Statuette? Oder…? Tina fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam mehr über ihre Lippen. Sie sah… Und dann gab es nichts mehr, was sie sehen konnte… * Klaus Rollnitz, bis zur letzten Sekunde noch ziemlich nüchtern wirkend, kippte plötzlich um. Die Betrunkenheit kam nicht langsam, sondern schlagartig. Er bekam glasige Augen, lallte und begann zu singen. »Halt die Klappe!« wies Stanton ihn an und konnte dann gerade noch eine volle Weinflasche vor dem Zerschellen retten. »Du singst ja noch schauriger als Rolf!« »Das macht die Droge«, sagte Rolf leise. »Er ist süchtig, hat sich mit Sicherheit eine Portion verabreicht, und die Drogenreste im Blut und der Alkohol summieren sich jetzt. Ich bin gespannt, wie er die Nacht hinter sich bringt.« »Ich bin nicht süchtig«, protestierte Klaus schwerzüngig. »Du 58
bist ja nicht ganz dicht, Alter! Ich und süchtig!« »Natürlich bist du nicht süchtig«, sagte Ted ironisch. »Deshalb hast du dir ja auch extra was mitgebracht, damit du die paar Tage Italien gut versorgt bist.« »Ach, ich nehme doch immer nur ganz wenig«, lallte Grautvornix. »Das ist doch nicht schlimm.« Sein Gesicht verfärbte sich ein wenig ins Grünliche, und Ted ahnte Schlimmes. »Kommt, raus«, sagte er. »Wenn er kotzen muß, soll er’s draußen tun.« »Ich kotze nicht«, widersprach Klaus. »Ich nicht! Aber ihr Spritties mit eurem Weinsaufen… literweise… ihr seid doch süchtig, nicht ich.« »Sicher«, sagte Stanton und schob ihn vor sich her nach draußen. Mamma Marisa sah der eigentümlichen Gruppe nachdenklich nach. »Bambinas« Verhalten gefiel ihr ganz und gar nicht… »Du solltest dir mal überlegen, ob du nicht von dem Stoff abläßt«, schlug Ted Ewigk vor. »Ich wollte dir’s schon den ganzen Tag über vorschlagen. Du machst dich kaputt!« »Ich doch nicht!« Klaus schwankte bedenklich. »Das bißchen, was ich nehme, schadet nicht! Ich…« Ted faßte ihn an den Schultern. »Du bist süchtig, mein Lieber. Mach dir nichts vor.« »Ich bin nicht«, protestierte Klaus. »Ich kann jederzeit davon ab!« »Dann gib mir deinen Reservebeutel, und wir schmeißen das Zeug weg!« »Nein!« fauchte Klaus. »Ihr werft ja auch euren Wein nicht weg!« Stanton grinste unfroh. »Wir sind auch nicht süchtig!« »Aber betrunken«, lallte Grautvornix. »Sicher«, sagte Stanton. »Deshalb schwanken wir jetzt auch so und – nein, fang nicht schon wieder an zu singen!« Rolf machte kurzen Prozeß, lud sich den Boy über die Schulter und ließ ihn erst in seiner Unterkunft wieder los. »Vielleicht kann man noch etwas retten«, sagte Ted Ewigk später. »Er muß so bald wie möglich in Richtung Heimat und da in Behandlung. Und vorher hat er noch ein bißchen zu verraten, wer ihm das Zeug besorgt.« »Willst du dich mit dem Dealer anlegen?« fragte Stanton. 59
Ted sah seine offenen Handflächen an. »Ich möchte es«, sagte er. »Wenn ich mir vorstelle, wie viele Jugendliche mit diesem Teufelsdreck kaputt gemacht werden… Ich möchte jeden dieser verdammten Händler einzeln erschlagen. Bloß nützt das den Opfern nachträglich nichts mehr, und unsere Gerichtsbarkeit setzt mich hinter Gitter. Nein, R. B. – an dem Schwein mache ich mir die Hände nicht schmutzig, aber die Polizei wird sich gern seiner annehmen. Und die Polizei hat auch bessere Möglichkeiten als ich Privatmann, den Drahtziehern im Hintergrund auf die Füße zu treten. Die kleinen Dealer vor Ort sind nämlich meistens selbst abhängig und handeln mit dem Zeug, um selbst genug Geld für ihren Stoff zusammenzubekommen. Es ist eine Schweinerei, in die man am liebsten hineinschlagen sollte…« »Wir könnten dem Burschen seinen Beutel abnehmen.« Ted schüttelte den Kopf. »Hat keinen Zweck«, sagte er. »Er geht an den Entzugserscheinungen ein. Er muß langsam entwöhnt werden, und das kann nur in einer Klinik geschehen. Und wenn es nicht geschieht – ein oder zwei Jahre gebe ich ihm noch, dann können wir hinter seinem Sarg hermarschieren.« »Erzähl ihm das, nicht uns«, sagte Stanton unbehaglich. »Er wird es nicht glauben wollen. Du hast ihn ja gehört: nicht er ist drogenabhängig, sondern wir sind alkoholsüchtig. So sieht’s aus, Alter.« »Ich kann das Wort Alter nicht mehr hören«, knurrte Rolf. »Erzähl lieber, was du vorhin gesehen hast, als du umzufallen schienst.« Ted trat zum Fenster und sah nach draußen, wo sein durch den Dhyarra gesicherter Rolls-Royce stand. Mit wenigen Worten berichtete er sein Erlebnis. »Es ist das erste Mal, daß sich mein Para auf diese schmerzhafte Weise bemerkbar macht«, schloß er. »Es war ganz anders als sonst, wenn ich Visionen entwickele. So, als wenn jemand von außen dieses Bild an mich herangetragen hätte.« »Was meinst du? Ob Tina in Gefahr ist?« »Ich weiß es nicht«, sagte Ted und drehte sich um. »Ich weiß es wirklich nicht. Es war alles zu verschwommen und undeutlich. Morgen werden wir mehr erfahren.« Später lag er Stunden wach auf dem Bett und dachte an seine 60
Vision und an das Erlebnis im blauen Tal. Wer war das Mädchen, das den beiden Schwestern so verblüffend ähnlich sah? Und was war Wahres an der Legende, daß der Riese zum Mörder wurde, wenn der Hexenschrei erklang? An diesem Tag hatte die Hexe ziemlich oft geschrien… Erst in den Morgenstunden schlief Ted Ewigk ein. * Tina Pascalo war keiner Bewegung fähig, konnte nicht mehr ausweichen. Von einem Moment zum anderen veränderte sich alles rings um sie her. Das Zimmer verschwand. Das Haus verschwand. Die Stadt, Italien, die Welt – verschwand. Oder war sie es selbst, die aus der Welt entfernt wurde? Was griff aus Dimensionstiefen nach ihr, um sie zu sich zu reißen? Plötzlich sah sie ein Augenpaar vor sich, das funkelte wie die Augen der Statuette, und um dieses Augenpaar herum bildete sich ihr Gesicht – Renatas Gesicht… das Gesicht jenes Mädchens, das auch Ted zu sich geholt hatte! Plötzlich war dieses Mädchen vor Tina, und ringsum wurde alles anders. Die Hexe schrie… Tina Pascalo schrie… Und dann griff die Schwärze nach ihr. Die Schwärze, die alles in sich aufnimmt und die alles versinken läßt. In dem kleinen Zimmer gab es Tina nicht mehr. Aber es gab auch nicht die kleine Statuette, an der sich abermals etwas verändert hatte. Beide waren spurlos verschwunden… * In den frühen Morgenstunden bekamen die Pascalos Besuch von der Polizei. Die beiden Beamten in Zivil wollten nähere Einzelheiten über das Verschwinden Renatas wissen. Giuseppe erwacht nur ganz langsam aus seiner Starre. Aus verschleierten Augen sah er die beiden Polizisten an. »Wie sie verschwunden ist? Ich weiß es nicht… niemand weiß es. Sie war einfach weg.« »Eine Entführung? Gibt es Zeugen? Wer könnte ein Interesse 61
daran haben, Sie durch eine Entführung zu erpressen? Wo hat sich die Entführung abgespielt, wo ist Ihre Tochter zuletzt gesehen worden? « Von der Hexe durfte Giuseppe ihnen nichts erzählen. Pflichtbewußt hätten die Beamten ihn ausgelacht und sich diesen üblen Scherz verbeten. Aber nur durch die Polizei versprach sich Giuseppe noch Hilfe – sich, nicht Renata. Der konnte keiner mehr helfen. »Die Autobahnraststätte… Tina, meine andere Tochter, war mit Renata hin, um Marisa zu besuchen…« »Die Wirtin?« Giuseppe nickte. »Unsere Familien sind befreundet.« »Signor Pascalo, können wir Ihre Tochter Tina sprechen?« Marisa fiel die Arbeit zu, nach oben zu gehen und Tina zu wecken. Bloß ging das nicht, weil Tina verschwunden war. Unberührt stand das Bett. Kleidung fehlte nicht; nur die, die Tina angehabt hatte. An die kleine Statuette dacht niemand, weil weder Marisa noch Giuseppe sie bewußt wahrgenommen hatten. Die Haustür war von innen abgeschlossen gewesen, erinnerte Maria sich. Das Fenster – alle Fenster des kleinen Hauses – waren verriegelt. Dennoch war Tina spurlos verschwunden. »Verschwunden wie Renata«, murmelte Giuseppe erschüttert und dachte an die Hexe, die er nicht erwähnen durfte, wenn man ihn nicht für verrückt erklären sollte. Was ein großer Teil der Bevölkerung nicht nur glaubte, sondern als feste Überlieferung ansah, glaubte die Polizei noch lange nicht. Maria dachte auch an die Hexe und fragte sich im Stillen, warum ihrer Familie diese Prüfung auferlegt wurde. Wann hatten sie jemals die Hexe herausgefordert oder beleidigt? Warum schlug sie in dieser Familie gleich zweimal zu? Die Polizisten machten Bestandsaufnahme. Renata Pascalo an der Autobahnraststätte verschwunden… keine direkten Zeugen des Verschwindens. Tina Pascalo aus einem verschlossenen Haus verschwunden… keine Zeugen, keine Spur. Die im Gespräch erwähnten »Freunde«, die bei der Suche nach Renata geholfen haben sollten, unbekannt. »Das ist nichts, mit dem wir etwas anfangen können, Signor Pascalo«, stellte Lorenzo fest, der ranghöhrere der beiden Beamten. »Wenn sich keine anderen Anhaltspunkte ergeben… Wir 62
werden zur Raststätte hinausfahren und uns da umsehen. Sollte sich etwas ereignen, geben Sie bitte in der Questura Bescheid.« Dann waren die beiden Beamten wieder gegangen. Giuseppe verfiel wieder in tiefes Brüten, aus dem er nur einmal kurz wieder erwachte. »Warum bei allen Erzengeln gibt es niemanden, der diesem Hexenspuk endlich ein Ende setzt?« Aber davon konnte er nur träumen. Nicht einmal die Mönche des nahen Klosters hatten die Hexe fassen können, die ihnen mit ihren Tricks im Laufe der Jahrhunderte immer wieder eine Nase gedreht hatte. * Der frühe Morgen zeigte einen reichlich verkaterten Grautvornix, der in Weltuntergangsstimmung machte und kaum geradeaus schauen konnte. Die Nacht war reichlich unangenehm gewesen. Trotzdem würde er in den nächsten Tagen wohl eher vom Wein als von der Droge lassen können… Ted Ewigk selbst fühlte sich auch nicht so ganz auf der Höhe, als er mit den anderen zum Frühstück ins Ristorante Marisa wanderte. »Mamma« war schon wieder auf den Beinen und begrüßte ihre ausländischen Gäste, die sie irgendwie ins Herz geschlossen hatte, fröhlich und vergnügt. Sie winkte mit irgend etwas und gestikulierte heftig, während sie einen Wortschwall über Ted und seine Begleiter ergoß. Dann stellte sie ihre »Fundsache« auf den Tisch, an dem die kleine Gruppe am vergangenen Abend gesessen hatte und an dem sie sich, weil er frei war, auch jetzt wieder einfand. Es war eine kleine Statuette. »Wir sollen sie hier unter dem Tisch zurückgelassen haben«, wollte Rolf aus Mamma Marias Redeschwall heraushören. »Grazie, bella signora«, sagte er artig. »Mille grazie!« Marisa ließ das Frühstück auftragen. »Wißt ihr Barbaren überhaupt, was wir gestern abend gefeiert haben?« sagte Rolf, der Römer-Experte, und zückte seinen Stuhl zurecht. »Kaiser Neros Thronbesteigung! Gestern war der dreizehnte Oktober.« »Der dreizehnte, aha«, sagte Stanton. »Deshalb ist aus seiner Regentschaft auch nur Feuer und Mord geworden, und deshalb 63
sind wir wohl auch mit dieser Hexe in Konflikt geraten. Was ist das denn für eine Figur, die angeblich uns gehören soll?« Sie stand jetzt mitten auf dem Tisch und war aus dem gleichen Material gepreßt wie die vom gestrigen Tag, hatte auch die gleiche Größe von etwa fünfzehn Zentimetern. Ted Ewigk hatte sie schneller in der Hand als Stanton, der gleichzeitig danach griff. Bei der ersten Berührung zuckten Teds Finger leicht zurück; ihm war, als sei die Statuette mit Elektrizität aufgeladen. Dann aber betrachte er sie näher. »Ich werde verrückt…« Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Die kleine Figur glich der von gestern aufs Haar, wies die gleiche Körperhaltung auf und besaß auch den gleichen, fein modellierten Kopf mit dem langen Haar und dem bezaubernden Gesicht, das aussah wie Tina oder Renata Pascalo. Aber das Figürchen war nicht nackt. Es trug eine Art Gewand, wie Ted es von den Druiden her kannte, aber statt der goldenen Kordel um die Taille, in der gewöhnlich die Sichel zum Mistelschneiden steckte, gab es hier einen sehr breiten Gürtel mit einer Schnalle, die mit der gleichen Akribie modelliert war wie das Gesicht. Die Schnalle stellte einen Teufelskopf dar! Links trug die Figur einen schmalen Dolch in dünner Scheide, und auf dem Rückenteil des Gewandes befand sich ein Drudenfuß, dieser fünfzackige Stern, der in einem Strich gezeichnet wird und der von einer Vielzahl winziger magischer Zeichen umgeben war. Die Überraschung kam, als Ted die Figur in den Händen drehte und dabei auf den Kopf stellte. Der winzige Dolch fiel aus der Scheide… »Das setzte der Feinarbeit die Krone auf!« stieß Stanton hervor. »Das kann man mit dem Granulatstaub doch ebensowenig machen wie mit massivem Marmor! Unmöglich!« Mit den Fingerspitzen nahm Ted den Mikro-Dolch im Zahnstocherformat auf und schob ihn vorsichtig in die Scheide zurück. Sie paßte exakt, und als der Dolch steckte, war nicht zu erkennen, daß er ein Einzelstück war, das sich von der Figur lösen konnte. »Wenn dieses Zauberergewand nicht wäre, könnte ich schwören, daß es die gleiche Figur ist, die ich gestern Tina gab«, 64
sagte er. »Das gleiche Gesicht… aber wie kommt dieses Figürchen hierher?« »Vielleicht sollten wir nachher, wenn wir uns mit Tina treffen, versuchen, die beiden Figuren miteinander zu vergleichen«, schlug Rolf vor. Woher sollte er ahnen, daß sowohl Tina als auch die Statuette spurlos verschwunden war? Aber Ted fragte sich in diesem Moment, warum seine Witterung plötzlich anschlug. Worauf wollte das Gespür ihn aufmerksam machen? Grautvornix, der Blasse, räusperte sich. »Vielleicht stammt die Figur aus dem gleichen Guß, und so wie der Dolch ein Zusatzteil ist, kann man vielleicht auch dieses komische Nachthemd entfernen, Marmor-Striptease!« »Lüsterner Bengel!« knurrte Rolf. »Wollte sagen Bambina! Auf den Gedanken kann auch nur ein unreifes Bürschlein wie du kommen!« Und dann wunderte er sich, wie ernst Ted diesen Gedanken aufnahm. »Man müßte eine Lupe haben, um feine Haarrisse feststellen zu können«, sagte er. »Oder ein Mikroskop…« »Du hältst den Quatsch doch wohl nicht für gut?« Ted setzte die Figur vorsichtig wieder in Tischmitte. »Warum nicht?« fragte er. »Hast du vergessen, daß Grautvornix als einziger den Zauberspruch der Hexe anwenden kann? Warum soll nicht auch diese Idee, so blödsinnig sie auch erscheint, richtig sein? Ist nicht oft gerade das Fantastischste auch das Richtige?« »Deine Para-Logik…« Damit war das Thema für den Augenblick gestorben. »Nehmen wir Bambina wieder mit?« fragte Stanton schließlich besorgt, als das Frühstück sein Ende gefunden und die letzte Espresso-Tasse geleert worden war. Ted nickte. »Warum nicht? Er braucht erst mal neue Sachen, aber er wird sich tunlichst im Wagen zurückhalten, bis er wieder halbwegs menschlich aussieht. Außerdem haben wir, wenn er in unserer Nähe bleibt, seine Drogensucht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle.« »Ich bin nicht süchtig, Alter!« protestierte Klaus wieder. »Wann schnallst du das endlich?« »In dem Moment, wo du den Beutel nimmst und schwungvoll in den Arno schmeißt«, sagte Ted ernst. »Aber den Gefallen wirst du uns wohl nicht tun.« 65
»Du faselst einen Stuß zusammen, da werden die Geier von krank«, knurrte Klaus. Ted schloß die Augen. Das Schlimmste war nicht die Abhängigkeit selbst, sondern daß der Junge sich dagegen sträubte, sie wahrzuhaben. Es würde eine Menge Arbeit bedeuten, ihn wieder auf den richtigen Weg zu bringen… Aber es würde ihm nichts anderes übrigbleiben. Ted hatte nicht die Absicht, den Jungen, so wenig ihm dessen großmäuliges Auftreten auch gefiel, vor die Hunde gehen zu lassen. Aber im Moment war es mindestens ebenso wichtig, sich um die Strega zu kümmern, und um ihre nichtmenschlichen Helfer, die per Zauberspruch herbeizurufen waren. Als sie das Ristorante verließen, rollte gerade der schwarze Lancia der Kriminalpolizei auf den Hof. * Blitzschnell war ein langhaariger Jüngling in abgerissener Kleidung verschwunden, der Klaus Rollnitz hieß. Nichts mehr war von ihm zu sehen. Wider Willen mußte Stanton auflachen. »Dem geht die Muffe ganz schön«, sagte er. »Ob er glaubt, daß er gemeint ist? Was Rauschgift angeht, soll auch die italienische Polizei nicht gerade zimperlich sein.« Ted Ewigk steckte die kleine Figur in die Tasche der leichten Jacke. »Bin gespannt, weshalb die wirklich hier sind«, sagte er. »Ob die wegen Renata Pascalo gekommen sind?« Er war ein guter Prophet. Zwei Beamte stiegen aus dem Wagen, tätigten einen schnellen Rundblick und registrierten Touristenbusse, italienische PKWs und den weißen Rolls-Royce, den sie mit gehobenen Brauen zur Kenntnis nahmen. Dann marschierten sie direkt auf Marisas Ristorante zu. Ted und seine beiden Gefährten standen im Weg. »Scusi, Signori«, sagte der vorderste der Polizisten selbstbewußt und schob den um einen Kopf größeren Ted resolut zur Seite, um im Innern zu verschwinden. Sein Kollege folgte ihm. Teds Kopfnicken forderte Rolf und R. B. auf, sich ihnen anzuschließen. 66
»Polizia criminale«, stellte sich der Resolute drinnen vor und wedelte mit seinem Ausweis. Ein Redeschwall fuhr auf Mamma Marisa zu, in dem ein paarmal die Worte Renata und rapiro vorkamen – Entführung. Mamma Marisa wurde immer blasser, redete genauso schnell, genauso laut und genauso hektisch auf den Capo Lorenzo ein, wie dieser gesprochen hatte. Und dann fiel ihr nichts Dümmeres ein, als auf die drei tedesci hinzuweisen. Für die interessierte sich Capo Lorenzo plötzlich sehr. Er sprach zwar kein Deutsch, aber Englisch mußte auf seiner Schule wohl Pflichtfach gewesen sein. Sein schauderhafter Akzent machte es fast unerträglich. »Nein, wir drei haben den Vorgang selbst nicht beobachten können«, gestand Ted wahrheitsgemäß. »Als wir hinzukamen, war Signorina Pascalo bereits verschwunden.« »Eh, Bambina!« mischte sich Marisa wieder ein und schnatterte im Eilzugtempo auf italienisch. »Der schwarzhaarige junge Mann, der wie ein Mädchen aussieht«, hakte Lorenzo sofort ein. »Er war doch bei ihnen. Wo befindet er sich? Er soll diesen Vorgang doch beobachtet haben!« »Er war gerade noch hier«, sagte Stanton grimmig. »Aber haben Sie schon Tina Pascalo befragt, die Schwester der Verschwundenen« Es sollte ein Ablenkungsmanöver werden, aber Lorenzos Antwort bestürzte sie alle. »Signorina Tina ist ebenfalls spurlos verschwunden – aus dem verschlossenen, elterlichen Haus!« Ted pfiff durch die Zähne. Seine Hand in der Jackentasche umschloß die kleine Figur, die zwischen seinen Fingern schon wieder elektrisch werden wollte. »Wir waren gestern mit ihr zusammen, um ihr bei der Suche nach ihrer Schwester zu helfen«, sagte er. »Ach«, nickte Lorenzo zufrieden. »Sie also sind die erwähnten Freunde. Wie lange kennen Sie Signorina Tina?« »Seit gestern. Wir sind auf der Durchreise.« Lorenzo lächelte kalt. »Hilfsbereite Durchreisende. Das findet man selten. Sie hatten einen bestimmten Grund für Ihre Hilfeleistung.« Ted witterte Unrat. »Ist das ein Verhör, Capo?« Ungeschminkt sagte Lorenzo ihm die Wahrheit. »Ja, Signore. Wenn Sie sich bitte ausweisen wollen? Ich habe 67
den Verdacht, daß Sie an der Sache nicht ganz unbeteiligt sind.« »Dann sind Sie auf dem Holzweg«, erwiderte Ted unfreundlich und präsentierte Personal- und Presseausweis. Lorenzo betrachtete vor allem den Presseausweis sehr interessiert. »Ted Ewigk…«, sagte er leise und überlegend. »Ted Ewigk… irgendwoher kenne ich den Namen. Ich weiß im Moment nur nicht genau, wo ich Sie unterbringen soll. Aber interessant ist es schon.« »Was?« fragte Ted mißtrauisch. Lorenzo lächelte fein. »Daß die Strega neuerdings auf den Riesen verzichtet und dafür einen Reporter schickt!« sagte er. * Ted Ewigk tat etwas, was man einem Polizisten gegenüber eigentlich nicht tun sollte: er zeigte ihm den Vogel. Und Capo Lorenzo nahm es ihm nicht einmal übel. Er legte ihm nur die Hand auf die Schulter und sagte: »Drachenzahn und Hexenblick, Riese, kehre nun zurück…« »Das gibt es nicht«, flüsterte R. B. Stanton. Teds Hand faßte nach der des Polizisten, schob sie aber nicht von seiner Schulter. »Ja«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Ja, Capo… ich bin immer noch da! Ich bin nicht Sklave der Hexe… aber seit wann glaubt die italienische Polizei an Hexen und Zauberei?« »Die italienische Polizei glaubt gar nichts«, sagte Lorenzo und ließ Ted los. »Aber ein gewisser Lorenzo weiß, weil er es selbst mal ausprobiert hat… Signor Ewigk, kennen Sie die Geschichte der Hexe?« »Weniger als Sie…« »Reden wir Fraktur«, sagte der Polizist und zog Ted zu einem Tisch. »Ein Mädchen, Tina Pascalo, ist aus einem verschlossenen Zimmer verschwunden. Das geht nicht von allein. Renata Pascalo ist hier auf offenem Platz verschwunden. Und jetzt vielleicht auch der Junge, der ihr Verschwinden beobachtete…« »Der ist aus anderen Gründen verschwunden«, knurrte Rolf ungefragt. »Und der wird gleich ganz schnell wieder auf der Bühne auftauchen, dafür sorge ich…« »Verschiedene Dinge bei diesem Verschwinden«, fuhr Pascalo 68
fort, »lassen mich an die Hexe denken. Signor Ewigk, können Sie mit der Macht der Worte auch den Riesen und den Drachen rufen wie ich?« Sprachlos sah Ted den Polizisten an, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, Capo… bei mir klappt’s nicht, aber bei dem Jungen…« Mit dem tauchte Rolf überraschend schnell wieder auf. »Hier ist er, unser mutiger Held.« Lorenzo sah ihn an. »Sie haben den Spruch der Hexe ausprobiert?« Grautvornix zeigte sich nicht unerheblich erleichtert, weil nicht er selbst es war, dem man an den Kragen wollte. Aber zunächst einmal stellte er sich dumm. »Spruch der Hexe?« »Drachenzahn und…« Da schrie er auf. »Nein, nicht… nicht schon wieder! Es reicht!« »Sie haben ihn also angewandt und leben noch. Das ist zumindest erstaunlich«, sagte Lorenzo. »Hat die Hexe auch geschrien?« »Ja…« Lorenzo sah an ihm vorbei in die Ferne. »Sie steckt also wirklich dahinter… dann können wir den Fall Pascalo zu den Akten legen, denn die Hexe hat nie jemanden wieder freigegeben, den sie einmal von ihrem Riesen holen ließ, der beim Hexenschrei zum Mörder wird!« Ted beugte sich vor. »Gestern erfuhren wir die Geschichte der Hexe und den Wortlaut beider Zaubersprüche nur nach langem Drängen von zwei Mönchen, die fürchteten, darüber müsse die Welt untergehen«, sagte er. »Und nun gehen Sie mit dem gleichen Wissen reichlich verschwenderisch um, Capo! Was stimmt hier nicht? Haben Sie keine Angst vor der Hexe?« Lorenzo lachte kurz und hart auf. »Warum sollte ich vor ihr Angst haben? Ich kann doch, wenn sie mir den Riesen schickt, ihn mit dem zweiten Zauberspruch noch schneller wieder zurückschicken… und darum verstehe ich auch nicht, warum der Junge solche Angst hat! Nur die, die die Macht des Spruches nicht beherrschen, haben die Hexe zu fürchten…« Ted lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Und nun wollen Sie nichts tun, um die Pascalo-Mädchen 69
zurückzuholen oder wenigstens zu erforschen, wo sie geblieben sind?« Lorenzo, der scheinbar nicht verraten wollte, wie er an die Hexensprüche gekommen war und warum sie bei ihm wirkten, lächelte dünnlippig. »Signor Ewigk, ich bin Polizist. Und meine Vorgesetzten sind auch Polizisten. Vorhin haben Sie sich selbst gewundert, daß die italienische Polizei neuerdings an Hexen und Zauberei glaubt… nein, sie glaubt seit ein paar hundert Jahren nicht mehr daran. Und deshalb darf ich meinem Vorgesetzten mit dieser Geschichte erst gar nicht kommen. Aber nur er kann mir die Genehmigung geben, dieser Hexe auf die Finger zu klopfen und einen Weg in das Zauberland zu finden, in das der Riese die Opfer verschleppt… abgesehen, daß ich keine Möglichkeit kenne, in dieses Zauberland einzudringen.« Ted horchte auf. Er dachte an das blaue Tal, in dem der Drache geweidet hatte wie eine glückliche Kuh und in dem er Renata Lorenzo gesehen hatte… »Das Zauberland der Hexe?« »Als sie vor vierhundert Jahren als angeblich Tote unter der Ponte di San Nicolo spurlos verschwand, soll sie sich in eine andere Welt zurückgezogen haben, in der alles ganz anders ist und die neben der unseren existiert… aber niemand ist jemals von dort wieder zurückgekehrt, und niemand findet den Weg hinein, außer er wird von dem Riesen verschleppt, der auf dem Drachen reitet!« Ted atmete tief durch. »In diesem Punkt, Capo, muß ich Sie korrigieren«, sagte er leise und langsam. »Es gibt einen Menschen, der aus diesem Zauberland zurückgekehrt ist, aber da ahnte er noch nicht die Hälfte von dem, was er jetzt zu wissen glaubt.« Alles an Lorenzo verriet seine Erregung, als er sich vorbeugte und Ted mit seinen Blicken zu durchbohren schien. »Wer war oder ist dieser Mensch?« Ted Ewigk lächelte fein. »Dieser Mensch heißt Ted Ewigk«, sagte er. * Jetzt war es Lorenzo, der Ted Ewigk den Vogel zeigte. »Sie«, 70
sagte er. »Ausgerechnet Sie, ein Ausländer…« Ted lächelte nur. »Warum wollen Sie es mir nicht glauben, nachdem Sie mich vorhin sogar für einen Riesen im Mini-Format halten wollten?« »Schön, dann beweisen Sie mir, daß Sie drüben waren.« Ted Ewigk schüttelte den Kopf. »Wie soll ich es denn beweisen? Welche Art Beweis würden Sie akzeptieren? Ich kann höchstens versuchen, noch einmal nach drüben zu gehen… aber das können Sie oder wollen Sie wiederum nicht nachvollziehen. Trotzdem…« Er überlegte und drehte die kleine Figur zwischen den Fingern. Plötzlich stutzte er. Hatte sie sich nicht kaum merklich verändert? Die Armstellung war jetzt anders als zuvor, und der Kopf war nicht mehr leicht geneigt, sondern stolz erhoben! »Rolf, R. B…. fällt euch an der Figur etwas auf?« fragte er. Beide wollten nichts bemerkt haben. Und Lorenzo erkundigte sich jetzt, was der sprunghafte Themawechsel zu bedeuten haben sollte. »Nichts… gar nichts«, erwiderte Ted nachdenklich. Mit dieser Figur stimmte etwas nicht. Wenn sie nicht bis auf die Tunika genauso aussähe wie die, die er gestern Tina Pascalo überlassen hatte… Und wenn es dieselbe Figur ist, nur verändert? durchfuhr ihn ein Gedanke. Ist sie dann nicht ein Schlüssel? Er erhob sich, steckte die Figur in die Jackentasche. »Ich werde versuchen, die Aufmerksamkeit der Hexe auf mich zu ziehen«, sagte er. »Ihr Riese wird mich wohl zu ihr in ihr Fantasieland bringen… aber dazu möchte ich doch mich eines bestimmten Schutzes versichern…« »Was haben Sie vor, Signor Ewigk?« wollte der Capo wissen. Ted verließ das Ristorante wieder, ging hinüber zu seinem RollsRoyce und nahm den Dhyarra-Kristall an sich, der im Licht der Morgensonne warm funkelte und Blaulicht versprühte. »Ich habe vor, das zu tun, was Sie nicht dürfen, weil die italienische Polizei nichts von Hexen und Zauberei hält, Capo. Aber darf ich Sie dabei um Ihre Unterstützung bitten?« Verständnislos sahen die anderen ihn an, die mit nach draußen gegangen waren. »Ich habe vor«, fuhr Ted gelassen fort, »die beiden Verschwundenen zurückzuholen.« 71
* »Ted, du bist wahnsinnig!« behauptete R. B. Stanton. »Du willst den Riesen anlocken? Hast du vergessen, was der gestern mit dir machen wollte?« »Ich habe es nicht vergessen, aber jetzt kenne ich seine Fähigkeiten und Grenzen besser als gestern. Deshalb, Capo Lorenzo, möchte ich Sie bitten, den Riesen zu rufen!« Lorenzo wurde blaß. »Wollen Sie Selbstmord begehen? Das könnten Sie einfacher haben!« Ted schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Trumpf, der auch gegen den Riesen stechen wird. Bitte, Capo… je schneller wir die Sache hinter uns bringen, desto eher sind die beiden Mädchen wieder hier!« »Sie sind verrückt! Ich werde Ihnen den Gefallen nicht tun, sich vom Riesen ermorden zu lassen… um keinen Preis!« behauptete Lorenzo und wandte sich um. Ted sah seinen breiten Rücken. Er ahnte, was den Polizisten zu diesem Schritt bewog. Er glaubte, daß beiden Mädchen ohnehin nicht mehr zu helfen war, und nur auf die Aussicht hin, zwei Tote zurückzuholen, wollte er ein drittes Leben nicht gefährden. Vielleicht war dies einer der Gründe gewesen, aus denen die Hexe ihren Riesen immer wieder aussandte… aber plötzlich kamen Ted Bedenken völlig anderer Art. War es wirklich die Hexe, die morden und entführen ließ? Oder gab es immer wieder Menschen wie Lorenzo oder Rollnitz, die auf unerklärliche Weise dem Zauberspruch Leben verleihen konnten und dadurch immer wieder das Unheil anzogen? Aber Lorenzo wollte ihm jetzt nicht helfen. Lorenzo, der sich vor dem Spruch selbst nicht fürchtete, der aber nicht wollte, daß Unheil geschah! Blieb nur Klaus Rollnitz. »Dann wirst du mir helfen, Grautvornix«, sagte Ted. »Ruf den Riesen herbei!« »Ich denk ja gar nicht daran!« wehrte der sich. »Du denkst sehr wohl daran«, sagte Ted leise. »Da drüben marschieren gerade zwei Beamte der Kriminalpolizei zu ihrem Wagen. Soll ich denen mal was von deinem Beutel erzählen?« »Alter, du bist ein mieser Erpresser!« zischte Grautvornix. 72
»Und du bist durch das Zeug erstklassig erpreßbar… fällt dir das nicht auf? Wie ist es jetzt mit dem Zauberspruch?« Klaus Rollnitz’ Gesicht hatte sich verzerrt. »Na gut, du Dreckskerl. Hoffentlich stampft der Riese dich in den Boden!« Ted hatte ganz andere Befürchtungen. Hoffentlich schrie der Capo nicht zu früh den Gegenzauber… Grautvornix sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Dann holte er tief Luft. »Drachenzahn und Hexenschrei, Riese, eile flugs herbei…« * Ted Ewigk sah einmal rasch in die Runde. Die beiden berittenen Polizisten waren gerade dabei, sich auf ihre Pferde zu schwingen, als die Hexe schrie. Klar und deutlich hörte Ted sie schreien. Unwillkürlich glitt seine Hand an den Griff des Degens, wenngleich er wußte, daß die Waffe ihm nichts nützen würde. Eher schon der Zauberkristall in seiner rechten Hand, der so verheißungsvoll funkelte. Hinter ihm stand die weiße Kutsche mit dem güldenen Zierat, sein Prunkstück. Drüben die treuen Gefährten. Und als der Hexenschrei verstummte, erdröhnte die Erde. Der Riese kam nicht auf dem Drachen herangeflogen – er war plötzlich da! Aber auch den Drachen sah Ted. Das riesige Ungeheuer lauerte abwartend im Hintergrund, während der Riese wie ein Turm vor Ted emporwuchs. Seine Faust war gigantisch und konnte ihn mit einem einzigen Hieb zermalmen. Wurde der Riese gleich zum Mörder? Sein drohendes Lachen machte Ted fast taub. Die Pferde machte es scheu. Seine Hände zerrten an der Kutsche, aber die vorzügliche Bremse hielt sie noch fest. Die beiden Polizisten wurden von ihren Gäulen abgeworfen und flogen in hohem Bogen in den Staub. In panischer Angst rasten die beiden Tiere davon – direkt auf den Drachen zu, der gerade sein riesiges Maul aufsperrte. »Nein!« schrie Ted auf. »Pfeif deinen verdammten Drachen 73
zurück, Ungeheuer!« Das Ungeheuer, dieser Turm in Menschengestalt, lachte noch lauter, knickte in der Mitte ab, und sein Oberkörper beugte sich herab. Zwei gewaltige Pranken schossen auf Ted zu. Allein der Luftzug der Bewegung wollte ihn umwerfen. War der Riese nicht noch viel größer als gestern geworden? Ted wich den zupackenden Händen aus, warf sich zur Seite und wollte instinktiv den Zauberkristall einsetzen, als er sich entsann, was er eigentlich wollte. Er wollte den Riesen doch nicht vernichten. Jetzt noch nicht, denn der sollte ihn doch zur Hexe bringen! Die Gefährten schrien überrascht und erschrocken. Sie sahen Ted schon in den Fäusten des Ungeheuers zappeln. Aber noch war er frei! Und er hatte den Vorteil der Maus gegenüber dem Elefanten. Aber dieser Elefant machte jetzt einen Schritt nach vorn. Es reichte nicht mehr ganz, um die Maus zu zertreten, aber Ted bekam einen heftigen Schlag versetzt, der ihn stürzen und zur Seite rollen ließ. Drüben, gut hundert Meter entfernt, machte der Drache kurzen Prozeß mit den beiden durchgegangenen Pferden und verschlang sie. Und einer der beiden Polizisten richtete sich gerade wieder auf und schrie etwas. »Drachenzahn und Hexenblick…« Ted wußte, daß das alles durcheinanderbringen würde. Wenn der Polizist mit seinem Zauberspruch den Riesen zum Verschwinden brachte, ging der Versuch daneben. Aber der Goliath hatte ein feines Gehör. Für ihn mußte das Schreien des Polizisten, der heftig seinen kurzen Degen schwang, ein leises Piepsen sein, aber der Riese hörte es dennoch. Er fuhr herum und stürzte sich auf den Beamten. Das gab Ted ein paar Sekunden Luft. Der Polizist Lorenzo brach mitten im Rufen ab, weil er die Gefahr für sich erkannt hatte. Blitzschnell brachte er sich in Sicherheit. Ted kam wieder auf die Beine. Er sah seine Gefährten herankommen, die Waffen blank gezogen. »Zurück!« schrie er sie an. »Sofort zurück…« Sie gehorchten ihm instinktiv. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt kam der Riese wieder zurück. Entweder hatte er Ted 74
wiedererkannt, oder er sah in ihm von vornherein den Gefährlichsten der Menschen. Teds Hand fuhr in die Tasche seines Seidenjacketts und zog die kleine Figur heraus. Sie umklammernd, hielt er sie empor, so daß der Riese sie sehen mußte. Unwillkürlich hielt Ted den Atem an. Ging sein riskanter Plan auf? Oder hatte er sich bei seinen Vermutungen in einem entscheidenden Punkt geirrt, und gehorchte der Riese der Hexe nicht mehr, sondern nur noch den anderen, die ihn aus Leichtsinn oder Machtlust riefen? Die Pranken zuckten herab. Direkt auf Ted zu. Er machte sich bereit, in einem verzweifelten Sprung zurückzuweichen oder den Zauberkristall doch noch mit all seiner Macht einzusetzen. Aber dann erstarrte der Riese mitten in der Bewegung. Seine Augen mußten die für ihn winzige Marmorstatuette erblickt haben. Ein dumpfes Stöhnen entrang sich seiner Tonnenbrust, und dann ging er vor Ted Ewigk in die Knie, war aber immer noch übergroß! »Strega«, dröhnte seine flüsternde Stimme. Jetzt wagten die anderen sich wieder näher heran, auch die beiden Polizisten. Capo Lorenzo wagte nicht mehr, den zweiten Zauberspruch zu rufen, aber in der Hand hielt er plötzlich die Steinschloßpistole, um sie notfalls auf den Riesen abzufeuern. Ted hatte von Schußwaffen nie viel gehalten, aber jetzt war es nicht die Zeit, das dem Capo zu sagen. Er hatte es immer noch mit dem Riesen zu tun, der die Figur anstarrte wie eine Madonna. Noch leiser wurde seine Stimme. »La Strega… Strega mia…« Ted starrte, den Kopf in den Nacken gelegt, zu dem grobporigen, flächigen Gesicht des Riesen hinauf. Täuschte er sich, oder glänzten dessen Augen plötzlich feucht? Was war mit dem Riesen los, der vom tobenden Monster plötzlich zum traurigen Kind geworden war? »Bring mich zur Strega!« schrie Ted ihn da an. »Bring mich zu ihr! Verstehst du? Bring mich zu ihr! Zur Hexe!« Obgleich er kein Italienisch gesprochen hatte, schien der Riese ihn verstanden zu haben. Ganz langsam näherte sich jetzt seine linke Hand, langsam und 75
vorsichtig, und Ted ließ es zu, daß die Finger sich um ihn schlossen. Aber sie wollten ihn nicht zerdrücken, diese schenkelstarken Finger. Sanft hoben sie ihn empor, und dann richtete sich der Riese wieder zu seiner vollen Größe auf. Ted schwebte in zehn Metern Höhe! Er verzichtete auf einen Blick nach unten. Wozu auch? Er hatte erreicht, was er wollte. Der Riese hatte auf die Figur reagiert, und er brachte Ted zur Hexe! Im nächsten Moment explodierte etwas in seinen Ohren. Schmerzerfüllt schrie er auf, dabei hatte der Riese nur einen Pfiff ausgestoßen. Wie ein müdes Pferd trottete der Drache heran. Diesmal ließ Ted sich von dessen kantigem Schädel und den prachtvoll langen Killer-Zähnen nicht beeindrucken. Er wußte, daß der Riese den Drachen unter Kontrolle hatte. Der Riese wartete, bis der Drache bei ihm war. Dann packte er mit der rechten Hand nach einem der gewaltigen Rückenstacheln und zog sich blitzschnell auf den Rücken des Flugsauriers, zwischen die gefalteten Schwingen. Ted hatte nie unter Seekrankheit gelitten, aber in diesem Moment glaubte er luftkrank zu werden, als er mit der linken Hand des Riesen durch die Luft gewirbelt wurde. Aber die Finger hielten ihn sicher; er konnte nicht aus der Hand herausrutschen. Der Riese schrie etwas. Da faltete der Drache seine Schwingen auseinander und hob ohne Anlauf vom Boden ab, Sprachlose Menschen starrten ihm nach. Hoch hinauf in den blauen Vormittagshimmel ging es. Hier oben war es merklich kühl geworden, und der Wind pfiff Ted um die Ohren. Weit unten vor ihnen lag Florenz. Aber die Stadt der Künste war nicht das Ziel des Drachen. Sein Ziel war das kleine blaue Tal der Hexe, das wie ein kleines Paradies war. Aber nur ein ganz kleines… * »Aus!« behauptete Capo Lorenzo, der sich gar nichts dabei dachte, eine Steinschloßpistole in der Hand zu haben. Für ihn war sie so normal wie für die anderen die weiße Kutsche Ted Ewigks 76
und die spätmittelalterliche Kleidung, die sie trugen. Es gab doch nichts anderes, und warum sollte diese Kutsche denn auf viel kleineren Rädern mit Gummibereifung laufen und auf Pferde verzichten können? »Aus! Vorbei! Den sehen wir nie wieder… nicht als Lebenden und erst recht nicht als Toten! Der Teufel soll die Hexe holen…« Rolf Michael schüttelte sinnend den Kopf. »Er kommt wieder, Signore! Wir beliebten ihn schon mit ganz anderen Dingen fertigwerden zu sehen. Euch fehlt der rechte Glaube, das ist’s!« »Madonna, warum habe ich nicht die Kraft aufgebracht, den Spruch zu vollenden?« stöhnte der Capo wieder. »Gibt es denn keine Möglichkeit, zu helfen?« Er öffnete den Mund wieder und setzte an, den zweiten Spruch zu rufen, als Rolf ihm den Mund zuhielt. »Seid Ihr irre? Zitiert das Wort erst, wenn Ted wieder zurück ist… wollt Ihr ihn denn umbringen? Soll der Riese ihn mitten im Flug fallenlassen, fünfhundert Fuß über den Dächern Firenzes?« Der Capo schwieg erschrocken. »Und was schlagt Ihr vor, das wir tun können?« warf der zweite Polizist ein. »Wir können doch nicht einfach tatenlos zusehen!« »Genau das«, sagte Rolf grimmig, »werdet Ihr tun. Wenn nicht, soll die Hexe Euch beide holen!« Aber daran war keiner von ihnen interessiert. Sie warteten weiter, was geschehen würde. Aber nicht einmal Rolf selbst, der auf Optimismus machte, glaubte in diesem Moment, Ted Ewigk lebend wieder zu sehen. Der Freund der alten Götter hatte zuviel riskiert… * Ted Ewigk selbst war gar nicht dieser Ansicht, als sich alles um ihn herum plötzlich veränderte; nur nicht Riese und Drache. Aber das seltsame Gespann stieß jetzt im Steilflug auf ein kleines Tal hinab, das Ted wiedererkannte. Nichts sonst gab es ringsum. Nur Berge, Felsen, die von Schnee bedeckt waren. Von Florenz war nichts mehr zu sehen, auch nicht vom silbernen Band der Autobahn. Unbemerkt mußten sie eine Barriere durchdrungen haben, die die eine Welt von der anderen trennte. 77
Und jetzt waren sie knapp vor dem Ziel. Vor dem Tal der Hexe… Blau schimmerte es wie am Tag zuvor, blau in seiner Blütenpracht. Ein Tal des Friedens… Wie paßte das zu dem mörderischen Charakter, den man der Hexe nachsagte? Ein Widerspruch, der Ted auffiel, aber es war nicht der erste in einer ganzen Kette von Widersprüchlichkeiten, die auf eine Lösung warteten. Und er war fest entschlossen, sich diese Lösung zu erkämpfen. Und wenn es ihm darüber gelang, die beiden Mädchen zurückzuholen… Aber ging das überhaupt? Gehörten sie nicht vielmehr hierher, in diese Welt, als in die andere, der sie entrissen worden waren? Zweifel sprangen Ted an. In der einen Hand hielt er immer noch den Zauberkristall, in der anderen die kleine Statuette eines Mädchens in Tunika und mit Dolch. Und einmal kam es ihm so vor, als bewege sich die Figur in seiner Hand. Erschütterungsfrei war die Landung. Ein Star-Pilot konnte seine Maschine nicht sanfter auf die Landepiste niederbringen, wie dieser Drache landete. In den Drachenbeinen federte er einmal leicht ein und stand dann ruhig da. In einer fließenden Bewegung falteten sich die Schwingen zusammen. Der Riese schwang sich von dem Rücken des Ungeheuers. Wieder drehte sich die Welt unheimlich schnell um Ted, weil der Riese bei seinem Absteigen keine Rücksicht auf ihn nahm. Und dann setzte der Gigant ihn im bläulichen Gras ab. Ted sah sich um. Abwartend standen Riese und Drache da. Worauf warteten sie? Auf das Erscheinen der Hexe? Ringsum war alles ruhig und still. Kein Windhauch krümmte die Gräser und Blüten. Vergeblich suchte Ted nach dem schwarzhaarigen Mädchen, das ihn gestern hierher geholt hatte. Existierte es nicht mehr? »Hallo!« rief er laut, und noch einmal: »Hallo!« Da bewegte sich etwas. Ted fuhr herum. Er war sicher, daß dort gerade noch niemand gestanden hatte. Aber jetzt kam das schwarzhaarige Mädchen 78
heran. Es war aufgetaucht wie aus dem Boden gewachsen. Und es trug die gleiche Tunika wie die Marmorstatuette! In einer verzierten Scheide steckte auch ein kleiner Dolch. Vor Überraschung hätte Ted das Figürchen fast fallen gelassen. »Renata?« fragte er. »Renata Pascalo? Oder bist du Tina?« Das Mädchen schwieg, wie es auch am Vortag schweigsam gewesen war, und glitt auf ihn zu. Ihm kam es vor, als schwebte die schwarzhaarige Schönheit mit den unergründlichen dunklen Augen. Dicht vor ihm blieb sie stehen. »Du bist zurückgekommen«, sagte sie nur. Ted wollte nach ihren Schultern greifen. Dem stand im Weg, daß er immer noch Zauberkristall und Statuette hielt. Verärgert steckte er beide in die Taschen seiner kurzen Jacke. Dann zwang ihn eine Eingebung, den Kopf zu drehen und den Riesen anzusehen. Unbeweglich stand der Gigant da und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihm kauerte der Drache im Gras. »Etwas stimmt hier nicht«, sagte Ted. Seine Stimme klang rauh. »Du hast den Weg gefunden, den ich dir zeigte«, sagte eine Stimme hinter ihm. Ted fuhr herum. Hinter ihm stand ein schwarzhaariges Mädchen, in eine Tunika gekleidet, und lächelte ihn genauso an wie das andere, zuerst aufgetauchte Exemplar ihrer Art… * »Entweder spinne ich, oder euch gibt es nicht«, sagte der Reporter. Plötzlich vermißte er den Degen an seiner Seite. Seine Kleidung war auch nicht mehr die des späten Mittelalters, sondern wieder die des zwanzigsten Jahrhunderts. Nur die beiden Mädchen hatten sich nicht verändert. Sie traten jetzt nebeneinander und faßten sich an den Händen. Ted glaubte irre zu werden. Vor seinen Augen rotierten schwarze Flecke. Waren die beiden doch die Pascalo-Zwillinge? Er griff nach ihnen, berührte sie und ertastete Fleisch und Blut. »Wer seid ihr? Wie kommt ihr hierher? Was macht ihr hier?« Keine Antwort… 79
Was hatte Nummer zwei hinter seinem Rücken gesagt? Du hast den Weg gefunden, den ich dir zeigte. »Von welchem Weg sprichst du?« fragte er und sprach sie dabei direkt an. »Und wie hast du ihn mir gezeigt?« Zu seiner Überraschung antwortete die andere. »Du hast ihn doch gefunden, sonst wärst du nicht hier!« Die alte Sibylle von Cumae mußte ähnliche Weisheiten verbreitet haben, deshalb war dieses Orakelweib ihm noch nie geheuer vorgekommen. Diese beiden hier schienen ihre Reinkarnation zu sein. »Ihr seid doch die Pascalos?« fragte er wieder und kam sich allmählich dumm dabei vor. Wollten sie ihn zum Narren halten? »Warum hat die Hexe euch entführen lassen? Und wo ist sie? Der Riese sollte mich doch zu ihr bringen!« Die beiden lächelten wieder. Eine deutete auf die Tasche, in der er die Statuette verstaut hatte. Unwillkürlich griff er zu und holte sie heraus. »Ich habe dir den Weg hierher gezeigt, zu mir… aber hüte dich vor dem Riesen!« Diesmal konnte er nicht sagen, wer von den beiden Mädchen es gesagt hatte, weil er nicht aufgepaßt hatte. Ihre Stimmen klangen identisch – klangen wie die von Tina Pascalo. »Wo ist die Hexe, verdammt!« stieß er verärgert hervor. Auf den Arm nehmen und mit sibyllinischen Orakelsprüchen abspeisen konnte er sich selbst. »So ruf mich doch! Ruf mich doch und hüte dich vor dem Riesen…« Diesmal waren es beide gleichzeitig, die gesprochen hatten. Aber es war doch nur eine Stimme gewesen, kein Duett! »Hexe, komm zu mir! Zeige dich, komm her…«, rief er, und plötzlich kam ihm ein verrückter Einfall. Ehe er noch begriff, wie verrückt dieser Gedanke war, hatte er ihn schon in die Tat umgesetzt und den Zauberspruch ein wenig umgetextet. »Riesenzahn und Drachenschrei, Hexe, eile flugs herbei…« Da schrie der Drache! Und im gleichen Moment wurde alles anders! * Ted kam nicht dazu, sich zu fragen, wieso die Zauberei bei ihm 80
plötzlich auch funktionierte, während er vorher jeden der Zaubersprüche wirkungslos in die Landschaft schreien konnte. Vielleicht war es das blaue Tal, das alles veränderte, weil es anderen Gesetzen unterlag als die Welt der Menschen. Er konnte die Hexe in seiner Hand nicht mehr halten. Von einem Moment zum anderen war sie superschwer geworden, dehnte sich dabei aus und sprengte seinen Griff mit Vehemenz. Dabei sah er vor sich die beiden identischen Mädchen verblassen. Sie lösten sich einfach auf, ehe er nach ihnen greifen konnte. Schreckliches, dröhnendes Gelächter erfüllte das Tal, Der Riese lachte! Ted kam nicht mehr dazu, sich zu wundern. Hatte er vorhin die Hexe gehalten, packte sie nun nach ihm, versetzte ihm einen Stoß und sprang dabei gleichzeitig in die andere Richtung. Ted stürzte in weiches, blaues Gras, rollte sich ab und sah die Faust des Riesen ein Loch in den Boden stampfen, wo er gerade noch gestanden hatte. Hüte dich vor dem Riesen! Dem hatte er überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt, weil er ihn doch so brav hierher gebracht hatte und sich von seiner harmlosesten Seite zeigte. Jetzt war er nicht mehr harmlos. Ted sah, wie die Hexe wieder aufsprang und den Dolch aus der Scheide zog. Sie schrie etwas, das er nicht verstand. Aus der Dolchspitze zuckte ein flirrender Strahl und traf den Riesen. Der brüllte auf. Seine Bewegungen verlangsamten sich, aber er richtete sich wieder auf und wollte Ted mit einem mächtigen Fußtritt zur Flunder machen. Er war zu langsam. Der flirrende Strahl machte ihm zu schaffen. Ted brachte sich in Sicherheit. Aber da fuhr der Riese plötzlich herum. Mit einem Satz schwang er sich auf den Rücken des Drachen. Feuerspeiend faltete sich das Ungeheuer auseinander und verschwand wie eine Rakete am Himmel, wurde zu einem winzigen Punkt und war fort. Fassungslos sah Ted ihm nach. Dann tauchte die Hexe vor ihm auf, schob den Dolch in die Scheide zurück und berührte Teds Hand. »Warum hast du ihn entkommen lassen?« fragte sie leise. »Du 81
konntest ihn vernichten… so leicht… warum hast du es nicht getan?« Fassungslos sah er sie an. »Jetzt wird er wieder morden«, flüsterte die Hexe, und Ted sah, wie Tränen über ihre Wangen rollten. »Er wird wieder morden… und ich kann es nicht verhindern… oh, Ted…« Und da lag sie an seiner Schulter, ließ es zu, daß er sie in seine Arme schloß und das seidige schwarze Haar streichelte, und weinte sich verzweifelt aus… * Schlagartig hatte sich alles verändert. Die Kutsche war keine Kutsche mehr, sondern wieder ein Rolls-Royce, und die verschlungenen Pferde waren keine Pferde mehr, sondern ein Polizei-Lancia, der unversehrt auf seinen vier Rädern stand. Degen und Steinschloßpistole waren ebenso verschwunden wie die altertümliche Kleidung. Hielt die Zeitverschiebung nur über eine kurze Dauer an? »Vorbei«, behauptete Lorenzo wieder, der von Beruf Pessimist sein mußte und nur zufällig auch noch Polizist war. »Es ist wieder alles normal geworden… jetzt hat sie ihn umgebracht, die verdammte Hexe… sie oder ihr Riese.« R. B. Stanton fuhr ihn grimmig an: »Basieren Ihre Prophezeiungen eigentlich auf Erfahrung, Capo Lorenzo?« »Wieso?« »Dann vermuten Sie also nur, daß Ted Ewigk tot ist und machen andere Leute mit Ihren Latrinenparolen matschig…« »Und Sie vermuten, daß er noch lebt, aber der Riese hat noch nie jemanden am Leben gelassen…« Klaus Rollnitz mischte sich ein, der seine Angst plötzlich verloren zu haben schien. »In Zweifelsfällen«, sagte er, »könnt ihr ja mal den da fragen…« Die Köpfe flogen herum, Augenpaare sahen zum Himmel empor. Und wie ein Raketengeschoß jagte der Drache auf sie zu, auf seinem Rücken den Riesen. Den Angriff konnte keiner von ihnen überstehen… * 82
»Vielleicht«, sagte Ted energisch, »kannst du mir mal bei Gelegenheit verraten, was das hier alles bedeutet, wer bist du, was ist mit den beiden Mädchen geschehen, und warum sollte ich den Riesen töten? Beherrschst du ihn denn nicht?« Sie löste sich von ihm, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. Er reichte ihr ein sauberes Taschentuch, und sie begann ihre Wangen zu trocknen. Sie zeigte sich erschrocken. »Du weißt nichts, Ted Ewigk? Du weißt nichts? Du verstehst es nicht? Aber wie hast du dann den Weg finden können, den ich dir zeigte?« »Ich weiß nichts«, erwiderte er. »Ich kann nur vermuten. Die Statue – das warst du? Aber woher kommt die Ähnlichkeit mit Tina und Renata? Weshalb wurden sie entführt?« Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen an, gar nicht wie eine Hexe wirkend, sondern viel mehr wie ein zerbrechliches, kleines Mädchen. Und diese Hexe sollte älter als sechshundert Jahre sein? »Ich bin es, Ted Ewigk«, sagte sie und bewies damit, das sie Gedanken lesen konnte, »aber vielleicht lebe ich jetzt nicht mehr lange, wenn der letzte, entscheidende Versuch fehlschlägt. Weil du den Riesen nicht vernichtet hast…« Ted Ewigk sah sie an. Er wandte das brutalste Mittel an, sie endgültig aufzurütteln und ihm nicht mit Halbheiten, sondern der Wahrheit zu kommen: »Ja, und? Was ist schlimm daran, wenn eine Hexe stirbt? Weißt du nicht, daß ich für die weiße Magie kämpfe? Daß ich Dämonen, Ungeheuer, Zauberer und Hexen bekämpfe? Und du, Hexe, versuchst mein Mitleid zu erregen?« Da brachen ihre Tränen wieder hervor. »Ted Ewigk, ich bin eine Weiße Hexe…« Überrascht sah er sie an, obgleich er es schon fast erwartet hatte. Plötzlich hielt er ihr den hochaktiven Dhyarra-Kristall entgegen. »Berühre ihn!« Sie sah ihn verblüfft an, dann griff sie entschlossen zu. Ihre Hand umschloß den Kristall, der irgendwie auf Teds Bewußtsein verschlüsselt war. 83
Und sie überstand diese Berührung. »Ja«, sagte er. »Ja, jetzt kann ich dir glauben… Erzähle, rasch und von Anfang an.« Sie nickte. * Damals hatte die Hölle Riese und Drache geschickt, um die Weiße Hexe in ihren Bann zu zwingen. Zu stark war sie geworden, aber nicht stark genug für ihre beiden Bezwinger, die nicht ihr gehorchten, sondern den Sterblichen, die in der Lage waren, mit einer ganz bestimmten Para-Begabung, die sich nur in dieser Art zeigte, sie zu lenken. Und die Hölle sorgte dafür, daß es immer wieder Menschen gab, die die Sprüche beherrschten. Ob sie diese Macht mißbrauchten oder nicht, lag ganz in ihrem eigenen Ermessen. Bisher letzte in der Reihe der Beherrscher waren Lorenzo und Grautvornix, aber beide hatten sich als standhaft erwiesen. Doch der Riese und der Drache waren geweckt worden und würden jetzt wahllos zuschlagen, um auch die zu vernichten, die sie nicht mißbrauchen wollten. Die Masse der Bevölkerung aber, die von den Fähigkeiten ihrer meist kriminell veranlagten Mitmenschen nichts ahnten, schrieben die Untaten der Hexe zu, weil sie immer wieder im Zusammenhang genannt wurde. Die Menschen hielten sie für ein furchtbares, dämonisches Wesen, was sie in Wirklichkeit nicht war. Sie, die Hexe, war das Opfer… Vor fast zwei Jahrzehnten hatte sie endlich den letzten Schritt gewagt, um sich aus der Gewalt ihrer Bezwinger zu befreien. Sie hatte sich gespalten. Ihr Körper war zurückgeblieben als kleine Marmorstatuette, und ihr Geist hatte zwei junge Mädchen geformt – Renata und Tina Pascalo. Die Ähnlichkeit war auf das Original zurückzuführen – auf die Hexe. Beide waren Scheinwesen gewesen, die aber selbst nicht wußten, wem sie ihre Existenz verdankten. Projektionen aus einer anderen Welt – so, als werfe jemand einen Schatten auf eine Ebene. Tina und Renata waren Schatten der Hexe gewesen. Ted begriff nicht, wie ihr das nützen sollte. Er begriff die magische Ebene nicht, auf der die Weiße Hexe lebte. Dafür begriff 84
er plötzlich etwas anderes. Nämlich, weshalb es auch den Mönchen nie gelungen war, die Hexe zu bannen. Sie war eine Vertreterin der Weißen Magie, dem Guten zugehörig. Und weil sich alle Anstrengungen immer nur auf die Hexe selbst richteten, passierte natürlich nichts… »Ich hatte ausgerechnet«, fuhr die Hexe fort, »daß da jemand kommen würde, der stark genug war, das Richtige zu erkennen und richtig zu handeln. Und du kamst. Aber der Riese war zu schlau. Ehe noch der Kontakt Zustandekommen konnte, schlug er zu und entführte den Renata-Schatten. Doch du warst da, ehe er auch Tina holen konnte. Ich spielte dir die Figur zu, mein eingefrorenes Selbst. Aber du hattest nichts Dümmeres zu tun, als es dem Tina-Schatten zu schenken, der seine wahre Identität nicht kannte. In der Nacht holte der Riese auch den Tina-Schatten. Mir gelang es nur noch, die Figur zu teleportieren, daß du sie wieder in die Hände bekamst. Und nun hatte ich gehofft, daß du es begriffen hättest…« »Nein«, sagte Ted. »Ich ahnte nur etwas.« Er sah die Hexe an. »Und was geschieht nun? Der Riese ist außer Kontrolle, nicht wahr?« »Ich kontrollierte ihn nie, aber er mich«, sagte die Hexe. »Nur die Menschen glaubten, es sei anders, und immer wieder gab es unter ihnen Kundige, die die Zaubersprüche anwenden konnten. Dann kam der Riese mit dem Drachen, und mir schob man die Schuld zu…« »Gibt es noch eine Möglichkeit, ihn zu besiegen?« Da legte sie ihre Hand auf den Dhyarra-Kristall. »Damit, Ted Ewigk… damit kannst du ihn besiegen… wenn es nicht schon zu spät ist…« Er sprang auf. »Dann bring mich in seine Nähe!« rief er. »Du bist die Hexe, du kannst es! Bring mich zu dem Riesen!« Und sie faßte seine Hand und brachte ihn hin. * Da flog der Drache herab, und auf seinem Rücken saß der Berserker, der Riese! Das Ungeheuer aus der Hölle! 85
Mit einem Blick übersah Ted die Situation. Seine Freunde konnten nicht mehr ausweichen. Der Drache kam herunter wie ein Kamikaze-Geschoß und würde beim Aufschlag alles in Grund und Boden hämmern. Ted riß den Dhyarra-Kristall hoch. Mit jeder Faser seines Ichs dachte er daran, daß der Drache gestoppt werden mußte, um jeden Preis. Der konzentrierte Gedankenimpuls erreichte den magischen Kristall, lud sich in ihm auf. Da riß die Welt auseinander. Ein Blitz aus verheerender, weißmagischer Energie zuckte auf und erreichte den herabjagenden Drachen nur wenige Meter über dem Boden. Es war, als explodiere ein abstürzendes Kampfflugzeug. Licht, heller als die Sonne, wollte Ted das Augenlicht rauben, und es half kaum, daß er die Arme vors Gesicht preßte. Er glaubte, durch geschlossene Lider hindurch seine Arme wie in einer Röntgenaufnahme sehen zu können, und dahinter die beiden Höllenkreaturen, die untergingen und dabei zerstörerisches, magisches Licht nach allen Seiten abstrahlten. Und dann war es vorbei… Die beiden Ungeheuer gab es nicht mehr… * Bei »Mamma« Marisa saßen sie dann zusammen und tranken Wein. Die beiden Polizisten hatten es vorgezogen, sich zu verabschieden und die Geschehnisse unter der Rubrik »ungeklärte Fälle« abzuheften. Die anderen saßen am großen Tisch – Ted, Rolf, Stanton, Grautvornix und die Hexe. Verblüffend nah hockten die beiden nebeneinander, was Ted am meisten verwunderte, weil Tina ihn doch so angehimmelt hatte und Renata im blauen Tal wahrscheinlich noch zugänglicher geworden wäre, wenn Ted sich nicht so rasch zurückgezogen hätte, gestern… Aber was sollte es. Lächelnd nahm er zur Kenntnis, daß er »abgeschrieben« war und die Hexe, Tina und Renata und die Statuette in einem verkörpernd, ihr Interesse Klaus Rollnitz schenkte. Der hatte sich unheimlich verändert. Lag es an der Hexe? Sie lächelte jetzt doch zwischendurch mal eben Ted Ewigk an. 86
»Ich bin froh, daß du den Riesen und den Drachen doch noch vernichten konntest«, sagte sie leise. »Wenn dieser Versuch, mich aufzuspalten und auf diese Weise Hilfe zu suchen, nämlich mißlungen wäre, hätte mich nichts mehr gerettet… Ein Spiel mit höchstem Einsatz. So aber darf ich weiterleben, weil der Racheblitz des Drachen mich nicht mehr treffen kann…« Ted lächelte zurück. Er sah, wie sich Klaus’ Hand und die der Hexe trafen. »Wir fahren morgen weiter, in Richtung Rom und Neapel«, sagte er, an Grautvornix gewandt. »Kommst du mit uns?« Klaus Rollnitz schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier… in Florenz… bei der Strega.« Er grinste und wurde plötzlich ernst. »Vorläufig jedenfalls. Etwas wollte ich dir aber noch sagen, Alter.« »Ich lausche«, sagte Ted. »Erst wollte ich dir an den Hals springen«, sagte er. »Vorhin, als du mich mit deiner Erpressung zwangst, den Zauberspruch zu rufen. Ich wollte dir einen Dolch zwischen die Rippen stoßen. Aber inzwischen ist mir einiges klar geworden.« Ted schwieg. Stanton wollte etwas sagen, aber der Reporter trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß. »Irgendwie habt ihr recht«, fuhr Klaus fort. »Ich bin abhängig – noch. Und dadurch bin ich erpreßbar. So, wie du mich gezwungen hast, gegen meinen Willen den Riesen zu rufen, könnte jeder mich zu etwas zwingen, indem er droht, mich zu verraten, oder indem er mir den Stoff abnimmt. Verstehst du? Ich kann nicht mehr ich selbst sein.« Ted nickte. »Ich verstehe.« Grautvornix zog seinen kleinen Plastikbeutel hervor. Irgendwoher hatte er plötzlich ein Feuerzeug gezaubert. Die Flamme sprang auf, erfaßte den Beutel, und im großen Aschenbecher verbrannte der Rest der Droge. »Es wird wahrscheinlich schwer werden«, sagte Grautvornix bedächtig. »Aber ich will es schaffen. Und… die Strega wird mir dabei helfen. Nicht wahr?« Er sah die Hexe an, und sie lächelte und nickte dazu. Ted Ewigk sah den Jungen prüfend an und riskierte es, seine eigenen Para-Kräfte noch einmal zu aktivieren und dessen Gedanken zu lesen. Und da wußte er, daß Klaus Rollnitz es schaffen würde. 87
Er hatte etwas in sich entdeckt, das stärker war als alles andere und das ihm über seine Sucht hinweghelfen würde. Etwas, das sich ganz spontan und überraschend für alle gezeigt hatte. Liebe auf den ersten Blick…
ENDE Als Ben Frinton sein Büro betrat, lief er in eine tödliche Falle. Ahnungslos setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Seufzend schaltete er die Lampe ein. Draußen heulte der Frühjahrssturm durch Brighton, als sich der Dämon näherte. Er glitt über den Boden und verharrte hinter Frintons Stuhl. Der Mann ahnte nicht, welche Gefahr ihm drohte. Er griff nach dem Telefonhörer, als er eine Berührung an seinem Hals spürte. Ein schleimiges Etwas legte sich wie eine Schlinge um seine Kehle. Frinton versuchte, sich umzudrehen, um seinen Gegner zu erkennen, doch seine Augen starrten ins Nichts. In ein Nichts, das sich nach und nach auch in seinem Bewußtsein ausbreitete…
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