Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 522 Die Heilerin
Die Heilerin von H. G. Francis
Eine Rebellin an Board der...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 522 Die Heilerin
Die Heilerin von H. G. Francis
Eine Rebellin an Board der SOL
Alles begann eigentlich im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Und das ist auch dringend notwendig. Doch bevor er das an Bord herrschende Chaos beseitigen kann, gilt es erst zu verhindern, daß die in einem Traktorstrahl gefangene SOL von den Robotern des Planeten Osath demontiert wird. Atlan schafft es schließlich nach einer wahren Odyssee auf Osath, das Generationenschiff vor der Vernichtung zu retten. Doch bei den Solanern selbst ist die Lage nach wie vor ziemlich desolat. Das beweist auch die Seuche, die plötzlich an Bord ausbricht. Nur eine Person ist da, die helfen kann. Diese Person ist DIE HEILERIN …
Die Hauptpersonen des Romans: Berylla ‐ Eine Frau mit seltsamen Kräften. Cortman Stull ‐ Beryllas Assistent. Kannar Gash ‐ Ein Halbbuhrlo. Osfhar ‐ Ein Mediziner der SOL. Atlan ‐ Der Arkonide läßt sich nicht beeinflussen.
1. »Ich brauche einen Arzt«, sagte Kannar Gash. Der Halbbuhrlo streckte seine Hände vor, die mit entzündeten Narben bedeckt waren. Einige Wundstellen befanden sich in einem Entwicklungsstadium, in dem kein Zweifel mehr darüber bestehen konnte, daß er große Schmerzen litt. Die junge Frau blickte ihn hochmütig an. »Es gibt Medo‐Centren für Leute wie dich«, erwiderte sie. Kannar Gash schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich war dort. Nicht nur einmal. Oft. Aber es hat nichts geholfen.« Er war ein kleinwüchsiger Mann mit stark abfallenden Schultern und einem unproportional groß wirkenden Kopf. Auch auf der Stirn hatte er eine Buhrlonarbe, die jedoch nicht entzündet war. »Dann gehst du eben noch einmal hin«, empfahl sie ihm kühl. »Verstehst du denn nicht?« klagte er, während ihm die Augen feucht wurden und die Stimme ihm zu versagen drohte. »Die Maschinen helfen mir nicht. Sie sind nicht auf solche Entzündungen programmiert. Ein Arzt aber weiß vielleicht weiter. Er kann etwas für mich tun.« »Dann versuche es bei einem anderen. Osfhar hat keine Zeit. Er hat Patienten. Also, verschwinde.« – Der Halbbuhrlo wich nicht von der Stelle. Er verdeckte die Drucktaste der Tür mit dem Rücken, so daß die junge Frau diese nicht erreichen und betätigen konnte. Sie seufzte.
»Gib dir keine Mühe«, riet sie ihm. »Es hat keinen Sinn. Geh zu einem anderen Arzt.« Gashs Gesicht verzerrte sich vor Wut und Enttäuschung. »Osfhar war meine letzte Hoffnung«, gestand er. »Bei den anderen war ich schon.« Sie lachte kalt. »Und dann hast du noch immer nicht begriffen? Die Ärzte wollen dich nicht. Es ist nicht nötig, daß unsere Patienten dich sehen. Sie könnten sich vor dir ekeln, du Monster.« Gash ballte in ohnmächtiger Wut und Empörung die Hände zu Fäusten, schlug jedoch nicht zu. »Das ist es also. Zum Arzt dürfen nur die, die gut bezahlen können, und die eigentlich gar nicht krank sind«, stammelte er. »Wer wirklich Hilfe braucht, ist nicht willkommen. Im Gegenteil. Er soll sich hier nicht blicken lassen. Er könnte ja die zahlenden Patienten vertreiben.« Er drehte sich um und verließ das Behandlungszentrum. Tief enttäuscht trat er auf einen Gang hinaus, auf dem mehrere Ferraten standen. Er verbarg seine Hände vor ihnen, als er sich an ihnen vorbeischob, und flüchtete vom Mittelteil der SOL in das SZ‐2‐ Segment. Als er in einem Antigravschacht aufstieg, gesellte sich ein anderer Halbbuhrlo zu ihm. »Was ist mit dir los, Kannar?« fragte er. Wortlos zeigte Gash seine Hände. »Ich habe es in den Medo‐Centren versucht und bei allen Ärzten, die ich erreichen konnte. In den Medo‐Centren habe ich Medikamente bekommen, die nicht helfen, und bei den Ärzten bin ich schon im Vorzimmer gescheitert. Die wenigen Ärzte, die es in der SOL gibt, behandeln keinen Halbbuhrlo.« Cor Colk warf einen flüchtigen Blick auf die Hände Gashs. »Sieht böse aus«, sagte er. »Es wird immer schlimmer. Es juckt, so daß ich schon nicht mehr schlafen kann. Und wenn nicht bald etwas geschieht, heilt es vielleicht nie mehr.« Kannar Gash war vollkommen verzweifelt. Er
spielte bereits mit dem Gedanken, seinem Leben ein Ende zu setzen. Die Krankheit hatte ihm jeglichen Lebensmut genommen. »Seit wann hast du das?« fragte Colk. »Ich war dabei, als die Hydroponik‐Tanks gereinigt wurden. In einem der Tanks habe ich so ein grünes Zeug angefaßt. Dabei muß ich mich infiziert haben.« Er kratzte sich die Hände, wobei er die Fingernägel vorsichtig an den Wundrändern entlangführte, um nicht noch mehr Keime in die offenen Wunden zu tragen. »Du mußt zur Heilerin Berylla gehen«, empfahl Colk. Gash blickte ihn fragend an. »Eine Heilerin? Es gibt eine Heilerin an Bord? Du meinst eine Ärztin?« »Nein. Sie ist keine Ärztin, jedenfalls nicht in dem Sinn wie die anderen hier an Bord. Sie hat viele gesund gemacht, die sich schon aufgegeben hatten.« »Ich habe noch nie von ihr gehört. Wo finde ich sie?« Colk zeigte nach oben. »Es ist ziemlich weit. Direkt an der Peripherie. Sie wird dich behandeln, aber du mußt sie bezahlen.« »Ich kann niemanden bezahlen, weder einen Arzt noch eine Heilerin. Ich habe kein Geld. Ich habe nichts.« Kannar Gash ließ enttäuscht den Kopf hängen. Seine jäh aufgeflackerte Hoffnung erlosch wieder. Colk lachte leise. »Wer nichts hat, muß sich eben etwas besorgen«, sagte er. »Ein bißchen Mühe mußt du dir schon machen. Es lohnt sich.« »Gib mir einen Tip. Was soll ich holen? Was soll ich tun? Was muß ich ihr geben, damit sie meine Wunden heilt?« »Es gibt viele Dinge an Bord, mit denen man ihr eine Freude machen kann. Sieh dich um nach eleganten Materialien, die sie für ihre Kleider verwenden könnte. Ich habe von besonderen Chronometern gehört, nach denen die Frauen verrückt sind. In den Lagerräumen der SOL liegen noch viele Dinge, die die Besatzung
auf fremden Planeten eingesammelt hat.« Kannar Gash blickte Colk verwundert an. »Auf fremden Planeten?« fragte er. »Willst du damit sagen, daß die SOL einmal auf Raubzug war?« »Natürlich nicht«, lachte Cor Colk. »Die SOL ist nicht plündernd durch die Galaxis gezogen, falls du das meinst. Aber sie hat unzählige Planeten angeflogen. Die Besatzung hat Kontakt mit vielen fremden Kulturen gehabt, und dabei ist natürlich etwas hängen geblieben. Die Besatzung hat Geschenke erhalten, die sie mit an Bord gebracht hat. Sie ist in verlassenen Städten gewesen und hat dort manches gefunden, was interessant genug war, es mitzunehmen. Viele dieser Sachen lagern noch im Depot. Die Sippe der Pyloren wacht eifersüchtig darüber und rückt nichts heraus.« Kannar Gash seufzte enttäuscht »Wenn sie nichts herausgibt, wie soll ich dann etwas holen? Dann brauche ich doch gar nicht erst hinzugehen.« »Kannar, entweder bist du maßlos dumm oder grenzenlos naiv. Natürlich mußt du dir gegen den Willen der Pyloren etwas besorgen. Du mußt eben bei ihnen einbrechen.« »Ach so. Warum sagst du das nicht gleich?« Gash war sichtlich bemüht, nun einen besseren Eindruck auf den anderen zu machen. »Wenn es darum geht, irgendwo einzusteigen, kenne ich keine Hemmungen. Ich müßte allerdings wissen, wo dieses Depot ist, und wie ich an das Lager herankomme.« »Ich gebe dir genaue Anweisungen.« »Du weißt also Bescheid? Du kennst dich so gut mit dem Depot aus, daß du selbst hingehen könntest. Warum tust du es nicht?« Cor Colk zeigte seine Hände. Sie waren makellos rein und narbenfrei. »Warum sollte ich? Du willst zur Heilerin. Du brauchst etwas, was du ihr geben kannst. Ich nicht.« »Das ist wahr. Und du glaubst nicht, daß sie mich auch ohne ein Geschenk behandeln würde?«
»Bestimmt nicht.« »Ist sie so versessen darauf, reich zu werden? Das hört sich so an, als ob sie kein Mitleid mit ihren Kranken kennt.« Cor Colk lächelte. Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Die Heilerin Berylla ist eine wundervolle Frau«, erwiderte er. »Sie hat ein heiteres Wesen, kann aber auch sehr zornig werden. Doch meistens ist sie freundlich. Sie lacht gern, und ihr Lachen steckt an. Wer je von ihr behandelt wurde, betet sie an. Man hat das Bedürfnis, ihr etwas zu schenken, weil das Gefühl, alles von ihr zu bekommen, einfach überwältigend ist. Wenn du sie kennen lernst, wirst du mich verstehen. Geh zu ihr und frage sie, ob sie dich ohne eine Gegenleistung behandelt. Sie wird es sicherlich tun, aber du wirst dich in Grund und Boden schämen. Du wirst dich selbst zu einem todunglücklichen Menschen machen, wenn du nur nimmst, anstatt auch zu geben. Und du wirst nur noch einen Gedanken haben. Zum Depot zu eilen und dort irgend etwas für sie holen. Also? Wenn du doch früher oder später hingehen wirst, dann kannst du es auch gleich tun.« »Wahrscheinlich hast du recht.« Kannar Gash bemerkte, daß sich ihnen einige Ferraten näherten. Rasch zog er Cor Colk in einen Seitengang. »Was ist los?« fragte Colk, doch dann hörte er die Stimmen der Ferraten und begriff. Sein Gesicht verzerrte sich. Zusammen mit Gash flüchtete er den Gang entlang bis in eine kleine Kammer, deren Tür der Wandverkleidung des Ganges so angepaßt war, daß sie kaum zu erkennen war. Schweigend verharrten die beiden Halbbuhrlos im Dunkeln. Schritte näherten sich, und ein Mann fluchte. »Sie waren doch eben noch hier«, bemerkte einer der Ferraten verärgert. »Verdammt, beinahe hätten wir das Monster erwischt.« Kannar Gash zuckte zusammen. Er wußte, daß er damit gemeint war und nicht sein Begleiter, denn bei ihm sah man die Narben, bei Colk jedoch nicht. Dieser war vom Schicksal weniger benachteiligt
worden als er. Auch er hatte Narben, aber sie lagen bei ihm auf dem Rücken und auf der Brust. Eine dicke Buhrlohaut zog sich von seinem Nacken bis zu den Hüften hinab, aber sie war nicht zu sehen, da sie sich unter der Kleidung verbergen ließ. Colk griff nach der Hand Gashs, um ihn zu beruhigen. Er wollte ihm zu verstehen geben, daß er zu ihm halten würde. »Gehen wir weiter«, schlug ein anderer der Ferraten vor. »Sie sind uns entkommen.« Die Schritte der Männer entfernten sich, doch die beiden Halbbuhrlos verharrten noch in ihrem Versteck. Sie ahnten, daß die Jäger noch eine geraume Weile in der Hoffnung an einem Ende des Ganges warten würden, daß sie vorzeitig wieder herauskamen. Oft genug waren Gejagte leichtsinnig geworden und hatten mit ihrem Leben bezahlt. Erbittert kauerten die beiden Halbbuhrlos sich auf den Boden. Sie fühlten sich keineswegs als Monster, auf die jeder nach Lust oder Laune Jagd machen durfte, sondern allenfalls als Kranke. Die Halbbuhrlos waren neben den Monstern die am meisten benachteiligte Minderheit an Bord der SOL. Einige von ihnen hatten nur wenige, kleine Buhrlo‐Narben, und sie konnten ein fast normales Leben führen, wenn sich diese glasartigen Hautverdickungen unter der normalen Kleidung verbergen ließen. Andere aber waren stärker gezeichnet. Ihre Narben saßen am Kopf oder an den Händen und blieben deutlich sichtbar. Kannar Gash beneidete Cor Colk, weil dieser ihm gegenüber erheblich im Vorteil war. Gash wußte von ihm, daß er an vielen Stellen im Schiff arbeitete und technische Leistungen vollbrachte, zu denen normalerweise ein Buhrlo gar nicht fähig war. Daher galt Colk bei jenen, die nicht wußten, wer er wirklich war, als normaler Solaner. »Sei zufrieden«, flüsterte Colk. »Es hätte dich schlimmer treffen können.«
Gash wußte, was er meinte, und wenn es an seiner Niedergeschlagenheit auch nichts änderte, so mußte er doch zugeben, daß er recht hatte. Am schlimmsten war es für jene Halbbuhrlos, die eine fast durchgehende Buhrlo‐Haut besaßen und doch nicht weltraumfest waren. Bei einigen von ihnen war die Haut nicht genügend weit ausgebildet, so daß sie es nicht wagen durften, ohne schützenden Anzug in den Weltraum hinauszugehen. Bei ihnen schloß sich die Hornhaut niemals, sondern es kam zu einem Abschuppen und Abschilfern der obersten Hautschicht. Andere hatten unterentwickelte Papillos, die die Körperöffnungen nicht ordnungsgemäß schließen konnten. Und darüber hinaus kannte Kannar Gash auch noch Halbbuhrlos, bei denen die sauerstoffspeichernde Schicht nicht ausreichend ausgebildet war. Er erinnerte sich daran, daß jemand einmal gesagt hatte, die Buhrlos seien eben ein evolutionsgeschichtlich sehr junger Nebenast der Spezies Mensch, ihre Entwicklung sei noch nicht abgeschlossen, und so käme es häufig zu Pannen. Das Gefühl, selbst eine »Panne« zu sein, war niederschmetternd für Gash. Es machte ihm deutlich, daß er ein Leben voller Hoffnungslosigkeit vor sich hatte, und daß es keine Zukunft für ihn gab. Die Heilerin konnte die Entzündungen der Narben vielleicht beseitigen, und ihn damit von Juckreiz und Schmerzen befreien, die Narben selbst aber würden bleiben. Es wird immer so sein, daß andere mich als Monster ansehen, dachte er. Vielleicht ist es leichter, sich ihnen zu stellen, als ein Leben lang gejagt und verachtet zu werden. Er lehnte sich zurück, bis sein Rücken die kühle Wand der Kammer berührte. Eine Todessehnsucht erfaßte ihn, die übermächtig zu werden drohte. Er wußte, daß er nur die Tür zu öffnen und auf den Gang
hinauszutreten brauchte, um seine Leiden zu beenden. Doch ihm war auch klar, daß er Cor Colk damit verraten und den Jägern preisgeben würde. »Glaubst du, daß die Heilerin Berylla die Narben auch ganz beseitigen kann?« flüsterte er. »Man sagt von ihr, daß sie wahre Wunderdinge vollbringt«, wisperte Cor Colk, »aber so etwas kann wohl selbst sie nicht.« Er verstummte, denn er hörte, daß sich ihnen Schritte näherten. Leise fluchend rückte er von Kannar Gash ab, und dieser begriff mit einem Mal, daß Colk keine Rücksicht auf ihn nehmen würde, wenn es wirklich ernst wurde. * »Es tut mir leid, wir müssen abbrechen«, erklärte Osfhar. Er erhob sich und kam um seinen Arbeitstisch herum. »Bitte, geh. Wir sehen uns später wieder.« »Aber ich sollte eine Injektion haben«, protestierte der Patient, ein weißhaariger Ahlnate. »Später, später«, wehrte der Arzt nervös ab. »Nicht jetzt. Bitte. Geh. Sofort. Es muß sein.« Der Patient stand zögernd auf und rollte den Ärmel wieder herunter, den er aufgekrempelt hatte, damit Osfhar die Hochdruckspritze ansetzen konnte. Er verstand nicht, warum der Mediziner ihn plötzlich zum Aufbruch drängte. Dafür schien es keinen Grund zu geben. Er hatte lediglich gesehen, daß ein rotes Licht auf dem Tisch aufgeleuchtet war, und nun wollte er wissen, was das zu bedeuten hatte. Er wandte sich betont langsam der Tür zu. Osfhar ergriff seinen Arm. »Nein, nein, dort hinaus«, sagte er ungeduldig. »Nun geh schon.« »Es gibt auch noch andere Ärzte«, entgegnete der Patient drohend.
»Das ist mir klar. Geh doch zu einem anderen, wenn dir etwas nicht paßt.« Er schob den Ahlnaten zur Tür hinaus und schloß sie hinter ihm. Dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück. Kaum hatte er ihn erreicht, als die Tür zum Vorzimmer sich öffnete und seine Assistentin Lyta Kunduran hereinführte. Das jüngste Mitglied in der Kaste der Magniden, das erst vor einem Jahr berufen worden war, ging zu dem Stuhl vor dem Arbeitstisch und setzte sich. Sie blickte den Arzt fragend an. »Ich freue mich, daß du zu mir kommst«, sagte dieser, mühsam seine wahren Gefühle vor ihr verbergend. »Es ist alles vorbereitet.« Lyta Kunduran nickte, als habe sie es nicht anders erwartet. Ihr Gesicht war wächsern und wirkte fast durch sichtig. Ihre großen, grauen Augen schienen ihm bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können. Von dieser Magnidin hieß es, daß sie sexuell kalt und empfindungslos sei, und daß sie nur ihre »Berufung« im Sinn habe. Der Arzt wußte von seiner Patientin, daß diese Aussage nicht ganz richtig war. Lyta Kunduran war zu ihm gekommen, weil sie an sich selbst zu zweifeln begonnen hatte und eine Hormonbehandlung haben wollte. Dabei hatte sich ihr hormonelles Blutbild als absolut normal erwiesen. Sie war eine Frau, wie andere auch, und wenn irgend etwas an ihren Selbstzweifeln schuld war, so war es ihr übertriebener Ehrgeiz. Ihr diese Wahrheit zu sagen, war für den Arzt jedoch außerordentlich schwierig, zumal er nicht damit gerechnet hatte, daß sie um Stunden früher kommen würde als vereinbart. »Ich bin nicht hier, um über Hormone mit dir zu reden«, erwiderte sie kühl. »Nicht?« Seine Verwirrung steigerte sich. Er setzte sich, weil er fürchtete, sie könne bemerken, wie unsicher er geworden war. Bin ich nicht vorsichtig genug gewesen? fragte er sich voller Bangen. Ist sie dahinter gekommen?
Er hatte das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen. Eben noch war er der selbstsichere und überlegene Arzt gewesen, der sich seiner Macht und seines Wissens bewußt war. Nun schien es, als solle er in Sekunden verlieren, was er in Jahren aufgebaut hatte. »Willst du mir nicht sagen, warum du hier bist, wenn du nicht als Patientin kommst?« Er sprach jetzt leise und mit weicher Stimme, so wie es die Ahlnaten meistens taten. Lyta Kunduran lehnte sich zurück. Sie seufzte leise, und plötzlich erfaßte der Arzt, daß seine Ängste unnötig gewesen waren. Es ging nicht um ihn. »Mir ist da etwas zu Ohren gekommen«, erklärte sie. »Es gibt eine Frau an Bord, die sich in aller Stille eine Machtposition aufgebaut hat, die uns gefährlich werden könnte. Noch ist niemand außer mir auf sie aufmerksam geworden. Und das ist gut so. Ich möchte etwas gegen sie in der Hand haben, wenn es soweit ist.« »Ich verstehe nicht ganz, Lyta. Was meinst du damit: Wenn es soweit ist?« Sie schürzte verächtlich die Lippen, da sie der Ansicht war, deutlich genug geworden zu sein. »Diese Frau wird keine Ruhe geben. Sie wird sich weiter nach oben arbeiten, bis sie irgendwo anstößt und Widerstand herausfordert. Dann wird man über sie sprechen.« Osfhar glaubte, die Wahrheit erfaßt zu haben, um die es ging. Er hob abwehrend die rechte Hand, um ihr zu bedeuten, daß sie nicht weiterzusprechen brauchte. Lyta Kunduran liebte Chart Deccon, wie sie ihm als Patientin eingestanden hatte, da sie wußte, daß er zum Schweigen verpflichtet war. Bisher hatte sie noch nicht gewagt, sich dem High Sideryt gegenüber zu offenbaren. Sie wollte, daß die erste Erklärung von ihm kam, da sie fürchtete, von ihm abgewiesen zu werden, wenn sie etwas von ihren Gefühlen verriet. Und sie hatte Angst vor dem Spott der anderen Magniden. Sie wollte positiv auffallen. Sie wollte, daß Chart Deccon sich mit
ihr befaßte, und sie glaubte, das erreichen zu können, wenn sie sich bei einem auftauchenden Problem als besser informiert erwies als alle anderen. Oder wollte sie mehr? Wollte sie, daß er das Problem für sie löste, daß er es beseitigte? »Warum wendest du dich an mich?« erkundigte er sich. »Ich bin Arzt und weiß nichts von dieser Frau. Ich beschäftige mich mit medizinischen Problemen, die von den Medo‐Robotern nicht gelöst werden können.« »Ich weiß.« Sie lächelte und sah dabei überraschend hübsch und weiblich aus. »Und doch kannst du wahrscheinlich helfen. Es geht um die Heilerin Berylla. Hast du von ihr gehört?« Osfhar richtete sich auf. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit, daß die Heilerin die Aufmerksamkeit der Magnidin erregt hatte. Langsam ließ er sich wieder zurücksinken. »Du kennst sie also«, stellte Lyta fest. »Ich habe von ihr gehört«, wich der Arzt aus. »Wer hätte das nicht? Ihr sagt man geradezu magische Fähigkeiten in der Heilkunde nach. Es heißt, daß sich die Patienten um sie scharen.« Die Magnidin lächelte erneut. »Was dir als Arzt wahrscheinlich nicht gefällt, denn deine Praxis leidet nicht gerade an Überfüllung.« Lächelnd ging Osfhar über diese spöttische Bemerkung hinweg. Er wußte, daß er weitaus mehr Patienten hätte haben können, wenn er nur gewollt hätte. Doch er beschränkte den Kreis derer, die er behandeln wollte, auf die Magniden und die Ahlnaten. Einen Ferraten beispielsweise würde er niemals auch nur ins Vorzimmer lassen, und für einen Halbbuhrlo hatte er noch nicht einmal einen Blick übrig. Der Arzt oder der Heiler, der solche Randerscheinungen behandeln wollte, sollte es ruhig tun. Er jedenfalls lehnte es ab, sich mit ihnen zu befassen, und das wußte Lyta Kunduran recht wohl. »Was soll ich tun?« fragte er.
»Ich will Informationen über die Heilerin Berylla. Diese Frau muß aufgehalten werden.« Osfhars Gesicht wurde ausdruckslos. Er glaubte nicht daran, daß die Magnidin tatsächlich nur Informationen haben wollte. Lyta Kunduran hatte ihm soeben mehr über sich verraten, als sie vermutlich gewollt hatte. Der High Sideryt hat von Berylla gesprochen, dachte er. Vielleicht hat er ihren Namen nur nebenbei erwähnt, aber damit hat er die Eifersucht Lytas geweckt. Sie fürchtet diese Frau, und sie will sie ausschalten, bevor sie ihr gefährlich werden kann. Der Arzt machte sich keine Gedanken darüber, ob es recht oder unrecht war, sich der genannten Heilerin in den Weg zu stellen. Sie war ihm gleichgültig, und ihr persönliches Schicksal interessierte ihn nicht. Er war bereit, sie in eine tödliche Falle zu locken, um sich dadurch Vorteile bei Lyta zu verschaffen. Was hätte besser sein können, als gute Beziehungen zu den Magniden? Wenn er Lyta einen Gefallen tun konnte und sie sich dadurch verpflichtete, dann wollte er nicht lange überlegen. »Wirklich nur Informationen?« »Es kommt auf die Informationen an. Je mehr Gewicht sie haben, desto besser.« Diese Antwort war so deutlich, daß es darüber hinaus nichts mehr zu sagen gab. Lyta wollte, daß die Heilerin Berylla blieb, wo sie war – in einem Randbezirk der SZ‐2. Osfhar war sich dessen ganz sicher, daß er sie richtig verstand. »Ich werde tun, was ich kann«, erklärte er. Dann erhob er sich und ging zu einem Arzneischrank. »Und jetzt wollen wir Berylla vergessen und uns der Analyse zuwenden. Einverstanden?« Lyta Kunduran war sichtlich erleichtert. Sie lächelte. »Einverstanden. Hoffentlich hast du nicht vor, mir zu eröffnen, daß ich ein hoffnungsloser Fall bin.«
2. Berylla streckte ihre Hände aus und spreizte die Finger, so als ob sie einen großen Ball mit beiden Händen umspanne. Sie bildete eine Art Schirm über dem unförmig angeschwollenen Leib des weiblichen Halbbuhrlos. Während sie sich konzentrierte, spürte sie, daß sie auf Widerstand stieß. Sie versuchte, diesen niederzukämpfen, und sich über ihn hinwegzusetzen, doch sie schaffte es nicht. Dennoch gab sie nicht auf. Sie erkannte, womit sie es zu tun hatte, und ein Gefühl der Trauer kam in ihr auf. Die junge Frau, die zu ihr gekommen war, weil sie Heilung von ihr erhoffte, litt unter einer besonders bösartigen Art von Hautkrebs, wie er nur im inneren Gewebe der Buhrlonarben auftrat. Fälle wie diese waren extrem selten, aber sie kamen vor. Bisher hatte noch niemand ein Medikament gefunden, mit dem man die Gewebewucherungen besiegen konnte. Auch Berylla war in dem bisher einzigen Fall, den sie in ihrer Praxis gehabt hatte, machtlos gewesen. Dies war nun der zweite Fall, und sie war entschlossen, alles zu tun, die Krankheit zurückzudrängen. Sie wollte sich nicht geschlagen geben. »Bist du schon bei einem Arzt oder in einem Medo‐Center gewesen?« fragte sie die junge Patientin. »In einem Medo‐Center war ich, aber der Roboter hat mir sein Bedauern ausgedrückt und erklärt, daß er in seinem Programm nichts hat, womit er in meinem Fall etwas tun könne. Er sagte, er sei noch nicht einmal in der Lage, eine genaue Diagnose zu stellen.« Die Heilerin wußte, daß der Roboter die Wahrheit gesagt hatte. Erbittert preßte sie die Lippen aufeinander. Die Schiffsführung tat offenbar nichts, um auch den Halbbuhrlos zu helfen. Diese stellten eine rechtlose Minderheit da, für die sich niemand verantwortlich fühlte.
Sie blickte ihre Patientin mitfühlend an. »Du bist recht spät zu mir gekommen«, sagte sie mit sanftem Vorwurf. »Es wäre leichter für uns beide gewesen, wenn du nicht so lange gewartet hättest.« Die junge Frau senkte den Kopf. »Ich weiß«, erwiderte sie mit stockender Stimme. »Aber ich wollte es erst woanders versuchen.« Berylla lächelte. »Du hattest kein Vertrauen, wie? Nun, das macht nichts. Das wird sich bald ändern. Und das ist auch notwenig, denn wenn du nicht an mich glaubst, werden wir keine Fortschritte erzielen. Wir müssen zusammenarbeiten, weil wir nur gemeinsam stärker sein können als der Feind, der in dir ist.« Sie sprach ruhig und mit weicher, angenehmer Stimme, die dennoch soviel Überzeugungskraft besaß, daß die Patientin sich ihr nicht entziehen konnte. Die Heilerin war 40 Jahre alt, und obwohl sie 1,96 m groß war, gut gewachsen. Dabei wirkte sie schlank, ohne untergewichtig zu sein. Sie hatte eine goldbraune Haut und blauschwarzes Haar, das sie in einer Art Afro‐Frisur trug. Das schmale und ebenmäßige Gesicht wirkte durch die kohlschwarzen, etwas schräg gestellten Augen außerordentlich ausdrucksvoll. Beryllas Ruf als Heilerin war so gut, daß viele sie bereits als Wunderheilerin bezeichneten, eine Benennung, die ihr nicht recht gefallen wollte, da die Erwartungen ihrer Patienten dadurch oft zu hoch waren und die Behandlung unnötig erschwert wurde. Manche Patienten glaubten, sie selbst brauchten gar nichts für ihre Gesundung zu tun, es genüge, sich an sie zu wenden, und sie werde schon alles in Ordnung bringen. Berylla hatte ein ausgeprägtes Gespür für Krankheiten, vor allem aber für solche, die ihre Ursache in psychischen Störungen hatten – und das waren die meisten, die bei ihren Patienten auftraten. Für sie lag daher nahe, die Zustände an Bord der SOL für das
Auftreten dieser Krankheiten verantwortlich zu machen. Durch die Kraft ihrer Persönlichkeit und ihre Fähigkeit, spontan das absolute Vertrauen ihrer Patienten zu gewinnen, reichte oft schon eine kurze Begegnung mit ihnen, um eine Besserung oder gar Heilung herbeizuführen. Darüber hinaus bediente sie sich aber auch alter Heilungstechniken wie des Handauflegens oder des Anlegens von Ringen aus einem ihr unbekannten, exotischen Metall an Fingern, Armen, Beinen und Kopf. Diese Ringe hatte sie von einem alten Heiler namens Toquale erhalten, der sie in allen entsprechenden Künsten ausgebildet hatte. Auch er hatte nicht gewußt, woher diese Metallringe kamen, denn auch er hatte sie von einem Vorgänger übernommen. »Wahrscheinlich hat irgendeine Expedition der SOL die Ringe auf einem fremden Planeten gefunden«, hatte er ihr erklärt. »Vielleicht hat ein Magier sie als Geschenk übergeben. Niemand weiß das heute mehr. Tatsache aber ist, daß die Ringe die kosmischen Kräfte an sich ziehen und in den Körper weiterleiten, wo sie alle Störfelder, wie sie durch Krankheiten entstehen, beseitigen.« Häufig genug hatte Berylla feststellen können, daß er recht gehabt hatte. Die Metallringe, die aus einem grün leuchtenden Metall bestanden, vertrieben viele Krankheiten. Sie hatte sie auch dem Patienten angelegt, der mit dem Narbenkrebs zu ihr gekommen war, aber in diesem Fall hatten sie versagt. Berylla wollte daher zunächst versuchen, ihrer Patientin auf eine andere Weise zu helfen und die Ringe erst als letztes Mittel zu wählen. Zunächst wollte sie dem Krebs mit ihrer persönlichen Kraft entgegentreten. Ihre Ausstrahlung ging weit über den medizinischen Wirkungsbereich hinaus, obwohl die Heilerin weder atemberaubend schön war, noch irgend etwas Dämonisches an sich hatte. Sie selbst konnte sich nicht erklären, weshalb sie so außerordentliche Fähigkeiten hatte und mit ihren Händen heilen konnte.
Wieder streckte sie ihre Hände aus, und abermals schien ihr ein Energiestrom aus dem Körper der Kranken entgegenzufließen. Er löste unangenehme Empfindungen aus, die an ihren Fingerspitzen einsetzten und von dort auf ihre Hände und ihre Arme übergingen, aufstiegen bis zu ihren Schultern und sich in ihrem Nacken konzentrierten. Für Berylla war eine derartige Erscheinung nichts Neues. Sie kannte solche Reaktionen. Sie zeigten ihr an, daß es ihr gelungen war, Kontakt mit den körperfeindlichen Kräften im Patienten aufzunehmen. Es war, als ob sie sich mit einem zerstörerischen Wesen konfrontiert sähe, mit dem ein tödlicher Zweikampf unausweichlich war, wenn der Patient gerettet werden sollte. Hin und wieder hatte Berylla sich gefragt, ob sie eine Mutantin sei. Mittlerweile war sie jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß sie das ganz gewiß nicht war. Sie verfügte über keine parapsychischen Kräfte. Oft hatte sie geglaubt, ihre medizinischen Erfolge seien durch eine parapsychische Begabung begründet, doch sie hatte eindeutig nachweisen können, daß das nicht der Fall war. Daher blieb auch für sie selbst rätselhaft, woher die Kraft kam, durch die sie heilen konnte. Die einzige Erklärung, die blieb, war, daß es bei ihrer Zeugung zu einer besonders günstigen Gen‐Zusammenstellung gekommen war, wie sie in vielen Millionen Fällen nur einmal auftrat. Das Prickeln in den Fingerspitzen ließ nach. Wich die Krankheit vor ihr zurück? Es schien so. Als Berylla für einen kurzen Moment die Augen schloß, glaubte sie, auf eine wildbewegte Küste zu sehen. Giftgrüne Wellen brandeten gegen Felsen an und zerstoben an ihnen. »Was ist los?« fragte die Patientin. »Mir ist so eigenartig.« Die Heilerin zog die Hände zurück. Sie spürte, daß sich ihre Rückenmuskulatur verkrampft hatte. Erschöpft ließ sie sich nach
hinten sinken. Alle Kräfte schienen aus ihrem Körper gewichen zu sein. Doch der Zustand der Erschöpfung währte nur ein paar Sekunden. Dann belebte sich das junge Gesicht Beryllas wieder. Sie erhob sich und legte ihrer Patientin zuversichtlich die Hand auf die Schulter. »Wir schaffen es«, erklärte sie. »Jetzt weiß ich es.« Die Kranke stand langsam und zögernd auf. Sie schien darauf zu warten, Schmerzen zu verspüren, die jede Bewegung zur Qual werden ließen. Doch sie fühlte nichts. »Es ist vorbei«, sagte sie verwundert, und ihre Augen leuchteten dankbar auf. »Nein, noch nicht«, widersprach Berylla abwehrend, um einem eventuellen Rückschlag vorzubeugen. »Vor uns liegt noch ein langer Weg. Dies ist erst der Anfang.« Die Tür öffnete sich, und der Assistent der Heilerin, Cortman Stull, kam herein. Er war ein weißhaariger, alter Mann mit schlaffen, müde wirkenden Gesichtszügen, aber lebhaften, blauen Augen. Stull hatte lange Jahre als Ausbilder für die Mediziner an Bord der SOL gearbeitet. Jetzt half er ein wenig in der Praxis der Heilerin aus, deren Überlegenheit er neidlos anerkannte. »Roboter kommen«, meldete er verstört. »Sie bauen alles auseinander.« * »Irgendwo hier in der Nähe müssen sie sein«, sagte jemand auf dem Gang. Er sprach mit leiser, näselnder Stimme, die Kannar Gash einen Schauder des Entsetzens über den Rücken jagte. Der Halbbuhrlo erkannte, daß er von diesem Jäger keine Gnade zu erwarten hatte. Dieser Mann ging nur nach Äußerlichkeiten, und fand er jemanden, der mißgestaltet war, dann tötete er ihn. Er gehörte offenbar zu jener Sorte von Männern, die es für ihre Pflicht
hielten, so etwas zu tun. Kannar Gash war noch nie Opfer einer solchen Jagd gewesen. Er wußte jedoch, daß Halbbuhrlos ermordet worden waren, ohne daß jemand die Täter zur Rechenschaft gezogen hatte. »Wir müssen etwas tun«, wisperte er. »Wenn wir warten, kann es zu spät sein.« »Leise«, zischelte Cor Colk. »Kein Wort.« Eine Tür ging. Das ist die Tür, die uns genau gegenüberliegt, erkannte Gash. Gleich sind wir dran. Er stand lautlos auf, krallte seine Hand in die Bluse Colks und zog ihn hoch. »Wir greifen an«, entschied er. Bevor Cor Colk gegen das Vorhaben protestieren konnte, stieß er die Tür auf. Drei mit Vibratormessern bewaffnete Ferraten drehten sich zu ihnen um. Vor ihnen auf dem Boden kauerte eine armselige Gestalt, die nur einen verkümmerten Arm hatte, und deren Beinstümpfe es ihm unmöglich machten, vor den Jägern zu fliehen. Sie haben gar nicht uns gesucht, sondern ihn, schoß es Gash durch den Kopf. Wir hätten im Versteck bleiben können. Doch nun war es zu spät. Sie hatten sich gezeigt, und ihnen blieb nur noch der Kampf. Das begriff auch Cor Colk. Er stürzte sich ebenfalls auf die Ferraten und warf einen von ihnen zu Boden. Kannar Gash überwältigte einen der anderen mit einem wuchtigen Faustschlag und lief dann in das Messer des dritten. Obwohl die Vibratorklinge seinen Arm nur steifte, waren die Schmerzen so groß, daß er gellend aufschrie. Vor seinen Augen tanzten feurige Kreise. Blindlings schlug er zu, und er hatte Glück. Er traf seinen Gegner am Hals und schaltete ihn damit vorübergehend aus. Cor Colk stürzte sich an ihm vorbei. »Weg hier. Schnell«, schrie er und zog Kannar Gash mit sich. Nach einigen Schritten bemerkte er, daß dieser kaum gehen konnte und seine Hilfe benötigte. Er packte ihn fester und führte ihn. Die Angst trieb die beiden Männer voran. Sie hörten das wütende
Gebrüll der Ferraten, die sich aufrappelten, um ihnen zu folgen. Doch sie waren im Vorteil. Sie kannten sich in diesem Teil der SZ‐2 besser aus als die Jäger. Und jeder von ihnen hatte irgendwann einmal in seinem Leben eine derartige Flucht in Gedanken durchgespielt, um für den Notfall vorbereitet zu sein. Sie eilten durch einige Gänge, tauchten in seitlich abzweigenden Räumen und Nischen unter, glitten durch eine Bodenluke nach unten und ließen die Verfolger bald weit hinter sich. Schwer atmend sanken sie schließlich in einer Werkzeugkammer auf den Boden. »Das war verdammt leichtsinnig von dir«, klagte Cor Colk. »Tu so etwas nie wieder.« »Es hätte auch anders sein können«, verteidigte Gash sich. »Sei froh, daß sie es auf einen anderen und nicht auf uns abgesehen hatten.« Cor Colk brach in Tränen aus. »Ich verstehe nicht, daß sie so etwas tun dürfen«, stammelte er, und sein ganzer Körper schüttelte sich in hilfloser Wut. Er war jetzt gar und gar nicht mehr der überlegene Mann, als der er sich vorher gegeben hatte. Gash erkannte, daß sich Cor Colk eine Maske angelegt hatte, unter der sich nicht weniger Angst verbarg als bei ihm. »Warum dürfen wir nicht leben wie andere auch?« Dabei kannst du noch von Glück reden, wollte Kannar Gash sagen. Deine Narben sieht man nicht. Ich bin viel schlechter dran. Doch er wollte den anderen nicht herausfordern. Er brauchte seine Hilfe. Cor Colk konnte ihm sagen, wo das Depot war, und wie er dort einbrechen konnte. Daneben wurde die Frage, wer von ihnen beiden nun noch unglücklicher war als der andere, bedeutungslos. »Wir sollten uns nicht gegenseitig beschimpfen, sondern überlegen, wie es weitergeht«, schlug er vor. »Wir trennen uns«, entschied Cor Colk. »Bei dir ist es mir zu gefährlich.« Er erhob sich und verließ die Kammer, bevor Gash ihn aufhalten
konnte. Seine Schritte verhallten auf dem Gang. Sie waren das letzte Lebenszeichen, daß Kannar Gash von ihm empfing. Gash sah Colk erst neun Stunden später wieder. Zu diesem Zeitpunkt lag der Mann, von dem er entscheidende Hilfe erwartet hatte, tot in einem Lagerraum, in dem Schmierstoffe aufbewahrt wurden. Jemand hatte ihm die Bluse heruntergerissen, so daß die Buhrlo‐Narben sichtbar geworden waren. Danach hatte er ihn getötet. Kannar Gash flüchtete, als er sah, daß er Colk nicht mehr helfen konnte, da er fürchtete, daß die Mörder noch irgendwo in der Nähe waren. Die Gänge des Schiffes waren geisterhaft leer. Die Bewohner schienen sich in ihre Räume zurückgezogen zu haben. Überall lagen Gerätschaften, Abfall und Schmutz herum. Die Reinigungsroboter schienen ihre Arbeit eingestellt zu haben. Als Gash in einem Antigravschacht nach oben schwebte und sich dann der Peripherie des Schiffes zuwandte, bemerkte er plötzlich einen grauen, etwa zwei Meter hohen Roboter, der auf vier Beinen lief. Furchtsam blieb er stehen. Er hatte von diesen Demontagerobotern gehört, die seit langem dabei waren, die SOL zu bearbeiten und den Abtransport von Raumschiffsteilen nach Mausefalle VII vorzubereiten, begegnet war er jedoch noch keiner dieser Maschinen, von denen es hieß, daß sie nicht nur intelligent waren, sondern auch Gefühle hatten. Der Roboter stand mitten im Gang und streckte alle vier Arme zur Decke. Er löste die Leuchtelemente, ohne sie zu beschädigen. »Komm nur«, forderte er Kannar Gash freundlich auf. »Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Wenn du vorbeigehen willst, dann zögere nicht.« Der Halbbuhrlo zuckte zusammen, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Zögernd schob er sich an dem Roboter vorbei und rannte dann, wie von tausend Furien gehetzt weiter, bis er glaubte, ein spöttisches Lachen zu hören. Danach ging er langsam
und unsicher auf einen Gang zu, auf dem wenigstens hundert Männer, Frauen und Kinder auf einfachen Bänken hockten und warteten. Ein quadratischer Roboter schwebte zwischen ihnen hindurch auf eine Tür zu, auf der in roten Buchstaben BERYLLA stand. Gash war am Ziel. Doch jetzt fürchtete er, zu spät gekommen zu sein. Was will der Roboter hier? fragte er sich, und er schien nicht der einzige zu sein, der Angst um die Heilerin hatte. Ausnahmslos alle Patienten beobachteten die Maschine. Einige Männer waren aufgesprungen, und Gash hatte den Eindruck, daß sie sich auf den Automaten stürzen wollten, um ihn abzuhalten. Da öffnete sich die Tür, und die Heilerin trat heraus. Kannar Gash blieb stehen. Die Persönlichkeit Beryllas nahm ihn augenblicklich gefangen. Nur noch die hochgewachsene Frau schien sich auf dem Gang aufzuhalten. Alle anderen wurden zu einer farblosen Kulisse. Der Roboter verharrte etwa fünf Meter von ihr entfernt in der Luft. In atemloser Spannung wartete Kannar Gash ab, was nun geschehen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Berylla vor der Maschine weichen würde. Ihre Persönlichkeit war zu umfassend. Nichts, so schien es, konnte an sie heranreichen. Gash war noch niemals jemandem begegnet, der ihn auf Anhieb so beeindruckt hatte. Die anderen Heiler, die es an Bord gab, waren nicht mit ihr zu vergleichen. Gash erinnerte sich daran, daß er von einer Organisation gehört hatte, die kurz nach der Trennung der SOL von der BASIS gegründet, und die CARE genannt worden war. Diese Organisation hatte darüber gewacht, daß die Zahl der Heiler an Bord konstant blieb. Sie hatte sich von Anfang an dagegen gewehrt, daß auch die Ärzte sich den Anordnungen der Arbeitsgemeinschaft SOL und der
späteren SOLAG unterordnen sollten. Das hatte zu erheblichen Spannungen an Bord geführt. Eine offizielle Ausbildungsstätte für Heiler gab es nicht, und seit Gash Berylla gesehen hatte, wußte er auch, warum. Persönlichkeiten wie sie wurden nicht in Schulen geformt, sondern wuchsen aus sich selbst heraus. Berylla war die geborene Heilerin, die ihr Wissen von älteren Heilern übernommen hatte. Gash wußte, daß viele Heiler auf den schwarzen Listen der SOLAG standen, weil sie allen halfen, die Hilfe benötigten, auch jenen, die sich aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht befanden. Er fragte sich, ob Berylla auch auf so einer Liste stand, und ob die SOLAG nun versuchte, ihrer mit Hilfe eines Roboters habhaft zu werden. Gash erwartete, daß die Heilerin Fragen stellen oder sich in irgendeiner Weise gegen den Roboter und sein Vordringen wehren würde. Doch das tat sie nicht. Sie lächelte freundlich. »Es ist gut, daß du hier bist«, hieß sie die Maschine willkommen. »Wir haben eine ganze Reihe von Problemen, die wir dringend besprechen müssen. Du kannst uns dabei helfen, sie zu lösen.« Gash fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Die Stimme der Heilerin berührte etwas in seinem Innern und löste ein Glücksgefühl, sowie das Empfinden, geborgen zu sein, aus. So etwas hatte er nie zuvor gespürt. Keine Sekunde lang zweifelte er daran, daß Berylla auch den Roboter mit ihrer Stimme und ihrer ungewöhnlichen Ausstrahlung gefangennehmen würde. 3. Osfhar war entschlossen, so schnell und so wirksam wie möglich zu arbeiten und den von Lyta Kunduran befürchteten Aufstieg der Heilerin Berylla aufzuhalten. Tatsächlich war diese ihm ein Dorn im
Auge. Medo‐Centren an Bord von Raumschiffen erfüllten die Aufgabe, die in früheren Zeiten, als die Menschen noch ausschließlich auf der Erde lebten, die praktischen Ärzte oder die Ärzte für Allgemeinmedizin übernommen hatten. Die Ärzte, die es darüber hinaus gab, waren hochqualifizierte Spezialisten, die häufig jenen genialen Funken Verstand hatten, der einem künstlichen Gehirn fehlte und auch noch auf lange Sicht fehlen würde. Die Heiler bewegten sich mit ihrer Arbeit und ihrer Qualifikation zwischen Medo‐Centren und Ärzten, wobei sie weder die fundamentalen medizinischen Kenntnisse der Automaten, noch jene geniale Kreativität der Ärzte hatten, die diese zu ihren oft außerordentliche Taten befähigten. Dennoch gab es immer wieder Heiler, die erfolgreicher waren als Medo‐Centren und Ärzte, sofern sie nicht mit Krankheiten konfrontiert wurden, wie sie trotz größter Vorsicht immer wieder von fremden Planeten in die Raumschiffe eingeschleppt wurden. Exotischen Mikroorganismen hatten lediglich die Ärzte etwas entgegenzusetzen. Bei Berylla war sich Osfhar nicht ganz sicher, ob sie nicht auch auf diesem Gebiet hin und wieder Erfolge gehabt hatte, die rational nicht zu begründen waren. Und das war es, was seine Mißgunst verursachte. Natürlich fühlte er sich ihr weit überlegen. Er war ein ausgebildeter Mediziner, der zur Kaste der Ahlnaten gehörte und hohes Ansehen auch bei den Magniden genoß. Osfhar fühlte sich der Elite der SOL zugehörig. Viele Fälle, die von Berylla behandelt wurden, hätten seiner Ansicht nach ihm zumindest zur Konsultation vorgelegt werden müssen. Das war nicht geschehen. Daher empfand er die Heilerin als anmaßend und störend. Dabei übersah Osfhar großzügig, daß er in keinem Fall bereit gewesen wäre, etwa einen Ferraten zu behandeln oder sich auch nur
mit ihm zu befassen. Er machte sogar bei den Ahlnaten feine Unterschiede, um ja nicht den Eindruck entstehen zu lassen, er sei ein Arzt für alles oder jeden. Osfhar betrat seine Krankenstation, in der sich zu dieser Zeit keine Helferinnen aufhielten. Die drei Patienten, die hier stationär behandelt wurden, lagen in Isolierkabinen und wurden von robotischen Einrichtungen überwacht. Vor einer dieser Kabinen blieb der Arzt stehen. Er blickte durch die Scheibe auf die gedrungen wirkende Frau, die schlafend im Bett lag. Ihr Gesicht sah marmoriert aus. Feine rote und schwarze Linien überzogen es mit einem bizarren Muster. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Der Mund stand offen, und die Lippen hatten sich weit über die Zähne zurückgezogen, so daß die Kranke ständig zu lachen schien. Sie lachte nicht. Sie lag im Sterben. Osfhar wußte es. Er hatte kein Mittel gefunden, ihr Leben zu retten. Ihm war noch nicht einmal gelungen zu klären, woher der Erreger stammte, der ihren Körper und ihren Geist zerstörte. Er krümmte einen Finger und pochte gegen die Scheibe. Augenblicklich erwachte die Patientin. Sie schlug die Augen auf und blickte ihn an. Langsam richtete sie sich auf. Sie sieht erschreckend aus, dachte der Mediziner. Mitleid kam in ihm auf. Er wünschte, er hätte den Krankheitserreger bekämpfen können. »Osfhar«, flüsterte sie. »Du weckst mich? Warum?« Er drückte eine Taste und schaltete damit ein Mikrophonelement im Glas ein, so daß ein Teil der Scheibe zu schwingen begann und seine Stimme in der Kabine hörbar werden ließ. »Wir müssen jede sich bietende Chance nutzen«, erklärte er. »Du mußt aufstehen und mit mir kommen.« »Ist es so ernst?« Seltsam, dachte er. Sie können noch so krank sein. Gevatter Tod
kann schon ihre Hand halten, und doch klammern sie sich an jede Hoffung und glauben, daß sie weiterleben werden. Er nickte. »Ich kann nichts mehr tun«, gestand er der Kranken ein. »Jetzt haben wir nur noch eine Möglichkeit. Ich möchte, daß du zur Heilerin Berylla gehst.« Ihre Augen weiteten sich. »Berylla?« flüsterte sie, und zum erstenmal seit vielen Tagen entspannte sich ihr Gesicht. »Vielleicht hätte ich sie gleich aufsuchen sollen?« Osfhar fühlte einen Stich in der Brust. Diese Antwort behagte ihm nicht, verriet sie ihm doch, daß die Patientin von Anfang an Zweifel an seiner ärztlichen Kunst gehabt hatte. Und sie erinnerte ihn an seine Selbstzweifel. Hatte er wirklich alles getan, was in seiner Macht stand? Oder hatte er es mit einem Problem zu tun, das ein anderer Arzt hätte lösen können, weil er einfach besser als er war? Doch er beherrschte sich. Er ließ sich nicht anmerken, was er empfand. Du Narr! Berylla kann dir auch nicht helfen. Im Gegenteil. Wenn sie mit diesem Erreger konfrontiert wird, ist es aus mit ihr. Plötzliche Bedenken kamen in ihm auf. Durfte er als Mediziner so weit gehen, daß er eine andere Heilkundige bewußt infizierte und sie damit einer tödlichen Gefahr aussetzte? Heilkundige! Daß ich nicht lache. Ein Scharlatan ist sie, eine Betrügerin, die ihren Patienten allerlei faulen Zauber vormacht. Solche Menschen gehören zum Abschaum der Besatzung. Sie bereichern sich auf Kosten der Kranken, ohne diesen wirklich helfen zu können. Und wenn tatsächlich einmal einer ihrer Patienten gesund wird, so wäre er das ohne ihr Zutun mit Sicherheit auch geworden. Osfhar verlor für einige Sekunden den Faden. Er klammerte sich an das Fenster und vergaß vorübergehend, wo er war. Farbige
Lichter tanzten vor seinen Augen, und ein verführerischer Duft stieg ihm in die Nase. Er glaubte, durch einen Schleier aus Farben und, Licht in eine blühende Landschaft hinauszutreten, die von betörender Schönheit war. Aus einem Meer von meterhohen Blumen stiegen spiralförmig die Stämme von blauen und roten Bäumen mit sternförmig nach außen führenden Ästen auf, die mit Blüten übersät waren. »Osfhar?« Die Stimme der Patientin schreckte ihn auf. Er fuhr sich erschrocken mit der Hand über die Augen und merkte, daß seine Stirn schweißbedeckt war. Ich bin krank! durchfuhr es ihn. Doch dann schob er diesen Gedanken sogleich wieder von sich. Er war noch nie krank gewesen, warum sollte er es jetzt sein? »Kaylin«, sagte er beherrscht. »Du wirst in einen Schutzanzug steigen, dann wirst du diesen Raum verlassen. Ich warte auf dich.« Sie gehorchte wortlos, stieg aus ihrem Bett, nahm den transparenten Anzug aus einem Schrank, streifte ihn über, schloß den Helm und führte sich Sauerstoff aus einer Patrone zu. Es ist ein Experiment, sagte der Arzt sich, und es muß sein. Die Keime, die sie in sich trägt, können uns allen gefährlich werden. Deshalb müssen wir ein Gegenmittel finden. Dazu muß in dieser Situation jedes Mittel recht sein. Er dachte an Lyta, die Magnidin, und daran, daß sie mit ihm zufrieden sein würde. Wenn Berylla stirbt, ist sie keine Konkurrentin mehr. Einen besseren Weg, Lyta zu helfen, gibt es nicht. Er redete es sich solange ein, bis er selbst daran glaubte, die Ideallösung gefunden zu haben. Kaylin verließ die Isolierzelle. Sie hatte sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten, weil sie durch die Krankheit allzu sehr geschwächt war. Er stützte sie. »Du kannst unmöglich den ganzen langen Weg zu Berylla gehen«,
sagte er. »Auf der anderen Seite möchte ich auch wiederum keinen auffälligen Krankentransport auf einer Antigravliege.« »Ich bin mit allem einverstanden«, beteuerte sie. »Nun gut«, erwiderte er und tat, als denke er über etwas nach. »Wir werden dich in einen Transportbehälter legen, dessen Deckel nur von einer Seite her durchsichtig ist. So kannst du nach draußen sehen, die anderen können dich aber nicht anstarren.« »Das ist mir lieb, Osfhar. Was soll ich tun, wenn ich bei Berylla bin?« »Du wirst deinen Anzug ablegen, bevor Berylla den Deckel öffnet.« »Ist das nicht gefährlich?« fragte sie erschrocken. »Natürlich ist es das, aber die Heilerin würde es ablehnen, dich zu behandeln, wenn sie nicht auf den ersten Blick sieht, daß sie dich nicht abweisen darf. Du brauchst keine Angst zu haben, daß du sie ansteckst. Man sagt von ihr, daß sie immun gegen alle Arten von Krankheiten ist.« Kaylin war zu krank und zu geschwächt, um die Lüge zu erkennen. Sie wollte Hilfe, und ihr war alles recht, was sie retten konnte. * »Wie heißt du?« fragte Berylla den Roboter. »Antrean 4089«, antwortete die Maschine mit angenehm modulierter Stimme. »Oho, dann gehörst du einer besonders erfolgreichen Generation an.« »Das ist keineswegs übertrieben.« Der Roboter war sichtlich geschmeichelt. Einladend streckte die Heilerin die rechte Hand aus. »Willst du nicht näherkommen?« fragte sie freundlich. Ihr fiel ein
Halbbuhrlo auf, der am Ende des Ganges stand und sie anstarrte, als habe sie ihn vollkommen außer Fassung gebracht. Sie blickte kurz zu ihm hinüber und erkannte, daß er als Patient gekommen war. Seine Hände waren mit entzündeten Narben bedeckt. Dann wandte sie sich dem Roboter wieder zu, der langsam auf sie zuschwebte. Sie trat zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Habt ein wenig Geduld«, bat sie ihre Patienten. »Es wird sicherlich nicht lange dauern, und ich hoffe, daß dieses Gespräch mit Antrean 4089 für uns alle wichtig ist.« Keiner der Wartenden protestierte. Sie wußten, daß Berylla niemanden von ihnen benachteiligen wollte. Die Heilerin setzte sich hinter ihren Arbeitstisch, als sich die Tür hinter ihr und dem Roboter geschlossen hatte. »Du hast sicherlich festgestellt, daß unter meinen Patienten besonders viele Halbbuhrlos sind«, eröffnete sie das Gespräch. Sie zögerte nachdenklich und fügte dann hinzu: »Ich gehe davon aus, daß du weißt, was Buhrlos und Halbbuhrlos sind.« »Richtig«, erwiderte der Roboter. »Ich bin informiert.« »Die Halbbuhrlos haben fast alle große psychische Probleme und dementsprechend zahlreiche psychosomatische Schwierigkeiten. Von der SOLAG werden sie als überflüssig eingestuft, was sie nicht sind. Sie werden verachtet und mitunter verfolgt. Dabei gibt es unter ihnen auffallend viele Individuen mit hohem Intelligenzgrad und einem ausgeprägten Bedürfnis nach sinnvoller Aktivität. Versuchen sie jedoch, sich an dieser oder jener Arbeit zu beteiligen, dann stoßen sie auf Ablehnung oder Spott, denn man zählt sie gefühlsmäßig eben eher zu den Buhrlos als zu den nicht‐ modifizierten Solanern. Kannst du mir folgen?« »Allerdings«, antwortete der Roboter von Mausefalle VII. »Mir ist einiges davon bekannt.« »Von den Buhrlos weiß man, daß sie nur wenig Verständnis für technische Vorgänge haben. Dadurch ergeben sich eine Reihe von Problemen. Die echten Buhrlos können und wollen nicht verstehen,
daß die Halbbuhrlos ihnen in dieser Hinsicht überlegen sind. Sie begegnen ihnen meistens mit Mitleid, aber das ist auch nicht unbedingt das, was diese benötigen.« »Was kann ich dazu tun?« erkundigte sich der Automat. »Deine Aufgabe ist die Demontage?« »Du sagst es.« Berylla lächelte flüchtig. »Du mußt deine Aufgabe natürlich erfüllen. Das ist selbstverständlich. Doch wie du vorgehst, das bleibt dir überlassen, schließlich bist du eine eigenständige Persönlichkeit.« »Das will ich meinen.« »Wir könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.« »Wie bitte? Ich verstehe dich nicht. Ich habe nicht den Auftrag, irgend jemanden zu schlagen.« Berylla lachte. »Verzeih«, bat sie. »Das war eine Formulierung aus alter, fast vergessener Zeit. Wenn ich ehrlich sein soll, dann weiß ich selbst nicht, was eine Fliege ist. Es muß so etwas wie ein Problem sein.« »Du meinst also, wir könnten zwei Probleme zugleich mit einer Maßnahme aus der Welt schaffen.« »Genau das. Ich benötige für meine Patienten Schleusen und Direktausgänge in den Weltraum, sowie Vakuumkammern, in denen sich Buhrlos und möglicherweise auch Halbbuhrlos aufhalten können.« Sie setzte dem Roboter auseinander, aus welchen Gründen derartige Einrichtungen für ihre Patienten wichtig waren, die sonst keinen Zugang zum Weltraum hatten. »Das kann ich nicht allein entscheiden«, entgegnete Antrean 4089. »Ich muß mich mit anderen beraten.« Berylla hatte nichts anderes erwartet. Sie wäre überrascht gewesen, wenn der Roboter sofort einverstanden gewesen wäre. Dann hätte sie Winkelzüge befürchtet, die ihr zum Nachteil gereichen mußten. Diese Haltung des Roboters aber entsprach genau ihren Vorstellungen. Sie rechnete damit, daß der Automat
nach einiger Zeit mit mehreren anderen zurückkehren und das Gespräch erneut mit ihr aufnehmen würde. Danach erst konnte sich zeigen, ob sie ihren Willen durchsetzen würde. Sie zweifelte jedoch nicht daran, daß sie auch bei den Besuchern von Mausefalle VII Erfolg haben würde. Schweigend schwebte die Maschine aus dem Behandlungsraum. Die Heilerin folgte ihr, um sich nun ihren Patienten zuzuwenden. Sie sah, daß der Halbbuhrlo mit den entzündeten Narben an den Händen noch immer am Ende der Reihe der wartenden Kranken wartete. Dieser Mann berührte sie seltsam, ohne daß sie sich erklären konnte, warum das so war. Flüchtig überlegte sie gar, ob sie ihn vorziehen sollte, doch dann erhob sich Aisha, eine Frau, die sie schon seit längerer Zeit in Behandlung hatte, und die dringender Hilfe benötigte als jeder andere Patient. Sie wandte sich ihr zu und bat sie zu sich ins Behandlungszimmer. Sie fühlte sich innerlich befreit. Endlich glaubte sie, eine der Hauptursachen der Beschwerden ihrer Patienten beheben zu können. Dieses Mal setzte sie den Hebel nicht erst an, wenn die Krankheit da war und bereits ihre Schäden hinterlassen hatte. Wenn Antrean 4089 ihre Erwartungen erfüllte, würde sie verhindern, daß die Krankheiten überhaupt erst entstanden. Während sie zu ihrem Arbeitsplatz ging, überlegte sie, was die Schiffsführung tun würde, wenn die Roboter in ihrem Sinn zu arbeiten begannen. Überhaupt nichts! antwortete sie sich selbst. Sie unternimmt jetzt nichts, um die Demontageroboter aufzuhalten, und sie wird tatenlos bleiben. Sie war sich dessen bewußt, daß sie nicht ganz gerecht war. Die Magniden hatten versucht, die Demontageroboter abzuwehren, aber es war ihnen nicht gelungen. Das wußte sie recht wohl. *
Kannar Gash wurde immer unsicherer, je länger er wartete. Die Reihe der Patienten vor ihm schien kein Ende zu nehmen. Er hörte wie die anderen über Berylla sprachen, und er bemerkte, daß ausnahmslos alle Geschenke für die Heilerin dabei hatten. Oft waren es nur Kleinigkeiten, die sie mitbrachten, aber niemand kam ohne eine Gabe. Nur seine Hände waren leer. Kannar Gash steigerte sich in die Vorstellung hinein, daß Berylla ihn abweisen würde oder sich doch zumindest bei seiner Behandlung nicht die Mühe geben würde wie bei den anderen Kranken. So geht es nicht, dachte er. Cor Colk hatte Recht. Wenn ich ihr ohnehin etwas schenken will, dann kann ich es auch gleich mitbringen. Wozu soll ich mir eine Blöße geben? Er erhob sich, als nur noch vier Patienten vor ihm waren, und stahl sich davon, obwohl er weder wußte, wo das Depot war, noch wie er dort eindringen sollte. Vielleicht weiß Vater es? Er blieb nachdenklich an einem Verteiler stehen, von dem fünf Gänge abzweigten. Einer von ihnen führte zu einem aufwärts gepolten Antigravschacht. Der Gedanke an seinen Vater ließ schmerzliche Gefühle in ihm aufkommen. Gash erinnerte sich nur zu gut an ihre letzte Begegnung. Sein Vater, ein Buhrlo, hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihn nicht mehr sehen wollte. Er schämte sich für ihn, weil er ein Halbbuhrlo, also in den Augen seines Vaters eine Mißgeburt war. Seine Mutter lebte nicht mehr. Sie war ihm Weltraum verunglückt. Zu ihr hatte er ein gutes Verhältnis gehabt. Nie hatte sie ihn spüren lassen, daß er nur ein Halbbuhrlo war und ihm daher vieles verschlossen bleiben mußte, was für sie selbstverständlich war. Sein Vater war ganz anders.
Er versuchte zu verdrängen, daß er einen Halbbuhrlo gezeugt hatte. Er verleugnete seinen Sohn, weil er dessen Existenz als Beweis eigener Schwäche auslegte, und er wollte nicht, daß andere Buhrlos davon erfuhren. Kannar Gash wußte sich jedoch nicht mehr zu helfen. Er brauchte dringend ärztliche Hilfe. Wie aber sollte er dazu kommen, wenn er der Heilerin nicht etwas mitbrachte, was für sie interessant war? Es schien keinen Ausweg zu geben. Gash schwebte im Antigravschacht nach oben, bis er einen Ausgang erreichte, in dem ein alter Buhrlo kauerte. Der Alte trug einen Weltraumanzug, der seinen Körper vollkommen umschloß und nur den Kopf frei ließ. Offenbar war seine Glashaut großflächig durchlässig geworden, so daß er diesen Anzug benötigte, um auch weiterhin in den Weltraum hinaustreten zu können. »Ich muß zu meinem Vater«, sagte Kannar Gash. Die Erregung und das Gefühl einer grenzenlosen Unterlegenheit übermannte ihn, so daß er kaum noch sprechen konnte. Der Alte lächelte boshaft. »Geh nur«, forderte er ihn auf. »Dein Vater wird sich freuen, dich zu sehen.« Kannar Gash zuckte zusammen. Er verstand sehr wohl, wie diese Worte gemeint waren. Der greise Buhrlo war sicher, daß er seinem Vater nicht willkommen war. Er mochte diesen nicht und wollte ihm dadurch eins auswischen, daß er den ungeliebten Sohn zu ihm schickte. »Wo ist er?« fragte der Halbbuhrlo. Der Alte wies ihm den Weg, und Minuten später betrat Kannar Gash einen abgedunkelten Raum, in dem ein hochgewachsener, ungemein schlank wirkender Mann an einem Bildcomputer mit Texten experimentierte. »Vater.« Astran Gash der sich nicht hatte ablenken lassen, als die Tür sich öffnete, fuhr herum. Unwillig stand er auf.
»Was fällt dir ein? Wer hat dir erlaubt, dich hier sehen zu lassen?« Es schien, als wolle er sich auf seinen Sohn stürzen, um ihn zu ohrfeigen. Seine Hände bebten. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du hier nichts zu suchen hast? Du bist nicht mein Sohn.« Verletzt senkte Kannar Gash den Kopf. »Bitte«, erwiderte er leise. »Höre mich doch wenigstens an.« »Wozu? Zwischen uns gibt es nichts zu bereden.« »Ich kann nichts dafür, daß du mein Vater bist«, erklärte der Halbbuhrlo. »Mir wäre es viel lieber, wenn ich als Buhrlo auf die Welt gekommen wäre und nicht so, wie ich bin.« »Verschwinde. Ich will nicht, daß die anderen etwas merken.« »Ich möchte nur eine Auskunft.« Astran Gash merkte, daß sein Sohn sich nicht so ohne weiteres hinausweisen lassen würde. Kannar würde nicht gehen, bevor er erhalten hatte, was er haben wollte. Der Buhrlo sah ein, daß er seinen ungeliebten Sohn umso schneller los wurde, je eher er ihm half. »Was willst du?« fragte er. »Heraus damit.« Kannar Gash zeigte seine entzündeten Hände. »Ich muß zur Heilerin«, erläuterte er. »Aber sie wird mich nur behandeln, wenn ich ihr etwas aus dem Depot mitbringe. Ich muß wissen, wo dieser Lagerraum ist und wie ich dort einsteigen kann.« Astran Gash wußte nicht auf Anhieb, was für einen Lagerraum er meinte, verstand dann aber, als Kannar etwas ausführlicher wurde. »Schon gut«, unterbrach er den Redeschwall seines Sohnes. Seine Augen leuchteten auf. »Ich benötige auch etwas aus diesem Depot. Wenn du es mir mitbringst, sage ich dir, wo es ist, und was du tun mußt, damit die Wächter dich nicht bemerken.« »Du kannst dich auf mich verlassen.« Astran Gash setzte sich, nahm eine Zeichenfolie und schrieb seinem Sohn die gewünschten Informationen auf.
* Kaylin stieg gehorsam in den Transportbehälter, den Osfhar ihr zeigte. Fragend blickte sie den Arzt an, doch dieser schien sie nicht zu bemerken. Seine Augen wirkten leer und leblos, so daß es schien, als habe der Mediziner jeglichen Kontakt mit der Welt verloren, in der er lebte. »Osfhar?« fragte sie leise und schüchtern. »Ist dir nicht gut?« Er zuckte zusammen und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Doch, doch«, erwiderte er. »Ich bin ganz in Ordnung.« Er schwankte leicht und setzte rasch einen Fuß zur Seite, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Bist du krank, Osfhar?« »Nein, wirklich nicht. Ich bin nur etwas überarbeitet«, wehrte er sie ab. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Er beugte sich über sie, um sie in den Transportbehälter zu betten. »Du wirst bald gesund sein«, versprach er ihr. Ihr Gesicht entspannte sich, und sie lächelte. »Das hoffe ich.« Er nickte ihr tröstend zu und schloß den Deckel des Behälters. Der Kasten hatte an den Seiten mit Filterfolien versehene Luftschlitze, so daß weder die Gefahr bestand, daß die Kranke darin erstickte, noch daß Krankheitskeime während des Transports austraten. Über Interkom rief der Arzt zwei Ferraten in die Station und befahl ihnen, den Kasten zur Heilerin zu bringen. »Sagt Berylla, daß ein Geschenk darin ist. Sie wird sich darüber freuen.« Nachdem er den beiden Ferraten eingeschärft hatte, daß sie den Kasten auf keinen Fall öffnen durften, schickte er sie hinaus. Der Transportbehälter war mit einem Mikro‐Antigrav versehen, so daß die beiden Rostjäger keine große Mühe mit ihm hatten. Sie schoben ihn auf den Gang hinaus und ließen ihn bis in einen Antigravschacht schweben. Osfhar hatte ihnen befohlen, nicht den direkten Weg zur Heilerin
einzuschlagen, sondern einige Umwege zu machen. Er wollte nicht, daß sich die Spur zu ihm allzu leicht zurückverfolgen ließ, obwohl er sich darüber klar war, daß diese Vorsichtsmaßnahme ernsthaften Nachforschungen nicht standhalten würde. Doch mit derartigen Nachforschungen rechnete er nicht. Er handelte im Auftrag einer Magnidin, wie er meinte, und er glaubte daher, Schwierigkeiten ausschließen zu können. Als er allein war, aktivierte er einen Reinigungsroboter und ließ das Krankenzimmer desinfinzieren, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Dabei kamen ihm Bedenken. Er hatte kein Gegenmittel gegen jenen tückischen Erreger gefunden, der das Leben Kaylins zerstörte. Wenn die Mikroben sich aber in der Praxis der verhaßten Heilerin ungehindert ausbreiten konnten, würde es viele Kranke geben, und diese würden die Krankheit womöglich in alle Bereiche des Schiffes tragen. Auf diese Weise konnten sie zu ihm und den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, zurückkehren. Er stöhnte und preßte gequält die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, was habe ich getan?« Er eilte zur Tür, um die beiden Ferraten aufzuhalten. Plötzlich sah er ganz klar. Er hatte sich geirrt. Er hatte Lyta Kunduran falsch verstanden. Sie konnte ihm nicht den Auftrag zu einem derartigen Anschlag gegeben haben. »Ich bin krank«, erkannte er. Ein starkes Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er blieb an der Tür stehen und stützte sich an der Wand ab, weil er sonst gefallen wäre. – Wieder schien sich seine Umgebung zu verwandeln. Er glaubte, auf dem Boden eines Planeten zu stehen, und er wagte nicht, seine Blicke in die Höhe zu richten. Exotische Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hörte das Plätschern eines Baches, und er beobachtete große Stelzvögel, die mit anmutigen Bewegungen durch das Gras schritten. Wie aus dem Nichts tauchte ein humanoider Bogenschütze auf, kauerte sich unmittelbar neben ihm hinter einen Baumstumpf und spähte zu einem Tier hinüber,
das einem umgestürzten Baumstamm glich, von dem einige verdorrte Äste in die Höhe ragten. Es bewegte sich auf Hunderten von Stummelbeinen voran. Der Bogenschütze stemmte sich langsam hoch, legte einen Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen. Eine Tür ging. Osfhar schreckte auf. Er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Eine brünette Frau kam herein. Er erwartete, daß ihr auffiel, in welch schlechter Verfassung er sich befand, doch sie war so erregt, daß sie nichts bemerkte. »Schnell, Osfhar, Alf. Du mußt ihm helfen.« Der Arzt vergaß, was ihn in den letzten Minuten beschäftigt hatte. »Was ist mit Alf« fragte er. »Esther, so sage doch, was los ist.« »Er sieht so seltsam aus. Er ist krank«, antwortete die junge Frau. Sie war seine Lebensgefährtin, und Alf war ihr gemeinsamer Sohn. Osfhar liebte ihn über alles, und er verfolgte ehrgeizige Pläne mit ihm. Obwohl der Junge erst zwölf Jahre alt war, bereitete er ihn auf eine Karriere vor, die irgendwann einmal in der Zukunft dazu führen sollte, daß er zu den Magniden berufen wurde. Und insgeheim hoffte Osfhar sogar, daß sein Sohn High Sideryt werden würde. »Komm«, rief er und eilte vor der jungen Frau her über einen schmalen Gang, der direkt von der Krankenstation zu den vier Räumen führte, die er mit Esther und seinem Sohn bewohnte. Er kannte Esther als ruhige und besonnene Frau, die nicht so leicht außer Fassung zu bringen war. Da sie sich jetzt so erregt zeigte, wußte er, daß sein Sohn ernsthaft erkrankt war. »Es kam ganz plötzlich«, berichtete sie atemlos, während sie ihm folgte. »Eben noch hatte er an seinem positronischen Schreibwerk gearbeitet, und dann kippte er einfach um. Er veränderte sich von einer Sekunde zur anderen. Er sprach mit mir und wollte mir etwas Technisches erklären, obwohl er doch weiß, daß ich davon nichts verstehe, und in den nächsten Sekunden lag er auf dem Boden.«
Osfhar hörte kaum auf das, was sie sagte. »Hast du einen Medo‐Roboter gerufen?« »Nein. Daran habe ich nicht gedacht. Du kannst ja auch viel besser helfen.« »Wollen wir es hoffen.« Er betrat die Wohnung und eilte sogleich in das Zimmer Alfs. Sein Sohn ruhte auf einer Liege. Das Gesicht des Jungen sah marmoriert aus. Rote und schwarze Linien zogen sich über Stirn, Wangen, Nase und Kinn. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Der Mund stand offen, und die Lippen hatten sich eigenartig weit über die Zähne zurückgezogen, so daß es schien, als lache der Kranke. Bestürzt blieb Osfhar stehen. Er hatte das Gefühl, daß sich ein unsichtbarer Ring um seine Brust spannte und ihm den Atem nahm. »Was ist das?« stammelte Esther erschrocken. »Wie sieht der Junge denn aus? Kennst du diese Krankheit?« Osfhar wollte antworten, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen. Er dachte nur noch an Kaylin, die auf dem Wege zur Heilerin Berylla war und die dafür sorgen würde, daß sich die Krankheitskeime in der ganzen SOL ausbreiten würden. 4. Cortman Stull, der Assistent Beryllas, betrat den Behandlungsraum, in dem die Heilerin sich gerade mit einem Kind befaßte, das unter Ausschlag litt. Es war ein Halbbuhrlo, dessen Oberkörper mit dicken Narben bedeckt war. »Die Roboter sind da«, berichtete der Alte. »Willst du sie warten lassen?« »Wir sind fertig«, erwiderte die Heilerin und lächelte dem Jungen
freundlich zu. »Glücklicherweise haben wir es nur mit einem leichten Fall zu tun.« Der jugendliche Patient kleidete sich rasch an, bedankte sich bei Berylla und eilte hinaus. »Dieses Mal sind es sieben Roboter«, berichtete Cortman Stull, als er mit der jungen Frau allein war. »Du wirst Schwierigkeiten mit ihnen bekommen.« »Warten wir es erst einmal ab«, schlug sie gelassen vor. »Du solltest nicht immer so pessimistisch sein.« Der Assistent ging überwiesen Vorwurf hinweg, als sei er nicht gefallen, und öffnete die Tür. Cortman Stull wünschte sich, er würde nicht immer alles so düster sehen, aber er konnte nicht anders. Er bewunderte Berylla wegen ihrer optimistischen Einstellung, obwohl diese ihm oft übertrieben, ja fast leichtfertig vorkam. Meistens erwies sich ihre Haltung als berechtigt, und nur selten wurde sie enttäuscht. Durch die Tür schritten sieben klobig wirkende Roboter herein. Sie hatten eine quadratische Form und waren alle über zwei Meter groß. Sie bewegten sich auf vier kurzen, dicken Beinen voran und hatten vier Arme, die auf halber Höhe aus ihren kasten‐förmigen Körpern hervorragten. Oberhalb der Armansätze befanden sich mehrere Linsen und Antennen, die mit Sensoren versehen waren. Am unteren Rand des Körpers leuchteten farbige Linien, von denen Stull mittlerweile wußte, daß sie als Erkennungsmerkmale dienten. Einer von den Phanos schwebte einige Zentimeter über dem Boden. Seine Beine baumelten bewegungslos herab. Cortman Stull identifizierte ihn mühelos als Antrean 4089, der schon einmal hier gewesen war. An ihn wandte sich Berylla. »Du bist schnell zurückgekommen«, sagte sie freundlich. »Das ist mir lieb, denn das Problem, von dem ich sprach, brennt uns auf den Nägeln.« »Wir haben das Problem nicht ganz verstanden«, erwiderte der
schwebende Roboter. »Buhrlos und Halbbuhrlos haben ein außerordentlich feines Gespür für Gravitation«, erklärte die Heilerin. »Durch die Nähe des Quaders und durch andere Ereignisse der letzten Tage ist es an Bord der SOL zu allerlei Störungen gekommen. Darunter waren auch Veränderungen in dem bordeigenen Gravitationsfeld, das von den Maschinen erzeugt wird. Die Gläsernen und die Halbbuhrlos reagieren empfindlich auf derartige Erscheinungen. Sie werden krank. Vielen kann nur dadurch geholfen werden, daß sie sich ausschleusen und sich aus dem Gravitationsfeld der SOL lösen. Nun läßt die Schiffsführung aber nicht zu, daß sich die Buhrlos ganz nach Belieben ausschleusen. Und sie duldet auch nicht, daß die an Bord herrschende Schwerkraft manipuliert wird. Deshalb benötige ich Schleusen, durch die ich meine Patienten jederzeit nach draußen schicken kann, und ich brauche Kammern, in denen ich die Gravitation nach medizinischen Notwendigkeiten verändern kann.« »Da war noch ein Grund, weshalb die Gläsernen in den Weltraum wollen oder müssen«, erinnerte Antrean 4089 sie. »Die Buhrlohaut wächst ständig. Wenn die Gläsernen nicht hin und wieder in den Weltraum gehen, wo die Haut abgebaut wird, wuchert sie weiter, bis sie zu einem dicken Panzer wird, in dem die Buhrlos gefangen sind. Mit den Narben der Halbbuhrlos ist es oft ähnlich. Auch sie wachsen. Ich habe Vakuumaufsätze entwickelt, um die Narben behandeln zu können, aber sie sind nur ein kläglicher Ersatz für den Weltraum. Natürlich kann ich die Halbbuhrlos nicht einem Vakuum aussetzen. Das würde sie umbringen, da sie keinen durchgehenden Panzer haben. Aber in Schleusen könnte ich vakuumähnliche Zustände schaffen, in denen auch ein Halbbuhrlo für einige Minuten leben kann. Ein Aufenthalt in einer solchen Schleuse wäre eine vollwertige Therapie, mit der ich verhindern kann, daß es zu Krankheiten kommt, und mit der ich bereits entstandene Krankheiten heilen kann.« »Wir verstehen«, erwiderte Antrean 4089. »Gegen die
Einrichtungen solcher Schleusen ist nichts einzuwenden.« Beryllas Augen leuchteten auf. Cortman Stull, der sie beobachtete, bewunderte sie. Sie wickelte die Roboter förmlich ein, dachte er belustigt. Sie wird mit diesen Maschinen ebensogut fertig wie mit den Menschen an Bord. Es war offensichtlich, daß die Roboter von Mausefalle VII der Persönlichkeit der Heilerin und ihrer Ausstrahlung erlagen. Sie waren hier, weil sie den Auftrag hatten, die SOL in ihre Einzelteile zu zerlegen. Daran würde Berylla sie nicht hindern können. Das war auch nicht ihre Aufgabe, sondern die der Schiffsführung. Aber sie würde dafür sorgen, daß die Demontage nach ihren Vorstellungen vollzogen wurde. Das Gespräch dauerte noch einige Minuten. Während dieser Zeit schraubte Berylla ihre Forderungen immer höher und erteilte schließlich klare Anweisungen über die Schleusen und die sich ihnen anschließenden Räume. Sie ging so geschickt und klug mit den denkenden und fühlenden Robotern um, als habe sie schon seit eh und je mit ihnen zu tun gehabt. Sie hat ein einmaliges Gespür dafür, was sie sagen muß, und wie sie es sagen muß, dachte Cortman Stull begeistert. Sie kann buchstäblich jeden um den Finger wickeln, wenn sie will. Sogar den High Sideryt. Erschrocken blickte er die Heilerin an. Der High Sideryt war eine Persönlichkeit für ihn, die irgendwo fern von ihm im Schiff existierte und Macht ausübte. Er war eine anonyme Figur, mit der er nicht viel anfangen konnte, von der er aber wußte, daß sie über allen anderen stand. Auch Berylla kannte den High Sideryt nicht. Sie hatte ihn nie gesehen, und sie war sich seiner Macht nicht bewußt. Sie hatte sie nie am eigenen Leib gespürt. Warum sollte sie sich mit dem High Sideryt auseinandersetzen? fragte der Alte sich. Ihr Reich ist hier, seines ist irgendwo im Schiff
und geht uns nichts an. Er vermutete, daß der High Sideryt eine derart mächtige Persönlichkeit war, daß selbst eine Berylla an ihm scheitern mußte. Hoffentlich mischte er sich nicht ein, dachte er. Wenn die Roboter anfangen, das Schiff zu verändern, könnte er sich herausgefordert fühlen. Vielleicht kommt er mit seinen Leuten hierher und verwandelt unsere Praxis in ein Schlachtfeld. Das wäre unser Ende. Berylla einigte sich mit den Robotern darauf, daß nicht nur Schleusen gebaut wurden, durch die die Buhrlos jederzeit in den Weltraum überwechseln konnten, sondern auch Wohnkammern, in denen vakuumähnliche Zustände erreicht wurden und in denen die Gravitation nach Belieben verändert werden konnte. Wohnbereiche sollten entstehen, die zwar keine Atemluft enthielten, und in denen häufig auch Schwerelosigkeit herrschte, die aber nicht gleichbedeutend mit dem freien Raum waren. »Die Buhrlos und Halbbuhrlos werden von dieser Lösung begeistert sein«, sagte Cortman Stull, nachdem die Roboter abgezogen waren. »Die Gläsernen werden es genießen, frei und unbekümmert aus der Geborgenheit der SOL in die Freiheit des Alls hinausgehen zu können, ohne von den Ferraten kontrolliert zu werden.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte sie. Es klopfte an der Tür. Der Assistent öffnete. Zwei Ferraten kamen in den Behandlungsraum. »Du bist Berylla?« fragte einer von ihnen. »Die bin ich.« »Wir haben einen Kasten, den wir dir übergeben sollen«, erklärte der Rostjäger. »Draußen steht er.« »Einen Kasten? Von wem?« fragte die Heilerin. »Von einem Freund. Es sind Geschenke darin. Wenn du ihn öffnest, wirst du schon wissen, wer ihn dir geschickt hat.« Die beiden Ferraten grüßten höflich und verabschiedeten sich.
Berylla blickte ihnen nachdenklich nach. »Ich bringe den Kasten weg. In den Konverter damit«, schlug Cortman Stull vor. »Öffne ihn nicht. Sieh ihn dir gar nicht erst an. Ich spüre, daß etwas faul mit ihm ist.« Berylla lächelte. »Du alter Pessimist«, erwiderte sie. »Geschenke wirft man nicht so ohne weiteres weg. Ich will zumindest wissen, was man mir da verehren will, und von wem dieses Präsent kommt.« Sie verließ den Behandlungsraum, um sich mit dem geheimnisvollen Kasten zu befassen. * Zu dieser Zeit stieg Kannar Gash in einen stillgelegten Antigravschacht, in dem allerlei Schmutz und Abfälle schwebten. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit, und es beruhigte ihn auch nicht sonderlich, daß er eine Taschenlampe hatte, mit der er den Schacht ausleuchten konnte. Er hatte das Gefühl, daß aus vielen dunklen Öffnungen fremde, angriffslustige Lebewesen hervorbrechen und sich auf ihn stürzen könnten. Angenehm aber war ihm, schwerelos durch den Schacht zu gleiten. Als er sich etwa fünfzig Meter weit vorgearbeitet hatte, überwand er seine Angstgefühle, ohne sich allerdings völlig aus einer gewissen Beklemmung lösen zu können. Er dachte daran, daß er einige Dinge aus dem Depot brauchte, und daß dies die einzige Möglichkeit war, sie daraus hervorzuholen. Als er annähernd hundert Meter weit gekommen war, erreichte er eine große Öffnung. Eine Explosion schien die Schachtwand aufgerissen zu haben. Lose Kabelenden ragten starr über die gezackten Ränder der Wand hinaus. Der Halbbuhrlo hielt sich an einer Strebe fest und richtete den
Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf das Kabelgewirr und eine Reihe von Chips, von denen sich einige teilweise gelöst hatten. Die Schäden waren weitaus geringer, als er auf den ersten Blick vermutet hatte, und unwillkürlich reizte es ihn, sie zu beheben. Wer weiß, was dann wieder in Ordnung kommt? dachte er. Könnte es nicht sein, daß dieser Antigravschacht wieder normal funktioniert, oder daß die Textilautomaten wieder beginnen zu arbeiten? Er malte sich eine Reihe von anderen Möglichkeiten aus, während er Chip auf Chip wieder in die richtige Position brachte. Dazu brauchte er sie nur leicht anzudrücken, so daß die fadenfeinen Metallfüßchen in die Steckkontakte glitten. Kannar Gash war kein Techniker, verstand jedoch von Positronik weitaus mehr, als die meisten anderen Halbbuhrlos. Er arbeitete etwa eine Stunde an dem Schaltkasten, dann hatte er das Gefühl, alles getan zu haben was notwendig war, um alle Schäden zu beheben. Mit einer gewissen Enttäuschung registrierte er, daß sich danach nichts veränderte. Er gestand sich ein, daß er mit irgendeinem sichtbaren Effekt gerechnet hatte. Zumindest das Licht hätte angehen können, dachte er, und für einen Moment war er versucht, die positronischen Schaltungen wieder zu zerstören. Doch dann wurde ihm bewußt, daß die Auswirkungen seiner Arbeit, an ganz anderer Stelle bemerkbar geworden sein konnten. Vielleicht freut sich irgendein Knilch darüber, daß er jetzt wieder heiß duschen kann oder daß ihm ein plötzlich wieder aktiv gewordener Roboter die Zähne putzt, überlegte er. Es wäre schade, ihm den Spaß zu verderben. Er erinnerte sich daran, daß er Wichtigeres zu tun hatte, als Reparaturen durchzuführen, stieß sich ab und glitt weiter durch den Schacht. Dabei wurde er sich dessen bewußt, daß er die erste sich ihm bietende Gelegenheit genutzt hatte, Zeit zu vergeuden. Er schreckte vor dem Einbruch in das Depot zurück, weil er unsicher
war und nicht wußte, ob der gefaßte Plan sich realisieren ließ. Deine Chancen werden auch nicht besser, wenn du länger wartest, sagte er sich. Du mußt es versuchen. Du hast keine andere Wahl. Minuten später hatte er die abschraubbare Platte erreicht, von der sein Vater gesprochen hatte. Jetzt zögerte er nicht mehr, sondern begann augenblicklich mit der Arbeit. Die Schrauben ließen sich mühelos herausdrehen, und als er die Platte zur Seite hob, lag die Öffnung eines Rohres vor ihm, das im rechten Winkel vom Antigravschacht wegführte. Eine Eckverbindung, die früher an dieser Stelle gewesen war, bestand nicht mehr. Irgend jemand hatte sie herausgeschnitten. Staub und Schmutz schwebten in dem Rohr, dessen Durchmesser so groß war, daß der Halbbuhrlo hindurchkriechen konnte. Er schaltete die Taschenlampe aus, weil sein Vater ihn vor lichtempfindlichen Sensoren in dem Rohr gewarnt hatte, die Alarm auslösen und ihn verraten würden, wenn er sich nicht bei völliger Dunkelheit voranbewegte. Die Angst war wieder da, und er fühlte sich allein wie nie zuvor, als er durch das Rohr kroch. Er glaubte, flüsternde Stimmen zu hören, und er meinte, die körperliche Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Immer wieder sagte er, daß er sich täuschte. »Dieses Rohr bildet seit Jahren den einzigen Zugang zum Depot«, hatte sein Vater gesagt. »Nur wenige wissen davon, und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß niemand mehr aus den Lagerräumen nimmt, als er in zwei Händen halten kann.« Offenbar hatten sich alle daran gehalten, die bisher im Depot gewesen waren, denn bis jetzt hatte keiner der Wächter bemerkt, daß hin und wieder etwas von den Schätzen gestohlen wurde. Kannar Gash zuckte erschrocken zusammen, als seine Finger ein Gitter berührten. In den ersten Sekunden fürchtete er, einen Alarm ausgelöst und sich verraten zu haben. Dann fiel ihm ein, was sein Vater über dieses Hindernis gesagt
hatte. Vorsichtig schob er seine Finger durch die Maschen und drehte das Gitter nach rechts. Es löste sich und ließ sich zur Seite schieben. Sekunden darauf erreichte Gash eine von innen verriegelte Luke. Er stemmte drei Stahlstäbe in die Höhe und hob sie dann aus ihren Verankerungen. Vor ihm lag einer der insgesamt vier Lagerräume. Leuchtelemente an der Decke spendeten spärliches Licht. Einer der Pyloren, die das Depot bewachten, war etwa fünfzig Meter von Gash entfernt. Er verließ den Raum gerade, und er schien nicht gehört zu haben, daß es jemand wagte, hier einzudringen. Gash glaubte, das Klirren der Stahlriegel noch jetzt zu hören. Hatten ihn die Geräusche wirklich nicht verraten? Oder tat der Wächter nur so, als sei ihm nichts aufgefallen, um ihn danach um so sicherer fangen zu können? Lautlos ließ er sich auf den Boden der Halle hinabgleiten, die etwa fünfzig Meter lang und zwanzig Meter breit war. Auf Regalreihen, die bis zur Decke aufstiegen, lagerten die Schätze aus allen Teilen der Galaxis. Kannar Gash ging an ihnen entlang und beleuchtete sie mit seiner Taschenlampe. Er sah Skulpturen, Waffen, keramische Gefäße, fremdartige Maschinen unterschiedlicher Größe, konservierte Pflanzen, Masken, Kleidungsstücke und zahllose andere Dinge, die ihm so fremd waren, daß er sie nicht identifizieren konnte. Medikamente bemerkte er nicht. Sie mußten in einer der anderen Hallen sein. Er wußte auch nicht, welches er hätte nehmen sollen, um der Heilerin einen Dienst erweisen zu können. Spontan entschied er sich nach einiger Suche für ein kleines versiegeltes Metallgefäß, das ihm ungewöhnlich schwer vorkam. Für seinen Vater nahm er einen Flammendolch mit. Er betrachtete beide Dinge im Licht seiner Taschenlampe und stellte fest, daß Gemeinsamkeiten zwischen ihnen bestanden. So hatten beide das gleiche Muster, das sich wie eine Kette von Käfern um den Fuß des Gefäßes und um den Griff der Waffe zog. Beide schienen aus dem gleichen, silbern
schimmernden Metall zu bestehen, und beide waren mit einem roten Siegel versehen, das es bei anderen der eingelagerten Gegenstände nicht gab. Kannar Gash steckte seine Beute ein und verließ die Halle auf dem gleichen Wege, auf dem er hereingekommen war, wobei er seine Spuren sorgfältig verwischte. * Osfhar beugte sich über seinen kranken Sohn. Er ist mit Kaylin nicht in Berührung gekommen, dachte er verzweifelt. Bei ihr kann er sich gar nicht angesteckt haben. »Was ist mit ihm?« fragte Esther erneut »Warum sagst du nichts?« In diesen Sekunden fragte Osfhar sich, ob er wirklich alles für Kaylin getan hatte, was in seiner Macht stand. »Einen Medo‐Roboter«, befahl er. »Ich muß Blutanalysen machen. Ich werde den Erreger finden. Darauf kannst du dich verlassen. Alf wird wieder gesund.« Esther eilte hinaus, und Sekunden später rollte ein kastenförmiger Roboter in den Raum. Er wandte sich augenblicklich dem Kranken zu und begann mit den erforderlichen Untersuchungen. Während die Maschine in Sekunden Dutzende von verschiedenen Blutanalysen durchführte, konnte der Arzt nur wenig tun. Erst als die Maschine ihre Arbeit beendet hatte und die Ergebnisse auswarf, wurde Osfhar tätig. Esther beobachtete ihn und ihren Sohn, und ihr entging nicht, daß sich das Aussehen Alfs zusehends verschlechterte. »Woher kommt diese Krankheit?« fragte sie. »Haben die Roboter sie von Mausfalle VII eingeschleppt?« »Das ist nicht auszuschließen«, er, widerte der Mediziner, »aber wenig wahrscheinlich. Wie ich gehört habe, sind einige Besatzungsmitglieder auf dem Planeten der Roboter gewesen. Sie
hätten ebenfalls krank sein müssen.« »Vielleicht sind sie es, und du weißt es nur noch nicht?« Er blickte überrascht auf. Daran hatte er noch nicht gedacht. »Das läßt sich schnell klären. Warte hier bei Alf. Vielleicht wacht er auf. Dann ist es gut, wenn du bei ihm bist!« Er ließ Esther mit dem Kranken allein und forderte vom Nebenraum aus Informationen über neue Krankheitsfälle an Bord an. Gleichzeitig meldete er, daß er einen weiteren Patienten hatte, dessen Haut marmoriert aussah. »Solche Symptome sind nur bei einigen von meinen Patienten aufgetreten«, meldete er wenig später, als er zu seiner Lebensgefährtin zurückkehrte. »Und was weißt du von ihnen? Hast du den Erreger gefunden? Wie willst du ihn bekämpfen? Welche Medikamente hast du gegeben?« Er antwortete nicht. Was ist nur aus mir geworden? dachte er. Ich habe Kaylin und die anderen nicht so behandelt, wie ich es eigentlich hätte tun müssen. Sie waren mir gleichgültig, weil ich nicht ah eine wirklich schwerwiegende Erkrankung geglaubt habe. Mit ein bißchen mehr Engagement hätte ich die Krankheitsursachen vielleicht schon entdeckt. Doch ich habe mich auf einen Mordanschlag eingelassen. Ich habe meine Patienten vernachlässigt, und dabei habe ich mich anderen Ärzten sogar noch überlegen gefühlt. Esther griff nach seiner Hand. »Was ist mit dir, Lieber?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht gut?« »Ich bin in Ordnung«, schwindelte er. »Mir fehlt nichts. Ich bin nur etwas müde.« »Vielleicht solltest du Kollegen hinzurufen?« Abweisend schüttelte er den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich schaffe es allein. Ich lasse mir von niemandem ins Geschäft pfuschen. Immerhin geht es um Alf, und da ich die Qualifikation meiner Kollegen kenne, verzichte ich lieber
auf ihre Mitarbeit. Sie wäre mir zu gefährlich für den Jungen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Laß mich jetzt, bitte, allein. Ich muß arbeiten.« Als sie hinausgehen wollte, öffnete sich die Tür, und ein breitschultriger Ahlnate kam herein. Sein Gesicht sah marmoriert aus, und auch sonst zeigte er die gleichen Krankheitssymptome wie Alf. Der Mann trat zwei Schritte auf Esther zu, dann stürzte er wie vom Blitz gefällt vor ihr auf den Boden. Die junge Frau schrie unwillkürlich auf. Sie kniete bei dem Kranken nieder. Durch die Tür kam eine Ahlnatin herein, und auch sie brach zusammen und blieb auf dem Boden liegen. »Was ist mit mir?« fragte sie röchelnd. »Es ist ganz plötzlich gekommen. Vor einer Minute.« Ihr Gesicht war marmoriert, und ihre Lippen zogen sich weit über die Zähne zurück, so daß Esther den Eindruck hatte, sie lache. Fassungslos blickte sie Osfhar an. »Eine Seuche«, rief sie. »Du mußt Alarm schlagen. Irgend jemand hat eine Seuche an Bord geschleppt.« Sie richtete sich nachdenklich auf. »Irgend jemand? Nein, Osfhar. Niemand aus diesem Teil des Schiffes ist auf Mausefalle VII gewesen. Es können nur die Roboter gewesen sein.« Der Arzt ließ sich auf einen Hocker sinken. Er spürte, daß er nicht die Kraft hatte, sich der Massenerkrankung entgegenzustellen. Schuldgefühle drohten ihn zu erdrücken. Ich habe die Seuche nicht energisch bekämpft und obendrein noch Kaylin quer durch das Schiff geschickt, um Berylla zu infizieren. Damit habe ich dafür gesorgt, daß die Krankheit sich überall ausbreiten kann. Ich habe nicht das Recht, mich noch länger Arzt zu nennen, dachte er. »So unternimm doch etwas«, schrie Esther in panischer Angst.
»Warum sitzt du herum? Willst du, daß Alf stirbt?« 5. Berylla blickte erstaunt auf den schwarzen Kasten, den die Ferraten ihr ins Vorzimmer ihrer Praxis gestellt hatten. »Das sieht aus wie ein Sarg«, bemerkte Cortman Stull skeptisch. »Berylla, hier stimmt doch etwas nicht. Warum sind die beiden verschwunden? Die müssen doch einen Grund dazu gehabt haben. Oder nicht?« Die Augen des Alten funkelten erregt, und die sonst so schlaffen Gesichtszüge strafften sich. Die Heilerin tat seine Bedenken dieses Mal nicht so ohne weiteres ab. Sie beugte sich über den Kasten und legte ihre Hände auf den glasartigen Deckel. Dabei bemerkte sie die seitlichen Schlitze. Argwöhnisch ließ sie sich in die Hocke sinken und untersuchte sie. »Sie sehen aus wie Belüftungsschlitze«, stellte sie verwundert fest. »Sie sind mit einer Filterfolie versehen.« »Also hast du noch mehr Grund, vorsichtig zu sein.« Sie richtete sich auf. »Es muß ein Patient darin sein, Cortman.« Abermals legte sie ihre Hände auf den Deckel des Kastens. Sie spreizte alle Finger weit ab, schloß die Augen und konzentrierte sich. Einige Sekunden lang spürte sie überhaupt nichts. Dann aber begannen ihre Fingerspitzen leicht und rhythmisch zu prickeln. Als ob ich einen Herzschlag fühle, dachte sie, und jetzt zweifelte sie nicht mehr daran, daß wirklich jemand in dem Behälter lag. Sie kniete sich hin, ohne die Hände vom Deckel zurückzuziehen, und drückte nun auch ihre Stirn gegen das glasartige Material. Im gleichen Augenblick glaubte sie, hindurchsehen zu können. »Sie stirbt«, flüsterte sie. »Es ist zu spät.« Sie verharrte noch einige Sekunden lang in dieser angespannten
Haltung, dann richtete sie sich auf. Cortman Stull fiel auf, daß sie blaß geworden war. »Man hat mir eine Sterbende geschickt, Cortman. Weißt du, wozu? Will man mich ruinieren? Oder will mir jemand etwas anhängen?« »In den Konverter mit diesem Teufelsgeschenk«, riet der Freund. »Halte dich nicht damit auf. Wenn da tatsächlich eine Tote darin liegt, dann ist sie an einer ansteckenden Krankheit gestorben. Man hätte sie nicht auf diese Weise transportiert, wenn es anders wäre.« Die Heilerin ging zu einem Sessel, um sich zu setzen. Sie fühlte sich schwach und ausgebrannt. Etwas Derartiges war ihr noch nie passiert, und sie konnte sich nicht so ohne weiteres damit abfinden, daß eine Tote in ihrer Praxis war, in der noch nie zuvor jemand sein Leben ausgehaucht hatte. »Warum hat man sie nicht früher zu mir gebracht? Warum nur?« fragte sie. »Vielleicht hätte ich ihr helfen können.« Sie konnte sich den Vorfall nicht erklären. Auf das tatsächliche Motiv kam sie nicht. Sie wußte, daß sie von dem Neid und der Eifersucht der Ärzte verfolgt wurde, doch ein Anschlag auf sie von Seiten eines Mediziners war so abwegig, daß sie keinen Gedanken daran verschwendete. »Wir müssen etwas tun«, mahnte Cortman Stull, nachdem fast zehn Minuten vergangen waren, ohne daß die Heilerin etwas gesagt hatte. Während dieser Zeit hatte sie mit nachdenklich gesenktem Kopf im Sessel gesessen und sich nicht bewegt. »Wir werden den Behälter öffnen«, erwiderte sie jetzt und erhob sich. »Dazu treffen wir alle notwendigen Vorkehrungen. Ich halte es für möglich, daß die Kranke tatsächlich eine ansteckende Krankheit hatte. Für diesen Fall müssen wir verhindern, daß sich die Erreger ausbreiten.« Stull nickte nur. Er eilte aus dem Raum und kehrte kurz darauf mit mehreren Metallkästchen zurück. Diese enthielten kleine Energiefeldprojektoren. Er baute sie um den Transportbehälter herum auf und hob diesen mit Hilfe eines Antigravs an, so daß er
schließlich etwa einen Meter über dem Boden schwebte und von einem transparenten Energiefeld umhüllt wurde. Mit einem Traktorstrahl öffnete er den Deckel des Behälters und führte ihn unter den Kasten, wo er das Blickfeld auf die Tote nicht einengte. Mit steinerner Miene beugte Berylla sich so weit vor, daß sie die Frau sehen konnte, deren Gesicht aus Marmor zu bestehen schien. Sie war tot. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. »Unglaublich«, stammelte Cortman Stull. »Ist dir klar, was passiert wäre, wenn wir nicht vorsichtig gewesen wären? Ich wette, daß wir uns infiziert hätten.« Berylla kehrte zu dem Sessel zurück, in dem sie gesessen hatte. »Ich kann nichts tun«, erklärte sie. »Bei derartigen Erkrankungen, bei denen mit großer Sicherheit exotische Erreger im Spiel sind, müssen die Ärzte handeln. Das ist eine Aufgabe für die Mikrobiologen.« »Wahrscheinlich gibt es die gar nicht mehr an Bord. Ich weiß, daß früher einmal einer in der SOL war, aber der muß längst tot sein. Wir müssen einen Medo‐Roboter rufen.« Sie schürzte ablehnend die Lippen. »Für mich steht fest, daß diese Frau längst gründlich untersucht worden ist. Wir können keine neuen Erkenntnisse gewinnen.« »Was hast du vor?« »Wir lassen die Leiche verschwinden.« »Das geht nicht. Ich habe dir das zwar vorhin empfohlen, aber jetzt glaube ich nicht mehr, daß wir das Problem so lösen können.« Stull schloß den Deckel wieder und schleuste dann ein Desinfektionsmittel durch eine Strukturlücke im Energieschirm ein. Damit säuberte er das Äußere des Behälters und die Luft in dem kugelförmigen Energiefeld von Mikroorganismen. »Ich schlage vor, daß du dem High Sideryt meldest, was hier geschehen ist.« »Das könnte möglicherweise genau das sein, was meine Gegner von mir erwarten.« Die Heilerin seufzte resignierend. »Ach,
Cortman, merkst du es denn nicht? Ich sitze in einer Falle. Ich kann tun, was ich will, es wird falsch sein. Gebe ich den Behälter in den Desintegratorschacht, wirft man mir womöglich vor, widerrechtlich eine Tote beseitigt zu haben. Tue ich es nicht, klagt man mich unter Umständen an, weil ich Sicherheit und Leben der Besatzung gefährdet habe. Melde ich, daß eine Tote in meiner Praxis hegt, beschuldigt man mich vielleicht, daß ich mich über die Care‐ Bestimmungen hinweggesetzt und mich mit infektiösen Krankheiten befaßt habe.« Der Alte, der einst der Lehrer der Heilerin gewesen war, dachte kurz nach. Dann änderte er seine Meinung erneut und empfahl ihr: »Du mußt sie verschwinden lassen. Unter allen Umständen. Vorher solltest du aber noch Blut‐ und Gewebeproben von ihr nehmen. Ich werde sie von einem Medo‐Roboter untersuchen lassen und mich selbst danach ebenfalls mit ihnen befassen. Wie du weißt, verstehe ich einiges von Labortechnik, zumal wenn die Automaten schon entsprechende Vorarbeiten geleistet haben.« Berylla sträubte sich noch einige Zeit gegen den Plan, sah dann aber ein, daß sie die Tote aus ihrer Praxis entfernen mußte, wenn sie sich nicht vorwerfen lassen wollte, weitaus mehr getan zu haben, als einer Heilerin wie ihr erlaubt war. Sie nahm Blut‐ und Gewebeproben von der Verstorbenen und überließ Stull dann, alles übrige zu erledigen. Der Alte rief einige Halbbuhrlos herbei, die zum Patientenkreis der Heilerin gehörten, und brachte zusammen mit ihnen den Behälter mit der Toten weg. Berylla wagte noch nicht, aufzuatmen. Irgend jemand hatte sie in heimtückischer Weise angegriffen, und sie war sicher, daß er erneut zuschlagen würde, wenn sich ihm die Möglichkeit dazu bot. Während die Heilerin und Cortman Stull in den folgenden Tagen versuchten, den Erreger der Krankheit zu finden, der zu dem Tod der Frau geführt hatte, vollzogen sich bemerkenswerte Wandlungen in diesem Teil des Schiffes. Die Roboter von Mausefalle VII demontierten nicht nur Teile in
den Außenbezirken der SOL, sondern sie installierten auch Schleusen und schufen Wohnräume für Buhrlos und Halbbuhrlos, so wie sie es mit Berylla besprochen hatten. Diese neuen Einrichtungen wurden begeistert aufgenommen, und fast schlagartig gingen viele psychisch begründete Krankheiten zurück. Die Zahl der Patienten der Heilerin nahm rapide ab, eine Tatsache, die sie erfreute und erleichtert zur Kenntnis nahm. Sie machte sich vorübergehend Sorgen, weil sie fürchtete, die SOLAG könne eingreifen und die Veränderungen rückgängig machen, doch dann teilten ihr die Patienten mit, daß die Demontageroboter die umgebauten Bezirke abschirmten und niemand von der SOLAG durchließen. Cortman Stull meldete ihr voller Begeisterung, daß eine der Algenfarmen plötzlich wieder zu arbeiten begonnen habe. »Fehlt nur noch, daß auch die Messen ihren Betrieb aufnehmen«, schloß er. »Ich halte das nicht für unmöglich.« Er blickte den Halbbuhrlo flüchtig an, der auf dem Stuhl neben dem Arbeitstisch der Heilerin saß. Er hatte stark entzündete Narben an beiden Händen. Auf dem Tisch stand ein kleines, metallenes Gefäß, das dieser Patient Berylla als Geschenk mitgebracht hatte. »Glaubst du, daß die Roboter dafür verantwortlich sind?« fragte sie, während sie einen weißen Puder über die Wunden streute. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, erwiderte der Alte. »Das würde bedeuten, daß die positronische Überwachungs‐ und Organisationsschaltung, nach der wir schon so lange suchen, an der Außenhaut der SOL oder doch zumindest in ihrer Nähe angebracht ist. Fast alle Einrichtungen dieser Art aber befinden sich aus Sicherheitsgründen weiter im Innern des Schiffes.« »Ja. Du hast recht. Vielleicht hat sich die Positronik selbst helfen können.« Der Halbbuhrlo richtete sich ein wenig auf. »Als ich dieses Gefäß dort aus dem Depot geholt habe, bin ich an einer beschädigten Positronik vorbeigekommen«, berichtete er. »Ich
verstehe ein bißchen davon und habe die Chips wieder in die richtige Position gebracht. Könnte es sein, daß die Algenfarm dadurch wieder in Gang gekommen ist?« Er sprach leise und mit stockender Stimme, und er blickte Berylla dabei voller Ehrfurcht an. »Möglich ist alles«, entgegnete Stull in einem Tonfall, der erkennen ließ, daß er dem Patienten nicht glaubte. Er griff nach dem Gefäß, drehte es zwischen den Fingern, um es von allen Seiten zu betrachten. »Hübsch«, lobte Berylla. »Ich möchte wissen, was drin ist.« »Soll ich es öffnen?« fragte der Alte. »Lieber nicht.« Sie nahm ihrem Assistenten das versiegelte Gefäß ab und stellte es auf den Tisch zurück. Dann wandte sie sich Kannar Gash zu. »Lassen wir das. Hier geht es um deine Hände. Ich glaube, daß wir da einiges tun können.« Cortman Stull verstand den Wink. Er verließ den Behandlungsraum, um die Heilerin nicht zu stören. Als er die Tür hinter sich schloß, kam ein blonder, hochgewachsener Mann auf ihn zu. Er hatte ein kantig wirkendes Gesicht mit kalten, eisgrauen Augen und einem fast lippenlosen Mund. Dunkle Ringe umrahmten seine Augen, und tiefe Runen überzogen seine Wangen. Die Zeichen der Erschöpfung waren unübersehbar. Cortman Stull wußte sofort, daß er es mit einer ungewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hatte, obwohl der Mann sich unauffällig kleidete und nichts an seiner dunkelgrauen Kombination auf seine Wertigkeit hindeutete. »Ich muß die Heilerin sprechen«, sagte der Fremde leise. »Sofort.« Der Alte zeigte auf die sieben Halbbuhrlos, die darauf warteten, zu Berylla vorgelassen zu werden. »Wenn du an der Reihe bist, kannst du zu ihr gehen.« »Nein. Es muß sofort sein. Ich bin kein Patient. Ich werde es dir erklären, aber nicht hier, sondern irgendwo, wo uns niemand hört.«
Der Mann sprach schnell und undeutlich, so daß Stull ihn kaum verstehen konnte. »Also gut«, lenkte der Assistent der Heilerin ein. »Komm.« Er führte den Besucher in einen Nebenraum, in dem verschiedene Bestrahlungsgeräte standen, die Berylla jedoch nur selten im Rahmen ihrer Therapie einsetzte. »Was gibt es?« fragte er, als sie allein waren. »Und wer bist du?« »Mein Name ist Osfhar. Ich bin Arzt.« »Du bist ebenfalls Heiler?« Cortman Stull war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. »Ich bin kein Heiler.« Unwillig schüttelte der Fremde den Kopf. »Ich bin Arzt. Ich bin Mediziner, aber ich habe mehrere Fälle, in denen ich nicht weiterkomme. Ich brauche den Rat Beryllas.« Stull pfiff leise durch die Zähne. »Ein Arzt braucht den Rat Beryllas? Ein Ahlnate schleicht sich zu uns, weil er am Ende seiner Kunst ist, und gibt das auch noch zu?« Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Du erwartest doch wohl nicht, daß ich das glaube?« Osfhar griff in seine Tasche und holte ein Foto daraus hervor. Er reichte es Stull. »Mein Sohn«, erläuterte er. »Er liegt im Sterben.« Der greise Assistent der Heilerin hätte das Foto fast aus den Händen verloren, als er sah, was es darstellte. Er erinnerte sich noch gut an die Tote in dem Transportbehälter. Auch sie hatte ein derart marmoriertes Gesicht gehabt, wie der Junge auf dem Bild. »Du hast mehrere Fälle?« fragte er. »Und alle sehen so eigenartig aus im Gesicht?« »Das sagte ich doch.« Cortman Stull verengte die Augen. Voller Mißtrauen musterte er den Arzt. »War unter deinen Patienten auch eine Frau von etwa fünfzig Jahren? Sie lag in einem sargähnlichen Transportbehälter?«
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Osfhar schroff. Der greise Assistent der Heilerin merkte sofort, daß der Arzt unsicher wurde. Er war es! dachte er. Er hat uns die Sterbende geschickt. Während Stull noch überlegte, aus welchem Grunde Osfhar das getan haben konnte, entstand Unruhe im Warteraum. Schritte näherten sich, und dann riß ein junger Buhrlo die Tür auf. Freudestrahlend blickte er den Alten an. »Cortman«, rief er. »Die Messe funktioniert wieder. Die Messe!« Der Assistent ließ den Arzt stehen, als sei nichts wichtiger als die Nachricht, die er soeben erhalten hatte. Osfhar eilte hinter ihm her. »So höre mich doch an«, bettelte er verzweifelt. »Es geht um ein Menschenleben. Da wird diese Messe doch wohl warten können.« Cortman Stull achtete nicht auf ihn. Zusammen mit den Patienten, die im Vorraum der Praxis gewartet hatten, stürmte er über die Gänge der SOL bis in einen verwahrlost aussehenden Schiffsbereich. Der Arzt rümpfte die Nase, als er den Schmutz sah. Er kam aus einem Teil des Schiffes, in dem noch so gut wie alles einwandfrei funktionierte. Wo er lebte, sorgten Roboter der unterschiedlichsten Art dafür, daß Schmutz entfernt und Schäden repariert wurden. Hier aber schien alles anders zu sein. Dies schien das Armenhaus der SOL zu sein. War Berylla demnach gar nicht die Persönlichkeit, vor der sich Lyta Kunduran fürchten mußte? Offenbar nicht! dachte Osfhar. Bei den Ärmsten der SOL steht sie in hohem Ansehen. Diese Menschen aber in den Griff zu bekommen, ist nicht weiter schwierig. Bei uns hätte sie keine Chance. Er überwand seine Unsicherheit, da er meinte, nicht länger Grund zu haben, sich unterlegen zu fühlen. Bisher war er viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um zu sehen, wie die Menschen in diesem Teil der SOL lebten. Jetzt fiel ihm auf, daß die meisten schlecht genährt waren. Hier war kaum jemand, der einen wirklich gesunden
Eindruck machte. Er musterte einige Buhrlos, die neben ihm herliefen. Die Gläsernen waren ihm von jeher unsympathisch gewesen. Er sah in ihnen eine Entgleisung der Natur, eine vorübergehende Erscheinung, mit der sich auseinanderzusetzen nicht lohnte. Daher wußte er nicht, ob die Buhrlos, die ihm allesamt zu dürr erschienen, in normaler Verfassung waren oder nicht. Die Ungeduld, mit der sie voranstürmten, und die wilde Freude, die sie erfüllte, ließ ihn jedoch zu der Überzeugung kommen, daß sie alle unter Hunger litten. Wie ließ sich sonst erklären, daß sich der Ruf, die Messe arbeite wieder, über alle Gänge und Räume fortpflanzte und zahllose weitere Buhrlos und Halbbuhrlos anlockte? In der Messe scharten sich etwa fünfzig Männer und Frauen um die Automaten. Und jedesmal, wenn diese Nahrungsmittel auswarfen, brach die Menge in Jubel aus. Gierig streckten die Männer, Frauen und Kinder ihre Hände den Schalen mit heißen, duftenden Speisen entgegen. Und ungeduldig drängten sich einige Frauen, die besonders unter Hunger zu leiden schienen, nach vorn. Alle schrien laut durcheinander. Einer versuchte, den anderen zu übertönen, so daß es Osfhar unmöglich erschien, sich mit dem alten Assistenten von Berylla zu verständigen. Doch plötzlich wurde es still in der Messe, ohne daß jemand zur Ruhe aufgefordert hätte. Männer, Frauen und Kinder traten zur Seite und gaben den Weg zu den Automaten frei. Und alle blickten zum Haupteingang der Messe. Erstaunt drehte der Arzt sich um. Eine große, schlanke Frau mit krausem, blauschwarzen Haar und goldbraunem Teint kam in den Saal, und obwohl es ihm niemand gesagt hatte, wußte er sofort, daß dies die Heilerin Berylla war. Sie beherrschte die Szene, ohne einen Befehl erteilt zu haben oder sich in irgendeiner Weise geäußert zu haben. Sie schien den ganzen Raum auszufüllen. Niemand in ihrer Nähe schien auch nur annähernd so bedeutend zu sein wie sie.
Ruhig und gelassen schritt sie auf die Automaten zu. Männer, Frauen und Kinder, Buhrlos und Halbbuhrlos, verfolgten sie mit ihren Blicken, Osfhar fiel auf, daß die meisten lächelten. Berylla verbreitete eine Atmosphäre der Freude und der Heiterkeit. Ihre innere Ruhe übertrug sich auf die Menschen im Saal, und auch Osfhar konnte sich ihrer Ausstrahlung nicht entziehen. Diese Frau schlug ihn in ihren Bann. An einem der Automaten blieb die Heilerin stehen. Sie drehte sich um und blickte in die Runde, als wolle sie sich davon überzeugen, daß alle anwesend waren, die sie kannte und schätzte. »Bessere Zeiten sind angebrochen«, erklärte sie, und ihre Stimme drang bis in den letzten Winkel der Messe, obwohl sie leise und ohne dramatische Betonung sprach. Sie verzichtete auf alle rhetorischen Tricks, und das konnte sie sich auch leisten, weil es absolut still im Raum war. Ihre Zuhörer bewegten sich nicht, um das geringste Rascheln ihrer Kleidung zu vermeiden. Alle hingen mit ihren Blicken an den Lippen der jungen Frau, um sich keines ihrer Worte entgehen zu lassen. »Die Zeichen sind unübersehbar«, fuhr Berylla fort. »Doch nun wollen wir nicht leichtsinnig werden. Diese Anlagen haben schon seit langer Zeit nicht mehr gearbeitet. Bevor wir die Speisen verzehren, müssen wir prüfen, ob sie wirklich einwandfrei sind. Das dauert nicht lange.« Vorübergehende Unruhe entstand, die sich jedoch rasch wieder legte. »Wir haben einige ungeklärte Krankheitsfälle an Bord«, eröffnete die Heilerin ihren Zuhörern, »und bevor wir nicht herausgefunden haben, wo die Ursachen für die Erkrankungen liegen, können wir nicht vorsichtig genug sein.« Cortman Stull, der Assistent, drängte sich durch die Menge zu ihr hin. Er trug ein positronisches Analysegerät unter dem Arm. Osfhar stellte überrascht fest, wie sehr er sich von der Persönlichkeit Beryllas hatte gefangennehmen lassen. Er hatte nicht
bemerkt, daß Stull von seiner Seite verschwunden und hinausgeeilt war. Offenbar hatte der Alte genau gewußt, was er zu tun hatte. Der Arzt erwartete, daß die Menge gegen die Vorsichtsmaßnahme der jungen Frau protestieren, oder daß sich einige über ihre Anordnungen hinwegsetzen und essen würden. Doch als er sich umsah, bemerkte er niemanden, der etwas von den Speisen anrührte. Alle verhielten sich ungewöhnlich diszipliniert. Sie gehorchen ihr aufs Wort, stellte er verblüfft fest. Was für eine Frau! Jetzt begriff er, weshalb sich Lyta Kunduran vor Berylla fürchtete. Diese vermochte Menschen nach ihrem Willen zu lenken wie niemand sonst, dem Osfhar begegnet war. Plötzlich zweifelte er wieder daran, daß er die Magnidin falsch verstanden hatte. Lyta Kunduran hatte sich nicht eindeutig ausgedrückt. Sie hatte zwar vordergründig behauptet, daß es ihr nur um Informationen über Berylla ginge, zugleich aber hatte sie auch einige Bemerkungen gemacht, die sich ganz anders angehört hatten, und aus denen er geschlossen hatte, daß sie den Tod der Heilerin wollte. Was war richtig? Kannte Lyta diese Frau, und wußte sie um ihre Macht? Hatte Berylla überhaupt die Absicht, bis in die Zentrale vorzustoßen und möglicherweise gar den High Sideryt in den Bann ihrer Persönlichkeit zu ziehen? Sie hat nichts Dämonisches oder sonst irgend etwas Negatives an sich, dachte der Arzt verunsichert. Ich weiß nicht, wie ich sie beurteilen soll. Ist sie ein weiblicher Scharlatan, der alle zu täuschen vermag, oder ist sie einfach nur eine Heilerin, die nichts anderes im Sinn hat, als die Gesundheit ihrer Patienten? Er kam sich klein und unbedeutend ihr gegenüber vor, und er erkannte, daß Welten zwischen ihm und ihr lagen. Er behandelte seine Patienten ausschließlich mit Hilfe seiner medizinischen Kenntnisse. Psychologie gehörte nur im begrenzten Umfang zu
seiner Therapie. Bei ihr schien es genau umgekehrt zu sein. Das psychologische Moment besaß größtes Gewicht, und die Macht ihrer Persönlichkeit mobilisierte die Abwehrkräfte der Kranken. Osfhar vermutete, daß sie damit Erfolge erzielte, die ihm mit diesen Mitteln allein unmöglich gewesen wären. Er war sich dessen bewußt, daß er seinen Patienten gegenüber stets sein überlegenes Wissen ausspielte, eine gewisse Arroganz an den Tag legte, um seinen Worten auf diese Weise mehr Gewicht zu verleihen. Doch hinter dieser Fassade des allwissenden Arztes verbarg sich ein unsicherer und in sich zerrissener Mensch, der es nicht vermochte, sich ausschließlich auf seine Arbeit zu konzentrieren, und dessen Eitelkeit es schmeichelte, von Magniden und Ahlnaten umworben zu werden. Berylla war ganz anders. Sie hatte es nicht nötig, irgend jemandem etwas vorzuspielen. Sie gab nicht vor, eine Persönlichkeit zu sein. Sie war eine. Dennoch aber blieb sie mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, und ihre naturgegebene Überlegenheit verführte sie nicht dazu, irgend jemanden geringschätzig zu behandeln. Je deutlicher er erkannte, wie sehr er sich von Berylla unterschied, desto eifersüchtiger wurde er. Niemals würde er einen derartigen Einfluß auf die Menschen seiner Umgebung haben wie sie. Was sie mit einer knappen Geste oder mit einigen leisen Worten erreichte, konnte er selbst unter Aufbietung aller seiner Möglichkeiten nicht schaffen. Einer Persönlichkeit wie ihr stand der Weg offen bis hin zu den mächtigen Magniden, obwohl sie in einer Welt lebte, die unendlich weit von der Zentrale entfernt zu sein schien. Er dagegen wohnte sozusagen Tür an Tür mit den Magniden. Er kannte sie alle und zählte sie zu seinen Patienten, doch er hatte nicht den geringsten Einfluß auf sie. Mit Ausnahme von Lyta Kunduran sprach keiner von ihnen über andere Themen als über solche aus dem Bereich der Medizin. Berylla aber vermittelte den Eindruck, als verfüge sie über ein umfassendes und vielschichtiges Wissen in vielen Disziplinen.
Mit ihr über alle anstehenden Probleme zu diskutieren, drängte sich geradezu auf. Osfhar wandte sich ab, als die Heilerin freudestrahlend verkündete, daß die von den Automaten ausgeworfenen Speisen einwandfrei waren und gefahrlos verzehrt werden konnten. Jubelnd drängten sich die Menschen um sie, um ihr zu danken. 6. Osfhar strebte dem Ausgang der Messe zu. Er war nicht aus freien Stücken gekommen, sondern weil Esther, seine Lebensgefährtin, ihn dazu gedrängt hatte, nachdem sich herausgestellt hatte, daß es offenbar keine Hilfe mehr für Alf gab. Die Heilerin war die letzte Hoffnung. Jetzt aber konnte Osfhar sich nicht über seine Gefühle hinwegsetzen. Er konnte und wollte Berylla nicht um Hilfe bitten. Dazu war er viel zu eifersüchtig auf sie. Er fühlte sich ihr allzu sehr unterlegen, und wenn er ihr seine eigene Unzulänglichkeit eingestanden hätte, wäre ihre Überlegenheit noch deutlicher geworden. Er machte sich keine Gedanken darüber, was Esther sagen würde. Er dachte auch nicht an Alf, der im Sterben lag, sondern nur noch an sich. Je näher er dem Ausgang der Messe kam, desto mehr entfernte er sich von der Wirklichkeit. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in eine fremde Welt hinauszuschweben. Plötzlich wehte ihm eine laue Luft entgegen, und er blickte auf eine Landschaft hinunter, wie er sie noch nie gesehen hatte. Blaue und rote Flüsse zogen sich in geschwungenen Linien über das Land und erweckten den Eindruck, als bestehe dieses aus Marmor. Zwischen den Flüssen befanden sich langgestreckte Inseln, auf denen eine dichte Vegetation wucherte. Grüne und rote Bäume
erreichten eine Höhe von fast hundert Metern. Osfhar schwebte über einen See hinweg, der von zwei blauen und zwei roten Flüssen gespeist wurde. Die Strömung vermischte das Wasser so eigenartig, daß der See einem überdimensionalen Auge glich, das ihn mit großer, marmorierter Pupille anstarrte. Gequält schrie der Mediziner auf. Er schien den Halt zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Wild schlug er um sich, in der Hoffnung, irgendwo Halt zu finden. Dann wurde es dunkel um ihn. Er vernahm eine Stimme, die ihm bekannt vorkam, und als er die Augen öffnete, sah er Cortman Stull, der sich über ihn beugte. »Was ist los mit dir?« fragte der Alte. »Du scheinst krank zu sein.« Osfhar richtete sich auf und sah sich um. Er befand sich im Behandlungszimmer der Heilerin. Berylla saß hinter einem einfachen Arbeitstisch und machte sich einige Notizen. Hinter ihr erhoben sich Regale, auf denen sie eine Reihe von Geschenken abgelegt hatte, die ihr die Patienten mitgebracht hatten. Jetzt blickte sie auf, lächelte und erhob sich. »Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt«, sagte sie freundlich. »Ganz plötzlich bist du umgekippt. Wir haben dich hierhergebracht. Wie fühlst du dich?« Der Arzt stieg von der Liege. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und hätte sich am liebsten gleich wieder hingesetzt. Doch er wollte nicht, daß Berylla merkte, wie es ihm wirklich ging. Deshalb versuchte er, sich aufrecht zu halten und so ruhig wie möglich zu stehen. »Ich bin in Ordnung«, log er. »Das wärʹs dann wohl.« Die Heilerin trat augenblicklich zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Geh nur«, erwiderte sie. »Als Arzt weißt du ja, was du dir zumuten darfst. Dir und deinen Patienten. Hast du viele Kranke, die eine marmorierte Haut haben?«
Osfhar zuckte zusammen. Er war so mit seinen Halluzinationen beschäftigt gewesen, daß er nicht mehr an die Seuche gedacht hatte, die in der SOL ausgebrochen war. Jetzt wurde er sich dessen bewußt, daß er nicht mehr in eigener Verantwortung handeln konnte und durfte. Er war krank und mußte behandelt werden. Doch die Heilerin sollte nicht diejenige sein, die ihn gesund machte. Diesen Triumph wollte er ihr nicht gönnen. Er schritt auf die Tür zu, konnte sich dann jedoch nicht mehr auf den Beinen halten. Kraftlos sank er in sich zusammen. Berylla fing ihn auf, und Cortman Stull schleppte ihn zur Liege zurück. »Offenbar leidet er nicht nur unter Halluzinationen«, bemerkte sie leise. »Da muß noch mehr sein.« Osfhar erfaßte, daß er während seines Schwächeanfalls gesprochen hatte, als er sich in einem nahezu bewußtlosen Zustand befunden hatte. Wie sonst hätte die Heilerin wissen können, daß er unter Halluzinationen litt? Sie legte ihm die Hände an die Schläfen. »Sei ganz ruhig«, flüsterte sie. »Es wird bald vorbei sein.« Der Arzt wollte sich auflehnen, doch es gelang ihm nicht. Von den Händen der jungen Frau ging eine Kraft aus, der er sich nicht widersetzen konnte. Statt sich aufzurichten, ließ er sich zurücksinken, und seine Muskeln erschlafften. Seine aufgepeitschten Nerven beruhigten sich, als habe er ein starkes Psychopharmakon zu sich genommen. Er schloß die Augen und überließ sich der Heilerin. Dabei hatte er das Gefühl, daß alle Schwere von ihm wich. Er schien durch ein angenehmes, ungemein wohltuendes Nichts zu gleiten, ohne dabei aber das Bewußtsein zu verlieren. Für einen Moment tauchten die Bilder einer fremden Welt vor ihm auf, glitten aber gleich wieder von ihm weg, bis sie irgendwo weit von ihm erloschen. Der Mediziner hatte das Gefühl, noch niemals zuvor so entspannt
und ruhig gewesen zu sein. Alles, was ihn belastet hatte, fiel von ihm ab, und die Zeit schien stillzustehen. Hin und wieder hörte er sich sprechen, doch er verstand nicht, was er sagte. Er vernahm die Stimme der Heilerin, doch sie schien über ihn hinwegzuschweben wie ein Windhauch, ohne ihn zu erreichen. Dann wieder schien sie sich an jemanden zu wenden, der in ihm war, und ihm war, als locke sie dieses Wesen aus ihm hervor. Doch kaum tauchte dieser Eindruck in ihm auf, als er ihn auch schon wieder verwarf. Niemand war in ihm. Er war allein. Er war Osfhar, eine eigenständige Persönlichkeit. Irgendwann tauchte er aus dem schwerelosen Nichts wieder auf. Er fand sich auf einer Liege ruhend wieder. Neben ihm saß der greise Assistent der Heilerin in einem Sessel. »Nun, wie fühlst du dich?« fragte der Alte mit sanfter, wohlwollender Stimme. »Ausgezeichnet«, antwortete Osfhar. »Was war los?« »Du bist umgekippt. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Die Heilerin hat sich um dich gekümmert.« »Berylla? Wo ist sie?« »Sie zieht sich um. Sie ist ziemlich erschöpft. Sie wird dich auf deine Station begleiten und sich Alf ansehen.« Osfhar erbleichte. Er stand auf und ging einige Schritte hin und her. Er wußte, daß er gesundet war. Das spürte er deutlich. Lange genug hatte er geleugnet, daß er krank war, obwohl er diese Halluzinationsanfälle immer häufiger gehabt hatte und beobachten konnte, daß seine Kräfte rapide nachließen. Jetzt aber war alles verschwunden, was ihn belastet hatte. Ihm war, als habe er eine mehrtägige Schlafkur hinter sich. »Wie lange bin ich hier?« fragte er. »Vierzehn Stunden.« Osfhar erschrak. Er war überzeugt gewesen, daß die Behandlung nicht mehr als eine Stunde gedauert hatte. »Habe ich gesprochen?« »Du hast uns alles erzählt«, erwiderte Cortman Stull zum
Entsetzen des Mediziners. »Alles?« »Alles. Angefangen von den Intrigen gegen Lyta Kunduran, mit denen du Einfluß auf die Politik der Magniden nehmen wolltest, bis hin zu dem Anschlag, den du im Auftrag der Magniden glaubtest gegen Berylla ausführen zu müssen. Du hast Glück gehabt, daß Berylla so vorsichtig war. Wenn sie den Behälter mit der toten Kaylin geöffnet hätte, wäre dieser Schiffsbereich verseucht worden.« Osfhar setzte sich in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen. »Sei froh, daß du Berylla in die Hände gefallen bist«, fuhr der Alte fort. »Sie hat dich gesund gemacht, und sie ist überzeugt davon, daß du dich niemals so verhalten hättest, wenn du nicht krank gewesen wärest. Sie wird schweigen. Niemand wird etwas von deinen Verfehlungen erfahren.« Der Arzt antwortete nicht. Auf der einen Seite war er der Heilerin dankbar, daß sie ihm geholfen hatte. Auf der anderen Seite aber erschreckte ihn, daß sie soviel über ihn wußte. Sie hat mich in der Hand, dachte er. Sie kann mich jederzeit vernichten. Daß sie ihn begleiten und sich Alf ansehen wollte, empfand er nicht als freundschaftliches Angebot, sondern als Bedrohung. Er glaubte nicht daran, daß sie selbstlos handelte. Er hatte so etwas nie in seinem Leben getan, und er konnte sich nicht vorstellen, daß irgend jemand so etwas tun würde, es sei denn aus Dummheit. Er wußte jedoch, daß Berylla alles andere als dumm war. Daher konnte sich nach seinem Empfinden hinter ihrem scheinbar so humanen Verhalten nur ein raffinierter Plan verbergen. Sie strebt nach Macht, durchfuhr es ihn. Sie will erst meine Station und dann von dort aus weiterarbeiten. Der nächste Schritt zielt dann in Richtung auf die Magniden. Und wenn sie erst an mir vorbei ist, dann wird der übernächste Schritt sein, mich zu vernichten. Sie hat
bereits jetzt die Macht dazu, und wenn sie erst zu den Magniden gehört, wird sie nicht zögern, denjenigen zu beseitigen, der ihr noch Knüppel zwischen die Beine werfen könnte. Er wußte, daß er im Grunde genommen nichts gegen Berylla unternehmen konnte. Sie war ihm schon jetzt überlegen. Gerade diese Tatsache aber schürte seine Eifersucht. Er bangte um seinen Einfluß und seine Position als Arzt. Sollte er sich von einer Heilerin verdrängen lassen, die bei weitem nicht seine Qualifikation und seinen medizinischen Bildungsstand hatte? Sie hat mir geholfen, dachte er. Gewiß. Das verpflichtet mich ihr gegenüber. Darüber hinaus aber stehe ich noch in der Pflicht der SOL. Und das zählt mehr. »Was ist los mit dir?« fragte Cortman Stull. »Warum antwortest du nicht?« Osfhar richtete sich seufzend auf. Er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann lächelte er herablassen. »Ich habe nachgedacht. Das wird doch wohl noch erlaubt sein. Oder?« »Natürlich.« »Nun. Ich war krank und konnte schon lange nicht mehr so klar und gradlinig denken wie jetzt.« Der Arzt stand auf. Er räusperte sich gewichtig. »Fraglos wäre ich nicht hierhergekommen, wenn ich gesund gewesen wäre. Ich hätte das Problem, mit dem ich zu tun habe, allein und sehr energisch angepackt. Und ich hätte es gelöst. Jetzt bin ich wieder in Ordnung. Also wird es Zeit, daß ich zurückkehre.« Der greise Assistent wölbte die Augenbrauen. »Ach, so ist das? Der Herr verübt einen Mordanschlag auf uns und will sich nun damit herausreden, daß er nicht zurechnungsfähig war. Da er nun gesund ist, braucht er uns nicht mehr.« »Ich will nicht undankbar sein. Versteh mich nicht falsch, aber …« Osfhar räusperte sich erneut. Er blickt auf sein Chronometer. »Nun, ich bin für meine Patienten verantwortlich, und es wird wirklich
Zeit, daß ich gehe.« Er versuchte, wie gewohnt, seine wahren Gefühle hinter einer Maske aus Hochmut und herablassender Überlegenheit zu verbergen. »Du bleibst«, erwiderte Stull ärgerlich. »Du gehst nicht, bevor Berylla zurück ist.« »Ach?« Der Mediziner sah sich spöttisch lächelnd in der Praxis um. »Sollte ich versäumt haben, der Heilerin ein kleines Geschenk mitzubringen? Wie ich sehe, steht hier allerlei Zeug herum. Das ist wohl das, was sie als Honorar kassiert, oder?« Cortman Stull preßte erbittert die Lippen aufeinander. Er deutete mit der Hand auf die Tür und wies Osfhar damit hinaus. Der Arzt wollte gehen, doch in diesem Moment trat Berylla durch eine andere Tür ein. »Wie ich sehe, bist du aufbruchbereit. Dann brauchen wir nicht länger zu warten. Also …?« Osfhar blieb unsicher stehen. Jetzt wußte er nicht mehr, was er tun sollte. Er wollte auf keinen Fall mit der Heilerin zu seiner Station gehen, wagte aber auch nicht, sie derart offen zu beleidigen, wie er es Stull gegenüber getan hatte. »Osfhar ist in einer gewissen Verlegenheit«, bemerkte der greise Assistent gereizt. »Er fürchtet, daß er dir etwas schuldig bleiben muß, weil er kein Geschenk für dich hat.« Berylla lachte. »Ach, du meine Güte«, entgegnete sie, und ihre Augen blitzten vor Vergnügen. »Ich behandle meine Patienten doch nicht wegen der Geschenke. Die sind mir völlig gleichgültig. Das sage ich den Leuten auch immer wieder. Aber sie schleppen mir dennoch alles mögliche an, so daß ich schon nicht mehr weiß, wohin damit.« Sie wies auf einige Regale, auf denen sie die Präsente ihrer Patienten aufbewahrte. Da fanden sich kleine Vasen, Skulpturen, Waffen, präparierte Tierköpfe, Pflanzenteile, technische Kleingeräte und viele andere Dinge, deren Funktion nicht auf den ersten Blick
erkennbar war. Osfhar, der sich in die Enge gedrängt fühlte, entschloß sich zum Angriff. »Tu nur so, als ob dich das alles nicht interessiert«, rief er lauter, als er eigentlich wollte. »Dabei weiß jedes Kind an Bord, daß du verrückt nach diesen Dingen bist. Du verführst in deiner Gier nach solchen Geschenken deine Patienten dazu, in die Lagerräume einzubrechen und dort alles mögliche zu stehlen, ohne daran zu denken, daß sie dabei möglicherweise mit Mikroben in Berührung kommen, die gefährliche Krankheiten auslösen können.« Berylla lächelte noch immer. Die Vorwürfe des Arztes schienen sie nicht zu berühren. »Bist du fertig?« fragte sie, als Osfhar schwieg. »Noch mehr gibt es ja wohl nicht zu sagen«, erwiderte er abweisend. »Nun, dann wollen wir endlich aufbrechen. Wir haben schon genug Zeit vertan. Komm, Cortman. Wir wollen uns die Kranken ansehen. Vielleicht können wir etwas für sie tun.« Osfhar blickte sie fassungslos an. »Du willst doch, daß Alf gesund wird, nicht wahr?« fragte sie ihn. »Selbstverständlich«, stammelte er. »Nun, du hast es nicht geschafft, also bin ich dran. Wenn wir uns beeilen, sind wir bei ihm, bevor er tot ist.« Sie schritt an dem Arzt vorbei, als habe er niemals irgendeinen Einwand erhoben, und als habe er sie nicht beleidigt. Was er auch gesagt hatte, es prallte von ihr ab. Osfhar kam sich klein und erbärmlich vor, und er sah sich außerstande, Berylla zurückzuhalten. Cortman Stull kicherte leise. Mit spöttisch funkelnden Augen blickte er ihn an, als er der Heilerin folgte. Der Mediziner fluchte leise. Ihm wurde bewußt, daß er schon viel zu viel Zeit vertan hatte. Vor etwa sechzehn Stunden hatte er seine Station verlassen. Alf war also schon zu lange allein.
Was sage ich Esther, wenn sie mich fragt, warum es so lange gedauert hat? überlegte er. Sie wird mir Vorwürfe machen, weil ich nicht bei Alf war. Seine Blicke fielen auf Berylla, die vor ihm ging, und mit einem Mal wurde ihm klar, daß er die Möglichkeit hatte, die ganze Verantwortung auf sie abzuwälzen. * Kannar Gash schreckte aus dem Schlaf hoch, als er Schritte hörte. Er befand sich in einer dunklen Werkstattkammer, in der er sich versteckt hatte, um ungestört ruhen zu können. Jetzt brauchte er einige Sekunden, bis er wieder wußte, wo er war. Er drückte sich noch weiter in eine Ecke unter einen abgestellten Tisch und duckte sich hinter eine Kiste. Die Tür öffnete sich, und helles Licht fiel herein. »Ist einer drin?« fragte jemand. »Sieht nicht so aus«, antwortete eine andere Stimme. »Verdammt. Ich bin sicher, daß irgendwo ein Monster war. Ich habe gewettet, daß ich heute eins erwische.« »Dein Problem.« Jemand hustete, und dann zeigten tastende Schritte an, daß einer der beiden Männer die Kammer betrat und die verschiedenen Gegenstände darin mit einem Stock abklopfte. Kannar Gash hielt den Atem an, weil er fürchtete, das leiseste Geräusch könne ihn verraten. Die Zeit schien stillzustehen, und der Halbbuhrlo spürte, wie sich das Blut in seinen Gliedern staute. Schon zuckte es in seinen Waden. Ein Krampf kündigte sich an. Da endlich verließ der Monsterjäger die Kammer, trat auf den Gang hinaus und schloß die Tür hinter sich. Hasch streckte Gash sich aus, um den Krampf zu vermeiden. Er erinnerte sich daran, wie er mit Cor Colk in einer ähnlichen
Situation ausgeharrt hatte, bis die Ferraten abgezogen waren. Colk hatte nicht lange überlebt. War die Reihe jetzt an ihm? Er wartete eine volle Stunde. Dann wagte er, die Kammer zu verlassen. Auf dem Gang hielten sich nur einige Halbbuhrlos auf, die Wannen mit Speisen trugen. Freundlich nickten sie ihm zu. Zwei Buhrlos kauerten etwa zwanzig Meter von ihm auf dem Boden und spielten mit farbigen Kunststoffstäben. Nichts störte das friedliche Bild. Gash atmete auf. Unter diesen Umständen brauchte er keinen Angriff der Ferraten zu fürchten. Die Rostjäger würden es nicht wagen, ihn zu jagen, weil andere da waren, die ihm helfen konnten. Er senkt den Kopf und blickte auf seine Hände, die er langsam hob und mit weit abgespreizten Fingern in Hüfthöhe hielt. Die Narben zogen sich rot und dick über beide Hände bis zu den Handgelenken hoch, aber sie waren nicht mehr entzündet. Der Heilungsprozeß war erstaunlich weit fortgeschritten. Voller Dankbarkeit dachte er an Berylla, die ihn endlich von Schmerzen und quälendem Juckreiz befreit hatte. Er hatte das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und ihr zu zeigen, welch großen Erfolg sie erzielt hatte, wo Medo‐Roboter und Ärzte versagt hatten. Er eilte über die Gänge und traf die Heilerin schon weit vor ihrer Praxis. Sie strebte mit ihrem Assistenten und einem anderen Mann, den Gash nicht kannte, einem Antigravschacht zu. Rasch holte er auf. Als er sich ihr bis auf wenige Meter genähert hatte, glitt ein kastenförmiger Roboter aus dem Schacht hervor. »Du bist es, Berylla! Wie gut, daß ich dich treffe«, rief der Automat. Seine Stimme klang so menschlich und war so gefühlsbetont, daß Kannar Gash für einen kurzen Moment meinte, jemand anderes habe gesprochen. Dann aber fiel ihm ein, daß er gehört hatte, die Roboter von Mausefalle VII hätten Gefühle.
»Was gibt es, Antrean 4089?« fragte die Heilerin. »Leider habe ich keine guten Nachrichten für dich«, erklärte der Roboter. »Die SOL wird ihren Flug schon in den nächsten Stunden fortsetzen.« Berylla erschrak sichtlich. »Nein«, erwiderte sie. »Das ist nicht wahr.« »Wir werden uns zurückziehen und die SOL nicht aufhalten.« »Aber das ist unmöglich«, protestierte Berylla. »Gerade jetzt geht das nicht. Wir haben Teile des Schiffes umgebaut und endlich erträgliche Wohnräume für Buhrlos und Halbbuhrlos geschaffen. Wir haben Schleusen eingerichtet, die von den Gläsernen ständig benutzt werden. Und diese Maßnahmen waren richtig. Die Zahl meiner Patienten hat rapide abgenommen. Eine Algenplantage arbeitet wieder. Eine Messe versorgt uns mit Nahrungsmitteln. Das alles ist zu Ende, wenn die SOL nicht in diesem System bleibt.« Der Roboter zog sich etwa zwei Meter weit von ihr zurück, so als müsse er der Gewalt ihrer Argumente weichen. »Ich kann nichts daran ändern«, entgegnete er. »Die Entscheidung ist gefallen.« »Wer ist dafür verantwortlich?« fragte Berylla so heftig und laut, daß Kannar Gash sich unwillkürlich duckte, als breche ihr Zorn über ihn herein. »Einen unmittelbar Verantwortlichen gibt es nicht. Weicos, der Herr in den Kuppeln, Chart Deccon, Atlan – sie alle haben eine Rolle bei dieser Entscheidung gespielt.« Kannar Gash spitzte die Ohren. Von Weicos hatte er schon gehört, und er schätzte ihn hoch ein. Der Herr der Kuppeln war ihm kein Begriff. Den Namen Atlan kannte er ebenfalls, wenngleich er nicht wußte, wer hinter diesem Namen stand. Berylla drehte sich um, und ihr Blick fiel auf ihn. »Kannar«, sagte sie. »Du bist hier?« Er ging auf sie zu und streckte unwillkürlich seine Hände aus, als gäbe es nichts Wichtigeres, als ihr zu zeigen, wie groß die
Heilerfolge waren, die sie erzielt hatte. »Sehr schön«, lobte sie. »Das sieht noch besser aus, als ich erwartet habe. Bist du zufrieden?« »Ich weiß gar nicht, was ich sagen sollte«, stammelte er, und Tränen stiegen ihm in die Augen, als er daran dachte, wie lange er unter den Wunden an seinen Händen gelitten hatte. »Dann sei still«, bat sie ihn freundlich. »Oder vielleicht kannst du mir einen Gefallen tun?« »Ich tue alles, was du willst.« »Osfhar und ich müssen unbedingt zu seiner Krankenstation«, erläuterte sie. »Ich kann mich jetzt um nichts anderes kümmern, aber ich muß wissen, was im Schiff geschieht. Sieh dich um und komm dann zu mir, sobald du einen Überblick gewonnen hast. Du weißt, um was es geht?« »Die SOL soll starten.« »Richtig. Damit besteht die Gefahr, daß alles rückgängig gemacht wird, was wir an Verbesserungen erreicht haben. Ich vermute, daß Chart Deccon dafür verantwortlich ist. Bei ihm, dem High Sideryt, laufen schließlich alle Fäden zusammen.« »Möglicherweise ist es auch Atlan.« »Du kennst ihn?« »Ich habe lediglich von ihm gehört.« »Nein, ich glaube nicht, daß Atlan etwas damit zu tun hat.« »Was hast du vor?« Ihr Gesicht straffte sich, und ihre Lippen wurden schmal. »Ich werde mit dem High Sideryt sprechen«, antwortete sie so leise, daß Osfhar sie nicht hören konnte. »Ich bin sicher, daß ich ihn in unserem Sinn beeinflussen kann. Die SOL darf nicht starten. Sie muß hier bleiben.« »Für alle Zeiten?« »Genau das. Auf Osath geht es uns gut. Die Roboter von Mausefalle VII können uns versorgen. Was wollen wir mehr?«
7. Als Berylla und der Arzt von der SZ‐2 zum Mittelteil der SOL überwechselten, trafen sie auf eine Sperre. Die Vystidin Zlava trat ihnen entgegen. Hinter ihr standen zehn Haematen, die mit Waffen unterschiedlichster Art ausgerüstet waren. Ihre grimmigen Gesichter ließen keinen Zweifel daran, daß sie jeden umbringen würden, der versuchte, die Sperren gewaltsam zu durchbrechen. »Zurück«, rief Zlava. »Hier kommt keiner durch.« Die Vystidin war wesentlich jünger als Berylla und Osfhar. Das Haar reichte ihr bis auf die Schultern herab. Sie machte einen ungepflegten Eindruck. Auch ihr Anzug, der aus einer silbern glänzenden Metallfolie gefertigt war, schien nicht ganz sauber zu sein. Obwohl Berylla diese Frau nie gesehen hatte, wußte sie sofort, mit wem sie es zu tun hatte. Über Zlava gab es allerlei Gerüchte in der SOL. Man sagte ihr einige Liebesaffären nach, bei denen es zum Teil recht turbulent zugegangen sein sollte. »Was ist hier los?« fragte der Arzt verärgert. »Ich muß zu meinen Patienten.« »Wer bist du?« entgegnete Zlava herausfordernd. Sie trat dicht an den Mediziner heran. »Nun?« »Das weißt du genau, Zlava. Ich bin Osfhar, der Arzt.« »Ach ja? Was treibst du dich dann hier herum? Eine Seuche ist ausgebrochen, und du bist nicht bei deinen Kranken? Wieso nicht? Kannst du mir das erklären?« Die Haematen rückten grinsend näher. Sie waren sich ihrer Macht bewußt. Mit ihnen war nicht gut Kirschenessen. Wenn sie nicht wollten, dann kam an dieser Stelle niemand weiter. Berylla und der Mediziner waren sich aber auch klar darüber, daß es sinnlos gewesen wäre, einen Umweg einzuschlagen. Der Bereich, in dem die Seuche aufgetreten war, wurde hermetisch abgeriegelt. Wenn es
hier kein Durchkommen gab, dann brauchten sie es woanders gar nicht erst zu versuchen. »Natürlich kann ich das«, antwortete Osfhar erregt. »Ich habe Hilfe geholt.« Zlava lachte höhnisch. »Und dazu hast du so lange gebraucht. Seit Stunden suchen wir dich. Wo bist du gewesen?« Berylla merkte, daß der Arzt sich gegenüber der jungen Vystidin nicht behaupten konnte. Sie legte ihm die Hand an den Arm, um ihm zu bedeuten, daß sie für ihn sprechen wollte. Ihre Hilfe war ihm willkommen, und er machte ihr augenblicklich Platz. »Wir hatten verschiedene Probleme zu lösen«, erläuterte die Heilerin ruhig. »Osfhar war krank. Er konnte gar nicht früher kommen. Erst jetzt sind wir in der Lage, die Behandlung in der Station aufzunehmen.« Ihre Worte hatten eine erstaunliche Wirkung auf Zlava. Die Vystidin blickte sie zunächst forschend an, dann trat sie zurück, und ihr aggressives Verhalten legte sich. Ein kurzes Lächeln huschte sogar über ihre Lippen. »Wer bist du?« »Berylla, die Heilerin.« Zlava nickte. Sie sah sich in ihrer Vermutung bestätigt. »Ich habe viel von dir gehört. Wenn überhaupt jemand diese Seuche in den Griff bekommt, dann du. Ihr könnt passieren.« Sie gab den Weg frei, doch Berylla ging noch nicht weiter. »Ich erwarte Kannar Gash, einen Halbbuhrlo«, erklärte sie. »Er wird bald hier auftauchen und nach mir fragen. Wahrscheinlich hat er dann eine wichtige Nachricht für mich. Bitte, laßt ihn durch. Was er zu sagen hat, könnte eine große Bedeutung für die SOL haben.« Die Vystidin nickte erneut. Sie gab der Heilerin mit einer Geste zu verstehen, daß sie Gash durchlassen würde. Jetzt eilten Berylla und der Arzt weiter. Die Heilerin spürte, daß Osfhar eifersüchtig auf ihren Erfolg war, doch sie lächelte nur und
machte sich seinetwegen keine Sorgen. »Du hast einen erstaunlichen Einfluß auf Menschen«, sagte der Arzt während sie in einem Antigravschacht nach unten schwebten. »Ich hätte nicht gedacht, daß du es bei Zlava so einfach haben würdest. Dieses Weib ist unberechenbar und gefürchtet. Man weiß nie, wie sie reagiert.« »Wir haben Glück gehabt. Weiter nichts.« Wenig später passierten sie zwei weitere Sperren, die von Haematen errichtet worden waren. Dann endlich erreichten sie die Krankenstation Osfhars. Der Arzt erkannte sie kaum wieder. Auf den Gängen und in den Vorräumen lagen Kranke in isolierenden Schutzanzügen. Ihre Gesichter sahen marmoriert aus. Sonden und Versorgungsleitungen führten durch Schleuseneinsätze von Medo‐Robotern zu den Kranken. Mehrere Ärzte arbeiteten im Labor‐Sie beachteten Osfhar nicht, als er eintrat. »Wo ist Esther?« fragte dieser. Er erhielt keine Antwort. Empört wollte er sich auf einen seiner Kollegen stürzen, doch Berylla hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Sie verstehen nicht«, sagte sie. »Wie könnten sie auch? Sie wissen ja nicht, was geschehen ist.« Einer der Ärzte blickte auf. »Wir wissen nur, daß der verantwortliche Arzt nicht bei seinen Kranken geblieben ist«, erklärte er verächtlich. »Er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, Seuchenalarm zu geben. Das hat Esther schließlich getan. Chart Deccon hat bereits angeordnet, daß Osfhar nicht mehr als Arzt tätig sein darf.« Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Osfhar setzte zu einer geharnischten Antwort an, aber abermals hielt ihn die Heilerin zurück. »Komm«, bat die. »Kümmern wir uns lieber um die Patienten.«
Einer der anderen Ärzte stellte sich ihnen in den Weg. »Das werden wir zu verhindern wissen«, erklärte er. »Osfhar hat keine Patienten mehr. Ist das immer noch nicht klar?« Berylla blickte ihn durchdringend an. Er war etwa fünfzig Jahre alt und hatte schwarzes Haar. Ein dichter Bart zierte sein Kinn. »Einige der Männer und Frauen liegen im Sterben«, bemerkte sie. »Habt ihr irgendein Präparat, mit dem ihr sie retten könnt?« »Bis jetzt noch nicht.« »Nun also, was spricht dann dagegen, daß ich mir diese Patienten einmal ansehe?« »Wer bist du?« Die Heilerin nannte ihren, Namen, und die Haltung des Arztes änderte sich augenblicklich. »Ich habe von dir gehört«, entgegnete er voller Abneigung. »Man erzählt sich wahre Wunderdinge von dir. Nun gut. Ich bin überzeugt davon, daß sie alles andere als wahr sind. Aber das kannst du uns ja beweisen. Bitte, sieh dir die Kranken an, aber paß auf, daß du dich nicht ansteckst. Es wäre schade um dein hübsches Gesicht.« Berylla ging nachsichtig über diese Bemerkung hinweg. Die Mißgunst dieses Mediziners störte sie nicht. Sie wußte daß sie den Ärzten an Bord ein Dorn im Auge war und mit Angriffen von ihrer Seite rechnen mußte. Doch diese glitten wirkungslos an ihr ab. Ihr kam es nur auf die Patienten an. Alles andere war ihr egal. Osfhar eilte ihr voran. Sie folgte langsam und nachdenklich. Bisher hatten die Mediziner trotz größter Anstrengungen offenbar nichts gefunden, womit sie den Erkrankten helfen konnten. Ihr Verhalten verriet darüber hinaus, daß sie auch nicht wußten, woher die Seuche kam, die an Bord ausgebrochen war. Daher war es wenig erfolgversprechend, wenn sie den gleichen Weg einschlug wie sie. Osfhar blieb bei einem der Kranken stehen. In seinem Gesicht begann es zu zucken. »Esther«, flüsterte er mit versagender Stimme.
Berylla sah, daß die Frau, von der sie mittlerweile wußte, daß sie die Lebensgefährtin des Arztes war, im Sterben lag. »Laß mich zu ihr«, bat sie, doch Osfhar schüttelte nur stumm den Kopf. Die Heilerin erkannte, daß sie in diesen Minuten nichts für Esther tun konnte. Deshalb ging sie weiter zu einem anderen Patienten, einem Jungen, Auch er befand sich in einem Zustand, in dem kaum noch Hoffnung bestand. Seine Wangen waren tief eingefallen, und sein Gesicht war ohne Leben. Für einen kurzen Moment glaubte Berylla gar, daß er schon tot war. Doch dann bemerkte sie, wie seine Lippen zuckten. Sie legte ihm die Hände auf die Brust, und sogleich spürte sie ein rhythmisches Prickeln in den Fingerspitzen. Es war das, was sie insgeheim immer den »Widerstand der Krankheit« nannte. Sie war sich darüber klar, daß sie in diesem Fall allein mit den in ihr wohnenden Heilkräften nichts ausrichten konnte. Sie konnte den Jungen noch nicht einmal geistig erreichen. Somit blieb ihr die Möglichkeit, ihn psychisch zu beeinflussen, verschlossen. In solchen Fällen kannst du eigentlich gar nichts tun, dachte sie traurig. Wenn er doch wenigstens für ein paar Sekunden die Augen öffnen würde. Sie sprach leise auf den Jungen ein, nachdem sie die Mikrophone seines Schutzhelms etwas mehr aufgedreht hatte. Nach etwa einer Minute zeigte er eine Reaktion, mit der sie schon fast nicht mehr gerechnet hatte. Seine Lider begannen zu zittern. »Du hörst mich«, flüsterte die Heilerin beschwörend. »Du hörst mich. Öffne die Augen, damit du mich auch sehen kannst.« Der Junge stöhnte leise, und er atmete tiefer durch als zuvor. Ermutigt durch diesen ersten Erfolg, verstärkte die Heilerin ihre Bemühungen. Sie hatte Kontakt mit dem Kranken, und den wollte sie auf keinen Fall verlieren. »Du wirst gesund werden, wenn du nur willst«, fuhr sie fort. »Doch ich allein kann dir nicht helfen. Du selbst mußt auch etwas
tun. Du mußt gegen deine Krankheit ankämpfen. Mit aller Kraft.« »Ich bin so schwach«, antwortete der Junge. »Ja, du fühlst dich schwach, aber du bist nicht wirklich schwach. Du hast noch Kraft genug, dich zu wehren. Du mußt es nur wollen. Du willst doch, nicht wahr? Du willst gesund werden.« »Ja. Ich will«, erwiderte er stockend und mit großen Pausen, so daß sie bereits den Eindruck hatte, er habe das Bewußtsein verloren. Doch dann schlug er die Augen auf und blickte sie an. »Wie heißt du?« fragte sie. Wiederum verging eine geraume Zeit, bis er flüsterte: »Alf.« Berylla fühlte, wie es sie kalt durchlief. Auf Anhieb hatten sie den Sohn Osfhars gefunden. War es Zufall? Oder hatten die Ärzte ihn absichtlich in die Nähe seiner Mutter gelegt? Alf war einer der ersten, die krank wurden, dachte sie. Er könnte wissen, wo er sich infiziert hat. »Jemand hat dich angesteckt«, erklärte sie dem Jungen. »Du mußt mit irgend jemandem zusammen gewesen sein, der diese Krankheit schon in sich hatte. Weißt du, wer es war?« Er schüttelte müde den Kopf. »Bitte, Alf, überlege. Es ist sehr wichtig. Hast du mit einem der Roboter von Mausefalle VII etwas zu tun gehabt?« Er schüttelte abermals den Kopf. »Bist du ganz sicher? Vielleicht hast du es vergessen? Denke nach. Hast du irgendwo einen Roboter getroffen?« Er verneinte auch dieses Mal. Unwillkürlich atmete Berylla auf. Die Roboter von Mausefalle VII waren ihr sympathisch. Sie mochte sie, weil sie etwas für ihre Patienten getan hatten. Sie hatten ihre Bitten erfüllt, während die Magniden nicht einmal auf ihre schriftlichen Gesuche geantwortet hatten. Aus ihrer Sicht schien daher von diesen Automaten nur Gutes zu kommen. Es wäre eine herbe Enttäuschung für sie gewesen, wenn sich gezeigt hätte, daß
die Roboter von Mausefalle VII die Seuche eingeschleppt hatten. Irgendwoher muß sie aber gekommen sein! überlegte sie verzweifelt. So etwas kommt nicht aus dem Nichts heraus. Wenn sie niemand von außen hereingetragen hat, dann muß der Seuchenherd an Bord der SOL zu finden sein. Alf schloß die Augen. Sein Gesicht entspannte sich etwas. »Was ist mit ihm?« fragte Osfhar leise. Er hatte sich der Heilerin genähert, ohne daß diese es bemerkt hatte. »Er schläft.« Osfhar senkte den Kopf. Seine Mundwinkel zuckten. »Wenn ich doch nur etwas tun könnte«, seufzte er. Einem plötzlichen Gedanken folgend, sagte Berylla: »Ich möchte das Zimmer Alfs sehen. Geht das?« »Natürlich«, erwiderte der Mediziner. »Warum nicht. Was versprichst du dir davon?« »Ich will wissen, wo er sich infiziert hat. Vielleicht finde ich eine Spur.« Sie deutete auf das Labor, in dem die Ärzte arbeiten. »Auf diesem Weg kommen wir jedenfalls nicht weiter.« »Nein. Wahrscheinlich nicht.« Osfhar führte sie über einen Gang in eine sich anschließende Wohnung. Er ging langsam und mit schleppenden Schritten. Und er ließ die Schultern hängen, als habe er nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Berylla glaubte, daß die Erkrankung von Esther und Alf an seiner Niedergeschlagenheit schuld war, und sie machte sich weiter keine Gedanken über ihn. Osfhar ließ sich in einen Sessel sinken und deutete auf eine Tür. »Dort ist es. Sieh dich ruhig um.« Die Heilerin betrat das Zimmer des Jungen, in dem es geradezu chaotisch aussah. Spielsachen aller Art, Werkzeuge, Bastelanleitungen, halb fertiggestellte Modelle von Raumschiffen, Flugzeugen und Antigravgleitern lagen auf dem Boden herum und hingen an Fäden von der Decke herab. Dazwischen lagen Süßigkeiten, bunte Bilder, ein demontierter Interkom, eine
ausgediente Energiestrahlwaffe, Wäsche und ein gutes Dutzend Videokassetten. An den Wänden hingen Dolche, Schwerter, Kampfbögen und Speere, die zum Teil selbst hergestellt worden waren, wie an ihrer Unvollkommenheit leicht zu erkennen war, die zum Teil aber auch Originalwaffen von fremden Welten waren. Berylla stutzte, als sie sie sah. Wie ist der Junge zu diesen Waffen gekommen? fragte sie sich. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, um Osfhar danach zu fragen. Erschrocken blieb sie auf halbem Weg stehen. Der Arzt war aus dem Sessel gerutscht und lag nun ausgestreckt auf dem Boden. Sein Gesicht war tiefrot und wurde von feinen schwarzen Linien überzogen. Von einer Minute zur anderen hatte die Seuche ihn erfaßt und vollkommen verändert. Berylla zögerte nur ein paar Sekunden. Dann holte sie aus einem Schrank einen Schutzanzug hervor und streifte ihn dem Arzt über. Mehr konnte sie zur Zeit nicht für ihn tun. Sie konnte darüber hinaus nur hoffen, daß sie sich nicht selbst auch angesteckt hatte. Sie ließ Osfhar auf dem Boden liegen und ging wieder in das Zimmer des zwölfjährigen Alf. Nachdenklich betrachtete sie die Waffen, und schließlich nahm sie einen Bogen an sich, um ihn genauer zu untersuchen. Die vielen Besonderheiten daran verrieten ihr, daß Alf ihn auf keinen Fall selbst gebaut haben konnte. Dies war die Waffe eines nichthumanoiden Wesens, auf keinen Fall aber die eines Menschen. Der Griff in der Mitte des Bogens und die Größenverhältnisse paßten nicht. Berylla hängte die Waffe zurück. Woher konnte Alf sie haben? fragte sie sich, und dann begriff sie plötzlich. Er konnte sie sich nur aus einem der Lagerräume geholt haben, in die auch ihre Patienten immer wieder einbrachen, weil sie meinten, ihr ein Geschenk machen zu müssen.
In diesen Lagerräumen wurde alles aufgewahrt, was die verschiedenen Expeditionen von fremden Planeten mitgebracht hatten. Berylla wußte aus Aufzeichnungen, daß diese Dinge besonders streng kontrolliert und desinfiziert wurden, wenn sie an Bord kamen. Sie hielt es jedoch nicht für ausgeschlossen, daß dennoch irgendwann einmal etwas ins Schiff gebracht worden war, was unbehandelt in die Lagerräume gekommen war. Sie eilte zu Alf zurück und sprach erneut auf ihn ein. Sie harrte bei ihm aus, obwohl es zunächst so schien, als werde sie dieses Mal keinen Erfolg haben. Dann aber, nach fast einer Stunde, schlug er die Augen auf. Sie waren erstaunlich klar. »Du bist es«, flüsterte er. »Du hilfst mir. Ich spüre es.« »Alf, bitte, sage mir die Wahrheit. Bist du jemals in einem der Lagerräume gewesen und hast dort Waffen und andere Dinge geholt?« Er schloß die Augen und wollte sich zurückziehen, doch sie ließ nicht locker. Sie redete auf ihn ein und fragte immer wieder, bis er seinen Widerstand schließlich aufgab. »Ja«, gestand er. »Ich war dort. Ich war oft dort. Und irgendwann danach habe ich mich schlecht gefühlt. Sehr schlecht. Ich hatte mich verletzt. Am Finger.« Abermals sanken ihm die Lider, nach unten, und jetzt öffneten sie sich nicht wieder. Nachdenklich kehrte Berylla in das Zimmer des Jungen zurück, nachdem sie dafür gesorgt hatte, daß Osfhar von Medo‐Robotern abgeholt wurde. Der Zustand des Arztes war unverändert schlecht. Er schien noch nicht so stark gefährdet zu sein wie die anderen Patienten auf der Station, da der Zusammenbruch bei ihm erst vor kurzer Zeit erfolgt war. Die meist tödliche Krise trat offenbar erst nach Stunden oder Tagen ein. Doch auch das ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Bei allen entwickelte sich die Krankheit anders. Bei dem einen führte sie schnell zum Tode, während sie bei dem anderen zu stagnieren schien.
Sie mußte herausfinden, welche Toxine für die Seuche verantwortlich waren. Suchend blickte sie sich im Kinderzimmer um. Sie hatte noch nie ein Zimmer gesehen, das so unaufgeräumt war wie dieses. In dem Bereich der SOL, in der ihre Patienten lebten, gab es nur arme Menschen, die in dürftigen und engen Unterkünften lebten. Hier war es anders. Esther, Osfhar und Alf hatten jeder einen Raum für sich. Das war selbst für Berylla, die sich über ihre Lebensbedingungen nicht beklagen konnte, ein außerordentlicher Luxus. Sie setzte sich seufzend auf einen mit einem Fell überzogenen Hocker. Wie sollte sie in diesem Durcheinander das Teil finden, das Alf aus dem Depot geholt, und an dem er sich verletzt hatte? An diesem Stück mußte der Krankheitserreger haften. Entweder waren es Mikroben, oder es war ein Gift. Bei dem Gedanken an Gift richteten sich ihre Blicke unwillkürlich auf die Waffen, die an der Wand hingen. Natürlich, durchfuhr es sie. Gift. Es kann ein Gift gewesen sein, das sich auf andere überträgt. Und der Junge könnte sich an einer dieser Waffen verletzt haben. Beispielsweise an der Speerspitze. Sie nahm die Lanze von der Wand und betrachtete sie. Mir bloßem Auge war zu erkennen, daß die äußerste Spitze der Waffe einen braunen Überzug hatte. Das muß das Gift sein! dachte die Heilerin. Sie drehte die Lanze in der Hand, und dabei fiel ihr eine eigenartige Verzierung daran auf. Unter der Metallspitze befanden sich einige Fell‐ und Federbüschel. Sie verdeckten, wenn man den Speer senkrecht hielt, eingeschnitzte Muster, die aussahen wie kleine Käfer und die einen Ring um den Schaft bildeten. Berylla dachte an das Metallgefäß, das Kannar Gash ihr geschenkt hatte. Es war in gleicher Weise verziert. Auch darauf befand sich
dieser seltsame Käferring. Das ist der Beweis! erkannte sie. Alf muß den Speer aus dem Lagerraum geholt haben. Etwas anderes ist gar nicht möglich. 8. »Ich habe es gefunden«, verkündete Berylla, als sie kurz darauf das Laboratorium betrat, in dem die Ärzte arbeiteten. Sie pochte mit dem Ende der Lanze auf den Boden. Die Mediziner, vier Männer und zwei Frauen, wandten sich ihr zu. Der Bärtige, mit dem sie zuvor bereits gesprochen hatte, wies geringschätzig auf die Lanze. »Ist das die Spritze, mit der du deinen Patienten gewöhnlich Injektionen gibst?« höhnte er. Die anderen lachten. Berylla blieb ruhig und gelassen. »Von Alf, dem Sohn Osfhars, habe ich erfahren, daß er sich verletzt und vergiftet hat«, eröffnete sie den Ärzten. »Ich habe herausgefunden, daß er diese Lanze aus einem der Lagerräume entwendet hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er sich die Hand an der Spitze dieser Waffe aufgeritzt. Dabei ist das Gift in seine Blutbahn geraten.« »Heilerin«, erwiderte der Bärtige verächtlich. »Ich weiß, daß du praktisch keine medizinischen Kenntnisse hast. Dennoch solltest du wissen, daß wir es hier mit einer Infektion durch Mikroorganismen zu tun haben, die ansteckend ist. Eine Vergiftung, die sich auf andere überträgt, ist in der Medizin unbekannt.« »Was wissen wir schon von den unendlichen Möglichkeiten, die es im Kosmos gibt?« entgegnete sie. »Ich bin sicher, daß dieses Gift eine entscheidende Rolle bei den Massenerkrankungen spielt. Wir werden es analysieren und mit den Blutanalysen vergleichen.« »So? Werden wir das?« fragte der Bärtige herausfordernd. »So etwas geht aber nicht mit Handauflegen.«
Dieses Mal hatte er nur einen Lacher auf seiner Seite. Die anderen Mediziner waren nachdenklich geworden. »Wir werden jede Chance nutzen, die sich uns bietet, unseren Patienten zu helfen«, erklärte die Heilerin nun mit unüberhörbarer Schärfe in der Stimme, mit der sie Autorität forderte. »Wir werden uns nicht über medizinische Zuständigkeiten und Fähigkeiten streiten, sondern uns ganz auf das Wohl derer konzentrieren, die in Not sind und uns anvertraut wurden.« »Uns sind sie anvertraut worden«, erwiderte der Bärtige. »Das ist richtig. Dir nicht.« Berylla ging zu ihm hin und hielt ihm die Lanze hin. »Du beginnst sofort mit der Arbeit«, befahl sie mit eisiger Stimme. »Ich will nicht, daß auch nur noch eine Sekunde Zeit verschwendet wird.« Sie blickte dem Arzt starr in die Augen, spürte noch einen geringen Widerstand, brach ihn jedoch in kürzester Zeit allein mit der Kraft ihrer Persönlichkeit und ihrer Ausstrahlung. Der Mediziner nahm die Lanze entgegen, und jetzt kamen die anderen neugierig heran. Sie kratzten vorsichtig Proben von der Spitze ab und bereiteten die analytischen Arbeiten vor. Alle beugten sich nun der Heilerin, so als sei ganz selbstverständlich, daß sie die Leitung der Labors übernommen hatte. Kaum hatten die Arbeiten begonnen, als Kannar Gash hereinkam. Er drückte sich ein Tuch vor Mund und Nase. Die Angst vor der Ansteckung trieb ihm die Farbe aus dem Gesicht. Er beruhigte sich erst ein wenig, als er Berylla sah. »Es ist alles vorbei«, berichtete er. »Die SOLAG ist da. Die Schleusen werden geschlossen und die Vakuum‐Wohnräume werden umgebaut. In deinem Wartezimmer ist es bereits gerammelt voll.« Seine Worte erinnerten sie daran, daß sie zum High Sideryt gehen und mit ihm sprechen wollte. Sie war nicht weit von der Zentrale entfernt, in der sich Chart
Deccon aufhielt, den sie dafür verantwortlich machte, daß sich nun die positive Entwicklung umkehrte. Während Kannar Gash noch weitersprach, blickte sie von einem Arzt zum anderen, und erst jetzt wurde sie sich dessen bewußt, daß sie alle im Griff hatte. Warum sollte es ihr nicht auch gelingen, dem High Sideryt ihren Willen aufzuzwingen? Das würde bedeuten, die Macht über die SOL zu übernehmen, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie erschrak vor diesem Gedanken. Was wußte sie schon von der SOL? Sie kannte nur den kleinen Bereich, in dem sie geboren und aufgewachsen war, in dem sie gelebt und als Heilerin praktiziert hatte. Doch was hatte das schon zu sagen? Mir geht es nicht um die SOL, sondern darum, daß die Menschen in ihr unter Bedingungen leben können, die akzeptabel sind, dachte sie. Was ist das für eine Existenz, die so viele Menschen krank macht? Sie kann nicht die richtige sein. Da sie aus eigener Anschauung erlebt hatte, daß schon kleine Veränderungen am Schiff genügt hatten, viele gesunden zu lassen, drängte sich ihr der Gedanke auf, daß sie bereits jene Lebensbedingungen gefunden hatte, die nicht nur besser, sondern auch zukunftsweisend waren. Daraus mußte sie die entsprechenden Konsequenzen ziehen, und die konnten nur heißen: Sie mußte Chart Deccon stürzen! Alles zu seiner Zeit, ermahnte sie sich. Zuerst mußt du das Problem lösen, das uns allen auf den Fingern brennt. »Hör zu, Kannar«, sagte sie. »Erinnerst du dich an das kleine Metallgefäß, das du mir geschenkt hast?« »Natürlich. Es steht in deinem Behandlungszimmer.« »Ich muß es haben. Ich brauche es hier. Du weißt, daß es versiegelt ist. Ich vermute, daß etwas in dem Gefäß ist, was für uns alle von größter Bedeutung ist Glaubst du, daß du es holen kannst?«
»Es wird nicht leicht sein. Könntest du mir nicht jemanden mitgeben?« Furchtsam blickte der Halbbuhrlo sich um. »Wenn dieses Gefäß so wichtig ist, dürfen wir nicht das Risiko eingehen, daß irgend jemand auf den Gedanken kommt, Jagd auf mich zu machen, weil er mich für ein Monster hält.« »Du hast recht. Warte.« Sie ging zu einem der Ärzte und bat ihn, Kannar Gash zu begleiten. Sie hatte Widerstand erwartet, doch der Mediziner beugte sich ihrem Willen, ohne eine Frage zu stellen. »Es eilt«, betonte sie. »Ich muß ein Gegenmittel gegen die Seuche gefunden haben, bevor die SOL startet und dieses Sonnensystem verlässt.« »Wir sind bald zurück«, versprach der Arzt. Der bärtige Mediziner kam zu Berylla. »Ich habe hier ein erstes Ergebnis«, berichtete er. »Danach sieht es in der Tat so aus, als bestünde eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Gift an der Lanzenspitze und Stoffen, die sich im Blut der Kranken befinden. Mir scheint, wir sind auf dem richtigen Weg.« Berylla atmete auf. »Ich wußte es«, entgegnete sie erleichtert. »Bitte, macht weiter. Vielleicht können wir die Kranken noch retten.« Nach diesem Teilerfolg waren die Ärzte erst richtig motiviert. Sie stürzten sich mit einem wahren Feuereifer in die Arbeit und verfolgten die Spur, die sie entdeckt hatten. Berylla wußte, daß die Analysen außerordentlich schwierig waren und nur mit Hilfe der positronischen Maschinen durchgeführt werden konnten, wobei äußerste Vorsicht und Behutsamkeit im Umgang mit den Stoffen geboten war. Immerhin hatte man es mit einem Gift zu tun, das von einem fremden Planeten stammte und dessen chemische Eigenschaften völlig unbekannt waren. Es ist soweit, dachte sie entschlossen. Hier läuft alles nach Wunsch. Jetzt kann ich mich um den High Sideryt kümmern. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu einer der Ärztinnen. »Ich
muß mit den Magniden sprechen. Wo finde ich sie?« Die Medizinerin beschrieb ihr den Weg, und Berylla verabschiedete sich. Sie kam jedoch nicht weit. Kaum hatte sie die Station Osfhars verlassen, als ihr eine junge Frau entgegen kam, die ein fast durchsichtig erscheinendes Gesicht mit auffallend großen, grauen Augen hatte. Obwohl die Heilerin sie nie zuvor gesehen hatte, sondern sie nur aus Beschreibungen kannte, wußte sie sofort, daß dies Lyta Kunduran war. Und ihr wurde im gleichen Moment klar, daß die Magnidin krank war. Lyta Kunduran konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie stützte sich an der Wand ab und atmete mit qualvoll weit geöffnetem Mund. Sie blieb abrupt stehen, als sie Berylla bemerkte, und ihr Gesicht verzerrte sich. »Du hast es also geschafft«, sagte sie röchelnd. »Du bist hier. Ich habe es gewußt.« Sie sank zu Boden, fiel auf die Knie und drohte auf das Gesicht zu fallen. Berylla beugte sich über sie und zog sie wieder hoch. Niemand brauchte ihr zu sagen, was der Magnidin fehlte. Sie litt unter den gleichen Krankheitssymptomen wie Osfhar, und es würde nur noch Minuten dauern, bis sich ihr Gesicht verfärbte und danach wie marmoriert aussah. Was hat sie gegen mich? fragte die Heilerin sich. Sie dachte daran, daß Osfhar ihr ungewollt von dem Auftrag berichtet hatte, den diese Frau ihm erteilt hatte. Warum wollte sie Informationen über mich? Wieso hat sie gewußt, daß ich hierher kommen würde? Das konnte sie doch gar nicht vorher wissen. »Du kennst mich?« fragte sie, während sie der Magnidin aufhalf. »Natürlich«, antwortete Lyta. »Du bist Berylla. Die Frau, die Macht über andere hat. Bist du gekommen, um jetzt die Magniden zu beherrschen und die SOL zu übernehmen?« »Ich bin Heilerin«, erwiderte Berylla »Mir geht es um die
Gesundheit meiner Patienten, nicht um die Macht.« Sie wunderte sich über ihre eigenen Worte, weil sie nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Hatte sie wirklich nur ihre Patienten im Auge? War sie nicht jetzt auf dem Weg zu Chart Deccon, um ihn zu stürzen und an seine Stelle zu treten? Sie führte die Kranke in die Station und übergab sie einem der Ärzte. Dann machte sie sich wieder auf den Weg zu Chart Deccon. Dabei dachte sie über ihr Motiv nach. Mein Ziel ist es, bei Osath zu bleiben, überlegte sie. Hier werden wir von den Robotern von Mausefalle VII versorgt, und hier können wir unter menschenwürdigen Um ständen leben. Nur das zählt! Sie erreichte ein Schott, hinter dem eine Begegnung mit einem weiteren der Magniden wahrscheinlich wurde, und sie nahm sich vor, die Macht ihrer Persönlichkeit voll zu nutzen. Wer mir auch über den Weg läuft, dachte sie, er soll mich zu Chart Deccon führen. Danach sehen wir weiter. Als sie ihre Hand nach der Kontaktscheibe ausstreckte, die als Schalter für das Schott diente, glitt dieses zur Seite. Ein weißhaariger Mann mit rötlich schimmernden Augen kam ihr entgegen. Er war nicht wie ein Magnide gekleidet, Berylla wußte aber dennoch sofort, daß dieser Mann zu den führenden Persönlichkeiten der SOL gehörte. Ihre Blicke trafen sich, und der Weißhaarige blieb stehen. »Kann ich etwas für dich tun?« fragte er. »Du scheinst jemanden zu suchen.« »Das ist richtig«, erwiderte sie und entschloß sich im gleichen Moment zum Angriff. Sie spielte ihre Macht aus, mit der sie bisher jeden, dem sie begegnet war, ihren Willen aufgezwungen hatte, mit der sie Kranke heilen und jeden Gegner zum Einlenken zwingen konnte. »Zunächst muß ich mit dir sprechen.« »Warum nicht?« Sie spürte bereits, daß sie Wirkung erzielte, und sie wähnte sich am Ziel ihrer Wünsche.
»Du wirst mich zu Chart Deccon führen«, eröffnete sie ihrem Gegenüber. »Zuvor könntest du mir sagen, was du von ihm willst.« Berylla spürte keinen Widerstand mehr. Sie war überzeugt, auch diesen Mann beherrschen zu können. Ihr schien, als seien die rötlich schimmernden Augen dunkler geworden als zuvor. »Ich will erreichen, daß die SOL bleibt, wo sie ist«, erklärte sie und schilderte, welche Zustände unter den Buhrlos und Halbbuhrlos herrschten, die zu ihren Patienten gehörten, und welche Veränderungen die Roboter von Mausefalle VII vorgenommen hatten. »Die Auswirkungen dieser Arbeiten haben mich überzeugt. Sie sind so positiv, das ich mir eine bessere Lösung nicht vorstellen kann.« »Du willst also, daß wir im Osath‐System bleiben, weil du glaubst, daß wir unter der Mitwirkung der hilfsbereiten Roboter ein besseres Leben führen können.« »Das glaube ich nicht nur, das habe ich bewiesen.« Der Weißhaarige lächelte nachsichtig, und jetzt spürte Berylla, daß sie ihn doch nicht so im Griff hatte, wie sie angenommen hatte. »Ich gebe zu, daß dieser Gedanke verführerisch ist«, antwortete er. »Dennoch wird die SOL nicht hier bleiben, sondern wie vorgesehen starten.« »Nein!« »Die Entscheidung ist gefallen, und ich halte sie für gut.« »Wer bist du?« »Atlan.« Sie prallte förmlich von ihm zurück, und plötzlich war es vorbei mit ihrer Konzentration und ihrem Willen, ihr Gegenüber zu beherrschen. Sie hatte viel von dem Arkoniden gehört, der für sie eine geradezu legendäre Gestalt war und den sie viel höher einstufte als Chart Deccon. »Was spricht dagegen?« fragte sie unsicher werdend. »Es ist völlig undiskutabel, daß wir die SOL und ihre Besatzung in
eine Abhängigkeit von fremden Robotern bringen«, erläuterte er. »Ich weiß, daß es viele Mißstände an Bord gibt, und ich arbeite daran, sie zu beheben. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern braucht seine Zeit. Darüber hinaus aber verfolge ich ganz bestimmte Ziele mit der SOL und ihrer Besatzung, die sich nicht verwirklichen lassen, wenn wir hier bleiben.« »In Osath werden wir gut versorgt«, wandte sie ein. »Das dürfen wir als Argument nicht gelten lassen. Wenn wir uns irgendwo festsetzen und eine passive Rolle einnehmen, haben wir das Ende unserer positiven Entwicklung erreicht. Danach gibt es nur noch Degeneration und Untergang. Darauf werden wir uns auf keinen Fall einlassen.« »Wahrscheinlich hast du recht«, lenkte sie zögernd ein. »Wir werden die Lebensbedingungen für alle verbessern«, versprach der Arkonide. »Das schaffen wir auch ohne die Roboter von Mausefalle VII. Ich möchte jetzt, daß du zu deinen Patienten zurückkehrst und ihre Versorgung übernimmst.« »Meine Patienten sind nebenan«, eröffnete sie ihm. »Ich spreche von den Seuchenkranken. Ich hoffe, daß ich sie retten kann. Sobald meine Arbeiten hier erledigt sind, gehe ich in die SZ‐2 zurück.« Sie drehte sich um und ging davon. Atlan blickte ihr nachdenklich nach. Er hatte die Kraft ihrer Persönlichkeit gespürt, und er ahnte, daß sie ihm noch Schwierigkeiten machen würde. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte sich ihr gebeugt. Er war sicher, daß sie die Magniden – Chart Deccon eingeschlossen – überrumpelt hätte, wenn es ihr gelungen wäre, zu ihnen vorzudringen, und er war froh, daß sie es nicht geschafft hatte. Er wußte nicht recht, was er von dieser Frau halten sollte. Eine Mutantin war sie sicherlich nicht, aber ihre Überzeugungskraft und ihre Ausstrahlung waren in der Tat so stark, daß selbst er ihr fast erlegen wäre. Mit gemischten Gefühlen kehrte Berylla in die Krankenstation Osfhars zurück.
Sie war nachdenklich geworden, und sie ahnte, warum der Arkonide sie daran gehindert hatte, in die Zentrale zu den Magniden zu gehen. Sie hatte sich also nicht getäuscht. Sie wäre in der Lage gewesen, die Macht zu übernehmen. Habe ich meine Talente vergeudet? fragte sie sich. Und sie beschloß, mehr aus ihren Fähigkeiten zu machen. Sie wollte weiterhin als Heilerin tätig bleiben, denn sie wußte, daß sie ihren Ruf nur auf diese Weise erhalten konnte. Sie wollte sich jedoch Helfer heranziehen, die ihr die Routinearbeiten abnahmen, und sich bemühen, ihren Einflußbereich allmählich auf die ganze SZ‐2 auszudehnen. Sie wußte nicht, daß die SOL sich dritteln konnte. Daher ging sie davon aus, daß sie Chart Deccon wie auch Atlan gegenüber ein Druckmittel in der Hand hatte, wenn ihre Pläne aufgingen. Wenn ich die SZ‐2 beherrsche, dachte sie, während sie das Labor betrat, dann kann ich Chart Deccon und Atlan vielleicht zwingen, doch nach Osath zurückzukehren. Kannar Gash kam ihr entgegen. »Das Gefäß ist hier«, berichtete er freudestrahlend. »Alles sieht gut aus.« Der bärtige Arzt hielt ein Reagenzglas hoch und zeigte es ihr. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten«, sagte er, »aber es besteht tatsächlich ein Zusammenhang. Wir sind mittlerweile sicher, daß Alf sich tatsächlich an der Speerspitze vergiftet hat. Und es sieht so aus, als wäre in dem Metallgefäß, das der Halbbuhrlo uns gebracht hat, das Gegengift.« Eine junge Ärztin betrat den Raum. »Wir müssen uns beeilen«, drängte sie. »Mit Alf geht es zu Ende. Auch mit Osfhar sieht es nicht gut aus.« »Es ist noch zu früh«, wandte der Bärtige ein. »Wir haben die Versuche noch nicht abgeschlossen.« »Wir warten nicht mehr länger«, entschied die Heilerin und setzte sich kraft ihrer Autorität durch. »In einigen Minuten ist es zu spät.
Dann hilft es Alf und Osfhar nicht mehr, daß wir die Wirkung des Präparats ganz genau kennen. Wir injizieren jetzt.« Die Ärzte schienen froh zu sein, daß sie ihnen die Verantwortung abnahm. Niemand widersprach ihr. Der Bärtige zog das aus dem Metallbehälter gewonnene Präparat in eine Hochdruckspritze auf und begleitete Berylla dann zu den Kranken. Alf erhielt die erste Injektion, und die Heilerin blieb bei ihm, während die Ärzte zu den anderen Kranken gingen. Minuten verstrichen, ohne daß sich eine Reaktion zeigt. »Es scheint nicht zu helfen«, flüsterte Kannar Gash, der sich zu ihr gesellte. »So schnell geht es nicht«, erwiderte sie. »Wichtig ist vorläufig nur, daß er noch lebt.« »Wie kann ein Gift ansteckend sein? Ich verstehe das nicht.« »Möglicherweise können wir das später noch aufklären, vielleicht erfahren wir es nie. Es wird im Kosmos immer Geheimnisse geben, die uns Menschen verschlossen bleiben.« Die Lider Alfs zuckten, und dann schlug er die Augen auf. Er blickte Berylla an, und seine Hand tastete sich zu ihr hin. »Es brennt so«, wisperte er. »Es tut weh.« »Das geht bald vorbei«, entgegnete sie tröstend, obwohl sie nicht wußte, ob sich die Beschwerden tatsächlich in absehbarer Zeit legen würden. Er lächelte dankbar und schloß die Augen wieder. Berylla fiel auf, daß die marmorierte Verfärbung seiner Wangen nicht mehr so intensiv war wie in den letzten Stunden. Auf den Monitorschirmen des Medo‐Roboters, der die Lebensfunktionen des Jungen überwachte, veränderten sich die medizinischen Werte. Berylla erhob sich. Eine schwere Last fiel von ihr ab.
»Er ist über den Berg«, sagte sie. »Endlich wirkt das Gegengift.« Wenig später kamen einige der Mediziner zu ihr und berichteten ihr, daß auch die anderen Kranken sich erholten. »Mit einer Ausnahme«, sagte der Bärtige. »Für Osfhar kam jede Hilfe zu spät, obwohl er doch der vorletzte war, den es befallen hat. Osfhar ist tot.« »Wie geht es Lyta Kunduran?« fragte sie. »Ausgezeichnet. Sie kann die Station schon bald verlassen.« »Dann werde ich jetzt gehen«, entschied die Heilerin. Sie blickte Kannar Gash an und forderte ihn damit auf, sie zu begleiten. Er sollte der erste ihrer Helfer sein, die sie anwerben wollte. Sie schritt zum Ausgang hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Leise zischend schloß sich die Tür hinter ihr und dem Halbbuhrlo, der sich ihr angeschlossen hatte. »Die kommt wieder«, sagte der bärtige Arzt. »Darauf könnt ihr euch verlassen.« ENDE Die SOL hat endlich das Mausefalle‐System verlassen und befindet sich auf dem Weg nach Chail, um Akitar, den Chailiden, zurück zu seinem Volk zu bringen. Doch der Flug ist von Schwierigkeiten begleitet, die auf weit zurückliegende Ereignisse zurückzuführen sind. Mehr darüber berichtet Peter Terrid im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman trägt den Titel: EMOTIO‐SCHOCK