Marcus Wallace und Jonathon Bates, beide 24, sind beste Freunde und erfolgreiche Jungunternehmer. Mit einer kanadischen ...
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Marcus Wallace und Jonathon Bates, beide 24, sind beste Freunde und erfolgreiche Jungunternehmer. Mit einer kanadischen Handelsmission reisen sie nach Brasilien. Teil des Programmes ist eine Fahrt auf dem Amazonas, die sich zu einem wahren Horrortrip entwickelt: Ihr Boot wird entführt, Wallace, Bates und die anderen in einem Camp festgehalten und gefoltert. Als einigen von ihnen die dramatische Flucht gelingt und sie orientierungslos auf dem Amazonas treiben, wird schnell klar: Wer überleben will, muss dafür vielleicht sogar seinen besten Freund opfern …
Das Buch Marcus Wallace und Jonathon Bates, beide 24, sind nicht nur beste Freunde seit ihrer Zeit auf einem kanadischen Eliteinternat, sondern auch äußerst erfolgreiche Jungunternehmer. »Hypothesys«, ihre innovative Internet-Technologie, die als »Moralmaschine« dem Benutzer auf alle Fragen des Gewissens eine maßgeschneiderte Antwort gibt, hat ihnen einen Riesencoup und einen Millionenerfolg auf dem Aktienmarkt beschert. Als gefeierte Stars der New Economy reisen sie mit ihren Geschäftspartnern Barry und Lydia sowie einem Dolmetscher als Teil einer kanadischen Handelsmission nach Brasilien. Auf dem Programm steht auch eine Fahrt auf dem Rio Negro – die sich jedoch als Trip in die Hölle entpuppt: Ihr Boot wird von Paramilitärs entführt, Wallace, Bates und die anderen werden in ein Camp verschleppt und grausam gefoltert. Doch das Unmögliche wird wahr: Ein Fluchtversuch gelingt und bald schon treibt die Gruppe orientierungslos in einem Boot auf dem großen Fluss. Eines Nachts, als alle schlafen, verschwindet jedoch der schwer verletzte Barry spurlos von Bord. Einer muss ihn gestoßen haben, aber wer? Grenzenlose Angst und unbedingter Überlebenswille fordern einen hohen Preis – das eigene Gewissen …
Der Autor Andrew Pyper ist in Stratford, Ontario, geboren und aufgewachsen. Er hat Englische Literatur und Rechtswissenschaft studiert. Mit seinem Erstling Die Nachhilfestunde landete er auf Anhieb einen internationalen Bestseller. Von Andrew Pyper ist in unserem Hause bereits erschienen: Die Nachhilfestunde
Andrew Piper
Die Handelsmission Roman Aus dem Englischen von Marlies Ruß
Non-profit ebook by tigger Juni 2004 Kein Verkauf!
TwRSP
Besuchen Sie uns im Internet: www.list-taschenbuch.de
List Verlag List ist ein Verlag des Verlagshauses Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG. Deutsche Erstausgabe 1. Auflage April 2003 © 2003 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG Copyright © 2002 by Andrew Pyper Enterprises Inc. Titel der kanadischen Originalausgabe: The Trade Mission (HarperCollins, Toronto) Übersetzung: Marlies Ruß Redaktion: Lothar Strüh Umschlagkonzept: HildenDesign, München – Stefan Hilden Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa Werbeagentur, München – Zürich Titelabbildung: Frans Lanting (oben), Frans Lanting/Premium/Minden Gesetzt aus der Palatino Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-548-68049-6
Für Leonardo
Der Erhaltung des Sinnes dient weit mehr – freilich der Dichtung und Sprache weit weniger – die zuchtlose Freiheit schlechter Übersetzer. Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«
Vorher
Sie sind noch Jungen. Groß genug, um Männer zu sein, doch etwas verrät sie, selbst mit den fest zugezogenen Kapuzen ihrer Anoraks über dem Kopf. Aus der Ferne könnte man sie für zwei schwankende Betrunkene halten, die darüber debattieren, welcher Weg denn nun nach Hause führt. Doch sieh dir ihre Gesichter an: Sommersprossen auf blutleeren Wangen, aufgesprungene Lippen, zusammengepresst gegen den Wind. Ihre Angst ist weder die eines Kindes noch die eines Mannes. Nichts ist so real, dass solche Jungen es vollkommen glauben würden, obwohl sie schon gerne an etwas glauben würden, wenn sie dadurch ein oder zwei Jahre älter erschienen. Doch im Augenblick schweben sie noch zu sehr im Dazwischen, im Noch-nicht-ganzAngekommensein ihrer Kindheit. Sieh dir ihre Gesichter an: Manchmal liegt in ihren Augen eine Verletztheit, die sie noch gar nicht durchlebt haben. Es ist wie eine Vision, die sie beide gemeinsam hatten, eine Vorahnung, dass das Leben, das vor ihnen liegt, ein ständiger Handel mit Beschädigungen sein wird. Deshalb schlafen Jungen auch so viel. Und in ihren Träumen sind sie dunkle Ritter der Lüfte mit wehenden Capes. Menschlich, jedoch ausgestattet mit unglaublichen Fähigkeiten wie Röntgenblick oder einem Atem, der alles zu Eis erstarren lässt, oder der Gabe des Fliegens. Träume, die dennoch häufig schlimm ausgehen, mit aufgeschlitzter Kehle von der Klinge eines Mörders oder einem Sturz aus dem Himmel und dem Erwachen in einem erstickten Schrei, bevor sie auf dem Boden aufschlagen. »Was sagt er?« »Da lang, glaube ich.« »Wo?« 7
»Da durch. Nach Norden.« Der etwas Größere der beiden steckt den Kompass in die Innentasche seines Anoraks zurück und deutet mit zittrigem Finger zwischen all die Bäume, die sie umgeben. Offiziell ist es Winter, doch bis vor ein paar Stunden hat sich der Schnee geziert, ist um sie herumgewirbelt, wieder geschmolzen und wollte einfach nicht liegen bleiben. Jetzt kommt er schnurgerade herunter wie Murmeln. »Es wird dunkel«, sagt der etwas Kleinere, und es stimmt, der Himmel ist ein violettes Laken, das sich über die Äste der Zedern senkt. Auch wird es kalt. Ein Temperatursturz um mehrere Grad binnen einer Minute, nachdem die Sonne versunken ist. Sie haben sich verirrt, aber noch hat es keiner von beiden ausgesprochen. Es ist ihre Prüfung in »Orientierung im Freien« – mit verbundenen Augen drei Meilen tief im Wald ausgesetzt von den hämisch kichernden Aufsichtsschülern ihres Internats, den Präfekten, von denen sie immer lover boys genannt werden –, und inzwischen ist klar, dass sie versagt haben. Warum haben die Eltern des einen und die Vormunde des anderen sie überhaupt in diese Schule mitten in den kanadischen Wäldern geschickt? Pervers ist das, wie der Kleinere der beiden inzwischen zu allem sagt, was ihn anödet. Und zu allem Überfluss ist es auch noch eine dieser reinen Jungenschulen. Ihre unausgesprochene Spezialität ist es, sicherzustellen, dass die jungen Gentlemen der wohlhabenden Schichten nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Aber in welche Schwierigkeiten könnte man hier oben schon geraten, selbst wenn man es versuchte? Wo es doch nichts zu tun gibt, außer eingeschmuggelten Alkohol zu trinken und aus Klassenzimmerfenstern auf eine Wand aus Bäumen und stacheligen Bächen zu starren, die nur ins nächste Nirgendwo führen. Es ist fast, als ob die Leute, die sie hierher geschickt haben, wollen, dass sie verloren gehen. »Wirf das mal lieber weg«, sagt der kleinere Junge mit Blick 8
auf den Flachmann mit Rum, der ebenfalls aus der Tasche mit dem Kompass zum Vorschein gekommen ist. Der Größere hebt die Flasche, prostet dem anderen zu und kippt einen Schluck. Reicht dem Kleineren die Flasche, der den vor Spucke schäumenden letzten Tropfen leert. Zuerst hat der Alkohol es noch irgendwie lustig erscheinen lassen, dass sie hier im Wald feststecken; dann bescherte er ihnen immerhin noch kurze Wellen von Wärme. Inzwischen lässt er sie nur noch angewurzelt an Ort und Stelle verharren, als wäre die ganze Polsterung oberhalb ihrer Hüfte in die Beine und von da in den gefrorenen Erdboden abgeflossen. Der Kleinere wirft die Flasche in hohem Bogen fort, und mitten in der Luft lässt sie sich Zeit. Dreht sich ein halbes Dutzend Mal um sich selbst, bevor sie sich in die weiße Decke auf dem Waldboden eingräbt. Sie gehen weiter. Bringen noch ein paar Meilen hinter sich, oder um sich herum, denn immer wieder stoßen sie auf einen Fluss oder einen plötzlichen Steilhang, der ihren Kurs in Spiralen zwingt. Und mit den Stunden meldet sich die Erschöpfung mit immer neuen Überraschungen. Sie raubt ihnen alle Worte. Es gäbe sowieso nicht viel zu sagen, außer dem Offensichtlichen, das sie nur noch ängstlicher machen würde, wenn man es laut ausspräche. Keiner von beiden trägt eine Uhr, doch die Luft ist jetzt so dicht, wie sie es nur mitten in der Nacht ist. Sie bewegen sich jetzt kaum noch, mit Ausnahme der Arme, die um Gleichgewicht rudern, so dass die aufgesprungene Haut ihrer Hände immer wieder ins Blickfeld gleitet und verschwindet. Auf einer kleinen Lichtung, die von dichtem Buschwerk umschlossen ist, kommen sie zum Stehen. Wie sind sie überhaupt durch das Gebüsch gedrungen? Eine Zeit lang glauben beide zu sprechen, doch das lässt sich unmöglich mit Sicherheit sagen. Als sie die Köpfe heben, um einander anzusehen, füllt der Schnee die Luft zwischen ihnen mit fallenden Schatten. 9
»Wohin jetzt?«, fragt der Kleinere, und es sticht ihn in den Lungen, so viel Luft kostet es ihn. »Egal. Wir landen sowieso immer wieder an derselben Stelle.« »Oder was aussieht wie dieselbe Stelle.« »Läuft aufs Gleiche hinaus.« »Aber wir müssen weitergehen.« »Warum?« »Um hier rauszukommen.« »Wir kommen hier nicht raus.« »Doch.« »Und du rettest uns.« »Genau. Ich rette uns.« »Dann nimm mal.« Der Größere holt den Kompass aus seiner Tasche und reicht ihn dem anderen. Doch es ist zu dunkel, um die Kompassnadel zu fixieren, die unsicher zwischen ihren vier Optionen hin und her hüpft. »Der Kompass hat sich auch verirrt«, sagt der Kleinere. »Mann, bin ich müde.« »Wir sind beide müde. Aber wir müssen weitergehen.« »Finde ich nicht.« »Komm schon. Noch eine halbe Meile.« »Wohin?« »Warum nicht einfach geradeaus.« »Ich glaube nicht –« Doch der größere Junge vollendet seinen Satz nicht. Statt dessen ist nur das Wusch! zu hören, als sein Körper zusammenklappt und nach vorne in eine samtige Schneewehe stürzt. »Steh auf!«, ruft der kleinere Junge, das heißt, er glaubt, dass er es ruft, bezweifelt es jedoch im nächsten Augenblick. Erschreckt sich selbst mit einem seltsam hohlen Lachen. Eine Minute lang rührt sich nichts. Die Nacht ist wie erstickt, als ob sie an einem geschlossenen Fenster langstreicht. Über 10
dem Körper zu seinen Füßen sammelt sich bereits Schnee, formt aus seinen Umrissen eine neue Windskulptur. »Du musst jetzt aufstehen.« Der kleinere Junge ist auf die Knie gesunken. Dann noch einmal mit fester Stimme, zugleich heftig und brüchig. »Du musst.« »Nein, muss ich nicht.« »Ich bitte dich aber.« »Du gehst weiter. Ich warte hier.« Der kleinere Junge denkt darüber nach. Wägt seine Chancen ab, mit viel Glück vielleicht auf eine Straße oder eine Hütte zu treffen. Hilfe zu holen. Bedenkt, wie besonders dunkel die Nacht, wie besonders hart die Kälte ist. Selbst wenn er es schaffen würde – sein gestürzter Freund würde es nicht schaffen. Der kleinere Junge versucht, die Fragen in seinem Kopf so kompliziert wie möglich zu machen, um ein wenig Zeit zu schinden, doch die Antworten kommen mit schrecklicher Einfachheit. Er kann weitergehen und vielleicht überleben oder bleiben und wahrscheinlich sterben. Er rollt den größeren Jungen auf den Rücken und blickt auf eine verblüffende Maske aus fest verschlossenen Augen und Lippen. Zieht ihn die paar Schritte bis zu einem Baum, an den er ihn lehnen kann, geschützt vor dem schlimmsten Wind. »Hey, bist du noch da?«, fragt er, stoßweise atmend. Der größere Junge schafft nur eine Bewegung des Kiefers als Antwort. Er ist dabei, in Schlaf abzudriften, oder an einen noch tieferen Ort, ein für alle Mal. Der kleinere Junge weiß das, weil er selbst kurz davor ist wegzudriften. Er lässt sich neben dem größeren Jungen zu Boden sinken und macht die Reißverschlüsse ihrer Anoraks auf. Schiebt die Arme um den Oberkörper des anderen herum und zieht ihn zu sich her, kuschelt sich an ihn. Zieht die Schichten ihrer Anoraks so fest er kann um ihre Nacken und Knie. »Ein Schlafsack«, sagt er. »Das ist komisch, Mann.« 11
»Tu einfach so, als ob ich ein Mädchen wäre.« »Bist du aber nicht.« »Tu einfach so.« Ihre Körper finden hundert neue Wege umeinander herum, so dass sie schon bald fest aneinander geschmiegt sind wie zwei Tonklumpen. Unter ihren Jacken vermischt sich ihr Atem zu weißen Dampfwölkchen. Sprechen sie über die Dinge, die zählen? Über die Wahrscheinlichkeit, den Morgen zu erleben? Über die Liebe, die sie für ihre Mütter empfinden? Die sie füreinander empfinden? Ernste Worte sind nicht ihre Stärke. Vielmehr erzählt der, der dageblieben ist, dem anderen flüsternd von den Streichen, die sie beide geplant und ausgeführt haben. Säuselt ihm die gemeinen Spitznamen, die sie ihren Lehrern gegeben haben, als Schlaflied ins Ohr. Dann gehen selbst ihm die Worte aus, samt der Kraft, sie auszusprechen. Der Schnee trommelt auf ihre Schultern. Schon bald brausen sie in silbernen Capes, die hinter ihnen herflattern, durch den sternendurchlöcherten Himmel. Alarmiert von den Hilferufen unter ihnen, bereit, Helden zu sein.
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»Meine Damen und Herren, mein Name ist Marcus Wallace, und ich möchte Sie persönlich in Ihrer Zukunft willkommen heißen.« Das ist in Brasilien, aber es könnte überall sein. Ein langer Konferenzraum, beleuchtet von heruntergedimmten Halogenlampen in der Decke, ein Dutzend Stuhlreihen, Blumentöpfe mit Farnen rund um das Rednerpult. Der vordere Teil ist für die Fotografen reserviert, deren Blitzlichter jedes Mal wie fernes Artilleriefeuer explodieren, wenn eine der beiden Personen auf der Bühne eine Grimasse schneidet oder irgendeine Geste macht. Dahinter sitzen die Journalisten, kritzeln vornübergebeugt in ihren Notizblöcken wie eh und je oder klimpern auf ihren Laptops, was sie inzwischen immer öfter tun. Dann kommen die Geldreihen: Anzüge, Seidenhemden, Schweizer Uhren im Gegenwert eines Einstiegsmodells einer amerikanischen Limousine. Der, der da zu ihnen spricht, ist ein Junge. Auch der andere auf der Bühne ist ein Junge, wobei er allerdings noch nichts gesagt hat und auch nicht die Absicht zu haben scheint, dies in nächster Zeit zu tun. Er sitzt vielmehr an einem kleinen, aus einem Stück gegossenen Plexiglastisch (und wippt darunter unübersehbar mit den Knien in seinen Cargo-Pants). Sein Blick ist fest auf den Computerbildschirm vor ihm gerichtet, und von Zeit zu Zeit hackt er auf die Tastatur ein, als renne eine Kakerlake darauf herum. Die beiden sind so weit auseinander, dass man sie nicht einmal vom hinteren Ende des Raums mit einem Blick erfassen kann, und so lässt man die Augen zwischen den beiden hin und her wandern. Kommt zu dem Schluss, dass der erste Eindruck falsch war. Es sind gar keine Jungen. Es sind junge Männer. Doch das Wort bleibt trotzdem an ihnen haften. 13
Es stimmt irgendwie. Man ist sich sicher, dass es sie nie ganz verlassen wird. »Bevor wir mit der Präsentation dieses Nachmittags beginnen, möchte ich Ihnen gerne meinen Partner vorstellen – Gott, das klingt immer, als ob er meine Frau wäre oder so was, wenn ich das sage! –, den eigentlichen Kopf hinter dem Erfolg von Hypothesys, Jonathon Bates.« Der junge Mann an dem Plexiglastisch wippt noch heftiger mit den Knien und hebt die Hand in einer Art Winken über den Kopf. Ein Lächeln flackert über seine Lippen, anscheinend ohne dass er es ganz unter Kontrolle hätte. »Dies ist eine der ersten öffentlichen Vorführungen unseres Produkts«, sagt der Stehende, »das ist also ganz schön aufregend für uns hier oben – oder hier unten, sollte ich wohl besser sagen, wo wir doch in Südamerika sind.« Ein Kichern rutscht ihm heraus, das seinerseits eine Runde von Glucksern und Räusperern im Publikum auslöst. Er ist süß. Jeder möchte ihn gern haben. Und sie tun es schon. »Warum ist das aufregend für uns? Nun, ganz einfach. Wir glauben, wir haben mit Hypothesys etwas geschaffen, was die Art und Weise, wie wir unser Leben führen, einschneidend verändern wird. Und das ist jetzt nicht wieder das übliche Reklamegewäsch, das Sie hier bestimmt schon die ganze Woche haufenweise aufgetischt bekommen haben. Weil unser Produkt nämlich nicht dasselbe ist wie das, was Sie die ganze Woche gesehen haben. Nicht noch so eine Internetseite, auf der man Lebensmittel oder Bücher kaufen oder sich Pornos live aus einem gemieteten Zimmer in Amsterdam ansehen oder via Webcam irgendeinem Nobody rund um die Uhr dabei zuschauen kann, wie er sich mit seiner Freundin streitet oder sich die Zähne putzt. Hypothesys ist nichts von alldem. Vielmehr kann Hypothesys buchstäblich alles sein, was Sie wollen. Etwas, was Sie brauchen. Ihr Vertrauter. Ihr bester Freund. Ihr an keine Konfession gebundener geistiger Berater. Zu jeder Tage14
sund Nachtzeit ist er für Sie da. Bietet Ihnen Orientierung in den schwierigsten Fragen des Lebens oder auch in den trivialen, zu denen Sie einfach gerne noch eine zweite Meinung hätten. Oder wie es auf dem Spruchband über unserem Stand in der Messehalle heißt: ›Hypothesys hilft Ihnen, die besten Entscheidungen Ihres Lebens zu treffen!‹« Damit verdunkeln sich die schon gedämpften Lichter noch mehr und an der Rückwand der Bühne glimmt ein großer Bildschirm blau auf. Allmählich tritt das Wort HYPOTHESYS in Weiß hervor, eine Wolke, die an einem klaren Himmel Gestalt annimmt. Ein Düsenjet durchquert donnernd das Bild und aus dem sich zersetzenden Streifen der Auspuffgase entsteht der Schriftzug »Neue Ethik-Technologien für die Menschheit«. Sogar von ganz hinten kann man das eingekreiste c erkennen, das das Copyright für jedes einzelne dieser Wörter geltend macht. Jetzt sind die zwei jungen Männer Silhouetten vor dem perfekten Blau, mit Ausnahme der kreisrunden Lichtkegel auf ihren Gesichtern, Spotlights, die jeder ihrer Bewegungen folgen. Sie sehen aus wie Gespenster in einer Schultheateraufführung. »Verschiedentlich wurde unser Projekt eine Moralmaschine genannt, doch das stimmt nicht ganz«, fährt die jetzt körperlose Stimme des jungen Wallace fort. Erst jetzt, in der plötzlichen Dunkelheit, fällt auf, wie voll sie ist, zugleich jungenhaft und Erfahrung suggerierend. »Hypothesys liefert weder Moral per se, noch ist es eine Maschine im engeren Sinn. Was ist es also? – Es ist eine Bibliothek der zeitgenössischen Ethik. Der Prozess, der dahinter steht, wird als kollaboratives Filtern bezeichnet, doch das ist nicht so kompliziert, wie es klingt. Es ist eigentlich nur eine Umfrage. Eine große Umfrage. Eine Umfrage, die in einer Sammlung von Daten resultiert, die uns – nach sorgfältiger Aufbereitung – etwas über unser eigenes Verhalten sagen kann. Bis jetzt wurde der Prozess des kollaborativen Fil15
terns zu recht absehbaren kommerziellen Zwecken genutzt. Sie kennen das ja alle: ›Wenn Ihnen dieser Film oder diese CD gefallen hat, dann wird Ihnen bestimmt auch dieser Film und diese CD gefallen‹, das Ganze auf der Basis dessen, was andere Leute vor Ihnen gekauft haben. Hypothesys ist im Vergleich dazu wesentlich ambitionierter. Es hat nichts zu verkaufen, außer uns selbst. Es ist das, was wir – wir alle zusammen – in diesem Augenblick sind. Ja, es ist ein universeller menschlicher Geist.« Bates fängt an, wie verrückt seinen Laptop zu bearbeiten, und ein lebendiges Gehirn erscheint auf dem Bildschirm, groß und mit weißen pulsierenden Elektrizitätsströmen. »In den vergangenen Monaten haben wir eine der umfangreichsten Studien zu den Wert- und Moralvorstellungen einzelner Individuen durchgeführt, die je unternommen wurden«, fährt Wallace fort, während sein vom Scheinwerfer erhelltes Gesicht von einer Seite der Bühne zur anderen wandert. »Und wir haben die Leute nicht etwa danach gefragt, welche Turnschuhfarbe ihnen am liebsten ist oder was sie für ein Auto fahren oder ob sie in einem Haus oder in einem Erdloch leben. Kurzum, uns ging es nicht um die übliche todlangweilige Marktforschung, von der Sie schon mehr als genug gehört haben. Der Markt hat uns nämlich überhaupt nicht interessiert, sondern die Antworten der Menschen auf hypothetische Fragen. Ihre Skrupel. Wie wir uns entscheiden, unser Leben zu leben. Bates?« Ein Flimmern auf dem Bildschirm verleibt sich wie ein summender Insektenschwarm das Gehirn vom Hirnstamm bis zu den Hirnlappen ein und weicht anschließend einer Aufnahme von einer dicht bevölkerten Großstadtstraße. Wogende Menschenmassen, die eine Hälfte in nördlicher, die andere in südlicher Richtung gehend. Es dauert ein paar Sekunden, bis man merkt, dass es sich um ein computergeneriertes Bild handelt (nur die leichte Überintensität der digitalisierten Farben 16
verrät es). Dann fällt einem auf, dass noch irgendetwas anderes nicht ganz stimmt. Die Menschenmenge besteht aus Männern und Frauen, alt und jung, mit Hautfarben in jeder Schattierung zwischen Schwarz und Albino, hier ein Hals mit einem Kreuz daran, dort ein Davidstern, hier ein Kopf mit Turban und dort ein verschleiertes Gesicht. Eine Straßenszene, die zwangsläufig von einem Computer entworfen sein muss, denn nirgendwo in der realen Welt gäbe es eine, die so vollkommen repräsentativ wäre. »Es gibt natürlich, das ist ganz klar, kein einzelnes Gesetz, das unser Handeln bestimmt. Unsere unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Erfahrungen formen unsere ethische Ausrichtung auf tausenderlei Weisen und ganz im Verborgenen. Doch Hypothesys sind diese Unterschiede gleichgültig. Hier geht es um die Gemeinsamkeiten, nicht um das, was uns unterscheidet. Und da die gesammelten Daten die Identität derer, die an der Sammlung mitgewirkt haben, nicht berücksichtigt, ist es ein Programm, das in jedem Land mit derselben Effektivität eingesetzt werden und für jeglichen Lebensstil von Relevanz sein kann. Wir haben in gewisser Weise einen elektronischen Jedermann geschaffen. Oder eine ›Jedefrau‹.« Jetzt verschwimmt die Straßenszene zu einer Palette leuchtender Farben, die sich sogleich erneut zusammenfügen zu einem Bild der Erde vom Weltraum aus gesehen. Schimmernde, perlende Musik scheint in einer Vielzahl unterschiedlicher Melodien aus allen Ecken des Saals zu kommen und sich zwischen unseren Ohren zu vereinigen. Ein Chor synthetischer Stimmen, der von innen heraus kommt. Home, singen sie. Home! Allmählich jedoch werden das Blau und das Braun des Planeten und die erhabenen Wolkenmassen immer detaillierter, feindseliger. Plötzlich rasen wir auf die Erdoberfläche zu. »Und wie funktioniert es nun?« Wallace’ Frage schneidet durch den Soundtrack, der inzwischen zu einer wagnerianischen Klimax aus wirbelnden Synthesizern angeschwollen ist. 17
»Nun denn, meine Freunde, begeben wir uns direkt in das Gehirn von Hypothesys und finden es heraus!« Die Erde in gewölbtem 3-D-Effekt füllt den Bildschirm inzwischen vollkommen aus, und mit einem Donnerkrachen schlagen wir irgendwo in der Mitte des Pazifiks ein, sinken hinunter in die Tiefe, bis die letzten Strahlen Sonnenlicht, die von der Oberfläche herabdringen, sich verlieren und der gesamte Konferenzraum in Dunkelheit versinkt. Jemand putzt sich die Nase. Ein Hupen wie der Schrei einer Wildgans in der Stille. Dann erscheint das Gesicht einer Frau auf dem Schirm. Während wir es betrachten, verändern sich ständig subtil ihre Züge – die Haarfarbe, die Schattierung ihrer Haut, ihre Nasenlänge, die Form ihrer Lippen –, so dass sie nie festgelegt ist. Nie nur eine einzige Frau, sondern ein sich endlos drehendes Karussell von Frauen. »Darf ich Ihnen Camilla vorstellen«, sagt Wallace, jetzt mit weicherer Stimme. »Sie hat ein Problem. Sie weiß etwas, was ihr Mann nicht weiß, und sie kann sich nicht entscheiden, ob sie mit ihm darüber sprechen soll oder nicht.« Das Gesicht der Frau verwandelt sich fließend in das eines Mannes. Zahlloser Männer. »Vergangene Woche hat Camilla Stephen geküsst. Stephen ist ein Freund von Camillas Mann, die beiden spielen an Wochenenden zusammen Golf, die Familien treffen sich zum gemeinsamen Grillen. Doch letzte Woche hat Stephen Camilla angerufen und sie zum Lunch eingeladen. Und was ganz wichtig ist: Camilla fand, dass das seltsam war. Camilla und Stephen waren noch nie zusammen beim Lunch. Es ist nämlich so, dass sie Stephen in letzter Zeit öfter dabei ertappt hat, wie er sie komisch ansah. Sie wissen schon, dieser schmachtende Blick, Latin Lover und so. Aber hey, wir sind hier in Brasilien – so was brauche ich Ihnen nicht zu erklären!« Beifälliges Gelächter setzt ein, begleitet von einem lüsternen 18
Johlen irgendwo aus den Reihen der Journalisten. Ohhoo! »Doch Camilla traf sich trotzdem mit Stephen. Sie tranken Wein, es war alles sehr nett. Dann, beim Tiramisu, lässt Stephen die Bombe platzen. ›Ich liebe dich‹, sagt er. ›Ich werde dir und deiner Ehe nicht in die Quere kommen, wenn du es nicht willst. Aber ich musste es dir einfach sagen.‹ Camilla kommt sich vor wie ein kleines Kind. Sie spürt, wie ihre Wangen brennen.« (Die Gesichter der Frauen im Publikum richten sich wieder auf den Bildschirm, alle errötend.) »Sie zahlen und verlassen das Restaurant. Und da, gleich auf dem Gehsteig und ohne zu wissen, was sie da eigentlich tut – wobei sie es aber eben doch tut, ganz klar, das weiß sie ganz genau –, küsst sie Stephen, als ob er gleich in den Krieg ziehen würde. Wohlgemerkt, wir reden hier von Leidenschaft, Leute.« Das Männergesicht kehrt auf den Bildschirm zurück und das Frauen- und das Männergesicht küssen sich; das Rosarot ihrer Zungen schimmert auf, bevor sich ihre Lippen berühren. »Und nun weiß Camilla nicht, was sie tun soll. Sie würde ihre Freundinnen um Rat fragen, aber die würden es überall herumtratschen. Und ihr Pfarrer? Ihr Rabbi? Die hat sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr gesehen. Außerdem fühlt sich alles so kompliziert an. Vielleicht liebt sie ja Stephen auch. Aber die Kinder? Und ihr Mann? Klar, sie liebt ihn immer noch, aber, mal ganz ehrlich, doch um einiges weniger als früher. Ist das hier ihre letzte Chance auf Abenteuer? Oder ist das jetzt dieser Knackpunkt, von dem sie schon gehört hat, an dem sie dann zu ihrem Mann geht und ihm alles erzählt, damit sie das gemeinsam durchstehen können? Gilt ihre Verpflichtung dem eigenen Glück oder dem Glück der anderen? Wie Sie sehen, sind hier eine ganze Menge Faktoren im Spiel, selbst in einer so gewöhnlichen Situation wie der geschilderten. Zu viele, als dass ein Gehirn allein damit fertig werden könnte. Und hier kommt Hypothesys ins Spiel.« Das Wort BEZIEHUNGEN erscheint am unteren Rand des 19
Bildschirms, und dann weitere Wörter oberhalb davon, die daraus hervorwachsen und sich in verschiedene Richtungen verzweigen, EHE und EHRLICHKEIT und KINDER und SEX. Je höher der Baum aus Wörtern wird, umso feiner und verzweigter werden die Äste, bis sie sich schließlich zu einer einzigen Masse dichten Laubwerks überlagern, das in einem Windhauch vibriert. »Camilla benutzt unser Programm, um ihr Problem Schritt für Schritt zu lösen. Sie sieht sich genau an, was sie wirklich fühlt, gibt dann die genauen Fakten ihrer Situation einen nach dem anderen ein. Sie bewertet bestimmte Wahrnehmungsfaktoren auf einer Skala von eins bis zehn, zum Beispiel den Schmerz, den sie empfinden würde, wenn sie ihren Mann verließe, ihr physisches und emotionales Verlangen nach Stephen, das Ausmaß an Unbehagen, das es ihr bereiten würde, den Mann über längere Zeit heimlich zu betrügen, dem sie vor Jahren die ewige Treue schwor, etc. etc. Und diese Faktoren werden dann mit den Antworten jedes anderen Teilnehmers in der Hypothesys-Bibliothek abgeglichen. Binnen Sekunden kann das Programm Camilla seine Antwort geben.« Auf dem Schirm erscheint ein Arbeitsblatt mit Dutzenden von Zahlenspalten, über denen als Überschriften dieselben Wörter stehen, die vorher an der Basis des Baums gestanden hatten. »Und was sagen wir ihr nun, was sie tun soll? Nun, die Antworten zu lesen ist selbst eine Art Kunst – die Antwort ist kein simples Ja oder Nein –, letztlich läuft sie auf etwas hinaus wie: ›Greif zu! Das Leben ist kurz! Aber sag es deinem Mann erst, wenn du ganz sicher bist, dass Stephen auch wirklich etwas Dauerhaftes will.‹ Na gut, es mag vielleicht nicht die ehrenwerteste Entscheidung sein, meine Damen und Herren. Aber es ist die, die uns, so wie wir wirklich sind, am gerechtesten wird.« Die Ziffern auf dem Bildschirm zersetzen sich, und an ihrer Stelle kehrt Camillas Gesicht zurück und nickt ein Dankeschön 20
in Richtung der schlanken, schattenhaften Gestalt von Wallace. »Danke, Camilla«, sagt er zu der digitalen Repräsentation des weiblichen Teils der Menschheit und wendet sich dann wieder uns zu, der breiten Schneise aus Fleisch und Blut zu seinen Füßen. »Und danke Ihnen allen fürs Kommen. Natürlich war diese Demonstration nur ein ganz grundlegendes Anwendungsbeispiel für die Fähigkeiten unseres Programms. Hypothesys ist so komplex wie Sie selbst – und nur Sie wissen, was das wirklich heißt. Ich hoffe, Sie nutzen die Gelegenheit, Hypothesys an unserem Stand in der Messehalle selbst auszuprobieren – und, wohlgemerkt, Vertraulichkeit ist garantiert!« Camilla verschwindet. Das Bild auf dem Schirm fällt zu einem Fraktal zusammen, einer dieser willkürlich hin und her springenden Linien, die sich plötzlich zu Städten mit fantastischen Architekturen entwickeln, um sie dann wieder wegzuwischen und von neuem anzufangen. Die Halogenscheinwerfer tauchen den Raum in ausreichend orangefarbenes Licht, um das Publikum als einzelne Köpfe sichtbar werden zu lassen. Wallace’ Blick schweift über jeden einzelnen von ihnen hinweg. »Ich glaube, es bleibt Zeit für ein paar Fragen«, sagt er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Die Stifte, Palmpilots und Zeigefinger der Journalisten schießen in die Höhe. »Ja, Kevin?« »Können Sie sich Anwendungen Ihres Programms außerhalb des Bereichs eines persönlichen Ratgebers vorstellen?« »Wir arbeiten immer an neuen Möglichkeiten. Es hat Anfragen gegeben. Das Pentagon sieht ein Potential für militärische Einsatzmöglichkeiten. Bestimmte Regierungen haben Interesse an einer Nutzung bei der Entwicklung politischer Strategien gezeigt. Unabhängige Organisationen, religiöse Führungen, Firmenleitungen. Überall, wo Entscheidungen getroffen werden müssen, kann Hypothesys beteiligt sein.« 21
»Wie läuft der Verkauf?« »Diese Reise allein war schon sehr erfolgreich«, sagt Wallace und senkt eine halbe Sekunde lang in augenfälliger Bescheidenheit den Blick. »Barry und Lydia, die als unsere Teilhaber für die finanzielle Seite zuständig sind, haben erst gestern die weltweiten portugiesischen Rechte für eine, tja, was soll ich sagen? – eine bedeutende Summe verkauft.« »Wir haben etwas von vier Millionen gehört.« »Da haben Sie ziemlich gut gehört.« »Was ist mit dem Kinofilm?« »Was ist das bloß immer mit euch Journalisten und den Filmen? Man könnte meinen, ihr würdet alle am liebsten für Variety oder so was arbeiten.« »Na, uns geht’s eben allen nur um den Glamour, stimmt’s? Also, was ist das für ein Deal?« »Der Deal ist, dass Paramount vor zwei Wochen eine Option auf die Filmrechte für unsere gemeinsame Autobiographie erworben hat. Soviel ich gehört habe, wird bereits an einem Drehbuch gearbeitet.« »Wer soll Sie und Mr Bates spielen?« »Nun, ich finde natürlich, dass für mich nur der momentan angesagteste Zwanzig-Millionen-Dollar-pro-Film-Pretty-Boy in Frage kommt. Das heißt, wir brauchten wohl zwei von denen, wenn ich es mir recht überlege«, sagt er mit einer entschuldigenden Grimasse in Richtung Bates. »Ein Konzept, das die Leute vom Filmstudio erwähnten, ist eine upgedatete Version von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ich bin dabei. Was meint ihr dazu?« »Wären Sie der Schöne oder das Biest?« »Sehr witzig, Diane.« »Ist die Autobiographie denn überhaupt schon veröffentlicht?« »Hey, wir sind hier erst mal noch dabei, unsere Biographien zu leben. Wir hatten bisher noch keine Zeit, darüber zu schrei22
ben.« »Eine Frage an Mr Bates. Haben Sie es nicht manchmal satt, immer die zweite Geige hinter ihrem überschäumenden Partner hier zu spielen?« Der junge Mann hinter dem Computer schaut zum ersten Mal direkt zu uns ins Publikum. Sein längliches Gesicht ist völlig ausdruckslos, als ob jemand ihn eines schrecklichen Vergehens bezichtigt hätte. Aber so sieht er mehr oder weniger immer aus. »Es gibt keine zweite Geige bei Hypothesys«, sagt er mit gleich bleibender Stimme, wobei allerdings seine Knie jetzt an die Unterseite des Schreibtischs stoßen. »In unserer Partnerschaft spielen wir beide die erste Geige.« »Wohl gesprochen, Bates«, schaltet sich Wallace dazwischen und gibt Bates ein unmerkliches Zeichen, auf das hin dessen Kopf wieder zum Bildschirm zurückschwenkt. »Okay, Leute, letzte Frage.« »Was ist Ihre Meinung hinsichtlich der Möglichkeit, dass Ihr Team eines Tages als erstes echte künstliche Intelligenz in Computern entwickelt?« »Ich glaube, dieser Tag ist schon da, Brad.« Wallace blinzelt ein paarmal in vollem Ernst. »Wenn unser Programm Ihnen empfehlen kann, wie Sie Ihr Leben leben sollen, und dieser Rat nicht schlechter ist als das, was die meisten Menschen Ihnen wahrscheinlich auch raten würden, ist das dann nicht ein Ausdruck von Intelligenz? Nehmen wir doch einmal an, dass Weisheit dem Gesetz des Durchschnitts unterliegt – und wer kann behaupten, dass dem letztlich nicht so ist? Ich meine, genau das bedeutet doch Rationalität –, dann haben wir hier den alten weisen Mann vor uns, wie er oben auf dem SiliconMountain sitzt, meine Freunde.« Damit stößt Wallace mit der Faust in seine Handfläche und Bates hackt ein letztes Mal in seine Tastatur. Die Synthesizermusik kehrt zurück, eine einzelne trommelnde Bassnote, wie ein ferner Güterzug. Während Wallace vom Rednerpult zu23
rücktritt, dabei mit den Lippen ein unhörbares Danke formt und gezielt auf einzelne Gesichter im Publikum zeigt wie ein Präsidentschaftskandidat, schwillt die Musik an. Der Bildschirm an der Wand hinter der Bühne verwandelt sich in eine langsame farbige Lichtorgel, die den Raum in Halbsekundenintervallen in Blau und Gelb und Unterwassergrün einfriert. Und als der Klang der Musik schließlich unseren Brustraum erfüllt (erst jetzt merken wir, dass wir seit dem ersten Danke wie wild applaudieren), steht Bates von seinem Plexiglastisch auf und gesellt sich zu Wallace am vorderen Bühnenrand. Sie wenden sich einander mit einem Lächeln zu, heben dabei die Arme und legen sie einander um die Hüfte. Diese Bilder bleiben länger in unserer Erinnerung haften als irgendeiner der vorangegangenen Slogans oder Spezialeffekte. Irgendwie ist klar, dass dies der einzige Teil der Präsentation ist, der nicht genau geplant war. Eine Geste, die zu fließend ist, um einstudiert zu sein, zu vertraut, ohne die zögernde Steifheit des Denkens. Zwei junge Männer im tosenden Applaus eines erwachsenen Publikums, so dicht beisammen, dass sie an einem verborgenen Punkt verbunden sein könnten, aneinander gekettet mit einem durchsichtigen Draht, der ihnen individuellen Bewegungsspielraum lässt, sie aber auch jederzeit wieder mit einem Ruck zueinander reißen kann. Sie könnten Brüder sein. Oder männliche Models, die in ihrem perfekten Glück von einer Hochglanzseite herunterstrahlen. Oder Strichjungen, die ihre Schicht auf der Straße beginnen. Ich stehe an der Rückwand des Raums und halte sie mit meinem Blick fest, solange ich kann. Wir alle tun das. Ein letzter Blick auf die Dinge, wie sie sind, bevor sie sich in das verwandeln, was kommt.
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Nicht einmal zwei Stunden sind seit Wallace’ und Bates’ Verkaufspräsentation vergangen, als ich dem Premierminister die Hand schüttle. (Er ist nett, kleiner als im Fernsehen und hat feuchte Handflächen. Als ich in der Begrüßungsschlange an ihm vorbeikomme, versichere ich ihm, dass er meine Stimme hat, aber das ist gelogen. Eine harmlose, um Gunst buhlende kleine Lüge.) Wir sind in São Paulo, bei einem Empfang im Ballsaal des kanadischen Konsulats. »Kanadischer Champagner« und mennonitischer Cheddarkäse aus Ontario schwitzen auf den Büfett-Tischen vor sich hin, der Saal ist gesäumt von bleichen Gesichtern, die wie nasser Gips glänzen. Es ist sofort klar, dass diese Leute – Regierungsbeamte, Anwälte für internationales Recht, Topmanager, millionenschwere Softwarecodeentwickler aus Silicon Valley – gefährlich selten Luft atmen, die nicht aus dem Kühlschrank kommt. Fast alle sind Männer. Ich bin mit den anderen Mitgliedern des Hypothesys-Teams hier, muss ich auch, da sie mich auf die Reise mitgenommen haben, um für sie zu dolmetschen, weil sie sich ohne mich nicht einmal einen Teller Reis bestellen könnten. Es ist ein guter »Gig«, wie jene meiner Dolmetscherkollegen sagen würden, die sich wie ich von Auftrag zu Auftrag hangeln und sich dabei als alte Hasen unserer Zunft sehen, wohl vertraut mit internationalen Reisen, diplomatischem Protokoll und Kriegsschauplätzen. Die Wahrheit sieht allerdings eher so aus, dass wir kaum je einen Auftrag bekommen, der uns mal aus der Stadt hinausbringt. Leider hat – welche Überraschung! – der Besitz eines wenig marktgängigen Doktorgrads in Wirtschaftsgeschichte, zusammen mit meiner einzigen weiteren Qualifikation, nämlich sowohl Englisch als auch ein ganz passables Portugiesisch zu sprechen, nicht gerade zur schillerndsten aller 25
denkbaren Existenzen geführt. Ich lebe allein: ein Freitagabend-Videogucker von Scorcese-Filmen und allem, wo Gwyneth Paltrow mitspielt, in einer Souterrain-Einzimmerwohnung, meistens solo – Galbraith, mein miauender verkrebster Kater, musste vor kurzem eingeschläfert werden. Einmal klingelte mein Telefon neuneinhalb Tage lang nicht (und als dann ein Anruf kam, war es mein Fitnessstudio: ob ich mit dem Angebot unzufrieden sei, da ich seit mehreren Monaten nicht vorbeigeschaut hätte). Da ist ein Gratistrip nach Brasilien samt einem Tageshonorar, das einen vollen Monat Kabelprogramm abdecken würde, und einem Hotelzimmer mit voller Minibar ganz für mich allein – na ja, eben ein guter Gig. Besonders reizvoll an dem Ganzen ist, dass ich nur für die Konferenzteilnehmer zuständig bin, die direkt mit dem Hypothesys-Produkt zu tun haben, im Gegensatz zu manchen meiner Kollegen, die wie überarbeitete Hirtenhunde ganze Herden von Ministerialbürokraten beisammenhalten müssen. In meinem Fall sind es nur die vier. Wallace und Bates (die zwei vierundzwanzigjährigen »Wunderknaben aus Kanadas Großem Weißem Web«, wie sie auf der Titelseite von Newsweek genannt wurden); Barry, ihr Management-Partner, per Headhunter einer Pharmafirma in Atlanta abgeluchst, deren bekanntestes Produkt ein verschreibungspflichtiges Medikament gegen vorzeitigen Haarausfall war, bis sie dann mit »Viagra für Frauen« den großen Durchbruch hatten; und Lydia, die zarte englische Rose, ihre Rechtsberaterin für Europa, ein paar Jahre älter als ich, vierzig und ein paar Zerquetschte, mit einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften (»iikonomics«, wie sie mit schönstem britischen Akzent sagt) von Oxford oder Cambridge, ich weiß nicht genau, von welchem von beiden, weil sie ständig von den »alten Zeiten drüben« an beiden spricht. Ich lernte sie alle in der Woche, bevor wir hier herunterflogen, im Büro der Jungs in Toronto kennen: ein Brunch mit Catering in ihrem »Studio«, das als Gelegenheit zum »Abhängen 26
und Chillen« gedacht war, wie Wallace es in seiner Nachricht auf meinem Anrufbeantworter formulierte. Doch das Studio entpuppte sich als eine komplette Etage einer ehemaligen Knopffabrik unten in den Docklands, jetzt ausgestattet mit einem Dukes-of-Hazzard-Flipper, einer Sitzgruppe, die anscheinend mit Straußenfedern bezogen war, und einer Hand voll verkabelter Schreibtische, die einsam und verloren wie Inseln im Pazifik in dem Riesenraum schwammen. Bates stellte sich als Erster vor. Schüttelte mir die rechte Hand, während er mir eine Champagnerflöte mit Pol Roger in die linke drückte, und zog mich dann in die Mitte des Raums, um mir vorzuführen, wie die ferngesteuerten Jalousien an den Fenstern den Blick auf die metallische Fläche des Lake Ontario freigaben. Lydia zupfte ein Haar von meinem Ärmel und küsste mich auf beide Wangen. Barry bot mir Karten für das Blue-Jays-Spiel am nächsten Tag an, zu dem er selbst nicht hingehen konnte. Wallace forderte mich zu einer Runde Flipper heraus und ließ mich gewinnen. »Es gibt viel Platz hier«, sagte er; er hatte den Arm um meine Schulter gelegt und versuchte, durch den Wald aus Betonpfeilern zu spähen. Mir war unklar, ob er das Büro selbst meinte oder die sich bietenden Gelegenheiten innerhalb des Unternehmens oder den globalen Marktplatz, von dem inzwischen alle so viel redeten. Heute weiß ich, dass er einen Platz für mich in ihrem Kreis meinte. Wenn ich wollte, dann könnte ich ein Teil dieser seltsamen Familie aus englischer Mutter, Cowboy-Vater und zwei Söhnen werden, die durch die Chemie des Kommerzes anstatt der des Blutes verbunden war. »Wir stehen uns ziemlich nahe«, erklärte Wallace, nachdem er Barry ausgekitzelt hatte, bis dem die Tränen kamen. »Hör auf!« Kapitulation auf dem Straußensofa. Und es stimmte. Sie hatten allesamt in den vergangenen vier Monaten mehr Geld gemacht als jedes ihrer Elternpaare in ihrem ganzen Leben. Ihr 27
Zusammensein war eine fließende Mischung aus Gelächter, kleinen geteilten Geheimnissen und Initiationsriten. Sie hatten Spaß. Sie nannten mich von Anfang an nur bei meinem Nachnamen – in kollegialem, kumpelhaftem Ton. Jetzt sind wir hier. Auf Verkaufstour. Wir gehören alle zur offiziellen kanadischen Handelsmission in Brasilien, das Gastgebernation für die »Southern Hemispheric E-Business Conference« ist, einer »historischen Gelegenheit, eine neue Ära der Hoffnung für die Entwicklungsländer einzuleiten« (so der Premierminister in seinem Trinkspruch, das Glas mit dem billigen Schampus hoch erhoben). Der Applaus dafür war laut und anhaltend. Wohlmeinende Sprüche wie diesen hatten wir in den letzten Tagen natürlich mehr als einmal zu hören bekommen, und zwar in allen möglichen Sprachen. Nichtsdestotrotz schienen sich alle nach der permanenten Bestätigung solcher Gedanken zu sehnen, wie sie der Premierminister in seinen Satz gepfercht hatte. »Geschichte machen« und »Hoffnung« und »die Welt«, das gefiel ihnen. Noch mehr als alles andere aber gefiel ihnen das Wort »neu«. Alle waren ganz vernarrt in die bloße Evokation dieses Wortes. Eine einzige Silbe, die als Universal-Politur allem, was damit bekleistert wird, Glanz verleiht. Drei Buchstaben, denen die Aufgabe zukommt, das vergreiste letzte Millennium wegzufegen und den Vorhang vor dem kommenden zu lüften. Das reichte aus, damit selbst ein Saal wie dieser vor schwindeliger Erregung schwirrte, Wangen sich röteten und Hände vor Münder flogen, um ein schiefes Lächeln zu verbergen. Und keiner hat mehr Neues zu bieten auf dieser Konferenz als wir. Wir haben genau das, was alle wollen. Oder, häufiger noch, von dem allen gesagt wird, dass sie es wollen und dass wir die Einzigen sind, die es haben. (Die ganze Woche war ich unablässig damit beschäftigt, das Wort »buzz«, die fiebrige Erwartung, ins Portugiesische zu übersetzen – expectativa! –, 28
alle paar Minuten.) Oder wie das Spruchband auf der Bühne der Messehalle verkündet: »Die ganze Welt blickt erwartungsvoll in die Zukunft!« Und wir sind hier, um dieser Welt etwas zu verkaufen, was neuer nicht sein könnte: etwas, von dem sie noch gar nicht wusste, dass es ihr fehlt. Das spezifische Stück Zukunft, das unsere Wunderknaben entwickelt, ist eine Website, die uns Moral lehren soll. Sie selbst würden es allerdings nicht so beschreiben. Wallace spricht vielmehr davon, dass das Programm »Hilfestellungen« anbietet, dass es einem aufzeigt, »was die Optionen sind«. Er mahnt uns des Öfteren, die teure Marktanalyse nicht zu vergessen, die sie vor dem Lancieren des Programms in Auftrag gegeben hatten. Hunderte von Befragten »quer durch alle Alters-, Rassen- und Einkommensschichten« reichten gegen fünfzig Dollar und so viele Donuts, wie sie essen konnten, ihr Konsumentenprofil über den Tisch. Die Haupterkenntnis war, dass die explizite Nennung von Begriffen wie »Moral«, »Sittlichkeit«, »Schuld« oder gar »Gewissen« bei den meisten Befragten einen merklich dämpfenden Effekt auf den »Kaufanreiz« ausübte. Aus diesen Gründen sagen wir lieber, dass Hypothesys Fragen beantwortet. Nicht die Art Fragen zur Allgemeinbildung allerdings, die man aus Wissens- und Rateshows kennt. Nicht »Was ist die Hauptstadt von Idaho?« oder »Wer hat 1956 die Baseball World Series gewonnen?« Nichts, worauf es eine eindeutige Antwort gäbe. Sondern eher existentielle Fragen, das vertrackte Erforschen von Prinzipien, etwa in der Art: »Soll ich lügen, um meinen besten Freund vor lebenslänglichem Gefängnis wegen Mordes zu bewahren, wenn ich weiß, dass er es getan hat, jedoch sicher bin, dass er nie wieder jemanden umbringen würde?« (eine von Wallace’ Lieblingsfragen). Oder: »Ist es falsch, den Bademantel aus meinem 350-$-pro-NachtHotelzimmer mitzunehmen, wenn ich sicher weiß, dass ich nicht erwischt werde und das Hotel von einem gesichtslosen, 29
profitgierigen Großkonzern geführt wird?« (die Frage, die ich heute morgen in meinen Laptop eingab, nachdem ich den Bademantel aus dem Schrank bereits eingepackt hatte). Das eigentlich Geniale an dem Ding – was Barry den »Haken« nennt, während er dazu mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft malt – ist, dass die Antworten von uns selber kommen. Für die Zwecke meiner Arbeit bin ich dazu übergegangen, es ein Kompendium zeitgenössischer Moralvorstellungen zu nennen. Nach monatelangen detaillierten Fragebogenaktionen mittels Ketten-E-Mails und wahllosen Haustür-Interviews auf der ganzen Welt, gefolgt von der Katalogisierung Zehntausender von Antworten, hatte Bates’ Team von programmierenden Studienabbrechern (die für Gratisverpflegung vom Chinesen und Aktienoptionen arbeiteten) eine vernetzte Datenbank menschlicher Verhaltensweisen zusammengestellt. Der Trick daran ist: Wenn man das Ganze zusammenmischt, dann verschwinden die Unterschiede zwischen den einzelnen Antworten, und am Ende bleibt ein einziger Stellvertreter für die da draußen übrig. Der Mensch von nebenan. Die Smiths. Die blau schattierten Haushalte, die einen Bewertungspunkt in einer Marktforschungsstatistik darstellen, die Käufer von Billig-Lebensversicherungen aus der Postwurfsendung, die Eltern der Kinder, die dir als Halloween-Scherz die Fenster einseifen. Die große graue Mehrheit. Genau wie du selbst, nur irgendwie nicht so konkret. Ein fröhliches Mittelmaß, namenlos, mitten im Leben stehend. Eine Bezugsfolie. So jedenfalls habe ich es mir erklärt. Wallace ist da schon etwas poetischer: Hypothesys stellt ein kollektives menschliches Bewusstsein dar. Nicht nur die da draußen, sondern die da draußen inklusive dir selbst. Vom Verkäuferstandpunkt aus gesehen erweist es sich obendrein als hilfreich, dass es dabei kein Richtig oder Falsch gibt. Wie Wallace immer wieder unterstreicht, verspricht das Programm nicht moralische Korrektheit, sondern das Gesetz der Relativität. 30
Die Leute scheinen zu glauben, dass es etwas ist, worauf sie seit langem gewartet haben. Das momentane Gebot für die weltweite Nutzung im Kabelfernsehen steht allein schon bei 6,4 Millionen Dollar, wobei Barry dies allerdings abgelehnt hat in der Erwartung, dass sich das Ganze in den kommenden Monaten noch »aufheizen« werde. Man munkelt von Auszeichnungen seitens der Industrie, humanitärer Anerkennung, geheimen militärischen Anwendungen. Die private Website der Jungs erhält im Durchschnitt täglich zwei Dutzend Heiratsanträge. Doch wie Wallace kürzlich in einer New York TimesReportage über die »kühnsten Webpioniere der Welt« anmerkte: »Der eigentliche Spaß fängt erst an, wenn wir damit auf dem Markt sind.« Das Forbes-Magazin hat geschätzt, dass eine erste öffentliche Offerte für Hypothesys »Kapital in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts kleinerer Industrienationen« generieren könnte. Für den Augenblick jedoch verkaufen wir erst mal nur eine Idee. Wie alle hier. Der Karibu-Ballsaal des kanadischen Konsulats um uns her ist voll gepfropft mit Käufern und Verkäufern von Ideen. Mit Händeschütteln, Palmendekoration und Platten voll gerolltem Schinken aus Quebec, der in der feuchtwarmen Kloakenluft dahinschmilzt, die durch die offenen Fenster hereinweht. Neben einem dieser Fenster stehe ich mit Wallace und Bates, bereit, ihr Englisch in etwas anderes zu verwandeln, falls die Notwendigkeit entstehen sollte. Was selten geschieht. Fast alle Brasilianer in diesem Raum sprechen Englisch (sie behaupten, Englisch sei weniger emotional und daher besser geeignet fürs Geschäftliche). Man macht die Augen zu und hört nur noch den vertrauten Dialekt von amerikanischem Marketing. Anzüge schieben sich zwischen anderen Anzügen hindurch, um zu uns zu stoßen. Sie wissen, wer Wallace und Bates sind, wurden diesbezüglich unterrichtet und angehalten, reges Interesse zu zeigen. Obwohl sie wahrscheinlich sowieso gekommen 31
wären. Zumindest zu ihm. Leute kommen zu Wallace, ohne zu merken, dass sie ihn schon die ganze Zeit im Visier hatten und nur darauf warteten, in den Bannkreis seiner unbekümmerten Männlichkeit zu treten: zu jung, um zu realisieren, wie kurzlebig diese Art physischer Gaben ist, die er mitbekommen hat, doch alt genug, um zu wissen, wozu er andere damit bringen kann. Schau: Da kommen sie. Der argentinische Direktor für das Bildungswesen, der kolumbianische Justizminister, eine stellvertretende Chefin für Personalrekrutierung bei Microsoft in einem tief ausgeschnittenen Donna-Karan-Kleid – alle schauen sie vorbei, um ein paar Worte der Unterstützung für jenen »dramatischen Wandel« zu äußern, mit dem junge Burschen wie sie den Planeten überziehen. Sogar der US-Handelsminister macht sich extra auf den Weg übers Parkett, umringt von einem halben Dutzend Secret-Service-Typen (von denen drei allen Ernstes dunkle Designersonnenbrillen tragen und Drähte aus den Ohren hängen haben). »Und, wie gefällt denn nun unseren Jungs ihr Aufenthalt hier?«, fragt der Handelsminister sie hungrig; seine Lippen stülpen sich feucht nach außen bei den »Jungs«, als ob das Wort allein schon ein unanständiger Witz wäre. Ich meine mich zu erinnern, dass er mal Gouverneur von Mississippi war. »Wir amüsieren uns bestens. Nicht wahr, Crossman?« Wallace stupst mich mit dem Ellbogen an. »Allemal besser, als den ganzen Winter in Kanada rumzusitzen, eh?« »Ihr sagt das da oben tatsächlich, oder?« »Sie meinen das ›eh‹? Eigentlich nicht. Das machen wir nur ab und zu, damit die Amis auch ihren Spaß haben.« »Ach ja?« »Das ist so wie mit den Iglus. Und den Mounties. Und dem ganzen Scheißhockey. Das ist nur für die Touristen.« »Da soll noch einer behaupten, die Amerikaner wären die Klugscheißer«, erwidert der Minister und blickt Wallace mit 32
gezwungener Erheiterung an. »Well, well. Da ist es wohl kaum verwunderlich, dass Ihre Geschäfte so gut laufen hier unten. Wie ich höre, haben Sie da eine richtige kleine Rakete im Gepäck.« »Alle sind äußerst enthusiastisch.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber sagen Sie, ist es eines von diesen Spielen? Wie heißen die doch gleich? Diese VirtualReality-Spiele?« »Wenn Sie so wollen.« »Und wie spiele ich das?« »Sie?«, fragt Wallace zurück, hält sich das Kinn und fixiert mit zusammengekniffenen Augen sein eigenes Spiegelbild in der Gucci-Brille des Handelsministers. »Sie würden vermutlich das Programm die Sachen fragen, die Sie weder Ihre Ratgeber noch Ihre Frau fragen können. Sie wissen schon, so was in der Art von: ›In Anbetracht meines Jahreseinkommens, meiner Altersvorsorge und meiner Vortragshonorare, was wäre da ein angemessenes Almosen für den Heroinsüchtigen, der neben dem Bankautomaten meines Wohnviertels haust?‹ Oder: ›Ist es falsch, diesem schutzlosen Schurkenstaat eine Lektion zu erteilen, der zwar keine echte Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellt – aber zufällig von einem schillernden Demagogen regiert wird –, wenn uns das in den Meinungsumfragen um fünf Punkte nach vorn bringt?‹ Solche Sachen. Und dann werden Ihre Fragen mit den Antworten aller anderen Teilnehmer vermischt und das Programm liefert Ihnen die korrekte Handlungsweise. Relativ gesprochen.« »A-haa«, erwidert der Minister, kaum merklich zusammenzuckend. »Das könnte für uns Akteure in der politischen Arena besonders hilfreich sein. Sie wissen ja, wir suchen doch ständig nach dem goldenen Mittelweg.« »Danach suchen wir doch alle, Herr Minister. Es ist ganz natürlich, wissen zu wollen, was andere in derselben Situation tun würden.« Wallace schenkt ihm ein verschmitztes Lächeln. 33
»Wenn die große Mehrheit nicht in das brennende Haus rennen würde, um das Baby zu retten, wie falsch kann es dann noch sein, wenn man selbst beschließt, lieber nichts zu tun?« Das stoppelige, sonnengebräunte Kinn des Ministers verdüstert sich. Er hustet sich die erste aufwallende Entgegnung aus dem Kopf und fragt dann mit der ganzen Zurückhaltung, die er aufbringen kann, ob nicht vielleicht Prinzipien doch etwas anderes sind, als der Herde hinterherzurennen, ob nicht vielleicht manchmal das richtige Handeln genau das Gegenteil von dem ist, was die Masse tun würde. Doch das hat Wallace schon xmal gehört. »Hypothesys ist ein Wegweiser, keine Bibel.« Er zuckt mit den Schultern. »Es sagt uns, was wir sind – der gegenwärtige Stand des menschlichen Bewusstseins, verstehen Sie –, ob uns das nun peinlich ist oder nicht. Eine Datenbank liefert Wahrheiten, keine Ideale. Und im Fall von Hypothesys bieten wir Rat und Hilfe, wenn Sie sie brauchen, lassen Sie wissen, was die populärsten Antworten auf die Fragen des Lebens sind. Und auch wenn dies vielleicht nicht die gerechtesten Antworten in den Augen Gottes sind, nun, was soll’s, wir sind ja nicht dazu geschaffen, Heilige zu sein, oder? Wir sind dazu geschaffen, uns durchzuschlagen. Und dabei hat es sich als am effektivsten erwiesen zu tun, was die meisten anderen auch tun würden. Also, Sie sind doch Republikaner, nicht wahr? Oder sind gerade wieder die Demokraten dran? Wie dem auch sei, bestimmt können Sie das gut nachvollziehen.« In diesem Augenblick kommt der kanadische Außenminister hinter der Eisskulptur eines ahornblattnagenden Bibers hervorgesprungen. Ehemals zuständig fürs Transportministerium, davor für Verteidigung und wiederum davor, gleich nach seiner allerersten Wahl, ein Jahr erfolgreiches Sichdurchnuscheln als Minister für die Belange der Ureinwohner. Wangen, die so sorgfältig rasiert sind, dass sie wie gewachst wirken. Der Typ Karrierebürokrat, der die besondere Gabe besitzt, das Unbeha34
gen eines VIP aus zehn Metern Entfernung zu riechen. Er würgt einen zweifelhaften Lacher hervor und drückt dem Handelsminister mit seiner fleischigen Hand die Schulter. Sie scheinen alte Freunde zu sein. Alle im Saal scheinen alte Freunde zu sein. »Nun, ich muss dann mal weiter, Mr Wallace«, ruft uns der Minister, fast schon schrill, zum Abschied zu, als er sich in den wartenden Zirkel seiner Secret-Service-Rückendeckung zurückzieht. »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem Videospiel oder Ihren Iglus. Was auch immer Sie da anpreisen.« »Danke! Besuchen Sie uns doch mal da oben, wann Sie wollen, eh?« Einen Moment lang tauschen die beiden ein echtes Lächeln. Als der Handelsminister weg ist, vermeidet der Außenminister sorgfältig jeden Blickkontakt mit Wallace und wendet sich ausdrücklich an Bates. »Und wie gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt hier, junger Mann?« »Sehr gut, Sir. Brasilien ist so ein wunderschönes Land«, sagt Bates entgegenkommend, obwohl ich sicher weiß, dass er außer der Messehalle, dem Ausblick aus seiner Manager-Suite im Hilton und diesem Saal hier noch nichts gesehen hat. »Das ist es, nicht wahr? Und dabei waren Sie noch nicht einmal im Regenwald, oder?« »Nein, Sir. Aber morgen früh fliegen wir nach Manaus, und dann ist ein Ausflug ein paar Tage den Rio Negro hinauf vorgesehen. Wir freuen uns sehr darauf.« »Geht mir genauso. Wir alten Herren von der Regierung werden Sie auf einem Schwesternschiff begleiten, wie ich höre. Vergessen Sie bloß Ihr Insektenspray nicht! Wir wollen doch nicht, dass die wirtschaftlichen Hoffnungsträger unseres Landes von Moskitos gefressen oder von der Malaria niedergestreckt werden oder etwas dergleichen, nicht wahr?« Der Minister zeigt uns eine ausgedehnte Sekunde lang seine gebleichten Schneidezähne. Zwinkert uns zu, tätschelt den 35
Jungs die Ellbogen und mischt sich wieder unters Volk. ›»Nein, Sir. Wir freuen uns darauf, Sir.‹ Herrgott noch mal, Bates«, giftet Wallace, »hast du denn gar keinen Stolz.« »Der Typ da bezahlt unsere Reise.« »Nein, tut er nicht. Die kanadische Regierung bezahlt dafür, und wir schulden denen gar nichts außer einem Prozentsatz unserer Einkünfte. Nicht wahr, Crossman?« »Tod und Steuern«, entgegne ich mit dem Mund voller Orangenmilchklümpchen. »Die einzigen Gewissheiten im Leben.« »Und die Zukunft«, fügt Bates hinzu, so leise, dass ich annehme, es als Einzige gehört zu haben. »Die ist auch gewiss.« O futuro. Wie oft habe ich auf dieser Reise schon »die Zukunft« ins Portugiesische übersetzt? Es taucht in jedem zweiten Satz auf, peppt sämtliche Unterhaltungen auf wie eine Prise Ausrufezeichen. Hypothesys ist technisch gesehen nichts weiter als ein IPService-Provider, in den man sich schon jetzt für einen speziellen Einsteigertarif von zwölf Dollar im Monat einklinken kann. Doch gleichzeitig ist es, in den Worten von Wallace’ und Bates’ Marketingjargon, »unser aller Lebensstil von morgen« und damit unvermeidlich. Und als Gratisbeilage zu diesem Paket bekommt man anscheinend diese grinsenden Jungs mit ihren gefärbten blonden Strähnchen und ihren »Rage against the Machine«-T-Shirts, so zwangsläufig, wie die Uhr vor sich hin tickt. Dies ist ihre Handelsmission für den Rest der Welt. Aber was außer sich selbst haben sie zu verkaufen? Die Gesichter einer nordamerikanischen Zukunft, ein Vertrauen auf die Verheißungen neuer technischer Spielereien, Antworten auf noch gar nicht gestellte Fragen, die aus dem Netz auf uns zukommen. Sie haben nichts außer Versprechungen zu bieten. Das Morgen, das schon heute zum Verkauf steht, bedrohlich und abwesend. Sieh sie dir an. Wie verkleidet wirken sie in ihren geborgten 36
Hemden und Krawatten, schlurfen in Collegeschuhen über den Marmorboden. Tuscheln und lachen miteinander. Worüber? Ich bin mir nie ganz sicher, weiß nur, dass der Witz immer auf unsere Kosten geht. Oder zumindest auf meine, die ich nur eine halbe Generation zu spät komme, um ihn zu kapieren. Nicht so sehr Goldjungen sind sie als reinstes Blütenweiß, die führenden Köpfe von etwas, das wiederholt Revolution genannt wurde. Wer könnte es sich wohl leisten, dieses wie auch immer geartete Nichts, das sie anzubieten haben, nicht zu kaufen? Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, dass ich nicht die Einzige war, die beim Konsulatsempfang dem Premierminister die Hand schüttelte. Später erzählte mir Bates, er sei überrascht gewesen über den Mundgeruch des Alten, und Wallace gestand, dass er seinen Namen vergessen habe. Unser erstes Blut sehen wir zwei Tage später. Wir sind in Manaus. Der Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, erbaut Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den europäischen Kautschukbaronen und heute das wichtigste Tor des Ökotourismus zum Regenwald. Noch vor dem Blut sehen wir jedoch den Fluss. Als wir in unserem gecharterten Jet durch die Wolken brechen, fordert uns der Pilot auf, aus dem Fenster zu schauen, auf den Encontro das Águas, den Punkt gleich vor der Stadt, an dem das dunkle Wasser des Rio Negro auf das milchige Braun des Amazonas trifft und beide mehrere Meilen wie zwei Bänder nebeneinander herfließen, bevor sie sich schließlich vermischen. Jenseits davon sehen wir zunächst nur Urwald, der aus einer Höhe von dreitausend Metern wie ein Brokkolifeld aussieht, das sich immer weiter und weiter ausdehnt, bis die Erde irgendwann genug davon hat und nach unten abfällt. Nach einiger Zeit kann man noch anderes ausmachen. Zum einen die schnurgeraden Rechtecke der Waldrodungen: abrasierte Flächen, die ans Flussufer grenzen, wo die Boote das Holz auf37
nehmen, um es die dreitausend gewundenen Meilen hinunter zum Ozean zu transportieren. Und neben diesen: unregelmäßige graue Erdkrater, bei denen es sich um offene Goldminen handelt. Ich weiß das, weil ich beim Konsulatsempfang einige kanadische Investoren kennen gelernt habe, die in solche unter der Hand ablaufende Operationen verwickelt sind, und sie sagten mir, ich solle beim Anflug auf Manaus die Augen danach offen halten. »Wir gehen rein und wieder raus«, beschrieb es einer von ihnen in einem Ton, der andeutete, dass sie sich dabei nicht erst um die mühselige Bürokratie samt ihren Umweltschutzvorschriften scherten. »Wir holen uns die Steine, die wir wollen, und zack! sind wir wieder draußen!« Weiter drinnen, hinter den Flächen und Gruben, zieht sich eine Zickzacklinie aus Rauch durch den Wald. Sie stammt von einem Blitzschlag. Doch die anderen, die schnurgeraden, wie mit dem Lineal gezogenen Linien, sind von Menschenhand gemacht. Von Großranchern, die mit gelegten Bränden Platz für neue Rinderfarmen schaffen. »Jede so groß wie eine County in Texas«, erklärt uns der Pilot über die Sprechanlage, und wir lachen alle ein wenig, ohne genau zu wissen, wieso. Manchmal treffen eine Brandlinie und die kahle Fläche einer Rodung aufeinander, und wir können sehen, wie das Feuer auf die Fläche übergegriffen und sich durch trockene Baumstümpfe, und was sonst noch zu klein zum Verladen gewesen war, gefressen hat, so dass nur noch verkohlte Erde übrig ist. Sogar von hier oben sehen wir, dass manches davon noch raucht – das Brandzeichen, das der neue Urwaldbesitzer hinterlassen hat. Wir legen uns schaukelnd in die Kurve, um auf die Landebahn einzuschwenken, die vermutlich irgendwo unter uns ist, wobei Wallace seelenruhig feststellt, dass das hier eher nach einer Bruchlandung aussieht. Da unten kann unmöglich etwas sein, was auf uns wartet, geschweige denn auf ein Flugzeug. Und als wir tiefer sinken, geht auch noch der Horizont verlo38
ren, so dass nur noch der spezifische Quadratkilometer Wald direkt unter uns übrig bleibt, ein Quadratkilometer genau wie alle anderen Quadratkilometer zwischen hier und, am einen Ende, Belem im Amazonasdelta und, am anderen, den Bergen, in denen sich damals die Rugbyspieler aus Uruguay nach einer Bruchlandung gegenseitig aufaßen. Hier abzustürzen hätte für den Urwald kaum Folgen. Nur eine Metallhülle, die sich zwischen die Bäume bohrt, ein Loch für sich schafft. Wir würden kaum eine Narbe hinterlassen. Etwas an der Leichtigkeit, mit der man in diesem Zottelteppich verschwinden könnte, so wie er sich von der Druckkabine eines Flugzeugs aus darstellt, im Sessel zurückgelehnt und mit einem Plastikbecher Chardonnay in der Hand, lässt den Gedanken auf eigentümliche Weise verlockend erscheinen. Das Flugzeug vollendet seine Kurve und der Fluss taucht wieder auf. Beide Flüsse, der eine schwarz, der andere gelbbraun, verlieren sich in Nudelschlaufen in dem Brokkoligarten, reflektieren funkelnde Sonnenstrahlen von einige Meilen entfernten Stellen weiter unten in ihrem Lauf. Und der Encontro das Águas wie auf den Postkarten: die zwei Flüsse Seite an Seite in derselben Schüssel wie Konfekt aus Schokoladen- und Karamelleiscreme. Dann, ein Stück weiter den Schokoladenfluss hinauf, grauer Schorf am Ufer. Wohnblocks, aneinander gereiht wie Dominosteine aus Stuck, zwei oder drei Bürogebäude mit ausgestanzten Fenstern, orangefarbener Funkenschlag aus einem Ölraffinerieschlot, ein willkürliches Netz von Straßen, die vom Hafen aus in alle Richtungen streben. Manaus. Ein vergessenes portugiesisches Fort bis 1850 – als man in einem anderen Teil der Welt entdeckte, was sich mit Kautschuk- und Latexverbindungen und großen Fabriken so alles machen ließ. Binnen zwanzig Jahren wurden dreitausend Tonnen Rohgummi jährlich exportiert. Am Ende des Jahrhunderts hatte sich der Ausstoß um das Zwanzigfache vermehrt. Es floss 39
Geld. Geld von der schnellen, aberwitzigen, unheilvollen Art. Die Gummibarone schickten ihre Garderobe zum Waschen nach Europa. Chinesische Arbeitstrupps, französische Prostituierte und italienische Tenöre wurden auf denselben Booten herbeigeschafft, auf denen das Gummi fortgeschafft wurde. Manaus hatte elektrisches Straßenlicht und eine Straßenbahn, noch bevor es eins von beiden in New York gab. Schon bald entdeckte man jedoch, dass sich Gummibäume auch in Länder Südostasiens verpflanzen ließen, die die Briten, Portugiesen, Spanier und Franzosen bereits für sich erobert hatten. Warum chinesische Sklavenarbeiter in den Urwald bringen, wenn der Urwald zu den Sklaven gebracht werden konnte? Es dauerte nur zwei Jahre, bis die Barone ihre Sachen gepackt hatten, und zurück blieben nur die kolonialen Souvenirs eines Binnenhafens, gemischtrassige Kinder und das Teatro Amazonas, ein Opernhaus von Weltrang. Schon 1920 war der Ort bankrott. Die einzigen Europäer, die jetzt noch hier waren, waren die, die aus Dummheit nicht genügend Gold beiseite gelegt hatten, um abzuhauen. Jahre später wurde die Stadt von der brasilianischen Regierung zur Freihandelszone erklärt, ein Versuch, der halben Million dort Gestrandeter ein Auskommen zu ermöglichen. Nun konnte Manaus mit Schmugglerringen, Drogenhändlern und einem Freiluftmarkt für billige Elektrogeräte, amerikanische Pornos und taiwanesische Joggingschuhe für ganz Amazonas aufwarten. Außerdem entwickelte es sich zum Ausgangspunkt für »Entdeckungsreisende aus der ganzen Welt«, die Pauschalreisen »von sechs Stunden bis sechs Wochen« den Fluss hinauf machten. All das habe ich nach Touristenart gelernt, Fakten, die man einem Faltblatt entnimmt oder die ein Reiseleiter vorne im Bus durchs Mikrofon schreit. Das Blut sehen wir, als wir gerade selbst auf einer Bustour sind. Nach der Landung werden wir sofort in einen privaten Minibus verfrachtet. Unser erster Halt ist das Opernhaus. »Al40
les, was zum Bau nötig war, wurde aus Europa herbeigeschafft – und nur das Allerfeinste. Der Stein aus England, die Marmorböden aus Italien, das Kristall aus Frankreich. Sie können sich sicher vorstellen, wie schwierig es gewesen sein muss, all diese Materialien über diese weite Entfernung bis hierher zu transportieren«, sagt unser örtlicher Reiseleiter, wobei schon ein Augenblick des Nachdenkens genügt, um zu erkennen, dass es ganz und gar nicht vorstellbar ist. »Viele sind beim Bau dieses Gebäudes gestorben«, fügt er mit ehrfürchtigem Staunen, ja sogar Stolz hinzu. Wir werden auf den Platz vor dem Gebäude geführt und stolpern in die feuchte Wand der Nachmittagshitze. Die Plaza ist breit und ohne Schatten, der Boden aus importierten portugiesischen Mosaiksteinen in einem verwirrenden Muster aus verschlungenen schwarzen und weißen Streifen zusammengefügt. Genügend Platz, um an christlichen Feiertagen Freiluftkonzerte für die Bauern von vor hundert Jahren abzuhalten oder heutzutage für die verschiedenen Busladungen blinzelnder Amerikaner, Deutscher und Japaner. Die Sonne ist ein Röntgenstrahl durch ihre Bermudashorts und Baumwollblusen, der Osteoporose und verdächtige Hautflecken enthüllt. Alle blicken wir zur Fassade des Opernhauses empor, zu der rosaroten Kuppel mit ihren Tupfen aus vereinzelten Goldkacheln, die zum Himmel hinaufblinken. Um uns her liefern Reiseleiter Informationen in einem Gulasch fremder Sprachen. Wir bemühen uns halbherzig zuzuhören, verharren reglos in aufmerksamen Posen und starren zu dem »einzigartigen Stück südamerikanischer Geschichte« empor. Und was wir sehen, ist unfassbar, unauflösbar, hässlich wie die Sünde. Ein absurder Klumpen europäischer Kultur, der ins Herz des Urwalds gehievt wurde. »Diese Kautschukkerle müssen ja sehr an ihrer Oper gehangen haben«, sagt Bates. »Bei dem Ding hier geht es nicht um Musik«, widerspricht Wallace. »Sondern darum zu zeigen, wer hier der Boss ist.« 41
Ungefähr da hören wir Lydias Schrei. Sie steht außerhalb unseres kleinen Kreises und hält sich die Hände in einem viktorianischen Ausdruck des Entsetzens an die Wangen. Auch ein abgeschlossenes Jurastudium, eine maßgebliche Beteiligung an einem Merger internationaler Medienkonglomerate und acht Jahre Knochenarbeit im Londoner Büro von Goldman Sachs halten sie nicht davon ab, sich angesichts einer Blutlache vor ihren Füßen wie ein Bilderbuchexemplar eines englischen Mädchens zu benehmen. Und da ist es. Rot wie Salsa. Verspritzt über die Marmorfliesen, die tief in den Regenwald geschafft worden waren, um die Plaza für den Besuch des großen Caruso anno 1901 zu schmücken. Auf einen Schlag drehen sich alle um. Die Deutschen, die Amerikaner, die Japaner, Barry und Wallace. Die ganze Welt unterbricht ihre Lektionen in Kolonialgeschichte, um es sich anzusehen: dickflüssig und leuchtend in der vollkommenen Klarheit des Mittagslichts. Dann sehen wir einander an, um herauszufinden, wer von uns das Messer des Klebstoff schnüffelnden Taschendiebs zu spüren bekommen hat, vor dem wir wiederholt gewarnt worden waren. Barry kommt mir dabei zuerst in den Sinn – sein weißes Brooks-Brothers-Hemd scheint wie dafür geschaffen, sich mit warmen Flüssigkeiten aus seinem Körperinneren vollzusaugen, während seine Wurstfinger zitternd über der Wunde schweben. Anscheinend weiß er das auch. Oder vielleicht folgt er einfach nur meinem Blick, denn er schaut erschrocken auf seinen Bauch hinunter, bis er feststellt, dass der noch intakt ist, dass das, was er einen Moment lang für sein eigenes Blut hielt, nur eine zerbrochene Flasche Guarana ist, eines dieser sirupartigen Fruchtgetränke, die ihm ohne Ende feilgeboten werden, die er aber angesichts seines Geschwürs, das sich nun einmal nicht wegleugnen lässt, doch lieber nicht probieren möchte. Noch während bei uns der Groschen fällt (der ziemlich theatralische britische Schrei war schuld daran, dass wir alle gleich 42
das Schlimmste annahmen) und alle sich wieder ihren Ehepartnern und fremden Reisegruppengenossen zuwenden und sich bewusst machen, dass wir alle noch unter den Lebenden weilen, geht Wallace mit großen Schritten quer durch den vergossenen Saft und zieht Lydia zu sich her. Redet ihr zu, dass alles in Ordnung ist, dass nichts passiert ist, und vielleicht sollte sie sich ein Weilchen in den Schatten setzen. Und sie lässt sich von ihm trösten. Von seinen jungen Armen. »Typisch Wallace«, flüstert mir Bates zu. »Immer der Gentleman.« Und obwohl diese Bemerkung von Bates als das gedacht ist, was es bei Männern seines Alters immer sein soll, ein sarkastischer Witz, ist auch etwas Wahres daran. Die Raschheit, mit der Wallace handelt, mitten in eine Blutlache unbekannter Herkunft tritt (nach allem, was er weiß), um einer Frau in einem Augenblick des Schrecks beizustehen, kam zu automatisch, um nicht seinem Wesen zu entspringen. Sicher, einer von uns hätte einen Augenblick später dasselbe getan. Ganz bestimmt hätten wir das. Dennoch, er reagierte als Erster. Ich frage mich plötzlich, ob Wallace nicht selbst ein in der falschen Zeit angesiedeltes Relikt der Geschichte ist, ein so unwahrscheinliches Überbleibsel nobler Manieren aus der Alten Welt wie dieses enorme Urwald-Opernhaus hier vor uns. Ein Gentleman? Ein über Nacht zum Millionär aufgestiegener Entwickler einer virtuellen Moralmaschine, geboren und aufgewachsen in den abgestumpften, moralisch bankrotten Vorstädten Nordamerikas, über ein Jahrzehnt nach dem »letzten röchelnden Atemzug des Idealismus«, wie es in den dekorativen Geschichts-Bildbänden zum Ende des Jahrhunderts heißt? Nach den Einberufungen und den Drückebergern? Nach Woodstock? Ich kann nur annehmen, dass es schon seltsamere Dinge gab.
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Manaus brennt. Die Luft ist so dampfig, wie man es vom Äquator erwartet (zwei Regierungsbeamte in Leinenanzügen, die mit uns anreisten, brachen Sekunden, nachdem sie die Rollbahn des Flughafens betreten hatten, zusammen, als hätten die Laptopköfferchen, die sie trugen, plötzlich ein ganz neues Gewicht angenommen). Man nimmt auf einmal die eigene Atmung wahr, das bewusste Ein und Aus. Die Regenzeit ist noch ein paar Wochen weit weg und am Himmel kein Wölkchen zu sehen. Dennoch liegt eine Feuchtigkeit in der Luft, die überall hineinkriecht, in die Socken, in die Geldbörse, hinter die Brillengläser, in die Lungen. Binnen Stunden nach der Ankunft ist einem, als hätte man ein Kugellager in der Brust. Doch Manaus scheint buchstäblich zu brennen. Eine Stadt, wo keine sein sollte, verrammelt und verfallen, und die Überreste in Flammen. Wohin man schaut, von den Fenstern des Flughafenbusses aus oder von unseren Zimmern im Tropical Hotel, auf einem großen Hügel am Stadtrand gelegen – egal von wo, immer scheint in der Ferne etwas wie schwarzer Rauch zu hängen und wie das Cape eines Schurken am Himmel zu flattern. Doch sobald man sich abwendet, bewegt es sich und steigt plötzlich in Spiralen von wieder einem anderen Hausdach auf. Wird da irgendwo ein Stück Land gerodet, um für Vieh Platz zu machen, oder hat es eine natürliche Ursache? Kommt es näher? Irgendwie kann man diese Fragen nicht laut aussprechen. Jedenfalls tut das keiner von uns, obwohl ich mir sicher bin, dass wir es alle sehen. Noch erwähnen wir die schwarzen Geier, die hoch über den rostigen Kirchturmspitzen ihre Kreise ziehen. Am Tag vor unserer Bootsfahrt den Negro hinauf nehmen wir uns die Ecken der Stadt vor, die wir noch nicht gesehen haben. Ein klimatisierter Bus wird gemietet und dazu wieder ein anderer Reiseführer vom Hotel. Wir verteilen uns auf die ganze Länge des Busses, jeweils durch mehrere der leeren Sitzreihen getrennt, die einem ganzen Häuserblock der Stadt drau44
ßen entsprechen. Von unserer erhöhten Sitzposition aus, knapp zwei Meter über den Straßen aus Ziegeln und Teer, wirkt Manaus unangenehm voll. Männer in Jeans und schmutzigen langärmligen Hemden drängen sich in den sichtbaren Hitzeschwaden vor gekalkten Mauern. Mädchen, so jung, dass sie den Babyspeck direkt unter der Haut noch nicht verloren haben, spazieren mit schläfrigem Blick dahin, gekleidet in SuperMinis und T-Shirts mit V-Ausschnitt und Schriftzügen wie »Bad Ass« und »Sugar Baby« quer über der Brust. Wir sehen sie durch die getönten Fensterscheiben an uns vorbeiziehen. Und sie erwidern unseren Blick mit Ausdrücken, die wir entweder als Lust oder als Feindseligkeit interpretieren. Wir spazieren durch den überdachten Markt am Fluss mit Tischen voller futuristischer Früchte und Fische, die allesamt groteske Variationen eines Wels-Themas zu sein scheinen. Bates betrachtet sie durch seinen Palmcorder, und wir anderen beneiden ihn um den Schutz, den ihm die winzige Maschine bietet. Nicht größer als ein Sandwich-Eis und doch wie ein zusammengekniffenes Auge in der Lage, das Zuviel an Farben auszublenden, die mit Eingeweiden verschmierten Gesichter hinter den Ständen, selbst die Gerüche. Während Bates seinen Film dreht, bleibt es an uns hängen, brav zu den Erklärungen des Führers zu nicken (der Markt wurde 1902 von einem vom Heimweh geplagten Frankophilen nach dem Vorbild von Les Halles in Paris gestaltet) und das Brennen auf unserer Haut zu spüren, selbst hier im nur vereinzelt mit Sonnenstrahlen gesprenkelten Schatten. Wieder im Bus angelangt, parken wir auf dem größten der schwimmenden Docks der Stadt und erfahren, wie lang der Fluss ist (2642 Kilometer), wie breit an seiner breitesten Stelle (über 20 Kilometer), warum er Negro heißt (das Wasser ist wegen seines höheren Säuregehalts schwarz, im Gegensatz zum Braun des Amazonas) und wo er hinführen würde, wenn man ihm bis an seine Quellen folgte (irgendein Dorf in Vene45
zuela). Ein Fluss, der »viele Völker und viele Länder« erreicht. Einer seiner Hauptzuflüsse, der Rio Branco, zweigt nach Guyana hinein ab, und ein anderer, der Uaupes, zieht sich bis in den Süden Kolumbiens hinüber. Als das Wort »Kolumbien« fällt, halten sich Wallace und Bates einen Finger an die Nase und schnupfen imaginären Koks aus der Luft. Der letzte Halt soll uns, mit den Worten des Reiseführers, »die Armut, unter der noch heute viele Brasilianer leiden,« zeigen. Eine Slumsiedlung am Ufer eines Flüsschens, das sich in den Negro ergießt; von unserem Standort aus, fünfzehn Meter oberhalb auf einer Betonbrücke, erstreckt sie sich, so weit das Auge reicht. Eine Collage aus Pappe, Fahrradrahmen, Ölfässern und spitzem Blech bildet die Wände der Hütten, in denen, wie man uns sagt, mindestens je eine ganze Familie lebt. Viele dieser »Schachteln« sitzen unsicher auf krummen Holzfingern; schwarze Brühe tropft aus Löchern im Boden. Barry schüttelt den Kopf. Lydia hält sich die Nase zu. Bates schwenkt konzentriert die Kamera über die Szene aus Schmutz und Verfall und flüstert Kommentare in das eingebaute Mikrofon. »Hier leben Menschen. Es riecht extrem übel. Der Fluss ist ihre Toilette.« Wallace schaut gebannt. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, sind seine Gesichtszüge still, ohne das übliche Arbeiten darin, das verrät, dass er gerade wieder etwas Unterhaltsames ausbrütet. Nur seine Augen bewegen sich von Hütte zu Hütte oder bleiben an den wenigen beschatteten Augenpaaren hängen, die zu ihm zurückstarren. Die Hände umklammern das Brückengeländer, als könne er nur unter größter Anstrengung verhindern, im nächsten Moment nach vorn zu stürzen. Uns allen fällt sein Schweigen auf. Selbst dem Reiseführer, dem inzwischen der Stoff ausgegangen ist, so dass nun auch er dasteht und ihn betrachtet. Zurück im Bus höre ich, wie Wallace Bates etwas zuflüstert, 46
so leise, dass ich mir sicher bin, es als Einzige mit anzuhören. Ein seltsamer Satz, den er ein paarmal wiederholt, bevor er sich in seinem Sitz zurücklehnt und die Augen schließt. Seltsam ist auch, dass Bates ihn vollkommen zu verstehen scheint, obgleich sich das Gesagte für mich unvollständig anhört. Bates nickt, eine Geste der Zustimmung oder des Verstehens auf eine Feststellung hin, die schon viele Male gemacht wurde. Oder vielleicht üben Wallace’ leere Worte auch nur eine Art Trance aus, in der sie beide versinken und den ganzen Weg zurück bis zum Hotel nicht wieder herausfinden. »Es ist eine Welt«, flüstert er. Staunend, als ob er der Erste wäre, der ihre Rundheit bemerkt hätte. »Eine Welt. Es ist eine Welt.« Der Hotelportier ist groß. Und breit. Aus der Ferne betrachtet und wie er so unter der Gaslampenimitation neben dem Vordach des Tropical Hotel steht, könnten es zwei Männer in einer festen Umarmung sein. Dann dreht er sich um, und man erkennt, dass es nur einer ist, ein Riese, der mit leeren Augen über die Tennisplätze und den terrassenartig abgestuften Parkplatz und die in Form gestutzten Büsche unten am Fluss hinwegschaut. Beim Näherkommen sieht man dann, dass in seinen Augen nicht so sehr Leere als eher eine genüssliche Grausamkeit liegt, dass er neben seiner Größe und Breite auch noch fett ist und seine Haut schlecht. Wallace findet sofort Gefallen an ihm. »Wo geht denn hier die Action ab heute Nacht, guter Mann?«, fragt er, noch bevor er ganz aus dem Bus gestiegen ist. »Action?«, fragt der Riese mit demselben genüsslichgrausamen Ausdruck in der Stimme wie in den Augen. »Wir haben uns den ganzen Tag aus dieser gekühlten Sardinenbüchse heraus Sachen angesehen. Aber jetzt ist zur Abwechslung mal Abenteuertourismus angesagt, ein bisschen was 47
Extremes. Oder nicht, Barry?« »Schließt das einen Drink mit ein?« »Aber garantiert. Ga-ran-tiert schließt das einen Drink für unseren Barry mit ein.« Wallace zieht eine seiner Nummern ab und mimt einen betrunkenen Konferenzteilnehmer. Bates nennt es »auf Amerikaner machen«. »Yes-sir, Mr. Bear-man«, ruft er. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, was dieses Manaus wirklich zu bieten hat!« Während wir auf Lydia warten, die erst ihre Taschen mit Souvenirs wie Piranhazähnen einsammeln muss, legt der Portier Wallace den Arm um den Nacken und beugt sich ein wenig zu ihm hinunter, um ihm ins Ohr flüstern zu können. Ich kann nicht hören, was er sagt, doch die Worte des Riesen lösen bei seinem Zuhörer ein lüsternes Grinsen aus. Wallace ist ein attraktiver Bursche. Es fällt mir nicht zum ersten Mal auf. In seiner Gegenwart kommt einem dieser Gedanke öfter. Vor allem in Augenblicken wie diesem, wenn er sich gerade für irgendeine Ausschweifung ereifert, einen schmutzigen Witz erzählt. Frauen schätzen seine Verschwiegenheit, sein gutes Aussehen, die Gewissheit, die aus seiner groß gewachsenen Statur spricht. Männer schätzen dies nicht minder, auch wenn sie es nicht zugeben dürfen. Ein bisschen penetrant natürlich, doch dabei immer auch liebenswert. Die schmalen Lippen, eine Stirn klar wie ein frisch gewaschenes Laken, Sommersprossen wie Schrot auf den Wangenknochen – sein Gesicht holt dich in ihn hinein, bedeutet dir, dass du auch mit dazugehören könntest, wenn du wolltest. Oder wenn er wollte. Ja, er fragt tatsächlich den Portier des einzigen Vier-Sterne-Hotels im Urwald, wie er seinen unverdienten Reichtum verprassen und sich dabei in die Art von Schwierigkeiten bringen kann, aus der er sich – das weiß er – immer wieder herauswinden kann. Na und? Er mag eben Schwierigkeiten. Aus Schwierigkeiten schlägt er Kapital. 48
Man kann all das erkennen und dennoch hier neben ihm stehen und sich nichts sehnlicher wünschen, als mit dazuzugehören, ein Komplize zu sein. Natürlich gibt man das nicht offen zu. Vielleicht gibt man es nicht einmal sich selbst gegenüber zu – deswegen stimmt es trotzdem. Selbst wenn man ihn komplett durchschaut, ist man damit keinen Schritt weiter als jemand, der in ihm einfach nur einen gut aussehenden Burschen sieht. Auch wenn man noch so eifersüchtig ist, muss man zugeben, dass er Charme hat. Er trägt ganz Amerika in sich. Jeden billigen Horrorfilm, jeden Pool-Party-Blow-Job, jedes mikrowellengeeignete Snack-Produkt und jede geschwänzte Schulstunde. Prinzipienlos, aber stolz, reich an belanglosem Faktenwissen, aber kaum belesen, von ätzender Unbeschwertheit. Dieses durch und durch Amerikanische liegt in seiner Natur. Doch nur als Kanadier ist Wallace in der Position, es perfektionieren zu können. Als wir alle aus dem Bus geklettert sind und einen Moment lang blinzelnd in dem grellen Licht stehen, löst sich Wallace von der Brust des Riesen und wendet sich an uns. »Mein Freund hier hat mir ein paar hilfreiche Anregungen für die heutige Abendunterhaltung gegeben«, sagt er und lächelt. Sein Lächeln ist immer breit und vielversprechend und unheilvoll. Es verkündet der Welt, dass sie unweigerlich Teil seiner Pläne ist. Den Rest des Nachmittags verbringt jeder für sich. Wallace wandert durch den Mini-Zoo im Hotelgarten. (»Was hast du alles gesehen?«, fragt Lydia später mit wissenschaftlichem Interesse. »Affen.« »Oh! Was für welche?« »Die, die in Käfigen hausen.«) Barry erledigt über Handy ein paar Anrufe bei den Bankiers der Firma in New York und geht dazu hinunter zum Fluss, weil er glaubt, dass da der Empfang besser ist. Bates joggt auf dem gepflegten »Tropical Trail« des Hotelgeländes. Lydia schläft in ihrem Zimmer vor dem Fernseher ein, in 49
dem ein CNN-Bericht über die neu aufflammende Gewalt im Nahen Osten und den möglichen Einfluss auf die WeltErdölpreise läuft. Jedenfalls behaupten sie hinterher, sich so die Zeit vertrieben zu haben. Fest steht zumindest, dass Wallace und ich die Ersten sind, die am Abend unter dem Vordach des Hotels auftauchen, wo der Portier versucht, ein paar Taxis für uns herbeizulotsen, die uns zum Essen nach Manaus bringen sollen. Wallace erwidert mein Winken, indem er mit theatralischer Übertreibung den Mund aufsperrt. Tritt aus der gläsernen Drehtür heraus und tut so, als würde er vor Schreck stolpern. »Wo hast du denn das aufgetrieben?«, fragt er und deutet mit dem Finger auf meine Brust. »Was?« »Diese Push-up-BH-Nummer, was denn sonst?« »Das ist ein Bikini-Top.« »Ein Wunder der Technik ist das, nichts anderes.« »Ich hab’s in der Hotel-Boutique gekauft«, sage ich und spüre schon die Reue darüber auf meinen Wangen brennen. Was spielt es für eine Rolle, wo ich es gekauft habe? Warum rechtfertige ich mich überhaupt? Woher nimmt dieser Kerl das Recht, mich wie ein dusseliges Schulmädchen zu behandeln? »Es war heruntergesetzt«, schiebe ich noch nach. »Ach, tatsächlich?« Gefällt es dir? Beinahe frage ich das laut, doch etwas hält mich gerade noch zurück. Welche Antwort würde er mir schon geben? Auf jeden Fall eine grässliche. Ehrlich und gemein und unvergesslich. Ich würde ein Lachen heucheln und mich nie wieder davon erholen. Wallace grinst mich nach wie vor an und wartet darauf, dass ich mich noch tiefer hineinreite. »Warum schaust du mich so an?«, frage ich. »Es ist doch 50
nichts Besonderes, Herrgott noch mal.« »Ist das auch noch Make-up da?« Unwillkürlich sauge ich meine Lippen nach innen, um den Anstrich mit Maybelline Dusty Rose zu verbergen. »Hab ich mir von Lydia geborgt«, murmele ich. Er mustert mich ein weiteres Mal von unten bis oben und ich lasse es geschehen. Hebe das Kinn noch um einen Zentimeter höher, um etwas größer zu erscheinen. »Das bist nicht du, Crossman«, sagt er. »Ach nein? Und was bitte schön bin ich?« »Wollröcke und kratzige Rollkragenpullis. Ein Schal um den Hals und die Brosche deiner Großmutter, wenn du mal besonders flippig drauf bist. Aber das hier – das tragen Girls.« »Falls du es noch nicht bemerkt hast, Wallace, ich bin kein Mann.« »Natürlich nicht. Ich wünschte nur, du hättest es mir früher gesagt, das ist alles.« Er muss bemerkt haben, wie mir mein Lächeln abrutscht, denn einen Moment lang streckt er beschwichtigend die Hände aus. »Hör mal, Crossman, ich wollte wirklich nicht –« »Es ist nur ein Oberteil«, fahre ich fort, obwohl ich eigentlich nichts mehr dazu sagen wollte. Ich verschränke die Arme, doch das schiebt meine Brüste nur noch offensichtlicher nach oben, und so lasse ich sie sogleich wieder fallen. Ein hörbares Seufzen von Brustwarzen, die an dem Stoff entlangrutschen. »Es ist heißer hier unten, als ich gedacht hätte.« »Das kann man wohl sagen«, stimmt er mit einem anzüglichen Zwinkern zu. Der flüchtige Ausdruck der Entschuldigung entweicht aus seinem Gesicht – vielleicht war er auch nie da – und sein herablassendes Nicken stellt sich wieder ein. »Du lachst mich aus«, sage ich. 51
»Nicht im Traum würde ich das. Ich wundere mich nur, weiter nichts.« »Wunderst dich, warum eine alte Schachtel wie ich, die schon auf die vierzig zugeht, mehr welkes Fleisch zeigt, als eigentlich nötig wäre?« »Nein, ich frage mich nur, wem sie es zeigen wollte.« Er meint natürlich sich selbst. Er glaubt, ich trage diese lächerlichen Schalen für ihn, um an unserem einzigen Abend in Manaus ein wenig Aufmerksamkeit von unserem hübschen Jungen zu ergattern, um zu sehen, was ich noch erreichen kann. Schließlich weiß man es erst, wenn man es ausprobiert hat, selbst bei einem so unwahrscheinlichen Kandidaten wie mir. Er vermutet, dass ich ihn genauso begehre wie alle anderen, ob bewusst oder unbewusst. Und er hat Recht, obschon ich mich um einen Gesichtsausdruck bemühe, der ihm zu verstehen geben soll, dass er nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Der Schatten des Portiers fällt auf uns. Er berührt meine nackte Schulter und beugt sich zu mir herunter, um mir mitzuteilen, dass unsere Taxis bereitstehen. »Die Taxis sind für uns«, sage ich zu Wallace, während ich vor dem kalten Finger des Portiers zurückweiche und hinter meinem Rücken nach dem Türgriff taste. Ich will nur noch weg aus dem Licht. Meine Haut vor seinen Augen verbergen. »Danke für die Übersetzung, Crossman«, sagt er und verbeugt sich wie ein Höfling, während ich auf den Rücksitz krieche und im Rückspiegel des Fahrers mein bemaltes Gesicht anstarre. Unter den Ausgehmöglichkeiten, die der Portier empfohlen hat, befindet sich ein Restaurant in der Altstadt von Manaus, unten in den gepflasterten Straßen, wo die Gummibarone ihre Büros, Mätressen und Herrenclubs hatten. Unser Taxifahrer lächelt, als ihm der Name des Restaurants genannt wird. Eine Churras52
caria namens Bufalo (ein gigantischer Pappmaché-Stier begrüßt alle, die das Restaurant betreten, mit einer Fratze). Wir bestellen zwei Flaschen Wein, kaum dass wir uns gesetzt haben, doch der Kellner eilt davon, ohne uns zu fragen, was wir essen möchten. »Also, kriegen wir hier nun was zu essen, Crossman?«, fragt mich Barry. Ich bitte ihn, sich noch einen Augenblick im Zaum zu halten. Und schon bald werden Platten über Platten voller Fleisch vor uns aufgetragen, Lammkeulen, Schweinebraten, vier verschiedene Stücke vom Rind plumpsen von Spießen, werden von todernst dreinblickenden Obern aufgeschnitten und auf Teller von der Größe eines mittelalterlichen Schilds geklatscht. Abgesehen von ein paar Schalen körnigem Maniok und einer in Scheiben geschnittenen Tomate gibt es keine Beilagen. Binnen weniger Minuten nimmt die Fleischmenge lächerliche Ausmaße an (»Dafür also holzen sie den Regenwald ab!«, prustet Barry), und wir alle lassen uns von diesem Exzess anstecken. Ohne Anlass lachen wir mit blutig vollen Mündern, bedeuten den Obern, als sie wieder an unseren Tisch kommen, uns noch mehr aufzuladen, als hätten wir nicht die Kraft, sie wegzuscheuchen. Eine nicht mehr zu bremsende Fleischorgie steuert mit Rülpsern wie einstürzende Kohlehaufen und fettigen Fingern auf ihren Höhepunkt zu. Und Barry ist von uns allen am leidenschaftlichsten bei der Sache. Als ob er irgendetwas beweisen müsste, nachdem er uns bereits aufgeklärt hat, dass er, aus Georgia stammend, am besten wisse, was ein echtes Barbecue sei. »Barry sieht aus, als ob er gleich zu muhen anfängt oder ihm ein Euter wächst oder so was«, ruft Bates, rot im Gesicht unter den brummenden Neonlampen. »Ja, Barry! Du hast wirklich etwas Bovines an dir!«, quietscht Lydia. Und es stimmt: Barry sieht tatsächlich noch kuhäugiger aus, 53
seine Haut noch mehr wie gespanntes, gegerbtes Leder als sonst. Doch er lacht mit, während er mit der Hand über seiner Glatze herumwedelt, um noch eine Flasche Wein zu bestellen. Ein Mann durch und durch aus Fleisch. Wurstfinger, Schenkel wie Hinterkeulen, fettige Rippen. Eine maßlose Delikatesse, zusammengeflickt zu einer neuen Tierart, einer mit schütterem blonden Haar, die respektlose Limericks zum Besten gibt. Keiner weiß genau, wie alt er eigentlich ist (immer wenn er nicht da ist, raten wir untereinander, doch etwas an seiner augenzwinkernden, bubenhaften Art verbietet die direkte Nachfrage). Ob er schon fünfzig ist? Oder gar sechzig? Für beides wäre er gut in Form. Aber das hieß es von ihm schon sein ganzes Leben lang, ein Leben, das er damit zubrachte, durch Büroflure, Konferenzetagen und Flughafen-Terminals zu brettern. Eine Aura von Fitness in seinen Designerparfums und seinen Unterarmen, gestählt durch Millionen von Rückhand-Returns. Wir mögen ihn. Er ist genau der Typ Amerikaner, den der Rest der Welt am liebsten mag: ein schallendes, aber nicht unnatürlich lautes Lachen, eine braun gebrannte Freundlichkeit, die Bilder von Mixed-Turnieren und genüsslichen Abendstunden mit Drinks und zwangloser Geselligkeit wachruft. Er riecht wie ein altes Hotel – billiges Waschpulver, Zigarrenstummel und Schuhwichse. Ein Mann, von dem man kauft, ohne laut über den Preis zu reden. Barry kennt eine Menge Witze, die tatsächlich lustig sind. »Als ich anfing, wusste man, wo das Geld hinfloss«, hebt er an, nachdem der Nachschub an chilenischem Cabernet gekommen ist und er nicht nur die Wein-, sondern auch noch unsere Wassergläser bis zum Rand gefüllt hat. »Man kannte jeden Deal in- und auswendig, man kannte die Spieler. Heute? Heute bin ich bloß noch dazu da, für diese – diese zwei Kids das Bargeld zu verschleudern.« »Sollte es nicht diese zwei rotznasigen Kids heißen, Bär?« »Es kotzt mich an«, fährt er fort, ohne auf Bates einzugehen. 54
»Wir haben da was verloren. Etwas, was zum Geschäftemachen dazugehörte. Früher haben wir für unsere Klienten Geld investiert. Man machte Analysen. Und es war Vorsicht geboten! Und jetzt rennen gestandene Männer wie ich hinter diesen Skateboardpunkern her und pumpen Millionen in Null-Ertrags, Null-Profit-Phantomgeschäfte – in Websites, heiliger Himmel noch mal! Ich meine, was zum Teufel ist das denn eigentlich? Was machen diese Dinger? Versteht mich nicht falsch. Ich bin dankbar für diese Gelegenheit. Ich stehe voll hinter dem Projekt. Aber auf einer ganz grundlegenden Ebene muss ich gestehen, dass ich es nicht kapiere. Ehrlich. Ich kapier’s einfach nicht.« Er wechselt, wenn ihm danach ist, immer mal wieder in einen Südstaatenakzent, nämlich immer dann, wenn er harmlos oder ein wenig begriffsstutzig erscheinen will. Doch jetzt wird er plötzlich ernst, schüttelt seinen Bullenschädel über dem schwarz verkohlten Gemetzel auf seinem Teller. Irgendwie ist aber auch klar, dass das Ganze nicht so vollkommen ernst gemeint ist. Es ist sein kleiner Auftritt aus dem Tod eines Handlungsreisenden. Die anrührende Verwirrung eines ehrenwerten Firmenangestellten im Angesicht zweifelhaften Fortschritts. Doch er ist in erster Linie Geschäftsmann und erst in zweiter Schauspieler (sein Vertrag mit Hypothesys garantiert ihm fünfzehn Prozent vom Rohgewinn, ob er nun rausfindet, was Websites sind, oder nicht). Und siehe da, Sekunden später trinkt er den Wein in seinem Wasserglas aus und erzählt den von dem Pfarrer, dem Rabbi und dem Iren, die in Las Vegas in eine Stripbar gehen. Danach versuchen auch wir uns reihum im Witzeerzählen, doch keiner von unseren ist so gut wie seiner. Als Wallace an die Reihe kommt, sieht man seinem Gesicht an, dass er es erst gar nicht versuchen wird. Seine Gedanken sind schon seit einer Weile mit etwas anderem beschäftigt. »Ich bin zum ersten Mal mit neunzehn an Geld gekommen«, 55
sagt er. »Hab ich euch das schon mal erzählt?« »Nein«, sagen Barry und Lydia wie aus einem Mund. »Es war die letzte Rate aus dem Treuhandvermögen meiner Eltern. Keine Riesensumme, aber genug, um das zu tun, was alle anderen in meinem Alter mit entsprechenden Mitteln auch getan haben. Wir haben uns ein Jahr Auszeit genommen. Wir sind raus in die Welt gezogen. Manche von uns sogar mit dem Anspruch, etwas zu bewirken. Also hab ich das Einzige getan, was einem unter solchen Umständen bleibt. Ich ging nach Indien.« »Ach, Indien!«, ruft Lydia aus, als ob es sich um jemanden handle, den sie persönlich kennt. »Ich habe schon so viel darüber gehört. Ist es wirklich so toll dort?« »Ich schätze. Die meisten Leute da sind das, was wir ›zum Verrecken arm‹ nennen würden. Es ist sehr heiß. Ich bin kein Anthropologe. Aber was mir auffiel, nachdem ich wieder zu Hause war – und heute ist es mir wieder aufgefallen –, ist, dass Indien nach wie vor da ist.« »Natürlich ist es noch da.« »Ja. Aber ich nicht.« »Tut mir Leid, Wallace, aber ich glaube, ich –« »Ich muss an all die Sachen denken, die ich dort gesehen habe«, erklärt er und drückt dabei die Plastiktischdecke mit den Handflächen platt. »In Bombay, zum Beispiel. Die Billionen von Einzelheiten, die eine Sekunde ausmachen – die Bettler auf der Straße, die Huren an der Tür, Bettpfannen, die aus den Fenstern von chawla-Häusern, so einer Art Pensionen, gekippt werden, Schuljungen, die auf einem Feld Cricket spielen, wo der Schlagmann vor lauter Smog die Feldspieler nicht sehen kann –, jedes einzelne, isolierte Geschehen in dieser paralysierenden Stadt, all das geht weiter, während ich nicht da bin. Bombay ist immer noch Bombay, auch wenn ich wieder weg bin. Es hört nicht auf.« Diese Überlegung beschäftigt Wallace. Macht ihn schwin56
deln. Und der Anblick des Urwalds vom Flugzeug aus hat sie wieder wachgerufen. Hier unten befällt ihn dasselbe Gefühl. Dass diese Ober mit ihren fettigen Fingern, die Menschen, die in den Pappkartonhütten oberhalb des verdreckten Flusses leben, die Feuer, die durch den Regenwald wandern – dass all das auch ohne ihn als Zuschauer immer so weitergeht. Für Wallace ist dies beinahe unerträglich. »Was du da beschreibst, ist nichts weiter als ein grundlegendes Rätsel der Philosophie«, sagt Barry und gestikuliert dabei mit einem glänzenden Messer über dem Tisch. »Das ist die Nummer von dem Wald, in dem ein Baum umfällt.« »Nein, ist es nicht.« Wallace beschreibt vor seinem Körper Kreise mit den Händen, die Handgelenke gelockert vom Wein. »Jeder weiß, dass ein Baum ein Geräusch macht, wenn er fällt, ob du nun dabei bist, um es zu hören, oder nicht. Dieser Baum ist mir so was von egal. Aber denk doch mal stattdessen an jeden einzelnen Baum auf der Welt, der in diesem Augenblick fällt. Und jetzt denk dir dazu jede Variation eines Vogelgesangs. Jeden Angestellten im Anzug, der in Manhattan nach einem Taxi pfeift. Jede Mutter, die in diesem Augenblick zu ihrem Kind sagt, Hör jetzt sofort auf damit!. Von mir aus nimm noch sämtliche Autoalarmanlagen dazu, die gerade in East St. Louis die Leute aufwecken, damit es auch wirklich reicht. Und du bist nirgends dabei. Du bist hier. Wir sind alle gefangen. Oder blind. Wir können nur wahrnehmen, was dieses eine Bewusstsein, das wir haben, uns lässt.« »Du willst also überall gleichzeitig sein?« »Ja.« »Und wie willst du das anstellen, Einstein?« »Indem man expandiert. Sich ausdehnt. Und im Gegenzug alles um sich her aufsaugt, so dass es zu einem selbst wird.« »Wallace, bei allem Respekt, wovon zum Teufel sprichst du?« »Sich selbst verlieren. Sich von den Zufallsverkettungen 57
freimachen, die einen an eine einzige Identität binden, damit man mehr als ein Leben leben kann.« »Verstehe.« »Bates kapiert es.« »Stimmt das, Bates? Du kapierst diesen Mist?« Bates sagt nichts, lässt jedoch den Blick auf Wallace gerichtet, um ihn seiner Zustimmung zu versichern. »Heiliger Gott, ihr zwei beide.« Barry schüttelt den Kopf so tief über der Brust, dass er beinahe eine Flasche Chilisoße umwirft. »Also echt. Das ist wie die kleinste Sekte der Welt oder so was.« »Für dich ist es sowieso zu spät, Barry«, sagt Wallace. »Ich besitze dich schon.« »Was?« »Du bist schon absorbiert.« »Also, jetzt nicht mehr. Ich kündige.« »Es geht nicht um deinen Job. Oder um Geld. Nur zu, dann kündige eben. Deswegen gehörst du mir immer noch. Und weißt du was? Du weißt es selbst.« Sie lachen beide, obwohl es dazu einer gewissen Anstrengung bedarf. Bisher hatte ich die beiden noch nie so miteinander reden hören, einander aufziehend, bis es wehtut. Eine Weile wird schweigend weitergegessen. Barry fragt, ob er den Wein austrinken kann, den Lydia noch nicht angerührt hat, kippt ein volles Glas in einem Zug und dann das andere. Wir schauen ihm mit einem Lächeln zu. Doch es fallen keine Worte mehr. Immer noch landen dampfende Fleischscheiben auf unseren Tellern, und wir kämpfen verbissen weiter, als ob es unsere verdiente Strafe wäre. Wir alle außer Wallace, der noch in derselben Geschwindigkeit kaut und schluckt wie am Anfang. Nach vielleicht fünfminütigem Schweigen lässt Wallace seine Gabel sinken und wischt sich die geröteten Lippen ab. »Machen wir ein Spiel«, sagt er. »Du und ich, Crossman. Wir 58
beide spielen es ein Mal zusammen, damit die anderen sehen, wie es funktioniert.« »Was für ein Spiel?« »Ganz einfach. Ich gebe dir zwanzig Riesen, wenn du errätst, an wen ich gerade denke.« Ich mache den Mund auf und klappe ihn sofort wieder zu. Zwanzig Riesen? Wallace, Geld und ein Spiel, bei dem ich seine Gedanken lesen muss. Gute Aussichten, mich zum Idioten zu machen. Und jetzt schau ihn dir nur an: wie seine Augen an meinem von einer Gänsehaut überzogenen Ausschnitt entlangwandern. Nicht eine Spur von Lust darin, nur Schalk, der mich an die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich womöglich zu sein versuche, erinnern soll. Er hat darüber gelacht, wie ich mich für ihn zurechtgemacht habe. Jetzt will er darüber lachen, wie ich denke. »Sind zwanzig Riesen nicht genug?«, fragt Wallace. »Kann ich dir nicht verdenken. Warum das Risiko einer Niederlage eingehen, wenn sich der Gewinn nicht lohnt?« Er nimmt das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, und einen Augenblick scheint es wirklich so, als ob er auf eine Antwort wartet. Doch erneut verschließt mir Vorsicht den Mund. »Wie wär’s dann mit fünfzig?« »Fünfzig was?« »Fünfzigtausend Dollar, Crossman. Was sonst? Mit fünfzigtausend brasilianischen Real könntest du dir zu Hause nicht mal eine Flasche Shampoo kaufen. Nicht dass ich damit irgendwelche Andeutungen über deine persönliche –« »Du bietest mir so viel Geld an, nur dafür, dass ich ein blödes Spiel mit dir spiele?« »Nein, schöne Frau, dafür, dass du es gewinnst.« Ich versuche, den Blick auf Wallace’ Hände zu richten, dann hinauf zu der blonden Wölbung seines Haaransatzes, egal wohin, nur nicht auf seine Augen, doch er folgt jedem meiner 59
Blicke. Ob es das ist oder aber das allmähliche Einsickern der genauen Summe, die er mir da gerade – beiläufig, ganz plausibel – angeboten hat, jedenfalls spüre ich ein Kribbeln unter der Schädeldecke, das über meine Haut rieselt wie Spinnen. »Trägst du so viel mit dir herum?«, bringe ich mühsam heraus. »Ich nicht, aber Barry. Er ist der mit dem Scheckbuch. Stimmt’s nicht, Bär?« Barry knurrt unwirsch. Er arbeitet für diesen Jungen. Und er ist tatsächlich der mit dem Scheckbuch. »Und was muss ich tun?« »Sag mir, an wen ich gerade denke.« »Das ist lächerlich. Es könnte irgendjemand sein.« »Es ist nicht irgendjemand. Es ist jemand, den du kennst. Und ich gebe dir drei Versuche, Antwort oder Frage.« »Wie soll ich wissen, dass du nicht jemand anderen nennst, falls ich richtig rate?« »Weil du mir traust.« »Also, ich sage ja nicht, dass ich dir nicht … Ich versuche nur, die Regeln klar abzustecken.« »Sicher doch. Barry, gib mir deine Serviette.« Barry nimmt die Papierserviette, die er in seinen Kragen gesteckt hat, knüllt sie zusammen und versucht sie Wallace an den Kopf zu werfen. Doch auch samt der darauf verschmierten Soße und trotz der Kraft von Barrys Wurf beschreibt sie nur einen Bogen quer über den Tisch und springt mit beiläufiger Grazie zweimal auf, weich wie ein Wattebausch. »Hat irgendjemand einen Stift?«, fragt Wallace, während er die Serviette auffaltet. »Lydia, du hast doch immer einen Lippenstift in der Handtasche, oder nicht?« Lydia kramt in ihrer Tasche herum und zieht genau den Lippenstift hervor, den ich mir zwei Stunden zuvor von ihr geborgt habe; reicht ihn Wallace, der die Kappe abzieht und die leuchtend rote Spitze herausdreht. 60
»Nicht hersehen«, sagt er, und alle blicken wir zur Decke hinauf, direkt in die Neonlampen. »Ich schreibe einen Namen auf diese Serviette und falte sie zusammen. Nur ein Name. Keine Tricks.« Er klatscht einmal in die Hände, um zu signalisieren, dass er fertig ist. Als wir den Blick wieder auf ihn richten, fixiert er mich ganz alleine. »Lass dir Zeit«, sagt er. »Versuch den Namen in Besitz zu nehmen. Wenn du dich öffnest für die –« »Der Premierminister.« »Mutig, mutig! Wer hätte das gedacht? Crossman prescht mit einem kühnen Vorschlag vor. Frisch von der Leber weg.« »Stimmt es?« »Ich fürchte nicht.« »Na gut. Diesmal eine Frage.« »Denk gut nach, Crossman. Mit dem Tageshonorar, das wir dir zahlen – warte mal –, das beläuft sich ja auf ein ganzes Jahr, in dem du mit dem Übersetzen pausieren kannst, wenn du richtig rätst.« Barry stößt einen abschätzigen Lacher aus, doch ich werfe ihm einen Blick zu, der ihn augenblicklich verstummen lässt. Als ich mich wieder Wallace zuwende, ermahne ich mich, erst einmal durchzuatmen. An wen könnte er denken? Wenn Wallace ein Spiel mit mir spielt, dann muss es einen nahe liegenden Weg geben, es zu gewinnen. Sonst würde es keinen Spaß machen, wenn ich verliere. »Ist es jemand von uns fünf hier am Tisch?« »Genau!« Wallace schnippt mit dem Finger und zeigt auf mich, den Daumen nach oben gestreckt wie der Hahn einer Pistole. »Letzter Versuch. Aber jetzt stehen die Chancen nur noch eins zu fünf. Gar nicht so schlecht. Jede zweitklassige Zigeunerin könnte das mit einem Blick erraten. Bist du ein Menschenkenner, Crossman?« »Hängt vom Menschen ab.« 61
»Eigentlich nicht. Du machst einfach auf und siehst, was drinsteckt, da ist einer so simpel wie der andere. Wie ein Buch. Ich wette, du liest jede Menge Bücher, aber nicht allzu viele Gedanken. Stimmt’s?« »Dich«, sage ich. »Wie bitte?« »Du denkst an dich selbst.« »Das ist dein Tipp?« »Einer ist so gut wie jeder andere.« »Dann sieh nach.« Wallace macht keinerlei Anstalten, mir die Serviette herüberzuschieben, so dass ich aufstehen und mich halb über den Tisch beugen muss, um sie zu fassen zu bekommen, wobei ich mir mit der anderen Hand die Brüste halte, damit sie nicht herausrutschen. Als ich wieder sitze, ziehe ich die Serviette auseinander und lese, was da geschrieben steht. Lese es erneut. Vorwärts und rückwärts, als ob es ein sorgfältig formuliertes Rätsel wäre. Doch es ist nur ein Name, hingekritzelt in grellen Großbuchstaben. »Hast du gewonnen?«, fragt Lydia. »Nein«, sage ich, mit der Serviette als Schleier vor meinen Augen. »Nicht mal annähernd.« »Wie könnte es nicht annähernd sein? Es standen nur fünf zur Auswahl!« Barry klopft sich auf die Schenkel und stößt wieder einen Lacher aus. »Das ist das Lustige daran, stimmt’s, Wallace?«, sage ich. »Kein Wunder, dass du dieses Spiel magst. Mach es so nahe liegend, dass man nie drauf kommt.« »Wer ist es denn nun?«, fragt Lydia bettelnd; sie hat die Hände zu Fäusten geballt und auf Höhe ihrer Ohren erhoben, als wolle sie sie vor dem schützen, was sie gleich zu hören bekommen. Ich drehe die Serviette um und lege sie flach in die Mitte des Tischs. Lasse sie alle meinen Namen lesen, Buchstabe für 62
Buchstabe in hochrotem Wachs. Elizabeth Crossman. »Ich habe an dich gedacht, Lizzie«, sagt Wallace. »Ich habe die ganze Zeit die Antwort auf die Frage angesehen, und die Antwort ahnte es nicht einmal.« Ich lache ein falsches Lachen durch die Nase und spüre, wie etwas mit herausfliegt. »Also, das war ja wirklich interessant, Wallace«, stellt Lydia fest. »Ein Spaß für die ganze Familie.« »Aber es ist ja noch nicht vorbei, oder?«, frage ich und höre, wie kleine Wellen von Panik meine Worte beschleunigen. »Wir wissen jetzt, an wen du gedacht hast, aber noch nicht, was. Warum erzählst du uns nicht, was für tief schürfende Gedanken dir durch den Kopf gegangen sind, während du mich angestarrt hast.« Wallace zieht die Augenbrauen hoch. »Sag mir, was du siehst«, verlange ich und halte dabei Wallace’ Blick stand, doch meine Stimme bricht vor erstickten Schluchzern. »Das ist wieder ein anderes Spiel«, entgegnet er. Einen Moment lang sagt niemand etwas. Diesmal ist es jedoch nicht mehr nur ein befangenes, sondern ein peinliches Schweigen. Im Stillen haben sie alle Mitleid mit mir, nicht nur wegen des Geldes, das ich hätte gewinnen können, sondern wegen der Art und Weise, wie ich es verloren habe. Meine Lippen, die nicht zu zittern aufhören wollen. Mein Unvermögen, zu erkennen, dass es Wallace nie ums Spielen ging, sondern darum, etwas zu beweisen. »Wann hört das endlich auf?«, fragt Lydia schließlich. Wir blicken alle zu dem Kreis von Obern auf, die uns weiterhin Spieße mit verkohltem Fleisch vorhalten. »Sind wir fertig?«, frage ich in die Runde. »Wenn wir jetzt nicht bald aufhören, bringt es uns noch um«, stellt Barry fest und würgt etwas dick Klingendes seinen Hals 63
hinunter. Ich drehe eine rote Karte, die auf dem Serviettenbehälter liegt, um, so dass die blaue Seite nach oben schaut. Die Ober verschwinden. »Sie kommen so lange, bis man aufgibt«, erkläre ich ihnen. »Fleisch nonstop.« »So was gefällt mir!« Wallace lächelt Bates zu. »Nicht darum bitten zu müssen. Nichts zu müssen. Es kommt einfach alles, wie es kommt, ob man will oder nicht.« Einen Moment lang glaube ich schon, er wird Lydia noch einmal um ihren Lippenstift bitten und sich dieses neue Marketingkonzept notieren. Doch dann nickt er nur voller Bewunderung und isst sorgfältig zu Ende, was auf seinem Teller liegt. Draußen vor dem Restaurant stehen drei Taxis mit laufendem Motor bereit, um uns und die Hand voll anderer Touristen mit vollgeschlagenem Bauch ins Tropical zurückzufahren. Doch Wallace hat andere Pläne. »Mein hünenhafter Freund vom Hotel hat da ein paar Sachen erwähnt, wo wir nach dem Essen hingehen könnten«, sagt er. »Komm schon, Lydia. Wie wär’s mit uns beiden, ein bisschen die Lokalitäten aufmischen? Na, was meinst du?« »Also, ich gehe ins Bett, Mr Wallace«, entgegnet sie mit einem theatralischen Gähnen. »Morgen geht unsere Reise los, und da kann ich bestimmt sämtliche Energien brauchen.« »Wie steht’s mit dir, Crossman?« »Tut mir Leid, aber ich fürchte, für mich ist auch Feierabend.« »Also nein. Ich muss schon sagen, ich bin ein bisschen überrascht. Jetzt hatte ich dich glatt für ein Partygirl gehalten. Mit dieser durchtriebenen kleinen Grimasse, die du ständig auf dem Gesicht hast. Ich habe angenommen, du wartest nur auf den passenden Moment.« »Es ist keine Grimasse.« 64
»Na gut. Du bist also Coco, der Clown.« »Und Coco ist zu alt, um die ganze Nacht aufzubleiben.« »Barry kommt mit. Und der ist nun wirklich alt.« »Pass bloß auf dein Mundwerk auf, Junge!« »Und außerdem«, sage ich, während ich zwei Finger in einem Pfadfindergruß an die Schläfe führe, »muss jemand Lydia nach Hause begleiten.« »Aha! So ist das also, die Ladys trollen sich zu ihrem Schönheitsschlaf und überlassen die harten Sachen den Männern, damit wir euch verschrumpelten Mauerblümchen dann morgen was zu erzählen haben, wenn wir diesen Fluss hinaufdampfen – wie heißt der Fluss, auf dem wir fahren?« »Rio Negro«, souffliert ihm Bates. »Genau. Der schwarze Fluss. Mächtiger Nebenfluss des mächtigen Amazonas. Na gut. Es liegt in unserer Verantwortung, ein paar mächtige Geschichten für unsere Reise zu sammeln«, sagt er und zieht Barry und Bates so heftig zu sich her, dass sie alle zusammen das Gleichgewicht verlieren und beinahe nach hinten kippen, doch Wallace hält sie so lange fest, bis sie wieder fest auf den Füßen stehen. »Gute Nacht, Lydia«, sagt Bates leise, während wir in das erste Taxi steigen, und verdreht die Augen zu uns her, als Wallace ihn noch fester an sich presst. »Pass auf, dass dich nicht die Bettwanzen beißen, Crossman.« Die drei winken unserem abfahrenden Taxi nach, die Arme hoch über die Köpfe erhoben, und ihre begradigten Zähne und weißen Handflächen sind noch zwei unbeleuchtete Blocks weiter schimmernd in der Dunkelheit zu erkennen. Als ob sie von einem Scheinwerfer angestrahlt würden und diese von Hügelkämmen umschlossenen Straßen nichts weiter wären als eine Filmkulisse aus Armut und Verfall, vor der sie ihre Rollen spielen. Oder zumindest könnte man es so sehen, aus einer sicheren Entfernung wie meiner. Was tun sie als Nächstes? Darüber kursieren verschiedene 65
Versionen. Je eine von ihnen plus meine eigene. Und selbst wenn man sie alle zusammenbringt, bleiben noch Fragen offen. Allerdings denke ich, ich bin besser als jeder andere dazu geeignet, diese Fetzen zu einer einzigen Geschichte zusammenzuflikken. Schließlich bin ich Dolmetscherin. Und was ist Dolmetschen schon anderes, als zwischen den Zeilen zu lesen – und zu sprechen. Dazu bedarf es einer guten Portion roher, schöpferischer Kraft, wenn ich das vielleicht selbst anmerken darf. Die eigentliche Arbeit besteht darin, zu erfinden, um so die unvermeidlichen Gräben zu überbrücken, die die Sprache zwischen uns stehen lässt. Ich hege oft den Verdacht, dass es dem Schreiben von Romanen nicht unähnlich ist: mehr Autobiographisches vielleicht, als für gewöhnlich zugegeben wird, eine Ansammlung beobachteter Details, historischer Fakten, all das verschmolzen zu einer glaubwürdigen Folge von Anfang, Mitte und Schluss. Natürlich muss man sich hüten, rundweg zu lügen. Doch wenn beide Seiten einander nicht verstehen können und das, was in der Übersetzung verloren geht, sowieso ein für alle Mal verloren ist, was kann dann schon so schlimm daran sein, mit der einen oder anderen kleinen Flunkerei dafür zu sorgen, dass die Dinge ihren glatten Gang gehen? Als Lydia und ich mit dem Taxi ins Tropical zurückfahren, fragen sich die anderen, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollen. Fest steht nur, es muss auf jeden Fall weiteren Alkoholkonsum beinhalten. Ein winziger Schuss Scherereien wäre ganz nett. Die Art von Unterhaltung, die man zu Hause einfach nicht kriegen kann. Wallace erwähnt, dass der Portier des Hotels die Bars in der Nähe des Hafens empfohlen hat. Es war die Art Empfehlung, die mit einem Augenzwinkern versehen wird, da diese Etablissements »nichts für Damen« seien. Und eine Dame ist ja nun auch nicht mit dabei. »Der Typ vom Hotel hat gezwinkert?«, fragt Bates. »Ja, hat er. Warum fragst du?« »Fällt mir bloß schwer, ihn mir zwinkernd vorzustellen.« 66
»Nun, der Typ hat aber gezwinkert, okay?« Bates wirft Wallace einen zweifelnden Blick zu, doch Barry ist bereits losmarschiert, und so folgen sie ihm. Da sie den Fluss irgendwo unterhalb vermuten, arbeiten sie sich im Zickzack suchend durch die kaputten Straßen bergab. Frauen, zwischen deren Knien Kindergesichter hervorgucken, stehen in Türrahmen, die von einer einzelnen Glühbirne erleuchtet sind. Der Geruch vom Licht in Öl gebratenem Reis und Suppenknochen hängt in der Luft. Ratten huschen durch Rinnsteine, die so dunkel sind, dass man immer nur den Schwanz der Tiere sieht. Den Ausführungen des Reiseleiters vom Nachmittag nach sind die Gebäude, an denen die drei nun vorbeigehen, die ehemaligen Häuser der Gummibarone. Sklavenbesitzer, Erbauer von Opernhäusern. Jetzt ist die Hälfte davon verfallen, Scheiben, Türen und Inventar längst entwendet. Ohne ein Wort zu wechseln, bleiben sie vor einem dieser Häuser stehen, das zwei Stockwerke höher ist als die anderen, als hätten sie alle aus dem Inneren den eigenen Namen rufen gehört. Barry und Bates sind beide überrascht von ihrer unwillkürlichen Furcht. Ein unerklärlicher eisiger Schrecken, der sie in der windstillen Nachthitze durchfährt. »Ein Geisterhaus«, sagt Bates, doch es klingt zu entschieden, um als Witz durchzugehen. Wallace ist der Einzige, der sich nicht fürchtet. Vielmehr erregt ihn der Anblick dieser ausgeweideten einstigen Größe. Die Weinranken, die sich um steinerne Balkone schlingen, sich in den Rissen im Verputz festkrallen. Es muss einmal prachtvoll gewesen sein – selbst er kann das sehen. Und jetzt ist es eine Ruine. Er sieht in so was vor allem die Dramatik. Nicht in der Geschichte, die ihm anhaftet, sondern in der Reinheit dieses Scheiterns, in der wirtschaftswissenschaftlichen Lektion vom Kommen und Gehen. Nicht die Gespenster, die in diesem Gebäude lauern, faszinieren ihn, sondern seine vollkommene Leere. 67
»Am Hafen unten soll es ein paar Sachen geben«, erinnert er die anderen schließlich und liest sie auf, indem er sie wieder um die Schultern fasst. Es ist eine Straße, die nur Männer zu betreten scheinen. Jenseits des kleinen Platzes vor dem britischen Zollhaus, wohin das Licht der bunten Glühbirnen, die an Ketten über den Verkaufsständen hängen, nicht mehr vordringt. Barry, Wallace und Bates biegen schwungvoll um die Ecke, als ob die Straße auf ihrem Heimweg läge. Ihre Kleidung leuchtet. Doch das Zögern in ihren Schritten lässt sich nur durch einen Willensakt überwinden. Die Straße scheint gleichzeitig leer und voller Gesichter zu sein. Gesichter, die unter den Überresten einer ausgebrannten Ladenfassade hervorspähen oder über dem Sims vorhangloser Fenster schweben. Jeder Schritt führt sie neuen, unerwarteten Faustschlägen aus Gestank entgegen: verbranntes Maschinenöl, karamellisierte Scheiße, Benzin. Unwillkürlich gehen sie im Gänsemarsch mit Wallace an der Spitze. »Wie wär’s mit dem da?«, fragt er, als sie einen weiteren elektrischgelben Lichtkegel auf dem Asphalt erreichen. Barry und Bates schauen auf und sehen einen Raum mit hoher Decke, Tischen und einem Bretterverschlag aus Sperrholz auf einer Seite, der als Bar dient. »Mir soll’s recht sein«, erwidert Bates. »Aber wo ist die Tür?« Das soll ein Witz sein, da der Raum zur Straßenseite hin nämlich überhaupt keine Wand besitzt, so dass man ihn betritt wie das Proszenium einer Bühne vom Orchestergraben aus. Sie waren alle früher schon in Bars, die sich gefährlich anfühlten – abgelegene Wirtshäuser am Stadtrand von Unistädten oder hie und da eine Wartehalle eines Busbahnhofs –, doch das hier scheint echt gefährlich. Alle drei sind sich sicher, dass es sich bei den Männern um sie herum um Piraten, Schmuggler und skrupellose Taschendiebe handelt. Denn bestimmt gibt es 68
solche Männer irgendwo auf der Welt, vermutlich in der südlichen Hemisphäre, wo es heiß ist und gesetzlos zugeht und die Menschen verzweifelt sind. An Orten wie diesem hier. Warum also nicht diese Männer hier? Ein Blick genügt doch: überzogen mit einer Plastikfolie aus Schweiß, fiebriger Blick, Flüche in zahnlosem Portugiesisch beim Betrachten eines Fußballspiels in Schwarzweiß. Auf den ersten Blick scheinen sie alle einen Ausdruck von konfusem Hass in ihren Zügen zu tragen. »Nicht gerade das Ritz hier, Jungs«, sagt Barry mit seinem Südstaatenakzent, in dem jetzt allerdings ein nervöser, schriller Ton mitschwingt. Doch das hört sowieso niemand. Wallace sitzt bereits an einem wackligen Plastiktisch, wedelt mit drei Fingern in der Luft und ruft »Cerveza!« »Cer-ve-za ist Spanisch«, klärt ihn Bates auf, nachdem er und Barry sich zu dem Tisch vorgearbeitet haben. »Auf Portugiesisch wird es ser-vay-ja ausgesprochen.« »Geld ist die Sprache, die alle verstehen, mein Freund«, schreit Wallace, zieht eine Zwanzigdollarnote aus seiner Brusttasche und klatscht sie auf den Tisch. Die Piraten drehen sich um und starren die drei an – starren sie schon die ganze Zeit an –, doch nichts regt sich in ihren Gesichtern. Obwohl eigentlich keinem so richtig danach ist, beginnen sie mit grimmigem Enthusiasmus zu trinken. Flaschen mit Antarctica-Bier werden aufgetragen, zwei für jeden, und Gläser mit Cachaça, dem verdächtig klaren Zuckerrohrschnaps, von dem jedes Mal Nachschub kommt, wenn sie den Kopf zurückwerfen und sich mit pantomimischer Verve ein Glas in den Rachen kippen. Keiner schlägt vor, es langsamer angehen zu lassen. Irgendeine machtvolle, unausgesprochene Herausforderung treibt sie an. Der ganze Raum ist daran beteiligt. Männer kommen von der Straße herein und verstopfen die Gänge zwischen den Tischen. Schon bald ist alles verschwommen und zäh wie Teer. In der Luft hängt Dunst wie von gekochten Hot Dogs und verbranntem Haar. Es ist so heiß in dem neongrellen Gedränge, 69
dass sich zu übergeben oder auf dem Boden zusammenzubrechen ständig lockende Optionen sind. »Auf Hypothesys!«, ruft Wallace aus und hebt sein Glas mit dem klaren, flüssigen Feuer. »Und alle, die Profit daraus schlagen!« »Das wären dann wohl wir«, lacht Barry. »Stimmt. Aber ich glaube, es ist Zeit, ein für alle Mal das wahre Talent bei dieser Operation zu würdigen, Barry. Den Grund dafür, warum unser Vaporware-Projekt Erfolg haben wird, wo andere gescheitert sind. Unser Barde des Softwarecodes: Master Bates!« »Hypothesys ist keine Vaporware«, protestiert Bates schwach, kippt aber seinen Schnaps doch zusammen mit den anderen. »Natürlich ist es das nicht. Es ist das Echte, das einzig Wahre, stimmt’s Barry?« »Und ob das stimmt. Aber klär mich mal eben schnell auf. Was ist Vaporware noch mal?« »Software, die eigentlich nichts macht. Oder zumindest noch nicht. Eine reine Idee. Investoren stehen total auf so was.« »Na, dann müssen wir uns einfach noch so ein paar reine Ideen einfallen lassen, was, Bates, Junge?« »Nicht ich. Wallace ist unser Mann für die Ideen.« »Du schmeichelst mir, Bates. Ich bin kein Mann der Ideen, und das weißt du. Ich bin ein Arrangeur. Ich bringe Dinge zusammen und lasse sie dann sich selbst vermehren. Kapitalismus ist nichts anderes, als die menschliche Natur sich selbst zu überlassen. Das ist meine einzige Idee.« »Anders ausgedrückt«, hebt Barry an und hält dann einen Moment inne, um einen schwierig klingenden Rülpser zu unterdrücken. »Du bist ein Mann der Leute.« »Jawohl! Ein Mann der Leute. Ich stehe total auf Leute.« Etwas an der Beleuchtung macht ihre Schuppen und die Asche sichtbar, die von den Zigaretten der Umstehenden auf ihre Hemden fällt, so dass über ihren Schultern eine Konstella70
tion erscheint, eine Sternenkarte rings um ihre Kragen. Barry versucht ein paarmal vergeblich, es wegzuwischen, und entschuldigt sich dann, um nach einer Toilette zu suchen. Eine weitere Runde Alkohol erreicht ihren Tisch, ohne dass sie sie bestellt hätten. Plötzlich packt Bates über den Tisch hinweg Wallace am Arm. »Hey, ist das nicht der Typ vom Hotel?«, fragt er flüsternd, das Gesicht zu der offenen Vorderseite der Bar gedreht. »Welcher Typ?« »Das Monster. Der, mit dem du dich unterhalten hast.« »Der Portier? Wo?« »Da.« Bates deutet auf einen VW Käfer, der auf der anderen Straßenseite geparkt ist. Dahinter ein Schatten, der die Gestalt des Portiers sein könnte, oder auch nur ein dunkler Türrahmen, oder überhaupt nichts. »Ich seh nicht die geringste Scheiße«, entgegnet Wallace. »Er hat sich irgendwie aus diesem Auto da geschält und hier reingestarrt. Zu uns her.« »Vielleicht hat er Lust, einen mitzutrinken.« »Hat er dir gesagt, du sollst hierher gehen, Wallace?« Wallace dreht sich zu ihm; seine Nasenflügel sind zu vollkommenen Kreisen geweitet. »Wir sind rein zufällig in dieser Bar hier gelandet, hast du das vergessen?« »Es ist ja nur, weil du so lange mit ihm geredet –« »Was hast du für ein Problem? Ich habe also mit dem Typ vom Hotel geredet. Und jetzt glaubst du, er ist der gottverdammte schwarze Mann, der nichts Besseres zu tun hat, als hinter deinem Arsch her zu sein.« Wallace kippt seinen Schnaps, ohne Bates dabei aus den Augen zu lassen, und dreht dann ruckartig den Kopf zur Straße. »Sieh noch mal hin«, sagt er über die Schulter zu Bates. »Jetzt ist niemand mehr da.« Und Bates sieht noch einmal hin. Der Käfer ist weg. Doch der schwarze Zwischenraum, in dem ein Mann gestanden ha71
ben könnte, ist immer noch da. »Er muss mit dem Auto weggefahren sein.« »Sieht wohl so aus.« Bates wirkt nervös. Doch sein längliches Gesicht hatte schon immer etwas Erschrockenes an sich, als hätte er als Kind etwas Unerwartetes mit angesehen und trüge seither diesen frühen Ausdruck des Entsetzens in seinen Zügen. Ein eher harmloses Entsetzen, wohlgemerkt. Nur das Übliche, von dem sich die meisten Kinder allmählich erholen und es vergessen, wohingegen manche sich für immer daran erinnern, als sei ihnen die Pflicht auferlegt, den Schrecken zum Nutzen jener sichtbar zu machen, denen noch nichts so Schlimmes begegnet ist. Barry kehrt von dem wo auch immer gelegenen Winkel zurück, in dem er sich erleichtert hat, und sie winken noch eine Runde warmen Cachaça und noch wärmeres Antarctica-Bier an ihren Tisch. Keiner erwähnt den VW Käfer oder Bates’ Vision des monströsen Portiers. Keiner spricht die Frage aus, was sie hier eigentlich zu suchen haben, Leute, die im Economist zitiert wurden und über die in Wired wohlwollend berichtet wurde, die in diesem hell erleuchteten Loch sitzen und mit diesen schmierigen Flusspiraten trinken. Eine Neonröhre zuckt über ihren Köpfen, friert den geronnenen Humor auf ihren Lippen im Blitzlicht ein. Alle drei wünschen sich, das Ding würde endlich ein für allemal seinen Geist aufgeben und sie in dem gnädigeren Licht der Marlboro-Uhr an der Wand sitzen lassen. Ungefähr da bemerken sie die Mädchen. Ein halbes Dutzend in unterschiedlichen Ausmaßen, Altersstufen und Wimperntuschefarben, die plötzlich in Form eines Hexenzirkels am Ende der Bar aus dem Nichts aufgetaucht sind. Jeans-Shorts, noch kürzer als der Durchschnitt in Manaus. Mit demselben Lippenstift, den sie unter sich kreisen lassen. »Nun sieh einer an«, rufen Wallace und Barry gleichzeitig. »Auweia«, entfährt es Bates.
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Man gibt ihnen zu verstehen, dass irgendwo hinten Zimmer sind, in die sich ein Kunde mit diesen Mädchen zurückziehen kann. Von Zeit zu Zeit wirft eines der Mädchen einen verstohlenen Blick in den Gang hinter der Bar, als hätte es dort im Halbdunkel irgendeine Bewegung erhascht. Doch die meiste Zeit sind ihre Blicke auf die drei betrunkenen amerikanischen Touristen gerichtet, die dem Äußeren nach ein Vater mit seinen zwei Söhnen sein könnten. Und die Hypothesys-Männer stieren zurück. Als sie miteinander reden, stellen sie fest, dass sie jetzt alle in dasselbe schmallippige, businessmäßige Grinsen verfallen sind. Zunächst ist die Frage, wer sich welche aussuchen würde, ein rein hypothetisches vulgäres Spielchen. Die Kleine, Lächelnde mit den großen Titten? Eindeutig Bates. Alles an ihr schreit geradezu nach Bates. Und die Ältere mit den Dellen im Hintern und dem Goldzahn? Auf jeden Fall deine Kategorie, Barry! So in dem Stil geht es ein, zwei Runden lang. Doch die Drinks und die Schwaden von Zigarillorauch und die Art und Weise, wie die Mädchen ununterbrochen herschauen, inzwischen mit unverhohlener Vergnügtheit, als sei ihr Tisch ganz besonders hinreißend – all das verwandelt ihr spekulatives Geplänkel in eine knallharte Auswahl der Hardware. »Die mit den dunklen Haaren«, sagt Bates. »Das ist die Hübscheste.« »Die haben alle dunkle Haare unter ihren Tönungen«, stellt Wallace klar. »Und hübsch ist keine von ihnen.« Doch das stimmt nicht so ganz. Die Maßstäbe, was hübsch ist, sind hier irgendwie verschoben, so dass die Mädchen an der Bar (egal welche »technischen Mängel« sie aufweisen, wie Wallace es ausdrückt) zwar bescheidene, aber ganz eigene Reize zu bieten haben. Hässlichkeit hat an diesem Ort nichts Peinliches. Es ist zu feucht und stinkt zu sehr nach fauligem Fisch, als dass man sich hier mit irgendwelchen Zimperlichkeiten in Sachen Schönheit abgeben würde. Die Mädchen sind braun 73
und sprechen eine andere Sprache und sehen in Wallace und Barry und Bates so etwas wie Figuren aus Hollywoodfilmen. Dies allein wirft schon einen gewissen Bann über alles. Einen Bann, der die drei Männer von der ständigen unterbewussten, typisch nordamerikanischen Suche nach der perfekten Ehefrau befreit, der idealen Frau für den Beifahrersitz ihres imaginären Kabrios, mit dem sie imaginäre Highways in Malibu entlangrauschen. Diese Mädchen und Jungs haben unbestreitbar einiges zu bieten, und während sie sich gegenseitig taxieren, quer durch einen zu grell erleuchteten Raum und in einem Land, das zu arm ist, als dass man seine elementarsten Bedürfnisse verhehlen würde, sprechen sie sie wortlos aus. »Ich finde sie alle süß«, stellt Barry zusammenfassend fest, mit einem besonders dick aufgetragenen urwüchsigen Südstaaten-Näseln in der Stimme. »Süß«, wiederholt Bates, doch es geht in dem hämmernden portugiesischen Rap unter, der aus den Lautsprechern über ihren Köpfen auf sie herabprasselt. Wallace sagt nichts. Er lauscht der singenden Stimme in seinem Kopf. Fremd und neu. Fremd und neu. Das ist Wallace’ sexueller Lockruf. Er ertönt, wann immer eine Frau, die ganz offensichtlich falsch für ihn ist – zu alt, zu fett –, sich, nachdem sie an ihm vorbeigegangen ist, umwendet und ihm einen zweiten Blick nachwirft. Es ist nicht die Befriedigung seiner Eitelkeit, die ihn dabei erregt, sondern der Reiz, eine schlechte Wahl zu treffen. Fremd und neu. Die Melodie hält nicht lange an – welcher Popsong tut das schon? –, doch sie verschafft allemal ein Vergnügen, ein billiges, gedankenloses Vergnügen, wie im Sommer bei offenem Autofenster ein Straße entlangzurasen. Als Wallace aufsteht, nehmen Barry und Bates zunächst an, dass er nur neue Drinks bestellen will. Er bewegt sich in seinem aufschneiderischen White-Boy-Hip-Hop-Schlenderschritt 74
durch das intensive Licht, doch mit mehr Schmierung in den Gelenken als sonst. Ein leicht schlurfender Gang mit schmollend aufgeworfenen Pobacken, als ob ihn der Schiedsrichter gerade vom Platz gestellt hätte und er seinen Gang vom Spielfeld in einer genüsslichen Show zelebrieren wollte. Nicht der Gang eines Sportlers, sondern von jemandem, der oft genug Profisport im Fernsehen gesehen hat, um die Haltung zu simulieren. Er beugt sich vor, um mit den Mädchen an der Bar zu sprechen, sagt etwas, was nur auf Englisch sein kann, sie aber trotzdem sofort zum Lachen bringt. Barry und Bates beobachten voller Bewunderung, mit welcher Selbstverständlichkeit er das, von dem sie noch gar nicht wussten, dass sie es wollen, in den Bereich des Möglichen rückt. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens dreht sich Wallace zu ihnen um; seine Arme umfassen jetzt entspannt die Taillen zweier Mädchen. Er zieht fragend die Brauen hoch. Und in diesem Moment, in dem sie ganz Männer unter sich sind, weit weg von all den prüden Zwängen von Gesetz und gutem Benehmen, wissen sie, dass das, was jetzt kommt, nicht mehr aufzuhalten ist. Dass Wallace die drei Mädchen mit an ihren Tisch bringt, willkürlich je eine für Bates und Barry bestimmt und seine eigene Überraschungswahl – den Goldzahn – für sich aufspart. Dass sie sich namenlos einander bekannt machen, mit erhobenen Gläsern einander bedeuten, wer wer ist, und den sich anbahnenden Handel besiegeln. Dass sie aufstehen und vor den Piraten um sie her das Kinn mit Besitzerstolz in die Höhe recken, um sich schließlich den Gang hinter der Bar hinunterführen zu lassen. Während sie blinzelnd in die Dunkelheit gehen, sind alle drei überzeugt, jetzt endlich keine Touristen mehr zu sein. Wallace ist ihr neuer Reiseleiter. Und irgendwie hat er einen Weg mitten ins Herz dessen gefunden, was die Broschüren, die aus ihren Gesäßtaschen schauen, »echte brasilianische Urwalderfahrung« nennen. 75
Sie werden weiter nach hinten geführt, als sie es rein technisch für möglich gehalten hätten. Haben sie irgendwie das benachbarte Gebäude betreten? Es ist zu dunkel, um sagen zu können, wo sie sich befinden oder um welche Ecken sie gebogen sind, ihre Beine sind zu schwer vom Alkohol, um noch Entfernungen einschätzen zu können. Später werden sich zwei von ihnen erinnern, eine Treppe hinaufgestiegen zu sein, einer wird es bestreiten. Aber egal. Sagen wir einfach, da ist eine Treppe, und sie haben Probleme, sie zu erklimmen. So heftige Probleme, dass die Mädchen sie an den Händen fassen und ihnen nach oben auf den Treppenabsatz helfen müssen, wo die Abwesenheit von Licht nun vollkommen ist. Die Mädchen machen Türen auf. Für jeden eine. In den Zimmern steht jeweils ein Einzelbett mit einer Kuhle in der Mitte. An der Wand ein Kreuz aus zusammengebundenen Eisstielen. Als einzige Beleuchtung rote Weihnachtslichter, die sich an einer Schnur von der Decke winden. Zuerst Bates, dann Barry und am Ende des Gangs Wallace mit seinem Goldzahn. Jetzt, da er hier ist, auf unbegreifliche und doch unbestreitbare Weise an diesem Ort, stellt Bates fest, dass er entspannter ist, als er es je erwartet hätte. Sein Mädchen dreht das Gesicht zu ihm hoch. Sie ist klein und ähnelt niemandem, den er kennt. Als Erstes gibt er ihr einen Namen. Das macht ihn gleich noch entspannter. »Lydia«, sagt er. »Tipfomaid?« »Bitte?« »Tip for maid?« Sie hält die Hand auf wie eine Opferschale. Jetzt kapiert er: eine Vorausprovision für das Management unten. Nach kurzer Überlegung entschließt er sich zu den in Amerika üblichen fünfzehn Prozent Standardtrinkgeld im Restaurant, zählt drei amerikanische Dollar in ihre Hand und sieht zu, wie sie dort zu liegen kommen, bevor sich ihre Finger darüber zur Faust 76
schließen. Falls ihr Gesicht irgendeine Reaktion innerhalb des Spektrums zwischen Dankbarkeit und Missbilligung zeigt, sieht er es nicht. In dem dämmrigen Licht ist seine Sehkraft nur noch selektiv: ein Schnappschuss ihrer Lippen ohne die Nase oder die Augen darüber, seine Fingernägel auf seinen Knien wie winzige Quarzsplitter. Sie ist so klein. Vielleicht das kleinste Mädchen, das er je gesehen hat, und trotzdem schafft er es nicht, sie als Ganzes auf einmal in den Blick zu bekommen. Ein momentaner Anflug von Übelkeit überkommt ihn, als er sich überlegt, ob er wirklich will. »You like love?«, fragt sie, anscheinend zufrieden mit dem Trinkgeld. »Liebe? Mag ich, ja. Ich schätze schon.« Sie schüttelt einmal scharf den Kopf, als hätte sie einen Spritzer Zitrone auf der Zunge. »No«, sagt sie. »What you like?« Er muss es ihr ohne Worte sagen, denn im nächsten Augenblick beginnt es schon. Ihm fällt auf, dass dies das Alleräußerste ist, was er überhaupt in Betracht zu ziehen bereit war, geschweige denn zu tun – ihre Haut, die ganz eigene Haut eines anderen, eines Fremden, fremde Hände unter seinem Hemd –, doch er kann es nicht aufhalten. Zumindest nicht in seiner Vorstellung. Die Idee von Unaufhaltsamkeit setzt sich so in seinem Kopf fest, dass sie selbst unaufhaltsam wird. Andererseits weiß er auch, dass er jederzeit einfach gehen könnte. Dass er ihre Hände wegziehen und ein paar grüne Scheine auf die dreckige Matratze werfen könnte, wie es der Gute im Kinofilm macht, der im Bordell seine Meinung ändert. Diese Möglichkeit steht natürlich immer im Raum. Doch mal ganz abgesehen von der rein wissenschaftlichen Frage nach dem Verlangen (besitzt er es? besitzt er es nicht?) – zu gehen ist einfach eine weniger reizvolle Vorstellung als zu bleiben. Da ist diese alles überragende Frage nach dem Ausgang: Wohin wird ihn diese ganze unglaubliche Angelegenheit führen? 77
Es geht weiter wie geplant. Der ganze wahnsinnige Rausch erhaschter Blicke und gewährter Berührungen. Er verspürt Dankbarkeit. Dank für das Mädchen, ja. Für seine Lydia. Für seine eigenen überraschenden Fähigkeiten. Und für die Tatsache, dass es ihm sogar zu gefallen scheint. Daran hatte er Zweifel gehegt. Die Publicitiy war ja massiv (gibt es irgendwas, um das noch mehr Wirbel gemacht wird als ums Ficken?), und er ist kühnen Versprechungen gegenüber nicht minder skeptisch wie jeder beliebige halbwegs aufgeklärte Konsument – was zum Teil seine jahrelang sorgfältig verpassten Chancen erklärt. Doch wie sich nun herausstellt, gefällt es ihm tatsächlich. Diese zugleich törichte und so simple Sache, die er noch nie zuvor gemacht hat. Er ist dankbar für all das. Doch vor allem ist er dankbar für den Beweis, dass er ja vielleicht doch nicht schwul ist. Die drei Männer kommen alle zur selben Zeit. Sie können sich gegenseitig ganz deutlich durch die Gipswände hören, die einen halben Meter unter der Decke aufhören: ein feminines Stöhnen, ein erschöpfter Seufzer, ein Japser kindlicher Überraschtheit. Ihre Geräusche vermischen sich zu einem einzigen Echo in dem dunklen Gang. Und obschon jeder Einzelne von ihnen nur sein Vergnügen oder zumindest seine Erleichterung zum Ausdruck bringt, ergeben die Geräusche, die sie machen, zusammengenommen einen kollektiven Ausdruck von Furcht. Barry kann kaum fassen, wie jung sein Mädchen ist und wie jung er sich in ihr fühlt. Nach dem ganzen Bier und der sich immer wieder einstellenden Überzeugung, dass er jetzt gleich in völliger Bewusstlosigkeit von der Matratze kullern wird, und den unschönen Duftwolken, die unter seinen Achselhöhlen hervordringen, sobald er sich bewegt, ist er ganz baff über den schlichten Raum, den sie ihm bietet. Gar nicht wie bei seiner Frau. (Sie kommt ihm einen Moment lang in den Sinn, doch nur gerade lange genug, dass ihm auffällt, wie kurz er an sie 78
denkt.) Gar nicht wie Sex eigentlich. Eher wie ein verlängerter Kindheitstraum. Ein endloses Hasch-mich-Spiel, ein Ausbruch von Gekicher. Auf einer Spielplatzschaukel immer höher hinaufgeschubst zu werden. Ein Zimmer weiter widmet sich Bates ganz der Aufgabe, wie ein Mann zu agieren. Hält den Atem an, spannt die Muskeln. Stellt sich seine einzelnen Körperteile vor, wie sie sich zusammenziehen und vorwärts stoßen in einem athletischen Tribut an sich selbst. Dennoch, als der Augenblick kommt, hofft er, dem Mädchen nicht wehzutun, das so klein ist unter ihm. Und was fühlt Wallace am Ende des Gangs? Er hat das Gefühl, dass der Preis zu hoch war. Nachher sprechen sie mit den Mädchen. Es scheint keinerlei Eile geboten zu sein, und so stützen sich die Männer auf die fleckigen Kopfkissen und beantworten die Fragen, die ihnen die Mädchen stellen. Sie finden es nicht einmal seltsam, dass ihnen überhaupt Fragen gestellt werden. Und nicht nur die erwartbaren, wo sie herkommen und ob sie verheiratet sind und wie sie heißen, sondern gezielte Fragen, für wen sie arbeiten und was sie geschäftlich in Brasilien zu tun haben. Den Männern kommt all das überhaupt nicht seltsam vor. Sie haben weit weg von zu Hause etwas Beschämendes getan, von dem vermutlich nie jemand erfahren würde. Sie haben jetzt ein gemeinsames Geheimnis. Sie kommen sich eher interessant als schlecht vor. Also genau der richtige Moment, um zu plaudern. Manches von dem, was sie erzählen, ist gelogen, manches wahr. Aber so oder so handelt es sich zu einem großen Teil um Informationen, die, wenn sie in falsche Hände geraten, ihnen Schwierigkeiten einbrocken könnten. Es ist gefährlich dort, wo sie sind. Man hat sie vor Dieben gewarnt, die einem für zehn amerikanische Dollar die Kehle durchschneiden würden, vor Kolumbianern, die aus einer wirren Mischung aus politischen und finanziellen Motiven heraus Touristen kidnappen, vor 79
durch und durch verkommenen Streetgangs, die es einfach aus Spaß machen. Doch das hält sie nicht davon ab, den Mädchen von all den Dingen zu erzählen, die sie besitzen – von Geld, wirtschaftlichen Insidertipps, den begehrtesten Reisepässen der Welt. Und die Mädchen hören zu, ohne ein Lächeln. Den Männern kommt es nicht im Geringsten verdächtig vor, dass ihr Publikum so überaus interessiert scheint. Oder dass sich die Augen der Mädchen oft in tiefer Konzentration schließen, als wollten sie die Besitztümer der Männer in ihr Gedächtnis ätzen. Als die Männer sich schließlich auf dem dunklen Gang treffen und sich durch die Bar ins Freie arbeiten, steht dort ein Taxi bereit, das auf sie wartet. Auch das finden sie nicht weiter seltsam. Das ist nur wieder mal ihr übliches Glück, an das sie sich im Laufe ihres Lebens längst gewöhnt haben. Barry überlegt, ob er den schwarzen Käfer erwähnen soll, der am entgegengesetzten Ende der Straße geparkt ist und in dem ein Typ kauert, der dem Portier des Hotels ziemlich ähnlich sieht. Doch als das Taxi ruckelnd anfährt, kämpft er mit einer Welle von Übelkeit, und überhaupt ist ihm eigentlich sowieso nicht mehr nach Reden zumute. Nur Bates gibt seinem Mädchen einen Abschiedskuss.
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Unser Boot, die Ana Cassia, ist um einiges kleiner als die Presidente Figueiredo, auf der der kanadische Außenminister mit seiner Schar von »Offiziellen« reist. Nur fünf Kabinen sind auf dem knapp fünfzehn Meter langen Deck angeordnet, keine viel größer als eine Reisebustoilette. Irgendwie wurden dennoch in jede davon ein Etagenbett und eine Dusche gequetscht, wobei unter »Dusche« ein simpler Schlauch zu verstehen ist, mit dem Wasser aus dem Fluss hochgepumpt wird, das sich dann über unsere Köpfe ergießt und durch ein Loch im Boden wieder abfließt, während sich im Gegenzug nachtaktives Kriechgetier wie Geckos, Harlekinfrösche und Armeeameisen auf diesem Wege Zutritt in unsere Betten verschafft. Barry, Lydia und ich haben je eine Kabine für uns, Wallace und Bates teilen sich eine (»Hey, wir sind schon Zimmergenossen seit unserer Pubertät, oder zumindest seit meiner Pubertät – auf die von Bates warten wir ja immer noch –, also was soll’s?«), und die gesamte Crew teilt sich anscheinend die verbliebene, direkt über der Schiffsmaschine. Sie sind zu viert. Der Kapitän, mit einem Gesicht, in dem Sonne und Alkohol und ein Leben mit stumpfen Rasierklingen ihre unübersehbaren Spuren hinterlassen haben; unser bebrillter Reiseleiter, dessen Name mir entgangen ist und dessen Bewegungen so betäubt wirken wie die eines Faultiers; Americo, der erste Maat, der immer dasselbe Grinsen auf den Lippen trägt, als ob es da hintätowiert wäre; und die junge Maria in der Kombüse. Maria ist vielleicht so um die achtzehn und vielleicht hübsch (aus Schüchternheit hält sie den Kopf immer tief über die Spüle gebeugt oder dreht das Gesicht zur Wand, so dass sich nur schwer etwas Sicheres sagen lässt), und Americo mag vielleicht fünfundzwanzig sein und ist definitiv hübsch, 81
und so diskutieren wir, oder zumindest Wallace und Bates, bereits eine viertel Stunde, nachdem wir an Bord geklettert sind, darüber, ob die beiden miteinander schlafen. »Er würde gern«, wagt sich Bates vor, »und er versucht es auch ab und an, doch sie lässt ihn nicht.« »Wie kommst du darauf?«, fragt Wallace. »Schau sie dir an. Man sieht gewisse Dinge.« »Ich sehe auch gewisse Dinge.« »Und du glaubst, sie treibt es mit ihm?« »Vielleicht nicht. Aber sie wünscht sich, dass jemand sie mit fortnimmt. Immer auf diesem Boot, wo Touristen kommen und gehen, ihr Dollars und Pfundnoten und Euros in die Schürze stecken. Sie fragt sich, wohin sie alle nach Hause fahren.« »Du glaubst, sie ist verzweifelt.« »Und du glaubst, sie ist tugendhaft?« »Nicht unbedingt. Nur ängstlich.« »Na, damit musst du dich ja auskennen.« Rund um das Hauptdeck verläuft ein Gang, der so schmal ist, dass man sich flach gegen die Wand drücken oder sich gefährlich über die Reling hinausbeugen muss, wenn einem jemand entgegenkommt. Ganz vorne befindet sich die Brücke, gerade so groß, dass der Kapitän sich darin zurücklehnen und dabei seinen Turnschuh auf dem Steuerrad lassen kann. Direkt dahinter führt eine Leiter hinauf zur Kombüse. Es ist sofort klar, dass dies hier der allgemeine Treffpunkt ist. Darauf deuten der Tisch, die Kunst an der Wand (eine Karte des Rio Negro neben einer Tiefenkarte des Anavilhanas Archipels, einer Ansammlung von mehreren tausend Inseln, die wie verschüttete Murmeln den Flusslauf durchziehen) und die Unterhaltungsmöglichkeiten (ein Satz Spielkarten und drei Flaschen Rum mit je einem trüben Fingerbreit Inhalt) hin. Eine weitere Leiter führt durch eine Luke in der Küchendekke auf ein Aussichtsdeck, dessen vorderer Teil mit einem flatternden Stück Segeltuch überspannt ist. Dort stehen wir alle, 82
als das Boot ablegt. Niemand sagt etwas. Außer mir, als Americo nach oben kommt und uns Bier anbietet, um den feierlichen Moment zu begehen, und ich für die Gruppe übersetzen muss. Sie lehnen kopfschüttelnd ab, ohne einander anzusehen, Bates und Wallace und Barry wegen ihres höllischen Katers und Lydia mit dem Argument, dass es erst halb elf Uhr vormittags ist. So trinke ich als Einzige eins. Ehrlich gesagt bin ich ein wenig aufgeregt. Sicher, es ist nur ein Ausflugstrip, der uns in fünf Tagen wieder an genau dieser Stelle abliefern soll, und eine Schiffsladung kanadischer Bürokraten wird ständig in unserer Nähe sein. Aber wir sind immerhin am Amazonas, oder nicht? Es gibt hier Schlangen, deren Biss zu sofortigem Herzstillstand führt und die ein ganzes Kind verschlingen können. Gefährliche Piranhaschwärme. Und immer noch Malaria, Gelbfieber und andere per Luft beförderte Unannehmlichkeiten. Ganz zu schweigen von den Millionen Möglichkeiten, da draußen verloren zu gehen. In Gegenden wie dieser kann noch immer allerhand passieren, und wir fahren direkt mitten hinein. Dieser abenteuerliche Augenblick muss gewürdigt werden. Doch als ich Americo einlade, mit mir anzustoßen, grinst er nur weiter sein dauerndes Grinsen, das ich dahingehend interpretiere, dass er zwar gerne würde, als erster Maat aber wohl kaum in unmittelbarer Sichtweite des Hafens schon mit dem Trinken anfangen kann. Wir stehen da und sehen zu, wie Manaus zu einem Gewirr getünchter Würfel zusammenschrumpft, aus dem das Opernhaus wie eine bemalte Brustwarze herausragt. Es fühlt sich seltsam an, es schwinden zu sehen, und dieses Gefühl verstärkt unser Schweigen noch. Immerhin ist es eine Stadt. Die einzige über Tausende von Meilen. Das haben wir wieder und wieder gehört im Verlauf unserer Reise. Doch nun erscheint es glaubhaft. Denn schon jetzt, gerade mal hundert, zweihundert Meter auf dem Fluss draußen, sehen wir, wie sich die grünen Ränder des Urwalds zu beiden Seiten der Stadt erheben. Und von da an 83
sehen wir nur noch mehr davon. Wir gleiten zitternd nordwärts durch einen Nachmittag reinen Lichts, das als empfindliches Gewicht auf unseren Köpfen lastet. Während der ersten ein oder zwei Stunden entdecken wir noch letzte Spuren der Außenbezirke von Manaus – einen rostigen Wassertank auf x-beinigen Stelzen, einen Ziegelsteinbau, der, so erklärt uns der Reiseführer, früher einmal eine Brauerei war – und dann gibt es nur noch Bäume. Der Fluss ist breit, und wir fahren in der Mitte, zu weit vom Ufer weg, um irgendetwas Bestimmtes erkennen zu können. Nur Bäume. Eine grüne Linie, mit einer Zickzackschere in den Himmel geschnitten. »Es ist schön«, sagt Bates. »Es ist langweilig«, erwidert Wallace. »Dann ist es eben schön langweilig«, sagt Bates. Als die Sonne endlich größer wird und versinkt, bringt Americo den Kühler mit dem Bier wieder nach oben. Diesmal nehmen wir alle eine Dose. Zumindest der Konversation kommt das ein bisschen zugute. »Also, Mr Americo. Wo zum Teufel fahren wir denn nun eigentlich hin?«, fragt Barry den großen Mann. Natürlich hatte Americo gegrinst, als er auftauchte. Er grinst auch weiterhin. Ich übersetze die Frage ins Portugiesische, und da verblüfft er uns alle, indem er sein mimisch-gestisches Repertoire um ein Nicken erweitert. Und als er spricht, klingt seine Stimme überraschend weich, fast weiblich. »Nós viajaremos para o norte à noite e continuaremos de manhã.« »Er sagt, wir fahren die ganze Nacht und den morgigen Vormittag hindurch so weiter«, erkläre ich den anderen. »Das sollte uns bis um die Mittagszeit zum Archipel bringen, wo wir einen Stopp einlegen. Dann gibt es eine Runde PiranhaFischen« – Americo grinst noch breiter und macht eine mah84
lende Bewegung mit dem Unterkiefer – »und wir steuern zwischen einigen Inseln hindurch. Nachts halten wir an und am nächsten Tag gehen wir an Land und machen eine Urwaldwanderung.« »Löwen und Tiger und Bären, du meine Güte!«, säuselt Lydia. »Danach geht es zur Presidente Figueiredo hinüber zu einem traditionellen einheimischen Abendessen mit den Regierungsleuten. Aber zuerst müssen wir ein paar Piranhas fangen, damit Maria aus den Knochen eine Suppe machen kann.« Barry kommentiert dies mit seinem Südstaatler-Lachen, und mit einem Mal fühlen wir uns alle nicht mehr ganz so weit weg. Lydia steckt uns frische Bierdosen in die Hemdtaschen und zwischen die Beine. »Na, wenn das kein Programm ist«, stellt Barry fest und klopft Americo zweimal auf die Schulter. Am späteren Nachmittag kommt der Kapitän nach oben, um uns zu begrüßen. Schüttelt uns ganz förmlich die Hand und bricht, nachdem er die Runde gemacht hat, in Gelächter aus. Ein wieherndes Lachen angesichts Bates’ überdimensionaler, knöchelhoher Turnschuhe, Lydias bleicher Haut, Wallace’ Frage, ob die Möglichkeit besteht, dass die Piranhas ihren Weg in unsere Kloschüsseln finden. Trotz seines ramponierten Gesichts geht von ihm etwas Harmlos-Lustiges aus, das alle anzustecken scheint: von der Schildmütze der Boston Red Sox auf seinem Kopf, die in einem jungenhaften Winkel keck nach hinten geschoben ist, von den grauen Haaren, die ihm aus beiden Ohren wachsen, von den langen Armen, sommersprossig und rosarot wie ein Hundebauch. Schon bald lachen wir alle ohne irgendeinen weiteren Anlass. »Hey«, unterbricht uns Barry schließlich. »Wenn er hier oben ist, wer fährt dann dieses Ding?« Der Kapitän errät den Sinn des Gesagten, wirft als Antwort die Arme nach vorn und pflanzt zwei erhobene Daumen direkt 85
unter Barrys Kinn auf. Lacht schon wieder schallend. Und wieder lachen wir mit. Die Ana Cassia steuert sich selbst. Schnurgerade und gemächlich, genau in der Mitte lang – was bliebe ihr auch sonst übrig, außer die Maschinen abzuschalten und sich rückwärts treiben zu lassen, in die Richtung, aus der sie kam? Hier draußen, wo der Fluss so breit ist wie ein Meer, gibt es nur diese beiden Möglichkeiten. Nachdem der Kapitän wieder nach unten verschwunden ist, senkt sich allmählich die Dämmerung über den Fluss, und der Geruch von gebratenen Bananen, die Maria in der Küche zubereitet, dringt durch die Luke im Deck. Americo bringt eine Schüssel mit gebratenen Speckschwarten und stellt Klappstühle auf, damit wir uns setzen und alle unser eigenes Stück sich verdunkelnden Waldes betrachten können. In dem jeder von uns etwas anderes sieht. Einen Aspekt von sich selbst, vervielfältigt und angeschwollen. Scham. Anmut. Schrecken. Diese inneren Zustände übertragen wir auf den Wald, wobei wir ihn uns allmählich als eine Art horizontalen Totempfahl vorstellen: eine unendliche Linie verschiedener Versionen unserer eigenen Köpfe. Manche wahr wie ein Spiegel, manche grinsende Fratzen. Alle Abbilder von uns selbst. Obwohl wir alle in unsere eigene Art zu schauen vertieft sind, hören wir Wallace zu. Bates wendet als Einziger den Blick vom Urwald ab, um ihn anzusehen. Völlig gebannt, als hätte er das alles noch nie gehört. »Die erste Lüge, die wir erzählt bekommen, nach den Kindheitslügen vom Storch und vom Weihnachtsmann und vom Jesuskind, das dich lieb hat, ist die, dass die Geschichte eine Bedeutung hat«, sagt die Stimme in die Nacht hinein, die jetzt blau ist wie ein abklingender Bluterguss. »Doch nichts an der Vergangenheit ist real. Da gibt es nur Ereignisse, die schon stattgefunden haben. Dinge, die ihren Lauf genommen haben. Tod. Das Einzige, was man von ihnen lernen kann, ist, dass sie 86
sich nicht ändern lassen. Sie sind schon vollbracht. Inzwischen kümmert sich die Gegenwart eifrig um ihre eigenen Angelegenheiten und – zackbum! Sieh an. Schon wieder ein Moment verstrichen. Und den kannst du jetzt auch nicht mehr verändern. Du bist schon bei der nächsten Sekunde angelangt und nur über die hast du überhaupt irgendeine Macht. Alles, was uns vorausgeht, ist in der dritten Person geschrieben. Es handelt von allen außer dir selbst. Doch in der Gegenwart gibt es nur dich. Dort liegt Bedeutung, im Jetzt, und nur da, weil es der einzige Ort ist, der mit einem Willensakt geformt werden kann. Kneif dich in den Arm. Mach dir klar, dass dies kein Traum ist. Spürst du es? Das ist die Erkenntnis, dass du selbst die einzige Geschichte bist, die verändert werden kann. Was so viel heißt wie, du bist die einzige Geschichte, die zu kennen sich lohnt …« Etwas in der Art. Schon beim Hören fällt es einem schwer, zu sagen, ob seine Worte einen Sinn ergeben, aber wenn sie einmal gesagt sind, ist es fast unmöglich, sich wortgenau daran zu erinnern. Doch unweigerlich verwendet er einige von diesen Wörtern in der einen oder anderen Reihenfolge. Sicher ist nur, dass wir alle, während wir zuhören, in völliger Übereinstimmung mit dieser Stimme sind. Wenn Wallace seine Stimme auf diese Art kontrolliert – oder ihr freien Lauf lässt, sie ziehen lässt, wohin sie will –, dann klingt er älter als ich, wenn ich mich ihn von Zeit zu Zeit unterbrechen höre, oder sogar als Barry, wenn er einen Witz einwirft. Nach einiger Zeit hören wir ganz auf zu reden und überlassen ihm die gesamte Luft des Regenwalds, nur um dieser Stimme weiter zuhören zu können. Eine Menge dessen, was er sagt, verstehe ich letztlich als Aussagen über Geld, obwohl er das Wort nie ausspricht. Nicht, dass ich ihn für habgierig halte. Gier erfordert Begehren, und Wallace scheint nichts zu begehren, außer anderen zu gefallen. Ein guter Junge (aus der Ferne, vom Lebenslauf her), unter den 87
Besten seines Jahrgangs, glatte Einsen, die er nicht nur bekommt, weil er etwas Besonderes kann, sondern ebenso sehr, weil er etwas Besonderes ist. »Vielversprechend« und »Wunderkind« und »begabt« sind die Wörter, mit denen er in Porträts über ihn in Zeitschriften beschrieben wird, und er liebt all diese Wörter wegen des schwungvollen Optimismus, wegen der schieren Hoffnung, die von ihnen ausgehen. Hoffnung nicht nur für ihn, sondern für die ganze Welt. Denn sicherlich tröstet es einen jeden zu wissen, dass da begabte, vielversprechende Wunderknaben unter uns wirken. Wer weiß? Womöglich ist die Welt allein schon eine bessere dank jenes seltenen jugendlichen Innovationsgeistes, den nur er bieten kann – sauber, mit klarem Blick, voll gepackt mit frischen Ideen? Sich einem Kerl wie Wallace zu verschließen ist nur Ausdruck von etwas noch viel Schlimmerem als Gier. Es ist ein Zeichen von Alter. »Was könnte zum Beispiel die Geschichte an einem Ort wie diesem hier bedeuten?«, fragt uns die Stimme. »Was weiß dieser Fluss von seiner Vergangenheit? Er weiß nur, dass er schnell fließt, wenn es trocken ist, und Land schluckt, wenn er über die Ufer tritt. Er weiß, was es heißt, lebendig zu sein.« Jetzt betrachte auch ich ihn. Betrachte Bates, wie er ihn betrachtet. Sie scheinen beide weit weg zu sein, unerreichbar. Oder vielleicht liegt das nur an meinen eigenen Gefühlen. Dass ich ihnen näher sein möchte, jedoch weiß, dass ich es nicht kann. Wir sind durch einen schwierigen Altersunterschied getrennt: meine achtunddreißig gegen ihre vierundzwanzig. Ich bin zu jung, um zu ihrer Elterngeneration zu gehören. Aber dennoch so offensichtlich anders als sie, dass dieser Unterschied mehr aussagt als die eigentlichen Jahre. Ich schätze, ich gehöre zu den letzten Abkömmlingen der Hippiegeneration oder bin vielleicht ein Prototyp der Generation X oder schwebe irgendwo in diesem unangenehmen, nichts sagenden Dazwischen. »Demo88
graphisch behindert«, wie Wallace es ausdrückt. Ein Produkt harmlosen, enttäuschten Mittelschicht-Mittelmaßes aus dem Mittleren Westen, aufgewachsen in einer Kleinstadt in Südontario, die nicht einmal wahrgenommen würde, wenn man sie mitten in Minnesota oder Pennsylvania oder Ohio in die Landschaft plumpsen ließe, ein beliebiges Gitterwerk von Straßen, benannt nach Bäumen, die man nur noch sieht, wenn man aus der Stadt hinausfährt, irgendwo hinter den turnhallengroßen Haushaltsgeräteläden und vollautomatisierten Fleischfarmen. Ein Ort der vagen Versprechungen, die dich dort halten sollen, und der zugeschlagenen Türen, sobald du beschließt wegzugehen. Ich bin weggegangen. Und habe seither manches gesehen. Dachte, ich hätte jede Menge Zeit. Hegte aussichtslose Ambitionen und musste nach und nach mit ansehen, wie die meisten von ihnen scheiterten. Inzwischen erwarte ich nichts Großartiges mehr. Und irgendwie sieht man das selbst meinem strahlendsten Lächeln an. Meine Eltern waren schottische Einwanderer, die nach Kanada gingen, weil sie gehört hatten, dass man dort Schotten gegenüber freundlicher sei als in den Staaten. In der Stadt, in der ich später aufwuchs, landeten sie, weil mein Vater dort auf eine Anzeige im Edinburgh Evening Arbeit als Labortechniker im Krankenhaus gefunden hatte. Er sagte immer im Scherz, dass er in seinen siebenunddreißig Jahren mit Reagenzgläsern und Gummihandschuhen bestimmt das Blut unserer gesamten Nachbarschaft analysiert habe. Er war stolz auf diese kleinen Zufälle, seine Frau, sein einziges Kind, das sorgfältige Vermeiden von Unglücks- ebenso wie von Glücksfällen. Ich liebte ihn. Und hielt ihn für einen Narren. Überraschenderweise löste vielleicht gerade die Demütigung der Einwanderererfahrung in mir die Vorstellung aus, zu Höherem berufen zu sein. Doch trotz des Ansporns durch kärgliche Stipendien, höfliche Empfehlungsschreiben, Beinahe89
Anstellungen an den zweitrangigen Fakultäten von Lethbridge und Saskatoon führte der Aufstieg auf der Karriereleiter letztlich nicht sehr weit nach oben. Und jetzt bleibt mir nur noch, die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben, Verschwörungstheorien nachzuhängen und mich über jene zu empören, die rein zufällig ein paar Jahre vor oder nach mir geboren sind. Nehmen wir doch nur mal unsere beiden hier als Beispiel, Wallace und Bates, noch mit dem Pfirsichflaum der Jugend auf der Haut. Wie steht es denn mit ihnen? Sie kennen nichts anderes als Erwartung, platt und schnurgerade vor ihnen ausgewalzt wie eine neue Autobahn. Werden sie je scheitern? Wen kümmert das überhaupt? Sie scheitern nicht. Das ist die besondere Mitgift ihrer Art von Selbstsicherheit. Der Erfolg haftet ihnen von vornherein an; dass er sich einstellen wird, gilt als reine Formsache. Aber das ist jetzt vielleicht zu kritisch. In diesen Feststellungen liegt eine Schärfe, die möglicherweise mehr mit mir zu tun hat als mit ihnen. Man darf nicht vergessen, dass jemand wie ich schließlich ein Anrecht auf eine gewisse Skepsis hat. Ein nicht gerade Summa-cum-laude-Doktortitel, auf eigene Kosten erworben (– in einem Alter blühender Cellulitis und unfruchtbarer Follikel bin ich kaum imstande, die Zinsen für mein ungetilgtes Studiendarlehn zu bezahlen). Ein für alle Mal eingekleidet in die wolligen Schichten einer nicht anwendbaren Ausbildung – das pingelige Feilen an ungelesenen Seminararbeiten, die wachsende Gewissheit, dass all das sowieso schon egal ist. Und dann der zweifelhafte Titel, gefolgt vom Karrierefegefeuer der Überqualifizierung. Da ziehen sie hin: die mit sporadischem Nachhilfeunterricht und Tutorien überbrückten Jahre und unbezahlten Stromrechnungen. Trotz aller warnenden Anzeichen bin ich immer noch erschrocken, plötzlich auf ein unvermeidliches Schicksal als alte Jungfer zuzusteuern, das auch dadurch nicht weniger muffig wird, dass es eine angeblich nach ihrem freien Willen lebende Frau des einundzwanzigsten 90
Jahrhunderts ereilt. Ich war nie hübsch, doch bis vor wenigen Jahren war ich wenigstens noch halbwegs jung, was bei denen, die selbst nicht mehr so jung sind, noch einiges zählt. Und jetzt? Jetzt spielt mir der Spiegel den Streich, eine Tochter in ihre Mutter zu verwandeln, in diesem Falle in eine hausbackene Schottin mit dünnen Lippen und einer zerdrückten Kartoffel anstelle einer Nase. Doch trotz alledem muss es noch irgendetwas geben, was ich diesen zwei Kids voraushabe. Erfahrung. Oder so etwas Ähnliches. Die Allerweltsweisheit, die aus chronischem Unterschätztwerden resultiert. Ja, Wallace ist clever (wer ist das nicht, wenn er sich mit großer Klappe und kleinstmöglichem Einsatz erfolgreich durch die besten Schulen des Landes laviert hat?), und er besitzt Talent der allgemeinsten Art, der Art, die nie realisiert wird und dafür nur umso schöner ist. Und Charme? Jede Menge! Oder zumindest das, was wir heute Charme nennen, auch wenn es im Grunde nur eine gut aussehende Version von Selbstverliebtheit ist. Strahlend weiße Zähne und Witze auf Kosten anderer. Doch eines hat dieser Junge noch mehr als alles andere: Appetit. Es spielt gar keine Rolle, worauf, oder ob das, was er da schmeckt, zu ihm passt. Mit Schmecken hat das Ganze gar nichts zu tun. Schau ihn dir an, und du starrst in ein Loch, das gefüllt werden will, aber es nie sein wird. Das klingt jetzt fast so, als ob ich ihn hasse. Doch von einer anderen Warte aus betrachtet könnte es auch sein, dass ich ihn liebe. Zu meinen Schwächen zählte schon immer die Unfähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden. Americo drückt jedem von uns einen Stock in die Hand, an dessen Ende ein rostiger Haken befestigt ist. Ich übersetze für die anderen, dass wir mit den Haken, wenn wir an der vorgesehenen Stelle ankommen, faulige Fleischstücke aufspießen, die Maria in Plastiktüten gekippt und – errötend – Wallace nach 91
hinten ins Kanu gereicht hat. Als er sie entgegennimmt, hält er mit der anderen Hand Marias Handgelenk fest und zieht daran, bereit, sie aufzufangen, sollte sie gegen ihn taumeln. Sie schreit auf und springt zurück. Wallace zieht einen Schmollmund zu ihr hin, und sie kichert und legt schüchtern die Hand über den Mund. »Hey, Crossman«, ruft mir Wallace zu, den Blick immer noch in gespielter Empörung auf das Mädchen gerichtet. »Sag Maria, wir werden so viele Fische fangen, dass wir nie wieder dieses … Bates, wie heißt das gleich, dieses Sägemehl, das die hier unten essen?« »Maniok. Es ist eine getrocknete Wurzel, die sie zu feinem Stärkemehl –« »– nie wieder diesen Maniok essen müssen.« Ich übersetze das alles für sie. Oder liefere eine leicht personalisierte Version davon, eine mit ein paar Zusätzen, wonach Wallace findet, dass Maria die perfekte Hausfrau abgeben würde mit ihrem fauligen Fleisch und dem hübschen Gesicht. Es verwandelt Marias Röte in einen Schauder entzückten Entsetzens und lässt – nur einen Moment lang – Americos Grinsen von seinen Lippen verschwinden. Dann startet der namenlose Reiseführer den Motor des Kanus und nach einer einzigen Kurve um eine Landzunge herum ist die Ana Cassia hinter uns verschwunden. Er deutet auf Tiere und Vögel und nennt uns ihre Namen, wobei sie allerdings meistens schon verschwunden sind, bis wir uns nach ihnen umwenden. Das Einzige, was wir alle sehen, ist ein Ding, das er Sonnenralle nennt. Es beobachtet uns von einem Baum aus, der so nah ist, dass wir es im Vorbeifahren mit unseren Angelruten berühren könnten. Ein Schnabel, im Profil so lang wie Essstäbchen, auf einem welken Hals, skeptisch und mit wolkigen Augen, wie eine alte Frau, die eine bessere Behandlung gewöhnt ist als die, die ihr seit kurzem widerfährt. Wir beschreiben eine Reihe von Kurven um Inseln oder 92
Uferausbuchtungen herum. So dicht überm Wasser stellen wir fest, dass der Rio Negro gar nicht schwarz ist. Er ist ein Schatten. Tief und von der Sonne unberührt, mit Ausnahme einer Haut aus rosaroten Schuppen auf der Oberfläche. Doch schaut man von oben senkrecht hinunter, dann sieht man nichts als ölige Schatten, die gurgelnd und leckend um sich selbst kreisen. Schließlich halten wir in einer schmalen Einbuchtung, in der die Zweige so tief herabhängen, dass sie uns über die Wangen streichen. »Die Piranhas, die lockt das Blut«, erklärt uns der Reiseführer in seiner langsamen Art, die ihn zusammen mit seinem etwas eigentümlichen Englisch ein wenig wie einen Surfer-Dude klingen lässt. Doch dann klatscht er mit der Hand aufs Wasser, hält seinen Stock mit dem Haken hinein, und einen Atemzug später zieht er einen zappelnden Fisch mit Zähnen wie Dosenöffner heraus. »Das Klatschen zieht sie an. Das Blut lässt sie zubeißen.« Und es stimmt. Schon bald zerren wir alle solche Teufelsgebisse ins Boot, wo sie vergeblich auf und zu klappen. Wie sich herausstellt, sind Piranhas gar nicht so furchterregend, wie uns all die zweitklassigen Horrorfilme und die Bildreportagen im National Geographic immer glauben gemacht haben. Sie sind nichts weiter als ein billiger kleiner Scherzartikel. Sardinen, verkleidet als Halloween-Vampire. Lydia schreit jedes Mal, wenn sie einen gefangen hat, nicht aus Angst, sondern weil es von ihr als Engländerin nun mal erwartet wird. Sie sieht zu mir her, ob ich ihr nicht bei diesem weiblichen Ritual Gesellschaft leisten will, doch ich beherrsche mich. Ich habe Angst, meine Stimme könnte brechen, wenn ich sie jetzt einsetze. »Mein Gott! Sind die schleimig!« »Auch nicht mehr als die ganzen Investmentbanker, mit denen du immer zum Lunch gehst«, erwidert Bates und versucht 93
seinem jüngsten Fang in den Rachen zu spähen. »Volltreffer, Bates«, erwidert Wallace. »Ganz zu schweigen nämlich von unserem Barry hier. Schleimig wie sonst was. Wenn auch zahnlos.« »Ha-ha-ha. Wie viele hast du schon gefangen, Junge?« »Acht, wie’s aussieht.« »Gewonnen. Ich zähle hier« – er zieht wieder einen hoch – »ein glattes Dutzend.« »Bates, wie viel Uhr ist es?« »Viertel vor eins.« »Gut. Einen Riesen darauf, dass ich um ein Uhr mehr von den kleinen Beißern habe als der alte Barry.« »Die Wette gilt, du Schnösel.« »Meine Herren«, wendet Lydia ein. »Ich darf euch darauf hinweisen, dass ihr hier rücksichtslos mit Firmengeldern Wetten abschließt.« Erneut schreit sie auf, als etwas sich neben ihren Beinen bewegt. Doch im Augenblick hören Barry und Wallace nicht hin. Sie starren auf die Schatten unter der Wasseroberfläche und warten auf ein Zerren, das ihnen signalisiert, dass etwas angebissen hat. Lydia legt ihren Stock hin und starrt in den Urwald ringsum. »Es ist wie im Frühling hier«, sagt sie mit einem Seufzer. Ich wende mich um und folge ihrem Blick in einen immer tiefer werdenden Wahnsinn aus Grün. Frühling? So eine Idee kann nur einem Briten kommen. Nur Lydia kann in diesen Urwald blicken und darin den wilden Gefährten eines Aprils im lieblichen Kent entdecken. Hoch aufstrebende Palmen als Analogie für kühne Tulpen, das Netz aus Lianen als verwilderte Hecken hinter dem Pfarrhaus. »Nicht in Kanada, Mann«, bemerkt Bates hinter der Linse des Palmcorders hervor, während er Barrys und Wallace’ Wettstreit filmt. »Da bedeutet Frühling nur braunes Gras und Hundekacke.« »Oder im Süden«, fügt Barry knurrend hinzu und schleudert 94
einen weiteren Piranha ins Boot. »In Georgia gibt’s nur Sommer in Vollzeit, Mädchen. Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr Limonade schwitzen.« Lydia lächelt ihnen zu in dem festen Bewusstsein, dass das alles nicht zählt. Der Rest der Welt soll ruhig seine schweißtreibenden Sommer und salzverbrannten Winter behalten, der Frühling wird immer England gehören. Etwas anderes erwarte ich auch nicht von ihr. Schließlich ist sie Engländerin, mit dem passenden mädchenhaften Gesicht einer Engländerin: stupsnasig (nach Norden gebogen), mit Sonnensprossen versengt (blass wie Flüssigseife), und das Ganze herausgeputzt mit Make-up, das irgendwie auf die siebziger Jahre deutet (der Twiggy-Effekt). Niedlich, könnte man sagen, wenn sie still sitzt. Eine verletzliche Fleischigkeit, eine Andeutung schwammiger Bäckchen, die Aufmerksamkeit und Mitgefühl suggerieren. Jedoch nur, wenn sie still sitzt. Denn in ihren Bewegungen ist etwas – schwerer und entschlossener, als man es für möglich hielte –, was ihre Fähigkeiten als Geschäftsfrau unmissverständlich klar macht. Selbst ihre Brüste haben etwas Businessmäßiges, wie sie unter ihrem T-Shirt auf und ab hüpfen, wie ein Paar Fäuste, die, keinen Widerspruch duldend, auf den Konferenztisch hämmern. Ihr Gesicht ist auf eine Art weiß und ihr Haar auf eine Art dunkel, die mehr über ihren Körper als über das Gesicht und das Haar selbst aussagen. Wie sieht sie wohl unter ihren Marks & Spencer-Pullovern aus, die ihr an den Schultern zu eng sind? Welche neue Version von Blässe und schwarzen Locken erwartet den, der diese karierten knielangen Wandershorts herunterzieht? Sie muss britisch sein da drunter, ganz bestimmt. Mit weichen, nachgiebigen Dellen wie Clotted Cream, doch dazu einem groben Barthaar oder Leberfleck irgendwo. Sie hat ihre Reize (wie wohl jede Frau, den unzähligen Kategorien von Pornofetischen im Internet nach zu urteilen). Man würde sie nur nicht bei zu viel Licht sehen wollen, das ist alles. 95
Schließlich wendet sich Lydia vom Ufer ab, und trotz der überhängenden Äste landet ein Lichtstrahl quer über ihrem Gesicht. Sie taumelt fast zurück unter der Gewalt der Hitze, und zum ersten Mal heute denke ich daran, wo wir eigentlich sind. An die Hunderte von Ecken, die wir in der halben Stunde seit dem Verlassen der Ana Cassia umfahren haben, an den vibrierenden Zwanzig-PS-Außenbordmotor mit seinem einen Benzintank, nicht größer als Lydias Handtasche. Womöglich lachen sich die Piranhas unter uns lautlos ins Fäustchen. »Nun, wer gewinnt, Bates?«, fragt Lydia, während sie in den Schatten zurückrutscht. »Sieht ziemlich ausgeglichen aus, wenn ihr mich fragt.« »Wie viel Zeit noch?«, fragt Wallace, ohne den Blick vom Wasser zu wenden. In den furchigen Rändern seiner Augen kann man den Mann erahnen, der aus ihm einmal werden wird. Es ist das Licht hier auf dem Fluss: hart und insistierend und ohne Schatten. Irgendwie verwandelt es jedes Gesicht in eine unvorteilhafte Vorhersage seiner Zukunft. »Ungefähr eine Minute.« »Ich ziehe gerade an dir vorbei, Barry. Ich habe allein in der letzten Minute vier gegen deine zwei gezählt.« »Weißt du, es gibt Wichtigeres im Leben, als blöde Spiele zu gewinnen, Junge«, sagt Barry und versucht es mit einem Lachen. Er ist der Einzige von uns, der direkt in der Sonne sitzt, und hat sich schon zur Hälfte durch sein Hemd hindurch verflüssigt. »So spricht der geborene Verlierer«, bemerkt Wallace. »Aber du hast Recht. Es gibt Wichtigeres, als zu gewinnen. Nämlich zu wissen, dass man es immer kann.« Im selben Augenblick holen beide einen weiteren Fang herein, als müssten sie nur noch den geheimen Wunsch der Fische, zu ihnen ins Boot zu springen, in die richtige Richtung lenken. »Wie viel Uhr, Bates?« »Zehn Sekunden noch«, erwidert Bates, ein Auge auf seine 96
Armbanduhr gerichtet, das andere hinter seinem Palmcorder. »Du liegst einen vor Barry.« »Warte! Warte, verdammt noch mal.« Barry steht jetzt, sein Kopf schwankt vor der Sonne hin und her. Etwas Stärkeres als all die anderen Fische vorher zieht an seiner Angel. »– fünf, vier, drei –« »Heiliger Himmel.« Der Piranha an Barrys Angel springt aus dem Wasser und landet auf dem Schweißfleck auf seiner Brust wie ein Dart mitten im Schwarzen. »Ich hab ihn! Unentschieden!«, schreit Barry und sieht uns mit aufgerissenen Augen alle zugleich an. »Nicht nach unten sehen«, sagt Wallace. Der Fisch hängt immer noch an Barrys Brust, sein Kiefer schnappt nach Luft, nach dem Stoff von Barrys Hemd. Dann tut Barry genau das, wovor er gerade gewarnt wurde. Er schaut nach unten. Ein seltsamer Laut, vielleicht ein Wimmern, kommt aus seinem Mund. »Halt still«, sagt Wallace, während er sich über unsere Knie hinwegarbeitet. »Ich komme.« »Ich blute«, schreit Barry. »Er frisst mich, verdammt noch mal.« Ein roter Kreis breitet sich von einer Stelle oberhalb seines Herzens aus. Doch nicht der Fisch verursacht ihn. Es ist der rostige Haken, der sich durch den Kiefer des Piranha, eine Lage Baumwolle und einen Zentimeter von Barrys Haut gebohrt hat. Der Anblick lässt Lydia kraftlos gegen den Rand des Boots sinken, als hätte ihr jemand von hinten einen Schlag versetzt. »Nein, nein, nein«, schreit Barry mit jeder neuen Ebene schlechter Nachrichten, die zu ihm vordringt. »Mach ihn weg, Wallace!« »Keine Sorge. Ich komme. Sieh nach oben.« 97
Und dann ist Wallace da, packt den Fisch, reißt ihn vom Haken und wirft ihn wieder ins Wasser zurück, alles mit einer einzigen Bewegung. Es geht ganz schnell, doch nicht so schnell, dass Barry nicht von dem neuen Schmerz aufschreien würde. »Hol es raus!« »Ich bin ja da, Mann. Halt still. Zähl bis drei.« Wir sehen, wie sich Barrys Lippen bewegen, wie bei einem tapferen kleinen Jungen. Eins, zwei – Wallace versucht zuerst, den Haken herauszuwinden, doch dies hat nur ein erneutes Wimmern von Barry zur Folge. Und vergrößert den nassen runden Fleck auf seinem Hemd, der bereits zu glitzerndem Wachs antrocknet. »Zählen, Barry«, befiehlt Wallace ihm. Und der große Mann versucht es noch einmal. Eins, zwei, drei – Mit einem einzigen Ruck bricht sich der Haken Bahn und Wallace wirft ihn ins Wasser. Doch bei »vier« folgt noch etwas anderes dem Haken und dem Fisch. Ein Blutstrahl, der aus Barry und dem Loch in seinem Hemd herausspritzt, ein purpurroter Bogen mitten in der Luft. Der so hart auf der Wasseroberfläche auftrifft, dass Tropfen zu uns zurückspritzen. Alle warten wir auf den nächsten Schwall, denn bestimmt kann auf so viel Blut nur noch mehr folgen. Doch es bleibt bei dem einen. Der Fleck auf seinem Hemd ist jetzt kaum größer als am Anfang, als der Haken sich hineinbohrte. Barrys Hand ist groß genug, um die ganze Wunde zu verdecken. »Das ist halb so schlimm, Mann«, sagt Wallace mit dieser Stimme, die älter klingt, als es ihm zukommt. »Aber ich fürchte, du musst dich geschlagen geben. Den letzten Fisch hast du eine volle Sekunde nach dem Gong gefangen. Und Bates hat alles auf Band, um es zu beweisen. Stimmt’s, Bates?« 98
Am nächsten Morgen ermahnt uns unser Reiseführer mehrmals, uns für die Urwaldwanderung mit Insektenmittel einzureihen, doch als ich ihn frage, ob das überhaupt etwas hilft, zuckt er nur mit den Schultern. Der Fluss ist hier so breit, dass beide Ufer gerade mal wie der Rand eines frisch gemähten Rasens aussehen. Wir schaukeln im motorgetriebenen Kanu über das hin und her schwappende Wasser. Unser Kielwasser schäumt wie umgerührte Cola. »Gibt es da Schlangen?«, fragt Lydia über den Lärm des Motors hinweg. Ihr Schal bläht sich über ihrem Kopf wie ein Fallschirm. »Ja«, antwortet der Reiseführer mit einem Kopfschütteln, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. »Ich sollte etwas über diese Dinge sagen.« »Diese Dinge« entpuppen sich als Hunderte von Geschöpfen, die einem im Urwald einzigartigen Schaden zufügen können. Unter den Schlangen gibt es mehrere, die einen für eine oder zwei Wochen lahm legen könnten mit einem Fieber oder einem heftigen Krampfanfall, der zu Lähmungen führt und die Beine in Holzklötze verwandelt. Doch dann gibt es auch noch solche wie die Surucu, deren Gift binnen Sekunden nach dem Biss den Zwerchfellmuskel unterhalb der Lunge lähmt, so dass man zwar bei vollem Bewusstsein bleibt, nur eben die Fähigkeit zum Atmen verliert und sich nun selbst dabei zusehen kann, wie es ist, langsam in seiner eigenen Spucke zu ertrinken. »Ich habe das schon gesehen«, sagt der Reiseführer in einem Tonfall, der deutlich werden lässt, dass es ihm lieber wäre, er hätte es nicht gesehen. »Was haben Sie noch gesehen?«, fragt ihn Wallace. »Nicht alles. Manches habe ich nur gehört.« Er erzählt uns von Spinnen, die Nasenlöcher hinaufkriechen und tief in den Nasenhöhlen ihre Eiersäcke spinnen. Jaguare, die in der Nacht kommen und Männer, die eben noch neben 99
ihrem Feuer an einem offenen Strand geschlafen haben, an der Kehle packen und in den Busch zerren. Dann die vielen einfallsreichen Insekten, etwa der Käfer, dessen Spezialität es ist, sich über die Tränendrüsen hinter dem Augapfel einzunisten, wo er sich dann in aller Ruhe durch den Sehnerv fressen kann (ein Prozess, der unübertroffene Qualen verursacht, so wird uns versichert). Und am grausamsten von allen, exotisch und grausam, der Candiru Açu, ein mikroskopisch kleiner Wels, der, durch einen warmen Urinstrahl angezogen, die Harnröhre hinaufwandert und eine Reihe von Haken ausfährt, mit denen er sich dort ein für alle Mal festkrallt. »Wie wird man den wieder los?«, fragt Bates. Die einzige Antwort des Reiseführers ist ein leerer Blick. Danach sind wir eine Weile still. Das Frühstück hebt sich in unseren Mägen. Noch ist kein Ufer näher als das andere. Unser Führer blickt zur Sonne hinauf, ins Wasser hinunter, in unsere Gesichter, ohne nur einen Hauch von Interesse an ihnen zu bekunden. Vielleicht mag er uns. Vielleicht wünscht er uns den Tod. Dann fängt er langsam an, von Parasiten zu erzählen. »Sie kriechen in dich hinein«, sagt er klar verständlich über das Plätschern des Wassers und das Motorengeräusch hinweg. »Und leben dort. Und fressen. Fressen dich.« »Aber wir trinken nur Wasser aus der Flasche«, erinnert ihn Barry. »Wir können die nicht kriegen.« Der Reiseführer blinzelt. »Sie kriechen in dich hinein«, sagt er erneut. Eine exakte Wissenschaft scheint es nicht gerade zu sein. Manche fressen einen von innen leer, so dass man ständigen Heißhunger hat, während man immer mehr abmagert und schließlich vertrocknet wie ein Opfer einer Hungersnot. Andere Parasiten kringeln sich zusammen und wachsen lange Zeit unbemerkt, bis sie schließlich selbst bei dem trainiertesten Mann den Bauch rund und schwanger auftreiben. Nichts, erklärt uns der Reiseführer, nicht einmal »eure amerikanischen Medika100
mente« können versprechen, dass man irgendeinen von ihnen wieder los wird. Wobei allerdings die Menschen, die im Wald leben, über ihre eigenen Methoden verfügen, die sich auch als ziemlich effektiv erwiesen haben. Damit hält der Reiseführer inne und blickt zu den beiden fernen Ufern hinüber, als suche er in dem endlosen, einförmigen Streifen etwas Bestimmtes. »Was machen die?«, fragt Wallace. Der Reiseführer wendet sich ihm zu und legt fragend den Kopf zur Seite. »Machen?« »Die Urwaldmenschen. Um die Parasiten rauszuholen.« Auf einmal regt sich doch etwas in seinem Gesicht. Eine hochgezogene Augenbraue vielleicht, eine Andeutung entblößter Zähne. Oder vielleicht sind es auch nur die Zeichen der Anstrengung, die ihn das Sprechen kostet. »Zuerst darf man nicht essen. Lange Zeit. Zuerst verhungert man«, sagt er, den Blick nun fest auf Wallace gerichtet, der ihm mit seinem eigenen unverwandten Blick begegnet. »Kein Wasser, keine Nahrung. Manche sterben davon. Und wenn man es überlebt, dann fängt die Schlange in einem –« »Der Parasit –« »– die Schlange in einem an zu tanzen. Hungrig. Du bist hungrig, ja. Aber es ist mehr als das. Tage vergehen. Der Schmerz ist schön.« »Köstlich«, sage ich. »Ich glaube, man beschreibt es mit den Worten ›Der Schmerz ist köstlich.‹« Der Reiseführer ignoriert mich, fixiert weiterhin Wallace, der ein paar Reihen weiter vorn im Boot sitzt. Völlig reglos, selbst als das Boot durch eine neue Folge von Wellen schaukelt. »Jetzt frisst sie dich«, fährt er fort. »Auf etwas anderes kann sie nicht warten. Und so will die Schlange, die hineinkroch, jetzt wieder hinaus.« »Also bietet man ihr eine Alternative an«, schließt Wallace. Der Reiseführer nickt, versucht womöglich, die Lippen zu ei101
nem Lächeln zu formen. »Milch. Von Schwein, Ziege, Frau«, sagt der Reiseführer, noch immer mit diesem Lächeln, oder was es auch ist, auf den Lippen. »Oder Blut. Fleisch. Nicht gekocht. Diese Dinge mag die Schlange am liebsten. Und so wird der Mann mit der Schlange auf den Boden gedrückt und sein Mund wie eine Tür aufgesperrt und sein Kiefer festgebunden, damit er aufbleibt. Und die Milch oder das Blut oder das rohe Fleisch werden dicht vor seine Zunge gehalten. Nicht, als würde man dem Mann zu essen geben, sondern nur ganz nah ran. Die Leute darum herum – sie warten. Irgendwann kommt die Schlange heraus. Oft ist sie nicht klein.« Alle wenden sich ab und richten den Blick auf den Horizont, mit Ausnahme von Wallace, der das seltsame Lächeln des Führers anscheinend als eine Einladung verstanden hat, es zu erwidern. Im Verlauf von Sekunden steigt die Sonne noch höher über uns und der Fluss wirft Millionen greller Blitze zurück. Trotz Sonnenbrille muss ich die Augen gegen das Licht schließen. Und lasse sie anscheinend länger geschlossen, als es mir vorkommt, denn als ich wieder hinsehe, ist das Kanu höchstens noch ein-, zweihundert Meter vom Ufer weg. »Unga-bunga, allerseits!«, ruft Wallace. »Hört ihr die Trommeln? Die Eingeborenen sind definitiv unruhig!« Etwas an den Geschichten über Gift, Parasiten und Verletzungen hat bei Wallace neue Energien freigesetzt. Er kann auf Kommando aufgedreht sein. Doch in seiner Begeisterung für diese Gegend ist nichts Erzwungenes wie in Manaus oder São Paulo. Er steht zum ersten Mal dem echten Urwald gegenüber. Der Sache, von der wir alle pausenlos gehört haben, seit wir in Brasilien angekommen sind, obschon jeder von uns auch seine eigenen Vorstellungen davon mitgebracht hat, Vorstellungen aus bebilderten Reiseführern, aus Abenteuerbüchern und Kindersendungen, aus Träumen. Jetzt überrascht uns dieser Ur102
wald mit seiner Konkretheit: diese Blätter da, jener schwarze Sandstrand, der abgestorbene Zweig dort, der wie ein anklagender Finger auf uns zeigt. Und Wallace, der vorne im Boot bereits aufgestanden ist, zeigt zurück. All dies erregt ihn, wie ich es nie vorher an ihm gesehen habe. Und Bates genauso. Außer dass dessen Aufmerksamkeit nicht der Wand aus dicht wuchernder Flora gilt. Nicht den glucksenden, kreischenden Tieren, die uns sehen können, selbst aber unsichtbar bleiben. Ihn erregt der Anblick von Wallace, wie er all dies hört und beobachtet. Bates holt seinen Palmcorder aus der bodenlosen Tasche seiner überdimensionierten Stussy-Shorts, um Wallace zu filmen, wie er als Erster aus dem Kanu und an Land steigt. Wie sein Fuß auf dem Sand landet, der unter dem fremden Gewicht furzt. »Ich nehme diesen Kontinent für Hypothesys in Besitz!«, erklärt er. »Sehr gut, Wallace«, meint Barry, der als Zweiter an Land geht und Lydia aus dem Boot hilft, nicht jedoch mir. »Aber einen Markt werden wir hier kaum auftun. Es sei denn, du willst den Affen beibringen, wie man mit einer Tastatur umgeht.« »Hier gibt es mehr als Affen«, sagt Wallace und späht in den Wald hinein, als hätte er bereits etwas entdeckt. Die ersten ein oder zwei Stunden lang erinnert der Urwaldaufenthalt uns alle mit Ausnahme von Lydia ans Ferienlager. »Weißt du noch, die Wanderungen, die sie uns in Kilcoo immer machen ließen?«, sagt Bates zu Wallace, der direkt hinter dem Führer die Blätter zur Seite schlägt. Der Führer selbst bahnt uns mit einer Machete einen schmalen Durchgang. »Ich fürchte, nein, Bates. Ich erinnere mich nur noch an die nicht eingelösten Versprechungen, dass es Spaß machen würde. Und an die Gasflammenwettbewerbe erinnere ich mich 103
noch, die wir nachts in der Hütte gemacht haben.« »Gasflammen?«, fragt Lydia. »Ein wissenschaftliches Experiment, bei dem ein Butangasfeuerzeug, nackte Ärsche und Bohnen aus der Dose zum Abendessen eine Rolle gespielt haben.« »Verstehe.« »Da unten, wo ich aufgewachsen bin, am großen Oconee in Georgia, mussten wir lange durch Wälder wie hier gehen, um die besten Angelplätze zu erreichen«, erzählt Barry mit einem Kopfschütteln. »Ein Wunder, dass wir uns nicht noch öfter verlaufen haben als sowieso schon.« »Qu-ieeek!«, schreit Wallace plötzlich los. »Ein draller junger Barry, der sich beim Wochenendausflug in den Wäldern Georgias verirrt! ›Quietsch wie ein Schwein!‹« Unser Lachen klingt hohl. Wir sind zu sehr außer Atem. Es strengt schon an, nur die Augen auf den Boden zu richten und zu gehen. Während der Wald über uns wegstreicht, puderige Samen oder klebrige Marmeladespuren oder glasige Salbenkleckse auf uns zurücklässt. Schon bald sind wir getarnt mit den tröpfelnden Absonderungen des Urwalds. Unsere Versuche, sie wegzuwischen, bleiben nahezu erfolglos, weil sie immer wieder aufs Neue den Weg zu uns finden, und bald schon geben wir auch die höfliche Gepflogenheit auf, für den hinter uns Gehenden die Zweige festzuhalten. Es gibt zu viele davon, als dass es noch ins Gewicht fiele, ob wir den einen halten; und irgendwann muss er ja doch losgelassen werden und schnellt in das nachfolgende aufschauende Gesicht. Wir scheinen uns langsam einen Hang mit dicht stehendem Grünzeug hinaufzuwinden (so nahe dran ist es schwer, Bäume von Farnen, oder was hier sonst so wächst, zu unterscheiden), oder vielleicht kommt es uns auch nur so vor, als gingen wir bergauf, da wir ständig die Beine hochheben müssen, um über die Wurzeln und Schlingpflanzen auf der Erde zu steigen. Wie dem auch sei, Wallace wird jedenfalls immer fröhlicher dabei. 104
Erzählt uns Geschichten vom Kilcoo-Eisbärenclub (wie man jeden Morgen noch in der Dämmerung in das eisige Wasser geworfen wurde), von erfolglosen Überfällen im katholischen Mädchen-Ferienlager am gegenüberliegenden Seeufer (die bärtige Schwester Julia, die Nonne, die niemals schlief), während der Schweiß auf seinem Rücken Blumen auf dem T-Shirt wuchern lässt. Irgendwann geht selbst Wallace die Luft zum Sprechen aus. Als er stehen bleibt, bemerken wir zum ersten Mal, seit wir den Wald betreten haben, dass es still ist. »Wo sind die Vögel und Affen alle hin?«, fragt Bates den Führer. »Sie sind hier. Sie beobachten uns nur.« »Haben sie Angst vor uns?« »Sie fürchten uns nicht. Sie haben uns noch nie zuvor gesehen. Warum sich also fürchten? Sie beobachten uns nur.« Der Führer lässt uns an einem kleinen kreisrunden Platz anhalten, zwar keine richtige Lichtung, jedoch das Nächstbeste in dieser Art, was uns bisher untergekommen ist. Blickt in die Baumkronen hinauf, als wolle er dem, was uns von da oben beobachten mag, sein Gesicht zeigen. »Alles kommt aus dem Urwald«, erklärt er. »Früher war fast die ganze Erde so wie hier. Jetzt ist nur noch dieser kleine Teil übrig. Und diese Bäume – sie wachsen nie wieder. Der Boden besteht aus Sand. Er wird weggespült werden. All das wird fort sein, wenn unsere Kinder alt sind.« Er sagt dies, ohne dass sich sein Tonfall verändert, obwohl er den letzten Satz speziell an Lydia richtet, was sie dazu veranlasst, nachdenklich mit der Hand über ihren Bauch zu streichen. Der Führer nimmt die Machete und hackt ein Stück aus dem Baum gleich neben ihm. Sofort ergießt sich eine weiße, klebrige Masse über die Rinde. »Das ist Seringueira. Der Saft, aus dem Gummi gemacht 105
wird. Und Kaugummi. Und das« – er hackt einen ähnlich aussehenden Stamm an – »ist, wo eure Verdauungsmittel herkommen, euer Pepto-Bismol und eure Magnesiamilch. All diese Dinge, diese Bäume – das hat eure Großväter nach Manaus gelockt.« Er lässt uns reihum einen Finger auf das Holz legen und den Saft probieren. Hackt in weitere Stämme und Ranken in seiner Reichweite, und wir trinken daraus frisches Wasser, pressen heilenden Balsam auf die Risse an unseren Fußknöcheln, saugen Chinin, das Fieber fernhält, und kauen an Fasern, mit denen die Indianer Impotenz behandeln. »Gibt es hier Indianer?«, frage ich. »In der Nähe, meine ich?« »Früher ja. Früher gab es viele. Auch viele Sprachen – Arawak, Je, Carib, Pano, Tupi, Xiriana. Sie würden sich schwer tun, die zu übersetzen, glaube ich.« »Wo sind sie jetzt?« »Jetzt? Die meisten arbeiten für die Holzfirmen oder in den Minen und leben in Camps an den großen Flüssen. Andere leben in Dörfern, die die Regierung für sie gebaut hat, und tun dort gar nichts. Und weit weg von hier sind die letzten Indianer, die noch von Ort zu Ort ziehen. Jäger. Yanomami. Die, die euch noch nie gesehen haben. Wie die Vögel in den Bäumen.« »Haben Sie sie gesehen?« Der Führer neigt den Kopf zur Seite und sieht mich missbilligend an, als spräche ich von irgendwelchen dummen, gar nicht menschlichen Kreaturen, von Kobolden oder Yetis. »Niemand sieht sie. Sie laufen vor uns weg, weil sie sterben.« »An Krankheiten?« »An uns. Wir töten sie, indem wir ihnen den Urwald wegnehmen. Indem wir ihnen Dinge geben, die sie nicht brauchen. Indem wir ihnen Blut abnehmen, um es zu untersuchen, und sie krank machen. Ärzte und Wissenschaftler und Andro…« 106
»Anthropologen.« »Alle diese Leute. Sie sind gekommen und haben Impfstoffe und Kameras und Helikopter mitgebracht. Und es hat sie getötet, auf ihre Art. Aber das wissen Sie ja. Sie haben ja die Indianer bei Ihnen zu Hause genauso getötet.« Er sagt dies, ohne dass man einen Vorwurf heraushören könnte. In genau demselben Ton, in dem er erklärt, wie man eine Medizin gegen Schlangenbisse aus einem Blatt saugen kann. »Und jetzt sind sie also alle weg«, fasst Bates zusammen und sieht sich dabei um, als suche er nach einem Hinweis, dass sie mal hier gewesen sind. »Jetzt verstecken sie sich. Oder haben aufgegeben. Sind in die Regierungsdörfer gezogen, wo sie fernsehen und Portugiesisch lernen, damit sie das Fernsehen verstehen und dem staatlichen Repräsentanten in Manaus Briefe schreiben können, in denen sie um mehr Fernseher bitten. Sie sterben auch da. Sie vergessen sich einfach.« Es gibt keine Luft zwischen diesen Bäumen. Sie reicht nicht bis hier herunter. Doch Wallace hat das noch nicht bemerkt. Denn im nächsten Augenblick ist da wieder seine Stimme, und seine begierigen Augen, die den Führer vollkommen in sich aufnehmen. »Das heißt, sie könnten also hier sein, oder nicht?«, fragt er. »Wenn niemand weiß, wo sie sind, dann könnten sie auch hier sein, nicht wahr?« »Der Amazonas hat über tausend Nebenflüsse. Jeder davon hat wieder tausend eigene. Wir wissen nicht, was am Ende all dieser Flüsse liegt.« »Aber Sie sind unser Reiseführer. Sie sollten es wissen.« »Ich führe Sie. Ich suche nicht nach ihnen.« »Sie meinen, nach den Yanomami?« »Oder anderen Dingen.« »Also, Sie spannen einen vielleicht auf die Folter.« 107
»Wie bitte?« »Was für andere Dinge?« »Es gibt Geschichten.« »Wir hören.« Der Blick des Führers bleibt fest auf Wallace gerichtet. Es ist jetzt sehr heiß. Eine Hitze, die mindestens so sehr von innen kommt wie von der stehenden Luft. »Orte, die keiner kennt«, sagt der Führer. »Sie haben verschiedene Namen, und die Menschen dachten, dass sie an verschiedenen Stellen existieren. Die verlorene Stadt El Dorado. Sie besteht komplett aus Gold, vielleicht fünf oder sechs Meilen landeinwärts von hier. Vielleicht. Oder die Minen von Muribeca. Dort leben viele geheime Menschen. Nicht die Yanomami. Andere ohne Namen. Sie haben Pyramiden gebaut, die vom Himmel aus gesehen wurden.« Er deutet direkt über sich in die Höhe. »Von Satelliten aus, meinen Sie.« »Die Kameras haben nach unten geblickt und sie haben Dinge gesehen. Von Menschenhand gemachte Dinge. Doch man kann sie nicht erreichen.« »Haben Sie es versucht?« »Andere haben das. Jahrhundertelang, einer nach dem anderen. Selbst jetzt noch, Wissenschaftler aus Amerika, Deutschland. Der große britische Colonel Fawcett. Von ihm haben Sie natürlich gehört? Alle sind umgekehrt. Oder kamen nie wieder. Viele Männer sind auf diesen Expeditionen gestorben.« »Wie wollen Sie das sicher wissen?«, hakt Wallace nach. »Sicher?« »Dass sie starben. Hat man ihre Leichen gefunden?« »Es gibt keine Knochen im Urwald. Der Boden ist zu feucht. Zu heiß. Knochen halten nicht.« »Es gibt keine Fossilien?« »Richtig. Keine Fossi-li-en. Man kann nicht wissen, ob jemals jemand da war.« 108
»Sie könnten also gefunden haben, wonach sie suchten, und einfach nicht zurückgekommen sein, um es jemandem zu erzählen. Wir wüssten es in beiden Fällen nicht, da ihre Knochen jetzt längst fort wären, nicht wahr?« »Das stimmt«, gibt er mit einem zweifelnden dünnlippigen Lächeln zu. »Sie wären alle fort.« Dann löst der Führer den Blick von Wallace und schaut auf seine Uhr. »Diese Geschichten gehören nicht zur Urwaldwanderung«, sagt er und blickt uns jetzt alle an. »Es ist spät geworden.« Wir machen in einem engen Kreisbogen kehrt, drücken dabei das Gras platt wie ein Hund, der sich zu einem Schläfchen niederlässt. Wir jedoch gehen im Gänsemarsch wieder tiefer in den Dschungel hinein. Der Pfad, den wir auf dem Hinweg geschlagen haben, scheint verschwunden zu sein. Und obwohl wir vorher das Gefühl hatten, bergauf zu gehen, müssen wir nun noch weiter bergauf marschieren, um zum Fluss zurückzukommen. Zumindest ist das Gehen nicht leichter geworden. Alle verfallen wir in Schweigen, außer Wallace, der vor uns geht und weiterhin von Indianern und geheimen Städten aus Gold redet. Habe ich die Hitze erwähnt? Ich meine nicht, dass sie existiert, dass es heiß ist, sehr heiß, denn was sollte man sonst in einem Urwald erwarten, in diesem traurigen Jahr in der Geschichte der Ozonschicht? Ich meine den Charakter der Hitze. Die Art und Weise, wie sie sich verändert. Von Minute zu Minute, ja selbst binnen Sekunden, als ob ein ruheloser Künstler ständig neue Farbe aufträgt, um neue Schattierungen auf seiner Palette zu schaffen. Manchmal ist die Hitze feucht. Sie macht einen feucht, jedoch nicht vom Schweiß. Hier ist die Feuchte dauerhaft, eine klebrige zweite Haut, wie eine Glasur aus Tränen. Manchmal gibt sich die Hitze gnadenlos, unbestechlich wie der Tod. In anderen Momenten hat sie eine halluzinatorische Qualität, lockt einen in einen Traum. Manchmal ist sie wie eine Pistole an deiner Schläfe, die feuert und feuert. Und 109
ab und zu ist selbst die Hitze zu müde und ist einfach nur heiß. Nach etwa einer Stunde lasse ich mich etwas zurückfallen, um mich von Marias toxischem Frühstückskaffee zu erleichtern. Ich bin dankbar für Wallace’ Stimme und die Zweige, die den anderen im Gehen auf den Rücken klatschen, dafür, dass sie das Aufziehen meines Reißverschlusses, mein Hinhocken und das Plätschern überdecken. Es dauert ja auch nicht lange. Doch als ich fertig bin, sind sie fort. Nicht länger als fünf Sekunden, nachdem ich stehen geblieben bin, um mich gegen den nächsten Baum zu lehnen, sind alle Geräusche, die sie verursachen, verschluckt. Das Grün hat sie vollkommen verschlungen. »Hey! Wallace! Bates! Ich bin hier!« Nichts. Ich bin nicht einmal mehr sicher, in welche Richtung sie gegangen sind. Oder ob ich selbst gerade einen Laut verursacht habe. Irgendwie hat sich der Wald sofort jeglicher Spur entledigt, die sie hinterlassen haben. Dorthin? Oder dort? Was ist dort? Jedes Detail um mich her – die Blätter, die Leitern aus Pilzen, die sich wie Skulpturen an die Baumstämme klammern, die Kolonnen von Ameisen, die über meine Stiefel wandern –, alles hat sich vervielfacht, so dass das, was eben noch speziell aussah (diese Ameisen, jenes gezackte Blatt) jetzt nicht mehr von dem daneben zu unterscheiden ist. Mit dieser Erkenntnis, die Orientierung verloren zu haben, der Tatsache, dass ich hier sterben werde, wenn niemand zurückkommt, um mich zu holen, nimmt der Urwald für mich eine Identität an. Und es ist die eines Schurken. Oder Schlimmerem. Ein Körper üppiger Bosheit, feindselig ohne Motiv, aus keinem anderen Grund als dem, dass es schon immer so war. Er hat mich von den anderen getrennt, und nun schließt er sich um mich, um zuzusehen, wie ich ein Teil von ihm werde. Ich klammere mich an einen Atemzug, der irgendwoher 110
kommt. Stoße ihn in einem Schrei nach außen. Keine Namen diesmal. Nur der klirrende Entsetzensschrei eines Kindes, nachdem es das Schlimmste gesehen hat, was einem Kind begegnen kann, und von dem bei diesem Anblick die letzten Überbleibsel von Kindheit abfallen. Eine Stimme, die mir neu ist, die schwankend zwischen den identischen Bäumen verhallt. Und dann ist der Reiseführer da. Kommt aus genau der entgegengesetzten Richtung, in der ich ihn vermutet hätte. Seine Hand auf meinem Unterarm, sein Atem ranzig wie alter Käse. Ein wunderbarer menschlicher Gestank. Ich könnte ihn küssen. Es fehlt nicht viel, dass ich ihn nach seinem Namen frage. »Wenn Sie das nächste Mal im Urwald pinkeln gehen, nehmen Sie einen Freund mit«, sagt er. Der kanadische Außenminister ist bereits betrunken, als wir zum Abendessen an Bord der Presidente Figueiredo klettern. Nachdem er uns zwanzig Minuten lang mit seiner Verkörperung eines schnatternden Spinnenaffen unterhalten hat, bringen ihn schließlich seine Assistenten unter Deck und zu Bett. So bleiben wir mit einem halben Dutzend politischer Berater allein, die es schaffen, sich, noch bevor das Essen serviert wird, in die wenigen abgeschiedenen Ecken und Winkel des Schiffs zu verdrücken. Die Presidente Figueiredo hat allerdings besseres Essen zu bieten als das Zeug, das Maria kocht, und anstelle von Americos lauwarmem Rum gibt es hier Wein an der Bar. Zum ersten Mal seit unserem Abend in Manaus haben wir eine gute Ausrede, uns zu betrinken. Wallace und Bates beziehen am hinteren Ende des Beobachtungsdecks Position; von der Lampe unterhalb der brasilianischen Flagge fällt Licht auf ihre Gesichter. Nach einer Weile winkt mich Wallace zu ihnen herüber. »Wir brauchen deine Hilfe, Crossmann. Deine Weisheit. Es ist eine Hypothesys-Situation. Und da wir leider unsere Lap111
tops nicht dabeihaben, dachten wir, wir entscheiden das auf die altmodische Art.« »Stehe zu Diensten.« »Wann ist eine Lüge keine Lüge?« »Das klingt eher wie ein Rätsel.« »Das gilt für die meisten guten Fragen.« »Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn sie niemandem wehtut oder in guter Absicht erfolgt. Das wäre dann wohl eine ›fromme Lüge‹, oder? Wenn es allerdings unwahr ist, dann ist es rein technisch immer noch eine Lüge.« »Das heißt also, die moralischen Implikationen hängen vom angerichteten Schaden ab. Verstehe. Aber wie viel Schaden genau ist denn noch akzeptabel, damit es als ›fromme Lüge‹ durchgeht? Ich glaube, wir brauchen noch präzisere Fakten, um zu entscheiden, wo wir die Grenze ziehen sollen, oder nicht, Bates?« »Und was zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Scheiße, die du diesen Mädchen in der Bar in Manaus erzählt hast.« Bates erbleicht. Blinzelt überrascht und schaut auf den Fluss hinaus, der irgendwo da unter ihm liegt. »Na los«, drängt ihn Wallace, allerdings fast flüsternd. »Was hast du den Mädchen erzählt?« »Den Mädchen habe ich überhaupt nichts erzählt. Da war nur eine.« »Dann sag Crossman, was du der einen erzählt hast.« »Was spielt das für eine Rolle? Wie kommst du überhaupt darauf?« »Weil es lustig ist, Bates.« Wallace verschränkt grinsend die Arme vor der Brust. »Und Crossman wäre sicherlich interessiert, da du dich ja anscheinend beim Übersetzen ganz beachtlich geschlagen hast für einen Amateur. Du hast immerhin rübergebracht, dass Hypothesys gar keine Website, sondern ein geheimes Regierungsprojekt ist, top secret, das vermutlich eine 112
neue Generation von höchst ausgefeilten Waffen betrifft. Die perfekte Bombe. Ja! Ist das nicht das, was du ihr gesagt hast? Dass du den Plan für die perfekte Bombe hast? Ich meine, das war doch bestimmt nicht leicht, außer du hast klammheimlich Portugiesischunterricht genommen.« »Das hast du gesagt, Bates?« Er dreht sich zu uns her und sieht uns beide an. Nichts in seinem Gesicht deutet auf Scham. Da ist nur die Verletzlichkeit, die aus dem innigen Wunsch rührt, verstanden zu werden. »Ich fand es langweilig, zu erklären, was Hypothesys wirklich ist«, rechtfertigt er sich. Seine Handflächen liegen geöffnet auf seinen Knien. »Und es war doch nur Gerede. Verstehst du, wir hängen da in dieser total seltsamen Bar im brasilianischen Urwald herum, benehmen uns wie Spione, und dann dieses Mädchen – das war wie im Kino, und da hab ich eben Sachen gesagt wie im Kino. Und weißt du was? Ich schwöre, dass sie mich verstanden hat. Als ob sie auf das gewartet hätte, was ich ihr erzählte.« »Siehst du, Crossman? Bates hier ist gar nicht so harmlos, wie er aussieht. Er lügt Mädchen an. Er hat die perfekte Bombe erfunden. Man denke nur: Der neue Oppenheimer! Der Junge hat wirklich Phantasie.« »Was macht sie denn perfekt?«, frage ich. Bates kann ein Zittern im Mundwinkel nicht unterdrücken, das ebenso gut ein Reflex des Stolzes wie ein Anzeichen unterdrückter Tränen sein könnte. »Sie kann alles, was Atombomben können, aber ohne den tückischen Fallout«, fängt er in bescheidenem Ton an. »Und sie hat eine viel größere Zielgenauigkeit. Sie könnte also, sagen wir, den Stadtkern einer Großstadt samt Einwohnern platt machen, ohne die umliegenden Stadtteile in Mitleidenschaft zu ziehen. Ein hilfreiches Instrument gerade in diesen verwinkelten Krisenherden – denkt bloß mal an den Balkan, an Israel –, wo auf der Hangseite die Guten leben, aber in der Stadt im Tal 113
unten, drei Meilen weit weg, die Bösen, je nach Blickwinkel. Ein Abwurf, und die Sache ist erledigt, so oder so. Keine monatelangen zähen Artilleriegefechte mehr. Und noch dazu keine radioaktiven Wolken, die um die Erde ziehen und den Leuten zu Hause Angst einjagen. Es wäre die erste umweltfreundliche Massenvernichtungswaffe, die es je gab.« Am Ende dieses Vertrags hat sich Bates richtig in Fahrt geredet. Sein Atem hüpft in seiner Kehle auf und ab. Die Augen öffnen und schließen sich im Morsecode. Das könnte gut und gerne das Längste gewesen sein, was ich je am Stück von ihm gehört habe. »Und was treibt dieses Ding an, wenn nicht Atomkraft?« »Das ist das Geheimnis.« »Das Geheimnis, das nicht existiert.« »Das Geheimnis, das nicht existiert.« »Und all das hast du deinem Mädchen erzählt?« »Ich hab niemandem wehgetan damit.« »Also ist es nur eine harmlose Lüge, eine ›fromme Lüge‹, nach Crossmans Definition«, stellt Wallace fest. »Und jeder denkt sowieso, dass Bates keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Er ist so sensibel. Bist du sensibel, Crossman?« »Wenn es darauf ankommt.« Der Ausdruck auf Bates’ Gesicht lässt mich hinzufügen: »Allemal mehr als du.« »Das bezweifle ich. Du hast doch deinen Dickens gelesen. Du hast die Oprah-Show gesehen. Wer könnte sensibler sein als ein Waisenkind?« »Du bist Waise?« »De facto. Ein Ausgestoßener der neuen Weltordnung. Meine Eltern waren Diplomaten. Als Kind bin ich von dem Wasser in Kamerun immer krank geworden, und so hielten sie es für das Beste, wenn ich eine Million Meilen weit weg in einem guten alten kanadischen Internat aufwachsen würde. Habe ich dir das noch nicht erzählt? Bates war auch da. Nur dass er eine richtige Waise war. Seine Eltern waren nicht einfach nur egoi114
stisch und verantwortungslos, sie waren wirklich tot. Und so haben wir eben das Beste daraus gemacht. Wir haben uns gegenseitig großgezogen. Stimmt’s, Bates?« »Beste Freunde«, sagt Bates mit einem Nicken, aber ohne ihn anzusehen. »Und was ist der beste Freund für einen, wenn man allein ist? Nun, ich sag’s euch. Er ist alles, was man hat.« Damit zieht Wallace Bates zu sich her und umarmt ihn. Hält ihn lange so fest und streichelt ihm mit der Hand über den Rücken, als wolle er ihn wärmen. Ein bisschen liegt darin auch erneuter Spott. Doch es dauert zu lange und wirkt zu selbstverständlich und entspannt, um nur das zu sein. Nachdem sie sich voneinander gelöst haben, sehen sie mich mit einem hündischen Grinsen an. »Ist das sensibel genug, Crossman?«, fragt Wallace. »Ich bin schwer beeindruckt.« »Solltest du auch. Ich habe ein riesiges Herz. Ich bin praktisch ein einziges wandelndes, schlagendes, blutendes Herz.« Dies scheint uns ein passender Moment, um unsere Drinks zu leeren, und das tun wir dann auch. »Ich bin neugierig«, hebe ich an, nachdem wir unsere leeren Flaschen klirrend auf das Deck gestellt haben. »Worüber hast du mit deinem Mädchen gesprochen, Wallace?« »Über nichts Besonderes eigentlich. Zumindest im Vergleich zu Bates’ Enthüllungen. Ich habe ihr nur erzählt, dass ich ein amerikanischer Millionär wäre. Was ja nicht gerade gelogen ist, wenn ich es mir recht überlege. Natürlich hatte sie keinen blassen Schimmer, wovon ich sprach. Obwohl das Wort amerikanisch vermutlich schon eine Wirkung erzielte. Ist schließlich die universelle Sprache.« »Amerikanisch? « »Geld.« Er lächelt mich mit einem Ausdruck an, in dem fast echte Zärtlichkeit liegen könnte. »Noch was zu trinken, meine Freunde?« 115
Auf einem Büfett-Tisch stehen Platten mit gegrilltem Schweinefleisch und Eineinhalbliterflaschen mit Wein, gleich neben der Satellitenschüssel, die einen Fernseher auf einem Extratischchen mit Wörtern von zu Hause füttert. In nur wenigen Minuten schnappe ich auf: »allein im ersten Quartal um zwanzig Prozent gefallen«, »Tiger Woods vergab seinen Pütt zum Birdie am 18. Loch«, mindestens zweimal »Dotcom« und einmal »Du bist das schwächste Glied. Bye-bye!«. Die Programme wechseln von selbst. Wallace kommt mit einer Flasche Wein unter dem einen und einem Stapel Plastikbecher unter dem anderen Arm zurück. Wir stehen mit den Ellbogen auf die Reling gestützt, als stünden wir an einer richtigen Bar, nur eben einer, die nach Regen und toten Fischen stinkt. Starren zum Urwald hinüber, als ob es da was zu sehen gäbe, doch dort ist nur etwas zu hören. Das Keuchen und Rülpsen und die gurgelnden Klagen dessen, was darin haust. »Er lacht uns aus«, sagt Wallace nach einer Weile. »Sind wir so lustig?« »Wir stinken nach Insektenschutzmittel, haben einen Sonnenbrand und sind blind wie Fledermäuse. Ich würde sagen, ein paar Gluckser sind wir schon wert.« »Das ist kein Lachen, das ist eine Warnung«, sagt Bates. »Geh ein paar hundert Meter schnurgerade hinein und du würdest nicht mehr zurückfinden.« »Wie ich heute Nachmittag selbst herausfinden durfte.« »Arme Crossman. Unser Rotkäppchen, das vom Pfad abgekommen ist.« Jetzt bin ich an der Reihe, von Wallace den Rücken gestreichelt zu bekommen. »Da fällt mir eine Geschichte ein«, fährt er fort. »Bates? Kommt dir nicht irgendwas daran bekannt vor?« Bates blickt nur starr nach unten auf den Fluss und sagt nichts. 116
»Was für eine Geschichte?«, frage ich. »Ach, nichts. Bates ist nicht in Stimmung dafür. Und mir fällt sowieso nie die Pointe ein.« Eine Weile sagt keiner etwas. Ich möchte noch mehr aus ihnen herauslocken, doch Wallace ahnt, dass ich etwas fragen will, und kommt mir zuvor. »Für eine so genannte Party mitten auf dem Amazonas ist das hier unglaublich langweilig.« Er nimmt sich eine Dose Cola vom Büfett, macht sie aber nicht auf. Ohne ein weiteres Wort tut Bates dasselbe, dann ich. Das Gewicht von Granaten in unseren Handflächen. »Worauf zielen wir?«, fragt Bates. »Die dunkelste Stelle. Die Stelle zwischen den Bäumen, an der man gar nichts sehen kann.« Und damit wir auch genau wissen, wo, holt Wallace mit dem Arm aus, zieht das Knie bis ans Kinn – in bester MajorLeague-Pitcher-Manier – und wirft die Dose in den Urwald. Wir warten auf die Explosion, doch sie kommt nicht. Ein Aufblitzen von etwas Rot-Weißem im Licht der Decklaterne und der hoch stehenden Mondsichel. Und dann nichts mehr. Keine knackenden Zweige, kein schäumendes Zischen. Nur die fortwährende Heiterkeit des Urwalds. Bates wirft als Nächster, in hohem Bogen. Dann meine: ein spiraliges Geschoss. Alle verschwinden in demselben Loch. »Die fangen sie, bevor sie den Boden berühren!«, ruft Wallace, und wir lachen zustimmend, obwohl uns nicht ganz klar ist, wen er mit »sie« meint. Wallace und Bates haben ein Talent dafür, sich unbemerkt aus der Gesellschaft anderer zu entfernen. Es ist absolut verblüffend. Eben stehen sie noch groß und strahlend neben einem und sagen Sachen in einer Lautstärke, die um einiges über der einer normalen Unterhaltung liegt, und im nächsten Moment haben sie den Raum, den sie eben noch ausfüllten, in sich zu117
sammenfallen lassen und sich irgendwohin verzogen, um ihre Geheimnisse auszutauschen. Und so geschieht es auch, bald nachdem uns die Coladosen zum Werfen ausgegangen sind. Unser Lachen ist noch nicht ganz verklungen, da drehe ich mich zu ihnen um und sie sind weg. Und an ihrer Stelle steuert Barry auf mich zu, in Schlangenlinien und die Absätze aufs Deck hauend, als würde die Presidente Figueiredo sich durch stürmische See kämpfen. »Sie haben sich aus dem Staub gemacht und dich alleine stehen lassen, stimmt’s?«, fragt er. Er muss irgendeine private Quelle angezapft haben: Sein Atem hat die Pferdepisseschärfe von Rye Whiskey. »Woher weißt du das?« »Du hast diesen ›Gerade-von-den-Jungs-verlassen‹-Blick drauf. Der ist unverwechselbar. Aber keine Sorge. Mit mir machen sie das ständig. Mit uns allen. Man würde nicht darauf kommen, wenn man sie sieht – und Wallace mit seinem ewigen Geschwafel zuhört –, aber das sind verdammte siamesische Zwillinge, die beiden. Müssen zusammengenäht auf die Welt gekommen sein.« »Sie sind beste Freunde.« »Ich hatte nie so einen Freund. Du vielleicht?« »Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt jemals einen Freund hatte.« »Also, so genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen, Crossman.« »Ich meine ja nur. Was immer das zwischen den beiden auch sein mag, ich kapier’s nicht. Das hab ich verpasst.« »Gemessen an denen haben wir alle was verpasst.« Zum ersten Mal, seit ich Barry kenne, sieht er so alt aus, wie er ist. Wie alt auch immer. Vielleicht hat die Sache mit dem Piranha die Furchen um seine Augen um ein oder zwei Jahre vertieft. Oder vielleicht ist es die Wut, die er anscheinend in sich, in seiner Flasche Whiskey entdeckt hat. 118
»Was mache ich bloß hier unten, Crossman?«, fragt er abrupt, mit einem nun nicht mehr zu überhörenden Unterton von Selbstanklage. »Hier? Im Augenblick bist du Tourist. Aber in erster Linie bist du hier, um was zu verkaufen, Barry.« »Nein. Die sind hier, um was zu verkaufen. Ich bin nur Tourist. Anhang. Was auch nicht so schlimm wäre, weißt du – ich bin im Marketing, ich werde dafür bezahlt, mich an Leute dranzuhängen –, außer dass es sich für mich unwirklich anfühlt. Ich meine, ich verstehe schon, was Hypothesys kann, und ich finde, dass es ein wichtiges Produkt ist, oder zumindest eines, das Leute bestimmt kaufen wollen. Doch allein schon, wenn ich damit zu tun habe, wenn ich mit ihm zu tun habe, kriege ich dieses unwirkliche Gefühl. Und schau uns doch bloß an! Wir stecken hier mitten in einem Comicstrip-Abenteuer. Das Zeug, das ich mit der Taschenlampe unter meiner Bettdekke gelesen habe, weil mein Vater mir in den Arsch getreten hätte, wenn er mich damit erwischt hätte. Ich komme mir vor, als wäre ich in meine Vergangenheit zurückkatapultiert worden, oder in die Zukunft von jemand anderem, oder in irgendein verfluchtes Scheißgeschäft.« Er schüttelt den Kopf wie ein nasser Schäferhund. Fährt sich mit der Hand durchs Haar. Eine Sekunde später rinnen neue Schweißbäche über seine Stirn. »Ist alles in Ordnung mit dir, Barry? Ich meine, glaubst du, du hast vielleicht – es gibt Fieber hier –« »Alles in Ordnung. Ich hab nur getrunken.« Barry legt den Arm um meine Schultern, wie ich es ihn schon mehrere Male bei anderen habe tun sehen. Nur dass er diesmal anscheinend mich als Stütze braucht, um nicht umzufallen. »Da kann man nichts gegen machen«, krächzt er direkt neben meinem Hals. »Gegen das dünner werdende Haar, den Erdrutschbauch, dass man die Namen gottverdammter Rockbands – ’tschuldigung, DJs heißt das ja jetzt – mit Kinofilmen ver119
wechselt oder mit den neusten Drogen, mit denen sie alle sechsunddreißig Stunden lang ununterbrochen durchtanzen können … Und trotzdem müssen wir uns Vorwürfe anhören! Dass wir nicht Bescheid wissen! Dass wir nicht mehr mitkommen. Aber soll ich dir was sagen? Wir sind jetzt nun mal dran mit den Vorwürfen.« »Niemand macht dir Vorwürfe, Barry.« »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht mache ich ihnen Vorwürfe.« »Das trifft es wohl schon eher.« »Na gut. Aber erzähl mir bloß nicht, dass du es nicht genauso machst. Du wirst nämlich auch nicht jünger. Und das nimmst du ihnen ein bisschen übel. Hab ich Recht? Dass sie diese Distanz aufgebaut haben zwischen dem, was wir mal waren, und dem, worauf wir nun alle zusteuern, und sie selbst führen uns dabei an der Nase herum. Gib’s zu.« »Ich hab noch nie darüber nachgedacht.« Barry lacht abfällig. »Du bist eine gute Zuhörerin, Crossman«, sagt er und hält mir dabei sein strahlendes Unternehmergebiss in Ausschnittsvergrößerung vors Gesicht. »Aber du bist eine furchtbar schlechte Lügnerin.« Am Ende der Nacht fängt dann Lydia an, mir Dinge zu erzählen. Sie mag das zunächst gar nicht vorgehabt haben, aber sie tut es. Ich habe mich daran gewöhnt, in meinem Beruf. Die Leute neigen dazu, Dolmetscher für gute Vertrauenspersonen zu halten. Irgendein Gedankengang muss sie zu dieser Annahme verleiten, etwas, was mit Wörtern zu tun hat und der Tatsache, dass ich darin geschult bin, diese zu verstehen. Wenn ich das Geschick besitze zu verstehen, was die Leute sagen, so wird gefolgert, dann werde ich auch die Leute selbst verstehen. Natürlich funktioniert das so nicht. Doch ich belehre niemanden eines Besseren, wenn er gerade in Fahrt kommt. So wie 120
Lydia jetzt. Und was hat sie im Verlauf ihres einzigen Glases British Columbia Pinot Noir zu berichten? Dass für sie das Leben jenseits der dreißig wenig mehr als der allmähliche Sieg über schlechte Angewohnheiten war. Oder eher der fortwährende Versuch, sie zu besiegen. Jahrelang war es das Rauchen gewesen (erlernt in Treppenhäusern von Mädchenschulen und perfektioniert in Londoner Weinbars beim Aushandeln der Bedingungen, unter denen Stückchen von England an das restliche Europa verschachert werden). Dann war es das Essen, zuerst ihre Sucht nach Butter, dann die unaussprechlichen Schokoladensünden, gefolgt von der Shopping-Sucht (verdammte Schuhe!) und, erst jüngst, der Angewohnheit, sich in Männer zu verlieben, bei denen ihr schon von vornherein völlig klar war, dass sie ihre Liebe nie erwidern würden. Sie weiß, dass das alles Unsinn ist, selbstverständlich. Totaler Schrott. Doch das bringt sie nicht von der Hoffnung ab, dass sie, wenn sie nur noch eine selbstzerstörerische Neigung ablegen, noch ein letztes giftiges Glas weglassen könnte – nun, dass sie sich dann nicht mehr ständig über solche Scheiße den Kopf zerbrechen müsste und sich endlich ihrem eigentlichen Leben widmen könnte. Und was ist das? Das Baby in ihr drin zur Welt zu bringen. »Nein, es gibt keinen Mann«, antwortet sie auf die Frage, die ich gar nicht gestellt habe. »Also, es gab natürlich einen Mann. Aber keinen, der bleiben würde. Trotzdem, ich bin dankbar für das, was er mir geschenkt hat. Ich muss unbedingt ein Kind haben. Um ein Leben zu retten.« »Dein Leben?« »Vielleicht meines. Obwohl ich an jemand anders denke.« Sie hält inne, als ob sie eine Summe in ihrem Kopf überschlägt. »Hast du Kinder, Elizabeth?« Der Klang meines Vornamens verschlägt mir einen Moment lang die Sprache. Doch Lydias Lächeln ist verschwörerisch, 121
nachsichtig. »Ich habe nicht einmal ernstlich darüber nachgedacht, um ehrlich zu sein.« »Bei mir war es genauso. Frauen wie wir, immer irgendwo in der weiten Welt unterwegs – wir brauchen unseren Freiraum, nicht wahr? Doch dann ist etwas passiert. Etwas Schlimmes. Und plötzlich erschien mir der Freiraum, in dem ich die ganze Zeit gelebt hatte, als wertloses Nichts.« Lydia wendet sich mir zu und sieht mich so direkt an, dass es einige Disziplin kostet, ihren Blick zu erwidern. Etwas in ihren Augen macht ganz deutlich, dass sie nicht von irgendeiner Bestandsaufnahme vor der nahenden Lebensmitte, von den Vorboten der Wechseljahre oder dem Ticken einer biologischen Uhr spricht. Nicht eine Spur von Tränen, aber trotzdem ist da etwas. Schreckliche Tatsachen, an die sie sich erinnert, und sie sieht mich an, so dass ich sie auch sehen kann. Doch es bedarf nur eines einzigen Schniefens, um alles wieder nach innen zu holen, dorthin, wo es für gewöhnlich verwahrt liegt, und sie dreht das Gesicht zum Nachthimmel hinauf. »Die Sterne sind hier anders, Elizabeth. Hast du es bemerkt?« »Du meinst, dass sie näher da zu sein scheinen?« »Nein, sie sind genauso weit weg. Doch man hat einen anderen Blickwinkel. Der Große Bär fehlt zum Beispiel. Stattdessen steht da dieses absurde geometrische Quadrat genau mittendrin. Wie heißt es gleich? Das Kreuz des Südens. Stell dir mal vor. Leute leben ihr ganzes Leben hier unten und sehen nie denselben Himmel wie wir.« Ein orangefarbener Komet, schillernd wie ein teurer Spezialeffekt, zieht direkt vor uns seine sprühende Bahn über den Himmel. »Wünsch dir was«, sage ich. »Du auch.« Wir schließen die Augen. 122
»Was hast du dir gewünscht?«, fragt sie mich, als wir sie wieder aufmachen. »Das ist ein Geheimnis.« »Du bist ein richtiger Magnet für Geheimnisse, was?« »Und du? Was hast du dir gewünscht?« Ich erwarte, dass sie das Baby in ihrem Bauch nennt, ihre Hoffnung, dass es geboren wird und ohne Unfälle aufwächst und an demselben College in Oxford oder Cambridge studiert, an dem sie war. Doch das ist es nicht. Was sie sagt, mit festen Worten und ohne ein Zögern, überrascht mich. »Mein Wunsch galt ihnen, natürlich«, sagt sie und nickt in Richtung von Wallace und Bates, die an der Reling stehen und Pfeifsignale in den Urwald senden. »Diese beiden werden alle unsere Wünsche auffressen, bevor sie mit uns fertig sind.« Wir lachen. Sagen und hören mehr, als wir vielleicht sollten unter einem fremden Himmel. Natürlich lachen wir. Aber vielleicht auch deshalb, weil wir uns ein klein wenig Angst eingejagt haben. Und noch etwas aus dieser Nacht. Wieder zurück an Bord der Ana Cassia, nachdem wir auf der Suche nach unseren Kabinen auf dem schmalen Gang rund ums Hauptdeck gestolpert sind, alle mit Ausnahme von Lydia zu betrunken, um einander gute Nacht zu sagen. Nur ein paar Minuten nach meinem ersten Versuch in Sachen Schlaf stelle ich fest, dass ich Wasser brauche, und dazu muss ich in die Schiffsküche hinaufgehen, wo der Wasserkühler steht. Ich öffne meine Kabinentür, und da stehen sie. Maria und Wallace. Sie mit geschlossenen, dunkel glänzenden Augenlidern. Er mit den Lippen auf ihrem Hals, gierig, verschlingend. Es wäre nichts Besonderes – eine nicht weiter bemerkenswerte Szene, wie jemand ausgenutzt wird –, wenn nur ich allein sie beobachten würde. Doch als ich gerade den Kopf in die Kabine zurückziehen will, bemerke ich ein weiteres Augen123
paar, das am vorderen Ende des Boots um die Ecke späht. So gelb und völlig reglos, dass ich es erst für ein Paar glimmender Insekten halte. Doch dafür ist es zu still. Zu zielgerichtet. Es sind Americos Augen, starr vor Kränkung. Das jedenfalls glaube ich zuerst; dass das fehlende Grinsen damit zu erklären ist, dass er wie unter Zwang diese Szene mit ansehen muss. Er liebt Maria. Und nun küsst dieser amerikanische Junge (der tatsächlich ein Junge ist, jedoch kein Amerikaner) das Mädchen, das er selbst – törichterweise vielleicht, völlig vergeblich vielleicht – zu heiraten hofft. Er geht einen halben Schritt vor, um einen besseren Blick zu bekommen, und das erlaubt mir, ihn genauer zu sehen, schwach leuchtend vom Sonnenbrand, eine sterbende Glut. Es ist Bates. Der völlig ausdruckslos beobachtet, wie sein bester Freund und eine brasilianische Köchin sich umschlungen halten. Oder vielleicht reift ein Ausdruck gleich unter der Oberfläche seiner Haut und wird absichtlich dort zurückgehalten, aus reiner Gewohnheit. Eine so heftige Gefühlsregung, dass die Anstrengung, sie zu unterdrücken, ihn vollkommen versteinert. Es könnte alles Mögliche sein. Wut, Verzweiflung, Sehnsucht. Irgendetwas. Wir sind irgendwo auf einer Länge von zweitausend Meilen Flusslauf auf der weniger erschlossenen Halbkugel unseres Planeten. Es ist mitten in der Nacht. Es lässt sich unmöglich sagen. Alles beginnt mit diesem Traum, in dem jemand im Haus ist. Jemand, der da nicht sein sollte. Du bist allein in einem der Schlafzimmer im oberen Stock schlafen gegangen, dem mit dem peinlichen ausgestopften Stoffpanda und den Klassenfotos mit den vorstehenden Zähnen, in dem du den Großteil deines Erwachsenwerdens hinter dich gebracht hast und das du vor Jahren verlassen hast. Doch jetzt bist du wieder da, wirbelst in irgendeinem anderen, noch 124
traumartigeren Traum herum. Dann schreckst du plötzlich hoch, aufgeweckt von einem Geräusch von unten. Innen, im Haus. Du grübelst über die genaue Art dieses Geräuschs nach, das du gehört zu haben glaubst. Nur eine halbe Sekunde ist seither vergangen und schon verändert sich deine Erinnerung daran. Was du zuerst für ein einmaliges Klopfen auf Holz gehalten hast, wird jetzt zu einem metallischen Kratzen, splitterndem Glas, ausgestoßenem Atem. Obwohl jetzt nichts zu hören ist, hinterlässt das Geräusch, was es auch war, ein Echo in der zu stillen Stille, fließt den Gang hinunter und unter der Tür durch in dein Zimmer. Wie oft hattest du diesen Traum? Selbst jetzt, wo du ihn gerade träumst, kommt er dir abgedroschen vor, obwohl er es immer wieder schafft, dir Angst einzujagen, und dich dazu bringt, Dinge zu tun, wie sie ein verängstigtes Kind tut, etwa die Decke über den Kopf zu ziehen und im Geiste einen Hilferuf an deine Mutter zu senden, die, wie du genau weißt, schon eine ganze Weile tot ist. Und dann hörst du es erneut. Vielleicht war es beim ersten Mal ein Klopfen oder splitterndes Glas, aber jetzt sind es definitiv Schritte. Schwere, schlurfende Zombieschritte quer über den Wohnzimmerteppich. Wie oft hast du dir schon überlegt, was du jetzt tun sollst, hast dich entschieden, da zu bleiben, wo du bist, und dann doch die Decke zurückgeschlagen, um aufzustehen? Hast dich durch die Dunkelheit des Zimmers getastet (der Geruch konservierter Vorstadt-Kindheit klebt dabei auf deiner Haut) und hinaus auf den Gang. Die Schritte unten sind zur Diele vorgedrungen und bleiben dort stehen. Warten. Ist das das Ding da unten, was so atmet? Bist du es selbst? Nichts lässt sich sagen, außer, wie es ausgehen wird. Und so gehst du weiter. Eine Marionette, die durch das nahtlose Dunkel gezogen wird. 125
Nur weil du es schon tausendmal vorher getan hast, weißt du, dass du die Treppe hinuntersteigst. Die Dunkelheit ist ein Bildschirm, auf dem du Dinge erscheinen siehst. Vorweggenommene Bilder von dem, was dich unten erwartet. Unzählige flüchtig hingeworfene Zeichnungen auf einer Tafel, die immer wieder ausradiert werden, um für etwas noch Schlimmeres Platz zu machen. Das Nichts um dich her wird kälter. Du könntest deinen eigenen Atem sehen, wenn du sehen könntest. Herrgott, wie gern würdest du wieder nach oben ins Bett gehen! Oder wenigstens erwachsen werden. Aber das wirst du nie. Dies ist zufällig der ganz spezifische Alptraum, der dich dein ganzes Leben lang verfolgen wird und von dem du nie jemandem erzählen wirst. Dann bist du da. Auge in Auge mit dem Eindringling. Und was tut der Eindringling? Er lässt dich warten. Oder vielleicht ist da ja auch gar nichts. Diese Frage ist der zweitschlimmste Teil, denn du weißt die Antwort, noch während du fragst. Ein aufflackerndes Licht zeigt, dass es näher ist, als du erwartet hast. Ein schreckliches Gesicht, dessen Schrecken darin liegt, dass es mehrere Gesichter gleichzeitig sind: der schielende Onkel, der dich an einer verbotenen Stelle berührt hat, der Dobermann, der dir mit sechs Jahren ein Stück Fleisch aus der Backe gerissen hat, ein lachender Geburtstagsparty-Clown mit nikotingelben Zähnen. Sogar deine geliebte Mutter, die deine Gebete erhört hat und zurückgekehrt ist, jedoch in einer Leichenmonsterversion ihrer selbst, mit herausgerissenen Augen und sich weitendem Mund. Was es so schlimm macht, ist: Du könntest diese Gesichter in einem Gesicht gar nicht so schnell heraufbeschwören, wie sie erscheinen. Es ist gar nicht mehr dein Traum, egal, wie oft du ihn schon geträumt hast. An dieser Stelle erwischt es dich immer kalt. Du möchtest, dass es aufhört – jetzt sofort, danke! –, 126
doch es hält dich noch eine Sekunde länger gepackt, bis es einen taumelnden Hilfeschrei aus deiner Kehle zerrt. Es ist dieses Gesicht aus lauter Gesichtern, das dich aufweckt. Nur dass es diesmal noch da ist. Und dich ansieht, real wie du selbst.
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Dann ist es weg. Sobald ich mich vergewissert habe, dass ich wach bin (ein kurzes, glitschiges Zwicken in den Oberschenkel unter der Bettdecke genügt), verschwindet das Gesicht von der Tür. Der offenen Tür. Die nicht offen stand, als ich zu Bett ging. Obwohl mir sofort klar ist, dass ich dieses Gesicht nie vergessen werde, könnte ich es mit keinem Wort beschreiben, außer dass es da war. Ein Mann. Nicht Americo oder der Reiseführer oder der Kapitän. Jemand an Bord, der die Fahrt nicht mit uns begonnen hat. Jemand mit einem Gewehr. Ich wünsche mir inbrünstig, die Tür möge sich von selbst schließen, doch sie bleibt offen und lässt eine rasche Folge von Geräuschen hereindringen, über deren Natur ich mir nicht sicher bin. Ein Handknöchel, der an die Wand klopft? Ein Wort auf Spanisch? Der Schrei einer Frau, der erstickt wird, noch bevor er richtig begonnen hat? Ein Trommelschlag von Vibrationen rollt durch sämtliche Glieder der Ana Cassia. Vielleicht ist es ja die Ana Cassia selbst, die übliche Klage ihrer arthritischen Planken. Aber das ist nur eins von den Dingen, die ich mir einrede, ohne daran zu glauben. Ich ziehe mir ein T-Shirt und Shorts an und gehe zur Tür, um das Hauptdeck hinauf- und hinunterzuspähen. Soll ich hinausgehen? Nachsehen, was los ist? Meine Hilfe anbieten? Am Ende nimmt mir die Angst vor Peinlichkeiten die Entscheidung ab: Ich kann hier nicht ewig stehen. Wenn es wirklich nichts ist, dann wird irgendwann jemand vorbeikommen und mich fragen, wieso ich hier im Türrahmen herumstehe (»Du siehst 128
aus, als hättest du ein Gespenst gesehen, Crossman!«), und ich werde wie ein Idiot aussehen. Es ist faszinierend, wie übermächtig diese Angst, sich lächerlich zu machen, immer noch ist, solange auch nur eine gewisse Chance besteht, dass alles in bester Ordnung sein könnte. Vor meiner Kabine fühlt sich das Boot ruhiger an, das Summen des Generators und die Vorstellung von einem alles absorbierenden Wald irgendwo da draußen schlucken die Geräusche, die ich noch vor einem Augenblick zu hören glaubte. Ich beschließe, nach vorne zu gehen, in die entgegengesetzte Richtung, in die das Gesicht verschwunden ist. Als ich die Brücke erreiche, blicke ich durchs Fenster, doch der Kapitän ist nicht da. Nur eine seiner Zigaretten liegt in einer Kaffeetasse neben dem Gashebel, glimmend. Ich biege um die Ecke und spähe die andere Deckseite hinunter, doch auch da ist nichts zu sehen, nur die breitere Hälfte des Flusses, die langsam jenseits der Reling dahinfließt. Dennoch bleibt ein Gefühl, als ob sich da vor einer Sekunde etwas bewegt hätte. Ein Hauch von Licht in dem leeren Schatten neben der Leiter zur Kombüse hinauf. Dorthin mache ich mich jetzt auf. Um Peinlichkeiten zu vermeiden. Um das Ende dieses Traums zu erreichen. Dann kommen von oben, wahrscheinlich vom Aussichtsdeck direkt über meinem Kopf, nacheinander drei Geräusche. Das Schlurfen von Stiefelsohlen auf Holz. Die spanischen Worte ¿Quién eres tu?. Ein Gewehrschuss. Das letzte davon ein einmaliges Donnern, auf das jedoch Echos aus allen Richtungen folgen, und diese Echos erzeugen ihrerseits neue Echos, so dass der Krach lauter und lauter wird, bevor er endlich abebbt. Ich werde mich nie mehr bewegen. Ich werde nie mehr irgendetwas hören. Wenn ich schon zu Stein erstarren soll, dann habe ich wenig129
stens einen ganz passablen Ausblick von hier, über die paar hundert Meter Fluss hinweg zur Presidente Figueiredo hinüber, die in Ufernähe an Bäumen vertäut liegt. Ein Licht geht hinter vorgezogenen Kabinenvorhängen an, dann noch eins. Und sieh nur: Das da könnten die Umrisse menschlicher Gestalten an der Reling sein. Es lässt sich nicht entscheiden, ob auch auf der Presidente Figueiredo Fremde an Bord sind oder ob die, die da womöglich an Deck stehen, auf das Schiff gehören. Aber ob so oder so, nichts dort geschieht in Eile. Was sollten sie auch tun? Ein paar Bürokraten im Kanu zu unserer Rettung herüberschicken? Wenn es tatsächlich Regierungsleute sind, die da stehen, ein geräderter Außenminister mit einem seiner bebrillten Zolltarif-Anwälte zum Beispiel, und nicht nur ein paar nasse Handtücher, die da zum Trocknen aufgehängt sind, dann stehen sie nur da und beobachten. Beobachten und fragen sich, was zum Teufel das für ein Lärm war da drüben. Beobachten und fragen sich, obwohl sie ganz genau wissen, was es war, und damit auch, was es zu bedeuten hat. In Gedanken sind sie längst mit der Frage beschäftigt, was für ein Vorgehen bei einem solchen Vorfall wohl am ratsamsten ist (Ist es überhaupt ein Vorfall? Können wir sicher sein?), während sie im Stillen bereits Schuld und Verantwortlichkeiten abwägen, die möglichen Auswirkungen internationaler juristischer Kompetenzstreitigkeiten einzuschätzen versuchen. Sie verhalten sich politisch. Doch am meisten hoffen sie, dass das, was da vor sich geht, seinen Lauf nimmt, damit sie endlich von jeder wenn auch noch so minimalen Möglichkeit des Handelns befreit sind. Genau wie ich. Es mag nicht gerade ein überzeugender Standpunkt sein, den ich da einnehme, doch ich würde lieber an Ort und Stelle erschossen werden, als irgendetwas unternehmen zu müssen. Was würde da auf mich zukommen? Ich brauche es gar nicht zu wissen, um mir sicher zu sein, dass ich dazu nicht in der Lage wäre. Also warte ich einfach hier. Und 130
wenn es kommt, wird es zwar schlimm sein, aber irgendwie auch ganz leicht – – noch ein schwebendes Gesicht, das des Kapitäns diesmal. Nur einen halben Meter vor meinem. Kopfüber, als er vom Beobachtungsdeck ins Wasser stürzt. Und meine Ohren knistern noch von dem Krachen, so dass ich das Platschen nicht höre. Doch was ich in der halben Sekunde seines Sturzes sehe, genügt mir. All die Sonnenbräune und alkoholbedingte Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen, die Zähne entblößt, die Augen so weit aufgerissen, als wären seine Lider ausgeschnitten. Gefolgt von einem Loch in seiner Brust, das aus tausend Pocken und Kratern besteht, die sich alle zu einem tieferen Punkt in seinem Inneren vorgraben. Körperteile noch glänzend und ganz. Organe, die ich bestimmt benennen könnte, wenn ich nur ein wenig mehr über menschliche Eingeweide wüsste. Die meisten blau. Und schließlich seine eigene Pistole, die, wie ich einmal bemerkt hatte, an einem Ledergurt unter dem Steuerrad festgemacht war und nun hinter der Ferse seines Tennisschuhs hertrudelt wie eine Fußnote. Er hatte versucht zu kämpfen. Und es war trotzdem schlimm ausgegangen und alles andere als leicht gewesen. Der Kapitän muss den Mann vor meiner Kabinentür im selben Augenblick gehört haben, in dem ich aufwachte und ihn sah. Muss seine gerade angezündete Zigarette in der Tasse (die er eben noch vom Rum geleert hatte) abgelegt und sich auf seinen eingeschlafenen, prickelnden Beinen hinterm Steuerrad hervorgezwängt haben. Doch er kannte sein Schiff. Selbst im Traum und alkoholisiert wusste er, dass die Stahlkappenstiefel, die klirrend die Leiter zum Aussichtsdeck hinaufkletterten, niemandem von seiner Mannschaft oder seinen Passagieren gehörten, sondern einem Mann von beträchtlichem Gewicht, der heimlich nachts an Bord gekommen war, Hunderte von Meilen entfernt von einer Stadt oder Missionsstation. Er hatte seine Pistole mitgenommen, flach an seine Seite ge131
drückt. War mit entschlossenen Griffen und Tritten zum Aussichtsdeck hochgeklettert, ohne sich groß um Lautlosigkeit zu bemühen. Beide wussten, wo der jeweils andere sich befand. Doch wer auch immer den Kapitän auf Spanisch nach seinem Namen gefragt hatte, hatte ihn bereits erwartet, im Dunkeln mit dem Gewehr im Anschlag, mitten auf seine Brust zielend. Der Kapitän hatte nicht geantwortet. Auf seinem eigenen Boot? Da brauchte er niemandem Rede und Antwort zu stehen. Er hatte erwogen, über die Frage zu lachen, dann jedoch beschlossen zu warten, bis er den Eindringling sehen konnte. Hatte sich vorgetastet und die Pistole hüfthoch erhoben, um das Dunkel auszukundschaften. Bevor er eine Chance hat zu finden, wonach er sucht, hebt ihn etwas von den Beinen. Tausende Babyfinger, doch mit Nägeln scharf wie Bohrerspitzen. Eine Schrotladung, die ihn packt und über die Reling mehrere Meter hinter ihm wirft. Es ist der unvermittelte Anblick seines herabstürzenden Körpers, der mich aus meiner Starre löst. Wenn ich schon sterben muss, dann will ich wenigstens versuchen, mich zuerst zu verstecken. Noch ein paar Sekunden allein im Dunkeln scheinen die Mühe wert. Auf einmal fühlt es sich an, als ob die gesamte Ana Cassia in Bewegung geraten ist, obgleich nichts zu sehen ist und abgesehen vom Echo des Schusses kein Laut zu hören. Es müssen mehrere sein. Sie müssen zuerst in den Kabinen nachgesehen haben, und sie werden erneut nachsehen, wenn jemand fehlt. Das obere Deck, die Küche, die Brücke. Alles ziemlich offensichtlich. Es ist ein kleines Boot. Stiefelabsätze steigen hinter meinem Rücken klirrend die Leiter herunter. Dieselben Stiefel, die vorhin über den Boden schlurften, bevor sich die Mündung eines Gewehrs auf die Brust des Kapitäns richtete. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung. Um die offene 132
Tür herum zur Brücke, wo ich noch einmal den Rauch der noch glimmenden Zigarette des Kapitäns einatme, dann auf der anderen Seite geradewegs das Deck hinunter. Wenn der Jemand, der von der Küche heruntersteigt, in die entgegengesetzte Richtung geht, werden wir im nächsten Augenblick aufeinander prallen. Selbst wenn er am Fuß der Leiter steht, werde ich, wenn ich hinten um das Boot herumgehe, mit ihm zusammenstoßen, noch bevor ich anhalten kann. Doch als ich um die Ecke biege, ist niemand da. Ich stehe selbst im Schatten. Vielleicht war ich die Lichtspur, die ich vorhin sah. Eine Vorahnung: Ich werde da sein. Dann kehrt die Erinnerung an das Gesicht aus meinem Traum zurück. Er ist auch da. Ich klettere in die Kombüse hinauf, lasse mich auf Hände und Knie nieder und krieche hinter die Bar. Eine Marotte, die ich Foxy, meiner Terrier-Hündin aus Kindertagen, abgeschaut habe. Wenn sie wusste, dass sie etwas angestellt hatte, dann verkroch sie sich in eins der zwei oder drei Verstecke, die sie hatte – hinter dem Klavier, im Kleiderschrank meiner Mutter –, auch wenn ihr das nie etwas nützte. Kaum habe ich mich hinter die aufgestapelten Kisten leerer Antarctica-Dosen gekauert, da wird es still auf der Ana Cassia. Es war schon seit dem Schuss still. Außer dem Schuss und meinem eigenen heiseren Atem ist da nichts, was man beim Namen nennen könnte. Doch jetzt hat sich auch noch die Vorstellung von Stille dazugesellt. Wo sind die anderen? Eine unwillkürliche Antwort: Der Mann mit dem Gewehr hat sie bereits über Bord geworfen. Das wäre nicht allzu schwer gewesen, sofern er nicht allein ist. Allerdings hätte ich erwartet, dass Wallace zumindest ein bisschen mehr Widerstand leistet. Nicht unbedingt etwas Heroisches, aber zumindest Lärm. Und wer weiß, was Lydia ei133
nem nichts ahnenden Piraten so alles entgegensetzen könnte? Vielleicht sind inzwischen so viele von ihnen an Bord, dass bereits alles zu Ende gebracht wurde, während ich zu Stein erstarrt auf dem Hauptdeck stand. Alle außer mir und dem Kapitän schlafend in ihren Kajüten. Und als er jemanden oben hörte, war er hinaufgestiegen, um ihn zu stellen, und ich hatte aus meiner Kajütentür hinausgespäht. Wenn es so abgelaufen ist, dann bin ich vielleicht, im allerglücklichsten Fall, übersehen worden. Die bewaffneten Männer sind bereits wieder weg, und wenn der Morgen kommt, werden die anderen von der Presidente Figueiredo herüberkommen und mich finden, und meine Glückssträhne wird mit einem Business-Class-Ticket nach Hause und einer Pressekonferenz am Flughafen belohnt, bei der sie mich nach den Jungs fragen werden, diesen photogenen Wahrzeichen des neuen Millenniums – was für ein großer Verlust für die Zukunft der Technologie und den optimistisch-überschwänglichen Wirtschaftsjournalismus! Doch die wahre Frage, unausgesprochen, aber laut wie Kanonendonner, wird sein, warum nicht du anstelle von ihnen – – der Reiseleiter schiebt sich die Leiter hinauf und auf Händen und Füßen weiter, genau wie ich. Mit der einen Hand, die seine Machete umklammert hält, zieht er sich vorwärts, mit der anderen drückt er gegen das zunehmende Gewicht rinnenden Blutes an, das sich unter einer Tasche am Bund seiner Trainingshose sammelt. Anscheinend kann ich wieder hören. Er gibt ein eigenartiges Geräusch von sich. Seine Lippen schäumen, lassen die Luft eines hohen Stöhnens ab. Er ist angeschossen worden. Oder mit einem Messer verletzt. Etwas Scharfes oder extrem Schnelles hat ihn durchbohrt und jetzt ist sein Gesicht zu einer Krawattenschleife aus Schmerz zusammengezogen. Nur das, mehr gestattet er sich nicht. Niemand folgt ihm im Augenblick, und er versucht, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Sie haben ihn dem Tod überlassen, und jetzt nutzt er die Gelegenheit, um auf diesem kleinen 134
Schiff nach einem Versteck zu suchen. Doch er weiß bereits, dass er nirgendwohin kann. Er blickt geradewegs zu mir her, wie es kommen musste. Ist da hinten Platz genug für zwei? Wahrscheinlich, wenn man ein wenig zusammenrutscht. Aber wie lange wird es dauern, bis er sich zu mir herschleppt? Und egal, wie schnell er es bewerkstelligt, er wird unweigerlich eine Blutspur hinter sich herziehen, genau wie über die Leitersprossen und den Küchenboden, auf dem sich inzwischen eine Pfütze bildet an der Stelle, wo er nicht weiterkommt. Ich schüttle den Kopf. Nicht hier. Vielleicht bewege ich sogar die Lippen. Hier ist kein Platz. Versteht er diese Wörter oder die Gedanken dahinter? Jedenfalls bleibt er, wo er ist, während das Blut einen immer größeren kreisrunden Farbklecks unter ihm bildet. Umklammert die Machete so fest, dass sie auf den Boden stößt – ti-di-dip, ti-didip – wie der Becken-Rhythmus im Bebop-Jazz. Ich könnte ihm noch ein Signal geben. Ihm bedeuten, dass er damit aufhören und stillhalten soll. Ich tue es nicht. Das Klopfen wird lauter, je schwächer er selbst wird, als wollte er jetzt absichtlich alle unten wissen lassen, wo er – – ein Schatten, der über ihn fällt. Der an seiner Wirbelsäule entlangwandert und schließlich in voller Größe an die gegenüberliegende Wand geworfen wird. Es ist das Gesicht aus meinem Traum. Das aus der Leiterluke heraufkommt, wie ein Ballon an einer Schnur. Ein Gesicht, aus dem ein Oberkörper wächst, ein Gewehr, zwei Beine in Blue Jeans mit Stiefeln daran. Der Reiseführer dreht sich von mir weg, ohne meinen Blick loszulassen. Hält das Gesicht so, dass es auch von dem Bewaffneten abgewandt ist, der jetzt hinter ihm steht. Sticht die Machete in den Boden, um sich noch ein paar Schritte weiterzuziehen. Dann dreht er sich um, sein Luftholen klingt wie ein Würgen, und lehnt sich gegen die Wand. Die plötzliche Bewe135
gung reißt seine Hand von der Stelle, auf die er sie gedrückt hatte. Er gestattet sich nur einen ganz kurzen Blick nach unten, auf den neuen Schleier aus Blut, der über seinen Schoß fällt. »¿En dónde está la última persona?«, fragt der Mann mit dem Gewehr, doch der Führer entgegnet nichts. Vielmehr sagt er etwas zu mir. Ein wortloser Ausdruck zwischen den Beinen des Esstischs hindurch, der den angehaltenen Atem in meinen Lungen umklammert hält. Und was sagt er? Ich habe kein Wort dafür. Als ob er gerade eben eine offensichtliche Wahrheit erkannt hätte, die trotz ihrer Offensichtlichkeit wie eine Erkenntnis über ihn kommt. Er fügt sich ihr sofort, wirkt jedoch nicht geschlagen. Vielmehr bäumt sich die Erkenntnis in ihm auf, schwillt an in seinen Augen, reckt seinen Kopf noch einen Zentimeter höher. Das Stöhnen verstummt in seiner Kehle. Sie schenkt ihm etwas Narkotisierendes, Kühnes, diese Entscheidung, die er getroffen hat, oder Erkenntnis dessen, was schon die ganze Zeit da war. Fegt seine Furcht beiseite und hebt ihn auf eine Ebene, wo er Trost finden kann, obwohl ich mir sicher bin, dass er diesen Trost und diese Furchtlosigkeit an mich richtet. Er hat mich im Wald gerettet, selbst wenn ich die Einzige war, die sich für verloren hielt. Und jetzt tut er es erneut, ohne dass wir auch nur unsere Namen kennen. Nimm einen Freund mit, sagt mir sein Ausdruck nun zum zweiten Mal. Der Mann mit dem Gewehr geht noch einen Schritt vor. Hebt das Gewehr über den Kopf, holt Luft und führt den Gewehrkolben geradewegs auf den Schädel des Reiseführers, so dass er halb zwischen seine Schultern sackt. Ich muss an dieses Jahrmarktspiel denken, bei dem man mit einem Hammer auf flauschige Stofftiere einhaut, sobald sie den Kopf aus ihrem Loch stecken. Doch das Geräusch, das der Mann mit seinem Schlag verursacht, erinnert mich an nichts, was ich je zuvor gehört habe. Eine Stimme ebenso sehr wie 136
etwas anderes. Ein bestialisches Signal an sich selbst. Und eine Sekunde später öffnet sich die Schädeldecke des Reiseführers so sauber wie eine Falltür und ergießt ihr breiiges Blau und Gelb über seinen Rücken. Er fällt auseinander. In der Zeit eines Kamerablitzlichts verwandelt sich der Reiseführer von einem Menschen in einen Haufen unförmigen Abfall, der aus einer billigen Plastiktüte quillt und nur noch danach verlangt, weggeräumt zu werden. Doch der Mann mit dem Gewehr ist nicht zimperlich. Er macht sich nicht einmal die Mühe, hinter die Bar zu spähen. Dreht sich einfach um und folgt der glitschigen Spur des Reiseführers, die Leiter hinunter. Schon komisch: Erst nachdem er weg ist, kehrt das Entsetzen zurück. Es bringt mich auf die Beine, lässt meine Finger den Verschluss des Fensters über dem Tisch umkrallen. Als es aufgeht, schiebe ich den Kopf ins Freie hinaus. Die Luft ist dort um ein, zwei Grad kühler und führt nur einen Hauch des süßlichen Geruchs vom Körperinneren des Reiseführers mit sich, der die Kombüse hinter mir bereits erfüllt. Einen Moment lang sieht es so aus, als müsste ich nun so verharren, eingekeilt wie Pu der Bär auf der Suche nach dem Honig. Aber dann ist das Fenster doch gerade groß genug, dass ich hindurchpasse, wenn auch so klein, dass ich mich zwängen muss. Als ich vom Boot falle, schaue ich mit dem Gesicht nach oben, direkt auf die schwarze Tafel des Nachthimmels. Andere Träume enden so, nicht wahr? Die furchtbaren, in denen der einzige Ausweg darin besteht, von der Felswand oder dem Mauervorsprung am Gebäude zu springen. Doch man muss daran denken aufzuwachen, bevor man unten aufschlägt, sonst ist man tot. Das ist eine feste Regel. Zu diesem Zweck versuche ich zu schreien, doch ich habe vergessen, wie es geht. Und es bleibt auch gar keine Zeit. Ich bin bereits unten. Der feuchte Grund des Flusses dringt in meine Lungen. 137
Das Wasser ist kälter, als man es in einem Urwald erwarten würde. Sein unerwartetes Gewicht schwer wie Zement. Es bedarf dreier voller Armzüge – wie weit nach unten bin ich gesunken? –, um wieder an die Luft zu kommen. Und mich dort zu halten, nachdem ich durch die Wasserdecke gebrochen bin, erfordert ein panisches Fahrradfahren unter der Oberfläche. Ich bin keine gute Schwimmerin. Ganz und gar nicht. Das fällt mir jetzt wieder ein. Nichts zu sehen außer der Presidente Figueiredo, die fett und mit Lichtern gespickt daliegt, gerade mal drei Hundepaddelminuten weit weg. Möglicherweise nun noch mehr Gestalten, die sich auf Deck bewegen. Doch es ist nur eine bemalte Bühnenkulisse, zweidimensional. Selbst wenn ich sie erreichte, würde sie mich nicht einlassen. Trotzdem zapple ich gegen die Strömung an. Schaffe es zu meiner eigenen Überraschung bis zum Ende des Schiffsrumpfs der Ana Cassia. Dahinter ist nur noch mehr Fluss. Und die hungrigen Dinge, die darin leben. Auf dem Boot sind Leute, die meine Freunde sein könnten. Und Männer mit Gewehren. Teufel oder Beelzebub … Ich blicke zum Deck hinauf, und dort steht einer der bewaffneten Männer und beobachtet meine Flucht. Er scheint überhaupt nicht beunruhigt zu sein. Wahrscheinlich hat er mir schon die ganze Zeit zugesehen, wie ich um mich schlagend am Schiffsrumpf entlangruderte. Anscheinend hat er genauso viel Vertrauen in meine Fähigkeiten wie ich selbst. »Hilfe!«, rufe ich zu ihm hinauf, noch bevor ich eigentlich weiß, dass ich es tue. »Bitte! Per favor!« Und mit diesen Worten gehe ich unter. Ich habe bereits einen guten Teil des Rio Negro ausgehustet, seit ich zum ersten Mal aufgetaucht bin, um nach Luft zu schnappen, doch jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als alles wieder einzusaugen. Das Wasser schlägt über meinen Augen zusammen, und durch den Schleier sehe ich, wie der Mann 138
einen Stock mit einem Haken daran ins Wasser senkt, mit dem Americo immer das Motorboot heranzieht. Ich strecke die Arme danach aus. Doch da ich sie nun nicht mehr zum Schwimmen verwende, sinke ich nur noch einen halben Meter tiefer hinunter, und der Stock ist wieder außer Reichweite. Ich befehle mir, es noch einmal zu versuchen, doch es ist keine Kraft mehr da. Nach unten. Ein Klumpen fauliges Rindfleisch für die kleinen Fische mit all den scharfen Zähnen. Dann bohrt sich der Haken in meinen Rücken. Ich werde hochgezogen in die Luft, die jetzt kühl und träge wie das Wasser ist. Schlage nach der Stange, um etwas Gewicht von der Stelle zu nehmen, wo der Haken sich in den Muskel über meinem rechten Schulterblatt gebohrt hat. Das Kratzen von Metall auf Knochen. Bei dem Geräusch fällt mir wieder ein, wie man schreit. »¡Cállate!«, befiehlt mir der Mann, während er mich über die Reling zieht, und ich schaffe es, den Laut zurückzuhalten, bevor er mir über die Lippen kommt. Nicht sein Befehl bewirkt das, sondern der Anblick seines Gesichts. Zugleich konkret und unwirklich wie diese Scherzartikelmasken von Ex-Präsidenten. »Soy uno de ellos«, sage ich ihm auf Spanisch, das ich gar nicht richtig beherrsche. Trotzdem habe ich im Laufe der Zeit genug davon aufgeschnappt, um darum bitten zu können, nicht umgebracht zu werden. Obwohl dies nicht meine exakten Worte sind. Ich sage ihm, wer ich bin. »Soy uno de ellos«, sage ich erneut. Ich bin eine von ihnen. Er ignoriert mich, wie ich es nicht anders erwartet habe. Geht um mich herum, um mir den Haken aus dem Rücken zu ziehen. Ich weiß, dass er das tut (ich kann es hören, das dumpfe Kratzen, wie wenn man ein Messer unter einer Bettdecke wetzt), doch es fühlt sich an, als ob er stattdessen etwas anderes hineinsteckt. Eine Faust voll zorniger Hornissen. Nebst der Mün139
dung seines Gewehrs, mit dem er mich nun das Deck entlang zum hinteren Ende des Boots schiebt. Die Gewehrmündung führt mich zum Hypothesys-Team. Sie sitzen an Deck mit dem Rücken gegen die Reling gelehnt und Reissäcken über dem Kopf. Es ist nicht lustig – natürlich ist es nicht lustig –, und doch ist irgendetwas Komisches an dieser Pose. Wie sie dasitzen, die haarigen Beine vor sich ausgestreckt wie Triebe von aus dem Erdreich gerissenen Knollen und jeder Kopf unter einem übergestülpten Sack. Sie könnten vier zum Siegerfoto aufgereihte prämierte Kartoffeln sein. Ich erschrecke mich selbst mit einem Kichern. Und nicht etwa einem vereinsamten Hickser, sondern einem dieser beinahe schmerzhaften Anfälle – hihi! hihi! hihi! –, der wie eine Perlenkette herausrutscht. Es ist wahrscheinlich nur der Schock. Das sage ich mir, noch während es passiert. Dass dieses Lachen nicht das ist, wonach es klingt, dass diese fröhlichen Spielplatzlaute anstelle eines Schreis herauskommen. Wer weiß, vielleicht ist es ja wirklich zum Lachen. Sieh sie dir bloß an. Und mich. Diese lächerlichen Männer mit ihren Gewehren. Peng, peng! Das ist doch irgendwie zum Lachen, oder? Nein, ist es nicht. Die Art, wie Lydias Beine zucken, als sie meine Stimme hört, sagt es mir. Sie weiß, dass ich hier stehe, noch ohne Kapuze, noch nicht gefesselt. Sie bittet um Hilfe, und ich kann nichts tun, außer dieses schreckliche Lachen auszustoßen, den einsamsten Laut, den ich je gehört habe. Doch bei dem, was als Nächstes passiert, bleibt mir das Lachen ein für allemal in der Kehle stecken. Die Mündung in meinem Rücken schiebt mich von den Reissäcken weg zum vorderen Ende des Boots. Wo ist jetzt das Kreuz des Südens? Die Nacht ist wolkenlos und sternlos zugleich, so dass selbst der Himmel kahl rasiert ist, jeglichen Lebens beraubt. 140
Vor dem offenen Türrahmen zu der kleinen Brücke packt mich der Mann an der Schulter. Zieht mich so dicht an sich, dass ich nur noch den Stoff seiner Kleider einatmen kann, die nach saurer Milch stinken. Jetzt können wir uns beide umdrehen und hineinblicken, was zunächst nur der Mann tut, bis er schließlich mein Kinn herumreißt, damit ich dasselbe tue. Und da ist die Zigarette des Kapitäns in der Tasse, von der die letzten Rauchkringel zur Windschutzscheibe aufsteigen. »¡Mira!«, sagt er und zieht mein Kinn nach unten. Das ist es, was ich sehen soll. Americo und Maria, die zusammen auf dem Boden neben dem Stuhl des Kapitäns liegen. Sie halten einander fest. Americo spricht flüsternd auf Maria ein, die schluchzt, ohne einen Laut von sich zu geben. Selbst jetzt ist ihr Gesicht weggedreht, so dass man unmöglich sagen kann, wie sie aussieht. Doch ich glaube, dass sie hübsch ist. Und Americo ist stark. Selbst wie er so in einer Ecke kauert, kann ich sehen, dass er ein Mann mit Kraft und Muskeln ist, jetzt ganz um Maria geschlungen, als wolle er alles mit seinem eigenen Körper abfangen, was nun kommen wird. Der Mann hebt sein Gewehr und zielt auf sie. Man hätte hier eine Pause erwarten können. Doch er schießt einfach. Es ist eins von diesen Gewehren, bei denen man schießen kann, ohne neu laden oder den Hahn spannen zu müssen oder was man eben mit anderen Gewehren so machen muss, so dass er feuert und feuert. Die Wucht der Schüsse lässt ihre verschlungenen Körper in einem zuckenden Tanz umherhüpfen, die stoßenden, schlangelnden Bewegungen eines hastigen Liebesakts. Es scheint eine Ewigkeit so zu gehen. Zur Unterhaltung des Kerls mit dem Gewehr, schätze ich, obwohl sein Gesicht, jetzt genau wie vorher, als es vor meiner Kajütentür schwebte, völlig ausdruckslos ist. Vielleicht macht er es nur, um sicherzugehen, dass der Job ordentlich erledigt ist. Wie das immer so ist 141
mit Kugeln und unerklärlichen Glücksfällen – man kann nicht sorgfältig genug sein. Er schießt und schießt. Doch Americo und Maria lassen nicht voneinander. Seine großen Hände halten jetzt ihren Kopf, als wolle er ihre Ohren vor dem Lärm schützen. Als der Mann mit dem Gewehr schließlich fertig ist, stößt er einen müden Seufzer aus. Etwa so, als wäre er gerade mit dem Abwasch fertig geworden. Ein Seufzer, der abrupt abbricht, als Americo sich aufsetzt. Und irgendwie auf uns zukommt. Seine gewaltigen Schultern nach vorn wirft, erst die eine, dann die andere, und seine Beine faltet, als versuche er aufzustehen. Er tut all das wortlos, während sein Blick den Mann mit dem Gewehr fixiert. Es dauert einige Sekunden. Und während dieses Kampfes ist nur das stetige, keuchende Ein und Aus seines Atems zu hören. Ein Arbeitspferd, das unter der Mittagssonne schäumt. Das Grinsen, von dem ich dachte, dass es für alle Ewigkeit dort sei, ist jetzt weg. Kein Anzeichen mehr, dass es je da war; die Haut drumherum durchzogen von blauen Furchen, als wäre eine Schicht Theaterschminke plötzlich rissig geworden. Sein Mund kommt immer näher, während sein Körper bereits zum Stillstand gekommen ist. Als ich hineinblicke, ist da nur ein zorniges Schlucken. Ein Hunger, der den Mann mit dem Gewehr, mich, das Boot verschlingen wird. Den ganzen Fluss, ein Strom in seiner Brust. Doch bevor es dazu kommen kann, trifft sein Mund auf die Mündung des Gewehrs. So weit nach hinten geschoben, dass sie mit einem Ruck gegen seinen Rachen stößt. Er ist jetzt auf den Knien, das Blut eine rinnende Schürze um seine Rippen. Schließt die Lippen um den Gewehrlauf, ohne auch nur einen Moment den Blick von dem Mann mit dem Gewehr zu wenden. Um was zu sagen? Nichts, was ich übersetzen könnte. Da ist nichts in seinen Augen außer diesem Hunger, der zurück bis an 142
seine Anfänge reicht und nach vorn bis an unser Ende, fort und fort.
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Zwölf Stunden oder mehr den Fluss hinauf, immer noch mit den zugeschnürten Reissäcken über dem Kopf. Unsere Hände auf dem Rücken festgebunden, so straff, dass sie wie Boxhandschuhe anschwellen. Kein Wasser, keine Nahrung. Regelmäßige Stöße mit einem Gewehrlauf in die Rippen, um uns am Schlafen zu hindern. Nicht dass wir das könnten, um Luft ringend durch unsere Panik hindurch, durch den stinkenden Stoff, die Galle, die uns die Kehle hochsteigt und in die verkehrte Richtung zurückgedrängt wird. Irgendjemand heult die ganze Zeit. Vielleicht sind es wir alle, abwechselnd. Es treibt die Männer dazu, uns anzuschreien und uns mit dem Stiefelabsatz auf die Kniescheibe zu treten. Doch nichts kann es unterbinden. Als das motorisierte Kanu, in dem sie uns fortschaffen, schließlich knirschend auf einen Strand aufläuft, sind wir so schwach, dass sie uns an dem Strick um unseren Hals über die Seitenwand zerren müssen. Uns auf einem Feld aus Steinen liegen und in der Hitze schmoren lassen. Zuerst einmal rauchen. So dicht neben unsere Köpfe pissen, dass die Spritzer feucht durch die Säcke dringen. Dann debattieren sie darüber, wer von ihnen uns in den Urwald schleppen muss. Ein Wettkampf entscheidet die Angelegenheit: Wer den alten Mann mit Tritten in die Rippen am lautesten zum Schreien bringt, muss nur sein eigenes Bündel tragen. Nachdem jeder von ihnen an die Reihe kam, legen sie sich unsere immer noch gefesselten Arme wie eine Schlaufe über die Schultern. Das Weinen weicht sich überlagernden Schmerzensschreien. Wir werden bergauf geschleppt. In unregelmäßigen Rucken, 144
die jedes Mal von einem Gewichtheberstöhnen begleitet werden, wenn sich die Männer einen halben Schritt vorwärts kämpfen. Unsere Wangen prallen gegen ihre glitschigen Rükken. Selbst durch den Stoff hindurch können wir ihren Schweiß riechen, feuchtwarm und süßlich. Mehrmals werden wir einfach ohne Vorwarnung auf den Boden geworfen, damit die Männer sich ausruhen können. Und kommen verkrümmt auf den messerscharfen Enden von Zweigen, auf beißenden Blättern zu liegen. Fliegen finden den Weg unter unsere Kapuzen und mästen sich an der Melasse, die aus unseren Nasen blutet. Als die Männer endgültig anhalten, sind wir in einem kleinen Camp gelandet, jedenfalls dem Geruch und den Geräuschen nach zu urteilen (das versengte Kirschholz eines ausgelöschten Feuers, der Reißverschluss und das Zurückschlagen der Stoffbahn eines Zelteingangs). Es muss über eine Stunde gedauert haben, hierher zu kommen, doch es ist gut möglich, dass wir uns dabei nur ein paar hundert Schritte vom Wasser entfernt haben. Zwei von ihnen streiten sich, was schlimmer war: die fette Frau zu tragen, die einfach nicht aufhörte zu flennen, oder den alten Mann, der sich in die Hose geschissen hat. Sobald wir versuchen, uns aufzurichten, folgen Tritte gegen den Kopf. Anschwellende Spiralen von Gelächter. Als sie genug davon haben, werfen sie uns in ein Loch. Eine zylindrische Erdgrube aus weicher Fäulnis, kitzelnden Wurzeln, Kolonnen knolliger Feuerameisen, die zur Oberfläche hinaufmarschieren und uns auf ihrem Weg dahin Fetzen aus Nacken und Rücken beißen. Der Boden zerfällt unter der Berührung unserer Finger. Jede unserer Bewegungen setzt eine neue Wolke von Blähungen aus dem Erdreich frei. Die ranzigen Schwaden, die aus einem seit langem ausgeschalteten Kühlschrank dringen. Der säuerliche Gestank feuchter Asche. Wir richten uns so gut es irgend geht ein, sagen einander, wo unsere Gliedmaßen sind, um zu verhindern, dass wir sie uns 145
versehentlich unter unserem eigenen Gewicht brechen. Ein Gatter aus Holzplanken wird über unseren Köpfen zugeschlagen. Sie lassen uns eingekeilt wie Bleistifte in einem Becher stehen. Meine Augen sind geöffnet, doch ich kann nichts sehen. Nicht nur Ich kann nichts erkennen, sondern völlige Blindheit. Sie haben die Säcke über unseren Köpfen gelassen, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Ich kann die Dunkelheit mit meinen Fingerspitzen fühlen, sie als süßlichen Moschus einatmen. Mit etwas Aufmerksamkeit ist es sogar möglich, die verschiedenen Geruchsadern darin zu isolieren: das scharfe Ammoniak von Urin, fermentierter Reis im Stoff der Säcke, die Duftwölkchen von Babywindeln aus unseren eigenen Kleidern. Besser ist es, sich auf den Durst zu konzentrieren, der in unseren Kehlen brennt, obgleich dies das Atmen noch schwerer macht. Und jetzt steht auch die Sonne am Himmel – wir spüren ihre heißen Tentakeln, wo sie durch das Gatter zu uns herunterreichen. Sie verwandelt die Luft unter unseren Kapuzen in faulige Suppe. Dann ist da auch noch die wechselnde Natur des Schmerzes, über die man nachdenken kann. Das Loch in meiner Schulter, das sich anfühlt, als stecke immer noch der Bootshaken darin, Muskel vom Knochen trennend. Und dazu die Hitze in meiner Brust, die giftige Pfefferminzrülpser aufsteigen lässt wie schal gewordene Mentholzigaretten. So, stelle ich mir vor, müssen innere Blutungen schmecken. Wir reden, so gut wir können. Wörter, die, kaum ausgesprochen, davonhuschen wie die winzigen Krabben, die im Sand um unsere Füße ihre Furchen ziehen. Das Erste, wonach wir fragen, ist, ob alle von uns hier sind. Dann berichten wir uns gegenseitig über unsere Verletzungen. Schließlich erzählen wir einander, wie wir bereits geschrumpft sind. »Entmaterialisiert«, so beschreibt es Bates. Ein unerwarteter Begriff, doch ziemlich treffend. Selbst in der 146
Dunkelheit kann ich sehen, wie die Puzzleteile der Bilder meiner vier Freunde ganz allmählich das Gewicht und die Farben verlieren, die ihnen Wirklichkeit verleihen. Bald wird nichts mehr von uns übrig sein, nicht einmal unsere Knochen. Unser Reiseführer hatte Recht. Der Boden hier hasst jegliche Geschichte, die nicht seine eigene ist. Wir reden, doch es ist nie klar, wer vielleicht gerade zuhört. Schlaf überkommt uns wie Ohnmachtsanfälle, plötzlich und vollkommen. Ich versuche mich auf den Schmerz zu konzentrieren, um wach zu bleiben. Um nicht allein zu sein. Ihre Worte rufen mir in Erinnerung, dass wir noch menschlich sind. Barry ist der Erste. Wir hören, wie das Gatter über unseren Köpfen aufgezogen wird, und die Sonne drischt herunter. Selbst unter den Kapuzen ist das Licht grell – die Vorstellung von Licht, die sich zwischen dem Gewebe hindurcharbeitet. Von oben tippen sie jedem von uns mit der Stiefelspitze gegen die Brust und lachen. Raten, wer wohl wer ist. »¿Es una panocha o un culo?« »¡Cogela primero – pregunta después!« Ist das eine Fotze oder ein Arschloch? Erst ficken – dann fragen! Wir sind so dicht aneinander gepresst, dass wir Barry eine volle Sekunde lang schreien hören, bevor wir kapieren, dass sie ihn hochziehen. »Wallace! Was machen die? Wallace!« »Keine Angst, Bär! Halt einfach durch, Mann!« »Nein! Was habt ihr –?« Barrys Stimme bricht ab, als einer der Männer an dem Strick um seinen Hals zieht. Sie ziehen ihn so hoch, dass seine baumelnden Füße gegen unsere Köpfe schlagen. Man hört das Malmen seiner Kiefer, als er versucht, sie nach unten zu pres147
sen, um Luft zu holen. Im nächsten Augenblick ist er weg. »Crossman! Was haben die vor?« Es ist Wallace. »Ich weiß nicht. Ich –« »Aber du verstehst doch, was sie sagen?« »Sie sprechen spanisch, nicht portugiesisch. Meine Kenntnisse –« »Du verstehst auf jeden Fall mehr als wir.« »Ich schätze, dass –« »Was machen die mit ihm?« »Sie haben nichts –« Jetzt ist es mein Schrei, der alles unterbricht. Sie ziehen mich genauso wie Barry hoch, mit dem Strick als Schlinge, die sich um meinen Hals zuzieht. Eine schreckliche Stille in meinem Kopf. Jede Blutbahn und jeder Atemweg mit einem Schlag abgeschnitten. Und dann wieder geöffnet, als sie mir die Kapuze abnehmen. So viel ungedämpftes Licht, dass es zuallererst ein einziges Nichts ist – Weiß auf Weiß. Nach einem Augenblick jedoch tauchen Ansätze von Einzelheiten daraus auf. Der Urwald ringsum. Ein Leib aus winkenden Gliedmaßen. Und davor Barry auf den Knien. Sie ziehen seine Kapuze herunter, und das Sonnenlicht schließt seine Augenlider, bis er sie mit Gewalt wieder öffnet. Er sieht ein in Schlaufen gelegtes Seil vor sich, das hinauf in einen Baum führt, und drei Männer mit Gewehren, die mit einem vagen Grinsen um ihn herumstehen, als wäre das, was nun folgt, nicht mehr als eine kleine Mutprobe unter Jugendlichen. Barry brüllt, bis ihm die Luft ausgeht. Und als er erneut ansetzen will, hebt einer der Männer sein Gewehr und rammt ihm den Kolben zwischen die Beine. Barry kullert in das hohe Gras neben der Feuerstelle und krümmt sich zu einem festen Komma. Der Mann mit dem Gewehr beugt sich jetzt zu ihm hinunter. Zwei kräftige Rucke an Barrys Armen genügen, um seine zusammengekauerte Haltung 148
aufzubrechen. Dann umfasst der Mann mit einer Hand fachmännisch seine beiden Handgelenke auf dem Rücken und schwingt das Seil, das auf dem Boden lag, aufschneiderisch wie ein Lasso, als wolle er ein Kalb damit vertäuen. Nachdem er das Seil um Barrys Handgelenke geschnürt hat, zieht er ein Stück Zwirn aus der Tasche und bindet auch Barrys Fußgelenke zusammen. Als er fertig ist, tritt er einen Schritt zurück und wischt sich den Schweiß von den Nasenflügeln. »¡Ahora!«, ruft er den anderen Männern zu, die nun an dem Ende des Seils zu ziehen beginnen, das über einem Ast hängt. Zuerst heben sich Barrys Hände, dann seine Arme, sein Rükken, seine zuckenden Beine aus dem Gras in die Höhe. Der Baum ächzt unter der Last. Fetzen von Rinde finden den Weg in unsere Augen, auf unsere Zungen. Der Ast biegt sich tief hinunter, ist jedoch zu elastisch, als dass er brechen könnte. Nach einem Dutzend Zügen hängt Barry vollständig in der Luft, die Arme auf dem Rücken nach oben gestreckt, so dass das ganze Gewicht an seinen Handgelenken hängt. Dann binden die Männer das Ende des Seils um einen Baumstamm und setzen sich, um in dem schilfigen Gras, das Barry platt gedrückt hat, Zigaretten zu rauchen. Ich kann nirgends hinsehen. Ganz bestimmt nicht zu Barry hinauf, der über mir jetzt wie ein Lamm blökt. Doch etwas sagt mir, dass es nur noch schlimmer wird, wenn ich die Augen schließe. Ich richte den Blick fest auf die Männer. Versuche mir ihre Gesichter in allen Einzelheiten einzuprägen, so dass ich sie in einer Schlange von Menschen sofort identifizieren könnte. Doch selbst während ich sie ansehe, verschwimmen ihre Gesichter ineinander, tauschen gebrochene Nasenbeine gegen pockennarbige Wangen und schwarze Zähne. Es ist, als ob mein Verstand sie nur als Männer aufnehmen kann, als eine Summe austauschbarer Merkmale. Vielleicht sieht man das immer in den Gesichtern derer, die zu solchen Dingen fähig 149
sind. Das regelmäßige Ausüben von Grausamkeiten hat sie unspezifisch gemacht, hat eine Maske der Gewalt auf ihre Gesichter geschweißt. Sie merken, dass ich sie ansehe, und deuten mit den Daumen zu Barry hoch. Als ich nicht gleich hinaufblicke, hält mir einer von ihnen das Gewehr an den Kopf. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass Barrys Körper nicht diese Form haben sollte, die er hat. Die Arme schräg nach oben abstehend wie Hühnerflügel, während sein restlicher Körper, übergroß, nutzlos, in einer Diagonale darunter hängt. Es ist das Unnatürliche, was es so schwer macht, ihn anzusehen, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Barry ist da oben. Der lustige, attraktive, alterslose Barry. Ein Südstaatler. Ein guter Kerl, so wie ich ihn kenne. Doch jetzt weicht das Geräusch, das er bisher gemacht hat, etwas Panischerem, einem tierähnlichen Wimmern. Er hängt erst ein paar Minuten da oben, doch schon verlässt ihn die Sprache. Er besteht nur noch aus Qual. Und sie zehrt an dem, was ihn noch irgendwie ausmacht. Vor allem an seinem Gesicht. Seine Wangen so aufgeblasen, als hätte er Steine darin. »Sag’s ihnen, Crossman«, stößt er schließlich hervor. Seine sonst volle Stimme verwandelt in ein heliumartiges Quieken, infolge des ganzen Drucks, der auf seinem Kopf lastet, der seine Lippen, seine Zunge aufbläht. »Herrgott, sag ihnen, dass ich nichts weiß!« Ich sage es ihnen. Ich bitte sie, ihn gehen zu lassen, er ist nur ein amerikanischer Geschäftsmann, der ihnen alles verraten würde, was sie wissen wollen. Doch es ist schwer zu sagen, wie viel sie verstehen. Auf Knien, mit vor Tränen glasigen Augen, lausche ich, wie meine Stimme zwischen Spanisch und Portugiesisch, Portugiesisch und Englisch hin und her springt. Bald übertönt nur noch mein Rufen Barrys röchelnde Geräusche. Falls sie meine Botschaft verstehen, ziehen sie es vor, sie zu 150
ignorieren. Schnippen ihre Zigaretten weg und stehen auf, werfen spielerisch die Gewehre hoch. Einen Moment lang bin ich mir sicher, sie werden jetzt reihum mit ihren Waffen auf ihn einschlagen, bis sie ihn aufreißen. Doch stattdessen schubsen sie Barry nur mit den Gewehrmündungen an, so dass sich das Seil noch fester zudreht. Die bucklige Linie des Seils hebt ihn noch einen Fuß höher. Als die ganze Länge des Seils eingedreht ist, brechen seine Handgelenke. Er hängt einen Moment reglos, dann beginnt er herabzusinken. Sein Körper jetzt von den Handgelenken getrennt durch zehn Zentimeter Haut, die eben noch nicht da waren. Dann fängt er an, sich in die Gegenrichtung zu drehen wie ein verheddertes Jojo. »Bitte, bitte, bitte«, kreischt Barry, wieder und wieder, so dass ich es jedes Mal höre, wenn sein Gesicht zu mir her schaut. Sein Flehen nicht minder an mich gerichtet als an die Männer. Das eine Gesicht, das er kennt, inmitten des Kreisels aus Rauch und dem wirbelnden Grün des Urwalds. Im Loch unten versuche ich im Kopf zu zählen, um die Zeit zu messen. Doch es funktioniert so wenig wie Schäfchenzählen als Einschlafhilfe. Es geht nur immer weiter, produziert Zahlen über Zahlen, und irgendwann verzählt man sich. Muss wieder von vorn anfangen. Aber wo fängt man jetzt an? Was ist jetzt? Unser Hunger ist das unzuverlässigste Messinstrument von allen. Die Männer geben uns nur einmal am Tag etwas zu essen, oder dem, was sich da unten wie ein Tag anfühlt. Holen uns dazu einzeln herauf und lassen uns vor ihnen knien, so dass wir uns fragen, ob sie diesmal nicht einfach eine Pistole heben und eine Kugel mitten in den Reissack jagen. Stattdessen ziehen sie ihn herunter, so dass wir zusehen können, wie einer von ihnen einen einzigen Esslöffel gekochten Reis in eine Kaffeetasse gibt, ihn mit einem Spritzer aus ihren Wasserflaschen befeuchtet. Sie holen Klumpen davon mit den Fingerspitzen heraus und schieben sie uns zwischen die Lippen. Wenn wir 151
um mehr bitten, füllen sie die Tasse mit Reis, halten sie uns unter die Nase und kippen sie dann auf die sandige Erde, wo sogleich Wolken von Fliegen darüber herfallen. Hunger ist nicht einfach Leere. Ich hatte ihn mir eigentlich immer in dieser Form vorgestellt und war dabei von dem Gefühl eines knurrenden Magens nach einem verpassten Mittagoder späten Abendessen ausgegangen. Doch richtiger Hunger heißt, unerträglich voll zu sein. Nicht voller Nahrung, sondern voller Dämpfe, die sich im Inneren bilden. Und wenn die Eingeweide schließlich nach außen geschoben werden, wie es irgendwann passiert, fangen die Dämpfe Feuer. Der Schmerz von den Dingen, die die Männer uns zufügen, ist wieder anders. Er hat Charakter. Jedes Pochen des Schmerzes entspricht einem Herzschlag, der schneller wird, wenn das Gitter aufgeht und jemand anders herausgezogen wird, und langsamer, wenn die Erschöpfung droht, ihn auf nahezu nichts absinken zu lassen. Jede einzelne Pein, jede empfindliche Stelle, sie alle melden sich im Chor, jedoch immer noch unterscheidbar. Seit einer Weile sind es jetzt meine Rippen. Das da gleich unter meiner Lunge ist ein kalkiges Kratzen. Und dann ist da noch der Schmerz, der unter meiner Schulter kreist, wo ich an dem Haken aus dem Fluss gezogen wurde – der ist ein ständiges Nagen. Mit der Zeit werden sie einem alle ganz vertraut. Ich könnte ihnen Namen geben. Die Piraten haben sich für jeden von uns etwas Besonderes ausgedacht. Ich erfahre das als Erste, da sie mich jedes Mal mit nach oben holen. Dem Anschein nach, um zu übersetzen. Doch dann wollen sie nur, dass ich zusehe. Als sie Barry nach dem ersten Mal wieder ins Loch verfrachteten, fragten wir uns noch, ob sie nur von ihm allein etwas wollten. Er war ein Mann, der älteste – vielleicht nahmen sie an, dass er der Boss war und ihnen schneller als jeder andere 152
geben konnte, wonach sie suchten. Doch Barry konnte ihnen nichts geben und sie hatten nach nichts gefragt. Nach und nach holen sie dann auch die anderen. Obwohl wir nie erwartet hätten, dass es schon so bald passieren würde. Und sie sich Lydia als Nächste aussuchen. Sie ziehen sie hoch wie zuvor Barry, doch sträubt sie sich nicht wie er. Und schreit auch nicht um Hilfe. Wir spüren, wie sie sich ganz steif macht, versucht, so wenig Platz wie nur möglich einzunehmen, zu verschwinden. Dann ziehen sie mich mit herauf und lassen das Gitter hinter uns zukrachen. Sie ziehen Lydia die Schuhe und die Kapuze aus. Diesmal lachen sie nicht. Stehen nur um ihren starren Körper herum, mit gebannten, unbeweglichen Gesichtern. Die Blässe ihrer Haut macht uns staunen. Wir wissen, dass sie unter ihrem TShirt und den Shorts noch weißer ist. Ich kann nichts tun, um sie von dem abzuhalten, was ich erwarte, doch ich bereite mich trotzdem darauf vor. Sie zu bitten, es nicht zu tun. Sie zu bitten, sie nicht zu vergewaltigen, da sie schwanger ist. Sie werden das natürlich nicht glauben wollen. Sie mag ja etwas fett sein, werden sie sagen, aber das heißt noch nicht, dass sie ein Kind bekommt. Ich werde nach dem geeigneten Ton suchen, um ihnen zu versichern, dass sie es doch ist. Und dann verstehen bestimmt sogar sie, dass darin ein besonderes Unrecht läge? Im Augenblick starren sie nur auf die Haut, die sie schon vor sich haben. Ich riskiere ein paar Blicke in ihre Gesichter und finde nur Härte darin. Ein verblüfftes Staunen. Nicht einmal Worte werden zwischen ihnen gewechselt. Ihre Lippen sind geschürzt beim Anblick des dargebotenen Fleisches, als ob sie es später kosten dürften. Schließlich befiehlt der, der Lydia am nächsten steht, dass jemand ihr die Arme auf den Rücken hält und jemand anders sich auf ihre Oberschenkel setzt, um ihre Beine festzuhalten. Dann geht er zum Waldrand, fünfzehn Meter weit weg, und 153
schneidet mit einem Bowiemesser eine lange Rute von einem jungen Baum. Hackt die kleineren Zweige davon ab. Führt ihre Elastizität vor, indem er sie, auf ein imaginäres Ziel gerichtet, durch die Luft schnellen lässt. Lydia verdreht die Augen zu mir her und ich forme mit den Lippen die Wörter Sieh nicht hin. Jetzt springt der mit der Rute mit einstudiertem Elan los und holt dabei mit dem Arm aus wie ein Werfer beim Cricket. Kommt vor ihr zum Stehen und führt die Rute nach unten. Schlägt mit der Spitze quer über Lydias Fußsohle. Sofort erscheint eine Linie aus Blut, scharf wie mit einer Rasierklinge gezeichnet. Drei weitere Hiebe, und auf ihrer Ferse prangt ein bluttropfender Stern. Lydia hält die ganze Zeit die Augen geschlossen. Doch obwohl die Männer ihre Arme festhalten und auf ihren Beinen sitzen, bäumt sie sich so heftig auf, dass die Männer abgeworfen werden. Die Peitsche schneidet dasselbe Muster in die Haut der anderen Fußsohle. Als der Mann fertig ist, fasst er sich ans Kinn und begutachtet sein Werk. Und den Rest von ihr. Was ihre Haut zu bieten hat. »¿Nadje se la quiere echar?«, fragt er die anderen. Will sie jemand? Sie überlegen eine Weile. Zweimal bin ich kurz davor, etwas zu sagen, und zweimal halte ich mich im letzten Augenblick zurück. Jegliche Unterbrechung des Schweigens könnte schlimmer sein, als es seinen Lauf nehmen zu lassen. Nachdem über eine Minute ohne Antwort verstrichen ist, steckt der Mann mit der Rute Lydias Kopf wieder in den Sack und weist die anderen mit einem Wink an, sie wieder in das Loch zu bringen. Erst als sie wieder bei den anderen ist, erlaubt sie sich zu weinen. Vergräbt die Füße bis zu den Knöcheln in der Erde, um sie zu kühlen. Fragt nach jedem Einzelnen von uns mit 154
Namen, und wir sagen ihr, dass es okay ist, dass wir noch da sind. Wir werden nirgends ohne sie hingehen. Bates als Nächster. Die Methode für ihn: verbrennen. Zigaretten, die auf seine Unterarme gedrückt werden. Seine Wangen. Dann, aus Enttäuschung, weil er nicht schreien will, ziehen sie ihm die Shorts herunter. Einer von ihnen umfasst seine Hoden, rosarot und zusammengeschrumpft wie bei einem Neugeborenen. Küsst sie mit dem Ende seiner glimmenden Zigarre. Wallace ist der Einzige, bei dem sie mich nicht mit hochholen. Und als sie ihn wieder herunterlassen, ist er der Einzige, der uns nicht sagt, was sie mit ihm gemacht haben. Nach der ersten Runde fangen sie mit etwas Neuem an. Holen jedes Mal mehr als einen aus dem Loch. Und jetzt nehmen sie manchmal auch die anderen mit und lassen mich unten. Ich sage den Männern, dass die anderen kein Spanisch verstehen, dass es nichts bringt, sie etwas zu fragen, wenn ich nicht dabei bin, oder ihnen wehzutun, wenn sie nicht antworten. Die Männer verstehen mich sehr gut, dem kurzen Lacher nach zu urteilen, der als Entgegnung folgt. Doch sie holen sie trotzdem. »Wer ist da?«, frage ich in die Dunkelheit hinein, als sie das Tor zufallen lassen, und schwenke den Arm in der neu entstandenen Leere. »Ich bin hier.« Bates’ Stimme. »Bist du okay?« »Blöde Frage.« »Aber du hältst durch?« »Ich halte durch.« Lydias Schreie dringen zu uns herunter. »Wer sind die, Crossman?« »Ich weiß es nicht. Aber sie sprechen spanisch, sie haben je155
de Menge Gewehre, sie wissen sehr wohl, wie man Touristen entführt. Ich würde auf irgendwelche kolumbianischen Guerilleros tippen. Drogenfarmer. Dschungelbanditen. Die passen alle in diese Gegend.« »Aber wir sind in Brasilien.« »Wir haben uns die ganze Zeit der Grenze genähert. Ich habe gelesen, dass kolumbianische Paramilitärs nach Süden über die Grenze vordringen, um solche Sachen zu machen. Verdammt, ich weiß es nicht.« »Sag mir, was sie getan haben.« »Wir sind hier, reicht das nicht?« »Ich meine, auf dem Boot. Mit Maria und dem Kapitän und den anderen. Du bist die Einzige, die es gesehen haben könnte.« »Ich hab’s gesehen.« »Und, könnten die uns vielleicht –« »Nein. Sie sind tot.« »Wie?« »Sie haben uns voneinander getrennt. Sie wussten genau, wen sie wollten.« »Sie haben sie erschossen.« »Sie haben sie erschossen. Und mich dabei zusehen lassen.« »Genau wie jetzt.« »Genau wie jetzt.« Eine eigentümliche Stille füllt die Pause in unserem Gespräch. Lydia hat aufgehört zu schreien und oben regt sich nichts. Mehr noch, Bates scheint plötzlich nicht mehr zu atmen. Ich kann spüren, wie sich der Druck seines angehaltenen Atems aufbaut, als ob es mein eigener wäre. Doch als er die Luft schließlich ablässt und spricht, ist sein Ton neutral, ruhig. »Sie werden uns auch umbringen, nicht wahr, Crossman?« »Auf keinen Fall.« »Woher willst du das wissen?« »Sie haben es mir gesagt.« 156
»Dir gesagt?« »Ich habe sie direkt gefragt, und die Antwort war, dass sie auf solchen Ärger verzichten können. Sie werden nur so lange mit uns herummachen, bis sie kriegen, was sie wollen. Dann lassen sie uns gehen.« Bates zieht noch einmal scharf die Luft ein und hält alles Dunkle in sich fest, bevor er es wieder ausatmet. »Ich glaub dir kein Wort«, sagt er. »Aber danke für den Versuch.« Ich habe etwas vergessen, was mir schon ganz am Anfang aufgefallen ist. Bates ist ein cleverer Bursche. Mit Computern, ja, und Zahlen. Aber auch, wenn es um Menschen geht. »Wie hast du es gemerkt?« »Hier unten hört man mit der Zeit ziemlich viel aus einer Stimme heraus.« »Vielleicht kannst du es den anderen trotzdem sagen, Bates. Wenn sie zurückkommen. Vielleicht hilft es ihnen durchzuhalten.« Erneut kehrt Schweigen ein, und ich frage mich schon, ob Bates sich gerade überlegt, zu welchen Lügen ich sonst noch fähig bin. »Kann ich dich was fragen?«, hebe ich wieder an. »Sicher.« »Wie war es, ohne Familie aufzuwachsen? Nachdem deine Eltern gestorben sind, meine ich.« »Meine Eltern sind nicht gestorben.« »Auf dem Boot hat Wallace gesagt, dass du die echte Waise bist.« »Wallace sagt viel, wenn der Tag lang ist.« »Du meinst, er lügt.« »Ich meine nur, dass er von Natur aus mitfühlend ist. Manchmal denke ich, er lebt mein Leben besser, als ich es tue.« »Plätze tauschen.« 157
»Hattest du nie eine beste Freundin, Crossman?« »Klingt so, als ob ihr beide euch noch näher wärt als beste Freunde.« »Barry nennt uns die siamesischen Zwillinge.« »Für mich seid ihr eher ein altes verheiratetes Ehepaar als Zwillinge. Das jeden Trick voneinander kennt, aber auch nach all den Jahren noch ineinander verliebt ist, weißt du?« Bates erwidert nichts, doch ich spüre, dass nicht etwa Verärgerung ihn davon abhält, mich zu korrigieren. Er denkt gerade an etwas anderes. In dem Loch hier dürfen unsere Gedankengänge das: willkürlich ausschneiden und einfügen. Er erzählt mir von seinen Eltern. Die beide noch am Leben sind. Ein zweitrangiger kanadischer Diplomat und seine Frau, die Bates in den Zeiten bekamen, als junge Leute mit Uniabschluss sich noch auf Regierungskosten in ein sonniges, warmes Land fliegen lassen konnten, um dort den Einheimischen beim Graben eines Brunnenschachts oder dergleichen zu helfen. So tun konnten, als ob sie die Welt veränderten. So drückt es Bates jedenfalls aus. Das Problem war nur, dass sie vor lauter Beziehungenknüpfen mit Wildfremden auf der anderen Seite des Erdballs ihren eigenen Sohn zu Hause so gut wie vergaßen. Obwohl sie ihm ziemlich viele Fotos von sich ins Internat schickten. Bilder von Mom und Dad vor lodernden Sonnenuntergängen oder mit einem unterernährten Baby auf dem Arm. »Ich war ihnen ein Klotz am Bein«, sagt er. »Sie merkten, dass sie die tolle neue Stelle in Bali oder Scheißtimbuktu nicht kriegen würden, wenn sie ständig ein kränkliches Kind mit sich herumschleppen mussten.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es eben. Meine Mutter hat es an Weihnachten nach ein paar Manhattans immer ganz offen zugegeben. Sie hat neu geheiratet. Einen orthopädischen Chirurgen aus Halifax.« »Und dein Vater?« 158
»Ich habe seit drei Jahren nicht mit ihm gesprochen«, sagt Bates. »E-Mail ist ihm lieber.« Einige Zeit nach dem Jahr, in dem sie das Konsulat in Reykjavik geleitet hatten, trennten sich Bates’ Eltern. (»Die sechziger Jahre waren vorbei, und die siebziger eigentlich auch mehr oder weniger, und als sie einander anschauten, sahen sie nur noch, wie viel Zeit vergangen war.«) Heute ist sein Vater ein Althippie in den mittleren Jahren, der es verpasst hat, ein Hippie zu sein, als die Zeit dafür war, so dass der Pferdeschwanz und die weichen Drogen und die Räucherstäbchen für ihn etwas aufregend Neues sind. Der ist nicht einfach bloß »im Arsch«, der ist »komplett im Arsch«, was in Bates’ sorgfältiger Bewertungshierarchie einer unwiderruflichen Herabstufung gleichkommt. »Er hat sich einfach davongestohlen«, fährt Bates fort, und seine Stimme wird vor Zorn ganz leise. »Von Frau, Auslandsdienst und Sohn. Ist von Chivas auf Home Grown umgestiegen und nach Westen gezogen und hat sich eine Ernährungswissenschaftlerin namens Memory als Hausfreundin geangelt. Sie heißt wirklich so – ich hab mir ihre Geburtsurkunde zeigen lassen, als ich sie kennen lernte, und da stand es. Memory Pucinik.« Bates hat sie nur einmal besucht. Nie wieder. Die herablassenden Predigten über die Unmoral eines entfesselten Kapitalismus waren einfach zu viel. Die beknackte Freundin war zu viel. Die wuchernden Cannabis-Pflanzen hinten im Garten, das ganze Geschwafel von einer »Muse«, die er zufällig in Gestalt eines zwölfjährigen sudanesischen Mädchens gefunden hatte, das exaltierte Gelaber von spiritueller Wiedergeburt, das rechthaberische Vegetariertum – das alles war einfach zum Kotzen. »Glaubst du, dass dir daher die Idee zu Hypothesys kam?«, frage ich ihn. »Weil du mit angesehen hast, wie dein Vater all diese schlechten Entscheidungen traf?« »Ich weiß nicht, ob sie schlecht waren. Aber vielleicht hat er 159
mich dazu gebracht, mir zu überlegen, was für mich das Richtige ist. Es war Wallace, der sich das alles ausgedacht hat. Wir haben dauernd darüber geredet, wie sich perfekte Regeln für das Leben aufstellen ließen, wenn man über sein Leben völlig frei zu bestimmen hätte. Ohne Gott oder Gesetze oder Gewohnheiten. Am Ende habe ich dann Hypothesys erfunden.« »Und Wallace, was hat der erfunden?« »Der hat sich selbst erfunden.« Ich will gerade fragen, was das heißt, doch er erzählt bereits weiter, von dem Haus in Ottawa, wo er sechs Monate lebte, als sein Vater zwischen zwei Stellen in Übersee mal zu Hause war. Es war das einzige Mal, dass die ganze Familie in Kanada zusammenlebte. Er war noch ein Kind damals, neun oder zehn. Das Alter, in dem sich bestimmte Erinnerungen unauslöschlich ins Gedächtnis brennen. Zum Beispiel: Gegenüber vom Haus war ein leeres Grundstück, so dass er die rot-gelben viktorianischen Backsteinhäuser des nächsten Straßenzugs sehen konnte. Er stellte sie sich als eine Reihe von Gesichtern vor, puppenhaft und starr wie Schießbudenfiguren. Die Köpfe der Eltern, die die anderen Jungen in seiner Schule in den Wäldern immer besuchen kamen; eingemauert in Existenzen aus Fünf-UhrCocktails, langen Intervallen des Schweigens und Sonntagvormittagen, die auch bei klarstem Wetter nur trockene, presbyterianische Schatten warfen. So saß er auf dem Sims des großen, nach außen gewölbten Wohnzimmerfensters und hatte das Gefühl, dass sie ihn irgendwie beurteilten. Der letzte Sonnenstrahl auf den oberen Fenstern. Orange glimmende Wut in jedem einzelnen Auge. »Das Lustige daran ist: Das ist meine einzige richtige Erinnerung an ein Familienleben, und dabei ist meine Familie gar nicht mit im Bild«, sagt er und hält wieder die Luft an. Aber ist das wirklich er? Ein einsames Kind, das in Backstein-und-Glas-Fassaden Gesichter sieht? Es könnte wohl er sein. Alles andere kommt mir wie bloße Einzelheiten vor. 160
Selbst die wichtigen Dinge kommen mir wie bloße Einzelheiten vor. Eine lange Weile lasse ich ihn dort zurück. Wo er durch ein Fenster auf andere Fenster starrt. Aufs Abendessen wartet, darauf, dass ihm der Reissack heruntergezogen wird, darauf, dass jemand, den er lieben könnte, zur Haustür hereinkommt und es Zuhause nennt. Woher weiß ich, was sie denken? Ich weiß es gar nicht. Alle erzählen Dinge, doch ich höre besser zu als die anderen. Schon bald kommt es mir so vor, als ob sie nur zu mir sprechen. Ein Flüstern in dem fließenden Raum zwischen uns, ein Murmeln über das Gelächter der Männer hinweg, die das Gitter öffnen und von oben nach uns greifen. Ein erzählerisches Patchwork, das, wenn man es zusammenflickt, fast so etwas wie ein vollständiges Bewusstsein ergibt. Schließlich ist das die Arbeit eines Dolmetschers: zu verwenden, was verständlich ist, und wenn nötig das, was fehlt, zu ergänzen. Aber was ist, wenn es nur fehlende Teile gibt? In diesem Fall ist man wohl gezwungen, das sehr viel nebulösere Reich der Fiktion zu betreten, einen Ort, von dem mir beigebracht wurde, ihn strikt zu meiden. Aber bestimmt gelten diese Regeln nicht hier. Es heißt, in Extremsituationen lerne man andere am besten kennen. Und ich habe das Gefühl, diese Leute nach achtundvierzig Stunden in diesem dunklen Loch besser zu kennen als mich selbst nach einem ganzen Leben an der Oberfläche. Ich muss gestehen, dass in diesem Wissen eine Macht liegt. Süß und schuldig, ein Auge am verbotensten aller Schlüssellöcher. Aber warum sollte ich nicht ausgiebig hinsehen? Die anderen haben ja alle etwas Eigenes, woran sie sich klammern können. Lydia hat das Kind in ihrem Schoß, Barry seine Fischerhütte am Oconee River. Wallace und Bates haben nichts Geringeres als ein neues Jahrhundert, das auf ihre Rückkehr wartet. Ich hingegen kann auf keinerlei Zerstreuungen dieser 161
Art zurückgreifen. Also flicke ich sie zu einem neuen Bewusstsein zusammen und ersetze damit mein eigenes. Derlei Fertigkeiten liegen außerhalb meines erlernten Gewerbes, das muss ich zugeben. Aber warum nicht ich? Vielleicht ist dies meine Gelegenheit zu expandieren, wie Wallace es nennt. In einer Welt ohne Götter, bin ich da nicht genauso befähigt zu Allwissenheit wie jeder andere? Die einzelnen Sekunden zu zählen erweist sich als unmöglich, und bald schon bricht auch die Anstrengung, die Pulsschläge des Schmerzes zu zählen, in sich zusammen. Zeit ist Licht. Selbst wenn die Sonne versinkt, werden die Stunden im Warten auf ihre Rückkehr gemessen. Doch hier unten ist all das aufgehoben. Sie haben uns an einen Ort gebracht, wo die Zeit nicht hinreicht, wie in einem Märchen oder im Grab. Was auch etwas Tröstliches hat. Ohne Zeit und Licht bleiben nur noch die Gedanken. Und wenn der eigene Kopf leer ist, gibt es immer noch die anderen. Gerade eben kostet Wallace die letzten Ahnungen von schalem Kaffee auf seiner Zunge aus. Stellt sich dazu noch Zigarettenrauch in seinem Mund vor, obwohl er eigentlich nur bei geschäftlichen Anlässen raucht, um die Geheimnisse zu erfahren, die Nikotinsüchtige meist nur mit ihresgleichen teilen. Er senkt das Kinn und spürt, wie die Inseln aus Stoppeln sich in seinem ersten Brusthaar verfangen. Schiebt die Unterlippe vor und bläst sich den schlechten Atem direkt in die Nasenlöcher. Und mit seiner vorgeschobenen Unterlippe und seinen leicht schielenden Augen sieht er aus wie eine Bulldogge. Wenn man ihn sehen könnte. Ein Kind, das Grimassen schneidet. »Warum gerade wir, Crossman?«, fragt er jetzt und erwischt mich kalt mit seiner Frage. Ich bin beinahe eingeschlafen mit der Vorstellung im Kopf, ihn zu beobachten. »Warum, glaubst 162
du, haben sie sich uns ausgesucht?« »Sie haben es mir noch nicht gesagt.« »Ausrauben hätten sie uns auch gleich auf dem Boot können. Sie hätten niemanden töten müssen, um uns dazu zu bringen, ihnen unsere Travellerschecks zu überschreiben.« »Sie haben es mir nicht gesagt.« »Das sagtest du schon.« Ich versuche, meine Stimme unter Kontrolle zu bringen, um der Herausforderung zu begegnen, mit der Wallace mich gleich konfrontieren wird. Sie schwingt immer mit, wenn er spricht. Ein gewisses Maß an Wettstreit. Selbst hier hat seine Stimme ein deutliches Gewicht, leiser als vorher, doch dafür irgendwie kräftiger. Beim Rest von uns bleiben die Wörter hängen oder brechen oder wallen zu Schluchzern auf. Doch Wallace’ Worte scheinen von ganz woanders herzukommen. »Mir gehen da ein paar Sachen durch den Kopf«, sagt er. »Wer ist noch hier?« »Nur du und ich.« »Sie haben vorhin nur Barry und Bates mitgenommen. Lydia ist noch hier unten.« »Der haben sie letztes Mal eine echte Nummer verpasst. Sie kann uns nicht hören.« »Ich wollte nur –« »Du sagst, es sind Kolumbianer, nicht wahr?« »Das ist nur geraten.« »Sie müssen sich irgendwie Informationen beschafft haben. Um zu wissen, wo unsere Boote hinfahren.« »Was meinst du?« »Sie haben die falschen Leute erwischt. Wenn es irgendwas Politisches ist, dann waren sie wahrscheinlich hinter dem Minister und den anderen auf der Presidente her. Das falsche Boot. Dann denke ich mir wieder, vielleicht wollten sie tatsächlich uns. Oder sie glauben zu wissen, wer wir sind, liegen aber falsch.« 163
»Das Letzte kapiere ich nicht.« »Jemand hat irgendeine Geschichte erzählt. In São Paulo. Oder Manaus. Hat einem Kolumbianer unsere Reiseroute erzählt, unsere Geheimnisse preisgegeben. Nur dass die Geheimnisse falsch waren.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel Bates, der seinem Mädchen in der Bar erzählt, er hätte einen neuen Typ von Bombe entwickelt.« »Willst du damit sagen, dass –« »Hast du daran gedacht, dass sie uns von Anfang an auseinander gehalten und die Schiffsbesatzung umgebracht haben? Und dass sie nur mit dir reden. Unserer Dolmetscherin.« »Ich spreche nicht viel Spanisch.« »Mehr als wir allemal.« »Wenn du Recht hast, wer hat es ihnen dann gesagt? Warum sollte einer von uns Geschichten erzählen, wenn er weiß, dass er selber Schaden davontragen würde? Schau dich doch um, Wallace. Die Lage ist für keinen von uns rosig.« »Noch sieht es so aus. Aber vielleicht war es ja die ganze Zeit so geplant. Noch eine Weile mit dem toten Fleisch zusammenzuhängen. Um etwas herauszufinden. Etwas, was sie noch nicht wissen, aber immer noch brauchen.« »Du willst doch nicht –« »Oder vielleicht ist alles schief gelaufen. Und es ist ihnen scheißegal, auf wessen Seite wir sind. Sie verkaufen uns alle, oder bringen uns um, und behalten das Geld des Verräters für sich.« »Das ist ja völlig verrückt.« »Ich denke bloß in die einzige Richtung, die uns bleibt.« »Und, wer ist es nun? Bates? Weil er eine Hure angelogen hat?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Du hast von ihm angefangen.« »Um etwas rein Hypothetisches zu illustrieren.« 164
»Ach ja, stimmt. Das hatte ich vergessen. Für dich ist ja alles hypothetisch, nicht wahr? Du spinnst die Dinge einfach so lange aus, bis alles möglich ist. Aber du führst sie nie zu Ende. Wenn wir natürlich Hypothesys dabeihätten, dann könnten wir jetzt einfach unsere Namen eingeben, und es könnte uns sagen, wer von uns ein Mörder und Lügner ist.« »So etwas kann es nicht.« »Dann kannst du es vermutlich auch nicht.« »Bates sagt, er hat den Hotelportier gesehen, als sie ihn das letzte Mal hochgezogen haben.« In diesem Augenblick fällt mir auf, wie übel es hier unten tatsächlich riecht. Ich hatte mich die ganze Zeit so fest darauf konzentriert, die Gerüche auseinander zu halten, dass ich sie nie alle auf einmal über mich hereinbrechen ließ, die Pisse, die Scheiße und die Kotze, durchaus vertraute Gerüche, einzeln für sich genommen, doch etwas schauderhaft Neues ergebend, wenn sie zusammengemischt sind. Es haut einen um wie eine messerscharfe Erinnerung. »Bates verliert den Verstand«, sage ich. »Er schien sich sicher zu sein.« »Du verlangst von mir, dass ich das ernst nehme?« »Er sagt, er hat das Monster am Rand des Camps stehen sehen. Der Kerl hat nichts gesagt. Nur dagestanden und den anderen zugesehen, wie sie ihm die Eier verbrannt haben.« »Und was sollte der Portier da wollen? Vielleicht den Zimmerservice bringen? Weil ich nämlich so langsam wirklich Lust auf ein Club-Sandwich und ein Glas Merlot hätte.« »Ich stecke nur das Terrain ab. Wir müssen Bescheid wissen, bevor wir handeln können.« »Handeln? Ich kann nicht mal in der Nase bohren. Aber du erzählst es mir besser, wenn du was vorhast, Wallace. Sag’s mir, bevor du es machst.« »Warum das?« »Damit ich Zeit habe, mir ein Ablenkungsmanöver einfallen 165
zu lassen.« »Oder ihnen meinen Plan zu verraten.« »Was sagst du da? Heiliger Himmel –« »Du bist die Dolmetscherin. Wie sollen wir wissen, ob du uns dasselbe sagst wie sie dir?« »Du misstraust jedem außer dir. So ist es doch, oder?« »Das Misstrauen gegen mich kann ich beruhigt dir überlassen, Crossman.« Lydia rührt sich. Ihre Beine graben sich aus der kühlen Erde wie ein Paar Schlangen, die an die Oberfläche drängen. »Ist jemand da?« »Ich bin hier«, sagt Wallace. Obwohl ich es nicht sehen kann, weiß ich, dass er sie festhält. »Ich bin hier.« Er sagt ihr nicht, dass ich auch da bin. Doch noch bevor ich mich zu Wort melden kann, wird das Gitter über uns aufgeklappt, und ich werde ins Licht hinaufgezogen, um eine weitere Runde Quälereien mit anzusehen. Unser einziger Besucher ist eine Ratte. Sie schlüpft zwischen den Stangen des Gitters hindurch, wobei ihre Eingeweide so fest zusammengepresst werden, dass sie leise gurgeln. Ein gedeihendes und neugieriges Tier, nicht kleiner als Galbraith, mein verstorbener Kater, und genauso aufgedunsen und ölig. Sie kommt nur nachts. Spaziert ausgiebig zwischen unseren Gliedmaßen umher und gräbt dabei ihre Nägel in das noch verbliebene weiche Fleisch, als wolle sie unseren Fettverlust messen. Wir sprechen nie von ihr, obschon ich spüren kann, wie manche von uns erstarren, wenn sie auftaucht. Sie kommt und geht, wie es ihr gefällt, schnüffelt an unseren Stoffkapuzen, fragt sich, wie lange wir wohl den Atem anhalten können. Wir verfolgen jeden der verschlungenen Wege, die sie auf ihren Wanderungen beschreibt, so dass sich die Nacht noch länger hinzieht als zuvor schon. Wallace spricht einmal mit ihr. Flüsternd, als mein Kopf ge166
rade an seinen gekuschelt ist. »Hier herunterzukommen ist kein Kunststück«, sagt er. »Aber wie kommt man wieder hinaus?« Seit ein paar Stunden, so kommt es uns vor, haben sie uns jetzt schon allein gelassen. Allein mit den Moskitos. Der Reiseführer der Ana Cassia hat uns erzählt, dass es entlang des Rio Negro wegen des hohen Säuregehalts des Wassers weniger davon gäbe. Aber wie sieht es wohl mit den Moskitos in der Nähe säurearmer Flüsse aus? Hier unten gibt es nämlich eine Menge davon. Ganz bestimmt viele Moskitos, die da meine Nase hinaufkriechen, meine Arme unter einer Extraschicht Haare begraben, in meiner blutig-feuchten Poritze zerdrückt werden. In der ersten halben Stunde war es lästig, in der zweiten trieb es einen schier zum Wahnsinn, bis es sich schließlich in einem gleichförmigen, prähistorischen gegenseitigen Hass einpendelte. Obwohl die Hitze genau wie immer ist, überläuft uns alle ein Frösteln. Eine plötzliche elektrische Ladung, die die surrenden Schwärme zu reizen scheint. Sie bewegen sich von einer verhedderten Gliedmaße zur nächsten, als gehörten alle zum selben Kopf. Es reicht aus, um Wallace’ Stimme wieder in Gang zu setzen. Diesmal erzählt er uns davon, wie er einmal eine Vision von Gott hatte. Das war zu Schulzeiten, im Wald. Wo er Bates kennen lernte und »ihn überzeugte, mein alleiniger Freund zu werden«. Sie waren beide dreizehn Jahre alt. Es begann mit einer Taubheit in seinem unteren Rücken. Die man manchmal spürt, wenn man zu lange auf einem harten Stuhl sitzt. Nur dass es nicht mehr wegging. Vielmehr weitete es sich aus, griff auf Rücken und Schulterblätter, auf den Nakken über. Verwandelte sich von Taubheit in ein Brennen. Am Morgen noch erträglich, doch über den Tag hinweg wuchs die Hitze an, bis es sich beim Zubettgehen anfühlte, als ob jemand 167
eine Lötlampe an seine Haut hielte. In der sechsten Nacht wachte er schreiend auf. Beim ersten Ton von Wallace’ Schrei rannte Bates barfuß über das schneebedeckte Spielfeld zum Haus des Direktors. Seine Nieren. Das Rückgrat. Wahrscheinlich arbeitete es sich gerade ins Knochenmark der Rippen vor. Inoperabel. »Ein ganz klarer Fall«, sagte einer der Ärzte zu Wallace, kurz nachdem er im Kinderkrankenhaus von Toronto eingeliefert worden war. Es folgte natürlich die Chemotherapie. Doch sogar die schien ohne die richtige Begeisterung durchgeführt zu werden, als fühlten sich die Spezialisten verpflichtet, wenigstens diesen einen Versuch auf der Liste ihrer Optionen abzuhaken. Sie nannten es eine »extrem beschleunigte Form« der Krankheit. Ziemlich selten. Ganz außergewöhnlich eigentlich bei einem Jungen dieses Alters. Ihr Ton schien zu sagen, Wallace solle sich geehrt fühlen, von einer so eindrucksvollen Ansammlung bösartiger Zellen heimgesucht zu werden. Bates gab sein gesamtes Taschengeld für eine GreyhoundFahrkarte in die Stadt hinunter aus. Da er nachts nirgendwohin konnte, ließen ihn die Schwestern auf dem Stuhl neben Wallace’ Bett schlafen, versteckten ihn im Aufenthaltsraum des Personals, wenn der Sicherheitsdienst durchkam, um am Ende der Besuchszeit die Leute wegzuscheuchen. Es hätte rührend sein können, wenn der Kranke im Bett ein älterer Mann gewesen und die Nachtwache von seiner runzligen treuen Ehefrau gehalten worden wäre. Doch Wallace war noch ein Kind – ein Waisenkind, wie er allen erzählte, die in sein Zimmer kamen und nach Mutter und Vater fragten –, und so passte die Hingabe seines etwas seltsamen schmalgesichtigen Freundes in kein bekanntes Muster und war einfach nur traurig. Die Schwestern versorgten Wallace mit »genug Morphium, um Keith Richards in Schlaf zu versetzen«, und schmuggelten für Bates die Pepsiflaschen und Kakaobecher herein, um die er gebeten hatte, um wach bleiben zu können. Keine zwei Wochen zuvor hatten die 168
beiden noch zusammen unter der Bettdecke das einzige Penthouse-Exemplar ihres Schlafsaals gelesen, jetzt fanden sie sich an einem Totenbett wieder. Am Ende des sechsten Tags im Krankenhaus kündigte die Krankheit ihre finale Attacke an. Die Ärzte hatten von Anfang an nicht helfen können, jetzt gaben sie es offen zu. Wallace hat die Nacht als unglaublich lang in Erinnerung. Atem holen und ihn anhalten aus Angst, dass er, wenn er ihn losließe, vergessen könnte, wie man wieder einatmet. Und als er es doch tat, versank er in Bewusstlosigkeit. Während Bates ihm Songtexte von The Clash ins Ohr sang. »Und am Morgen bin ich aufgewacht, als ob der Wecker schrillte«, erzählt Wallace und macht mit der Zunge am Gaumen das Geräusch einer Alarmglocke nach. »Zog die Infusion aus meinem Arm. Bat Bates um einen Bissen von seinem Snikkers.« »Was ist passiert?«, fragen Lydia und ich wie aus einem Mund. »Das wollten die Ärzte auch wissen. Sie machten Untersuchungen. Dann machten sie noch mehr Untersuchungen, um zu sehen, ob die ersten richtig waren. Schüttelten die Köpfe. Und Bates? Der kleine Mistkerl konnte nicht aufhören zu lachen. Die Schwestern konnten sich nicht entscheiden, ob sie ihn oder mich küssen sollten, also küssten sie uns beide.« »Dich muss wohl ein Engel berührt haben«, sage ich und bemühe mich um Sarkasmus, der mir allerdings noch in der Kehle entzweibricht. »Das kann auch nur dir passieren, für ein Wunder für würdig befunden zu werden.« »Es war kein Wunder«, sagt Wallace in gleich bleibendem Ton. »Es war eine Frage der Wahrscheinlichkeiten. Meistens tötet es einen, aber nicht immer. Wir sind nicht besonders genug für Wunder, Crossman. Wir sind bloß diese unbehaarten sentimentalen Tiere, die kommen und gehen. Gerade mal so schlau, dass wir glauben, wir hätten ein Anrecht auf Übersinn169
liches. Aber da irren wir uns auch.« »Herrgott noch mal, Wallace. Wie kannst du so was sagen?«, legt Barry nun los, muss jedoch innehalten, um etwas auszuspucken. »Du erzählst uns, dass sie dich völlig abgeschrieben hatten, und dann wirst du wie aus heiterem Himmel wieder gesund. Das ist, als ob du aus dem gottverdammten Grab auferstanden wärst.« »Nicht auferstanden«, korrigiert er. »Aber vielleicht in gewisser Weise reinkarniert. Ich bin als etwas anderes zurückgekehrt. Viel lebendiger, als das alte Ding jemals war, weil das neue wusste, was Sterben ist. Ich denke jetzt nicht mehr daran. Es gibt nur noch dieses neue Stück Zeit und die Entscheidungen, die diesmal getroffen werden. Sonst nichts.« »Du hast dir einen lausigen Zeitpunkt ausgesucht, um uns mit diesem atheistischen Mist zu kommen, Junge.« »Wer sagt, dass ich Atheist bin?« »Darauf scheint es doch wohl hinauszulaufen.« »Ich habe ihn gesehen, Barry. Wie sollte ich da nicht an ihn glauben?« »Du hast Gott hier unten gesehen?« »Als ich krank war.« »Und welche Gestalt hat er da angenommen? Der alte Kerl mit Bart und langem Mantel? Ein brennender Busch? George Burns in O Gott als lieber Gott mit Baseballmütze?« »Es war anders, als sie es in den Schmierblättern an der Kaufhauskasse beschreiben«, erklärt Wallace geduldig. »Es gab keine Tunnel aus Licht, keine lockenden Stimmen oder das wohlige Gefühl von Frieden. Ich habe ihn in dem gesehen, was nicht war, in dem ganzen leeren Raum, den er hinterlassen hat. Wie wenn man bei einer Party einschläft und beim Aufwachen sind alle weg – so allein, als ob da überhaupt nie jemand in dem Raum gewesen wäre. Doch da war jemand und hat unübersehbare Spuren hinterlassen. Wie Geister oder so. Das habe ich gesehen. Dass Gott das ursprünglichste Phantom ist. 170
Und weißt du was? Es war tröstlicher, als du es dir je vorstellen kannst. Ich habe gesehen, dass seine Liebe darin liegt, uns die Freiheit zu geben, alles zu tun, was uns gefällt. Er hat nur die Dinge eingerichtet und ist dann weitergezogen, um ein anderes Spielzeuguniversum aufzuziehen und laufen zu lassen. Er macht sich nicht mal die Mühe, ab und zu nach uns zu sehen. Wisst ihr noch, wie es ist, als Kind das ganze Haus für sich zu haben, wenn die Eltern übers Wochenende weg sind? So ungefähr, nur dass die Eltern nie zurückkommen.« Ein weiteres Frösteln durchläuft in der reglosen Hitze unsere verschlungenen Körper. Bald jedoch kratzt der Regen an dem Gatter über unserem Loch. Ein paar Tropfen finden sogar den Weg hindurch und fallen auf unsere Kapuzen, sickern durch den Stoff und berühren unsere Haut. Obwohl die Existenz von Wundern gerade eben widerlegt wurde, fühlen sie sich wie welche an. Vermutlich ist es nur eine ganz alltägliche Phantasie, aber ich glaube, ich verstehe sie besser als irgendjemand sonst. Jeder kennt doch diese Vorstellung: dass dein ganzes Leben ein ausgefeiltes Experiment einer geheimnisvollen, überlegenen Art ist. Marsmenschen, von mir aus, oder Engel, die beobachten, wie du auf künstlich arrangierte Situationen reagierst, bei denen alle um dich herum Schauspieler sind, die nur ihren festgelegten Text aufsagen, während du als Einziger improvisierst. Mit der Zeit habe ich mich jedoch gefragt, ob die, die hinter dem Experiment stehen, vielleicht doch nicht so geheimnisvoll und überlegen sind. Vielleicht sind es nur Menschen. Alle, die du je gekannt hast oder denen du in einem S-Bahn-Waggon einen Blick zugeworfen oder mit denen du das Bett geteilt hast. Beobachter. Und du bist der Einzige, der nicht zu ihnen gehört (das isolierte Element, in der Sprache der wissenschaftlichen Methodik), der Einzige, der die Versuchsanordnung hinter jeder Leistung und jeder Qual seines Lebens nicht sieht. Welchen 171
Beweis könnte ein solches Experiment überhaupt erbringen? Vielleicht gar keinen. Keinen außer der Bestätigung, dass Menschen im Allgemeinen sogar dann noch weitermachen, wenn sie den Verdacht haben, das Versuchskaninchen in einem erniedrigenden Experiment zu sein. Und das sagt ja auch etwas aus, oder nicht? Ich frage mich allmählich, ob dieser Ort hier nicht zu derselben Studie gehört. Achtunddreißig Jahre Sich-treiben-lassen, Beobachten, chronische Schlaflosigkeit und vermiedener Blickkontakt mit anderen, und nun verlieren die Engel vom Mars allmählich die Geduld mit mir. Es ist an der Zeit, sich mal anzusehen, wie jemand, der bisher komplett in seinem Kopf gelebt hat, sich in einer echten Stresssituation bewährt. Sie wollen mich aus der Reserve locken. Wollen, dass ich mein eigenes Fleisch bewohne und mir dessen auch bewusst werde. Und mir, wenn ich einmal da bin, alle Fluchtwege und Rückzugsmöglichkeiten abschneiden: die Wissenschaft, die Einbildung. Sie wollen mich töten. Aber zuerst wollen sie mir zeigen, was Töten ist. Ich werde es ihnen nicht leicht machen. Schließlich bin ich Dolmetscherin. Akademikerin, eine berufsmäßige dritte Partei, eine Liebende, deren Liebe nicht erwidert wird – Expertin in Zwischenräumen. Ich kann so lange in meinem Kopf bleiben wie irgendjemand sonst. Was sie mit Wallace machen, lassen sie mich als Letztes mit ansehen. Zweimal haben sie ihn nach meiner Zählung bisher ohne mich hochgeholt, und da er nicht darüber gesprochen hat, was passiert ist, kann ich nur vermuten, dass es jedes Mal dasselbe war. Unsere Peiniger machen sich nicht viel aus Abwechslung. Wenn man einmal mit der Methode ihrer Wahl vermählt ist, dann auf ewig. Zuerst scheint es, als hätten sie das Interesse verloren. Einer 172
von ihnen nimmt mir die Kapuze ab, und die anderen zwei umkreisen Wallace, bleiben jedoch auf Distanz. Er ist größer als sie, obwohl er leicht gebeugt steht. Einer der Männer steht mit verschränkten Armen ein Stück weit weg. Vielleicht sind sie des Ganzen langsam überdrüssig. Irgendetwas ist ihnen abhanden gekommen, was den Spaß daran ausmacht, anderen Verletzungen zuzufügen. Vielleicht bedeutet dieses Zögern, dass sie doch noch Menschen sind, die ihre Meinung ändern können. Doch es ist überhaupt kein Zögern, sondern ein Teil der Vorstellung. Indem sie Wallace mit dem Sack über dem Kopf in der Hitze stehen lassen, wollen sie die Panik in ihm schüren. Er weiß, was kommen wird; die Frage ist nur, wann. Obwohl es keine direkte Gewalt beinhaltet, kommt mir dieses Warten schlimmer vor, als ausgepeitscht oder versengt oder an den Handgelenken aufgehängt zu werden. Dann geht der Mann mit den verschränkten Armen nach vorn und zieht Wallace den Sack vom Kopf. Ich weiß nicht genau, was ich in seinem Gesicht zu sehen erwarte, doch was es auch ist, es ist nicht da. Sogar die Männer sind ein wenig überrascht. Er sieht gut aus. Eher noch jünger und lebendiger als das letzte Mal, als ich ihn sah, als er auf dem Deck der Ana Cassia Maria küsste. Eine Sekunde später merke ich, dass dieser Eindruck nicht ganz stimmt. Seine Wangen sind hohl. Seine Lippen grau gesprenkelt von toten Hautfetzen. Nur seine Augen, die habe ich so nicht erwartet. Die Sonne scheint ihn überhaupt nicht zu stören. Er blickt sogar direkt zu ihr auf, als er den Kopf bewegt und alles um sich her aufnimmt, als wolle er diese ausgehackte Lichtung und diese Männer und die weiße Glühbirne der Sonne auf ein Photonegativ brennen. Und als seine Augen mich erreichen, sehe ich, dass es nur photographische Linsen sind. Ihre Klarheit zwingt mich, den Blick abzuwenden. Ich sage mir, dass es die Augen eines Jungen sind. Dass da 173
nichts Besonderes an ihm ist, nur ein unreifer Wille oder vielleicht die ersten Anzeichen von Wahnsinn. Doch als ich mich zu einem zweiten Blick zwinge, werfen sie mir ein Bild meiner selbst zurück. Und es ist das Bild eines zitternden Feiglings, die Hände zwischen den Schenkeln vergraben, gegen die Scham so sehr wie gegen das grelle Licht anblinzelnd. Der Mann, der die Arme verschränkt hat, tritt hinter Wallace und rammt ihm den Stiefel von hinten in die Oberschenkel. Die Berührung der Stiefel ruft ein leises Aufstöhnen hervor, jedoch nicht mehr. Als ich wieder hinsehe, hat der Mann einen Revolver aus seinem Halfter gezogen. Es ist so ein altes Modell mit einer drehbaren Trommel in der Mitte und einem langen Lauf. Er geht in einem gemächlichen Halbkreis um Wallace herum und bleibt vor ihm stehen, hält dem Jungen den Revolver, lose an einem seiner Finger baumelnd, vors Gesicht. Die Art, wie er das tut, hat etwas Vulgäres, als ob er den Lauf Wallace gleich in den Mund schieben würde. Wallace blickt auf den Revolver, jedoch genau so, wie er alles andere ansieht. Dann hebt sich die Schnauze der Waffe wie eine blutstarrende Erektion. Als sie waagrecht ist, drückt der Mann sie Wallace zwischen die Brauen. Drückt so fest, dass es Wallace nach hinten biegt, jedoch nicht so weit, dass er fallen würde. In dieser prekären Balance hält ihn der Mann vielleicht eine volle Minute lang. Dann drückt er ab. Das Klicken des Hahns ist leiser, als ich vermutet hätte. Doch das eigentlich Erschreckende ist, dass es, kaum geschehen, noch ein zweites Mal passiert. Ein überraschter Blick geht zwischen den anderen Männern hin und her. Ein Blick, der bestätigt, dass er es beim letzten Mal nicht so, nicht zweimal, gemacht hat. Dann tut der Mann mit dem Revolver etwas, was die anderen noch mehr überrascht. Geht hinter Wallace, bindet ihn los und gibt dem Jungen die Waffe in die rechte Hand. 174
»¡Dispara!«, befiehlt er ihm und hält sich einen Finger gegen die eigene Schläfe, um ihm zu zeigen, was er meint. Und ohne ein Zögern – so rasch, dass er bereits halb durch ist damit, noch bevor er überhaupt kapiert haben kann, was er da tun soll – hebt Wallace den Revolver an seine Schläfe und drückt ab. Noch ein Klick. Wallace reicht dem Mann den Revolver zurück. Die anderen lachen. Klatschen in die Hände und geben mir Ohrfeigen, bis ich mich ihrem Klatschen demonstrativ anschließe. Doch nichts davon kann ihren nachhaltigen Schock vertuschen. Der Junge, von dem sie dachten, er wäre noch weniger als ein Junge, ein amerikanischer Junge, hat es erneut geschafft. Genau wie die letzten zwei Male. Hat nicht einmal innegehalten, um die Augen zusammenzukneifen. Der mit dem Revolver zieht Wallace wieder die Kapuze über den Kopf, schnürt sie um seinen Hals herum zu, fester als beim letzten Mal. Dann winkt er den anderen Männern, öffnet die Drehtrommel und steckt mehrmals den Finger hinein. Erklärt ihnen, dass er beim nächsten Mal, wenn sie ihn aus dem Loch holen, auch noch die anderen fünf Patronen zu der einen stecken wird, die bereits drin ist. »Elizabeth, bist du da?« »Ich bin da.« »Wer noch?« »Nur ich.« »Und Bates? Ich kann ihn auch spüren.« »Er schläft. Wallace und Barry haben sie vor einer Weile hochgeholt.« Atmen. Das Abschätzen von Wörtern und der Luft, die sie erfordern. »Kannst du mich das nächste Mal aufwecken, wenn Wallace oben ist?« 175
»Sicher.« »Versprochen?« »Versprochen. Aber warum?« »Ich muss es nur einfach wissen. Jedes Mal, wenn sie ihn holen und er kommt wieder zurück, habe ich das Gefühl, dass wir hier vielleicht doch noch rauskommen. Und ich muss hier unbedingt rauskommen.« »Dein Baby.« »Woher weißt du – ich habe es dir erzählt, nicht wahr?« »Du kommst hier raus.« »Ich muss es unbedingt.« »Mach dir keine Sorgen. Du wirst –« »Ich muss dieses Baby bekommen, Elizabeth. Ich muss jemandem helfen.« Es ist jetzt ganz still in dem Loch. Die Luft ist schwer wie eine Bleischürze, die sie einem beim Röntgen anlegen. Es muss mitten am Nachmittag sein da oben. Und in die Stille hinein fängt Lydia flüsternd an zu erzählen. Noch eine dieser Geschichten, die wir uns reihum erzählen, und sei es nur, um zu wissen, dass sie erzählt wurden. Ob ich diese Geschichte vor eineinhalb Jahren in der Zeitung gelesen hätte? Über die junge Mutter, die angeklagt war, ihre beiden Kinder getötet zu haben? In der Badewanne? Weißt du noch? Die Mutter verteidigte sich mit der Behauptung, sie sei auf dem nassen Boden im Badezimmer ausgerutscht, mit dem Kopf gegen die Toilettenschüssel geschlagen und ohnmächtig geworden, und als sie wieder zu sich kam, waren ihre beiden Kinder, eines zwei Jahre, das andere sechs Monate alt, in nicht mehr als zehn Zentimetern Wasser ertrunken, so dicht neben ihrer Mutter, dass deren ausgestreckte Arme, als sie aufwachte, ganz nass waren von den Spritzern ihres Todeskampfes. Nein, in Kanada hatte ich bestimmt nicht davon gehört. Dies war in einem Reihenhaus-Vorort von Manchester passiert. Eine dieser »wahren Tragödien der Woche«, wie die britischen Zei176
tungen sie so lieben. Fünf Tage lang auf der Titelseite, und dann auf einmal nichts mehr, als hätte es sich um eine Ente gehandelt, als wäre es überhaupt nie passiert, und dürften wir Ihre Aufmerksamkeit nun bitte auf den Selbstmord des autoerotischen Rockstars oder die in einem Marks & Spencer in Leeds entführten Schulmädchen lenken. In diesem Fall war es jedoch keine Falschmeldung gewesen. Die Frau war Lydias einzige Schwester. Lydia hatte die toten Kinder in der Badewanne natürlich nicht selbst gesehen. Trotzdem trug sie dieses Bild mit sich herum, als hätte sie es doch gesehen, als wäre sie selbst es gewesen und nicht ihre Schwester, die den Kopf vom Boden gehoben und gesehen hatte, wie ihre zwei Babys mit den Gesichtern nach oben im Wasser lagen. Und noch mehr als das. Jessicas Locken, die auf ihrer Stirn klebten, die Augen bleich und rund wie Wachteleier. David, der Kleine, mit den Fingern in den Ohren, um das Quietschen auszusperren, als seine Schwester am Boden der Wanne entlangrutscht. Ein Bild familiären Mitgefühls, verzerrt zu einem gruseligen Extrem. Und noch etwas. Ein Bild, das Lydia braucht, um es zu ihrer eigenen Erinnerung zu machen. Sie will dieses Baby für ihre Schwester. Aber etwas daran ist auch für Lydia selbst. Sie will das Baby, damit es sie in die Welt zurückbringt. Eine Weile schiebt die Hitze Lydias Worte zur Seite. Ich versuche, die einzelnen Teile ihrer Geschichte in getrennte Stapel zu ordnen, doch die Mühe, die mir das bereitet, löst ein bedrohliches Flimmern hinter meinen Augen aus, und so gebe ich auf, bevor es mich übermannt. »Ich habe dich und Wallace reden hören«, sagt Lydia schließlich, nach Atem ringend. »Vielleicht sollten wir uns jetzt besser ausruhen. Das Reden dehydriert dich nur.« »Ich bin sowieso schon ausgetrocknet.« »Trotzdem, denk an das –« 177
»Ich habe euch beide gehört. Dass Wallace glaubt, jemand hat die Männer zu unserem Boot gebracht.« »Mir hat er gesagt, du schläfst.« »Ich bin irgendwie trotzdem zu euch durchgedrungen. In einem Traum. Ist dir aufgefallen, dass das hier unten schwer zu trennen ist?« »Allerdings.« »Warst du es, Elizabeth?« »War ich was?« »Hast du das hier herbeigeführt? Hast du uns das angetan?« Selbst in dieser Dunkelheit sehe ich schwarze Flecken hinter meinen geschlossenen Lidern. Das Blut entweicht nach unten, ich bin nur noch halb da. »Nein, ich war es nicht«, entgegne ich. »Wenn es überhaupt irgendjemand war.« »Ach, ich schätze, das ist jetzt so oder so ziemlich egal. Wenn wir hier rauskommen, ich glaube, dann werde ich alles vergeben können.« »Das klingt zuversichtlich.« »Wallace hat gesagt, er wird etwas unternehmen.« »Reden und tun sind zweierlei.« »Für ihn ist es das Gleiche.« »Du scheinst ihn für Supermann oder so jemanden zu halten. Glaubst du wirklich, er ist so gut?« »Ich glaube, er ist zu allem fähig. Macht ihn das gut? Ich weiß nicht genau. Hast du ihm je richtig in die Augen gesehen?« »Nicht, seit die mir einen Sack über den Kopf gezogen haben.« »Du versuchst, witzig zu sein.« »Sag es mir: Was hätte ich gesehen, wenn ich dem jungen Wallace so tief in die Augen geschaut hätte? Aktienoptionen? Einen Computerchip?« »Du hättest gar nichts gesehen.« 178
»Eine leere Hülle.« »Eher etwas Geläutertes. In ihm ist nichts, was seinen Wünschen im Weg stehen würde. Und das ist etwas ganz Außergewöhnliches. Du siehst in ihn hinein, und es ist wie ein Blick in die Freiheit.« Ihre Stimme erstirbt, und ich weiß, dass sie mit ihr in Schlaf versunken ist. Es überkommt uns inzwischen immer plötzlicher, lange Finger, die aus dem Erdboden heraus nach uns greifen und uns zu sich holen. Kein Licht, kaum Nahrung und Wasser. Die Dinge, die die Männer tun. Wie lange noch? So lange es eben dauert, bis sie uns von unseren Körpern getrennt haben. Wir leben vielleicht noch ein paar Tage, aber mehr als das wird es nicht sein. Hin und her gleitend, da und wieder weg. Ich versuche, den Schmerz wiederzufinden, doch er scheint ebenfalls vergangen zu sein. Jetzt bleibt nichts mehr, was das Hiersein kennzeichnen könnte, außer diesen Gedanken, die ich habe, wobei die von gerade eben schon wieder fortgehuscht sind wie Mäuse in der Vorratskammer. Ich hatte etwas gesagt. Mir war etwas gesagt geworden. Ich hatte etwas versprochen. Ich vermute, das Versprechen wird wohl gebrochen werden, wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Dann kommen die Hexenfinger durch den Boden, um mich nach unten zu ziehen. Wir berühren im Dunkeln gegenseitig unsere Verletzungen. Sie haben aufgehört, uns die Hände auf den Rücken zu binden, und nun tasten wir nach unseren Körpern. Lydias Füße, aufgequollen und nass wie Schwimmflügel. Barrys gebrochene Handgelenke wellig von Narben. Die verbrannten Flecken auf Bates’ Haut wie eine nicht zu Ende geführte Kinderzeichnung, bei der man die Punkte verbinden muss. Finger, die nach dem Berührungspunkt suchen, um es zu bezeugen. Zu heilen. Außer 179
Wallace, der, ohne dass jemand von uns davon angefangen hätte, sagt, dass er auf eine andere Art verletzt worden ist. »Nichts?«, fragt Wallace jetzt, wie in eine Gesprächspause hinein. Er meint, dass ich keine Wunden habe. »Bis jetzt«, entgegne ich. »Und wenn sie dich allein hochholen?« »Noch mehr Nichts.« »Warum ausgerechnet du nicht, Crossman?« »Ich weiß es nicht. Sie brauchen mich zum Übersetzen, schätze ich.« »Was übersetzen? Sie haben uns nichts gefragt.« »Reg dich ab, Mann«, sagt Bates zu ihm. »Wir sitzen alle in derselben Scheiße.« »Anscheinend nicht. Crossman wurde nämlich noch nicht ausgepeitscht. Oder an einen Baum gehängt. Wie es scheint, sitzen wir eben nicht alle in derselben Scheiße.« »Ich will hier genauso raus wie ihr«, sage ich. »Und was genau hast du zu diesem Zweck vor?« »Mit ihnen zu reden.« »Da habe ich meine Zweifel. Bei allem Respekt, Crossman, aber ich habe das hartnäckige Gefühl, dass du einen Dreck tun wirst in dieser Richtung.« Ich spüre, wie sie mich in der doppelten Dunkelheit anstarren, durch die Reissäcke, durch die eingesperrte Luft hindurch. Sich mein Gesicht in Erinnerung rufen, so klar und deutlich, als würde ich in der Nachmittagssonne vor ihnen sitzen. Ihr Blick ist nicht mehr verstellt durch Oberflächlichkeiten. In der Blindheit verhindert die Haut nicht mehr den Blick ins Innere. »Ich werde hier nicht sterben«, sagt Wallace. »Es ist mir zu dreckig hier und es stinkt. Nichts für ungut. Aber ich bin mir sicher, euch geht es allen genauso. Also spielen wir doch mal Fokusgruppe. Die Frage lautet: Wie kommen wir weg? Lydia, du zuerst.« »Wir geben ihnen, was sie wollen.« 180
»Danke, aber das haben wir bereits abgehakt, schon vergessen? Das Problem ist, dass wir nicht wissen, was sie wollen. Ich habe ihnen meine Swatch und meine BlockbustervideoKundenkarte ausgehändigt und Barry den Ring seiner Studentenverbindung. Sie hatten kein Interesse daran. Wir brauchen also andere Optionen. Bates?« »Wir müssen sie umbringen.« »Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Umbringen. Sag’s noch mal, aber ganz langsam, falls es jemandem entgangen ist.« »Wir müssen sie umbringen.« »Hervorragend! Jetzt Barry. Du bist der Ami. Wie machen wir das?« »Was machen?« »Die Schweine umbringen, die dich aufgeknüpft haben, Mann.« »Machen?« Er schweigt einen Moment. »Gar nichts. Wir können nichts machen. Und selbst wenn wir was hätten, womit wir arbeiten könnten –« »Eine Waffe, meinst du.« »– irgendwas in der Art, sobald du es in der Hand hast und es anwenden willst, um … Wenn da ein Mann zwischen dir und … Also, mein Tipp ist, du könntest es nicht.« »Könnte diese Arschlöcher nicht töten? Ist es das, was du sagen willst? Diese Affen, die uns aus unserem niedlichen Ökourlaub gerissen und in dieses beschissene Dreckloch gesteckt haben? Willst du damit sagen, dass uns irgendein moralischer Imperativ oder so was davon abhalten sollte, ihnen was anzutun?« »Es ist schwer, einen anderen Menschen zu töten.« »Nun hör dir das an«, ruft Wallace beinahe schon laut aus und schlägt mit dem Handrücken gegen die Erdwand. »Ich wüsste gern, was mit dem ganzen inspirationsfördernden TonyRobbins-Power-Thinking-Kram passiert ist, für den wir dich 181
eingestellt haben. Anscheinend ist dir unsere Situation hier nicht ganz klar. Diese Leute lassen uns nicht gehen. Ich gehe mal davon aus, dass wir mit der Diät, auf die sie uns gesetzt haben, in weniger als einer Woche tot sind, wenn wir nicht was unternehmen. Aber keiner von euch ist hier besonders hilfreich mit dem Brainstorming. Ihr habt Angst. Ihr seid müde. Ihr denkt, Crossman hat vielleicht Recht. Na gut. Dann überlege ich mir eben selbst was.« »Gib’s auf, Wallace«, sage ich. »Irgendwas Blödsinniges zu unternehmen hilft uns auch nicht. Wir müssen einfach noch ein bisschen länger aushalten.« »Noch ein bisschen länger? Wir sind ja erst seit – was? – drei Tagen hier unten? Vier allerhöchstens? Und wir sind praktisch am Ende. Was hilft es uns da, noch ein bisschen länger auszuhalten?« »Vielleicht lassen sie uns gehen.« »Unwahrscheinlich. So wie es aussieht, ist das in der Tat ganz verflucht unwahrscheinlich.« Selbst dieses bisschen Diskussion erschöpft uns. Es ist, als ob wir alle eine schwierige fremde Sprache ohne Lehrer lernen. »Ich habe eine Frage«, versucht es Wallace erneut, mit immer noch kräftiger Stimme, jedoch ruhiger. »Eine ganz simple Ja-oder-nein-Frage, auf die ich gerne von jedem von euch eine Antwort hätte. Bin ich hier der Einzige, der leben will?« Doch niemand antwortet. Vielleicht sind sie wieder in Bewusstlosigkeit versunken, zu schwach für irgendwelche Gedanken außer solchen an Zuhause. Wallace bleibt jedoch wach. Ich spüre, wie die Luft aus seinem Inneren das Loch füllt. Und ich atme sie ein mit dem Gefühl, dass ich etwas zu sagen habe. Doch bevor ich die richtige Sprache finde, überkommt auch mich der Schlaf. Wallace hatte Recht, als er bezweifelte, dass die Männer nicht wüssten, wonach sie suchten. Tatsächlich waren nämlich ihre 182
Fragen absolut direkt. Sie wollen Informationen über die perfekte Bombe. Lösegelderpressungen sind vertrackte Angelegenheiten, haben sie gesagt, und dauern zu lange. Diese ganzen Telefonate und der Ärger mit der Polizeiaktion, die nach jedem »internationalen Vorfall« unweigerlich kommt. Und wofür? Für ein paar hunderttausend Dollar? Die können sie jederzeit kriegen. Ein einziger Koffer voll Kokain beim nächsten Flug nach Miami oder Heathrow, und das war’s. Aber wir waren etwas Besonderes. Wir hatten ein Geheimnis. Die Pläne für einen völlig neuartigen Sprengkörper, die sie zur reichsten Guerilla in Kolumbien machen könnten. Ich sagte ihnen, dass sie damit falsch lagen. Dass es nur die dumme Prahlerei eines Jungen bei seinem ersten Bordellbesuch gewesen sei, der mit dem Gefährlichsten angeben wollte, was ihm in den Sinn kam. Herrgott noch mal, sahen wir vielleicht aus wie Experten für Nuklearwaffenforschung? Ja, sagten sie. So seht ihr aus. Und vielleicht haben sie ja Recht. Wie sollten die Erfinder der perfekten Bombe auch aussehen? Es könnten Wallace und Bates genauso gut wie irgendjemand sonst sein, clevere Jungs mit einer besonderen Vorstellungsgabe für weitreichende Veränderungen und einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Unterschied zwischen Bauen und Zerstören. Oder vielleicht glauben sie, es ist Barry, der Typ netter, wohlmeinender Amerikaner, der dazu beigetragen hat, Männer auf den Mond zu bringen. Das Anstrengendste, was man ihm zutrauen würde, sind achtzehn Löcher, gefolgt von einem Gin Tonic, aber vielleicht ist er ja genau der Typ, der außerdem noch ein paar Ideen hat, wie man einen halben Kontinent mit dem Umlegen eines einzigen Schalters ausradieren könnte. Und Lydia. Selbst diese Banditen wissen, dass Frauen den Handel mit Gewalt heutzutage mehr und mehr zu schätzen wissen. Es könnte jeder von uns sein. Ihnen ist es egal, wer. Sie quälen uns einfach weiter, bis wir ihnen sagen, was sie wissen 183
wollen, und wenn wir es nicht tun, dann bringen sie uns eben um. Das war mir schon nach zwei Stunden hier klar. Sobald sie gemerkt haben, dass ich als Einzige sie verstehen kann – gleichzeitig aber auch die Einzige bin, die selbst nichts Wichtiges weiß –, beschließen sie, ein Spiel zu spielen: die anderen zu quälen, bis sie mit mir sprechen. Deshalb holen sie mich zum Zusehen mit nach oben. Sie wollen, dass das Mitansehen jeder ihrer Qualen zu meiner eigenen wird. Dann stecken sie uns alle in das Loch zurück und überlassen es mir, Antworten aus ihnen herauszuholen. Der Parasit zu sein, der seinen Weg in ihr Inneres findet. Was ich auch tun würde, wenn sie etwas wüssten. Ich würde den Banditen die Zutatenliste für die perfekte Bombe samt Taxigeld überreichen, wenn sie uns nur gehen ließen. Ich würde ihnen jede Lüge servieren, wenn sie sie glauben würden. Am Anfang habe ich es sogar mit einer versucht, dass nämlich die Pläne auf einer Diskette in unserem Hotelsafe in São Paulo wären – das war für mich das James-Bond-Mäßigste, was mir einfiel –, und wenn sie uns frei ließen, würden wir sie ihnen in ihr Urwaldhauptquartier schicken, sobald wir zurück wären. Das Ergebnis war ein brennender Zigarillo zwischen Bates’ Arschbacken. Also blieb mir nur noch die Wahrheit. Ich sagte ihnen, dass die Leute in dem Loch Internet-Unternehmer seien, nicht Physiker, die fürs Militär arbeiteten. Was auch immer ihre Kontaktleute in Manaus ihnen gesagt hätten, sei nicht richtig. Wenn sie hinter Politikern her waren, dann hätten sie das andere Boot überfallen müssen, nicht unseres. Und selbst dann wären es nur kanadische Politiker gewesen, was wohl kaum der Mühe wert wäre. Nennen wir die Dinge doch beim Namen. Sie waren falsch informiert worden. So was passiert eben. Sie haben schon vor längerer Zeit aufgehört, auf diese Argumente noch etwas zu entgegnen. Wenn ich jetzt mit ihnen spreche, dann stelle ich nur noch selbst Fragen. 184
Wer hat euch überhaupt von der Bombe erzählt? Wir wissen es einfach, sagen sie. Was würdet ihr damit machen, wenn ihr sie hättet? Verkaufen. Verwenden. Beides. Wer hat hier das Sagen? Der Kommandant, Dummkopf. Ist der Kommandant der große Mann, den ich ein- oder zweimal am Rand der Lichtung stehen sah, der ein bisschen aussieht wie der Portier vom Tropical Hotel? Wir haben keinen Portier. Was ist ein Portier? Sie werden uns also töten. Früher oder später, je nach den Spielregeln, nach denen wir von Anfang an schon zum Verlieren verurteilt waren. Ich habe das den anderen noch nicht gesagt, im Namen der Hoffnung sozusagen, aber ich bin nicht sicher, ob das überhaupt noch einen Unterschied macht. Manche von uns wünschen sich womöglich ohnehin, dass sie es endlich zu Ende bringen. Uns hochholen, um uns noch ein letztes Mal richtige Luft atmen zu lassen, und dann endlich durchführen, was auch immer sie im Sinn haben. Und doch, selbst jetzt ist Wallace nicht der Einzige, der leben will. Es ist ein ziemlich nahe liegender Wunsch, aber dennoch überraschend, wenn man ihn zum ersten Mal richtig klar vor sich sieht. Ich will leben. Nicht notwendigerweise, um nach Hause zu gehen oder die Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen oder für eine ähnlich weitreichende Veränderung. Sondern um zu übersetzen. Um wenigstens eine einzige Geschichte in meinem Leben erzählen zu können, selbst wenn es nicht meine eigene ist. Im Loch tauschen wir unsere Träume aus. Im Augenblick ist es der aus Wallace’ Kindheit. In dem er ein Geist ist. Selbst in seinem Traum weiß er, dass es ein perverser Wunsch ist, ein Geist sein zu wollen, etwas, was seine Mutter 185
betroffen machen würde, wenn er es ihr erzählte. Aber sie ist tot. Sein Vater auch. Außerdem hat der Tod eine Menge Aspekte, die ihm vorteilhaft erscheinen. Ein Geist und sonst nichts zu sein, befreit von all den klebrigen, pickligen Dingen, die schief gehen oder hässlich ausgehen könnten. Die ewigen Qualen, die eine ruhelose Existenz im Jenseits angeblich mit sich bringen soll, erscheinen ihm leicht übertrieben, ein angstvoller Mythos der Erwachsenen, den sie Kindern erzählen, wie der, dass einem Kartoffeln hinter den Ohren wachsen, wenn man sich da nicht wäscht. So weh kann es gar nicht tun – wo sollte Schmerz herkommen, wenn man aus Nichts ist? –, nur geht es eben immer weiter. Er kann ja immer noch sehen, oder nicht? Wie das Gespenst Casper durch Schlafzimmerwände wandeln. Schlüssel verstecken. Denen, die zu sehr mit Leben beschäftigt sind, als dass sie ihn sehen könnten, kalten Atem ins Gesicht blasen. Doch am Ende seines Traums wendet sich das Blatt gegen ihn. Er weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird, als er über einen winterlichen Wald fliegt, weiß überflutet. Es ist ein Wald wie jeder beliebige andere im Norden oben, dennoch erkennt er ihn, selbst bei Nacht, dreihundert Meter über den stacheligen Spitzen der Tannen. Er sinkt wie ein Habicht in immer kleiner werdenden Kreisen nach unten und landet schließlich neben einer Gestalt im treibenden Schnee. Ein Junge. Zumindest sieht es zunächst danach aus, obgleich sein Gesicht von der Kapuze seines Anoraks verhüllt ist. Der Junge schläft, doch Wallace weiß, dass er gleichzeitig stirbt. Zum ersten Mal verspürt er als Geist Angst. Wallace beugt sich über den Jungen, um ihn warm zu halten, doch er kann ihm nichts geben. Sein Blut ist kalt wie der Wind. Er bleibt die Nacht hindurch bei ihm. Er wird für immer bei ihm bleiben. Doch da er nicht lebendig ist, kann er nichts tun und nichts verhindern. Im ersten fahlen Morgengrauen blickt er direkt in das schla186
fende Gesicht des Jungen. Sieht, dass es Bates ist. Das einzige Gesicht, das er unter den Lebenden erkennen würde, nur dass es jetzt frühzeitig gealtert, kältestarr ist. Die Farben schwinden aus seiner Haut, hinterlassen nur noch den blauen Schimmer von Erfrorenem. Das sich ausdehnende Gewicht in seiner Brust ist das Schlimmste, was Wallace je gefühlt hat. Er blickt auf den sterbenden Jungen hinunter und fühlt sich materialisiert. Sein Herz durch Schock zum Schlagen gebracht, auf die Erde zurückgeholt durch die Schwerkraft der Liebe.
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Das blutbespritzte Gesicht eines Jungen. Halloween-Grusel. Jeder einzelne Zahn rot umrandet wie von zu vielen Kirschlutschern. Augen, die dringend in den Schädel zurückgedrückt werden müssten. Ein Junge, der einen Dreh zu vergnügt aussieht, von einem schmutzigen Wort, einem Akt von Vandalismus, einer grausamen und erregenden Tat. Ich kneife die Augen gegen das Licht zusammen, das hinter diesem Kopf hin und her schwankt. Doch als ich sie aufmache, ist der Junge immer noch da. Näher jetzt, schwer atmend. Da ist furchtbar viel Blut. »Wir hauen hier ab«, sagt der Junge in einem seltsamen Flüsterton, beinahe erstickt von Panik oder Entzücken. Bei seinen Worten scheint das Blut auf seinem Gesicht noch dicker zu werden. Und es ist überhaupt kein Junge. Es ist Wallace. »Heilige Scheiße, wir hauen hier ab«, sagt er noch einmal. »Was ist passiert?« »Ich hab’s getan.« »Was getan?« »Mann, ich hab’s verflucht noch mal getan.« Ich weiß nicht, wovon er redet, aber ich glaube ihm trotzdem. Schaue in sein Gesicht, nur Zentimeter vor meinem in dem engen Loch. Das, was von seinem Gesicht noch übrig ist. Oh, er hat’s getan, na gut. Seine Gesichtszüge kommen noch näher, und einen Moment lang bin ich mir sicher, er wird mich gleich küssen. Doch er presst nur das Kinn an meinen Hals, um die Arme hinter seinem Rücken ausstrecken zu können. Sein Atem rasselt in meinem Ohr, ein Laut wie ein hohes Kichern. 188
»Du musst ein Stück rutschen«, flüstert er an meiner Wange, so dass es klingt, als kämen die Worte aus meinem eigenen Mund. »Du musst mir helfen. Und so schnell machen, wie du kannst.« Als er den Kopf wieder wegzieht, sind die nassen Flecken in seinem Gesicht verschmiert, und ich weiß, dass etwas davon an meinem T-Shirt, an meiner Haut hängen geblieben ist. »Was ist los, Wallace? Was hast du getan?« »Herrgott, Crossman. Jetzt wach endlich auf. Er bringt uns hier raus.« Die Stimme von Bates. Ich drehe mich nach ihm um, und da ist er, hält sich die Hand vor die Augen, als könne er nicht glauben, dass sie noch mit dem Rest seines Körpers verbunden ist. Natürlich hat Wallace zuerst Bates die Kapuze abgenommen. Wie konnte ich nur denken, er würde sich zunächst mir anvertrauen und dann erst den anderen? Würde zuerst mein Vertrauen gewinnen wollen, bevor er sich in der Lage fühlt, den Plan, an dem er bereits arbeitet, auszuführen? Warum ist der erste unter all den Gedanken, die ich in diesem Augenblick legitimerweise denken darf, ausgerechnet das Registrieren einer Kränkung? »Crossman. Hörst du uns überhaupt zu?« Es ist wieder der blutige Junge. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, vor dieser Frage hat er mir ins Gesicht geschlagen. »Ja. Entschuldigung«, entgegne ich mit einem Hickser. »Was sollen wir tun?« »Du sollst jetzt Barry wecken und Bates weckt Lydia. Inzwischen werde ich einen Augenblick nachdenken. Schnell mal durchatmen.« Das muss er auch. Was er auch getan hat da oben, das diese Spritzer auf seinem Gesicht hinterlassen hat, muss eine beträchtliche Anstrengung erfordert haben. Allerdings rührt Wal189
lace’ Aufgedrehtheit eher von wilder Freude als von Schock her. Er steht von oben bis unten unter Strom, der sich in willkürlichen Zuckungen und grunzenden Lauten entlädt. Jetzt lehnt er sich gegen die Wand aus Erde und eine Weile betrachte ich die rasenden Bewegungen seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern. Ich weiß nicht genau, ob ich mich schon bewegen kann. Und jetzt, als ich das graue Licht auf meinen Wangen spüre wie warmen Puder, fühle ich mich mit einem Mal müde wie nie zuvor. Wir sind frei. So scheint es. Doch ich brauche jetzt definitiv ein wenig Schlaf, bevor ich auch nur einen Handgriff tun kann, um diese Freiheit auszuweiten auf – »Crossman!« Bates hat mich am Kinn gepackt und mein Gesicht von Wallace weggedreht. Klopft mit der flachen Hand zwischen meine Schulterblätter. Dann noch einmal mit mehr Kraft. Sekunden später kehrt eine fiebrige Energie in mich zurück. Das Bewusstsein, wo wir sind, was die Männer oben tun werden, wenn sie das offene Gitter und uns wie junge Welpen ins Morgengrauen blinzeln sehen. »Schau nicht zu ihm hin«, sagt Bates flüsternd. »Du konzentrierst dich jetzt nur darauf, Barry die Kapuze abzunehmen, okay? Crossman?« »Nein, ich schau nicht hin«, wiederhole ich und stemme mich zu meiner eigenen Überraschung auf die Knie. Wende mich der sackförmigen Gestalt zu, hinter der sich ein neben mir liegender Mann verbergen könnte. »Barry«, sage ich, »wach auf.« Nachdem ich meine Finger endlich dazu gebracht habe, den Knoten an seinem Hals aufzufummeln, ziehe ich Barry den Sack vom Kopf. Er begrüßt mich mit einem Lächeln in einem verquollenen Trinkergesicht. »Was hat er gemacht?«, fragt er. »Wer?« »Wallace. Was hat er gemacht?« 190
»Ich weiß nicht. Aber wir sind noch nicht raus hier. Und wahrscheinlich müssen wir Lydia tragen, weil ihre Füße so –« »Wallace! Hey, Mann«, unterbricht mich Barry. »Ich glaub’s nicht, du hast es getan.« Vielleicht nickt Wallace ihm zu, oder vielleicht ist es nur das wilde Pumpen seines Herzens, das einen Ruck durch seinen Körper gehen lässt. »Wenn wir zurück sind, hast du was bei mir gut, was ganz, ganz Tolles«, fährt Barry fort. »Wie wär’s zum Beispiel mit meinen sämtlichen Hypothesys-Start-up-Anteilen? Oder meinem John-Deere-Sitzmäher. Ich liebe dieses Ding. Oder meine Tochter! Miss-Georgia-Finalistin 1997. Du kannst meine einzige Tochter heiraten, du gerissener Mistkerl, du.« Ich erwarte, dass Wallace ihm jeden Moment bedeutet, still zu sein, doch er lässt Barry zu Ende reden und antwortet selbst mit einem Lächeln. Einem Lächeln, das seine volle Teilnahme an dem scherzhaften Geplänkel bestätigt, seinen angeborenen Insider-Status. »Ich nehme deine Tochter«, sagt er. »Aber du legst besser noch deine Frau mit drauf.« »Darüber können wir verhandeln.« »Wir müssen jetzt weg.« »Da hast du vollkommen Recht, Crossman«, sagt Wallace und dreht sich zu mir her. »Aber zuerst müssen wir wissen, wie.« »Ich vermute mal, das wirst du uns gleich sagen?« »Da vermutest du richtig.« Lydia ist jetzt auch wach. Ihre Haut ist bleicher denn je, ihre Wangen ein Feuerwerk aus geplatzten Adern. Und sie hat einen Schneidezahn verloren. Wenn sie den Mund öffnet, ist da jetzt eine Lücke, durch die ihre Zunge herausquillt und einen Pfropfen gegen das Blut bildet, das aus dem Zahnfleisch rinnt. Doch ihre Augen sind hellwach. Wandern zwischen uns hin und her und lesen unsere Lippen. 191
»Ich weiß nicht, wie viele es sind.« Wallace hat wieder seinen Platz an der Wand eingenommen und spricht direkt zu ihr. »Sind sie schon wach?«, fragt Bates. »Vor drei Minuten noch nicht.« »Wie hast du es überhaupt geschafft, hier herauszukommen?« »Das haben die mir abgenommen. Einer von ihnen hat noch vor Sonnenaufgang das Gatter geöffnet und mich herausgeholt. Nur dass er diesmal allein war. Fing die übliche Nummer an, die er immer mit mir abzieht, nur dass er diesmal ein wenig übereifrig war. Ich dagegen hab seine Machete in die Finger bekommen.« »Bist du in Ordnung?«, fragt Bates. »Ich meine, war es –« »Es war ganz leicht.« Wallace atmet vollständig aus. »Sobald du angefangen hast, auf jemanden – also, es passiert einfach.« Er hustet jetzt, und es klingt beunruhigend, da es nämlich gar kein Husten ist, sondern ein Lachen, an dem er sich verschluckt, bevor es herauskommt. »Und jetzt?«, frage ich. »Wir müssen wissen, was da oben los ist.« Wallace blickt direkt nach oben, als meinte er damit die letzten nächtlichen Sterne am Himmel. »Also werden wir jetzt hinaufgehen, um ihre Boote zu suchen und herauszufinden, um was wir uns alles herumschleichen müssen, um sie zu erreichen. Dann kommen wir zurück, holen euch und hauen ab.« »Wir?« »Bates und ich.« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« »Was hast du für ein Problem, Crossman? Lydia kommt ja wohl nicht in Frage – sie kann nicht laufen. Und Barry ist im Augenblick auch nicht gerade in Topform.« »Und was habe ich für ein Handicap?« »Du bist eben du.« »Was zum Teufel soll das jetzt heißen?« 192
»Nichts. Nur dass ich dich nicht so gut kenne. Und drei sind einer zu viel.« »Kommt nicht in Frage. Ich komme mit.« »Ist das hier für dich eine Frage des Vertrauens?« »Nein, ich finde bloß –« »Heiliger Himmel, Bates, hör dir das mal an. Das müssen wir unbedingt in die kniffligen Situationen auf der HypothesysMusterseite aufnehmen, findest du nicht? Obwohl das da oben ziemlich gefährlich werden kann, fragt sich Crossman doch tatsächlich, ob dieses Risiko wirklich größer ist, als hier zu bleiben, während wir uns womöglich auf Zehenspitzen zum Fluss runterschleichen, auf das erste Floß hüpfen, das uns begegnet, und nicht wiederkommen.« »Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass ich mitkomme.« Wallace und Bates tauschen einen ihrer kurzen Blicke. »Gut«, sagt Bates fast im selben Augenblick. »Aber wir gehen voran und du verhältst dich still.« »Versteht sich. Aber eine Frage im Voraus: Haben wir irgendwas, um uns zu verteidigen?« »Mein Freund von oben hat sich da kooperativ gezeigt«, erwidert Wallace und deutet mit dem Kopf nach unten. Erst jetzt bemerke ich die Machete, fast schwarz vor Korrosion, die neben ihm im Boden steckt. Eine dieser großen, so lang wie ein Baseballschläger. Und daneben, mit der Mündung nach unten an seinen Schenkel gelehnt, eine alte Feldbüchse mit einem manuellen Hebel zum Nachladen unter dem Abzug. »Ich hätte eigentlich auch eine Pistole erwartet«, bemerke ich. »Wenn der Kerl derselbe war, an den ich denke.« »Sehr gut, Crossman«, sagt er und lächelt auch mich an, obwohl dieses Lächeln eine weniger herzliche Botschaft transportiert als das, das er Barry geschenkt hat. »Er hatte heute anderes mit mir vor, unglücklicherweise für ihn. Ein Fehler. Sonst noch Fragen?« 193
Es gibt keine Fragen mehr. Jedenfalls keine, die sich irgendjemand von uns zu stellen traute. Selbst als Wallace die Büchse an Bates weiterreicht und für sich selbst die Machete aus der Erde zieht – so dass ich unbewaffnet bin –, sage ich nichts. Sie gehen voran, und ich habe darum gebeten, ihnen folgen zu dürfen. Falls es ans Töten geht, fällt ihnen diese Aufgabe zu. Und zumindest einer von ihnen hat ja erst jüngst Erfahrungen damit gesammelt. Wallace steht auf, krallt sich mit den Fingern am Rand des Lochs fest und hievt sich mit einem kleinen Sprung an die Oberfläche. Nach all der Zeit, die wir hier unten verbracht haben, ist es eine Überraschung zu sehen, wie leicht man hinauskommt. In meiner Vorstellung hatte sich die Entfernung zum Tageslicht immer weiter ausgedehnt, so dass wir am Ende am Boden eines leeren Brunnenschachts saßen. Doch es ist nicht tiefer, als ein paar Männer mit Schaufeln an einem Nachmittag graben könnten. Dennoch brauche ich am Ende Hilfe. Mir war klar, dass ich nach mehreren Tagen mit einer Hand voll weißem Reis und verworrenem Schlaf nicht gerade in Hochform sein würde. Doch da ich der Ansicht war, noch klar denken zu können, ging ich davon aus, dass auch mein Körper mehr oder weniger Schritt gehalten hatte. Als ich die Arme zu Wallace und Bates hinaufstrecke und mich von ihnen hochziehen lasse, während meine Füße an der Wand entlangstrampeln wie bei einem Baby, das sich sträubt, in seinen Sportwagen gesetzt zu werden, wird mir klar, dass ich damit falsch lag. Ich bin flüssiges Gummi, unkontrollierbar und schlotterig. Ich bin Stretch Armstrong, die Action-Puppe mit den biegbaren Gelee-Gliedern. Als ich schließlich auf dem Boden stehe und meine Gliedmaßen einsammle, bin ich zu sehr außer Atem, um eine Entschuldigung zu stammeln. Was sowieso keinen Unterschied gemacht hätte. Wallace und Bates laufen bereits mit schnellen, 194
federnden Schritten und gebücktem Oberkörper am Rand des Aschehaufens vom Lagerfeuer der Männer vorbei und zum Saum der Bäume hinüber. Woher wissen sie, wie das geht? Eine Art, sich zu bewegen, die sowohl absurd als auch vertraut anmutet. Wo habe ich schon Männer gesehen, die es genauso machten? Im Kino. Amerikanische Teenager, die sich ihren Weg durch Reisfelder und Kommunismus bomben. Dann winken sie mich zu ihrem Standort im tiefen Schatten der Bäume herüber und ich mache es ihnen nach. Spurte, in der Hüfte nach vorn gebeugt, den Kopf tief, mit einer imaginären M16 im Arm über die Lichtung. Und stolpere beinahe über den halb nackten Körper eines Mannes. Der mit dem Gesicht nach unten in die Erde gedrückt liegt, als wäre er aus großer Höhe herabgestürzt. Sein Hemd jenseits seiner zusammengekrallten Finger zu einer kopflosen Schlange verdreht. Die Shorts in den Knien hängend. Keine Schuhe. Ein goldbesetztes Ohr, das fünfzehn Zentimeter von seinem angestammten Platz entfernt daliegt. Alles andere kreuz und quer schraffiert mit Schnitten und Stichen. Er hatte heute anderes mit mir vor. Der Körper mehr zerstückelt als zerschnitten. Flüssige Streifen, die jetzt überschäumen, jeder Riss von Fliegen verschleiert. Eine weiße Perlenschnur entlang seines Rückens: sein Rückgrat, nach oben gekrümmt, so dass die Kette aus Bandscheiben ans Licht gebracht ist. Ein Fehler. Beide Pobacken systematisch aufgeschlitzt. Ein dicker, fast klarer Schleim, der sich wie zwei angestochene Eigelb über das Fleisch ergießt. Ich wäre zu keiner Bewegung fähig, würden mich nicht Wallace und Bates zu ihrem Standort am Waldrand herüberwinken. Ich steige über den toten Mann hinweg und stelle mir vor, dass 195
ich dabei durch den schwebenden Geist oder die Aura oder was es sonst ist, das womöglich gerade seinen Körper verlässt, hindurchgehe. Doch es ist nichts zu spüren. Als ich sie erreiche, sieht mich Wallace fragend an und deutet mit zwei Fingern auf seine Augen. Ich schüttle den Kopf. Aber ich habe eigentlich auch nach niemandem Ausschau gehalten. Dann läuft Wallace noch einmal ein Stück auf die Lichtung hinaus. Bates, vier Schritte hinter ihm, dreht den Kopf, um in das niedrige Blätterdach zu spähen und dann scharf zurück zu den Zelten. Ich bleibe etwas weiter hinten, während ein Teil von mir sich überlegt, dass ich, falls etwas Schlimmes passiert, immer noch in das Loch zurückspringen, das Gitter über mir schließen und darauf hoffen könnte, nicht bemerkt zu werden. Obwohl ich mehrmals hier oben war, seit uns die Männer entführt haben, erscheint ihr Lager nun, da wir es uns auf eigene Faust ansehen, zerlumpt und harmlos. Die kantigen, verkohlten Brocken der Feuerstelle, der rote und gelbe Nylonstoff der Zelte, alles gedämpft im rauchigen Morgengrauen. Nicht größer als der Strafraum eines Fußballfeldes. Wir müssen uns den Zelten bis auf drei Meter nähern, um auf den Pfad zu gelangen, der hinunter zum Fluss führt. Drei Zelte, die in einem Kreis stehen, jedes groß genug, um vier Schläfern Platz zu bieten. Die Reißverschlüsse der Zelteingänge bis unten hin zugezogen und mit festen, zierlichen Schleifen verschnürt. Die Moskitos belästigen anscheinend auch gnadenlose Guerilleros. Doch ehe wir den nächsten Gedanken zu Ende gedacht haben, werden wir auch schon an ihnen vorbei sein, im Schutz der Blätter und des ersten morgendlichen Kreischens aus den Bäumen – Wallace bleibt stehen, wo der Pfad beginnt. Als Bates und ich hinter ihm innehalten, merken wir, wie viel Lärm wir verursachen, seit wir aus dem Loch gekrochen sind. Jemand dreht sich in einem der Zelte um. Seufzt. 196
Warum geht Wallace nicht weiter? Er steht so nah am äußersten Zelt, dass er nur den Arm auszustrecken brauchte, um an der Zeltstange zu rütteln. Und vielleicht tut er das ja auch gleich. So stehen wir fast eine Minute. Oder noch länger. Vor mir fangen Bates’ Knie zu zittern an. Aus einem anderen Zelt dringt der Posaunenton eines Furzes. Auf dieses Signal hin setzt sich Wallace endlich in Bewegung. Dreht den Kopf zu uns um. Grinsend. Doch bevor sich dieses Grinsen noch weiter ausbreiten kann, verschwindet es wieder, ersetzt durch einen Zeigefinger am Mund. Was kaum nötig ist. Wir sind schon so leise, wie wir können. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt schon einmal geatmet habe, seit wir aus dem Loch sind. Wallace geht weiter. Den Pfad hinunter, der gerade mal Platz bietet für ein Paar breite Schultern wie seine. Blätter schlagen dagegen, ein geflüsterter Protest gegen seine Bewegung. Bestimmt genügend von Menschen verursachte Geräusche, um die Männer aufzuwecken. Und ich werde es als Erste herausfinden, wenn es so ist: als Letzte in der Schlange und den Zelten immer noch so nah, dass ich die Körper der Schläfer darin riechen kann. Das Licht nimmt in unregelmäßigen Schüben zu, wie durch ruckartiges Drehen an einem Dimmer. Bald wird die Hitze die Männer aus ihren Zelten treiben. Und der Pfad ist länger, als ich ihn von unserer Ankunft in Erinnerung habe. Ein mäandernder Weg zu einem immer noch unsichtbaren Fluss hinunter. »Wallace«, sagt Bates. Nur den Namen, um seinen Bedenken Ausdruck zu verleihen. Doch Wallace drängt weiter, führt uns im Zickzack nach unten. Und erreicht eine Gabelung. Ein Arm des Pfads führt in der Richtung weiter, die wir eingeschlagen haben, der andere biegt 197
scharf nach rechts ab. Ohne ein Zögern folgt Wallace der Abzweigung. Nach weiteren fünfzig Metern bin ich nahe daran, nach vorn zu rufen, ob er vielleicht eine Ahnung hat, wo zum Teufel wir hingehen, oder auch nur seinen Namen auszusprechen wie Bates vorhin, doch da bleibt Wallace wieder stehen. Hebt die Hand über den Kopf als Zeichen, dass wir still sein sollen. Von da, wo ich stehe, kann ich nichts sehen außer Bates’ mit Schweißflecken überzogenem Rücken. Doch irgendetwas ist garantiert neu an der Stelle, wo wir uns jetzt befinden. Das Geräusch von Wasser. Nicht der große Fluss, sondern ein kleinerer Nebenfluss davon. Winzige Wellen, die auf einem sandigen Ufer höflich Beifall klatschen. Wallace duckt sich wieder in seine Kinosoldatenhaltung und betritt eine neue Lichtung. Kleiner als die des Lagers, wobei diese hier allerdings natürlich ist, gesäumt von Bäumen, die Arm in Arm an einem kleinen, lang gezogenen Strand stehen. Dahinter ein träges Flüsschen, nicht mehr als zehn Meter breit, vom großen Fluss verborgen durch eine fast rechtwinklige Linkskurve. Und da, direkt vor uns im Sand, drei Langboote. Ein idealer Ort dafür. Von den Flussschiffen aus, die alle Jubeljahre einmal auf dem Rio Negro hier vorbeifahren, würde man nicht im Traum jemanden hier vermuten. Die Vorstellung, ins nächstbeste Boot zu springen und es geradewegs auf den Fluss hinauszusteuern, ist so verlockend, dass ich ihn zunächst gar nicht sehe. Ein Mann, der sich über das Heck des dritten Kanus gebeugt hat und mit einem Schraubenschlüssel am Außenbordmotor herumhämmert. Er hört uns nicht, als wir aus dem Wald treten und uns im Halbkreis um den Bug formieren. Die Luft vibriert vom metallischen Klang des Schraubenschlüssels. Sein Atem ist ein wenig angestrengt, unterbrochen von frustrierten Grunzern – offenbar macht er das hier schon eine ganze Weile. Eine Zeit lang sehen wir ihm nur zu. Wir können uns nicht 198
zum Handeln durchringen, solange er nicht aufgehört hat. Schließlich wischt sich der Mann die Hände an einem Fetzen ab, den er sich in die Jeans gesteckt hat, und richtet sich auf. Greift nach dem Starterseil und zieht mit einem Ruck daran. Der Motor springt an, spuckt blauen Rauch. Laut wie eine Kettensäge und mit einem Rasseln, das gar nicht gut klingt. Doch er läuft. Der Mann stemmt zufrieden die Hände in die Hüften. Wallace zeigt auf den Mann. So offensichtlich das auch sein mag, ich habe vergessen, dass wir, falls wir jemandem begegnen, versuchen müssen, ihn umzubringen. Bates hebt den Gewehrkolben unter das Kinn und zielt mitten auf den Rücken des Mannes. Hält das Gewehr in dieser Position und dreht den Kopf zu Wallace. Holt, während sein Kinn zittert, mit den Augen die Erlaubnis ein. Nicht um sicherzugehen, ob das Timing stimmt oder ob er richtig zielt, sondern um sich bestätigen zu lassen, dass es unter den gegebenen Umständen eine hinnehmbare Handlungsweise ist, einem Mann, der sich dessen nicht einmal bewusst ist, eine Kugel zwischen die Schulterblätter zu jagen. Wallace nickt. Ein Mal. Ohne noch einmal den Kopf zurückzudrehen und zu prüfen, wo genau der Schuss landen wird, drückt Bates ab. Die Waffe blockiert. Oder schießt jedenfalls nicht, egal warum. Allerdings fabriziert sie einen hohen, klirrenden Laut, auf den hin der Mann von seiner Arbeit aufblickt und uns ansieht. Was er wohl denken mag? Im Gegensatz zu Bates’ Gesicht verrät seines gar nichts. Das Lächeln darauf erschlafft, hängt aber immer noch da, bedeutungslos. Seine einzige Geste ist ein langsames Heben der Hände, um sich die Handflächen voller Maschinenöl am T-Shirt abzuwischen. Schwarze Streifen quer über das aufgebügelte Abziehbild. Ein Konzertfoto von Britney Spears. Der Mann blickt auf die Waffe und scheint von ihren mecha199
nischen Mängeln in keiner Weise überrascht, denn anstatt darin seine Hauptsorge zu sehen, kommt er einen Schritt näher und sieht Wallace an. Und dann die Machete, die dieser an seiner Seite trägt. »¿Cómo obtuviste eso?«, fragt er. Woher hast du das? Anstelle einer Entgegnung macht auch Wallace einen Schritt vorwärts. Entschlossen, mit gestrafftem Rücken. In der Haltung eines jungen Soldaten, der aufgerufen wird, um eine Medaille an die Brust geheftet zu bekommen. Mit beiden Händen hebt Wallace die Machete hoch. Der Mann blickt an ihm vorbei zu uns her, nach Bestätigung suchend. Er fragt sich, ob jetzt gleich das passieren wird, wonach es aussieht. Dieser Junge da? Der Amerikaner, der in Wirklichkeit gar kein Amerikaner ist und dessen Hauptmerkmal darin besteht, dass er als Einziger von euch nicht heult und bemerkenswertes Glück beim russischen Roulette vorweisen konnte? Der will mir mit diesem Ding kommen? Wie hat der überhaupt bis hier herunter gefunden? Der Mann hat noch viele Fragen. Doch Wallace hebt sich auf die Zehenspitzen, um sein ganzes Gewicht nach unten zu verlagern, dahin, wo die Klinge auf das Schlüsselbein des Mannes trifft, und die Wucht lässt all seine Fragen aus ihm entweichen. Dennoch wirft sie ihn noch nicht ganz zu Boden. Der Mann sinkt auf ein Knie. Die Hände nach vorn ausgestreckt, die Finger ineinander verschlungen, wie in der Pose eines Heiratsantrags. Wallace setzt nach. Ein direkter Stoß gegen die Brust lässt den Mann nach hinten kippen. Seine Beine schlagen ins Leere. Ein roter Hof breitet sich auf Britneys Ausschnitt aus. »O Scheiße«, ruft Bates, beinahe strahlend. Wallace steht jetzt direkt über dem zu Boden gesunkenen Körper, rittlings über seiner Hüfte. Einen Moment lang erwarte ich, dass er die Waffe wegwirft und seine Hose öffnet, um dem Mann ins Gesicht zu pinkeln. 200
Doch das ist nur meine Ungeduld. Wallace gibt sein Äußerstes. Der Mann will einfach nicht so zügig sterben wie seine Vorbilder im Kino. Sieh nur: Jetzt gehen Hiebe auf seine Stirn nieder. Ein ganzes Dutzend in Folge, bis sie aufkracht. Einen Blick auf weißes Nudelgewirr freigibt. Jetzt ist das spitze Ende der Waffe ein Presslufthammer auf seinem Leib. Der ist weicher. Und bringt mehr Flüssigkeit hervor, als man sich darin, angesichts all der sorgfältig angeordneten Taschen und Beutel, überhaupt vorstellen kann. Mehr ein Rühren in Muskeln und Sehnen als ein bloßes Durchtrennen. Die Möglichkeit, meinen Kopf abzuwenden, stellt sich mir gar nicht. »O Scheiße«, ruft Bates noch einmal, als Wallace sich schließlich zu ihm umdreht; seine Zunge hängt heraus, als wolle sie ganz aus seinem Mund fliehen. »Fertig«, sagt Wallace. »Er rührt sich immer noch ein wenig«, stellt Bates fest. »Das ist immer so.« »Hat der andere das auch gemacht?« »Dann sieh eben weg, wenn du es nicht –« »Ich hab kein Problem damit.« »Na gut. Zähl bis zehn, dann ist er weg.« Bates fängt tatsächlich an, laut zu zählen. Eins, zwei, drei… Ich bin gar nicht da für sie. Sie machen das zusammen, teilen miteinander das, was davon zu bewahren ist. Jede Sekunde erhält ihren Namen, über das stotternde Brummen des Außenbordmotors hinweg. … sechs, sieben … Bates sieht zu, wie der Mann stirbt. Wallace beobachtet Bates. Und ich bin gar nicht da. Bei acht rührt sich der Mann nicht mehr. »Du hattest Recht«, sagt Bates. »Nicht einmal zehn.« 201
»Ich bin eben gut für zwei.« Sie lachen kurz auf, zusammen. »Hört auf!« »Was?« »Was?« »Was zum Teufel glaubt ihr eigentlich, was ihr hier macht?« »Was?« »Was?« Ich gehe um den Kopf des Mannes herum, um den Außenbordmotor abzustellen. Er verstummt mit einem Keuchen, oder einem Lachen, einem Echo von Wallace und Bates. »Ich habe gefragt, was ihr hier eigentlich macht?« »Wir machen immerhin etwas, Crossman.« Mit nur einem Schritt steht Wallace dichter bei mir, als ich geschätzt hätte. »Im Gegensatz zu deiner bevorzugten Strategie, einen Dreck zu tun. Also spiel hier nicht plötzlich die feine Dame, von wegen wie abscheulich und eklig das alles ist und wie du gar nicht fassen kannst, was da passiert, okay? Das Recht darauf hast du dir noch nicht verdient.« Ohne es zu merken, hat Wallace die Machete auf Hüfthöhe erhoben. Ich schaue nach unten auf meinen entblößten Bauch unterhalb des T-Shirts, das unter meinen Brüsten verknotet ist. Überraschend rosarot und sanft gerundet. Weich. »Nun kommt schon. Reißt euch zusammen«, ruft Bates. »Wir müssen zurück, die anderen holen.« »Sollte nicht irgendjemand hier bleiben?« »Bei ihm?«, fragt Wallace mit einem Blick auf den Bootsmechaniker. Lässt das Ende der Machete auf die Spitze seines Nike-Turnschuhs sinken. »Wieso? Wir gehen alle zusammen. Es wird wahrscheinlich nicht gerade leicht, Lydia und Barry bis hierher zu schleppen.« Wallace macht sich wieder auf den Weg den Pfad hinauf, noch bevor ich etwas erwidern kann. Und was würde ich auch sagen, selbst wenn er gewartet hätte? Gar nichts vermutlich. 202
Tatsächlich verhindert wird nur das, was ich vielleicht getan hätte. Wenn die Dinge nur ein wenig anders lägen, würde ich Wallace und Bates ziehen lassen, diesen Motor anwerfen und mein Glück allein versuchen. Doch ich kenne sie zu gut, um dies jetzt noch zu tun. Oder will sie kennen. Und dann die Vorstellung, auch nur einen Augenblick mit der Leiche des Mannes allein zu sein, der mit geschürzten Lippen nach oben schaut, als warte er auf die Antwort auf eine Frage, die er schon vor langer Zeit gestellt hat. Also folge ich ihnen erneut. Diesmal bergauf, so dass mir schon bald meine Erschöpfung Probleme macht, ich mich mit den Handflächen zwecks Hebelkraft auf den Knien abstützen muss. Den Mund so weit aufmache, dass mir der Kiefer wehtut. Als wir wieder auf die Lichtung kommen, sieht sie genauso aus wie vorher, nur mit einer zusätzlichen Farbschicht überzogen. Der Morgen ist angebrochen. Die Unentschiedenheit, die noch vor ein paar Minuten herrschte, verdrängt von komprimiertem Tageslicht. Doch die Männer sind immer noch in ihren Zelten. Wallace und Bates tauschen noch einen Blick und dieses Mal verstehe auch ich ihn. Wir haben zu lange gebraucht. Die Piraten müssten eigentlich längst auf sein, und es ist nur pures Glück, dass sie es noch nicht sind. Oder vielleicht schlafen sie ja gar nicht mehr, sondern liegen bereits auf der Lauer, gleich hier irgendwo, außer Sicht. Wir schauen zur anderen Seite der Lichtung hinüber. Das geöffnete Gatter über dem Loch wirkt unglaublich weit weg in diesem neuen Licht. Und daneben die zusammengesunkene Gestalt eines Mannes, dem der Kopf fast bis in den Schoß hängt. Ein Teddybär, dem die Füllung herausgerissen wurde. Als Barry uns sieht, zeigt er uns seine schmutzigen Ellbogen, mit denen er sich aus dem Loch gehievt hat. Bringt ein Winken mit einem Finger zustande. 203
Und mit dieser kindlichen Geste, aus der die naive Überzeugung spricht, dass wir zurückkommen, um ihn zu holen, sind die Optionen, was wir als Nächstes tun sollen, mit einem Schlag von uns genommen. Barrys Winken entscheidet alles. Wir rennen los, machen uns nicht einmal mehr die Mühe, den langen Weg außen herum zu nehmen, wo uns die herabhängenden Zweige Deckung böten. Ein ungutes Kribbeln in meinen Beinen. Ein Dröhnen in meinen Ohren, wie wenn man der Brandung in einer Schneckenmuschel lauscht. Den Blick ganz fest auf Barry gerichtet, um die schwarzen Punkte unter Kontrolle zu halten, die jetzt mein Blickfeld überschwemmen – – Lydia noch immer da unten in dem Loch, weinend vor schierer Freude, uns wieder zu sehen. Barry, der uns erklärt, dass er selbst versucht habe, sie herauszuziehen, damit sie beide bereit wären, wenn wir zurückkämen, dass jedoch seine gebrochenen Handgelenke ihm nicht erlaubt hätten, sie festzuhalten, und die Anstrengung ihn am Ende erschöpft habe. »Bates, stell dich auf die andere Seite«, befiehlt Wallace. Die zwei beugen sich hinunter und fassen Lydia an den Unterarmen. Ziehen an ihr, was das Zeug hält. »Ich glaube nicht, dass ich laufen kann«, sagt sie, als sie sie neben Barry absetzen. Wir blicken auf ihre Füße. Zwei undefinierbare Klumpen Fleisch, etwas, was in einem chinesischen Fleischerladen im Schaufenster hängen könnte. »Wir helfen dir«, sagt Wallace. Streicht ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Du blutest«, sagt sie. »Das ist nicht mein Blut.« »Gott sei Dank.« »Aber wir müssen sofort los, Lydia.« Sie nickt. Wir nicken alle. »Wir rennen quer über die Lichtung zu diesen Zelten hinüber«, fährt er fort. »Daneben führt ein Pfad zum Fluss hinunter. Ziemlich weit unten kommt eine Gabelung – nehmt die 204
Abzweigung nach rechts. Dort sind Kanus. Ich gehe voraus, falls sie aufwachen, bevor wir dort sind. Crossman und Bates, ihr helft Lydia. Und Barry, du brauchst ihnen nur zu folgen.« »Was, wenn sie hinter uns her –« »Gibt es einen Treffpunkt, der –« Doch Wallace springt bereits über die Lichtung. Wir tun, wie uns befohlen wurde. Bates und ich schlingen uns Lydias Arme um den Nacken und schaffen es, sie so weit hochzuheben, dass ihre Schienbeine über die Wurzeln schleifen. Die Sonne springt höher, in die oberen Baumwipfel hinauf. Und mit ihr steigt die Hitze. Wenn ich schon vorher gegen die Ohnmacht angekämpft habe, dann ist jetzt jeder Schritt ein trotziger Akt gegen die schwarzen Punkte. Schon nach den ersten paar Sekunden ist klar, dass wir es nicht schaffen. Ich bin mir sicher, dass ich Bates’ Zustimmung spüren kann, darin, wie sein Arm oberhalb von meinem erstarrt. Wie wir vor jedem nächsten Schritt zögern, um zu sehen, ob vielleicht einer von uns zuerst stehen bleibt und es zu einem Ende kommt, ohne dass wir denken müssten: Ich war es. Doch wir kämpfen uns weiter vorwärts. Auf eine Art und Weise, die man kaum als Vorwärtskommen bezeichnen kann, die kaum mehr ist als ein in die Länge gezogenes Nach-vorneFallen. Die Köpfe gesenkt, um alles andere auszublenden. Wie die Zelte einfach nicht näher kommen, obwohl wir uns mit einer Beharrlichkeit auf sie zuschleppen, die uns gar nicht zusteht. Dennoch riskieren wir alle drei oder vier Schritte einen Blick nach vorn. Nicht um zu sehen, wie weit wir sind, sondern um sicherzugehen, dass Wallace immer noch vor uns ist. Solange er das ist, können wir anscheinend bis zum nächsten Heben des Kopfes durchhalten. Als wir gerade die halbe Lichtung überquert haben, schauen Bates und ich wieder auf. Und Wallace ist da, auf der anderen 205
Seite der Feuerstelle. Nur dass er jetzt vollkommen still steht. »Hey!«, ruft Bates flüsternd. »Warum bleibst du –« In diesem Augenblick sehen wir die beiden Männer vor den Zelten. Mit schlaff herabhängenden Armen. Einer von ihnen nackt. Sein Penis noch schlafend in seinem Nest aus Schamhaar. Bates kapiert als Erster, was gleich kommen wird. Fängt an, Lydia zum schützenden Wald hinüberzuzerren. Doch er tut es, bevor ich seiner Bewegung folgen kann, und Lydias Arm, immer noch fest um meinen Nacken geklammert, reißt mich zu Boden. Die ganze Zeit hängen meine Augen gebannt an dem nackten Kerl. Sehen, wie er sich langsam bückt, den Kopf in das nächste Zelt steckt und mit einer Pistole wieder hervorkommt. Eine Sekunde auf sie hinunterblickt, fast mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit. Etwas neben dem Griff einschnappen lässt. Auf uns zielt. Wenn sich Wallace nicht endlich bewegt, dann bin ich mir sicher, dass ich reglos zusehen werde. Doch er schnellt in die entgegengesetzte Richtung von Bates und Lydia, winkt mit den Armen über dem Kopf wie ein wild gewordener Orang-Utan. Was passiert dann? Eine ganze Menge. Es hat keine Reihenfolge, doch es prallt auch nicht alles zusammen. Es geschieht einfach. Schüsse natürlich. Aus Waffen unterschiedlicher Kaliber, knallende Champagnerkorken und Kanonendonner und Kastagnettenklappern, alles gleichzeitig. Die Luft zerspringt wie Glas. Alles ein bisschen viel, wie Lydia vielleicht sagen würde. Doch die Kugeln tun, was ich von ihnen erwarte. Reißen Rinde von Baumstämmen, bohren sich mit Staubwölkchen in die Erde, ziehen vibrierende Spuren knallharter Geschwindigkeit hinter sich her. Und noch andere, deutlichere Bewegung wogt um mich her. 206
Da ist mein eigener Kampf, auf die Beine zu kommen (der Blickwinkel auf die Zelte der Piraten verändert sich, also muss ich wohl etwas tun). Dunkle Gestalten drängen quer über die Lichtung. Ich kann die Lücke im Unterholz sehen, auf die ich zusteuere, ohne ihr meinen Kopf zuzuwenden. Dieselbe Richtung, die auch Bates und Lydia genommen haben. Wenn man ein paar hundert Meter schnurgerade da hindurchgehen könnte, würde man wahrscheinlich auf den Strand stoßen, an dem die Boote liegen. Mehr oder weniger. Ich schätze, dasselbe hat auch Bates im Sinn. Und die ganze Zeit rattert in meinem Ohr ein Ticker mit ständig neuen Updates, ob ich schon getroffen bin. Nein. Und jetzt? Glaube nicht. Und wie sieht’s jetzt aus? Also, irgendeine Stelle tut jetzt definitiv weh. Mehrere Stellen. Aber ob das eine Kugel ist oder wieder ein Aufflackern der Hakenwunde in meinem Rücken oder womöglich etwas ganz anderes – – komisch, wie man inmitten all dieses schrecklichen Treibens diese Wörter heraufbeschwören kann. Woher kommt das alles?, fragt ein Teil von mir, noch während es geschieht. Und ein anderer Teil antwortet: Du würdest dich wundern. Die Gewehre machen einen Krach wie Bremsen, die mir um die Ohren schwirren. Füße laufen brennend durch Gras, das gezackt und scharf wie ein Steakmesser ist. Und inzwischen bilde ich ganze Sätze im Kopf. Es passiert automatisch. Verwandelt das, was um mich herum passiert, in etwas, was in mir passiert. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich die ganze Zeit über nicht schreie – – stürze mit geschlossenen Augen in das Grün. Der Wald fängt mich auf, gibt dabei jedoch schwindelerregend viel nach, 207
wie wenn man in ein Spinnennetz aus Gummibändern rennt. Nur noch dieser Gedanke in meinem Kopf, dass da etwas dicht hinter mir ist und ich vorne bleiben muss. Vielleicht Barry, vielleicht nicht. Dann fliege ich. Vorwärts katapultiert von meinem letzten Sprung, von den Fußballen abfedernd. Irgendein Körperteil sollte längst auf dem Boden aufgetroffen sein, doch der Boden ist weggezogen. Als ich die Augen öffne, erwarte ich, von oben auf das Dach des Urwalds zu blicken, Fingerspitze an Flügelspitze mit einem dieser hübschen Vögel, die der Reiseführer uns gezeigt hat, damals, vor einer Ewigkeit. Doch da bin nur ich allein. Krache mit der Schulter auf die Erde und kullere auf den Strand, an dem die Boote liegen. »Wo ist Lydia? Crossman, hast du sie gesehen?« Bates steht an den Rand des hintersten Boots gelehnt. Seine Füße so dicht beim Kopf des toten Bootsmechanikers, dass er ihm einen Tritt versetzen könnte, wenn er wollte. »Du hattest sie zuletzt«, sage ich und spucke dabei einen Klumpen Dreck aus. Es bedarf einer ganzen Reihe einzelner Bewegungen, bis ich wieder auf die Füße komme. »Sie war eben noch da und dann war sie plötzlich weg«, sagt Bates. »Ich habe sie bis zu den Bäumen gekriegt und dann – ich dachte, du hast sie vielleicht aufgehoben, als du hergekommen bist.« »Aufgehoben? Sie ist keine Handtasche, Bates. Und sie war bei dir.« »Du hast doch gesehen, wie beschissen das alles lief. Sie haben auf uns geschossen, und dann war da ein Ruck oder so was – ich weiß nicht genau. Ich glaube, sie wurde vielleicht getroffen.« »Wie willst du das wissen?« Bates wischt die Luft vor seinem Gesicht beiseite. »Sie war eben noch da und dann war sie plötzlich weg.« 208
»Oder du hast sie fallen lassen. Um schneller voranzukommen.« »Nein«, stöhnt er, doch es ist kein hilfloser Laut. Eher zornig. »Das hab ich nicht getan. Das würde ich nie tun.« »Ich sag ja bloß.« »Du redest Scheiße. Und wo warst du überhaupt da oben?« »Lydia hat mich umgerissen.« »Oh, bitte. Hat dich umgerissen!« Ich erwarte, dass Wallace sich jeden Augenblick in diesen kleinen Gedankenaustausch einschaltet. Doch Wallace ist nicht da. »Er war da, als ich ankam«, sagt Bates, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich schätze, er hat sich in einem großen Bogen hierher durchgeschlagen. Dann ist er wieder zurückgerannt, um Barry zu holen.« »Barry? Und was ist mit mir?« »Du bist ja jetzt da, oder?« Bates zuckt auf eine Art und Weise, die ein Schulterzucken sein könnte, dass er es sich noch einmal anders überlegt hat. »Herrgott, Bates. Ich war da drin –« Das Tattattat von Maschinengewehrfeuer verschlägt mir die Sprache. Nicht weit weg. Ein Stück den Pfad hinauf, bei der Gabelung. So dicht, dass wir hören können, wie Blätter von den Bäumen gerissen werden, als die Kugeln ins Laubdach krachen. Alle beide wenden wir uns instinktiv zu den Kanus um. Ein kräftiger Schub vom Strand herunter, und wir könnten mit der Strömung davontreiben, um die Biegung und außer Sicht. »Sie kommen«, stelle ich fest. »Wir müssen warten.« »Wenn wir uns jetzt stromabwärts in einem der Boote verstecken, können wir nach ihnen Ausschau halten.« »Nein, Crossman.« »Sie haben überhaupt keine Chance mehr wegzukommen, 209
wenn wir nicht –« Etwas kommt direkt hinter mir aus dem Gebüsch. Sogar die Augen des toten Mannes beim Boot sind darauf gerichtet, elfenbeinfarbene Kugeln, voller Staunen. Es bleibt keine Zeit mehr, etwas zu unternehmen. Nur noch so viel, um über meine Schulter zu sehen und festzustellen, was dort inzwischen ist. »Crossman, Bates«, ruft Barry. »Ich habe Wallace für euch gefunden.« Und in der Tat sieht es so aus, als hätte der schwere Mann versucht, es mit Wallace aufzunehmen, wie er so auf dem Rükken des jungen Mannes hängt. Doch in Wirklichkeit ist er es, der getragen wird. Wallace atmet in heftigen Stößen, die seine Lippen nach vorne stülpen. »Sie haben ihn erwischt«, sagt Wallace. Im selben Augenblick versucht er, Barry von seinem Rücken gleiten zu lassen, doch sobald Barry loslässt, fällt er hart zu Boden. Landet als unförmiger, zusammengerollter Haufen im Sand. »Sie haben ihn erwischt«, sagt Wallace erneut. Und das haben sie. Nicht richtig schlimm, zumindest nicht im Vergleich zu den Verletzungen des Bootsmechanikers. Doch etwas zeichnet sich jetzt unter seiner Achselhöhle ab. Ein Blutfleck da, wo ein Schweißfleck sein sollte. »Alles okay«, sagt Barry, der unseren Blicken gefolgt ist. Er verdeckt die Wunde mit der Hand. »Ich glaube, sie ging rein und wieder raus. Im Ernst. Es ist nicht der Rede wert.« Sein Ton ist nun nicht mehr von dem erzwungenen Humor von gerade eben erfüllt. Der professionelle Verkäufer in ihm hat sich schließlich doch noch verflüchtigt, zurück bleibt etwas Hohles. Es ist auch nicht wegen seiner Wunde. Es ist die Angst. Nicht Angst vor den Schüssen, sondern davor, dass wir ihn zurücklassen könnten, weil er zu schwer verwundet ist. 210
»Du hast also auch hergefunden«, sagt Wallace jetzt an mich gewandt. »Irgendwie.« »Und Barry hast du da drin nicht gesehen?« »Ich hab da drin überhaupt nichts gesehen.« »Er hat geschrien wie verrückt.« »Ich bin nur gerannt. Wenn ich ihn gesehen oder gehört hätte, hätte ich ihm auch geholfen.« »Gilt das auch für Lydia?« »Bates war zuletzt bei ihr.« »Ich frage aber dich.« »Seid still«, sagt Bates zu niemand Bestimmtem. »Siehst du nicht, dass er am Durchdrehen ist, Bates?«, sage ich, auf Wallace deutend. »Schau ihn dir doch an. Rennt blutverschmiert durch die Wälder wie ein tollwütiges Tier –« »Seid still!« In der plötzlichen Stille hören wir es. Zuerst dringt es nur als ihr Entsetzensschrei an unsere Ohren, die Erkenntnis, dass sie sie jetzt haben und dass sie allein ist. Doch dann können wir die einzelnen Wörter entziffern. Lydia schreit unsere Namen. Die Bäume spielen mit der Gestalt der Laute, die sie ausstößt. Schieben sie weiter in den Wald zurück, als sie vermutlich sind, verflachen den Raum, der für ein Echo nötig wäre. Doch irgendwie ist immer noch Bewegung darin, wie in einer Stimme, die vom Wind getragen wird. Aber es gibt hier keinen Wind. Nur diesen einen Klang. Zugleich weit weg und irgendwo gleich hinter dem Vorhang aus Grün. Ich sage etwas. Ich weiß nicht genau, ob ich meine, was ich sage – ich weiß nicht einmal, was es genau bedeutet –, doch es scheint mich sowieso keiner gehört zu haben. Ich versuche es noch einmal. Lauter. »Wir müssen zurückgehen, Wallace.« »Nein.« Er sagt dies, ohne den Kopf von der Stelle zu wen211
den, die er fixiert hat. »Herrgott noch mal, die bringen sie um.« »Sie bringen sie gerade eben um.« »Wir könnten sie aufhalten.« »Wahrscheinlicher ist, dass sie auch noch uns kriegen.« »Nicht, wenn wir durch den Wald gehen und uns vom Pfad fern halten. Sie mit dem Gewehr einzeln abknallen.« »Das Gewehr funktioniert nicht«, sagt Wallace scharf und wendet uns endlich die Augen zu. »Und selbst wenn, welche Chance hätten wir schon? Peng. Einer weniger. Dann fallen die anderen über uns her. Außerdem, was glaubst du wohl, wieso sie noch schreit? Die wollen, dass wir zurückkommen. Sie wissen nicht sicher, was für Waffen wir hier unten haben, deshalb sind sie uns noch nicht bis hierher gefolgt. Wenn wir da raufgaloppieren, sind wir die tollsten toten Cowboys in ganz Brasilien.« »Wenn wir nichts tun, dann wären wir besser gleich tot.« »Ach nein, wie romantisch, Crossman. Du sagst diese Sachen, weil du Lydia magst und weißt, was die mit ihr machen, und dass das nicht besonders nett ist. Doch wir setzen jetzt sofort unsere Ärsche in dieses Kanu und hauen ab. Falls sie nicht vorher noch hierher kommen. Warum also tun wir so, als würden wir eine Entscheidung treffen, wenn sie längst getroffen ist?« Die Worte halten uns davon ab, den Pfad wieder hinaufzuklettern, um Lydia zu retten. Wallace weiß, dass man Worte, wenn man einmal mit ihnen angefangen hat, zu Ende hören muss. Gar nicht so sehr durch das, was er sagt, sondern durch das Reden an sich bringt er uns dazu, wieder zu uns zu kommen, betäubt, was uns dazu treiben will, Hals über Kopf der Ehre hinterherzurasen, und bringt uns auf den Boden zurück, den wir alle gewohnt sind. Die Ablenkungsrhetorik des Selbsterhalts. Vernunft. Abwägungen. Helden sind bloß die, denen die Wohltat der Worte fehlt. 212
Und ohne noch ein weiteres dieser Worte zu verlieren, schieben wir die Hände unter Barrys schlaffen Körper und hieven ihn in den Bug des nächstbesten Kanus. Schieben es ins Wasser hinaus und springen dann selbst hinein. Wallace klettert nach hinten zum Motor und zieht am Starterseil, einmal, zweimal. Beim dritten Versuch erwacht er mit einem Schüttler zum Leben, rattert wie eine Schulglocke. Wallace zieht die Ruderpinne an seine Brust und wendet das Boot mit einer scharfen Kurve, steuert es in den Kanal, von dem wir vermuten, dass er in den großen Fluss mündet. Zweige schlagen uns ins Gesicht. Duftende Stiche auf unserer Haut. Von irgendwo hinter oder vor uns ertönen Lydias Schreie in unverminderter Lautstärke. Bates hält sich die Ohren zu, doch das kann sie nicht aussperren. Ich weiß es, da ich es selbst versucht habe. Er wird hören, wie der Urwald seinen Namen ruft, solange er sich in ihm befindet. Und noch darüber hinaus, falls wir je hier herauskommen. Das wissen wir schon jetzt. Dass dieses Rufen unserer Namen das Ende unseres bisherigen Selbst markiert und dass alles, was danach kommen mag, ein zweites Leben sein wird. In dem wir versuchen, die ersten Stunden dieses Morgens auszusperren – verrammelt, verboten, ein Geisterhaus, vor dem man die Straße überquert, um nicht direkt daran vorbeigehen zu müssen. Lydia kreischt unsere Namen, doch es sind keine Namen mehr. Es sind Beschwörungen. Ein Bann, der über uns geworfen wird und uns erkennen lässt, was tatsächlich unter der dünnen Haut dessen liegt, was wir sind, unter der brüchigen, unerprobten Schutzhülle, die sie uns bietet. Und was wir entdecken, ist schlichtes Entsetzen. Unser ganzes Leben scheint nicht mehr zu sein als ein leeres Ritual, um in einer Welt normaler Dinge normal zu erscheinen. Ich blicke mich nach Wallace um, will sehen, ob er es auch hört, doch er sieht nur stur geradeaus. Vielleicht, um das Kanu zu steuern. Oder vielleicht übertönt das Knattern des Motors 213
für ihn allein die Rufe. Dabei hören wir seinen Namen häufiger als alle anderen. Beginnend in Lydias Körper, doch fortgetragen von den Blättern, telegrafiert durch das Netzwerk der Ranken. Crossman, Barry, Bates – wir werden unsere Namen mit uns nehmen. Doch Wallace’ Name wird hier bleiben. Noch eine Biegung, und einen Augenblick lang sieht es so aus, als führen wir wieder landeinwärts. Doch es ist nur die letzte Schlaufe des mäandernden Flüsschens, bevor der große Fluss breit und satt vor uns liegt. Wir haben keine Vorstellung von Nord oder Süd oder, selbst wenn wir es wüssten, davon, wo die geeignetere Richtung wäre. So steuert uns Wallace geradeaus in das Hin und Her der Wellen vor uns hinein. Außerhalb der Reichweite des Waldes weht eine zitternde Brise über das Wasser, und wir schnappen danach, als wäre es frisch gebackenes Brot. Und dann kommt uns plötzlich richtige Nahrung in den Sinn. Wir suchen mit den Augen das Kanu ab, ob wir vielleicht etwas finden. Ein paar Zwanzig-Liter-Kanister mit Wasser oder Benzin. Eine Plastikbox, nicht größer als ein Werkzeugkasten, die etwas Essbares enthalten könnte. Sonst nichts. Dann erregt plötzlich etwas am Ufer unsere Aufmerksamkeit. Etwas zeigt sich da entlang der Borte aus gelbem Sand neben der versteckten Flussmündung. Kommt aus der Einmündung des Pfads hervor, der vom Camp herunterführt. Als die ersten Piraten den Strand erreichen und ihre Gewehre von der Schulter holen, sind wir bereits zu weit weg, als dass sie noch gezielt auf uns schießen könnten. Obwohl sie es dennoch mit ein paar Salven versuchen. Wir sehen den leichten Ruck ihres Oberkörpers vom Rückstoß der Gewehre etwa eine Sekunde, bevor wir den Knall hören. Als sie aufgeben, sind sie in der zunehmenden Entfernung zusammengeschrumpft. Immer noch auszumachen – hier ein 214
dunkler Haarschopf, dort der flatternde Zipfel eines orangefarbenen Hemds –, jedoch schon viel weniger bedrohlich, fast spielzeugartig, wie Handpuppen. Sie rufen uns Dinge nach, hüpfen in Posen kindischer Wut von einem Bein aufs andere. Von hier aus könnte man meinen, sie vollführten einen rituellen Tanz, wenn auch ungeschickt, als hätten sie ihn eben erst zur Unterhaltung von Touristen erlernt. Und ein Stück hinter ihnen, auf halbem Weg den Pfad hinauf zum Wald, steht eine Gestalt, die größer ist als die anderen. Die nicht ruft oder herumspringt, sondern uns einfach nur nachblickt, als hätte sie solche Abreisen schon tausende Male gesehen und hätte einzig die Aufgabe, sie zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind schon zu weit weg, um mit Sicherheit zu sagen, um auch nur sicher zu wissen, dass da tatsächlich jemand ist. Doch für mich kann das nur der Portier sein. Groß und breit wie zwei Männer, zu einem verschmolzen. Ganz bestimmt wüsste der einiges zu erzählen über Kommen und Gehen. Ich schaue zu Bates und Wallace, um zu sehen, ob sie diese Vision teilen. Sehen sie wie ich die springenden Männer als Tänzer, vernehmen ihre Rufe als wilden Gesang? Vielleicht sehen sie die groß gewachsene Gestalt gar nicht. Vielleicht ist sie nur für mich gedacht. Und tatsächlich, als ich den Blick wieder über unser Kielwasser hinweg auf das Flussufer richte, steht da niemand, der größer wäre als die anderen, nur noch Spielzeugsoldaten. Gewöhnliche, sich drängelnde Soldaten, die einem anderen Menschen nicht mehr antun könnten, als ihre Stanniolpapiermacheten auf eine Frau niedersausen zu lassen, um ihr die Schreie aus der Kehle zu schneiden.
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Wo kommt das ganze Blut her? Die Frage drängt sich auf, weil es so viel ist, sich in kleinen Strudeln in dem Wasser sammelt, das irgendwo entlang der sechs Meter Rumpf in das Kanu einsickert. Wo das Wasser herkommt, wissen wir auch nicht genau. Bates schöpft so viel er kann mit einer leeren Kaffeebüchse, Wallace passt auf den stotternden Außenbordmotor auf, und Barry liegt zusammengeklappt quer überm Bug wie eine ermattete Meerjungfrau, die Augen auf eine Art geschlossen, die nicht nach Schlaf aussieht. Seit einer ganzen Weile hat keiner ein Wort gesagt. Das letzte Englisch, das wir gehört haben, waren die Schreie einer Frau. Das Morgengrauen ist längst dem Vormittag gewichen, der Vormittag den Stunden harten Lichts, in denen alles zu Pastelltönen ausbleicht wie ein alter kolorierter Schwarzweißfilm. Jedes Blinzeln ein Schnappschuss dessen, was uns umgibt: der gedrungene Rücken des Urwalds, der Schokoladenfluss, zwei dieser weißen Papageien-Dinger, die sich für ein ganzes Leben paaren und sich dann die ganze Zeit ankreischen. Als endlich jemand spricht, ist es Wallace. Und es sind Worte höflicher Konversation unter Fremden, das seichte Geplänkel aus Aufzügen und Wartezimmern. Die weltweit zivilisiertesten Worte, die man sich denken kann. »Es wird ein heißer Tag werden heute«, sagt er. An dem Morgen, nachdem wir Lydia dem Tod überlassen haben, baden wir im Fluss. Es ist unsere erste Nacht im Kanu gewesen. Nur Sekunden, nachdem Wallace den Motor abgestellt hat und uns in die Richtung zurücktreiben lässt, aus der wir kommen, sind wir alle eingeschlafen. Da wir ohnehin nicht wissen, wo wir sind, ist es 216
nicht so wichtig, wo wir hinfahren. Hauptsache, wir wachen rechtzeitig auf, um erneut gegen die Strömung anzusteuern, weg vom Lager der Piraten. Ein traumloser Schlaf. Eigentlich gar kein richtiger Schlaf. Etwas viel Umfassenderes als das. Ein Systemabsturz. Sitzend im Boot, in genau der Position, in der ich mich vor einem halben Tag dort eingerichtet habe. Ein halber Tag ohne einen einzigen Versuch, meine Haltung zu verändern oder wieder Blut in meine Beine fließen zu lassen, die jetzt nur noch wie nasse Holzklötze an meiner Hüfte hängen. Beweg dich, befehle ich jedem Körperteil. Beweg dich, Kopf. Und er tut es mit dem Knacken eines trockenen Zweigs. Beweg dich, Hand. Bewegt euch, Zehen. Es dauert den Großteil des Vormittags festzustellen, ob alles funktioniert. Ich bin mit der Vorstellung erwacht, zu Hause zu sein. Zwar sah die Sonne nicht danach aus (zu niedrig, zu sehr wie ein glitzerndes Eigelb) und auch der Himmel nicht (das übertriebene Blau von Ölbildern aus Souvenirläden). Es hat sich auch nicht angefühlt wie zu Hause – so zusammengekauert zu einem blutleeren Klumpen, die versengte Haut in Fetzen, sterbend. Zu Hause bin ich nie in einer Sterbesituation gewesen. Oder so endgültig verloren wie hier. Und doch hielt ich diese Sonne und diesen Himmel einen Moment lang für eine nördliche Sonne an einem nördlichen Himmel, hoch und fern. Dann fiel sie auf einmal herab, um mir den Atem in der Kehle zu erstikken. Ich ziehe mich hoch mit Hilfe von Muskeln, mit denen ich kaum noch etwas zu tun habe, und strecke noch vor dem ersten meiner üblichen Warnsignale den Kopf über die Seite des Boots, um mich in den Fluss zu erbrechen. Ein technicolorfarbener Schuss von Magenflüssigkeit, der sich auf unserem flachen Kielwasser verteilt. Und dann noch einmal. Doch diesmal mit noch etwas anderem darin. Einem roten Faden. »Alles okay, Lizzy?« 217
Wallace durchsucht die Plastikbox, die wie ein Kühler oder Werkzeugkasten aussieht und jetzt fast schon auf dem Wasser hin und her schaukelt, das sich am Boden des Kanus gesammelt hat. »Nur der schlimmste Kater meines Lebens«, sage ich, was nur teilweise stimmt. »Mir ging’s schon schlimmer«, schiebe ich noch nach, was nun gar nicht mehr stimmt. »Tatsächlich? Es mag dir ja komisch vorkommen, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich heute Morgen nicht geradezu erfrischt fühle.« »Stimmt, das kommt mir komisch vor.« »Vielleicht ist es eine Art Schwindel. Oder wie heißt gleich dieser Song? ›Freedom is just another word for nothing left to lose‹? Das geht mir schon, seit ich aufgewacht bin, im Kopf herum, weiß Gott, welcher horrormäßige Oldies-Sender das ausgespuckt hat.« »Das hier nennst du Freiheit?« »Na ja, zumindest haben sich die Dinge in jüngster Zeit etwas zum Zwanglosen hin entwickelt, oder nicht?« »Das ist Janis Joplin. ›Me and Bobby McGee‹. Aber geschrieben hat es Kris Kristofferson.« »Von dieser Janis hab ich gehört. Kategorie kreischende Furie, oder? Eins dieser tragischen Hippie-Genies, die mit Überdosis endeten? Aber was deinen Bobby und Kris angeht – das war ein bisschen vor meiner Zeit.« »Ist da irgendwas drin?« Etwas Wildes, Unbändiges zuckt durch sein Gesicht, spannt die Haut. Etwas, was schon die ganze Zeit in ihm war und nun gefährlich dicht unter der Oberfläche lauert. Es ist eine Erleichterung, als er wieder nach unten in die Plastikschachtel blickt. »Du meinst, irgendwas zum Essen?«, fragt er. »Was sonst?« »Was, wenn die Antwort ja und nein lautet?« »Dann würde ich fragen: ›Was meinst du damit?‹« 218
»Also, da ist ein Becher mit etwas rein technisch gesehen Essbarem. Das ist das Ja. Aber das Problem ist, dass es dieses Maniokgrützezeug ist, das so viel Nährwert hat wie Zehendreck. Von dem einzigartigen Mangel an Geschmack ganz zu schweigen.« »Wie sieht’s mit Wasser aus?« »Du meinst das hier?« Wallace klopft auf den Zwanzig-LiterPlastikkanister neben ihm. »Das ist Benzin. Und noch nicht mal besonders viel. Was dagegen das Wasser angeht, daran werden wir keinen Mangel haben. Sieh dich nur um.« »Aber das ist nicht sauber. Es steckt voller Bakterien.« »Stell dir einfach vor, es wäre ein wissenschaftliches Experiment.« Wallace schöpft eine Hand voll aus dem Fluss und trinkt schlürfend. »So weit, so gut.« »Das heißt wohl, wir sollten uns nicht beklagen.« »Da hast du Recht. Wir sind im Freien, kriegen jede Menge frische Luft. Stecken nicht in irgendeinem Erdloch. Es könnte schlimmer sein. Hey, wir könnten an Barrys Stelle sein.« Wir sehen beide zu ihm hin: Barry, aufgerissen und aufgedunsen wie ein Fisch am Haken, der in der Sonne liegen gelassen wurde. Zuvor, in Manaus, erschien er mir wie durch und durch kompaktes Fleisch. Jetzt sieht er aus wie geschlachtet. Allerdings noch am Leben. Immer noch atmend. Ein synkopierter Backbeat, ein Rasseln, dann ein Stocken und ein Japser. So wie er daliegt, weggedreht von uns, sehen wir nicht, ob seine Wunde sich über Nacht vergrößert hat oder ein wenig getrocknet ist, wobei allerdings das Erstere wahrscheinlicher sein dürfte. Unter ihm erscheint das Wasser dickflüssiger als woanders im Boot, trübe, als wäre er eine Metalltrommel, aus der Rost tropft. »Ich habe schon nach ihm gesehen«, sagt Wallace. »Wie geht’s ihm?« »Ich bin kein Experte.« »Sieht es so schlimm aus?« 219
»Nun, überleg dir mal, wie es dir im Augenblick geht. Jetzt leg noch zwanzig Jahre drauf, seit Tagen nichts Richtiges zu essen und eine unbehandelte Schusswunde dazu.« »Er stirbt, nicht wahr?« »Ich schätze, das tun wir alle. In unterschiedlichen Raten.« »Was machen wir jetzt?« Während ich das sage, wird mir klar, dass Wallace der Einzige ist, der eine Idee haben könnte. Und selbst wenn er keine hat, ist er der Einzige, auf den wir hören. »Wir fahren weiter«, sagt er. »Ich habe hier bisher noch kein Ausfahrtsschild entdeckt, also weiß ich auch keinen Ausweg. Wir scheinen mitten in einer Ansammlung kleiner Inseln zu sein – Archipel nennt man das, glaube ich, stimmt’s? –, oder vielleicht sind wir auch auf einem Nebenfluss von dem großen. Oder einem Nebenfluss von einem der Nebenflüsse. Und was die Richtung angeht, in die wir fahren? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Das Einzige, was mir einfällt, ist, wir tuckern stromaufwärts, halten uns dicht am Ufer und warten ab, ob wir nicht über irgendjemanden stolpern.« »Hätten wir nicht stromabwärts bessere Chancen?« »Vielleicht. Aber stromabwärts sind auch diese Dreckschweine von Piraten.« Wallace’ Hand wandert unbewusst nach hinten und streicht über den Lauf des Gewehrs, mit dem Bates zu schießen versucht hat. Daneben liegt die verrostete Machete. Die jetzt weniger verrostet als fleckig ist. »Glaubst du, sie verfolgen uns?«, frage ich ihn, und seine Hand kehrt an ihren Platz neben der Box zurück. »Wir hatten etwas zu bieten, was sie interessiert. Daran hat sich nichts geändert. Oder?« »Warum fragst du mich?« »Ich frage mich selbst.« »Und deine Antwort?« »Selbst wenn sie es aufgegeben haben, irgendwas aus uns 220
herausholen zu wollen: Ich sehe nicht ein, warum sie nicht immer noch Lust darauf haben sollten, uns zu töten.« »Damit wir sie nicht verraten können, falls wir es zurück schaffen.« »Deswegen und weil das nun mal ihr Geschäft ist.« Ein Grinsen, in seine Mundwinkel gestanzt, gesellt sich zu seinem bisherigen Gesichtsausdruck. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dir macht das Ganze auch noch Spaß«, erkläre ich ihm. »Es ist doch ein Abenteuer, oder nicht?« »Wir haben in Abenteuern nichts zu suchen. Wir gehören in ein Computerlabor. Oder hinter einen Schreibtisch. Oder in eine Schlange vor einer Starbucks-Theke.« »Aber nun sind wir hier.« »Und du findest das auch noch großartig.« »Ganz so weit würde ich nicht gehen«, sagt er. »Aber Angst habe ich auch keine. Dafür ist das alles zu real.« Ein großer, storchenartiger Vogel, den unser Reiseführer einmal als Jabirú bezeichnet hat, erhebt sich bei unseren Worten in die Luft; seine Beine baumeln wie abgeschnittene Strikke hinter ihm her. Die wenigen morgendlichen Wolken weichen zurück und machen Laserstrahlen Platz, die auf das Blätterdach rechts und links von uns niedergehen. Eben noch war die Luft ein senffarbener Nebel. Jetzt ist er auf einen Schlag verdunstet. Und wir sehen, wie nahe wir dem Urwald sind, wie er uns einschließt auf fünfzehn Meter hohen Stelzen. So hoch und ununterbrochen, dass unsere Stimmen mit Tausendstelsekunden-Verzögerungen hin und her geworfen werden in diesem Brustkorb aus Baumrippen. Etwas daran löst bei mir wieder Übelkeit aus. Oder vielleicht ist es auch die Rückkehr der Sonne. Sie hat keine Geduld. Schraubt sich in unsere Köpfe, löst sauber wie ein Skalpell unsere Haut in Schichten ab. Ich kann unser Ende kaum noch erwarten. 221
»Weck Bates auf«, weist mich Wallace an, während er sich bereits das T-Shirt über den Kopf zieht. »Nehmen wir ein Bad, bevor wir losfahren.« Doch Bates ist schon auf. Steht hinter mir und hat bereits sämtliche Klamotten abgestreift, ein fleckiger Ring um seine Knöchel. Fröstelnd trotz der Hitze. »Ich muss mich waschen«, erklärt er. »Ich rieche immer noch nach – ich muss das wegkriegen.« Fährt sich mit zitternden Händen vorn über die Brust, nach unten über seine nackten Schenkel. »Ist alles okay?«, frage ich ihn. Halte ihm die Hand hin. »Du wirkst fiebrig.« »Ich muss unbedingt –« »Natürlich ist er okay«, geht Wallace dazwischen und steigt selbst aus seiner Unterhose. Seine Beine verdrehte Bänder aus Muskeln und Sehnen. »Nichts, was ein schönes tropisches Bad nicht heilen könnte. Wer als Letzter im Wasser ist, ist PiranhaFraß!« Dann springt er aus dem Boot, hält sich mit der einen Hand die Nase zu, mit der anderen die angewinkelten Beine zusammen zu einer Wasserbombe. Seine Wirbelsäule ein Reißverschluss, der sich die sanfte Biegung seines Rückens hinunterzieht. Der Platscher bespritzt uns alle mit kaltem Tee. Bates springt als Nächster, steif wie eine Schaufensterpuppe, und dann ich, mit Shorts und T-Shirt, die, so sage ich mir, auch gleich mitgewaschen werden können. Oder vielleicht geniere ich mich auch einfach nur ein bisschen in Gegenwart dieser Jungs. Der eine vermutlich fiebrig, der andere wahrscheinlich verrückt. Und ich die einzige Frau unter ihnen. Erst jetzt, unter Wasser, wird der Urwald aus meinem Kopf gespült. Das ständige Blätterrascheln unsichtbarer Bewegung, die komödiantischen Krächzer und die Todesschreie – endlich ausgelöscht. Doch als ich wieder nach oben komme, ist der Urwald immer noch da, das Geschrei und Gebrüll sogar noch 222
lauter, wie aus Eifersucht, dass wir uns ihm für ein paar Sekunden entzogen haben. Wallace hat zumindest teilweise Recht. Das Wasser scheint uns ein Stück weit gut zu tun. Auch wenn sich darin die gemeinsten Bakterien des Erdballs tummeln, es fühlt sich jedenfalls erfrischend an. Keiner von uns hat die Kraft, weiter als eine Armlänge vom Boot wegzuschwimmen. Vielmehr hängen wir uns an den Rand und lassen uns auf den Wellen treiben, tauschen Blicke aus, mit denen wir einander bestätigen, dass wir noch da sind, zusammen, mehr oder weniger am Leben. Das ist doch immerhin etwas. Wir schöpfen sogar mit den Händen ein wenig Wasser, um Barry nass zu spritzen, dem es zu gefallen scheint, sofern man sein Zähneklappern als einen Ausdruck von Wohlgefühl interpretieren kann. Allerdings erfordert es einige Anstrengungen, hinterher wieder ins Boot zurückzukommen, und für kurze Zeit sieht es so aus, als ob das unser Ende wäre, zu ertrinken im Namen der Körperhygiene. Schließlich gelingt es Wallace, rücklings – seine Brust leuchtend weiß wie Teig – über den Bootsrand zu rutschen. Er zieht Bates aus dem Wasser, dann mich, und steigt über uns hinweg, um den Motor anzulassen. Der Lärm ist laut genug, um die Tatsache zu entschuldigen, dass noch keiner von uns Lydias Namen ausgesprochen hat. Wir fahren flussaufwärts, auf welchem der Millionen Flüsse Amazoniens auch immer. Langsam, langsam. Blicken nach oben, und da ist die peinigende Sonne. Blicken nach unten, und da ist blutiges Wasser, das über unsere Füße schwappt. Einige von uns oder wir alle werden hier sterben. Aber wo ist hier? Ich versuche, mir die Karte an der Kombüsenwand der Ana Cassia ins Gedächtnis zu rufen, doch sie ist nichts weiter als weißes, mit ruhelosen blauen Linien geädertes Papier. Wir sind irgendwo in Südamerika. Brasilien. Vielleicht Südkolumbien oder Venezuela oder, weniger wahrscheinlich, Guyana. Und wo ist das überhaupt? Ich kann mich nur noch 223
daran erinnern, dass der Rio Negro sich von Manaus aus trunken in nordwestlicher Richtung windet. Zurückzufahren, stromabwärts, bis dahin, wo wir aufgebrochen sind, würde mindestens sieben, vielleicht zehn Tage dauern, und da uns voraussichtlich das Benzin schon lange vorher ausginge, müssten wir uns allein auf die Strömung verlassen, so dass es noch eine ganze Weile länger dauern würde. Außerdem würde uns diese Route noch einmal am Lager der Piraten vorbeiführen. Zwar wären die vermutlich nicht mehr dort. Trotzdem, es ist ein Ort, den wir lieber nicht mehr sehen möchten. Also bleibt uns nur noch der Weg nach vorn, wie Wallace gesagt hat. Ich erinnere mich an kleine Punkte auf der Karte, die weiter oben am Lauf des Negro gelegene Dörfer darstellten, doch die Entfernungen zwischen ausgestrecktem Zeigefinger und Daumen, die zwischen diesen Punkten lagen, könnten für Hunderte von Meilen stehen. Und dabei muss dies hier noch nicht einmal der Negro sein. Womöglich sind wir nicht einmal auf der Landkarte. Irgendwann einmal wird es eine Erklärung für das hier geben, wenn man nur alle Fakten sammeln und dann auch noch Gewissheit über sie haben könnte. Wie alles ausgeht. Alle Kausalzusammenhänge, die zufälligen wie die absichtlichen. Die Entscheidungen, die man trifft. Die Manipulationen der anderen. Die Geheimnisse. Und die Moral dieser Geschichte? Das ist nicht die Aufgabe des Dolmetschers. Ich überlasse es einem Computerprogramm, zu sagen, wie richtig oder falsch wir alle handeln. Man sollte meinen, dass uns nach all der unerwünschten Aufregung der letzten Tage ein bisschen Eintönigkeit in Form einer ereignislosen Flussfahrt ganz recht wäre. Doch der Urwald ist zu groß, ähnelt immer wieder nur sich selbst, um uns in den womöglich letzten Stunden unseres Lebens angemessen zu 224
unterhalten. Wie hat Bates es genannt? Schön langweilig. Nicht einmal die Tatsache, dass wir uns bewegen, lässt sich wirklich würdigen. Dazu brauchte man Bezugspunkte. Ein B, das nach einem A kommt. Und wir? Wir gleiten nur über das Schwarz hinweg wie eine Nadel über Vinyl, Runde um Runde. Wir starren den Urwald an, doch er macht sich nicht einmal die Mühe zurückzustarren. Ein andermal wieder schauen wir in den Wald hinein, ohne uns viel mehr dabei zu denken als Schau, da ist er und Da ist noch mehr und mehr, eine Parade identischer marschierender Bataillone. Alles um uns her reduziert auf die einführenden Kameraansichten einer Sonntagnachmittags-Natursendung, feinsäuberlich eingerahmt vom Bildschirmrand. Dann erinnert uns plötzlich etwas daran, wo wir sind. Ein zusätzliches Pulsieren der Sonne, ein mineralischer Hauch von Flusswasser, das kreischende Paar Aras, das uns am Ufer entlangfliegend folgt – und mit einem Schlag sind wir wieder bei uns. Das hier ist meine Hand, nicht wahr? Ein Schock aus bläulichem Weiß, zitternd unterhalb meines Kinns. Dieses Blubbern, das ist mein Atem. Dennoch ereignen sich Dinge, selbst wenn noch so viel Zeit zwischen ihnen liegt. Die gespenstischen Baumstämme, die im tiefen Wasser begraben liegen mit ihren grauen, zusammengekrallten Gliedmaßen. Ein einziger kurzer Windhauch, erfrischend wie ein Sprung durch einen Rasensprenger. Das Spektakel eines aus dem Nichts heraufziehenden Sturms. Harter, prasselnder Regen, der sich in die Oberfläche des Flusses bohrt, in unsere Körper, die Äste auf und ab peitscht, als ob sie sich verbeugten. Es dauert höchstens ein paar Minuten, doch das Ausmaß ist so groß, dass wir das Wasser aus dem Kanu schöpfen müssen mit allem, was wir haben, der Kaffeebüchse, unseren Schuhen. Dann ist es vorbei. Der Urwald ruft jetzt mit neuer Energie, sucht schwatzend und kreischend nach verloren gegangenen 225
Gefährten und Jungen, verflucht das entwischte Mittagessen. Die Wildnis hält nur für einen Einzigen den Mund. Den Uirapuru. Ein natürlicher Sopran, ein Schubert-Schüler, seiner schwebenden, aristokratischen Melodieführung nach, dessen Gesang so schön ist, dass er angeblich alle anderen Vögel zum Verstummen bringt. Über uns ist die Gewitterwolke einer Lehrbuchauswahl verschiedenster Wolkenarten gewichen. Flache, explosive, verflochtene, buschige. Die Bäume schütteln sich wie nasse Hunde. Als die Sonne endlich zu sinken beginnt, kippt uns Wallace winzige Maniokhäufchen in die Hand und nennt es Abendessen. Wir spülen es hinunter mit Wasser, von dem wir wissen, dass es Gift ist. Dann gibt Bates Barry zu trinken und schiebt ihm ein paar gelbe Körnchen über die Lippen. Das peppt ihn für eine Weile ein wenig auf. Er sieht uns alle mit fast väterlichem Stolz an, flüstert gar Wallace etwas zu. »Wie war das, Barry?«, fragt Wallace nach. »Wir verstehen dich fast nicht.« Guter Junge, wird er wohl sagen. Bist ein guter Junge. Später nutzen wir die relative Kühle des Abends, um uns so bequem wie irgend möglich zum Schlafen hinzulegen. Wir gleiten so langsam mit der Strömung zurück, dass es jetzt, in der Dunkelheit, fast so scheint, als bewegten wir uns gar nicht. Es gibt nichts zu sehen, was ich nicht schon endlose Meilen lang bei Tageslicht gesehen hätte, und dennoch richte ich den Blick darauf. Es kommt mir wie Stunden vor, bis ich endlich herausfinde, dass nicht etwas, was ich sehe, mich wach hält. Sondern etwas, was ich höre. Zuerst denke ich, es sind die Bäume selbst, die sprechen. Nicht so wie Lydias Schreie diesmal, sondern mehrere Stimmen, die miteinander kommunizieren. Lauter als ein Flüstern, doch immer noch heimlich. Ich kann die Wörter nicht verstehen. Nicht weil sie zu weit 226
weg wären, sondern weil sie in der falschen Sprache sind. Männer, die miteinander spanisch reden. Vor oder hinter uns ist nichts zu sehen, was darauf schließen ließe, dass diese Männer in der Nähe sind. Keine aufblitzende Taschenlampe, keine Silhouette einer stehenden Gestalt mit einem Fernglas an den Augen. Doch ich weiß, dass sie da sind. Ihren nächsten Schritt besprechen, einen Plan schmieden. Nach uns suchen. Irgendwie habe ich diese Vorstellung, dass sie uns nicht finden, solange ich wach bleibe und ihnen zuhöre. Wallace und Bates zusammengekauert rechts und links von mir, Barry friedlich schnarchend an seinem Platz vorne im Boot. Und ich die Einzige, die unser Schweigen bewacht. Die Nacht legt sich über uns. Und jedes Mal, wenn der Schlaf kommt, stößt ihn irgendetwas wieder zurück. Noch ein Schwall spanischer Wörter, deren Urheber gleich zwischen den Bäumen hervorkommen. Ich lausche und drehe mich zu spät herum, um noch zu sehen, was das plötzliche Platschen am Ufer war. Das Geheul von Entdeckung und Entdecktwerden aus dem Wald dahinter. Jagd. Barry stirbt. Wir merken es an den offensichtlichsten Anzeichen: dass er kaum die Stellung verändert hat, in der wir ihn vor eineinhalb Tagen hingelegt haben; der langsame, aber ununterbrochene Blutverlust, obwohl wir die Wunde mit einem Streifen von Wallace’ T-Shirt verbunden haben; die Momente, in denen er die Augen öffnet und zwei weiße Kieselsteine zum Vorschein kommen. Vor allem aber wissen wir es, weil er angefangen hat zu sprechen. Gerade eben spricht er mit seiner Frau. Sogar hier ist uns das ein wenig peinlich, wie wenn man in einem Großraumbüro ein persönliches Telefongespräch von der anderen Seite der Trennwand mit anhört. Und fast beneide ich ihn darum. Er hat 227
geschafft, was keiner von uns anderen bis jetzt geschafft hat. Er hat hier rausgefunden. »Es tut mir Leid, Leslie«, sagt er und ähnliche Sätze in austauschbaren Variationen. »Es tut mir ja so Leid, Liebling … Leslie? … Ich liebe dich, Schatz … Bitte … Wo bist du?« Es ist so traurig, dass wir sogar eine Weile aufhören, an uns selbst zu denken. Die Qualität seiner Stimme, jetzt so ganz ohne die natürliche Lässigkeit des Südstaatlers, ohne die Leder-und-Rasierwasser-Note des stets jovialen Geschäftsmannes – wie sie auf einmal so unscheinbar klingt –, bringt uns zu der Überzeugung, dass dieser Mann zu Liebe fähig ist. Liebe, die sich in seinem Leib eingeigelt hat wie einer dieser scharfsichtigen Parasiten, die von Wirt zu Wirt wandern, um zu sehen, wer am meisten Nahrung zu bieten hat. Er war schon zu lange da, um nun zu verschwinden. Und das ist vielleicht das Traurigste, was wir alle je gehört haben. »Leslie? Liebling? Wart auf mich, Baby.« Schließlich wünsche ich mir sogar, ich selbst könnte an Barrys Stelle ein paar Tränen vergießen, die, für die er selbst zu dehydriert ist. Zumindest ist das am Anfang noch so. Nach einiger Zeit ist es dann nur noch ein weiteres Geräusch, auf das wir lieber verzichten würden. Es wäre gelogen zu behaupten, wir wünschten uns nicht alle in manchen Augenblicken, er möge es doch endlich hinter sich bringen und sterben, damit endlich das Reden aufhört. Als hätte er unsere Gedanken mithören können, verstummt Barry wieder. Alle drei fragen wir uns, ob es das war. Ich beschließe, im Kopf bis sechs zu zählen und, wenn er dann immer noch still ist, freiwillig zu ihm nach vorn zu gehen und zu prüfen, ob er noch einen Puls – – die Stimme setzt wieder ein, immer noch unscheinbar, doch jetzt anscheinend an uns gerichtet. Die Augen springen von rechts nach links, folgen dem Pfad einer Fliege. »Weißt du noch, was du gesagt hast?«, fragt er. »Wallace? 228
Weißt du noch?« Wallace balanciert im Kanu zu ihm nach vorn. Setzt sich an den Rand vor Barrys abgewinkelten Arm, so dass es aussieht, als umarmten sie sich. »Was soll ich noch wissen, Barry?« »Das ganze Zeug«, stößt er hervor. »Über expandieren? Und alles absorbieren? Wie du mich schon absorbiert hast?« »Ich weiß.« »Und Lydia?«, fragt er und verdreht dabei die Augen zu Wallace hoch. »Hast du sie auch absorbiert?« »Nein. Sie war zäher als du«, entgegnet er ohne Zögern. »Da war mehr in ihr als nur sie selbst.« »Mehr?« »Sie war schwanger. Das hat sie stark gemacht.« »Woher weißt du das?«, frage ich Wallace und unterbreche damit ihre Unterhaltung so plötzlich, dass selbst Barry den Kopf hebt und zu mir herüberschielt. »Glaubst du, du bist die Einzige, der sich Leute anvertrauen?« »Sie hat mir gesagt, sie hätte dir nichts davon erzählt.« »Nein, wie fürchterlich! Eine Frau hat gelogen! Und dann auch noch dir gegenüber, der heiligen Dr. Crossman.« »Jemand anders muss es dir gesagt haben«, fahre ich fort, unfähig, den schrillen Ton in meiner Stimme zu unterdrücken. »Nicht sie.« »Was macht das für einen Unterschied? Was zählt, ist, dass ich es weiß und dass es Lydia diese Kraft gab«, sagt er und legt dem alten Mann eine Hand auf die Schulter. »Im Gegensatz zu unserem Barry hier, der schon vor langer Zeit aufgegeben hat.« »Herrgott, Wallace, lass ihn doch in Ruhe.« »Er hat schon seine Ruhe.« Danach tritt wieder Stille ein. Barry zieht sich wieder in sich selbst zurück, wie eine dieser Puppen, die nur so lange sprechen, bis die Kordel zum Aufziehen wieder in ihrem Rücken 229
verschwunden ist. Vor uns deutet eine Öffnung des Flusses auf etwas Breiteres hin, das sich, wenn man den letzten tausend ähnlichen Andeutungen trauen darf, demnächst als Täuschung erweisen wird. Wenig später murmelt Barry wieder vor sich hin. Worte, die aus seinem Mundwinkel tröpfeln. »Was will unsere Plaudertasche denn jetzt wieder?«, fragt Wallace. Bates geht nach vorn und hält das Ohr vor Barrys Lippen, jedoch ohne ihn zu berühren. »Eine Zigarette«, verkündet er, als er sich zu uns umdreht. Barrys Stimme fährt fort. Ein neuer Faden, der sich zum Knattern des Motors gesellt, der das gleichmäßige Maschinengeräusch in ein litaneiartiges Gebet verwandelt. »Gibt ihm vielleicht irgendjemand endlich eine Scheißzigarette?«, schreit Wallace schließlich und steht auf, um zum Motor zurückzukehren. Bates fragt: »Hast du eine, Crossman?« »Nein.« »Ich auch nicht.« »Heiliger Himmel!« Wallace dreht den Motor auf ein gemächliches Grummeln herunter. Zieht eine zerknüllte Quittung aus seiner Tasche – wahrscheinlich von seinem Zimmer im Tropical Hotel oder dem Abendessen im Bufalo –, rollt sie auf und leckt den Rand ab, damit er klebt. Dann beugt er sich über Barry und flüstert ihm etwas zu. Fasst ihn an der Schulter. Barry bewegt sich. Er hat jetzt so lange still gelegen, dass es schon fast gespenstisch anzusehen ist, wie er die Knie biegt und die Arme nach oben hebt. Sein ganzer Körper schwer und weich, als hätte das verbliebene Blut in ihm sich in warme Milch verwandelt. Doch er schafft es immer noch, den Arm anerkennend auf Wallace’ Rücken fallen zu lassen und die Pseudozigarette zu ergreifen. Sie an seine gespitzten Lippen zu führen und einen langen, bebenden Zug zu nehmen. 230
Und was geht mir dabei durch den Kopf? Als ich zusehe, wie ein sterbender, im Urwald verirrter Mann eine imaginäre Zigarette raucht? Ich denke: Das ist nicht gut für ihn. Bei dem Gedanken zucke ich zusammen, doch er ist typisch für mich. Vernünftig, brav, abseits stehend. Ich hatte schon immer einen Hang zur Zurückhaltung. Immer wenn ich mir zum Beispiel meinen eigenen Tod vorstellte, gab es ein Bett, vorgezogene Vorhänge, ein körperloses spiraliges Entschweben in die Unterwelt. Ein geziemender, ereignisloser protestantischer Abgang. Dahinsiechen, so nannten es meine Eltern, als sie das Alter erreichten, in dem sie immer öfter bettlägerige Freunde in Krankenhäusern und Pflegeheimen besuchen mussten, bevor sie schließlich selbst dort landeten. Die Möglichkeit, dass etwas Unerwartetes oder Gewaltsames eintreten könnte, ist mir nie in den Sinn gekommen – sogar Schmerz ist für meinen Geschmack zu melodramatisch. Tod durch Entkräftung in der Wildnis? Von Guerilla-Entführern auf dem Amazonas zu Tode gejagt? Das ist nichts für mich. Das ändert jedoch nichts daran, dass solche Dinge passieren. Ich weiß das jetzt. Wer erwartet schon, in einem brennenden Flugzeug abzustürzen? Oder mitten in der Nacht von entflohenen Zuchthäuslern erwürgt zu werden? Oder in einer schlagzeilenträchtigen Massenkarambolage umzukommen? Und doch wird es vielleicht so kommen. Ich suche nach Namen für das, was ich verlieren würde. Sehe Barry zu, wie er seine Zigarette ohne Rauch raucht, und rufe mir die irrationale Collage von Bildern in Erinnerung, die für ein Leben stehen, mein Leben, in Blitzlichtern vor meinem inneren Auge: ein Spielzeugmodell der USS Eisenhower, die untergehende Sonne hinter Schulhof-Pappeln, mein erstes Auto, ein Pacer mit Heckklappe, das ich mir von den Ersparnissen meines ersten Ferienjobs kaufte, die Lippen meiner Mutter. Was mich plötzlich wie ein Blitzschlag trifft, ist nicht die Angst, dass all das verloren gehen könnte, sondern dass ich von 231
niemandem Abschied nehmen muss, wenn ich gehe. Da sind natürlich die unsterblichen Wallace und Bates. Und der arme Barry. Lydia. Aber ich weiß nicht genau, ob sie überhaupt zählen. Sie gehören alle hierher. Wallace und Bates haben ein bisschen mehr Erfahrung mit dem Ganzen als ich. Sie haben beide in ihrem Leben bereits etwas sterben sehen. Einen Hund, den sie an dem ersten Novembermorgen, an dem es kalt wurde, zitternd unter der Sportplatztribüne ihres Internats fanden. Sie schmuggelten Essen für ihn heraus, nahmen ihn in manchen Nächten sogar heimlich mit auf ihr Zimmer und ließen ihn unter ihrer Bettdecke schlafen. Kurz vor den Weihnachtsferien, als sie nach der Chemiestunde nach draußen gingen, um ihm ein paar steinalte Brocken Brownies als Leckerbissen hinzulegen, entdeckten sie, dass er fort war. Sie riefen vom anderen Rand des Spielfelds aus nach ihm, riefen in die schneebeladenen Bäume hinein, die das Schulgelände umschlossen. Nichts. Erst da merkten sie, dass sie vergessen hatten, dem Hund einen Namen zu geben. Ich sehe an der Straße nach, sagte Wallace. Ich komme mit, meinte Bates, weil es nichts mehr gab, wo man sonst noch nachsehen konnte, und er nicht allein bleiben wollte. Sie rannten die kurvige, von kahlen Ulmen gesäumte Schulauffahrt hinunter. Bis ihr Atem wie weiße Abgaswolken aus ihren Mündern kam. Es war ihnen egal, was Leute denken mochten, die sie sahen. Es wussten sowieso schon alle, dass Wallace und Bates komische Käuze waren. Wallace fand ihn. Er wollte schon nach Bates rufen, tat es dann aber zunächst doch nicht. Schaute dem Hund zu, wie er etwas unterhalb in dem flachen Graben zwischen Straße und Wald herumkroch. Zuerst denkt er noch, er spielt nur wieder sein altes Spiel, seinen eigenen Schwanz einzufangen. Nur dass er ihn diesmal erwischt hatte. Ein schäumendes Maul, das sich 232
in einen langen pelzigen Stock verbissen hat, daran würgt und um sich selbst kreiselt. Und dann sieht er, dass der Hund auf der Straße überfahren worden ist: eine spiralige Spur aus roten Tropfen, die er im Schnee hinter sich herzieht wie die sich ringelnden Arme der Milchstraße auf dem Poster über der Tafel ihres Klassenzimmers. Er überlegte, ob er den Hund auf seine Arme heben und mit ihm zur Schule zurückrennen sollte, doch die Vorstellung, ihn jetzt mit den Händen anzufassen, erschien Wallace plötzlich als unangemessen, sogar gefährlich, als wären die Symptome des Tiers ansteckend. Ihm mit einem Stein auf den Kopf schlagen, um seine Qualen zu beenden? Keine Chance. Er würde es nicht fertig bringen, das wusste er, obwohl er sich den Ablauf vorstellen konnte: die aufgesperrten Augen des Tiers, die zu dem Jungen aufblicken und ihn fixieren, wohl wissend, was kommen würde, und dann das Gewicht des Steins, sicher und zielgenau nach unten geführt. Es würde mehr als eines einzigen Schlags bedürfen. In seiner Vorstellung davon sah er kein Blut. Doch die Geräusche, die er vorausahnte, ließen ihn die Augen schließen. Und sie dann wieder aufschlagen, um einen Schritt zurückzutreten und zuzusehen. Der Hund, der noch immer an seinem Schwanz würgt und sich im Kreis dreht, ein Kunststück vorführt, das er einmal beigebracht bekam, um sich damit eine Belohnung zu verdienen. Schließlich ruft Wallace Bates herüber, damit sie es beide mit ansehen können. Das Tier, das den Jungen selbst in diesem Augenblick noch eine Vorführung gibt, mit seiner aufgerissenen Seite, aus der die sich ringelnden Schlangen seiner Eingeweide ihre blauen Köpfe und purpurnen Schwänze hervorschieben. »Ihr scheint euch ja beide noch ziemlich gut an die grausigen Einzelheiten zu erinnern«, bemerke ich, als sie mit ihrer Erzählung fertig sind. »Das kommt daher, dass wir noch nie so was gesehen hat233
ten«, sagt Bates, »vorher.« »Und weil wir nie im Krieg waren«, fügt Wallace hinzu. »Was hat das damit zu tun?« »Ich wette, du hattest einen Großvater, der dir Geschichten vom Krieg erzählt hat, stimmt’s, Crossman?« »Einen. Mütterlicherseits. Er hat in Dieppe gekämpft.« »Siehst du? Ich und Bates müssten für solches Material schon bis zu unseren Urgroßvätern zurückgehen, und von denen kennen wir nicht einmal die Namen. Ein Hund, der sich in einem Graben wie ein Kreisel um sich selbst dreht – konkreter könnte Kampf für uns nicht sein.« Sie waren also nicht apathisch, sondern nur privilegiert. Sie waren nicht völlig ahnungslos in puncto Weltgeschichte, wie man ihren Altersgenossen im Allgemeinen immer vorwirft. Wenn überhaupt irgendetwas, dann waren ihnen zumindest die vielen Opfer im Dienste von Freiheit und Demokratie eingebläut worden, nebst der Nationalhymne auf Französisch und dem Motto ihrer Schule. Ganz zu schweigen von den Veranstaltungen zum Remembrance Day, an denen ihnen hinkende Kriegsveteranen in medaillengeschmückten Blazern vorgeführt wurden und Geschichten von den Kameraden erzählten, die ihr Blut in den Schützengräben vergossen hatten, damals selbst noch halbe Jungen. Für Wallace und Bates war dies eine weitaus unterhaltsamere Art, einen Nachmittag zu verbringen, als Mathe oder Sozialkunde. Doch dem Ganzen fehlte immer noch der Kitzel des Realen. Wallace war einmal in Toronto von einem Mann ausgeraubt worden, der nichts außer einer Jogginghose der Maple Leafs trug. Bates bekam Angstanfälle, weil er felsenfest glaubte, mit ungewaschenem Gemüse vergiftet worden zu sein. Doch keine Kriege. Und doch sind wir jetzt Mörder. Oder einer von uns zumindest. Und die anderen ließen zu, dass eine Freundin von uns aller Wahrscheinlichkeit nach getötet wurde, oder Schlimmeres. Das war immerhin etwas. Und die Angst war auch etwas. 234
Und das erhebende Gefühl, das mit nicht wieder gutzumachender Schuld einhergeht – ja, das war auch neu. Zugegeben, dem fehlte die »Ehre« oder das »Prinzip« oder irgendein anderer vermeintlich guter Grund für das Töten. Aber trotzdem. Wallace erinnert sich an den sterbenden Hund und glaubt, dass er es jetzt könnte. Wenn er noch einmal in dieser Situation wäre, würde er den Stein nehmen und damit zuschlagen. Was hatte er denn in all den Jahren seither schon gelernt, das ihn abhalten sollte? Nur das Denken hindert einen an so einer Tat, und das hatte er inzwischen weiß Gott unter Kontrolle. Wenn der Körper dazu in der Lage ist, dann muss ihm nur noch der Befehl gegeben werden. Alles andere sind nur Schichten von Flaum. So stellt er es sich buchstäblich vor. Sein Schädel voller Zuckerwatte, die man nur beiseite schieben muss, und schon ist er zu allem fähig. Ich sehe ihn an und bin überzeugt, dass er bereits an diesem Punkt angelangt ist. Vielleicht ist es das harte Licht auf dem Fluss, das es enthüllt. Das zeigt, wie wenig von ihm noch übrig ist. Es war von Anfang an klar, dass Wallace gewisse Talente besitzt. Ein Mann seiner Zeit, wie man so sagt. Und noch weitere, nebensächlichere Gaben gestehe ich ihm zu: Appetit und Charme und einen abgestumpften Respekt vor dem Tod – Gaben, die er durch Geburt und durch den Zufall der Erfahrung erworben hat. Doch hier unten hat er ganz allein noch etwas Neues und Machtvolles entdeckt, eine seltene magische Kraft. Er könnte ein Leben beenden. Zweimal hat er es schon getan. Beim zweiten Mal fand er es, wenn überhaupt, noch leichter. Und jetzt liegt da dieser alte Mann, verblutet in ein sowieso schon lekkendes Boot und macht uns noch langsamer. Warum sollten die fadenscheinigen Hinderungsgründe von Freundschaft oder Mitleid oder Gesetz ihm beim dritten Mal noch im Weg stehen? Diesen letzten Teil spricht er natürlich nicht laut aus. Ich bin 235
es, die für ihn denkt. Aber deshalb muss es ja nicht weniger wahr sein. Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass etwas in mir wächst. Etwas bewegt sich von Zeit zu Zeit da unten, ganz ohne Zweifel, und es wird mit jedem Mal kräftiger. Eine Muskelzuckung, ein Sichzusammenziehen, ein klatschender Schlag. Vielleicht sind es nur die unvertrauten Fanfarenstöße von Dritte-Welt-Hunger, die stinknormalen Scheißkrämpfe im Gedärm, die zu Hungersnot, Wüste und Slums gehören. Dagegen spricht nur leider, dass ich keinen Hunger mehr habe. Es tut nur noch weh. Nichts davon erklärt außerdem die ganze neue Aktivität, dieses Gefühl von etwas Andersartigem in meinen Eingeweiden. Das beinahe schon menschliche Gemurmel. Das schlummernde Gewicht. Vielleicht fühlt es sich so an, wenn man schwanger ist. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass dies unmöglich ist. Aber da ist es nun einmal, hartnäckig und absurd. Wenn mir solche Gedanken kommen – wenn ich beinahe schon überzeugt bin von dem, was nicht sein kann –, dann bemühe ich mich, so gut ich kann, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Doch allzu viel gibt es nicht, auf das man sich konzentrieren könnte. Da ist die meist vergebliche Suche nach Tieren im Laub (das für mich mehr und mehr nach Tapete aussieht, wie der samtige William-Morris-Abklatsch, der die Wohnzimmerwände meiner Jugend bedeckte). Einmal folgte ein Otter eine Zeit lang dem Kanu, glitt geschmeidig auf dem Rücken dahin und beobachtete uns ganz unbeeindruckt. Und ein Boto, ein Süßwasserdelphin, tauchte einmal auf, ein Buckel aus rosarotem Muskel, und blies Gischt aus dem Loch in seinem Kopf, bevor er wieder abtauchte. Doch alles in allem könnte man in einem Streichelzoo mehr Action finden. Nur die allereitelsten Vögel zeigen sich tatsächlich einmal für geraume Zeit sowie 236
hin und wieder ein Faultier, die Arme um den Ast eines Baums geklammert wie ein Betrunkener an einem Laternenpfahl. Und dann das ständige Spekulieren darüber, welche Uhrzeit, welcher Tag es sein könnte. Ob die Bücher, die ich online bestellt habe, inzwischen in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee im Hausflur meines Mietshauses liegen. Wie es meiner Grünlilie wohl gehen mag. Ob irgendjemand bemerkt hat, dass ich noch nicht wieder zu Hause bin. Zu Hause. Hier wirkt es realer als dort. Die über meinen Schreibtisch verstreuten zerkauten Stifte und Haftnotizen, und dazu der halb leer getrunkene Becher Kaffee, den ich wie ein wissenschaftliches Langzeitexperiment beobachtete, tektonische Platten aus Schimmel, die sich ineinander schieben und neue Kontinente auf der brackigen Oberfläche bilden. Der Typ hinter der Ladentheke im Tante-Emma-Laden um die Ecke, mit Nasenhaaren, die halb bis zu seinen Lippen herunterreichen, fein und suchend wie die Fühler eines Schmetterlings. Die Telegraphenleitungen, die oberhalb meines Schlafzimmerfensters ein Gitternetz in die Luft zeichnen. All das kann ich jetzt ganz genau sehen. Besser, als wenn ich es direkt vor Augen hätte. »Wallace?« Ich drehe mich zu ihm um. Er sitzt hinter mir, die Hand wie üblich am Außenbordmotor, um uns stromaufwärts zu steuern, und reckt das Kinn in die Sonne, als wolle er seinen Adamsapfel bräunen. »Yo.« »Warum hast du mir erzählt, Bates wäre Vollwaise?« »Hab ich das?« »Du hast mit ihm getauscht. Eure Leben vertauscht.« Wallace runzelt ernsthaft die Stirn. »Ich höre eine Geschichte, ich mache sie zu meiner eigenen«, erwidert er. »Gehört wohl zu deinen Expansionsplänen.« 237
»Du willst doch auf irgendwas hinaus.« »Wie hast du denn nun deine Eltern verloren?« »Verloren? Das ist lustig«, sagt er, allerdings ohne irgendein Zeichen von Erheiterung. »Zufällig ist das genau das richtige Wort dafür. Ich habe sie tatsächlich verloren. Also, sie sind natürlich gestorben – das gehört ja wohl dazu, wenn man eine Vollwaise ist –, aber eigentlich war es doch eher so, dass sie einfach verschwunden sind.« »Du willst mal wieder provozieren.« »Ich dachte, das gefällt dir.« »Du weichst der Frage aus. Wie sind sie verschwunden?« »Du willst die blutrünstigen Einzelheiten, was?« »Ich will nur das, was Hypothesys brauchte, um eine Entscheidung zu treffen.« »Eine Entgegnung, die deinen Zeiten im Uni-Diskutierclub alle Ehre gemacht hätte.« »Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.« »Doch, Crossman. Wie es scheint, muss ich das«, entgegnet er. Er hat wohl die zerbrechliche Anspannung in meiner Stimme gehört, das angestrengte Bemühen, normal zu klingen, von dem ich dachte, ich hätte es für mich behalten. Bates hört mit dem Wasserschöpfen auf und dreht sich zu uns um. Wahrscheinlich hat er all das schon gehört, was Wallace jetzt erzählen wird, doch anscheinend hat auch er ein Bedürfnis nach Worten. »Ich bin sozusagen eine Art Scheidungswaise, wie das so schön heißt«, fährt Wallace fort, nachdem er den Motor auf ein feuchtes Hüsteln heruntergedreht hat, das uns immer noch ein klein wenig gegen die Strömung voranbringt. »Doch in meinem Fall ist es eine etwas tragischere Version als die standardmäßigen unüberbrückbaren Gegensätze. Ich sehe in mir nichts Geringeres als einen symbolischen Fall in dieser Hinsicht. Nicht wahr, Bates? Und jetzt fragst du, warum. Lizzie will mehr wissen, wie es eben so Lizzies Natur entspricht.« 238
Wallace blickt auf seine Füße hinunter, biegt die Zehen hoch, heraus aus dem Wasser, das nach wie vor von Barrys Korrosionsspuren verfärbt ist. Seine langen Filmsternchen-Wimpern fangen das Sonnenlicht ein und werfen es mit jedem Blinzeln umher. Er ist sich voll bewusst, dass wir warten. Dass wir jede seiner Gesten wahrnehmen und ihnen entgegensinken, ihm entgegensinken. Er kennt das. Er weiß, wie schön er anzusehen ist. »Es ist Mitte der achtziger Jahre«, fängt er an. »Die lange dunkle Seelennacht der Althippies. Eine Zeit, in der Aufheiterungs-Pillen, spirituelle Reisen und die sechzehnjährige Babysitterin zu verführen noch einen Hauch von Originalität besaßen. Ich war damals erst neun, daher weiß ich nicht, wie das bei meinen Eltern genau war. Jedenfalls hatten sie Probleme. Von der Art ›nordamerikanische professionelle Probleme‹, Owen Sound, Ontario, zwölftausend Einwohner, Lions Club, De-facto-Partnertausch-Probleme. Und die ganzen Cocktailparty-Stammgäste meines Vaters – die Ärzte, Anwälte, zwielichtigen Immobilienhaie, komplizenhaften Stadträte und die letzten Einzelhändler mit Ladenfronten, auf denen noch Großvaters Name stand – hatten genau dieselben Probleme. Und ihre Lösung? Frische Luft! Eine Zeit lang waren sie alle eifrig mit ihren Hundeschlittenurlauben und Kletterwochenenden und ersten Ehescheidungen beschäftigt. Bei meinen Eltern wurde Kajakfahren als Heilkur für die Ehe auserkoren. In der Arktis. Achtzehn Monate Eheberatung und ein Zweiwochenkurs ›Überlebenstraining in der Wildnis‹, und auf ging’s im Buschflugzeug zum Great Bear Lake hinauf, im Gepäck gefriergetrocknete Spaghetti Carbonara und die Vorstellung, dass das hier sie wieder zusammenschweißen würde.« Wallace hält jetzt inne. Taucht eine Hand in den Fluss, blass und gummiartig wie ein OP-Handschuh. Um uns daran zu erinnern, dass wir so lange auf die Fortsetzung seiner Erzählung warten werden, wie er es will. 239
»Was dachten die sich dabei?«, fragt er schließlich, die Hand immer noch im Wasser, jetzt nur noch ein Schatten ein paar Zentimeter tiefer, wo die Sonne nicht mehr hinreicht. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass die Piranhas sie versehentlich für toten Fisch halten könnten, doch ich sage nichts. »Das frage ich mich. Was zum Teufel haben die sich dabei gedacht? Auf einen See hinauszupaddeln, der so groß ist wie Iowa, auf dem Gewitterstürme heranrollen, die sie bis dahin nur aus ihren Alpträumen oder Das Poseidon Inferno kannten, und das alles in dem frommen Glauben, so ihre Ehe zu retten. Ob sie wohl irgendeinen Schimmer hatten, dass sie sterben würden? Der Gedanke hätte ihnen zumindest kommen müssen, aber ich wette, das ist er nicht. Nicht bis ganz zum Schluss. Das Ganze sollte ja nur ein Erfahrungstrip sein. Etwas, was man durchsteht, um dann zu Hause bei Dinnerpartys lustige Fotos herumzuzeigen. Und dann kommt der Regen. Verwandelt alles sofort in Eis und ihre Windjacken und Thermohosen in mittelalterliche Rüstungen. Die Wellen türmen sich über ihnen auf wie ein Linebacker beim Tackling und stürzen sich dann auf sie. Ihre Kajaks kentern und sie hängen kopfüber im Wasser. Sie versuchen, wieder nach oben zu kommen, in einer fließenden Bewegung, genau wie es ihnen beim Bootsverleih gesagt wurde. Es funktioniert nicht. Immer, wenn sie es fast geschafft haben, rollt die nächste Welle heran und wirft sie wieder um. Nach nicht einmal einer Minute sind sie erschöpft. Und dann kommt die Panik. Die sie hektisch mal zur einen, dann zur anderen Seite zucken lässt, so dass dabei jedes Drehmoment verloren geht. Jetzt bewegt sich das Ding überhaupt nicht mehr. Nur noch dichte Dunkelheit um sie herum, selbst mit offenen Augen. Sie sind zu Stein erstarrt. Mitten im Nirgendwo, doch gerade mal ein paar Meter voneinander entfernt.« Wallace’ Stimme ist jetzt wieder ganz bei sich angelangt. Oder zumindest bei einer seiner Stimmen. Der hypnotisieren240
den, die zugleich tröstlich ist und tiefere Andeutungen suggeriert. Die Worte sind fast abgetrennt von dem, was sie aussagen sollen, so dass sie nur noch als Klang existieren, wie wenn man ein Liedchen summt, an das man sich aus Kindertagen noch erinnert. Es ist komisch. Und man fühlt sich komisch dabei. Auch macht es einem fast Angst. Lässt einen Blick auf einen unaussprechlichen Subtext erhäschen, den man nur entdecken kann, wenn man sich erlaubt, voll und ganz in diese Stimme hineinzuschlüpfen. »Noch während es passiert, erscheint es ihnen lächerlich«, fährt er fort. »In einem See zu ertrinken, der vom nördlichen Polarkreis halbiert wird? Also, bitte! Aber nein. Sie sterben trotzdem dort. Zu Hause zwei Söhne, die bei den immer ungeduldiger werdenden Nachbarn untergebracht sind. Verängstigt und wohl wissend, dass dies erst der Anfang der Angst ist. Wann kommt Mami endlich heim? Kann ich meinen Dad anrufen? Wie blöd das ist. Und traurig und romantisch und ein bisschen lustig, versteht ihr, wie das meistens so ist, wenn anderen furchtbare Dinge zustoßen.« Er zuckt mit den Schultern und ein Schlüsselbein ragt dabei aus dem Kragen seines T-Shirts hervor. Ein vierflügliger Käfer landet auf seinem Kopf, genau im Scheitel, bleibt dort einen Augenblick sitzen und fliegt dann weiter, wackelig wie ein Doppeldecker. »So ist es passiert«, sagt Wallace. »Woher weißt du es?« Er blickt mich scharf an. »Wie sollte es sonst passiert sein?« »Du hast einen Bruder?«, frage ich weiter, da ich nicht will, dass der Faden schon abreißt. »Er heißt Ian. Ist sozusagen auch verschwunden. Ging nach der Schule auf Reisen, wie alle anderen auch, nur dass er nicht mehr zurückkam. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, arbeitete er als Barkeeper in einer dieser Discos für Rucksackreisende auf Eos, einer griechischen Insel. Lebt in einer Höhle. Mag 241
lieber Männer als Frauen, aber ich glaube, er verbringt mehr Zeit allein als mit jemandem zusammen. Schreibt in seiner Freizeit an einer tausendseitigen Abhandlung über die moralische Leere der westlichen Kultur, oder dass Papiergeld das Instrument einer internationalen Bankenverschwörung ist, oder wie Hollywood die Waffenindustrie unterstützt. Oder so was in der Art. Wir sprechen kaum noch miteinander. Unsere politischen Meinungen kommen uns in die Quere, insofern als er eine hat und ich keine. Aber das ist meistens nur die simple Antwort, mit der wir andere abspeisen. Der Punkt ist, dass wir uns nach Moms und Dads Tod brandneue Identitäten aufbauen mussten. Etwas Markantes. Auf demselben Kontinent zu wohnen, damit liefen wir ständig Gefahr, uns gegenseitig daran zu erinnern, dass wir nur Täuschungen sind. Und wir haben zu hart an uns gearbeitet, um das zuzulassen.« »Bist du wütend auf ihn?« »Warum sollte ich wütend auf ihn sein?« Wallace hebt das Kinn auf eine Höhe mit meinem und blickt mich mit echter Verwunderung an. »Weil er dein Bruder ist«, sage ich. »Und dich zurückgelassen hat.« »Er hat nur getan, was er tun musste.« Er zuckt noch einmal mit den Schultern und seine Hand taucht aus dem Wasser auf. »Genau wie ich. Und wie du weißt, habe ich ja einen anderen Bruder gefunden.« Wallace lächelt jetzt Bates an. Ein volles, breites Lächeln, obwohl seine rissigen Lippen in die Gegenrichtung ziehen. Doch da ist eine Leere direkt hinter dem, was es nach außen trägt, ein Mangel an jener Lebendigkeit, die echten Gefühlsäußerungen innewohnt. Das macht aus diesem Lächeln mindestens so sehr eine Drohung wie einen Ausdruck von Wärme. Nicht gegenüber Bates, aber gegenüber mir, gegenüber Barry. Jedem außer ihnen beiden. Bei diesem Gesichtsausdruck meldet sich das, was da in mir 242
drin wächst, überfallartig zurück. Doch diesmal ist mir seine Gegenwart fast willkommen. Mit anzusehen, wie Wallace und Bates sich mit den Augen verständigen, als Brüder, wirft mich wieder auf mich selbst zurück. Dabei scheint es ihnen mindestens so sehr darum zu gehen, alle anderen auszuschließen, als um irgendetwas sonst. Es reduziert mich auf ein bloßes Kind. Das linkische Mädchen hinten im Klassenzimmer mit den vier Augen. Nicht gehasst, nur ignoriert. Eine Isolation, die ich mir dadurch einhandelte, dass ich zu angestrengt versucht habe, Freunde zu finden. Und die Erinnerung an die Welt dieses Kindes bringt die kindischste aller Reaktionen hervor. Ein demütigender Tränenschleier, vor dem Anblick der anderen nur verborgen durch einen erneuten Bauchkrampf, der meinen Kopf zwischen meine Knie sinken lässt. Es löst in mir den Gedanken aus, dass das, was da in mir ist – ob Flussparasit oder sonst ein Alien –, trotz allem mit seinem Wirt verbunden ist, trotz allem eben doch ein Teil von mir ist. Ich muss lernen, für die Gesellschaft dankbar zu sein. An diesem Ort hier ist es die einzige Familie, die ich habe. Wir sind ungefähr so weit weg von allem, wie es auf dem amerikanischen Kontinent überhaupt möglich ist. Ich weiß, dass das stimmt. Bevor ich von Toronto wegflog, habe ich mir genau den Globus angesehen, der noch aus meinen Unitagen herumsteht, so ein beleuchteter mit Erhebungen und Furchen auf der Oberfläche, die Gebirge und Untiefen darstellen. Ich knipste ihn an und sah Südamerika rosarot glühen. Fuhr mit den Fingern über die Orte, an denen wir jetzt sind. So glatt. Die Glühbirne im Innern wärmt den großen Wald, während meine Hand von Belem nach Westen zu den Anden gleitet. Keine Namen unter meinen Fingerspitzen außer den wenigen, die sich an den Flussläufen entlangschlängeln. Und trotzdem überrascht es mich, dass uns außer den spani243
schen Stimmen, die uns folgen, und einem leeren Kanister Motoröl, der am Tag nach unserer Flucht auf dem Wasser an uns vorbeischaukelte, noch nichts von Menschenhand Gemachtes begegnet ist. Nicht, dass ich Großartiges erwarte. Aber bestimmt werden doch auch die schmälsten Zuflüsse gelegentlich einmal befahren. Vielleicht sind wir einfach noch nicht lange genug hier draußen, um etwas davon zu sehen. Wir könnten hier anhalten und würden womöglich drei Monate warten, bis einmal ein Boot vorbeituckert. Oder auch sechs Monate. Und nur unsere Knochen wären Zeugen seines Vorbeiziehens. Und dann sehen wir die Hütte. Ich sehe sie jedenfalls. Der Umriss von etwas Errichtetem mitten im Wildwuchs des unteren Laubdachs. Linien, die auf Linien treffen. Ein Unterschlupf, schießt es mir durch den Kopf. Jemand muss ihn gebaut haben. Sehne ich diesen Anblick so verzweifelt herbei, dass der Wald sich inzwischen, wenn auch noch so minimal, meinen Wünschen fügt? Vielleicht ist es ja nur das. Eine vorsätzliche Illusion, die sich in einem Durcheinander abgestürzter Äste verfangen hat. Doch da ist definitiv ein Eingang, wenn auch ohne Tür. Und ein spitzes Dach aus getrockneten Palmenblättern. Die ganze Konstruktion – nicht höher oder breiter als ein Meter fünfzig – ruht auf abgesägten Scheiben eines JacarandaBaumstamms. Ein amazonensischer Geräteschuppen. Und mit etwas Phantasie tritt er gleich noch deutlicher hervor. Etwas an seinem provisorischen Charakter, an den schiefen Wänden und Winkeln, die es als das in aller Eile hingeworfene Werk eines Einzelnen kennzeichnen, erinnert mich an die selbst gebastelten Bushäuschen entlang abgelegener kanadischer Landstraßen. Und eine Sekunde lang fahre ich nicht mehr auf einem Fluss, sondern auf einem Schotterweg. Angeschnallt hinter einer vereisten Windschutzscheibe, vorbei an einer Szenerie, die mir 244
zwar vertraut, jedoch nicht meine eigene ist. Fast erwarte ich, ein Kind in neonfarbenem Skianorak aus der Hütte treten zu sehen, nicht minder jedenfalls, als ich einen abgemagerten Professor, einen Jaguar, die sich zu ihrer vollen Größe aufrichtende Gestalt des Portiers erwarte. Ich will Wallace eben darauf aufmerksam machen, doch er steuert uns bereits aufs Ufer zu. Stellt ein paar Bootslängen vorher den Motor ab, so dass wir sanft auf den Strand hinaufgleiten. Die Hütte steht wie ein primitiver Altar fünfzehn Meter oberhalb am Ende eines überwucherten Pfads direkt vor uns. Jetzt sehen wir sie alle, sagen jedoch nichts. Sogar Barry hält seine Atemgeräusche zurück und späht zu dem schattigen Eingang hinauf. Nichts bewegt sich. Und selbst wenn, wie sollten wir es wissen? Das Innere der Hütte ist so dunkel im Vergleich zu dem grellen Tageslicht um uns her, dass wir nicht einmal die Rückwand erahnen können. Ein Mann könnte nur ein paar Handbreit hinter dem Eingang stehen, und wir wüssten nicht, dass er da ist. Bates deutet auf etwas rechts von dem Pfad. Ein auffälliger Streifen Weiß, ausgebreitet über einer dürren Astgabel; in der Mitte nach unten hin verlängert; mit einem längs verlaufenden Schlitz darin. »Eine Unterhose«, flüstert Bates. »Und ausgerechnet meine Größe«, merkt Barry an. »Gott, wie ich mich nach einer frischen Unterhose sehne.« Es ist mehr als verstörend, Barrys Stimme wieder zu hören, doch keiner von uns antwortet. Denn kaum ist uns klar geworden, was es ist, da dämmert uns auch, was es bedeutet. »Bates«, sagt Wallace, während er vorsichtig am Rand des Kanus nach vorne steigt. »Gib mir die Machete.« Bates reicht ihm das Messer nach vorn, schnappt sich selbst das Gewehr und bringt es in Anschlag. Wallace tritt in das hüfthohe Gras und winkt mir zu, ihm zu folgen. So bin ich 245
wieder einmal zwischen ihnen gefangen. Unbewaffnet. Es geht nicht gut los. Als ich den Fuß auf festen Boden setze, beginnen meine Beine unkontrolliert zu zittern. Das gemächliche Schaukeln des Kanus und meine Schwäche haben zur Folge, dass ich mich kaum noch aufrecht halten kann. Doch Wallace winkt mich weiter, und so bemühe ich mich, mit ihm Schritt zu halten, so gut ich kann. Weil er es mir befohlen hat. Und aus der Hoffnung heraus, dass dieser schwarze Kasten irgendetwas enthält, was uns auf die eine oder andere Weise aus alledem hier erlösen könnte. Wallace hält die Machete ein wenig von sich weg, um sie wenn nötig ungehindert in hohem Bogen nach oben führen zu können. Die Waffe ist ihm jetzt offensichtlich vertraut geworden, was es nur noch beunruhigender macht, in seiner Nähe zu sein. Als ob ihm genau bewusst wäre, dass er mit ihr umzugehen weiß und dies auch möchte. Und wenn sich keine Gelegenheit dafür bietet, dann wird er eben eine erfinden. Als er den Eingang erreicht, bleibt er direkt davor stehen und schaut hinein. Obwohl ich nichts hören kann, ist mir, als ob er mit etwas kommuniziert, gesenkten Hauptes, um dem Blick dessen zu begegnen, was da auf dem Boden sein mag. Ich schließe zu ihm auf, und beim Geräusch meiner Schritte tritt Wallace beiseite. Fordert mich mit der Machete, die jetzt in das Dunkel hineinragt, auf einzutreten. Doch selbst als ich mich bücke und hineingehe, ist es so dunkel, dass ich nicht weiter als bis zu ihrer fleckigen Spitze sehen kann. Ich erwarte Tod. Eine sterbende Gestalt in der Ecke oder etwas längst Verstorbenes. Und vielleicht erwarte ich halb und halb auch, mich selbst zu sehen. Erwarte, dass Wallace’ Klinge sich in mich bohrt und mich hier zurücklässt, an diesem Ort, der kein Altar oder Bushäuschen ist, sondern meine eigene Gruft. Das wenige verfügbare Licht dringt an meine Augen. Keine Fußabdrücke, keine Feuerstelle oder Überreste von Tieren. Nur 246
das fremdartigste Ding, das man sich je in einem Urwald vorstellen kann. Ein Totem, zurückgelassen von einem außerirdischen Besucher, beinahe leuchtend in dem Lichtstreif auf dem schmutzigen Boden. Ein Buch. »Was ist es?«, fragt Wallace, da ich es auch prompt in der Hand habe. Es ist der Get moving!-Reiseführer »Amazonas« in einer Auflage von 1987, »Inklusive Landkarten und 48 Seiten GRANDIOSER Farbfotos!«. Die grandiosen Farbfotos sind noch da, doch die Landkarten sind herausgerissen. Der Rest ist zerfleddert von wiederholtem Durchweichen und Trocknen. So steif, dass das Umblättern einer Seite ein ehrwürdiger Akt ist. Er nützt uns natürlich nichts. Es sei denn, wir wären schon deutlich weiter gefahren, als wir selbst es für möglich halten, und hinter der nächsten Biegung taucht Iquitos oder Santarém oder gar Manaus auf. Nur dann wäre es für uns von Interesse, wie die Zimmerpreise im Best Western sind oder wo es »die saftigsten Hamburger diesseits vom Wendekreis des Steinbocks« gibt. Ich nehme ihn trotzdem mit, spüre das beruhigende Gewicht von Geld und Annehmlichkeiten zwischen den Buchdeckeln. Gehe zum Kanu zurück und drücke ihn ehrfurchtsvoll an meine Brust wie ein Pilger seine Bibel. »Sieht so aus, als ob Crossman doch endlich einen Freund gefunden hat«, sagt Barry, bevor er wieder im Dämmerschlaf versackt. Bates lässt das Gewehr sinken, ohne auf mich oder das Buch einzugehen. Spricht nur zu Wallace. »Was ist da drin?« »Nichts, was uns helfen könnte.« »Aber da war jemand?« »Wer es auch war, er ist weg.« »Waren es die Piraten?« »Ich würde sagen, nein. Crossmans Fund nach zu urteilen 247
war es wohl eher ein verirrter und etwas geistesabwesender Tourist. Hat seinen Reiseführer und seine Unterhose vergessen.« »Das heißt, er hatte ein Boot.« »Das hat er wahrscheinlich auch verloren. Oder er wurde hier von anderen abgesetzt. Vielleicht hat er seine Nase in Sachen gesteckt, die ihn nichts angingen. Wilderer, Goldgräber, Indianer. Wahrscheinlich hielt er es für besser, in den Urwald zu marschieren, als auf den nächsten Bus zu warten.« »Hattest du auch diesen Gedanken, Wallace? Eines dieser Häuschen, in denen sich Schulkinder unterstellen, während sie auf den Bus warten?« »Was redest du da für ein Zeug, Crossman?« »Ich dachte nur – du hast Bus gesagt –« »Es gibt hier keinen Bus. Aber du kannst gerne da bleiben und sehen, ob ich damit falsch liege.« »Sollten wir vielleicht nach ihm suchen?«, fragt Bates. Wallace senkt das Kinn zu Bates hinunter. »Wer es auch war, er hat einen dummen Fehler gemacht«, sagt er. »Das heißt nicht, dass wir denselben machen müssen.« »Wenn es ein Tourist war«, werfe ich zaghaft ein, den Blick nach unten auf den Reiseführer gerichtet, der bei einem seitenfüllenden Foto einer tropischen Kreischeule mit einem Faultier in den Krallen aufgeschlagen ist, »dann hat er einen höllisch weiten Weg hinter sich.« »So was soll vorkommen.« »Nur, wenn man einen Grund hat. Man kommt, um etwas zu sehen. Aber was gibt’s hier zu sehen?« »Papageien, Anakondas, Natur. Das Übliche. Ich wette, wenn wir in einem Radius von dreißig Metern den Busch absuchen, werden wir ihn finden. Wahrscheinlich ist er davongekrochen wie ein altersschwacher Hund, um sich sein Grab auszusuchen.« »Nein«, entgegne ich und klappe entschlossen das Buch zu, 248
als hätte es mir gerade eine Antwort geliefert. »Ich glaube nicht, dass er hier wegging, um nach einem Ausweg zu suchen. Ich glaube, er ist in den Urwald gegangen, um zu suchen, was ihn hergeführt hat.« »Na, hoffentlich hatte er eine gute Reise«, sagt Wallace und schiebt uns vom Strand hinunter ins Wasser zurück. Die Hütte schrumpft bereits zusammen in dem Gerangel des Lebens, aus dem sie aufgetaucht ist. »Wer weiß, Crossman, vielleicht treffen wir den armen Kerl ja noch.« Das Abendessen ist eine Handfläche voll Maniok und eine halbe Kaffeebüchse Fluss. Irgendwie ist das sogar sättigend, wie wahrscheinlich alles, was jetzt in unseren zu geballten Fäusten eingeschrumpelten Mägen landen würde. Ich schlafe mit offenen Augen ein. Die letzte Abendsonne funkelt im Rhythmus meiner verlangsamten Herzschläge auf dem Wasser. Doch bevor ich vollständig wegsinke, weckt mich Wallace mit zwei Stößen zwischen die Schulterblätter auf. Er deutet auf das näher gelegene Ufer. Irgendwo ins Dunkel unter den überhängenden knorrigen Wurzeln, die die Trockenzeit bloßgelegt hat. Ich folge seinem Blick, doch da ist nichts. »Ich kann nichts –«, setze ich mit kaum mehr als einem Flüstern an. Doch meine Worte scheuchen etwas an genau der Stelle auf, zu der Wallace hinblickt. Ein paar Augen. Gelb umrandet und mit einem schwarzen Kern, auf einem pickligen liegenden Baumstamm sitzend. Wallace greift nach dem Gewehr. Die Augen bleiben auf uns gerichtet, so aufgerissen und reglos, dass sie die ganze Länge des Flusses vor ihnen aufnehmen. Doch sie sagen nichts. Sie könnten alles Mögliche ausdrücken, von Zweifel bis Hass. Das Gewehr liegt jetzt an Wallace’ Schlüsselbein. Mir 249
kommt der Gedanke, dass es ihn zerbrechen wird, falls es denn nicht mehr blockiert, sondern tatsächlich feuert. Er sieht so klein aus im Vergleich zu dem Gewehr. Der Großteil seines Oberkörpers schmiegt sich jetzt um das Ding, zieht den Schaft in sich hinein, als wäre es ein Tier, das er warm halten will. Eines mit einem geraden schwarzen Schwanz, der auf einen umgestürzten Baumstamm am Ufer zeigt. Alles wartet. Wallace darauf, sein Ziel zu fixieren. Das Gewehr darauf, die Kraft zum Schuss zu finden. Doch bevor es dazu kommt, löst sich in Barrys Brust ein hupendes Schnarchen. Der picklige Baumstamm peitscht nach vorn ins Wasser. Die Augen obendrauf tauchen als Letztes unter. Wallace drückt trotzdem ab, doch das Gewehr blockiert weiterhin. Oder ist kaputt. »Das hätte ein echtes Abendessen sein können«, sagt er in fast ehrfürchtigem Ton. »Was zum Teufel war das?« »Ein Kaiman. Ich sehe sie schon die ganze Zeit hier, aber noch keiner war so groß wie der hier.« »Ich konnte nur eine dunkle Linie unterhalb der Äste sehen.« »Da drin sitzen sie. Und spähen heraus.« »Anscheinend entwickelst du langsam den DschungelBlick.« »Das stimmt. Ich sehe Dinge, die ich vorher noch nie sehen konnte. Unglaubliche Dinge«, sagt er und lässt erst jetzt das Gewehr sinken. »Du nicht?« »Hör mal, Tarzan. Ich glaube, wir reden hier von Halluzinationen.« »Wer weiß das schon? Mir kommt alles ganz real vor.« »Virtuelle Realität.« »Diesen Ort hier könntest du nicht programmieren. Zu heiß und zu hungrig.« »Und wir zu verängstigt.« 250
»Ich hab’s dir schon mal gesagt, Crossman. Darüber bin ich hinweg.« Bates kommt durch das Kanu angepatscht, um sich zu uns zu gesellen. »Wallace hätte beinahe einen riesigen Alligator geschossen«, erzähle ich ihm. »Einen Kaiman«, korrigiert mich Wallace. »Klingt spannend.« »War es auch.« Wir starren alle auf die Stelle, an der der Kaiman ins Wasser getaucht ist, als erwarteten wir, er würde noch einmal auftauchen und uns die Zunge herausstrecken. »Ich weiß, das ist gerade nicht unsere wichtigste Überlegung«, sage ich, »aber habt ihr schon mal daran gedacht, dass wir, falls wir je heil hier rauskommen, grandiose CocktailpartyGäste abgeben?« »Falls dich diese Vorstellung glücklich macht, nur zu«, erwidert Wallace. »Aber meiner Erfahrung nach gibt’s nichts Schlimmeres als Langweiler, die von ihren Reisen erzählen.« »Das hier nennst du Reisen?« »Einer extremen Sorte, ja. Heli-Skiing, Tiefseetauchen, Bungee-Sex. Kidnapping, Folter, Mord. Lauter so Scheiße, die man zu Hause nicht kriegen kann, Crossman.« »Und, würdet ihr beide euch als weit gereist bezeichnen?«, frage ich, eine sich anbietende Chance auf etwas Ablenkung erahnend. »Vor dem hier, meine ich?« »Nicht besonders. Obwohl wir das eigentlich sein sollten«, antwortet Wallace für sie beide. »Reisen ist für unsere Generation so was wie der Ruf zu den Waffen. Alle, die Bates und ich kennen, stellen sich zurzeit genau diese Frage. Zu merken, dass man zivilisiert und vom Glück verwöhnt ist, aber nicht zu wissen, was man mit sich anfangen soll: Ist das die Hölle? Das Einzige, was man sicher weiß, ist, dass man dort sein will. Sich für ein paar Jahre Richtung Südostasien, nach Chile, Prag, den 251
Yukon hinauf abseilen. Ich? Ich habe ein paar Wochen in Indien auf die Reihe gebracht, bevor mich die Scheißerei kleinkriegte. Aber wenigstens bin ich krank geworden. Auf die Art war es für mich real.« »Und wo sind wir dagegen in den ersten Sommersemesterferien gelandet?«, fragt sich Bates laut. »Wir waren beim Bäumepflanzen.« »Bäumepflanzen! Genau! Warst du je im äußersten Norden Ontarios, um dir mit Bäumepflanzen Geld zu verdienen, Crossman?« »Kann ich nicht von mir behaupten. Zu meiner Zeit haben wir die Sommerferien mit Kellnern und Haschrauchen verbracht.« »O nein, das bringt’s nicht«, sagt Wallace kopfschüttelnd. »Ich sag dir, was du machen musst: mit dreißig anderen einundzwanzigjährigen Existentialisten in einen Bus steigen und irgendwo in die absolute Einöde fahren – fast so wie hier, nur dass es da im Juli immer noch kalt ist und um einiges hässlicher – und diese jämmerlichen Charlie-BrownWeihnachtsbaumschösslinge in die gefrorene Erde stecken. Und man darf dabei sogar im Zelt übernachten! Und versuchen, eins von den vierzehn Mädels auf zweihundert Meilen Entfernung zu vögeln! Und ab und zu fahren sie dich sogar ins nächste Nest zum Biertrinken! Wobei mir gerade eben einfällt, dass ich bei dieser Gelegenheit Bates zum zweiten Mal das Leben gerettet habe.« »Wann war das erste Mal?« »Das ist eine andere Geschichte.« »Dann erzähl mir vom zweiten Mal.« Wallace legt das Gewehr zwischen seinen Beinen ab und lehnt sich an die Außenwand des Kanus. »Bates, ich glaube, das sollten wir vielleicht für die Nachwelt festhalten«, sagt er. Bates zieht den winzigen Palmcorder aus den Tiefen seiner Hosentasche und richtet ihn auf Wallace. 252
»Du hast das Ding da immer noch?« »Sie haben mir die Eier verbrannt, Crossman. Aber meine Taschen haben die Schweine nicht durchsucht.« Jetzt zoomt er herum, um Wallace richtig ins Bild zu kriegen. Erst als die Kamera ihn im Visier hat, fängt Wallace an zu erzählen. »Es war in einer dieser Ortschaften da oben, die komplett aus Aluverkleidungen bestehen«, sagt er und blickt dabei direkt in die Kameralinse, zu Bates auf der anderen Seite. »Wir sind in der Kneipe abgestiegen – diese Orte haben nur eine einzige, so dass die Polizei gleich weiß, wo sie Ehemänner und bei Kneipenschlägereien verloren gegangene Gliedmaßen aufsammeln kann – und haben angefangen zu trinken. Wir tranken so viel, dass wir am Ende genau das taten, wovor uns alle immer gewarnt hatten: Wir fingen an, uns mit den Ladys aus der Gegend zu unterhalten, anstatt unter uns zu bleiben. Man ahnt, worauf das hinausläuft, oder? Die uralte, immer gleiche Geschichte. Stimmt’s, Barry?« Barry sagt nichts dazu. Doch seine Augen scheinen geöffnet und mehr oder weniger auf Wallace gerichtet zu sein. »Da sitzen wir also und schwatzen gemütlich mit so ein paar Hinterwäldlerschönheiten, die gemessen am Standard in solchen Städten irgendwas zwischen achtzehn und fünfzig sein können. Wir schlagen uns auch ganz wacker. Sie finden unsere geleckte großstädtische Unbeholfenheit exotisch und wir finden ihre Zahnlücken und Geschichten von Snowmobilunfällen auch ganz spannend. Sie laden uns zu sich nach Hause ein. Unterwegs warnen sie uns allerdings, dass es da noch ›Boyfriends‹ gäbe. Als ich sie frage, wo die denn im Augenblick sind, sagt die eine Saufen, als ob es sich dabei um einen Ort auf der Landkarte handelt. Ich merke an, dass wir auch Saufen waren, und zwar in der einzigen Kneipe der Stadt, und da eröffnet die andere uns doch glatt, dass, ja, ihre Freunde auch da beim Saufen waren. Und ich frage: ›Ihr macht das alles hier nicht 253
zufällig, um eure Freunde eifersüchtig zu machen, oder, Ladys?‹ Und noch bevor sie darauf eine Antwort liefern können, zupft mich Bates auch schon am Ärmel, und unsere Damen zeigen einigermaßen aufgeregt über meine Schulter nach hinten. Zuerst denke ich noch, es ist wegen ihrer spontanen Kreation eines neuen Wortes.« Er hält inne, und so muss ich fragen: »Was für ein Wort?« »Heiligemuttergottesdasindsieschon!« Ohne die Kamera vom Auge zu nehmen, erzählt nun Bates weiter, als wäre es so einstudiert. Doch er hält dabei das Objektiv die ganze Zeit unverrückt auf Wallace’ grinsendes Gesicht gerichtet. »Sie waren nicht größer als wir. Aber sie hatten Holzfällerjacken an und denselben wirren Ausdruck auf dem Gesicht, was ihnen einen unmittelbaren Vorteil verschaffte. Wir waren betrunken. Aber diese Kerle stammten aus der vormenschlichen Ära. Wie in Altered States, nachdem William Hurt zu viel Zeit in diesem Isolationstank verbracht hat, total bedröhnt mit Peyotl. Irgendwie anthropologisch ganz interessant, aus einer gewissen Entfernung betrachtet. Aber aus der Nähe bloß noch absolut unschön. Und dann fielen sie auch schon über uns her. Über mich zumindest. Ich war vorher noch nie verprügelt worden. Es war, wie wenn man aus einem langen Traum aufwacht. Einfach so, ohne irgendwelche Argumente. Und darum geht es dabei ja wohl, schätze ich.« Bates hat Elvis-Lippen. Wie konnte mir das bisher bloß entgehen? Man sieht es nur, wenn er spricht. Die ganze Verletzlichkeit, aber ohne das sinnliche Moment. Schmollend und voll und dumm, doch ohne sich all dessen bewusst zu sein. Man möchte ihm die Lippen am liebsten aus dem Gesicht schlagen oder sie so zusammenquetschen, dass er durch die Nase atmen muss. Sie hart mit den Zähnen küssen. Er hält inne, den Palmcorder immer noch auf Wallace gerichtet. Dann setzen sich seine Elvis-Lippen wieder in Bewegung. 254
Erzählen, wie einer der Kerle ihn niederschlägt und ihm die Arme auf den Rücken dreht, so dass er aufrecht mit vor sich ausgestreckten Beinen dasitzt wie eine Stoffpuppe auf dem Armaturenbrett. Bates bot ihnen seine Brieftasche an, seinen Walkman. Er war so kooperativ, wie es einmal ein Spezialist für das Überleben im Großstadtdschungel in der OprahWinfrey-Show empfohlen hatte. Aber die Typen hier machten das nicht des Geldes wegen. Und noch nicht einmal aus rasender Eifersucht. Für die war das einfach nur ein Heidenspaß. Und so fingen sie denn auch fröhlich jauchzend an, ihm ins Gesicht zu treten. Sie schienen gar nicht mehr aufhören zu wollen. Da er abgesehen von Bodychecks beim Hockey oder mal einer Rangelei bei der entschärften Form von Football, die sie in der Schule spielten, noch nie vorher Prügel bezogen hatte, galt seine größte Furcht dem Schmerz. Doch der war überraschend gering. Der momentane Schock war so überwältigend, dass er alles andere kaum registrierte. Zuoberst in Bates’ Bewusstsein war nicht die Hitze, die sich in seinem Körper ausbreitete, eine Folge der inneren Blutungen, oder die bange Frage, wie lange er das noch aushielt, sondern die unmittelbare Präsenz dieses Augenblicks. Wie ihre Stiefel in seinem Gesicht landeten, wie die Zahnspange aus seinem Mund geschlagen wurde und auf dem Asphalt entlangschlitterte, wie ihn einer der Holzfäller ständig mit dem übelsten Wort beschimpfte, das ihm einfiel, Schwanzlutscher, die zeitlupenhaften Augenblicke dazwischen, wenn er versuchte, sich die Hände vors Gesicht zu halten oder bettelte Wart doch mal! – bei all dem empfand er nichts außer einem alles überwältigenden Gefühl von unmittelbarem Geschehen, das Gefühl, tatsächlich in seiner eigenen Haut zu stecken. Und dachte dabei: Also, das ist doch jetzt etwas, oder? »So ein bisschen wie hier«, wirft Wallace ein. »Ja, genau, fast so ein bisschen wie hier«, stimmt Bates zu und lässt dabei die Kamera sinken. »Jetzt, wo du’s sagst.« 255
Aber ich will nicht, dass er das sagt. Ich will von hier nichts mehr hören. »Und was ist dann passiert?«, frage ich ihn. »Wie bist du da rausgekommen?« »Also, das ist echt lustig«, fährt er fort, jetzt allerdings stotternd vor unterdrückten Glucksern. »Da hocke ich also und sehe mit an, wie die buchstäblich die Scheiße aus mir rausprügeln, und allmählich frage ich mich, wo denn Wallace bleibt. Ich schwöre bei Gott, mir braucht nur sein Name durch den Kopf zu gehen, und Wumm! – da ist er auch schon! Schwenkt den Deckel einer Mülltonne durch die Luft und schreit wie ein Ninja auf Crack. Du weißt schon, dieses ganze Kung-fu-Yeeoww!-Zeugs mit Drehungen um die eigene Achse und BeinKicks und Sporty-Spice-Akrobatik. Das war das stümperhafteste Täuschungsmanöver, das ich je gesehen habe. Aber diese mutierten Boyfriends haben es komplett geschluckt. Sind auf der Stelle abgedampft und haben mich mit meinen sämtlichen Besitztümern auf dem Boden zurückgelassen – meinem Walkman, meinem Nasenring, meiner Scheißspange.« Wallace kann sich vor Lachen nicht mehr halten, und Bates stimmt ein, hebt erneut den Palmcorder, um die Erheiterung seines Freundes festzuhalten. Ohne dass ich das überhaupt noch für möglich gehalten hätte, spüre ich, wie sich auch bei mir das Lachen seinen Weg durch die Muskeln nach oben bahnt. Es überrascht mich, wie sehr ich mich danach sehne, dies hier mit ihnen zu teilen, das Lächerliche daran zu sehen und zu zeigen, dass auch ich es sehe. Irgendwo schwebt die fixe Idee, der Schlamassel, in dem wir uns befinden, könnte zu nichts zusammenschrumpfen, wenn ich mich jetzt so weit gehen lassen kann. Doch etwas stoppt das Lachen, noch bevor es aus mir herausbrechen kann. Ein neuer Laut, der über das Knattern des Motors hinweg an unsere Ohren dringt. Allerdings kein Tier. Nichts, was der Urwald von sich aus hervorbringen könnte. Ich 256
erkenne das Geräusch, ohne ihm einen Namen geben zu können. Hohle Donnerschläge. Wir blicken ganz automatisch zum Himmel auf, doch die Wolken sind nach wie vor nur graue Umrisse. Obwohl es leicht aus mehreren Meilen Entfernung kommen kann, ducken wir uns instinktiv ins Kanu, so dass aus der Ferne nur noch ein Stückchen von unseren Köpfen zu sehen wäre. »Was ist das?«, fragt Bates flüsternd. »Ein Gewehr«, sage ich. »Mehrere Gewehre.« »Glaubst du, das sind sie?« Alle, sogar Barry, sehen zu mir her. »Ich habe es euch bisher nicht erzählt, aber neulich Nacht habe ich Stimmen gehört. Weit weg und gleichzeitig nah. Ich konnte nicht verstehen, was sie gesagt haben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Spanisch war.« »Das hast du nicht geträumt«, sagt Wallace. »Du hast sie auch gehört?« »Ich und Bates. Alle beide.« »Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?« »Aus demselben Grund, aus dem du uns nichts gesagt hast.« »Wir hätten die Motoren an den anderen Kanus demolieren sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.« »Die hatten wir nie. Wir mussten uns ja stattdessen noch eine Weile unterhalten, schon vergessen?« »Trotzdem, vielleicht waren sie es ja gar nicht.« »Vielleicht nicht. Obwohl ich mich schon frage, wie viele spanisch sprechende Männer, die gerne Gewehrschüsse in den Wald hinein abfeuern, uns wohl rein zufällig folgen.« »Wir sind auf einem Fluss. Wir ziehen ja nicht direkt eine Spur hinter uns her.« »Sie haben sich ausgerechnet, dass wir Richtung Norden fahren, also tun sie dasselbe. Falls wir umkehren, treffen wir zuallererst auf sie. Und wenn wir nicht bald aus diesen Inseln raus und in offenere Gewässer gelangen, dann liegen sie damit wo257
möglich noch richtig.« »Und was machen wir nun?« »Wir fahren weiter.« »Wie viel Benzin haben wir noch?« »Ich fülle nur ab und zu eine Tasse voll nach. Wir haben noch ein oder zwei Tage. Vielleicht auch weniger.« »Und dann?« »Und dann treiben wir wieder zurück. Oder wir rudern bis nach Bogota hinauf.« »Oder wir sinken«, fügt Bates an. »Habt ihr es bemerkt? Wir kommen dem Wasserspiegel immer näher.« Alle blicken wir reflexartig zu Barry nach vorn, wenden jedoch im nächsten Moment den Blick wieder ab. »Dann müssen wir eben noch mehr schöpfen«, erwidert Wallace. »Wir kommen nicht mehr nach damit«, sage ich, »selbst wenn wir außer der Kaffeebüchse noch etwas zum Schöpfen hätten. Früher oder später wird das Wasser über den Bootsrand hereinschwappen.« »Wenn es dazu kommen sollte, müssen wir eben an Land gehen und uns mal die Beine vertreten.« »Das klingt nicht sehr vielversprechend.« »Ist es auch nicht, Crossman. Schon seit geraumer Zeit nicht mehr.« Die Gewehrschüsse ertönen noch bis in den Abend hinein. Manchmal sind sie so nahe, dass ich beinahe die Kugeln durch die Luft zischen hören kann. Dann wieder sind sie so weit weg, dass sie von den Balzrufen der Baumsteigerfrösche übertönt werden. Wir versuchen nicht mehr, uns zu unterhalten, auch nicht, wenn die Schüsse weiter weg zu sein scheinen. Und auch dann nicht, als sie schließlich ganz verstummen. Wir bleiben dicht am Ufer. Ich biete Wallace an, den Motor zu übernehmen, doch er scheucht mich weg, als sollte ich doch inzwischen wissen, dass er so triviale Bedürfnisse wie Schlaf 258
längst hinter sich gelassen hat. Ich dagegen wäre froh um Schlaf. Doch er kommt nur in Wellen, und die sind mit Träumen angefüllt, die das Schlafen noch schlimmer machen als das Wachsein. Und in diesen Träumen sind die Boote der Piraten so nah, dass ich die Männer wieder reden hören kann. Und noch etwas anderes höre ich. Ihre Sätze sind durchsetzt mit Wörtern in unserer eigenen Sprache. Unseren Namen. Am Morgen ist das Boot so voll gelaufen, dass wir das Wasser mit den Händen über die Seitenwände schaufeln müssen. Wir mühen uns damit ab, bis uns Schwindelgefühle übermannen. Zuerst Bates, dann mich und schließlich Wallace, der direkt vor Barry arbeitet und daher das meiste Blut mit ausschöpft. Wir können das Leck keine Nacht mehr aus den Augen lassen. Es wird beschlossen, die Kaffeedose in Schichten unter uns kreisen zu lassen, so dass das eindringende Wasser immer gleich von einem von uns wieder ausgeschöpft wird. Das erscheint uns zunächst als eine befriedigende und nicht zu anstrengende Lösung. Doch die permanenten Geräusche des Gluckerns und Platschens erinnern uns an den riesigen Kaiman vom Vortag, schluckend, verschlingend. Also versuchen wir anderen Dingen zu lauschen. Den Gewehren. Dem Brummen eines Motors, das hinter uns um eine Biegung dringt. Spanischen Stimmen. Doch das Tageslicht hat all das ausgelöscht und nur den ständigen Aufruhr des Urwalds hinterlassen. Im Ganzen genommen ist es ein einziger Tumult, das Kreischen und Kichern und Winseln einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Wir üben uns darin, einzelne Stimmen von anderen zu trennen. Ordnung in das Chaos zu bringen. Mit etwas Disziplin hört man in dem Vogelgesang, was man will. Im Verlauf der Stunden findet das Gehör darin seine eigenen Lied259
texte. Ich neige dazu, wiederholte Selbst-Geißelungen herauszuhören, so wie in »So ein Wrack! So ein Wrack!«, oder, von einem orange geflügelten Ara, der direkt zu mir herunterblickt, »Verloren! Verloren!«. Bates hört einen einzigen Namen heraus. Sein Mädchen aus dem Bordell in Manaus, drei Silben, gesungen in einer Variation von Klängen. Und was Wallace angeht, der hört nur die Namen multinationaler Konzerne; »AT&T!, AT&T!« und »Microsoft! Microsoft!« nebst einem, der so deutlich ist, dass ich ihn schließlich selbst höre: »G.E. Monsanto-oo! G.E. Monsanto-oo!«. Ein vorgeschlagener Merger, der krähend aus dem Wald tönt. »Gesehen habe ich bis jetzt noch gar nichts«, stellt Bates fest, nachdem er schon zu lange zugehört und mit den Augen den scharfen Rand des Urwalds abgesucht hat. »An was denkst du zum Beispiel?«, fragt Wallace. »Irgendwas. Sagen wir, einen Affen.« »Einen Affen.« »Ja, genau.« »Du glaubst also, wenn du einen Affen sehen würdest, der von einem Ast herunterkackt, dann würdest du dich besser fühlen?« »Vielleicht, ja.« »Dann schau mal, Bates! Ich bin ein Affe! Uu! Uu! Uu!« Mit einer fließenden Bewegung, die man nur nach wochenlangem Üben für möglich halten würde, lässt Wallace seine Shorts herunter und kackt ein Rinnsal Flusswasser über den Bootsrand. »So verkommen die Sitten«, sagt Bates mit altjüngferlichem Tonfall zu mir. »Was für Sitten?« Wallace baut sich vor ihm auf, die Hose in den Kniekehlen. »Wir sind hier im Urwald. Der besteht praktisch komplett aus Scheiße. Deswegen kann man ja auch das Wasser da nicht trinken, obwohl wir das tun, weil wir nun mal kein anderes haben. Und weißt du, was passiert? Da wächst 260
was in uns drin, Bates. Du bist doch der Wissenschaftler hier. Find das gefälligst mal heraus. Aber stattdessen machst du dir Sorgen, Lizzie könnte von meinen Manieren enttäuscht sein, weil ich vom Bootsrand kacke.« Bates blickt ihn mit demselben Ausdruck an wie vorher. »Ich wollte nur einen Affen sehen«, sagt er. Die Krankheitssymptome kommen und gehen wie ein ungebetener Kellner, der dampfende Teller voller Unannehmlichkeiten vor einem abstellt und sie dann genauso schnell wieder abräumt. So hatte ich mir eigentlich Dschungelfieber oder Malaria oder Typhus oder was es bei mir auch sein mag nicht vorgestellt. Ich dachte immer, egal welche Variante davon man sich einfängt, wenn es einen einmal erwischt hat, dann war’s das. Doch zumindest in den Anfangsstadien entpuppt sich die Krankheit nun als ein spöttisches Hasch-mich-Spiel, bleibt gerade so lange wieder weg, dass man denkt, sie war gar nie da, und kehrt dann mit einer kräftigen Ohrfeige plötzlich zurück: Du bist’s! Im weiteren Verlauf des Tages zeichnet sich ab, dass es Bates anscheinend am schlimmsten erwischt hat. Er spürt richtig, wie er von innen heraus am Kochen ist. Eher pochiert oder in der Mikrowelle gegart als von der Sonne gegrillt. Im Augenblick, meint er, wäre er wohl noch roh (ein leuchtendes Rosarot, wenn man ihn aufschneiden würde), bewege sich jedoch rasch in Richtung grau und gut durch. »Das ist das dritte Stadium der Dehydrierung«, erzähle ich ihm. »Selbst wenn wir Wasser trinken. Es läuft direkt durch uns durch.« Wallace lacht spöttisch. »Drittes Stadium? Wo hast du denn das her?« »Aus dem Reiseführer. Da ist ein Anhang mit Gesundheitsrisiken in den Tropen.« »Klingt ja extrem spannend.« 261
»Bei nur fünf Prozent Wasserverlust im Körper treten bereits Ungeduld, Übelkeit und mangelnder Appetit auf.« »Ach, ja. Die guten alten Zeiten.« »Bei zehn Prozent: undeutliche Artikulation, Schwindel, Kopfschmerzen. Mir scheint allerdings, wir nähern uns allmählich dem Zwanzig-Prozent-Level. Delirium, verschwommener Blick, geschwollene Zunge, Taubheit.« »Was passiert im vierten Stadium?« »Über zwanzig Prozent ist im Allgemeinen tödlich.« Wir schauen beide zu Bates hin. Er ist eigentlich mit dem Wasserschöpfen dran, hängt jedoch die meiste Zeit nur mit dem Kopf über dem Wasser. Beobachtet die Wellen, die sich zu Bändern aus DNA verschlingen und verknoten. Es erinnert ihn an den hochkomplexen Code seiner eigenen Gene, die Daten, die in jedem einzelnen zappelnden Spermium enthalten sind. Die unsichtbaren Dinge, die alles zum Ticken bringen, mikroskopisch kleine Erklärungen für jedes Wie und Warum. Hier bringt das keinen Trost. Er hatte bisher die Wissenschaft immer beim Wort genommen. Er mochte sie wegen ihrer Vollkommenheit, ihrer Ehrlichkeit. Doch hier unten ist sie nur noch ein Witz. Zellen, Atome, Formeln. Darüber kann er jetzt nur noch laut lachen. »Was ist so lustig?«, fragt Wallace. »Die Wellen.« Wallace schaut nach unten, wie sie an den Bootsrumpf schlagen. »Du hast Recht, Bates. Sie sind wirklich zum Lachen.« Etwas Bemerkenswertes, einfach so mitten am Nachmittag. Die weiße Abgasspur eines Düsenjets, die über uns den Himmel durchschneidet. Von irgendeinem bestimmten Punkt kommend, zu irgendeinem bestimmten Punkt führend. Bates sieht sie als Erster. Sein Finger folgt der weißen Linie, die zurückbleibt. Tränen in den Augen. 262
In dieser Nacht sehe ich Lydia. Wir treiben mit der Strömung, um den Benzinvorrat nicht zu verschwenden, bewegen uns nicht schneller als einer der Palmen-Rüsselkäfer, denen wir, wenn sich der Fluss verengt, dabei zusehen können, wie sie mit einem einzelnen Blatt zwischen den Kiefern einen Ast entlangklettern. Es ist die Stunde, in der selbst der Urwald still wird. Alles, was gefressen werden soll, ist gefressen. Alles, was jagt, schläft. Sie steht am Ufer, nicht mehr als sechs Meter vom Boot entfernt. Ein schwacher Schimmer umgibt sie, der Schein des Halbmonds, reflektiert von ihrer blassen englischen Haut. Der Gedanke, dass sie es tatsächlich sein könnte, hält nur die ersten ein oder zwei Sekunden vor. Nicht etwa, weil mir meine Vernunft sagt, dass sie uns auf gar keinen Fall gefolgt sein kann oder dass wir unmöglich die ganze Zeit in einem Kreis gefahren sein können, der uns zum Lager der Piraten zurückgeführt hat, wo Lydia auf unsere Rückkehr wartet. Sondern weil sie ganz offensichtlich tot ist. Nur Wallace und ich sind wach, und selbst er sitzt vornübergebeugt und zusammengesunken da und starrt auf etwas Eigenes am entgegengesetzten Ufer. Sinnlos, ihn zu fragen, ob er sie auch sieht. Sie ist für mich bestimmt. Ich leide unter Sonnenstich, habe Dinge gesehen in der letzten Woche – noch an diesem Tag –, die über alles in den vergangenen achtunddreißig Jahren Gesehene hinausgehen. Natürlich sehe ich allmählich Dinge, die gar nicht da sind. Und dennoch sieht sie ziemlich real aus. Als ihre Augen durch die verfilzten Locken aus Ranken und Blättern spähen, genau wie die des Kaimans. Frei von jeder Absicht, gebannt. Die Füße bis zu den Knöcheln im Sand versunken, so dass ich mich frage, ob sie nun vielleicht endlich abgekühlt sind. Wenn ich sie nicht verscheuchen kann (und das kann ich nicht – das habe ich als Erstes versucht), dann will ich mir wenigstens überlegen, was ich sie tun lassen könnte, und sei es 263
nur, um zu zeigen, dass sie ein Produkt meiner Phantasie ist und als solches auch meinen Manipulationen unterworfen. Ich könnte sie mit Narben versehen. Könnte sie das Baby, das sie eines Tages geboren hätte, schlaff im Arm halten lassen. Vielleicht lasse ich sie auch gar nichts tun, außer meinen Namen zu flüstern. Ein Flüstern, das die anderen nur für das hungrige Pfeifen eines Potoo-Vogels halten würden, der auf der Suche nach Motten durch die Baumwipfel gleitet. Obwohl ich sie selbst geschaffen habe, tut Lydia etwas, was ich überhaupt nicht erwarte. Sie geht in die Hocke und rutscht aus dem haarigen Rankendickicht heraus; richtet sich wieder auf, als sie in den Fluss schreitet. Jetzt, wo sie näher kommt, entdecke ich mehr Ausdruck in ihren Augen als am Anfang. Etwas Bösartiges, zu dem ich die Lydia von früher nie für fähig gehalten hätte. Diese Augen machen ein paar Dinge klarer, als Wörter es je könnten. Sie hasst uns. Sie kommt, um uns zu holen. Doch dann rutscht der Flussgrund unter ihr weg und sie sinkt. Wie bei dem Kaiman sind ihre toten Augen das Letzte, was verschwindet. Sie verweilen noch an der Wasseroberfläche, als wären sie von allem anderen abgetrennt. Zwei schwimmende schwarze Perlen. Noch ein Schritt auf das Boot zu und auch ihre obere Kopfhälfte verschwindet geräuschlos unter der Wasseroberfläche. Nichts mehr außer dem Mond. Verzerrt und verheddert in den Wellen, die wir hinterlassen. Es ist noch vor dem Morgen, noch vor dem Morgengrauen. Das Versprechen von Licht wie ein Lippenstiftstreif am Horizont des Flusses. Ich muss wohl richtig geschlafen haben. Diese Szenerie – der Urwald, auf halbem Weg zwischen Schwarz und Grün; noch eine Flussschlaufe; die letzten, unvertrauten Sterne am Himmel – erscheint mir beinahe neu. Und dann wird mir klar, dass tat264
sächlich etwas neu ist daran. Etwas fehlt, was vorher da war. »Wo ist Barry?« »Er ist weg«, antwortet Bates. Bates sitzt eine Planke hinter der schmalen Spitze des Kanus, in der Barry gelegen hatte. Er starrt auf dieselbe Stelle wie ich: die braunen Flecken, die der schwere Mann auf den weiß gestrichenen Seitenwänden des Boots hinterlassen hat. »Wo ist er?« »Also, ich glaube nicht, dass er nur eben mal kurz schwimmen gegangen ist.« »Sollten wir nicht zurückfahren und nach ihm suchen?« »Er ist fort, Crossman«, schreit Bates jetzt fast. »Du kannst so viele Fragen stellen, wie du willst, aber das ist die Antwort auf alle.« Wallace hat den Motor noch nicht angestellt, und so vermute ich, dass er noch schläft. Doch jetzt legt er seine Hand auf meine Schulter, während er nach vorne balanciert, um sich zwischen Bates und mich zu setzen. »Warst du die ganze Nacht wach?«, frage ich ihn. »Nicht die ganze Nacht«, entgegnet er. Seine Stimme klingt ruhig und gelassen, beinahe amüsiert. »Ich glaube, ich erinnere mich an ein oder zwei Träume.« »Hast du mitbekommen, wie Barry verschwunden ist?« »Hast du?« »Ich bin eben erst aufgewacht.« »Dann mach mal deine Mathehausaufgaben. Keiner von uns hat es gesehen.« »Warum habt ihr es mir nicht gesagt?« »Du hast so hübsch ausgesehen, wie du da zusammengeringelt lagst. Außerdem, was hättest du denn tun wollen?« »Darum geht es doch gar nicht.« »Dann sag mir, worum es geht.« »Barry ist verschwunden, Wallace. Er hätte nicht länger als zehn Sekunden Wasser treten können in seinem Zustand. Das 265
heißt, dass er jetzt tot ist.« »Ich weiß, was das heißt. Und ich weiß, dass wir alle ihn mochten. Wenn wir gekonnt hätten, dann hätten wir ihn hier rausgebracht. Aber er war am Ende, und das weißt du ganz genau.« »Wir haben ihn verloren!« »Und ich frage mich gerade, was genau wir denn da verloren haben.« »Er war dein Freund.« »Ein Freund, der wahrscheinlich letzte Nacht aus dem Boot gerutscht ist.« »Wahrscheinlich? Wir mussten ihn die letzten zwei Tage hochheben, damit er ins Wasser pinkeln konnte. Er hätte sich unmöglich aus eigener Kraft über den Bootsrand hieven können.« Wallace geht einen Schritt rückwärts, näher zu Bates, und verschränkt die Arme vor der Brust. Legt den Kopf ein klein wenig schief, wie ein Hund, der auf irgendeinen Befehl wartet, den er tatsächlich versteht. »Einer von uns muss ihn geschoben haben«, sage ich. Wallace richtet den Kopf wieder auf. »Na gut, ich hab ihn geschoben«, sagt er. »Oder auch Bates. Oder ich und Bates. Oder vielleicht warst es doch du. Vielleicht ist dieses ganze schockierte Getue von dir nur Show. Jetzt wird’s echt knifflig, was? Aber ich kann dir immerhin ein paar Sachen sagen, die feststehen. Dieses Boot ist jetzt, wo Barry nicht mehr da ist, sehr viel leichter. Das heißt, wir kommen schneller voran und müssen nicht mehr so viel schöpfen. Es bleibt ein wenig mehr zu essen für uns. Und falls es je dazu kommt, dass wir uns zu Fuß durch den Busch schlagen müssen, dann brauchen wir nicht auch noch einen Körper mit uns zu schleppen, der es sowieso nicht mehr lange geschafft hätte.« »Du hast ja anscheinend ausführlich darüber nachgedacht.« »Sollte nicht wenigstens einer von uns denken?« 266
»Und das wärst dann natürlich du. Warum eine HypothesysLizenz kaufen, wenn man dich dabeihat? Ein Mann stirbt und Sekunden später tippst du schon auf dem Rechner in deinem Kopf herum. Und jetzt rate mal, wie die abschließende Antwort lautet? Ist doch egal! Ist doch alles gut so!« »Nun, ist es das nicht?« Ich weiß, dass er Unrecht hat, doch mir ist die Begründung dafür entfallen. Reicht es nicht, dass Barry tot ist? Barry, der gute Amerikaner, der in der Lage war, jene feine amerikanische Balance zu halten – Demokrat und Millionär, Südstaatler mit Ostküsten-Eliteschulbildung, ehrenwerter Geschäftsmann. Er ist tot, und das kann nicht gut sein. Es kann einfach nicht gut sein. »Wenn wir aufhören zu empfinden«, sage ich nach einer lang anmutenden Pause, »dann bleibt uns nichts mehr.« »Man kann empfinden oder man kann überleben. Im Augenblick sollten wir uns um das Letztere kümmern.« »Ich bin nicht sicher, ob du überhaupt zu etwas anderem fähig bist.« »Da liegst du falsch. Aber ich werde jetzt nicht mit dir darüber diskutieren, Crossman.« Aus seiner Stimme ist keine erkennbare Ungeduld herauszuhören, doch sie ist da, in seinen fest verschränkten Armen, eine schlummernde geballte Kraft. Sie beweist, dass Lydia Recht hatte. Er ist zu allem fähig. Doch es ist ein Fähigsein, das seine eigene Stärke noch nicht kennt. »Als wir hier herunterflogen, meinte Bates, du wärst ein Gentleman«, fahre ich fort und rutsche am Bootsrand entlang zurück, weg von da, wo er steht. »Ich hielt das nicht für möglich. Ich dachte, die wären ausgestorben. Und jetzt weiß ich, dass du kein Gentleman bist, Wallace. Aber Barry, der war vielleicht einer.« »Da magst du Recht haben. Aber er ist weg und jetzt gibt es eben nur noch uns drei. Kein Gentleman mehr unter uns. Wir 267
können hier sitzen und alldem nachweinen. Oder wir können uns um das kümmern, was kommt. Ehrlich, ich glaube, dazu hätte uns Barry geraten.« »Du wusstest doch überhaupt nichts über ihn.« »Und du schon?« »Er hat sich mit mir unterhalten.« »Hat er dir erzählt, dass er bald sterben würde?« »Es gibt keinen –« »Mir hat er es erzählt. In Manaus oben.« »Sterben?« »Krebs. Der ihn langsam von innen auffraß.« »Blödsinn.« »Prostata. Unheilbar.« »So ein Blödsinn!« Wallace schließt die Augen. »Du lügst«, sage ich. Die Augen öffnen sich halb. »Du scheinst dir ziemlich sicher zu sein.« »Er hat nie was davon gesagt, dass er sterben würde.« »Und ich nehme mal an, dass er das hätte tun müssen, wo doch alle dir alles erzählen.« »Er hat von seiner Frau erzählt. Er wollte nach Hause.« »Wir wollen alle nach Hause.« »Da bin ich mir nicht so sicher.« Das bringt Wallace zum Lächeln, ein weißes Blitzen aus dem Schatten, in dem er sitzt. »Ich will nur sagen«, hebe ich erneut an, »dass er sich nicht selbst ins Wasser gestürzt hätte.« »Wie es scheint, hast du uns ja alle perfekt durchschaut. Barry hatte keinen Krebs, weil er dir nichts davon erzählt hat. Und er hätte sich nicht umgebracht, weil er seine Frau liebte. So einfach! Und wie sieht’s bei mir aus, Frau Doktor?« Ich schlage mir aufs Handgelenk, ein reflexartiger Klatsch nach einem der behelmten Insekten, die alle paar Minuten auf 268
unseren Armen landen, um ein Stück davon herauszureißen, bevor sie wieder weiterfliegen. Aber in Wirklichkeit hat mich dieses hier noch gar nicht gebissen. Ich hätte gar nicht gewusst, dass es da saß, hätte ich nicht den Kopf hängen lassen, nur um nicht Wallace ansehen zu müssen. Und als ich den Blick wieder hebe, wartet er immer noch auf meine Antwort, und Bates wendet mir immer noch den Rücken zu. »Hörst du zu, Bates?«, frage ich. Er nickt, dreht sich jedoch nicht zu uns um. »Findest du nicht, dass wir es Barry schuldig sind, herauszufinden, was passiert ist?« »Er ist weg.« »Aber wenn wir nicht – « »Er ist weg!« Bates’ Schultern ziehen sich bis zu seinen Ohren hinauf zusammen. Meine Augen suchen am Rand ihres Blickfelds nach dem Gewehr, doch es ist nirgends zu sehen. Es könnte hinter mir liegen oder mit Barry über Bord gegangen sein. Oder in Bates’ Händen liegen, wo ich es nicht sehen kann. »Wie wär’s denn damit«, schlägt Wallace schließlich vor und öffnet dazu die Hände in einer väterlichen Geste. »Falls wir je hier rauskommen, kannst du allen erzählen, dass ich Barry über Bord geworfen habe, weil es mir allmählich auf die Nerven gegangen ist, dass er mir den ganzen Tag meine Air Jordans voll geblutet hat. Dann fühlst du dich besser, weil du etwas getan hast, und ich kann mich darauf freuen, dass du endlich mal dein verdammtes Maul hältst.« Ich sollte dies akzeptieren. Was hoffe ich denn zu beweisen, wenn ich noch länger nachhake? Hier draußen, wo sowieso keine Anklage oder Beichte irgendetwas ändert? »Du bist noch schlimmer als die, die Lydia umgebracht haben«, sage ich zu ihm. »Die tun so was wenigstens nicht den Leuten an, die auf ihrer Seite stehen.« »Und auf wessen Seite stehst du, Crossman?« 269
»Jedenfalls nicht auf deiner. Nicht mehr.« »Ich hätte dich nicht aus dem Loch da holen müssen.« Wallace hebt kaum merklich die Stimme. Packt den Griff der Machete, so dass seine Handknöchel weiß unter der Haut hervortreten. »Ich habe dich gerettet. Ich habe versucht, uns alle zu retten.« »Das stimmt. Du bist der Held. Ich? Ich bin nur die Dolmetscherin. Und ich bin definitiv nicht die Erfinderin der perfekten Bombe.« »Ich habe das nur Lydia erzählt«, protestiert Bates heftig. »Ich habe nie –« »Du hast es Lydia erzählt?«, rufen Wallace und ich gleichzeitig aus und starren jetzt beide auf Bates’ Rücken. »Nein, nicht – die in Manaus. Meine Lydia. Das Mädchen in der Bar. Ich hab das gerade nur verwechselt.« Bates schüttelt den Kopf, um seiner Berichtigung Nachdruck zu verleihen. »Ich habe es niemandem sonst erzählt. Nur dem Mädchen.« »Das behauptest du«, rufe ich dazwischen. »Aber sogar Wallace hat sich gefragt, ob du es nicht womöglich noch ein paar anderen erzählt hast.« »Nicht, Crossman«, sagt Wallace. »Vielleicht warst du es leid, immer nur der Computer-Freak im Hintergrund zu sein, die Codes für irgendein neues Spiel abzutippen, hast dir vorgestellt, mal was Richtiges zu schaffen –« »Crossman –« »– etwas, was sich ein echter Mann ausdenken könnte, eine neue Idee zum Töten –« Ich werde von Wallace unterbrochen, der mir anscheinend die Faust in den Rachen schieben will. Weniger ein Boxhieb als eine Art roher chirurgischer Prozedur, die darauf abzielt, etwas aus meinen Eingeweiden zu zerren, das ihm auffiel, als ich sprach, und das er am besten gleich hier und jetzt zu Tage fördern will. Er zieht die Faust aus meinem Mund und schlägt 270
sie noch einmal hinein. »Lass ihn«, brüllt er mit zusammengebissenen Zähnen. »Mir kannst du vorwerfen, was immer du willst. Aber nicht ihm!« Er prügelt diese Worte in meinen Schädel, bis sich alles löst und aus meiner Nase rinnt. Seine Faust hämmert durch den Knochen, um mein Gehirn ein für alle Mal zu fassen zu kriegen. Bates muss Wallace von hinten die Arme um den Hals werfen und ihn zurückzerren, damit er von mir ablässt. Eine Zeit lang ringen wir alle nach Atem. Sitzen in verschiedenen Posen von Aufgelöstheit da, auf die Oberschenkel gestützt oder an den Bootsrand gelehnt. Und jetzt gibt es eine neue Quelle von Blut. Tropfen, die von meinem Kinn fallen und das Wasser durchsetzen, das im Rumpf des Kanus Zentimeter um Zentimeter steigt. Gut und gern eine Minute mag vergangen sein, als ich wieder spreche, auch dann noch um Atem ringend. Meine Lippen geschwollen wie Wiener Würstchen. »Sie hat dich ausgesucht, nicht wahr, Wallace?« »Wer?« »Lydia.« »Wovon redest du?« »Lydia«, sage ich noch einmal. Ihr Name findet den Weg durch die Spucke, die sich in meinem Mund sammelt. Das Blut verleiht ihr den Geschmack von flüssigem Kupfer. »Du blutest«, sagt er. »Und du redest wirres Zeug.« »Sag’s mir.« »Ich glaube, wir haben sie über einen Headhunter direkt aus ihrem Londoner Büro geholt.« »Ihr Baby, Wallace. Sie wollte, dass du der Vater bist. Und du warst es auch.« Mit einem gequälten Seufzer steht Wallace auf, so dass die Sonne, die jetzt über die ferne Baumlinie spitzt, seinen Kopf mit einer Aureole umgibt. Jetzt kann ich nur noch die Umrisse 271
einer hochgewachsenen Gestalt erkennen. Sein Gesicht könnte vor rasender Wut verzerrt sein oder einem stillen Lachen Ausdruck geben. »Woher hast du das alles?«, fragt er, ohne irgendetwas preiszugeben. »Ich bin neugierig.« »Die Art, wie du wusstest, dass sie schwanger war, obwohl sie doch nicht darüber sprechen wollte, wer der Vater war. Wie sie, als sie sich etwas wünschte, an dich dachte. An euch beide, jetzt, wo ich drüber nachdenke.« Wallace dreht den Kopf ein wenig nach rechts, so dass das Licht nun vollständig verdeckt ist, wie bei einer Sonnenfinsternis, während der Mond vor die Sonne gleitet. »Und das sind deine ganzen Beweise?«, fragt er. »Das, und dass du loyal bist, wie wir gerade gesehen haben.« Ich spucke einen Blutklumpen ins Wasser. »Womöglich bist du sogar tapfer. Seltene Qualitäten in jungen Männern heutzutage, nach allem, was ich in den Zeitungen lese. Und so was sehen Frauen gerne in den Genen.« »Sehr schmeichelhaft, Crossman, sehr schmeichelhaft.« »Liege ich etwa falsch damit?« Wallace geht einen unsicheren Schritt rückwärts, so dass die Sonne, die jetzt schwer über die höchsten Wipfel rollt, rote Blitze in meine geschlossenen Lider schneidet. »Nein, du liegst nicht falsch damit«, antwortet er. »Allerdings ist das so ziemlich das Einzige, womit du Recht hast.« Ich fixiere Bates so angestrengt, als wollte ich damit eine Regung seinerseits erzwingen. Einen Hinweis vielleicht, ob er es wusste. Doch er verharrt in derselben Haltung, den Blick auf die Flecken gerichtet, die Barry hinterlassen hat. »Sie hat nett gefragt«, erklärt Wallace nun ganz von sich aus. »Wir waren Geschäftspartner. Sie war Britin. Es schien mir richtig, es zu tun.« »Und jetzt, wo sie nicht mehr da ist?« »Was ist deine Frage?« 272
»Ob dir überhaupt etwas an ihr gelegen hat oder ob du dich nur als den Arrangeur betrachtest. Hast du nicht gesagt, dass du darin am besten bist?« »Ich warte immer noch auf deine Frage.« »Ich frage dich, ob du sie geliebt hast.« »Natürlich. Aber das ist ja wohl kaum bemerkenswert.« Seine Hand rutscht vom Griff der Machete und die Klinge wackelt einen Sekundenbruchteil und klirrt schließlich gegen den Bootsrumpf. »Das wird für dich zweifelsohne schwer zu begreifen sein«, erklärt er. »Aber ich liebe alle. Sogar dich.« Wallace wird ohnmächtig. Oder jedenfalls beinahe. Seine Hand wandert zur Stirn, um den Kopf auf dem Hals zu halten. Im nächsten Augenblick ist Bates direkt hinter ihm, stützt seine Beine von hinten, fängt Wallace’ Sturz auf und legt ihn neben sich vorsichtig zu Boden. Nimmt die Kaffeedose und träufelt ihm Flusswasser ins Haar, über seine glühenden Wangen. So verharren wir bis weit in den Vormittag hinein. Inzwischen stelle ich mir vor, dass jede Biegung des Flusses etwas vollkommen Neues enthüllt. Ein Motorboot mit Touristen darin, frisch gewaschen und gekämmt und mit ihren Kameras zugange. Und wenn wir dann näher kommen, sehen wir, dass wir selbst es sind. Die scharf umrissenen Menschen, die wir einmal waren, und die nun aus der Gegenrichtung wieder auf uns zukommen. Sie lassen ihre Versionen an verschiedenen Punkten beginnen – der eine mit dem »kalkigen Geruch« der Winterluft, der andere mit dem Flachmann voll Rum in seiner Tasche, »wie eine Granate« –, doch sie enden beide an derselben Stelle. Zwei Jungs, die sich nachts im Wald verlaufen haben. Einer von ihnen bricht zusammen und kann nicht mehr weiter. Der andere könnte ihn zurücklassen und Hilfe holen, oder vielleicht sagt er sich das auch nur, damit er selbst noch versuchen kann, den 273
Weg nach draußen zu finden, bevor auch er erfroren ist. Da ich die zweite Geschichte schon gehört habe, vermute ich, diese Erzählung handelt von dem ersten Mal, als Wallace Bates das Leben rettete. Oder auch anders herum. Ihre Identitäten sind so flexibel geworden seit diesem Geschehen. Und inzwischen scheint es nicht mehr so wichtig, wer was gesagt oder getan hat, sondern nur noch die simple Tatsache, dass sie beide damals zusammen dort waren. Sie fangen an, davon zu erzählen, ohne dass ich erst fragen müsste. In einem Augenblick sagen sie dasselbe, im anderen völlig verschiedene Dinge mit gegensätzlichem Sinn wild durcheinander. Dann wieder machen sie lange Pausen. Um sich in Erinnerung zu rufen, was als Nächstes passierte. Sie warten, bis das Fieber wieder hochkocht und sie automatisch ins Reden verfallen lässt. Das Ergebnis ist eine Geschichte, die einem gemeinsamen roten Faden folgt, während gleichzeitig weitere Fäden darum herum gewoben werden und den ersten verdicken wie gesponnenes Garn. Hatte erst Bates den Kompass und Wallace die Flasche mit dem Captain Morgan oder anders herum? Wer ging voraus im Dickicht der Bäume? Wer wurde gerettet? Wer ist der Held? Sie waren noch Jungen. Ausgestoßene in einer Privatschule drei Stunden nördlich von Toronto. Die, in der Prince Andrew schon mal ein halbes Schuljahr verbrachte, eine Tatsache, mit der sich die Schule in ihren Werbeprospekten immer noch weidlich brüstete und die die Schulgebühren noch Jahre später in die Höhe trieb. Die Schwerpunkte lagen auf Sport, Naturwissenschaften, »der Erkundung und Erkenntnis der Natur«. Sie lag weitab von allem und Mädchen waren nicht zugelassen. Es war einfach pervers. Das Schulgelände war angelegt wie eine Art Sommerlager: die Schlafsäle schindelverkleidete Holzhäuschen, verstreut zwischen den Bäumen; ein Speisesaal mit einer gewölbten Zedernholzdecke voller Margarinespritzer; ein Bootshaus an ei274
nem See, der mit Ausnahme des ersten und des letzten Monats im Schuljahr zugefroren war. Drum herum mehrere hundert Quadratmeilen Wald. Ein Dutzend Bäche wanden sich unentschlossen durchs Dickicht und suchten sich tastend ihren Weg hinaus zum See. Da der Boden in diesem Bereich des kanadischen Schilds nicht sehr tief und von Felsen durchsetzt ist, wuchsen nur ein paar geisterhafte Birken und kümmerliche Kiefern, Bäume mit Nadeln anstatt mit Blättern und mit Ästen, die so tief hingen, dass man nicht aufrecht darunter hindurchgehen konnte. Hier setzten die Präfekten – die älteren Schüler, die die Aufsicht über ihre Prüfung in »Orientierung im Freien« hatten – sie mit verbundenen Augen ab. Es war ein Dienstag, glauben sie sich zu erinnern, mitten im Januar. An einer dieser Schulen, wo man der Meinung ist, dass es den Charakter bildet, wenn man Kinder bei Minustemperaturen ihren Weg aus einem Wald suchen lässt. Und diesem Wallace und diesem Bates konnte jedenfalls eine etwas härtere Gangart nicht schaden. Immer steckten sie zusammen, tauschten tuschelnd irgendwelche Geheimnisse aus. Schlimmer noch, sie mochten keinen Sport. Der Kleinere argumentierte, dass Mannschaften die individuelle Entfaltung verhinderten. Der Größere hatte »schlechte Knie«. In ihrer Freizeit machten sie nicht etwa beim Football (gebrochene Finger) oder bei spontanen Hockeyspielen (eingeschlagene Zähne) mit, sondern verkrochen sich lieber nebeneinander auf den Gammelsesseln in der Bibliothek und lasen Bücher. Das ging einfach zu weit. In den Briefen, die der Direktor nach Hause schrieb, wurden Bedenken hinsichtlich Wallace’ und Bates’ Zukunft geäußert, sofern die beiden nicht sportlich »deutlich mehr gefordert« würden. Die älteren Schüler hatten ihre eigenen Vorstellungen davon, wie das aussehen könnte. Sie nannten die beiden lover boys. Sie mussten bis sechzig zählen, bevor sie ihre Augenbinden 275
abnehmen durften, eine Minute, die sich hinzog, während sie den verzerrt durch das Dickicht schallenden Schwuchtel!-Rufen der sich zurückziehenden Schüler nachlauschten. Als sie sich endlich umsehen durften, war die Sonne gerade am Versinken, blendete sie von links, während sie rechts von ihnen schon nicht mehr hindrang, so dass sie auf der Linie zwischen Nacht und Tag standen. Sie verwenden beide Kompasse und die Rumflasche, so gut sie können. Versuchen zunächst den Fußspuren der Aufsichtsschüler zu folgen, doch eine neue Runde niedergehenden Schnees hat diese schon bald überdeckt. Mit jedem Schritt sieht der Wald wieder ein klein wenig verändert aus, doch ohne einen Hinweis preiszugeben, in welcher Richtung sich vielleicht etwas anderes anschließen könnte. Zu der Zeit, als in den Schlafsälen die Lichter ausgehen, haben sie sich völlig verirrt. Einer fällt hin. Der andere bleibt. »Das Letzte habe ich nicht verstanden«, werfe ich ein und bemühe mich um ein Lächeln, um ihnen zu zeigen, dass die Verwirrung ganz bei mir liegt. »Er ist bei mir geblieben«, erklärt Bates. »Er ist dageblieben«, kommt das Echo von Wallace eine halbe Sekunde später. Sie fahren fort, erzählen, wie sie am nächsten Morgen von einem Suchtrupp gefunden wurden, aneinander geklebt wie »ein paar Steaks, die man ganz hinten im Gefrierfach entdeckt«. Der Kopf des einen unter das Kinn des anderen geschmiegt, als suche er Zuflucht vor einem Horrorfilm, der auf der Leinwand des umliegenden Waldes abgespielt wird. Ihre Gesichter: die Haut faserig grau wie selbst gemachtes Papier. Man ging davon aus, dass sie tot waren. Wie könnten Menschen, die so still sind, noch leben? Doch sie lebten. Und sie wussten es auch, dem Traum nach, den sie gemeinsam träumten. Ein Flug hoch oben über dem Wald, in dem sie eingeschlafen waren. Nach Opfern Ausschau 276
haltend, die sie mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten retten könnten. Nach einander Ausschau haltend. Jetzt trennen sich ihre Stimmen immer öfter im Ringen um den weiteren Fortgang. Ein Epilog erzählt, wie sie auf Schlitten aus dem Wald gezogen wurden wie zwei gefällte Weihnachtsbäume, dann eilig in die Stadt gebracht und in lauwarme Badewannen gelegt, an Infusionen mit Zuckerlösung gehängt, drum herum ein Kreis aus Ärzten, die auch nicht mehr tun konnten als abwarten, ob ihre unterkühlten Herzen stillstehen oder weiterschlagen würden. Nach tagelangen immer gleichen Windungen wird der Fluss nun vor uns breiter, so dass die Ufer auf beiden Seiten in die Ferne rücken. Die Einzelheiten der Landschaft, anhand derer wir unsere Geschwindigkeit einschätzen – jeder tote Ast oder spindeldürre Baumwipfel, der zehn Meter über die anderen hinausragt –, verschwinden in einer Wasserfarbengalerie, wie wir sie seit dem Rio Negro nicht mehr gesehen haben. Vielleicht sind wir wieder zum großen Fluss zurückgekehrt. Oder aber das hier ist eine ganz neue Route, die uns nur noch weiter ins Innere hinein und von jeglicher Chance auf ein Dorf oder vorbeifahrendes Flussschiff wegführen wird. Wallace und Bates haben aufgehört zu erzählen. Die Verbindung zwischen ihnen ist wieder unterbrochen, einer blickt zum linken Ufer hinüber, der andere zum rechten. Dasselbe Gesicht, das von einem Spiegel wegblickt. »Was glaubt ihr, warum ihr überlebt habt?«, frage ich sie. »War die Wärme entscheidend, die ihr beide euch geteilt habt?« Bates blickt mich an. Sein Ausdruck ist eine Mischung aus Mitleid und Verachtung, als wäre ihm eben erst wieder eingefallen, dass ich ja an geistiger Beschränktheit leide. »Es war Liebe, Crossman«, sagt er und lässt sich Zeit mit seinen Worten, damit auch ich sie verstehen kann. »Was glaubst du denn?« 277
»Ich weiß nicht. Gott? Euer Mut? Glück?« Bates zuckt mit den Schultern und wendet sich ab. »Ist doch dasselbe«, sagt er. Es fängt an zu regnen. Ungefähr um die Zeit spätnachmittags, wo uns, wenn wir zu Hause wären, die ersten Gedanken ans Abendessen kämen. Wir drehen unsere Gesichter nach oben, den Tropfen entgegen. Warm, doch immer noch ein paar Grad kühler als die Luft. So hart, dass sie wehtun. Als wir wieder nach vorn blicken, ist der Fluss verschwunden. An seine Stelle getreten ist ein Alublech, durchsiebt von Kugeln. Durchschusslöcher, von denen flüssige Splitter nach oben spritzen, unsere Arme bedecken und sich, so befürchte ich schon, in unsere Haut brennen werden, doch sie gleiten nur an den Armen hinunter und tropfen über die Fingerspitzen ab. Das Wasser hat keine eigentliche Oberfläche mehr. Da sind nur noch immer engere Falten und diese feurige Perforation. Und ein Blasen wie von Dampf bis in die höchsten Baumwipfel hinauf. Bates sieht zu mir her und sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Versucht es erneut. Ein Kind, das über ein Feld hinweg nach seinem Hund ruft. Doch Bates ist gerade mal einen Meter von mir weg. Das Wasser durchweicht uns schon in den ersten zwanzig Sekunden. In der folgenden Minute verwandelt es unsere TShirts und Shorts in durchsichtige Säcke. Zum ersten Mal bin ich nackt vor ihnen, doch es kommt keine Scham auf. Für so etwas ist nicht mehr genug von uns übrig. Die skelettartigen Äste und Knoten unserer Körper sind belebt, ohne noch ein Recht darauf zu haben. Bates, der die Arme ausstreckt, um sich an den seitlichen Bootswänden festzuhalten, Wallace, der zweimal versucht aufzustehen, jedoch jedes Mal wieder in den Bug zurückgestoßen wird. Ich auf allen vieren, um zu ihm zu 278
gelangen, doch das Wasser im Kanu ist zu hoch, und dann ersticke ich auch noch fast an etwas, was seinen Weg in meine Nase findet. Sogar das Fleisch von Bates’ Elvis-Lippen ist abgesaugt, verleiht ihnen etwas Spastisches, Zweifelndes. Wind. Auch das ist neu. Normalerweise findet er nirgends einen Weg durch den endlosen Körper des Waldes. Doch dieser Sturm lässt sich dadurch nicht aufhalten. Weil er nämlich direkt von oben auf uns niedergeht. Luftsäulen schlagen uns um die Köpfe, tauchen das Kanu unter die Wasserlinie. Die Wellen, die er aufpeitscht, sind schwer, hoch und unvermittelt. Zuerst wirkt dieser ganze Aufruhr beinahe lächerlich, das Bombastische daran, als handle es sich um künstlich erzeugte Effekte bei einer Fahrt in einem Freizeitpark, die schlagartig wieder zum Stillstand kommen werden, sobald uns die Schienen unter unserem Kanu noch ein paar Meter weiter bis zur nächsten Etappe simulierter Gewalten gebracht haben. Das Problem ist nicht, dass es uns nicht genug Angst einjagen würde. Es liegt am Schauplatz, der einfach nicht zu stimmen scheint. Ein Fluss? Das hier ist ein heftiger Sturm auf dem Nordatlantik, ein Orkan im Bermudadreieck, eine schlecht getimte Umrundung von Kap Hoorn. Hier tobt die ganze Wut des Ozeans, und dabei können wir immer noch den Streifen Strand zu beiden Seiten sehen, gelb schimmernd, als wäre er mit einem Leuchtmarker nachgezogen. »Heiliger Himmel!« Die Stimme von Wallace. Doch als ich mich umwende, ist nichts zu sehen außer dem Knochengitter seines Rückens – – der Reiseführer, der im Boot auf mich zugeschwommen kommt, gegen meine Schienbeine stößt. Darum fleht, gerettet zu werden. Und damit ausgerechnet zu mir kommt, seinem gegenwärtigen Besitzer. Als es bei seinem vorigen Besitzer hart auf hart kam, hatte der die Landkarten herausgerissen und war alleine weitergezogen. Aber ich würde mich doch bestimmt als sanftmütiger erweisen. Ein Bücherwurm von Natur 279
aus, ein geborener Seitenfresser, eine Frau. Die würde doch bestimmt eher ihr Leben aufs Spiel setzen, als mit anzusehen, wie ein ausgeweidetes Nachschlagewerk untergeht. Ich packe es am Buchrücken und werfe es hoch in die Luft. Eine Sekunde lang schlagen die Buchdeckel wie Flügel, dann fällt es hinter dem nächsten Wellenkamm herunter. Doch bevor es völlig versinkt, klappt es ganz auf. Ein japanischer Fächer, der seine verführerischen Farben und gemalten Zeichen spielen lässt. Sieh dir all das an, sagt es. Denk nur, was dir entgehen wird – – das Kanu bricht unter uns aus und wir hängen in der Luft. Wie Comicfiguren, die über das Ende eines Asts spaziert sind, doch der Schwerkraft noch nicht ihren Tribut gezollt haben. Das Boot steigt über einen neuen Wellenkamm und fängt uns wieder ein. Hart. Der Schlag eines Holzpaddels auf unsere Hintern. Es strömt so viel Wasser über die Seiten herein und regnet von oben herab, dass es unglaublich ist, dass das Ding noch schwimmt. Und eigentlich tut es das ja auch nicht mehr. Selbst wenn sich jetzt alles beruhigen würde, würde es Tage dauern, das Boot mit der Kaffeedose zu leeren. Es ist nur noch da, weil die schäumende Wut des Sturms es nicht untergehen lassen will. Doch danach wird es nicht mehr weiter schwimmen. Und dann? Wir machen einfach weiter. Wallace’ Antwort auf alles. Da ist er. Kämpft sich zum Motor vor. Anscheinend funktioniert der noch, denn Wallace dreht am Gas und steuert uns in die Wellen hinein, um uns zum nächstliegenden Ufer zu bringen. Obwohl nicht klar ist, ob es überhaupt noch etwas nützt, ist es tröstlich zu sehen, dass Wallace es versucht. Und noch etwas tut er. Schreit uns etwas zu. Festhalten, vielleicht. Oder Bleibt unten. Ich tue schon beides. Und kämpfe ansonsten darum, ihn nicht aus dem Blick zu 280
verlieren. Sagen das nicht die Experten, dass man in solchen Situationen genau das tun soll? Den Blick fest auf das einzige Objekt richten, das konstant ist. Den Horizont. Doch den kann ich, flach im Boot liegend, nicht sehen. Wallace ist das Einzige, was bleibt. Und Lydia. Und auch Barry. Die ganz am Rand des Hecks sitzen, hinter Wallace’ Schulter hervorschauen und mich unanständig anlächeln. Sie sehen nicht gut aus. Gar nicht gut. Nein, sie sehen übel aus. Mit dieser Absicht, die ihnen ins Gesicht geschrieben steht, dem, was sie uns wünschen. Äffen lautlos mit spöttischer Dringlichkeit Wallace’ Worte nach. Festhalten, Crossman! Ich blicke mich nach Bates um, ob der sie auch sieht, doch er sitzt mit dem Rücken zu uns und drückt irgendwas gegen seine Brust. »Bates!«, schreie ich plötzlich. »Bates! Schau! Siehst du sie?« Er dreht sich herum, so dass er jetzt in unsere Richtung schaut. Hebt das Ding, das er da im Arm hat, vor sein Auge. Der Palmcorder. »Ich sehe dich!«, ruft er. : »Nicht mich. Sie.« »Keine Sorge, Crossman. Ich kann dich sehen!« Wasser spült über die Linse. Selbst wenn er Lydia und Barry auf dem Film hätte, wären sie nicht mehr als zweifelhafte Schemen, zwei Wolken, die hinter Wallace’ Umrissen hervorstehen, von einem Lichtstrahl durchdrungen. Und sie sind nicht hier. Das weiß ich, noch während ich wieder den Kopf zu ihnen umdrehe. Jetzt lachen sie unverhohlen. Ich fahre wieder zu Bates herum und versuche selbst ein Lächeln in die Kamera. Wenn dies unser Abgang ist, dann schadet es nicht, wenn wir ein wenig vorzeigbar aussehen. Ich hebe eine Hand aus dem Wasser und führe sie knapp an meiner 281
Wange vorbei. Schüttle sie, so dass ein Winken daraus wird. »Hallo, Mom!«, sage ich. Wallace brüllt immer noch. Diesmal andere Wörter. »Was zum Teufel macht ihr?« Bates verändert die Ausrichtung der Kamera ein wenig, um sowohl mich als auch Wallace ins Bild zu bekommen. »Was zum Teufel macht ihr?«, fragt Wallace noch einmal. Wir verlieren den Verstand. Das sieht man doch, oder? Fieber. Malaria, Dengue- oder Gelbfieber. Such dir’s aus. Die Hirngespinste, die Lambliasis, Typhus, Cholera und Tetanus mit sich bringen. Sieh dich um. Der Himmel und alles, was er einschließt, stürzt herab. Wir haben uns ganz gut geschlagen. So gut man es von Tastenhackern, Bildschirmguckern, Channelsurfern erwarten kann. Aber jetzt ist es vorbei. Jetzt sind wir tot. Ich will eigentlich etwas oder alles davon laut sagen, doch es braucht schon mehr Kraft, als ich habe, sich nur im Boot zu halten, und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, ist er sofort voller Regenwasser. Und jetzt sagt Wallace noch etwas anderes. »Da sind sie!« Ich bin mir ziemlich sicher, dass das seine Worte sind. Zu deren Untermauerung er noch den Kopf zurückwirft. »Sie kommen!« Sie? Die fiesen Präfekten aus Wallace’ und Bates’ Schule in den Wäldern. Es können nur die sein. Wir sind verschollen und sie suchen nach uns und jetzt haben sie uns gefunden. Warum haben sie sich die Mühe gemacht? Um uns zu retten? Um uns eine neue Runde Schmerzen zuzufügen? Dem verschlossenen Gesichtsausdruck von Wallace nach zu urteilen, ist es das Letztere. Sie haben jedenfalls keinen Weg gescheut dafür. Aber ein masochistischer Zug gehört ja zur Natur des Fies282
lings. Brutalität macht nur dann richtig Spaß, wenn man sich dafür anstrengen muss. Zu Hause sind sie bestimmt alle JuniorBörsenanalysten und Marketing-Berater und Vizepräsidenten von Daddys Firma. Und das hier ist ihre Wahl, wie sie dieses Jahr ihre drei freien Wochen verbringen wollen. Da kommen sie. Vielleicht eine halbe Meile hinter uns, kommen schaukelnd um die letzte Flussbiegung, bevor sich der Fluss öffnet. Zu weit weg, um ihre Gesichter zu sehen, doch es ist auf jeden Fall ein Kanu mit vielleicht vier oder fünf Köpfen darin, die über den Rand hinausragen. Die Präfekten. Die Glücklichen, die es nicht einfach dabei belassen konnten, ihr Glück zu genießen, sondern auch noch jedem eintrichtern mussten, dass sie so viel Glück haben, immer und immer wieder. Ich bin nicht überrascht, sie zu sehen. Sie verfolgen mich schon immer, auch wenn ich sie noch nie zu Gesicht bekommen habe. Die, die die Aufsicht über das Psycho-Experiment haben, das, von dem ich ursprünglich dachte, dass Marsmenschen oder Engel es ausführen. Jetzt tauchen sie auf, ganz am Ende, um zu verkünden, dass alles Vorherige unter ihrer Verantwortung geschah, das bisschen Gute ebenso wie die langen Dampfwalzen-Strecken von Schlimmem. Und in der Schlussanalyse zeigt sich nun, dass das Experiment nichts bewiesen hat. Obgleich es für seine Macher doch einen gewissen Unterhaltungswert hatte. Haha. Leg die Finger wie ein Fernglas vor die Augen und sieh sie dir genau an. Die Vergangenheit selbst kommt über die Wellen geschossen, um uns zu begegnen. »Runter!«, schreit Wallace, ein Befehl, der ebenso sehr dem Fluss wie uns beiden gilt. »Runter mit euch!« Erst jetzt lässt Bates den Palmcorder sinken. Wenn wir oben auf einem Wellenkamm sind, kann ich erkennen, dass wir dem Ufer, seit ich das letzte Mal hingesehen habe, schon näher gekommen sind – oder der Sturm uns darauf zugetrieben hat – 283
und dass uns jetzt nur noch wenige hundert Meter davon trennen. Außerdem ist da etwas, in der Mitte: eine dunkle Linie wie eine Nahtstelle zwischen den Bäumen. Wieder mal ein Zufluss, nicht breiter als unser Kanu. Wallace muss ihn gesehen haben, als er sich vorhin zum Außenbordmotor zurückkämpfte. Sah dabei wohl auch die Präfekten und wusste sofort, dass wir so schnell wie möglich dorthin gelangen mussten. Wir wissen, dass sie da sind. Aber sie wissen vielleicht nicht, dass wir hier sind. Vielleicht wurde unser kleineres Boot von den Wellen hier im offeneren und wilderen Teil des Flusses verdeckt. Auch Bates sieht die Einmündung. Und beide machen wir uns erneut daran, Wasser aus dem Boot zu schaufeln. Ziemlich kläglich allerdings, Bates mit der Kaffeebüchse, ich mit bloßen Händen, obwohl wir wahrscheinlich besser daran täten, einfach den Mund aufzuhalten und den Regen über den Bootsrand zu spucken. Wir helfen mit. Nicht weil wir glauben, dass es etwas nützt, sondern weil Wallace es glaubt. Und es ist allemal besser, sich darauf zu konzentrieren als auf unsere Verfolger. Oder auf die Frage, wo wir hinsollen, falls wir es zum Ufer schaffen. Oder auf die Bewegung des Wassers, die die letzten schwarzen Fetzen von Mageninnenwand aus mir emporbefördert und zwischen meinen Beinen landen lässt. »Nehmt die Paddel!«, ruft uns Wallace zu, als wir dicht genug an der Einmündung sind, um zu sehen, wie sie die Wellen verschlingt. »Schiebt das Boot damit über den Grund. Passt auf, dass wir nicht seitlich hängen bleiben.« Die Paddel hatte ich ganz vergessen. Diese zwei Holzplanken da im Boot, an denen ich mir ständig bleistiftlange Splitter in die Fußsohlen trat, wenn ich versuchte aufzustehen. Jetzt sehe ich eins davon vor mir liegen. Es sieht schwer aus. »Crossman, los!« Bates diesmal. Der bereits eins über dem Kopf schwingt, als wäre es das Rotorblatt eines Hubschraubers, das ihn hier he284
rausheben könnte. »Nimm es einfach«, sagt er, zu leise, um gehört zu werden, doch ich kann es von seinen Lippen lesen. Ich tauche beide Hände unter und packe das Ruder an einem der Abschnitte, die ich gebrochen durch das Wasser hindurch sehe. Und bleibe wieder an einem gottverdammten Holzsplitter hängen. Aber ich lasse nicht locker. Hebe es hoch, indem ich mich mit den Beinen gegen das Gewicht stemme, so dass auch ich jetzt stehe; tauche das Paddel neben dem Boot ins Wasser, um die Balance zu halten. Wallace zerrt den Außenbordmotor hin und her, um ihn vor den Wellen zu schützen. Der Motor stirbt ab, springt wieder an und spuckt bläulichen Rauch, doch Wallace schafft es, uns in die Uferöffnung zu steuern. Die sich als ein seichtes, in scharfen Windungen verlaufendes Flüsschen entpuppt. Fast im selben Augenblick trifft der Rumpf knirschend auf Steine. Bates hämmert mit seinem Ruder gegen das eine Ufer, ich stochere gegen das andere an, so dass wir wie zwei Gondolieri zusammenarbeiten. Wallace drückt den Außenbordmotor nach unten, als der vom Grund nach oben gestoßen wird. Jeder Kontakt zwischen Metall und Stein sendet ein hohes C durch den Bootsrahmen bis in unsere Zahnwurzeln. Das Unwetter macht keine Anstalten abzuebben, doch der Wind ist hier im Schutz des Urwalds wenig mehr als ein fernes Lüftchen. Wegen der vielen Windungen des Flüsschens ist es schwer zu sagen, wie weit wir landeinwärts gefahren sind. Die Präfekten könnten direkt hinter uns sein. Vielleicht sind sie auch zu Fuß losgegangen und müssen nur fünfzig Meter gehen, um gleich vor uns aus dem Busch zu springen. Das spielt nun alles keine so große Rolle mehr. Wir kämpfen uns einfach nur mit unserer letzten Energie vorwärts, weil wir das schon die ganze Zeit gemacht haben. Um festzustellen, wie lange wir durchhalten. Um herauszufinden, wo es uns hinführt. 285
Hierher, wie sich herausstellt. Festhängend im Kreuz eines umgestürzten Baums. Vor uns nichts als ein sumpfiger runder Platz, die Quelle des Flüsschens. Die Oberfläche bedeckt mit Seerosenblättern, so groß wie der Deckel einer Mülltonne. Hinter uns das Flüsschen, irgendwie sogar noch schmaler als das Kanu selbst. Im Boot ist mehr Wasser, als irgendwo sonst. Wallace stellt den Motor ab. Nun ist nur noch das Prasseln des Regens auf den Blättern zu hören. »Okay«, sagt er, als ob ihn jemand wiederholt um die Erlaubnis für etwas gebeten hätte. »Gut. Okay.« Das Paddel fällt mir aus den Händen, doch ich bleibe stehen. Und in dem Augenblick, da ich das Gewicht loslasse, überwältigt mich eine fast tröstliche Erkenntnis. Ich bin am Ende. Die Präfekten mögen uns bis hierher verfolgen, uns fesseln, unsere Füße auspeitschen, uns mit Zigaretten verbrennen. Tun, was solche Typen eben tun. Ich würde nicht mehr versuchen, sie aufzuhalten. Dennoch ist mir peinlich, was als Nächstes passiert. Wie ich mich selbst sagen höre, Meine Nase ist kalt, vermutlich laut. Wie ein unsichtbares Publikum gleich außerhalb dessen steht, was noch sichtbar ist, und blaue Lichter in der Menge aufblitzen wie Blitzlichter bei einem Preisboxkampf. Wie ich überhaupt nichts mehr spüren kann. Nicht das Kitzeln eines Gedankens, nicht den Strom falsch verstandener Wut, der mir so selbstverständlich geworden ist, nicht einmal den Stich der Scham, der mich noch immer jedes Mal ereilt, wenn mir eine faulige Wolke meiner selbst in die Nase steigt. Nichts außer meinen letzten Blutstropfen, die in Spiralen den Abfluss hinten in meinem Hals hinunterrinnen. Doch was ich wirklich aus tiefstem Herzen vermeiden möchte, passiert am Ende, in der letzten noch erinnerbaren Sekunde. Wie ich, ganz im Stil der Korsett tragenden Heroine einer vik286
torianischen Romanze, mit einem Wimpernschlag in das tropfende Grün hinaufschaue, bevor ich nach hinten in Wallace’ Arme sinke.
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Eine Nacht der Frösche. Die an Bäumen hängen, neben unseren Ohren auf dem Boden hocken, uns auffordern zu verschwinden. Der Regen hat aufgehört, doch die Luft ist noch immer steif vor Feuchtigkeit. Sieh nach oben, und da klebt der Mond hinter einer Plastikfolie. Bedingungen, die das Amphibienvolk rund um diesen Teich nur noch zusätzlich erregt haben: Ihre Kakophonie prallt von den gigantischen Seerosenblättern ab, die darauf treiben. Ein Kongress von ungezogenen, trunkenen, geilen Fröschen. Ihre Rufe erreichen uns in Stereo. Ein Rülpsen, Trommeln, Reißen von Fasern in ihren Kehlen. Wir drei liegen nebeneinander am Ufer. Als wir nicht mehr weiterkamen, zogen mich Wallace und Bates aus dem Kanu und sanken dann selbst rechts und links von mir zu Boden, während der Regen uns die letzte Hautschicht wegscheuerte. Als er irgendwann in der Nacht endlich aufhört, versuchen wir zu schlafen. Und dann kommen die Frösche. »Die Indianer von hier erzählen sich eine Geschichte darüber, wo sie herkommen«, sage ich. »Die Frösche?« »Die Seerosen.« »Lass hören«, sagt Wallace, legt sich auf den Rücken und verschränkt die Arme. »Ein schönes junges Mädchen, Arari, wollte für immer auf die Welt hinabschauen, ihr Gesicht über ihr zeigen wie der Mond. Also stieg sie auf den höchsten Berg, den sie finden konnte, um ihren Platz am Himmel einzunehmen. Doch als sie den Gipfel erreichte, rutschte sie aus und purzelte den ganzen Berg wieder hinunter und in einen See. Der Mond wusste jedoch, was sie vorhatte. Und als sie fiel, blickte er nach unten 288
und hatte Mitleid mit ihr. Obwohl sie ihn mit ihrer Eitelkeit beleidigt hatte, beschloss er, ihr Unsterblichkeit zu verleihen, indem er sie in eine Seerose verwandelte. So wie die hier«, schließe ich und tauche eine davon mit einem Stock unter. »Die Gesichter eines übermäßig ehrgeizigen Kindes.« »Kein Wunder, dass die mir so bekannt vorkommen«, wirft Wallace ein. Wieder zieht Bates seinen Palmcorder aus der Tasche und richtet ihn auf das Wasser direkt vor seinen Füßen. Und er funktioniert noch immer, trotz der heftigen Dusche, die er in dem Unwetter abbekommen hat. Bates drückt auf einen Knopf, und sogleich springt ein winziges Blitzlicht hoch, das einen scharfen elektrischen Strahl auf die nächstbeste Seerose wirft, ihre Mulden und Adern. Dann zieht er ihn langsam nach oben, und das Licht wird diffuser, je weiter es sich auf der Teichoberfläche verteilt, und lässt die weiter entfernten Seerosen als eine Decke mit Tupfen aufleuchten. »Das ist die amazonensische Version des Ikarus-Mythos«, sagt Bates in seiner Dokumentarfilmerstimme und lässt die Kamerabewegung im Blick auf den Horizont enden. »Die Strafe, die einen ereilt, wenn man zu hoch hinaus will.« »Nur dass die Kleine hier dem Mond zu nahe kam und nicht der Sonne«, sage ich. »Und Arari überlebte. Sozusagen.« »Sehr interessant«, merkt Wallace mit einem übertrieben grüblerischen Kopfnicken an. »Woher hast du das alles, Crossman? Ich wusste nicht, dass du Expertin für brasilianische Folklore bist.« »Ich habe es nur irgendwo gelesen.« »Wo? In der Eile muss ich auf dem Weg hier herein die Gedenktafel verpasst haben.« »Es stand in dem Reiseführer, den wir gefunden haben.« »Jetzt sag bloß nicht, dass du den noch bei dir hast.« »Ich hab ihn in dem Unwetter weggeworfen.« »Hast du das ganze Ding auswendig gelernt?« 289
»Ich habe ein Talent dafür, nutzlose Informationen zu speichern.« »Wir auch«, stellt Bates fest. »Wir handeln mit nutzlosen Informationen.« Etwas springt am Rand des Teichs aus dem Wasser und landet zwischen meinen Beinen. Noch ein Frosch. Doch ein seltsamer. Ein Frosch mit durchsichtiger Haut. »Bates, leuchte mal hier herunter.« »Wo?« »Genau hier.« Das Blitzlicht springt wieder heraus und der Lichtstrahl fällt auf ein kleines glitschiges Häufchen zwischen meinen Knien. In der Mitte eine Kugel aus Gelee mit Schwimmfüßen daran. Vollkommen reglos, außer dem, was im Innern arbeitet. Die rosarote Tasche seiner Eingeweide. Der angespannte Schließmuskel. Silbrige Nerven. »Was ist das?« »Ein Glasfrosch«, sage ich und deute mit der offenen Handfläche darauf wie bei einer förmlichen Vorstellung. »Nachtaktiv, durchsichtige Haut. Die Weibchen legen ihre Eier an der Unterseite von Blättern ab, die über fließendem Wasser hängen, und die werden dann vom Männchen bewacht, bis die Larve geschlüpft ist und in den Fluss fällt. Das hier muss ein kleiner Eierwächter sein.« »Lass mich raten. Das hast du auch aus dem Reiseführer.« »Es war sogar ein Bild von einem drin. Nur dass der Kerl hier noch besser aussieht als der auf dem Foto.« »Ich kann sein Herz sehen«, sagt Bates und zoomt es näher heran. »Es pumpt und pumpt.« Wallace und Bates betrachten den Glasfrosch, der in dem fremden Licht verstört vor ihnen sitzt. Und ich betrachte unsere eigenen Umrisse im Schein des Mondes. Ein Phosphoreszieren wie unter Wasser, das über unsere Haut gleitet. Vibrierende Lagen Seide in der Luft, die noch aufgewühlt ist vom Sturm. 290
Es lässt mich sehen, was ich noch nie zuvor gesehen habe. Unser Inneres, so deutlich enthüllt wie die primitiven Eingeweide des Glasfroschs, auch wenn unsere turbogetriebenen Sechszylinder ein komplexeres System aufweisen als dessen Rasenmähermotor. Nicht so sehr der Röntgenblick, mit dem ich die Touristen in Manaus auf dem Platz vor dem Opernhaus sah, sondern bloßgelegt, krass und abschließend, die Nacktheit, von der wir alle herkommen und mit der es enden wird. Unsere Körper, sonst nichts. Pressend, fließend, gerinnend und ansonsten einfach nur das vollführend, was es braucht, um weiterzumachen. Und das ist alles. Nicht ein Wort der Poesie, das sich dem abringen ließe. Nicht einmal die schlichteste Metapher lässt sich für das finden, was nun in uns entblößt ist, die nicht mehr reduzierbare nackte Wahrheit unserer Einzelteile, welche, einmal miteinander verknüpft und angeknipst, irgendwie die Fiktionen erschaffen, die wir als unser Selbst kennen lernen. Erst jetzt fällt uns ein, wie hungrig wir sind. Der Glasfrosch springt aus dem Lichtkegel. Bates schaltet den Palmcorder ab und lässt ihn wieder in die wo auch immer befindliche geheime Tasche rutschen, in der er ihn aufbewahrt. Zurück bleibt nur wieder der Lärm der Frösche. Der feuchte Mond. »Wie viel Maniok haben wir noch?«, frage ich Wallace. »Erinnerst du dich an den staubigen gelben Sand, den wir uns gestern Morgen von den Fingern geleckt haben?« »Ja.« »Tja, das war’s.« »Wir haben also nichts zu essen?« »Wie schnell du schaltest.« »Aber wir haben noch das Gewehr«, sagt Bates und streichelt es in einem Anflug von Intimität, der ironisch gemeint sein könnte oder auch nicht. »Wir könnten etwas jagen … etwas wie … Du hast doch den Reiseführer auswendig gelernt, 291
Crossman. Was für Tiere könnten denn in der Gegend hier ein gutes Mittagessen abgeben?« »Du kannst hier so ziemlich alles essen, was sich bewegt, wenn du es nur lange genug kochst. Affen, Tapire, Wasserschweine.« »Klingt gut.« »Es gibt nur zwei Probleme. Erstens, wir haben bisher keines von den Viechern zu Gesicht bekommen, geschweige denn im Visier gehabt. Und das wird sich auch nicht ändern. Du musst schon mit einem Lendenschurz und einem Knochen quer durch die Nase auf die Welt gekommen sein, bevor du auch nur daran denken darfst, da reinzumarschieren und was zum Essen aufzutreiben.« »Du sagtest, zwei Probleme.« »Das zweite ist das Gewehr. Es funktioniert nicht.« »Vielleicht blockiert es nur.« »Dann blockiert es eben nur. Das ändert auch nichts. Wenn uns nicht gerade irgendein pelziges Etwas direkt in die Arme springt und sich mit den eigenen Klauen die Kehle aufschlitzt, dann werden wir weiter hungern.« Dann macht Wallace etwas Komisches. Nicht unangenehm, nur völlig überraschend. Er legt die Hand auf mein Knie. Ein elektrischer Schlag, der meine Beine unter seiner Berührung wegzucken lässt. »Sag mal, Crossman«, fragt er, und seine Hand schwebt dabei immer noch an der Stelle, wo vorher mein Knie war, »wann fängst du endlich mal an, ein wenig Spaß zu haben auf diesem Trip?« »Spaß?« »Ich finde, mit deiner ständigen obsessiven Sorge ums Überleben lässt du dir hier eine großartige Gelegenheit entgehen, was dazuzulernen.« »Ich hab schon genug gelernt. Und ich bin mir sicher, Lydia und Barry fanden diesen ganzen Ausflug auch sehr erbaulich. 292
Also, zumindest bis wir sie zurückgelassen und ihn über Bord geworfen haben.« »Nun mal langsam. Ganz so war es ja –« »Jetzt hörst du mir mal zu.« Ich spüre, wie die Wörter aus mir heraussprudeln, noch ehe ich sie gedacht habe. »Halt endlich mal den Mund und hör gefälligst mir zu.« Wallace legt seine Hand wieder neben sich in den vom Regen aufgerührten Sumpf. »Okay, Crossman. Wir sind ganz Ohr.« »Gut. Weil ich nämlich mal eindeutig klarstellen möchte, wie wenig Spaß ich gerade eben habe. Mir läuft hier Scheiße die Beine runter, von der ich nicht mal weiß, wann ich sie abgelassen habe. Meine Temperatur bewegt sich seit Tagen in den Vierzigern. Da ist irgendeine Kreatur in meinem Bauch, die mich von innen heraus auffrisst. Kurzum, ich fühle mich nicht so besonders. Und ihr beide könnt ja wohl auch nicht allzu toll in Form sein, auch wenn ihr euch benehmt, als ob das hier irgendein Reality-TV-Experiment wäre und gleich die Produzenten aus dem Wald herausspazieren, um euch ein Käsesandwich und eine Verschwiegenheitsvereinbarung in die Hand zu drükken. Anders ausgedrückt, ihr habt das alles nicht mehr so ganz im Griff hier. Ihr hattet es noch nie im Griff.« Ich schreie jetzt. Sogar die Frösche sind verstummt, um zuzuhören. »Und was das Lernen angeht?«, fahre ich mit brechender Stimme fort. »Bis jetzt hat mir das noch rein gar nichts gebracht. Seit ich euch kennen gelernt habe, versuche ich herauszufinden, wer ihr eigentlich seid, und ich bin damit kein bisschen weiter als zu dem Zeitpunkt, als ich für euch noch in Hotelhallen auf Portugiesisch Software angepriesen habe.« »Sind wir jetzt wieder bei der Vertrauensfrage, Lizzie?« Ich schaue ihm in die Augen, die irgendwie mitfühlend und spöttisch zugleich dreinblicken, und kann einfach nicht aufhören. »Nein, ich traue euch nicht. Keinem von euch beiden. Immer 293
habt ihr Geheimnisse. Ihr braucht euch bloß anzusehen und schon habt ihr wieder ein neues. Und ich weiß, wozu du fähig bist. Ich hab gesehen, wie du die Schweine da in ihrem Camp mit deiner Hacke zugerichtet hast.« Ich halte inne, um Luft zu holen, doch es dauert mehrere Sekunden, bis sie den Weg in meinen Hals findet. Und sie warten rechts und links von mir. Das entwickelt sich hier noch zu einer richtig guten Show. »Und dabei muss ich auch noch so tun, als ob ihr wirklich meine Freunde wärt, nicht wahr, weil mir hier draußen nämlich keine andere Wahl bleibt, als mich an eure Rockzipfel zu hängen. Was ja auch okay wäre, wenn ich mich nicht ständig fragen müsste, wann ihr mich wohl über Bord werft. Oder im Wald zurücklasst. Ich weiß, wie es ist, ganz allein in dem Dikkicht zu sein, und ich kann euch versichern, dass es mir nicht gefallen hat. Es ist das Allerschrecklichste zu wissen, dass … dass da nur ihr seid.« Jetzt kommen die Tränen. Eine ungewollte Zuckung, so plötzlich, wie wenn man sich verschluckt. Und dabei habe ich keine Ahnung, wofür die sind. Eine Emotion ohne ein bestimmtes Gefühl, ein längst vergessener Reflex, der hier am Werk ist. Der beweist, dass es immer noch möglich ist, Erfahrungen zu machen und etwas daraus mitzunehmen, selbst wenn man es gar nicht merkt, wie Kletten, die einem am Hosenbein hängen, nachdem man über eine Wiese spaziert ist. Und mit den Tränen sind plötzlich Wallace’ Finger da. Kneifen mir jeden einzelnen Tropfen von den Wangen und zerreiben sie in den Schmutzrillen seiner Handfläche. »Jetzt sind wir alle Waisen, Crossman«, flüstert er, und der Urwald schrumpft bei seinen Worten zusammen. »Jetzt gibt es nur noch uns. Nur noch unsere seltsame kleine Familie und das große böse Grün. Und trotz allem, was du da gerade gesagt hast, kannst du uns trauen. Außerdem hast du Recht. Dir bleibt nichts anderes übrig, als uns zu trauen. Wenn du zur Abwechs294
lung mal mit dem Denken aufhören und stattdessen fühlen willst, gut. Ich wette, das ist eine Weile her bei dir, was? Nur zu, fühl du nur. Ich übernehme für eine Weile das Denken.« Er lächelt mich an. Macht so ein Gesicht, mit dem man ein Kind mit Bauchschmerzen aufzuheitern versucht. Ich wünsche mir nur noch, ihn dafür zu hassen, es als eine unerträgliche Beleidigung zu empfinden, von jemandem, der selbst noch kaum älter als ein Kind ist. Doch diesmal hält der Hass nicht an. »Du klingst wie Mr Hypothesys persönlich«, sage ich zu ihm, und meine Stimme bricht mit einem Lachen. »Das bin ich.« »Du hast alle Antworten.« »Die sind natürlich nur vorläufig.« »Also, wenn du der Mann mit den Antworten bist, dann sag mir mal: Was machen wir jetzt? Halt, nein, warte! Ich weiß es ja. Wir gehen weiter.« »Willst du vielleicht hier bei den Fröschen bleiben? Wenn ich hier unten sterben muss, dann wünsche ich mir dafür wenigstens ein etwas ruhigeres Plätzchen.« »Wo gehen wir hin?«, fragt Bates und zieht sich am Gewehr zum Sitzen hoch. »Wir werden nicht weit kommen, wenn wir einfach geradewegs in den Busch marschieren.« »Der Bach da, auf dem wir reinkamen, fließt aus diesem Teich ab. Also muss das Wasser, das sich hier gesammelt hat, auch irgendwo herkommen. Zum Beispiel von da«, sagt er und deutet auf eine kleine Öffnung im Gras etwa fünfzehn Meter weit um das Ufer herum. »Man sieht, wie es hereinläuft. Vielleicht ist es eine Verbindung zu etwas Größerem. Zum Rio Negro vielleicht. Etwas, wo es Schiffe und Menschen gibt.« Er nimmt den leeren Maniokbehälter und füllt ihn mit Wasser aus dem Bach. »Bates, du nimmst das Gewehr«, ruft er uns über die Schulter zu. »Ich gehe mit der Machete und dem Wasser 295
voraus. Crossman, du folgst uns einfach.« »Warte mal«, bringe ich stammelnd heraus, als Bates sich mit Hilfe des Gewehrkolbens aufrichtet. »Wir gehen jetzt?« »Du hast die doch da draußen auf dem Fluss gesehen, oder?« »Die?« »Die Piraten. Inzwischen sind sie uns noch näher.« »Ich dachte, es wäre jemand anders.« »Zum Beispiel?« Eine Bootsladung voll von deinen Privatschul-Fieslingen. »Nur eine Einbildung«, sage ich. »Vergiss es.« »Egal, wer es war, sie sind dicht hinter uns. Wir müssen los, bevor die sich uns persönlich vorstellen.« »Könnten wir nicht bis zum Morgen warten? Damit wir sehen, wo wir hingehen?« »Wir wissen sowieso nicht, wo wir hingehen«, stellt Wallace fest. »Und nach nirgendwo können wir auch gleich gehen.« Bevor ich sie bitten kann, trotzdem noch nicht zu gehen, oder um Schlaf bettele, bevor ich realisiere, was es heißt, vor ihren Augen zu weinen, heben sie mich auf die Füße. Vom Fluss aus gesehen war der Urwald eine bloße Idee. Lebendig in der Art eines Pop-up-Buchs, einer Welt, die durch eine 3-D-Brille gesehen wird, fast greifbar. Und doch noch nicht da. Eine gemalte Hülle, die ein Inneres abschirmt, das sich nicht einmal erahnen lässt. Jetzt gehen wir hinein und die Ideen sind fort. Da ist nur noch die Nacht, das Gewirr von Zweigen dicht vor unserem Gesicht. Kein Ich bin hier oder Es ist dort mehr. Der Urwald und unsere Körper und sonst nichts. Wir kommen nicht sehr weit, bevor die Sonne sich zeigt. Unterhalb der Schichten des Blätterdachs, dem, was im Reiseführer als »Unterwuchs« bezeichnet wurde, ist das Licht so gefiltert und zögerlich, dass es aus den beleuchteten Objekten selbst zu kommen scheint. Die Blätter über unseren Köpfen strahlen 296
das photosynthetische Gelb ab, das von fern grün aussieht. Doch diese ersten zarten Ansätze des Lichts halten nicht lange vor. Dann kommt der Morgen und die Luft nimmt an Gewicht zu. Sie will hier heraus, ebenso sehr wie ich. Sie einzuatmen erfordert eine bewusste Anstrengung, als wäre sie in Schichten nasser Wolle gepackt. Mit der Hitze ist es wieder anders. Die Hitze ist nur sie selbst. Weder dies noch das, weder oben noch unten, so dass man sich mit jedem Schritt durch konkrete Masse arbeitet. Sie bringt uns nach nicht einmal einer Stunde zum Anhalten. Höchstens eine Meile sind wir landeinwärts marschiert, und schon haben wir den winzigen Bach verloren, dem wir anfangs folgten. Ich bin die Erste, die in die Knie sinkt. Gefolgt von Bates, der sich auf den Rücken rollt und sofort beide Hände vorne in seine Hose schiebt. »Himmel, Bates, du kratzt dich wie ein Affe«, ruft Wallace aus und geht neben ihm in die Hocke. »Sind es die Brandwunden? « »Die brennen bloß immer. Das hier ist was anderes.« »Wie anders?« »Als ob es von innen kommt.« »Eine Infektion.« »Ich glaub, ich hab mir bei ihr was eingefangen, Mann.« »Ihr?« »Lydia. Dem Mädchen in Manaus.« »Wie fühlt es sich an?« »Es juckt. Juckt wie verrückt.« »Klingt allerdings nach einer Hinterlassenschaft einer professionellen Geliebten. Aber nach ein paar Tagen hier draußen, wer weiß? Es könnte alles Mögliche sein. Du hast doch den Reiseführer auswendig gelernt, Crossman. Gab’s da auch was über Hautkrankheiten im Urwald?« »Ein bisschen was.« 297
»Vielleicht ist es dieser Fisch, der deiner Pisse folgt und dir den Schwanz hochkriecht«, schlägt Bates vor. »Wenn es das ist, dann werden sie ihn abschneiden müssen, wenn wir zurück sind, oder?« »Warum so lange warten«, bietet Wallace an und lässt die Machete zwischen Bates’ Beinen hinaufgleiten. »Komm schon, lass mal sehen.« »Das ist nicht lustig, Mann.« »Dieses Fisch-Ding kann es gar nicht sein«, beruhige ich sie, und Wallace zieht widerwillig die Machete zurück. »Wenn es der Candiru wäre, dann wüsstest du das.« »Bates mag sich ja genieren wegen seiner Symptome, aber ich hätte da selbst ein kleines Problemchen, das ich euch gerne zeigen würde«, sagt Wallace. »Dass heißt, wenn ihr es sehen wollt.« Er bückt sich, um seine Schuhe aufzuschnüren, und binnen Sekunden schwellen seine Füße an und füllen den zusätzlichen Platz aus, den sie dadurch bekommen. Er zieht ganz vorsichtig an seinen Tennissocken, die jetzt schwarz sind von salzigem Schweiß und Blut. Als seine Haut schließlich freiliegt – das, was mal seine Haut war –, sehen wir, dass seine beiden Fersen und sämtliche Zehen und Zehennägel mit winzigen Löchern überzogen sind. Millionen winziger Öffnungen. Im nächsten Augenblick steigt eine Wolke säuerlichen Pilzgestanks davon auf, die Bates und mich zurückfahren lässt. »Bisschen überm Datum, was?«, sagt Wallace nickend. »Hab sie seit ein paar Tagen nicht mehr ausgepackt wegen des Gestanks. Erinnert mich irgendwie an Zuckerguss. Eine Schicht Zuckerguss über etwas Verfaultem.« »Heiliger Himmel, Wallace«, rufe ich mit einem Würgen, jedoch ohne noch etwas aus meinem Inneren erbrechen zu können. »Tut es weh?« »Ja, es tut weh. Es tut sogar ziemlich weh.« Er blickt einen Augenblick auf seine Füße hinunter, als ob sie gar nicht ihm 298
gehörten. »Weißt du, was das ist?« »Tungiasis«, sage ich und erinnere mich lebhaft an das kleine Foto im Reiseführer, bei dem ich immer sofort umgeblättert habe, wenn ich darauf gestoßen bin. »Kleine Flöhe, die sich unter die Haut fressen. Wie Maden, nur dass sie nicht erst warten, bis du tot bist.« Wallace sieht mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie vorher an ihm gesehen habe. Etwas Ungläubiges in seinen hängenden Mundwinkeln. »Das Buch hat wohl nicht zufällig erwähnt, was dagegen helfen könnte?«, fragt er. »Nichts Spezifisches, nein. Aber einer von diesen Bäumen hier muss ein Schmerzmittel enthalten. Die Bäume und Ranken hier sind die reinste Apotheke.« »Aber wir wissen nicht, welche Bäume und Ranken wir aufschneiden müssen, nicht wahr? Das wissen nur geprüfte Amazonas-Reiseführer und Indianer.« Der besorgte Ausdruck verschwindet wieder, kaum dass er da war. Er wirft seine Socken hinter einen umgestürzten Baumstamm und zieht mit einem unbestimmten, enttäuschten Seufzer seine Schuhe wieder an, so wie jemand den Deckel auf eine Dose verschimmelter Essensreste zurücklegt, die er ganz hinten im Kühlschrank entdeckt hat. Eine abrupte Brise weht durch die Äste. Doch das ist in zehn Metern Höhe, hör-, aber nicht sichtbar, und lässt die Hitze am Boden nur noch undurchdringlicher werden. Wir trinken etwas Wasser aus dem Maniokbehälter, in der Hoffnung, dadurch auf wundersame Weise die Energie zum Weitergehen zu finden. Als sie sich nicht einstellt, trinken wir noch etwas mehr. Obwohl wir schon jetzt nicht mehr wissen, wo wir herkamen oder wo uns das hinführt, wenn wir weitergehen, steht doch außer Frage, dass wir nicht hier sterben können. Diese winzige Lichtung im Urwald ist allein dadurch, dass wir hier sitzen, schlimmer als jede andere. Das Gehen fällt 299
schwer und wird immer schwerer. Bald schon werden wir es gar nicht mehr schaffen. Doch es ist immer noch besser, als sich nicht zu bewegen. An diesem Punkt kommt die Panik. Ertappt uns in unserer Erschöpfung, in der relativen Stille unseres gleichmäßigen Atmens. Lockt uns mit Schlaf und verweigert ihn gleichzeitig. »Hört«, sagt Bates. Eine Wolke von Moskitos rast um seinen Kopf. »Hört doch«, sagt er noch einmal. Und obgleich da nichts als die üblichen Tagesgeräusche des Urwalds um uns herum ist, hören auch wir es. Da ist noch etwas. Und das ist kein bloßer Verdacht. Nicht irgendein so ein Gruselgefühl, dass da ein Fremder am Fußende des Betts steht, als man gerade einschlafen will, oder dass da noch jemand im Haus ist. Das hier ist sicher. Und ohne gesehen zu werden oder ein Geräusch zu machen, hat es uns zu erkennen gegeben, dass es da ist. »Spürt ihr das?« Bates rührt sich nicht, hat die Hände immer noch in seiner Hose. »Es folgt uns schon eine ganze Weile«, erwidert Wallace. »Seit dem Seerosenteich?« »Seit da, genau. Und schon vorher. Sogar auf dem Fluss habe ich ab und an gespürt, dass es uns beobachtet.« »Der Portier«, sagt Bates, was einen neuen Kratzanfall bei ihm auslöst. »Du hast ihn gesehen?« »Ich dachte, ich hätte ihn im Lager der Piraten gesehen. So groß wie ein verfluchter Totengräber. Und jetzt ist er hier.« »Also, ich weiß nicht.« »Er ist es.« »Niemand außer dir hat ihn gesehen, Bates.« »Und Crossman.« 300
»Stimmt das?« Sie schauen beide im selben Moment zu mir her, und die Last ihrer Blicke ist schwerer, als wenn sie beide auf meiner Brust säßen. »Bates hat mir in dem Loch unten erzählt, er hätte den Typ vom Hotel gesehen«, sage ich schulterzuckend, doch das Zukken bleibt hängen und meine Schultern drücken starr gegen meinen Kiefer. »Und als wir mit dem Kanu losfuhren, war mir, als ob da jemand von seiner Statur am Ufer stand.« »Du glaubst, das war der Portier vom Tropical?« »Wahrscheinlich war es eher die Kraft der Einbildung.« »Und wie sah diese Einbildung aus?« »Ich kann mich eigentlich nicht mehr so genau erinnern. Wie Bates schon sagte, schätze ich. Ein Totengräber.« »Der finstere Sensenmann.« »So was in der Art.« »Er versucht sich zu verstecken, Wallace«, erklärt Bates. »Aber ich sehe ihn, sobald ich die Augen zumache.« »Vielleicht solltest du sie lieber auflassen.« »Was glaubst du denn, was es ist, wenn nicht er?« »Etwas, was jagt.« »Wie der Kaiman.« »Nein, das war anders. Der Kaiman war purer Instinkt. Was auch immer das hier ist, es hat einen Verstand.« Direkt über uns erwacht ein fallendes Blatt zum Leben. Breitet Flügel aus, die es flatternd wieder ein Stück in die Höhe treiben, bevor es sich wieder in ein Blatt verwandelt und zwischen uns in Spiralen zu Boden sinkt. »Also, Jungs, das wär’s dann wohl. Damit ist es offiziell«, stelle ich fest und klatsche einmal in die Hände. Der Laut scheucht das Blatt noch einmal auf, das gar kein Blatt ist, sondern ein getupfter Schmetterling in Mimese. »Wir sind endgültig am Überschnappen.« »Vielleicht ist es der Tourist aus der Hütte. Der mit den 301
Landkarten«, sagt Bates, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn es der ist, dann könnte der uns doch hier rausbringen.« »Und im Gegenzug könnten wir ihm eine Unterhose von uns leihen.« »Falls du versuchst, mit Witzen zu vertuschen, wie viel Schiss du hast, so lass dir gesagt sein, dass es nicht funktioniert«, sagt Wallace und dreht sich dabei langsam zu mir her. »Ich dachte, du wolltest es mal eine Zeit lang mit Fühlen versuchen, Crossman. Warum bist du also nicht einfach ehrlich und gibst zu, dass du genau weißt, wovon wir reden.« »Fühlen kann ich so allerlei. Nur weiß ich, dass es nicht real ist. Das kann es nicht sein. Wir haben seit langem nichts mehr gegessen. Wir sind krank. Aber dass uns jemand beobachten soll – das ist bloß eine Lagerfeuergeschichte, die wir uns hier erzählen.« Wallace schnürt sich seine aufgequollenen Schuhe zu. »Klingt für mich, als ob du wieder beim Denken angelangt wärst«, sagt er. »Wenn du einen Rat von mir willst: Kämpf nicht gegen das an, was dir Angst macht. Benutze es. Am Ende gewinnt es sowieso.« Er hievt sich auf die Füße, indem er sich an der Machete hochzieht, die im Boden steckt. Bates tut dasselbe. »Steh auf, Crossman«, sagt Bates zu mir. »Ich will dich nicht hier lassen, aber ich werde auch nicht hier rumstehen, um rauszufinden, wie das, was da draußen ist, aussieht.« Er meint es ernst. Und so wie Wallace, der bereits in eine neue Richtung losmarschiert, wird auch er sich nicht noch einmal umsehen, ob ich ihnen folge. »Siehst du, Crossman?«, merkt Wallace an, als ich den Nakken anspanne und losstolpere, um zu ihnen aufzuschließen. »Ich wusste doch, dass unter den geeigneten Umständen sogar du ein wenig Phantasie entwickelst.« Wir gehen, und ein paar Schritte lang wird es mit jedem 302
Schritt heller, und dann stehen wir plötzlich geblendet in geballtem Licht. Zu hell, erst einmal, um die Augen zu öffnen, so dass wir zuerst riechen, wo wir sind, bevor wir es sehen. Wir sind von Feuer umgeben. Oder was einmal ein Feuer war und jetzt gelöscht ist. Die Luft stechend vor Schwefel. Als wir endlich in der Lage sind, uns umzusehen, verdüstert der Rauch unseren Blick nicht minder als die nun entblößte Sonne. Ein Schlachtfeld. Aufgerissen und voller Krater, der Boden geröstet vom Feuer und noch immer zischend. Eine Arena aus rauchenden Baumstümpfen, vielleicht vierhundert Meter im Durchmesser, und dahinter der Wald, fleckig aus der Ferne. Einige Baumstämme stehen allerdings noch, heruntergebrannt auf einen dürren Rest von Stamm, nach oben hin scharf wie Speerspitzen. Und der Boden ein wirres Geflecht aus verkohltem Holz. Nackt und kahl, jedoch noch nicht zu Asche zerfallen. Eine Sekunde lang verschmilzt der Anblick mit Nachrichtenbildern von Massengräbern. Dem Wirrwarr verkohlter, verworrener Gliedmaßen. »Ich muss gleich kotzen«, stößt Bates hervor, als hätten wir dieselbe Assoziation gehabt. »Versuch es zu unterdrücken«, rät ihm Wallace. »Wir müssen alles in uns drin behalten. Wir sind doch inzwischen im fünften Stadium der Dehydrierung, meinst du nicht, Crossman?« »Es gibt kein fünftes Stadium.« »Genau.« Ich schaue zurück, dahin, wo wir hergekommen sind, doch jeglicher Pfad, den wir eventuell ausgetreten haben könnten, ist bereits wieder verschwunden. Die Mauer des Urwalds ist hier so undurchdringlich, wie es das Ufer vom Fluss aus war. Durch irgendeinen Streich, den uns die Physik spielt, sieht es so aus, als ob das Feuer in einer schnurgeraden Linie genau da ent303
langgelaufen wäre, wo wir stehen, so sauber wie der Schnitt einer Schere. »Was glaubst du, wie das passiert ist?«, fragt mich Wallace, während sich Bates an ihn lehnt und in tiefen Zügen umherfliegende Rußpartikel einatmet. »Es scheint ziemlich frisch zu sein. Vielleicht ein Blitzschlag bei dem Unwetter.« »Und was, wenn es keine natürliche Ursache hat? Wenn Menschen das Feuer gelegt haben, dann könnten sie noch in der Nähe sein.« »Ich glaube nicht.« »Warum nicht?« »Weil wir im absoluten Nirgendwo sind. Die Rancher bleiben dicht an den Flüssen, die groß genug sind, dass man mit Flussdampfern Nachschub heranschaffen kann. Nach allem, was wir gesehen haben, gibt es nichts Derartiges in der Nähe.« »Vielleicht sind es keine Rancher.« »Sondern?« »Indianer. Die Leute, von denen der Reiseleiter erzählt hat. Die, die vor den Ranchern weglaufen.« »Verstehe. Indianer, die sich mit Hobbys wie Brandstiftung die Zeit vertreiben.« »Sie zünden Feuer an, um kleine Flächen zum Anbauen von Gemüse zu roden. Vielleicht haben sie das Feuer hier gelegt, um ein neues Lager zu errichten, oder was weiß ich, wie die Dinger heißen, in denen sie leben. Diese Runddörfer da, außen herum ein Ring mit Strohdach und in der Mitte offen.« »Shabonos«, antworte ich an seiner Stelle. Bates zieht sich an Wallace’ Arm hoch, um sich wieder aufzurichten. »Anscheinend hast du dir auch Touristenbücher zu Gemüte geführt.« »Ich mag die Bilder.« Irgendwo in der Ferne erzeugt das Feuer ein fast unhörbares Grummeln. Eine Bewegung, die sich durch den Boden fortpflanzt wie das Geräusch eines nahenden Zuges, das man hört, 304
wenn man ein Ohr an das Gleis hält. »Sieht jedenfalls nicht so aus, als ob im Augenblick jemand da wäre«, stelle ich fest. »Du klingst erleichtert.« »Wir laufen seit geraumer Zeit nur noch weg. Da fällt es einem schwer, sich vorzustellen, dass wir auf irgendwas zugehen.« »Wir müssen jemanden finden, wenn wir hier rauswollen.« »Das weiß ich.« »Jemand anders als die Piraten.« »Oder das Ding da im Wald«, fügt Bates hinzu und spuckt dabei aus. Wallace deutet nach vorn, quer über das verbrannte Feld. »Und falls uns wirklich etwas verfolgt, wäre es vielleicht besser, nicht zurück und ihm direkt in die Arme zu laufen.« »Sieht heiß aus«, meint Bates. »Wir sind höchstens noch ein paar Meilen vom Äquator weg«, erwidert Wallace und steigt auch schon über den ersten versteinerten Baumstumpf. »In dieser Ecke ist alles ziemlich heiß.« »Warte mal.« Zuerst denke ich, weil sein Mund halb offen steht und seine Arme so tief herabhängen, als wären sie schon aus den Achseln gefallen, dass Bates uns bittet zu warten, weil er nicht mehr weiterkann. Wir wussten, dass das irgendwann kommen würde. Das einzig Überraschende ist, dass ich es eigentlich von mir erwartet hätte. Doch stattdessen zieht Bates die Hand zum Körper, steckt sie in die vordere Hosentasche. Zieht den Palmcorder heraus. »Das will ich aufnehmen«, sagt er. »Wallace betritt das Inferno.« Wallace dreht sich um. Selbst jetzt noch kommt er der Aufforderung der Kamera bereitwillig nach. Entscheidet sich diesmal für den ersten Blick, die große, blauäugige Hoffnung, 305
wie er sich mit letzter Kraft auf den Beinen hält, nur noch aus schierer Entschlossenheit weiterzugehen. An ihm wirkt es völlig natürlich: der gelangweilte Aristokrat auf Entdeckungs- und Eroberungsreise, auf der Jagd nach Baströckchen. Jetzt ist es allerdings wieder anders. Die Intensität und der Starrsinn deuten nicht mehr auf Lust, sondern auf etwas Kultivierteres hin. Etwas Gentlemanhaftes. Die Hände in den Hüften, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen, der Schatten eines Barts, den ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Und hinter ihm die Landschaft der Erfahrung. Überall um diesen triumphierenden jungen Mann herum ist Versuch und Strafe und Tod. Doch er fürchtet nichts davon. Er schreitet geradewegs in das hinein, von dem er annehmen muss, dass es der schlimmste Alptraum seines Lebens ist, und er bringt dies fertig, nicht etwa weil er die Fähigkeit zur Empfindung verloren hätte, sondern weil er sie im Übermaß errungen hat. All das kann man in der Pose erkennen, die Wallace einnimmt. Der geborene Anführer, voller Elan und Unbekümmertheit. Falls wir hier herauskommen und Bates’ Kamera wieder mit nach Hause bringen, dann bin ich mir sicher, dass dieser auf Film gebannte Augenblick eine über uns hinausweisende Bedeutung annehmen wird, uns überdauern wird, wie dies ein einzelnes Bild manchmal kann. Es ist ein Porträt von Wallace. Doch auf einer anderen Ebene ist es ein Porträt von dem, was Wallace ist. Sieh ihn dir an: gleichzeitig sich seiner Pose bewusst und doch aufrichtig, ein Schauspieler, der schon so lange spielt, dass er auch im Schauspielern nur noch er selbst ist. Und in seiner momentanen Rolle ist er der noble Soldat. Einer, der schon manche Kampfhandlung gesehen und Gefallen daran gefunden hat. Angetrieben von einer Neugier, die in ihrer Unersättlichkeit keinen Gedanken an die Folgen aufkeimen lässt. Man erkennt all das, noch während er die Pose einnimmt. Das Auge des Objektivs öffnet sich, und da ist es, der Beweis, dass dies wirklich passiert ist und dass er da war. 306
Es hat die Aura des Geschichtlichen. Bates löst den Finger vom Aufnahmeknopf und wir sind wieder in der Gegenwart. Wallace geht voraus, sucht einen Weg um die Haufen von Verbranntem herum. Dünne Rauchsäulen steigen von fernen verkohlten Baumstämmen auf wie zarte, zerbrechliche Fragezeichen. Jeder Blick zurück zu der Stelle, wo wir losgingen, zeigt, wie unglaublich langsam wir vorankommen. Und es wird immer noch heißer, je weiter wir uns dem Mittelpunkt der Lichtung nähern, als wären dies hier nicht die Überreste eines Waldbrands, sondern der Rand eines glühenden Vulkans. Alles, was wir berühren, brennt. Ein Bein, das einen noch glimmenden Baumstumpf streift, eine Hand, die, um Gleichgewicht ringend, nach einem halb zerfallenen Ast greift. Als durchquerte man einen Tunnel aus Stacheldraht. Eine Million messerscharfer Spitzen so geballt um uns herum, dass immer mindestens eine ihren Weg durch die Haut findet. Immerhin zwingt uns das zum Weitergehen. Wir können uns hier nicht hinlegen. Wir können uns nicht setzen. Nach der Hälfte ist uns auch der Gedanke ans Umkehren genommen. Jetzt bleibt nur noch die Baumlinie am anderen Ende der Lichtung, die mit einer womöglich nur eingebildeten Geschwindigkeit deutlicher wird. Und die glühend heißen Berührungen, die uns nicht anhalten lassen. »Wir sind fast da«, sagt Wallace. Wo nimmt er diese Wörter her? Wo hat er die Luft dafür gefunden? »Weiter so. Wir sind fast da.« Sie helfen trotzdem. Fast da. Was mein Vater mir immer zurief, wenn er sich hinterm Steuer des mit Holz ausgekleideten Kombis zu mir umdrehte, dem Kind auf dem Rücksitz, dem vom Fahren schlecht geworden war. Noch Stunden entfernt von unserem Reiseziel, aber er sagt es trotzdem. Er wird es die ganze Fahrt über sagen. Und 307
nicht einmal das vertrauensseligste Kind glaubt es. Wir gehen noch ein paar Schritte. Noch fünf, sechs Meter Luftlinie. Viermal so weit, wenn man die Umwege mitrechnet, die wir gehen müssen. Wir sind gleich zu Hause. Wenn wir die Lüge lange genug glauben, warum sollte sie dann nicht auch einmal wahr werden können? – – die Sohlen von Bates’ Schuhen fliegen vor mir in die Höhe. Beinahe ein doppelter Kinnhaken. Diesmal ist er richtig gefallen. Der Länge nach mit dem Gesicht voraus in das Grau, als wäre er achtlos in einen Aschenbecher geworfen worden. »Steh auf«, stößt Wallace undeutlich hervor. Steht vor ihm, stupst ihn mit dem Fuß in die Seite. »Du musst jetzt aufstehen.« Bates rührt sich nicht. Liegt da, über und über mit feinem Staub bedeckt, die Arme wie beim Brustschwimmen ausgebreitet. »Ich bitte dich aber«, versucht es Wallace, doch als er erneut den Mund öffnet, um zu sprechen, kommt nichts mehr. Bates hört ihn dennoch. Seine Schultern zittern, ein halber Liegestütz, nur von den Ellbogen getragen, so dass seine Hände frei sind und zu uns hochgreifen wollen, sich blindlings schließen und wieder öffnen. Sein Gesicht können wir nicht sehen. Sein Kopf ist zu schwer, als das er ihn bewegen könnte. Er baumelt am Hals und bleibt in der Asche begraben. Dann sackt er erneut zusammen. Diesmal rührt sich nichts mehr, als Wallace ihm befiehlt aufzustehen. Wallace blickt zu mir. Um zu sehen, was da ist. Auf einmal packen wir Bates an den Ellbogen und ziehen ihn vorwärts. Hängen uns seine Arme über die Schultern, während die Spitzen seiner Turnschuhe zwei Rillen hinter uns herziehen. Wallace und ich zusammen. Jetzt sind wir beide Soldaten, die einen gefallenen Bruder vom Schlachtfeld tragen. 308
Und in diesem Augenblick kommt bei mir jegliche Spekulation, ob wir es schaffen, zum Erliegen. Das war schon die ganze Zeit Wallace’ entscheidender Vorteil. Während ich mir eine Erzählung zusammenspinnen musste, um mich selbst zu erhalten, hat er einfach gehandelt. Was ich zunächst für Furchtlosigkeit hielt, war in Wirklichkeit Instinkt. Etwas, was einst allen Menschen eigen war, doch inzwischen verloren gegangen ist, verkümmert aus Mangel an Gebrauch. Er hat es schon immer besessen und nun habe ich es auch. Wir mühen uns ab, unseren Freund zum Waldrand jenseits der Lichtung zu schleppen. Endlich befreit von der Last, mich behaupten zu müssen. Die ewigen inneren Diskussionen, die nie ganz richtigen Übersetzungen, die zermürbende Besorgtheit. Was auch immer Elizabeth Crossman je war, es ist fort. Nun bin ich nur noch ein Teil von hier. Ein Teil von ihnen. Zum zweiten Mal nun schon schlage ich die Augen auf und denke, ich wäre zu Hause. Blicke in die Kreuzschraffierung der Drähte, die den Himmel unterteilt, derselbe Blick wie durch das Fenster meiner Souterrainwohnung in Toronto. Doch das hier ist zu haarig für Drähte. Lianen. Die wie Lassos von Baum zu Baum hängen. Im Reiseführer hieß es, sie seien so stark, dass sie sogar tote Bäume in ihrer Umschlingung noch jahrelang in aufrechter Position halten können wie ein ausgestopftes Stück Urwald. Und sieh nur da. Baumwürger. In Toronto gibt es keine Baumwürger, soweit ich mich erinnere. Ein höchst seltsamer botanischer Parasit wurde er im Reiseführer genannt. Seine Antennenwurzeln ergießen sich aus einem Samen, den irgendein bösartiger Chacalaca oder Faulvogel in die Baumrinde gelegt hat; allmählich bilden sie ein Netz um den Stamm, das schließlich den ganzen Baum ersticken wird. Nur der parasitäre Würger überlebt. Ein Unkraut, das als ein Doppelgängerbaum309
stamm in der Landschaft steht. »Crossman.« Noch etwas, was nicht wie zu Hause ist. Dort sagt niemand laut meinen Namen, wenn ich aufwache, höchstens ich selbst. »Crossman. Hey. Alles okay?« Das Gesicht von Bates schwebt über mir. Sonnenverbrannt wie eh und je, doch mit der Andeutung einer neuen Blässe direkt unter der Hautoberfläche. Man kann sie sogar sehen, da, wo die tote Hautschicht schon abgegangen ist. Unten drunter ist Bates weiß wie eine Larve. »Du hast es geschafft«, sage ich. »Ihr beide habt mich rausgezogen.« »Wir haben dich gezogen?« »Du und Wallace. Voll die Marines.« »Ist er okay?« »Ich glaube, sein Fieber ist gerade ziemlich schlimm. Er redet irgendwelches Zeug.« »Das ist ja nicht so ungewöhnlich.« Bates hört den Witz nicht. Oder findet ihn nicht lustig, falls er ihn hört. »Glaubst du, du kannst gehen?«, fragt er. »Kannst du?« »Ich denke schon. Diese Übelkeit – kommt und geht.« »Ich muss bloß ein bisschen schlafen.« »Wir gehen weiter, wenn Wallace aufwacht.« »Können wir nicht einfach eine Weile hier liegen bleiben?« »Ich glaube nicht«, sagt er und schüttelt dabei den Kopf, der sich nun aus meinem Blickfeld entfernt. »Warum nicht?« »Es kommt näher.« »Die Piraten.« Ich höre, wie meine Stimme schwach wird, während ich versuche, Bates wieder in den Blick zu bekommen. »Das Feuer, Crossman. Und alles andere, was da draußen 310
noch sein mag«, höre ich ihn noch sagen, hoch oben in dem Netz aus Lianen, bevor ich wieder weg bin. »Das Feuer verfolgt uns.« Asche regnet herab und erzeugt das knackende Geräusch von zusätzlichen Schritten im Gras. Vielleicht sind aber auch tatsächlich welche da. Ich merke, dass ich renne, noch bevor ich merke, dass ich wach bin. Wie bin ich überhaupt so weit gekommen? Eine gute Frage. Noch eine bessere wäre, wie ich dazu komme, im Schlaf durch den Busch zu rennen und dabei auch noch voranzugehen? Das da hinter mir sind Wallace und Bates. Bates schiebt Wallace an den Schultern, bereit ihn aufzufangen, wenn er fällt. Was für ein Fieber uns auch befallen haben mag, es springt jedenfalls gekonnt zwischen uns hin und her, manchmal im Abstand von Minuten. Gerade eben ist anscheinend Wallace dran. Manchmal kommt das Feuer so dicht heran, dass wir es direkt vor uns sehen können. Eine Wand aus geronnenem Orange und Tentakeln aus Rauch, die sich darunter hervorschlängeln. Überholt uns auf einer Seite und strebt danach, sich mit seinen anderen Teilen zu verbinden. Bewegt sich in fließenden Sprüngen und Fluchten, grazil wie die choreographierten Tanzschritte eines Balletts. Und dann wieder ganz anders. Hitzeschläge, die gegen unsere Köpfe stoßen. Ganze Bäume, die vor uns umfallen und uns den Weg abschneiden. Jetzt ist der Schwefelgeruch so stark, dass er uns die Kehle zuschnürt. Eben noch konnten wir ihn nicht einmal riechen. Mit geschlossenen Augen hätte man nicht einmal geahnt, dass wenige Hundert Meter vor uns die Welt in Flammen steht. Aber kaum dreht das bisschen Wind, verstopft Asche unsere Nasenlöcher. Ein Feuer voller Geräusche. Feucht und schmatzend, tausend 311
Katzen, die sich die Barthaare lecken. So klingt es, wenn es weit weg ist. Doch wenn es näher kommt, verwandelt es sich in etwas anderes. Ein Zischen, das fast zu einem Wort wird. Was ich überhaupt nicht erwartet habe, ist die Schnelligkeit, mit der es sich bewegt. Da vorne ist es, und ich führe uns in einem scharfen Winkel nach rechts, damit wir es in sicherer Entfernung umgehen können. Dann springt es plötzlich wieder direkt vor uns auf. Wandert an den Lianen entlang, fällt an einem toten Baum in der Nähe herab und breitet sich von da am Boden aus. Nichts wie zurück, in die entgegengesetzte Richtung. Während das Feuer sich rasend zu einem Kreis um uns schließen will. Keine Chance, ihm zu entkommen, außer mittendurch. Etwas wie Regentropfen oder Aschestückchen auf meinem Gesicht. Da ist auch noch eine Gestalt, die uns begleitet. Ein Schatten, der durch das dichte Unterholz bricht, den Boden unter seinen drängenden Schritten erbeben lässt. Mit seinem immensen Schädel alles umknickt, was ihm im Weg steht. Zuerst tippe ich auf ein Tier. Einen Jaguar oder einen gewaltigen Waldhund, aufgescheucht vom Feuer. Doch dafür bleibt es zu lange in unserer Nähe. Dicht bei uns, jedoch weit genug weg, um sich nicht zu zeigen. Ich werfe einen Blick nach hinten zu Wallace und Bates, doch die können es nicht gesehen haben – ihre Köpfe hängen herab, völlig blind. Irgendwie halten sie den Anschluss, stürzen durch die Zweige, die ich öffne und hinter mir wieder zusammenschnellen lasse. Bates so sehr damit beschäftigt, Wallace gleich wieder aufzurichten, sobald er zur Seite sacken will, dass er schon genug damit zu tun hat, den Haken, die ich schlage, zu folgen. Er hält nicht einmal nach dem Feuer Ausschau. Ich bin nun ihre Augen. Und ihre Ohren, denn anscheinend bin ich die Einzige, die die Stimme hört. 312
Etwas, was Sprache kennt, sich jedoch im Moment nicht ihrer bedient. Wallace oder Bates. Ich. Der Schatten, der uns folgt. Lydia, die aus den Bäumen heraus nach uns ruft. Etwas, was zu schreien beginnt und nicht mehr aufhört. Wir bleiben erst stehen, als es uns direkt trifft. Alle drei inzwischen versengt – Wallace’ Hals in einem unglaublichen Rot glühend, seine Kleider schwarz getränkt –, doch da ist die Überraschung des Klangs, die unsere Köpfe erfüllt. Eine Stimme. Die auf Englisch singt. Wobei »singen« vielleicht nicht das richtige Wort ist. Ein ungeschulter, jaulender Laut, die Geräusche, die Taubstumme machen, wenn sie zu dem, was in ihren Kopfhörern läuft, die Worte hervorbellen. Auch Instrumente sind da. Rhythmusgitarre, Schlagzeug, Mundharmonika. Es ist der Klang von zu Hause, der uns anhalten lässt. Ein Song. Absurd und trotzig und himmelschreiend menschlich. Der Rausschmeißer in sämtlichen Country & WesternTavernen, die für einsame Stammkunden eines gewissen Alters (also jedem Einzelnen da drin) so was wie ein zweites Zuhause sind. Ein Song, der aus den offenen Autofenstern von Pick-upTrucks schallt oder auf Partys ertönt, gespielt von HobbyBands, die mit schnelleren Stücken ein bisschen überfordert sind. Der einen auf unerklärliche Weise traurig macht und an leere Highways in der Prärie denken lässt und an eine solide, gute Frau, deren einzige echte Mängel darin bestehen, dass sie raucht und nicht besonders hübsch ist. Und der Urwald funktioniert dazu als organischer Verstärker, jeder Ast und jede Ranke und jeder hängende Moosteppich sind an dieselbe Quelle angeschlossen. Doch an die Stelle von Buschtrommeln ist klassischer amerikanischer Rock ’n’ Roll getreten (amerikanischer Rock ’n’ Roll, der eigentlich kanadischer Rock ’n’ Roll ist). »Heart of Gold«. Der Song, den jeder männliche Teenager einer bestimmten Generation als Erstes 313
auf der Gitarre lernen wollte. Es wäre vielleicht sogar ein Trost oder würde einem zumindest ein letztes Mal den Geschmack des Vertrauten bieten, wenn da nicht dieses Etwas wäre, das sieht, dass wir hier sind. Wir können die Bewegungen des Tiers nicht genau hören, obgleich es selbst die Klänge vom Band noch mit eigenen Bassvibrationen unterlegt, dem dumpfen Geräusch von Schritten unter Neil Youngs trauriger Klage vom einsamen Leben auf der Landstraße. Es ist gar nicht seltsam, den Urwald singen zu hören. Darauf hat er immer schon hingearbeitet. Eine kunstvolle Überraschung, etwas, was ebenso schön wie schrecklich sein kann. Ein alles umhüllender Ausdruck seiner selbst. Musik.
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Der Shabono ist viel größer, als einen die Fotos in den Reiseführern glauben machen. Ein ovales strohgedecktes Dach auf Pfosten, das in der Mitte offen ist und einen Platz von ungefähr dreißig Metern Durchmesser freigibt. Eine leere Stierkampfarena aus grellem Sand und darüber nichts als baumloses Blau. Ich vermute, ein 35-mm-Objektiv könnte die Höhe des Himmels nicht einfangen. Doch hier unten auf der Erdoberfläche finden sich im Schutz des Schattens ringsum so viele neue Farbtupfer und Einzelheiten menschlichen Lebens, dass ich sie nur blinzelnd aufnehmen kann. Hängematten zwischen den Pfosten. Rauchwölkchen, die von den Feuerstellen herüberwehen. Stauden von Kochbananen auf dem Boden. Tierkadaver, an den Klauen aufgehängt. Ich kämpfe gegen die aufkeimende Panik an und zwinge mich, die Augen offen zu lassen und die einzelnen ineinander verschwimmenden Schnappschüsse zu betrachten. Die Tränen sind daran schuld. Unbeirrbar, unaufhaltsam. Der Effekt ist so etwas wie ein Familienvideo aus der vor-digitalen Zeit, wie es meine Eltern von mir als herumtapsendem Kleinkind aufnahmen, der Zuckerguss von Super 8. Oder vielleicht liegt es auch einfach daran, dass dies, abgesehen vom Himmel und dem Feuer, das uns verfolgte, die ersten nicht-grünen Farbtöne sind, die wir sehen, seit wir den Fluss verlassen haben. Ein Dorf. Das Wort stellt sich erst mit Verzögerung ein, zusammen mit den Bilderbuchassoziationen von einem idyllischen Tal mit Fachwerkhäusern und Kirchturmspitzen. Obwohl dieses Dorf hier nichts dergleichen zu bieten hat. Das hier ist kaum mehr 315
als ein Vorhang, hinter dem man sich verstecken kann. Eine menschengemachte Wand, die uns einen Innenraum bietet und den Wald vor unserem Blick verbirgt. Es gibt nur einen Weg hinaus. Eine Öffnung in dem Ring, die mit Lianen zugehängt ist, gerade mal so breit, dass zwei Menschen nebeneinander hindurchpassen. Doch ein seufzender Windstoß weht die Ranken zur Seite und gibt den Blick auf die Umgebung frei, aus der wir gekommen sind. Um den Eingang herum scheint so etwas wie ein Garten angelegt zu sein, vielleicht ein, eineinhalb Hektar groß. Grob, ohne Umrandung, mit bucklig gezogenen Furchen darin. Das Unkraut so hoch, dass es kreuz und quer über die dicken Klumpen der Kochbananen hängt. Und sonst nur noch eine dreißig Zentimeter breite Rinne, die sich durch den Garten schlängelt, und ein Trampelpfad, der den Shabono-Eingang mit dem umliegenden Wald verbindet. Da müssen sie uns entlanggeschleift haben, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, wie sie uns herbrachten. Von draußen nach drinnen. Die getrockneten Lianen flattern auseinander, und da ist er. Der Urwald, der eben doch noch da ist, da draußen. Knochige, überhängende Gestalten von Bäumen, die wie eine Horde Zombies hin und her wogen und darauf warten, dass sich irgendwo etwas Lebendiges regt, von dem sie sich nähren können. Oberhalb, in der Ferne, Schwaden von Grau, die niedrig am Himmel stehen, ein Knoten aus Dunkelheit, den man für Gewitterwolken halten könnte, wenn ich nicht wüsste, dass er von dem Feuer stammt. Ich versuche an der Form der Rauchschwaden abzulesen, ob es auf uns zukommt oder nur wartet, zusammen mit den untoten Bäumen, doch bevor ich dies im einen oder anderen Sinn entscheiden kann, erstirbt der Windstoß, und die Lianen schließen sich wieder. Nur mehr die Arena aus weißem Sand. Die verschwommenen Farbtupfer. Und Menschen. Wallace und Bates in den Hängematten rechts und links ne316
ben mir. Beide reglos. Doch beide am Leben, den Geräuschen nach zu urteilen, die aus ihrer Brust kommen. Jedes Mal, wenn ich den Kopf wende, um nach einem von ihnen zu sehen, werde ich fast ohnmächtig. Ich riskiere die Bewusstlosigkeit alle paar Minuten, nur um mich zu vergewissern, dass ich nicht völlig allein bin. »Bates?«, wende ich mich flüsternd an das zusammengerollte Fragezeichen seines auf der Seite liegenden Körpers. Und drehe mich dann zur anderen Seite, dem anderen Zwilling zu, der kerzengerade auf dem Rücken liegt, mumifiziert, sein Mund zu einem unbeabsichtigten lüsternen Grinsen geöffnet. »Wallace?« Ba-tees? Wal-less? Kichern. Ein Schwall von Stimmen und dann die spöttelnden Nachahmungen aus allen Richtungen. Die, ich weiß schon, von denen kommen, die anzusehen mir so schwer fällt. Die Menschen, die ich bis jetzt einfach nicht wahrhaben wollte, weil sie doch bestimmt nicht wirklich da sein können. Nicht ganz zwei Dutzend, würde ich schätzen, oder vielleicht auch etwas mehr, wenn man die Babys mitzählt, die sich an den Hals der Mutter klammern oder in eigenen halstuchgroßen Hängematten schlafen. Erwachsene Männer, die in einem Kreis uns am nächsten stehen; dahinter die Frauen, in ihren jeweiligen Abteilungen unter dem Dach, von ihren Nachbarn durch eine durchlässige Wand aus Stroh getrennt, die die Augen gegen die Sonne beschatten und über den offenen Platz zu uns herüberspähen. Und alle paar Sekunden die furchtlosen Kinder, die sich zwischen den Beinen der Männer hindurchdrängeln, um einen Finger auf unsere Haut zu legen, die Asche von unserer Stirn zu wischen, an unseren Schnürsenkeln zu zerren. Es sind die Kinder, die unsere Namen so lustig finden. Wie sind wir hierher gekommen? Wir sind vor dem Feuer geflüchtet, durch ein Gebüsch ge317
brochen und auf eine partielle Lichtung gelangt. Dort beginnt und endet alles. Und mit der Musik. Als ich an diesem Ort hier die Augen öffnete, dachte ich, wir wären allein. Nicht einmal das Tagesgemurmel des Urwalds schaffte es bis über die Wand. Nichts mehr seit Neil Youngs Stimme und dem anschließenden Versinken in Stille. Einmal suchte ich nach Wallace’ und Bates’ Namen, doch nichts kam heraus. Erwachte Stunden später, und diesmal war etwas da. Das Kratzen meiner Zunge über meine Lippen. Gefolgt von etwas wie Regen, der in meinen Mund fiel. Beim nächsten Mal bin ich zu einem eindeutigen Flüstern fähig. Allerdings scheint niemand außer mir es zu hören. Dann erklingen verschiedene Stimmen, die falsch ausgesprochenen Echos. Erst an diesem Punkt ringe ich mich dazu durch, sie auch anzusehen. Menschen mit einer Sprache, die anders ist als alles, was ich je gehört habe. Doch was sie sagen, kommt mir auch irgendwie bekannt vor, wie ein Gedicht, das man als Kind auswendig gelernt und längst vergessen hat. Es sind Indianer. Der größte von ihnen höchstens eins fünfundsechzig groß, ihre Gesichter rund und ein wenig flach. Eine undefinierbare Mischung aus dem, was wir als chinesische, mongolide oder gar nordafrikanische Gesichtszüge kennen, und doch mit keinem davon zu verwechseln. Yanomami. Die verborgenen Menschen, von denen der Reiseleiter der Ana Cassia gesprochen hatte. Die im Reiseführer mit einem seitenlangen traurigen Aufsatz bedacht waren, nebst einem Foto von nackten Männern mit Federn in der Nase und Speeren in der Hand, die dreimal so groß wie sie selbst sind. Die einzige Bekleidung der Männer sind Baumwollschnüre um Hand- und Fußgelenke und Hüften. Ihr Penis steckt in einem Futteral, dessen Spitze mit der Schnur um die Hüfte verbunden ist, um das Ganze an Ort und Stelle zu halten. Die 318
Frauen sind ähnlich ausgestattet, mit nur einem Fetzen Tierhaut über ihren Genitalien und einem durch ein Ohrläppchen oder einen Nasenflügel gestochenen Knochen als Schmuck. Aus einiger Entfernung lässt sich ihr Geschlecht kaum noch bestimmen, zumindest nicht auf Anhieb. Alle tragen das Haar in identischen Rundschnitt-Frisuren. Die Brüste der Männer sind manchmal fast so groß wie die der Frauen. Doch dann bemerke ich die Unterschiede. Sie lassen alles noch unwirklicher werden. An den Kindern fällt es zuerst auf. An denen, die hinter den Erwachsenen hervorgesprungen kommen und nur zum Teil die traditionellen Schnüre und Futterale tragen. Vielmehr springen sie in verdreckten, übergroßen Bermudashorts hervor. Und alle, die schon laufen können, in übergroßen T-Shirts, auf denen Pop-Ikonen und Slogans prangen, die zu Hause schon fast Sammlerwert besitzen. Tweety Bird. Bart Simpson (etwa »Do the Bartman«). Ein schwitzender Las-Vegas-Ära-Elvis. Eins mit einem Spruch in ausgefransten Buchstaben: I DO WHAT THE VOICES IN MY HEAD TELL ME TO DO. Ich tue, was die Stimmen in meinem Kopf mir sagen. Alle außer den Allerkleinsten kauen Tabak. Einer der Jungen zwickt mich inzwischen aufgeregt ins Kinn und deutet auf eine Stelle jenseits meiner Füße. Als es mir schließlich gelingt, meine Augen darauf zu richten, sehe ich einen Fernseher, der auf einem umgedrehten Kochtopf steht. Sein Bildschirm ist schwarz, das Kabel ringelt sich auf dem Boden wie eine schlafende Schlange. »Woher hast du das?« Der Junge antwortet nicht, weder in seiner noch in irgendeiner anderen Sprache, sondern rennt zu dem Fernsehgerät hinüber und fällt davor auf die Knie. Legt beide Hände auf den Bildschirm und malt zwei Kreise in den Staub, der sich darauf gesammelt hat. Reibt ihn wie den Bauch eines Buddhas. »Es funktioniert so nicht«, sage ich, und meine Stimme sackt 319
fast weg dabei. Seine Hände bewegen sich in den Bildschirm hinein. Zwei Bohrer, die sich immer tiefer in einen schwarzen Quarzblock drehen. »Du musst ihn einstecken. Und ihr habt keinen –« Ein Husten bringt etwas von tief unten aus meinem Schlund hoch. Ich schaffe es gerade noch, es von der Zunge zu schieben, bevor wieder alles um mich her verschwimmt. Als sich die Welt das nächste Mal einstellt, schwebt eines von ihren Gesichtern direkt über meinem. Ein Mann, nicht größer, jedoch etwas breiter als die anderen, seine Schultern runde, glatte Kugeln aus Muskelgewebe. Ein schneller Blick zur Seite zeigt, dass alle einen halben Schritt zurückgewichen sind, um ihm Platz zu machen. »Ihr habt uns gefunden«, sagt er amüsiert, als wolle er uns zu einem besonders eifrigen Versteckspiel gratulieren. »Nun seid ihr hier.« »Ja.« »Krank.« »Ja. Wir sind sehr krank.« Er nickt, und sein Lächeln wird noch breiter angesichts irgendeines Witzes, den ich anscheinend gemacht habe, ohne es zu ahnen. Es enthüllt das Zahnfleisch, das wie Wachs um die Wurzeln seiner Zähne herumgegossen ist. »Sehr krank«, stimmt er zu. »Aber wir versuchen es.« »Ja. Versuchen?« »Euch gesund zu machen.« »Danke«, höre ich mich auf Portugiesisch sagen. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Häuptling es auch spricht. Nicht die eigentümliche Sprache, die die anderen zuvor benutzt haben, sondern ein seltsam lispelndes, jedoch zusammenhängendes Portugiesisch. Wie man es den Kindern in den alten Missionsschulen beibrachte. 320
»Danke, ja.« Er nickt erneut und lacht nun endlich laut auf. »Darf ich fragen?« »Was?« »Habt ihr was zum Tauschen?« Ich werfe den Kopf zurück, um Bates in seiner Hängematte anzusehen, und ein paar Sekunden lang schwimmt alles. Als ich endlich scharf sehe, kann ich, so wie er zusammengeringelt ist, nicht erkennen, ob er im Schlaf noch etwas an sich drückt. »Ihr wollt das Gewehr, nicht wahr?«, frage ich und schließe die Augen, um eine Welle von Übelkeit zu unterdrücken. »Euer Gewehr?« »Ihr könnt es haben, falls ihr es noch nicht genommen habt. Es klemmt aber.« »Gewehre haben wir schon.« Beinahe muss er wieder lachen. »Viele Gewehre.« »Ich weiß nicht, was wir sonst noch –« »Habt ihr Kassetten?« Im ersten Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Sein Gesicht schwebt nach wie vor mit demselben amüsiert-erwartungsvollen Ausdruck über meinem. »Videokassette«, sage ich schließlich. »Die ganz kleine Sorte. In der ganz kleinen Kamera. Ja, ich glaube, so eine haben wir.« »Nein, keine Filme. Es gibt hier keinen Videorekorder.« »Aber ihr habt einen Fernseher.« »Das ist nur – wie nennt ihr das, ein Ding, das ihr aufhebt als Erinnerung? – nur ein Souvenir.« »Es gibt hier keinen Strom, damit er laufen könnte.« »Aber wir haben Batterien. Viele Batterien.« »Habt ihr ein Radio?« »Einen Ghettoblaster, ja.« Er sagt »Ghettoblaster« auf Englisch. Jede Silbe sorgfältig ausgesprochen, als wäre es ein erst kürzlich geprägter wissenschaftlicher Begriff. 321
»Haben wir den vorhin gehört?«, frage ich das schwebende Gesicht. »Ihr habt uns gefunden.« »Die Musik im Urwald. Neil Young.« »Der ist gut, ja.« »Das war euer Radio.« »Kein Radio. Kassette. Die tauschen wir mit den nabah.« »Nabah?« »Ihr«, sagt er. »Die Leute von draußen.« Das alles strengt mich zu sehr an. Und da sind sie wieder: die schwarzen Finger, die durch die Löcher in der Hängematte nach mir greifen, um mich wieder zu sich hinunterziehen. »Am liebsten«, gesteht der Häuptling aufgeregt flüsternd, »am liebsten mögen wir Rock ’n’ Roll.« Er schläft mit offenen Augen. Falls man das Schlaf nennen kann. Weggetreten, wohin auch immer ihn das Fieber mitgenommen hat. An einen Ort so tief unten, dass keine Spur von ihm zurückgeblieben ist, jedenfalls nicht so weit, wie das Licht in seine Pupillen vordringen kann, die geweitet sind wie Zehncentstücke. Ich denke seinen Namen und versuche ihn mit schierer Willenskraft in seine Haut zurückzuzwingen. Doch keins dieser Gebete ruft irgendeine Veränderung in seinem starren Körper hervor, der mit über der Brust verschränkten Armen daliegt, ausgelegt wie die feierlichen Überreste auf einem Sarkophag. Trotzdem lassen sich noch Ansätze von Bewegung erahnen, wenn man genau hinsieht. Jeder neue Atemzug ist wie ein kleiner Schock, als wäre das Atmen eine Fertigkeit, von der er dachte, er hätte sie verlernt. Und während sich seine Brust hebt, um Luft aufzunehmen, fixieren seine Augen einen festen Punkt am Himmel. Ein- oder zweimal lasse ich sogar selbst den Kopf in den Nacken gleiten, um zu sehen, was er da wohl betrachten mag. Jedes Mal erwarte ich eine Ansammlung krei322
sender Geier Hunderte von Metern weit oben. Doch da ist nichts außer dem immer gleichen, alten, grenzenlosen Blau. Auch ich selbst gleite zwischen den Welten hin und her. Mein Magen schmerzt nicht mehr ganz so sehr vor Hunger wie vorher, obwohl ich mich nicht erinnere, etwas gegessen zu haben. Sie kümmern sich wohl um uns, doch ich erwische sie nie dabei. Alles tut um einen Grad weniger weh als vorher: da wo der Haken sich in meinen Rücken gebohrt hat, das versengte Fleisch an meinen Beinen, die Backenzähne, die Wallace mit seinen Schlägen in meinem Kiefer lockerte. Sogar der Parasit hält seit einiger Zeit still. Doch er ist noch immer nicht aufgewacht. »Crossman? Bist du wach?« »So halb.« »Irgendwas Neues?« »Schläft immer noch.« »Doch nicht so, mit offenen Augen.« »Nein, ehrlich, ich glaube, er ist okay.« »Er erbricht sich nicht mal mehr. Das kann doch nicht gut sein.« »Das ist nur, weil es nichts mehr zum Erbrechen gibt.« »Du hast mit dem einen Kerl da gesprochen. War das Portugiesisch, was er geredet hat?« »Er scheint der Einzige zu sein, der es kann.« »Und was machen die nun mit ihm?« »Ich weiß nicht, was sie machen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie versuchen zu helfen.« Bates liegt in seiner Hängematte hinter mir. Ich könnte mich zu ihm umdrehen, aber dann werde ich womöglich wieder ohnmächtig, und ich bemühe mich gerade, so lange wie möglich dazubleiben. Jedes Mal wenn ich aufwache, kämpfe ich um ein bisschen mehr Licht und Luft und Sprache. »Crossman?« »Ja?« 323
»Wenn er stirbt, sterben wir auch.« »Er wird nicht sterben.« »Nicht dass ich deswegen Angst hätte. Ich wollte nur, dass du es weißt.« »Er wird nicht sterben, Bates.« »Sieh ihn dir doch an.« Ich mache ja schon nichts anderes mehr. Und natürlich hat Bates Recht. Wallace sieht so ausgemergelt aus wie jemand, der am Ende einer unnatürlich langen Glückssträhne angekommen ist. Und obwohl er von Anfang an daran hätte denken sollen, hat er nie damit gerechnet, dass dies einmal passieren könnte. Starrt nur in einen abwesenden Himmel hinauf. Geschlagen, bestürzt. »Falls es so weit kommt, müssen wir beide eben zusammenhalten«, erwidere ich. »Es gibt nichts, was uns aufrecht halten könnte.« »Immer noch genug, um uns nach Hause zu bringen.« »Ich kann mir kein Zuhause ohne ihn vorstellen.« »Ich werde dir eines zeigen.« »Du hast es doch vorher schon nicht gewusst. Was könntest du mir jetzt noch zeigen?« »Meine Wohnung. Meine Bücher. Mein signiertes EltonJohn-Poster. Das Café an der Ecke, in dem ich mir morgens meinen Kaffee hole. Mehr kenne ich nicht.« »Und das zusammengenommen ergibt mehr als hier?« »Das hier hasst mich.« »Vielleicht ist das besser als gar nichts. Besser, als mit deinem Bücherregal und deinem Café allein zu sein.« »Zu mehr habe ich nicht den Mumm. Die meisten Leute zu Hause übrigens auch nicht. Vielleicht brauchten die alle mal einen netten Urwaldausflug als Aufmunterung. Aber ich gehe trotzdem dahin zurück. Und du auch. Und Wallace auch.« »Wenn er nicht bei uns ist, schaffen wir es sowieso nie.« »Das ist nicht gesagt.« 324
»Doch. Warum leugnest du ständig, was du eigentlich weißt?« »Weil es lächerlich ist. Er ist bloß ein Mann – noch ein Kind. Er hat nichts Magisches. Er ist kein Gott oder so was, verdammt noch mal.« »Ich habe nie behauptet –« »Nur weil du ihn liebst –« »Ja, Crossman?« »Ich meine nur, dass dir deine Gefühle da ein bisschen im Weg stehen.« Er überrascht mich mit einem heiseren Lachen. »›Die Geschichte der Menschheit ist nichts anderes als ein Irrweg der Gefühle.‹ Das hat er mir mal gesagt. Nicht schlecht für einen Teenager, oder?« »Ich dachte, Wallace hält nichts von Geschichte.« »Nur dann nicht, wenn sie sich als eine bloße Abfolge von Fakten präsentiert. Er würde sagen, dass es nicht eine einzige Wahrheit gibt, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die sie empfinden.« »Und was war der Anlass für diese bemerkenswerte Einsicht?« »Als ich ihm zum ersten Mal gestand, dass ich ihn liebe.« »Was konntet ihr denn schon wissen darüber? Ihr wart ja noch Kinder.« »Das ›schwierige Alter‹. Ich wusste, dass ich ihn damit vielleicht wegstoßen würde, aber ich habe es trotzdem gesagt. Dass es wehtut, ihn so sehr zu lieben. Und da hat er zu mir gesagt, dass es ja gerade um den Schmerz geht dabei.« Ein Zittern geht durch Wallace. Winzige Wellen, die sich von seinen Schultern bis hinunter zu seinen Fußknöcheln fortpflanzen, wie eine Brise, die über Wasser hinwegstreicht. Dies scheint das Einzige zu sein, wozu er im Moment fähig ist, eine minimale Zuckung, ausgelöst an irgendeinem Punkt außerhalb seiner Kontrolle. Ich warte auf eine weitere. Kämpfe darum, 325
wach zu bleiben, damit meine Krankenwache ihm vielleicht Kraft gibt. Seine Stimme zurückbringt. »Und was ist mit dir, Crossman?« Ich betrachte ihn, wie er daliegt, bleich wie ein Götzenbild aus Gips. Das nur für die treuesten Gläubigen lebendig wird. »Macht dir der Gedanke an den Tod solche Angst?«, versucht Bates es erneut. »Oder die Liebe?« Nach einer Weile nimmt Bates wohl an, dass ich eingeschlafen bin und ihn nicht gehört habe. Ich hätte ja versucht, ihm zu antworten, doch ich brauche meine ganze Kraft, um Wache zu halten. Auf noch ein Flattern der Lider zu warten, ein krampfhaftes Atemholen. Ein Zeichen, das nur für mich bestimmt ist. Noch ein Gesicht, das über mir schwebt, als ich das nächste Mal aufwache. Diesmal nicht das des Häuptlings. Eine abgemagerte Maske, deren Gesichtszüge irgendwie nicht ganz stimmen. Das Schlimmste daran ist der Mund, der so verzerrt ist, dass er die Zähne freilegt, lang wie Klaviertasten in dem zurückgegangenen Zahnfleisch. »Guten Morgen, Crossman«, sagt das Gesicht. »Guten Morgen, Wallace.« »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es eigentlich Morgen ist. Aber soviel ich mitbekommen habe, war das für uns alle ein ziemlich langer Schlaf, also fangen wir doch am besten mit dem Anfang an.« »Oder dem Ende.« »Jetzt hör sich einer das an! Mit knapper Not ein weiteres Mal den malmenden Kiefern der Vernichtung entronnen, und da haben wir sie wieder, unsere Crossman, die unverbesserliche Pessimistin.« »Es gibt ja nicht allzu viel, worüber man in Begeisterung geraten könnte.« »Ach, wirklich? Also, ich bin voller Begeisterung.« »Wir haben gedacht, du stirbst.« 326
»Das ist mir auch durch den Kopf gegangen, aber dann habe ich mich anders entschieden.« »Du bist also zu uns zurückgekommen.« »Ta-tah!« »Bloß dumm, dass wir noch immer nicht wissen, wo wir sind.« »Schau dich doch um«, versucht Wallace auszurufen, doch die Stimme versagt ihm, und so wirft er stattdessen die Arme hoch, um alles, was sich innerhalb der Shabono-Wand befindet, mit einzuschließen. »So was nenne ich nun wirklich einen ungesättigten Absatzmarkt!« Ich kann in seinen Schädel hineinsehen. Vielleicht liegt das an der dünnen Haut, die ihn überzieht. Beide Nasenlöcer sind hohl und aufgebläht, reichen einen halben Meter oder mehr in ihn hinein, doch ohne dass am anderen Ende etwas zu sehen wäre. Sein Mund geht auf, und da ist sein Rachen, der abrupte Schlund, das Zusammenziehen der rosaroten Röhre, die alles aufnehmen könnte, was man auch hineinschieben würde. »Sind sie noch hier?« Er hebt das Kinn und blickt sich um, irgendwohin hinter meinem Kopf. »Natürlich.« »Was machen sie?« »Sie beobachten uns, wenn du’s genau wissen willst.« »O Gott.« »Keine Sorge. Ich habe sie schon in einen wirtschaftlichen Diskurs verwickelt.« »Du meinst, du hast ihnen das Gewehr gegeben.« »Nein, ich habe meine Nikes gegen etwas von ihrer Medizin eingetauscht.« Er zieht die Nase hoch und alles in ihm drin klappert. »Phantastisches Zeug.« »Du fühlst dich besser damit?« »Besser? Das will ich wohl meinen, ja.« »Lass mich auch probieren.« Die Maske dreht sich wieder zu mir her und sieht mich an. 327
Zwei ausgeschnittene Löcher als Augen, jedes mit einem einzigen glitzernden weißen Punkt darin. »Ich bin mir nicht sicher, ob du dafür schon bereit bist, Crossman. Es ist ziemlich heftig.« Er hält sich einen weißen Finger unter die Nase. Schnipst einen grünen Rotzfaden zur Seite, der auf seiner Lippe gelandet ist. »Man schnupft es?« »Ich entschuldige mich vielmals. Es hat ein paar unansehnliche Nebeneffekte, fürchte ich.« »Aber es hat dir das Leben gerettet.« »Halleluja!« »Du scheinst ein Talent für Auferstehungen zu haben.« »Unsere Gastgeber sind auch recht beeindruckt von meiner Genesung. Sie haben anscheinend nicht gedacht, dass ich es schaffe.« »Ich habe für dich gebetet, weißt du.« »Wie war das? Ich hab dich nicht verstanden.« Auf einmal habe ich Angst vor ihm. So hatte ich ihn bisher nicht wahrgenommen, da ich es immer erfolgreich verdrängen konnte, dass da vielleicht doch etwas Monströses an ihm sein könnte. Ich hatte von Anfang an Angst vor ihm, seit ich ihn kenne, habe mir aber eingeredet, dass es gar keine Angst ist, sondern nur irgendeine komplexe Form von Wut. Eine Mischung aus Neid und moralischer Herablassung und dazu der ungünstigste aller denkbaren Altersunterschiede. Aber jetzt kann ich erkennen, dass er ein Monster ist. Und was habe ich getan? Ich habe gebetet, dass er zurückkommt. »Was hast du gesagt, Crossman?« »Was machst du jetzt, ohne deine Schuhe?« »Die hier haben doch auch keine Schuhe. Und außerdem sind schon vor dem Feuer fast die Sohlen abgefallen. Das hat man nun von billigem Klebstoff und taiwanesischer Sklavenarbeit.« »Wenn du in Rom bist, mach’s wie die Römer, was?« 328
»Genau, Crossman«, sagt die Maske nickend. »Genau so ist es.« Es muss wohl der folgende Tag sein. Oder der Tag nach dem folgenden, von da an gerechnet, als ich das letzte Mal bei Bewusstsein war. Jedenfalls verspüre ich ein hartnäckiges Frösteln auf der Haut, das wohl von der vorhergehenden Nacht herrühren muss. Und ich fühle mich viel kräftiger als vorher. Hunger wie ein Fußtritt in die Eingeweide, und auch der Wurm in mir drin hat sich mit rasender Wut zurückgemeldet, aber dennoch geht es mir besser, denke ich. Auch das Gesicht von Wallace, das als Nächstes über mir erscheint, sieht diesmal weniger maskenhaft aus. Seine Züge sind nach wie vor zerfurcht und grau, doch das kommt nur von dem dünnen Blut infolge des Tropenfiebers. Darin liegt nichts Wildes oder Unmenschliches. Ich glaube, ich fürchte ihn nicht einmal mehr. Sieh nur: Ich hieve mich auf die Ellbogen hoch, rutsche in meiner Hängematte herum, um einen besseren Blick zu haben. Komme ihm näher. Wie konnte ich je denken, dass ich Angst vor ihm hätte? »Hat Bates es geschafft?«, frage ich. »Er wird.« »Er ist immer noch krank?« »Es ist dieses Fieber. Wir scheinen es alle zu haben.« Wallace trägt nichts außer seiner Unterhose, einer zerschlissenen Boxer-Shorts. Allerdings ist er sauberer, als er vorher war. Die Linien seiner Sonnenbräune schneiden quer über seine Schenkel und Oberarme. Sogar seine Füße scheinen von der Sandfloh-Infektion zu heilen, die Löcher sind mit neuer Haut überzogen, weiß wie Kitt. »Mir ist noch nie eine solche Begeisterung angesichts einer J. Crew-Shorts und eines wirklich sehr siffigen ›Phish World Tour‹-T-Shirts begegnet«, erzählt Wallace. »Stell dir mal vor, man ließe hier einen Wal-Mart vom Himmel fallen. Das wäre 329
der reinste Wahnsinn.« »Was haben sie dir dafür gegeben? Ich nehme doch nicht an, dass du deine Klamotten verschenkt hast?« »Also, ich bin ja nicht gerade in einer günstigen Verhandlungsposition, oder? Ein Palmenblatt, gefüllt mit Kochbananenmus, irgendein klebriges Baumsekret für meine Verbrennungen, noch ein wenig von diesem verrückten Pulver zum Schnupfen – scheint mir ein fairer Deal zu sein. Außerdem stehe ich sowieso auf nackt im Moment. Ein bisschen wie Nacktbaden, nur ohne das Wasser.« Wenn ich mich an dem Seil, das den Rand der Hängematte bildet, hochziehe, kann ich den Kopf in die Horizontale bringen und einen Blick auf den ganzen Shabono erhäschen. Ein paar Männer haben bemerkt, dass ich aufgewacht bin, und sind aufgestanden, um herüberzuspähen. Der Häuptling macht sich in Begleitung von ein paar Kindern auf den Weg zu uns. Wallace blickt sich zum Häuptling um und hebt eine Hand zu einem herzlichen Winken, etwa so, wie man einen Nachbarn über den Gartenzaun hinweg grüßt. »Da kommen sie«, stellt er fest. »Das Empfangskomitee.« Sie bleiben eine Mannslänge vor uns in einem Halbkreis stehen. Außer dem Häuptling, der näher kommt und sich neben Wallace stellt. »Wenn mich mein Eindruck nicht trügt, Crossman, dann ist unser Freund hier ziemlich scharf darauf, mit dir zu reden«, sagt Wallace. »Er ist anscheinend derjenige, der hier das Sagen hat.« »Er spricht Portugiesisch.« »Wie praktisch. Du auch.« Wallace klopft mir sanft auf die Schulter, was zur Folge hat, dass alle Körperteile, die ich irgendwie mühsam in die Höhe gehievt habe, schnurstracks in die Hängematte zurücksacken. Was eine weitere Runde von Gekicher bei den Gap- und Fruitof-the-Loom-Kids auslöst. Sogar der Häuptling quittiert meine 330
Schwachheit mit einem drolligen Nicken. »Ich wusste doch, dass es richtig war, dich nicht in dem Loch bei den Piraten zurückzulassen«, sagt Wallace und blickt dem Häuptling jetzt geradewegs mit einem Filmstarlächeln ins Gesicht. »Einen Dolmetscher. Man sollte nie ohne einen außer Haus gehen.« Der Häuptling sagt: »Você poole levantar e ir caminhar comigo agora.« »Ich kann noch nicht aufstehen. Meine Beine tragen mich nicht.« »Was hast du gesagt? Was will er?«, fragt Wallace. »Er will, dass ich mit ihm einen Spaziergang mache.« »Einen Spaziergang? Mit wem?« »Nur ich und er, glaube ich.« »So eine Art Date?« »Gott, ich hoffe nicht.« »Du fühlst dich schlecht«, sagt der Häuptling auf Portugiesisch. »Doch es gibt Dinge, die du mir sagen musst. Die ich fragen muss.« »Kann das nicht warten? Und wenn nicht, können wir nicht hier sprechen?« »Es kann nicht warten.« Er wirft einen Blick über die Schulter. »Und es kann nicht hier sein.« Sanft, jedoch fest genug, um mir klar zu machen, dass ich keine Wahl habe, fasst mich der Häuptling an den Armen und hebt mich aus der Hängematte. »Du hast genug geschlafen. Jetzt musst du die Krankheit mit Gehen aus deinem Körper treiben«, sagt er. »Es ist zu heiß.« »Das ist gut. Das Fieber geht mit deinem Schweiß.« Ohne dass ich mir irgendeiner Anstrengung bewusst wäre, gehen wir mit kleinen Schritten auf den sonnenbeschienenen Platz in der Mitte des Shabono hinaus. »Wo gehen wir hin?« 331
»Nach draußen.« »Wir sind draußen.« »Du gehörst noch nicht zum Shabono. Hier drin können wir nicht richtig sprechen.« Meine Beine schwingen unter mir hin und her, ohne den Boden zu berühren, mein Körpergewicht hängt an dem Arm, der um den Nacken des Häuptlings geschlungen ist. Er führt mich zu dem rankenverhangenen Eingang. Hinaus in die pralle Sonne, die sofort Schweißschübe in mir auslöst. »Vergiss nicht, Crossman. Das ist dein allererstes Date«, ruft Wallace mir nach. »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde!« Niemand anders aus dem Dorf kommt in unsere Nähe. Allerdings beobachten sie, wie wir weggehen, und ich versuche in ihren Gesichtern zu lesen. Wird der Häuptling mich umbringen? Wenn ja, welchen Ausdruck legen die Menschen seiner Sippe gerade an den Tag? Erregung? Mitleid? Es gibt für keines von beiden irgendwelche Anzeichen. Was zu sehen ist, könnte man vielmehr als Hoffnung interpretieren. Wer weiß? Wenn die Verhandlungen zwischen dem Häuptling und mir gut verlaufen, vielleicht gibt es dann bald für alle hier AdidasTurnschuhe und Neil-Young-unplugged-Kassetten. Wir gehen durch die Ranken hindurch und hinaus auf die Bananenpflanzung. Die Lichtung ist gerade groß genug, um ein wenig Luftbewegung zuzulassen. Obwohl das hier nicht viel mehr ist als eine grob umgehackte Fläche (absägen und abbrennen, genau wie es im Reiseführer beschrieben wurde), hat es etwas vertraut Zweckmäßiges, eine Logik. Auch wenn das nicht viel sein mag, aber auf diesem wirren Fleck hier wurde dem Urwald Einhalt geboten. Der Anblick lässt mich an zu Hause denken. Nicht an meines, sondern was andere darin sehen würden, die ermutigenden Anzeichen menschlicher Ordnung, einer Natur, die den Eindruck erweckt, ansatzweise unter Kontrolle gebracht zu sein. Barry hätte eine Version von Georgia darin gesehen. Die träge, 332
nostalgisch gefärbte Variante seiner Kindheit, »damals, lange bevor sie den ›Old South‹ ›neu‹ nannten«. Er hätte dieses Dikkicht aus Palmen betrachtet und sich dabei vorgestellt, von der Fischerhütte, die seiner Familie gehörte, mit einer Angelrute und einem Schraubglas voll zappelnder Köder zu dem Flüsschen am Ende des Pfads zu wandern, zu dem schattigen Plätzchen, das ihm sein Großvater gezeigt hatte, wo sich an heißen Nachmittagen die Bachforellen tummelten. Lydia hätte zweifelsohne einen nur ganz wenig vernachlässigten englischen Garten darin gesehen. Als hätte ich diese Gedanken laut ausgesprochen, fragt mich der Häuptling plötzlich, ob es außer uns drei noch andere gab, als wir aufbrachen. »Nein, nur wir«, antworte ich, und die Lüge kommt mir ganz leicht über die Lippen. Er hebt meinen Arm von seiner Schulter und geht ein paar Schritte voraus. Ohne ihn als Stütze wackle ich einen Moment herum, bevor ich schließlich einen Schritt nach vorn tue, zunächst des Gleichgewichts wegen, dann einen nach dem anderen. Als ich ihn einhole, hat er sich umgedreht, um meine Fortschritte zu begutachten. Es lässt sich nicht sagen, ob sein Gesicht Zweifel ausdrückt oder ob die Pause nur daher kommt, dass er Zeit braucht, das Gesagte zu verstehen. »Keine anderen?«, fragt er noch einmal. »Da bin ich. Ich heiße Crossman. Und Wallace, der andere im Dorf, den du schon kennen gelernt hast. Und der, der noch immer krank ist. Er heißt Bates.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« »Ach ja?« »Das wär’s.« »Warum seid ihr gekommen?« Diesmal ohne jedes Zögern. Er glaubt mir keine Sekunde lang, dass wir von Anfang an nur zu dritt waren. Aber damit 333
können wir leben. Diese Frage hingegen ist etwas anderes. »Wir wollten das gar nicht.« »Aber ihr seid hier.« »Es war Zufall.« »Zufall?« »Wir sind Touristen. Öko-Touristen. Habt ihr davon gehört? Es gibt Pauschalreisen, die man im Internet finden kann. Viele von uns wollen den Regenwald retten. Oder wollen ihn wenigstens sehen, bevor er verschwindet. Das alles hier erleben, euren natürlichen –« Ich breche ab. Ich wollte »Lebensraum« sagen, aber das klingt falsch. Das sagt man doch eher bei Tieren, oder? Und warum spiele ich hier den Reisebüroangestellten vor einem indianischen Urwald-Krieger? Falls er das ist. Doch nun muss ich den Gedanken auch zu Ende führen, nachdem ich damit angefangen habe, weil der Häuptling da steht und wartet. »– euer Zuhause sehen. Also sind wir nach Manaus geflogen und allein den Fluss hinaufgefahren. Wir haben uns verirrt. Dann hat uns das Unwetter in den Busch getrieben. Wir wollten euch nicht stören.« »Stören?« »Ich meine, wir haben nicht nach euch gesucht. Aber wir sind natürlich froh, euch gefunden zu haben. Man kann ja ohne Übertreibung sagen – also, ich möchte euch wirklich unseren – ich meine, ihr, du und deine Leute, habt uns das Leben gerettet.« »Ja.« »Und wir sind sehr dankbar dafür.« »Dankbar. Ihr drei. Ja.« Seine Stimme klingt unverändert, und auch der Ausdruck, mit dem er mich ansieht, ist nach wie vor derselbe, doch er scheint immer noch auf etwas zu warten. »Habt ihr noch andere erwartet?« »Nein«, sagt er schließlich mit einem bedauernden Kopf334
schütteln. »Aber ich muss dir sagen, dass es noch andere gibt.« Er wendet sich jetzt um und geht weiter auf die Wand des Urwalds zu. Als ich ihm folgen will, habe ich anscheinend schon wieder verlernt, wie man geht, und der Häuptling muss zurückkommen und mich am Ellbogen fassen und wie eine verschrumpelte alte Dame führen. Ich hätte jeden Moment bis hierher auf die Knie sinken können. Aber diese Neuigkeit – er weiß von den anderen? – fegt alles andere beiseite. »Wisst ihr, wer sie sind?«, frage ich ihn. »Ich selbst habe sie nicht gesehen. Nur einer unserer Jäger«, sagt er dicht an meinem Ohr, während ich mich nun mit mehr als der Hälfte meines Gewichts auf ihn stütze. »Er sah eine Gruppe von Männern, er wusste nicht, wie viele. Sie sammelten sich an dem schmalen Fluss, wo ihr euer Kanu gelassen habt.« »Also wissen sie, dass wir hier sind.« »Nur wenn sie wissen, wo hier ist.« Einen Moment lang fällt mir die Absurdität meiner Situation auf – wer ich bin und wo wir sind und der nackte braune Mann neben mir, der nach geräuchertem Fleisch und Tabak riecht. Dann ist es wieder weg, so schnell, wie es gekommen war. Egal, wie befremdlich mir dieser Schauplatz erscheint: Das sind nun einmal die Fakten. Ich bin die Einzige, die mit ihm sprechen kann. Angesichts dieser Überlegung beschließt irgendetwas in mir, dass ich nicht länger so tun will, als wäre ich gar nicht da. »Ihr wisst, wer sie sind«, sage ich. »Sie kommen euretwegen. Ich würde meinen, du wüsstest das besser als ich.« »Wir sind Touristen.« »Das hast du schon gesagt.« »Fremde in einem fremden Land.« »Aber diese anderen. Du glaubst, das sind keine Touristen? Keine Fremden?« 335
»Wenn ich raten sollte, würde ich nein sagen.« »Und diese nabah verfolgen euch?« »Ja.« »Woher weißt du das?« »Wir haben sie auf dem großen Fluss gehört. Sie haben ihre Gewehre abgeschossen. Vielleicht haben sie nur gejagt. Aber vielleicht war es auch ein Signal. Damit wir wissen, dass sie uns verfolgen.« »Vielleicht hat jemand sie geschickt. Um euch zu suchen, weil ihr verschollen wart. Um euch zurückzubringen.« »Nein, ich glaube nicht. Es sind böse Männer.« »Und sie verfolgen euch.« »Wir haben gespürt, dass sie uns näher kamen. Die ganze Zeit über im Urwald war etwas direkt hinter uns.« »Das war vielleicht der Urwald selbst.« »Es stimmt, dass wir nichts tatsächlich gesehen haben.« »Aber du glaubst, es waren diese Männer?« »Ja.« »Und dass sie böse sind.« »Deshalb sind wir weggerannt.« Wir haben den Saum der Bäume am anderen Ende der Lichtung erreicht, und der Häuptling tritt mit einem einzigen Schritt in den Schatten, den sie bieten. Lehnt mich gegen einen Baumstamm neben ihm und dreht sich zum Shabono um. Eine fliegende Untertasse aus Zweigen. »Wir wissen von solchen Männern«, sagt er. »Auch wir laufen weg.« Er erzählt mir, dass ihr Dorf eines der letzten ist, das noch nicht von der Regierung aufgelöst und runter an das Ufer eines der größeren Flüsse verlegt worden ist. Dort werden die Leute davon abgebracht, Shabonos zu bauen, und leben stattdessen in vorgefertigten Hütten, die nebeneinander aufgereiht sind. Zu so einem neuen Dorf gehören außerdem immer auch eine Kirche, ein Missionsbüro und eine Schule. Dort lernen die Yanomami 336
– genau wie es der Reiseleiter der Ana Cassia gesagt hatte – Portugiesisch oder Spanisch oder Englisch und sehen fern und bekommen einmal im Monat Nahrungsmittel von den Flusskähnen geliefert. Gebleichten Maniok und Fleisch in Dosen. Der Häuptling weiß das, weil er es als Einziger selbst gesehen hat. Eine Gruppe von Jägern aus seinem Dorf war vor drei Trockenzeiten zu so einer Regierungssiedlung gegangen, um Anakondahäute gegen neue Macheten einzutauschen, doch er war als Einziger zurückgekehrt. Mit den anderen war etwas passiert. Ein Zauber. Böse Magie, die sie dazu brachte, ihre eigenen Namen vergessen zu wollen und stattdessen die Namen der Figuren in den Nachmittagsserien zu lernen, die aus São Paulo gesendet werden. Aus irgendeinem Grund wirkte der Zauber beim Häuptling nicht. Allerdings blieb er lange genug, um die Sprache der nabah zu lernen und die Landkarten an der Wand des Missionsbüros auswendig zu lernen, auf denen bunte Stecknadeln die Standorte bekannter Shabonos und ihrer Neuansiedlungen anzeigten. Als er fortging, versuchte er, seine Stammesgenossen zum Mitkommen zu überreden, obgleich er schon ahnte, dass es nicht funktionieren würde. Zumindest konnte er ihnen das Versprechen entlocken, niemals ihre althergebrachten Jagdgebiete zu verraten, und er glaubte auch, dass sie dieses Versprechen halten würden, und selbst wenn nicht, dann würden sie die Plätze vermutlich sowieso schon bald nicht mehr finden. Als der Häuptling in sein Dorf zurückkehrte, überzeugte er seine Leute davon, ihm an einen anderen Ort zu folgen, weg aus dem Gebiet, wo die nabah von der Regierung und der Mission am ehesten nach ihnen suchen würden. Bis jetzt war das nicht allzu schwer gewesen. Doch nun kamen noch andere, vor denen sie flüchten mussten. Kleine Gruppen illegaler Goldsucher, Garimpeiros, die um dasselbe Land kämpften. Mobile Teams aus einem halben Dutzend Männern, die mit dieselgetriebenen Wasser-Jets jegliche Lehmschicht, Wurzeln oder Fels 337
wegsprengten, die zwischen ihnen und den mageren Goldadern in den oberflächennahen Schichten liegen. Sie arbeiten schnell und ohne Rücksicht auf Verwüstungen. Dann raffen sie zusammen, was sie auf dem Rücken tragen und in ihrem einmotorigen Wasserflugzeug transportieren können, und ziehen weiter, bevor irgendjemand merkt, dass sie da waren. Außer den Yanomami in der Gegend natürlich. Und weil die Garimpeiros Diebe sind, die nichts zu verlieren haben und denen lebenslängliche Haft droht, wenn sie erwischt werden, scheuen sie sich auch nicht, ihre Gewehre hin und wieder gegen die Indianer einzusetzen. Sie mit Überfällen zu terrorisieren, damit sich die Yanomami weiter ins Landesinnere zurückziehen und die Garimpeiros weiter ihren Geschäften nachgehen und eine Spur von Kratern in der flachen Erdschicht hinter sich herziehen können. »Das Feuer, durch das ihr gekommen seid«, sagt er jetzt und schließt dabei die Augen, als müsse er sie vor den Flammen unmittelbar vor sich schützen. »Das waren auch Garimpeiros.« »Wir dachten, es wäre ein Blitzschlag.« »Blitzschläge brennen nicht ein Stück Wald in der Form einer Landebahn ab.« »Das war es, was wir durchquert haben? Eine Landebahn?« »Ein Feuer, das geraden Linien folgt.« »Dann sind sie also hier.« »Noch nicht. Sie haben das Feuer gelegt, und wenn es abgekühlt ist – und wenn niemand von außen es bemerkt hat –, dann kommen sie zurück und lichten es für ihre Landebahn. Und dann werden sie uns finden.« »Und was werdet ihr tun?« »Wir ziehen weiter. Wenn sie zurückkommen, werden wir schon fort sein.« Der Häuptling blickt mich an und scheint etwas Schlimmeres als vorher an mir zu sehen, denn er kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wolle er mich auffangen. 338
»Nein, nein, es geht –«, setze ich an und falle auch schon in ihn hinein, genau wie er es vorhergesehen hat. »Es ist gut«, sagt er und lässt mich vorsichtig nach unten sinken, mit dem Rücken an einem von haarigen Spinnen bevölkerten Baumstamm. »Nun ist das letzte Fieber vergangen.« Das mag sogar stimmen. Meine Beine sind kraftlos, doch mein Kopf ist klar. Über dem Bananenfeld schimmert die Hitze auf wie ein flüssiger Sprühnebel. Durchdrungen vom erneuten Klang des Kassettenrecorders. Die gedämpften Anschläge eines Rhodes-Pianos. Der progressive Rock aus der Schlaghosen-Zeit meiner Jugend. Supertramp. »Party-Time«, sage ich und blicke zum Häuptling hoch mit einem Lächeln, von dem ich hoffe, dass es wohlmeinenden Humor zum Ausdruck bringt, doch er antwortet nicht. Er scheint weder mich noch die Musik zu hören. Kurz darauf fängt er an, mit sich selbst zu sprechen. Nicht auf Portugiesisch. Ein Wort wird ständig wiederholt, so klar, dass ich die einzelnen Silben heraushören kann. Rahakanariwa. Während er es ausspricht, beugt er sich nach hinten und späht auf einen beweglichen Punkt direkt über ihm. Einen Punkt, aus dem mehrere Punkte werden, zwischen denen seine Augen nun hin und her springen. »Rahakanariwa«, sagt er ein letztes Mal, senkt den Kopf und sieht mich an. Es ist ein Name. Ein Wort, das er für mich benutzt. »Du glaubst, dass wir Vögel sind?«, frage ich ihn. »Ich sehe in euch nur das, was ihr seid.« Ich folge der Linie seines Blicks von vorhin nach oben. Drei dunkle Punkte, eine halbe Meile weit oben an einem Himmel aus Sahne. »Geier.« »Ihr seid schlecht für uns, auch wenn ihr das nicht wollt«, erklärt er mit einem erneuten Blick nach oben. »Vor nicht langer Zeit war ein nabah hier, ganz alleine. Wir haben ihm geholfen. 339
Und sobald es ihm besser ging, ging er wieder fort, um den Weg nach draußen zu suchen. Er sagte, er hätte viele Jahre nach uns gesucht, aber nun, da er uns gefunden hatte, wollte er nur noch weg von uns. Er sagte, der Urwald hätte ihn wahnsinnig gemacht. Er war auch ein Tourist.« »Das Buch. Der Reiseführer.« »Er hatte kein Buch.« »Aber er hatte Landkarten, nicht wahr?« »Er hatte nabah-Landkarten, ja. Seid ihr mit ihm gereist?« »In gewisser Weise. Wir haben den Reiseführer gefunden, den er zurückgelassen hatte. Der hat mich auf dem Fluss getröstet.« »Ihr findet Trost in Dingen«, sagt der Häuptling und schüttelt verständnislos den Kopf. »Wir finden Trost, wenn wir sehen, wie am Morgen die Nacht endet.« »Du hast gesagt, er sei schlecht gewesen.« »Als er ging, nahm er eine unserer Frauen mit.« »Eine Ehefrau.« »Keine Ehefrau. Er zwang sie mit seinem Gewehr. Er wolle nicht allein sterben, sagte er. Und nun sind sie beide tot.« »Sie haben es nicht bis zum großen Fluss geschafft?« »Die Landkarten der nabah lügen«, sagt er voller Befriedigung. »Aber dieser Tourist, der war mehr krank als schlecht. Und von den Schlechten sind manche noch schlechter als andere. Ich frage mich, ob ihr das seid. Ob ihr so schlecht seid wie die Schlimmsten, die wir gesehen haben.« »Wir sind keine Goldgräber«, wende ich törichterweise ein. »Und unser Gewehr klemmt.« »Das hast du mir schon gesagt.« »Ich will nur sagen, dass wir keinen Schaden anrichten wollen.« »Ihr braucht keine Waffen, um Schaden anzurichten«, sagt er entschieden. »Wir haben Leute wie euch schon vorher gesehen. Touristen. Wissenschaftler. Sie haben keine Gewehre, aber sie 340
töten uns so schnell, als hätten sie welche. Sie bringen Fieberkrankheiten mit, die wir nie zuvor gesehen haben und die unsere Medizin nicht heilen kann. Sie zetteln Kriege an zwischen meinen Leuten und anderen Yanomami, die nach Handel mit den nabah gieren. Und sie nehmen auch. Sie nehmen sogar, wenn sie geben. Ihre Kleider. Einen Musikspieler. Einen Fernseher, den wir nicht benutzen können. Wir verlieren uns selbst in den Geschenken, die sie uns geben.« »Wir haben gar nichts zu geben.« »Nur euch selbst.« »Nur das.« »Aber das ist genug.« Die Musik aus dem Shabono erreicht uns bruchstückhaft, wird immer wieder von der Luftbewegung im Garten unterbrochen und verzerrt. Ein- oder zweimal ist auch ein einzelnes Händeklatschen zu hören. Ein lautes Lachen. Rasthausgeräusche auf einem Parkplatz. »Wir werden euch zu essen geben und euren Freund heilen«, sagt der Häuptling und blickt schlaff und müde dorthin zurück, wo die Klänge herkommen. »Und wenn die Garimpeiros kommen – oder wenn die bösen Männer, die euch folgen, zuerst kommen –, dann werden wir entscheiden, was zu tun ist.« »Ihr könnt uns nicht den Männern überlassen, die euer Jäger gesehen hat.« »Wir werden dann entscheiden.« Der Häuptling tritt in das grelle Sonnenlicht hinaus und macht sich auf den Rückweg zum Dorf. Diesmal bietet er mir keine Hilfe an. Nach einer Weile – noch einem von der Brise zerhackten Song oder zwei – schaffe ich es, aufzustehen und ihm zu folgen. Alles ist jetzt ein wenig fester unter mir, wenn auch nicht weniger verwirrend. Doch für den Augenblick werden keine weiteren Fragen gestellt. Ich muss zu meinen Freunden zurückkehren und sehen, wie es ihnen geht, ihnen erzählen, was 341
ich weiß. Wieder ein Dolmetscher sein. Als ich durch den lianenverhangenen Eingang trete, ist die Musik noch lauter. Der galoppierende Rhythmus, das Bee-GeeFalsett. Good-bye stranger it’s been nice. Hope you find your paradise. Auf der gegenüberliegenden Seite hat sich eine Gruppe von Kindern um den Häuptling versammelt. Dahinter stehen ein paar der Jäger und sogar ein oder zwei von den Frauen in einem groben Kreis. Alle mit dem Blick zur Mitte, um Wallace zuzusehen. Wallace tanzt einen improvisierten Hüpf-Tanz, schwenkt eine Hand durch die Luft, während er die andere in die Hüfte gestemmt hat, und wirft die Beine durch die Gegend wie ein Betrunkener in einem Pub. Bates liegt noch immer in der Hängematte wie seit unserer Ankunft, ist jetzt aber wach, grinst, mit einer aufgerollten Jeans als Kissen unterm Kopf. »Gratuliere, Crossman!«, ruft Wallace mir zu, und alle drehen sich nach mir um. »Wozu?« »Anscheinend konntest du sie dazu überreden, uns Abendessen zu kochen. Oder sollte ich sagen, uns als Abendessen?« Als er lacht, lachen die Kinder mit, als hätten sie den Witz verstanden. Den Großteil des nächsten Vormittags sehen wir den Yanomami beim Packen für den bevorstehenden Aufbruch zu. Alle, selbst die kleinsten Kinder, sind eifrig damit beschäftigt, mit entlaubten Lianen Töpfe zusammenzubinden, Bananenstauden und eingesalzenes Fleisch in Leinensäcke zu stopfen, Macheten für die Buschwanderung und Pfeilspitzen für die vorausgehende Jagd zu schärfen. Auf Bates’ Vorschlag hin frage ich den 342
Häuptling, ob wir irgendetwas tun können, doch er sieht mich nur mit hohlem Blick an, der mich daran erinnert, dass wir weder genug Ahnung haben noch kräftig genug sind, um auch nur bei einer simplen Tätigkeit wie Holzsammeln mitzuhelfen. Und eigentlich wollen wir ja auch gar nicht helfen. Uns interessiert vielmehr, was sie mit uns vorhaben, wenn sie gehen. Für den Augenblick halte ich jedoch diesbezüglich den Mund. Besser, wir fallen unseren Gastgebern nicht mit Fragen auf die Nerven, als auf eine Antwort zu drängen, die wir nicht hören wollen. Doch als Bates fragt, was mir der Häuptling gesagt hat, erkläre ich ohne das geringste Zögern: »Er wird uns mitnehmen.« Ich erzähle ihnen auch ein paar Sachen, die wahr sind. Dass der Häuptling schätzt, unsere Piraten oder ihre Garimpeiros oder wen sonst sein Jäger bei unserem Kanu gesehen hat dürften nur noch ein, zwei Tagesmärsche weit weg sein, sofern sie eine Fährte lesen können. Wenn es die Goldsucher waren, dann werden sie sich wohl eine Weile bei der Landebahn aufhalten, Baumstümpfe abräumen und die Länge der Bahn ausmessen. Wenn es nur die waren, dann bliebe den Yanomami genügend Zeit zum Verschwinden. Doch wenn es die bösen Männer waren, die uns verfolgten – die würden wohl nicht so lange warten. »Zwei Tage«, wiederholt Bates. »Vielleicht noch weniger.« »Und die Indianer?« »Die brechen morgen früh auf. Heute Abend gibt es eine Art Zeremonie. Ein Tanz oder Singsang, um Glück für die Reise zu erbitten. Er war nicht besonders mitteilsam hinsichtlich der Einzelheiten.« »Wir müssen hier raus«, stellt Bates fest und schwingt die Beine über den Rand seiner Hängematte, als wolle er sofort los. »Wenn es die Kolumbianer sind, dann sind wir tot, wenn wir hier bleiben.« »Aber wo sind wir denn über-« 343
»Ich lasse nicht zu, dass die mich noch mal in die Finger kriegen, Crossman.« »Dann gehen wir mit den Indianern.« »Und wo gehen die bitteschön hin?« »An einen anderen Ort«, antwortet Wallace an meiner Stelle. Er steht schon die ganze Zeit am Rand des Schattens, die Arme über der Brust verschränkt, und sieht den Yanomami bei ihren Arbeiten zu. Ich hatte angenommen, dass er uns gar nicht zuhört. »So was wie hier, nur weit weg«, führt Bates den Gedanken zu Ende. »Sie werden nie weit genug weg sein von dem, was auf sie zukommt.« »Aber sie werden uns doch zuerst irgendwo absetzen, oder? Sie nehmen uns doch nicht noch tiefer in den Urwald mit?« »Bestimmt nicht«, beruhige ich ihn, und es klingt fast überzeugt. »Wahrscheinlich werden sie einen Abstecher zu einer der Missionssiedlungen machen«, mutmaßt Bates. »Uns den Weg nach draußen zeigen und dann dahin weiterziehen, wo sie eben hinwollen.« »Das denke ich auch.« »Bitte, Crossman«, sagt Wallace und dreht sich jetzt zu uns um. »Erzähl nicht solchen Mist.« »Ich gebe nur wieder, was der Häuptling gesagt hat.« »Vielleicht Bruchstücke davon. Aber diese Leute werden uns garantiert nicht bei der Hand nehmen und hier rausführen. Wer weiß, wie weit weg der nächste große Fluss ist oder gar ein Regierungsdorf. Und würden sie uns überhaupt auch nur in die Nähe eines solchen bringen, selbst wenn sie es erreichen könnten? Das würde ja bedeuten, dass sie sich ergeben. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen, aber sogar mir ist klar, dass diese Leute nie im Leben aus dem Urwald hinausgehen, sondern nur noch tiefer hinein. Und wenn sie uns mitnehmen, dann 344
tun wir dasselbe.« Er geht ein paar Schritte von uns weg in die Sonne hinaus und blickt wieder über den offenen Platz im Zentrum des Shabono hinweg, folgt mit den Augen den geschäftigen Yanomami bei ihren Verrichtungen. Von Zeit zu Zeit winkt einer von ihnen ihm zu oder eines der Kinder imitiert seinen hopsenden Tanz vom Vortag. Sogar der Häuptling dreht sich alle paar Minuten zu ihm um, als warte er auf ein Signal für den exakten Zeitpunkt, an dem er mit etwas anderem anfangen soll. »Du hast ja alles mal wieder perfekt durchschaut«, merke ich an, unfähig, die Gereiztheit in meiner Stimme zu verbergen. »Vielleicht solltest du ja zur Abwechslung mal den Dolmetscher spielen.« Wallace sieht mich jetzt direkt an. Nicht wütend, noch nicht einmal mit seinem üblichen mitleidigen Blick. Diesmal ist es unverhohlene Verachtung. »Man muss nicht immer mit den Menschen sprechen, um sie zu verstehen, Crossman.« »Wo ist er?« »Draußen.« »Es gibt kein draußen.« »Nun, da ist er aber.« »Hat er uns zurückgelassen?« »Sei nicht blöd.« »Ich hab mich überall umgesehen und konnte ihn nicht –« »Relax, Crossman. Er ist mit diesem Häuptlings-Typ zusammen. Die beiden sind in den Garten rausgegangen, um sich zu unterhalten.« Ich bin von einem erneuten, plötzlichen Schlaf aufgewacht und habe Bates neben mir vorgefunden. Nebst den Indianern, obwohl die sich inzwischen von uns fern halten. Nur wenn Wallace in der Nähe ist, scheinen die Kinder und Frauen zutraulich genug zu sein, um unsere Kleider zu befühlen oder an 345
unseren Haaren zu zupfen. »Die beiden scheinen ja inzwischen richtig gute Kumpel zu sein«, stelle ich fest, darum bemüht, die Besorgtheit in meiner Stimme zu unterdrücken. »Kleine Spaziergänge im Garten. Und dabei können sie sich noch nicht einmal miteinander unterhalten.« »Er kommt wieder.« »Natürlich. Wo sollte er auch hingehen?« »Überall, wenn er will.« »Das sagt er die ganze Zeit. Ich glaube, diese Naturmedizin, oder was die ihm da immer verabreichen, schlägt ihm allmählich auf den Verstand.« »Ich glaube nicht, dass irgendwas das könnte.« »So spricht der wahre Gläubige.« »Hast du ihm zugehört, seit er aus dem Fieber aufgewacht ist?« »Ich tu nichts anderes, als ihm zuzuhören.« »Er sagt die außerordentlichsten Dinge.« »Ach ja? Was denn zum Beispiel?« »Man kann das nicht einfach so wiederholen. Du musst es schon zuerst verstehen, bevor du hörst, was es bedeutet. So war er schon immer. Er kann mit einem Wort einfach so zum Ausdruck bringen, was du schon die ganze Zeit gedacht hast.« »Und was denkst du die ganze Zeit, Bates?« »Nicht ich. Er. Was er in uns sieht, das zählt.« »Also kann er jetzt auch noch Gedanken lesen?« »Er lässt einen sich selbst erkennen.« Bates spricht mit einem überschäumenden Enthusiasmus, die Wörter fast schon undeutlich verzerrt, unfähig, mit den Bedeutungen, für die sie stehen, Schritt zu halten. »Hör mal«, hebe ich mit einem Räuspern an. »Ich weiß ja, dass die uns zu essen gegeben haben und dass wir schon wieder viel kräftiger sind als vorher. Aber vergessen wir doch bitte nicht, dass wir immer noch einen Anflug von Fieber haben. 346
Wir denken noch nicht –« »Alle Welten werden wieder eine Welt. Eine Welt, die alles von dir nimmt, damit sie es dir wieder zum Geschenk machen kann.« »Das ist nur wieder sein Freihandels-Hokuspokus.« »Ihm geht’s dabei nicht um Wirtschaft. Geld ist nur eine Metapher dafür, alles zusammenzubringen.« »In ihm.« »Nicht viele Menschen sind in der Lage, ihre Wünsche zu erkennen.« »Nein? Gier ist doch eigentlich nichts so Seltenes.« »Es geht nicht um Gier.« »Er will nur alles für sich selbst.« »Nein! Er will alles für dich!« Auf dem Rund aus grellem Sand vor uns springen zwei kleine Jungen herum, einer mit einem winzigen Pfeil und Bogen, während der andere in die Hände klatscht und den mit dem Bogen anspornt zu schießen. Es dauert einen Augenblick, bis ich entdecke, was ihr Ziel ist. Eine Anolis-Echse, die mit den Jungen herumhüpft, jedoch nicht entkommen kann. Sie hat eine Schlinge um den Hals, die an einem in den Boden gerammten Stock festgemacht ist. Übungen im Zielschießen. »Manchmal sehe ich Barry, weißt du«, erzähle ich ihm. »Den jetzigen Barry oder den von damals?« »Ich weiß nicht genau.« »Was treibt er denn so?« »Erinnert mich an alles. Ist das nicht die Aufgabe von Geistern? Einen daran zu erinnern, dass das, was passiert ist, real war und wir dabei waren?« »Wir waren ja auch dabei.« »Und Lydia.« »Da waren wir auch dabei.« »Sie lässt mich auch nicht vergessen.« »Siehst du sie?« 347
»Meistens höre ich sie.« Bates streckt sich in seiner Hängematte. Ein knochiger Ellbogen ragt über den Rand hervor, da, wo er den Arm angewinkelt hat, um sich die Augen zu beschatten. Auch er hört seinen Namen rufen. Hört ihn wahrscheinlich gerade jetzt, genau wie ich. Nur halb verdeckt von unseren eigenen Stimmen. »Denkst du manchmal an sie, Bates?« »Natürlich.« »Versuchst du sie dann wegzuschieben?« »Ich würde sie nie wegschieben.« »Und Wallace?« »Das könnte er nicht.« »Damals schien er es zu können.« Bates nimmt den Arm von den Augen und richtet das Kinn auf mich. »Er wäre der Vater ihres Kindes gewesen. Wir wären eine Familie gewesen«, sagt er. »Wir?« »Ich und Wallace und Lydia.« »Und das Baby dazu macht vier.« Bates dreht sich in seiner Hängematte herum, um dem Jungen mit dem Pfeil und Bogen zusehen zu können. Jetzt hüpft nur noch der unbewaffnete Junge auf und ab. Der andere steht vollkommen still und zielt auf einen Punkt in der Nähe seiner Füße. Reglos wie ein steinerner Putto. Man kann seine Augen und das, worauf er zielt, nicht gleichzeitig im Blick haben, und so wandert mein Blick zwischen beidem hin und her, ein gesprungenes Bild. Die Echse vollführt nach wie vor ihren Tanz. Rund um den Stock, an den sie gekettet ist, hüpft hoch, um der Sonne ihren weißen Bauch zu zeigen. Die Augen der Jungen. Der Pfeil schnellt von der Sehne. Als die Hitze am Nachmittag ihren Höhepunkt erreicht, hören 348
die Yanomami mit dem Packen auf und ziehen sich in ihre Hängematten im Schatten des Shabono-Dachs zurück. Wenig später kehren Wallace und der Häuptling von ihrem Spaziergang zurück, mit hängenden Schultern, vor Müdigkeit und von der Bürde ernster Gedanken. Sie trennen sich ohne ein Wort, jedoch mit einem Nicken, das grimmige Übereinstimmung ausdrückt. Dann überquert der Häuptling den Platz, um zu seinem Abschnitt im Shabono zu gehen, und Wallace kommt zu uns herüber, lässt sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und scheucht einen Schwarm Mücken auf, der eine Kruste auf einer jetzt unter seinem Gewicht zerdrückten Kareshi-Frucht gebildet hatte. »Du warst ganz schön lange weg«, sage ich und bereue sogleich meinen mütterlich-tadelnden Ton. »Bates und ich haben uns schon überlegt, ob wir hinausgehen und dich retten sollen.« »Bates schläft. Wie besorgt kann er da wohl sein?« »Ich fand es nur seltsam, wie dich der Häuptling einfach so mitgenommen hat.« »Mit dir hat er es doch genauso gemacht.« »Er hatte mir eine Menge zu sagen.« »Wir hatten eben auch einiges zu besprechen.« Er schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und zieht sie über sein Gesicht herunter. Die Fliegen schwirren über seine Haut wie Krähen, die hinter einem Pflug in der frisch umgegrabenen Erde nach Nahrung picken. »Und was hatte er nun zu sagen?« »Es war eher so, dass ich ihm einiges zu erzählen hatte. Bestimmt weißt du die Ironie daran zu schätzen, Crossman? Der einsprachige Jungspund, der mehr rüberbringt als die belesene Dolmetscherin?« »Umwerfend komisch.« »Nimm zum Beispiel die Goldstädte im Urwald«, fährt er 349
fort. »El Dorado. Das ganze Zeug über unerreichbare Städte und Pyramiden und Minen, von denen uns der Reiseleiter erzählt hat. Man würde doch annehmen, dass der Häuptling davon weiß. Dass die Abenteuergeschichten ihren Weg dahin zurückgefunden haben, wo sie herkommen. Aber es war alles neu für ihn. Ich fürchte, diese Leute sind nie in den Genuss eines ordentlichen Reisehandbuchs gekommen.« »Du warst also der geborene Unterhalter, wie üblich. Gab’s sonst was Neues?« »Neu ist, dass er mir geglaubt hat. Ich habe in den Urwald hineingedeutet, in die entgegengesetzte Richtung von der Landebahn der Garimpeiros und dem Feuer, richtig mittenrein, und sagte ›Gold‹ und ›sicher‹ und ›zu Hause‹ und zeichnete eine Landkarte davon auf meinen Unterarm. Mehr war gar nicht nötig.« »Meinen Glückwunsch. Du hast den Indianern einen Morgen Sumpfland verkauft.« »Ich glaube es ja selbst. Ich hab’s mir richtiggehend selbst eingeredet.« »Das ist ein zweifelhafter Erfolg, Wallace, wenn man bedenkt, dass es kein El Dorado gibt.« »Doch, gibt es. Und ich finde, da sollten wir alle hin.« »Hin? Wohin?« »An den Ort, der unerreichbar ist.« »Wenn er unerreichbar ist, was bringt es dann?« »Dass man ans Ende der Dinge kommt.« »Du spinnst.« »Ich expandiere.« »Das ist dasselbe.« »Ich musste irgendwann an diesem Ort landen, Crossman. Dort kann man hundert Leben leben, weil es überhaupt kein Ort ist.« »Was ist denn verkehrt daran, sich selbst zu finden? Streben danach nicht die meisten Menschen? Aber nicht du. Du rennst 350
in die entgegengesetzte Richtung.« Obwohl ich bei dieser Unterhaltung im Vorteil sein sollte, angesichts des Unfugs, den Wallace da von sich gibt, vertrocknet meine Stimme zu einem schwachen Krächzen, als ich gegen die neuen Fakten ringe, die nicht weniger wahr sind, nur weil sie eben erst aufgekommen sind. »Ich fordere eben, was die meisten anderen sich nur zu wünschen trauen«, sagt er. »Du willst ewig leben.« »Langsam kommen wir der Sache näher.« »Alle müssen sterben, Wallace.« »So liegt der Fall im Allgemeinen, ja.« »Nur dass du dir eine Ausnahmeklausel suchst.« »Wenn das Selbst einmal sterben muss – ich, dieser Marcus Wallace, geboren im Owen Sound General Hospital am zweiten November 1975, das Ich, von dem mir beigebracht wurde, dass ich daran festhalten soll –, dann muss man andere Selbsts in Besitz nehmen, um weiterzukommen.« »Was zum Teufel soll denn das heißen?« »Denk an jede Erfahrung, die du je gemacht hast«, sagt er und verfällt für den nun folgenden, ihm allzu vertrauten Gedankengang wieder in einen ruhigeren Tonfall. »Sie kann richtig oder falsch oder schön oder furchtbar gewesen sein. Es ist immer nur das, was gerade passiert. Aber noch während du es tust, erkennst du all die Dinge, die du stattdessen in diesem Moment hättest tun können, aber nicht getan hast. Warum bin ich nicht weggegangen, anstatt zu bleiben, warum hab ich nicht zerstört, anstatt zu schaffen? Der gelebte Moment erzählt auch von dem verneinten Moment. Und daher kommt alle Enttäuschung. Das ist die jämmerliche, rostige Falle des Menschseins. Also habe ich mich entschlossen, mehr als nur ich selbst zu sein. Der universelle Übersetzer, der all unsere Wahlmöglichkeiten gleichzeitig auslebt.« »Wunderbar. Klingt wie dein Hypothesys-Werbetext.« 351
»Das ist ja auch die Idee dahinter. Aber Hypothesys ist nur eine Simulation. Das Medium selbst ist nur eine Simulation. Du kannst einen Computer anschalten und dir schmutzige Bilder ansehen oder dir eine russische Ehefrau kaufen oder deine Moral von einer anonymen ausgewählten Testgruppe bestimmen lassen. Nenn es eine technologische Revolution, wenn du willst, aber im Grunde ist es nur noch so eine glimmende Kiste, die nun in jedem Haushalt installiert werden muss. Ich gebe zu, dass es anfangs reizvoll war, sich auszudenken, wie man den ganzen Leuten vor den glimmenden Kisten irgendwelche Sachen verkaufen kann, aber nach einiger Zeit wurde mir klar, dass das Geld auch bloß virtuell ist. Das hatte ich nicht vorausgesehen. Reich zu sein und feststellen zu müssen, dass es nichts gibt, was ich kaufen möchte.« Wallace’ Gesicht wird von einem Schwarm fliegender Insekten verdunkelt. Winzig kleine, die sich nun zu den fleischigeren Baretos gesellen und um ihn herumschwirren. »Dann sind wir hier gelandet«, fährt er fort. »Und zum ersten Mal war meine Erfahrung von der Welt nicht in Zellophan verpackt oder mit einem Strichcode versehen. Sie verlangte meine gesamte Aufmerksamkeit und ich hab sie ihr ganz gegeben. Und jetzt will ich einfach noch mehr davon sehen.« »Es gibt nichts mehr zu sehen.« »Da wartet eine ganze Welt.« »Wir müssen jetzt in die Welt zurückkehren.« »Wir können nicht zurückkehren. Wir wären ›solche Leute‹.« »Was für Leute?« »Die mit den tragischen Schicksalen«, sagt er nun beinahe schon schreiend, so dass sogar die Fliegen einen Moment zurückweichen. »Autoren entsetzlicher Memoiren. Schadhafte Ware mit Berühmtheitsfaktor. Wir würden alles beichten und Vergebung erhalten. Und dann? Dann schert sich keiner mehr um uns. Das hätte sowieso nie jemand wirklich. Und dann bleiben wir als Antworten auf Ratespielfragen in Wissens352
Shows in Erinnerung. Alles wird von da an nur noch vor und nach diesem schrecklichen Urwalderlebnis sein, eine Tatsache, die sie dich nie mehr vergessen lassen, und außerdem könntest du es sowieso nicht. Warum also den weiten Weg zurück machen, nur um ein Dasein als lahmer Überlebender zu fristen, wenn du hier etwas Besseres sein kannst, als du je warst?« »Du bist echt im Arsch, Wallace.« »Fühlst du dich nicht anders jetzt?« »Ich fühle bloß, dass ich allmählich den Verstand verliere.« »Aber etwas anderes doch auch noch.« »Und das wäre?« »Zum Beispiel, dass du nicht mehr bist, was du warst.« »Ich bin genau dieselbe. Wenn man alles andere weglassen könnte – wenn man all das hier weglassen könnte«, sage ich und deute mit einer ausholenden Geste auf den dösenden Shabono um uns her, »dann bin ich dieselbe.« »Aber man kann das hier nicht weglassen, oder?« »Man kann es versuchen. Ansonsten bleibt einem nur, sich gehen zu lassen. Und das hieße wahnsinnig werden. So wie wenn man glaubt, dass uns irgendein böses Etwas im Urwald verfolgt.« »Aber du glaubst es doch selbst. Und du weißt auch, dass die Zeiten, als du dich noch erinnern konntest, wer du warst, vorbei sind.« »Dann sag mir, inwiefern ich jetzt anders bin.« »Erstens bist du zehnmal stärker, als bevor du herkamst«, sagt Wallace und lässt den Blick an mir nach unten wandern, als wolle er mein Outfit würdigen. »Und weißt du, wieso? Weil du ein seltenes Geschenk erhalten hast, Crossman. Du hast schreckliche Dinge gesehen. So wie im Krieg. Wenn du jetzt zurückgehst, dann verlierst du die Kraft, die damit einhergeht. Dann wirst du Hilfe brauchen. Dann folgen Therapien und Selbsthilfegruppen und Medikamente, damit die Alpträume weggehen. Warum also nicht gleich in dem Alptraum bleiben? 353
Wir haben uns doch schon an ihn gewöhnt.« »Ich habe mich nicht an ihn gewöhnt.« »Dann wohl bloß ich.« Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht liegt mir diese Gegend einfach.« Natürlich tut sie das. Sie passt perfekt zu ihm. Jemand, der wie er in den Sprachen der Technologie und der gnadenlosen Spaßgesellschaft zu Hause ist, ein Kid, das so unglaublich drin ist in allem, dem das Glück schon zum Hintern rauskommt – und da sitzt er nun und will einer Grashütte mitten im Nirgendwo den Vorzug geben. Er hat schon immer ordentlich Bewegungsspielraum gebraucht. Überlebensgroß, wie es von denen mit den außergewöhnlichsten Bedürfnissen heißt. Wallace will freien Handel, jedoch Handel einer geldlosen Sorte. Eine neue Art von Markt, dessen Währung alternative Identitäten sind, das Geben und Nehmen dessen, was er ist, und dessen, was er sein könnte. Ich hatte nur leider nicht bedacht, dass ich diese Erkenntnis über ihn damit bezahlen muss, überhaupt nicht zu wissen, wer er ist. »Ich habe uns das hier angetan«, sage ich. »Ich habe dabei mitgemacht. Mit den Piraten. Ich hab sie zu uns geführt.« »Ach, ja«, sagt er mit tonloser, computerisierter Stimme. »Das weiß ich doch.« Sein Gesicht drückt nichts Neues aus, doch der Schleier aus Fliegen würde sowieso jede noch so subtile Veränderung verbergen. Im ersten Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Das Schwirren der Flügel klingt jetzt schrill und dissonant. Ein Amateurorchester aus Streichern, die vor der Vorstellung ihre Instrumente mit schrägen Tönen stimmen. »Die sind nicht einfach so aus dem Wald gesprungen, Crossman.« Seine Stimme dringt von irgendwo hinter dem Insektengesumme hervor. »Die Piraten müssen Bescheid gewusst haben. Wo wir in jener Nacht waren, auf welchem Boot. Und du warst die Einzige in dem Loch, der sie nichts getan 354
haben. Und selbst da war ich mir noch nicht sicher. Aber da draußen auf dem Fluss, als wir so viel Zeit hatten, einander Stück für Stück zusammenzusetzen – da hab ich dich angesehen und es gewusst. Und sobald ich es wusste, habe ich dir verziehen.« Ich glaube ihm. Dass er in dem intensivierten Licht auf dem Fluss in mich hineinschauen konnte und die Wahrheit sah, genau wie ich in ihn hineingeschaut und all seine Bedürfnisse gesehen habe. Das hat mir solche Angst gemacht vor ihm. Doch er hat mir verziehen, und zum Dank habe ich ihn verraten, immer und immer wieder, mit einer Lüge nach der anderen. Er hat mir in dem Augenblick verziehen, in dem er erkannte, wer ich war, doch ich selbst konnte das nie. Ich hatte nicht die Kraft dazu. »Du hast nichts davon gesagt«, bringe ich unter einem Anfall erstickter Schluchzer hervor. »Es war deine Sache, etwas zu sagen, nicht meine.« »Und jetzt habe ich es gesagt.« »Nicht alles.« Obgleich er sich auch vorhin nicht bewegt hat, wirkt es, als ob er jetzt vollkommen stillhält, wie er da an die Wand gelehnt mit verschränkten Beinen sitzt. »Es war nie meine Absicht. Ich habe nur zugehört«, fange ich an, und Wallace schließt die Augen. »An dem einen Nachmittag in Manaus, als du in den Hotel-Zoo gegangen bist, treffe ich in der Hotelhalle auf den Portier. Ich hatte in der Boutique Bikinioberteile anprobiert, nach irgendwas gesucht, was ich zum Abendessen tragen könnte, und er rät mir zu einem der Teile. Jetzt sehen Sie wie eine richtige Brasilianerin aus, sagt er. Ich kaufe es, ohne selbst auch nur einen einzigen Blick in den Spiegel zu werfen. Und dann fasst er mich ganz sanft – so sanft, dass ich es gar nicht richtig merke – am Ellbogen und führt mich durch die Drehtür hinaus und zu den Bänken vor den Tennisplätzen hinunter. Erst als wir schon da sind, fällt mir 355
auf, dass er anscheinend genau weiß, wer ich bin, da er schon von seinem ersten Hallo an portugiesisch mit mir gesprochen hat. Aber kaum dass wir da sitzen, fängt er an, mir Fragen zu stellen, was wir hier in Amazonien machen, mit welchem Boot wir fahren werden, wie groß unsere Reisegruppe ist, immer so weiter. Ich sehe ihn nicht an. Er ist einfach zu hässlich. Das, worauf er hinauswill, ist einfach zu hässlich, das weiß ich. Also starre ich die ganze Zeit diese japanische Ehefrau in den mittleren Jahren an, die die Aufschläge ihres Tennistrainers zurückschlägt. Ihre Schokoladenhaut feinsäuberlich in die weißen Tennissachen gekleidet, so frisch und gestärkt, dass sie aussehen wie Knochen, eine Art Außenskelett. Diese zierliche Frau, die da auf den Zehenspitzen federt und jeden einzelnen Schlag retourniert. Halb lausche ich dem Portier, während die andere Hälfte sich die ganze Zeit im Stillen sagt: Sogar hier. Die Welt will ihre Tennisstunden dreimal die Woche, sogar im Urwald.« Wallace zieht die Knie noch dichter an sich. Das bringt mich dazu, noch schneller zu sprechen, um ihn mit dem Wendepunkt in meiner Geschichte zu knacken, auf den er wartet. Und trotzdem lasse ich nichts aus, als hätte ich alles vorher aufgeschrieben und würde es jetzt nur vorlesen. Ich erzähle ihm, wie der Portier so dicht zu mir herrückt auf der Bank, dass seine Polyesterhose an meinem nackten Schenkel kratzt, und ich frage mich, wie heiß ihm wohl unter dieser idiotischen Kolonialuniform sein muss, die sie ihn hier tragen lassen. Doch ich frage ihn nicht danach. Ich sage überhaupt sehr wenig die ganze Zeit, während er mit mir spricht. Und wie er spricht! Nie und nimmer hätte man das diesem Frankenstein zugetraut. Ein dahinplätschernder Strom von Belanglosigkeiten, zunächst völlig unzusammenhängend, harmloses Zeug über die relativen Trinkgeldgewohnheiten verschiedener Nationalitäten, und wie er so allerlei hier durchreisen sieht, dem einzigen anständigen Hotel auf zweitausend Meilen Entfernung. Politiker, Nutten, Missionare, Ornithologen – ei356
nem jeden hatte er Gefälligkeiten erwiesen und alle hatten sie sich dafür revanchiert. Und ich höre ihm zu, fast hypnotisiert. Betrachte die Japanerin, die wie ein Metronom ein Lob nach dem anderen über das Netz schlägt. Dann, ohne den Tonfall zu ändern, ohne noch näher heranoder wieder weiter wegzurücken, schlüpft der Portier vollständig in meinen Kopf. Er sagt mir, dass er mich kennt. Es ist klar, dass er das nicht wörtlich meint, und auch, dass es stimmt. Was er kennt, das ist die Wut, die so gut versteckt ist, dass nur andere, die sie genauso erlebt haben, die zurückgebliebenen Narben auf der Oberfläche erkennen. Der Portier hat eine Begabung für Wut. Doch Wut worauf? Auch das weiß er. »Ich bin nicht unglücklich, verstehen Sie«, erkläre ich ihm. Und er lacht auf, nur kurz, ganz schrecklich, so dass mein Ohr hinterher nass ist, als hätte er seine Zunge hineingesteckt. »Sie kommen so zurecht«, korrigiert er mich. »Und werden natürlich auch älter. Aber Sie hatten nie wirklich Glück, oder? Nicht wie die. Aber das ist okay. Sie müssen einfach nur einmal aus sich heraustreten. Sich verlieren. Selbst ihr eigenes kleines Glück schmieden.« Es kostet Mühe, seinen Worten nicht entgegenzusinken. Nicht den Kopf an seinen Hals zu legen und den Kehlkopf darin vibrieren zu spüren, ein Ei, aus dem gleich in seiner Kehle etwas schlüpfen wird. Doch es gelingt mir, an Ort und Stelle zu bleiben. Der Bogen, den die gelben Tennisbälle beschreiben, ist bei jedem Schlag genau gleich. Möglich, dass ich auch ein paar Sachen herausbringe. Ich muss wohl, denn manches von dem, was er sagt, sind Fragen. Was genau ist eine Handelsmission? Was ist Hypothesys? Ob einer von uns bewaffnet ist? Die Antworten steigen wie Dämpfe aus meinem Inneren auf. Doch als ich lange genug innehalte, 357
um zu fragen, warum er so viel wissen will – warum er überhaupt schon so viel zu wissen scheint –, sagt er es mir geradeheraus. »Wir überlegen, Ihre Freunde zu entführen«, sagt er. Zuerst sage ich nein. Das winzigste Nein und nur das. Kann sein, dass der Portier es nicht einmal hört. Ohne innezuhalten erzählt er mir von diesen Männern, die er kennt. Class acts, sagt er auf Englisch. Topleute. Sie führen ihre Operationen so sauber, so effizient durch, dass sie überhaupt nur bei der allertechnischsten Auslegung der Gesetze eines Unrechts bezichtigt werden könnten. Der Portier nennt sie seine Freunde. Profis. Zu ihren Begabungen zählen schmerzlose, hundertprozentig sichere Entführungen von Ausländern. Er erzählt mir, dass sie ständig solche Sachen arrangieren – der Portier sucht geeignete Zielpersonen aus dem Angebot des Tropical Hotel aus, und dann treten die professionellen Freunde in Aktion und scheuchen den ausgewählten Haufen Amis oder Deutsche oder Briten aus ihrem Reisebus oder Charterflugzeug, verfrachten sie in eine bequeme Urwaldlodge und verlangen über Handy bei ihren Frauen oder Firmen ein zügiges Lösegeld, das, sobald sie es in Händen haben, über weltweite Drogenkanäle gewaschen wird –, Entführung ist hier unten ein Wirtschaftszweig. »Gewehre«, hauche ich kaum vernehmlich. »Sie werden Gewehre haben.« »Natürlich werden sie Gewehre haben«, gibt der Portier zurück. »Aber die sind nur zum Schein. Damit die Dinge glaubwürdig wirken.« Niemand wird verletzt, weil nie jemand Widerstand leistet, versichert mir der Portier. Die meisten Leute, die hier herunterkommen, haben sogar extra Versicherungen für solche Fälle abgeschlossen, so dass eigentlich gar kein richtiger Verlust entsteht. Und Unannehmlichkeiten schon gar nicht. Das Ganze dauert nur achtundvierzig Stunden, oft noch weniger. Und da die Profis Masken tragen, würden wir sie sowieso nicht identi358
fizieren können und könnten uns deshalb frei bewegen, dort, wo sie uns hinbrächten. Es wäre ein genauso guter Amazonasurlaub, wie ihn irgendein Reiseveranstalter bieten könnte. Sobald das Lösegeld gekabelt sei, würden wir an den vereinbarten Übergabeort am Rio Negro zurückgefahren werden, nicht weiter als eine halbe Tagesreise stromaufwärts von Manaus. Hey, zum Cocktail würden wir alle wieder gemütlich im Tropical sitzen. »Es wird keine Überraschungen geben«, sagt er und überrascht mich mit einem spielerischen Klaps auf mein Knie. »Nichts, in das Sie nicht schon im Vorhinein eingeweiht sind. Sie werden ein Mitglied des Teams sein.« Der Portier legt mir den Arm um die Schultern und drückt mich. Vor uns wechselt die Japanerin ohne einen Bruch in ihrem Rhythmus zur Rückhand. Als der Portier fragt, ob ich Interesse hätte, ein bisschen Geld zu verdienen, nicke ich. Er sagt mir nicht, wie viel er mir geben will, und ich frage auch nicht. Mache nur einfach mit, ohne irgendwelche Bedenken, ohne überhaupt etwas zu denken, als hätte ich solch eine Einladung schon seit dem Augenblick erwartet, da ich in Brasilien ankam, und als ginge es nun nur noch darum, einfach ja zu sagen. »Was du auch getan hast«, sagt Wallace. Er hat den Kopf auf die Knie gelegt, so dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. »Automatisch«, erwidere ich. Die Erinnerung an die Gestalt des Portiers neben mir auf der Bank unterstreicht noch zusätzlich, wie dünn Wallace geworden ist, aufgerollt zu einem Ball, aus dem spitze Ellbogen und Knie hervorragen. Doch seine Stimme ist nach wie vor kräftig. »Warum ist er bloß nicht zu uns anderen gekommen? Vielleicht hätten wir ja auch automatisch ja gesagt.« »Ihr wart die Reichen. Ich war der angeheuerte Handlanger. 359
Er wusste, dass ich dabei mehr zu gewinnen hatte und daher auch eher ein Geheimnis für mich behalten könnte.« Wallace richtet sich an der Wand des Shabono auf und öffnet langsam die Augen. Nimmt wieder seinen vollen üblichen Raum in Anspruch. Nicht so viel wie der Portier, doch auf seine Weise nicht minder bedrohlich. Ein sehniges Versprechen, straff und fest. »Was hast du ihm über uns gesagt, was er noch nicht wusste?« »Ich habe ihm gesagt, wo das Boot jeden Abend anlegen würde. Habe ihm die relevanten Telefon- und Faxnummern gegeben. Alles, was ich wusste. Wenn ich etwas nicht wusste, trug er mir auf, es herauszufinden.« Wallace schweigt, doch ich weiß, was er mich fragen will. »Des Geldes wegen«, sage ich. »So habe ich es mir zuerst selbst erklärt. Ich werde das mitmachen und mir ein neues Leben aufbauen, wenn wir zurück sind. Aber ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie dieses Leben aussehen sollte, also sagte ich mir stattdessen, dass es mir gut tun würde, endlich einmal irgendwo dazuzugehören.« »Mehr war nicht nötig?« »Ich habe noch an diesem Nachmittag dem Concierge ja gesagt. Aber erst am Abend war ich mir dann sicher, dass ich es wirklich machen würde.« »Das Fleischrestaurant.« »Noch bevor wir da hinkamen. Als du mich ausgelacht hast, während wir auf die Taxis warteten. Gelacht hast über das, was ich anhatte, über meinen Körper, Lydias Lippenstift auf meinem Mund anstatt auf ihrem. Du hast darüber gelacht, dass ich es wagen könnte, eine Frau sein zu wollen. Eine Frau, die dich wollte, nichts Geringeres.« »Himmel, Crossman. Ich dachte, du lachst selbst mit. Wie du ausgesehen hast, so –« »Und dann dein kleiner Trick beim Abendessen.« 360
»Welcher Trick?« »Du hast mich raten lassen, an wen du gerade dachtest.« »Und du hast angenommen, dass ich an mich selbst denke.« »Aber du hast meinen Namen auf die Serviette geschrieben.« »Es war doch nur ein Spiel.« »Nein, war es nicht. Es war eine Demütigung. Du hast mir vorgeführt, dass ich gar nicht existiere, nicht einmal für mich selbst. So was ist doch kein Spiel, verdammt.« »Also hast du falsch geraten.« »Und du hast das gewusst. Das war ja der Spaß daran, nicht wahr? Ich starre meinen eigenen Namen an, als ob er jemand anderem gehört. Wer bin ich also, wenn nicht das da? Achtunddreißig Jahre alt und nicht den leisesten Schimmer. Und in dem Moment, in dem mir das klar wird, reißt es mich mittendurch«, sage ich und fahre mir mit dem Fingernagel senkrecht durchs Gesicht. »Ich blicke auf meinen eigenen Namen, und er sagt mir, dass ich mein ganzes Leben lang tot war. Als wir dieses Spiel gespielt hatten, wusste ich, dass ich es tun musste, damit mein Name etwas bedeutet.« »Mit Guerilleros zusammenzuarbeiten ist ein ziemlich extremes Mittel.« »Es gibt keine einfache Arznei gegen Hass. Oder Liebe.« »Und du hast mich gehasst?« »Du hattest alles. Warst so vollkommen zu Hause im Jetzt, während ich es nicht einmal fertig brachte, nur hinzusehen. Du hast mich daran erinnert, wie völlig fehl am Platz ich war.« Die Fliegen sind auf einmal so erschöpft, dass sie sich auf Wallace’ Haut niederlassen wie schwarze Spitze. Sie bleiben sogar sitzen, als er spricht. »Erzähl mal«, sagt er, »hat es sich gelohnt, deinem Namen eine Bedeutung zu geben, als du gesehen hast, was die mit uns in ihrem Lager machen?« »Ich hab sie gebeten aufzuhören, aber sie haben nur gesagt, das sei ein Teil ihres Plans. Und ich hab gesagt, dass das nicht 361
der Plan wäre, von dem ich gehört hätte. Und da haben sie mir erzählt, dass sich das Ziel ihrer Operation geändert hätte.« »Wie geändert?« »Sie wollten nicht mehr einfach nur ein Lösegeld. Jetzt wollten sie die perfekte Bombe.« »Bates’ Mädchen«, sagt Wallace mit etwas wie Wärme in der Stimme, als erinnere er sich an einen guten Freund. »Der Portier hat dir doch diese Bar empfohlen, oder nicht? Hat dir von den Mädchen erzählt.« »Das Monster.« »Du hast ihn dort gesehen?« »Bates hat ihn gesehen. Einen Mann, der aus einem VW stieg und uns von der anderen Straßenseite aus beobachtete. Bates nannte ihn das Monster. Ich dachte, ihm wäre bloß der Chacaça zu Kopf gestiegen.« »Nein, das war er.« »Warum hast du ihnen nicht gesagt, dass wir keine Ahnung von perfekten Bomben haben?« »Das wollten sie mir nicht abnehmen. Und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass es ihnen sowieso egal war, ob wir nun Waffenexperten oder Gebrauchtwagenhändler waren. Sie haben sich nur noch einen Spaß daraus gemacht, zu erforschen, wie weit sie uns treiben können, bevor wir zusammenklappen.« »Aber das sind wir nicht, was?« »Du hast uns rausgebracht, bevor es dazu kam.« »Sie haben eins von diesen weißen Kids in Basketballschuhen gesehen, die mehr wert waren als ihr ganzes Leben, und sich ausgemalt, dass es losheulen und nach seiner Mama schreien würde.« Wallace schüttelt den Kopf. »Aber weißt du was, Crossman? Als sie mir diesen Revolver gaben, da hab ich nichts gedacht – ich hab ihn mir an die Schläfe gehalten und abgedrückt. Die Kugel würde entscheiden, ob sie da war oder nicht. Und selbst wenn, wäre das noch nicht mein Ende gewesen. Irgendeine Version macht immer weiter.« 362
»Zum Beispiel Lydias Baby.« »Das war eine, ja. Aber es gibt auch noch andere.« Er meint damit mich. Hebt eine knochige Hand und lässt sie über seine Augen fallen. Die Ankündigung, dass ich wieder ein Teil von ihm bin. Wallace träge gegen die Strohwand gelehnt, eine dicke Wolke aus Fliegen um seinen Kopf, doch mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen, das mir mehr sagt, als wenn er denselben Gedanken in unserer Muttersprache geäußert hätte. Die Feier, die dem Aufbruch vorausgehen soll, beginnt, nachdem die Yanomami ihre Pfeifen hervorgeholt haben. Jedenfalls nehme ich an, dass es Pfeifen sind, obwohl es nach nichts weiter als hohlen Schilfrohren aussieht, knapp einen Meter lang. Nur die Männer scheinen befugt, sie zu halten. Schon allein die Präsenz der Pfeifen reicht aus, um zwiespältige Rufe von Begierde und Sorge seitens der Frauen auszulösen. Zum ersten Mal bleiben die Kinder auf Distanz. »In diesem Dorf wird es bald ziemlich seltsam zugehen«, sagt Wallace von seiner Hängematte aus. »Du meinst, bis jetzt war es noch nicht seltsam?« »Im Vergleich dazu, wie es hier in ein paar Stunden aussehen wird? Nein.« »Woher weißt du das?« »Weil sie mit diesen Dingern da die Medizin verabreichen, die mir der Häuptling gegeben hat. Yakawana nennen sie es. Eine Mischung aus Speedball, Muskelrelaxans und LSD-Trip. Ursprünglich durften es nur die Schamanen nehmen, um ihre Visionen zu bekommen und mit den Göttern zu kommunizieren. Aber da nun alle Schamanen in Regierungsdörfer umgezogen sind und Der Preis ist heiß schauen, darf jetzt jeder Visionen kriegen und mit den Göttern kommunizieren.« »Wie ist es?« »Schwankt zwischen Horrortrip und Euphorie, meiner Erfah363
rung nach. Und es hat eine hinterhältige Art, Panik und Euphorie gleichzeitig auszulösen. Ehrlich, Crossman, ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich mit ansehen will, wie der komplette Shabono mit dem Zeug zugeknallt ist.« Bates ist beim Klang von Wallace’ Stimme aufgewacht. Seine Nasenflügel blähen und schließen sich wie in Vorbereitung auf seine eigene Dosis. »Und du bist da drauf, seit wir hier sind?«, fragt er. »Es hat auch heilende Eigenschaften«, antwortet Wallace. »Und meine Dosen waren winzig. Aber ich habe so ein Gefühl, als ob das heute Abend ein ganz und gar anderes Kaliber werden soll.« Der Häuptling winkt uns zu. Wallace winkt zurück. »Wie ich sehe, habt ihr gerade eine Warm-up-Party!«, ruft er hinüber. Der Häuptling schüttelt den Kopf und deutet auf jeden Einzelnen von uns. »Nun denn«, sagt Wallace und reibt sich die Hände. »Unser Typ wird verlangt.« Wir machen uns auf zu den Männern, die die Pfeifen jetzt neben einem kleinen Feuer auf einen Stoß gelegt haben. Sie hocken auf dem Boden, wenden uns ihre nackten, glänzenden Rücken zu, während sie sich murmelnd mit der Arbeit zu ihren Füßen beschäftigen. Der Häuptling spricht zu mir auf Portugiesisch und ich übersetze für die anderen, doch er sieht mich kein einziges Mal an. Nur Wallace. Richtet all seine Worte an exakt die Person, die nicht versteht, was er sagt. Und dennoch nickt Wallace dazu, als verstünde er es, oft schon bevor ich dazu komme, es auf Englisch auszusprechen. Lacht, noch bevor ich den Witz übersetzt habe, schüttelt den Kopf bei der Erwähnung einer möglichen Gefahr. Der Häuptling erklärt uns, wie Yakawana hergestellt wird. In seinem euphorischen Ton schwingen Stolz und ehrfürchtiges Staunen mit. So wie man von etwas spricht, was man rein 364
technisch versteht, ohne aber die Implikationen auch nur annähernd zu kennen. Es beginnt mit der Suche nach Yakawana-Bäumen. Sobald welche gefunden sind, wird die Rinde in Streifen abgerissen, jedoch nur teilweise, damit die Bäume sich wieder erholen und später erneut angezapft werden können. Nur die Männer sind dazu befugt. Wenn sie nach einer erfolgreichen YakawanaSuche ins Dorf zurückkehren, ist die Aufregung so groß wie nach einer gelungenen Jagd. Sofern die Leute des Stamms nicht ausgesprochen lange Zeit ohne Nahrung auskommen mussten, wird der Droge größere Bedeutung beigemessen als Fleisch. Die Frauen dürfen mit dem Stoff nur in den Anfangsstadien der Zubereitung umgehen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die Rinden in der Sonne zu trocknen, sie auf dem Dach des Shabono auszulegen, bis sie dünn und zerbrechlich wie Pergament sind. Dann werden sie heruntergeholt und zu einem Pulver vermählen. Schließlich werden die Asche der verbrannten Rinde eines anderen Baums sowie ein paar Tropfen Wasser dazugemischt. Diesen Vorgang beobachten wir gerade. Die Männer kneten die mehlige Flüssigkeit auf einer Decke aus Palmenblättern, bis sie plötzlich eindickt wie Schlagsahne. Nur dass dieses Zeug hier gummiartig und grün ist. Einer der Männer dreht sich um und reicht mir einen Klecks davon, und ich ziehe ihn zwischen meinen Zeigefingern zu einem elastischen Band auseinander; lasse das eine Ende los, und es schnellt wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Die Männer rollen Stücke davon zwischen den Handballen, bis sie hart sind wie Kugellager. Jedes davon wird auf eine Schraubkappe eines Benzinkanisters gelegt, die über dem Feuer erhitzt wurde. Die Kugeln springen ein-, zweimal in die Höhe und zerfallen dann zu winzigen Häufchen aus feinem Pulver. Das ist das Endprodukt. Nicht viel mehr, als von einer bis 365
zum Filter heruntergerauchten Zigarette übrig bleibt. Doch die Männer kommentieren jede zerfallende Kugel mit Beifallsrufen. Geben schmatzende Laute von sich, während sie die Überbleibsel von den Deckeln auf Alufolie kippen, die um große Kochlöffel gewickelt ist. »Yakawana lässt dich sehen«, erklärt uns der Häuptling, immer noch ohne den Blick von Wallace zu wenden. »Müssen wir es nehmen?« Das jämmerliche Quieken in der Frage beleidigt sogar mich. Doch als sich der Häuptling mir zuwendet, ist sein Ausdruck sanft, zeigt wieder die alte milde Erheiterung. »Es nimmt Besucher in den Shabono auf«, sagt er. »Sogar dich.« Das hier wird eine Feier. Eine rituelle Bitte an die Götter, ihnen Glück zu schenken für ihre nächste Reise tiefer in den Urwald hinein. Gleichzeitig ist es aber auch ein Initiationsritus für uns. Den Wallace bereits hinter sich hat. Er ist schon einer von ihnen, seit er das Zeug vor zwei Tagen auf seinem Totenbett, wie es damals schien, geschnupft hat. Und jetzt ist er schon wieder der Insider. Während die Yakawana-Asche abkühlt, nehmen die Jäger ihre Pfeifen zur Hand. Um uns zieht sich der Kreis der Kinder immer enger, und dasselbe gilt für die Frauen gleich dahinter, von denen eine oder zwei jetzt ihrer angespannten Erwartung in schrillen Schreien Luft machen. Die Männer stehen in zwei Reihen hintereinander, die beide vom Treffpunkt am Feuer nach außen verlaufen. An der Spitze der einen der Häuptling, an der anderen Wallace. Auf einmal fangen die Männer an, rhythmische Laute auszustoßen. Die Art, wie man sie bei studentischen Saufgelagen hört, wenn Jungs sich gegenseitig zum Trinken anfeuern. Nur dass die Laute der Jäger den trompetenden Ruf des Teichhuhns nachahmen, der uns während unserer Tage auf dem Fluss ununterbrochen genarrt hat. 366
Whoop-ree! Whoop-ree! Bei diesem Klang sinken der Häuptling und Wallace im selben Moment auf die Knie. Wallace weiß, was er tut. Nimmt eine satte Prise der grünen Asche und stopft sie an seinem Ende in die Pfeife. Legt die Lippen um die Öffnung herum und bläst die Backen auf, während der Häuptling sich das andere Ende in die Nase schraubt. Bläst, bis man die Rippen unter seiner Haut beben sieht. Schon in der allerersten Sekunde verwandelt sich beim Häuptling jede Öffnung seines Schädels in einen voll aufgedrehten Hahn. Tropfende Augen, spuckende Lippen. Es wäre widerlich anzusehen, wenn die brutale Heftigkeit nicht gleichzeitig so faszinierend wäre. Und auch irgendwie lächerlich. Der Häuptling steht noch, torkelt jedoch auf den Fersen, die Arme wie Propeller herumwirbelnd, chaplinesk. Alle paar Sekunden schlägt er sich selbst ins Gesicht. Schließlich erstarren seine rudernden Gliedmaßen auf einen Schlag und er kippt wie ein Brett nach hinten zu Boden. Zuerst scheint es, als sei er tot. Doch die Yanomami-Männer lächeln nur und versammeln sich um ihn herum, heben ihn an den Schultern hoch. Der Häuptling hustet. Stößt eine Ladung Schleim durch die Nase aus. Als sich die Iris in seinen Augen wieder einstellt, wackelt der Häuptling zur Pfeife hinüber, um Wallace, der dort schon auf ihn wartet, denselben Dienst zu erweisen. Dann Bates. Schon bald ist das Rund des Shabono erfüllt von torkelnden Männern mit ausgestreckten Armen, wie Blinde, die nach einer Wand tasten, um zu wissen, wo sie sind. Allen läuft grünes Zeug aus der Nase. Jetzt zeigt mir der Häuptling seine Zähne. Stopft einen weiteren Klumpen ins Ende seiner Pfeife. Ich bin an der Reihe. Die Frauen um uns herum glucksen jetzt noch aufgeregter. Offensichtlich wird diesmal eine Ausnahme gemacht: Der na367
bah-Frau wird die Ehre zuteil, sich zusammen mit den Männern das Hirn pürieren zu lassen. Ich lasse mich auf die Knie nieder, wie es die anderen getan haben, und nehme das Ende der Pfeife in beide Hände, balanciere es auf den Fingerspitzen wie eine Flöte. Doch anstatt das Mundstück an meine Lippen zu führen, schiebe ich es mir ein Stück weit mein rechtes Nasenloch hinauf. Der Häuptling holt unglaublich tief Atem; seine Lippen sind immer noch auseinander gezogen, so dass die Zähne entblößt sind. Als er genug Luft geholt hat, schließt sich sein Mund um das Ende der Pfeife. Er fängt an zu blasen. Langsam zuerst, dann immer stärker, bis es am Ende ein heftiger Schwall ist. Ein gebündelter Strom direkt mitten in meinen Kopf. Es folgt eine Art Pause. Gerade lang genug für die Frage – vollständig formuliert, jedoch zu spät: Was ist das für ein Teufelszeug? Es sind ein paar Ziegel, die vollständig meine Nasenhöhlen hinaufgeschoben werden, dabei hart am Knochen langschürfen. Eine Boxerfaust, die mir das, was noch übrig ist von meinem Hirn, geradewegs zum Arsch hinaushämmert. Und da ist es: Zu einem schwarzen Sirup zermanscht sickert es aus meinen Shorts und sammelt sich in einer mickrigen Pfütze zu meinen Füßen. Dafür fühle ich mich allerdings ziemlich gut. Und bald darauf gleich noch besser. Zwar tropft mir smaragdgrüner Rotz von der Oberlippe, doch sonst geht es mir blendend. Und das in dem vollen Bewusstsein, von irgendeinem Urwald-Halluzinogen gebeutelt zu werden, das dir höchstwahrscheinlich zehn Jahre deiner Lebenserwartung raubt und die nächsten vier Generationen deiner Nachkommenschaft in ihrem Wachstum hemmt, doch all das erscheint zweitrangig. Ein Gift, das sich gewaltsam durch alles hindurchbohrt, was ihm in die Quere kommt, und dabei gnädigerweise auch noch den Schmerz tötet. 368
Ganz zu schweigen von den Special Effects. Farben und Geräusche und Bewegungen, zersplittert zu einem Gestotter aus Scherben. Alles gleichzeitig präsentiert und dann in diesem Zustand verharrend, so dass es betrachtet, bewundert, abgetan werden kann. Und dann stellt sich die nächste Szene ein. Das Einzige, was sie verbindet, ist der Soundtrack. Die wummernden Geisterstimmen von Weingläsern, auf denen man mit den Fingern am Rand entlangfährt. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass ich mich rasend schnell um die eigene Achse drehe. Und das ist nicht nur eine weitere chemische Einbildung, sondern ich trete tatsächlich Schritt für Schritt im Kreis herum. Wie Wallace gestern. Die Arme von den Schultern aus waagrecht weggestreckt, durch die Luft wirbelnd, so schnell, dass die Wände des Shabono völlig glatt werden, undurchdringlich. Der Urwald unsichtbar und unerreichbar irgendwo auf der anderen Seite. Es ist dieses Kinderspiel, bei dem man sich so lange dreht, bis alle Einzelheiten verschwimmen. Und am Ende, auch das genau wie als Kind, purzle ich blindlings zu Boden. »Crossman!« Das Gesicht von Wallace, das langsam über mir rotiert, bis es mit einem Schlag zum Stehen kommt. Die sinkende Sonne leuchtet zwischen den Bäumen hindurch, die hoch genug sind, um über die Shabono-Wand hinwegzuschauen. Ihre Strahlen fallen auf sein Gesicht wie das Licht eines Projektors. Bilder, die auf dem Nadelwerk seiner ersten Fältchen spielen: ein angezündetes Streichholz, das zum Leben explodiert, blaue Lippen, die den seinen in einem Kuss begegnen. Seine Haut ist eine Filmleinwand. »Es ist eine Welt, Crossman«, sagt er mit übervollen Augen, als wolle er sie zwingen, noch größer zu sein, als sie schon ist. »Eine Welt. Eine ganze Welt.«
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Ich tanze. So nah am Feuer, dass ich sehen kann, wie sich die Härchen auf meinen Armen zu schwarzen Stecknadelköpfen kringeln. Doch ohne dass die Haut verbrennt. Nicht dass ich das überhaupt merken würde. Ich tanze. Wir alle tanzen. Umkreisen die Flammen, während Hände und Füße sich vom Rest lösen wollen, das Feuer mit Bewegung nähren, so dass es bis über die Höhe der Shabono-Wand hinaus lodert und Funken hinaufwirft, die dort hängen, schillern und verschwinden wie Sterne. Es gibt keine Zeremonie. Kein Unga-bunga-Ritual, das anthropologischer Studien würdig wäre, nichts Primitives oder Eingeborenes oder Indianisches. Nur das Tanzen. Der Ghettoblaster bis zum Anschlag aufgedreht, die Aufschreie des überwältigten Bewusstseins – waah! – all jener, die gerade erst mit der Pfeife voll gepumpt wurden und nun herübergetorkelt kommen, um sich zu uns anderen kreiselnden Tropfnasen zu gesellen. Mein Körper in ständiger Bewegung, jedoch nur seinen eigenen spastischen Zuckungen folgend, Farben und Licht, verschmiert in der Luft. Nichts, was lange genug stillhielte, um erkannt, geschweige denn verstanden zu werden. Ich bin im Arsch, wie Bates es in seiner präzisen Verwendung dieses Ausdrucks sagen würde. Vielleicht sogar komplett im Arsch – eine Kategorie, die hoffnungslosen Fällen oder Übergeschnappten vorbehalten ist. Bedröhnt von irgendeiner Asche, die mir sämtliche Sinne aus dem Hirnstamm gequetscht hat. Hüpfe in einem Dorf aus Stroh herum, dessen Name auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Und doch kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Die orangefarbenen Flammen, die über braun gebrannte Körper flakkern, tragbarer Rock ’n’ Roll, das pubertäre Lachen, das immer irgendwie eine indirekte Referenz auf Sex zu sein scheint. Das Ganze hier hat ebenso viel von einer Lagerfeuer-Fete wie von einem Eingeborenen-Fest. 370
Jemand hat eine meiner umherfliegenden Hände gefasst. Ich werde vom Feuer weggeführt. Stolpere in den abrupten Schatten hinein, die kitzelnde Kühle. »Wir wollten, dass du bei dem hier dabei bist, Elizabeth«, sagt Wallace von irgendwo aus nächster Nähe. »Ich bin da.« Zuerst glaube ich, sie wollen mir etwas zeigen. Doch Wallace und Bates legen sich nur nebeneinander auf eine Decke auf dem Boden, halb aufgestützt auf ihre am Körper ausgestreckten Arme. Auch fällt mir auf, dass sie nackt sind. Weiße Streifen in ihrer Körpermitte, markiert von zwei Inseln aus Schamhaar, den nickenden Köpfen ihrer Schwänze. Dass sie einander dort mit der freien Hand streicheln. Langsam, gierig, synkopiert von feuchten Schnalzern. Ich falle nach vorn und rutsche zwischen ihnen hinauf. Ihren schon nicht mehr zu trennenden, miteinander geteilten Körpern. Den multiplizierten Einzelteilen, koordiniert von einem einzigen Satz von Befehlen. Dreamer You know you are a dreamer Wallace berührt mich. Beide hin das, doch es ist seine Hand, der ich folge. Die sich vorn gegen meinen Hals presst und dann nach unten gleitet. Einen unsichtbaren Belag auf meiner Haut wegwischt. Ich spüre es, wende jedoch die Augen nicht von seinem Lächeln. Das diesmal nicht spöttisch ist, sondern eine Einladung. Und mich noch härter in die Berührung seiner Hand hineinzieht, bis ich mich mit vollem Gewicht in sie hineinlehne. Sie in mich aufnehme. Als er die Hand wegzieht, falle ich auf ihn, und er weicht ein wenig zurück, bis wir Seite an Seite auf dem Boden liegen. Er küsst mich. Was ist dieser Augenblick anderes als der Sprung vom Möglichen zum Unaufhaltsamen? Lippen, natürlich. Die Entscheidung, die Augen zu öffnen oder sie geschlossen zu lassen, die 371
eigentlich nie getroffen wird, weil sie am Ende doch tun, was sie wollen. Eine feste Schleife um den Dünndarm, die sanft aufgerissen wird. Ein Kuss, der mir ermöglicht, hinter mir zu lassen, was ich bin. Und mit diesem Abschied erwacht die ganze Fülle des Begehrens. Findet zu sich ohne jeglichen Gedanken, hartnäckig wie Durst. Wallace jetzt halb über mir, und ich führe ihn nach unten, die Zunge herausgestreckt, um jeden Tropfen, der von ihm fällt, aufzufangen. Ich glaube, er sagt etwas, als er kurz davor ist. Ein geflüsterter Name. Ein Versprechen. Doch es ist nur ein Öffnen seiner Lippen, um nach Luft zu schnappen, bevor er sie wieder schließt und hineinstößt. Dreamer You know you are a dreamer Well can you put your hands in your head? Oh no! Was genau wird da überbracht, als er in mich eindringt? Ideen hauptsächlich. Pluralisch, unverbunden, kaleidoskopisch. Zu flink, um sich fassen zu lassen. Man könnte nicht einer einzigen einen Namen geben. Jedoch verkettet zu einer Art Abfolge, so dass der Eindruck, den sie hinterlassen, der von Existenz ist, jeder Existenz, in der Hingabe an dieses Gewirr ausgetauschter Gedanken, diese wunderbare Bangigkeit. Ich bin bevölkert von Ideen, von denen jede einzelne behauptet: Das ist es. Ich hatte vergessen, dass Vögeln dies bewirken kann. Diese Versprechungen, die es machte, und nie konnte man lange genug dabei bleiben, um herauszufinden, ob sie auch eingelöst würden. Der Widerstand, der doch nur die eifrigste Zustimmung verbirgt, die atemlosen Momente der Überraschung und des begierigen Folgens, die absurde Neuartigkeit, sich vor sich selbst zu entblößen. 372
Wallace ist schon da. Und Bates, in meine Hand geschmiegt, blüht auf, während wir beide gleichzeitig den Weg zu meinem Mund finden. Es gibt keinen Hunger mehr oder das nervige Insistieren darauf, die Dinge klarstellen zu wollen. Ich bin nur noch voll von ihnen und kann endlich das sehen, wovon ich dachte, dass es mir nicht erlaubt sei. Das ist es. Über allem schwebend, was konkret, was schon getan ist, den kleinen, festgelegten und unwürdigen Einzelteilen, die sich zwangsläufig einstellen, sobald man auch nur irgendjemand ist. Ich bin neu. Und als ich sie darum bitte – nicht mit Worten, sondern mit einem bettelnden physischen Beben –, geben sie es mir. Lassen mich sehen, was nur im Unartikulierbaren, Ungesagten enthüllt werden kann, in dem, was in früheren Zeiten vielleicht das Mysterium genannt wurde. Sie lassen mich die Zukunft sehen. Es ist immer noch Nacht. Wobei es dieselbe Nacht oder irgendeine davor oder danach sein könnte. Ich hole stockend Luft, als hätte ich dies schon eine Weile nicht mehr getan. Sie hat einen uralten Beigeschmack. Kalkig und vegetativ, sowohl von Anfängen als auch Endpunkten erzählend. Die Indianer gehen fort. Das sehe ich, als ich die Augen aufschlage und mich sitzend an die Shabono-Wand gelehnt wiederfinde. In einer langen Kette ziehen sie im Gänsemarsch durch die Öffnung des Shabono, in ein seltsames Schweigen gehüllt, als wären sie selbst und all die verpackten Dinge, die sie tragen, gewichtslos, bloß vorgestellt. Bates ist hier bei mir – ich spüre das Gewicht seines Kopfes in meinem Schoß, schlafend. Doch alle anderen haben sich auf den Weg gemacht. Die Männer vorneweg, dann die Frauen, die ihre Babys quer über der Brust tragen und Stoffbündel auf dem Kopf balancieren, die Kinder mit festgebundenen Säcken voller Nahrungsmittel. Gefolgt von Wallace und dem Häuptling ein 373
paar Schritte dahinter. Beide gebückt unter der Last ihrer Bündel, barfuß, Wallace jetzt mit derselben Hüftschnur und dem Penisfutteral bekleidet wie die anderen. Nur seine Größe und der gespenstische Schimmer seiner Hautfarbe unterscheiden ihn von den Yanomami, so dass er als eine groteske Version der anderen den Schluss bildet, ein riesenhafter Albino. Er schaut nicht zurück, um zu sehen, ob wir wach sind. Er zeigt sein Gesicht nicht. Die beiden bewegen sich mit derselben unheimlichen Lautlosigkeit wie die anderen. Treten durch den Eingang aus Lianen und sind fort. Bevor ich es schaffe, ganz aufrecht zu stehen, spucke ich einen so breiten Schwall Erbrochenes aus, dass ich mir im ersten Augenblick sicher bin, es muss der Parasit sein, der sich endlich verabschiedet. Doch ich spüre keinen Schmerz, so dass ich, noch während ich mich entleere, die Augen nach oben wandern lasse, um die Sterne zu betrachten. Sie senden ein blinkendes Schaltbrett von Aktivität herunter. Binäre Nachrichten – ja/nein, hier/dort –, die zwischen ihnen und der Erde hin und her hüpfen. Als ich völlig entleert bin, tappe ich mit ein paar wackeligen Schritten hinter ihnen her, doch die Anstrengung droht, meine Augen aus den Höhlen springen zu lassen. Das erste Stadium von Yakawana-Kater. Ein unmittelbarer Druck, der sich anfühlt, als würde er meine Schädelhöhle ausdehnen, um für etwas Neues Platz zu machen. Es kann mich dennoch nicht daran hindern, in den Bananengarten hinauszugehen. Die Kette der Yanomami ist bereits zur Hälfte zwischen den Bäumen verschwunden, doch Wallace und der Häuptling bilden immer noch den Schluss. Dreißig Meter von da, wo ich stehe, die Hände zu einem Trichter an den Mund gelegt, bereit, ihnen nachzurufen. Doch nichts kommt heraus. Was geschieht, kann sowieso nicht unterbunden werden. Ich könnte rufen und sie würden es nicht hören. Es wäre, als wolle man den Lauf der Dinge in ei374
nem Film verändern, indem man die Leinwand anschreit. Wallace endet in der Ellipse seiner lautlosen Schritte in den Wald hinein. Ich sehe ihm nach, während seine Worte meinen sich ausdehnenden Schädel füllen, Fetzen von Witzen und Verkaufsjargon und Argumenten, alles in der Stimme, von der ich dachte, dass ich sie nie vergessen würde. Doch als nun sein Körper aus meinem Blickfeld verschwindet, verschwinden auch seine Worte. Der Wald stiehlt seine Stimme samt der Erinnerung daran, so dass es, als das Grün der Nacht ihn einhüllt, ist, als hätte er außerhalb davon nie existiert.
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Ich bin wieder auf dem Fluss. Diesmal allein im Kanu. Treibe in Ufernähe, doch ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass ich in einem der fetten Abschnitte bin, wo die Strömung sich fast bis zum Stillstand verlangsamt. Der Urwald beugt sich so weit herüber, dass man die leiseste Brise in den Blättern hören kann. Alles so, wie ich es schon tausendmal vorher gesehen habe, aber eben doch nur in seinen allgemeinen Merkmalen – dem Licht, dem pointillistischen Wald, dem Pekoe-Tee-Wasser – und nicht in den Einzelheiten: diese Biegung nicht genau wie irgendeine andere, diese Stille noch stiller als sonst. Ich knie im Boot, beobachte das Ufer und warte darauf, dort gleich das Schlimmste zu sehen, was ich mir vorstellen kann. Du hast schreckliche Dinge gesehen. »Elizabeth«, ruft eine Stimme, jedoch nicht von der Stelle, auf die mein Blick gerichtet war. Ein bisschen weiter rechts davon vielleicht. Und dann zehn Meter weiter links. »Hier drüben!« Ich schaue noch einmal hin und her, doch als ich schließlich etwas sehe, ist es an der Stelle, auf die ich zuerst gestarrt hatte. »Sie lassen mich nur ganz kurz weg, nur für diese eine Sache. Also halt ganz still, Elizabeth, in Ordnung? Sie sind sehr streng mit ihrem Zeitplan.« »Lydia«, sage ich. Ihre Haut so weiß wie die Unterseite eines Schlammfischs, von bläulichen Adern durchzogen. Sie kommt einen Schritt näher an das treibsandartige Ufer heran, und ich sehe, dass sie nackt ist. Mit Striemen von Fesseln um Fußknöchel, Hals und Handgelenke. »Ihr seid nicht zurückgekommen«, sagt sie. »Ich dachte, so alte Mädels wie wir halten zusammen. Und weißt du, was sie 376
mit mir gemacht haben, nachdem ihr weg wart? Rate mal!« Vielleicht versuche ich zu antworten, doch es kommt nichts heraus. »Hast du nicht gehört, wie ich deinen Namen gerufen habe?« Als würden sie erst jetzt sichtbar, tropfen Schnittwunden an ihrem Körper hinunter. Von der Klinge eines Messers. Aber auch Kratzer von Fingernägeln. Notenlinien quer über ihrer Brust, auf der Innenseite ihrer Schenkel. »Also, ich möchte schon sicher sein, dass du es diesmal hörst, Elizabeth.« Sie zieht Bates’ Gewehr hinter sich hervor. Wackelt damit herum wie ein pinkelnder Schwanz, der plötzlich aus dem breiten V ihres Schamhaars hervorgewachsen ist. Dann bringt sie es in Anschlag, stützt es mit der anderen Hand. Zielt damit auf meinen Kopf. »Es blockiert«, sage ich. »Ach ja?« Ich folge ihrem jetzt gesenkten Blick und sehe Luftblasen direkt vor mir durch die Wasseroberfläche brechen. »Vielleicht können wir dazu noch eine zweite Meinung einholen«, sagt sie und lacht mit falscher Freundlichkeit. Das Kanu wird von einem Gewicht an der Seite nach unten gezogen und neigt sich abrupt dem Ufer zu. Ohne mich zu bewegen, spähe ich hinunter und sehe Barry, wie er sich am Rand festhält. Seine Haut ist nicht weiß, sondern schwarzes Leder. Er spuckt mit geschürzten Lippen eine Wasserfontäne aus, ein beinahe komischer Anblick. »Hast du sie nicht gehört, Crossman?«, fragt er. »Also, ich schon.« »Ich hab sie nicht gehört.« »Du bist wirklich eine furchtbar schlechte Lügnerin, nicht wahr?«, sagt er und schluckt glucksend Flusswasser, bis er wieder untergeht. Sein verzerrtes Gesicht ist noch sichtbar, 377
blinzelt von knapp unter der Wasseroberfläche zu mir herauf. »Ja, Elizabeth«, ruft Lydia wieder, und ich stelle aufblickend fest, dass sie bis zur Hüfte im Wasser steht, jedoch den Lauf des Gewehrs immer noch auf mich gerichtet hat. »Du bist wirklich furchtbar!« Sie hält inne, neigt den Kopf ein wenig nach hinten, als hätte jemand sie gerufen. »Lydia. Bitte!« Richtet den Blick wieder auf mich. Drückt ab. Zuerst ist da nur ein Geräusch wie von einem schnellen Kuss. Dann das Feuer, das mir die Kehle aufreißt. Ein Schleier aus Blut, der über Barrys grinsendes, nach oben gewandtes Gesicht fällt. Und noch einer. Lydia, eingehüllt in Rauch, feuert in mich hinein, so dass ich von mir selbst abgeschnitten werde, Stück für Stück. Ein Arm, der platschend in den Fluss fällt. Ein Ohr, das in den Bootsrumpf klatscht. Schießt und schießt, bis die Kugeln geradewegs durch mich hindurchzischen und ich nur noch ein Nichts – – Schüsse von außerhalb der Strohwand. Ein fernes Krachen, vielleicht eine halbe Meile weit im Wald drinnen, und, noch etwas weiter weg, der tiefe Trommelwirbel von Donner. Ich ziehe mich hoch und sehe, dass Bates schon steht. Das Gewehr vor sich hält wie Lydia vorhin. »Das sind sie«, sagt er. »Sie sind früh dran.« »Ich würde sagen, sie sind ganz pünktlich.« Der Shabono ist leer. Auf dem offenen Platz in der Mitte steigen vom Feuer immer noch dünne Rauchfäden nach oben, doch alles andere ist bemerkenswert sauber. Sie haben nicht nur die Dinge mitgenommen, die sie vor der Zeremonie verpackt haben, sondern auch das Kleinholz und die handgemachten Spielsachen und den Federschmuck, der am Boden verstreut lag. Das Einzige, was sie zurückgelassen haben, ist der 378
Fernseher, der uns mit seinem einen grauen Auge anglotzt. »Ich habe sie weggehen sehen«, sage ich, unfähig, Bates direkt anzublicken, um eventuell herauszufinden, ob sich etwas in seinem Gesicht widerspiegelt. Es ist nicht etwa Scham über das, was wir vor ein paar Stunden haben geschehen lassen. Es ist die Angst vor der Bestätigung, dass wir tatsächlich hier sind. »Letzte Nacht«, fahre ich fort, an die kreuz und quer laufenden winzigen Tierchen unter meiner Hängematte gewandt. »Oder ganz früh heute Morgen.« »Ich weiß.« »Wallace ist mitgegangen.« »Ich weiß.« »Vielleicht weißt du ja alles.« »Das Wichtige schon«, sagt er, zieht das Gewehr hoch und hält es nun quer vor der Hüfte. »Aber davon gibt’s jetzt nicht mehr viel, was?« Ein Blitzschlag, so hell, dass er durch jede Ritze der Strohwand findet. Für die Dauer eines Blitzlichts ist der Urwald auf der anderen Seite sichtbar, ein Ring dunkler Gestalten, die Arm in Arm nebeneinander stehen. Dann prasseln die ersten Tropfen auf die Erde, so hart, dass der Sand aufspritzt. Verwandeln den Boden in einen Teppich aus Leopardenfell. »Willkommen in der Regenzeit«, sagt Bates. Noch mehr Gewehrschüsse. Ein beständiges dumpfes Krachen von vielleicht einem Dutzend Gewehren oder so, doch vom Klang her noch immer so weit weg wie die, die mich aufgeweckt haben. »Was machen die?«, frage ich und halte mir eine Hand aufs Ohr, als käme der Lärm ihrer Gewehre von direkt neben mir. »Falls sie uns immer noch suchen, legen sie es ja nicht gerade auf Heimlichkeit an.« »Das brauchen sie auch nicht. Sie wissen, wo wir sind.« »Worauf warten sie dann noch?« »Sie wollen uns vorwarnen.« 379
»Ich glaube, wir sind genug vorgewarnt, findest du nicht?« »Es gilt nicht uns, sondern den Indianern. Wer da auch kommt, sie wollen zuerst die Indianer verscheuchen, damit nur noch wir übrig sind.« »Und woher weißt du das?« »Der Häuptling hat Wallace gesagt, dass sie es so machen. Dass nabah, die den Ort für sich haben wollen, es schon öfter so gemacht haben.« »Das kann der Häuptling ihm gar nicht gesagt haben.« »Warum nicht?« »Wallace spricht kein Portugiesisch.« »Wallace ist hervorragend im Kommunizieren.« »Das heißt also, die Leute, die da ihre Gewehre abschießen – die rechnen damit, dass die Yanomami uns zurücklassen?« »Die wollen uns, Crossman. Nicht einen Haufen Indianer.« »Na, das kriegen sie auch.« »Zu zwei Dritteln jedenfalls.« Bates lehnt das Gewehr an einen Pfosten und vergräbt eine Hand in der Hosentasche. Zieht den Palmcorder heraus. Das Gehäuse und die schwarze Pupille des Objektivs nach wie vor unverkratzt. Bei dem Anblick muss ich an Geld denken. Die Art von technischem Spielzeug, das ich mir zu Hause nie leisten konnte und das ich deshalb als ein düster stimmendes Zeichen unserer Zeit abgetan habe, eine nutzlose neue Erfindung, und genauso hatte ich es mit all den Laptops, Handys und Palmpilots gehalten, die mir so unfairerweise vorenthalten wurden. Er starrt einen Augenblick auf die Kamera, wirft sie ein paar Zentimeter in die Luft, als könne er über ihr Gewicht ihre Bedeutung abwägen. Dann beugt er sich herunter und reicht sie mir. »Ich finde, du solltest das behalten«, sagt er. »Ich weiß nicht, wie man es bedient.« »Brauchst du auch nicht. Heb es einfach nur auf.« 380
Ich lasse das Ding in die vordere Tasche meiner Shorts rutschen und es huscht davon wie eine Maus. »Da sind wichtige Sachen drauf«, sagt Bates und richtet eindringlich den Zeigefinger auf mich. »Aber ich brauche sie nicht mehr. Ich kann jetzt selbst alles sehen. Die ganze Welt, klipp und klar, selbst mit geschlossenen Augen.« Und er schließt tatsächlich die Augen. Zieht die Lippen in den Mund zurück, als genieße er ein überwältigendes Geschmackserlebnis. »Weißt du, du kannst das genauso gut selbst mit zurücknehmen«, wende ich ein. »Ich hab schon das Gewehr.« »Das blockiert.« Erst jetzt öffnet Bates wieder die Augen. Wo er auch gewesen sein mag, er wirkt auf einmal älter. Oder vielleicht ist auch nur etwas von ihm genommen, das Clowneske an ihm, das sein Lächeln immer ins Übermäßige dehnte, das nervöse Zittern seines Knies, die Schüchternheit, die ihn den Blick niederschlagen ließ, wenn man ihn direkt ansah. »Warum ist er gegangen?«, frage ich, und an der Art, wie er jetzt die Faust aufgehen lässt und wieder schließt, merke ich, dass er meinen Gedanken gefolgt ist. »Weil er musste. Und ich bin geblieben, weil ich musste.« »Hättest du nicht genauso gut in den Urwald gehen können?« »Wallace kann nicht zurück. Und du kannst nicht allein zurück.« »Du bist meinetwegen geblieben?« »Wir können dich doch nicht allein hier sterben lassen.« »Warum sollte Wallace sich jetzt noch darum kümmern?« »Um dich?« »Um irgendjemand anders als sich selbst.« »Weil er das schon immer getan hat«, sagt Bates beinahe beschwörend. »Er kann nur einfach nicht mehr bei uns bleiben. Und wir können nicht mit ihm gehen.« 381
»Du könntest.« »Vielleicht. Aber du ganz bestimmt nicht. Wallace will, dass du das Leben leben kannst, für das du dich entschieden zu haben glaubst. Hier geht das auf keinen Fall.« »Und du tust, was dir gesagt wird.« »Es war kein Befehl. Es war nur der einzig mögliche Ausweg.« »Willst du eine andere Theorie hören?« Er zuckt wieder mit den Schultern. Legt die Hand auf den Gewehrkolben. »Wallace ging, weil er wusste, dass er angeklagt würde, wenn er zurückkäme«, sprudelt es aus mir heraus. Ich höre mich reden, und mir wird klar, dass ich einfach nur irgendwas sage, damit Bates hier bei mir bleibt. »Was redest du da?« »Komm schon, Bates«, sage ich jetzt mit schriller Verzweiflung in der Stimme. »Er hat Barry über Bord geworfen. Er hat einen Mann getötet. Hier draußen mag das ja als eine clevere Aktion zur Verbesserung unserer Überlebenschancen durchgehen. Oder unter Erfahrungen sammeln abgelegt werden. Aber zu Hause sieht das anders aus.« Bates verblüfft mich mit einem erwachsen klingenden Lachen. Selbstsicher, fast schon zärtlich, so gelassen, dass er es langsam ausklingen lässt. »Wieder falsch«, sagt er schließlich. »Findest du?« »Er hat Barry nicht umgebracht.« »Hör zu, du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen«, erwidere ich mit einem Blick auf seine Hand auf dem Gewehr, deren Finger sich spreizen und nach unten gleiten. »Ich werde es niemandem sagen.« »Du kapierst nicht. Was ja auch nicht überraschend ist«, sagt er mit einem Kopfschütteln. »Wallace hat ihn nicht umge382
bracht, Crossman. Ich war’s.« Bates schwingt das Gewehr mit einer Hand in die Höhe und fasst es mit der anderen am Schaft, das Ganze geschmeidig und entschieden wie ein Gardesoldat. Ein verächtliches Grinsen kehrt auf seine Lippen zurück, auch wenn ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist. Ebenso wenig vielleicht wie die Tatsache, dass er das Gewehr herumgeschwungen hat und jetzt damit zwischen meine Beine zielt. »Heiliger Himmel, Bates.« »Lustig.« Bates lacht wieder dieses Lachen eines alten Mannes. »Genau das hätte Barry gesagt.« »Wie schön, dass du es so amüsant findest.« »Es ist eben geschehen.« »Er war unser Freund.« »Und wir waren kurz davor, zu sinken.« »Radiert das auf einmal aus, wer er war?« »Es ist nicht wichtig, wer er war. Wenn das Kanu untergegangen wäre, wären wir ertrunken. Das, oder wir hätten ans Ufer fahren müssen und wären dort verhungert. So oder so, wir mussten um jeden Preis weiterfahren.« »Und da hast du dir gesagt, dass Barry ziemlich viel totes Gewicht ist, das wir mit uns herumschleppen.« »Ein Gewicht, das in ein paar Tagen sowieso tot gewesen wäre, ja. Außerdem hat er uns mehr als seine Ration Nahrung gekostet, von der er die Hälfte sowieso nicht länger als zehn Minuten bei sich behalten konnte. Aber wieso erzähle ich dir das alles? Du warst doch dabei, oder?« »Ich hab niemanden umgebracht.« »Natürlich nicht. Du bist ja zu nichts fähig, außer Urteile zu fällen.« »Ich versuche nur, Richtig und Falsch noch auseinander zu halten.« »Ich auch«, sagt er und hebt die Stimme, wie ich es noch nie von ihm gehört habe. »Und ich hatte Recht, als ich Barry auf383
weckte und ihm sagte, dass er mir helfen muss, und da hat er die Arme ganz von selbst um meine Schultern gelegt. Ich hatte Recht, als ich ihn hochhob und die Schnürsenkel aus seinen Turnschuhen zog, weil ich mir dachte, dass wir die vielleicht noch mal brauchen könnten. Als ich ihn an den Handgelenken fasste und in die Strömung gleiten ließ. Als ich zusah, wie er sich an der Außenseite des Kanus entlanghangelte, den Kopf herumriss, um noch Luft zu bekommen, doch er war einfach nicht kräftig genug. Als ich nicht einen Augenblick daran dachte, ihm zu helfen, und als er ganz schlaff wurde, wie ein Fisch, den man schon so lange an der Angel hat, dass er keine Reserven mehr hat. Ich hatte die ganze Zeit über Recht.« Jetzt merkt Bates, wohin er mit seinem Gewehr zielt, lässt es jedoch so, wie es ist. Schüttelt es ein klein wenig, als teste er, ob es in der Mitte entzweibrechen wird. »Willst du damit sagen, er wusste, was du mit ihm vorhattest?« »Barry wollte, dass wir leben. Und dafür hat er sich geopfert«, sagt Bates seufzend. »Ist das richtig? Ist das falsch? Das überlasse ich dir. Du kannst den Rest deines Lebens darüber brüten, wenn es dir das Gefühl gibt, dich von der eigentlichen Tat noch mehr distanzieren zu können.« »Ich habe nichts getan.« »Von mir aus kannst du dir auch das einreden.« »Du klingst schon wie Wallace. Was er gesagt hat, als er mich nicht zurückgehen lassen wollte, um Lydia zu holen.« »Siehst du? Du lügst schon wieder.« »Dann sag du mir doch die Wahrheit.« »Wallace hat dich nicht abgehalten, dich für Lydia umbringen zu lassen. Falls es dein Gewissen beruhigt, dass er doch etwas Derartiges gesagt haben soll, na gut. Aber tu nicht so, als ob das etwas geändert hätte.« Hinter ihm fällt der Regen inzwischen so hart, dass er wie Metallstifte das Dach des Shabono durchdringt und den Boden 384
aufspießt. Es ist noch nicht genug Regen, um die Luft in Bewegung zu versetzen, obwohl uns bereits die ersten Tropfen durch das Strohdach hindurch erreichen und Bates’ Haut von der Nässe dunkel wirkt. Er sieht dadurch fast wieder fiebrig aus. Erzürnt. »Immer liegt es nur an einem selbst«, stoße ich hervor und muss schon fast schreien. »Ist es nicht so? Ob nun ich eine feige Zicke bin oder du dir alles vergibst. Nie kann man es entscheiden, weder so noch so. Es liegt immer nur an dir selbst.« »So war das schon immer, Crossman. Aristoteles, die Thora, die Zehn Gebote, Hypothesys.com – alles nur Leute, die sich eine äußere Autorität zusammenbrauen, die ihnen sagt, was sie zu tun haben. Aber letztlich zählt nur, womit du selbst leben kannst. Und ich kann mit dem leben, was ich getan habe. Du scheinst hingegen ein Problem mit dem zu haben, was du nicht getan hast.« Bates zieht das Gewehr zurück und lässt es auf seinem vorstehenden Hüftknochen ruhen. Dreht sich um und betrachtet den Regen, als hätte er ihn eben erst bemerkt. Geht ein paar Schritte hin und her, in O-beiniger Cowboy-Manier, für die er bei jedem Schritt eine Pobacke hebt. Dann fällt mir wieder ein, dass er ja jetzt immer so geht, so gehen muss, nach dem, was die Piraten mit seinen Eiern gemacht haben. »Du gewöhnst dich allmählich ans Heldendasein, was?« »Ich bin kein Held«, sagt er, als er wieder vor mir steht. Beugt sich zu mir herunter und streicht mit den Handknöcheln über meine Wange. »Ich habe nur beschlossen, mit dem Angsthaben aufzuhören.« Eine weitere Salve Gewehrschüsse ertönt aus dem Wald. Diesmal dichter beisammen. Vielleicht auch dichter beim Shabono, obwohl jeder Schuss aus einer anderen Richtung zu kommen scheint, der Klang vom Regen zersplittert ist. »Noch mehr Vorwarnungen. Vielleicht sollten wir uns den Wink diesmal zu Herzen nehmen.« 385
Bates schiebt die Handfläche unter mein Kinn und umfasst es ganz zart, als wäre mein Kopf ein kleiner Vogel. »Bates?« Er richtet sich auf, um wieder nach dem Regen zu sehen, sein Ausmaß einzuschätzen. Die Schüsse überlagern sich jetzt, so dass sie ihr eigenes wütendes Echo erzeugen. »He, Mann. Ich glaube, wir sollten jetzt wirklich gehen.« Er verfällt wieder in sein Aufundabgehen. Nur dass er diesmal, als er den Punkt erreicht, an dem er sonst umdreht, einfach weitergeht. Auf den offenen Platz hinaus. Der Regen durchweicht sein T-Shirt, bis es ihm fast bis zu den Knien hängt. Nur ein dürrer junger Kerl. Das Gewehr so dick wie eines seiner Beine. »Wo gehst du hin?« Er hält nicht an. Geht mit diesem Schaukeln in der Hüfte zum Eingang, schiebt mit dem Gewehrlauf die Lianen zur Seite und ist fort. »Bates!« Die Schüsse haben aufgehört. Ohne den Wall unserer Stimmen um uns ist der Shabono vollkommen kahl und leer. Der Regen prasselt unentwegt darauf nieder, die Fußabdrücke vom Tanz der Yanomami sind bereits zu einer matschigen Suppe verschwommen. Und als ich den Platz überquere, um zu gehen, sehe ich bei einem Blick zurück, dass auch meine sofort verwischt werden. Ich suche den Bananengarten mit den Augen nach Bates ab und entdecke ihn vielleicht fünfzehn Meter entfernt, wie er mit dem Rücken zu mir auf dem Boden hockt, das Gewehr neben sich aufgepflanzt wie einen Stab, so dass ich ihn zuerst als eine deplatzierte Parkdekoration wahrnehme, einen zwergenhaften Schafhirten. Er versteckt sich nicht, kauert nur in einem überwucherten Feld, so wie er es damals in seinen BaumpflanzZeiten gemacht hätte, um sich zu erleichtern. Sonst kann ich niemanden sehen. Allerdings könnte bei die386
sem Regen und dem verdunkelten Himmel auch eine Reihe von Strip-Tänzerinnen gleich hinter der Baumlinie stehen und ich würde sie nicht sehen. Ich hatte erwartet, dass schon etwas passiert sein würde, so dass ich jetzt nicht genau weiß, was ich nun tun soll. Falls sie auf ein menschliches Ziel warten, dann bin ich das beste, das sie je kriegen werden. Ein graphitgrauer Umriss vor der gelben ShabonoWand. Mir schwirren Gedanken durch den Kopf, wie der, mich auf den Boden fallen zu lassen und zu Bates hinüberzukriechen, oder die Arme über dem Kopf zu schwingen als Zeichen, dass ich mich ergebe, oder einfach wegzurennen. Doch stattdessen gehe ich einfach los, stapfe über die Dornen und Bananenstauden hinweg, bei jedem Schritt darauf achtend, wo ich meinen Fuß hinsetze. Es liegt keine gespielte Tapferkeit in alledem. Ich bin nur einfach nicht fähig, etwas anderes zu tun. Bates dreht sich nicht um, als ich neben ihm auf die Knie sinke. Er ist eifrig damit beschäftigt, sich einen Hut zu basteln. Bindet eine Schnur, vermutlich Barrys alten Schnürsenkel, um den Stiel eines Palmenblatts, das auf seinem Schoß liegt, und bohrt sie durch die Blattspitze. Setzt es sich auf den Kopf und zieht es so weit wie möglich nach vorn, damit es seine Augen vor dem Regen schützt. Klemmt die Schnur unter sein Kinn. Auch als er damit fertig ist, reagiert er mit keiner Regung auf meine Anwesenheit. Lässt den Blick am Horizont des Urwalds entlangwandern; ein Blinzeln von ihm kommt auf sechs von mir. »Vielleicht sollten wir da drüben zwischen den Bäumen warten«, sage ich schließlich und höre erneut die panische Brüchigkeit in meiner Stimme. »Das ist sinnlos.« »Warum?« »Wenn es die Goldsucher sind, dann wollen wir, dass sie uns sehen. Und wenn es die Piraten sind – wenn es die sind, dann ist es sowieso egal, ob wir uns noch verstecken.« 387
Er wirft mir einen Blick zu, der sagt: Aber mach ruhig, wenn du magst. Verächtlich, doch auf eine unverbindliche Art. Er erwartet so wenig von mir, dass kein Spielraum mehr bleibt, ihn noch zu enttäuschen. Überraschend ist nicht der Blick an sich, sondern wie sehr er mich verletzt. Sogar hier, pitschnass auf einem kahl geschlagenen, verbrannten Stück brasilianischen Urwalds, während wir auf eine Gruppe bewaffneter Männer warten. Selbst jetzt, wo schon alles egal ist, will ich ihn noch beeindrucken. Er schaut mich an und sieht nur die nackte Landkarte der Dinge, die ich glaubte halbwegs versteckt zu haben. »Wir warten also einfach hier auf sie?« »Sie haben mit ihren Warnschüssen aufgehört«, murmelt er und lässt den Blick wieder über das Feld schweifen. »Vielleicht denken sie ja, wenn sie da aus dem Wald kommen, dass alle fort sind. Aber ich bin es nicht.« »Und was dann?« Der Regen ist so heftig, dass er in normaler Lautstärke gesprochene Worte übertönt, also versuche ich es noch einmal. »Und was bitte schön machen wir dann? Bates?« Doch er ist zu Stein geworden. Und ich knie weiter neben ihm, fröstelnd in den herabfallenden Stückchen Himmel, die kalt und hart wie Kieselsteine sind. Es gibt keinen Vormittag oder Nachmittag mehr. Das Gewitter ist eine Kalkdecke über dem Urwald und noch darüber hinaus. Es macht das Warten noch schlimmer, als wenn wir unter einer wütenden Sonne säßen. Dann bliebe zumindest eine Ahnung davon, dass der Tag ein Ende haben wird – die zunehmende Hitze, ihr Stagnieren auf dem Höhepunkt, ihr Abflauen. So bleibt uns nur die Anstrengung, eine menschliche Gestalt in den Bäumen zu suchen. Ein weiterer Schuss erreicht uns viel später. Nur einer, doch näher als alle anderen zuvor. Nur ein paar Meter in den Urwald hinein. Ein feiner Nebel steigt vom Bo388
den auf, den man fälschlich für die Rauchwolke aus einem Gewehrlauf halten kann. Danach nur wieder der Regen. Auch nach dem jüngsten Schuss hat sich Bates nicht von der Stelle gerührt, so dass ich mich frage, ob ich ihn überhaupt gehört habe, ob es nicht einfach ein Donnerkrachen direkt über uns war. Doch ich kann mich zu nichts durchringen außer dem Offensichtlichen. Sie sind jetzt da. Und was wir hörten, war ein Signal von einem Einzelnen an die anderen, dass wir auch da sind. Doch niemand zeigt sich. Die Erde verwandelt sich in rutschigen Lehm um uns her, die ausgehobenen Gräben, in denen die Kochbananen wachsen, sind jetzt Bäche, die ineinander schnellen. Der Tag wird ertrunken sein, noch bevor er endet. »Ich habe dich in der letzten Nacht auf der Ana Cassia gesehen«, flüstere ich ihm zu. »Als Wallace Maria geküsst hat. Ich habe gesehen, wie du sie beobachtet hast.« Bates sagt nichts, erstarrt aber vielleicht doch noch einen Hauch mehr als sowieso schon in dem Gipskorsett seiner Kleider. »Ich habe mir gewünscht, dass ich es wäre, falls es das ist, was du wissen willst«, sagt er nach einer Weile. »Und was hast du dabei gedacht, Crossman?« Dasselbe. Ich will das sagen, doch es wird von etwas Hartem in meiner Brust blockiert, einem Gummiball der Sehnsucht, von dem ich bisher gar nicht wusste, dass er da war. Ich habe mir auch gewünscht, dass er mich küssen würde. »Ich habe es einfach nur beobachtet«, sage ich. »Darin bist du gut, was?« »Ich schätze, ich bin wohl besser im Beobachten als im Beobachtetwerden.« »Das sind die meisten«, sagt er mit einem Nicken. »Die Beobachter waren unser wichtigster Markt.« 389
Ich erwäge, ihm zu erzählen, was ich am Tag zuvor schon Wallace erzählt habe. Meinen Handel mit dem Portier. Die schlimme Sache. Aber etwas in seinem Ausdruck sagt mir, dass er es schon weiß. Ich habe dir vergeben, hatte Wallace gesagt. Und das »ich« meinte sie beide, wie immer. Und sie haben mich trotzdem mit sich genommen. Und haben für mich getan, was sie nie vorhatten für irgendjemanden zu tun. Sich zu trennen. Die siamesischen Zwillinge auseinander gezerrt, so dass die eine Hälfte ein Dutzend Leben auf einmal leben und die andere mich nach Hause begleiten kann. Bates’ Blick bleibt an einem Punkt am Waldrand hängen, im selben Moment wie meiner. Da ist nichts zu sehen außer einem Fleck Dunkelheit, einem unter tausend anderen, dicht an dicht. Doch wir starren beide ausgerechnet auf denselben. Wir wissen, dass sie da sind, noch bevor wir sie tatsächlich sehen. Alles ist genau wie vorher, nur intensiver. Der Regen ein nervtötendes Surren, Radiorauschen in voller Lautstärke. Ein Gefühl, wie wenn die Lichter in einem Theater ausgehen, allerdings so langsam, dass man sich erst nicht sicher ist, ob sie es wirklich tun oder nicht. Deshalb glaube ich auch zuerst, als die Männer schließlich aus dem Wald hervorkommen, dass ich sie mir einbilde. Dass ich schon so lange auf diesen Anblick warte, dass mein Warten wie ein Ruf gewirkt hat, sie aus den Schatten heraufbeschworen hat. Sie haben sogar diese vage, fließende Qualität von Phantomen. Rücken vor, scheinbar ohne die Beine zu bewegen oder den Boden zu berühren. Das Einzige, was ihnen Realität verleiht, sind ihre Gewehre. Schwer und selbst aus dieser Distanz genau auszumachen. Ich kann sogar die verschiedenen Holzmaserungen der Kolben erkennen. Die Zielvorrichtungen, die wie Haifischflossen an den Enden hochstehen. Sie rücken ohne besondere Vorsicht vor. Neben mir richtet Bates das Gewehr horizontal aus und schwenkt es auf der Linie der Männer nach rechts und links, als wolle er jeden Einzelnen 390
persönlich identifizieren. »Sie sind es«, sagt er zu sich selbst. Doch etwas stimmt nicht. Oder ist anders, als es sein sollte. Ein halbes Dutzend Männer in identischen grünen Hemden und pluderigen Nylonhosen von der Art, die in der Sonne schnell trocknen. Die Piraten trugen keine solche Kleidung. Und ganz bestimmt nicht diese identischen Uniformen mit etwas links oben auf der Brust, was ein aufgesticktes Wappen sein könnte. »Warte, Bates«, flüstere ich ihm zu, aber hört er mich überhaupt? Er hebt das Gewehr an die Schulter, schmiegt die Wange an den Kolben, um auf den Mann direkt vor ihm zu zielen. »Bates?« »Er ist da.« »Wo?« »Da«, sagt er. Zeigt darauf, ohne irgendeinen Körperteil zu bewegen. »Der Große da.« Ich kneife die Augen zusammen und spähe in die Richtung, in die er sieht, doch die Männer scheinen alle ungefähr gleich groß zu sein. Dann wird mir klar, an wen er denkt. »Nein, Bates.« »Ich hab ihn.« »Es ist nicht der, den du meinst.« »Der verdammte Totengräber.« »Nein, es ist –« »Ich hab ihn.« Sie kommen noch etwas näher, und der Regen trägt eine Auswahl der Geräusche, die sie machen, zu uns herüber. Stiefel, die knirschend durch das geschnittene Unkraut waten. Das metallische Klicken vom Entsichern der Gewehre. Patronen, die in Position rutschen. Und ihre Worte. Gepaart mit der Erkenntnis, dass sie nicht miteinander sprechen, sondern zu uns. Nicht schreien, sondern ganz ruhig sprechen, als wollten sie, dass wir tun, was sie sa391
gen, damit das hier nicht eskaliert. Lassen Sie die Waffen fallen. Es ist vorbei. Wir wissen, wer Sie sind. All diese Feststellungen und Befehle erreichen uns gleichzeitig. Und vor allem höre ich sie in einer Sprache, die ich verstehe. Weil die Gestalten, die durch den Garten näher kommen, portugiesisch sprechen. Und die Piraten konnten nur Spanisch. Bates steht jetzt. Sucht mit dem Gewehr im Anschlag noch einmal die Linie der herannahenden Männer ab, bis er den am äußeren Ende im Visier hat. »Er ist es nicht, Bates.« »O doch, er ist es«, flüstert er, jedoch nur an sich selbst gewandt. »Er war es die ganze Zeit über.« Bates steht vollkommen still. Sammelt sich in einem einzigen Atemzug und verkörpert nur noch das, was gleich passieren wird. Não!, ruft einer von ihnen herüber. Não! Pare! Ohne irgendetwas dergleichen vorzuhaben, stehe ich ein paar Schritte hinter Bates auf und schwenke die Arme überm Kopf, als wolle ich ein Flugzeug zum Landen einwinken. Ein Versuch, sie wegzuscheuchen, doch stattdessen biete ich ihnen eine Zielscheibe. Wörter, geht es mir durch den Kopf, und ich lasse die Arme sinken. Sag ihnen, dass sie es nicht tun sollen. Doch als ich es versuche, habe ich vergessen, wie man das ausdrückt. Eine Sekunde lang oder zwei sind die Verbformen und die genaue Bezeichnung – disparar? atirar? balear? – zu kompliziert, und nichts kommt heraus. Ohne den Kopf zu drehen, ohne sich irgendwie zu bewegen, nimmt Bates mich hinter sich wahr. »Geh runter.« Gib auf. Ich suche danach, doch es entgleitet mir. Oder Jetzt komm schon, Junge oder Wir schaffen es nie, wenn du das jetzt 392
tust oder einfach nur Nein. Nicht einmal das. Das erste Wort, das ein Kind lernt, die ursprünglichste Verweigerung. Es gibt keine Sprache, die man ihm entgegensetzen könnte. Jeder einzelne der grünen Männer ist jedoch fähig, ihm zu sagen, er solle das Gewehr herunternehmen. Jetzt nicht mehr ruhig, sondern dringlich. »Runter, Crossman«, sagt er noch einmal zu mir, ohne sich umzuwenden, und diesmal gehorche ich. Auf einmal reißen sämtliche Männer ihre Gewehre hoch. Nah genug, dass wir in jeden Lauf blicken können. Kleine Münder, die bereit sind zu sprechen. »Wir sehen uns dann zu Hause, Crossman.« »Bates, nein! Es sind nicht –« Er schießt. Obwohl es das Gewehr ist, das den Schuss abfeuert, scheint er aus Bates selbst zu kommen: als seine Hüfte nach vorn stößt, die Wirbelsäule den Kopf zurückschnellen lässt wie das Ende einer Peitsche. Er hat das Ding mit seinem Willen gezwungen, aber sein Köper war dann doch überrascht, als es dazu kam. Ich brauche eine Sekunde, um mir über den Schuss klar zu werden. Nicht nur, woher er kam – Bates’ Gewehr?, eins von denen der Männer? –, sondern auch, wohin er ging. Alle in dem Bananengarten sehen sich an, als wäre der Pfiff des Schiedsrichters ertönt und als warteten sie auf das, was er sagen würde. Die Pause verschafft uns Zeit zum Denken. Bates hat geschossen. Doch da er den Umgang mit einem Gewehr nicht gewöhnt ist oder sowieso nicht erwartet hatte, dass das Ding tatsächlich losgeht, oder weil er noch ein Junge ist und gezögert hat, auf einen realen, lebendigen Menschen zu zielen und abzudrücken, ohne dass Wallace ihm den Befehl dazu gab, wurde der Lauf nach oben gerissen, und die Kugel landete hoch über den Köpfen ihrer angepeilten Ziele im Laub. Klar ist auch, dass sie ihm das nicht noch einmal durchgehen 393
lassen. »Lass das Gewehr fallen, Bates«, sage ich, oder glaube es jedenfalls, doch sicher bin ich nicht, da das Klingeln in meinen Ohren meine Stimme erstickt. Die in dem Garten verstreuten Männer ziehen die Ellbogen dicht an den Körper. Gleichmäßig verteilt wie Zaunpfosten. »Lass es einfach fallen, dann werden sie nicht schießen«, sage ich, diesmal lauter. Doch während ich spreche, stellt sich ein neuer Laut ein und verhindert, dass ich gehört werde. Ein einmaliges Krachen von der grünen Gestalt ganz rechts außen, dem Letzten, der aus den Bäumen hervorkommt. Ein hohles Echo folgt, fern und spielerisch wie ein Lachen auf dem Pausenhof. Bates’ Körper bäumt sich auf. Wirbelt herum, so plötzlich wie ein Crashtest-Dummy. Das Gewehr fliegt zur Seite. Bates in unmöglichen Pirouetten, jedoch immer noch clownesk und harmlos, ein Marionettentheater. Und ich gehe zu ihm. Da ist der Gedanke, dass er nicht fallen darf, dass keinem von uns ein Leid geschehen wird, solange er da vor mir steht. Ich strecke die Hände aus, um ihn um die Hüften zu stützen, doch als ich noch einen halben Schritt näher komme, windet sich Bates herum und sieht mich an. Gespreizte weiße Finger auf der Brust. Ein sauberes Loch darunter, aus dem Blut spritzt. Ich sage seinen Namen, komme jedoch nicht näher. Vielleicht versucht er zu antworten – die Lippen wölben sich, eine verstörte Anstrengung schließt ihm mit einem Blinzeln die Augen –, doch da ist nur ein Knirschen tief unten aus seiner Kehle. Und dann das Echo dreier weiterer Schüsse, die durch seine Rippen schlagen. Selbst jetzt bleibt er noch einen Augenblick ganz allein stehen. Die Knie fest durchgedrückt, als hätten ihm die Kugeln Kraft verliehen. Und dann, auf einmal, wirft er den Kopf zu394
rück und blickt zum Himmel hinauf, eine Geste des Wiedererkennens, als hätte er die ganze Zeit versucht, sich an etwas zu erinnern, und erst jetzt fiele es ihm wieder ein. »Bates?« Er fällt zu Boden und ich krieche im Gras zu ihm. Der Schmerz zieht sein langes Gesicht noch mehr in die Länge. Ich halte seinen Mund offen, so dass ich direkt hineinsehen kann; wie er das Blut so hoch spuckt, dass es gegen seine Backenzähne spritzt. Rosarote Flecken auf den silbernen Füllungen. »Bates, ich bin’s.« »Lydia?« »Ich bin’s, Crossman.« »Wo ist Wallace?« »Er ist fort.« »Wohin?« »In den Wald.« »Der Schnee.« »Der Wald.« »Wir sind jetzt eine Familie, nicht wahr, Crossman?« »Ja, das sind wir. Und wir kommen hier raus.« Seine rechte Hand zuckt hoch, um meine Lippen zu streicheln. »Crossman?« »Ich bin hier.« »Barry hat uns immer die siamesischen Zwillinge genannt. Weißt du noch? Aber jetzt müsste er uns die siamesischen Drillinge nennen, nicht wahr?« »Genau.« Bates zittert. »Tu einfach so«, sagt er. »Wie?« »Tu einfach so, als ob ich ein Mädchen wäre.« »Hat das Wallace zu dir gesagt? Im Schnee? Oder du zu ihm?« 395
»Ich hab ihn gerettet«, sagt er und schüttelt dann den Kopf, wie um sich zu verbessern. »Er hat mich gerettet.« Man kann kaum verstehen, was er sagt, erstickt in dem ganzen Blut, das aus ihm herausläuft. Das in dicken Bahnen seinen Hals hinunterströmt. »Bleib jetzt einfach nur bei mir, Bates. Halte durch«, sage ich immer wieder zu ihm, während ich ihn an den Schultern aufrichte. Ein Muskel in seinem Unterleib gibt nach, und damit hört auch das Blut auf, stoßweise mit seinem Herzschlag zu strömen, und geht in ein gleichmäßiges Fließen über, glänzend und rasch. Der letzte Rest aus seinem Inneren, der in den Dreck und über meine Beine rinnt, noch während die Männer uns erreichen und einen Kreis um uns bilden, immer noch ihre Gewehre auf die Stirn des Jungen richten. Sie konnten nicht sehen, dass sie ihn schon gut genug getroffen hatten, konnten nicht die Löcher zählen, die sie in ihn hineingejagt hatten, und sehen, wie viel schon aus ihm herausgelaufen war und sich über die Bananenstauden um uns her ergossen hatte. Ich wiege ihn vor und zurück und mache dazu einen schnalzenden Laut mit der Zunge am Gaumen, wie es meine Mutter immer getan hatte, um mich als Kind in den Schlaf zu wiegen. Es klingt seltsam aus meinem Mund. Ein Schlaflied für diesen Jungen, der in einem eingebildeten verschneiten Wald in Ontario stirbt. Die Männer sind jetzt nahe genug, um Gesichter zu haben. So nah, dass ich sehen kann, dass die Abzeichen auf ihrer Brust alle identisch sind. Die brasilianische Flagge mit einem Ring aus gestickten Wörtern auf Portugiesisch darum herum. Comissao Amazonas Parque. Amazonas-Park-Kommission. »Wo sind Ihre anderen Freunde?«, fragt einer von ihnen. »Eine wurde zurückgelassen. Ein anderer starb auf dem Fluss.« 396
»Und der dritte?« Ich kann die Unruhe in seiner Stimme hören. Sie glauben, jemand könnte sich noch im Busch versteckt halten und mit dem Gewehr auf sie zielen. »Er ist fort.« »Fort?« »Er ist mit den Indianern gegangen. Den Yanomami. Tiefer in den Wald hinein.« »In welche Richtung?« »Ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich es wüsste, könnte ich es nicht mehr sagen.« »Das hier ist ein Naturreservat. Ein Park«, sagt er und lässt dann eine Pause folgen, als würde dies allein schon alles erklären. Und dann sagt er, beinahe verlegen: »Wir haben nach Ihnen gesucht.« »Um uns nach Hause zu bringen.« »Es wurden alle Anstrengungen unternommen.« »Ist der Portier bei Ihnen?« »Wer?« »Der Große. Der Totengräber.« »Wir haben keine Totengräber bei uns.« »Er muss hier sein«, erkläre ich ihm. »Er ist uns auch gefolgt.« Die Männer wirken betreten. Blicken auf Bates in meinen Armen hinunter. Sehen zu, wie seine Augen funkeln. Nicht wie Augen, die Sonnenschein oder Kerzenlicht reflektieren, sondern von innen heraus. Es ist fast, als hätte er sie die ganze Zeit nicht wirklich schätzen gelernt, von der falschen Seite in ein Teleskop geschaut, so dass alles weit weg zu sein schien. Erst jetzt kann er alles scharf sehen. Nicht die Dinge der Außenwelt, sondern die vernachlässigten Teile in ihm, die krasse Erkenntnis, wer er ist. Und jetzt, wo er es gesehen hat, ist es schon zu viel für ihn, bloß überrascht zu sein. Und dann geht das Licht aus. 397
So abrupt, dass man glaubt, das kann es doch nicht gewesen sein. Jetzt sind seine Augen nur mehr weiße Kreidestückchen in seinem Kopf, seine Lippen zu einem kindischen Schmollen auseinander gefallen. Ein zufälliger Ausdruck von Enttäuschung, als hätte er eine Verpackung aufgerissen und nicht genau das Geschenk vorgefunden, das er sich zu Weihnachten gewünscht hatte. Im Lauf dieser wenigen Sekunden sehe ich mit an, wie sich das Gesicht eines Jungen in das eines Mannes verwandelt. Erst war er weise, dann ein bockiges Kind und jetzt ist er tot. Oder jedenfalls kommt es mir so vor, als mein Verstand aus diesen Dingen eine Erinnerung zu formen sucht. Während Bates als ein zerfetztes, an meine Brust gedrücktes Bündel stirbt, bastelt mein Gehirn bereits an einer Version von ihm, die ich von hier mitnehmen kann, die ich in das mit hinübernehmen kann, was als ein normales Leben durchgehen mag. Selbst jetzt übersetze ich. Setze das wenige, was ich vielleicht annähernd verstehen kann, zusammen und streiche weg, was ich nicht wissen kann. Die Lücken des Nichts. Das schlichte Entsetzen. »Er ist tot«, sagt einer der Männer von oben, und als ich zu ihm aufblicke, sehe ich, dass er es mehr zu sich selbst sagt als zu mir. Es war ihnen noch nicht aufgegangen, dass jeder von ihnen einen Teil seines Lebens damit verbringen würde, sich zu fragen, wessen Kugel ihr Ziel gefunden hatte. »Er ist tot«, sagt noch einmal einer, mit etwas mehr Nachdruck diesmal. Sie wollen, dass ich mich von Bates losmache, damit sie sich darum kümmern können, ihn in einen leeren Vorratssack zu stecken. Doch ich lasse nicht los. Das Schlaflied meiner Mutter in meinem Mund. In einer dieser Sekunden verwandelt er sich von einem kaum merklichen Gewicht zu nichts. Da sind keine Engel oder Tunnel aus Licht für ihn. Jedoch eine Frau. Die sich ständig von einer in eine andere verwandelt. 398
Mit sich verändernden Zügen, so dass sie nie festgelegt ist. Eine Frau ohne eindeutige Identität, weil sie immer gerade dabei ist, wieder jemand anders zu werden. Zuerst ist es seine Mutter. Ihre natürlichen Düfte, von denen er annahm, dass er damals noch zu jung war, um sich zu erinnern, die beruhigend-vertraute Essenz von Cocktailpartys – Rauch und Gin und Chanel No. 5. Jetzt ist es Lydia, ihr Gesicht überdeutlich, all die unversöhnlichen Flecken und widerspenstigen Haare. Ihre grünen Augen besänftigt von Fältchen. Und jetzt ist es seine Lydia. Die, der er die perfekte Bombe beschrieben hat, in einer Sprache, die sie nicht verstand. »Seine«, nicht weil er für sie bezahlt hat, sondern weil er ihr einen Namen gab. Also ist da doch noch ein Engel. Oder mehrere Engel. Aber was zählt das schon? Er ist einfach nur dankbar, dass er endlich die ganze Mühe, ein Mann zu sein, loslassen kann, jetzt, nachdem er schon geglaubt hat, er würde nie mehr er selbst sein dürfen, einfach nur ein Junge. Und dazu das Bedürfnis, etwas zu sagen. Vielleicht ein Wort wie Liebe oder ewig oder nichts. Doch die Frau, die seine Mutter und beide Lydias in einem ist, vertreibt diese Vorstellung mit sanften, tröstenden Lauten aus ihm, aus der ganzen sich verdunkelnden Welt, und so bleibt nur noch ein Junge übrig, der der Umarmung einer Frau entgegensinkt. Meiner Umarmung.
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Nachher
Nach meiner Heimkehr – binnen Wochen, nicht Monaten – stürzte der Technologiemarkt spektakulär ab. Eigentlich war es gar nicht so spektakulär, zumindest nicht auf die Art, wie Sonnenuntergänge oder ein glänzend herausgespieltes Tor oder ein übergroßer Mond zwischen den Kaminen zweier Hausdächer spektakulär sein können. »Spektakulärer Absturz« war nur die Bezeichnung, die von den meisten Nachrichtensprechern und in den Zeitungsschlagzeilen gebraucht wurde, und so bemühte ich mich, es genauso zu sehen, als etwas Physisches und nicht bloß eine ökonomische Abstraktion, als etwas Reales und nicht bloß eine abnehmende Zahl mit einer Kommastelle. Ich begann sogar, mir einen Markt als »lebendig« vorzustellen. Als »nervös« oder »schwungvoll« oder einfach nur schlecht gelaunt, unwillig, morgens aufzustehen, wenn er »heute überhaupt nicht auf die Beine kam«. Bald nach dem spektakulären Absturz änderte die Presse, als würde sie von einem Dirigenten auf einem erhöhten Podium mit dem Taktstock gelenkt, ihren Tenor vom Fanfarenstoß der »Revolution« zu einem »Ich-hab’s-ja-immer-schon-gesagt«. Eine Zeit lang wurden Fragen laut, ob nicht die westliche Zivilisation bis ins Mark von Gier zerfressen sei. Das Wort Demokratie tauchte ziemlich oft auf. Doch inzwischen scheint sich all das wieder gelegt zu haben. Wahrscheinlich ist es ziemlich schwierig, einen so hohen Ton über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Als sie Bates’ Leichnam nach Kanada zurückbrachten, gab es so etwas wie ein inoffizielles Staatsbegräbnis für ihn. Sein Vater und Memory und seine Mutter und der orthopädische Chirurg aus Halifax kamen von ihren jeweiligen Küsten angeflogen, samt dem Direktor der Schule in den Wäldern und genau den Präfekten, die versucht hatten, sie umzubringen, und die 400
jetzt, als Anzugträger in ihren Spätzwanzigern, erste Anzeichen von schütterem Haar und Bauchansatz zeigten. Barrys Frau und Tochter kamen aus Georgia herauf, beide blond, arglos, mit Perlenhalsketten, so würdevoll, wie Barry gentlemanlike war. Der Außenminister, den wir zuletzt gesehen hatten, als er wie ein Spinnenaffe auf dem Deck der Presidente Figueiredo herumkreischte, war auch da. Sogar der Premierminister legte eine behandschuhte Hand auf den Sarg und sagte ein paar Worte über diese außerordentliche Tragödie für »Kanada und die Welt«, die uns »nicht nur ein bemerkenswertes junges Leben, sondern eine Vision einer neuen Zukunft« geraubt hatte. Ich traf den Premierminister dort ein zweites Mal, allerdings schien er sich an unser erstes Zusammentreffen beim Konsulatsempfang in São Paulo nicht zu erinnern. Ich sagte ihm wieder, dass er meine Stimme hätte. Und wieder war es gelogen. Danach beschlossen alle, da Bates ja nun einmal unwiederbringlich tot war, nach Wallace zu suchen. Eine Reihe von Reportern in Brasilien und Kolumbien verfolgte unsere Spuren bis zu dem jetzt aufgegebenen Yanomami-Dorf zurück, auf das wir zufällig getroffen waren. Ein spontaner Fan-Club wurde gegründet, der unerklärlicherweise von Tuckerton, New Jersey, aus agierte und mir Gratisexemplare der ersten zwei Ausgaben seines Rundbriefs, Der wandernde Wallace, schickte. Sogar Ed Bradley wurde für sein Reportagemagazin 60 Minuten in einen Safarianzug gesteckt und mit einem kompletten Sendeteam losgeschickt, um nach Wallace zu suchen. Letzten Endes blieb ihnen jedoch auch nichts anderes, als mit ihrer jeweils eigenen, wieder anderen Theorie aufzuwarten. Er ist wahnsinnig geworden. Er wurde von einem Eingeborenenstamm für einen weißen Gott gehalten, als dessen Anführer er nun grausame Rituale an Tieren und Kindern veranstaltet. Er hat die versunkene Stadt El Dorado entdeckt und lebt nun in ihren uralten goldenen Hallen, unglaublich reich, jedoch 401
nicht mehr fähig, in die Zivilisation zurückzukehren. Er lebt. Er ist tot. Natürlich spielte auch ich eine Rolle in diesen Berichten. Jemand musste unter den Studioscheinwerfern sitzen und die grausamen Einzelheiten und die Tränen verabreichen. Ein PRManager wurde erforderlich. Ich erlangte fast so etwas wie eine bescheidene Berühmtheit, und sogar die Journalisten bezeichneten mich mit einer gewissen Bewunderung als HalbProminente. Es gab Anrufersendungen im Vormittagsradio, Fernseh-Talkshows im Nachmittagsprogramm, in denen Talkmasterinnen Daumen und Zeigefinger ans Kinn legten und frontal in die Kamera sagten: »Und als Nächstes: Wie Sie diese wirklich hartnäckigen Flecken aus Ihrem Teppich bekommen«, einen Sender, der mich für eine Spezialreportage nach Manaus und auf eine Bootsfahrt ein paar Meilen den Fluss hinauf mitnahm, um ein paar Bilder von mir zu machen, wie ich nachdenklich in den Urwald hineinstarre. Ich machte mich ziemlich gut bei alldem und muss beschämt zugeben, dass mir die ganze Aufmerksamkeit ein gewisses Vergnügen bereitete, wenn auch weniger, als ich vielleicht erwartet hätte. Das Ende kam für mich, als ich mich einfach zu sehr bemühte, sie alle zufrieden zu stellen. So verkam das Ganze allmählich zu einer bloßen Vorstellung, die nach einiger Zeit nicht einmal mehr mich selbst überzeugte. Doch es hörte auf, noch bevor ich den Dingen selbst ein Ende setzen konnte. Das Medieninteresse nebst allem anderen. Die Briefe von Universitätsgelehrten – Soziologen, Anthropologen, Psychiatern, Dozenten der Frauenstudien und Kulturwissenschaften und Bibelkunde –, die allesamt um die Beantwortung eines Fragebogens oder um einen Gastvortrag baten oder, in einem Fall, um ein Experiment, bei dem sie mir Elektroden an Schläfen und Genitalien anbringen wollten, um meine Reaktionen auf Tier-, Anal-, Snuff-, lesbischen oder Wasser-Sex zu 402
testen. Die halb bewundernden, halb feindseligen E-Mails von offensichtlich arbeitslosen und labilen Fremden. Die LunchTreffs – mit Filmproduzenten, Agenten, Verlegern, DokuRoman-Autoren, Schauspielern aus der Schule des Method Acting, Präsidenten von Sportartikel- und Nahrungsergänzungs-Herstellern, Anwälten, spezialisiert auf Fahrlässigkeitsdelikte, PR-Leuten der Regierung – was für Lunch-Treffs! Alles hörte schlagartig auf. In ein und demselben Augenblick, so als wäre die eine Gemeinsamkeit zwischen all diesen Leuten ihre Fähigkeit, immer die schaurigste Neuigkeit aus der Sparte »menschliche Tragödien« ausfindig zu machen, die gerade erhältlich war, und jetzt hatten sie sich, wie Hunde, die auf einen Klingelton reagieren, den nur sie hören können, zu der Frau aufgemacht, der ein Jaguar das Gesicht zerfleischt hatte, oder zu dem Typen, der seine ersten vierundzwanzig Lebensjahre in einem Obstkeller in Wisconsin angekettet an ein Konservenregal verlebt hatte. Alle fragten nach dem Band. Das wollten sie unbedingt. Sie boten schwindelerregende Summen für das Videoband. Doch ich versicherte ihnen immer und immer wieder, dass kein solches Band existierte. Ja, Bates hatte die ganze Zeit einen Palmcorder mit sich geführt. Und ja, manchmal filmte er, was um ihn herum vor sich ging. Doch niemand wusste, wo dieses Band gelandet sein mochte. In irgendeinem Rattenloch begraben vielleicht, oder als Souvenir um den Hals eines Yanomami-Kriegers hängend. Ich erklärte ihnen, dass ich es jedenfalls nicht hätte. Diese spezielle Lüge war erlaubt, sagte ich mir, denn obwohl ein solches Band in meinem Besitz war, war nichts darauf zu sehen. Oder fast nichts. Ein paar Wochen nach meiner Heimkehr – und nach einigen Wochen nutzloser therapeutischer Sitzungen in Traumaverarbeitung und einem interessanten Karussell von Antidepressiva – spielte ich es auf meinem Videorecorder ab. Es beginnt mit 403
einer Aufnahme von Wallace, wie er neben dem Portier vor dem Eingang des Tropical Hotel steht. In die Kamera blickt, wobei das Gesicht des Portiers wegen dessen Größe abgeschnitten ist. Nur Wallace und die marineblaue Uniform des Portiers. Und die Stimme von Wallace. Diesmal die »Immerhereinspaziert«-Stimme des Zirkusdirektors. »Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum Auftakt unseres großartigen Urwald-Abenteuers! Erleben Sie mit uns die Erforschung unsagbarer Geheimnisse! Atemberaubende Naturschönheiten! Die Eroberung von Ländern, vergessen von Mensch und Zeit! Geschichte in ihrem unmittelbaren Entstehen!« Dann hört es auf. Ich habe es ein halbes Dutzend Mal im Bildsuchlauf bis zum Ende vorgespult, um ganz sicher zu sein. Mehr als einmal habe ich mir sogar die ganzen neunundfünfzig Minuten Flimmern angesehen, bis das Band mit einem Klicken zu Ende war. Es ist nichts drauf. Bates hatte es die ganze Zeit über nicht benutzt. Warum wollte er, dass ich ein Band mit nach Hause nehme, auf dem nichts drauf ist? Natürlich könnte er einfach vergessen haben, dass es leer war. Oder an der Kamera war die ganze Zeit versehentlich die Pause-Taste gedrückt. Ein angesichts seines Zustands nachvollziehbarer Fehler. Doch ich mag den Gedanken, dass das uneingelöste Versprechen des Bandes eine Botschaft für mich ist, der sich Bates voll bewusst war. Ehrlich gesagt bestehe ich darauf, dass es so war. Und so beschließe ich, in dem leeren Flimmern des Bandes zu sehen, wer sie waren. Sie hatten davon geträumt, Helden zu sein, und ich werde tun, was ich kann, um sie als solche in Erinnerung zu behalten. Genau das wollte Bates von mir, als er mir das Band gab. Dass die Erinnerung an sie nicht auf einem Band aus Plastik verewigt ist, sondern in mir, ihrer Dolmetscherin, der Trägerin ihrer lebendigen Geschichte. Wie sich herausstellte, habe ich noch etwas anderes aus dem 404
Urwald mitgebracht. Zuerst dachte ich, es sei ein Parasit. Einer, der allmorgendliche Übelkeit auslöste und langsam wuchs, so dass sich mein Bauch unter den Kleidern zu wölben begann. Der sich bewegte. Doch es war kein Ungeheuer, das mich vernichten wollte. Es war ein Kind, das Gestalt annahm. Von Zeit zu Zeit fragen mich Leute, oder sind kurz davor zu fragen, wer der Vater meiner Tochter ist. Ich erzähle ihnen, dass es meine Entscheidung war, sie ganz alleine zu bekommen, da der Mann, um den es geht, keiner von denen war, die bleiben, die in Souterrainwohnungen und einer dieser sich rasch ins Nichts entwickelnden häuslichen Daseinsformen existieren wollen, wie ich sie bieten kann. Für mich ist das in Ordnung. Er war ein guter Mann, versichere ich ihnen, und nicht irgendein Schuft, der eine Frau schwängert und sie dann sitzen lässt. Ein außergewöhnlicher Mann, ehrlich gesagt. Ich glaube, dass ich so viel für ihn empfunden habe, wie es mir in solchen Dingen möglich ist. Allerdings sage ich diese Worte nicht laut. Sie wirken unangebracht, fast grob in Bezug auf ihn. Kommt er je zu Besuch?, wollen sie wissen. Um sein kleines Mädchen zu sehen? Nein, antworte ich dann. Er vertraut darauf, dass ich allein zurechtkomme, was ich auch tue. War es einer der Jungen aus dem Urwald?, wagen nur die ganz Kühnen zu fragen. War es der, der verschwunden ist, Wallace? Oder der, der gestorben ist, Bates? Darauf sage ich weder ja noch nein, und ich muss zugeben, dass ich das ein wenig genieße. Stattdessen erzähle ich ihnen, dass der Vater des Mädchens nicht mehr unter uns weilt und dass damit alle Beteiligten zufrieden sind. Was meine Tochter angeht – sie ist wundervoll, so wie alle Mütter ihre Babys wundervoll finden. Mehr noch, sie ist wundervoll in der Art – »nein, wirklich, sie ist ganz besonders reizend« –, wie Frauen, die erstmalig in einem schon fortgeschrit405
teneren Alter Mutter werden, ihre Kinder sehen, die Frauen, die beinahe, aus welchem Grund auch immer, ihre Chance verpasst hätten. Und die Wahrheit ist, dass ich unermesslich dankbar bin. Wenn ich einen Blick von mir im Spiegel erhasche, wie ich sie auf dem Arm herumtrage, dann ist da dieses idiotische Lächeln wie Butter in mein Gesicht geschmiert. Dagegen ist nichts zu machen. Die törichte Freude des Schon-nach-dreiGläsern-Betrunkenen, des Wiedergeborenen, des auf unwahrscheinliche Art Überlebenden. Schon jetzt lehrt mich mein Baby so manches. Wie man sich selbst hinter sich lässt und nicht einmal zurückblickt – das zuallererst. Wut als eine Last zu sehen, Neid als einen sonnigen Tag, den man im Haus vergeudet hat. Ich habe sie Lydia genannt. Ich erkenne wenig von mir selbst in ihrem Gesicht, doch ich habe mir sagen lassen, dass das von der Natur so angelegt ist. Babys sollen in den ersten Monaten mehr ihrem Vater ähneln, damit sie nicht zurückgewiesen werden. Bald werden aber meine Linien und Säckchen und Grübchen hervortreten. Selbst jetzt noch, wenn ich nachts im Bett liege und ihrem Atem neben mir lausche, kann ich ihr Gesicht in der Dunkelheit deutlicher heraufbeschwören als mein eigenes. Eines scheint dagegen unumstößlich festzustehen. Sie hat die Augen ihres Vaters. Nicht dass ich diese sehe, wenn ich ihr in die Augen schaue, doch in ihnen liegt derselbe Hunger, den er hatte, eine Abwesenheit in ihren geweiteten Pupillen, die von noch so vielen Schlafliedern oder Küssen nicht gefüllt werden können. Es erschreckt mich ein wenig. Sie ist mein. Aber wenn ich ihr manchmal in die Augen schaue, dann ist sie diejenige, die mich hineinzieht. Samt allem anderen. Dem Spielzeug in ihrem Bettchen, dem Nachtlicht hinten im Gang, dem Himmel aus phosphoreszierenden Sternen, die an der Decke kleben. Zwei sich weitende Schatten, die nichts Geringeres begehren als die Welt. 406
Danksagung
Leah McLaren, Anne McDermid, Iris Tupholme, Mari Evans, Sarah McGrath, Jon Colley, Mannschaft und Passagiere der Clipper, Marko Sijan, Heidi Rittenhouse, Jacob Hoye, Napoleon Chagnon (Yanomamo, Fifth Edition, Harcourt Brace, 1997), Peter Fleming (Brazilian Adventure, Northwestern University Press, 1999) und Martin Levin für seine Empfehlung desselben, Patrick Tierney (Darkness in El Dorado, W. W. Norton & Company, 2000), Neyda Jauregui, Debora Senra da Rocha – herzlichen Dank.
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Andrew Pyper
Die Nachhilfestunde Roman »In Murdoch, einer nordkanadischen Kleinstadt, sind zwei Schülerinnen spurlos verschwunden, vermutlich ermordet von ihrem Englischlehrer. Dessen Verteidigung übernimmt Barth Crane, ein mit allen Wassern gewaschener Star-Anwalt aus Toronto. Doch für den gerissenen Jungzyniker wächst sich der Fall zu einem gespenstischen Alptraum aus … Andrew Pyper, selbst Jurist, hat ein fulminantes Debüt hingelegt: ein geistreicher Thriller, in dem die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen.« Brigitte
ULLSTEIN TASCHENBUCH
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