Die GrabsteinClique
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 128 von Jason Dark, erschienen am 26.11.1991, Titelbild: Barcla...
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Die GrabsteinClique
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 128 von Jason Dark, erschienen am 26.11.1991, Titelbild: Barclay Shaw
Eine Stripperin, eine Nonne, ein Schauspieler und eine Adelige! Vier Menschen, die sich nicht kannten, die nie zuvor etwas voneinander gehört hatten, die aber plötzlich aus ihrem normalen Lebensrhythmus ausbrachen. Sie mordeten! Irre, wahnsinnige Taten, ohne Motiv. So jedenfalls dachte die Polizei. Die vier Täter aber wußten Bescheid. Sie trafen sich, gründeten die Grabstein - Clique, die nur ein Ziel kannte. Die gemeinsame Höllenfahrt!
Die schreckliche Bluttat, für die niemand eine Erklärung fand, begann nach der Frühmesse. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles normal verlaufen. Was hätte auch den Tagesablauf im Kloster stören sollen? Alles war geregelt. Um fünf Uhr standen die Nonnen auf. Da Nonnen auch Menschen sind, kamen die einen gut aus dem Bett, die anderen weniger gut, aber es gab keine, die liegengeblieben wäre und sich einen Teufel um die Frühmesse geschert hätte. Nein, der Besuch der Messe war Pflicht. Um sechs Uhr begann sie. Sie dauerte eine Stunde, danach wurde das Frühstück eingenommen. Auch Clara Montero stand auf. Sie gehörte zu denen, die eigentlich immer gut aus dem Bett kamen, an diesem Morgen allerdings war es nicht so. Da spürte sie einen dumpfen Druck im Kopf, gleichzeitig hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt, die Beine waren schwer geworden, und die Füße schienen mit Blei gefüllt zu sein. Mit schweren Gliedern ging sie auf das schmale Fenster ihres kleinen Zimmers zu und schaute hinaus. Ihr Blick fiel in den Garten. Die Sonne war bereits aufgegangen, und ihre Strahlen sorgten dafür, daß der Tau der Nacht von den Blumen und Blättern weggedampft wurde. Ein wunderschönes, ruhiges, sehr stimmungsvolles Bild breitete sich vor den Augen der etwa vierzigjährigen Frau mit den dunkelblonden Haaren und dem feingeschnittenen Gesicht aus, aber sie hatte dafür keinen Blick. Dafür hatte sie das Gefühl, als würden Schatten durch den Garten tanzen, fratzenhafte Gebilde mit den Gesichtern des Teufels, wie man sie auf alten Holzstichen sah. Clara erschrak. Sie schluckte, sie hustete und trat vom Fenster so hastig weg, als läge draußen ein fernes und gleichzeitig menschenfeindliches Land. Sie ging zurück, nahm auf der Bettkante Platz, schüttelte den Kopf und stellte fest, daß sie schweißgebadet war. Auch das war bei ihr ungewöhnlich. Wenn sie am Morgen aufstand, da fühlte sie sich immer sehr wohl und freute sich auf die kommenden Stunden des Tages. Das war heute nicht so. Minutenlang blieb sie sitzen und lauschte dem Klopfen ihres eigenen Herzschlags. Mit diesem lag stimmte einiges nicht. Clara fand keine Erklärung, sie ging einfach davon aus, daß etwas von ihr Besitz ergriffen hatte, das sie nicht kannte. Etwas Fremdes, Unheimliches… Längst hatte sie festgestellt, daß sie sich nicht nur körperlich unwohl fühlte, sondern auch seelisch, und dies gefiel ihr immer weniger. Das körperliche Unwohlsein konnte bekämpft werden, das seelische wog ihrer Meinung nach schwerer.
Auch an Klöstern waren die technischen Errungenschaften und der Komfort nicht vorbeigegangen, so hatte auch dieses Kloster vor drei Jahren Duschen und Bäder bekommen, die die Gemeinschaftsanlagen abgelöst hatten. Zum Zimmer gehörte das Bad. Clara Montero hoffte, daß beim Duschen ihr Unwohlsein weggespült wurde. Sie atmete tief durch, stand auf, ignorierte den Schwindel einfach und auch ihren schwankenden Gang. Das Bad war sehr klein. Eine Dusche und eine Toilette hatten so eben noch Platz sowie ein Handwaschbecken, gegen das die Nonne stieß, als sie sich drehte. Für einen Moment zuckten ihre Lippen, dann riß sie sich zusammen und zog ihr beigefarbenes Nachthemd aus. Sie ließ schon die Dusche an, wartete, bis das Wasser heiß genug war, und stieg dann unter die Strahlen, die auf ihre kurzgeschnittenen Haare rauschten. Mit einer Hand zog die Nonne den Vorhang zu. Sie wollte schließlich keine Überschwemmung im Bad hinterlassen. Der Vorhang bestand aus einem imprägnierten Stoff und schimmerte milchig. Wer von draußen gegen ihn schaute, konnte höchstens die Umrisse der duschenden Person wahrnehmen, mehr auch nicht. Clara Montero genoß die Dusche. Sie wusch ihre Haare und fühlte sich gleich viel besser. Aus Gründen der Sparsamkeit stellte sie das Wasser ab und seifte sich ein. Als sie das Wasser anstellen wollte, erstarrte Clara. Auf einmal kehrte wieder alles zurück. Die Angst, das Gefühl, nichts mehr zu beherrschen, denn hinter dem Duschvorhang sah sie wieder die tanzenden Schatten. Wie schon im Garten… Sie schluckte, atmete durch den Mund, starrte gegen den Vorhang, an dessen Außenseite sich die dunkleren Schatten bewegten, sehr hektisch sogar, in einem Rhythmus, der die gesamte Dusche umfing. Was war das für ein Schatten? Woher kam er? Wieso hatte er sie erreicht? Er war zunächst draußen im Garten gewesen, das hatte sie genau gesehen, und jetzt bewegte er sich lautlos und hektisch an der Außenseite des Duschvorhangs entlang. Das wollte ihr nicht in den Sinn. Die Nonne fror wieder. Diesmal nicht vor Kälte, jetzt war es die Angst, die ihr dieses Gefühl vermittelte. Sie kroch in ihr hoch, sie war wie Gift, das ihren Körper ausfüllte, und Clara hörte sich selbst stöhnend atmen. Sie wagte es nicht, nach dem Vorhang zu fassen und ihn zur Seite zu zerren, aus Angst, daß ein Dämon den Weg in ihr Bad gefunden haben konnte, um ihr Leben zu zerstören. Sie wollte ein Kreuzzeichen schlagen, selbst das schaffte sie nicht, denn ihre Arme waren auf einmal schwer wie Eisen.
Noch etwas anderes kam hinzu. Clara haßte das Kreuzzeichen. Sie wollte es nicht mehr, sie… Die Schatten verschwanden. Noch einmal tanzten sie wie irre über den Vorhang, um sich einen Moment später endgültig aufzulösen. Scharf stieß die Nonne die Luft aus. Ihre Augen brannten, nicht, weil Schaum hineingedrungen wäre, es war einfach die Furcht, die dieses Gefühl verursachte. Gleichzeitig begann das Jucken auf ihrem Körper, das der allmählich trocken gewordene Schaum hinterließ. Es zeigte ihr auch an, daß sie das Zeug so rasch wie möglich abspülen mußte, und Sekunden später rauschte wieder das Wasser auf sie herab. Sie duschte länger als gewöhnlich, und als sie das Wasser abstellte, da verließ sie das Becken auch nicht sofort, sondern öffnete den Vorhang zunächst spaltbreit, um in das kleine Bad hineinzulugen. Niemand war da. Kein Schatten, keine Gestalt – nichts. Sie war allein. Hoffnung kehrte zurück. Fs konnte ja sein, daß sie sich alles das nur eingebildet hatte, aber überzeugt war sie davon nicht. Wie in Trance trocknete sich die Nonne ab. Das große Badetuch ließ sie um den Körper geschlungen, als sie zurück in ihre >Zelle< ging und die Nonnentracht überstreifte. Sie dachte dabei nicht, sie starrte nur gegen die helle Wand, aber dort tanzte der Schatten nicht. Zuletzt setzte sie die Haube auf. Darauf legte sie immer besonderen Wert, die Haube mußte perfekt sitzen. Mit einer Klammer klemmte Clara sie an den Haaren fest. Das alles erledigte sie an diesem Morgen ohne Freude, es war ihr plötzlich lästig, und sie stellte auf einmal sogar ihr gesamtes Leben in Frage. Seltsam, darüber erschrak sie nicht einmal. Zehn Minuten vor dem Beginn der Frühmesse war sie fertig. Ein schlichter Holzschrank beherbergte ihre persönlichen Dinge, unter anderem auch die Bibel und das Gesangbuch. Von beiden Dingen ließ sie die Hände. Sie hatte es versucht, sie in die Hand zu nehmen, aber sie zuckte so etwas zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Gütiger Himmel, was war nur los mit ihr? Dann hörte sie draußen die Schritte, und sie wußte genau, was geschah. Gleich würde Helena anklopfen, damit sie gemeinsam den Weg zur Frühmesse gingen. »Ja, ich komme gleich«, sagte Clara, als sie das Klopfen hörte. Sie riß sich zusammen und hoffte, daß ihrer Stimme nicht anzuhören war, in welch einem Zustand sie sich befand.
Keiner sollte etwas merken, keiner! Mit diesem Problem mußte sie allein fertigwerden. Helena war jünger als Clara. Sie hatte ein frisches Gesicht mit einem noch mädchenhaften Zug. Ihre blauen Augen strahlten, sie lächelte mit blitzenden Zähnen. »Ist das nicht ein herrlicher Tag, Clara? Dafür kann man dem Herrgott nur danken.« »Sicher.« »Also ich freue mich darüber.« Die junge Nonne lief einige Schritte vor, und Clara folgte ihr langsam. Mit zahlreichen anderen Schwestern betraten sie die Kapelle, wo der Betgottesdienst abgeheilten wurde. An diesem Morgen leitete ihn die Äbtissin. Jede Schwester hatte ihren Platz. Clara saß in der ersten Reihe, also im Blickfeld der Äbtissin. Heute war ihr das überhaupt nicht recht, und sie fühlte sich überhaupt nicht wohl in der Kapelle. Wenn sie kniete, stöhnte sie auf. Die Worte der Gebete bereiteten ihr fast körperliche Schmerzen. Die Wände der Kapelle waren für sie brutale Drohungen, die irgendwann auf sie zukamen, um sie mit ihrer gewaltigen Kraft zu zerdrücken. Clara erlebte einen Horror wie nie zuvor. Der kalte Schweiß brach ihr aus, sie flüsterte einige Worte, die mit den Gebeten nichts zu tun hatten. Als sie kniete, hatte sie das Gefühl, als würden Nägel in ihre Knie getrieben. Diese Frühmesse glich einer Folter. Manchmal schwankte sie sogar, wurde von den neben ihr betenden Schwestern gehalten und auch gefragt, was sie hätte. »Nichts«, flüsterte Clara. »Es ist nichts…« Sie wollte mit niemandem darüber reden. Nicht, daß sie etwas gegen ihre Mitschwestern gehabt hätte, aber von ihnen konnte keine ihren Zustand begreifen, und sie begriff ihn selbst nicht. Fs war zu ungewöhnlich, und es war über sie gekommen wie ein harter Schlag. Clara wußte, daß sich von nun an ihr Leben verändert hatte. Es würde nicht mehr in denselben Bahnen ablaufen, wie es schon einmal passiert war. Da war eine Kraft in sie hineingefahren, die für diese radikale Veränderung gesorgt hatte. Oder war die Kraft schon immer in ihr gewesen? Hatte sie tief in ihrer Psyche gelauert, und hatte es nur eines gewissen Anstoßes bedurft, um sie hervorkommen zu lassen? Auch die Kapelle lag in einer gewissen Düsternis. Sie kam Clara vor wie ein übergroßes Grab. Hinter und neben Clara murmelten ihre Mitschwestern die Gebete. Das ständige Murmeln überkam Clara wie ein Rausch. Aus den zahlreichen Stimmern und Worten bildeten sich Wellen, die gegen die Innenmauern
der Kapelle brandeten und dafür sorgten, daß sie sich bewegten wie große Wogen. So jedenfalls dachte Clara Montero, wenn sie hinschaute. Ein Schauer rann über ihren Rücken. Kalt und breit. Als wäre sie von den Fingernägeln einer Teufelshand gestreift worden. Wie ein Blitzstrahl zuckte es durch ihr Hirn. Sie dachte wieder an die Schatten. War es der Teufel gewesen? Hatte er sich verkleidet? Oder hing alles mit dem Foto zusammen? Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil die Nachbarin sie anstieß. Alle anderen Nonnen hatten sich erhoben, nur Clara war noch auf den Knien geblieben. Auch sie stand jetzt hastig auf. Vor ihr stand die Schwester Oberin. Die Frau schien nur Augen für Clara zu haben. Hart schaute sie ihr ins Gesicht. Die Gestalt der Oberin bewegte sich nicht. Sie schien versteinert zu sein, ihr Blick war eisig, das Gesicht ein weißer Fleck unter der Haube. Dann zuckte der Schatten über die Züge hinweg. Blitzartig, konturenlos. Clara erschrak. Sie kannte den Schatten ja. Zweimal hatte sie ihn gesehen. Sie schwankte wieder. Das Gefühl der Angst verstärkte sich noch mehr und preßte ihre Brust zusammen. Sie konnte selbst nicht sagen, wie sie es geschafft hatte, die Messe durchzustehen. Sie tat alles automatisch, es war ihr in all der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen, und dann wollte sie einfach nur weg. Die Kapelle so schnell wie möglich verlassen. Keinen mehr sehen, mit keinem reden, sich zurückziehen und… »Clara?« Sie hob den Kopf. Die Stimme hatte sie längst erkannt. Die Äbtissin hatte sie angesprochen. Beide Frauen schauten sich an. »Clara, ich weiß, daß es dir nicht gutgeht. Ich möchte, daß du zu mir kommst.« Clara nickte und fragte trotzdem. »Jetzt sofort?« »Ja, noch vor dem Frühstück. Du kannst auch eine Tasse Kaffee bei mir trinken. Sie wird dir guttun.« »Vielleicht.« »Dann komm, bitte.« Die Äbtissin umfaßte ihren Arm und zog sie einfach mit. Clara kam sich wie ein Kind vor, das von der Mutter weggebracht wurde. Natürlich blieb ihr Abgang nicht unbemerkt. Einige Mitschwestern bedachten sie mit mitleidigen Blicken. Sie kannten das Spiel. Wen die Äbtissin so anfaßte, um eine gewisse Macht zu dokumentieren, der hatte oft genug eine Strafpredigt zu erwarten.
Sie brauchten nicht sehr weit zu gehen und betraten das Büro der Klostervorsteherin, wo sie auch ihre Besucher empfing. Es war spartanisch eingerichtet. Der Oberin kam es auf den Zweck an und nicht auf das Design. Durch das große Fenster fanden die Strahlen der Sonne ihren Weg und leuchteten den Raum aus. Ein großes Kreuz hing hinter dem Schreibtisch an der Wand. Es war beherrschend, und so sollte es auch sein. Clara mied den Blick auf das Kreuz. Sie schaute dafür zu Boden und tat so, als müsse sie überlegen. »Setz dich doch, meine Tochter…« »Gleich, Schwester Oberin, gleich…« »Ich koche uns erst einmal einen Kaffee.« »Ja.« Clara Montero stand am Fenster. Sie hörte die Frau gehen. Auf dem Steinboden hatten ihre Schritte helle Echos hinterlassen, die Clara sehr genau verfolgte. Die kleine Kaffeemaschine stand auf einer Anrichte. Erst als die Schritte der Oberin verstummten, drehte sich die junge Nonne wieder um. Ihre Vorgesetzte stand in gebückter Haltung vor der Maschine und öffnete die Dose, die Kaffee enthielt. Sie ging vor. Sie spürte den Drang. Sie merkte den Haß. Und sie sah die Schere. Harmlos lag sie auf dem Schreibtisch, denn sie wurde von der Oberin auch als Brieföffner benutzt. Über der Schere tanzte plötzlich der Schatten. Aus dem Nichts war er gekommen, und Clara hörte in ihrem Kopf eine Stimme, deren Worte einen Befehl formulierten. >Tu es! Und tue es jetzt! < Dann stand sie vor dem Schreibtisch. Sie brauchte nur den Arm auszustrecken, um die Schere zu erreichen. >Tue es!< Clara tat es. Es wurde ihr gar nicht richtig bewußt. Sie handelte wie unter Zwang. Die Oberin hatte den Deckel endlich von der Dose abheben können. In ihr befand sich auch der kleine Löffel. Er steckte wie ein Speer im braunen Kaffee. Die Frau wußte genau, wie viele Löffel sie abmessen mußte und konzentrierte sich auf das Zählen. Clara Montero aber konzentrierte sich auf sie. Und sie hielt jetzt die Schere fest. Ihre beiden Schenkel klemmten dicht zusammen, bildeten eine Linie.
Vor sich sah die den runden Rücken der Oberin, weil die Frau gebückt vor der Maschine stand. Er bot ein sehr gutes Ziel, und über die Lippen der Nonne glitt ein böses Lächeln. Wieder erschien der Schatten. Fr huschte über den Rücken der Oberin hinweg, ohne daß er von ihr bemerkt wurde. Aber Clara sah ihn. Er gab ihr das Ziel vor. Noch ein Schritt nach vorn, sie blieb stehen, holte tief Luft, hob den rechten Arm. Dann stieß sie zu. Ihr Gesicht verzerrte sich dabei. Man konnte nicht sagen, ob sie lächelte, oder ob sie die schreckliche Bluttat anwiderte. Die Schere ließ sie im Rücken der Oberin stecken, atmete tief durch und bewegte sich plötzlich sehr schnell. Obwohl sie zuvor keinen Plan gebastelt hatte, wußte sie genau, was sie zu tun hatte. Auf leisen Sohlen verließ sie das Zimmer und lief zurück in ihre Zelle. Dort packte sie das Nötigste zusammen. Während die anderen Nonnen gemeinsam frühstückten, verließ Clara ungesehen das Kloster. Erst jetzt fühlte sie sich befreit… *** »Sie können jetzt gehen, Henry, ich brauche Sie heute nicht mehr«, sagte Lady Anne Forrester und lächelte kantig. »Sehr wohl«, flüsterte der Butler und zog sich zurück. »Du bist aber großzügig«, sagte die zweite Frau, eine ältere Dame, die ein cremefarbenes Kostüm trug und von Lady Anne zum Tee eingeladen worden war. »Er soll sich auch mal einen freien Abend machen.« »Und? Nimmt er ihn wahr?« »Kaum.« »Dann bleibt er im Haus?« Lady Anne Forrester nahm wieder Platz. Sie schaute über den schmalen Tisch hinweg, an dessen anderem Ende ihre Freundin saß. Zwischen ihnen standen der Tee, die Tassen und befand sich auch die Schale mit dem Gebäck. »Ja, er bleibt im Haus. Wenn es dringend wird, ist er immer zur Stelle. Keine Sorge.« »Was heißt Sorge? Ich fand es nur etwas witzig.« Anne Forrester schloß die Augen. Sie konnte die Stimme ihrer Besucherin nicht mehr ertragen. Okay, sie kannten sich schon lange, auch wenn Anne über dreißig Jahre jünger war, aber dieser nörgelige Tonfall schlug ihr allmählich auf das Gemüt. Margret war mit sich und der Welt unzufrieden, denn ihr Leben lief stets nach denselben Riten ab. Jeden Tag ein >five-o-clock-TeaTu es!< »Ja«, hauchte er, »das werde ich.« »Was hast du gesagt?« »Schon gut.« »Können wir jetzt?« Skip ging einen Schritt auf den Kollegen zu. Der hatte nur in das Gesicht des Schauspielers geschaut und auch die Veränderung darin gesehen, die ihm angst machte. Richtige, heiße Furcht, die in ihm hochdrängte und das normale Denken überschwemmte. Da stimmte etwas nicht. Das war nicht der Skip Archer, den er seit einigen Jahren kannte. Das war ein anderer, obwohl er noch aussah wie Skip. Von ihm hatte etwas Besitz ergriffen, über das er nicht nachdenken wollte. Vielleicht etwas Teuflisches… Ernest stand auf. »Schon gut, Skip«, sagte er hektisch. »Schon gut. Falls ich dich beleidigt haben sollte, nimm es nicht so tragisch. Das habe ich nicht gewollt.«
Er drehte sich um und wollte zur Tür, aber Archer griff blitzschnell zu. Seine Finger waren wie Stahlklammern, die ihn festhielten und herumrissen. Fr prallte gegen Skip. »Verdammt, was…?« Archer schlug zu. Er tat es wie ein Boxer beim Kampf, zog diesen gewaltigen Heumacher von unten her hoch, so daß die Faust am Kinn des Mannes explodierte. Ernest war nur ein Leichtgewicht. Er wurde gegen die Tür geschleudert, und dann brach er zusammen. Sein Kopf schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen. Wo sich einmal sein Kinn befunden hatte, war nichts mehr. Nur das taube Gefühl, als hätte man es ihm abgehackt. Archer ging methodisch vor. Er war dabei raffiniert und eiskalt. Mit sicheren Bewegungen hob erden Stuhl an, auf dem der Regisseur gesessen hatte. Das kleine Möbelstück hatte Metallbeine. Archer grinste böse. Ernest wollte sich wieder auf die Beine quälen. Er hatte sich schon gedreht und schaute zufällig in Skips Richtung. Er sah ihn, er sah den Stuhl, den Archer angehoben hatte, und er wußte, was ihm bevorstand. Der Treffer am Kinn hatte auch seinen Sprechmechanimus gelähmt, und Skip Archer schlug zu. Er tat es so lange, bis er sicher war, daß sich Ernest nicht mehr rührte. Dann schleifte er den Toten in eine Ecke, drehte sich um und warf einen Blick in die Spiegel. Dort sah er die Schattenfratze. Sie lächelte ihm zu. Gut gemacht, sollte das heißen. Und Skip Archer lächelte zurück, bevor er die Garderobe verließ, als wäre nichts geschehen. Das Theater verließ er durch einen Hinterausgang. Er würde hierher nicht mehr zurückkehren… *** Cora Vandell trug nur noch ein schillerndes Nichts von Slip. Es glich schon einem kleinen Wunder, das die schillernden Perlen noch ihren Platz darauf gefunden hatten, aber sie mußten sein, denn das Glas reflektierte das Licht der beiden Scheinwerfer, das sich auf die runde Tanzfläche mit der in der Mitte hochragenden Metallstange ergoß. Diese Fläche war Coras Arbeitsplatz. Sie strippte!
Cora gehörte zu den jungen Frauen, die durch zwei Strips am Abend ihr Geld verdienten und dadurch ihren Lebensunterhalt bestritten. Und das gar nicht mal schlecht, denn sie gehörte zu den Tänzerinnen, die gut und dementsprechend gefragt waren. Zudem konnte sie gut schauspielern, so daß die Besucher der Bar das Gefühl bekamen, sie würde ihnen tatsächlich etwas Echtes bieten. In Wirklichkeit aber kotzten sie die alten, geilen Kerle an. Sie hätte jedem einzelnen am liebsten ins Gesicht gespuckt, aber das wiederum konnte sie sich nicht leisten, dann wäre sie ihren Job auf der Stelle los gewesen. Cora war sowieso nicht gerade beliebt, weil sie sich eben zurückhielt und die Angebote der Gäste ignorierte. Das machte den Manager der Bar wütend, denn er wurde von den Kunden oft genug bestochen, damit er ihnen Cora zuführte. Sie hatte immer abgelehnt. Und Pirelli ärgerte sich. Er war der Boß, er wurde immer wütender und hatte ihr schon gedroht. Bisher war sie standhaft geblieben. Wiederzog sie ihre Schau ab, umarmte die glänzende Metallstange als wäre sie ihr Liebhaber und preßte ihren Körper mit einer bestimmten Stelle fest dagegen. Sie hatte den Kopf dabei zurückgelehnt. Das silbrig schimmernde Blondhaar fiel nach hinten wie ein Vorhang. Ihr Gesicht war den Gaffern zugedreht, die sie selbst nicht erkennen konnte, denn sie hockten im Dunkeln vor der erhöhten Tanzfläche. Nur hin und wieder tauchte ein blasses Gesicht aus dem dunklen Dunst hervor. Zumeist verschwitzt und mit aufgerissenen Augen. Wie sie diese Kerle haßte! Ihr fettes Lachen, ihre schnellen Finger, ihr Gehabe. Zu Hause warteten dann die Ehefrauen und glaubten ihre Männer in wichtigen Besprechungen. Aber sie tanzte weiter, und sie machte es gut, denn sie schaffte es auch, das Gesicht mitspielen zu lassen. Sie öffnete den Mund, sie atmete manchmal so keuchend, daß selbst die leise Begleitmusik übertönt wurde. Sie spielte mit ihren Brüsten, sie streichelte sich, und immer wieder berührten die Hände den Rand ihres winzigen Slips. Noch streifte sie ihn nicht ab. Diese Metallstange sollte noch einige Zeit der Ersatz für einen Liebhaber sein. Weiter ging sie nicht, obwohl schon lukrative Angebote gekommen waren, was einen echten Akt auf der Bühne anging. Es gab da gewisse Clubs, wo so etwas durchgeführt wurde, nur ohne Cora. Eine gewisse Moral hatte sie sich bewahrt. Cora Vandell tanzte weiter – und sah die Schatten! Aus dem linken der beiden Strahlerschienen sie herausgesprungen zu sein, und sie waren urplötzlich da. Sie tanzten hektisch zwischen ihr und dem Strahler, bewegten sich wie mit zackigen Flügeln ausgerüstet, und
sie mußte plötzlich wieder an ein bestimmtes Foto denken, das man ihr zugeschickt hatte. Die Schatten, das Foto… Beides brachte sie nicht zum erstenmal miteinander in Verbindung. Es gab also eine tiefere Bedeutung zwischen ihnen, und sie fühlte sich dabei wie der Punkt eines Dreiecks. Die Schatten huschten auf sie zu. Sie zielten gegen ihr Gesicht. Unwillkürlich senkte sie den Kopf, was nicht in diesen Tanz-Rhythmus hineinpaßte, aber sie hatte Angst, daß die Schatten sie überfallen könnten und sah, bevor sie für einen Moment ihre Augen schloß, aus den Schatten eine Fratze hervorwischen. Verzerrt, verschoben in den Proportionen – dreieckig. Wie das Gesicht des Teufels. Dann war alles weg und Cora konnte ihren Tanz fortsetzen. Nicht mehr mit der geschauspielerten Begeisterung, ihr Strip zeigte jetzt deutlich einen Anflug von Routine. Cora löste sich von der Stange, drehte sich, die Daumen hatten bereits den Sliprand erreicht, um das perlenbesetzte Stück Stoff nach unten zu ziehen. Ihre Brüste schaukelten bei jeder Bewegung. Sie wußte, daß sie die Männer damit verrückt machen konnte. Hinzu kamen die schmale Taille und die langen Beine mit den festen Oberschenkeln. Auf ihre Figur konnte die Fünfundzwanzigjährige stolz sein. Der Slip fiel, sie drehte sich einmal, dann erlosch das Licht, und Cora huschte im Dunkeln weg. Sie kannte den Weg genau, der Vorhang berührte ihr Gesicht, während hinter ihr der Beifall der Gäste aufklang, vermischt mit einigen Pfiffen. Darauf konnte sie verzichten, und ihr Gesicht wurde wütend. Hinter dem Vorhang war der Gang erhellt. Ihr Bademantel hing an der linken Seite. Sie streifte ihn so hastig über, als hätte sie Angst davor, von jemandem nackt gesehen zu werden. Dann lief sie weiter. Ihre Absätze klackten auf dem Boden. Die Garderobe lag an der linken Seite, wo zwei weitere Tänzerinnen hockten und auf ihren Auftritt warteten. Die eine rauchte und las in einem Magazin, die andere strickte für ihr Kind einen Pullover. Beide Mädchen waren froh, den Job bekommen zu haben, denn sie hatten zuvor als Peep Show Girls ihr Geld verdient und dies später als entwürdigend gefunden. »Geschafft«, sagte Cora und warf den Mantel über eine Lehne. »Für heute war es das.« »Hast du morgen nicht frei?« »Ja.« »Schönen Tag.« »Mal sehen.«
Sie schminkte sich diesmal nicht ab, streifte sofort ihre normale Kleidung über, die nichts Erotisches oder Aufreizendes an sich hatte. Eine Bluse, eine Jacke, ein Rock. Und auch die Perücke war in die Ecke geflogen. Coras Haar war von Natur aus rötlichblond. Es wuchs sehr buschig, war schwer zu bändigen, und sie hatte es zu beiden Seiten des Mittelscheitels hin von ihrem Kopf weggekämmt. Mit dieser Frisur war sie einigermaßen zufrieden. Zweimal strich sie mit der Bürste durch die widerspenstige Flut und steckte noch Klammern hinein. »So, Kinder, dann…« Die Tür wurde aufgestoßen. Ralph stand auf der Schwelle. Er war in der Bar Mädchen für alles. Ein Klotz, ein Kanten, ein Kerl, der die Gewalt liebte und sie oft genug auch als Argument einsetzte. Cora wußte sofort, daß er ihretwegen gekommen war, und er nickte ihr auch zu. »Du sollst zu Pirelli kommen.« »Wann?« »Jetzt!« Ausgerechnet in dieser Nacht. Cora ärgerte sich. Sie verfluchte Pirelli in die tiefste Hölle, aber sie wagte nicht, seinem Adlatus zu widersprechen. Statt dessen lächelte sie und sagte: »Ich gehe gleich mit dir, Ralph. Ist das okay?« »Ist es.« Er ließ sie vorgehen. Über Coras Rücken lief ein kühler Schauer, als sie die Schritte des Mannes hinter sich hörte. Sein Schatten zeichnete sich an der Wand ab, wanderte bei jedem Schritt weiter mit und wirkte bedrohlich wie ein Monstrum. Pirelli wartete an der Bar, wo er nach seinen Bürostunden hockte und dem Programm zuschaute. Im Augenblick >tanzten< einige Paare. Da begann die große Fummelei mit den Animiermädchen, aber das interessierte Cora nicht. Pirelli war ein schleimiger Typ. Schmal, schwarzhaarig, mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. Er hatte kleine Augen, aber zu dünne Brauen, die wie gezupft wirkten. Er trug einen blauen Smoking, darunter ein Rüschenhemd, einen dicken Siegelring am kleinen Finger und war ebenfalls scharf auf Cora. Aber auch er hatte es noch nicht geschafft, sie ins Bett zu bekommen. »Da bist du ja, Süße.« »Ja.« Sie nahm Platz. Pirelli trank einen Schluck Wein. Er liebte den Roten aus Italien. Man sagte ihm auch nach, daß er zur Mafia gehöre, doch beweisen konnte es niemand. Von den anderen Gästen an der Bar sah Cora nichts. Sie drehte ihnen den Rücken zu.
Hinter der Theke stand eine Blondine mit trüben Augen. Sie kokste heimlich, was gefährlich war, aber sie war gut. Die Männer fraßen ihr aus der Hand. »Willst du was trinken?« »Nein, danke, ich möchte so schnell wie möglich nach Hause. Außerdem muß ich noch fahren. Morgen ist mein freier Tag, da möchte ich mich etwas ausruhen.« »Tu das.« Er sprach und schaute sie nicht an. Auch bei den nächsten Worten nicht. »Du warst heute nicht gut, Schätzchen.« »Ich weiß. Jeder hat mal einen schwachen Tag, den mußt du mir auch zugestehen, Pirelli.« Jetzt blickte er hoch. »Klar, den gestehe ich dir zu. Die Gäste haben sowieso nichts bemerkt. Heute sind viele neue darunter, aber ich möchte nicht, daß sich dies wiederholt.« »Klar, Pirelli, verspreche ich dir.« Sie atmete innerlich auf. Wenn das alles gewesen war, was er ihr hatte sagen wollen, konnte sie sich jetzt verabschieden. Das war es leider nicht, denn Pirelli sprach weiter. »Eine Kleinigkeit hätte ich da noch auf dem Herzen.« Cora Vandell wurde plötzlich kalt. Wenn Pirelli so sanft sprach, verbarg sich meistens mehr hinter dieser Kleinigkeit. Da folgte ein dicker Hammer. »Was denn noch?« Er atmete seufzend. »Du weißt es sicher, Cora. Du bist die Beste hier, und du bist sehr schön, du hast einen Körper, den man als ideal bezeichnen kann. Die Gäste sind scharf auf dich. Sie würden viel zahlen, um mit dir zusammen sein zu können. Du hast bisher abgelehnt, Cora, was ich überhaupt nicht gut finde…« »Ich mache meinen Job, verdammt!« Sie wunderte sich über ihren Mut. »Und mehr nicht.« »Bis heute.« Cora schüttelte den Kopf. Sie hatte ein etwas puppenhaft wirkendes, noch junges Gesicht mit großen Augen und einem breiten Schmollmund. »Auch nicht in Zukunft.« Pirelli hob seine Stimme etwas an. »Ab übermorgen, Süße! Nach deinem freien Tag wirst du dein Gehabe verändert haben. Du tust es nicht umsonst, es wird einiges dabei an Geld…« »Ich habe genug!« Aus Pirellis Augen wurden plötzlich dunkle Eisklumpen. »Soll das heißen, daß du dich weigerst?« »Ja, das soll es.« »Das finde ich nicht gut.« »Es ist dein Problem, Pirelli. Ich gehöre niemandem, nur mir selbst. Das müßtest du wissen.«
»Ja, du hast es mir oft genug gesagt.« »Eben.« »Aber es war nicht richtig, Cora.« Er faßte nach ihrer Hand, sie schrak zusammen, dann glitten seine schwitzigen Finger höher, bis sie sich um ihr Gelenk drehten und auch dort blieben. Dieser Griff hatte etwas Besitzergreifendes an sich, und wieder einmal spürte sie die Macht dieses Mannes. Sie wehrte sich trotzdem. »Es bleibt dabei«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Dein letztes Wort?« »Sogar mein allerletztes.« Pirelli schüttelte den Kopf und schaffte es sogar, besorgt auszusehen. »Das ist schade, Cora, sehr schade. Man will, daß du mehr Geld bringst, was soll ich machen?« »Das ist nicht mein Problem«, erklärte sie kalt. »Überhaupt nicht, Pirelli.« Sie rutschte vom Hocker. »Außerdem bin ich müde und will endlich nach Hause.« »Sicher, du kannst gehen.« »Danke.« Cora drehte sich hastig um. Sie schaute nicht zurück und sah nicht das kalte Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, der dann mit seinen Fingern schnippte. Cora wollte nicht durch die Bar gehen, sondern hielt sich an den Hinterausgang. Der führte zwar in einen schmutzigen Hof, aber das war ihr egal. Die Gedanken schössen durch ihren Kopf. Dieser Vorschlag war nicht neu gewesen, sie hatte ihn schon öfter gehört, aber nie war er mit einer derartigen Intensität ausgesprochen worden. Pirelli schien es diesmal ernst zu sein. Was würde geschehen, wenn sie sich weigerte? Der Druck stieg dann an, und sicherlich würde es nicht nur bei verbalen Drohungen bleiben. Der Barbesitzer war ein Sadist, so jedenfalls schätzte sie ihn ein, und gleichzeitig jemand, der über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen. Als sie daran dachte, schauderte sie. Allein das Wort Leichen machte ihr Angst. Im Hof war es dunkel. Sie atmete tief durch. Die blasse Lampe über der Tür gab einen bläulichweißen Schein ab, der sich wie eine starre Wolke verteilte. Cora schaute für einen Moment hinein – und entdeckte den Schatten abermals. Er jagte durch das Licht und verlor sich in der Dunkelheit. Gleichzeitig hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Es war eine geflüsterte telepathische Botschaft. >Du brauchst dich nicht zu fürchten, Cora. Du nicht…
Töte ihn! Fahr einfach los!< Cora hörte die Worte. Sie wußte erst nicht, ob sie diese auch richtig verstanden hatte. Aber die Stimme wiederholte sich. Und Cora nickte. Im selben Augenblick hob Ralph die Arme. Er drückte beide Hände zusammen, so daß er eine Faust bilden konnte. Der Stripperin war klar, was er vorhatte. Er würde seine Faust auf die Motorhaube schlagen… Sie dachte nicht mehr weiter. Start – und Gas! Das packte Ralph nicht, das war ihm einfach eine Etage zu hoch, damit hätte er nicht gerechnet, und gegen die bullige Kraft eines Kleinwagens kam auch er nicht an. Sein Gesicht zeigte Staunen, dann einen Anflug von Erschrecken, mehr sah Cora nicht, denn da rammte der Wagen bereits den Körper und stieß ihn um. Sie hörte keinen Schrei, vernahm auch kein Aufprallgeräusch, aber sie überfuhr ihn zuerst mit den Vorderreifen, danach mit den hinteren. Zweimal merkte sie den Ruck. Und beide Male löste sich aus ihrem Mund ein kaltes, hartes Lachen. Eigentlich hätte sie jetzt auf die Ausfahrt zurollen müssen, das tat sie nicht, denn sie besaß die Nerven, schon nach wenigen Yards den Wagen wieder anzuhalten. Sie schaute in den Rück- und den Innenspiegel. Ralph lag auf dem Boden. Die Beine hatte er angezogen, die linke Schulter erhoben, und mit der rechten Hand stützte er sich am Boden ab, weil er sich wieder in die Höhe stemmen wollte. Er war nicht ausgeschaltet. >Zurück!< Da war wieder die Stimme in ihrem Kopf. >Du mußt zurückfahren!< Cora gehorchte. Sie würde alles tun, was ihr die unbekannte Stimme befahl. Ihre Bewegungen wirkten nicht einmal hektisch, als sie den Rückwärtsgang einlegte. Sie war ruhig, sogar eiskalt. Nur so konnte man ein gewisses Problem angehen. Der Wagen rollte zurück. Das hatte auch Ralph gesehen oder gehört. Er befand sich noch immer in dieser halb aufgestützten und zur Seite gedrehten Haltung. Sogar sein
Gesicht konnte sie erkennen, das zu einer Maske aus Schmerz und Entsetzen geworden war. Es war ihr egal. Um so etwas konnte und durfte sie sich nicht kümmern. Dieser Kerl mußte seine Strafe erhalten. Und wieder bekam sie den Aufprall deutlich mit. Sie merkte auch, daß sich zuerst die Hinterräder lösten und buchstäblich über den Körper hinwegsprangen, wobei sie ihn gleichzeitig zusammendrückten. Einen Moment später waren die Vorderräder an der Reihe. Und diesmal hörte sie einen Schrei. Er war schlimm, aber er berührte sie nicht. In der letzten Minute war die Stripperin Cora Vandell zu einer anderen Person geworden. Zwar sah sie äußerlich so aus wie immer, doch ihr Seelenleben hatte sich verändert. Sie wußte jetzt, daß sie einen völlig neuen Weg eingeschlagen hatte, den Weg nach vorn. Nichts bereute sie. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, als sie über die breite hellerleuchtete Auffahrt fuhr und dabei an ein bestimmtes Foto dachte… »Ich habe da ein Problem«, sagte Sir James Powell, wobei er auf die beiden Stühle deutete, damit Suko und ich unsere Platze einnehmen konnten. Wir schauten uns an. Beide zeigten wir keinen begeisterten Gesichtsausdruck, denn wir kannten den Superintendent. Wenn er so sanft redete, steckte hinter dem Problem zumeist eine verdammt haarige Sache, die nicht so einfach zu lösen war und die uns in Schwierigkeiten bringen konnte. »Wo drückt denn der Schuh, Sir?« fragte ich. »Es ist weniger der Schuh als mein Kopf. Oder mein Gehirn, wie Sie es wollen.« »Wir hören«, sagte Suko. Sir James nickte uns über den Schreibtisch hinweg zu. »Es geht um vier Tote, um vier Morde, die mir den Kopf zerbrechen, und die auf den ersten Blick überhaupt nichts gemeinsam haben. Diese vier Morde sind innerhalb von zwei Tagen und zwei Nächten an verschiedenen Stellen in London begangen worden, und es hat Personen getroffen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.« »Wen denn, Sir?« »Eine Äbtissin, eine ältere Adelige, einen Regisseur und einen BarRausschmeißer!« Er hatte sehr schnell gesprochen, damit er nicht in Gefahr lief, von uns unterbrochen zu werden. Das hatten wir auch nicht vor, nur hatten wir mit einer derartigen Eröffnung nicht gerechnet und saßen da wie zwei Schüler, die vor einer Mathematikaufgabe kapitulierten und dabei von ihrem Lehrer beobachtet wurden. Um überhaupt etwas zu sagen, fragte ich: »Und das stimmt alles, Sir? Sie haben uns keinen Bären aufgebunden?«
Ich bekam eine ärgerliche Antwort. »Mit diesen Dingen treibe ich keine Scherze, John.« »Pardon.« »Schon gut.« Sir James sprach weiter. »Die Überraschung kommt noch, meine Herren. Man kennt nämlich die Täter.« »Wie?« »Ja, die Mörder sind bekannt. Es gibt vier Opfer, und es gibt vier Täter.« Suko lächelte und sagte in einem lockeren Tonfall. »Dann sperren Sie die Leute doch einfach ein.« Er erntete einen bösen Blick unseres Chefs. Und ich bekam ihn gleich mit. »Wenn das so einfach wäre, säßen die Killer hinter Gittern, so daß Sie in Ihrem Büro wären oder sich mit einem anderen Fall beschäftigen könnten. Aber so einfach ist es nicht, verdammt!« Wenn Sir James so aus der Haut fuhr, dann war ihm ein Fall auf den Magen geschlagen. »Die Täter sind uns bekannt, und sie sind leider flüchtig. Verstehen Sie?« »Sicher.« »Und was ergab die Fahndung?« fragte Suko. »Auf die haben wir verzichtet!« erklärte Sir James und lächelte nahezu satt. Das wurde immer schlimmer, und für uns bedeutete so etwas noch mehr Probleme. »Sollen wir sie fangen?« fragte Suko. »Genau.« »Dann sind es keine normalen Mörder«, warf ich in die Diskussion. »In welcher Verbindung stehen sie zur schwarzen Magie. Oder sind die Menschen von Dämonen umgebracht worden?« Sir James sprach erst mal nicht. Eröffnete eine Mappe und begann damit, Papiere durchzublättern. Dabei murmelte er etwas vor sich hin, was wir nicht verstanden, hinter den dicken Gläsern der Brille bewegten sich nur seine Augen. Endlich hatte er das Blatt gefunden, strich es glatt und fing an, davon abzulesen. Er sprach laut und deutlich, damit wir ihn auch verstehen konnten. »Die Äbtissin wurde von einer Nonne mit einer Schere umgebracht. Die Mörderin heißt Clara Montero. Die adelige Lady wurde mit einem Kerzenleuchter erschlagen. Die Täterin war die Freundin der Toten. Sie heißt Anne Forrester. Der Regisseur wurde ebenfalls erschlagen. Und zwar von einem Schauspieler namens Skip Archer. Das wurde alles von den Kollegen schon festgestellt. Ralph Hopkins, der Rausschmeißer und vorbestrafte Verbrecher, ist überfahren worden. Und zwar mehrere Male. Seine wahrscheinliche Mörderin ist eine Stripperin namens Cora Vandell. So, meine Herren, jetzt wissen sie alles.«
»Das ist viel«, sagte ich. »Wo bekommt man schon die Täter und die Namen ihrer Opfer präsentiert.« »Ja, ganz einfach.« Sir James verzog die Lippen. »Offiziell existiert auch keine Verbindung zwischen den Ermordeten. Oder können Sie sich da eine vorstellen?« »Bestimmt nicht.« »Ich auch nicht. Die Kollegen von der Mordkommission stehen ebenfalls vor einem Rätsel. Zwei Fälle wurden von Chiefinspektor Tanner bearbeitet. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie sehr er das Blaue vom Himmel geflucht hat. Aber Tanner hat uns auch den entscheidenden Hinweis gegeben, es ist die einzige Spur, die wir haben. Die Wohnungen der Täter wurden gründlich durchsucht. So verschieden sie und ihre Behausungen auch waren, etwas allerdings hatten sie gemeinsam. Es waren zwei mit einer Polaroid-Kamera geschossene Fotos. Beide Bilder zeigten dasselbe Motiv. Dadurch sind wir natürlich mißtrauisch geworden, und das Mißtrauen hat sich gelohnt. Die Suche übrigens auch. Wir fanden bei den anderen beiden Opfer ebenfalls die Fotos, die dasselbe Motiv zeigen.« Es wurde spannend. Ich drückte mich auf dem Stuhl etwas weiter vor. »Wo sind die Fotos?« »Hier!« Beinahe triumphierend hob sie der Superintendent in die Höhe. Sie befanden sich noch in einer Plastikhülle, aber wir konnten erkennen, das sie dieselben Motive zeigten. Zwei dieser quadratischen Bilder holte Sir James hervor. Eines nahm Suko, das andere ich. Wir verglichen, wir nickten und schauten noch einmal genau hin, denn das Motiv entbehrte nicht einer gewissen Brisanz. Es war im Freien aufgenommen worden und zeigte einen Haufen kantiger Steine, die wie Balken aussahen, wobei der eine oder andere breiter oder schmaler war. Sie lagen übereinander, als wollten sie eine Öffnung verdecken. Sie waren grau, beinahe schwarz, und karges Gestrüpp umwuchs die Steine wie starre Arme. Fast gleichzeitig ließen wir die Fotos sinken und schauten Sir James Powell an. »Nun?« »Schlecht zu sagen«, meinte Suko. Sir James trank einen Schluck Wasser und verzog das Gesicht. Wahrscheinlich war das Zeug zu warm. »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich weiß, wo die Bilder aufgenommen wurden.« »Dann sind Sie schlauer als wir, Sir.« »Sie haben es erfaßt, John. Ich gehe davon aus, daß diese Reste zu einem Grabstein gehören. Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt, daß es einmal ein Grabstein gewesen ist, der zerstört wurde. Auf irgendeinem alten Friedhof.« Suko widersprach nicht, auch ich hielt mich zurück, aber
ich schickte meine Gedanken bereits voraus. Wenn das so war, konnten wir uns >totsuchenDoch, du kannst fahren. Du kannst es. Jetzt kannst du alles. Du stehst unter meinem Schutz.< Da war die Stimme aus der Hölle wieder, und sie schaffte es auch, ihr Mut zu machen. Clara Montero riß sich zusammen. Aus ihrer Kehle drang ein tiefes Brummen. Sie spürte den anderen Druck, der nicht von ihr stammte, sondern aus einer anderen Welt war, die sie nicht kannte, die hinter der sichtbaren verborgen lag, wo das Böse regierte, das ihr so gut gefiel. Plötzlich machte es ihr nichts mehr aus, daß sich ihre Zunge verändert hatte. Im Gegenteil, sie empfand es sogar als gut, denn sie ging davon aus, daß sie die Zunge als Waffe einsetzen konnte. Gegen die Menschen, auch gegen Laurie… Das würde ein Spaß werden. Und mit diesem Gedanken schlug sie wieder den Weg in das Lokal ein…
*** Laurie Warren schaute ihre Mitfahrerin erstaunt an. »Sie sind aber lange geblieben«, sagte sie. »Pardon, aber…« Laurie ließ sie nicht ausreden. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Clara?« »Wieso?« »Nun ja, Sie sehen ziemlich schlecht aus. Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber Sie sehen blaß aus.« Lauries Blick war voller Sorge auf Clara gerichtet. Clara senkte den Kopf. Jetzt mußt du dich zusammenreißen. Jetzt nur nicht durchdrehen, sich nichts anmerken lassen. »Sie haben recht, Laurie, es ging mir tatsächlich nicht so gut. Mir war übel, aber das lag nicht am Essen, sondern daran, daß es so viel gewesen ist, was ich nicht gewohnt bin. Wir schlagen uns im Kloster nicht die Bäuche voll, wenn ich das einmal so profan ausdrücken kann.« Dann lächelte sie. »Aber geschmeckt hat es trotzdem.« »Das freut mich. Möchten Sie einen Magenbitter, einen Schnaps, einen Weinbrand…« »Nichts von dem. Danke.« »Dann können wir fahren?« »Gern.« »Gut, ich habe bereits die Rechnung beglichen…« »Ich habe mich nicht einmal bei Ihnen bedankt, Laurie.« »Das ist doch egal.« »Nein, ist es nicht. Ein herzliches Dankeschön, Laurie. Ich fand es sehr nett.« Laurie Warren senkte verlegen den Blick. Sie räusperte sich, dann fragte sie: »Wie sieht es denn mit Ihrem Ziel aus, Clara. Wo kann ich Sie hinbringen?« »Ich sage Ihnen schon Bescheid.« »Gut.« Laurie lächelte und band wieder ihr Kopftuch um. »Dann lassen Sie uns fahren.« Am Wagen überkam Clara wieder der Eindruck, als würde ihre Zunge noch wachsen. Sie überlegte, was sie tun sollte und drehte dem Golf den Rücken zu, damit Laurie nicht ihr Gesicht beobachten konnte. Clara versuchte inzwischen, die Zunge aufzurollen. Sie mußte es irgendwie schaffen, sonst wurde der Druck zu groß, so daß es ihr nicht mehr möglich war, den Mund geschlossen zu halten. Und sie wußte auch, daß sie sehr bald über Laurie herfallen würde, denn die Veränderung ließ sich bestimmt nicht stoppen, zudem überkam sie der Eindruck, als würde von ihrem Magen her Feuer in die Kehle
hochsteigen, um dort alles bis in den kleinsten Winkel mit seinem Brand auszufühlen. Das war das Zeichen des Satans! Clara stieg ein. Laurie warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Sie wollen sicherlich in ein Kloster.« »Nein, aber in so etwas Ähnliches. Der Treffpunkt ist ein altes Pfarrhaus. Es dauert wirklich nicht mehr lange. Sie können mich auch vorher absetzen, ich gehe den Rest dann zu Fuß.« Clara hatte auf eine bestimmte Reaktion der Frau spekuliert und sich nicht getauscht. Laurie Warren protestierte energisch. »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte sie bestimmt. »Ich bringe Sie bis ans Ziel.« »O danke, wenn Sie das wirklich tun wollen.« »Aber sicher.« Es läuft gut, dachte Clara. Es läuft verdammt gut! Laurie startete. Langsam rollten sie über den Parkplatz. Neben ihr hielt Clara den Mund geschlossen, konzentrierte sich dabei auf ihre veränderte Zunge und stellte fest, daß sie sie beim Sprechen kaum behinderte. Der Teufel stand ihr bei, es lief immer besser. »Stört Sie Musik?« fragte Laurie. »Nein, überhaupt nicht.« Der Sender brachte Popmusik, und Laurie fühlte sich wieder angetörnt, so daß sie sich um Clara nicht kümmerte, was dieser auch sehr recht war, da sie ihren eigenen Gedanken nachgehen wollte. Dabei behielt sie die einsame Landschaft im Auge, die ihren Plänen entgegenkam. Sie hatte Laurie natürlich einen Bären aufgebunden. Sie wollte nicht zu einem Pfarrhaus fahren, aber sie konnte ihr das eigentliche Ziel ebenfalls nicht sagen. Clara suchte nur nach einem Weg, der in das tiefe Gelände hineinführte, und wo sie sicher sein konnte, daß sie nicht durch Zeugen gestört wurde. Viel Zeit konnte sie sich nicht mehr lassen, und sie hörte bereits die Stimme des Bösen in ihrem Hirn. >Mach es bald, sehr bald.< Clara nickte, schaute auf Laurie, die nichts bemerkt hatte und entspannt hinter dem Lenkrad hockte, wobei sie die Melodien noch mitsummte. So machte ihr das Fahren Spaß. Sie fuhren auf die Berge zu. Manche Spitzen waren von einem leichten Dunstfilm umgeben, andere wiederum stachen klar, scharf und hellgrau gegen den Himmel. Auf die Abzweigung wurde schon vorher hingewiesen. Auf einem Holzschild standen Worte, die Laurie nicht gelesen hatte, das Schild war einfach zu schnell vorbei. Aber Clara nutzte die Chance. »Wir müssen gleich abfahren.«
Laurie stellte das Radio aus. Nur der Fahrtwind umrauschte die beiden Frauen noch. »Wohin denn?« »An der nächsten Abbiegung links.« »Sind Sie sicher?« »Ja.« Laurie lachte und hob die Schultern. »Wie Sie meinen. Ich fahre Sie auf jeden Fall noch hin und…« »Das ist wirklich nicht nötig.« »Doch – keine Widerrede.« Der Weg war schmal, von Bäumen und Gestrüpp umsäumt und führte in die Höhe, als wollte er direkt in die Berge hineinstoßen, um sich dort zu verlieren. Wichtig war die Einsamkeit, und die blieb auch. Laurie schien das nicht zu gefallen, denn sie schüttelte den Kopf. »Das ist eine seltsame Gegend«, meinte sie und bekam einen Schauer, denn es war kühler als auf der normalen Straße, weil die Baumkronen nur wenige Sonnenstrahlen durchließen. »Ich habe sie nicht ausgesucht.« »Kann ich mir denken.« Der Weg führte in eine Linkskurve. Die Nonne erkannte, daß er noch schmaler wurde, was ihr überhaupt nicht gefiel. Wenn sie etwas unternahm, mußte dies an einer Stelle geschehen, wo sie das Fahrzeug auch wenden konnte. »Halten Sie mal an, bitte.« »Jetzt?« »Ja, Laurie.« Als die Fahrerin gestoppt hatte, beugte sich Clara Montero nach vorn. Sie hoffte, daß sie gut genug schauspielerte, um bei Laurie Warren keinen Verdacht zu erregen. »Was ist mit Ihnen?« Die Nonne antwortete nicht. Sie beugte sich nach vorn und preßte beide Hände gegen ihr Gesicht. Aus ihrem Mund drang ein derartig tiefes Stöhnen, daß Laurie anfing, sich zu fürchten. Clara hatte ihren Gurt gelöst, sie schaukelte vor und wieder zurück, dann bekam ihr Körper einen Drall nach rechts und fiel der Fahrerin entgegen. Die hatte sich ebenfalls losgeschnallt und gedreht, denn sie wollte der Frau helfen. Clara klammerte sich an Lauries Schultern fest, die noch immer keinen Verdacht schöpfte. Beide Gesichter befanden sich nur noch eine Handspanne voneinander entfernt. Laurie Warren wollte etwas sagen. Sie hatte bereits angesetzt, da öffnete Clara den Mund. Dann geschah es. Es war schlimm, es war furchtbar und für eine Frau wie Laurie Warren nicht nachvollziehbar.
Etwas Langes, Glitschiges, Dunkelrotes peitschte aus der Mundöffnung der Nonne hervor. Mit einem klatschenden Laut landete es auf der Stirn der Fahrerin, die zusammenschrak, aber sonst nichts tat und unbeweglich dasaß. Sie spürte nur das Brennen auf der Haut. Noch immer starr bekam sie mit, wie diese widerliche Zunge den Weg nach unten fand und dabei die Sonnenbrille von der Nase riß. Laurie holte tief Luft. In dieses Geräusch hinein klang das Keuchen der Nonne. Und dann wanderte die Zunge. Sie glitt am Gesicht der Laurie Warren entlang nach unten, wischte klebrig über die Lippen hinweg, erreichte ihren Hals und drehte sich blitzschnell und zuckend. Sie wurde noch länger, sie umfaßte ihren Hals und wickelte sich darum wie eine Henkerschlinge. Das raubte ihr die Luft. Laurie durchflutete eine schreckliche Angst, sie konnte sich nicht wehren, aber sie wußte, daß sie in einer derartigen Klemme steckte, aus der sie nie wieder herauskommen würde. Die Nonne war wahnsinnig, sie war besessen, in ihr mußte ein Dämon stecken, der aus der Hölle kam, denn der Geruch nach Schwefeldämpfen drang in die Nase der Frau. Schwefel, der Teufel, die Hölle… Ihre Gedanken brachen ab. Sie würgte. Das Gesicht der anderen Frau war nur mehr ein Zerrbild. Es hatte noch menschliche Züge, aber die verdammte Zunge paßte nicht dazu, sie hätte eher zu einem Reptil gehören müssen. Wieso hatte ein Mensch…? Ihre Gedanken wurden unterbrochen, denn das tiefe Knurren aus dem Mund der Nonne zeigte ihr an, daß sie zufrieden war. Und die Zunge bewegte sich noch einmal. Laurie Warren riß den Mund auf, ohne jedoch Luft holen zu können. Ihr Hals war zugeschnürt, es gelang ihr nicht mehr, den für sie lebensnotwendigen Sauerstoff aufzunehmen. Sie spürte das Würgen, das Rauschen des Bluts in ihren Ohren, sie… Ihre Gedanken brachen ab. Etwas blitzte vor ihren Augen. Der plötzlich auftauchende Schatten verwandelte sich in eine dreieckige Teufelsfratze. Der Teufel! Es war ihr letzter Gedanke, bevor die große Finsternis kam und sie überschwemmte. Die Nonne merkte es ebenfalls. Sie ließ die Frau los. Gleichzeitig rollte sich die Zunge wieder auf, und Laurie Warren sank im Sitz zusammen. Clara Montero war zufrieden. Für die Dauer einer Minute blieb sie noch im Wagen sitzen. Sie schaute gegen das Dach der Bäume und sah aus wie jemand, der es genoß, von der Stille der Natur umgeben zu sein. Nur die Vögel zwitscherten, ansonsten unterbrach kein fremder Laut diese natürliche Umgebung.
Als sie den Wagen verließ, drang ein böses Knurren über ihre Lippen. Sie hatte es geschafft, sie war den Befehlen des Teufels wieder einmal nachgekommen und sie fühlte sich auch viel wohler. Die Unsicherheit einer Nonne, die sich außerhalb des Klosters bewegte, existierte bei ihr nicht, und sie fühlte sich sogar stark genug, den Wagen zu fahren, obwohl sie keinen Führerschein besaß. Zunächst einmal ging sie um das Fahrzeug herum und öffnete die Fahrertür. Die Tote kippte ihr entgegen. Es machte der Nonne nichts aus, sie anzufassen. Sie zerrte den Körper aus dem Wagen und bettete ihn neben dem schmalen Weg in das hohe Gras. Jetzt, da die Zunge den Hals nicht mehr umwickelte, konnte Clara sehr deutlich die Spuren erkennen, die zurückgeblieben waren. Die böse Zunge hatte in die Haut so etwas wie eine Spirale hineingegraben, aus der dünne Blutstropfen drangen. Auch im Gesicht hatte sie einen tiefen Streifen hinterlassen, der an der Stirn begann und sich bis nach unten zum Kinn hin durchzog. Rechts und links davon lagen die Augen, die einfach aussahen wie totes, sprödes Glas. Pech für sie… Clara Montero drehte sich um und ging zum Wagen zurück. Der Schlüssel steckte, und als sie sich hinter das Steuer setzte, kam sie sich schon komisch vor, denn dieser Platz war ihr sehr fremd. Sie verlor nicht die Nerven, zudem hörte sie wieder die Stimme ihres Mentors, der ihr klarmachte, daß sie einfach beginnen sollte. Sie würde es schon schaffen. Im Vertrauen darauf, vom Satan geleitet zu werden, umfaßte sie den Zündschlüssel mit zwei Fingern und drehte ihn herum. Beinahe erschrak sie, als der Motor ansprang, denn dieses Geräusch war ihr ebenfalls sehr fremd. Aber sie konnte den Wagen fahren, als hätte sie es immer getan. Sie mußte den Golf wenden. Die beiden linken Reifen rasierten hautnah an der Leiche vorbei, aber für sie hatte die Nonne keinen Blick mehr. Andere Dinge zählten jetzt. Sie wußte genau, wohin sie fahren mußte. Eine Eingebung hatte sie überkommen. Weit riß sie den Mund auf. Die Zunge schnellte hervor. Gleichzeitig klang ihr Lachen so rauh, hart, laut und böse auf, daß sich selbst die Vögel erschreckten. Eine Person, die eine ruchhwürdige Tat begangen hatte, war unterwegs. Aber sie war nichts zu dem, was noch folgen sollte… *** Schreibtischarbeit – Knochenarbeit!
So hätte ich als Reporter unsere Arbeit betiteln können. Es war ein Job, der irgendwo kaputtmachte, auch deshalb, weil wir einem Erfolg nicht näherkamen. Dabei arbeiteten wir zu dritt. Glenda, Suko und ich. Unsere Sekretärin versorgte uns mit immer neuen Informationsquellen, aus denen wir Hoffnung schöpfen konnten. Telefonieren, kontaktieren mit Instituten, mit Fachleuten von der Uni, mit Hobbyforschern, deren Namen wir durch Fachleute erfahren hatten, aber es klappte einfach nicht. Wonach wir suchten, war eigentlich simpel. Nach einem Experten, der sich bei Grabstätten auskannte. So eine Mischung aus Historiker und Archäologe, der sich eben für alte Gräber interessierte und sich das Foto einmal ansehen sollte. Selbst mit Sarah Goldwyn hatten wir gesprochen und von ihr keinen Rat bekommen. Sie war überfragt gewesen. Etwas, das bei ihr nur selten vorkam. Natürlich hatte sie uns ihre Hilfe angeboten, und Jane Collins, die bei ihr im Haus wohnte, wollte auch mitmischen, aber wir hatten zunächst dankend abgelehnt. Und draußen lag ein herrlicher Sommertag mit einem wunderschönen, beinahe wolkenfreien Himmel. Wir hockten im Büromief beisammen, ich hatte leichte Kopfschmerzen und zerbrach irgendwann vor lauter Frust und Wut einen Bleistift. Suko schaute hoch. »Ärger?« »Nein, ich freue mich.« »Wir müssen weitermachen.« »Klar, klar!« rief ich sarkastisch. »Es gibt ja bestimmt auch mehr als hundert Personen, die sich für alte Grabsteine interessieren und sich in der Geschichte dieser Dinger auskennen. Es ist wirklich zum Weglaufen. So kommen wir nie voran.« Suko holte tief Luft und stöhnte dann ebenfalls. »Ich hätte hier noch einige Namen, die mir ein Professor durchtelefoniert hat. Er wies mich besonders auf einen gewissen Dr. Dean Howard hin.« »Wie schön«, sagte ich ohne große Begeisterung. »Und was ist so Besonderes an dem Mann?« »Er ist ein Grabstättenforscher. Sogar ein bekannter, denn er hat halb Europa bereist.« »Klar, Griechenland, Italien und…« »Nein, auch England.« »Und wo finden wir den Knaben?« Jetzt erfolgte Sukos großer Auftritt. Das heißt, er stand nicht auf, sondern drückte seinen Stuhl zurück, legte die Beine auf den Schreibtisch und grinste mich an. »Wir brauchen ihn nicht zu finden. Er ist bereits auf dem Weg hierher.« »Kann er Gedanken lesen?«
»Nein, aber telefonieren. Wärst du nicht so sauer gewesen und hättest du zugehört, wäre dir aufgefallen, daß ich sehr intensiv und auch erfolgreich telefonierte. Jedenfalls hat dieser Dean Howard Interesse gezeigt. Er arbeitet hauptberuflich für das Britische Museum und hat sich eben als Hobby alte Grabstätten ausgesucht.« »Das ist dein einziger Trumpf?« »Ja. Hast du einen besseren?« »Den habe ich nicht.« »Du bist wenigstens ehrlich.« »Hör auf, Mann!« Ich schlug einige Male mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, wo auch die Blätter lagen, auf denen ich mir meine Notizen gemacht hatte. Zumeist standen dort Namen, die ich von irgendwelchen Experten bekommen hatte, aber keiner von den dann von mir antelefonierten Leuten konnte mir weitere Auskünfte geben. Zudem waren auch einige nicht zu Hause gewesen, aber darauf zu setzen, daß sie etwas wußten, war wie ein Bauen auf Sand. Da hörte sich Sukos Lösung schon besser an. Wenn sie auch nicht funktionierte, würde ich darüber nachdenken, vorzeitig in Pension zu gehen. Glenda betrat das Büro. Sie hatte etwas zu essen besorgt. Dick belegte Sandwiches, dazu gab es von ihr frisch gekochten Kaffee. »Damit ihr mir nicht vom Fleisch fallt«, sagte sie und stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. Sie sah mir meine Laune an und schüttelte den Kopf. »Wenn du was gegessen hast, wird es dirbessergehen.« »Wenn du meinst.« »Sicher.« Ich schenkte Kaffee ein und hörte ihre Frage. »Seid ihr denn weitergekommen?« Suko kaute bereits. Er nickte. Ich aber sagte: »Nein, noch nicht. Aber wir haben Hoffnung. Suko hat da einen Mann aufgetrieben, der angeblich gut informiert ist.« »Wie heißt der denn?« »Dr. Dean…«, ich beugte mich vor. »Wie war gleich noch der Nachname?« »Howard. Dean Howard.« »Ach so, ja.« Ich nahm ein Sandwich, das mit Käse und Gurken belegt war. »Er ist Hobby-Grabsteinsucher oder so etwas Ähnliches.« Glenda zog ein Knautschgesicht, schaute Suko an, der nur den Kopf schüttelte und mit dem Finger gegen seine Stirn tippte. Er hatte keine hohe Meinung von mir. »Wenn er mehr weiß, hat es sich doch gelohnt.« »Noch ist es nicht soweit, Glenda.« Sie nickte mir zu. »Du hast heute einen Tag, den kannst du so schnell wie möglich vergessen.«
Ich schaute auf die Uhr. »Bald ist ja auch Feierabend. Dann wird mich keiner in dieser Bude mehr erleben.« »Wo willst du denn hin?« »Ich kippe mir zwei bis neun Bierchen.« »Verschluck dich aber nicht.« Das Telefon schlug an. Glenda nahm ab, weil Suko und ich die Münder voll hatten. »Ja«, sagte sie. »Schicken Sie Dr. Howard hoch. Wir erwarten ihn bereits.« Sie legte auf. »War das in eurem Sinne?« »Genau richtig«, sagte Suko und packte die Reste zusammen. Auch ich wollte den Mann nicht kauend begrüßen, schluckte den Bissen herunter und spülte mit einem kräftigen Schluck Kaffee nach. Glenda hatte unser Büro verlassen. Sie hielt sich im Vorzimmer auf, wo wir sehr bald die Stimme eines Mannes htirten, die dunkel und sonor klang, wobei sie im krassen Gegensatz zu der Gestalt des Besuchers stand, wie wir sehr bald erkennen konnten. Dr. Dean Howard war klein, sehr mager, fast schon dürr. Altersmäßig war er schwer zu schätzen. Er konnte zwischen fünfzig und siebzig sein. Der Hals war dürr und faltig, der Kopf viel zu groß. Die braune Haut sah aus wie gespanntes Leder. Die Haare waren weiß und struppig. Der ganze Mann erinnerte mich an eine Comicfigur. Er trug eine graue Jacke, eine schwarze Hose und ein gelbes Hemd ohne Krawatte. Seine Nase stand scharf hervor wie eine Pfeilspitze. Bei seinem Eintritt bewegte er sie schnüffelnd. »Ha, hier ist gegessen worden.« »Stimmt«, sagte ich. »Da bekomme ich Hunger.« Bevor er sich setzte, stellten wir uns vor, und ich mußte sagen, daß mir der Mann irgendwie gefiel. Er reckte sich und schien sich bei uns wie zu Hause zu fühlen. Dann fragte er: »Wo liegt das Problem?« »Bei den Grabsteinen«, sagte Suko. Dr. Howard nickte. »Wie schön. Grabsteine sind ein interessantes Gebiet. Sie können sich nicht vorstellen, was sie alles aussagen. An ihnen kann man ablesen, was die Verwandten für den Verblichenen übrig gehabt haben, wie sie im Leben gestellt waren, wie sie jetzt…« »Pardon«, sagte Suko. »Ich möchte Sie nicht unterbrechen, aber diese Seite interessiert uns eigentlich weniger.« »Aha, welche dann?« »Die Historische.« Der Fachmann schaute auf. »Auch sehr interessant, wenn nicht…« »Sie kennen sich aus, nicht?« fragte ich schnell, bevor er einen neuen Vortrag beginnen konnte. »Das kann man wohl sagen.« »Und wo?« »Uberall.«
»Auf der ganzen Welt?« »Fast.« Er rieb seine Nase und schniefte. »Es gibt nur wenige weiße Flecken auf der Landkarte meines Hobbies. Allerdings gehört Asien dazu, Zentralafrika ebenfalls, wobei ich in Asien die Türkei davon ausklammern möchte, denn sie habe ich…« »Uns geht es um Europa!« unterbrach Suko ihn. Glenda stand an der Tür, lächelte und amüsierte sich über den Mann, der jetzt seinen Zeigefinger hob, zweimal nickte und erklärte, daß er sich da auskannte. »Haben Sie alle Grabstätten besucht?« »Ja, Inspektor.« Suko nickte. »Das ist ja toll. Vielleicht auch diese hier, Dr. Howard?« Er reichte ihm das Bild, auf das der Experte noch keinen Blick warf, denn er holte eine Brille aus der Brusttasche seines Jacketts und setzte sie erst einmal auf. Dann betrachtete er das Bild. Seine Stirn bekam Falten, er schüttelte unwillig den Kopf und erklärte in einem beinahe schon beleidigt klingenden Tonfall. »Das ist ja zerstört.« »Leider.« »Ungeheuerlich«, sprach er weiter. »Ich ärgere mich darüber. Waren es wieder diese Neonazis, die ihr Unwesen oft genug auf Friedhöfen treiben und Gedenkstätten beschmieren oder zerstören?« »Nein, das glauben wir nicht.« »Weshalb ließen Sie mich denn kommen?« Suko streckte den Arm aus und deutete auf das Bild. »Wir möchten Sie fragen, ob Sie uns weiterhelfen können. Wir müssen diese Grabstätte unbedingt finden und wissen nicht, wo wir ansetzen können. Sie sind der Experte, Dr. Howard. Vielleicht können wir mit Ihrer Hilfe den ersten Schritt wagen.« »Das ehrt mich natürlich«, sagte er und nickte heftig. »Aber was soll ich mit dieser Fotografie anfangen? Das Grabmal wurde zerstört – leider. Ich kann…« Diesmal wurde er von mir unterbrochen. »Können Sie sich nicht vorstellen, wie es ausgesehen haben könnte, wenn es normal gewesen wäre? Was meinen Sie? Wäre das möglich?« Fast böse schaute er mich an. »Sie verlangen aber viel, Mr. Sinclair. Sehr viel.« »Sie sind Experte!« »Ja, schon.« Er schnickte gegen das Foto. »Es ist aber zerstört worden.« »Doch nicht zertrümmert«, sagte Suko. »Stellen Sie sich mal vor, Doktor, man würde diese Klötze wieder hochheben, aufrichten, sie in einem bestimmten Winkel zueinander stellen, was käme dabei wohl heraus? Was denken Sie?«
Er schaute Suko an, dann mich, schüttelte den Kopf, schluckte und bat um eine Tasse Kaffee, Papier, und um einen Bleistift. »Jetzt brauche ich auch noch Platz.« Ich tauschte mit ihm die Stühle. Er brummelte, meckerte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, er meinte mit seinem Schimpfen uns und fing schließlich an. Suko und ich schauten ihm dabei zu. Bisher hatten wir nicht gewußt, weshalb er die Utensilien benötigte, nun aber fing er an zu zeichnen. Er übertrug die Länge der Stücke auf das Blatt Papier. Dabei malte er aber nicht die Trümmer ab, sondern zeichnete sie neu und in einer anderen Position. Hätte ich einen Hut aufgehabt, hätte ich ihn vor dem Wissenschaftler gezogen, und auch Suko sowie Glenda schauten ihm respektvoll bei seiner Arbeit zu. Innerhalb weniger Minuten hatte er die erste Grabstätte fertig, schaute sie an, gab uns das Blatt und hob die Schultern. »Das ist wohl nicht das richtige Grab.« »Was macht Sie so sicher?« »Ich kenne die Grabstätte nicht.« »Aha. Sie wollen also eine Grabstätte zeichnen, die ihnen bekannt vorkommt.« »Ja, wenigstens im groben. Und ich will Ihnen noch etwas sagen. Sollte sich dieser Ort auf den Britischen Inseln befinden, dann finde ich ihn.« »Wir hatten schon an die Kelten gedacht«, sagte Suko. »Daran glaube ich nicht. Es fehlt mir dabei das Keltenkreuz, das ja in einem Kreis steht.« »Richtig.« Er trank wieder einen Schluck Kaffee, und ich legte das Blatt wieder neben ihn. Er machte weiter. Eine zweite Zeichnung entstand. Er baute die Reste so zusammen, daß sie ein T bildeten, was auch nicht hinkam, denn es blieb noch ein Steinbalken übrig. Aber das hatte seinen Ehrgeiz angestachelt, und er vergaß einfach alles um sich herum. Der Wissenschaftler geriet in ein regelrechtes Arbeitsfieber, aus dem er auch nicht herauszureißen war. Er malte, er probierte, er sprach mit sich selbst, fluchte oder lobte sich. Etwa eine halbe Stunde verging… Ein drittes Blatt wurde bereits von ihm bemalt und ich merkte, daß ihm bei dieser neuen Zeichnung so etwas wie eine Erleuchtung gekommen sein mußte, denn er zwinkerte häufiger hinter seiner Brille, atmete schneller und nickte sogar. »Klappt es?« fragte ich. »Ruhe!«
Ich schaute Suko an, der grinste nur, und wir ließen Dr. Howard in Ruhe. Manchmal schimpfte er sich selbst aus, schüttelte den Kopf, überlegte und setzte die gemalten Steine erneut zu einer anderen Figur zusammen. Keiner von uns konnte sagen, ob wir uns auf den richtigen Weg befanden, wir hofften es nur und drückten uns und natürlich auch dem Wissenschaftler die Daumen. Auch Glenda Perkins war gespannt, denn etwas Vergleichbares hatte auch sie noch nicht erlebt. Für uns war es ebenfalls ein Novum, einen Fall so anzugehen. Dr. Howard stöhnte auf und griff nach einem neuen Blatt. Allerdings schwand unsere Hoffnung ein wenig, als er den Kopf schüttelte, dann aber noch um einen Kaffee bat. Den bekam er. »Können wir mit keinem Erfolg rechnen?« fragte ich Dr. Howard. Er hatte während der Arbeit eine Brille benötigt. Jetzt nahm er sie ab und putzte die Gläser mit einem sauberen Taschentuch. »Möglicherweise bin ich auf dem richtigen Weg.« »Wohin würde der führen?« fragte Suko. »Wie meinen Sie das?« Suko hob die Schultern. »Müßten wir England verlassen und auf das Festland reisen, zum Beispiel?« »Das würde Ihnen nicht passen, wie?« »Uns drängt die Zeit.« »Um was geht es Ihnen denn genau?« »Um vier Morde.« Dr. Howard sagte zunächst nichts. Er strich über seine Haare und gab erst einen Kommentar ab, als er einen Schluck Kaffee getrunken hatte. »Das ist allerdings schlimm.« »Sie sagen es.« Er trank die Tasse leer, schaute dabei auf das Blatt und machte einen nachdenklichen Eindruck. Ein Mensch, der so aussah, überlegte sich gewisse Dinge. Dann zog er seine bemalten Blätter wieder zu sich heran und verglich seine Arbeiten miteinander. »Es müßte wohl die richtige Spur sein«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ich habe jetzt zahlreiche Alternativen geschaffen, die in Frage kommen. Zum Glück habe ich mich lange genug mit diesem Problem beschäftigt. Die meisten Grabsteine, die außergewöhnlich sind, habe ich im Kopf. Es war deshalb nicht so einfach, weil einige Steine oder Teile nicht mehr ganz geblieben sind. Um Sie zusammenzusetzen, dazu gehörte viel Phantasie. Die paarte ich mit meinem Wissen und meiner Erfahrung und werde nun, so hoffe ich, eine Abschluß-Zeichnung anfertigen können. Drücken wir uns die Daumen.«
Ich nickte heftig. »Darauf können Sie sich verlassen, Doktor. Uns liegt ebensoviel an einem Erfolg wie Ihnen.« »Schön.« Er lächelte uns zu. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich weiß, es ist unbescheiden, wenn ich Sie bitte, diesen Raum zu verlassen, aber es dient meiner Arbeit.« »Das macht uns nichts«, sagte ich. Glenda und Suko gingen schon vor. Ich betrat als letzter Glendas Büro und ließ mich auf einer Schreibtischkante nieder. Suko saß auf der anderen Seite. »Da bin ich gespannt!« flüsterte unsere Sekretärin. »Wenn ihm ein Erfolg gelingt, kann man ihn hochleben lassen.« Ich zündete mir eine Zigarette an und schaute ins Leere. Fünf Minuten sollten wir warten, eine kurze Zeit, aber uns wurde sie lang. Glenda spielte nervös mit ihren Händen. Ich hielt es auf der Schreibtischkante nicht mehr aus und wanderte durch das Büro, nur Suko blieb sitzen, ohne sich zu bewegen. Er war am ruhigsten von uns. Der Arbeitstag hatte sich dem Ende zugeneigt. London erlebte wieder einen wahnsinnigen Verkehr. Es war nicht nur warm geworden, sondern auch schwül, das drückte auf die Emotionen der Menschen und ließ manche von ihnen aggressiv werden. Als etwa die Hälfte der Zeit vorbei war, meldete sich das Telefon. Sir James rief an. Er wollte wissen, ob wir bereits einen Erfolg erreicht hatten. Suko sprach mit ihm und erklärte ihm die Lage. Dann legte er auf, ich drehte mich zu ihm um. »Was hat Sir James gesagt?« Mein Freund lächelte. »Er war überrascht. Auf die Idee wäre er wohl nicht gekommen.« »Wie schön.« Endlich öffnete sich die Tür zu unserem Büro. Dr. Dean Howard stand auf der Stelle. Er schaute uns an, wir blickten auf ihn und versuchten, an seinem Gesicht abzulesen, ob er einen Erfolg erreicht hatte. Aber er sagte nichts. »Nun?« fragte ich. »Es war schwer.« »Das haben wir erlebt, aber…« Dr. Howard hob die Hand und unterbrach mich. »Es wird am besten sein, wenn Sie mitkommen.« »Okay.« Er ging vor, ciie Hände in den Taschen vergraben. In dieser Haltung blieb er auch, als er vor unseren Schreibtischen stehenblieb und zu seiner Zeichnung nickte.
Nur ein Blatt lag auf der Platte. Die anderen Blätter hatte er zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen. »Mehr konnte ich nicht für Sie tun«, sagte er. »Das müßte das Grab sein. Ja, das und kein anderes müßte es sein!« Er nahm das Blatt an sich, hielt es hoch und legte es so wieder hin, daß wir zu dritt darauf schauen und jede Einzelheit erkennen konnten. Als einen direkten Grabstein konnte ich das Gebilde nicht bezeichnen. Es sah mehr wie das Kunstwerk eines Bildhauers aus, das aus drei Steinen bestand. Zwei standen senkrecht, der dritte war diagonal gegen die beiden gestemmt worden, und vor ihnen verteilten sich kleine Steine, die ein Dreieck bildeten. »Sie sagen nichts.« »Wir sind überrascht«, murmelte ich. Der Wissenschaftler hob die Schultern. »Das habe ich mir fast gedacht, meine Herren.« »Und Sie sind sicher, daß es nur dieses eine Grabmal sein kann, das Sie hier zusammengebastelt haben?« »Ja. Mr. Sinclair. Es ist übrigens für uns Fachleute ein sehr bekanntes Grabmal. Eines, das in die Geschichte hineingehört, ein Grabmal, das außerdem sehr alt ist.« »Und fremd aussieht«, warf Suko ein. »Stimmt.« »Weshalb sieht es so fremd aus?« Da lächelte der Wissenschaftler und ließ seine Brille verschwinden. »Es ist kein Grabmal, das man als ein christliches Symbol bezeichnen könnte. Es ist nämlich genau das Gegenteil davon, wenn Sie verstehen. Es diente anderen Zwecken.« »Dem Bösen«, flüsterte Glenda. »Wenn Sie es so nennen wollen, habe ich nichts dagegen. Man kann aber auch den Namen Teufel einsetzen.« Ich nickte. »Sie wissen gut Bescheid.« »Und Sie sind nicht überrascht?« fragte er mich. »Eigentlich hätten Sie es sein müssen.« Ich lächelte schmal. »Nein, das sind wir nicht, Doktor. Gehen Sie einmal davon aus, daß wir uns mit diesen Dingen beschäftigen. Daß es einf¿^ch unser Job ist, das Böse aufzuspüren, wo immer es sich zeigt. Und das Grabmal gehört dazu.« »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Alles andere ist Ihre Sache, meine ich.« »Nicht ganz«, warf ich ein. »Wieso?«
»Wenn Sie ein derartiger Kenner der Materie sind, was ich Ihnen auch glaube, dann müßten Sie mehr über das Grabmal wissen. Sie haben sich bestimmt mit diesen Resten beschäftigt.« »Kann man sagen.« »Meiner Ansicht nach ist es alt. Aber es muß auch eine Funktion gehabt haben. Oder irre ich mich?« »Bestimmt nicht.« »Und welche?« »Wenn ich Ihnen eine mythologisch gefärbte Antwort geben darf, würde ich es als einen höllischen Platz bezeichnen. Als einen Ort des Bösen, wo irgendwann einmal vor langer Zeit jemand begraben wurde, dessen Einfluß bis in die heutige Zeit hin ausstrahlt. Ich behaupte sogar, daß sich dort ein Hexer oder Tiamon befindet. Der ist da in die Erde gesenkt worden, er fand genau dort seine letzte Ruhestätte. Auch wenn ich in meinen Unterlagen nachsehen würde, käme nicht viel mehr dabei heraus, aber nehmen Sie mich beim Wort. Es ist so gewesen. Ein Schandfleck. Vor allen Dingen ein Ort, der von normalen Menschen gemieden werden sollte, falls man an gewisse Dinge glaubt«, fügte er noch mit einem breiten Lächeln hinzu. »Wir glauben es«, sagte Suko. Dean Howard nickte. »Und in welch einer Verbindung steht dies Grabmal zu den von ihnen erwähnten vier Mordtaten?« »Das werden wir noch herausfinden müssen, Doktor. Und zwar so rasch wie möglich.« »Viel Glück dabei.« »Danke, Doc, aber Sie könnten uns noch einen Gefallen tun, falls möglich.« »Gern. Welchen?« »Wenn Sie das Grab so gut kennen«, sagte Suko, »dann können Sie uns sicher auch sagen, wo wir es finden.« Dr. Dean Howard lächelte. »Die Frage habe ich natürlich erwartet, und ich kann sie Ihnen auch beantworten. Sie finden das Grab in Wales. Es liegt sehr einsam, wer immer sich dort aufgehalten hat, wollte das Risiko einer Entdeckung so klein wie möglich halten. Ich kann Ihnen nicht den genauen Punkt nennen, aber den ungefähren Ort schon, der in den Black Mountains liegt. Und ich kann Ihnen auch sagen, wie Sie dorthin kommen können.« »Ja, Doktor, tun Sie das. Wenn wir es schaffen, ist Ihnen ein Orden sicher.« Er blinzelte mir zu. »Kann es nicht auch eine Flasche vom besten Whisky sein?« »Und ob!« rief ich und freute mich darüber, daß dieser ältere Herrauch so menschlich sein konnte…
*** Clara Moreno hatte sich an die Zunge gewöhnt! Der Geschmack des Schwefeldampfes war bitter, rauh, irgendwo auch holzig, er klebte im Gaumen, doch es machte der Nonne nichts mehr aus, dachte sie doch an die weiteren, großen Aufgaben, und da mußte sie einfach über eine derartige Kleinigkeit hinwegsehen. Das gehörte eben zu den Prüfungen, die ihr der große Meister gestellt hatte. Sie war nicht mehr mit der Clara Moreno zu vergleichen, die es einmal gegeben hatte und die hinter den dicken Mauern eines Klosters ihren Weg zu Gott hatte gehen wollen. Das alles zählte nicht mehr. Aus ihr war eine völlig andere Person geworden, das böse Tier hatte von ihr Besitz ergriffen. Das Tier, das die Welt regieren sollte. Es zu Beginn der Zeiten schon versucht hatte, abgeschmettert worden war, aber niemals aufgab und immer wieder einen neuen Anlauf startete. Sich den Menschen in verschiedenen Verkleidungen nähernd, darauf hoffend, sie zu den Ufern des Bösen treiben zu können. Oft gelang es. Immer dann tauchte der Verführer auf, wenn die Menschen mit ihm nicht rechneten. Wie bei Clara Moreno! Sie war eine völlig andere Person geworden und lachte scharf auf, als sie daran dachte, wie es ihre Zunge geschafft hatte, diese Laurie Warren zu ermorden. Kurzerhand erdrosselt, wie bei einer alten spanischen Garrotte. Sie empfand nicht die leiseste Spur von Mitleid. Es war eben so, sie hatte es tun müssen, um ihm zu zeigen, daß sie zu ihm gehörte, daß der Meister sich voll und ganz auf sie verlassen konnte und es keiner mehr schaffte, das Band zwischen ihm und ihr zu durchtrennen. Clara rollte durch die einsame Gegend der Black Mountains, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Ihr Ziel hatte die Nonne zuvor noch nie gesehen, trotzdem wußte sie mit Bestimmtheit, wie dieser Treffpunkt zu erreichen war. Das Gebiet der Black Mountains war ziemlich groß und auch einsam. Ein gewaltiges Viereck, das sich jenseits der größeren Städte nach Norden hin ausbreitete und immer mehr anstieg, bis es dort endete, wo die Bergspitzen ein düsteres Panorama in die Landschaft zeichneten. Die Erhebungen bestanden aus dunklem Gestein, waren zudem bewaldet und hatten den Namen Black Mountains nicht grundlos bekommen. Sogar im Sommer, wo zahlreiche Rucksack-Touristen unterwegs waren, konnte Clara vor einer Entdeckung relativ sicher sein. Und wenn man sie sah, war es auch nicht schlimm, denn wer schöpfte schon Verdacht bei einer Nonne?
Außerdem hielten sich die meisten Wanderer abseits der Wege auf und schlugen sich quer durch das Gelände. Die Waldstücke an den Flanken der Berge begleiteten die Fahrerin wie breite Schatten. Sie schienen einen Strom der Kühle in die ansonsten warme Luft hineinzuschicken, und Clara rollte weiter durch Inseln aus Dunkelheit und Licht. Clara Montero war diese Strecke noch nie gefahren. Trotzdem wußte sie, daß der Weg irgendwann enden würde, so daß sie nicht mehr weiterfahren konnte. Den Rest der Strecke würde sie dann zu Fuß gehen müssen, was sie wiederum nicht störte, denn sie sah nur ihr großes Ziel vor Augen, endlich den Ort zu erreichen, wo sie die anderen treffen würde, die ebenso dachten wie sie. Clara wußte nichts von ihnen. Nicht einmal, ob nur Männer oder nur Frauen zu der Gruppe gehörten. Sie ließ sich eben überraschen, wobei eines feststand: Alle dachten so wie sie. An der rechten Seite lichtete sich der Wald. Der Himmel zeigte ein sattes Blau, verziert mit einigen Wolkenhäufen, die weiß schimmerten und nicht auf Regen hindeuteten. Die Luft drückte. Insekten schwirrten durch die Luft. Schmetterlinge führten taumelige Tänze auf. Sonnenstrahlen tupften gegen den Boden oder fielen schräg gegen die Frontscheibe des Fahrzeugs, wo sie blitzende Reflexe hinterließen. Der Wald verschwand, dafür wuchs das Gestrüpp dicht und dornig. Das Gras streckte sich noch höher, Felsen erschienen wie graue Wände. Gestrüpp klammerte sich an den Spalten fest und die Umgebung nahm immer mehr das Aussehen einer Schlucht an. Der Wagen hatte es schwer. Er wurde durch die schlechten Bodenverhältnisse bis an die Grenzen beansprucht. Oft genug schlugen irgendwelche Hindernisse gegen die Bodenwanne. Dann erklang ein Kratzen und Krachen, denn nichtimmerkonntedieNonneden Hindernissen ausweichen. Schließlich ging es nicht mehr weiter. Wildes Strauchwerk, Schotter auf dem Untergrund, nur unvollkommen durch Gras verdeckt. Felsen, die wie große Köpfe aussahen und im Wege lagen. Es war Schluß. Den Wagen erwischte noch ein letzter Stoß an der vorderen Stange, dann mußte sie stehenbleiben. Mit einem seltsam anmutenden Gurgeln verstummte der Motor. Das Summen der Insekten störte die Nonne nicht, als sie die Tür öffnete und ausstieg. Etwas skeptisch betrachtete sie den unebenen Boden und dann auch ihr Schuhwerk. Vor ihr lag der dichte Gestrüppgürtel wie ein mächtiger Schutzwall. Dahinter lag das Ziel, gut versteckt, als sollte es nicht entdeckt werden.
Die Nonne blieb stehen und hatte plötzlich den Eindruck, beobachtet zu werden. Sie konnte nicht sagen, wer sie unter Kontrolle hielt. Sie sah auch niemand, aber die fremden Augen waren da und stierten sie an. Ihre Lippen zuckten, für einen winzigen Moment schnellte die Zunge wieder hervor. Sie sah dabei aus, als wollte sie irgendwelche Fliegen fangen, aber kein Insekt blieb an diesem klebrigen Band hängen. Eingerollt wie ein schmaler Schlauch verschwand die Zunge wieder. Sie verspürte Durst. Wenn sie auf einen Bach traf oder eine Quelle erwischte, wollte sie trinken. Die Kleidung behinderte sie. So weit geschnitten, war sie für eine Wanderung nicht geeignet. Da die Nonne keine anderen Sachen besaß und nackt nicht gehen wollte, mußte sie den weiten, dunklen Umhang auch in der Zukunft anbehalten. Für sie wurde es ein Kampf mit der Tücke des Objektes, das in diesem Fall das dornige Buschwerk war, durch das sie sich quälen mußte. Vergeblich suchte sie nach schmalen Wegen oder Pfaden, sie konnte sich nur Stellen aussuchen, die nicht so dicht waren und wo auch keine quer wachsenden Dornenzweige ihr den Weg versperrten. An den Wagen dachte sie längst nicht mehr. Er war ebenso vergessen wie ihr Leben im Kloster. Für Clara war es ungemein wichtig, nach vorn zu schauen und sich dem neuen Leben zu stellen, das an der Seite des Teufels die Erfüllung finden sollte. Sie stellte fest, daß es noch schwüler geworden war. Wahrscheinlich würde es am Abend ein Gewitter geben. Bei Blitz und Donner, düsteren Wolken und starken Regenschauern konnte der Teufel aus seinem Höllenloch fahren und sich ihnen zeigen. Als sie daran dachte, mußte sie lächeln. Es war doch wunderbar, daß der Meister gerade sie erwählt hatte. Sie und noch drei andere Personen, auf die sie gespannt war. Es gelang der Nonne, das Hindernis einigermaßen gut hinter sich zu lassen. Zwar zerrten manchmal Dornen am Stoff, doch sie riß sich immer wieder los, um ihren Weg fortsetzen zu können. Felsiger, dunkler Untergrund bildete einen Bodenbelag, der aus Höhen und Tiefen bestand. Darauf mußte sie achtgeben, wenn sie nicht stolpern wollte. In derselben dunkelgrauen Farbe kletterte rechts von ihr eine Wand in die Höhe, versetzt mit kleinen Mulden und Ausbuchtungen, in denen Gestrüpp wuchs, das seine Zweige wie kahle Totenarme nach außen streckte. Das war es nicht, was sie störte. Auch nicht die Hitze oder das Summen der Insekten. Etwas anderes lauerte in ihrer Nähe. Gefahr?
Nein, keine Gefahr, obgleich sie auf ihrem Rücken eine Gänsehaut spürte. Es war etwas anderes, eine gewisse Erwartung, die auch mit ihrem Ziel zu tun hatte. Rechts neben ihr raschelte es. Sie drehte den Kopf, sah, wie sich die starren Zweige bewegten und sich aus einer Lücke etwas Helles bewegte, das mit wenigen Schritten auf sie zukam. Eine Gestalt, eine Frau! Beide hatten sich noch nie zuvor gesehen, dennoch wußten sie, daß sie zusammengehörten. Die neue Person mit den rotblonden Haaren war nur leicht bekleidet, sie trug nicht einmal Schuhe, lief barfuß über den Boden und hatte um ihren nackten Körper an bestimmten Stellen helle Tücher gewickelt, die so aussahen, als wären sie einmal ein Kleid gewesen, das zerrissen worden war. Die Frauen schauten sich an. Clara empfand Sympathie für die Fremde. Sie wußte genau, daß sie zu ihr gehörte. Beide würden denselben Weg gehen. Für beide war der Teufel wichtig. Die Blonde hatte ein etwas vulgäres Gesicht. Ein Schmollmund, rundliche Wangen, eine kleine Nase und spöttisch sowie wissend blickende Augen. »Wer bist du?« fragte sie. »Clara.« Die Blonde nickte. Sie sagte noch nichts. Nach einer Weile fragte sie dann: »Gehörst du zu uns?« »Ich bin extra gekommen.« »Beweise es!« Clara Montero überlegte, was das sollte und weshalb sie den Beweis antreten mußte. Dann wurde ihr einiges klar, sie lachte kurz auf, öffnete den Mund, und wie ein Blitzstrahl zuckte die Zunge hervor, berührte noch mit der Spitze die Nase und verschwand wieder. »Reicht es?« Die Blonde nickte. »Und du?« fragte Clara. Die andere Frau streckte der Nonne die Hand entgegen. »Ich bin Cora Vandell!« Clara legte ihre Hand gegen die der Frau. »Das ist keine Antwort, bitte sehr.« »Dann gib acht.« Ohne Claras Hand loszulassen, drehte sich die leicht bekleidete Person um. Das sah so aus, als wollten die beiden Frauen eine Tanzfigur einüben.
Clara ließ alles mit sich geschehen. Sie wußte mit einemmal, daß sie sich nicht geirrt hatte, und den Beweis kam sie Sekunden später präsentiert. Ein normal denkender und handelnder Mensch hätte laut geschrien und wäre geflüchtet. Nicht so Clara Montero, denn sie schaute mit einer gewissen Faszination auf den Hinterkopf der Person, der eigentlich keiner mehr war, zudem auch dort noch die Haare fehlten, als wären sie weggebrannt worden. Der gesamte Hinterkopf war an der hinteren Seite aufgerissen. Haare gab es dort nicht mehr, dafür sah die Fläche aus wie ein noch an bestimmten Stellen nasser, dunkelroter Schwamm, der auch eine Kruste zeigte, wo sich das Blut verhärtet hatte. Auf dieser einzigen breiten Wunde suchten Fliegen und Mücken ihre Nahrung. »Zufrieden?« fragte Cora. Da sie der Nonne den Rücken zuwandte, konnte sie deren Nicken nicht sehen, dafür hörte sie die Antwort. »Ja, ich bin zufrieden, es ist alles wunderbar.« »Das meine ich auch.« Sie drehte sich wieder um. Clara atmete so scharf durch die Nase, daß ihre Nasenflügel zitterten. Es war eine Reaktion der Erlösung, so wußte sie, daß der Weg für sie freigemacht worden war. »Sind alle da?« »Wir haben nur noch auf dich gewartet.« Clara war zufrieden. Trotzdem fragte sie. »Und wenn ich nicht gekommen wäre, sondern eine andere Person, eine Fremde?« »Hätten wir sie getötet, denn ihr Blut hätte die Erde des Meisters tränken müssen.« Die Nonne schauderte zusammen, als sie die Worte vernahm. Es war bei ihr kein Schauder der Angst, sondern der Ehrfurcht, wußte sie doch, daß sie sich unter Gleichgesinnten befand. »Wo gehen wir hin?« Cora Vandell streckte den Arm aus und bewegte winkend ihre Finger. Die Nonne verstand das Zeichen. Sie lächelte und nickte zweimal heftig. Endlich fühlte sie sich sicher. Geborgen im Schoß des Teufels… *** Der Mann mit dem Gewehr hatte unsere Polizeiausweise gesehen, war etwas freundlicher geworden und schaute uns trotzdem noch mißtrauisch aus seinen dunklen Augen an, die dieselbe Farbe aufwiesen wie sein Seehundbart auf der Oberlippe.
Der Mann gehörte zu den Jägern und Hegern im Gebiet der Black Mountains. Man hatte uns den Rat gegeben, seine Hütte im Wald anzufahren, uns aber gleichzeitig vor ihm gewarnt, denn die lange Einsamkeit hatte ihn menschenscheu und seltsam werden lassen. »Was wollt ihr Polizisten hier aus dem Dreckloch London?« knurrte er uns an. »Unter anderem mit Ihnen sprechen.« »Und wenn ich nicht will?« »Bitte«, sagte ich. »Man hat uns erzählt, daß Sie uns weiterhelfen könnten.« Er schaute auf unseren Rover, verzog verächtlich die Lippen, nickte und deutete nach vorn, wo sein Holzhaus fast im Schatten der Bäume verschwand, die hinter dem Haus hochwuchsen. Vor der Tür saß ein Schäferhund, der hin und wieder nach Insekten schnappte, uns ansonsten aber nicht aus den Augen ließ, obwohl er sich schläfrig gab. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und fluchte innerlich über die sommerliche Schwüle. Südwind hatte uns diese Temperaturen gebracht. Da wir früh am Morgen gestartet waren, fühlten wir uns nach der langen Fahrt schlapp. Dr. Howard hatte uns noch erklärt, wo wir das ungewöhnliche Grabmal finden konnten, aber eine ganz genaue Beschreibung hatten wir nicht erhalten. In einem kleinen Ort hatten wir uns erkundigt. Ein uniformierter Kollege hatte uns dann an Scan Watkins verwiesen, den Wildhüterund BeinaheEinsiedler. Bei diesem Wetter hatte man Blei in den Knochen, da machte auch ich keine Ausnahme, dementsprechend müde schlurfte ich durch das hohe Gras auf die vor dem Haus stehende Holzbank zu, die aus schlichten Balken gezimmert war. Sean Watkins deutete schweigend auf die Sitzfläche, und wir nahmen Platz. Der Schäferhund verließ seinen Platz. Er trottete auf uns zu, beschnüffelte uns, schien zufrieden zu sein und legte sich zu den Füßen seines Herrn nieder. Der sagte erst mal nichts. Er schaute nach vorn gegen die Berge und hinein in die wilde Gegend, wo mit Blumen bestückte Wiesen aussahen wie ein bunter Teppich. »Was lohnt eine Fahrt von London hierher?« fragte er uns. Suko räusperte sich. »Ein Grabmal.« Watkins hob den Kopf und schaute Suko dann an. »Haben Sie von einem Grabmal gesprochen?« »Richtig.« »Und da wollt ihr hin?« »Ja.« Sean Watkins sagte nichts. Fr lachte nicht, er wollte uns auch nicht einreden, daß es falsch war, was wir da getan hatten. Er strich nur über
sein Kinn und schaute in die Ferne, schien nachzudenken. Wir störten ihn auch nicht. »Nun?« fragte ich nach einer Weile. »Können Sie uns vielleicht weiterhelfen, Mr. Watkins.« »Nein.« Wir ließen uns unsere Enttäuschung nicht anmerken, dennoch wollte ich den Grund wissen. »Dort geht man nicht hin.« »Aber Sie kennen es?« Er wischte seine Hände an der rustikalen grünen Lederhose ab. »Ja, es ist mir bekannt.« »Dann waren Sie auch mal da?« »Früher einmal.« »Und warum heute nicht?« »Es ist kein guter Ort«, sagte er mir. Das mußte ich zunächst einmal so stehenlassen. Sicherlich hatte er damit recht, denn er bestätigte indirekt die Worte des Dr. Howard. Aber so einfach wollten wir uns nicht abspeisen lassen, wobei Suko die Schulter hob und meinte: »Das würden wir gern genauer erklärt haben, Mr. Watkins.« Der hob das rechte Bein und legte es auf das linke. Dann atmete er seufzend. »Ich habe noch niemanden gewarnt. Bei euch tue ich es. Man sagt dem Ort nach, daß er verflucht sei.« »Durch wen?« »Es hat keiner einen Fluch ausgesprochen, doch es heißt, daß dort Böses geschehen ist. Es ist kein normales Grab, wo ein Toter in Ruhe schlafen kann, nein, das ist es nicht. Es ist ein Ort, wo der Teufel gern hinkommt, wo er vielleicht auch wohnt, wo er seine Freude hat und daraufwartet, daß Menschen ihn besuchen.« »Haben Sie ihn besucht?« Der Wildhüter schaute mich an, als hätte ich ihm einen schmutzigen Antrag gemacht. »Nein!« erklärte er entschieden. »Ich meide den Ort, und das solltet ihr auch tun, wenn euch euer Leben lieb ist. Da regieren die Mächte des Bösen. Man hat das Grab zerstört, aber man hat den Fluch nicht vertreiben können.« »Warum zerstörte man es?« wollte ich wissen, ohne auf seine Warnung einzugehen. »Weil man merkte, daß es gefährlich ist.« »Ist es schon lange ein Trümmerhaufen?« »Nein.« Ich räusperte mich. »Bleiben wir bei der Zerstörung. Sie hat also nichts geholfen, wie ich annehme – oder?« »Nicht viel. Und ich bin sicher, daß es der Teufel wieder aufrichten lassen wird.« »Warum?«
Sean Watkins hob die Schultern. »Das kann ich euch nicht genau sagen. Für ihn ist es wichtig, denn von dort kann er in sein Reich gelangen. Muß ich noch mehr sagen?« Suko wollte es genauer wissen. »Ist es vielleicht ein Zugang zur Hölle?« Sean Watkins hob die Schultern. »Also ja.« »Man sagt es.« Suko ließ nicht locker. »Und man hat diesen Zugang zerstört.« »Das versuchte man.« »Aber es gelang nicht?« Der Wildhüter zuckte mit den Schultern. »Nein, nicht so, wie man es sich vorgestellt hat.« »Wer fand den Mut, das Grabmal zu zerstören?« Sean Watkins schwieg. Er starrte zu Boden, knetete seine Hände. Mir kam ein bestimmter Verdacht. In die Stille hinein fragte ich mit leiser Stimme. »Waren Sie es?« »Warum fragen Sie, wenn Sie es wissen.« »Weil wir hinwollen.« Watkins wollte lachen, doch es klang wie ein Gurgeln. »Sind Sie Selbstmörder, oder stehen Sie auf der Seite des Teufels.« »Das bestimmt nicht. Wir wollen ihn stoppen. Wir wollen das vollenden, was Sie begonnen haben.« »Und dabei euer Leben verlieren.« »Nein.« »Der Teufel ist stärker. Man kann nicht gegen ihn ankämpfen, nicht als Mensch. Ich weiß das, und ich weiß auch, daß er weiß, wersein Grabmal zerstört hat.« »Was bedeutet das?« »Daß er mich vernichten wird. Er wird kommen und mir keine Chance lassen. Er wird sogar wahrscheinlich heute erscheinen. Als ich euch sah, dachte ich, daß er zwei Helfer geschickt hat. Aber seine Helfer sehen anders aus.« »Woher wissen Sie das?« »Weil ich eine Frau sah. Zwar nur aus der Ferne, aber ich konnte erkennen, daß sie die Kleidung einer Nonne trug, und sie bewegte sich auf das Grabmal zu.« Normalerweise hätte ich gesagt, daß eine Nonne sich bestimmt nicht mit dem Höllenherrscher verband. Mir blieb diese Bemerkung im Hals stecken, denn ich dachte an die tote Äbtissin, die durch eine ihrer Schwestern umgebracht worden war. Sie war nicht die einzige gewesen, es gab noch weitere Tote, so daß wir damit rechnen mußten, auf weitere Gegner zu treffen und die Nonne nicht allein das Grab besuchte, sondern sich mit drei anderen Mördern zusammentat.
Ein besseres Quartett hätte sich der Teufel nicht aussuchen können. Und das würde noch an diesem Tag oder in der folgenden Nacht ablaufen. Deshalb mußten wir so schnell wie möglich hin. »Ihr glaubt mir?« fragte der Mann. »Sicher.« »Dann werdet ihr auch so vernünftig sein und euch jetzt auf den Rückweg machen. Das Böse kennt kein Pardon. Es wird euch ebenso überrennen wie mich.« »Wir werden es stoppen!« »Narren!« schimpfte er. »Verdammte Narren. Wie leicht nehmt ihr den Teufel denn?« »Wir kennen ihn«, sagte Suko. »Ach ja? Woher denn?« »Wir bekämpfen ihn!« Watkins schwieg. Diese Antwort verstand er bestimmt nicht, aber ich wollte etwas anderes von ihm wissen und erkundigte mich danach, wie weit das Grab von dieser Hütte aus entfernt lag. »Wenn man den Weg kennt und querfeldein geht, kann man es in zwanzig Minuten erreicht haben. Ansonsten dauert es länger.« »Würden Sie uns denn führen, Mr. Watkins?« Er setzte sich starr hin. Alles an ihm schien eingefroren zu sein. »Ich soll wieder zu diesem Grab? Nein, das… das kann keiner von mir verlangen. Ich werde nicht gehen, ich weiß, daß mich der Teufel besucht, um sich zu rächen, doch ich werde ihm nicht freiwillig in die Arme laufen. Das kann keiner verlangen.« »Aber den Weg würden Sie uns beschreiben?« fragte Suko. »Sicher. Allerdings ungern. Ich will nicht, daß ihr auch noch euer Leben verliert.« »Noch leben Sie ja, Mr. Watkins.« Da sprang der Wildhüter in die Höhe. Seine Augen blitzten, er zischte durch die Nase. »Verflucht noch mal, was soll das heißen? Wenn ihr den Teufel tatsächlich kennt, dann müßt ihr auch wissen, daß er überall sein kann, auch hier.« Er breitete die Arme aus, um uns soviel wie möglich zu zeigen. »Man sieht ihn ja nicht, man hört ihn nicht, aber er kann schon längst meine Hütte erreicht haben, um nur auf den günstigsten Zeitpunkt zu warten. Die nächste Nacht wird entscheidend. Ich habe sein verfluchtes Grabmal zerstört, aber ich habe mich dabei auch geirrt, das gebe ich jetzt zu. Ich hätte es so lassen sollen, aber ich brachte es einfach nicht fertig.« »Setzen Sie sich wieder«, bat ich ihn, »und lassen Sie uns darüber in Ruhe reden.« Ersetzte sich nicht. Er blieb vor uns und der Bank stehen. »In Ruhe darüberreden?« Er lachte und sprach uns scharf an. »Das ist doch ein Unding!« »Was wollen Sie dann?« fragte Suko. »Hier darauf warten, daß Sie sterben werden? Oder wollen Sie fliehen?«
»Nein, nein.« Watkins trat zwei Schritte zurück. »Das geht nicht. Ich kann nicht fliehen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ich mich vor dem Satan verstecken kann. Er würde mich überall finden, darauf könnt ihr euch verlassen.« »Das stimmt allerdings«, sagte ich. »Wie schön. Dann können Sie mich ja jetzt allein lassen. Suchen Sie das Grabmal selbst, wenn Sie unbedingt freiwillig in den Tod gehen wollen.« Er war nicht zu belehren. So verständlich dies auch aus seiner Sicht sein mochte, wir konnten diesen Mann einfach nicht allein und damit im Stich lassen. Wir hüteten uns zudem davor, seine Worte nur als Gerede abzutun. Da steckte mehr dahinter, und auch seine Behauptung, der Teufel könnte schon ziemlich nahe sein, nahmen wir nicht auf die leichte Schulter. Der Mann drehte uns den Rücken zu und schaute in die Ferne. An einer Seite drückte sich die graue Felswand drohend hoch. Ihr gegenüber war das Gelände frei, fiel ab und bildete beinahe eine mit Sträuchern und Gras bewachsene Savanne. Aus dieser Richtung waren wir gekommen, ohne allerdings etwas entdeckt zu haben. Wenn die vier Täter sich am Grabmal treffen wollten, dann waren sie sicherlich schon da. »Laßt mich allein!« sagte der Mann. »Ich habe etwas getan, was ich nicht tun sollte. Ich habe das Grabmal zerstört, ich wollte ihm den Weg versperren, es ist mir nicht gelungen.« »Sie werden mit uns gehen!« entschied ich. Er wirbelte herum. »Niemals! Hier ist mein Platz. Hier werde ich ihn erwarten.« »Sind Sie denn sicher, daß er kommt?« »So sicher wie das Amen in der Kirche. Ich habe eingesehen, daß ich es nicht schaffen konnte und…« »Wir werden Ihnen helfen!« erklärte Suko schlicht. »Bleiben Sie an unserer Seite, und ich will Ihnen auch sagen, daß wir nicht zum erstenmal gegen den Höllenherrscher kämpfen. Bisher hat er überlebt, wir allerdings auch. Ich kann Ihnen nur raten, uns auch zu glauben und uns zu vertrauen, Mr. Watkins.« Er gab keine Antwort mehr, drehte sich um und war mit wenigen Schritten in seinem Haus verschwunden. Bevor er die Tür zuhämmern konnte, folgte ihm der Hund. Suko schaute mich an. »Was sagst du dazu?« »Er hat Angst. Er weiß, wo das verdammte Grabmal ist, und er weiß auch, daß an diesem Abend oder in der folgenden Nacht etwas geschehen wird, aber er…« »Kann der Teufel bereits hier in der Nähe sein?« »Ist er nicht überall, John?« »So meine ich das nicht, sondern…«
Der Schrei war irre und schrill. Und er war aus der Holzhütte erklungen, in der Watkins und sein Hund verschwunden waren. Der Teufel, dachte ich nur und stürmte zusammen mit Suko los… *** Ich rammte die Tür auf. Sie flog nach innen, ich huschte in die Hütte, bekam von der Einrichtung kaum etwas mit, denn eine schreckliche Szene nahm mein Blickfeld ein. Mit dem Rücken klebte Sean Watkins an einem freien Teil der Wand. Er wagte nicht, sich zu rühren, weil vor ihm ein Monstrum stand, das einmal sein Hund gewesen war und sich auf schreckliche Art und Weise verändert hatte, weil der Teufel in seinen Körper gefahren war. Das Tier war beinahe doppelt so groß geworden. Es stand auf den Hinterläufen und hatte seine Vorderläufe rechts und links gegen die Wand gestemmt. Zwischen ihnen befand sich der Kopf des Jägers. Zudem hatte der Hund seinen Schädel etwas nach links gedreht, so daß wir seine Schnauze sehen konnten, die mit einem Hundeschädel nichts mehr zu tun hatte, denn dieses Tier besaß den Kopf des Teufels. Eine dreieckige rote Fratze mit glühenden Augen, einem offenen Maul und doppelt so großen Reiß- und Stiftzähnen, wie sie auch gut ins Maul des Höllenherrschers gepaßt hätten. Kein Zweifel, der Hund war vom Teufel besessen. Suko zog seine Peitsche, schlug einen Kreis. Ich holte die Beretta hervor, kam aber nicht mehr zum Schuß, weil sich das Biest von der Wand abstemmte und herumfuhr. Es wollte uns! Als der Hund sprang, feuerte ich. Gleichzeitig mußte ich zur Seite huschen, denn der gewaltige Körper rammte trotzdem noch mit großer Wucht auf mich zu. Er hätte mich sicherlich umgerissen, so aber glitt er an mir vorbei und schnappte ins Leere. Die geweihte Silberkugel steckte in seinem Körper. Er hätte zusammenbrechen und sich nicht mehr erheben müssen, aber der Satan hatte ihn derart beeinflußt, daß er dem geweihten Silber widerstehen konnte und sich erneut zum Angriff stellte. Da hielt ich ihm mein Kreuz entgegen. Er sah es, er starrte es an, hatte das Maul weit geöffnet, er keuchte und winselte plötzlich, denn die Strahlung des Silberkreuzes flößte ihm eine wahnsinnige Angst ein. Er konnte nicht mehr, er merkte den Widerstand, er brach zusammen, schlug mit seinen Läufen um sich, heulte sogar auf, drehte sich auf dem Boden, dann berührte ich ihn mit meinem Talisman. Ich brauchte die Aktivierungsformel nicht zu sprechen. Als das Kreuz das Fell des Hundes berührte, da zischte es auf, ein Brandmal blieb zurück,
das sich zu einer tiefen Wunde veränderte, die noch weiter in das Fleisch hineindrang, so daß er plötzlich kleiner wurde, noch einmal mit den Läufen zuckte und liegenblieb. Starr und tot! Ich richtete mich wieder auf, und sah, daß Suko zu Watkins ging und leise auf ihn einsprach. Ich schaute mir den Hund an. Er sah wieder so aus wie sonst, der Geist der Hölle konnte ihm nichts mehr tun. Dort, wo ihn mein Kreuz getroffen hatte, war das Fell verschwunden. Ins Fleisch hinein hatte sich eine tiefe Wunde gebrannt. Tief atmete ich durch. Meine Hände waren feucht geworden, weil der Schweiß auf ihnen klebte. Er lag auch auf meinem Gesicht und brannte in den Augen. Ich leistete dem Wildhüter Abbitte. Er hatte es sich tatsächlich mit der Hölle verdorben, was für ihn persönlich schlecht war, denn nun stand er auf der Abschußliste des Teufels, und gegen einen Menschen gewann der Höllenherrscher immer. Wir wußten nun, daß wir eine Oase der Hölle kennengelernt hatten, daß sich der Satan dieses Gebiet nicht entreißen lassen würde. Es ging um dieses verdammte Grabmal, das für ihn eine große Bedeutung haben mußte. Das war nicht nur einfach eine Stelle, die von ängstlichen Menschen zum Hort der Hölle auserkoren worden war, dahinter mußte ein tiefergehendes Motiv stecken, über das ich leider nichts wußte. Als ich die Nähe des Hundes verließ, hatte sein ansonsten braunes Fell einen schwarzen Farbton bekommen. Es sah aus wie Asche, die jeden Augenblick zerrieseln konnte. Ich schaute auf den Wildhüter nieder. Er saß auf einem klobigen Stuhl, hatte den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht darin vergraben. Er weinte. Suko schaute mich an. »Das war der erste Angriff, John. Wir haben ihn abgeschmettert. Ich glaube allerdings nicht, daß Asmodis unseren Freund hier in Ruhe lassen wird.« »Stimmt. Deshalb muß er mit.« »Hoffentlich sieht er das ein.« Ich suchte in einem Regal nach. Dort standen Bücher, einige Tassen, aber auch mehrere Flaschen ohne Etikett. Ich öffnete eine. Typischer Brandygeruch stieg mir in die Nase. Das war für ihn die richtige Medizin. Mit der offenen Flasche trat ich an den Tisch. Zweimal mußte ich den Mann anstoßen, bis er seinen Kopf hob. Sein Walroßbart schimmerte feucht. »Das sollten Sie trinken, Mr. Watkins.« »Ja, danke.«
Er griff nach der Flasche. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Seine Bewegungen hatten einen gewissen Automatismus, der darauf hindeutete, daß er mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Er setzte die Flasche an. Der erste, der zweite und er dritte Schluck gluckerten in seine Kehle. Tapsig stellte er die Flasche wieder weg. Sie wäre fast umgefallen, ich konnte sie im letzten Augenblick festhalten. »Benny ist tot, nicht?« »Ja«, sagte ich. »In ihm hat der Teufel gesteckt!« flüsterte Watkins. »Ich habe es euch gesagt, der Teufel läßt mich nicht in Ruhe. Er weiß genau, was ich getan habe. Er ist eine Kreatur, die furchtbare Rache nehmen kann. Das ist nicht erklärbar, es ist eine andere Macht, mit der ich mich angelegt habe. Ich wollte das Grabmal zerstören, weil ich spürte, daß etwas Böses von ihm ausging, nun aber wird es mich zerstören. Ja, es wird mich vernichten, das weiß ich genau, das ist…« Er senkte den Kopf und fing wieder an zu weinen. Uns mußte es einfach gelingen, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Wir konnten ihn nicht hier alleine lassen, das war einfach unmöglich. Er mußte an unserer Seite bleiben, denn auf schutzlose Opfer wartete der Teufel nur. Suko und ich sprachen mit ihm. Obwohl die Zeit immer weiter fortschritt und wir uns beeilen mußten, wollten wir nicht hart an ihn herangehen und es so verständnisvoll wie möglich machen. Er hörte uns zu, nur konnte ich mir nicht vorstellen, daß er auch begriff, was ich ihm sagte. Er senkte nur den Kopf. Irgendwann stand er auf. So ruckartig, daß er mich anstieß. Erst sah er Suko an, dann mich. Seine Augen waren gerötet, die Wangen verquollen, er bewegte seine Lippen, ohne einen Ton zu sagen. Sein Geicht wirkte mit der dünnen Haut durchscheinend, die Augen erinnerten mich an altes, spröde gewordenes Glas. »Bitte«, sagte er. »Bitte…« »Sie werden mit uns kommen müssen. Wenn wir das Grabmal erreicht haben, werden wir sie verstecken, Sean.« Er stierte an uns vorbei. »Der Teufel hat die Macht!« flüsterte er. »Der Teufel ist mächtiger als die Heiligen. Ich habe ihn gespürt. Ich habe gemerkt, welch einen Einfluß er besitzt. Er hat mir meinen Hund genommen. Er hat Benny und…« »Das gehört der Vergangenheit an!« sagte Suko. »Daran dürfen Sie nicht mehr denken.« Sean Watkins hob die Schultern. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich werde mit euch gehen. Wir drei müssen uns schonjetzt auf den Tod vorbereiten«, flüsterte er mit einer Stimme, die mir Furcht einjagte.
Aber ich konnte die Angst des Mannes verstehen, auch wir fühlten uns nicht wohl, denn wir kannten die Macht des Satans, der es schaffte, auch die Natur zu manipulieren. Ich ging als erster zur Tür. Sie war wieder ins Schloß gefallen. Da ich durch kein Fenster schaute, war mir auch vorher nichts aufgefallen. Erst als ich die Tür geöffnet hatte, blieb ich geschockt auf der Schwelle stehen und stellte mir die Frage, ob wir das Grabmal jemals erreichen würden… *** Die Umgebung hatte sich verändert! Vorhin noch hatte ich daran gedacht, daß der Teufel auch die Natur manipulieren konnte, nun bekam ich den Beweis für diese Annahme, und ich fühlte mich nicht gerade besser. Nebel wallte auf der Lichtung. Er sah gelblich aus, als würde über ihm ein starker Mond stehen und sein Licht in die wallende Masse hineinstreuen. Doch es war nicht das Mondlicht, das ihn so aussehen ließ, ich ging davon aus, daß der Teufel persönlich ihm seinen Atem eingehaucht hatte. Er stank nach Schwefelgasen, nach irgendeinem Abfallprodukt, vielleicht auch nach Teer, so genau konnte ich das nicht feststellen. Nur hinderte er uns an der Sicht, und das war schlecht. Hinzu kam, daß sich in dem Nebel Kreaturen verborgen halten konnten, die uns dann blitzschnell überfallen würden. All das schoß mir durch den Kopf, als ich auf der Schwelle stand und hinter mir die Schritte der beiden anderen hörte, die auf mich zukamen. Ich drehte mich um. Scan Watkins wollte nicht mehr weitergehen. Er blieb stehen und mußte von Suko vorgeschoben werden, damit er überhaupt einen Schritt machte. Noch immer zögernd näherte er sich der Tür. Sein Atem ging keuchend. Er holte tief Luft, die Brust bewegte sich auf und nieder, er blinzelte, und Suko fragte ihn, ob es in dieser Gegend öfter zu einem plötzlichen Nebelangriff kam. »Nein, nein«, sagte er hastig. »Nein, das ist Teufelswerk! Das ist einfach schrecklich.« Er preßte die Hände vor sein Gesicht und ließ sie wieder sinken. »Bitte, ich möchte nicht mehr. Ich kann es nicht aushalten. Ich werde verrückt. Wenn wir hinausgehen, wird uns der Teufel vernichten. Der Nebel wird uns auffressen.« »Wir müssen gehen«, sagte Suko. Ich ließ die beiden zurück und trat in den unwirklichen Nebel hinein, für dessen Existenz es einfach keinen Grund gab. Jetzt, als er mich von
allen Seiten umgab und mich einhüllte wie ein Etui, nahm ich besonders deutlich seinen Geruch auf. Es war der Gestank aus der Hölle! Als hätte Asmodis persönlich ausgeatmet, um mit seinem Höllenodem die Welt einzudecken. Die normale Umgebung wurde von den gelblichen Schwaden zum großen Teil verschluckt. Was ich sah, erinnerte mich an eine geisterhafte Szenerie, die auch aus einem Totenreich hätte stammen können, das sich aus einer anderen Welt in die unsere, in den Nebel, hineingeschoben hatte. Aber diese Suppe war so dicht, daß wir uns kaum zurechtfinden konnten. Uns selbst wäre es schwergefallen, unseren Wagen zu finden, aber wir mußten tiefer in diese Welt hinein, wir mußten an das Grabmal heran. Und ob Watkins in seiner Verfassung das Ziel bei diesem >Wetter< finden würde, war fraglich. Als ich mich umdrehte, hatten die beiden Männer das Haus verlassen. Sean Watkins ging geduckt, als befürchtete er, aus dem Nebel Peitschenhiebe zu bekommen. »Finden Sie den Weg noch?« hörte ich Suko fragen. Obwohl er ziemlich nahe bei mir stand, kam mir seine Stimme vor, als wäre sie vom Nebel halb verschluckt worden. »Es ist schwer.« »Wir müssen hin!« drängte mein Freund. Ich sah ihn nicken. Noch einmal drehte er sich um, als wollte er einen letzten Blick auf sein Haus werfen. Dann gab er die Richtung an. Und für uns begann ein Weg in die Hölle… *** Clara Moreno hatte die Hand ausgestreckt, glücklich darüber, eine Partnerin gefunden zu haben, die ebenso dachte wie sie, und die nur darauf fixiert war, dem großen Meister einen Gefallen zu tun. Die Nonne hatte einige Male nach dem großen Ziel gefragt und nur zur Antwort bekommen, daß sie sich überraschen lassen sollte. »Werde ich den Meister sehen?« »Er wird sich zeigen…« »Und er hat uns gezeichnet. Uns beide. Die anderen auch?« Clara dachte an ihre Zunge, die sie im Mund zusammengerollt hatte und nur selten vor den Lippen sehen ließ. »Ja, sie auch.« »Wie sehen Sie aus?« »Warte es ab.« Noch immer umsummten Insekten den Hinterkopf der ehemaligen Stripperin. Sie führten einen Tanz auf, sie klebten an der großen Wunde,
die immer wieder näßte, was Cora Vandell aber nicht störte. Für sie zählte nur das Grabmal. Die Hitze drückte immer stärker. Der Himmel hatte zudem seine Bläue verloren. Er sah jetzt aus wie eine gewaltige bleigraue Decke, die sich immer mehr zu senken schien, weil andere Wolkenströme in diese Decke hineinglitten und sie ausfüllten. Es ging kein Wind. Die Schwüle roch auch nicht nach Gras, Pflanzen oder Blumen, sie hatte einen ganz bestimmten Gestank angenommen, und sie wurde von kratzigen Schwefelgasen durchweht. Alles drückte sich zusammen. Die Natur schien sich zu ducken, denn sie bereitete sich auf ein mächtiges Gewitter vor, daß sich über das Land ergießen und es ertränken wollte. Der Weg führte bergan. Obwohl Clara Montero das Laufen nicht gewöhnt war, machte ihr die Strecke nichts aus, denn sie hatte immer nur ihr Ziel vor Augen. Manchmal schnellte ihre Zunge zwischen den Lippen hervor. Blieb sie zu lange draußen, schafften es die Insekten, sich auf dieses schmale Band zu hocken, die dann auch nicht flohen, als die Nonne die schmale Zunge wieder in ihren Mund zurückrollen ließ. Sie zerkaute die Fliegen. Und es machte ihr nichts aus, im Gegenteil, den bitteren Geschmack empfand sie als teuflisch gut. Dann blieb ihre Führerin stehen und deutete einen flachen Hang hoch, der mit Gras bewachsen war und ziemlich staubig aussah. An seinem Ende verdichtete sich das Strauchwerk und bildete dort eine kleine, knorrige Insel. »Wartet er dort?« fragte Clara. »Ja, das ist unser Ziel!« Clara jubelte nicht, aber die Freude ließ einen hellen Glanz in ihre Augen steigen. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte sich die Hände gerieben, aber sie blieb ruhig und genoß ihre Freude mehr innerlich. Von den anderen sah sie noch nichts. Das knorrige Buschwerk war einfach zu dicht, und sie konnte auch die hohen Steine des Grabmals noch nicht erkennen. Beide gingen weiter. Niemand drängte sie. Die Zeit glitt dahin. Sie lauschten auf das Schleifen ihrer Schritte. Der Druck der Schuhe hatte das Gras geknickt. Über ihnen am Himmel zogen einige Vögel ihre Kreise. Sie flogen sehr tief, als würden sie es nicht mehr schaffen, bei dieser Schwüle an Höhe zu gewinnen. Und weiter gingen sie. Immer höher, immer mehr näherten sie sich dem Ziel. Über ihnen bewegten sich die Wolken. Sie waren dunkler geworden, zeigten aber an manchen Rändern einen schwefelgelben Farbton. Wenn überhaupt Wind wehte, war er zumeist so warm, als würde er direkt aus der Wüste kommen und er raubte beiden Frauen den Atem.
Nach der Sonne suchte man vergeblich. Wenn sie überhaupt zu identifizieren war, dann nur noch als eine verwaschene und ausgelaufene Zitrone. Am Buschwerk entstand Bewegung. Zweige wurden zur Seite geschoben und gebrochen. In der Stille war das Knacken sehr deutlich zu hören. Im nächsten Moment erschien ein Mann, der den beiden Frauen zuwinkte. Seine Hände sahen so ungewöhnlich dunkel aus. Cora winkte zurück. »Wer ist das?« fragte Clara. »Unser Freund Skip Archer. Der einzige Mann zwischen uns drei Frauen. Lady Anne wirst du noch kennenlernen.« »Ja,ja…« Sie gingen schneller. Trotz des dicken und langen Gewandes spürte die Nonne die Hitze nicht. Und wenn sie sich innerlich heiß fühlte, dann lag es einzig und allein an ihrer Erwartung, die sich von Sekunde zu Sekunde steigerte. Das letzte Stück war besonders steil. Clara hörte sich selbst keuchen, dann streckte ihr der Mann seine Hand entgegen, um sie hochzuziehen. Nein, das war keine Hand, so sah die Pranke irgendeines monströsen Tieres aus. Sehr dunkel, dazu behaart mit langen, ebenfalls dunklen Nägeln, die wie kleine Messerspitzen vorstanden und zuckten, als wollten sie die Haut aufkratzen. Die Pranke griff zu, mit einem Ruck zerrte sie die Nonne dem Gestrüpp entgegen, in das sie förmlich hineinbrach und dessen trockenes Geäst unter ihr zusammenkrachte. Sie blieb auf dem Bauch liegen, keuchte, dann faßten die Pranken wieder zu und zerrten sie hoch. Mit zitternden Knien blieb sie stehen, sah das Grabmal und sah es trotzdem nicht, weil ihre Aufmerksamkeit von der vierten Person abgelenkt wurde. Sie trug ein elegantes, hochgeschlossenes, jetzt angeschmutztes Kleid. Um ihren Hals lag eine Perlenkette. Das lange schwarze Haar war dicht und floß wie ein lockiger Vorhang bis zu ihren Schultern, wo es mit den Spitzen auflag. Zu dieser Frau hätte ein feines, aristokratisch geschnittenes Gesicht gepaßt. Doch der Teufel hatte auch bei ihr seine Spuren hinterlassen oder sein Zeichen gesetzt. Er hatte sich das Gesicht der Lady Anne Forrester ausgesucht. Es war ein häßliches Stück Monster mit verschieden großen Augen, die zudem noch unterschiedlich hoch lagen, einem verschobenen Mund mit aufgerissenen, blutverschmierten Lippen und einer zerfetzten Haut, in die zahlreiche kleine Rasierklingen hineingehackt zu haben schienen.
Ein schreckliches Gesicht, aber Clara Montera sah es anders an. Für sie war es ein Antlitz des Teufels, der seine Diener so schuf, wie er sie haben wollte. Auch sie zeigte sich. Ihre Zunge schnellte aus dem Mund. Sie schlug Kreise, als wäre sie ein Lasso. Lady Anne Forrester kam auf sie zu. Als sie ihren Namen mit den schiefen, aufgerissenen Lippen flüsterte, huschten kleine Blutperlen aus ihrem Mund und tropften zu Boden. »Willkommen, Schwester! Du bist die letzte. Auf dich haben wir alle gewartet.« Die Nonne verbeugte sich. Sie umarmte Anne Forrester, die dann zur Seite trat, um dem Neuankömmling den Blick freizugeben, denn auch sie sollte das Grabmal des Bösen sehen. Clara ging vor. Ihre Beine zitterten, sie hatte Jubelschreie ausstoßen wollen, aber dazu kam es nicht mehr, denn sie konnte ihren Blick nicht von dem nehmen, was sich da ausbreitete. Es war einfach nicht zu fassen, es war zu gewaltig und gleichzeitig enttäuschend. Das Grabmal war zerstört! Wie ein Schock traf sie der Anblick. Die schweren Steine lagen kreuz und quer übereinander, sie wirkten wie zerhackt, und sie verteilten sich auf einer bestimmten Fläche, die aussah wie verbrannte Erde, so grau und schwarz, zudem noch stinkend. Schlimmer konnte ein Hort des Satans nicht sein! Man ließ Clara in Ruhe, damit sie sich zunächst an diese außergewöhnliche Umgebung gewöhnen konnte. Einige Schritte ging die Nonne vor, bis sie die verbrannte Erde erreicht hatte und merkte, daß sich unter ihr etwas tat. Sie lag zwar ruhig, aber sie spürte dennoch das Zittern und die Unruhe im Erdboden, als könne es der Teufel selbst nicht erwarten, an die Oberfläche zu kommen, um dort seinen fauchenden Atem auszuhauchen. Noch blieb er unten. Noch sah sie ihn nicht, noch spürte sie ihn nur und auch eine gewisse Qual, die ihn umgab, weil er sein Grabmal vermißte, das zerstört vor ihren Füßen lag. Clara Montero sprach zu ihm, obwohl sie ihn nicht sah. Sie beschwor ihn mit ihren Worten und flüsterte ihm zu, daß sie gekommen war, um alles wiedergutzumachen. Gab er Antwort? Sie hatte das Gefühl, aus der Tiefe der Erde ein Grummein zu hören, konnte aber nicht sicher sein.
Jedenfalls fühlte sie sich beschützt, denn sie war in den Kreis aufgenommen worden, wie es sich gehörte. Sie war das vierte, das letzte Mitglied, damit die Grabstein-Clique endgültig vollständig war. Langsam drehte sie sich um. Die anderen drei Personen standen hinter ihr. Da war Cora Vandell, die ehemalige Stripperin mit dem zerfetzten Hinterkopf und der wenigen Kleidung, die sie wie Tücher um ihren Körper geschlungen hatte. Da war auch der Schauspieler Skip Archer mit seinen kräftigen Raubtierhänden, dem dichten schwarzen Haar und dem leichenblassen Gesicht. Und da war Lady Anne, die vornehm wirkende Aristokratin, deren Gesicht aussah, wie von einem Messer zerhackt. Drei Menschen, drei Gezeichnete. Und sie, die vierte, gehörte dazu. Und sie fühlte sich wohl dabei. Cora Vandell trat einen Schritt vor. »Jetzt sind wir vollständig«, sagte sie, »und werden damit beginnen, dieses Grabmal wieder aufzubauen. Erst dann haben wir das Ziel erreicht.« Clara Montero wußte zwar von einem allgemeinen Ziel, sie konnte jedoch nicht sagen, was sie genau vorhatten. Ihre lange Schlangenzunge huschte zweimal aus dem Mund, erst dann stellte sie eine Frage: »Von welch einem Ereignis sprichst du?« Cora lächelte breit. Sie war die Sprecherin dieser Grabstein-Clique. »Von unserer Höllenfahrt…« *** Wir gingen… Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Wir hatten das Gefühl, uns durch eine feindliche Welt zu tasten, aus der jeden Augenblick das Grauen hervorstoßen konnte, um uns zu vernichten. Bisher jedoch war alles gutgegangen. Scan Watkins, unser Führer, hatte die Richtung bisher nicht gewechselt. In welche wir uns genau bewegten, konnten Suko und ich uns beim besten Willen nicht vorstellen, wir mußten darauf achtgeben, daß wir in keine tödliche Falle liefen. Jedenfalls führte der Weg bergan. Wie Gespenster wirkten die Büsche, die sich uns in den Weg stellten. Felsblöcke sahen aus wie starre Köpfe. Wir kletterten über sie hinweg oder mußten sie umgehen. Der Nebel war da, der Nebel blieb, aber es war kein normaler Nebel, wie wir ihn aus dem herbstlichen London her kannten. Er war trocken, er stank nach verbranntem Schwefel, nach scharfen Gewürzen, er roch einfach anders, als wir es gewohnt waren. Wir hatten
nicht einmal feststellen können, woher er entstanden war. Manchmal hatten wir den Eindruck, als hätten sich die Schwaden aus den zahlreichen Spalten und Bodenrissen gedrückt, um sich zu mächtigen Wolken zu vereinigen. Ich fürchtete mich nicht vor dem Nebel. Ich hatte nur Angst davor, daß er etwas Schreckliches verbergen könnte. Ich hatte mich an den Schluß unserer kleinen Gruppe gesetzt. Suko und Sean Watkins gingen vor, wobei sich mein Freund immer in der Nähe des Mannes aufhielt. Er war für den Teufel und dessen Diener die leichteste Beute, da er keine Waffe bei sich trug, die dieses höllische Monstrum abschrecken konnte. Ich hatte mir das Kreuz vor die Brust gehängt. Bei jedem Schritt pendelte es von rechts nach links. Schon des öfteren hatte ich es betrachtet, aber keine Reaktion feststellen können. Es >meldete< sich nicht. Anscheinend war die fremde Magie noch nicht stark genug oder befand sich kaum in der Nähe. Manchmal sah es so aus, als würden dunkle, lange Schatten in Bodenhöhe durch den Nebel huschen. Bevor wir jedoch hinsehen konnten, waren sie wieder verschwunden. Täuschungen? Wieder sah ich einen Schatten. Ich zischte den beiden etwas zu, sie blieben stehen, so daß ich mich nach rechts drehen konnte, weil der Schatten dort erschienen war. Er war noch vorhanden. Sehr dunkel, relativ groß und mit selbst im Nebel leuchtenden Augen, die kalt wie geschliffene Messer wirkten. Katzenaugen! Für mich war es auch eine Wildkatze, die durch dieses Revier streunte. Oft genug waren Katzen in eine Verbindung mit dem Teufel gebracht worden. Auch hier konnte es durchaus möglich sein, daß die höllischen Kräfte Gewalt über das Tier bekommen hatten, und ich wollte es einfach genau wissen. Die schwarze Katze bewegte sich nicht. Dafür ging ich auf sie zu. Ich hatte mich etwas geduckt und mein Gewicht nach links verlagert, weil der Hang zur anderen Seite hin abfiel. So hatte ich dann keine Mühe mit dem Gleichgewicht. Mir kam es vor, als würde mich die Katze erwarten, sogar locken, um mir ihre Kraft zu beweisen. Ich blieb auf der Spur! Sie hatte sich hingestellt, und sehr langsam sank ihr Schwanz nach unten. Kein gutes Zeichen, denn diese Haltung verriet eine gewisse Angriffslust. Sollte ich daran glauben?
Sie öffnete den Mund, fauchte. Kein normales Geräusch, denn es wurde zudem von einem Schwall aus Schwefeldampf begleitet, der zischend seinen Weg fand, als wollte er mich einfangen. Der Schwefeldampf trübte meine Sicht. Ich trat zur Seite, um die Katze aus einem anderen Winkel zu erreichen, aber ich sah sie nicht mehr. Sie schien sich aufgelöst zu haben und eins mit dem verdammten Nebel geworden zu sein. Dort, wo sie gestanden hatte, sah es aus, als würde die Erde kochen und erhitzt sein. Sie brodelte tatsächlich. Ein tiefes, im Erdboden verborgenes Grummein, als würde dort ein gräßliches Monster röchelnd sein schauriges Leben aushauchen. Weil ich das schrille Lachen hörte, drehte ich mich um. Scan Watkins hatte es ausgestoßen. Aber es war beileibe kein fröhliches Lachen, sondern mehr ein ängstliches Geifern. Mit einer Hand schlug er dabei auf seinen Schenkel. »Was hat er?« Suko hob die Schultern. »Der Anblick der Katze hat ihm den Schock versetzt, John. Er ist fest davon überzeugt, daß sich in diesem Tier der Teufel gezeigt hat. Erst der Hund, dann diese streunende Wildkatze. Wie siehst du das?« »Da kann er recht haben.« Als hätte mich der Mann nicht gehört, fing er an zu schreien. Allerdings klang es nicht sehr laut, weil der Nebel seine Schreie schluckte. »Es war der Teufel, verflucht. Ja, es war der Teufel! Er hat sein Gebiet ausgeweitet! Er begleitet uns! Er will unsere Seelen, er will unser Leben, er will unsere Körper verdorren!« Suko schüttelte ihn durch. Er fuhr ihn hart an, Sean Watkins verstummte, preßte die Hände vor das Gesicht, um so zu zeigen, wie er sich vor der Welt abschotten wollte. »Wir gehen weiter«, sagte ich. Und Suko zog den Mann herum. Sean torkelte manchmal neben ihm her. Ersah überhaupt nicht nach rechts oder links, stierte ausschließlich zu Boden, während sich seine Lippen permanent bewegten, ohne daß er auch nur ein Wort sagte. Trotz des Nebels erkannten wir, daß sich die Umgebung dort veränderte. Wiesenähnliche Flecke wurden von den Schwaden überschwemmt. Die Luft drückte immer mehr. Ich konnte mir vorstellen, daß sich der Himmel bezog und hoffte nur, nicht im Kreis gelaufen zu sein. Manchmal vernahmen wir Stimmen. Tiere gaben ihre Laute ab, und sie hörten sich immmer kreischend an. Wahrscheinlich waren es Vögel, die sich ebenfalls gestört fühlten und mit dem schwefliggelben Nebel überhaupt nicht zurechtkamen. Blieb es bei der Katze, oder würde sich der Teufel uns noch in einer anderen Gestalt entgegenstellen.
Zunächst blieb es dabei. Bis zu dem Augenblick, als sich vor uns die Erde bewegte. Suko hatte es gesehen, nicht ich. »Achtung, John!« rief er, wuchtete seinen Körper gegen den des Sean Watkins, so daß beide nach rechts flogen. Ich tauchte ebenfalls in diese Richtung, überrollte mich, kam zur Ruhe und konnte erkennen, was Suko gemeint hatte. Vor uns löste sich ein großer Felsbrocken vom Boden. Er schwebte zunächst einmal in der Luft und sah aus, als wäre er von zwei Händen gestemmt worden. Dann wirbelte er auf Suko und Sean Watkins zu, flammte innen auf, und ich hörte einen Schuß. Der künstliche Nebel schluckte selbst den Klang der Beretta, aber Suko hatte die Silberkugel gegen den Felsen gesetzt – und ihn vernichtet, denn er spritzte auseinander und war verglüht. Mein Partner stand auf. Aus meiner Sicht bewegte er sich wie ein Gespenst. »Unser Freund versucht es mit allen Mitteln«, sagte er. »Dem müssen wir die Ohren stutzen. Stehen Sie auf, Sean, der Käse ist für diesmal wieder gegessen.« Auch ich erhob mich. Watkins beschwerte sich, daß Suko den Angriff so locker nehmen konnte, der aber lachte nur. »Wir haben Ihnen doch gesagt, daß wir mit dem Höllenherrscher unsere Erfahrungen besitzen. Jetzt erleben Sie, daß wir Ihnen keinen Bären aufgebunden haben, mein Lieber.« Der Wildhüter schüttelte nur den Kopf. Seine Welt war längst zusammengebrochen. Es glich schon einem kleinen Wunder, daß er in seinem Zustand die Orientierung noch nicht verloren hatte. Zwei Angriffe des Höllenfürsten hatten wir abwehren können, aber wir kannten ihn beide sehr gut. Wir wußten, wie gefährlich Asmodis war, daß er zu immer neuen Tricks griff, sich aber nicht in unsere Nähe traute, da ich durch mein Kreuz, mit einer mächtigen Waffe vor ihm geschützt war. Er war ein Meister der Verkleidung. Fr konnte ebenso als lächelnder Mädchenkiller auftreten wie als Monstrum. Wir kannten beide und noch mehr Seiten von ihm. Suko drehte unseren Führer herum. Sean taumelte dabei, wäre fast noch gefallen. »Wohin jetzt?« »Moment?« Er schaute in die Runde. Viel konnte er nicht sehen. Möglicherweise suchte er nur bestimmte Orientierungspunkte, die der Nebel nicht so stark verschluckt hatte. Doch es ging besser. Obwohl wir keinen Wind spürten, der in den gelblichen Dunst hineinfuhr, fing das Gebräu an, sich allmählich aufzulösen. Die ersten Löcher entstanden, sie sahen so aus, als wären Fahnen mit gewaltigen Scheren zerschnitten worden.
Auch Sean Watkins sah es. Er konnte es kaum glauben, ging zurück und breitete die Arme aus, als wollte er die Reste noch festhalten, doch er dachte entgegengesetzt und rief mit lauter Stimme: »Der Teufel zieht sich zurück! Der Höllenherrscher verschwindet! Wir haben gewonnen. Verdammt, wir haben gewonnen!« Davon waren Suko und ich zwar nicht überzeugt, wir wollten ihm die Hoffnung aber nicht rauben. Beide blieben wir sehr wachsam, wir kannten den Teufel, ihm war jede Hinterlist zuzutrauen. Hier blieb er im Hintergrund. Soviel wir erkennen konnten, spielte er nicht mehr mit der Natur. Sehr rasch lösten sich die letzten Schleier auf, unsere Sicht war wieder klar und auch Sean Watkins konnte sich normal umschauen. Er tat dies mit vorsichtigen Blicken. Wir sprachen ihn nicht an. Er kam uns vor wie ein Fremder, der sich erst zurechtfinden mußte, was wir beide nicht begriffen. »So weit können wir doch nicht vom normalen Weg abgekommen sein«, flüsterte Suko. »Das meine ich auch.« Sean tappte heran. Er atmete heftig, sein Gesicht war verschwitzt, auf den Lippen lag ein kantiges Grinsen, und er nickte uns zweimal zu. »Ich glaube, wir haben es.« Ich gab mich überrascht. »Dann wissen Sie, wo wir das Grabmal finden können?« »Natürlich.« Seine Sicherheit überraschte uns. Mit sanfter Stimme erkundigte sich Suko: »Wo denn?« Lächelnd drehte sich der Waldhüterum. Dabei reckte er seinen Arm vor, streckte auch den Finger aus und deutete in eine bestimmte Richtung. »Dort!« Viel war nicht zu sehen, wenn ich ehrlich sein sollte. Wir sahen nur einen schwarzen Fleck, der sich aus dem Grün der Landschaft wie eine dunkle Insel hervorhob. »Meinen Sie die…?« Er ließ Suko nicht ausreden. »Ja, dort. Das Grabmal könnt ihr nicht sehen. Es steht in einer sicheren Deckung. Ein Gürtel aus Gestrüpp umgibt es, damit neugierige Blicke abgehalten werden.« Suko trat an mich heran. Sein Gesicht zeigte einen skeptischen Ausdruck. »Ich sehe keine Menschen.« Watkins hatte die Worte des Inspektors gehört. »Das ist auch nicht möglich, weil der Gürtel zu hoch wächst. Man muß ihn schon zur Seite drücken und sehr nahe an ihn herangehen. Erst dann haben Sie freie Sicht. Ich bin ja hingelaufen und habe das Grabmal zerstört.« »Wunderbar. Dann laufen wir jetzt gemeinsam.«
»Kann ich nicht…« »Nein, Sie gehen mit, Mr. Watkins. Der Teufel ist noch nicht verschwunden, glauben Sie mir. Erhält sich nur zurück.« »Klar, denke ich auch. Haben Sie eigentlich Regenkleidung mit dabei, Mr. Sinclair?« »Nein, warum?« »Schauen Sie mal nach oben.« Das taten Suko und ich gemeinsam, und wir mußten zugeben, daß sich da oben einiges verändert hatte. Die Wolken waren von verschiedenen Seiten herangeweht, sie hatten sich zu einer Masse zusammengedrückt, so daß sie einen gewaltigen, grauen Teppich bildeten, der sich nicht bewegte, weil auch kein Wind ging. Vorhin hatte ich keine Zeit gehabt. Jetzt erst fiel mir auf, wie schwül es geworden war. Der verdammte Südwind war zwar eingeschlafen, aber er hatte sein Erbe hinterlassen. Die Luft kam mir doch wie Pudding vor. Ich konnte sie kaum einatmen, und mich überkam der Eindruck, als würde sie trinken. Um hier ein Gewitter voraussagen zu können, brauchte man kein Experte zu sein. In Kürze würde es blitzen und donnern. Trotz der Schwüle wirkte die Luft ungewöhnlich klar, wie mit einem breiten Pinsel gezeichnet. Ob man uns von oben herab unter Kontrolle hielt, konnten wir nicht sagen. Uns gefiel auch nicht, daß der Hang, der zum Ziel führte, beinahe völlig deckungslos vor uns lag, denn durch das Gras hätten sich nicht einmal Liliputaner ungesehen bewegen können. In der Ferne grummelte es. Ich schaute gegen den Himmel, sah im Süden eine graugelbe Stelle, als hätte das Maul des Teufels eine Schwefeldampfwolke in diese Wolkenformation hineingeblasen. Das leichte Donnern war für uns das Startsignal. Wir machten uns daran, auch die letzte Strecke zu überwinden… *** Skip Archer hielt einen Stein hoch, als wäre er Herkules. Er hatte seine Krallen mit den dunklen Nägeln um dieses lange Stück Stein geklammert und es über seinen Kopf gehoben. Auf seinem Gesicht zeichnete sich nicht eine Spur von Anstrengung ab, denn ihm allein war es zu verdanken, daß sich das Grabmal kurz vor seiner Instandsetzung befand. Die senkrechten Steine waren von ihm bereits aufgebaut worden. Er brauchte den letzten nur diagonal zwischen sie zu stellen, so daß die Kanten des letzten Steins die anderen an den oberen und auch an den unteren Enden berührten.
So waren dann innerhalb des Vierecks zwei Dreiecke entstanden, denn so hatte das Grabmal immer ausgesehen. Obwohl ihnen niemand etwas über die Form gesagt hatte, wußte jeder von ihnen, wie es gebaut werden mußte. Die Grabstein-Clique hielt eben fest zusammen. Sehr langsam ging der Mann mit den Pranken vor. Er blieb neben den senkrecht stehenden Steinen stehen, dann drückte er seine Arme nach unten und überstürzte ebenfalls nichts. Sehr behutsam ging er vor, bis er den Stein schräg legte und ihn in die Lücke hineinsetzen konnte. Die anderen warteten. Es hatte sie erfaßt wie Fieber. Sie fühlten sich plötzlich wie von einem gewaltigen Druck befreit, als das Grabmal endlich wieder stand, Skip Archer sich verbeugte, sich dann drehte und zu den wartenden Frauen zurückging. »Es ist fertig!« sagte er. Weitere Worte waren sinnlos, jeder sah es, und gemeinsam drehten sie sich um, damit sie über die Hügelkuppe hinwegschauen konnten. Die Black Mountains standen in einer ungewöhnlichen Klarheit vor ihnen. Sie ragten wie eine wuchtige Trutzburg in die Höhe. »Jetzt kann der Teufel kommen«, sagte Clara Montero. Sie hatte ihren Mund weit geöffnet und ließ ihre Zunge einige Male hin- und herfahren. »Nein!« widersprach Archer. »Er selbst wird wohl nicht kommen. Wir sind für ihn da.« »Was heißt das?« »Unsere gemeinsame Höllenfahrt kann beginnen!« flüsterte der Mann. »Wir vier fahren zusammen zur Hölle. Wir rasen ihm entgegen, wir besuchen ihn.« Lady Anne rieb ihre Hände. »Ja, wir gleiten ins Höllenfeuer. Es wird uns schmieden. Wir haben für ihn viel getan, wir haben ihn gespürt, und wir werden jetzt den gerechten Lohn bekommen. War es bei euch auch so? Überkam euch nicht plötzlich ein Gefühl, wie man es nie zuvor erlebte?« »Das stimmt!« flüsterte Cora. »Ich konnte plötzlich richtig hassen, und es hat mir Spaß gemacht, jemand umzubringen.« »Mir auch!« bestätigte Clara. Nur das männliche Wesen beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Ihm war etwas anderes aufgefallen. »Unser Meister läßt den Nebel verschwinden, es gibt uns keine Deckung mehr. Schaut selbst.« Sie blickten den Hang hinab und mußten erkennen, wie sich der Nebel auflöste. Es dauerte nicht lange, da sahen sie drei Personen. Sie wirkten zwar klein, aber sie machten den Eindruck, als wollten sie den Weg zum Grabmal einschlagen. Das hatten alle erkannt. Lady Anne sprach es aus. »Wir bekommen Besuch, Freunde.«
Die Stripperin nickte. Dabei strich sie mit ihren Händen über ihre Brüste. »Wir werden die drei erwarten. Uns haben sie nicht gesehen, wir aber sie. Und das ist unser Vorteil.« »Was hast du vor?« fragte Skip. »Warte es ab, mein Freund…« *** Der Weg war verflucht beschwerlich. Es lag beileibe nicht an der Steigung, die war kaum vorhanden, sondern vielmehr an der Luft, die sich nur schwer atmen ließ. Die Schwüle nahm noch mehr zu. Sie wurde zu einer Qual, ebenso wie das Schwitzen. Jede Pore im Boden schien den Atem der Hölle auszustoßen, als wollte der Teufel einen Vorgeschmack auf seine Welt geben. Sean Watkins ging schneller als wir. Mit raumgreifenden Schritten überwand er die Entfernung und wirkte wie ein Mensch, dem die Schwüle nichts ausmachte. Suko gefiel das ebensowenig wie mir. Deshalb beeilte er sich, den Mann einzuholen. Er schaffte es auch, legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn herum. »Was wollen Sie?« »Laufen Sie uns weg, Mr. Watkins?« »Nein.« »Aber Sie haben es unnatürlich eilig.« Das bestritt er nicht. »Ich muß zum Grabmal! Ich will dort sein, bevor das Unwetter beginnt. Schauen Sie doch mal hoch zum Himmel. Da… da braut sich was zusammen. Wir werden bald im Regen ertrinken. Ich kenne die Gewitter in dieser Gegend. Sie sind fürchterlich. Sie brauen sich zwischen den Bergen zusammen. Es dauert Stunden, bis es zur Entladung kommt. Dann aber explodiert die Welt. Donner und Blitze lösen sich ab. Das ist fast wie in den Tropen.« »Was erwarten Sie dort oben?« fragte ich, denn ich hatte die beiden inzwischen erreicht. »Ich will es sehen.« »Sie kennen es doch!« Er starrte mich an, seine Lippen zuckten. »Ja«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich kenne es verdammt gut, denn ich habe es sehr oft besucht. Und ich will euch beiden sagen, daß das Böse nicht verschwunden ist. Laßt mich vorgehen, ich bin nicht zum erstenmal dort. Ich werde euch schon den richtigen Weg zeigen.« Er hatte sehr hektisch gesprochen, sein Blick begann zu flackern. Die Nervosität hielt ihn in ihren Klauen, immer wieder schaute er den Rest der Strecke hoch.
»Gut, gehen Sie!« entschied Suko. »Ja.« Watkins bewegte seine Hände sehr fahrig. »Machen wir es doch so. Sie lassen mich erst allein an den Platz. Ich sage Ihnen dann Bescheid, was ich entdeckt habe.« »Wir bleiben in Ihrer Nähe.« »Das sollen Sie auch.« So ganz paßte mir das nicht, denn auf der Kuppe des Hangs schien sich tatsächlich etwas zusammenzubrauen. Zudem lag sie an exponierter Stelle. Die dichten, dicken Wolken trieben über sie hinweg und sahen so aus, als wollten sie sich im nächsten Moment auf den Hügel legen, um ihn zusammenzudrücken. Der Nebel war nicht mehr vorhanden. Trotzdem glaubten wir nicht daran, daß sich auch der Teufel von diesem Ort zurückgezogen hatte. Seine ersten Angriffe waren mißlungen. Ich ging davon aus, daß er weitermachen würde und auf keinen von uns Rücksicht nahm. »Ich… ich gehe jetzt!« Er sprach den einen Satz hektisch aus. Seine Augen glänzten. Vielleicht aus Freude, möglicherweise aus Erwartung, ich konnte es nicht sagen. Wußte er mehr? »Sie haben keinen Schutz, Mr. Watkins«, sagte ich und deutete auf das Kreuz. »Es wäre vielleicht besser, wenn ich es Ihnen überlasse. Sie können es mir dann zurückgeben, okay?« Damit hatte ich genau das Falsche gesagt. Erschrocken hob er beide Hände. Er zuckte zurück, sah aus, als hätte er Angst vor dem Kreuz und gab uns beiden keine Erklärung. Statt dessen drehte er sich um und lief weiter. Diesmal jagte er schon fluchtartig der alten Grabstätte entgegen. So schnell, daß wir das Nachsehen hatten und uns auch klar wurde, daß wir ihn nicht mehr einholen konnten. Das Grabmal selbst konnten wir noch nicht sehen, dafür aber die natürliche Deckung, die sich um den Platz herum aufgebaut hatte. Zähes Gestrüpp mit krummen Armen, die manchmal so dick wie kleine Baumäste waren. Dieses Zeug bildete einen ineinander verschlungenen und verknoteten Wirrwarr. Scan Watkins durchbrach ihn. Wir hörten das Reißen und Knacken der Äste, dann seine Stimme. »Ja, es ist da!« brüllte er. »Das Grabmal ist da! Man hat es wieder aufgestellt, man…« Seine Stimme erstickte. Nicht freiwillig, denn etwas Furchtbares geschah. Direkt über seinem Kopf ballte sich die dunkelgraue Wolkenmacht zusammen. Und von dort schoß etwas als gezackter heller Speer hervor. Ohne irgendwelche Vorwarnung jagte er in die Tiefe. Wir hatten den Eindruck,
als wäre dieser Blitz an seinem Ende von der Fratze des Teufels gezeichnet. Ersuchte und fand sein Ziel! Es war Sean Watkins, in den der helle Speer hineinjagte. Und wir bekamen diese Demonstration des Teufels hautnah mit. Nicht nur der helle Blitz brachte Licht, auch der Mann selbst, der aussah, als würde er von zahlreichen Fotoapparaten zugleich fotografiert, wobei deren Blitze in seinen Körper hineinjagten. Wie eine Silhouette sah er aus. Im Zentrum dunkel, hell an den Rändern. Und er hatte beide Arme in die Höhe gerissen, wobei er seine Finger bewegte, die Hände zu Fäusten schloß, sie wieder öffnete und streckte, als wollte er mit den Fingerspitzen die nächsten Blitze auffangen, um sie als Lebensenergie verwenden zu können. Das jedoch schaffte er nicht. Wenn Energie, dann zerstörte sie. So auch ihn. Sein Schrei war fürchterlich. Der letzte Ruf im Leben eines Menschen, bevor sein Dasein erlosch. Plötzlich tanzten kleine, helle Feuer um seine Gestalt, die längst an Größe verloren hatte. Sie war zusammengesackt, besaß keine normale Haut mehr, sondern nur ein dunkles, beinahe schwarzes Etwas, vergleichbar mit Rinde und Kohle. Natürlich hatten wir versucht, dem Mann zu helfen. Aber das verdammte Gestrüpp schien tausend Arme zu haben, die nach uns griffen. Ich hörte Suko fluchen, weil er in den Dornen festhing, und mir erging es ebenso. Bis wir uns den Platz geschaffen hatten, war alles vorbei. Sean lag am Boden. Zusammengesunken, völlig verbrannt. Ich zögerte, auch Suko wollte diesen Ort des Schreckens nicht betreten. Wir hatten uns den Weg mühsam geschlagen, jetzt standen wir vor dem Zentrum, am Grabmal, das ebenso aussah wie der Wissenschaftler es in meinem Büro beschrieben hatte. Zwei Steine die senkrecht standen, ein langer Stein, der diagonal dazwischen lag. Es war nicht mehr neblig. Ungewöhnlich klar und scharf malte sich das Grabmal ab. Wir kam es vor, als wäre es auf eine düstere Leinwand gezeichnet worden. Der freie Platz, auf dem die Steine standen, war relativ groß. Das Gebüsch deckte ihn vor einer zu schnellen Entdeckung ab, und das Gras dort wirkte seltsam schwarz, als wäre ein Feuersturm darüber hinweggefahren. Ein Opfer hatte das Grabmal bereits bekommen. Aber wo fanden wir die Menschen, nach denen wir suchten. Drei Frauen und ein Mann. Vier Mörder! Ich trug mein Kreuz vor der Brust. Als ich es anschaute, sah ich schon die Flecken auf dem Metall. Ich stellte auch die leichte Erwärmung fest,
die durch die Kleidung drang. Für mich lag es auf der Hand, daß der Talisman den Einfluß des Bösen spürte. Möglicherweise lauerte der Teufel sogar in der Nähe. Sean Watkins konnten wir nicht mehr helfen. Uns kam es darauf an, das Grabmal zu zerstören, die Mörder zu finden und die Macht des Satans zu brechen. Meine Stimme wirkte in der Stille unnatürlich laut, als ich Suko ansprach. »Warte hier am Rand. Ich möchte nicht, daß dich der nächste Blitz erwischt.« »Willst du denn in das Zentrum?« »Sicher.« »Und dann? Meinst du nicht…?« Ich hob das Kreuz etwas an. »Darauf kann ich mich verlassen. Ich bin davon überzeugt, daß es den Blitz auffangen wird, wenn er aus den Wolken schießt. Vergiß nicht, daß er eine schwarzmagische Ursache besitzt. Das ist kein Vorbote eines normalen Gewitters.« »Okay, ich halte mich zurück. Nur eine Frage noch. Wir suchen vier Mörder.« Ich hob die Schultern, weil ich selbst nicht wußte, wo ich da den Anfang machen sollte. Jedenfalls hatte es keinen Sinn, noch länger am Rand des Grabmals stehenzubleiben. Ein scharfer Geruch wehte gegen unsere Nasen. Der verbrannte Körper unseres Führers strömte ihn aus. Wir zuckten beide zurück, und dann hatte ich mich endlich überwunden. Nach zwei Schritten schon stand ich am Rand des Grabmals, da berührten meine Füße die dunkle Erde. Augenblicklich änderte sich etwas. Nicht am Grabmal selbst, sondern in meinem Empfinden. Ich merkte sehr deutlich, daß ich eine andere Zone betreten hatte, wo auch fremde und böse Kräfte regierten. Sie hielten sich versteckt, sie waren wie schwarzmagische Ströme, die darauf warteten, zuschlagen zu können. Mein Kreuz reagierte. Es flackerte, es >brannteJohn Sinclair! Ich begrüße dich, obwohl du nicht eingeplant gewesen bist.
Das bin ich bei dir nie.< >0 doch. Aber das hier ist mein Spiel, verstehst du?< >Noch nicht.< >Ich habe mir die vier Menschen geholt, damit sie dieses alte Grabmal wieder aufbauen. Ich habe es gebraucht, und ich werde es immer brauchen, wenn du verstehst. < >Nein…< >Dann will ich es dir erklären. Es gibt viele Wege, um in die Hölle zu gelangen. Dieser hier gehört dazu. Es ist einer der vielen Wege, die in mein Reich führen, und man hat es tatsächlich gewagt, ihn zu zerstören. Und das habe ich gehaßt. Ja, das habe ich gehaßt, aber nie vergessen, denn ich will, daß sich der Weg wieder öffnet. Ich brauche ihn.< >Das habe ich mir gedacht. Deshalb werde ich ihn verschließen. < Asmodis ging darauf nicht ein. >Früher hat man mir hier Opfer dargebracht. Es ist eine uralte Kultstätte gewesen, die ich nicht verlieren will. Ein Ort für Freunde, die diesen Weg nehmen können, wenn sie mich besuchen wollen…< >Wer ist schon dein Freund, Asmodis?< >Du kennst sie!< >Nein, du hast keine Freunde.< Ich wollte ihn noch mehr provozieren, denn ich mußte einfach wissen, was er vorhatte. Dieses Grabmal war ein Weg zu ihm. Nicht jede Person würde ihn gehen können, nur diejenigen, die sich auf seine Seite gestellt hatten und ihm huldigten. Einige davon kannte ich gut, aber unter den Schwarzblütlern besaß er auch Feinde, da brauchte ich nur an Will Mallmann zu denken, den Super-Vampir, dessen Allianz mit dem Teufel nicht geklappt hatte. >Die vier Mörder? < >Auch.< >Dann ist der Weg für sie?< >Nicht nur.< Die Katze glotzte mich starr an. Wieder hörte ich die Stimme in meinem Kopf. >Du kennst die Veränderungen, Sinclair. Du weißt genau, was mittlerweile geschehen ist, denn du warst daran beteiligt. Du hast versucht, mein Geschöpf zu zerstören, was dir nicht gelungen ist. Ich verlasse mich darauf, und ich will einfach, daß meine großen Helfer zu mir können, wann immer sie wollen, wobei ich da natürlich einen besonders im Auge habe.< Ich brauchte nicht lange nachzudenken, denn Asmodis hatte von den Veränderungen gesprochen, an denen ich unmittelbar beteiligt gewesen war. Dabei konnte es nur um eine Person gehen – um Cigam, das mörderische, magische Kunstgeschöpf, den neuen Helfer der Hölle, der von ihr und ihren Kräften produziert worden war. Noch hatte er mir keine Bestätigung gegeben, aber ich wußte, daß es sich nur um Cigam handeln konnte. >Es ist Cigam, nicht?
Ja.< Die Katze bewegte ihren Kopf. Sie sah aus, als würde sie gähnen. >Er ist für mich sehr wichtig, und es muß Orte geben, an denen er in mein Reich gelangen kann.< Gewissermaßen eine Höllenfahrt?< >Das streite ich nicht ab.< >Und was ist mit deinen vier Helfern? Sind auch sie zu dir in die Hölle gefahren?< >Deshalb trafen sie sich hier. Sie bauten die alte Grabstätte wieder auf. Durch ihre Taten waren sie zu schwarzmagischen Verbündeten geworden. Ich habe mich mit ihnen in Verbindung gesetzt und sie aus ihrem normalen Kreis herausgerissen. Sie sind meinem Ruf gefolgt, und sie freuten sich auf die Fahrt in die Hölle. < Was er mir sagte, sah nicht einmal ungünstig aus. Wenn die vier Mörder tatsächlich in seinem Reich steckten, hatten wir es mit vier Gegnern weniger zu tun. Dann war nur die Katze da. Sie mußte erledigt werden, dann würden Suko und ich versuchen, das Grabmal abermals zu zerstören. Sie fauchte. Die Stimme des Teufels war längst verklungen. Er hatte sich zurückgezogen. Die Steine standen wuchtig vor mir, die Luft drückte noch mehr, die Schwüle trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Ich hatte selbst den Eindruck, nicht mehr atmen zu können, und die Angst lag wie eine große Faust in meinem Magen. Wie sollte ich mich verhalten? Die Beretta ziehen, auf die Katze schießen, sie mit einem geweihten Silbergeschoß von ihrem Platz fegen? Wenn der Teufel in ihr steckte, würde die geweihte Silberkugel nicht ausreichen. Sie hatte sich geduckt, einen Buckel gemacht, als wollte sie springen. Das tat sie auch, aber erst dann, als über mir der Himmel regelrecht zerrissen wurde. Der Blitz jagte nach unten wie ein von einer Titanenhand geschleuderter Speer. Ich hörte meinen Freund warnend schreien, die Katze sprang auf mich zu, und im selben Augenblick traf mich der Blitz mit ungeheurer zerstörerischer Wucht… *** Ich sah ihn vor meinen Augen für einen winzigen Moment aufflackern, aber ich besaß nicht mehr die Schnelligkeit, um ihm ausweichen zu können. Zudem sprang die Katze, um ihre Krallen in mein Gesicht schlagen zu können, und ich mußte mich in diesem Augenblick einzig und allein auf mein Kreuz verlassen.
Wie der Wildhüter verbrannt war, das sah ich noch verdammt deutlich vor mir, und auch in meine Gestalt schlug der Blitz ein. Ich fiel zurück, einer Ohnmacht nahe, glaubte zu verbrennen, aber es kam genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Blitz erwischte mein Kreuz. Auf meiner Brust lastete ein ungeheurer Druck. Ich bekam keine Luft mehr, die Kräfte schwanden mir. Auch wenn ich es versucht hätte, es wäre mir nicht gelungen, vom Grabmal wegzukriechen. In diesen für mich schrecklich langen Sekunden konnte ich persönlich nichts tun und nur darauf hoffen, daß die Kräfte meines Kreuzes stark genug waren, den magischen Angriff abzuwehren. Sie waren es. Ich selbst war so bewegungslos wie eine Puppe, aber ich konnte sehen, was geschah. Der Strahl hatte die Mitte meiner Brust und damit das Kreuz getroffen. Dort explodierte er in einem grellen Schein, der mich blind machte. Gleichzeitig empfing er den Rückstoß, der ihn wieder in die Ausgangsrichtung jagte. Und dort befand sich die Katze. Sie bekam ihn mit. Es war so, als wäre ein gewaltiges Feuermesser in den Körper hineingerast. Zudem wurde das Tier getroffen, als es sich noch mitten im Sprung befand. Es entstand ein Kreischen, das sich anhörte, als würde rauhes Metall über Porzellan gerieben. Die getroffene Katze fiel noch nicht zu Boden, sie stand zitternd in der Luft, als würde sie von dünnen Fäden gehalten, schlug mit den Beinen um sich, und einen kaum meßbaren Moment später erstrahlte sie vor meinen Augen. Ein gelbroter Glutball wirbelte durch die Luft. Ich hörte das wilde Fauchen, das in einem grellen Schrei endete, dann jagten Fetzen und Klumpen in verschiedene Richtungen davon, und von der Katze, in der einmal der Teufel gesteckt hatte, war nichts mehr zu sehen. Es folgte auch kein zweiter Blitz, ein Zeichen, daß das natürliche Gewitter noch wartete. Ich lag auf dem Rücken, schaute in den grauen Himmel über mir. Die Strahlung auf meinem Kreuz ließ allmählich nach, und ich dachte daran, daß ich großes Glück gehabt hatte. Wie erschossen blieb ich liegen, fühlte mich matt und ausgelaugt und hörte dann die dumpfen Echos der Tritte, die auf mich zukamen. Mühsam drehte ich den Kopf zur Seite. Mein Freund Suko hatte den inneren Kreis betreten. Ich hörte ihn sprechen, aber er redete so leise, daß ich ihn nicht verstand. Über meinem Kopf schwebte noch immer eine dumpfe Glocke. »Verdammt, John, komm zu dir!«
Ich blickte in sein Gesicht, sah die Sorge in den Augen des Inspektors und quälte mir ein müdes Grinsen ab. »Keine Angst, Alter, ich bin noch da. Asmodis hat es nicht geschafft.« »Steckte er in dem Katzenkörper?« »Ja.« »Aber darauf zu hoffen, daß du ihn erwischt hast, können wir wohl nicht?« »Nein, der war schlau genug, um sich vorher zurückzuziehen. So gut kenne ich ihn.« Suko streckte mir seine rechte Hand entgegen, die ich umklammerte. Ich ließ mich von ihm auf die Beine ziehen, stand zunächst einmal auf dem Fleck und wartete einige Sekunden ab, bis sich das Gefühl des Schwindels gelegt hatte. Von der Katze war nichts mehr zu sehen. Die Magie des Kreuzes hatte sie buchstäblich zerfetzt. Wo die Reste sich verteilten, wußte keiner von uns. Bestimmt waren sie außerhalb des Kreises verschwunden und würden dort vergammeln. Ich schaute auf mein Kreuz. Es hatte nicht gelitten, und es war schon beruhigend wie es auf meiner Handfläche lag. Die Ruhe, die es ausstrahlte, übertrug sich auch auf mich. Ich hatte zudem einen magischen Kampf gewonnen. Unserem Führer war dies leider nicht gelungen. Aber hatten wir auch den Sieg davongetragen? An Sukos gequältem Gesichtsausdruck las ich ab, daß er ebenso dachte wie ich. »Es ist noch alles da, John!« sprach er leise. »Die verbrannte Erde, das verfluchte Grabmal…« »Und doch fehlt etwas.« »Ja, die vier Mörder. Du hattest mit dem Teufel Kontakt gehabt, Alter. Hat er dir nicht mehr gesagt?« »Und ob. Hier sollte der alte Weg geöffnet werden, der zu ihm in die Hölle führt.« Suko lächelte. »Wer soll ihn gehen?« »Cigam, zum Beispiel.« Mein Freund pfiff durch die Zähne. Auf seinem Gesicht zeigte sich eine Gänsehaut. Wir dachten beide das gleiche, denn Cigam stellte eine starke Gefahr da. Er war ein Geschöpf des Satans, ein Diener des Satans, und er geisterte durch die Welt. In den Staaten hatte ich ihn kennengelernt, und ich war es auch, der ihn gefangengenommen und mit nach London transportiert hatte, wo man mich zwang, ihn freizulassen. Später hatten wir noch einmal mit ihm zu tun bekommen, als er Draculas Eisleichen vernichtete.
Seit dieser Zeit hatten wir nichts mehr von ihm gehört. Wenn es uns nun gelang, dieses alte Grabmal zu zerstören, war auch ihm ein Weg genommen worden, um zu seinem Mentor zurückzukehren. Suko deutete gegen die Steine. »Funktioniert das auch umgekehrt? Kann er durch dieses Grab wieder zurück in unsere Welt?« »Davon gehe ich eigentlich aus.« »Und die vier Killer?« »Das ist die Frage. Ich glaube nämlich, daß es sich hier nicht um Cigam dreht. Ich will dir ehrlich sagen, daß er für mich nicht mehr als eine Begleiterscheinung ist. Wichtig sind die vier Seelen, die sich der Teufel geholt hat. Ich kann es dir nicht hundertprozentig sagen, aber ich rechne fest damit, daß die vier Helfer des Teufels genau an dieser Stelle zur Hölle gefahren sind.« Suko war skeptisch. Er suchte den Boden nach Spuren ab, entdeckte aber keine. »Wäre das Problem damit gelöst?« Ich hob die Schultern und wartete mit der Antwort, . denn gar nicht mal so weit entfernt hörte ich das wummernde Donnern. Allmählich zog das Gewitter heran. Im Westen hatte sich der Himmel noch stärker verdunkelt. Da war er fast schwarz geworden, als hätten gewaltige Hände dort Rauchglas in die Wolken gesteckt. Aber auch einen gelben, schwefligen Rand hatte er bekommen, und in diese Abgrenzung hinein wölkten Dunstwolken, zwischen denen die ersten Blitze aufzuckten. Ein fernes Wetterleuchten. Die Insekten summten noch stärker, sie tanzten hektischer als sonst. Die Natur erwartete das Unwetter und gab sich wie in tiefer Demut erstarrt. Bei der überraschend klaren Sicht kam uns die Natur dicht zusammengedrängt vor, wie ein Stück vom Reißbrett, das eine Insel innerhalb der Landschaft bildete. Die Katze war durch die magische Kraft des Kreuzes regelrecht verschmort. Der Geist des Teufels hatte sich zurückgezogen, vielleicht suchte er nach einer neuen Chance, wollte einen neuen Anlauf nehmen, das war mir egal. Mich und Suko interessierten eigentlich nur das verdammte Grabmal, das von den vier Teufelsdienern zusammengebaut worden war. Mein Freund stand daneben. Der oberste Stein reichte uns bis zur Brust. Suko strich mit der Hand darüber hinweg und drehte sich dann zu mir um. Mir fiel sein verwunderter Blick auf. »Ist was?« »Ja, ich habe den Eindruck, als wäre der Stein keine tote Materie, es steckte Leben in ihm.« »Das habe ich nicht gefühlt.« »Du kannst mal testen.«
Auch ich legte meine Hand auf den diagonal stehenden dunklen Stein und mußte Suko recht geben. In der Tat stellte auch ich das leichte Vibrieren fest, daß das Material durchdrang. »Seltsam, nicht?« »Ja, das stimmt.« »Und was willst du machen?« Ich zog die Hand zurück. Das Material hatte sich äußerlich nicht verändert und auch der Boden zeigte noch immer diese verbrannte Erde. Ich beobachtete Suko, wie er sich bückte und seine Hand flach auf den Untergrund legte. »Nun?« Erhob die Schultern. »Ich kann es nicht genau sagen. Es könnte sein, muß aber nicht.« »Gut, dann versuche ich es mit dem Kreuz.« Mein Freund lächelte. »Kannst du Gedanken lesen?« »Manchmal.« Ich nahm meinen Talisman nicht in die Hand, sondern ließ ihn an der Kette hängen, als ich den ersten Versuch startete. Metall gegen Stein – wer würde siegen? Mit der Unterkante drückte ich es leicht auf das Ende des diagonal gestellten Steins. Eine winzige Berührung nur, ein kurzer Kontakt, aber sie reichte aus. Es war eine Reaktion da. Nur anders, als wir es uns gedacht hatten. Aus irgendeiner Tiefe, in die wir nicht blicken konnten, erklang ein jämmerlicher Schrei… *** Wir sagten nichts, wir schauten uns nur an. In der Stille war der Schrei deutlich zu hören gewesen, und ich merkte, daß sich auf meinem Rücken eine zweite Haut zusammenzog. Ich hatte das Kreuz wieder weggezogen, wartete ab, aber der Schrei erklang nicht mehr. Dafür hörten wir beide den grummelnden Donner in der Ferne, wo noch immer das Gewitter lauerte. »Ein Mensch?« fragte Suko. Ich hob die Schultern. »Das kann sein. Aber wo, zum Henker?« Mein Freund zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Tiefe. »Da muß das Grab liegen, John. Da unten sind sie eingekesselt, sind sie gefangen, dort…« »Schon gut. Ich versuche es noch einmal.« »Okay. Länger?«
»Sicher.« Mein Freund trat zwei kleine Schritte zurück. Er wollte mich nicht stören, schaute aber gegen den dunklen Himmel, um das Heranziehen des Gewitters zu beobachten. Ich dachte noch immer über den Schrei nach. Er hatte sich tatsächlich so angehört, als wäre er von einer gefolterten Kreatur abgegeben worden. Einem Wesen, das unter wahnsinnigen Schmerzen litt und sich nicht wehren konnte. War dieses Wesen menschlich? Oder anders gefragt – war es einmal menschlich gewesen, denn ich dachte natürlich an die vier verschwundenen Mörder, die sich meiner Ansicht nach noch in dieser Grabmal-Umgebung aufhalten mußten. Oder würde ich die vier endlich vernichten, wenn ich das Kreuz länger gegen die Steine preßte? Oder waren es keine Menschen, die geschrien hatten, sondern Seelen, die unter einem schrecklichen Terror litten. Ich ging davon aus, daß es mir bereits gelungen war, den Zugang wieder zu verschließen. Wenn das magische Kunstgeschöpf Cigam seinen Mentor besuchen wollte, mußte es eben einen anderen Weg nehmen, von denen es sicherlich noch viele auf dieser Welt gab. Ich hatte eine trockene Kehle bekommen, weil ich nicht wußte, ob ich es richtig oder falsch machte. »Tu es, John!« »Okay.« Diesmal streifte ich die Kette über den Kopf. Wir waren wegen der vier Mörder gekommen, und wir wollten nicht wieder ergebnislos verschwinden und gefährliche Altlasten zurücklassen. Das Kreuz wog schwer in meiner Hand, und dies im doppelten Sinne des Wortes. Sie sank in die Tiefe. Sehr langsam, beinahe wie im Zeitlupentempo. Ich schaute dabei über die Steine hinweg, gegen die weiter entfernten Felswände, gegen dichtes Strauchwerk und Bäume. Alles wirkte so klar und hingestellt wie auf einer gewaltigen Naturbühne. Die Steine rührten sich nicht. Dunkel stand das Grabmal vor mir, als wollte es mir eine Warnung zuflüstern. Suko nickte. Ich dachte nicht mehr länger nach, sondern legte das Kreuz genau auf die Kante des diagonal stehenden Steins und wartete auf die Reaktion. Nichts tat sich. Kein Schrei peitschte uns entgegen. Ruhig und still stand das verdammte Grabmal auch weiterhin voruns. Keine Bewegung, nicht die geringste Reaktion, und ich spürte zum erstenmal so etwas wie Furcht in mir aufsteigen. Nicht vor dem Grab, sondern davor, daß man uns geleimt hatte.
Auch Suko wunderte sich. Er kam kofpschüttelnd näher. »Das begreife ich einfach nicht. Sie müssen mit der Kraft des Teufels geladen sein, verdammt!« Ich erinnerte ihn an die Katze, die zerfetzt worden war. »Möglicherweise hat Asmodis eingesehen, daß dies hier nicht mehr sein Platz ist.« Suko zeigte ein schiefes Grinsen, als er seine Dämonenpeitsche hervorholte. »Glaubst du das wirklich?« »So recht nicht.« Er schlug einen Kreis und schaute den drei aus Dämonenhaut gefertigten Riemen nach, wie sie aus der Öffnung rutschten. »Ich werde es mal ausprobieren, vielleicht habe ich Glück.« »Tu, was du nicht lassen kannst.« Ich ging zur Seite, um ihm Platz für einen Schlag zu schaffen. Ausholen, zuschlagen, treffen! Die Bewegung war fließend und ließ erkennen, daß Suko im Umgang mit der Peitsche sehr geübt war. Ich schaute zu, sah sogar, wie sich die drei Riemen auf dem Stein verteilten, ihn aber nicht zerstören konnten. Suko hätte ebensogut mit einem Springseil danach schlagen können. »Verdammt, das verstehe ich nicht. Wir haben doch beide den Schrei gehört.« »Ja, da ist auch was.« »Hast du eine Idee?« Zunächst ließ ich den Donnerschlag verhallen, dann gab ich die Antwort. »Ich hätte eventuell eine, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie auch funktioniert.« »Und welche?« Ich lächelte Suko an. »Was hältst du davon, wenn wir das Grabmal verändern. Wir haben auf den Fotos eine andere Formation gesehen. Da war das Grab praktisch zerstört. Traust du dir zu, die Steine zu verändern, zu heben?« »Mit dem kleinen Finger.« »Dann los!« Mit dem kleinen Finger schafften wir es zwar nicht, aber es war einfacher, als wir dachten. Wir kippten zunächst den diagonal stehenden Stein um, der mit einem dumpfen Laut auf dem Boden landete. Die anderen hatten keinen Halt mehr und fielen aufeinander zu. Sie prallten zusammen und landeten über dem ersten. Beinahe sah es so aus wie auf dem Bild, und wir erlebten im nächsten Moment, daß wir genau das Richtige getan hatten. Genau dort, wo die Steine lagen, fing der Boden an, sich zu verändern. Wir hörten zuerst das leise Brodeln, dann entstanden die ersten Dampfwolken, deren Geruch uns zurücktrieb. Suko freute sich bereits, denn er sagte: »Das ist der Anfang vom Ende, John.«
Ich war mir nicht so sicher. Es konnte auch sein, daß wir ein anderes Kapitel in der Geschichte der Steine aufgeschlagen hatten. Ich sollte recht behalten. Innerhalb des Zentrums veränderte sich der Untergrund. Es sah so aus, als wäre eine feurige Glasplatte entstanden, die den Blick zum Einstiegsschacht in die Hölle freigab. Die Menschen hatten sich das Innere der Hölle immer wie eine mit Feuer gefüllte Höhle vorgestellt. Ob das stimmte, wollten wir dahingestellt sein lassen. Der Teufel war der beste Zauberer. Wenn er wollte, konnte er diesen Vorstellungen nachkommen, und auch wir schauten gegen die zuckenden Flammen, die sich endlos in einem Gang ausbreiteten, der tief unter uns lag. Er schien zum Mittelpunkt der Erde zu führen, so schlimm war es natürlich nicht. Aus dem Stollen stieg etwas hoch, als hätte der Satan es nicht mehr gewollt. Es waren Gestalten. Bleich und feurig zugleich, jedenfalls geisterhaft mit zitternden Umrissen. Sie drangen aus dem Feuer hervor, erreichten auch den Rand und glitten über ihn hinweg. Suko und ich erinnerten mehr an Statisten, die nur zuschauen konnten, was die anderen Kräfte uns brachten. Für uns waren es Höllengespenster, keine Menschen oder mutierte Wesen. Vom Satan entlassen, strömten sie zurück in die normale Welt – und lösten sich auf. Da waren sie weg! Nichts blieb mehr zurück. Selbst der Boden nahm wieder seine normale Form an, und das >Loch< schloß sich vor unseren Augen. Ende, vorbei… Suko schlug mit der Faust gegen seine flache Hand. Es war wütend, er wollte dies nicht hinnehmen und kam sich ebenso auf den Arm genommen und reingelegt vor wie ich. »Es ist nicht zu begreifen«, flüsterte er. »Verdammt noch mal, es ist einfach nicht zu fassen!« Suko stampfte wütend mit dem rechten Fuß auf. Er drückte ihn genau auf die Stelle, wo noch vor Sekunden das Feuer gewabert hatte. »Was sagst du denn dazu, John? Sind wir gekommen, um hier die Hampelmänner zu spielen?« Er hatte es zwar drastisch ausgedrückt, aber sicherlich nicht unrecht. Wir standen vor einem Problem, das momentan für uns nicht zu lösen war. Der Teufel hatte sich rückversichert und der Eingang zur Hölle war durch die letzte Tat endgültig verschlossen. Nichts wies mehr darauf hin, daß hier jemals ein Hort des Bösen gewesen war.
»Sollen wir gehen?« fragte Suko völlig frustriert. »Dann kommen wir vielleicht noch trocken zum Wagen.« »Wäre nicht schlecht.« »Aber…?« Ich wußte selbst nicht, was mich noch hielt. So blamiert hatten wir uns eigentlich selten. Wir waren ja wegen dieser vier Mörder gekommen und konnten einfach nicht begreifen, daß es ihnen gelungen war, uns zu entwischen, obwohl der Kontakt mit dem Höllenherrscher gerade an dieser Stelle endgültig geknüpft worden war. Ein starker Windstoß erfaßte mich und riß meine Gedanken förmlich weg. Es war fast dunkel geworden, dennoch zeigte die Luft eine ungewöhnliche Klarheit. Suko hatte davon gesprochen, trockenen Fußes zum Wagen zu gelangen, das würde uns nicht mehr gelingen, denn das Gewitter war da, und es begann mit einer vom Teufel geführten Regie. Es blitzte auf. Das war nichts Ungewöhnliches, geschah bei einem Gewitter immer. Aber nicht vier Blitze zugleich, wie gelenkt und an verschiedenen Stellen außerhalb der Grabstätte in den Boden einschlagend. Wir duckten uns unwillkürlich, denn im Unterbewußtsein eines Menschen bilden Blitze doch eine Gefahr. Sie waren grell, wie lange lanzenartige Messer oder Speere. Dabei geschah noch etwas, das uns neu war. Zischlaute entstanden, und in diese Laute hinein tönten ähnliche Schreie, wie wir sie schon einmal vernommen hatten. Wir fuhren herum. Suko nach rechts, ich nach links. Zugleich sahen wir, was passiert war. An vier voneinander getrennt liegenden Punkten waren die Blitze in das Erdreich geschlagen, und sie hatten die Gestalten gebracht, nach denen wir suchten. Drei Frauen und ein Mann. Vier Mörder! *** Ich wollte es kaum glauben, aber meine Augen trogen nicht. Sie standen dort tatsächlich, sie waren zurückgekehrt aus der Hölle, in die sie hineingefahren waren. Der Teufel hatte sie nicht mehr gewollt, er überließ sie uns wie eine Beute. Um das Grabmal herum hatte sich ein Viereck gebildet. Wo immer sie auch standen, sie konnten uns sehen. Wir standen auf dem Präsentierteller, sie ebenfalls. Und das Grab schwieg…
Wir hatten es zerstört, es seiner Kräfte beraubt. Ich dachte auch an die zitternden Qualmwolken, die aus dem Grab in die Höhe gestiegen waren. Vier waren es insgesamt, sie hatten sich nach dem Verlassen des Grabes gefunden und zu gespensterhaften Gestalten zusammengedreht, die nun aus ihrem anderen Zustand in den festen übergegangen waren. So also sahen Menschen aus, die einen Blick in die Hölle hatten werfen können und hinter denen eine Höllenfahrt lag. Da war die Nonne! Sie trug noch immer ihre Tracht. Es grenzte schon an Blasphemie, damit der Hölle einen Besuch abzustatten. Ihre Kleidung war schmutzig, das Gesicht zeichnete sich unter dem Rand der Haube überaus bleich ab. Sie schaute mich aus starren Augen an. Die zweite Person, die ich aus meinem Blickwinkel sah, war ebenfalls eine Frau. Blondrot umrahmten die Haare ein puppenhaftes Gesicht. Sie trug nur noch Fetzen am Körper. Unter einem Tuch schaute die Hälfte der linken Brust hervor. Das mußte Cora Vandell, die Stripperin, sein. Ich drehte mich. Der Mann geriet in mein Blickfeld. Schaupsieler war er, und Skip Archer hieß er. Sein schwarzes Haar wuchs dicht, wirkte wie in die Höhe gefönt, und er hatte bereits eine für mich sichtbare Veränderung durchgemacht. Archer hatte keine Hände mehr. Ihm waren dunkle Fellpranken gewachsen, mit langen, schwarzen, leicht glänzenden Nägeln, deren Spitzen leicht gekrümmt zu Boden wiesen. Blieb die vierte Person. Als ich sie anschaute, traf mich beinahe der Schlag. Ausgerechnet die adelige Lady Anne Forrester hatte es so furchtbar erwischt. Ihr Gesicht sah aus wie von zahlreichen Scherben zerhackt und war nicht mehr als eine rote, aufgequollene, blutige Masse, in der beide Augen eine unterschiedliche Größe aufwiesen. Sie bot einen widerlichen Anblick, und das vornehme Kleid paßte dazu wie ein Schneeball im Ofen. »Nettes Quartett«, meinte Suko. »Und bestimmt nicht ungefährlich.« »Darauf kannst du Gift nehmen.« Noch taten sie nichts, sie standen nur da, aber sie zuckten, ebenso wie wir, unter dem mächtigen Donnerschlag zusammen, der über den Himmel dröhnte. Sein Echo prallte auf die Erde nieder und verteilte sich im Gelände, bis es gegen die ferne Felswand geschleudert wurde und von dort noch einmal zurückkehrte. Und dann kam der Regen!
Ich dachte noch darüber nach, weshalb es zwei Personen nur erwischt hatte und die anderen nicht, als mich der Guß mit einer elementaren Wucht traf. Im Nu hatte sich die Welt verwandelt. Die Umgebung kam mir vor wie unter einem nie abreißenden Wasserfall stehend. Der starke Regen war so dicht, daß alles andere verschwamm und sich in eine trübe Soße verwandelte. Aber es blieb nicht so. Immer wenn Blitze den dunkelgrauen Himmel zerrissen wie einen gewaltigen Vorhang, bedeckte ihr Licht den Erdboden sekundenlang mit einem flackernden Teppich, dessen helle Stellen durch den Regen schimmerten und einen nahezu geisterhaften Tanz vor unseren Augen aufführten. Wie unter einer Dusche standen wir. Suko bewegte sich als erster. Tropfnaß kam er zu mir und mußte schreien, als er sprechen wollte, denn der Donnerschlag riß ihm die Worte von den Lippen. »Wir müssen Sie holen, John! Du zwei, ich zwei!« »Okay.« »Ich nehme die Adelige und den Mann.« Damit war ich einverstanden. Wir trennten uns. Der Regen strömte aus den Wolken. Wind kam auf. Er fuhr in wilden Böen in die vom Himmel fallenden Wasserschleier hinein und trieb sie mit all seiner Kraft zur Seite, so daß sie sich beinahe querlegten. Der Regen jagte mit so einer Wucht aus den Wolken, daß der Untergrund es nicht schaffte, die plötzlichen Wassermassen aufzunehmen und sich sehr schnell schon die ersten großen Pfützen gebildet hatten, die aussahen wie kleine Seen, über deren Oberfläche der Wind strich und ein Wellenmuster erzeugte. Auch wenn sich die vier Gestalten nicht bewegten, so rechnete ich damit, daß sie auf keinen Fall harmlos waren. Sie sahen aus wie Wächter, vielleicht waren sie auch enttäuscht, daß wir ihnen den Weg zu ihrem Herrn und Meister genommen hatten. Ich konzentrierte mich auf die Nonne. Auch ihre Tracht hatte unter den Wassermassen gelitten. Sie klebte am Körper der Frau. Der Stripperin erging es nicht anders, sie kam auf mich zu. Ihre Bewegungen hatten nichts mehr mit denen einer Tänzerin gemein. Sie wirkten sehr steif, als wollte sie die Schritte durch den Regen erst noch üben. Wieder spaltete ein Blitz die Finsternis in meiner Nähe. Für einen Moment konnte ich die Frau mit dem Namen Cora Vandell besser erkennen. Auf mich wirkte sie wie eine Wachspuppe, doch ich sah auch, daß an ihrer rechten Schulter, vom Hinterkopf her, eine dunkle Flüssigkeit entlanglief.
Das lenkte mich für einen Moment ab, denn Cora Vandell kam mir vor, als würde sie sich unter den Wassermassen in einem Stadium der Auflösung befinden. Sie griff nach mir. Ich nahm nicht das Kreuz, ich wollte mich vorher vergewissern, ob sie noch ein Mensch war oder der Teufel sie bereits in eine seiner schrecklichen Kreaturen verwandelt hatte. Bevor sich die Hände um meine Gelenke klammern konnte, packte ich zu und drehte sie herum. Mir war die dunklere Flüssigkeit nicht aus dem Sinn gegangen. Ich wollte genau wissen, was geschehen war. Durch den Schwung drehte sie mir den Rücken zu. Mein Blick vereiste. Ich hatte damit nicht gerechnet, denn dieser Frau fehlte der Hinterkopf. Im Widerschein eines Blitzstrahles konnte ich selbst die bleichen Knochenstücke erkennen, die aus der dunklen Masse hervorschauten. Ich hielt den Atem an. Der Teufel hatte seine Diener gezeichnet. Er wollte, daß sie für immer bei ihm blieben und sich nicht mehr unter die Menschen trauen konnten. Cora Vandell kam wieder hoch. Aus ihrem Mund drangen krächzende Worte. Sie war kein Zombie, auch wenn sie sich so bewegte, sie stand nur voll und ganz unter dem Einfluß der magischen Höllenkraft. Und der Regen jagte weiter aus den tiefen Wolken. Wind fuhr hindurch, Blitze schufen eine gespenstische Atmosphäre, Wolken jagten über den Himmel, krachten zusammen, so daß es in unserer Umgebung zu wahnsinnigen Entladungen kam. Magie und Energie mischte sich. Wir standen dazwischen, und ich wußte, daß ich Cora ausschalten mußte. Sie konnte so nicht leben. Sie war kein Mensch mehr, sie stand unter dem Bann des Teufels, der sie trotzdem abgeschoben hatte. Ich ging einen Schritt nach hinten – und tat genau das Falsche! Vom Rücken her peitschte etwas gegen meinen Nacken und drehte sich dann blitzschnell um meinen Hals, als hätte jemand einen dünnen Strick festgezurrt. Es war kein Band, dafür war dieses Zeug einfach zu glatt und zu glitschig. Vom Regen konnte es auch nicht aufgeweicht sein, aber ich merkte den Ruck, als ich mit dem Rücken gegen ein Hindernis stieß. Und dann gerieten zwei Hände in mein Blickfeld, die sich von hinten um meinen Körper drehten und dafür sorgten, daß meine Arme festgepreßt wurden. So wollte man mich wehrlos machen. Cora kam auf mich zu. Ich schaute an ihr vorbei und sah die schattenhaften Bewegungen, mit denen Suko agierte, denn er befand sich im Kampf mit den anderen beiden.
Trotz der Regengeräusche vernahm ich das Klatschen, dann hörte ich einen irren Schrei und sah noch soeben, daß eine der Gestalten – es war Lady Anne Forrester – auf der Stelle zusammenbrach. Suko hatte sie mit seiner Peitsche erwischt. Auch um meinem Hals war etwas gewickelt, daß sich wie eine dünne Peitsche anfühlte. Brutal raubte es mir die Luft. Wenn ich versuchte, Atem zu holen, floß entweder Wasser in meinen Mund oder es drang ein fürchterliches Gurgeln über meine Lippen. Noch hatte es die Person nicht geschafft, mich so weit zurückzureißen, daß ich auf den nassen Boden schlug, aber viel fehlte auch nicht, und mir gelang es noch, den Ruck durch die Bewegungen meiner Beine auszugleichen. Der Boden war glatt. Für mich ein Vorteil. Ich rutschte aus und war so schwer, daß auch die Person hinter mir das Gleichgewicht verlor. Ich prallte auf den weichen Körper der Nonne. Cora hatte nach mir fassen wollen, verfehlte mich, und ich merkte, daß dieses Leder oder was immer es war, so scharf in meine dünne Halshaut hineinbrannte wie eine ätzende Säure. Über mir hörte ich ein so wildes Keuchen, daß davon selbst die anderen Geräusche überdeckt wurden. Ich verdrehte die Augen. Sehr mühsam konnte ich das Gesicht der Nonne erkennen, obwohl es sich in meiner Nähe befand. Und ich sah die lange, bandartige Zunge, die zwischen ihren Lippen hervor nach unten hing und tatsächlich meinen Hals umwickelt hatte. Auch Clara Montero hatte sich verändert! Beim Fallen allerdings war es mir gelungen, ihren Griff zu sprengen. Die Arme konnte ich wieder normal bewegen, griff zu einem alten Trick und schleuderte sie in die Höhe. In die Haare der Nonne konnte ich nicht hineingreifen. Sie waren unter der Haube versteckt, aber ich bekam ihr Gesicht zu fassen, meine Hände rutschten an den Wangen entlang in die Richtung der beiden Ohren, glitten auch dort weiter und fanden sich im Nacken der Nonne zu einem Klammergriff. Einen Moment später zerrte ich sie nach vorn. Ich hörte keinen Schrei, überhaupt nicht, sah nur den Schatten über mich hinwegfliegen. Der Druck am Hals wurde für einen Moment übermächtig, dann löste sich die lange Zunge mit einem sirrenden Geräusch, und im Wechselspiel zwischen Blitz und Donner klatschte die Gestalt der Nonne rücklings auf den nassen Boden. Sie blieb liegen. Ich nicht. Nach Luft schnappend, tropfnaß und angeschlagen taumelte ich hoch, warf mich nicht auf die Nonne, es blieb mir auch keine Zeit, die Beretta
zu ziehen, ich mußte mich um die Stripperin kümmern, die einen großen Stein gefunden hatte, ihn zwischen beiden Händen hielt und ihn mir auf den Kopf hämmern wollte. Ich war schneller. Mit dem Schädel voran rammte ich gegen den Unterleib der Person. Für einen Moment sah es so aus, als wollte sie auf der Stelle tanzen, dann zuckte sie mit den Armen, rutschte mit dem rechten Standbein weg und landete unsanft auf dem Rücken. Den Stein ließ sie erst jetzt los, oder er rutschte ihr aus den Händen. Jedenfalls landete er auf ihrem Gesicht. Ob sie sich selbst damit umgebracht hatte, wußte ich nicht, denn ich mußte mich um die Nonne kümmern. Aus ihrem Mund hing noch immer die dunkle Zunge. Dann rollte sie sie auf, um sie im nächsten Moment wieder auf mich zuschnellen zu lassen. Ihr Gesicht war dabei eine bleiche, nasse Maske, das im Widerschein eines Blitzes aussah, als würde es über dem dunklen Körper in der Luft tanzen. Ich zog die Beretta. Dann schoß ich. Unter der Zunge hinweg jagte das geweihte Silbergeschoß schräg in die Schulter der Nonne. Ich wollte nicht ihr Herz treffen, vielleicht war sie noch zu retten, doch wen der Teufel einmal so hart in seiner Gewalt gehabt hatte, den zeichnete er auch noch nach dem Ende. Sie brüllte auf. Ihr Schreien war lauter als das Krachen des Donners. Dann glitt sie mit einem langen Schritt zur Seite, und dort, wo sie von dem geweihten Silbergeschoß erwischt worden war, flammte ihre Schulter plötzlich auf. Trotz des Regens konnten sich Flammen bilden, die in einem grellen Weißgrün leuchteten und die Nonne verbrannten, die von mir weg den Hang hinab und in die Regenschleier hineinlief. Neben mir bewegte sich Cora Vandell. Sie hatte den Stein zur Seite schieben können. Zwar war sie verletzt, aber nicht ausgeschaltet. Noch immer wuchsen ihre Haare an der Vorderseite des Gesichts. Durch den Regen sahen sie aus wie am Kopf festgeleimt. Ihre Nase saß schief, die linke Wange war verquollen. Unsicher kam sie auf mich zu. Und noch jemand kam. Er schlug im Sprung. Suko hatte die Dämonenpeitsche eingesetzt. Und er erwischte die mit Blut und Knochensplittern bestückte Stelle am Hinterkopf der ehemaligen Stripperin. Es war fast so wie bei der Vernichtung der Nonne. Magie traf auf Magie. Es fand eine Entladung statt. Etwas sprühte auf.
Grünes Feuer. Blitze, Flammen, ein Schrei gellte durch das Rauschen der Wassermassen, und Cora Vandell torkelte wie ein Kunstgeschöpf, bei dem der Motor seine Funktion eingestellt hatte, nach vorn. Als sie schließlich fiel, blieb sie mit dem Gesicht in einer großen Wasserlache liegen. Vor unseren Augen zersprühte ihr Kopf. Ich war Suko dafür dankbar, daß er die Peitsche genommen hatte. Mich hätte es eine zu große Überwindung gekostet, auf sie zu schießen. »Und die anderen beiden?« fragte ich, wobei ich meinen Hals betastete, bei dem die Haut außen und auch innen brannte. Er hob nur die Schultern. Ich hatte ihn auch so verstanden… *** Die Natur tobte weiter. Sie mußte sich einfach Luft verschaffen. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Monaten so naß geworden zu sein, ausgenommen bei einem unfreiwilligen Bad. Aber wir hatten es geschafft. Die vier Killer gab es nicht mehr. Ich war nicht besonders glücklich darüber. Viel lieber hätte ich die Personen wieder zurückgeholt, ihnen die Magie des Teufels entrissen, aber wieder einmal war uns bestätigt worden, daß der Höllenherrscher die Personen, die er nicht mehr brauchte, einfach abstieß. Es gab ja genügend neue, die er für seine finsteren Pläne gebrauchen konnte. Vier Tote ließen wir zurück, und trotzdem konnten wir davon ausgehen, daß sie schon vorher tot gewesen waren, obwohl sie sich wie normale Menschen bewegt hatten. Noch einmal gingen wir zu dem Grabmal zurück. Und dort lag der fünfte. Wir hatte Sean Watkins nicht retten können. Die Macht des Teufels war bei ihm stärker gewesen. Später wurde dann noch eine gewisse Laurie Warren gefunden. Da war ihr Körper bereits zur Hälfte verwest, so lange hatte sie unentdeckt am Wegrand gelegen. Wir gingen zu unserem Wagen zurück, und wir erlebten dabei, wie der Regen nachließ und später ganz aufhörte. Sogar erste Sonnenstrahlen zeigten sich. Licht funkelte plötzlich hinter den abziehenden Wolken hervor. Die Sonne war die Hoffnung, doch mich faszinierte ein anderes Phänomen. Es war der gewaltige Regenbogen, der sich über den Himmel spannte und den ich mit Freude betrachtete.
Ich dachte daran, daß es Geschichten gab, wo Menschen versucht hatten, das Ende des Regenbogens zu finden. Das waren nur Märchen – leider, denn ich wäre diesen Weg selbst gern gegangen…
ENDE