Seewölfe 701 1
Jan J.Moreno
Die Goldkarawane
Als hätte die Abendsonne sie ausgespuckt, bahnten sie sich ihren Weg dur...
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Seewölfe 701 1
Jan J.Moreno
Die Goldkarawane
Als hätte die Abendsonne sie ausgespuckt, bahnten sie sich ihren Weg durch das dicht verfilzte Elefantengras. Die Schatten wurden länger, und über dem hügeligen Land lag ein eigenartig roter Schein. Das Wasser des nahen Flusses wirkte wie ein Strom von Blut. Noch konnte der auffrischende Ostwind, der den Geruch des Meeres mit sich führte, die Hitze und den Staub des Tages nicht vertreiben. Büffel suhlten sich im Schlamm einer weitläufigen Bucht. Ihr Hirte erstarrte, als er die Fremden sah, die bärtig und zerlumpt waren, aber bewaffnet wie das Heer eines Sultans. Eine junge Frau führte sie an. „Phoolan Devi ..., ächzte der Hirte, warf sich herum und floh. Er hatte einen Augenblick zu lange gezögert. Ein Pfeil traf ihn zwischen die Schulterblätter und tötete ihn, ehe er im Fluß versank... Die Hauptpersonen des Romans: Phoolan Devi — sie ist eine Dacoit, nämlich eine Räuberin, und wo sie mit ihren Spießgesellen auftaucht, gibt es Mord und Totschlag. Dilip Rangini — ist zwar der Vertraute eines Sultans, aber das hält ihn nicht davon ab, Verrat zu begehen. Drawida Shastri — gibt sich als Sultan von Golkonda aus und verschwindet mit einer Goldkarawane. Philip Hasard Killigrew — gerät mit seinen Arwenacks in eine Falle, als er eine angebliche Maharani befreien will.
1. Samatrai war ein unbedeutender Ort zwischen Madras und Tirukkalikundram, leichter von See her als über Land zu erreichen. Drei Dutzend Hütten drängten sich auf engem Raum aneinander, umgeben von Dattelpalmen und an den Flußufern liegenden Feldern, auf denen Linsen und Senf angebaut wurden. Die übrige Fläche, erst vor kurzem gerodet' und nun von hartem Gras bewachsen, gehörte den Schafen und Büffeln. Nur zwei unbefestigte, zur Regenzeit unpassierbare Pfade verbanden Samatrai mit den größeren Orten. Kein Ochsenkarren hätte es je bis Madras geschafft. Dennoch waren die Bewohner über vieles informiert, was entlang der Koromandelküste geschah. Sie kannten die
schrecklichen Geschichten von Phoolan Devi und ihren Dacoits, die nur während der letzten Monate mehr Menschen getötet hatten, als ein einzelner an Fingern und Zehen abzählen konnte. Phoolan, deren Name soviel bedeutete wie „Göttin der Blumen“, war etwa zwanzig Jahre alt, klein, aber kräftig gebaut, und mit üppigen Rundungen ausgestattet, die ihre auffällig blasse Hautfarbe überspielten. Niemand in Samatrai ahnte, welche Gefahr drohte. Die Männer dösten oder reparierten Feldwerkzeuge, die Frauen saßen beieinander und palaverten beim Teigkneten oder der Läusejagd auf den Köpfen ihrer Kinder. Irgendwo bellte ein Hund, doch niemand achtete darauf. Zu dem Zeitpunkt kreisten zehn Dacoits das Dorf ein. Niemand sollte Gelegenheit zur Flucht erhalten.
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„Die anderen folgen mir!“ befahl Phoolan. „Durchsucht die Häuser und nehmt euch von mir aus, was ihr wollt, aber laßt die beiden Verräter nicht entrinnen. Erschlagt sie und jeden, der ihnen Unterschlupf gewährt.“ Sie standen vor dem geschnitzten Dorfaltar, der Schiwa, den Gott der Vernichtung darstellte, und berührten nacheinander und um Segen bittend, seinen Dreizack. In der Rechten einen krummen Gurkhadolch, in der Linken eine von Portugiesen erbeutete Steinschloßpistole, stürmte Phoolan vor ihren Leuten her. Die Bewohner Samatrais wurden völlig überrascht. Ein älterer Mann versuchte, sie mit einer Sense niederzustrecken – die Dacoit stieß ihm im Laufen den Dolch in die Seite, daß er lautlos zusammenbrach. Sie schwang sich auf den gemauerten Rand des Dorfbrunnens, sich des Eindrucks bewußt, den sie bei den entsetzten Menschen hinterließ. In Situationen wie dieser, wenn ihr Gesicht fiebrig glühte, genoß sie ihre Macht. Es bedurfte nur eines Wortes von ihr, und Samatrai wurde niedergebrannt und seine Bewohner in den Dschungel getrieben oder verschleppt. „Hört mich an, ihr lausiges Pack!“ schrie sie mit gellender Stimme. Früher – wie lange lag das schon zurück? – hatte sie leiser geredet, mit der gebotenen Zurückhaltung, doch der Umgang mit den Banditen, die in allen Frauen nur eine willfährige Beute sahen, hatte sie geprägt. „Wenn ihr morgen noch leben wollt, schafft alles Wertvolle herbei. Und bringt mir Kushwant Shankar und Vijay Nain – ich weiß, daß die Verräter in euer Dorf geflohen sind.“ Einer der Männer, wahrscheinlich der Älteste, faßte sich ein Herz. Die Arme in einer hilflosen Geste ausgebreitet, trat er zwei Schritte vor. „Wir kennen dich, Phoolan Devi, und wenn die beiden Männer, die du suchst, bei uns wären, würden wir sie unverzüglich ausliefern.“ „Sie sind bei euch! Seit Tagen folgen wir ihren Spuren.“
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Der Alte schüttelte das weiße Haupt. „Nein“, sagte er bestimmt, „du irrst ...“ Die Frau bewegte kaum die rechte Hand. Alles ging blitzschnell. Der Krummdolch sauste durch die Luft und bohrte sich zwischen die Rippen des Mannes. Niemand anderes als Phoolan hätte die Waffe so handhaben können. Der Dorfälteste ließ ein ersticktes Ächzen vernehmen, seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. „Du – suchst am – falschen Ort ... Verschone die Menschen ...“ Unmittelbar vor dem Brunnen brach er zusammen, versuchte noch einmal kraftlos, sich aufzurichten, und blieb dann reglos liegen. Phoolan hatte nur einen verächtlichen Blick für ihn. Sie gab ihren Männern einen befehlenden Wink. „Ich will die Verräter! Sofort!“ Die Dacoit blieb beim Brunnen und beschränkte sich aufs Beobachten, während ihre Kerle die Häuser durchsuchten und plünderten. Den Frauen wurden die Ohrringe und die silbernen Armund Fußreifen abgenommen. Auch ein bißchen Geld fand sich in den absonderlichsten Verstecken. Frauen, deren Männer sich zur Wehr setzten, spürten die Wut der Räuber besonders. Nach einer Stunde gab es wohl keinen Stein in Samatrai, der nicht umgedreht worden wäre. Mit bebender Stimme fragte Phoolan Devi noch einmal nach den Gesuchten, die bis vor kurzem zu ihrer Bande gehört hatten, aber die Dörfler behaupteten, seit Wochen keine Fremden gesehen zu haben. Phoolan war höchst unzufrieden, und in ihrem Zorn wurde sie stets unberechenbar. „Ihr lügt!“ schrie sie mit sich überschlagender Stimme. „Kushwant Shankar und Vijay Nain sind hier! Gebt sie heraus, dann geschieht euch nichts mehr.“ „Wie können wir etwas herausgeben, was wir nie gesehen haben, Herrin?“ Phoolan Devi vollführte eine unmißverständliche Bewegung mit dem noch blutigen Gurkhadolch.
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„Nehmt die jungen Burschen mit!“ herrschte sie ihre Dacoits an. „Ich werde dieses Pack lehren, die Wahrheit zu sagen.“ Johlend zerrten die Bandenmitglieder neun junge Männer auf den Dorfplatz. Sie gingen alles andere als sanft mit ihnen um. „Hab Erbarmen, Herrin! Mein einziger Sohn ...“ Jammernd sank ein altes Weib auf die Knie und drückte die Stirn in den Staub. „Wir haben nichts Unrechtes getan.“ Phoolan verzog das Gesicht und spuckte verächtlich aus. „Ich kann dir nicht helfen, meine Sorgen sind bestimmt größer als die deinen. Hör also auf zu jammern, davon wird nichts besser.“ „Herrin ...!“ Die Dacoit und ihre Leute verließen das Dorf und schleppten die jungen Männer mit sich. Niemand wagte, sich ihnen entgegenzustellen. „Na, los doch!“ schrie Phoolan, als sie das letzte Haus vor sich sah. „Greift an, tötet uns! Ich weiß, wie gern ihr jetzt über uns herfallen würdet. Aber selbst dazu seid ihr zu feige.“ Sie brach in schallendes Gelächter aus, das noch eine Weile zu vernehmen war. Die beginnende Nacht verschluckte die Räuberbande, die den Pfad zum nahen Fluß nahm. Es dauerte lange, bis einige Dörfler das lähmende Entsetzen überwanden. „Das Weib ist schlimmer als ein reißender Tiger. Phoolan Devi wird unsere Söhne töten und bald nach neuen Opfern suchen. Sie ist unersättlich.“ „Was können wir tun? Allein sind wir zu schwach. Wollt ihr es mit Dreschflegeln, Sensen und Mistgabeln mit der Bande aufnehmen?“ „Sie ist der Teufel in Menschengestalt. Niemand hat sie je im Kampf besiegt.“ „Dann müssen wir beten, damit uns die Götter beistehen und Phoolan verderben.“ Vom Fluß her peitschte ein Schuß durch die Nacht. Für einige Augenblicke herrschte entsetzte, atemlose Stille. Jeder fürchtete, gleich weitere Schüsse zu hören.
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„Wollt ihr das?“ keuchte die alte Frau, die sich vor der Dacoit erniedrigt und in den Staub geworfen hatte. „Wenn wir Ohren und Augen verschließen und uns verkriechen, statt uns zur Wehr zu setzen, haben wir es allerdings nicht besser verdient. Was soll aus Samatrai werden ohne unsere Söhne?“ Sie hatte Mühe, ihr Zittern zu verbergen, als sie nach einer dreizackigen hölzernen Forke griff, die an einer Hauswand lehnte. „Den Mist kann ich damit aufspießen – warum nicht auch dieses verfluchte Mordweib?“ Sie hatte nichts zu verlieren außer ihrem Leben. Die anderen schon, sie versuchten sogar, die Alte zurückzuhalten. „Du wirst uns alle ans Messer liefern, Ramkali. Du bist verrückt. Geh nicht weiter!“ „Ich weiß, was ich tue – im Gegensatz zu euch.“ Mit der Mistgabel stieß die Frau nach zwei Männern, die ihr den Weg vertraten. Sie entwickelte .plötzlich Kräfte, die ihr niemand zugetraut hätte. „Dein Sohn ist auch dabei, Shri Ram Singh, und deiner, Gurh Datta. Wollt ihr euch später vorwerfen, sie in den Tod geschickt zu haben?“ Ein zweiter Schuß fiel. Zumindest Singh wußte, daß die alte Ramkali recht hatte und es wenig nutzte, den Kopf in den Sand zu stecken. Nur wenn sie entschlossen zusammenhielten, hatten sie eine Chance. Er besaß ein altes schartiges Krummschwert, das die Dacoits verächtlich zurückgelassen hatten. Eine solche Waffe war immerhin besser als gar keine, und als er sie holte und Ramkali folgte, hatte er das Gefühl, daß sich das Schwert wie etwas Lebendiges in seine Hand schmiegte. Mehr Männer und Frauen folgten ihnen. Keiner redete, ihre Gesichter wirkten verschlossen und unnahbar, aber sie waren bereit, den Kampf aufzunehmen. Phoolan Devi hatte inzwischen die neun jungen Männer an der Uferböschung aufstellen lassen. Sie hatte die Pistole auf einen von ihnen gerichtet und abgedrückt, im letzten Moment aber den Lauf gesenkt,
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so daß die Kugel lediglich vor seinen Füßen ins Erdreich gefahren war. „Wo verstecken sich die beiden Schufte?“ fragte sie. „Heraus mit der Sprache!“ „Wir wissen es nicht.“ In aufwallendem Zorn schlug Phoolan dem nächsten die Faust ins Gesicht. „Was haben Shankar und Nain euch versprochen, damit ihr sie nicht verratet?“ „Wir kennen beide nicht. Seit Monaten waren keine Fremden in Samatrai.“ Die Dacoit riß den Dolch aus der silbernen Scheide, die blitzende Klinge ritzte eine blutende Wunde quer über den nackten Oberkörper des jungen Mannes. „Ich kann auch anders“, schnaubte sie wütend. „Also reizt mich nicht. Wo verbergen sich die Verräter? – Du“, sie setzte dem Jüngling den Dolch an die Kehle, „ich warte nicht länger.“ „Keiner von uns weiß es.“ Phoolan Devis Rechte zuckte vor. Sie tötete den Mann in Gedankenschnelle, daß er nicht mal Zeit zu einer abwehrenden Bewegung fand. „Dreht euch um, verdammt!“ keifte sie und traktierte den Toten mit Fußtritten, bis er die sanfte Böschung hinunter ins Wasser rollte. Was folgte, war ein Massaker an Wehrlosen. Phoolan hatte es nicht gewollt, aber die sturen Bauern hatten es herausgefordert. So war es meistens. Die Dacoit fragte sich hin und wieder, ob die Menschen das Leben verachteten, weil sie es häufig so achtlos wegwarfen. „Wir bleiben in der Nähe des Dorfes“, sagte sie. „Vielleicht finden wir die Spuren wieder, denen wir gefolgt sind.“ Kusum Bikram, einer der umsichtigsten Männer, deutete nach Westen, wo das Dorf hinter einem Hügel lag. Im fahlen Schein des Mondes und vor dem Sternenhintergrund waren Leute zu erkennen, die dem Pfad zum Fluß folgten. „Ob das Pack endlich Einsicht zeigt?“ fragte Phoolan. „Es wäre an der Zeit, daß sie uns Shankar und Nain ausliefern.“ Sie irrte. Während sie ihre Pistole nachlud, erkannte sie an der Spitze des Trupps das alte Weib. Einige Männer begannen über die
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Mistgabel und die anderen Waffen der Dörfler zu spotten. Sogar Dasyu Gujjar, der Unterführer, konnte sich eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen. Er hatte inzwischen ebenfalls seine Steinschloßpistole nachgeladen. Außer Phoolan und ihm besaß kein anderer eine Feuerwaffe. Mittlerweile war der letzte Rest des Tageslichts geschwunden. Da die Leichen der Ermordeten am Fuß der knapp mannshohen Uferböschung im Brackwasser lagen, konnten die Näherkommenden nicht erkennen, was geschehen war. Gleichwohl hegten sie die schlimmsten Befürchtungen. Die Dacoit raunte ihren Männern zu, daß sie sich zurückhalten sollten. Sie war hinter den Verrätern her, und, bei allen Göttern, sie würde ihrer habhaft werden:. Die weißhaarige Alte führte die Dörfler an. Unmittelbar hinter ihr folgten zwei kräftige Männer. Ihre Gesichter wirkten verschlossen – Phoolan deutete das als Furcht und war zufrieden. Die Alte selbst stellte keine Gefahr dar, und die Männer und Frauen hatten sich ihr wohl nur angeschlossen, damit sie im Dorf nicht jedes Ansehen verloren. Phoolan Devi kannte die Probleme, die sich aus solch kleinen Gemeinschaften ergaben, aus eigener Anschauung. Sie war in einem Kaff mit wenig mehr als vierhundert Einwohnern aufgewachsen – als zweite Tochter einer Familie mit sieben Kindern, und erst das jüngste war ein Junge. Shivnarain, ihr Bruder, zählte inzwischen elf Sommer. Gern hätte Phoolan wenigstens ihn wiedergesehen, doch das war seit Jahren unmöglich, die Umstände waren dagegen. Mit einer unwilligen. Kopfbewegung schüttelte sie alle Erinnerungen ab. Die Geister der Vergangenheit, die sie in unregelmäßigen Abständen zu quälen begannen, ließen sich nicht leicht vertreiben. „Gib unsere jungen Männer heraus!“ forderte die Alte.
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Phoolan Devi lachte hell. „Willst du mir drohen? Siehst du nicht, wie sehr ich vor dir zittere?“ Die Mistgabel zuckte hoch. Mit aller Kraft, deren sie fähig war, stieß Ramkali zu, doch die Dacoit reagierte schneller. Sie wirbelte zur Seite, umklammerte den hölzernen Stiel unmittelbar hinter den Zinken und zerrte die Waffe herum, so daß die Angreiferin mitgerissen wurde und den Halt verlor. Ramkali stürzte vor Phoolans Füße, ein schmerzhafter Tritt traf sie an der Schulter und ließ sie bleich zusammensinken: Die Decoit zerbrach die Mistgabel über dem Knie und warf die Bruchstücke den Männern entgegen, die noch zögerten, anzugreifen. Im nächsten Moment hielt sie ihre Pistole in Händen und zielte auf den mit dem rostigen Schwert. „Ihr seid hier, um eure Söhne zu holen“, sagte sie scharf. „Sie liegen unten am Fluß. Meinetwegen nehmt sie mit, aber geht mir schnell aus den Augen. Und noch etwas: Ich verlange, daß mir bis Sonnenaufgang die Gesuchten übergeben werden. Wenn nicht, werdet ihr eure Verstocktheit bereuen.“ Wehklagen erklang vom Fuß der Böschung und zeugte vom Schmerz und der Hilflosigkeit der Dorfbewohner. In ihrer Verzweiflung waren sie kaum zu überbieten. „Das war eine erste Warnung!“ rief Phoolan Devi. „Ich habe noch immer erhalten, was ich haben wollte.“ * Die Nacht gehörte den Verstorbenen. Samatrai hallte wider von den Totengesängen, und erst als der Morgen dämmerte, zog Ruhe ein. Die Decoits hatten zu dem Zeitpunkt längst Stellung bezogen. Der erste, der das Dorf verlassen wollte, war der Ziegenhirte mit seiner Herde. Dasyu Gujjar wies den Mann schroff zurück. „Aber die Tiere brauchen Futter.“ „Dann schlachtet sie eben. Das spart Arbeit und Mühe.“ Der Unterführer wollte sich
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schier vor Lachen ausschütten über das dumme Gesicht. Als er dann drei der fettesten Tiere aus der Herde aussonderte, begriff der Mann aber sehr schnell und trieb die anderen ins Dorf zurück. „Wenn wir wieder Hunger haben, holen wir uns die nächsten!“ rief ihm Phoolan Devi hinterher. Bis zum Mittag brieten die geschlachteten Ziegen über einem großen Feuer. Der Wind trieb den Bratenduft zwischen die Häuser, wo nur hin und wieder jemand zu sehen war – die Dörfler hatten sich furchtsam verkrochen, nachdem mehrere Versuche, Samatrai zu verlassen, vor den Waffen der Dacoits geendet hatten. Sinnend blickte Gujjar in die Glut des langsam erlöschenden Feuers. „Warum räuchern wir das Pack nicht aus?“ Er zog einen halb verkohlten Knüppel aus der Asche und schwenkte ihn, bis die Flammen erneut aufloderten. Da Phoolan nicht reagierte, lief er bis zur nächsten Hütte und warf das brennende Holz aufs Dach. In dem trockenen Palmblattgeflecht fanden die Flammen ausreichend Nahrung, breiteten sich gierig aus und züngelten fauchend in die Höhe. Innerhalb weniger Augenblicke brannte das Dach lichterloh, erste Glutnester sprangen auf Balken und Bretter über. Schreiend stürzten die Bewohner ins Freie. Da das Feuer die anderen Hütten gefährdete, bildete sich im Nu eine Eimerkette. Aus dem Dorfbrunnen wurde Löschwasser geschöpft und weitergereicht. Die Dacoits spornten Männer, Frauen und Kinder mit höhnischen Rufen an. Von zusammenbrechenden Stützbalken ausgehend, sprang das Feuer auf die nächste Hütte über. Federvieh stob kreischend ins Freie, einige Tiere wurden aber wie magisch vom Feuer angezogen und verbrannten. Phoolan Devi übertönte mühelos den entstandenen Lärm, als sie lauthals schrie: „Das ist nur der Anfang! Ihr werdet uns erst los, wenn wir haben, was wir wollen!“ Mit untergeschlagenen Beinen hockte sie im Gras, kaute genußvoll auf einer schon kalt werdenden Keule und verfolgte
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fasziniert die verzweifelten Versuche der Bauern, ihr Dorf vor dem Feuer zu retten. Dabei schweiften ihre Gedanken immer mehr ab, und schon kurz darauf nahm sie das Geschehen ringsum nur noch unbewußt wahr. Wie sooft in letzter Zeit sehnte sie sich nach einem Heim und nach etwas mehr Ruhe, als ihr das Räuberdasein zu bieten hatte. Aber das einzige, was sie tatsächlich noch mit früher verband, war die Erinnerung an ihren Bruder Shivnarain. Mit elf war sie mit Mustaqueem, einem fünfzigjährigen Witwer, verheiratet worden. Doch sie war zu jung gewesen, ihm das geben zu können, wonach er sich sehnte, und war deshalb schon nach wenigen Tagen nach Hause zurückgekehrt. Ein Jahr später hatten sie die Eltern wieder zu ihrem Mann geschickt. Diesmal hielt sie es nahezu ein halbes Jahr lang aus, fühlte sich dabei aber nicht glücklich, und irgendwann stahl sie sich heimlich davon, fest entschlossen, nie wieder zu Mustaqueem zurückzukehren. . Die Eltern waren über Phoolans Handlungsweise empört, weil ein Mädchen, das einen Mann verließ, große Schande über die Familie brachte. Ihre Mutter forderte sie nahezu täglich auf, in einen Brunnen zu springen oder sich anderswo zu ertränken, denn eine verheiratete Tochter könnte nicht bei ihren Eltern geduldet werden. Vielleicht hätte sie sich sogar überreden lassen, Mustaqueem um Verzeihung zu bitten, wäre er nicht eines Tages erschienen, um allen geschenkten Silberschmuck zurückzufordern. Er hatte eine andere Frau geheiratet. Von da an ging Phoolan ihre eigenen Wege. Liebschaften mit dem Sohn des Dorfvorstehers und anderen Burschen, mit denen sie sich in den Zuckerrohrfeldern vergnügte, stempelten sie in aller Öffentlichkeit zur Dirne ab. Die Familie war bloßgestellt und hatte keine andere Wahl, als Phoolan endgültig zu verbannen. Sie wurde nach Tirupati zu ihrer älteren Schwester geschickt, lernte dort aber Babu kennen, einen entfernten Vetter
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väterlicherseits, der verheiratet und Vater von drei Kindern war. Sie hütete die Büffel ihrer Schwester und traf sich mit Babu – am Fluß, in den Feldern, am Waldrand. Es war eine schöne Zeit, in der Phoolan Devi Vergangenes vergaß. Sie gab Babu all das, was sie ihrem ersten Mann aus Scheu und Unkenntnis verweigert und von den Burschen in den Zuckerrohrfeldern gelernt hatte, aber nach Monaten des Glücks und der Zufriedenheit sträubte sie sich plötzlich. Babu sollte sie heiraten oder sie nie wieder berühren, mit ihrer Rolle als Geliebte wollte sie sich nicht länger zufrieden geben. Tatsächlich ging er mit ihr nach Kanchipuram zu einem Schreiber, der für zwanzig Rupien ein Dokument aufsetzte und versicherte, daß sie nun Mann und Frau .seien. Eine Woche lang lebten sie in Kanchipuram, dann beschloß Babu, wieder zu seiner Frau und den Kindern zurückzukehren. Für Phoolan brach eine Welt zusammen. Sie schwor, ihren Vetter umzubringen, doch seitdem hatte sie ihn nie wieder gesehen. Gerade siebzehn Jahre alt, war sie doch schon von allen verstoßen. Ihre Eltern verabscheuten sie, ihr erster Mann hatte eine andere zur Frau genommen, und die zweite Ehe war von Anfang an ungültig und nur auf Lug und Trug aufgebaut gewesen. In der Situation, verzweifelt und Zu allem entschlossen, traf sie Dasyu Gujjar, Mitglied einer Bande von Räubern und Mördern. Er war kräftig, groß und sah gut aus. Seine Zuneigung zu Phoolan hatte er von Anfang an nicht verhehlt. Sie ging mit ihm. Dasyus Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf. „Die Bauern wissen nichts“, sagte er, „sonst würden sie uns die Verräter ausliefern. Shankar und Nain jagen ihnen bestimmt nicht mehr Furcht ein als wir.“ Das Feuer war gelöscht, aber gerade deshalb schüttelte Phoolan Devi energisch den Kopf.
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„Wir bleiben, solange ich das für nötig halte!“ entgegnete sie. „Wer anderer Meinung ist, soll es mir sagen.“ * Eigenartigerweise mauserte sich die alte Ramkali zur Wortführerin der kleinen Dorfgemeinschaft. Auf die Weise gelang es ihr, den schmachvollen Tod ihres Sohnes wenigstens vorerst zu verdrängen. Sie wußte, daß sie von den Dacoits keine Gnade zu erwarten hatten, und keiner der Männer und Frauen von Samatrai war im Umgang mit Waffen und im Kämpfen geübt. „Wir müssen Hilfe herbeiholen“, sagte sie, nachdem das Feuer zwar gelöscht worden, der Wasserspiegel im Brunnen aber um gut zwei Ellen abgesunken war. „Wie?“ fragte Gurh Datta. „Glaubst du wirklich, die Bande läßt einen von uns ungeschoren passieren, nachdem schon die Viehhirten zurückgewiesen wurden?“ „Das glaube ich nicht“, sagte Ramkill. „Aber ich weiß, daß wir alle sterben werden, wenn wir es nicht versuchen. Ist euch das lieber?“ Shri Ram Singh hatte demonstrativ sein rostiges Schwert in den Boden gerammt und stützte sich auf dem Heft ab. „Können wir überhaupt auf Hilfe zählen?“ wollte er wissen. „Die nächste Stadt ist Madras ...“ „... die einer von uns bis morgen mittag erreichen kann.“ „Es ist ein Weg von zwölf Stunden.“ Die Alte sagte: „Ich würde selbst gehen, aber ich bin den Strapazen des langen Marsches nicht mehr gewachsen.“ „Sobald die Dacoits feststellen, daß wir keine Fremden verbergen, werden sie abziehen.“ „... falls sie nicht zuvor Samatrai einäschern. Ich stimme Ramkali zu: Keiner von uns ist seines Lebens sicher.“ „Wer geht?“ „Shri Ram Singh“, sagte die Alte. „Er besitzt als einziger ein Schwert und kann leidlich damit umgehen. Daß er es schafft, das Dorf zu verlassen, dafür müssen wir
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anderen sorgen und die Bande ablenken.“ Sie redeten noch lange über das Für und Wider verschiedener Pläne. Während der Zeit holten sich die Dacoits zwei weitere Ziegen, die sie schlachteten und aufbrachen. Genau das brachte Ramkali auf eine Idee, die später verwirklicht wurde, als der Mond hinter dichten, regenschweren Wolkenbänken verschwand und die Sicht gerade zwei Dutzend Schritte weit reichte. Daß es sogar leicht zu regnen begann, konnte nur von Vorteil sein. Shri Ram Singh hatte schwarze Kleidung angelegt und sich Gesicht und Hände mit dunkler Erde und Ruß eingeschmiert. Wahrscheinlich warteten die Dacoits darauf, daß ein Fluchtversuch im Osten oder Süden erfolgte – daß es jemand nach Norden versuchen könnte, erschien ihnen unwahrscheinlich. Irgendwann gegen Mitternacht entstand Unruhe in der Ziegenherde. Vielleicht witterten sie ein Raubtier in der Nähe des Dorfes. Jedenfalls ging alles sehr schnell, die Ziegen rannten gegen das Gatter an, das dem jähen Anprall nicht gewachsen war und auseinanderbrach. Drei Büffel, ebenfalls in Panik versetzt, trampelten hinter den Ziegen her. Phoolan Devi und ihre Bande wurden zunächst überrascht, zumal die Tiere auf ihr Lager zustürmten. Im nächsten Moment hatten sie alle Hände voll zu tun. Phoolans Befehl, Büffel und Ziegen einzufangen, erwies sich als schwer durchführbar, noch dazu versuchten die aufgeschreckten Dörfler, ihre Herde zurückzuholen. Einige der Wachtposten, die Phoolan rund um Samatrai aufgestellt hatte, beteiligten sich an der Jagd und drängten zugleich die Bauern zurück, die aus Furcht um den Verlust eines Großteils ihrer Lebensgrundlage massiver gegen die Dacoits vorgingen. Was ihnen der Fluß und die Felder bescherten, reichte kaum für eine karge Versorgung. Der Zwischenfall blieb dennoch auf einen kurzen Schlagabtausch beschränkt und endete damit, daß sich die Dörfler zurückzogen. Einige von ihnen waren
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leicht verwundet, doch das hatten sie in Kauf nehmen müssen. Schlimmer wog da schon, daß die Räuber einen Büffel erschossen hatten und bis auf drei Ziegen alle Tiere verschwunden waren. „Wenn Shri Ram Singh es schafft, in Madras Hilfe zu holen, waren die Opfer nicht umsonst“, sagte Ramkali zuversichtlich. Längst hatte die Nacht den Mann mit dem rostigen Schwert verschluckt. 2. Der Höllenspuk wiederholte sich nicht. Der grüne Nebel, der das Schiff eingehüllt und in eine seltsame, unwirkliche Welt versetzt hatte, in der Schiffe aus Eisen bestanden und starre Vögel mit ohrenbetäubendem Dröhnen die Luft verpesteten, kroch nicht wieder wie ein alles verschlingender Moloch heran. Der beginnende Nordostmonsun ließ keinen Dunst mehr aufziehen, und die am nahezu wolkenlosen Himmel stehende Sonne tat ein übriges dazu. Die Schebecke der Seewölfe kreuzte gegen den Wind und außer Sichtweite der Koromandelküste. Madras, das Ziel des Törn seit Bombay, war bald erreicht. Dort würde Philip Hasard Killigrew seinen Teil des Handels mit dem Maharadscha Ischwar Singh erfüllen und die elf Tonnen Gold und Silber, die in den Laderäumen der Schebecke ruhten, dem Sultan von Golkonda übergeben. Zum Dank winkten ihm und damit der englischen Krone Handelsbeziehungen mit Indien. Die königliche Lissy, wie die Arwenacks Elisabeth I. in ihrer besonderen Art der Verehrung nannten, würde zufrieden sein. Momentan dachten die Arwenacks aber weniger an ihre Königin als an die Hölle, der sie knapp entronnen waren. Obwohl sie sich geschworen hatten, nicht mehr davon zu reden, und obwohl Paddy Rogers kurzentschlossen das „seltsame Gerümpel“ ins Meer geworfen hatte, das an Deck liegen geblieben war.
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Daß sie alle zusammen einer Halluzination zum Opfer gefallen waren, erschien noch als die plausibelste Erklärung. Aber wie um alles in der Welt konnte eine Halluzination ein skurriles und seltsam metallisch glänzendes Etwas hinterlassen? Vielleicht war auch das nur eine Halluzination gewesen, hervorgerufen durch den Genuß verdorbener Nahrungsmittel. Daß in der tagsüber herrschenden Hitze Fleisch und Fisch und sogar das Trinkwasser rasch verderben, war keine neue Feststellung. Nur einer hegte keine Zweifel daran, daß alles, was sie zu sehen geglaubt hatten, Wirklichkeit gewesen war: Old Donegal Daniel O'Flynn. Mit der Hartnäckigkeit eines sturen Bockes versuchte er, jeden zu überzeugen, der ihm über den Weg lief. Aber nicht mal bei dem dicklichen, im Denken schwerfälligen Paddy Rogers hatte er Erfolg. „Paß auf, Paddy“, wiederholte Old Donegal gestelzt, „die Sache ist so und nicht anders: Stell dir vor, ich bin von der Arbeit erschöpft, schlafe tief und träume – was glaubst du wohl, wovon?“ Paddy Rogers grinste dümmlich. Ihm war anzusehen, daß er sich um die Antwort herumdrücken wollte. Aber da landete er bei Old Donegal an der falschen Adresse. „Heraus mit der Sprache!“ forderte ihn der alte Zauset auf. „Ich habe dich gefragt, und ich will eine klare Antwort. Von was träume ich?“ „Von Weibern“, sagte Paddy, hob aber vorsichtshalber seine Stimme, daß es sich halbwegs nach einer Frage anhörte und nicht nach einer unumstößlichen Feststellung, für die ihn der Admiral mit allen denkbaren Schimpfwörtern belegen konnte. Der Alte schluckte schwer. „Das ist ein lausiges Beispiel“, schimpfte er. „Ich träume höchstens von meiner angetrauten Mary Snugglemouse. Aber Schwamm drüber, versuchen wir es eben andersrum.“ Paddy Rogers blickte sich hilfesuchend um, doch weder der Seewolf noch Ben Brighton, der Erste Offizier, befahlen zur
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Zeit Segelmanöver, bei denen er hätte mit Hand anlegen müssen. Sich ohne sichtbaren Grund aus Old Donegals Nähe abzusetzen, schaffte Paddy nicht. Der Alte musterte ihn lauernd. „Angenommen, wir haben einen fürchterlichen Sturm hinter uns und wären fast abgesoffen. Von was träume ich dann, erschöpft und am Ende meiner Kräfte?“ „Vom Sturm?“ fragte Paddy Rogers zögernd. „Klar doch, Mann, genauso ist es.“ Old Donegal klopfte ihm freudig auf die Schulter. „Und wovon träumst du?“ „Ich?“ „Gibt es noch einen, der Paddy Rogers heißt?“ „Ich weiß nicht, aber ich glaube kaum.“ „Na also, dann heraus mit der Sprache!“ „Nach einem Sturm“, sagte Paddy sinnierend, „da träume ich von Weibern.“ Old Donegal seufzte abgrundtief. „Wie soll ich dir etwas erklären, wenn du nicht ernst bleibst?“ „Das ist mein Ernst.“ Der Alte murmelte eine ellenlange Verwünschung. „Ich versuche, wissenschaftlich zu denken“, erklärte er endlich. „Also quatsch keinen Blödsinn, sondern antworte wahrheitsgemäß. Weißt du, was ich damit sagen will?“ „Ich soll keinen Stuß von Meermännern und Seejungfrauen erzählen“, spottete Paddy, „denn das wäre gelogen.“ Old Donegal überhörte den Einwand geflissentlich, angesprochen fühlte er sich von solchen Bemerkun- gen schon überhaupt nicht. „Paß auf“, sagte er. „Angenommen, du hast dir mit Madenkäse oder stinkendem Fleisch den Magen verdorben, bist schon grün im Gesicht und phantasierst – was ...?“ „Ich stecke zwei Finger in den Mund und versuche, das Zeug wieder loszuwerden. Außerdem können sich Mac Pellew und der Kutscher auf gewaltigen Ärger vorbereiten.“ „Das tust du eben nicht“, schnaubte Old Donegal. „Weil du dazu schon zu schwach bist. Du hast Halluzinationen.“
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„Von einer molligen Blonden mit prächtig gerundetem Achtersteven?“ „Nein!“ „Wovon dann, Mister O'Flynn?“ „Genau das will ich von dir wissen, Mister Rogers.“ Überrascht wegen des ungehaltenen Tonfalls zog Paddy die Brauen hoch. „Ich habe es eben gesagt: von einer molligen ...“ „Schluß! Aus! Ende! Old Donegal fuchtelte heftig mit beiden Armen. „So hat ernsthafte Forschung keinen Sinn. Du hast Alpträume, Paddy, aber nicht mit vielen Frauen. Den Quatsch vergessen wir am besten sofort.“ „Was dann?“ „Das sollst du mir verraten.“ Bei Paddy Rogers begannen mehrere Kerzen zu brennen. „Du meinst, wenn ich mir den Magen verkorkst habe, könnte ich von so einer Welt träumen, wie wir sie gesehen haben? Das schlag dir aus dem Kopf, Mister O'Flynn, dazu müßte ich schon ziemlich dämlich sein. Kein Mensch, der seine Sinne noch halbwegs beisammen hat, kann sich solches Zeug zusammenreimen.“ „Mit anderen Worten: Wir Arwenacks sind verrückt.” „Wer sagt das?“ „Du selbst, Paddy.“ Rogers schüttelte heftig den Kopf. Du legst mir Behauptungen in den Mund, die ich nie gesagt habe. Du ...“ r stockte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen uns starrte en Alten ungläubig an. „Das heißt, daß wir nicht phantasiert haben“, bekräftigte Old Donegal. „Weil unmöglich alle das gleiche räumen können – selbst wenn wir ns an dem gleichen Zeug den Magen verdorben hätten. Du hast die Schiffe och auch gesehen, die mehrfach größer waren als die Schebecke. Ihr Rumpf war aus Eisen, Paddy – aus Eisen, verstehst du? Aber das Zeug hat. die Eigenschaft, sofort abzusauen, wenn du es aufs Wasser legst. Nur Holz schwimmt. Und dann diese nächtigen Geschütze, die wie Türme aussahen. So schnell wie die ihre Kugeln hintereinander ausgespien haben, kann nicht mal Al Conroy laden, und er ist der
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beste Stückmeister, den ich kenne. Weißt du, was es für uns bedeuten würde, solche Kanonen zu Laben? Wir wären unbesiegbar und könnten es mit einer Armada aufnehmen.“ Paddy äußerte seine Zweifel: „Ich matte ganz und gar nicht den Eindruck, daß die Schiffe mit den vielen Geschützen die Schlacht gewinnen würden. Eher waren diese brummenden, metallenen Hornissen ...“ „Wie sagst du? Hornissen? Das klingt gar nicht mal so dumm. Wenn ich es recht bedenke, trifft das sogar den Nagel auf den Kopf.“ Old Donegal nickte eifrig. „Was wir gesehen haben, Paddy, war die Apokalypse, das Ende der Welt, und falls mich mein Verstand nicht im Stich läßt, waren wir mittendrin.“ „Mein Gott!“ Paddy wurde leichenblaß und hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich zu bekreuzigen. „Du meinst ... Bist du wirklich sicher, daß – daß das die Apokalypse war?“ Old Donegal nickte ernsthaft. „Schiffe und Vögel aus Eisen, Kanonen, die schneller feuern, als du ‚baff' sagen kannst – das ist schlichtweg unbegreiflich und kann nur Teufelswerk sein.“ * Old O'Flynn hatte noch mehr sagen wollen, wurde aber von einem lauten Ruf unterbrochen: „Schiff Backbord achteraus!“ „Ein dummer Zufall“, spottete Paddy Rogers. „Ausgerechnet jetzt.“ „Was soll das heißen?“ ereiferte sich der Alte. „Was ist ein Zufall?“ Paddy deutete zum Großmast, wo Dan O'Flynn von der Tonne aus Ausguck hielt. „Dein Sohn hat dich gerade noch rechtzeitig unterbrochen, Donegal. Beinahe hätte ich deinen Hirngespinsten geglaubt. Apokalypse“, er schüttelte den Kopf und seufzte, „so ein Blödsinn.“ „Wir reden später weiter.“ „Überhaupt nicht!“ sagte Paddy Rogers schrill. „Ich will nichts mehr davon hören, und ich glaube, es war verdammt gut, daß
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ich das metallische Zeug ins Wasser geworfen habe. Am Ende hättest du noch behauptet, es sei der Schwanzschmuck einer Meerjungfrau. Ungefähr so hat es auch ausgesehen.“ Endlich war die Gelegenheit günstig, sich loszueisen. Paddy drehte sich auf dem Absatz um und hastete zum achteren Niedergang, wo er gleich darauf unter Deck verschwand. Old Donegal blickte ihm irritiert und mit offenem Mund hinterher, bis er sich entsann, daß Dan ein fremdes Schiff gemeldet hatte. Natürlich siegte seine Neugierde über die Verärgerung, die er Paddys wegen empfand, und er enterte schnurstracks zum Achterdeck auf. Die Schebecke segelte zur Zeit mit halbem Wind über Backbordbug der hinter der Kimm verborgenen Küste zu. Wenn ein anderes Schiff folgte, konnte das nur bedeuten, daß es bislang mit raumem Wind gelaufen war und beim Anblick des Mittelmeerdreimasters angeluvt hatte, oder aber es war schneller als die Schebecke und segelte deutlich höher am Wind. Instinktiv entschied sich Old Donegal für die- zweite Möglichkeit, und damit war für ihn klar, daß es sich um einen Verfolger und potentiellen Gegner handelte. „Schiff klar zum Gefecht“ wäre für ihn der einzig richtige Befehl in der Situation gewesen. Hasard und Don Juan beobachteten vom achteren Grätingsdeck aus. Mit ihren Spektiven suchten sie die Kimm ab. Old Donegal räusperte sich verhalten. Als der Seewolf den Kieker danach immer noch nicht absetzte, begann er nervös mit dem Holzbein auf die Planken zu klopfen. Endlich wandte sich der Seewolf um. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, Donegal?“ fragte er geradeheraus. „Oder hast du erneut Halluzinationen – diesmal du allein?“ Old Donegal stellte das unnütze Pochen ein. „Was ist mit dem Schiff?“ Er nahm den Kieker entgegen, den ihm Hasard reichte, und regulierte die Schärfeeinstellung. Obwohl die See ruhig war und die Sicht gut, konnte er nirgendwo Segel entdecken.
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„Sichtweite von Deck vier bis fünf Meilen“, sagte er stürmisch. „Aber da ist nicht mal Treibholz.“ Das klang enttäuscht. Obwohl er es sich nie eingestanden hätte, hoffte er insgeheim, eines der eisernen Ungetüme wiederzusehen. Der Gedanke, ein solches Schiff zu entern und sein Geheimnis herauszufinden, war verlockend. Allerdings durfte er das nicht mal andeutungsweise verlauten lassen, wollte er nicht zum Gespött der Crew werden. Die Burschen mußte er schlicht und einfach vor vollendete Tatsachen stellen. „Aus dem Großmast sieht Dan bestimmt drei Meilen weiter“, sagte der Seewolf. „Wie? Ja, natürlich.“ Old Donegal hatte nur mit halbem Ohr hingehört. „Falls da irgendwo eine Rauchfahne wäre, hätte er es schon gemeldet.“ Der Alte fühlte sich bei seinen geheimsten Gedanken ertappt. Immerhin hatten die apokalyptischen eisernen Schiffe dunkle Qualmwolken ausgespuckt, was offenbar mit ihrer Art der Fortbewegung ohne Wind zusammenhing. Er wurde in seinen zermürbenden Überlegungen unterbrochen. „Es ist eine Zweimast-Karavelle!“ rief Dan. „Sie hält auf uns zu!“ Hasard gab dem Stückmeister Zeichen. Al Conroy begann daraufhin gemeinsam mit den Zwillingen, die Persennings von den Culverinen zu lösen. Sie brauchten sich nicht zu beeilen, weil die Karavelle nur langsam aufholte. Wahrscheinlich war das Schiff portugiesischer Herkunft. Denkbar war aber auch, daß es unter spanischer Flagge segelte. An Schnelligkeit konnte es sich mit der Schebecke messen, immerhin war es nach einer halben Stunde schon von Deck aus zu sehen. Der Seewolf dachte nicht daran, den eigenen Kurs zu ändern, was er bei mehreren Verfolgern zweifellos getan hätte. Er nahm bewußt in Kauf, daß die Karavelle, die nun nach Nordnordwesten segelte, Höhe gewann.
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„Es sind Portugiesen!“ meldete Dan O'Flynn, der endlich die Flagge erkennen konnte. Eine Zeitlang sah es so aus, als würden sie die Schebecke entgegen aller Erwartungen unbeachtet lassen, aber dann fiel die Karavelle überraschend ab. Das war mehr als eineinhalb Stunden nach der ersten Sichtung. Die indische Küste war inzwischen als fahler Streifen zu erkennen. „Ruder zwei Strich Steuerbord!“ befahl der Seewolf. „Aye, aye, Sir!“ bestätigte Piet Straaten, der an der Pinne stand. „Zwei Strich Steuerbord! Neuer Kurs liegt an!“ Die Segel wurden dichter geholt. Die Zweimast-Karavelle lag da rund drei Meilen entfernt an Steuerbord, doch die Distanz verringerte sich schnell. Die Portugiesen schwenkten eindeutig auf Kollisionskurs ein. „Die Culverinen klar zum Ausrennen, Sir!“ meldete Al Conroy. „Haben wir Feuerbefehl, Sir?“ wollte Philip junior wissen. „Wir warten. Mag sein, daß die Begegnung wirklich zufällig erfolgt ist.“ „Mittlerweile dürfte sich herumgesprochen haben, welche wertvolle Ladung wir mitführen.“ Nicht nur Jung Philip blieb der Mund vor Überraschung offen, als völlig unerwartet auf der Karavelle die portugiesische Flagge eingeholt wurde. Im nächsten Moment entfalteten sich die Farben Englands im Wind. „Das gibt es doch nicht, was, wie?“ sagte der Profos grollend. „Die Rübenschweine wollen uns linken.“ „Die legen uns ein faules Ei ins Nest“, bemerkte sogar Mac Pellew. Der Seewolf schwieg, während sich die Crew in den wildesten Vermutungen erging. Er beobachtete durchs Spektiv und stellte fest, daß die Stückpforten auf der Karavelle geschlossen waren. Doch das konnte sich rasch ändern. Beide Schiffe segelten nun annähernd gleichauf. Die Distanz verringerte sich weiter.
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Bei wenig mehr als eineinhalb Meilen rief Dan O'Flynn: „Ich sehe rote Waffenröcke mit weißen Bandeliers – das sind englische Seesoldaten!“ „Wie viele?“ brüllte Hasard zur Tonne am Großmast hinauf. „Drei!“ rief Dan zurück. „Für ein Schiff von der Größenordnung ist das doch schon eine Menge. Übrigens: wenn ich mich nicht täusche, sind die Geschütze drüben noch abgedeckt.“ „Was letztlich bedeuten könnte, daß wir es doch mit Landsleuten zu tun haben“, sagte Al Conroy. „Dann sind sie so dumm wie die Kerle von der ,Respectable`.“ „Oder ebenso raffiniert wie Korsaren. Wir sollten versuchen, das herauszufinden“, sagte Carberry. Hasard nickte knapp und schob das Spektiv zusammen, das er ohnehin nicht mehr brauchte. Erste Einzelheiten waren jetzt mit dem bloßen Auge zu erkennen. „Das Großsegel aufgeien!“ befahl er Die Schebecke verlor daraufhin merklich an Fahrt. Auf der Karavelle reagierte die Crew prompt. Das folgende Manöver, das eine Annäherung bis knapp dreißig Yards brachte, verlief reibungslos. Die drei Seesoldaten hatten sich zum Schutz des Kapitäns auf dem Achterdeck postiert. Der war ein hagerer, groß gewachsener Mann mit kantigen Gesichtszügen, die allerdings von einem breitkrempigen Hut beschattet wurden. Er legte die Hände trichterförmig vor den Mund und rief zur Schebecke hinüber: „Es freut mich, in dieser verdammten Gegend endlich auf Engländer zu treffen. Was gibt es Neues in der Heimat, Gentlemen?“ „Sie sind lange auf See?“ „Seit zweieinhalb Jahren.“ Er besann sich, daß selbst nach einer solchen Zeitspanne gewisse Regeln des Anstands noch Gültigkeit hatten und deutete eine flüchtige Verbeugung an. „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Mein Name ist Jeffrey Thomas Lockwood, mein Schiff heißt ,Seagoose`.“ Der Mann sprach englisch mit einem Akzent, wie er im Norden des Landes
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geläufig war. Besonders groß war seine Mannschaft offenbar nicht. Außer den Seesoldaten befanden sich noch vierzehn Mann an Bord. „Ich bin Philip Hasard Killigrew“, antwortete der Seewolf. „Mein Schiff hat leider noch keinen Namen, aber das ist ein Umstand, den wir bald zu ändern gedenken.“ Der Name Killigrew rief bei Lockwood keinerlei Reaktion hervor. Er hatte demnach keine Ahnung, daß er dem Seewolf gegenüberstand. „Mir fehlen Medikamente, Kapitän Killigrew“, erklärte der Kapitän der Karavelle. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Teil Ihrer Vorräte abgeben könnten – natürlich nur, falls Sie dadurch nicht selbst in Schwierigkeiten geraten.“ „Sie haben Kranke an Bord?“ „Nichts Ernstes hoffentlich. Seit wir vor zwei Tagen frische Früchte übernommen haben, leiden vier meiner Männer an krampfartigen Bauchschmerzen.“ „Was sagt der Feldscher?“ „Leider sehr wenig. Er gehört selbst zu den Betroffenen.“ „Haben Ihre Männer Fieber?“ rief der Kutscher von der Kuhl aus. „Ja – ich denke schon. Verstehen Sie etwas davon?“ „Eine Menge sogar“, antwortete Hasard an Stelle des Kutschers. „Wir werden zu Ihnen übersetzen. Lassen Sie die Segel aufgeien.“ „Einverstanden.“ Lockwood wirkte hoch erfreut. „Aber Sie erlauben, daß wir Sie abholen.“ * Während die Segel ins Gei gehängt wurden und beide Schiffe mit auslaufender Fahrt in den Wind drehten, erschien Clinton Wingfield auf der Kuhl der Schebecke. Der Moses wirkte noch ziemlich verschlafen, er gähnte herzhaft und rieb sich die Augen, was letztlich kein Wunder war, denn er hatte von Mitternacht bis vier Uhr früh Wache gehalten und außerdem bis Mitternacht wie ein Irrer an Deck geschuftet.
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Was seine Arbeit betraf, zeigte er sich eigensinnig und wohl gewillt, jedem früheren Moses den Rang abzulaufen. Hasard hatte ihn gewähren lassen, schließlich hatte der Junge in den letzten Tagen viel durchstehen müssen, und wenn er sich deshalb in die Arbeit flüchtete, konnte das nur gut sein. Er hatte den Arwenacks seine bewegende Geschichte erzählt, angefangen an dem Tag, als er in London von einer Preßgang verschleppt worden war, bis hin zu seiner unfreiwilligen Heuer auf der „Respectable“, dem Kriegsschiff der spinnerten Lords. Clinton Wingfield blinzelte in die schon hoch stehende Sonne. Nach dem unter Deck herrschende Zwielicht blendete die grelle Helligkeit. „Du hast Freiwache bis nachmittag, Junge“, sagte Roger Brighton, der Takelmeister. „Also wieder ab in die Koje und schlaf dich aus.“ Clinton wollte fragen, warum die Segel aufgegeit worden waren, schließlich hatten ihn die Geräusche geweckt, da fiel sein Blick auf die querab liegende Karavelle. Er zuckte merklich zusammen. „Keine Gefahr.“ Roger Brighton war die spontane Reaktion keineswegs entgangen. „Das sind Engländer.“ Clint hatte dennoch nichts Eiligeres zu tun, als in den Sichtschutz des Niedergangs zurückzuhuschen. Ungläubig schüttelte er dort den Kopf. In einer hilflosen Geste zuckte der Takelmeister mit den Schultern. „Du kannst mir ruhig glauben, die ,Seegans` ist harmlos. Jeder Angreifer würde wenigstens die Kanonen abdecken. Außerdem habe ich noch nie gehört, daß englische Seesoldaten auf portugiesischen Schiffen fahren.“ „Ich kenne die Karavelle“, sagte Clinton Wingfield dumpf. „Na klar! Du hast sie in London oder in irgendeinem anderen Hafen gesehen.“ „Vor ein paar Tagen“, widersprach der Junge, „als ich auf der Pattamar der Küstenpiraten festgehalten wurde.“
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„Sag das noch mal!“ forderte ihn Brighton auf. „Du hast schon richtig gehört. Oder schippern in der Gegend ZweimastKaravellen gleich dutzendweise herum?“ Clint wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern duckte sich und huschte wieselflink zur Steuerbordverschanzung, wo er sich zwischen zwei Culverinen in Deckung warf. Die verblüfften Blicke einiger Arwenacks ignorierte er und spähte durch eine der Stückpforten zur Karavelle hinüber. Er war überzeugt, daß er sich nicht irrte. Es gab Einzelheiten, durch die Schiffe unverwechselbar wurden. Eine solche war der grau-grüne Anstrich der Stückpforten – bis auf die zweite von achtern, die naturbelassen war und allmählich nachdunkelte. Roger Brighton trat gemessenen Schrittes ans Schanzkleid. Ein nachdenklicher Zug lag um seinen Mundwinkel. „Wir sind auch schon unter falscher Flagge gesegelt und haben den Gegner getäuscht“, sagte er. „Du weißt hoffentlich, welche Folgen eine falsche Anschuldigung haben kann.“ „Das da drüben sind Portugiesen“, erwiderte Clinton trotzig. „Mein Wort darauf.“ „Hasard wird sich freuen.“ Ohne daß es hastig gewirkt hätte, enterte der Takelmeister zum Achterdeck auf. Der Seewolf blickte ihm schon aus zusammengekniffenen Augen fragend entgegen. Wer immer noch nicht mitgekriegt hatte, daß Clint aus sicherer Deckung heraus die Karavelle beobachtete, erfuhr es inzwischen von den Kameraden. Auf der Karavelle wurden zwei Jollen abgefiert und bemannt. Außer den drei Seesoldaten und dem Kapitän gingen zehn Rudergasten in die Boote. „Ein beachtlicher Aufwand für einen Höflichkeitsbesuch“, erklärte Don Juan de Alcazar. „Ich kann nicht glauben, daß die Kerle nahezu die gesamte Mannschaft von Deck abziehen.“ Ohne Clints Warnung hätten sie sich kaum viel dabei gedacht. Daß sich jeder
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Seemann nach zweieinhalb Jahren auf großer Fahrt nach der Begegnung mit Landsleuten sehnte, war nur zu verständlich. „Raffiniert sind die Portugiesen“, sagte Old Donegal anerkennend. „Der Plan, die Schebecke zu kapern, könnte ebenso gut von uns stammen. Und wir wären um ein Haar darauf hereingefallen.“ Während die Jollen längsseits gingen und sich die vermeintlichen Engländer anschickten, die Jakobsleiter aufzuentern, zeigte sich auf der Karavelle ein neues Gesicht. Clinton Wingfield erkannte den Mann sofort, der das Achterdeck des Zweimasters betrat. Er war klein, aber feist, hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge und eine rot-fleckige Haut, die einen eigentümlichen Kontrast zu seiner kostbaren Kleidung bildete. Er hatte die Küstenpiraten gegen die Schebecke aufgehetzt und Clinton auf der Pattamar brutal niedergeschlagen. „Das ist der Offizier!“ Clint spie verächtlich aus. „Ein widerlicher Kerl.“ Ein knapper Wink des Seewolfs veranlaßte ihn, sich in die schwer einzusehende Deckung aufgeschossener Taue unter dem Steuerbordniedergang zurückzuziehen. * Der Anblick der drei Seesoldaten, die sich vor dem Schanzkleid aufbauten und die Musketen mit den Schäften auf die Planken stießen, sollten imposant wirken, hatte für die Arwenacks aber eher etwas Belustigendes an sich. Besonders gut klappte ihr Exerzieren jedenfalls nicht. „Wenn ich Sergeant wäre und die Kerle meine Untergebenen, ich würde ihnen Feuer unter dem Hintern anstecken, bis sie im eigenen Saft schmoren.” Edwin Carberry rieb sich in Erwartung einer prächtigen Prügelei mit den Portugiesen die Pranken. Inzwischen schritten der Seewolf und der Kutscher auf Lockwood zu. „Willkommen an Bord der Schebecke, Kapitän“, sagte Hasard. „Unser Feldscher
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wird sich Ihrer erkrankten Männer annehmen.“ „Zu gütig, Sir“, erwiderte Lockwood. Gierig nach jeder Einzelheit, huschte sein Blick über die Decks hinweg. „Darf ich fragen, was Sie vor die Südostküste Indiens verschlagen hat?“ „Sie dürfen“, sagte Hasard, „aber Sie werden keine Antwort erhalten, die Sie nicht schon kennen.“ „Wie soll ich das verstehen?“ Der Seewolf antwortete mit einer Gegenfrage: „Seit wann kreuzen Sie vor der Koromandelküste?“ „Seit ungefähr zwei Wochen. Aber bisher sind uns weder Portugiesen noch Spanier begegnet.“ Inzwischen erschien der letzte der Bootsgasten auf der Kuhl. Daß die Männer sich langsam über das Deck verteilten, wirkte wie zufällig, doch dahinter steckte System. „Bestimmt ist Ihnen eine Pattamar aufgefallen, Kapitän.“ Überrascht zog Lockwood die Brauen hoch. „Fragen Sie aus einem bestimmten Grund?“ Hasard nickte. „Die Pattamar gehörte einer Bande von Piraten, die glaubten, mit uns leichtes Spiel zu haben. Für ihre Dummheit haben sie mit dem Leben bezahlt.“ Der Kapitän der Karavelle verriet mit keiner Miene, was er in dem Moment dachte. „Der Anführer der Piraten nannte sich Dragha“, sagte Hasard weiter. „Bevor er von Haien zerrissen wurde, bat er mich, jemanden in die Hölle zu schicken – er sprach von einem Offizier einer gewissen portugiesischen Karavelle ...“ Nun wurde es doch zuviel. Der Kapitän konnte sich an den Fingern einer Hand abzählen, daß sein falsches Spiel durchschaut war. Mit einem tierischen Aufschrei warf er sich auf den Seewolf und rannte geradewegs hinein in eine eisenharte Faust, die ihn rücklings von den Beinen riß. Erst da begriffen die falschen Seesoldaten und die Bootsgasten, was die Stunde
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geschlagen hatte, und griffen an. Daß sie sich einen unverdaulichen Brocken vorgenommen hatten, kriegten sie sehr schnell zu spüren, aber da war an Rückzug schon nicht mehr zu denken. Die Uniformierten rissen ihre Steinschloßmusketen hoch, jedoch schaffte es nur einer, auch tatsächlich abzudrücken. Seine Kugel pfiff wirkungslos in die Takelage, weil ihm just in dem Moment Ferris Tucker überzeugend verklarte, daß es für ihn gesünder gewesen wäre, nie auf einen Engländer zu zielen. Ferris rammte ihm beide Fäuste unter die Achsel, daß der Musketenlauf in die Höhe ruckte, dann ergriff er die Waffe am heißen Lauf und schlug mit dem Kolben zu. Der Portugiese sagte nichts. Nicht einmal ein Schmerzenslaut drang über seine Lippen. Er war plötzlich viel zu sehr damit beschäftigt, ein halbes Dutzend blendend weißer Zähne auszuspucken. Sein eben noch makelloses Gebiß war ruiniert und künftig nur noch für weiche Speisen geeignet. Den zweiten Musketenschützen hatte sich Bob Grey vorgenommen. Bob war der Messerwerfer unter den Arwenacks, und seine Art, eine Gefahr zu bereinigen, war endgültiger als Ferris Tuckers Methode. Aus knapp sieben Yards Distanz geworfen, ließ sein Messer dem Portugiesen nicht den Hauch einer Chance. Die hatte der dritte Soldat ebenso wenig, geriet er doch ausgerechnet an Old Donegal, der zwar harmlos aussah, dessen Beinprothese es aber gewaltig in sich hatte. Er saß auf der Kuhlgräting und konnte gar nicht danebenschießen, als er das Holzbein ausstreckte und den Zündmechanismus betätigte. Im Nu war ein Handgemenge im Gange, dessen Ablauf sich die Portugiesen sehr viel anders vorgestellt hatten. Nur auf die Fäuste angewiesen – wahrscheinlich hatten sie gehofft, die nötigen Waffen im ersten Moment der Überraschung zu erbeuten –, zogen sie gegen die Arwenacks unweigerlich den kürzeren. Carberry griff sich gleich zwei der Kerle und schlug ihre Köpfe derart hart
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zusammen, daß sie nur noch die Augen verdrehten und nicht mal den Versuch einer Gegenwehr unternahmen. In hohem Bogen flogen sie über Bord und klatschten bäuchlings ins Meer. Währenddessen waren die auf der Karavelle Zurückgebliebenen jedoch nicht untätig. Sie zerrten die Persennings von den Kanonen und begannen, die Geschütze auszurennen. Al Conroy, die Zwillinge und die Handvoll Männer, die ihnen an den Culverinen halfen, waren schneller. Al zündete das erste Geschütz, als die Portugiesen gerade eine Feuerschale an Deck schleppten. Die Kugel zerspellte das Schanzkleid auf der Karavelle unmittelbar hinter der Back, krachte mit immer noch ungeheurer Wucht gegen eine Lafette und fegte zwei Portugiesen von den Beinen. Der nächste Treffer lag weiter achtern und hinterließ ein ausgezacktes Loch von gut zwei Yards Länge. Gleichzeitig feuerten die Portugiesen ihr erstes Geschütz ab. Daß auch sie zu treffen verstanden, bewies das gräßliche Geräusch splitternden Holzes. Zwischen Großmast und Achterdeck klaffte plötzlich eine Lücke im Schanzkleid der Schebecke. Mit dem Luntenstock in der Hand, sprang Al Conroy wie ein Derwisch von einer Culverine zur nächsten. Er achtete nicht darauf, was an Bord des eigenen Schiffes geschah, sondern hatte nur noch Augen für die Karavelle. Mit einem Zufallstreffer kappte er deren Flaggenstock und registrierte zufrieden, daß das Tuch mit den englischen Farben von der Dünung davongetragen wurde. Wahrscheinlich stammte es, ebenso wie die Uniformen der Seesoldaten, aus dem Überfall auf ein englisches Schiff. Für Al Conroys eiserne Grüße revanchierten sich die Portugiesen, wenn auch mit einem etwas kleineren Kaliber. Zwei weitere Treffer rissen Löcher unmittelbar über der Wasserlinie in die Bordwand der Schebecke. Das war der Zeitpunkt, als Big Old Shanes erster Pulverpfeil auf der Karavelle detonierte. Flammen züngelten auf und
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leckten gierig am Besansegel in die Höhe, verhinderten aber nicht, daß das nächste Geschütz auf die Schebecke abgefeuert wurde. Die Kugel fegte haarscharf über den Handlauf des Kuhl-Schanzkleides hinweg und verwandelte den Backbordniedergang zum Achterdeck in Brennholz, bevor sie die Verschanzung von innen nach außen durchschlug und ein bizarr gezacktes Loch hinterließ. Die Zwillinge übertrafen sich inzwischen selbst und luden zwei der Culverinen mit Grobschrot, schafften das aber nur, weil die Kuhl von Angreifern schon nahezu geräumt war. Die Portugiesen zogen es plötzlich vor, ihr Heil in der Flucht zu suchen, und die Seewölfe gaben ihnen dabei nur zu gern Hilfestellung. Carberry verpaßte einem bulligen Kerl einen Tritt in den Hintern, daß der förmlich davonkatapultiert wurde. Sein Glück war, daß er geradewegs durch das Loch im Backbordschanzkleid hindurchpaßte. Die ersten der im Wasser planschenden Portugiesen schwammen zu den noch längsseits liegenden Jollen, doch Carberry vermieste ihnen das Vorhaben gewaltig. Spöttisch grinsend schleppte er zwei Siebzehnpfünder-Kugeln zur entsprechenden Stelle und ließ sie nacheinander außenbords fallen. Beide Kugeln durchschlugen die dünnen Planken der Boote, die daraufhin unheimlich schnell volliefen und auf Tiefe gingen. „Ihr lausigen Wasserkröten könnt doch schwimmen!“ brüllte der Profos den Portugiesen hinterher. „Strengt euch gefälligst an!“ Er lachte dröhnend. Ob es ihnen jedoch viel nutzen würde, stand auf einem anderen Blatt. Shane hatte einen weiteren Pulverpfeil abgeschossen, und nun brannten auf der Karavelle nicht nur das Besansegel und Teile der Takelage, sondern auch die Back bis etwa mittschiffs. Vergeblich bemühten sich Decksleute, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Der Wind fachte die Flammen immer wieder von neuem an. Andere Kerle waren so vernünftig, Grätings hochzuwuchten und ins Wasser
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zu werfen. Da die Küste in Sichtweite lag, konnten die hölzernen Gitterroste die abgesoffenen Jollen ersetzen. Wind und Wellen würden sie samt den auf ihnen Halt suchenden Männern zum Land treiben. Nur der Offizier, den Clinton Wingfield in unangenehmer Erinnerung hatte, zeigte noch den nötigen Kampfgeist. Als er mit einer lodernden Fackel zur nächsten Kanone lief, zögerte Al Conroy nicht länger. Die beiden Grobschrotladungen entschieden das Gefecht endgültig zu Gunsten der Arwenacks. Wie ein Hagelsturm fegten Blei und Eisenteile über die Karavelle hinweg. Nachdem niemand mehr die Flammen zu löschen versuchte, breiteten sie sich über alle Decks aus, und als sich die Schebecke von ihr löste und wieder an den Wind ging, brannte sie bereits lichterloh. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Glut die Pulvervorräte zur Explosion brachte. Vielleicht trieb der Zweimaster noch einige Stunden auf dem Wasser, aber sein Untergang war schon jetzt besiegelt. Ein Großteil der Mannschaft hatte sich auf die Grätings gerettet. Die Männer kümmerten sich nicht mehr um die Schebecke, es sah sogar so aus, als versuchten sie krampfhaft alles zu vermeiden, was die Aufmerksamkeit der Engländer erneut auf sie lenkte. Sie hatten schlichtweg Angst. Die Küste verlief leicht nach Nordnordosten. Da der Wind aus Nordosten beständig blieb, wurden die Arwenacks wieder auf einen Kreuzkurs gezwungen. Es sah ganz so aus, als sollte der letzte Tagestörn vor Madras noch beschwerlich werden. 3. „Ja, Herr, ich weiß, daß uns nicht viel Zeit bleibt, den Schatz des Maharadschas in Empfang zu nehmen und mit den Elefanten ins Landesinnere zu transportieren. Gerüchte hatten schon zu allen Zeiten Flügel, sie breiten sich aus wie Buschfeuer.
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Ich werde jedoch alle Vorkehrungen gegen Überfälle von Räuberbanden treffen.“ Dilip Rangini verbeugte sich ehrfürchtig. Die Ankunft des englischen Dreimasters mit den elf Tonnen Gold und Silber stand bevor. „Du kannst gehen“, sagte Drawida Shastri ungeduldig und wedelte mit der Hand, als gelte es, einen Schwarm Mücken zu vertreiben. Dilip Rangini zog es vor, das Zelt rückwärtsgehend zu verlassen. Mit den Fingerspitzen der rechten Hand berührte er nacheinander seine Brust, die Lippen und die Stirn, aber Shastri beachtete ihn schon nicht mehr und wandte sich genießerisch der großen Wasserpfeife und den beiden Frauen an seiner Seite zu. Als sich Rangini vor dem Zelt des Sultans aufrichtete, erklang helles Lachen von innen. Was immer während der nächsten Stunden geschah, die Wachen vor dem Zelteingang würden nichts hören und sehen. Drawida Shastri haßte es, tatenlos zu warten. Am liebsten wäre er den Engländern mit dem Elefantentroß an der Küste entgegengezogen, hatte sich aber überzeugen lassen, daß ein solches Vorgehen eines Sultans unwürdig war. Deshalb waren die Zelte aufgeschlagen worden. Der Troß aus dreißig prächtig geschmückten Elefanten mit ihren Mahauts, fünf Dutzend Soldaten und einer ebensogroßen Dienerschar lagerten am südlichen Ortsrand von Madras. Nicht nur von den Fischern, Händlern und Handwerkern der kleinen Siedlung wurde das Gefolge des Sultans gebührend bestaunt, Frauen und Kinder zeigten ein noch größeres Interesse. Wahrscheinlich war es das erste Mal seit Menschengedenken, daß Madras einen Sultan in seinen Mauern beherbergte. Die Bewohner brachten Geschenke, einige ersuchten um Audienz bei Drawida Shastri, was von seinen Dienern jedoch rigoros abgelehnt wurde. Ihn interessierten keine Nebensächlichkeiten, sondern einzig und allein das englische Schiff. Gold und Silber waren für den Mogulkaiser Akbar
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bestimmt und sollten von Madras aus auf dem Landweg weitertransportiert werden. Drawida Shastri und sein Vertrauter Rangini waren über den Kurs der Schebecke weitgehend informiert. Selbst in einem so weitläufigen und von dichten Urwäldern verschlossenen Land wie Indien waren wichtige Nachrichten nicht sehr lange unterwegs. Im Juli hatte die Schebecke Bombay mit ihrer unschätzbaren Fracht verlassen, Ende August war Shastri bereits in vollem Umfang informiert gewesen und hatte seine Vorbereitungen treffen können. Inzwischen wußte er von dem Seegefecht vor Panjim, bei dem den Portugiesen eine schwere Schlappe zugefügt worden war, er hatte von dem zweiten englischen Schiff erfahren, einem Viermaster, dessen Spur sich später verlor, und auch von dem Raub des heiligen Weisheitszahns Buddhas aus dem Tempel von Candy auf Ceylon war ihm berichtet worden. Die Engländer, die sich selbst Arwenacks nannten, waren demnach zähe Burschen, die nichts und niemanden zu fürchten schienen. Drawida Shastris Vorstellungen von ihnen entsprachen wahrscheinlich ziemlich genau der Wirklichkeit. Du weißt viel, dachte Dilip Rangini spöttisch, während er mit weit ausgreifenden Schritten den Lagerplatz überquerte, doch eines kann dir kein Späher berichten: daß dein Vertrauter zugleich dein größter Rivale ist. Unendlich vorsichtig und Stück für Stück sägte er an Shastris Macht, wohl wissend, daß viele kleine Nadelstiche eines Tages auch die Wirkung eines Schwertstreiches ergaben. Wenn Drawida Shastri fiel, würde sein Sturz endgültig sein. Schon jetzt konnte sich Rangini der Loyalität etlicher Soldaten sicher sein. Der Lagerplatz lag an einem Seitenarm des Adayar, zwar in einiger Entfernung von den Hafenanlagen, aber so gewählt, daß die Schebecke rechtzeitig gesehen wurde. Außerdem boten die seichten Flußufer geradezu ideale Bedingungen, die Elefanten zu baden, die den Engländern keinesfalls dreckverkrustet vorgeführt
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werden durften. Drawida Shastri legte größten Wert darauf, daß sein Troß Macht und Reichtum widerspiegelte. Sie waren im Laufe des Vormittags in Madras eingetroffen, und die Mahauts beeilten sich, ihre Tiere nach dem langen Marsch zu säubern. Eine Weile beobachtete Dilip Rangini das bunte Treiben am Ufer, ehe er dessen überdrüssig wurde und sich dem Kapaleswara-Tempel zuwandte, dessen reichverzierter Gopuram, der Torturm, nur wenige hundert Schritte entfernt aufragte. Ein Lotusblumenteich lud zur Meditation ein, doch Rangini hielt es in der Stille nicht lange aus. Er konnte sich nicht konzentrieren, seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Das ruhige Wasser des Teiches zeigte ihm das Spiegelbild eines ehrgeizigen jungen Mannes. Das schwarze, leicht gewellte Haar fiel ihm bis weit in die Stirn, verdeckte aber nicht die buschigen Brauen und die großen Augen. Die Nase wirkte fast schon zu zierlich für einen Mann, aber auch der Mund war klein, und um die schmalen Lippen hatte sich ein harter Zug eingegraben. Elf Tonnen Gold und Silber! Dilip Rangini überlegte, ob es möglich sein würde, einen oder zwei der Trägerelefanten von der Herde abzusondern, ohne daß der Verdacht auf ihn fiel. Er würde einen Mahaut töten müssen. Oder sollte er einen Soldaten für die Drecksarbeit gewinnen? Dann bestand die Gefahr, daß der Mitwisser später unverschämt wurde. Ranginis Finger umklammerten den edelsteinverzierten Dolch, den er im Hosenbund trug. Die Klinge hatte für ihn schon mehrfach Probleme gelöst. Sein Spiegelbild im Teich zerfloß in winzigen Wellen. Ein Fisch hatte das Wasser in Bewegung versetzt und zog dicht unter der Oberfläche dahin. Im nächsten Moment stieß ein Reiher hinunter und packte blitzschnell zu. Den zappelnden, silbernen Fisch in den Fängen, schwang er sich auf den Torturm, wo er die Beute verschlang.
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Rangini wußte, daß er ebenso schnell und treffsicher sein mußte wie der Reiher. Während er die unzähligen in den Stein des Turmes gemeißelten Skulpturen betrachtete, trug ihm der Wind aufgeregte Stimmen zu. Am Eingang des Lagers war Bewegung entstanden. Rangini konnte es nicht genau erkennen, aber offenbar hatten die Wachen jemanden festgenommen. Als das Geschrei lauter wurde, verfiel er unwillkürlich in einen Laufschritt. Die Soldaten hatten einen Mann entwaffnet und führten ihn ab. Er trug schwarze Kleidung. Sein Gesicht und die Hände waren schlammverkrustet. „Was geht vor?“ fragte Rangini scharf. Einer der Soldaten, er hieß Sandesh Bawapuri und gehörte zu den Männern, auf die er zählen konnte, antwortete: „Wir haben den Kerl erwischt, als er das Lager auskundschaften wollte. Das Schwert trug er bei sich.“ Bawapuri zeigte die rostige Klinge, die er dem Fremden abgenommen hatte. Zugleich verpaßte er ihm einen harten Schlag zwischen die Schulterblätter. „Verstockt ist er auch und behauptet, daß er Hilfe für sein Dorf holen wolle. Eher sieht es so aus, als sei er auf Diebesbeute aus oder gar darauf, den Sultan zu meucheln.“ „Nein“, stöhnte der Gefangene gequält, „das ist nicht wahr. Ich habe keine bösen Absichten.“ „Selbst mit einem rostigen Schwert kann man Menschen töten“, sagte Rangini. Der Mann schüttelte entsetzt den Kopf. „Das ist nicht wahr. Höre mich wenigstens an, Herr.“ Schafft ihn mir aus den Augen! wollte Dilip Rangini befehlen, überlegte es sich jedoch im letzten Moment. Der Fremde wirkte ganz so, als hätte er einen langen Weg hinter sich, seine Kleidung war staubig und verdreckt. Rangini setzte ihm die Spitze des Schwertes auf die Brust. „Wer bist du, woher kommst du, und was willst du ausgerechnet vom Sultan von Golkonda? Ich rate dir, gib mir eine gute
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Antwort, sonst ...“ Die Drohung brauchte er nicht auszusprechen, der Schwarzgekleidete wirkte ohnehin schon wie ein Häufchen Elend. „Shri Ram Singh, Herr, ist mein Name, ich bin Bauer in Samatrai, einem Dorf, von dem Ihr wohl noch nichts gehört habt. Es liegt fast einen Tagesmarsch im Süden ...“ „Weiter!“ drängte Rangini ungeduldig. „Ich hoffe, du willst mir nicht auch noch erzählen, wie viele Kühe du hütest.“ „Nein, Herr, ich bin hier, um Hilfe zu erbitten.“ „Das hat er bereits mehrfach gesagt“, bemerkte Bawapuri. „Ob wir ihm glauben sollen ...“ „Ich entscheide darüber.“ Ein verweisender Blick Ranginis ließ den Soldaten verstummen. Den Bauern forderte er mit einer Handbewegung auf, fortzufahren. „Wir sind friedliche Leute, müßt Ihr wissen“, sagte Shri Ram Singh. „Doch vorgestern in den Abendstunden wurden wir von einer Bande von Räubern überfallen. Sie sagten, daß sie zwei Männer suchten, aber ich glaube, sie wollen uns nur quälen und ausplündern. Jedenfalls töteten sie unsere heranwachsenden Söhne, danach belagerten sie das Dorf, schlachteten etliches Vieh und steckten Hütten in Brand. Wir sind ihrer Willkür hilflos ausgeliefert.“ „Habt ihr nicht mehr als rostige Schwerter?“ fragte Bawapuri spöttisch. „Nur Sensen und Mistgabeln.“ „Das sind in der Tat schlechte Waffen.“ Dilip Rangini wandte sich wieder den Soldaten zu: „Laßt den Mann frei, er soll versuchen, in Madras Helfer zu finden.“ „Aber ...“ Shri Ram Singh verstand die Welt nicht mehr. „Die Soldaten des Sultans hätten leichtes Spiel mit den Räubern. Warum wollt Ihr mir die Hilfe nicht zugestehen?“ „Du findest in Madras bestimmt Männer, die dich gegen ein angemessenes Entgelt begleiten. Der Sultan kann jedoch nicht einen seiner Soldaten und schon gar keinen Elefanten entbehren. Es gibt wichtigere Dinge als ein Dorf namens Samatrai. Das
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verstehst du hoffentlich. Und nun geh mir aus den Augen!“ Tränen standen in Shri Ram Singhs Augenwinkeln, in seinem Gesicht war die Enttäuschung deutlich zu lesen. Dennoch verbeugte er sich vor Rangini. „Möge Gott Schiwa den Sultan beschützen und seine Weisheit ewig vermehren. Wir Bauern werden unser Schicksal würdig tragen, auch wenn Phoolan Devi alle töten läßt.“ Bei diesen Worten wandte er sich um und schritt eilig davon. Er sah nicht mehr, daß Rangini zusammenzuckte und ihm ungläubig hinterher starrte. Augenblicke später hatte der Vertraute des Sultans seine Überraschung überwunden und lief hinter ihm her – viel schneller als es seinem Ansehen zuträglich war. „Warte, Bauer!“ rief er. „Du hast eben einen Namen genannt ...“ Shri Ram Singh blieb stehen und wandte sich zögernd um. „Poolan Devi“, wiederholte er. Rangini nickte knapp. Demonstrativ, als wolle er zeigen, was er mit der Räuberin zu tun gedenke, zog er die Pistole aus seinem Hosenbund. „Phoolan ist eine berüchtigte Dacoit, womöglich die schlimmste von allen. Warum hast du nicht sofort ihren Namen erwähnt?“ „Ich wußte nicht ...“ „Schon gut, Bauer.“ Ein seltsames Lächeln lag auf Dilip Ranginis Zügen. „Ich verspreche dir, daß dein Dorf von weiteren Untaten der Dacoits verschont bleiben wird.“ * Eine Stunde später verließen kurz hintereinander acht Soldaten aus dem Heer des Sultans das Lager in verschiedenen Richtungen. Sie trafen sich an einer Biegung des Adayar, ungefähr eine Meile westlich des Kapaleswara-Tempels. Bald darauf stießen zwei Mahauts aus dem Troß des Sultans mit ihren Elefanten zu ihnen. Dilip Rangini und Shri Ram Singh warteten auf der anderen Seite des Flusses. Der Bauer hatte inzwischen ausführlich
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Rede und Antwort gestanden, und Rangini wußte über das Dorf Samatrai nun mindestens so gut Bescheid, als hätte er es schon ein Dutzend Mal besucht. Die Notwendigkeit guter Ortskenntnisse lag auf der Hand, schließlich würde der Trupp das Dorf während der Nacht erreichen, und Rangini hatte keineswegs die Absicht, die restlichen Stunden bis zum Morgengrauen untätig abzuwarten. Sie gelangten gut voran und schneller, als der Bauer erhofft hatte. Wo immer verfilztes Buschwerk keinen Weg erkennen ließ, brachen sich die Elefanten mühelos Bahn. Bei Sonnenuntergang lag der weitaus größere Teil der Strecke bereits hinter ihnen. Der Dschungel, der erst weiter westlich begann, erwachte zu vielfältigem Leben. Ein stetes Heulen, Ächzen, Schreien, Keckern und Stöhnen begleitete die Soldaten, die sich nun merklich zur Küste hin orientierten. Wo nur vereinzelt größere Bäume aufragten und das Gelände von mannshohem Gras und Sträuchern bestanden war, ermöglichte das Licht der Sterne eine bessere Sicht. Schon bald stieg die Mondsichel aus dem Meer, das zum Horizont hin in einem fahlen Lichtschein zu leuchten begann. Unwillkürlich ertappte sich Dilip dabei, daß er nach Segeln suchte, die die Ankunft der Engländer verrieten. Dabei wußte er genau, daß mit dem Dreimaster erst für den neuen Tag zu rechnen war. Wie der Wind stand, konnten es die Engländer gar nicht früher schaffen. Als sie einen kleinen, sich gemächlich ins Meer ergießenden Fluß erreichten, erklärte Shri Ram Singh, daß es höchste Zeit sei, nach Westen zu schwenken. Nur wenig weiter südlich wurde der Wald ohnehin dichter. In der Dunkelheit wirkte er wie eine undurchdringliche, bis fast ans Wasser reichende Mauer. Singh sagte, daß das Gebiet einiger tief eingegrabener Buchten wegen tagsüber wesentlich freundlicher wirkte. Er schwärmte von den Stellen, an denen ein Blick bis auf den Grund möglich war. Vor
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vielen Jahren, als seine Ziegenherde noch nicht so groß gewesen war wie heute, war er regelmäßig zum Fischen hierher gesegelt. Bei gutem Wind hatte er sogar flußaufwärts nie mehr als zwei Stunden gebraucht. Jetzt trampelten die Elefanten das Uferdickicht nieder, scheuchten Vögel und anderes Kleingetier auf und waren zweifellos schneller als ein beladenes Fischerboot, das gegen die Strömung ankämpfen mußte. Noch vor Mitternacht erreichten sie die Stelle, wo Phoolan Devi die jungen Männer aus dem Dorf hatte ermorden lassen. Nur wenig weiter flußaufwärts lag eine Furt. Das Gelände war hügeliger geworden. Obwohl der Wind zum Dorf hin wehte, lag ein unverkennbarer Rauchgeruch in der Luft. Shri Ram Singh brauchte nicht lange zu fragen, was geschehen war – vermutlich hatten die Dacoits während seiner Abwesenheit weitere Häuser in Brand gesteckt. Dilip Rangini überprüfte die geladenen Pistolen ebenso genau wie den Sitz seines Dolches. „Wartet hier und sorgt dafür, daß uns die Elefanten nicht verraten!“ befahl er. „Ich begleite Euch, Herr“, sagte Singh. Rangini wehrte heftig ab. „Du bist nicht gewohnt, dich lautlos anzuschleichen oder einem Wächter die Kehle durchzuschneiden und würdest unsere Anwesenheit nur vorzeitig verraten. Ich hingegen habe gelernt, mich wie eine Schlange zu bewegen und ebenso schnell zuzuschlagen.“ Er huschte davon, den nächsten Hügel hinauf, der den Trupp noch von Samatrai trennte. Nur flüchtig war er vor einer hellen Fläche verdorrten Grases zu erkennen, danach verschluckte ihn die Nacht endgültig. * Das Dorf war wirklich nicht sehr groß. Ein fahler Glutschein zeichnete sich da ab, wo vor kurzem noch mehrere Häuser
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gestanden hatten. Schattenhafte Gestalten huschten unermüdlich hin und her. Sie leerten Wassereimer in die langsam erlöschende Glut. Heller Rauch wölkte auf und zerfaserte im Wind. An einem knorrigen, aufgeplatzten Baumstamm gelehnt, suchte Dilip Rangini nach den Dacoits. Er hatte seinen Entschluß beinahe überstürzt gefaßt, als Singh den Namen Phoolan Devi erwähnte, und nun hoffte er, daß er nicht zu spät erschienen war. Drawida Shastri wußte nichts von seiner Eigenmächtigkeit, obgleich er inzwischen das Verschwinden seines Vertrauten und einiger Soldaten bemerkt haben mußte. Ihm eine plausible Erklärung zu bieten, würde nahezu unmöglich sein – er hatte kein Verständnis für ein derartiges Verhalten. All diesbezüglichen Überlegungen wurden überflüssig, denn die Dacoits hatten Samatrai noch nicht verlassen. Dilip Rangini entdeckte einige von ihnen am Rand einer hufeisenförmigen Baumgruppe. Der Rest der Bande hatte vermutlich rings um das Dorf Posten bezogen. Eine Erregung, wie er sie seit langem nicht mehr kannte, ergriff von ihm Besitz. In Kürze würde er Phoolan wieder gegenüberstehen wie zuletzt vor eineinhalb Jahren. Ohne länger zu zögern, löste er sich aus dem Schatten des Baumes und huschte weiter, jeden Strauch als Deckung ausnutzend. Sein Vorteil war, daß die Räuber sicher nicht damit rechneten, jemand könne hinter ihnen auftauchen. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem Dorf zu. Das Lachen einer hellen Stimme ging ihm durch und durch. Wahrscheinlich lag Phoolan in den Armen Dasyu Gujjars, dem sie die Führung der Bande abgenommen hatte. Rangini wußte nicht, warum der als jähzornig bekannte Gujjar sich das gefallen ließ, aber wahrscheinlich war er dem Weib ebenso verfallen wie viele andere, die sich je mit ihr eingelassen hatten. Die Sorglosigkeit der Kerle war unbegreiflich. Bis auf zehn Schritte
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gelangte Rangini an die Baumgruppe heran, ohne daß ihn jemand entdeckte. Er sah, wie sich Phoolan soeben aus Gujjars Umarmung löste und sich aufrichtete. Er hätte jetzt nur die Pistole zu ziehen, genau zu zielen und abzudrücken brauchen, um das Gebiet zwischen Cuddapah und Bangalore bis hinunter nach Tiruvannarnalai von einer Geißel zu befreien, doch er tat es nicht. Vielmehr schob er sich noch zwei Schritte weiter vor, riß ein Stück Grasnarbe aus dem Boden und warf es mit kräftigem Schwung. Das Gras traf Phoolan Devi an der Schulter. Sie schrie nicht auf, aber Dilip glaubte, trotz der Dunkelheit ihre Überraschung zu erkennen. Lediglich Gujjar wirbelte herum und riß seinen Säbel hoch. Die Dacoit stoppte seinen Kampfeifer mit einem heiseren Zuruf. Als sie sich umdrehte, sah Rangini, daß sie nichts als ihre Haut trug. Ihre Schamlosigkeit hatte sie also noch immer nicht verloren. Alles war wie früher. „Dilip!“ rief sie halblaut. „Du lausiger Schakal, wo steckst du?“ Er mußte lachen. Phoolan hatte ihn sofort wieder erkannt, obwohl sie ihn nicht sah und suchend in die Nacht blickte. Er trat unter den Bäumen hervor. Mittlerweile hatten alle Bandenmitglieder zu den Waffen gegriffen, aber als sie ihn erkannten, ließen sie die Klingen wieder sinken. Dilip Rangini ging auf Phoolan zu und begrüßte sie mit einer knappen Verbeugung, im nächsten Moment warf sie sich ihm an den Hals, und er spürte die verlangende Wärme ihres Körpers. „Dilip Rangini“, sagte sie mit fester Stimme, „mir scheint, alle deine Wünsche haben sich erfüllt – du siehst aus wie ein Mann von hohem Stand.“ „Vor dir steht der Vertraute eines Sultans“, erwiderte Dilip. „Lebt der Sultan noch?“ Die Frage klang äußerst respektlos.
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Rangini streifte ihren makellosen Körper mit einem bedauernden Blick, ehe er sie sanft von sich schob. Natürlich erinnerte sich Phoolan noch an die Geschichte vor Nellore, als er ein aufstrebender junger Wachmann gewesen war und sie beim Baden im Fluß erwischt hatte. Mit ihr als Geisel war es ihm sogar gelungen, Gujjar und drei weitere Bandenmitglieder festzunehmen, aber dann war er ihren Reizen erlegen und hatte eine stürmische Nacht mit ihr verbracht. Als anderntags zwei Wächter zu ihm stießen, die den Rest der Bande verfolgt, aber aus den Augen verloren hatten, hatte er die beiden hinterrücks getötet und anschließend seine Pistole auf die gefesselte Phoolan gerichtet. „Ich könnte dich und deine Kumpane erschießen“, hatte er gesagt, „aber ich gebe euch frei. Vielleicht wirst du es mir eines Tages danken.“ „Wir könnten uns zusammentun.“ „Ich habe andere Pläne, Phoolan. Trotzdem werden wir uns wiedersehen. Ich hoffe, daß dann große Reichtümer auf uns warten.“ „Wirst du wieder mit der Waffe auf mich zielen?“ „Bevor ich das tue, bewerfe ich dich lieber mit Gras. Du bist schön, Phoolan, ein Weib wie kaum eine andere.“ Das waren seine Worte vor eineinhalb Jahren gewesen. Seitdem hatte sich vieles verändert, aber Dilip Rangini war dem Reichtum tatsächlich näher als je zuvor. 4. Phoolan Devi und Dilip Rangini hatten schon bei ihrer ersten Begegnung festgestellt, daß sie aus demselben Holz geschnitzt waren. Deshalb hatte Phoolan oft an den jungen Polizisten gedacht, dem es als einzigem gelungen war, sie zu überwältigen. Er hatte sie mehr beeindruckt als alle anderen Männer. Vielleicht wäre sie nie eine Dacoit geworden, hätte sie ihn einige Jahre früher getroffen.
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„Ich bin nicht allein“, sagte Rangini. „Hinter dem Hügel, zum Fluß hin, warten acht Soldaten auf mich. Zwei Elefanten sind bei ihnen und außerdem ...“ „Willst du uns diesmal festnehmen?“ Dasyu Gujjars, Rechte ruhte unmißverständlich auf dem Griff seiner Pistole. „Du bist zu mißtrauisch“, sagte Rangini. „Ihr belagert Samatrai seit zwei Tagen, warum?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Phoolan. „Wir hatten Verräter in unserer Mitte, die ihren eigenen Kopf retten wollten und uns verkauft haben. Acht Wochen ist es her, daß wir nur mit Mühe den Häschern entfliehen konnten. Seitdem jagen wir die Abtrünnigen, haben ihre Spur aber mehrmals verloren.“ „Bist du sicher, daß sie in dem Dorf Unterschlupf gefunden haben?“ „Ich war davon überzeugt, jetzt bin ich es nicht mehr.“ „Was hält dich dann noch vor Samatrai?“ Phoolan zuckte mit den Schultern. Sie wußte es selbst nicht. Vielleicht empfand sie einfach Vergnügen dabei, die Dörfler zu quälen und ihren Zorn an Unschuldigen auszulassen, solange die Gesuchten nicht greifbar waren. „Wie hast du uns überhaupt gefunden?“ fragte Gujjar. „Einer aus Samatrai schlich sich davon und wollte in Madras Hilfe holen“, sagte Dilip Rangini. „Es wäre wohl besser, ihr würdet künftig mehr Vorsicht walten lassen. Wäre Shri Ram Singh nicht an mich geraten, sondern an andere, eure Hälse baumelten schon in festen Schlingen.“ „Beherrsche dich!“ zischte Gujjar. „Ich nenne die Dinge nur beim Namen“, erwiderte Rangini. „Was gefällt dir daran nicht?“ „Dein Tonfall“, schnaubte der Unterführer. „Außerdem wissen wir noch immer nicht, was du von uns willst. Bist du nur hier, um Phoolan den Kopf zu verdrehen?“ Das waren neue, ungewohnte Töne, als rege sich bei ihm Eifersucht. Dilip Rangini verschränkte die Arme und blickte sich herausfordernd um.
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„Willst du Gold?“ fragte er. „Viel Gold sogar?“ Dasyu Gujjar starrte ihn durchdringend an. „Soll das eine Aufforderung sein, den Sultan zu überfallen?“ Endlich streifte Phoolan ihre Kleider über. „Dafür sind wir zu wenige – wir können uns nicht mit einigen Dutzend Soldaten messen.“ „Vergiß den Sultan und sein Gefolge“, antwortete Rangini. „Ich warte auf ein Schiff mit elf Tonnen Gold und Silber. Während wir palavern, segelt es womöglich schon an der Küste vorbei nach Madras. Wir müssen uns beeilen, oder wir gehen am Ende leer aus.“ „Woher weißt du von dem Gold?“ „Der Sultan von Golkonda soll den Schatz in Madras in Empfang nehmen, um ihn auf dem Landweg an den eigentlichen Empfänger weiterzuleiten, an Akbar. Der Maharadscha von Bombay, von dem das Gold stammt, hat für den _Transport bis Bombay ein englisches Schiff ausgewählt.“ „Warum überfällst du die Engländer nicht allein mit deinen Soldaten? Dein Anteil an der Beute wäre bedeutend größer.“ „Die Fremden sind gute Kämpfer, wurde mir berichtet. Nur in der Überzahl sind wir ihnen überlegen.“ „Einverstanden“, sagte Phoolan. „Drei Viertel der Beute gehören mir und meinen Männern, der Rest euch:“ „Nein!“ „Willst du handeln?“ fragte Gujjar lauernd. „Du hast selbst zugegeben, daß du es ohne uns nicht schaffst.“ „Wie du willst“, erwiderte Rangini. „Sucht euch ein Schiff aus. In den nächsten Tagen segeln bestimmt viele an der Küste entlang nach Norden. Die Hälfte des Schatzes für mich – oder gar nichts. Was sonst noch zu erbeuten ist, gehört euch.“ „Du hast nur zwei Elefanten?“ erkundigte sich Phoolan. Als Dilip nickte, fuhr sie fort: „Damit kannst du nicht mal die Hälfte der Beute fortschaffen. Wir sind noch schlechter dran.“ „Deine Männer können ein Schiff segeln, Phoolan. Bis jemand von dem Überfall erfährt, sind wir längst weit im Süden. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir von
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vielen gehetzt werden, vom Maharadscha von Bombay, vom Sultan von Golkonda und von Akbar.“ „Willst du plötzlich kneifen, Dilip?“ „Deine Männer sollen wissen, was sie erwartet.“ „Unser Leben war nie etwas anderes als eine ständige Flucht.“ Phoolan Devi streckte Rangini die Hand zum Bündnis hin. Er schlug kräftig ein, und dann besiegelte auch Dasyu Gujjar den Pakt. Kurze Zeit später brachen die Dacoits auf und folgten Rangini, der zu seinen Soldaten zurückkehrte. Diese hatten Shri Ram Singh, der allmählich ungeduldig wurde und Forderungen stellte, einfach niedergeschlagen. Bis er aufwachte, waren sie längst weitergezogen. Wohin und wozu, war für Singh jedoch unerheblich, solange die Dacoits Samatrai nicht mehr belagerten. * Die Morgensonne stieg als gewaltiger Feuerball aus dem Meer und verwandelte die See in eine Fläche aus flüssigem Gold. Die Nacht wich einem verheißungsvollen neuen Tag. Die gerade noch zwei Meilen an Backbord liegende Küste zeigte sich als niedrige, mit Palmen und hohen Bäumen bestandene, hügelige Landschaft. Der abweisende, sogar unnahbare Eindruck, den diese Region während der Nacht erweckt hatte, wich mit zunehmender Helligkeit. Der Wind, zuletzt scheu wie ein junges Fohlen und ebenso sprunghaft, frischte landwärts auf. Die Wellenkämme wirkten glasig, waren aber noch weit davon entfernt, zu brechen. Nur vereinzelt zeigten sich schwache weiße Schaumköpfe. Don Juan de Alcazar, der ehemalige spanische Generalkapitän, stand auf dem achteren Grätingsdeck der Schebecke und genoß die salzige frische Morgenluft. Mit zunehmend höherem Sonnenstand würde die brütende Hitze zurückkehren, die den Körper auslaugte und den Durst zeitweise unerträglich werden ließ.
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Don Juan verharrte schon lange nahezu unbeweglich neben dem Papageienstock – eine hochgewachsene, eindrucksvolle Gestalt. Er wandte sich nicht um, als er hinter sich leise Schritte vernahm, sondern erst, als Philip Hasard Killigrews Stimme erklang. „Ich beobachte dich schon eine Weile. Du wirkst nachdenklich, mein Freund, und starrst wehmütig aufs Wasser.“ Der Siegelring aus massivem Aztekengold blitzte, als Don Juan eine Spur zu schnell abwinkte. Er spürte, daß er Hasards Sorge so nicht zerstreuen konnte. „Ich dachte an Taina, meine Frau“, erwiderte er. „Die Zeit mit ihr liegt lange zurück ...“ Hasard nickte stumm. Für gewöhnlich blieb ihnen keine Zeit für wehmütige Gedanken, aber manchmal drängten sich die Erinnerungen hartnäckig auf. Hatten Männer wie die Arwenacks je die Möglichkeit, ein einigermaßen erträgliches Familienleben zu führen, oder machten sie es nur sich selbst, ihren Frauen und den Kindern unnötig schwer? Wenn sie nach langer Fahrt nach Hause zurückkehrten, fühlten sie sich oft wie Fremde. „Ich dachte nicht nur an Taina“, sagte Don Juan unvermittelt. „Auch – und vor allem – an die Karibik. Was mag inzwischen auf Great Abaco geschehen sein?“ Hasard lehnte sich neben den Spanier ans Schanzkleid und ließ den Blick über die Küste schweifen. Ein Schwarm großer, reiherähnlicher Vögel zog dicht übers Wasser. „Die halbe Welt liegt zwischen uns und unserem Stützpunkt“, sagte er. „Warum fragst du ausgerechnet jetzt?“ Don Juan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, gestand er. „Vielleicht, weil Old Donegal gestern abend davon angefangen hat.“ „Du kennst den Admiral. Wenn er schlechte Laune hat, sucht er nach etwas, mit dem er sich aufspielen kann. Diesmal ist eben Great Abaco an der Reihe.“ „Wir sind schon wieder zu lange aus der Karibik fort.“
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„Wer sagt das – du, Juan, oder mein ehrenwerter Schwiegervater?“ „Eigentlich wir beide, und wenn du dich umhörst, noch ein paar andere aus der Mannschaft.“ Der Wind schralte. Vorübergehend verlor die Schebecke Fahrt, dann lief sie näher auf die Küste zu. Ohne den von den Windverhältnissen aufgezwungenen Kreuzkurs wäre Madras wahrscheinlich schon in Sicht geraten, unter den gegebenen Umständen dauerte es aber wohl noch bis weit in den Nachmittag hinein. Die ersten Männer der Freiwache lösten die Wachgänger ab. Die Nacht war ohne Zwischenfälle verlaufen, und nach der Begegnung mit der portugiesischen Zweimast-Karavelle war kein anderes großes Schiff mehr gesichtet worden. Lediglich in der kurzen Morgendämmerung waren im Süden die Silhouetten einiger Fischerboote zu sehen gewesen. Bis auf weniger als eine halbe Meile ging die Schebecke unter Land. Ein weiter, heller Sandstrand leuchtete im Sonnenschein. Dahinter erstreckte sich dichtes Waldgebiet. Kleine Buchten und Flußmündungen lockerten den sonst geraden Verlauf der Küste auf. Eine Herde von mindestens fünfzehn Elefanten badete im Brackwasser eines flachen Flußufers. Einige der Tiere blickten zur Schebecke hinüber und begannen zu trompeten. Davon abgesehen herrschte eine geradezu idyllische Ruhe. * „Langweilig“, beurteilte Mac Pellew die Sachlage, als es endlich ans morgendliche Backen und Banken ging. „Keine Portugiesen, keine Spanier, nicht mal verrückte Engländer in Sicht – außer uns.“ „Bißchen übermütig, was, wie?“ fragte der Profos lauernd. „Wenigstens hat er sich nicht ausgenommen“, meinte Big Old Shane. „Immerhin ist er der Verrückteste von uns allen.“
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Und Stenmark sagte: „Sieht ganz so aus, als wäre Mac die Hitze zu Kopf gestiegen. Ich denke, ein kühles Bad hat er sich redlich verdient.“ „Untersteh dich!“ fauchte Mac Pellew und hielt einen Kochlöffel wie einen Degen abwehrend von sich. Trotzdem wich er langsam zurück, als sich nacheinander die halbe Crew von den Bänken erhob. „Natürlich nehmen wir deine Entschuldigung an, Mackilein“, sagte Carberry. „Also rück das Faß Rum schon raus!“ „Was für ein Faß?“ „Rum!“ „Ich habe nichts gesagt.“ „Aber natürlich doch. Oder sollte dein Gedächtnis schon größere Maschen haben als ein Fischernetz?“ Dem Zweitkoch wurde es mulmig. Außerdem mußte er feststellen, daß keiner für ihn Partei ergriff. Die Männer grinsten nur erwartungsvoll. „Ich kürze die Rationen“, drohte er. Batuti lachte belustigt. „Bei allen Meergeistern, das ist eine gute Nachricht.“ „Nicht so voreilig, Mister“, sagte Carberry warnend. „Du warst nicht auf der ,Respectable` und hast nicht mitgekriegt, welchen Fraß dieser Widerling Skinner aufgetischt hat. Dagegen kocht sogar unser Mackilein wie ein lordschaftlicher Pfannenschwenker. Ist es nicht so, Clint?“ Clinton Wingfield, der Zeuge gewesen war, wie die aufgebrachte Meute auf der „Respectable“ ihren Koch beinahe gelyncht hätte, nickte eifrig. Das war damals gewesen, während der langen Überfahrt nach Indien, als der Scharbock die ersten Männer wie Fliegen dahingerafft hatte. Natürlich wußte er, daß die Arwenacks ihrem Zweitkoch kein Haar krümmen würden – zumindest hatte er das bis eben noch geglaubt. Aber nun sah es so aus, als wollten sich die Männer tatsächlich eine handgreifliche Abwechslung verschaffen. „Gleich ist dir nicht mehr langweilig, Mackilein.“ Der Profos grinste herzerfrischend.
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Jetzt, nahe vor Madras, entlud sich die Anspannung, unter der die Arwenacks standen. Die Ungewißheit, ob sie es schaffen würden, das dem Maharadscha von Bombay gegebene Versprechen zu halten, war vorüber. Auch die königliche Lissy würde zufrieden sein und ihnen hoffentlich einen großen Empfang bereiten, nachdem ihr letzter Aufenthalt in London in der Hinsicht bescheiden ausgefallen war. Immerhin hatten sie, sobald der Sultan von Golkonda das Gold übernahm, erste Handelskontrakte für England vorzuweisen. Während die anderen redeten, hatte es Mackilein Pellew tatsächlich geschafft, sich in die Nähe des Schotts zu manövrieren, und nun warf er sich herum und schlug die Tür zu, ehe ihn der Profos einholte. Die Backschafter brachen in dröhnendes Gelächter aus, da Carberry sich um ein Haar eine prächtige Beule holte. Er lachte schließlich selbst los, bis ihm die Tränen kamen. „Jede Wette, daß sich Mac schlotternd in den hintersten Winkel der Achterpiek verkrochen hat?“ Im nächsten Moment riß der Zweitkoch das Schott von der anderen Seite her auf. Er schlotterte keineswegs, wie Carberry vermutete. „Alle Mann an Deck!“ brüllte er. „Da draußen ist irgendwas los.“ * Der Zweitkoch hatte zwar maßlos übertrieben, aber das war seine Rache und verschaffte ihm ein Gefühl der Genugtuung. Nur noch knapp dreihundert Yards vor der Schebecke dümpelte ein kleines Boot in der lang gezogenen Dünung. Offenbar zog es durch eine Vielzahl undichter Plankennähte Wasser, denn der einzige Insasse, ein Mann in prunkvoller Kleidung, schöpfte fast ununterbrochen. Mittendrin hielt er jedoch immer wieder inne und winkte mit beiden Armen. Als er sah, daß die Schebecke auf ihn zuhielt, ließ
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er erschöpft den hölzernen Eimer sinken, mit dem er geöst hatte. Er war ein Inder, vom Alter her schwer einzuschätzen, aber etwa um die Dreißig. Das schwarze Haar trug er, ebenso wie den Vollbart, kurz geschnitten. Sein türkisfarbener, am Kragen eng geschlossener Umhang schien aus kostbarem Brokat zu bestehen. Die kurze Zeitspanne, die er untätig war, genügte, sein Boot weiter absacken zu lassen. In einem Manöver, das seinesgleichen suchte, geiten die Arwenacks das Großsegel auf und holten den Besan back, so daß die Fahrt des Schiffes aufgezehrt wurde. Bis auf eine Bootslänge drifteten sie an den Inder heran, der ihnen erwartungsvoll entgegensah. Erst aus der Nähe bemerkten sie, daß die Kleidung des Mannes zerschlissen und teilweise blutgetränkt war. Er hatte einen Kampf mit Blankwaffen hinter sich. „Helft uns“, sagte er ächzend auf Hindi, als er nach dem Tau griff, das ihm von Deck aus zugeworfen wurde. Philip junior übersetzte. Der Mann schaffte es nicht, aus eigener Kraft aufzuentern. Zitternd hing er nach den ersten beiden Tritten an der Jakobsleiter. Jan Ranse und Hasard junior schwangen sich übers Schanzkleid und zerrten ihn nach oben. „Danke“, keuchte er, als er schwankend auf den Planken stand und nur noch Bill ihn stützte. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“ „Schon gut“, erwiderte der Seewolf. „Wir sehen es als unsere Pflicht an, Schiffsbrüchigen beizustehen.“ Der Inder schüttelte den Kopf. Bei der Bewegung wurde deutlich, daß ihn die Hieb- und Stichwunden am Oberkörper und den Armen schmerzten. „Ich bin nicht schiffbrüchig, ich mußte von Land fliehen, aber ...“ Er verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen, ohne daß ihn Bill noch halten konnte. Der Kutscher war sofort zur Stelle. Er legte den Mann, der flach, aber hastig atmete, auf den Rücken und schob ihm eine
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Taurolle unter den Nacken. Als sich der Inder wieder aufrichten wollte, drückte er ihn sanft, doch ohne Widerspruch zu dulden zurück. „Ich kriege das schon hin“, sagte er, „keine Bange.“ Während er vorsichtig den Brokatumhang öffnete, zitierte er den Schiffsjungen zu sich: „Ich brauche Wasser, Clint, und außerdem eine Buddel Rum.“ Die Wunden erwiesen sich als nicht sehr tief, sie näßten jedoch, weil durch die stete Bewegung die Verkrustungen immer wieder aufgebrochen waren. Der Kutscher säuberte die Ränder mit Rum. Das gequälte Stöhnen seines Patienten beachtete er nicht. Erst als er damit fertig war, setzte er dem Mann einen Becher Wasser an die Lippen, den er hastig und ohne abzusetzen trank. „So“, sagte der Kutscher und genehmigte sich selbst einen kräftigen Schluck aus der Buddel, „jetzt bist du wieder in Ordnung und kannst reden. Schieß los!“ Der Inder starrte ihn verwirrt an. Entweder hatte Jung Philip das „Schieß los!“ wörtlich übersetzt, oder es gab im Hindi keine entsprechende Redewendung. Nach einigem Hin und Her, und nachdem der Rest des Rums aus der Flasche durch die Kehle des Inders geflossen war – des Kutschers Annahme, daß er Moslem sei, erwies sich damit als falsch –, klappte endlich die Verständigung. Der Mann hieß Sandesh Bawapuri und war auf dem Weg nach Norden von Buschräubern und Halsabschneidern überfallen worden. „... sie waren plötzlich da, als wir eine Furt überquerten, und töteten die Soldaten, die uns begleiteten, mit Pfeilschüssen. Ich selbst hatte Glück, denn ich konnte mich mit dem Säbel zur Wehr setzen, aber ich sah noch, daß sie den Elefanten stoppten und die Frauen aus der Sänfte zerrten. Es gelang mir, in ein am Ufer liegendes Boot zu fliehen. Die Strömung trieb mich ins Meer, und den Rest kennen Sie. In dem Boot waren keine Riemen, deshalb wurde ich weiter abgetrieben.“
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„Sind alle Ihre Begleiter tot?“ fragte der Seewolf. „Ich weiß nicht“, sagte Bawapuri, „aber ich nehme es an. Die Halunken werden nur die Maharani und ihre Schwester verschont haben. Sie müssen gewußt haben, daß wir auf dem Weg nach Madras waren.“ „Eine Maharani?“ fragte Ben Brighton verblüfft. „Die Maharani Drawida aus Srirangam“, sagte Bawapuri. „Sie sollte in Madras mit dem Sultan von Golkonda zusammentreffen.“ Er stutzte, weil ihm nicht entging, daß sich die Arwenacks bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. „Der Sultan weilt schon in Madras?“ erkundigte sich Hasard. „Seit wann?“ „Ich weiß es nicht genau“, sagte Sandesh Bawapuri. „Es heißt, daß er auf die Ankunft eines Schiffes warte. Die Maharani machte eine entsprechende Andeutung.“ „Wir bringen Sie nach Madras.“ „Das ist nicht nötig. Ich schlage mich schon allein durch, aber ohne Gewißheit über das Schicksal der Frauen werde ich nicht ...“ „Wir werden vom Sultan von Golkonda erwartet.“ „Oh“, sagte Bawapuri sichtlich überrascht, „das ändert einiges. Dann werden Sie sicher nach den Frauen suchen, ehe Sie Madras anlaufen?“ 5. Die Schebecke ankerte drei Kabellängen vom Ufer entfernt. Der Platz lag etwa eine Meile nördlich der Stelle, wo die Arwenacks Bawapuri aufgefischt hatten. Dichter, von Unterholz durchsetzter Palmenwald schloß unmittelbar an den goldgelben Sandstrand an, der nur von der Trichtermündung eines kleinen Flusses durchschnitten wurde. Die Arwenacks mußten in die Boote umsteigen und stromaufwärts pullen. Bawapuri erklärte, daß der Überfall rund eine Meile landeinwärts erfolgt sei, in schlecht zu überblickendem Gelände und völlig überraschend. Deshalb hatten die
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Angegriffenen so gut wie keine Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen, obwohl die Räuberbande nur acht bis zehn Mann zählte. „Wir können den Spieß umdrehen“, sagte er. „Bestimmt rechnen die Kerle nicht mit einem Gegenangriff.“ „Falls sie nicht schon weitergezogen sind“, schränkte der Seewolf ein. Sandesh Bawapuri schüttelte entschieden den Kopf. „Die Maharani ist ihr Gewicht in Gold wert – als Lösegeld. Die Bande wird in der Nähe lagern und nur einen Unterhändler ausschicken, alles andere wäre riskant.“ „Das klingt überzeugend“, sagte Ferris Tucker. „Warum sollten sich alle einer Gefahr aussetzen, wenn es genügt, einen einzelnen die Forderungen überbringen zu lassen?“ Die beiden Jollen legten ab. In der größeren saßen der Seewolf, Carberry, Ferris Tucker, Dan O'Flynn, Matt Davies, Bob Grey, Luke Morgan, Stenmark, Smoky und Paddy Rogers, in der anderen der Gambiamann, Roger Brighton, Sam Roskill, die Zwillinge und Sandesh Bawapuri. Sie waren mit Musketen und Pistolen bewaffnet, und jeder trug entweder einen Schiffshauer oder einen Degen. Wohlweislich hatte Ferris Tucker auf Flaschenbomben verzichtet, weil er die Gefangenen der Räuberbande nicht gefährden wollte. Ein paar Mangroven wuchsen in der Flußmündung und schoben die Stelzwurzeln weit ins Wasser. In dem dicht verzweigten Laubwerk keckerte und tobte eine Affenhorde. Sonst war alles ruhig. Von gleichmäßigem Ruderschlag getrieben, glitten die Jollen flußauf. Einige Arwenacks kauerten jeweils in Bug und Heck der Boote und sicherten mit den schußbereiten Musketen zu den Ufern hin. Aber nichts geschah. Je weiter sie vordrangen, desto mehr setzte sich die Vermutung durch, daß der Ort des Überfalls verlassen war. Der Flußlauf verengte sich, die Strömung wurde stärker. Schäumend umtoste das Wasser mehrere Felsblöcke, die wie von
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Riesenhand verstreut am rechten Ufer lagen. Obwohl die Engstelle mühelos zu überwinden gewesen wäre, forderte Bawapuri die Arwenacks auf, an Land zu gehen und die Jollen zu vertäuen. „Es ist nicht mehr weit“, sagte er. „Schon hinter der nächsten Biegung können die Dacoits lauern.“ Das war nicht von der Hand zu weisen. Hasard gab den Befehl, das linke Ufer anzulaufen, das zwar ein wenig steiler war, aber dafür ohne Klippen. Zum Teil war die Böschung ausgewachsen und unterspült, doch sie schafften es mit vereinten Kräften, die Jollen an Land zu hieven. Zum Glück war die Strömung nicht besonders stark, nur eine Vielzahl kleiner Strudel und lockerer Untergrund behinderten die Männer. Sandesh Bawapuri führte die Engländer ein Stück am Ufer entlang und bog dann abrupt nach Norden ab. Wo eben noch blühende Vegetation das Bild bestimmte, ragten plötzlich mehrfach mannsgroße Findlinge auf. Die meisten Steine waren grob behauen und wiesen Quaderform auf, was die Vermutung nahelegte, daß es sich um die Oberreste einer verfallenen Siedlung handelte. Dan O'Flynn war begeistert. „Seht doch!“ rief er gerade zu laut, daß es die neben ihm gehenden Männer verstehen konnten. „Die Steine weisen Schriftzeichen auf.“ Er fuhr die eingemeißelten Rillen mit den Fingern nach, entfernte flüchtig Moose und Flechten und legte in aller Eile eine Fläche von gut zwei Quadratfuß frei. „Kannst du's lesen?“ fragte Smoky spöttisch. „Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht, wenn ich einige Tage Zeit hätte. Es muß eine alte indische Sprache sein.“ „Du hast keine Zeit“, erinnerte Stenmark. Obwohl der Boden unter ihren Füßen weich und von Gräsern und Moos überwuchert war, maß die Erdschicht stellenweise nicht einmal eine Fingerbreite. Im Laufe von Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten hatte der Wind Staub und
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Erde auf der weitläufigen, mit Mosaiken belegten Fläche abgelagert. Dan entdeckte an einer geschützten Stelle noch freiliegende Teile von Mosaiken. Zweifellos stellten die Bilder in den verblaßten Farben Szenen der hinduistischen Mythologie dar, die dem vedischen Pantheon entstammte. Ganesha, der elefantenköpfige Sohn von Schiwa und Parvati, war zu erkennen. Auf seinem Reittier, einer Ratte, tanzend, hielt er in seinen acht Händen Symbole seiner Macht. Ein anderes Bild zeigte eine üppige Frauengestalt. Irgendwo hatte Dan O'Flynn den Namen Sarasvati gehört, der eine vedische Wasserund Flußgöttin bezeichnete. Ihr wurde die Erfindung der Sanskrit-Sprache sowie des indischen Alphabets zugeschrieben. Demjenigen, den Altertümer und Historie interessierten, bot das Ruinenfeld zweifellos eine Fülle von Überraschungen. Dan mußte sich von den Mosaiken losreißen, zumal ihm die anderen schon weit voraus waren. Nur mit halbem Ohr hatte er hingehört, als ihn Luke Morgan scherzhaft als „Wühlmaus“ bezeichnet und den Rest einstimmig die Meinung geäußert hatte, man werde Dan auf dem Rückweg wieder auflesen. Zwischen den Steinquadern reichte die Sicht nur wenige Dutzend Schritte weit. Er sah gerade noch die letzten des Trupps die Richtung ändern, ehe er loslief. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er eine flüchtige Bewegung. Aber das war es schon zu spät. Etwas Hartes krachte mit Wucht gegen seinen Hinterkopf. Er spürte noch einen gräßlichen, siedendheißen Schmerz sein Rückgrat entlangrasen, dann wurde es Nacht um ihn. Daß er der Länge nach hinschlug, nahm er schon nicht mehr wahr. * „Wo ist Stenmark.
Dan
abgeblieben?“
fragte
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„Die alten Fußbodenbilder faszinierten ihn“, sagte Smoky spöttisch. „Aber immerhin ist er Navigator, er findet uns wieder.“ „Ich möchte wissen, was er an den bunten Steinchen hat. Nur weil sie ein wohlgeformtes Weib darstellen, kann es doch nicht sein:“ „Wer weiß ...“ Smoky grinste. „Vielleicht denkt er an Linda Irving. Sie war doch seine Freundin, oder?“ Anerkennend pfiff Stenmark durch die Zähne. „Donnerwetter“, murmelte er. „Das ist lange her. Ich hätte es fast vergessen.“ Ohne daß es ihnen richtig bewusst wurde, verlangsamten sie ihre Schritte und fielen hinter den anderen zurück. Dan schloß dennoch nicht zu ihnen auf, er blieb verschwunden. Als Smoky und Stenmark nochmals den letzten Steinquader umrundeten, erstarrten sie. Sie blickten geradewegs in die Mündungen zweier Musketen. Natürlich hätten sie schreien können, um die Freunde zu warnen. Aber dann blieb ihnen wahrscheinlich nicht mal mehr die Zeit, ihre Unüberlegtheit zu bereuen. * Sandesh Bawapuri, der die Arwenacks anführte, hielt überraschend inne. Er stieß eine Verwünschung aus, die keiner Übersetzung bedurfte. Wo das Ruinenfeld endete, ragten junge Palmen auf, keine von ihnen höher als fünf Yards. An zwei der dünnen Stämme waren Frauen gefesselt. „Die Maharani und ihre Schwester“, raunte Bawapuri. Die Bemerkung war überflüssig. Schon aufgrund ihrer Kleidung wurde der hohe Stand offenbar. Beide Frauen waren klein, wenig mehr als fünf Fuß groß, aber während die eine sonnengebräunt wirkte, hatte die Maharani eine auffallend blasse Hautfarbe. Die Arwenacks huschten in Deckung.
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„Wo steckt die verdammte Bande?“ schnaubte Carberry. Er trug keine Muskete, hatte jedoch zwei Pistolen im Gürtel und hielt einen mächtigen Schiffshauer in Händen. „Niemand läßt seine wertvolle Beute unbewacht“, raunte Ferris Tucker. „Jedenfalls haben sie uns noch nicht bemerkt“, sagte Carberry, ohne sich zu den Gefährten umzuwenden. „Dann wäre nämlich einiges los.“ Hasard gab das Zeichen, vorsichtig auszuschwärmen, und winkte Carberry und Tucker zu sich heran. „Die Männer sollen uns Rückendeckung geben“, sagte er. „Dann befreien wir die Maharani.“ „Dan ist fort“, bemerkte Tucker, „Smoky und Stenmark offenbar ebenfalls.“ Hasard zuckte nur mit den Schultern. „Die drei können auf sich selbst aufpassen“, erwiderte er mit etwas ärgerlichem Tonfall. Den Radschloßdrehling feuerbereit in der Rechten, hetzte er über fünfzehn Schritte freies Feld und warf sich hinter das nächste Gebüsch. Der Profos und der Schiffszimmermann folgten ihm dichtauf. So ging es weiter: einer lief, die anderen gaben ihm Deckung. Bis auf vierzig Yards näherten sie sich den Frauen, dann wurde die Maharani endlich aufmerksam. Ruckartig hob sie den Kopf. Für die Dauer zweier Herzschläge trafen sich ihr Blick und der des Seewolfs, und ihre Augen sprühten Feuer. Hasard wußte sofort, daß diese Frau anders war als die meisten Inderinnen. Egal was geschah, sie ließ sich nicht unterkriegen. Er legte zwei Finger auf die Lippen, zum Zeichen, daß die Maharani schweigen sollte, danach deutete er in Richtung Fluß, wo die Vegetation dichter wurde. Die Frau verstand, ihr Blick verriet, daß die Räuberbande momentan am Wasser weilte. Das waren kaum mehr als hundert Schritte, denn das Rauschen des Flusses war deutlich zu hören, also gewiß kein Grund, sich sicher zu fühlen. „Den Rest übernehme ich“, raunte Ferris Tucker. Er drückte dem verblüfften Profos
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die Zimmermannsaxt in die Hände, zog sein Messer aus dem Gürtel und huschte mit der Geschmeidigkeit einer Eidechse weiter. „Das geht zu einfach“, sagte Carberry mißtrauisch. „Verdammt, da stimmt einiges nicht.“ Warum hatten die Dacoits keine Wachen aufgestellt? Doch sicher nicht, weil sie sich ungefährdet glaubten. Während der Profos seine Bedenken äußerte, erreichte Tucker die Frauen. Er durchtrennte die Handfesseln der Maharani und die Stricke, die ihren Oberkörper am Stamm hielten, und der Profos, der unwillkürlich den Atem angehalten hatte, stieß die Luft fauchend wieder aus. Tucker bückte sich, um auch die Fußfesseln der Frau aufzuschneiden, da geschah es. Wie aus dem Boden gewachsen standen sechs uniformierte Inder zwischen den Bäumen. Jeder hielt eine langläufige Muskete schußbereit. Drei Mündungen zielten unmißverständlich auf den Schiffszimmermann und die Frauen. Ferris Tucker ließ den Dolch fallen. Langsam, mit ausgebreiteten Armen, richtete er sich aus der gebückten Haltung auf. Ehe sich Hasard darüber klar werden konnte, wie den Indern beizukommen war, erklangen hinter ihm befehlende Laute in der Hindusprache. Auf einige Felsblöcke verteilt standen verwegen aussehende, bärtige Männer. Nur zwei trugen Feuerwaffen, die anderen hielten Pfeil und Bogen oder primitive Speere auf die Arwenacks gerichtet, die sich jäh von zwei Seiten bedroht sahen. Mittlerweile beherrschte der Seewolf genügend Ausdrücke der Hindi-Sprache, um zu verstehen, daß sie aufgefordert wurden, die Waffen wegzuwerfen. Andernfalls würden die Frauen zuerst sterben. Das war natürlich nur eine leere Drohung. Niemand war so verrückt, sich freiwillig seiner Beute zu berauben. Andererseits trug Hasard die Verantwortung für seine Leute, und die befanden sich für die Inder
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auf den Felsen wie auf dem Präsentierteller. Er schalt sich selbst einen Narren, daß er das Naheliegendste übersehen hatte, aber die glatten Seiten der Quader hatten gar nicht erst den Verdacht aufkeimen lassen, jemand könnte hinaufgestiegen sein. Immerhin war selbst der niedrigste der Blöcke fast vier Yards hoch. Sie hatten mit größtem Einsatz gespielt und verloren, so sah es aus. Zumindest vorerst. Aber da war immer noch die restliche Crew, die einen Suchtrupp aufstellen würde, wenn sie bis zum späten Nachmittag nichts von den beiden Bootsmannschaften hörte. „Kein Widerstand!“ befahl Hasard schweren Herzens. „Laßt die Waffen fallen!“ * Nicht ein Schuß war abgegeben worden, und doch hatten die Dacoits fünfzehn Arwenacks in ihre Gewalt gebracht, sie gefesselt und aneinandergebunden. Der sengenden Sonne schutzlos preisgegeben, lagen sie wie wertvolle Beutestücke aufgereiht. „Wir haben einen verdammten Fehler begangen, was, wie?“ maulte Carberry, der nicht so leicht verwand, daß er ohne jede Gegenwehr klein hatte beigeben müssen. So sehr er sich auch anstrengte, die Fesseln schnitten nur tiefer in sein Fleisch ein. „Selbstmitleid?“ fragte Ferris Tucker. „Katzenjammer“, gestand der Profos. „Wir hätten wenigstens Rum mitnehmen sollen. Dann wäre die Hitze erträglicher.“ Keiner lachte über Smokys Bemerkung, woraufhin er zu verstehen gab, daß er die Dacoits liebend gern in den Hintern treten würde. Leider war sein rechtes Bein mit Luke Morgans linkem und sein linkes Bein mit dem rechten von Jung Hasard zusammengebunden, und einer von beiden mußte schon mit ihm gemeinsam zutreten, wenn sie eine durchschlagende Wirkung erzielen wollten. Außerdem war das Problem, daß sich die Inder weit genug entfernt im Schatten aufhielten.
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„Warum haben sie uns nicht einfach erschossen?“ fragte Bob Grey nach einer Weile. „Besonders menschenfreundlich kann ich mir die Kerle nicht vorstellen.“ „Ganz einfach“, sagte Batuti, „sie wollen was von uns.“ „Das Gold?“ „Woher sollten sie davon wissen?“ „Schiwas Wege sind manchmal unerforschlich.“ Die Adern an Carberrys Schläfen schwollen, als er erneut versuchte, die Fesseln zu sprengen. Er schaffte es nicht und gab seufzend auf. „Du solltest der Vorsehung danken, Ed“, sagte Bob Grey leise. „Ich wüßte nicht, wofür.“ „Ein Messer im Stiefelschaft, ist das nichts?“ Der Profos stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Damit läßt sich einiges anfangen.“ Bob Grey ging nicht darauf ein, sondern wandte sich an den neben ihm liegenden Sam Roskill: „Schaffst du es, Sam? Die Klinge steckt im rechten Stiefel an der Innenseite.“ Ihre Verrenkungen waren grotesk und hätten unter anderen Umständen jedem ein lautes Lachen abgenötigt. Sam Roskill krümmte sich wie ein Wurm, der getreten wurde – immerhin konnte er mit den auf den Rücken gebundenen Händen kaum zupacken. Und die Inder durften schon gar nichts merken. „Langsam“, mahnte Bob Grey. „Wenn das Messer wegrutscht, kriegen wir es nicht mehr raus.“ Sam Roskills Fingerspitzen tasteten über seine Kniekehle, berührten den Stiefel und zwängten sich in den Schaft vor. Mit zwei Fingern versuchte der ehemalige KaribikPirat, das Heft zu greifen. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, und die verkrampfte Körperhaltung ließ ihn zittern. Trotzdem schaffte er es endlich, die Klinge Stück für Stück aus der Halteschlaufe zu ziehen. „Wenn du außerdem noch meine Handfesseln durchschneiden kannst, spendiere ich eine Muck voll Rum“, raunte Bob Grey. „Geizkragen.“
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Die lagen fast Rücken an Rücken. Bob Grey biß die Zähne zusammen, als Sam Roskill blindlings mit der scharfen Klinge zu sägen begann. Er hatte das Gefühl, daß Sam weniger die Stricke als vielmehr seine Handgelenke erwischte und ihm das Fleisch von den Knochen schabte. Warme, klebrige Flüssigkeit rann über seine Finger. Noch tat sich nichts, wenn er die Muskeln anspannte. Doch wenig später spürte er, daß die Stricke endlich nachgaben, und dann zerriß der erste. Der Rest war einfach. * „Ein Boot kehrt zurück!“ rief Blacky. Noch war es im Uferdickicht schwer zu erkennen, aber er hatte recht, es war eine der Jollen. „Da sitzt nur einer an der Pinne“, stellte Don Juan de Alcazar nach einem Blick durchs Spektiv fest. Der eine Mann war Sandesh Bawapuri, wie sie gleich darauf erkannten. .Als das Boot das kabbelige Wasser der Flußmündung hinter sich hatte, begann der Inder zu gestikulieren. Danach schwang er sich auf die mittlere Ducht und griff nach einem Riemen, den er heftig durchs Wasser zog. Er erreichte jedoch nur, daß sich die Jolle im Kreis zu drehen begann, während sie langsam abtrieb. „So schafft er das nie“, sagte Ben Brighton. „Wir müssen ihm helfen.“ Sven Nyberg und Piet Straaten entledigten sich da bereits ihrer Hemden, schwangen sich aufs Schanzkleid und sprangen kopfüber außenbords. Sie tauchten ein ziemliches Stück weit querab der Schebecke wieder auf und strebten der Jolle mit kräftigen Schwimmstößen entgegen. Bawapuri hatte inzwischen seine vergeblichen Bemühungen eingestellt und blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. Er half den Männern, ins Boot zu gelangen. Während Nyberg und Straaten kräftig pullten, redete er sozusagen mit Händen und Füßen auf sie ein. Bis die Jolle längsseits ging, gab er seine vergeblichen Bemühungen aber wieder auf. Sichtlich
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niedergeschlagen enterte er die Jakobsleiter auf. „Was ist geschehen?“ fragte Ben Brighton auf portugiesisch. „Wo sind die Arwenacks?“ „Arwenacks“, wiederholte Bawapuri. Aufgeregt deutete er zum Fluß und hielt seine Arme hoch, wobei er die Handgelenke überkreuzte. „Gefangen?“ fragte Ben Brighton. Der Inder verstand nicht. Erst als Pete Ballie einen Tampen brachte und ihn um seine Hände schlang, nickte Bawapuri eifrig. „Dacoits“, sagte er hastig. „Dacoits.“ Das Wort verstand jeder und sich zusammenzureimen, was geschehen war, fiel nicht schwer. „Clinton, Bill, holt Musketen, Pistolen und Blankwaffen an Deck!“ befahl Ben Brighton. Bawapuri redete schon wieder wie ein Wasserfall. Er war ziemlich aufgeregt. „Sir“, Bill wandte sich an den Ersten Offizier, „kann ein anderer die Arbeit übernehmen? Ich verstehe ein bißchen von dem, was der Inder sagt. Und es sieht so aus, als wäre er von den Dacoits als Unterhändler geschickt worden.“ Ben Brighton zog die Brauen hoch, Don Juan de Alcazar schürzte die Lippen, und den anderen war die Überraschung ebenfalls deutlich anzusehen. „Es wäre unglaubwürdig gewesen, daß ihm als einzigem ein zweites Mal die Flucht gelungen sein sollte“, sagte der Kutscher. Die Verständigung blieb schwierig und vielleicht auch von Mißverständnissen behaftet. Trotzdem gewann Bin den Eindruck, daß sich der Inder mit Vorwürfen quälte, die Gefangennahme der Arwenacks nicht verhindert zu haben. Zumindest seine Aussage, daß keiner bei dem Überfall getötet worden war, wirkte beruhigend. „Wir brauchen demnach nichts zu überstürzen“, sagte Don Juan. Die Dacoits taten das gleiche, was sie mit der Maharani vorhatten: sie verlangten Lösegeld. Jeder gefangene Arwenack sollte mit seinem Gewicht in Gold aufgewogen
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werden. Das war die Forderung – schlicht und einfach. „Die sind verrückt!“ entfuhr es Al Conroy. Sandesh Bawapuri sollte, sobald die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, in der Jolle wieder flußauf pullen bis zu den Ruinen, wo der Überfall erfolgt war. Wenn er nicht erschien oder sich verspätete, bedeutete das, daß die Gefangenen nacheinander getötet wurden. „Uns bleibt herzlich wenig Zeit“, sagte Ben Brighton nach einem flüchtigen Blick zur Sonne, die schon knapp vor dem Zenit stand. „Bawapuri kann unmöglich allein pullen“, erklärte Don Juan. „Zwei von uns müssen ihn begleiten. Selbst auf die Gefahr hin, daß sie ebenfalls gefangen genommen werden.“ „Wir haben noch keineswegs entschieden, ob wir auf die Forderung eingehen“, protestierte Mac Pellew. „Solange wir das Gold nicht wirklich ausladen müssen, können wir alle Forderungen akzeptieren“, sagte Brighton. „Eine Übergabe wird hoffentlich nie stattfinden.“ „Das wollte ich nur hören“, sagte der Zweitkoch. „Ich bin dabei, wenn wir den Halsabschneidern Manieren beibringen.“ Mac O'Higgins und Will Thorne, der Segelmacher, erklärten sich ohne Umschweife bereit, Bawapuri flußauf zu begleiten. „Wenn mich die Kerle erwischen, ist es nicht weiter schlimm“, sagte Thorne. „Im Kampf tauge ich ohnehin nicht mehr viel.“ Da die Gefahr bestand, daß die Schebecke vom Ufer aus beobachtet wurde, konnten nicht alle mit der Jolle an Land übersetzen. Während Higgy und Thorne mit dem Inder bereits zur Flußmündung pullten, wurde an der landabgewandten Steuerbordseite eine Gräting abgefiert. Die Feuerwaffen, in mehrere Persennings eingewickelt, erreichten hoffentlich einigermaßen trocken das Ufer. Die Männer enterten ebenfalls an Steuerbord ab. Sie mußten schwimmen, brauchten aber Haie nicht zu fürchten. Der sanft ins Meer abfallende Sandstrand war
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für die gefräßigen Meeresräuber wenig attraktiv. Die Schebecke wurde rigoros entvölkert. Die Handvoll Männer, die zurückblieben, würden es im Falle eines Falles schwer haben, das Schiff zu bewegen. Old Donegal Daniel O'Flynn gehörte zu ihnen. Trotz seines anfangs heftigen Protestes mußte er einsehen, daß er mit seiner Beinprothese die anderen nur unnötig behindert hätte. Außerdem brauchte das Schiff für den Fall eines Falles einen geeigneten Kapitän – und das Kompliment floß ihm letztlich wie Öl runter. Außer ihm blieben noch Al Conroy, Jeff Bowie, Bill und Sven Nyberg sowie Clinton Wingfield an Bord. Falls die Dacoits versuchten, die Schebecke zu entern, war der Stückmeister am richtigen Platz. 6. Ohne Zwischenfälle legten die Männer die drei Kabellängen bis zum Ufer zurück. Es erwies sich, daß von den Musketen nur drei naß geworden und damit vorübergehend unbrauchbar waren. Die Pistolen und das Pulver hatten den Transport auf der schwankenden Gräting sogar unbeschadet überstanden. Old Donegal, der vom Schiff aus mit dem Kieker das Gelände absuchte, signalisierte, daß er keine Inder sah. Die Männer unter Ben Brightons Führung drangen daraufhin am rechten Flußufer vor. Anfangs war das Unterholz dicht, später wurde es lichter. Palmenbestand herrschte vor, aber auch andere Bäume, deren Namen niemand kannte, sorgten für ein dichtes Blätterdach. Nur selten drangen Sonnenstrahlen bis auf den Waldboden vor. An solchen Lichtungen hing Wasserdampf in der Luft. Offenbar hatte es erst vor kurzem geregnet. Immer wieder blieben die Arwenacks stehen und lauschten, aber der Uferwald hallte nur wider von vielfältigen Tierstimmen. Inder schienen nicht in der Nähe zu sein.
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Endlich wurde der Pflanzenwuchs auf der anderen Uferseite spärlicher. Die mächtigen Felsblöcke, von denen Bawapuri gesprochen hatte, waren zu erkennen. Das Trompeten eines Elefanten schreckte die Arwenacks auf. Augenblicke später trampelte der Dickhäuter heran. Ein zweites Tier mit mächtigen Stoßzähnen folgte ihm. Beide Elefanten wurden von Mahauts gelenkt. Sie walzten nieder, was ihnen im Weg stand. Damit hatte niemand gerechnet. Ben Brighton riß seine Muskete hoch und legte auf den Führer des vorderen Tieres an, doch sein Schuß ging fehl und peitschte wirkungslos ins Laubdach. Der Erste schleuderte dem Dickhäuter die nutzlos gewordene Muskete entgegen, warf sich herum und floh zum Fluß. Daß die Waffe wie ein dünner Bambussproß zertrampelt wurde, sah er schon nicht mehr. Die Arwenacks liefen nach allen Seiten auseinander. So schnell, wie sich die Elefanten näherten, hatte es keinen Sinn, auf die Mahauts zu zielen. Plötzlich fielen Schüsse aus dem Hinterhalt. Die Dacoits trieben ihre Opfer zum Fluß. Zu spät erkannten die Arwenacks die perfekt aufgebaute Falle. Mit Degen und Schiffshauern konnten sie herzlich wenig ausrichten, und mit den Pistolen die Elefanten aufhalten zu wollen war ebenso unmöglich. Mit affenartiger Geschicklichkeit schwang sich Nils Larsen auf einen Baum, dessen Äste weit genug herabhingen. Keinen Augenblick zu spät fand er festen Halt, denn schon trottete einer der Elefanten vorbei. Der Mahaut sah den Engländer nicht rechtzeitig. Im selben Moment löste Larsen den Steinschloßmechanismus seiner Pistole aus. Eine grelle Flammenzunge stach auf den Inder zu, der warf die Arme hoch und kippte seitlich weg. Mittlerweile hatten auch andere Arwenacks auf ähnliche Weise Stellung
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bezogen und warteten darauf, daß sich die Angreifer zeigten. Mit fliegenden Fingern lud Nils Larsen seine Waffe neu. Daß er in der Eile das meiste Pulver verschüttete, beachtete er kaum. Zuerst glaubte er, daß die beiden Elefanten den Höllenlärm verursachten, der plötzlich anhob, dann erkannte er, daß weitere Dickhäuter durch den Wald brachen. Der Lärm schien eine Herde in Panik versetzt zu haben. Vorübergehend war die Luft erfüllt vom Krachen und Splittern kleiner Bäume, die rücksichtslos niedergetrampelt wurden, und von dem durch Mark und Bein gehenden Trompeten der angreifenden Tiere. * Bob Grey hatte kaum noch ein Gefühl in den Fingern, als er nach dem Dolch griff und seine Fußfesseln ebenfalls aufschnitt. Endlich war er frei, ohne daß die Dacoits etwas bemerkt hatten. „Gut so“, raunte Hasard. „Gebt das Messer weiter, aber bleibt noch liegen.“ Sie halfen sich gegenseitig. Kaum fielen Hasards Handfesseln, spürte er ein Kribbeln und Brennen wie von tausend Ameisen. Das Blut konnte endlich wieder ungehindert zirkulieren. Der Schrei eines Elefanten hallte vom anderen Flußufer herüber. Gleich darauf fiel ein Schuß, danach wurde öfter geschossen. Für Hasard gab es nur eine Folgerung. „Das sind unsere Leute!“ rief er. „Vorwärts, wir müssen ihnen beistehen!“ Das war leichter gesagt als getan. Die Inder hatten ihnen alle Waffen abgenommen, und mit bloßen Fäusten anzugreifen, noch dazu, wenn die Gegner über Elefanten verfügten, grenzte an Irrsinn. Der Dolch wanderte zu Bob Grey zurück, der damit am besten umgehen konnte. Carberry und einige andere brachen sich Äste ab, die sie wenigstens als Knüppel einsetzen konnten.
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Sie wollten zuerst den beiden Frauen helfen, doch die waren verschwunden. An den Bäumen hingen nur noch die Fesseln, die jemand durchschnitten hatte. Bevor sich die Arwenacks über ihr weiteres Vorgehen klar wurden, herrschten an beiden Uferseiten Chaos und Verwirrung. Eine Herde von wenigstens zwölf bunt geschmückten Elefanten brach wie ein alles verheerender Orkan aus dem Dickicht hervor. Mit Musketen und Säbeln Bewaffnete und Uniformierte folgten ihnen zu Fuß. Auf dieser Seite des Flusses schlug ihnen überraschend wenig Widerstand entgegen, doch auf der anderen wurde heftig gekämpft. Hasard und seine Männer taten das in dieser Situation einzig Richtige: Da nur schwer zwischen Feind und Freund zu unterschieden war, zogen sie sich weitgehend zurück. „Die Soldaten tragen die gleichen Uniformen wie jene, die zur Bande gehören“, sagte Ferris Tucker. „Womöglich streiten sie sich nur über die Beute.“ Sie mußten die Köpfe einziehen. Keine drei Yards vor ihnen brachen mehrere Dickhäuter durchs Unterholz. Die Mahauts verfolgten zwei bärtige Kerle, die mit allen Anzeichen des Entsetzens flohen. Beide schafften es nicht weit. Der erste wurde von einer Musketenkugel niedergestreckt, und als er versuchte, sich noch ins Gebüsch zu schleppen, holten ihn Soldaten ein und erstachen ihn. Der andere schlug Haken wie ein Hase, trotzdem konnte er dem Elefanten nicht entwischen. Als ihn der Rüssel umschlang und von den Beinen riß, begann er erbärmlich zu schreien und wie ein Besessener um sich zu schlagen. Aber alles Sträuben half ihm nicht. Der Dickhäuter schlenkerte den Kopf, stieß ihn rechts und links gegen Bäume, was sein Schreien nur noch mehr anstachelte, und ließ ihn dann aus großer Höhe fallen. Auf allen vieren versuchte der Mann sich in Sicherheit zu bringen, dabei mußte er wissen, daß es kein Entrinnen gab. Er mochte noch so schreckliche Taten
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begangen haben, sein Tod war grausam und menschenunwürdig. Aber wahrscheinlich dachte sich keiner der Inder etwas dabei, als er die gerechte Strafe empfing. Der Elefant trat zu, zerquetschte die Beine des Dacoits, dessen nicht enden wollender Schrei sogar den Arwenacks eisige Schauer über den Rücken jagte. Der Mann schrie, als stecke er am Spieß und verfiel in ein hilfloses, ersticktes Gurgeln, als der Dickhäuter, unendlich vorsichtig, wie es schien, abermals den Fuß senkte. Im nächsten Moment trat Stille ein. Stenmark, der den Tod des Dacoits aus allernächster Nähe mit angesehen hatte, war merklich bleich geworden. Er würgte. Der Tod war nichts Neues für ihn, auf See mußte er ihm oft ins Auge blicken, doch so grausam konnte kein Seegefecht sein. Unwillkürlich drängte sich dem Schweden das Bild eines von einer Kanonenkugel niedergestreckten, mit zerschmetterten Beinen an Deck liegenden Seemanns auf, der aus vielen Wunden blutete, die ihm scharfkantige Plankensplitter gerissen hatten, und der nur noch auf sein Ende wartete. Der Tod, egal wie er zuschlug, war immer grausam. Aber es war wohl eine Eigenart der Menschen, daß sie bestrebt waren, sich immer gründlicher gegenseitig umzubringen. Der Kampf war vorüber. In breiter Front sammelten sich die Elefanten, und vom Fluß schimmerten Segel zwischen den Bäumen hindurch. Die Soldaten und die Bootsbesatzung tauschten Zurufe aus. Die Zwillinge und Dan O'Flynn begannen plötzlich zu grinsen. Sie verstanden zwar nicht alles, was gesagt wurde, aber doch genügend, daß sie sich ein Bild machen konnten. „Wißt ihr, wer eingegriffen hat?“ fragte Jung Hasard. „Ihr werdet es nicht glauben.“ „Spann uns nicht auf die Folter“, sagte der Profos unwirsch.
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„Heraus mit der Sprache!“ forderte Roger Brighton. „Der Sultan von Golkonda“, sagte Dan O'Flynn. Danach herrschte zunächst verblüfftes Schweigen. Aber dann begannen die Arwenacks zu lachen und sich gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Vorübergehend achteten sie weder auf die Elefanten noch auf die Soldaten, die den Wald nach geflohenen oder verwundeten Gegnern absuchten. * Als Philip Hasard Killigrew wenig später dem Sultan von Golkonda gegenüberstand, war er überzeugt, daß die Arwenacks diesmal wirklich mehr Glück als Verstand gehabt hatten. Dabei kannte er noch nicht die Zusammenhänge. Drawida Shastri war ein vornehmer, etwa dreißig Jahre alter Mann, schlank und ebenso groß wie der Seewolf selbst. Seine Kleidung entsprach dem Prunk, den alle indischen Herrscher zur Schau stellten. Auch das Schiff, eigentlich eher ein unangemessen kleines Küstenboot, war prachtvoll geschmückt worden. Feinste Stoffe kleideten den einzigen Niedergang und die achtern liegende enge Kammer aus, in der der Sultan seine Gäste empfing. Möbel gab es nicht – Hasard, Carberry und Philip junior mußten sich mit untergeschlagenen Beinen auf dicke Brokatkissen setzen. Ein unangenehm süßer, beißender Geruch von Räucherstäbchen erfüllte die Luft. Im Flüsterton bemerkte der Profos, daß es in einer Absteige Londoner Hafendirnen kaum strenger rieche. Philip warf ihm zwar einen vielsagenden Blick zu, verbiß sich aber die Frage nach der Herkunft dieser Weisheit des Profosen. Zweifellos wäre es unhöflich gewesen, den Sultan in seiner Begrüßung zu unterbrechen. „Ich freue mich, daß ich Ihnen beistehen konnte“, sagte Drawida Shastri, „wurde auf diese Weise doch der Verlust des Goldes vermieden. Bis nach Madras kann nun nichts mehr geschehen.“
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Er klatschte in die Hände, woraufhin ein Diener fünf Schalen mit einem streng riechenden, zähflüssigen Getränk servierte. Für Shastris Trunkspruch zu Ehren der mutigen Engländer bedankte sich der Seewolf, indem er ausführte, Königin Elisabeth sei stolz, mit einem so fortschrittlichen Land wie Indien künftig Handel zu treiben, der sicherlich zum beiderseitigen Nutzen sei. Während der Sultan den Becher auf einen Zug leerte und eine äußerst zufriedene Miene aufsetzte, tranken die drei Arwenacks mit der Europäern eigenen Zurückhaltung vor unbekannten Erzeugnissen fremder Völker. Das Zeug schmeckte kaum weniger penetrant, als es roch. Hasard hatte sich immerhin so weit unter Kontrolle, daß er zufrieden nickte und die Schale weiterhin in der Hand behielt. Philip verschluckte sich und mußte husten, und Carberry verbiß sich mühsam eine wüste Verwünschung. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, verglich er das Getränk vermutlich mit Stalljauche. Mit der nötigen Erhabenheit überging der Sultan den Eklat. Er lächelte sogar, klatschte erneut in die Hände und ließ abservieren. „Ich hoffe, Sie konnten die Maharani unverletzt befreien“, sagte Hasard. Shastri blickte ihn verwirrt an. „Ich wußte nicht, daß Sie mit dem Gold des Maharadschas von Bombay auch die Maharani an Bord Ihres Schiffes genommen haben.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Sie mißverstehen mich, Sultan. Die Maharani befand sich auf dem Landweg nach Madras, als sie von den Dacoits überfallen wurde. Einem ihrer Soldaten, einem Mann namens Sandesh Bawapuri, gelang die Flucht.“ „Ich kenne Bawapuri“, sagte Shastri, „er hat stets zu meinen Wachen gehört.“ „Donnerwetter“, entfuhr es dem Profos. „So ein ausgewachsenes Rübenschwein.“ „Haben Sie die angebliche Maharani gesehen?“
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„Nur als sie zusammen mit ihrer Schwester an einem Baum gefesselt war. Sie ist klein, hellhäutig und trägt ähnlich kostbare Kleidung wie Sie, Hoheit. Eigentlich hatten wir keine Veranlassung, Bawapuris Worte anzuzweifeln.“ „Die Frau war Phoolan Devi, die schlimmste Dacoit im Umkreis vieler Tagesreisen, die andere gehörte zu ihrer Bande.“ Carberry schlug sich die flache Hand vor die Stirn, daß es wie ein Drehbassenschuß krachte. „Wir Idioten haben uns einen Riesenbären aufbinden lassen“, sagte er stöhnend. „Wenn das jemals der Bund der Korsaren erfährt, haben wir einiges an Spott zu ertragen. Es fehlte wohl nicht viel, und wir hätten Schiff und Ladung einer Lady wegen preisgegeben, die gar keine ist. Da soll mich doch gleich dieser und jener ...“ „Sie wissen es noch nicht“, erklärte der Sultan, „aber auf Ihrer Schebecke befanden sich lediglich noch sechs Mann. Die anderen waren aufgebrochen, Sie zu befreien.“ Hasard schloß für einen Moment die Augen und atmete tief durch. „Bitte erzählen Sie weiter. Mir fehlen ein paar Zusammenhänge.“ Drawida Shastri tat ihm den Gefallen. Er berichtete sogar äußerst ausführlich. Demnach war der Sultan, über die verschiedenen Stationen auf dem Weg der Arwenacks recht gut informiert, mit seinem Gefolge schon frühzeitig in Madras eingetroffen. Einem seiner Diener war. aufgefallen, daß Soldaten einen Fremden in der unmittelbaren Nähe des Lagers erst festgenommen, ihn dann aber auf Anordnung Dilip Ranginis wieder hatten laufenlassen. Rangini, der Vertraute des Sultans, war ihm gefolgt, und wenig später hatten nicht nur mehrere Wachen, sondern auch zwei Mahauts mit ihren Elefanten das Lager verlassen. Der Diener, dem das seltsam erschien, war ihnen nachgeschlichen und hatte einiges aufgeschnappt, was bestimmt nicht für fremde Ohren bestimmt gewesen war. Als
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er wenig später dem Sultan Meldung erstattete, handelte er sofort. „... ich wußte nicht nur, daß Dilip Rangini überaus ehrgeizig war, sondern auch, daß er vor ungefähr eineinhalb Jahren bei einer Verfolgung von Phoolan Devi und ihrer Bande mehrere Männer verloren hatte. Die Folgerung, daß er sich mit dem Weib verbünden wollte, um sich in den Besitz Ihres Schiffes und des für Akbar bestimmten Goldes zu bringen, lag auf der Hand. Den Spuren der beiden Elefanten zu folgen, fiel nicht schwer. Ich setzte einen Teil meines Gefolges in Marsch und ließ zwei Küstenschiffe in Madras ansässiger Händler umrüsten. Das zweite Schiff ankert noch vor der Flußmündung.“ „Dieser Dilip Rangini – Sie sagten, er war ehrgeizig. Wurde er getötet?“ „Meine Männer haben ihn gefangen genommen. Bawapuri ist tot, ebenso die anderen abtrünnigen Soldaten und wohl die Mehrzahl der Dacoits. Phoolan Devi, ein Unterführer namens Dasyu Gujjar, die andere Frau und außerdem noch zwei oder drei weitere Dacoits konnten leider flüchten. Sie im Dschungel aufzuspüren, dürfte unmöglich sein.“ Der Sultan erhob sich und gab damit zu verstehen, daß die Unterhaltung beendet war. „Sie werden zu Ihrem Schiff zurückkehren wollen, Kapitän Killigrew. Wenn Sie einverstanden sind, segeln wir in zwei Stunden gemeinsam nach Madras. Bei gutem Wind werden wir den Hafen noch vor der Nacht erreichen.“ * Im nachhinein wirkte es wie ein Wunder, daß keiner der Arwenacks ernstlich verletzt worden war. Die Dacoits hatten sie offenbar wenigstens vorerst noch nicht töten wollen. „Wahrscheinlich hätten sie uns gefesselt wieder an Bord geschafft“, meinte Don Juan, „um für den Notfall eine gute Mannschaft zu haben, die das Schiff wirklich segeln kann.“ „Über was spekulieren wir eigentlich noch?“ fragte Carberry brummig. „Die Sache ist ausgestanden, und wir haben uns
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nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Also Schwamm drüber.“ Wie ein wiederkäuendes Kamel schob er sein mächtiges Rammkinn von einer Seite auf die andere, dann spie er in hohem Bogen über Bord. „Laßt euch bloß nicht vom Sultan einladen“, warnte er die Umstehenden. „Das Teufelszeug, das er uns vorgesetzt hat, schmeckt selbst nach einer kleinen Ewigkeit noch wie Jauche. Ich brauche mindestens eine Buddel Rum, um den Geschmack wieder loszuwerden. He, Dan, was gibt es da so unverschämt zu grinsen?“ „Nichts, Ed“, erwiderte Dan O'Flynn, „überhaupt gar nichts.“ Aber da geriet er bei Carberry an den Falschen. „Erzähl keinen Stuß“, grollte der Profos. „Dein Grinsen war so hinterhältig, als wüßtest du genau, daß wir Elefantenpis ...“ Er brachte das Wort nicht mehr über die Lippen, seine gesunde Gesichtsfarbe wich einem fahlen Grau, und er spuckte wieder aus. „Wenn du nicht willst, Junge, daß ich dich eigenhändig kielhole, sag mir, daß das der Saft irgendeiner Frucht war. Du kennst dich doch bestens aus.“ „Soll ich dich anlügen, Ed? Willst du das wirklich, zumal schon alles vorbei ist?“ Edwin Carberrys Augen quollen weit aus den Höhlen. Krampfhaft preßte er die Hände auf den Leib, denn plötzlich zwickte und zwackte es überall. „Was haben wir getrunken?“ fragte nun auch der Seewolf. Und Philip junior stand da wie ein steinernes Standbild seiner selbst. Seltsamerweise lachte keiner, obwohl es in einigen Gesichtern verhalten zuckte. Die Männer zeigten sich äußerst mitfühlend. Dan O'Flynn suchte sicherlich nach einem Anfang. „Ich habe von einem Getränk gehört, das vor allem in südindischen Dörfern beliebt ist. Einige Hindus trinken es allmorgendlich.“ „Einige?“ wiederholte Philip. „Warum nicht alle?“ Dan O'Flynn begann eine unruhige Wanderung rund um den Großmast und die Kuhlgräting. In schulmeisterlichem Tonfall fuhr er fort: „Wenn ich richtig informiert
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bin, wird es aus fünf Bestandteilen zusammengemischt. Einer davon ist Ghee – geklärte Butter würden wir dazu sagen. Vor allem bei Festlichkeiten wird sie Göttern und Gästen vorgesetzt.“ „Ranzige Butter?“ fragte Mac Pellew interessiert. „Keineswegs“, erwiderte Dan. „Gerade wegen ihrer Reinheit und der Haltbarkeit selbst bei sengender Hitze gilt sie als rituell reinigend. Milch und Joghurt, im Grunde nichts anderes, sind weitere Bestandteile, die von den heiligen Kühen stammen.” „Das ist doch nicht alles?“ schnaubte Carberry. „Ich kenne den Geschmack von Milch, der ist bei weitern nicht so streng.“ „Du vergißt den Dung, der untergemischt wurde“, sagte Dan und blieb vorsichtshalber auf der anderen Lukenseite stehen. „Dung ist für die Inder unentbehrlich – zum Verdichten und Verputzen der Hauswände, als Brennmaterial und für die Fruchtbarkeit der Felder. Außerdem heißt es, daß man Krankheiten mit frischem Kuhdung lindern, unter Umständen sogar heilen kann. Falls du daran zweifelst, der Kutscher wird mir zustimmen. Und Kuhurin wirkt gewissermaßen reinigend. Die Bauern wissen, daß er Boden und Pflanzen vor Schädlingen und anderen Unbilden schützt.“ „Soll – soll das heißen ...?“ Carberry würgte mehr als zuvor. Er war jetzt so grün im Gesicht wie einer von Old Donegals sagenhaften Meermännern. Augenblicke später hing er über dem Schanzkleid und opferte den Meeresgöttern mit einer verblüffenden Ausdauer. Er merkte nicht mal, daß Mac Pellew mit mitleidiger Miene eine Buddel Rum spendierte. Da der Profos absolut nichts trinken wollte und, wie es aussah, diese Meinung auch für den Rest des Tages nicht mehr ändern würde, erbarmte sich Old Donegal völlig uneigennützig. „Der Rum wird warm“, behauptete er, nachdem Mac die Flasche auf einer Lafette abgestellt hatte, „und brühwarmer Rum schmeckt wie ...“ Das Wort verschluckte er
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lieber, schließlich wollte er den Profos nicht an unangenehme Dinge erinnern. Letztlich konnte er nicht verhindern, daß ihm Shane die Buddel aus der Hand nahm und sie nach einem kräftigen Schluck kreisen ließ. Jeder trank auf Edwin Carberrys spezielles Wohl, anschließend war der Flaschenboden noch genau eine Fingerbreite bedeckt. Diesen Rest ließen die Arwenacks ihrem Profos übrig, weil sie schließlich keine Unmenschen waren und mitfühlten, wie sehr sein Magen rebellierte. 7. Pünktlich zur vorgegebenen Zeit segelte Drawida Shastris Boot aus der Flußmündung und hielt auf die Schebecke zu. Ein Diener des Sultans fragte unterwürfig an, ob sein Herr auf der Schebecke den Engländer willkommen sei, und Shastri blickte erwartungsvoll zu dem Dreimaster hoch. „Der Wunsch Seiner Hoheit ehrt uns“, erwiderte Ben Brighton. Er ließ die Männer auf der Kuhl antreten wie zur Musterung auf einem Kriegsschiff. Sogar Carberry war dabei, seine grüne Gesichtsfarbe normalisierte sich allmählich wieder. „Shastri soll nur kommen“, stieß er zerknirscht zwischen den Zähnen hervor. „Den fülle ich mit Rum ab, bis er voll ist wie ein Faß.“ Die Männer, die die Drohung hörten, grinsten vergnügt. Carberry, der mordshäßliche Riese mit dem Narbengesicht, hatte trotz seiner poltrigen Art ein gutes Herz. Am Sultan würde er sich bestimmt nicht vergreifen, selbst wenn er ein dutzendmal schwor, ihm Pfeffer in den Hintern zu blasen. „Bauch rein – Brust raus – Kinn hoch!“ Ben Brighton hatte an jedem herumzumäkeln. „Ihr steht da wie eine Horde Paviane auf Landurlaub, aber nicht wie stolze englische Korsaren. Ein bißchen Haltung darf ich wohl erwarten.“ „Ein bißchen Haltung haben wir“, behauptete Ferris Tucker. „Das genügt vollauf.“
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„Noch eine derartige Bemerkung, und du wirst zum Geschützexerzieren verdonnert.“ „Aye, aye, Sir.“ Der Schiffszimmermann seufzte ergeben. „Ich fürchte nur, Al klopft mir gehörig auf die Finger, wenn ich ihm bei seinen Culverinen in die Quere gerate.“ Danach brauchte Ben Brighton nichts mehr zu sagen, geschweige denn, den Ersten Offizier herauszukehren. Die Männer wußten, wo der Spaß aufhörte, und als der Sultan von Golkonda aufenterte, standen sie zwar nicht mustergültig in Reih und Glied, aber doch immerhin respekteinflößend. Und mehr mußte gar nicht sein. Die Begrüßung an Bord war herzlich. Der Seewolf führte den Besucher durch das Schiff und zuletzt in die Laderäume. Shastri zeigte sich wohlwollend und überaus zufrieden und überraschte mit der Bitte, den nur wenige Stunden währenden Törn nach Madras an Bord der Schebecke zu verbringen. „Wir können keine prunkvollen Kammern bieten“, sagte Hasard. Der Sultan winkte ab. „Ich bin nicht anspruchsvoll. Doch auf meinem Boot wird Dilip Rangini in Fesseln nach Madras geschafft, und die Nähe meines ehemaligen Vertrauten erfüllt mich mit Besorgnis. Wissen Sie, Kapitän Killigrew, wie es ist, von einem Mann hintergangen zu werden, den Sie beinahe einen Freund genannt hätten?“ „Ich kann es mir denken“, erwiderte der Seewolf. „Kein sehr schönes Gefühl“, bestätigte Shastri. „Selbstverständlich steht Ihnen meine Kammer zur Verfügung“, sagte Hasard. „Wir Engländer wünschen gute Beziehungen zu Ihrem Land.“ „... zu denen ich Ihnen verhelfen kann.“ Lächelnd deutete der Sultan eine Verbeugung an. „Es liegt mir jedoch fern, Sie aus Ihren Räumen zu vertreiben, Kapitän.“ „Ich werde mich an Deck aufhalten, Hoheit.“ „Genau das gleiche wollte ich soeben von mir sagen.“
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Sie traten wieder hinaus auf die Kuhl, wo die Männer schon warteten. „Den Anker lichten!“ befahl Hasard. „Setzt die Segel zur letzten Etappe!“ „Sir ...“, wandte Ben Brighton ein. Hasard wußte, was sein Erster Offizier sagen wollte. „Der Sultan bleibt an Bord. Sonst noch Fragen?“ „Keine, Sir, danke.“ Brighton nahm Haltung an, ehe er sich wieder umwandte. Gleich darauf brüllte er eine Reihe von Kommandos. Die Arwenacks begannen, den Anker aufzuhieven. Kaum hatten sie ihn aus dem Grund gebrochen, wurden die Segel gesetzt. Das Tuch entfaltete sich knatternd, aber noch vor der Schebecke nahmen die beiden indischen Küstenboote Fahrt auf. Dicht unter Land segelten sie nach Norden. Die Küste veränderte sich wenig. Ausgedehnte Sandstrände beherrschten das Bild, dahinter erhoben sich Palmen und gelegentlich auch imposante Affenschwanzbäume mit Ausdehnungen von bis zu siebzig mal siebzig Yards. Das Meer blieb ruhig, eine langgezogene Dünung herrschte vor. Nur der Wind wehte nicht konstant, sondern drehte um östliche Richtungen. Der Seewolf nutzte die Ruhe und händigte dem Sultan die Empfehlungsschreiben des Maharadschas und der königlichen Lissy aus. Den indischen Text studierte Shastri aufmerksam, mit dem in englisch gehaltenen Pergament konnte er jedoch herzlich wenig anfangen. Nur das Siegel und die Signatur interessierten ihn. „Im Grunde steht nichts anderes darin, als es der Maharadscha ebenfalls erwähnt hat“, erklärte Hasard. „Handelsbeziehungen als Gegenleistung für Ihre Dienste.“ Der Sultan nickte. „Das ist nicht zuviel verlangt. Erwägt Ihre Königin, eine Niederlassung zu errichten?“ „Natürlich nur mit Billigung der jeweiligen Landesherren.“ „Die Portugiesen werden nicht sonderlich erbaut sein. Ich habe mir sagen lassen, daß Ihre Schebecke von portugiesischen Kapitänen angegriffen wurde.“
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„Bedauerlicherweise waren wir gezwungen, die betreffenden Schiffe zu versenken. Wie sonst hätten wir Gold und Silber unbeschadet nach Madras bringen sollen?“ „Natürlich, Kapitän Killigrew.“ Der Sultan von Golkonda lächelte vielsagend. „Ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen – mehr als Sie im Moment vielleicht ermessen können.“ Er reichte die Urkunden an Hasard zurück. „Bewahren Sie die Dokumente auf, sie können Ihnen vielleicht auch anderswo von Nutzen sein.“ Den Rest des Tages verbrachten sie auf dem Achterdeck. Im schwindenden Tageslicht funkelten endlich die Türme und Dächer von Madras an der Kimm. Eine südlich gerichtete Strömung wurde spürbar, die die Schiffe leicht zur Küste hin versetzte. Die See brach sich schon ungefähr zweihundert Yards vor dem Strand, vor einzelnen Flußmündungen stand sogar schwere Brandung. Die Dämmerung brach schnell herein, aber noch bevor sich die Nacht herabsenkte, lief die Schebecke auf Anweisung des Sultans einen geschützten Liegeplatz an. Drawida Shastri ging als einziger von Bord. Er versprach, daß die Arwenacks eine ruhige Nacht haben würden. Tatsächlich bezogen wenig später Soldaten vor der Schebecke Posten. Hasard befahl dennoch je eine Deckswache auf Back, Kuhl und Achterdeck. Die Ablösung erfolgte im gewohnten VierStunden-Turnus. 8. Während der ersten Nachthälfte zogen von Nordwesten her Regenwolken auf, und kurz nach Mitternacht entlud sich ein heftiges Gewitter über Madras, das erst zum Morgen hin abflaute. Die Dämmerung ließ auf sich warten. Als endlich doch die ersten Sonnenstrahlen die dichten Wolkendecke durchbrachen, wurde es neblig. Wie ein gieriger Moloch kroch der Dunst vom Meer heran und verschluckte die Tempel der Stadt ebenso wie die Hafengebäude und die paar kleinen
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Schiffe, die außer der Schebecke vor Anker lagen. Der 20. Oktober 1599 begann denkbar ungemütlich. „Nieselregen und Nebel“, vermerkte Hasard im Logbuch. „Der offene Hafen kann der stärker werdenden Brandung kaum Widerstand entgegensetzen, und die Schebecke liegt prall am Steg.“ Unheimlich verzerrt drang das Trompeten der Elefanten vorn nahen Lager herüber. Jedes noch so leise Geräusch wurde um ein Vielfaches verstärkt. Der Sultan von Golkonda erschien an der Spitze einer prunkvollen Elefantenkarawane. Er saß in einer aus schwarzem Holz geschnitzten Sänfte, auf einem Tier, dessen Stoßzähne mit Blattgold belegt waren. Eine schwere Decke, deren armdicke Quasten fast den Boden berührten, hüllte den Elefanten ein. Drawida Shastri ließ sich vom Rüssel umfangen und auf die Bohlen stellen. „Namaßte, Kapitän Killigrew. Ich hoffe, wir können mit dem Ausladen beginnen.“ Philip Hasard Killigrew antwortete ebenfalls mit der im Hindi-Indisch gebräuchlichen Grußformel. „Wir sind bereit, Hoheit.“ Die Luken standen offen. Mit Hilfe an den Rahruten angeschlagener Taljen wurden Gold und Silber, teilweise in Kisten verpackt, an Deck gehievt und von da auf den Steg und die unmittelbar anschließende Mole. Die Soldaten des Sultans sperrten das Hafengelände großräumig ab, um Zwischenfälle von vornherein zu vermeiden. Alles war auf ein zügiges Entladen des Schiffes ausgerichtet. Rings um die Schebecke herrschte ein lärmendes Treiben. Kiste um Kiste wanderte auf die Rücken der Elefanten. Auf dem holprigen, in schlechtem Zustand befindlichen Straßen ins Landesinnere waren die Dickhäuter immer noch das beste Transportmittel. Stunden vergingen. Die Arwenacks gerieten gehörig ins Schwitzen, aber auch die Inder auf der Mole und am Steg schufteten bis zum Umfallen. Inzwischen
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formierten sich die beladenen Tiere zu einer farbenprächtigen Karawane. Als sich die Laderäume der Schebecke schon sichtlich leerten, schritt der Sultan mit mehreren Dienern im Gefolge über die Stelling. Er winkte großzügig ab, als ihm Dan O'Flynn entgegeneilte. „Arbeiten Sie weiter! Ich finde den Weg zum Kapitän auch allein.“ Zielstrebig enterte er über den Backbordniedergang zum Achterdeck auf. Daß Dan irritiert mit den Schultern zuckte und einige ungehaltene Bemerkungen von sich gab, entging ihm. „Als würden wir nicht schon wie Kulis schuften“, schimpfte Sam Roskill. „Aber wie ich's euch vorausgesagt habe: Seine Hoheit ist längst nicht so leutselig, wie wir alle geglaubt haben. Das ist in Indien nicht anders als bei unseren englischen Adligen.“ „Er hat es eilig, das Gold und Silber aus Madras fortzuschaffen“, sagte Carberry. „Findet ihr nicht?“ „Wenn wir erst morgen eingelaufen wären, müßte er auch zufrieden sein.“ „Keine Müdigkeit vorschützen, Leute“, meckerte Old O'Flynn. „Je eher wir das Zeug von Bord haben, desto eher kriegen wir unsere Ruhe wieder. Außerdem hoffe ich doch, daß uns der Sultan nicht ohne ein kleines Freudenfest verläßt – so ein Fest, bei dem es alles gibt, was das Herz begehrt.“ Sam Roskill stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Mir soll's recht sein, Leute.“ „Freu dich nicht zu früh, Sam“, sagte Carberry warnend. „Der Admiral spricht nur von Essen und Trinken, von nichts anderem.“ „Da kann ich nur sagen: Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.“ Mit der Bemerkung hatte Big Old Shane die Lacher eindeutig auf seiner Seite. Inzwischen war der Sultan mit seinem Gefolge vor dem Besanmast vom Seewolf empfangen worden. Jung Hasard trat als Übersetzer zu ihnen. In der Mittagsonne löste sich der Nebel auf. Nur noch vereinzelt hingen leichte Dunstschwaden über dem Fluß. Drawida Shastri deutete mit einer umfassenden Armbewegung über das Hafengelände.
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„Die Arbeiten gehen zügiger voran, als ich es erwartet hatte. In etwa einer Stunde kann die Karawane Madras verlassen.“ „Ich fragte mich schon, ob Sie heute noch aufbrechen wollen, Hoheit“, erwiderte Hasard. Der Sultan lächelte nachsichtig. „Sie haben selbst erlebt, Kapitän Killigrew, was geschehen kann. Je länger sich alles verzögert, desto sicherer muß ich mit weiteren Überfällen rechnen, Der vor uns liegende Weg ist nicht ungefährlich.“ „Trotzdem nehme ich an, daß die Karawane auf alle Möglichkeiten vorbereitet ist.“ In Drawida Shastris Augen lag ein belustigtes Aufblitzen. „Daß meine Soldaten zu kämpfen verstehen, haben Sie erlebt. Aber ich muß auch eingestehen, daß mir die Flucht der Dacoit Unbehagen bereitet. Phoolan Devi, heißt es, steht mit Dämonen im Bunde.“ „Das ist natürlich ein Argument, dem ich mich nicht verschließen kann“, sagte der. Seewolf. Unbeeindruckt fuhr der Sultan fort: „Ich begleite die Karawane ein Stück auf ihrem Weg, bis Akbars Männer zu uns stoßen. In spätestens zwei Tagen kehre ich jedoch mit meinem Gefolge zurück, dann wird zu Ihren Ehren und als Besiegelung unserer künftigen Freundschaft ein großes Fest stattfanden.“ „Einige meiner Leute könnten die Karawane begleiten. Sozusagen als weitere Wachen.“ „Der Landweg durch den Dschungel ist beschwerlich. Genießen Sie lieber die Ruhe, die Madras bietet, oder nutzen Sie die Zeit, Ihr Schiff zu überholen. Mehr von Ihnen und Ihren Männern zu verlangen, hieße alle Regeln der Gastfreundschaft zu verletzen. Aber ich habe Sie nicht aufgesucht, um mit Ihnen über das Gold oder über Akbar zu reden, ich wollte Ihnen die Ehre gewähren, an meiner Seite einer Hinrichtung beizuwohnen.“ Fragend legte der Seewolf die Stirn in Falten – eine Geste, auf die der Sultan sofort reagierte.
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„Dilip Rangini wurde von mir zum Tode verurteilt. Er hat sein Strafmaß selbst gewählt, als er den Kopf verlor und sich Phoolan Devi anschloß.“ „Heißt das, er soll geköpft werden?“ „Eine gerechte Strafe für einen Verräter wie ihn.“ „Ihm bliebe mehr Zeit, über Recht und Unrecht nachzudenken, ließen Sie ihn in ein Verlies werfen, Hoheit.“ „Solch ungewöhnliche Milde kann und darf ich nicht walten lassen, Kapitän Killigrew. Bedenken Sie, daß schon für Untreue das Abschneiden der Nase, Ohren und Lippen sowie die Vertreibung aus der Dorfgemeinschaft als angemessen gelten, und zwar für beide Beteiligte. Die Betroffenen werden dadurch zu Unberührbaren, die jeder mehr meidet als räudige Hunde. Und sagen Sie selbst, hat nicht Rangini mir gegenüber Untreue in noch viel stärkerem Maß bewiesen?“ „Ist es nicht das Privileg aller Herrscher, ihre Güte durch Milde zu beweisen?“ antwortete der Seewolf mit einer Gegenfrage. „Meine Entscheidung steht fest“, sagte der Sultan grob. „Kränken Sie mich nicht durch Ihre Weigerung, der Vollstreckung des Urteils fernzubleiben. Rangini hätte nicht gezögert, Sie und Ihre Männer zu töten.“ Hasard spürte Drawida Shastris Unmut, ihm blieb kleine andere Wahl, als ihn zu begleiten. Hundert Yards hinter der Pier, zwischen den ersten Häusern, erstreckte sich ein nahezu kreisrunder, mit Bruchsteinen gepflasterter Platz. Im Mittelpunkt erhob sich das gemauerte Rund eines Ziehbrunnens. Eine beachtliche Menschenmenge hatte sich versammelt. Die Leute wichen bereitwillig zur Seite, als der Sultan mit seinem Gefolge erschien. Dilip Rangini; mit auf den Rücken gebundenen Händen, kniete auf dem rauhen Pflaster. Sein Gesicht wirkte starr – eine seltsame Mischung aus Furcht, Entsetzen und Gleichgültigkeit. Das Schlimme an seiner Strafe war wohl
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weniger der Vorgang des Enthauptens an sich als vielmehr das Warten darauf, daß es endlich geschah. Hasard konnte nur vermuten, wie lange Rangini schon in der demütigen Haltung verharrte. Neben und hinter ihm hatten sich ein Dutzend Soldaten aufgebaut. Der Sultan klatschte befehlend in die Hände. Das eben noch von allen Seiten zu vernehmende Murmeln verstummte, als einer der Uniformierten ein breites Richtschwert hob. Zweimal führte er es, wie um den richtigen Schwerpunkt herauszufinden, schräg durch die Luft, und jedesmal war ein leises Singen zu vernehmen. Der Stahl der Klinge funkelte und gleißte im Sonnenlicht. Das war der Zeitpunkt, als Dilip Rangini unter der ungeheuren Anstrengung seelisch zusammenbrach. Mit schriller, sich überschlagender Stimme begann er zu jammern: „Gande, Herr. Wenn ich mein Leben verwirkt haben soll, dann auch du...“ Der Sultan nickte knapp, das Richtschwert sauste nieder, von muskulösen Armen geführt, und durchtrennte in Gedankenschnelle Sehnen, Muskeln und Knochen. Vorübergehend wurde es totenstill. Erst als Ranginis abgeschlagenes Haupt über das Pflaster rollte und der Rumpf zur Seite kippte, erklang von den Zuschauern ein zustimmendes Murmeln. Für einen Augenblick glaubte Hasard, ein bleiches Frauengesicht in der Menge zu sehen, doch als er genauer hinschaute, war es plötzlich verschwunden. „Ranginis Geist war verwirrt“, sagte der Sultan in dem Moment. „Hätte er mir sonst ebenfalls den Tod angedroht?“ Der Seewolf schwieg, was letztlich dazu führte, daß Drawida Shastris Abschied überraschend frostig ausfiel. „Zwei Tage, Kapitän“, sagte er. „Genießen Sie das Leben in Madras.“ Die Elefantenkarawane brach auf – beladen mit elf Tonnen Gold und Silber und beschützt von vierzig Soldaten, die ihrem Sultan treu ergeben waren. *
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„Zwei Tage in dem langweiligsten Kaff, das ich kenne“, maulte Old Donegal O'Flynn, nachdem sich endlich alle Unruhe gelegt hatte. „Das schreit geradezu nach einer sinnvollen Betätigung.“ Mit der Bemerkung rannte er offene Türen ein. Jeder wußte, daß er unter einer „sinnvollen Betätigung“ nur das Lenzen einiger Fläschchen Rum verstand. Also wurde die Proviantlast geplündert. An dem Abend brannten etliche Laternen auf den Decks der Schebecke bis tief in die Nacht hinein. Englische Seemannslieder – nicht schön, aber laut gesungen – brachten die Anwohner der Hafengegend um den Schlaf. Es ging hoch her an Bord. Die Arwenacks übten schon mal das Feiern, mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Weinend, weil sie so viel Gold und Silber freiwillig wieder rausgerückt hatten – und lachend, weil sie das Zeug endlich losgeworden waren. Wenn es dabei nicht um den Willen ihrer königlichen Lissy gegangen wäre, hätten sie den „wertvollen Kram“ vielleicht doch noch selbst eingesackt. „Wir haben eine tute Gat Betat“, sagte Edwin Carberry mit merklich schwerem Zungenschlag. Er meinte natürlich, daß sie eine gute Tat getan hatten. „Aber eigentlich ist das ungerecht. Der Mo ... Mogel .. . Mogulkaiser schwimmt im Reichtum ... und wir sind arm wie Mirchenkäuse, was, wie?“ „Wie Rilgenbatten“, pflichtete Shane bei. „Das Wasser steht uns bis zum Hals.“ „Der Rum auch“, sagte Hasard. „Schluß jetzt, Männer, verholt in die Kojen.“ „Wir haben noch viel Zeit“, jammerte Old Donegal. „Solange ich den Polarstern nicht gefunden habe, bleibe ich an Deck.“ Das war ein mieser Trick, den im Moment die wenigsten durchschauten. Dan O'Flynn, Old Donegals Sohn und Navigator der Arwenacks, schüttelte nur grinsend den Kopf. Er hütete sich, seinem Dad zu widersprechen. Immerhin behauptete der alte Zausel oft genug, daß er hinter die Kimm blicken könnte. Und
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ungefähr da mußte er den Polarstern suchen. Old O'Flynn versteifte sich beim Klang der Schiffsglocke. Vier Doppelschläge. Mitternacht. Ferris Tucker lachte dumpf und stierte Old Donegal an, als sehe er ihn plötzlich doppelt. Die Erkenntnis, daß er wahrscheinlich einen Schluck zuviel erwischt hatte, setzte sich nur zögernd durch. „Der neue Tag beginnt“, deklamierte er, „Geister und Unholde durchstreifen die Lüfte, die Meerjungfrauen steigen aus ihrem nassen Element empor und suchen ein Opfer für ihre gar schrecklichen Gelüste ...“ „Sie suchen alte kauzige Kerle mit einem Holzbein“, vollendete Luke Morgan, woraufhin Old Donegal lauthals protestierte, daß er nicht im mindesten alt sei und sich schon gar nicht so fühle. Seltsamerweise hatte er es danach eilig, unter Deck zu verholen. Vielleicht, so spotteten die anderen, waren ihm Meerjungfrauen doch nicht ganz geheuer. Schlag ein Uhr nachts waren die Decks – bis auf die Wachen – wie leergefegt. 9. Der neue Tag begann für manchen mit einem gehörigen Brummschädel.. Ben Brighton verordnete viel Bewegung als Medizin und befahl „Reinschiff“. Bis in den frühen Nachmittagsstunden hatte jeder genügend zu tun. Dann war sämtlicher Alkohol wieder ausgeschwitzt, und die Schebecke blitzte vom Vordersteven bis zum achteren Grätingsdeck. Was Madras an Sehenswürdigkeiten bereithielt, konnten die Arwenacks am frühen Abend erkunden. Lediglich Dan hatte sich inzwischen informiert und gab jedem, der es hören wollte, Informationen mit auf den Weg. Ziemlich im Zentrum der Siedlung lag der Parathasarathy-Tempel. Das Krishna geweihte Bauwerk war im 8. Jahrhundert von den Pavallas erbaut und erst in letzter
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Zeit von den Vijayanagar-Königen instand gesetzt worden. Weiter südlich und wesentlich näher am Strand erhob sich die Sankt-ThomasKirche, in der die sterblichen Überreste des Apostels Thomas beigesetzt waren. Sie war noch nicht mal hundert Jahre alt. Westlich davon lag der KapaleswaraTempel mit einem ausgedehnten Lotusblumenteich. Der Seewolf, seine Söhne, Don Juan de Alcazar, Carberry und Bob Grey statteten zuerst der Kirche einen Besuch ab. Sie war von Portugiesen erbaut worden, die in diesem Ortsteil auch eine kleine Siedlung errichtet hatten. Hasard glaubte nicht, daß es mit den derzeit in Madras lebenden Portugiesen Ärger geben würde, zumal die Schebecke das einzige große Schiff war, das vor Anker lag. Das bunte Treiben eines indischen Marktes öffnete sich wenig später vor ihm und seinen Begleitern. Für europäische Ohren zu schrille und zu laute Musik, unbeschreibliche Gerüche, die alle Nuancen von Gewürzen bis hin zu brennendem, getrocknetem Kuhdung umfaßten, sowie das Geschrei der vielen Händler, die sich gegenseitig an Lautstärke zu übertreffen suchten, all das vermischte sich zu einem Bild aus Tausendundeiner Nacht. Bettelnde Kinder folgten den Arwenacks auf Schritt und Tritt. Sie schreckten auch nicht zurück, als Carberry sein grimmigstes Gesicht aufsetzte. „Von jedem Tempelfries starren Dämonenfratzen herab“, sagte Don Juan. „Unter den Umständen hast du keine Chance, Ed.“ Hasards Aufmerksamkeit galt einem Schlangenbeschwörer. Der barhäuptige, weißbärtige Mann hatte eine Königskobra erstarren lassen und strich ihr mit der Hand über den Kopf, ohne daß sie zubiß. Mehrere verschlossene Körbe standen vor ihm. Als er Hasards Interesse bemerkte, deutete er auffordernd auf die Körbe. „Er will, daß du sie öffnest“, übersetzte Philip junior. „Soviel ich verstehe, sind
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mindestens zehn junge Kobras darin“ „Warum nicht“, sagte der Seewolf und bückte sich, um einen der Deckel aufzuheben. Im selben Moment krachte der Schuß, der in dem Lärm vielleicht sogar unbemerkt geblieben wäre, hätte nicht Hasard einen siedendheißen Schmerz an der linken Schulter gespürt, und wäre nicht der Schlangenbeschwörer gleichzeitig lautlos zur Seite gesunken. Mitten auf seiner Stirn war ein gräßliches, blutunterlaufenes Loch erschienen. Hasard reagierte sofort. „Auseinander!“ brüllte er und riß den Radschloßdrehling aus dem Gürtel. Ein zweiter Schuß fiel. Eine junge Frau, die sich eben an Carberry vorbeizwängen wollte, stürzte schreiend in einen Obststand. Das hölzerne Gestell brach zusammen, Kürbisse, Melonen und Bananen kullerten auf die Gasse. Gerade zwanzig Schritte entfernt, hinter den Körben eines Fischverkäufers, blitzte ein Musketenlauf in der Sonne. Hasard jagte los, stieß Inder, die noch immer nicht verstanden hatten, was geschah, zur Seite und feuerte zwei Schüsse aus seinem Drehling ab. Beide Kugeln trafen nicht, doch der Musketenlauf verschwand. Hysterische Schreie und Flüche lösten das Markttreiben ab. Zu allem Überfluß hatte jemand die Körbe mit den Kobras umgestoßen, denn die giftigen Tierchen wimmelten plötzlich auf dem Pflaster herum. Die Arwenacks konnten darauf keine Rücksicht nehmen. Carberry teilte sogar kräftige Hiebe aus, um sich einen Weg durch die entsetzte Menge zu bahnen. Weitere Schüsse fielen, sorgten aber nur für ein noch größeres Chaos, weil erneut Unbeteiligte getroffen wurden. Hasard glaubte endlich zu erkennen, daß sie es mit vier oder fünf Attentätern zu tun hatten, die sich entlang der linken Marktseite verschanzt hatten. Laut „Ar-we-nack!“ brüllend, stürmte Carberry mitten durch tönerne Töpfe, Krüge und Vasen und hinterließ einen riesigen Scherbenhaufen. Der Angreifer
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schleuderte ihm die leergeschossene Muskete entgegen, die er nicht schnell genug wieder laden konnte, und griff zum Säbel. Carberry ließ sich gar nicht erst auf einen längeren Schlagabtausch ein, er fintierte, wechselte die Seite und stieß blitzschnell zu. Ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens erschien auf dem Gesicht seines Gegners, als der solide englische Stahl zwischen seine Rippen fuhr. Er war tot, noch ehe der Profos die Klinge zurückzog. Der Seewolf hatte es indessen mit zwei Angreifern zu tun. Er sah deren Pistolen und warf sich instinktiv zu Boden, rollte sich zur Seite ab und sprang einige Schritte weiter federnd wieder auf. Die Reaktion rettete ihm das Leben, denn wo er eben noch gestanden hatte, klatschten die Kugeln aufs Pflaster und sirrten als Querschläger davon. Der Radschloßdrehling spie den Tod. Einen seltsam hellen Schrei ausstoßend, taumelte einer der beiden Kerle. Der andere versuchte, ihm zu helfen, aber da war Hasard ebenfalls heran und packte zu. Der leichte Turban, den der Angreifer trug, löste sich und gab einen hellen Haaransatz frei, wohingegen die restliche Haut dunkel war. Im selben Moment erkannte der Seewolf, wen er vor sich hatte und daß die Farbe nur aufgetragen war. „Phoolan Devi!“ stieß er hervor. Die Dacoit schleuderte ihm eine Handvoll eines grauen Pulvers entgegen. Hasard versuchte zwar noch, sich abzuwenden, doch im nächsten Moment schossen ihm die Tränen in die Augen und brannte sein Gesicht, als würde ihm die Haut abgezogen. Vorübergehend war er wie blind. Er sah nur noch vage Schatten, aber er hörte Schreie und hastige Schritte. „Dad“, vernahm er endlich Jung Hasards Stimme, „die Hexe ist uns entwischt. Sie hat dir Pfeffer in die Augen gestreut.“ Allmählich beruhigten sich die Inder wieder. Jemand brachte eine Schüssel voll Wasser, mit der der Seewolf ausgiebig seine Augen spülte. Die Schmerzen waren schier unerträglich, und die Angst, zu, erblinden, wich nur langsam von ihm.
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Drei aus Phoolans Bande hatten den Versuch, Hasard und seine Begleiter zu töten, mit dem Leben bezahlt. Dasyu Gujjar, der Unterführer, war einer von ihnen, und der vermeintliche Kerl, den Hasard niedergestreckt hatte, die zweite Frau. Die Inder bespuckten die drei Toten und traten sie mit Füßen. Die Stimmen, die lautstark Phoolan Devis Kopf forderten, mehrten sich. Es war wie ein Rausch, der die Menge erfaßte. Kaum einer achtete noch auf die Arwenacks, die sich plötzlich sehr überflüssig fühlten. Hasards Augen schmerzten zwar noch, aber er brauchte schon niemanden mehr, der ihn führte. * In der folgenden Nacht wurden die Wachtposten auf der Schebecke verdoppelt. Der erwartete neuerliche Angriff der Dacoit blieb jedoch aus. Vielleicht hatte sie eingesehen, daß es ihr unmöglich war, Rache zu nehmen, und sich aus Madras zurückgezogen. Der neue Tag brachte eine kühle Brise von See her. Der Kutscher und Mac Pellew verließen das Schiff, um frische Lebensmittel einzukaufen und kehrten erst nach über zwei Stunden, voll gepackt wie Lastesel, zurück. Aber darauf achtete kaum jemand. Aufregung hatte sich an Deck ausgebreitet, denn soeben lief eine prunkvolle Galeere in den Hafen ein. Das Schiff war groß – ein Zweidecker mit entsprechend vielen Rudersklaven –, und es verfügte über eine beachtliche Anzahl Kanonen. Die Segel vor den beiden Masten hingen halb im Gei. Trotzdem war die Gefahr, die dieses Schiff darstellte, deutlich zu spüren. Der mächtige Rammsporn zielte auf die Schebecke. Vielleicht war es Zufall, aber möglicherweise doch Absicht: die Galeere hinderte die Arwenacks am Auslaufen, sie blockierte die Ausfahrt.
Jan J.Moreno
Seewölfe 701 46
„Da braut sich ein höllisches Donnerwetter zusammen.“ Mac Pellew sagte das treffend
und präzise...
ENDE
Die Goldkarawane