Die GespensterGruft
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 140 von Jason Dark, erschienen am 24.11.1992, Titelbild: Olivie...
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Die GespensterGruft
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 140 von Jason Dark, erschienen am 24.11.1992, Titelbild: Oliviero Berni
Als die fünf Grufties es mit der Angst zu tun bekamen, wandten sie sich an Suko und mich. Sie berichteten von einer geheimnisvollen Gespenster-Gruft mitten in London, die als Stützpunkt des Teufels galt und von sogenannten Satanisten bewacht wurde. Wir glaubten den Grufties. Ein Fotograf brachte uns auf eine heiße Spur. Was die Grufties und wir dort erlebten, war so schrecklich, daß ich es nie mehr in meinem Leben vergessen werde...
Tagsüber war es nicht nur heiß, sondern auch schwül gewesen. Gegen Abend hatten sich dunkle Gewitterwolken drohend zusammengezogen. Es hatte stark geregnet, das Wasser war auf den feuchten Boden geklatscht, hatte einige Flächen sogar überschwemmt. Nun stieg die Feuchtigkeit in dicken Nebelschwaden hoch, die wiederum lautlos über das Land wallten, die Hügel, die Täler, die kleinen Dörfer und auch den alten Friedhof umschlossen. Hier hatten sie eine besondere Dichte, so daß die Grabsteine und Kreuze bald nicht mehr zu sehen waren. Sie malten sich höchstens noch als Schatten ab. Hin und wieder schauten die hohen Bäume aus dem grauen Dunst hervor, als wollten sie irgendwen grüßen. Stille lag über dem Areal. An einigen Stellen roch es auch nach Rauch. Die Feuchtigkeit hielt sich, die Wärme auch, im Dschungel hätte es nicht schlimmer sein können. Walter Cohn mochte dieses Wetter nicht. Er war Friedhofswärter, Gärtner und Totengräber in einem. Er gehörte zu den Menschen, die hier schon lange lebten und sich auch nicht fürchteten, denn die Toten taten den Lebenden normalerweise nichts. Wie gesagt, normalerweise… Walter hatte kalten Tee getrunken und war durch den schmalen Flur auf die Haustür zugegangen. Wie immer knarrte sie, als er sie öffnete. Die Kühle des Hauses ließ er hinter sich und ging zwei Schritte vor, um in der nebligen Waschküche stehenzubleiben. Der Nebel war einfach überall. Er verteilte sich auf dem Areal, er kroch an den Baumstämmen hoch, er drückte sich gegen die Dächer der Bäume, er schwamm auf dem Boden wie Wasser, und er hatte tausend Hände, mit denen er in die Spalten und Ritzen hineinfaßte, denn jede Lücke sollte von ihm ausgefüllt werden. Er beherrschte diese Welt, und das wußte auch Walter Cohn. Nebel machte ihm prinzipiell nichts aus. Er fürchtete sich auch nicht vor der anderen Stimmung, die der Dunst brachte, an diesem Abend jedoch dachte er schon anders darüber. Man hatte ihm mitgeteilt, daß sie kommen würden. Er wußte nicht, wer sie genau waren, er kannte keinen von ihnen persönlich, nur unter dem allgemeinen Begriff waren sie ihm bekannt. Sie nannten sich Satanisten! Er schluckte zweimal, als er über diesen Begriff nachdachte. Satanisten waren schlimm, furchtbar, grausam, sie liebten den Teufel, sie verehrten ihn, sie beteten ihn an, und das wiederum konnte Walter Cohn nicht begreifen. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, er hoffte nur, daß es leere Drohungen waren. Er hatte ihnen nicht das Tor geöffnet und glaubte, das Richtige getan zu haben. Sie sollten draußen bleiben, er wollte sie nicht
auf seinem Friedhof haben, wo es angeblich spukte, wie ihm zwei Grufties berichtet hatten. Grufties waren harmlos. Satanisten nicht! Walter Cohn rieb seine Hände gegeneinander und ging wieder zurück ins Haus. Er war ein hagerer Mann von dreiundvierzig und lebte allein. Es lag nicht daran, daß er keine Frau gefunden hätte, nur wollte keine einen Totengräber ehelichen und schon gar nicht in sein Haus auf dem Friedhof ziehen, obwohl man es in dem Gebäude durchaus aushalten konnte, die Miete sehr niedrig war und man sich an die Umgebung ebenfalls gewöhnen konnte. Wenigstens hatte Walter das getan. Noch immer starrte er in den Nebel. Ein graues Tuch ohne Löcher hing über dem Gelände. Wer sich hier nicht auskannte, würde sich unweigerlich verlaufen. Da hätte selbst Walter Cohn Mühe gehabt, sich zurechtzufinden. Er drehte sich um und stieß die Haustür auf. Das Wetter war nichts für ihn. Er schwitzte und dachte daran, daß es bald dunkel werden würde. War das ihre Zeit? Würden sie dann kommen und über ihn herfallen. Walter wußte nicht, wie groß die Gruppe der Satanisten war, doch in der letzten Zeit bekannten sich immer mehr junge Erwachsene zu diesem Kreis, das wußte Cohn ebenfalls, denn er hatte hin und wieder Berichte im Fernsehen verfolgt. Sie flößten ihm Furcht ein. Er ging in die Küche. Seine Gedanken drehten sich um Waffen. Er besaß weder eine Pistole noch ein Gewehr. Wozu auch? Die Toten taten keinem Menschen etwas zuleide. Er zog die Schublade des Küchenschranks auf. Die Möbel waren alt, seine Schwester hatte sie ihm überlassen, als sie sich eine neue Küche zugelegt hatte. Die Messer lagen vor ihm. Küchenmesser von unterschiedlicher Größe. Mal mit schmalen, dann wieder mit langen Klingen. Mal mit einer kleinen Säge versehen, dann wieder glatt geschliffen. »Nein!« sagte er und rammte die Schublade wieder zu. »Das ist Unsinn, damit machst du dich nur verrückt!« Walter verließ die Küche. Sein Weg führte ihn ins Bad. Unterwegs merkte er, daß er die Füße immer nur vorsichtig aufsetzte, als wäre er ein Fremder in seinem eigenen Haus. Er kam sich überhaupt nicht mehr sicher vor, alles um ihn herum schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Im Bad schaute er in den Spiegel. Walter sah ein längliches Gesicht, dessen Haut eine sommerliche Bräune zeigte. Auf der Oberlippe wuchs ein Bart, und die Kontaktlinsen fielen kaum auf. Dafür die dunklen Ringe darunter. Ein Zeichen, daß er
sich nicht gut fühlte, und in der Tat kreisten seine Gedanken immer wieder nur um das eine. Kamen sie? Kamen sie nicht? Er schluckte, beugte sich vor und trank einen Schluck Wasser aus den hohlen Händen. Den Rest spritzte er in sein Gesicht. Als er nach dem Handtuch griff, um sich abzutrocknen, hörte er das Läuten des Telefons. Es stand im Flur auf einem kleinen Bord, das durch zwei Winkeleisen an der Wand befestigt war. Er blieb stehen und wußte plötzlich, daß dieser Anruf nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ein kalter Schauer rieselte über seinen Nacken und fand den Weg nach unten. Hingehen, abheben oder einfach das Klingeln des Apparates ignorieren? Er ging hin. Es konnte durchaus sein, daß der Anruf wichtig war, und nach dem fünften Klingeln hob er ab. Eine fremde Stimme sprach ihn an. »Ah«, dehnte der Sprecher, »du bist ja doch da.« Walter Cohn wußte sofort, daß er die Stimme des Anrufers noch nie gehört hatte, doch er ordnete sie gleich richtig ein. Er versuchte, sich hart und sicher zu geben. »Was wollen Sie? Wer sind Sie?« fragte er den Satanisten. Ein Lachen folgte. Dann die Frage: »Weißt du das wirklich nicht, Totengräber?« »Nein.« »Ich gehörte zu deinen Freunden. Aber wir sind nicht mehr deine Freunde. Du hattest uns versprochen, das Tor zu öffnen, damit wir den Friedhof ohne Schwierigkeiten betreten können. Wir haben uns leider in dir geirrt. Du hast das Tor nicht geöffnet, und so etwas mögen wir überhaupt nicht.« »Der Friedhof ist um diese Zeit geschlossen!« »Nicht für uns, Walter, nicht für uns! Weißt du denn nicht, wer wir sind?« Er schwieg. »Na, was ist? Rede endlich!« »Bleibt mir vom Hals!« keuchte er und warf den Hörer auf den Apparat. Er stieß einen Knurrlaut aus, schüttelte den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten und fragte sich im selben Augenblick, ob er nicht falsch gehandelt und die anderen durch seine Reaktion provoziert hatte. Schweiß perlte über sein Gesicht. Er wußte plötzlich, daß sie ihn nicht vergessen hatten, daß sie kommen würden, und er überlegte, was er dagegen tun konnte. Die Polizei anrufen und den Leuten erklären, daß irgendwelche Satanisten finstere Beschwörungen auf seinem Friedhof durchführen wollten? Die Ordnungshüter hätten ihn nur ausgelacht. Außerdem hatten sie andere Dinge zu tun. Er war allein.
Was konnte ihm noch helfen? Da brauchte Walter gar nicht so lange zu überlegen. Es war am besten, wenn er sich zurückzog. Die Flucht war hier keine Feigheit, sondern lebensnotwendig. Also nichts wie weg! Er holte seine Jacke, nahm noch die Papiere aus der Schublade und schloß die Haustür von innen ab. Wenn er schon verschwand, dann durch den Hinterausgang. Walter Cohn überlegte, wie sich die Satanisten wohl verhalten würden, wenn sie das Haus menschenleer fanden. Er war ein Mann, der zwar täglich mit dem Tod konfrontiert wurde, dem Gewalt jedoch fremd war. Er lehnte sie ab, er mochte sie nicht, er haßte sie, und er haßte Menschen, die Gewalt ausübten. Den Satanisten traute er zu, daß sie durchdrehten und seine Einrichtung zertrümmerten. Sie würden ihre ganze Wut daran auslassen. Zurück blieb dann nur mehr Kleinholz. Egal, was auch passierte, er konnte und wollte hier keine Sekunde länger bleiben. Die wichtigsten Dinge trug er bei sich. Das Licht schaltete er aus. So legte sich die Dunkelheit wie eine finstere Glocke über das Haus. Er dachte an den Angriff und versuchte dann, sich auszurechnen, wie lange es wohl dauern würde, bis die Satanisten den Weg bis zum Ziel zurückgelegt hatten. Es kam immer darauf an, von wo sie angerufen hatten. Vielleicht sogar aus der Nähe, denn vor dem Friedhofstor standen ebenfalls einige Telefonzellen. Er lief rasch auf die Hintertür zu. Das Licht brauchte er nicht. Er bewegte sich fließend durch die Dunkelheit und sah den Ausgang wie einen gezeichneten Schatten vor sich hochwachsen. Cohns Herz klopfte schneller. War er erst einmal aus dem Haus, würde er den Satanisten entwischen, denn auf dem Friedhof kannte er sich aus wie in seiner eigenen Brieftasche. Die Tür hatte noch einen Knauf. Als er seine Hand darum legte, war ihm, als hätte er eine Eiskugel berührt. Er öffnete. Ging einen Schritt. Die Dunkelheit waberte ihm entgegen, doch einen zweiten Schritt schaffte er nicht mehr. Aus dem Schatten an der linken Seite löste sich gedankenschnell eine Gestalt. Ein Fremder, ein Satanist! Genau der versperrte ihm den weiteren Weg! ***
Walter Cohn hatte den Eindruck, laut zu schreien. Er unterlag einem Irrtum. Zwar drangen Geräusche aus seinem Mund, mit Schreien hatten die aber nichts zu tun. Nur ein schweres Keuchen, das ein Begleiter seiner eigenen Angst war. Zuerst hatte er noch in die Höhe geschaut, das allerdings ließ er bleiben. Er schlug den Blick nieder, spürte Kälte über seinen Körper rieseln, bekam auch kaum mehr Luft und hörte ein Lachen. Nichts ging mehr. Er steckte fest. Dicht vor ihm stand die Gestalt. Nicht größer als ein normaler Mensch. Cohn aber kam sie vor, als würde sie wie ein Monstrum in den Himmel wachsen. Sie hätte auch aus diesem dunklen Etwas über ihm herabgefallen sein können. Alles war möglich, aber so etwas sollte ihn nicht kümmern, seine eigene Zukunft war wichtiger. Wie der Fremde genau aussah, das konnte er nicht erkennen. Er hörte ihn nur flüstern. Es war eine widerliche Stimme, die ihm entgegenschwang und dabei trotz der geflüsterten Worte zu einem Dröhnen wurde. Es traf ihn wie eine Anklage. »Du hast uns mißachtet, Walter! Du hast einfach nicht getan, was wir von dir verlangten, und das finden wir überhaupt nicht gut. Du bist ein Verräter, Walter. Wir haben gedacht, mit dir zusammenarbeiten zu können, das aber hast du dir selbst verdorben.« Was sollte er sagen? Ihm fehlten die Worte. Durch den Kopf wirbelten die Gedanken. Sollte er diesem Kerl erklären, daß er sich nicht schuldig machen wollte? Er war kein Mensch, der bei irgendwelchen Verbrechen mitmischte. Er wollte seinen Weg gehen und dabei bleiben. Die Satanisten waren für ihn Verbrecher, obwohl er nicht wußte, mit welchen Dingen sie sich genau beschäftigten. Mit dem Teufel, mit dessen Beschwörung. Vielleicht wollten sie auch einen Friedhof als Umwelt haben, um die Toten zu erwecken, wie man es früher in den Filmen gesehen hatte. Das alles war gut möglich, aber noch reine Spekulation. Der Satanist stieß seine Faust vor. Er hatte genau gezielt und traf Cohn an der Brust. Er flog zurück, verlor für einen Moment die Kontrolle über seinen Atem, bis er gegen die Wand prallte. Mit dem Fuß kickte er noch eine Blumenvase um, die allerdings nicht zerbrach, weil sie schon auf dem Boden gestanden hatte. Der Satanist folgte ihm in den Flur. Die Tür ließ er offen, so sicher fühlte er sich. Natürlich war er nicht allein gekommen. Diese Leute gehörten zu einer Gruppe. Walter Cohn blieb auch weiterhin an der Wand gelehnt stehen und rang nach Atem. Sein Herz klopfte schnell, er hatte eine Hand fest auf seine Brust gepreßt. Die Lippen zuckten, aber er sagte nichts und schaute die Gestalt an, von der er kaum etwas erkennen konnte, weil sie sich nicht
von der Düsternis im Flur abhob. Sie wirkte auf Walter wie ein Motorradfahrer, der sich von Kopf bis Fuß in seine Lederkleidung eingepackt hatte. »Komm hoch, wir brauchen dich noch!« Walter hörte die Worte. Sofort lag ihm eine Frage auf der Zunge. Wofür würden sie ihn brauchen? Leider fand er nicht den Mut, die Frage zu stellen, aber es würden sicherlich schlimme Dinge sein, von denen er sich noch keine Vorstellung machen konnte. Als er stand, hatte ihn der Satanist erreicht. Dicht vor Walter war der Fremde stehengeblieben. Er sonderte einen Geruch ab, den Walter nicht mochte. Dieser Gestank nach alter Erde schlug ihm auf den Magen, und er schüttelte sich. Aus kalten Augen schaute ihn der andere an. »Du wolltest verschwinden, nicht wahr?« Cohn schluckte. Um seinen Hals hatte sich plötzlich Stacheldraht gewickelt, der entsetzlich kratzte. Was sollte er dazu sagen? Es stimmte ja, nur konnte er dies nicht zugeben. Fieberhaft suchte er nach einer Ausrede. Während dieses Vorgangs fiel sie ihm bereits ein. Ob sie überzeugend war, konnte er nicht sagen und stammelte davon, daß er nach Luft hatte schnappen wollen, um anschließend das Tor für die Satanisten zu öffnen. Der Kerl vor ihm schüttelte den Kopf. Er glaubte ihm nicht, das stand fest. Cohn sah auch nicht, ob er lächelte, er konnte das Gesicht nicht erkennen, denn es sah aus wie eine schwarze Maske. Sicherlich hatte der Mann es auch geschwärzt, mit Asche oder irgendeiner Paste eingerieben, und eigentlich stachen nur seine Augen hervor. In ihnen leuchtete das Weiße. Cohns Worte waren versickert, wie ein schmaler Bachlauf im sandigen Boden. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihm geglaubt worden war, und er wartete auf eine Reaktion. Enttäuscht wurde er nicht, der Satanist sagte: »Es ist ganz einfach, mein Freund. Ich verhelfe dir zu einem Spaziergang, einverstanden?« Die Frage war sehr überraschend für Walter gekommen. »Wie… wieso?« stammelte er. »Wir gehen jetzt weg.« »Und wohin?« »Wir bleiben auf dem Friedhof!« Diese Antwort war locker gegeben worden, ihre Wirkung aber war es auf keinen Fall. Sie hatte den Friedhofswärter und Totengräber hart getroffen, denn er konnte sich vorstellen, was das bedeutete. Auf dem Friedhof bleiben hieß nichts anderes, als sich in einer schaurigen Umgebung zu bewegen, denn es gab auf dem Gelände Orte, wo man sich so schrecklich allein fühlen konnte. Besonders in einer Nacht wie dieser.
Cohn hob den Blick. Er hatte Angst in ihn hineingelegt, sogar ein Flehen, doch der Eindringling ließ sich nicht erweichen. Kalt und grausam schaute er auf ihn nieder. »Was wollt ihr denn?« »Das wirst du sehen!« Der Satanist streckte seinen Arm vor. Walter Cohn wollte nicht von der Hand berührt werden, deshalb schwang er sich hoch und stand auf. Er schwankte. Er hatte Mühe, in dieser schwülen, dunstigen Luft zu atmen. An der Wand mußte er sich abstützen, und als der Satanist zur Seite ging, da wußte Cohn Bescheid. Er ging auf die Tür zu. Der Mann konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt mit solchen Zitterschritten gegangen war. Zudem spürte er das Hämmern in seinem Kopf, sein Blut war dick geworden, floß trotzdem durch die Adern und verlieh Walter Cohn das Gefühl, einen ständigen Druck im Körper zu erleben. Er konnte es kaum aushalten. Die Tür stand offen, sein Blick fiel ungehindert in die graue Schwärze dahinter. Die hohen Bäume zeichneten sich wie Schattengemälde ab. Davor jedoch entdeckte er kleinere Gestalten. Auch keine Bäume, sondern Menschen, die bestimmt nicht zu seinen Freunden zählten. Sie warteten auf ihn und natürlich auf den Satanisten, denn die gehörten zusammen. Er ging hin. Sie sagten kein Wort. Auch ihre Gesichter waren geschwärzt, so daß er nur die Augen sehen konnte. Wie schwebende Ovale kamen sie ihm vor. Beinahe körperlich spürte Walter die Bedrohung, die sie ausstrahlten. Er blieb stehen. Hinter ihm ballte der Eindringling die rechte Hand zur Faust. Er rammte sie in Cohns Rücken. Wieder überraschte ihn der Treffer. Cohn taumelte nach vorn, fiel gegen die fangbereiten Arme der anderen. Er hatte nicht einmal gezählt, wie viele auf ihn warteten. Sie hielten ihn fest. Dann hörte er die Stimme des Anführers, der gleichzeitig die Tür ins Schloß zerrte. »Und jetzt schafft ihn weg…« *** An die Hauswand hatte jemand mit dicker schwarzer Farbe einen Totenschädel gemalt. Darunter gruppierten sich Grabsteine, die allesamt schief standen und verwittert aussahen, das jedenfalls hatte der Maler sehr gut geschafft.
Ich las auch die Sprüche. »Tod ist wundervoll. Das Grab ruft. Nur im Tod finden wir die Erfüllung. Die Welt versinkt in einem Meer von Trauer. Die Tränen weisen uns den Weg…« Ich hatte die Sätze leise vor mich hingemurmelt und konnte nur den Kopf darüber schütteln, aber sie paßten zu den Leuten, mit denen ich verabredet war. Da Suko Zeit gehabt hatte, war er mit mir gefahren und saß im Rover. Der Wagen parkte im Schatten, denn über London lag eine Hitze, die eigentlich schon pervers war. Es war nicht allein heiß, es war auch schwül. So konnte man Bangkok erleben, aber keinen Ort in Mitteleuropa. Egal, wir mußten hindurch, da machte auch ich keine Ausnahme. Der Geruch von Teer fiel mir ebenfalls auf den Wecker. Irgendwo hatte eines der flachen Dächer eine Teerschicht bekommen, deren Gestank mischte sich mit der Schwüle, so daß die Luft noch widerlicher und schwerer geworden war. Menschen sahen wir nicht in der Nähe. Dieses ungewöhnliche Home lag ziemlich abseits. Es war ein flaches Gebäude und stand in einem Viertel Londons, das noch saniert werden sollte. Nicht weit weg von der Themse, aber die Sanierung war zerplatzt wie eine Seifenblase, denn zwei kanadischen Investoren war das Geld ausgegangen, weil sie sich mit anderen Sanierungen schon übernommen hatten. So blieb zunächst alles, wie es war, was ich auch gut fand. Suko stieg aus und winkte. »Ich bleibe trotzdem hier.« »Okay.« »Dann viel Spaß, Alter.« Er grinste zu mir herüber. »Und laß dich nicht beerdigen.« »Keine Sorge, ich kenne mich mit Grufties ein wenig aus. Manchmal können sie liebe Menschen sein.« »O ja…« Gelogen hatte ich nicht. In der Tat hatten wir schon mit Grufties zu tun gehabt. Das war in Germany, in Dortmund gewesen, als wir den Höllenfriedhof erlebt hatten. Ich stand dieser Gruppe von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen eigentlich neutral gegenüber. Meiner Ansicht nach sollte jeder nach seiner Fasson selig werden, und wem es Spaß machte, der sollte in Trauerkleidung umherlaufen und sich dabei kalkbleich schminken, dabei in der Nacht über Friedhöfe schleichen, sich auf Gräber setzen, über den Tod nachdenken und ihn sich womöglich herbeiwünschen, das akzeptierte ich alles unter einer Bedingung. Es sollten keine Menschen zu diesem Tun gezwungen werden. Bei den Grufties war das kaum der Fall.
In dem flachen Gebäude sah ich zwar Fenster. Deren Scheiben aber waren mit schwarzer Farbe bestrichen worden, so daß niemand in den Bau hineinschauen konnte. Auch ich nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf die Tür zuzugehen und zunächst einmal zu klopfen, denn sie war abgeschlossen. Dem Echo nach, das meine Schläge hinterließen, bestand die Tür aus Metall. Schritte hörte ich von innen nicht, aber die Tür wurde trotzdem aufgezogen und schwang schwerfällig herum, wobei sie mit der Unterseite noch über den Boden schabte. Nichts war zu sehen. Dunkelheit – aber Musik. Schwermütige Klänge, die zu einer Beerdigung oder einem Trauerspiel gepaßt hätten, natürlich von einer Orgel intoniert. Eine Musik, die ich von meiner ersten Begegnung mit Grufties her kannte. Da hatte sich also nichts daran geändert. (* Siehe Sinclair-Taschenbuch 73109 »TeufelsFriedhof«) Auch die Person, die mir geöffnet hatte, sah ich nicht. Ich schritt also allein in die Finsternis hinein, die mir vorkam wie eine schwüle, feuchte, pechschwarze Watte, denn es war kaum etwas zu erkennen. Nur sehr schwach einige Umrisse, aber da mußte ich schon raten. Die Tür war hinter mir zugefallen, als hätte sich die Klappe einer gewaltigen Gruft kurzerhand geschlossen. Ich geriet ins Schwitzen. Im Mund lag ein Geschmack, der mich an Metall erinnerte. Ich kam mir vor wie jemand, der an Eisen gelutscht hatte. Unter meinen Füßen war der Boden hart, auch uneben, wahrscheinlich bestand er aus alten Steinen. Zunächst einmal wartete ich. Wieviel Zeit verstrichen war, konnte ich nicht sagen. Wahrscheinlich weniger, als ich dachte, denn in einer derartigen Dunkelheit kam mir alles länger vor. Deshalb war ich schon froh, als ich eine Stimme hörte, wobei ich nicht unterscheiden konnte, ob sie männlich oder weiblich war. Sie klang einfach neutral. »Willkommen im Reich der Toten, Geisterjäger…« Ich mußte ein Lächeln unterdrücken. Das klang zwar ungewöhnlich, war aber nicht gefährlich. Und im Reich der Toten war ich noch lange nicht, das sollte auch so bleiben. Ich selbst blieb cool, auch wenn ich mir vorkam wie in einer Sauna. Erst jetzt identifizierte ich den Geruch, der mir entgegenwehte. Es roch so, als hätte jemand Kerzen ausgeblasen und nicht dafür gesorgt, daß der kalte Gestank des Rauchs verschwand. Und Kerzendochte wurden angezündet. Zugleich rissen irgendwelche Gestalten die Zündhölzer über Reibflächen. Das Licht flackerte zunächst,
dann brannte es ruhiger und heller. Hinter den hellen Inseln bewegten sich dunkle Gestalten, die immer mehr Kerzen anzündeten, so daß ein Teil dieser Halle einen warmen, kirchenähnlichen Schein bekam, der den Kerzengeruch noch verstärkte. Zum erstenmal entdeckte ich die schwarzen Stühle mit den hohen Lehnen. Sie waren leer, standen in einem Halbkreis, und Grabsteine sah ich ebenfalls. Sie standen vor den Stühlen und sahen aus, als würden sie als Tische dienen. Hinter den hohen Lehnen standen die Grufties. Sie hielten sich noch außerhalb des Scheins, so daß ich nur mehr ihre Konturen erkannte, die zudem immer wieder zerflossen, weil ihre Kleidung nicht eng am Körper lag und bei jeder geringen Bewegung mitschwang. Von der linken Seite her hörte ich Schritte. Ich drehte den Kopf, sah noch nicht viel, dann aber trat die Person in den Kerzenschein, und ich hatte Mühe, nicht zu grinsen. So was hatte ich noch nicht gesehen. Natürlich trug sie schwarz. Das fing bei den Stiefeln an. Es folgte die Hose, anschließend die im Mao-Stil geschnittene Jacke, bei der die beiden obersten Knöpfe aufstanden. Das war ja noch alles ziemlich normal, auch wenn silberne Kreuze und andere Symbole fremder Magien auf den Stoff gestickt worden waren. Interessanter war der Kopf. Glatze? Im Prinzip schon. Allerdings nur bis zum letzten Drittel, denn dort befand sich der Rest der doch langen Haare, gehalten durch ein schwarzes Band. Die ›Haarpracht‹ war ebenfalls pechschwarz eingefärbt worden, aber als Kontrast liefen grüne Grabstreifen hindurch. Das Gesicht war blaß geschminkt, dunkel an den Augen und auch an den Lippen. Weil die Person ziemlich nahe stand, konnte ich das Gesicht relativ gut erkennen. Es zeigte gewisse weiche Züge und war auf keinen Fall häßlich. Wieder sprach mich die Stimme an. Es war dieselbe, die mich auch begrüßt hatte. Nur konnte ich sie diesmal identifizieren und hatte Mühe, meine Überraschung zu verbergen. »Ich bin Sady…« Sady war kein Mann. Diese Grufties hier wurden von einer Frau oder einem Mädchen angeführt… *** Sie hatten Walter Cohn über den stickigen schwülen Friedhof geschleppt, und es war ihm vorgekommen wie ein Traum.
Zwei Satanisten hielten seine Arme fest. Die Finger glichen Eisenbügeln, so hart drückten sie das Fleisch zusammen. Der Anführer hielt ihn nicht fest, denn er ging vor, und Walter sah, wie er sich mit zielsicheren Schritten bewegte. Er kannte sich aus. Natürlich auch Walter Cohn. Ihm war längst klargeworden, wohin sie ihn brachten. Der Friedhof unterteilte sich praktisch in zwei Hälften. Einen neuen Teil und einen alten. Er wurde in den alten gebracht, wo es unheimlich war und sich nur wenige Menschen hintrauten, besonders dann nicht, wenn die Dunkelheit über die Stadt hereingebrochen war. Auch jetzt wallte der Dunst durch die Finsternis. Auf dem alten Teil hatte er sich verdichtet, er lag dort wie ein Teppich, wie der schwarze Atem eines Riesen. Dieses Areal gehörte ebenfalls zu Walter Cohns Bereich. Er kannte sich dort sehr gut aus, auch wenn da keine Menschen mehr begraben wurden, aber seine Aufgabe bestand auch in der Einhaltung der Pflege, und Gärtnerarbeiten im alten Teil des Friedhofs gehörten nun mal zu seinen direkten Aufgaben. Er ging, trotzdem hatte er den Eindruck zu schweben. Sie schoben und zogen ihn weiter. Der Kontakt mit dem Untergrund fehlte ihm praktisch. Es gab nur schmale Wege, die an den Seiten mit dichtem Strauchwerk bewachsen waren. Dahinter hoben sich oft genug die Kronen der alten Bäume ab, deren dichtes Laub tagsüber Schutz vor der sengenden Kraft der Sonne spendete, wo sich jetzt aber Inseln gebildet hatten, die wegen ihrer Feuchtigkeit von gewaltigen Insektenschwärmen bevölkert waren. Am Himmel zeigte sich kein Stern. Eine dicke Wolkendecke verhinderte die Sicht auf die Gestirne. Der gesamte Friedhof war zu einer Sauna geworden. Auch Cohn schwitzte. Nicht allein wegen der Schwüle, bei ihm kam noch die Angst hinzu. Er wußte nicht, was sie mit ihm vorhatten, ein Spaß würde es sicherlich nicht werden, dazu waren die Satanisten zu gefährlich, sie gingen auch über Leichen. Töten für den Teufel! In seinem Mund lag ein unsichtbarer Lappen, der zu einem dicken Knebel geworden war. Luft bekam er kaum, und bei jedem Atemzug überfiel ihn ein widerliches Würgen. Wie Wasser rann ihm der Schweiß über das Gesicht. Auch der Hals glänzte, als hätte man ihn mit einer Speckschwarte eingerieben. Noch gingen sie auf den Wegen, was sich bald änderte, denn die beiden Kerle hinter ihm stießen Walter Cohn kurzerhand in das Gelände. Wuchtig durchbrach er die aus Zweigen gebildete Barriere der Büsche und taumelte über die weiche, noch nasse Erde, die sich wie Schaumgummi anfühlte. Die Grabsteine, sehr alt und oft genug mehr als
menschenhoch, tanzten vor seinen Augen, sie schwankten, sie fielen ihm entgegen, aber sie berührten ihn nicht. Das alles spielte sich einzig und allein in seiner Einbildung ab. Rücksichtslos wurde er nach vorn gestoßen, und als sie schließlich stoppten, da wußte Walter Cohn im ersten Moment nicht einmal, wo sie sich genau befanden. Er zwinkerte mit den Augen, sie brannten, weil Schweiß hineingeronnen war, dann aber besserte sich seine Sicht, und er sah genau, wo sie standen. Direkt vor der alten Gruft! Ein Relikt aus einer Zeit, die Walter nicht kannte, da er bei ihrer Errichtung noch nicht geboren war. Die Gruft war ein klotziges Monument, ein Haus für Leichen, die letzte Ruhestätte der Personen, die in den Tiefen allmählich dahinmoderten und irgendwann zu Knochenstaub zerfielen. Ihr Eingang war durch ein Gitter gesichert. Es reichte noch bis zum dachartig angelegten Rand des Eingangs, wo der Winkel nur eine sehr schmale Lücke zuließ, zu schmal für einen Menschen, um sich hindurchwinden zu können. Ein Schloß konnte man knacken, besonders dann, wenn es seine Jahre auf dem Buckel hatte. Deshalb konnte sich Walter gut vorstellen, daß es die Satanisten geschafft hatten, die Gruft zu betreten und sich in ihrer Tiefe wohl zu fühlen. Sie zerrten ihn am Eingang vorbei auf die linke Breitseite der Gruft. Dort blieb der Anführer stehen. Mit beiden Füßen stand er auf einem Gitterrost, den er erst verließ, als seine Freunde mit Walter Cohn an ihn herantraten. Der Totengräber hatte sich wieder gefangen, so daß er sich auf seine Entführer konzentrieren konnte. Die dunklen Gesichter sahen aus wie Masken, aus deren Schlitzen nur die Augen hervorschauten. Darin leuchteten nur Kälte und Haß. Der Anführer bückte sich, streckte zugleich die Arme aus und umfaßte die Gitterstäbe. Er mußte seine ganze Kraft einsetzen, um das Gitter anzuheben. Mit ihm in den Händen trat er zurück, ließ es zu Boden sinken, beobachtet von Walter Cohn, dem ein Eisschauer nach dem anderen über den Rücken rann, denn er sah auch den Hebel an der rechten Seite des Gitters, mit dem dieser Rost festgestellt werden konnte. Man kam rein, aber nicht mehr raus… Sein Mund war pulvertrocken. Der Speichel hatte sich in Mehl verwandelt. Er wollte fragen, die Worte blieben ihm schon im Ansatz stecken, denn er wußte, daß es sinnlos war. Der für ihn namenlose Anführer ging auf ihn zu. »Da wirst du hineintauchen«, sagte er flüsternd und deutete auf den Schacht. »Sie ist wie für dich gemacht…«
Er sagte nichts. Er flehte nicht einmal. Dafür zitterte er. Die Furcht rann wie Eiswasser durch seine Adern, und sie erreichte sogar die Spitzen seiner Zehen. Plötzlich aber war die Sperre in seinem Hals verschwunden. Er konnte wieder frei reden, auch wenn es ihm schwerfiel. »Ich will nicht rein. Was ist dort?« Er stammelte wie ein kleines Kind, dem der Wortschatz eines Erwachsenen fehlte. Der Anführer grinste. »Da sind unsere Freunde…« Cohn runzelte die Stirn. Er überlegte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, wer diese Freunde waren. Dann kam ihm eine Idee, die er auch aussprach. »Sind sie… sind es die Toten?« Der Anführer grinste. »Was heißt denn die Toten? Glaubst du vielleicht, daß wir es mit Toten treiben…?« »Ich… ich weiß es nicht.« »Du wirst es schon sehen. Wir hätten einen anderen genommen, aber du hast dich gegen uns gestellt. Deshalb wirst du es auszutragen haben. Und es gibt wohl kaum jemand, der dich vermissen wird. Wenn, dann stehen alle vor einem Rätsel, denn niemand wird auf die Idee kommen, dich in dieser alten Gruft zu suchen. Für die normale Welt ist sie einfach verschlossen, wenn du verstehst.« Er begriff, aber er wollte es einfach nicht zugeben und hob nur die Schultern. Der Anführer senkte seine Hand. Dieses Zeichen galt den beiden Satanisten, die Walter Cohn festhielten. Sie stießen ihn vor. Er wollte nicht, stemmte sich mit den Füßen dagegen, aber der andere Druck war stärker. Sie schoben ihn weiter, den nächsten Schritt tat er ins Leere. Er schrie, dann spürte er an seiner rechten Hacke einen Widerstand. Er stammte von der Schräge, einer Rutsche aus rauhem Beton, mit der der Schacht ausgefüllt war. Die beiden Satanisten drückten noch einmal nach, dann ließen sie Walter Cohn los. Er kippte nicht nach vorn und lief auch nicht Gefahr, sich die Stirn oder das Gesicht aufzuschlagen. Er fiel nach hinten, die Rutsche zerrte ihn förmlich in die Tiefe, dann kippte sein Kopf doch weg, und mit dem hinteren Teil schlug er hart auf. Sterne funkten vor seinen Augen. Er verlor die Orientierung und schrie erst auf, als er die Fläche hinter sich gelassen hatte und seine Hacken hart gegen den Untergrund stießen. Der Schwung katapultierte ihn nach vorn. Im letzten Augenblick streckte er seine Arme aus und konnte sich glücklicherweise abstützen, ohne eine Verletzung zu riskieren. Mühsam rollte sich der Totengräber auf die Seite. Er holte keuchend Luft und saugte den Gestank ein, der sich in
der Gespenster-Gruft ausgebreitet hatte. Es kam ihm vor, als würde er auf altem Fleisch herumkauen, das sich bereits im Stadium der Verwesung befand. Es war für ihn einfach widerlich. Cohn streckte seine Arme aus. Mit den flachen Händen glitt er über einen feuchten Schmier hinweg, der sich anfühlte wie altes stockiges Blut. Über sich hörte er Geräusche. Irgendwie alarmierten sie ihn. Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und schaute in die Höhe. Das Gitter wurde wieder vom Anführer der Satanisten getragen. Es schleifte dabei ein wenig über den Boden, dann kippte es der Mann zur Seite und rammte es wieder auf die Öffnung. So saß es fest. Darüber schwebten die schwarzen Gesichter der Satanisten wie unheimliche Geister. Sie verzerrten sich zu bösen Fratzen, als sie grinsten, und wieder war es der Anführer, der Walter einen letzten Gruß in die Tiefe schickte. »Ein neues Opfer. Die Gespenster werden sich freuen. Sie lieben die Menschen, sie lieben sie. Sie haben sie zum Fressen gern…« Er kicherte schrill und kurz, bevor er den anderen ein Zeichen gab. Wie Schatten waren sie gekommen, und wie Schatten tauchten sie auch ein in die Dunkelheit des alten Totenackers. Sie lachten, rieben sich die Hände – und blieben wie angewurzelt stehen, als vor ihnen etwas sehr hell aufflammte. Es war der Blitz einer Kamera gewesen. Das wußten die drei. Ein Befehl reichte. Wütend preßte ihn der Anführer durch die Zähne. »Das Schwein holen wir uns…« *** »Überrascht, Geisterjäger?« Ich räusperte mich. Im Hintergrund sah ich weitere Gestalten, konzentrierte mich jedoch auf die Sprecherin und fragte: »Weshalb sollte ich überrascht sein?« »Über mich.« »Weil Sie eine Frau sind?« Jetzt lachte sie. »Nicht so förmlich. Man kann mich auch duzen. Man sagt Sady zu mir.« »Okay, Sady. Ein seltsamer Name.« Sie hob die Arme und strich mit den Handflächen an ihrem Resthaar entlang. »Sady ist ein besonderer Name. Ich habe ihn erfunden. Er stammt von sad, von traurig. Ich finde, er paßt zu mir.« Sie schaute auf ihre Hände. An den Fingern steckten zahlreiche Ringe, aber nicht einer
von ihnen funkelte, da sie aus schwarzen Steinen bestanden, die in ebenfalls dunklen Fassungen steckten. Vielleicht war auch einer rot oder grün. So genau konnte ich das nicht sehen. »Jeder kann so heißen, wie er will. Und Sady paßt zu dir.« »Das meine ich auch.« »Es gibt da trotzdem ein Problem«, sagte ich. »Bisher weiß ich nicht, weshalb ihr mich habt kommen lassen. Ihr habt angerufen, okay, ich bin hier. Jetzt würde ich gern den Grund erfahren.« Ich bekam eine knallharte Antwort. »Es geht um Tote!« »Oh… aber darum geht es bei euch doch immer, wenn ich mich nicht irre.« »Nur zum Teil.« »Ach ja?« Sie funkelte mich an. »Du glaubst mir nicht. Verdammt noch mal, ich habe es gewußt.« »Reagier dich ab, Sady. Ich bin hergekommen, weil ihr mich gerufen habt, und ich habe das Recht, von euch aufgeklärt zu werden. Oder ist das schon zuviel verlangt?« Ihre Augen bewegten sich wie dunkle Teiche. »Ich weiß alles über dich, und ich habe auch gemerkt, daß einiges nicht paßt. Du bist derjenige, der uns nicht ernst nimmt. Du bist so etwas wie ein Hundesohn, du bist wie alle, und das finde ich so schlimm. Du lachst uns aus.« »Bisher habe ich nicht gelacht.« »Aber du denkst so.« »Wenn du meinst, dann kann ich gehen«, sagte ich schulterzuckend und begann mit meiner Drehung. Ich ging auch die ersten Schritte auf die Tür zu, bis mich Sadys Stimme erreichte. »Nein, bleib hier. Bleib hier – bitte. Es… es war nicht so gemeint.« »Tatsächlich?« Ich drehte mich wieder. »Ja.« Sie nickte. Plötzlich kam sie mir ängstlich, eingeschüchtert und verloren vor. Ich begriff, daß Sady und ihre Freunde tatsächlich Probleme hatten. Aus dem Hintergrund lösten sich vier Grufties. Da sie in den Kerzenschein hineintraten, konnte ich sie besser erkennen. Ein Mädchen oder eine Frau trug tatsächlich ein schwarzes Brautkleid, und vor ihrem Gesicht baumelte ein Schleier, der sich bewegte wie eine dünne Gardine, wenn sie von innen her gegen ihn blies. Der Rock reichte fast bis zum Boden. Als die Person den Schleier lüftete, sah ich ihr bleiches Mädchengesicht mit den geschminkten Traueraugen. Auch die drei anderen Mitglieder aus der Gruftie-Kaste sahen kaum anders aus. Jeder dokumentierte auf seine Art und Weise, daß er eben dazugehörte.
Nicht nur die Walle-walle-Kleidung gehörte dazu, auch ein enganliegendes Trikot, das die Figur des jungen Mannes sehr deutlich nachzeichnete. Dafür trug er aber einen pechschwarzen Umhang, so daß er wie ein Mini-Dracula wirkte. Der andere hatte sich auf seinen Kopf einen Zylinder gesetzt und einen alten Frack übergestreift. Er war ebenso mit zahlreichen Ketten behängt wie sein Nachbar, der fünfte im Bunde. Dessen Kopf zeigte einen Haarschnitt, der eigentlich keiner war, denn auf dem Schädel wuchsen hin und wieder kleine Haarvierecke, die mir wie gefärbte Rasenstücke vorkamen. Zwischen ihnen schimmerte die helle Kopfhaut hindurch. Durch diese Geometrie sah es aus, als würde die Kopfhaut regelrechte Wege bilden, die dann im Nacken verliefen. Das waren schon seltsame Typen, skurril, aber in der Regel nicht gefährlich. Wie auf Kommando verstummte die schwere Trauermusik. Wahrscheinlich war das Band abgelaufen. Ich nickte ihnen zu. »Das also ist eure Gruppe«, sagte ich und schaute sie noch einmal der Reihe nach an. »Ja«, flüsterte Sady. »Und wo liegt das Problem? Es ist zumindest ungewöhnlich, daß sich einer aus eurem Kreis an die Polizei wendet, dazu noch an mich.« »Du bist der beste«, meldete sich das bleiche Mädchen mit dem schwarzen Brautkleid. »Oh, danke. Hoffentlich kann ich deine Erwartungen erfüllen. Zumindest werde ich mir Mühe geben.« Ich war immer lockerer geworden, denn bisher stand noch nicht fest, was diese Typen überhaupt von mir wollten. Ich ging davon aus, daß sie in Schwierigkeiten steckten und sich deshalb an mich gewandt hatten. »Darf ich euch dann bitten, zur Sache zu kommen? Draußen ist es zwar auch nicht eben gemütlich, aber immer noch besser als in eurem Beerdigungsinstitut.« Diesmal sprach Sady. Und sie schaffte es tatsächlich, mich zu überraschen. »Es geht um Mord. Um brutalen, rücksichtslosen und hinterlistigen Mord. Das ist alles.« Ich war erst einmal baff. Die Grufties bekamen dies mit. Sie schauten sich an, sagten aber nichts, so daß ich die Sätze verdauen konnte. »Also Mord«, wiederholte ich. »Wer ist ermordet worden.« »Unser Totengräber«, sagte Sady. »Wer bitte?« Sie wiederholte den Begriff und fügte eine Erklärung hinzu. »Ich weiß nicht genau, ob er tot ist, aber wir gehen davon aus, denn er ist seit mehreren Tagen verschwunden.« »Genauer.«
»Seit vier Tagen.« »Kann er nicht einfach abgehauen sein, um seiner Arbeit nachzugehen und Gräber zu schaufeln?« »Nein, er gehört zu uns. Er ist auch kein Totengräber. Aber er träumt davon, einmal einer zu werden. Es ist sein absoluter Berufswunsch. Schon jetzt findet man ihn öfter auf den Friedhöfen als uns. Er ging, kehrte nicht zurück.« Ich versuchte es mit einem Scherz. »Vielleicht ist er in ein offenes Grab gefallen und kommt nicht mehr raus.« Sady zuckte zusammen. Eine lockere Antwort paßte ihr nun gar nicht in den Kram. »Nein, das ist er nicht, Sinclair. Man hat ihn geholt, einfach entführt.« »Da wißt ihr viel.« »Sogar noch mehr«, sprach Sady weiter. »Ich höre.« »Unsere Feinde haben den Totengräber entführt, um ihn letztendlich umzubringen.« Das hatte mich noch nicht näher an das Problem herangebracht. »Darf ich fragen, wer diese Feinde sind? Doch nicht die normale Masse der Menschen, wie ich annehme – oder?« »Nein, die nicht. Ich weiß auch, was du meinst. Die belächeln uns zwar oder ignorieren uns, aber es sind keine echten Feinde.« »Gibt es die?« »Ja.« »Wer sind eure Feinde?« »Die Satanisten!« Sady hatte die Worte mit einem Tonfall in der Stimme ausgesprochen, der mich aufhorchen ließ. Das hatte mehr als ernst geklungen, und ich spürte, wie etwas meinen Körper durchrieselte. Im Nacken spannte sich die Haut, meine Kehle war rauh geworden, denn jetzt hielt auch mich der Ernst der Situation gepackt. »Du kennst sie nicht?« »Das will ich nicht sagen. Ich weiß, daß es Menschen gibt, die sich dem Teufel zugewandt haben und sich deshalb Satanisten nennen. Sie führen Schwarze Messen durch, sie stellen den Glauben auf den Kopf, sie sind einfach widerlich, aber in einen direkten Kontakt zu ihnen bin ich nicht geraten.« »Aber wir«, flüsterte die schwarze Braut. Es hörte sich an, als hätte sie Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. »Was genau wollten sie von euch?« Diesmal sprach einer der jungen Männer. »Uns auf ihre Seite ziehen. Wir sollten keine Grufties mehr sein, denn wir sind ja harmlos. Wir lieben nur die morbide Atmosphäre. Wir wollen in Ruhe gelassen werden, wir
wollen über den Tod nachdenken, wir wollen auf den dunklen Friedhöfen sitzen und gegen Gräber schauen. Für uns ist das Leben ein Tal der Tränen, und wir warten darauf, den Hauch des Todes zu spüren, und bereiten uns schon jetzt darauf vor. Aber die Satanisten denken anders. Sie wollen den Hauch der Hölle, den Atem des Teufels. Sie wollen das Grauen, und sie suchen immer wieder Opfer, um sich vor dem Teufel sehen lassen zu können. Sie wollen ihm beweisen, daß sie auf seiner Seite stehen.« »Ihr wurdet also angesprochen?« unterbrach ich den Sprecher. »Ja, von ihnen«, sagte Sady. »Wir sollten in ihren Kreis hineintreten, um bei ihnen mitzumachen.« »Dagegen habt ihr euch gesträubt.« »Sicher.« »Auch der Totengräber!« »Er besonders, aber dann holten sie ihn.« Die Stimme des Mädchens verlor an Sicherheit. »Sie entführten ihn, er war plötzlich verschwunden und kehrte nicht mehr zurück.« »Womit wir wieder beim Anfang wären. Mich würde interessieren, wie ihr darauf kommt, daß es ausgerechnet die Satanisten gewesen waren, die ihn entführten.« »So etwas hatten sie uns schon angekündigt. Als sie merkten, daß wir nicht mitmachen wollten, da erklärten sie, daß sie uns zwingen würden. Sie sprachen von einem schrecklichen Tod, den wir in der GespensterGruft zu erleiden hätten. Dort würde das echte Grauen auf uns warten, denn dort hätte der Teufel einen Stützpunkt.« Von einer Gespenster-Gruft hatte ich noch nie etwas gehört. »Wo soll die denn sein?« »Das wissen wir nicht«, sagte Sady. Ihre Stimme klang noch trauriger als sonst. »Habt ihr auch keine Idee?« »Keine direkte. Aber jeder von uns kann sich vorstellen, daß sich das Ziel irgendwo auf einem Friedhof befindet. Wir haben uns gedacht, daß du dich auskennst, auch was Friedhöfe angeht, und daß du uns hinführen könntest. Wir wollen den Totengräber wiederhaben, auch als Leiche. So sind wir nun mal.« Die Dämpfe der Kerzen brannten in meinen Augen. Ich rieb darüber hinweg und sagte: »Irgendwo habt ihr recht. Ich kenne zwar einige Friedhöfe, aber bei den Gruften muß ich leider passen. Da bin ich einfach überfragt. Da müßt ihr mal Leute fragen, die sich auf den Friedhöfen auskennen, finde ich.« »Nein, Geisterjäger, wir kennen keinen. Über dich haben wir manchmal gelesen. Und wir wollen, daß du uns hilfst, den Totengräber zu finden.« »Oder die Satanisten.« »Ja, auch sie.«
»Und ihr könnt mir nicht helfen? Ich möchte einen Anhaltspunkt haben, wo ich mit der Suche beginnen soll.« Sady schüttelte den Kopf. »Leider nein. Sie kamen an, aber sie haben nie gesagt, woher sie waren.« »Wie sahen sie denn aus?« »Schwarz.« »Wie ihr?« »Ja, aber nicht mit bleichen Gesichtern, sondern mit dunklen. Sie kamen uns vor, als würden sie Masken tragen. Sie waren einfach schlimm und schrecklich.« »Das kann man doch sehen.« »Nein, nein«, widersprach einer der männlichen Grufties heftig. »Nicht bei ihnen. Wir sind Menschen, Geisterjäger, das brauche ich dir nicht erst zu sagen.« Er ging einen raschen Schritt vor. »Aber die anderen sahen so aus, als wären sie es nicht. Kannst du das verstehen? Sie erinnerten uns an Geschöpfe des Teufels, obwohl sie auf zwei Beinen gingen.« Ich wußte nicht so recht, ob ich es glauben sollte. Dann stellte ich eine entscheidende Frage. »Können diese Satanisten Zombies gewesen sein?« Ich erlebte staunende Grufties. »Lebende Leichen?« »Genau.« Sie schwiegen, schluckten, dann fragte das Mädchen im schwarzen Brautkleid: »Gibt es die denn?« »Und ob!« Sie wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Meine direkte Antwort hatte sie geschockt. Selbst Sady war durcheinander, sie aber fing sich als erste und kam auch auf mich zu. So nahe, daß ihr leicht modriges Parfüm den Geruch der Kerzen überdeckte. Sie war kleiner als ich und schaute in mein Gesicht. Ihr Mund zuckte. »Zombies«, wiederholte sie noch mal. »Dann sind das keine Hirngespinste nur von Filmemachern und irgendwelchen Autoren?« »Nicht nur.« Sady schwieg und ging wieder von mir weg. Ich hatte die Grufties vor einigen Minuten kennengelernt und erlebt, daß sie sich fürchteten. Jetzt aber war ihre Angst noch größer geworden. Im Prinzip waren sie harmlose Träumer, junge Leute, die eine gewisse Ordnung ablehnten und einfach anders sein wollten. Jetzt aber mit der Welt der Satanisten konfrontiert zu werden, das paßte ihnen überhaupt nicht in den Kram. Das war einfach zuviel für sie. Hin langer Stachel steckte in ihrer Seele, und der erzeugte die Gefühle der Angst. Keiner von ihnen hatte je damit gerechnet, mit einer wirklich Schwarzen Magie konfrontiert zu werden. Sie lebten bisher in einer Scheinwelt, sie
hatten sich ihre eigene Umgebung aufgebaut, in der sie sich wohlfühlten, aber eines stand fest: Das wahre Grauen kannten sie nicht. Jetzt hatte es zugeschlagen, ihren Freund, den sie Totengräber nannten, geholt, und sie zeigten echte Trauer. Was ich hier sah, war kein Spiel. Ich erlebte noch einen Gefühlsausbruch. Sady begann zu weinen. Sie senkte ihr Gesicht, dann drehte sie sich um und ließ sich ein dunkles Taschentuch geben. Mich hielt es in diesem stickigen Bau nicht unbedingt, aber ich wollte auch nicht so einfach verschwinden, denn ich hatte keine Lösung, keine Spur, das war schlimm. Wenn ich anfing, nach den Satanisten zu forschen, mußte ich irgend etwas in den Händen halten. Ich mußte zumindest wissen, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Auf Friedhöfen. Sie hatten von einer Gespenster-Gruft gesprochen. Sicherlich war damit eine große Gruft gemeint, aber das war mir zu wenig. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, wie viele dieser Gruften es wohl auf den Londoner Friedhöfen gab. Wahrscheinlich zu viele, um mit der Suche zu beginnen. Sady schnäuzte ihre Nase. Die anderen trösteten sie. Sie flüsterten miteinander, und wie sie da zusammenstanden, sah es aus, als hätten sie sich zu einer Beerdigung getroffen. Was sollte ich für sie jetzt noch tun? Ich hatte keine Ahnung und dachte trotzdem über gewisse Dinge nach. Eine Gruft zu finden, war nicht einfach. Aber es gab Leute, die Londoner Friedhöfe wie ihre Westentaschen kannten. Männer und Frauen, die in den Verwaltungen saßen. Vielleicht war es möglich, über sie an die gewissen Orte heranzukommen. Sady hatte sich wieder beruhigt und kehrte zu mir zurück. Bei jedem Schritt hüpfte ihr Pferdeschwanz, und ihre Haare verteilten sich auf dem Rücken. Sie hob die Schultern. »Weißt du, Geisterjäger, was so verdammt schlimm ist?« Ich schüttelte den Kopf und schaute dabei in ihr Gesicht. Die Tränen hatten einen Teil der Schminke gelöst und auf der blassen Haut dunkle Spuren hinterlassen. »Daß wir nicht wissen, wer uns ans Leben will. Wir kennen sie nur als Satanisten, aber wir haben keine Ahnung, wer wirklich hinter ihnen steckt. Das macht mich so betroffen.« »Glaube ich dir. Mir ergeht es kaum besser. Auch ich suche noch immer nach Anhaltspunkten.« »Und?« »Ich finde keine. Bisher nicht. Ich kenne mich leider bei den Gruften oder Gespenster-Gruften nicht aus. Ich bin da überfragt. Wenn euch irgend
etwas einfällt, was dieses Thema betrifft, dann sagt es mir. Ich bin dankbar für jeden Tip.« Meine Stimme war so laut gewesen, daß auch die anderen meine Worte hatten hören können. Zudem winkte ihnen Sady zu. Sie kamen zu mir, und ich kam mir vor wie der Strohhalm, an den sie sich klammerten. Sie schauten mich an, in ihren Blicken stand eine gewisse Hoffnung, aber ich wollte etwas von ihnen. Ich wollte vor allen Dingen wissen, ob sie die Namen der Satanisten kannten, doch da mußten sie passen. »Wirklich nichts?« »Nein.« »Aber sie haben doch von euch etwas gewußt. Jemand muß sie aufmerksam gemacht haben. Oder ihr müßt ihnen aufgefallen sein. Könnt ihr euch an keine Begebenheit erinnern, die…?« »Wir waren nur für uns«, sagte der Gruftie mit seinen ›Rasenflächen‹ auf dem Kopf und strich darüber hinweg. Der andere junge Mann stand wohl auf Rasta-Frisuren, und er hatte sich kleine Totenköpfe in die Kunstwerke flechten lassen, die im Schein der Kerzen einen rotgelben Schimmer bekommen hatten. Er bestätigte die Worte seines Freundes durch ein Kopfschütteln, und dabei gerieten die Totenköpfe ebenfalls in Bewegung. Sie klimperten gegeneinander, als wollten sie eine hohl klingende Melodie spielen. »Dann habt ihr also auf sie gewartet, bis sie wieder einen Kontakt mit euch aufnahmen?« Sady nickte. »Weiter nichts?« »Nein, sie kamen, aber wir wußten nie, wann sie hier erschienen. Auf einmal waren sie da.« »Und sie haben euren Totengräber weggeholt?« »Das nicht«, sagte die schwarze Braut. »Er war plötzlich nicht mehr da.« »Wo wohnte er denn?« »In einem Schuppen.« »Wie bitte?« »Im Gartenhaus seiner Eltern. Dort standen auch die Särge mit der Friedhofserde.« »Wie schön.« »Er liebte sie«, flüsterte Sady. »Friedhofserde hat eben einen besonderen Duft. Das weiß auch er. Manchmal saß er vor seinen Särgen und wühlte mit beiden Händen die Erde auf. Er hielt dann Krumen davon unter seine Nase und ergötzte sich an ihrem Geruch.« Ich grinste schief. »So hat eben jeder seinen Spaß«, sagte ich mit leiser Stimme. »Sicher.« Sady nickte. »Ich mag eben Gebeine. Die schwarze Braut liebt Trauerkleidung und Leichenhemden. Am liebsten getragene…« »Da hört der Spaß doch wohl auf«, bemerkte ich.
»Für uns nicht. Es ist doch nicht schlimm – oder?« »Ansichtssache.« Ich wollte über die Hobbys der jungen, männlichen Grufties erst gar nichts erfahren, sondern dachte mehr wie ein Polizist, der einen Fall aufrollen mußte. »Einer von euch wird mir doch sagen können, wo ich dieses Gartenhaus finde, in dem sich euer Freund aufgehalten hat.« »Das wissen wir.« »Dann werde ich versuchen, dort eine Spur aufzunehmen, falls es euch recht ist.« »Jetzt?« Ich nickte Sady zu. »Sicher. Ihr wollt schließlich auch erfahren, wie es eurem Freund ergangen ist. Oder nicht?« »Ja, das schon.« »Dann mal in die Startlöcher.« »Ich kann ja allein mitfahren«, schlug Sady vor. »Das geht auch.« »Warte noch einen Moment.« Sie verschwand im Hintergrund. Ob sie sich umziehen wollte, wußte ich nicht. Mir jedenfalls reichte es. Eigentlich stand ich schon zu lange in dieser stickigen Halle. Draußen war es zwar auch kaum kühler, aber zumindest heller. Ich ging zum Ausgang und öffnete. Dumpfe Luft schlug mir entgegen. Ich schüttelte mich, trat über die Schwelle und schaute nach rechts, wo Suko am Wagen wartete. Ich sah ihn, ich sah auch die dunkle, phantomgleiche Gestalt, und ich sah die zweite zu spät. Von der Seite her wischte sie auf mich zu, wobei sie eine fürchterliche Waffe mit beiden Händen umklammert hielt. Es war ein Flammendolch. Rot und glühend. Mehr sah ich nicht. Zu mehr kam ich auch nicht, denn der Dolch raste auf mich zu und erwischte meine Brust… *** Harry Heister war das, was man einen fixen Menschen nennen konnte. Er war der Mann mit der schnellen Kamera, der Mann mit dem Riecher. Er wurde in Kollegenkreisen nur Kugelblitz genannt. Harry hatte einen Wahlspruch, der über seinem Schreibtisch hing. ›WO ICH BIN, KLAPPT NICHTS! ABER ICH KANN NICHT ÜBERALL SEIN.‹ Diesmal war er an einem bestimmten Ort, und er hatte zuvor verdammt gut recherchiert. Sein Ziel war ein nachtdunkler Friedhof, und seine Zielgruppe waren die Satanisten, die in letzter Zeit von sich reden gemacht hatten.
Nie direkt und offen, mehr im Hintergrund. Man brauchte schon eine gewisse Spürnase, um bestimmte Dinge herauszufinden, und was das Problem Nase anging, war das für Harry keines. Er hatte den richtigen Riecher. Nicht im Gesicht, seine Nase war normal gewachsen. Mehr im Gefühl. Er hörte das Gras wachsen und schaffte es auch immer wieder, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Diesmal hatte er sich auf eine Langzeit-Recherche eingestellt gehabt, die gar nicht mal soviel Zeit in Anspruch genommen hatte. Nicht grundlos wurde Harry Heister der Mann mit den tausend Ohren und Augen genannt. Und eines dieser Ohren hatte genau hingehört und von den verfluchten Satanisten erfahren. Sie trafen sich auf einem bestimmten Friedhof, und sie zählten zu den gefährlichen Menschen, denn für sie gab es eine andere Moral als die normale. Sie liebten und sie dienten dem Teufel! Harry hatte sich an ihre Fersen geheftet. Er hatte einen von ihnen beobachtet, ohne allerdings zum Schuß gekommen zu sein. Der Mann hatte sich einfach zu normal verhalten. Bis eben in dieser Nacht, als er zu einem bestimmten Friedhof gefahren war und sich mit zwei anderen getroffen hatte. Der Mann hieß Gig Serrano, war dreißig Jahre alt und arbeitete tagsüber bei einer Computerfirma, die Software herstellte. Er hatte sich einen völlig normalen Background aufgebaut, doch in der Nacht erwachte dann sein zweites Ich. Wie auch bei Harry Heister, dem rasenden Kugelblitz, dem Jäger mit dem optischen Auge. Wie immer trug er seine Jeans mit dem breiten Gürtel, an den er sein Arbeitsmaterial hängen konnte, ohne daß der Gürtel gleich mitsamt der Hose wegsackte. Zur Hose paßte auch das karierte Hemd – in dunklen Farben gehalten –, und sein braunschwarzes Haar wuchs ihm bis über die Ohren. Sein Gesicht war ziemlich bleich, denn es bekam nicht viel Sonne zu sehen. Tagsüber lag er im Bett oder hockte im Atelier, dann wieder in einer Redaktion, und in der Nacht ging Harry auf Pirsch. Immer wenn er dicht vor seinem Ziel stand, strich er über seinen Vollbart, der angeblich aussah wie angehängtes Sauerkraut. Das jedenfalls hatte mal ein Kollege behauptet, was Harry aber nichts ausmachte. Er gehörte zu den Gemütsmenschen und war für jeden Spaß zu haben. Auch gehörte er zu den Menschen, die vieles hinter sich hatten und die nichts so leicht erschüttern konnte. Diesmal allerdings hatte er sich eine Aufgabe vorgenommen, die ihm gar nicht gefiel. Der Friedhof war ihm unheimlich. Die Dunkelheit tauchte ihn in breite Schatten, die an einigen Stellen kompakte Inseln bildeten, durch die er sich bewegen mußte, um an sein Ziel zu gelangen.
In der Nähe eines Hauses ging er in Deckung. Er wußte nicht, wer in diesem Haus lebte, aber wenig später bekam er mit, wie die Satanisten einen Mann aus dem Gebäude holten und wegschleppten. Sie schleiften ihn quer über den Friedhof, blieben auch nicht immer auf den Wegen, sondern brachen durch Buschwerk, um schneller an ihr Ziel zu gelangen. Harry Heister blieb ihnen auf den Fersen. Da hatte ihn seine Spürnase nicht im Stich gelassen. Mister Kugelblitz wußte genau, daß er in dieser schwülwarmen Nacht noch einen Erfolg erreichen würde. Den brauchte er auch. Es war mal wieder Zeit, daß er mit einer Fotosensation aufwartete, und die lag praktisch in der Luft. Zum Glück konzentrierten sich die Satanisten mehr auf den Entführten als sich in der näheren Umgebung umzuschauen. Da konnte ihnen Heister auf den Fersen bleiben. Er war Profi genug, um während der Verfolgung noch seine Kamera einzustellen. Alles war klar… Und als sich diese hohe Gruft aus der rauchschwarzen Finsternis schälte, da wußte er, daß sie am Ziel eingetroffen waren. Um einen günstigen Schußwinkel zu haben, schlug er einen Bogen, fand dichtes Buschwerk, hinter dem er Deckung suchte. So war er in den Rücken der Männer gelangt. Diese Position gefiel ihm ausnehmend gut, da die Satanisten gar nicht daran dachten, sich umzudrehen. Sie waren viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Einer löste etwas vom Boden. Er mußte sich dabei anstrengen, und Harry Heister konnte nicht erkennen, was der Mann in der Hand hielt. Es war einfach zu dunkel, und er hatte das Gefühl, als hätte sich die Nacht gegen ihn verschworen. Nicht einmal die Gesichter der Typen hatte er normal erkennen können. In dieser schwammigen, von feuchten Dampfwolken durchstreiften Welt hatte die Realität ihren Sinn verloren. Der Friedhof war für Heister ein Stück, das einfach abgerissen worden war und jetzt irgendwo zwischen den Zeiten schwamm. Er hielt die Kamera schußbereit. Das optische Auge glotzte durch eine Lücke zwischen einigen dünnen Zweigen. Um einen noch besseren Schußwinkel zu bekommen, knipste der Fotograf einige Blätter ab. Heister spürte die Spannung. Sie schoß wie eine elektrische Ladung durch sein Inneres. Das war genau der Moment, wo er zum ›Kugelblitz‹ werden konnte. Er stand auf dem Sprung, denn er wußte, daß in den nächsten Sekunden etwas passieren mußte. Da konnte er sich voll und ganz auf sein Gefühl verlassen. Die Geisel der beiden Männer war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu reden. Wahrscheinlich hatte der Schreck den Mann stumm gemacht. Heister aber mußte spätestens jetzt zugeben, daß es die Satanisten tatsächlich gab. Wenn ihm die Fotos gelangen, dann würde es eine
Story geben, die nicht nur heiß, sondern brandheiß war. Die Leser aufrütteln konnte, und auf so etwas war Heister spezialisiert. Der Mann verschwand. Heister bekam für einen Moment große Augen. Er wurde in etwas hineingedrückt, wahrscheinlich in einen Schacht, der extra für ihn geöffnet worden war. Harry wurde eiskalt. Seine Kamera zitterte nicht. Er wartete auf den allerbesten Augenblick, der einfach kommen mußte. Da kannte er sich aus, es war die Summe seiner langen Erfahrungen. Der Finger lag auf dem Auslöser. Die drei Männer drehten sich. Einer von ihnen hatte den Zugang wieder auf die Schachtöffnung gelegt und ihn festgeklemmt. Sie drehten sich. Und sie taten es gemeinsam, so daß er sie frontal anschauen konnte. Das Auge der Kamera war genau auf ihn gerichtet. Harry dachte an den Motor, der den Film blitzschnell weitertransportierte, und während er dies dachte, drückte er auf den Auslöser. Grelles Licht zuckte auf. Die Welt hier schien viermal zerrissen zu werden. Drei Männer wurden geblendet, für kurze Zeit abgelenkt, aber sie hatten sich schnell gefangen, zumindest einer von ihnen, wahrscheinlich der Anführer. »Das Schwein holen wir uns!« Dieser Befehl galt den beiden Helfern des Anführers, aber er war auch wichtig für Harry Heister, denn er durfte nicht eine Sekunde länger auf der Stelle bleiben. Über seinen Rückweg hatte er bereits nachgedacht. Das tat er immer bei brisanten Situationen. Er wußte schon jetzt, wo er hinlaufen würde, und er mußte verdammt schnell sein. Auf eine längere Blendung der Augen durch das kurze Blitzlicht-Gewitter konnte er nicht hoffen. Das war alles Unsinn, die Männer würden sich schnell wieder fangen, und er hörte ihre Schritte, als er geduckt durch das Unterholz hetzte, von den zurückschnellenden Zweigen getroffen wurde und das Gefühl hatte, daß sich alles um ihn herum zusammenziehen würde. Er mußte weg, er mußte schnell sein, denn hinter sich hörte er die Stimmen der Verfolger. Sie klangen inmitten der nächtlichen Finsternis so düster und trotzdem klar. Dunst nahm ihnen einen Teil ihrer Lautstärke. Die Feuchtigkeit kroch aus jeder Bodenspalte in die Höhe und breitete ihren Teppich aus. Harry Heister rannte um sein Leben. Wenn er in die Klauen dieser Satanisten geriet, war er verloren. Er erreichte einen Weg. Zum Glück war dieser ziemlich breit, was wiederum darauf schließen ließ, daß er von diesem Teil des Friedhofs wegführte und ihn an den
Rand brachte. Er lauschte auf die Stimmen seiner Verfolger, hörte allerdings nur die Worte des Anführers, denn er gab die Kommandos. Die drei Häscher blieben nicht zusammen. Sie wollte sich teilen und in verschiedene Richtungen laufen, um Harry den Weg abzusperren. Heister verfiel nicht in Panik, obwohl er wußte, daß seine Chancen gesunken waren. Aber er erinnerte sich an ähnliche Situationen, und es war ihm immer wieder gelungen, einen Ausweg zu finden. Warum nicht auch hier? Kreativität gehörte zu seinem Job. Und kreativ wurde er auch jetzt, trotz des gewaltigen Stresses. Als er einen hohen und auch für ihn breit genug erscheinenden Grabstein sah, der zudem noch an der richtigen Stelle stand, da machte er Nägel mit Köpfen. Er gehörte nicht eben zu den schlanksten Menschen, Harry war klein, rundlich, aber äußerst gelenkig, was man ihm kaum zutraute. Deshalb kletterte er auch ohne große Schwierigkeiten auf die obere Kante des Grabsteins. Wegen der Feuchtigkeit war sie glatt geworden, doch Harry gelang es trotzdem, sich zu halten. Er stellte sich hin, streckte sich und hörte nicht weit von ihm entfernt ein heftiges Keuchen. Da war ihm einer verdammt dicht auf den Fersen. Jetzt schützte ihn die Dunkelheit und wenig später auch die dicht belaubten Zweige einer alten Platane. Sie stand wie ein Schutz hinter dem Grabstein und hatte ihre Äste so günstig ausgebreitet, daß Harry einen von ihnen als Reckstange zweckentfremden konnte. Mit einer geschickten Bewegung hatte er sich hochgezogen, war weitergeturnt und hatte eine Astgabel in der Nähe des Stamms gefunden, die ihm Sicherheit bot. In diesen Platz drehte er sich förmlich hinein, klammerte sich an den beiden Ästen schräg über ihm fest und schaute gegen die ziemlich großen Blätter der Platane, die einen Großteil seiner Sicht nahmen, ihm gleichzeitig auch Schutz vor fremden Blicken boten. Da blieb er hocken. Zeit verstrich. Die ersten Sekunden kamen ihm lang vor. Er hatte schon des öfteren in ähnlichen Situationen gesteckt. Da hieß es dann nur, die Nerven bewahren und sich nicht rühren. Zeit verstrich. Sekunden tickten dahin. Sie wurden ihm lang. Er hörte Schritte. Sein Pech, daß sie ausgerechnet nahe seines Verstecks verstummten. Der Verfolger, wer immer es von den dreien war, stand dicht an der Platane. Abwarten… lauern…
Harry Heister rührte sich nicht. Nach einigen Sekunden hatte sich auch seine Spannung gelöst, und über seine Lippen glitt ein erstes flüchtiges Lächeln. Die Satanisten blieben untereinander in Kontakt und verständigten sich durch Rufe. Dabei gaben sie auch Kommentare ab, und Heister konnte ihnen entnehmen, wie unsicher sich die Typen gaben. Sie wußten nicht, wo sie noch weitersuchen sollten. Besser konnte es für ihn nicht laufen. Er wartete. Das Geäst hüllte ihn ein wie ein großer Schutzmantel. Es war die natürliche Decke aus Zweigen und Blättern, die von unten her nur schwer mit Blicken zu durchdringen war, in der Dunkelheit schon gar nicht. Seine Chancen wuchsen. Mal war es still, dann hörte er wieder Schritte, auch Worte und Rufe. Aber die Schrittgeräusche entfernten sich immer mehr von seinem Versteck, und die Rufe bekamen allmählich einen wütenden Klang, ein Zeichen, daß die Satanisten unsicher geworden waren. Für ihn hatte es nicht besser laufen können. Er hatte Zeit, sie wahrscheinlich nicht. Und Zeit verstrich auch. Allerdings wunderte sich Harry über die Hartnäckigkeit dieser Typen, die so einfach nicht aufgaben und immer wieder zurückkehrten, wenn er das Gefühl gehabt hatte, jetzt waren sie endlich verschwunden. Die Unterlage war zwar nicht gerade bequem, aber er hatte schon unbequemer gesessen. Nur quälte ihn der Wunsch nach einer Zigarette. Den aber mußte er sich abschminken. Er würde später eine rauchen und sich auch einen Schluck gönnen. Mehr als eine Stunde verging, und Harry hockte noch immer in seiner Astgabel. Die drei Satanisten kehrten nicht mehr zurück. Auf diesem unheimlichen Areal herrschte allein die Finsternis. Harry Heister rechnete noch zehn Minuten hinzu, bevor er sich auf den Weg nach unten machte. Auch jetzt war die Vorsicht für ihn die Mutter der Porzellankiste, aber es passierte nichts. Den Rest sprang er nach unten und landete mit einem dumpfen Geräusch sicher und mit beiden Beinen auf dem weichen Untergrund. Geschafft! Harry lachte leise. Diese drei Hundesöhne hatte er reingelegt. Jetzt brauchte er den Friedhof nur mehr zu verlassen, in seinen Wagen zu steigen und in sein Labor zu fahren, um dort so schnell wie möglich den Film zu entwickeln. Wenn er sich beeilte, konnten die Fotos noch in der Morgenausgabe erscheinen. Er war für seine Schnelligkeit berühmt, und bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt wurde ihm auch eine Seite freigehalten. Das hatte er zuvor so abgemacht. Mister Kugelblitz wurde nicht übermütig. So behutsam wie möglich bewegte er sich über den alten Friedhof. Nur nicht zu viele Geräusche verursachen, immer auf Draht sein, dabei die Umgebung im Auge behalten, was nicht nötig war, denn von den drei Satanisten sah er nichts. Er hatte erst vorgehabt, zu dieser Gruft zurückzugehen, um den Mann zu befreien. Das allerdings erschien ihm zu gefährlich. Möglicherweise stand dort einer seiner Gegner als Wachtposten. Wenn die Bilder erschienen, würden sie schon für genügend Aufregung sorgen, das stand für ihn bereits fest. Heister hatte bei seinem Kommen nicht den normalen Eingang genommen und kletterte auch jetzt über die Mauer, auf deren Rand im Laufe der Zeit ein Grasteppich gewachsen war, vermischt mit Unkraut und fingerdickem Moos. Harry keuchte wie eine altersschwache Dampflok, als er seinen Wagen erreicht hatte. Es war ein Ford Sierra. Er lehnte sich gegen ihn und schaute über den leeren Parkplatz, dessen Untergrund feucht schimmerte. Kein weiterer Wagen stand in der Nähe, und plötzlich wußte er, daß er gewonnen hatte. Erst jetzt überfiel ihn die Erleichterung, er streifte die Spannung ab, und genau dies mußte er auch dokumentieren. Er fiel nach vorn und trommelte mit den Händen auf das Autodach. Dabei lachte er. Nicht laut und schrill, eher leise und verhalten, aber er hatte gewonnen, und nur das allein zählte. Dann drehte er sich um, holte den Wagenschlüssel aus der Tasche seiner Jeans und öffnete. Er fiel hinter das Lenkrad, atmete noch einmal tief durch und griff nach seinen Zigaretten. Erst als er das Stäbchen angeraucht hatte, startete er den Sierra. Beide Seitenfenster vorn ließ er offen. Die Schwüle drückte hinein. Für seinen Geschmack schien die Luft nur mehr aus dünnem Wasser zu bestehen, und das Atmen wurde für ihn zu einer Qual. Doch Harry hielt durch. Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Er dachte bereits an seine Story, die mal wieder eine kleine Bombe war und auch so einschlagen würde. Dann fuhr er ab. Frei und ungehindert, und er freute sich darüber, drei Satanisten reingelegt zu haben. Daß die Fotos perfekt geworden waren, daran zweifelte er nicht im geringsten… ***
Der Rover, in dem Suko und sein Freund John Sinclair gekommen waren, hatte sich in einen Backofen verwandelt. Die Hitze staute sich im Innenraum, und es war einfach unmöglich und unverantwortlich, dort einen Menschen warten zu lassen. Deshalb hatte sich Suko auch entschlossen, den Wagen zu verlassen und in der freien Luft auf Johns Rückkehr zu lauern. Viel besser war sie auch nicht. Zwar zeigte sich der Himmel bedeckt, doch jenseits der verhältnismäßig dünnen Wolkenschicht lauerte eine bissige Sonne mit brutal heißen Strahlen, die aus der Erde einen Dampfkessel machten. Hinzu kam die unerträgliche Schwüle, gerade an dieser Stelle, wo der Fluß nicht sehr weit entfernt war, denn von seinen Ufern zogen Dunstschleier über das Gelände hinweg, wo Suko wartete. Er konnte nicht sagen, wie lange sein Freund John Sinclair wegbleiben würde. Eine direkte Zeit hatten sie nicht ausmachen können, aber Suko wollte auch nicht zu lange warten. Wenn ihm sein Gefühl sagte, daß etwas nicht mehr in Ordnung war, würde er selbst nachsehen. Zunächst spürte er nur die drückende Schwüle. Sie blieb zwar, trotzdem veränderte sich etwas. Die Einstrahlung der Sonne nahm ab, denn sie war weitergewandert. Überall dampfte es. Das war kein Wetter für herz- und kreislaufgeschädigte Menschen. Dieser alte Komplex, zu dem auch das Home der Grufties zählte, lag in einer beinahe schon dumpfen Stille. Und wenn Geräusche erklangen, dann hörten sie sich in der schon absoluten Windstille unnatürlich laut an, so daß Suko immer wieder aus seinem etwas dumpfen Zustand gerissen wurde. Nichts Verdächtiges zu sehen. Er schaute mehrmals auf die Uhr. John kehrte nicht zurück. Oft genug tastete er mit seinen Blicken das bemalte Mauerwerk des Gruftie-Homes ab. Dabei überlegte er, ob es tatsächlich so gut gewesen war, dieser ›Einladung‹ zu folgen, denn er wußte nicht, ob er die Typen als harmlos einstufen sollte oder nicht. Irgendwann beschloß er, sich die nähere Umgebung anzuschauen. Der Wagen parkte dicht neben einer alten Mauer, die einige Yards später endete. Dort war sie kurzerhand zusammengebrochen. Da ging Suko hin. Er umkurvte die Stelle und stand am Rand eines Abbruchgeländes, wo Schuttberge in den Himmel ragten. Ein Kran stand noch in der Nähe. Er rostete vor sich hin. Nichts bewegte sich. Nicht einmal Ratten oder Mäuse huschten über die Hügel hinweg.
Suko wandte sich nach links. Ein Pfad begann dort und führte auf die Themse zu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stroms wurde gearbeitet. Die Geräusche schallten über das Wasser hinweg und klangen wie eine Melodie, die ein falsch eingestellter Musikcomputer produzierte. Im Schatten eines Hügels entdeckte Suko die Gestalt. Es war ein alter Mann, der trotz der Hitze einen Mantel trug und seinen Kopf mit einem alten schmutzigen Filzhut bedeckt hatte. Auf seinem Gesicht wuchs ein hellgrauer Bart, der Mund war kaum zu erkennen, die Augen hatte der Mann halb geschlossen. Mit der rechten Hand umklammerte er den Griff einer alten prallgefüllten Aktentasche. Dort bewahrte er wohl seine wenigen Habseligkeiten auf. Mißtrauisch schaute er Suko an und umfaßte den Griff härter. Säuerlicher Schweißgeruch strömte dem Inspektor entgegen. »Bei mir ist nichts zu holen«, sagte der Penner. »Das glaube ich.« »Was willst du dann?« »Nichts, nur mal schauen.« »Hier gibt es nichts zu sehen.« »Das merke ich auch.« Der Penner blieb mißtrauisch, bewegte sich auf die Seite und stützte sich mit der freien Hand ab. Er kam auf die Füße. Sein Mantel bildete im unteren Drittel nur mehr eine staubige Fläche. Dann ging er weg, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sehr bald schon war er zwischen den Trümmern verschwunden. Dennoch hörte ihn Suko noch einmal, denn der Mann rief ihm eine Warnung zu. »Es ist gefährlich für Fremde, wenn sie sich hier aufhalten. Daran solltest du denken, Partner.« »Danke für den Rat.« »Nichts für ungut.« Wieso gefährlich? dachte Suko. Ob der Penner die Grufties damit gemeint hatte? Das wußte der Inspektor nicht, aber die Worte hatten ihn schon gewarnt. Die Stille gefiel ihm immer weniger. Er lauschte nach innen, achtete auf sein Gefühl, ob ihm dies eine Warnung zuschicken würde. Das war nicht der Fall. Er konnte auch keinen Fremden entdecken. Nur die widerliche Schwüle nahm noch mehr zu, und der Himmel zeigte im Westen einen leichten gelben Rand, der eine Wolkenstrecke umschloß. Das ließ auf ein Gewitter schließen. Es würde allerdings noch bis zum Abend dauern, bevor Blitz und Donner vehement losbrachen. Er ging weiter. Sein Ziel war der Wagen. Und dort stand die Gestalt! Suko sah sie, als er das Abrißgrundstück verließ. Es war kein Gruftie – oder doch?
Er fühlte seine Unsicherheit, aber sein Gefühl sagte ihm, es nicht mit einem Gruftie zu tun zu haben. Der Typ war zwar in eine dunkle Kleidung eingepackt, doch auch sein Gesicht war dunkel und glänzte an den Wangen wie schwarzes Fett. Trotzdem ging Suko davon aus, daß es keine Schminke war, mit der das Gesicht beschmiert worden war. Das erinnerte ihn eher an eine Maske. Er spürte die Feindseligkeit des anderen sehr deutlich. Sie strömte ihm entgegen wie ein kalter Nebel, doch auf diese Kälte hätte Suko gern verzichtet. War das ein Mensch? Er sah zumindest so aus, doch da hatte der Inspektor auch schon Dinge erlebt, die ihm normalerweise die Haare hätten zu Berge stehen lassen. Er ging langsam weiter. Dabei hatte er den Eindruck, genau nach den Anweisungen eines Regisseurs zu handeln. Der andere erwartete ihn. Dünnes, schwarzes Leder umschloß seine Gestalt. Die linke Hand hatte er auf das Dach des Ford gelegt, und Suko, der wissen wollte, was lief, benahm sich so wie ein Spießer. »He, das ist mein Wagen!« Der andere nahm die Hand weg, ging auch zur Seite, schuf Distanz zwischen sich und dem Fahrzeug. Damit lenkte er Suko ab, so daß dieser den zweiten Mann erst viel zu spät entdeckte. Der Kerl glich dem ersten aufs Haar, und er lief mit langen Schritten dem Home der Grufties entgegen. Das wirkte wie inszeniert, wie abgesprochen. Suko dachte an seinen Freund, der gar nicht ahnte, was möglicherweise auf ihn zukommen würde, und Suko beschloß, ihn zu warnen. Er ging schneller. War gleichzeitig gespannt darauf, wie der Typ am Wagen reagieren würde. Der ließ ihn kommen. Gleichzeitig war der zweite Kerl nur wenige Schritte vom Eingang des Gruftie-Homes entfernt. Er würde hineinstürmen und… Suko rief ihm etwas zu. Der Mann stoppte. Er drehte dabei den Kopf, um den Chinesen erkennen zu können. Das nahm der erste sofort wahr. Er freute sich über die Ablenkung, sein Arm fuhr um den Körper herum nach hinten, wo er etwas aus dem Gürtel hervorzog, das lang, gewellt und spitz aus seiner Faust hervorstach. Suko wußte im ersten Moment nicht, was es war. Es sah aus wie ein Messer, da irrte er sich. Aus der Faust fauchte es auf. Eine Flamme zuckte hervor. Spitz und zuckend…
Und plötzlich griff der Typ an. Das war genau der Augenblick, wo das Home von innen her geöffnet wurde und John Sinclair die alte Baracke verließ… *** Ich war völlig überrascht worden. Dieser Angriff kam praktisch einem Todesurteil gleich. Er war so überraschend und schnell geführt worden, daß ich es nicht mehr schaffte, mich zur Seite zu werfen, um dem tödlichen Stoß zu entgehen. Er war auf meine Brust gezielt, und er erwischte mich auch. Ich hörte ein häßliches Lachen, schaute nach oben und starrte in ein weit geöffnetes Maul, das zu einem schwarzen Gesicht gehörte. Es war wohl der letzte Eindruck in meinem Leben, und ich wunderte mich, so etwas mit hinüber ins Jenseits zu nehmen. Dann passierte ein Wunder. Es begann mit einem Schrei. Den aber hatte nicht ich ausgestoßen, sondern die Gestalt mit dem Flammendolch. Die Waffe hatte mich erwischt, aber sie war nicht durch die Kleidung in meinen Körper gedrungen, sondern hatte sich verändert und war zu einem zuckenden Fleck geworden, der über meine Brust hinwegtanzte, aber nicht hineindrang. Warum nicht? Ich merkte es im nächsten Augenblick, denn nicht das Feuer brachte die Hitze, sondern mein Kreuz, das sich blitzschnell auf die neue Lage eingestellt hatte. Es hatte eine radikale Gegenmagie gebildet und die Flamme nicht nur verändert. Es war ihr auch gelungen, sie und den Dolch zurückzutreiben, samt ihres Halters, denn der Schwarzgekleidete taumelte vor mir zurück. Er bewegte sich wie jemand, der die Kontrolle über sich selbst verloren hatte. Es war ein Wunder, daß er sich noch auf den Beinen hielt, da er von einer Seite zur anderen taumelte und nicht mehr Herr über seinen eigenen Flammendolch war. Das Feuer hatte sich selbständig gemacht. Es zeigte mit seiner Spitze nicht mehr nach unten, sondern hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht, denn nun huschte die Flamme an seinem Arm entlang in Richtung Schulter und wurde immer länger. Sie war stärker als er, auch wenn er den Arm einige Male schüttelte, ohne daß er es schaffte, den Dolch loszulassen. Ich brauchte nichts zu tun, nur zu schauen. Er gurgelte, als hätte er Wasser verschluckt. Der Mund stand weit offen, und er war für die Flamme das einzige Ziel. Sie zischte hinein.
Plötzlich leuchtete der Körper des Mannes von innen auf. Es sah aus, als bestünde er aus rotem Glas. Es bekam einen derartig großen Hitzeschock, daß es nicht mehr in seiner ursprünglichen Form bestehen bleiben konnte und vor meinen Augen zusammenbrach. Es löste sich auf, die Krümel fielen ineinander, wobei nicht einmal ein Splittern erklang. Nur leise, trocken klingende Geräusche, wobei die zuckenden Flammen verschwanden und nur mehr ein rötliches Glühen zurückblieb. Ein letztes Aufbäumen, mehr nicht. Dann sackte der Körper zusammen und hatte sich tatsächlich aufgelöst, denn die Kleidung bekam von innen keinen Gegendruck mehr. Sie faltete sich an einigen Stellen zusammen. Es war vorbei. Ich kümmerte mich nicht um ihn, denn ich hatte vorhin aus dem Augenwinkel mitbekommen, daß noch ein zweiter Dämonendiener oder auch Dämon erschienen war. Mit ihm lag Suko im Clinch. Beide umkreisten den Rover. Suko hatte seine Beretta nicht gezogen, der andere aber hielt den Flammendolch fest und versuchte immer wieder, meinen Freund damit zu erreichen. Der aber war zu schnell für ihn. Beinahe sah es schon lächerlich aus, als die beiden hintereinander herliefen und es so aussah, als würden sie Fangen spielen. Zum Lachen war das nicht, und Suko war auch dabei, dieses Spiel zu beenden. Während er das Tempo beschleunigte, holte er die Dämonenpeitsche hervor und schlug den berühmten Kreis, damit sich die drei Riemen lösen konnten. Jetzt wußte ich, daß er mit seinem Gegner allein fertig werden würde und ich nicht einzugreifen brauchte. Suko schwang zwar seine Peitsche, aber nicht gegen den Teuflischen, sondern über das Dach hinweg und blieb gleichzeitig stehen. Er hatte Glück, daß die drei Riemen nicht vom Dach abrutschten. Sie kamen zur Ruhe und lagen dort wie tote Schlangen. Mit einem Sprung erreichte der Teuflische – für mich war er ein Satanist, von dem die Grufties gesprochen hatten – die Kühlerhaube des Motors. Durch sein Gewicht beulte er sie ein, warf sich noch vor der Frontscheibe nach vorn und streckte dabei auch seine Arme aus. Der Dolch flammte aus seiner Hand. Wahrscheinlich wollte er die Riemen zerstören, und Suko wartete eiskalt ab. Der Kontakt war blitzschnell hergestellt. Beide trafen aufeinander, und zwei verschiedene Kräfte, obwohl im Prinzip gleich, prallten aufeinander. Die Peitsche war stärker.
Der Satanist brüllte auf. Sein Körper zuckte in die Höhe, auch die Arme machten die Bewegung mit, und der Flammendolch erlosch innerhalb weniger Sekunden. Der Satanist kippte schräg von der Haube. Als er zu Boden krachte, hörten wir es beide knirschen, denn wir näherten uns ihm von verschiedenen Seiten und trafen genau dort zusammen, wo der teuflische Diener reglos auf dem Boden lag. Über ihn hinweg schauten wir uns an. Suko hob die Schultern. Er begriff noch nicht viel. Durch die Unterhaltung mit den Grufties hatte ich einen informativen Vorsprung bekommen und sagte leise: »Sie haben nicht gelogen, es gibt die Satanisten doch.« Suko drückte die Augenbrauen zusammen. »Du bist gut informiert. Waren es die Grufties?« »Wer sonst? Und ich weiß jetzt, daß sie uns nicht grundlos gerufen haben.« Während meiner Worte hatte ich mich gebückt, um den Toten zu untersuchen. Sein Körper hatte sich nicht aufgelöst, dafür war er verbrannt worden. Die Hände sahen aus wie altes Holz, das im Feuer gelegen hatte. Nur am Gesicht hatte sich nichts verändert. Als ich vorsichtig darüber hinwegstrich, da spürte ich einen Widerstand, der aus allem möglichen bestand, nur nicht aus Haut. Der Tote trug tatsächlich eine starre, wenn auch dünne Maske, die ich ihm abzerrte. Darunter kam ein ebenfalls schwarz verkohltes Gesicht zum Vorschein. Nur die Augen schimmerten heller. Sie sahen aus wie verdrehte und blankgeputzte Champignons. Ich richtete mich wieder auf und ging schweigend auf meinen Gegner zu. An der offenen Tür zu ihrem Home hatten sich die Grufties versammelt und schauten mir zu. Mein Kreuz hatte die andere Gestalt radikal zerstört und sie praktisch aufgelöst. Bis auf die Maske war sie zu Staub geworden, aber die lag in einem schiefen Winkel auf der Seite. Sukos Schatten fiel auf mich nieder. »Das sieht aus, als hätte sich unser Freund Asmodis wieder etwas Besonderes ausgedacht.« »Kannst du wohl sagen.« Suko deutete auf die Grufties. »Kleine Frage am Rande. Was haben die denn damit zu tun?« »Sie hätten wahrscheinlich zu dem werden sollen, was da vor uns liegt. Der Teufel hat es auf sie abgesehen gehabt und seine Freunde, die Satanisten, geschickt.« »Aber die Grufties wollten nicht, nehme ich an.« »So ist es.« »Weißt du denn mehr über die Satanisten?«
»Leider nein. Ich nehme aber an, daß sie diesen Totengräber entführt haben.« »Wer ist das?« »Ein Gruftie.« Sady hatte ihren Schock überwunden und kam auf uns zu. Sie zitterte trotzdem und schüttelte sich, als würden Kälteschauer über ihren Körper hinweggleiten. »Glaubst du mir jetzt, Geisterjäger?« fragte sie. Suko bewegte leicht seinen Kopf, als er hörte, daß diese Person mit einer weiblichen Stimme sprach. Man konnte sie beim ersten Blick wirklich nicht als Frau einstufen. »Ja, ich glaube euch.« »Mehr wollte ich nicht.« Sie strich über ihren Modeschmuck, als könnte er sie beruhigen. »Es war Zufall, daß ihr im richtigen Augenblick hier aufgetaucht seid. Wir hätten gegen die beiden keine Chance gehabt. Sie sind brutal, sie sind grausam, sie hätten uns geholt. Wie unseren Freund, den Totengräber. Jetzt glaube ich nicht mehr, daß er am Leben ist«, erklärte sie mit dumpfer Grabesstimme und starrte einfach ins Leere gegen ihre Fußspitzen. Ich hob die Schultern. »Es ist nicht gut, was hier passiert ist. Ich hätte sie lieber lebend gehabt. Da hätte ich von ihnen erfahren können, was dahinter steckt. So ist die Spur wieder einmal abgeschnitten, ohne daß wir sie noch haben aufnehmen können.« Sady war anderer Meinung. »Jetzt ist wenigstens etwas passiert, John. Die anderen müssen handeln. Du hast sie gezwungen und du auch, Suko.« »Du kennst mich?« »Ja, ihr gehört doch zusammen. War gut, euch mal im Einsatz zu erleben.« Mein Freund grinste nur und ging dann weg. Er würde die Kollegen alarmieren, damit die Leichen oder deren Überreste abgeholt werden konnten. Ich dachte über den Besuch der Satanisten nach und fragte mich, was sie nach dieser Entführung der Grufties, die sicherlich bevorgestanden hatte, überhaupt gewollt hatten? Wo lagen ihre Ziele? Welche Vorgaben hatte ihnen der Teufel gegeben? Wahrscheinlich hatten die Satanisten die Grufties umdrehen und in ihren Club aufnehmen wollen, denn sie gingen davon aus, daß Personen aus diesem Dunstkreis schon anfällig genug für teuflische Methoden und Spiele waren. Es war eine vertrackte Lage. Ich hatte das Gefühl, Schwefeldämpfe einzuatmen. Das konnte auch Einbildung sein und auch am Wetter liegen, aber möglich war es schon. Ich drehte mich um, weil Suko zurückkehrte. Sady war zu ihren Freunden gegangen. In der relativen Helligkeit des Tages wirkten die
Mitglieder der Gruppe wie Theaterstatisten, die auf ihren Auftritt warteten. »Die Leichen werden abgeholt«, erklärte mir mein Freund. »Ich aber frage dich, wie es weitergeht. Daß es nur zwei Satanisten geben soll, kann ich mir nicht vorstellen.« »Es gibt da etwas, das du nicht weißt. Sady hat von einer GespensterGruft gesprochen, die so etwas wie der Stützpunkt dieser Satanisten sein soll und gleichzeitig eine Insel, die vom Teufel regiert wird. Das hat sie mir gesagt. Sie weiß es von den Satanisten, denn die Grufties sollten in die Gespenster-Gruft gelockt werden, um dort dem echten Teufel zu dienen und sich ihm Untertan zu machen.« »Wo liegt die Gruft?« »Das weiß ich nicht.« Suko blieb pragmatisch. (* sachbezogen) »Aber du hast schon an einen Friedhof gedacht, nehme ich an?« »Natürlich.« Er grinste, denn er hatte am Klang meiner Antwort erkannt, daß ich keine Lust hatte, sämtliche Friedhöfe in London und Umgebung abzusuchen. Wir mußten eine andere Möglichkeit finden. »Als was stufst du die Satanisten denn ein, wenn du dir noch einmal alles durch den Kopf gehen läßt?« Ich versuchte, ein nachdenkliches Gesicht zu machen, um meine Verlegenheit zu verbergen. »Ich sprach mit Sady von irgendwelchen Zombies und überlege schon, ob das zutrifft.« »Zumindest teilweise.« »Wieso?« »Sie haben nichts gesagt. Sie haben nur gehandelt.« »Weil sie einen Auftrag hatten.« Suko nickte. »Stimmt auch. Einigen wir uns auf ein Zwischending zwischen Mensch und Zombie. Ein Teufelsdiener, der der Hölle mit Haut und Haaren verfallen ist.« Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Sady kam wieder zu uns. Sie machte einen nervösen Eindruck, kein Wunder. Zudem war sie noch bleicher geworden als zuvor, schaute sich um, als wäre sie dabei, auf eine Horde von Satanisten zu warten. Sie leckte über ihre schwarzgrün geschminkten Lippen und erklärte uns dann, daß ihre Freunde und sie Angst hätten. »Das ist begreiflich«, sagte ich. Sie war enttäuscht. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« »Warum sollte ich?« »Aber es geht um uns. Wir stehen auf der Liste. Wir wissen nicht, wohin wir sollen. Du mußt für unsere Sicherheit sorgen, Geisterjäger. Das bist du uns schuldig. Es gehört auch zu deinem Job. Ich wollte ja mit dir zu dem Totengräber fahren, jetzt habe ich es mir überlegt. Ich will meine
Freunde nicht im Stich lassen. Wir brauchen einander. Wir müssen zusammenhalten.« »Das verstehe ich sehr gut, Sady. Nur stehen wir wieder am Beginn. Wir wissen noch immer nicht, wo wir den Hebel genau ansetzen sollen. Das ist eben unser Problem.« Sie wiegte den Kopf. »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit? Ich habe von dieser Gespenster-Gruft gehört. Wenn wir sie finden, dann ist das die halbe Miete. Vielleicht finden wir dort auch den Totengräber. Sie haben einige Male von der Gruft gesprochen. Der Teufel soll dort ein Erbe hinterlassen haben. Unheimliche Geister oder Gespenster, die sich in der Gruft aufhalten. Da soll dann die Verwandlung geschehen, glaube ich. Der Teufel ist dort so stark wie in der Hölle. Er hat in der Gruft etwas hinterlassen, vor dem ich mich fürchte. Ich möchte da auch nicht hineingezogen werden.« Mein Lächeln fiel etwas kantig aus, als ich fragte: »Kannst du uns denn sagen, wo wir die Gruft finden? Kennst du so etwas wie einen Anhaltspunkt?« »Sie muß auf einem Friedhof sein.« »Da gibt es zu viele davon.« »Sonst weiß ich auch nichts.« Unsere Unterhaltung wurde unterbrochen, da die Kollegen eintrafen. Sie kamen mit zwei Wagen. Der größere war für den Abtransport der Leichen bestimmt. Die Gesichter zeigten keine Freude, als sie uns sahen. Zudem setzte auch ihnen die Hitze zu. McDorin, der Einsatzleiter aus Irland, schwitzte am stärksten. Sein blondes Haar wuchs nur mehr als Flaum auf dem Kopf. Er trug ein weißes, durchgeschwitztes Hemd und hatte die Ärmel hochgekrempelt. »Bei dem Wetter macht nichts Spaß«, sagte er, »und es wird erst richtig ärgerlich, wenn ich so Typen wie euch sehe, die mir noch Arbeit machen.« Er nickte. Das hatte er loswerden müssen. Dann deutete er auf die Grufties. »Was sind das denn für Gestalten? Startet hier bald ein Maskenfest?« »Das sicherlich nicht.« »Ist auch nicht meine Sache.« Er hob die Schultern, drehte sich um und kümmerte sich um die beiden Toten. Zwischen Gürtel und Hose hatte er sich die Zeitung auf den Rücken geklemmt. Als McDorin Anweisung gab, die erste Leiche anzuheben, rieselte Staub aus den Kleideröffnungen. Er fluchte und schüttelte den Kopf. Eine Bemerkung verkniff er sich, denn wer mit uns zusammenarbeitete, dem wurde zwangsläufig einiges geboten. Seine Männer schwitzten ebenfalls. Sie gingen gebeugt, als würde sie die Schwüle nach unten drücken. Über ihre Lippen drang kein Wort. Dafür sprach McDorin mehr. Diesmal meinte er uns beide. »Ich habe
euch ja etwas mitgebracht. Wird euch interessieren, falls ihr nicht schon Zeitung gelesen habt.« Das hatten wir zwar, aber nicht das Massenblatt, das er aus dem Gürtel hervorzog und sich damit zunächst einmal Luft zufächerte. »So etwas sollte euch interessieren.« Suko nahm die Zeitung an sich, faltete sie auseinander, so daß sein Blick auf die Titelseite fiel. Ich stand neben ihm. Zugleich lasen wir den in dicken Lettern gesetzten Text, der zudem noch mit einem dunkelroten Balken unterstrichen war. SATANISTEN IN LONDON! Wir lasen und schwiegen. Zuerst schüttelte Suko den Kopf, dann ich, und ich hörte, wie mein Freund flüsterte: »Das gibt es doch nicht.« McDorin hatte den Satz mitbekommen. »Na, was sagt ihr dazu? Da seht ihr ziemlich alt aus. Habt ihr auch nicht gewußt, wie? Ich dachte mir, daß ich die Zeitung mal mitnehme.« »Damit haben Sie uns einen riesigen Gefallen getan«, erklärte ich ihm. »Das trifft mitten ins Schwarze.« »Wieso?« »Wir arbeiten daran«, erklärte Suko trocken. McDorin brauchte eine Weile, um das zu begreifen. »Nein, sagt nicht, daß diese Toten hier mit den Satanisten in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen.« »Direkter geht es nicht.« »O je, da wird man doch verrückt.« Was er sagte, interessierte uns nicht, denn es war nicht allein die Überschrift, die uns reizte, sondern auch das große Foto auf der ersten Seite. Es war bei Dunkelheit aufgenommen worden, hatte aber trotzdem eine gute Schärfe und stimmte auch in der Perspektive. Wer hier geknipst hatte, gehörte nicht zu den Laien. Im Mittelpunkt des Bildes standen drei in Schwarz gekleidete Gestalten, die Suko und mir irgendwie bekannt vorkamen, besonders was ihre Kleidung anging. Die gleiche Kluft hatten auch die beiden Typen getragen, die von uns ausgeschaltet worden waren. Nur waren diese hier nicht mit Flammendolchen bewaffnet, und sie standen vor einem mächtigen Hintergrund, der aussah wie ein alles beherrschender Schatten. Ich deutete auf den Schatten. »Könnte eine Mauer sein.« Suko überlegte und kam zu einem anderen Entschluß. »Oder die Außenwand einer Gruft.« »Die Gespenster-Gruft?« »Richtig.« »Das könnte hier sein.« Ich drehte mich um und rief Sandy herbei. Sie löste sich von ihrer Gruppe, und ich sah, daß sie frische Schminke
aufgetragen hatte. Es war noch schwüler geworden. Schwer wie Blei lag die Luft auf unseren Köpfen. Der Himmel wirkte an manchen Stellen wie grau schraffiert. Es ging kein Wind. Jede Bewegung ließ uns schwitzen, und ich verspürte einen hemmungslosen Durst. »Was gibt es denn?« fragte der weibliche Gruftie und strich mit seiner flachen Hand über den Pferdeschwanz. Ich hielt Sady die Zeitung entgegen und tippte auf das Bild. »Sagt dir das etwas?« Sie schaute hin, ging dabei sogar in die Knie, runzelte die Stirn, bevor sie nickte. »Das sind die Schweine.« »Die Satanisten meinst du?« »Ja, genau die.« »Okay, das haben wir uns gedacht. Aber was befindet sich im Hintergrund? Kannst du davon etwas mehr erkennen?« Sady gab sich wirklich Mühe, doch sie schüttelte den Kopf und mußte passen. »Eine Mauer…?« Skeptisch blickte sie uns an. »Daran dachten wir auch.« »Wie wäre es denn mit einer Gruft?« fragte Suko. Sady atmete schnaufend ein. »Du meinst die Gespenster-Gruft?« »So ist es.« »Klar, das kann sie sein.« Sie redete schnell. »Verdammt, das muß sie sogar sein. Ist ja irre, daß wir davon eine Aufnahme haben. Jetzt müssen wir nur herausfinden, wo diese Gruft ist. Das wird doch für euch nicht so schwer sein. Dann haben wir ja auch unseren Totengräber gefunden. Der hockt bestimmt hinter der Mauer und dreht fast durch. Falls er dazu noch in der Lage ist.« »Es gibt einen noch einfacheren Weg«, sagte ich. »Wir brauchen nur herauszufinden, wer das Foto geschossen hat. Diese Person kann uns sagen, wo wir die Gespenster-Gruft finden.« »Super, eh!« Sady nickte anerkennend. »Manche Bullen sind doch nicht so dumm.« Ich ignorierte diesen Spruch und suchte in der Nähe des Bildes den Namen des Fotografen. Es gab ihn nicht, nur die Anfangsbuchstaben H. H. »Damit kann ich nichts anfangen«, sagte Suko. Ich frage McDorin. Er hatte soeben eine Dose mit Wasser geleert, wischte sich die Lippen ab, schaute sich die Buchstaben an, und dabei drückte er die Dose zusammen. »Nichts, Sinclair, gar nichts.« »Danke.« »Wofür?« »Daß Sie sich bei diesem Wetter die Mühe gemacht haben, nachzuschauen.« Ich grinste ihn so breit an, daß er seine Antwort hinunterschluckte.
Er erlaubte mir sogar, die Zeitung zu behalten. Dann ging er zu seinen Leuten und scheuchte sie in die Fahrzeuge. Ich schnappte mir noch den Fotografen, der zu unserem Team gehörte. Er war ein dürrer, knochiger Mann mit langen, braunen, fettigen Haaren. Ob er nun nach Knoblauch oder Schweiß roch, so genau war das nicht festzustellen, jedenfalls zeigte sein kariertes Hemd dunkle Flecken. Gestreckt hielt ich ihm die Zeitungsseite entgegen. Auch er konnte mir das Rätsel der beiden Buchstaben nicht erklären. »Es gibt eben zu viele Kollegen. Leider«, fügte er hinzu. »Wäre die Konkurrenz nicht so groß, hätte ich auch einen besseren Job. So aber knipse ich Leichen bis zum Erbrechen.« »He, Mike, komm endlich her!« Der Knipser folgte McDorins Ruf und verschwand. Die Wagen brausten davon. Die Auspuffwolke stand noch einige Zeit in der Luft, wurde nur langsam verweht. »Was wollt ihr denn jetzt machen?« fragte Sady. Suko nahm mir die Zeitung aus der Hand. »In der Redaktion anrufen und uns die Adresse des Fotografen durchgeben lassen.« Sady lachte. »Stark, hätte ich auch getan.« Suko verschwand im Wagen. Ich gesellte mich noch zu den Grufties, die ziemlich betreten dreinschauten. Der Knabe mit den Rastazöpfen spielte mit den ›Strippen‹ und ließ die kleinen Totenköpfe gegeneinander klingeln. Wie die anderen, so machte auch er auf mich einen etwas unsicheren Eindruck. »Wenn ihr mich fragt«, sagte ich, »dann würde ich euch raten, von hier zu verschwinden. Diese beiden, die wir erledigt haben, sind ja nicht allein. Es werden andere kommen und sich erkundigen, warum ihre Freunde verschwunden sind.« Sady nickte. »Das habe ich auch schon gesagt.« »Und wo wollt ihr hin?« Sie schauten sich an. Eine Antwort wußte keiner von ihnen. Schließlich hatte die schwarze Braut eine Idee. »Wir könnten, wenn wir uns nicht trennen wollen, dorthin gehen, wo der Totengräber gewohnt hat. Da werden die Satanisten bestimmt nicht auftauchen.« Ich teilte den Optimismus nicht. »Seid ihr da so sicher?« »Klar.« »Sorry, ich nicht.« Die Braut schob ihren Schleier zurück. »Haben Sie denn einen besseren Vorschlag, Mister?« »Und ob. Geht nach Hause, dann…« Sie widersprachen in der Gruppe. »Das auf keinen Fall. Wir wollen zusammenbleiben. Wir müssen es durchstehen.« »Oder Schutzhaft?«
Auch mein letzter Versuch scheiterte. Keiner wollte in den Knast, auch nicht freiwillig. Sie brauchten ihre Freiheit, sie wollten nicht eingesperrt sein. Ich mußte dies akzeptieren, bat aber um die genaue Anschrift, was den Grufties Probleme bereitete, denn eine Straße oder eine Hausnummer waren nicht vorhanden. So erfuhr ich nur die Lage. Wir konnten die Hütte oder Laube in einem Gartengebiet in den südlichen Themseauen finden. Die Grufties blieben dabei, obwohl ich es noch einmal versuchte. Sie ließen sich nicht überreden. »Okay, dann viel Glück. Wenn etwas ist, ihr wißt ja, wo ihr uns finden könnt.« »Sicher, Geisterjäger!« Sady lächelte mir zu. Sie nickte und drehte sich weg. Ich traute ihnen nicht über den Weg. Nicht daß ich sie als gefährlich eingestuft hätte, nein, da war etwas anderes, das mich doch stutzig gemacht hatte. Ihr Verhalten in den letzten Minuten hatte mir nicht gefallen. Mir lag kein Beweis vor, aber ich wurde den Eindruck nicht los, daß sie mehr wußten, als sie zugegeben hatten. Bestimmt würden sie uns noch über den Weg laufen. Suko wartete im Wagen auf mich. Er lächelte wie jemand, der Erfolg gehabt hat. »Und?« fragte ich beim Einsteigen. »Der Mann heißt Harry Heister. Er lebt in Soho. Ich habe alles, was wir brauchen.« »Wie schön, dann nichts wie hin.« Ich schlug die Wagentür zu und kam mir vor wie in einem Grill. »Er scheint nicht im Haus zu sein.« »Hast du angerufen?« Suko nickte. Dabei machte er ein Gesicht, das mir nicht gefiel. Ich furchte die Stirn. »Denkst du daran, daß der gute Harry Besuch bekommen hat?« »Ist ja nicht auszuschließen – oder?« »Leider.« Ich schnallte mich an und startete. Noch ein Blick zurück, der Platz vor dem Gruftie-Home war leer. Die Gruppe hatte sich zurückgezogen. Langsam rollte der Rover auf eine schmale Gasse zu. Die Luft kam mir dick wie Suppe vor, die erst durch die Kühlerschnauze des Fahrzeugs eine Lücke bekam. Suko, der mich ziemlich gut kannte, fragte: »Dir gefällt der Fall nicht – oder?« »Bingo, Alter. Ich denke, daß da noch einige Überraschungen auf uns zukommen werden…«
*** Die Kerzen brannten noch immer. Sady hatte die Tür geschlossen und war so weit vorgegangen, bis sie ihre vier Freunde gut sehen konnte. Sie alle dachten das gleiche, sagten aber nichts und überließen Sady, eine Frage zu stellen. »Wißt ihr ebenso Bescheid wie ich?« Nicken. »Dann wäre ich dafür, daß wir uns den Friedhof mal genauer anschauen. Vor allen Dingen die Gespenster-Gruft. Ich denke, wir sollten den Totengräber nicht im Stich lassen.« »Und wenn die Satanisten kommen?« fragte die Braut. Sady winkte ab. »Wann denn? Jetzt? Nein, die erscheinen in der Nacht. Am Tage haben sie uns noch nie besucht.« »Die sind bestimmt in der Gruft«, sagte der Rasta-Gruftie. Sady überlegte. »Dann warten wir eben so lange, bis sie die Gruft verlassen haben und tauchen anschließend selbst ein.« Sie schaute sich mit glänzenden Augen um. »Ist das ein Vorschlag, oder ist das keiner?« Begeistert waren die Freunde nicht. Es widersprach auch keiner. Sie stimmten zu, und Sady war zufrieden. Bevor sie ihr Home verließen, bliesen sie noch die Flammen aus. Ihre Gesichter waren noch ernster und trauriger als sonst. Ein jeder von ihnen wußte, daß der Gang auch in der Hölle enden konnte. Und die ließ nun mal keine Lebenden zurück… *** Es hatte ziemlich lange gedauert, bis es Harry Heister gelungen war, das Lob der Kollegen und des Chefredakteurs zu verarbeiten. Das Bild und die Story waren der Hammer gewesen, und beides war zum richtigen Zeitpunkt erschienen, denn über extreme Vereinigungen und Gruppen wurde immer wieder berichtet, aber nie konkret, denn selbst gewiefte Reporter kamen an die Gruppen nicht heran. Es war zudem noch keinem gelungen, sich einzuschmuggeln. Jetzt aber hatte Harry sogar das Foto geschossen. Einfach super. Er war die gesamte Nacht über in der Redaktion geblieben und hatte seinem Spitznamen Kugelblitz alle Ehre gemacht, denn er war überall zu finden gewesen und nie an einem Platz geblieben. Wie ein Irrwisch war er durch die Redaktionsräume gelaufen, hatte mit einem Kollegen die Story gebastelt und seine eigenen Erlebnisse groß herausgestellt, ohne das allerdings übertreiben zu müssen. Wie er den Satanisten entwischt war, das war schon filmreif gewesen.
Literweise hatte er den Kaffee in sich hineingeschüttet. Zuviel dabei gequalmt, was er am anderen Tag wieder ausgleichen wollte. Wichtig war einzig und allein die Geschichte. Und die saß! Schließlich konnte er nichts mehr ändern, berichtigen oder noch Zeit herausschinden. Die Zeitung ging in Druck, die Rotationsmaschinen liefen an, und Harry besorgte sich nur noch eines der ersten Exemplare, bevor er nach Hause fuhr, das Telefon abstellte und sich todmüde in sein ungemachtes Bett warf. Er schlief wie ein Bär im Winter. Fiel förmlich in das große Loch hinein und hatte das Gefühl, als wäre er für eine Ewigkeit versunken. Das stimmte nicht. Irgendwann wachte er auf, fühlte sich noch immer wie durchgedreht, und in seinem Mund hatte er einen Geschmack, für den er keinen Begriff fand. Als hätte er auf alten Socken gekaut, die seit Wochen nicht mehr gewaschen worden waren. Müde rollte er sich aus dem Bett, torkelte in Richtung Bad und ließ Wasser über seinen Kopf laufen. Der dumpfe Druck verschwand nicht, sogar die Müdigkeit blieb noch, und er dachte darüber nach, daß er in der letzten Nacht keinen Alkohol getrunken hatte. Dennoch fühlte er sich kaputt. Harry Heister legte sich noch einmal hin. Er lag kaum, da sackte er wieder weg und wurde wach, als der Mittag bereits in den Nachmittag überging. Es war hell! Harry stand auf. Diesmal fühlte er sich besser. Er tappte zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Sein Gesicht verzog sich, als er nach draußen schaute. Die Luft dort war einfach widerlich. Eine Sonne konnte er nicht sehen. Sie hatte sich hinter der dicken Wolkendecke versteckt. Das war keine Luft mehr, sondern ein Zustand. Kein Windhauch, die Schwüle ließ so etwas nicht zu. Sie war einfach widerlich und lagerte sich wie etwas Fremdes ab, das den Lebewesen feindlich gesonnen war. Nichts für Menschen, die an Herz- oder Kreislaufschwäche litten. Dort draußen herumzulaufen, glich einer Tortur. Trotz der schlechten Luft schloß er das Fenster nicht. Der Mief in seiner Schlafbude war auch nicht besser. Das Telefon ließ er abgestellt. Er horchte auch nicht in den Anrufbeantworter hinein, Harry wollte einfach in Ruhe gelassen werden. Im Bad hockte er sich auf den schmalen Wannenrand und dachte über seinen letzten Job nach. Das war schon haarig gewesen, aber nichts Neues für ihn. Harry Heister setzte sich immer mehr als hundertprozentig ein, wenn er an einem Fall arbeitete. Danach allerdings brauchte er zunächst einmal eine längere Pause, da mußte sich der Akku wieder aufladen. Das gestand man ihm
auch zu, denn während der Aufladephase überlegte er sich bereits, welchen neuen Fall er angehen wollte. Er nahm eine Dusche, und allmählich fing sein Gehirn wieder an zu arbeiten. Er überlegte, er dachte nach, er ließ sich einige Dinge durch den Kopf gehen und hatte plötzlich das Gefühl, als hätte sich das warme Wasser von allein in Eiskörner verwandelt, die gegen seine Haut schlugen. Harry dachte über den Grund dieses Gefühls nach und brachte ihn mit einer bestimmten Tatsache in Zusammenhang. Es hing mit den Fotos zusammen. Er hatte sie geschossen, und sie waren veröffentlicht worden. Tausende würden nach der Zeitung greifen und die Story lesen und sich natürlich auch mit dem großen Foto beschäftigen, auf dem die drei Satanisten zu sehen waren. Zwar nicht so deutlich wie auf einem Porträtfoto, aber Gesichter waren schon zu erkennen. Und sicherlich würde es einige Leute geben, die sich an die Satanisten erinnerten. Harry Heister hatte sie praktisch aus der dunklen Tiefe ans Tageslicht gezerrt. Und genau das konnte ihm sehr übelgenommen werden. Und zwar von den Satanisten selbst. Sie würden in Erfahrung bringen, wer die Aufnahmen geschossen hatte. Harry stieg aus der Dusche. Er kam sich vor, als hätte er überhaupt nicht geduscht. Kalt rann der Schauer an seinem Rücken entlang. Das Bad erinnerte ihn plötzlich an ein Gefängnis. Sehr schnell trocknete er sich ab. In der schwülen, feuchten Luft kam er sich vor wie in einer Sauna, in die der Teufel seinen heißen Atem hineingeblasen hatte, um ihm noch mehr Angst zu machen. Er flüchtete aus dem Raum in das kleine Schlafzimmer, wo das Fenster nach offenstand und sich die schwüle Luft wie eine dicke Wand hineindrückte. Er stöhnte auf. Schwer ließ sich Harry auf das Bett fallen. Dann preßte er seine Hände gegen das Gesicht und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. Harry Heister gehörte zu den Menschen, die immer scharf auf heiße Reportagen waren. Angst hatte er früher nicht gekannt, aber jetzt war alles anders geworden. Sie hatte ihn erwischt wie ein vergifteter Stachel, und er sah sich zudem nicht mehr in der Lage, ein Gegengift zu finden. Die Furcht steckte in ihm! Er zog sich an. Das bunte Hemd, die leichte Leinenhose, die schon zerknittert war, aber das gehörte dazu. Durst hatte er bekommen. In der winzigen Küche kochte er sich einen Kaffee. Das Getränk rann heiß durch seine Kehle. Er fühlte sich trotzdem nicht wacher. Nichts peitschte ihn auf, nichts war da, was seinen inneren Zustand verändert hätte. Nur die Furcht blieb.
Er rauchte die erste Zigarette, hustete noch die letzten Schäden der Nacht hinaus und ging zum Fenster, um sich nach draußen zu lehnen. Sein Blick fiel hinein in die dumpfe Welt, die wie ein fremder Gruß über dem Ort schwebte. Ein düsteres Bleigrau, dick wie ein Sack, ohne einen erfrischenden Windstoß. Hier war Soho noch alt und unübersichtlich. Die großen Renovierer hatten es noch nicht geschafft, dieser Gegend Gewalt anzutun. Das Leben lief in diesem Viertel in genau geregelten Bahnen ab. Hier kannte jeder jeden. Der Pizzabäcker die Nutte, die Nutte die Hausfrau und diese wiederum den Gemüsehändler. Auch Harry Heister gehörte dazu. Wenn er sich vorbeugte, sah er den Betrieb. Die Straße war zwar schmal, aber das Leben hatte hier seine Zeichen gesetzt. Bunt, gemischt, jung und alt kannten und akzeptierten sich, auch wenn es mal eskalierte. Dann aber hatte jemand die Spielregeln verletzt. Heister hielt es in seiner Wohnung nicht mehr aus. Er wollte nach unten gehen, sich mit den Leuten unterhalten, denn es konnte ja sein, daß sich jemand nach ihm erkundigt hatte. Er glaubte fest daran, daß die Satanisten bereits seine Spur aufgenommen hatten. Wenn ja, würde er sich etwas einfallen lassen müssen. Als er bereits die Hand auf die Türklinke der Wohnungstür gelegt hatte, hörte er wieder das Klingeln des Telefons. Harry zögerte noch. Den plötzlichen Schweißausbruch konnte er sich nicht erklären, dann aber schüttelte er den Kopf. Sollte ihn anrufen, wer wollte, er würde nicht abheben. Es war ihm zudem egal, ob ihn jemand aus der Redaktion sprechen wollte. Mit denen würde er sich noch in Verbindung setzen, allerdings von außerhalb. Harry Heister verließ die Wohnung. Er strich durch seinen Bart und entfernte letzte Wassertropfen aus seinem ›Sauerkraut‹. Die Tür zog er vorsichtig zu, schaute sich auch um, bevor er in den Flur trat, aber keiner hatte auf ihn gewartet. Einen Lift gab es nicht. Er mußte die vier Stockwerke zu Fuß nach unten gehen. Nicht so locker wie sonst. Stufe für Stufe, die er sehr vorsichtig nahm. In den Etagen ballten sich die Schatten zusammen. Durch die Treppenhausfenster fiel zwar Licht, doch nicht sehr hell, sondern wie ein grauer Schwamm, der sich nebelartig ausbreitete. Er lauschte seinem eigenen Herzschlag und erschrak, als in seiner Nähe eine Tür geöffnet wurde. Zwei Männer verließen die Wohnung. Schweiß stand auf ihren Gesichtern. Sie zuckten zusammen, als Harry sie anstarrte. Er hatte nur wissen wollen, ob es die Satanisten waren, da
hatte er Glück. Es waren zwei Typen aus der Nachbarschaft, die von allem möglichen lebten, nur nicht von geregelter Arbeit. Sie grinsten Harry an. »Du siehst blaß aus.« »Ja, mir ist auch nicht gut.« »Das Wetter?« »Auch.« Sie wollten weiter, aber Harry hielt sie fest. »Eine Frage noch, Freunde, wie sah das eigentlich aus heute? Hat schon jemand nach mir gefragt? Ich meine, hier im Haus.« »Wer denn?« »Keine Ahnung.« »Hör zu, Blitzlicht. Nach dir hat sich niemand erkundigt. Alles klar?« »Ja, ist okay.« »Dann heißen Schiß noch.« Harry schaute den beiden schrägen Typen nach, als sie die Treppe hinabgingen. Sie wohnten nicht hier im Haus, aber sie hatten jemand besucht. Als unten die Haustür zufiel, öffnete sich die Etagentür spaltbreit, und das verheulte Gesicht einer Frau erschien im Ausschnitt. Es war Gina, die hin und wieder anschaffte. Wahrscheinlich war sie in ein fremdes Revier geraten und hatte Ärger bekommen. Hastig hämmerte sie die Tür wieder zu, kaum daß sie den Fotografen gesehen hatte. Harry hob die Schultern und setzte seinen Weg fort. Der untere Flur war lang und düster, wie oft in diesen älteren Häusern. Über der Haustür befand sich ein Lichtviereck, durch das etwas Helligkeit strömte, einen Teil des Flurs aber auch im Schatten ließ. Ob sie dort gelauert hatten oder woanders, das konnte Harry Heister nicht feststellen. Jedenfalls waren sie plötzlich da, und es waren die Satanisten, die ihn überwältigten. Sie schlugen zu. Harry sah die Gesichter wie durch eine Explosion zerstört werden. Dann gingen für ihn die Lichter aus… *** Es stank nach Moder, nach feuchter Friedhofserde und auch nach Grab. Diesen Geruch nahm Harry wahr, als er aus seiner kurzen Bewußtlosigkeit erwachte, es sogar schaffte, den Druck und die Schmerzen in seinem Kopf zu ignorieren, um sich dann auf die Realitäten konzentrieren zu können. Die waren gar nicht gut. Er lag auf dem Boden, und drei Männer umstanden ihn. Sie hatten ihn in die hintere Ecke des Kellers geschleift, zwei Kerzendochte angezündet und eine für ihre Aufgabe entsprechend schaurige Beleuchtung geschaffen.
Sie starrten ihn an. Menschliche Gesichter, die sich von der dunklen Kleidung abhoben, aber mit einer Kälte in den Blicken, die mit dem Begriff Menschlichkeit nichts mehr zu tun hatte. »Du weißt, wer wir sind?« Der größte von ihnen hatte die Frage gestellt, und Harry spielte zunächst einmal den Dummen. »Kann sein, aber mein Gedächtnis…« Er bekam einen Tritt. Harry schrie auf und wälzte sich auf die Seite. Jemand zerrte ihn auf die Füße und donnerte ihn gegen die Wand. Es war der Sprecher, der ihn festhielt und aus kurzer Distanz in sein Gesicht schaute. »Ich bin Gig Serrano, und man sagt mir nach, daß ich überhaupt keinen Humor habe, du kleiner Scheißer…« »Verstanden.« »Wie schön.« »Was wollt ihr von mir?« Serrano hatte ein breites Gesicht mit einer flachen Nase. Man konnte ihn auch als Fischgesicht ansehen. »Wir wollten nur den kennenlernen, der uns so nett fotografiert hat. Wir haben ja nichts gegen Fotos, aber wir haben etwas gegen Typen, die uns ablichten, ohne uns zuvor gefragt zu haben. Das hast du getan, Harry. Finden wir nicht gut, überhaupt nicht gut. Du hast sicherlich dein Honorar schon bekommen, wir aber werden es uns noch holen, und zwar von dir, Harry. Ja, du wirst uns bezahlen, stell dir das mal vor.« Heister schwieg. Der andere drückte seine Finger gegen Harrys Hals, er nahm ihm die Luft, und Heister würgte. Wenn er weitermachte, brachten sie ihn einfach um. Seine Knie gaben nach, nur stürzte er nicht zu Boden, denn er wurde abgefangen. Die Hand verschwand von seiner Kehle, eine andere hielt ihn fest, und aus dem Hintergrund fragte einer der beiden anderen Satanisten: »Liebst du Friedhöfe?« »Nein, ich…« »Da werden wir dich hinbringen. Wir besorgen dir einen wunderbaren Platz zum Sterben.« Harry schwieg. Ein dicker Kloß saß in seiner Kehle. Die drei verstanden alles, nur keinen Spaß, und das wußte er auch. Er würde es nicht schaffen, sie durch irgendwelche Ausreden hinzuhalten, deshalb fuhr er auf der Kompromißschiene weiter und nickte. »All right, ich bin derjenige gewesen, der euch geknipst hat. Verdammt, es ist mein Job gewesen, versteht ihr das? Ich muß hinter gewissen Fällen hersein, um meine Brötchen zu verdienen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Man setzt mich ein, wenn es Ärger gibt, wenn Geschichten in ein Sommerloch gepackt werden müssen oder in eine leere Zeit.«
Gig Serrano nickte. »Das ist uns schon klar. Verstehen wir sogar. Ja, du hast unser vollstes Verständnis. Wäre ja noch schöner, wenn wir nicht zusammenhalten würden. Auch wir lieben das Besondere, aber wir lieben es nicht, wenn uns jemand dabei stört. Oder hast du es gern, wenn du bei der Arbeit gestört wirst?« »N… nein…« »Bingo, du Knipser. Alles klar. Du machst uns Spaß, wirklich. Richtig super bist du. Aber trotzdem, wir werden es anders machen müssen. Wir können nicht zusammenkommen. Du hast uns da etwas angetan, das wir nicht wollten. Und außerdem hättest du die Sache voll durchziehen müssen. Das ist dir nicht gelungen, deshalb werden wir vier eine kleine Spazierfahrt unternehmen.« Harry Heister ahnte wohin, er fragte trotzdem nach. »Zum Friedhof. Ja, zur Gruft. Dort kannst du dann den letzten Rest der Geschichte erleben. Nur ohne Kamera. Schade, wie…« Heister schwieg. Er wünschte sich, daß jemand von oben herab kam und in den Keller wollte, doch der Wunsch erfüllte sich leider nicht. Er und die Satanisten blieben allein. Die zwei anderen bewegten sich lautlos und schnell. Sie griffen zu, sie drückten seine Arme nach hinten und hielten ihn in einem Griff, aus dem er nicht mehr wegkam. Harry starrte zu Boden, was Serrano nicht gefiel. Seine Finger wühlten sich in Harrys Haar und zerrten den Kopf in die Höhe. So wurde er gezwungen, den anderen anzuschauen. Serrano grinste bösartig. »Und keine Faxen, mein Freund. Sonst bist du schneller in der Hölle, als du denken kannst.« Harry wollte nicken, er konnte es aber nicht, weil Serrano seine Haare und damit den Kopf noch immer hielt. »Und jetzt weiter.« Er ließ ihn los. Harry richtete sich so weit auf wie möglich. Die anderen beiden hielten ihn auch jetzt. Sie wollten auf Nummer Sicher gehen, als sie den Flur durchquerten und auf die Haustür zuliefen. Auch zwischen den schmutzigen Wänden stand die Luft. Es war unwahrscheinlich stickig. Harry Heister kam sich noch immer vor wie in einer Sauna. Hinzu kam die Angst, denn er malte sich schon aus, was wohl geschah, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Serrano glitt an ihm vorbei und ging als erster auf die Tür zu. Er strich dabei über sein schwarzes Haar, dem das Gel einen Glanzlackanstrich gegeben hatte. An der Tür blieb er stehen. »Unser Wagen steht in der Nähe. Versuch es nicht, wir sind besser.« »Okay!« krächzte Harry.
Serrano öffnete die Tür. Die beiden anderen Satanisten umklammerten Harrys Gelenke. Die Tür war offen. Sie schauten hinaus. Und sie sahen die beiden Männer, die schon auf der Schwelle standen und das Haus betreten wollten. Harry Heister kannte sie nicht, aber einer der beiden war seltsamerweise ein Chinese… *** Walter Cohn hatte das Gefühl für Zeit verloren! Er wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war. Er hatte es auch aufgegeben, durch die engen, unterirdischen Verliese zu irren und sich dabei über die Größe der Gruft zu wundern und nach einem Ausgang zu suchen. Irgendwann war auch für ihn die Einsicht gekommen, daß er aus dieser Falle nicht mehr herauskam. Die Gespenster-Gruft war eben für ihn zu einem gewaltigen Gefängnis geworden. Zuerst hatte er Furcht vor der Dunkelheit gehabt. Irgendwann hatte sich dieses Gefühl dann gelegt, und etwas Schlimmeres war eingetreten, das als Gefühl nicht bezeichnet werden konnte, sondern einzig und allein als eine Tatsache. Hunger und Durst! Über den Hunger kam er hinweg, über den Durst nicht. Der quälte ihn am schlimmsten, er verstärkte sich und entwickelte sich immer mehr zu einer Folter, die sein gesamtes Denken und Handeln bestimmte. Walter hatte das Gefühl, allmählich auszutrocknen, er irrte durch die alten Verliese, er fing an zu schreien, zu toben und hatte schließlich eine rettende Idee. Sie war ihm sehr plötzlich gekommen, fast schon überfallartig und auch in dem Verlies, das ihm am kühlsten vorkam. Er war gegen eine feuchte, moosige Wand geprallt, und dort hatte er dann die Steine und die Gewächse geleckt. Feuchtigkeit, Wasser… Tropfenweise hatte er es genossen, war an der Wand entlang nach unten gerutscht, auf die Knie gefallen und hatte immer wieder feuchte Stellen abgeleckt. Es war sein Elixier gewesen, und es hatte ihm geholfen, über den ersten Schrecken hinwegzukommen. Jeder Tropfen war ein Stück Leben gewesen, und am Leben bleiben wollte er. Nur nicht sterben, nur nicht in dieser verfluchten Gruft verrecken wie ein Tier in der Wüste. Er hatte dann das Moos gekaut. Immer wieder riß er handgroße Flächen mit zitternden Fingern von der Wand ab, und es störte ihn auch nicht,
daß kleine Tiere in diesem dichten Verbund umherkrabbelten. Er zerknackte sie mit den Zähnen und aß sie. Hin und wieder dachte er daran, daß diese Umgebung auch GespensterGruft genannt wurde. Von einem Gespenst jedoch hatte Harry bisher glücklicherweise nichts gesehen. Darauf konnte er auch verzichten, das übrige reichte ihm schon. Ein wenig kam er zu Kräften. Dann überwältigte ihn eine sehr große Müdigkeit, und es tat ihm gut, auf dem Boden zu liegen und einzuschlafen. Walter Cohn machte sich etwas vor. Er dachte daran, in seinem Bett zu liegen. Es war alles in Ordnung, die Dinge liefen, es war wunderbar, es gab keine Gruft, keine Gespenster, keine Mauern, keinen Hunger und auch keinen Durst. Es gab nur den tiefen, wunderbaren Schlaf. Aber auch der währte nicht ewig. Irgendwann stieg Walter wieder aus der bedrückenden Tiefe an die Oberfläche hervor und hatte dabei das Gefühl, durch Öl zu gleiten, das einen Schacht ausfüllte und ihm den entsprechenden Widerstand entgegensetzte. Der Widerstand war weich und schleimig, so daß es dauerte, bis er sich allmählich der oberen Grenze nähern konnte und aus den Schatten des Schlafs hinein in die brutale Wirklichkeit stieß. Er öffnete die Augen. Er wollte sich bewegen, aber etwas anderes hinderte ihn daran. Nie zuvor in seinem Leben oder nach einem Aufwachen hatte er einen derartig widerlichen und gleichzeitig trockenen Geschmack im Mund verspürt. Es war kaum zu erfassen, es war eine Mischung aus Gallenund Magensäften, die allesamt in seine Kehle gestiegen und dort eingetrocknet waren, als hätten sie eine Kristallspur hinterlassen. Walter bewegte seine Zunge. Schwerfällig, als wäre sie zuvor eingerostet gewesen. Dann drückte er seinen rechten Arm zur Seite. Auch diese Bewegung kostete ihn Kraft, und er folgte dabei einem Automatismus, denn jeden Morgen nach dem Aufwachen suchte er den Knopf der Nachttischleuchte. Heute griff er ins Leere! Er wunderte sich, er wartete ab, er faßte noch einmal nach. Aber da war nichts. Warum? Er öffnete die Augen. Dabei fiel ihm ein, daß sie schon offen waren. Erkennen konnte Walter Cohn nichts. Es war so dunkel, so schrecklich finster und lichtlos. Nicht wie in seinem Schlafzimmer. Da konnte er wenigstens noch Umrisse erkennen. Hier aber war nichts. Warum nicht?
Seine Gedanken bewegten sich wie träge Bleistücke. Er bekam sie noch nicht richtig geordnet, zuviel auf einmal strömte ihm durch den Kopf. Das war nicht gut, er kam nicht zurecht, er mußte sich erst sammeln und mit der neuen Lage zurechtkommen. Wo bin ich? Die Frage glich einem Schwert mit scharfer Klinge, das durch seinen Kopf raste. Plötzlich setzte er sich mit einem heftigen Ruck auf, spürte den Schwindel, der ihn überkam und ihn beinahe umriß. Alles drehte sich, obwohl er nichts erkennen konnte. Er atmete ein. Welch eine Luft! Fürchterlich! Alt und feucht, verbraucht, nach allem möglichen schmeckend, nach Verfaultem und auch nach Moder. Eine Luft, die sich wie Leim in seinem Mund festsetzte und auch dort klebenblieb. Er keuchte. Speichel lag nicht mehr in seinem Mund. Walter kam sich wie ausgetrocknet vor. Er strich über seine Handrücken hinweg. Auch hier war die Haut längst nicht mehr so geschmeidig wie sonst. Sie erinnerte ihn an dünnes Papier. Er stöhnte auf. Es war überhaupt der erste Laut, den er nach dem Erwachen über die Lippen rinnen ließ. Darüber erschreckte er sich selbst, bekam sogar eine Gänsehaut, obwohl es in seinem verfluchten Gefängnis alles andere als kühl war. Keine Lampe, kein Licht. Kein Wissen darüber, ob es Tag oder Nacht war. Diese Dinge zählte Walter Cohn zusammen und erreichte sogar ein Ergebnis, das den Namen Erinnerung verdiente. Sie hatten ihn gefangen! Diese Erkenntnis stand wie eine grell gedruckte Headline an der obersten Stelle. Gleichzeitig lösten sich aus dem großen Bereich der Erinnerungen zahlreiche Einzelteile, als hätte jemand ein Puzzle zerstört. Ihm fiel wieder ein, was mit ihm geschehen war, und als er darüber nachdachte, da war ihm klargeworden, daß die Chancen, aus eigener Kraft hier wegzukommen, minimal geworden waren. Nicht nur das. Es gab sie gar nicht. Er war gefangen, er blieb gefangen, er würde gefangen bleiben. Er war auf Hilfe von außen angewiesen, andernfalls würde er verrecken. Aus und vorbei! Er drehte sich auf die Seite. Plötzlich kamen spärlich die Tränen. Hinter seiner Stirn lauerte der Druck. Regelrechte Schmerzwellen zuckten durch seinen Schädel. Hinzu kamen die tränenlosen Weinkrämpfe, die einfach nicht aufhören wollten, und er kroch wie ein Tier auf allen vieren
weiter, weil ihm irgend etwas eingefallen war. Hervorgetaucht aus einer Erinnerung, die sich noch um sein Gefängnis drehte, in das man ihn gesperrt hatte. Wasser! Dieser eine Begriff schwebte ihm vor. Er hielt die Augen weit offen, und sein Unterbewußtsein spülte Bilder hoch, die er einfach nur als wunderbar ansehen konnte. Eine Halluzination, eine Fata Morgana in diesem verfluchten Verlies. Er sah gewaltige Wassermengen, die auf ihn zurollten, und er selbst lag dabei an einem herrlichen Sandstrand. Der Wind war aufgefrischt, er türmte das Wasser hoch zu gewaltigen Wellen, die sich noch einmal reckten, um danach auf ihn niederzufallen. Das aber geschah nicht. Bevor ihn die Wellen überspülten, brachen sie auseinander. Sie verschwanden, sie lösten sich auf, und es war nur mehr der Gischtrest, der vom Wind fortgeweht wurde. Wieder die alte Umgebung. Wieder die verfluchte Finsternis, angefüllt von einem heranschleichenden Grauen, denn Walter war davon überzeugt, daß sich ihm etwas näherte. Wie ein Untier kroch es heran. Es war nicht zu hören, nur zu fühlen. Kein Schleifen auf dem Boden, das Unheil kam lautlos. Es drang in seine Gedanken ein, formierte sich allerdings noch nicht zu einer konkreten Aussage, so daß ihn zunächst die Wirklichkeit festhielt. Das war die Wand. Er stieß mit der Stirn dagegen, wobei ihm der leichte Schmerz nichts machte. Zudem war der Stoß durch die weiche Moosschicht abgefedert worden. Weich und feucht… Die Erinnerung kehrte zurück. Er hatte das Moos abgeleckt und seine Zunge auch in die Ritzen des feuchten Mauerwerks hineingedrückt, um dort das Kondenswasser aufzunehmen. Das tat er auch jetzt. Es war wunderbar, er konnte nicht aufhören zu lecken. Walter erinnerte an eine Katze, die vor ihrem Teller mit Wasser saß und die Flüssigkeit schlürfte. Doch da waren kleine Pflanzen, die sich an der Mauer festkrallten. Im Magen spürte er durch sie einen seltsamen Druck. Ihm wurde leicht übel, dennoch rutschte er auf den Knien weiter und leckte an anderen, frischen Stellen. Wasser, nur Wasser… Das Zeitgefühl interessierte ihn nicht mehr. Urinstinkte drangen in Walter Cohn hoch. Jetzt wollte er nichts anderes tun, als am Leben zu bleiben, und das so lange wie möglich. Nie hätte Walter Cohn gedacht, daß es ihm möglich war, eine derartige Verbissenheit an den Tag zu legen. Er kämpfte sich vor. Er sagte sich,
daß mit jedem Tropfen, den er ableckte, ein Stück Energie in seinen Körper floß. Diese Energie machte ihn zwar nicht frisch, aber sein Zustand verschlechterte sich wenigstens nicht, und allein darauf kam es ihm an. Ein krächzender Ruf der Enttäuschung verließ seinen Mund, als er keine Flüssigkeit mehr ablecken konnte und auch nicht das weiche Moos unter seiner Zunge spürte. Da sank er zusammen. Nicht aufgeben! Nicht aufgeben! Nicht hinfallen, dann wird es schwer sein, wieder in die Höhe zu kommen. Er blieb am Boden, setzte sich allerdings mit dem Rücken an die Wand. Hier wollte er warten. Auf was warten? Als Walter sich mit dieser Frage beschäftigte, konnte er sein eigenes Lachen nicht unterdrücken. Für ihn hörte es sich an, als wären die Laute von einer fremden Stimme abgegeben worden. Furcht schüttelte ihn. Obwohl die verdammte Gruft groß genug war, kam sie ihm plötzlich eng vor. Er kannte nichts von einer Höhe, nichts von der Länge und auch nichts von der Breite. In einem leichten Anfall von Panik tastete er in die Runde. Er bewegte seine Handfläche über den Boden, er wollte herausfinden, ob seine Befürchtungen stimmten, und er fand ein Ziel. Seine Handfläche klatschte nicht mehr gegen den harten Untergrund. Sie traf etwas Weiches. Walter Cohn erstarrte. Unbeweglich wie eine Eisfigur bei starkem Frost hockte er auf der Stelle und hatte sich vorgenommen, über die Veränderung nachzudenken, was er aber nicht schaffte. Dieser weiche Widerstand… er… er ekelte ihn an. Was konnte das denn sein? Walter Cohn überwand sich selbst, als er seine Hand abermals bewegte. Er schob sie weiter vor, behielt dabei eine bestimmte Richtung genau bei und stellte fest, daß die weiche Masse unter seiner Handfläche zunächst noch blieb. Dann allerdings wurde sie abgelöst. Etwas anderes geriet zwischen seine leicht gespreizten Finger. Es fühlte sich dünn, strohig und gleichzeitig auch fettig an. Wie mageres Gestrüpp. Das war es nicht. Es waren Haare. Plötzlich wußte er Bescheid. Neben ihm lag eine reglose Gestalt! ***
Ein Toter! Das mußte einfach eine Leiche sein! Wie eine schrille Botschaft zuckten diese beiden Gedankenströme durch Walter Cohns Kopf. Plötzlich war er wieder voll da. Als hätte man ihm einen Schleier vom Gesicht gerissen, bekam er alles wieder klar und nüchtern mit. Er dachte jetzt daran, wo er sich befand, in einer Gespenster-Gruft nämlich. Und das Wort Gruft sorgte auch für eine indirekte Verbindung zu den Toten, denn in einer Gruft wurden Leichen bestattet. Da lagen sie dann, vermoderten und verfaulten. Ihre Knochen zerbröselten, wenn genügend Zeit vergangen war. Wie hätte er auch annehmen können, daß man ihn in eine leere Gruft gesteckt hatte! Irrsinn! Noch immer lag seine Hand auf der weichen Masse, die ein Gesicht war. Noch immer spürte er die Haarsträhnen in den Lücken zwischen seinen Fingern. Erinnerungen an fettige Ölbänder schreckten in ihm hoch, und er fing an, innerlich zu frieren. Er wollte die Hand wegnehmen, nur war das nicht möglich. Etwas zwang ihn, sie auf dem Gesicht liegen zu lassen. Wie ein Masochist, der sich selbst noch quälen wollte, bewegte er zuckend seine Finger, um die Kuppen in das weiche Fleisch hineinzudrücken, das sich aufgequollen und beulig anfühlte. Wieder schauderte Cohn. Das war so etwas wie ein Startsignal. Endlich brachte er es fertig, seine Hand vom Gesicht dieser starren Gestalt zu lösen, und er dachte jetzt darüber nach, ob er tatsächlich einen Toten angefaßt hatte, oder ob diese Gestalt nur bewußtlos war. Zumindest schloß er diese Möglichkeit nicht aus, denn auch er wäre fast vor Erschöpfung zusammengebrochen. Warum hätte es einer anderen Person nicht ähnlich ergehen sollen? Dabei wußte er nicht einmal, ob es sich bei dieser Person um einen Mann oder eine Frau handelte. Seine Hand rutschte wieder ab. Das Auffinden der bewegungslosen Gestalt hatte auch etwas Gutes gehabt. Ein Adrenalinstoß war durch seine Adern gejagt, er hatte wieder Kraft gefunden und schaffte es auch, einigermaßen klar zu denken. Nein, die Gestalt lebte nicht mehr. Er hätte etwas spüren müssen. Einen schwachen Atem zumindest, ein Zucken der Adern unter der dünnen Haut. Da war nichts gewesen… Walter Cohn rollte sich zur Seite, damit er näher an die Leiche herankommen konnte. Direkt aus der Nähe erwischte ihn der widerliche Geruch, und da wußte er Bescheid. Dieser süßliche und ekelhafte Gestank konnte nur von jemandem abgegeben werden, der sich im Zustand der Verwesung befand. Der bereits seit einigen Tagen tot war. Möglicherweise hatte auch dieses Opfer alles versucht, um der Gruft zu entkommen, vergeblich. Das
vorgeschriebene Schicksal hatte ihn ereilt, und plötzlich spürte Walter in der Brust die Beklemmung, als er daran dachte, daß auch er bald hier liegen würde. Verloren und tot… Dahinsiechen, vermodern, wobei zudem niemand wußte, wo er sich befand. Und diejenigen, die seinen Sterbeplatz kannten, würden sich hüten, darüber mit anderen zu reden. Das hatten die Satanisten nicht nötig. Sie trieben ihr eigenes Spiel und dienten einer weitaus gefährlicheren Macht, die mit Menschenleben nichts am Hut hatte, die mit ihnen spielte, weil ein Leben für sie nichts wert war. Walter Cohn hörte sich selbst keuchen. Seine Kehle war wieder trocken, überhaupt sehnte er sich nach Feuchtigkeit und wenn es nur Tropfen waren, die er von der feuchten Wand ablecken konnte. Es war schlimm, viel schlimmer, als er es sich hatte vorstellen können. Plötzlich hatte die Hölle ihren Rachen weit aufgerissen und war dabei, ihn zu verschlingen. Satan persönlich wartete auf ihn und seine Seele. Er kroch weiter. Für einen Moment hatte er die Orientierung verloren, er stieß gegen den Toten und berührte den Bauch, den er leicht eindrückte. Schauer überrollten ihn. Für einen Moment rebellierte der Magen, aber Walter machte weiter und wollte sich auf keinen Fall von irgendwelchen Dingen aufhalten lassen. Erst die dicke Gruftwand stoppte ihn. Er holte tief Luft. Seine Zunge schnellte hervor, sie glitt über rauhes Gestein hinweg, streichelte mit der Spitze weiches Moos, war auf der Suche nach Feuchtigkeit. Er riß wieder kleine Moosstücke aus dem Verbund, steckte sie in den Mund und kaute auf ihnen herum, um auch den letzten Tropfen Feuchtigkeit herauszusaugen. Er kaute, er spie den Rest aus, ihm wurde leicht übel, dann verließen ihn die Kräfte, und Walter Cohn brach wieder zusammen. Wie lange er auf dem Boden gelegen hatte, konnte er nicht sagen, sicher war nur, daß er noch lebte. Irgendwann war er wieder soweit, daß er die Umgebung klar erfassen konnte. Er rekapitulierte und kam zu dem Ergebnis – wie so oft schon –, daß er dieser Falle nicht mehr entkommen konnte. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, in dieser Gespenster-Gruft verhungern und verdursten zu müssen. Der Rest an Feuchtigkeit an der Wand und in der Moosschicht reichte einfach nicht aus, um die nächsten Tage zu überleben. Er würde eingehen und sterben. Ohne es bewußt zu merken, hatte er sich wieder hingesetzt. Die Wand diente seinem Rücken als Stütze. Dort hockte er, den Kopf gesenkt, voll seinen trüben Gedanken hingegeben und von leichter Panik geschüttelt. Das war wohl die letzte kleine Flamme, die in ihm loderte, ein
verzweifeltes Aufbäumen gegen den Tod, der trotzdem unweigerlich kommen würde. In seinem Kopf rauschte es, als würde Wasser durch die Adern fließen. Er spürte gleichzeitig einen harten, schmerzhaften Druck, und das Pochen hinter der Stirn verglich er mit den leichten Schlägen von Trommelstöcken. Da war noch etwas anderes. Zuerst bekam er es nicht richtig mit. Zwar hörte er es, registrierte es wohl, dachte darüber aber nicht weiter nach, denn es erinnerte ihn an Echos, die durch sein Gehirn tobten. Als wären irgendwo hohe, schrille Schreie aufgeklungen, die durch die finstere Gruft irrten, um in seinem Kopf ein Ziel zu finden. War er nicht mehr allein? Walter Cohn riß die Augen weit auf, obwohl dies keinen Sinn hatte, denn er bekam nichts mehr zu sehen. Die Dunkelheit war einfach zu dicht. Wie Watte lag sie über der alten Gruft. Feuchte Watte, die das Atmen erschwerte… Er stierte trotzdem nach vorn in die Dunkelheit hinein, weil er davon überzeugt war, daß sich dort etwas tat. Wieder dieser seltsame Laut. Ein leises Heulen oder Jaulen, das durch die Finsternis schwang und in seinen Ohren wetterte. Cohn saß starr. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Dieses unheimlich klingende Geräusch hatte ihn aus seiner Erstarrung gerissen, er war wieder voll da, zumindest gedanklich, und spürte auf seinem Körper die riesigen Eiskörner. Ich bin nicht mehr allein, schoß es ihm durch den Kopf. Es war der erste klare Gedanke, den er nach dieser langen Zeit fassen konnte. Der erste Gedanke. Das machte ihm Mut. Er war noch da, er befand sich nicht mehr in einem Zustand tiefer Lethargie. Er konnte wieder etwas hören, und seine Sinne funktionierten noch. Das Heulen war verstummt. Stille herrschte. Nicht lange, denn wiederum hörte er ein Geräusch. Diesmal war es kein Heulen, es erinnerte ihn mehr an ein schrilles Kichern, das durchaus von einer überdrehten Frauenstimme stammen konnte. Walter Cohn blieb auf der Stelle sitzen, obwohl er am liebsten weggerannt wäre, doch dazu war er zu schwach. Er mußte bleiben. Und das Kichern verließ ihn nicht. Es umkreiste ihn. Es wechselte, es schien aus verschiedenen Richtungen an seine Ohren zu dringen, und es hüllte ihn ein wie eine Mütze, die hoch über seinem Kopf schwebte.
Die Dunkelheit war zwar die gleiche geblieben, sie kam ihm jedoch verändert vor. Sie war aufgefüllt worden von einer unheimlichen Macht, die er mit der Kraft der Hölle verglich. Waren das die Schreie des Teufels? Die verrücktesten Gedanken huschten durch seinen Kopf. Er stellte sich schon eine furchtbare Gestalt mit Hörnern vor, die in der Finsternis der Gruft lauerte und ihn aus dem Schatten hervor beobachtete. Vielleicht schrie der Teufel nicht. Vielleicht bildete er sich auch alles nur ein. Seine Nerven waren überreizt, fremde Botschaften drangen nur teilweise und dann noch als verkehrte Botschaft an sein Gehirn. Möglicherweise rutschte er bereits in einen bestimmten Zustand hinein, wo es ihm nicht mehr gelang, die Realität von seinen Alpträumen zu unterscheiden. Das alles gab es, das alles konnte passieren, da verwischten dann die Ebenen miteinander, und er war nicht mehr in der Lage, auch nur grob die Dinge zu trennen. In seinem Magen lag ein Druck, als hätte eine Faust in ihn hineingebohrt. Sicherlich ein Gefühl der Angst, aber keine Furcht, die er kannte. Diese hier war anders, so verdammt endgültig. Er stierte nach vorn. In der Finsternis bewegte sich etwas. Unheimliche Schattenlichter tanzten zwischen den Wänden. Sie waren nicht hell, sondern hatten sich der Dunkelheit angepaßt. Sie sahen aus wie tanzende Blitze, durch deren Helligkeit sich ein grauer Streifen geschoben hatte. Der Anfang vom Ende? Cohn spürte den Druck im Magen. Ein würgendes Gefühl kletterte die Kehle hoch. Er wartete ab, und er war sich irgendwo klar darüber, daß er in diesem Augenblick auf den Tod wartete. Es war schlimm für ihn, daran zu denken, doch er befand sich in einer Situation, in der er sich keine Illusionen mehr zu machen brauchte. Es ging dem Ende entgegen. Die blassen Schattenfeuer blieben. Sie konzentrierten sich auf eine Stelle. Dort tanzten sie, dort zerschnitten sie die Dunkelheit. Sie bewegten sich von oben nach unten, von rechts nach links. Ihm kam es vor, als hätte sich dort eine Person versteckt, die eine Taschenlampe ständig zuckend bewegte und dabei das Licht mit der Handfläche abgedunkelt hatte. Angst nahm bei ihm Gestalt an. Sie schien sich in zahlreiche Würmer geteilt zu haben, die in seinen Körper gekrochen waren und von ihm Besitz ergriffen hatten. Die Schattenlichter blieben. Kamen sie näher? Ja, auf einmal waren sie da. Dabei hatten sie sogar Gestalt angenommen, und Walter Cohn konnte kaum glauben, was er da zu sehen bekam. Das war kein Licht mehr, es setzte sich nicht mehr aus
verschiedenen hellen Blitzen zusammen. Es hatte tatsächlich Gestalt angenommen, und er dachte in diesem Augenblick an den ersten Begriff, der der Gruft den Namen gegeben hatte. Gespenster! Ja, das genau war es. Vor ihm tanzte ein Gespenst. Eine bleiche Gestalt, mit einem Körper versehen, aber trotzdem körperlos. Ein Wesen, das er als Frau mit blonden Haaren identifizierte, das so verflucht real vor ihm tanzte, es aber nicht war. Ein Geist… Er hielt den Atem an. Sein eigenes Schicksal hatte er vergessen. Von nun an konzentrierte er sich voll und ganz auf diesen fürchterlichen Anblick, und dabei spürte er, wie heiße Ströme seinen Körper durchwanderten. Die Distanz zwischen ihm und der Gestalt war nicht einmal zu schätzen. Walter sah nur, daß sie sich nicht mehr bewegte und ihn direkt anstarrte. Ein Gesicht bleicher als die Haare. Ein Körper, dessen Umrisse zitterten, als wollten sie jeden Augenblick auseinanderfallen. Aber der Körper hielt sich, er blieb zusammen. Nichts löste sich aus seinem rieselnden Verbund. Der Gefangene hob den Blick, weil er in das Gesicht der gespenstischen Frau sehen wollte. Bleich, unheimlich. Nicht anders sah auch der Körper aus. Der rechte Arm war nach vorn gestreckt worden. Cohn konnte einen Blick gegen die Hand werfen. Aus der Faust ragte etwas Langes hervor, das an seinem Ende spitz zulief. Eine Messerklinge! Er schluckte. In seiner Kehle lag die Wüste wie eine große trockene Fläche. Dann hörte er wieder das Kichern. Er selbst konnte hier nichts beeinflussen, denn er war nicht mehr als ein Statist. Dieses Wesen gehorchte anderen Gesetzen, wahrscheinlich denen der Hölle. Und der Teufel persönlich mußte ihm die Kraft gegeben haben. Kein Laut war zu hören, als sich das Wesen bewegte. Er wünschte sich, daß es von ihm wegschweben würde, das Gegenteil war der Fall. Er huschte auf ihn zu. Zwar blitzschnell, aber noch so langsam genug, daß er verschiedene Dinge wahrnehmen konnte. Zum Beispiel das Hochzucken des Messerarms, dann das Hinabsausen der Klinge. Sie zielte auf ihn. Sie traf ihn auch! Er hörte sich selbst schreien, weil er damit rechnete, daß ihn die Klinge im nächsten Augenblick die Brust zerschneiden würde, um ihn in zwei Hälften zu reißen. Das geschah nicht.
Etwas Kaltes berührte ihn, als wäre ein dichter Nebelstreif gegen ihn geweht. Für einen Moment bekam er keine Luft mehr, dafür erklang in seinen Ohren wieder das schrille Lachen, und er wußte genau, daß er dieses Geräusch nicht ausgestoßen hatte. Lachende Gespenster… Ein Gedanke und gleichzeitig eine Feststellung, die Walter Colin nicht begriff. Der kalte Hauch verschwand. Cohn drehte den Kopf und verdrehte auch die Augen. Er schaute zu, wie die bleiche, durchscheinende Gestalt an der Wand in die Höhe kroch und sich dabei der Decke näherte. Sie sackte auch nicht nach unten, sondern knickte ab, als sie die waagerechte Fläche erreicht hatte und mit der Hälfte des Körpers an der Decke entlangschwebte. Dort blieb sie wie ein vibrierender heller Schatten, nicht mehr als ein Fleck, der verzerrte Umrisse angenommen hatte. Ein böse verzogenes Gesicht grinste auf ihn nieder. Dieses weibliche Gespenst hatte genau gewußt, was es tat, und es lauerte auf den nächsten Angriff. Trotz der schwülen Hitze lief Walter ein kalter Schauer über den Rücken. Der Schweiß strömte über sein Gesicht. Er wußte nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Hier kam er nicht weg, seine Mörderin lauerte bereits auf ihn. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel, daß die Höllengespenster erschienen waren, um ihn zu töten. Vom Starren gegen die Decke war sein Hals steif geworden. Er spürte auch genau das Ziehen der Muskeln, und er war einfach gezwungen, den Blick zu senken. Er schaute nach unten. Nicht auf den Boden der Gruft, sondern einfach nach vorn – und bekam den nächsten Tiefschlag mit. Sie standen vor ihm, und sie sahen aus, als hätte sie ein Zeichner einfach in die Schwärze und mit sehr dünnen Pinselstrichen hineingemalt. Walter Cohn konnte nicht genau sagen, wer oder was sie waren. Für ihn jedenfalls waren sie schaurige Wesen, Gespenster, die allerdings mit der weißen Frau keine Ähnlichkeit aufwiesen. Es waren dunkle, düstere Gestalten, die sich nur schwach vor dem noch dunkleren Hintergrund abhoben. In dunklen Farben, wie einem tiefen Rot oder einem blassen Violett. Männliche und weibliche Gespenster zusammen, verlumpt aussehende Geistwesen mit etwas helleren Gesichtern, die nur beim ersten Hinsehen etwas Menschliches an sich hatten, in der Regel aber nicht mehr als Fratzen waren.
Verzerrt, bis zur Grausamkeit entstellt, vorhanden und trotzdem auf irgendeine Art und Weise durchscheinend, denn auch auf sie traf der Begriff Gespenster zu. Walter Cohn konnte nichts mehr sagen. Er blieb nur hocken, den Rücken gegen die Wand gepreßt, den Atem anhaltend, und er spürte dabei den Druck hinter der Stirn. Die Angst nahm zu. Sie stieg an wie eine Wassersäule. Sie drückte sich von unten her in die Höhe und überflutete dermaßen stark seine Kehle, daß er es kaum schaffte, Luft zu holen. Cohn mußte würgen… Über ihm schwebte noch die weiße Frau. Sie war es auch, die mit einer zuckenden Bewegung ihren Mund aufriß, so daß er wieder das schrille Lachen hörte. Sie lachte ihn aus. Die anderen ebenfalls. Walter Cohn aber schrie. Er konnte das Schreien der Gespenster nicht mehr aushalten. Beide Arme hob er an und preßte seine Handballen gegen die Ohren, weil er es einfach nicht mehr hören konnte. Was er da vernahm, war zuviel für ihn. Schreien und Kichern! Schrill und grausam, eine Folter für seine Ohren und gleichzeitig eine Musik, die sein Ende einläutete… *** Schon auf der Fahrt zu unserem Ziel hatte uns das ungute Gefühl beide nicht verlassen. Wir ahnten zumindest, daß wir uns auf der richtigen Fährte befanden. Das hat nichts mit in die Zukunft sehen zu können, zu tun, es war einfach die Summe gewisser Erfahrungen, die wir uns im Laufe der Zeit angeeignet hatten. Wir würden Erfolg haben, auf welche Weise auch immer. Harry Heister war der Mann, der einiges wußte. Er wohnte zudem nicht einmal weit von unserem Hochhaus entfernt. Einen Parkplatz hatten wir für den Rover gefunden und bewegten uns die letzten Yards zu Fuß weiter. Durch eine Luft, die in der Straßenschlucht stand, die drückte und zudem noch von zahlreichen Gerüchen angereichert wurde, die aus irgendwelchen Lokalen und kleinen Imbißbuden nach draußen drangen. Die Stadt, die Menschen, einfach alles lechzte nach einem reinigenden Gewitter. Es war unerträglich geworden. Jedes Lebewesen litt, und das Leben in Soho verlief nur im Zeitlupentempo. Alles andere war regelrecht eingeschlafen.
Das Haus hatten wir schnell gefunden. Es gehörte zu den älteren Gebäuden, zeigte Geschichte, war auch renoviert worden und wurde hoffentlich nicht abgerissen. Vor der Haustür blieben wir für einen Moment stehen. Wir schwitzten beide, waren matt und hatten kaum Luft, noch irgend etwas zu sagen. Wir konnten uns auch ohne Worte aufeinander verlassen. Die Tür war in einem dunklen Rot gestrichen worden. Man hatte auch die Farbe Schwarz mit hineingemischt. Ich sah ein Klingelbrett, suchte nach dem Namen des Fotografen, als die Tür von innen her ziemlich heftig aufgezogen wurde. Damit änderte sich alles. Schlagartig war unsere Trägheit vorbei. Innerhalb einer Sekunde schalteten wir um. Vier Personen standen vor uns. Ich nahm – ebenso wie Suko – die Szene innerhalb einer Sekunde in mich auf. Es war für mich wie ein Filmbild, das man uns präsentierte, und die Überraschung lag nicht allein auf unserer Seite. Vier Personen, vier Männer! Drei davon in Schwarz gekleidet, aber keine Grufties, die sahen anders aus, nicht so hart, so kalt, sondern mehr träumerisch oder verspielt. Zwei dieser Schwarzgekleideten, für mich waren es Satanisten, hielten eine dritte Person fest. Wir kannten Harry Heister zwar nicht, gingen aber davon aus, daß dieser bärtige, ziemlich kleine Mann der Fotograf sein mußte, der von zwei Satanisten festgehalten wurde. Auf seinem Gesicht lag der kalte Schrecken. So schaute ein Mann, der keine Chance mehr sah. Aber jetzt waren wir da. Und das wußten auch die Satanisten. Instinktiv hatten sie uns als ihre Feinde eingestuft. Der dritte Typ, der sich etwas im Hintergrund gehalten hatte, stieß einen keuchenden Laut aus. Für die beiden anderen war es ein Zeichen. Sie gehorchten. Bevor wir uns versahen, hatten sie den Fotografen nach vorn gedrückt und stießen ihm die Fäuste in den Rücken. Diese fremde Kraft schleuderte ihn auf uns zu. Mir blieb nicht mehr die Zeit, meinem Freund, der hinter mir stand, eine Warnung zuzurufen, dafür schaffte ich es, mich mit einer raschen Bewegung zur Seite zu drehen, so daß mich die Gestalt nur streifte, aber trotzdem aus dem Rhythmus brachte. Der Mann taumelte an mir vorbei. Ich hörte ihn fluchen, dann prallte er gegen Suko. Mein Freund fing ihn ab.
Die drei Satanisten aber zogen den Rückzug vor. Mit langen Schritten verschwanden sie in dem düsteren Hausflur, wo sie zu flatterhaften Schattenwesen wurden. Mir durfte alles passieren, ich durfte sie nur nicht entkommen lassen, denn sie waren unsere einzige Hoffnung und Spur zu dieser geheimnisvollen Gespenster-Gruft, abgesehen von Harry Heister. Ich jagte ihnen nach. Hinter mir beschäftigte sich Suko mit dem Fotografen. Ich hörte, daß er mit ihm sprach, bekam aber nicht mit, was er sagte. Wahrscheinlich gab er ihm Verhaltensregeln. Ich hörte die Schritte der Satanisten. Sie hämmerten ihre Schuhe gegen den Boden. Echos wehten durch den Flur, peitschten von den Wänden zurück und überzogen den Flur mit ihrem harten Rhythmus. Auch wenn sich an der Rückseite eine zweite Tür befand, sie kamen nicht mehr raus, ich war zu schnell. Und wieder war es ihr Anführer, der ihnen die Befehle gab. Er schrie sie an. Sie drehten sich. Ich rannte nicht mehr mit Riesenschritten auf sie zu, sondern war vorsichtiger geworden. Hinter mir hörte ich meinen Freund, der mir zu Hilfe eilte. Der Flur war eng. Rechts wuchs die Wand hoch. An der linken Seite, in Reichweite, befand sich der Unterbau der Treppe. Es blieb uns allen wenig Platz für einen Kampf. Zwei Dolche flammten auf. Es waren ihre Waffen. Wahrscheinlich hatte sie der Teufel damit ausgerüstet, und sicherlich schafften sie es, einen wehrlosen Menschen leicht zu töten. Weder Suko noch ich waren wehrlos. Sie aber fühlten sich sicher. Die Gesichter der Satanisten tanzten wie bleiche Fratzen vor uns, weil die anderen ihre Hände so schnell bewegten. Ich wußte nicht, ob ich das Kreuz noch hervorholen sollte. Die Beretta hielt ich bereits fest. Ich warf mich nach rechts gegen die Wand. Dann schoß ich. Gleichzeitig hatte Suko abgedrückt. Beide Kugeln erwischten die Satanisten. Wir hatten allerdings nicht auf ihre Köpfe oder ihre Brustkörbe gezielt, denn wir wollten sie nicht töten. Mein geweihtes Silbergeschoß jagte in das rechte Bein eines Satanisten. Er nahm den Treffer wie einen Hieb hin. Plötzlich sackte das Bein weg, er selbst kippte zur Seite, und der Flammendolch zuckte mit heftigen Bewegungen durch die Düsternis wie ein Komet auf Zickzackkurs.
Der zweite Satanist hatte sich im Sprung befunden. Seine Dolchflamme hätte auch mich erwischt, aber Sukos Kugel war schneller gewesen und hatte seine Schulter durchschlagen. Die harte Wucht des Aufpralls riß den Satanisten herum. Er prallte gegen den Unterbau der Treppe und schrie auf. Da war noch der dritte! Ein hellerer Streifen erwischte uns, als die hintere Tür aufgerissen wurde. Das dunstige Licht flutete in den Hausflur, gerade so weit, um soeben noch die flüchtige Gestalt des Anführers erkennen zu können, der auf den Hof wieselte. »Ich hole ihn!« schrie Suko und jagte hinter ihm her. Das hätte ich auch gern getan, aber ich mußte mich um die beiden Angeschossenen kümmern, die vor mir am Boden lagen und von Suko übersprungen worden waren. Ich bückte mich – und erlebte eine Überraschung! *** Suko hatte das Gefühl, durch die offene Tür in eine Sauna zu springen und nicht nach draußen zu kommen, wo eigentlich nur alles anders werden konnte. Er sah die Leiter, die Mauer und den Satanisten. Alles andere nahm er nicht wahr. Er bekam auch nicht mit, wer sich in diesem Hof noch aufhielt, er wunderte sich nur, mit welch einer Kraft es der Schwarzgekleidete schaffte, die Sprossen der Eisenleiter hochzuklettern und die Krone zu erreichen. Dort blieb er geduckt stehen und drehte sich um. Er schaute zur Hintertür hin, die Suko gerade durchsprangen hatte. Der Inspektor riß den Arm hoch, er zielte auf den Satanisten, der sich genau in dem Augenblick bewegte und den Flammendolch auf Suko zuschleuderte. Die Waffe verwandelte sich für ihn in einen Feuerblitz. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit raste er auf Suko zu, der dadurch dermaßen abgelenkt wurde, daß er keinen Schuß mehr abgab. Er konnte sich nur mehr zur Seite werfen, zum Erdboden tauchen und darauf hoffen, daß ihn der höllische Blitz verfehlte. Das war der Fall. Nur eine halbe Armlänge entfernt rammte der Flammendolch in das Holz der Tür, und sofort sprühte das Feuer in die Höhe. Das Holz brannte wie Zunder. Knisternde Flammen zuckten wie sprühende Wunderkerzen in alle vier Richtungen weg. Ein wahres Sternengeflimmer umrahmte den Inspektor, und der konnte alles gebrauchen, nur keinen Brand bei diesem Wetter. Da würde sich das Feuer rasend schnell ausbreiten.
Deshalb versuchte Suko, es zu löschen. Er wußte, daß es ein magisches Feuer war, und das konnte mit normalem Wasser nicht gelöscht werden. Dafür mit einer anderen Magie. Die steckte in der Dämonenpeitsche. Suko zog sie hervor, schlug den berühmten Kreis. Die drei Riemen rutschten heraus, dann schlug er zu, traf die Flammen voll und sah, wie sie der anderen Magie nichts mehr entgegenzusetzen hatten, denn sie wurden nicht nur kleiner, sie verloschen, als hätte ein gewaltiger Mund sie ausgeblasen. Aus – vorbei… Träger Rauch quoll noch an Suko vorbei und reizte zum Husten. Auch den Flammendolch sah er nicht. Er schien innerhalb der Tür zusammengeschmolzen zu sein. Suko ging nicht zurück in das Haus, sondern rannte quer über den Hof auf die Leiter zu. Daß einige Menschen zusammenliefen, störte ihn nicht, er wollte wissen, ob noch die Chance bestand, den Satanisten zu fangen. Suko erreichte die Mauerkrone. Sie war so breit, das er bequem darauf stehen konnte. Er schaute nach vorn. Nichts mehr zu sehen. Nur eine Straße, weitere Häuser, Vorder- und Rückseiten, auch Menschen, die sich normal bewegten wie auch die über die Straße rollenden Fahrzeuge. Der Satanist war weg. Er hatte die Gunst der Sekunde genutzt und sich verkrochen. Doch aufgeben würde er nicht, das wußte Suko genau. Er konnte diese Typen gut einschätzen. Er kletterte wieder zurück. Die Männer standen unten vor der Leiter und schauten drohend zu ihm hoch. Sie waren überrascht worden, sie würden ihm einige Fragen stellen, und Suko machte dem Spuk noch auf der Leiter stehend ein Ende, bevor überhaupt etwas geschah. Er sprang die letzten Stufen hinab und nickte den Leuten zu, die vor ihm zurückwichen. Einen Mann, dessen rote Hosenträger ihm auffielen, holte er sich heran und wollte von ihm wissen, was die Zeugen gesehen hatten. Keiner kannte den Mann. Er war für sie fremd, sie hatten ihn zuvor nie hier gesehen. Suko mußte ihnen glauben. Er ärgerte sich natürlich, daß ihm der Anführer der Satanisten entwischt war. So blieben nur mehr die beiden anderen als letzte Hoffnung und natürlich Harry Heister… ***
Der Satanist starb vor meinen Augen! Es war derjenige, der gegen den Treppenaufbau gefallen war. Ob er durch mein geweihtes Silbergeschoß sein Leben aushauchte, das konnte ich nicht mit Gewißheit sagen, denn es war noch etwas anderes passiert. Der Satanist hatte beim Fallen seinen rechten Arm gedreht und den Dolch dabei so gehalten, daß die Flamme durch seine Kleidung hinweg in die Brust gedrungen war. Sie hatte ihn buchstäblich zerfressen, verbrannt, innerlich regelrecht ausgezehrt. Es war für mich eine Niederlage, auch wenn ich gegen den Körper schaute, dessen Brust aus einer einzigen dunklen Wunde bestand, von der sich dünne Rauchschleier lösten und in die Höhe stiegen. Das Gesicht des Satanisten zeigte die Starre des Todes. Wieder einmal hatte sich ein Mensch manipulieren lassen und auf die falsche Karte gesetzt. Der Teufel gab seinem Helfer nur so lange eine Chance, wie dieser es auch ›wert‹ war. Hier nicht mehr. Da war noch der zweite. Er lebte, denn ich hörte sein Stöhnen. Er lag schräg hinter mir, das verletzte Bein angezogen, die Arme ausgestreckt und dicht zusammengelegt wie auch die Hände, die er gegen seine Wunde gepreßt hielt, wobei es ihm nicht möglich war, das Blut zu stoppen, denn es sickerte unter seinen Handflächen hervor. Konnte ich ihn noch retten? Ich bückte mich. Er sah meine Bewegung und hob den Blick, so daß wir uns beide in die Augen schauten. »Du Schwein!« keuchte er. »Du verdammtes Schwein. Ich… ich… werde eingehen und ich…« »Es ist deine Schuld!« Er grinste scharf. »Nein, du hättest dich nicht…« Dann schrie er leise auf. Wenig später stärker. Da waren seine Schreie so laut, daß sie die Geräusche der Tritte übertönten, die von oben her die Treppe hinabpolterten, denn unsere Schüsse waren nicht ungehört geblieben. Neugierige kamen, um zu schauen. Der Satanist löste seine Hände von der Oberschenkelwunde. Obwohl das Licht nicht besonders gut war, konnte ich sehr gut erkennen, was meine geweihte Silberkugel bei ihm angerichtet hatte. Es war nicht nur die einfache Wunde, sondern auch noch etwas anderes. Sie vergrößerte sich, die Haut schrumpfte an den Rändern zusammen und zog sich gleichzeitig zurück, so daß mir die Wunde vorkam wie die Oberfläche eines dunklen, zuckenden Teiches, die immer mehr Platz für sich beanspruchte.
Er kam nicht durch. Der Einfluß des Satans war einfach zu groß. Der Teufel hatte ihn geimpft, und da war das geweihte Silber für ihn wie ein tödliches Gift. Noch lebte er, und noch konnte er mir sagen, was geschehen war. Auch wenn er dicht davorstand, von einer Welt in die andere zu springen. Die Augen bewegten sich, und dadurch bekam sein Blick etwas Flackerndes. Ich vermeinte, den scharfen Geruch einer Schwefelwolke wahrzunehmen, konnte mich aber auch getäuscht haben. »Warum?« »Fahr zur Hölle!« »Nein, ich will in die Gruft. Und du kannst mir sagen, wo ich sie finde. Was ist los mit ihr? Was habt ihr mit der Gespenster-Gruft zu tun? Weshalb wolltet ihr die Grufties vernichten?« »Der Teufel… er… er sollte sie haben, verstehst du? Er brauchte Nachschub.« »Davon hat er leider mehr als genug.« »Nicht für die Gruft«, keuchte der Satanist. »Nicht für die Gruft. Sie soll gefüllt werden. Einige Höllengespenster existieren schon dort, aber es sind noch immer zuwenig. Die Gespenster brauchen Platz, sie brauchen einen Ort, wo sie die Zeiten überdauern können, denn wenn der Teufel seine Herrschaft antritt, gehören sie zu seiner Armee. Er hat seine Stützpunkte überall, und er wird siegen, er wird…« Nicht ein Wort drang mehr aus dem Mund des Satanisten. Dafür ein tiefes Stöhnen, das sich anhörte, als wäre das Tor zur Hölle geöffnet worden, um all die Kräfte freizulassen, die sich hinter dem Eingang versammelt hatten. Sein Gesicht glühte in einem dunklen Rot auf. Der Mund öffnete sich noch weiter, er riß an den Mundwinkeln ein. Dampf fauchte mir entgegen, ich hörte die entsetzten Rufe der Menschen, die auf der Treppe standen und über das Geländer hinweg in die Tiefe schauten. Sie sahen auch, wie sich der Körper des Satanisten noch einmal aufbäumte. Er zuckte in die Höhe, und ich hielt ihn nicht zurück. Dann schlug er mit dem Hinterkopf auf. Das Geräusch hörte sich an, als sei ein Ei auf den Boden gefallen und zerplatzt. Danach war nichts mehr. Stille, die sich wie eine Glocke ausgebreitet hatte und auch über dem Gesicht des Satanisten schwebte, das für mich nichts Menschliches mehr an sich hatte. Dann, kurz vor dem Tod, hatte es noch einmal gezuckt, und es war der Haut nicht mehr möglich gewesen, dem Druck standzuhalten. Sie war in seinem Gesicht zerrissen wie dünnes Papier. Es gab den Satanisten nicht mehr, und ich stemmte mich langsam in die Höhe. Dabei richtete ich den Blick nach oben, sah die Gesichter der Hausbewohner über mir, wobei die Köpfe schnell wegzuckten, als mein Blick sie traf.
Sie verstanden nichts. Sicherlich hatten sie viele Fragen, doch ich glaubte nicht daran, daß sie sich trauten, sie auch zu stellen. Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, gab ich meine Identität preis und kümmerte mich dann um den Mann, dessentwegen wir das Haus überhaupt betreten hatten. Es war der Fotograf Harry Heister. Ihm ging es alles andere als gut. Ich wunderte mich, daß er noch auf den Beinen stand. Er mußte sich gegen die Wand lehnen, sonst hätte er den Halt verloren. Sein Gesicht schimmerte bleich wie Frischkäse. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er dies alles nicht begreifen. Aber er lebte, und er wußte mehr, das allein war wichtig, sonst nichts. Ich wollte ihn ansprechen, als ich hörte, daß Suko zurückkehrte. Die hintere Tür wurde von ihm geöffnet. Das Knarren der alten Angeln drang bis zu mir. Ich drehte mich um. Suko war allein. Die Tür zeigte ein Loch, das aussah wie eine Wunde. Ich stellte es mit einem Nebenblick fest. Dabei sah ich auch, wie mein Partner die Schultern hob. Ein Zeichen der Niederlage. Also war ihm der Anführer entwischt. Beinahe hätte ich es mir denken können. Er näherte sich mir mit langsamen Schritten. »Sorry, John, er war schneller als ich.« »Ist schon okay. Dafür haben wir ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Ich deutete auf die beiden Satanisten, die ebenfalls nicht mehr lebten. Aber Harry Heister lebte noch, und ich kam endlich dazu, mich um ihn zu kümmern. Um ganz sicher zu sein, erkundigte ich mich nach seinem Namen. Als er ihn bestätigte, sagte ich: »Genau zu Ihnen wollten wir, Mr. Heister.« Er schaute zu Boden. »Ach ja?« »Ich hole mal die Kollegen«, sagte Suko und verließ den Hausflur. Auch die Neugierigen hatten sich eine Treppe höher zurückgezogen. Dort flüsterten sie miteinander, und wahrscheinlich jagten Tausende von Vermutungen durch ihre Köpfe. »Können Sie sich den Grund vorstellen, Mr. Heister?« Der Fotograf stützte sich auch weiterhin an der Flurwand ab. Mit einer müden Geste wischte er über seine Stirn. »Ja, das kann ich. Wahrscheinlich hängt es mit dem Foto zusammen.« »Genau, denn diese Satanisten jagen wir, Mr. Heister. Und Sie haben uns praktisch durch das Foto auf ihre Spur gebracht, denn es ist das erste Zeichen, das wir von ihnen erhalten haben. Gewissermaßen ein erster Punkt zur Identifizierung.«
Er nickte und holte aus seiner Tasche ein Bonbon hervor. Er wickelte es aus. Ich nahm den Pfefferminzgeruch wahr, bevor er sich das Bonbon zwischen die Lippen schob. Er lutschte es, schaute zur Decke und meinte dann: »Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.« »Nein, Mr. Heister, das würde ich so nicht unterschreiben. Sie haben genau das Richtige getan.« »Und wäre beinahe tot gewesen.« Ich lächelte breit. »Aber nur beinahe, denn das genau ist der kleine Unterschied.« »Okay«, sagte er und hob die Schultern. »Was wollen Sie eigentlich von mir wissen?« »Den Standort der Gespenster-Gruft.« Er bewegte seinen Kopf und schaute hoch. »Auf einem Friedhof können Sie die Gruft finden. Ich war den Satanisten schon länger auf der Spur. Ich hatte durch einen Informanten von ihnen gehört, bin aber nie dazu gekommen, sie direkt anzugehen. Es war auch gefährlich, aber ich hatte die Chance, sie beobachten zu können.« »Was taten die Leute, Mr. Heister?« Er legte seine Stirn in Falten. »Eine gute Frage, Mr. Sinclair. Sie taten nichts. Gar nichts.« »Wieso?« »Sie verhielten sich völlig normal. Nichts wies auf ihr Treiben hin.« Er sprach jetzt schneller, da er von der Erinnerung überwältigt wurde. »Sie verstanden es ausgezeichnet, sich zu tarnen. Ich kam nicht an den Kernpunkt heran. Sie waren einfach zu schlau, eine Chance ließen sie mir nicht, und ich sah meine Felle schon schwimmen, bis ich schließlich die Chance bekam, sie auf den Friedhof zu verfolgen, wo ihr eigentliches Ziel, die Gespenster-Gruft, liegt.« »In der Sie waren – oder?« »Ich?« Er lachte. »Trauen Sie mir das zu, Mr. Sinclair? Ich bin doch kein Selbstmörder!« »Es hätte ja sein können.« »Dann haben Sie die Satanisten nur fotografiert.« »Ja, das habe ich.« Es war keine Antwort, die mich zufriedenstellen konnte, denn er hatte sie mit einem abwartenden und gedehnten Unterton in der Stimme gegeben, hatte dabei auch geseufzt und strich nun durch sein Haar. Der Mund veränderte seine Form ebenfalls, er bildete einen auf dem Bauch liegenden Halbmond. Dieser Mann hatte mit Problemen zu kämpfen, das merkte ich sofort. »Was immer auch geschehen ist, Mr. Heister, Sie sollten ehrlich zu mir sein.« »Das bin ich.« »Aber Sie bedrückt etwas, nicht wahr?«
Er zog die Nase hoch. »Ja, das stimmt. Ich… ich habe einen Fehler begangen und hätte mich schon früher an Sie wenden sollen, weil möglicherweise durch meine Schuld und auch durch meine Sensationsgier ein Mensch gestorben ist.« Suko, der mittlerweile zurückgekehrt war, schaute ebenso erstaunt wie ich. »Reden Sie weiter, Mr. Heister«, forderte ich ihn auf. »Hätte ich mich dazu entschlossen, das Foto früher zu schießen, wäre noch einiges zu retten gewesen, aber ich stand unter einem derartigen Streß, daß ich daran nicht dachte und zudem auch nur um meine eigene Sicherheit besorgt war.« »Genauer, bitte.« »Ich hatte nicht nur die Satanisten verfolgt, sondern auch eines ihrer Opfer, das sie sich geholt hatten. Es muß der Friedhofswächter oder Totengräber gewesen sein, der auf dem Friedhofsgelände wohnte. Sie haben ihn aus seinem Haus geholt und zu der Gruft geschafft. Sie sperrten ihn dort ein!« Den letzten Satz sagte er schnell und begleitete ihn auch mit einem Aufstöhnen. Es hörte sich an, als wäre er von einem wahnsinnigen Druck erlöst worden. »Das haben Sie gesehen?« fragte Suko. »Ja, ich war Zeuge. Habe aber erst das Foto geschossen, als alles vorbei war. Bitte fragen Sie mich nicht nach dem Grund. Es ist möglich, daß ich Angst gehabt habe, wahrscheinlich sogar. So, und jetzt können Sie mit mir machen, was Sie wollen. Sie haben mir das Leben gerettet, ich aber war zu feige, einem anderen Menschen das Leben zu retten, weil ich einfach Angst um meine Haut hatte. Verdammt erbärmlich, finden Sie nicht?« Wir schwiegen. Das ließ er eine Weile zu, bevor er fragte: »Warum machen Sie mich nicht fertig? Weshalb sagen Sie nichts? Erklären Sie mir doch, daß ich ein feiges Schwein bin, daß Sie mich wegen unterlassener Hilfeleistung einsperren können und…« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das werden wir nicht. Sie haben normal gehandelt, ein anderer hätte erst nicht den Mut aufgebracht, den Satanisten zu folgen…« »Danke, aber das macht mich auch nicht froher.« »Der Mann war aber nicht tot, als die Satanisten ihn in die Gruft steckten?« erkundigte sich Suko. »Nein, das war er nicht.« »Dann hätte er noch eine Chance.« Heister schaute ins Leere. »Theoretisch ja. Aber ich frage Sie beide. Wie lange kann es ein Mensch in einer derartigen Umgebung aushalten, ohne zu sterben? Einen Tag, zwei oder drei? Keiner weiß doch, was ihn in der Gruft erwartet.« Da hatte er recht.
»Haben Sie denn keinen Hinweis, was sich dort abspielt?« fragte ich ihn. Heister schüttelte den Kopf. »Aber es muß mit dem Teufel zusammenhängen. Nicht grundlos nannten sich die Burschen Satanisten. Für mich sind es einfach Diener des Teufels oder der Hölle. Oder sind Sie anderer Meinung?« »Nein, da treffen wir uns schon.« »Na bitte.« »Wir jedenfalls werden uns die Gruft von innen ansehen«, sagte Suko. »Wo genau finden wir sie?« Er beschrieb uns den Ort. Den Friedhof kannten wir, aber den Platz, wo die Gruft stand, würden wir suchen müssen. Ich wollte noch von ihm wissen, wie er die Gruft denn einschätzte. »Keine Ahnung, Mr. Sinclair. Wie meinen Sie das genau?« »Nun, würden Sie sie als ein altes Grab ansehen oder mehr als neueres Bauwerk?« »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Aber eher alt, sie steht auch auf dem alten Teil des Friedhofs und ist eben der zentrale Punkt für die Satanisten.« »Und sicherlich auch die Fluchtburg für den Anführer«, sagte Suko. »Der übrigens Gig Serrano heißt«, belehrte uns Harry Heister. »Das habe ich herausgefunden.« Er kannte auch die Namen der anderen Satanisten, die wir nur registrierten. Es war dem Fotografen anzusehen, daß ihm noch etwas auf dem Herzen lag, und er fragte: »Brauchen Sie mich eigentlich? Ich meine, muß ich Sie begleiten, wenn Sie zu dieser Gruft gehen?« »Nein, nein, keine Sorge, das brauchen Sie nicht, Mr. Heister. Von nun an ist es unser Fall.« Er atmete auf. »Mein Gott, da bin ich aber froh. Irgendwo merkt wohl jeder, wenn er an seine Grenzen stößt. Das ist bei mir der Fall. Ich komme allein nicht mehr weiter.« »Das brauchen Sie auch nicht. Sie haben uns trotzdem sehr geholfen, Mr. Heister.« Er hob die Schultern und schaute zur Seite. »Ich wohne hier und brauche jetzt einfach einen Schluck. Eine Dose Bier, kalt und… wollen Sie auch eine?« »Nein, danke.« »Aber ich darf – oder?« Ich lächelte ihn an. »Sicher, gehen Sie nur, der große Rest ist allein unsere Sache…« *** Grufties auf einem Friedhof!
Man hätte es als ein normales Bild bezeichnen können, denn die Grufties gaben selbst zu, wie sehr sie die Friedhöfe mochten, denn sie waren der Ort des Sterbens, und sie bildeten so etwas wie einen Übergang in eine andere Welt. Nicht diese Grufties. So gern sie einen Friedhof besuchten, so oft sie auch die Nächte auf Grabsteinen sitzend verbracht und über das Ende nachgedacht hatten, so schwer fiel es ihnen, einen bestimmten Friedhof zu betreten. Aber sie dachten einfach an ihren Kumpel, den Totengräber, und sie hatten sich damals geschworen, daß der eine für den anderen da sein sollte. Auch wenn Gefahr und Tod in der Luft lagen. Sie wollten ihn herausholen oder es zumindest versuchen. Es gab noch die Möglichkeit, sich mit dem Geisterjäger in Verbindung zu setzen und ihm zu erklären, wo sich die Gespenster-Gruft genau befand. Noch schwebte über London die Juni-Schwüle. Die Luft und alles, was in ihr lebte, lechzte nach einem Gewitter, das endlich den feuchtwarmen Schwall vertrieb, aber noch zeigte der Himmel kein Erbarmen. Seine Wolkenformation hatte sich nicht verändert. Schichtweise lagen sie in dem schraffierten Grau übereinander. Kein gelbes schwefliges Schimmern durchbrach diese Farbe, und nicht der leichteste Windhauch kündigte eine Veränderung an. Nur die Schwüle blieb und eine Luft, die so ungewöhnlich klar war, obwohl an gewissen Stellen Dunstschleier über den alten Teil des Friedhofs trieben. Die Grufties bewegten sich mit einem nahezu feierlich anmutenden Phlegma einem bestimmten Punkt des Friedhofs zu, der gut geschützt und dabei relativ zentral lag. Es war ein Ort, den dichte Hecken umzäunten. Zwei Bänke standen rechts und links eines betonierten Wasserbeckens, in dem eine trübe Flüssigkeit schwamm, die ziemlich modrig roch. Auf der Oberfläche schaukelten noch einige Blätter, schmal und dünn wie helle Finger. Sie waren von den Bäumen abgefallen, die wie Wächter hinter den Hecken standen und den Platz ein wenig schützten, auch vor zu starkem Sonnenlicht, das nur mehr als Fleckenteppich den Boden erreichte. Um diese Zeit war es hier feucht. Ein alter Geruch lag in der Luft. Mücken tanzten über dem Wasserbottich oder huschten mit zackigen Bewegungen dicht an der Oberfläche entlang. Es gab nur einen Weg, der an dieses zentrale Ziel führte, und ihn nahmen die Grufties. Der Pfad war schmal und im Sommer beinahe zugewachsen, denn die Büsche zu beiden Seiten des Wegs streckten ihre Ranken so weit vor, als wollten sie über dem Pfad ein niedriges Dach bilden.
Die Grufties mußten den Weg nehmen. Sie gingen vorsichtig, schauten sich immer wieder um und blieben schließlich, als sie keine Gefahr entdeckt hatten, neben dem Wasserbecken stehen. Der Junge mit den schwarzen Rastazöpfen tauchte seine Hand in die Brühe, bewegte die Finger und pitschte Wassertropfen in die Höhe. Die Braut hatte ihren Schleier in die Höhe gehoben. Jetzt war ihr Gesicht zu sehen. Blaß und schmal, mit einem breiten Mund und hochstehenden Wangenknochen. Auf der Stirn schimmerten Schweißperlen, ihre Augen zeigten grünschwarze Ränder, der Mund hatte seine Schminke verloren. Überhaupt wirkten die Grufties etwas desolat. Es war ihnen anzusehen, daß sie Furcht vor der nahen Zukunft empfanden. Das wußte auch Sady, die Anführerin der kleinen Gruppe. Sie baute sich vor ihren Freunden auf. »Soweit sind wir schon gekommen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ihr wißt, was wir uns damals geschworen haben. Daß wir zusammenbleiben wollen, aber nicht um jeden Preis, wie ich jetzt zugeben muß. Die Situation ist eine andere geworden. Ich kann euch einfach nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Wer jetzt gehen will, dem lege ich keinen Stein in den Weg. Ich würde ihm auch nie einen Vorwurf machen, aber wer bleibt, der tut es auch bis zum bitteren Ende. Ich glaube, das mußte einmal gesagt werden.« Sady ließ ihre Worte verklingen. Sie wartete auf Antworten, aber sie gab den Freunden Zeit. Als erste sprach Janina. »Also ich bleibe.« Sie nickte noch und versuchte sogar ein Lächeln. »Ich auch«, sagte Creel, der junge Mann mit den Rastazöpfen. Er nickte dabei so heftig, daß die kleinen Totenköpfe in seinem Haar gegeneinander prallten. »Und ihr?« Auch die anderen beiden waren der Meinung. Keiner wollte im Abseits stehen. Sady gestattete sich ein Lächeln. »Ich wußte es, meine Freunde. Ich wußte, daß unser Band so leicht nicht gesprengt werden kann. Wir haben es fest geknüpft, aber wir sollten uns auch noch einmal klarmachen, was uns erwarten kann.« »Die Satanisten sind…« »Nein, Janina, nicht nur sie. Die sind nur Helfer, das weißt du auch. Es ist einfach die Gruft, die mir persönlich eine gewisse Furcht einjagt. Ich will euch das noch einmal erklären. Wenn Satanisten sich mit gewissen Dingen beschäftigen, dann tun sie dies auf eine andere Art und Weise als wir es gewohnt sind. Hinter ihnen steckt viel mehr. Wir leben ein anderes Leben, befinden uns dabei aber noch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, obwohl wir durch unser Aussehen deklarieren, daß wir letztendlich außen vorstehen. Uns geht es um eine Ideologie, es geht uns um das Leben und um den Tod. Wir haben für
uns herausgefunden, daß das Leben auf diesem Planeten einfach nicht das höchste Gut sein kann. Dafür ist er zu stark ausgebeutet worden und wird auch noch immer ausgebeutet. Wir wissen oder hoffen zumindest, daß es im Jenseits eine bessere Welt gibt, daß es den Toten bessergeht als den Lebenden, und wir wollen auf die andere Welt gut vorbereitet sein. Deshalb zieht es uns zu den Grabstätten, wo wir in uns gehen und immer wieder nachdenken. Die Welt ist für uns das Meer der Tränen, aber nicht für die Satanisten. Hinter ihnen steht der Teufel, sie gehorchen den Mächten der Hölle, sie dienen dem Bösen. Sie suchen nach keiner besseren Welt, sie sind gegen die Menschen, sie wollen sie in ihren Bann ziehen und dem Bösen zuführen. Wir nicht, aber wir sollten trotzdem versuchen, es zu verhindern. Wenn wir sie stoppen und dabei unser Leben verlieren, haben wir es für eine gute Sache getan, wie ich finde. Oder ist jemand anderer Ansicht von euch?« Nein, es war keiner einer anderen Ansicht. Sady entnahm es ihrem gemeinsamen Kopfschütteln. »Dann kann ich beruhigt sein.« »Wie willst du es denn anfangen?« fragte Creel und strich mit den Fingerspitzen über seine Lippen. »Wir werden uns dem Ziel nähern.« »Offen?« »Nein, wir werden es versteckt versuchen.« »Sie werden uns entdecken.« Sady hob die Schultern. »Das müssen wir in Kauf nehmen, obwohl ich mir noch nicht so sicher bin.« Ein schwacher Windzug huschte über den Platz. Er bewegte Janinas Schleier und wehte ihn wieder vor ihr blasses Gesicht. Sie schob ihn rasch zurück. »Woher nimmst du diesen Optimismus, Sady?« »John Sinclair!« Sie ließ die beiden Worte wirken. Erst als niemand etwas darauf sagte, fuhr sie fort. »Er hat das Foto gesehen. Wir können ihm und seinem Freund durchaus zutrauen, daß auch sie beide die alte Gruft finden werden. Und sie werden sich auf die Spur der Satanisten setzen, davon bin ich einfach überzeugt. Sie sind raffiniert, sie können logisch denken, sie werden bald herausgefunden haben, wer das Foto geschossen hat, und sie werden sich mit diesem Mann in Verbindung setzen, das könnt ihr mir durchaus abnehmen.« »Dann finden sie auch die Gruft«, sagte Ricardo, der Junge mit dem unterbrochenen Rasenschnitt. »Vielleicht noch vor uns«, flüsterte der letzte im Bunde. Er war der jüngste aus ihrer Reihe, trug das dunkle Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und hatte sein Gesicht mit schwarzen Kreuzen bemalt. Er hieß oder nannte sich Maine, weil seine
Eltern aus diesem Staat der USA stammten. Er war so blaß, daß er schon krankhaft wirkte. Seine Augen besaßen einen unruhigen Blick. Sady lächelte. Sie alle hofften, daß trotz ihres Entschlusses oder Mutes der Kelch noch einmal an ihnen vorübergehen würde. Auch Sady dachte so, aber sie konnte es nicht laut aussprechen, denn gerade sie war es, die Mut zeigen mußte. »Wir werden unseren Freund aus der Gespenster-Gruft herausholen, was immer auch geschehen sein mag. Ich hoffe dabei, daß wir ihn lebendig finden, doch auch als Toter soll sein Körper nicht den Kräften der Hölle überlassen bleiben.« Vier Grufties nickten. »Sollen wir dann gehen?« fragte Janina. »Ja.« Maine, der diesen Friedhof noch nicht kannte, wollte wissen, wie weit es noch war. »Nur ein paar Minuten«, erwiderte Sady. Sie setzte sich auch an die Spitze der kleinen Gruppe, die im Gänsemarsch diesen geschützten Ort am Wasserbecken verließ und zunächst einmal den Weg nahm, den sie auch gekommen waren. Allerdings nur bis zu einer schmalen Kreuzung. Hier blieben sie stehen. Sady drehte ihren Kopf nach rechts. Mit dieser Bewegung machte sie den anderen klar, in welche Richtung sie zu gehen hatten. Dort verdichtete sich das Strauchwerk noch stärker. Obwohl die Dunkelheit des Abends noch nicht hereingebrochen war, lag der schmale Pfad im Schatten. Hohe Laubbäume bildeten natürliche Dächer, unter denen die Luft schwer und wabernd lagerte. Insekten turnten und flirrten an ihren Gesichtern vorbei. Es roch feucht nach Erde, Laub und verblühten Pflanzen. Sie schauten aus den Öffnungen der Vasen, die auf den Gräbern ihre Plätze gefunden hatten. Grabsteine von unterschiedlicher Höhe und auch unterschiedlichem Aussehen ragten wie Mahnungen der Toten an die Lebenden in die Höhe. Viele waren in Kreuzform angelegt worden, hatten bereits Schimmel oder Moos als Patina angesetzt. Anderes wiederum zeigten Figuren oder einfach nur Klötze, wobei die Geometrie oft sehr verschieden war, denn nicht alle hatten eine eckige Form. Es war ein Ort der Stille, des Nachdenkens über den Tod, und auch die Grufties bewegten sich mit dem entsprechenden Respekt über den alten Totenacker. Sie gingen mit gesenkten Blicken, schauten nur hin und wieder auf die Grabsteine, wobei einige von ihnen auch daran dachten, daß sie manche Nacht auf Gräbern oder Steinen sitzend verbracht hatten. Es war seltsam, doch an diesem Tag kam sich jeder Gruftie auf dem Friedhof wie ein Fremder vor. Sosehr sie früher diese Umgebung geliebt
hatten, so stark stieß sie die Gruppe der jungen Leute nun ab. Sie hatten das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Irgendwo verborgen in den zahlreichen grauen Schatten lauerte eine andere Kraft. Eine Macht, die nicht von dieser Welt stammte, es aber immer wieder schaffte, in sie hineinzudringen und Menschen in ihren Bann zu ziehen. Sie entdeckten nichts. Nur das dichte Strauchwerk, darüber das Astwerk der Bäume, die Gräber von unterschiedlicher Größe, hin und wieder hörten sie ein Geräusch, das jedoch nicht von einem Menschen stammte, sondern von einem Tier. Vögel bewegten sich träge über ihnen. Der faulige Geruch blieb. An einigen Stellen wallten sogar dünne Dunstschleier wie in die Luft gezeichnete Fahnen über die schmalen Wege, und die Welt des Friedhofs versank allgemein in einem schwülen, stickigen Grau. Sady wußte genau, wo die Gespenster-Gruft stand. Sie war schon einmal dort gewesen. Sie konnte sich dabei auch genau an die Umgebung erinnern und mußte leider zugeben, daß es in der Nähe noch eine zu gute natürliche Deckung gab, die sich als hervorragendes Versteck für den einen oder anderen Satanisten eignete. Als sie an diese Gruppe dachte, spürte sie einen wahnsinnigen Zorn. Sie wußte ja auch, was die Satanisten vorgehabt hatten. Sie hatten die Grufties dem Teufel als Grabbeigabe opfern wollen, und nun näherten sie sich freiwillig dem Ziel. Daß Sady bei ihren Gedanken nicht in eine vollständige Trauer hineinglitt, lag einzig und allein an der Existenz eines John Sinclair und dessen Freund Suko. Sie hoffte, daß die beiden schlau und raffiniert genug waren, um den Weg zu finden. Wenn nicht… Sady schluckte, denn weiter wollte sie über das Problem nicht nachdenken. Als sie stehenblieb, stoppten auch die anderen ihre Schritte. Creel und Ricardo drängten sich neben sie. Beide rochen nach einem strengen Parfüm, das sie sich selbst zusammenmixten. Sie nannten es ›Duft des Todes‹. Sady hob den Arm. Mit dem Finger deutete sie gegen einen größeren grauen Ausschnitt. »Dort müssen wir hin!« erklärte sie mit Flüsterstimme. Es klang irgendwie endlich. »Siehst du einen?« fragte Ricardo. »Nein, ich höre auch nichts.« »Sollen wir denn in der Gruppe gehen? Oder wäre es besser, wenn sich einer von uns umschaut?« »Das mache ich.« Maine hatte die Worte gehört. Er wollte den anderen beweisen, wie gut er war. »Ich kann mich bewegen wie ein Indianer auf
dem Kriegspfad. Das habe ich bei uns in Maine gelernt. Ihr werdet euch wundern.« Sady hatte nichts dagegen, bat ihren Freund aber, auf der Hut zu sein. »Darauf könnt ihr euch verlassen«, versprach er und war urplötzlich verschwunden. Die anderen warteten auf ihn. Sady lief einige Schritte vor, um einen besseren Blickwinkel zu haben. Sie drängte sich zwischen die belaubten Zweige eines verblühten Rhododendronbusches und konnte einen Teil der großen Gespenster-Gruft sehen. Sie wirkte wie ein Haus mit einem leicht schräg angesetzten Dach. Dabei kam es bei ihr nicht auf die Außenmauern an, sondern mehr auf das, was unter ihr lag. Dort mußten sich Verliese oder Gewölbe befinden, in denen die Satanisten ihrem Freund und Helfer gehuldigt hatten. Maine tauchte wieder auf. Er lief schnell und lautlos. Der Junge hatte nicht übertrieben. Er gehörte wirklich zu denjenigen, die gar nichts aus ihrer Pfadfinderzeit vergessen hatten. Mit schnellen Schritten überquerte er eine freie Fläche und drückte sich mit dem Rücken gegen den vergitterten Eingang der Gruft. Es blieb ruhig. Keiner schien Maine gesehen zu haben. Wenn ja, dann hatte sich dieser Jemand zurückgezogen und blieb sicherheitshalber in Deckung hocken. Die Zeit verstrich. Sekunden dehnten sich in die Länge, und Sady wurde nervös. Sollte ihre Rechnung nicht aufgehen? Waren die Satanisten tatsächlich nicht hier? Das wäre wunderbar gewesen, allerdings auch gefährlich, denn sie würden später kommen. Janina schlich heran. Den Schleier hatte sie nun um den Hals gebunden. Sie faßte Sady am Arm an. Ihre Finger zitterten dabei. Wie alle anderen Grufties stand auch Janina unter Strom. »Hat er war entdeckt?« »Nein, bisher nicht.« »Das ist super.« Sady nickte. »Finde ich auch, aber wir sollten uns nicht zu früh freuen. Ich traue keinem der Satanisten. Die bringen es fertig und sind schon vor uns hier gewesen.« »Warum zeigen sie sich dann nicht?« Sady warf der Freundin einen langen Blick zu. »Weil sie schlau sind, meine Liebe.« Damit konnte Janina nichts anfangen. Sie wollte auch keine weiteren Fragen mehr stellen, denn Maine drehte sich in ihre Richtung. Er winkte mit beiden Händen zum Zeichen, daß die Luft rein war und sie nichts zu befürchten hatten.
Trotzdem übereilten sie nichts und blieben vorsichtig. Ihre Blicke waren allesamt sehr skeptisch auf das Bauwerk gerichtet, das etwa doppelt so hoch war wie ein normal wachsender Mensch. An den Seiten schmückten keinerlei Inschriften das Mauerwerk. Die Wände waren innen und auch außen glatt poliert. Es gab keinen Hinweis auf diejenigen Personen, die in der Tiefe der Gruft ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Möglicherweise lag dort niemand begraben. Da hatte der Teufel schon dafür gesorgt und die Gruft in seinen Besitz genommen. Die schwüle Luft ließ keinen Windhauch zu. Sie war in der letzten halben Stunde noch schlimmer geworden, denn sie hatte sich verdichtet und kam den Grufties vor wie eine wattige Masse, von der sie bei jedem Einatmen Fäden in den Mund bekamen. Sie schwitzten unter ihrer Kleidung, stellten sich zu einer Gruppe zusammen, und Maine freute sich, daß er in diesem Fall einmal der Mittelpunkt war und sich die Gesichter seiner Freunde ihm allein zugewandt hatten. Er wollte sie auch nicht enttäuschen. »Was hast du entdeckt?« fragte Creel. »Nicht viel…« »Das hätte ich…« »Sei ruhig, Creel!« Sady unterbrach ihn. Sie wollte alles, nur keinen Streit in der Gruppe. »Es gibt da etwas an der Seite«, berichtete Maine flüsternd. »Ich schätze, daß es ein Schacht ist. Den hat man aber mit einem Gitter gesichert. Wir müßten es abheben.« »Schaffen wir das denn?« fragte Janina. Maine lächelte wissend. »Klar, denn ich habe einen Hebelarm gesehen, der sich nur von außen bewegen läßt. Das müßte klappen, und so schwach sind wir auch nicht. Außerdem ist der Hebel nicht eingerostet. Ein Zeichen, daß er öfter benutzt wurde.« Sady war einverstanden. »Dann los, bringen wir es hinter uns! Wir haben schon lange genug gewartet.« Maine führte sie. Er und die anderen gingen geduckt, was aber nichts brachte, denn in unmittelbarer Nähe der Gruft gab es keine Deckung. Hier wuchs nur kniehohes Gras, nicht einmal hinter Sträuchern konnten sie sich verstecken. Die Lichtung wurde vom Friedhof und seinen hohen Bäumen umschlossen. Unterholz wuchs ebenfalls zwischen den Stämmen hoch und versperrte so manche Lücke. Der Schweiß rann ihnen über die Gesichter und die Körper. Die Kleidung klebte ihnen am Leib. Keiner schlug mehr nach den lästigen Mücken, sie alle sahen nur das Ziel vor Augen.
Maine blieb stehen. Er zeigte schräg in die Tiefe, was nicht nötig gewesen wäre, denn jeder schaute gegen den Rost mit dem an der Seite befindlichen Hebel. »Da ist es!« Sady nickte, bevor sie sich bückte. Sie kniete sich hin, drückte den Oberkörper noch weiter vor und lehnte sich zur Seite, weil sie durch den Rost schauen wollte. Auch dieser Blickwinkel reichte ihr leider nicht aus, um einen endgültigen Plan fassen zu können. Sie sah wohl eine Schräge, erkannte aber nicht, wo sie mündete. So stand sie wieder auf. »Wir kümmern uns um den Hebel«, sagte Ricardo. Er hatte sich schon gehockt, und die anderen taten es ihm nach. Drei Hände umfaßten ihn, das mußte reichen. Sie brauchten ihn nur an sich heranzuziehen, um die Sperre am Gitter lösen zu können. »Fertig?« fragte Ricardo. Seine Freunde nickten. »Dann… jetzt!« Sie zogen gemeinsam, und es klappte schon beim ersten Versuch. Zudem leichter, als sie es sich vorgestellt hatten. Maine fiel sogar noch auf den Hintern, lachte aber dabei, denn er war ebenso froh wie die anderen, daß es geklappt hatte. Die Mädchen bückten sich bereits nach dem Gitter. Sie steckten die Finger durch die Löcher im Rost und griffen zu. »Heben!« rief Sady. Der erste Versuch reichte. Der Rost löste sich sofort aus seinem Viereck. Vor ihnen lag der Schacht, und vor ihnen lag eine unheimliche Tiefe, denn jeder von ihnen spürte sofort das Fremde und Unheimliche, das ihnen entgegenwehte. Keiner schaffte es, dieses Gefühl in Worte zu fassen, aber jeder war davon betroffen. »Was ist das?« hauchte Creel. Er ging etwas zurück. Sady hob die Schultern. »Ich weiß es!« In ihrem Rücken peitschte die Stimme auf. Grell und scharf, dabei triumphierend, wie bei einer Person, die sich voll und ganz als Sieger fühlte. Die Grufties kreiselten gemeinsam herum. Vor ihnen stand nur eine Person. Die aber reichte. Denn Gig Serrano, Anführer und Chef der Satanisten, hatte den Weg schon längst gefunden. ***
Er starrte sie mit einem derartig kalten und bösen Blick an, daß den jungen Leuten Schauer über die Körper rannen. Dieser Blick verhieß nur eines, etwas Endgültiges. Den Tod! Serrano lächelte. Eine Strähne seines ansonsten glatt nach hinten gekämmten Haares war ihm in die Stirn gefallen und hing dort so wie eine böse Locke des Teufels. Er trug seine schwarze Lederkleidung, auch wenn sie jetzt von einer grauen Staubschicht bedeckt war und an einigen Stellen ziemlich ramponiert aussah. Dieser Typ schien einiges hinter sich zu haben, aber jetzt hatte er gewonnen. Sein Gesicht sah aus wie eine böse Maske. Erbarmen gab es bei ihm nicht. An einem Ohrläppchen hing ein Ring. Schwer und golden. In der unteren Rundung füllte ihn ein Stein aus, der einen roten Teufelskopf zeigte. In der rechten Hand hielt er einen Dolch fest. Kein normales Messer, denn aus der um den Griff geschlossenen Faust zuckte eine bläulich-rot schimmernde Flamme, die an ihrem Ende zu einer sehr scharfen Spitze zusammenlief. »Wolltet ihr nicht wissen, was euch aus der Gruft entgegenströmt?« höhnte er. Keiner nickte. »Dann will ich es euch sagen. Es ist ein Atem. Der Atem der Hölle, der Odem des Teufels, den mein großer Herr und Meister diesem alten Gemäuer eingehaucht hat, um seine Gespenster am Leben zu lassen. Bisher habt ihr ihn nur schwach bemerkt, aber keine Sorge, das wird sich sehr schnell ändern, wenn ihr unten seid. Deshalb steht ihr doch hier – oder? Ihr wollt nach eurem Freund sehen, wie?« Sady besann sich darauf, daß sie zur Anführerin gewählt worden war. »Ja, das wollen wir. Und wir wollen wissen, wo er steckt und was mit ihm geschehen ist?« Serrano grinste bissig. »Er ist unten, meine Freunde. Er steckt in der Gruft. Er hat die Gespenster gesehen, und ich glaube nicht, daß er noch lebt. Der Teufel wird sich freuen, wenn er in der nächsten Minute Nachschub bekommt. So einfach lasse ich mich nicht von euch kleinen Scheißern reinlegen. Da müssen schon andere kommen.« Die Worte waren ihnen an die Nieren gegangen. Bewaffnet waren sie nicht. Sie trugen keine Ketten oder Schlagringe bei sich, denn Grufties sind friedliche Personen. Gig Serrano bewegte seine rechte Hand. Die Flamme wanderte mit und zeigte jetzt mit der Spitze auf sie. »Na los! Was ist? Wollt oder könnt ihr nicht? Dreht euch um und rutscht der Reihe nach und hintereinander in das Paradies des Teufels, wo für euch alles vorbereitet ist!« Jetzt bekamen sie Angst.
Es war an ihren Gesichtern zu erkennen, aber auch an den unruhigen Reaktionen, wie sie mit ihren Füßen scharrten. Maine seufzte. Es hörte sich an, als würde er beten. Und plötzlich drehte er durch. Ohne es zuvor angedeutet zu haben, rannte er los. Sein Ziel war Serrano. Der ließ ihn kommen. Er machte sich sogar einen Spaß daraus, den jungen Gruftie zu reizen und dann voll auflaufen zu lassen. Dabei reagierte er eiskalt und hatte es überhaupt nicht nötig, sich schnell zu bewegen. Ein langsames Heben des rechten Arms reichte aus. Sady wußte, was folgen würde. Ihr verzweifelter Warnschrei erreichte nur mehr den Rücken ihres jungen Freundes. Die schlimme Tat verhindern konnte er nicht. Einen Augenblick später raste Serranos Hand nach unten. Wie ein mächtiges Flammenschwert verließ der Feuerdolch die Faust. Maine hatte nicht die geringste Chance. Die Flamme raste zielgenau in seine Brust. Sie bohrte sich tiefer, sie stoppte den Jungen, aber der Griff schaute nach wie vor heraus. In einer Reflexhandlung hob Maine beide Hände. Er schaffte es, den Griff zu umklammern. Dabei befand er sich noch immer in Bewegung, nur lief er nicht mehr nach vorn, sondern bewegte sich torkelnd zur rechten Seite weg. Sein erstes Schreien verklang, sackte zusammen, steigerte sich dann wieder und wurde zu einem Wimmern, dessen Laute den anderen vier Grufties in die Herzen schnitt. Sie schauten zu, wie Maine starb! Er fiel zu Boden und auf den Rücken. Seine Beine bewegten sich, die Hacken rammten gegen den Boden, noch einmal löste sich ein Schrei, dann lag er still. Er war tot! Sady schloß für einen Moment die Augen. Sie konnte nicht hinsehen, aber sie wußte, daß die anderen ähnlich reagierten. Das Bild war einfach zu schrecklich. Es hatte einen von ihnen erwischt, diesmal war der Tod keine Theorie gewesen, jetzt waren sie Zeugen gewesen, wie ein Mensch aus dem Leben gerissen wurde. Ein junger Mensch, der sich bestimmt nicht danach gesehnt hatte, obwohl er zu den Grufties gehört hatte. Wie ein kalter Ring hielt sie das Entsetzen fest, und keiner der Grufties brachte ein Wort hervor. Der Satanist dachte anders darüber. Sein Grinsen uferte aus. Mit einer lässig anmutenden Bewegung ging er vor, schaute auf den Körper nieder, beugte seinen eigenen zurück, und konzentrierte sich auf den Dolch.
Vier Grufties schauten zu, wie sich die Waffe im Körper ihres toten Freundes bewegte. Zuerst zitterte sie, dann durchlief sie ein stärkerer Ruck, und einen Moment später verließ sie die Wunde und schoß in die Höhe, genau in Gig Serranos auffangbereite Hand. Er hielt die Waffe hoch, deren Klinge aus Feuer bestand, aber die Grufties schauten nicht zu ihm hin, sie starrten Maine an. In seiner Brust befand sich eine große Wunde. Blut strömte aus ihr hervor. Gleichzeitig huschten kleine Flammen über die Ränder der Wunde hinweg und schwärzten sie. Wahrscheinlich hatte ihn das verfluchte Höllenfeuer von innen heraufgefressen. Serrano lächelte. Er ging vor, bewegte den Flammendolch und schaute die anderen der Reihe nach an. »Wer von euch will noch sterben? Ihr habt gesehen, wie schnell das geht. Ich kann euch der Reihe nach in das Höllenfeuer schicken. Es macht mir nichts aus und sollte euren Plänen eigentlich entgegenkommen, denn wie ich weiß, gehört ihr zu den Typen, die ja auf eine Existenz nach dem Leben abfahren. Ihr sehnt euch den Tod herbei. Das habt ihr jetzt mitbekommen. Na, wollt ihr nicht mehr sterben?« Er richtete die Waffe auf Sady. »Was ist mit dir? Willst du nicht? Du führst sie doch an!« Sady hatte Mühe, sich zu beherrschen. Sie stand dicht vor dem Durchdrehen. Mit einem derartigen Ablauf hatte sie nicht gerechnet. Ihr Blick saugte sich an der Flamme fest, und sie hörte sich selbst mehrmals tief ein- und ausatmen. »Nicht?« höhnte Serrano. »Wollt ihr wirklich nicht? Das ist aber schade, sehr schade sogar. Ich habe es anders gesehen.« Er grinste kalt. »Es ist euer Pech oder Glück, ich weiß es nicht. Aber eines steht fest, meine Freunde. An meinem Plan hat sich nichts geändert. Die GespensterGruft wartet auf euch. Ja, auf euch ganz besonders. Sie freut sich auf neue Opfer, und es ist noch genügend Platz in den Verliesen, das könnt ihr mir glauben.« Janina, die schwarze Braut, schaffte es, eine Frage zu stellen und ärgerte sich gleichzeitig über den zittrigen Klang ihrer Stimme. »Dann wissen wir ja, was uns in der Gruft erwartet! Oder habe ich mich da etwa getäuscht?« »Ja, das hast du.« Serrano deutete auf die Leiche. »Euer Freund hat einen leichten und schnellen Tod erlitten. Eigentlich hätte er mir dankbar sein müssen. Bei euch aber sieht das anders aus, ganz anders. Darauf könnt ihr euch verlassen. Ihr werdet in das Labyrinth einer Vorhölle hineingeraten und einen Geschmack dessen bekommen, welche Überraschungen die Hölle für euch bereit hält. Es wird wunderbar werden, das verspreche ich. Ihr werdet Dinge zu sehen bekommen, an die ihr nicht einmal mehr im Traum gedacht habt.« Sein Grinsen wurde widerlich. »Höllengespenster. Es kann kaum etwas Schlimmeres für
Menschen geben. Sie warten darauf, sie erleben selbst Qualen, und weil dies so ist und weil sie auch Gefangene sind, möchten sie die Qualen weitergeben. Und zwar an diejenigen, die es tatsächlich schaffen, die Gruft mehr oder weniger freiwillig zu betreten. Das ist alles. Mehr brauche ich euch nicht zu sagen.« Serrano war mit jedem Satz einen kleinen Schritt nähergekommen, bis er dicht vor den Grufties stehenblieb. Er war ein Teufel in Menschengestalt. Die Kraft eines anderen Reiches durchflutete ihn, das konnten sie sehr deutlich sehen. Die Augen zeigten keinen menschlichen Blick mehr. Pupillen schienen im Feuer der Hölle zu brennen. In ihnen tanzte und loderte es, als sollten sie im nächsten Moment von den Kräften der Flammen zerrissen werden. Aber er blieb. Er tat ihnen den Gefallen nicht. Dafür schnickte er mit den Fingern. Für die Grufties war das ein Zeichen. Sie duckten sich, sie wußten schon, daß etwas passieren sollte, aber sie trauten sich einfach nicht, sich in Bewegung zu setzen. »Drehen!« flüsterte er. »Dreht euch herum! Ich will eure Rücken sehen, und ich will sehen, wie ihr auf die Gruft zugeht. Den Eingang habe ich euch geöffnet. Ihr könnt über die Rutsche hineingleiten. Es ist der einfachste Weg.« Sein Blick konzentrierte sich auf Sady. »Du bist die Chefin hier, und du wirst den Anfang machen!« Sady hatte längst eingesehen, daß es keinen Sinn hatte, sich zu wehren und sich gegen Serrano zu stellen. Es war besser, wenn sie tat, was ihr geheißen wurde. Noch einmal blickte sie ihre Freunde an, für die sie so etwas wie Verantwortung spürte. Sie sah in die noch blasser gewordenen Gesichter. Schaute gegen Lippen, die trotz der Schminke aussahen, als wären sie in die Haut hineingekrochen, sie sah das Zucken der dünnen Haut an den Wangen, und ihr war klar, daß sich auch ihre Freunde mit dem Schicksal abgefunden hatten. Die simple Rutsche würde sie alle in eine andere Welt hineinbringen. In ein unterirdisches Reich, das dem Teufel gehörte und Wohnstatt für Höllengespenster war. Sie blieb für einen Moment vor der rechteckigen Öffnung stehen. Als sie in die Tiefe schaute und die rauhe Schräge dabei mit den Blicken verfolgte, da spürte sie die Tränen in den Augen, und ihr klarer Blick verschwamm. Sie dachte auch an den Geisterjäger John Sinclair. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie vieles falsch gemacht hatte. Sie hätte ihn sofort über ihre Pläne in Kenntnis setzen sollen. Sie hatte es nicht getan und nur auf ihn gehofft. Leider vergeblich… »Soll ich dich hineinstoßen?« Sady hörte Serranos Stimme und stellte fest, daß er verflixt nahe an sie herangekommen war. Sie wollte ihn nicht spüren, er sollte sie nicht
anfassen, deshalb antwortete sie: »Das ist nicht nötig. Ich werde von allein gehen!« »Dann schnell!« Sady sank in die Knie. Sie ärgerte sich darüber, daß sie zitterte. Nur mühsam hielt sie sich unter Kontrolle. Keiner sollte hören, daß sie weinte. Doch das Zucken ihrer Schultern sagte den anderen genug. Zuerst schob sie die Beine vor. Dabei dachte sie an ihre Kindheit, denn früher war sie ebenfalls mit den Beinen voran eine der vielen Rutschen im Park hinabgeglitten. Hier ging es nicht so glatt. Die Fläche unter ihr zeigte ein rauhes Muster. Es ging nur langsam voran, und sie hatte den Eindruck, in einem gewissen Zeitlupentempo in die Tiefe zu gleiten, wo das Verderben auf sie lauerte. Dann wurde es um sie herum dunkel. Und einen Moment später hatte die Gespenster-Gruft das Mädchen Sady verschluckt… *** Blut – überall Blut und Wunden! Hinzu kam der Geruch. Leicht süßlich, aber auch irgendwie metallisch. So genau konnte ihn Walter Cohn nicht identifizieren. Aber er lebte! Und das war wichtig. Sehr wichtig sogar, denn es gab ihm Mut. Obwohl ihn die Gespenster gequält hatten. Er hatte sie gesehen. Sie waren gekommen, sie hatten sich an ihn herangeschlichen, sie waren lautlos durch die Verliese geglitten, und sie hatten sich ihm in allen Variationen gezeigt. Er hatte sie gesehen. Er hatte sie in allen Variationen kennengelernt. Sie waren Mischungen aus Menschen und Monstren gewesen, regelrechte Ausgeburten der Hölle, die sehr gut in diese alte, verfluchte Umgebung hineinpaßten. Er war gequält worden. Er dachte an die spitzen Krallen, die durch sein Gesicht gestreift waren. Zuerst wie eisige Finger, dann aber stärker, und die hatten es geschafft, seine Haut aufzureißen. Lange Spuren, eingefärbt durch dunkles Blut, zeichneten sein Gesicht. Sie hatten ihm die Kleidung aufgerissen, und sie hatten dabei gelacht. Jetzt lag er da und wurde seit einiger Zeit in Ruhe gelassen. Überall am Körper spürte er die Schmerzen. Die kleinen Wunden waren zurückgeblieben, als wäre Säure auf seine Haut getropft. Es brannte…
Walter Cohn hatte versucht, das Blut an einigen Stellen abzulecken. Daß er sich dabei wie ein Tier benommen hatte, störte ihn nicht. Ihm ging es um das eigene Leben. Er war in eine Ecke gekrochen und hatte sich dort zusammengedrückt. Manchmal fürchtete er sich davor, daß ihn der Wahnsinn überkommen könnte, denn Erlebnisse, wie er sie hinter sich hatte, ließen sich nicht so einfach verkraften. Er spürte den Druck der Wand im Rücken. Mit entzündeten Augen starrte er in die Finsternis. Bisher hatte er dem Wahnsinn noch einen Riegel vorschieben können, doch er glaubte nicht daran, daß er einen zweiten Angriff überstehen würde. Nein, das nicht. Da würde er durchdrehen, denn die Gespenster der Hölle warteten darauf, ihn zu packen. Sie hatten ihm schon einen kleinen Eindruck von dem gegeben, was ihn später noch erwartete, vorausgesetzt, er lebte noch. Seine Wunden brannten, die Höllengespenster hatten ihn gequält, gefoltert, sie hatten ihn verletzt. Jetzt saß er da und stierte in die schwarze, wattige Finsternis, ohne dort etwas erkennen zu können. Sie lag dicht wie dunkles Blei, doch Walter wußte genau, daß die unheimlichen Wesen dort lauerten und nur darauf warteten, zuschlagen zu können. Irgendwann würden sie den Befehl erhalten… Er wunderte sich selbst über seine Kraft. Walter Cohn hatte es tatsächlich geschafft, sich in eine sitzende Haltung zu drücken. Mit dem Rücken stemmte er sich gegen die rauhe Wand. Kamen sie…? Nein, sie hielten sich zurück, aber sie waren in der Nähe, denn plötzlich hörte er wieder die unheimlichen Geräusche, die sie so gern von sich gaben. Eine Mischung aus Flüstern und Wispern. Manchmal ein leiser Schrei, dann wieder ein hartes Kratzen irgendwelcher krummen Fingernägel, die über den Boden schleiften, als wollten sie Spuren auf dem harten Untergrund hinterlassen. Blut klebte auch in seinen schmutzigen Haaren. Als Walter mit der Hand darüber hinwegfuhr, da kam es ihm vor, als hätte er klebrige Konfitüre an den Fingern. Er ließ die Hand sinken. Sie fiel, ebenso wie der Arm, schwer nach unten. Mit der Fläche stützte er sich ab. Auch sein Kopf sank nach vorn, was er nicht wollte, denn das bedeutete für ihn so etwas wie die endgültige Aufgabe. Soweit war er noch nicht. Er wollte einfach nicht so enden wie der Tote, und deshalb hob er den Kopf wieder an und schaute weiterhin in die alte Richtung.
Dort bewegte sich etwas. Es waren keine Schatten in der Dunkelheit, auch wenn es im ersten Augenblick so erschien. Was dort von einer Seite zur anderen huschte, kannte er. Es waren die brandgefährlichen Höllengespenster, die sich wieder versammelt hatten, um ihn zu beobachten. Gräßliche Fratzen schälten sich hervor, furchtbare Gesichter, verzerrt, unheimlich. Da saß oft nichts an seinem Platz, wo es eigentlich hingehört hätte. Er sah Gesichter wie Ballons mit schiefsitzenden, wimpernlosen Glotzaugen und gräßlich breiten Mäulern. Er sah auch kreidebleiche Gesichter, so wie man sich eben die Gespenster vorstellte, und es gab bei ihnen keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Geistern, denn irgendwo waren sie alle gleich. Sie tanzten vor ihm. Sie zeigten ihm ihre Waffen. Oft nur die Finger, die ihn an lange, kratzige Zweige erinnerten, schon leicht verdorrt, aber er hatte sie gespürt, wie sie durch seine Kleidung hindurchgedrungen waren, um auf der Haut die blutenden Wunden zu hinterlassen. Dann tauchte die weiße Frau wieder auf. Sie war ein furchtbares Gespenst, obwohl sie nicht monsterhaft aussah. Vielleicht war es gerade die kalkige Blässe, die für diesen schrecklichen Anblick sorgte, denn die weiße Frau wurde oft genug in den Sagen und Geschichten der Völker erwähnt. Da lernten die Kinder bereits, sich vor ihr zu fürchten. Sie war wieder mit ihrem Messer bewaffnet, als sie auf Walter Cohn zuschwebte. Das Haar wirkte dabei wie eine strohige gelbe Fülle, die ihren bleichen Kopf umwehte, als sie, die Arme ausgebreitet und dicht über dem Boden schwebend, auf den Mann zuglitt. Für Walter war es ein Omen. Das erste und das letzte Omen. Sie würde ein Zeichen setzen, sie würde an ihn herankommen und mit ihrer Waffe zustoßen. Es war so etwas wie ein Messer, jedenfalls eine schmale Klinge, die tief in seinen Körper hineindringen konnte, um ihm das Leben zu rauben. Er zitterte plötzlich. Hatte er schon immer Furcht vor diesen Gespenstern gehabt, so überkam ihn jetzt die kalte Todesangst. So schlimm war es noch nie gewesen, und das Heranschweben der unheimlichen Frau wurde vom Heulen und Jammern der anderen Wesen begleitet. Sie würde sich nicht mehr aufhalten lassen, sie wehte heran, und Walter spürte bereits die Kälte, die von ihr ausging. Sie hob vom Boden ab, kippte dann nach vorn. Das Messer schwebte über ihm. Vielleicht hätte er seinen Kopf nicht in den Nacken legen sollen, so aber präsentierte er ihr sein Gesicht, und es bildete eine ideale Zielfläche für die Waffe.
War das der Tod? Er rechnete damit. Die weiße Frau stieß nicht zu. Sie wartete noch ab. Sekundenlang ließ sie den armen Mann in dieser teuflischen Schwebe. Das Warten kam ihm ebenfalls wie eine Folter vor, aber es lohnte sich, denn er hörte irgendwo aus dem Hintergrund der Gruft, versteckt in der tiefen Finsternis, ungewöhnliche Geräusche. Stimmen? Oder Schritte…? Das war nicht zu begreifen, das konnte nur eine Illusion sein. Er glaubte nicht daran, daß es Menschen waren, die die Gespenster-Gruft betreten hatten und daß diese Menschen womöglich gekommen waren, um ihn zu retten. Er mußte sich irren. Walter Cohn irrte sich nicht, denn auch die Gespenster reagierten. Zuerst die weiße Frau. Wäre Walter nicht so schwach gewesen, er hätte gejubelt, als er mitbekam, wie sich die Person vor ihm drehte und sich gleichzeitig auch zur Seite drehte. Sie wollte ihn nicht mehr… Walter sank in seiner Haltung zusammen. Aus seinem Mund mit den trockenen und rissigen Lippen drang ein leises Krächzen, ein Laut der Erleichterung, weil er hoffte, daß der Kelch des Todes noch einmal an ihm vorbeigezogen war. Jetzt hatten die Gruft-Gespenster ein anderes Ziel. Aber welches…? Die Zeit verstrich. Sekunden kamen ihm dabei wie Minuten vor, und dann bekam er eine gewisse Antwort. Plötzlich hörte er einen Schrei. Es blieb nicht bei dem einen, denn andere Rufe mischten sich mit in das Echo hinein. In diesem Augenblick wußte Walter Cohn, daß die Gespenster-Gruft abermals Besuch bekommen hatte… *** Sady war in die Tiefe hineingerutscht und hatte das Gefühl gehabt, von der Hölle mit offenen Armen empfangen zu werden. Sie hatte sich nach vorn geworfen, als sie Widerstand unter ihren Füßen spürte, war auf die Schulter gefallen und hatte sich abrollen können, um den anderen Grufties Platz zu schaffen, die den gleichen Weg nehmen würden. Um sie herum lag eine tintige Schwärze. Sie konnte überhaupt nichts mehr sehen, und selbst das Ende der Rutschbahn war nur schwach als graues Etwas zu erkennen. Als hätte jemand in die nach oben steigende Dunkelheit ein Rechteck hineingeschnitten.
Sie zitterte, denn sie wußte sehr genau, daß in der Schwärze die Feinde lauerten. Sie würden sich erst dann zeigen, wann sie es für richtig hielten. Sady hörte Stimmen. Janina war noch oben, sie redete, aber was sie sagte, konnte Sady nicht verstehen. War sie die zweite? Ja, sie rutschte nach unten. Längst nicht so glatt und sicher wie Sady, denn sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick zur Seite kippen, und Sady mußte vorspringen, um sie zu halten, sonst wäre die vor Angst zitternde Janina zu hart auf den Boden geschlagen. Sady half ihr dabei, auf die Beine zu kommen. Obwohl es sehr finster war, konnte sie ihr Gesicht erkennen, das für einen Moment dicht vor dem ihren schwebte. Janina schluchzte auf, aber Sady schaffte es, bei ihr ein Weinen zu unterdrücken. »Nicht jetzt! Wir dürfen uns nicht aufgeben! Wir müssen zusammenhalten und zusammen bleiben.« Die schwarze Braut nickte. Sady zerrte sie zur Seite, weil der nächste über die Rutsche nach unten glitt. Es war Creel mit seinen Rastalocken. Durch die Bewegungen schlugen die Totenköpfe klackend gegeneinander und begleiteten seine Rutschpartie mit diesem hohl klingenden Trauerrhythmus. Creel schaffte es, mit sicheren Bewegungen auf die Beine zu kommen und stehenzubleiben. Er stellte keine Fragen, wischte nur über sein Gesicht und wartete auf Ricardo, von dem sie nur einen Schrei hörten, dann Gig Serranos Lachen, und einen Moment später glitt der Gruftie über die Rutsche in die Tiefe. »Er hat mich getreten. Das Schwein hat mich in den Rücken getreten!« keuchte er, als er neben den anderen stehenblieb. Er bog den Oberkörper nach hinten. Seine Hände preßte er auf die getroffene Stelle, aber für seine Probleme hatte niemand Verständnis. Jetzt ging es um ganz andere Dinge. Sady stellte ihre Freunde so hin, daß sie sich vor ihnen befand und sie schwach erkennen konnte. »Bitte!« flüsterte sie. »Auch wenn es uns schwerfällt und ich selbst weiß, daß ich verdammt viel verlange, aber wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Wir müssen zusammenhalten. Nur dann können wir etwas erreichen!« »Was denn?« fragte Creel mit zittriger Stimme. »Was können wir denn noch schaffen?« »Ich weiß es nicht!« »Man wird uns fressen!« sagte Ricardo leise. Sady nickte, stimmte aber trotzdem nicht zu. »Aber nur, wenn wir uns fressen lassen.«
»Du willst dich wehren?« »Ja!« »Gegen die Höllen-Gespenster?« hauchte Janina. »Auch das!« Sady hatte sich entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Sie wollte nur noch die anderen überzeugen. Was immer auf sie zukam, es war am besten, wenn sie dicht beieinander blieben. »Kommen wir mal zur Sache«, sagte sie. »Was steht uns zur Verfügung?« »Nichts«, erwiderte Ricardo. »Wir haben keine Waffen, mit denen wir uns verteidigen könnten, schon gar nichts, was gegen irgendwelche Gespenster hilft.« »Aber wir haben Licht! Feuer, Streichhölzer, Feuerzeuge – oder etwa nicht?« Sadys Optimismus steckte die anderen an. Sie jubelten nicht, aber es war zu hören, wie sie aufatmeten. Ricardo holte sein Feuerzeug hervor. Er knipste es an. Die kleine Flamme tanzte in der Dunkelheit. Sie riß einen Streifen hinein, der unten seinen Anfang nahm und sich gegen die Decke drückte, wo er einen schmalen Kreis hinterließ. »Haben denn Gespenster Angst vor dem Licht oder dem Feuer?« fragte Janina leise. »Das hoffe ich.« »Und wohin?« Auch Creel hatte Licht gemacht. Allerdings besaß er Streichhölzer. Ein leichter Luftzug blies die Flamme wieder aus. Sady suchte ebenfalls nach ihrem Feuerzeug. Sie hatte es rasch gefunden. Die Flamme entstand, sie vereinigte sich mit der, die aus Ricardos Hand zu strömen schien. Das Licht war gut, das Licht tat ihnen gut. Sie holten tief Luft, und ihre Angst war ein wenig verschwunden. Sie hatten sich innerlich darauf eingestellt, es durchzuziehen. Sie wollten sich wehren, aber sie gingen trotzdem wie Walter in die unheimliche Tiefe der Gespenster-Gruft hinein, dichtgedrängt wie eine Herde Schafe. Sehr bald stellten sie fest, daß es hier unten nicht nur einen großen Raum gab, sondern eine regelrechte Anlage aus kleinen Verliesen, die allesamt miteinander verbunden waren, denn irgendwelche Türen oder geschlossene Hindernisse entdeckten sie nicht. Ihre Füße schabten über den Boden. Schleifende Geräusche hinterließen sie, und an sie mußten sich die Grufties erst gewöhnen. Manchmal verlöschten auch die Flammen, weil Sady und Ricardo ihre Feuerzeuge nicht mehr halten konnten und die Flammen dabei waren, ihre Daumenkuppen zu versengen.
Dann zündete Creel seine Zündhölzer an. Er ging stets ein wenig vor, bückte sich dabei, und als dies zum viertenmal geschah, hörten die anderen drei Grufties seinen entsetzten Schrei. »Was ist?« Sady handelte als erste. Sie war blitzschnell neben Creel und faßte nach seinem Arm. Der Gruftie konnte in der Dunkelheit nur beschreiben und nichts zeigen. »Vor dir!« keuchte er. »Verdammt, vor dir!« Sady bückte sich. Sie zündete ihr Feuerzeug an und hatte es zufällig so gehalten, daß die Flamme über ein bestimmtes Gesicht hinwegstreichen konnte. Sie kannte es. »Himmel, das war doch der Totengräber!« ächzte Janina, drehte den Kopf weg und schüttelte ihn. Ja, er war es. Und er lag vor ihnen, regungslos, denn er war tot. »Diese Schweine!« keuchte Ricardo mehr weinend als sprechend. »Diese verfluchten Schweine.« Wen er damit meinte, wußte er selbst nicht, aber die Worte hatten einfach hinausgemußt. Sady blieb ruhig, beinahe eiskalt, obwohl es ihr mehr als schwerfiel. Sie bückte sich tiefer. Es war kein Masochismus bei ihr, aber sie wollte genau sehen, was die unbekannten Kräfte mit ihrem Freund, dem Totengräber, angestellt hatten. Er sah schlimm aus. Nicht allein deshalb, weil er sich bereits in einem Stadium der Verwesung befand – durch Gase war sein Körper aufgedunsen und die Haut teigig geworden –, nein, sie konnte im Licht der Flamme auch die zahlreichen, kleinen Wunden erkennen, die nicht allein sein Gesicht, sondern auch Teile seines Körpers wie ein Muster zeichneten. An vielen Stellen waren sie bereits zugewachsen, aber mit einer hellen Schorfkruste bedeckt. Am schlimmsten empfand Sady den Blick der Totenaugen. In diesen Sekunden wurde ihr plötzlich klar, daß sie, sollte sie je diese Gruft wieder lebend verlassen, ihr Leben als Gruftie aufgeben würde. Das würde sie nicht ertragen können, denn bisher hatte sie sich eine falsche Vorstellung von dem Tod gemacht. Hier schaute sie in das gräßliche und kalte Gesicht des Todes hinein, aber auch in das echte. Sie schüttelte sich. Der Druck auf ihren Augen nahm zu. Ihr fiel ein, daß der Tod schrecklich war. Daß er brutal zuschlagen konnte und einen Menschen quälte, bevor dieser den Weg ins Jenseits ging. Er war nichts, auf das man warten und sich freuen konnte. Er war so absolut, so verflucht grausam, und er war es nicht wert, daß man sich nach ihm sehnte. Mit diesen Gedanken richtete sich Sady wieder auf. Sie schaute gegen die Gesichter ihrer Freunde. Sie waren starr. Janina weinte leise, Ricardo mußte ebenfalls schlucken, und Creel wischte über seine
Augen. Wahrscheinlich war ihnen klargeworden, mit welchen Kräften sie sich letztendlich eingelassen hatten. Daß diese Mächte einer anderen Welt entsprangen, eben der Hölle, und daß ihnen ein Menschenleben überhaupt nichts galt. Sady wollte irgend etwas sagen, was die anderen womöglich tröstete. Sie suchte nach Worten, es war wie ein Krampf, dann aber brach es aus ihr heraus. »Er war allein, er war so verflucht allein in dieser Hölle! Er hat sich nicht wehren können, versteht ihr? Wir aber sind zu viert, und wir werden es schon schaffen. Wir müssen uns nur auf uns verlassen, wir müssen zusammenbleiben. Wir dürfen uns nicht trennen! Keiner von uns darf einen anderen Weg gehen!« Sady hatte zwar keine Antwort erwartet, war aber trotzdem enttäuscht, als sie keine Reaktion bekam. Schweigen. »Warum sagt ihr nichts, zum Henker?« »Weißt du denn, wie viele es sind, die sich in dieser Dunkelheit verbergen?« fragte Creel. »Auch wenn wir zu viert sind, was wollen wir denn machen, wenn uns die zehnfache Übermacht angreift? Gar nichts. Wir können nichts tun!« Er hatte ein wahres Wort gelassen ausgesprochen. Seine Stimme war normal gewesen, Creel hatte sich in der Gewalt, aber er bewegte ruckartig seinen Kopf, als er in die verschiedenen Richtungen schaute, um die Finsternis zu durchdringen. Neben ihm stand Janina. Sie hielt beide Hände gegen ihren Bauch gepreßt, als wollte sie eine gewisse Übelkeit unterdrücken. Auch der letzte Gruftie sah aus, als könnte er sich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Sein Gesicht sah aus, als wäre es von einer dünnen Maske überzogen worden. Er bewegte seine Lippen, ohne etwas zu sagen. Sady hatte ebenfalls Angst. Sie dachte aber an die Rolle, die sie immer gespielt hatte. Sie war die Anführerin, sie mußte einfach Stärke zeigen, denn das verlangte man von ihr. Deshalb riß sie sich zusammen. »Paßt mal auf, wir werden…« Ihre Stimme endete in einem Krächzen, aus dem ein leiser Schrei hervorstieg. Zugleich hatten die Grufties das Schreckliche gesehen. Sie merkten plötzlich, daß sie von zahlreichen Wesen umkreist waren, die zuvor noch in der pechschwarzen Dunkelheit im Hintergrund gelauert hatten, sich nun hervorschoben und ein halbkreisförmiges, lebendiges Gemälde des Schreckens bildeten. Janina schrie. Auch Creel heulte auf.
Und die Höllengespenster genossen ihren Triumph. Ihr grausames Kichern übertönte alle anderen Geräusche. Sie waren bereit, um zu töten! *** Wir hatten den Friedhof erreicht, doch weder Suko noch ich fühlten uns glücklich. Wir kamen uns vor wie zwei Menschen, die unbedingt etwas an einem gewissen Punkt ändern wollten, dies auch in der Theorie wußten, aber in der Praxis zu spät gekommen waren. Pech… vorbei… Ich schaute meinen Freund an, auf dessen Gesicht ebenso der Schweiß lag wie auf dem meinen. Unter den Bäumen war es unwahrscheinlich schwül, und es würde bald zu einem Gewitter kommen, denn weit im Westen hatte der Himmel bereits eine leichte gelbe Färbung angenommen. »Was hast du?« Ich schüttelte den Kopf. »Einfach das Gefühl, nicht rechtzeitig genug gekommen zu sein.« »Dann laß uns weitergehen.« Wir hatten unser Ziel leider noch nicht erreicht und mußten die Gruft finden, was nicht einmal einfach war, denn der dichte Bewuchs nahm uns viel von einem freien Blick. Die Zweige der Sträucher griffen ineinander. Sie hatten sich verhakt, sie duckten sich unter dem mächtigen Geäst der Bäume hinweg, sie bildeten grüne Mauern, über die Insekten tanzten und uns mit ihrem Summen begleiteten. Wir durchsuchten den alten Teil des Friedhofs nach einem bestimmten System und zogen die Kreise immer enger. Irgendwann mußten wir dann an unser Ziel gelangen. Wir schafften es. Plötzlich konnten wir durch eine Lücke auf einen kleinen Platz schauen, der allerdings nicht leer war. Auf ihm wuchs ein grauer Schatten hoch, sehr kantig, so daß er aussah wie eine festgebackene Wolke, was er sicherlich nicht war. Es war ein Gebäude! Eben die Gruft! Ich blieb stehen, wollte Suko Bescheid geben, aber der hatte den Bau ebenfalls entdeckt, nickte und sagte: »Das ist die Gruft!« Wir begingen nicht den Fehler, in einen Überschwang zu geraten und einfach loszurennen. Wir dachten an Serrano und an Satanisten. Möglicherweise gab es noch mehr von ihnen, die Gig Serrano alarmiert hatte, um uns eine Falle zu stellen.
Wir blieben weiterhin vorsichtig, duckten uns und schlichen an den Sträuchern entlang, wobei wir darauf achteten, nicht mit den Schultern zu stark an den Zweigen entlang zu streifen, damit diese sich nicht zitternd und auffällig bewegten. Wir entdeckten eine Stelle, die uns einen relativ guten Überblick verschaffte. Sekunden nur, dann wußten wir Bescheid. Vor der Gruft lag eine dunkel gekleidete Gestalt und rührte sich nicht mehr. Es war nicht genau zu erkennen, wer dies war, aber der Kleidung nach zu schließen, mußte es einfach ein Gruftie sein. Ein toter Gruftie? Als Suko nickte, da wußte ich, daß er sich mit demselben Gedanken beschäftigt hatte. Er hielt sich dicht neben mir, und ich sah, wie er die Hände ballte. »Serrano?« fragte ich leise. »Möglich.« »Wer geht hin?« Ich brauchte nur diese eine Frage zu stellen, denn damit hatte ich meinen Plan bereits offengelegt. Einer würde zu dem Gruftie hingehen, der andere würde hier verborgen bleiben und für Rückendeckung sorgen. »Ich!« Suko hatte sich zur Verfügung gestellt. Mir war es egal. Keiner von uns war besser als der andere. Als ich die Beretta zog, nickte Suko kurz und glitt vor. Er bewegte sich sicher durch das Gras, wich auch Unterholz aus, und dann sah ich ihn schon auf der freien Fläche. Dort blieb er stehen, um sich umzuschauen. Er sah keinen Menschen. Auch Serrano ließ sich nicht blicken. Ich fragte mich inzwischen, ob er überhaupt hierhergekommen war. Dann aber sah ich wieder die reglose Gestalt des Grufties und konnte mir vorstellen, daß der Satanist den jungen Mann umgebracht hatte. Doch wo steckten die anderen vier? Da gab es eine Antwort. Möglicherweise in den Tiefen der GespensterGruft, wo sie die Vorhölle erlebten. Auch ich blieb nicht an meinem Platz, sondern glitt ein wenig vor, um so schnell wie möglich den freien Platz erreichen zu können, wobei ich allerdings noch in Deckung blieb. Auch mein Schußfeld hatte sich verbessert. Die Satanisten waren brutal, sie gehorchten den Gesetzen der Hölle, und ich würde ihnen darauf die entsprechende Antwort geben. Suko hatte die Gestalt inzwischen erreicht und war neben ihr stehengeblieben. Bevor er sich bückte, um den jungen Mann zu untersuchen, schaute er sich noch einmal um.
Er sah ebensowenig etwas Verdächtiges wie ich. Dann glitt er nach unten. Neben der Gestalt kniete er nieder. Er untersuchte sie genau, ich erkannte es an seinen Bewegungen. Kurze Zeit später richtete er sich wieder auf. Dabei schüttelte er den Kopf. Diese Geste galt mir, und ich begriff sie auch. Der Junge war tot. Da konnten wir nichts mehr machen. Ich schluckte. Suko hob den Arm, er wollte mir wohl zuwinken, doch die Geste stoppte er sehr schnell. Jemand kam. Er löste sich seitlich aus den Büschen. Beinahe lautlos und mit langen Schritten überwand er die Distanz, um so schnell wie möglich an Suko heranzukommen. In der rechten Hand hielt er seinen Flammendolch. Dann riß er den Arm hoch, um die mörderische Waffe zu schleudern. Das war genau der Augenblick, als ich meine Deckung verließ… *** Auch Suko hatte ihn gesehen. Zwar nicht so schnell wie ich, aber er nahm ihn aus den Augenwinkeln wahr. Seine Hand zuckte zur Waffe. Es war eine automatische Bewegung, er hätte besser seinen Stab einsetzen sollen, den aber ließ er stecken. Er wäre möglicherweise zu spät gekommen, denn der heraneilende Serrano hatte seinen Arm bereits erhoben. Da erwischte ihn mein Befehl! »Keinen Schritt mehr!« Gig Serrano stoppte mitten im Lauf. Ich hörte ihn vor Wut heulen und dachte, daß er meinem Befehl nachkommen würde. Im Gegenteil. Er hatte sich in dieser kurzen Zeit wieder gefangen, duckte sich zunächst und sackte dann sehr schnell und ziehharmonikaähnlich zusammen, wobei er ein möglichst kleines Ziel bieten wollte. Der Arm mit dem Flammendolch beschrieb eine halbe Drehung. Keiner von uns wußte, wen dieses Feuer treffen würde. Immer hatte ich das Glück nicht, daß mich mein Kreuz schützte. Deshalb schossen wir beide. Zwei Schüsse, die wie einer klangen. Beide Kugeln trafen! Gig Serrano schrie nicht einmal. Er wurde von der Wucht der zwei Einschläge herumgeschleudert und zu Boden geworfen. Ich brach durch das Buschwerk, hetzte auf ihn zu, während mein Freund Suko von der anderen Seite herbeilief. Serrano lag auf dem Rücken. Er hielt den Dolch noch immer in der Hand. Dessen Feuer aber tanzte über den Boden. Ich wollte nicht, daß er noch einmal dazu kam, sie einzusetzen.
Diesmal nahm ich das Kreuz. Als die Flamme das Silber traf, hörten wir noch ein Zischen. Einen Moment später gab es das Feuer nicht mehr, da war es erloschen, und Serrano umklammerte nur mehr den Griff. Er lebte noch, obwohl die beiden geweihten Silbergeschosse seine Brust erwischt hatten, aber keines davon war ihm ins Herz gedrungen. Serrano rollte mit den Augen, gleichzeitig verzog er seine Lippen und schaffte es trotzdem, uns einige Worte entgegenzuschleudern. »Der Teufel wird euch holen, ihr verfluchten Schweine! Ihr könnt ihn nicht besiegen! Er ist stärker, ihm gehört die Gruft, in die er seine Gespenster eingesperrt hat. Es sind die Verlorenen gewesen, die für ihn leiden müssen, weil sie versucht haben, ihn zu verraten. Sie sind gezwungen zu töten, immer wieder werden sie töten, um dem Teufel so die Seelen der Opfer zu bringen. Er hat sie bestraft, aber er hat sie nicht fallen gelassen. Sie arbeiten weiter für ihn…« »Wie du, nicht?« Stolz leuchtete in den Augen des Satanisten, als ich die Frage gestellt hatte. »Ja, wie ich, du Hundesohn. Ich stehe voll und ganz auf seiner Seite!« »Es ist vorbei!« sagte Suko. »Du wirst nicht überleben, Serrano, glaub es mir!« »Aber der Satan. Er ist unsterblich! Er wird meine Seele auffangen und sie für alle Zeiten…« Serrano brach ab. Es hatte so ausgesehen, als hätte er sich an seinen eigenen Worten verschluckt. Sein Gesicht verlor den Rest an Farbe, die Wangen zuckten. Die Pupillen sahen aus, als würden sie in den Höhlen tanzen und im nächsten Augenblick nach vorn schnellen. Noch hielt sein Gesicht, aber der schleichende Tod hatte sich eine andere Stelle ausgesucht. Suko hob den rechten Arm des Satanisten an. Seine Hand war nur mehr ein verkohlter Wirrwarr aus schwarzen und leicht gekrümmten Fingern. Die Kraft unserer geweihten Silberkugeln strömte in seinen vom Bösen verseuchten Körper hinein und sorgte für ein schreckliches Ende. Jetzt konnte ihm auch der Teufel nicht mehr helfen, obwohl er sich aufbäumte und nach ihm rief. Es war ein jaulender, gequält klingender Schrei, der über den leeren Platz vor der Gruft hallte. Als Suko den Arm losließ, fiel er wieder nach unten, schnellte aber im selben Augenblick hoch, als bestünde er aus dunklem Gummi. Er kippte nach innen weg, und Serrano rammte sich die Reste seiner Finger selbst ins Gesicht. Etwas Furchtbares geschah. Trotz ihrer relativen Weichheit durchdrangen sie die Haut, hinterließen Wunden, aus denen dickes Blut
hervorquoll. Er beließ es nicht dabei, aber wir wollten die Einzelheiten nicht sehen, als er damit anfing, sein Gesicht brutal zu zerstören. Gig Serrano war für uns bereits Vergangenheit. »Dann zur Gruft«, sagte Suko und ging vor. Er hatte den Einstieg bereits gesehen, blieb vor ihm stehen und sah auch den Hebel, der bewegt werden mußte, um das Gitter zu lösen. Mein Freund schaffte es beim ersten Versuch, das Gitter zu heben. Mit einer fetzigen Bewegung, in die er all seine Wut gelegt hatte, die ihn bedrückte, schleuderte er es weg. Es knallte zu Boden, tickte noch zweimal auf und blieb dann in einer gewissen Entfernung liegen. Ich schaute zu Serrano zurück. Er sah nicht mehr aus wie ein Mensch. Die Verkohlung oder was immer es auch gewesen sein mochte, hatte ganze Arbeit geleistet. »Da ist eine Rutsche«, sagte Suko und deutete nach vorn. »Dann wollen wir mal.« »Wohin, Alter?« »Meinetwegen in die Hölle…« *** Und die Hölle erlebten die vier Grufties, denn sie waren innerhalb der Gespenster-Gruft eingesperrt und von Gestalten umgeben, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hatten vorstellen können. Hier versammelte sich alles, was die Hölle nicht hatte haben wollen. Grauenvolle Geschöpfe, so furchtbar oft und abstoßend, daß ihnen die Worte fehlten, um sie genau zu beschreiben. Sie waren einfach nicht zu begreifen, aber sie existierten, ohne sie als lebend bezeichnen zu können. Sie befanden sich in einem Zwischenraum, sie waren da, sie gehörten halb zu den Menschen und dann wiederum zu den Geistern. Sie waren Zwitter, die der Teufel geschickt hatte, und sie steckten voller Haß und Mordlust, was an ihren Haltungen leicht erkennbar war, denn sie streckten den vier Grufties ihre Hände und somit die Krallen entgegen, als wollten sie sich auf die Opfer stürzen und ihnen die Glieder aus den Körpern reißen. Sady war in diesen Augenblicken über sich selbst hinausgewachsen. Sie hatte für eine Veränderung des Standortes gesorgt und ihre drei Schützlinge so weit zurückgezogen, daß sie alle vier die Wand im Rücken als Deckung spürten. Die Gefahr konnte also nur von vorn kommen. Und dort ballte sie sich zusammen. Es war nicht genau zu erkennen, ob die Monstren Kontakt mit dem Untergrund hatten oder über ihm schwebten. Jedenfalls hatten sie sich
zusammengeballt und lehnten sich so dicht gegeneinander, daß ihre Körper fast ineinander liefen. Die Grufties erstickten fast an ihrer Furcht. Sie konnten dieses Grauen einfach nicht begreifen, es hatte für sie trotzdem Methode bekommen, es wirkte auf sie wie ein Push, und mit Angst angefüllte Adrenalinstöße jagten durch ihre Körper. Eiskalt wurde ihnen. Permanent floß ein Schauer nach dem anderen über ihre Haut. Janina betete in Kinderversen, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Creel stand auf dem Fleck und zitterte so stark, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Selbst seine Rastazöpfe bewegten sich, und die kleinen Totenköpfe klackten wieder gegeneinander. Ricardo tat nichts. Er hatte sich mit seinem Rücken derartig hart gegen die Mauer gedrückt, als wollte er in sie hineinkriechen, um dort den nötigen Schutz zu finden. Angst durchflutete ihn. Er wimmerte, und nur Sady hielt sich einigermaßen, obwohl auch sie die Schauer des Todes spürte, die sie wie Quellen durchfluteten. Sie starrte auf die schrecklichen Wesen, die zwar mit der Dunkelheit verschmolzen, aber trotzdem noch recht gut zu erkennen waren. Auf sie wirkten die Geister wie in die Finsternis hineingemalt, mit nur wenigen Strichen, aber doch sehr konkret. Breite Fratzen. Mutationen zwischen Mensch und Dämon. Ein Kopf, der knallrot aussah und von einem inneren Feuer erglühte. In den Augen lagen die winzigen Pupillen als gelbe Flecken, aus denen dünne Rauchwolken strömten. Eine Frau mit blutendem Körper und verzerrtem Gesicht streckte permanent die Arme mit den gierigen Krallen nach ihnen aus, ohne die Grufties allerdings zu berühren. Hier war ein Mitgliederstrom aus einem schrecklichen Pandämonium versammelt, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sich diese Monstren auf sie stürzen würden, um sie zu zerreißen. Eine Gestalt oder ein Gespenst fiel aus der Rolle. Sady wußte nicht genau, um was es sich handelte. Die weiße Frau, sehr bleich, auch gut in der Finsternis zu erkennen, wobei ihr Kopf von struppigen, verfilzten und gelblich schimmernden Haaren umgeben war. Sie hatte ein kalkiges Gesicht, aber dunkle, böse Augen, und sie war zudem mit einem Gegenstand bewaffnet, der wie ein Messer aussah. Diese Frau schwebte näher! Sady wußte, daß das Gespenst sie aufs Korn genommen hatte. Sie dachte an die Wunden am Körper des Totengräbers. Sie konnten leicht von dieser Waffe stammen.
Ein Zurückweichen schaffte Sady nicht. Da war der Widerstand der Mauer und auch der Körper direkt hinter ihr. Sie mußte sich stellen. Und sie wartete. Sekunden nur, dann spürte sie den kalten Totenhauch, denn so nahe war dieses Wesen bereits an sie herangekommen. Jemand schien Sady kalte Luft ins Gesicht geblasen zu haben. Sie hielt den rechten Arm abwehrend vor ihr Gesicht und hörte einen leisen Pfeifton. Wahrscheinlich wollte dieser Geist mit ihr Verbindung aufnehmen. Der Laut aber hatte sie von der eigentlichen Aktion abgelenkt. Die weiße Frau stieß zu. Das Messer war nicht einmal schnell, es tanzte noch kurz vor Sadys Gesicht, dann erwischte es ihre Haut. An der Stirn spürte sie den Schmerz, auch noch als die weiße Frau die Waffe zurückzog. Nachwirkungen blieben schon, denn die Stirn des weiblichen Grufties brannte. Der Schmerz war bitter, und sie merkte auch, daß Blut diese Wunde verließ. Es rann über die Nase hinweg und tropfte von den Wangen nach unten. Die Blutstreifen sickerten auch in den Mund. Die erste Aktion hatte den Gespenstern gefallen. Sie spendeten der weißen Frau sogar Beifall, auf ihre Art, denn so etwas wie ein gewaltiges Kichern und hämisches Schreien wehte den Grufties entgegen. Die weiße Frau zog sich zurück. Sie bewegte ihre Waffe, von der dunkle Tropfen nach unten fielen und auf dem Boden sternförmig zerklatschten. Wann griff sie wieder an? Sady wußte es nicht. Sie wischte durch ihr Gesicht, verschmierte das Blut, ohne es wegwischen zu können. Janina sagte plötzlich einen Satz, der ihnen auch den Rest an Hoffnung nahm. »Er hat das Gitter wieder festgeklemmt. Wir… wir können nicht hoch…« Creel heulte auf. Dann drehte er durch. Er rannte vor, ohne an Maines Schicksal dabei zu denken. Sady schaffte es auch nicht, ihn zurückzuhalten. Wie ein Irrwisch stürzte er sich in die Masse der Gespenster, als wollte er sie brutal erwürgen. »Nicht!« brüllte Sady. Ihr Schrei wurde von einem anderen übertönt. Jemand taumelte herbei, eine sehr schattenhafte Gestalt, aber kein Gespenst, sondern ein schrecklich aussehender Mann, der mit Wunden übersät war und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Es war Walter Cohn, der Totengräber. Er hatte die anderen Laute gehört und es geschafft, sich auf die Beine zu quälen. Er fiel den Höllengespenstern entgegen, er schlug nach ihnen, wobei für die
zuschauenden Grufties nicht zu erkennen war, ob er eine feste Masse traf oder seine Schläge durch die Gestalten hindurchwischten. Jedenfalls fiel er nach vorn, und die anderen Wesen kümmerten sich mehr um ihn als um Creel, der zu Boden sank und sich mit einem irren Blick umschaute. Jemand riß an Walters Haaren. Sein Kopf flog zurück. Die Haut an seinem Hals spannte sich wie Segeltuch. Sie lag frei, zu frei, aber genau das hatte die weiße Frau nur gewollt. Mit dem spitzen Gegenstand stieß sie zu. Diesmal traf sie genau und tödlich! Als sie ihre Waffe wieder aus dem Hals des Mannes hervorzog, war Walter schon tot. Vor den Augen der entsetzten Grufties sackte er zu Boden und blieb starr liegen. Jetzt wußten sie endgültig, welches Schicksal ihnen zugedacht worden war. Aber keiner drehte durch. Selbst Creel blieb stumm. Er hatte sich kleingemacht und hockte auf dem Boden wie ein verwunderter Zwerg. Die anderen drei standen noch auf ihren Beinen, und das kalte Grauen hatte sie starr werden lassen. Sady spürte nur das Blut, das auch weiterhin aus der Stirnwunde sickerte und sich auf dem Gesicht verteilte. Ein Streifen hatte bereits das Kinn erreicht. Von dort fielen Tropfen in die Tiefe und zerplatzten auf dem Boden. Die Grufties sprachen nicht miteinander, doch jeder wußte, daß es keinen Sinn ergab, sich zu wehren. Die andere Seite war zu stark, und der Teufel konnte sich auf seine Höllengespenster hundertprozentig verlassen. Das Wesen, das er sich als Anführerin ausgesucht hatte, nämlich die weiße Frau, war eine Mischung aus Geist und Mensch. Sie bewegte sich zuerst. Ihren Körper sehr langsam, den rechten Arm dafür schnell. Somit auch das Messer, dessen Klinge mit einem pfeifenden Laut durch die Luft schnitt. Dabei verzog sich das Gesicht der weißen Frau zu einem kalten und bösen Grinsen. Sie ging noch einen Schritt vor und kam somit näher an die Gruppe heran. Diesmal war sie zu hören. Ein leises Tappen, dann das schleifende Geräusch, aber die weiße Frau zuckte plötzlich zusammen, weil sie irritiert war. Sie drehte sich um. Nicht sie hatte das Schrittgeräusch abgegeben, es war hinter ihr und den Gespenstern erklungen. Die vier Grufties begriffen noch nichts, obwohl sie nicht mehr unmittelbar bedroht wurden. Dafür geschah etwas anderes.
Zwei scharfgebündelte Lichtfinger zerschnitten die bedrückende Finsternis der Gruft, und aus dem Licht trat eine Gestalt hervor, die den vier jungen Grufties vorkam wie ein rettender Engel. »John Sinclair«, keuchte Sady und weinte dabei… *** Ich war es tatsächlich, während sich Suko mehr im Hintergrund hielt. Wir hatten nicht alles mitbekommen, aber wir hatten gesehen, wie brutal die Teufels-Gespenster vorgingen, als sie einen Mann töteten. Jetzt waren wir da. Und ich ging noch weiter, denn ich wollte dicht an diese unheimlichen Gestalten heran. Zuerst sah ich die weiße Frau mit dem blutigen Messer. Ich hatte sie direkt angeleuchtet, doch ihre Erscheinung war so grell, daß sie sogar das Licht meiner Lampe schluckte. Ich konzentrierte mich auf das Gesicht. Bestand es aus einer Masse? War es nur ein Schemen? Vermischte sich bei dieser Gestalt Geist und Körper zu einer unheiligen Allianz? Dem Teufel war alles zuzutrauen, denn das hier waren nicht im direkten Sinne seine Diener. Sie waren Verlorene; sie schwebten zwischen Erde und Hölle. Sie sollten büßen, der Satan hatte für sie so etwas wie ein neues Fegefeuer geschaffen. Je mehr Seelen sie ihm brachten, je mehr grausame Taten sie begingen, um so stärker stiegen sie wieder in seiner Gunst. So und nicht anders sah diese schreckliche Logik aus. Ich hatte sie inzwischen begriffen, obwohl sie für einen Menschen eigentlich nicht begreifbar war. Die weiße Frau führte die anderen Gespenster an. Sie zeigte durch ihre Morde, zu was sie fähig war, und natürlich mußte ich sie als erste ausschalten. Das Licht hatte sie irritiert. Auch die Grufties wußten nicht, was gespielt wurde. Für mich waren sie nicht mehr als eine bleiche, angsterfüllte Hintergrundkulisse. Die weiße Frau erwartete mich. Entweder fühlte sie sich sehr stark oder sie vertraute noch immer auf ihren großen Helfer, aber der kam gegen eine Waffe nicht an. Es war das Kreuz! Noch hielt ich es verborgen. Es steckte in meiner Tasche. Das Licht hatte sie zunächst einmal überrascht. Mir war auch klar, daß diese Zeitspanne nicht mehr lange anhalten würde, das brauchte sie auch nicht. Ich kam auch so zum Ziel. Als ich den dritten Schritt zurückgelegt hatte, da kam endlich Bewegung in die weiße Frau.
Wieder vernahm ich ein Zischen oder Pfeifen, als sie die Hand mit der Waffe bewegte. Diesmal gezielt auf mich! Sie schoß vor, ich fixierte die Spitze, hörte einen erschreckten Frauenschrei und riß im selben Moment die rechte Hand aus der Tasche und hob den Arm an. Aus der Faust ragte das Kreuz hervor. Und die Spitze der Waffe, die noch einen blutigroten Streifen zeigte, drang keinen Millimeter mehr weiter. Sie stoppte! Wir befanden uns nicht in der Hölle, sondern in einer Vorhölle, doch auch hier wirkten die magischen Kräfte des Satans nach. Dagegen hielt ich die Waffe, die schon einmal das Böse besiegt hatte. Das Kreuz in der Hölle! Ein silberner Hoffnungsfunke, den die Grufties sahen, aber auch die Gespenster und vor allen Dingen die weiße Frau, denn mein Kreuz befand sich dicht vor ihrem Gesicht. Sie zuckte und erbebte förmlich. Weder Suko noch ich hatten bisher ein Wort gesprochen. Mein geweihtes Kreuz allein reichte aus, um die verfluchte Gespensterbrut einzuschüchtern, denn auch die anderen Gestalten im Hintergrund blieben nicht mehr ruhig, sondern bewegten sich hektisch, und wir hörten dabei zischende Laute. Ich ging noch weiter. Nichts schreckte mich. Ein nächster Schritt. Die weiße Frau heulte auf. Ihr Gesicht schien plötzlich zerfließen zu wollen. Und dann schleuderte ich das Kreuz vor. In diesem Fall war es die ultimative Waffe, meinetwegen auch das Allheilmittel, aber es tobte wieder einmal der Kampf zwischen Gut und Böse, und das wußte auch die weiße Frau. Über die Klinge hinweg wischte das Kreuz, ohne daß es allerdings von mir losgelassen wurde, denn noch hielt ich die Kette fest. Ich wollte nur, daß es die weiße Frau erwischte. Das geschah! Sie konnte nicht ausweichen, weil sie einfach zu stark in seinem Bann steckte. Ob das Kreuz nun gegen den bleichen Schädel prallte oder hineindrang, war für mich nicht so gut zu erkennen, jedenfalls erreichte es voll und ganz seinen Zweck. Es vernichtete das Böse!
Plötzlich war der ›Körper‹ der Frau nur mehr ein zuckendes Bündel. Er sah aus wie ein heller Schatten, der von einer Seite zur anderen tanzte, aber noch immer existierte. Dafür passierte etwas anderes. Ein unheimliches Heulen durchflutete die Gespenstergruft. Weder Suko noch ich konnten herausfinden, aus welcher Richtung dieses Geheul herbeiwehte, wahrscheinlich waren es die Gespenster, aus deren Mäulern die Geräusche drangen. In sie war Bewegung gekommen. Ein Sturmwind konzentrierte sich ausschließlich auf diese Wesen und hielt sie in seinen Klauen. Er wirbelte sie herum, er spielte mit ihnen, er drehte sie in einen Kreis hinein, der immer schneller um seine eigene Achse wirbelte und sich dabei zusammenzog. Ein Ziel war anvisiert worden. Die weiße Frau – denn sie bildete den Mittelpunkt, und in sie hinein rasten die gespenstischen Wesen. Sie tauchten in den blassen Körper, als wäre dieser ein Magnet, der sie anzog. Irgendwie empfand ich es auch so, aber ein Magnet, der von meinem Kreuz gebildet worden war. Das Licht zerrte die Schattenwelt zu sich heran und zerstörte sie. Alles wurde vor unseren Augen vernichtet. Es war zunächst einmal nicht mehr zu unterscheiden, wo sich die weiße Frau bewegte und wo die übrigen Gespenster. Die Wesen aus dieser Gruft hatten sich zusammengedrängt, um diesen Kreisel zu bilden. Sie wirbelten mit einer rasenden Geschwindigkeit und lautlos um die eigene Achse. Dabei verkleinerten sie sich zusehends, bis sie nur mehr eine faustgroße Kugel bildeten, aus der uns das schreckliche und böse Antlitz des Teufels als eine widerliche dreieckige Fratze entgegenleuchtete. Dann war auch dieser Spuk vorbei. Er verschwand mit einem grellen Blitz, und wir alle hatten das Gefühl, als würde ein frischer Wind durch die Gruft wehen, der auch das letzte Grauen vertrieb. Draußen donnerte es zum erstenmal gewaltig. Der Himmel klatschte auf seine Weise Beifall… *** Wir standen vor der Gruft, starrten in den Regen. Am Himmel tobten sich die Gewalten aus. Blitze spalteten das Grau, als wollten sie eine Wand zerreißen. Die nachfolgenden Donner ließen die Erde beben, und der Wind schüttelte die Bäume. Daß wir naß wurden, störte uns nicht. Das Wasser tat gut, den wir alle merkten so, daß wir noch am Leben waren.
Die Grufties sprachen kein Wort. In ihren Augen lasen wir Dankbarkeit, doch in dieses Gefühl hinein mischte sich noch der Schrecken der letzten Stunde. Bis auf Maine hatten sie es überstanden. Wie es mit ihnen weiterging, mußten sie selbst wissen. Es war einzig und allein ihre Sache. Suko und ich hatten nur unsere Pflicht getan, wie schon so oft…
ENDE