Eliseo Alberto Die Geschichte von José Roman
«Die Welt ist das Meisterwerk eines Kindes. Nur ein Kind, das niemand zum ...
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Eliseo Alberto Die Geschichte von José Roman
«Die Welt ist das Meisterwerk eines Kindes. Nur ein Kind, das niemand zum Spielen hat, denkt sich solch einen Streich aus.» Im mittelamerikanischen Santa Fe treffen eine Reihe liebenswerter, kauziger, großartiger Charaktere aus allen Ecken der Welt aufeinander, die eines verbindet: die Sehnsucht nach einem freieren, gerechteren Leben – und die Erinnerung an den kubanischen Emigranten José, der aus Liebe tötete und dafür in den Zoo gesperrt wurde. Der im Zoo eine neue Liebe fand und eine Ahnung von Freiheit. Und der eines Tages spurlos verschwand …
Original: La fábula de José Deutsch von: Sybille Martin Verlag: Kindler Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Erscheinungsjahr: 2000 Umschlaggestaltung: Cathrin Günther / Walter Hellmann ISBN: 3 463 40387 0
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Das Buch Gott will, dass es Gott gibt. Mit diesem Satz beginnt die schwindelerregende Geschichte von José González Alea, einem kubanischen Emigranten in Santa Fe. Weil der ungestüme, unschuldige José aus Notwehr getötet hat, um die Ehre seiner ersten Liebe zu verteidigen, sitzt er seit seinem siebzehnten Lebensjahr im Gefängnis. Mit dreiunddreißig bekommt er die unerhörte Gelegenheit, die Strafe nicht mehr hinter den Gittern seiner Zelle abzubüßen, sondern in einem Ausstellungskäfig des städtischen Zoos – als Exemplar der Spezies Mensch. Auch wenn die Freiheit ihm verwehrt bleibt, beginnt ein neues Leben: José wird zum Medienstar und Publikumsliebling, von einem Designer eingekleidet und dem Chefkoch eines Nobelrestaurants verköstigt. Er gewinnt neue Freunde, unter anderem den herzensguten Affenwärter Lorenzo. Vor allem aber verliebt sich José in Camila, die Zoobiologin, die seine Gefühle durchaus erwidert, sie aber nicht auszuleben wagt … Selten hat ein Schriftsteller so witzig und bewegend, so scharf und poetisch über die Sehnsucht geschrieben wie Eliseo Alberto in dieser hinreißenden Fabel: Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, Sehnsucht nach Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit. Sehnsüchte, die keinem von uns fremd sind. «Eine große Liebeserklärung an sein Land, die selbst einen kühlen Europäer schmelzen lässt.» Frankfurter Allgemeine Zeitung über ¼Rapport gegen mich selbst½
Der Autor
Eliseo Alberto 1951 in Kuba geboren, lebt seit 1990 in Mexiko-Stadt. Vorher war er Chefredakteur der Literaturzeitung «El Caimàn Barbudo» in Havanna. Lyriker, Romanautor und Verfasser von Filmdrehbüchern, teils gemeinsam mit Gabriel García Márquez. 1998 erhielt er den hoch dotierten «Alfaguara»-Literaturpreis, einen der renommiertesten spanischen Literaturpreise. 1999 erschien beim Rotpunkt Verlag in Zürich ¼Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba½.
Eliseo Alberto Die Geschichte von José Roman Deutsch von Sybille Martin
verlegt bei KINDLER
1. Auflage September 2000 Copyright © 2000 by Eliseo Alberto Copyright © 2000 der deutschsprachigen Ausgabe bei Kindler Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien unter dem Titel La fábula de José bei Alfaguara, Redaktion Gertraud Strohm-Katzer Umschlaggestaltung Cathrin Günther / Walter Hellmann (Foto: Barnes Foundation, Merion, Pennsylvania / SuperStock) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 463 40387 0 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
Doch nun öffne man die Gefängnistore, beginne mit dem Opfer, zerschneide die eisernen Bande, und zeigen wird sich, ob der Tod schon das Leben ist. Eliseo Diego
Für Patricia Lara Magaña, die mir den Käfig öffnete. Für Mama und Papa.
ERSTER TEIL
Nur umherirrend kann ich mit allen sein, die ich liebe. Octavio Smith
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ott will, dass es Gott gibt. Da einem das Leben manchmal übel mitspielt, sah sich der Emigrant José González Alea am Sonntag, dem dreizehnten Februar 1983, am Vorabend des Valentinstages, gezwungen, in Verteidigung der Liebe – was eine legitime Art der Selbstverteidigung ist – einen Mann zu töten. Siebentausenddreihundert Nächte sollte er brauchen, um jene Episode zu vergessen, und am Ende sollte es ihm gelingen, aber viel zu lange hatte ihn die Erinnerung daran nicht losgelassen. Während er auf den Pfarrer des Staatsgefängnisses wartete, versuchte José, seinem schlechten Gedächtnis das Beste abzuringen, und kam dabei auf eine Summe von drei Wermutstropfen: den sich im Halbdunkel des Raumes abzeichnenden Schatten von Dorothy Frei (der kleinen Lulú), die Augen seines Opfers, als er ihm seinen Tischlermeißel in den Leib stieß, und die Stimme des Richters bei der Urteilsverkündung. Laut dem Pflichtverteidiger hätte eine Zeugenaussage des Mädchens die Entscheidung der Geschworenen beeinflussen können. Justizgläubig, wie er war, zog José es vor, die Identität der einzigen Zeugin, die seine Unschuld beweisen konnte, zu schützen. Mit dieser Haltung, typisch für einen siebzehnjährigen, bis zur Dummheit verblendeten Mann von Ehre, verzichtete er auf seine Freiheit und seine Jugend. Jetzt wurde er dreiunddreißig und hatte niemanden, dem er seine Ängste anvertrauen konnte. Auf Anordnung des Gefängnisdirektors durfte er an diesem Morgen länger als üblich schlafen; nach dem Mittagessen blieb er, ungeachtet der Aufforderungen der Aufseher zum Gehen, im Speisesaal sitzen, und als die Wärter auf ihn zukamen, äußerte er eine erstaunli-
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che Bitte: «Ich möchte mit Pater Anselmo Jordán sprechen», sagte er, bevor er das unberührte Tablett zurückbrachte. Niemand hatte etwas dagegen. Bei Einsetzen der Dunkelheit hörten ihn die Gefangenen wieder und wieder die altbekannte Rumba singen: Hochzeit hielt Billy the Kid mit seiner kleinen Lulú … José war Kubaner. Aus Atares. Ein hartes Pflaster. Durch die Fensterluke fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in die Zelle und beleuchteten das Bild, das er an die Wand gemalt hatte. Um eine enge Bucht breitete sich weiträumig eine Stadt aus, beherrscht von einem Christus aus Kalkstein, der sein Haupt dem Gelände einer Radarstation zuneigte. José machte einen Satz und zog sich mit den Armen an der Fensterluke hoch: die orangefarbene Sonne – und in der Ferne Dorothy Frei. Er hatte sie zum ersten Mal am Heiligen Abend 1982 in einer Diskothek in Caracol Beach gesehen: Beim Tanzen hüpften ihre jugendlichen Brüste unter der leichten Bluse auf und ab. Sie hatte kurzes Haar und ein zierliches Näschen. Der Kubaner verknallte sich innerhalb von dreißig Sekunden völlig losgelöster Betrachtung. Er konnte sie gerade noch ansprechen, bevor sie, die Arme um einen muskulösen jungen Mann geschlungen, auf einem Motorrad davonbrauste, und das hinterließ einen Schmerz in ihm, der durch nichts zu stillen war, weder durch Lindenblütentees noch durch nächtliche Spaziergänge am Strand. Einen Monat und zwei Wochen lang suchte er sie in allen Kaschemmen des Kurbads und auf sämtlichen Festen, bis er sie schließlich in einem Kosmetiksalon für Damen und Herren fand, wo Dorothy als Friseurin arbeitete; dieses Zusammentreffen war für den Kubaner der Beweis: Er würde endlich glücklich werden. In sieben Tagen ließ er sich vier Mal die Haare schneiden; das letzte Mal verließ er den Salon glatzköpfig wie ein Star der Chicago Bulls. Seinem Vater, dem Tisch-
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ler Menelao González, war damals mehr als klar, dass der Junge auf einem schmalen Grat über dem Abgrund entlangbalancierte. Wenn ein Akrobat ohne Netz von einer Schaukel zur nächsten springt, unterstützt man ihn am besten mit Gebeten zum heiligen Telmus, dem Schutzpatron der Reisenden. Das tat Menelao. Er hatte die Fürbitten in den Wochen vor seiner Flucht aus Kuba auswendig gelernt und war wie besessen von diesen Versen. In der Zeit von Weihnachten bis zum Vorabend des Valentinstages vernachlässigte sein Sohn die Arbeit in der Tischlerei immer mehr. José war mit seinen Gedanken woanders. «Der Erhängte ist dir auf den Fersen», sagte ihm eine Kartenlegerin in einem türkischen Café, und ihre Vorhersagen bestätigten das, was sein Taufpate, der alte Perucho Carbonell, gesehen hatte, als er ihn im Altenheim der Freimaurer in Santa Fe um Rat fragte. Perucho saß im Laubengang zwischen den weißen Lilien und strickte Handschuhe. «Deine Haut, mein Junge, hat die Temperatur eines Leguans.» Seit die Diabetes ihn hatte erblinden lassen, sah Perucho mit den Fingerkuppen. «Versprich mir, dass du das Gegenteil von dem tun wirst, was du möchtest: Wenn du ja sagen willst, sag nein, wenn du todmüde bist, mach dich munter, wenn du Hunger hast, lutsch Orangen. Alles, was du ersehnst, wird gegen dich sein», sagte er und packte das Strickzeug ein. Als er seinen Patensohn durch den Flur weggehen hörte, wusste er, dass nichts und niemand die Lawine des Schmerzes aufhalten konnte, die über ihn hereinbrechen würde. Er brauchte nicht lange zu warten. Von der Anziehungskraft dieses verwirrenden, unbekannten Gefühls irritiert, bewies José, dass die Liebe einen Mann mit einem einzigen Wimpernschlag aus der Fassung bringen kann: Er leimte die Stuhlbeine an die Kleiderschrankstreben und schliff die Bohlen, bis sie so dünn wie Karton waren. In eine Tür, in die er ein dreiblättriges
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Kleeblatt schnitzen sollte, ritzte er eine Karikatur von Pluto, der ein Erdbeertörtchen aß. «Das ist die Höhe, mein Sohn. Du gehst nicht auf Wolken, du schwebst schon obendrüber», sagte Menelao. «Ein Mann in deinem Zustand sollte besser Wiegen anfertigen.» Für Joses große Schwester Regla hingegen bestand kein Zweifel: Wenn er rohe Möhren in die Frühstücksschokolade tunkte und seine Hosen flickte und in sämtliche Kokospalmstämme den Buchstaben L ritzte, dann war er wahnsinnig verliebt, denn nur verliebte Idioten gingen mit falsch zugeknöpftem Hemd, offenem Hosenschlitz, den Gürtel außerhalb der Schlaufen und zwei verschiedenen Schuhen, einem schwarzen rechten und einem braunen linken, auf die Straße. «Zieh dich ordentlich an, Bruderherz. Schau dich bloß an, du siehst aus wie eine Vogelscheuche. Wenn du wieder in der Wirklichkeit landest, wirst du dir ordentlich wehtun.» «Wartet heute Nacht nicht auf mich.» José roch nach Lavendelwasser. «Viel Glück, mein Sohn. Hast du genug Geld?», fragte Menelao. Viel Glück. José eroberte die kleine Lulú im Himmel eines Kinosaals, wo er sich in seinem verrückten Wettlauf mit dem Glück bemühte, ein paar Zärtlichkeiten zu ergattern. Er fühlte sich so frei in seinem Versteck in der letzten Reihe, dass er sich traute, ihre rechte Brust zu kneten, und schon war seine Lust, sie zu seiner Frau zu machen, nicht mehr zu bremsen. Seine erste Frau. Seine erste Mannestat. Von der indochinesischen Liebesgeschichte im Film bekamen sie wenig mit, denn von der ersten Szene an knutschten sie und teilten sich nebenbei eine Tüte Popcorn. Ein paar der Kinobesucher, die weinend das Kino verließen, müssen sich gefragt haben, warum diese beiden
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jungen Leute im Foyer herumtanzten, wo doch die Protagonisten des Spielfilms im Golf von Tonkin beim Untergang der Dschunke, die sie in die Zukunft bringen sollte, umgekommen waren. Auf einer Bank nahe beim Brunnenrondell im Coral Park erregten sich José und die kleine Lulú immer mehr, und im Wechsel mit einzelnen Boleroversatzstücken, die der Kubaner bei den Bembés in Atares gehört hatte, überzeugten sie sich gegenseitig davon, dass Sex keine Sünde ist, wie sie glaubte, sondern eher ein Wunder, wie er meinte. Hochzeit hielt Billy the Kid mit seiner kleinen Lulú …, sangen sie. Dann stürzte das Luftschloss in einer Schrecksekunde zusammen. Ein Betrunkener versuchte mit vorgehaltener Pistole, Dorothy Frei zu vergewaltigen. Bei der Gerichtsverhandlung erfuhr man, dass er Wesley Gravan hieß, einundzwanzig Jahre alt und American-Football-Spieler ohne Vorstrafen gewesen war, und dass er sich in den Kellergewölben einer Halbstarkenkneipe seit Mittag betrunken hatte, offensichtlich in der Absicht, einen Kummer zu betäuben, über den man wohl nie etwas erfahren würde. Das war auch schon egal, zumindest für Wesley Cravan, denn im Augenblick des Überfalls war die Angst so groß, dass José ihm den Tischlermeißel vier Mal in den Leib rammte. Der Quarterback taumelte ein paar Yards zurück und brach hinter einem Rosenstock mit dem Gesicht nach oben zusammen. Er hatte Froschaugen. José warf ihm den Kittel übers Gesicht. Lulú zitterte. Der erste Impuls des Jungen war, abzuhauen, aber dann machte sich Entsetzen in ihm breit. Er wusste, dass Flucht den Rückzug antreten, mit dem Rücken zur Wand stehen bedeutete: Früher oder später ist die Mauer das Ende, und man kann nicht mehr weiter. José brachte die kleine Lulú zur Omnibushaltestelle und gab ihr, ohne zu wissen, dass dies der sechsundzwanzigste und letzte sein würde, einen
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Kuss auf den Mund. Lulú presste ihre Nase an der Scheibe platt. José rief von einer Telefonzelle aus zwei Nummern an, die seines Vaters und die des städtischen Notrufs. Zu Hause nahm niemand ab. «Wach auf, Papa!» Die Ambulanz traf zehn Minuten später ein – und auch der Regen, um alles offen zu legen. Die Sanitäter fanden Wesley Cravans athletische Leiche und einen blutgetränkten Kittel vor. «Das ist meiner», sagte José, der unter den Trauerweiden näher kam. «Die Waffe auch.» Seine Hände waren kälter als die Handschellen. Auf der Polizeiwache sagte er die Wahrheit: Er erzählte, dass ihm das Blut in den Adern gefroren sei, als er wie in einem Alptraum den 45er Colt zwischen seinen Augenbrauen gespürt hatte, er gab zu, das Werkzeug ein, zwei, drei, vier Mal bis zum Griff in den Körper gestoßen zu haben, aber er hütete sich, den Namen des Mädchens zu nennen, und nahm die ganze Verantwortung auf sich. Auf Nachfragen der Ermittler versuchte er zu erklären, warum er immer einen Meißel in der Kitteltasche hatte. Die Sekretärin verschrieb sich und notierte statt Meißel Dolch; auf diesen Schreibfehler baute Joses Pflichtverteidiger, der inkompetente Strafrechtler Spencer Lund, seine Verteidigung auf, indem er anführte, dass die Geschworenen in seinem Mandanten einen gewöhnlichen Dieb und nicht einen jungen Tischlerlehrling sehen würden, der in alle Kokospalmen von Caracol Beach den Buchstaben L geritzt hatte. José wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Von der kleinen Lulú hörte er nie wieder etwas, außer in seinen Träumen. Es gab keine schlimmere Strafe als das Vergessen. In bestimmten Situationen ist die Erinnerung eine Form der Zärtlichkeit. Dann nennt man sie Sehnsucht. Es gibt Menschen, die nichts mit ihr anzufangen wissen. José, zum Beispiel. Fünfzehn Jahre nach dem Verbrechen und
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gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, die sein Leben verändern sollte, fühlte er sich ihr wehrlos ausgeliefert. Er hörte wieder die Trommeln des Guaguancó aus Havanna: Die kleine Lulú hatte kein Gesicht. José hatte es verschlissen, als er sie Nacht für Nacht unter der Bettdecke, die mit seinen aufgestellten Beinen eine Art Zelt bildete, begehrte. Darin ließ er sich von den Gerüchen seiner ausgiebigen Masturbationen überfluten. Die Tage vergingen im Schneckentempo, sosehr er auch versuchte, den Kummer über seinen zu Grabe getragenen Brautstand mit der Routine eines Schiffbrüchigen zu beschwichtigen. Wenn in den Zellen das Licht ausging, überwältigte ihn die Lust. Er lieh ihr seine Hände. Dorothy Frei verführte ihn. Sie zähmte ihn. Zuerst ging an ihrem Bild das Kinn verloren, zumindest die genaue Form des Kiefers, dann die Zähne und der Mund, die Nase und die gewölbten Augenbrauen – waren sie dicht oder nicht? –; mehr noch als die Augen war es der Blick, der der wiederholten verzweifelten Abnutzung so lange standhielt, bis sich diese Liebe in puren Groll verwandelt hatte. Er erinnerte sich nur noch an ihr kurzes Haar und ihr zierliches Näschen, und so malte er sie an seine Zellenwand: Sie ist das Mädchen, das im Schatten einer Palmenallee spazieren geht, die es auf dem Malecón in Havanna nie gegeben hat, wo die Sonne am Horizont untergeht und nicht hinter den Radarmasten des Meteorologischen Instituts, wie es José aus dem Gedächtnis wiedergegeben hatte. Denn sein Gedächtnis war ein kolossales Durcheinander: Hundert Meilen trennten ihn von seiner Insel, die für immer im reizlosen Nebel der Kindheit verloren war. Die Abbildung gab eine trügerische Welt wieder, die ohne geographische Logik Orte in Atares mit Winkeln von Key Biscayne und Santa Fe verband. Wo sich die Stadt von Alamar zu den östlich gelegenen Stranden hin ausdehnte, tauchte das Kurbad Caracol Beach auf;
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die Brickell Avenue ging jäh in den Paseo del Prado über, und an jeder Ecke standen bronzene Löwen. Der Coral Park zog sich so weit hin, dass er ebenso gut der Parque de la Fraternidad sein konnte, und bestand ausschließlich aus Trauerweiden; neben so bekannten Bauten wie der Focsa in Vedado oder dem Obelisken auf dem Platz der Revolution erhoben sich das Hotel Fontainebleau, der Freedom Tower und das alte Jugendstil-Zollamt, das die ersten Exilkubaner aufgenommen hatte. Plötzlich erinnerte er sich an eine andere Landschaft, das Denkmal von General Antonio Maceo, vielleicht das Haus eines Freundes oder das Baseballstadion im Cerro, und fügte ihnen eklektische Kugeln hinzu, mit denen er die Wirklichkeit dem Schiedsgericht seiner Verwechslungen anpasste. Das Café Esther’s öffnete seine Türen in der General-Máximo-GómezStraße, aber die befand sich nicht bei der Neptuno-yZuleta-Straße an der Ecke des Restaurants El Floridita, sondern am Rande von Fort Lauderdale. José hatte eine Wandbild-Landkarte zusammenphantasiert, auf der Millionärsjachten in den Werften von Casablanca gewartet wurden und die Schornsteine von Tallapiedra über Haileah und nicht im Armenviertel von Melones rauchten, wo Menelaos Werkstatt an die Eisdiele Coppelia grenzte, und ein vierzehnspuriger Freeway die achte Straße von Miami mit dem Tunnel von Havanna verband, wobei er in einer scharfen Kurve über den steinernen Christus führte, der von seinem Sockel aus bereit zu sein schien, seinen verlorenen Söhnen zu verzeihen. Am Horizont versank die orangefarbene Sonne. José ließ das Eisengitter los und sich selbst fallen. Auf allen vieren kroch er zur Pritsche. Pater Anselmo ließ eine Ewigkeit auf sich warten. Bald würden die Glühbirnen angehen. Der Passfälscher und Exhäftling Ruy der Doktor würde in seinem Buch der unangenehmen Erinnerungen schreiben, dass sich an manchen Wochen-
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enden ein Duft nach Frau in der Anstalt ausbreitete: «Düfte nach Frisiersalon» nannte er das scherzhaft. Ohne es beweisen zu können, behauptete er, der Kubaner hätte Galo Lautier alias die Katze verführt, einen Taschendieb aus Martinique, der dazu prädestiniert war, in diesem Bienenkorb von brutalen Drohnen zu herrschen. Fest steht zumindest eines: José war nicht mehr José. Er war seiner selbst überdrüssig. Er weigerte sich, Besuch zu empfangen und die Briefe seines Vaters zu beantworten. Er lebte atemlos. Er verzichtete auf seine Würde und lernte, die Schwachen auszunutzen und das Laster wie eine Tugend zu genießen; er vergaß den Wert der Gutmütigkeit, die Großartigkeit des Verzeihens, die Nützlichkeit des Opfers. Schon bald hatte er den Faschisten Lee Shelton aus seiner Führungsposition in der gefährlichsten Bande der Strafanstalt verdrängt. Zu jener Zeit begannen sie, ihn Pepe Kid zu nennen. Viele Häftlinge mieden ihn. Gewalttätigkeit ist wie eine Seuche. Als er endlich aufhörte, Dummheiten zu machen (Hungerstreiks, Gehorsamsverweigerung, drei Fluchtversuche), war sein Verbrechensregister so angewachsen, dass der Richter seine Strafe um dreißig Jahre verlängerte. Am Tag der Urteilsverkündung spazierte Perucho Carbonell vom Altenheim der Freimaurer zum Staatsgefängnis und besuchte seinen Patensohn. José weigerte sich, ihn zu empfangen, aber nach erneuter Prüfung des Für und Wider überwog am Ende die Befürchtung, dass dies ihr letztes Treffen sein könnte, und er ging barfuß in den Besucherraum. Dort setzte er sich nicht auf den Stuhl, sondern blieb an der Wand stehen, wobei er sich die Blindheit seines Patenonkels zunutze machte. ‹Er ist ein Greis›, dachte José und betrachtete ihn schweigend, er wollte ihn sich ins Gedächtnis einprägen. So grau hatte er ihn nicht in Erinnerung, oder fiel durch das lange ungepflegte Haar das Weiß besonders auf? Zwei tiefe Furchen
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zogen sich über seine Wangen. Die Stirn – ein Fluss grüner Falten. Sein Stock – ein Guavenast. Das Khakihemd bis zum Hals zugeknöpft. Hosenträger. In der Hosentasche ein Bleistift. Seine Brille lief wie eine Damenbrille an den Seiten spitz zu und hatte zu helle Gläser, um diese einstmals visionären und heute toten Augen zu verbergen. «Ich weiß, dass du da bist, mich kannst du nicht täuschen», sagte der Freimaurer nach einer Weile. «Ich rieche dich, und es riecht nach Schwefel. Gib dich nicht auf. Verzichte nicht auf dein Leben.» Perucho saß eine halbe Stunde hinter der Glasscheibe und strickte an einem Schal. Er pfiff ein Lied, das von einer Trennungsgeschichte erzählt: Frag mich nicht, warum ich traurig bin, denn das werde ich dir nie erzählen, meine Freude hast du mit mir geteilt, meinen Kummer aber nicht, warum …? «Warum reißt du aus, mein Sohn? Der Schal ist doch nicht für dich», sagte Perucho, auf seinen Stock gestützt, im Gehen – und angesichts des Gewichts so vieler Jahre bog sich der Ast trotz seiner Dicke. Galo war der Einzige, der es wagte, zu dem Kubaner zu stehen, und er verwandelte sich vom ewigen Verehrer in seinen Bodyguard. Vielleicht sind diese Bezeichnungen nicht ganz korrekt. Mit Tapferkeit oder Treue lässt sich sein Verhalten, das dem eines mittelalterlichen Knappen glich, eines schlanken Sancho Panza, diesem anderen verrückten Don Quijote immer zu Diensten, nur unzulänglich erklären. Man darf nicht vergessen, dass in diesem Alter ein Idol notwendig ist – ein pubertäres Leiden –, insbesondere, wenn sich die Jugendjahre an einem so ungastlichen Müllplatz wie einem Hochsicherheitsgefängnis in Gesellschaft von Söldnern, Mördern, Vergewaltigern, Drogenhändlern und dem einen oder anderen glücklosen Unschuldigen verschleißen. José spottete weder über seine roten Lippen à la Naomi Campbell noch über das kecke
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Wackeln mit seinem Brötchenpopo noch über sein heute blaues und morgen kupferrotes Haar. Ruy erkennt den Nutzwert dieser Beziehung an. Galo versteckte seinen schmächtigen Körper, er war eher, wie er es selbst wütend und traurig in einem Brief ausdrückte, «ein Stück Seife auf dem Badezimmerboden». Wer einmal im Gefängnis gesessen hat, kennt den schrecklichen Sinn dieses Satzes. Schlecht verarbeitete Einsamkeit kann zu einer zersetzenden Erfahrung werden. Der Mensch bleibt im Strudel seines eigenen Orkans stecken, umzingelt von den Vorstellungen der immer zentrifugalen Außenwelt, aus der oberflächliche Bruchstücke, verzerrte Stimmen und vorübereilende Gesichter hereindringen. Mit anderen Worten: Einsamkeit ähnelt einem Vergnügungspark, in dem alle Geräte in Betrieb sind (die Autoskooter, das Riesenrad, die Enten im Schießstand, die Achterbahnwagen), aber keine Menschenseele Karussell fährt. Die Zuckerwatte auf der Spindel wächst und wächst, bis sie den ganzen Park überzieht. José hatte das nicht gewusst: Niemand hatte es ihm gesagt. Er lernte durch Schicksalsschläge. Oh, kleine, unsichtbare Lulú! Hochzeit hielt Billy the Kid … Singen war die einzig erlaubte Form der Erinnerung. Das Echo trug die Rumba von Pavillon zu Pavillon. «Entschuldige die Verspätung», sagte Pater Jordán, als er in Begleitung des Gefängnisaufsehers Morante die Zelle betrat. Es war bereits dunkel. «Ich habe gehört, dass du mit mir reden willst. Was ist los, mein Sohn?» «Wie, was soll los sein?» Der Kubaner senkte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Als er wieder aufsah, sagte er: «Wir wär’s, wenn wir über Nutten reden?», und lachte. Morante lachte auch. Der Pfarrer ließ sie lachen, bis sie nicht mehr konnten. Der Kubaner spuckte zwischen seinen feuchten Lachern Worte aus. Er stammelte: «Sie müssen glauben, dass ich ein absoluter Hurensohn bin.
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Und Sie haben Recht.» «Ich kann das bestätigen, Pater», sagte Morante. «Du irrst dich, José. Ich kenne diesen Ton. Hinter deiner Unverschämtheit verbirgt sich ein ängstliches Kätzchen.» José setzte eine pathetische Miene auf. «Ich bin nicht ängstlich.» «Nun, warum blinzelst du dann so viel?», konterte der Pfarrer. Morante entschuldigte sich, er müsse dringend ein Kreuzworträtsel lösen. Er ging durch den Gang davon und trommelte mit der Zeitschriftenkante an den Eisenstangen der Zellen entlang. «Lass dir Zeit, José. Ich bin auch ein Scheißkerl.» Pater Jordans geistliche Macht umspannte neuralgische Punkte von Santa Fe: das Staatsgefängnis, ein privates Irrenhaus, ein paar Pornostudios und den Sportpalast, eine Arena aus Aluminium, die sich in einen Boxring verwandeln ließ. In zehn Jahren christlicher Mission hatte der Pater von den ungeheuerlichsten Perversionen erfahren, die sich ein Pfarrer nur träumen lassen kann, und sogar die hohen Würdenträger der Nuntiatur lobten in seiner Akte seine Leistungen in der Sozialarbeit, die fast eines Heiligen würdig waren. Er hatte acht zum Tode Verurteilten die Sünden vergeben, er hörte mit unendlicher Geduld seinen kranken Irren in ihrem Verfolgungswahn zu, er hatte zwei Exmeistern im Schwergewicht und mehreren Obdachlosen, die unter den Brücken der Freeways vergifteten Spiritus getrunken hatten, in ihrer Todesstunde beigestanden, und obwohl die meisten Katholiken Santa Fes ihn aufgrund seiner gegen jegliche Täuschungen gefeiten Geistlichkeit verehrten, fürchteten sie gleichermaßen seine Ausbrüche, genauer gesagt, sein cholerisches Wesen. Zu seiner Berufung zum Dienen gesellten sich ein vulkani-
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sches Temperament, eine Sammlung vulgärer Sprichwörter und der Geist eines Rasputin. Unter Häftlingen verhielt er sich wie ein Häftling, und gegenüber Boxern gab er seinen Jab nie auf, auch dann nicht, wenn sie ihn an die Bande drückten. Er hatte sich für Joses Fall interessiert, weil er irgendwann auf seinem missionarischen Leidensweg Gelegenheit gehabt hatte, im Priesterseminar von Havanna eine Vorlesung über Don Bosco zu halten, und seither verfolgte er das Geschick der kleinen Insel aufmerksam. Dennoch war es ihm nach einem Jahrzehnt im Priesteramt nicht gelungen, den Panzer des rebellischen Kubaners zu knacken, und er hatte ihn schon als hoffnungslosen Fall abgeschrieben, als ihm der Aufseher Morante mitteilte, dass Pepe Kid ihn dringend sprechen möchte. Es gibt Tage, die gehen nie zu Ende; sie werden rot angekreuzt, damit man nicht vergisst, dass Eigenmächtigkeit das Rückenmark des Lebens ist – ob seine irrationalen Ableitungen verdient sind oder nicht. Der Pfarrer kam vom Friedhof, er hatte die Nacht zuvor im Bestattungsinstitut zugebracht und in einem Vaterunser nach dem anderen Gott um Gnade angefleht. Ein junges, von einer unglücklichen Liebesgeschichte schwer mitgenommenes Gemeindeglied hatte in einem Rückfall eine Überdosis Barbiturate eingenommen, was seiner Meinung nach, der ihr Sonntag für Sonntag die Beichte abgenommen hatte, als natürlicher Tod anzusehen war. Wenn er es an jenem Abend vorgezogen hatte, in die Gefängniskapelle zu gehen, statt im Pfarrhaus zu bleiben, dann deshalb, weil er der Hölle ganz nah sein wollte: Vielleicht würde ER ihn dort, im brutalsten Totenhaus der Stadt, wo viele ebenfalls jede Hoffnung verloren hatten, erhören. «Beeilen Sie sich, Pater», sagte Morante. Seit Betreten des Pavillons war die Rumba Hochzeit hielt Billy the Kid mit seiner kleinen Lulú … zu hören. Ein schlechtes Zeichen. In den Jahren seiner Semi-
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naristenzeit hatte er das Verhalten von Selbstmördern studiert und wusste, dass einige bei der Vorbereitung des Galgens zu ungewöhnlichem Verhalten neigen. Frauen putzen das Haus und waschen die schmutzige Wäsche. Männer putzen Schuhe oder singen, um den Kopf abzulenken. Am Morgen ihres fatalen Tablettenschluckens hatte die junge Frau zwei Eintrittskarten für ein Fado-Konzert gekauft, aber auch ihren Schrank aufgeräumt und ein Gitarrenstück geübt; in einem Brief bat sie ihre Geschwister, in das Konzert zu gehen, damit die Eintrittskarten nicht verfielen. Selbstmörder sind Richter und Angeklagte zugleich. Sie brauchen das Ritual. Den Prozess. Die Zeremonie einer Hochzeit mit dem Tod. Bevor er sich aufhängt, muss jeder Erhängte sein eigener Henker sein. José brauchte drei Stunden, um sein schreckliches Leben zu erzählen. Er fühlte sich von seinen anderen Joses besessen, denen, die er sein könnte, aber durch Verschulden des Meißels nicht sein konnte. Er hatte das menschliche Phänomen der Angst vergessen. Er legte seine Sünden in Pater Anselmos Hände. Sie wogen schwer. Eine Tonne. Eine Tonne Scheußlichkeiten. «Heiliger Vater! Du brauchst keinen Pfarrer, sondern einen Psychiater», sagte der Pater, als er Joses Beichte gehört hatte. «Ich wollte nur mit jemandem reden. Ich warte seit Stunden auf Sie.» «Morante, schließ die Tür auf!» «Was ist los mit Ihnen? Verlassen Sie mich nicht.» «Du malst gut. Was ist das? Radarmasten?» «Ich habe Angst, große Angst», sagte José und hielt den Pfarrer an der Soutane fest. «Ich glaube nicht einmal an die Mutter, die mich geboren hat, Sie schon.» «Lass mich los, verdammt!»
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«Scheiße, mir wurde angeboten, den Rest meiner Strafe als Tier abzusitzen. Was soll ich tun? Ich brauche eine Antwort.» «Hier hast du meine Antwort», erwiderte der Pater. Er wägte seine Worte nicht ab. «Nimm an. Möge dir Gott vergeben, nicht ich.» Morante fand den Zellenschlüssel nicht. Diese Tölpelhaftigkeit verursachte ihm schlechte Laune. Aus reinem Überlebensinstinkt setzte José zu einem ausweichenden Sprung an. Der Wächter hieb ihm einen Haken in den Mageneingang, trat ihm gleichzeitig in die Genitalien und brachte ihm mit einer Ohrfeige das Trommelfell zum Schwingen. Wenn er sich einer Sache rühmen konnte, dann war es seines brutalen Geschicks, Männer zu bezwingen. Als José auf Pater Jordans Armensandalen sank, waren seine Hände auf dem Rücken schon in Handschellen gelegt. Der Pfarrer wollte auf Morantes Gewalttätigkeit reagieren. Seine Faust blieb in der Luft hängen. José verbrachte den restlichen Tag von Kopf bis Fuß zugedeckt auf der Pritsche. Ruy der Doktor beschreibt, dass erfahrene Häftlinge einen sechsten Sinn entwickeln, der ihnen erlaubt, einen anderen Druck als den atmosphärischen zu wittern: Die Stille der Pavillons verbreitet «den Geruch nach in Gefahr geräucherten Knochen», und auch wenn Informationen aus erster Hand fehlen, nehmen die Ältesten der Alten im Barometer ihrer Haut wahr, dass im nächsten Augenblick etwas passiert. Die Wände geben nach. Die Mücken lassen sich an der Decke nieder. Holz knarrt. Die Geräusche aus der fernen freien Welt dringen lebendig und ausgesprochen verzerrt herein, und die Hupen der Omnibusse, die Motoren von schnellen Motorrädern, die Sirene eines Kreuzfahrtdampfers bleiben in den Gehörgängen hängen und lassen die sensiblen Knöchelchen des Trommelfells erklingen. Das leiseste Geräusch
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(ein zu Boden fallender Löffel) dröhnt wie ein Glockenschlag durch die Gänge. «Der menschliche Körper ist eine Antenne», schreibt der Doktor in der Erinnerung an Pater Jordans Hilfeschreie und an das Verhalten des stummen, vom Fatalismus zerstörten José. «Nie hatten wir ihn so roh und so zahm zugleich erlebt. Pepe Kid wollte sich nicht umbringen, wie der Pfarrer bei seinem Eintreffen im Gefängnis unterstellt hatte, nein, er wollte sich verachten.» Seine Kumpel glaubten, dass Anpassung in seinem Fall Kapitulation bedeutete: Die Angst rollte wie ein Schneeball durch die Gänge, und alle fühlten sich schuldig für etwas, was sie nicht getan hatten. Die Decke verhüllte den Kubaner von den Augenbrauen bis zu den Fußgelenken; als Morante ihm das Abendessen brachte, eine Aufmerksamkeit, die nur unbezähmbare Häftlinge genossen, lehnte José mit einer Fußbewegung ab, wobei er die Fußzehen einzog und entspannte. Die elektrische Spannung war unzulänglich, weswegen die Glühbirne in Intervallen aufblinkte und der Christus von San Cristóbal aus Havanna auf der Kalkwand auftauchte und verschwand.
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rei Jahre nachdem die Präsidentin der Stiftung Nueva Viña seine Frau geworden war, fragte sich Juscelino Magalhaës, warum Peggy Olmedo den notariellen Vertrag nicht auflöste, war sie doch bekanntlich eine erfolgreiche Unternehmerin und hätte ebendeswegen, nach siebenunddreißig Monaten der Ehe überdrüssig, begriffen haben sollen, dass ihre Wahl ein zu miserables Geschäft war, um dafür das Erbe ihrer Schönheit zu investieren. Juscelino stammte aus Príncipe da Beira an der Amazonasgrenze zwischen Brasilien und Bolivien und war ein außergewöhnlicher Beamter, nicht so sehr aufgrund seiner Physiognomie, die eher der eines Skorpions denn der eines Menschen ähnelte, sondern wegen seines Rufes der Rechtschaffenheit, was in der Zunft der bürgerlichen Gesellschaft als Überspanntheit galt. Man hielt ihn für eine Marionette, die zu zögerlich war, um die Dienstanweisungen seiner Chefs in Frage zu stellen, und vielleicht war er deshalb unübertrefflich in Momenten der wortwörtlichen Ausführung seiner Obliegenheiten, wobei er kein Komma ausließ. Er hatte gerade sein Amt als Zoodirektor angetreten und machte seine Arbeit ziemlich gut, bis er an jenem Mittwoch seinen angekündigten Besuch im Staatsgefängnis nicht weiter hinausschieben konnte und sich wie ein Käfer in einem Glas fühlte. Nach einem kurzen Rundgang durch die Einrichtung entkorkte Gefängnisdirektor Otto Higgin eine Flasche Sekt, um die Unterzeichnung eines Projekts zu feiern, das große Kontroversen hervorrufen würde. So sagte er zu dem Besucher: «Wenn Sie weder den besten Balladensänger noch den attraktivsten Burschen noch einen allmächtigen Unternehmer suchen, habe
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ich den idealen Kandidaten. Einen Wilden, der niemanden herumkommandieren und der sich nichts aussuchen kann: weder sein Mittagessen noch sein Grab. Wir werden einen Modellfall aus ihm machen. Einen Antihelden. Er wird weder Blut noch Schweiß noch Tränen fordern. Das scheint verrückt. Vielleicht ist es das auch, aber die Verrückten existieren, damit die Vernünftigen sich daran erinnern, dass sie Glück gehabt haben. Das Tier, das Sie suchen, heißt José und ist Kubaner.» Er irrte sich nicht. Juscelino verließ das Büro Kohlensäure aufstoßend, aber in der Überzeugung, dass dieses unglaubliche Projekt einen Grund hatte, auch wenn dieser als unsinnig verstanden werden könnte: Im zweiten Jahrtausend nach der Kreuzigung des Nazareners war die Wolfsmeute stärker angewachsen als die Schafherde; deshalb sollte sich ein Mörder zur Demonstration von Satans ausschließlicher Macht unter Raubtieren zur Schau stellen: um gewisse Schafe in Hyänen zu verwandeln. Im Paso-doble-Schritt eines Betrunkenen kehrte er in das Hotelzimmer, eine mit Samt ausgekleidete Suite, zurück, bestellte ein Tablett Hot Dogs, streckte sich auf dem weichen Daunenbett aus und las Peggy Olmedo etwas aus dem vierundneunzig Seiten starken Dokument vor, das ihm Higgin anvertraut hatte, um die Bedenken seines puritanischen Gewissens zu beschwichtigen. Die Akte enthielt genaue Angaben über die Übergriffe des Häftlings im Staatsgefängnis sowie ein Foto des Wandbildes, das seine Zelle schmückte. In dem Bericht stand jedoch nicht, dass José seine Kindheit im Labyrinth von Atares, in den Ruinen eines Palastes gleichen Namens verbracht hatte. Ein hartes Pflaster im Herzen Havannas. Von Geburt an Halbwaise, dürfte das Fehlen der Mutter (auf Kuba das respektierteste Familienmitglied) einen schwerwiegenden Einfluss auf seine Erziehung gehabt haben.
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Als Kind war er eine Auster. Seine Schale? Die Schüchternheit. Selten hatte er sich an Kinderstreichen beteiligt, höchstens als Zaungast. Menelao befürchtete, dass sein Sohn geistig zurückgeblieben sei. Der verbrachte Stunden im Hinterhof, füllte Flaschen mit Regenwürmern, und nach dem Essen legte er sich lieber ins Bett, weil er das Fernsehprogramm langweilig fand. Er erforschte gerne die Umgebung, immer allein. Bei jeder neuen Exkursion erweiterte er den Radius seiner Neugier. Noch eine Straße. Noch einen Park. An dem Sonntag, als Regla ihren zwanzigsten Geburtstag feierte, ging José verloren. Sein Vater bemerkte es erst spät (sein zurückhaltendes Wesen machte den Jungen unsichtbar) und dachte, dass er vielleicht einen seiner Spaziergänge machte, aber bei Einbruch der Dunkelheit schlug er schließlich Alarm. Ein Nachbar versicherte, ihn in der Nähe von Tallapiedra gesehen zu haben, am Rande des Elendsviertels Melones, «wo er eine Dose herumkickte». Menelao saß die ganze Nacht weinend vor der Tür, während sich die heiseren Rufe von Regla und ihren Freunden in der Ferne verloren. Milizangehörige des Meteorologischen Instituts fanden ihn um elf Uhr morgens bei den Radarmasten des Christus, mehrere Kilometer von zu Hause entfernt. Er kickte noch immer die Dose herum. Wieder zu Hause, ging José in den Hof, buddelte ein Loch in die Erde und fing Regenwürmer. Menelao wagte nicht, ihn auszuschimpfen. Er hatte die Zügel nicht mehr in der Hand. Der Gerechtigkeit halber hätte er sich selbst bestrafen müssen. Das Glück hatte nie an seine Tür geklopft, nicht einmal, als er im Mai 1953 die einzigartige Maniküre Rita Alea aus Bayamo heiratete und in der Verwaltungsdirektion des Nationalheers eine Stelle als Tischler erhielt. Wenige Wochen später wurde er ins Regiment Antonio Maceo versetzt und war einer der Soldaten, die am Morgen jenes Karnevalsonntags, des Annentags, in der Mon-
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cada-Kaserne schliefen, als eine Gruppe junger Männer mit einem Streich die Festung nehmen wollte. Menelao hatte die Nacht mit einer Maskengruppe auf den Straßen von Santiago de Cuba zugebracht und sich gerade in der Baracke schlafen gelegt, als die Schießerei begann, weswegen sich in seiner Erinnerung der Bierschaum, die wechselseitigen Schüsse und das Karnevalsfeuerwerk vermischten. Dann musste er sich an der Jagd nach den Jugendlichen, die in der Stadt losbrach, beteiligen, und dieses Erlebnis zerstörte sein Leben mit einem zweischneidigen Schwert: der Angst und der Schande. Er konnte das Stigma eines «in Moneada Überfallenen», wie er es nannte, nie abschütteln. Im Mai 1954 bat er um seinen Abschied, und das Ehepaar zog in die Hauptstadt. Atares schien ein geeigneter Ort zum Rückzug zu sein. Aber selbst das ruhigste Leben steht unter dem Einfluss der Pfeile des Schicksals: Im August 1965 stempelte ihn ein Gericht in einem Prozess der Werkstatt, in der er arbeitete, als «sozialen Abschaum und Spitzel der Diktatur» ab und schickte ihn für ein Jahr in die Festung La Cabana. Sechs Monate später erfuhr er, dass seine Frau bei der Geburt eines Sohnes namens José gestorben war. Der unglückliche Tischler fiel in einen tiefen Brunnen: den der Gleichgültigkeit. Unterdessen hatte sich Regla um ihren Bruder und das Haus, eine windschiefe, ärmliche Schilfhütte, gekümmert, bis sie es 1977 leid war, eine alte Frau von dreiundzwanzig Jahren zu sein, und ihren Vater zwang, eine Seeräuberentscheidung zu treffen: auf einem Floß von der Insel zu fliehen. An einem Aprilmontag besuchten Menelao und seine Kinder zum letzten Mal Ritas Grab auf dem Colón-Friedhof und machten sich noch am selben Abend vom Strand Cojimar im Osten Havannas aus – geographisch gesehen südlich von Florida – auf die Reise. Perucho Carbonell, der Schalstricker, den Menelao im
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Gefängnis kennen gelernt hatte, begleitete sie. Als das Land außer Sichtweite war und die Karibik sie in graue Wassermassen hüllte, hörte José seinen Vater sagen: «Gott will, dass es Gott gibt.» Meer des Seetangs, Meer der Vergeltung, Meer der Knochen, Niemandsmeer. Drei Tage trieben sie auf hoher See, bis sie von einer Touristenjacht herausgefischt und in Cayo Hueso abgesetzt wurden, bekümmert darüber, alles im Leben verloren zu haben – außer dem Atem, was ein Gewinn ist, wenn man bedenkt, dass sie auf der Überfahrt einen Schwarm Haie im Schlepptau gehabt hatten. Die Familie González ließ sich in einem Vorort von Santa Fe nieder, wo Menelao mit Hilfe seines Sohnes, der sich für die Geheimnisse des Berufes zu interessieren begann, eine Tischlerwerkstatt eröffnen konnte. Dort fühlten sie sich wohl. Dieselbe Jungfrau. Dieselbe Musik. Dasselbe Kauderwelsch. Dieselbe Scheiße. Fast wie in Atares. Jede Stadt hat einen Grund für ihre Existenz. Es gibt freundliche und anheimelnde, kalte und berechenbare, unterhaltsame und unverantwortliche. Santa Fe konnte als Muster einer Goldmine angesehen werden. Die Litaneien der Werbebranche verkauften sie als ein Touristenparadies, wo die Schatzsucher das exklusive Kurbad von Caracol Beach genießen oder in einem der effizientesten Finanzzentren des Landes reich werden konnten. Unter den gläsernen Wolkenkratzern entlang der Straßenkreuzungen und Freeways pulsierten im Innern dieser ungebremsten Moderne Randgemeinden, die genau voneinander abgegrenzt waren. Die Ghettos webten den Stoff der Stadt: Kubaner, Haitianer, Polen, Russen, Armenier, Salvadorianer, Bosnier, Überlebenskünstler und Todesverächter bewegten sich in diesem urbanen Schachspiel mit der Hoffnung eines Bauern, der davon träumt, in der achten Linie des Schachbretts die Königin zu kassieren. Keiner wusste
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ganz genau, welche Flagge an den Fahnenstangen der Gebäude gehisst war: Darum bemüht, nicht zu stolpern, schauten sie fast nie nach oben. Die patriotischen Feiertage füllten die dreihundertfünfundsechzig Tage des Kalenders: Jahrestag von General Miranda, Ermordung von Chano Pozo, Flugzeugabsturz von Carlos Gardel. In einem Haus betete man zur Jungfrau von Guadeloupe, im anderen zu Violeta Parra oder der heiligen Evita Perón. In demokratischer, kulinarischer Rauchwolke zogen die vermischten Aromen von Pfefferfleisch aus Puebla, Seviche aus Lima und Churrasco aus Uruguay durch die Gassen. Darüber hinaus verkauften im toleranten Santa Fe die Versicherungsagenturen Entwürfe, um jedweder Lebens- oder Naturkatastrophe (Brände, Krankheiten, Orkane) entgegenzuwirken, aber keine Versicherungen gegen die Sehnsucht jener Frauen und Männer, denen der Trost blieb, ihr Heimatland jeden Abend in einem dürftigen Essen wieder zu beleben. Der Familie González gelang es, einen Taubenschlag mit drei Zimmern, Wohnraum, Vorhof und einer Werkstatt aufzubauen, in der Menelao und Perucho Carbonell Särge zimmerten, während die Unternehmerin Regla Buchhaltungskurse belegte, bis Wesley Gravan in den Rosenstöcken auftauchte und sich die kleine Lulú schnappen wollte. José war achtzehn Jahre alt, als er ins Gefängnis wanderte, und wurde an jenem Abend, an dem Gefängnisdirektor Otto Higgin Sekt servierte und zu Juscelino Magalhaës sagte, dass sie aus dem Kubaner ein unmöglich zu kopierendes Modell machen würden, dreiunddreißig. ‹Das Alter von Christus› bemerkte Peggy Olmedo. Während Juscelino die Hot Dogs aufaß und sich eine sechs Zoll lange Partagás-Zigarre anzündete, betrachtete sie aufmerksam das Foto von dem Wandbild, das der Akte beigefügt war. Die Vergrößerung erlaubte ihr, am Anfang eines breiten Fußweges die Figur eines Jungen zu
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erkennen, der auf einem Bronzelöwen ritt. Derselbe Junge tauchte auch an anderen Stellen auf: unter den Passagieren einer Barkasse, die die Bucht durchquert, auf einem Baum im Park, über eine Schlossmauer gebeugt. «Ich weiß nicht, aber mir gefällt dieser Kubaner», sagte Peggy. Vom Balkon der Suite aus sah Juscelino den Zoo wie ein Stück Kohle inmitten eines hell flackernden Feuers. Die nächtliche Kühle verursachte ihm eine Gänsehaut. Er zog an der Partagás-Zigarre – und fühlte sich wieder wie ein Käfer in einem Glas. An jenem Tag erzählte José Galo der Katze beim Essen von seiner möglichen Verlegung in den Zoologischen Garten von Santa Fe und ließ ihn schwören, das Geheimnis zu hüten, aber der Häftling aus Martinique zählte weder Klugheit noch Diskretion zu seinen Tugenden, sodass er es, noch bevor er die Frikadellen vom Mittagessen verdaut hatte, gleich dem Erstbesten erzählte, der ihm über den Weg lief: Ruy dem Doktor, der den Witz von Mund zu Mund gehen ließ, von den Isolierzellen bis zur Direktion der Haftanstalt. Gefängnisdirektor Otto Higgin nahm den Scherz, der im Laufe seiner schnellen Verbreitung immer mehr ausgeschmückt worden war, gut gelaunt auf, wobei er voraussetzte, dass sie Pepe Kid nicht zu schlimm zurichteten: «Er soll früh schlafen gehen, morgen muss er nüchtern zu ein paar Untersuchungen ins Labor», sagte er zu den Initiatoren der Frotzeleien. Als die Lichter ausgingen und die Pavillons in bleierne Schläfrigkeit sanken, war das Solo eines Wolfes zu hören, gefolgt von schrillem Gelächter. Zu dem Wolfsgeheul gesellte sich ein Hahnenschrei, und zum Kikeriki Kikeriki das Gezeter von menschlichen Hunden, Löwen und Eseln. José ging zu den Gitterstäben. Häftlinge wie Wachen ahmten, nicht alle gleichermaßen anmutig, Tiere nach: Die einen versuchten sich in ungeschickten Affenstreichen auf den Gängen, die
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anderen kratzten sich die Läuse auf dem Kopf oder brüllten wie Schafe beim Scheren. Heulen. José hörte aus dem Wiehern seinen Namen heraus und verfluchte Galo dafür, seinen Schwur gebrochen zu haben, aber als er das Miau, Miau, Miau einer rolligen Katze ausmachte, verflog sein Ärger. Nachdem das Abendständchen in gemeinschaftlichem schallendem Gelächter ausgeklungen war, legte sich wieder Stille über die Gitter, und dann war die Stimme des alten Yoruba Gastón Placeres, dem Dekan der Gefangenen, zu hören, der im Namen der Freundschaft diesen Abschiedssegen dröhnte: «Iború di boyé … (Das Opfer ist angemessen und wird anerkannt), dibo sise (das Opfer ebnet den Weg, die Gründe ergänzen ihn), Aché für dich, Landsmann, Orula begleitet dich!» Die Nacht war so klar, dass ein Mondstrahl in die Zelle fiel. José begann, das Bild an die Wand zu malen; um Mitternacht hatte er die weibliche Spaziergängerin auf dem Malecón, die Schornsteine, die meteorologischen Radarmasten, das Hotel Fontainebleau und die General-Máximo-Gómez-Straße, einschließlich des Café Esther’s, wieder ausradiert; als der Morgen anbrach, war gerade noch das Gesicht des Christus zu sehen, wie ein Straußenei in einem zerstörten Nest. Der Kubaner fand sich beunruhigend ruhig im Laboratorium ein. Die Ärzte und Juristen, die den Fall untersuchten, waren überrascht: Trotz der rauen Bedingungen, unter denen er gelebt hatte, verfügte José über ein vollständiges Gebiss, gesunde Lungen und zwei seidenweiche Nieren, die Appetit machten, sie in Sherrysoße zu verspeisen. Die Gesundheit eines Stiers. Sie unterzogen ihn so vielen Prüfungen, wie man sich nur vorstellen kann, und er fiel lediglich in Bürgerkunde und Guten Umgangsformen durch, wo er hätte lügen können, wenn er gewollt hätte. Er konnte nicht wissen, dass seine Protesthaltung (streitsüchtige Wortklauberei, ständige Provokation) genau das war, was die
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Spezialisten suchten, weil sie ihn nicht wegen seiner Sanftmut, sondern wegen seiner Lasterhaftigkeit ausgesucht hatten. Als ihm die Haare geschnitten wurden, entdeckten sie, dass er auch noch gut aussah. Sie ließen ihm einen Anzug anfertigen und stellten ihn dem Stiftungsrat von Nueva Viña vor: «Das ist unser Mann», schrieb Peggy Olmedo in ihr Notizbuch. «Ich bin einverstanden», sagte der Kubaner. Eine Woche später stieg er in einen Militärlastwagen, der von zwölf leisen Motorrädern eskortiert wurde; an der Spitze der Kolonne fuhr der strenge Salomon Carey, ein junger Unteroffizier der Schutzpolizei, der auf der Polizeiakademie Morantes Lehrer gewesen war. Das Letzte, was José vor Verlassen des Hofes sah, war Galos dürre Gestalt im Fenster: Er hatte Arme und Beine in Form eines menschlichen X ausgestreckt. Zwei Wachen zerrten an seinen Fußgelenken. Galo hatte die Gliedmaßen zwischen die Gitterstäbe geschlungen und leistete mehr Widerstand als ein Efeu an einer Ziegelwand. Nicht ohne Grund wurde er die Katze genannt. Er war eine. «Beweg dich, José», sagte Morante. «Und wenn ich es bereue?» «Wir leben in einem freien Land.» Morante rollte eine Modezeitschrift zusammen und sah ihn durch das seltsame Fernrohr an. Seine Zungenspitze lag auf einem Goldzahn. «Weißt du denn nicht, dass der Zoo um sechs zumacht?» Morante löste in den hundert Minuten, die der Konvoi durch die Stadt brauchte, ein ganzes Kreuzworträtsel. Sein Vokabular reichte nicht weit, seine Geduld hingegen schon. Ganz zu schweigen von seiner Sturheit. Bis zu diesem Worträtsel hatte er alles geschafft, was er im Leben anstrebte. Er hatte sich jedoch auch nicht allzu viel vorgenommen. Als er noch ein halbwegs verblödeter Zechbru-
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der war und auf dem Städtischen Friedhof arbeitete, hätte niemand auch nur einen Cent auf seine Zukunft gewettet. Der Tod brachte ihm Glück. Sein Patenonkel vererbte ihm ein kleines Vermögen, mit dem er die Polizeischule finanzieren konnte. Die Ausbildung drehte ihn völlig um. Er hörte auf, Drogen zu konsumieren, und trainierte seine Muskulatur mit Gewichtheben. Am Ende war er schärfer als alle deutschen Schäferhunde im Polizeizwinger, und sollte es noch Zweifel an seinem Mut gegeben haben, konnte er das Gelernte schon bald unter Beweis stellen. Bei einem Schulfest, auf dem sein Sohn Langston Billy Joel imitieren sollte, versuchten zwei bis an die Zähne bewaffnete Ganoven, die Schultheatergruppe zu überfallen. Morante schnitt ihnen den Weg ab. Nach einem heftigen Schusswechsel gelang es ihm, sie an einem Treppengeländer auf dem Sportplatz in die Enge zu treiben, wo er sie erbarmungslos niederschoss. Diese Dressur ermöglichte ihm eine Anstellung im Staatsgefängnis. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, die bemerkenswerten Extreme seines Charakters auszugleichen. Schuft und Gerechtigkeitsfanatiker, Diener und Tyrann, treu und heimtückisch, war er ein so widersprüchlicher Mensch, dass ihm sogar seine erbittertsten Feinde am Ende alles verziehen, ‹außer den Schlägen›, dachte José. «Ein Wort mit sechs Buchstaben, der fünfte ist ein E, das zum Verschmälern von Materialien dient, Holz unter anderem.» José sah durch die Fensterluke des Transporters. In Santa Fe wurde gefeiert. Um den Sportpalast herum reihte sich ein Karnevalswagen an den anderen. Der Konvoi kam an einer Kreuzung zum Stehen, und der Kubaner konnte eines dieser monumentalen Fuhrwerke genauer betrachten. Es wirkte wie ein Dinosaurierskelett aus dem Museum. Über die Straßen zogen sich kreuz und quer Lichterketten,
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die komplizierte geometrische Formen bildeten. Auf den öffentlichen Plätzen waren Bühnen für Musikkapellen aufgebaut. José erkannte die Gegend wieder. Sie waren in der Nähe des Coral Parks. Das Weinen der Trauerweiden war zu hören. «Setz dich wieder. Gabel, Bohrer, Stampfer.» «Kann ich was sagen?», fragte José. «Nein!» José wusste, dass er an seinem Bestimmungsort angekommen war, als Unteroffizier Salomon Carey die Metalltür öffnete und er ein Gitter entdeckte. Ein noch dickeres Eisengitter als das in seiner vorherigen Zelle. Er erinnerte sich an den im Fenstergitter verschlungenen Galo. Mit einem Klaps auf den Hals schüttelte er das Bild ab. Es roch nach Naphthalin. Ein Eichhörnchen lief vorüber. Ein rotes Eichhörnchen. «Neues Heim, neues Leben», sagte Morante. «Meißel. Das ist das Wort, das du suchst. Meißel. Damit kann man auch einen Menschen töten.» «Danke.» «Ich wünsch dir das Beste», sagte der Unteroffizier und schubste José hinaus. José war dankbar für den Schubser. Außerhalb des Gitters sah er ein Mädchen mit einem Luftballon in der Hand vorbeigehen. Es hatte große, schwarze Augen. Auf beiden Seiten des Luftballons war Joses Gesicht aufgedruckt. Ein heiterer siebenjähriger José mit einem Halstuch, in Havanna. Die Altstadt Havannas. Der Palast von Atares. Das Mädchen verschwand zwischen den Musikern der Kapelle. Das war recht seltsam. Genau in dem Augenblick enthüllten Doktor Juscelino Magalhaës und der bissige Gouverneur Ian Hill ein Bronzeschild, auf dem ganz deutlich
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Homo sapiens sapiens und in Anführungszeichen der Familienname González zu lesen war. Die Señoras und Señoritas der Stiftung Nueva Viña auf der Gästetribüne klatschten wie abgerichtete Walrösser. Unter Leitung von Peggy Olmedo begannen die Fans zum Rhythmus der Musik, die die Kapelle der Exilmethusalems anstimmte, in die Höhe zu schnellen. Eins, zwei, drei und Ich will einen Palmhut, eine Flagge, ich will ein Buschhemd und einen Son zum Genießen … Die Blitzlichter blendeten José. Er schloss die Augen. Er hatte noch nie Beifall bekommen. Beifallsstürme. Die lokalen Presseagenturen wollten die Neuigkeit taufrisch berichten: Ein Exilkubaner würde als einziges Exemplar der perfektesten Schöpfungskreatur, des Menschen, in einem «zivilen» Käfig ausgestellt werden. Das hatte noch niemand gewagt. Der kleine Zoo lag zwischen den Ruinen einer Hazienda aus der spanischen Kolonialzeit, der Villa Vizcaya, des authentischen Kerns der Siedlung, die Santa Fe einmal gewesen war, bevor der Stadt Ehrgeiz in die Venen gespritzt wurde und sie sich in ein Treibhaus von Wolkenkratzern verwandelt hatte. Wenn man die Pandas und das neue Delphinarium nicht mitrechnete, war die Tierwelt des anmutigen Gartens, verglichen mit der großer nordamerikanischer Gehege (zum Beispiel dem New Yorker Zoo), nicht viel wert; wenn er zum hundertjährigen gemeinnützigen Bestehen eine Besonderheit aufwies, dann war es dieser Anflug von Countrystyle, der es ihm erlaubte, nebeneinander sieben Dritteweltkühe, ein flauschiges Eselchen oder einen gezähmten Wollhaaraffen in der Pagenuniform des Hotels Plaza auszustellen, der sich auf die faule Haut gelegt hatte, nachdem sein Herrchen mitten in einem Konzert gestorben war. Auf vierzig Hektar ökologischem Schutzgebiet lebten afrikanische Einhufer, Wiederkäuer und Rüsseltiere, Reptilien der Familie der Emidosaurier, Fleisch fressende
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Säugetiere, Stelzvögel und wilde Rinder zusammen, die von einem Rudel Aufseher, in der Mehrzahl Latinos, versorgt wurden. Trotzdem richtete sich die aktuelle Stiftungsverwaltung nach einer Studie, die empfohlen hatte, anziehendere Schwerpunkte als die Einkaufszone und den Rummelplatz einzurichten, auf dem an den Wochenenden Kinderfeste veranstaltet wurden. Das Experiment mit dem Kubaner krönte diese Strategie, man wollte demonstrieren, dass sich ein menschliches Wesen an jegliche Umstände gewöhnen konnte. «Eine großartige Leistung zum Jahrtausendwechsel», sagte Doktor Juscelino Magalhaës zu den Reportern. Der Park hatte einen Nachteil: seine kräftigen Südwestwinde. Er befand sich auf einem niedrig gelegenen Gelände zwischen ausgetrockneten Sümpfen, und vielleicht erklärt das die für manch einen pittoreske Tatsache, dass er hin und wieder von Wirbelwinden heimgesucht wurde. In den lähmenden tropischen Mittagsstunden, wenn das Licht auf der Haut lastet, verstärkt sich der Luftdruck und der Wind dreht sich in einem plötzlichen Rückstoß, was Säulen aus Blättern und Staubpartikeln aufwirbelt. «So Gott will und der Karneval erst einmal zu Ende ist, wird Villa Vizcaya am kommenden Dienstag seine Tore für das Publikum öffnen», sagte Juscelino. Und Gott wollte. Oder er erfuhr es erst gar nicht. Joses Käfig befand sich am Ende des Affenhauses, ein unumstößlicher Beweis für die Evolution der Arten, und war nach dem Kriterium ausgestattet worden, jede Spezies in ihrem natürlichen Lebensraum darzustellen. Er verfügte über einen Kamin, zwei gemütliche Korbsessel, einen persischen Kelim, und in einem Bücherregal stand das Gesamtwerk von Oscar Wilde, die einzig erlaubte Lektüre. Hinter der mit Kork tapezierten Rückwand verbargen sich ein winziges Schlafzimmer, eine winzige Pritsche, ein winziges Klosett und
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ein winziges Waschbecken aus thailändischem Porzellan. Nachdem er sich ein halbes Leben lang in Gemeinschaftsduschen gewaschen hatte, war es ein Luxus, ein eigenes Bad zu haben. «Wie aufmerksam», sagte er. Die Seitenwände sowie die Vorderseite bestanden aus Gitterstäben, sodass die Zelle Verbindung zu der seines Nachbarn hatte, einem wuchtigen Orang-Utan aus Borneo, der in Villa Vizcaya geboren war. Er hieß Cuco. Zwölf Jahre Gefangenschaft hatten seine Urinstinkte verkümmern lassen, nicht so sein angeborenes Talent zum Kanonier. Wann auch immer der Orang-Utan plötzlich eine Krise erlitt, schleuderte er Fäkalbomben in die Welt. Diese Anfälle dauerten kaum länger als ein paar Minuten, ein reichhaltiges Artilleriefeuer, das genügte, um im gut besuchten Primatenhaus ein Chaos anzurichten. An dem Morgen, als der neue Gast vorgestellt wurde, gab Cuco keine seiner Verrücktheiten zum Besten. Er verfolgte die Zeremonie in kritischer Haltung, mit eingezogenen Schultern und einem starr auf einen fernen Punkt gerichteten Blick. José beantwortete keine der spekulativen Fragen der Journalisten (Was denken Sie über Kubas Zukunft? Praktizieren Sie die Santería? Was halten Sie von den politischen Führern der Exilkubaner in Florida?), bis der scherzende Ian Hill seine Autorität geltend machte und ihn – um als einfallsreich zu erscheinen – fragte, ob er unter diesen Umständen eine Tüte Erdnüsse oder eine Bananenstaude bevorzuge. Gelächter. «Deine Mutter», sagte der Kubaner auf Spanisch. Cuco wiegte sich auf seiner Schaukel. Der Wind wehte aus Süden, und der Gestank des Orang-Utans betäubte die Naphthalindämpfe. In der Ferne explodierten die Karnevalsraketen. Feuerwerk. Riesige Blumen aus Schießpulver öffneten sich am Firmament; gelbe Rosen, blaue Sonnenblumen und orangefarbene Blumensträuße. José schärfte
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seine Sinne und hörte aus dem Kakadukreischen die Cumbia einer Marimba heraus. Einen Augenblick lang roch der Park nach Popcorn. Feuerwerk. In jener ersten Nacht untersuchte er Zentimeter für Zentimeter sein Nest. Im Bad hing ein hübscher Wandkalender. Der Wasserhahn am Waschbecken ging schwer. Es gab keine Zahnpasta. Der Kamin bestand aus Sperrholz. Er legte sich auf die Pritsche. Im Kopf verteilte er die Karten eines sehr persönlichen Tarotspiels. Die Türme von Tallapiedra. Im Hinterhof des Hauses rief Regla Schimpfwörter. Ritas Grab. Ein Floß am Strand. Wellen. Menelao, Perucho, Kuba und der Horizont. Auf der letzten Karte tauchte das Mädchen mit dem Luftballon auf, das mit den schwarzen Augen. Es war ein seltsames Zusammentreffen gewesen. Die Dunkelheit half, das Rätsel zu lösen: Seit fünfzehn Jahren hatte er keinen unschuldigen Menschen mehr gesehen. Cucos Schaukeln war nicht mehr zu hören. Frösche. Grillen. José schaltete die Lampe ein. Das rote Eichhörnchen zerrte einen Strumpf durch die Gitterstäbe. Zwei Flugzeuge flogen in großer Höhe vorüber. Die Brise bewegte die Zweige der Jacarandabüsche im Rhythmus einer sanften, süßen und unerträglichen Melodie. José drehte Runden um Runden in seinem Käfig. Er benötigte sechsundvierzig große Schritte, um den Radius seiner neuen Zelle abzuschreiten: zwanzig große Schritte mehr als in der vorigen. Die Morgendämmerung zog wegen der Regenwolken später herauf.
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Zenaidas erstes Solo
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s würde Regen geben. Kein Himmel hält so viel aus. Am frühen Morgen ging die Mulattin Zenaida Fagés zum Zimmer ihres Nachbarn Lorenzo Lara hinauf, um ihn zum Frühstücken zu überreden. Sie trug Bermudas. Rote. Sie war imposant. Eine verirrte Kugel. Immer, wenn sie sich unerträglich fett, traurig, pessimistisch, weinerlich, alt, hässlich, beschissen, gescheitert oder pervers fühlte, lief sie die Treppe hinauf und nahm das beste Mittel gegen die Sehnsucht ein: Milchkaffee und Butterbrot. Sie arbeitete als Revuegirl im Luna Club, einem Kabarett in Caracol Beach. Und sie schlief lange. Allerdings nicht immer, weil sie an Schlaflosigkeit litt. Sie vermisste die Stadt Matanzas, die Abende am Río San Juan, die Matratze ihres Bettes, ihr Kopfkissen. Mit neununddreißig Jahren hatte sie ein Pokerspiel der vertrauten Leidenschaften entwickelt: alle neun oder zehn Monate umziehen, Lieder von Pablo Milanés hören, Lotterie spielen und drittklassige Logarithmen lösen. Sie ging in die Küche und setzte einen Aluminiumtopf mit Milch zum Erwärmen auf. Es war kein Brot da. Unter dem Tisch verschlang ein Kater eine Taube ohne Hals. Lorenzo war im Bad mit seiner täglichen Schnurrbartpflege beschäftigt und erkannte die Frau aus Matanzas an ihrem Schritt. Niemand hatte einen Gang wie sie in ihren Latschen: gegen den Takt. Der Kater lief auf die Dachterrasse hinaus. Zenaida warf ihm eine Gabel hinterher. Das Besteck bohrte sich in die Tür. Das Holz knirschte, als hätte der Stich es verletzt. Die Wolkendecke über Santa Fe zog sich zu. Es würde Regen geben. «Die Milch ist im Schrank», sagte Lorenzo.
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«Kauf Brot, Larita. Ach was, ich verlasse dieses Land!» Die Kubanerin hatte in Lima, in Panamastadt, in San José in Costa Rica, in Cancún und in Miami gelebt, und seit ihrer Flucht aus Havanna war sie immer im Begriff, «dieses Land zu verlassen». Lima hatte sie als schrecklich, Panama als ausgesprochen schwierig, San José wie ein eingeschlossenes Bergdorf, Cancún wie eine Vitrine in einem Einkaufszentrum, Miami zu verschlagen und Santa Fe als ein Sprungbrett empfunden. Lorenzo kam im Hemd aus dem Badezimmer. Pfefferminzgeruch breitete sich im Raum aus. Aus der Ferne waren quälende Tonleitern auf dem Klavier zu hören. Doremifasollasi. Silasolfamiredo. «Ach, Señora Kropotkina, wann werden Sie endlich Klavier spielen lernen», sagte Lorenzo. «Heute bin ich seit dem Aufstehen in polemischer Stimmung», sagte Zenaida. «Gestern Nacht im Luna Club habe ich allein eine Flasche Rum geleert. Gib dem Kater ein paar Kekse. In diesem Viertel gibt’s keinen einzigen lebenden Vogel mehr.» Die Mulattin setzte sich auf einen Hocker, ein Fingerhut für ihren üppigen Hintern. Sie hatte den Körper einer Olympiasiegerin im Zehnmeterlauf: null Fett am Bauch, kleine Brüste, massige Gesäßhälften, Schenkel wie ein Fohlen und Waden wie ein Pelikan. «Es wird bald regnen. Kein Himmel hält so viel aus. Nach was riechst du, Nachbar?» «Wonach frisch Rasierte riechen», sagte Lorenzo. «Warum nimmst du diesen Winzschnurrbart nicht ab, er ist scheußlich …» «Im Zoo sitzt ein Landsmann von dir im Käfig», sagte Lorenzo. Er redete nicht gerne über seinen Bart. «Kubaner? Von wo?» «Aus Havanna.»
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«Ich bin keine Rassistin, Larita, aber er ist bestimmt schwarz.» Zenaida tunkte einen Keks in den Milchkaffee. «Nein, er ist nicht schwarz. Er heißt José, José González», sagte Lorenzo. «Man hat ihm angeboten, im Zoo zu leben.» «Sieh mal an, José. Jeder weiß, was er weiß. Ich kritisiere niemanden, damit niemand mich kritisiert. Hat er richtig gemacht, verdammt. Ich hätte mich auch in diesen Käfig gesetzt.» «Wirklich?» «Natürlich, ich bin doch total meschugge, wie der große, weise, erhabene Anton Makarenko sagen würde.» «Makarenko?» «Ein russischer Pädagoge. Hör mal, willst du nicht frühstücken? Du siehst schlimm aus. Ich fühl mich auch wie gerädert. Zu Karneval spielt diese Stadt verrückt. Wahnsinn! Vorgestern Abend ist mir ein Kalifornier auf die Pelle gerückt, der nach Margarine roch. Mir war zum Kotzen. Nicht, dass ich schwanger wäre», sagte die Mulattin und kratzte sich die Füße. «Wenn es Gorillas als Diktatoren, Esel als Kanzler und Geier an der Börse gibt, warum sollen wir uns darüber aufregen, wenn wir einen Menschen in einem Zookäfig sehen? Ticktack. Radiowecker National. Die genaue Uhrzeit …» «Vier Uhr morgens …» «Punkt vier Uhr morgens.» «Lösch diese Kassette.» «Wie auch immer. Ich kann sie auswendig. Und das sind die Nachrichten: Staatsexamen der Pädagogischen Hochschule von Matanzas abgeschlossen. Ticktack. Die verrückte Zenaida Fagés hat Lust, einen jungen Burschen aus
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Santa Fe zu vernaschen. So oft höre ich sie auch wieder nicht.» «Ist das nicht immer dasselbe?» «Auf Kuba sind die Nachrichten jeden Tag gleich. Die Tageszeitungen ändern nur das Datum. Was auch immer passiert, jedes Wochenende wird etwas eingeweiht oder geschlossen, egal was, und die Baseballmannschaft Industriales verliert immer in der neunten Runde die Meisterschaft. An meinem letzten Abend auf Kuba kam mich niemand besuchen. Kein einziger Freund, verdammt. Nur meine Mutter. Ein Dienstag, trauriger wie der Herbst. In jener Nacht habe ich die Kassette aufgenommen. Rummrummrumm! Rummrummrumm! Rummrummrumm! Ich sterbe vor Lust nach einem zuckersüßen Jüngling. Mir ist kalt.» «Geh zurück.» «Wenn ich in der Lotterie gewonnen habe. Ich will auf einer Sänfte durch das Vedado-Viertel getragen werden. Königin Fagés! Hör mal, genug geschwatzt. Hier liegt Staub von anno dazumal.» Zenaida schüttete drei Eimer Wasser auf die Terrasse. Unter dem Bett holte sie einen Zentner leerer Coladosen hervor. «Was erzählt man sich so über diesen José?» «Scheint so, dass er vor Jahren einen Burschen umgebracht hat. Wer weiß. Die Leute denken sich viel aus. Dieser José ist nicht einzuschätzen.» «War der Tote ein Yankee? Denn wenn er ein Yankee war, musste José doppelt dafür bezahlen. Das ist der Tarif für Latinos.» «Es wird so viel geredet. Dass er einen Dachschaden hat. Dass er ein Trottel ist. Er hat sogar die Mutter von Gouverneur Ian Hill beleidigt.» «Hast du ihn gesehen?»
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«Heute. Ein paar Mal, aus reinem Zufall. Er schaut mürrisch drein.» «Wie sollte er denn sonst dreinschauen?» «Am Dienstag wird er der Öffentlichkeit vorgestellt.» «Der Arme», sagte Zenaida und kehrte die Federn der geköpften Taube zusammen. «Es heißt, José verweigert das Essen.» «Ist das Essen gut?» «Ich nehme es an.» «Sie sollten ihm Machuquillo geben. Kann er Radio hören?» «Radio? Nein.» «Einer aus Havanna ohne Radio schwebt im luftleeren Raum. Ein Kubaner isst gerne gut, hört gerne Nachrichten und schlägt gern die Zeit tot. Der arme Vogel. Fliegt und fliegt, um dann so ruhmlos zu sterben. Einsamkeit tut weh. Bananen-Machuquillo, gebackene Maispastete, Quimbombó!» Am Nachmittag ging Zenaida in den Supermarkt, weil sie einen Lotterieschein und eine Dose eingemachter Früchte Marke La Conchita kaufen wollte. Lorenzo begleitete sie. «Es gibt keinen besseren Nachtisch als einen Teller Papayamarmelade», sagte die Mulattin. «Ich glaube, ich habe noch einen halben Sahnekäse.» Später stellte sich heraus, dass sie den Käse in der Nacht zuvor gegessen hatte. «Ich hab’s einfach vergessen. Wir können Natronkekse dazu essen», sagte sie. Es wird die süße Papaya gewesen sein, die Zenaida von den bitteren Erinnerungen ablenkte, denn als sie vom Einkauf zurückkam, begann sie, von ihrer Mutter María Coronado zu erzählen, Krankenschwester im Provinzkrankenhaus von Matanzas, «eine göttliche und so dicke Mulattin, Larita, dass die Massen
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noch träge weiterschaukelten, bis sich der Bauch unter dem Kittel Falte für Falte gelegt hatte, wenn sie auf der Intensivstation vor dem Bett eines Patienten stehen blieb und fragte: Wie geht’s, mein Schatz?» María Coronado war laut ihrer Tochter eine dieser großherzigen Kubanerinnen, die sich ihr Leben lang um ihre Mitmenschen kümmern, ohne sich der eigenen Wohltaten zu rühmen. «Und ich schwöre dir, Lorenzo, es gab keinen Nachbarn, der sie nicht aufsuchte, damit sie ihm die Spritzen in den Hintern setzte oder das Fieber eines Babys senkte oder Ratschläge gab, welches Kraut gut gegen Asthma sei. Als Mitglied des CDR und fideltreu wie sie war, meldete sich Mama zu allen Aufgaben, die im Viertel angeboten wurden, und man musste sie gesehen haben, wenn sie die Straße fegte oder leere Flaschenkisten schleppte, bis sie sich erschöpft auf die Bürgersteigkante setzte und anfing, Guarachas zu singen. Beim Nachhausekommen füllte sie zuerst einen Eimer mit Wasser, dann puderte sie sich die Brust, bereitete einen Krug Limonade zu und setzte sich vor den Fernseher, weil sich María Coronado sehr dafür interessierte, was in der restlichen Welt geschehen war, während sie gearbeitet hatte.» «Es ist schon spät», sagte Lorenzo. «Verflixt! Schade, das mit dem Käse; ich war mir so sicher, dass noch ein Stückchen übrig ist.» Es würde Regen geben. Keine Wolke hält so viel aus. Lorenzo ging in sein Zimmer hinauf und blätterte in einer Zeitschrift. Er konnte sich nicht auf die Lektüre konzentrieren. Er schenkte sich einen Mezcalschnaps ein und ging auf die Terrasse. Doremifasollasi. Silasolfamiredo. «Hören Sie mit dem Klavierspielen auf, Señora Kropotkina!», hörte er die Mulattin rufen. Die Nachbarschaft. Was für ein Wind! In der Ferne explodierten Karnevalsraketen. Gelbe Rosen, blaue Sonnenblumen, orangefarbene Blumensträu-
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ße. In der Wohnung unter Lorenzos hatte Zenaida eine Platte von Pablo Milanés aufgelegt und sich ausgezogen. «Ach was, mein Herr, hier kann man doch nicht leben. Ich verlasse dieses Land!», sagte sie. Einen Augenblick lang roch die Stadt nach Popcorn. Zwei Flugzeuge flogen in großer Höhe vorüber. Die Kubanerin schlief gerne nackt. Sie verbarg das Gesicht im Kopfkissen. Unter den Augenlidern flackerte ein Nachmittag am Río San Juan auf, und das entspannte Daliegen förderte ein Bild zutage, das sie kürzlich voller Widerwillen zurückgewiesen hatte: das Bild eines honigfarbenen Welpen, der auf dem Dach der Familie Martínez, ihrer Nachbarn in Matanzas, im Bauschutt eines halb fertigen zweiten Stocks lebte. Der Hund verbrachte den Tag auf dem Dach, wo er wie ein Wachposten an der Kante auf und ab lief. Jahrelang lebte er dort oben. Bellend. Tollwütig. Die Familie Martínez ließ ihn nie herunterkommen, nicht einmal, wenn die Sonne die Betonplattform aufheizte oder unvermittelt einer dieser für karibische Städte typischen Platzregen niederging. Anfangs stopfte sich Zenaida etwas in die Ohren oder drehte das Radio lauter, später gewöhnte sie sich an das Wimmern dieses Mastodons, der sich Knochen für Knochen in ein phlegmatisches, schmuddeliges Wesen mit verfilztem Fell verwandelte, und sie lernte auch, es zu ignorieren. In dieser Karnevalsnacht in Santa Fe hörte sie ihn wieder heulen. Wahrscheinlich, weil draußen ein scheinheiliger Nieselregen einsetzte, der die Jahre ihrer provinziellen Naivität heraufbeschwor. Stimmen. Schatten. Jugendgespenster. Sie dachte daran, María Coronado zu schreiben. Sie hatte Fotokopien von allen Briefen aufbewahrt, um über ihre schwärmerischen Phantasien den Überblick zu behalten. Sie verwarf die Idee: Einsamkeit ist beim Lügen nicht sehr hilfreich. Der Regen trommelte auf die Rohrleitungen. Die Zeit vergeht, wir werden alt, und ich erinnere
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die Liebe nicht mehr wie gestern … Sie ging ins Badezimmer. Der Spiegel, dieser Feind. Zenaida hatte dunkle Ringe unter den Augen, trockene Lippen, Hängebrüste. Mit beiden Händen hob sie ihre birnenförmigen Brüste, presste sie zusammen wie jemand, der die Abzüge zweier Makaroff-Pistolen russischer Herstellung zieht, und zielte auf den Spiegel: Peng! Peng!
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ine konventionelle Frau sollte niemals zwei Vögel auf einmal abschießen. Camila Novac beging einen Fehler, als sie an ihrem Scheidungstag das Laster des Rauchens aufgab: «Auch wenn ich mich in ein Kriechtier verwandle, ich höre mit dem Rauchen auf», schwor sie in der Anwaltskanzlei und warf ihre Marlboro zum Fenster hinaus. Sie sah sie mehrere Stockwerke fallen, bis die Sonnenstrahlen sie blendeten. ‹Ich bin wirklich eine Idiotin›, dachte sie. Sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen tun sollte. Klatschen? Sie festbinden? Die Nagelhäute schneiden? Sich die Fingernägel gelb lackieren? Das Gehirn eines Seepferdchens sezieren, um zu begreifen, warum sie es nie müde wurden, unter Wasser zu laufen? Ihr Mann, der abservierte Max Mogan, legte den Finger in die Wunde, als er sagte, dass sie an diesem Morgen eine Stinklaune hätte. «Von den drei Dingen – einem bescheidenen Pferdewettenliebhaber wie mir, dem Rauchen wie ein Schornstein und der Notwendigkeit, im Zoo arbeiten zu müssen – bin ich am wenigsten gesundheitsschädigend», sagte er halb im Scherz und halb im Ernst. Camila war nicht mehr die Mutter, die sich hingebungsvoll der Erziehung ihrer drei Töchter widmete, auch nicht mehr die ausgeglichene Biologin, die mit fünfunddreißig Jahren eine akademische Laufbahn ersten Ranges vorweisen konnte, und selbstverständlich noch weniger die aufmerksame Ehefrau, die Max Mogan von seiner Junggesellenwohnung aus, die er im Kurbad Caracol Beach gemietet hatte, zu überhöhen begann. Die innere Unruhe brachte ihren Organismus durcheinander. Durch die Pfefferminzbonbons nahm sie ein paar unerträgliche Kilos zu. Die Willens-
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schwäche agierte wie ein Virus. Sie litt an Gastritis. Sie beklagte sich über alles und nichts. Wenn in der Zookantine lauwarme Suppe serviert wurde, beschwerte sie sich, wenn sie ihr heiß zurückgebracht wurde, beschwerte sie sich auch. Wenn die Stuhlanalysen des Büffels nicht rechtzeitig fertig waren, kreischte sie los; wenn das Labor hingegen seine Arbeit gut machte, misstraute sie dem Resultat. Ihre drei Töchter von neun, sieben und vier Jahren schlachteten ihr Sparschwein und schenkten ihr eine Packung Schokoladenzigaretten. Die Botschaft war deutlich: Sie zogen eine Mutter mit Lungenemphysem einer gesunden Protestlerin vor. Camila verwahrte das Präsent im Schrank und dachte, dass sie ihre Zornesausbrüche besser in eine andere Richtung lenken sollte. Zwei Wochen später ergriff sie in der Direktionsversammlung des Zoos das Wort und sagte außer anderen vernünftigen Dingen, dass ihr das Einsperren eines Mannes in einen Vogelkäfig als eine, um es milde auszudrücken, Gemeinheit erscheine. Sie war dagegen, seit ihre Kollegen die Möglichkeit diskutierten, den Park zu einem der bedeutendsten Zoologischen Gärten der Welt zu machen, indem sie einen Menschen ausstellten, was bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur David Garnett, ein Freund Virginia Woolfs, auf den Seiten seines großartigen, aber vergessenen Romans Der Mann im Zoo gewagt hatte. Camila riss die Diskussion über den Menschen als Ausstellungsstück schließlich an sich. Es war nicht einmal eine sonderlich neue Idee. Im alten Rom wurde auf dem Forum Morionum, einem der beliebtesten AbstrusitätenJahrmärkte des Imperiums, mit deformierten Menschen Handel betrieben. Selbst für sehr reiche Legionäre war es ein schwieriges Unterfangen, für ihre Sammlungen skurrilste Götzen, Wolfsmädchen, bärtige Frauen und weibliche Zwerge zu ersteigern, die bei privaten Orgien zur Er-
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bauung der Gäste herhalten mussten. Die Chinesen waren noch viel weiter gegangen. Um 900 unserer Zeitrechnung war es eine verbreitete Praxis, Kleinkinder in Gefäße mit engen Hälsen und beweglichem Boden zu stecken; ihre Köpfe blieben draußen, aber ihre Körper waren jahrelang zur Unbeweglichkeit verdammt; wenn sie dann volljährig und völlig verwachsen waren, wurden sie in einsamen Gegenden erst freigelassen und dann «eingefangen», um sie auf Sommerfesten versteigern zu lassen. Frederick Treves, ein junger Chirurg des Londoner Krankenhauses, überquerte an einem Morgen im Jahr 1883 Whitechapel Road und betrat das Gemüsegeschäft von Mr. Tom Norman, wo er zwei Pennys dafür bezahlte, beim Anblick des einundzwanzigjährigen Joseph Carey Merrick, eines «Humanoiden» mit Rüssel und Elefantenhaut, der in einem versteckten Winkel voller vergammelter Kohlköpfe Romane von Sir Walter Scott las, eine Gänsehaut zu bekommen. Monate später, als es dem «Elefantenmenschen» gelungen war, seinem Herrn davonzulaufen, ging Doktor Treves der Spur aus Hohn und Spott, denen jener ausgesetzt war, nach, bis er ihn nach langer Suche in Zirkussen, Zigeunerzelten und auf Straßenumzügen in einer baufälligen Lokomotive im Schweinekoben des Bahnhofs fand. Treves nahm ihn als ein weiteres Familienmitglied in seinem Haus auf. «In der ersten Nacht hat er die ganze Zeit geweint», erzählt der Chirurg. «Er war noch nie in einer Wohnung gewesen.» Dort begann sein Siegeszug. Schließlich kam ihn sogar die Prinzessin von Wales oft besuchen. Sie tranken zusammen Tee. Er verfügte jahrelang über eine Ehrenloge im Drury Lane Theatre, drei Logen von der Ihrer Majestät entfernt. Nach seinem Tod schreckte sein übergroßer, in Formol konservierter Kopf die Besucher des Londoner Krankenhauses noch immer. In den Jahren 1879 und 1935 organisierte der Basler Zoo auf der Grundlage einer zynischen
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Klassifizierung der Menschen nach ihrer Hautfarbe die so genannten «Völkerausstellungen». Professor Balthasar Staehelin von der Universität Berlin bestätigt, dass der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeck den Modellversuch organisierte und zu diesem Anlass vierzehn Nubier aus dem Nildelta auswählte. Mit Erfolg: In zwölf Tagen kamen neunundvierzigtausend Besucher. «Sonntags strömten die Besucher zu den Käfigen, um sich die modernen Wilden anzuschauen», berichtet Professor Staehelin. Senegalesen, Dinkas aus dem oberen Nilgebiet, Mahdikrieger aus dem Sudan, Kalmücken aus Sibirien und abessinische Prinzessinnen reisten in Karawanen von einem europäischen Zoo zum anderen. Am schlimmsten traf es die neunundsiebzig Mitglieder einer südafrikanischen Buschmannfamilie, die in einem Zoologischen Garten im süddeutschen Stuttgart vom Ersten Weltkrieg überrascht wurden, wo sie zwei Winter lang unter dem Feuer feindlicher Artillerien zubrachten und von barmherzigen Nonnen aus dem örtlichen Kloster versorgt wurden, weil der Affenaufseher den Schlüssel mit an die Front genommen hatte und weder ein Schlosser noch ein Einbrecher aufzutreiben war, der die Käfigschlösser knacken konnte. In den siebziger Jahren hatten die Zoologischen Gärten von Barcelona und Rio de Janeiro Schauspieler engagiert, um in den Käfigen avantgardistische Schauspiele vorzuführen, und von diesen Theaterabenteuern blieben zumindest ein paar erinnerungswürdige Passagen erhalten, die wiederum in «professionellere» Vorstellungen eingebaut wurden. Angesichts der Gleichgültigkeit ihrer Kollegen beschloss Camila, der Stiftungspräsidentin einen Bericht zu schicken, Vom Forum Morionum zur Villa Vizcaya: Geschichte einer beschämenden Teratologie. In einer Art Nachwort fügte sie eine Anekdote an, die ihr eine kolumbianische Freundin erzählt hatte. 1981 hatten die Wärter des Zoolo-
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gischen Gartens von Cali in der Eisbärenhöhle einen Nacheiferer von Ben Gunn festgenommen. Er war in vorgerücktem Alter, trug einen zwanzig Zentimeter langen Bart und abgerissene Kleider am Körper wie ein Schiffbrüchiger; beim Verhör stellte sich heraus, dass er über zwei Jahre in dem Park wie ein Pirat auf einer einsamen Insel gelebt hatte. Er war eines Nachmittags im Jahr 1979, als ihm wegen eines Diebstahls in einem Antiquitätengeschäft die Polizei auf den Fersen war, in die Zootoilette geflüchtet, und in jener ersten Nacht schlief er im Stall der nigerianischen Zebras. Dort fühlte er sich sicher: Nicht einmal die Hyänen verrieten ihn. Anfangs mischte er sich unters Publikum und verbrachte seine Tage damit, Brieftaschen zu stehlen. Er ernährte sich von Abfällen. Später lockerte der Wahnsinn eine Schraube bei ihm, er ging unaufhaltsam dem Abgrund entgegen, bis er schließlich jeglichen Bezug zur Realität verloren hatte. Dann konnte er Fähigkeiten des Cro-Magnon entwickeln: Er versteckte sich in den Zweigen der Zypressen oder in den Straußenhöhlen und angelte von den Krokodilsinseln aus Buntbarsche. Auf den Viehweiden wurden Überreste von Lagerfeuern, auf den öffentlichen Pissoirs Federn von Hühnervögeln und in den Telefonzellen ordentlich in Zeitungspapier gewickelte Scheißfladen gefunden, und niemand konnte sich erklären, wie es ihm monatelang gelungen war, die Sicherheitskontrollen auszutricksen. Genau wie Ben Gunn in der Schatzinsel zog dieser arme blinde Passagier ein primitives Leben den brutalen Bedingungen vor, die das moderne Leben im Austausch zu seinem einzigen Vergnügen bot: der vollkommenen Freiheit. Camila erhielt für ihren Bericht nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Juscelino Magalhaës sagte zu ihr, sie verwechsle eine Windmühle mit dem scheußlichen Schneemenschen Yeti: «Setz dich nicht für eine verlorene Sache ein. Die Quijotes
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enden in der Einsamkeit: Sie haben nicht immer einen Cervantes, der sich zu ihnen bekennt.» An jenem Abend zerschlug Camila beim familiären Abendessen drei Teller und bestrafte die Mädchen mit Fernsehverbot, eine ungerechte Strafe, denn sie hatten mit dem zerbrochenen Geschirr nichts zu tun. Max Mogan bemerkte, Gott habe den Menschen empfohlen, einander zu lieben. Er ließ keine Gelegenheit aus, die Taste der Scheidung oder der Wiedereroberung anzuschlagen, und das solcherart, dass sogar ein Bibelzitat zur Strategie wurde, um seine Rückkehr ins Haus zu erwirken: Er liebte seine Töchter und fand sich nicht damit ab, sie nur an den Wochenenden zu sehen. Er war ein schlechter Verlierer. Max Mogan wollte mehr. Er wollte, dass die Biologin reuevoll zu seinen Füßen sank. Camila konterte, dass Jesus nicht gezögert habe, die Händler, die den Tempel seines Vaters in eine Räuberhöhle verwandelten, auspeitschen zu lassen. Man musste sie gehört haben. Und ohne dass sie es nötig hatte, sich eine Marlboro anzünden. Darauf erwiderte Max Mogan, dass zwischen der Sixtinischen Kapelle und dem Wichtigtuer im Zoo von Santa Fe beträchtliche Unterschiede bestünden, und sie schickte ihn zum Teufel. «Gehen wir ein Weilchen auf die Rennbahn», schlug Max Mogan vor. «Doch nicht auf die Rennbahn, Papa!», rief Marcia, die Älteste. «Lieber ins Kino.» «Nein, in den Zoo», schlug Mildred, die Mittlere, vor. «Ich will ein Malzbier», sagte Malena, die Jüngste. Camila wollte sich ausruhen, aber es gelang ihr nicht. Ihr aufgestauter Zorn hatte ein solches Ausmaß angenommen, dass sie selbst José mit Misstrauen begegnete, weil er sich dazu hergegeben hatte, in dieser traurigen Komödie mitzuspielen. Sie musste jeden Morgen auf dem Weg zum Zoo-
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parkplatz am Käfig des Kubaners vorbeifahren, und manchmal hielt sie an und beobachtete ihn. Er war pedantisch. Vor Beginn eines neuen Arbeitstages rückte er die Korbsessel auf dem Kelim zurecht, sodass sie im rechten Winkel und gleichen Abstand zueinander standen, dann wischte er mit einem Tuch über Oscar Wildes Gesamtwerk und kehrte mit den Füßen das über Nacht herabgefallene Jacarandabuschlaub zusammen. Manchmal bat er den Angestellten um ein Räucherstäbchen zum Verbessern der Luft. Hatte er bei den ersten Begegnungen das Publikum noch schlecht behandelt und Anzeichen von Aufschneiderei erkennen lassen, so gab er sein prahlerisches Imponiergehabe bald auf und verhielt sich moderater. Selbst für die einfachsten Handlungen nahm er sich ausgiebig Zeit: Beim Zubinden der Schuhe, beispielsweise, fädelte er die Schnürsenkel sorgfältig Öse für Öse ein, bis er am Ende zwei gleich lange Enden hatte. Bei einer Gelegenheit sah ihn Camila einen Hemdenknopf annähen, und es war faszinierend, zu sehen, wie treffsicher die flinke Nadel in die Knopflöcher stach, ganz zu schweigen von dem leichten Biss, mit dem er den Faden durchtrennte, als er mit dem Nähen fertig war. Dieser Mann hatte sich zu einer allgemeinen Obsession entwickelt. Die Labortechniker redeten dauernd über ihn; in der Kantine beherrschte er die Tischgespräche. Auch in den Tageszeitungen und im Radio war er Thema Nummer eins. Man erzählte sich Witze und heitere Anekdoten. Jeder hatte eine andere These über Joses dunkle Vergangenheit, und obwohl sie sich bezüglich seiner Gefährlichkeit einig waren, blieb strittig, ob in seinem Fall möglicherweise ein ungerechtes Urteil gefällt worden war. Sollte man das Töten um der Verteidigung der Liebe willen als legitime Art der Selbstverteidigung betrachten? – wie es der Strafrechtler Spencer Lund in seinem in der Santa Fe Times abgedruckten Artikel Neue Beweisführun-
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gen zum Verständnis des Falles José González, des mutmaßlichen Meißelmörders behauptet hatte. Die Frage flatterte von Büro zu Büro. Auf der Suche nach einem Rat besuchte Camila ihre Mutter, Señora Caporella, vormals Señora Novac und schon bald Señora Filip, die gerade von einem Urlaub auf den Galapagosinseln zurückgekehrt war, und alle ihre Unklarheiten lösten sich bei diesem Artilleriefeuer von nackten Tatsachen in nichts auf: «Warum machst du dir’s so schwer, mein Kind? Du bist nicht verwirrt, sondern dick. Zuerst machst du eine Diät, dann melde ich dich beim Friseur an, und du lässt dir einen neuen Haarschnitt verpassen. Außerdem musst du in einem teuren Laden mit der American-Express-Karte deines Mannes einkaufen. Wenn du fünf Kilo abgenommen, dich ordentlich frisiert und modisch anzogen hast und dich noch immer verwirrt fühlst, dann bist du es wirklich. In deinen Adern fließt das Blut der Ayala», sagte sie auf der Terrasse ihrer Wohnung im dreißigsten Stockwerk über dem Meeresspiegel. Ayala war ihr Mädchenname gewesen, bis sie den Gynäkologen Isaak Novac heiratete. In zweiter Ehe angelte sie sich einen Zahnarzt, der ihr ein Vermögen hinterließ. Jetzt nannte sie sich Señora Caporella und wurde von einem plastischen Chirurgen tschechischer Abstammung umworben. Ihre Mutter war so liberal, dass sich Camila als Mädchen eine Reihe strenger Beschränkungen ausgedacht hatte, um unter ihren Schulkameradinnen nicht aufzufallen: «Tut mir Leid, aber Mama lässt mich nicht länger als bis neun ausgehen», sagte sie, als diese sie ins Kino einluden, oder: «Sie mag es nicht, wenn ich meine Freundinnen mit nach Hause bringe, ach, sie ist so hysterisch!» Die ältere Ayala kam wieder aufs Thema zurück: «Dass deine Großmutter väterlicherseits die ehrenvolle Begründerin einer Gesellschaft zum Schutz der Blauwale in den niederländischen Meeren
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gewesen ist, erklärt dein Interesse für Flöhe und Mikroben, rechtfertigt aber nicht, dass du weiter an den Esel Max Mogan denkst. Erzähl mir, wie es diesem José geht. Und die Leute, mögen sie ihn oder nicht?» Señora Caporella formulierte präzise Fragen. Mochten sie José oder nicht? Auf einmal war das Publikum auch verwirrt. Manche Besucher gingen teilnahmslos am Käfig des Mannes vorüber. Andere blieben stehen und warfen ihm spöttische Bemerkungen zu. Nach und nach weckte er mehr Interesse. Die Statistikabteilung verzeichnete eine aufsteigende Besucherkurve. Viele wollten vor dem Käfig fotografiert werden oder einen Aufkleber für ihre Autoscheiben haben. Trotz des offensichtlichen Erfolgs waren die Veterinäre besorgt: Der Kubaner schien an einer schweren Depression zu leiden. Die Psychiater empfahlen eine Behandlung mit Stimulatoren, aber die zeitigte nicht die gewünschten Resultate. José blieb weiter melancholisch und reagierte nicht auf die Lockrufe der Besucher. Er verweigerte das Essen. Der Schatten eines aggressiven Bartwuchses verdüsterte zunehmend sein Gesicht. Er verlor an Gewicht. Seine Kleider hingen an ihm herab und wirkten wie ausgeliehen. Er verbrachte Stunden in der Hocke, das Gesicht in den Händen verborgen, weit weg von dem Zirkus, der um ihn herum veranstaltet wurde. Erst an jenem Nachmittag, als ihm eine gutmütige alte Frau, Berta Sydenham, die Tageszeitung durch die Gitterstäbe zuwarf, begriff er, dass ihn jemand mochte. José fing sie im Flug auf. «Danke», sagte er lächelnd. «Ach, mein Sohn, ist doch nicht der Rede wert», antwortete Señora Sydenham. Camila beobachtete die Szene vom Auto aus. Sie war auf dem Heimweg. Ein Skinhead hielt ihr ein paar Flug-
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blätter vor die Nase. «Ausländer raus! Amerika den Amerikanern! Kubaner nein, Yankees ja!», lauteten die Überschriften. Camila wies die Flugblätter zurück und kurbelte das Fenster hoch. Die Räder rollten langsam über den mit Abfall übersäten Asphaltweg. Eine Schildkröte von der Insel Borbón überquerte die Straße: Sie war nicht sehr groß, wenn man bedenkt, dass diese Riesenschildkröten aus dem Indischen Ozean länger als einen Meter werden und um die dreihundert Kilo wiegen können. «Die Leute, mögen sie ihn oder nicht?», wiederholte Señora Caporella ihre Frage. Unter der Terrasse wartete die frivole, kosmopolitische Stadt Santa Fe auf die Antwort. «Nun ja, Mama», sagte Camila. «Das ist das einzig Wichtige.» Camila mochte es sich nicht eingestehen, aber sie empfand Mitleid mit dem Kubaner. Mitleid war ein beschämendes und verräterisches Gefühl für sie. Mitleid hatte sie ein paar falsche Schritte tun lassen. Eigentlich hatte sie Max Mogan aus Mitleid geheiratet, und aus Mitleid hatte sie ihren Töchtern vorgemacht, glücklich zu sein. Und jetzt machten ihr die Tücken des Mitleids wieder das Leben schwer. Die Biologin versuchte, im Durcheinander ihres Herzens Ordnung zu schaffen, und begriff in einem hellsichtigen Geistesblitz, dass es kein Mitleid, sondern ein unangemessenes Gefühl der Zärtlichkeit war, das sie für José empfand. Von diesem Augenblick an konnte sie sich aus dem quälenden Zwiespalt nicht mehr befreien. Die Verwirrung begann, sie auf kleiner Flamme zu verbrennen, auf diese Art werden Gelüste am besten gegart. Sie beschloss, zu José zu gehen: Schließlich war sie Wissenschaftlerin, begierig, die Geheimnisse dieser Welt zu erforschen, und sie musste fähig sein zu verzeihen, ge-
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nauso, wie der junge Frederick Treves dort, wo andere nur einen Elefanten sehen konnten, ein menschliches Wesen gefunden hatte. Der Österreicher Konrad Lorenz, Nobelpreisträger der Medizin und Vater der modernen Ethologie, hat nachgewiesen, dass viele hoch entwickelte, in Gemeinschaft lebende Tiere, in erster Linie Primaten, ihren Artgenossen die Aufmerksamkeit erweisen, ihnen die unerreichbaren Körperstellen zu säubern. «Die gegenseitige Fellpflege der großen Affen», bestätigt der Gelehrte, «dient weniger dem Zweck, Schmarotzer zu entfernen, die bei diesen Tieren kaum vorkommen, sondern besteht aus wichtigen Gefälligkeiten, wie Dornen herauszuziehen oder im Fell klebende kleine Schmutzansammlungen abzukratzen.» Der Orang-Utan rieb sich an den Gitterstäben seines Käfigs. Es wurde dunkel. Eine Autoschlange bahnte sich wie ein Heer verrückter Ameisen ihren Weg zum Ausgangsportal. Einige Autofahrer überholten unklugerweise und erreichten dadurch nur, dass die Spur verstopft wurde. Die Händler verkauften ihre letzten Süßigkeiten zum Großhandelspreis. Cuco geriet in Verzweiflung. Man könnte sagen, dass er litt. Zwei Wärter kümmerten sich um die Fußgänger. Makaken, Wollhaaraffen und Paviane verfolgten das Vorüberziehen der Menschenherde. Herren ehrwürdige Matronen Kleinkinder Genießer Spendable Neugierige Atomisten Intriganten Ränkeschmiede Wahrsagerinnen Lohnarbeiter Pantheisten Lehrlinge Wichtigtuer Flegel Hochstapler Verschwender Bettler Nörgler Fatzkes Gecken Kuppler Lackaffen Streithammel Pfandleiher Leibrentner Einfaltspinsel Faulpelze Durchblicker Säufer Blödmänner Herumtreiber Gauner Drückeberger Widerlinge Schüchterlinge Egoisten Lumpengesindel Hellseher Müßiggänger Verräter Einsiedler Bosse Prostituierte Halbgebildete Schlitzohren Fatalisten Schürzenjäger Pfaf-
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fen Volksaufwiegler Schurken Zugeknöpfte Schwachköpfe Meckerer Genossen Landsleute: Bürger oder Tiere? Bis sich die Nacht über den Zoo legte. Ein schwarzer Falter an der Wand. Camila schlenderte an den Jacarandabüschen vorbei auf Joses Käfig zu. «Cuco möchte, dass du ihm den Rücken kratzt», sagte sie wie beiläufig. «Ich bin Camila Novac, Biologin. Ich leite die bakteriologische Forschungsabteilung dieses Zoos.» «Und ich José.» «Ich kenne dich.» «Niemand kennt mich.» «Ich wollte wissen, wie es dir geht.» «Gut, ich meine, wie immer: eingesperrt und halb erfroren.» «Ja, es ist kalt. Aber die Nacht ist viel versprechend.» «Was verspricht sie?» «Der Himmel ist klar. Wir hatten einen schönen Sonnenuntergang.» «Ihr da draußen. Einen Meter weiter sieht alles ganz anders aus. Du lebst in der Stadt und ich im Dschungel. So ist das.» «Lies Oscar Wilde. Als die Stiftung Nueva Viña deinen Fall diskutierte, war ich nur mit dem Vorschlag einverstanden, dass du Oscar Wilde lesen solltest.» «Zeitverschwendung.» «Wilde war auch im Gefängnis.» «Wen hat er umgebracht?» «Niemanden. Sein Verbrechen war die Liebe», sagte Camila. «Das ist der Unterschied: Ich liebe niemanden», sagte José und drehte Camila den Rücken zu.
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«Kennst du Lord Alfred Douglas?» «Lord Alfred Douglas? Das Nilpferd?» «Früher oder später wirst du schon rausfinden, wer das ist.» «Ich bin kein Kriminalist. Ich würde dich ja bitten hereinzukommen, damit du mir von ihm erzählst. Aber leider haben sie mir den Schlüssel nicht gegeben.» «Kann ich dir irgendwie helfen?» José sah sie wieder an. Camila wandte den Blick ab. Die Augen des Kubaners glänzten. «Vielleicht. Ich brauche Eicheln für Phefé.» Phefé war das rote Eichhörnchen mit dem buschigen Schwanz, das José am Nachmittag seiner Ankunft im Zoo gesehen hatte. Das ausgesprochen zutrauliche Tier huschte an die sechs Male täglich durch den Käfig. Es schnupperte hier und dort und hüpfte herum. José hob ihm Essensreste auf. Freundschaft will genährt sein. Er würde schon lernen, die Zuschauer zu ignorieren und sich in den peinlichsten Situationen einigermaßen natürlich zu verhalten, sodass sein Arbeitstag schnell vorüberging. Nicht so die Nächte. José hasste die Stunde, zu der die Tore geschlossen wurden. Das intensive Grün der Vegetation färbte sich schwarz, bis auch die Pappeln verschwanden, das Büffelgehege mit der Landschaft verschmolz und selbst Cuco keine Angst mehr hatte, wenn er langsam und unaufhaltsam in einen Brunnen der Dunkelheit versank. Minute für Minute sah der Kubaner, wie sich der Zoo in einen Dschungel verwandelte. Draußen legte sich ein Lichterring um Santa Fe. Das Brüllen der fernen Löwen, das Gähnen der Nilpferde, das Lachen der Hyäne, die Seufzer der Pandas, der Gesang eines Pelikans und die Fürze des Orang-Utans bildeten zusammen mit den fernen Geräuschen der Stadt (dem Gewimmel der Autos, dem Surren
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der Flugzeuge, dem Bimmeln einer Glocke) einen wilden Chor, noch trauriger als die nächtlichen Adagios im Staatsgefängnis, wo bisweilen die Calypsos von Galo der Katze, die feierlichen Gebete des alten Gastón Placeres oder die Tangos irgendeines Diebes aus Buenos Aires zu hören gewesen waren. Nichts war zu vergleichen mit diesen Morgendämmerungen, wenn José vergeblich das Gesicht der kleinen Lulú zu erinnern versuchte und das Eichhörnchen ihm zum Preis einer Karotte Gesellschaft leistete. Das Bonobopaar vögelte mitten in seinem Käfig, drei Türen von dem Joses entfernt. Von dem Stöhnen der Kopulierenden angeregt, fand Cuco keine andere Erleichterung, als den wilden Schaft seines Gliedes an einer Melonenscheibe zu reiben, wobei er ein unübersetzbares Röcheln ausstieß. Erst wenn das Bonobomännchen erschöpft auf den Rücken des Bonoboweibchens sank, kehrte Cuco in seine Nische zurück. José blätterte in einem Buch von Oscar Wilde: «Ein Mensch kann vor der Gesellschaft schuldig werden, und diese Schuld kann ihn zur wahren Perfektion führen.» Bis zum endgültigen Tagesanbruch konnte er kein Auge zumachen, er fand wegen des Grillengezirpes und des Lärms eines wilden Festes keinen Schlaf. Der einzige Vogel, der es wagte, den nächtlichen Ozean in Richtung Löwengehege zu überqueren, war eine rätselhafte weiße Eule, die über die Jacarandabüsche glitt. Als es hell wurde, schlief der Kubaner endlich ein, was deswegen bedeutungsvoll ist, weil er seit seiner Einweisung in die Haftanstalt kaum ein halbes Dutzend immer wiederkehrender Träume hatte, die sich alle in den engsten Vorstellungsgrenzen bewegten: In diesem Traum sah er sich an Bord eines Passagierschiffes den Hafen von Havanna durchqueren. Der steinerne Christus auf dem Hügel wuchs ins Riesenhafte. Vier rauchende Schornsteine. Im
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verseuchten Wasser schwammen Ölflecken, aufgedunsene Hunde und Küchentöpfe. In Wirklichkeit war er nur ein Mal auf dem berühmten Schiff Casablanca gewesen, zu Reglas zwanzigstem Geburtstag, als er sich am Abhang des Meteorologischen Instituts verirrt hatte; jedenfalls hatte er sich vorgenommen, es zu vergessen, und das war ihm tatsächlich gelungen. Von einem unbestimmten Augenblick an ging die Traumreise im Kino Negrete in Havanna weiter, bei einer Vorführung von Der Tod eines Bürokraten, die Sperrsitzreihen waren alle mit Schulkameraden besetzt, die José seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen hatte, und alle waren genauso alt wie damals, nicht einen Tag älter, alle außer ihm, denn der José im Traum war derselbe Dreiunddreißigjährige, der im Käfig schlief, und seine Freunde lachten, sie lachten so sehr, dass auch er zur Leinwand schaute, genau bei der Sequenz mit der herrlichen Tortenschlacht vor den Friedhofstoren, und im Film sucht der erwachsene José seine Mutter, findet aber stattdessen Camila – merkwürdig, nicht wahr? Tomás Gutiérrez Alea hat diese Szene nie gedreht – und bittet sie um Eicheln für das Eichhörnchen. Ja, Eicheln. Und nach einem Schnitt ein weiterer unerhörter Augenblick, die Biologin küsst ihn auf den Mund, wie die Hauptdarsteller jenes Melodrams, das José gesehen hat, als er zum letzten Mal in einem Kino war, nur dass im Alptraum die Dschunke nicht im Golf von Tonkin, sondern in der Bucht von Havanna Schiffbruch erleidet und dass Camila mitten in der blutigen Tortenschlacht, die ihren Höhepunkt unter den Trauerweiden im Coral Park erreicht hat, spurlos verschwindet. José erwachte. Grillen, Heuschrecken. Der schnarchende Cuco. Eingehüllt in die geräuschvolle Stille der Stadt, eingeschläfert vom fernen Wechsel der Gezeiten, hörte José das Flattern der Eule, die auf dem Rückflug so rasant mit den Flügeln schlug, dass
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einer davon über das Dach fegte, worauf Funken aus Federn aufstoben, und er glaubte, dass der Vogel so schnell flog, um zu verschwinden, bevor die Sonne seine Albinoaugen blendete. Aber nein, sie war verletzt: Am Morgen hatte sie einer der Aufseher aus dem Teich gefischt, wo sie sich in den Seerosenblüten verheddert hatte. Ihr fehlte ein Auge. José rekapitulierte das Gelebte und das Geträumte und hatte den Verdacht, dass sich sein Leben komplizieren würde, und er ahnte auch, wodurch: durch den vom Leben selbst verbotenen Wunsch zu leben. Er erzählte Phefé davon. Als Antwort, mal vorausgesetzt, dass es eine war, streckte das Eichhörnchen die Vorderpfoten aus und schlug damit vor, ein Stück Ananas zu teilen. José nahm an. Der Arme. Die Ananas schmeckte nach Kuba. Welch ein Glück, dass es Lorenzo Lara gab.
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orenzo Laras Arbeit bestand darin, das Affenhaus vom Schimpansenkäfig bis zur Suite des Kubaners zu reinigen, wobei er das immer gefährliche Abenteuer bestehen musste, mit einer Schaufel die Kothaufen des Orang-Utans Cuco einzusammeln, was angesichts des jähzornigen Temperaments der anderen «Motelgäste» gewiss eine Eselsarbeit war. Zwischen der Schimpansin und dem Orang-Utan lebten sechs unermüdliche Affen aus Madagaskar, die wegen ihrer üblen Streiche gefürchtet waren, ein weißschwänziger Mantelaffe, ein gezähmter Wollhaaraffe und ein kleiner Gibbon, Feind des behäbigen Loris im Nachbarkäfig, seinerseits ewiger Verehrer eines Affenweibchens vom Peñón de Gibraltar, das die ganze Zeit einen ausgelassenen amerikanischen Tamarin neckte. Die Belegschaft bestand außerdem aus einem Kappengibbon, dem Bonobopärchen, einer fünfköpfigen, akrobatisch veranlagten Makakenfamilie, zwei faulen Pavianen und drei heiligen Affen aus Indien, die Anfang der achtziger Jahre in einem Film von Steven Spielberg mitgearbeitet hatten. Lorenzo war in Ciudad del Carmen, Campeche, geboren und sehr jung auf der Suche nach seinem Glück in den Norden gezogen, wo er vom Le Soleil D’Amberes, einem Filzlaus-Zirkus, engagiert wurde, der von Patagonien bis nach Kanada über den Kontinent zog. «All das, um als Sklave von vierundzwanzig abstoßenden Teufelchen zu enden», sagte Lorenzo an dem Abend, als er José sein Leben erzählte. Die Berufserfahrung im Zirkus war bereits am Tag seines Debüts zu Ende, als er einen an Sumpffieber erkrankten Akrobaten vertrat und es so schlecht machte, dass die Zuschauer zur Entschädigung das Zirkuszelt
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anzünden wollten. In dem kleinen Zoo von Santa Fe fand er, was seine Mitmenschen ihm verweigerten: die Möglichkeit, sich nützlich zu fühlen. Und sich nützlich fühlen sollte heißen Gutes tun. Oder erst einmal nicht absichtlich Schaden anzurichten. Gesagt, getan. Jahrelang schleppte Lorenzo jedes schutzlose Tier, das er irgendwo gefunden hatte, in sein Dachzimmerchen, bis die Hausverwalter ihm mitteilten, dass das Gebäude weder eine Arche Noah noch eine Herberge für schwangere Ratten sei, und ihm ein Ultimatum stellten: Entweder brachte er seine kränkelnden Pekinesen ins Städtische Tierheim und verkaufte augenblicklich die Kaninchen und Wasserschildkröten, die sich wie politische Exilanten auf der Terrasse zusammenquetschten, oder die Gesundheitsbehörde würde ihn ins Gefängnis befördern. Der einzige Überlebende jener altruistischen Etappe war ein streunender Kater, der bei einem Ehrenkampf sein rechtes Auge verloren hatte. Nach über vierzig Jahren fern von Ciudad del Carmen ließ sich Lorenzos Leben mit wenigen Pinselstrichen zeichnen: ein sechzehn Quadratmeter großes Zimmer, ein paar geschwätzige Makaken, eine Kunsthandwerksammlung und anhaltende Langeweile. Die Dämonen entschädigen für das, was die Götter nehmen. Montags haben Zoologische Gärten, Museen und Edelbordelle Ruhetag, was den Alltag der Männer erschwert, die dafür bezahlen müssen, das Schwert wegzustecken; jeden vierten oder fünften Montag spazierte Lorenzo zu den Eisenbahnbordellen, wo sein erbärmlicher Lohn das Doppelte wert war, denn an diesem Tag verlangten die orientalischen Mädchen nur die Hälfte. Von Dienstag bis Freitag ließ er sich von der Ebbe der Trägheit hinwegtragen, ohne mit spontanen Ideen aus der Alltagsroutine auszubrechen, was gewöhnlich ziemlich schlecht ausging. Samstags wusch er im Spülbecken auf der Dachter-
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rasse die Wäsche, kaufte für die kommende Woche ein und versorgte sich für Sonntag mit Chilis, denn an den Sonntagen gestattete er sich den Luxus, das heimatliche Pfefferfleisch mit Avocadocreme zu speisen. Die kleine Welt des Campechaners, sein «Taschenzoo», wurde von zwei Überraschungen aus dem Gleichgewicht gebracht: einer Kubanerin, Zenaida Fagés, die im Stockwerk unter ihm einzog, und der achtzigjährigen, verwitweten Señora Kropotkina im Nachbarhaus gegenüber, adelig von Geburt und arm im Grab, Freundin von Igor Strawinsky und Verehrerin von Vladimir Nabokov, die beschlossen hatte, sich einen lebenslangen Wunsch zu erfüllen: Klavier spielen zu lernen. Lorenzo fühlte sich von Zenaidas wiederholtem unverhofften Auftauchen und den arthritischen Tonleitern der Russin, die wie Gartenvögel aus der Ferne Gesellschaft leisteten, bedrängt. Die Fauna der Nachbarschaft wurde bereichert vom Hausmeister des Gebäudes, einem New Yorker, dem Zenaida den Spitznamen «Laurent die Kuh» gab, weil er den Tag damit zubrachte, auf der Pritsche der Pförtnerloge zu liegen und Marihuanablätter zu kauen, dem Homöopathen Sandalio Baeza, einem großartigen Katalanen, und Pavel Sulja, einem schweigsamen Skandinavier, der so lang und elegant war, dass er wie eine in einen scharlachroten Mantel gehüllte Giraffe wirkte. Lorenzo hatte wenig Schrullen. Eine davon war sein Schnurrbart – wenn man diesen Stoppelacker vereinzelt sprießender Härchen so nennen konnte. Nach dem Duschen hüllte er sich in einen schäbigen Bademantel und legte ein altes Rasiermesser, das seinem Vater gehört hatte, auf das Waschbecken, wischte den beschlagenen Spiegel ab und fing an, wie jemand, der Rasen mäht, den Schnurrbart zu stutzen; zwölf Minuten lang war sein Gesicht der Gnade des Stahls, der Stahl der Hand und die Hand dem seidenen Faden der Nerven ausgeliefert. Er
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hielt die Luft an. Das Jäten konnte als erfolgreich betrachtet werden, wenn sich ein Zentimeter unterhalb der Nase zwei absolut symmetrische Streifen Flaum abzeichneten. «Du siehst aus wie ein Bandit aus dem Stummfilm», sagte Zenaida. Der Campechaner brummelte. So viel Einsamkeit hatte nicht verhindern können, dass er mit vierundfünfzig Jahren noch immer ein liebenswürdiger Mann war. Die Götter entschädigen für das, was die Dämonen nehmen. Lorenzo lernte José am ersten Ausstellungstag kennen, als er eine Stunde vor Öffnung des Zoos das Affenhaus fegte. Die für die Umgestaltung des Käfigs zuständigen Architekten hatten seine Vorschläge ignoriert, nicht so die Maurer, die einige Skizzen des Plans verändert hatten. Der Campechaner hatte Recht, als er ihnen sagte, dass abends ein frischer Wind aus Süden wehe und dieser Raum acht Stunden lang nach Urin röche, wenn sie die Türen und Fenster nicht umlegen würden. Cuco war ein aggressiver Orang-Utan, weshalb es sich empfahl, die Schlafzimmerwand zuzumauern, damit der Bewohner vor den Exkrementengranaten geschützt wäre. Lorenzo hatte im Zirkus gelebt und betrachtete sich als Experte in Sachen «Sanitäre Anlagen von Zirkuswagen»; dank seiner Anregungen passten die drei von den Dekorateuren vorgesehenen Gegenstände in den Raum, und es war sogar noch genügend Wandfläche übrig, um das ursprüngliche Waschbecken gegen ein breiteres aus thailändischem Porzellan auszutauschen. An diesem Dienstag trug der Campechaner vorschriftsmäßig den Overall mit Goldbordüre und war mit so vielen Kratzeisen, Besen, Scheuerbürsten, Eimern, Näpfen, Wohlgerüchen, Schaufeln und Putzlappen beladen, dass er wie ein Müllkarren wirkte. Der Kubaner saß in der Hocke. Ein Pirol putzte unter einem Jacarandabusch sein Gefieder. Cuco wiegte sich auf seiner Schaukel. Ein Furz.
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«Menschen und Tiere gewöhnen sich schnell ans Unglück», sagte der Campechaner. «Stimmt’s, Cuco? Schau dir die Schimpansin im übernächsten Käfig an. Oder den Wollhaaraffen. Er war Musiker. Du weißt bestimmt auch nichts über den Leoparden …» «Nein, interessiert mich auch nicht», sagte José. «Meine geliebten Ziegen Silvia und Marijó sind pathologische Fälle. Sie hauen immer ab. Im Gehege gibt’s ungefähr zwölf Ziegen, aber nur die beiden machen ständig Ärger. Ich hab den Zaun eine Million Male flicken müssen. Kein Gott kann diese kleinen Viecher aufhalten.» «Und was geht mich das an?» «Heb bitte die Füße. Ach ja, ich habe gehört, dass dich ein florentinisches Restaurant zeit deines Lebens mit Essen versorgen wird. Das hat was, im Zoo zu leben. Sie werden dir auch noch eine Partnerin suchen, du wirst schon sehen. Danke für das Füßeheben.» «Aber wenn sie die Türen offen lassen, hauen die Tiere ab.» «Ach was. Wie Silvia und Marijó. Als ich sie kürzlich fand, legten sie sich gerade mit dem Kaiman an. Die kleinen Ziegen drohten mit ihren Hörnern und scharrten auf der Erde, um die Krallen zu schärfen. Der Kaiman beobachtete sie von der Seite. Er dachte sich bestimmt: Was ist bloß mit den Kälbern los? Silvia und Marijó sind so klein, dass sie sich in den Augen der Echse spiegelten.» «Niemand hält es in vier Wänden aus.» «Freiheit ist der Traum des Tigers, Genosse.» «Nenn mich nicht Genosse. Du quatschst zu viel.» «Du irrst dich. Mein einziger Zuhörer ist ein Kater namens Pariente. Katzen verstehen Russisch, sagt Señora Kropotkina.»
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«Lass mich in Ruhe. Ich will niemanden sehen. Ich bin mir selbst genug.» «Tut mir Leid, ist meine Arbeit. Von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Hier wird es dir schwer fallen, niemanden zu sehen. Weißt du, das hier war der Käfig eines jähzornigen Gorillaweibchens. Nicht einmal Cuco hat sie ertragen. Man musste sie einschläfern. Das Schlafzimmer ist gut geworden. Am Ende habe ich doch erreicht, dass die Maurer auf mich gehört haben. Vorher war der Kamin auf der anderen Seite. Niemand ist sich selbst genug.» «Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Blödmann bist?» «Ach, ich kann dir sagen.» Ein schwarzer Falter an der Wand. José hatte den Eindruck, die Luft dieses strahlenden Morgens mit Händen greifen zu können. Das Licht war flüssig. Seit seinen Kindheitstagen im Atarés-Viertel hatte er nicht mehr diesen Eindruck gehabt, dass sich die kleinen und großen Dinge dieser Welt, die nachts verschwinden, im Morgengrauen wieder beleben. Ein Leguan. Unterdrückung hatte für die Häftlinge wenigstens einen Vorteil: Sie ließ sie an nichts weiter denken außer essen und überleben, überleben und vergessen, vergessen und essen, die einzigen konjugierbaren Verben in einem Gefängnis. «Wir Menschen gewöhnen uns schnell ans Unglück.» Das wissen die Gefängnisdirektoren und Tyrannen, die sich einander in vielem ähneln, sehr gut. Deshalb unterstellen, sagen und proklamieren sie ständig, dass sie Recht haben. Und dann drehen sie die Schraube enger. Sie setzen die Grenzen: vier Wände. Je weniger du weißt, was auf der anderen Seite der Mauer geschieht, desto besser, besser für sie, die Chefs, denn so klagen die Insassen nicht so viel, träumen nicht, konspirieren nicht. Sie essen, über-
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leben und vergessen: das sind die drei Gebote der Unterdrückung. Der Leguan bewegte sich langsam. Der schwarze Falter flog auf und setzte sich in den Baum des Leguans. Auch wenn José es sich, aus Überheblichkeit vielleicht, nicht eingestand, vermisste er doch die Rituale der Haftanstalt, die dreißigminütigen Spaziergänge in der Mittagssonne, die Diskussionen zwischen dem metaphorischen Yoruba Gastón Placeres und dem erbarmungslosen Realisten Ruy dem Doktor. Gefängnisse sind Inseln. An diesem Dienstagmorgen fragte sich José, ob er die Probe bestehen würde, von so vielen Hoffnungen umgeben leben zu können. Wie wunderbar war der Tau, wie sanft die Brise, was für eine seltsame Angst vor der Freiheit. Die Jacarandabüsche sind frei, auch wenn sie im Boden verankert sind. Der Stein, auf den ein Spaziergänger tritt, ist auch frei. Der Leguan verschlang den Falter. «Dauert es noch lange?», fragte der Kubaner. Lorenzo hängte sich drei Kübel an den Unterarm. «Sie werden gleich das Publikum einlassen. Um zehn. Draußen stehen sie Schlange. Ich habe nie begriffen, warum sie es so eilig haben, es fährt ihnen doch kein Zug davon.» «Und was wird von mir erwartet?» Lorenzo stützte sich auf den Besenstil. «Dass du dich wie ein Mensch verhältst», antwortete er. Der Dienstag verlief besser, als José es sich vorgestellt hatte. Der Kubaner hatte sich herausgeputzt. Der Anzug – olivgrün, damit er sich in die Naturlandschaft einfügte – war bequem. Das Hemd hingegen spannte an den Schultern. Juscelino Magalhaës hatte angeordnet, dass er sich die karmesinrote Krawatte umbinden sollte, die Peggy Olmedo für den Anlass in einem französischen Herrenwäschegeschäft gekauft hatte, aber der Häftling hatte in drei-
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unddreißig Jahren drei oder vier Mal eine Krawatte gebunden und war nicht bereit, mit diesem schwierigen Knoten zu kämpfen, sosehr sich der Mexikaner auch erbot, ihm zu zeigen, wie man sich «den Strick anlegte», ohne sich dabei zu strangulieren. «Wenn sie dir gefällt, schenke ich sie dir», sagte José. Ein paar Minuten nach Einlass kam der erste Besucher näher, aber nur, um ihn zu fragen, wo die armenischen Pferde seien. Er war riesig, hatte eine Glatze und Kinderfüße. Der Campechaner streckte den Kopf aus Cucos Käfig heraus. Da wurde der Dicke auf das Schild Homo sapiens sapiens aufmerksam. «Was für ein Blödsinn! Der Begriff ist unzulänglich. Nur die Philosophie kann die Zweifel der Anthropologie aufklären. Wer von Ihnen ist González?» José und Lorenzo sahen sich an. Die beiden befanden sich in nebeneinander liegenden Käfigen, von der Gesellschaft durch eine Reihe eiserner Gitterstäbe getrennt. «Sie sehen verwandt aus.» «Ich bin González», sagte José. «Wir alle sind González», warf Lorenzo ein. «Genug geredet. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zu den Pferdeställen.» «Einverstanden», antwortete der Besucher. Beim Gehen schwankte er wie ein Matrose an Deck eines Schiffes hin und her. Neben ihm imitierte Lorenzo den wiegenden Gang. «Sie sind nicht aus dieser Gegend, nicht wahr?» «Ich bin Puertoricaner.» «Sieh mal an», sagte Lorenzo. Der Morgen ging wie im Flug vorüber, und im Nu war die Hürde des Mittags genommen. Von zwei Uhr an begannen sich die Sekunden in die Länge zu ziehen. Eine
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Stunde vor Schließung des Zoos sah José ein mongoloides Mädchen weinend durch die Jacarandabüsche näher kommen. Sie dürfte um die achtzehn Jahre alt gewesen sein, obwohl das Alter bei Menschen mit Downsyndrom schwer zu schätzen ist. Der Rotz lief ihr aus der Nase. Sie trug einen Matrosenanzug, der mit Marmelade beschmiert war. Um ein mögliches Zusammentreffen zu verhindern – das jedoch unvermeidlich schien und es tatsächlich auch war – , verschanzte sich José hinter den Korbsesseln. Das Mädchen kam an den Käfig und erzählte ihm heftig schluchzend, dass ihre Eltern sie verlassen hätten. «Helfen Sie mir», flehte sie. José antwortete nicht, als er aber hörte, wie sie völlig schwachsinnig mit der Stirn an die Eisenstäbe schlug, kam er hinter der Barrikade hervor und warf ihr ein paar handfeste Schimpftiraden an den Kopf, die das Mädchen als Aufforderung zum Spielen auffasste. Ihr Lachen klang gastritisch, wie aus dem Magen, gezwungen. Dieses Gelächter ging José auf die Nerven. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er brüllte: «Hau ab, Schlitzauge. Und weine nicht. Du machst mir nur Schwierigkeiten, verdammt. Ich mag keine Kinder, hörst du, ich mag sie nicht. Ich werde dich in Cucos Käfig stecken, dann lernst du schon, was gut ist», drohte er ihr. Seine Worte machten auf dieses runde Gesicht keinen Eindruck. Wenige Minuten später tauchten die sichtlich besorgten Eltern auf, aber als sie das Mädchen vor dem Käfig sitzen und mit gespreiztem Finger vor dem Mund, um ihre Zahnlücken zu verbergen, aus vollem Hals lachen sahen, atmeten sie erleichtert auf, was sich nur mit dem Gefühl der Leere vergleichen lässt, das Überraschung oder Dankbarkeit hinterlassen. Die Mutter umarmte das Mädchen. Der Vater streckte José die Hand hin. «Sie sind ein großartiger Mensch», sagte er. In seiner hohlen Handfläche befand sich eine Hundertdollarnote. «Gib ihm einen Kuss,
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Esperanza», sagte die Mutter. «Er ist dein Freund.» José presste seine Wange ans Gitter. Es war ein Nasenstubser. Aufs Geratewohl. Als die Familie aufbrach, drehte sich das mongoloide Mädchen noch einmal um und streckte ihm die Zunge heraus. Der Kubaner schürzte die Lippen wie ein Affe, und seine Zunge erwiderte ihr die Höflichkeit. Das war erst der Anfang. Schon bald eroberte Joses Ruhm andere Landesteile. Ein ortsansässiger Designer, Tigran Androsian alias der Schreckliche, spendete eine «Hauskollektion», damit der Kubaner in dieser modernen Vitrine seine Seidenkimonos vorführen konnte, und ein florentinisches Restaurant erklärte sich bereit, ihn ein Leben lang zu verköstigen, so sicher waren sich dessen Aktionäre, dass das Lokal weiterhin so beliebt bei den Kunden sein würde. Zur Mittagszeit hob ein rothaariger Koch namens Guido Golgi vor aller Augen den Deckel von einem dampfenden Tablett mit gratinierter Pasta und verkündete lauthals die Rezepte der italienischen Küche: Gnocchis Parmentier oder Tagliatelle in Estragonsoße, beispielsweise. Universitätsprofessoren, Pazifisten, Gläubige, Menschenrechtsvertreter, Schreiberlinge des Pen Clubs, Schwätzer der Tierschutzvereine, Mitglieder wichtiger Umweltverbände, Anwälte von Amnesty International, Ministranten aus dem Vatikan, hohe Würdenträger vom Internationalen Roten Kreuz, Herren vom Malteserorden, Linke, Rechte und sogar Geisteswissenschaftler sprachen sich zustimmend oder ablehnend aus. Die Feministinnen bliesen die Protesttrompeten am lautesten und machten den Fall zu einer Kampfparole: Warum sollte ein Mann und nicht eine Frau den Menschen repräsentieren? Ausländerfeindliche Gruppen hatten lapidare Drohungen auf die Zoomauern geschmiert. Die Skinheads gingen noch weiter und verteilten Schmähschriften, in denen die De-
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portation der «verfluchten Ausländer» verlangt wurde. Doktor Magalhaës blieb standhaft, obwohl die Trupps der Kosakenwächter verstärkt wurden. Man könnte sagen, dass der Mensch zum ersten Mal den Menschen sah. Die Schulen führten ihre Klassen ins Affenhaus, damit sie von nahem das einzige Tier, das lacht, das einzige Tier, das träumt, das einzige Tier, das weint, kennen lernten. «Das einzige Tier, das zweimal über denselben Stein stolpert. Seht ihn euch genau an. Der Mensch ist ein mit Intelligenz und artikulierter Sprache ausgestattetes Primatensäugetier und zeichnet sich durch sein voluminöses Gehirn, das Gewicht der Hirnmasse und seine aufrechte Haltung aus», versicherte Peggy Olmedo den Schülern. «Zur Zeit werden vier große Gruppen von Rassen unterschieden. Der Melanoderme oder Schwarze, der Xanthoderme oder Gelbe, die primitive Rasse und zuletzt der Leukoderme oder Weiße, der wiederum aus unterschiedlichen Ethnien, unter anderem der nordischen und der dinarischen, zusammengesetzt ist. Ciao, José!» «Erzähl den Burschen doch nicht solche Sachen, Peggy.» «Geht nicht zu dicht ran. Er ist sehr aggressiv.» «Gnocchis Parmentier», verkündete Guido Golgi. «Sie schälen Kartoffeln, kochen sie in Salzwasser, gießen sie ab und stampfen sie zu Püree. Dann geben Sie dreißig Gramm Butter, zwei Eier, Salz, Pfeffer und Muskatnuss hinzu.» Die Santa Fe Times brachte ein ausführliches Interview mit Regla, und ihre Äußerungen waren das Gesprächsthema von Politikern, gewöhnlichen Häftlingen und Hausfrauen. Die Kubanerin stellte von der ersten Frage an klar, dass sie die Krallen geschärft hatte: «Die heilige Barbara beschütze meinen Bruder und ich unterstütze die Heilige.
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Ich habe immer gesagt, dass er einmal ein wichtiger Mann sein wird. Jetzt ist er es.» In jenen Tagen bekam José außergewöhnlichen Besuch. Lorenzo hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Delphinshow beim jungen Publikum lebhaftes Interesse hervorrief, wodurch das Affenhaus in der letzten Stunde vor Feierabend an die zweite Stelle rückte. Die Schimpansin vertrieb sich die Zeit mit Läuseknacken. Cuco ruhte nach einer ganzen Reihe drolliger Streiche auf seiner Schaukel aus. Der Kubaner putzte sich gerade die Zähne, als er eine Stimme seinen Namen rufen hörte. Er streckte den Kopf hinaus und sah eine Frau in einem Leinenkostüm, die einen Florentinerhut trug. Sie war nicht schön, aber wenn sie lächelte, erstrahlte ihr Gesicht. «Alle sind zur Delphinshow gegangen. Es heißt, das sei ein Erlebnis. Warten Sie, ich ziehe mir einen Kimono über», sagte José. «Hallo. Erinnerst du dich an mich?», fragte die Frau. José sah sie prüfend an und band den Kimonogürtel zu. «Kennen wir uns?», fragte er. «Bist du eine Vertreterin der feministischen Gruppe da draußen? Mir wurde gesagt, sie seien ziemlich wild.» «Wie wenig du die Frauen kennst. Wild ja, aber sehe ich etwa wie eine Feministin aus?» «Überhaupt nicht. Jetzt weiß ich: Du bist von einer Versicherungsgesellschaft. Nein. Du willst mir eine Bibel verkaufen.» «Kalt! Kalt …» «Astrologin? Im Ernst, was machst du?» «Was ich mache?», wiederholte sie und schwenkte den Florentinerhut. Der Hut flog mit einem Pfeifgeräusch durch die Gitterstäbe in den Nachbarkäfig und landete wie
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ein Schmetterling auf Cucos Pranken. Der Orang-Utan beschnüffelte den Schatz. «Affentheater. Das mache ich. Nein, das stimmt nicht. Ich war neugierig. Nennen wir es weibliche Neugier. Du siehst richtig gut aus, trotz des Kimonos. Gestern Abend haben sie im Fernsehen einen Bericht über dich gebracht. Du bist berühmt. Deine Schwester haben sie auch interviewt. Regla, nicht wahr? Sie erzählte das mit dem Floß, dem Unwetter, den Haien. Stimmt es, dass du ihr das Leben gerettet hast?» «Regla übertreibt. Das war Perucho», sagte José. Es bewegte sich kein Blatt. «Ich bin nur ein Krimineller.» «Ich weiß, dass das nicht stimmt.» «Und warum bist du dir so sicher?» Die Frau blähte ihre Wangen auf und pustete die Antwort wie Heißluft aus. «Weil man aus Schicksalsschlägen lernt», sagte sie prustend. «Wie heißt du? Das Mädchen mit dem Florentinerhut?» «Du vergibst gerne Namen, nicht wahr? Was in einer so vorgeht. Seit Wochen überlege ich: Gehe ich, gehe ich nicht, gehe ich, gehe ich nicht, gehe ich …» «Und schließlich bist du gekommen», unterbrach José. «Und jetzt muss ich wieder gehen, Kubaner. Mein Mann hat an der Autobahn nach Caracol Beach ein Lokal eröffnet. Ich bin Chefin, Buchhalterin, Tellerwäscherin, Kapitän und Kellnerin im Bizcocho Coffee Shop. Ehrlich. Ich mache köstliche Hamburger. Mit Pommes frites.» «Ich würde einen Arm für Pommes frites hergeben.» «Ich werde dir eine Riesentüte vorbeibringen. Es war mir ein Vergnügen, dich getroffen zu haben.» Als sie das mit der Chefin sagte, hatte sie José bereits den Rücken zugewandt, das mit den Pommes frites versprach sie vor dem
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Käfig des Wollhaaraffen. Und dann lief sie los. Sie wollte jugendlichen Schwung vortäuschen und stolperte über die eigenen Füße. Weinend fiel sie hin. Lorenzo sah sie aufstehen. «José, wusstest du, dass ein Aal zum Laichen an einem sicheren Ort zweitausendsiebenhundert Meilen unter Wasser zurücklegt, von der Sargassosee bis zu den Flüssen Frankreichs?», fragte Lorenzo, als er den Käfig des Kubaners betrat. Der las eine Zeitschrift. «Das nenn ich Ausdauer. Glückwunsch! Hübsche Alte. Wir machen Fortschritte.» «Von welcher Alten redest du?» «Von der, die dich besucht hat. Sie wirkte nervös.» «Ich habe Pech gehabt», sagte José, aber Lorenzo gab vor, nicht verstanden zu haben. Er stopfte die Zeitschrift in die hintere Hosentasche seines Overalls. «Kann ich mal dein Klo benutzen, Genosse?», fragte er. Hinter den Gebäuden ging die Sonne unter. Die Pferde wieherten in ihren Ställen und die Frösche quakten eine beunruhigende Serenade. Villa Vizcaya färbte sich rot: In den Käfigen der einheimischen Vögel wurden zwei Heuschreckenschwärme munter, sie stiegen flink in zugespitzter Formation auf und wirbelten das trockene Laub auf dem Boden auf. Ein Schwarm drehte in Richtung Kinderspielplatz ab, der andere, kräftigere schwirrte kreuz und quer umher und stärkte sich am Ungeziefer aus den Jacarandabüschen. José zog den Kimonogürtel fester und ging, beeindruckt vom Ingrimm der Natur, näher an die Gitterstäbe. Das Eichhörnchen Phefé flitzte in Lichtgeschwindigkeit, wie ein Pfeil, wie ein Hirsch auf der Flucht vor einem Tiger, zwei Viertelmeilen vor dem Insektentrichter her, bis es ihm gelang, ins Reich der Bonoboaffen zu hüpfen. Die Windspulen lösten sich in Rauchfasern auf; Sekunden später begann
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ein Manna aus lila Blütenblättern, Käfern und Tokororofedern über die Klammeraffenkäfige herabzuschneien. Die Schimpansin klingelte euphorisch, wenn mir diese literarische Freiheit erlaubt ist, und schien auf Senegalesisch zu singen. Von Zelle zu Zelle, immer an der Wand entlang, gelangte Phefé schließlich in die Arme des Kubaners. Es schwitzte. Schwitzen Eichhörnchen? «Gevatter Cuco, diese Welt ist völlig verrückt!», sagte José. Der Orang-Utan schien zuzustimmen, war allerdings damit beschäftigt, herauszufinden, nach welcher Frucht der Florentinerhut der Tellerwäscherin aus dem Bizcocho Coffee Shop schmeckte. Lorenzo kam vom Klo zurück. Er hatte einen Urinfleck auf dem Overall. «Nicht nuckeln!», sagte er beim Anblick der Szene, die eher aus einer schlechten Erzählung Oscar Wildes denn aus dem Leben, dem realen, unserem, zu sein schien, und zu allem Überfluss hatte er niemanden, der sie bezeugen konnte: José war von einer Schicht aus gelben Blättern und Jungadlerfedern überzogen und ließ, in einem dunkelvioletten Meer aus Abfall badend, das Eichhörnchen an seinem rechten Ohrläppchen nuckeln – und Phefés wiederholtes Niesen oder sein Speichel oder seine spitzen Zähnchen fühlten sich so angenehm an, dass er – José, natürlich – vor Lachen weinen musste. ‹Das wirst du mir nicht glauben, Pariente›, dachte Lorenzo. ‹Ich vergesse es besser.›
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ine komische und eine tragische Szene verbinden sich manchmal so willkürlich, dass nicht einmal der Teufel dazu fähig ist, die folgenden tragischen Verknüpfungen vorauszusehen. Wer den Faden (von Anfang bis Ende) verfolgt, wird entdecken, dass jeder dramatische Ausgang seinen Ursprung in einer ganz schlichten, vielleicht zu schlichten, Handlung haben kann. Ein Beispiel: Um sieben Uhr abends gewinnt ein Katalane bei einer Wette eine Flasche Whisky; um acht füttert ein sechs Fuß großer und vier Zoll breiter Mann in einem Lüftungsschacht des Gebäudes einen Trupp diebischer Katzen mit drei Pfund Stockfisch; um halb eins drängt José González Lorenzo Lara an die Gitterstäbe. Und das alles wegen Pavel Suljas Verbitterung, denn an den Wochenenden, an denen er es schaffte, sich nicht zu betrinken, fasste sich der lange Skandinavier ein Herz, um das schwierige Rätsel seines Lebens zu lösen, in dem immer wesentliche Teile fehlten; erst dann nahm er unbefangen Aufgaben in Angriff, die ihn vor seiner Alkoholkrankheit mit gewisser Befriedigung erfüllt hatten, wie etwa Sandalio Baeza zu einer Canastapartie herauszufordern, den Schweden Peter Landelius zu lesen oder unter den Nachbarkatzen Fischfilets zu verteilen. Diese heimlichen, feierlichen Manöver erinnerten ihn daran, dass er einmal der König der Könige an der New Yorker Börse gewesen war und bei mehr als einer Gelegenheit den Ton angegeben hatte, genau die Dosis an Entzauberung, die sein lauernder Leviathan brauchte, um ihn dazu zu nötigen, eine Feldflasche Wodka zu trinken und damit die Flamme seiner abgrundtiefen Verzweiflung neu zu entfachen. Pavel war anfangs der Besitzer des Ge-
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bäudes gewesen, aber es heißt, dass er es nach einem gescheiterten Bankgeschäft seinen Gläubigern abtreten musste; seit 1994 wohnte er umgeben von Kredenzen und Lehnstühlen, die er aus seinen Pfändungen retten konnte, in einem Dienstbotenzimmer. Jeden zweiten Sonntag im Monat sah man ihn einen Karren voller alter Möbel hinter sich herziehen, um die Ladung auf irgendeinem Flohmarkt zu verkaufen. Niemand vermochte ihm ein klares Wort zu entlocken, weder Lorenzo, der es unzählige Male an seinen nüchternen Samstagen versucht hatte, noch Zenaida, die ihm Affen malte, um zu einem Sonderpreis nicaraguanischen Rum zu erstehen, obwohl Pavel nicht stumm war, denn wenn er betrunken war, ertappte sein Hausarzt Sandalio Baeza ihn oft bei gelallten Klageliedern. An diesem Samstagnachmittag hatte sich zu dem Trupp streunender Katzen eine rollige Siamkatze gesellt, bestimmt aus einem kleinbürgerlichen Haushalt ausgerissen, denn sie trug ein edles Halsband, und ihre bloße Anwesenheit verursachte unter dem Vordach sofort eine Revolution. Pariente wollte mutig seine unantastbaren Revierrechte verteidigen, aber zu seinem Pech sah er sich einem abessinischen Räuber als Gegner gegenüber, einem echten Bonsai von einem Leoparden, und in kürzerer Zeit, als es kostet, davon zu erzählen, hätte er fast sein gesundes Auge verloren. Sandalio las ihn so übel zugerichtet im Treppenhaus auf, dass es nichts half, ihm nur ein bisschen Jod aufzutragen, bei solch schweren Wunden konnte er mit seinen homöopathischen Wundsalben nichts ausrichten. Das Augenlid war halb abgerissen. Unter diesen Umständen musste Lorenzo Lara Pariente in die Zooklinik bringen. «Der muss sich mit einem Tiger angelegt haben», sagte der Dienst habende Tierarzt, als er ihm erste Hilfe leistete. «Ich werde ihn ein paar Tage zur Beobachtung hier behalten.»
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Der Campechaner wollte kurz nach Mitternacht gerade den Zoo verlassen, als ein funkelnder Leuchtkäfer im Gebüsch seine Aufmerksamkeit erregte. Er ging an den Jacarandabüschen entlang. Die Riesenschildkröte überquerte die Hauptstraße. Die Pappeln raschelten im Wind. José saß mit nacktem Oberkörper in einer Ecke des Käfigs auf dem Boden und putzte seine Schuhe. Der Lichtkegel der Glühbirne fiel auf sein Gesicht, und der senkrecht auf seine Nase fallende Schatten ließ seinen sprießenden Bart dichter wirken. Der Kubaner hatte einen Monat Gefangenschaft hinter sich, und die Zeit wog zentnerschwer. Die Haut über den Rippen am Brustkorb war eingefallen. Guido Golgi hatte Lorenzo berichtet, dass der Kubaner nicht einmal seine Makkaroni an Portwein probiert hatte. «Er bringt sich um», sagte er. Lorenzo dachte, dass nicht der Hunger, sondern der Kummer diesen Menschen umbringen würde, der so eifrig seine Schuhe bürstete. Einsame Menschen haben am eigenen Leib erfahren, dass das Auferlegen einer so simplen Aufgabe, wie zwölf Stunden lang ein Paar glänzende Schuhe zu bürsten oder zwölf Minuten einen Schnurrbart zu stutzen, ohne jeden Zweifel beweist, dass der Hunger nach Gesellschaft oder der Durst der Einsamkeit physische Ängste sind, weil ihre Linderung fast nie vom Hungrigen oder Durstigen abhängt, sondern von etwas anderem, irgendwem, einem Gleichgesinnten, der einen freundschaftlichen Bissen oder einen liebevollen Schluck teilt. Das ging Lorenzo durch den Kopf. Die Reise durch diese Welt ist wie eine Münze, die man hochwirft, Wunder oder Wissenschaft, Überdruss oder Abenteuer, Niederlage oder Sieg, Glück oder Fluch, Leidensweg oder Bankett, Hölle oder Paradies, aber ganz gleich, wie die Münze fällt, Kopf oder Zahl, das Leben wird immer die größte Überraschung des Lebens bleiben. Mehr noch als der Tod. Lorenzo betrat den Käfig. Zur Begrü-
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ßung fiel José über ihn her und drückte ihn an die Gitterstäbe. «Was, zum Teufel, ist mit dir los?», schrie der Campechaner. «Sei still», sagte José. «Ich ersticke.» «Hat man dir nicht gesagt, dass ich ein Mörder bin?» José drückte ihn mit dem Nacken auf einen Schlosshaken. «Ich hab so was in der Tierarztpraxis gehört», keuchte Lorenzo atemlos. «Das wird daran liegen, dass ich noch nie einen gesehen habe.» «Was willst du?» «Nichts. Meinem Kater wurde fast ein Lid abgerissen.» «Deinem Kater?» «Pariente. Ich hab dir von ihm erzählt. Da ist eine Katze aufgetaucht, eine Siamkatze.» «Spiel nicht den Schlauen.» «Wie du meinst. Sie haben ihn mir fast umgebracht. Ich habe dich im Vorbeigehen gesehen.» «Und das hat dich amüsiert.» «Nein, warum sollte mich das amüsieren?» «Die Leute machen sich über mich lustig.» «Nun ja, sie sind nun mal grausam.» Der Kubaner ließ seine Beute los. «Verschwinde», sagte er. «Warum?» «Ich hab gesagt, du sollst verschwinden.» «Ich dachte, der Besuch eines Freundes würde dir guttun.»
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«Schau, Lorenzo, ich bin einer von den Spinnern, der alle fünfzehn, zwanzig Jahre mit eigenen Händen einen Menschen umbringt. Ich habe keine Freunde.» «Ich auch nicht. Darin ähneln wir uns», sagte der Campechaner, als er sich aufrappelte. Er knöpfte seinen Overall zu. «Ich wollte mit dir reden.» «Leb wohl», sagte José und flüchtete sich in sein Schlafzimmer. «Ich bin todmüde. Ein andermal.» «Wie, ein andermal! Was ist los mit dir, Mistkerl?», rief Lorenzo. Frösche. Grillen. Der Campechaner begann, das Schlafzimmer aufzuräumen. «Ich wollte dir Gesellschaft leisten. Das ist ungerecht. Ich komme mit guten Absichten zu dir, du erwürgst mich fast und gehst dann schlafen. Ich hatte noch andere Verabredungen, einige waren wichtig, ehrlich. Señora Kropotkina wollte eine Tasse Tee mit mir trinken. Doktor Sandalio Baeza hat mich zum Canastaspielen bei Pavel Sulja eingeladen. Wenn ich das gewusst hätte! Verflixt, tut mir der Hals weh. Du hast mir da drin was gebrochen. Ich glaube, ich sterbe. Hast du gehört? Ich habe gesagt, dass ich sterbe.» Joses Antwort war Schweigen. Für Mexikaner ist Höflichkeit ein Gebot. Einen Besucher mit dem Wort im Mund stehen zu lassen kann eine ernsthafte Beleidigung, ein Grund zum Duellieren sein, und das, genau das hatte der ungehobelte José getan, nachdem er ihm zur Begrüßung den Hals zugedrückt hatte. Als der Adamsapfel wieder an seinem Platz war, hielt Lorenzo eine flammende Rede über gutes Benehmen, wobei er in seinen Vortrag Parientes Wunden, Konrad Lorenz’ naturwissenschaftliche Thesen und Postulate aus Manuel de Carreños Verhaltenslehrbuch einflocht, um in Begeisterung über das nächtliche Panorama Santa Fes, das man vom Käfig aus betrachten konnte, zu enden. «Ver-
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dammt, ist das schön. Ich wohne hinter dem Gebäude dort, mein Zimmer liegt nach hinten raus. Wo bewahrst du die Schuhe auf, Genosse?» «Zu Mittag würde ich gerne Ropa vieja essen», sagte José schon halb am Schnarchen. «Und nenn mich nicht Genosse.» Am darauf folgenden Montag besuchte Lorenzo Señora Kropotkina, wie er es alle vierzehn Tage zu tun pflegte, und brachte ihr als Geschenk eine Mandelschnecke mit. Für den Campechaner war dieses Teetrinken ein wertvolles Ritual, denn er genoss die faszinierenden Themen (über das Leben von Igor Strawinsky, über die Literatur von Vladimir Nabokov und über Mode, drei Leidenschaften der Russin), von denen er noch nie etwas gehört hatte, aber als Lorenzo an diesem Nachmittag das Heiligtum betrat, hatte er das Gefühl, Azeton in den Adern zu haben. Der Wind peitschte die Gardinen, und auf die Überreste eines vormals afghanischen Teppichs fiel ein Sonnenstrahl. Staubpartikel verdichteten das Licht. Señora Kropotkina war mit einem so feinen Schal, als hätte ihn eine Tarantel gesponnen, über den Schultern am Klavier eingeschlafen. Ihre Augen waren verdreht und ihre Haut fühlte sich wie eine Zwiebel an. Und sie stank nach Cognac. Lorenzo legte sein Ohr auf ihre linke Brust, um sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben war: Eine Art Surren wie ein Spinnrad tief in ihrem Innern ließ ihn glauben, dass sie noch lebte. Der Blasebalg der Lungen schnaubte Mitleid erregend. Lorenzo setzte sich in einen Schaukelstuhl und verbrachte die Zeit damit, die Welt dieser Russin in allen Einzelheiten zu erfassen, die nicht aufwachen wollte, sosehr er sich auch wie ein Elefant im Porzellanladen aufführte, was sogar ausgereicht hätte, um die Mumien aus ihren Sarkophagen im Kreml wegzufegen. Spieluhren, Wandschirme aus Kioto und zwölf Standuhren, alle
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ausnahmslos um zwei Uhr neunundfünfzig stehen geblieben – ‹Nachts?›, fragte er sich. Ein Porträt von Zar Nikolaus L, bei einem Spaziergang in Paris aufgenommen. Immergrün in einer Porzellanvase. Sechs sevillanische Fächer. Lorenzo öffnete eine der Spieldosen und wurde vom Spanischen Tanz des Meisters Manuel de Falla aufgeschreckt. Auf einem runden Tisch stand in einem in Gold und Silber gefassten Rahmen eine Daguerreotypie der Kropotkins an ihrem Hochzeitstag. Überraschend war nicht so sehr die auf den ersten Blick als kostspielig zu erkennende Brautgarderobe oder die Aufsehen erregende Treppe, bestimmt Teil eines Moskauer Palastes; das Unglaubliche war die Jugend des Brautpaars, seine Stattlichkeit und ihre Anmut, beide groß und schlank wie zwei Weizenähren. Am rechten Bildrand war ein märchenhafter Pleyel-Flügel zu erkennen. Das Licht reflektierte auf dem Glanzfoto. Lorenzo küsste die Greisin auf die Wange (sie schmeckte nach Asche) und ging wieder, ohne auch nur ein freundliches Zwinkern oder ein Adiós ergattert zu haben. Resigniert wie einer, der in eine weitere Ebene der Hölle hinabsteigt, verließ er das Gebäude. Auf dem Weg zu den Eisenbahnbordellen schwor er sich, dass sein Leben auf keinen Fall in solch einem Verfall enden würde. Er war davon überzeugt, dass der Mensch als einziges Tier bereit war, für einen anderen zu leiden oder für einen anderen zu sterben. Nun stellte er die Maxime in Frage. Würde Lorenzo für Lorenzo sterben? Vielleicht. Entweder würde er jemanden dazu überreden können, oder er selbst würde sich zehn Milligramm Rattengift injizieren. Im Bordell investierte er sein Erspartes in eine Koreanerin, die teurer war als ein Fernsehgerät, und erzählte ihr stundenlang von seinen Ängsten, wohl wissend, dass das Mädchen kein Spanisch verstand, weil sie gerade erst nach Santa Fe gekommen war und an jenem Montag ihre Ge-
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schäftstüchtigkeit an einem absoluten Mister Nobody erprobte. Am frühen Mittwochabend kehrte Lorenzo in Josés Käfig zurück. Der Kubaner blätterte in Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading. «Ich habe dir Hühnchen à la Gärtnerin mitgebracht», sagte Lorenzo, ohne nachtragend zu sein. «Das hat Königin Fagés gekocht. Und wie geht’s? Heute siehst du besser aus als kürzlich.» «Und wenn ich abhaue?» «Du meine Güte, fängst du schon wieder damit an.» «Hast du nie daran gedacht, dass ich aus diesem Vogelkäfig davonfliegen könnte?» «Du magst ja ein Bandit sein, aber kein Selbstmörder. Seit wann hast du dich nicht mehr gewaschen?» José riss Lorenzo den Schlüsselbund aus der Hand. Der Teller fiel zu Boden. Die Hühnchenschlegel flogen durch die Gegend. «Cuco, ich bin frei!», rief José. Die Schlüssel klirrten. «Abhauen kannst du. Obwohl ich bezweifle, dass du weit kommst. Da draußen haben sie die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Der Zoo ist eine Festung. Wenn du abhaust, verliere ich meine Arbeit, das ist nicht so schlimm, aber du verlierst mehr. Wäre ein schlechtes Geschäft, wieder ins Gefängnis zu wandern. Von hier aus sieht man die Sterne.» «Ach, Mutter Gottes, das ist die Höhe …» Cuco streckte den Arm aus und klaute einen Hühnchenschlegel. Phefé schnupperte in der Luft. Sein Schnäuzchen telegrafierte Botschaften. José steckte den Kopf durch die Gitterstäbe und sagte: «Du wärst nicht der Erste, den ich umbringe.»
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Lorenzo kratzte sich am Ohr. «Nein. Ich bin nie der Erste. Adiós.» In seinem Zimmer machte sich der Campechaner ein Chorizo-Omelett. Er konnte mit Hunger im Bauch nicht schlafen, weil er dann die Nacht damit zubrachte, an die Unermesslichkeit der Milchstraße zu denken und am Ende in den Gestirnen nach Margarito Lara rief. Er schaltete das Radio ein. Die Nachrichten. Krise im Kosovo. Wer hat Luis Donaldo Colosio umgebracht? Die Ermittlungen kommen nicht voran. In Kuba politische Dissidenten festgenommen … Es war so um vier Uhr nachts, als er Zenaida heimkommen hörte. ‹Sie hat Gefolge›, dachte er beim Zählen der Schritte von vier Füßen auf der Treppe. Zenaida ging weiter und klopfte an seine Tür. Sie war allein. «Aber mein Junge, was machst du denn um diese Uhrzeit noch? Du bist doch keine Nachteule!» «Nichts. Ich mache nichts. Ich kann nicht schlafen.» «Nimm ein Schlafmittel. Leihst du mir etwas Zucker? Ich sterbe vor Lust nach einer Tasse Kaffee», sagte sie und gähnte. Ihre Augen waren rot. «Und Gigi wird mir vor der Tür einschlafen. Die schnarcht vielleicht …» «Gigi?» «Gigi Col, eine Freundin aus dem Kabarett. Hattest du Nachtwache?» «Wir Alten schlafen wenig. In Jugoslawien ist was passiert, aber ich erinnere mich nicht …» «Dieser Luna Club wird mich noch umbringen …» «Kann ich dich etwas fragen?» Zenaida machte ein paar Twistschritte und sagte: «Ich kenne dich. Du glaubst, ich wäre eine Nutte, stimmt’s?»
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«Wie kannst du so was sagen!» «Dass ich in meinem Zimmer Männer flach lege. Das geht vielen so. Kaum hören sie, dass ich in einem Kabarett arbeite, fangen sie an, sich den Hosenschlitz aufzuknöpfen. Ich bin keine Nutte. Ich werde nie eine sein können. Dazu fehlt mir der Mumm. Der äußere Schein trügt.» «Entschuldigung.» «Reden wir nicht mehr davon. Was wolltest du wissen?» «Ich habe José einen Satz sagen hören …» «Danke für den Zucker. Erzähl.» «Was heißt: Das ist die Höhe?» «Das ist die Höhe, da wirst du nachts um vier Uhr gefragt, was ‹Das ist die Höhe› heißt! Auf Kuba ist das ein Ausdruck von Überraschung, vielleicht von Verwirrung … Aber erzähl mir, hat José der Reis geschmeckt?» Um nicht lügen zu müssen, erwähnte Lorenzo das mit der Ropa vieja. «Ist ja nicht zu fassen, der Junge will also Ropa vieja», kommentierte die Mulattin, während sie die ersten (oder letzten) Treppenstufen hinabging. Dann kehrte sie zurück. «Und mein Kuss?» Lorenzo küsste sie auf die Stirn. Zuckersüß. Zenaida rutschte das Treppengeländer hinunter. An die Tür gelehnt leckte sich der Campechaner die Lippen. Er trällerte ein Lied. Ich weiß nicht, was die Blumen haben, arme Seele, die Friedhofsblumen, wenn der Wind sie wiegt, arme Seele, wirkt es, als weinten sie … Es tat in der Seele weh, ihn zu hören. Niemand sollte singen, wenn er traurig ist. Auf Kuba weiß jedes Kind, dass der heilige Petrus am Sonntag Ropa vieja isst. Wenn das Geheimnis der schwarzen Bohnen in einem halben Löffel Zucker steckt, sagte Zenaida, ist es bei der Ropa vieja außer einem Glas trockenen Wein ein Lorbeerblatt. Das Rezept steht in jedem Kochbuch. Man schneidet ein Pfund Rauchfleisch oder
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nicht so hochwertiges, vorher gekochtes Fleisch in Streifen, gibt es zu dem in heißer Butter gedünsteten Knoblauch und fügt eine klein geschnittene Zwiebel, rote Paprikastreifen und, wenn man möchte, Petersilie hinzu; später gibt man je nach Geschmack etwas Orégano und etwas Kreuzkümmel dazu. Diese Zutaten lösen sich in der Fleischbrühe auf und der Eintopf köchelt auf mittlerer Flamme weiter. Bis dahin kein Problem. Der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Ropa vieja hängt, laut der Küchenchefin aus Matanzas, von folgender Frage ab: In welchem Moment geben wir das Lorbeerblatt dazu? Die Antwort bestimmt den genauen Geschmack. Lorenzo interessierte sich nicht sonderlich für das Rezept. Er war bekümmert. Er wollte José überraschen. Er hatte ihn mehrere Abende nicht besucht, damit ja keine Zweifel aufkommen konnten an seinem Gekränktsein aufgrund der vielen Unverschämtheiten des Kubaners. «Mission erfüllt», sagte Zenaida, als sie im Treppenschacht verschwand. «Ist mir prima gelungen!» Im Hausflur erinnerte der Portier Lorenzo daran, dass er drei Monatsmieten schuldig war. An der Eingangstür traf er den langen, schweigsamen Peter Sulja, der aus dem Schnapsladen zurückkam und dessen Manteltaschen von seinem Lieblingswodka Ketel One ausgeheult waren. Er trank aus der Flasche, was seiner Eleganz keinen Abbruch tat. Señora Kropotkinas Übungen waren auf der Straße kaum zu hören: Die Kunst lässt sich nicht so tief herab. Ein guter Teil des Lebens wird an Nichtigkeiten verschwendet. José und Lorenzo ließen sich auf den Korbsesseln nieder. Dieses Mal war der Kubaner aus Geruchsgründen entgegenkommender: Die Düfte des Eintopfs hatten seine Laune gehoben. «Ich wusste nicht, dass Prinzessin Diana bei einem Au-
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tounfall umgekommen ist», sagte José. «John Glenn ist wieder im All. Ich habe es in der Tageszeitung gelesen, die mir eine Dame geschenkt hat.» «Das wird Berta gewesen sein. Sie wohnt in der Nähe. Sie liebt Tiere.» «Danke für das Kompliment.» «Entschuldigung. Ich wollte dich nicht verletzen. Berta Sydenham hat im Blumenladen des Zoos gearbeitet. Sie bringt den Tauben Maiskörner, den Tukanen Roggenbrot und der Schimpansin Sojakekse.» Cuco ließ einen stinkenden Furz fahren. «Von jetzt an wirst du jeden Nachmittag eine Zeitung haben.» Cuco wandte seinen Blick nicht vom Teller ab. «Ich hasse den Gorilla», sagte José. «Das ist ein Orang-Utan. Die Spezies zu verwechseln kann teuer zu stehen kommen. In Afrika gibt es gerade noch zweihundert seiner Art. Sie werden abgeschossen. Die aus Borneo haben mehr Glück gehabt. Cuco ist hier in Villa Vizcaya geboren. Du wirst ihn bald schätzen lernen. Ist eine Frage der Zeit.» «Zeit habe ich genug.» «Man hat nie genug Zeit, sie fehlt immer. Kennst du den Elsternkäfig, die afrikanische Prärie, den Kühlschrank der Polarbären?» «Nein.» «Und den Ententeich?» «Auch nicht.» «Wie wär’s mit einem Spaziergang?», wagte Lorenzo vorzuschlagen. Er bereute die Frage sofort, aber es war schon zu spät; er würde das Risiko auf sich nehmen müssen. Er schloss die Käfigtür auf. Phefé folgte ihnen von Ast zu Ast.
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Der Elefant sagte mit dem Rüssel beharrlich nein; nein, nein, nein. Und nochmal nein. Elefanten sagen immer nein. José fühlte sich unbeholfen, als er ohne Handschellen oder Wächter im Rücken an den Jacarandabüschen vorbeiging. Auf der Seeoberfläche versuchten ein Pelikan und ein Schwan zu fliegen: ‹Wie nur, ihr Trottel, mit gestutzten Flügeln›, dachte José. Eine Schildkröte, ein Stein, ein Fossil, eine Ruine am Sumpfufer: Phefé drückte der Schildkröte ein Auge zu. ‹Wie verrückt es ist›, dachte José. Es war kalt. Sehr kalt. Unter seinen Füßen gab die Erde nach wie ein Milchpudding. Nur im Staunen fand er ein bisschen Wärme. Seine Beine waren daran gewöhnt, auf festem Boden, auf Gefängnisbeton, zu gehen, und nun kamen sie aus dem Takt, sobald in der Dunkelheit ein schlichter Stein im Wege lag. Dieser Mangel an Gleichschaltung der Hüfte mit den Knöcheln wirkte wohltuend, wenn auch verwirrend, und war nur mit der Erfahrung, ein zweites Mal gehen zu lernen, zu vergleichen. Wenn beispielsweise einem Unfallopfer der Gips von den Beinen abgenommen wird, ist seine erste Angst, nie wieder laufen zu können. Der Körper wird schwach. Die Entscheidungen des Gehirns verlieren in irgendeiner Nervenverbindung an Kraft, und keines der motorischen Organe reagiert auf seine Befehle. Doch der Eindruck, dass sich die Fähigkeiten nicht wiedererlangen lassen, ist glücklicherweise nur vorübergehend: Meter für Meter belebt sich der Muskeltonus, die Übersetzung des Meniskus und die Sensibilität der Fersen. Im Zuchthaus hatten die Häftlinge ein Anrecht auf dreißig Minuten Freizeitbeschäftigung an der frischen Luft, immer um die Mittagszeit, aber nach Einbruch der Dunkelheit war das nicht erlaubt, weswegen José fünftausend Nächte nicht unterm Sternenhimmel spazieren gehen konnte, und diese lange Zeit hatte das wunderbare Gefühl der Ehrfurcht gelöscht, das den Geist befällt, wenn sich
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einer vom Gesang der Zikaden, dem klangvollen Rauschen der Bäume und den weiblichen Strahlen des Mondes mitreißen lässt. Der Löwe schlief auf einem Felsen des Präriepalastes. Das Wildschwein spielte mit einer Melone Fußball. Das Zebra rieb sich den Rücken am Zaun. Am Zaun. Der Rücken. Das Zebra. Die Giraffe, aus Haut oder Wachs? José sah Phefé am Hals der Giraffe hinaufklettern. Die Ziegen waren zur Strafe in den Stall gesperrt worden: Sie kämpften miteinander und perfektionierten den Gebrauch ihrer Waffen. Plötzlich spürte José einen Schmerz, den er keiner Körperstelle zuordnen konnte: einen Stich «im Innern», in dieser Vertiefung, die wie ein schwarzes Loch zwischen der Wirbelsäule und den zwölf Paar Rippen lastet. Ohne es sich vorzunehmen, aber auch ohne es verhindern zu können, hatte er die Brücke, die Euphorie von Wut trennt, überquert. In Gedanken ging er nochmals alle und jeden einzelnen seiner Wutanfälle im Gefängnis durch, um abzuwägen, ob jenes Ziehen in seinem Innern einem Prozess der Reue der vergangenen Nacht zuzuschreiben war, aber er verwarf den Gedanken, denn er war nie ein Mann des Selbstmitleids gewesen: Ob ungläubig, schwerfällig oder verdutzt, er würde nicht so etwas wie ein Schuldgefühl in sich hochkommen lassen, und schon gar nicht inmitten von eingesperrten Affen und Pfauen, und zumal in Begleitung eines Mexikaners, der so sicher wie ein Blinder im eigenen Haus durch den Zoo spazierte. Der Kaiman trieb im Abwasserkanal. Zwei Pandajunge wälzten sich wie Wagenräder. Das Eichhörnchen setzte sich auf das Maul einer Robbe. Die Robbe ließ es durch die Luft wirbeln. Hochzeit hielt Billy the Kid mit der kleinen Lulú … Das Nilpferd riss das Maul auf, um Glühwürmchen zu fangen. Die gefleckte Hyäne drehte Runden in ihrem Käfig: ‹Eingesperrte Hyäne, schuldige Hyäne›, dachte José. Grillen. Frösche. Auf einer Seite des Weges,
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je nachdem, wie man vom Affenhaus auf den Ententeich zuging, kämpfte auf einem trockenen Ödland ein Rhinozeros mit seinem Mondschatten, stampfte auf den Boden und stieß wieder und wieder mit den Hörnern zu. Dieses Rhinozeros hasste sich. ‹Es musste sich hassen›, dachte José. Und Lorenzo? Was ist mit Lorenzo? Nichts. Lorenzo schwieg. Er suchte nach einer Gelegenheit, um von dem Einzigen, was er in seinem Leben gelernt hatte, zu erzählen. Sie kamen beim Teich an. Der Mond ertränkte sich in toten Wassern. Zwei Enten schliefen Hals an Hals wie weiße Seerosen. Für den Kubaner war diese Nacht intensiver als jede andere Nacht in seinen letzten fünfzehn Lebensjahren. ‹Vielleicht die einzige›, dachte er. Lorenzo redete. Sein Vater, der Gewerkschaftler Margarito Lara, hatte dreißig Jahre im Zoo von Santa Fe gearbeitet. Er hatte immer Genosse gesagt. Und er war es gewesen, der ihm beigebracht hatte, dass der Mensch nicht nur das einzige Tier ist, das lacht und weint, wie es in den Büchern steht. Der Mensch, behauptete er, sei das einzige Tier, das bereit ist, für ein anderes zu leiden. In den Schlingpflanzen quakten Frösche. ‹Mehr Frösche als Chinesen›, dachte José. «Das hat Margarito gesagt. Dass der Mensch das einzige Tier sei, das bereit ist, der Kugel, die einem anderen gilt, die Brust hinzuhalten …» «Was für ein Mond!», sagte der Kubaner. «Hast du mir zugehört? Ich sagte, dass weder die Löwen noch die Kamele noch die Schweine solche Dummheiten machen. Frag das Zebra …» «Die Weibchen opfern sich für ihre Jungen …» «Purer Instinkt … Kein Bewusstsein», sagte Lorenzo. «Wo ist Phefé?», fragte José. «Phefé ist verschwunden, Genosse.»
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«Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht Genosse nennen sollst.» «Ist ja gut. Vergiss das mit dem Genossen. Du hörst mir ja sowieso nicht zu. Ich bin eine Null auf der linken Seite. Ein Hampelmann. Einer, der schwer von Begriff ist. Zu nichts gut, nicht wahr?» «Immer sachte, Lorenzo.» «Ich bin drei Monatsmieten schuldig.» «Und was war mit deinem Alten?» «Papa? Papa ist gestorben. Der Krebs hat ihn dahingerafft und ich habe seine Asche in den Rinnstein gestreut. In der Zeitung habe ich gelesen, dass deine Mutter sehr jung gestorben ist.» «Ja, bei meiner Geburt. Sie war der erste Mensch, den ich umgebracht habe, noch bevor ich geboren wurde. Sie taucht zwölf Sekunden lang in einem kubanischen Film auf. Ein Klick: Sie kommt angelaufen, schaut in die Kamera, lächelt und ihr fliegt ein Schaumcake ins Gesicht. Mama lachte wunderbar.» «Jetzt versteh ich, woher du die artistische Ader hast: Du bist der Sohn einer Filmschauspielerin.» «Nein, von einer Maniküre. Rita war, keine Ahnung warum, nach Vedado gekommen, und als sie an die Ecke der 12. und 23. Straße kam, blieb sie stehen und beobachtete die Filmleute, die eine Tortenschlacht drehten. Sie wurde gebeten, an einer Sequenz teilzunehmen, und da ist sie. Zusätzlich. Zwölf Sekunden. Das ist das einzige Bild, das ich von Rita Alea habe: vor, hinter oder auf dem verdammten Friedhof. In den Ferien ging mein Vater immer mit uns in den Film Der Tod eines Bürokraten. Das war in den Sechzigern. Ich war noch nicht geboren.» In dieser Nacht der Geständnisse enthüllte José Lorenzo einen Kummer, den er jahrelang verschwiegen hatte: Er hatte
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noch nie mit einer Frau geschlafen. An jenem verhängnisvollen Abend, als er einen Mann abmurksen musste, war er den Geheimnissen der Sexualität sehr nahe gewesen. Die Enthüllung war bedeutungsschwer, aber kurz. Es war nichts weiter hinzuzufügen. Zwei Substantive (José, Frau), ein Verb (schlafen) und zwei Adverbien der Zeit (noch, nie). Zwischen den Zeilen ließ der Kubaner offen, ob er im Gefängnis eine homosexuelle Beziehung gehabt hatte, aber Lorenzo vermied es, sich auf so ein Territorium zu begeben, weil er wusste, dass man seinen moralischem Urteil nicht ganz trauen konnte und ihn jede Leichtfertigkeit teuer zu stehen kommen könnte. Ein Albatros flog dicht über den Teich hinweg. «Gehen wir», sagte José. Eine Sekunde länger in Freiheit, und er wäre bis nach Havanna gelaufen. Der Löwe hat gefressen, der Tiger hat gefressen, der Elefant, so gewaltig wie der Frieden, hat gefressen. Das Kamel hat getrunken, das Zebra ist eingeschlafen, und der alte Affe hat dort seinen Platz, wo das Staunen ist, schrieb Eliseo Diego. Nur das Rhinozeros rannte weiter unermüdlich über die ausgetrocknete Weide, jetzt von einer Horde Fledermäuse verfolgt. Oder von niemandem. Sein schwerfälliger Trott wirbelte Staubwolken auf. Die Erde bebte. Lorenzo ließ José vorausgehen. Was sollte er sagen? Der Campechaner war ein «Herdentier». Eine Null auf der linken Seite. Bisher hatte ihn noch nie ein Freund um Rat gefragt. Sie hatten ihn nie gebraucht. «Ich bin zu nichts nütze.» Er wollte helfen, sich nützlich fühlen. Aber wie? Wie? Schwierig! Wie beantwortet man die Frage wie? Im Käfig las José das sechste Kapitel von Oscar Wildes verfemtem Roman Teleny. «Lorenzo, kennst du vielleicht zufällig einen so genannten Lord Alfred Douglas?» «Nein, aber ich frage Juscelino. Es kommen so viele, um dich zu sehen. Muss ein vornehmer Mann sein, wegen
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dem Lord», sagte Lorenzo und flocht eine Bemerkung über das Paarungsritual der australischen Beuteltiere ein. «Und was interessieren mich die australischen Beuteltiere!» «Nun ja, du hast ja Recht. Verdammte Beuteltiere!» «Warum hast du mir vertraut?» «Ich weiß nicht.» «Ich hätte abhauen können.» «Sicher. Wie hätte ich es verhindern sollen.» «Wir sind keine Freunde», sagte José, ohne aufzublicken. Der Campechaner rieb sich die Augen. «Wenn du es sagst. Wie du willst. Sind wir eben keine Freunde.» «Sind wir auch nicht. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzählt habe.» «Ich lösche es. Schon erledigt.» «Das Waschbecken ist kaputt.» «Na und, Señor González?» «Señor González!» «So ist das beschissene Leben. Waschbecken gehen manchmal kaputt. Sogar thailändische.» «Diese Wasserhähne taugen nichts.» José forderte Lorenzo heraus. «Das Getropfe stört mich. Das ist Folter.» «Ich verstehe. Tropf tropf tropf, das verdammte Tropfen», sagte Lorenzo. «Mach deine Arbeit.» «Meine Arbeit ist, mich um die Affen von Spielberg zu kümmern, Genosse.» «Nenn mich nicht Genosse.»
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«Das war ein Scherz. Morgen …» «Morgen, was?» «Morgen repariere ich das Waschbecken.» «Grüß mir Zenaida.» «Ich weiß nicht einmal, ob dir die Ropa vieja geschmeckt hat», sagte Lorenzo leise und verschwand eilig. Der Wind und der Mond waren übereingekommen, die heutige zu einer seltsamen Nacht zu machen. Cuco neigte den Kopf. Die Windböen trockneten seine Tränendrüsen. Er blinzelte. José machte das Licht aus. Der Wirbelwind kreiselte durch die Straßen. Pavel Sulja rülpste seinen Rausch unter den elektrischen Messgeräten im Lüftungsschaft des Gebäudes aus. Mit vereinten Kräften versuchten Lorenzo und Sandalio Baeza, ihn an dem scharlachroten Mantel hochzuziehen, aber es wäre ein Kran nötig gewesen, um ihn aus der Wodkalagune herauszuhieven, in die er sich versenkt hatte. Die Siamkatze rieb sich an seinen Beinen. «Komm schon, Pavel», sagte der Homöopath, «stell dich nicht so an, dein Herz ist nur noch ein Lappen.» Der Skandinavier fuchtelte ohne Sinn und Verstand herum, als müsste er sich gegen einen Schwarm Bienen verteidigen, und kein Retter hätte sich gefahrlos nähern können. «Verdammte Scheiße!», rief Sandalio und setzte sich neben den Alkoholiker. «Du, geh ruhig schlafen, Lara; ich kümmere mich schon um ihn.» Lorenzo fütterte Pariente. Doremifasollasi. Hinter den Balkongardinen malträtierte Señora Kropotkinas Schatten das Piano: Sie war ein Strich, eine Sichel, ein Hammer, ein buckliges Skelett. Silasolfamiredo. Zenaida Fagés hantierte in ihrer Küche herum. Das Zischen des Schnellkochtopfs war zu hören. Knoblauch- und Cayennepfefferdünste stiegen durch den Lüftungsschacht auf und gaben bekannt, dass die Kubanerin Quimbombó zubereitete. Der Campechaner
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ging einen Stock tiefer. Er wollte klopfen, hielt aber inne und lauschte an der Tür. Er hörte sie durch die Wohnung gehen. Da waren Sandalios Schritte zu vernehmen, der, auf Katalanisch fluchend, die Treppe heraufkam, und Lorenzo ging in sein Zimmer zurück. Der Kater schien vom Waschbecken aus das Firmament zu betrachten: Der Mond, der mexikanische, der sich bricht, der sich in der Finsternis bricht, der Finsternis der Einsamkeit, spiegelte sich in seinen Augen. «Verdammt, bin ich müde, mein Herr!», rief Zenaida. Ticktack. Ticktack. Lorenzo blätterte im Telefonbuch von Caracol Beach. So sehr hatte ihn die Langeweile gepackt. Zwischen den Seiten der Servicenummern fand er in einem Umschlag das Foto eines kleinen Mannes. Der Gewerkschaftler Margarito Lara. Mit einem Besen als Waffe macht er auf einem Fischerboot, umgeben von grauen Pelikanen, Kunststücke. Eine handgeschriebene Widmung: Mein Sohn, vergiss nicht, dass der Himmel mit einem Streich eingenommen werden kann. Die beste Art, für das Leben zu sein, ist, dagegen zu sein. Kämpfe, mein Sohn. Ich warte in der Schale des Großen Bären auf dich, wo die Tapferen ruhen. An der Oberkante des Bildes fliegt ein Tukan vorüber. Lorenzo wollte eine Episode aus seiner Jugend wieder aufleben lassen; der deutlichste Bezugspunkt war ein bleierner Geruch nach Benzin. Die Erinnerungen führten ihn zu einer Garage in Mérida, wo er als Fünfzehnjähriger zwischen den angewinkelten Beinen einer zügellosen Frau aus Yukatan zum Mann wurde. Sie hieß Carmenaza und war eine große Frau mit kleinen Brüsten, Angestellte in einer Autowerkstatt. Er hätte lieber eine andere Szene erinnert, zum Beispiel jenes Fußballspiel, das die Ersatzmannschaften vom Club América und Necaxa in Ciudad del Carmen bestritten hatten, aber die Einsamkeit ist eine Tyrannin. Über den Nachbardächern schimmerte der indiskrete Mond. Die
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Wolken: Lokomotiven. Nachtzug. Da ging der Tag zu Ende, eingehüllt in Carmenazas Schatten. Der Mensch ist das einzige Tier, das bereit ist, für einen anderen zu leiden, für ihn zu sterben. José notierte diesen Satz auf dem Wandkalender. Das Exemplar von Teleny lag auf dem Kelim und der Wind fuhr durch die Seiten. Ein türkisblauer, auf den Schutzumschlag des Buches gedruckter Oscar Wilde drehte ein paar virtuose Schleifen, bevor er mir nichts, dir nichts durch die Gitterstäbe davonflog. José träumte die ganze Nacht, Tropfen für Tropfen, dass am Fenster eine Katze saß.
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Zenaidas zweites Solo
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ls Lorenzo Lara am Tresen von McDonald’s auf die drei Hamburger zum Mitnehmen wartete, war er noch immer unschlüssig, ob es eine gute Idee sei, diesen einunddreißigsten Dezember anders als alle vorangegangenen zu verbringen, doch bei Einbruch der Dunkelheit sagte er sich, dass es gar kein so schlechter Einfall sei, sie zu überraschen, denn sie betrachteten sich als Freunde, und Freunde, hatte er gehört, haben ein paar natürliche Rechte: Statt in Erwartung des Jahres 1999 Hackfleisch in grüner Soße zu essen, kürzte er seinen Schnurrbart, band sich die karmesinrote Krawatte um und ging in den Luna Club, Zenaida Fagés’ Reich. Er setzte sich an einen Tisch ganz hinten im Lokal und war sich sicher, dass der Nimbus seiner Schüchternheit ihn zum auffälligsten Gast im Saal machte. Im Kabarett stank es nach Socken. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dachte er, dass es besser gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. An der Bar hockten zwölf Zecher, und ungefähr zwanzig Paare tummelten sich auf der Tanzfläche vor der kleinen Bühne, auf der ein Trupp verbrauchter Revuegirls seine Knochengestelle im Rhythmus eines karibischen Son bewegte, den Refugio Cunís süßer Bienenkorb anstimmte, ein Ensemble von Stripteasetänzerinnen auf Tournee durch Santa Fe. Die gerade auftretende Rumbatänzerin, vielleicht besagte Refugio, sang gegen den Lärm und das ausgelassene Treiben an und heftete ihren Blick auf die Zuschauer, die gelangweilt zur Decke glotzten; diese stolze Haltung erlaubte es ihr, ihre Würde als Profi zu bewahren, und verdeutlichte zudem ihren künstlerischen Anspruch. Der Abend wurde
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immer schlimmer: Der anregende Auftritt animierte die Gäste, die vielleicht mehr am Flirten interessiert waren als daran, Weihnachten zu feiern, zu unflätigem Verhalten. Auf der Zielgeraden der Vorstellung, die bis zu dem Augenblick aus Merengues und Cha-Cha-Chas bestanden hatte, folgte der Auftritt der in Tüll gehüllten Königin Fagés auf einer Korbsänfte. Trommelwirbel. Ihre künstlichen Wimpern wirkten wie aus Robbenhaar. Auf der Stirn trug sie einen Stern, der aus Silberpapier ausgeschnitten war. Wenn wieder Weihnachten ist, Weihnachten ist, gibt’s Spanferkelchen …, stimmte Refugio Cunís süßer Bienenkorb an. Das Auspfeifen ließ nicht auf sich warten. Man hätte meinen können, eine Meute sei hinter der Mulattin her. Lorenzo klammerte sich an die unhaltbare Hoffnung, dass die Stammgäste des Luna Clubs ihren Beifall gewöhnlich mit Pfeifen ausdrückten, obwohl man auch kein Tanzexperte sein musste, um zu erkennen, dass Zenaidas Schritte keineswegs mit der Musik übereinstimmten. Die Note ging in die eine Richtung und ihre Hüfte in die andere. Sie bewegte ihre Schultern so anmutig wie ein Eskimo aus Alaska und die Beine wie ungleiche Kolben. Die beiden Male, wo sie zu einer aufreizenden Pirouette ansetzte, stürzte sie fast auf die Tische vor der Tanzfläche. Nach ein paar Minuten schickte die Mulattin glücklicherweise alle zum Teufel und verschwand in einem Finale der hüpfenden Pobacken, wobei sie den Hintern jetzt wirklich à la cubana schwenkte, hinter dem Bühnenvorhang. Lorenzos Klatschen übertönte den Aufruhr nicht. Die unerschütterlichen Musikerinnen des Süßen Bienenkorbs kamen auf die Bühne, und Refugio Cuní sang ein Lied von Pancho Céspedes, dank dessen sich das Gackern im Hühnerstall legte und der üble Nachgeschmack von Königin Fagés vergessen wurde. Das verrückte, verrückte, verrückte Leben … Lorenzo zahlte und verließ den Luna Club.
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«Du wirst erwartet, Zenaida», sagte eine der Tänzerinnen beim Betreten der Garderobe: Gigi Col aus Tijuana. «Sag ihm, ich sei schon weg», antwortete die Mulattin. «Heute bleibt die Küche kalt.» «Sie haben es gehört. Königin Fagés sagt, sie isst heute außer Haus. Kommen Sie ein andermal wieder», sagte Gigi Col. Königin Fagés sah ihn im Spiegel. Lorenzo stand lächelnd in der Tür. «Welcher Tote hat dich denn auf diesen Friedhof gelockt?», fragte Zenaida. Sie zog sich die künstlichen Wimpern vom Lid. Es tat weh. «Hübsche Krawatte.» «Du hast toll ausgesehen», sagte Lorenzo. «Spinn nicht, Larita. Diese Wimpern stinken.» «Sie sind aus Robbenfell», kommentierte Gigi. «Wirklich, du hast toll ausgesehen. Ich schwör’s.» «Bei wessen Namen schwörst du?» Lorenzo hatte niemanden, bei dessen Namen er schwören konnte. «Wie schön, dass du gekommen bist! Ist schon in Ordnung. Aber erzähl dem Hausverwalter nichts. Laurent die Kuh denkt, dass ich eine weltbekannte Künstlerin bin. Ja, das sind Robbenhaare.» Gigi Col spazierte nackt durch die Garderobe. Auf ihre linke Pobacke war ein aztekischer Adler tätowiert. «Du musst dich lieben, Zenaida», sagte Lorenzo. Die Mulattin spießte ihn förmlich mit ihren Blicken auf. Lorenzo fühlte sich erbärmlich. Er sagte: «José, der Kubaner aus dem Zoo, erinnerst du dich, will wissen, wer Lord Alfred Douglas ist.» Das war das Erstbeste, was ihm einfiel. Zenaida steckte das Täschchen mit
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der billigen Schminke in ihren Rucksack. Dann wischte sie sich das Karmesinrot von den Lippen. «José soll warten», sagte sie autoritär. José soll warten. Sie hatte Lust, am Meeresstrand entlangzuspazieren. Der Mond wirkte wie eine Münze der Jungfrau der Barmherzigkeit am Hals der Nacht. Lorenzo schlug vor, etwas zu Abend zu essen. «Einen Teller pikanter Vorspeisen.» Zenaida trug die Stöckelschuhe in den Händen und ließ das Wasser um ihre Füße spielen. «Ich habe keinen Hunger», sagte sie. «Gibt es in Galicien Strande?» Krebse, Hunderte von Krebsen zwischen den Kokospalmen. «Wo ist der Große Bär?», fragte Lorenzo. «Als ich klein war, zeigte mir mein Vater in Ciudad del Carmen das Sternbild, aber jetzt in Santa Fe finde ich es nicht. Er hat die Form einer Schale, sagte Papa.» Eine Möwe flog gegen die Windbö an, ohne auch nur ein Stück am Nachthimmel weiterzukommen. Ein riesiger und völlig kahler Mann ruhte sich auf einem Sitz aus aufgestapelten Rettungsringen aus. Die Möwe wirkte wie eine Fahne im Wind. «Wie geht’s, Sam?», fragte Zenaida den Glatzkopf. «Wie geht’s, Zeny?» Der Mann ging in Richtung Küstenstraße davon. Er versank bis zu den Knöcheln im Sand und schwankte wie ein Matrose an Deck eines Schiffes hin und her. Lorenzo kam das bekannt vor. «Ach was! Ich haue ab», sagte Zenaida. «Ist doch klarer als Wasser. Alfred Douglas war der Sohn von Marquis Queensberry. Ich habe auf der Pädagogischen Hochschule von ihm gehört.» «Und wer war der Marquis Queensberry?»
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«Das erinnere ich nicht mehr, aber ich finde es für dich raus. Ich werde im Lexikon nachsehen. Ich habe nie meinen Abschluss gemacht.» Die Nacht ging im Zimmer der Mulattin weiter. Eine Matratze auf dem Boden, eine Lampe, ein kleiner Kassettenrecorder, vier Koffer und ein Sessel vom langen Pavel Sulja waren die einzigen Zeichen von Leben in diesem für eine Frau, und dazu einer Kubanerin, viel zu kalten Zimmer. Pariente sprang durchs Fenster herein. Er hatte einen Spatz im Maul. Zenaida wärmte Kaffee auf. «Wenn es denen nicht gefällt, wie ich tanze, sollen sie doch Dominikanerinnen engagieren!» Lorenzo kannte Zenaida. Er setzte sich auf die Matratze und ließ sie reden: Sie war seine Göttin. «Die Leute setzen voraus, dass ich eine große Rumbatänzerin sei. Kubanerin und schwarz, zwei Pluspunkte: Rumbatänzerin. Aber Sonia Calero ist weiß. Es heißt, Schwarze sind wie gemahlener Pfeffer, wie Juckpulver, und Negermädchen, die tragen den Rhythmus im Blut. Das behauptet man. Aber nein, ich nicht, Genosse, ich nicht. Wie findest du das? Gefällt dir das? Nimm die Decke vom Bett. Sie ist schon ganz mürbe …» «Der Kaffee, Zenaida.» «Der Kaffee? Sag nicht, dass ich den Mund halten soll, Lorenzo, sag nicht, dass ich den Mund halten soll, dann explodiere ich. Ich bin das, was Makarenko einen untypischen Nigger nennen würde. Eine Jahrmarktsrarität. Ich sollte anstelle von José im Zoo sitzen. Ich mag Mathematik, Geometrie, Logarithmen. Also, warum sollte ich nicht wissen, wer Lord Douglas war, der Sohn von Marquis Queensberry? Warum? Weil ich schwarz bin, Lorenzo. Es ist zum Aus-der-Haut-fahren. Weil ich schwarz bin.» Zenaida öffnete die Fenster. Dann schrie sie hinaus: «Vaterland oder Tod, Scheiße!» Und schlug mit der Faust an
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die Wand. Lorenzo immer den Rücken zugewandt, fuhr sie etwas ruhiger mit ihrem Monolog fort: «Einer meiner vier Urgroßväter war Galicier und eine meiner Urgroßmütter von den Kanarischen Inseln. Es stimmt, die anderen sechs waren schwarz. Tut mir Leid: Mich zieht’s nach Galicien. Ich bin Spanierin und ich bin stolz darauf! Ich singe schlecht, ich tanze schlecht. Ich verstehe wenig von der Santería. Ich verwechsle Yemayá mit Babalú Ayé. Ich will Madrid sehen und nicht den Kongo Brazzaville. Ob es ihnen gefällt oder nicht. Wir werden siegen!» «Der Kaffee …» «Verflixt, der Kaffee!» Der Kaffee war im Topf verdampft. Im Zimmer roch es nach verbranntem Kork. «Die lassen dich einfach nicht deine Choreographie entwickeln», sagte Lorenzo, um etwas zu sagen. «Ich betrachte mich nicht als Experten, aber mir schien, dass in deiner Nummer etwas viel versprechendes Exotisches steckte. Sie haben sich wie Tiere aufgeführt. Mir hat es ziemlich gefallen.» Zenaida stemmte die Hände in die Hüften. «Was du nicht sagst! Ich werde mir vom Negerlein der Heiligen Drei Könige eine neue Decke wünschen.» Señora Kropotkina am Klavier. Wieder die Tonleitern: Doremifasollasi. Silasolfamiredo. Lorenzo flüsterte Zenaida ins Ohr: «José hat noch nie mit einer Frau geschlafen.» «Dieses verrückte, verrückte, verrückte Leben ….’ Die Russen verfolgen mich.» «Komm wieder auf den Boden, Zenaida.» «Was für ein beschissener Dezember! Si la sol fa mi re do … Ich bin doppelt gestraft», sagte die Kubanerin und wusch den Kaffeetopf aus. «Ach, Señora Kropotkina …
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Wie kann jemandem nur mit vierundachtzig Jahren einfallen, Klavier spielen zu lernen? Hilfe!» «José …», setzte Lorenzo an. «José soll warten.» «Wie bitte?» «Ihr sagt immer ‹wie bitte›. Wir Kubaner nie. So, so, José hat also noch nie gevögelt. Hm. Und du hast ihm geglaubt?» «Nun ja, warum sollte er mich anlügen?» «Der Arme», sagte Zenaida. «Der Arme? Ihr Kubaner sagt immer ‹der Arme›.» «Liebevoll gemeint», sagte Zenaida. Sie seufzte tief. «Wenden wir das Gelernte an. Zuchthäusler ohne Frau, multipliziert mit dreiunddreißig Jahren und geteilt durch zwei, ergibt eine Frau aus Matanzas namens Zenaida Fagés. Quod erat demonstrandum: Die Schwarze soll den Affen vögeln.» «Entschuldigung, ich wollte dich nicht verletzen. Ich dachte, du kennst vielleicht jemanden … Vergiss es. Ich habe nichts gesagt.» «Ich werde das Land verlassen, Lorenzo.» «Du bist doch gerade erst in Santa Fe angekommen. Havanna, Lima, Panamastadt, San José in Costa Rica, Cancún, Miami …» «Nicaragua ist mir durch die Lappen gegangen. Ich hatte alles vorbereitet, den Rucksack, meine Schulhefte, die Taschenlampe …» «Und wo willst du hin?» «Das ist das Einzige, was ich noch entscheiden muss: den Ort. Was für ein Finale im Kabarett, Donnerwetter! Hat man es gehört, dass ich alle zum Teufel geschickt ha-
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be?» Zenaida erwartete keine Antwort. «Meine Schätze passen in diese vier Koffer. In Koffer A1 verstaue ich die guten Kleidungsstücke. In Koffer A4, was man täglich so braucht. In Koffer A3 die Geschenke. Der A4 ist leer. Man könnte glauben, dass ich darin die Briefe, die ich aus Havanna erhalte, archiviere und klassifiziere. Ob ich wohl in der Lotterie gewonnen habe? Ich ändere meine Zahlen nie. Die 8, Tag der Jungfrau der Barmherzigkeit. Die 13 ist ein Glückstag. Die 19, weil ich am neunzehnten Mai in ein Flugzeug nach Lima gestiegen bin. Die 21, weil ich damals so alt war. Die 24 wegen Heiligabend. Die 34 weiß ich nicht, weil mir die 33 nicht gefällt, sie ist tückisch. Manchmal die 41 und manchmal die 47. Ich gehe weg, Lorenzo. Dieses Land ist nicht für mich gemacht. Wird in Santiago de Compostela Karneval gefeiert? Wenn nicht, leiste ich deinem José Gesellschaft.» «Was machst du?» «Na, mit ihm schlafen. Was soll’s. María Coronado sagte, dass ich im Leben sehr leiden würde, denn ich hätte das Aussehen, den Körper und das Vokabular einer Prostituierten, bin aber keine: Ich mag Sex, er gefällt mir, aber ich habe Prinzipien. Drei oder vier Prinzipien. Das reicht. Ich habe noch nie in einem Käfig gevögelt.» «Du machst mir Angst.» «Das muss lustig sein. Ticktack. Solidarität. Ticktack. Solidarität mit den Brudervölkern dieser Welt. Ticktack. Solidarität! Solidarität mit den Leidenden, den Einsamen und den unglücklichen alten Weibern wie mir! So heißt es bei uns auf Kuba. Ich mache mir selbst Angst, Lorenzo. Liegt Santiago de Compostela in Galicien? Und wo ist Galicien?» «Verflixt.» «Warum nimmst du dir nicht den Bart ab?» «Darum.»
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«Gute Antwort. Sehr gut.» Lorenzo verspürte Atemnot. Als junger Mann in den Wanderzirkussen hatte er sporadisch Atemprobleme gehabt. Jetzt waren es Krämpfe der Wut, Schläge des beschissenen Lebens. Es gibt Wesen, die wissen nicht, wie ihnen geschieht. Sie werden gekreuzigt geboren. Menschen oder Tiere. ‹Gott›, dachte der Campechaner, ‹kann höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein.› Nur so konnte der Durchschnittsbewohner dieses Erdenreiches die Eigentümlichkeiten, Geheimnisse und Launen des Universums verstehen: als das Meisterwerk eines Kindes. Lorenzo beugte sich zum Fenster hinaus. Silasolfamiredo. Señora Kropotkinas Tonleitern waren schwächer geworden. Zwischen den Noten dehnten sich lange Pausen. Do … Pavel Sulja kam in seinen scharlachroten Mantel gewickelt auf das Haus zu und müsste nach jedem dritten Schritt an Sandalios Schulter gelehnt ausruhen. Re … Die Nachbarn im Haus gegenüber hatten einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Sie waren gerade eingezogen. Es waren Weihnachtslieder zu hören. Mi … Eine Maus lief auf einem Stromkabel entlang. Rasch. Fa … In der Wohnung mit dem Weihnachtsbaum telefonierte ein grauhaariger Mann. Er schrie und legte auf. Sol … La … Eine Aluminiumscheibe versperrte der Maus den Weg, sie drehte sich um, verlor das Gleichgewicht und stürzte kreiselnd ins Nichts. Lorenzo zuckte die Achseln und zählte bis drei. Eins, zwei, drei. Der Aufprall. Er wartete auf das Si. Nichts, sie kam nicht, die Note. Si. Nichts. Pavel Sulja hob die in ihrer schwarzen Blutlache zappelnde Maus auf. Vier Schritte vor und er warf sie in den Mülleimer. Zenaida ging zu Lorenzo und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. «Jetzt weiß ich’s, Larita: Galicien liegt in Nordspanien, neben Andalusien. Nein, in der Mitte. Unterhalb von Asturien», sagte sie.
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«Was machen wir, Zenaida?» «In der Nase bohren und Nägel kauen.» «Ich meine es ernst.» «Das ist deine Sache, ich will nicht ernst sein.» «Schlag etwas vor.» «Was denn? Das nicht … Das nicht … Das auch nicht. Ah, ich werde über Leben und Wunder von Marquis Queensberry Nachforschungen anstellen.» «Hörst du die Musik nicht?» «Doch, ich höre sie.» «Die Leute feiern. Die Nachbarn im Haus gegenüber haben einen wunderschönen Baum aufgestellt. Das Nichtstun bringt mich um.» «Keine Dramen, Larita, keine Dramen.» «Verflixt: Lass uns José besuchen gehen.» «Nachts bringt mich nichts in den Zoo.» «Ich fühl mich wie ein Dummkopf, der hier sitzt und Kaffee trinkt, der nach Kork schmeckt. Es ist Neujahr. Man müsste Pläne, Schwüre, Geschenke machen. Weißt du, warum ich mich nicht rasiere? Willst du es wirklich wissen? Du hast mich so oft danach gefragt … Ich rasiere mich nicht, weil ich dank dieses Schnurrbartes zwölf Minuten vor dem Spiegel verbringe, mit Papas Rasiermesser in der Hand, ein sehr scharfes Messer, es schneidet ein Haar in zwei. Zwölf Minuten, ohne an etwas anderes zu denken …» «Das Leben ist nichts wert, wenn man einen Bruder überrascht …» «Und sag mir, wenn ich mich nicht rasiere, was tue ich dann? Was? Weitere leere, nutzlose, hohle zwölf Minuten … Mein Gott! An manchen Tagen wache ich nervös auf
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und meine Hand zittert. Am Abend habe ich vielleicht gezittert, denn heute habe ich mich zweimal rasiert, am Morgen und bevor ich in den Luna Club gegangen bin. Schon als ich mich einseifte, wusste ich, dass es nichts werden würde. Ich hasse Blut. Deshalb wird der Schnurrbart immer dünner: weil ich nicht immer eine ruhige Hand habe. Eine falsche Bewegung, und dann muss ich ihn ausgleichen. Schnurrbärte müssen gleichmäßig sein. Früher war er üppig. Nichts zu machen, jetzt ist er ein Strich … Manchmal ziehe ich ihn mit Augenbrauenstift nach.» «Lorenzo.» «Eines Tages wird mir nichts anderes übrig bleiben, als ihn abzurasieren … Ich gehe.» «Geh nicht, mein Junge. Schau, wir können so vieles tun. Wir können eine Dose mit Guavenscheiben aufmachen, der Señora Kropotkina das Piano zertrümmern oder auf die üblen Zeiten scheißen, in denen wir so verpfuscht auf die Welt gekommen sind. Oder singen, Lorenzo, singen: Das Leben ist nichts wert, wenn man einen Bruder überrascht, der schon wusste, was auf ihn zukommt … Sing mit mir …» «Wir sind alle verrückt im Kopf. Hast du auch keinen verdammten Freund, den du anrufen und bitten kannst, ob er dich zu einem Glas einlädt? Einen Verwandten, einen Bruder, einen Großcousin, ich weiß nicht, irgendwen. Einen Hund. Einen Dummkopf. Irgendwen. Du bist doch mit der halben Welt befreundet, meine Königin. Ist doch so, oder?» «Lorenzo, Junge …» «Ich kenne den Mann, den du am Strand gegrüßt hast. Dieser Puertoricaner bildet sich ein, er sei Philosoph, obwohl er wie ein Richter aussieht. Der hat vor ein paar Monaten im Zoo vor Joses Käfig nach den armenischen Pfer-
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den gefragt. Stell dir das bloß vor, armenische Pferde!» «Sam. Er heißt Sam Ramos. Ein guter Freund.» «Armenische Pferde! Diese Rasse gibt’s gar nicht. Aber nein, Sam Ramos, oder wie der Dicke heißt, wollte die armenischen Pferde sehen, und zum Teufel mit den verdammten armenischen Pferden: Pferde aus Armenien! Denn sein Schwager hat gesagt, dass die armenischen Pferde einzigartig auf der Welt sind, und sein Schwager lügt nicht; also brachte ich ihn zum Stall der mexikanischen Pferde und sagte zu ihm: ‹Hier sind die berühmten armenischen Pferde, Genosse.› Angelegenheit erledigt.» «Lorenzo …, mein lieber Lorenzo.» «Weißt du, wie viele Menschen in dieser verdammten Stadt leben?» «Mein allerliebster Lorenzo, mein geliebter Lorenzo, mein Herzblatt …» «Ein Scheiß. Sieh mal, wie viele Lichter, und ich weiß nur, wo vier oder fünf ausgehen …» «Schon gut, Genosse, hör mir doch endlich zu!», explodierte Zenaida. «Was ist los? Warum schreist du so? Was habe ich denn gesagt? Ich habe nichts gemacht. Nichts. Entschuldigung.» «Lorenzo, Lorenzo, Lorenzo, schlaf heute bei mir, los», sagte die Mulattin. Sie stöckelte nicht sonderlich rhythmisch auf und ab. «Ich habe eine Idee: Wenn du bei mir schläfst, zeige ich dir, wo der Große Bär ist. Ich schwör’s dir … Das ist mein Geschenk. Beruhigt?» «Verdammt.» «Und werd nicht wild.» «Nein, ich werde nie wild.»
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«Aber nimm die Krawatte ab.» «Die Krawatte?» «Die Krawatte. Bei irgendeinem Teil muss man schließlich mit dem Ausziehen anfangen. Die ist süß …» «Wirklich?» «Das ist die hübscheste Krawatte, die ich je gesehen habe.» «Sie gehörte José», sagte Lorenzo. «Dieses verrückte, verrückte, verrückte Leben …» «Hoffentlich gewinnst du in der Lotterie.» «Hoffentlich.» Zenaida legte eine Kassette in den Recorder. Radiowecker National: vier Uhr morgens. Und das sind die Meldungen: Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde: die Vergangenheit ändert sich nie. Ticktack. Ticktack. «Schau, Lorenzo, da unten schaltest du mein Lämpchen aus. Man muss nicht Christoph Kolumbus sein, um mich zu entdecken, nicht wahr?», sagte die Mulattin, als sie die Tagesdecke vom Bett zog. Kubanische Nacht.
ZWEITER TEIL
Warum nur muss ich, Adelaida, in diesem Urwald sterben, wo ich mit eigener Hand den wilden Tieren Futter gab? Raúl Rivero
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alo die Katze schrieb José in sechs Monaten dreißig Briefe. Keiner davon war ein Liebesbrief, aber alle trugen in Schönschrift den Titel: Chronik meiner Eroberungen. Jeder Umschlag enthielt Karikaturen, Nachrichten von Todesfällen, erotische Erlebnisse oder getrocknete Nadeln einer Kiefer, die im Gefängnishof stand. Der Kubaner freute sich über diese parfümierten Aufzeichnungen, in denen sein «treuer Leibwächter» ihn über die Ereignisse im Staatsgefängnis auf dem Laufenden hielt. Aus den letzten Briefen war herauszulesen, dass es ihm nicht gut ging. Vier oder fünf pessimistische Sätze zeugten vom Schwinden seiner Hoffnung. «Schade, dass es in Zoologischen Gärten keinen Platz für Katzen gibt. Na ja, in der Welt auch nicht. Morante hat mir eine Zeitschrift mit einem deiner Interviews besorgt. Gute Antworten hast du gegeben. Und was für ein Foto, Pepe! Der Kimono ist allerdings schrecklich. Die Klamotten sollte besser ich dir entwerfen. Am Ende wirst du in irgendeiner Fernsehserie der Liebhaber sein, und dann wird mir niemand glauben, dass du und ich Freunde waren», kommentierte er auf einer Postkarte. «Dass sie mich nicht lieben, stört mich nicht. Neu ist, dass sie mich hassen. Ich fühle mich wie ein Stück Seife auf dem Badezimmerboden.» José schickte ein Eiltelegramm, aber Morante und Pater Jordán brachten nach all dem Herumrätseln schließlich Klarheit. Wächter und Pfarrer trafen an einem Montagmittag, ohne sich abgesprochen zu haben, bei José ein. Der Kubaner bereitete sich gerade auf eine Fotosession für eine Kampagne vor. «Mensch sein», betete der Slogan, mit dem die Marketingleute beabsichtigten, die Welt mit ei-
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nem Kreuzzug aufzurütteln, der, wäre er keine Farce gewesen, durchaus seine Berechtigung gehabt hätte. José freute sich, als er die beiden auf entgegengesetzten Wegen näher kommen sah, und forderte sie zum Eintreten auf. «Gott und Teufel zusammen im Zoogefängnis», sagte er stolz zu Tigran dem Schrecklichen, seinem Hofschneider. Die Besucher blieben draußen. Morante wollte ihn um ein paar Gefallen bitten. Der erste: ein Empfehlungsschreiben. Sein Sohn Langston strebte ein Stipendium des EmersonInstituts an, und eine Bürgschaft von Pepe Kid wäre von unschätzbarem Wert. Der Junge sei «das einzig Gute, was mir im Leben widerfahren ist», sagte er. Wölfe können in Schafspelze schlüpfen. José schrieb den Brief auf der Stelle und setzte ein politisches Zitat von Oscar Wilde an den Anfang. Kaum war die Angelegenheit erledigt, trug der Wächter ohne Umschweife seine zweite Bitte vor: «Wegen Lee Shelton habe ich meine Arbeit verloren. Stimmt’s, Pater? Er hat keinen heilen Knochen mehr. Vielleicht kann ich im Zoo Arbeit finden. Du kennst mich: Ich war immer unter Raubtieren … Hast du etwa die guten alten Zeiten vergessen?», sagte er und ließ einen seiner Goldzähne aufblitzen. «Gott möge dir vergeben, Morante», sagte der Pater. José versprach nichts, willigte aber ein, die Angelegenheit den für den Zoo Verantwortlichen vorzutragen. «Erzählen Sie’s ihm, Anselmo», sagte Morante. Der Pfarrer überbrachte zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte. Die gute war mittelmäßig: Ruy der Doktor war aus der Haft entlassen worden und würde bald sein Buch mit dem Titel Mann für Mann: José und ich veröffentlichen. Die schlechte konnte schlechter nicht sein: Lee Shelton hatte Galo in der Waschküche zwischen den dampfenden Kesseln auseinander genommen. Er hatte ihm
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acht Dolchstiche versetzt. Die Katze kämpfte um ihre sieben Leben. Die Schmutzwäsche war blutgetränkt. Morante zermalmte Shelton. «Galo starb, ohne gebeichtet zu haben», sagte Pater Jordán. «Aber ich vergebe ihm auf eigene Rechnung und eigenes Risiko.» Galo: Chronik seiner Eroberungen. Ein Stück Seife auf dem Badezimmerboden. Eine Katze im Fenster. Die Nachricht ließ José zusammenbrechen. Tigran der Schreckliche wollte die Fotosession absagen, aber die von der Werbeagentur beschwerten sich bei Doktor Magalhaës, und José blieb nichts weiter übrig, als die Vertragsvereinbarungen zu erfüllen. Die Fotos, die von ihm in einem fleischfarbenen Lendenschurz in Caracol Beach gemacht wurden, waren nicht zu gebrauchen, weil es keinem der Assistenten gelang, Joses tieftraurigen Gesichtsausdruck zu ändern, denn seine Augen wirkten so eingefallen, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Ein leichter Wind wirbelte Sand auf. Zwischen Kissen aus Algen und Beerentang trieben zwei Möwen. Keine einzige Wolke am Himmel. Leere Dosen. Alte Wellen. Wie können Wellen alt sein? Eine alte Frau rollte ihre Unterhose auf und ging anderthalb Meter weit ins Wasser: Vor dem Altar des Horizonts erinnerte sie sich schweigend an etwas. Sie feuchtete sich die Hände an und erfrischte sich das Gesicht, den Hals, den Bauch. Wenn sich José nicht in den Wellen der Erinnerung ertränkte, wenn sich die Sehnsucht nach seiner verlorenen Kindheit in den Hafenmolen von Havanna mit der Brise abschwächte, wenn er an dieser Kokospalmenküste nicht vor lauter Zorn starb, wenn er sich nicht in diesen Ozean der verwitweten Fischersfrauen stürzte, dann deshalb, weil Galo sein ganzes Erinnerungsvermögen einnahm und nicht einen Zoll für andere traurige Gedanken frei ließ. Als er in den Zoologischen Garten zurückkehrte, wurde er von
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Berta Sydenham erwartet: «Ich wollte dir die Nachricht überbringen», sagte sie und überreichte ihm die Zeitung. «Danke», erwiderte José. Auf der Titelseite wurde berichtet, dass der Weihbischof von Paris den «ausgestellten Menschen» in der Sonntagsmesse erwähnt hatte. José schrieb mit Bleistift Folgendes über die Schlagzeile: Der wilde Galo Lautier ist im Gefängnis von Santa Fe gefallen. Frösche. Die Litanei der Frösche. Das Eichhörnchen Phefé nistete in der Kaminattrappe. Es sah aus wie eine Baskenmütze. José schlief unruhig. Er konnte den Alptraum im Einzelnen nicht erinnern, gerade ein oder zwei Sequenzen: dass am Fuße des steinernen Christus eine Dose im Wasser schaukelte und dass er eine Hand voll Regenwürmer ins Waschbecken schüttete und die Regenwürmer alle auf einmal im Abfluss verschwanden. Selbst in seinen Träumen fiel es ihm schwer, nach Kuba zurückzukehren: Eine Hummel kann nicht von Santa Fe nach Havanna fliegen. Er massierte sich die Knöchel. ‹Gott will, dass es Gott gibt›, dachte er. Und dann dachte er an Perucho. Er stellte sich ihn in einem der Korbsessel vor. Das Khakihemd bis oben hin zugeknöpft. Hosenträger. Ein Bleistift in der Hosentasche. Die Stricknadeln, zwei Schwerter. Was für ein Schal! Irgendwo bellten Hunde. Stadthunde. Der Mensch ist eine russische Puppe, die in sich all die Geschöpfe beherbergt, die er einmal gewesen ist; bei seinem Tod werden alle anderen wieder zum Leben erweckt: das unschuldige, das abenteuerlustige und das schuldige, das schwache und das mächtige, das gefolterte und das folternde, das friedliche, das edle und das wilde. Jedes hat seinen Preis oder seine Strafe. Nur Auserwählte zerbrechen nicht. In die Decke gewickelt wie ein napoleonischer Soldat bei der Belagerung von Moskau, ging er in den vorderen Raum und lugte durch die Gitterstäbe hinaus. Das Bonobopaar
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kopulierte in einem Nest aus Salaten. Im ganzen Tierreich vögeln nur sie und die Menschen mit dem Gesicht zueinander und nicht ausschließlich zur Reproduktion. Auf dem Rücken liegend, gab das Bonoboweibchen mit seinen Extremitäten den Rhythmus vor und stützte den Hals des Kopulierenden. Genießerisch. Seufzend. Sie hatte ihn. Sie umarmte ihn. Sie glühte. Sie zog ihn an den Ohren. Sie biss ihn. Sie schlug ihn. Sie versenkte ihn in ihren Leib. Das Bonobomännchen schwamm zwischen ihren Hinterbacken und bewegte die Hüfte, um das Gewölbe dieser – seiner – wilden Höhle zu dehnen. Sein Spaten suchte die Tiefe, Tiefgang der Penetration, der Macht. Dieser Körper war sein Schlupfwinkel. Sie kamen gleichzeitig. Das Bonoboweibchen blieb gekreuzigt auf dem Boden liegen; er stieg von ihr herunter und hängte sich an die Schaukel. Das hinterlistige Männchen der Pisaura-Spinne schenkt seinem Weibchen eine in mehrere Seidenfäden eingesponnene Fliege, und während sie mit dem Auswickeln beschäftigt ist, nähert er sich von hinten und begattet sie. Wenn ein Löwe die Chefposition einer Herde anstrebt, tötet er die Jungen des vorigen Oberhaupts, um den Milchfluss zu unterbrechen und damit zu erreichen, dass die Weibchen erneut läufig werden. Der Koitus der Paviane dauert eine halbe Minute. Die australischen Beuteltiere machen es gerade einmal im Jahr, aber elf Stunden lang. Die Tigerin hat keinen Eisprung, wenn die Penetration nicht schmerzhaft ist. Die Gottesanbeterin beginnt noch vor Beendigung des Sexualrituals, ihren «Ehemann» aufzufressen, der, auch wenn er schon keinen Kopf mehr hat, seinen Unterleib eifrig weiterbewegt. Die Ratten kopulieren bis zu vierhundert Mal in weniger als zwölf Stunden. Das Liebeswerben der Auerhühner kann länger als eine Woche dauern, die Vereinigung sieben Sekunden. José bekam Hunger. Guido Golgi hatte ihm ein paar Kartoffel-
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pfannkuchen à la Vonassienne unter Zellophan dagelassen. Diese Mahlzeit gehörte nicht zum offiziellen Speiseplan des Häftlings. «Verzichte nicht auf dein Leben», hatte der Freimaurer ihm befohlen. José hatte es von der Tür im Besucherraum aus gehört. Er ertrug keine Abschiede. Er hörte ihn weggehen und bei jedem Schritt den Guavenstock aufsetzen. José hatte sich in die Hand gebissen, um seinem Patenonkel nicht hinterherzurufen, wie sehr er ihn liebte. Die Nacht, ferne Nacht. Vor Cucos Käfigtür breitete sich ein Teppich aus Bananen aus. José pflegte früh aufzuwachen. Hatte er im Gefängnis nicht gewusst, was tun, um in die Wildwasser des Schlafes zurückzufinden, wo ihn die Erinnerungen an die kleine Lulú erwarteten, ließ er sich im Zoo davon verzaubern, das anbrechende Morgengrauen an Santa Fes Küste zu beobachten. Er hatte vergessen, dass die Nacht einen Klang hat: Selbst die Steine singen göttlich im Chor. Es ist die Stunde des Gewürms, der Nacktschnecken, des Ungeziefers; die Stunde, in der die Insekten an die Oberfläche kommen und die Materie sich zersetzt, Metalle verrosten, Früchte verfaulen und die Luft nach Sperma, das Meer nach Gebärmutter, die Erde nach Menschlichkeit stinkt. Das Rhinozeros stampfte den Planeten. In diesen Augenblicken tiefster Betrübnis stellte er sich gerne Menelao und Rita schlafend in ihrem warmen Bett vor. Er wusste sehr wohl, dass er an keinem dieser Familienträume beteiligt war. Die Eisenstangen schwitzten Tau, und José spielte mit dem Gedanken, sie aufbiegen zu können: Er spuckte in die Hände, stellte sich in Position und zog an den Stäben. Die Hoffnung, dass es ihm gelänge, so unwahrscheinlich sie auch sein mochte, so kurz sie auch anhalten mochte, lenkte ihn von der Einsamkeit ab. Die Pfannkuchen à la Vonassienne rumorten in seinem Magen. Er strengte sich mächtig an, um vor einer neusee-
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ländischen Schulklasse, die in Caracol Beach ihre Ferien verbrachte, seine Rolle des gefährlichen Mannes zu spielen und um die Bitten von ein paar New Yorker Salsasängern zu erhören, die ihn auf dem Cover ihrer neuen Platte haben wollten. José bediente sie, so gut er konnte, von der Toilettentür aus. Der Pirol setzte sich auf die Schaukel des Orang-Utans. Er trällerte. Plötzlich flog er zu einem Jacarandabusch. Dann kehrte er zu dem Ring zurück. Sein Partner baute auf einem Ast ein Nest. Unumstrittener Star war der Wollhaaraffe. Er war so tatkräftig und kreischend aufgewacht, dass er seinem Spitznamen «Bonvivant» alle Ehre machte. Als einer der Sänger seine HollywoodAllüren mitbekam, meinte er, der Affe erinnere ihn an Chevalier. «Der gäbe bestimmt ein wunderbares Cover für deine Platte ab. Ein perfekter Bonvivant. Mein Konterfei siehst du inzwischen sogar auf Suppentüten», sagte José. «Ich war gerade auf Kuba», sagte der Sänger und stellte sich unter dem Pseudonym Boby Camagüey vor. «Ich habe meinen Bruder besucht. Seit zwanzig Jahren habe ich ihn nicht gesehen. In der Heimat erzählt man sich einen Haufen Witze über dich. Ich habe dir ein paar Briefe und ein Geschenk mitgebracht.» «Entschuldige, Partner, ich komme gleich wieder. Frühstücke niemals Pfannkuchen à la Vonassienne.» José ging aufs Klo. Boby Camagüey suchte in seinem Rucksack nach einem in Seidenpapier eingewickelten Päckchen. Er schob es durch die Gitterstäbe. José öffnete es später, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Er zuckte zusammen. Es waren ein Dutzend Briefe und die kubanische Flagge. Die Flagge brannte ihm in den Fingern. Die Zoodirektion feierte ihren Erfolg auf spektakuläre Weise: Mitten im Ententeich wurde ein Fesselballon instal-
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liert. Die Mitglieder der Stiftung Nueva Viña garantierten, dass der auf den Ballon gedruckte, riesige Kopf des Kubaners von jedem Winkel Santa Fes aus zu sehen sei: «Der Mensch ist dem Himmel nah», hieß es in Richtung Steuerbord. Den Umfragen zufolge wurde José als einflussreicher Mitbürger anerkannt. Zwei staatliche Universitäten luden zum materialistischen Nachdenken über die genetische Entwicklung der Spezies ein, und drei katholische Universitäten nutzten die Gelegenheit, um die biblische Romanze von Adam und Eva aufs Tapet zu bringen. Im Schulunterricht wurden T-Shirts von José, dem Tischler, gehandelt. Die in jedem Straßencafé hervorsprießenden Pseudohumanisten verbreiteten die aberwitzigsten Theorien. Ein honduranisches Gasthaus kündigte an, seinen Namen Die Wiege in Das Leichenschauhaus umzutaufen und Eintöpfe und Schnitzel aus Menschenfleisch anzubieten. Als die Männer von Unteroffizier Salomon Carey, von den Nachbarn der Kannibalen-Wirtschaft gerufen, das Lokal schlossen, stellte sich heraus, dass es bereits seit Wochen Lieferservice frei Haus angeboten und, unterstützt von der Unverfrorenheit des Kochs, Katzenfleisch als Hase verkauft sowie mangels bereitwilliger Spender mit Nasenbärfleisch gehandelt hatte. Seine Feinde, geringer an der Zahl als seine Bewunderer, aber höheren Ranges, meinten, dass man zu weit gegangen war. Sieben Zoologische Gärten des Landes setzten Homos in ihre Affenhäuser, um den provokativen Santa Feer Zoo zu imitieren: Die Aktion war ein Reinfall. Die Leute wollten einen echten González. «Freundinnen und Freunde, Pressevertreter: Menschen gedeihen in Gefangenschaft nicht», sagte Doktor Juscelino Magalhaës und setzte ein viel sagendes Lächeln auf. «Schuld daran ist dieses Ding, das wir Herz nennen», fügte Peggy Olmedo hinzu. Regla wollte Wasser auf ihre Mühle gießen: ‹Jetzt oder nie›, dachte sie. Ihr Ehrgeiz kannte keine Grenzen. Unter-
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stützt von der eifrigen Peggy, eröffnete sie in der Einkaufszone des Zoos, ungefähr fünfhundert Meter vom Affenhaus entfernt, einen Laden: Pepes Bodeguita. Als Menelao von den Plänen seiner Tochter erfuhr, schloss er sich in die Tischlerei ein und zündete der Jungfrau der Barmherzigkeit eine Kerze an. Die Arteriosklerose hatte begonnen, seinen Organismus zu zerstören. In heiklen Situationen verhielt sich der Tischler wie ein Jugendlicher und kannte keinen anderen Selbstschutz, als sich mit harter körperlicher Arbeit abzulenken. Dort harrte er in die Arbeit vertieft oder zu seiner Schutzheiligen betend aus, bis die Krankheit auch den Grund seiner Verärgerung ausgelöscht hatte und er so erschöpft sein Refugium verließ, dass der Körper nach einem Bett verlangte, wo er seine Spinnereien auskurierte. «Nimm deine Tabletten, Papa», sagte Regla, nahe daran, die Geduld zu verlieren. Zur Erziehung ihrer beiden Kinder und der Führung des vernachlässigten Haushalts gesellte sich jetzt die Betreuung eines altersschwachen Fossils, das sich nach so viel Unglück schließlich für alles verantwortlich fühlte, was um ihn herum geschah: Wenn eines der Enkelkinder bei einer Prüfung durchfiel oder wenn er sein Buschhemd bekleckerte oder wenn die Bahamas von einem Orkan heimgesucht wurden, sagte Menelao, dies sei seine Schuld – alles meine Schuld –, seine große Schuld, und dann ging er in die Werkstatt und hämmerte drauflos. Als einzige Lösung blieb, ihn zu den Freimaurern des blinden Perucho Carbonell ins Altersheim zu stecken, obwohl Regla sich weigerte, denn man konnte sie eine skrupellose Händlerin oder sogar eine grausame Schwester nennen, aber niemals eine herzlose Tochter. Die Hammerschläge ließen das Haus erbeben. «Wenn du mir nicht im Laden helfen willst, dann lass es. Wenn du sterben willst, dann kündige es nicht länger nur
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an», sagte Regla. Menelao öffnete die Tür. Er war im Unterhemd. Das Unterhemd voller Sägespäne. Die Sägespäne mit Schweiß getränkt. «Du gehst mir auf die Nerven, Papa.» «Am Mittwoch habe ich José besucht. Ich habe mich versteckt, weißt du? Er ist gesund», sagte Menelao. «Der Blitz soll ihn treffen.» «Er ist dein Bruder.» «Ich habe keine einzige gute Erinnerung an ihn!» «Und das Floß? Er hat dich gerettet.» «Du weißt genau, dass das Perucho war. Ach, ich mag nicht mehr darüber reden.» Menelao nagelte einen Kleiderschrank zusammen. «Undankbares Wesen. Gib mir die Nägel rüber. José war’s …» Die Kerze auf dem Altar war fast abgebrannt. Regla hatte den Eindruck, dass ihr Vater ein paar Zoll geschrumpft war, er musste auf einen Melkschemel steigen und auf Zehenspitzen arbeiten, um das Möbelstück zu tischlern. Seine Wirbelsäule zeichnete sich unter dem Hemd ab. «Hier hast du die Nägel.» «José ist ein guter Junge.» «Wechsle die Platte: Sie ist zerkratzt.» «Einmal, in Havanna …» «Havanna ist weit weg …» «José verehrt mich. Du hingegen …» «Ich habe niemanden umgebracht, Papa.» «Du bringst mich um.» «Ach, verdammt.» «Ich bin ein Versager. Erinnerst du dich an den Tag, als José diesem Jungen den Meißel reinrammte und uns an-
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rief? Er sagte das vor Gericht … Ich habe das Klingeln gehört, konnte aber nicht aufstehen. Ich war so müde …» «José, José … Er hat dir nicht mal erlaubt, ihn im Gefängnis zu besuchen.» «Du lügst.» «José hat zu dir gesagt: Ich will dich nicht mehr sehen, Batistaanhänger, Mitläufer.» «Ich und Mitläufer!» «Das hat er gesagt, erinnerst du dich?» «Nein, ich erinnere mich nicht. Ich war nie ein Batistaanhänger. Wenn deine Mutter dich hören könnte, würde sie dir eine Ohrfeige geben.» «Leg den Hammer weg.» «Ich muss das Möbel fertig machen.» «Was für eine Scheiße, verdammt.» «Ja, was für eine Scheiße.» In den Werkstattregalen türmten sich zwischen Mausefallen und Tischlerwerkzeug Berge der alten Zeitschriften Carteles und Bohemia, Liedersammlungen aus den fünfziger Jahren und alte Zeitungen. Ein altes Schrankradio. Ein Aquarell von General Antonio Maceo im Profil. Regla schlang die Arme um die Hüfte ihres Vaters und nötigte ihn, von dem Schemel zu steigen. Er war ein Knochenbündel. Ein Enteigneter. Er roch nach Zedernholz. Menelao ließ sich führen. «Wann heiratest du endlich?», fragte er. «Komm essen. Ich habe dir gebackene Malangas gemacht.» «Du bist älter und hässlicher als der Teufel. Und deine Mutter?» «In Havanna, Papa. Leg dich ein Weilchen hin oder setz dich vor den Fernseher, mach schon.»
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«Havanna ist riesig. Sag ihr, sie soll kommen», rief Menelao. «Mama, wir haben Hunger!», riefen die Kinder aus dem Wohnzimmer. «Mama, wir haben großen Hunger!» «Das Essen steht in der Küche, seid nicht so faul. Nehmt euch schon.» «Das ist die Höhe! Ich und Batistaanhänger!» «Opa, Ivo will mich verhauen!» «Hilf mir bitte, Alter; hilf mir ein bisschen. Sonst explodiere ich, bumm!», sagte Regla. «Gelogen, Mama, es ist Isidro.» «Seid still, verdammt nochmal!» «Was sollte ich tun?», sagte Menelao. «Wovon redest du?» «Sie haben mich gezwungen. José versteht mich. Ich habe einen der Angreifer beschützt, verdammt. Und Rita? Riiiita!» «Schrei nicht so, Papa.» «Ein Junge, er war groß. Als die Gefahr vorüber war, habe ich es geschafft, ihn in gute Hände zu geben. Jemand hat mir erzählt, dass er am Leben ist. Ich erinnere mich nicht mal mehr an seinen Namen. Als wir uns das letzte Mal in El Cobre sahen, hat er mich vielleicht umarmt. Und Perucho? Ruf ihn im Altenheim an. Frag doch ihn. Ich war nie ein Mitläufer. Ich bin vierundfünfzig verabschiedet worden. Riiiita!» «Hör auf, Isidro, hör auf … Eiiiis!» «Es gibt kein Eis, verdammt.» «Ich habe das Telefon abgenommen, aber José hatte eingehängt. Ein Klingelzeichen mehr, und ich hätte ihn im Coral Park aufgelesen. Perucho und ich hätten ihn außer Landes geschafft.»
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«Ach, was soll’s. Ich geh in den Laden», sagte Regla. «Perucho strickt mir eine Weste.» «Lieber Gott, gib mir Geduld. Regelt das unter euch. Hier ist das Essen.» «Aber Rita ist doch tot, Regla. Warum sagst du, sie sei in Havanna, du warst doch selbst auf ihrer Beerdigung. Verflixt. Ich nicht. Ich konnte nicht. Wo war ich?» «Im Kühlschrank sind noch Kroketten», sagte Regla. «Donnerwetter, Donnerwitterchen! Wo war ich?» Pepes Bodeguita war unleugbar die Neuheit in der Einkaufszone. Regla verkaufte in großen Mengen Poster von José als Kind, Familienfotos und Kimonos von Tigran dem Schrecklichen. Die am meisten gefragte Ware war ein Gesellschaftsspiel mit dem Namen Homopoly. Das Labyrinth der Möglichkeiten, die von der Laune einiger Würfel abhingen, bot Schauplätze aus Joses Leben, unter anderen Menelaos Werkstatt, die Festung von Santiago de Cuba, die Moncada-Kaserne, die Meerenge in Florida, den Platz der Revolution, den Zoo in der 26. Straße, die achte Straße in Miami, den Coral Park, die Strafzelle, die Löwenprärie und auf der Zielgeraden des Spiels Wesley Cravans Grab und Joses Käfig. Obwohl das Geschäft besser lief, als vorauszusehen gewesen war, und Peggy plante, in Key Biscayne eine Filiale zu eröffnen, besuchte Regla ihren Bruder nie, nicht einmal, als Camila sie von Frau zu Frau darum bat. «Suchen Sie etwas Spezielles?», fragte Regla, als diese kurz vor Schließung den Laden betrat. «Ich schau mich mal um.» «Nehmen Sie sich ein Souvenir mit. Mein Bruder bringt Glück.» «Ich interessiere mich für das Album.»
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«Wunderbar. Schauen Sie. Die Familiengeschichte in hundert Fotos. Hier sehen wir unsere Mutter in einer Szene des Films Der Tod eines Bürokraten, Menelao und seinen besten Freund Perucho Carboneil, meinen Bruder am Tag der Urteilsverkündung. Meine Söhne Isidro und Ivo … Waren Sie schon mal in Santiago de Cuba?» «Noch nie.» «Sie wissen gar nicht, was Sie versäumt haben. Pure Karibik. Die Stadt ist für ihren Karneval berühmt. Der Céspedes Park, Cayo Smith, die Casa de la Trova …» «Besuchen Sie ihn oft?», unterbrach Camila. «Wen …?» «José.» «Selbstverständlich.» «Sie lügen.» «Ja, ich lüge. Sie auch», erwiderte Regla und gab ihre wachsame Haltung auf. «Ich kenne Sie, Doktor Novac. Was haben Sie gegen mich? Ich hasse Halbheiten. Treiben Sie mich nicht in die Enge.» «Ich weiß nicht, ich denke, Sie sollten ihn besuchen.» «Wozu?» «Um ihm beizustehen, zum Beispiel.» «Der will doch niemanden sehen. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?» «Meine Meinung ist unwichtig. Fragen Sie José.» «José, José, José … Immer nur José. Ich habe zwei Kinder und einen Alten zu Hause, der langsam verrückt wird. Mein Bruder hat nie an uns gedacht, warum soll ich an ihn denken? Verdammt nochmal.» Regla schnaubte. In dem Augenblick klopfte jemand an die Tür.
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«Komm rein, Liebling, komm rein», rief sie. Morante trat mit einer Flasche Rotwein in der Hand ein. Camila nutzte die Gelegenheit zum Gehen. Die Mädchen verbrachten ein paar Tage bei ihrem Vater. Ohne sie wirkte das Haus wie eine Familiengruft. Sie goss die Pflanzen. Sie musste ihre Hände beschäftigen: Schattenspiele an die Tür projizieren? José einen Brief schreiben? Es war ihr noch nie gelungen, sie zu bändigen. Sie waren immer unabhängig, ungezogen gewesen. Mädchenhände. Nur selten agierten sie in Einklang mit dem allgemeinen Gemütszustand, der die übrigen Körperteile beeinflusste. In der Kirche musste sie sie unter ihre Oberschenkel stecken, selbst auf das Risiko hin, ihnen das Blut abzuschnüren. Nachts vor dem Einschlafen fuhren ihre hellwachen Hände eine halbe Stunde lang unermüdlich über das Bettzeug und das Kopfkissen, bis sie des Herumzupfens überdrüssig wurden und sie sich ruhig auf der Bettdecke falteten. Auf einem Fest von Freunden war sie gezwungen gewesen, sich in äußerster Konzentration zu üben, um nicht die Blumengestecke zu befingern, denn ihre Hände waren nicht nur hyperaktiv, sondern außerdem ziemlich ungeschickt. Am Morgen ihrer Scheidung, als sie das Rauchen aufgab, hatte sie Max’ Füller so fest aufgedrückt, dass beim Unterschreiben die Feder abbrach und zwei Tintenkleckse auf dem Dokument zurückblieben. Würde sie sich trauen, ihre Fingernägel grün oder schwarz zu lackieren? Oder gelb? Camila fühlte sich in einer so unverschämten Angst gefangen, dass sie nicht einmal das teure Glück genießen konnte, alles auf dieser Welt zu haben, alles außer dem Glück, glücklich zu sein. Das Gehirn verlangte nach Nikotin. Nie zuvor hatte sie so oft daran gedacht, und durch das viele Denken kam sie zu dem Schluss, dass ihr Leben ein Haufen luxuriöser Mist war. Sie rief ihre Mutter an, und als sie die Nachricht auf dem
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Anrufbeantworter hörte: «Guten Tag, Sie sind mit dem Apparat von Señora Filip verbunden», dachte sie, sie hätte sich in der Nummer geirrt, denn sechs Monate lang hatte die Ansage «Guten Tag, Sie sind mit dem Apparat von Señora Caporella verbunden» gelautet. Aber dann hörte sie die Ansage zu Ende und konnte sich davon überzeugen, dass Señora Filip Señora Caporella war, soll heißen, Señora Novac, laut ihrer Geburtsurkunde auf den Namen Olga Ayala getauft. «Mein Kind, dieses und nächstes Wochenende hat mich ein Freund zur Regatta in Caracol Beach eingeladen. Falls du kommen willst, wir sind auf der Jacht La Gloria. Ich möchte, dass du Lazio kennen lernst. Er ist reizend.» Im Hintergrund war auf dem Band Roberta Flack mit ihrem Lied Killing me softly with this song zu hören. Camila surfte ein Weilchen durchs Internet. In einer Nachricht in ihrer Mailbox warf ihr eine kolumbianische Freundin die unbestreitbare Tatsache vor, dass sie sich nicht mehr so oft wie früher trafen. «Ich muss dir Bericht erstatten. Es ist alles den Bach runtergegangen. Die Zivilisation ist ein Scheiß. Ruf mich an, oder ich ziehe in den Zoo von Cali, wie in den Achtzigern dieser Ben Gunn, der sich in den Straußenhöhlen versteckt hat …» Camila las nicht zu Ende. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus: eine Feuerwehrsirene. Sie suchte den Horizont nach dem aufsteigenden Rauch eines möglichen Brandes ab. Nichts. Sie wollte Oscar Wilde lesen: Die einzige Entschuldigung dafür, etwas Nutzloses zu tun, ist, dass ich sie innigst bewundere. Die Kunst ist absolut nutzlos. Sie schlug das Album der González auf und suchte aufs Geratewohl ein Foto von José heraus, an Reglas zwanzigstem Geburtstag aufgenommen. Ein Schatten verdeckt Joses Gesicht. Er hat ein Wollmäntelchen an. Neben ihm steht Menelao. Die anderen lachen. Jemand bringt einen Trinkspruch aus. Régla mit Haarknoten. An der Wand ein Porträt von Antonio
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Maceo. Ein Schwan aus Gips und ein Schrankradio. Camila begriff, dass es auf dieser Welt andere, nicht vergitterte Gefängnisse gibt, aus denen nur schwer zu entkommen ist: das Gefängnis des Misstrauens oder die Falle der Vorurteile oder die Zelle der Resignation oder der Kerker der Gleichgültigkeit oder die Galeere der Lieblosigkeit oder das Verlies der Einsamkeit. Sie zog daraus den Schluss, dass sie alles Recht der Welt hätte, ihren Goldkäfig zu zertrümmern. Und sie ging José besuchen – diesmal durch den Hintereingang. Der Kubaner saß mit nacktem Oberkörper auf seiner Pritsche. Er aß Gnocchis mit Anchovis. Das Pirolweibchen brachte vom Nest aus, das ihr Partner in einem Jacarandabuschzweig gebaut hatte, seinen Jungen das Fliegen bei. Das Eichhörnchen schlief im Waschbecken. Es wirkte wie ein Raumschmuck. «Hallo», sagte Camila. «Die Gnocchis riechen himmlisch.» «Schmecken aber nach Packpapier. Was machst du denn hier?» «Ich muss noch arbeiten.» «Du kannst schlecht lügen.» «Ja. Ich weiß nicht. Meine Töchter machen Ferien in Caracol Beach.» Einem der Piroljungen war es gelungen, im Gleitflug bis zum Käfig des vergnügten amerikanischen Tamarin zu gelangen. Der Wollhaaraffe steckte seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe, um das Flugdebüt zu verfolgen. «Hast du dich mal gefragt, was aus mir wird, wenn ich ein Drittel des Jahrhunderts Gnocchis esse? Könntest du nicht meinen Speiseplan betreuen?» «Ich denke schon. Ich genieße zwar keine Sonderrechte, aber ein bisschen Einfluss hab ich schon. Worauf hast du Lust?»
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«Worauf ich Lust habe?» «Tagliatelle in Sahnesoße?» «Gestern hatte ich Tagliatelle in Senfsoße und Makkaronibrot zum Abendessen.» «Risotto mit Meeresfrüchten?» «Nur über meine Leiche.» «Ravioli?» «Soll ich’s dir verraten?» «Erzähl.» José erzählte es ihr nicht. Plötzlich zeigte er zum Himmel hinauf. «Schau mal! Jetzt fehlt nur noch, dass sie mir auf den Kopf scheißt», rief er lachend aus. Eine Ente hatte sich auf dem Fesselballon niedergelassen. Das Lachen des Kubaners, weit davon entfernt, ansteckend zu wirken, rief in Camila einen bitteren Geschmack des Bedauerns hervor. Der Besuch dauerte lange. Sie redeten über eine Vielzahl von Dingen. Von der hermaphroditischen Veranlagung der gewöhnlichen Nacktschnecke. Den Kimonos von dem Schrecklichen. Der Insel Martinique. Den Werften in Casablanca. Bränden. Nasen. Sie beide allein. Ohne viel Umstände.
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er Urwald brannte lichterloh. Aus der Entfernung eines Alptraums wirkten die Flammen kräftig und männlich. Wenn Camila Brände, Feuer, weiß glühende Lava oder Rauchsäulen sah, wusste sie, dass ihr Herz in Gefahr war, sodass sie den Traum vergaß und beschloss, die Frau mit dem zierlichen Näschen ausfindig zu machen, für die José lebendig verfaulte. Es war das Beste für alle, besonders für sie. Sie hatte genug Zeit. Und es fehlten ihr Gründe, zumindest gute Gründe, die die Gefühlsverwirrung erklärten, die sie seit einiger Zeit wie Vorzeichen einer sehr günstigen kosmischen Kabbala verspürte. An der U-Bahn-Station in der Einkaufszone hatte ihr ein Schutzpolizist ein Kompliment gemacht, und sie genoss es, zu gefallen, wie damals, als sie noch sehr jung war. Kürzlich abends, als sie auf dem Dachboden Kisten zusammenräumte, hatte sie ein altes Notizbuch aus der Zeit ihres Abiturs und eine Jeans gefunden, die ihr, wenn auch etwas eng an den Hüften, immer noch passte, was nach drei aufeinander folgenden Geburten etwas heißen soll. Camila fand es zu ihrer Verblüffung auf der elektronischen Personenwaage, die sie zu Weihnachten von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, bestätigt: Sie wog angezogen tatsächlich ein Kilo weniger als nackt. Obendrein gewann sie bei einer Auslosung (sie nahm sonst nie an den Supermarkttombolas teil) ein Kosmetiktäschchen, und als sie eine frühere Schulkameradin anrief, weil sie es zu Hause nicht aushielt, hörte sie wieder von ihrem ersten Freund, dem Dichter Theo Uzcanga. Sie verabredeten sich in einem Schnellrestaurant, und die Freundin erzählte ihr neben anderem Tratsch, dass Theo Uzcanga sie in einem
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Fernsehprogramm gesehen und – ausgesprochen poetisch – gemeint habe, «seine Jugendliebe ist noch genauso hübsch wie früher, aber jetzt mit diesem Anflug von Antilope, den die Reife verleiht». Die Summe so vieler Überraschungen erklärt vielleicht den Schwung, mit dem sich Camila auf die Suche nach der kleinen Lulú begab. Eine Woche lang durchforstete sie die Zeitungen jener Zeit, reiste durch den Internetkosmos und studierte die Erinnerungen von Ruy dem Doktor, bis sie auf das Bett stieß, in dem die graue Existenz von Spencer Lund erlosch. Der Strafrechtler lag in der Klinik El Sagrado Corazón im Osten von Caracol Beach. Er litt an Kehlkopfkrebs. «Ich will Ihnen keine großen Unannehmlichkeiten bereiten, aber ich rede lieber im Bad», sagte das, was von dem Anwalt übrig war. Hinter dem Rücken der Krankenschwestern rauchte er noch immer täglich ein halbes Dutzend Camelzigaretten. Camila half ihm, sich auf die Kloschüssel zu setzen. «Danke. José González also. Ich habe keinen größeren Pechvogel kennen gelernt, und das, obwohl ich schwierige Mandanten hatte.» Seine Stimme war bei den Erstickungsanfällen seiner malträtierten Lungen kaum zu verstehen. «Entschuldigen Sie. Mir tut der Junge Leid. Das gebe ich zu. Ein anderer Anwalt hätte ihm das Gefängnis erspart. Es war ein klarer Fall von Selbstverteidigung. José hat eben mich erwischt. Rauchen Sie? Warum soll ich Sie belügen: Ich war nie sehr effizient, um es so auszudrücken.» Nach und nach setzte Camila die Puzzleteile zusammen. In den Rauchwolken der zweiten Camel tauchte Dorothy Frei auf. «José redete vierundzwanzig Stunden lang von seiner Freundin. Er betete diese Friseuse an. Mir ist etwas zu Ohren gekommen. Ich glaube, Ruy hat sie gefunden. Er wollte sie interviewen, aber sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Sie arbeitet in einem der Schnellrestaurants am
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Freeway nach Caracol Beach. Helfen Sie mir auf? Grüßen Sie José von mir. Sagen Sie ihm, dass ich sein Schicksal weiterverfolge. Dass ich meinen Enkeln ein T-Shirt mit einem Bild von ihm, wie er am Strand spazieren geht, geschenkt habe. Besser nicht, sagen Sie nichts.» Kaum hatte der Anwalt den Kopf auf das Kissen gelegt, war er auch schon eingeschlafen. Camila betrieb die Nachforschungen gründlich weiter. Es war einfacher, als sie erwartet hatte. Als sie noch einmal in die Klinik fuhr, um sich ein paar offene Fakten bestätigen zu lassen, war Spencer Lund gestorben, und eine Krankenschwester versuchte gerade, ihm den Zigarettenstummel aus den kalten Lippen zu lösen. Die Zigarettenglut hatte sich ins Fleisch gebrannt. Camila stellte fest, dass sie nicht das kleinste Geschwür auf seinem Mund hinterlassen hatte. Der Tod verwandelt die Verpackung der Menschen in eine unsensible Wegwerfware. Das ist der Beweis für seine vernichtende Überlegenheit. Die kleine Lulú arbeitete als Kellnerin in der neunten Cafeteria am Freeway, die Camila betrat, nachdem sie auf einer Strecke von sechzehn Kilometern Asphalt Salate, mexikanische Tacos und Vanilleshakes konsumiert hatte. Der Biszcocho Coffee Shop war brechend voll. «Dorothy, wie lange dauert ein Clubsandwich?», fragte ein Lastwagenfahrer. «Mein Hamburger, mein Hamburger, meine Ehre für einen Hamburger!», rief ein Kriegsversehrter. «Entweder ihr wartet und seid still oder ihr verschwindet gleich, denn derjenige, der es mit Dorothy Frei aufnimmt, muss erst geboren werden», konterte die Kellnerin, während sie die Hände abschüttelte, die ihre Schenkel begrapschten und ihre Ellbogen tätschelten, als wären ihre Beine und ihre Arme Weintrauben. Sie fegte wie ein Wirbelwind durch das Lokal, mit großer Geschicklichkeit räumte sie hier die Teller ab, servierte dort vier Hähnchen-
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sandwiches und wechselte die Aschenbecher aus. Sie flog von der Küche an den Tresen, von der Tür zur Kasse, vom Büfett an den Tisch, an dem Camila «auffällig genüsslich», wie Dorothy fand, eine Tasse Cappuccino trank, wenn man bedenkt, dass sogar die Müllfahrer sagen, der Cappuccino des Hauses sei ungenießbar. Als sie die Rechnung verlangte, behauptete Camila, sie sei von einem Kubaner namens José geschickt worden, und die Augen der Kellnerin wurden tellerrund. «Kommen Sie mit», sagte sie. Zwei Ratten stritten sich um ein Stück Brot mit Senf. Der Hinterhof des Biszcocho Coffee Shops stank nach Fisch. Zwischen Holzkisten mit leeren Bierflaschen nahm Dorothy die Herausforderung an. Aus Selbstschutz begann sie zu lügen, weil die Lüge ihr erlaubte, Zeit zu gewinnen und herauszufinden, wie viel diese unverschämte und, nach ihrer Armani-Bluse zu urteilen, reiche Señora über ihre Vergangenheit wusste, die zudem so weit gefahren war, um ihr das Leben zu vermiesen. Sie sagte, sie habe natürlich von diesem Sapiens gehört, und sie wagte es sogar, zwei grobe Witze zu erzählen, aber sie sei nie auf die Idee gekommen, dass es sich um jenen Burschen handeln könnte, der einmal – wann war das noch? – wegen einer Kleinigkeit – welche wohl? – einen Mann umgebracht hatte – und wen? Camila fasste sich in Geduld und legte den Grund ihres Besuches offen: Sie wollte sie bitten, José zu helfen, die Einsamkeit zu ertragen. Dorothy schnitt ihr das Wort ab. Sie zeigte die Krallen – sie waren gelb lackiert – und zündete sich eine Pall Mall an. Camila beneidete sie. «Vergessen Sie’s», sagte Dorothy. «Er hat dich beschützt.» «Bah! Was für ein Blödsinn! Der größte Blödsinn, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Haben Sie noch nie eine Dummheit begangen?»
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«Der Fall kann wieder aufgerollt werden. José hat sich vor Gericht geweigert, deinen Namen preiszugeben, zählt das nicht?», fragte Camila. «Damals erschien dir das mutig, oder etwa nicht?» «Wie gut Sie sich ausdrücken. Ist das so schwer zu verstehen? Ich kenne keinen José. Welcher José? Es gibt viele Joses. José Pérez, José García. José Stalin. Und Tausende Joses González.» «José ist nicht unschuldig, aber er war es.» «José gibt es nicht. Dieser José ist nicht José. Ich bin auch nicht mehr dieselbe. Er hat mich nicht einmal wieder erkannt, als ich ihn besucht habe …» «Wann?» «Kürzlich, an einem Nachmittag. Wissen Sie immer, warum Sie etwas tun? Ich habe mir fast das Bein gebrochen. Er glaubte, ich würde Versicherungen verkaufen. Als ich nach Hause kam, habe ich mit meinem Mann geschlafen und dabei an José gedacht. Das ist mir noch nie passiert. Wir liebten uns wie zwei Affen im Käfig. Die Leute klatschten. Mein Mann klatschte auch. Er ist ein Schwein.» Aus der Cafeteria drang das Gemurre der Lastwagenfahrer. Sie ließen die Flaschendeckel knallen. «Krepiert doch alle!», schrie die Kellnerin und warf die Zigarette weg. Die Zigarette qualmte auf dem Boden weiter. Der Koch tauchte in der Tür auf. «Wesleys Pistole war nicht geladen.» «Sie kannten sich?» «Ist unwichtig. Wenn er behauptet, dass ich das gesagt habe, werde ich behaupten, dass er lügt. Wesley war mein Freund. An jenem Weihnachten hatten wir uns in einer Diskothek wegen einer Kleinigkeit gestritten. Wir hatten fast einen Motorradunfall. Dass er mein Freund gewesen ist, ändert auch nichts.»
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«Du irrst dich: Das ändert alles.» «José hat ihm den Meißel vier Mal in den Leib gerammt. Finden Sie das nicht schrecklich?» «Er hatte Angst.» «Mein Kleid war blutbespritzt. José war witzig. Sehr witzig. Wir waren im Kino und im Coral Park. Dort schlug er mir vor, miteinander zu schlafen. Wir waren scharf. Hören Sie, Sie verschwenden Ihre Zeit und meine dazu. Diese Lastwagenfahrer werden mich umbringen.» «Der Koch hat schon zweimal rausgeschaut.» «Das ist mein Mann. Ich hasse ihn. Wenn es sich darum handelt, ihm ein Weibchen zu verschaffen, tun Sie ihm doch den Gefallen und erzählen Sie mir hinterher, wie es war. Am meisten bedaure ich, dass ich meinen Florentinerhut verloren habe.» Zu Hause ertappte sich Camila bei dem Gedanken, dass dieser Mann, den alle so verfluchten, jede Frau glücklich machen könnte. Eine Frau wie sie, zum Beispiel. Sie zündete sich eine Marlboro an. Beim Inhalieren drehte sich ihr der Magen um. Sie musste erbrechen. «Ich rauche doch nicht mehr!», sagte sie sich und warf die Zigarette weg. Ich bin eifersüchtig auf die Besatzung der Weltraumstation Saljut 5, weil die deinen Träumen näher gewesen ist als ich … Das waren Verse von Theo Uzcanga. Warum erinnerte sie sich an dieses Gedicht? Wie hatte ihre Freundin noch erzählt: «Theo sagt, dass du noch genauso hübsch wie damals bist, aber jetzt mit diesem Anflug von Antilope, den die Reife verleiht.» Dichter. Blödmänner. Obwohl sie um die Hüfte herum spannte, zog Camila die Jeans an, die sie auf dem Dachboden gefunden hatte, weihte das Kosmetiktäschchen ein, das sie bei der Supermarkttombola gewonnen hatte, und fuhr zu Max Mogans Haus. Sie schliefen miteinander. Punkt. Was soll’s. Sie hatte gerade
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ihre Kapitulation unterschrieben. Sie hatte den Goldkäfig wieder geschlossen. Und das auf Dauer. Später würde sie sich vorwerfen, die Umstände ausgenutzt zu haben, nicht bedacht zu haben, was sie tat, aber später ist immer zu spät, besonders für die Reue. Sie schliefen miteinander. Wie nie zuvor. Oder fast wie nie zuvor. Max Mogan konnte ein zärtlicher Mann sein. Er nahm sie andächtig und hungrig, in der Befürchtung, dass diese Nacht eine Fata Morgana und dieses Bett ein Rettungsanker sein könnten. Während er sich in sie hineinbohrte und ihre Oberschenkel mit einem Haufen demütiger Küsse überzog, biss Camila ins Kopfkissen. Ihre Hände wirkten wie tot: gebrochene Flügel. Punkt. Die Mädchen tanzten vor Freude, als sie ihre Mutter in der Küche bei den Frühstücksvorbereitungen antrafen. Marcia machte Hot Cakes, Mildred presste die Orangen aus, und die kleine Malena stellte den Tisch auf den Balkon, von wo aus man die Segelregatta in Caracol Beach verfolgen konnte. Dreißig Segelschiffe. Dreißig dreieckige Segel – Rutensegel, arabische Segel, Gaffelsegel – blähten sich im Wind. Dreißig weiße Taschentücher. Dreißig Abschiede. Die Kunst spiegelt den Betrachter wider, nicht das Leben, hatte Oscar Wilde gesagt. Der Zoo wurde langsam ein bewohnbarer Ort. Morante unterschrieb einen Vertrag als Tigeraufseher. «Ich werde dich nicht enttäuschen, Pepe Kid», hatte er versprochen und erfüllte dies im Übermaß. Er trug den vorgeschriebenen Overall mit dem zackigen Abzeichen eines Infanterieobersten und erfüllte seine Pflicht so gut, dass er schon bald schlichtweg verhasst war. Morgens war er der Erste und abends der Letzte; es hieß, wenn er in Begleitung von zwei Kosakenwärtern die afrikanische Prärie betrat, würden selbst die Tiere zurückweichen, so eingeschüchtert waren sie von seiner Anwesenheit. «Eine Tigerin fauchte ihn an, und er verpasste ihr einen Hieb, der bis an die
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Zoogrenzen zu hören war», erzählte einer der Wärter José, der die Geschichte in der Tierarztpraxis auch aus dem Mund einer jungen Laborantin, der Freundin des Kosakenwärterchefs, gehört hatte: «Dein Freund ist verrückter als eine dieser Ziegen; kürzlich hat er seinen Kopf ins Maul des Nilpferds gesteckt, und für zehn Dollar würde er keinen Moment zögern, auf den Rücken des Büffels zu steigen und länger als drei Minuten oben zu bleiben: Wenn er Steine fressen müsste, fräße er sie; er trinkt aus den Pfützen und kann im Stehen schlafen, genau wie die Pferde.» Nach zwei Wochen hatte er den Betriebsrat der Angestellten unter Kontrolle, in der dritten nannten sie ihn Hauptmann. Kaum einen Monat im Amt, hatte er bereits Doktor Magalhaës und die kapriziöse Peggy Olmedo für sich gewonnen, die ihn zum Wachtelessen in die Hotelsuite einluden. Morante besaß ein natürliches Talent zur Macht. José, der immer früh aufstand, sah ihn schon im Morgengrauen zu den Umkleideräumen hetzen. «Hallo, Bruder», schrie Morante ihm von weitem zu, ohne im Laufen innezuhalten. Auch Pater Jordán bekam auf Umwegen eine Anstellung und wurde zum «geistlichen Ratgeber» ernannt, wobei er die Weiterleitung der Post, die jedes Wochenende den Briefkasten des Kubaners überschwemmte, betreute. Viele Briefe kamen von Häftlingen, die den «großen Pepe Kid» um irgendeine Vermittlung baten, und niemand wusste besser als der Geistliche, wo sie schummelten, weil er ihre Exzesse aus den Beichten in der Gefängniskapelle kannte. Diese Kenntnisse verpflichteten ihn, bei der Beantwortung der Anfragen jeden Satz sorgfältig abzuwägen, weil eine Indiskretion seine Schweigepflicht in Abrede stellen konnte. In der Neujahrspost war ein Brief, den José persönlich zu beantworten wünschte. Er war von dem Schwarzen Gastón Placeres unterschrieben, dem alten Yoruba aus dem Staatsgefängnis. «Orula,
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Vater der Zeit, ist der Hellseher, Herr von Ifás Tafel, Welttafel, Beschützer vor dem Wahnsinn.» Die Schrift war unentzifferbar, weil zittrig. Nachdem der Schriftenkundler das auf Packpapier Geschriebene entziffert hatte, brauchte José eine Woche, um vier Seiten voll zu schreiben, auf denen er ohne poetisches Beiwerk einräumte, wie viel er von den Pirolen, den Rhinozerossen und besonders von den verliebten Bonoboaffen gelernt hatte, die kaum ein paar Yards von seinem Käfig entfernt inbrünstig vögelten. Der Umschlag kam zurück. Auf der Rückseite hatte ein Angestellter X neben den offiziellen Stempel geschrieben: «Mein Freund, es ist ausgesprochen bedauerlich, aber der verehrte Gastón Placeres ist in der Nacht zum 3. Januar spurlos verschwunden.» Beim Durchsuchen der Zelle des Mandinga, versicherte der Absender, hatten die Wärter ein Exemplar von Carpentiers Das Reich von dieser Welt gefunden, worin er beschreibt, wie der Sklave Mackandal sich in eine Giftschlange oder ein Guineahuhn verwandelte, um die Sklavenhalter bei ihrer Jagd nach ihm an der Nase herumzuführen. Gurr, gurr, gurr, sang eine Ringeltaube im Jacarandabusch, und José dachte, dass der dumme Vogel etwas mit dieser Geschichte von lauter Verschwundenen zu tun haben könnte. Tage später traf eine Postkarte vom Kilimandscharo ein, auf deren Rückseite derselbe Angestellte José mitteilte, dass Gastón Placeres’ Leiche «vertrocknet wie ein sezierter Vampir» in den Kellergewölben der Haftanstalt gefunden worden sei, «aber viele von uns glauben, dass der Gefängnisdirektor lügt: Der Prophet ist geflohen. Gastón lebt. Herzliche Grüße.» Unterschrift X. «Es würde mich nicht wundern, wenn der alte Mandinga nach Tanganjika abgehauen ist», sagte Pater Jordán und legte die fünf-sechs. Montagabend spielten der Pfarrer und der Aufseher gegen José und Lorenzo Domino; es waren
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erbitterte Kämpfe, die sich bis zum frühen Dienstagmorgen hinzuziehen pflegten. «Glaubst du an Gott, Lorenzo?» «Ja und nein. Mein Gott ist etwa vierzehn Jahre alt. Sehen Sie, als Kind fragte ich mich, wann der Herr alt geworden ist, denn bei der Schöpfung des Universums war er schon grau und müde», sagte Lorenzo und legte eine Doppelsechs. «Gehen wir zu den Ursprüngen zurück, Pater. Es heißt, dass Adam und Eva etwa dreizehn Jahre alt waren, nicht wahr? Und auch, dass Gott sie nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Rechnen Sie mal nach. Er war ein Grünschnabel!» «Spiel, Blödmann!», sagte Morante. Lorenzo setzte ein Professorengesicht auf. «Meiner Meinung nach, und ich lege eine fünf, kann man nur so die Eigentümlichkeiten dieser Welt verstehen: als das Meisterwerk eines Kindes.» «Die fünf Latinos», sagte José. «Fünf Latinos!», rief Morante aus. «Ich habe weder fünf noch sechs. Anselmo, bitte, vergiss den Katechismus und spiel aufmerksam.» «Wusstet ihr, dass Tauben nur einen Eisprung haben, wenn sie in Gesellschaft von Männchen sind? Der Herr hätte die Formel auch auf die anderen Spezies anwenden sollen. Aber wenn diese Taube ihr Spiegelbild im Teich sieht, hat sie einen Eisprung, weil sie glaubt, dass ihr Spiegelbild ein möglicher Partner ist.» «Verflucht nochmal», entfuhr es dem Aufseher. «Nur ein Kind, das niemand zum Spielen hat, denkt sich solch einen Streich aus», sagte Lorenzo. Die Rivalität zwischen Morante und dem Campechaner war ein ungemütliches Thema. Sie verstärkte sich von Spiel zu Spiel. Die Freunde versuchten, in dem Konflikt
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zu vermitteln. Es war ein fruchtloses Unterfangen, bis Berta Sydenham den Wächter ausfragte und die Wahrheit erfuhr. «Was hat dir Lorenzo denn getan?», fragte sie. «Nichts. Ich ertrage unschuldige Menschen nicht.» Trotz dieser Streitigkeiten normalisierte sich das Zooleben. Guido hatte in den Speiseplan Gerichte der mediterranen Küche aufgenommen, und schon bald wurde ein Fernsehgerät in den Käfig gestellt. Berta Sydenham vergaß nie, die Zeitung vorbeizubringen. Der kreative Tigran Androsian, zu dem Zeitpunkt ein leuchtender Stern am Modehimmel, hatte für José Strandschuhe entworfen, die im Sommer Furore machten, und kündigte, nicht ganz passend, eine Kollektion Haute Couture für das Jahr 2000 an. Als sich José damit abgefunden hatte, eine Zooattraktion zu sein, ohne dabei depressiv zu werden, und sein Schicksal nicht mehr verfluchte, sondern, ganz im Gegenteil, dem Direktor des Staatsgefängnisses dankbar war, in ihm den idealen Kandidaten für diese Posse gesehen zu haben, entwickelte er Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, die nervtötenden Phasen des Ausgestelltseins geduldig zu ertragen. Sein Zeitvertreib bestand aus zwei Spielen: der «Ursprung des Menschen» und die «Uhrzeiger». In Ersterem musste er anhand seiner Kleidung den Beruf des Betrachters herausfinden, eine Taschenspielernummer, bei der er das bei den Anproben Gelernte umsetzen konnte. Das Zweite bestand darin, sich auszumalen, wie die Erwachsenen als Kinder gewesen waren und umgekehrt. Auf diese Weise gelang es dem Kubaner, nicht mehr Darsteller zu sein, sondern sich in das Publikum eines Bühnenschwanks zu verwandeln, der hinter Gitterstäben in einem verkehrten Theater des Lebens aufgeführt wurde. Beide Spiele waren nicht aus der Notwendigkeit geboren, die Monotonie aufzulockern, sondern aus der vielfach bewährten, im Ge-
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fängnis angenommenen Gewohnheit, immer das Schlechteste von den anderen zu denken, sodass die vorgestellten Beschäftigungen selten verdienstvoll und das Schicksal oder die Vergangenheit eines jeden Modells nie sonderlich schmeichelhaft waren, wie es so schön heißt: Diebe mit weißen Kragen, undurchsichtige Terroristen und Zuhälter bis zu einer kompletten Sammlung von verkommenen Herumtreibern. José erzählte seine Vorstellungen einem Freund. Einem diskreten Freund, wenn es den gibt. «Hör mal, Cuco, was Oscar sagt: Ach, glücklich sind diejenigen, deren Herzen brechen und die den Frieden des Vergebens erobern können.» Das mit dem Frieden des Vergebens hatte ihn tief berührt, weil Camila ihn seit Tagen nicht besucht hatte und er dieses veränderte Verhalten nicht verstand. Sie hielt Distanz. Es war so, dass die Biologin den Weg beschritten hatte, der im Mitleid seinen Anfang nimmt, dann in Sympathie, später in Zärtlichkeit und schließlich in Vertrauen übergeht, bis er die Hürde zur Versuchung genommen hat, eine Treueprobe, der sie sich nicht zu stellen wünschte, weil sie tapfer zu sein fürchtete. Cuco schüttelte den Kopf. Seine Lider, grob wie eine Schusterschürze, wurden schwer. «Ich habe was falsch gemacht und erinnere mich nicht daran. Kannst du dir vorstellen, wie unsere Vorfahren in Herden, nackt und ohne Feuer, durch die Prärie zogen? Danach bauten wir den Zoologischen Garten der modernen Gesellschaft. Ein Wahnsinn. Was wird die Wasserschildkröte denken? Wird der Jaguar verstehen, was ein Hemd, eine Armbanduhr oder Hosenträger sind? Wozu ist ein Handy gut, wenn man es nicht wie eine Banane schälen kann? Ach, Cuco. Habe ich was Ungebührliches gesagt? Ich verhalte mich wie ein Pavian. Am Ende werde ich mit den Fingern essen. Du sagst ja gar nichts, Cuco. Antworte, oder ich bohr dir einen Meißel in die Brust. Wa-
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rum besucht mich Camila Novac nicht mehr?» Der OrangUtan schlief ohne anderes Versprechen als seinen Schlaf ein, wie schon Eliseo Diego sagte. Eines Dienstags, in einer warmen, sternklaren Nacht, schlug José vor, zum Zoospielplatz zu gehen, weil er dringend mit irgendeiner Energie, die etwas mit Illusion zu tun hatte, «den Akku aufladen» musste. Lorenzo hatte noch nie diese so traurige, schmerzliche Tiefe im Blick seines Freundes gesehen, die Sanftmut eines reuigen Sünders, die der Putzmann von Affenhintern gut kannte, denn der weißschwänzige Mantelaffe pflegte gelegentlich in ähnliche Depressionen zu verfallen, die er nur überwand, wenn der Campechaner ihm erlaubte, irgendeinen üppig belaubten Baum hinaufzuklettern, um von dort aus stundenlang fast schizoid und wie vor den Kopf geschlagen den städtischen Horizont nach seinem Urwald abzusuchen. Nach einem langen Moment des Zögerns war Lorenzo bereit, ihn dorthin zu bringen. Der Weg zog sich unendlich hin. Im Gegenlicht thronte der Löwe auf einer Felsspitze im Dschungel. Seine goldene, vom Silberschein eines abnehmenden Mondes umrahmte Mähne fügte der gleißenden, mitternächtlichen Kulisse einen weiteren Feuerball hinzu. Das Rhinozeros trottete schwerfällig und vom Durchhaltevermögen seines altsteinzeitlichen Ungestüms mitgerissen auf und ab. Im riesigen Taubenschlag des Rondells schlugen Kakadus und Pfauen mit den Flügeln, ohne von ihren Nestern abzuheben, als müssten sie dringend die tote Luft Santa Fes beleben. Auf diesem Rundgang, den José und Lorenzo schweigend zurücklegten, machte der Kubaner rhythmische Gymnastik und sporadische Kniebeugen, reckte die Gliedmaßen, genau wie ein Läufer kurz vor Einnehmen seines Startplatzes auf der Aschenbahn. «Willst du abhauen?», wagte Lorenzo zu fragen, und die Frage blieb in der Luft hängen, denn in diesem Augen-
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blick bemerkte der erfahrene Aufseher, dass die Ziegen Silvia und Marijó im Maschendraht des Geheges eine Öffnung entdeckt hatten, und musste hinter ihnen herlaufen, um ihnen ein tragisches Ende im Schlund des Kaimans zu ersparen. José kam am Ende der Mauern und Gitterstäbe an, die Villa Vizcaya vom Kinderspielplatz trennten. Es war nicht einfach, eine Handbreit von seiner Freiheit entfernt innezuhalten und dem Risiko, einen Schritt weiter zu gehen, zu widerstehen. Verkehr. Autos. Kommen und Gehen. Die Nacht. Welcher Straße Havannas würde diese breite, erleuchtete Fahrbahn mit gelben Laternen und dichtem Rasen auf den Grünstreifen ähneln, vielleicht der Dolores-Straße, der Ayesterán, der Juan Delgado, der Rancho Boyeras, der 23., der Línea, auf der Höhe des Restaurants El Jardín? Keines der gegenüberliegenden Gebäude ähnelte den Häusern von Atares, aber ein schlichtes Gitterfenster aus der Kolonialzeit rief in ihm das Bild eines anderen Fensters wach, dessen seines Kinderzimmers, von dem aus er die Krone eines Kapokbaums sehen konnte, der über die Dornenhecke an der Mauer hinausragte, die sein Vater aus zehn Reihen Ziegelsteinen errichtet hatte, um sich von der Vergangenheit abzuschotten. Er kniff die Augen zusammen und die Landschaft vernebelte sich im Dunst einer überfälligen Träne. José machte eine Bestandsaufnahme der Wünsche, die ihm in fünfzehn Jahren des Eingesperrtseins verloren gegangen waren: Er konnte zum Beispiel nicht Auto fahren, er hatte nie einen Ausflug an den Strand gemacht, und er hatte nie nach Bayamo, Rita Aleas Heimat, fahren können. In den Briefen, die Boby aus Kuba mitgebracht hatte, erwähnten einige Landsleute Orte, die ihm nichts sagten: das Restaurant La Cecilia, den kleinen Strand 16 oder den Zoo von Capdevila. Nach eine Weile kehrte Lorenzo mit den widerspenstigen und an einem Strick gebundenen Ziegen zurück. Er schimpfte laut mit
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den Dummköpfen, die ihre Sicherheit riskierten, um zu ihren festgelegten Grenzen ein paar verdammte zusätzliche Meter zu ergattern, ohne zu bedenken, dass sie immer eine neue Barriere vorfinden würden. José gab ihm die Antwort, die er ihm schuldete: «Wenn ich heute Nacht nicht abhaue, dann nur, weil ich nicht weiß, wohin.» Die Erklärung klang wie eine Beschwerde. Die beiden Freunde setzten sich mit dem Rücken zum Dschungel auf die Mauer und zogen sich die Schuhe aus. «Woran denkst du, Kubaner? Du hast diesen feierlichen Ausdruck im Gesicht, den Cuco aufsetzt, wenn er öffentlich seine Flöhe zur Schau stellt.» Auf der Straße fuhren vier Motorräder vorüber. Die Ziegen nagten das Seil durch und flüchteten sich zu den Schaukeln und Karussells des Zoos. Lorenzo und José plauderten weiter. Sie hörten sich gegenseitig nicht sehr aufmerksam zu. Wenn der Campechaner sagte, dass sich das beste Färbemittel für Kleidung von einem Insekt namens Assel gewinnen lasse, konterte der Kubaner, dass er immer ein Basketballfan gewesen sei. Der eine pries das Kunsthandwerk von Ciudad del Carmen, die Rolle der Wanderzirkusse und die Geschicklichkeit der orientalischen Masseusen, der andere erklärte, dass die Maniküren eines Wohnviertels sehr populäre Frauen seien, denn sie trügen den Pollen des Witzes von Haus zu Haus und von Schnabel zu Schnabel. Niemand konnte solche Landschaften auf die Nägel malen wie Rita: den Christus von Havanna oder den Obelisken vom Platz der Revolution, seine «Lieblingsminiaturen» … Wo befand sich wohl dieser kleine Strand 16? Sie wurden vom Morgengrauen überrascht. Auf dem Rückweg mussten sie so geschickt wie die Blauhelme der Vereinten Nationen vorgehen, damit Morante und andere Zooangestellte sie nicht dabei erwischten, wie sie auf allen vieren in den Käfig robbten. Als sich José unter der Dusche an die Plauderei erinnerte,
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lachte er herzlich, obwohl der wirkliche Grund seines Amüsiertseins nicht «Genosse Laras» alberner Kriechstil über diesen kotverschmierten Boden war, sondern die Tatsache, das kurze Dschungelstück, das ihn von der Welt trennte, ihn aber auch in die Freiheit führen konnte, überwunden zu haben. Camila fand an jenem Sonntag, an dem José vierunddreißig Jahre alt wurde, den Beweis dafür, dass die größte Angst der Ängste die Angst ist, glücklich zu sein. Obwohl sie es bereute, sagte sie zu Max Mogan, dass sie nicht an dem Fest teilnehme, denn sie sei davon überzeugt, dass es eine pathetische Posse werden würde. Sie hatte mehrere Möglichkeiten: eine Studie über die hermaphroditische Veranlagung der gewöhnlichen Nacktschnecke zu beenden, ein Pfund Bonbons zu verschlingen oder ihre Mutter zu besuchen, die ihre neue Eroberung, den tschechischen Chirurgen Lazio Filip, offiziell vorstellen wollte und zu einem pharaonischen Mittagessen in einem Lokal in Caracol Beach eingeladen hatte. Keine der Alternativen reizte sie sonderlich. Sie verschanzte sich hinter ihnen, um aus der Falle herauszufinden. Max Mogan wollte diesen berühmten Kubaner kennen lernen, aber als er seine Töchter in der Küche streiten hörte, weil Marcia die Seelöwen, Mildred die Eisbären und Milena die Pandas sehen wollte, überlegte er es sich anders und ging mit ihnen an den Strand. Peggy Olmedo organisierte die Feierlichkeiten und achtete auf jede Kleinigkeit. Schon früh am Morgen führten Schulklassen von der Küste auf einer schwimmenden Bühne am Fuße des Fesselballons Szenen auf, die auf das Ereignis anspielten, und der Kinderzoo brachte Steven Spielbergs Film, in dem die heiligen Affen aus Indien mitwirken. Das Feuerwehrkorps führte vor, wie man eine Gazelle aus den Klauen eines Leoparden befreit, und das
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akrobatische Bataillon der Motorradpolizisten unterhielt die Kleinen mit wirklich riskanten Kunststücken. Boby Camagüey und seine Band spielten auf dem Platz der einheimischen Vögel Die Betrügerin von Enrique Jorrún: Über Prado und Neptuno spaziert ein Mädchen, und alle Männer müssen sie ansehen. Du sagtest zu mir … Neun Köche, alle unter Guido Golgis Leitung, schufteten unermüdlich am Backofen, um die fünfzig Pizzen zu backen, die alle fünfzehn Minuten bei dem zoologischen Bacchanal verspeist wurden. Am späten Vormittag war das Gedränge vor Joses Käfig so groß, dass die Aufseher sich genötigt sahen, hoch zu Ross den Zugang zu verwehren. In den umliegenden Straßen, wo die Ausgeschlossenen ihre verfassungsmäßigen Rechte der freien Durchfahrt einforderten, verlangten oppositionelle Gruppen die Bestrafung der Urheber dieser Komödie. Einige Fanatiker widersetzten sich den Beschränkungen und wurden gewaltsam zurückgedrängt; andere waren einfallsreicher und sprangen über die Lehmmauern hinter dem Kinderspielplatz. In Pepes Bodeguita drängten sich die Pressevertreter, begierig darauf, von der Präsentation der Erinnerungen von Ruy dem Doktor mit einem Vorwort von Gefängnisdirektor Otto Higgin zu berichten. Der Autor trat als Banker gekleidet und in Begleitung seiner Verleger auf. Der Pferdeschwanz reichte ihm bis zu den Schulterblättern. Morante erkannte ihn auf den ersten Blick nicht wieder. Er war nicht mehr dieser schwächliche Reisepassfälscher, den er in der Strafanstalt kennen gelernt hatte, sondern ein charaktervoller Intellektueller, der auf die Fragen des Publikums mit so offensichtlich einstudierten Gesten der Bescheidenheit antwortete, dass sie dem Gefängniswärter verdächtig vorkamen. Auf dem Buchdeckel wurde versichert, bereits hunderttausend Exemplare seien verkauft, was man als einen Verkaufserfolg ansehen konnte, umso
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mehr, wenn man bedenkt, dass es sich um einen literarischen Schurkenstreich handelte. Er stellte dem Vortrag ein Zitat von Jean-Paul Sartre voran, den er als seinen Meister bezeichnete: «Der französische Existenzialist erklärt uns die Angst des Menschen: Ein Engel hat Abraham befohlen, seinen Sohn zu opfern; alles läuft gut, wenn es wirklich ein Engel war, der zu ihm gesagt hat: Abraham, du wirst deinen Sohn opfern. Aber, ist er wirklich ein Engel und bin ich wirklich Abraham? Wer kann das beweisen? Ich frage: Ist der Mensch vor allem ein Projekt und gab es vor seiner Formulierung nichts? Geht die Existenz demzufolge der Essenz voran? Die schreckliche Geschichte von Pepe Kid, dem Meißelmörder, ist das vielleicht meine Geschichte?» José, der damit beschäftigt war, eine Ameisenstraße zu beobachten, die durch seinen Käfig führte, hörte ihn durch die Lautsprecher, ohne der Pressekonferenz wirklich Aufmerksamkeit zu schenken. Das Echo der örtlichen Verstärker störte Ruys Vortrag, der schon so vage genug war. Als er den einfallenden Ameisen mit dem rechten Fuß den Weg abschneiden und sie dadurch zur Umkehr nötigen wollte, entdeckte José, dass er lange, harte Fußnägel hatte, und wollte Cuco eine seiner Futterschüsseln klauen, um seine «Pfoten» in warmem Wasser aufzuweichen, aber der Orang-Utan aus Borneo verpasste ihm einen Prankenhieb, der ihm um ein Haar die Hand abgerissen hätte. Seine Reißzähne bissen ins Leere. Während der Festvorbereitungen war Cuco widerborstig und hochmütig gewesen, als hätte er an diesem traurigen Morgen, wer weiß aus welchem wilden Instinkt heraus, den wir Menschen möglicherweise bei der Sintflut verloren haben, in der gallertigen Feuchtigkeit des Sonntags seinen Tod gewittert.
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Zenaidas drittes Solo
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enaida erinnerte sich daran, wie sie sich die Windpocken eingefangen hatte, an die Erfrischungsgetränke, die ihr Maria Coronado nachmittags zu trinken gab, und an diese Stummfilme aus der Reihe Die stumme Komödie; als sie ihre wandernden Gedanken nach Santa Fe zurückleiten wollte, war es schon zu spät: Wegen Stan Laurel und Oliver Hardy hatte sie den halben Sonntag vertrödelt, also ging sie auf die Dachterrasse, um sich den ersten Cubalibre des Tages zu gönnen. Wunderbar, diese Windpocken, schoss es Zenaida durch den Kopf. Das Bett. Der Fernseher. Die Stummfilme. Welch ein Glück, dass Gigi Col sie nach Hause begleitet hatte; wer weiß, in welch elender Spelunke sie sonst an diesem schrecklichsten Samstag ihres Lebens gelandet wäre. Ein Flugzeug: «Heute fliegt Iberia», sagte sie. Señora Kropotkina stopfte am Fenster eine Bluse. Zenaida rülpste. Die aufsteigende Kohlensäure schmeckte nach Apfel. Über den Bäumen des Zoos wiegte sich Joses Fesselballon. Hinter diesem Strand, dachte Zenaida, liegen meine Strande. Bacuranao. Santa María. Tarará. Kurzum, niemand stirbt an Windpocken, hatte María Coronado gesagt. Doremifasollasi. Zenaida hasste das Wort Sehnsucht. Sie legte sich einen Eiswürfel in den Nacken. Silasolfamiredo. Lorenzo hatte ihr eine Einladung zu Josés Geburtstagsfeier geschenkt, und obwohl sie glaubte, dass es nicht viel zu feiern gab – höchstens einen Kettenring weniger an Joses Fußeisen, was mager war, wenn man die unmenschliche Länge der Kette bedenkt –, beschloss sie, zum Beweis ihrer Solidarität hinzugehen, ein Substantiv, vielleicht ein Wert, den sie
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nach neunzehn Jahren Exil, einem Rosenkranz persönlicher Misserfolge und einem Dutzend Seitensprüngen, acht von anderen und vier eigenen, langsam wieder zu schätzen begann. Sie war schwermütig und «eine Nacht älter». Darüber hinaus würde jemand in der Lotterie gewinnen, stand der Karneval bevor und sie würde vom Luna Club gekündigt werden. In der Nacht zuvor hatte sie bei einem Sturz auf der Bühne das Glas eines Kunden umgeworfen: Als sie zu einer nicht allzu komplizierten Pirouette ihrer Nummer ansetzen wollte, verfing sich ein Ärmelknopf an ihrem Ausschnitt. Ein lüsterner Gast versuchte, den unerwarteten Striptease auszunutzen, aber die über ihre eigene Schusseligkeit verärgerte Zenaida verabreichte ihm unbeherrscht zwei Ohrfeigen, was zwischen den Stammgästen des Kabaretts und den Amazonen des Süßen Bienenkorbs, einschließlich Refugio Cunís, ein Waterloo auslöste. Die Kubanerin flüchtete, ohne ihr Honorar kassiert zu haben, mitten in der Auseinandersetzung, und erst als sie in einem Taxi saß, fand sie Zeit, ihre Brüste zurechtzurücken, sehr zum Erstaunen des Taxifahrers, der das Manöver im Rückspiegel beobachtete. «Glotz deine Cousine an», fauchte Zenaida. «Ach was, das ist doch kein Leben hier. Ich gehe nach Spanien.» Die Kubanerin war ein halbes Leben lang von Ast zu Ast geflogen, ohne auf einem ein Nest zu bauen, und jetzt, wo es wieder an der Zeit war, die Flügel zu schwingen, verursachte ihr die bloße Vorstellung, an einem unbekannten Ort anzukommen, Trägheit und Neugier, ganz zu schweigen von anderen Gefühlspaaren. Sie würde José helfen. Ehrenwort. Die Mulattin überquerte die Straße und ging zu Señora Kropotkinas Wohnung hinauf. Sie addierte und subtrahierte. Seit zweiunddreißig Jahren war sie in keinem Zoologischen Garten mehr gewesen, und da an den Wochenenden der Sehnsucht am schwersten zu widerstehen ist, wollte sie eine gu-
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te Tat begehen. Und nichts schien ihr besser geeignet, als die Pianistin auf einen Spaziergang hinauszulocken. Sie erinnerte sie an ihre Großmutter, auch wenn sie nur diesen muffigen Geruch nach Schultertuch, den alte Menschen ausdünsten, mit ihr gemeinsam hatte. Das Gedächtnis ist launisch, ein Abführmittel, eine andere Stumme Komödie. «Begleiten Sie mich, Genossin Kropotkina», sagte Zenaida. Es war nicht einfach, sie von ihrem Instrument zu trennen, und noch viel weniger, ihr Haar auszukämmen und es im Mary-Pickford-Stil zu flechten, aber als sie fertig war, wirkte die Russin wie Charlie Chaplins Braut in Lichter der Großstadt. Gigi, die ihren Tequilarausch in der Badewanne ausgeschlafen hatte, erbot sich, sie zu begleiten. Der Auftritt von Señora Kropotkina und den aufregendsten Revuegirls von Caracol Beach sollte im Zoo der gehobenen Gesellschaft nicht unbemerkt bleiben: Die Füchsinnen der Nueva-Viña-Stiftung, die Schlangen aus der Künstlerwelt, die Hyänen der Presse und die Löwinnen der Politiklöwen würden wie Küchenschaben wirken, wenn die Katze Fagés und die kokette Hündin Col über den Laufsteg schritten und dabei ihre Hinterteile im Takt ihrer jeweiligen Landeshymnen schwängen … mas si osare un extraño enemigo, al combate corred, bayameses …, sangen sie berauscht. Die Kubanerin suchte in ihrem Koffer A1 nach der mathematisch passenden Ausstattung, einem Hosenanzug, den sie für besondere Anlässe aufbewahrte, brauchte aber so lange zum Schminken, dass der Zoo bei ihrer Ankunft gerade schließen wollte und sie sich gezwungen sah, eine Lüge in der Größenordnung des Pico Turquino aufzutischen, um die Wärter davon zu überzeugen, dass sie als Vertreterinnen des Büros für Kubanische Interessen aus Washington angereist waren. Zenaida bemühte sich um ihrem graziösesten Gang. Es brach ihr fast das Herz. ‹Dieser Typ ist ein Hofnarr›, dach-
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te sie. Sie hatte einen von einer Horde wollüstiger Frauen verfolgten Adonis, einen Kampfstier, der gegen die Wände des Käfigs anrannte, oder gar einen Märtyrer des zweiten Jahrtausends, der sich auf der Scheibe eines Schießstands dreht, erwartet und fand einen in eine Fahne gehüllten Landsmann aus Havanna vor, der sich mit den Fingernägeln die Fußnägel zu kürzen versuchte und dem Unsterblichkeit oder Lächerlichkeit völlig schnuppe war. Auf einem Trampolin sang eine Sopranistin Verdi-Arien. Zwei Harlekine auf Stelzen verteilten Werbefolder für die Show im Delphinarium. Ein Zwerg verkaufte bunte Luftballons. Die Mulattin dachte, dass sie Joses Haltung zu früh verurteilt hatte, und spürte einen Anflug von Stolz: Nein, er war kein Hofnarr. Dieser Kubaner hatte noch nie eine Frau gerochen, er war weder in seinem Heimatland noch im Exil erwünscht, er war dazu verurteilt, eine Ewigkeit in einer Mausefalle zu sitzen und Gnocchis Parmentier zu essen, er wurde für Werbekampagnen als Vogelscheuche benutzt, ihm war selbst die billigste Hoffnung verboten, er hatte drei Freunde (einen Orang-Utan aus Borneo, einen Straßenkehrer aus Ciudad del Carmen und ein – schottisches? – Eichhörnchen), er lebte traumlos und träumte leblos, aber auch so noch war er vielleicht freier und bestimmt weniger abhängig als viele dieser Lämmer, die auf die Uhr zu sehen und auf ihren Stühlen herumzurutschen begannen, weil der geniale José González, der Gefeierte, der Meißelmörder, nicht aufhörte, den großen Zehennagel am linken Fuß auszugraben, und solange dieses Wunderwerk nicht vollbracht war: Warum, wann, wo und wem würden die Damen der Stiftung Nueva Viña dann applaudieren?, dachte Zenaida und grinste. Über Prado und Neptuno spazierte ein Mädchen, und alle Männer mussten sie ansehen … Señora Kropotkina sammelte Steinchen vom Boden auf. «Ich werde eine Kette fädeln.» Bei jedem Bücken
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musste die Mexikanerin sie an der Hüfte festhalten. «Was für ein Popo, Oma! Bleiben Sie mir schön hier sitzen», sagte Gigi und setzte sie in Guido Golgis Lokal ab. Die Russin begann, auf der Tischkante Tonleitern zu üben. Mit ausladendem Hüftschwung gingen Zenaida und Gigi zum Käfig des Kubaners. «Du, hör mal, José!», rief die Mulattin. José unterbrach seine Pediküre. «Komm mal näher, Junge. Ich werd dir einen Witz erzählen und will nicht, dass die andern mithören.» «In Santa Fe zerreißen sie sich das Maul», fügte Gigi erklärend hinzu. Die drei waren von einer Menschenmenge umringt, aber isoliert. Völlig isoliert. Wie auf einem Floß. «Seid ihr Kubanerinnen?», fragte José. «Ich, aus Matanzas. Sie ist Mexikanerin.» «Aus Tijuana», sagte Gigi. «Aber lass dir erzählen. Klein Alfredo …» Ein paar Neugierige kamen näher, um dem Gespräch zu lauschen. Gigi Col scheuchte sie weg. Fliegen. «Weg, ihr aufdringlichen Fliegen, schwirrt ab, ihr habt hier nichts verloren», sagte sie. «Klein Alfredo?», fragte José. «Junge, in welcher Sprache muss man mit dir reden?», fragte Zenaida und sah sich nach rechts und links um. Sie senkte die Stimme. «Glaub mir: Ich weiß, wer der schöne, teuflische Alfred Douglas war.» Ein Kubaner würde sagen: José platzte vor Lachen. José platzte vor Lachen. «Wo kommst du denn her, Mulattin?» «Hör zu, mein Junge, das hier wird immer schlimmer,
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und ich habe es eilig. Schau, der Marquis ist berühmt, weil er die Regeln für das Profiboxen eingeführt hat, und er hatte einen Sohn: Klein Alfredo, der Freund von Oscar Wilde, sein Geliebter.» «Was du nicht sagst.» «Ich schwör’s dir bei meiner Mutter. Señor Queensberry fand einen Liebesbrief von Oscar, und du weißt, wie die Marquis sind: Er warf ihn ins Gefängnis. Drei Verhandlungen, eine nach der anderen. Das war ein Skandal. Solche Schwuchteln. Was erzähl ich dir. Sogar im Radiowecker haben sie es gebracht.» «Tausend Dank, Mulattin», sagte José, der nicht aufhören konnte zu lachen. «Du bist Lorenzos Nachbarin, stimmt’s?» «Ist egal. Ich bin nur gekommen, um dir das zu erzählen.» «Mein Kompliment, die Ropa vieja war köstlich.» «Und ich wollte dir das erzählen, damit du was lernst, José, denn du wirst so um die dreißig sein, bist aber noch ein kleines Kind … Hör auf mich! Schau dir die Person genau an, der du Briefe schreibst, denn hier weiß niemand, wer wer ist.» Guido stellte Señora Kropotkina einen Teller EibischBrownies hin, «eine Aufmerksamkeit des Hauses». Vier Tauben ließen sich auf dem Stuhl nieder. Die Pianistin erzählte dem Koch, dass Igor Strawinsky in New York ihr Vertrauter gewesen war. Die Vögel gurrten ihr ins Ohr. Igor, Igor. Igor. Zenaida steckte den Kopf zwischen die Gitterstäbe. «Hör mal, José, wenn du die Flagge nicht willst, warum schenkst du sie dann nicht mir?» «Die Flagge?»
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«Ja, eine Hand wäscht die andere. Benutz sie nicht als Handtuch.» «Die hat mir ein Freund geschenkt. Wozu brauchst du sie?» Die Antwort hätte langweilig und kompliziert klingen können. María Coronado hatte ihr erzählt, dass der galicische Großvater in den Zeiten von Präsident Gerardo Machado unbedingt eine Flagge haben wollte. «Ein Balkon ohne Ehrenzeichen ist wie eine Kirche ohne Glockenturm», hatte er immer gesagt. Aber sie brauchten auch eine Decke für die Mädchen. Der Winter 1932 war besonders kalt. Sie hatten kein Geld. Da beschloss der einfallsreiche Galicier, auf dem Markt das dickste Banner in der Größe einer Ehebettdecke zu kaufen und es in den Nächten, an denen keine patriotischen Feiertage anstanden, als Decke zu benutzen. «Na gut, sie gehört dir, Kubanerin.» «Meine Decke ist uralt», sagte Zenaida. Die Geschichte vom galicischen Großvater sparte sie sich. «Ich gehe Boby Camagüey hören», sagte Gigi. «Ciao, Gigi. Sag Boby, dass ich dich schicke», sagte José. «Wo ich euch gerade zusammen sehe … Larita hat mir von ‹deinem Problem› erzählt. Ich würde dir gern helfen, aber ich bin ausgesprochen schwierig. Erst sage ich ja und später nein. Ich summiere, subtrahiere, multipliziere und dividiere und die Rechnung geht nicht auf. Ich verlasse dieses Land. Ich bin keine, die Wurzeln schlägt.» «Ich auch nicht.» «Wenn du willst, ich meine, wenn dir meine Freundin gefällt, red ich mit ihr. Unverbindlich. Sie ist zu empfehlen. Es gibt wenige Katzen wie sie. Ich bespreche das mit Lorenzo. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr vor so vielen Leuten vögelt. Wie witzig, der Orang-Utan.»
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«Er ist aus Borneo.» «Sieh mal an. Ich sag’s doch: In Santa Fe ist niemand aus Santa Fe. Gigi, Mädchen, warte doch, die Welt wird nicht gleich untergehen» «Geh in den Schatten», sagte José. «Diese Nägel machen mir Kummer. Weich sie ein Weilchen ein, damit sie geschmeidiger werden», sagte Zenaida. «Daran habe ich auch schon gedacht und hätte um ein Haar meine Hand verloren.» «Red mit der Direktion. Sie sollen nicht so knauserig sein. Verlang eine Schere.» Und mir nichts, dir nichts, wie in Äsops Fabeln, die der Mönch Planudes im vierzehnten Jahrhundert zusammentrug, stürzte sich die Mulattin in das Menschenmeer. Boby Camagüey schwang die Trommelstöcke: Über Prado und Neptuno spazierte ein Mädchen … Gigi Col war auf die Schultern eines Harlekins auf Stelzen geklettert und wiegte sich hoch oben im Rhythmus des Cha-Cha-Cha. Sie trug einen engen Lederrock und einen Tangaslip. Der tätowierte Adler auf ihren vollen Hinterbacken bewegte die Flügel. Sie ritt. Und alle Männer mussten sie ansehen … Boby sang Bariton. Du sagtest … Señora Kropotkina tanzte ungeschickt durch das Lokal und rezitierte Verse von Vladimir Nabokov: Lolita, Licht meines Lebens, Feuer des Herzens, meine Sünde … Guido Golgi schlug mit zwei Pfannen den Takt. Klack! Klack! Zenaida ging Fahnen schwenkend vorüber und sang: A la urrarrá, a la urrarrá, bombochie, chie, chie, bombochie, chie, cha: José! José! Rarrarrá! … Boby lebe hoch! Er lebe hoch. Heißa. Hoppla. Hurra. Der Kubaner trommelte an die Gitterstäbe seines Käfigs: Bombochie, chie, chie, und war verrückt danach, zu fliehen: Rarrarrá!
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orenzo hatte die Ameisenhaufen am Fuße des Feigenbaumes im Tiefland der Antilopen entdeckt, maß ihnen aber in dem Moment keine Wichtigkeit bei, und wenn ihn etwas beunruhigte, verschwieg er es, denn die Ausräucherungsfeldzüge waren Angelegenheit der Gesundheitsbrigaden, und seit der Führung des Gewerkschaftlers Margarito Lara war allgemein bekannt, dass zwischen den ausgesprochen pedantischen Experten für Insektizide und den ausgesprochen primitiven Tierwärtern eine Rivalität herrschte, die die Verantwortlichkeiten jeder Gruppe deutlich markierte. So breitete sich die Plage ohne den geringsten Widerstand von Gebüsch zu Gebüsch aus: An Joses Festtag fielen die Ameisenheere über das Verwaltungsgebäude her. Sie hatten bereits die Düngemittellager eingenommen und ein Labyrinth unterirdischer Gänge mit mehreren Ausgängen wie Luftlöcher in einem Vulkan gebaut. Während des Vortrags von Ruy dem Doktor eroberten die Riesenameisen Pepes Bodeguita, und einige begannen an Menelao González’ verschlissenen Mokassins hochzukrabbeln. Der Tischler saß ganz hinten im Laden auf einem Klappstuhl. Seine Mütze ragte wie ein Stalagmit in der Saharawüste über die Zuschauerköpfe hinaus. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren lebte er in einer kreisförmigen Zeit, in die er ein paar glückliche Passagen und ein paar Schlüsselfiguren hinübergerettet hatte: Rita und seinen Sohn José, beide verloren. Erstere vom göttlichen Gericht geraubt, Letzterer in der Falle der Menschengesetze gefangen. Und beide Strafen hatte er nicht verdient. Er hatte gute Gründe, um Himmel und Erde zu misstrauen. Da er es hasste, von jemandem abhängig zu sein, war er so weit
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gegangen, seinen eigenen Sarg zu zimmern; der Zedernkasten diente in der Tischlerei solange als Bank, ohne dass ihn die Beschwerden einiger Kunden mit Vorurteilen kümmerten, die erschraken, wenn sie erfuhren, dass die Wiege ihrer Enkel auf einem Sarg verleimt worden war, auf dem als knappe Gedenkschrift stand: RIFMG (Ruhe in Frieden, Menelao González). Wegen der Arteriosklerose, die einen Nerv nach dem anderen befiel, verließ er das Haus nur jeden dritten Mittwoch im Monat: Seit sechs Jahren ließ seine Tochter Regla ihn zum Abendessen mit anderen Gefängnisveteranen ins Café Esther’s in Santa Fe gehen; anfangs füllten die Teilnehmer den Raum, aber seit Einlieferung von Perucho Carbonell ins Altenheim der Freimaurer klafften unübersehbare Lücken in der Truppe; das letzte Treffen war wegen Fehlens des Chores sogar abgesagt worden. «Der Letzte macht das Licht aus», sagte Menelao und schloss damit ein weiteres Kapitel seiner Sammlung der unwiderruflichen Verluste. Trotzdem ging er an Joses Geburtstagssonntag zum vierten Mal in den Zoo. Die vorigen Male war er nicht weiter als bis zum Tamarin-Käfig gekommen. Von dort aus hatte er seinen Sohn beobachtet, ohne den Mut zu haben, einen direkten Blick mit ihm zu tauschen, weil er ihn für nachtragend hielt. José liebte ihn vielleicht nicht. Er schon. José hatte sich geweigert, von seinem Vater zu hören. Er nicht. Er schrieb ihm Woche für Woche zur Ermunterung – nur Mut, mein Sohn –, obwohl er nicht wissen konnte, dass Regla die Briefe unter Bergen von Sägespänen verbrannte. Die Bodeguita war brechend voll. Es war heiß. Sehr heiß. In einer Rednerpause hielt sich Menelao die Mütze vors Gesicht (sie roch nach Haarbrillantine) und schlich rückwärts aus dem Laden. Beim Ziegenstall kam er an Lorenzo Lara vorüber. Der Campechaner reparierte gerade die Umzäunung von Silvias und Marijós Gehege, als etwas an
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diesem Spaziergänger seine Aufmerksamkeit weckte, vielleicht die Tatsache, dass er laut und in perfektem Kubanisch von José redete: «Pepe, wie schade, verdammt, das ist die Höhe!» Die Riesenameisen hatten die Pflaumenbäume gerodet. Ein Ameisengeschwader schleppte seine Beute, zwei verkrümmte Skorpione, vorbei. Ruy der Doktor las den Abschnitt, in dem er versichert, dass die Häftlinge einen sechsten Sinn entwickelten, der ihnen erlaubt, einen anderen Druck als den atmosphärischen zu spüren: «Wir alle fühlten uns schuldig wegen eines Fehlers, den wir nicht begangen hatten. Doktor Spencer Lund – er ruhe in Frieden – bietet in seinem Artikel eine salomonische Erklärung an: Aus Liebe zu töten kann als legitime Form der Selbstverteidigung betrachtet werden, sagt er, aber wenn wir an Wesley Cravan denken, hängt die romantische Abmilderung des Strafrechtlers in der Luft, denn Opfer und Mörder begehrten aus zwei unterschiedlichen Herzen dieselbe Frau.» Zum Abschluss zitierte er Oscar Wilde und sprach eine unverschämte Bitte aus: «Jede Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol. Die unter der Oberfläche suchen, tun es auf eigene Rechnung; die das Symbol lesen, ebenfalls. Möge mir Pepe Kid diesen düsteren Text verzeihen. Vielen Dank.» «Ich habe dir nichts zu verzeihen, Doktor», sagte José, der ihn durch den Lautsprecher gehört hatte; an diesem Morgen interessierte ihn nichts anderes, als sich mit den Fingernägeln die Fußnägel zu kürzen. Guido Golgi hatte noch nie so viele Pizzastücke gebacken. Die belgische Sopranistin sang auf dem kleinen Trampolin Verdi-Arien, und ihre Stimme zog einen Schwarm japanischer Touristen an. Die beiden Harlekine auf Stelzen verteilten Werbefolder für die Show im Delphinarium. Der Gnade des Windes ausgeliefert, zappelte der Zwerg mit den Luftbal-
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lons einen Meter über dem Boden in der Luft, und es fehlte nicht an Müßiggängern, die auf den genauen Zeitpunkt, in dem er zum Flug ansetzte, Wetten abschlossen. Der Skinhead, der José umbringen wollte, trug eine dunkle Sonnenbrille, um den Hass in seinen Augen zu verbergen. Die wenigen, die auf ihn aufmerksam wurden, erzählten, dass sie ihn für einen dieser vielen Pilger auf der Suche nach Läuterung gehalten hätten. Später wurden noch andere Versionen bekannt: dass er ein gefährlicher Fundamentalist war. Ein Irrer. Der Anführer einer ausländerfeindlichen Gruppe. Ein Berufskiller. Als Menelao ihn eine Waffe ziehen sah, schlug er Alarm und versuchte, José mit seinem klapperdürren Körper zu schützen, aber der Skinhead fegte ihn wie jemand, der einen Bambusvorhang aufzieht, und zum Preis von sechs wertvollen Sekunden mit einer Ohrfeige aus dem Weg. Vom Boden aus wurde der Tischler Zeuge, wie sich der Adler Morante unter Einsatz seines Lebens auf den Verbrecher stürzte. «Gib’s ihm!», schrie Menelao. Das Projektil kam von seiner Flugbahn ab und schlug in Cucos Brustkorb ein. «Bring ihn um!», schrie Menelao. Mit einer geschickten Handbewegung setzte Morante den Mann außer Gefecht und verpasste ihm einen zweiten Schuss in die Leber. «Bring ihn um, verdammt!» Der Skinhead war sofort tot. Im Eifer des Gefechts wurden die Harlekine von der Horde entsetzter Frauen und Männer umgerannt. Die Sopranistin fiel auf den Hintern. Der Zwerg schwebte über den Jacarandabüschen. Lorenzo suchte an Guidos Stand unter demselben Tisch Zuflucht, wo Señora Kropotkina ein paar Minuten zuvor ihre Eibisch-Brownies gegessen hatte. Der Überlebensinstinkt war stärker als die Freundschaftspflicht gewesen. Cuco steckte einen Finger in das Bleiloch, ohne zu begreifen, warum er jetzt diese saubere, heiß pochende Öffnung im Körper hatte, ohne zu begreifen, warum der
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Käfig sich um ihn drehte, ohne zu begreifen, warum er in seinem eigenen Blut zusammenschrumpfte, bis er so leer war wie eine Bananenschale. Ohne irgendetwas zu begreifen. Er schloss die Augen. Das Stöhnen wurde schwächer. Er bildete eine Speichelblase. José wollte ihm helfen. Er streckte den Arm durch die Gitterstäbe, reichte aber nur bis zu den Füßen. Die Füße fühlten sich an wie aus Gummi. Sie waren kalt. Eiskalt. Die Füße. Die Blase zerplatzte in einen Speichelfaden. Gewiss: Der Tod ist vor allem eine einsame Erfahrung. Menelao schlurfte in seinen Mokassins davon. Er wirkte wie ein Großvater, der in der Menschenmenge seinen Enkel verloren hat. Lorenzo erkannte ihn wieder, als er an dem florentinischen Stand vorbeikam. Er war beim Ziegenstall auf seine traurige Gestalt aufmerksam geworden. ‹Das muss Menelao sein›, dachte er. Deshalb hatte er José verteidigt. Plötzlich begann Menelao wie ein Kolibri herumzuhüpfen und jubelte: «Ich hab ihn gerettet, Perucho, ich hab ihn gerettet!» Dann setzte er zu einem ulkigen Lauf an. Lorenzo suchte ihn überall. Hie und da entdeckte er ein paar altersschwache, verkalkte und sich ähnelnde Greise. Er kam zum Haupteingang. Der Menschenfluss strömte auf die Straße. Nichts. Feuerwehrmänner. Ein Eisverkäufer. Fahrräder. Polizeipatrouillen. Regla diskutierte mit Salomón Carey: Sie fuchtelte ihm ohne Respekt vor seiner Autorität als Unteroffizier dicht vor der Nase herum. Nichts. Menelao war verschwunden. Der Campechaner konnte nicht mehr. Er wollte zum Affenhaus zurückkehren, aber die Kräfte verließen ihn. Er lehnte sich an den Zaun des Rhinozerosgeländes und brach in Tränen aus. Wie Fliegen über einem Teller saurer Milch schwirrte ihm ein Haufen beschämender Gedanken durch den Kopf. Warum hatte er José nicht verteidigt? Wenn er nach seinen Bordellbesuchen manch-
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mal durch den Hafen spazierte, wo die Kräne die blauen Container zu verladen begannen, die Schiffe mit ihren schuppenverkrusteten Flaggen durch den Frühnebel glitten und die Sirenen heulten, nutzte Lorenzo die Zeit des Tagesanbruchs zum Nachdenken, und vielleicht war sein Gedanke richtig, dass jedes menschliche Wesen mit einer bestimmten Mission auf diese Welt kam, unwichtig, ob erhaben oder schlicht, heroisch oder pazifistisch. Er sollte vorbereitet, achtsam und bereit sein, um in dem Moment aktiv zu werden, wenn ein anderes Lebewesen mit Problemen seinen Weg kreuzt. Bis zu diesem Sonntag war er nicht fähig gewesen, seine Mission zu erkennen; aber nach den Geschehnissen vor Joses Käfig war das schon nicht mehr wichtig, denn er hatte seine Chance unter einen Tisch gekauert vertan. Warum hatte er sich versteckt? Weil die Angst als einziges Gefühl noch schamloser als die Liebe ist. Er hatte noch immer den Eindruck, Salzkiesel zu kauen. Die Nieren taten ihm weh. Da erinnerte er sich. Beim Verlassen des Verstecks und Verfolgen von Menelao hatte er aus den Augenwinkeln Cucos Leiche wie ein in Soße getunktes Brot in seinem eigenen Blut schwimmen sehen, und er hatte den Blick abgewandt, weil er das Abbild des Todes in den gebrochenen Augen nicht ertrug. Der aus Borneo hatte den schlechtesten Teil abbekommen. Lorenzo würde nie wieder seine Kotäpfel einsammeln oder seine Wutanfälle beschwichtigen müssen. Er könnte niemandem mehr seinen Kummer anvertrauen: Wer würde verstehen, dass man ein Tier so lieben konnte, wie er diesen Orang-Utan geliebt hatte. Das Rhinozeros raste über die Ebene wie Señora Kropotkinas Finger über die Pianotasten oder der Schmetterling Zenaida von Flughafen zu Flughafen oder der gefangene José in seinem schwülen, kultivierten Käfig oder Lorenzo selbst, Lorenzo der Hampelmann, der Scheiße einsammelte und im Leid
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der anderen Trost für sein eigenes Unglück suchte: die Zauberhand der Einsamkeit. Da sah er die Ziegen Silvia und Marijó über die Felsen springen und schleuderte ihnen einen Stock, einen Stein, ein Grasbüschel, einen Schrei hinterher, der ihnen zu fliehen befahl: «Lauft, ihr Zicklein, springt, haut ab!», denn irgendein heldenmütiges Tier musste an einem anderen Ort sein Leben wieder finden, und sei es im Namen aller Verlierer, aller Unglücklichen und aller Vergessenen im Großen Bären. Das Metronom des Fesselballons schwebte über den Hain und pfiff durch dasselbe Horn, das unten Spiralen aus Schmutz aufwirbelte. Die Ziegen verloren sich in der Staubwolke. José leistete keinen Widerstand, als zwei Zooangestellte in seinen Käfig kamen, er ließ sich sogar in aufrichtiger Ergebenheit die Handschellen anlegen, aber als er den mit einer Tischdecke notdürftig bedeckten toten Skinhead sah (das Stoffquadrat reichte nicht einmal bis zum rechten Arm), fühlte er sich in diesem Strudel aus weinenden Kindern, halb übergeschnappten Frauen und prahlenden Männern gefangen und nutzte eine kurze Unaufmerksamkeit der Wächter, um sich in die Jacarandabüsche zu flüchten. Er tat es aus Überheblichkeit. Ein fast selbstmörderischer Hochmut. Cucos absurdes Ende hatte ihm gezeigt, dass der Tod eine Befreiung sein konnte. Außer seinem Leben hatte er nichts zu verlieren, und unter den gegenwärtigen Umständen war das seine keinen Peso wert. Drei Schüsse in die Luft. In Villa Vizcaya brach Panik aus. Ohne Hilfe der Hände, die vorn gefesselt waren, verlor José das Gleichgewicht. Nur Morante bewahrte die Ruhe, obwohl sein Augenlid zuckte und er ein Bohren in der Magengrube verspürte. Er wusste, dass er ein guter Jäger war. Um nichts auf der Welt würde er zulassen, dass sein ruhmreicher Tag getrübt würde, nicht einmal von diesem nervösen Tick, der sein rechtes Auge unbrauchbar machte: Sein
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Zielauge war das linke. José war in Richtung Kinderspielplatz gelaufen, woraus Morante den Schluss zog, dass er den Erdwall vom wenigsten bewachten Zooteil zu überwinden versuchte, und so nahm er eine Abkürzung, um ihm rechtzeitig eine Falle zu stellen. Er lud sein Gewehr mit Beruhigungspfeilen und erwartete die Beute auf einer Rutsche. Ein strategischer Punkt. Karusselle, Schaukeln, Kinderwippen. Die Mütter trieben ihre Schäfchen zusammen. Sie schnatterten. ‹Glucken›, dachte Morante. Das Blut seines dritten Opfers war auf seinen Overall gespritzt. Die beiden ersten hatte er aus nächster Nähe abschießen müssen, und es war nicht einfach gewesen, das letzte Bild von diesen Gaunern loszuwerden, die die Schule seines Sohnes Langston überfallen hatten – ein blonder, von der Kugel eines 45er Kalibers zerschmetterter Schädel; der andere war sehr jung gewesen und hatte sich wie ein Hund ohne Rückgrat durch die Sitzreihen des Baseballplatzes geschleppt. «Immer sind Kinder in der Nähe, verdammt», sagte er leise. Heute würde er sich für den Tod des Skinheads nicht rügen lassen. «Das war nur ein Verrückter», und obwohl er aufstieß, schluckte er das Erbrochene wieder: Es schmeckte nach Scheiße. Er drückte das zuckende Lid zu und peilte den Flüchtling durch das Zielfernrohr an. José lief durch die Sträßchen von Villa Vizcaya. Er stürzte mehrmals. Die Angst ließ ihn wieder aufstehen: Wenn er es zum Ententeich schaffte, hätte er ausgezeichnete Möglichkeiten, sein Ziel zu erreichen. Morante musste grinsen: Er taumelte. Er könnte ihn vor den Käfigen der tropischen Sittiche abschießen, das wäre ein einfaches Ziel, er hatte ihn auch auf der romanischen Brücke, die über einen der Kanäle führte, im Schussfeld, aber er wartete, bis José die Lehmwand hochzuklettern begann, um ihn die Illusion bis zum letzten Tropfen auskosten zu lassen. Dieses Recht würde er ihm nicht verwehren. Die Jagd ist Duell, ist
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Kühnheit. Der Wind wehte wieder kräftiger. Die beiden Ziegen wirbelten Staub auf. Der Fesselballon neigte sich gefährlich nach Westen. José hob die Arme. Seine Finger klammerten sich an die Ziegelsteine. Cuco. Rhinozeros. Phefé. Der Tote. Der Tod. Er nahm Schwung. Und zog sich hoch. Auf der anderen Seite der Mauer konnte er ein Mädchen auf seinem Fahrrad erkennen. Blond. Pferdeschwanz. Die Fahrradfahrerin grüßte ihn. Morante drückte ab. Die Nadel bohrte sich in den Hals. Eine Biene in der Halsschlagader. Das Mädchen prallte gegen einen Pfosten. Der Jäger schulterte José wie einen erlegten Hirsch. «Hoch mit dir, Schwager: Hier ist nichts geschehen», sagte Morante, und damit war die Episode für ihn erledigt. Er hatte solche inkonsequenten Anwandlungen. Die Mütter klatschten Beifall. ‹Fischechsen›, dachte Morante. José schlief diese Nacht, an Händen und Füßen angekettet, in Doktor Magalhaës’ Büro. Im Traum erlebte er noch einmal die Attentatsszene, von hinten nach vorn, zurück zum Samenkorn, wie Alejo Carpentier sagen würde. Kinderwippen. Das Mädchen auf dem Fahrrad. Die Staubwolke löste sich auf. Karussell. Zwei Ziegen. Der sterbende Cuco. Das Blut floss in die Venen zurück. Die Wunde vernarbte. Der Skinhead stand gesund und munter vom Boden auf. Die Pistole am Gürtel. Morante, Gewehr geschultert. Die Harlekine stiegen auf die Stelzen. Der Zwerg mit den Luftballons sank Meter für Meter auf die Erde herab. Die belgische Sopranistin hüpfte auf dem Trampolin. Die Nägel. Hart. Über Prado und Neptuno spazierte ein Mädchen … Und dann hörte er den Schrei. Mit der Zeit war es ihm gelungen, das Stöhnen der brünstigen Bonoboaffen, den modernistischen Gesang der Schwäne und das Brüllen der verzweifelten Pumas zu unterscheiden. Er wachte mit einem Satz auf. Er hatte gerade die Stimme seines Vaters wieder erkannt: Gib’s ihm!
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Bring ihn um! Der Dienst habende Tierarzt spritzte ihm einen Polyvitamin-Cocktail. Er schlief vierzehn Stunden durch. Lorenzo saß auf der ersten Treppenstufe vor dem Hauptgebäude des Zoos. Er stand nicht auf, als er Camila unter einem Sonnenschirm aus Blitzen näher kommen sah, und konnte ihr in der Kürze kaum erzählen, was alles an diesem Nachmittag geschehen war, wobei er nachdrücklich Menelaos Heldentat hervorhob. «Es wird Regen geben», sagte Camila. «Ja, es wird Regen geben», wiederholte Lorenzo. Der Montagmorgen zog mit tief hängenden Wolken auf. Als José die Augen öffnete, sagte Camila am Telefon zu Lorenzo, dass er nicht ohne die zweiten Proben aus dem Labor zurückkommen solle, «weil die Jungs von der Blutbank an die roten Blutkörperchen der Kamele gewöhnt sind, diesmal handelt es sich aber um einen Menschen». Camilas Besorgnis wirkte übertrieben, und das ließ sich vielleicht mit ihrer Unerfahrenheit erklären, denn Biologen behandeln im Gegensatz zu Ärzten nicht immer die Leiden eines nahe stehenden Freundes. Sie hatte Hunger. José brauchte ein paar Minuten, um seine Augen an das Licht zu gewöhnen und zu begreifen, dass er auf dem Polyestersofa in Juscelinos Büro geschlafen hatte. Es regnete. Donnerschläge und Blitze machten die Szenerie noch irrealer. Camila hing eine erloschene Zigarre im Mundwinkel. Sie kaute auf dem Filter herum. Sie war José noch nie so attraktiv vorgekommen, und er dachte, dass es die Mühe der Flucht wert gewesen war, wenn der Ausgang erahnen ließ, dass sie ihn – auf ihre Weise – mochte. Draußen wütete das Gewitter. Camila hatte die Festnahme in den Abendnachrichten gesehen, und als sie das Interview mit Morante im Zebra-
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stall hörte, wo der Held des Tages erzählte, wie er verhindert hatte, dass das perfekteste Tier der Schöpfung entwischte, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, dass sie wegen einer Angelegenheit auf Leben und Tod in den Zoo müsse: «Sie brauchen mich.» Das emphatische Verb im Plural zusammen mit dem rätselhaften Subjekt warf viele Fragen auf und verhinderte sein Kontern. «Wenn ich nicht zurückkomme, geb ich dir Bescheid», schloss sie. Max Mogan murrte vergeblich. Nach zehn Jahren Ehe, fünfzehn Monaten Getrenntleben und drei Wochen der Versöhnung wusste er, dass er sie nicht aufhalten konnte. Er reagierte aber auch nicht gleichgültig. Er begleitete sie zur Garage und küsste sie beim Einsteigen ins Auto auf den Mund. Die Luft hatte sich mit Salpeter aufgeladen. Es roch nach Sardinen. An einem Knotenpunkt der Straße sah Camila zwei Ziegen ausgelassen in Gegenrichtung zum Verkehr laufen, ohne sich von dem gewaltigen Wirrwarr, den ihre Angriffe provozierten, beirren zu lassen. Die letzten Stunden war Camila nicht von der Seite des schlafenden José gewichen, ohne sich an Morantes Protesten zu stören, für den die Biologin ein Eindringling war, die ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen; und obwohl sie nicht erreicht hatte, dass ihm die Ketten abgenommen wurden, setzte sie zumindest durch, im Raum bleiben zu können. Die zweite Analyse bestätigte, dass Joses Herz ruhig schlug und dass sein Blut frei von giftigen Partikelchen durch die Adern floss. Anfangs hatten sich die Jungs im Labor geweigert, die Proben zu wiederholen, weil sie sich sicher waren, dass es nicht die geringste Möglichkeit eines Irrtums gab, und wäre da nicht das ausgesprochen freundliche Insistieren von Lorenzo Lara gewesen, wären sie heimgegangen, ohne den Launen einer verschrobenen, kapriziösen und grillenhaften Biologin nachzugeben, die nicht einmal die Resultate verstand.
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Niemand konnte ahnen, dass Camila bereit gewesen wäre, die Küchenschaben der nördlichen Hemisphäre zu zählen, nur um bei José bleiben zu können, und jetzt, als es angefangen hatte zu regnen, bescherte ihr die Natur einen guten Vorwand, nicht nach Hause zurückkehren und sich mit leerem Magen Max Mogans verletzenden Klagen stellen zu müssen. In Juscelino Magalhaës’ Schreibtisch fand sie eine Schachtel Partagás-Zigarren und stibitzte eine. Sie zog die Gardinen auf, damit der Rauch abziehen konnte. «Guten Morgen», sagte José. Dieser Gruß machte das Maß voll. Camila hatte erwartet, dass José erst aufwachen würde, wenn sie schon gegangen war, um sich so die ungemütliche Verpflichtung einer Erklärung zu ersparen, warum sie ihn so sorgsam bewacht hatte, wo doch sein Leiden lediglich darin bestand, vierzehn Stunden durchgeschlafen zu haben, und da sie sich gerade die Partagás anzünden wollte, stellte sie sich José schonungslos und erzählte ihm alles, auch das, was sie nicht zu sagen gedachte. Der Sonntag war endlos gewesen. Max Mogans Kuss hatte bewirkt, dass sie sich obendrein wie eine ehebrecherische Ratte fühlte. Während der langen Wache waren zu viele Fragen aufgekommen, und jetzt war es an José, einige der stacheligsten zu beantworten. Ohne ihm das Recht auf Einspruch zuzugestehen, erzählte sie im Einzelnen, wie Menelao laut Lorenzos Bericht den Skinhead gestellt hatte; sie erzählte ihm auch von Reglas Entschuldigung, als sie sie fragte, warum sie ihn nach der Eröffnung von Pepes Bodeguita nicht besucht hatte, und darüber hinaus erzählte sie ihm auch, dass Spencer Lund seine Unfähigkeit am Ende zugegeben hatte, dass Morante sein Schwager sei, dass er zwei Neffen habe – «Keiner heißt José» – und dass Wesley Cravan der Freund der Friseuse aus Santa Fe gewesen war. «Überrascht dich das?»
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Ja: Joses zweihundertacht Knochen des Skeletts waren ordentlich erschüttert. Sein Kinn zitterte. Er hatte erfahren, dass er dank des «Mannes mit der Mütze» lebte und dass Regla seit Monaten fünfhundert Meter von seinem Käfig entfernt ein Geschäft betrieb. Wesley Cravan hatte ihn, und nicht Dorothy Frei, umbringen wollen. Ihm wurde schwindlig. «Wie alt war Regla jetzt? Dreiundvierzig? Zwei Neffen? Isidro? Ivo, wie der Elektriker aus Atares? Von welcher Bodeguita redest du? Spencer Lund? Und Regla verkauft Familienfotos? Was ist Homopoly? Papa? Wenn er eine Gummimütze getragen hat, war er es. Diese Schirmmütze trägt er immer.» Der Regen trommelte ans Fenster. «Papa, Papa. Das Unglück verfolgt ihn, genauso wie mich.» José hielt Camila seine Hand hin. «Cuco ist tot, nicht wahr?», fragte er. «Ja, José. Er wurde umgebracht.» «Er hatte kalte Füße. Wer war es?» «Ein Wahnsinniger. Einer dieser Verrückten.» «Wie es regnet!» «In der ganzen Stadt.» «Mein Käfig wird nass werden. Kürzlich bin ich fast gestorben. Ich habe Juscelino gebeten, Gardinen anzubringen. Aber sie hören nicht auf mich. Es gibt Ameisen. Ganze Kolonnen von Riesenameisen.» «Lorenzo wird den Boden morgen aufwischen. Ich sag es ihm.» «Morgen. Ja. Weißt du, dass Wesley Cravan mir zwischen die Augen gezielt hat? Ich habe geschielt. Ich habe ihn umgebracht. Es war so einfach! Sag mir, Camila, wozu dient eine Pistole, die nicht schießt? Papa. Ich habe seinen Schrei gehört. Er war gekommen, um mich zu sehen, zwei- oder dreimal. Er ist immer umhergeschlichen. Ich
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habe ihn hinten am Tamarinkäfig gesehen. Ich schlucke alles, ohne es zu kauen. Runter damit, roh, wie’s ist.» «Ruh dich aus, denk nicht so viel.» «Papa ist nie näher gekommen.» «Tu dir nicht selbst weh.» «Er schaut mich an und schaut mich an, versteckt unter seiner Schirmmütze. So ist er. Ich verstehe ihn. Er ist so dünn. Meine Güte! Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, Scheiße. Ich will nach Hause. Was soll ich tun?» «Lass dich lieben, José.» Der Campechaner kam mit den Laborergebnissen ins Büro. «Heilige Jungfrau Carmen, draußen geht die Welt unter!», verkündete er. Camila und José saßen auf dem Sofa und küssten sich. «Wir sehen uns dann», murmelte Lorenzo. Er stellte sich mit gespreizten Beinen und wie eine Sonnenwache vor den Pyramiden von Chichen-Itzá mit über dem Kopf gekreuzten Armen vor der Tür auf. Wenn die Liebenden zehn Minuten Intimsphäre hätten, könnten sie vielleicht miteinander schlafen. Lorenzo begann langsam zu zählen: eins, zwei, drei, vier … In der siebzigsten Sekunde nahm die Sintflut zu: Eine Windbö stieß ein Flurfenster auf und warf eine Blumenvase um; in der hundertvierten entdeckte er Morante und Unteroffizier Salomon Carey, die im Regen plaudernd näher kamen. Lorenzo presste die Kiefer zusammen: Sie würden über seine Leiche steigen müssen. Hundertneunzig, hunderteinundneunzig … In der zweihundertdreizehnten Sekunde verließ Camila den Raum. Sie entschuldigte sich nicht einmal, als sie mit dem Mayaposten zusammenprallte, oder vielleicht sagte sie: «Tut mir Leid», aber ein Blitz spaltete eine Tanne, und das Aufblitzen verhinderte, dass Lorenzo sie verstand. Wenn alle Menschen gleichermaßen lieben, wird es weniger Kriege geben, schrieb Oscar Wil-
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de. Wird es so sein? Wer weiß. Er sagte auch, dass jeder Mensch tötet, was er liebt.
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a, jeder Mensch tötet, was er liebt. Wenn es wie aus Eimern schüttet und morgens um zehn nirgendwo die Sonne durchschimmert, bringen die biologischen Zeitmesser die Tagesplanung durcheinander: als würde der Strahl der Sanduhr nach oben rieseln und die Schwerkraft herausfordern, als hätte jede Minute hundert Sekunden und schöbe den Abend vor den Mittag, oder schlimmer noch, als wenn einem, wie Camila, zwölf Stunden Blitz und Donner keine Zeit ließen, darüber nachzudenken, dass der Moment der Reue schon bald kommen würde. Außerdem war Montag, und Montage waren immer problematisch, weil ihre Töchter nie in die Schule gehen wollten und Max Mogan beim Aufstehen schlichtweg unausstehlich war. Camila schlüpfte während des Gewitters in Guidos Lokal unter und wagte nicht, zum Parkplatz zu gehen. Joses Fesselballon wurde heftig geschüttelt. Die Windböen rissen an den Seilen, und schließlich segelte der Ballon über den Pappeln davon. Eine Windschere ließ ihn weiter aufsteigen, er machte zwei vertikale Luftsprünge und driftete in Richtung Caracol Beach ab, wo der Niederdruck einen Notausgang fand. Da entdeckte Camila Phefé. Das Eichhörnchen war vom Platz der Käfige mit den einheimischen Vögeln bis zu diesem deckellosen Abwassergraben auf dem Panzer der Riesenschildkröte Boot gefahren, aber als es intuitiv spürte, dass der Asphaltschlund Floß und Bestatzung verschlingen würde, hüpfte es zum Entern auf einen Süßwarenstand, der zertrümmert vor Joses Käfig an einem Container gestrandet war. Wildes Bücher trieben in einer rötlichen Pfütze. Aus Cucos Brust sickerte ein unaufhaltsamer Quell von Blut. An die Gitterstäbe gesunken,
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staute der Körper des Orang-Utans den Regen: Das linke Auge war schon unter Wasser, nicht so das andere, das, ohne zu sehen, auf die letzte Überschwemmung seines Lebens starrte. In Josés Käfig kämpfte der Wind verbissen mit den Einrichtungsgegenständen, er kippte das Regal und die Korbstühle um. Camila rannte zum Parkplatz. Das starrköpfige Rhinozeros versank im Schlamm, es war so massig und die Erde so durstig, dass es auf diese Weise in ihren Schoß zurückkehrte. An den Kanalufern schlugen die Flamingos mit den Flügeln. «Nur so können sie applaudieren», sagte sich Camila und spürte, dass ein nervöses Lachen ihr Gesicht verzerrte; sie ließ den Wagen an, setzte zurück und floh aus dem Zoo, obwohl sie an der ersten Ampel noch immer nicht wusste, wohin sie fahren sollte, oder warum sich ihr Darm bemerkbar machte, oder wann dieser unnachgiebige Morgen zu Ende sein würde. Die Schildkröte, die die ganzen Eingeweide Santa Fes durchschwömmen hatte, streckte auf einer Schnellspur den Kopf aus einer Kanalöffnung: Als sie sah, was auf sie zukam, kehrte sie ins Unterirdische zurück, um einen sichereren Ausgang zu suchen. «Du machst ein Gesicht, als hättest du was angestellt», sagte Señora Caporella, als sie ihrer Tochter die Tür öffnete. «Du wirst dir eine Lungenentzündung holen. Wo kommst du bloß her, meine Liebe? Von der Beerdigung eines Feuerwehrmannes? Lazio und ich haben am Strand auf dich gewartet.» Eine Tasse heiße Schokolade und ein paar französische Gebäckstücke halfen Camila, sich den Stachel José herauszuziehen. Señora Caporella, die von sich behauptete, eine Expertin in der Kunst des Küssens zu sein, ließ sie jede Einzelheit des Zusammentreffens wiederholen, den Ort, den vom Blitz gespaltenen Baum, die Unterbrechung
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durch einen so genannten Lorenzo Lara, um irgendeine noch so geringfügige Spur auszumachen, aber nichts, der Kuss war ein Kuss gewesen – Das war’s, mein Kind, ein schlichter, warmer Kuss –, und wenn sie, wo sie doch gerade am Austauschen von Geheimnissen waren, die Ernte aller mal hier, mal da geraubten Küsse in einer Summe darstellen würde, käme sie auf über hundert, doch unterm Strich würde sie sich keines einzigen Ausrutschers schämen, denn alle diese Lippen hatte sie «auf Zehenspitzen und tränenden Auges» geküsst. Camila aß ein Stück Kuchen. «Mama, erinnerst du dich an Theo Uzcanga?» «Der Hungerpoet?» «Du bist gemein. Theo hat angerufen und mich zum Essen eingeladen», sagte Camila; sie lernte bereits zu lügen. «Ich glaube nicht, dass er genug Geld hat, um dich an einen passenden Ort auszuführen, aber nimm an. Du kannst noch immer …» «Was kann ich noch immer?» «… lernen, zu betrügen, ohne dich selbst zu betrügen. Ich kann dir nur einen guten Rat geben, mein Kind, und ich sage das, damit der Zug für dich nicht ganz abgefahren ist: Schluck den Kuss deines Kubaners wie ein Nachthupferl nach einer Artischockendiät.» Camila nahm den Rat an. Sie erzählte Max Mogan von der abenteuerlichen Reise des Eichhörnchens an Bord einer Schildkröte, erzählte auch, dass sie die Schildkröte nochmals gesehen hatte, als sie ihren Kopf aus einer Kanalöffnung (eine zweifellos sehr präzise Beobachtung) herausstreckte, erwähnte aber mit keiner Silbe das Bonbon, das José und sie auf dem Sofa genascht hatten. Abends rief sie Doktor Magalhaës an und bat ihn um ein paar Urlaubstage. Am Freitag erfuhr sie, dass sie ihre Arbeit verloren hatte.
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Im weiteren Verlauf der Woche ernannte Juscelino Magalhaës Morante zum «Menschenwärter», eine Verantwortung, die seinen humanistischen Prinzipien widersprach, aber zu diesem Zeitpunkt blieb ihm keine andere Wahl. Gouverneur Ian Hill hatte zu ihm gesagt: «Entweder haben Sie José unter Kontrolle, oder Sie dürfen schon mal an Ihr geliebtes Príncipe da Beira denken, denn wenn meine Jungs erst einmal zu suchen anfangen, finden sie bestimmt ein Stück schmutzige Wäsche, das reicht, um Sie dorthin zu versetzen.» Als der ehemalige Friedhofsangestellte von Santa Fe seine neue Stelle (die ihm erlaubte, sein Image als Oberhenker zu verbessern) antrat, empfahl er als Erstes, Camila zu kündigen. Raubtier unter Menschen und Mensch unter Raubtieren, wusste Morante, dass Liebesgeschichten in einem Kerker nur stören. Der Aufstieg in der Befehlshierarchie bedeutete, einen repressiven Apparat zu befehligen, was ihn an seine glorreichen Jahre im Staatsgefängnis erinnerte. Es hatte ihm nie sonderlich gefallen, einen Löwen zu ohrfeigen. Morante zog es vor, einem Menschen hart zuzusetzen. Mit knapper Mehrheit stimmte die Direktionsversammlung des Zoos für den Antrag eines «zeitweiligen Aussetzens des Vertrags». Als sie von der Entscheidung erfuhr, versuchte Camila ihre Rechte vom wackeligen Podium der Zivilgesellschaft aus einzufordern. Sie verlor den Prozess. Feministische Streikposten bauten vor den Zootoren Barrikaden auf, erreichten aber nichts, weil laut den Stiftungsstatuten Vereinbarungen dieser Art möglich waren. Camila veröffentlichte in mehreren Tageszeitungen einen offenen Brief, adressiert an jene, «die es angeht», aber mit dieser kindischen Anwandlung erreichte sie nur, dass die Klausel «zeitweilig» im Originalantrag in «endgültig» geändert wurde. Das schwarze Schaf war aus der Herde ausgestoßen worden – wie in den Fabeln: grausam und exemplarisch. Als die Biologin ihren
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Schreibtisch ausräumte, kam Peggy in die bakteriologische Forschungsabteilung, und nach einer halben Stunde Plauderei war die Botschaft dieser listigen Frau, die sich anderen gegenüber noch nie einen falschen Schritt erlaubt hatte, klar. «Tapp nicht in diese Wolfsfalle, Camila. Komm, ich helf dir mit diesen Kartons», sagte sie. Höflichkeit ist eine gute Form des Angriffs. «Kann ich ihn besuchen kommen?», fragte Camila. «Ich an deiner Stelle würde das lassen. Es gibt Geschichten, von denen man besser nicht erfährt, wie sie ausgehen. Hast du eine Ahnung, wie dornig der Weg für eine berufstätige Frau in unserem Alter sein kann, wenn sie einen heimlichen Geliebten hat? Du musst die Zeit multiplizieren, um sie zwischen zwei Betten aufzuteilen, und genau diese zusätzliche Aktivität zwingt dich, deinem Ehemann gegenüber verständnisvoll aufzutreten, damit er das Offensichtliche nicht mitkriegt. Seine Marotten, die Schleifspuren in den Unterhosen, weil der Herr sich nicht ordentlich den Hintern abwischen kann, die überall auf dem Fußboden verstreute Zigarrenasche, seine Abhängigkeit von Hot Dogs, all diese ‹Kleinigkeiten›, die dich gestern so störten, musst du einfach übergehen, und dann verliebt er sich mit Sicherheit ein zweites Mal, du wirst schon sehen, womit sich die Beziehung in eine Zeitbombe verwandelt, und wenn du die Kontrolle über dich verlierst, jagst du am Ende alle zum Teufel, verlierst den Ehemann und den Liebhaber, denn ohne den anderen entbehrt der Erstere an Reiz», sagte Peggy, und beim Verlassen des Büros ließ sie noch wie jemand, der ein Almosen gibt, einen Kommentar fallen: «Ich sag dir das aus eigener Erfahrung.» Camila lächelte: Überall sahen sich alle dazu veranlasst, ihr Ratschläge zu erteilen.
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Die Biologieprofessoren des Emerson-Instituts erwarben Cucos Körper, um ihn in der Präparierwerkstatt auszustopfen, aber die Studenten irrten sich in der Formoldosis, die Leiche zersetzte sich und wurde daraufhin stückweise in den Goldschmiedeöfen verbrannt, ein grauenvoller OrangUtan-Braten, der achtundvierzig Stunden im Feuer prasselte. Die beiden Paviane zogen in den leeren Käfig, an den jemand das geschmacklose Graffito «Entwicklungsstufe verloren gegangen» geschmiert hatte. Tigran der Schreckliche verlor seinen Exklusivvertrag, und dem italienischen Restaurant wurde die Konzession entzogen. Es fehlten noch etwa zwölftausenddreihundert Mittag- und Abendessen, und so übernahmen es Ernährungswissenschaftler vom Emerson-Institut, Speisepläne auszuarbeiten, die den Erfolg eines Projekts garantieren sollten, in das ein Vermögen investiert worden war. Guido weinte sich an Lorenzos Schulter über seinen Konkurs aus. Er war nicht Italiener, sondern Albaner. Den hübschen Familiennamen Golgi hatte er von einem Gladiatoren in grecoromanischem Kampfstil übernommen, den er in Tirana kennen gelernt hatte. Der Rothaarige hatte sich mit seinem ausgeprägten Optimismus die Zuneigung des Campechaners erworben und ihm sogar Bettgeheimnisse anvertraut. Guido hatte mit vier verschiedenen Frauen sechs Kinder, drei heimliche Geliebte, eine berühmte Freundin, und trotzdem betrachtete er sich nicht als einen glücklichen Mann. José war ihm dankbar. Dieser Emigrant hatte monatelang ein paar Schritte von seinem Käfig entfernt unter einem Zeltdach gelebt und war genauso wie die anderen Tiere im Zoo – gewiss, das einzige, das seinesgleichen zu essen gab – der Kritik und dem Spott der Besucher ausgesetzt gewesen. Guido wollte sich zum Abschied erkenntlich zeigen und schenkte Lorenzo eine bulgarische Rezeptsammlung. Wo das florentinische Lokal gewesen war,
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stand jetzt ein sechs Meter hoher Wachtturm, auf dem rund um die Uhr Wächter postiert waren. Morante trat entschlossen auf. Er befahl, Oscar Wildes Werk zu entfernen, und verbot Berta Sydenham, José weiterhin Zeitungen zu bringen. Lorenzo legte sich vor dem Käfig des BonvivantWollhaaraffen mit ihm an: «Als wären wir Tiere. Der Tiger wird besser behandelt», sagte er. «Täusch dich nicht, der Zoo ist kein Luxushotel.» «Aber auch kein Gefängnis.» «Das wird er bald sein.» Und das wurde er. Langston hatte am Tag danach, als Morante seine Sicherheitsmaßnahmen in einer Fernsehsendung erläutert hatte, seine Abschlussprüfung am Emerson-Institut, und der zuständige Prüfer, der die Umstände kannte und Joses Empfehlungsschreiben gelesen hatte, fragte ihn, was er über das vereitelte Attentat im Zoo dachte, worauf der Junge mit einem Bericht über ähnliche Fälle in der Gegenwartsgeschichte (den Ermordungen von John Lennon und Kaiserin Sissi) antwortete, um abschließend zu erläutern, dass es immer dreiste Menschen geben werde, die auf einen Streich etwas vom Ruhm eines anderen abhaben wollten; weswegen seiner Meinung nach die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von González’ Leben, die sein Vater traf, vergleichbar wären mit der Entscheidung des Louvre-Museums, die Mona Lisa oder die Nike von Samothrake um jeden Preis schützen zu wollen. Der im Saal anwesende Morante grinste in sich hinein, damit die Professoren seinen Goldzahn nicht sahen. Plötzlich wurde das Schlafzimmer des Kubaners erweitert und gläserne Trennwände aufgestellt, um das Publikum im Abstand von einem Dutzend Metern zu halten. Ein elektronisches Sicherheitssystem kontrollierte diejenigen, die aus ausschließlich
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arbeitstechnischen Gründen mit dem Gefangenen in Berührung kamen. Der Zoolautsprecher verkündete, dass die Tore von Villa Vizcaya bis auf weiteres geschlossen blieben. Morante löste auch das Problem, wo der Kubaner bis zur Fertigstellung der Umbauten untergebracht werden sollte: Er sperrte ihn in die Tierarztpraxis ein. Am dritten Tag erklärte José, trübsinniger als ein Uhu in der Mikrowelle, den Hungerstreik. Eines Abends riss ihn Morante mit einem Schrei aus dem Schlaf. «Was glaubst du, wer du bist? Dass dein Fluchtversuch nicht schlimmer ausgegangen ist, liegt daran, dass ich dem Unteroffizier erzählt habe, das sei alles nur ein Scherz gewesen», sagte Morante und spuckte aus. «Warum hast du mich bis zur Mauer kommen lassen? Ich habe dich auf der Rutsche gesehen.» «Warum sollte ich dir die Hoffnung auf eine Flucht nehmen? Ein Meisterstreich.» «Lee Shelton wartet schon auf dich.» «Ich werde nur ins Gefängnis zurückgehen, wenn ich dich umbringe. Du wärst dann der Vierte.» José machte eine gleichgültige Handbewegung. «Wie hast du dich gefühlt, nachdem du dem Quarterback den Meißel reingerammt hattest? Sag’s mir. War dir schlecht? Als ich die Gangster durchlöchert habe, kam mir der Ekel hoch. Damit du Bescheid weißt: Mit dem Skinhead ging es mir nicht so. Scheint, dass ich kuriert bin.» «Hurensohn.» «Ich und ein Hurensohn? Diese Mistkerle hatten neun Jungs als Geiseln genommen, Langston war einer davon. In der Schule gab’s ein Fest. Mein Sohn sollte ein Stück von Billy Joel singen. Dem Blonden habe ich das Genick gebrochen; dem Jüngeren die Wirbelsäule zertrümmert. Als er starb, hat er wie am Spieß geschrien. Schau, Pepe,
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ich habe sieben Jahre auf dem Friedhof von Santa Fe gearbeitet und Typen wie dich verbrannt. Ich erinnere mich an einen Landsmann von dir. Den habe ich zusammen mit einem Hund verbrannt. Es gab keinen Unterschied zwischen der Asche des einen und der des anderen. Denk darüber nach. Außerdem sind wir fast verwandt, deine Schwester und ich werden bald heiraten und unsere Hochzeitsreise nach Havanna machen. Du wirst essen, und wenn du Erde fressen wirst.» «Über meinen Hunger bestimme ich allein. Hat Langston das Stipendium gekriegt?», fragte José und schloss den Vogelkäfig. Sein einziges Bestreben war, diese Farce zu beenden. Und ohne Applaus. Der Tod des Skinheads, Camilas Kuss und ihr Rausschmiss, Reglas Verrat, Menelaos Heldentat und Cucos Tod markierten die Achsen eines Rades, das zu schleppen er nicht mehr bereit war. In seinen eigenen Exkrementen im Vogelkäfig der Tierarztpraxis kauernd (eine winzige Nische, die ihn zwang, in der Hocke zu verharren), beschloss er, dem Beispiel der Elefanten zu folgen und völlig anonym zu sterben. Lorenzo und Pater Jordán besuchten ihn. Ersterer brachte ein Exemplar von Der Große Zoo des Dichters Nicolás Guillen mit, Letzterer ein paar gut in seinem Aktenkoffer versteckte Erdbeertörtchen, ein Geschenk von Guido Golgi. «Du hast seit Tagen keinen Bissen zu dir genommen», sagte der Pfarrer. «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein», erwiderte José. «Sie vergrößern dir den Käfig», mischte sich Lorenzo ein. «Ich habe gesehen, dass sie eine Fernsehantenne auf das Dach montiert haben. Guido hat dir die Törtchen gemacht.
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Du hast ja keine Ahnung, was es den Pater gekostet hat, Morantes Spitzel davon zu überzeugen, dass das Hostien aus dem Vatikan sind. Wer wird sich um Phefé kümmern?» «Phefé ist sich selbst genug», sagte José. «Niemand ist sich selbst genug. Wie oft muss ich dir das noch sagen …» Der Pfarrer raffte seine Soutane. «Hochmut kommt vor dem Fall, Pepe Kid.» «Flieht, Genossen …», rief Lorenzo und begann, die Quarantänekäfige der Tiere zu öffnen. Er redete mit sich selbst. Oder mit Margarito Lara, denn er flocht aus der Mode gekommene Gewerkschaftsparolen ein. Zwei Kaninchen wollten nicht; er zog sie an ihren Löffeln heraus und befreite sie so gewaltsam. Ein Känguru boxte mit der Wand. Die Straußen liefen durch die Flure. Der Raum füllte sich mit Federn. Die Szene hatte ihre amüsante Note. «Bist du verrückt geworden? Bring all diese Tiere wieder in ihre Käfige, schnell!», rief Pater Jordán und fing einen Papagei im Flug ab. Der Papagei hackte ihn in die Hand. Der Pater ließ den Papagei los. Der Papagei ließ sich auf Lorenzos Kopf nieder. Lorenzo stopfte dem Papagei das Maul. Die Kaninchen flüchteten sich in Josés Käfig. Der Kubaner verscheuchte die Kaninchen. Dann suchten sie im Beutel des Kängurus Zuflucht. Sie konnten nicht in Freiheit leben. Lorenzo trieb die Tiere zusammen. José brach in schallendes Gelächter aus und krümmte sich im Käfig. Der Pfarrer rüttelte am Vogelkäfig. Lorenzo krabbelte auf allen vieren durch ein Meer aus Federn, ohne die Kapitulation des Kubaners zu hören: «Wo sind Guidos Hostien?» Als er in sein neues Quartier, einen großräumigen, hellen
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und undurchdringlichen Bunker, zurückkehrte, malte José mit Kreide einen halben Meter von jeder Wand entfernt ein Rechteck auf den Boden. Irgendwann einmal, als sie gerade von der Insel gekommen waren und in einem Außenbezirk Santa Fes ihren Taubenschlag zimmerten, hatte ihm sein Vater erzählt, wie er Perucho Carbonell kennen gelernt hatte, der damals als politischer Häftling zwölf Jahre in der Festung La Cabaña absitzen musste. «Er war ein sehr vornehmer Gefangener, der den ganzen Tag strickte. Er war schon halb blind. Als er erfuhr, dass du draußen geboren warst, beschloss er, dein Taufpate zu werden, und fing an, seinem Patensohn einen Strampelanzug zu stricken.» Eines Nachmittags waren Perucho und er im Hof der Strafanstalt, nahe beim Exekutionsgraben, zu dem Schluss gekommen, dass selbst noch in einer Zelle von drei Quadratmetern, wo eine konkrete Vorstellung von Freiheit eigentlich undenkbar ist, jeder Mensch über seinen Bereich entscheiden kann. «Nicht frei, Menelao, aber mächtig», sagte der Freimaurer. Es reichte, einen kleineren Raum als den vom Gesetz zugestandenen abzugrenzen und diese Linien nie zu überschreiten. Auf den Verzicht dieses winzigen Stücks Territorium gründete sich ihre Würde. José erinnerte sich an die Lektion. Er zog seine Striche und fühlte sich großartig. Herr seines Reiches und seiner Armut. Wie ein Trapezkünstler balancierte er auf der Kreidelinie entlang. Er maß jeden Schritt ab. ‹Perucho, wie findest du das: Regla fährt auf Hochzeitsreise nach Havanna›, dachte er während seiner Pantomime. José hätte sich gewünscht, dass Menelao an dem Nachmittag, als er die verspätete Korrespondenz las, da gewesen wäre. Irgendein «Bewunderer aus Havanna», ein Politikfanatiker, hatte ihm eine streng sachbezogene Auswahl von ausgeschnittenen Zeitungsartikeln geschickt, die das Thema der kubanischen Wiedervereinigung zur Sprache
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brachten, «von der Linken zur Rechten und von der Rechten zur Linken». Nachdem er so viele Jahre nicht an das Schicksal seiner Insel gedacht hatte, weckte einer dieser Artikel Josés Neugier. Der Kommentator beherrschte die Materie, und in Form einer Zusammenfassung wagte er das Hinüberschleppen ungelöster Probleme ins nächste Jahrtausend zu prognostizieren, wenn die Führer der Insel und des Exils nicht fähig wären, ihren überholten Hass endlich zu begraben. Und so weiter. Plötzlich hörte er eine amüsante Unterhaltung. Ein ungefähr zehnjähriger Junge stritt mit einem Mann, der so dünn war wie eine Fadennudel. Aus dem Gespräch erfuhr er, dass sie aus der Kleinstadt Klamath Falles im fernen Staat Oregon stammten. Der Junge hatte gehofft, José bei seiner triumphalen Rückkehr in den Käfig fotografieren und das Abenteuer vor seinen Schulkameraden dokumentieren zu können. Er fühlte sich betrogen. Der Mann war nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Mensch. «Er ähnelt Onkel Augustin, Papa, der den ganzen Tag Zeitung liest. Du hast mich belogen. Ich will nach Hause.» «Das wurde im Fernsehen berichtet, mein Sohn. Ist das meine Schuld? Achte auf die Soldaten in den Wachttürmen. Sie sind bewaffnet. Das wird seinen Grund haben. Die Tiere sind launisch. Achte auf seinen Blick und wie er die Beine übereinander schlägt. Dein Onkel setzt sich nie so hin. Er ist ein Gorilla.» «Nein. Das ist kein Gorilla.» «Warte noch, mein Sohn. Ein guter Fotograf muss Geduld haben.» «Meine Freunde werden mich auslachen.» Seine Freunde sollten ihn nicht auslachen. José gab einen markerschütternden Schrei von sich und begann, gegen die Eisenstäbe zu treten. Er machte einen Kopfstand.
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Er stieß unvergleichliche Laute aus. Er wich auf einem Fuß zurück. Er zog an seinen Wangen. Er schlug einen Salto. Er grunzte. Der Junge war entsetzt. Diese Improvisationen steckten die Motelgäste an. Die Schimpansin kreischte hysterisch auf. Die drei Affen aus Madagaskar und der vergnügte amerikanische Tamarin rasten wie Broadwayakrobaten an den Decken entlang. Der Bonvivant-Wollhaaraffe grüßte die Konkurrenz. Einer der Paviane warf Kotgranaten, womit er den verstorbenen Cuco imitierte. Vater und Sohn gingen hastig in Deckung. José war kurz davor, sich kaputtzulachen: Eine der Bomben war – im perfekten Gleichnis – über die Panzerglaswände geflogen und genau auf seinem Kopf gelandet. Von seinem Ohrläppchen tropfte ein stinkendes Exkrementenbaiser. Der Junge schoss sein Foto. Glücklich. «Die Tortenschlacht!», rief José. «Jetzt bist du so weit, ein freier Mann zu sein», sagte Lorenzo. Er hatte die Szene von den Jacarandabüschen aus beobachtet. «Warum?» «Du weißt schon. Stell dich nicht dumm.» Schritt für Schritt nahm eine kühne Idee Gestalt an: Am letzten Karnevalssonntag, wenn die lateinamerikanische Gemeinde Santa Fes das ausgehende Jahrtausend in einem Maskenumzug feiern und die Straßen damit in ein Irrenhaus verwandeln würde, könnte der Häftling für ein paar Stunden seinen Käfig verlassen, um die Biologin zu lieben. So wurde die Operation Moneada II geboren. José kreuzte den Tag in seinem Wandkalender an. Menelao hatte ihm unzählige Male erzählt, dass die Angreifer der Moncadakaserne den Tag der Massenumzüge gewählt hatten, um unbeachtet durchzukommen und einen Überraschungsangriff zu landen. Der Campechaner und Pater
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Jordán wurden zu Komplizen dieser Romanze. Seine Teilnahme an den Verschwörungsvorbereitungen erlaubte dem Pfarrer, die bei der Beichte erworbenen Kenntnisse anzuwenden: Die Berichte seiner Sünder halfen ihm, auch die Darsteller anderer Abenteuer zu begreifen. Am Nachmittag stieg er zum Würfelspielen in den Wachtturm hinauf. Zwischen Sportanekdoten und Bibelzitaten versuchte er die menschliche Veranlagung der Wachposten einzuschätzen, von ihren Wünschen und Ängsten, ihren Zukunftsplänen zu erfahren, und so konnte er seinen Kameraden eine viel versprechende Diagnose über ihr mögliches Verhalten während der Flucht vorlegen. Lorenzo war das Verbindungsglied zwischen José und Camila. Die Wachen achteten nie auf dieses Herdentier, das an ihnen vorüberging und Guten Morgen, Guten Tag und Guten Abend wünschte. Unter seiner Baseballmütze schmuggelte er Briefe, Amulette, getrocknete Blätter und Kinderkrams hin und her. Camila und Lorenzo trafen sich an bestimmten Punkten der Stadt, die kurz zuvor abgesprochen worden waren. «Erdbeben in Albanien» sollte heißen, dass sie sich in Guidos neuem Lokal im Norden von Caracol Beach trafen. Die Biologin genoss diese Streiche. Wenn sie ihr schon nicht erlaubten, José zu besuchen, würde sie sich an ihren Inquisitoren revanchieren, indem sie als Schlüsselfigur einer Intrige fungierte, was sie glauben machte, gegen Konventionen zu verstoßen, eine neue Erfahrung für eine so konservative Frau. Auf Anregung seiner in diesen Dingen sachkundigen Nachbarin Zenaida befragte Lorenzo Camila nach ihrem Monatszyklus, damit das festliche Ereignis nicht getrübt würde. «Rechne mal nach. Zwei mal zwei sind manchmal vier und manchmal drei», sagte die Mathematikerin. «Wenn ihr nicht aufpasst, kann dieser tangentielle Kubaner mit einem Blick auf ihre dreieckige Scham eine Schwalbe schwängern.» Nach hitzigen Dis-
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kussionen entschieden sich die Freunde schließlich für eine Kampfparole auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde: Proletarier aller Länder, liebt einander. Der Pfarrer brachte Wein zum Anstoßen mit, der Campechaner ein paar mit Kürbisblüten gefüllte Käsepasteten, und der Kubaner improvisierte einen überschäumenden Vortrag des weniger spritzigen Oscar Wilde: «Ungehorsam ist in den Augen desjenigen, der die Geschichte gelesen hat, die ursprüngliche Tugend des Menschen.» – «Auch seine Sünde», fügte Pater Jordán hinzu. Versuchung. Unschuld. Und ein Apfel. Max Mogan verkörperte die Schlange. Der Neid ist eine bösartige Form der Hoffnung: Nicht ohne Grund steht für beide Gefühle die Farbe Grün. Drei Nächte vor der Flucht entdeckte der Unternehmer einen der Briefe des Kubaners, der seinen seit Monaten in ihm nagenden Verdacht bestätigte: Niemand sollte einen anderen Menschen mehr verletzen als sich selbst. Was der Mensch wirklich besitzt, das steckt in ihm selbst. Das Äußerliche sollte unwichtig sein. Der Mensch wird das Glück in der Betrachtung des Glücks der anderen finden. Phefé und ich lieben dich. Max Mogan legte den Brief zurück. Er hasste José, weil dem von einem Käfig aus das gelungen war, was ihm nicht einmal in einem Palast gelang. Dieser Sieg verwandelte José in seinen Feind und seine Niederlage. Er wollte seine Qualen im Martini ertränken und ging auf die Rennbahn. Außer einem gewann er alle Rennen, obwohl er nicht wegen ihrer Leistungen, sondern wegen ihrer Namen auf die Pferde gesetzt hatte: Othello, Raufbold und Rächer. Er verlor mit Alegría, der Favoritin. Diese unverhofften Siege ließen ihn bis zum Hals im Kummer versinken, denn sein Glück im Spiel bestätigte das Pech in seiner Ehe. Die Leidenschaft für Camila war ein schwer zu verstehendes Gefühl, denn die Liebe ist im Gegensatz zum Hass eine Notwendigkeit. Hass drängt sich
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auf. Liebe will verdient sein. Die Kette des Hasses, wenn sie vom Verlust der Liebe aus geknüpft wird, beginnt mit einem ganz schwachen Glied: der Eifersucht. Der Eifersucht folgt die Verachtung, der Verachtung die Eitelkeit, der Eitelkeit die Besessenheit und der Besessenheit die Dummheit. Eine Bemerkung am Rande: Für arrogante Menschen ist Vorstellungsvermögen so etwas wie russisches Roulett. Sie wählen im Leben nur das Greifbare, so gehen sie auf Nummer sicher. Sie setzen auf Volltreffer. Auf ihren gewohnten Wegen meiden sie schon den bloßen Anblick dieser Kletterpfade der Vorstellungskraft, von denen aus sich manche Menschen in der Hoffnung, im Schwindel erregenden Fall fliegen zu lernen, hinabstürzen; falls sie sich ihnen doch aus vorsichtiger Distanz nähern sollten, dann fest ans Geländer des touristischen Aussichtspunkts geklammert. Zweifelsohne ziehen sie es vor, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen, denn für sie ist es Zeitverschwendung, wenn nicht eine gewaltige Dummheit, als Romantiker durchs Leben zu gehen. Die Wolken sind nicht dazu gemacht, auf ihnen zu gehen. Ein arroganter Mensch macht sich über Stegreifdichter lustig, meidet Cafés mit Wahrsagerinnen, misstraut den Bohémiens, den Nachtschwärmern, den nutzlosen Genies. Er bemüht sich immer – und niemand bezweifelt, dass es ihm gelingt – um die Entlarvung von Zaubertricks: wie die Taube im Filzhut verschwand oder welcher Kunstgriff angewandt wurde, um das robuste Model zu zersägen. Er ist nie am Schwanken. Er gibt nie nach. In so viel Arroganz pflegt Schwäche zu gären. Fehlt das systematische Training der Phantasie, befindet sich der Arrogante in einer ungünstigen Position, wenn die Faust der Eifersucht ihm die Kehle zudrückt. Dann bezahlt er teuer für seine Verachtung der Vorstellungskraft: Er ist gezwungen, seine Phantasie einzusetzen, und weiß nicht, wie. Obwohl ihm
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nur Szenen von mangelhafter dramatischer Qualität in den Sinn kommen, fasziniert ihn schließlich die schlichte Ausübung dieses Zeitvertreibs. Der unterhält, verführt und blendet ihn und wird zum Laster. Die Erfahrung ist aufregend. Es hat sich etwas verändert. Ihre Kleider im Schrank lachen schelmisch. Das Kopfkissen riecht nach Frau. Das Butterstück hat eine phallische Form. Die Essenzen auf dem Badewannenrand, die Cremetöpfe, die Parfümflakons, die Duschkappe sind stumme Komplizen des Betrugs. Die Gamsledersandalen verraten nicht, auf welcher Tanzfläche sie in der vergangenen Nacht getanzt haben. Das Morgengrauen vertieft sich. Der Whisky schmeckt nach Regen. Mit dem Glas in der Hand hinter der Fenstergardine lauernd, unterstellt der Arrogante das Schlimmste. Dass der Liebhaber bestimmt einen riesigen Schwanz hat. Dass die Frau ein Opfer ist. Naiv. Eine Heuchlerin. Eine undankbare Nutte. Er hat eine Hölle betreten, der er nicht ohne Kratzer entkommen wird. Der Film läuft weiter, und jetzt reißen sich die Liebenden die Kleider vom Leib und trinken aus der verbotenen Quelle. Sie lieben sich auf dem Teppich, unter der Dusche, drei Häuserblocks entfernt im Auto. Er zieht die Gardine zu. Er stellt sich schlafend. Der bohrende Schmerz der Eifersucht gesellt sich zu der nagenden Qual, kein Vorstellungsvermögen zu besitzen. Im besten Falle wird er den Seitensprung verzeihen und seinen eigenen Anteil an der Schuld anerkennen, jedoch nie vergessen können, dass er ein Luftschloss gebaut hat, denn dessen Zusammensturz hinterlässt eine solch unwahrscheinliche Leere, die nichts, nicht einmal ein weiterer Erfolg, ohne Bitterkeit wird füllen können. Kommt Zeit, kommt Rat. Der ungeschickte Max Mogan kehrte von der Rennbahn zurück und sagte zu Camila, dass sie drauf und dran sei, ihre Töchter durch einen Prozess zu verlieren, der sie für
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immer in Schande stürzen würde. Othello, Raufbold und Rächer in einer Person, würde er diesen Lauf, wenn auch ohne Alegría, Zoll für Zoll durchstehen. Sie leugnete alles, bis Max Mogan ihr den Brief an den Kopf warf und sie begriff, dass sie das Spiel verloren hatte. Zwischen Haus und Zoo schwankend neigte sich die Waagschale deutlich zugunsten der Mädchen. Das Einzige, was sie sich nicht gestattete, war Reue, denn sie hatte geschworen, sich nie wieder vom Mitleid beherrschen zu lassen, auch wenn sie letztlich die Wirksamkeit der Verführung einräumte. Sie nahm einen Martini an. Max Mogan öffnete ihr sein Herz. Noch einen Martini. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Er wirkte so zerbrechlich, besiegt, verwirrt. Er nahm seine Drohung zurück. Camila hatte freie Wahl. Von Mitternacht bis zum Morgengrauen ließen sie ihr Leben Revue passieren, und beim sechsten Martini ertappte sich Camila dabei, einige angenehme Augenblicke und ein paar kolumbianische Freunde heraufzubeschwören; als sie ins Bett gingen, vereinbarten sie, eine Zeit lang das Land zu verlassen, um ihre Ehe, die am Zerbrechen war, beispielsweise in Berlin zu retten. Von einem Wagen aus wurde verkündet, dass die lateinamerikanische Bevölkerung Santa Fes am nächsten Sonntag, dem letzten Karnevalssonntag, das Nahen des Jahres 2000 in einem Maskenumzug feiern würde, was sich niemand entgehen lassen dürfte: «Seien Sie der Mensch, der Sie immer sein wollten!», gab der Sprecher über die aufjaulende Stimme von Meister Dámaso Pérez Prado hinweg bekannt: Uih, Mambo! Wie gut tut der Mambo, Mambo … «Als was wirst du dich verkleiden?», fragte Camila. Max Mogan deutete mit Zeigefingern und Daumen Hörner an. «Als Elch», sagte er.
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«Schwachkopf!» «Ich liebe dich.» «Liebe deine Pferde!» Camila sprang ins Bett und ging auf ihn los, wobei sie wie ein Kaninchen Pfötchen gab. Vom Schlafzimmerfenster aus war der Mond zu sehen. Der alte Mond. Derselbe Eindringling, der die Gestalt des wertlos gewordenen, auf der Kalkwand einer Zelle verblassenden Christus anstrahlte; zwei Fledermäuse hatten sich auf seine Augen gesetzt und wirkten wie Wattebäusche auf den Augen eines Blinden.
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Zenaidas letztes Solo
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achdem Sandalio Baeza den langen Pavel Sulja auf seinem scharlachroten Mantel mit einer KreuzassSpielkarte in der Hand und einer Flasche Ketel One zwischen den Beinen, völlig steif und mehr als stumm, nämlich tot, in den Lüftungsschächten des Gebäudes aufgefunden und Zenaida erfahren hatte, dass Lorenzo die Bestattungsformalitäten erledigen wollte, weil der katalanische Arzt so betrübt war, dass er sich nicht um die Leiche kümmern konnte, stieg die Mulattin ins Dachzimmer hinauf und sang ihren Schmerz hinaus: Die Zeit, sie verging unerbittlich, eine traurige Spur hinterlässt sie innerlich. Das Leben scheint so kurz …, ein Schmerz, der nicht nur vom Herzinfarkt des Skandinaviers herrührte, sondern außer vielen anderen Kümmernissen (dem Alter, dem Exil, der Zellulitis) auch dem verfluchten Umstand zu verdanken war, sich mehr denn je wie ein Astronaut bei einem Allspaziergang im luftleeren Raum vorzukommen, sodass sie sich in ihrer Intimsphäre gestört fühlte, als Camila auftauchte und fragte, ob hier Lorenzo Lara, der Mexikaner aus dem Zoologischen Garten, wohne, und versucht war, sie zum Teufel zu jagen, was eine feurige Antwort gewesen wäre, aber als sie die Verwirrung in den Augen der Unbekannten sah, war es wohl besser, ihr einen Schluck Aguardiente anzubieten. Anderthalb Stunden später krabbelten die beiden Frauen auf allen vieren betrunken, entsetzlich betrunken, durch das Zimmer der Fagés, weil Señora Filip versprochen hatte, als Marilyn Monroe verkleidet zum lateinamerikanischen Karneval zu gehen, und die Bauern der Gemeinde Bauta eine große Gemüseernte
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eingefahren hatten, denn diese zwei unbedeutenden Nachrichten waren neben dem Tod des Skandinaviers die einzigen Gründe, weswegen die beiden auf das Leben anstoßen mussten. «Du bist also Joses Kopf», sagte Zenaida, «er ist verrückt nach dir, Mädchen.» Ticktack: Große Gemüseernte im Bezirk Bauta. Ticktack: Homerun von Victor Mesa überlässt dem Team Industriales das Feld. Ticktack … «Letzte Woche hab ich zu Lorenzo gesagt, er soll dich fragen, wann du deine Regel bekommst, damit euch das nicht die Nacht verdirbt.» – «José, José, immer José!», sagte Camila. «Ich hab noch den Geschmack seines Kusses auf den Lippen. Es goss in Strömen, Platzregen machen mich schwach.» Zenaida gähnte. «Und warum bist du weggegangen? Du hättest die Gelegenheit nutzen sollen. Ihr wart allein.» – «Ich weiß nicht», räumte Camila ein. «Ich bin einfach losgelaufen. Ich erinnere mich nur noch an den Kuss und das im Schlamm versinkende Rhinozeros. Ein paar Urlauber fanden in den Riffen von Caracol Beach die Reste des Fesselballons, belagert von einer Legion Skorpione. Das Bild war in der Abendzeitung.» – «Soll ich dir einen Witz erzählen?», fragte Zenaida. «Vor einiger Zeit hat mir Lorenzo erzählt, dass José noch nie mit einer Frau geschlafen hat. Er hat das mir anvertraut; ich bin nämlich heißer als eine Henne, die schwimmen lernt, um was mit der Ente anzufangen. Merkt man mir das an? Weißt du, wenn mir das anzumerken ist, lassen die mich in Madrid nicht aus dem Flugzeug steigen. Ich habe Juckpulver im Körper. Ist wahr. Aber ich habe mich an Larita schadlos gehalten.» Und Camila sagte: «Wie hübsch das klingt: Juckpulver.» – «Armer Larita», sagte Zenaida. «Er kam ins Kabarett. Was für ein 31. Dezember! Was für ein schreckliches Weihnachten! Und, mit wem hat er dann geschlafen?» Camila antwortete: «Mit
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dem Affenweibchen. Was mir für ein Schwachsinn einfällt.» Schluckauf. «Du bist ein Angsthase», sagte Zenaida. «Hast du ihm gesagt, dass du ihn liebst?» – «Ich liebe ihn nicht, Zenaida. Ein Kuss ist zu wenig, um zu wissen, ob eine einen Mann liebt, oder? Ich habe ihm einen Brief geschrieben. Lorenzo hat ihn mitgenommen. Einen freundschaftlichen Brief, ehrlich, ich habe ihm geschrieben, dass es in dieser Welt unsichtbare Gefängnisse gibt, denen man nur schwer entfliehen kann.» – «Wie gut du dich ausdrückst, Genossin!», sagte Zenaida, aber Camila gab ihr das Kompliment nicht zurück. «Warum bin ich bloß zu Max zurück!» – «Weil Einsamkeit sehr hässlich ist», sagte Zenaida, «deshalb bist du zurück.» – «So schlecht ist er gar nicht», sagte Camila. «Du hättest ihn weinen sehen sollen. Männer weinen Krokodilstränen.» – «Camila, reich mir die Flasche rüber.» – «Das ist alles Wahnsinn, Zenaida. Und meine Kinder? Nein. Ich gehe weg. Max hat in Berlin Kontakte.» – «Deutschland, die Heimat von Rosa Luxemburg!», rief Zenaida. «Ich bin zur Lehrerin berufen, Forscherinstinkt. Du lachst? Weil du so gemein bist, hast du jetzt Schluckauf. Ich bin intelligent. Ich war kurz davor, auf der Pädagogischen Hochschule in Matanzas meinen Abschluss zu machen. María Coronados jüngste Tochter, die kleine Schwarze mit den Haarschleifen, Abschluss in Mathematik! Reich mir den Aguardiente rüber. Gönn dir das Vergnügen, ihr habt doch schon alles geplant.» – «Kommt nicht in Frage. Max bringt mich um. Ich gehe nach Berlin …» – «Ich werde auch gehen», sagte Zenaida. «Ich hab mir eine Fahrkarte für heute Abend gekauft. Wenn nicht, gehe ich morgen in den Zoo, entführe den Kubaner und verschlinge ihn auf einen Happs. Ah, wie die Löwinnen! Ah! Ui! Du bist betrunken, Zenaida Fagés», sagte Zenaida. «Hunde, die bellen, beißen nicht. Wo ist der Aguardiente geblieben?» – «Würdest du dich
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trauen, das zu tun?» – «Ui, ich, Zenaida Fagés, schon, aber erst wenn ich diesen Schluckauf los bin.» – «Hast du eine Zigarette?», fragte Camila. – «Nein, ich rauche nicht. Wo stammst du her, Camila? Du hast einen seltsameren Akzent als der Teufel.» – «Ich weiß nicht, Zenaida, mein Vater war Holländer mit spanischer Staatsangehörigkeit, meine Mutter ist Argentinierin, ich bin in Boston geboren, aber in Bogotá zur Schule gegangen …» – «Ganz schön international! Wozu hast du José bloß geschrieben! Du siehst ja, was passiert ist. Ich habe zu José gesagt: Schreib keine Briefe», sagte Zenaida, «ich gehe weg.» - «Geh nicht weg, Zenaida, ich will nicht heulen», sagte Camila. – «Wir gehen alle.» – «Berlin ist so weit weg», sagte Camila. «Bleib bei mir. Hilf mir. Wir gehen zusammen in Joses Käfig, José küsst gut.» Camila trank aus der Flasche. «Die Liebe ist ein Hinterhalt, eine Falle. Das sagt sogar Peggy Olmedo. Was wirst du auf Kuba machen?», fragte Camila, und Zenaida antwortete: «Es gibt nur ein Leben, frag Pavel Sulja. Der arme Pavel Sulja! Sie haben ihn an der Börse reingelegt: Wie kann einem auch nur einfallen, sein ganzes Vermögen auf Saccharin-Futures zu setzen! Was von ihm übrig blieb, war wie ein gerupftes Huhn, das gackert.» – «Die kleine Lulú!», rief Camila aus. «Nicht einmal hübsch, ich fand sie hässlich. Hässlich, sehr hässlich. Schrecklich. Von wegen zierliches Näschen! Eine Karottennase.» – «Ui!», heulte Zenaida. «Ui! Sollen sie doch abhauen! Soll der Abschaum doch gehen! Das schrien meine Kumpels bei den Unruhen in der peruanischen Botschaft. Wie gerne wäre ich jetzt in Brisas del Mar!», sagte sie. Ticktack: Villa Clara, Meister … «Die Nacht, in der ich mit meinem Mann geschlafen habe, war ein Festschmaus», erzählte Camila. Schluckauf. «Hat mir gefallen. Sehr sogar. Ich hatte Max noch nie in seiner neu-
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en Wohnung besucht. Er hat sich wie ein Caballero verhalten. Wir haben uns auf der Universität kennen gelernt. Es ist nur so, dass die Ehe müde macht: die Routine. Die Kinder. Das Leben macht müde. Heute dasselbe wie gestern. Die Arbeit macht Arbeit. Und dann taucht José auf. Irgendein José. Und eine macht sich Hoffnungen, besonders, weil sie weiß, dass diese Hoffnung keine Zukunft hat. Gib mir eine Zigarette. José schreibt gut», sagte Camila. «Hör mal: Niemand sollte einen Menschen mehr verletzen als sich selbst. Was ein Mensch wirklich besitzt, steckt in ihm. Das Äußerliche sollte nicht so wichtig sein …» – «Dieser José ist ein Intelligenzbolzen», sagte Zenaida und nahm einen Schluck. «Hör zu», sagte Camila. «Der Mensch wird sein Glück in der Betrachtung des Glücks der anderen finden … Ist das nicht ein Satz von Oscar Wilde?» – «Nimm», sagte Zenaida, «das ist meine Kassette von Radiowecker. Gib sie Lorenzo.» – «Hast du eine Zigarette?», fragte Camila. «Nein, ich hab dir doch schon gesagt, dass ich keine habe.» – «Ist ja gut, werd nicht gleich böse.» – «Ich habe es satt, Camila. Ich schwör’s dir. Es widert mich an, jeden Morgen zu hören, dass die Bauern der Gemeinde Bauta mehr Gemüse ernten als sonst wer, es tut weh, für nichts und wieder nichts Lotterie zu spielen. Wie spät ist es?» – «Hast du wirklich keine Zigarette?», fragte Camila. «Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Soll ich mich am Kopf kratzen? Sie mir abhacken? Schau sie dir an. Sie gehören nicht zu meinem Körper. Manchmal denke ich, sie gehören zu einer anderen, ich schwör’s dir, Zenaida, einer Frau, die mir in nichts ähnelt, einer Nonne? Sie riechen nach Kruzifix. Ach, ich weiß nicht. Ich bin eifersüchtig auf die Besatzung der Weltraumstation Saljut 5, weil die deinen Träumen näher gewesen ist als ich …» –
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«Wer hat denn den Quatsch geschrieben? José?», fragte Zenaida. «Nein», sagte Camila, «das war der bewundernswerte Theo Uzcanga, mein Jugendfreund.» – «Hör zu, Camila.» – «Ich höre dir zu, Zenaida.» – «Halt die Hände still. Du machst mich nervös. Hör mir gut zu. Ich habe es satt.» – «Du hast es satt, Zenaida, reich mir die Flasche rüber.» – «Wie spät ist es, Camila?» – «Ich weiß nicht.» – «Ich weiß auch nicht, ob mich das wirklich interessiert, gib mir den Aguardiente rüber.» – «Ticktack. Ticktack. Ich platze, wenn ich die Meldung über die Feier höre, bei der ich meinen Abschluss hätte machen sollen, und ich habe ihn nicht gemacht, weil mein Freund und ich es vorgezogen haben, über die Botschaftsmauer zu springen, weißt du, wenn ich das Pädagogikdiplom gewollt hätte, hätte ich den Titel bis zum letzten abgesparten Peso bezahlen müssen. Zusammengefasst: Mein allerliebster Freund ließ mich sitzen. Und das, nachdem ich viermal abgetrieben hatte, weil der große Hochleistungssportler keine Kinder mochte, bis mir ein vertrottelter Gynäkologe die Gebärmutter durchlöcherte und mein Unglück besiegelte. Ich gehe. Ich muss gehen», sagte Zenaida. «Jetzt werde ich wieder traurig.» Und Camila sagte: «Was geschehen ist, ist geschehen. Ja, ich glaube, ich liebe ihn ein bisschen. Ein bisschen ist übertrieben. Er gefällt mir. Ich denke die ganze Zeit an ihn. Mama sagt, ich sei dick. Ach, dieser Schluckauf! Willst du ein paar Fotos von meinen Töchtern sehen? Verdammt, jetzt werd ich wieder traurig. Sie sind wunderbar. Lass nicht zu, dass ich wieder traurig werde. Ich habe die Fotos immer in der Tasche.» Zenaida: «Ich bin das Problem, Camila.» – «Drei Sonnenscheinchen, meine Töchter.» – «Das ist nicht mein Land, weder dieses Land noch der große Sportler noch die Trottel vom Kabarett: Ich bin es, Genossin, ich, diese Schwarze, die hier sitzt und leidet, verdammt, denn wenn es einer gut
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geht, erinnert sie sich nicht, aber ich, ich weiß nicht, was mit mir los ist, oder doch, ich weiß es schon, natürlich weiß ich es …» – «Sieh sie dir an: Marcia sieht ihrem Vater ähnlich, Mildred ihrer Großmutter, und von Malena heißt es, sie ähnele ihrer Tante: Sie brauchen mich. Ich habe sie geboren. Ich kann mich nicht verlieben. Ich darf mich nicht verlieben. Ich darf es nicht. Ich muss kotzen.» Zenaida: «Ich bin ich, Zenaida Fagés. Die Königin. Ich bin allein. Blockiert. Deshalb betrinke ich mich, um nicht denken zu müssen.» – «Wie könnte ich sie gegen José eintauschen? Das ist mein Ende. Ich bin eine konventionelle Frau. Ich bin müde, todmüde. Wo ist diese Schnapsflasche? Warum kommt Larita nicht? Sag Lorenzo, dass wir alles abblasen müssen. Ich bedaure es wegen José und mir. Aber ich traue mich nicht. Ich will mich verabschieden. Mein letzter Milchkaffee mit Butterbrot. Meine Mutter, die gelernte Krankenschwester, das CDR-Mitglied, die Fideltreue, war die Einzige, die zu mir stand. Damit du es weißt, in jenen schwarzen Tagen erwähnte Mama nicht einmal das Wort Politik. Ich bin sehr müde, Zenaida. Mama hatte ihren Mixer aus Matanzas mitgebracht, sie machte mir Säfte aus Annonenäpfeln und half mir, meine Sachen zusammenzupacken, als würde ich fünfundvierzig Tage auf Produktionsarbeit und nicht ein Leben lang ins Exil gehen. Mir fallen die Augen zu, Zenaida. Lernen, zu betrügen, ohne mich selbst zu betrügen! Was Mama für Dinge sagte! Die Kubanerin: Sie warfen uns Eier an die Tür, sie pfiffen uns aus, und María Coronado stellte den Mixer an, damit der Motorenlärm das Geschrei übertönte. Rummrummrumm! Rummrummrumm! Rummrummrumm!» Camila schlief ein. «Schlaf nicht ein, Camila. Ich sage dir, das Embargo haben nicht nur die Yankees verhängt. Mama und ich haben uns auf dem Flughafen verabschiedet. ‹Mein Kind, Mädchen, vergiss Kuba nicht.› Er
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war voller Menschen. Ein paar meiner Kameraden. Jetzt waren sie still: Wenn sie schon schreien mussten, sollten sie doch eine andere anschreien, nicht mich, zumindest nicht mich dabei ansehen. Ehrlich. Und Mama mitten in dem Gewühl, so gefasst, so sehr Freundin. ‹Schreib mir. Ruf nicht an, das ist zu teuer.› Und ich presste mein Gesicht an ihren Bauch. Wie weich! Und ihre Hände, die immer nach Broncocedin rochen. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wir schreiben uns. Rummrummrumm! Rummrummrumm! Sie erzählt mir von den Serien, die sie im Fernsehen bringen, von den Nachbarn. Rummrummrumm! Mama, geht’s dir gut? Rummrummrumm! Ja, mein Kind, mach dir keine Sorgen. Rummrummrumm! Brauchst du was? Nein, nichts. Rummrummrumm! Null Politik. Null Doktrin. Der Nachbarhund ist gestorben, an der Räude. Die Familie Martínez hat den zweiten Stock nie fertig gebaut. Ich betrüge dich, meine Dicke. Die Blockade steckt in dir selbst, Camila, sie drückt innerlich. Sie drückt. Sie stranguliert. Sie schmerzt. Mir tut der Bauch weh. Larita, Alter! Immer, wenn ich auf Reisen gehe, geht’s mir schlecht, und ich muss an Matanzas denken, an den Río San Juan, an meine Matratze. Dieses Kopfkissen! Wo auch immer du hingehst, du nimmst dich mit: Ich kann Zenaida Fagés nicht abstreifen. Ich will es, kann es aber nicht. Verstehst du, mein Schatz? Wach nicht auf. Schlaf, Camila, schlaf. Drei mal drei ist neun. Einfach. Schwierig ist das Leben. Die Rechnungen gehen nicht auf. Ich habe die Multiplikationstafeln vergessen. Ich schwör’s dir. Ich erinnere mich nicht. Zum Teufel! Ich werde bis zu meinem Tod Zenaida Fagés bleiben: Tochter von María Coronado, eine auf dem Dach bellende Hündin, mit durchlöcherter Gebärmutter. Genau das. Eine immer treue Hündin in der Sintflut. Eine phlegmatische, schmuddelige, kokette Hündin im Schutt einer Baustelle. Peng! Peng! Acht
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mal sieben sechsundfünfzig. Zwei mal eins zwei, zwei mal zwei vier, sieben mal sieben neunundvierzig, acht mal neun zweiundsiebzig. Elf im Quadrat sind hunderteinundzwanzig. Wie spät ist es? Rummrummrumm! Rummrummrumm! Wie spät ist es? Stopft diesem Kater das Maul!» Pariente miaute im Treppenhaus. Pavel Sulja musste drei Tage bei fünfzehn Grad unter null in einer Schublade des Leichenschauhauses liegen. Lorenzo klopfte bei Sandalio Baeza, um ihm zu sagen, dass er wenig für seinen Freund hatte tun können, aber der Katalane war nicht zu Hause oder wollte nicht aufmachen – er würde schon erfahren, warum. Zwei Stockwerke höher stand die Zimmertür seiner Nachbarin offen, und er wusste, dass das Ende seiner Sorgen noch nicht in Sicht war. Die Neugier wich schnell dem Erstaunen: Camila schlief in eine kubanische Flagge gerollt auf dem Bett. Sie bewegte die Hände. Mitten im Raum stand der Koffer mit dem Code A4, der zum Aufbewahren der Korrespondenz aus Havanna gedacht war. Lorenzos Haut roch nach Formol. Er trank den Aguardiente aus. Von einer Kassette waren Nachrichten zu hören. Und das waren die Schlagzeilen: Ticktack: Tausendeinhundertvier Lehrer machen ihren Abschluss auf der Pädagogischen Hochschule in Matanzas. Kuba den Revolutionären. Ticktack: Diejenigen, die nicht in einem sozialistischen Land leben wollen, sollen gehen. Ticktack: Der Abschaum soll endlich verschwinden, sagen die Ausbilder bei ihrer Vereidigung. Ticktack: Alle zur Demonstration des kämpfenden Volkes. Ticktack: Die neuen Lehrer erfüllen ihre internationalistische Pflicht in Nicaragua. Es erklingen wieder die alten Hymnen: Über Täler und Berge steigt der Brigadist … Sie sollen abhauen, sie sollen abhauen, schreit das Volk im Chor vor der peruanischen Botschaft. Ticktack: Große Gemüseernte in der Gemeinde
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Bauta. Ticktack: Homerun von Victor Mesa überlässt dem Team Industriales das Feld, Villa Clara, Meister. Ticktack: Radiowecker National. Ticktack. Ticktack. Ticktack. Die genaue Uhrzeit. Lorenzo riss das Kabel aus dem Kassettenrecorder. Camila wachte auf. «Und Zenaida?», fragte Lorenzo. «Zenaida ist abgereist», stotterte Camila. «Alle Lateinamerikaner zum Karneval», rief der Fahrer des Wagens, ein Kubaner, nach seiner schnellen Aussprache zu urteilen. «Damit deutlich wird, dass wir vor den Toren des Jahres 2000 eine riesige, erdrückende Minderheit sind.» Vom Terrassensims aus betrachtete Lorenzo die Stadt. Eine Maus. Der lange Pavel Sulja hatte ein Metallbein gehabt, und der Pathologe hatte zu Lorenzo gesagt, er solle die Prothese mitnehmen, der Skandinavier brauche sie nicht mehr, aber er, was sollte er mit dieser orthopädischen, kümmerlichen Krücke anfangen, als Krüppel zum Karneval gehen, eine Sonnenblume in die Halterung pflanzen, in der der Beinstumpf befestigt gewesen war, sie als Hammer benutzen, um die Wände seines Zimmers kaputtzuschlagen? «Lächle! Alle für einen und einer für alle, oder, was dasselbe ist: Teile, und du wirst siegen», schlug der berauschte Sprecher vor. Ein Passagierflugzeug. Unten überquerte Camila die Straße. Hastig. Lorenzo sah sie in der Größe eines Flohs. Auch sie ist gegangen. Auch sie ist davongeflogen. Señora Kropotkina hatte das Fenster offen gelassen. Noch eine Boeing. Noch eine Ratte. «Wir zählen auf euch. Kommt alle.» Die mit dem Lautsprecherwagen fuhren ein halbes Dutzend Mal vorüber. Spielzeugautos. In der Aufnahme war die Stimme einer Frau zu hören, bestimmt besoffen, kitschig, lächerlich, stolz, Tochter ihrer verdammten Mutter, eklig: Küss mich,
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küss mich innig, als wäre es heute Nacht das letzte Mal. Küss mich, küss mich innig, ich habe Angst, dich zu gewinnen und dann zu verlieren … Sei still, Nervensäge! Lorenzo spazierte auf dem Dachsims entlang und zählte Lichtpunkt für Lichtpunkt die im Viertel ausgehenden Lichter. Das einzige Mal, als er akrobatische Seiltänzerkunststücke gemacht hatte, war er im Netz gelandet. Hier gab es keine Netze. Besser so. Er zählte seine Schritte. Er brauchte zweihundertfünfzehn große Schritte, um den Dachumfang abzugehen, hundertsiebzig mehr als José in seinem Käfig. Er ging und ging und ging. Und trotzdem wurde es Stunden später hell in Santa Fe.
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ie beste Art, für das Leben zu sein, ist, dagegen zu sein», wiederholte Lorenzo bei sich, als er die Tür schloss. Obwohl sich die Verschwörung in weniger Zeit, als ein Piranhaschwarm braucht, um einen Strang Blutwürste zu zerlegen, aufgelöst hatte und die Möglichkeit, dass José und Camila sich treffen würden, äußerst gering war, wollte Lorenzo seinen Teil auf symbolische Art erfüllen, weshalb er zwei Dosen Pyrenäenluft versprühte – das einzige Mittel, das Parientes Duftmarken vertrieb – und das Rasiermesser so schärfte, dass er sich vor dem Spiegel fragte, ob er sich nicht besser den Bauch aufschlitzen sollte, statt den Schnurrbart zu stutzen, um herauszufinden, welcher kaputte Darm ihm die Eingeweide wie ein Signalhorn erklingen ließ, das zum Rückzug aus einer verlorenen Schlacht bläst. Karneval bedeutet Abschied vom Fleisch. Es gibt nichts Entmutigenderes als eine zerbrochene Illusion. Menschen reagieren auf dieses Dilemma mit drei für das Leben grundlegenden Verhaltensweisen: Sie halten angesichts der Niederlage tatenlos inne, sie ziehen sich vorsichtig und schicksalsergeben auf einen sicheren Ruheplatz zurück oder preschen mit quijoteskem Elan und ohne Rücksicht auf einen möglichen Reinfall vor. Im Kopfsprung. An besagtem Morgen unterzeichnete José die Gewinnerurkunden eines Schulwettbewerbs zum Thema «Der Mensch und das nächste Jahrtausend» und schrieb drei Briefe: den ersten an eine feministische Anführerin, die ihren Sohn bei einem Eisenbahnunfall verloren hatte, den zweiten an den talentierten Boby Camagüey, um ihm für das Zusenden seiner neuen Cha-Cha-Cha-Platte zu danken (auf dem Cover war der Bonvivant-Affe neben
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dem Leierkasten spielenden Boby abgebildet), und den dritten an jenen politisierenden Landsmann, der ihm weiterhin mit unverhohlenem Bekehrungseifer Zeitungsartikel zuschickte. Als der Kubaner erfuhr, dass Camila nach Europa, nach Deutschland, nach Berlin, ins Haus des Teufels ziehen würde, an einen Ort, wo er sie niemals küssen könnte, stemmte er das leere Bücherregal hoch und schmetterte es an die Gitterstäbe. «Ist nichts passiert, ich bin nur gestolpert», sagte Lorenzo zu dem Wärter, der, von dem Getöse aufgeschreckt, vom höchsten Wachtturm herunterschaute. José beschloss zu kämpfen. Wäre nicht das erste Mal. Aber vielleicht das letzte Mal. Der Campechaner wollte ihn davon überzeugen, dass Zorn ein schlechterer Verbündeter sei als Blindheit, aber seine Argumente fielen, kaum ausgesprochen, auf ihn selbst zurück, weil er im tiefsten Innern seines Herzens stolz auf die Wildheit dieses unverschämten Kerls war, der versprach, mutig sein Schicksal herauszufordern. Andererseits fühlte er einen Funken Mitverantwortung: Er war der spezielle Briefbote dieser Verrücktheit. Camila hatte ihm auf der Dachterrasse von der Episode erzählt, die letztlich die Liebespläne zum Scheitern gebracht hatte, alles wegen eines Stücks Papier mit Zitaten von Oscar Wilde, und diese Katastrophe bedeutete auch den Galgen für die Freundschaft. Der Rhythmus einer brasilianischen Batuca klang durch den Zoo. Samba in einer einzigen Note. Lorenzo zitterte. Er fühlte sich wie ein Kind. Er war eines. Eine Schnittwunde auf der Lippe war mit einem Tupfer Colgate bedeckt. «Ich habe dir einen Overall in deiner Größe mitgebracht. Genau wie meiner», sagte Lorenzo. «Hoffentlich passt er dir.» «Und der Schnurrbart?» «Hab ich abrasiert.»
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«Und dir dabei in die Lippe geschnitten. Diese Schnitte tun höllisch weh. Du siehst viel jünger aus.» «Darum geht’s ja. Ich könnte dein Vater sein.» José knöpfte die Uniform zu und stülpte sich die Kappe über. Sie war ihm zu groß. «Wie lange dauert es, Liebe zu machen?», fragte er. «Ein Leben lang.» «Mein Gott.» «Camila weiß noch nicht, dass du verrückt geworden bist. Du musst sie überzeugen. Verdammt, sie will nichts mehr von dir wissen. Wenn ihr euch trefft, geht in mein Zimmer. Ist das Beste. Ich habe einen Plan gezeichnet. Zur Orientierung. Die Stadt ist seit heute früh völlig aus den Fugen. Auf dem Weg hierher habe ich Elvis Presley in einem Café zugewinkt, der Königin Elisabeth von England ein paar Tequilas einschenkte.» Lorenzo gab ihm den Schlüssel und setzte sich auf die Pritschenkante. «Es gibt zwei Treppen: die Haupttreppe und die Feuertreppe. Hier, wo ich ein rotes Kreuz gemacht habe, ist der Zoo. Das blaue ist Camilas Haus. Das grüne mein Zimmer. Du gehst zu Fuß, aber verirr dich nicht zwischen all den Maskengruppen. Der kürzeste Weg führt durch den Coral Park.» «Kommt nicht in Frage. Ich nehme lieber den längeren.» «Teil dir die Zeit ein. Du hast bis fünf Uhr früh Zeit. Wo schaltet man diese Lampe aus?» «Und wenn ich mich verlaufe?» «Bring ich dich um. Du wirst doch nicht vorhaben, mich hier drin vergammeln zu lassen.» «Mein Ehrenwort: Wenn ich sage, ich komme zurück, komme ich auch zurück.» «Das will ich hoffen. Schnüffel ordentlich an ihr, möglicherweise gibt’s kein zweites Mal. Sag ihr scharfe Dinge,
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von Oscar Wilde, wenn du willst. Nichts Politisches. Nur Küsse. Und spiel nicht den Macho. Wenn sie sich auf dich setzen will, lass sie. Sie hat mehr Erfahrung als du. Ah, fast hätt ich es vergessen: Pater Jordán sagt, ihr sollt nach Lust und Laune sündigen. Er wird euch später schon die Absolution erteilen. Er wird als Ajatollah verkleidet im Glockenturm sein. Ich werde die Lampe ein- und ausschalten, damit die auf den Wachttürmen nicht misstrauisch werden. Was für einen Sender hörst du?» «Radio Fortschritt. Auf Kurzwelle.» «Radio Fortschritt? Wie schwer es ist, José zu sein!» «Und nachts stehe ich zweimal zum Pinkeln auf.» «Zweimal, gut. Geh jetzt, mach schon. Jetzt hängt alles von euch ab. Ich brauche nur die Rolle des Menschen zu spielen», sagte Lorenzo und knackte mit seinen Fingerknöcheln. «Viel Glück. Hast du Geld?» Ohne es wissen zu können, hatte er die Worte wiederholt, die der alte Menelao an jenem Sonntag, dem dreizehnten Februar 1983, am Vorabend des Valentinstages, zu ihm gesagt hatte. «Ich habe noch den Schein, den mir der Vater von Esperanza, dem mongoloiden Mädchen, gegeben hat», sagte José und streckte ihm die Hand hin. Sie schwitzte. «Danke, Genosse.» Das Herz auf der Zunge. Das Wort Genosse, nach zwei Jahrzehnten im Exil Silbe für Silbe ausgesprochen, versetzte ihm einen Schlag in den Magen. Compañero, der, mit dem du das Brot teilst, Compañero. José fühlte sich wie ein Kubaner. Als er die Linie überschritt, die bis zu dieser Nacht das Rechteck seiner Unabhängigkeit in der Zelle markiert hatte, zögerte er einen Augenblick. Er dachte an den durch seine Schuld gepeinigten Vater. Beim Verlassen des Käfigs verabreichte ihm eine Windbö eine Ohr-
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feige. Er hinkte ein bisschen, weil ihm der rechte Fuß eingeschlafen war. Er kam zum Zootor. «Guten Abend», sagte er. Keine Antwort. Die Kosakenwärter spielten Karten. An der ersten Straßenkreuzung lief er los und stolperte über die brasilianische Batuca. Samba. Samba in einer einzigen Note. Tanzende. Hüften. Trommeln. Eine Brasilianerin mit ausgelassenem Hüftschwung schnappte sich ihn zum Tanzen. Acht Schritte und Adiós. Obwohl sich Santa Fe in sechzehn Jahren sehr verändert hatte, fand sich der Häftling im Karnevalstreiben gut zurecht. Alle paar Meter hielt er inne, um Lorenzos Plan zu Rate zu ziehen. Er war geblendet. Das Jahrhundert hatte die Stadt heimgesucht. Musik. Salutschüsse. Trommeln. Harlekine. José fühlte sich versucht, Oscar Wilde zu grüßen, der ein Erdbeereis schleckte, während er mit Wladimir Iljitsch Lenin über Baseball plauderte, aber er verwarf die Idee, weil der eifersüchtige Lord Alfred Douglas keinen Zentimeter von des Dichters Seite wich. Jedenfalls war es erfreulich, ihn so gut gelaunt zu sehen. Vor einem Caracas-Stand tanzten John Lennon und eine der Mademoiselles de Avignon, Einstein und Mata Hari, Frank Sinatra und die Prinzessin von Wales. Es lebe Kuba! Die Rosenstöcke treiben wieder, an der alten Gartenmauer … Alles durcheinander: King Kong, Frida Kahlo, Superman, Federico García Lorca, Mickey Mouse, Yuri Gagarin, General Franco, Bob Dylan, Papst Johannes XXIII., Agent 007, Stalin, Louis Armstrong, der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer und Schneeball! Du, die alles mit Freude und Jugend überzieht, die nachts im Gegenlicht Gespenster sieht, weiche von mir! … Dominikanische Republik: Hoffentlich regnet es Kaffee auf dem Land, hoffentlich regnet es Kaffee … Viva Mexiko: Heute abend sah ich es regnen, ich sah die Leute rennen, und du warst nicht da … «Die Eltern von
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Lauro Méndez erwarten ihren Sohn am Informationsstand!», wurde durch die Lautsprecher verkündet. Muhammad Ali und Carlos Gardel boxten gegeneinander, und der Tangosänger ging aus der dritten Runde als der Bessere hervor. Die Schaufenster waren mit Porträts von José dekoriert: Von Mann zu Mann: Senator Weinbrand. Mach es wie der Homo sapiens: Trage Camarada-Hemden. Feuerwerksraketen. Trillerpfeifen. Luftballons. Ho Chi Minh heulte einen Flamenco, begleitet von der spanischen Gitarre des virtuosen Edson Arantes do Nascimento alias Pelé: Und dein Blick bohrt sich in meine Augen wie ein Schwert … Piloten an Bord von Desinfektionsflugzeugen zeigten akrobatisches Talent und zeichneten leuchtende Bilder in den Himmel: Coca-Cola, McDonald’s und Che Guevaras Unterschrift. Boleros: Lieb mich innig, mein süßer Liebling … Citizen Kane und der Pate Marlon Brando schaukelten an dem Seil, das Greta Garbo und Jacqueline Onassis herabgelassen hatten. Vier falsche Rolling Stones spielten ein Stück von Oswaldo Farrés: Ein Leben lang werd ich sein bei dir, egal wie, wo und wann, aber bei dir … Eine Gruppe kubanischer Musiker hatte ein Heer barfüßiger Nonnen zum Tanzen animiert. Auf in den Genuss: Sieh mal den Trog, wie es sich bewegt, wie es sich bewegt, das Wasser im Trog … Über die Hauptstraßen zogen monumentale Wagen, die von emblematischen Themen inspiriert waren: Die Wiedervereinigung Deutschlands, Die Beatles in einem Keller in Liverpool, Der Mensch auf dem Mond, Der Untergang der Titanic, Barbies Welt und Der Sturm auf das Winterpalais. John F. Kennedy küsste auf offener Straße Madame Curie. Man muss Persönlichkeit haben, oh, Persönlichkeit, ja, Persönlichkeit, nein, Persönlichkeit … Die Trapezkünstler aus Papantla drehten auf einem Basketballplatz Pirouetten. José amüsierte sich. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass die Freiheit so unterhalt-
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sam war. Er hatte das Jahrhundert vor sich, vollständig. Er konnte es betasten. Zehn Jahrzehnte in einer Nacht. Er gewann die verlorene Zeit, die verlorenen Symbole zurück. Fünfzehn einsame Karnevalsfeste. Eine sechzigjährige Marilyn Monroe in Begleitung ihrer drei Enkeltöchter kam auf ihn zu und malte ihm einen Kuss auf die Wange: «Ich kenne dich! Du hast dich als José verkleidet, stimmt’s?», sagte sie und lächelte. «Mach dir keine Illusionen, mein Junge: Der González aus dem Zoo ist viel attraktiver!» In der Jamaica-Ecke und auf dem kleinen Platz der kolumbianischen Vallenatos wimmelte es nur so von Menschen. Bier. Houdini verkaufte Erfrischungsgetränke; Henry Ford Eisbeutel. José beschloss, die Minuten, die er den Karneval genossen hatte, aufzuholen, und schlug entgegen dem, was er zu Lorenzo gesagt hatte, den Weg zum Coral Park ein. Er nahm sich vor, außen herum zu gehen. Die Wahrheit sah anders aus. Ja, hinter dem Schutzschild eines Trupps Mariachis lief er einen der Hauptwege des Parks entlang, aber an der ersten Kreuzung bog er, ermuntert von der Erinnerung an die kleine Lulú, die zwischen den Trauerweiden langsam Gestalt annahm, nach rechts ab. Mit oder ohne Ziel, tu ich immer, was ich will, und mein Wort ist Gesetz … Am Springbrunnenrondell konnte José der Versuchung, an den Ort zurückzukehren, an dem sein Leidensweg seinen Anfang genommen hatte, nicht widerstehen. Dieses Wiedersehen schuldete er sich. Auf der Bank, wo Dorothy Frei und er an jenem Abend des 13. Februar 1983 geknutscht hatten, saß ein junger Mann, vielleicht als Nelson Mandela verkleidet, und etwas in den Augen des Jungen erinnerte ihn an Gastón Placeres’ Blick, nur dass es nicht der verehrte Gastón Placeres sein konnte, weder vom Alter noch von der Logik her. Daran musste er denken, und dann hatte er plötzlich den Eindruck, der Junge grüße ihn unmerklich, ein schlichtes Heben der Finger,
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ganz ähnlich dem «Adiós», das der Yoruba ihm bei ihren Runden im Gefängnishof zu übermitteln pflegte. Gu-gurr, gu-gurr, gu-gurr, gu-gurr …, sang eine Ringeltaube. José suchte sie in den Trauerweiden. Gu-gurr, gu-gurr, gu-gurr … Er roch den Mond. Gu-gurr, gu-gurr, gu-gurr … Als er wieder zu der Bank hinübersah, flatterte geräuschvoll eine Eule davon, und auf die alten Rosenstöcke des Coral Park segelten ein paar weiße Federn herab. Zun zun zun, zun zundambaé, zun zun zun, zun zundambaé, schöner Vogel der Morgendämmerung … (Verdammt, was man sich so alles einbildet), dachte José und ging schneller. Und in Panama heißt es: Das alte Viertel sah ihn vorüberziehen, im John-Wayne-Stil der Aufschneider beim Gehen … Nahe bei Camilas Haus tanzten der Maler Salvador Dalí und Florence Nightingale einen Paso doble. Ella Fitzgerald klatschte den Takt dazu. Die Hände immer in den Manteltaschen, damit niemand ahnt, in welcher er den Dolch hat … Cuco war ein guter Lehrmeister im Ersteigen von Mauern gewesen, sodass der Gartenzaun der Mogans keine schwer zu überwindende Klippe war. Vom Eichhörnchen Phefé hatte er das Hochklettern an Bäumen gelernt und von einem Pavian, sich von Ast zu Ast zu schwingen: An die Regenrinne geklammert, hangelte sich José von Fenster zu Fenster bis zum Schlafzimmer der Mogans im zweiten Stock. Er kletterte auf den Balkon. Camila empfing ihn mit Ohrfeigen. Wer konnte sie nicht verstehen? Ach Gott: Das Leben bietet Überraschungen, Überraschungen bietet das Leben … In wenigen Stunden würde sie ihre Zukunft in ordentliche Bahnen gelenkt haben: Sie würde so lange in Deutschland bleiben, wie sie zum Löschen der Hoffnung brauchte, mit einem armen Teufel glücklich werden zu können, der dazu verurteilt war, in einem Zookäfig zu leben. Mit welchem Recht, mit welchem primitiven Besitzerstolz oder welcher Arroganz drang José jetzt in ihre
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Welt ein, eine enge, fast leere Welt, eine sicherlich lächerliche, aber zumindest zivilisierte Welt, zusammengehalten von einer Reihe von Verpflichtungen, die nicht schwer zu erfüllen waren. Sie stritten sich. José fühlte sich wie ein Zwerg: Sein durch zwei Spiegeltüren vervielfachtes Abbild verstärkte den Eindruck, lästig zu sein, und reduzierte ihn von Bild zu Bild, bis zu dem Punkt, wo er unwiderruflich verschwunden war. Nicht einmal die Zitate von Oscar Wilde hatten vor Camilas Blicken Bestand. Ein Glück, dass Max Mogan die Mädchen gerade zur Großmutter brachte, denn seine Anwesenheit im Haus wäre ein unüberwindliches Hindernis gewesen. Es gab keine Wahrheit des einen, die die andere nicht zurückgewiesen hätte, und keine Lüge, die beide aus verständlicher Verzweiflung glauben konnten. Als sie sich trafen, hatten sie sich schon verloren. Da erklangen zwölf Glockenschläge, die Nacht wurde von pyrotechnischem Bombardement erhellt, ein starker Geruch nach Schießpulver sättigte die Stadt, und der Kubaner sagte, dass ihnen noch fünf Stunden Karneval blieben. Der Biologin fiel der Kiefer herunter. Sie gingen ins Wohnzimmer hinunter. Camila schaltete das Außenlicht an. Die Straße. James Dean kutschierte Simone de Beauvoir auf dem Fahrrad herum. Dank dem Leben, das mich so viel gelehrt, es hat mir Lachen und auch Weinen gewährt … «Wir bitten um die Aufmerksamkeit der Eltern von Lauro Méndez: Der Junge erwartet Sie am Informationsstand!» Charles Chaplin führte die Hündin Laika spazieren. Zu spät gekommen, zerrte Leo Trotzki Rintintin an der Leine hinter sich her. Der Mond. Alter Mond, der in der Nacht verschwindet … Zum ersten Mal seit seinen Abenteuern in den Straßen von Atares lief José wie ein Kind über die Fußgängerbrücken und brachte beim Überqueren der Zebrastreifen, ohne auf die Ampeln zu achten, den Verkehr durcheinander. Das blaue Einhorn kam mir
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gestern abhanden, ich hab es auf der Weide zurückgelassen und plötzlich war es verschwunden … Vor den Tischgästen eines Straßencafés imitierte er Cucos Tricks, seines Lehrmeisters im Streicheanstellen. Als er einen Laternenpfahl hinaufkletterte, um einen Papierdrachen aus den elektrischen Leitungen zu befreien, ließen ihn die Tänzerinnen des Wagens Moulin Rouge hochleben. Eins, zwei, drei, was für ein dufter Tanzschritt, was für ein dufter Tanzschritt, hei! … Als sie sah, wie er sich aufführte, dachte Camila, dass José ein Recht hätte, zu glauben, die Ewigkeit dauere fünf Stunden. Es ihm absprechen? Nach so langer Zeit des Verwaistseins hatte er diese Illusion der Sinne verdient. In Havannas Straßen umfängt mich zärtliche Stille, der verschwimmende Horizont verströmt ein schwaches Licht: Ich suche dich und find dich nicht … Sie nahmen ein Taxi. Am Lenkrad saß Sir Winston Churchill. Die Fahrt dauerte einen Kuss lang. In ihren Kuss vertieft, fuhren sie an Pater Jordans Pfarrei, dem Wagen Reichstagsbrand und dem Wolkenkratzer von Señora Filip vorüber, und als sie auf dem Weg zu Lorenzos Zimmer zwangsläufig am Haupteingang des Zoos vorbeikamen, Bursche, bring mir das gesprungene Gläschen, ich will Tropfen für Tropfen das Gift ihrer Liebe auslöschen …, küssten sie sich noch immer. Dieser lange und unpassende Kuss erklärt, warum sie Morante und Regla nicht sahen. Was für eine Bildung wird er schon haben, wenn er im Elendsviertel geboren ist … Morante trug in jeder Hand eine Flasche Rotwein. Er hatte Regla davon überzeugt, dass diese Nacht sich geradezu anbot, um «offene Rechnungen zu begleichen». Außerdem wollte er das Stipendium seines Sohnes vom Emerson-Institut feiern und hatte im Dos Gatos Tuertos, einem Lokal nahe beim Zoo, einen Tisch bestellt. Sie wurden von Indira Gandhi bedient. Ich bemühe mich, dich zu vergessen, und folge einem verletz-
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ten Vogel …, sang der Nicaraguaner Hernaldo Zúñiga auf einem Barhocker. Nach einem Liter Wein schlug Morante vor, Pepe Kid zu besuchen. Er war ihm Dank schuldig. Josés Bürgschaft war ein echter Tritt in die Hinterteile der strengen Akademiker gewesen. Regla ging aufs Klo. Sie erbrach. Ihre Befürchtungen zerschellten am Enthusiasmus ihres Geliebten. «Die Stadt im Karnevalsfieber und mein Freund José im Käfig, das ist ungerecht. Dein Bruder soll wissen, dass ich ihn schätze», lallte er. Sie ließen den Wagen im Parkhaus stehen und machten sich zu Fuß auf den Weg zum Zoo. Regla spürte, wie ihr kalter Schweiß ausbrach. Wenn ihre Beziehung mit Morante am Ende gediehen war und sie schon die Hochzeit planten, dann deshalb, weil beide es vermieden, heikle Geständnisse zu machen. Der Ballast der Vergangenheit schlug auf den Magen, dort, wo die Angst gärt. Wie Rülpser in der Speiseröhre stiegen Erinnerungen auf. Sie fühlte sich, als würde sie Homopoly spielen. Regla vertraute ihrem Charakter, ihrem Herzen jedoch nicht. «Beeil dich, meine Liebe, da kommt der Wagen Krise der Missiles», sagte Morante. Sie ging langsamer. Ihre Beine weigerten sich weiterzugehen. Sie kamen im Zoo an. Die Hufschläge des Rhinozeros ließen die Erde beben. Die Hyäne lachte in ihrem Käfig. Der Karneval blieb draußen. Grillen. Die Stimme von Kamerad Nikita S. Chruschtschow: Was für eine Bildung, was für eine Bildung wird er schon haben, wenn er im Elendsviertel geboren ist … «Ich warte hier. Frag meinen Bruder erst, ob er mich überhaupt sehen möchte», sagte Regla. «Ach, diese Frauen … Bin gleich wieder da.» Das Trompeten des Elefanten ließ die Rasseln im Laden erklingen. Regla musste wieder erbrechen. Grundlos. Alles wirkte lächerlich. Ausgesprochen lächerlich. Die Schlüsselanhänger. Das Familienalbum. Josés Augen auf
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den Plakaten. Der Karneval. Sie war noch nie um Mitternacht im Zoo gewesen. Frösche. Die Fensterscheiben waren beschlagen. Ihr Leben, grauer als das Fell einer Maus, passte in ein Regal mit Ramsch. Sie spürte Kälte in den Knochen und Hitze auf der Haut. Sie rief Menelao an. «Wie geht’s den Jungs?» «Mein Kind, was ist da draußen los?» «Es ist Karneval, Papa.» «Karneval! Was du nichts sagst. Es sind Schüsse zu hören. Die Jungs kommen zurück … Sie überfallen Moncada …» «Das ist vorbei, das ist alles vorbei …» «Hör doch, Tacka-tacka-tacka-tacka! Was für eine Schießerei!» «Hör mal, Alter: Geh schlafen, hörst du? Mach dir keine Sorgen, das ist das Karnevalsfeuerwerk am Himmel.» «Am Himmel!» «Schau zum Fenster raus», sagte Regla. «Tu ich ja», sagte Menelao. «Ja, Reglita, ich sehe das Feuerwerk … Wenn du es sagst.» «Die Leute feiern.» «Das wird mir nicht nochmal passieren, oder?» «Natürlich nicht, Papa. Ich komme bald heim.» «Amüsier dich, mein Kind. Du arbeitest hart. Isidro schläft. Ivo macht seine Hausaufgaben fertig.» «Haben sie gegessen?» «Ich verstehe dich kaum.» «Ob sie gegessen haben.» «Ja, ich habe ihnen einen Mangoshake gemacht.» «Deine Mangoshakes sind köstlich.»
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«Ja?» «Papa, liebst du mich?» «Und was soll jetzt das?» «Liebst du mich?» «Nerv mich nicht. Du bist wie deine Mutter.» «Wie denn?» «Ich weiß nicht.» «Ciao, Papa.» «Verdammt, niemand erzählt mir was! Tacka-tacka!» Tacka-tacka, Klick! Das Rhinozeros. Aus einer Art Kuckucksuhr kreischte in Abständen ein hölzerner Wellensittich: Es lebe Kuba! Es lebe Kuba! Es lebe Kuba … Regla schrieb Morante eine Nachricht: Ich warte in der Kneipe nebenan auf dich, und klebte den Zettel an die Schaufensterscheibe. Als sie den Zoo verließ, zwitscherte der elektronische Mistvogel immer noch. Er heftete sich wie eine Schnur mit scheppernden Dosen an ihre Fersen: Es lebe Kuba! Es lebe Kuba … Tin Tan und Ernest Hemingway fuhren auf dem Fußweg Rollschuhe. Die Conga von Jalisco … Da kommt er angelaufen … Lorenzo hörte Morante vom Schlafzimmer aus. Er schaltete die Lampe ein und wieder aus und deckte sich zu. Vielleicht war es reiner Zufall. Er hatte kein Auge zugemacht und aufmerksam auf jedes Anzeichen von Gefahr gelauscht. Die Zirkusse. Was für Zeiten! Le Soleil D’Amberes. Die Revuegirls. Die Reisen im Zirkuswagen durch ärmliche Dörfer. Ich weiß nicht, was die Blumen haben, arme Seele, die Friedhofsblumen, wenn der … Der in Zirkuszelten typische Geruch nach Pferdemist stieg ihm in die Nase. Er nieste. «Gesundheit!», schrie Morante. «Wach auf, Pepe Kid … Heut ist ein großer Tag: Mein Sohn Langston hat das
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Stipendium bekommen! Wir werden einen Ingenieur in der Familie haben. Dein Schwager hat dir Wein mitgebracht, damit wir im Familienkreis feiern können. Regla ist mitgekommen. Sie will dich sehen. Komm raus aus der Höhle. Heute Nacht ist Karneval!» Das Eichhörnchen Phefé schlief im Clubsessel. Morante schlug mit einer Flasche gegen die Eisenstäbe. Die Flasche zersprang, und eine Glasscherbe schnitt ihn in die Hand. Er blutete Wein. Rotwein. «Was ist los, José!» Die dröhnende Stimme ließ das Eichhörnchen aufschrecken. Lorenzo sah es mit dem Schwanz zwischen den Pfoten durch die hinteren Gitterstäbe huschen. Der Wasserhahn am Waschbecken tropfte noch immer. Der Knopf war wieder kaputt. Die Affen, «seine Affen», kreischten im Chor. Der Lori streckte seinen Kopf durch die Gitterstäbe und wollte aus dem Käfig fliehen. Die drei unermüdlichen Affen aus Madagaskar stießen einen Alarmschrei aus. «Bring diese Viecher zum Schweigen, José, ihretwegen kann ich dich nicht hören!» Der Kot des Pavians klatschte an das Panzerglas. Im Radio sagte der Sprecher, dass der Karneval 1999 alle Erwartungen der Organisatoren übertroffen hätte, «ein unauslöschbares Datum für diejenigen, die wir …» Der Campechaner stellte das Radio ab, setzte sich auf und zog die Strümpfe hoch. Er hatte Pavel Sulja nie hinken sehen. Der Gerichtsmediziner hatte Blutreste von der Prothese gekratzt. Sie musste ihn geschmerzt haben. Schließlich dachte er an Gott. Als Morante den Käfig betrat, betete er noch immer auf die einzige Art, die er kannte: Er redete mit dem Gewerkschaftler Margarito Lara. Beim dritten Hieb mit dem Gewehrkolben hörte er auf, Gebete zu murmeln. Bewusstlos stürzte er zu Boden. Er spürte die Tritte nicht. Auch nicht, wie ihm der linke Arm ausgerenkt wurde, als man ihn ins Hauptgebäude des Zoos schleifte. Er wachte
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in Doktor Magalhaës’ Büro auf, ein Kaninchen inmitten eines Hundezwingers. Konrad Lorenz beschreibt in seinem Essay König Salomos Ringe einen Kampf unter Wölfen. Ein riesiger alter Wolf mit hellgrauem Fell stellte sich in einem Hohlweg einem anderen von geringerem Körperumfang. «Die gefürchteten Reißzähne blitzten in einer raschen Abfolge von Bissen auf. Und dennoch geschah nichts Ernstes.» Nur die Lippen der Kämpfenden schienen ein paar Kratzer abbekommen zu haben. Der junge Wolf wurde nach und nach zurückgedrängt, und der Zoologe hatte den Eindruck, dass sein Gegner ihn an die Steilwand zu treiben versuchte. Plötzlich hielten die beiden Körper inne. Beide Tiere verharrten unbeweglich Schulter an Schulter. Geifer tropfte von ihren Lefzen. Sie knurrten gereizt. Der alte tief, der junge schrill. Sie beschnüffelten sich. Sie maßen ihre Kräfte. Das Maul des einen berührte das Ohr des anderen. Der Unterwürfigere hielt seinen Kopf abgewandt und bot seinem Feind den Hals dar, seinen verletzlichsten Punkt. Er hatte sich ergeben. Als Zeichen seiner Unterwerfung offerierte er die Halsschlagader. Lorenz fürchtete, dass der alte Wolf ihm in einem unbedachten Augenblick die Zähne hineinschlagen und sie durchbeißen würde. «Aber in dieser Situation beißen weder Hund noch Wolf zu, nicht, weil sie nicht wollen, sondern, weil sie nicht können. Ein Tier, das seinen Hals in der geschilderten Form darbietet, wird niemals ernsthaft gebissen werden.» Der Sieger knurrt, bleckt die Zähne und macht in der Luft die Bewegungen, die den Todeskampf des Gegners begleiten würden. Und er hält sich zurück. Er hält sich immer zurück. Immer. Der Sieger befindet sich in einer ungemütlichen Lage vor dem Besiegten. Er wird schnell müde. Es scheint, als würde er darauf warten, dass das Opfer seine unterwürfige Haltung aufgibt, um ihn aufs Neue angreifen
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zu können. Der Ältere markiert sein Revier. Er legt seine Pfote auf einen Stein. Der junge Wolf nutzt dieses Ritual und zieht sich vorsichtig zurück. Nicht ohne Grund findet es der Vater der modernen Ethologie überraschend, dass der Wolf nicht zubeißen kann, aber noch mehr wundert ihn das Vertrauen des anderen, wenn er sein Leben darbietet. Kennen wir etwas Ähnliches im menschlichen Verhalten?, fragt er sich. Wenn der homerische Krieger sich ergab, warf er den Schild zu Boden, fiel auf die Knie und bot den Nacken dar, Handlungen, die den Degenstoß vereinfachten, die Exekution in Wirklichkeit aber erschwerten. Lorenz folgert daraus: «Vielleicht ist das menschliche Herz schwerer zu rühren als das eines Wolfes. Wenn dir einer eine Wange verletzt, halte ihm die andere hin, lautet ein Bibelgebot. Ein Wolf hat mich gelehrt: Halte deinem Feind die andere Wange hin, nicht, um dich erneut verletzen zu lassen, sondern, um es ihm unmöglich zu machen, dir noch mehr Schaden zuzufügen.» Lorenzo erkannte im Halbdunkel des Büros den an den Schreibtisch gelehnten Wolf Morante, der sein Gewehr mit Zielfernrohr lud. Der in einem Sessel versunkene Juscelino Magalhaës wirkte wie ein Käfer im Glas. Der Chef der Kosakenwärter gab Unteroffizier Salomón Carey, der auf Anordnung von Gouverneur Ian Hill die Leitung der Operation übernommen hatte, eine vernünftige Erklärung: Der Flüchtige habe in einer Stadt, die er seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, keinen Ort, wo er sich verstecken könnte, und seiner Meinung nach würde er sich unter die Karnevalsmassen mischen, um bis nach Caracol Beach zu gelangen, wo er vielleicht versuchen würde, übers Meer nach Kuba zu entwischen. «Der Befehl des Politikers ist unmissverständlich», sagte Unteroffizier Salomon Carey: «Das gefährlichste Tier des Zoos suchen, finden, verfolgen und tot oder lebendig schnappen. Die Nachricht von
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der Flucht darf nicht über die Landesgrenzen dringen; das wäre der Untergang.» Alles, was der Mensch erfunden hat, um sich selbst Schmerzen zuzufügen, wurde bei der Hatz eingesetzt. Die beiden Zivilflughäfen von Santa Fe wurden im Sturm genommen, zwei Krankenhäuser besetzt und der Zugang zu den örtlichen Konsulaten blockiert. Es gab einen Mann, der frei auf den Straßen umherlief. Ein Mann in Freiheit. «Ich kann Ihnen helfen, Unteroffizier», sagte Morante. «Pepe Kid und ich sind Fleisch und Blut. Der eine wie der andere. Ich rieche ihn, ich spüre ihn. Er hat nicht viel Vorsprung. Suchen Sie Camila Novac: Sie müsste mehr wissen.» Lorenzo öffnete die Augen: das Zirkuszelt vom Le Soleil D’Amberes. Er machte zwei Schritte auf einem schlaffen Seil. Der Abgrund. Er stürzte ab. Er stürzte. Eine Maus, die in einer schwarzen Blutlache zappelt. Der Schreck verriet ihn. «Willkommen beim Karneval», sagte Morante und drückte ihm mit dem Gewehrkolben das rechte Augenlid zu. «Du arbeitest seit zwanzig Jahren im Zoo, Lorenzo», sagte Doktor Magalhaës. Seine Skorpionstimme klang hohler als sonst. «Vertraue auf uns. Vertraue mir.» «José ist auf Ausgang, Doktor … Nur ein paar Stunden, glauben Sie mir», sagte Lorenzo. «Wie wenig du Pepe Kid kennst», sagte Morante. «Natürlich kenne ich ihn, und gut: Er ist mein Freund.» Lorenzo bot zum Zeichen der Unterwerfung die Halsschlagader dar. Morante bleckte die Zähne. Er stellte ein Bein auf einen Stuhl. Doktor Juscelino Magalhaës wandte den Kopf ab. Lorenzo neigte den seinen zur Seite. «Er wird zurückkommen. Vor fünf Uhr wird José wieder in seinem Käfig sein.» «Sei kooperativ, Lorenzo, das ist das Beste für alle»,
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sagte Juscelino. Er wollte etwas hinzufügen, schluckte es aber. «Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.» «Das werden wir ja sehen», sagte Morante. «Kämpfe, mein Sohn!», hörte Lorenzo seinen Vater aus einem Boot, das über die Meere der Erinnerung schaukelt, rufen. Der Campechaner ließ seinen Blick an den sechs Fuß seines Henkers hochwandern, von den Stiefeln bis zum rechten Auge. Er hatte die Stiefel falsch geschnürt und eine gelbliche Pupille. Er holte tief Luft, hielt sie an und stieß aus der Tiefe seiner Lungen diese unkluge Provokation aus: «Leck mich am Arsch, Blödhammel!» Morante verpasste ihm einen Kolbenschlag auf den Mund. Wölfe. Engpass. Ein Mann, der frei auf der Straße umherläuft. Ein Mann in Freiheit. Lorenzo spuckte zwei Zähne aus und biss sich auf die Oberlippe. Sie schmeckte nach Colgate. Ach, sein Schnurrbart. Wenn er doch nur dieses Rasiermesser zur Hand hätte! Aus der Ferne glaubte er das nächtliche Stampfen des Rhinozeros zu hören. Dunst. Er sah zum Fenster. Das hellblaue Coca-Cola-Logo zeichnete sich in der Schale des Großen Bären ab.
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oremifasollasi. Si. Silasolfamiredo. No. Señora Kropotkina war stolz. Mit vierundachtzig Jahren konnte sie endlich eines der Präludien, die Johann Sebastian Bach für seine Frau Anna Magdalena komponiert hatte, fehlerfrei spielen, und nach dieser Heldentat hätte sie gerne an alle Wohnungstüren im Haus geklopft, ihre Nachbarn abgeküsst und auf der Straße getanzt und getanzt, bis sie wie die Berliner Mauer zusammengebrochen wäre. Den teuersten ihrer superteuren Träume zu verwirklichen und ihn Note für Note zu spielen, wenn sich das Leben schon seinem Ende zuneigt, war die Mühe und die Verrücktheit wert gewesen. Jetzt konnte sie in Ruhe sterben. Sie entstaubte die zwölf Wohnzimmeruhren und zog ihre Spieldosen auf. Sie löste ihr Haar, statt es aber wie gewöhnlich zu einem Knoten mit feinem Haarnetz zu frisieren, ließ sie es an diesem Karnevalsmorgen offen und legte sich den wie von einer Tarantel gesponnenen dünnen Schal um die Schultern. Das Haar breitete sich wie Schnee darüber aus, Schneegestöber aus Stroh. Sie zündete eine Altarkerze an. Das herabtropfende Wachs roch nach Birkenwald. Sie rezitierte auf Russisch Sätze von Nabokov: «Ich denke an Bisons und Engel, an das Geheimnis der ewigen Pigmente, an die prophetischen Sonette, an die Zufluchtsstätte Kunst.» Wie sie die Daguerreotypie von ihrer Hochzeit küsste, während sie sich wie ein verrücktes Huhn mitten im Wohnzimmer drehte! Es war ihr egal, ob sie lächerlich wirkte, denn die Einsamkeit ist schamlos. Kurz nach halb eins in der Nacht, genau in dem Augenblick, in dem José und Camila in ihren Kuss versunken in Lorenzos Zimmer ankamen, öffnete Señora Kropotkina den Tastaturdeckel
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und fing wieder von vorn an. Tonleitern. Sie musste die Tonleitern üben, bevor sie Bachs Präludium wiederholte. Doremifasollasi. Gut. Silasolfamiredo. Lorenzo hatte den Raum mit natürlichem Kitsch vorbereitet. Pyrenäenluft. Zehrwurz in den Metallvasen. Der Tisch für zwei Personen gedeckt. Eine Schale mit Obst. Das Radio. Eine Flasche Sekt. Frische Handtücher. Boby Camagüeys neueste Scheibe. Kunsthandwerk aus seiner geliebten Ciudad del Carmen. Auf dem Bett lag ein Apfel: «Hochachtungsvoll, die Schlange.» Adams und Evas lange Nacht sollte sich wiederholen: Die Schrecken von heute sind dieselben wie damals. Pariente schlief auf der Fensterbank. José vergeudete vier wertvolle Minuten mit dem Abwaschen der Gläser und zwei weitere mit dem Entkorken der Sektflasche, und wenn Camila nicht in schallendes Lachen ausgebrochen wäre, als der Korken an die Decke schoss und zurück auf den Boden knallte, dann an die Wand, auf den Tisch, auf Parientes Rücken und ein Tablett aus Campeche hüpfte, wo er schließlich liegen blieb, würde dieser Kubaner noch immer nach einer Ausrede suchen, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem er die Erfahrung machen sollte, dass die Liebe weder eine Sünde noch ein Wunder ist, sondern eine einfache Tatsache, die außer anderen Wundern die dunklen Schimmer, die traurigen Tiger, die Ebenen in Flammen, die verlorenen Blicke, die Städte und die Hunde, die Geheimgänge, die Könige in den Gärten, die Initialen der Erde, die Rayuelas, die Paradisos, die großen Sertãos, die Landschaften in klarem Licht, die Liebe in den Zeiten der Cholera, die verborgenen Blüten der Dichtkunst, die Universalgeschichte der Niedertracht im wundervollen Reich von dieser Welt erklärt. «Papa, sag mir, wie.» Er war wieder siebzehn Jahre alt. In dem Alter hatte er die Lehre des Lebens unterbrochen, um sich den Übeln des Schreckens zu widmen. «Wenn du
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in der Wirklichkeit landest, wirst du dir ordentlich wehtun», würde seine Schwester sagen. José starrte auf seine Füße und lächelte: Er trug eine schwarze und eine braune Socke. Boby Camagüeys Stimme: Die Marsmenschen sind schon da … «Worüber lachst du?», fragte Camila. «Über meine Socken», antwortete er. José hatte sich diese Nacht unendlich oft ausgemalt, aber kein einziges Mal hatte er sich selbst dabei in so unvorteilhafter Situation vorgestellt. Er konnte das gesichtslose Gespenst der kleinen Lulú nicht verscheuchen. «Du riechst nach Papayamarmelade», sagte Camila und wiederholte damit Zenaidas Worte. «Dieses Ei braucht Salz», antwortete José, auf Kuba der schönste Satz verliebter Teenager. Zwei Betrunkene zogen singend vorüber. Ach, ach, ach, ach, weine nicht und singe … Endlich zogen sie sich aus. Und umarmten sich. Camila war eine echte Ayala. Reuelos zu lieben war eine Erfahrung, die sie vergessen hatte. Sie war weder zärtlich noch sentimental noch mitleidig, sondern schlicht und einfach und auf höchst einfallsreiche Weise übermütig, weil Zärtlichkeit ein guter Nährboden für Geständnisse ist, und Geständnisse rauben viel Zeit, während Herumschäkern ein wonnevolles Kribbeln verursacht, Lasten leichter wirken lässt, Muskeln entspannt, und nach zehn Jahren einer zu ausgeglichenen Beziehung wollte sie fesseln, schmeicheln, verführen, filtern, erregen, reiben, formen, reizen, gurren, säugen, saugen, beißen, berühren, befummeln, beherbergen, schlucken, genießen: Sollte sie sich geirrt haben, blieb ihr immer noch, sich in allen Variablen zu irren. Und sie küssten sich. Sie war davon überzeugt, dass sich der Zauber des Begehrens, der Reiz des Verbotenen und das Privileg des Glücklichseins nicht wiederholen würden, dass sie sich wegen nichts und niemandem, nicht einmal wegen sich selbst oder José, noch einmal in solch ein heikles Abenteuer stürzen würde;
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deshalb blieb ihr kein anderer Trost, als diese vier oder fünf Stunden des Karnevals gut aufzubewahren, um sie später in ihrem deutschen Käfig wieder beleben zu können. Sie war eine Diebin. Sie raubte Gerüche, Geschmäcker, Sekunden, den Sektkorken und sogar die Klaviernoten, die schlecht gespielt aus dem Nachbargebäude drangen. ‹Hoffentlich findet er mich nicht dick›, dachte die Biologin und zog dreißig schwache Sekunden den Bauch ein. Doremifasollasi. Die Hände ließen sie wieder einmal im Stich. Jetzt, wo sie sich frei bewegen konnten (und sollten), hingen sie an den Armen wie die einer Plastikpuppe. Sie hätten die Haken ihres Büstenhalters öffnen oder ihr beim koketten Abstreifen des Slips helfen können, ebenso Josés Hals, seine haarlosen Oberschenkel, seine Brust, seine Schulterblätter und sein schüchternes Schwert streicheln können, damit der Kubaner langsam die Angst vor dem Unbekannten verlor; sie hätten auch an ihrem eigenen Körper, über die Brustwarzen, an den Innenseiten ihrer Schenkel entlangfahren können, aber nein: Ihre Hände weigerten sich. Sie versuchte, sie auszustrecken, aber es gelang ihr nur eine leichte, ziemlich lächerliche Fingerbewegung. Die Morgenfrische wehte Sirenengesang herein. Um Viertel nach zwei hatten sich José und Camila kennen gelernt: Sie hatten sich heiß und unbeholfen nach Lust und Laune geliebt. Ohne allzu viele Umstände. Dieser Leberfleck, mein hübsches Engelchen, an deinem Mund, schenk ihn niemandem, mein hübsches Engelchen … Ich bin dran … «Wenn Lorenzo in Josés Käfig sitzt, könnte dann José nicht in Lorenzos Bude sein?», hörte er Morante sagen. «Machen Sie keinen Unsinn», das war Doktor Magalhaës’ Stimme. «Kommen Sie mit», sagte der Unteroffizier. Lorenzo lauschte dem Gespräch vom Büro aus. Sie hatten ihn allein gelassen. Er konnte nicht aufhören, an seine Freunde zu denken. Wie konnte er ihnen hel-
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fen? Wie? Was für eine schwierige Frage! Sein linker Arm baumelte leblos an der Schulter. Der Mund hohl. Ein offenes Fenster: Man brauchte nicht viel Training, um die zwei Meter hinabzuspringen. Der Himmel musste Ciudad del Carmen sein. Er wusste, dass er die letzte Nacht seines Lebens lebte oder die erste Nacht seines Todes starb. Und er wusste es, weil ihm Erinnerungen durch den Kopf schossen. Er konnte sich an den Tag erinnern, als er seinen Vater zwischen den Pelikanen fotografiert hatte. Er hatte den vom Krebs zerfressenen Margarito in einer Pose verewigt, die seinen Kampf gegen die Trostlosigkeit dieser Welt darstellte, und in dieser Haltung beschwor ihn Lorenzo unter weniger heiklen Umständen herauf: beispielsweise an dem Nachmittag im Zoologischen Garten, als er dem Orang-Utan-Weibchen bei Cucos Geburt half. Das Gedächtnis projizierte ohne Rücksicht auf eine chronologische Reihenfolge unterschiedliche Szenen, verwechselte sogar Personen und Orte, sodass er Zenaida nicht im Bett der Mulattin, sondern in jener Garage in Mérida liebte, wo der Gewerkschaftler ihn einmal hingeschleppt hatte, damit er zwischen den angewinkelten Beinen von Carmenaza, der zügellosen Frau aus Yukatan, zum Mann wurde. Es ist falsch, dass man alles vergisst. Man bringt höchstens etwas durcheinander. Und wenn man sich anstrengt, vervollständigt sich das Bild gnädigerweise. Erbarmen: Das war es, was das Leben anbot, wenn die Uhr abgelaufen ist, oder der Tod, wenn er in dieser explosiven Karnevalsnacht zum Überschreiten der Ziellinie einlädt, genau in dem Augenblick, als er die Maxime bestätigt finden sollte, dass der Mensch als einziges Tier bereit ist, für seinesgleichen zu leiden. Und wenn das nicht stimmte? Wenn das Opfer sinnlos wäre? Auch er hatte eine Menge Verpflichtungen. Die Ameisen zu bekämpfen, die bereits die Antilopenebene angefallen hatten. Niemand würde sich an ihn erinnern.
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Señora Kropotkina war nicht mehr auf dieser Welt. Zenaida saß in einem Iberia-Jumbo nach Galicien. Pariente war ein kriegerischer Zigeuner, der ohne Herrchen überleben konnte, jetzt mehr denn je, seit dieser Bonsai von einem Leoparden aus dem Viertel verschwunden war, der, ihm eines Nachts um ein Haar das gesunde Auge zerstört hätte. José würde ins Gefängnis zurückkehren. Das magere Ergebnis seiner Zuneigung machte ihn noch trauriger. «Zum Teufel damit!», sagte er und sprang aus dem Fenster. Ins Nichts. Er ging in die Falle. Pferd der Savanne, warum bist du so alt und müde …? Frösche. Frösche. Frösche. Morante wusste, dass dieses Herdentier ein sanftmütiger Mann war. Er sah ihn durch den Löwengraben stolpern und stellte fest, dass die große Schwäche des Campechaners auch seine größte Tugend war: die Unschuld. Er ertrug Unschuldige nicht. Er ließ ihn den Hof des Zebras durchqueren und am Sumpf der Krokodile entlanghumpeln. Dann stieg er in den Polizeihubschrauber und schlug Salomon Carey vor abzuheben. «Ich glaube, ich weiß, wo unser Mann ist, Unteroffizier», sagte er. Lorenzo hat nie erfahren, dass die Spur seines Schmerzes die Jäger zu dem Flüchtigen führte. Er lief auf den Straßen gegen eine Horde brasilianischer Tempeltänzerinnen an. Maria Callas, Andy Warhol und Mutter Teresa von Kalkutta vergnügten sich an einer Schießbude. Mama, ich möchte wissen, woher die Sänger sind … Sie sind vom Hügel … «Wenn du ja sagen willst, sag nein, wenn du todmüde bist, mach dich munter, wenn du Hunger hast, lutsch Orangen. Alles, was du ersehnst, wird gegen dich sein», hatte Perucho im Altenheim der Freimaurer gesagt. An das Kopfende des Bettes gelehnt, beschnüffelte José seine Finger. Er war nicht sehr zufrieden
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mit seinem Verhalten im Ring. Seine Anhaltspunkte waren ungenau: sechsundzwanzig geraubte Küsse in einem dunklen Kinosaal. Zeit zum Lieben. Zeit zum Sterben. Jede Erfahrung trägt ihre Zeit und ihren Augenblick in sich. Er war aus einem Traum zurückgekehrt und träumte noch immer. Der Geruch nach Sex imprägnierte die Haut. José vermutete, dass er vor dem Glockenschlag gekommen war, womit er «schlimmer als ein Rotzlöffel» aus seiner ersten Mannestat hervorging. Das beunruhigte ihn aber auch nicht sonderlich. Camila würde nach Berlin gehen, und er würde es ihr nicht verbieten. Wozu? Er würde sich die Uniform des Affenhinternputzers zuknöpfen, sich Lorenzos Kappe bis zu den Augenbrauen ins Gesicht ziehen und in den Zoo zurückkehren. An irgendeinem Tag im Jahr 2000 würde er vielleicht, warum nicht, aus dem Park fliehen. Er dachte an nichts anderes. Fliehen. Ausbrechen. Fliehen. Abhauen. Aber nicht in dieser Nacht. Diese Nacht würde wie abgesprochen zu Ende gehen. Mehr noch als der Körper, mehr noch als der Sex, mehr noch als eine Frau, mehr noch als die überschäumende Euphorie nährte ihn der Gedanke daran, diese Karnevalsstunden miterlebt zu haben. Die wirkliche Versuchung war die Versuchung der Freiheit gewesen. Wie sollte er jetzt ohne sie leben? Das Fest hinterließ in ihm eine einmalige Freude. Ach, mein Schatz, ich kenne eine neue Sünde, die ich mit dir ausprobieren möchte, die Tränen aus deinen Augen trinken … «Wie wär’s, wenn wir runtergehen und einen Kaffee trinken?», fragte José. Camila hörte zu lachen auf. Der Polizeihubschrauber landete auf dem Haus von Señora Kropotkina. Auf Unteroffizier Careys Befehl hin verteilten sich die Polizisten des Kommandos und stellten sich in Kampfposition auf. Morante suchte einen angemessenen Platz auf dem Dachsims, um José durch das Zielfernrohr seines jetzt mit Leuchtspurmunition geladenen Gewehrs
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anzupeilen. Das Duell, ihr fünftes, würde tödlich ausgehen. Er hatte den Kubaner bei drei Fluchtversuchen erwischt und an jenem Attentatssonntag einen vierten vereitelt. Schade, dass sich sein Rivale in dieser Karnevalsnacht nicht verteidigen konnte. Morante stellte fest, dass José bis jetzt einen gewissen Vorteil gehabt hatte: Er hatte trotz der Kontrollen aus dem Zoo fliehen, in Lorenzos Zimmer gelangen und mit Camila schlafen können, und dann machte er ihn auch noch vor seinem früheren Lehrer Salomón Carey lächerlich. Was würde Regla wohl denken? Hatte sie davon erfahren? Was würde sie später sagen? Später. Später würde er schon sehen. Chávela Vargas sang ein Lied von José Alfredo Jiménez: Und wenn sie etwas aus meiner Vergangenheit wissen wollen, ist es angebracht, zu lügen: Ich werde ihnen sagen, dass ich aus einer seltsamen Welt komme, dass ich nichts vom Schmerz weiß, dass ich in der Liebe gesiegt habe … Und dass ich nie geweint habe … Neben dem Küchenherd stand Camila und biss in den Apfel. Herumtollen macht hungrig. ‹Ich bin eine schlechte Anleiterin›, dachte sie, wenn auch nicht ohne einen gewissen Stolz mit negativen Vorzeichen. Sie pflegte ihre Fehler selten zuzugeben. Sie hatte immer die besten Beurteilungen erhalten. Ihre Nerven spielten ihr einen üblen Streich. Sie hätte auf Zenaida hören und sich den Kubaner roh einverleiben sollen. Juckpulver, hatte die Mulattin gesagt. Welch ein Glück, dass sich ihre Hände am Ende gelöst und das Territorium des Neulings ohne Unterwerfung erforscht hatten! Sie ebneten den Weg. Sie fanden ihn. Sie hatten die Reise in der Bucht des Mundes begonnen, wo die Finger mit seinen Lippen spielten, sie hatten ein paar Sekunden an den Oasen der linken Brustwarze und des Bauchnabels verweilt, bis sie das enorme Glied umschlangen, das aus der Schlucht des Unterleibs herausragte: Dort nisteten sie
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in dem Körper, der zu diesem Zeitpunkt schon vor Lust nach den Zuckungen des Glücks bebte. José schien zufrieden. Was interessiert es dich, ob ich dich liebe, wo du mich doch schon nicht mehr liebst … Wie schön! Der Karneval ging zu Ende. Die Frist ebenfalls. Wenn die Liebe vorüber ist, kann man sich nicht erinnern … Es war keine Liebe. Nein. Begehren. Gut. Laune. Solidarität, um es mit Königin Fagés’ Worten auszudrücken. Sie würde ihre Ehe retten. Warum nicht? Warum? Ich war der Traum deines Lebens, an einem bereits fernen Tag, heute bin ich die Vergangenheit … Sie sollte ergeben hinnehmen, dass sie eine konventionelle Frau war, Gattin eines konventionellen Mannes, Mutter von drei strahlenden, konventionellen Töchtern, eine ausgezeichnete Biologin, die in einer Welt lebte, die so konventionell war, dass eine rücksichtslose Dummheit sie nicht von heute auf morgen verändern würde. Doremifasollasi, Silasolfamiredo. Sie vermisste ihr Haus. Die Sicherheit. Die Vorteile eines stabilen, von zwei berufstätigen Partnern im wahrsten Sinne des Wortes finanziell abgesicherten Heimes. Um José zu lieben, brauchte sie Zeit und Raum, aber es blieben ihnen lediglich ein paar Minuten der Gefangenschaft in diesem Terrassenkabuff, das nach Kater roch. Und wenn sie diesen Kaffee trinken würde? Es war eine wunderbare Idee. Camila schwor sich, nach dem Cappuccino eine Zigarette bis zum Filter aufzurauchen. Genau das. Eine Camel. Fünf Zentimeter schwarzer Tabak. Zwanzig Züge. José bot keine Aufgabe, sondern Frieden. Er hatte wenig erlebt. «Gehen wir diesen Kaffee trinken, sonst ist das Fest zu Ende, aber du sollst etwas wissen, José, etwas, was ich nicht mit nach Berlin nehmen will: Du bist ein bewundernswerter Mann», sagte Camila. Eine Sekunde bevor Morante den Abzug drückte, warf sie ihm den Apfel zu, und José reckte sich, um ihn aufzufangen. Das Kissen. Ein Blitz.
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Der Schuss riss das Kissen auf. Die folgenden vier Schüsse waren Schüsse der Ohnmacht. Die Geliebten schnappten sich im Laufen ihre Kleider und flohen über die Feuerleiter. Señora Kropotkina beugte sich über das Balkongeländer: Ein Mann und eine Frau liefen nackt über die Straße. «Adam und Eva, aus dem Paradies vertrieben», sagte die Russin und verbeugte sich. Bravo! Hurra! Das strohige Haar kitzelte sie im Nacken. Sie nahm sich wie jemand, der ein Cape ablegt, den Schal ab. Und kehrte zum Klavier zurück. Die Zeichen der Jahre hingen an ihrer Haut herab. Die letzten Minuten ihrer vierundachtzig Lenze verlebte sie in der Vorstellung, in Moskau, zwischen zwei Tassen Kaffee, in Strawinskys Armen zu tanzen. «Igor! Lolita! Nabokov!» Sie trabte durchs Wohnzimmer. Der Schal hatte sich um ihre Knöchel gewickelt. Die Greisin hob die Arme. Ihre Finger attackierten die Tastatur. Zu ihren Füßen spann eine Spinne eine feine Mantille. Silasolfamiredo … Schließen Sie das Klavier, Señora Kropotkina! Das Eichhörnchen erwachte. Der Pavian erwachte. Der Bonoboaffe erwachte. Das gefährlichste Tier der Schöpfung war geflohen. José zerrte Camila hinter sich her, die sich im Laufen anzuziehen versuchte. Der Wollhaaraffe erwachte. Lorenzo fand den Kater auf der Treppe, wo er mit dem Sektkorken Fußball spielte. Er ging in sein Zimmer. Federn wirbelten durch die Luft. Das Bett zerwühlt. Ein angebissener Apfel. Die Schimpansin erwachte. «Gott sei Dank, sie sind entwischt!», rief Lorenzo und hob den Apfel auf. Das Zimmer roch nach Bordell. Der Mandrill erwachte. Vor der Kneipe fing Regla langsam an, sich über Morantes Verspätung zu ärgern. Die Straßenhändler pfiffen begeistert, als sie die zwei verrückten Nackten auf dem Fußweg vorbeiflitzen und dabei Mülleimer umrennen sahen. Der Teufel aus Tasmanien erwachte. ‹Der alte Lara
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sitzt im Käfig›, dachte José. ‹Was werden sie ihm antun, was?› Der Leopard erwachte. Regla erkannte ihren Bruder. José. Pepe. Er. Regla zweifelte. Sie hatte das Lokal, ohne die Rechnung zu bezahlen, verlassen. Sie ließ den Wagen an. Der Büffel erwachte. Unteroffizier Salomón Carey leitete die Jagd vom Hubschrauber aus und gab den Bodeneinheiten Befehle. Der Quetzal erwachte. Der Kreis schloss sich. «Lauf nach Hause, Camila, lauf, lauf nach Hause», sagte der Kubaner und half ihr, die Bluse zuzuknöpfen. Die Schildkröte erwachte. Die Karnevalswagen. Öllampen. Der Löwe erwachte. José und Camila rannten zum Zoo. «Meine Schuhe!», rief sie. Die Giraffe erwachte. Doremi … Das Dromedar erwachte. Der Kreis schloss sich. Der Jaguar erwachte. Das Zebra erwachte. José hatte versprochen, vor fünf Uhr früh zurück zu sein. Er würde sein Wort halten. Das Wort eines Kubaners. «Ich ergebe miiiich!!!», schrie José. Der Hubschrauber zerschnitt den Schrei mit seinem Propellergetöse. Die Brillenschlange erwachte. Lassen Sie das Klavierspielen, Señora Kropotkina! Lorenzo hinkte durch die Gassen von Santa Fe. Der ausgekugelte Arm schmerzte. «Verdammt, José, sei nicht dumm», brüllte er. Der Name hallte von Fenster zu Fenster und von Wand zu Wand. Das Wildschwein erwachte. ‹Was, verdammt nochmal, will ich mit diesem Apfel?›, dachte Lorenzo. Der Mantelaffe erwachte. «Alle Einheiten Richtung Zoo!», befahl Unteroffizier Salomón Carey. Der Schwan erwachte. Regla fuhr ohne Licht durch die Straßen. Der Fregattvogel erwachte. Die Amsel erwachte. Von Bord des Hubschraubers aus verfolgte Morante die Flüchtenden durch das Zielfernrohr. Er lud das Gewehr, hielt die Luft an und drückte ab. Die Elster erwachte. Camila stellte sich ihre Töchter auf dem Balkon vor. Mildred. Der Ameisenbär erwachte. Marcia. Der Rabe erwachte. Malena. Es waren Schüsse und ferne Detonationen zu hören.
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«Macht keinen Scheiß, verdammt», rief Lorenzo. Der Satz triefte aus seinem zahnlosen Mund. Morante schoss. Der Elefant erwachte. Der Panda erwachte. Lorenzo flehte: «Flieht, Kinder, flieht, kehrt nicht in den Zoo zurück!» Die Taube erwachte. Da entdeckte Lorenzo seine Freunde. Der Elefant erwachte. «José! Camila!», rief er. Der Kaiman erwachte. Lorenzo lief auf sie zu. Der Tukan erwachte. Morante schoss wieder. Der Uhu erwachte. Das Tier, das wir waren, wurde von der rachsüchtigen Bestie, die wir geworden sind, gejagt. Vom Hass verfolgte Zärtlichkeit. Der Löwe erwachte. Da war ein Mann. Ein verfolgter Mann. In Freiheit. José wollte über das Zootor klettern. Er klammerte sich an die Gitterstäbe. Die Eisenstäbe brannten vor Kälte. Der Mond, der alte Mond, zeichnete ihn im Gegenlicht ab: den ganzen Körper, ohne Hemd, Arme und Beine in Form eines menschlichen X gespreizt. Er blickte sich um: die Stadt in seinen Augen. Morante drückte ab. Do … Re … Mi … Fa … Sol … La … Señora Kropotkina unterbrach ihr Klavierspiel und kratzte sich an den Ellbogen, um eine Spur von Schmerz zu fühlen. Sie wollte spüren, dass sie noch auf dieser Welt war. Dann betrachtete sie ihre Handfläche. Die Lebens-, Liebes- und Schicksalslinien waren im Sand der Haut verschwunden. Der Wind geißelte die Gardinen. Die Kerzen erloschen. Na schön, sie würden im sibirischen Sturm weiterflackern! Die Spinne kletterte langsam an ihrem seidenen Faden empor; sie hatte ihr Nest in der Lampe. Die Wanduhren tickten im Gleichklang und multiplizierten in
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sechzig Sekunden die drei Glockenschläge der Nacht mit zwölf, ein schrilles Konzert aus Glocken, Pendeln und Zahnrädern: Ihre Stunde war gekommen. Ein roher Akkord zerriss die Nacht, als wäre eine Birke auf eine Harfe gestürzt – und die Russin schlief wie ein Mädchen über seinem Pult ein. Das letzte Nervenzucken bewegte den Flügel ihres rechten Armes in einer höchst zarten Aufund-ab-Bewegung: Der Zeigefinger schlug eine Taste an: Si! Señora Kropotkina war schon tot und ihre Seele im Begriff aufzusteigen, als sie einen Fingernagel verlor. Der Karneval. Der Karneval war zu Ende. Fünfzehn Meter von José entfernt, auf dem Weg an einen sicheren Ort, stolperte Camila und verstauchte sich den Knöchel. Weh mir, arme Seele, arme Seele, arme Seele, trag mich zum Fluss … Die Hubschrauberscheinwerfer fingen sie mit ihren Lichtkegeln ein. Da bewegte sich ein Schatten in der Dunkelheit. Ein Schatten an der Wand. Ein langer Schatten. Ein Mondschatten. Ein flüchtiger Schatten. Bedecke mich mit deinem Mantel, arme Seele, ich sterbe vor Kälte … Der Schatten eines Menschen. Pariente miaute auf den Dächern. Camila lag auf dem Bürgersteig und schloss die Augen: Marcia, Mildred und Malena. Zwei von Unteroffizier Salomon Careys Polizisten warfen ein Netz aus. Morante drückte ab. Ein Apfel rollte über den Asphalt. So würden sie ihn erwischen. Sie würden ihn durchlöchern, sie würden ihn zerstückeln, damit keine Spur seines Beispiels zurückblieb. Das Echo des Todesschreis wurde über Santa Fe hinweggetragen und gelangte in die Werkstatt, wo Menelao González seine Zedernkiste abschliff und der unglückliche Tischler von der Moncada-Kaserne das vernichtende Gefühl hatte, den Sarg seines Sohnes zu polieren. Der Alte lief, von bösen Vorahnungen geplagt, in den Hof und begann, in den Schlamm zu trampeln: «Tacka-
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tacka-tacka-tacka!», er kaute die Worte. Auch Perucho Carboneil im Altenheim der Freimaurer und die kleine Lulú in der Straßencafeteria, Pater Jordán beim Herabsteigen vom Glockenturm und Max Mogan beim Löschen der Lichter im Haus hörten den Schrei. Und Juscelino Magalhaës, Peggy Olmedo, Ruy der Doktor. Und die Häftlinge im Staatsgefängnis, eingeschlossen in diesem anderen Zoo des Schreckens. Und Regla, als sie die Wagentür auf stieß, um Camila aufzulesen. «Verdammt, was war das? Hast du das gehört? Wo ist mein Bruder, wo ist José?», heulte Regla, eine zerstörte Regla. – «Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht», sagte Camila. – «Steig ein, schnell!», befahl die Kubanerin und zerrte sie an der Bluse. «Du sollst einsteigen, das hier ist zu Ende!» Regla setzte Camila vor Pater Anselmos Pfarrei ab. Sie wechselten kein Wort zum Abschied. Sie würden sich auch nicht wieder sehen. Nicht einmal, als sie vom Ausgang dieses Karnevals erfuhren. Als die Gerichtsmediziner die Reste der erlegten Beute in der Tierarztpraxis aufbahrten, entdeckten Morante und Unteroffizier Carey, dass José am Leben sein musste, denn ein Unschuldiger, ein anderer Mensch, ein Hampelmann, ein Herdentier, eine Null auf der linken Seite, Lorenzo Lara, Larita, hatte sich für den einzigen Menschen, den zu lieben ihm auf dieser Welt erlaubt gewesen war, geopfert. Denn wir sind kein wunderbares Wesen, das lacht oder weint, nein, «das wäre zu einfach», hatte Lorenzo in der Nacht der Geständnisse am Teichufer gesagt: Wir sind, das ja, die einzigen Tiere, die bereit sind, für ihresgleichen zu leiden. Für ihn zu sterben, Genosse. Der Bauch war zerfetzt, arme Seele, und die Beine abgerissen, zehn Bleikugeln in der Brust, arme Seele, zehn leuchtende Sterne … Die Kugel hatte einen anderen Namen, arme Seele, den Namen eines guten Freundes. Der Feind eines Menschen, arme Seele, ist Feind von allen … Ein heftiger Wirbel-
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sturm hob an. Drei Staubsäulen verflochten sich auf einer Parklichtung ineinander und ließen die Pappeln knistern. Sie wirbelten den Wirbelsturm auf. Das war der Zorn. Der Zoologische Garten wurde von Unrat heimgesucht. Zeltplanen. Plakate. Imbissstände. Die Staubtrichter wischten die Fußabdrücke von den Wegen und wirbelten gründlich Schmutz auf. Eine neuerliche Windbö. Der schwächere Trichter löste sich bald auf, die beiden anderen aber fegten über ganz Santa Fe und schräg über die Wolkenkratzer hinweg. Der, der die meisten Fenster zerstörte, verfing sich, schon kraftloser, in den Trauerweiden auf dem Platz, wo die Straßenkehrer später eine Kielspur von Glassplittern vorfanden. Der letzte Wirbelwind zog über den Hafen ab: Er rüttelte an den Molen, peitschte die Segelboote und wälzte das Wasser mit einem kräftigen Schlag um, jetzt von diesem hinterlistigen Meer beatmet, das alles will und nichts verzeiht, Meer des Seetangs, Meer der Vergeltung, Meer der Knochen, Niemandsmeer. Eine halbe Meile von der Küste entfernt entleerte er seine Last über den Wellen und löste sich in einem Regen aus Skorpionen und Sardinen auf. Fischreiher und Ringeltauben, Pirole und Wespen, Fliegen und Adler schlugen mit den Flügeln, um das Heraufziehen der Morgendämmerung zu beschleunigen. Das Rhinozeros trabte, der Büffel brüllte, der Bisamhirsch sprang, das Leben ging weiter. Die Hähne irren sich selten: Über den Jacarandabüschen löste sich der Frühnebel auf.
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Epilog Im meinem Hauszoo verkörpert meine Mutter den dunklen Schwan der Finsternis … Antonio Conte
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an hat nie erfahren – oder wenn man es erfuhr, wurde es nicht bekannt –, was aus José González Alea geworden ist. Einige vermuten, dass es ihm gelang, in der Menschenmasse unterzutauchen, die am nächsten Tag auf die Straße ging, als wäre in jener Nacht nichts Schlimmes geschehen. Eine relativ kurze Zeit wurde über die Hypothese nachgegrübelt, dass er noch unter uns weile, in irgendeinem Winkel des Universums versteckt, aber schon bald fand die Stadt wieder in ihr gewohntes Fahrwasser zurück, und in Santa Fe wurden riesige Werbeplakate aufgehängt, um die Sommerereignisse bekannt zu geben. Der Zoologische Garten Villa Vizcaya öffnete seine Tore unter dem Trommelwirbel einer Musikkapelle: Andere seltsame, sehr seltsame Tiere, einige vom Aussterben bedroht, wurden in den Käfigen ausgestellt. Auch die Gefängnisse füllten sich. Bettler und Obdachlose fanden unter Brückenbögen Unterschlupf und lieferten sich mit den Zombies und Verrückten, die nachts über ihr karges Eigentum herfielen, Schlägereien. Kreuzfahrtschiffe liefen auf der Suche nach neuen Abenteuern aus. Hunderte von Badegästen bräunten sich in der Karibiksonne an den Stranden von Caracol Beach. Und die Fabeln, die Fabeln von einst, werden weitererzählt – aber der Mensch hat einmal mehr den Menschen vergessen. ENDE
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Leitfaden der Personen und Tiere ANSELMO JORDÁN – Andalusier. Pfarrer in Santa Fe. Beichtvater vom Staatsgefängnis. Freund von José González Alea. BERTA SYDENHAM – Zeitungsverkäuferin. Freundin von José und Lorenzo Lara. BOBY CAMAGÜEY – Kubanoamerikaner. Sänger und Trommler. Hat gerade eine Cha-Cha-Cha-Platte aufgenommen, eine Hommage an Maestro Enrique Jorrín. CAMILA NOVAC -Aus Boston. Biologin. Ehefrau von Max Mogan und Mutter von Malena, Marcia und Mildred. Arbeitet an einer Studie über die hermaphroditische Veranlagung der gewöhnlichen Nacktschnecke. Lebt heute in Stuttgart, Süddeutschland. DOROTHY FREI – Aus Miami. Auch die kleine Lulú genannt. Arbeitet als Kellnerin im Biszcocho Coffee Shop. War Wesley Cravans Freundin und für zwölf oder dreizehn Stunden die von José. GALO LAUTIER – Aus Martinique. Auch Galo die Katze genannt. Häftling im Staatsgefängnis. Freund von José. Bei Auseinandersetzungen mit Lee Shelton in der Haft umgekommen. GASTÓN PLACERES – Aus Jovellanos, Kuba. Dekan der Gefängnisinsassen. Yoruba. Aktueller Aufenthaltsort ist unbekannt. GIGI COL – Aus Tijuana. Tänzerin im Luna Club. Freundin von Zenaida. GUIDO GOLGI – Albaner. Gibt sich als Italiener aus. Chefkoch im Zoo. JOSÉ GONZÁLEZ ALEA – Kubaner. Bruder von Regla und Sohn von Menelao und Rita. Tischlerlehrling. Häft-
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ling im Staatsgefängnis wegen Mordes an Wesley Cravan. Pepe Kid genannt. Ausgestellt im Zoo von Santa Fe. Offiziell verschwunden. JUSCELINO MAGALHAËS – Brasilianer. Zoodirektor in Santa Fe. Umweltschützer. IAN HILL – Aus Florida. Gouverneur. LAURENT DIE KUH – Aus New York. Portier in dem Gebäude, in dem Lorenzo wohnt. LEE SHELTON – Aus Kansas City. Gefährlicher Häftling. Rivale von José und Mörder von Galo Lautier. LORENZO LARA – Mexikaner. Geboren in Ciudad del Carmen, Campeche. Sohn von Margarito Lara. Arbeitet im Zoo. Freund von Zenaida, Señora Kropotkina und José. Stirbt in der Karnevalsnacht in Santa Fe. MALENA, MARCIA, MILDRED -Töchter von Camila und Max. Leben in Deutschland. MARGARITO LARA – Geboren in Ciudad del Carmen, Campeche. Streitbarer Gewerkschaftsführer. Vater von Lorenzo. Arbeitete bis zu seinem Tod im Zoo von Santa Fe. MARÍA CORONADO – Aus Matanzas, Kuba. Krankenschwester. Mutter von Zenaida. MAX MOGAN – Aus Kalifornien. Unternehmer und Rechtsanwalt. Ehemann von Camila und Vater von Malena, Marcia und Mildred. Hat ein Büro in Caracol Beach, wo er auch eine Wohnung mietete. Lebt in Deutschland. MENELAO GONZÁLEZ -Aus Santiago de Cuba. Vater von José und Regla. Bester Freund von Perucho Carbonell. War von Mai 1953 bis April 1954 Tischler in der Moncada-Kaserne. Lebt zur Zeit im Altenheim der Freimaurer in Santa Fe.
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MORANTE – Nordamerikaner. Arbeitete eine Zeit im Krematorium des Friedhofs von Santa Fe und war Aufseher im Staatsgefängnis. Wärter im Zoo. Vater von Langston. Begabter Schüler von Unteroffizier Salomon Carey. Ist in Los Angeles gemeldet. OLGA AYALA – Argentinierin. Mutter von Camila. Auch Señora Novac oder Caporella oder Filip genannt. OTTO HIGGIN – Gefängnisdirektor. Beamter ohne viel Witz. Schrieb das Vorwort zum Buch von Ruy dem Doktor. PAVEL SULJA – Skandinavier. Nachbar von Lorenzo und Zenaida. Fan von Peter Landelius. Starb 1999. PEGGY OLMEDO – Venezolanerin. Präsidentin der Stiftung Nueva Viña. Athletische und fleißige Ehefrau von Doktor Juscelino Magalhaës. PERUCHO CARBONELL – Pate von José. Ehemaliger politischer Häftling in Kuba. Bester Freund von Menelao. Begleitete die Familie González auf ihrer Flucht auf einem Floß. Ist blind und lebt im Altenheim der Freimaurer in Santa Fe. Strickt gerne. REGLA GONZÁLEZ ALEA – Kubanerin. Tochter von Menelao und Rita. Schwester von José. Mutter von Isidro und Ivo. Besitzerin des Ladens Pepes Bodeguita. Verlobte von Morante. Lebt in Santa Fe. RITA ALEA – Aus Bayamo, Kuba. Mutter von José und Regla. Maniküre. Taucht 12 Sekunden im Film Der Tod eines Bürokraten von Tomás Gutiérrez Alea auf. Stirbt 1966 bei Josés Geburt. RUY DER DOKTOR – Spanier. Fälscher. Ehemaliger Häftling vom Staatsgefängnis. Autor des bekannten Buches Von Mann zu Mann: José und ich. Ed. Nueva Viña, 397 S., 1999. Ist gerade nach New York gezogen.
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SALOMON CAREY -Aus Santa Fe. Unteroffizier. War Morantes Lehrer in der Spezialausbildung «Suchen und Ergreifen». SANDALIO BAEZA – Katalane. Homöopath. Nachbar von Lorenzo. Einzig möglicher Freund von Pavel Sulja. SEÑORA KROPOTKINA – Achtzigjährige Russin. Witwe. Lernt hingebungsvoll ein Jahr lang Klavier spielen. Verehrerin von Nabokov. Bekannte von Strawinsky. Nachbarin und Freundin von Zenaida und Lorenzo. Stirbt am selben Tag wie der Campechaner an Herzinfarkt. SPENCER LUND – Aus New York. Pflichtverteidiger. Vertrat erfolglos José in dessen Prozess wegen Mordes an Wesley Cravan. Starb Anfang 1999 im Krankenhaus El Sagrado Corazón von Santa Fe. TIGRAN ANDROSIAN – Armenier. Näht Josés Ausstattung. Wird «der Schreckliche» genannt, ein Witz, den er nicht dementieren möchte. WESLEY GRAVAN – Aus Santa Fe. American-FootballSpieler. War Dorothys Freund. Umgebracht von José in der Nacht zum 13. Februar 1983, am Vorabend des Valentinstages. ZENAIDA FAGÉS -Aus Matanzas, Kuba. Tänzerin im Luna Club. Verließ Kuba 1980, nachdem sie in der peruanischen Botschaft in Havanna Zuflucht gefunden hatte. Nachbarin und Freundin von Lorenzo und Señora Kropotkina. Gibt zur Zeit Arithmetik-Unterricht in Santiago de Compostela.
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Andere Persönlichkeiten und Statisten Skinhead. Ausländerfeindlicher Extremist. Stirbt beim Attentatsversuch auf José. – Carmenaza. Hure aus Mérida. Freundin von Margarito Lara. – Esperanza. Mongoloides Mädchen, verirrt sich im Zoo von Santa Fe. – X. Anonymer Beamter aus dem Staatsgefängnis. – Isidro und Ivo. Söhne von Regla González Alea. – Langston. Sohn von Morante und Schüler am Emerson-Institut, gewann 1999 wegen sportlicher Verdienste das Tom-ChávezStipendium. – Lazio Filip. Tscheche. Verlobter von Señora Caporella. – Familie Martínez. Nachbarn von María Coronado in Matanzas, Kuba. – Refugio Cuní. Aus Villa Clara. Sängerin und künstlerische Leiterin von Der süße Bienenkorb, Musikkapelle im Luna Club. – Sam Ramos. Puertoricaner. Freund von Gigi und ehemaliger Polizist in Caracol Beach; übrigens Schwiegervater von Tigran dem Schrecklichen. – Theo Uzcanga. Guatemaltekischer Dichter. Asthmatiker. Bis zum Abitur Freund von Camila Novac in Santa Fe. Autor der Hefte Etwas musste mit dem nicht präsentablen Minosaurier geschehen, Gabino Palma Preis, 1997, und Ein Schiff, das sich entfernt, Lieder aus Vera Cruz 1998.
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Einige Tiere CUCO – Orang-Utan im Zoo, in Gefangenschaft geboren MARIJÓ – Ziege im Zoo PARIENTE – Lorenzo Laras Kater PHEFÉ – Eichhörnchen im Zoo SILVIA – Ziege im Zoo
Andere nicht namentlich im Buch erwähnte Zootiere Adrián der Nimmersatt, Alex der Puma, Alvaro der Leopard, Anabel die Kobra, Aramis der Wolf von San Luis, Bella, die schöne Giraffe, Constante der Elefant, Charin das Lama, Daina die Schlange, Dalton der amerikanische Tamarin, Deborah das weißschwänzige Mantelaffenweibchen, Diego der Löwe, Eliseo das Riesenschildkrötenmännchen von der Insel Borbón, Gerardo der Uhu, Ismael der Delphin, Ivan der Pavian, Jasai der Panther, Jesús das Zebu, Joaquín das Seepferdchen, Jorge der BonvivantWollhaaraffe, José María der Grünfink, Juan der Leguan, Lorena und Lorenza die zwei Gazellen, Llanes das Nabelschwein, María Elena das Luchsweibchen, María Luisa das Kaimanweibchen, Mariluz das Zebra, Marta das Marderweibchen, Mini die Bärin, Orieta die Tigerin, Paty die Störchin, Paula die Wachtel, Rafa das Wildschwein, Rodrigo der Büffel, Rosalba der Fischreiher, Rosalinda die Robbe, Sergio das Pferd, Valeria und Claudio das Pirolpärchen, Wendy das rosa Eichhörnchen, Yani die Taube – und viele andere liebenswerte Kreaturen.
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Bibliographische Anmerkung Eliseo Alberto Lichi (Arroyo Naranjo, Kuba, 1951) träumte immer davon, Pianist zu werden und Schachturniere zu gewinnen. Er studierte Publizistik und war Redaktionschef der Zeitschriften El Caimán Barbudo und Cine Cubano. Bis heute hat er neunzehn Drehbücher fürs Kino geschrieben, unter anderen Guantanamera, El elefante y la bicicleta und Cartas del Parque. Auf der Insel veröffentlichte er einen Roman (La fogata roja, Premio Nacional de la Crítica) und drei Gedichtbände (Importará el trueno, Las cosas que yo amo und Un instante de cada cosa). Im Exil hat er eine polemische Vorab-Biographie, Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba und die Romane La eternidad por fin comienza un lunes und Caracol Beach (Primer Premio Internacional de Novela de Alfaguara, 1998) herausgebracht. Enkel von einem Schriftsteller und Pianisten, Sohn und Neffe von Dichtern, Cousin eines Musikers, Bruder eines Zeichenkünstlers, Zwillingsbruder einer beachtlichen Schriftstellerin, Onkel eines Fotografen und Freund von Rumbatänzerinnen, gehört Alberto Lichi zu einer Gründerfamilie der kubanischen Kultur. Er lebt seit zehn Jahren in Mexiko. Er betrachtet sich als glücklichen Mann. Ich bewahre das unveröffentlichte Manuskript eines seiner Romane auf, Tratado Elemental de Ilusiones, der von Träumen, vom Unmöglichen und vom Schachspiel handelt. Seine Tochter sagt, dass er jeden (oder fast jeden) Abend alte Melodien von Lecuona auf dem Klavier spielt. Anselmo Jordán, Pfarrer in Santa Fe
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«Gott will, dass es Gott gibt.» Mit diesem Satz beginnt – ich weiß nicht, ob viel versprechend – die Geschichte des kubanischen Emigranten José González Alea. «In Verteidigung der Liebe zu töten ist eine legitime Art, in Selbstverteidigung zu töten», schreibt der Autor, aber es wird genug geben, die diese These in Frage stellen, den Anfang macht bereits eine Figur dieses Schwindel erregenden Romans. Wir, die in Caracol Beach leben, erinnern uns gut an Josés Leidensweg, weil bei so viel Unglück in uns drin ein seltsames Gefühl des Verlassenseins zurückblieb. Zu Beginn eines neuen Jahrtausends lehrt uns diese Fabel ohne Moralinsäure, dass der Tod nichts anderes ist als eine andere Art des Lebendigseins. Das Verzeihen, die unermesslichen moralischen Reserven des menschlichen Wesens und die Möglichkeit einer «Nation ohne Nationalismen» sind immer wiederkehrende Themen in den Büchern meines Freundes Eliseo Alberto. Wir lernten uns unter schwierigen Umständen kennen, an jenem unerträglich langen Samstag, den er in seinem Roman Caracol Beach beschreibt. Ich betrachte mich deshalb als Protagonist und als Zeugen. Welches Tier ist bereit, für seinesgleichen zu leiden? Hat Oscar Wilde Recht, wenn er behauptet, dass der Mensch tötet, was er liebt? Der Mensch will, dass es den Menschen gibt, antworte ich. Theo Uzcanga, Dichter
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Glossar Aché – dynamische Kraft der Götter A la urrarrá, a la urrarrá, bombochie, chie, chie, bombochie, chie, cha – Studentenlied, wird von den Tribünen aus gesungen Babalú Ayé – «Herr der Welt»; kubanischer Name für den nigerianischen Erdgott Schakpana Batuca – brasilianische Trommel Bembé – afrikanischer, zeremonieller Tanz Broncocedin – kubanisches Heilmittel gegen Bronchitis und Grippe Churrasco – Arg./Urug.: auf Holzkohle gegrilltes Rindfleisch CDR – Comité de Defensa de la Revolución; Revolutionskomitee, in jedem Wohnviertel eingerichtet, um das Verhalten der Bewohner zu kontrollieren, eine Art Blockwarte Conga – afrokubanischer Tanz; einer der vielen musikalischen Ausdrucksformen der Rumba Cumbia – kolumbianischer Volkstanz Guaguancó – afrokubanischer Tanz; ähnlich der Rumba Guarachas – kubanischer Volkstanz und Volkslied Ifà – Orakelsystem der Yoruba Machuquillo de plátano – traditionelles kubanisches Gericht aus zerstampften Kochbananen Malanga – Knollengewächs aus der Familie der Süßkartoffel; wird frittiert oder zu Kinderbrei püriert Mandinga – schwarzafrikanisches Volk in Nordguinea; den Mandinga werden auch magische Kräfte zugeschrieben
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Mariachi – mexikanische Musikkapelle, bestehend aus fünf Trompeten, fünf Geigen, fünf Gitarren und einer Bassgitarre Marimba – afrikanische Trommel (eine Art Xylophon) Mas si osare un extraño enemigo, al combate corred, bayameses … – Textzeile der kubanischen Nationalhymne Merengue – karibischer Tanz Orula – Schutzgott der babalawos, männl. Orakelpriester der Yorubareligion Pico Turquino – höchster Berg in der Sierra Maestra auf Kuba; Symbol der Rebellion; Fidel Castros Kommandantur während der Batista-Diktatur 1956-58 Quimbombó – traditioneller kubanischer Fleischeintopf aus der Okrapflanze (Hibiskus esculentus); afrikanisches Erbe aus der Sklavenzeit, hat auch zeremoniellen Charakter Ropa vieja – traditionelles kubanisches Gericht, eine Art Fleischeintopf Santería – afrokubanische Religion, Synkretismus aus alten Yoruba-Riten und katholischen Glaubenselementen Seviche – populärer peruanischer Eintopf aus Adlerfischstücken in Orangensoße Son – populärer kubanischer Tanz afrikanischen Ursprungs Vallenatos – populärer kolumbianischer Tanz oder Lied zu Akkordeonmusik Yemayá – Meeresgöttin; Herrin des Salzwassers, auf Kuba Jungfrau des Dorfes Regla Yoruba – nigerianisches Volk, als Sklaven in der Kolonialzeit nach Kuba verschleppt Yorubareligion – auf Kuba Lucumireligion (s. Santería)