Catherine Jinks
Die Geisterschrift Aus dem Englischen von Renate Weitbrecht
Nagel & Kimche
Die Schreibweise entspri...
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Catherine Jinks
Die Geisterschrift Aus dem Englischen von Renate Weitbrecht
Nagel & Kimche
Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
© 2002 Catherine Jinks Crows Nest, Australia, Allen & Unwin Titel der Originalausgabe: Eglantine 1 2 3 4 5 09 08 07 06 05 © 2005 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München Wien Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Umschlagfoto: © Getty Images, Charles Settrington Herstellung: Meike Harms und Hanne Koblischka Satz: Filmsatz Schröter GmbH Druck und Bindung: Friedrich Pustet Printed in Germany E-Book by Brrazo 10/2008 ISBN 3-312-00961-8 www.nagel-kimche.ch
Für Ursula Dubosarsky, die mir die Idee eingab Mit herzlichem Dank an Janine Bellamy und PRISM International
Kapitel eins
Es geschah nach dem Kauf dieses Hauses. Erst konnte ich gar nicht glauben, dass es Mum damit ernst war. Da hatte sie endlos davon geschwärmt, wie phantastisch das Haus sei, dass es aus dem Jahr 1886 stamme und noch sein altes Schieferdach habe und zwei Originalkamine aus Marmor und so weiter und so fort. Und dann kletterten wir aus dem Auto und standen vor einer Bruchbude. (Die Hälfte der Fenster war mit Brettern zugenagelt!) Es war ein Reihenhaus, eingeklemmt zwischen zwei andere Reihenhäuser, mit einem winzigen Vorgarten und einem Schild davor, auf dem »Zu verkaufen« stand. Bloß war es nicht mehr zu verkaufen. Mum und Ray hatten es gekauft. »Man muss noch ein bisschen Arbeit reinstecken«, sagte Mum, als sie die Haustür aufschloss. »Seht mal, Kinder! Schaut euch die hübschen Deckenverzierungen an! Ich lasse das Linoleum herausnehmen und die Dielenbretter abschleifen und wachsen. Und natürlich muss alles frisch gestrichen werden.« Bethan schnüffelte. »Es stinkt«, sagte er. »Na ja, das liegt daran, dass hier eine Zeit lang Hausbesetzer gewohnt haben. Aber der Geruch wird bald weggehen.« Mum wandte sich Ray zu. »Ich habe das Bagua auf den Grundriss gelegt – das Tor des Chi liegt im Bereich sechs, das ist okay. Überhaupt ist die ganze Ausrichtung ziemlich gut.« 7
Ray nickte. Ich sollte wohl besser erklären, dass Mum zwar eine Teilzeitstelle in einer Bank hat, aber auch Künstlern Modell steht und ab und zu Tarotkarten legt. Mit anderen Worten hat sie ein bisschen was von einem Hippie an sich. Und sie glaubt fest an Feng Shui, diese Lehre, nach der an und in einem Haus alles richtig angeordnet sein muss, damit es das Glück anzieht. Ich weiß nicht genau, ob ich auch daran glaube oder nicht. »Die Küche ist eine Katastrophe«, sagte sie und ging vor uns her durch den Flur. »Mit dem Bad können wir leben, aber nicht mit der Küche. Ich glaube, ich lasse alles herausreißen und neu einrichten.« Sie sagte, der Herd gehöre an eine andere Stelle, weil er direkt neben dem Kühlschrank stehe – diese Anordnung beschwöre »Gefahr und Konflikt« herauf. Eventuell könne man eine Pflanze zwischen den Herd und den Kühlschrank stellen, um den Energiefluss vom Wasser zum Holz zum Feuer zu erleichtern. Aber das sei noch immer kein Ausgleich für die schlechte Anordnung, weil der Herd unter dem Fenster stehe. »Nein«, sagte sie. »Ich glaube, wir fangen besser ganz von vorne an. Schließlich ist die Küche die symbolische Quelle von Reichtum und Wohlbefinden im Haus. Wir können uns nicht leisten, hier etwas falsch zu machen.« Kein Kommentar von mir. Bethan erklärte, die Küche rieche wie der alte Mann am Bahnhof, und überlegte laut, ob er vielleicht hier gewohnt haben 8
könnte. Ray erkundigte sich, wo sein Atelier hinkomme. Ray ist Künstler, deshalb braucht er einen Platz zum Malen. Mum hat ihn kennen gelernt, als sie für einen Kurs in Aktzeichnen Modell stand, vor ungefähr fünf Jahren. Sie mag seine Arbeiten, weil sie nicht einfach eine Ansammlung von Schnörkeln und Klecksen und abstrakten Formen sind. Sie sagt, dass abstrakte Bilder eine Umgebung schaffen, in der es den Menschen schwer fällt, etwas zu Ende zu bringen. Ray malt Menschen und Häuser und Früchte und Stühle, aber keine Bäume. Er bringt vierzig Stunden in der Woche damit zu, Bäume für die Forstverwaltung zu zeichnen, deshalb malt er in seiner Freizeit nicht auch noch welche. Vor Ray war Simon da und vor Simon mein Dad. Aber Dad lebt jetzt in Thailand. Etwa einmal im Monat ruft er uns an. »Sind die Schlafzimmer oben?«, fragte ich, denn die Schlafzimmer interessierten mich am meisten. Der Hauptgrund dafür, dass wir uns überhaupt zum Umziehen entschlossen hatten, war nämlich der, dass Bethan und ich eigene Zimmer bekommen sollten. Kein elfjähriges Mädchen sollte gezwungen sein, ein Zimmer mit seinem achtjährigen Bruder zu teilen. »Ja, die Schlafzimmer sind oben«, erwiderte Mum. »Deines ist das auf der Rückseite, Bethan bekommt das kleine neben dem Bad. Geht schon mal rauf, wenn ihr wollt – ich zeige nur Ray noch eben sein Atelier.« 9
Rays Atelier war eine Art Schuppen im Garten hinter dem Haus. Mum sagte, man könne »eine Menge daraus machen«. Oben waren drei Schlafzimmer und ein Bad, alle hintereinander gelegen. Das große Schlafzimmer nach vorn hinaus war für Mum und Ray, denn es war das schönste. Es hatte Glastüren, die auf einen Balkon führten. Das Schlafzimmer nach hinten hinaus war nicht so schön und auch nicht so groß, aber dafür sah man vom Fenster aus ein paar Bäume. Ich stand noch da und fragte mich, wer bloß das ganze Zimmer rot angestrichen hatte (igitt!) und wer diesen verdächtig aussehenden Haufen Lumpen in einer Ecke hinterlassen hatte, da rief mich Bethan. »Allie! Komm mal und schau dir das an!« Ich gestehe am besten gleich hier und jetzt, dass Allie die Kurzform von Alethea ist. Alethea Gebhardt – das ist mein voller Name. Alethea ist Griechisch und heißt »Wahrheit«, Bethan ist Walisisch und bedeutet »Leben«. Wie ich schon sagte: Mum hat was von einem Hippie an sich. »Wow«, sagte ich, als ich in Bethans Zimmer kam. Es war klein und düster und über und über mit Schrift bedeckt. Alle Wände, die Decke und die Fenstersimse waren voll gekritzelt, nur der schmutzige, fadenscheinige alte Teppich war ausgespart. Und es war nicht die übliche Art von Graffito, die man sonst immer sieht. Die Schrift sah aus wie mit 10
einem Stift geschrieben – nicht mit einer Sprühflasche – und sie war sauber und klein und dicht. Genau besehen war sie so dicht, dass man das meiste gar nicht lesen konnte. Neue Zeilen waren über schon vorhandene Zeilen geschrieben worden, eine Schicht Buchstaben über die nächste. Man konnte nur mit Mühe erkennen, dass es überhaupt Schrift war. Aus der Ferne sahen die Wände beinahe schwarz aus. »Donnerwetter«, sagte ich. »Sieht deins auch so aus?«, fragte Bethan. »Nee. Meins ist rot.« »Rote Schrift?« »Rote Farbe.« »Warum muss gerade ich das komische kriegen?«, fragte Bethan vorwurfsvoll. »Das ist doch nicht schlimm, Bethan. Wir werden die Schrift einfach überstreichen.« »Aber ich finde es trotzdem nicht fair.« Als Mum das Zimmer sah, meinte sie, die Hausbesetzer, die hier gewohnt hatten, hätten bestimmt Drogen genommen. Dann sagte sie zu Bethan, er solle sich keine Sorgen machen, denn wenn er das nächste Mal in sein Zimmer komme, würde er weiße Wände, einen spiegelblanken Boden und eine sehr positive Energie vorfinden. Wir sollten ihr einen Monat Zeit geben, dann würden wir das Haus nicht mehr wiedererkennen. Aber sie irrte sich. Sechs Wochen vergingen und 11
sie schlug sich noch immer mit Handwerkern herum und brütete über Prospekten für Laminatböden. Sie ging fortwährend in das neue Haus und brachte Sachen mit, die sie dort fand. Einmal waren es Teile uralter Zeitungen, die unter dem Linoleum zum Vorschein gekommen waren. Einmal war es eine schmutzige blaue Flasche. (Sie bezeichnete sie als Antiquität.) Das beste Stück, das sie mitbrachte, war ein altes Buch, das zur Stabilisierung unter eine Treppenstufe geschoben worden war. (Auch die Treppe war reparaturbedürftig). Es war ein Exemplar der Königsidyllen von Alfred, Lord Tennyson – ein Band mit Versen – und es war modrig und fleckig und von Ratten angenagt (oder vielleicht von Küchenschaben). Aber manche Stellen waren immer noch lesbar, so auch das, was auf dem Vorsatzblatt stand. Jemand hatte Eglantine Higgins, 1906 darauf geschrieben und darunter gekritzelt: Ein gutes Buch ist das Herzblut eines Meistergeistes, balsamiert und für ein Leben über das Leben hinaus als Schatz gesammelt. – Milton. Wir behielten es eine Zeit lang, dieses Buch, aber jetzt haben wir es nicht mehr. Wir haben uns davon getrennt, weil … Na, ihr werdet noch sehen, warum. Ihr werdet es sehen, wenn ich euch erzähle, was geschah, nachdem wir endlich eingezogen waren. Der Möbelwagen für unsere Sachen kam an einem Dienstag. Als Mum uns nach der Schule abholte und in das neue Haus brachte, standen die Möbel alle 12
schon ordentlich an ihrem Platz, nur die meisten Umzugskartons mussten noch ausgepackt werden. Die Wände im Erdgeschoss waren weiß und gelb, die im oberen Stockwerk alle weiß. Die Böden glänzten. In sämtlichen Fenstern waren Glasscheiben. Die Küche sah super aus mit ihren schimmernden Holzschränken und den lehmfarbenen Fliesen auf dem Boden. Mum hatte neue Vorhänge genäht und sie in den Schlafzimmern aufgehängt. Sogar unsere Katze, Salema, war sichtlich mit der Veränderung zufrieden. Ich ging schnurstracks in mein Zimmer, legte mich eine Weile hin und genoss glückselig meine Ungestörtheit. Das war mein Zimmer. Meins. Jetzt brauchte ich nicht mehr Bethans Autorennbahn und seine Fußballplakate zu ertragen. Jetzt brauchte ich nicht mehr meine Derwent-Malstifte und meine Tierschädel vor Bethans naseweisen Freunden in Sicherheit zu bringen. Dann hörte ich ihn vor sich hin maulen und ging nachsehen, was los war. »Schau mal«, sagte er. Sein Zimmer war völlig verwandelt. Es war ganz weiß und wirkte viel größer, trotz der Kartons, die überall aufgetürmt waren. Natürlich hatte Bethan schon begonnen, seine Legosteine und seine Dinosaurier auf dem Fußboden zu verstreuen. Bald würde man hier keinen Schritt mehr tun können. Er war und blieb einfach unordentlich. »Schau mal«, sagte er noch einmal und zeigte auf eine Stelle an der Wand. 13
Unten, nahe beim Fußende seines Bettes, stand dicht über der Fußleiste etwas geschrieben. Einst lebte in einem rauen Land ein König, der hatte einen weisen Bart stand da. Es war kaum zu sehen, aber Bethan war tief gekränkt. »Die Maler haben ein Fleckchen zu streichen vergessen«, erklärte ich geduldig. »Was ist das Problem?« »Das Problem ist, dass ich das nicht dort haben will!« »Sag es Mum. Sie wird es überstreichen. Sie hat noch übrig gebliebene Farbe, erinnerst du dich?« Er stapfte davon, um Hilfe zu holen, und Ray kam herauf und tupfte ein bisschen weiße Farbe auf das störende Graffito. Wir dachten alle, damit sei der Fall erledigt. Aber am nächsten Morgen kam Bethan zum Frühstück herunter und beschwerte sich, es sei noch ein Fleck vergessen worden, über dem Fenster, dicht unter der Decke. Er war richtig aufgebracht darüber. Aber als ich den Kopf in sein Zimmer steckte, konnte ich die Schrift von der Tür aus fast nicht sehen, sie war nur ganz schwach grau und unmöglich zu entziffern. Ich fragte ihn, warum ihn die Schrift so störe. »Darum«, sagte er. »Man kann sie nicht mal lesen.« »Ich will sie aber trotzdem nicht da haben.« »Warum nicht?« »Weil das mein Zimmer ist.« Mein Bruder ist sehr dickköpfig. Er hat rote Haare und Sommersprossen wie meine Mutter, aber er ist 14
so dickköpfig wie meine Großmutter. Wenn er zu dem Schluss gekommen ist, dass er etwas nicht mag, kann ihn nichts auf der Welt umstimmen – nie und nimmer. Deshalb hat es keinen Zweck, ihm klar machen zu wollen, dass Bücher mehr Spaß machen können als Fußballzeitschriften oder dass ein bisschen Schrift nicht gleich ein ganzes Zimmer verdirbt. Jetzt hatte er sich in den Kopf gesetzt, dass er seine schönen weißen Wände nicht mit dem Gekritzel eines verrückten Hausbesetzers befleckt haben wollte. (Und ich schätze, ihr könnt seinen Standpunkt verstehen.) Also musste der arme Ray am Abend auf eine Leiter klettern und die Worte Sein Reich war sehr groß – das stand da nämlich, wie Ray aus der Nähe sah – überpinseln. Dafür ging Bethan viel glücklicher ins Bett. Aber am nächsten Morgen entdeckte er nicht nur eine, sondern gleich zwei vergessene Stellen. Viele zerklüftete Berge zogen sich durch das ganze Königreich stand unter dem Fenstersims geschrieben. Sein Boden war karg und es bliesen kalte Winde, so dass es armselig wirkte stand hinter dem Kleiderschrank versteckt. Seufzend musste Ray schon wieder den Eimer mit der weißen Farbe hervorholen. Am Donnerstag wurde Mum schließlich misstrauisch. »Moment mal«, sagte sie und beäugte die Zeile, die direkt über Bethans Bett stand. (Zwischen ihnen lagen große Salz- und Eisenerzminen.) »Warte mal einen Moment. Willst du mir wirklich weismachen, 15
dass die Maler diese Stelle ausgelassen haben? Das glaube ich nicht, Bethan.« Bethans Sommersprossen stachen scharf von seinem blassen Gesicht ab, wie immer, wenn er Angst hat oder wütend ist. »Also, ich war es nicht«, brummte er. »Schau mich an, Bethan.« »Ich war es nicht!« »Und ich auch nicht«, warf ich ein, worauf Ray sich verzog. Er verabscheut Familienstreit. »Ich hol schon mal die Farbe«, rief er und polterte die Treppe hinunter. »Das ist ein sehr dummes und kindisches Verhalten«, erklärte Mum Bethan. »Und wenn du es noch mal machst, darfst du einen Monat lang nicht mehr fernsehen.« »Aber ich war es nicht!« »Sprich nicht so mit mir, das verbitte ich mir!« »Nie glaubst du mir! Ich war es nicht! Warum sollte ich das denn machen?« »Das darfst du mich nicht fragen, Bethan. Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem du die Katze mit Klopapier umwickelst und alles Mögliche und Unmögliche in die Mikrowelle steckst.« »Das ist unfair!« »Bethan«, sagte Mum, »ich werde mich nicht mit dir streiten. Noch ein einziges Mal, und du siehst einen Monat lang nicht mehr fern.« Na, dachte ich – das hilft bestimmt. Bethan ist nämlich fernsehsüchtig. Und Mum hasst das Fernse16
hen, deshalb freut sie sich immer, wenn sie einen Grund findet, es uns zu verbieten. Ich glaube, sie hätte gar keinen Fernseher im Haus, wenn es nicht wegen Ray wäre. Ray schaut sich jeden Abend andächtig die Nachrichten an – ohne seine Nachrichten und Kommentare zu aktuellen Ereignissen kann er nicht leben. Es wunderte mich also nicht, dass Bethan aufhörte, sich über nicht gemalerte Stellen zu beklagen. Zwei Tage vergingen und er sagte kein Wort mehr über das Thema. Mir fiel auf, dass er bedrückt und sorgenvoll aussah und weder seine üblichen frechen Bemerkungen noch seine dummen Witze machte. (Vielleicht wäre es Mum auch aufgefallen, wenn sie nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, Kartons auszupacken.) Irgendwann sagte ich mir, dass wahrscheinlich irgendeiner seiner Lieblingsfußballer vom Platz geflogen war. Oder er hatte in der Schule eine Dummheit gemacht. Schließlich aß er noch immer wie ein Scheunendrescher und kickte seinen Ball im Garten herum. Ich dachte nicht, es könnte etwas Ernstes sein. Bis er eines Morgens mit Tränen in den Augen zu mir kam und bat, ich solle mir sein Zimmer anschauen.
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Kapitel zwei
»Warum? Was ist los?«, fragte ich. »Ich muss es dir zeigen«, antwortete er. »Was musst du mir zeigen?« »Bitte«, sagte er. Also, »bitte« ist kein Wort, das mein Bruder besonders häufig benutzt, deshalb wurde ich schon ein bisschen unruhig. Ich sah ihn scharf an, merkte, dass er ganz aufgeregt war, und stand auf. Ich hatte gerade Hausaufgaben gemacht, die ich am Montag abgeben musste, aber es gibt Dinge, die wichtiger sind als Hausaufgaben. Ich folgte ihm in sein Zimmer. »Da«, sagte er und streckte den Zeigefinger aus. »Und da und da. Siehst du es?« Ich sah es. Neue dunkle Zeilen waren auf seinen weißen Wänden verstreut – insgesamt etwa sechs. Manche standen so weit oben, dass man sie nicht lesen konnte. Eine war auf die Innenseite der Tür gekritzelt und lautete und an seinen Küsten lebten zahlreiche Fischer. Eine weitere war dicht neben der Nachttischlampe zu sehen. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Mum wird dich umbringen«, sagte ich. »Aber ich war es nicht!«, jammerte Bethan. Seine Stimme brach und wurde ganz zittrig und weinerlich. »Ich war es wirklich nicht, warum glaubt mir bloß niemand? Al, ich weiß nicht, wie die Schrift dorthin gekommen ist!« 18
Ich runzelte die Stirn und betrachtete ihn. Er klang ganz und gar nicht wie sonst. Wenn er sonst gegen etwas zu protestieren anfängt, ist sein Ton immer ganz vorwurfsvoll. Diesmal klang er einfach aufgeregt. Aufgeregt und ängstlich. »Bist du sicher?«, bohrte ich nach. »Ja, ich war’s nicht! Es war jemand anders!« »Wer?« »Ich weiß es nicht.« Das klang wenig wahrscheinlich. Aber als ich wieder auf die Schrift blickte, wurde mir klar, dass Bethan gar nicht die Fähigkeit besessen hätte – geschweige denn die Geduld –, so säuberlich und elegant zu schreiben. Bethans Schrift ist groß und rund, manche Buchstaben sind zusammengequetscht und andere dafür auseinander gezogen. Und nicht nur das – er braucht Linien, auf denen er schreiben kann, wenn die Schrift gerade und gleichmäßig werden soll. Die Schrift an der Wand war gerade und gleichmäßig ohne die Hilfe von Linien. »Glaubst du … ich meine … es kann doch wohl unmöglich Ray gewesen sein, oder?«, murmelte ich und wir schauten uns an. »Ray?«, sagte Bethan verblüfft. »Mum kann es nicht gewesen sein. Du hast gesehen, wie wütend sie war.« »Ray auch nicht. Warum sollte er so was machen?« »Keine Ahnung.« Plötzlich lief Bethans Gesicht rot an. 19
»Und du warst es hoffentlich auch nicht!«, schrie er. »Wenn du es warst, bring ich dich um!« »Ich war’s nicht.« »Aber wer dann?« Ich trat einen Schritt zurück und blickte mich im Zimmer um. »Komm, wir fragen Mum«, sagte ich. Also gingen wir nach unten. Mum war mit dem Essenkochen an der Reihe und machte Risotto (was nicht zu meinen Leibspeisen gehört). Summend werkelte sie in ihrer glänzenden, brandneuen Küche vor sich hin. Es war richtig schade, ihr die Laune zu verderben, aber es blieb uns nichts anderes übrig. »Mum«, sagte ich. Sie blickte von ihrer Arbeitsplatte auf und lächelte: »Ja, mein Schatz?« »Mum, ich muss dir was sagen. Und du darfst Bethan keine Vorwürfe machen, denn er war’s nicht. Ehrlich. Er hat es nicht getan.« Mums Lächeln erlosch. »Was hat er nicht getan?«, fragte sie. Ich holte tief Luft. Bethan und ich tauschten rasch einen Blick. »Es ist noch mehr Schrift an seiner Wand aufgetaucht«, erklärte ich widerstrebend, »aber es ist nicht seine Handschrift.« »Ich wollte es dir nicht sagen, wegen dem Fernsehen!«, platzte Bethan heraus. »Ich mag es nicht, Mum, ich mag es überhaupt nicht. Jemand kommt in 20
mein Zimmer!« Wieder brach seine Stimme. »Es ist mein Zimmer! Niemand außer mir darf da reingehen.« Mum legte ihr Messer aus der Hand. Sie blickte mich ernst und eindringlich an. »Alethea«, sagte sie. »Ich möchte bitte die Wahrheit wissen. Weißt du irgendetwas darüber?« »Nein«, sagte ich. »Ehrenwort.« »Bethan? Wenn du lügst, Bethan, dann verzeihe ich dir sehr lange nicht. Hast du mich verstanden?« »Ich war’s nicht!«, quiekte er. »Er kann es nicht gewesen sein, Mum«, sagte ich, als mir noch etwas Neues einfiel. »Einige Zeilen sind an die Decke geschrieben. Wie hätte er das machen sollen? Die Decken in diesem Haus sind viel zu hoch.« »Na ja …« Jetzt klang sie ein bisschen unsicher. »Immerhin haben wir eine Leiter …« »Aber wie sollte Bethan die Leiter die Treppe hochkriegen? Ganz allein?« Wir starrten ihn an, Mum und ich. Er knurrte: »Mich dürft ihr das nicht fragen.« »Vielleicht sollte ich mal einen Blick darauf werfen«, sagte Mum. »Bethan, holst du bitte Ray? Er ist draußen im Garten.« Sie trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab, folgte mir den Flur entlang und ging die Treppe hinauf. »Meinst du nicht, es könnte die alte Schrift sein, die schon da war?«, fragte sie. »Und die jetzt aus irgendeinem Grund durch die Farbe dringt? Vielleicht wurde sie mit 21
etwas geschrieben, das mit der Farbe reagiert, wenn sie trocken wird.« »Ich weiß nicht«, sagte ich. Diese Erklärung klang vernünftig. Aber als wir Bethans Zimmer erreichten und uns die Schrift näher ansahen, kamen uns Zweifel. Wären die Worte durch die Farbe gedrungen, wären sie wohl kaum so deutlich und so dunkel gewesen. Sie hätten bestimmt verschwommen ausgesehen. »Du glaubst nicht, dass Bethan lügt, oder?«, fragte mich Mum mit leiser, besorgter Stimme. »Du glaubst nicht, dass er das selbst macht?« »Nein. Glaube ich nicht.« »Auch nicht, damit er mehr Aufmerksamkeit bekommt? Ich … oje, ich hoffe nur, es ist kein Anzeichen für irgendein – was weiß ich – seelisches Problem.« Dann murmelte sie etwas von Therapie, und ich fürchtete schon, sie würde wieder von alternativen medizinischen Methoden wie Akupunktur anfangen. (Sie schlägt ständig vor, wir sollten uns akupunktieren lassen, worauf ich überhaupt keine Lust habe. Spritzen sind schon schlimm genug.) »Nein, Mum«, sagte ich entschieden. »Das ist nicht Bethans Schrift. Wenn Bethan nur so schreiben könnte! Das ist die Schrift eines Erwachsenen.« »Stimmt«, gab sie zu. »Und nicht nur das – sie ist obendrein auch noch altmodisch. So ähnlich, wie Granny früher geschrieben hat. Oh!« In diesem Augenblick fiel mir etwas auf. »Weißt du, wie sie aussieht?«, stieß ich hervor. 22
»Sie sieht aus wie die Schrift in dem Buch, das unter der Treppe war!« Mum warf mir einen raschen, verblüfften Blick zu. In ihrem Gesicht sah ich einen Anflug von Besorgnis. »Aber das ist wahrscheinlich reiner Zufall«, fügte ich schnell hinzu. Was ich da eben gesagt hatte, gefiel mir kein bisschen besser als Mum. Dann erschien Ray mit Bethan. Sie waren ein wenig außer Atem. »Ray, wo habe ich dieses Buch hingetan?«, fragte Mum. »Erinnerst du dich noch? Das alte, das unter der Treppe war.« Ray blinzelte und überlegte einen Moment. Ohne Ray würde Mum ständig etwas verlieren. Für einen Künstler ist er sehr ordentlich und logisch. Er sieht auch gar nicht wie ein Künstler aus. Er hat kurze Haare, eine Brille, bügelt seine Hemden (und sogar seine T-Shirts) und reinigt seine Fingernägel immer von Farbresten. »Ich weiß, dass ich es eingepackt habe«, fuhr Mum fort, »aber ich weiß nicht mehr – habe ich es in die Schlafzimmerbücherkiste getan oder in die Kiste für das Wohnzimmer?« »Weder noch«, antwortete Ray ohne Zögern. »Es liegt in dem Schrank im Atelier bei den alten Zeitschriften.« Also wurde ich losgeschickt, um es zu holen. Natürlich sah ich mir die Schrift auf dem Vorsatzblatt auf dem ganzen Rückweg zu Bethans Zimmer genau 23
an und dabei wurde mir immer unbehaglicher. Als ich endlich bei Mum ankam, konnte ich das Buch gar nicht schnell genug loswerden. Plötzlich wollte ich das modrige alte Ding nicht einmal mehr berühren. »Mein Gott«, sagte Mum und starrte es an. »Ray, kannst du dir das bitte mal ansehen?« »Himmel«, sagte Ray und rückte seine Brille zurecht. Bethan drängte sich zwischen sie und alle drei starrten auf die Schrift auf dem Vorsatzblatt. Dann blickten sie an die Wand. Dann wieder auf das Buch. »Mensch«, sagte Bethan. Er klang ängstlich und beeindruckt zugleich. »Es kann nicht dieselbe sein«; jammerte Mum. »Nicht genau dieselbe.« »Ich sehe nicht viel Unterschied«, antwortete Ray. »Vergleiche mal das große E in Eglantine mit dem an der Wand. Es gibt viele Möglichkeiten, ein großes E zu schreiben. Diese beiden haben dieselben Schnörkel. Auch der Strich ist gleich stark.« Eine lange, lange Stille trat ein. Niemand wollte den Mund aufmachen und etwas Dummes sagen. Jedenfalls zuerst nicht. Natürlich war es Bethan, der es schließlich nicht mehr aushielt. »Meint ihr, es ist ein Geist?«, quiekte er. »Ach, Bethan«, sagte Ray, und Mum erklärte mit hohler Stimme, so etwas wie Geister gebe es nicht – höchstens Verdichtungen von negativem Chi, die 24
manchmal mit vergangenem Unglück zusammenhingen. »Wenn in diesem Zimmer ein Geist ist«, fuhr Bethan verdrossen fort und überhörte ihre Worte, »dann will ich nicht mehr hier schlafen.« »Das ist höchst unwahrscheinlich, Bethan«, sagte Ray mit seiner sanftesten Stimme. »Ich bin sicher, es gibt eine andere Erklärung.« »Zum Beispiel?«, fragte mein Bruder scharf. Er war wirklich nervös, sonst hätte er nicht so geredet. Nicht mit Ray. Ray gegenüber murmelt er meistens bloß. Aber Ray nahm es ihm nicht übel. Er wird selten böse. »Zum Beispiel könnten die Hausbesetzer das Buch gefunden haben«, meinte er. »Und vielleicht war einer von ihnen ein bisschen – wie soll ich sagen – komisch und hat die Handschrift nachgemacht und jetzt dringt sie aus irgendeinem Grund durch die Farbe …« »Ich schlafe trotzdem nicht mehr hier«, sagte Bethan und in diesem Moment schrillte bei mir die Alarmglocke. »Aber in meinem Zimmer schläft er auch nicht!«, protestierte ich. »Das bisschen Schrift tut dir doch nicht weh«, sagte Ray besonnen und legte Bethan die Hand auf die Schulter. Aber Mum verlor langsam die Nerven. »Negative Energie, Ray«, sagte sie. »Hier drinnen herrscht sicher kein gutes Gleichgewicht.« 25
»Warum nicht?« »Na ja … ich weiß nicht, aber …« »Ich schlaf hier nicht mehr«, erklärte Bethan und sah dabei ganz krank aus. »Ich hab Albträume.« Jetzt wandten sich ihm alle schlagartig zu. Mum zischte durch die Zähne und Ray fragte: »Was für Albträume?« Ich warf schnell ein, dass jeder Albträume habe, ich auch, und dass ich deshalb noch lange nicht aus meinem Zimmer ausziehen wolle – aber Mum brachte mich zum Schweigen. Ray wiederholte seine Frage. »Ich träume, dass ich ersticke«, murmelte Bethan. »Und dann wache ich auf.« »Nur das?«, fragte Ray. »Sonst nichts?« »Ich glaube nicht«, antwortete mein Bruder unsicher. »Und das ist der einzige Traum?« »Ja«, gab Bethan zu. »Aber ich hatte ihn jede Nacht, seit wir hier sind. Und vorher«, fügte er hinzu, »hatte ich ihn noch nie.« Ersticken, dachte ich. Wie gruselig. Aber ich ließ mich nicht von meinem Mitgefühl hinreißen. »Wir sollten endlich eigene Zimmer bekommen«, sagte ich. »Deswegen sind wir umgezogen …« »Ach, hör auf, Alethea!«, fauchte Mum, wahrscheinlich aus lauter Sorge, aber sie jagte mir trotzdem einen Schrecken ein. »Sei nicht so selbstsüchtig!« »Du kannst in dem Zimmer schlafen, wenn du 26
willst«, sagte Bethan zu mir, aber Mum erklärte, in der kommenden Nacht werde niemand in seinem Zimmer schlafen. Er werde in meinem Zimmer schlafen, bis das Rätsel gelöst sei – oder bis keine Schrift mehr auftauche. »Und von dir will ich kein Wort mehr hören«, sagte sie, »oder du schläfst auf dem Sofa.« Und so war ich mein eigenes Zimmer wieder los. Ich hatte kaum Zeit gehabt, es richtig zu genießen. Mann, war ich sauer. Es war so unfair. Aber ich muss zugeben, wenn ich nicht so wild darauf gewesen wäre, Bethan wieder aus meinem Zimmer rauszukriegen, hätten wir das Problem vielleicht nie aus der Welt geschafft. Denn dann hätte ich mich bestimmt nicht so eifrig dahinter geklemmt, das Rätsel der Schrift zu lösen.
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Kapitel drei
An jenem Abend tat Mum drei Dinge. Zunächst einmal rief sie ihre Freundin Trish an. Sie ist Masseurin und hat noch weit mehr von einem Hippie an sich als Mum. Sie stehen beide auf Tofu, Yoga und Feng Shui, aber Trish hat einen viel größeren Kreis von Freunden, die vegetarisch essende Buddhisten und Astrologen sind. Niemand war daher überrascht, als Trish sagte, sie kenne eine Frau, die Mitglied einer Gruppe namens PRISM (Paranormal Research Investigation Services and Monitoring – Dienst für die Beobachtung und Untersuchung übersinnlicher Erscheinungen) sei. Trish sagte, wenn Mum nichts dagegen habe, wolle sie diese Frau anrufen und sehen, ob sie sich zu dritt treffen könnten. Mum antwortete, sie sei einverstanden. Je mehr Hilfe wir hätten, desto besser. Zweitens bat mich Mum, jedes Wort abzuschreiben, das bei Bethan an der Wand stand. Sie erklärte mir, so könnten wir leichter feststellen, ob über Nacht irgendetwas dazukomme. Aus demselben Grund solle ich zusätzlich jedes Wort an der Wand mit einem Rotstift unterstreichen. Also holte ich mein Tagebuch heraus und schrieb alles ab, was in der geheimnisvollen Schrift dastand. Ray musste erst eine Leiter holen, ehe wir entziffern konnten, was an der Decke stand. Es war noch mehr merkwürdiges Zeug über Könige und Seeleute und 28
Häfen und es schien mir nicht viel Sinn zu machen. Aber ich schrieb alles ab, unterstrich rot, was ich schon hatte, und versuchte dann, eine Zeit lang nicht mehr daran zu denken (weil ich nämlich noch meine Hausaufgaben fertig machen musste). Aber als ich an jenem Abend im Bett lag, dachte ich nach. Über die Schrift und über Eglantine Higgins im Jahr 1906. Wenn ein Geist im Haus war (was wahrscheinlich nicht der Fall war, aber einfach im Fall des Falles), dann war es beinahe sicher der Geist von Eglantine Higgins. Tagsüber hatte mich das nicht beunruhigt. Schließlich hat ein bisschen Geisterschrift noch niemandem geschadet. Aber nachts machte es mir, wie ich zugeben muss, Angst. Mir gefiel die Vorstellung nicht, dass Eglantine Higgins im Nebenzimmer herumgeisterte, während Bethan und ich für die Welt tot waren. Vielleicht habe ich deswegen so schlecht geschlafen. Ich hatte keine schlechten Träume, aber ich fuhr immer wieder schreckerfüllt hoch. Ich glaube, ich rechnete schon fast damit, Eglantine Higgins über meinem Bett schweben zu sehen. Drittens riss sich Mum an jenem Abend eines ihrer langen roten Haare aus und klebte das eine Ende an den unteren Rand von Bethans Zimmertür und das andere Ende auf die Türschwelle. Aber das erzählte sie uns erst am nächsten Morgen. Ehe wir ins Bett gingen, schärfte sie uns nur ein, dass niemand mehr Bethans Zimmer betreten dürfe, ohne es ihr vorher zu sagen – und am Morgen erfuhren wir, warum. 29
»Schaut her«, sagte sie, als wir alle im Bademantel um Bethans Zimmertür herumstanden. »Seht ihr dieses Haar?« Zuerst sahen wir es nicht. Sie musste es uns zeigen. »Dieses Haar ist unversehrt. Und das heißt, dass letzte Nacht niemand durch diese Tür gegangen ist.« Wir schauten sie voller Bewunderung an. »Wow, Mum«, rief Bethan aus. »Das war wirklich schlau.« »Gut gemacht, Mum.« »Pfiffig«, sagte Ray. »Wenn also irgendetwas Neues an der Wand steht«, fuhr Mum fort (und erläuterte damit das Offensichtliche), »ist derjenige, der es geschrieben hat, auf jeden Fall nicht durch diese Tür hineingelangt.« »Fällst du es nicht selbst warst«, erklärte ich und sie zog eine Grimasse. »Sehr witzig«, sagte sie. »Stimmt aber doch, oder?« »Kommt schon«, drängte Ray. Er klang beinahe gespannt, dabei ist er normalerweise kaum aus der Ruhe zu bringen. »Schauen wir mal rein.« Er schob die Tür auf. Quietschend drehte sie sich in ihren Angeln, wie in einem Horrorfilm, und gab den Blick auf Bethans helles, freundliches, hallendes Zimmer frei. Wir sahen die neue Schrift sofort. Sie war unmöglich zu übersehen: Überall waren neue Zeilen – vierundzwanzig, genau gesagt (ich habe sie später gezählt). »Mein Gott«, hauchte Mum. 30
»Das ist ja unglaublich.« Ich war die Erste, die über die Schwelle trat. Zaghaft ging ich vorwärts, mein Tagebuch und meinen blauen Füller fest in der Hand. Ich bin der Stolzeste meiner Linie war neu; es stand auf Augenhöhe über der Kommode. Auch Ich habe die Mittel, mich zu verteidigen hatte ich vorher nicht gesehen. Schnell öffnete ich mein Tagebuch und begann die jüngsten Botschaften abzuschreiben. Ray ging ans Fenster. Er rüttelte daran. Der Griff war fest geschlossen. »Niemand hätte auf diesem Weg hereinkommen können«, verkündete er. »Nicht, ohne beim Gehen den Griff offen zu lassen.« »Was ist hier los, Ray?«, fragte Mum leise. »Ich weiß es nicht.« »Das ist doch eigentlich unmöglich, oder? Ich meine, es ist völlig unverständlich, falls es nicht – na, du weißt schon, was ich meine.« »Ich bin sicher, dass es irgendeine chemische Erklärung gibt«, erwiderte er – aber ich fand, es klang kein bisschen überzeugt. Bethan fragte, wann diese »Geisterfrau« käme. »Ich weiß noch nicht«, sagte Mum. »Trish muss mich erst noch anrufen.« »Hoffentlich bald«, brummte Bethan mit einem furchtsamen Seitenblick auf die Wände. »Ich will mein Zimmer wiederhaben.« Zum Glück für uns alle rief Trish bald darauf Mum an und hatte gute Nachrichten. Die Frau von PRISM (die Sylvia Klineberg hieß) wollte uns am Abend besuchen. Sylvia hatte halb neun Uhr vorge31
schlagen, und wenn Mum keine Einwände habe, wolle Trish Sylvia zurückrufen und den Termin festmachen. Mum hatte keine Einwände. »Komm doch zum Abendessen«, bat sie Trish. »Früh, schon um sechs. Dann haben wir fertig gegessen und aufgeräumt, bis sie kommt.« Ich hasse es, wenn Trish zum Abendessen kommt, weil sie makrobiotisch isst – das heißt, Reis und sonst nicht viel anderes. Es ist ziemlich fad. Außerdem hat Trish einen schlechten Einfluss auf Mum, die in ihrer Anwesenheit nur noch von Vollkornbrot und Kräutertees redet und davon, dass sie in Zukunft ihr Getreide selbst mahlen will. Dabei mag ich das Essen, das sie uns kocht (bis auf den Risotto). Ich esse viel lieber Kartoffelbrei und Lammkoteletts als Bratlinge aus Soja und Vogelfutter. Glücklicherweise gab es bei diesem Abendessen aufregendere Gesprächsthemen als makrobiotisches Essen. »Ich vermute«, sagte Trish nach langem Nachdenken, »dass euer Haus auf der Schnittstelle vieler LeyLinien steht.« Als wir fragten, was Ley-Linien seien, erklärte sie, das seien Energie- oder Kraftlinien, die sich über die Erde ziehen. »Ley-Linien verbinden alle heiligen Orte der Erde«, erläuterte sie. »Und an Stellen, an denen diese Kraftlinien sich treffen, geschehen häufig merkwürdige Dinge, weil die Energie nach oben steigt.« »Zu viel Erdenergie«, warf Mum ein und Trish 32
stimmte zu. Es bestehe tatsächlich das Risiko eines Ungleichgewichtes. »Was für eine Art von heiligen Orten meinst du?«, fragte ich, worauf Trish eine ganze Liste herunterratterte: Kirchen, Tempel, Steinkreise, heilige Quellen, Friedhöfe … »Friedhöfe!«, rief Bethan mit vollem Munde. »O nein! Du glaubst doch wohl nicht, dieses Haus steht auf einem Friedhof irgendwelcher Ureinwohner, oder?« Bei seinen Worten regnete es zerkaute Reiskörner über den ganzen Tisch. Trish übersah sie höflich – oder bemerkte sie vielleicht gar nicht. Sie ist ein Mensch, dem Dinge wie Stromrechnungen und Tischmanieren eher gleichgültig sind. Aber die Gefühle anderer Menschen spürt sie manchmal sehr genau. Sie sieht selbst ein wenig wie ein Geist aus, mit ihrem blassen, schmalen Gesicht, dem lang herabwallenden Haar, ihren übereinander drapierten wehenden Schals und Tüchern und indischen Baumwollröcken. »Das halte ich nicht für wahrscheinlich, Bethan«, antwortete sie ernsthaft. »In Amerika stehen Häuser, in denen es spukt, immer auf früheren Indianerfriedhöfen«, fuhr Bethan mit bedrückter Stimme fort. Mum sagte, vielleicht könne man die negative Energie ja irgendwie auflösen – zum Beispiel mit einem Windspiel. Das würde wenigstens den Chi-Fluss an den Stellen 33
hemmen, an denen unterschiedliche Energien aufeinander träfen. »Ich weiß nicht«, antwortete Trish. »Vielleicht solltest du nicht anfangen, Energieströme zu verändern, ehe Sylvia sich hier umgeschaut hat. Sie hat schon viel mit Erscheinungen dieser Art zu tun gehabt. Vielleicht kann sie euch helfen, das Problem genauer zu bestimmen.« »Wie?«, erkundigte sich Ray, und Trish sagte, das wisse sie nicht genau. Sie kenne Sylvia nicht besonders gut. Sylvia sei Heilpraktikerin und habe ihre Freundin Alice behandelt. In ihrer freien Zeit versuche Sylvia, Berichten über paranormale Erscheinungen auf den Grund zu gehen, und zwar für PRISM, eine große Organisation mit Sitz in Adelaide. Aber was jemand, der Übersinnliches untersuche, eigentlich mache, sei ihr auch nicht klar. »Aber ich bin sicher, es wird sehr interessant sein«, schloss sie zuversichtlich, und ich sah, dass sie sich eine Menge davon versprach. Vielleicht dachte sie, wir müssten alle im Dunkeln sitzen, uns an den Händen halten und darauf warten, dass die Geister der Verstorbenen mit uns in Verbindung treten. Ich selbst erwartete übrigens auch so etwas Ähnliches. Wie sich herausstellte, waren unsere Vorstellungen völlig falsch. Als Sylvia an die Tür klopfte und wir ihr öffneten, waren wir alle sehr überrascht, wie normal sie aussah. Es umwehte sie kein schwarzer Umhang. Sie hatte keine Kristallkugel bei sich. Sie hatte kurze, graue Haare, trug schlichte Perlenohrringe 34
und eine helle Leinenjacke über einer dunkelblauen Hose. In der Hand hielt sie eine grüne Sporttasche. Nachdem wir sie zu einem Kaffee in die Küche gebeten hatten, holte sie zuerst einmal ein Notizbuch und ein Tonbandgerät aus der Tasche, dann setzte sie sich. »Trish hat mir gesagt, in einem Ihrer Schlafzimmer taucht an den Wänden eine unerklärliche Schrift auf«, sagte sie, als ihr alle vorgestellt worden waren und ihr Kaffee vor ihr stand. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn Sie mir die Geschichte von Anfang an erzählen. Sie sind erst vor kurzem eingezogen, nicht wahr?« Mum nickte. Sie berichtete ihr von den Hausbesetzern und schilderte dann ihre Verschönerungsmaßnahmen: die neue Küche, die frische Farbe, das neue Fensterglas. Sie zeigte Sylvia das Buch, das wir unter der Treppe gefunden hatten, und erzählte – mit vielen Einschüben von mir und Bethan – die seltsame Geschichte von Bethans Zimmer. Das alles dauerte ziemlich lange. Sylvia machte sich Notizen und ihr Tonbandgerät surrte leise vor sich hin. Sie sagte nicht viel. Sie hörte einfach zu, und an ihrem Gesicht konnte ich nicht ablesen, was sie dachte. »Meinen Sie, es ist ein Geist?«, fragte Bethan sie schließlich und sie lächelte ein wenig. »Das müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete sie. »Wenn es ein Geist ist«, sagte ich, »muss es der Geist von Eglantine Higgins sein. Es ist nämlich dieselbe Handschrift.« 35
»Vielleicht«, erwiderte Sylvia. Sie klappte ihr Notizbuch zu und stellte das Tonband ab. »Jetzt sollte ich mir das Zimmer vielleicht einmal ansehen«, fuhr sie fort und stand auf. Dann marschierten wir alle nach oben, um Bethans Zimmer anzuschauen. Die Tür war natürlich geschlossen, sie war den ganzen Tag zu gewesen. Seit neun Uhr morgens hatte niemand mehr das Zimmer betreten. Als Ray das Licht einschaltete, sah ich nichts, was auf weitere unerklärliche Vorgänge hindeutete. Jedes Wort an der Wand war schon rot von mir unterstrichen, wie Mum es mir aufgetragen hatte. »Ich denke, es geschieht nur in der Nacht«, bemerkte Mum. »Das ist ja wohl auch nicht anders zu erwarten, oder? Bei einem Geist.« Sie lachte kurz auf, aber es klang nicht überzeugend. Sylvia antwortete nicht. Sie nahm aus ihrer Tasche ein merkwürdiges Gerät von der Größe eines Taschenrechners und schritt damit das Zimmer ab. Bethan fragte, was das sei. »Ein Messgerät für elektromagnetische Felder«, antwortete sie. Alle – ausgenommen Sylvia – wechselten Blicke. »Und was misst es?«, erkundigte sich Ray. »Es zeigt Anomalien bei den elektromagnetischen Werten an.« Sylvia hielt inne, den Blick fest auf das Gerät gerichtet. »Mit Berichten von Poltergeistern und dergleichen geht oft eine hohe elektromagnetische Aktivität einher. – Hmm.« »Was ist?«, fragte Mum. »Na ja … Sie haben hier drinnen einen sehr hohen 36
Wert. Alles, was 0,09 überschreitet, ist ein Problem, und dieses Zimmer hat 0,12.« »Oje«, sagte Mum. Trish stieß sie an. »Siehst du«, flüsterte sie. »Was hab ich dir gesagt? Sich kreuzende Ley-Linien.« »Also ist hier drinnen ein Geist?«, wollte Bethan wissen, aber Sylvia legte sich nicht fest. »Nicht unbedingt.« »Aber was ist dann los?«, fragte Mum. »Wer macht das?« Sylvia hob den Blick von ihrem Gerät. Sie musterte uns der Reihe nach so durchdringend, dass mir ganz ungemütlich wurde. »Im Augenblick«, sagte sie schließlich langsam, »können wir nicht ausschließen, dass der Urheber ein Mensch ist.« »Was?«, rief Mum, und Ray sagte: »Wer denn?« »Das müssen wir erst noch herausfinden.« »Also, ich bin es nicht, denn ich will Bethan nicht in meinem Zimmer haben«, verkündete ich. »Und ich bin es auch nicht!«, rief Bethan. »Ich will nicht bei Alethea schlafen. Ich will mein eigenes Zimmer zurückhaben!« Sylvia schaute mich lange scharf an. Dann schaute sie Bethan an. Danach sagte sie ein wenig entschuldigend: »Wir müssen die Möglichkeit eines menschlichen Urhebers ausschließen, ehe wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine ungewöhnliche Erscheinung einen übernatürlichen Grund hat. Das gehört routinemäßig dazu.« 37
»Und was dann?«, fragte Mum. »Wenn Sie einen menschlichen Urheber ausgeschlossen haben, was geschieht dann? Wie kann man das Problem loswerden?« Sylvia sah überrascht aus. »Loswerden?«, echote sie. »Ja. Das ist doch Ihre Aufgabe, nicht wahr? Sie sind jemand, der Geister vertreibt, oder?« »Äh … nein«, sagte Sylvia. »Das bin ich nicht.« »Nicht?« »Meine Aufgabe ist es, die Natur des Problems festzustellen – ob es paranormal ist oder nicht. Wenn es das ist und Sie möchten, dass es aufhört, können wir … ein paar Vorschläge machen …« »Zum Beispiel?«, fragte Mum ganz ärgerlich und Ray legte ihr die Hand auf die Schulter. Sylvia betrachtete die beiden aufmerksam. »Das hängt ganz davon ab, womit wir es hier zu tun haben«, sagte sie schließlich. »Und welche religiösen Überzeugungen Sie haben. Vielleicht sollten Sie mal mit Laurie sprechen – das ist unser Präsident. Möglicherweise kann er Ihnen helfen. Aber letztlich können wir überhaupt nichts unternehmen, ehe wir eindeutig festgestellt haben, was hier vorgeht.« Dann erklärte sie uns, wenn das Rätsel gelöst werden solle, müssten sie und weitere Forscher mindestens eine Nacht mit ihrer ganzen Ausrüstung in Bethans Zimmer verbringen. Ob Mum etwas dagegen habe? Mum verneinte, denn schließlich schlafe Bethan ja sowieso nicht mehr in dem Zimmer. Wann Sylvia denn wiederkommen wolle? 38
»Das kann ich noch nicht sagen, ich muss Sie anrufen«, antwortete Sylvia. »So bald wie möglich. Dieser Fall ist sehr interessant. Ich bin dankbar, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben.« Und das war’s. Nach einem letzten Blick auf die geisterhafte Handschrift ging Sylvia mit so energischen Schritten hinaus, dass der Boden unter ihren Absätzen erzitterte. Ich muss zugeben, das war ein bisschen enttäuschend. Wir hatten uns ihren Besuch alle etwas dramatischer vorgestellt. »Mein Sohn sollte also besser nicht in seinem Zimmer schlafen?«, erkundigte sich Mum, als sie Sylvia an der Haustür verabschiedete. »Wenn die elektromagnetische Aktivität so hoch ist?« »Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte Sylvia. »Ein Mikrowellenherd liegt bei 65, wenn er ausgeschaltet ist.« »Ich will so ein Ding nicht im Haus haben«, sagte Mum, und Trish fragte: »Und was ist mit einem Windspiel? Würde das die negative Energie dämpfen?« Sylvia zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie zurückhaltend. »Aber einen Versuch ist es allemal wert.« Wieder zu Mum gewandt fügte sie hinzu: »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Judy, würde ich Talkumpuder auf den Boden des Zimmers streuen. Das ist eine Möglichkeit, einen menschlichen Urheber auszuschließen. Wir machen das auch oft.« Dann versprach sie, Mum so bald wie möglich anzurufen, und verschwand in der Dunkelheit. 39
Kapitel vier
Mum streute Talkumpuder auf den Boden von Bethans Zimmer, ehe sie an jenem Abend ins Bett ging. Am nächsten Morgen war der Puder unberührt, aber an den Wänden waren so viele neue Zeilen erschienen, dass es mich eine Stunde kostete, sie alle abzuschreiben. Natürlich schrieb ich sie erst nach der Schule ab. Am Morgen hatte ich keine Zeit dazu. Außerdem wollte Mum nicht, dass ich in Bethans Zimmer herumlief, ehe sie den Talkumpuder weggesaugt hatte. Daher machte ich erst am Montagabend eine interessante Entdeckung über den Text an den Wänden … Aber ehe das geschah, sprach ich mit der Bibliothekarin unserer Schule. Ich hatte den ganzen Vormittag immer wieder über unser Problem nachgedacht. (Meistens bin ich lange vor allen anderen mit meinen Aufgaben fertig und muss dann herumsitzen und warten. Deshalb habe ich so viel Zeit zum Nachdenken.) Ich hatte das Gefühl, dass wir von PRISM nicht viel Hilfe bekommen würden – jedenfalls nicht, ehe Sylvia überzeugt war, dass wir tatsächlich einen Geist im Haus hatten. Ich dachte, es könnten Wochen vergehen, bis irgendjemand versuchte, den Geist davon abzubringen, an unsere Wände zu schreiben. Und so lange wollte ich nicht darauf warten, mein Zimmer wieder für mich allein zu haben. Ich beschloss, einige Nachforschungen anzustellen. 40
Statt in der Mittagspause mit meiner Freundin Michelle auf die Wiese zu gehen, ging ich in die Schulbücherei, suchte mir einen Stoß Bücher über Geister zusammen und setzte mich hin. Ich wollte herausfinden, warum Geister in Häusern spuken. Nachdem ich eine Menge gelesen hatte, kam ich zu folgendem Schluss: Geister – wenn es sie denn gibt – sind eigenwillig und unberechenbar und keineswegs bereit, sich Vorschriften machen zu lassen. Dennoch brauchen manche von ihnen Hilfe. Manche spuken nur herum, weil ihre Mörder nicht bestraft wurden, oder weil man ihre Gebeine nicht in würdiger Weise bestattet hat. Ich fragte mich, was wohl Eglantine Higgins umtreiben mochte. Sie konnte nicht unter dem Haus beerdigt sein, denn das Haus wurde 1886 gebaut und Eglantine hatte zwanzig Jahre später noch gelebt. War sie vielleicht in dem Haus gestorben? Hatte jemand sie umgebracht? Das war ein grässlicher Gedanke, aber ich musste mich ihm stellen. Ich fragte Mrs Procter, die Bibliothekarin, wie man herausfinden kann, wer vor hundert Jahren in dem Haus gewohnt hat, in dem man jetzt lebt. »Tja«, sagte sie nach einigem Zögern, »das könnte ein bisschen schwierig sein. Geht es um euer neues Haus, Alethea?« »Ja.« »Warum möchtest du das wissen?« Ich hatte nicht die Absicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Es fiel mir schon schwer genug, die Leute zu 41
überzeugen, dass ich keine Spinnerin war – in den Ruf zu kommen, dass ich Geister sah, hatte mir gerade noch gefehlt. »Wegen einiger Dinge, die wir gefunden haben«, antwortete ich ausweichend. »Ein Buch und … sonst ein paar Sachen.« »Ach so.« Sie dachte einen Augenblick nach. Ich mag Mrs Procter, weil sie mich immer ernst nimmt. Sie ist auch sehr intelligent und weiß eine Menge über Bücher. (Ich gehöre zu ihren Lieblingen, weil ich die Bücher auch lese.) »Du könntest eure Nachbarn fragen«, schlug sie schließlich vor. »Manchmal wohnen Menschen lange Zeit am selben Ort und wissen viel über die Nachbarschaft.« Ich grunzte. Unsere neuen Nachbarn waren nicht sehr freundlich. Auf der einen Seite wohnte eine dicke, ungepflegte Frau, die den ganzen Tag vor dem Fernseher saß, wenn sie nicht gerade am Telefon hing und sich bei Mum über den Lärm beklagte, den unsere Renovierungsarbeiten mit sich brachten. Auf der anderen Seite wohnte ein gut gekleidetes junges Paar mit einem teuren Auto, das kaum je zu Hause war. Die dicke, ungepflegte Frau redete nicht mehr mit uns. Das junge Paar war nie da. »Ich glaube nicht, dass unsere Nachbarn viel helfen könnten«, sagte ich. »Wenn du herausfinden willst, wem das Haus vor hundert Jahren gehört hat, könntest du dir die Eigentumsurkunden ansehen«, meinte Mrs Procter. »Als deine Mutter das Haus gekauft hat, muss ihr Anwalt 42
Nachforschungen über die Vergangenheit angestellt und Kopien von den früheren Eigentumsurkunden gemacht haben. Diese Urkunden nennen die Namen aller früheren Eigentümer und geben Auskunft darüber, wann sie das Haus gekauft haben. Das könnte dir weiterhelfen – allerdings muss jemand, dem das Haus gehört hat, nicht unbedingt auch darin gelebt haben.« Oder darin gestorben sein, dachte ich. Dann fiel mir noch etwas ein. »Wie findet man heraus, wo und wann jemand gestorben ist?«, fragte ich. »Wenn es ungefähr hundert Jahre her ist?« Mrs Procter musterte mich mit einem seltsamen Blick. »In dem Buch, das wir unter der Treppe gefunden haben, steht ein Name«, fügte ich hastig hinzu. »Ich möchte wissen, ob die Person, der das Buch gehörte, in dem Haus gewohnt hat. Und ob sie noch lebt.« »Aha«, sagte Mrs Procter. »Das kannst du im Register des Standesamtes nachsehen. Jeder Staat hat ein eigenes. Dort werden auch die Sterbeurkunden aufbewahrt.« »Wo ist das Standesamt für New South Wales?«, erkundigte ich mich und fragte mich voller Zweifel, ob ich Mum wohl dazu bringen könnte, mit mir hinzugehen. Aber Mrs Procter versicherte mir, das Standesamt habe, wie fast alle Regierungsbehörden, eine eigene Website im Internet. Ich müsse mich lediglich einloggen. 43
»Es gibt Bestimmungen zum Datenschutz«, fuhr sie fort, »aber ich glaube nicht, dass sie für Menschen gelten, die vor so langer Zeit gestorben sind, sonst könnte nie jemand seinen Familienstammbaum erforschen. Du solltest es auf jeden Fall mal versuchen. Kann ja nicht schaden, oder?« »Nein«, sagte ich. Aber dann läutete es und ich musste die Suche nach der Website des Standesamtes auf den nächsten Tag verschieben. Zu Hause haben wir nämlich keinen Internetanschluss. Mum traut dem Internet aus irgendeinem Grund nicht – sie sagt, es sei zu teuer. Sie mag nicht mal Computer besonders, obwohl sie doch in einer Bank arbeitet. Deshalb muss ich einen Schulcomputer benutzen oder einen der Stadtbücherei. Die Schulcomputer sind fast immer hinter einer Traube Jungen versteckt, die einen ignorieren, wenn man sagt, man habe sich für eine Stunde Internetsurfen eingetragen und sie sollten bitte weggehen. Und die in der Bücherei sind meistens kaputt. Aber das gehört eigentlich nicht hierher. Ich habe euch vom Montag erzählt. Als ich am Montagnachmittag von der Schule nach Hause kam, war Mum gerade mit dem Staubsauger in Bethans Zimmer und saugte den Puder weg. Ich erzählte ihr, was Mrs Procter mir über Eigentumsurkunden gesagt hatte, und fragte, wo unsere seien. »Ich habe nicht alle diese Papiere«, antwortete sie ohne große Begeisterung. »Der Anwalt hat sie.« »Könntest du den Anwalt anrufen?« 44
»Ja, kann ich schon.« »Wenn wir nicht irgendwas unternehmen«, erklärte ich, »werden wir diese dämliche Schrift nie mehr los.« »Ich rufe den Anwalt an, wenn ich mit dem Staubsaugen fertig bin«, versprach Mum. Und sie hielt Wort. Er sagte, er würde uns eine Kopie der alten Eigentumsurkunden zuschicken, sobald er könne. Damit war meine erste Aufgabe erledigt. Meine zweite Aufgabe war, alle neuen Textzeilen an Bethans Zimmerwänden abzuschreiben und zu unterstreichen. Das kostete mich, wie schon gesagt, eine Stunde, weil es so viele waren. Aber als ich sie in mein Tagebuch schrieb, fiel mir etwas auf. Zunächst einmal fiel mir ein Name ins Auge: Emilie. Zum ersten Mal tauchte ein Name auf: »Emilie ist ein liebes Kind stand auf der Innenseite der Tür, und dieser Satz fiel mir nicht nur wegen des Namens ins Auge, sondern wegen der Anführungszeichen davor. Anführungszeichen bedeuten, dass jemand spricht. Außerdem können nicht Anführungszeichen als Anfang einer Rede auftauchen, ohne dass auch welche als Abschluss am Ende stehen. Also sah ich mich nach weiteren Anführungszeichen um und fand auch welche – drei für den Anfang und drei für das Ende, weit verstreut, alle brandneu. Ich fragte mich, ob sich die Anführungszeichen einander zuordnen ließen. Wer mochte da wohl reden? Ich setzte mich mit meinem Tagebuch hin und begann, alle Zeilen zusammenzufügen. Es war genau 45
wie ein Puzzlespiel. Bei einem Puzzle sucht man immer zuerst nach den Eckstücken und legt dann passende Teile an. Bei dieser merkwürdigen Sammlung einzelner Sätze und Redeteile benutzte ich die Anführungszeichen als Eckstücke. Außerdem hielt ich mich an den Namen Emilie und ordnete ihm probeweise alle Hinweise auf eine weibliche Gestalt zu, die nun erschienen. (Zum Beispiel: Meine große Krone würde schwer auf ihre zarte Stirne drücken.) Es war nicht leicht. Aber ich machte es mir leichter, indem ich jede Zeile einzeln ausschnitt – wieder wie bei einem Puzzle. (Ich liebe Puzzles!) Dann legte ich die Teile aneinander, gruppierte sie immer wieder um und war mir bis zum Abendessen immerhin einer Sache ziemlich sicher: Obwohl die Zeilen über das ganze Zimmer verteilt waren, gehörten sie doch zusammen. Sie ergaben eine fortlaufende Geschichte. Vielleicht waren sie sogar in der richtigen Reihenfolge an die Wand geschrieben worden, und wir hatten es nicht gemerkt, weil wir spätere Zeilen vor früheren entdeckt hatten. Erstaunlich? Für mich schon. Natürlich hatte ich bis zum Abendessen nicht schon alles fix und fertig. Ich musste über sechzig Papierstreifen zusammenfügen und hatte Hausaufgaben auf. Aber als ich mich an den Küchentisch setzte, konnte ich allen erklären, dass der Geist dort oben uns etwas mitteilen wollte und dass er noch nicht fertig war. Drei Köpfe wandten sich mir zu. 46
»Was meinst du mit ›etwas mitteilen‹?«, fragte Mum. »Wie kommst du darauf?« »Ich habe alle bisherigen Sätze zusammengesetzt«, antwortete ich. »Sie ergeben einen Sinn, wenn sie nicht überall verstreut sind. Ich glaube auch, dass der Geist sie in der richtigen Reihenfolge aufgeschrieben hat, denn in den ersten paar Nächten war die Rede von einem König und seinem Königreich, aber letzte Nacht begann der König, über eine Tochter zu sprechen. Emilie.« »Warte – warte mal kurz.« Ray hob die Hand. »Willst du etwa sagen, dass sich die Zeilen dort oben zusammensetzen lassen? Zu einem ganzen Text irgendwie?« »Ja«, sagte ich geduldig. »Und genau das hab ich gemacht. Ich habe die Zeilen ausgeschnitten und sie mit Klebeband zusammengefügt. Wie ein Puzzle.« »Was bedeutet der Text?«, wollte Mum wissen. »Ist er eine Art Botschaft?« »Ich weiß nicht.« Ich dachte über die kleinen Papierstreifen nach, die auf dem Boden meines Zimmers ausgebreitet waren. »Vielleicht. Es geht um einen König mit einem weißen Bart, der Minen und Seehäfen und eine starke Flotte hat und eine Tochter, aber keinen Sohn. Der Name der Tochter ist Emilie.« »Das klingt wie ein Märchen«, sagte Bethan. »Ja«, antwortete ich. »Genau so klingt es. In dieser Art ist es geschrieben.« »Es könnte aber auch ein geschichtlicher Text sein«, überlegte Ray. »Welcher König hatte eine 47
Tochter namens Emilie? Fällt jemandem was dazu ein?« Aber Mum war nicht an Geschichte interessiert. »Du hast etwas davon gesagt, dass der Text noch nicht fertig ist«, unterbrach sie Ray und sah mich ängstlich an. »Woher willst du das wissen?« »Na ja – ich weiß nicht. Er fühlt sich einfach noch nicht fertig an.« Ich versuchte mir klar zu machen, warum. »Bis jetzt ist noch nichts geschehen. Ich denke, der König will einen Erben.« »Wir sollten uns anschauen, was du gemacht hast«, sagte Ray, »und sehen, was wir davon halten.« »Meinst du, dass das mit der Schrift aufhört, wenn die Geschichte fertig ist?«, fragte Bethan, woraufhin wir uns alle ansahen. Ich muss zugeben, das war eine kluge Frage. Nach einer Pause sagte Ray: »Das möchte ich auch gerne wissen. Es würde das Problem lösen, nicht wahr?« »Solange es kein Roman mit dreitausend Seiten ist«, sagte Mum. »Sonst müssen wir jahrelang warten.« »In diesem Fall müssen wir ausziehen«, erklärte Ray. »Wir können nicht in einem Haus leben, in dem sich ein Geist auf Dauer in einem Schlafzimmer im ersten Stock einnistet.« »Ray!«, protestierte Mum. »Weißt du, was uns das kosten würde? Wir haben Maklergebühren bezahlt und Stempelsteuer …« »Ich weiß, ich weiß.« 48
»Und all die Arbeit, die ich in dieses Haus gesteckt habe!«, jammerte Mum. »Ich könnte das nicht alles noch einmal machen.« »Ich weiß«, sagte Ray und legte eine Hand auf Mums Hand. »Ist schon gut. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung.« Dann fragte Bethan mit ängstlicher Stimme, ob in der Geschichte in seinem Zimmer etwas von Blut und Eingeweiden vorkomme. »Kriegt jemand keine Luft? Erstickt jemand?« Ich wusste, worauf er hinauswollte, und Mum auch. Sie sagte: »Die Tochter in der Geschichte heißt Emilie, nicht Eglantine.« »Aber beide fangen mit E an«, sagte ich. »Vielleicht war Emilie Eglantines zweiter Name. Oder vielleicht steht Emilie für Eglantine. Vielleicht erzählt sie uns, was mit ihr geschehen ist.« Auf einmal war ich ganz aufgeregt. »Vielleicht kleidet sie es in ein Märchen, aber es ist wirklich wahr! Vielleicht hat jemand versucht, sie zu töten, und sie versucht uns zu erzählen, wie! Vielleicht spukt sie deshalb bei uns …« »Vielleicht sollten wir warten, bis die Leute von PRISM herausgefunden haben, ob es hier tatsächlich spukt«, unterbrach mich Ray mit fester Stimme. In diesem Moment läutete das Telefon und Mum ging hin. Es war Sylvia, die anrief, um sich zu erkundigen, welche Art von Farbe wir für die Wand von Bethans Zimmer verwendet hatten. Sie sagte, sie wolle einen Chemotechniker fragen, ob die Möglichkeit bestehe, dass Substanzen miteinander reagieren. Immerhin 49
könne es ja sein, dass die alte Schrift durch die Farbe dringe. Sie würde uns wieder anrufen, sobald sie irgendwelche Ergebnisse habe. Als sie aufgelegt hatte, war ich sauer: »Seht ihr? Sie glaubt uns nicht.« »Sie muss jede logische Erklärung ausschließen«, sagte Ray. »Und inzwischen ist Bethan aus seinem eigenen Zimmer rausgeflogen.« Ich war richtig sauer. »Wir sollten einen Exorzisten kommen lassen oder so was.« Aber niemand hörte auf mich.
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Kapitel fünf
Das mit dem Exorzisten sollte ich wohl besser erklären. Exorzisten sind Leute, die einen Exorzismus durchführen, und ein Exorzismus ist ein Weg, böse Geister zu vertreiben. Dass es so etwas gibt, habe ich bei meinen Nachforschungen in der Schulbücherei entdeckt. Dabei erfuhr ich auch, dass katholische Priester manchmal einen Exorzismus vornehmen, und überlegte schon, ob Mum beim nächsten katholischen Pfarramt anrufen sollte, doch meine Freundin Michelle riet mir von diesem Plan ab. Aber das war am Mittwoch, und ich habe euch noch nicht erzählt, was am Dienstag geschah. Am Dienstagmorgen ging ich, sobald ich aufgewacht war, in Bethans Zimmer. Dort fand ich die Wände und die Decke von so vielen neuen Textzeilen bedeckt, dass nur noch ganz wenig leere Stellen übrig waren. Eine neue Zeile war sogar schon quer über eine alte geschrieben. Ganz offensichtlich würde das Zimmer bald wieder seinen früheren Zustand erreichen und vor lauter unleserlichem Gekritzel beinahe schwarz sein. Als Bethan das sah, war er todunglücklich. »Vielleicht hört es erst auf, wenn das Zimmer vollkommen schwarz ist«, wimmerte er. »Vielleicht hasst dieser Geist einfach weiße Farbe.« »Das kann gut sein«, bestätigte ich. »Ich frage mich, was passieren würde, wenn Ray das Zimmer schwarz streichen würde.« 51
»Ich will aber kein schwarzes Zimmer«, sagte Bethan missmutig. »Schwarze Wände sind was für Gestörte!« »Nicht unbedingt«, antwortete ich. Allerdings musste auch ich zugeben, dass ein schwarzes Zimmer ziemlich deprimierend ist. Nicht einmal mir gefiel die Vorstellung, in einem schwarzen Zimmer zu schlafen. Und dabei bin ich jemand, der sein Schlafzimmer mit Tierschädeln, einem dreidimensionalen Modell des menschlichen Innenohrs (das ich auf einem Flohmarkt gekauft habe) und Porträts verstorbener Könige (König Heinrich VII. von England ist mein Lieblingskönig) voll stopft. »Dieses Geschreibsel ist ätzend«, fuhr mein Bruder fort. »Ich hasse es.« »Hast du immer noch diese Träume?« »Nein.« »Warum beklagst du dich dann?« »Ich beklage mich, weil ich kein eigenes Zimmer habe!« »Na und?«, sagte ich bissig, »ich auch nicht. Und ich beklage mich nicht.« Danach trotteten wir nach unten zum Frühstück und gingen in die Schule. Im Grunde hatte ich schon Mitleid mit Bethan. Ich überließ ihm an jenem Morgen sogar den letzten Pfannkuchen. Aber später in der Schule begann ich meine Großzügigkeit zu bereuen, denn in der großen Pause zeigte sich unverkennbar, dass Bethan überall herumposaunt hatte, wir hätten einen Geist im Haus. 52
Zuerst kam Malcolm Morling auf mich zu, machte »Huiii, huiii!« und flatterte mit den Armen. Ein bisschen später tänzelte Amy Driscoll mit ihrer Freundin Zoe heran, kicherte, stieß Zoe mit dem Ellbogen an und fragte schließlich, ob es wahr sei – ob es bei uns zu Hause wirklich spuke. Als ich »Nein!« sagte, tauschte sie einen Blick mit Zoe, dann prusteten sie wieder los und hüpften kichernd davon. Als Jesse Gerangelos mich schließlich noch »Geistertante« genannt hatte, war mir sonnenklar, dass Gerüchte im Umlauf waren. Und ich war stinkwütend auf Bethan. (Es hat keinen Sinn, auf Kinder wie Malcolm oder Zoe sauer zu werden, die beste Verteidigung ist, sie nicht zu beachten.) Obwohl ich Bethan nie ausdrücklich darum gebeten hatte, niemandem etwas von Eglantine zu verraten, hatte ich stillschweigend angenommen, sie sei ein Familiengeheimnis. Warum sollte man sich schließlich freiwillig dem Spott von Kindern wie Malcolm Morling ausliefern? Wie ihr wisst, glauben die meisten Leute nicht an Geister und lachen über Menschen, die an sie glauben. Und sie lachen nicht bloß – sie machen blöde Geisterlaute, ziehen sich den Pulli über den Kopf und werden rundum unausstehlich. Viele von den dümmeren Kindern in der Schule dachten sowieso schon, ich sei komisch, weil ich zufällig gerne Bücher über Geschichte lese, Zeitschriften mit Denksportaufgaben kaufe und auf der Wiese Ameisen beobachte. (So wie sie darüber reden, sollte man meine, ich äße die Ameisen.) Dass sie jetzt einen Grund 53
mehr geliefert bekamen, über mich zu lachen, hatte mir gerade noch gefehlt. Ich beschloss, meinem Bruder den Kopf zu waschen, sobald wir am Nachmittag wieder zu Hause waren. In der Mittagspause suchte ich Zuflucht in der Bücherei, wo ich mich in die Website des Standesamtes einloggte. Ich musste ein bisschen herumsuchen, aber schließlich fand ich ein Link, das mir genau die Auskunft gab, die ich haben wollte. Zuerst einmal tippte ich Eglantines vollen Namen ein. Dann wählte ich eine Zeitspanne von zehn Jahren für die Suche im Index des Registers. Das Programm kann nämlich immer nur zehn Jahre auf einmal durchsuchen und ich wählte die Jahre von 1906 bis 1916 – ich wusste ja, dass Eglantine 1906 noch lebte. Schon nach wenigen Sekunden bekam ich die Information, dass Eglantine Higgins, geboren 1890, im Jahr 1907 verstorben war. Ich war enttäuscht, dass sie an einem mir völlig unbekannten Ort gestorben war. Aber als ich Mrs Procter fragte, stellte sich heraus, dass der Name nicht eine Stadt oder einen Vorort, sondern einen Landkreis bezeichnete – unseren Landkreis. So weit, so gut. Eglantine Higgins war 1907 in unserem Landkreis gestorben, im Alter von siebzehn Jahren. Leider konnte ich auf dieser Website nicht erfahren, woran sie gestorben war. Wenn ich das wissen wollte, musste ich einen »Familienbuchauszug« bestellen. Solche Familienbuchauszüge enthielten die Kopien 54
alter Sterbeurkunden und kosteten 20 Dollar pro Kopie, wenn man die standesamtliche Erfassungsnummer kannte. Diese Nummer besaß ich (ich hatte sie zusammen mit der Information über Eglantines Todesjahr erhalten), aber ich hatte keine Kreditkarte. Wenn man einen solchen Auszug über das Internet bestellen wollte, musste man die Daten seiner Kreditkarte angeben. Noch am gleichen Tag versuchte ich beim Abendessen, Mum und Ray klar zu machen, dass wir unbedingt einen solchen Familienbuchauszug brauchten. »Er wird uns darüber Auskunft geben, woran Eglantine gestorben ist«, erklärte ich ihnen. »Auf der Website habe ich ein Muster gesehen und es steht alles drin. Todesursache. Ort und Zeitpunkt des Todes. Wo und wann bestattet.« »Aber warum müssen wir diese Dinge denn wissen?«, fragte Mum gereizt. (Sie hatte in der Bank einen schlechten Tag gehabt.) »Weil sie uns helfen zu verstehen, warum der Geist da ist! Was ist, wenn Eglantine in diesem Haus ermordet wurde? Was ist, wenn ihre Leiche irgendwo draußen im Garten verscharrt und niemals gefunden wurde?« »Gäbe es denn eine Sterbeurkunde, wenn man ihre Leiche nie gefunden hätte?«, fragte Ray. »Ich weiß nicht. Und wir werden es nie erfahren, wenn wir uns nicht so einen Auszug besorgen.« »Zwanzig Dollar«, seufzte Mum. »Das ist viel Geld, Al.« 55
»Ich werde es bezahlen«, erklärte Ray. Er sah alle am Tisch der Reihe nach an. »Es interessiert mich, was darin steht. Ich werde mich morgen selbst einloggen und den Auszug bestellen. Welche Adresse hat die Website?« Ich gab sie ihm. (Sie lautete: www.bdm.nsw.gov.au.) Dann bedankte ich mich bei ihm, aß mein Eis auf und ging nach oben, um mir die neueste Fortsetzung von Eglantines Märchen anzusehen. Wie ich schon berichtet habe, war sie in der vorangegangenen Nacht sehr fleißig gewesen. Es kostete mich eineinhalb Stunden, alle neuen Textzeilen abzuschreiben und zu unterstreichen. Aber sie zusammenzusetzen war diesmal leichter, denn das meiste in der zweiten Hälfte war anscheinend eine Beschreibung von Prinzessin Emilie. Zuerst kam ein bisschen etwas über einen verwaisten Fischerssohn, der in die Flotte des Königs mit dem weißen Bart aufgenommen worden war. Er hieß Osric, und nachdem er in einigen großen Schlachten tapfer gekämpft hatte, war er zum Offizier ernannt und zum Grafen erhoben worden. Natürlich verliebte er sich bald darauf in Prinzessin Emilie. Es war Liebe auf den ersten Blick, denn Prinzessin Emilie war sehr schön. Ihre Augen waren blau, ihre Brauen schwarz, ihre Zähne klein und weiß. Ihr Haar war braun und füllig, ihr Mund voll und rosenrot. Sogar ihre Oberlippe war sorgfältig beschrieben: Fein gezeichnet, barg ihr normalerweise ruhiger Schwung doch tausend hochmütige Kräuselungen (was immer das heißen sollte!). Dann war die 56
Rede von ihrem kräftigen Kinn, dem Oval ihrer Wangen und dem ausgeprägt geistigen Charakter ihrer klassischen Stirn. Und so ging es fort und fort. Nach einer Weile wurden die Wörter so lang und kompliziert, dass ich zu Mum gehen und sie um Hilfe bitten musste. Wir verbrachten eine geschlagene Dreiviertelstunde damit, einen Satz zusammenzusetzen, der aus hundert Wörtern bestand! Falls es euch interessiert – er hieß so: Wenn andere Stimmungen sie befielen, wenn die schwülen und fiebrigen Gluten des Sommers und der Duft allzu üppiger Blumen sie streifte, wenn ihr Blut durch die Sprünge ihres feurigen Pferdes in Wallung geriet, wenn ihr alte Geschichten von wagemutigen Liebenden in den Ohren klangen und Mondlicht und herzbewegende Lieder sie umfingen, dann wogte ihre Brust heftig in der Ahnung einer Lust, die noch schlummerte, aber zum Erwachen bereit war; ihre Augen glänzten vor tiefer Empfindung und hingen an jedem schönen Anblick mit langen Blicken der Sehnsucht, so innig, dass schon die leiseste Berührung sie zu leidenschaftlicher Inbrunst hätte entflammen können. Ich hoffe, ihr versteht, was das heißen soll, denn ich verstehe es nicht. Am nächsten Morgen stand sogar noch mehr solches Zeug an den Wänden, aber ich las es natürlich erst, als ich von der Schule nach Hause kam. Mum sagte, es sei »typisch viktorianisch«. Als ich den Text 57
Michelle zeigte, sagte sie, er erinnere sie an Dichtung. Sie habe einmal ein Gedicht gelesen, das so ähnlich geklungen habe, und sie könne ihre Mutter fragen, wie das Gedicht heiße. Michelle ist meine beste Freundin. Sie hat eine französische Großmutter, deshalb findet sie es nicht peinlich, Gedichte zu lesen. Sie findet überhaupt nicht viel peinlich: Sie ist elegant, selbstbewusst und bekommt gute Noten in Geometrie und Algebra. Am Mittwoch hörte sie von Amy Driscoll, dass ich in einem Haus wohne, in dem es spukt. Als sie mich danach fragte und ich sie anknurrte, war sie ganz überrascht. »Warum fährst du denn gleich die Stacheln aus?«, wollte sie wissen. »Es hat mich nur interessiert.« »Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber alle machen neuerdings Witze auf meine Kosten.« »Ach ja? Ich hab nichts davon mitgekriegt.« »Malcolm Morling denkt, ich sei verrückt.« »Aber doch nur, weil er selbst verrückt ist.« »Ich möchte nicht darüber reden. Ehrlich.« Aber Michelle zog es mir aus der Nase – ich weiß nicht, wie. Sie kann einen unheimlich gut überreden. Ich erzählte ihr von der Schrift, von Sylvia Klineberg und von Eglantine Higgins. Dann berichtete ich ihr von dem Buch unter der Treppe und von Eglantines Märchen. Als ich fertig war, war Michelle so aufgeregt, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Du musst es mir zeigen«, bat sie. »Gleich heute Nachmittag!« 58
»Also … ich weiß nicht …« »Bitte, Allie!« Schließlich stimmte ich zu. Michelle wohnt nicht weit von uns weg, deshalb ließ es sich leicht einfädeln. Sie begleitete mich von der Bushaltestelle nach Hause und wir gingen direkt nach oben in Bethans Zimmer. Dort gab es etwas Neues – ein silbriges Windspiel hing von der Decke. Es war an der Lampenfassung befestigt. »Mum muss es aufgehängt haben«, erklärte ich, als wir zu den zierlichen Klangröhren aufblickten, die leise vor sich hin klimperten. »Sie meint, ein Windspiel könnte vielleicht helfen.« »Wie denn?« »Ich weiß nicht. Sie meint, es könnte schlechte Energie zerstreuen.« »Es wird nicht besonders gut funktionieren, wenn ihr die Tür und die Fenster geschlossen haltet.« »Vielleicht muss man es gar nicht hören. Vielleicht reicht es schon, wenn es da ist.« Ich erwähnte meine Idee von einem Exorzisten. »Ein Exorzist wäre besser als ein Windspiel«, sagte ich. »Exorzisten treiben böse Geister aus. Hab ich in einem Buch gelesen.« Michelle blickte sehr ernst drein. »Wie kommst du auf den Gedanken, dieser Geist sei böse?«, fragte sie mich. »Na ja, er hindert Bethan daran, in seinem Zimmer zu wohnen. Das nenne ich böse.« »Ich weiß nicht«, sagte Michelle und schüttelte 59
den Kopf. »Exorzisten – ich hab davon gehört. Es gibt einen Film über sie. Es ist der Lieblingsfilm meines Vetters, und es hört sich nicht so an, als sei der Geist in diesem Haus wie der böse Geist in dem Film.« »Nicht? Was ist denn in dem Film passiert?« »Mein Vetter hat’s mir erzählt.« Michelles Stimme wurde verschwörerisch. »Es ging um einen Dämon, keinen Geist, und er hat Menschen getötet. Er hat sie aus dem Fenster geworfen, ihnen die Köpfe herumgedreht und grünen Schleim erbrochen, er hat Decken springen lassen, Möbel umgeworfen, Türen zugeschlagen und die Menschen mit fremden, unheimlichen Stimmen sprechen lassen. Und zwei Priester sind bei dem Versuch gestorben, ihn auszutreiben.« »Oh«, sagte ich. Das gab mir zu denken. Ich blickte mich in dem hellen, stillen, sonnigen Zimmer um. »Vielleicht brauchen wir doch keinen Exorzisten.« Michelle fand das auch. Dann musste sie nach Hause, deshalb verabschiedeten wir uns und ich begann die neuen Zeilen abzuschreiben. Es waren vierundneunzig. Als ich sie zusammensetzte, entdeckte ich, dass Graf Osric inzwischen Prinzessin Emilie seine Liebe gestanden hatte. Als Reaktion darauf errötete und zitterte Prinzessin Emilie und er drückte seine Lippen auf ihre weiße Hand, dann wurden sie gestört. Von diesem Tag an schickte sie immer, wenn sein Schiff in den Hafen einlief, einen Pagen aus, der Graf Osric suchen sollte. Einmal verkleidete sie sich sogar 60
selbst als Page und sah Osric aus der Ferne mit eigenen Augen. Aber plötzlich beschloss der König mit dem weißen Bart, seine Tochter solle mit dem Sohn eines anderen großen Königs verheiratet werden, dessen Reich jenseits der Berge an sein eigenes angrenzte und der seit jeher sein Rivale gewesen war. Man schickte dem anderen großen König eine Botschaft, in der es hieß: Schließe nun dieses Bündnis mit mir und sende deinen Sohn hierher. Bei meinem Glauben, ich will ihm meine Tochter zur Frau geben. Allmählich bekam ich ein ungutes Gefühl in Bezug auf das Ende dieses Märchens. »Was ist mit Romeo und Julia passiert?«, fragte ich Mum an jenem Abend. »Sie haben sich umgebracht, stimmt’s?« »Ja.« »Warum?« »Weil ihre Familien verfeindet waren und sie sich geliebt haben.« »Beruht das auf einer wahren Geschichte?« »Nein«, sagte Mum zögernd. »Zumindest glaube ich das nicht«, setzte sie zweifelnd hinzu. »Es ist ein Theaterstück. Von William Shakespeare.« »Das weiß ich«, antwortete ich und überlegte dabei, ob Eglantine sich umgebracht haben könnte. Aus Liebe, wie Julia. War das möglich? Da rief Sylvia an. Sie wollte wissen, ob sie am Freitagabend zusammen mit einem weiteren Mitarbeiter von PRISM kommen und die Nacht in Bethans Zimmer verbringen könne. Sie würden bestimmt 61
nicht stören, versprach sie. Wir würden gar nicht merken, dass sie da sind. Mum war natürlich einverstanden. Was hätte sie auch machen sollen? Allmählich war sie der Verzweiflung nahe.
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Kapitel sechs
Das Windspiel half nichts. Bis Freitagabend waren die Wände so dicht beschrieben, dass ich der Geschichte nicht mehr richtig folgen konnte. Aus dem, was ich noch zusammenbrachte, erfuhr ich, dass ein junger Prinz geschickt worden war, der Prinzessin Emilie heiraten sollte, und dass alle Menschen im Königreich sich auf die Vermählung vorbereiteten (ein anderes Wort für Hochzeit, sagt Mum). Emilie weinte und flehte, aber der König wütete, bis er Schaum vor dem Mund hatte, denn er liebte seine Tochter zwar, aber er war auch grausam und von heftigem Temperament. Dann fädelte Osric ein Treffen mit Emilie ein. Ich weiß nicht genau, wie er das machte, denn es war über ein anderes Stück Text geschrieben und unmöglich zu entziffern. Aber es gab, verstreut über alle Wände, ein langes Gespräch zwischen Osric und Emilie, in dem es von »Ihr« und »Euch« nur so wimmelte. Zum Beispiel: »Emilie, ich denke, Ihr liebt mich.« »Und wenn es so ist, Osric – was dann? Ist es verwunderlich? Ist Eure Stimme nicht in meinen Ohren immer mehr Musik geworden und klingt für mich lieblicher ab für andere? Habe ich nicht Euren forschenden Blick, Eure fragenden Worte tiefer in mein Herz eindringen fühlen als die Worte und Blicke eines jeden anderen? Wenn ich Euch liebe, Osric, kann ich nichts daran ändern – aber was dann?« 63
Danach war alles ein heilloses Durcheinander, die Zeilen waren kreuz und quer übereinander geschrieben. Ich konnte lesen: Seine Augen waren voller Hoffnung und Tatendrang. – Meine Liebe ist keine tatenlose Leidenschaft. – Es gibt Zufluchtsorte, an denen wir uns sicher verbergen können. Irgendwo stand etwas von einem sinkenden Haupt und einer zustimmenden Miene – an einer anderen Stelle etwas über ein Wort der Einwilligung, das die fesselnden Bande für immer löste. Aber ich konnte nicht alles in eine ordentliche Reihenfolge bringen. Ich muss sagen, das ärgerte mich mächtig. Und noch mehr ärgerte mich Sylvias Reaktion, als sie am Freitagabend mit ihrem Forscherkollegen ankam. Aber ehe ich euch davon erzähle, sollte ich erst über den Freitagnachmittag berichten. Als ich am Freitagnachmittag nach Hause kam, war die Kopie von Mums Eigentumsurkunden angekommen. Mum verkündete mir die Neuigkeit gleich, als ich hereinkam, und reichte mir einen langen Streifen Papier mit einem Wappen am oberen Rand und vielen getippten Worten über einer Reihe von Stempelmarken, auf die etwas gekritzelt war. »Prescott-Marsh, von Burrough, Teens und Walgrove«, las ich laut, »ist jetzt Eigentümer eines Grundstücks mit unbeschränktem Eigentumsrecht, jedoch nichtsdestoweniger den möglichen Vorbehalten und Bedingungen unterworfen, die in der urkundlichen Übereignung enthalten sind, auf die nachfolgend Bezug genommen wird …« 64
»Nicht das«, unterbrach mich Mum. »Schau weiter unten.« »Wo?« »Sieh dir diese Stempelmarke an. Jede Marke bedeutet einen neuen Eigentümer. Siehst du? Diese Hypothek hier wurde im März 1894 gelöscht, da gehörte das Haus Ernest George Higgins.« »Higgins!«, rief ich aus. »Wahrscheinlich war er Eglantines Vater. Und schau – der nächste Eigentümer hat das Haus 1907 gekauft. In dem Jahr, in dem sie starb.« Ich schnappte nach Luft. »Ernest Higgins ist noch im selben Jahr ausgezogen«, fuhr Mum fort, »in dem sie starb.« »Weil sie in diesem Haus gestorben ist!«, sagte ich. »Nicht unbedingt.« »Aber es macht Sinn, Mum. Warum sollte man aus einem rundum prima Haus ausziehen? Weil die Tochter darin gestorben ist, natürlich!« »Weil irgendein Fremder sie in meinem Zimmer erwürgt hatte«, warf Bethan plötzlich ein. Er war leise hereingekommen und schälte sich gerade eine Banane aus der Obstschale. »So war es wahrscheinlich.« »Vielleicht hat ihr Vater sie erwürgt!«, fügte ich hinzu. »Vielleicht musste er das Haus verkaufen, weil er ins Gefängnis kam.« »Hört auf!«, sagte Mum und runzelte die Stirn. »Ihr seid albern.« »Aber Mum, überleg doch mal.« Ich überlegte 65
selbst – und zwar heftig. »In der Geschichte will der König mit dem weißen Bart seine Tochter mit einem Mann verheiraten, den sie nicht liebt. Vielleicht ist ihr dasselbe passiert. Vielleicht war es wie in dieser Fernsehserie ›Nicholas Nickleby‹, in der der Vater bankrott war und wollte, dass seine Tochter einen reichen Mann heiratet, und sie wollte nicht, weil sie einen anderen geliebt hat, und in unserem Fall hat er sie eben erwürgt …« »Es reicht!«, fauchte Mum. »Ihr seid grässlich melodramatisch. Ich will nichts mehr davon hören, dass in diesem Haus jemand erwürgt wurde!« Aber natürlich wurde an diesem Abend doch noch mehr darüber geredet, als nämlich die beiden Mitarbeiter von PRISM kamen. Sylvia erschien in einer adretten Trainingshose, einem weißen Wollpulli und uralten Joggingschuhen. Sie brachte einen jungen Mann namens Richard Boyer mit, der dünn und blass und sehr eifrig war. Er hatte strahlend blaue Augen hinter seiner Nickelbrille und sprach schnell und hastig. Er war irgendeine Art von Computerspezialist. Als ich ihm von Eglantine erzählte und Bethan ihm von den Albträumen berichtete, in denen er zu ersticken drohte, meinte Richard, vielleicht sei Eglantine nicht gestorben, weil sie erwürgt wurde, sondern weil sie Asthma hatte. »Ich habe Asthma«, sagte er und schaute Bethan an. »Hat es sich angefühlt, als würde jemand einen Lastwagen auf deiner Brust parken?« 66
»Nein«, erwiderte Bethan. »Es war, als würde mir jemand etwas in den Hals stecken.« »Hmmm«, sagte Richard. Dann begann er, von anderen Beispielen von Geisterschrift an der Wand zu erzählen, unter anderem von einem Fall, der unter dem Namen »Der Schwindel im Pfarrhaus von Borley« bekannt war und von dem ich in der Bücherei gelesen hatte. Richard wirkte ganz aufgeregt. Er konnte nicht still sitzen, sondern sprang immer wieder auf und lief eine Weile in der Küche hin und her, ehe er sich wieder setzte. Der Anblick von Eglantines Buch war fast zu viel für ihn, seine Hände zitterten, als er es öffnete. »Faszinierend«, sagte er. »Faszinierend. Tennysons Königsidyllen. Ist das auch der Text, der an den Wänden des Schlafzimmers erscheint?« »Nein«, erwiderte ich. »Dieses Buch enthält lauter Verse. Der Text oben – also, Verse sind es jedenfalls nicht.« »Vielleicht sollten wir das Buch zerstören«, warf Ray plötzlich ein. Bisher hatte er ruhig in der Nähe des Kühlschranks gestanden. »Hat daran schon mal jemand gedacht? Vielleicht enthält das Buch irgendeine – ich weiß nicht – Essenz oder einen Anker, der Eglantine in diesem Haus festhält. Vielleicht sollten wir das Buch verbrennen.« Als sich alle zu ihm umdrehten und ihn anstarrten, lächelte er ein bisschen verlegen. »Na ja«, schloss er, »war nur so ein Vorschlag.« »Er ist gut«, sagte ich. 67
Aber Sylvia wollte nichts davon wissen. »Ich werde das Buch an mich nehmen«, erklärte sie. »Ich nehme es mit, damit es aus dem Haus ist, und dann sehen wir, ob das irgendetwas ändert. Ich denke, es sollte jetzt noch nicht zerstört werden. Schließlich enthält es eine Probe von Eglantines Handschrift. Übrigens«, fuhr sie fort, »könnten wir diese Schrift datieren lassen, falls das möglich ist. Von einem Fachmann.« »Aber sie stammt doch aus dem Jahr 1906«, sagte ich. »Sie ist schon datiert.« »Natürlich«, erwiderte sie. »Die Frage ist nur – können wir sicher sein, dass das Datum auch stimmt?« Nach langem Grübeln wurde mir schließlich klar, was sie meinte. Sie deutete an, dass Mum oder Ray – oder sonst jemand – Eglantines Namen gefälscht haben könnte, damit er zu der Schrift passte, die er vielleicht ebenfalls selbst an die Wand geschrieben hatte. (Mit anderen Worten hätten wir dann einen menschlichen Urheber.) Aber noch ehe ich sie darauf hinweisen konnte, dass wir keine Schrift an der Wand haben wollten, lotste Sylvia Richard in Bethans Zimmer hinauf. »O nein«, sagte sie, kaum dass sie es betreten hatte. »Nein, das geht nicht.« »Was meinen Sie?«, fragte Mum. »Es ist zu viel Schrift da. Es gibt keinen freien Platz mehr.« »Nein«, sagte Mum geduldig. »Das habe ich Ihnen ja gesagt. Es ist jeden Tag schlimmer geworden.« 68
»Aber das ist zu viel. Das kann man unmöglich überwachen.« »Wie bitte?« Richard erklärte, dass sie vorgehabt hatten, eventuelle übersinnliche Erscheinungen in Bethans Zimmer mithilfe von Infrarot-Videokameras und Zeitraffer aufzuzeichnen. Sie hatten gehofft, das Erscheinen wenigstens einer Zeile Schrift auf einem Stück weißer Wand filmen zu können. »Wenn wir das hier mit Weitwinkel aufnehmen«, sagte er und zeigte auf die Wände, »wird es schwierig sein, neue Schrift von alter zu unterscheiden. Wenn die Wände sauber wären, hätten wir kein Problem.« »Wir werden sie noch einmal streichen müssen«, verkündete Sylvia. Alle schauten sie an und sie fuhr fort: »Morgen, Richard. Wir besorgen einen Eimer weiße Farbe und du kannst die Wände überstreichen. Nicht die Decke. Nur die Wände. Dann können wir ganz von vorn anfangen.« »Aber zuerst müssen wir alles fotografieren«, verlangte Richard. »Ja, natürlich. Das versteht sich von selbst.« »Ahm – Entschuldigung.« Mum hob die Hand, fast wie ein Kind in der Schule. »Sie wollen das Zimmer noch einmal streichen!« »Wenn Sie damit einverstanden sind, Judy.« »Ja, also … ich denke schon.« »Richard macht das, nicht wahr?«, fuhr Sylvia fort. »Ich kann morgen nicht – ich habe Termine bis zum Abend. Und dann wollen wir wiederkommen.« 69
»Ist die Farbe bis dahin denn trocken?«, fragte Mum zweifelnd. »Ja, ich glaube schon.« »Falls man nicht zwei Schichten braucht«, sagte Richard. »Und ich glaube, das brauchen wir.« »Wir werden sehen«, meinte Sylvia. Dann packte sie ihr Tonbandgerät, ihre Infrarotkamera und ihr Messgerät für elektromagnetische Felder ein und ging nach Hause. Auch Richard ging, aber vorher fotografierte er noch jeden Quadratzentimeter von Bethans Zimmer. Er brauchte ungefähr zwei Stunden dafür und verließ uns um Viertel vor zehn. Am nächsten Morgen stand er bereits um halb neun wieder da, bewaffnet mit zwei Eimern weißer Farbe, einem Tuch zum Abdecken, einer Kamera, einer Farbrolle und einem Overall. Er wurde ganz aufgeregt, als er entdeckte, dass die Wände noch dichter voll gekritzelt waren als vorher. »Es hat also nichts geholfen, dass sie das Buch mitgenommen hat«, sagte er. »Nein«, antwortete ich. Ich hatte gar nicht erst versucht, die neuen Textzeilen abzuschreiben. Sie waren unmöglich zu entziffern. Bethan und ich schauten eine Weile zu, wie Richard einen weiteren Film verknipste. Dann ging Bethan weg und ich half Richard beim Streichen. Es zeigte sich schnell, dass Richard eine Menge Hilfe brauchte – mehr als ich ihm geben konnte. Er schien nicht viel Ahnung vom Streichen zu haben. 70
»Ich hab all diese Sachen von meinem Dad geliehen«, gestand er, nachdem er festgestellt hatte, dass er ohne Gitter für die Farbrolle gekommen war. Zum Glück hatte Ray so etwas. Er hatte auch eine Leiter und eine Flasche Terpentin sowie eine alte Hose, die schon voller Farbkleckse war. Als es zehn Uhr geworden war, arbeiteten Ray und Richard Seite an Seite und Mum ging einkaufen. Ich half, die Pinsel und Farbrollen zu reinigen, und hörte Richards Geschichten zu. Eine handelte von einem ehemaligen Postamt, das jemand in eine Pension umgewandelt hatte, in der es spukte. Mehrere Gäste hatten berichtet, sie seien zu Bett gegangen, hätten das Licht ausgemacht und dann das Gewicht einer Person gespürt, die neben ihnen saß. Wenn sie jedoch das Licht anmachten, war außer ihnen niemand im Zimmer. Eine andere Geschichte handelte von einem Haus, in dem immer wieder die Türen zuschlugen, geisterhafte Schritte zu hören waren und das Geschirr in der Küche sich von selbst immer wieder umstellte. Eine genaue Untersuchung ergab, dass Zugluft, Ratten und ein unartiges Enkelkind für diese »übernatürlichen Erscheinungen« verantwortlich waren. »Man muss seinen Geist offen halten«, verriet uns Richard. »Es hat keinen Sinn, mit eigenen Vorstellungen an eine Sache heranzugehen. Man muss seine Ansichten draußen ablegen, ehe man durch die Tür tritt.« »Glauben Sie an Geister?«, fragte ich und er lachte ein wenig. 71
»Ehrlich gesagt: Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er, »Ich möchte gern an sie glauben. Nur habe ich bisher noch nichts gesehen, was mich wirklich überzeugt hätte – andererseits habe ich einige sehr erstaunliche Geschichten von Leuten gehört, denen ich vertraue, vernünftige Leute, die solche Dinge nicht zusammenschwindeln.« »Wie kam es, dass Sie bei PRISM mitarbeiten?«, erkundigte sich Ray. Richard erzählte ihm, dass er vor ungefähr einem Jahr zufällig über die Website von PRISM gestolpert sei und beschlossen habe, Mitglied zu werden. Die Untersuchung bei uns sei erst seine zweite. Die erste habe sich als ein Fall von fehlerhaften elektrischen Leitungen entpuppt. »Ihr Fall sieht wesentlich interessanter aus«, sagte er. »Besonders spannend wäre es, wenn wir etwas auf den Film bekämen.« »Können Kinder auch bei PRISM Mitglied werden?«, fragte Bethan von der Tür her. Zu meinem Schrecken sah ich, dass seine Freunde Matthew und Jonah bei ihm waren. Das also hat er getrieben, seit er gegangen ist, dachte ich. Er hat die halbe Nachbarschaft zusammengetrommelt. Richard runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich weiß von keinem Kind, das Mitglied wäre. Aber das heißt ja nicht, dass es verboten ist.« »Werden Sie bezahlt?«, fragte Matthew und wieder lachte Richard. »Nein. Es ist eine gemeinnützige Organisation.« 72
»Wenn ich Geister vertreiben würde, würde ich Geld dafür verlangen«, erklärte Matthew und spähte mit zugekniffenem Auge in den Lauf seines Plastikgewehrs. Dann trollte er sich geräuschvoll und nahm die beiden anderen Jungen mit. Aber sie kamen noch ein paarmal zurück. Richard Boyer schien sie zu faszinieren – nicht jedoch die Geisterschrift. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte unser Geist eindrucksvollere Tricks vorgeführt. Vielleicht hätte er kopflos umherwandern oder die Wände Blut schwitzen lassen sollen. Sie fanden unzählige Zeilen Text in einer kleinen, sauberen Handschrift ziemlich langweilig. Dennoch schleppten sie noch ein paar von ihren Freunden an, um ihnen die Schrift zu zeigen. Bis zum Abend waren sieben Kinder da gewesen, die das »Spukzimmer« mit eigenen Augen sehen wollten. Matthew und Jonah holten ihre Freunde Thomas und Gabriel. Michelle brachte ihre Cousine Dommy mit. Und ein kleiner Junge namens Jostein von gegenüber klopfte nach dem Mittagessen an die Tür und fragte, ob er bitte »Caspar, den freundlichen Geist« kennen lernen dürfe. Fragt mich nicht, wie er von Eglantine erfahren hatte. Offensichtlich verbreitete sich die Kunde von ihr wie ein Lauffeuer. Kein Wunder, dass auch unsere Lokalzeitung von der Geschichte erfuhr.
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Kapitel sieben
Allerdings hörten wir erst am Mittwoch von der Lokalzeitung – und davor geschahen noch mehrere andere Dinge. Zunächst einmal verbrachte Richard Boyer die Nacht von Samstag auf Sonntag in Bethans Zimmer. Sylvia hatte das ebenfalls vor und versuchte es auch, musste jedoch bald vor den Dämpfen der frischen Farbe flüchten, von denen sie Kopfschmerzen bekam. Zwar hatte Ray das Fenster offen gelassen, nachdem er den zweiten Anstrich beendet hatte, aber die Ausdünstungen der Farbe waren trotzdem noch ziemlich stark. Richard sah am nächsten Morgen blass und elend aus. Ich traf ihn mit einer Tasse Kaffee in der Küche an, als ich zum Frühstück nach unten kam. Mum war schon hellwach und aß ihr selbst zusammengestelltes Müsli. »Wie ist es gegangen?«, fragte ich und Richard blinzelte mich an. Dann nahm er die Brille ab und rieb sich die Augen. »Oh – äh – ganz gut.« »Ist wieder Schrift aufgetaucht?« Plötzlich wurde er munter. »Ja«, antwortete er. »Ja, allerdings. Ich hab zehn neue Zeilen gezählt.« »Prima!« Ich öffnete den Kühlschrank. »Haben Sie gesehen, wer sie geschrieben hat?« »Nein.« Richard klang zerknirscht. »Ich meine, 74
ich habe es wahrscheinlich auf dem Film – auf jeden Fall war der Puder auf dem Boden unberührt …« »Er ist eingeschlafen«, warf Mum ein. »Aber auch, wenn ich wach gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nichts gesehen«, verteidigte sich Richard. »Es war zu dunkel. Deswegen hatten wir ja die Infrarotkamera.« »Warum mussten Sie dann überhaupt im Zimmer bleiben?«, erkundigte ich mich und stellte mit Schwung die Milch auf den Tisch. »Oh, das musste ich. Unbedingt.« Richard straffte sich und seine Stimme klang atemloser als je zuvor. »Zum einen hatte ich diesen Traum. Ich träumte, ich würde ersticken.« Mum und ich wechselten einen Blick. »Es war unglaublich«, fuhr Richard fort und kratzte sich mit beiden Händen wie wild den Kopf. »Genau, wie Bethan gesagt hat. Kein Asthma – keine Spur von Asthma. Auch kein Druck auf der Luftröhre. Es war, als würde mir etwas mit Gewalt in den Hals gestopft.« »Was?«, fragte Mum. »Ich weiß nicht. Es war ganz dunkel. Aber natürlich«, fügte er kleinlaut hinzu, »bedeuten Träume unter diesen Umständen nicht viel. Ich dachte schon vorher an Bethans Traum. Wahrscheinlich hat mein Geist auf die Macht der Suggestion reagiert.« Plötzlich sprang Richard auf und rannte aus der Küche. Er wirkte mächtig nervös und sah richtig schlecht aus mit seinen rot geränderten Augen und 75
dem blassen, erschöpften Gesicht. Dennoch war er offenbar sehr gespannt auf die möglichen Ergebnisse seiner Bemühungen. Ehe er seine Ausrüstung zusammenpackte und ging, bedankte er sich bei Mum immer wieder für ihre Gastfreundschaft. Und er versicherte ihr, er werde uns anrufen, sobald er irgendetwas zu berichten habe. Wie es der Zufall wollte, war ich dann aber die Erste, die etwas zu berichten hatte. Denn nachdem Richard gegangen war, ging ich in Bethans Zimmer und entdeckte, dass nun Graf Osric Prinzessin Emilie bat, mit ihm zusammen zu fliehen. Prinzessin, sagte er, habt Ihr einen vertrauenswürdigen Pagen in Eurem Gefolge? Als Emilie antwortete, sie habe durchaus einen vertrauenswürdigen Pagen, drängte er sie, sich als Bruder des Pagen zu verkleiden. Dann solle sie den Palast in der Nacht durch das nördliche Tor verlassen. Sobald sie außerhalb des Tores sei, solle sie die große Straße durch die Stadt entlanggehen, bis zu ihrer Linken ein großer Wald beginne. Dort solle sie einen schmalen Weg nehmen, der bald komme, und ihm folgen, bis ihr lieber Fuß eine Klippe hoch über dem Meer betrete. »Ich glaube, diese Leute von PRISM schenken der Geschichte nicht genug Aufmerksamkeit«, sagte ich zu Mum, nachdem ich ihr von den neuesten Ereignissen in Eglantines Märchen berichtet hatte. »Dieser Richard hat kein Wort darüber gesagt. Dabei muss sie doch irgendeine Bedeutung haben, meinst du nicht?« 76
Mum grunzte. Ich merkte bald, dass sie langsam das Vertrauen in die Hilfe der PRISM-Leute verlor, denn am Nachmittag kam Trish herüber und diskutierte mehr als zwei Stunden lang mit Mum über Bethans Zimmer. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Chi dort drinnen sehr schlecht sein müsse. Mum überlegte laut, ob sie einen Kristall vor das Fenster hängen oder ein Licht ins »siebte Haus« stellen sollte, um der vielen Donnerenergie entgegenzuwirken. Trish begann über das Gesetz des Vorgängers zu sprechen. »Ich hatte es ganz vergessen«, sagte sie, »bis ich noch mal in meinen Büchern nachgelesen habe. Kurz gesagt ist es so, dass die Gesamtschwingung, die von denjenigen in einem Raum zurückbleibt, die vor dir dort gelebt haben, eine Menge Einfluss auf das hat, was in der Gegenwart geschieht. Das ist das Gesetz des Vorgängers. Und niemand kann das Gesetz des Vorgängers dadurch ändern, dass er Hilfsmittel für einen Ausgleich anbringt oder das Bagua studiert.« »Aber was soll ich denn dann machen?«, stöhnte Mum. »Um Himmels willen, Trish …« »Schon gut. Beruhige dich. Es gibt eine Lösung.« Zweifellos begann Trish jetzt zu erläutern, wie diese Lösung aussah, aber an dieser Stelle ging ich hinaus, um mir einen Naturfilm im Fernsehen anzuschauen. Deshalb verpasste ich, was sie sagte, und war ganz verblüfft, als ich am Montagnachmittag nach Hause kam und Mum und Trish in Bethans Zimmer vorfand, wo sie ein Reinigungsritual durchführten. 77
Beide waren ganz in Weiß gekleidet. Trish trug ein langes, loses, weißes Kleid. Mum hatte ein Paar alte Tennisshorts, ein weißes T-Shirt und ein Paar weiße Socken herausgekramt. Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden, hielten die Augen geschlossen und machten beim Ausatmen einen langen, leisen Ton, der ein bisschen wie »suuuu« klang. »Was macht ihr da?«, fragte ich, und Mum runzelte die Stirn, ohne die Augen zu öffnen. »Geh weg, Allie«, sagte sie. »Aber was …« »Schon gut, Allie«, murmelte Trish. »Du kannst uns von der Tür aus zuschauen, wenn du mucksmäuschenstill bist.« Erst dachte ich, sie würden meditieren. Mum macht das ab und zu, wenn auch normalerweise nicht in weißer Kleidung. Aber dann begann Trish zu sprechen. Nicht zu rezitieren – zu sprechen. Ihre Stimme klang leise und besänftigend. »Wir danken dir für dein Leben«, sagte sie. »Wer immer du bist, wann immer du in diesem Haus gelebt hast – ich bin sicher, dass du es schöner verlassen hast, als du es bei deiner Ankunft vorgefunden hast. Wo immer du jetzt sein magst – wir hoffen, dass du glücklich und in Frieden bist, und wir werden versuchen, dir zu helfen. Mach dir keine Sorgen um dieses Haus. Wir lieben es und werden uns darum kümmern, deshalb brauchst du nicht länger hier zu bleiben. Wir wünschen dir Gutes. Mach dir auch keine Sorgen um uns, denn wir werden uns darum bemü78
hen, auch ohne deine Anwesenheit glücklich und gesund zu sein …« Sie redete immer weiter, etwa zehn Minuten lang. Dann rezitierte sie eine ihrer Sutras, und Mum rezitierte eine ihrer Sutras, und als sie fertig waren, klatschten sie gleichzeitig dreimal laut in die Hände. Erst dann öffneten sie die Augen und standen mühsam und mit knackenden Kniegelenken wieder auf. »Meint ihr, Eglantine macht sich wirklich Sorgen um das Haus?«, begann ich, aber Mum machte mir wieder ein Zeichen, dass ich still sein solle. Sie nahm eine Hand voll Meersalz aus einer kleinen Silberschale, die neben ihr stand, und begann es über den Fußboden zu verstreuen. »Wir lassen es einen Tag lang liegen«, verkündete Trish. »Dann fegen wir es zusammen und streuen stattdessen frische Blumen auf den Boden. Vielleicht zünden wir noch ein paar Kerzen an.« »Wofür ist das Salz gut?«, fragte ich. »Salz ist die dichteste Substanz, die wir jeden Tag beim Kochen verwenden«, erklärte mir Trish feierlich. »Es ist eines der wichtigsten Lebenselemente und steht daher in direktem Gegensatz zur Welt der Geister. Wir möchten die Lebensenergie in diesem Zimmer fördern.« »Es lohnt sich, dass wir es versuchen«, fügte Mum an. »Wenn es nichts hilft, müssen wir einen FengShui-Meister holen, und das kostet Geld.« Dann verließ sie das Zimmer und Trish ging mit ihr; sie wollten sich mit Jasmintee erfrischen. Ich 79
blieb. Ich blickte mich in dem hellen, leeren Raum um und fragte mich, ob Eglantine von einem chinesischen Reinigungsritual überhaupt Notiz nehmen würde. Ich fürchtete, nein, denn schließlich war sie keine Chinesin gewesen. »Eglantine«, sagte ich laut, »was dir zugestoßen ist, tut mir wirklich sehr, sehr Leid.« Und das stimmte. Ich hatte allmählich das Gefühl, sie besser zu kennen, und die Tatsache, dass sie vielleicht erstickt war … also, mir fiel es von Tag zu Tag schwerer, mir etwas so Schreckliches vorzustellen. »Es ist nur so«, fuhr ich fort, »dass wir daran leider nichts ändern können. Verstehst du das nicht? Könntest du nicht bitte weggehen und uns in Ruhe lassen? Ich wette, du hättest auch nicht gerne ein Zimmer mit deinem kleinen Bruder geteilt.« Ein tiefes, drückendes Schweigen antwortete auf meine Bitte. Staubkörnchen schwebten durch einen Sonnenstrahl. Falls Eglantine mich gehört hatte, interessierten sie meine Worte nicht im Geringsten. Ich holte mein Tagebuch, damit ich die achtundzwanzig neuen Zeilen abschreiben konnte, die letzte Nacht an den Wänden erschienen waren. Graf Osric erläuterte Prinzessin Emilie immer noch den Fluchtplan, den er sich für sie ausgedacht hatte. Ich werde mein Schiff dicht an der Klippe vor Anker gehen lassen, sagte er. Ein rotes Licht soll oben am Mastkorb brennen. Ich werde mit einem Boot kommen und Euch holen. Dann werden wir mit dem starken Schiff 80
in ein anderes Land segeln – ein Sommerland, in dem wir für immer glücklich sein werden. Ach, flieht mit mir, meine Herzensdame, oder ich sterbe! Flieht mit mir, ich bitte Euch, um unserer Liebe willen. Ich befreie Euch von allen Schmerzen1. Ich schenke Euch alle Wonnen! Aber Emilie war unentschlossen. Als er sie flehentlich bat, forderte sie ihn auf, er solle ihr lieber einen Befehl erteilen – denn ohne seinen Befehl würde sie nicht die nötige Kraft aufbringen. Also befahl er ihr zu fliehen und sie gehorchte. Dann wurde es Nacht im Reich des Königs mit dem weißen Bart, dunkel und trostlos und kalt. Die Büsche waren schwer von Regentropfen, die in den hohlen Blüten und an den Blättern hingen. Es blies ein kalter Wind. Emilie kleidete sich wie ein Page und ging hinaus, um ihren Liebsten zu treffen. Sie trat durch das Palasttor. Sie schritt durch belebte Straßen. Sie zitterte, aber es schwanden ihr nicht die Sinne. Sie war gerade an den Wachen am Stadttor vorbeigegangen, da hörte die Geschichte auf. Ich muss zugeben, dass ich allmählich ganz von ihr besessen war. Ich wollte wissen, wie es weiterging. Deshalb war ich nicht halb so erfreut, wie ihr vielleicht denken könntet, als ich am nächsten Morgen nur eine neue Zeile an der Wand fand. Sie hieß: Zu ihrer Linken war ein Wald. »Wow«, sagte Bethan. »Nur eine Zeile.« »Das ist ja prima«, sagte Ray. »Besser als je seit dem ersten Tag.« 81
»Vielleicht war das Reinigungsritual das Richtige«, sagte Mum und es klang ein wenig verwundert. Wir standen alle in Bethans Zimmer und starrten auf die einsame neue Zeile. Zu ihrer Linken war ein Wald. Ich dachte, Emilie und ihr Page müssten bald den Rand der Klippe erreichen. »Vielleicht sollte ich das Ritual noch einmal durchführen«, fuhr Mum fort. »Einfach für den Fall des Falles, was meint ihr?« »Und was ist mit den Blumen?«, erkundigte ich mich. »Solltest du nicht einen Tag warten und dann Blumen streuen und Kerzen anzünden?« »Ich werde Trish fragen«, sagte Mum. Das tat sie – noch am selben Nachmittag –, und Trish sagte, sie solle auf keinen Fall die Reihenfolge der Schritte durchbrechen. Zuerst müsse das Salz weggefegt werden, erklärte sie. Dann müssten die Blumen gestreut und Kerzen im Zimmer verteilt werden, besonders im siebten Haus. Nach zwei Tagen könne alles weggeräumt werden. »Und wenn ihr dann immer noch ab und zu eine Zeile Text bekommt«, fuhr Trish fort, »kannst du das Ritual noch mal wiederholen. Einfach, um den Geist zu besänftigen und zu befreien. Aber ich bezweifle, dass du jetzt noch Probleme haben wirst«, schloss sie zuversichtlich. Aber sie irrte sich. Am Mittwochmorgen fand ich zehn neue Zeilen. Und das, nachdem Mum sechsunddreißig Dollar für Blumen aus dem Blumengeschäft bezahlt und ein ganzes Paket Haushaltskerzen abgebrannt hatte. 82
Sie war sehr ärgerlich. »Also gut«, knurrte sie und funkelte die Wände in Bethans Zimmer zornig an. »Wenn Sie es unbedingt so wollen, Miss Higgins, dann ziehen wir eben andere Saiten auf!« Und sie ging nach unten, um den Feng-ShuiMeister anzurufen.
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Kapitel acht
In den folgenden Tagen war unser Haus wie ein Hotel, in dem ständig Leute ein und aus gingen. Zuerst rief uns (wie ich schon erwähnte) eine Journalistin von unserer Lokalzeitung an und fragte, ob sie am nächsten Tag herkommen und ein paar Fotos machen könne. Sie habe gehört, dass es in unserem Haus spuke, und wolle einen Artikel darüber schreiben. Ganz besonders schien sie zu interessieren, dass sich PRISM in den Fall eingeschaltet hatte. Später stellte sich heraus, dass sie von uns erfahren hatte, als sie Informationen für einen Artikel über die Fußballmannschaft der unter Zwölfjährigen sammelte (wahrscheinlich von einem der Brüder Bracco). Mum war zu einem Interview bereit – ich weiß nicht, warum. Vielleicht mochte sie die Journalistin und brachte es nicht fertig, Nein zu sagen. Die Arme war nämlich noch sehr jung und sehr schüchtern, und es war schwer, ihr die Bitte abzuschlagen. Ihr Name war Claire Hickey. Sie hatte eine zarte Stimme, glatte blonde Haare und sah ein bisschen wie ein weißes Kaninchen aus. Mum erlaubte ihr, ein Foto von Bethans Zimmer zu machen – mit Bethan darin –, und Bethan war natürlich restlos entzückt. Er ist ganz wild darauf, in der Zeitung zu stehen. Als Claire wieder gegangen war, machte ich Mum darauf aufmerksam, dass Zeitungsberichte über 84
Spukhäuser immer doof klingen und die Vorstellung, es könnte Geister geben, lächerlich machen. »Claire ist nicht so«, sagte Mum. »Sie ist eine sehr höfliche, ernsthafte junge Frau. Sie glaubt nicht, dass wir dumm sind.« »Wirklich nicht?« »Nein. Ganz und gar nicht. Sie hat mir sogar erzählt, dass ihre Großmutter einmal einen Geist gesehen hat. Und sie hat mir fest versprochen, unsere Adresse nicht anzugeben.« Mum zögerte, vielleicht, weil ihr gerade klar wurde, dass Journalisten ihre Versprechen nicht immer halten. »Auf jeden Fall ist das der erste Job des armen Dings«, erklärte sie. »Ihr Gehalt ist erbärmlich. Und sie ist so eifrig. Ich musste ihr einfach helfen.« Claire war am Donnerstagnachmittag bei uns. Am Freitagabend kamen die Mitarbeiter von PRISM wieder. Richard hatte Mum am Mittwoch angerufen und ihr mitgeteilt, die Untersuchung von Samstagnacht sei ergebnislos geblieben. Er habe die Blendenöffnung falsch eingestellt. »Infrarotkameras sind knifflig«, entschuldigte er sich, »und dass ich eingeschlafen bin, war auch nicht gerade hilfreich. Es tut mir wirklich Leid. Jetzt habe ich alles genau ausgetüftelt. Und ich habe geübt. Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn wir noch einmal kämen? Nur ein einziges Mal, das verspreche ich Ihnen. Denn ich glaube wirklich, dass Sie da etwas Interessantes haben.« Mum seufzte und willigte ein. Also hießen wir am 85
Freitagabend wieder Richard und Sylvia bei uns willkommen und wiesen sie gleich darauf hin, dass die Wände in Bethans Zimmer inzwischen wieder ziemlich dicht mit Text bedeckt waren. »Das macht nichts«, sagte Sylvia. »Wir kommen schon zurecht. Wir haben mehrere Kameras mitgebracht und werden jede auf ein anderes Stück freie Fläche richten. Haben Sie den Kaffee mitgebracht, Richard?« »Ja, habe ich.« Richard schaute Mum an und grinste. »Diesmal werde ich nicht einschlafen«, versicherte er. »Nach dem, was Richard mir erzählt hat«, fuhr Sylvia fort, »geht in diesem Zimmer offenbar etwas sehr Merkwürdiges vor. Hoffentlich finden wir heute Nacht heraus, was da geschieht. Ach, übrigens!« Sie begann in einer ihrer Taschen zu kramen. »Hier ist das alte Buch, das Sie mir mitgegeben haben. Laut Richard hat sich dadurch, dass es nicht mehr im Haus ist, nichts geändert – stimmt das?« »Ja«, sagte Ray. »Ich habe ja gleich gesagt, wir hätten es verbrennen sollen. Vielleicht sollten wir das jetzt tun …« »Nein! Ja nicht! Warte!« Mums Aufschrei jagte uns allen einen Schrecken ein. Wir standen in der Küche, umgeben von den technischen Hilfsmitteln der PRISM-Leute, und Ray hätte fast seine Kaffeetasse fallen lassen. Wir starrten Mum an und sie rief: »Halt! Halt! Geben Sie mir das Buch!« Sie riss es Sylvia aus den 86
Händen und wedelte damit in unsere Richtung. »Vielleicht sollten wir es wieder zurücklegen!«, rief sie aus. »Vielleicht ist das das ganze Problem. Wir haben es unter der Treppe weggenommen – vielleicht müssen wir es einfach nur wieder an die alte Stelle legen!« Wir sahen einander reihum an. »Vielleicht hat das Wegnehmen des Buches die ganze Geschichte überhaupt erst ins Rollen gebracht!«, endete Mum triumphierend. Aber Ray schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, erwiderte er ihr. »Erinnerst du dich noch, wie das Zimmer ausgesehen hat, als wir das Haus gekauft haben? Und damals lag das Buch noch unter der Treppe.« Mum fiel der Unterkiefer herunter. »Ja«, sagte sie. »Natürlich. Das stimmt.« »Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten es verbrennen«, sagte Ray fest. »Es kann nicht schaden.« »Vielleicht doch«, wandte ich ein. »Es könnte Eglantine zornig machen. Noch zorniger, als sie schon ist, meine ich. Schließlich ist es ihr Buch.« Ray brach fassungslos in Gelächter aus. »Das darf doch nicht wahr sein, dass wir hier ernstlich über die Gefühlsregungen eines Geistes diskutieren!«, stöhnte er. »Manchmal glaube ich fast, wir sind alle übergeschnappt.« »Schon gut.« Sylvia tat ihr Bestes, um ihn zu trösten. »Ich weiß, dass es schwer ist, aber die Sache 87
wird sich klären. Verbrennen Sie das Buch bitte nicht. Noch nicht. Wenigstens nicht, bevor wir die nächtliche Aktivität dokumentiert haben. So – wo ist mein doppelter Adaptor?« Um zehn Uhr hatten sie und Richard sich oben häuslich eingerichtet. Sie saßen rechts und links der Tür (falls sie mal auf die Toilette mussten) und umklammerten ihre Taschenlampen und ihre Thermosflaschen. Der Boden war mit Talkumpuder bedeckt. Rote Lämpchen blinkten und Tonbandgeräte surrten, als Mum leise die Tür hinter ihnen schloss. Sie sagte, sie fühle sich, als würde sie die Luke einer Tiefseetauchkapsel oder die Tür zum Cockpit eines Raumschiffs schließen. Nervös kichernd fragte sie sich laut, ob wir die beiden wohl je wieder sehen würden. Ich machte mich auf eine laute Nacht gefasst, voller Schreckensschreie und Schimpfkanonaden. Wahrscheinlich würde ich nicht besonders gut schlafen können. Aber ich schlief tief und fest und erwachte am nächsten Morgen vom Geräusch aufgeregten Flüsterns im Flur. Weil es noch nicht mal sechs Uhr war – und weil ich am Samstag nie vor sieben Uhr aufstehe, wenn ich nicht unbedingt muss –, drehte ich mich um und schlief weiter. Deshalb verpasste ich die beiden Forscher, die um sieben Uhr schon weg waren. Sie hatten einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, auf dem sie Mum für ihre Geduld dankten, und versprachen, bald anzurufen, da ihre Ergebnisse sehr verheißungsvoll aussähen. 88
Sie riefen dann aber erst nach drei Tagen an. Dabei informierten sie uns, dass sie etwas auf Film festgehalten hatten. Eine der Kameras hatte eingefangen, wie vier schwarze Worte auf einem Stück weißer Wand erschienen. Es war unglaublich. Sehr eindrucksvoll. Aber es warf eine Frage auf. »Die Worte wurden nicht eins nach dem anderen an die Wand geschrieben«, erklärte Sylvia Mum. (Ich hörte am Nebenanschluss zu.) »Vielmehr schienen sie langsam aus ihr herauszukommen. Am Anfang waren sie nur ganz schwach sichtbar, und dann wurden sie immer dunkler, als würden sie durch die Farbe dringen. Aus diesem Grund«, fügte sie hinzu, »können wir die Möglichkeit einer chemischen Reaktion noch nicht ausschließen.« »Aber die Zeilen erscheinen offenbar in einer bestimmten Reihenfolge«, wandte Mum ein. »Sie erzählen eine Geschichte. Wie können sie auf einer chemischen Reaktion beruhen, wenn sie eine Geschichte erzählen?« »Das müssen wir noch herausfinden. Deshalb werden wir auch einen Chemotechniker fragen und uns dann wieder bei Ihnen melden. Der Film hat aber einen ziemlichen Aufruhr verursacht. Er hat sogar schon internationales Interesse erregt.« »Ach ja?« Mum klang etwas erstaunt und verwirrt. »Bisher ist der Film alles, was wir haben«, schloss Sylvia. »Keine der anderen Kameras hat etwas von Interesse aufgezeichnet und auch mit dem Tonband haben wir nichts eingefangen. Aber wir suchen weiter. 89
Hat es irgendwelche neuen Entwicklungen gegeben, Judy?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Mum. »Im Grunde nicht.« »Natürlich hat es«, mischte ich mich ein. »Die Geschichte hat wieder von vorn angefangen.« »Wie bitte?«, fragte Sylvia. »Warst du das, Judy?« »Das war Alethea«, knurrte Mum. »Alethea, leg sofort den Hörer auf. Du weißt doch wohl noch, was ich dir über das Lauschen gesagt habe?« »Aber ich muss ihr das sagen, Mum. Es ist bestimmt wichtig.« »Was musst du mir sagen?«, wollte Sylvia wissen. Ich erklärte ihr, dass es mir in den letzten Tagen immer schwerer gefallen war, die Schrift an den Wänden von Bethans Zimmer zu entziffern. Wieder wurde der freie Raum knapp und die Zeilen wurden überschrieben. Aber ich hatte genug zusammenbekommen, um zu wissen, dass Prinzessin Emilie in dem Augenblick an der Klippe angekommen war, in dem Graf Osric auf sie zusegelte. Der Wind heulte. Die Wogen gingen hoch. Das Schiff hielt auf eine Landzunge zu, an der noch kaum jemand gelandet war und deren tückische Untiefen und schäumende Brecher nicht vom hellen Licht eines freundlichen Leuchtturms erhellt wurden. Was würde geschehen? Würde das Schiff sinken? Ich wollte es unbedingt wissen – vor lauter Nachdenken darüber konnte ich am Abend kaum einschlafen. Vielleicht, weil ich erwartete, dass das Ende der 90
Geschichte irgendwie unser Problem mit Eglantine lösen würde. Aber als ich am nächsten Morgen die Wände untersuchte, entdeckte ich etwas sehr Merkwürdiges. Auf einem der wenigen Streifen weißer Wand, die noch übrig waren, standen die Worte: Einst lebte in einem rauen Land ein König, der hatte einen weißen Bart. »Die Geschichte fängt wieder von vorn an«, erklärte ich Sylvia. »Eglantine ist wieder zum Anfang zurückgekehrt, obwohl sie noch gar nicht fertig war. Was glauben Sie, was das zu bedeuten hat?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Sylvia. »Aber vielleicht hast du den Text einfach ein bisschen durcheinander gebracht, was meinst du? Diese vielen Zeilen – sie müssen doch ziemlich verwirrend sein.« »Ich habe nichts durcheinander gebracht«, entgegnete ich entschieden. Aber Sylvia interessierte sich nicht wirklich für meine Beobachtung. Sie sagte, ich solle nur fleißig weiter aufschreiben, und fing an, über den britischen Zweig der Gesellschaft für Parapsychologie zu sprechen, mit deren Präsident sie vielleicht Kontakt aufnehmen könne. Deswegen ging ich weg und machte mich allein an die Lösung des Problems. Warum hatte Eglantine das Märchen nicht zu Ende geschrieben? Warum hatte sie wieder von vorn angefangen? Wusste sie nicht, was mit Graf Osric und Prinzessin Emilie geschehen war? Die Wände von Bethans Zimmer wurden schon 91
wieder schwarz, und als ich an ihnen hinaufschaute, fragte ich mich, ob Eglantine dazu verurteilt war, dieselbe Geschichte wieder und wieder zu schreiben, ohne je an ein Ende zu kommen. Das war ein schrecklicher Gedanke. Mir wurde ganz schlecht davon. Plötzlich dachte ich: Und wie wäre es, ich würde ihr ein Ende für die Geschichte geben? Würde sie dann aufhören? Bei diesem Einfall wurde mir vor Aufregung ganz heiß. Ich rannte in mein Zimmer, schnappte mein Tagebuch und verzog mich in Rays Atelier. Zuerst konnte ich mich gar nicht konzentrieren, so begeistert war ich von mir und meiner brillanten Idee. Aber nach einer Weile beruhigte ich mich und wandte meine Aufmerksamkeit dem Text von Eglantines Märchen zu. Ich war bis an die Stelle gekommen, an der Prinzessin Emilie beobachtete, wie das Schiff von Graf Osric in Nacht und Sturm auf sie zuschlingerte. Ein rotes Licht leuchtete auf. Aber wie sollte sie von der Klippe auf das Schiff kommen? Falls Graf Osric ihr seinen Plan je erläutert hatte, war er im Gewirr der übereinander gekritzelten Zeilen verloren gegangen. Ich musste die Sache alleine bewältigen. Von hoch oben über dem Meer, schrieb ich, konnte Emilie sehen, wie von dem Schiff ein Boot herabgelassen wurde. (Dann fiel mir ein, dass sie mitten in einer stürmischen Nacht dort oben stand – wie sollte 92
sie irgendetwas sehen, wenn es stockdunkel war?) In dem Boot brannten Laternen, fügte ich hinzu, die leuchteten, als das Boot durch die Wellen auf sie zufuhr. Endlich kam das Boot bei der Klippe an. Sie konnte Graf Osric sehen. Er warf ihr ein Seil zu und sie fing es auf. Sie band es an einem Baum fest. Dann kletterte er an dem Seil zu ihr hinauf und sie warf sich in seine Arme. »Oh, mein Liebster!«, rief sie. »Wie lange habe ich auf Euch gewartet!« (Das war ziemlich gut, findet ihr nicht?) Er küsste sie, trug sie zum Boot und sie fuhren davon. Und sie lebten glücklich zusammen, solange sie lebten. Ich brauchte etwa eine halbe Stunde, um das zu schreiben, und auch dann war ich noch nicht damit zufrieden. Aber ich konnte daran herumbasteln, so viel ich wollte, irgendwie kriegte ich es nicht besser hin. Und außerdem hatte ich noch Hausaufgaben zu machen. Also gab ich schließlich auf, schrieb meinen Schluss ab und klebte ihn in Bethans Zimmer an die Wand. Ich sagte niemandem etwas davon. Ich wollte Mum überraschen, falls tatsächlich etwas Gutes geschehen sollte. Am nächsten Morgen (Dienstag) stand ich früh auf. Ich war ganz aufgeregt. Ich ging in Bethans Zimmer und blickte mich um, halb und halb in der Erwartung, dass die Schrift an den Wänden über Nacht verschwunden war. Aber sie war nicht verschwunden. Die Lage war schlechter geworden – viel schlechter. Mit Bestür93
zung sah ich, dass Eglantine sogar über das Blatt Papier mit meinem Schluss gekritzelt hatte. Und zwar die Worte: sein Reich war fast ganz vom Meer umgeben. Offensichtlich war sie noch nicht zufrieden.
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Kapitel neun
Am Dienstag passierte eine Menge. Zunächst einmal erschien ein Foto von Bethan in der Lokalzeitung. Das entdeckte ich in der Mittagspause, als ich mit Mrs Procter, der Bibliothekarin, sprach. Ich hatte eine Abschrift von Eglantines Märchen in die Schule mitgenommen, weil mir ein paar Fragen gekommen waren: War die Geschichte womöglich ein echtes Märchen? Stand es vielleicht irgendwo in einem Buch? Hatte Eglantine etwa das Buch gelesen, ehe sie starb, und konnte es nicht mehr fertig lesen? Der Schluss, den ich an die Geschichte angehängt hatte, war eindeutig nicht der richtige gewesen. Aber ich hatte ganz gute Chancen, den richtigen Schluss vielleicht zu finden – mit Hilfe von Mrs Procter. Also ging ich zu ihr, zeigte ihr das Märchen und fragte, ob sie es kenne. Sie warf einen kurzen Blick darauf und erkundigte sich dann: »Hast du das von der Wand deines Zimmers abgeschrieben?« Ich starrte sie verblüfft an. Woher wusste sie etwas von der Wand meines Zimmers? Als sie mein Gesicht sah, klärte sie mich eilig auf. »Es stand heute Morgen in der Zeitung«, sagte sie. »Hast du es nicht gesehen? Schau her – ich habe es im Bus gelesen.« Sie kramte hinter ihrem Schreibtisch herum und legte dann ein Exemplar der Neuesten Nachrichten hin. Auf der vierten Seite war ein Foto 95
von Bethan in seinem Zimmer und obendrüber stand: Spuk in unserer Stadt untersucht. »Oh, tut mir Leid, es ist das Zimmer deines Bruders«, korrigierte sie sich und blickte auf die Bildunterschrift unter Bethans schwarzweißen Füßen. Hinter ihm war die Schrift an der Wand sichtbar, schwach und verschwommen. In dem Bericht wurde PRISM erwähnt und auch die Möglichkeit, dass eine chemische Reaktion die Ursache unseres »rätselhaften Problems« sein könnte. Mum wurde zitiert, aber sonst niemand. Ich wurde nicht einmal erwähnt. »Es muss sehr schwierig für dich sein«, sagte Mrs Procter, die mich aufmerksam anschaute, und ich wurde rot. Ich wollte nicht, dass sie dachte, wir seien eine Familie von Spinnern. »Es ist ziemlich merkwürdig«, murmelte ich. »Aber wahrscheinlich gibt es eine logische Erklärung.« »Ja, natürlich.« »Die Schrift war schon da, ehe wir einzogen. Sie kam einfach wieder, nachdem das Zimmer frisch gestrichen wurde, das ist alles.« »Aber ist es irgendein Text? Eine Geschichte? Das ist der Eindruck, den ich gewonnen habe.« Als Antwort zeigte ich auf meine Abschrift von dem Märchen, die zweiundzwanzig Seiten eines Schulheftes füllte. »So viel habe ich zusammengebracht«, sagte ich. »Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich 96
wollte Sie fragen, ob Sie sie schon einmal irgendwo anders gesehen haben. In irgendeinem Buch.« »Aha.« Mrs Procter blätterte die Seiten durch und runzelte die Stirn. »Ich werde sie natürlich lesen, Alethea. Vielleicht fällt mir etwas dazu ein.« »Ich denke, es ist ein Märchen. Mum meint, es sei viktorianisch.« »Ah ja.« »Es wäre gut, wenn wir – also – wenn wir das Ende herausfinden könnten.« Ich wollte ihr nicht sagen, warum. Deshalb verließ ich gleich darauf die Bibliothek und ging zu Michelle, die unter den Fenstern des Lehrerzimmers wartete. Das ist in der Mittagspause der einzige sichere Teil der Wiese, weil die vielen Rowdys und herumfliegenden Tennisbälle den Rest davon richtig vermiesen. Ich schämte mich zu sehr, um bei Mrs Procter zu bleiben. Ich wusste, was sie denken musste. Und ich wusste auch, dass alles nur noch schlimmer werden konnte, weil die meisten Leute die Lokalzeitung erst am Nachmittag lesen, nicht am Morgen. Bis zum Mittwoch würden so gut wie alle Lehrkräfte unserer Schule von Eglantine gelesen oder gehört haben. Mein Klassenlehrer, Mr Lee, würde sich dann womöglich fragen, ob ich wirklich so vernünftig war, wie er immer gedacht hatte. Als ich nach Hause kam, sah ich die Zeitung auf dem Küchentisch liegen (aufgeschlagen bei Bethans Foto) und hätte beinahe geweint. Bethan war natürlich völlig begeistert. Auch Mum sah merkwürdig 97
erfreut aus. Aber noch ehe ich sagen konnte, dass der doofe Artikel praktisch mein Leben ruiniert hatte, machte mich Mum auf ein großes gelbes Kuvert aufmerksam, das in der Nähe der Zeitung unter ihrem Autoschlüssel lag. »Vom Standesamt«, sagte sie. »Das ist bestimmt dein Familienbuchauszug.« Sie hatte Recht. Als ich den Umschlag aufriss, fand ich darin eine Kopie der Sterbeurkunde von Eglantine May Higgins. Darin stand, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes siebzehn Jahre alt war, dass sie in Glebe in New South Wales geboren wurde, dass sie am 5. Juni 1907 auf dem RookwoodFriedhof beerdigt wurde, dass ihre Mutter (deren Mädchenname Henrietta Botts gelautet hatte) der Church of England angehörte und ihr Vater für die Bank von New South Wales arbeitete. Außerdem stand darin, dass Eglantine Higgins an »Herzversagen als Folge eines schweren Falles von Anorexia hysterica« gestorben war. »Was ist Anorexia hysterica?«, fragte ich Mum, nachdem ich die Urkunde überflogen hatte. Sie blickte von Bethans Foto auf und runzelte die Stirn. »Wie bitte?«, fragte sie. »Eglantine ist an Herzversagen gestorben, das die Folge eines schweren Falles von Anorexia hysterica war. Weißt du, was das bedeutet?« »Lass mal sehen.« Mum nahm die Urkunde. Sie studierte sie aufmerksam. Dann sagte sie: »Ich bin mir nicht sicher. Ich vermute aber, dass Anorexia 98
hysterica so was Ähnliches wie Anorexia nervosa ist.« »Und was ist Anorexia nervosa?« »Also, das ist … das weißt du doch, Allie. Es ist das, was die Mädchen im Teenageralter haben, die sich zu Tode hungern.« »Ach, das!« Davon wusste ich natürlich. Tilly Smiths Schwester hatte es. »Aber ich dachte, das sei etwas Neues, wegen all den superdünnen Models in der Werbung. Gab es das wirklich schon 1907?« »Ich weiß nicht. Vielleicht war Anorexia hysterica etwas anderes. Du könntest ja mal im Lexikon nachschauen.« Das tat ich. Aber Anorexia hysterica stand nicht drin. Unter »Anorexie« fand ich »Appetitlosigkeit«. Unter »Anorexia nervosa« fand ich, das sei »eine Krankheit, bei der Appetitlosigkeit aufgrund von schweren emotionalen Störungen zur Auszehrung führt«. Unter »ausgezehrt« fand ich »entkräftet oder ausgemergelt«. Mager, mit anderen Worten. Sehr mager. Aber was war Anorexia hysterica? »Vielleicht ist es auch nur ein anderer Ausdruck für Anorexia nervosa«, sagte Ray an jenem Abend beim Nachtessen. »Es klingt so, als könnte das sein.« »Ich schlage morgen in der Schule im Lexikon nach«, sagte ich. »Es ist ein großes Lexikon. Nicht so wie unseres.« »Eglantine ist also doch nicht erwürgt worden?«, wollte Bethan wissen und es klang beinahe enttäuscht. 99
»Nein, mein Schatz.« Mum griff nach dem Salzstreuer. »Sie ist an Herzversagen gestorben, das arme Ding – wahrscheinlich, weil sie nichts gegessen hat.« »Warum hat sie nichts gegessen?«, fragte Bethan, und Mum antwortete, das wisse sie nicht. Manche Mädchen wollten eben aus irgendeinem Grund nichts essen. Es sei eine merkwürdige Krankheit. Aber sie habe nicht gewusst, dass sich die Mädchen schon in der Zeit von König Edward tothungerten. »Natürlich könnte Anorexia hysterica auch ein bisschen was anderes sein als Anorexia nervosa«, fuhr Mum fort. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Weißt du was«, sagte sie und wandte sich Ray zu, »ich erinnere mich, dass ich etwas über die Suffragetten gelesen habe. Wenn sie in Hungerstreik traten, wurden sie zwangsernährt. Mit einem Schlauch.« »Was sind Suffragetten?«, erkundigte ich mich. »Was ist zwangsernährt?«, fragte Bethan. »Und was willst du damit sagen?«, fragte Ray, und Mum rief aus: »Der Traum, Ray! Bethans Traum!« »Oh.« »Vielleicht haben sie dem armen Mädchen einen Schlauch in den Hals gesteckt. Damit sie ihr Milch einflößen konnten oder sonst etwas.« »Was ist eine Suffragette?«, wiederholte ich hartnäckig. Mum erklärte mir, dass die Suffragetten Frauen waren, die für das Stimmrecht der Frauen bei politischen Wahlen kämpften. In England wurden viele von ihnen ins Gefängnis gesteckt, weil sie sich bei100
spielsweise an Zäunen anketteten und im Parlament laut Parolen riefen. Im Gefängnis weigerten sich Suffragetten aus Protest häufig, zu essen, und wurden deshalb zwangsernährt. »Iiii«, sagte ich. »Das ist ja schrecklich.« »Ja.« »Ist das auch in Australien vorgekommen?« »Ich weiß nicht.« Mum dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht. Ich glaube, in Australien hatten die Frauen damals schon das Wahlrecht.« Das freute mich. Und am nächsten Tag freute ich mich noch mehr, als ich in der Mittagspause in die Schulbücherei ging und ein Buch über Anorexia nervosa fand. Dass ich dieses Buch fand, gab mir ein richtiges Erfolgsgefühl – bis ich es aufschlug. Da entdeckte ich nämlich, dass Mädchen, die Anorexie oder Magersucht bekommen, häufig starke Stimmungsschwankungen haben, ein Gespür für die Bedürfnisse anderer besitzen, verzweifelt um Anerkennung kämpfen und dabei hochintelligent und wütend auf ihre Geschwister sind. Das machte mich nervös. Denn diese Beschreibung passte nicht nur möglicherweise auf Eglantine – diese Beschreibung passte durchaus auch auf mich. Ich beschloss im Stillen, auf keinen Fall je Vegetarierin zu werden. Ich brauche Fleisch. Ich will keine Magersucht kriegen. Von jetzt an werde ich jeden Tag eine Tafel Schokolade verlangen und nie mehr eine Nummer der Zeitschrift Teen anschauen. (Ich würde mich zwar sowieso um keinen Preis dabei erwischen lassen, dass ich 101
Teen lese, aber ihr wisst schon, was ich meine.) Außerdem beschloss ich, netter zu Bethan zu sein. Und dann noch, mir keine Gedanken mehr darüber zu machen, was Mr Lee über mich dachte. Was war schon dabei, wenn er die Lokalzeitung gelesen hatte? Was war dabei, wenn er wusste, dass ich an Geister glaubte? So lange er mir weiterhin gute Noten gab, war es im Grunde nicht wirklich wichtig, welche Meinung er von mir hatte. (Oder etwa doch?) Natürlich kämpfe ich kein bisschen verzweifelt um Anerkennung. Es ist mir egal, was die doofen Kinder in der Schule von mir halten. Ich erlaube Michelle nicht, meine Fingernägel zu lackieren, ganz gleich, wie heftig sie mich dazu drängt. Aber trotzdem … ich kam ins Grübeln. Ich kam wirklich ins Grübeln. Und als ich noch mitten im Grübeln war, warf ich zufällig einen Blick auf das Stichwortregister des Buches, in dem ich las, und sah die Worte »Anorexia hysterica«. Natürlich schlug ich gleich die dort angeführten Seiten auf und stellte fest, dass »Anorexia hysterica« tatsächlich ein Begriff war, den die Ärzte in viktorianischer Zeit für Anorexia nervosa benutzten. Weiterhin fand ich heraus, dass die Krankheit erstmals im Jahr 1868 diagnostiziert worden war. Typischerweise trat dieses Krankheitsbild bei Mädchen der gehobenen Gesellschaft auf, die eine gute Schulbildung besaßen und zu einer »morbiden Perversion des Willens« neigten. Häufig lasen sie zu viel. (Die Ärzte meinten damals, junge Mädchen sollten nicht zu viel lesen, weil das ihre Gesundheit 102
ruiniere, sie übermäßig romantisch mache und ihnen den Appetit verderbe.) Mädchen mit einem »nervösen Charakter« sollten Genussmittel wie Tee, Kaffee, Schokolade, Gewürze und Nüsse meiden, da diese ihren Zustand verschlimmern könnten. Solche Mädchen wollten häufig spirituell sein – und zart. Sie wollten dem Dichter Lord Byron nacheifern, der zeitweise tagelang von Keksen und Mineralwasser gelebt hatte. Manchmal hörten sie auf zu essen, nachdem sie eine »Liebesenttäuschung« erlitten hatten. Manchmal wollten sie nichts mehr essen, weil alles andere, was sie taten, beobachtet, kontrolliert und kommentiert wurde. In dem Kapitel über »Fastende Mädchen« war von einer gewissen Mollie Fancher die Rede, die um 1870 in Amerika gelebt und so gut wie gar nichts gegessen hatte. »Ihre Bücher waren ihre ganze Freude«, sagte eine Freundin von Mollie. »Um ihretwillen vernachlässigte sie alles andere.« Ich las, dass Mollie mit einer Magenpumpe zwangsernährt worden war. Viele Mädchen mit Magersucht wurden mit der Magenpumpe ernährt, manchmal zu Hause, manchmal im Irrenhaus, wo einige von ihnen landeten. Außerdem bekamen sie Elektroschocks. Ich dachte an Eglantine, als ich all das las. Ich dachte, dass man ihr bestimmt einen Schlauch in den Hals gesteckt und dann Milch in den Magen gepumpt hatte. In dem Buch stand, dass Leute mit Magersucht schließlich in einen Zustand geraten, in dem sie keine Nahrung mehr aufnehmen können, weil ihr Magen 103
nicht mehr arbeitet. In diesem Stadium haben sie ständig Durst, ständig Verstopfung und frieren immer. Wenn sie aufstehen, wird ihnen schwindelig, und sie müssen viel liegen. Sie bekommen am ganzen Körper Haare. Ich stellte mir vor, wie es Eglantine ergangen sein musste. Ich stellte mir vor, wie sie in Bethans Zimmer lag, in unzählige Schichten dicker, schwerer Kleidung gehüllt, und alle zwei Stunden Milch, Sahne, Suppe, Eier, Fisch oder Hühnchen angeboten bekam. (Das war laut dem Buch die Ernährung, die man für magersüchtige Mädchen empfahl.) Ich stellte mir ihre behaarten Arme und ihr blasses, schmales Gesicht vor. Hatte sie an einer »Liebesenttäuschung« gelitten? Hatte ihr jemand das Herz gebrochen? Ich dachte über Prinzessin Emilie und Graf Osric nach. Ich dachte über die Worte nach, die auf dem Vorsatzblatt der Königsidyllen standen: Ein gutes Buch ist das Herzblut eines Meistergeistes, balsamiert und für ein Leben über das Leben hinaus als Schatz gesammelt. Eglantine hatte Bücher geliebt, genau wie Mollie Fancher. Vielleicht hatte sie sie allzu sehr geliebt. Vielleicht hatte sie »um ihretwillen alles andere vernachlässigt«. Ich konnte mir vorstellen, wie Eglantine in ihrem Bett lag, frierend und durstig, und nichts anderes tun konnte als lesen. Mit ihren dünnen, blassen Fingern hatte sie vielleicht in den Königsidyllen und in der Geschichte von Prinzessin Emilie geblättert. Vielleicht war ihr die Geschichte aus der Hand gefallen, 104
ehe sie damit fertig war, weil sie zu schwach war, um noch weiterzulesen. Als ich über diese Möglichkeit nachdachte, wurde mir ganz elend. Ich musste mir heftig die Nase putzen. Arme Eglantine. Arme, arme Eglantine. Hatte sie sich wirklich zu Tode gehungert, weil jemand sie enttäuscht hatte? Das wäre ja unglaublich tragisch gewesen. »Oje«, sagte Mum, als ich ihr von meinen Entdeckungen an jenem Nachmittag erzählte. »Wie schrecklich. Kein Wunder ist das Chi in diesem Zimmer so schlecht.« »Wahrscheinlich haben sie ihr Elektroschocks gegeben. Was meinst du, warum sie das gemacht haben?« »Ich weiß nicht. Aber Allie, du darfst dir diese Dinge nicht so zu Herzen nehmen. Ich will nicht, dass du dich so ausgiebig damit beschäftigst. Das ist morbide.« »Morbide?« »Ungesund. Krankhaft.« »Die viktorianischen Ärzte haben Anorexie eine ›morbide Perversion des Willens‹ genannt.« »Na ja, das ist sie ja auch, findest du nicht? Man braucht eine gewaltige Willenskraft, um sich zu Tode zu hungern.« Mum runzelte plötzlich die Stirn und legte den Kopf schräg. »Wahrscheinlich ist es gar nicht so erstaunlich, dass Eglantine an Magersucht starb«, fuhr sie nachdenklich fort. »Denn bei Licht besehen, hat nur ein Mensch mit einer starken Willenskraft die geistige Stärke, nach seinem Tod noch 105
weiterzuwirken.« Mum stieß einen Seufzer aus und blickte hinüber zum Abtropfbrett. »Ich hab nicht mal genug Willenskraft, morgens das Geschirr zu spülen«, fügte sie hinzu. »Meinst du, es würde etwas helfen, über Nacht ein Glas Wasser in das Zimmer zu stellen?«, fragte ich. »Meinst du, der Geist ist einfach nur durstig? Oder vielleicht hungrig?« »Ich weiß nicht, Al.« Wieder seufzte sie. »Vielleicht sollten wir lieber den Feng-Shui-Meister fragen. Er kommt am Donnerstagabend.«
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Kapitel zehn
Der Feng-Shui-Meister war kein Chinese. Er hieß Bryce McGarrigle. Aber er war würdevoll und ziemlich alt (wenigstens glaube ich, dass er alt war, denn er hatte nicht mehr viele Haare und sein Gesicht war voller Falten), und er trug ein Hemd, auf dessen Brusttasche chinesische Schriftzeichen gestickt waren. Ich schätze also, dass er fast ein Chinese war. Er kam am Abend, als wir noch Rays Makkaroni aßen. Er sagte nicht viel. Als Mum ihm Makkaroni und Jasmintee anbot, bedankte er sich und machte ihr ein Kompliment über das Bagua in der Küche. Die meiste Zeit hörte er jedoch einfach zu. Er ließ sich von Mum unsere Probleme schildern, nippte an seinem Tee und nickte gelegentlich, die grauen Augen mit den Tränensäcken auf einen Punkt in der Mitte des Küchentisches geheftet. Als Mum fertig war, sagte er: »Haben Sie probiert, Essen und Trinken als Gabe hinzustellen?« »Gestern Abend«, antwortete Mum. »Aber ich glaube, es hat nicht gewirkt.« »Und haben Sie es mit einem Reinigungsritual versucht?« »Ja.« »Mit welchem?« Mum sagte es ihm. Wieder nickte er. Dann stand er auf und ging nach oben, um sich Bethans Zimmer anzusehen. 107
Natürlich folgten wir ihm alle. Aber er war so gründlich, dass wir die Geduld verloren. Nachdem er die Zimmer im oberen Stockwerk angeschaut hatte, ging er draußen rund um das Haus herum, untersuchte die Abflüsse und verbrachte insgesamt so viel Zeit damit, Stufen zu zählen, über Zäune zu spähen und Fenster abzumessen, dass Bethan und ich schließlich weggingen. Bethan ließ sich vor den Fernseher plumpsen, ich machte mich an meine Hausaufgaben. Es verging mindestens eine Stunde, ehe ich Mum und Mr McGarrigle nebenan in Bethans Zimmer sprechen hörte. »… dieses Zimmer ist das Bagua-Feld des Donners im oberen Stockwerk«, sagte Mr McGarrigle, »aber es schluckt auch viel von der Ausgeglichenheit des Bereiches Innere Mitte. Und das wird noch verstärkt durch die Lage des Hauses selbst.« »Oje«, sagte Mum. »Wie?« Mr McGarrigle erklärte, dass das Haus nebenan, das größer als unseres ist und ein Stück höher steht, uns eine ganze Menge abwärts schießende Energie schicke. Dem könnten wir natürlich mit einem konkaven Spiegel abhelfen – und auch das Schneidende Chi, das von der Kreuzung vor unserem Haus ausgehe, könne zurückgeworfen werden, dazu müssten wir einen Spiegel oder einen stark glänzenden Messingknauf an der Haustür anbringen. »Aber Ihr eigentliches Problem liegt in diesem Zimmer«, fuhr Mr McGarrigle fort. »Es ist viel zu 108
viel Donnerenergie darin. Zunächst einmal liegt es nach Osten, was keine Hilfe ist, aber daran können Sie nicht viel ändern. Sie können allerdings die Türangeln ölen. Und Sie können diese Trommel hinausschaffen. Woher stammt sie? Aus Java?« »Sie ist ein Geschenk von Bethans Vater«, sagte Mum mit belegter Stimme. »Dann tun Sie sie irgendwo anders hin. In diesem Zimmer dürfen Sie keine Musikinstrumente aufbewahren. Und ich schlage auch vor, dass Sie diesen Kamin zumauern – ich nehme an, Sie benutzen ihn nicht, oder?« »Nein, eigentlich nicht …« »Dann mauern Sie ihn zu. Das Letzte, was Sie in diesem Zimmer brauchen, ist eine Erweiterung im Donnerbereich seines Bagua. Die Donnerenergie hier drinnen ist so aggressiv, dass sie die Ausgeglichenheit der Inneren Mitte verschluckt. Und zu dieser Ausgeglichenheit gehört die Balance zwischen irdischer Welt und geistiger Welt.« Mr McGarrigle redete noch ziemlich lange so weiter. Er sprach über Ahnen und Spiegel und Fehlbereiche. Er sprach über die Methode des Drei-TürenBagwa und die Theorie der Fünf Wandlungen. Dann verkündete er, er wolle sein eigenes Reinigungsritual durchführen, das mehrere Stunden dauern könne. Die richtige Ausrüstung habe er schon dabei – sie sei im Auto –, aber er wäre dankbar, wenn Mum alle scharfen Ecken in Bethans Zimmer mit weichen Tüchern verhüllen könnte. 109
»Sie – Sie meinen, Sie wollen das jetzt gleich machen?«, stammelte Mum. »Je früher, desto besser. Die Energie in diesem Zimmer ist sehr instabil.« Arme Mum. Es war ein Werktagabend und sie wollte früh schlafen gehen. Sie wollte, dass alle früh schlafen gingen. Aber Mr McGarrigle polterte unverdrossen die Treppe hinauf und hinunter, holte Sachen aus seinem Auto und Wasser aus der Küche, und dann begann er in Bethans Zimmer etwas zu verbrennen, das ziemlich merkwürdig roch. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber auf alle Fälle roch es stechend. Bald stank der ganze obere Treppenabsatz danach, obwohl die Tür zu Bethans Zimmer geschlossen war. Die Folge war, dass Bethan sich weigerte, ins Bett zu gehen. »Hier oben kann ich nicht atmen«, grollte er. »Ach Bethan, so schlimm ist es doch auch wieder nicht«, sagte Mum. »Doch, ist es wohl!« »Meinst du, ein schlechter Geruch wird Eglantine vertreiben?«, fragte ich voller Zweifel. »Das ist kein schlechter Geruch, Allie, es ist ein reinigender Geruch«, sagte Mum und Bethan verdrehte die Augen. »Macht einfach die Tür zu und lasst das Fenster offen«, riet uns Ray. Aber Bethan meinte, es sei nicht nur der Geruch – es sei der Lärm. Mr McGarrigle sang etwas mit tiefer, an- und abschwellender Stimme, 110
die wie der Motor eines Flugzeugs klang. Wie sollte ein Mensch einschlafen können, wenn im Zimmer nebenan ein Flugzeug seinen Motor auf Touren brachte? »Du willst einfach nur lange aufbleiben, damit du Star Trek: Voyager anschauen kannst«, sagte Mum mit stahlharter Stimme. »Aber das kannst du dir abschminken, Bethan.« Und dabei blieb es. Trotz aller Bemühungen Bethans lagen wir um zehn Uhr im Bett. Das Singen hatte inzwischen aufgehört und der Geruch hatte sich geändert – jetzt duftete es nach Blumen und Zitrusfrüchten und war nicht mehr so schlimm. Bethan schlief sofort ein (wie immer). Ich dämmerte gerade auch hinüber, da ertönte plötzlich im Nebenzimmer ein grässlicher Schrei. Ein Schrei, ein metallisches Klirren und ein dumpfer Schlag, der den Boden erzittern ließ. Ich war schon aus dem Bett, ehe ich wusste, was ich tat. Aus dem Bett, aus dem Zimmer und auf dem Treppenabsatz. Dort war Mr McGarrigle und hing über dem Treppengeländer. »Was ist los?«, rief ich. »Was ist passiert?« Er keuchte und stöhnte. Als Mum und Ray die Treppe heraufgerannt kamen, rief Bethan aus dem Schlafzimmer. »Was ist los?«, fragte er schlaftrunken. »Oh – oh …«, ächzte Mr McGarrigle. »Bryce? Was ist los?«, fragte Mum. Aber Mr Mc111
Garrigle konnte nichts sagen. Er hustete und räusperte sich unentwegt. Ich ging in Bethans Zimmer. Eine Art Lampe brannte auf dem Fußboden. Eine Silberschale lag umgestürzt da und auf dem Boden war Wasser. Es gab mehrere kleine Häufchen aus verschiedenen Dingen: glatte Kiesel, Blütenblätter, Salz, Reis. »Ich – ich habe meditiert«, sagte Mr McGarrigle heiser. »Ich war in Trance. Ich – als ich auf die zweite Ebene kam …« »Was war da?«, fragte Mum, als Mr McGarrigle stockte. »Jemand hat versucht, mich zu ersticken!«, rief er. Seine Stimme klang ganz anders: hoch und zittrig, während sie doch vorher tief und ruhig gewesen war. »Ich – ich konnte nicht mehr atmen.« »Oje«, sagte Mum. Ray und ich tauschten nervöse Blicke. Eglantines Magenpumpe, ganz offensichtlich. »Gott«, keuchte Mr McGarrigle. »Gott, es war fürchterlich.« »Kommen Sie mit nach unten«, sagte Mum beruhigend und klopfte ihm zaghaft auf die Schulter. »Kommen Sie und trinken Sie eine Tasse Tee.« »Gott. Ich habe noch nie … so etwas ist mir noch nie passiert.« »Es tut mir ja so Leid …« Arm in Arm stolperten sie nach unten. Ray folgte ihnen. Wieder schaute ich mich in Bethans Zimmer um. 112
Es war finster und unheimlich, das Licht war ausgeschaltet und die Wände waren beinahe völlig schwarz. Die Flamme, die auf dem Docht von Mr McGarrigles Lampe tanzte, ließ die Schatten hüpfen und springen. Alles war in Betttücher und Handtücher gehüllt. »Eglantine«, sagte ich mit lauter, zorniger, bebender Stimme. »Eglantine, du Ekel, geh weg! Wir wollen dich hier nicht! Du bist eine grässliche Plage!« »Mit wem redest du?«, murmelte Bethan hinter mir. Er war endlich aufgestanden, stand mit verschlafenen Augen und verstrubbelten Haaren vor mir und hielt die Schlafanzughose fest. »Eglantine«, antwortete ich. »Ich habe mit Eglantine gesprochen.« »Warum? Was ist passiert?« »Ach … nichts. Nicht viel.« Ich versuchte mir einzureden, es sei schließlich nicht mehr als ein weiterer Magenpumpentraum gewesen. Nur ein Traum. Nichts, wovor man sich fürchten musste. »Geh wieder ins Bett, ja?«, sagte ich heiser. »Der Feng-Shui-Mann ist fertig.« Und ich hatte Recht. Mr McGarrigle kam nicht mehr zurück. Ray sagte mir später, dass er mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben wollte. Er hatte das Haus als gebrochener Mann verlassen – nicht mehr würdevoll und schweigsam, sondern nervös und faselnd und schrill. Allerdings hatte er versprochen, Mum ein gutes Medium zu suchen. Denn genau das brauchte sie angeblich – oder sie sollte umziehen. 113
»Ich glaube wahrhaftig, das werden wir müssen«, stöhnte Mum später. »Wir können nicht mehr so weitermachen! Wie sollen wir denn? Wir können hier nicht leben, solange Eglantine das Sagen hat.« »Sie wird es nicht mehr lange haben«, sagte Ray. »Wir werden sie los, ich bin sicher, dass wir sie loswerden.« »Aber wie, Ray? Wie?« Er hatte keine Antwort. Ich hatte auch keine. Ich wünschte mir, ich hätte eine, denn mir wurde ganz mulmig, als ich Mum so ratlos sah. Inzwischen empfand ich eher Zorn auf Eglantine als Mitleid mit ihr. Zum Glück rief Mr McGarrigle Mum am nächsten Tag an, nannte ihr den Namen eines Mediums und fragte, ob er seine Zimbeln in Bethans Zimmer zurückgelassen habe. Nein? O weh. Dann müsse er sie irgendwo auf dem Weg zum Auto verloren haben. Wir bekamen am Freitag auch noch andere Anrufe. Der erste war von Richard Boyer. Er rief an, um zu berichten, dass der Chemotechniker, der wegen Eglantines Handschrift konsultiert worden war, keine großen Fortschritte gemacht habe. Er habe ein paar Ideen, aber er könne keine von ihnen beweisen, solange er nichts Konkretes in Händen habe. Ob es in Ordnung wäre, wenn Richard noch einmal käme und ein kleines Stück aus der Wand des Zimmers herausnähme? Oder vielleicht einfach ein paar Farbproben ablöse? Mum sagte, sie würde darüber nachdenken und ihn zurückrufen. 114
Der zweite Anruf kam von einem Mitglied der Australiern Ghost Hunters Society (Gesellschaft australischer Geisterjäger). Der Mann sagte, er habe von unserem Fall auf der Strange-Nation-Website gelesen, auf der Berichte australischer Zeitungen über Spukgeschichten, UFO-Beobachtungen und ähnliche Dinge gesammelt würden, die keine logische Erklärung hätten. Unser Fall, so erklärte er, sei kurz erwähnt worden, weil offenbar jemand unsere Lokalzeitung gelesen habe. Als Mum ihn fragte, wie er unsere Telefonnummer herausgefunden habe, sagte er, das sei nicht schwer gewesen, denn unser Name und der Stadtteil seien angegeben gewesen. Jetzt wolle er gerne von Mum erfahren, was genau der Inhalt des »automatisch Geschriebenen« sei. Sie verwies ihn an Richard Boyer. Der dritte und letzte Anruf kam von einer Fernsehjournalistin. Sie hieß Bryony Birtles und machte Recherchen für Channel Nine. Sie hatte von unserem Fall gehört und bereits mit Sylvia Klineberg gesprochen. Sie wollte wissen, ob sie mal mit Mum sprechen könne. Vielleicht könne sie ja vorbeikommen und einen Blick auf die Wände von Bethans Zimmer werfen? Nur zur Recherche, um zu sehen, ob es sich lohnte, die Sache weiterzuverfolgen. Zu meiner Überraschung war Mum ziemlich zurückhaltend. Sie sagte, das könne sie nicht so schnell sagen. Sie müsse erst mit ihrer Familie reden, würde aber zurückrufen und ihr Antwort geben. Dann gestand sie mir, dass sie sich fragte, ob uns 115
die Sache nicht langsam entglitt. Die Vorstellung, dass Leute im Internet über uns lesen konnten und uns aus heiterem Himmel anriefen, gefiel ihr nicht. Es störte sie. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll.« Ich wusste es auch nicht. Mrs Procter war bisher keine Hilfe gewesen. Sie sagte mir in der Mittagspause, sie habe Eglantines Märchen nirgendwo finden können. Aber sie versprach mir, es ihrem ehemaligen Englischdozenten zu faxen, der Spezialist für viktorianische Literatur sei. Wenn das Märchen irgendwo existiere, würde er es finden, meinte sie. Bis dahin müsse ich einfach in Ruhe abwarten. »Aber eines sollten wir, glaube ich, unbedingt machen«, sagte Mum. »Wir sollten Bethans Zimmer noch einmal streichen. Ich denke, wir sollten es gleich morgen machen.« Ray wickelte gerade Spaghetti auf seine Gabel und hielt mitten in der Bewegung inne. »Warum?«, fragte er. »Das nützt doch gar nichts. Die Schrift wird einfach wiederkommen.« »Ja, aber das Zimmer ist inzwischen rabenschwarz, Ray. Hast du es in den letzten Tagen einmal angeschaut? Schwarz ist eine schlechte Farbe. Es ist mit Untätigkeit assoziiert, mit der Energie von stehendem Wasser. Mit Tod. Schwächung. In der Psyche spielt Schwarz die Rolle des Schattens. Weiß ist dagegen die Farbe der Reinigung und der Heilung.« 116
Ray seufzte. »Also möchtest du, dass ich es noch einmal streiche, verstehe ich das recht?«, fragte er. »Bitte.« Er konnte nicht Nein sagen, aber er war nicht glücklich darüber. Er ging missmutig ins Bett und Mum mit Sorgen. Bethan ging ins Bett und schnarchte. Und so viel zum Thema Donnerenergie: Nicht einmal, als ich ihm ein Kissen an den Kopf warf, wachte er auf. Ich hatte Lust, ihm etwas in die Nase zu stecken – oder in den Hals. Und ich fragte mich grimmig, ob das Eglantines Problem war. Vielleicht konnte sie es einfach nicht leiden, wenn jemand schnarchte. In jener Nacht träumte ich von Eglantine, aber es war nicht der Magenpumpentraum. Ich träumte von einer Hand – Eglantines Hand. Sie war blass und dünn. Es waren zu viele Haare darauf. Alles, was ich sehen konnte, war die Hand, mit einer Spitzenrüsche um das Handgelenk und einen Stift haltend. Sie schrieb und schrieb. Es ging weiter und weiter. Aber sie schrieb nicht an die Wand. Sie schrieb in ein Tagebuch wie meines. Ein gebundenes Buch mit leeren Seiten – leeren, weißen Seiten. Die Schrift war vertraut. Die Worte waren vertraut. Ich wachte davon auf, dass ich Mum schreien hörte, und stolperte, als ich noch halb im Schlaf zur Tür rannte. Es war Morgen. Die Sonne war schon aufgegangen. Mum stand auf dem Treppenabsatz und zitterte 117
von Kopf bis Fuß. Als ich sie am Arm fasste und fragte, was los sei, zeigte sie mit dem Finger auf eine Stelle. Eglantine hatte eine neue Zeile Text geschrieben. Aber nicht in Bethans Zimmer. Sondern an der Wand des Treppenabsatzes.
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Kapitel elf
»Wir müssen hier weg«, stammelte Mum. »Wir müssen auf der Stelle dieses Haus verlassen!« »Nein, das tun wir nicht«, sagte Ray. »Beruhige dich, Judy.« »Aber hast du denn nicht gesehen, Ray? Sie ist aus dem Zimmer entkommen!« »Und weißt du auch, warum? Weil die Wände des Zimmers inzwischen schwarz sind.« Ray tat Zucker in Mums Kaffee, rührte um und brachte ihn ihr. Sie saß am Küchentisch. »Man kann nicht mehr sehen, was im Zimmer drinnen geschrieben wird«, sagte er, »deshalb hat sich die Schrift nach draußen verlagert. Wir müssen nur das Zimmer wieder streichen. Wie du gesagt hast. Dann bleibt sie wieder drinnen.« »Aber sie kann rauskommen, Ray! Das bedeutet, dass sie rauskommen kann! Sie könnte sich jede Nacht im ganzen Haus herumtreiben. Sie hätte auch in unserem Schlafzimmer sein können!« Bethan begann zu schniefen. Ich war so überrascht, dass ich den Arm um ihn legte. »Hör mal«, sagte Ray. Seine Stimme klang sehr energisch. Obwohl er nicht besonders groß ist und eine Brille trägt und nicht gerade vor Muskeln strotzt, sah er in diesem Moment richtig beängstigend aus. Er sah aus wie jemand, mit dem niemand – nicht einmal Eglantine – sich anlegen sollte. »Hör mal!«, sagte er. »Bitte keine Überreaktionen, 119
ja? Wir dürfen nicht anfangen, einander Angst einzujagen. Judy? Das hilft uns nicht weiter.« Mum blinzelte. Sie warf einen Blick auf Bethan, räusperte sich und sagte: »Nein. Okay. Ähm … stimmt.« »Zuerst einmal sollten wir frühstücken und uns anziehen«, fuhr Ray fort. »Dann gehe ich weiße Farbe kaufen, und du kannst Trish oder das Medium anrufen oder wen immer du willst, und dann beschließen wir, was wir tun. Einverstanden?« »Einverstanden«, sagte Mum. »Es war dieser elende Bryce. Er hat mich ganz durcheinander gebracht.« »Ich weiß«, antwortete Ray besänftigend. »Es ist alles in Ordnung, Kinder. Wir werden die Sache in den Griff kriegen. Und jetzt …« Er holte tief Luft. »Hat jemand Lust auf Pfannkuchen?« Nach dem Frühstück ging ich wieder nach oben. Meine Hände zitterten, als ich mir die Zeile an der Wand des Treppenabsatzes näher ansah (Der Junge mit dem feinen Gesicht, der am folgenden Abend kam), ehe ich wieder in Bethans Zimmer ging. Es war, als betrete man eine Höhle. Die Wände und die Decke waren schwarz, hier und da leuchteten noch stecknadelkopfgroße weiße Stellen auf, wie Sterne am Nachthimmel. Die kleinen Häufchen Kiesel und Reis und so weiter waren schon weg. Ebenso die Tücher, die über Bethans Möbel drapiert gewesen waren. »Was willst du?«, fragte ich laut und versuchte zu 120
verhindern, dass meine Stimme ebenso zitterte wie meine Hände. Zum ersten Mal fühlte ich mich … nicht wirklich ängstlich, aber beunruhigt. Außerordentlich beunruhigt. »Eglantine? Was ist denn los mit dir?« Und da erinnerte ich mich an meinen Traum. Ich erinnerte mich an die Hand, die schrieb und schrieb und schrieb. In ein Tagebuch, nicht an eine Wand. In ein Buch. Vielleicht hatte Eglantine am Ende das Märchen doch nicht gelesen. Vielleicht hatte sie es geschrieben, weil es ihre eigene Geschichte war, die in ihrem eigenen Kopf entstanden war, und hatte sie nicht mehr zu Ende bringen können, ehe sie starb. Vielleicht war sie besessen von der Geschichte und konnte nicht in Frieden ruhen, ehe sie sie beendet hatte. Ich lehnte mich an die Wand und dachte heftig nach. Das schien Sinn zu machen. Ich selber schrieb nicht, aber ich war eine Leseratte und löste gern Rätsel. Ich wusste, wie schwer es manchmal sein konnte, etwas loszulassen. Ein Buch wegzulegen, das Licht auszumachen und einzuschlafen. Ich dachte daran, wie oft ich mit einer Taschenlampe ins Bett gegangen war, damit ich etwas heimlich zu Ende lesen konnte. Ich dachte daran, wie oft ich wach gelegen und endlos Wörter oder Zahlen in meinem Kopf gewälzt und geknobelt hatte, wie eine Geschichte wohl weiterging. Wenn nun Eglantine genauso gewesen war? Wenn sie in Bezug auf das Schreiben einer Ge121
schichte dieselben Gefühle gehabt hatte, wie ich manchmal in Bezug auf das Lesen? Wenn sie sich absolut gezwungen gefühlt hatte, die Worte aus ihrem Kopf aufs Papier zu bringen? Ich erinnerte mich daran, was Mum über Eglantines Willenskraft gesagt hatte. Vielleicht war die ganze Kraft ihres Willens darauf gerichtet gewesen, ihre Geschichte fertig zu schreiben und zu veröffentlichen, damit sie berühmt wurde. Oder vielleicht hoffte sie, dass der Junge, der sie enttäuscht hatte, die Geschichte lesen und sich schämen würde, dass er sie nicht so geliebt hatte, wie Osric Emilie geliebt hatte. Möglicherweise hatte ich Recht. Möglicherweise hatte ich damit die Wurzel des Problems gefunden. Aber selbst wenn – was nützte mir das? Schließlich konnte ich die Geschichte nicht für sie zu Ende schreiben. Das hatte ich ja bereits versucht und es hatte nichts gebracht. Wenn sie unbedingt ein Ende wollte, konnte ich ihr jedenfalls nicht das richtige bieten. Wie sollte das überhaupt jemand können, wenn die Geschichte doch aus ihrem eigenen Kopf stammte? Ich ging nach unten und blätterte sehr aufmerksam die Königsidyllen durch, aber das half mir nicht weiter. Eglantine hatte keine einzige Randnotiz und keinen Kommentar hineingeschrieben – bis auf ihren Namen, das Datum und das Zitat von Milton. »Lauf nicht damit weg«, mahnte mich Mum, als sie auf dem Weg nach draußen an mir vorbeikam. »Heute Abend kommt die Frau, die als Medium ar122
beitet, und sie hat gesagt, es wäre eine Hilfe für sie, wenn wir irgendwelche persönlichen Gegenstände hätten. Solche, die Eglantine gehört haben.« »Oh«, sagte ich. »Das heißt, du hast das Medium angerufen?« »Ich habe das Medium angerufen und gesagt, es ist ein Notfall.« »Meinst du, die Frau kann uns helfen?« »Sie hat gesagt, sie will es versuchen. Sie hätte in der Vergangenheit schon ein- oder zweimal Erfolg gehabt.« Mum hielt inne, die Hand auf dem Türknopf. »Ich gehe einkaufen. Brauchst du irgendwas Besonderes?« Mein eigenes Zimmer, dachte ich, aber ich sagte es nicht laut. »Es wäre mir lieber, wenn du das Buch nicht anfassen würdest«, fügte sie hinzu und zog die Haustür auf. »Gott weiß, wo es schon überall gewesen ist, Allie. Ray hatte Recht – wir hätten es verbrennen sollen.« »Aber was hätte das Medium dann benutzt?« »Ich weiß nicht. Ist mir auch egal.« »Mum! Warte!« Sie hatte schon den halben Weg zum Gartentor zurückgelegt, deshalb streckte ich den Kopf aus dem Fenster. »Mum, wie heißt das Medium?« »Delora Starburn.« Delora Starburn! Ich fragte mich, ob das ein erfundener Name war, und kam zu dem Schluss, dass er bestimmt erfunden war. Welche Art von Mensch 123
mochte sich einen solchen Namen geben? Ich stellte mir jemanden vor, der ähnlich wie Trish aussah, nur mit wilderen Haaren. Aber ich irrte mich. Delora Starburn sah kein bisschen wie Trish aus. Als sie am Spätnachmittag desselben Tages ankam, trug sie eine rosa Lederhose (deren Beine auf halber Wadenlänge aufhörten), sehr hohe Stöckelschuhe, eine Jacke, die mit falschem Pelz besetzt war, und jede Menge Make-up. Ihr Haar war lang und blond, nur am Scheitel war ein dunklerer Streifen zu sehen. Ihre Haut war so braun gebrannt, dass sie an manchen Stellen fast zu platzen schien, sie hatte ein viereckiges Gesicht und eine raue, knarrende Stimme wie ein Kakadu. Ihr Atem roch nach Zigarettenrauch. »Hallo, Süße«, sagte sie strahlend, als ich die Tür aufmachte. »Ist deine Mum zu Hause? Sie erwartet mich.« »Sind Sie das …?« »Ich bin Delora. Und wer bist du?« Mein erster Gedanke war: Müsstest du eigentlich nicht schon wissen, wer ich bin? Wo du doch hellsehen kannst und alles. Aber natürlich habe ich das nicht gesagt. »Ich bin Alethea.« »Was für ein wunderbarer Name! Oh, hallo, Sie sind Judy, nicht wahr? Ich bin Delora.« Die nächsten zehn Minuten redete Delora pausenlos. Sie stöckelte den Flur entlang und rief immer 124
wieder, wir hätten ein »phantastisch schönes Haus«. Als sie Richard Boyer vorgestellt wurde, der sich gewünscht hatte, bei unserem »übersinnlichen Experiment« dabei sein zu dürfen, quietschte sie fast vor Entzücken und erklärte, sein Sternzeichen müsse Jungfrau sein (»Hab ich Recht? Ich wusste es!«). Dann begann sie eine lange, verwickelte Geschichte über den Computer ihres Cousins zu erzählen, in dem Kobolde steckten, die sein Lebenswerk zerstörten. Sie brachte es sogar fertig, zu reden, während sie ein Glas Wein trank. Sie lief mit klappernden Absätzen herum, lobte überschwänglich Mums Küchenschränke aus tasmanischer Esche und erklärte, sie sei so spät gekommen, weil es auf der Autobahn eine Massenkarambolage und einen riesigen Stau gegeben habe. »Ach, danke, Süße!«, rief sie aus, als ich ihr die Königsidyllen reichte. »Das hat ihr gehört, sagst du? Sehr gut.« »Hier steht ihr Name«, sagte ich und blätterte zum Vorsatzblatt um. »Ah ja. Ich wusste nicht, ob ich es überhaupt noch schaffe, mein Auto fällt schon fast auseinander – ich sage Ihnen, es ist eine tickende Zeitbombe …« Alle saßen verdattert herum, während sie redete wie ein Wasserfall. Wir gaben uns Mühe, höflich zu sein, aber wir fragten uns die ganze Zeit, wann sie sich tatsächlich an die Arbeit machen und Verbindung zur Welt der Geister aufnehmen würde. Endlich trank sie ihren Wein aus, stellte ihr Glas auf dem 125
Küchentisch ab und sagte: »Also. Ich bin gleich wieder da.« Dann ging sie hinaus. Wir konnten ihre lauten Absätze auf der Treppe hören. »Was macht sie?«, fragte Bethan Mum. »Ich – ich weiß nicht.« Mum schaute Ray an. »Meinst du – ich meine …« »Wahrscheinlich geht sie auf die Toilette«, erwiderte Ray trocken. »Keine Sorge. Sie kommt schon wieder. Dort oben ist niemand, mit dem sie reden könnte.« »Sie ist ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte«, sagte Mum und wandte sich an Richard. »Sind Medien immer so?« Aber Richard kicherte nur nervös, zuckte die Achseln und schob seine Brille die Nase hinauf. »Also … ich schätze, ich mache lieber mit dem Abendessen weiter«, seufzte Mum. »Gott sei Dank gibt es Spaghetti. Sieht so aus, als müssten wir sie vielleicht auch noch abfüttern.« Delora blieb fast eine Stunde lang oben. Nach etwa fünfzehn Minuten wurde Mum unruhig, aber Ray sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, wenn Delora etwas brauche, würde sie ganz gewiss darum bitten. (»Bei ihrem Mundwerk scheut sie sich sicher nicht, den Mund aufzumachen«, sagte er.) Um sechs Uhr servierte Mum die Spaghetti und den Salat und bestand darauf, dass Richard mitaß, obwohl er beteuerte, er wolle ihr keine Umstände machen. Während wir aßen, horchten wir ständig nach Schritten auf der 126
Treppe. Ich glaube, Mum horchte besonders aufmerksam, und an einer Stelle murmelte sie etwas davon, dass Delora vielleicht gerade ihren Schmuck klaute, und sie meinte es nur halb im Scherz. Sonst redete niemand viel. Richard erzählte uns eine Geschichte über einen englischen Goldschmied namens Frederick Thompson, der 1905 zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich anfing, Bilder zu malen. Gleichzeitig begann er an Halluzinationen zu leiden – er hatte Visionen von ländlichen Szenen –, die zu Motiven dieser Bilder wurden. Ein Jahr, nachdem er zu malen begonnen hatte, besuchte er eine Ausstellung mit Werken eines Malers namens Robert Swain Gifford, der vor einigen Jahren gestorben war. Er hörte eine Stimme in seinem Kopf: »Du siehst, was ich gemacht habe. Kannst du nicht den Faden aufnehmen und mein Werk vollenden?« Bald stellte sich heraus, dass Fredericks Bilder eine auffallende Ähnlichkeit mit Szenen hatten, die dem Maler Robert Gifford vertraut gewesen waren – die Frederick selbst jedoch nie gesehen hatte. »Mein Gott«, sagte Ray, als Richard fertig war. »Ich hoffe, ich bekomme nicht auch noch Halluzinationen. Das hat mir gerade noch gefehlt.« »In dem Augenblick, in dem irgendjemand Halluzinationen bekommt, ziehen wir um«, erklärte Mum. Dann hielt sie den Atem an, weil sie oben Stöckelschuhe hörte. Sie begannen rasch treppabwärts zu klappern und kündigten Deloras Rückkehr an. 127
Wir warteten so gespannt, dass wir nicht mal unser Essen runterschluckten. »Also«, sagte Delora munter, als sie die Küche betrat. »Das war interessant.« Mir fiel auf, dass sie trotz ihres ermutigenden Lächelns verändert aussah. Weniger lebhaft. Ihre Augen wirkten müde – sie sah fast benommen aus – und ihre Haare waren zerzaust. Auch ihre Falten im Gesicht waren deutlicher zu sehen. »Dort oben gibt es eine massive Störung, wirklich massiv«, fuhr sie fort und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dankbar nahm sie Mums Angebot an, noch ein Glas Wein zu trinken. »Ich konnte es sofort spüren, als ich hineinging.« »Dieses Zimmer hat einen elektromagnetischen Wert von 0,12«, warf Richard ein, aber Delora schien ihn nicht zu hören. Sie schluckte einen Mund voll Wein, schloss die Augen, massierte ihre Stirn und sprach weiter. »Habt ihr gesagt, dass dieses Mädchen – diese Eglantine – an Unterernährung gestorben ist?« »Ja«, antwortete ich, als niemand sonst reagierte. »Also, das ist merkwürdig.« Delora runzelte die Stirn. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. »Denn ich hätte beinahe gedacht, sie sei ertrunken. Ich hatte das Gefühl, es falle jemand ins Wasser.« »Wasser?«, fragte Mum. »Wie zum Beispiel in Badewasser?« »Nein. Ins Meer.« Delora öffnete die Augen. »In eine schwere See, in der Nähe einer Klippe. Ist Eglantine je ins Meer gefallen?« 128
Ich setzte mich kerzengerade auf. Ich schluckte. Könnt ihr erraten, was ich dachte? »Nein«, krächzte ich. »Aber ich wette, dass Emilie hineingefallen ist.« Alle wandten sich mir zu und sahen mich an. »Emilie ist eine Figur in Eglantines Märchen«, erklärte ich und fasste die unfertige Geschichte für alle kurz zusammen. »Sie endet damit, dass Emilie am Rand einer Klippe auf Osric wartet«, sagte ich, »während er gegen den Sturm ankämpft. Wenn Emilie ins Meer fällt, ist das Ende unglücklich. Kein Wunder gefiel Eglantine der Schluss nicht, den ich geschrieben habe – sie wollte so etwas wie Romeo und Julia.« Dann verriet ich meine Theorie, dass Eglantine geschrieben hatte und keine Ruhe finden konnte, ehe ihre Geschichte vollendet war. »Vielleicht können wir sie nur loswerden, indem wir ihr helfen, die Geschichte zu Ende zu schreiben«, schloss ich. Eine Zeit lang sagte niemand ein Wort. Bethan stopfte sich weiter Essen in den Mund, aber er tat es langsam, ohne die Augen von meinem Gesicht abzuwenden. Mum kaute an ihren Fingernägeln. Richard schob seine Brille hoch und schaute Delora an. Delora nickte nachdenklich. »Ja, das macht Sinn«, sagte sie. »Okay. In Ordnung. Kein Problem.« Sie stand auf. »Hat jemand einen Stift und ein Blatt Papier?« Verblüffte Blicke gingen hin und her. »Was haben Sie vor?«, fragte Mum. 129
»Ich werde ihr helfen, ihre Geschichte fertig zu schreiben. Es kann aber eine Weile dauern. Könnte ich vielleicht eine Tasse Kaffee bekommen – und etwas, worauf ich schreiben kann? Haben Sie einen Kartentisch, meine Liebe, und irgendeinen niedrigen Stuhl?« Mum stand langsam auf, wie benommen. Ray ebenfalls. Sie tappten herum, besorgten Kaffee und einen Kartentisch, während Richard anfing, in seiner atemlosen, aufgeregten Art zu plappern – über Channelling und automatisches Schreiben und solche Sachen. Während der Kartentisch in Bethans Zimmer gestellt wurde, erzählte mir Richard von einer Frau namens Mrs Curran, die zwischen 1910 und 1930 mehrere verblüffend korrekte historische Romane verfasst habe, die in Epochen spielten, über die sie nichts wusste. Man glaubte, sie sei das Werkzeug einer verstorbenen Frau namens Patience Worth, deren Worte durch sie wie durch einen Kanal »hindurchflossen«. »Ich schätze, hier haben wir es mit demselben Phänomen zu tun«, sagte Richard und schwänzelte um die Treppe herum. »Ich würde es gerne aufzeichnen. Meinst du, Delora hätte etwas dagegen, gefilmt zu werden?« »Fragen Sie sie doch!«, antwortete ich. Und das tat er. Delora erwiderte, sie wäre entzückt, nichts wäre ihr lieber, als die ganze Nacht mit Richard Boyer in einem Schlafzimmer zuzubringen. 130
Sie klimperte mit den Wimpern, als sie das sagte, und Richard sah ein bisschen überrascht aus. Ich staunte auch. Aber als ich ihn mir näher angeschaut hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er hinter seiner Brille eigentlich ganz gut aussah – zumindest hatte er schönes, lockiges Haar, große Augen und eine gerade Nase. Außerdem war er jünger als Delora. »Ich werde nicht einmal versuchen, mich zu öffnen, ehe das ganze Haus zur Ruhe gekommen ist«, sagte Delora zu Mum. »Aus dem, was Sie mir erzählt haben, geht hervor, dass sie sich nur manifestiert, wenn Sie alle schlafen, also mag sie offenkundig Lärm und Bewegung nicht. Ich werde warten, bis Sie im Bett sind, und sehen, was ich tun kann.« Sie hustete in ihre nikotinverfärbten Finger. »Ich verspreche Ihnen nichts, wohlgemerkt, aber ich werde mein Bestes tun.« »Und wie viel mehr wird das kosten?«, fragte Mum. »Ich meine, wenn Sie die ganze Nacht hier sind …« »Oh! Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, warf Richard ein. »Ich werde das zusätzliche Honorar übernehmen.« »Aber Richard …« »Nein, nein. Wirklich. Ich möchte das sehen.« Delora machte ein Geräusch wie jemand, der ein besonders leckeres Stück Schokoladenkuchen bekommt, und tätschelte Richard die Wange. »Prächtig«, sagte sie. »Ich liebe ihn. Ich möchte ihn in die Handtasche stecken und mit nach Hause nehmen.« 131
Dann setzte sie sich hin und vertilgte einen Teller Spaghetti, und ich ging weg und machte meine Hausaufgaben. Den ganzen übrigen Abend, bis ich ins Bett ging, konnte ich Delora unten in der Küche schwatzen hören. Sie war noch unten, als ich in den Schlaf hinüberglitt. Ich muss zugeben, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass Eglantine sich mit Delora Starburn verstehen würde. Inzwischen hatte ich eine sehr deutliche Vorstellung von Eglantine Higgins. Ich dachte, sie müsse sehr ernsthaft und eigenwillig und klug und poetisch gewesen sein – und Delora schien mir nichts von alledem zu sein. Obendrein hörte Delora nie auf zu reden. Wie wollte sie Eglantine hören, wenn sie ununterbrochen redete? Ich rechnete damit, aufzuwachen, sobald Delora heraufkam. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mit Richard Boyer im Nebenzimmer saß, ohne mit ihrer Kakadustimme über Autobahngebühren oder ihren Ex-Mann oder die Renovierung alter Häuser zu plappern. Deshalb war ich sehr überrascht, als ich am nächsten Morgen gegen halb sechs aufwachte und erkannte, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Draußen war das Licht perlmuttfarben und dämmrig. Bethan schnarchte. Leise schlüpfte ich aus dem Bett und ging hinaus auf den Treppenabsatz, der verlassen dalag. Die Tür zu Bethans Zimmer stand offen, aber es war niemand drin. 132
Eine leere Tasse stand auf dem Kartentisch und Richards Videokamera war abgeschaltet. Ich schaute mich um und betrachtete die weißen Wände. Ray hatte sie am Vortag frisch gestrichen und seither waren sie offenbar nicht mehr angetastet worden. Auf den ersten Blick entdeckte ich keine neuen Zeilen Schrift. Aber ich hielt mich nicht mehr länger auf, denn in diesem Moment hörte ich von unten das schwache Geräusch von Stimmen. Ich glaube nicht, dass ich es je schon einmal so schnell vom oberen Treppenabsatz in die Küche geschafft habe. »Nun?«, keuchte ich, als durch die Küchentür stürmte. »Was ist passiert?« Schon während ich sprach, spürte ich, dass irgendetwas passiert sein musste. Ich merkte es allein schon an der Atmosphäre im Raum. Sie war aber nicht angespannt oder erregt – versteht mich nicht falsch. Ganz im Gegenteil, sie war unglaublich friedlich. Blasses Sonnenlicht fiel schräg durch das Fenster. Auf dem Tisch dampften Kaffeetassen vor sich hin. Delora und Richard saßen Mum und Ray gegenüber, und alle sahen schrecklich müde aus, aber nicht bekümmert. Sie sahen auf gute Weise müde aus. Mum streckte mir die Hand entgegen. »Hallo, Liebes«, sagte sie und schlang mir den Arm um die Taille. »Was ist passiert? Oh!« Ich hatte das Schulheft entdeckt, das offen vor ihr lag. »Ist das …?« 133
»Ja.« Mum lächelte. »Das ist die Geschichte. Die ganze Geschichte.« »Du meinst, von Anfang bis Ende?« »Ja.« Ich zog das Heft zu mir her. Die Schrift war mir nicht bekannt – es musste Deloras Schrift sein. Aber die Worte waren mir durchaus vertraut. Einst lebte in einem rauen Land ein König, der hatte einen weißen Bart. Hastig blätterte ich die Seiten durch, bis ich zur letzten kam. Der Morgen kam, las ich, und noch immer stand die Prinzessin auf der hoch aufragenden Klippe. In der See tief unten sah sie Spieren und Wrackteile. Auf einem steilen, gewundenen Pfad kletterte sie den Felsen hinunter zum Strand. Sie sah Osric tot daliegen. Sie sah die Männer tot um sich her liegen – in jedem Auge ein Vorwurf, und jeder feuchtkalte Mund schien zu sagen: Du bist schuld! Sie warf sich in die tosenden Wellen und ward nie mehr gesehen. »Oje«, murmelte ich und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Es war also doch wie bei Romeo und Julia.« »Ich war nur ein Kanal«, antwortete Delora träumerisch. »Ich habe ihrer Inspiration erlaubt, aus dem Reich der Geister durchzubrechen. Dort war sie blockiert. Die letzten Zeilen konnten nicht durchstoßen, weil sie sich vorher nicht hier manifestiert hatten.« »Es war wie bei Frederick Thompson«, fügte Ri134
chard hinzu. »Wie bei Mrs Curran. Ich habe alles auf Film. Sie war erstaunlich, absolut erstaunlich. Das Zimmer war stockdunkel.« Er und Delora strahlten sich an. Ich las den letzten Absatz. Aber, hieß es dort, wenn ich jetzt erzählen würde, dass der enttäuschte Bräutigam der Prinzessin ins Reich seines Vaters zurückkehrte und gemeinsam mit ihm gegen den König mit dem weißen Bart Krieg führte – ah, wie traumartig und wie fremd und wiefern würde das wirken! Und das ist so, weil die Geschichte der Liebenden abgeschlossen ist. Die Liebe ist unsterblich, wie es die Liebenden sind. Geschichten über sie, und über sie allein, sind ewig neu – weil die Liebe niemals stirbt. Ende. »Ist noch irgendwo Schrift an der Wand?«, fragte ich. »Ich habe keine gesehen«, sagte Richard. »Sind Sie sicher? Haben Sie nachgeschaut?« »Schau dich doch selbst mal um, Allie«, schlug Ray mit müder, aber zufriedener Stimme vor. »Du hast bessere Augen als wir.« Also ging ich wieder hinauf in Bethans Zimmer. Aber ehe ich die Küche verließ, blieb ich vor Delora stehen. Sie musste geraucht haben, das roch ich an ihrem Atem. »Haben Sie Eglantine auch gesehen!«, fragte ich zaghaft. »Haben Sie – ich meine, haben Sie mit ihr gesprochen!« Plötzlich merkte ich, wie gerne ich 135
selbst mit ihr gesprochen hätte. Ich wollte ihr unbedingt ein paar Fragen stellen, ihr Gesicht sehen, herausfinden, warum ihre Geschichte das Wichtigste in ihrem Leben gewesen war. Aber Delora schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Liebes«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Ich weiß nicht, ob ich mit ihr gesprochen habe. Um dir die Wahrheit zu sagen: Ich kann mich an nichts erinnern.« »Sie können sich an nichts erinnern?« »Nein. Nie. Es ist, als würde ich einschlafen und wieder aufwachen, wenn alles vorbei ist.« Ich starrte sie an und sie lächelte mich an. Ihre Augen waren klein und braun. Sie sahen irgendwie älter aus als der Rest. Und der Rest sah in diesem hellen Morgenlicht ziemlich alt aus, das sage ich euch. Sogar ihre Lippen hatten Falten. »Tja«, sagte ich, »Sie müssen … ich meine, Sie sind sehr clever.« »Danke, Liebes.« Danach ging ich nach oben. Ich suchte und suchte. Ich kletterte auf einen Stuhl und suchte, ich ging auf die Knie und suchte. Ich nahm jeden Zentimeter der Wände von Bethans Zimmer unter die Lupe, und nach einer halben Stunde hatte ich nur eine einzige Zeile Schrift gefunden, die war unter dem Fenster. Sie lautete: Ende.
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Kapitel zwölf
Und es war auch das Ende. Das heißt, teils ja, teils nein. Eglantine hörte auf zu schreiben, sodass Bethan wieder in sein Zimmer zurückkehren konnte (das noch einmal mit zwei Schichten weißer Farbe gestrichen wurde, einfach zur Sicherheit). Erst wollte er nicht recht, weil Eglantine ja vielleicht doch noch da war, und Mum musste eine Nacht in seinem Zimmer schlafen, um ihn zu beruhigen. Als sie berichtete, sie habe nichts von Ersticken geträumt, war er bereit, es selbst auszuprobieren. Nach einer Woche räumte er all seine Spielsachen aus meinem Zimmer und das Leben wurde wieder normal – in gewissem Sinne. In einem anderen Sinne allerdings nicht, weil sich viele Leute immer noch für Eglantine interessierten. Richard Boyer gehörte zu ihnen. Er war ganz außer sich, als er hörte, dass wir Eglantines Schrift an der Decke von Bethans Zimmer überstrichen hatten. Und wir konnten ihm auch kein Stück von der Zimmerwand geben, um ihn zu trösten, denn es war nur eine dünne Trennwand aus Holzplatten und Putz – keine Mauer –, und es wäre ihr schlecht bekommen, wenn wir an ihr herumgesäbelt hätten. Daher konnte Richard nicht zweifelsfrei nachweisen, dass unsere rätselhafte Schrift übersinnlicher Natur gewesen war. Dennoch erregte der Fall eine Menge Aufmerksamkeit. Channel Nine brachte sogar einen kurzen 137
Bericht über Eglantine, unter Verwendung von Richards Videoband von Delora und der einzigen Zeile Text, die er hatte festhalten können, als sie langsam an der Wand von Bethans Zimmer erschien. Auch Delora wurde interviewt. Sie trug purpurrot lackierte falsche Fingernägel, die an die zehn Zentimeter lang gewesen sein müssen. Ihr könnt euch vorstellen, was danach geschah. Wir wurden geradezu überschwemmt von Briefen – meist von Spinnern –, in denen die Schreiber uns baten, ihre Träume zu deuten oder unser Haus besichtigen zu dürfen, oder in denen sie von anderen Zimmern berichteten, in denen es spukte. Mum gab all diese Briefe an PRISM weiter. Am Ende machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, sie zu lesen. Sie musste auch das Schild wieder abnehmen, das sie über der Haustür angebracht hatte, nachdem keine Schrift mehr erschienen war. Auf dem Schild hatte Eglantine gestanden, weil alle anderen Häuser in unserer Straße Namen hatten (wie St. Elmo oder Bideawee) und sie dachte, es wäre nett, unser Haus nach seinem abwesenden Geist zu benennen. (Ich denke, sie fühlte sich Eglantine gegenüber ein wenig schuldig, nachdem wir sie nun los waren.) Aber die arme Mum hatte nicht mit den vielen aufdringlichen Leuten gerechnet. Manche klopften an unsere Haustür und fragten, ob unser Haus das »Spukhaus« sei. Andere trieben sich um das Haus herum und machten Fotos, wieder andere spähten uns ins Wohnzimmerfenster. Jetzt sind die meisten Schaulustigen nicht 138
mehr ganz sicher, welches der Reihenhäuser unseres ist. Ihr fragt euch bestimmt, warum Eglantine plötzlich so bekannt war. Tatsache ist, dass sie inzwischen ein berühmter Fall geworden war, wie »der Schwindel im Pfarrhaus von Borley«. Zwei Monate, nachdem sie verschwunden war, gab es bereits 348 Interneteinträge zum Thema Eglantine Higgins, und bald darauf bekamen wir einen Anruf von den Produzenten eines amerikanischen Fernsehmagazins namens Stranger than Fiction. Wir haben die Sendung, die sie über Eglantine gemacht haben, nie gesehen, aber sie haben gefilmt, wie wir alle im Wohnzimmer saßen und über unsere Erlebnisse sprachen. (Am meisten haben Mum und ich geredet, Ray und Bethan saßen nur dabei.) Weil die Produzenten der amerikanischen Sendung mit einem australischen Kamerateam arbeiteten und Richard Boyers Videoband sowie Teile der Fernsehsendung von Channel Nine einbauten, hat sie der Bericht über Eglantine Higgins nicht besonders viel gekostet. Wäre er teurer gewesen, hätten sie sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, ihn zu drehen. Aber für uns war es interessant und wir bekamen Geld fürs Mitmachen – wie viel, weiß ich nicht, weil Mum es mir nicht sagen wollte. Aber sie lud uns zur Feier des Ereignisses zum Abendessen in ein Restaurant und danach ins Kino ein. Das hatten wir also Eglantine zu verdanken. Mrs Procters ehemaliger Englischdozent versuchte Eglantines Geschichte zu finden, aber er entdeckte 139
nirgendwo einen Hinweis darauf, dass sie schon einmal veröffentlicht worden war. Er sagte Mrs Procter, sie könne in irgendeiner Zeitschrift erschienen sein, die es zufällig nicht mehr gibt, aber ich zweifle daran. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es Eglantines eigene Geschichte war. Ich denke, sie war eine echte Schriftstellerin, die ihre Geschichte um jeden Preis schreiben musste. Das macht doch Sinn, findet ihr nicht? Sie wurde nicht in unserem Haus ermordet und auch nicht in einem Grab ohne Kennzeichnung beerdigt, was hätte sie also sonst für einen Grund haben sollen, bei uns zu spuken? Ach – und da ist noch etwas. Etwa drei Wochen, nachdem das Channel-Nine-Programm gesendet worden war, erhielten wir einen Anruf von Richard Boyer. Anscheinend hatte PRISM mit einer Frau gesprochen, die behauptete, Eglantine Higgins sei ihre Großtante gewesen. Diese Frau (die Maureen Cameron hieß) hatte die Sendung von Channel Nine gesehen. Normalerweise lebte sie in Queensland, aber sie war in den Süden gekommen, um eine kranke Verwandte zu besuchen und wollte PRISM gerne ein paar Familienerbstücke zeigen, die sie sorgfältig gehütet hatte – falls irgendjemand daran interessiert war. Richard erkundigte sich, ob er Maureen zu einem Besuch bei uns zu Hause einladen und ihr das Zimmer zeigen dürfe, in dem Eglantine gestorben war. Natürlich sagte Mum Ja. Sie hätte gar nicht anders können – noch dazu, wo Richard wegen der überstri140
chenen Decke so enttäuscht gewesen war. Also brachte Richard eines Samstagnachmittags Maureen Cameron zu einem Besuch zu uns, und wir setzten uns alle in die Küche, tranken Tee (oder Kakao) und aßen Schokoladenkuchen. Maureen war einundsechzig. Das sagte sie uns, ohne zu zögern, als Bethan fragte, wie alt sie sei. Obwohl sie graue Haare und faltige Augenlider hatte, kam sie mir eigentlich nicht so alt vor – nicht wie meine Großmutter. Maureen war weder schwerhörig noch tatterig. Vielmehr war sie ziemlich aufgeweckt und fix. Sie hatte kleine, glänzende Augen, die nie stillstanden, und es entging ihr nichts. Als sie ein Stück Schokoladenkuchen angeboten bekam, lehnte sie höflich ab, fügte jedoch gleich an: »Bethan kann mein Stück haben. Jetzt sofort.« Offenkundig hatte sie bemerkt, dass mein Bruder den Kuchen gierig ansah. Vielleicht hatte sie sogar gespürt, dass am früheren Nachmittag schon scharfe Worte gefallen waren, als über das Recht eines Gastes auf das erste Stück gesprochen wurde. Als ich den Blick sah, mit dem sie beobachtete, wie Bethan seine Portion hinunterschlang, dachte ich, dass sie wahrscheinlich selbst Söhne hatte. »Meine Großmutter wurde in diesem Haus geboren«, sagte sie, als wir alle um den Küchentisch versammelt waren. »Aber sie konnte sich nicht mehr gut an das Haus erinnern. Ihre Eltern zogen weg, als sie noch ziemlich klein war.« Nachdem Eglantine hier gestorben war, dachte ich. 141
Mum fragte, ob Maureen das Zimmer sehen wolle, in dem Eglantine höchstwahrscheinlich ihren letzten Atemzug getan hatte, aber Maureen schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, erwiderte sie. »Deswegen bin ich eigentlich nicht gekommen. Ich dachte einfach, Sie könnten vielleicht ein Interesse an manchen Dingen haben, die meine Großmutter aufbewahrt hat. An ein paar Dingen, die sie mir vererbt hat.« »Wissen Sie viel über Eglantine?«, erkundigte ich mich. »Wissen Sie, wie sie war?« »Im Grunde nicht. Ich weiß, dass sie eine Leseratte war. Ganz vernarrt in Bücher. Ich schätze, in dieser Hinsicht schlage ich ihr nach.« Maureen lachte ein wenig. »Ich bin nämlich eine pensionierte Lehrerin – für klassische Sprachen. Ich bin auch sehr dickköpfig, und soviel ich weiß, war das eine von Eglantines hervorstechendsten Eigenschaften. Oh!« Sie öffnete das Album, das sie auf dem Schoß hielt, und nahm ein sehr altes, sehr kleines Foto heraus. »Ich habe Ihnen ein Bild von ihr mitgebracht. Es ist das einzige, das ich habe.« Alle hielten hörbar die Luft an. Ich weiß nicht, wie sich die anderen fühlten, aber ich war ganz ehrfürchtig. Es war, als könnte man ein Foto von – ich weiß nicht – jemandem wie Kleopatra anschauen. Die Fotografie war bräunlich und nicht sehr scharf. Sie zeigte ein junges Mädchen mit hochgesteckten Haaren, das eine Bluse mit hohem Kragen und einen komischen Hut trug. Ihr Gesicht war glatt 142
und ausdruckslos. (Mum erzählte mir später, dass auf alten Fotos der Abgelichtete so lange stillhalten musste, dass er am Ende immer wie eine Schaufensterpuppe aussah.) Ich konnte nicht sehen, welche Augenfarbe sie hatte, und ihre Hände waren nicht zu sehen, aber trotzdem – trotz der Ausdruckslosigkeit – bekam ich ein Gefühl dafür, wie sie war. Ihr Gesicht war schmal, aber nicht ausgezehrt. Ihre Nase war lang. Sie hatte ein energisches Kinn und hohe Wangenknochen und einen stolzen Blick und ihre Augenbrauen waren sehr dunkel und kräftig. Nur ihr Mund war weich. Eglantine, dachte ich, Eglantine Higgins. Da bist du endlich. »Der Name Eglantine kommt vom lateinischen Wort für ›stachelig‹«, bemerkte Maureen, als wir schauten und schauten. »Nach den Erzählungen meiner Großmutter passte er hervorragend zu ihrer Schwester.« Stachelig. Ich erinnerte mich daran, dass Michelle mich in derselben Weise charakterisiert hatte. »Warum fährst du denn gleich die Stacheln aus?«, hatte sie gesagt. War ich wirklich so stachelig? War ich wirklich wie Eglantine? Ich dachte im Stillen, vielleicht sollte ich aufhören, alles zu kritisieren. Vielleicht sollte ich aufhören, doofe Kinder zu verspotten und nicht so viel Zeit in der Bücherei zubringen. Vielleicht sollte ich netter zu Bethan sein. Schließlich wollte ich nicht wie Eglantine enden. 143
»Wissen Sie, ob sie jemals einen Freund hatte?«, fragte ich. »Ich habe gelesen, dass Anorexia hysterica oft von einer ›Liebesenttäuschung‹ ausgelöst werden soll. Wissen Sie, ob irgendein Junge sie verlassen hat oder so was?« »Nein«, antwortete Maureen, »leider nein. Wie ich schon sagte, weiß ich nicht viel über sie. Aber sie hat romantische Dichtung geliebt.« Wir schauten zusammen Eglantines Album an. Es war kein Fotoalbum, sondern ein großes Sammelalbum voller Zeitungsausschnitte und sonstiger Schätze. Vor allem hatte sie Gedichte und Bilder aus Zeitungen und Illustrierten ausgeschnitten. Aber sie hatte auch ein Notenblatt mit einem Lied eingeklebt. Es hieß »Marmorhallen« und die erste Strophe lautete so: Ich träumt’, ich wohnt’ in Marmorhallen, Gebot über Diener und Sklaven Und war der Stolz und die Hoffnung von allen, Die in diesen Mauern sich trafen. Und Schätze hatt’ ich, unzählbar viel, Mein Name war hoch und hehr, Ich träumt’ aber auch – was mir am meisten gefiel! –, Du liebtest mich wie vorher. Als ich diese Zeilen las, dachte ich an Prinzessin Emilie. Und ich fragte mich, ob jemand Eglantine geliebt hatte. Oder ob sie jemanden geliebt hatte. Vielleicht jemanden, der für sie unerreichbar war? Es 144
war klar, dass wir das nie erfahren würden. Eglantine hatte es fertig gebracht, die Geschichte über Prinzessin Emilie zu Ende zu schreiben, aber ihre eigene Geschichte – Eglantines Geschichte – würde für uns unvollständig bleiben, weil sie keine Briefe oder Tagebücher hinterlassen hatte. Wir hatten nur ihr Album – und darin zwei Geschichten, die in einer Handschrift niedergeschrieben waren, die wir augenblicklich wiedererkannten. Eine dieser Geschichten war vollständig und hieß »Der unbezwingliche Turm«. Die andere hieß »Emilie und Osric«. Ich wagte kaum, sie in die Hand zu nehmen. »Das ist sie«, hauchte ich. »Schau, Mum. Das ist sie. Das Original.« »Zeig mal«, sagte Richard. Ehrfürchtig blätterte er die Seiten um. Auf der letzten Seite war die Schrift verwischt und unregelmäßig. Sie brach mitten in einem Satz ab: Jenseits des … War ihr der Stift aus der Hand gefallen? War sie zu schwach gewesen, ihn noch länger zu halten? War sie kurz darauf gestorben? Ich musste heftig blinzeln und schwer schlucken. Sachte berührte ich das letzte, unvollständige Wort. »Gott«, murmelte Richard. Er blickte auf. »Wissen Sie, diese Dokumente könnten eines Tages sehr wertvoll werden«, sagte er. »Eglantine erregt großes Interesse. Es könnte sogar sein, dass jemand ihre Geschichten veröffentlichen möchte. Vielleicht ein kleiner Verlag, der sich für Okkultes interessiert.« »Nun denn«, sagte Maureen trocken, »Eglantine 145
hätte das mit Sicherheit gefallen. Meine Großmutter hat mir oft gesagt, dass Bücher ihre Leidenschaft waren.« Maureen war damit einverstanden, dass Richard sich Eglantines Album und die Geschichten für eine Weile auslieh. Außerdem schlug sie ihm vor, auch die Königsidyllen in seine Sammlung aufzunehmen. Dann griff sie Mums Anregung auf, nach draußen zu gehen und sich unseren Garten anzuschauen, denn anscheinend war sie eine erfahrene Gärtnerin – und in diesem Punkt brauchte Mum jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Gemeinsam traten die beiden in die blasse Sonne hinaus, und Bethan machte sich daran, den Schokoladenkuchen aufzuessen, Ray ging wieder in sein Atelier und Richard vertiefte sich in Eglantines Nachlass. Ich ging auch in den Garten, ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollte ich von Eglantine wegkommen. Ihr Geist schien beinahe greifbar über ihrem Album zu schweben und ich empfand ihn als bedrückend. Ihre Gegenwart war so stark zu spüren, dass ich schon beinahe fürchtete, sie könnte wieder in Bethans Zimmer einziehen. Das tat sie natürlich nicht. Sie kam nie zurück. Bethan poltert jetzt dort herum, als hätte es sie nie gegeben, er hat Fußballplakate an die Wände geklebt und Modellflugzeuge an die Decke gehängt. Aber wir haben uns noch immer nicht ganz von Eglantine befreit. Denn als Maureen durch den Garten streifte und Kommentare über den kränkelnden Zitronen146
baum und den wuchernden Jasmin und den Zustand des Grases abgab, blieb sie plötzlich vor einem ausladenden alten Rosenbusch stehen. »Na, seht euch das mal an«, sagte sie ruhig. »Was denn?«, fragte Mum. »Diese Rose.« »Sie war schon da, als wir das Haus gekauft haben.« »Ja, natürlich, ich sehe, dass sie schon da gewesen sein muss.« Maureen bückte sich und roch an einer Blüte. »Das ist eine Schottische Zaunrose«, fuhr sie fort. »Rosa rubiginosa. Das Merkwürdige daran ist, dass ich um diese Jahreszeit noch nie eine habe blühen sehen. Noch gar nie.« »Ach?« »Sehen Sie nur, wie alt sie ist. Sie ist uralt.« Maureen richtete ihre klaren, durchdringenden Augen auf Mum. »Wissen Sie, es würde mich nicht wundern, wenn meine Urgroßmutter sie gepflanzt hätte.« Mum blinzelte. »Sie meinen, sie ist so alt?«, rief sie aus. »Woran erkennen Sie das?« »Im Grunde erkenne ich es nicht. Es hat nur etwas mit dem Namen zu tun.« Sanft legte Maureen beide Hände um eine der zarten rosaroten Blüten und blickte auf sie hinab. »Viele Leute nennen diese Art nicht Schottische Zaunrose«, erklärte sie. »Viele Leute nennen sie Eglantine.« Dann brach sie die Rose vom Strauch und reichte sie mir.
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Catherine Jinks, geboren 1963 in Brisbane, Australien, verbrachte ihre Kindheit in Papua Neu Guinea. Sie studierte Geschichte in Sydney, wo sie heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt. In der Reihe Hanser erschien von ihr eine Buch-Reihe, die im Mittelalter spielt und den jungen Pagan zur Hauptfigur hat (Pagan und die Tempelherren, Pagan in der Fremde, Pagan und die schwarzen Mönche, alle 2003, sowie Pagan in geheimer Mission, 2004). Zuletzt erschien von Catherine Jinks der Jugendroman Der Auserwählte (2005).
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