DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Die Geistermaske Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Band 20397
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann, München
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe Oktober 1997 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform von 1996 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps #11: The Haunted Mask« bei Scholastic, Inc., New York © 1993 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York. NY10012, USA »Goosebumps«1" and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1997 für die deutsche Übersetzung C Berteismann Jugendbuch Verlag GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag GmbH, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Christa Marsen Umschlagkonzeption: Klaus Renner us Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20397-2 • Printed in Germany 10 98765432
»Als was gehst du zu Halloween?«, fragte Sabrina Mason, während sie mit der Gabel in den hellgelben Makkaroni auf ihrem Teller herumstocherte. Carla Caldwell seufzte und schüttelte den Kopf. Das Deckenlicht in der Cafeteria ließ ihr glattes braunes Haar schimmern. »Ich weiß nicht. Als Hexe vielleicht.« Sabrina klappte den Mund auf. »Du? Als Hexe?« »Na ja, warum denn nicht?«, wollte Carla Beth wissen und starrte ihre Freundin über den Tisch hinweg an. »Ich dachte immer, du würdest dich vor Hexen fürchten«, antwortete Sabrina. Sie führte eine Gabel voll Makkaroni zum Mund und begann zu kauen. »Diese Makkaroni schmecken wie Gummi«, beschwerte sie sich, während sie darauf herumkaute. »Erinnere mich daran, dass ich mir in Zukunft was zu essen mitbringe.« »Ich fürchte mich nicht vor Hexen«, erklärte Carla, jedes Wort betonend, wobei ihre dunklen Augen zornig blitzten. »Du hältst mich wohl für einen Angsthasen, oder?« Sabrina kicherte. »Ja.« Sie schwang ihren schwarzen Pferdeschwanz mit einer raschen Kopfbewegung über die Schulter zurück. »He, iss bloß diese Makkaroni nicht. Wirklich, Carla. Die sind widerlich.« Dabei langte sie über den Tisch, um Carla davon abzuhalten, ihre Gabel anzuheben. »Aber ich bin am Verhungern«, jammerte Carla. In der Cafeteria wurde es voller und lauter. Am nächsten Tisch warf eine Gruppe Jungen aus der fünften Klasse einen halb vollen Milchkarton hin und her. Carla sah, wie Chuck Greene eine leuchtend rote Fruchtschnitte zusammendrückte und sich das ganze klebrige Ding auf einmal in den Mund schob. 5
»Igitt!« Sie schnitt ihm eine angewiderte Grimasse. Dann wandte sie sich wieder Sabrina zu. »Ich bin kein Angsthase, Sabrina. Nur weil mich jeder piesackt und...« »Carla, was war denn letzte Woche? Erinnerst du dich noch? Bei mir zu Hause?« Sabrina riss eine Tüte Tortillachips auf und bot ihrer Freundin über den Tisch hinweg welche an. »Du meinst diese Gespenstersache?«, erwiderte Carla und verzog das Gesicht. »Das war doch echt blöd.« »Aber du hast es geglaubt«, sagte Sabrina, den Mund voller Chips. »Du hast wirklich geglaubt, dass es auf meinem Speicher spukt. Du hättest dein Gesicht sehen sollen, als es in der Decke zu knacken begann und wir da oben Schritte hörten.« »Das war echt fies«, beschwerte sich Carla und verdrehte die Augen. »Als du dann die Schritte die Treppe herunterkommen gehört hast, ist dein Gesicht weiß wie die Wand geworden und du hast geschrien«, erinnerte Sabrina sie. »Dabei sind das doch nur Chuck und Steve gewesen.« »Du weißt genau, dass ich mich vor Gespenstern fürchte«, sagte Carla Beth und wurde rot. »Und vor Schlangen und Käfern, vor lauten Geräuschen und dunklen Räumen und — und vor Hexen!«, erklärte Sabrina. »Ich weiß wirklich nicht, wieso du dich über mich lustig machst«, schmollte Carla und schob ihr Essenstablett zurück. »Ich verstehe nicht, wieso es allen so viel Spaß macht, mir andauernd Angst einzujagen. Sogar dir, meiner besten Freundin.« »Tut mir Leid«, sagte Sabrina ernst. Dabei langte sie über den Tisch und drückte Carla aufmunternd die Hand. »Dir kann man so leicht Angst machen. Da ist es schwer, der Versuchung zu widerstehen. Hier. Möchtest du noch ein paar Chips?« Sie schob Carla die Tüte zu. »Vielleicht jage ich dir eines Tages einen Schrecken ein«, drohte Carla Beth. Ihre Freundin lachte. »Da musst du früh aufstehen!« Carla schmollte weiter. Sie war elf. Aber sie war ziemlich klein geraten. Und mit ihrem runden Gesicht und ihrer winzigen Stupsnase (die sie hasste und von der sie sich wünschte, dass sie noch wachsen würde) sah sie erheblich jünger aus. 6
Sabrina war, im Gegensatz zu ihr, groß, dunkel und wirkte reifer. Sie hatte glattes schwarzes Haar, das sie nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und riesige dunkle Augen. Jeder, der die beiden zusammen sah, hielt Sabrina für zwölf oder dreizehn. Doch in Wirklichkeit war Carla sogar einen Monat älter als ihre Freundin. »Vielleicht verkleide ich mich doch nicht als Hexe«, sagte Carla, nachdenklich das Kinn auf die Hände gestützt. »Vielleicht gehe ich als grässliches Monster, dem die Augen heraushängen und grüner Schleim aus dem Gesicht tropft und...« Ein lauter Knall ließ Carla aufschreien. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass nur irgendwo ein Tablett auf den Boden gefallen war. Sie drehte sich um und sah Gabe Moser, der mit rotem Gesicht niederkniete und sein Mittagessen vom Boden aufsammelte. In der Cafeteria brach Gejohle und Applaus aus. Carla sank auf ihrem Stuhl zusammen, weil es ihr peinlich war, dass sie geschrien hatte. Ihr Atem hatte sich gerade wieder normalisiert, als eine kräftige Hand sie von hinten an der Schulter packte. Carlas Kreischen hallte durch die Cafeteria.
Sie hörte ein Lachen. An einem anderen Tisch schrie jemand: »Gutgemacht, Steve!« Blitzschnell drehte sie sich um und entdeckte ihren Freund Steve Boswell, der mit einem spitzbübischen Grinsen hinter ihr stand. »Drangekriegt«, sagte er und ließ ihre Schulter los. Steve zog den Stuhl neben Carla heraus und setzte sich verkehrt herum darauf. Chuck Greene, sein bester Freund, knallte seine Büchertasche auf den Tisch und ließ sich dann neben Sabrina nieder. 7
Steve und Chuck sahen sich so ähnlich, dass sie Brüder hätten sein können. Beide waren groß und schlank und hatten glattes braunes Haar, das sie normalerweise unter einer Baseballkappe verschwinden ließen. Und beide hatten dunkelbraune Augen und konnten dämlich grinsen. Meistens trugen sie verwaschene Jeans und langärmelige Sweatshirts in dunklen Farbtönen. Und sie standen beide darauf, Carla Angst einzujagen, hatten Spaß daran, sie zu erschrecken und sie dazu zu bringen, in die Luft zu springen und loszukreischen. Sie verbrachten Stunden damit, sich immer wieder neue Möglichkeiten auszudenken, wie sie ihr einen Schrecken einjagen konnten. Carla schwor sich jedes Mal, nie — niemals — wieder auf einen ihrer dummen Streiche hereinzufallen. Doch bisher hatten die beiden es noch jedes Mal geschafft. Carla drohte immer, es ihnen heimzuzahlen. Doch in der ganzen Zeit, seit sie miteinander befreundet waren, war ihr nie etwas eingefallen, das ausgefallen genug gewesen wäre. Chuck griff nach den restlichen Chips in Sabrinas Tüte. Zum Spaß schlug sie ihm auf die Hand. »Besorg dir selbst welche.« Steve hielt Carla ein verknautschtes, in Alufolie gewickeltes Päckchen unter die Nase. »Möchtest du ein Sandwich? Ich mag es nicht.« Carla schnupperte misstrauisch daran. »Was ist das für ein Sandwich? Ich bin am Verhungern*.« »Truthahn. Hier«, sagte Steve und hielt es Carla Beth hin. »Es ist zu trocken. Meine Mutter hat die Majonäse vergessen. Möchtest du'es trotzdem?« »Klar, sicher. Danke!«, rief Carla Beth erfreut. Sie nahm ihm das Sandwich aus der Hand und wickelte es aus der Alufolie. Dann biss sie herzhaft hinein. Sie begann gerade zu kauen, als ihr auffiel, dass Steve und Chuck sie mit breitem Grinsen beobachteten. Es schmeckte etwas sonderbar. Irgendwie klebrig und sauer. Carla hörte zu kauen auf. Nun lachten Chuck und Steve. Sabrina schaute verwirrt von einem zum anderen. 8
Carla stöhnte angewidert auf und spuckte das durchgekaute Sandwich in eine Serviette. Dann zog sie die Brotscheiben auseinander - und entdeckte einen dicken braunen Regenwurm, der auf dem Truthahnfleisch lag. »Oh!« Sie stöhnte auf, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu würgen. Im Raum brach schallendes Gelächter los. Schadenfrohes Gelächter. »Ich habe einen Wurm gegessen. Mir — mir wird gleich schlecht!«, ächzte Carla. Sie sprang auf und funkelte Steve wütend an. »Wie konntest du so etwas tun?«, zischte sie angewidert. »Das ist nicht komisch. Das ist... das ist...« »Es war kein echter Wurm«, sagte Chuck. Steve lachte so lauthals, dass er sich verschluckte. Wütend starrte Carla auf das Sandwich und fühlte, wie ihr speiübel wurde. »Es ist kein echter. Er ist aus Gummi. Fass ihn an«, empfahl ihr Chuck. Carla zögerte. Überall im Saal flüsterten ihre Mitschüler und zeigten mit den Fingern auf sie. Und lachten. »Mach schon. Er ist nicht echt. Nimm ihn in die Hand«, sagte Chuck grinsend. Carla streckte die Hand aus und hob den Wurm mit zwei spitzen Fingern vom Sandwich. Er fühlte sich warm und klebrig an. »Schon wieder drangekriegt!«, sagte Chuck und lachte. »Er war echt! Ein echter Wurm!« Angeekelt schleuderte Carla Beth den Wurm auf Chuck, der wie verrückt lachte. Mit einem Satz sprang sie vom Tisch weg und warf dabei ihren Stuhl um. Während der Stuhl geräuschvoll auf den harten Boden knallte, hielt sich Carla die Hand vor den Mund und rannte aus der Cafeteria. Ich kann ihn noch immer schmecken!, dachte sie. Ich habe noch immer den Geschmack des Wurms im Mund! Das werde ich ihm heimzahlen, dachte Carla beim Laufen grimmig. 9
Ich werde es ihm heimzahlen. Das werde ich wirklich. Als sie durch die Doppeltür hinausschoss und in Richtung Mädchentoilette rannte, folgte ihr das grausame Gelächter den Korridor hinunter.
Nach dem Unterricht hastete Carla, ohne mit jemandem zu reden, durch die Gänge. Sie hörte Kinder kichern und flüstern. Ihr war klar, dass sie über sie lachten. Die Geschichte, dass Carla Caldwell einen Wurm zum Mittagessen verspeist hatte, hatte sich in Windeseile in der ganzen Schule verbreitet. Carla, der Angsthase, Carla, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Carla, die man so einfach hereinlegen konnte. Chuck und Steve hatten ihr einen echten Wurm, einen fetten braunen Regenwurm auf einem Sandwich untergeschoben. Und Carla hatte herzhaft hineingebissen. Was für ein Volltrottel! Carla rannte den ganzen Weg nach Hause, drei Straßenblocks weit. Ihre Wut wuchs mit jedem Schritt. Wie konnten sie mir so etwas antun? Angeblich sind sie doch meine Freunde! Wieso finden sie es so witzig, mich zu erschrecken? Heftig schnaufend stürmte sie ins Haus. »Jemand zu Hause?«, rief sie, während sie im Flur anhielt und sich ans Treppengeländer lehnte, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Mutter kam aus der Küche geeilt. »Carla! Hi! Was ist denn los?« »Ich bin den ganzen Weg gerannt«, erklärte ihr Carla, während sie ihre blaue Windjacke auszog. »Warum denn das?«, fragte Mrs. Caldwell. »Weil mir einfach danach war«, antwortete Carla übellaunig. 10
Ihre Mutter nahm Carla die Windjacke ab und hängte sie für sie in den Garderobenschrank. Dann strich sie Carla liebevoll über ihr weiches braunes Haar. »Wo hast du nur diese glatten Haare her?«, murmelte sie. Das sagte ihre Mutter ständig. Wir sehen überhaupt nicht wie Mutter und Tochter aus, stellte Carla fest. Ihre Mutter war eine große, mollige Frau, mit drahtigen kupferfarbenen Locken und lebhaften graugrünen Augen. Sie steckte voller Energie, stand nur selten einmal still und redete so schnell, wie sie sich bewegte. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte Mrs. Caldwell. »Gibt es etwas, worüber du gerne mit mir reden möchtest?« Carla schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.« Sie verspürte keine große Lust, ihrer Mutter zu erzählen, dass sie in der Walnut Avenue Junior Highschool zur Witzfigur geworden war. »Komm her. Ich muss dir etwas zeigen«, sagte Mrs. Caldwell und zog Carla in Richtung Wohnzimmer. »Ich ... ich bin wirklich nicht in Stimmung, Mom«, erklärte Carla und sträubte sich. »Ich will einfach...« »Nun komm schon«, forderte ihre Mutter hartnäckig und zog sie hinter sich her über den Flur. Carla brachte es nie fertig, sich ihrer Mutter zu widersetzen. Die war wie ein Wirbelsturm, der alles beiseite fegt, was sich ihm in den Weg stellt. »Sieh mal!«, verkündete Mrs. Caldwell, grinste und deutete auf den Sims über dem offenen Kamin. Carla folgte dem Blick ihrer Mutter zum Kamin - und schrie überrascht auf. »Das ist ja - ein Kopf!« »Das ist nicht einfach nur ein Kopf«, sagte Mrs. Caldwell strahlend. »Geh hin. Sieh ihn dir genau an.« Carla ging, die Augen auf den Kopf gerichtet, der ihr entgegenstarrte, ein paar Schritte auf den Kamin zu. Es dauerte einen Moment, bis sie das glatte braune Haar, die braunen Augen, die kecke Stupsnase und die runden Backen wieder erkannte. »Das bin ja ich!«, rief sie und eilte darauf zu. »Ja. In Lebensgröße!«, verkündete Mrs. Caldwell. »Ich bin gerade von meinem Töpferkurs in der Volkshochschule zurückgekommen. »Heute bin ich damit fertig geworden. Wie findest du ihn?« 11
Carla nahm ihn in die Hände und betrachtete ihn eingehend. »Er sieht genau wie ich aus, Mom. Wirklich. Woraus ist er gemacht?« »Aus Ton«, antwortete ihre Mutter, nahm ihn Carla aus den Händen und hielt ihn ihr so vors Gesicht, dass sie Auge in Auge mit sich selbst stand. »Du musst behutsam damit umgehen. Er ist sehr empfindlich, weil er hohl ist, siehst du?« Carla sah sich den Kopf aufmerksam an und blickte in ihre eigenen Augen. »Er ist... er ist irgendwie unheimlich«, murmelte sie. »Findest du das, weil ich dich so gut getroffen habe?«, wollte ihre Mutter wissen. »Er ist einfach nur unheimlich, das ist alles«, sagte Carla und zwang sich dazu, ihren Blick von der Nachbildung ihres Kopfes abzuwenden. Als sie ihre Mutter ansah, stellte sie fest, dass deren Lächeln verschwunden war. Mrs. Caldwell sah eingeschnappt aus. »Er gefällt dir nicht?« »Doch. Klar. Er ist wirklich gut, Mom«, antwortete Carla rasch. »Aber, ich meine, warum um alles in der Welt hast du ihn gemacht?« »Weil ich dich liebe«, antwortete Mrs. Caldwell knapp. »Warum denn sonst? Also ehrlich, Carla, auf manche Dinge reagierst du ausgesprochen seltsam. Ich habe mir wirklich größte Mühe mit dieser Skulptur gegeben. Ich dachte...« »Es tut mir Leid, Mom. Sie gefällt mir. Ganz ehrlich«, sagte Carla eindringlich. »Es kam nur ziemlich überraschend, das ist alles. Die Skulptur ist toll. Sie sieht genau wie ich aus. Ich... ich hatte heute einen ziemlich miesen Tag, das ist alles.« Carla betrachtete den Tonkopf noch einmal ausführlich. Die braunen Augen - ihre braunen Augen - starrten ihr entgegen. Das braune Haar glänzte im Licht der Nachmittagssonne, die durchs Fenster hereinschien. Sie hat mich angelächelt!, dachte Carla und klappte den Mund auf. Ich hab's gesehen! Ich habe deutlich gesehen, dass sie gelächelt hat! Nein. Das musste eine Täuschung durch das Licht gewesen sein. Es ist ein Tonkopf, rief sie sich in Erinnerung. Mach dich nicht wegen nichts und wieder nichts verrückt, 12
Carla. Hast du dich heute nicht schon genug zum Narren gemacht? »Danke, dass du ihn mir gezeigt hast, Mom«, sagte sie verlegen und wandte den Blick ab. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Zwei Köpfe sind besser als einer, richtig?« »Stimmt«, pflichtete Mrs. Caldwell ihr fröhlich bei. »Ganz zufällig, Carla, ist auch dein Entenkostüm fertig. Ich habe es dir aufs Bett gelegt.« »Entenkostüm?« »Du hast doch kürzlich dieses Entenkostüm im Einkaufszentrum gesehen, erinnerst du dich nicht mehr?« Behutsam stellte Mrs. Caldwell den Gipskopf auf den Kaminsims zurück. »Das mit den Federn und allem. Du fandest doch, es könnte witzig sein, zu Halloween als Ente zu gehen? Deshalb habe ich dir ein Entenkostüm gemacht.« »Oh! Stimmt«, sagte Carla. Jetzt erinnerte sie sich. Möchte ich zu Halloween wirklich als doofe Ente herumlaufen?, fragte sie sich. »Ich geh rauf und seh es mir an, Mom. Danke.« Carla hatte dieses Entenkostüm völlig vergessen. Ich möchte diesmal zu Halloween nicht süß aussehen, dachte sie, während sie die Treppe hinaufstieg. Ich will gruselig sein. Vor ein paar Tagen hatte sie im Fenster eines neuen Partyshops, der nur ein paar Straßen von der Schule entfernt eröffnet worden war, einige echt schaurige Masken entdeckt. Eine von denen, da war sie sicher, wäre perfekt. Wenn sie in Federn herumstolzierte, würden alle ihr hinterherquaken und sich über sie lustig machen. Das war nicht fair. Warum nahm ihre Mutter bloß alles wörtlich, was sie so von sich gab? Nur weil Carla ein Entenkostüm in einem Laden bewundert hatte, hieß noch lange nicht, dass sie zu Halloween als blöde Ente gehen wollte! Vor ihrer Zimmertür angekommen, zögerte Carla Beth. Aus irgendeinem Grund war die Tür geschlossen. Sie machte ihre Tür nie zu. Argwöhnisch lauschte sie. Hatte sie auf der anderen Seite der Tür jemanden atmen gehört? Jemanden oder etwas. Das Atemgeräusch wurde lauter. 13
Carla presste ihr Ohr gegen die Tür. Wer war in ihrem Zimmer? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Carla öffnete die Tür - und stieß einen erschrockenen Schrei aus.
»QUAAAAAAKKKK!« Mit einem grässlichen Schrei sprang eine riesige weiß gefiederte Ente auf Carla los. Als sie verblüfft rückwärts taumelte, rannte die Ente sie über den Haufen und hielt sie draußen auf dem Korridor am Boden fest. »QUAAAAKK! QUAAAAKK!« Das Kostüm war zum Leben erwacht! Das war Carlas erster entsetzter Gedanke. Doch dann dämmerte ihr rasch die Wahrheit. »Noah -geh runter von mir!«, verlangte sie und versuchte die riesige Ente von ihrer Brust zu stoßen. Die weißen Federn streiften ihre Nase. »He - das kitzelt!« Sie nieste. »Noah — runter jetzt!« »QUAAAAKKKK!« »Noah, ich meine es ernst!«, blaffte sie ihren achtjährigen Bruder an. »Was machst du in meinem Kostüm? Dieses Kostüm ist für mich gedacht.« »Ich habe es nur mal anprobiert«, sagte Noah. Seine blauen Augen schauten durch die weiß-gelbe Entenmaske auf sie herunter. »Hab ich dich erschreckt?« »Kein bisschen«, log Carla Beth. »Jetzt steh auf! Du bist schwer!« Er weigerte sich sie loszulassen. »Wieso willst du immer alles haben, was mir gehört?«, wollte Carla Beth wütend wissen. »Das tu ich gar nicht«, erwiderte er. 14
»Und was findest du so witzig daran, mir ständig Angst einzujagen?«, fragte sie weiter. »Ich kann doch nichts dafür, dass du dir jedes Mal ins Hemd machst, wenn ich nur Buh! sage«, antwortete er hämisch. »Runter jetzt! Runter von mir!« Er quakte noch ein paar Mal und schlug mit den Flügeln. Dann stand er auf. »Kann ich das Kostüm haben? Es ist echt spitze.« Grimmig verzog Carla das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du hast mich ganz voller Federn gemacht. Du hast die Mauser!« »Die Mauser? Was heißt das denn?«, wollte Noah wissen und nahm die Maske ab. Sein blondes Haar war feucht von Schweiß und klebte ihm am Kopf. »Das heißt, dass du bald eine kahle Ente sein wirst!«, erklärte ihm Carla. »Das ist mir schnuppe. Kann ich das Kostüm haben?«, wiederholte Noah, während er die Maske eingehend musterte. »Es passt mir. Wirklich.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Carla. »Vielleicht.« Da klingelte das Telefon in ihrem Zimmer. »Und jetzt verzieh dich, okay? Flieg für den Winter in den Süden oder so«, sagte sie und eilte zum Telefon hinüber. Überall in ihrem Zimmer sah sie weiße Federn liegen. Das Kostüm wird niemals bis Halloween überleben!, dachte sie. Sie hob den Hörer ab. »Hallo? Oh, hi, Sabrina. Mir geht's gut.« Sabrina rief an, um Carla daran zu erinnern, dass in der Schule am nächsten Tag die Naturkundeausstellung stattfand. Sie mussten ihr gemeinsames Projekt noch fertig Aachen, ein Modell des Sonnensystems, das sie aus Bällen konstruiert hatten. »Komm doch nach dem Abendessen vorbei«, schlug Carla vor. »Es ist ja fast fertig. Wir müssen es nur noch anmalen. Mom hat gesagt, sie hilft uns, es morgen in die Schule zu bringen.« Sie unterhielten sich eine Weile. Dann gestand Carla: »Ich war so sauer, Sabrina. Heute Mittag. Was finden Chuck und Steve bloß so witzig daran, so etwas mit mir zu machen?« Sabrina schwieg einen Moment lang. »Wahrscheinlich liegt das daran, dass du so schreckhaft bist, Carla.« »Schreckhaft?« 15
»Du schreist immer gleich los«, sagte Sabrina. »Andere Leute erschrecken sich auch. Aber sie tun das eher still. Du kennst doch Chuck und Steve. Sie meinen es nicht wirklich böse. Sie finden es einfach nur komisch.« »Na ja, ich finde so etwas überhaupt nicht komisch«, erwiderte Carla unglücklich. »Und ich werde in Zukunft nicht mehr schreckhaft sein. Das meine ich ernst. Ich werde nie wieder schreien oder mir Angst einjagen lassen.« Die Naturkundeprojekte waren alle auf der Bühne in der Aula für die Preisrichter aufgebaut. Mrs. Armbruster, die Rektorin, und Mr. Smythe, der Naturkundelehrer, gingen von Exponat zu Exponat und machten sich auf Klemmbrettern Notizen. Das von Carla und Sabrina gestaltete Sonnensystem hatte die Fahrt zur Schule ziemlich gut überstanden. Der Pluto hatte eine kleine Delle abbekommen, die auszubeuten die Mädchen sich vergeblich bemüht hatten. Und die Erde löste sich ständig von ihrem Faden und hüpfte über den Boden. Trotzdem waren die beiden Mädchen sich darin einig, dass ihr Ausstellungsstück ziemlich gut aussah. Vielleicht war es ja nicht so beeindruckend wie Martin Goodmans Projekt. Martin hatte ganz allein einen Computer gebaut. Aber Martin war eben ein Genie. Und Carla sagte sich, die Preisrichter erwarteten sicher nicht, dass alle anderen ebenfalls Genies wären. Als sie sich auf der Bühne umsah, auf der es ziemlich laut herging und vor Leuten nur so wimmelte, entdeckte Carla noch mehr interessante Arbeiten. Mary Sue hatte einen elektronischen Roboterarm gebaut, der eine Tasse anheben oder den Leuten zuwinken konnte. Und Brian Baldwin hatte mehrere Gasflaschen mit schmierigem, braunem Zeug gefüllt, von dem er behauptete, es sei Giftmüll. Jemand hatte eine chemische Analyse des Trinkwassers der Stadt vorgenommen. Und ein anderer hatte einen Vulkan gebastelt, der ausbrechen würde, wenn die beiden Preisrichter an ihm vorbeikamen. »Unser Projekt ist irgendwie langweilig«, flüsterte Sabrina Carla nervös zu. Ihre Augen hingen an den beiden Preisrichtern, die 16
gerade vor Martins hausgemachtem Computer standen und immer wieder Ooh! und Aah! riefen. »Ich meine, es sind doch einfach nur an Fäden aufgehängte angemalte Bälle.« »Mir gefällt unser Projekt«, beharrte Carla. »Wir haben schwer daran gearbeitet, Sabrina.« »Ich weiß«, antwortete Sabrina quengelig. »Aber trotzdem ist es irgendwie langweilig.« Der Vulkan brach aus und schleuderte einen Schwall roter Flüssigkeit in die Höhe. Die Preisrichter wirkten beeindruckt. Einige Kinder johlten begeistert. »Ah-oh! Da kommen sie«, flüsterte Carla Beth und vergrub ihre Hände in den Jeanstaschen. Mrs. Armbruster und Mr. Smythe kamen, ein Dauerlächeln auf dem Gesicht, näher. Sie blieben stehen, um sich ein Exponat aus Licht und Kristallen anzusehen. Plötzlich hörte Carla einen aufgeregten Schrei, der irgendwo hinter der Bühne ertönte. »Meine Tarantel! He -meine Tarantel ist mir entwischt!« Sie erkannte Steves Stimme. »Wo ist meine Tarantel«, rief er. Einige Kinder stießen erschrockene Schreie aus. Ein paar andere lachten. Dieses Mal lasse ich mir keine Angst einjagen, sagte sich Carla und schluckte heftig. Sie fürchtete sich schrecklich vor Taranteln. Doch diesmal war sie fest entschlossen, ihre Angst nicht zu zeigen. »Meine Tarantel - sie ist weg!«, schrie Steve, das laute aufgeregte Stimmengewirr übertönend. Ich lasse mir keine Angst einjagen. Ich lasse mir keine Angst einjagen, sagte Carla sich immer wieder. Doch dann spürte sie, wie sie etwas hinten in die Wade zwickte und eine winzige spitze Zange sich in ihre Haut bohrte - und da stieß Carla einen markerschütternden Schrei aus, der in der ganzen Aula zu hören war.
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Carla kreischte und warf dabei das Sonnensystem um. Sie strampelte wie wild mit dem Bein, um die Tarantel abzuschütteln. Die Ballplaneten hüpften auf dem Boden herum. Wieder schrie sie. »Nehmt sie mir ab! Nehmt sie weg\« »Carla — hör auf!«, bat Sabrina sie. »Es ist alles in Ordnung mit dir! Alles in Ordnung!« Es dauerte eine ganze Weile, bis Carla merkte, dass alle lachten. Ihr Herz hämmerte, als sie herumfuhr und Steve entdeckte, der hinter ihr auf allen vieren auf dem Boden kniete. Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine Zwickbewegung. »Ich hab dich schon wieder drangekriegt!«, sagte er grinsend. »Neeiin!«, schrie Carla stocksauer. Nun war ihr klar, dass es gar keine Tarantel gab. Steve hatte sie ins Bein gezwickt. Sie schaute sich um und sah, dass die Kinder überall auf der Bühne lachten. Mrs. Armbruster und Mr. Smythe lachten ebenfalls. Mit einem wütenden Aufschrei versuchte Carla, Steve einen Tritt zu verpassen. Doch er wich ihr geschickt aus. Sie trat ins Leere. »Hilf mir die Planeten aufzusammeln«, hörte sie Sabrina sagen. Doch die schien ganz weit weg zu sein. Alles, was Carla hören konnte, war das Hämmern ihres Herzens und das Gelächter all der Kinder um sie herum. Steve war inzwischen aufgestanden. Er und Chuck standen nebeneinander, grinsten sie an und klatschten sich gegenseitig auf die Hände. »Carla — hilf mir«, bat Sabrina sie nochmals. Doch Carla drehte sich um, sprang von der Bühne und rannte den dunklen Mittelgang der Aula entlang davon. Das werde ich Steve und Chuck heimzahlen, schwor sie sich wütend. Ihre Turnschuhe dröhnten laut über den Fußboden. Ich werde sie erschrecken, werde ihnen RICHTIG Angst einjagen! Aber wie? 18
»Okay. Um wie viel Uhr treffen wir uns?«, fragte Carla und klemmte sich den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter. Am anderen Ende überlegte Sabrina einen Moment lang. »Wie war's mit halb acht?« Es war Halloween. Der Plan war, sich bei Sabrina zu Hause zu treffen und von dort aus zum Bonbonschnorren in der Nachbarschaft herumzuziehen. »Je eher, desto besser. So kriegen wir mehr Süßigkeiten zusammen«, sagte Sabrina. »Hat Steve dich inzwischen angerufen?« »Ja. Hat er«, bestätigte Carla grimmig. »Hat er sich entschuldigt?« »Ja, er hat sich entschuldigt«, sagte Carla und verdrehte die Augen. »Was soll's? Ich meine, er hat dafür gesorgt, dass ich vor der ganzen Schule wie ein Volltrottel dastehe. Was kann da eine Entschuldigung noch bringen?« »Ich glaube, er hat sich mies gefühlt!«, antwortete Sabrina. »Ich hoffe, er hat sich mies gefühlt!«, rief Carla gereizt. »Die Sache war total fies.« »Es war wirklich ein gemeiner Streich«, pflichtete Sabrina ihr bei. Und dann fügte sie hinzu: »Aber du musst doch zugeben, dass es irgendwie auch witzig war.« »Ich muss überhaupt nichts zugeben!«, raunzte Carla, immer noch grimmig. »Hat es zu regnen aufgehört?«, fragte Sabrina, das Thema wechselnd. Carla zog die Gardine zurück und spähte aus dem Fenster. Der Abendhimmel war holzkohlengrau. Dunkle Wolken hingen tief. Aber der Regen hatte aufgehört. Die Straße glänzte nass im Schein einer Straßenlaterne. »Kein Regen. Ich muss aufhören. Wir sehen uns um halb acht!«, sagte Carla Beth hastig. »He, warte! Was für ein Kostüm hast du an?«, wollte Sabrina wissen. »Lass dich überraschen«, erklärte ihr Carla Beth und legte auf. 19
Auch für mich wird es eine Überraschung, sagte sie sich, während sie einen unglücklichen Blick auf das gefiederte Entenkostüm warf, das zusammengefaltet auf einem Stuhl in der Ecke lag. Carla hatte vorgehabt, nach der Schule zu diesem neuen Partyshop zu gehen und sich die hässlichste, abstoßendste, schaurigste Maske zu kaufen, die sie dort hatten. Aber ihre Mutter hatte sie von der Schule abgeholt und darauf bestanden, dass sie ein paar Stunden zu Hause blieb, um auf Noah aufzupassen. Um Viertel nach fünf war Mrs. Caldwell noch nicht zurück gewesen. Mittlerweile war es beinahe drei viertel sechs. Nie und nimmer hat der Partyshop jetzt noch offen, dachte Carla und guckte grimmig auf das Entenkostüm. »Quak, quak«, sagte sie unglücklich. Sie ging zum Spiegel und fuhr sich mit der Bürste durchs Haar. Vielleicht ist es einen Versuch wert, dachte sie. Vielleicht bleibt der Laden an Halloween ja länger geöffnet. Sie zog die oberste Schublade der Kommode auf und holte ihre Brieftasche heraus. Hatte sie überhaupt genug Geld für eine gute, gruselige Maske? Dreißig Dollar. Ihr Notgroschen. Entschlossen faltete sie die Geldscheine zusammen und stopfte sie in die Brieftasche zurück. Dann schob sie sie in ihre Jeanstasche, schnappte sich den Mantel, lief die Treppen hinunter und zur Haustür hinaus. Die Abendluft war kühl und feucht. Während Carla in Richtung Partyshop trabte, hatte sie Mühe, im Laufen den Reißverschluss ihres Mantels zuzuziehen. Im Fenster des Nachbarhauses strahlte eine Kürbiskopflaterne. Auf der Veranda des Hauses an der Ecke waren Pappskelette aufgehängt. Der Wind heulte in den kahlen Bäumen. Die Äste hoch über ihr zuckten und knarrten wie knochige Arme. Was für eine unheimliche Nacht, ging es Carla durch den Kopf. Sie lief ein bisschen schneller. Ein Auto rollte geräuschlos vorbei, das grelle weiße Scheinwerferlicht glitt wie ein fahles Gespenst den Bürgersteig entlang. 20
Als sie über die Straße schaute, sah Carla das alte CarpenterHaus, das über dem dunklen, von Unkraut überwucherten Rasen aufragte. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, dass in dem heruntergekommenen alten Haus die Geister von Menschen spukten, die vor hundert Jahren darin ermordet worden waren. Einmal hatte Carla sogar ein entsetzliches Heulen gehört, das aus dem alten Haus ertönte. Als sie in Noahs Alter gewesen war, hatten Steve und Chuck und ein paar andere Kinder sich gegenseitig dazu herausgefordert, zu dem Haus zu gehen und an die Tür zu klopfen. Carla war stattdessen nach Hause gerannt. So hatte sie nie herausgefunden, ob die anderen Kinder wirklich mutig genug gewesen waren, es zu tun. Nun spürte Carla einen kalten Angstschauer, während sie an dem alten Haus vorbeihastete. Sie kannte sich in diesem Viertel wirklich gut aus. Schließlich lebte sie hier schon ihr ganzes Leben lang. Doch heute Nacht kam es ihr vor, als sähe alles völlig anders aus. Lag das nur an dem nassen Glanz, den der Regen hinterlassen hatte? Nein. Es lag an der eigenartigen Stimmung, die schwer in der Luft hing. An der Dunkelheit, die noch schwerer lastete. An dem unheimlichen Glühen der grinsenden Kürbisköpfe in den Fenstern. An den lautlosen Schreien von bösen Geistern und Monstern, die nur darauf warteten loszuziehen, um ihre Nacht zu feiern. Halloween. Carla gab sich Mühe, all diese schauerlichen Vorstellungen aus ihren Gedanken zu vertreiben. Als sie um die Ecke bog, kam der kleine Partyshop in Sicht. Die Schaufenster waren beleuchtet und zeigten zwei Reihen von Halloweenmasken, die auf die Straße herausglotzten. Aber war der Laden noch geöffnet? Carla drückte sich selbst die Daumen, während sie stehen blieb und wartete, bis ein Lastwagen vorbeigerumpelt war. Dann lief sie aufgeregt über die Straße. Vor dem Schaufenster blieb sie stehen, um die Masken zu betrachten. Da gab es Gorillamasken, 21
Monstermasken und so etwas wie Alienmasken mit blauen Haaren. Ziemlich gut, dachte sie. Die hier sind alle ganz schön hässlich. Aber bestimmt gibt es drinnen noch gruseligere. Die Beleuchtung im Laden war noch an. Carla spähte durch die Glastür hinein und versuchte den Türgriff zu drehen. Doch er bewegte sich nicht. Sie probierte es noch einmal, versuchte die Tür aufzuziehen. Und dann probierte sie es mit Drücken. Nein. Nichts zu machen. Sie war zu spät gekommen. Der Laden hatte bereits geschlossen.
Carla seufzte und spähte durch die Scheibe hinein. Die Wände des winzigen Ladens waren über und über min Masken bedeckt. Die Masken schienen sie anzustarren. Sie lachen mich aus, dachte sie unglücklich. Sie lachen mich aus, weil ich zu spät gekommen bin Weil der Laden geschlossen ist und ich zu Halloween als blöde Ente gehen muss. Plötzlich bewegte sich ein dunkler Schatten übers Glas, und versperrte Carla die Sicht. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass der Schatten ein Mann war. Ein Mann in einem schwarzen Anzug, der mit überraschter Miene zu ihr herausblickte. »Haben Sie — haben Sie schon geschlossen?«, rief Carla Beth durch die Scheibe nach drinnen. Der Mann bedeutete ihr mit den Händen, dass er sie nicht verstehen konnte. Er sperrte auf und öffnete die Tür einen kleinen Spalt. »Kann ich dir helfen?«, fragte er barsch. Sein glänzendes schwarzes Haar war in der 22
Mitte gescheitelt und glatt über den Kopf gekämmt und er trug einen bleistiftdünnen Schnurrbart. »Haben Sie noch geöffnet?«, fragte Carla zaghaft. »Ich brauche eine Halloweenmaske.« »Es ist reichlich spät«, erwiderte der Mann, ohne ihre Frage zu beantworten. Aber er öffnete die Tür ein paar Zentimeter weiter. »Normalerweise schließen wir um fünf.« »Ich würde wirklich sehr gerne eine Maske kaufen«, erklärte Carla mit ihrer entschlossensten Stimme. Der Mann schaute sie mit seinen kleinen schwarzen Augen an. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Komm herein«, sagte er leise. Als Carla an ihm vorbei in den Laden ging, fiel ihr auf, dass er ein schwarzes Cape anhatte. Wahrscheinlich ein Halloweenkostüm, sagte sie sich. Ich bin sicher, er trägt das nicht die ganze Zeit. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Masken an den beiden Wänden zu. »Welche Art von Maske suchst du denn?«, fragte der Mann, während er die Tür hinter sich zumachte. Carla bekam es mit der Angst. Seine Augen leuchteten wie zwei glühende Kohlen. Er wirkte sonderbar. Und mit diesem Mann war sie in einem geschlossenen Laden eingesperrt. »Eine g-gruselige«, stotterte sie. Nachdenklich rieb sich der Mann das Kinn und zeigte auf ein Regal. »Die Gorillamaske kommt immer sehr gut an. Sie ist aus echtem Fell gemacht. Ich denke, ich sollte noch eine davon auf Lager haben.« Carla schaute zu der Gorillamaske hinauf. Eigentlich wollte sie nicht als Gorilla gehen. Das war zu banal. Nicht schaurig genug. »Hmmm... haben Sie nicht etwas Gruseligeres?«, fragte sie. Er schwang sein Cape über die Schultern seines schwarzen Anzugs zurück. »Wie war's denn mit dieser gelblichen mit den spitzen Ohren da?«, schlug er vor und deutete darauf. »Ich glaube, die stellt eine Figur aus Star Trek dar. Ich habe noch eine davon, denke ich.« »Nein.« Carla schüttelte den Kopf. »Ich brauche etwas richtig Gruseliges.« 23
Unter dem dünnen Schnurrbart des Mannes bildete sich ein seltsames Lächeln. Seine Augen brannten sich in ihre, als ob er versuchte ihre Gedanken zu lesen. »Schau dich um«, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung. »Alles, was ich noch auf Lager habe, steht hier in den Regalen.« Carla wandte ihren Blick den Masken zu. Als Erstes fiel ihr eine Schweinemaske mit langen hässlichen Haaren auf, aus deren Schnauze Blut tröpfelte. Ziemlich gut, dachte sie. Aber nicht ganz das Richtige. Eine haarige Werwolfsmaske mit weißen, spitzen Fangzähnen hing daneben. Ebenfalls zu banal, entschied Carla. Sie ließ den Blick über eine grüne Frankensteinmaske, eine Freddy-Krüger-Maske, zu der auch Freddys Hand -komplett mit langen, silbrigen Klingen - gehörte, und eine E.-T.-Maske wandern. Alles einfach nicht schaurig genug, dachte Carla und war drauf und dran zu verzweifeln. Ich brauche etwas, womit ich Steve und Chuck echt zu Tode erschrecken kann! »Junge Dame, ich fürchte, ich muss dich bitten, nun deine Wahl zu treffen«, sagte der Mann im Cape sanft. Er war hinter die schmale Theke vorne im Laden getreten und drehte einen Schlüssel, der in der Registrierkasse steckte, um. »Immerhin haben wir bereits geschlossen.« »Tut mir Leid«, begann Carla. »Es ist nur so, dass...« Das Telefon klingelte, bevor sie ihre Erklärung beenden konnte. Der Mann nahm den Hörer ab und begann mit leiser Stimme zu sprechen, wobei er Carla den Rücken zuwandte. Da er beschäftigt war, schlenderte sie zur Rückseite des Ladens und schaute sich im Gehen alle Masken an. Sie kam an einer schwarzen Katzenmaske mit langen, hässlichen gelben Fangzähnen vorbei. Eine Vampirmaske, von deren Unterlippe hellrotes Blut tröpfelte, hing neben einer kahlköpfigen Maske Onkel Festers aus der Addams-Family. Nicht das Richtige, nicht das Richtige, nicht das Richtige, dachte Carla mit gerunzelter Stirn. Zögernd blieb sie stehen, als sie an der Rückwand des Ladens eine schmale Tür entdeckte, die einen Spalt breit offen stand. Gab 24
es da noch einen weiteren Raum? Gab es da hinten noch mehr Masken? Verstohlen warf sie einen Blick zur Theke zurück. Der Mann stand, hinter seinem Cape verborgen, noch immer mit dem Rücken zu ihr und telefonierte. Ein wenig unschlüssig drückte Carla Beth gegen die Tür, um hineinsehen zu können. Knarrend ging sie auf. Fahles oranges Licht beleuchtete den kleinen, düsteren rückwärtigen Raum. Carla trat ein — und schnappte verblüfft nach Luft.
Zwei dutzend leerer Augenhöhlen starrten Carla blind entgegen. Sie keuchte vor Entsetzen über die verzerrten, verformten Gesichter. Das sind Masken, stellte sie fest. Zwei Regalfächer voller Masken. Aber die Masken waren so hässlich, so grotesk - so echt , dass Carla Beth bei ihrem Anblick die Luft im Hals stecken blieb. Benommen hielt sie sich am Türrahmen fest, unschlüssig, ob sie den kleinen Raum betreten sollte. Sie starrte in das dämmrige orange Licht und musterte die grässlichen Masken. Eine der Masken hatte langes, strähniges gelbes Haar, das über eine vorgewölbte, grüne Stirn fiel. Ein pelziger schwarzer Rattenkopf ragte aus einem Knoten im Haar hervor. Die Rattenaugen glänzten wie zwei dunkle Juwelen. Daneben hing eine Maske, in deren einer Augenhöhle ein großer Nagel steckte. Dickes, nass aussehendes Blut quoll daraus hervor und lief über die Wange hinab. Von einer anderen Maske schienen Fetzen verfaulter Haut abzufallen, sodass der graue Schädelknochen darunter sichtbar wurde. Ein riesiges schwarzes Insekt, irgendeine Art grotesker Käfer, streckte den Kopf zwischen den grünlich gelben, verfaulten Zähnen hervor. 25
Carlas Entsetzen mischte sich mit Begeisterung. Entschlossen trat sie einen Schritt in den Raum hinein. Die hölzernen Bodendielen knarrten geräuschvoll. Sie trat noch einen Schritt näher an die grotesken, grinsenden Masken heran. Die Köpfe wirkten so echt, so fürchterlich echt. Die Gesichter steckten voller Details. Die Haut wirkte wie aus Fleisch und Blut und sah gar nicht nach Gummi oder Kunststoff aus. Die hier sind perfekt!, dachte sie und ihr Herz pochte heftig. Sie sind genau das, wonach ich gesucht habe. Sie sehen ja schon im Regal Grauen erregend aus! Carla stellte sich vor, wie Steve und Chuck reagieren würden, wenn eine dieser Masken aus dem Dunkel der Nacht auf sie zu kam. Sie stellte sich bildlich vor, wie sie in einer dieser Masken hinter einem Baum hervorsprang und dabei einen Schrei ausstieß, der den beiden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie malte sich die entsetzten Mienen der Jungen aus und konnte fast schon sehen, wie Steve und Chuck vor Angst kreischten und um ihr Leben rannten. Perfekt! Perfekt! Das würde für Gelächter sorgen. Was für ein Sieg! Carla atmete tief ein und trat auf das Regal zu. Ihr Blick hing an einer hässlichen Maske im untersten Fach. Der kahle Kopf hatte Beulen. Die Haut war faulig gelbgrün. Die riesigen, tief liegenden Augen waren von einem schaurigen Orange und schienen zu glühen. Die Maske hatte eine breite, flache Nase, eingedrückt wie die eines Totenkopfes. Der Mund mit seinen dunklen Lippen stand weit offen und zeigte ein scharfes Raubtiergebiss. Während Carla die grässliche Maske unverwandt anstarrte, streckte sie die Hand danach aus. Zögernd berührte sie die breite Stirn. Und als Carla sie berührte, schrie die Maske auf.
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»Oh!« Carla kreischte und zog blitzschnell die Hand zurück. Die Maske grinste ihr entgegen. Ihre orangen Augen glühten hell. Die Lippen schienen sich über die Reißzähne zurückzuziehen. Plötzlich fühlte sich Carla Beth benommen. Was läuft denn hier? Während sie rückwärts taumelte, weg von den Regalen, dämmerte es ihr, dass der wütende Schrei gar nicht von der Maske gekommen war. Er war hinter ihr ertönt. Als Carla Beth herumfuhr, sah sie sich dem Ladenbesitzer im schwarzen Cape gegenüber, der sie vom Durchgang aus anfunkelte. Seine dunklen Augen blitzten. Der Mund war grimmig verzogen und ließ ihn bedrohlich aussehen. »Oh! Ich dachte...«, setzte Carla Beth an und wandte den Blick wieder der Maske zu. Sie war durcheinander und ihr Herz schlug bis zum Halse. »Es tut mir Leid, dass du die hier gesehen hast«, der Mann mit leiser, drohender Stimme. Er kam einen Schritt auf sie zu, dabei streifte sein Cape den Türrahmen Was wird er jetzt tun?, fragte sich Carla und keuchte vor Schreck. Wieso kommt er so bedrohlich auf mich zu? »Das tut mir sehr Leid«, wiederholte er und seine kleinen dunklen Augen bohrten sich in ihre. Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Erschrocken wich Carla Beth vor ihm zurück. Als sie mit dem Rücken gegen das Regal stieß, schrie sie ängstlich auf. Die grässlichen Masken wackelten und bebten, als wären sie lebendig. »Wie — wie meinen Sie das?«, brachte sie mit Mühe hervor. »Ich — ich habe doch nur...« »Es tut mir Leid, dass du diese Masken gesehen hast, weil sie nicht zu verkaufen sind«, sagte der Mann leise. 27
Er trat an ihr vorbei und rückte eine der Masken auf ihrem Ständer zurecht. Carla stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. Er wollte mir gar keine Angst machen, sagte sie sich. Ich selbst mache mir Angst. Erleichtert verschränkte sie die Arme vor der Brust und gab sich Mühe, ihren Herzschlag wieder zum normalen Tempo zurückkehren zu lassen. Sie trat zur Seite, als der Ladeninhaber fortfuhr, die Masken zurechtzurücken. Er behandelte sie behutsam, strich ihnen mit der Hand übers Haar und wischte ihnen den Staub von den verunstalteten Stirnen. »Nicht zu verkaufen? Wieso nicht?«, wollte Carla wissen. Dabei klang ihre Stimme kläglich und schrill. »Zu schaurig«, antwortete der Mann. Er wandte sich um und lächelte sie an. »Aber ich will doch eine richtig schaurige«, erklärte ihm Carla. »Ich will diese da!« — Sie deutete auf die Maske, die sie berührt hatte, die Maske mit dem aufgerissenen Mund und den Grauen erregenden scharfen Reißzähnen. »Zu schaurig«, wiederholte der Mann und schob sein Cape über die Schulter zurück. »Aber es ist doch Halloween!«, protestierte Carla. »Ich habe eine wirklich gruselige Gorillamaske«, sagte der Mann und bedeutete Carla mit einer Handbewegung, in den vorderen Raum zurückzukehren. »Sehr gruselig. Sieht aus, als ob sie knurrt. Ich mache dir einen guten Preis dafür, weil es schon so spät ist.« Carla schüttelte, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt, den Kopf. »Eine Gorillamaske würde Steve und Chuck nicht erschrecken«, sagte sie. Die Miene des Mannes veränderte sich. »Wen?« »Meine Freunde«, erklärte sie ihm. »Ich muss diese Maske haben«, sagte sie hartnäckig. »Sie ist so schaurig, dass ich mich beinahe fürchte, sie anzufassen. Sie ist perfekt.« »Sie ist zu gruselig«, wiederholte der Mann, sah die Maske liebevoll an und strich mit der Hand über ihre grüne Stirn. »Das kann ich nicht verantworten.« »Sie sieht so echt aus!«, schwärmte Carla. »Die beiden werden in Ohnmacht fallen. Ich bin sicher, das werden sie. Dann würden sie 28
nie mehr versuchen mir Angst einzujagen.« »Junge Dame...«, begann der Ladenbesitzer und guckte ungeduldig auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt wirklich darauf bestehen, dass du dich entscheidest. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber...« »Bitte!«, bettelte Carla. »Bitte verkaufen Sie sie mir! Hier. Sehen Sie.« Sie griff in ihre Jeanstasche und zog das Geld heraus, das sie mitgebracht hatte. »Junge Dame, ich...« »Dreißig Dollar«, sagte Carla und drückte dem Mann die zusammengeknüllten Scheine in die Hand. »Ich gebe Ihnen dreißig Dollar dafür. Das reicht doch, oder?« »Es geht dabei nicht ums Geld«, erklärte er ihr. »Diese Masken sind einfach nicht zu verkaufen.« Mit einem genervten Seufzer begann er auf die Tür zuzugehen, die zum vorderen Teil des Ladens führte. »Bitte! Ich brauche sie. Ich brauche sie unbedingt!«, bettelte Carla, ihm auf den Fersen bleibend. »Diese Masken sind zu real«, sagte er nachdrücklich mit einer ausladenden Geste in Richtung Regal. »Ich warne dich...« »Bitte! Bitte!« Er schloss die Augen. »Das wird dir noch Leid tun.« »Nein, wird es nicht. Ich weiß, dass es das nicht wird!«, rief Carla zappelig, als sie sah, dass er drauf und dran war nachzugeben. Schließlich öffnete er die Augen und schüttelte den Kopf. Sie konnte sehen, dass er mit sich selber rang. Seufzend schob er das Geld in seine Jackentasche. Dann nahm er die Maske behutsam vom Regal, drückte die spitzen Ohren gerade und hielt sie Carla entgegen. »Danke!«, rief sie und riss ihm die Maske fast aus den Händen. »Sie ist perfekt! Perfekt!« Mit einer Hand hielt sie die Maske bei der flachen Nase, die sich weich und überraschend warm anfühlte. »Nochmals danke!«, rief sie und eilte, die Maske fest in ihrer Hand, nach vorne. »Soll ich dir eine Tüte dafür geben?«, rief der Mann ihr hinterher. Doch Carla war bereits aus dem Laden hinaus. Sie überquerte die Straße und lief nach Hause. Der Himmel hatte 29
sich schwarz verfinstert. Kein einziger Stern war zu sehen. Die Straße glänzte noch immer nass vom Regen am Nachmittag. Das wird die beste Halloween-Nacht aller Zeiten, dachte Carla gut gelaunt. Denn dies ist die Nacht, in der ich Rache nehme. Sie konnte es kaum erwarten, auf Steve und Chuck loszuspringen. Wie wohl die Kostüme der beiden aussehen würden? Sie hatten davon gesprochen, dass sie sich Gesichter und Haare blau färben und als Schlümpfe gehen wollten. Schwach. Echt schwach. Unter einer Straßenlampe blieb Carla stehen, nahm die Maske mit beiden Händen an den spitzen Ohren und hielt sie hoch. Der Kopf grinste ihr, die dicken, wulstigen Lippen über zwei krumme Reihen scharfer Zähne geschürzt, entgegen. Dann klemmte sie sich die Maske unter den Arm und rannte den ganzen restlichen Weg nach Hause. Unten an der Einfahrt hielt sie an und schaute zu ihrem Haus hinauf: die Fenster vorne waren hell erleuchtet und der weiße Schein der Verandalampe schimmerte auf den Rasen. Ich muss diese Maske an irgend jemandem ausprobieren, sagte sie sich hippelig. Ich muss einfach sehen, ob sie wirklich Eindruck macht. Da kam ihr das grinsende Gesicht ihres Bruders in den Sinn. »Noah. Natürlich«, sagte sie laut. »Noah hat es wirklich verdient.« Mit schadenfroher Miene lief Carla die Auffahrt hinauf, begierig darauf, Noah zu ihrem ersten Opfer zu machen.
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Geräuschlos schlich Carla ins Haus und warf den Mantel im Flur auf den Boden. Hier drinnen war es dumpf und heiß. Ein süßer Geruch, der Duft von heißem Apfelwein auf dem Herd, begrüßte sie. An Feiertagen legt sich Mom immer richtig ins Zeug, dachte sie mit einem Lächeln. Die Maske in der Hand schlich Carla auf Zehenspitzen über den Flur und lauschte angestrengt. Noah, wo bist du? Wo steckst du, mein kleines Versuchskaninchen? Noah prahlte immer damit, viel mutiger als Carla zu sein. Ständig steckte er ihr Käfer hinten in den Kragen und legte ihr Gummischlangen ins Bett — tat überhaupt alles, um sie zum Schreien zu bringen. Über sich hörte sie Schritte. Noah muss oben in seinem Zimmer sein, schloss sie. Wahrscheinlich zieht er gerade sein Halloweenkostüm an. Noah hatte in allerletzter Minute beschlossen, als Kakerlake zu gehen. Auf der Suche nach Material, mit dem sie ihm spitze Fühler und eine harte Schale für den Rücken machen konnte, war Mrs. Caldwell wie wild durchs ganze Haus gefegt. Nun, die kleine Kakerlake kann sich auf eine Überraschung gefasst machen, dachte Carla Beth boshaft. Sie sah sich die Maske noch einmal an. Die würde dafür sorgen, dass sich die Kakerlake blitzschnell unter dem Spülbecken verkroch! Unten an der Treppe blieb sie stehen. Aus Noahs Zimmer hörte sie laute Musik. Ein alter Heavy-Metal-Song. Carla packte die Maske am wulstigen Hals, hob sie behutsam über den Kopf und zog sie dann langsam über. Drinnen war es überraschend warm. Die Maske lag enger an, als Carla sich das vorgestellt hatte. Sie hatte einen eigenartigen Geruch: irgendwie säuerlich, irgendwie alt, so wie feuchte Zeitungen, die schon jahrelang auf einem Speicher oder in einer Garage herumlagen. Carla streifte sie ganz herunter, bis sie durch die Augenlöcher 31
hinaussehen konnte. Dann strich sie den wulstigen, kahlen Kopf über ihrem eigenen glatt und zog den Hals nach unten. Ich hätte vor einem Spiegel Halt machen sollen, ärgerte sie sich. Nun kann ich gar nicht sehen, ob sie richtig sitzt. Die Maske fühlte sich sehr eng an. Carlas Atemgeräusch hallte laut in der flachen Nase wider. Sie zwang sich dazu, den fauligen Geruch, der von ihr ausging, zu ignorieren. Während sie die Treppe hinaufschlich, hielt sie sich am Geländer fest. Es war schwierig, die Stufen durch die Augenlöcher hindurch zu sehen. Sie musste langsam hinaufsteigen, eine Stufe nach der anderen. Gerade als sie den Treppenabsatz erreichte, verstummte die Heavy-Metal-Musik. Geräuschlos schlich sie den Flur hinunter und blieb vor der Tür zu Noahs Zimmer stehen. Langsam schob Carla den Kopf durch die offene Tür und spähte in das hell erleuchtete Zimmer hinein. Noah stand vor dem Spiegel und rückte die beiden langen Kakerlakenfühler auf seinem Kopf zurecht. »Noah — jetzt hab ich dich!«, rief Carla. Zu ihrer Verblüffung klang ihre Stimme barsch und tief. Das war überhaupt nicht ihre Stimme! »Was?« Noah fuhr erschrocken herum. »Noah - jetzt hab ich dich!«, keifte Carla mit dieser Stimme, die tief, rau und böse klang. »Nein!« Ihr Bruder stieß einen gedämpften Protestschrei aus. Trotz seines Ungeziefer-Make-ups konnte Carla sehen, dass er blass wurde. Sie machte einen Satz ins Zimmer hinein, die Arme ausgestreckt, als ob sie ihn packen wollte. »Nein - bitte!«, schrie er gellend. »Wer bist du? Wie - wie bist du hier hereingekommen?« Er erkennt mich nicht!, freute sich Carla diebisch. Und er hat sich zu Tode erschreckt! Lag es an dem grässlichen Gesicht? An ihrer tiefen, polternden Stimme? Oder an beidem? Im Grunde war Carla das egal. Jedenfalls war die Maske eindeutig ein voller Erfolg! 32
»Jetzt HAB ich dich!«, brüllte sie und war selbst überrascht, wie schaurig ihre Stimme aus der Maske heraus klang. »Nein! Bitte!«, flehte Noah. »Mom! Mom!« Er wich zu seinem Bett zurück, zitterte am ganzen Körper und seine Fühler bebten vor Angst. »Mom! Hiiilfe!« Carla Beth lachte schallend los. Aber auch ihr Lachen kam als tiefes Brummen heraus. »Ich bin's, Dummkopf!«, rief sie. »Was bist du doch bloß für ein hasenfüßiger Hosenmatz!« Noch immer am Bett zusammengekauert, glotzte Noah sie unverwandt an. »Erkennst du denn meine Jeans nicht? Meinen Pullover? Ich bin's, du Idiot!«, verkündete Carla mit schroffer Stimme. »Aber dein Gesicht - diese Maske!«, stammelte Noah. »Sie - sie hat mir echt Angst gemacht. Ich meine...« Mit weit aufgerissenem Mund starrte er sie an, musterte die Maske. »Es hat sich nicht nach dir angehört, Carla«, murmelte er. »Ich dachte...« Carla packte die Maske unten am Rand, um sie abzuziehen. Es war heiß und stickig darunter. Sie keuchte geräuschvoll. Mit beiden Händen versuchte sie den unteren Rand hochzuziehen. Aber die Maske rührte sich nicht. Verärgert hob Carla die Hände an die spitzen Ohren und versuchte sie hochzuziehen. Sie zog daran. Zerrte heftiger. Dann packte sie die Maske am Kopf und versuchte sie abzuziehen. Die Maske bewegte sich nicht. »He - sie geht nicht mehr ab!«, schrie Carla. »Die Maske — sie lässt sich nicht abnehmen!«
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»Was geht hier vor?«, flüsterte Carla entsetzt, mit beiden Händen an der Maske zerrend. »Hör auf damit!«, forderte Noah. Seine Stimme klang wütend, doch seine Augen verrieten, dass er sich fürchtete. »Hör auf, herumzualbern, Carla. Du machst mir Angst!« »Ich albere nicht herum«, erwiderte Carla mit schroffer, rauer Stimme nachdrücklich. »Ich bekomme... das Ding... wirklich ... nicht... runter!« » Nimm es ab! Das ist nicht komisch!«, flehte ihr Bruder. Unter großer Anstrengung gelang es Carla Beth, ihre Finger unter den Hals der Maske zu schieben. Sie lüpfte sie von der Haut und zog sie nach oben über den Kopf ab. »Puh!« Die Luft war kühl und frisch. Erleichtert schüttelte Carla ihr Haar aus. Dann warf sie die Maske Noah so zum Spaß hin. »Tolle Maske, was?« Sie grinste ihn an. Angewidert ließ er die Maske aufs Bett fallen. Dann nahm er sie zögernd hoch und schaute sie sich gründlich an. »Wo hast du die denn her?«, fragte er und stippte mit einem Finger gegen die hässlichen Reißzähne. »Aus diesem neuen Partyshop«, erklärte sie und wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. »Es ist schrecklich heiß unter der Maske.« »Kann ich sie mal ausprobieren?«, fragte Noah und steckte die Finger durch die Augenlöcher. »Jetzt nicht. Ich bin spät dran«, antwortete sie entschuldigend und lachte. »Du hast vor Angst gebibbert.« Er warf ihr die Maske zurück und runzelte die Stirn. »Ich hab nur so getan«, behauptete er. »Mir war klar, dass du das warst.« »Aber sicher doch!«, erwiderte sie leichthin. »Deshalb hast du auch wie ein Verrückter gebrüllt.« »Ich habe nicht gebrüllt«, protestierte Noah. »Das hab ich nur gespielt. Dir zuliebe.« 34
»Ja. Klar«, sagte Carla. Sie drehte sich um, stülpte sich die Maske über die Hand und ging auf die Tür zu. »Wie hast du das gemacht, deine Stimme so zu verändern?«, rief ihr Noah nach. Carla blieb im Türrahmen stehen und wandte sich zu ihm um. Ihr Lächeln wich einer ratlosen Miene. »Die tiefe Stimme war das Gruseligste dabei«, sagte Noah und starrte auf die Maske in ihrer Hand. »Wie hast du das gemacht?« »Weiß ich nicht«, antwortete Carla nachdenklich. »Ich weiß es wirklich nicht.« Als sie in ihrem Zimmer ankam, grinste sie bereits wieder. Die Maske hatte funktioniert, hatte voll eingeschlagen. Noah würde es nie zugeben, aber als Carla so bei ihm reingeplatzt war und aus ihrer Maske hervorgeheult hatte, war er beinahe aus seinem Kakerlakenpanzer gesprungen. Nehmt euch in Acht, Chuck und Steve!, dachte sie voller Schadenfreude. Ihr seid als Nächste dran! Sie setzte sich auf ihr Bett und warf einen Blick auf den Radiowecker auf dem Nachtkästchen. Ihr blieben noch ein paar Minuten, bevor sie sich mit den anderen vor Sabrinas Haus traf. Das ließ ihr genug Zeit, darüber nachzudenken, wie sie am besten vorging, um die anderen zu Tode zu erschrecken. Ich will nicht nur einfach auf sie zuspringen, dachte Carla, während ihre Finger mit den scharfen Reißzähnen spielten. Das wäre zu langweilig. Ich will etwas tun, woran sie noch lange denken werden. Etwas, das sie nie vergessen werden. Nachdenklich strich sie mit den Fingern über die spitzen Ohren der Maske. Und plötzlich hatte sie eine Idee.
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Carla holte einen alten Besenstiel vom Speicher, wischte ein paar dicke Staubflusen ab und betrachtete den langen, hölzernen Stock. Perfekt, dachte sie. Sie lauschte, um sicherzugehen, dass ihre Mutter noch in der Küche war. Carla war klar, dass ihre Mutter mit dem, was sie vorhatte, ganz bestimmt nicht einverstanden sein würde. Mrs. Caldwell dachte noch immer, Carla würde das Entenkostüm tragen. Auf Zehenspitzen schlich Carla ins Wohnzimmer, trat leise vor den Kamin und nahm den Tonkopf, den ihre Mutter gemacht hatte, vom Sims herunter. Er sieht mir wirklich ausgesprochen ähnlich, dachte Carla, während sie die Skulptur eingehend betrachtete. Sie wirkt so lebendig. Mom hat echt Talent. Vorsichtig steckte sie den Kopf auf den Besenstiel und stopfte Zeitungspapier in den Hohlraum, um ihm Halt zu geben. Höchst zufrieden trug sie ihn zum Flurspiegel hinüber. Es sieht ganz so aus, als trüge ich meinen eigenen Kopf auf einer Stange spazieren, dachte Carla. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Grinsen breit. Ihre Augen funkelten vor Vorfreude. Hervorragend! Sie lehnte den Kopf auf dem Stock gegen die Wand und zog die Maske über. Auch diesmal stieg ihr der säuerliche Geruch in die Nase. Die Hitze der Maske schien sie einzuhüllen. Die Maske legte sich stramm an ihrer Haut an, während sie sie sich über den Kopf zog. Als sie den Blick auf den Spiegel richtete, bekam sie beinahe selber Angst! Die sieht wie ein echtes Gesicht aus, dachte sie, ohne die Augen abwenden zu können. Meine Augen wirken wie ein Teil davon. Es sieht überhaupt nicht so aus, als würde ich durch Augenlöcher blicken. Sie klappte den schauerlichen Mund ein paar Mal auf und zu. Er bewegt sich ganz so wie ein echter Mund, stellte sie fest. Das Ganze sieht nicht im Geringsten nach einer Maske aus. Eher wie ein abstoßendes, verunstaltetes Gesicht. Mit beiden 36
Händen glättete sie die wulstige Maske an der Stirn und über ihrem Haar. Hervorragend!, wiederholte sie für sich und spürte, wie ihre Begeisterung wuchs. Echt klasse! Diese Maske ist perfekt!, entschied sie und konnte kaum glauben, dass der Mann in dem Partyshop sie ihr nicht hatte verkaufen wollen. Es war die schauerlichste, am echtesten aussehende, hässlichste Maske, die sie je gesehen hatte. Heute Nacht bin ich der Schrecken der Maple Avenue!, sagte sich Carla, während sie sich im Spiegel bewunderte. Die Kinder werden meinetwegen wochenlang Alpträume haben! Vor allem Chuck und Steve! » Buh!«, brummte sie vor sich hin und stellte erfreut fest, dass die barsche Stimme wiedergekehrt war. »Ich bin bereit.« Sie nahm den Besenstiel, hielt den Tonkopf darauf behutsam im Gleichgewicht und wollte gerade zur Tür losgehen. Doch die Stimme ihrer Mutter ließ sie anhalten. »Carla - warte«, rief ihr Mrs. Caldwell aus der Küche zu. »Ich möchte sehen, wie dir das Entenkostüm steht!« »O nein!«, stöhnte Carla laut. »Das wird Mom bestimmt nicht gefallen.«
Wie erstarrt blieb Carla in der Tür stehen und hörte, wie die Schritte ihrer Mutter auf den Flur zukamen. »Lass dich ansehen, mein Schatz«, rief Mrs. Caldwell. »Passt das Kostüm?« Vielleicht hätte ich ihr über meinen geänderten Plan Bescheid sagen sollen, überlegte Carla schuldbewusst. Ich hätte ja was gesagt, aber ich wollte Moms Gefühle nicht verletzen. Jetzt steht ihr ein Schock bevor. Und sie wird bestimmt stinksauer werden, wenn sie sieht, dass ich mir ihre Skulptur ausgeliehen habe. 37
Wahrscheinlich wird sie von mir verlangen, dass ich sie auf den Kaminsims zurückstelle. Sie wird alles ruinieren. »Ich bin ziemlich in Eile, Mom«, rief Carla und ihre Stimme klang tief und rau unter der Maske. »Bis später dann, okay?« Sie öffnete die Haustür. »Du wirst doch wohl eine Sekunde lang warten können, bis ich mein Kostüm an dir gesehen habe«, rief ihre Mutter. Sie bog um die Ecke und kam in Sicht. Jetzt bin ich verratzt, dachte Carla mit einem Stöhnen. Sie hat mich erwischt. Da klingelte das Telefon. Das Geräusch hallte unter Carlas Maske wider. Ihre Mutter blieb stehen und drehte sich zur Küche um. »Oh, verflixt! Da sollte ich aber besser mal rangehen. Wahrscheinlich ist das dein Vater, der aus Chicago anruft.« Sie eilte zur Küche zurück. »Dann muss ich dich eben später anschauen, Carla. Pass gut auf dich auf, okay?« Erleichtert seufzte Carla auf. Das Telefon hat mich gerettet, dachte sie. Den Kopf auf dem Besenstiel balancierend, verschwand sie eilig zur Tür hinaus und trabte durch den Garten. Die Nacht war jetzt klar und kühl. Der bleiche Halbmond hing tief über den kahlen Bäumen. Dicke braune Blätter wirbelten um ihre Knöchel, als sie den Bürgersteig entlanglief. Es war geplant, dass sie sich mit Chuck und Steve vor Sabrinas Haus traf. Carla konnte es kaum erwarten. Der Kopf auf dem Besenstiel wippte und schlingerte beim Laufen. Das Haus an der Ecke war für Halloween dekoriert. Über der Treppe hingen orange Lämpchen. Zwei große, grinsende, ausgehöhlte Kürbisse standen links und rechts der Tür. Am Ende der Veranda war ein Pappskelett aufgestellt. Ich liebe Halloween!, dachte Carla Beth fröhlich. Sie überquerte eine Straße und erreichte den Häuserblock, in dem Sabrina wohnte. Sonst hatte sie sich in Halloweennächten immer gefürchtet. Ihre Freunde hatten ihr jedes Mal gemeine Streiche gespielt. Letztes 38
Jahr hatte Steve ihr klammheimlich eine sehr echt aussehende Ratte in ihre Bonbontasche gesteckt. Als Carla irgendwann später in die Tasche griff, hatte sie etwas Weiches, Pelziges gespürt. Sie hatte die Ratte herausgezogen und wie am Spieß geschrien. Vor lauter Schreck hatte sie all ihre Bonbons in der Einfahrt verschüttet. Chuck und Steve fanden das Ganze zum Schießen. Sabrina ebenfalls. Sie hatten Carla den Spaß an Halloween jedes Jahr verdorben. Sie fanden es fürchterlich witzig, Carla Angst einzujagen und sie zum Schreien zu bringen. Nun, dieses Jahr werde ich nicht diejenige sein, die schreit. Dieses Jahr werde ich alle anderen das Fürchten lehren. Sabrinas Haus lag am Ende der Straße. Als Carla eilig darauf zusteuerte, zitterten über ihr kahle Äste an den Bäumen. Der Halbmond verschwand hinter einer dicken Wolke und alles verfinsterte sich. Der Kopf auf dem Besenstiel hüpfte auf und ab und wäre beinahe heruntergefallen. Carla verlangsamte ihre Schritte. Sie warf einen Blick auf den Kopf und veränderte ihren Griff um den Besenstiel. Die Augen des Tonkopfes starrten geradeaus, als ob sie nach Ärger Ausschau hielten. In der Dunkelheit sah der Kopf echt aus. Während Carla unter den kahlen Bäumen dahinschritt, huschten die Schatten der Äste über den Kopf und ließen Augen und Mund so aussehen, als ob sie sich bewegten. Als Carla Lachen hörte, drehte sie sich um. Auf der anderen Straßenseite erstürmte eine Gruppe gruselig kostümierter Kinder gerade eine hell erleuchtete Villa. Im gelben Schein der Lampe vor dem Haus sah Carla ein Gespenst, einen Mutant Turtle Ninja, einen Freddy Krüger und eine Prinzessin in einem pinkfarbenen Ballkleid und mit einem Krönchen aus Metallfolie auf dem Kopf. Die Kinder waren klein. Zwei Mütter standen unten in der Einfahrt und passten auf sie auf. Carla beobachtete, wie sie ihre Bonbons bekamen. Dann ging sie weiter zu dem Haus, in dem Sabrina wohnte. Sie stieg die Treppe zur Haustür hinauf und trat in das weiße Lichtdreieck der Lampe über der Veranda. Im Haus hörte sie Stimmen. Sabrina, die ihrer Mutter etwas zurief, den Fernseher im Wohnzimmer. 39
Mit der freien Hand rückte Carla ihre Maske zurecht und richtete ihren weit aufgesperrten Mund voll scharfer Zähne gerade. Dann sah sie nach dem Kopf, um sicherzugehen, dass er richtig auf dem Besenstiel steckte. Sie streckte die Hand nach der Türklingel aus - hielt dann aber inne. Hinter ihr waren Stimmen zu hören. Sie wandte sich um und blinzelte in die Dunkelheit. Zwei kostümierte Jungen kamen des Weges, die sich gegenseitig zum Spaß auf dem Bürgersteig hin und her schubsten. Chuck und Steve! Da bin ich ja gerade rechtzeitig gekommen, dachte Carla erfreut. Sie hüpfte von der Treppe hinab und duckte sich hinter einem niedrigen Immergrünstrauch. Okay, Jungs, dachte sie aufgeregt und ihr Herz hämmerte. Macht euch auf einen ordentlichen Schreck gefasst.
Carla lugte über den Strauch hinweg. Die beiden Jungen waren auf halbem Weg die Einfahrt hinauf. Es war zu dunkel, um ihre Kostüme richtig erkennen zu können. Einer der beiden trug einen langen Mantel und einen breitkrempigen Indiana-Jones-Hut. Von dem anderen konnte sie kaum etwas sehen. Carla holte tief Luft und machte sich bereit, den Besenstiel fest umklammernd, auf die beiden loszuspringen. Ich zittere am ganzen Körper, stellte sie fest. Die Maske fühlte sich plötzlich heiß an, als hätte Carlas Aufregung sie erhitzt. Geräuschvoll rasselte ihr Atem in der flachen Nase. Langsam kamen die beiden die Auffahrt herauf und rempelten sich dabei gegenseitig wie Footballspieler mit den Schultern an. Einer sagte etwas, was Carla nicht verstehen konnte. Der andere lachte laut, ein schrilles Kichern. 40
In die Dunkelheit spähend, beobachtete Carla die beiden, bis sie fast vor ihrem Busch angekommen waren. Okay — jetzt!, sagte sie sich entschlossen. Sie hob den Besenstiel mit dem starrenden Tonkopf an der Spitze hoch und sprang auf. Erschrocken schrien die Jungen auf. Sie konnte sehen, wie ihre dunklen Augen sich weiteten, während sie Carlas Maske anglotzten. Aus ihrer Kehle drang ein wildes Brüllen. Ein tiefes, grollendes Geheul, das sogar sie selbst erschreckte. Bei diesen entsetzlichen Lauten schrien die Jungen erneut auf. Einer sank tatsächlich auf die Knie. Die beiden glotzten zu dem Kopf hinauf, der oben am Besenstiel schaukelte. Er schien grimmig auf sie herabzufunkeln. Wieder ertönte ein Heulen aus Carlas Kehle. Es begann leise, als käme es von weit her, zerriss dann rau und tief die Luft wie das Brüllen eines wütenden Ungeheuers. »Neeiin!«, kreischte einer der Jungen. »Wer bist du?«, rief der andere. »Lass uns zufrieden!« Carla hörte rasche Schritte über die welken Blätter in der Einfahrt rascheln. Als sie hinschaute, sah sie eine Frau in einem unförmigen Daunenmantel die Einfahrt herauflaufen. »He - was tust du da?«, schnauzte die Frau sie mit schriller, zorniger Stimme an. »Du machst meinen Kindern Angst!« Carla Beth schluckte heftig und wandte den Blick den beiden verängstigten Jungen zu. »Wartet«, rief sie, als sie feststellte, dass es sich gar nicht um Chuck und Steve handelte. »Was tust du da?«, schrie die Frau atemlos. Sie trat auf die beiden Jungen zu und legte ihnen je eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung mit euch?« »Klar. Alles in Ordnung, Mom«, sagte der mit dem langen Mantel und dem Hut. Der andere Junge trug ein weißes Make-up und hatte eine rote Clownsnase im Gesicht. »Sie... sie ist auf uns losgesprungen!«, erzählte er seiner Mutter, wobei er Carlas Anblick mied. »Sie hat uns ganz schön erschreckt.« 41
Die Frau wandte sich ärgerlich an Carla und drohte ihr mit dem Finger. »Hast du nichts Besseres zu tun, als zwei kleine Jungs zu erschrecken? Warum suchst du dir nicht jemand in deinem Alter?« Normalerweise hätte Carla sich entschuldigt, hätte der Frau erklärt, dass ihr ein Missverständnis unterlaufen sei und sie eigentlich zwei ganz andere Jungen erschrecken wollte. Doch hinter der hässlichen Maske verborgen, das merkwürdige Heulen, das so unerwartet aus ihrer Kehle gedrungen war, noch immer in den Ohren, war ihr nicht nach einer Entschuldigung zu Mute. Sie war eher... wütend. Und sie wusste eigentlich nicht warum. »Verschwindet!«, krächzte sie und schüttelte den Besenstiel drohend. Der Kopf — ihr Kopf — glotzte auf die beiden erschrockenen Jungen hinunter. »Was hast du gesagt?«, wollte die Mutter der beiden wissen. Ihre Stimme bebte mit wachsender Entrüstung. »Was hast du gesagt?« »Ich sagte verschwindet!«, knurrte Carla in einer Stimme, die so tief und Grauen erregend war, dass ihr selbst angst und bange wurde. Empört verschränkte die Frau die Arme vor ihrem schweren Daunenmantel und blickte Carla mit zusammengekniffenen Augen an. »Wer bist du? Wie heißt du?«, wollte sie wissen. »Wohnst du hier irgendwo in der Nähe?« »Mom - lass uns einfach gehen«, drängte sie der Junge mit dem Clownsgesicht und zerrte an ihrem Ärmel. »Ja. Komm schon«, bat auch sein Bruder. »Verschwinden Sie. Ich WARNE Sie!«, knurrte Carla. Unbeirrt blieb die Frau stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen fest auf Carla gerichtet. »Nur weil Halloween ist, gibt dir das noch lange nicht das Recht...« »Mom, wir möchten Bonbons kriegen«, sagte der Clown flehend und zog seine Mutter noch heftiger am Ärmel. »Komm endlich!« »Wir verplempern die ganze Nacht!«, beschwerte sich sein Bruder. Carla schnaufte heftig. Ihr Atem drang als tiefes, geräuschvolles 42
Grunzen hinter der Maske hervor. Ich klinge wie ein Tier, dachte sie verdattert. Was geschieht mit mir? Sie spürte, wie ihre Veränderung wuchs. Ihr Atem rasselte laut hinter der Maske und ihr Gesicht fühlte sich kochend heiß an. Wut tobte in ihrer Brust. Sie bebte am ganzen Körper und hatte das Gefühl, jeden Moment zu platzen. Ich werde diese Frau auseinander nehmen!, beschloss Carla.
Ich werde sie zerfetzen! Ich reiße ihr die Haut vom Leibe! Wildeste Gedanken rasten Carla durch den Kopf. Sie spannte die Muskeln an, duckte sich und schickte sich an loszuspringen. Doch bevor sie dazu kam, zogen die beiden Jungen ihre Mutter fort. »Lass uns gehen, Mom.« »Ja. Lass uns gehen. Die ist verrückt!« Ja. Ich bin verrückt. Verrückt, verrückt, VERRÜCKT! Dieser Gedanke dröhnte Carla wieder und wieder durch den Kopf. Die Maske wurde heißer und enger. Die Frau warf Carla einen langen letzten Blick zu. Dann drehte sie sich um und führte die beiden Jungen die Einfahrt hinunter. Carla schaute ihnen nach und keuchte. Sie hatte das Bedürfnis, ihnen nachzujagen - ihnen richtig Angst einzujagen! Aber da ließ sie ein lauter Schrei innehalten und sich umdrehen. Sabrina stand, an die Veranda gelehnt, oben auf der Eingangstreppe, den Mund vor Verblüffung zu einem großen O aufgerissen. »Wer ist da?«, rief sie und blinzelte in die Dunkelheit. Sabrina war als Cat Woman verkleidet, sie trug einen eng anliegenden Overall in Grau und Silber und eine silberne Maske. Ihr schwarzes Haar hatte sie straff nach hinten gebunden. Irritiert starrte sie Carla mit ihren dunklen Augen an. 43
»Erkennst du mich nicht?«, krächzte Carla, während sie näher trat. Sie konnte Angst in Sabrinas Augen sehen. Sabrina stand halb im Haus und halb draußen und klammerte sich am Türgriff fest. »Erkennst du mich nicht, Sabrina?« Sie winkte mit dem Kopf auf dem Besenstiel, als wolle sie ihrer Freundin einen Hinweis geben. Verblüfft riss Sabrina die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund. »Carla Beth - bist das du?« Ihr Blick wanderte zwischen Maske und Kopf hin und her. »Hi, Sabrina«, knurrte Carla. »Ich bin es.« Sabrina fuhr fort, sie zu mustern. »Diese Maske!«, stieß sie schließlich hervor. »Sie ist hervorragend! Echt. Hervorragend. So was von schaurig.« »Dein Overall gefällt mir auch«, sagte Carla, während sie näher trat. Sabrinas Blick hing noch immer oben am Besenstiel. »Dieser Kopf- er sieht so echt aus! Wo hast du ihn her?« »Das ist mein wirklicher Kopf!«, scherzte Carla. Sabrina hörte gar nicht mehr auf, sie anzustarren. »Carla, als ich dich zuerst gesehen habe, dachte ich...« »Meine Mutter hat ihn gemacht«, erklärte ihr Carla. »In ihrem Kunstkurs.« »Ich dachte schon, es wäre dein wirklicher Kopf«, sagte Sabrina und schauderte. »Diese Augen. Wie die einen anstarren.« Carla schüttelte den Besenstiel und ließ damit den Kopf nicken. Sabrina betrachtete Carlas Maske. »Warte, bis Chuck und Steve erst deine Verkleidung sehen.« Ich kann es kaum erwarten!, dachte Carla finster. »Wo sind sie?«, wollte sie wissen und warf einen Blick zurück zur Straße. »Steve hat angerufen«, antwortete Sabrina. »Er hat gesagt, sie kämen später. Er muss mit seiner kleinen Schwester Bonbons sammeln gehen, bevor er sich mit uns treffen kann.« Carla seufzte enttäuscht. »Wir ziehen ohne sie los«, schlug Sabrina vor. »Sie können ja später nachkommen.« »Ja. Also gut«, antwortete Carla. 44
»Ich hol nur rasch meinen Mantel und dann können wir los«, sagte Sabrina und warf noch einmal einen langen Blick auf den Kopf oben am Besenstiel. Dann fiel die Verandatür mit einem Knall ins Schloss, während Sabrina nach drinnen verschwand, um ihren Mantel zu holen. Der Wind nahm zu, als die beiden Mädchen die Straße hinunterspazierten. Ihre Füße wirbelten verwelktes Laub auf. Die kahlen Bäume bogen und schüttelten sich. Über den dunklen, schrägen Dächern verschwand der bleiche Halbmond hinter den Wolken, um gleich darauf wieder aufzutauchen. Sabrina quasselte über all die Probleme, die sie mit ihrem Kostüm gehabt hatte. Beim ersten Overall, den sie gekauft hatte, war an einem Bein eine Naht aufgegangen, er musste zurückgebracht werden. Dann konnte Sabrina keine katzenäugige Maske finden, die ihr gefiel. Carla schwieg, immer noch enttäuscht darüber, dass Chuck und Steve noch nicht wie geplant zu ihnen gestoßen waren. Was ist, wenn sie uns nicht nachkommen?, fragte sie sich. Was ist, wenn wir sie überhaupt nicht treffen? Das Wichtigste an dieser Nacht war, die beiden Jungen zu treffen und ihnen den Schrecken ihres Lebens einzujagen. Sabrina hatte ihr eine Einkaufstasche gegeben, in der sie ihre Süßigkeiten verstauen konnte. Während sie so dahinschlenderten, hatte Carla, die die Tasche in der einen Hand trug, ihre Mühe damit, mit der anderen Hand den Kopf auf der Stange zu balancieren. »Also, wo hast du diese Maske gekauft? Deine Mutter hat sie bestimmt nicht gemacht, oder? Bist du in diesem neuen Partyshop gewesen? Kann ich sie mal anfassen?« Sabrina plapperte immer wie ein Wasserfall. Aber an diesem Abend schien sie es auf einen Rekord im Dauerquasseln anzulegen. Carla blieb bereitwillig stehen, damit ihre Freundin die Maske anfassen konnte. Sabrina legte ihr die Finger auf die Wange, zuckte aber sofort zurück. »Oh! Das fühlt sich ja wie Haut an!« 45
Carla lachte - ein verächtliches Lachen, wie man es nie zuvor von ihr gehört hatte. »Igitt! Woraus ist die denn gemacht?«, wollte Sabrina wissen. »Doch nicht aus Haut - oder doch? Das ist doch so 'ne Art Gummi, stimmt's?« »Ich glaub schon«, murmelte Carla. »Wie kommt es, dass sie so warm ist?«, fragte Sabrina. »Ist es unangenehm, sie zu tragen? Du musst doch wie ein Schwein darunter schwitzen.« In einem plötzlichen Anfall von Wut ließ Carla die Tasche und den Besen fallen. »Halt die Klappe! Halt die Klappe! Halt die Klappe!«, fauchte sie. Dann packte sie Sabrina mit beiden Händen wutschnaubend am Hals und fing an sie zu würgen.
Überrascht stieß Sabrina einen erstickten Schrei aus und taumelte, als sie sich aus Carlas Griff losriss, nach hinten. »C-Carla«, stammelte sie. Was geschieht mit mir?, fragte sich Carla und starrte ihre Freundin voller Entsetzen an. Warum habe ich das getan? »Äh... drangekriegt!«, rief Carla und lachte. »Du hattest dein Gesicht sehen sollen, Sabrina. Hast du etwa gedacht, ich wollte dich wirklich erwürgen?« Sabrina rieb sich mit der Hand, die in einem silbernen Handschuh steckte, den Hals. »Das war ein Scherz? Du hast mich zu Tode erschreckt!« Carla lachte noch einmal. »Ich versuche nur, meiner Rolle gerecht zu werden«, sagte sie leichthin und deutete auf ihre Maske. »Du weißt schon. Ich versuche, in die richtige Stimmung zu kommen. Haha! Ich stehe drauf, Leuten Angst einzujagen! 46
Verstehst du? Normalerweise bin ich diejenige, die vor Angst bibbert.« Sie hob Tasche und Besenstiel wieder auf und rückte den Gipskopf darauf zurecht. Dann lief sie rasch die nächstgelegene Einfahrt zu einem hell erleuchteten Haus hinauf, in dessen Fenster ein Spruchband mit der Aufschrift HAPPY HALLOWEEN hing. Glaubt mir Sabrina, dass das nur ein Scherz war?, fragte sich Carla, während sie ihre Einkaufstasche hochhob und auf den Klingelknopf drückte. Was um alles in der Welt habe ich bloß getan? Wieso war ich auf einmal so wütend? Warum habe ich meine beste Freundin angegriffen? Als die Haustür geöffnet wurde, trat Sabrina neben sie. Zwei kleine blonde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, tauchten im Türrahmen auf. Ihre Mutter erschien hinter ihnen. »Streich oder Geschenk!«, riefen Carla und Sabrina wie aus einem Munde. »Ooh, das ist aber eine gruselige Maske!«, sagte die Frau zu den beiden Kindern und grinste Carla dabei an. »Was stellst du denn dar? Eine Katze?«, fragte der kleine Junge Sabrina. Sabrina miaute ihn an. »Ich bin Cat Woman«, sagte sie. »Die andere gefällt mir aber gar nicht!«, rief das kleine Mädchen ihrer Mutter zu. »Die ist zu gruselig.« »Das ist doch nur eine komische Maske«, versicherte die Mutter ihrer Tochter. »Viel zu gruselig. Sie macht mir Angst!», beharrte das kleine Mädchen. Carla beugte sich in die Tür vor und schob ihr groteskes Gesicht ganz dicht an das kleine Mädchen heran. »Ich werde dich auffressen!«, knurrte sie biestig. Verängstigt schrie das kleine Mädchen auf und verschwand im Haus. Ihr Bruder starrte Carla mit weit aufgerissenen Augen an. Die Mutter ließ rasch ein paar Schokoriegel in die Taschen der Mädchen fallen. »Du hättest sie nicht so erschrecken sollen«, sagte sie leise. »Jetzt hat sie bestimmt Alpträume.« Statt sich zu entschuldigen, wandte sich Carla dem kleinen Jungen zu. »Dich werde ich auch fressen!« 47
»He - Schluss jetzt!«, protestierte die Frau und schlug die Tür zu. Carla brach in ein kehliges Lachen aus, sprang von der Veranda herunter und lief über den Rasen vor dem Haus davon. »Warum hast du das getan?«, fragte Sabrina, als sie sie eingeholt hatte. »Warum hast du den Kindern solche Angst eingejagt?« »Die Maske hat mich dazu gebracht«, antwortete Carla. Sie sagte das im Scherz. Doch die Vorstellung beunruhigte sie. Bei den nächsten Häusern hielt sich Carla im Hintergrund und überließ Sabrina das Reden. In einem der Häuser tat ein Mann in mittlerem Alter, der einen verschlissenen blauen Pullover trug, so, als würde er sich vor Carlas Maske fürchten. Seine Frau bestand darauf, dass die Mädchen ins Haus kamen und ihrer hochbetagten Mutter ihre großartigen Kostüme vorführten. Carla stöhnte zwar hörbar, folgte Sabrina aber trotzdem ins Haus. Die alte Frau guckte sie von ihrem Rollstuhl aus mit leeren Augen an. Carla knurrte sie an, doch das schien ihr keinerlei Eindruck zu machen. Auf dem Weg zur Tür reichte der Mann im verschlissenen Pullover jedem Mädchen einen grünen Apfel. Carla wartete, bis sie unten auf dem Bürgersteig angekommen waren. Dann drehte sie sich um, holte aus und schleuderte den Apfel mit aller Kraft gegen das Haus des Mannes. Mit einem lauten Platsch knallte er neben die Haustür gegen die holzverkleidete Wand. »Ich hasse es total, zu Halloween Äpfel zu kriegen«, verkündete Carla. »Vor allem grüne!« »Carla — ich mache mir Sorgen um dich!«, rief Sabrina und sah ihre Freundin beklommen an. »Du benimmst dich überhaupt nicht wie du selbst.« Nein. Heute Nacht bin ich einmal nicht die bedauernswerte, verängstigte Maus, dachte Carla grimmig. »Gib ihn mir« befahl sie Sabrina und holte sich den Apfel aus Sabrinas Tasche. »He - lass das!«, protestierte Sabrina. Doch Carla holte erneut aus und schleuderte auch Sabrinas Apfel 48
gegen das Haus. Es schepperte laut, als er gegen die Aluminiumdachrinne prallte. Der Mann im verschlissenen Pullover steckte den Kopf aus der Tür. »He — was soll der Mist?« »Lauf!«, schrie Carla. Die beiden Mädchen rannten los und liefen mit Volldampf den Häuserblock hinunter. Sie blieben erst stehen, als das Haus außer Sicht war. Sabrina packte Carla bei den Schultern, hielt sich daran fest und rang nach Atem. »Du bist verrückt!«, keuchte sie. »Du bist echt verrückt!« »Gleich und gleich gesellt sich gern!«, scherzte Carla. Sie lachten beide. Carla suchte, nach Chuck und Steve Ausschau haltend, den Straßenblock mit den Augen ab. Dabei entdeckte sie ein kleines Grüppchen verkleideter Kinder, die zusammengedrängt in einer Ecke standen. Doch keine Spur von den beiden Jungen. In diesem Block waren die Häuser, die die Straßen zu beiden Seiten säumten, kleiner und standen dichter beieinander. »Lass uns getrennt weitergehen«, schlug Carla Beth vor. »So kriegen wir mehr Süßigkeiten.« Sabrina runzelte die Stirn und schaute ihre Freundin misstrauisch an. »Carla, du magst Süßigkeiten doch gar nicht!«, rief sie. Doch Carla rannte bereits die Einfahrt des ersten Hauses hinauf, der Gipskopf wackelte über ihr wild auf dem Besenstiel. Das ist meine Nacht, dachte Carla Beth und nahm von einer lächelnden Frau, die die Tür öffnete, einen Schokoriegel entgegen. Meine Nacht! Sie war aufgeregt wie nie zuvor. Und sie hatte ein sonderbares Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte. Einen Hunger... Einige Minuten später - ihre Einkaufstasche begann sich langsam schwer anzufühlen — erreichte sie das Ende des Häuserblocks. An der Ecke hielt sie einen Moment inne, um zu entscheiden, ob sie auf der anderen Straßenseite oder mit dem nächsten Block weitermachen sollte. Dabei fiel ihr auf, dass dieser Block ziemlich finster war. Der 49
Mond war wieder einmal hinter dunklen Wolken verschwunden. Die Laterne an der Ecke war aus, wahrscheinlich durchgebrannt. Auf der anderen Straßenseite kicherten vier sehr junge Bonbonsammler, als sie vor einem Haus ankamen, auf dessen Veranda ein beleuchteter ausgehöhlter Kürbis thronte. Carla wich in die Dunkelheit zurück. Sie hörte Stimmen, Jungenstimmen. Chuck und Steve? Nein. Die Stimmen waren ihr unbekannt. Sie diskutierten darüber, wohin sie weiterziehen sollten. Einer wollte nach Hause gehen und einen Freund anrufen. Wie war's mit einem kleinen Schrecken für euch, Jungs?, dachte Carla und auf ihrem Gesicht machte sich ein Grinsen breit. Wie wäre es mit etwas, das euch diese Halloweennacht nie mehr vergessen lässt? Sie wartete und lauschte, bis die Jungen nur noch wenige Meter von ihr entfernt waren. Nun konnte sie sie sehen. Zwei Mumien, deren Gesichter mit Mullbinden umwickelt waren. Langsam kamen sie näher. Carla wartete den perfekten Augenblick ab. Dann sprang sie aus dem Schatten hervor und stieß dabei ein wütendes, animalisches Heulen aus, das die Stille zerriss. Erschrocken schnappten die beiden Jungen nach Luft und machten einen Satz rückwärts. » He...!« Einer von ihnen wollte noch etwas rufen, doch seine Stimme versagte. Der andere ließ seine Tasche mit Süßigkeiten fallen. Als er sie aufheben wollte, bewegte Carla sich blitzschnell. Sie packte die Tasche, riss sie ihm aus der Hand und rannte los. »Komm zurück!« »Die gehört mir!« Ihre Stimmen tönten hoch und schrill, voller Angst und voller Verblüffung. Während sie über die Straße lief, schaute Carla sich um, um zu sehen, ob sie ihr folgten. Nein. Dazu hatten sie zu viel Angst. Aufgeregt gestikulierend standen sie an der Ecke und schrien ihr nach. Die gestohlene Tasche mit Süßigkeiten mit ihrer freien Hand umklammernd, warf Carla den Kopf zurück und lachte los. Ein 50
grausames Lachen, ein höhnisches Lachen. Ein Lachen, wie man es noch nie zuvor von ihr gehört hatte. Triumphierend leerte sie die Süßigkeiten in ihre eigene Tasche und pfefferte die des Jungen einfach auf den Boden. Sie fühlte sich gut, richtig gut. Richtig stark. Und bereit für noch mehr Spaß. Kommt endlich, Chuck und Steve, dachte sie. Ihr seid als NÄCHSTE an der Reihe!
Ein paar Minuten später entdeckte Carla Chuck und Steve. Sie standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einer beleuchteten Einfahrt und sahen den Inhalt ihrer Sammeltaschen durch. Carla duckte sich hinter den breiten Stamm eines alten Baumes, der neben dem Bürgersteig stand. Ihr Herz begann zu wummern, während sie die beiden belauerte. Keiner der beiden hatte sich die Mühe gemacht, sich richtig zu verkleiden. Chuck trug lediglich ein rotes Tuch um den Kopf und hatte eine schwarze Maske vor die Augen gebunden. Steve hatte Wangen und Stirn mit großen Flecken geschwärzt und trug eine alte Tenniskappe und einen verschlissenen Regenmantel. Soll das ein Penner sein?, fragte sich Carla Beth, während sie die beiden beobachtete, wie sie den Inhalt ihrer Taschen durchsahen. Offenbar waren sie wohl schon eine ganze Weile unterwegs. Denn ihre Taschen sahen ziemlich voll aus. Plötzlich schaute Steve in ihre Richtung. Rasch zog Carla ihren Kopf hinter den Baumstamm zurück. Hatte er sie gesehen? Nein. Verpatz es jetzt bloß nicht, sagte sie sich. Auf diesen Augenblick 51
hast du so lange gewartet. Du hast so lange darauf gewartet, ihnen all die Schrecken heimzuzahlen. Die beiden Jungen steuerten auf die Veranda des nächsten Hauses zu. Carla stolperte beinahe über ihren Besenstiel, als sie hinter dem Baum hervorschoss. Sie rannte über die Straße und duckte sich tief hinter eine Hecke. Wenn sie die Einfahrt wieder herunterkommen, springe ich hoch. Ich werde auf sie losstürzen, werde sie zu Tode erschrecken, dachte sie. Die niedrige Hecke duftete harzig und süß. Sie war noch immer feucht vom Regen, der am Morgen gefallen war. Die Blätter zitterten im Wind. Was war das für ein seltsames, pfeifendes Geräusch? Es dauerte eine ganze Weile, bis Carla klar wurde, dass es ihr eigener Atem war. Plötzlich kamen ihr Zweifel. Es wird nicht funktionieren, dachte sie und kauerte sich noch tiefer hinter die zitternde Hecke. Ich bin ein totaler Versager. Chuck und Steve werden sich doch von einer blöden Maske keine Angst einjagen lassen. Ich werde auf sie losspringen und sie werden mich auslachen. So wie sie das immer tun. Sie werden lachen und » Oh, hi, Carla. Du siehst aber gut aus!« sagen. Oder etwas Ähnliches. Und dann werden sie allen in der Schule erzählen, dass ich gedacht hätte, ich könnte sie erschrecken, und wie sie mich sofort erkannt hätten und was für ein Volltrottel ich doch sei. Und alle werden sich auf meine Kosten prächtig amüsieren. Warum habe ich bloß jemals geglaubt, dass es funktionieren könnte? Was hat mich veranlasst, das Ganze für eine tolle Idee zu halten? Während sie zusammengekauert hinter der Hecke hockte, fühlte Carla Beth, wie ihre Wut wuchs. Wut auf sich selbst. Wut auf die beiden Jungen. Ihr Gesicht fühlte sich hinter der hässlichen Maske kochend heiß an. Ihr Herz hämmerte laut und ihr Atem pfiff durch die flache Nase der Maske. 52
Chuck und Steve kamen näher. Sie konnte den Kies der Einfahrt unter ihren Turnschuhen knirschen hören. Carla spannte die Muskeln an und machte sich bereit aufzuspringen. Okay, dachte sie und holte tief Luft, jetzt geht's los!
Alles schien sich in Zeitlupe abzuspielen. Die beiden Jungen bewegten sich gemächlich an der Hecke entlang und unterhielten sich angeregt. Doch Carla kamen ihre Stimmen leise und weit entfernt vor. Sie richtete sich auf, trat hinter der Hecke hervor und brüllte aus vollem Halse. Trotz des dämmrigen Lichtes konnte sie die Reaktionen der beiden klar erkennen. Sie bekamen große Augen. Klappten den Mund auf. Streckten die Hände über ihre Köpfe in die Höhe. Steve schrie laut. Chuck krallte sich an Steves Mantelärmel fest. Carlas Schrei schallte über den dunklen Rasen vor dem Haus. Er schien in der Luft zu schweben. Alles bewegte sich schrecklich langsam. So langsam, dass Carla Chucks Augenbraue zucken sehen konnte. Sie konnte sein Kinn zittern sehen. In Steves Augen sah sie Angst aufleuchten, als sein Blick von der Maske hinauf zu dem Kopf auf dem Besenstiel wanderte. Sie schüttelte den Besenstiel drohend. Entsetzt winselte Steve auf. Chuck glotzte Carla an, seine angstgeweiteten Augen auf ihre gerichtet. »Carla - bist du das?«, brachte er schließlich halb erstickt hervor. Carla knurrte laut wie ein Ungeheuer, gab aber keine Antwort. »Wer bist du?«, wollte Steve mit bebender Stimme wissen. 53
»Das... das ist Carla... glaube ich!«, erklärte ihm Chuck. »Bist du das da drin, Carla?« Steve lachte nervös auf. »Du... du hast uns ganz schön erschreckt!« »Carla - bist du das?«, fragte Chuck noch einmal. Carla fuchtelte mit dem Besenstiel und deutete auf den Kopf, der darauf steckte. »Das ist Carlas Kopf«, erklärte sie mit tiefer, kehliger Stimme. »Was?« Beide Jungen starrten unsicher zu ihm hinauf. »Das ist Carlas Kopf«, wiederholte sie und stieß ihnen den Besenstiel entgegen. Die aufgemalten Augen des Gipskopfes schienen auf die Jungen herabzufunkeln. »Die arme Carla wollte auf ihren Kopf heute Abend zwar nicht verzichten. Aber ich habe ihn ihr trotzdem weggenommen.« Die Jungen glotzten zu dem Kopf hinauf. Chuck klammerte sich noch immer an Steves Mantelärmel fest. Der lachte ein weiteres Mal nervös auf. Er starrte Carla verwirrt an. »Du bist Carla, richtig? Wie bringst du diese irre Stimme zu Stande?« »Das ist deine Freundin Carla«, knurrte sie und deutete zu dem Kopf auf dem Besenstiel hinauf. »Das ist alles, was von ihr übrig ist!« Chuck schluckte heftig. Sein Blick hing wie gebannt an dem hin und her wippenden Kopf. Auch Steve glotzte Carla unverwandt an. »Gebt mir eure Süßigkeiten«, knurrte Carla, selbst verblüfft über den bösartigen Klang ihrer Stimme. »Was?«, schrie Steve. »Gebt sie her. Sofort. Oder ich stecke eure Köpfe auf die Stange.« Die Jungen lachten, ein schrilles Gackern. »Ich mache keine Witze!«, donnerte Carla. Ihr wütender Ausbruch ließ ihnen das Lachen vergehen. »Carla — langsam reicht es aber«, murmelte Chuck unsicher, die Augen noch immer ängstlich zusammengekniffen. »Ja. Aber wirklich«, sagte Steve leise. »Gebt mir eure Taschen«, beharrte Carla kalt. »Oder eure Köpfe werden meine Stange zieren.« 54
Sie senkte den Besenstiel und fuchtelte ihnen damit drohend entgegen. Und als sie ihn senkte, glotzten sie alle drei auf das Gesicht mit den dunklen Augen, starrten auf das Gesicht, das so real aussah, das Carla Caldwell so ähnlich war. Eine plötzliche Windböe wirbelte um sie herum und ließ den Kopf auf der Stange wackeln. Und dann sahen sie alle drei, wie die Augen blinzelten. Einmal. Zweimal. Die braunen Augen blinzelten. Und dann öffneten sich die Lippen des Kopfes mit einem trockenen, schnappenden Geräusch. Starr vor Schreck glotzte Carla gemeinsam mit den beiden Jungen das Gesicht an. Und sie sahen, wie sich die Lippen bewegten, hörten ein trockenes, knisterndes Geräusch. Sie sahen alle drei, wie sich die dunklen Lippen aufeinander pressten und wieder öffneten. Alle drei sahen, wie der Mund des wackelnden Kopfes tonlos die Worte bildete: »Helft mir! Helft mir!«
Vor lauter Schreck ließ Carla den Besenstiel los, sodass er neben Chuck auf den Boden fiel. Der Kopf rollte unter eine Hecke. »Er... er hat gesprochen!«, schrie Steve. Chuck stieß ein leises Wimmern aus. Ohne ein weiteres Wort ließen die beiden Jungen ihre Bonbontaschen fallen und rannten davon, ihre Turnschuhe dröhnten laut über den Bürgersteig. Der Wind wirbelte um Carla herum, als wollte er sie auf der Stelle festhalten. \ Sie war in der Stimmung, den Kopf zurückzuwerfen und laut zu heulen. 55
Hatte Lust, sich die Jacke vom Leib zu reißen und durch die Nacht zu fliegen. Lust, auf einen Baum zu klettern, auf ein Hausdach zu springen und zum sternenlosen, schwarzen Himmel hinaufzubrüllen. Einen langen Moment stand sie wie erstarrt und ließ sich vom Wind umwirbeln. Die Jungen waren verschwunden, waren in panischer Angst geflohen. Angst und Schrecken! Carla war erfolgreich gewesen. Hatte die beiden fast zu Tode erschreckt. Sie wusste, dass sie ihre entsetzten Gesichter, die Angst und die Fassungslosigkeit, die in ihren Augen aufgeleuchtet hatten, nie vergessen würde. Und sie würde ihr Gefühl des Triumphes nie vergessen. Den Nervenkitzel süßer Rache. Ihr fiel ein, dass sie einen kurzen Moment lang ebenfalls Angst gehabt hatte. Sie hatte sich eingebildet, dass der Kopf auf der Stange zum Leben erwacht war, mit den Augen geblinzelt und lautlos zu ihnen gesprochen hatte. Einen kurzen Augenblick lang hatte sie Angst erfasst. Sie war dem Bann ihres eigenen Tricks erlegen. Aber natürlich war der Kopf nicht zum Leben erwacht, versicherte sie sich selbst. Natürlich hatten sich seine Lippen weder bewegt noch lautlos »Helft mir! Helft mir!« gefleht. Es muss an den Schatten gelegen haben, beruhigte sie sich. Schatten, die das Licht des Mondes geworfen hat, das hinter den vorbeitreibenden schwarzen Wolken hervorgedrungen war. Wo war der Kopf abgeblieben? Wo steckte der Besenstiel, den sie weggeworfen hatte? Das spielte jetzt keine Rolle. Die Sachen waren nicht länger von Nutzen für sie. Carla hatte ihren Sieg errungen. Und nun rannte sie. Sauste wie wild über die Rasenflächen vor den Häusern. Sprang über Büsche und Hecken. Flog über den dunklen, harten Boden hinweg. Sie rannte blindlings, die Häuser zu beiden Seiten schwirrten nur so an ihr vorbei. Der stürmische Wind wirbelte und sie 56
wirbelte mit ihm, schwebte über den Bürgersteig, rauschte durch hohes Unkraut, trieb wie ein hilfloses Blatt im Wind. Ihre prall gefüllte Süßigkeitentasche fest im Griff, rannte sie an verblüfften, kleinen Kindern, an strahlenden Kürbisköpfen und an klappernden Skeletten vorbei. Sie rannte, bis ihr die Luft wegblieb. Erst dann blieb sie stehen, keuchte laut, schloss die Augen und wartete darauf, dass ihr Herz zu wummern und das Blut in ihren Schläfen zu pochen aufhörte. Da kam eine Hand von hinten und packt sie unsanft an der Schulter.
Erschrocken kreischte Carla auf und fuhr herum. »Sabrina!«, schrie sie atemlos. Mit einem Grinsen ließ Sabrina ihre Schulter los. »Ich suche schon seit Stunden nach dir«, murrte Sabrina. »Wo bist du denn gewesen?« »Ich - ich hab mich wohl verirrt«, antwortete Carla Beth, die noch immer nach Luft rang. »In der einen Minute warst du noch da, in der nächsten warst du verschwunden«, sagte Sabrina und rückte ihre Maske zurecht. »Wie ist es bei dir gelaufen?«, fragte Carla und gab sich dabei Mühe, in ihrer normalen Stimme zu sprechen. »Mein Overall ist kaputt gegangen«, beklagte Sabrina sich mit grimmigem Gesicht. Sie zog den Stoff an einem Bein ab, um Carla den Riss zu zeigen. »Ich bin an einem Briefkasten hängen geblieben.« »Das ist aber blöd!«, sagte Carla mitfühlend. »Hast du mit deiner Maske irgendjemanden erschreckt?«, wollte Sabrina wissen, während sie noch immer an dem Riss im Hosenbein herumfummelte. »Klar. Mehrere Kinder«, antwortete Carla beiläufig. 57
»Sie ist wirklich krass«, sagte Sabrina. »Deshalb habe ich sie ja auch ausgewählt.« Sie lachten. »Hast du viele Süßigkeiten bekommen?«, fragte Sabrina. Sie hob Carlas Tasche an und schaute hinein. »Wow! Was für eine Ladung!« »Ich habe 'ne Menge Häuser abgeklappert«, sagte Carla leichthin. »Lass uns zu mir nach Hause gehen und uns die Ausbeute ansehen«, schlug Sabrina vor. »Klar. Okay.« »Es sei denn, du willst noch ein paar Häuser abklappern«, sagte Sabrina und blieb mitten auf der Straße stehen. »Nein. Ich habe genug getan«, sagte Carla und lachte innerlich. Ich habe heute Abend alles getan, was ich vorhatte. Sie setzten sich in Bewegung, marschierten gegen den Wind, trotzdem war es Carla Beth kein bisschen kalt. Zwei Mädchen in Rüschenkleidern, die Gesichter grell geschminkt und mit blonden Wuschelperücken auf den Köpfen, rannten an ihnen vorbei. Eine wurde langsamer, als ihr Blick auf Carlas Maske fiel. Erschrocken keuchte sie auf und eilte dann ihrer Freundin hinterher. »Hast du Steve und Chuck getroffen?«, fragte Sabrina. »Ich habe überall nach ihnen gesucht.« Sie stöhnte. »Das ist alles, was ich heute Abend getan habe. Ich habe den ganzen Abend damit zugebracht, Leute zu suchen. Dich. Steve und Chuck. Wie kommt es, dass wir nicht aufeinander getroffen sind?« Carla zuckte die Achseln. »Ich habe sie gesehen«, erzählte sie ihrer Freundin. »Vor ein paar Minuten erst. Dort hinten.« Sie deutete mit einem Kopfnicken die Richtung an. »Die beiden sind schreckliche Angsthasen.« »Was? Steve und Chuck?« — Auf Sabrinas Gesicht machte sich Verblüffung breit. »Ja. Sie haben gerade mal einen Blick auf meine Maske geworfen und schon sind die abgehauen«, erzählte Carla Beth lachend. »Sie haben wie Babys geschrien.« Sabrina fiel in ihr Lachen ein. »Das glaub ich nicht!«, rief sie. »Die beiden geben sich immer knallhart. Und...« 58
»Ich habe ihnen nachgerufen, aber sie sind weitergerannt«, erzählte ihr Carla grinsend. »Irre!«, meinte Sabrina. »Ja. Irre«, pflichtete Carla ihr bei. »Wussten sie denn, dass du es bist?«, fragte Sabrina. Carla zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Sie haben mich nur einmal angesehen und sind dann wie die Hasen davongerannt.« »Sie haben mir erzählt, dass sie vorhatten, dich zu erschrecken«, verriet ihr Sabrina. »Sie wollten sich von hinten an dich heranschleichen und gruselige Geräusche oder so was machen.« Carla kicherte. »Es ist schwierig, sich von hinten an jemanden heranzuschleichen, wenn du um dein Leben läufst!« Sabrinas Haus kam in Sicht. Carla wechselte die Tasche mit den Süßigkeiten in die andere Hand. »Ich habe ein paar gute Sachen bekommen«, sagte Sabrina, während sie im Gehen in ihre Tasche spähte. »Hoffentlich auch genug. Ich muss die Sachen nämlich mit meiner Cousine teilen. Sie hat die Grippe und konnte deshalb heute Abend nicht losziehen.« »Ich teile meine Schätze mit niemandem«, sagte Carla. »Noah ist mit seinen Freunden unterwegs. Wahrscheinlich bringt er einen ganzen Jahresvorrat mit nach Hause.« »Mrs. Connelly hat dieses Jahr Kekse und Popcorn verteilt«, sagte Sabrina seufzend. »Das werde ich alles wegwerfen müssen. Mom lässt nicht zu, dass ich etwas esse, was nicht originalverpackt ist. Sie hat Angst, irgendein Dämon könnte die offenen Sachen vergiftet haben. Letztes Jahr musste ich deshalb eine Menge Süßigkeiten wegschmeißen.« Sabrina klopfte an die Haustür. Kurz darauf öffnete ihre Mutter die Tür und die beiden Mädchen traten ins Haus. »Das ist aber vielleicht eine Maske, Carla«, sagte Sabrinas Mutter, während sie sie betrachtete. »Wie ist es für euch denn gelaufen, meine Lieben?« »Ganz gut, finde ich«, antwortete Sabrina. »Schön, aber denk dran...« »Ich weiß. Ich weiß, Mom«, unterbrach Sabrina sie ungeduldig. »Wirf alles weg, was nicht originalverpackt ist. Sogar das Obst.« 59
Kaum hatte Mrs. Mason sie allein gelassen, wandten sich die beiden Mädchen ihren Taschen zu und leerten deren Inhalt getrennt auf dem Wohnzimmerteppich aus. »He, guck mal — eine große Packung Milky Way«, verkündete Sabrina und zog sie aus dem Haufen heraus. »Meine Lieblingsschokoriegel!« »Die kann ich nicht ausstehen«, sagte Carla und hielt einen riesigen blauen Lutscher hoch. »Das letzte Mal, als ich einen davon gelutscht habe, habe ich mir die Zunge wund geschleckt.« - Sie warf den Lolly auf Sabrinas Haufen. »Tausend Dank«, sagte Sabrina sarkastisch. Sie nahm ihre Maske ab und ließ sie auf den Teppich fallen. Ihr Gesicht war rot angelaufen. Sie schüttelte ihr verklebtes Haar aus. »Na also. So fühle ich mich gleich besser«, sagte Sabrina. »Wow! War das heiß unter dieser Maske.« Sie richtete den Blick auf Carla. »Willst du nicht auch deine Maske abnehmen? Du musst darunter doch kochen!« »Klar. Gute Idee.« Carla hatte tatsächlich vergessen, dass sie eine Maske aufhatte. Sie hob die Hände und zog an den spitzen Ohren. »Autsch!« Die Maske rührte sich nicht. Also packte Carla sie oben am Kopf und zog daran. Dann versuchte sie sie zu dehnen und von den Wangen abzuziehen. »Autsch!« »Was ist los?«, fragte Sabrina, die damit beschäftigt war, ihre Süßigkeiten auf mehrere Häufchen zu sortieren. Carla antwortete nicht. Bemühte sich weiterhin, die Maske vom Hals abzuziehen. Dann zerrte sie wieder an den Ohren. »Carla - was ist denn los?«, fragte Sabrina und blickte von ihren Süßigkeiten auf. »Hilf mir!«, flehte Carla mit schriller, verängstigter Stimme. »Bitte - hilf mir! Die Maske - sie geht nicht mehr ab!«
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Sabrina kniete auf dem Teppich und schaute über ihre Süßigkeiten hinweg zu ihr hinauf. »Carla, hör auf herumzukaspern.« »Das tu ich gar nicht!«, wehrte sich Carla mit panischer Stimme. »Hast du für heute Abend noch immer nicht genug davon, Leute zu erschrecken?«, wollte Sabrina wissen und hob eine Klarsichttüte mit karamellisiertem Popcorn auf. »Ich frage mich, ob Mom mich die hier behalten lässt. Verpackt ist es!« »Ich versuche nicht dir Angst einzujagen. Ich mein's ernst!«, schrie Carla und zerrte an den Ohren der Maske, bekam aber keinen richtigen Halt. Sabrina warf die Tüte mit dem Popcorn beiseite und stand auf. »Du bekommst die Maske wirklich nicht runter?« Carla zerrte heftig am Kinn. »Autsch!«, schrie sie vor Schmerz. » Sie — sie klebt auf meiner Haut fest oder so was. Hilf mir.« Sabrina lachte. »Da werden wir aber ganz schön doof aussehen, wenn wir die Feuerwehr rufen müssen, damit die dich von deiner Maske befreien!« Carla fand das gar nicht komisch. Sie packte das Oberteil der Maske mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Aber die Maske rührte sich nicht. Sabrina verging das Grinsen. Besorgt trat sie auf ihre Freundin zu. »Du ziehst also wirklich keine Show ab –oder? Du steckst echt fest.« Carla nickte. »Also komm schon«, drängte sie ungeduldig. »Hilf mir beim Abziehen.« Sabrina packte die Maske am Oberteil. »Sie ist schrecklich warm!«, rief sie aus. »Du musst da drinnen ja ersticken!« »Nun zieh schon!«, heulte Carla. Sabrina zog. »Autsch! Nicht so fest!«, schrie Carla. »Das tut echt weh!« Sabrina zog etwas behutsamer, aber die Maske bewegte sich nicht. Also senkte sie die Hände zu den Backen und zog daran. »Autsch!«, kreischte Carla. »Die klebt wirklich an meinem Gesicht fest!« 61
»Woraus ist dieses Ding eigentlich gemacht?«, fragte Sabrina und betrachtete die Maske eingehend. »Sie fühlt sich nicht nach Gummi an. Eher wie Haut.« »Keine Ahnung, woraus sie gemacht ist, und das ist mir auch schnuppe«, grollte Carla. »Ich will sie nur loswerden. Vielleicht sollten wir sie aufschneiden. Du weißt schon. Mit einer Schere.« »Und die Maske zerstören?«, fragte Sabrina. »Das ist mir egal!«, rief Carla und zerrte heftig daran. »Total egal! Ich will da nur raus! Wenn das Ding nicht bald abgeht, drehe ich durch. Das meine ich ernst!« Beruhigend legte Sabrina ihrer Freundin die Hand auf die Schulter. »Schon gut. Schon gut. Noch ein Versuch. Sonst schneiden wir sie ab.« Sie kniff die Augen zusammen und starrte die Maske an. »Ich versuche, darunter zu fassen und sie abzuziehen«, dachte sie laut nach. »Wenn ich meine Hände den Hals hinaufschiebe, kann ich sie dehnen und abziehen.« »Nun mach schon. Beeil dich!«, flehte Carla. Sabrina bewegte sich nicht. Ihre dunklen Augen wurden weit und ihr Unterkiefer klappte herunter, während sie sich die Maske eingehend ansah. Vor Verblüffung schnappte sie leise nach Luft. »Sabrina? Was ist los?«, wollte Carla wissen. Sabrina antwortete nicht. Stattdessen ließ sie ihre Finger über Carlas Hals gleiten. Verblüfft hielt sie inne. Dann trat sie hinter Carla und strich mit den Fingern über Carlas Nacken. »Was ist denn? Was ist los?«, wollte Carla mit schriller Stimme wissen. Ratlos fuhr sich Sabrina mit der Hand durch ihr schwarzes Haar und runzelte angespannt die Stirn. »Carla«, sagte sie schließlich, »hier geht etwas Sonderbares vor.« »Was? Wovon redest du?«, wollte Carla wissen. »Die Maske hat unten keinen Rand.« »Was?« Carla riss die Hände an den Nacken und tastete ihn wie verrückt ab. »Wie meinst du das?« »Es gibt keinen Trennrand«, erklärte ihr Sabrina mit zittriger Stimme. »Es gibt keine Trennung zwischen der Maske und deiner 62
Haut. Nichts, wo ich meine Hände hineinschieben könnte.« »Aber das ist doch verrückt!«, schrie Carla und fühlte mit den Händen ihren Hals ab, zog an der Haut, tastete nach dem Rand der Maske. »Das ist doch verrückt! Einfach verrückt!« Sabrina hob die Hände vors Gesicht, das blankes Entsetzen zeigte. »Das ist verrückt! Verrückt!«, wiederholte Carla mit schriller, angstbebender Stimme. Doch als sie mit zitternden Fingern verzweifelt ihren Hals abtastete, stellte Carla fest, dass ihre Freundin Recht hatte. Die Maske hatte keinen Rand mehr. Keinen Rand, an dem sie endete. Zwischen der Maske und Carlas Haut gab es keine Öffnung. Die Maske war zu ihrem Gesicht geworden.
Mit zitternden Beinen steuerte Carla auf den Spiegel draußen im Flur zu. Vor dem großen, rechteckigen Wandspiegel brachte sie ihr Gesicht dicht an die Glasscheibe heran und tastete wie wild ihren Hals ab. »Kein Rand!«, schrie sie panisch. »Die Maske hat keinen Rand!« Mit besorgter Miene trat Sabrina hinzu. »Ich — ich verstehe das nicht«, murmelte sie, während sie das Spiegelbild ihrer Freundin betrachtete. Carla schnappte laut keuchend nach Luft. »Das sind nicht meine Augen!«, brüllte sie. »Was?« Sabrina trat, den Blick noch immer auf den Spiegel geheftet, näher. »Das sind nicht meine Augen!«, heulte Carla. »So sehen meine Augen nicht aus.« »Versuche dich zu beruhigen«, bat Sabrina sie leise, aber eindringlich. »Deine Augen...« 63
»Das sind nicht meine! Nicht meine!«, schrie Carla, ohne sich um die Bitte ihrer Freundin, sich doch zu beruhigen, zu kümmern. »Wo sind meine Augen? Wo bin ich'? Wo bin ich, Sabrina? Das hier drin bin nicht ich!« »Carla - bitte beruhige dich!«, flehte Sabrina sie an. Doch ihre Stimme kam nur erstickt und voller Angst heraus. »Das bin nicht ich«, verkündete Carla und presste die Hände gegen die grotesk verrunzelten Wangen ihrer Maske, während sie mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund ihr Spiegelbild anglotzte. »Das bin nicht ich!« Sabrina streckte die Hand nach ihrer Freundin aus. Doch Carla wich zurück. Mit einem schrillen Heulen, einem Schrei voller Entsetzen und Verzweiflung, rannte sie den Flur entlang. Sie mühte sich kurz mit dem Schloss ab und riss dann laut schluchzend die Haustür auf. »Carla - halt! Komm zurück!« Ohne sich um Sabrinas flehentliche Bitte zu kümmern, stürzte Carla hinaus in die Dunkelheit. Der Sturm knallte die Tür hinter ihr zu. Während sie losrannte, hörte sie von der Tür her Sabrinas verzweifelte Rufe: »Carla - deine Jacke! Komm zurück! Du hast deine Jacke vergessen!« Carlas Turnschuhe dröhnten laut auf dem harten Boden. Sie rannte in die Dunkelheit unter den Bäumen, als ob sie sich verstecken wollte, als ob sie versuchte, ihr grässliches Gesicht vor fremden Augen zu verbergen. Sie erreichte den Bürgersteig, bog nach rechts ab und rannte immer weiter. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie rannte. Sie wusste nur, dass sie fort von Sabrina und weg von dem Spiegel laufen musste. Am liebsten wäre sie vor sich selbst davongerannt, fort von ihrem Gesicht, diesem grässlichen Gesicht, das ihr mit diesen Furcht erregenden fremden Augen entgegenstarrte. Die Augen von jemand anderem. Fremde Augen in ihrem Kopf. Nur dass es nicht länger ihr Kopf war. Es war ein hässlicher grüner Monsterkopf, der sich über ihren eigenen gestülpt hatte. 64
Mit einem erneuten Panikschrei überquerte Carla die Straße und rannte weiter. Die dunklen Bäume, schwarz vor dem sternenlosen Nachthimmel, schwankten und bebten hoch über ihr. Häuser huschten vorbei, das Licht, das aus den Fenstern fiel, verschwamm zu orangen Flecken. Laut durch ihre hässliche, flache Nase atmend, rannte sie tiefer in die Dunkelheit. Wegen des Windes senkte sie ihren glatten grünen Kopf und schaute beim Laufen auf den Boden. Doch egal, wohin sie ihren Blick auch wandte, sie sah die Maske. Hatte das Gesicht vor Augen, das ihr entgegengeblickt hatte, die hässliche runzelige Haut, die glühenden orangen Augen und die Reihen scharfer, tierischer Zähne. Mein Gesicht... mein Gesicht... Schrille Schreie rissen sie aus ihren Gedanken. Als Carla aufschaute, stellte sie fest, dass sie mitten in eine Gruppe Kinder gelaufen war, die ebenfalls von Haus zu Haus zogen. Es waren sechs oder sieben. Alle hatten sich ihr zugewandt, schrien und deuteten auf sie. Böse riss sie den Mund weit auf, bleckte die scharfen Reißzähne und knurrte die Kinder mit einem tiefen, animalischen Brummen an. Das Knurren brachte die Kinder sofort zum Schweigen. Unverwandt starrten sie sie an, während sie überlegten, ob Carla sie bedrohte oder nur Spaß machte. »Was sollst du denn darstellen?«, rief ihr ein Mädchen in einem Clownskostüm mit roten und weißen Rüschen zu. Ich sollte ICH sein, aber ich bin es nicht!, dachte Carla bitter. Sie ignorierte die Frage, senkte nur den Kopf, wandte sich von den Kindern ab und rannte wieder los. Nun konnte sie sie lachen hören. Ihr war klar, dass die Kinder vor Erleichterung lachten, froh darüber, dass Carla Beth sich abgewandt hatte. Mit einem traurigen Aufschluchzen bog sie um die nächste Ecke und rannte weiter. Wo laufe ich hin? Was tue ich? Werde ich etwa für alle Zeiten laufen? Die Fragen dröhnten in ihrem Kopf. Sie blieb unvermittelt stehen, als der Partyshop in Sicht kam. 65
Natürlich, dachte sie. Der Partyshop. Der seltsame Mann im Cape. Er wird mir helfen. Er wird wissen, was zu tun ist. Der Mann im Cape weiß sicher, wie ich diese Maske loswerde. In einem Anflug von Hoffnung lief Carla auf den Laden zu. Doch als sie näher kam, verschwand diese Hoffnung. Das Schaufenster war dunkel. Durch die Scheibe konnte sie sehen, dass kein Licht brannte. Der Laden war so dunkel wie die Nacht. Er war geschlossen.
Während sie so auf den dunkel daliegenden Laden starrte, wurde Carla von einer Welle der Verzweiflung erfasst. Die Hände zum Schaufenster erhoben, presste sie den Kopf gegen die Glasscheibe. Die fühlte sich kühl an ihrer Stirn an. An der heißen Stirn der Maske. Carla schloss die Augen. Was mache ich jetzt. Was werde ich tun? »Das ist alles nur ein böser Traum«, murmelte sie laut vor sich hin. »Ein böser Traum. Ich werde jetzt meine Augen öffnen und aufwachen.« Sie schlug die Augen auf. Ihre glühenden orangen Augen spiegelten sich in der dunklen Glasscheibe wider. Ihr groteskes Gesicht starrte ihr düster entgegen. »Neeeiin!« Mit einem Schauder, der sie am ganzen Leib zittern ließ, schlug Carla mit den Fäusten gegen das Fenster. Warum habe ich bloß nicht das Entenkostüm meiner Mutter angezogen?, fragte sie sich wütend. Wieso musste ich unbedingt das schauerlichste Ungeheuer sein, das je an Halloween durch die Gegend zog? Warum war ich so wild darauf, Chuck und Steve in Angst und Schrecken zu versetzen? Sie schluckte heftig. Nun werde ich den Rest meines Lebens Leute erschrecken. 66
Während ihr diese schlimmen Gedanken durch den Kopf gingen, bemerkte Carla Beth plötzlich eine Bewegung im Laden. Sah einen dunklen Schatten über den Boden gleiten. Hörte Schritte. Die Tür klapperte, dann wurde sie einen Spalt breit geöffnet. Der Ladenbesitzer streckte den Kopf heraus. Er kniff die Augen zusammen und musterte Carla. »Ich bin extra länger geblieben«, sagte er ruhig. »Ich habe erwartet, dich wieder zu sehen.« Carla war über seine Gelassenheit bestürzt. »Ich... ich bekomme sie nicht mehr ab!«, stotterte sie und zerrte oben an der Maske, um es ihm zu demonstrieren. »Ich weiß«, sagte der Mann. Seine Miene blieb unverändert. »Komm herein.« Er stieß die Tür ganz auf und trat dann zurück. Carla zögerte kurz, dann betrat sie rasch den dunklen Laden. Drinnen war es ziemlich warm. Als der Ladeninhaber vorne über der Theke eine einzelne Lampe angeschaltet hatte, sah Carla, dass er das Cape jetzt nicht mehr trug. Er hatte eine schwarze Anzughose und ein weißes Frackhemd an. »Sie wussten, dass ich zurückkommen würde?«, beklagte sich Carla mit schriller Stimme. Die schnarrende Stimme, die ihr die Maske verliehen hatte, offenbarte gleichzeitig Wut und Verwirrung. »Wieso haben Sie das gewusst?« »Ich wollte sie dir nicht verkaufen«, antwortete er und starrte die Maske an. Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Daran erinnerst du dich doch noch, oder? Du weißt doch noch, dass ich dir die Maske nicht verkaufen wollte?« »Ja, ich erinnere mich«, antwortete Carla ungeduldig. »Aber helfen Sie mir jetzt einfach, sie abzunehmen. Okay? Helfen Sie mir.« Er blickte sie eindringlich an und reagierte nicht. »Helfen Sie mir, sie abzunehmen«, wiederholte Carla Beth laut schreiend. »Ich will, dass Sie sie mir abnehmen!« Er seufzte. »Das kann ich nicht«, erklärte er ihr traurig. »Ich kann sie dir nicht abnehmen. Es tut mir wirklich Leid.«
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»W-wie meinen Sie das?«, stotterte Carla. Der Ladeninhaber gab ihr keine Antwort. Er wandte sich zur Rückseite des Ladens um und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. «Antworten Sie mir!«, kreischte Carla. »Gehen Sie nicht weg! Antworten Sie mir! Was meinen Sie mit ›Die Maske kann nicht abgenommen werden‹?« Ihr Herz hämmerte heftig, als sie ihm in den rückwärtigen Raum folgte. Dort schaltete er das Licht an. In der plötzlichen Helligkeit blinzelte Carla. Dann fiel ihr Blick auf die beiden langen Regalbretter mit den grässlichen Masken. Sie entdeckte die leere Stelle, wo ihre gestanden hatte. All die grotesken Masken schienen sie anzustarren. Sie zwang sich, die Augen von ihnen abzuwenden. »Nehmen Sie mir diese Maske ab — sofort!«, verlangte sie heftig und stellte sich dem Inhaber in den Weg. »Ich kann sie nicht entfernen«, wiederholte er sanft, fast traurig. »Warum nicht?«, wollte Carla wissen. Er senkte die Stimme. »Weil es keine Maske ist.« Verblüfft glotzte Carla ihn mit großen Augen an. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Mucks heraus. »Es ist keine Maske«, erklärte er ihr. »Es ist ein echtes Gesicht.« Plötzlich wurde Carla schwindelig. Der Boden schien zu schwanken. Die Reihen abstoßender Gesichter funkelten sie an. All die hervorquellenden, blutunterlaufenen gelben und grünen Augen waren auf sie gerichtet. Erschöpft lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und gab sich alle Mühe, sich wieder zu beruhigen. Der Ladeninhaber ging auf das Regal zu und deutete auf die hässlichen, starrenden Köpfe. »Die Ungeliebten«, sagte er traurig, die Stimme zu einem Flüstern herabgesenkt. »Ich... ich verstehe nicht«, brachte Carla mit Mühe hervor. »Das sind keine Masken. Es sind Gesichter«, erklärte er. «Richtige Gesichter. Ich habe sie gemacht. Ich habe sie in einem Labor geschaffen - richtige Gesichter.« 68
»Aber... aber sie sind so hässlich...«, begann Carla. »Warum...?« »Zu Beginn waren sie nicht hässlich«, unterbrach er sie mit grimmiger Stimme und zornigen Augen. »Sie waren wunderschön. Und sie waren lebendig. Aber irgendetwas lief schief. Als sie aus dem Labor gebracht wurden, veränderten sie sich. Meine Experimente — meine armen Köpfe — waren ein Fehlschlag. Aber ich musste sie am Leben erhalten. Das musste ich.« »Das... das glaube ich nicht!«, rief Carla außer Atem und riss die Hände ans Gesicht, an ihr grünes, missgestaltetes Gesicht. »Ich glaub das alles nicht.« »Ich erzähle dir die Wahrheit«, fuhr der Ladeninhaber fort, strich sich dabei mit einem Finger über seinen schmalen Schnurrbart und bohrte seinen Blick in Carlas Augen. »Ich bewahre sie hier auf und nenne sie die Ungeliebten, weil sie keiner sehen will. Manchmal spaziert jemand in den rückwärtigen Raum - du zum Beispiel - und dann findet eine meiner Masken ein neues Zuhause...« »Neeiiin!« Carla stieß einen Protestschrei aus, der mehr wie das Heulen eines Tieres als der Schrei eines Menschen klang. Bestürzt starrte sie die runzeligen Gesichter auf dem Regal an. Die wulstigen Köpfe, die offenen Wunden, die tierischen Zähne. Monster! Alles Monster! »Nehmen Sie sie mir ab!«, brüllte sie, jede Selbstbeherrschung verlierend. »Nehmen Sie sie mir ab!« Sie fing an, wie wild an ihrem Gesicht zu zerren, versuchte es abzuziehen und in kleine Fetzen zu reißen. »Nehmen Sie sie mir ab! Nehmen Sie sie mir ab!« Er hob eine Hand, um sie zu besänftigen. »Tut mir Leid. Das Gesicht ist jetzt dein Gesicht«, sagte er ausdruckslos. »Nein!«, kreischte Carla noch einmal in ihrer neuen, krächzenden Stimme. »Nehmen Sie sie mir ab. Nehmen Sie sie mir ab - SOFORT!« Sie zerrte an ihrem Gesicht. Doch selbst in ihrer Wut und Panik war ihr klar, dass diese Anstrengungen völlig nutzlos waren. »Das Gesicht kann entfernt werden«, erklärte der Ladeninhaber mit sanfter Stimme. 69
»Was?« Carla ließ die Hände sinken und starrte ihn durchdringend an. »Was haben Sie da gesagt?« »Ich sagte, es gibt einen Weg, wie das Gesicht entfernt werden kann.« »Ja?« Carla spürte, wie ihr ein heftiger Schauer über den Rücken lief, ein Schauer der Hoffnung. »Ja? Wie? Sagen Sie's mir!«, flehte sie. »Bitte - sagen Sie's mir!« »Ich kann es nicht für dich tun«, antwortete er mit grimmiger Miene. »Aber ich kann dir sagen, wie es geht. Sollte sie sich allerdings jemals wieder an dich oder eine andere Person heften, dann wird es für immer sein.« »Wie bekomme ich sie ab? Sagen Sie's mir. Sagen Sie schon!«, bettelte Carla. »Wie krieg ich sie ab?«
Das Licht über ihnen flackerte. Die Reihen aufgedunsener, verzerrter Gesichter fuhren fort, Carla anzustarren. Monster!, dachte sie. Das hier ist ein Raum voller Monster, die darauf warten, zum Leben zu erwachen. Und nun bin ich eines von ihnen. Jetzt bin ich ebenfalls ein Monster. Die Dielen knarrten, als sich der Ladeninhaber von den Regalen entfernte und auf Carla zutrat. »Wie werde ich das Ding los?«, fragte sie. »Sagen Sie es mir. Zeigen Sie es mir - jetzt!« »Es kann nur einmal entfernt werden«, wiederholte er leise. »Und es kann nur durch ein Symbol der Liebe entfernt werden.« Unverwandt blickte sie ihn an, wartete darauf, dass er fortfuhr. Schweigen erfüllte den Raum. Tiefes Schweigen. »Ich... ich verstehe nicht«, stotterte Carla schließlich. »Sie müssen mir helfen. Ich verstehe Sie nicht! Sagen Sie mir etwas, das einen Sinn ergibt! Helfen Sie mir!« 70
»Mehr kann ich nicht sagen«, sagte er, senkte den Kopf, schloss die Augen und rieb sich mit den Fingern erschöpft die Augenlider. »Aber - was meinen Sie mit Symbol der Liebe?«, wollte Carla wissen und packte ihn mit beiden Händen vorne am Hemd. »Was meinen Sie damit?« Er unternahm keinen Versuch, ihre Hände zu entfernen. »Mehr kann ich dazu nicht sagen«, wiederholte er im Flüsterton. »Nein!«, schrie sie. »Nein! Sie müssen mir helfen. Sie müssen!« Sie spürte, wie ihre Wut explodierte, fühlte, wie ihre Selbstkontrolle sie verließ — aber sie konnte nichts dagegen tun. »Ich will mein Gesicht zurück«, brüllte sie und hämmerte ihm mit beiden Fäusten gegen die Brust. »Ich will mein Gesicht zurück! Ich will wieder ich sein!« Sie schrie jetzt aus vollem Hals, doch das kümmerte sie nicht. Der Inhaber wich zurück und bedeutete ihr mit den Händen, sie solle leiser sein. Dann öffneten sich seine Augen plötzlich weit vor Angst. Carla folgte seinem Blick zum Ausstellungsregal. »Oh!« Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie sah, dass die aufgereihten Gesichter sich zu bewegen begannen. Vorstehende Augen blinzelten. Geschwollene Zungen leckten über trockene Lippen. Dunkle Wunden begannen zu pulsieren. All die Köpfe wippten, blinzelten, atmeten. »Was - was geschieht da?«, fragte Carla Beth mit zittriger Stimme. »Du hast sie alle aufgeweckt!«, sagte er tonlos und sein Gesicht zeigte genauso viel Angst wie ihres. »Aber... aber...« »Lauf!«, schrie er plötzlich und versetzte ihr einen kräftigen Stoß in Richtung Tür. »Lauf!«
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Carla stolperte und fing sich wieder. Zögernd drehte sie sich um und starrte noch einmal auf die zappelnden Köpfe im Regal. Dicke, dunkle Lippen machten schmatzende Geräusche. Krumme Gebisse klappten auf und zu. Hässliche Nasen zuckten und sogen geräuschvoll Luft ein. Die Köpfe, zwei lange Reihen davon, erwachten pulsierend zum Leben. Und die Augen - hervortretende, von Äderchen durchzogene Augen, grüne Augen, abscheulich gelbe Augen, leuchtend violette Augen, widerwärtige Augäpfel, die an Fäden hingen - sie alle waren auf Carla gerichtet! »Lauf! Du hast sie aufgeweckt!«, schrie der Ladenbesitzer, sich vor Angst verschluckend. »Lauf! Verschwinde von hier!« Carla wollte losrennen. Aber ihre Beine spielten nicht mit. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Ganz plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob sie eine Tonne wöge. »Lauf! Lauf!«, schrie der Ladeninhaber panisch immer wieder. Doch sie konnte ihren Blick einfach nicht von den pulsierenden, zuckenden Köpfen losreißen. Carla starrte vor Entsetzen wie gelähmt auf die grässliche Szene und spürte, wie ihr die Luft im Hals stecken blieb. Vor ihren Augen erhoben sich die Köpfe und schwebten durch die Luft. »Lauf! Beeil dich! Lauf!« Die Stimme des Ladeninhabers schien nun weit entfernt zu sein. Mit polternden, tiefen Stimmen fingen die Köpfe zu plappern an und übertönten sein wildes Geschrei. Sie murmelten aufgeregt, brachten nur Geräusche, keine Worte zu Stande und klangen wie ein Chor von Fröschen. Höher und höher schwebten sie, während Carla ihnen mit heruntergeklappter Kinnlade entsetzt zuschaute. »Lauf! Lauf!« Ja. Sie drehte sich um, konzentrierte sich. Zwang ihre Beine, sich zu bewegen. 72
Und mit einer plötzlichen Kraftanstrengung rannte sie los. Sie rannte durch den spärlich beleuchteten vorderen Raum des Ladens, streckte die Hand nach der Klinke aus und riss die Tür auf. Im nächsten Moment war sie draußen auf dem Bürgersteig und rannte durch die Dunkelheit. Ihre Turnschuhe dröhnten laut übers Pflaster. Die kalte Luft auf ihrem heißen Gesicht war wie ein Schock. Auf ihrem heißen, grünen Gesicht. Ihrem Monstergesicht. Dem Monstergesicht, das sie nicht loswerden konnte. Sie überquerte die Straße und rannte weiter. Was war das für ein Geräusch? Dieses tiefe, glucksende Geräusch? Dieses leise Murmeln, das ihr zu folgen schien? Ihr folgte? »O nein!«, schrie Carla, als sie zurückschaute - und sah, dass ihr die gruseligen Köpfe hinterherflogen. Eine schaurige Parade. Sie schwebten in einer Reihe, eine lange Kette pulsierender, plappernder Köpfe. Ihre Augen glühten so hell wie Autoscheinwerfer, und sie waren alle auf Carla gerichtet. Halb blind vor Angst stolperte Carla über den Randstein. Sie riss die Arme nach vorne und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Ihre Beine wollten versagen, aber sie zwang sie dazu weiterzulaufen. Gegen den Wind gebeugt, rannte sie an dunklen Häusern und an unbebauten Grundstücken vorbei. Es muss schon spät sein, fiel ihr ein. Es muss schon ziemlich spät sein. Zu spät. Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Zu spät für mich. Die grässlichen glühenden Köpfe flogen hinter ihr her. Kamen näher. Näher. Ihr knurrendes, animalisches Gemurmel schwoll in Carlas Ohren an, bis sie das Furcht erregende Geräusch völlig einhüllte. Der Wind wehte ihr heftig und heulend entgegen, als ob er sie mit Absicht zurückdrängen wollte. 73
Die murmelnden Köpfe schwebten näher. Ich laufe durch einen dunklen Alptraum, dachte sie. Womöglich muss ich für immer laufen. Zu spät. Zu spät für mich. Oder doch nicht? Durch ihre Panik bahnte sich eine Idee ihren Weg. Während Carla rannte und mit den Armen wild in der Luft herumfuchtelte, als wollte sie sich auf diese Weise schützen, suchte ihr Verstand nach einer Lösung, nach einem Weg zu entkommen. Ein Symbol der Liebe. Über das Grollen der hässlichen Stimmen hinter sich hinweg, hörte sie die Worte des Ladeninhabers. Ein Symbol der Liebe. Das war es, was sie brauchte, um den Monsterkopf loszuwerden, der zu ihrem geworden war. Würde es auch die pulsierenden, glühenden Köpfe stoppen, die sie verfolgten? Würde es die Köpfe der Ungeliebten dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen waren? Laut nach Atem ringend, bog Carla um eine Ecke und lief weiter. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass ihre plappernden Verfolger ebenfalls abgebogen waren. Wo bin ich?, fragte sie sich und schaute auf die Häuser, an denen sie vorbeilief. Sie war zu verängstigt gewesen, um darauf zu achten, wohin sie rannte. Doch nun hatte Carla eine Idee. Eine verzweifelte Idee. Und sie musste ihr Ziel erreichen, bevor die schaurige Parade der Köpfe sie eingeholt hatte. Sie hatte ein Symbol der Liebe. Ihr Kopf war eines. Der Kopf aus Ton, den ihre Mutter nach ihren Zügen geformt hatte. Carla erinnerte sich, wie sie ihre Mutter gefragt hatte, warum sie die Skulptur gemacht hatte. Und ihre Mutter hatte geantwortet: »Weil ich dich liebe.« Vielleicht konnte der Tonkopf sie retten. Vielleicht konnte er ihr aus diesem Alptraum hinaushelfen. Aber wo steckte er? Sie hatte ihn fallen lassen. Er war hinter eine Hecke gerollt. Sie 74
hatte ihn in irgendeinem Garten gelassen und... Und nun war sie wieder in ebendiesem Viertel zurück. Sie erkannte die Straße wieder. Erkannte die Häuser. Sie war da, wo sie Chuck und Steve getroffen hatte. An der Stelle, an der sie die beiden so erschreckt hatte, dass sie auf und davon gelaufen waren. Aber wo war dieses Haus? Wo war die Hecke? Verzweifelt ließ sie den Blick von Garten zu Garten wandern. Hinter ihr, entdeckte sie, hatten die Köpfe einen Schwärm gebildet. Wie summende Bienen hatten sie sich zusammengerottet, grinsten nun, grinsten, während sie sich bereitmachten, auf Carla loszuschwärmen. Ich muss diesen Kopf finden!, sagte sich Carla nach Atem ringend und gab sich alle Mühe, ihre schmerzenden Beine in Bewegung zu halten. Ich muss meinen Kopf finden. Die brummenden, plappernden Stimmen wurden lauter. Die Köpfe kamen näher geschwärmt. »Wo? Wo?«, schrie sie laut. Und dann sah sie die hohe Hecke. Auf der anderen Straßenseite. Im Garten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Kopf, der wunderbare Kopf- dort hinter der Hecke hatte sie ihn fallen lassen. Konnte sie ihn erreichen, bevor der hässliche Schwarm über sie herfiel? Ja! Sie holte Luft, streckte verzweifelt die Arme aus, drehte sich um und rannte über die Straße. Und verschwand hinter der Hecke. Auf Händen und Füßen. Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Ihr Atem rasselte. Ihr Herz hämmerte. Sie streckte die Hand nach dem Kopf aus. Er war verschwunden.
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Verschwunden. Der Kopf war verschwunden. Meine letzte Chance, sagte sich Carla verzweifelt, während sie blindlings danach suchte und mit der Hand den Boden unter der Hecke abtastete. Verschwunden. Nun ist es zu spät für mich. Immer noch auf den Knien, wandte sie ihr Gesicht ihren schaurigen Verfolgern zu. Die Köpfe, die sinnloses Zeug vor sich hin plapperten, erhoben sich vor ihr und bildeten eine Wand. Carla begann aufzustehen. Die pulsierende Wand aus Monsterköpfen schob sich Zentimeter um Zentimeter näher. Sie wandte sich ab, suchte nach einer Möglichkeit zur Flucht. Und da sah sie ihn. Sie sah ihren Kopf. Sie sah den Tonkopf, der zwischen zwei aufragenden Wurzelsträngen eines großen Baumes neben der Einfahrt lag und zu ihr hochstarrte. Der Wind muss ihn dorthin geblasen haben, machte sie sich klar. Und während die hässlichen Köpfe pulsierend näher kamen, tauchte sie unter den Baum. Und packte den Kopf mit beiden Händen. Mit einem triumphierenden Aufschrei drehte sie den Tonkopf den plappernden Köpfen zu und hob ihn in die Höhe. »Fort mit euch! Fort mit euch!«, schrie Carla und hielt ihr Ebenbild so, dass alle es sehen konnten. »Dies ist ein Symbol der Liebe! Dies ist ein Symbol der Liebe! Verschwindet!« Die Köpfe nickten. Ihre glühenden Augen starrten auf den Kopf aus Ton. Sie murmelten aufgeregt. Ihre verunstalteten Lippen verzogen sich zu grinsenden Grimassen. »Haut ab! Haut ab!« 76
Carla Beth hörte sie lachen. Ein Chor höhnischen Lachens. Dann umkreisten sie sie blitzschnell, begierig darauf, sie zu verschlingen.
Zu spät für mich. Wieder und wieder ging dieser Satz Carla durch den Kopf. Ihre Idee hatte keinen Erfolg gebracht. Die Köpfe schwärmten sabbernd um Carla herum und deren hervorquellende Augen zeigten Schadenfreude und Triumph. Ihr grollendes Gemurmel wurde zu einem Brausen. Carla spürte, wie sie von der übel riechenden Hitze der Köpfe verschlungen wurde. Ohne nachzudenken, senkte sie den Tonkopf. Und zog ihn heftig über ihren grässlichen Monsterkopf. Zu ihrer Überraschung glitt er wie eine Maske darüber. Ich trage mein eigenes Gesicht als Maske, dachte sie grimmig. Als sie ihn überzog, senkte sich Dunkelheit herab. Der Tonkopf hatte keine Augenlöcher. Sie konnte nicht hinaussehen. Konnte nicht hören. Was werden diese schaurigen Köpfe mit mir anstellen?, fragte sie sich, ganz alleine mit ihrer Angst. Werde ich jetzt zu einer Ungeliebten? Werde ich zusammen mit ihnen in einem Ladenregal enden? Von tiefer, schweigender Dunkelheit umgeben, wartete Carla. Und wartete. Sie spürte das Blut in ihren Schläfen pochen. Fühlte Angst, die ihr die Brust zuschnürte, und einen ziehenden Schmerz in ihrem trockenen Hals. Was werden die Köpfe tun? Was tun sie? Sie hielt das nicht länger aus, alleine, mit ihrer Furcht eingeschlossen und umgeben von Stille und Dunkelheit. Mit einem heftigen Ruck zog sie den Tonkopf ab. Die schauerlichen Köpfe waren fort. 77
Verschwunden. Ungläubig blickte Carla geradeaus. Dann ließ sie den Blick über den düsteren Rasen huschen. Mit den Augen suchte sie Bäume und Sträucher ab. Blinzelte in die dunklen Ecken zwischen den Häusern. Fort. Sie waren verschwunden. Carla blieb, den Tonkopf im Schoß, eine ganze Weile im kalten, feuchten Gras sitzen, sie atmete heftig und ließ den Blick über die ruhigen, leeren Vorgärten schweifen. Als sie wieder normal atmen konnte, stand sie auf. Der Wind hatte sich gelegt. Der bleiche Halbmond glitt hinter dunklen Wolken hervor, die ihn verdeckt hatten. Carla spürte etwas leicht gegen ihren Hals klatschen. Erschrocken griff sie danach und fühlte den Rand der Maske. Den Rand der Maske? Ja! Zwischen der Maske und ihrem Hals gab es einen Spalt. »He!«, schrie sie gellend. Sie stellte den Tonkopf behutsam vor ihren Füßen ab, griff nach dem Rand der Maske und zog daran. Sie ließ sich ohne Schwierigkeiten abziehen. Verdattert senkte sie die Maske und hielt sie vor sich hin. Sie legte sie zusammen und faltete sie wieder auseinander. Die orangen Augen, die wie Feuer geglüht hatten, waren verblasst. Die spitzen tierischen Reißzähne waren gummiweich und schlaff geworden. »Du bist nur eine Maske!«, rief Carla laut. »Nichts als eine Maske!« Fröhlich lachend warf sie die Maske in die Luft und fing sie wieder auf. Sie kann nur einmal abgenommen werden, hatte ihr der Ladeninhaber erklärt. Nur einmal und nur mit Hilfe eines Symbols der Liebe. Nun, ich habe es geschafft!, sagte sich Carla glücklich. Ich habe sie abgenommen. Und keine Sorge — ich werde sie nie wieder aufsetzen! Nie wieder! 78
Plötzlich fühlte sie sich erschöpft. Ich muss nach Hause, dachte sie. Wahrscheinlich ist es schon kurz vor Mitternacht. Die meisten der Häuser waren bereits dunkel. Weit und breit kein Auto zu sehen. Die Kinder, die von Haus zu Haus gezogen waren, waren alle nach Hause gegangen. Carla bückte sich, um den Tonkopf aufzuheben. Dann ging sie, die Maske und den Gipskopf in den Händen, rasch nach Hause. Auf halbem Weg die Einfahrt hinauf blieb sie stehen. Sie hob eine Hand und betastete ihr Gesicht. Habe ich mein altes Gesicht wieder?, fragte sie sich, strich sich über die Backen und ließ einen Finger über ihre Nase gleiten. Ist das mein altes Gesicht? Sehe ich aus wie ich selbst? Durch Betasten alleine konnte sie das nicht feststellen. »Ich brauche einen Spiegel!«, rief sie laut. Begierig darauf festzustellen, ob ihr Gesicht wieder normal aussah, lief sie zur Haustür und klingelte. Nach ein paar Sekunden schwang die Tür auf und Noah tauchte im Türrahmen auf. Er stieß die Verandatür auf. Dann blickte er auf ihr Gesicht - und begann zu brüllen. »Nimm diese Maske ab! Nimm sie ab! Du bist so hässlich!«
»Nein!«, schrie Carla voller Entsetzen. Die Maske muss mein Gesicht verändert haben, sagte sie sich. »Nein! O nein!« Sie drängte sich an ihrem Bruder vorbei, ließ den Tonkopf und die Maske fallen und rannte zum Spiegel im Flur. Ihr Gesicht schaute ihr entgegen. Völlig normal. Ihr altes Gesicht. Ihr gutes altes Gesicht. Das waren ihre dunkelbraunen Augen. Ihre breite Stirn. Ihre kurze Stupsnase, von der sie sich immer gewünscht hatte, sie wäre länger. 79
Ich werde mich nie wieder über meine Nase beklagen, dachte Carla glücklich. Ihr Gesicht war wieder normal. Ganz und gar normal. Während sie sich so betrachtete, hörte sie auf einmal Noah hinter sich an der Tür lachen. Ärgerlich fuhr sie zu ihm herum. »Noah — wie konntest du nur?« Er lachte noch heftiger. »Das war doch nur ein Witz. Kaum zu glauben, dass du darauf hereingefallen bist.« »Für mich war es kein Witz!«, rief Carla zornig. Ihre Mutter erschien am Ende des Korridors. »Carla, wo hast du nur gesteckt? Ich habe dich schon vor einer Stunde zurückerwartet.« »Tut mir Leid, Mom«, antwortete Carla und grinste. Ich bin so glücklich, dass ich vielleicht nie wieder zu grinsen aufhören werde!, dachte sie. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, erklärte sie ihrer Mutter. »Eine lange, verrückte Geschichte.« »Aber mit dir ist doch alles in Ordnung?« Mrs. Caldwell musterte ihre Tochter eingehend. »Klar. Mir geht's gut«, antwortete Carla leichthin. »Komm mit in die Küche«, sagte Mrs. Caldwell. »Ich habe schönen, heißen Apfelwein für dich.« Gehorsam folgte Carla ihrer Mutter in die Küche. Dort war es warm und hell. Der süße Duft des Apfelweins erfüllte den Raum. In ihrem ganzen Leben war Carla noch nie so froh gewesen, zu Hause zu sein. Sie umarmte ihre Mutter und setzte sich dann an die Küchentheke. »Warum hast du dein Entenkostüm nicht angezogen?«, fragte Mrs. Caldwell und schenkte eine Tasse dampfenden Apfelweins ein. »Wo bist du gewesen? Warum warst du nicht mit Sabrina unterwegs? Sabrina hat schon zwei Mal angerufen und gefragt, was mit dir passiert ist.« »Nun...«, begann Carla. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte, Mom.« »Ich habe Zeit«, sagte ihre Mutter und stellte die Tasse mit Apfelwein vor Carla hin. Sie lehnte sich gegen die Theke und stützte ihr Kinn in eine Hand. »Nun mach schon. Erzähl.« 80
»Nun...« Carla zögerte. »Jetzt ist jedenfalls alles wieder in Ordnung, Mom. Völlig in Ordnung. Aber...« Sie unterbrach sich, als Noah in die Küche geplatzt kam. »He, Carla...«, rief er mit tiefer, krächzender Stimme. »Sieh mich an! Wie steht mir deine Maske?«
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Band8 OMNIBUS Nr. 20262 Die Puppe mit dem starren Blick Band 9 OMNIBUS Nr. 20263 Nachts, wenn alles schläft
Atemlos, mit kalten Händen oder eben mit einer Gänsehaut verschlingt man diese Bücher. Die Helden sind ganz normale zehn- bis zwölfjährige Mädchen und Jungen, ziemlich neugierig und mutig, die keine Angst davor haben, nachts auf einen Friedhof zu gehen. R. L. Stine selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.«
Band 10 OMNIBUS Nr. 20355 Der Gruselzauberer Band 11 OMNIBUS Nr. 20356 Die unheimliche Kuckucksuhr Band 12 OMNIBUS Nr. 20023 Die Nacht im Turm der Schrecken Band 13 OMNIBUS Nr. 20396 Meister der Mutanten Band 14 OMNIBUS Nr. 20397 Die Geistermaske Band 15 OMNIBUS Nr. 20398 Die unheimliche Kamera
Band1 OMNIBUS Nr. 20149 Der Spiegel des Schreckens
Band 16 OMNIBUS Nr. 20399 ... und der Schneemensch geht um
Band 2 OMNIBUS Nr. 20150 Willkommen im Haus der Toten
Band 17 OMNIBUS Nr. 20417 Der Schrecken, der aus der Tiefe kam
Band 3 OMNIBUS Nr. 20151 Das unheimliche Labor
Band 18 OMNIBUS Nr. 20418 Endstation Gruseln
Band 4 OMNIBUS Nr. 20152 Es wächst und wächst und wächst...
Band 19 OMNIBUS Nr. 20419 Die Rache der Gartenzwerge
Band5 OMNIBUS Nr. 20153 Der Fluch des Mumiengrabs Band6 OMNIBUS N r. 20236 Der Geist von nebenan Band7 OMNIBUS Nr. 20308 Es summt und brummt - und sticht!