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Kriminalroman
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John Miles Ansell arbeitet als junger Redakteur in einem ameri...
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Kriminalroman
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John Miles Ansell arbeitet als junger Redakteur in einem amerikanischen Magazin-Verlag. Bei der Vorbereitung eines Falles für die Reihe „Ungesühnte Verbrechen“ stößt er auf den Widerstand seines Chefs Noble Barclay. Zunächst verfolgt Ansell nur aus Trotz und Widerspruchsgeist diese Angelegenheit, von der man ihn offenbar fernhalten will. Spater, als das Mißtrauen in ihm geweckt ist, versucht er, gegen alle Hindernisse den rätselhaften Fall aufzuklären, ohne Ansehen der Person. Und das bedeutet nicht nur für ihn gefährliche Wahrheit. Dieser spannende, originell konstruierte Kriminalroman von Vera Caspary ist mehr als die Geschichte eines Verbrechens und seine Aufhellung. Die amerikanische Autorin prangert überzeugend, teilweise mit sarkastischer Offenheit, die Doppelbödigkeit der Moral im Kapitalismus an, sie wendet sich gegen Heuchelei und Verkommenheit der oberen Zehntausend von New York
Vera Caspary
Die gefährliche Wahrheit _________________________________
Verlag Das Neue Berlin
Mit freundlicher Genehmigung des Gebrüder Weiß Verlags, Berlin Originaltitel: Stranger than truth Übersetzung aus dem Amerikanischen von Mary Brand Lizenzausgabe für die Deutsche Demokratische Republik
INHALT
Erster Teil
Der Fall Warren G. Wilson von John Miles Ansell
Zweiter Teil
Zeugenaussage von Grace Eccles
Dritter Teil
Wem gehört der karierte Mantel? von John Miles Ansell
Vierter Teil
Drachenzähne von Eleanor Barclay
Fünfter Teil
Einer wunderschönen Dame… von John Miles Ansell
Sechster Teil
Die kurze Geschichte des Homer Peck von Lola Manfred
Siebenter Teil
Die Terrasse von Eleanor und John
Erster Teil DER FALL WARREN G. WILSON von John Miles Ansell
„Begrabene Wahrheit ist immer im Konflikt mit ihrer dunklen Umgebung. In ihrem rastlosen Drang zum Licht verursacht sie Gärung und Revolution in der sozialen Umwelt – und im Individuum Nervenzerrüttung und Leiden.“ „Mein Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay Captain Riordan erzählte mir im September die Geschichte des Falles Wilson. Wir saßen in einer Bar in der Dritten Avenue hinter einer Flasche kanadischen Whiskys – er trank, und ich zahlte. Ich hielt es für eine günstige Kapitalanlage, denn Riordans Geschichten waren besser, wenn er ein bißchen benebelt war. Ich war erst seit kurzem Redakteur von „Wahrheit und Verbrechen“ und noch so neu, daß ich mir einbildete, ich könnte das Niveau der Zeitschrift heben. „Wahrheit und Verbrechen“ war nichts weiter als die vielen anderen Monatshefte mit „Tatsachenberichten“ – die Zeitschrift war vollgestopft mit frisch aufgemachten Stoffen aus den Zeitungen und alten Polizeiberichten, die nun mit sensationellen Titeln und frommer Endmoral (kein Verbrechen kann gut ausgehen!) serviert wurden. Der Fall Wilson war noch nicht geklärt, also beschloß ich, ihn als „Ungesühntes Verbrechen“ zu verwenden, das wir allmonatlich 9
in einer besonderen Serie brachten. Statt ihn an einen Mitarbeiter weiterzugeben, behandelte ich ihn selbst. Zwar mußte ich mich an das Schema von „Wahrheit und Verbrechen“ halten, aber ich hatte das Gefühl, den Fall so dargestellt zu haben, daß ein intelligenter Leser mehr daran finden konnte als an dem landläufigen „Ungesühnten“. Ich sah ihn als ein Stück amerikanischer Kulturgeschichte an, als einen Kommentar zu einer seltsamen Phase unserer nationalen Sitten. Eines Morgens – es war am 22. November 1945 – saß ich in der Redaktionsabteilung des „Barclay-WahrheitsVerlages“ in meinem Privatbüro. Es war mein erstes Privatbüro, und ich war noch keineswegs abgestumpft gegen die Wirkung meines Namens und den Titel „Redakteur“ in Goldbuchstaben an der Tür. Ich fühlte mich sehr zufrieden an diesem Morgen. Daseinsberechtigt. Unsere Februarnummer sollte heute in Druck gehen, und bis auf eine einzige waren alle Geschichten über die Produktionsabteilung in die Druckerei gegangen. Die Januar- und Dezembernummer waren zwar schon unter meiner Verantwortung herausgekommen, aber es stand noch lauter altes Zeug darin, Geschichten, die mein Vorgänger ausgesucht hatte und die durchaus nicht mein Geschmack waren. Aber die Februarnummer war mein Werk, die erste richtige AnsellNummer, und ich fühlte mich wie ein stolzer Vater, der sein Erstgeborenes zu Bett bringt. Das Telefon klingelte. „Die Produktionsabteilung“, sagte Frau Kaufmann. „Sie wollen wissen, warum unser ‚Ungesühntes‘ noch nicht da ist.“ Ich nahm das Telefon. „Hallo“, rief ich, „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben doch alles da – 10
bis auf das ‚Ungesühnte Verbrechen‘, und das muß jeden Augenblick mit der Genehmigung hiersein!“ Vom anderen Ende des Drahtes kam ein dumpfes Brummen. „Es ist nicht meine Schuld“, sagte ich. „Ich habe das Manuskript schon vor drei Wochen eingereicht. Es ist jetzt in Barclays Büro, der Himmel weiß, ob er es als Toilettenpapier benutzt hat!“ Das Gebrumm am anderen Ende der Leitung wurde ominöser. „Ich kann doch nichts dafür, wenn B. die Arbeit verzögert. Er ist Chef hier, er macht selbst die Vorschriften, er weiß, wann wir in Druck gehen.“ Ein noch vernehmlicheres Knurren. „Sehen Sie, hier ist meine Sekretärin“, fuhr ich fort, „sie kommt eben aus Barclays Büro. Was hat man Ihnen über das ‚Ungesühnte‘ gesagt, Frau Kaufmann?“ Frau Kaufmann, die gar nicht in die Nähe von Barclays Büro gekommen war, zog nur die dichten Augenbrauen hoch. „Alles in Butter!“ rief ich fröhlich ins Telefon. „Herrn Barclays Sekretärin hat ihr gesagt, er habe das Manuskript erst heute früh lesen können. Aber er ist gerade damit fertig geworden und ist begeistert von der Geschichte. Die Genehmigung muß jede Sekunde durchkommen, und ich schicke sie Ihnen kuhwarm hinüber. Okay?“ Im gleichen Augenblick kam ein Bürojunge und warf in meinen Korb „Eingänge“ einen Umschlag mit einem roten Reiter, was „eilig“ bedeutete, und mit einem gelben – also für die laufende Nummer. Frau Kaufmann hatte den Briefumschlag geöffnet. Sie griff zum Telefon. „Herr Ansell ruft Sie in ein paar Mi11
nuten wieder an“, sagte sie zur Produktionsabteilung. Dann gab sie mir mein Manuskript. An der oberen Ecke rechts war ein grüner Reiter. Grüne Reiter bedeuteten: Abgelehnt. „Was zum Teufel soll das!“ sagte ich. „Sie können doch diese Geschichte nicht ablehnen.“ „Aber sie haben sie abgelehnt“, sagte Frau Kaufmann und händigte mir ein auf blauem Papier getipptes Memorandum ein. Es lautete: Vom Büro des Herrn: An: Datum:
Edward Everett Munn Herrn John Miles Ansell N0V./22./45
Den Prinzipien unseres Verlages gemäß kann die Veröffentlichung des Ms. nicht gestattet werden. Habe es selbst gelesen und Herrn Barclays Aufmerksamkeit auf die Punkte gelenkt, die unsere Leser verstimmen würden. Würde vorschlagen, Sie ersetzen es durch Material, das in unseren Konferenzen schon durchgesprochen ist. Dot King oder Elwell, das sind Fälle, die auf breiter, nationaler Basis bekannt und von größerem Interesse sind. Hoffe, daß Ihnen keine ernstlichen Ungelegenheiten durch die Änderung Ihres Programms entstehen. E. E. Munn Anliegend: Memo an Herrn Barclay „Hoffe, daß Ihnen keine ernstlichen Ungelegenheiten… O du verdammter Hundesohn!“ sagte ich. „Er hat es bis zur letzten Minute in seiner Bude behalten, damit er mich recht in die Tinte bringen kann!“ „Was wollen Sie jetzt mit Ihrem ‚Ungesühnten 12
Verbrechen‘ anfangen?“ fragte Frau Kaufmann. „Der Fall Elwell! Der Fall Dot King! Als ob nicht jeder Tatsachenbericht im Lande sie ein dutzendmal gedruckt hätte! Ich gehe jetzt hin und erzähle Edward Everett Munn mal… „Schreien Sie nicht so, Herr Ansell! Man hört Sie durchs ganze Büro!“ „Und wennschon! Meinetwegen! Die Spitzel und Streber müssen doch was zu berichten haben! Ich weiß genau, ob eine Geschichte gut ist, und ich hab nicht die Absicht, sie von einem Kretin sabotieren zu lassen, der besser Lumpen sammeln sollte!“ „Aber Herr Ansell! Bitte…“ „Ja doch, ja – ich weiß genau, daß alle lauschen! Ich hoffe nur, daß es kein Lumpensammler gehört hat. Lumpensammler sind ehrliche, tüchtige Leute, die würden einen E. E. Munn nie in ihre Gilde aufnehmen! Kennen Sie das einzige wirkliche Verbrechen, Frau Kaufmann? Daß er jemals einen Posten als Chefredakteur bekommen hat und daß er sich auf diesem Posten halten kann! Lösen Sie dieses Rätsel – dann gewinnen Sie die Herzen all der Armen, die in dieser Tretmühle Sklavenarbeit tun!“ Unsere Privatbüros waren nämlich nur dem Namen nach privat. Sie waren voneinander und vom Zentralbüro durch Mattglaswände getrennt, die einen halben Meter unter der Decke aufhörten. Die loyalen Angestellten nannten das eine Sanitätsmaßnahme, wegen besserer Durchlüftung, die Zyniker sprachen von Spionage. Die älteren Mitarbeiter Barclays waren eine unzufriedene Gesellschaft. „Ehe Sie sich den Mund darüber zerreißen, was andere Leute ausgefressen haben, sehen Sie lieber mal nach, warum man Ihnen eigentlich Ihr gutes Stück zurückge13
schickt hat“, sagte Frau Kaufmann. Sie reichte mir den Durchschlag des Memos, das Edward Everett Munn Herrn Barclay geschickt hatte. Vom Büro des Herrn: An: Datum:
Edward Everett Munn Herrn Noble Barclay Nov./22./45
Zur Klarlegung der Gründe, aus denen ich das beiliegende Ms. ablehne (Ungesühntes Verbrechen, Febr. 46), möchte ich auf folgende Punkte hinweisen, die es mir als ungeeignet zur Publ. erscheinen lassen: 1. Das Verbrechen ist unbekannt. Die Hauptvoraussetzung dieser Serie ist, daß es sich um ein in den Grundzügen bekanntes Verbrechen handelt. 2. Der satirische Ton des Artikels. Es ist nicht die Aufgabe unserer Publikationen, auf die Ironie des Lebens hinzuweisen, auch nicht in geringschätzigem Ton von Dingen zu sprechen, die unsere Leser in anderem Lichte sehen als die sogenannten „Spötter“. Unsere Leser sind seriöse, denkende Männer und Frauen. 3. Die frivole Haltung gegenüber alkoholischen Getränken. Unsere Redakteure sollten hier die Politik unseres Verlages einhalten! 4. Spöttische Bemerkungen über schriftliche Ausbildungskurse. Der Schreiber vergißt offenbar, daß viele unserer besten Freunde und ältesten Inserenten berühmte Institute dieser Art leiten! Zugleich mit unserer Ablehnung und Kritik haben wir dem betr. Redakteur unsere positiven Ratschläge zukommen lassen. E. E. Munn Anliegend: Memo an John Miles Ansell 14
Ich zerknitterte das Memo zu einer Papierkugel und zielte nach dem Papierkorb. Frau Kaufmann fischte es heraus. „Kommt in die Ablage“, sagte sie. „Sie glauben doch nicht, daß ich so ein Gewäsch ernst nehme?“ „Was wollen Sie dagegen tun?“ „Das Nie-Dagewesene in der Geschichte unserer ‚Wahrheits‘-Publikationen, Frau Kaufmann: ein Redakteur beabsichtigt, für seine Zeitschrift zu kämpfen!“ „Und Ihr Pöstchen, Herr Ansell?“ „Glauben Sie, ich habe Angst?“ „Ach nein! Und die vierzig Dollars, die Sie wöchentlich Ihrer Mutter schicken?“ fragte Frau Kaufmann. Dann lächelte sie und fügte hinzu: „Und mm kämmen Sie mal Ihr Haar, Herr Ansell! Und ziehen Sie Ihren Schlips gerade!“ Ich kämmte mich, richtete meinen Schlips und nahm die Brille ab. „Die Geschichte kommt in die Februarnummer – auf Biegen oder Brechen. Kampf bis zum letzten Blutstropfen!“ Sie gab mir das zerknüllte Memo. „Nehmen Sie‘s mit. Verlassen Sie sich nicht auf Ihr Gedächtnis – lieber alles schwarz auf weiß. Na also, Hals- und Beinbruch, kleiner David!“ „Keine Angst. Ich habe meine Schleuder bei mir!“ Die Schreibmaschinen standen still, als ich hinüber zum Zentralbüro ging. Alle, die gelauscht hatten, als ich diskret meine Ansicht über Munn geäußert hatte, beobachteten jetzt, wie ich seine Tür öffnete. Ich trug den Kopf hoch, streckte das Kinn vor, stand gerade, damit ich größer aussah. Ich sprach mir Mut zu: Du warst immer beliebt, John Miles Ansell – du brauchtest weder franzö15
sisch zu sprechen noch Klavier zu spielen; dagegen hat kein Mensch jemals Herrn E. E. Munn ausstehen können – das heißt keiner, der jung und gesund und intelligent und anständig ist. „Guten Morgen, Herr Ansell. Wünschen Sie Herrn Munn zu sprechen?“ fragte die Sekretärin. „Nein, Teure, ich wollte nur um Ihre Hand anhalten. Wollen Sie mich zum Glücklichsten aller Sterblichen machen?“ Blasse Lippen zogen sich zusammen. Munns Sekretärin lachte nie zu meinen Scherzen. Sie war bleichsüchtig und nicht sehr klug. Man sagte, sie sei Barclays Kusine dritten Grades. Die Redaktion war ein Garten des Nepotismus. Arme Verwandte blühten und gediehen an allen Ecken und Enden. „Herr Munn ist gerade beschäftigt. In einer kleinen Weile wird er zu sprechen sein. Wollen Sie bitte Platz nehmen?“ Ich hatte wenig Lust, mit dieser bösartigen Bleichsucht auf so engem Raum zusammengesperrt zu sein, deshalb bat ich sie, mich holen zu lassen, sobald Herr Munn frei sei. Ich schlenderte hinaus und versuchte, so gleichgültig wie möglich auszusehen, denn aller Augen im Hauptbüro waren auf mich gerichtet. Statt in mein eigenes Büro zurückzukehren, ging ich gemächlich über das Linoleum, an den Redaktionen von „Wahrheit und Gesundheit“ und „Wahrheit und Schönheit“ vorbei. Vor der Tür mit der Aufschrift „Wahrheit und Liebe“ stand ich still. Die Tür war offen. „Hallo, Ansell!“ rief eine brüchige weibliche Stimme. Ich rückte nochmals an meinem Schlips, strich mir übers Haar und trat flott ein. Der Aufwand war umsonst. Das kleine Pult stand leer, und Lola Manfred war mit den 16
Manuskripten allein. Sie bemerkte meinen wandernden Blick. „Eleanor ist unten im Studio“, sagte sie. „Ich überlasse ihr immer die Ehrenpflicht, die Modelle in recht rührende Posen für die amourösen Fotografien zu bringen, die ein so glänzender Beweis für die Wirklichkeit unserer Liebesgeschichten sind. Was muß ich von ihnen hören? Sie wollen ins Feld ziehen und Munn, den Gewaltigen, herausfordern?“ „Wie sich doch alles herumspricht!“ sagte ich. „Welch wahres Wort!“ Lola fuhr sich mit der Hand durch ihr gefärbtes Haar. „Ernstlich: was ist denn los? Können Sie‘s nicht überleben, wenn Sie eine Geschichte zurückkriegen?“ „Lieber Gott, als ich noch freier Mitarbeiter war, habe ich die aufgeklebten Zettel Abgelehnt zum Frühstück verzehrt.“ „Na also – wo sticht der Hafer?“ „Es ist nicht die Ablehnung“, sagte ich. „Es ist das Prinzip.“ „Was für ein Prinzip?“ „Ich bin schließlich Redakteur“, sagte ich. „Wenigstens wurde mir das gesagt, als man mich für diesen Posten charterte. Und da wird ein Manuskript, wenn ich gerade die Monatsnummer in Druck geben will, drei Wochen zurückgehalten, und ausgerechnet an dem Tage, da es in die Druckerei soll, wird es abgelehnt. Was sagen Sie dazu?“ „Es wäre nicht das erstemal in der Geschichte dieser Bruchbude“, sagte Lola müde. Sie schwang sich in ihrem Drehstuhl herum, beugte sich vornüber und öffnete die untere Schublade ihres Pultes. Ihre Stimme – die gewöhnlich über die Glaswände hinwegschrillte – wurde gedämpft. „Machen Sie die Tür zu!“ 17
„Warum denn?“ Lola hatte schöne Hände, und die Bewegung ihres Daumens nach der Tür paßte nicht zu ihnen. Ich schloß die Tür. Lola zog aus der unteren Schublade eine Milchflasche! Ich war viel verblüffter, als wenn ich hätte zusehen müssen, wie sie eine Whiskyflasche aus einem Pult zog, das Noble Barclay gehörte. Lolas Ruf war nicht gerade milchig. Sie nahm den kleinen Pappverschluß ab und führte die Flasche zum Munde. Sie machte Grimassen, als schmecke diese Milch abscheulich, die sie auf Verordnung des Arztes trank. Als sie mir die Flasche in die Hand drückte, sah ich mit Erstaunen, daß trotz ihres langen Zuges noch immer die Sahne oben saß. Ich roch, was los war. Lola lachte. „Raffiniert, was? Hat mir einer der Jungens aus der Kunstabteilung gemalt. Er hat sogar einen gelben Strich am oberen Rand gemacht, als ob sich die Sahne abgesetzt hätte!“ Ich gab ihr die Flasche wieder. „Lieber nicht im Büro“, sagte ich. Sie tat die Flasche weg und lehnte sich in ihrem Drehstuhl so weit zurück, daß ich Angst hatte, sie würde hintenüberkippen. „So, nun bin ich wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte“, sagte sie, „nun mochte ich gerne wissen, was das für Prinzipien sind, die Sie so heldenhaft verteidigen wollen!“ „Ich bin hier angestellt, um etwas zu leisten. Als ich zum erstenmal mit Barclay sprach, sagte er, er wollte gerade mich gerne hier haben, weil das, was ich bringe, keine ollen Kamellen seien. Er sagte, ich hätte ein gewisses Etwas, das man bei Kriminalschriftstellern nicht häufig findet. Er wollte, daß ich das Heft aus dem üblichen, 18
ausgefahrenen Geleise höbe und es zu einer hervorragenden Monatszeitschrift machte.“ „Sprechen Sie etwa von .Wahrheit und Verbrechen‘?“ spottete Lola. „Sehen Sie mal“, plädierte ich, „es gibt doch hunderterlei Arten, eine Kriminalgeschichte zu behandeln. Schließlich ist die Kriminalität genauso typisch für den Stand unserer Zivilisation wie unsere Gesetze und unser Sittenkodex. Auch ein Mordfall, hat seine soziale Bedeutung.“ Lola stöhnte. „Na ja, ich wollte nicht pathetisch werden“, sagte ich. „Wie alt sind Sie?“ „Im März werd ich sechsundzwanzig.“ „Armes Lamm!“ Ich werde nicht gern begönnert. „Ich habe keine Illusionen“, sagte ich, „und ich bin nichts weniger als naiv. Ich weiß genau, was für Zeitschriften Barclay herausbringt. Aber ich bin angestellt worden, um etwas frisches Blut in eine stagnierende Zirkulation zu bringen, und der Teufel soll mich holen, wenn ich das nicht fertigkriege!“ „Hat Ihr abgelehntes Manuskript denn irgendeine soziale Bedeutung?“ „Nicht im üblichen Sinne. Es sind ein paar Kommentare drin, die Munn für satirisch hält, aber wenn er und Barclay darauf bestehen, kann ich sie streichen. Was ihnen anscheinend nicht in den Kopf geht, ist mein Versuch, den Lesern einmal etwas Neues, Frisches zu bringen!“ „Und was ist so frisch und neu daran?“ „Der Fall ist in keiner anderen Detektivgeschichte der Sonntagsbeilagen und in keiner Kriminalanthologie gewesen. Denn das ist doch das Malheur mit unserm meis19
ten Material. Es wird immer noch einmal durchgekaut, und das langweilt unsere Leser. Sie sind doch schließlich Fanatiker des Kriminalromans und kennen vermutlich alle guten Mordfälle.“ „Gibt es so etwas? Gute Mordfälle?“ „Der Fall ist nichts Außergewöhnliches, bis auf einen Punkt. Das Opfer. Der Mann war nämlich …“ Lola gähnte. Meine Argumente hatten sie gelangweilt. „Ist die Geschichte so gut, daß es sich lohnt, Ihre Stellung dafür zu verlieren?“ „Warum lesen Sie sie nicht? Dann verstehen Sie, um was es geht.“ „Großer Gott!“ rief sie. „Es ist schlimm genug, das zu lesen, wofür ich bezahlt werde. Ehrlich, Ansell: Warum haben Sie diesen Posten angenommen? In erster Linie, um diesem Schundheft soziale Bedeutung zu verleihen, oder um hundert Dollars pro Woche zu machen?“ „Hundertfünfundzwanzig“, warf ich bescheiden ein. „Die meisten Burschen, die hier herumsitzen, würden hundertfünfundzwanzig Dollars als ausreichendes Prinzip für alles mögliche betrachten!“ „Ich bin nicht zynisch genug, um nicht daran zu glauben, man könne seinen Lebensunterhalt verdienen und dabei doch zu seinen Prinzipien stehen.“ „Na, wenn es die soziale Bedeutung ist, auf die es Ihnen ankommt, dann gehen Sie besser hier weg und versuchen, bei den „Neuen Massen“ anzukommen! Wenn Sie Prinzipien haben, so gehören Sie in eine Dachkammer, wo Sie in Seelenruhe verhungern können. Aber ehe Sie Ihre hundertfünfundzwanzig Zechinen und einen Posten aufgeben, wo Sie mit einer Hand eine Zeitschrift herausgeben und mit der anderen einen Humpen kippen können, sollten Sie erst den Unterschied einsehen zwi20
schen einem Prinzip und dem Wunsch, Ihren Kopf durchzusetzen.“ Lolas Trinken stand sicherlich in direkter Beziehung zu dem Zynismus, mit dem sie ihre Arbeit betrachtete. Natürlich konnte ich sie nicht dafür tadeln, daß sie „Wahrheit und Liebe“ widerlich fand. Lola Manfred hatte früher einmal sehr gute Lyrik geschrieben. Sie legte ihre Hand behutsam auf meinen Arm. „Wissen Sie genau, weshalb Sie ins Feld ziehen wollen?“ „Weil ich es ablehne, mich so behandeln zu lassen.“ Sie schnaubte sich zierlich mit einem schmuddeligen Taschentuch. „Was unterscheidet Sie denn so sehr von den anderen Gefangenen in diesem zentralbeheizten Kerker? Mein lieber Don Quichotte, warum sollten Sie den Luxus Ihres eigenen Kopfes haben, wenn wir andern alle täglich vor Munn Kotau machen und Barclays edle Pranke küssen müssen?“ „Ich habe niemals gesehen, daß Sie diese Riten mitmachen, Lola.“ „Brauch ich auch nicht. Mich können sie nicht rausschmeißen. Denn zufällig weiß ich ein dunkles Geheimnis!“ Die Tür hatte sich leise geöffnet. Jemand stand hinter meinem Stuhl. Aber es war nicht Eleanor. Munns Sekretärin war hereingekommen. Sie lächelte geringschätzig und sagte: „Jetzt können Sie ihn sprechen, Herr Ansell.“ Ich stand auf. Als ich Munns Sekretärin die Tür aufhielt, warf mir Lola eine Kußhand zu. „Kommen Sie wieder, wenn es vorbei ist – hier finden Sie Trost und Stärkung!“ Sie wies mit dem Daumen auf ihre unterste Schreibtischschublade und blinzelte mir zu. „Kommen Sie, kommen Sie“, rief Munn aufgeräumt. „Setzen Sie sich doch bitte! So – ist der Stuhl bequem? 21
Warten Sie, ich ziehe den Schirm etwas herunter – so fällt Ihnen ja das Licht gerade in die Augen.“ Ja, so war Munn, aalglatt und salbungsvoll. Sein Lächeln kam zu bereitwillig, seine Stimme war zu weich. Er liebte sich, er war erfolgreich – ein kleiner Sekretär, der eine große Kanone geworden war. Er hatte den Mund eines Clowns, rot wie Lippenschminke und geschwungen wie ein aufgehender Mond. Wenn er lachte, bewegten sich seine Wangenmuskeln nicht. Es war, als hätte der Mund sein eigenes Leben, unabhängig von seinem Gesicht. Sein Haar war schon ziemlich dünn. Es lief in einer Spitze in die Stirn, aber an den Schläfen wich es zurück. Munn hatte winkelige Augenbrauen und kleine, unruhige Augen. Sein Schreibtisch war sauber aufgeräumt, die Schreibunterlagen fleckenlos und alle seine Papiere in eine Ledermappe eingeordnet, die die Aufschrift „Vorordner“ trug. An der Wand hingen zahlreiche Fotografien mit liebevollen Widmungen Noble Barclays. Er bot mir eine Zigarette an. „Danke, ich rauche keine türkischen“, sagte ich und nahm eine meiner eigenen. Er beugte sich vor, um mir Feuer zu geben. Ich wartete und ließ ihn die Konversation eröffnen. Nach einer Weile sagte er: „Sie wünschten mich zu sprechen, Ansell – was gibt es denn?“ „Sie wissen verdammt genau, warum ich zu Ihnen gekommen bin.“ Ich schwenkte das zerknüllte Mono. „Wir gehen nämlich heute in Druck.“ Er nickte. „Es fällt mir nicht zum erstenmal auf, Ansell, daß Sie bis zum letzten Augenblick warten, wenn Sie eine wichtige Geschichte durchdrücken wollen.“ „Ich? Ich hätte gewartet? Sehen Sie mal, Munn, die Geschichte hat fast drei Wochen lang in Ihrem Büro gelegen. Bitte, sehen Sie sich das Datum auf dem Manu22
skript an. Sie sind ja hier Chef, Sie sind der Chefredakteur und Generalmanager. Warum haben Sie die Geschichte zurückgehalten bis zu dem Tage, an dem sie in Druck gehen soll – und dann lehnen Sie sie mit einem salbungsvollen Memo ab? Wenn es Ihnen auch nicht oft passiert, diesmal fragt Sie jemand nach Ihren Gründen, Munn!“ Munn betrachtete seine Rauchringe, die zur Decke schwebten. „Ich verstehe nicht, über was Sie sich beklagen, Ansell. Die meisten unserer Redakteure finden die Funktion der Organisation durchaus zufriedenstellend.“ „Verdammt, so können Sie mit mir nicht umspringen“, schrie ich, „Sie wissen ganz genau, daß ich das Heft nicht in Druck geben kann ohne ein ‚Ungesühntes Verbrechen‘.“ „Haben Sie keine andere Geschichte, durch die Sie es ersetzen können?“ „Die Illustrationen sind fertig. Die Fotografien sind da.“ „Oh, wir können über Nacht neue machen lassen. Haben Sie kein anderes ‚Ungesühntes‘, Ansell?“ Ich sprang auf. Ich trat vor ihn hin. Ich schlug mit beiden Fäusten auf seinen Schreibtisch. „Aber die Geschichte ist erstklassig. Warum, zum Teufel, wollen Sie sie unterdrücken?“ Er deutete auf das zerknüllte Memo. „Sie kennen ja meine Ablehnungsgründe, Ansell.“ „Aber ich stimme durchaus nicht mit Ihnen überein, Herr Munn.“ „Das bedaure ich, Ansell.“ Draußen im Hauptbüro klapperten die Schreibmaschinen wieder. Links von mir hörte ich ein Lachen – es kam aus der Richtung der „Wahrheit und Liebe“-Redaktion, 23
und ich hätte gern gewußt, ob Eleanor jetzt aus dem Studio zurück war und was Lola ihr erzählt hatte. Ob Eleanor mich auch für einen pathetischen jungen Esel hielt, oder ob sie einen Mann bewunderte, der für sein Recht eintrat? „Sehen Sie mal“, sagte ich in gemäßigtem Unterhaltungstone zu Munn, „ich will, weiß Gott, nicht bockig sein. Sie haben recht, was das Zeug mit den schriftlichen Unterrichtskursen anlangt. Ich mache mir keinerlei Illusionen über den Zweck unserer Zeitschrift!“ „Der Zweck unserer Zeitschrift, Ansell, ist der, Wahrheit auszustreuen, und zwar in einer Form, die den üblichen Geschmack anspricht!“ „Ja, natürlich, Herr Munn. Aber die Inserate…“ „Die Inserate ermöglichen es uns, unsere Zeitschrift zu finanzieren, Herr Ansell. Ohne die Inserate müßten wir auf einer kleineren Basis arbeiten und könnten unsere Botschaft nicht so vielen Menschen verkünden!“ „Das verstehe ich. Und ich erkläre mich durchaus bereit, alle Witzchen über die Briefkurse zu streichen. Ich kann einfach sagen, daß dieser spezielle Kursus ein Schwindel war, nicht in einem Atem zu nennen mit den Lehrinstituten,, die in unseren unbestechlichen Blättern inserieren.“ Ich sah sofort, daß ich einen Fehler begangen hatte. Humor jeder Art machte Herrn Munn nur nervös. Er nahm alles buchstäblich, und jede Bemerkung, die einen Mangel an Ehrfurcht vor Noble Barclay oder den „Wahrheits“-Publikationen andeutete, war für ihn eine persönliche Beleidigung. Ich beeilte mich, meinen Scherz abzuschwächen. „Sehen Sie“, sagte ich, „was den Alkohol betrifft, können Sie wirklich nicht auf Ihrem Recht beharren. Wie können 24
wir in unserem Text so tun, als ob es keinen Alkohol gäbe, wenn drei von unseren Zeitschriften laufend Weininserate bringen?“ „Ich fürchte, Sie waren nicht zugegen bei der Konferenz, in: der wir diese Sachlage besprachen.“ „Immerhin ist mir der Artikel in .Wahrheit und Gesundheit‘ nicht entgangen, in dem erklärt wird, Wein, in mäßigen Mengen zu den Mahlzeiten genossen, sei vitaminhaltige Nahrung und heilsam gegen die Gier nach stärkeren Getränken. Und in der nächsten Ausgabe der ‚ Wahrheit‘, so hörte ich wenigstens…“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie so vertraut mit den Veröffentlichungen unserer anderen Zeitschriften sind!“ „Eine so drastische Äußerung in der Politik eines Verlages geht nicht unbemerkt vorbei. Sehen Sie, Herr Munn…“ „Sehen Sie, Herr Ansell. Ich bin erstaunt, daß Sie als berufsmäßiger Schriftsteller die englische Sprache in dieser Weise verunglimpfen. Sie fordern mich auf, zu sehen! Was soll ich denn sehen? Würden Sie nicht besser das Verb hören gebrauchen?“ Ich wurde wütend. Mit Munn konnte man nicht argumentieren. Er war immer So – er wich vom Hauptthema ab und lenkte das Gespräch auf Nebensachen. „Also hören Sie – wenn Ihnen das lieber ist –, ich erwähne nur ziemlich nebenbei, daß im Glase des Opfers Alkohol war. Ich werde nicht einmal sagen, welche Art von Alkohol!“ „Halten Sie das für vereinbar mit unserer Politik: strikteste Wahrheit in jeder Einzelheit?“ „Also gut, ich werde jeden Hinweis auf Alkohol in der Geschichte vermeiden. Er hat ja sowieso nichts mit dem Mord selbst zu tun. Sind Sie dann zufrieden?“ 25
Er drückte seine Zigarette aus und rollte den Stummel auf dem Boden des Aschenbechers hin und her, bis das Papier leer war.. Dann knüllte er es zu einem winzigen Ball, warf ihn in den Papierkorb und schüttete Tabakreste und Asche in eine gut schließende Zinndose. „Mir ist der Geruch von schalem Tabak zuwider“, sagte er und wischte sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab, das er aus der Schublade seines Schreibtisches zog. „Wir sprachen von meinem Manuskript“, erinnerte ich ihn, „das ‚Ungesühnte Verbrechen‘, der Mord an Warren G. Wilson. Erinnern Sie sich zufällig?“ „Für mich ist das Gespräch darüber beendet.“ Das war der Punkt, wo ich eigentlich aufgeben mußte. Ich wußte, daß Lola recht gehabt hatte. Es war nicht das Prinzip, für das ich kämpfte, es war die Autorität. Nun, gleichviel – ich kämpfte weiter. „Für mich aber nicht!“ „Kompromisse sind zwecklos, Ansell. Muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie Ihre und meine Zeit verschwenden? Die Geschichte ist abgelehnt. Definitiv.“ Ein langes Schweigen entstand. Er hatte mich entlassen und erwartete nun das Schauspiel meines Rückzuges. Ich aber saß fest. Wer war er, dieser Edward Everett Munn, daß er mich hinauswerfen konnte? Einen Augenblick hatte ich geschwankt und um ein Haar alles hingeschmissen. „Sehen Sie, Munn“, sagte ich, und als er die Stirn runzelte, nahm ich mir nicht die Mühe, das Verb zu ändern. „Ich habe Ihnen angeboten, alles zu streichen, wogegen Sie Einwände haben. Selbst ohne meine Nuancen, die der Geschichte meines Erachtens Qualität geben, bieten wir unseren Lesern damit etwas Neues. Ich werde sofort die Striche machen und Ihnen gegen Mittag das Manuskript 26
schicken. Wenn Sie dann gleich Ihr Okay daruntersetzen, kann es nach Tisch in die Druckerei.“ „Und wenn ich es ablehne?“ „So werde ich es doch in der Nummer bringen. Als Redakteur trage ich selbst die Verantwortung.“ Er erhob sich. Solange er saß, schien er sehr unbedeutend, weil er einen kleinen Kopf und schmale Schultern hatte, aber sobald er auf seinen unglaublich langen Beinen stand, sah er aus wie ein bejahrter Knabe auf Stelzen. „Nun gut – dann bleibt uns nur eins übrig. Wir müssen den Fall Herrn Barclay vortragen.“ Als ich mit Munn durch das Hauptbüro ging, hörte keine Schreibmaschine auf zu klappern. Nicht eine Sekunde wurde der Arbeitsrhythmus unterbrochen. Wenn Munn in der Nähe war, herrschte eiserne Disziplin. Er ging voran, der Hirte, der sein Lamm zur Schlachtbank führte. An der Tür von Barclays Büro blieb er stehen und lehnte sich vor, um mir etwas zuzuflüstern. Sein Atem roch nach Pfefferminzmundwasser. „Haben Sie nie überlegt, Ansell, daß Ihr Eigensinn Ihnen verhängnisvoll werden kann?“ Das hatte ich natürlich überlegt. Aber das „Verhängnis“, an das ich dachte, war nur der Verlust einer guten Stellung – nicht die Tragödie, die ich ins Rollen brachte durch meinen Entschluß, mein „Ungesühntes Verbrechen“ in die Februarnummer zu bringen. Damals hielt ich den Fall Wilson für gar nichts Außergewöhnliches. Der Mord war nicht besonders aufregend. Es war das Milieu des Opfers – soviel davon bekannt war – das mich interessierte. Ich hatte keinen anderen Grund als diesen, die Geschichte zu schreiben, sie für die Februarnummer anzusetzen und sie zur Genehmigung an Noble Barclay zu schicken. 27
Ich habe bei meinen Akten noch das Manuskript, und da es der Angelpunkt für eine weit seltsamere Geschichte ist, will ich es hier wiedergeben, genau so, wie ich es niedergeschrieben und am 5. November an die Prüfstelle respektive den Generaldirektor und Verleger Noble Barclay eingereicht hatte. 5. 11. 45 Ausgabe: Februar Autor: John Miles Ansell DAS UNGESÜHNTE VERBRECHEN DES MONATS Der Tod eines Mannes, der nie geboren worden war Sie sahen die Leiche nicht sofort. Sie lag mit dem Gesicht nach unten in dem schmalen Gang zwischen Bett und Wand. Der rechte Arm war ausgestreckt. Der Mann war offenbar gefallen, während er nach dem Telefon gegriffen hatte. Es war ein Sonntagmorgen – 9 Uhr, am 13. Mai 1945. Der Tote mußte schon seit Freitag Nacht dort gelegen haben, denn am Samstagmorgen hatten das Stubenmädchen, die Badefrau und der Laufjunge an der Tür das Schild Nicht stören! gesehen. Sonntag früh war das Schild noch immer da. Das Zimmermädchen hatte es der Wirtschafterin mitgeteilt. Die Wirtschafterin hatte den Portier angerufen. Der Portier hatte Herrn Frederick Semple, dem Manager des Hotels, Bericht erstattet; von dem Portier, der Wirtschafterin und dem Zimmermädchen begleitet, war Herr Semple zur Tür des Appartements 3002– 4 gegangen. Ehe er den Hauptschlüssel benutzte, hatte er auf den Knopf der 28
elektrischen Klingel gedrückt, hatte geklopft und den Namen seines Mieters gerufen. Als keine Antwort kam, betrat Herr Semple, gefolgt von seinem Stabe, die kleine Wohnung. Die zugezogenen Gardinen schlössen das Sonnenlicht aus. In drei Wandlampen mit Seidenschirmen brannten die Birnen. Der Motor des elektrischen Grammophons brummte leise. Auf dem einen Ende der breiten Couch waren die Kissen aufgestapelt, und dicht daneben stand ein Tischchen mit Zigaretten, französischem Brandy und einem Siphon. Hinter dem Raum führte ein kurzer Gang zu Schlafzimmer und Bad. Das Bett war aufgedeckt, auf dem Nachttisch lagen eine Brille in Schildpattfassung, eine Ausgabe der Kurzgeschichten von Saki und eine flache goldene Uhr, die um fünf Uhr zwanzig stehengeblieben war. Hinten im Zimmer war ein umgestürztes Pult. Eine Reiseschreibmaschine lag auf ihrem Wagen, die Füße empor gestreckt wie ein hilfloses Tier. Federhalter, Bleistifte, Papier und Kohlepapier waren auf dem Pult und auf dem Boden verstreut. Und in dem schmalen Gang zwischen Bett und Wand lag der Inhaber des Appartements mit einer Kugel im Rücken. Eine Stunde später berichtete Herr Semple – er zitterte noch von dem Schrecken und aus Angst vor der Wirkung des Skandals auf die konservativen Geldleute, denen das Hotel gehörte – der Polizei alles, was er von seinem verstorbenen Mieter wußte. Sein Name war Warren G. Wilson, und nichts in seiner Lebensweise hätte ein gewaltsames Ende vermuten lassen. Seit fünf Jahren wohnte er in dem Appartement, und niemals war in dieser Zeit etwas vorgefallen, was dem Manager eines vornehmen Hotels Kopfzerbrechen 29
bereitet hätte. Die Dienstboten gedachten seiner Großmut und betrachteten seinen Tod als den Verlust eines Freundes. Er hatte die meiste Zeit in seiner Wohnung zugebracht und im Bett oder auf der Couch liegend sehr viel gelesen oder seine Grammophonplatten gespielt. Die Ursache zu dieser untätigen Lebensweise war nach dem Bericht des Coroners eine Krankheit. Blasses Fleisch spannte sich dünn über die Knochen des Toten, und die Lungen waren voller Narben; es war geradezu erstaunlich, daß er so lange gelebt hatte, bis eine Kugel aus einem 22er Revolver seinem Leben ein Ende setzte. Nur selten waren Besucher zu ihm gekommen. Die Hotelangestellten erinnerten sich an Herrn Thornbill, Herrn Hennig und Herrn Bendas – ältliche Herren, die Wilsons Steckenpferd, das Sammeln von Erstausgaben, teilten. Eine Frau… Ja, eine Frau war auch dagewesen. Sie war nur selten ins Hotel gekommen und hatte niemals ihren Namen hinterlassen, weil sie nur zusammen mit Herrn Wilson kam, wenn sie außerhalb gespeist hatten. Zwei Liftboys sagten aus, sie sei hübsch gewesen, aber keiner wußte, ob sie blond oder brünett war. In der Nacht seines Todes hatte Wilson zwar in der Stadt gegessen, war aber ohne Gesellschaft zurückgekommen. Während er an seinem französischen Brandy nippte und seine Lieblingsplatten spielte, hatte in dem Appartement auf der anderen Seite der Halle ein Negerpianist Boogie-Woogie gespielt. Denn an diesem Abend gaben Wilsons Nachbarn – die einzigen, die den dreißigsten Stock des Turmes mit ihm teilten – eine Gesellschaft. Mehr als sechzig Menschen fuhren mit dem Lift zum dreißigsten Stock. Die Fremden wurden nicht nach ihrem Namen gefragt, denn die Gastgeberin in 3006–8 30
hatte dem Portier ausdrücklich Bescheid gegeben, daß er die Gäste nicht anzumelden brauche. Beim Portier hatte sich an diesem Abend kein Fremder gezeigt, der nach Herrn Wilsons Appartement fragte. Der Mörder hatte anscheinend gewußt, daß sein Opfer die Räume 3002–4 bewohnte. Für die schwerbeschäftigten Liftboys gehörten alle Gäste, die nach dem dreißigsten Stock wollten, zu der eingeladenen Gesellschaft; nur ein Liftboy, der erst seit einer Woche angestellt war und die Hotelgäste und ihre häufigeren Besucher nicht kannte, erzählte der Polizei, daß er sich an eine nervöse Dame erinnere, die ihre Handtasche fallen ließ, als sie im dreißigsten Stock ausstieg. Er hatte sich gebückt, um sie aufzuheben, aber die Dame sei selbst nach unten getaucht, habe die Tasche ergriffen und in höchst kriegerischer Weise unter den Arm gestopft. Der Junge besann sich nur, daß sie einen schottischen Mantel trug. Die Gastgeberin in 3006–8 konnte sich aber an keine Dame im schottischen Mantel erinnern. Sie hatten eine ziemlich offizielle Gesellschaft gegeben, und da wäre ein schottischer Mantel ebenso deplaciert gewesen wie ein Zylinder bei einem Fußballspiel. Daher meinte die Polizei, der karierte Mantel könne vielleicht helfen, die Dame zu finden. Es war keine deutliche Spur, denn schottische Mäntel waren 1945 die große Mode. Um die Nachforschungen noch mehr zu erschweren, wichen die Aussagen von Jean Pierre Hyman und seinem Oberkellner Gustav stark voneinander ab. Herr Hyman ist der Inhaber des französischen Restaurants, das so viele Feinschmecker in sein bescheidenes, aber teures Lokal in der Zwölften Straße, Ostseite, zieht. Jean Pierre erinnerte sich an die Dame, die manchmal mit Herrn Wilson bei ihm gespeist hatte. Sie war jung und hübsch gewesen, 31
und bei ihrem letzten Besuch, zehn Tage vor Herrn Wilsons bedauerlichem Tod, hatte sie einen neuen Früh Jahrsmantel getragen – rot-blau-grün kariert. Sie war nach Jean Pierres Aussage eine zarte Blondine. Obwohl er seinem Chef nicht gern widersprach, bestand der Oberkellner Gustav auf seiner Aussage, daß Wilsons junge Freundin eine biegsame, strahlende Brünette mit seelenvollen dunklen Augen gewesen war. Nur in einem Punkte waren sich Jean Pierre und Gustav einig: Herr Wilson war nur mit der einen jungen Dame gesehen worden. Captain C. Allan Riordan vom Detektivdienst schwor, er wolle nicht ruhen, ehe er die Dame im karierten Mantel gefunden habe, die am Abend des 11. März einen 22er Revolver in ihrer Handtasche trug – oder nicht trug. Inzwischen suchten Captain Riordan und sein Stab andere Informationen. Irgendwo in dem fruchtbaren Boden von Warren G. Wilsons Vergangenheit mußte eine Spur zu seinem tragischen Tode führen. Warum wurde er, ein Mann von überzarter Veranlagung und ruhigen Lebensgewohnheiten, das Opfer eines vorsätzlichen Mordes? Welche Rache, welcher Haß konnten den Tod eines Mannes ersonnen haben, den man als Kenner von Weinen und Salaten schätzte, der ein Bewunderer von Prokofjew, Debussy, Mahler, Saki und William Blake war? Eine Tatsache aus Wilsons Leben machte Riordan ebensoviel Kopfzerbrechen wie die Identität der Dame in Schottisch. Niemand kannte die Quelle von Wilsons Einkommen. Am zweiten Tage eines jeden Monats hatte er auf sein Konto zweitausend Dollar in bar eingezahlt. Das war im höchsten Grade seltsam, aber die Bankiers hatten Wilson keine Fragen gestellt. Seit der 29er Depression 32
gab es eine Menge exzentrischer Inhaber von Bankguthaben, die ihre Papiere in Bargeld umgewandelt hatten. Auf ihrer Suche nach irgendeiner Spur, die zu Wilsons Tod führte, erforschten Riordans Leute jedes bekannte Winkelchen seines Lebens. Sein Friseur, sein Schneider, seine Freunde unter den Sammlern von Erstausgaben wurden befragt. Keiner hatte ihn sehr lange gekannt, und keiner wußte, woher er kam. Einige erinnerten sich, daß er von Arizona gesprochen hatte, von Neu-Mexiko, von der Wüste, und die Polizei entdeckte, daß er einmal in Chicago gearbeitet hatte. Ganz unten in einer Ecke des Bücherschrankes fand Riordan eine seltsame Spur. Zwar keine Todesspur, sondern eher einen Hinweis auf die sonderbare Geburt von Warren G. Wilson. Er war nämlich überhaupt nicht geboren worden. Vor mehr als zwanzig Jahren wurde er in einer Nachtbar in Chicago über einer Flasche geschmuggeltem Martini ausgebrütet! Diese Geburtsspur, die Riordan auf dem Boden des Bücherschrankes fand, bestand aus einer Reihe einzelner Blätter in einem Hefter, der die Aufschrift trug: DURCH INNERE TRIEBKRAFT ZUM ERFOLG! Wie man als Verkäufer, Kaufmann und Finanzier eine Kanone wird von WARREN G. WILSON Das war der anspruchsvolle Titel eines Kurses in dreißig Briefen, die in geschlossenen Umschlägen unter dem Absender „Privatbüro Warren G. Wilson“ verschickt wurden. Warren G. Wilson GmbH, Chicago, Illinois. Der 33
Kursus kostete fünfundsiebzig Dollar, und die Schüler zahlten sie in Monatsraten von fünf Dollar für je zwei Lektionen. Die dreißigste Lektion umfaßte ein weites Feld verschiedenster Gegenstände, vom abstrakten Material, wie innerer Triebkraft im Geschäftsleben, bis zum praktischen Rat betreffs der persönlichen Erscheinung. Am meisten interessierte sich die Polizei für die Seiten der „Erinnerungen“, in denen Warren G. Wilsons Rat an seine Schüler reich mit Goldklumpen einer Weisheit durchsetzt war, die er aus seinen Unterhaltungen mit großen Tieren gesammelt hatte. Bestimmt war unter den Großbankiers und Finanzmagnaten, von denen er mit soviel Intimität berichtete, der eine oder der andere, der sich seiner erinnerte und eine Spur zu seinem früheren Leben aufdecken konnte. Aber Wilsons sämtliche Größen waren längst vor dem Jahre seines Copyrights gestorben. Wer war Wilson? Der Name hatte einen irritierend familiären Klang. Selbst Captain Riordan, der den Fall zuerst übernahm, bemerkte, er erinnere ihn an etwas. In seinen Bemühungen, herauszufinden, was zwischen den Jahren des Copyrights und des Mordes mit Wilson geschehen war, schickte Riordan seine Leute an eine Stelle, die diesen bisher ziemlich fremd war – in die Öffentliche Bibliothek. Dort fanden sich in Zeitschriften, die zwischen 1920 und 1922 erschienen waren, Inserate seines Briefkurses. Diese Annoncen setzten den Ruhm Warren G. Wilsons als so bekannt voraus, daß jeder, dem der Name fremd war, sich seiner Unwissenheit geschämt hätte. Und aus diesen Inseraten in populärwissenschaftlichen Gesundheits- und Erfolgsmagazinen 34
und monatlichen Journalen, die der Selbsterziehung gewidmet waren, führte die Spur nach Chicago zurück. In den zwanziger Jahren war Chicago nicht nur die Weltzentrale für Alkoholschmuggel und Gangstertum; es war die Achse des Postauftraggeschäftes, das Athen der Korrespondenzkurse, die Hochburg einer Ausbildung, die von Weisen geleitet wurde, welche die Kunst des Humbugs und die Wissenschaft der Ratenzahlungen gründlich studiert hatten. Für fünf Dollar Anzahlung und fünf Dollar jeden Monat boten sie Belehrung jeder Art – vom Ballettanz bis zur psychiatrischen Heilung. Sie wurden nicht als Hochstapler betrachtet, sondern als legale geschäftliche Institute, und die Post der USA war ihre Handelsbasis. Jedes Inserat enthielt eine Garantie. Man lernte, was der Meister lehrte, oder erhielt sein Geld zurück. Warren G. Wilson garantierte den Erfolg nicht; er versprach, daß man jeden bezahlten Cent zurückbekäme, wenn man nicht „innerhalb von sechs Monaten nach der ‚vollständigen Absolvierung‘ des Kurses sein Einkommen erhöht und seine Stellung verbessert“ hätte. Das war der übliche Trick der Korrespondenzschulen. Nur wenige kindliche Seelen verlangten Zurückerstattung. Noch weniger absolvierten ihre Kurse vollständig. Die Lektionen waren durch die Innerstaatliche Handelskommission und die „Better-Business-Büros“ sanktioniert und erhielten die Genehmigung zur postalischen Abwicklung, weil sie tatsächlich gewisse konkrete Einzelheiten enthielten. Wilsons Kurs umschloß außer der Instruktion über die raschen, leichten Wege zum großen Erfolg noch Schönschreiben, doppelte Buchhaltung, Maschineschreiben, einfache Kurzschrift, Versicherungstabellen, Tarifregulierungen und Zinsrechnung. 35
Die Nachforschungen ergaben, daß die Warren-G.Wilson-GmbH, die ihren Schülern Erfolg garantierte, selbst ein finanzielles Fiasko war. Die ersten Inserate waren 1920 erschienen, und 1922 wurde das Büro geschlossen. Durch die Akten einer Zeitschrift, in der Wilsons Kurse angezeigt waren, entdeckte Captain Riordan den Namen der Agentur, die diese Inserate aufgegeben hatte. Es war ein Einmannunternehmen, und der Inhaber, jetzt Vizepräsident einer sehr angesehenen New-Yorker Reklamegesellschaft, erzählte Riordan alles, was er über Wilson wußte, bat aber seines Rufes wegen, sein Name möge nicht in die Geschichte hineingezogen werden. Dieser Mann, der ehrbare, aber namenlose Anzeigenagent, entsann sich der sorgsamen und gut bedachten Auswahl des Namens Warren G. Wilson. 1920 glaubten manche Amerikaner, Woodrow Wilson sei einer der großen Märtyrer im Weißen Haus, andere glaubten, er habe das Land ins Unglück gestürzt, und Warren G. Harding würde es retten. Der Verfasser der Lektionen, Inhaber des Geschäftes, sogenannter Präsident der GmbH, war ein junger Bursche aus dem Westen namens Homer Peck. Peck hatte in einer Anzeigenagentur gearbeitet. Er war dort eine Glanznummer gewesen, hatte viel Erfolg gehabt, und ältere Anzeigenvertreter hatten ihm eine große und goldene Zukunft prophezeit. Aber Peck verlangte mehr als Prophezeiungen und Versprechen. Als seine Chefs ihm eine Gehaltserhöhung verweigerten, gab er seinen Posten auf und machte sich selbständig. Bei einigen Cocktails, die in Teetassen serviert wurden, hatte Peck seinem Freund, dem Inseratenmann, die Grundlinien seiner Idee für Korrespondenzkurse entworfen. Kei36
ner von ihnen hielt das Geschäft für faul. Beide hatten sich ihre Sporen auf dem Gebiet der postalischen Erziehung verdient, indem sie die Inserate von allerlei Schulen für Ingenieurbüros, Farmen auf wissenschaftlicher Grundlage, Plakatmalen und Filmeschreiben entworfen hatten. Von Pecks persönlichem Leben wußte der Anzeigenmann wenig. Peck hatte in einem billigen Zimmer auf der Nordseite im Künstlerviertel gewohnt, das an Chicagos sogenannte „Goldküste“ angrenzt, hatte Kurzgeschichten geschrieben, die niemand veröffentlichen wollte, und hatte eine Liebschaft mit einer Sekretärin, einem schlanken, bildschönen Mädchen gehabt, das Lyrik schrieb. Der Anzeigenmann hatte Pecks Genialität bewundert, hatte ihn ein adleräugiges Genie genannt und erwartet, daß er ein Vermögen machen würde. Er war überrascht – so berichtete et –, als Peck sich plötzlich entschloß, das Einzimmerbüro aufzugeben, das den stolzen Namen „Warren G. Wilson GmbH ‚Die eigene Kraft‘ “ führte. Mit ein wenig Arbeit und ein paar tausend Dollar zum Zusetzen, so meinte der Anzeigenmann, hätte die GmbH florieren müssen. Aber Peck war nach der Ansicht des Anzeigenmannes zu genial, um sich wirklich um das Geldverdienen zu bemühen. Er hatte zuviel Freude an seinen Ideen, um jemals einen soliden Geschäftserfolg zu erringen. An dem Tage, als er sein Büro zumachte, hatte er mit seinem Freunde geluncht. Das Fiasko hatte ihn durchaus nicht bedrückt. Er war höchst optimistischer Stimmung. Er hob seine Teetasse mit Martini und brachte einen Toast aus auf sein nächstes Unternehmen, gegen das, wie er versprach, der Exgigant der Finanz, Warren G. Wilson, nicht größer als ein Wurm unter dem Pflaster der Wall Street 37
erscheinen würde. Er löste das Versprechen niemals ein. Der Anzeigenmann trank keinen Cocktail mehr mit Homer Peck und hörte, mit Ausnahme einiger Rechnungen, die er noch für ihn bezahlen mußte, nichts mehr von Warren G. Wilson, bis er die Nachricht von seiner Ermordung las. Das ist alles, was die New-Yorker Polizei über Homer Peck in Erfahrung brachte. Ein Chicagoer Bankkonto, das im November 1922 aufgelöst wurde, einige Anzeigen in alten Zeitschriften, die Erinnerungen eines Anzeigenfachmannes an die Fehlschläge eines Kollegen – mehr nicht. Wer war der Tote? Welche seltsamen und geheimnisvollen Ereignisse führten zum Tode dieses Menschen, der niemals geboren worden war? Was wurde aus Homer Peck, dessen beweglicher, doch nicht allzu skrupulöser Geist den sagenhaften Warten G. Wilson erschuf? Und an welche Stelle dieses Geheimnisses gehörte das Mädchen – dieses Mädchen, das weder blond noch brünett ist und das an dem Abend, als Wilson starb, zum dreißigsten Stock hinauffuhr? Das sind die Fragen, auf welche die Polizei eine Antwort sucht, die einzigen bekannten Tatsachen über einen Mord, der im Mai begangen wurde und bis heute ungeklärt ist. Der Fall ist nicht abgeschlossen. Captain Riordan ist eisern entschlossen, das Rätsel zu lösen. Das war der Fall Wilson, nicht mehr als eine Geschichte in einer langen Reihe „Ungesühnter Verbrechen“. Vielleicht war es töricht von mir, daß ich mich so dafür einsetzte, sie in die Februarnummer zu bringen. Vielleicht sind mir auch Feinheiten entgangen. Ich hatte damals keine Ahnung, daß jemand vermutete, ich wisse 38
mehr, als ich in den Manuskripten niedergeschrieben hatte. Als ich E. E. Munn den Korridor entlang zu Barclays Büro folgte, dachte ich, ehrlich gesagt, nur daran, meine Rechte als Redakteur zu verteidigen. Wir mußten im Empfangsraum eine Weile warten, ehe Barclay uns rufen ließ. Seine Sekretärin, Grace Eccles, beschenkte uns mit dem gnädigsten Lächeln, das für die Bevorzugten reserviert war, die das Privatbüro betreten durften. „Es wird sofort soweit sein“, sagte sie. „Der Senator ist gerade am Telefon.“ Sie huschte wieder in die glasumschlossene Höhle, die Barclays Zurückgezogenheit hütete. Wir blieben mit ein paar Fremden im Empfangszimmer. Der Raum hatte eine gewisse Atmosphäre – einen Hauch feudaler Größe. An den eichengetäfelten Wänden hingen Bilder von Noble Barclay und seiner Familie. Auf dem großen eichenen Refektoriumstisch waren die laufenden Nummern der fünf Zeitschriften ausgelegt – „Wahrheit“, „Wahrheit und Gesundheit“, „Wahrheit und Liebe“, „Wahrheit und Verbrechen“ und „Wahrheit und Schönheit“. Auf der Samtdecke eines kleineren Tisches lag ein einziges Exemplar von „Mein Leben ist Wahrheit“. Neben dem ansprechenden Porträt Barclays auf dem Schutzumschlag stand die Information, dies sei Exemplar Nr. 6 182 454 des unsterblichen Werkes von Noble Barclay. Bücherschränke enthielten jede der sechsundsiebzig Auflagen in sechzehn Sprachen, einschließlich Japanisch. Die Besucher saßen geduckt und demütig auf der geschnitzten italienischen Bank an der anderen Seite des Raumes. Sie waren zu fünft, schäbig und sehr verlegen. Eine ältliche Frau mit einem Jungen von elf oder zwölf, dem die Nase schrecklich lief; ein Ehepaar, das dasaß, als 39
bezahle es seinen Platz auf der unbequemen Bank; ein Buckliger, der als Entschädigung für seine Häßlichkeit ein unterwürfiges Grinsen bot. So sahen die echten Gläubigen aus, die den ganzen Tag lang auf der harten Bank saßen, um einen Blick von Noble Barclay zu erhaschen. „Herr Barclay läßt bitten“, gurrte Fräulein Eccles. Sie drückte auf einen Knopf, das Vexierschloß an Barclays Tür schnappte auf, und die Fremden starrten neidvoll auf uns, die zum Heiligtum zugelassen wurden. Barclay stand am Fenster und sah hinab auf die verregnete Straße. Sein Rücken war der Tür zugekehrt. Wir gingen bis in die Mitte des großen Raumes, aber ein dicker Teppich machte unsere Schritte unhörbar. Ich räusperte mich. Munn runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, aber es war zu spät. Barclays Meditationen waren unterbrochen worden. Er wandte sich um. „Hallo, Ed!“ sagte er zu Munn. Dann kam er mit ausgestreckter Hand auf mich zu: „Freut mich, Sie zu sehen, mein Junge. Setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?“ Er war groß und leutselig. Seine Züge unter einer Mähne schlichten weißen Haares waren sonnengebräunt und kräftig; sein Anzug war derb, aber Barclay war für starke Stoffe gebaut. Die schwere Wolle verbarg die Kraft seiner Schultern nicht. „Sie kommen doch wegen der Wilsongeschichte?“ fragte er und sah mir gerade ins Gesicht. Munn hatte vorgegeben, er wüßte nicht, warum ich in sein Büro gestürzt kam. Barclay war es gewohnt, mit offenen Karten zu spielen. „Ich dachte mir schon, daß diese Sturmschwalbe mit ihren Flügeln an mein Fenster schlagen würde.“ „Sie wissen also darüber Bescheid, Herr Barclay?“ „Ich habe die Geschichte gelesen. Großartiger Stoff, 40
mein Junge. Gut erzählt. Fragen Sie Ed, was ich gestern Abend darüber gesagt habe.“ Sein Blick verlangte die Bestätigung, und Munn entblößte seine Zähne mit einem gekünstelten Lächeln. „Ich wollte selbst mit Ihnen sprechen, aber ich bin heute spät ins Büro gekommen. Meine Frau und die Zwillinge kamen von der See, und ich mußte zum Bahnhof, um sie abzuholen.“ „Ich verstehe nicht, Herr Barclay – wenn Ihnen die Geschichte gefallen hat…“ „Gefallen? Die Geschichte war einfach großartig. Fabelhaft geschrieben. Witz und Schneid. Und es hat mir imponiert, wie Sie sich selbst Ihren Stoff gesucht haben. Sie begnügen sich nicht damit, einfach etwas längst Gedrucktes nachzuschreiben; Sie wollten selbst sehen, wo der Hund begraben liegt. Das ist der Geist, den wir zu schätzen wissen, mein Junge!“ „Lassen Sie uns zur Sache kommen“, sagte ich. „Sie halten die Geschichte für gut, aber Herr Munn sagt, wir können sie nicht bringen. Er hat Ihnen ein Memo geschickt. Haben Sie es gelesen? Sind Sie damit einverstanden?“ „Sachte, sachte!“ lachte Barclay. „Munn und ich haben alles besprochen – gestern Abend schon, ehe er das Memo diktierte. Ich hätte mich einfacher ausgedrückt, aber Ed kann den Kursus in Geschäftssprache nicht vergessen, den er absolviert hat.“ Das war ein Hieb. Barclay blinzelte mir zu. Munn lachte mechanisch. „Ich verstehe Sie trotzdem nicht, Herr Barclay.“ „Politik“, warf Munn ein. „Waren wir nicht übereingekommen, daß Sie einen bekannteren Mordfall nehmen? Dot King oder Elwell – sozusagen historisch, nicht wahr?“ sagte Barclay. 41
„Unsere Leser kennen diese Geschichten auswendig.“ „Diesen Einwand machten Sie schon bei unserer letzten Konferenz, aber er wurde überstimmt, wie Sie sich erinnern werden.“ „Ich faßte es so auf, daß wir auf die alten Geschichten zurückgreifen, wenn wir nichts Besseres haben. Nun habe ich aber eine neue Geschichte für Sie zu fassen gekriegt.“ „Ich bewundere Ihre Initiative“, sagte Barclay. Die Mittagsglocke läutete. Ob Eleanor wohl ausging zum Essen oder ob der Regen sie im Hause festhielt? „Ich will nichts weiter, Herr Barclay, als einen triftigen Grund, warum Sie etwas gegen den Fall Wilson haben“, sagte ich ernst. Munn spielte mit seiner Zigarettendose. In Barclays Gegenwart rauchte er nicht. Barclay räusperte sich. „Mir gefällt die Art, wie Sie eine Geschichte anpacken, John, aber bei dieser gefallen mir gewisse Einzelheiten nicht. Am meisten die Hauptperson, der Mann, der ermordet wurde. Das Publikum interessiert sich nur für Geschichten, deren Hauptpersonen fesselnd sind.“ „Meinen Sie nicht, es ist etwas Interessantes an einem Mann, der jeden Monat zweitausend Dollars bekommt, ohne die geringste Arbeit dafür zu leisten?“ „Wenn man die Quelle kennen würde, könnte es interessant sein“, antwortete Barclay. „Hintergrund und Farbe, die Unterwelt zum Beispiel. Etwas Bewegtes.“ „Eine kostspielige Junggesellenwohnung am Rande von Greenwich Village“, sagte ich, „eine mysteriöse Frau, die in einem teuren französischen Restaurant mit dem Mann diniert. Ist das etwa farblos?“ „Der Mann selbst. Der Charakter. Charakter ist die 42
Basis des Interesses in jeder Geschichte. Dieser Mensch – wie heißt er doch? Thompson? Thompson war langweilig. Er wußte nichts aus seinem Leben zu machen. Niemand machte sich etwas daraus, ob Thompson lebte oder starb.“ „Wilson“, sagte Munn. „Sehen Sie, Herr Barclay“, bat ich, „wir haben fünf verschiedene Versionen des Falles Rothstein gebracht. Rothstein war ein Spieler. Er fragte nur nach Geld. Er war grausam, roh, gierig, und wir wußten überhaupt nichts über seinen Charakter. Auch Elwell war ein Spieler, und er…“ „Sie haben immerhin etwas mit ihrem Leben angefangen, etwas Aktives, obwohl sie ausschweifend waren. Thompson war ein Nichtstuer. Er verbrauchte sein Geld für verstaubte alte Bücher. Er hatte keine Freunde, keine Frau, die ihn liebte.“ „So? Und die Dame im schottischen Mantel?“ Munn hustete. „Es ist sonderbar“, sagte ich. „Sie sagen gerade zu mir, Wilson sei ein uninteressanter Charakter, aber wenn Sie von ihm sprechen – auch wenn Sie seinen Namen vergessen haben –, werden Sie so ärgerlich, als wenn er lebte und Sie etwas gegen ihn hätten.“ Barclay lachte. „Was sagst du zu diesem Burschen, Ed? Hut ab vor solcher Zähigkeit! Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß Sie zu der Sorte gehören, die wir für unsere ‚Wahrheits‘-Veröffentlichungen brauchen.“ „Sie wollen die Geschichte also bringen?“ „Nein.“ „Na, dann wäre der Fall wohl erledigt“, sagte Munn. Sein roter Clownmund krümmte sich im Triumph. Ich war ärgerlich. Barclay hatte mir geschmeichelt, 43
hatte mir gesagt, daß ich ein Genie, ein Mann aus Eisen sei. Und dafür erwartete er, daß ich kuschte und schweifwedelnd meine Niederlage hinnahm. Das paßte mir nicht. Stellung oder nicht – ich mußte den Grund für meine Niederlage wissen. „Es kommt mir so vor, Herr Barclay, als hätten Sie und Herr Munn andere Gründe zur Ablehnung dieser Geschichte – etwas, was ich nicht wissen soll.“ Munn ließ seine Zigarettendose fallen. Barclay sprach in sein Tischtelefon. „Sagen Sie dem Senator, ich käme ein paar Minuten später.“ Er hängte ab und wandte sich zu mir. Er sagte: „Wie lange arbeiten Sie für uns, Ansell?“ „Seit viereinhalb Monaten.“ „Soso. Vier Monate. Und ich gebe diese Hefte rund zwanzig Jahre heraus. Munn arbeitet fast ebensolange bei mir. Wollen Sie nach drei Monaten sich anmaßen, mir zu sagen, Sie verstünden mehr vom Geschäft als ich?“ „Vergessen Sie den Krieg nicht. Die Leute, die ein Land in den Krieg gezogen haben, beantworten jede Kritik mit der Feststellung, sie regierten das Land schon hübsch lange und verstünden mehr davon als diejenigen, die sie davor warnten, es ins Unglück zu stürzen.“ Munn rutschte in seinem Stuhl vorwärts. Er war drauf und dran, etwas zu sagen, aber Barclay winkte ihm zu schweigen. Der Chef stand auf und kam zu meinem Stuhl herüber und sah mir mit einem aufrichtigen, offenen Blick ins Gesicht. „Sie sind reichlich ehrlich, junger Mann“, sagte er, „mit Ihrer Frage nach meinen Gründen für die Ablehnung Ihrer Geschichte. Nun lassen Sie auch mich etwas fragen: Warum sind Sie so versessen darauf, sie zu bringen?“ Ich war überrascht. Die Frage war zu einfach für die 44
dramatische Aufmachung. „Es ist eine gute Geschichte. Es ist eines der besten ‚Ungesühnten Verbrechen‘, das wir jemals brachten. Das haben Sie selbst gesagt, Herr Barclay.“ „Ich habe gesagt, daß sie gut ist. Ich habe nicht gesagt, daß sie die beste ist. Wenn ein Mensch etwas dringend wünscht, treibt ihn sein Wunsch dazu, die Wahrheit zu übertreiben, ja zu verdrehen und ins Gegenteil zu verkehren.“ „Aber Sie haben gesagt, sie gefiele Ihnen.“ „Wenn Sie in einer schlimmen Lage sind, John, wenn Sie fühlen, daß die Welt gegen Sie ist – halten Sie dann einen Augenblick inne, um die Ursachen Ihrer Schwierigkeiten zu prüfen? Ich meine nicht die äußerlichen Ursachen oder die Gründe Ihres Gegners, weshalb er sich Ihnen in den Weg stellt; ich möchte Sie bitten, sich selbst zu prüfen und bis auf den Grund Ihrer Seele hinab zu forschen!“ „Ich habe ‚Mein Leben ist Wahrheit‘ gelesen, Herr Barclay.“ Barclay nickte. Er fing an, so glatt zu sprechen, als wiederholte er längst auswendig gelernte Phrasen. „Es ist nicht immer leicht, die Wahrheit zu entdecken. Wir müssen tief schürfen, um die Wurzel unserer Schwäche zu finden. Was liegt Ihrer Widerspenstigkeit zugrunde, junger Mann?“ Er machte eine Pause und sah freundlich und kameradschaftlich zu mir nieder. Da ich nicht antwortete, sprach er weiter: „Haben Sie keine Angst vor Ihrer Schwäche! Alle Menschen sind schwach, keiner von uns ist vollkommen. Ihr Stolz verbietet Ihnen, die Entscheidung eines anderen Mannes hinzunehmen. Warum? Ist nicht eigensinniger Stolz nur eine Decke, die eine verborgene Scham verhüllt? Welche Schwäche haben Sie begraben, daß Sie zu stolz und trotzig geworden 45
sind, um einem Befehl zu gehorchen?“ Seine Augen waren fest auf mein Gesicht gerichtet. Sein Lächeln war zart, aber seine Art war zwingend. Ich fühlte, daß ich rot wurde. Das machte mich wütend. Ich biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Barclay wandte sich ab, als wollte er mir eine Verlegenheit ersparen. Munn und ich sahen zu, wie er durch das Zimmer zur Tür seines privaten Waschraums schritt. „Stehen Sie auf, John. Kommen Sie her!“ Barclay hatte die Tür des Waschraums geöffnet. Ich wußte, was kam. Munn auch. Er grinste, als er sich erhob, und reckte sich mit einem Versuch zur Gleichgültigkeit. Die Innenseite der Tür war ein großer Spiegel. Barclay hielt die Tür offen, und zwar in einem Winkel, der uns drei erfaßte. Es war ein billiger Schmiereneffekt, aber sehr wirksam. Die Stelzen, die Munn als Beine gebrauchte, gaben ihm volle hundertdreiundachtzig Zentimeter Höhe, und Barclay war noch ein paar Zentimeter größer. Ich dagegen maß nur einsfünfundsechzig! Barclay sprach sanft: „Sie müssen sich dessen bewußt sein, mein Junge! Sie hassen große Menschen und möchten Ihnen zeigen, daß Sie stärker sind – und das macht Sie zu einem kleinen Kampfhahn, der glaubt, er könne sich mit Riesengockeln messen!“ Munn lächelte und summte leise. Barclay legte mir die Hand auf die Schulter. „Jetzt sind Sie verletzt, wie? Oh, ich tadle Sie nicht dafür. Ziemlich unverschämt vom alten Barclay, so etwas in die Debatte zu bringen, wie? Was, zum Teufel, geht ihn das an?“ Er versenkte seinen Blick in meinen und lächelte wehmütig. „Sie sehen, ich kann Ihnen sagen, was Sie denken. Und ich habe recht, was Sie betrifft. Alle Schwierigkeiten, die Sie jemals mit anderen Leuten hat46
ten, kommen von Ihrem Entschluß, sich auf keinen Fall beherrschen zu lassen. Sie werden es Ihnen schon zeigen, wie? Sie werden uns lange Kerle einfach in den Rinnstein boxen, und dann müssen wir zu Ihnen aufsehen. Und jetzt, im Augenblick, haben Sie die größte Lust, mir zu sagen, ich soll zum Teufel gehen, was, John?“ Das stimmte, aber ich schüttelte den Kopf. „Sagen Sie’s laut. Sagen Sie: ‚Scher dich zum Teufel, Barclay; es geht dich nichts an, daß ich ein Miniaturknirps bin!‘ Sie ahnen nicht, mein Junge, wie Ihnen das helfen würde – mir jetzt geradeheraus zu sagen, was Sie fühlen!“ Er sprach warm und freundlich. Seine Augen waren feucht vor Ernst. „Sie müssen sich nicht schämen, weil Sie nicht mit sich selbst zufrieden sind. Alle menschlichen Wesen trachten nach Vollendung. Wir hassen unsere Unvollkommenheiten; wir verbergen sie, als seien sie Sünden. Kein Mensch kann der wesentlichen Wahrheit über sich selbst entgehen; kein Mensch ist jemals frei von Scham und Rachsucht, bis er voll die Wahrheit erkennt und der Wahrheit teilhaftig wird.“ Er hob den Kopf und sah sich um, blinzelnd, als sei er aus dem Dunkel ins Sonnenlicht getreten. Munn beobachtete mich, er genoß meine Verlegenheit. Der Spiegel des Waschraums warf sein Schmunzeln zurück. Barclay bemerkte es und schloß die Tür. „Sie haben mein Buch gelesen, John. Dann kennen Sie mich – wie ich bin! Kein Mensch seit Kains Zeiten hat sich je so furchtbar verabscheut wie Noble Barclay. Und sehen Sie mich heute an.“ Er lächelte vertraulich, als wüßten er und ich ganz allein um die Geschichte, die in 6 182 454 Exemplaren und sechzehn Sprachen gedruckt war. Und dann, als ich immer noch nicht die erwartete Reaktion zeigte, fragte er mit unterdrückter Stimme: „Sie 47
haben doch auch die ‚Einführung‘ gelesen, nicht wahr?“ „Die Einführung“, sagte Munn salbungsvoll, „ist das größte Dokument menschlicher Verzweiflung, das je geschrieben worden ist!“ „Wir halten dich von deinem Lunch ab, nicht wahr, Ed?“ Barclay befeuchtete seine Lippen. Munns Grinsen war wie ausgelöscht. Hier war irgendein empfindlicher Punkt, den er nicht kannte, hier hatte der Hund seinem Herrn mißfallen. Er schüttelte den Kopf, murmelte etwas über „gern pünktlich essen“ und ging hinaus. Ich wußte nicht recht, ob ich auch gehen sollte – aber Barclay war noch nicht fertig mit mir. Er setzte sich auf das große rote Ledersofa und winkte mir zu, mich neben ihn zu setzen. „Ärgerlich?“ „Nein“, sagte ich. „Warum leugnen Sie es?“ Er warf den Kopf zurück und lachte. „Wenn Sie jetzt nicht wütend wären, wären Sie kein Mensch.“ Er beugte sich vor und flüsterte, die Hand mit den großen, breiten Fingern auf meinem Knie: „Nun also – sagen Sie es doch! Sprechen Sie es aus, daß ich recht hatte. Sie haben doch immer gewünscht, die langen Kerle unterzukriegen, oder nicht?“ „Wahrscheinlich.“ „Sie werden sich unendlich viel wohler fühlen, wenn Sie es laut gesagt haben. Sie werden dann auch nicht mehr ärgerlich auf mich sein. Sie wissen dann, daß ich weiß, was auf dem Grunde von John Ansells Seele liegt – genauso wie ich weiß, daß Ansell weiß, was in der Seele von Noble Barclay liegt.“ Um ihn abzuhalten, meine Hemmungen weiter zu bespitzeln, sagte ich schnell: „Okay, Sie haben recht.“ „Oh, wie gut für Sie, John!“ Er streckte mir beide 48
Hände hin. Sein Gesicht war offen und glücklich. Er ergriff meine Hand mit seiner kräftigen Pranke. Er hatte seine Runde gewonnen, aber seine Freude an diesem Triumph war so naiv, daß ich nicht nur aufhörte, ärgerlich auf ihn zu sein, sondern mich geradezu freute, meinen wunden Punkt zugegeben zu haben. Er war viel zu klug, um es mir hinzureiben. Unser Interview war beendet. „Zu schade, daß wir nicht zusammen lunchen können“, sagte er. „Aber der Senator wartet. Hoffentlich ein andermal!“ Er fuhr in seinen Kamelhaarmantel, fischte ein paar schweinslederne Handschuhe aus einer Tasche und glättete sein weißes Haar. Als wir hinausgingen, hielt er liebenswürdig die Tür für mich auf. Im Empfangsraum trennten wir uns. An der Tür seines privaten Aufzuges nickte mir Barclay scherzhaft zu und lächelte freundlich. Ich fühlte mich großartig. Als ich durch das leere Hauptbüro ging, sah eine einsame Stenotypistin von ihrem kalten Lunch aus der Tür zu mir auf und lächelte. Meine Selbstachtung wuchs. Ich war ein Miniaturzwerg, aber ich scheute mich nicht, es laut zu sagen. Ich war ein netter Kerl. Ich war beliebt. Noble Barclay bedauerte, nicht mit mir lunchen zu können. Mir tat die Hand noch weh von dem Druck seiner Löwenpranke. Auf meinem Weg zum Lunch eilte ich pfeifend durch die Passage, die aus dem Foyer des Barclaygebäudes zum „Ye Olde English Grille“ führte. Sie war feucht und kalt, als seien Wind und Regen durch ihre steinernen Wände gedrungen. Ich hörte Frauenstimmen, bemerkte schwarze Silhouetten. Eine wuchtige Gestalt versperrte mir den Weg. Ich erkannte meine Freundin, Frau Kaufmann, erst, als sie sprach. Sie sagte ihren Gefährtinnen, 49
sie sollten vorgehen, während sie stehenblieb, um mich nach der Wilsongeschichte zu fragen. „Aus. Schluß“, sagte ich. „Warum?“ „Herr Barclay will sie nicht erscheinen lassen.“ „Gefällt sie ihm nicht?“ „Er findet sie großartig, eine der besten Geschichten, die je für ‚Wahrheit und Verbrechen‘ geschrieben wurden!“ „Warum soll sie dann nicht erscheinen?“ Ich konnte die Frage nicht beantworten. Nach allem, was geschehen war, blieb sie immer noch ein ungesühntes Verbrechen. Frau Kaufmanns Frage hatte mich erschüttert. Ich kam mir etwas kläglich vor – keineswegs mehr als der Mann, dessen Lächeln Sonnenschein in das Leben einsamer Stenotypistinnen bringt. Der Glanz war erloschen, und Barclays Lob war nur noch ein ironisches Symbol meiner Niederlage. Als ich das „Grill“ betrat, hörten Barclays Angestellte auf zu essen und starrten auf den Mann, der es gewagt hatte, dem Gewaltigen zu trotzen. Vom runden Tisch, an dem die Redakteure saßen, winkte mir Lola Manfred zu. Ich eilte nicht auf den Stuhl zu, den sie mir reserviert hatte, denn durch den Rauch und Dunst des Restaurants sah ich, daß Eleanor nicht auf ihrem gewohnten Platz saß. Sie saß allein an einem kleinen Tisch. Sie trug ein schwarzes Kostüm. Es war ein strenges Schneiderkostüm, aber an Eleanor war trotzdem nichts Strenges. Sie hatte eine weiße Bluse mit einem Spitzenkragen an, und vorn in der Mitte lief ein Wasserfall von weißen Spitzen herunter. Als ich näher kam, entschloß ich mich, ihr heu50
te endlich zu sagen, daß ich sie für die schönste Frau auf Erden hielt. „Hallo“, murmelte ich, während ich. verlegen neben dem Tisch stand. Ihr gegenüber zeigte ein angelehnter Stuhl, daß ein Platz reserviert war. „Wollen Sie sich nicht hersetzen?“ sagte Eleanor. „Oh, vielen Dank.“ Es sollte nonchalant klingen, als äße ich täglich mit ihr gemeinsam Mittag. „Sind Sie entlassen?“ „Ach so, daran denken Sie!“ Sie lächelte. „Sie haben kein Geheimnis aus Ihren Gefühlen über Munns Memo gemacht. Was war denn eigentlich?“ „Ich habe eine Geschichte geschrieben, und ich hielt sie für gut. Ihr Vater will sie aber nicht drucken lassen.“ „Und warum will Vater nicht, daß sie gedruckt wird?“ beharrte Eleanor. „Was für eine Art von Geschichte ist es denn?“ Im „Grill“ war Radiomusik. Ein Blasorchester spielte den Fledermauswalzer, Teller klapperten und Metalltabletts, und von allen Seiten beobachteten uns die Leute. Wir waren das interessanteste Paar im Lokal – Barclays Tochter und der Bursche, der sich gegen Barclay und seinen Spitzel und Sklaven Nummer eins aufgelehnt hatte. Ich erzählte Eleanor an diesem Tage die Wilsongeschichte nicht, denn ich wollte über etwas Angenehmeres mit ihr sprechen als über meinen Streit mit ihrem alten Herrn. Ich sagte: „Es muß wohl Donnerstag sein. Was ist eigentlich Besonderes am Donnerstag, daß sie immer Wiener Walzer spielen?“ „Mir auch recht, lassen wir das Thema fallen. Aber Sie sind nicht entlassen worden?“ 51
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn es so wäre?“ Eleanor blickte über meine Schulter auf Lola Manfred. Sie tauschten eine Art Signal. „Was bedeutet das?“ wollte ich wissen. „Ich habe einen Dollar durch Sie gewonnen. Ich habe gewettet, Sie flögen nicht raus. Lola glaubte sicher, daß Ed Munn Sie zur Strecke bringen würde.“ „Ich bin bloß froh, daß ich nicht auf mich selbst gewettet habe. Ich wäre nämlich auf Lolas Seite gewesen. Einen Augenblick sah ich mich schon in der Sonntags‚Times‘: ‚Junger Mann, redaktionelle Erfahrungen, übernimmt Vertretung…‘ “ „Hatten Sie Angst?“ „Angst ist nicht das richtige Wort. Ich war nur realistisch.“ „Ich bin froh, daß Sie nicht geflogen sind. Aber ich bin noch froher, daß Sie es riskiert haben. Die meisten anderen hier…“ Ihr geringschätziger Blick umschloß sie alle, Henry Roe von der „Wahrheit“, Tony Shaw von „Wahrheit und Schönheit“, Lola Manfred, die Hilfsredakteure und zweiten Redakteure und Edward Everett Munn, der an einem Seitentisch Gesundheitssalat aß. „… die meisten hier denken bloß an ihre Pöstchen. Sie geben gewaltig an, und insgeheim lachen sie über Vater. Aber wenn sie zu ihm hinaufgehen, haben sie Angst, den Mund aufzumachen. Nichts als Jasager. Aber Sie werden nie ein Jasager sein – und wenn Sie hundert Jahre alt werden!“ Sie sagte es trotzig, als erzählte sie ihrem Vater und allen Jasagern, was sie dachte. Ich fühlte, sie lehnte sich auf gegen Munn und die Bürosklaven, sie verteidigte den einsamen Rebellen John Miles Ansell gegen alle. Ich wollte ihr danken, indem ich etwas Ritterliches, Wunder52
volles zu ihr sagte: „Sie sind heute ganz besonders schön. Noch schöner als gestern oder vorige Woche oder beim erstenmal, als ich Sie sah!“ „Necken Sie mich nicht. Ich bin nicht einmal hübsch.“ Eleanors Gesicht war voller Gegensätze; es war zart modelliert mit einer feinen, leicht gebogenen Nase, fast hohlen Wangen und einem breiten, festen Kinn. Ihre Augen lagen tief und waren umschattet. Auf den ersten Blick erschienen sie dunkel, aber es war überraschend und schön, zu entdecken – und immer wieder zu entdecken –, daß sie von durchsichtigem Grau waren. Die umschatteten Augen gaben ihr etwas Dunkles, so daß sie brünett wirkte, aber ihre Haut war wie blasses Elfenbein, und die kleinen Locken um ihre Stirn waren hell genug, um erkennen zu lassen, daß sie als Blondine geboren war. „Sie sind atemberaubend!“ „Weil ich auf Sie gewettet habe?“ „Eleanor“, begann ich, „Eleanor… wir müßten heute Abend feiern, Sie und ich!“ Sie nickte lachend. Eleanor war froh, daß ich sie zum Abend eingeladen hatte! Die ganze Zeit hatte ich Vorwände gesucht, um in die Redaktion von „Wahrheit und Liebe“ zu gehen, ich hatte in Korridoren herumgestanden – und Eleanor wartete bloß darauf, daß ich sie um eine Verabredung bat! Ich hatte ihre Wärme und Liebenswürdigkeit nur für natürlichen Charme gehalten, mit dem sie auch jeden anderen Mann behandelt hätte; ich hatte geglaubt, sie grüße Henry Roe oder Tony Shaw oder sogar Edward Everett Munn mit demselben Enthusiasmus! „Wirklich? Heute Abend, Eleanor?“ „Ja, heute Abend!“ Eleanor gab mir ihre Adresse und sagte, ich solle sie 53
um sieben abholen. Ich ging zurück ins Büro und rief bei Jean Pierre an. Ich bat Gustav, mir den besten Tisch zu reservieren und mit dem erlesensten Damast zu decken. Ich sagte ihm, wir wollten mit Champagnercocktail anfangen. Die Welt gehörte mir! Das Telefon klingelte. Es war die Produktionsabteilung. „Sie wollen wissen, wann sie das neue ‚Ungesühnte Verbrechen‘ herunterbekommen“, sagte Frau Kaufmann. „Mein Pyrrhussieg hat sich also schon herumgesprochen?“ „In diesem Büro weiß jeder andere eher, was einen angeht, als man selber. Ich habe einmal in „Wahrheit und Film“ gearbeitet. Herr Barclay entschloß sich, das Heft eingehen zu lassen. Herr Munn sollte mit dem Redakteur sprechen, vergaß es aber; So wurde noch eine ganze Nummer gedruckt, ehe uns ein Mensch mitteilte, daß wir gar nicht mehr existierten.“ „Na, und flog er nicht?“ „Herr Munn fliegt nie. Die Produktion ist noch am Telefon – was soll ich sagen, Herr Ansell?“ Ich versprach der Produktion noch zum Abend eine neue Geschichte. Nun hätte ich sofort mit der Arbeit beginnen müssen, aber ich fühlte mich so wohl und stand müßig mit den Händen in den Taschen und pfiff die „Rosen aus dem Süden“ vor mich hin. „Na – was ist Ihnen Nettes passiert, Herr Ansell?“ „Wie kommen Sie darauf, Frau Kaufmann?“ „Normalerweise wären Sie wütend. Sie haben sich so mit der Wilsongeschichte abgeplagt, alle Details selbst entdeckt und es so gut geschrieben – und nun verlangt man von Ihnen einen alten Plunder, den Sie in ein paar Stunden zusammenhauen!“ 54
„Tja, meine Liebe, so ist das Leben. Geben Sie mir die Akten Dot King, bitte!“ Das „Ungesühnte Verbrechen“ war ein fester Bestandteil von „Wahrheit und Verbrechen“ und mußte eisern in jeder Nummer erscheinen. Ich hatte keine Zeit mehr, einen unserer jungen Redakteure dafür anzusetzen, also mußte ich mich schon entschließen, es selbst zu schreiben. Nun brauchten wir nur noch die Blankogenehmigung von Barclay, um die Kopie an den Setzer zu senden, sobald sie aus der Schreibmaschine kam. Barclays Sekretärin lächelte mir über die Schreibmaschine zu. Sie war eine magere Hopfenstange mit schlechtem Teint, den sie unter einer dichten Schicht Kosmetika zu verbergen suchte. Sie schwang in ihrem Drehstuhl herum, faltete ihre langen weißen Hände und sah mich erwartungsvoll an. Ich lehnte mich über den Schreibtisch und gestand ihr, ich brauche ihre Hilfe, um ein schier unüberwindliches Hindernis zu nehmen, und fügte elegisch hinzu, dies sei ein Appell an ihre allgemein bekannte Großmut. Ihre weißen Hände wedelten durch die Luft. „Alles, was ich für Sie tun kann, Herr Ansell, wird mir nur ein Vergnügen sein!“ „Hätten Sie auch den Mut, zu Herrn Barclay zu gehen und ihn um eine Gefälligkeit für mich zu bitten?“ Mein Blick wurde seelenvoll. „Ich brauche eine Blankogenehmigung für mein ‚Ungesühntes‘. Ich benutze die DotKing-Geschichte.“ „Ja, freilich, ich weiß Bescheid, Herr Ansell“, warf sie rasch ein, damit ich merken sollte, daß ihr kein Detail der Bürogeschehnisse entging. Ich gab ihr das Genehmigungsformular. „Sagen Sie Herrn Barclay, ich verspreche ihm, die Geschichte genauso zu machen wie alle unsere anderen Geschichten! 55
Und ich verspreche ehrenwörtlich, Fräulein Eccles, keine unanständigen Wörter zu gebrauchen!“ „Oh, Herr Ansell, Sie haben Sinn für Humor! Sie müssen mir beibringen, wie man lacht!“ Fräulein Eccles trillerte ihr Vergnügen wie ein betrunkener Kanarienvogel heraus. Dann kam sie mit einem leichten Seufzer wieder auf das Geschäftliche. „Ich werde es ihm sofort selbst hineinbringen, sobald er fertig telefoniert hat. Er telefoniert nämlich gerade. Mit Washington – Sie wissen schon!“ Während ich wartete, wanderte ich im Empfangsraum umher und betrachtete mir die Bilder von Barclay und seiner Familie. Eine der alten Fotografien zeigte ihn im Badeanzug – er sah prächtig darin aus –, wie er vor einem bewundernden kleinen Mädchen seine Muskeln spielen ließ. Die Kleine war mager, mit den zarten Knochen, langen Beinen und dünnen Armen der ersten Backfischzeit. „Ich kenne jemanden, der heute sein Lunch genossen hat“, gurrte Fräulein Eccles. Ich sah weiter nach der Wand. „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geschmack, Herr Ansell. Was für ein bezauberndes Menschenwesen! So vernünftig, so gesund, so demokratisch! Und sie fürchtet sich nicht vor dem Leben, nicht wahr. Sein Einfluß – meinen Sie nicht auch? Wie das Bäumchen gebogen wird, so wächst der Baum!“ „Sehen Sie, Fräulein Eccles“, sagte ich, indem ich mich von dem Bild abwandte und zu ihrem Schreibtisch ging, „Sie könnten mir unendlich viel helfen!“ „Aber gern – was ich tun kann, gern! Es gibt vielleicht Hindernisse und Handicaps auf dem Wege zu unseren Wünschen – aber was bedeutet ein Sieg ohne Kampf? 56
Lassen Sie mich Ihnen für die schwierigsten Stellen eine hilfreiche Hand leihen, lieber Herr Ansell!“ Sie streckte mir die Hand hin, im Gelenk graziös nach unten abgeknickt. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu fassen. Fräulein Eccles wartete und machte noch einige Delsarte-Übungen mit ihren Händen. „Fräulein. Eccles“, begann ich langsam, „können Sie mir sagen, warum Herr Barclay die Warren-G.-WilsonGeschichte abgelehnt hat?“ Ihre Hände fielen herunter wie Steine. Ihre Brust war flach wie ein Waschbrett und sah noch trister aus, wenn sie wogte. „Die Warren-G.-Wilson-Geschichte“, wiederholte ich. Das Waschbrett stieg und fiel. „Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden, Herr Ansell.“ „Aber, aber! Nichts in diesem Büro entgeht Ihrem wachsamen Auge! Die Wilson-Geschichte, das ‚Ungesühnte Verbrechen‘ des Monats, die Geschichte, die der Chef abgelehnt hat…“ Ein Summer ertönte. Fräulein Eccles nahm das Genehmigungsformular und eilte in Barclays Büro. „Er ist fertig mit Telefonieren. Idi bringe ihm Ihren Schein. Sie brauchen nicht zu warten, Herr Ansell, ich schicke ihn mit dem Boten hinüber.“ Ich ging zurück in mein Büro. Auf dem Pult erwarteten mich die Dot-King-Akten. Ich hatte noch viel Arbeit an diesem Tage. Viertausend Worte, ehe ich mit Eleanor ausging. Ich beschloß, um sechs Uhr wegzugehen, damit ich mich rasieren und umziehen konnte, bevor ich sie abholte. Wenn die Geschichte dann noch nicht fertig war, mußte ich eben nachts noch einmal wiederkommen, nachdem ich Eleanor nach Hause gebracht hatte. Der rothaarige Laufbursche kam und brachte mir die 57
Genehmigung mit der Unterschrift Barclays. Ich versuchte, mich auf Dot King zu konzentrieren, aber es war eine ermüdende Geschichte, schon so lange „ungesühnt“ – und wer fragte danach? „Frau Kaufmann, was denken Sie über den Mord an Warren G. Wilson?“ „Er ist eben ein ‚ungesühntes Verbrechen‘! Und die bleiben ungesühnt. Die Mörder werden nie entdeckt.“ „Sagen Sie mal – bin ich durchgedreht, oder könnte da ein persönlicher Grund vorliegen, warum Barclay nicht will, daß die Sache gedruckt wird?“ Frau Kaufmanns Wangen wurden noch röter. „Ich habe fünf Redakteure mit nervösem Zusammenbruch hier weggehen sehen. Und es sind immer die netten.“ Sie marschierte, Handruch und Seifenschachtel unter dem Arm, aus meinem Büro hinaus. Nach zwei Minuten kam sie zurück. „Hier ist irgendwas los. Der Damenwaschraum ist seit zwanzig Minuten abgeschlossen.“ „Peinlich für die Damen“, bemerkte ich und fing an, geräuschvoll zu tippen, um zu zeigen, daß ich mich an die Arbeit gemacht hatte. Ich schrieb ein paar Sätze. Der Regen schlug wieder an die Fensterscheiben. Es hatte schon zwei Tage gegossen, und alles fühlte sich feucht an. Der Wind heulte im Luftschacht. Ich riß den Bogen aus der Schreibmaschine, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Es war zwanzig nach vier – länger als zwei Stunden, seit ich Eleanor gesehen hatte. „Ich glaube, ich trinke erst mal ‚ne Tasse Tee“, sagte ich schuldbewußt. Es lag kein Grund vor, daß ich mich vor meiner Sekretärin entschuldigen mußte, aber ich schämte mich – ich hätte an meinem Schreibtisch bleiben 58
müssen, bis ich wenigstens ein paar Seiten zu Papier gebracht hatte! Als ich durch das Hauptbüro ging, fiel mir die tiefe Stille auf. Keine Schreibmaschine klapperte. Die Stenotypistinnen hatten alles stehen- und liegenlassen und drängten sich in dem kleinen Korridor zusammen, der zum Damenwaschraum führte. Ich ging hinüber zur Redaktion von „Wahrheit und Liebe“. Die Tür stand offen. Lola Manfred war da, sie rauchte und las ein Manuskript, die Füße auf dem Pult. Sie sah durch eine Rauchwolke zu mir herüber und fragte: „Würden Sie von Ihrer Frau verlangen, daß sie Ihnen ihre vorehelichen Erfahrungen beichtet?“ „Ich habe keine Frau, und sie hat keine vorehelichen Erfahrungen!“ „Das kann man nie wissen“, sagte Lola. „In ‚Wahrheit und Liebe‘ bildet sich der Mann immer ein, eine makellose Jungfrau zu heiraten, und dann ist sie entweder neurotisch oder krank oder muß plötzlich die Wahrheit ausgraben – in einem dämmrigen Raum natürlich, sonst stehen die Chancen für die Ehe schlecht. Geheimnisse sind schwärende Wunden, Johnnie. Sie haben doch lange genug für unseren ‚Wahrheits‘-Schwindel gearbeitet, um zu wissen, daß…“ „Wo ist Eleanor?“ Lola sah sich im Zimmer um, als hätte ich nach einem Zeitungsausschnitt gefragt. „Ich weiß nicht. Sie ist schon ziemlich lange weg. Sind Sie vielleicht in sie verliebt? Ich hoffe doch…“ Ich ergriff die Flucht. Die Menge um den Damenwaschraum hatte sich noch um die Laufjungen, die Inseratenleute und die Buchhalter aus der unteren Etage vermehrt. Der Verwalter des Gebäudes ging an mir vorbei. 59
Er trug einen Riesenring, an dem ein einziger kleiner Schlüssel hing. Ich dachte an den Schlüsselring, den Herr Semple, der Hotelmanager, getragen hatte, als man die Leiche Warren G. Wilsons entdeckte. Der Verwalter stieß durch die Menge und steckte seinen Schlüssel in das Schloß des Damenwaschraumes. Jemand rief „oh!“, als Grace Eccles herauskam. Sie stand in der Tür, verwirrt durch die Blicke und die neugierigen Ausrufe. Dann hob sie den Kopf und fegte wie die Königin in der Tragödie durch die Gasse, die ihr die demütigen Stenotypistinnen und Buchhalter frei machten. Eine Sekunde später erschien Eleanor in der Tür. Ihr Gesicht war wie aus Marmor, und ihr gemalter Mund sah schwarz aus. Ich sprach sie an, aber sie ging ohne jedes Erkennungszeichen an mir vorbei. Sie war größer und brünetter geworden. Ich versuchte, ihren Arm zu fassen, aber sie wand sich durch die Menge und verschwand. Die Mädchen flüsterten und schwatzten. Ein paar gingen in den Waschraum. Andere schlenderten zu ihrem Pult zurück. Die Maschinen begannen zu klappern. Die Tür von „ Wahrheit und Liebe“ war fest zu. Schließlich begann ich zu arbeiten. Um fünf Uhr fünfzehn – als sich die anderen Barclay-Angestellten die Hände wuschen und ihre Schreibmaschinen zudeckten, hatte ich genau eine Seite geschrieben. Frau Kaufmann erbot sich, dazubleiben und mit mir zu arbeiten. „Nicht nötig“, sagte ich. „Ich bleibe jetzt nicht. Ich habe eine Verabredung zu Tisch und komme erst später wieder. Bitte sagen Sie dem Nachtwächter, daß er mich hereinläßt.“ Ein Bürodiener erschien und ließ einen Brief in meinen Korb fallen. Hier ist der Wortlaut: 60
Liebster J. A., bitte, verzeihen Sie – ich kann es heute abend nicht möglich machen. Schreiben Sie mir die Einladung auf ein andermal gut, bitte! Und seien Sie nicht ärgerlich. Ich weiß, Sie werden mich verstehen. E. B. PS: Fragen Sie nicht, warum. Fragen Sie niemals danach! Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Warum sollte ich es verstehen? Was dachte Eleanor? Ich bin kein Psychiater. Es war unsere erste Verabredung, und sie hatte mich versetzt. Warum? Sie war doch so begeistert gewesen – als sei unser erster Abend auch für sie sehr wichtig. Und es wurde mir auferlegt, nicht zu grübeln, warum; nicht zu fragen, nicht zu antworten. „Ich muß wissen, was los ist. So etwas laß ich mir von keiner Frau gefallen! Verstehen! Ausgerechnet! Was denkt sie sich eigentlich!“ In dieser Verfassung stürmte ich zur Redaktion von „Wahrheit und Liebe“. Sie war leer. Weder Eleanors karierter Mantel noch Lolas ausgefranstes Pelzcape hingen am Kleiderhaken. Beide Pulte waren aufgeräumt, die Schreibmaschinen zugedeckt. Fräulein Eccles war am Telefon, als ich in ihr Büro gestürzt kam. Sie hielt eine Hand über die Sprechmuschel, während sie zu mir sagte: „Wichtiger Anruf. Ferngespräch. Können Sie bitte draußen warten, Herr Ansell?“ Ich wartete draußen. Ich lief im Korridor auf und ab. Das Büropersonal ging nach Hause. Mäntel und Regenmäntel waren noch feucht vom Morgenregen. Alles roch 61
feucht und muffig. Tony Shaw blieb stehen, um mir zu erzählen, er sei in großer Eile – er habe eine Schauspielerin im „Plaza“ zu einem Cocktail eingeladen. Das Licht in Fräulein Eccles Büro wurde ausgelöscht. Ich ließ Tony stehen und rannte hinein, drehte am Schalter und ertappte Fräulein Eccles mit Hut und Mantel in der Hand. „Ach, Sie wollten sich wohl an mir vorbeidrücken, Fräulein Eccles, wie?“ „Aber nein. Wahrhaftig nicht. Ich hatte total vergessen, daß Sie mich noch sprechen wollten. Ich nehme abends meistens diesen Lift.“ Sie sah auf die Tür des privaten Aufzuges. „Die anderen sind so furchtbar voll, nicht wahr?“ „Was haben Sie Eleanor im Waschraum gesagt?“ Ihre blassen Augen blinzelten, und das Waschbrett begann wieder auf und ab zu wogen. „Was haben Sie Eleanor gesagt, Fräulein Eccles?“ Barclays Tür öffnete sich. Er hatte seinen Kamelhaarmantel an, die Schweinsledernen, und im rechten Arm trug er eine luxuriöse Aktentasche. „Ich gehe jetzt, Fräulein Eccles. Na, kommen Sie gut voran, Ansell? Die Genehmigung von mir haben Sie doch, nicht wahr?“ Fräulein Eccles‘ Augen folgten ihm hoffnungsvoll, als er durch das Büro schritt. Aber er hatte keine Aufträge mehr für sie und dachte gar nicht daran, sie aufzufordern, mit ihm im Privatlift hinunterzufahren. Als die automatische Tür sich aufschob, rief er „guten Abend“, und die Tür schloß sich. Fräulein Eccles plapperte und rang dabei nach Luft. „Ein großer Mann, ein herrliches Menschenwesen, er geht ganz und gar in seinem Werk auf! Es ist ein seltenes 62
Glück, mit ihm zu arbeiten, einem Mann so nahe zu sein, der eine ganz große Gestalt unseres Zeitalters ist, der in die Geschichte eingehen wird und dessen Philosophie…“ „Sehen Sie, liebes Fräulein Eccles, ich schere mich den Teufel um seine Größe. Ich will wissen, was Sie Eleanor Barclay im Waschraum erzählt haben und warum Sie das taten, unmittelbar nachdem ich Sie nach der Wilsongeschichte gefragt hatte!“ Sie sah mich an wie ein weidwundes Hell. Ich war erbarmungslos. Ich packte ihre knochige Schulter und schüttelte sie, bis ihre Zähne klapperten. Ihr Gesicht war zu Tode erschrocken, und ich dachte an Lilian Gishs Gesicht in dem alten Film „Geknickte Blüten“. „Sagen Sie es mir.“ „Es ist nicht mein Geheimnis !“ Ihr Körper blieb steif, aber ihr Hals drehte sich hin und her auf dem dünnen Stengel ihres Halses. Sie blickte zur Wand, die durch die Kupfer-und-Chrom-Tür von Noble Barclays Privatlift unterbrochen war. Die Tür ging auf. „Ich will meine Tasche lieber hierlassen“, sagte Barclay mit einer Geste seiner Hand, die die Aktentasche hielt. „Ich kann heute Abend doch nicht arbeiten. Meine Frau ist gerade aus California zurück, müssen Sie wissen.“ Nachdrücklich legte er die Aktentasche auf das Pult seiner Sekretärin. „Na, wollen Sie auch nach Hause, Grace? Ich fahre stadtaufwärts – kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“ Erwartete an der Lifttür. Sie warf mir über die Schulter noch einen Blick zu, der ungefähr besagte, daß ein Engel vom Himmel niedergefahren sei und sie einen Schritt vor der Höllenpforte gerettet habe. Dieses Mal schloß sich die Lifttür mit einem vernehmlichen Knall. 63
Ich arbeitete bis sieben Uhr, ging nach unten und bestellte mir im „Grill“ zwei Martinis und zwei Hammelkoteletts. Als ich ins Büro zurückkam, war kein Zeichen von Leben mehr in den großen Räumen. Alle Lampen waren ausgedreht, und die Dunkelheit kam mir vor wie ein fester Körper. Ich knipste eine kleine Beleuchtung an und beeilte mich, in die Redaktion von „Wahrheit und Verbrechen“ zu kommen. Noble Barclay verlangte von seinen Leuten nicht, in häßlicher Umgebung zu arbeiten. Alle unsere redaktionellen Privatbüros sind erst kürzlich von einem unserer besten Innenarchitekten überholt worden. Mein Büro repräsentierte die blaue Periode des Künstlers. Die Wände waren grau, die Stühle waren mit flauschigem blauem Stoff gepolstert, die Bilderrahmen und Lampenschirme darauf abgestimmt und selbst Thermosflasche und Trinkglas aus Material von derselben blauen Masse. Der Effekt unter künstlichem Licht war melancholisch. Auf meiner blauen Schreibunterlage war die erste Seite des neuen ‚Ungesühnten‘. Es langweilte mich entsetzlich, aber ich war gewissenhaft genug, zwölf Seiten zustande zu bringen. Als ich eine Pause machte und mir eine Zigarette ansteckte, ertappte ich mich bei dem Gedanken an Fräulein Eccles, wie blaß ihre Lippen waren und wie entsetzt sich ihre Augen zusammenzogen, als sie mir sagte, es sei nicht ihr Geheimnis, das sie zu hüten habe. Es war Barclays Geheimnis, das wußte ich bestimmt, und ich war auch sicher, daß er nicht zurückgekommen war, um seine Aktenmappe wieder hereinzubringen, sondern daß er hinter der Lifttür gelauscht hatte, während ich seine Sekretärin ausfragte. Für einen Mann wie Noble Barclay, den Milli64
onär, den berühmten Autor und Verleger, den Messias im Kamelhaarulster, schien das Ganze einfach absurd. Ich hatte mich bemüht, Barclay zu verstehen. Ich hatte sein Buch gelesen und über seine Philosophie nachgedacht. Aber er war und blieb für mich die Karikatur eines Philosophen. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und steckte mir automatisch eine neue an. Der Sturm war vorüber, die Nachtluft klar. Noch immer pfiff ein hoher, ärgerlicher Wind im Luftschacht. Meine Zunge war schwer, meine Kehle trocken, und mir war zumute, als sei ich mit einem bösen Katzenjammer aufgewacht. Das Wasser in der blauen Thermosflasche war eiskalt und erfrischend. Ich steckte eine neue Zigarette an und überlas die Seite, die ich in der Maschine hatte. Sie kam mir bemerkenswert gut vor. Plötzlich begann meine Schreibmaschine zurückzuweichen. Auch die Wand dahinter entfernte sich. Mein Pult fing an zu schwanken, der Fußboden hob sich, das ganze Gebäude tanzte wie ein kleines Schiff auf wütender See. Ich klammerte mich an die Armlehnen meines Sessels und hielt mich fest wie ein Ertrinkender. Beim ersten Schritt gaben meine Beine nach, und ich glitt eine eisige Fläche entlang. Nach Jahrhunderten der Dunkelheit lag ich im Schlafwagen eines Expreßzuges, der mit einer Geschwindigkeit von neunzigtausend Meilen pro Sekunde auf eine Felsklippe zuraste. Wir sausten über den Rand der Klippe. Ich wurde nicht zerschmettert, sondern hochgehoben und sanft auf Wolken durch den unendlichen Raum getragen. Eine Sirene klang auf. Feuerwehr, dachte ich, und dann war ich selbst die Sirene, der Feuerwehrwagen, das gummibereifte Chassis. Mein Körper wurde schimmelig von jahrelanger Grabesruhe, aber ich war nicht tot, denn meine Augen entdeckten Streifen beweg65
lichen Lichtes. Wieder erklang meine Sirene. Der blaue Streifen wurde weißes Leuchten und teilte sich in eine Million winziger Spalten. Auf meiner Brust lag ein Gewicht, und das Ding, das mein Handgelenk festhielt, war eine menschliche Hand. Entfernt und salbungsvoll klang eine Stimme: „Wir können natürlich nicht sicher sein, bevor wir die Analyse haben – aber als ich als Internist arbeitete, hatten wir genau denselben Fall. Bi-Sublimat. Der Patient starb.“
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Zweiter Teil ZEUGENAUSSAGE von Grace Eccles
„Wahrheit darf nicht gehortet werden wie das Gold des Geizigen, sondern muß freigebig verteilt werden wie die Wärme der Sommersonne. Aber die einzige Wahrheit, die dein ist und die du auszuteilen hast, ist die Wahrheit über dich selbst. Die Geheimnisse des Lebens eines anderen Menschen gehören ihm allein, und wenn du auch gewahr wirst, daß er sich selbst und anderen Leuten Schaden antut und Leid zufügt, indem er sie in sich verschließt, so darfst du dennoch seine Geheimnisse ebensowenig weggeben wie sein Haus, sein Geld, seine persönlichen Besitztümer.“ „Meine Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay Wenn einmal die Geschichte seiner Generation geschrieben wird, so muß am Anfang der Liste unsterblicher Zeitgenossen der Name Noble Barclay erscheinen! Ich hatte das Glück und die Ehre, sieben Jahre lang mit diesem großen Manne verbunden zu sein – fünf davon in so enger Zusammenarbeit, daß ich oft überlegt habe, ob seine Frau ihn wohl so gut kannte wie ich, seine Sekretärin. Andere haben den Genius Noble Barclay verehrt. Ich habe ständig und treu sein menschliches Wesen bewundert. Er hatte nicht nur einen neuen Glauben für dieses Leben ins Dasein gerufen und formuliert, sondern er übte 67
ihn praktisch aus – bis zum letzten Wort seiner Lehre! Es gibt Zyniker, die an seiner Aufrichtigkeit zweifeln, jedoch ich – die mehr Gelegenheit hat, seine kleinsten Handlungen zu beobachten, als andere Menschen –, ich sah ihn niemals um Haaresbreite von der strengen Auslegung seiner Philosophie abweichen. Erst möchte ich mich selbst bekannt machen – ich heiße Grace Jacqueline Eccles, bin siebenundvierzig Jahre alt, bin selbständig, unabhängig, geistig wie moralisch unbelastet. Welch Kontrast zu der Grace Eccles vor zehn Jahren! Ich war nicht nur voller Hemmungen und engstirnig, sondern auch arbeitslos. Letzteres war nicht völlig meine Schuld. Unser Land war mitten in einer sogenannten Depression. Es waren nur wenige offene Stellen vorhanden, und diese wurden gewöhnlich mit jüngeren Mädchen besetzt, deren sichtbare Reize vermuten ließen, sie würden auch andere Pflichten auf sich nehmen als die obligaten der Privatsekretärin. Ich bot damals bestimmt einen traurigen Anblick – bedrückt, melancholisch, ohne Selbstsicherheit und ohne weiblichen Stolz auf mein Geschlecht. Ich machte nichts aus mir. Statt die Aufmerksamkeit auf meine Vorzüge zu lenken (viele Freunde haben mir gesagt, meine Hände wären jedem Maler ein willkommenes Modell), dachte ich nur an meine Mängel, deren schlimmster mein schlechter Teint war. Ich war damals bleich und hatte einen Ausschlag infolge einer Krankheit, unter der ich ständig litt. Ich war zu befangen, um zuzugeben, daß ich einfach ein Opfer des alltäglichsten Schabernacks war, den die Natur den Menschen spielt; aber heute, da ich frei von Schuld und Beschämung bin, kann ich laut sagen, daß ich an den Mattern mangelnder Verdauung litt. Jedoch auch in diesen dunklen Tagen behauptete sich 68
meine an sich uneigennützige Natur. Obwohl ich mir selbst nicht helfen konnte, versuchte ich, anderen zu helfen. In unserer Nachbarschaft lebte ein Mädchen, das jünger und viel unglücklicher war als ich, denn es war blind. Böse Zungen munkelten, es sei selbst an seinem tragischen Geschick schuld. Man behauptete, es habe sich mit einem verheirateten Mann eingelassen, dessen rachsüchtige Frau ihm eines Tages auflauerte; als ihr Ehemann mit diesem Mädchen aus einer Nachtbar kam, schüttete sie der Überraschten eine scharfe Säure ins Gesicht. Vor Schrecken und Reue wurde das Mädchen fast irrsinnig, aber die zärtliche Pflege und Aufopferung ihrer Mutter rettete es. Das Augenlicht war jedoch zerstört. Man brachte die Unglückliche zu mehreren weltberühmten Spezialisten, aber sie zuckten bloß die Achseln und schüttelten die gelehrten Häupter. Der Sehnerv war zu schwer beschädigt – sie würde nie wieder sehen können. Zu dieser echten Tragödie kam noch, daß sie an der Einbildung litt, ihr Gesicht sei entsetzlich zerfressen und entstellt. Das war nicht der Fall – aber niemand konnte sie davon überzeugen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihr Gesicht so zerstört, daß niemand sie ohne Widerwillen ansehen konnte. Da sie eine ungewöhnlich hübsche und infolgedessen eitle Person gewesen war, wurde dieses Kreuz fast zu schwer für sie. Ich versuchte, etwas Licht in das Leben dieses tragischen Geschöpfes zu bringen, und wenn ich nicht gerade selbst in tiefe Melancholie versunken oder aber auf der Suche nach Arbeit war, verbrachte ich meine Zeit damit, ihr vorzulesen. Da kam mir eines Tages durch eine Fügung – manche würden es einen unbedeutenden Zufall nennen, aber ich halte es für ein gottgewolltes Wunder – ein Exemplar von „Mein Leben ist Wahrheit“ in die 69
Hände. Ich hatte es versehentlich mitgenommen. Ich warf einen Blick in die Einleitung. Der Stoff erschreckte mich fast. Zuerst war ich im Zweifel – konnte ein Sterblicher wirklich alles erdulden, was Noble Barclay in den ersten siebenundfünfzig Seiten durchgemacht hatte? Aber die Wirkung auf meine Zuhörerin veranlaßte mich weiterzulesen. Als ich zum ersten Satz der Einleitung gelangt war, sagte das Mädchen mit zitternder Stimme zu mir: „Grace, es ist die reine Wahrheit, was die Leute von mir sagen. Ich habe meine liebe Mutter und meine aufrichtigen Freunde belogen. Ich habe mich, genau wie man es mir nachsagt, mit Herrn L. herumgetrieben. Nicht genug damit, ich versuchte wirklich, ihn seiner Frau wegzunehmen. Gott helfe mir, ich habe das noch keiner Menschenseele gestanden, ich sage es nur dir, Grace, aber ich schwöre, es ist die Wahrheit. Und jetzt ist mir viel leichter, da ich es ausgesprochen habe – mir ist, als habe ich ein schweres Gewicht abgeworfen!“ Leider kam in diesem Augenblick ihre Mutter herein, und sie verschloß sich wie eine Auster. Obwohl die Mutter eine aufopfernde Pflegerin war, hatte sie doch nie aufgehört, der Tochter ihre unmoralische Lebensweise vorzuwerfen. Ich ging gleich weg, das kostbare Buch fest in meiner zitternden Hand haltend. Während ich meiner Schwester beim Geschirrwaschen half, klingelte das Telefon. Es war meine blinde Freundin. Die Mutter war zu einer Bethlehemversammlung gegangen, und nun wollte sie gern weiter mit mir sprechen. Ich eilte sofort zu ihr, Noble Barclays unsterbliches Werk mitnehmend. Aber wir lasen nicht viel, denn ich hörte zu, während sie endlich ihr Herz ausschüttete. Sie gestand alles über ihre Beziehung zu Herrn L. – von der 70
ersten Zärtlichkeit bis zur Wonne des intimen Zusammenseins und ihrem bösen Wunsch, sich der Frau zu entledigen. Zuweilen war sie so erregt, daß ich ihr einen Magenlikör aus dem Badezimmer bringen mußte. Doch sie war beinahe in Ekstase, und um mich kurz zu fassen: Sie gewann nicht nur auf rätselhafte Weise innerhalb vierundzwanzig Stunden ihr Augenlicht wieder, sondern heiratete bald darauf einen wohlhabenden Automobilverkäufer und lebt jetzt glücklich als Frau und Mutter in Birmingham, Alabama. Mein eigenes Wunder war nicht so sensationell, aber es bewirkte eine solche Veränderung in meiner überempfindlichen, schreckhaften Natur, daß sich meine Schüchternheit in Selbstvertrauen wandelte, daß ich meine törichten und verzweifelten Ängste überwand und binnen vierzehn Tagen einen Halbtagsposten erhielt. Dazu wurde ich fast sofort von der Krankheit geheilt, an der ich so lange, trostlose Jahre gelitten hatte, und mein Teint ward zusehends besser. Und all dieses Glück, all dies Gute hatte nur eine Ursache: meinen Glauben an die Wahrheit, die Noble Barclay verkündete. Tag und Nacht suchte ich einen Weg, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Ein zweites Wunder brachte mir die Gelegenheit dazu. Ich hörte durch eine Stellenvermittlung, daß in der Stenoabteilung des „Wahrheits-Verlages“ ein Posten offen sei. Ich bewarb mich sofort darum, und als die Abteilungsleiterin hörte, daß ich nicht nur eine Jüngerin Herrn Barclays sei, sondern mich auch mit 16,50 Dollar pro Woche begnügte, wurde ich auf der Stelle engagiert. Länger als ein Jahr war ich bloß ein kleiner Zahn in einem der Räder seines riesigen Unternehmens. Und nochmals wurde ich Träger von etwas, was ande71
re Zufall nennen mögen, was ich jedoch wieder für ein kleines Wunder halte. Ich hatte das Glück, gerade im Büro vor meinem mitgebrachten Lunch zu sitzen, als Herr Barclay plötzlich den Wunsch verspürte, etwas zu diktieren, während seine Sekretärin in einem Restaurant ihre Mahlzeit einnahm. Bis zu diesem Augenblick hatte ich Herrn Barclay noch nicht persönlich kennengelernt. Mit einem fast allmächtigen Blick erfaßte er mein Zittern. „Sie haben doch keine Angst vor mir?“ fragte er im freundlichsten Ton der Welt. „Ich verehre und bewundere Sie“, antwortete ich demütig. Diese Antwort von einem Mitglied der zynischen Stenoabteilung muß ihn gewundert haben, aber er zeigte es nicht und fragte mich mit unendlicher Teilnahme nach meinem Namen. Doch ich sagte ihm mehr als meinen Namen! Unbekümmert um seine kostbare Zeit, selbstsüchtig mit meiner eigenen Erregung beschäftigt, schüttete ich mein Herz aus und erzählte ihm die ganze Geschichte meiner Bekehrung. Er klingelte und ließ mehrere seiner Assistenten rufen; dann bat er mich, vor ihnen nochmals zu erzählen, wie ich zu seiner Philosophie gekommen war, und die dazugehörige Episode meiner einst blinden Freundin zu schildern. Sie erbaten ihren Namen und ihre Adresse, versprachen mir aber, sie würden sie nicht in Ungelegenheiten bringen, indem sie etwas von ihrer alten Liebschaft verlauten ließen; sie versicherten mir, daß sie nur die Bestätigung meines glücklichen Erlebnisses haben wollten. Wenige Monate später rief mich eine höhere Fügung auf den Platz, den ich dann sieben Jahre einnehmen durfte. Es dauerte nicht lange, bis ich Herrn Barclays Vertrauen soweit gewann, daß ich ihn täglich über die Unterströmungen im Büro, über die derben und unklugen Be72
merkungen der Neider und Zyniker, über die wahre Natur derer unterrichten durfte, die vorgaben, ihren Brotgeber zu bewundern. Mit dem Anwachsen meiner Verantwortlichkeit kamen wiederholt ganz beträchtliche Gehaltserhöhungen. Herr Barclay ist mehr als großmütig zu denen, auf deren Loyalität er sich verlassen kann. Ich möchte hier hinzufügen, daß ich Herrn Barclay auch in seinem persönlichen Leben fast allzu generös fand. Keiner seiner zahlreichen Freunde ahnte beispielsweise, daß er jeden Monat heimlich zweitausend Dollar in bar verschenkte. Seine Bescheidenheit in diesem Punkte war so groß, daß niemand außer mir, die sein Scheckbuch führte, etwas davon wußte. Die heimlichen Wohltaten wurden nie als etwas anderes eingetragen als „Bargeldabhebung“, und er versuchte nicht, sie von seiner Einkommenssteuer abzusetzen, wie es manch einer getan hätte! Als ich ihn einmal nach dem praktischen Wert dieses Zartgefühls fragte, belehrte er mich zugleich, indem er mich daran erinnerte, daß die Empfänger solcher Wohltaten vielleicht beschämt wären, wenn ihre Namen einem anderen als ihm selbst bekannt würden. „Wie dankbar müssen Ihnen solche Menschen für Ihre Großmut und Ihr Verständnis sein“, bemerkte ich. „Wir können nicht immer Dankbarkeit erwarten, Fräulein Eccles.“ Da ich diesem großen Mann so nahe gewesen bin, hat mich Herr John Ansell gebeten, seinem Buch über Noble Barclay ein Kapitel beizufügen. Ich bekenne offen, daß mir diese Bitte – in aller Bescheidenheit – sehr schmeichelhaft war, denn ich hatte im Leben wenig Zeit, literarische Ziele zu verfolgen. Ich bekenne mich auch ehrlich zu einer gewissen Befangenheit gegenüber dem Gegenstand meiner Erinnerungen. 73
Warum bittet Herr Ansell ausdrücklich um meine Schilderung des „Zwischenfalls“ betreffs Warren G. Wilson? Doch Herr Ansell hat recht: Wenn jemand die volle Wahrheit kennt, ist es seine Pflicht, Gerüchten entgegenzutreten. An jenem fatalen Freitagmorgen kehrte ich zur gewohnten Zeit vom Lunch zurück. Kaum betrat ich mein Büro, als das Telefon klingelte und eine Dame von der Vermittlung mir mitteilte, daß sie eine Nachricht für meinen Chef hätte. Ein gewisser Warren G. Wilson habe angerufen – es sei das Datum ihrer Verabredung, und er erwarte Herrn Barclay abends in seinem Appartement. Ich ging in Herrn Barclays Zimmer und machte auf seinem Terminkalender die entsprechende Eintragung. Herr Barclay hatte mit dem Senator geluncht und kam erst um vier Uhr nachmittags wieder ins Büro. Ein paar Minuten später tönte der Summer, der mich zu ihm rief. „Woher kommt das?“ fragte er und wies auf die einsame Eintragung auf dem Kalenderblatt. „Der Anruf kam, während ich beim Lunch war. Mir wurde er durch die Vermittlung weitergegeben.“ „Danke, Fräulein Eccles“, sagte er kurz. Er riß das Blatt vom Kalenderblock, zerfetzte es in winzige Stückchen und warf diese in den Papierkorb. Vermutlich setzte sich Herr Barclay mit Herrn Munn durch das Haustelefon in Verbindung, denn kaum saß ich wieder an meinem Schreibtisch, da kam auch schon dieser Mensch durch mein Büro gelaufen und verschwand in das private Sanktuar. Meine Arbeit wurde zum zweitenmal unterbrochen, als Herr Barclay mich beauftragte, seine Tochter zu holen. Ihre Konferenz war erst nach sechs Uhr beendet, und 74
an jenem Tage sah ich nichts mehr von ihnen. Der Zwischenfall wäre sicher meinem Gedächtnis bald entfallen, wenn nicht ein zweiter merkwürdiger Zufall darauf gefolgt wäre. Die Episode hatte sich eines Freitags abgespielt, also war der nächste Tag ein Samstag. Herr Barclay war abwesend vom Büro. Auch Eleanor war an diesem Vormittag abwesend, aber inoffiziell. Sie war einfach nicht im Büro erschienen. Aus diesem Grunde wurde ich in eine Angelegenheit des Fotostudios hineingezogen. Kurz nachdem ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt hatte, forschte Frau Harden, die den Fotorequisitenraum unter sich hatte, nach dem Verbleib eines Revolvers. Jawohl – eines Revolvers! Das mag melodramatisch klingen, aber es ist eine fast komische Seite unserer Arbeit auf dem Felde der Tatsachenberichte. Nachdem so viele Geschichten, die wir in unseren Zeitschriften bringen, echte Bekenntnisse von Verbrechen sind, braucht man beim Aufbau illustrierender Fotos gelegentlich Feuerwaffen. Um solche, wenn es erforderlich ist, bei der Hand zu haben, besitzen wir ein richtiges kleines Arsenal neben dem Studio. Obwohl die Waffen natürlich nicht geladen sind, werden sie doch als „tödliche Waffen“ behandelt, und wenn jemand beim Stellen solcher Bilder Schußwaffen braucht, muß er eine Empfangsbestätigung ausschreiben. Die Liebesgeschichte, die Eleanor bearbeitete, verlangte offenbar eine Aufnahme mit einem 22er. Jetzt drehte es sich darum: Als Eleanor in das Büro ihres Vaters gerufen wurde, hatte sie gerade diese Pistole in der Hand. Frau Lola Manfred, Eleanors Vorgesetzte bei „Wahrheit und Liebe“, berichtete, der Revolver sei nicht in ihrem gemeinsamen Büro. Sie meinte zu Frau Harden, Ele75
anor habe ihn vielleicht in Herrn Barclays Büro mitgenommen und dort liegenlassen. Infolgedessen mußte ich mich am Suchen beteiligen. Aber es war kein Revolver zu finden. Ich suchte alle Winkel ab, die Möbel, den Fußboden – aber ich entdeckte nichts. Ich möchte gleich hier einfügen (ehe der Leser einen Verdacht faßt), daß sich der Revolver am gleichen Vormittag auf einem Fenstersims im Fotostudio fand. Frau Harden hatte schon bei Herrn Munn nachgefragt, ob er die Waffe in Eleanors Hand gesehen habe. Er antwortete verneinend, erbot sich aber, suchen zu helfen. Kurz danach fand sich der Revolver, und es endete mit einem allgemeinen Gelächter. Erst am darauffolgenden Montagmorgen erfuhr ich aus den Zeitungen, daß Herr Wilson – jawohl, unser Herr Warren G. Wilson – ermordet worden war. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen: es war das natürlichste Ding der Welt, daß ich darüber eine Bemerkung zu Herrn Barclay machte. „Haben Sie die Morgenzeitungen gelesen?“ fragte ich. „Sie sind sicher ganz entsetzt über Ihren Freund, den armen Herrn Wilson!“ Herr Barclay, sonst der rücksichtsvollste aller Arbeitgeber, fuhr mich heftig an: „Ich will diesen Namen nie wieder von Ihnen hören, Fräulein Eccles.“ Nicht genug damit – er stampfte förmlich durch mein Büro zur Tür seines Sanktuars: „Auch vor anderen erwähnen Sie ihn nicht – verstanden?“ „Aber Herr Barclay…“, ich wollte ihm erklären, daß mein Interesse an diesem sensationellen Geschehnis doch ganz normal sei. „Sie haben Wilsons Namen nie wieder auszusprechen, weder vor mir noch vor sonst jemandem. Ich habe diesen 76
Menschen nie gekannt. Er hat versucht, mich zu belästigen! Sie werden die ganze Sache vergessen, Fräulein Eccles!“ Das war leichter versprochen als gehalten – ich konnte meiner unruhigen Gedanken nicht Herr werden. Von jetzt ab erschien Wilsons Name täglich in jeder Zeitung. Ich war ganz krank vor Kummer. Herrn Barclays Ermahnungen, etwas zu verschweigen, widersprachen den elementarsten Vorschriften seines Glaubens. Ich fand nur eine einzige Erklärung, um meine nagende Neugier zu befriedigen, nämlich daß er jemand anderen schützen wollte. Dabei ward mir klar, daß auch ich verbergen mußte, was ich wußte, um einen unbekannten Unschuldigen zu schützen. Die Qual dieser Heimlichkeit wurde leichter durch die Erkenntnis, daß ich für andere litt. Monate gingen vorbei. Der Name Warren G. Wilson war fast in meinem Unterbewußtsein versunken, als John Ansell – nichtsahnend, wie ich annahm – diesen Mord zum Gegenstand seiner Geschichte für die Serie „Ungesühntes Verbrechen“ unserer Zeitschrift „Wahrheit und Verbrechen“ machte. Ich war nicht überrascht, als Herr Barclay die Geschichte ablehnte. Ich dachte, die Sache sei für den Augenblick begraben. Aber Herr Ansell war der Rebell in unserer Mitte. Er trotzte der Autorität, er verlangte Gründe für die Ablehnung des Manuskriptes. Als Herr Barclay ihm die Antwort auf seine unverschämten Fragen verweigerte, versuchte Herr Ansell, von mir die gewünschte Information zu erzwingen. Aber Grace Eccles war zu klug für ihn. Mit weiblicher List fand ich einen taktvollen Vorwand – ein Ferngespräch –, um ihn loszuwerden, diesen allzu wißbegierigen kleinen Gernegroß. Ich hatte ihm keinen Anlaß gegeben zu dem Verdacht, seine Fragen hätten mich beun77
ruhigt, aber ich fühlte mich doch ganz krank; ich wußte, ich würde meine Arbeit nicht eher fortsetzen können, als bis ich mich ganz oder wenigstens teilweise von der Unruhe befreit hatte, die in mir gärte. Die Last war einfach unerträglich schwer für mein zartes Gewissen. Während ich saß und grübelte und das Personal durch das Glasfenster meines kleinen Reiches beobachtete, sah ich Eleanor Barclay mit anderen Mädchen zum Waschraum gehen. Dies schien mir ein Wink vom Himmel. Wer war meines Vertrauens würdiger als seine eigene Tochter, wem konnte ich mehr zutrauen, daß er seine Interessen hüten würde? Wenn ich meinem Drang nach der Befreiung durch Wahrheit mit Eleanor Barclay nachgab, brauchte ich mir keine Skrupel wegen Illoyalität zu machen. Ich folgte ihr in den Waschraum. Sicher war es meine Anwesenheit, die den Ort schnell von allen Elementen reinigte, welche die Zeit unserer Firma rauchend, vor den Spiegeln tändelnd und schwatzend vergeudeten. „Eleanor, ich muß mit dir sprechen“, sagte ich und schloß die Tür ab. „Mußt du dich dazu verbarrikadieren?“ fragte sie schnippisch. „Bitte, sei nicht zynisch, Liebe“, ermahnte ich sie. „Wenn du diese Organisation einmal so gut kennst wie ich, wird dir klarwerden, wieviel doppelgesichtige Wesen es auf der Welt gibt. Im ganzen Haus ist kein anderer Raum, wo man sich völlig zurückziehen kann.“ „Aber vielleicht wird die Toilette benötigt.“ „Es dauert nicht lange“, versprach ich. „Ich brauche unendlich dringend die Befreiung durch Wahrheit, Eleanor!“ „Ist es wirklich so dringend?“ fragte sie ungnädig. 78
„Ich möchte heute beizeiten weggehen. Ich will noch zum Friseur. Ich habe eine Verabredung für den Abend – eine besondere Verabredung –, eine Einladung, auf die ich schon seit Monaten gewartet habe!“ Das war natürlich nicht feinfühlig, da ich offen um ihre Anteilnahme gebeten hatte, aber ich überhörte es in dem toleranten Gefühl, daß Jugend ihre Freiheit haben will. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen, was wichtiger ist als eine Abendeinladung!“ erwiderte ich. „Na, dann schieß los – und mach’s kurz!“ sagte sie burschikos. Ich betonte gleich zu Anfang nachdrücklich, daß ich niemanden eines Unrechts verdächtige, sondern nur mein Inneres von einer unwürdigen Empfindung reinigen wolle Aber kaum hatte ich mit der Beschreibung meiner Funktion bei dem Telefonanruf begonnen, als sie mich schon unterbrach. „Ist es wahr, daß die Vermittlung sich bei diesem Anruf von Herrn Wilson irrte und die Nachricht an Herrn Barclay statt an mich weitergab? Oder warst du es selbst, Grace? Wieder einmal einer deiner niederträchtigen kleinen Tricks?“ Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich entsetzt war. „Bis zu diesem Augenblick, Eleanor, hatte ich keine Ahnung, daß du mit Herrn Wilson bekannt warst.“ Ihre Wangen zeigten eine unkleidsame Röte. „Er hatte mich angerufen“, sagte sie. „So hat die ganze Sache angefangen. Aber hoffentlich glaubst du nicht, daß dies irgend etwas mit dem Mord zu tun hat!“ „Aber Eleanor!“ rief ich aus. „So ein Gedanke ist mir nie gekommen! Nur weil dein Vater sich so über dieses Ereignis aufregte und mir mit so viel Heftigkeit verbot, 79
Wilsons Namen je wieder zu nennen, dachte ich, daß…“ „Also – warum tust du dann nicht, was dir befohlen wurde?“ fragte sie hart. „Ich habe seinen Namen nie wieder genannt“, sagte ich. „So? Und was tust du jetzt?“ „Die Befreiung durch Wahrheit ist etwas anderes“, ermahnte ich sie. „Bekenntnisse sind geheiligt. Du weißt so gut wie ich, daß die Geheimnisse fremder Herzen – auch wenn sie freigebig angeboten werden – einem nicht gehören und man sie nicht weitergeben darf.“ „Okay“, fuhr sie mich an. „Aber was tust du denn anderes?“ Die mündliche Befreiung durch Wahrheit hat mir immer sehr wirksam geholfen, wenn ich bedrückt war. Sobald ich selbst meine törichten Geheimnisse und nervösen Einbildungen ausgesprochen habe, merke ich immer, daß sie nur in meiner trügerischen Einbildung bestanden haben. Ich fühlte mich auch jetzt viel freier und wohler und wäre leichten Herzens aus dem Waschraum geschlüpft, wenn Eleanor nicht meinen Arm gepackt und ihn schmerzhaft gedrückt hätte. „Da du dich mir nun anvertraut hast“, sagte sie eindringlich, „sprich niemals mit jemand anderem darüber, hörst du? Mit niemandem!“ Sie war so aufgeregt, daß sie ihre Zigarette in ein Waschbecken warf und sich gegen die Wand lehnte; ihr Gesicht war weiß wie die Kacheln. Inzwischen hatten die Mädchen, Zutritt verlangend, angefangen, gegen die Tür zu klopfen. Ich nahm die Zigarette aus dem Becken, in das Eleanor sie so achtlos geworfen hatte, diesmal jedoch, ohne daran zu denken, welch schlechtes Beispiel sie damit den unordentlichen Stenotypistinnen gab. Nun versuchte ich mit tiefster 80
Sympathie, Eleanor zu helfen; ich bat sie, sich der dunklen Geheimnisse zu entledigen, die offenbar in ihrer Seele einen so verheerenden Konflikt bildeten. Aber sie lohnte meine Bemühungen nur mit einem stolzen und trotzigen Blick. Sie schloß sich in eine der Zellen ein und lehnte es ab, mit mir zu sprechen oder meine teilnahmsvollen Fragen zu beantworten. Das Klopfen an der Tür wurde stürmischer, und Bemerkungen vulgärer Natur wurden hereingerufen. Ich ermahnte Eleanor freundlich, aber sie antwortete nicht einmal. In diesem Augenblick öffnete der Hausverwalter die Tür. Ich nahm meinen Weg durch die Menge glotzender Angestellter und ging zurück in mein Büro. Eleanor sah ich an diesem Nachmittag nicht mehr, aber ich erfuhr, daß sie weggegangen war, ohne ihr Arbeitspensum zu erledigen – wahrscheinlich, um sich für ihre abendliche Verabredung frisieren zu lassen! Trotz ihrer fehlenden Sympathie hatte ich wieder einmal die Befreiung durch Wahrheit erlebt und meine Seele gereinigt. Für mich wäre die ganze Unannehmlichkeit erledigt gewesen, wenn nicht Herr Ansell ein zweites Mal in mein Büro gestürmt wäre, um zu erfahren, was ich Eleanor im Waschraum mitgeteilt hatte. Als ich mich weigerte zu antworten, legte er Hand an mich. Wäre nicht durch eine glückliche Fügung Herr Barclay rechtzeitig erschienen, so hätte ich ein Opfer seiner Brutalität werden können. Es war, als hätte Herr Barclay instinktiv meine Notlage gefühlt. War es ein bloßer Zufall, der mich rettete? Ich glaube lieber an etwas Tieferes – es war kein Zufall mit Herrn Barclays Aktentasche! Er hatte sie mitgenommen und erinnerte sich plötzlich, daß er sie an diesem Abend 81
gar nicht mehr benötigte. Er beschloß, umzukehren und sie wieder ins Büro zu bringen. Meine Seele hatte schweigend nach seiner Hilfe geschrien, und ohne zu wissen, was ihn lenkte, hatte er die Lifttür geöffnet und war im kritischen Augenblick zurückgekommen. Am anderen Morgen war das ganze Büro im Zustand wilder Erregung. Als eine der Scheuerfrauen am Abend zuvor um zehn Uhr mit ihrer Arbeit begann, fand sie Herrn Ansell bewußtlos auf dem Fußboden seines Büros. Hätte der Nachtwächter nicht so schnell die Ambulanz angerufen und wäre der Arzt bei seiner ersten Hilfeleistung nicht so geschickt gewesen – so hätten wir unseren Redakteur von „Wahrheit und Verbrechen“ verlieren können! Herr Barclay kam an diesem Tag erst mittags ins Büro. Als er mich erblickte, waren seine ersten Worte: „Er ist gerettet! Sagen Sie draußen Bescheid!“ „Wer ist gerettet?“ fragte ich, denn ich ahnte nicht, daß Herr Barclay schon von dem Unglück wußte. „Ansell“, antwortete er kurz. „Oh“, rief ich aus, „Sie haben also schon gehört, was ihm passiert ist?“ „Ja, was meinen Sie denn, wo ich den ganzen Morgen gewesen wäre?“ fragte er und eilte in sein Privatbüro. Ein paar Minuten später rief der Summer. „Wollen Sie mir bitte etwas Geld holen, Fräulein Eccles? Ich habe nicht einen Cent in der Tasche!“ „Ei, ei – da ist ein gewisser Jemand wieder einmal verschwenderisch gewesen“, scherzte ich, die Sache von der leichten Seite nehmend. „Erst gestern Nachmittag habe ich Ihnen fünfhundert Dollars gebracht!“ Ein rätselhafter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Ich beeilte mich, sein Scheckbuch zu holen. Als er 82
einen Scheck unterschrieben und ich diesen hinunter zur Bank gebracht hatte, ordnete er an, ich solle Herrn Smith bitten, sofort zu ihm heraufzukommen. „Welchen Herrn Smith?“ fragte ich, denn es waren mehrere Herren dieses Namens im Hause. „Manchmal können Sie einem auf die Nerven gehen“, sagte Herr Barclay in einem Ton, der gar nicht zu seiner gewohnten Großmut paßte. „Herrn Smith vom ‚Barclayhausgrill‘ natürlich!“ Zehn Minuten später betrat der besagte Herr Smith das Privatbüro. „Gute Nachrichten für Sie, Herr Smith“, sagte Herr Barclay, indem er dem Kantinenwirt die Hand schüttelte. „Ansell hat versprochen, keine Klage einzureichen. Ich habe ihn dazu bewogen, die Sache ruhen zu lassen. Niemand wird etwas davon erfahren außer ein paar Angestellten meines Büros – und diese werde ich ersuchen, die Geschichte geheimzuhalten. Smith, ich bin zwar überzeugt, daß es nicht direkt ihre Schuld ist, aber ich muß doch darauf dringen, daß Sie in Zukunft vorsichtiger sind!“ Smith antwortete, daß er nicht wüßte, wovon Herr Barclay rede. Aber aus Herrn Barclays Art merkte ich, daß er sich kein X für ein U vormachen ließ und von Herrn Smiths gespielter Unschuld nicht überzeugt war. Was weiter verhandelt wurde, kann ich nicht sagen, denn Herr Barclay gab mir zu verstehen, er brauche im Augenblick meine Dienste nicht. Zwanzig Minuten später verließ Smith lächelnd das Büro – offenbar sehr angetan von der Großmut Herrn Barclays. Wieder tönte der Summer. Dieses Mal wünschte Herr Barclay, mir folgendes Memorandum zu diktieren: 83
Vom Büro des Herrn: An: Datum:
Noble Barclay Alle Angestellten N0V./23./45
Aus Rücksicht auf unseren Mieter, das „Barclayhausgrill“, und den Inhaber, unseren Freund, Herrn I. G. Smith, ersuche ich alle Angestellten, das Gerücht nicht weiterzuverbreiten, Herr Ansell hätte sich im „Grill“ durch Garnelen eine Vergiftung zugezogen. Herr Smith befleißigt sich größter Sorgfalt bei der Zubereitung aller Gerichte, die in seinem Restaurant serviert werden, und würde nie einem Gast etwas vorsetzen, was nicht einwandfrei frisch ist. Unglücklicherweise ist es nicht immer möglich, Seeprodukte genau zu prüfen. Die Garnelen, die gestern in der Küche des „Barclayhausgrills“ gekocht wurden, schienen ganz frisch zu sein, und niemand war überraschter als Herr Smith, als er hörte, daß Herrn Ansells plötzliche Erkrankung auf sein Abendessen im „Grill“ zurückzuführen sei. Da Herr Smith nicht nur unser Mieter ist, sondern auch uns allen, die in seinem Restaurant zu essen pflegen, ein guter Freund, appelliere ich an Ihr Kameradschaftsgefühl und bitte Sie, jede mögliche Diskretion zu beachten und das Gerücht nicht zu verbreiten. „Machen Sie zehn Durchschläge, und lassen Sie sie im Büro zirkulieren“, instruierte mich Herr Barclay. „Jeder Angestellte soll unterschreiben – und Sie bringen mir die Durchschläge mit den Unterschriften wieder her.“ „Jawohl, Herr Barclay“, erwiderte die gehorsame Dienerin. 84
Während ich das Memo tippte, kam Eleanor ins Büro gestürmt. Sie grüßte mich herzlich, als hätte unser letztes Zusammensein nicht so unharmonisch geendet. „Er ist gerettet, Grace!“ rief sie, als hätte ich mich nach dem Befinden irgendeines Menschen erkundigt. „Er braucht nichts weiter als ein paar Tage Ruhe – dann kann er wieder arbeiten. Du kannst dir vorstellen, wie mir zumute ist!“ „Sprichst du von Herrn Ansell?“ fragte ich. Sie nickte heftig. „Ich dachte, ich müßte sterben, als ich hörte, er sei vergiftet. Ich glaube, ich habe eine zu lebhafte Phantasie, denn ich…“ Sie hielt kurz vor einer Eröffnung inne, sie hatte offenbar ihren Sinn geändert und wollte ihrem Gefühl keinen Ausdruck geben. Sie zuckte die Achseln und schwatzte weiter: „Und welch Glück, daß es nur die Garnelen waren! War Vater nicht wieder einmal wundervoll?“ „Herr Barclay ist immer wundervoll!“ antwortete ich. „Man hat ihn heute früh angerufen – einer seiner Redakteure sei halbtot im Büro aufgefunden worden. Vater fuhr sofort zum Hospital und ordnete an, alles, was nur möglich sei, müßte für Johnnie getan werden. Ich habe Vater nie so prachtvoll gesehen!“ „Es freut mich“, warf ich ein, „daß du deinen Vater so zu schätzen weißt!“. Ich hätte noch mehr gesagt, aber mit der Plötzlichkeit, die Eleanor eigen ist und die sie sicher von mütterlicher Seite her geerbt hat, war sie bereits außer Hörweite. Da ich die Gewohnheit habe, nur ein leichtes Frühstück einzunehmen, lunche ich gern beizeiten. Sobald ich mein Memo fertiggetippt und es mit den entsprechenden Instruktionen an alle Abteilungsleiter weitergeschickt hatte, lenkte ich meine Schritte nach unten ins „Grill“. 85
Ich setzte mich an meinen Tisch, und während ich das Menü bestellte, schlug mir die Kellnerin, die mich immer bediente, vor: „Wie wäre es mit Garnelensalat, Fräulein Eccles? Er ist heute besonders gut!“ „Was fällt Ihnen ein!“ rief ich geradezu entrüstet. „Halten Sie es vielleicht für geschmackvoll, solche Scherze zu machen, nachdem einer Ihrer Kunden gestern fast an Ihren verdorbenen Garnelen gestorben ist?“ Die Kellnerin machte ein erstauntes Gesicht. „Wie bitte? Garnelen? Gestern?“ Es ärgerte mich, daß Herr Smith versäumt hatte, seine Angestellten von der unglücklichen Angelegenheit mit Herrn Ansells Garnelen zu unterrichten. Obwohl ich gerade das Memo geschrieben hatte, das die Barclayangestellten aufforderte, außerhalb des Büros nichts darüber verlauten zu lassen, hielt ich es doch für meine Pflicht, die Kellnerin aufzuklären – das war besser, als wenn sie die Sache durch unzuverlässige Quellen und boshaften Klatsch erfuhr. „Aber gestern haben wir gar keine Garnelen serviert“, sagte sie beharrlich. „Wir haben mindestens eine Woche lang keine Garnelen in der Küche gehabt – erst heute wieder!“ Ich versuchte geduldig, das eigensinnige Geschöpf zu überzeugen und ihr zu beweisen, daß ich die Wahrheit sprach. Sie rief sogar die anderen Kellnerinnen herbei, die ihre Aussagen bestätigten. Natürlich waren es ihre Freundinnen, und sie nahmen ihre Partei. Das verstimmte mich. Obwohl ich gar nicht daran dachte, die Versicherungen dieser dummen Dinger für gewichtiger zu halten als Herrn Barclays Darstellung des Falles, wurde doch eine gewisse Neugier in mir wach. Fragen huschten durch meinen Geist, die auf so heiligem Boden keine 86
Berechtigung hatten. Zweifellos war ich im Unrecht. Irgendwo in meinem listigen Sinn war die Unwahrheit begraben, und ich hatte nicht den Mut, sie gewaltsam zu entblößen und ihr offen ins Gesicht zu sehen. Wenn die Natur mir nur mehr Mut mitgegeben hätte, dann hätte ich mich selbst befreit, indem ich mit meinem Bekenntnis zum besten aller Beichtväter ging! Jedoch war ich zu schüchtern und zu verzagt, die Wurzeln dieser schwärenden Wunden heimlichen Zweifels vor Noble Barclay bloßzulegen – ich tröstete mich mit der Entschuldigung, ein vielbeschäftigter Mann, den Probleme von internationaler Wichtigkeit in Atem hielten, habe keine Zeit für meine kleinlichen Sorgen. Jedoch das war nichts anderes als Selbstbetrug. Einsam in stiller Nacht habe ich oft wach gelegen und mich über die ungewöhnliche Verschwiegenheit meines Brotherrn und seiner Tochter gewundert. Gab es unter ihnen ein geheimes Wissen um die Verbindung, die zwischen Herrn Wilsons Tod und dem falsch geleiteten Telefonanruf bestand? Warum war Herr Barclay so schroff und düster, als er mir Schweigen befahl – und als er Herrn Ansells Geschichte zurückwies ? Nun, es gehört mir nicht, dieses dunkle Geheimnis, welcher Art es auch sein mochte. Ich warf niemals auch nur den. Schatten eines Verdachtes auf Noble Barclay. Mit seinem felsenfesten Glauben an die Menschheit im allgemeinen und an seine Freunde im besonderen konnte dieses Musterbild der Ehrlichkeit vielleicht das Opfer eines grausamen Betruges geworden sein. Das unvermeidliche Endresultat des Betruges ist die Tragödie. Aus der Wurzel der Falschheit sprießt das Übel. Das ist ein Naturgesetz – und die Natur ist ein grausamer Lehrmeister. 87
Dritter Teil WEM GEHÖRT DER KARIERTE MANTEL? von John Miles Ansell
„Man setzt im allgemeinen Voraus, daß der Zyniker einen lebhaften, forschenden Geist besitzt; in Wirklichkeit aber ist er ohne Wissensdrang und echten Daseinstrieb. Sein Geist ist ein gefrorener Strom, sein Herz hart wie Granit. Zur Zeit Jesu waren es die Zyniker, die den Herrn verhöhnten. Weil sie in ihrer Kindheit einmal lernten, das Gras sei grün, glauben sie, es muß immer so sein – und würde das Gras vor ihrem Hause blutrot, so würden sie auf diese Röte blicken und schwören, daß sie es grün sähen.“ „Mein Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay „Nein, mein schönes Kind“, sagte ich zu der Krankenschwester, die das Adjektiv gern hinnahm, obwohl sie es nicht verdiente, „ich bewundere Sie – aber Sie sind mir zu teuer! Ich kann mir die ganze kostbare Aufmachung hier nicht leisten. Wie, zum Kuckuck, bin ich hergekommen?“ „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Ansell. Wenn sich jemand diese Dinge nicht leisten könnte, lägen Sie nicht hier!“ Ich lehnte mich wieder zurück in dem kostbaren Bett und versuchte, mir die Lage klarzumachen. Seit meine Knie im Büro unter mir nachgegeben hatten und ich auf 88
dem Kanonenkugelexpreß in den leeren Raum gesaust war, hatte ich keine rechten Erinnerungen. Zu essen bekam ich nichts als Haferschleim. Und mit dem Frühstückstablett erschien Noble Barclay. „Na, mein Junge, wie geht‘s?“ „Darüber denke ich nach. Vielleicht bin ich nicht sehr hell. Man erzählt mir, daß ich das Bewußtsein verlor und daß mich eine Scheuerfrau auf dem Fußboden fand. Und dann hörte ich noch, wie der Arzt von der Ambulanz etwas über Bi-Sublimat sagte!“ „Das müssen Sie geträumt haben“, sagte Barclay. „Zuviel Phantasie, Kerlchen! Das kommt von den vielen Detektivgeschichten!“ Er lachte. „Jetzt ist‘s Schluß für Sie mit .Wahrheit und Verbrechen‘!“ „Das habe ich erwartet.“ „Haben Sie Angst, daß Sie Ihren Posten loswerden?“ Barclay gefiel sich. Er lachte gemütlich. „Nein, Sie sind befördert, mein Sohn! Von dieser Woche an sind Sie Redakteur der ‚Wahrheitsauslese‘!“ „ ‚Wahrheitsauslese‘ ? „ „Die neueste Zeitschrift des ‚Wahrheits-Verlages‘. Wahrheit in Tablettenform. Paßt in jede Westentasche, enthält aber das Beste von allem, was gedruckt wird, nicht nur aus unseren eigenen Zeitschriften, sondern aus allen populären Veröffentlichungen. Was halten Sie von der Idee? Originell, wie? Die Idee einer solchen Auslese war ungefähr ebenso originell wie ein Weihnachtsgruß am 24. Dezember. „Werden Sie da nicht viel Konkurrenz haben?“ fragte ich vorsichtig. Barclay überlegte. „Das stimmt schon – es gibt ähnliche Zeitschriften, aber es wäre die erste dieser Art aus unserem Verlag. Verstehen Sie, was ich meine? Wir ha89
ben Nachdruckrechte an andere Zeitschriften verkauft – aber was glauben Sie, was dabei heraussprang? Ein paar Tausend im Monat. Bedenken Sie, mein Junge, was wir damit für ein eigenes Heft anfangen können! Und welch eine Möglichkeit, dem Publikum unsere Botschaft zu bringen!“ „Klingt nicht schlecht.“ „Nicht schlecht?“ schnaubte Barclay. „Das Beste, was Sie sich träumen können! Junge, Sie haben ja keine Ahnung! Sie werden so begeistert davon sein, daß man Sie um Mitternacht von Ihrem Pult nicht mit vier Pferden wegbringt! Vielleicht ist es viel Arbeit — aber nicht zu viel für einen Intellektuellen wie Sie! Und von dieser Woche an steigt Ihr Gehalt auf zweihundert pro.“ Zweihundert Dollar pro Woche? War ich immer noch in Trance? Los, Ansell, wach auf, du träumst noch! In dem Bruchteil einer Sekunde muß der Kanonenkugelexpreß kopfüber in die rauhe Wirklichkeit hineinsausen. Wenn das Bi-Sublimat-Phantasie war…‚ was waren dann die fünfundsiebzig Dollar Zulage pro Woche? Nein, es war kein Traum. Da stand – ebenso wirklich wie das Krankenbett – mein Chef Noble Barclay, strahlend vor Gesundheit und guter Laune, und die gar nicht hübsche Pflegerin schwänzelte und kokettierte um ihn herum, weil sie von seinem Reichtum und seiner kräftigen Männlichkeit gefesselt war. Barclay war sich dieser Bewunderung durchaus bewußt und ließ seinen Charme spielen. „Sie glauben mir wohl nicht, John? Klingt zu schön, um wahr zu sein, was?“ Seine Freude war so ehrlich, daß ich sogar das Theater, das er dabei machte, nicht krummnahm. Er wandte sich an die Pflegerin. „Darf er rauchen, junge Dame? Ich selbst rauche nicht, aber wenn man einem 90
Raucher so aufregende Neuigkeiten vorsetzt, greift er nach einer Zigarette. Wollen Sie ihm nicht eine holen?“ „Nein, er darf nicht rauchen.“ „Dann bringen Sie ihm ein Glas Wasser, ja?“ „Wollen Sie Wasser trinken?“ fragte sie. „Na, ich habe nichts dagegen.“ Sie goß mir aus einer Karaffe ein Glas Wasser ein. Ich sah Barclays enttäuschtes Gesicht. „Sehen Sie, schönes Kind“, sagte ich zur Pflegerin, „Herr Barclay will mir privat etwas sagen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, für ein paar Minuten hinauszugehen?“ Sie ging. Barclay blinzelte mir zu. „Sie sind ein Schlauberger!“ „Ich müßte ein Elefant sein, um solche Zaunpfahlwinke nicht zu merken!“ Er lachte wieder. Ich stand in Gunst bei Noble Barclay. Er freute sich, wenn ich unverschämt war. Ich trank mein Wasser aus, und als ich das Glas auf den Nachttisch zurückstellte, erinnerte ich mich plötzlich an etwas. „Ich hab’s!“ rief ich. „Das Wasser! Gestern Abend trank ich ein Glas Wasser…“ „Ich muß Sie um eine Gefälligkeit bitten“, unterbrach er mich. „Ich bin persönlich an unserem ‚English Grill‘ interessiert, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nichts über die Garnelen verlauten ließen, die Sie gestern Abend dort gegessen haben.“ Ich sah mich um. Nein, die Fenster waren nicht vergittert und die Wände nicht gepolstert. Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Barclay ging über diese Unterbrechung hinweg wie ein Rennpferd über Hindernisse. Ihm liege nicht soviel an den finanziellen Leistungen des „Grills“ sagte er, als an dem Schicksal Smiths, des Besit91
zers. Smith gehöre zu seinen Jüngern, er sei Quartalstrinker gewesen und durch die Befreiung durch Wahrheit geheilt worden. „Seine Erlebnisse ähneln den meinigen“, sagte Barclay. „Und da Sie ja meine ‚Einführung‘ gelesen haben, können Sie sich vorstellen, wie es mir am Herzen liegt, daß Smith auf dem rechten Wege bleibt. Sagen Sie niemandem, was ich Ihnen verraten habe – es würde ihm moralisch unendlich schaden, wenn seine Geschichte zum allgemeinen Klatsch würde! Smith hat sich sozusagen selbst aus der Gosse gezogen und hat aus dem ‚Grill‘ etwas Ordentliches gemacht. Das ist auch der Grund, weshalb mir die Sache so naheging. Wenn das alles herauskommt, ist sein Restaurant ruiniert. Und Gott weiß, was dann aus Smith würde!“ „Oh, sein Glaube an die Wahrheit würde ihm doch helfen, es zu überleben?“ fragte ich nicht ohne Bosheit. „Nein – gerade die Überzeugung, eine Niete zu sein, hat ihn wahrheitsscheu gemacht und auf den Pfad nach unten geführt. Eine Wiederholung des Experimentes wäre für ihn kaum tragbar.“ Er suchte meinen Blick und bat um Verständnis. „Halten Sie es geheim, Ansell – bitte! Wollen Sie?“ Ich lehnte mich in die Kissen zurück, schloß die Augen und gab mir Mühe, recht elend auszusehen. Ich brauchte Zeit, um alles zu überlegen – Barclays plötzliche Großzügigkeit und sein salbungsvolles Mitleid mit Smith. Man hatte mir ein Bestechungsgeld angeboten, damit ich den Trank Wasser aus der blauen Thermosflasche auf meinem Pult im Büro vergessen sollte. Die Pflegerin klopfte an die Tür, schaute herein und öffnete sie weiter, um einen Strauß gelber Chrysanthemen hereinzulassen. Dahinter kam Eleanor. Als sie mich 92
matt in den Kissen lehnen sah, stieß sie den entzückendsten schluchzenden kleinen Seufzer aus, den ich je gehört hatte. „Es geht Ihnen doch wieder gut, nicht wahr?“ flüsterte sie und mußte zwischen ihren Worten nach Luft ringen. Ich genoß ihr Mitleid und behielt meine Pose bei. Barclay strahlte, als ließe er das leibhaftige Glück in unsere ausgestreckten Hände fallen. „Ich laß euch junges Volk jetzt allein“, sagte er. „Ihr habt einander wahrscheinlich eine Menge zu sagen.“ An der Tür winkte er mir zu. „Und wenn Sie irgend etwas brauchen, John – machen Sie nur den Mund auf; und um Ihren Posten kein Kopfzerbrechen! Wir finden schon einen Notbehelf, bis Sie wieder wohl sind. Adieu, ihr Kinder.“ Er ging. Eleanor nahm den Hut ab und gab der Pflegerin die Blumen. „Brauchen Sie bitte recht lange dazu, eine Vase zu finden“, sagte ich. „Meine geschwächte Konstitution verlangt dringend, daß ich eine Weile mit der jungen Dame allein bleibe!“ Als die Pflegerin hinausgegangen war, setzte sich Eleanor in einen Armsessel auf der anderen Seite des Zimmers. Sie war schüchtern und verlegen geworden. Ihr Rock kroch herauf, und sie zog ihn rasch über die Knie. Ich erzählte ihr die Neuigkeit von meinem veränderten Posten. „Ist Vater nicht wundervoll?“ sagte sie. Das verdroß mich. Wenn ein Mann seinem Mädel von einer Gehaltserhöhung und einem großen Posten erzählt, sollte sie ihn bewundern. Herrlich, daß du das geschafft hast, John! Jetzt bist du ein großes Tier, und wir können heiraten! Wenn sie die Anzeigen in Barclays 93
„Wahrheits“-Zeitschriften las, mußte sie wissen, daß sie den Mann zu bewundern hatte und nicht den Vater! „Warum sind Sie hergekommen, Eleanor?“ „Ich… ‚ ich…“ – sie stolperte über die Worte –, „ich hörte, daß Sie krank sind. Das tat mir leid.“ „Es tat Ihnen leid? Meinetwegen? Ich wußte nicht, daß Sie sich genug aus mir machten, um mich zu bedauern.“ „Ich habe Sie vom ersten Tage an – gern gehabt“, sagte Eleanor. Die Sonne, die durch das große Fenster fiel, ließ ihr Haar golden aussehen. Ihre Haut war bleiches Elfenbein, von der Sonne vergoldet. „Das wußte ich nicht“, sagte ich. „Sie sind mir ausgewichen.“ „Ausgewichen?“ „Ich dachte, Sie hätten bereut, damals mit mir gegessen zu haben“, sagte ich. „Ich dachte, Sie wären ärgerlich, weil ich zuviel Persönliches gefragt hatte. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie so empfindlich sind.“ Ihre Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Sie sah darauf nieder. Wenn die Zyniker am Redakteurtisch Witze über Noble Barclay machten, erstarrte sie zu Eis. „Alle Leute fragen mich aus. Und sie denken, sie erfahren mehr über Vater, wenn sie nett zu mir sind!“ „Schönen Dank für Ihre Offenheit“, sagte ich. „Es ist immer nett, wenn man weiß, was der andere wirklich von einem denkt.“ Sie sprang auf und kam zu meinem Bett. „Sie müssen mich verstehen, Johnnie. Ich bin nicht mißtrauisch. Es liegt wirklich daran, daß sich die Leute immer so gegen mich benommen haben. Es ist nämlich nicht einfach, seine Tochter zu sein.“ „Aber offenbar haben Sie Ihre Meinung von mir geändert – und dafür muß ich Ihnen immerhin dankbar sein.“ 94
„Es tat mir nachher so leid, daß ich damals ärgerlich geworden war“, gestand sie. „Aber ich wußte nicht, wie ich es gutmachen konnte. Ich hatte nie den Mut, es Ihnen einfach zu sagen – aber ich hoffte, Sie würden mir verzeihen.“ Ihr Gesicht bekam etwas Farbe. „Ehrlich – Sie werden es nicht glauben, aber ich habe immer gewartete bis Sie aus dem Büro kamen, damit wir zusammen im Lift hinunterfahren mußten – und ich habe immer so gehofft, daß Sie im ‚Village‘ eingeladen seien, damit wir gemeinsam den Bus benutzen könnten!“ „Wahrhaftig?“ rief ich. „Deshalb bin ich ja so oft hinuntergefahren. Wissen Sie nicht, daß ich oben in der Stadt wohne? Ich bin bloß Ihretwegen mit dem Bus gefahren!“ „Aber Sie sagten doch einmal, Sie hätten es eilig, und nahmen ein Taxi und fragten mich, ob Sie mich ein Stück mitnehmen sollten – erinnern Sie sich nicht?“ „Und sobald Sie ausgestiegen waren, ließ ich den Chauffeur umkehren und mich wieder in die obere Stadt fahren.“ „Ist das wirklich wahr?“ rief sie. „Wir wollen nicht länger auf den Busch klopfen“, sagte ich. „Ich bin doch ganz verrückt nach Ihnen und wußte nicht, ob Sie mich mochten oder nicht ausstehen konnten. Jedesmal, wenn ich versuchte, Sie einzuladen, machten Sie Ihr ‚Erschrecktes-Reh‘-Gesicht, und…“ „Ich hatte Angst.“ „Vor mir doch nicht?“ Ich lachte. „Na, und ich dachte, Sie hätten mich von Ihrer Liste wegradiert, weil ich ziemlich frech über Ihren alten Herrn gesprochen hatte. Ich hatte Angst, Sie würden von mir verlangen, den Unsinn von der Reinigung des Unterbewußtseins zu glauben – und von den Geheimnissen, die schwärende Wunden 95
sind. Herrgott, und das ist doch wirklich…“ „Halt“, sagte sie. „Bitte, lassen Sie uns nicht darüber sprechen.“ „Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir darüber sprechen.“ „Bitte.“ „Wie können wir Freunde sein, wie können wir einander etwas bedeuten, wenn wir uns fürchten, über das zu sprechen, was Sie so nahe angeht. Nebenbei“, ich konnte den Witz nicht unterdrücken, „ist das nicht der basische Lehrsatz? Sieh der Wahrheit ins Auge, reiße die Wurzeln der Scham aus, bekenne…“ „Ich liebe meinen Vater.“ Sie sagte das, als hätte ich ihr das Recht dazu abgesprochen. Ihre Augen waren durch die erweiterten Pupillen dunkel geworden, die Muskeln an ihrem Hals sprangen heraus. „Natürlich“, sagte ich. „Natürlich lieben Sie ihn, er ist doch Ihr Vater, da ist es selbstverständlich, daß Sie ihn lieben.“ Sie beugte sich über mein Bett. Ihre Stimme war leise und eintönig, ohne Ausdruck. „Er glaubt jedes Wort. Alles, was er schreibt, ist vollkommen ehrlich. Die ‚Einführung‘ – das ist seine eigene Geschichte. Er hat die Hölle gehabt – und er hat sich selbst gerettet, und nun glaubt er, daß er auch andere retten kann.“ „Ich wünschte, Sie wären nicht so unglücklich.“ Ich griff nach ihrer Hand. Eleanor lächelte, der Glanz kehrte in ihr Gesicht zurück, und ihre Hand lag warm in der meinen. „Warum glauben Sie, daß ich unglücklich bin? Ich möchte nur, daß Sie an meinen Vater glauben. Sie brauchen nicht an die ‚Wahrheits‘-Phrasen zu glauben – aber glauben Sie 96
an ihn! Er ist ein guter Mensch, ein aufrichtiger Mensch!“ Meine Hand schloß sich fester um die ihre. „Okay, ich halte ihn auch für aufrichtig.“ „Wirklich? Tun Sie es wirklich?“ Ich markierte eigentlich den kranken Mann, aber ich hatte doch bemerkenswerte Kräfte. Ich legte die Arme um Eleanor und zog sie herunter, neben mich aufs Bett. Unglücklicherweise kam die Pflegerin herein, und wir fuhren auseinander. Eleanor blieb über eine Stunde. Wir sprachen über meine neue Stellung, und sie betonte immer wieder, wie bedeutend diese sei. „Und eins muß man Vater lassen – das kann niemand abstreiten: Er ist ein glänzender Geschäftsmann, und er hätte dir nie diesen wunderbaren Posten gegeben, wenn du ihn nicht verdientest!“ Ich blieb fünf Tage im Krankenhaus, dann wurde ich entlassen. Der Arzt empfahl ein paar Tage Ruhe, und Barclay bot mir einen vierzehntägigen Urlaub mit voller Bezahlung an. Ich fuhr nach Hause, um meine Mutter zu besuchen und vor meinen Freunden und der Familie mit meinem neuen Posten zu prahlen. Sie waren sehr beeindruckt. Schließlich, zweihundert pro Woche ist allerhand. Aber nach ein paar Tagen langweilte mich ihre Bewunderung, und ich wollte gern wieder an die Arbeit und zu Eleanor. Sie hatte mir in einem Ferngespräch gesagt, sie vermisse mich… Donnerstag, den 6. Dezember – genau vierzehn Tage nach dem ganzen Rummel –, ging ich wieder ins Büro. Meine Taschen waren vollgestopft mit alten Briefumschlägen und Geschäftskarten, auf die ich Notizen und Entwürfe gekritzelt hatte – lauter herrliche Ideen für die ‚Wahrheitsauslese‘. 97
Alle kamen in mein neues Büro, um mir zu gratulieren. An der Wand über meinem Schreibtisch hing Noble Barclays Bild mit einer Widmung: Seinem lieben Freund, John Miles Ansell. Direkt darunter stand ein Tablett aus Chrom mit Thermosflasche und Glas. Diesmal waren sie in Grün gehalten, mit der Innendekoration harmonierend – sonst aber waren sie genau wie die blaue Flasche und das blaue Glas im Büro von ‚W. u. V.‘. Ich tat ein Gelübde: gleichviel, wie durstig ich wäre – aus dieser Flasche würde ich nie einen Schluck trinken 1 Zwei Wochen lang hatte ich mich bemüht, mir Handlungen und Motive desjenigen auszumalen, der versucht hatte, mich zu vergiften. Jeder Mensch im Büro hätte es ausführen können. Der ganze Stab wußte, daß ich an jenem Abend beabsichtigte, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Ich hatte Frau Kaufmann gebeten, dem Nachtwächter Bescheid zu sagen, daß ich gegen elf zurückkäme. Wer es auch war, der die Dosis Gift in meine Thermosflasche geschüttet hatte – er mußte in meinem Büro gewesen sein, während ich unten im „Grill“ meine Hammelsteaks aß. Nun wollte ich einmal den Büroklatsch hören. Was Frau Kaufmann irritierte, war die Tatsache, daß ich Seetiere gegessen hatte. „Ich dachte, Sie hätten eine Abneigung dagegen. Ich weiß noch ganz genau – eines Abends, als Sie lange arbeiteten, baten Sie mich, ich solle Ihnen das Essen hinaufschicken lassen – und Sie sagten noch extra, Sie äßen alles, bis auf Schalentiere. Sie sagten, Sie hätten eine unüberwindliche Abneigung gegen Hummer, Krabben, Muscheln, Austern und Garnelen!“ „Stimmt, Frau Kaufmann, sie bekommen mir nämlich nicht. Aber an diesem Abend war ich leichtsinnig. Ich hatte Hammelsteaks bestellt, und es dauerte so lange – 98
sie werden frisch gebraten –, daß ich der Kellnerin sagte, sie solle mir einen Garnelencocktail bringen. Und dabei kann ich die Viecher wirklich nicht vertragen, deshalb wurde ich krank davon. Sind Sie nun zufrieden?“ „Mich geht es doch nichts an.“ Frau Kaufmann kramte in der untersten Schublade ihres Schreibtisches. Sie kehrte mir den Rücken zu, und ich studierte die Kurven unter ihrem dünnen Seidenkleid. „Sie tun aber besser daran, das jetzt nach Hause zu nehmen“, sagte sie. „Was ist das?“ Sie händigte mir ein Manuskript im Kuvert aus. „Die Wilsongeschichte. Herr Munn ließ mir sagen, ich solle sie in sein Büro bringen. Er dachte, ich hätte nur die üblichen drei Durchschläge gemacht; aber ich mache immer einen extra für den Autor, falls er einmal ein Buch herausgeben will. Heben Sie die Kopie lieber irgendwo auf, wo sie niemand findet.“ „Danke, Frau Kaufmann. Und sagen Sie: können Sie mir vielleicht ein großes Bild von einem Garnelensalat oder einem Garnelencocktail besorgen?“ „Bitte? Garnelensalat oder Garnelencocktail?“ „Jawohl, und zwar sehr groß – und möglichst hübsch bunt! Und schön eingerahmt.“ „Um Himmels willen – wozu denn?“ „Ich will es über meinen Schreibtisch hängen“, sagte ich, „damit ich niemals vergesse, warum ich hier bin.“ Sie sah mich groß an und schüttelte langsam den Kopf. Ich habe oft bei meiner Mutter dieselbe befremdete Kopfbewegung gesehen. Um halb zwölf wusch ich mir die Hände und kämmte mir sorgfältig das Haar. Ich beabsichtigte, meine Beförderung mit Eleanor in einem sehr teuren Restaurant zu feiern. 99
Im Waschraum traf ich Munn. „Gratuliere, junger Mann!“ Sein Clownsmund krümmte sich, als sei sein Lächeln mit fettiger Pomade aufgemalt. Ich tauchte die Hände ins heiße Wasser. „Danke, Herr Munn.“ „Eine große Ehre für einen jungen Mann wie Sie. Manch einer, der doppelt so alt ist, gäbe einen Augenzahn für eine derartige Chance!“ „Meine Augenzähne sind längst gezogen. Ich opferte sie meiner lieben alten Alma mater – der Universität der harten Schläge!“ Er lachte gekünstelt. „Als Barclay mich um meine Meinung über Ihre Beförderung fragte, habe ich ihm ganz offen gesagt, was ich von Ihren Fähigkeiten halte. Vielleicht können Sie es erraten.“ Er sah mich erwartungsvoll an und wartete sichtlich darauf, daß ich seinen Partner in diesem Menuett spielte. „Ich habe Ihr Talent immer bewundert. Selbst wenn ich genötigt war, in gewissen Punkten einen anderen Standpunkt zu vertreten als Sie, respektierte ich immer Ihre Meinung.“ Ich hoffte, mein Gesicht zeigte ihm meine Verachtung deutlich genug. Wenn es auf der Welt eine Kreatur gibt, die niedriger ist als die Schlange, dann ist es der Speichellecker. Jetzt, nachdem ich Redakteur von Barclays bester Zeitschrift war, lief Edward Everett Munn zu mir über. Er hatte meine Meinung immer respektiert! „Wir müssen gelegentlich einmal zusammen lunchen“, sagte er, auf seine Armbanduhr sehend. „In meinem Klub. Schade, jetzt muß ich mich beeilen. Hab eine Verabredung.“ Ich verwendete viel Sorgfalt auf einen schönen Scheitel und tat mein Bestes an meinem Schlips. Dann schlenderte ich zur Redaktion von „W. u. L.“, ich zwang mich, 100
langsam zu gehen, um nicht zu eifrig zu erscheinen. „Wie wär’s mit Lunch?“ fragte ich, als ich die Tür öffnete. „Wie es mit Lunch wäre?“ echote Lola Manfred. „Wo ist Eleanor?“ „Zum Lunch gegangen.“ Ich war restlos erschüttert. „Zum Lunch? Allein?“ „Nein, mit ein paar anderen Mädchen, glaube ich.“ „Aber ich…“ „Hatten Sie sie eingeladen?“ unterbrach mich Lola. „Ich glaube, sie hat den ganzen Vormittag auf eine Einladung gewartet. Das ist ein Malheur mit euch Männern. Ihr haltet immer alles für selbstverständlich.“ Lolas Stimme, gewöhnlich so schrill, daß ein Tauber sie drei Meilen weit ohne Hörrohr vernehmen konnte, wurde weicher. „Nehmen Sie sie weg von hier, Johnnie. Wenn Ihnen was an dem Mädel liegt, nehmen Sie es weg aus diesem Höllenloch.“ Ich starrte sie an. Zum erstenmal, seit ich Lola kannte, verstand ich, was die Leute meinten, wenn sie von ihrer verblichenen Schönheit sprachen. Die Legende von Lola Manfred hatte mir falsch geklungen wie alles im Barclayhaus. In den zwanziger Jahren war Lola eine schlanke Dichterin gewesen, die Hoffnung von Greenwich Village. Man erzählte sich, daß sie einen Millionär, mit dem sie in Paris verheiratet war, verlassen hatte, um ihr eigenes Leben zu leben, um zarte Verse über Liebe und Tod zu schreiben und dabei zu hungern. Das war lange her. Es war schwer, die Redakteurin von „W. u. L.“ mit dem schlanken Mädchen in Verbindung zu bringen, das ein dünnes Büchlein melancholischer kleiner Verse schrieb. Lolas Beine waren noch schön, aber alles andere an ihr war derb und fett, gebläht und 101
alkoholgedunsen. Ihre Augen waren Kinderaugen, rund und weit auseinander stehend und blau wie Blumen. „Wie lange arbeiten Sie schon hier, Lola?“ fragte ich. „Mehrere Jahrhunderte. Nur Gott ist alt genug, um es zu wissen.“ „Wollen Sie mit mir lunchen?“ „Als Lückenbüßer? Ach, es ist lange her, daß ich um meiner selbst willen eingeladen wurde. Ja, die Erinnerungen! Das ist alles, was einer alten Vettel bleibt. Wo wollen wir essen?“ Ich war galant. Ich sah mich selbst, einen weltmüden Dandy von 1925, der sich aus Liebe zu Lola Manfred zu Tode trank. „Wie wär‘s mit dem ‚Algonquin‘?“ Sie gähnte. „Was mich anbelangt – mir ist eine Kneipe so recht wie die andere.“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, pflanzte sich ein Räuberbarett mit einer Art Dolch über dem rechten Auge schief auf den Kopf, warf ein räudiges Pelzcape über die Schultern, rieb sich die Schuhspitzen an den Strümpfen ab und ging vor mir hinaus. Als wir im Foyer auf den Lift warteten, sah sie sich in dem Spiegel. „Finden Sie nicht auch – dies edle Antlitz erinnert stark an einen Gorgonzola? Sehr, sehr alten Gorgonzola – aus der Milch skrofulöser Ziegen?“ Der Lift hielt für uns, aber Lola beachtete ihn nicht. Sie durchwühlte die Antiquitäten in ihrer Handtasche. Endlich zog sie einen schmierigen Lippenstift heraus. Mit kleinen, liebkosenden Bewegungen malte sie sich einen Amorbogen. Eine neue Gruppe von Barclayleuten sammelte sich vor dem Lift. „Wie, zum Teufel, haben Sie bloß diesen Ehrenposten bekommen?“ fragte Lola. Ihre Stimme hätte jede Herde auch von dem fernsten Felde 102
heimgerufen. Ich stieß ihren Ellbogen an. Sicher war mehr als einer von Barclays Spionen unter den Wartenden. Ohne Rücksicht sprach sie mit Stentorstimme weiter: „Ich bin nicht etwa futterneidisch auf einen ehrgeizigen jungen Mann; daß aber ein einigermaßen sauberer Bursche wie Sie in dieser Mistgrube eine Chance bekommt, nimmt mich wunder. Haben Sie inzwischen vielleicht auch ein dunkles Geheimnis gefunden?“ Dreimal ließen wir den Lift vorbeigehen. Plötzlich fand Lola, daß ihre künstlerische Arbeit an ihrem Mund beendet sei, und schob mich zum Aufzug. Jemand schlüpfte eilig hinter uns hinein. Ich roch Toilettewasser und Pfefferminz. Es war Munn, wie ein Klubmann im Paletot mit Samtaufschlägen und Derbyhut. „Das ist nämlich der Trick, mit dem ich meinen Posten halte“, vertraute mir Lola schallend an. „Und ich weiß nicht nur, wo das betreffende Geheimnis begraben ist, sondern ich habe es auf der Karte eingezeichnet. Mit einem X auf der Stelle, wo… Ich schreibe meine Autobiographie, und wenn die veröffentlicht wird, kommt eine saftige Frucht an den Galgenbaum!“ Der Lift hielt. Mit einer Entschuldigung huschte Munn an uns vorbei. Lola drehte hinter seinem Rücken eine Nase. Wir nahmen ein Taxi zum „Algonquin“. Die Halle steckte voller Leute, die hungrig darauf warteten, ein großes Tier zu sehen, oder selbst gesehen werden wollten. Vor der Tür des Speisesaales drängten sich die Menschen. Der Oberkellner sah mich gleichgültig an, als er aber Lola erblickte, wurde er wie ein Vater, der sein längst verlorenes Kind wiederfindet. In ein paar Sekun103
den saßen wir an einem der besten Tische. „Sie lassen sich ja gar nicht mehr sehen, Frau Manfred“, sagte der Manager und verbeugte sich wie Essex vor Elisabeth. „Das sagen Sie wahrscheinlich jeder Dame“, sagte Lola. „Oh, Sie kamen früher täglich her, gnädige Frau!“ Die braunen Augen des Managers blickten sie vorwurfsvoll an. „Gefällt es Ihnen nicht mehr bei uns?“ „Ich schlafe nicht mehr mit den besseren Literaten. Wollen Sie bitte einen Ihrer netten Kellner schleunigst mit drei ‚Anno dazumal‘ zu uns schicken?“ „Drei, Frau Manfred?“ „Zwei für mich und einen für meinen jugendlichen Ritter!“ Ungerührt ging der Manager weg. Als sie ihr erstes Glas ausgetrunken hatte, sagte sie: „Sie wären erstaunt, wenn ich Ihnen erzählte, wie lange es her ist, daß ich zum erstenmal die Barclaybibel las.“ „Ich dachte, Sie wollten nicht von ihm sprechen?“ „Ich las sie, ehe ihm sechs Millionen Esel gutes Geld dafür bezahlten, ehe sie in sechzehn Sprachen übersetzt wurde. Ich sagte, es sei Mist und Mumpitz, und jeder, der einen Dollar dafür blecht, sollte ins Irrenhaus gesteckt werden. Prophetisch, was?“ „Sie haben nie etwas anderes gesagt. Wenigstens nicht, seit ich Sie kenne!“ „Meine heilige Überzeugung. Ob sie stimmt oder nicht – es ist meine heilige Überzeugung.“ Sie nahm ihr zweites Glas in Angriff. Es war etwas Naives in ihrer Art, das Glas in beiden Händen zu halten und den Kopf darüber zu beugen wie ein Kind über seine Milchtasse. Sie sah mich über das Glas hinweg an und 104
fragte: „Wollen Sie mein Glaubensbekenntnis hören, Johnnie?“ Ihre Stimme wurde weich, und sie sprach vor sich hin ins Leere: „Voltaire – Rousseau – vergeblich sind euer Witz und euer Spott. Ihr werft nur Sand gegen den Wind, und der Wind weht ihn zu Gott… Wenn ich einmal meine Autobiographie herausgebe, so nenne ich sie ‚Sand gegen den Wind…‘„ „Gute Verse, Lola – Sie haben Ihre Kunst nicht verlernt.“ „Nett von Ihnen, Ansell – zu nett. Ich werde Sie in meinem Buch erwähnen. Als den jungen Mann, der mir das letzte Kompliment machte. Aber Sie verwechseln mich mit Blake.“ Ich runzelte die Stirn. Sie schwatzte rascher, als ich denken konnte. „Blake“, sagte sie nachdrücklich. „Blake, William, englischer Dichter, siebzehnhundertsiebenundfünfzig bis achtzehnhundertsiebenundzwanzig. Sie haben ihn vermutlich im College nennen hören!“ Ich nahm ihren Spott nicht übel. Der Name des Dichters hatte eine Glocke in meinem Gedächtnis berührt. Die Glocke läutete – aber ich wußte nicht, zu welchem Begräbnis. Lola plauderte weiter. Sie sagte, sie hätte Barclay vergessen wollen, aber er sei bei ihr zur fixen Idee geworden. Alle Wege führen zur Befreiung durch Wahrheit. „Sie sind gar nicht so verschieden voneinander, Buchman und Barclay, müssen Sie wissen. Buchman führte die Oxfordbewegung zum Erfolg, weil die .moralische Wie105
deraufrüstung‘ die Sensation des Bekenntnisses in sich schließt. Des öffentlichen Bekenntnisses, wohlgemerkt. Ein paar echte Gläubige tun sich zusammen und erleichtern ihre Herzen, indem sie sich gegenseitig erzählen, welche Hölle es für sie war, unmoralisch zu sein.“ „Wollen Sie Barclay verteidigen?“ „Nein, ich will ihn mir nur erklären. Er bedient sich zum Teil derselben Technik. Lesen Sie bloß seine .Einführung‘. Wie verdorben sich ein armer Sünder auch fühlt – Barclay ist schlimmer! Er hat alle Sünden begangen, die im Kalender stehen, und ist bereit, die Sünden seiner Jünger auf sich zu nehmen. Die Befreiung durch Wahrheit reinigt und befreit auf eine billige, bequeme, volkstümliche Weise. Man braucht keinen Arzt zu bezahlen und keine Höllenqualen zu befürchten. Man findet einen Busenfreund, macht ihn verrückt auf die Befreiung durch Wahrheit, und dann bekennt man ihm seine Sünden, seine Mängel, seine geheimen Gedanken, steigert sich selbst in Hysterie, befreit sich von jedem Schuldgefühl, und – hoppla! – man ist gerettet.“ „Es klingt sehr einfach, wie Sie es schildern.“ „Alle Theorien sind einfach für die Leute, die daran glauben. Wenn das gemarterte Herz nach Erleichterung schreit, ist es ziemlich gleichgültig, durch welche Methode der Schmerz geheilt wird. Es ist unwichtig, was Sie glauben – wenn Sie nur glauben! Lassen Sie Rousseau und Voltaire ruhig spotten.“ Der Kellner brachte die Vorspeise. Lola aß zwei Bissen davon und bat um etwas zu trinken. „Glauben Sie, daß Barclay mit sich selbst ehrlich ist? Glauben Sie, daß er weiß, was er den Psychiatern, den Psychologen, den Theologen, den Theosophen, den Gesundbetern, den Priestern, den Zauberdoktoren und den 106
alten Göttern schuldet?“ fragte ich. „Warum sollte sich Barclay das ausrechnen?“ sagte Lola. „Das hat er doch gar nicht nötig. Wozu ein Mirakel erklären, das jährlich mehrere hunderttausend Dollars einbringt?“ „Und trotzdem scheint er mir manchmal ein ehrlicher Kerl zu sein“, sagte ich. „Er schont sich nicht, und er erspart sich nichts, wenn er von seiner schuldvollen Vergangenheit schreibt, und Sie können nicht leugnen, daß er ausführt, was er predigt. Ob wir über ihn spotten oder nicht, Lola, ich fühle, daß Barclay guten Glaubens ist – er glaubt die richtige Formel für Gesundheit und Glück gefunden zu haben und möchte sie der Welt mitteilen.“ „Zu einem Dollar pro Band, in Maroquinleder dreifünfzig, und durch Jahresabonnements auf seine Zeitschriften.“ „Deshalb ist er nicht unaufrichtig. Die meisten Wege zum Glück kosten mehr. Der moderne Messias kann nicht barfuß gehen.“ „Ich möchte noch etwas trinken.“ „Nicht, ehe Sie vernünftig gegessen haben“, sagte ich. „Sie sind nicht dumm“, schmollte Lola. „So was hab ich gern – mich mit Alkohol weichmachen und eine Portion unverschämter Fragen stellen –, und wenn Sie erreicht haben, was Sie wollen, werden Sie geizig!“ „Essen Sie Ihren Lunch, Lola. Wenn Ihr Teller leer ist, bekommen Sie noch etwas zu trinken.“ Als sie den Salat aufgegessen hatte, bestellte ich beim Kellner einen Kaffee für mich und einen doppelten Brandy für die Dame. „Sie haben Verständnis für mich! Sie kommen in meine Memoiren: John Ansell, ein hochtalentierter und hübscher junger Mann‘.“ 107
Ich ließ sie ihren Brandy austrinken, ehe ich weitere Fragen stellte. Als ich ihr die Zigarette anzündete, sagte ich: „Sie müssen Barclay schon ziemlich lange kennen.“ Sie seufzte. „Länger, mein Schatz, als mir lieb ist!“ „War er einer Ihrer Liebhaber?“ „Nehmen Sie das zurück, oder ich verlasse unter Protest das Lokal.“ „Aber Wilson vielleicht“, sagte ich und hielt ihren Blick fest. Es war ein Schuß ins Dunkel, aber nicht schlecht gezielt. Die Glocke, die bei Blakes Namen anschlug, hatte mich daran erinnert, daß Wilsons Erstausgabensammlung eine Anzahl Bände von Blake enthielt. „Wer, Verehrtester?“ „Warren G. Wilson“, sagte ich. Sie änderte weder ihre Miene noch ihre Haltung. Ihre eine Hand lag blaugeädert auf dem Tischtuch, die andere hielt das Brandyglas. Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Kein Muskel spannte oder lockerte sich. Ich fühlte mehr, als ich sah, daß es ihr einen Stich ins Herz gab, und sie schauderte. „Warren G. Wilson“, wiederholte ich. „Kenn ich nicht. Nie von ihm gehört.“ Lola trank ihren Brandy aus, fischte auf der Bank herum und beschuldigte den Pikkolo, ihren Hut gestohlen zu haben. Der Oberkellner sprang herbei, sie zu beruhigen, während der Pikkolo und ich unter den Tisch krochen. Das Barett fand sich nicht, bis Lola aufstand. Sie hatte darauf gesessen. „Das war eine Verschwörung, um mich lächerlich zu machen“, sagte sie. Ihre Hand strich über den Hut, als wollte sie das alte Wrack über ein grausames Unrecht trösten. Dann stülpte sie ihn wieder im verrückten Winkel auf den Kopf und vergaß die Sache. Auf dem Wege 108
zur Straße blieb sie mehrmals in der Halle stehen, um mit einigen Exliebhabern zu sprechen. Alle, so vertraute sie mir im Taxi an, seien schmutzige Hundesöhne. „Und Sie sind um nichts besser. Der lausigste Detektiv, der mir je über den Weg lief. Warum lernen Sie das Handwerk nicht berufsmäßig? Schriftliche Fernkurse, fünf Dollars Anzahlung, fünf pro Monat.“ Ihre Stimme war hart. Sie hatte witzig sein wollen, und es war danebengegangen. Den Rest des Weges zum Barclayhaus sah sie schweigend aus dem Fenster. Eleanor las Fahnen in der „W. u. L.“-Redaktion. Sie sah bescheiden und schön aus in einem schwarzen Kleid mit steifem weißem Kragen und Manschetten. Das Büro roch nach frisch geschnittenen Blumen. Auf Lolas Pult stand eine Vase mit La-France-Rosen, die nicht dagewesen waren, als wir das Büro verließen. Ich überlegte eifersüchtig, wer sie Eleanor geschickt haben mochte. „Nun, habt ihr gut geluncht?“ fragte Eleanor. „Wunderbar“, sagte Lola. „Er ist das Ideal von einem Kavalier, Gentleman der alten Schule. Kauft dir hundert Brandys und verlangt keine Belohnung!“ Ihre Stimme war rau, und ich merkte, die Wunden, die ihr meine Neugier geschlagen hatte, schmerzten noch. „Es tut mir leid, wenn ich etwas Unpassendes gefragt habe, Lola“, sagte ich. „Ich wollte Sie bestimmt nicht verletzen.“ „Ich bin wundenbedeckt, doch ungebeugt“, sagte Lola. Dann sah sie die Blumen. Vorwurfsvoll blickte sie auf Eleanor. „Es ist so warm hier drin“, sagte Eleanor entschuldigend. „Ich habe die Schachtel aufgemacht und sie ins Wasser gesteckt. Es tut mir immer so leid, wenn ich Blumen sterben sehe. Ohne Karte, wie gewöhnlich.“ 109
Lola warf das Räuberbarett in die Ecke. Das Pelzcape lag in einem Häufchen auf dem Boden. Sie stieß es mit der Spitze ihres abgetragenen Lackschuhs weg. Lola mußte rund fünfzig sein, aber sie machte ein Theater wie ein verwöhntes Baby. Eleanor bückte sich nach dem Barett, staubte es ab und hängte es weg. Sie schüttelte den Staub aus dem Pelzcape. „Wir brauchen sie nicht im Büro zu behalten“, sagte sie. „Ich gebe sie wieder den Mädchen im Empfangsraum. Sie sind so dankbar! Ich bin gleich wieder da, Johnnie.“ Und Eleanor trug die Rosen hinaus. Auch Lola fegte aus dem Büro. Gleich darauf war Eleanor zurück. „Was war denn los mit ihr?“ fragte ich. „Warum war sie auf einmal so verstimmt?“ Eleanor zuckte die Achseln. „Sie hat sicher zum Lunch zuviel getrunken – denke ich wenigstens. Das geht rasch vorbei.“ „Muß nett für dich sein, mit dieser launischen Person zu arbeiten.“ „Sie tut mir leid. Sie ist in letzter Zeit so unglücklich. Sie ist überhaupt so ein unglücklicher Mensch.“ Eleanor sah auf den Wasserfleck, den die Vase auf Lolas Schreibtisch hinterlassen hatte. Ich war noch unsicher wegen der Blumen und fragte vorsichtig: „Warum ärgert sie sich über die Rosen?“ Eleanor trocknete die Tischplatte. „La-France-Rosen ärgern sie immer. Das geht schon Monate so. Wahrscheinlich ist ihr der Absender zuwider.“ Wir ließen den Gegenstand fallen. Lolas Launen interessierten mich erheblich weniger als Eleanors Reize. Der steife Kragen und das bescheidene Kleid machten sie 110
besonders verführerisch. Ich küßte sie. Sie wurde in meinen Armen weich, schmiegte sich an mich und ließ sich Stirn, Hals und Mund küssen. „Du bist wundervoll, Eleanor. Jedes andere Mädchen würde die Tür nicht aus den Augen lassen und mich immerfort ermahnen, daß jemand hereinkommen kann!“ „Mir ist es egal, wenn alle wissen, daß ich dich liebe.“ Was kann ein Mann mit so einem Mädchen anfangen – das sozusagen einen Keuschheitsgürtel trägt und ihm den Schlüssel in die Hand gibt? Da es ihr egal war, ob wir im Büro ertappt wurden, war ich derjenige, der die Haltung bewahren mußte. Ich richtete meinen Schlips und kämmte mein Haar. „Ich wollte dich im Triumph in irgendeine kostspielige Räuberhöhle zum Lunch entführen, aber du fandest bessere Gesellschaft. Wie wär‘s mit dem Abendessen?“ „Das kocht bereits.“ „Was kocht?“ „Das Abendessen.“ „Was für ein Abendessen?“ „Deins, du Trottel!“ „Ich bin vielleicht ein bißchen begriffsstutzig“, sagte ich, „aber dein Spott bringt mich aus dem Konzept. Ich habe dich eingeladen.“ „Und ich erzähl dir, daß Brenda Zur Zeit unser Essen kocht, sie arbeitet nachmittags bei mir. Du bist krank gewesen und sollst nicht in Restaurants herumsitzen. Brenda bereitet ein schlichtes, aber nahrhaftes Mahl!“ Ich küßte sie wieder. Herrgott, hatte ich ein Glück! Dieses Mädchen liebte mich. Sie sorgte sich um meine Gesundheit. Sie hatte einen Küchenzettel für mich entworfen. Es wäre bestimmt der schönste Abend in meinem Leben geworden – aber, aber… Blake. Ebenderselbe 111
Blake, William, englischer Dichter, 1757 bis 1827. In einer Stadt von sieben Millionen war es möglich, drei Leute zu finden, die denselben Dichter kennen und lieben, zitieren und seine Werke sammeln. Zwischen Lolas und Eleanors Geschmack bestand eine logische Verbindung. Sie arbeiteten gemeinsam und sprachen selbstverständlich miteinander über Dichter und Bücher. So reimte ich es mir zusammen, als ich drei Bände mit dem Namen des Dichters in Eleanors Appartement sah. Sie war in die Küche gegangen, um einen Martini zu mixen. Ich schlenderte in ihrem Wohnzimmer umher, besah ihre Sachen, merkte, wie behaglich sie die kleine Wohnung eingerichtet hatte. Als Eleanor mich im Krankenhaus besuchte, hatte sie mir ein wenig über sich selbst erzählt, und ich wußte, was es sie für einen Kampf gekostet hatte, Noble Barclay zu überzeugen, daß sie lieber in drei Zimmern in der Zehnten Straße Ost wohnte, als den Luxus seiner Riesenwohnung in der Fünften Avenue zu genießen. Ich studierte gerade die Titel auf den Bücherrücken des zweiten Regals, als Eleanor mit dem Martini zurückkam. Wir tranken uns zu und benahmen uns verliebt. Das Mulattenmädchen kam und ging, deckte den Tisch und tat, als sähe sie uns nicht. Der Martini war ausgezeichnet, die Oliven entkernt und die Gläser eisgekühlt. Eleanors Haut war glatt und kühl wie eine Blume aus dem Eisschrank des Blumenhändlers. Ich hielt sie in meinen Armen und sah dabei über ihre Schulter auf das zweite Bücherregal, und zufällig blieb mein Auge an. einem Band Blake hängen. Eleanor fühlte, wie mein Körper sich anspannte, und zog sich zurück. „Was ist denn, Johnnie?“ „Nichts.“ 112
„Doch – du bist zurückgezuckt.“ „Aber nein, Kind – du irrst dich.“ „Entschuldige mich einen Augenblick. Ich will mich waschen.“ Sie ging steif hinaus. Ich rief sie nicht zurück und küßte sie nicht noch einmal, sondern ging geradewegs zum Bücherbrett. Der erste Blake war eine moderne Ausgabe, 1937 erschienen, mit Reproduktionen von Blakes eigenen Zeichnungen illustriert. Ein kleines silbernes Etikett auf der Innenseite des hinteren Deckels zeigte, daß es aus einem Laden in Greenwich Village kam. Der zweite war eine Biographie des Dichters. Und dann war noch ein alter Band da, wahrscheinlich ein Stück für Sammler und eine Menge Geld wert. Auf dem Vorsatzblatt stand eine handschriftliche Widmung. Mein Herz setzte aus, als ich las: Der wunderschönen Dame Eleanor Barclay von ihrem demütigsten Verehrer als Angebinde. W. G. W. – Februar 45 Sie rief mir aus dem anderen Zimmer zu, ich solle mir noch einen Cocktail eingießen, und versprach, in drei Minuten fertig zu sein. Die drei Minuten waren wie drei Jahre. Ich dachte an den Ausdruck auf Eleanors Gesicht, als sie mit Grace Eccles aus dem Waschraum kam. Schuldbewußt stellte ich das Buch zurück und fing an, im Kamin zu stochern. Die Scheite waren mit einer Salzlösung präpariert, und die Flammen waren flüssige Zungen, orange und blau, golden, purpurn, scharlachrot, und ab und zu flammte ein schwefelgrüner Streifen auf. „Hallo, Johnnie“, sagte Eleanor. Sie trug ein langes schwarzes Samtgewand – „Emp113
fangskleid der Hausfrau“ nennt man die Dinger, glaube ich –, ausgeschnitten und mit weitem Rock. Ihre altmodischen Ohrringe waren mit dunkelroten Steinen besetzt, und eine große herzförmige Brosche schloß das Kleid auf der Schulter. Sie war schön, sie war eine wunderschöne Dame, der ein demütiger Verehrer die Gedichte Blakes als Angebinde geschenkt hatte. Das Essen war fertig. Ich zog Eleanor den Stuhl zurecht, wurde formell und verneigte mich. Das Kerzenlicht veränderte ihr Gesicht. Das Wunder an diesem Mädchen war, daß sie aussehen konnte wie mehrere ganz verschiedene Personen: ein unschuldiges junges Ding, eine verführerische Hexe, ein berufstätiges Mädchen. Oder wie eine wunderschöne Dame. Ich hätte sie darum noch viel mehr lieben müssen, bei dieser Wandlungsfähigkeit konnte sie nie langweilig werden – aber ich war nur verstört durch diese Vielfalt. Ich liebte sie – aber ich wußte nicht, was ich von Barclays Tochter zu erwarten hatte. Nur einen Block von Eleanors Wohnung entfernt, gerade um die Ecke, war das Hotel, in dem Warren G. Wilson gelebt hatte und gestorben war. Zu Fuß zwei Minuten. Ich stellte mir vor, wie Eleanor die Zehnte Straße Ost hinabeilte, den karierten Mantel fest um sich gezogen, die hohen Absätze auf dem Pflaster klappernd. Das Essen war gut. Brenda nahm die Suppenteller weg und servierte Backhuhn, Brokkoli und glasierte Kartoffeln. Es gab noch heiße Biskuits, Erdbeerkonfitüre und leichten Weißwein. Ich war zum erstenmal bei ihr eingeladen, und ich merkte, Eleanor hatte lange über den Speisezettel nachgedacht und wichtige Konferenzen mit dem Mädchen darüber abgehalten. Die Unterhaltung stockte nicht, aber sie war bedeu114
tungslos. Eine Dame in schwarzem Samt unterhielt liebenswürdig ihren Gast. Bitte, noch ein Stück Backhuhn? Schmeckt Ihnen der Wein? Es ist Rheinwein. Rheinwein trinke ich am liebsten. Wir sprachen über Bücher, und ich fragte sie, ob sie Gedichte liebe. Ich hatte nicht viele Verse gelesen, seit ich aus dem College kam, aber ich redete, als widmete ich mindestens drei Abende meiner Woche der Browning-Gesellschaft. Endlich brachte ich es fertig zu sagen: „Ich sehe, du interessierst dich für Blake.“ „ja, aber ich bin nicht versessen auf ihn. Er ist mir zu mystisch. Die Mischung von Naivität und Mystik läßt mich kalt.“ In ihrer Stimme klang keinerlei Erregung. Die Blakes hätten ebensogut Geburtstagsgeschenke von einer Schulfreundin sein können. „Ich hatte einen Freund“, fuhr sie fort, „der sehr bemüht war, mir Blake näherzubringen. Von ihm habe ich auch all die Bücher.“ Sie deutete mit dem Kopf nach dem Bücherregal. „Um genau zu sein: Ich habe zwei Blakefanatiker im Leben kennengelernt.“ Ich hätte ihr die beiden Blakefanatiker mit Namen nennen können – Lola Manfred und Warren G. Wilson. Statt dessen bemerkte ich mit schwerfälligem Humor: „Ihr müßt ja reichlich überspannte Sitzungen abgehalten haben, ihr drei, wenn ihr zusammen saßet und Blake studiertet.“ „Das haben wir nie getan. Tatsächlich haben sich die beiden gar nicht gekannt. Warum ißt du denn nicht, Johnnie? Du mußt tüchtig essen, hörst du? Du hast abgenommen.“ Sie war so zärtlich, daß ich hoffte, ihre Sorge um mich sei ehrlich und nicht ein Versuch, mich von den Erinnerungen an die Versliebhaber abzulenken. Während wir 115
weiteraßen, sprach sie schnell und heiter. Alles, was ich sagte, regte sie zum Lachen an, ob es lustig war oder nicht, aber unter diesen Umständen machte mich ihre nervöse Heiterkeit sehr unruhig. Brenda ging, und Eleanor und ich waren zum erstenmal allein in einem abgeschlossenen Raum. Ich versuchte nicht einmal, mich neben sie aufs Sofa zu setzen, sondern wählte einen Sessel auf der anderen Seite des Zimmers. Sie schien enttäuscht. Ihre Bewegungen waren fahrig. Sie änderte häufig ihren Platz. Eine Weile stand sie am Kamin, als sei ihr kalt. Ich ging früh weg. Meine Entschuldigung war ganz plausibel. Ich kam eben erst aus dem Krankenhaus, und die Arbeit in der neuen Redaktion hatte mich angestrengt. Ich brauchte Schlaf. „Ja, natürlich, das verstehe ich völlig“, sagte sie, als sie mich zur Tür begleitete. „Also – gute Nacht!“ „Es war entzückend. Und das Essen war großartig. Tausend Dank!“ Sie bot mir nicht die Hand und forderte mich nicht auf wiederzukommen. Ich fuhr mit einem Fünften-Avenue-Bus stadtaufwärts. Meine Füße waren kalt, und ich dachte sehnsüchtig an Eleanors mollige Wohnung. Ich wurde wütend – nicht nur auf mich, sondern auf William Blake und Warren G. Wilson. Ein mystischer Poet und ein „Professor“ für Fernlehrkurse, beide tot, ruinierten mein Liebesleben. Als ich die Tür meines Einzelzimmer-JunggesellenAppartements aufschloß (ein Zimmer mit allem Komfort!), hörte ich das Telefon klingeln. Ich erwischte es gerade noch. Es war Captain Riordan, mein Freund aus dem Polizeihauptquartier. „Haben Sie den Fall Wilson schon gebracht?“ fragte er. 116
„Was?“ „Den Mord an Wilson – dem Mann mit dem Fernlehrkurs. Er wurde letzten Mai ermordet. Ich dachte, Sie wollten eine Geschichte darüber schreiben.“ „Natürlich erinnere ich mich. Ich war nur erschrocken, daß Sie deshalb gerade heute abend anriefen.“ „Erschrocken? Warum denn?“ „Ein Zusammentreffen der Ereignisse. Ich dachte nämlich heute abend gerade an die Sache.“ Riordan war freundlich, aber er war ein Polizeimensch. Ich wußte nichts Definitives über den Wilsonmord, und ich beabsichtigte bei Gott nicht, ihm zu erzählen, daß das Mädel, das ich liebte, sozusagen weder blond noch brünett war, daß sie einen karierten Früh Jahrsmantel besaß und daß Warren G. Wilson ihr ein Angebinde gegeben hatte. „Wir haben die Frau im karierten Mantel nämlich gefunden“, sagte Riordan. „Ist es möglich! Weiter!“ „Sie war angetrunken und stolperte aus einer Bar in der Dritten Avenue und erzählte dem Polizisten auf Anhieb, sie sei das Mädchen, das in der Nacht von Wilsons Mord den Lift zum dreißigsten Stockwerk des Hotels benutzt hatte.“ Ich versuchte, gleichgültig zu tun. „Und wer ist sie?“ fragte ich. „Sie heißt Arvah Lucille Kennedy. Wir fanden den Namen in ihrer Handtasche.“ „Hat sie gestanden?“ „Sie war nicht mehr vernehmungsfähig. Wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hat, wollen wir sie verhören. Ich rief Sie nur an, weil Sie mir einmal sagten, die Sache käme diesen Monat in die Presse, und ich dachte, viel117
leicht beginnt jetzt eine neue Phase.“ „Danke“, sagte ich, „es ist wirklich nett, daß Sie daran dachten.“ „Na ja, ich wollte Sie doch nicht in die Verlegenheit bringen, wenn das ungesühnte Verbrechen gesühnt wird, ehe das Heft erschienen ist.“ „Sie meinen also, Sie finden jetzt die Lösung?“ „Arvah weiß jedenfalls etwas. Sonst hätten nicht sechs Monate und ein Pfundsrausch dazu gehört, bis sie sich‘s vom Herzen wälzte.“ Nachdem Riordan abgehängt hatte, saß ich auf meiner Couch und dachte über das ‚Ungesühnte Verbrechen‘ nach. War mein Gesicht rot? Jedenfalls trieb mir die Reue den Schweiß auf die Stirn. Ich haßte mich selbst, weil ich Eleanor im Verdacht gehabt hatte, etwas über den Mord zu wissen. Meine Erleichterung war so groß, daß ich Grace Eccles ganz vergaß, daß ich vergaß, wie Eleanor ausgesehen hatte, als sie nach der „Geheimsitzung“ aus dem Waschraum kam. Ich vergaß sogar die Garnelen. Ich wählte Eleanors Nummer. „Hallo“, sagte sie mit der ärgerlichen Stimme einer Frau, die man aus dem heißen Bad geholt hatte. „Eleanor…“ „Ach, du bist es.“ „Eleanor, ich weiß, du bist verstimmt. Du mußt denken, ich sei ein gräßlicher Kerl. Aber ich hatte einen Grund…, vielleicht war es kein vernünftiger Grund, Eleanor, aber es war etwas…, etwas…“ „Was für ein Grund?“ Ich zögerte. Was mußte sie denken, wenn ich ihr plötzlich telefonisch sagte, ich hätte geglaubt, daß sie in einen Mordfall verwickelt sei? Ich gebrauchte die erste 118
Entschuldigung, die mir durch den Sinn fuhr: „Sich mal, Eleanor, du weißt doch, wie verrückt ich nach dir bin. Ich hatte Angst, zärtlich zu sein, denn ich fürchtete, du würdest böse werden und…“ „Hab ich mich so benommen, Johnnie?“ „Ich glaube, ich bin schüchtern.“ „Ach, Johnnie…, und ich dachte, ich sei zu entgegenkommend gewesen. Ich dachte, ich hätte mich ziemlich schamlos benommen. Ich dachte, das hätte dich abgestoßen.“ „Eleanor, Süßes – du bist so wundervoll. Du bist so schön. Darf ich wiederkommen?“ „Jetzt?“ „Ja, jetzt, sofort!“ „Aber es ist doch schon spät.“ „Ich muß einfach kommen und dir sagen, wie leid es mir tut. Ich muß dir richtig gute Nacht sagen. Ich muß dir für das bezaubernde Abendbrot danken. Ich muß dir sagen, wie sehr ich dich liebe, Eleanor. Ich muß….“ „Komm schnell!“ sagte sie. „Mein Gott, Ansell, du siehst leicht komisch aus, wenn du strahlst wie ein Vollmond! Was ist denn los?“ fragte Tony Shaw. Wir saßen auf Hockern an der Theke des Drugstores im Barclayhaus. Es war halb zehn Uhr morgens, und ich war so hungrig, daß ich mir einen doppelten Orangensaft, eine Schale Porridge, zwei Eier, Schinken, Toast, dänische Pastete und Kaffee bestellte. „Ich fühle mich wieder richtig gesund“, sagte ich zu Tony, als ich mit meinem Porridge fertig war und mich über die Eier hermachte. Nie im Leben hatte ich mich so herrlich gefühlt. Und 119
es war auch noch nie ein so schöner Morgen gewesen. Alexander, der eine neue Welt zum Erobern gefunden hatte, war ein schwerfälliger Tölpel im Vergleich zu John Miles Ansell. Ich liebte Eleanor, und sie liebte mich. Wir hatten beschlossen, bald zu heiraten. Sie hoffte, unsere Kinder würden lockiges Haar haben wie ich, und ich wollte absolut eine kleine Tochter, die das Abbild ihrer Mutter war. Eleanor hatte gestanden, ich hätte sie bei unserem ersten Zusammentreffen nervös gemacht, beim zweiten interessiert, und beim dritten hätte sie mich schon geliebt. Ich konnte nicht mit genauen Daten aufwarten, aber meine Intensität wog diese Ungenauigkeit in der Geschichte unserer Liebe auf. Eleanor und ich waren füreinander geschaffen. Wir gehörten zueinander. Nichts in der Welt konnte uns trennen. Tony Shaw trank seinen Kaffee aus und ging. Die Kellnerin brachte mir dänische Pastete und eine zweite Tasse Kaffee. Jemand setzte sich auf Tonys frei gewordenen Stuhl. „Morgen, Ansell. Na, wie geht‘s dem jungen Genie?“ Mein Kaffee schmeckte bitter. Die Welt war so schön gewesen, daß ich die Existenz von Schlangen, Läusen, Wanzen und Edward Everett Munn ganz vergessen hatte. „Guten Morgen“, sagte ich und aß schneller. „Wie wär‘s, wenn Sie morgen mit mir lunchten? Ich würde Sie gern mit in meinen Klub nehmen.“ „Danke, aber ich mache mir nichts aus Klubs. Sie fördern nur den Klassendünkel. Wo es um Klubs geht, bin ich etwas gleichmacherisch angehaucht!“ Die Kellnerin stellte eine Tasse heißes Wasser mit einem Teebeutel vor ihn hin. Er zog die Uhr heraus und legte sie neben die Untertasse, während er das Beutelchen in die Tasse hängenließ. 120
„Übrigens wird der Wilsonmord jetzt vermutlich aufgeklärt werden – endlich!“ sagte ich. „Der Wilsonmord? Ach so, das ‚Ungesühnte Verbrechen‘. Wirklich?“ „Ja, er steht dicht vor der Aufklärung. Warren G. Wilsons Mörder ist wahrscheinlich zur Zeit schon in den Händen der Polizei.“ Ohne seine Uhr zu Rate zu ziehen, angelte Munn seinen Teebeutel aus dem heißen Wasser. Der Clownmund formte mehrere unhörbare Silben, ehe er fragte: „Wer war es?“ „Kennedy. Arvah Lucille Kennedy.“ Er nahm das Teebeutelchen an der Schnur hoch und ließ es wieder ins Wasser baumeln. Seine Augen waren auf die Tasse gerichtet, als sei nichts auf der Welt so wichtig wie die Stärke seines Morgentees. „Hat sie gestanden?“ „Sie war so betrunken, daß sie in den Armen des Polizisten bewußtlos wurde. Das letzte, was ich erfuhr, war, daß sie ihren Rausch ausschlief. Heute früh erwarten sie, alles zu hören.“ „Na ja, es wird auch Zeit.“ Munn legte den nassen Teebeutel auf die Untertasse, maß sorgfältig einen gestrichenen Teelöffel Zucker ab, drückte ein paar Tropfen Zitrone in die Tasse und holte sein Zigarettenetui heraus. Als er es mir anbot, sagte ich: „Jedesmal, wenn Sie das tun, sage ich Ihnen, daß ich keinen türkischen Tabak rauche. Wissen Sie es noch nicht?“ Er grinste, als hätte ich einen besonders guten Witz gemacht. Mir ging plötzlich auf, daß er türkischen Tabak rauchte, weil er so geizig war und wußte, nur wenige Leute würden die angebotene Zigarette annehmen. Ich änderte also meine Absicht und nahm eine. 121
„An Ihrer Steile würde ich darüber nicht mit Herrn Barclay sprechen, Ansell. Es interessiert ihn nicht.“ „Was interessiert ihn nicht?“ „Diese Frau.“ „Welche Frau?“ „Na, die Frau im karierten Mantel, die in jener Nacht zu Wilsons Wohnung hinauffuhr. Sie schien Ihnen Kopfzerbrechen zu machen.“ Ich drückte die angerauchte Zigarette aus und zündete mir eine eigene an. „Warum meinen Sie, daß Barclay sich nicht dafür interessiert? Jeder Mensch interessiert sich doch für die Aufklärung eines Verbrechens.“ Auch er drückte seine Zigarette aus und ging an seine gewohnte Zeremonie – er rollte den Tabak aus dem Stummel und machte eine Kugel aus dem Papier. „Ich glaube, Sie können mich nicht leiden, Ansell.“ „Sie sind überempfindlich“, sagte ich. „Ich bin sicher, daß ich nie etwas getan habe, was Ihnen zu der Vermutung Anlaß gibt.“ „Ich habe immer versucht, Ihnen behilflich zu sein. Ich habe mich für Sie bemüht, wo ich konnte, und Sie haben immer über mich gelacht. Eines Tages“, seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, „werden Sie vielleicht meine Hilfe brauchen. Ich bin nicht ohne Einfluß auf unsere Organisation.“ „Vielen Dank, aber ich halte nicht viel von Protektionswirtschaft. Ich gehöre zu den Leuten, die lieber selbst kämpfen. Sich sozusagen selbst an den Stiefelriemen hochziehen. Warum, meinen Sie, bekam ich auf einmal Gehaltserhöhung auf zweihundert pro Woche, wenn nicht für meine harte Arbeit und meinen wendigen Geist?“ Sein Mund bewegte sich. „Ich habe Sie gewarnt, jun122
ger Mann“, sagte er dann. „Wenn Sie zu smart sind, um einen Wink anzunehmen…“ Er glitt von seinem Hocker und ging, ohne den Satz zu beenden. Ich war zu smart, um den Wink anzunehmen. Ich haßte Munn, und weder er noch Barclay noch sonst jemand sollte glauben, ich nähme – auch nur zeitweilig – ein Bestechungsgeld an; also tat ich genau das, wovor Munn mich gewarnt hatte. Ob Barclay sich für die Frau im karierten Mantel interessierte oder nicht, er sollte sie vorgesetzt bekommen. Selbst wenn die unbekannte Arvah die Mörderin Wilsons war – Barclay war in den Fall verwickelt! Als ich meine privaten Nachforschungen zu weit vorgetrieben hatte, schüttete mir jemand Gift in meine Wasserflasche. Und dann sollte ich mit einer Gehaltserhöhung und einem blendenden Posten bestochen werden. Wie war die Sache mit der Stimme in der Ambulanz? Entweder hatte ich mich an Garnelen vergiftet, die ich nie gegessen hatte, oder ein paar knisternde Scheine waren in die Hand eines schlechtbezahlten jungen Ambulanzarztes geglitten. Ich tippte das Memo selbst, statt es Frau Kaufmann zu diktieren. Ich wollte weder ihre Fragen noch ihren Rat. Das Memo war meiner Ansicht nach ein fetter Köder – darauf mußte der Fisch anbeißen. Vom Büro des Herrn: An: Datum:
J. M. Ansell Herrn Barclay 7. 12. 45
Nach einer privaten Information, die ich durch meine Beziehungen zum Polizeihauptquartier bekommen habe, ist dieser Mord aufgeklärt. Da wir uns die Unkosten des Satzes, der Illustrationen 123
usw. gemacht haben, schlage ich vor, wir bringen diese Ausgaben dadurch herein, daß wir die Geschichte teilweise umschreiben, aus der Rubrik „Ungesühntes Verbrechen“ herausnehmen und sie abgeschlossen im „W. u. V.“ bringen. Alle anstößigen Teile, wie Hinweis auf geistige Getränke, Spott über Fernlehrkurse usw., können entfernt werden. Irgendwelche persönlichen Gründe, die Sie vielleicht gegen die Verwendung des Materials hatten, sind offenbar durch die Klärung des Verbrechens hinfällig geworden. Copy an Herrn E. E. Munn Ich legte die dritte Kopie ab und versiegelte die beiden anderen in Manilageschäftskuverts, adressierte sie an Barclay und Munn, heftete die roten Reiter darauf und tat sie in meinen Korb für „Ausgänge“. Frau Kaufmann kam herein, sah mißtrauisch auf den Korb, fragte aber nicht, warum ich die Memos selbst getippt hatte. „Sie täten gut daran, sich ein bißchen zu beeilen“, sagte sie. „Herr Barclay ist sicher nicht begeistert, wenn sein neuer Redakteur zu spät zur ersten Konferenz kommt.“ Ich stolzierte hinaus – der neue Redakteur, der zu seiner ersten Konferenz ging. Unterwegs kam ich am „W. u. L.“-Büro vorbei. Die Tür stand offen. Eleanor saß vor der Schreibmaschine und warf mir eine Kußhand zu. Auf die Gefahr hin, ihren Vater warten zu lassen, trat ich schnell ein und schloß sie in die Arme. Sie wehrte sich. „Was ist denn? Soll ich nicht?“ „Natürlich sollst du – aber die Tür ist offen!“ „Gestern warst du nicht so vorsichtig.“ „Es ist dein guter Ruf, an den ich denke, Johnnie.“ 124
Lola Manfred war nicht gekommen. Eleanor war besorgt, „ich hab sie schon dreimal angerufen, aber es meldet sich niemand. Ich kann mir gar nicht denken, was los ist. Lola gibt immer Bescheid, wenn sie einmal nicht ins Büro kommt. Meinst du, es kann ihr etwas passiert sein?“ „Wahrscheinlich schläft sie ihren Kater aus. Wie ist es mit heute Abend, Eleanor? Wollen wir ausgehen? Wir müssen doch feiern. Denk dir etwas ganz Teures, Elegantes aus, das dir Spaß machen würde. Liebst du mich noch? Dann gib mir einen Kuß und drück die Daumen, denn ich bin auf dem Wege zu meiner ersten Konferenz über die ‚Wahrheitsauslese‘.“ Der Konferenztisch war mit einem Damasttuch bedeckt, Porzellan und Glas mit Barclays Monogramm in einem Lorbeerkranz geschmückt, die Gabeln waren so schwer, daß man das Gewicht der Speisen darauf überhaupt nicht fühlte. Barclay saß oben am Tisch. Ihm gegenüber Gloria, seine Frau. Er hatte sie in Beverly Hills entdeckt, wo dieser Typ heimisch sein soll. Sie war eine langbeinige, breitschultrige, vollbusige Schönheit. Jeden dritten Monat brachte „Wahrheit und Schönheit“ Glorias Bild, um zu beweisen, daß gesunde Mutterschaft die göttlichen Formen nicht zerstört. Sie hatte Barclay Zwillinge geboren. Bei Konferenzen repräsentierte Gloria für alle Belange der Frau. Dieser Brauch hatte sich herausgebildet, als Barclay noch mit seiner zweiten Frau verheiratet war, die nach dem Gerede des Büropersonals ein Snob gewesen war. Sie hatte in Vassar promoviert. Nun, Gloria konnte man nichts dergleichen nachsagen. Ich war bei dem heutigen Lunch Ehrengast und saß an Barclays rechter Seite. Zu seiner Linken saß sein getreuer 125
Ekkehard, E. E. Munn. Neben Munn kam Loring Wince von der Vertriebsabteilung, dann J. J. Javes, Rechtsabteilung, Burton English vom Wechselverkehr, Henry Roe, Redakteur des „Wahrheitsmagazins“, und, um die Gruppe zu vervollständigen, Dr. Mason vom Ausschuß für interkonfessionelle Zusammenarbeit. „Meine Herren“, begann Barclay. „Meine Herren und Frau Barclay: Unser Zusammensein heute hat einen glücklichen Anlaß. Vor allem begrüßen wir den jungen Redakteur unserer neuen Zeitschrift. Von dem Tage an, da er unserer Organisation beitrat, habe ich die Fähigkeiten dieses jungen Mannes erkannt: Herr Ansell!“ Es wirkte wie die lobende Hervorhebung in einer Schulkonferenz. Bis auf Gloria und Javes vom juristischen Büro hatte ich sie schon alle getroffen. Ich sah, wie Munn nickte, als habe er, genau wie Barclay, meine Talente im ersten Augenblick erkannt. Frau Barclay lächelte huldvoll. „Warum nehmen Sie nicht Ihren Cocktail, Herr Ansell?“ fragte sie. „Ich habe eine Idiosynkrasie gegen Schalentiere – ich vertrage sie nicht“, sagte ich. „Oh, wir glauben nicht an Idiosynkrasien.“ Glorias Lächeln verzieh meine Torheit. „Es ist bewiesen, daß sie nur ein Teil des medizinischen Humbugs sind, mit dem die Ärzte sich die Taschen füllen. Sind Sie denn nicht begeistert von .Wahrheit und Gesundheit‘?“ „Aber Krustentiere bekommen mir eben nicht“, verteidigte ich mich. „Seit meinem ersten Semester auf der Uni habe ich keine angerührt, und damals…“ Barclay räusperte sich. Ich erinnerte mich daran, warum ich der gefeierte junge Redakteur war, der Ehrengast an dieser Tafel. „Ach ja“, sagte ich, als hätte man mir mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen, „vorige Woche 126
aß ich ja Garnelen – und das nächste, was mir zum Bewußtsein kam, war, daß ich in einem Krankenhaus lag.“ Barclay grinste. „Der Zweck unserer Konferenz ist, über unser neues Magazin zu sprechen“, sagte er. Alle hörten auf zu kauen und nickten. „Dieses neue Magazin muß einfach großartig werden“, fuhr er fort. „Kurz, bündig, gedrängt, zeitgemäß und“ – Barclay machte eine Pause, um die Wirkung zu steigern – „mutig!“ Wieder nickten alle, und Munn wiederholte ehrfürchtig: „Mutig!“ „Nicht, daß es uns bisher an Mut gefehlt hätte“, sprach Barclay weiter. „Ich darf in aller Bescheidenheit sagen: Noch nie hat eine bravere Trompete der Leserwelt die Wahrheit verkündet als unsere ‚Wahrheits‘-Gruppe. Wir haben die Wahrheit über Fragen bloßgelegt, die kein anderer Verlag auch nur durch die Lupe betrachtet oder mit antiseptischen Handschuhen berührt hätte.“ „Wie wahr!“ murmelte Dr. Mason und hörte einen Augenblick auf zu kauen. „Wissen Sie, was Ansell antwortete, als ich ihm zuerst meine Idee über die neue Zeitschrift anvertraute? – Er sagte, wir müßten mit einer starken Konkurrenz auf diesem Gebiet rechnen. Als ob ich das nicht wüßte! Als ob es das erstemal wäre, daß unser Konzern in einen scharfen Wettbewerb tritt!“ Ein Bürobote kam herein, legte einige Post in Barclays Korb für „Eingänge“, sah über die Schulter auf den gedeckten Tisch und ging frech lächelnd hinaus. Unter der Post in Barclays Korb befand sich ein Manilageschäftskuvert mit dem roten Reiter „Dringend“. 127
„… und wir werden diese Konkurrenz bekämpfen, genau wie wir es mit unseren anderen Veröffentlichungen getan haben – siegreich! Wie, fragen Sie mich? Indem wir die Preise senken. Nicht anders, als wir es vorher getan haben. Erinnern Sie sich, Wince, wie wir mit ‚Wahrheit und Liebe‘ anfingen? ‚Wahre Geschichten‘ und ‚Wahre Bekenntnisse‘ beherrschten damals den Markt, und zwar zu fünfundzwanzig Cents pro Heft. Wir unterboten um einen Zehner. McFadden war nicht wenig wütend. Und als ich ‚Wahrheit und Gesundheit‘ aufzog und dadurch mit seiner geliebten ‚Physischen Kultur‘ in Wettbewerb trat, ihn wiederum um einen Zehner unterbietend, hätte er mich am liebsten hängen und vierteilen lassen.“ Barclay genoß diese Erinnerungen. Während er uns mit allen Einzelheiten die Geschichte seiner Triumphe unterhielt, traten zwei Kellnerinnen ein, wechselten unsere Teller und servierten Huhn in weißer Soße, Kartoffelbrei, Wachsbohnen und rote Bete. „In unserer neuen Zeitschrift“, donnerte Barclay, „werden wir so mutig und so kühn sein, wie keine andere Zeitschrift es sich getraut! Von diesem Tag an, Jungens, heißt die Losung: ‚Die Bremsen los!‘ Die ‚Wahrheitsauslese‘ wird Geschichte machen in der Welt der Zeitschriften. Und mehr als das: sie wird ihren Stempel – ihren unauslöschlichen Stempel – auf das Antlitz der modernen Zivilisation drücken!“ „Und was bringen wir für die ‚Welt der Frau‘?“ fragte Gloria. Barclay dankte ihr mit einem gnädigen Lächeln. Das war die Chance, auf die Munn gewartet hatte. „Ich schlage vor, wir behandeln das Thema der Illegitimität.“ „Die gute alte Illegitimität, die wirkt immer!“ sagte Wince von der Vertriebsabteilung. 128
„Aber vorsichtig! Vorsichtig!“ warnte Javes von der Juristischen. Dr. Mason stimmte zu. „Erinnern Sie sich zufällig an die Beichte in der letzten Aprilnummer von ‚Wahrheit und Liebe‘?“ fragte Munn. „Von der Frau, die sich weigerte zu heiraten?“ „Natürlich!“ rief Gloria, „ ‚Ich verschmähte einen Trauring‘. Sie hatte sechs Töchter.“ „Vielleicht wären es mit dem Ring nicht so viele geworden“, sagte ich. Wince und English lachten. Munn sah gequält aus. „Ich habe eine Idee“, sagte Munn. „Wenn wir lebendes Material brauchen, wie wäre es mit einer kurzen Zusammenfassung der Podolskyartikel?“ Henry Roe legte den Teelöffel hin. „Sind Sie verrückt geworden?“ „Ich glaube, sie haben die Abonnentenzahl der .Wahrheit‘ erhöht“, sagte Munn kalt. „Stimmt das nicht, Herr English?“ „Im Gegenteil, sie vermehrten die Abbestellungen.“ Munn wollte protestieren, aber Barclay brachte ihn mit einem Wink seines Teelöffels zum Schweigen. Er wandte sich an die Abteilungen Abonnement und Inserate. „War es unser Fehler, daß Rußland sich nicht in den Besitz der Mandschurei brachte, sobald der japanische Krieg beendet war? Podolsky nahm an, Rußland würde nicht zögern. Ich war derselben Meinung. Und ebenso dachten viele Leute, die klüger sind als wir – politisch gesprochen natürlich. Sagen wir, Podolsky hat sich geirrt.“ „Es wäre nicht .das erstemal“, sagte ich. „Stellen Sie die Integrität eines unserer Mitarbeiter in Frage?“ sagte Munn. „Eines ziemlich bedeutenden Mitarbeiters, nebenbei gesagt. Schließlich ist er eine sehr 129
bekannte Autorität in weltumfassenden Fragen.“ „Ein sehr bekannter Schwindler“, verbesserte ich. Allgemeines unsicheres Schweigen. Gloria lächelte strahlend. „Aber General Podolsky ist so charmant. Er hat absolute Kavaliersallüren.“ „Er ist kein General“, antwortete ich ihr. „Er war auch niemals Offizier in der zaristischen Armee. Er ist nicht einmal Russe. Seine Abenteuer haben nie stattgefunden, und die Tatsachen, die er anführt, haben sich als unwahr erwiesen.“ Munn ließ ein hohles Lachen ertönen. „Ansell scheint die roten Zeitungen gelesen zu haben“, sagte er. „Rote wie die ‚New York Times‘ und die ‚Herald Tribüne‘, Herr Munn!“ „Ansell hat recht. Sie haben recht, mein Junge“, versicherte mir Barclay. „Podolsky hat Fehler gemacht wie jeder andere Mensch. Aber er ist immer bereit, sie frei zu bekennen. Um ehrlich zu sein – mein Glaube an Podolsky ist so stark, daß ich ihn aufgefordert habe, in unseren Stab einzutreten.“ Gloria strahlte. „In welcher Eigenschaft, wenn ich fragen darf?“ fragte Munn. „Als eine Art freier Berichterstatter“, antwortete Barclay. „Später gebe ich ihm vielleicht eine Redaktion. Im Augenblick möchte ich ihn im Lande umherreisen lassen, um sozusagen den nationalen Puls zu fühlen. Ich erwarte mir davon eine sensationelle Serie für unsere neue ‚Wahrheitsauslese‘.“ „Könnten wir sie nicht zuerst in der .Wahrheit‘ bringen?“ fragte Munn so feierlich, als trüge er eine welterschütternde Idee vor. „Wir könnten ein hübsches kleines Sümmchen dadurch sparen!“ 130
„Gerade das plante ich“, sagte Barclay. Munn klappte wieder zusammen. Henry Roe blinzelte Gloria zu. Sie unterdrückte ein Kichern. Die Kellnerinnen brachten Kaffee für Javes, Wince, English, Henry Roe und mich. Munn und Dr. Mason tranken Tee. Barclay und Gloria Milch. Der unverschämte Bürojunge brachte die Nachmittagszeitungen. Da der Konferenztisch in Benutzung war, legte er die Zeitungen auf die Heizung gerade hinter meinem Stuhl. Ich blickte über die Schulter und las die Schlagzeilen. Dann drehte ich mich um, mit dem Rücken zum Tisch, und las die Überschrift der ersten Seite: DER VERDÄCHTIGE KARIERTE MANTEL GEFUNDEN! GEHEIMNISVOLLE FRAU BEKENNT IHRE FAHRT IM TODES LIFT! Die Frau im karierten Mantel, die in Verbindung mit dem Tod von Warren G. Wilson im letzten Mai gesucht wurde, bekannte heute früh vor Captain A. C. Riordan vom Detektivbüro, daß sie in der Nacht, in welcher dieser einsiedlerische Junggeselle in den Rücken geschossen wurde, im Lift zu Wilsons Etage hinauffuhr. Sie heißt Arvah Lucille Kennedy; geschieden, wohnhaft in Bayside, L. I. Nachdem sie Qualen der… (Fortsetzung auf Seite 21). Ich blätterte bis Seite 21. Barclay sprach weiter über Politik, Wahrheit und die neue Auslese. Arvah Lucille Kennedy hatte Wilson nicht getötet. Sie hatte den verstorbenen Mieter von Zimmer 3002– 4 nie gesehen. In der 131
Nacht des n. Mai fuhr sie im karierten Mantel bis zum dreißigsten Stock des exklusiven Hotels, weil ihr Freund nicht wünschte, daß man sie im achtundzwanzigsten Stock aussteigen sah. Sie war die beiden Treppen wegen des guten Rufes dieses Freundes wieder hinuntergegangen. Dieser Freund war Frederick Semple, der begehrockte Manager des Hotels. Er durfte seinen Gästen kein schlechtes Beispiel geben, und auch die Angestellten durften nicht dahinterkommen, daß er Beziehungen zu einer geschiedenen Frau aus der Bayside unterhielt. Nur um Herrn Semples willen hatte Arvah sechs Monate geschwiegen. „Was lesen Sie denn, Ansell?“ Jedes Auge am Tisch richtete sich auf mich. Ich konnte sehen, wie entsetzt Dr. Mason und E. E. Munn über meine schlechten Manieren waren. „Es wird Sie interessieren, Herr Barclay“, sagte ich und händigte ihm die Zeitung aus. Er wollte gerade ablehnen, als ich auf die Überschrift wies. „Entschuldigt mich, Jungens“, murmelte Barclay und begann zu lesen. Loring Wince und Burton English zündeten sich Zigaretten an. J. J. Javes von der Juristischen bat Gloria um die Erlaubnis, seine Pfeife zu rauchen. Munn erklärte ihr, wie sehr er ihren Hut bewundere. Ich beobachtete Barclay. In dem Drahtkorb auf seinem Schreibtisch lag das Kuvert mit meinem Memo. Der Korb war kaum reichweit von meinem Platz entfernt, aber vor den Augen des Chefs, seiner Frau und sechs anderer Angestellter konnte ich unmöglich Post aus dem Korb des Chefs stehlen. 132
„Sehr interessant“, sagte Barclay und gab mir die Zeitung zurück. Wir setzten die Konferenz fort. Ich trug nichts dazu bei. Es war meine erste wichtige Konferenz, und ich war eine Zweihundertdollarkanone. English, Wince, Mason, Javes und Roe kamen mit glänzenden Ideen oder kritisierten unprofitable Vorschläge. Ich dachte an nichts anderes als an das Memo in Barclays Korb. Es war drei vorüber, als wir die Sitzung abbrachen. English, Roe, Wince und Javes gingen weg. Dr. Mason blieb noch, um ein privates Wort mit Barclay zu sprechen. Gloria unterhielt sich mit Munn. Ich hatte keinen Vorwand, noch länger herumzustehen. Langsam ging ich zur Tür. Barclay war an seinen Schreibtisch getreten. Dr. Mason lehnte sich nach vorn, um eine vertrauliche Frage oder Mitteilung zu flüstern. Barclay hörte gar nicht zu. Er hatte die Post aus seinem Korb genommen. Als ich hinausging, öffnete er gerade das Geschäftskuvert mit dem roten Reiter. Das Telefon klingelte. Ich sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten vor vier. „Ja, er ist hier“, sagte Frau Kaufmann. Sie legte den Hörer auf und sagte: „Sie möchten in sein Büro kommen. Möglichst sofort.“ Gloria war noch in Barclays Büro. Sie begrüßte mich munter. „Ich freue mich schrecklich, Herr Ansell, daß ich Sie endlich einmal kennengelernt habe. Pappi hat mir soviel von Ihnen erzählt. Sie müssen bald einmal abends zu uns zu Tisch kommen, ich werde es mit Eleanor arrangieren.“ „Mein Herz“, sagte Barclay zu seiner Frau, „ich habe mit diesem jungen Mann geschäftlich zu sprechen. Ich 133
bin überzeugt, wir würden dich langweilen!“ „Ja, Liebster!“ Sie küßte ihren Mann, hüllte sich in Zobel, winkte Lebewohl und war hinausgegangen. Barclay nahm das Memo zur Hand. „Was bedeutet das, mein Junge? Soll das vielleicht ein Scherz sein?“ Seine Stimme klang mild. Er hatte sich wahrscheinlich einen Schlachtplan gemacht. „Nein, Herr Barclay.“ „Worauf wollen Sie denn hinaus?“ „Sehen Sie, Herr Barclay“, begann ich, „ich hörte, die Dame im karierten Mantel sei gefunden worden – daher glaubte ich natürlich, das Rätsel sei gelöst.“ Ich sprach mit klarer, eintöniger Stimme, wie ein Schuljunge sein Einmaleins aufsagt. „Und wie ich in meinem Memo sagte – ich dachte, wir könnten die bereits gehabten Unkosten einbringen, statt sie einfach schießen zu lassen. Das hätte der Organisation einen hübschen Batzen erspart.“ Es war eine gute Entschuldigung. Sie bewies, daß mir die Interessen des Konzerns mehr als eine einzelne Zeitschrift am Herzen lagen. Es hätte Barclay von meinem guten Willen überzeugen müssen. Er schüttelte den Kopf. Starke, braune Hände krampften sich zusammen und öffneten sich wieder. Er sah gealtert aus. In seiner Haltung fehlte die übliche Arroganz. „Sagen Sie mir, Herr Barclay, warum wollen Sie diesen Artikel durchaus unterdrücken?“ Er ging quer durch den Raum. Der dicke Teppich erstickte seinen Schritt. Er kam dicht an mich heran, und wir standen Seite an Seite, Barclay über hundertundachtzig, Ansell ein winziger Zwerg. Aber Barclay konnte meine Frage nicht beantworten. Ich fuhr mutig, fort: „Wovor sollte ich mich fürchten? Ich esse keine Garnelen. Ich kann Seetiere nicht vertra134
gen. Ich kann die Kellnerin jederzeit zu der Aussage veranlassen, daß ich an jenem Abend Hammelsteaks aß.“ „Sie sind ein dreister kleiner Bursche – nicht wahr?“ „Ich lasse nicht so mit mir umspringen. Warum, zum Teufel, haben Sie Angst vor der Wilsongeschichte?“ Mit erhobenem Kopf ging Barclay zurück an sein Pult. „Also gut, ich will meine Karten offen auf den Tisch legen. Wenn Sie sie kennen, werden Sie eine andere Tonart anschlagen. Setzen Sie sich.“ Ich setzte mich. Die Tür ging auf. Munn stürzte herein, den Durchschlag meines Memos in der Hand. „Haben Sie das gesehen?“ fragte er. „Ich weiß über alles Bescheid, Ed. John und ich besprechen die Sache gerade.“ Barclay hatte seine Haltung wiedergefunden. Edward Everett Munn war Dreck unter seinem Fuß. Munn sah mich an, als könnte er nicht fassen, daß ich hier war, in einem bequemen Sessel, friedlich mit dem Chef das infame Memo diskutierend. „Ich brauche dich nicht, Ed.“ „Ich halte es für besser, wenn ich bleibe.“ Munn stand fest. „Ich sage dir doch, ich brauche dich nicht“, fuhr ihn Barclay an. „Geh zum Teufel!“ In dem Blick, den Munn Barclay zuwarf, war weder Ergebenheit noch Gehorsam. Ich erwartete einen Vorwurf, sogar einen Streit. Aber Barclay hatte den rebellischen Blick in Munns Augen gut verstanden und war zu Stein geworden. Der Trick des Schweigens war offenbar eine seiner besten Waffen. Munn zuckte eine Achsel und ging. „Was soll das alles, Herr Barclay?“ 135
„Warum sind Sie so scharf auf die Wilsongeschichte, John?“ „Ich bin Schriftsteller, und ich habe eine Geschichte geschrieben. Sie selbst nannten diese Geschichte gut, und dann weigerten Sie sich, sie abzudrucken. Das ist alles, was mich anlangt.“ Barclay rollte mein Memo zu einem Kegel zusammen und fuhr mit der Schmalseite auf der Schreibmaschine hin und her. Ich sah ihn zum erstenmal eine nervöse und überflüssige Bewegung machen. „Wissen Sie, daß Eleanor mit Wilson befreundet war?“ „So? War sie?“ Ich hatte mich entschlossen, den Dummen zu spielen – und dann konnte ich zuwarten und etwas erfahren. „Wissen Sie, daß sie eine Verabredung mit ihm hatte – an dem Abend, als er ermordet wurde?“ Das traf mich schon empfindlicher. Ich gab mir Mühe, ebenso eintönig und trocken wie vorher zu fragen: „Ach, wirklich?“ Ein grünes Licht flammte im Telefonkasten auf dem Schreibtisch auf. Barclay sprach in eine Holzverschalung. „Ich bin jetzt beschäftigt. Keine Besucher und keine Anrufe, bitte!“ Es dunkelte im Zimmer. Das Zwielicht hatte sich wie Nebel eingeschlichen. Meine Stimme klang so kalt und fern, daß ich sie kaum als meine eigene erkannte. „Sie sagen, sie hatte eine Verabredung mit Wilson – an dem Abend, als er ermordet wurde. Nun, und was geschah? Wissen Sie Tatsachen, Herr Barclay?“ Er knüllte das rosa Memo zusammen und warf es in den Papierkorb. „Sie wissen, wie ich über Heimlichkeiten denke.“ Seine Stimme war wärmer. Er hatte sich entschlossen, mich ins Vertrauen zu ziehen. „Ich halte nichts 136
von Heimlichkeiten. Begrabene Wahrheiten sind schwärende Wunden. Grabt sie aus, reinigt die Wunden, sagt die Wahrheit – wie schrecklich sie auch sei. Das ist mein Glaube, und ich versuche, danach zu leben. Aber wenn ein anderer Mensch hineinverwickelt ist…“, er zog die Luft ein, „und dieser andere hat sich einem nie anvertraut, kommt man in eine böse Gewissenszwangslage.“ „Einen Augenblick bitte. Wenn Eleanor sich Ihnen nicht anvertraut hat, woher kennen Sie dann ihre Geheimnisse, Herr Barclay?“ „Eleanor hatte eine Verabredung mit Wilson. Sie wollten am Abend seines Todes zusammen speisen. Ich erfuhr es durch ein Versehen. Das Mädchen am Klappenschrank dachte, die Nachricht sei für mich, nicht für Eleanor. Für Herrn Barclay, nicht für Fräulein Barclay, um genau zu sein. Sobald ich es erfuhr, schickte ich nach Eleanor und verlangte eine Erklärung.“ „Warum?“ „Eleanor hatte mir nie gesagt, daß sie Wilson kannte.“ „Hätte sie das tun müssen?“ Er schluckte zweimal, nickte und sagte: „Ein Vater ist ein Vater.“ „Das habe ich auch gelernt. Fragen Sie jedesmal nach einer Erklärung, wenn Sie entdecken, daß Ihre erwachsene Tochter mit einem Mann ausgeht? Oder hatte es mit Wilson etwas Besonderes auf sich?“ Meine Stimme war leise, meine Art sachlich. Im gleichen Ton hätte ich nach seiner Ansicht über eine gleichgültige Redaktionssache fragen können. „Wenn Sie die Umstände wüßten, wären Sie wahrscheinlich nicht ganz so kaltschnäuzig, junger Mann. Eleanor trug einen Revolver bei sich, als sie in mein Büro kam. Sie war hysterisch…“ Seine Stimme verlor sich, 137
und er blickte über mich hinweg in das Fenster, das die Lampen des Zimmers und die Dunkelheit des Himmels in einen Spiegel verwandelt hatten. Er warf ein hartes, blankes Porträt von Noble Barclay zurück. „Einen Revolver? Warum?“ „Sie war im Studio gewesen, wo Bilder für ‚ W. u. L.‘ gestellt wurden. Als sie heraufkam, hatte sie den Revolver noch in der Hand.“ „Was, zum Teufel, hat das mit Wilson zu tun?“ schrie ich. Barclay wich zurück. „Sie lieben sie doch, Job“. Wir lieben sie beide, unsere Kleine – Sie und ich, Ansell. Ich war froh, als ich sah, daß sie sich für Sie interessierte. Ein sauberer, intelligenter, ehrgeiziger junger Mann. Warum, meinen Sie wohl, habe ich versucht, Sie groß herauszubringen? Ich habe eine glänzende Zukunft für Sie in petto, das wissen Sie.“ „Aber die Garnelen, Herr Barclay. Ich esse keine Garnelen.“ „Eleanor braucht Sie. Sie können ihr helfen, können sie schützen.“ Auf einmal sah ich, daß Barclay nicht nur Theater spielte. Die Adern auf seiner Stirn traten blau hervor. Der Schweiß kam in dicken Tropfen. „Sehen Sie, Herr Barclay, wir wollen uns an Tatsachen halten. Sie haben herausbekommen, daß Eleanor eine Verabredung mit Wilson hatte, und Sie schickten nach ihr, sie solle heraufkommen. Sie hatte gerade einen Revolver in der Hand, Eigentum des Arsenals, das zum Studio gehört. Er war nicht geladen; diese Revolver sind nie geladen. Gesetzt den Fall, sie hätte sich Patronen besorgen können, wenn sie wollte – warum sollte sie es tun? Welchen möglichen Grund könnte sie gehabt haben, 138
Wilson töten zu wollen?“ „Hat sie Wilson jemals Ihnen gegenüber erwähnt, John?“ Auch ich fing an zu schwitzen. „Das dachte ich mir“, sagte Barclay. „Sie hat es auch Ihnen verheimlicht. Das ist dieser versteckte Zug in ihr. Ihre Mutter war ebenso. Man wußte nie, was sie wirklich dachte.“ Er fuhr mit der Hand über die Augen, als habe er den Schimmer einer schrecklichen Erscheinung erhascht, die irgendwo im Schatten lauerte. „Eleanors Mutter hat sich umgebracht, müssen Sie wissen.“ Ich wußte es. Die „Einführung“ von „Mein Leben ist Wahrheit“ war die Autobiographie Barclays. „Ihre Familie“, fuhr er heiser fort, „waren überzüchtete Aristokraten. Sensitiv, versteckt. Und sie schlägt immer mehr in diese Familie. John, ich habe mir solche Sorgen gemacht…“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Stimme zeigte deutlicher als seine Worte heimliche Angst. Ich dachte an den Glauben, nach dem er lebte. Begrabene Wahrheiten sind schwärende Wunden… „Wollen Sie mir etwa erzählen, Herr Barclay, daß Sie Eleanor für die Mörderin Wilsons halten?“ Barclay ging weg. Am Ende des Zimmers reckte er die Schultern, wandte sich um und kam wieder auf mich zu. Seine Stimmung hatte sich gebessert. Er war nicht länger voll Verachtung, sondern voll Mitleid, war mein Verbündeter im Leid. Seine Hände fielen auf meine Schultern, und seine Augen bettelten um Verständnis. „Sie braucht Liebe, John.“ Seine Stimme wurde gepreßt. „Wäre ich nur fähig gewesen, ihrer Mutter zu helfen, sie wäre gesund geworden! Wir müssen dieses Mädchen hüten, John, Sie und ich…“ 139
Ich schüttelte seine schweren Hände ab. „Ihre Tatsachen haben mich nicht überzeugt. Sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Mord. Sie beweisen gar nichts. Ich habe Eleanor zu gern, um glauben zu können, daß sie zu so etwas fähig ist.“ Das war eine edle Redensart, aber nicht überzeugend. Es gelang mir nicht einmal, mich selbst damit zu betrügen. „Herrlich!“ dröhnte Barclay. „Wundervoll, mein Junge! Gut für sie. Das ist es ja gerade, was sie braucht: Liebe, Ergebenheit, unerschütterliche Treue!“ „Ich müßte einen Beweis haben“, polterte ich, „einen verflucht guten Beweis, ehe ich irgend etwas glaube!“ „Dann werden Sie niemals etwas tun, was ihr schaden könnte.“ Barclay zog sein großmütigstes Lächeln auf. „Aber Sie werden alles tun, was in Ihrer Macht steht, um sie zu beschützen. Ich kann Ihnen vertrauen – Sie werden schon gut auf mein kleines Mädchen achtgeben!“ Er bot mir schwungvoll die Hand. Ich nahm sie. Der Händedruck war stark, hart, trocken. Für Barclay bedeutete er, daß er mich gewonnen hatte und er und ich nun vereint seien in unserem Entschluß, Eleanor zu schützen. Für mich war er reines Theater, wie die Schwüre und Handschläge und die mit Blut geschriebene Unterschrift der Schulknabengelübde. Ich riß meine Hand weg. Barclay ließ die seine fallen und stand einen Augenblick ganz still. Er sah zerquält aus. Offenbar hatte er Angst, sich umzudrehen. Auch ich lauschte. Aber im Büro war kein anderes Geräusch als sein schwerer Atem. Es war sehr dunkel geworden. Der Raum roch nach Schweiß. In meiner Schreibmappe steckte ein gelber Zettel. Eleanor hatte darauf getippt: ‚Johnnie, Liebling – ich kann unmöglich mit einem alten Hut mit Dir ausgehen. Sosehr ich Dich liebe – mein 140
kategorischer Imperativ verlangt einen neuen Hut! Ich komme nicht zurück ins Büro, also hole mich um sieben ab! Ich liebe Dich! E.“ Eine törichte kleine Note – aber ich war entzückt. Der Sprung vom Melodrama in den Hutladen erleichterte mein Herz. Wie konnte ich ein Mädchen verdächtigen, das sich einen neuen Hut kaufen mußte, weil es mich liebte? Ich versuchte wieder und wieder, mir einzureden, daß Barclay Eleanors Namen nur herangezogen hatte, um mich von einer Fährte abzulenken – aber ich brachte es doch nicht zu einer hundertprozentigen Gewißheit. Ich glaubte natürlich nicht, daß Eleanor Wilson ermordet hatte – aber ich war sicher: sie wußte etwas von dem Mord. Es war schon halb acht, als ich in Eleanors Wohnung trat. Ich hatte mich absichtlich verspätet; ich wollte sie aus ihrer Wohnung heraus, an einem öffentlichen Ort haben, wo wir beide vorsichtig mit unseren Worten und Stimmen sein mußten. Ich hatte keinen endgültigen Plan, aber ich kannte mich zu gut, um mir absolute Verschwiegenheit zuzutrauen. Sie begrüßte mich zärtlich; wir küßten uns. „Was fehlt dir?“ fragte sie. „Warum bist du so sonderbar?“ „Sonderbar? Wieso?“ Ohne zu antworten, ging sie, um sich ihren Mantel zu holen. Ich sah mir wieder den Blake an, studierte wieder die Widmung. Als ich sie kommen hörte, steckte ich ihn zurück ins Regal. Sie trug einen Pelzmantel, der noch schwach nach Kampfer roch. Ihr Haar war offen, an einer Seite mit einer braunen Schleife gehalten. „Und wo ist der neue Hut?“ 141
„Ich habe keinen bekommen.“ „Warum denn nicht?“ „Ich fand keinen, der mir gefiel.“ „Obwohl du so lange Zeit hattest? Du bist doch schon vor zwei Stunden weggegangen.“ „Mir gefallen die Hüte in dieser Saison nicht.“ Wir gingen zur Fünften Avenue. Eleanor sprach weiter über Hüte. Sie versuchte, witzig zu sein. Die Hüte dieser Saison seien sicher von Frauenhassern entworfen, meinte sie, oder von häßlichen Weibern, die es anderen Frauen nicht gönnten, daß sie hübsch waren. „Du hast offenbar schwer über die Psychologie der modernen Putzmacher nachgedacht“, sagte ich. „Warum schreibst du nicht für ‚W. u. L.‘ einen Artikel darüber?“ „Es tut mir leid, wenn ich dich gelangweilt habe.“ „Wo warst du heute nachmittag?“ „Ich wollte einen Hut kaufen.“ „Und warum kauftest du keinen?“ Wir wollten gerade die Fünfte Avenue überkreuzen. Ein Bus kam angefahren. Ich riß Eleanor von der Bordschwelle weg. „Was ist denn los, Johnnie? Warum benimmst du dich so?“ „Wenn ich mich anders benehme als sonst, so geschieht es unbewußt. Warum bist du so empfindlich?“ Ich hielt ihren Arm, sie zog ihn weg. „Du hast mich geküßt, als ob ich Masern hätte. Dann wirst du böse, weil ich über Hüte spreche. Schließlich beschuldigst du mich zu lügen, weil ich keinen Hut fand, der mir gefiel. Und nun reißt du mir beinahe den Arm aus dem Gelenk.“ „Tut mir leid. Ich versuchte, dein Leben zu retten.“ „Vielleicht tut dir alles leid – von gestern nacht… Vielleicht bereust du jetzt, daß du mir sagtest, du liebst mich, und…“, sie zögerte schüchtern in ihren Worten, 142
„und daß wir Pläne machten.“ Ich versuchte nicht, sie zu trösten. Wir gingen an beiden Seiten des Bürgersteiges. Ich führte sie an fünf Restaurants vorbei zur Tür von „Jean Pierre“. „Wie wär’s, wenn wir hier äßen?“ „Nein.“ Ehe ich noch die Möglichkeit eines Einwandes hatte, war sie umgekehrt und ging wieder stadtabwärts. „Willst du vielleicht ins ‚Brevkor‘?“ „Es ist mir gleichgültig.“ „Warum willst du nicht zu ‚Jean Pierre‘? Man ißt dort großartig.“ „Ich möchte nicht dort essen.“ „Erinnert es dich zu sehr an Wilson?“ Diesen Angriff hatte ich nicht geplant. Die Ungeduld hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich war zu unruhig, um länger Spiegelfechterei zu treiben, zu undiszipliniert, um einen Plan zu verfolgen. Eleanor sagte: „Hast du mich deshalb hierhergebracht?“ „Warum hast du mir nicht erzählt, daß du ihn kanntest?“ Wir waren wieder vor einer Kreuzung. Eleanor schoß auf die Straße, ehe ich ihren Arm nehmen konnte. Auf der anderen Seite wartete sie. Als ich neben ihr war, fiel sie in Schritt mit mir und bemerkte kalt: „Ich kenne eine Menge Leute, von denen ich dir noch nichts erzählt habe. Habe ich dir bereits berichtet, daß Lindbergh mich einmal geküßt hat? Ich zeige dir gern das Foto, falls es dich interessiert.“ „Du wußtest, daß ich über den Fall Wilson schrieb.“ „Nein, ich wußte es nicht. Nicht, bis du krank in der Klinik lagst. Alfie Witzel schrieb einen Artikel – über 143
Tommy Manville – für ‚W. u. L.‘, und ich mußte ihn dann fertigmachen, weil Witzel dringend deine halbfertige Geschichte für das ‚Ungesühnte Verbrechen‘ beenden mußte.“ Sie sprach davon, als sei es nur eine kleine Umschaltung der alltäglichen Arbeit. „Trotzdem hättest du mir erzählen können, daß du ihn kanntest.“ „Weshalb?“ „Nun, schließlich war nicht jeder mit dem Opfer eines Mordes intim!“ „Ich war niemals mit Herrn Wilson intim.“ „Ich meine nicht auf die Art intim. Ich meine, du kanntest ihn, und er wurde ermordet. Es ist sonderbar, daß du es nie erwähntest. Als ich freier Journalist war, lernte ich eine Frau kennen, die aus der Straße in Chicago kam, wo Loeb und Leopold wohnten – und sie hat sich darauf eine Karriere aufgebaut!“ „Ich kannte ihn nicht besonders gut.“ Sie blickte die Fünfte Avenue hinunter nach dem Hotel, wo Wilson lebte und starb, und sah dann so gleichgültig weg, als sei es ihr nicht wichtiger als Washingtons Grab. Ihr Trotz war in eine seltsame müde Gleichgültigkeit umgeschlagen. „Wart ihr verliebt ineinander?“ „Sei doch nicht närrisch, Johnnie. Er war achtundvierzig. Wir wollen noch nicht gleich essen gehen, bitte. Oder bist du hungrig?“ „Du nicht?“ „Oh, ich möchte kein Essen sehen. Wir setzen uns auf eine Bank im Washington Square.“ Der Abend war kalt. Wir sahen sicher wie ein Paar Idioten aus für den Polizisten, der uns über die Schulter beobachtete, als wir uns auf eine Bank setzten. Idioten oder Verliebte, die keine Bleibe hatten. Wir saßen aber 144
nicht wie Verliebte da. Es waren mindestens sechs oder sieben Zoll zwischen uns. „Wie lange kanntest du ihn?“ „Herrn Wilson?“ Von unserem Platz aus brauchten wir nur den Blick zu heben, um die Terrasse von Wilsons Appartement zu sehen. „Ich habe ihn voriges Jahr kennengelernt. Im September. Am dreizehnten September.“ „Und da sagst du, du hättest ihn nicht sehr gut gekannt?“ „Nein, ich kannte ihn nicht sehr gut.“ „Aber du erinnerst dich sehr genau des Datums, als du ihn kennenlerntest. Es muß dir doch ziemlich wichtig gewesen sein, wenn du es so genau weißt.“ Sie lachte. „Ich erinnere mich an das Datum, weil der Tag zufällig für mich sehr wichtig war. Ich löste nämlich meine Verlobung auf.“ Das gab mir den Rest. „Du hast anscheinend eine ganze Menge erlebt, was du mir nicht erzählt hast.“ „Ich wollte es vergessen.“ „Wer war der Mann?“ Nach einer Weile sagte sie: „Ich haßte ihn.“ „Und du warst mit ihm verlobt?“ Sie nickte. „Warum?“ „Ich brauche doch nicht gefühlvoll zu werden, nachdem alles vorbei ist – oder?“ Ihre Stimme klang wie ein kleines Blechinstrument. „Es war gleich nach Vaters Heirat mit Gloria. Nicht, daß ich Gloria ablehne…“ Sie zog eine kleine Grimasse und fuhr rasch fort: „Gloria ist sehr nett. Sie betet meinen Vater an. Dieser Mann war älter; er schien gütig und war zudem ein guter Freund meines Vaters…“ „Aber du liebtest ihn nicht?“ 145
„O Gott!“ Sie fing plötzlich an zu lachen. Aber sie war nicht fröhlich. Es war das Lachen eines Menschen, der seit Jahren nicht gelacht hat, eines Taubstummen, der plötzlich seine Stimme findet und sie hohnvoll gebraucht. Es klang blechern. Es gab mir eine Ohrfeige. „Hör auf!“ fuhr ich sie an. Der Polizist stand unter einer Bogenlampe. Ihr Lachen flatterte zu ihm hinüber. „Nimm dich zusammen!“ sagte ich. Das Lachen endete ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. „Entschuldige“, flüsterte Eleanor mit kläglicher kleiner Stimme. „Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn es dich derartig aufregt. Willst du nicht lieber etwas trinken?“ „Nein, danke. Ich möchte dir davon erzählen, Johnnie. Siehst du – ich hatte mir eingebildet, man könnte einen Mann liebenlernen. Ich versuchte es…“, ihre Stimme war demütig, „aber ich konnte es nicht ertragen, wenn er mich küßte oder nur berührte. Ich hielt mich für frigid. Eine frigide Frau. Ich las ‚ Wahrheit und Liebe‘ – und da stand all der Unsinn, daß frigide Frauen nicht auf normale Liebe reagieren, und ich fürchtete, ich sei nicht normal. Ich dachte, mir wären Männer überhaupt zuwider.“ Sie blickte zu dem Appartementhotel hinüber, das riesig zwischen den alten vierstöckigen Häusern aufragte. „Das, habe ich noch niemals laut ausgesprochen.“ „Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du bist absolut normal, Liebling. Du bist wundervoll…“ Ich griff über die Bank nach ihrer Hand. Sie glitt neben mich. Ich legte die Arme um sie. Zum Teufel mit Warren G. Wilson! Die Szene in Barclays Büro begann zu verbleichen. 146
Ihr Haar wehte über mein Gesicht. „Du mußt mir glauben, Johnnie, du bist der erste Mann, den ich liebe!“ „Ich glaube dir, Eleanor.“ „Herr Wilson war wirklich nur ein Freund.“ Sie drückte meine Hand. „Ich muß dir von ihm erzählen – was denkst du sonst? Ich habe nichts zu verbergen.“ Ihr Gesicht war dicht an dem meinen, und im Lampenlicht sah ich die Kontraste. Kein Wunder, daß Gustav und Jean Pierre nicht imstande waren, die genaue Farbe ihres Haars und ihrer Augen anzugeben. Bei jedem Wechsel der Beleuchtung und ihrer Stimmung war sie verschieden. „Ich war fast ein Jahr verlobt“, sagte sie. „Und dann entschloß ich mich – ich konnte es nicht mehr ertragen. Das war am dreizehnten September. Ich ging also zu meinem Vater ins Büro und sagte es ihm. Ich hatte schreckliche Angst. Dieser Mann war nämlich der Freund meines Vaters!“ „Und wie nahm dein Vater es auf?“ „Er war wundervoll – er konnte gar nicht gütiger sein. Die meisten Leute verstehen Vater nicht. Sie glauben, er tut nur so, als ob er an die Befreiung durch Wahrheit glaube, weil er viel Geld damit verdient hat – aber er ist aufrichtig, Johnnie. Das weiß ich im tiefsten Grunde meines Herzens. Vater ist der aufrichtigste Mensch der Welt!“ In ihre Stimme kam. der Trotz, mit dem sie immer den Kritikern ihres Vaters begegnete. „Vater sagte, es sei ganz vernünftig, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen; er sei froh, daß er mich dazu erzogen habe, ehrlich mit mir selbst zu sein. Und ich brauchte bestimmt keinen Mann zu heiraten, den ich nicht liebte. Vater war wundervoll…“ 147
Sie hätte weiter über Barclay gesprochen und ihn gegen ungesprochene Kritik verteidigt, wenn ich sie nicht unterbrochen hätte. „Was hat das mit Wilson zu tun? Du lerntest ihn an diesem Abend kennen, sagtest du. Nun, und weiter? Wo?“ „Bei ‚Jean Pierre‘. Eine Ansprechbekanntschaft. Hast du eine Zigarette, Johnnie?“ Ich zündete ihr eine an. Sie drängte sich noch näher an mich und schmiegte ihre Schulter unter meine Achsel. „Wer hat wen angesprochen? Was machtest du bei ‚Jean Pierre‘? Warst du allein zum Essen dort?“ „Nein, ich ging mit Lola hin. Es war so eine Art kleine Feier. Lola war nie einverstanden mit dem Mann, den ich heiraten wollte…“ „Oh! Sie wußte davon?“ sagte ich und ärgerte mich; ich fühlte mich irgendwie betrogen, weil weder Eleanor noch Lola jemals von dieser Verlobung gesprochen hatten. „Ich habe ihr niemals ausdrücklich erzählt, daß wir verlobt waren. Ich hatte es keinem erzählt.“ Eleanor zitterte ein wenig. „Niemand wußte es außer Vater und Gloria. Aber Lola erriet es. Sie hatte mich beobachtet, wenn ich mit ihr sprach. Selbst am Telefon, sagte sie, hätte sie es mir angemerkt. Da war es natürlich, daß ich Lola zum Essen einlud, als ich Schluß machte. Ich weiß aber noch, daß sie es war, die Jean Pierre‘ vorschlug, denn ich hatte noch nie dort gegessen. Lola bestand darauf, Gastgeberin zu sein – wir bestellten uns herrliche Leckerbissen, Krebsschwänze in Dill und Artischockenböden und Filetsteaks und grünen Salat und Petit fours und Kaffee und…“ „Wenn man bedenkt, daß du gerade deinem Verlobten den Laufpaß gegeben hattest, warst du nicht schlecht bei 148
Appetit!“ „Genau das sagte Herr Wilson!“ „Ach, du hast ihm deine Lebensgeschichte erzählt?“ „Nein, ich erklärte ihm nur, warum ich allein aß und daß Gemütsbewegungen immer schrecklich hungrig machen.“ „Warum du allein aßest? Ich dachte, du warst mit Lola zusammen!“ „Plötzlich, mittendrin, fiel ihr ein, daß sie einen liebeskranken jungen Ritter im ‚Lafayette‘ versetzt hatte. Sie entschuldigte sich, bestand darauf, erst die Rechnung zu bezahlen, und bat mich, allein fertigzuessen.“ „Und kaum hatte Lola dich allein gelassen, lachtest du dir einen Kavalier an?“ „Das ist nicht recht von dir, Johnnie. Wenn du so redest, klingt es, als ob ich ein Straßenmädchen sei. Zum mindesten fing er an. Er saß am Nebentisch und beobachtete mich andauernd…“ „Während der Krebsschwänze und Artischockenböden und Filetsteaks und Salat und Petit fours und Kaffee?“ „Er war sehr manierlich und formell. Er schickte den Oberkellner und ließ mich zu einem Likör einladen. Dann kam er zu meinem Tisch herüber und sagte, ich sähe ihm so bekannt aus… „Etwas Originelleres fiel ihm nicht ein?“ „Es war wahr. Er hatte mein Bild in unseren Zeitschriften gesehen. Schließlich mußt du nicht vergessen, Johnnie: seit ich zwölf Jahre alt war, war ich das ‚Junge Mädchen‘ in den ‚Wahrheits‘publikationen. Wenn man so in der Öffentlichkeit steht wie ich, kann man es sich nicht leisten, zu ablehnend zu den Leuten zu sein…“ „Besonders, wenn sie an den Tisch kommen und Likör anbieten!“ 149
„Aber nein, Johnnie, so war Herr Wilson gar nicht. Er war einer der interessantesten Menschen, die ich kenne. Er wußte unendlich viel über Lyrik und alles mögliche andere – vom Leben der Tiefseetiere und von den russischen Romanciers und der Wüstenvegetation… Er wußte schrecklich viel!“ Sie nahm den letzten Zug aus der Zigarette und warf den Stummel auf den Kiesweg. „Und du warst des öfteren in seiner Wohnung?“ „Warum sollte ich nicht? Herr Wilson war nichtzudringlich. Und außerdem bin ich erwachsen und selbständig. Ich verdiene mir mein Brot. Und wenn ein Mädchen auf eigenen Füßen steht, warum soll sie da nicht auch einen Mann in seiner Wohnung besuchen?“ „Sieh mal, mein Schatz, ich will dich ja nicht in Verlegenheit bringen. Ich weiß, Herr Wilson war nicht zudringlich; er sprach über Tiefseetiere und russische Romanciers und Wüstenvegetation. Er hatte siebenhundert Grammophonplatten und servierte dir den besten Brandy. Warum hättest du also nicht in seine Wohnung gehen sollen?“ „Du sprichst genau wie mein Vater“, sagte sie kalt. „Oh! Er billigte es also nicht, schließe ich daraus?“ „Er war wütend, als er es erfuhr.“ „Anscheinend billigt er bei seiner Tochter die Haltung nicht, die er für die Heroinen seiner echten Liebesgeschichten propagiert?“ „Das habe ich ihm auch gesagt“, antwortete Eleanor. „Ich sagte ihm, ich sei entsetzt, daß er so ein Heuchler ist!“ „An dem Tage, als er entdeckte, daß du Wilson kanntest?“ „Was weißt du darüber, Johnnie?“ „Ich weiß, daß das Mädchen am Klappenschrank ei150
nen Irrtum beging und eine Nachricht für Fräulein Barclay an Herrn Barclays Büro weitergab. Ich weiß, daß du unten im Studio warst, als dein Vater dich holen ließ…“ „Wer hat dir das erzählt? Mein Vater?“ Ihre Stimme war schrill. „Komm, wir wollen kühle Köpfe behalten, Kind“, sagte ich. Ich hoffte, Eleanor würde fühlen, daß sie endlich jemanden, gefunden hatte, dem sie unbedingt vertrauen konnte. Ich wollte gern stark und zuverlässig erscheinen. „Aus Gott weiß welchem Grunde scheint hier jeder hysterisch zu werden, wenn Wilsons Name genannt wird. Bitte, bitte, versuche doch, ruhig zu bleiben…“ Meine Worte hatten eine unerwartete Wirkung. Sie fing wieder an zu lachen. Ich nahm ihre Hand und drehte ihr Handgelenk, bis es sie schmerzte. Ihr Lachen brach ab. „Sei nicht böse“, sagte ich. „Aber du darfst nicht wieder hysterisch werden! Ich ertrage es nicht.“ „Du hast recht“, flüsterte sie. Sie fischte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Ich zündete ihr noch eine Zigarette an. „Sieh mal“, sagte ich, „wir halten jetzt unsere Hände fest. Und wenn du spürst, daß du wieder lachen mußt, drückst du bloß. Obwohl ich nicht verstehe, warum du jedesmal so entsetzlich aufgeregt bist, wenn wir von einer Sache sprechen, die sechs Monate zurückliegt.“ Sie drückte meine Hand. „Du bist lieb, Johnnie.“ „Also, mach dir’s nicht so schwer. Ich stelle ein paar Fragen. Warum regte es deinen Vater so auf, daß du eine Verabredung mit Wilson hattest?“ Ihre Hand lag still in der meinen. „Ich weiß es auch nicht“, sagte sie. „Es klingt eigentlich lächerlich. Nachdem Vater von der Zentrale diese 151
Nachricht bekommen hatte, rief er Herrn Wilson an, um ihn zu fragen, was es damit auf sich habe.“ „Dann kannte dein Vater Herrn Wilson?“ Ihre Hand verkrampfte sich. „Anscheinend – wenn er ihn anrief. Er muß gewußt haben, wo Herr Wilson wohnte. Und ich glaube, Herr Wilson muß ihm geantwortet haben, daß seine Nachricht nicht ihm, sondern mir galt.“ „Wie lautete die Bestellung denn?“ „Ach, er wollte mich nur an unsere Verabredung zu Tisch erinnern. Daß wir uns um halb sieben treffen wollten. Es war keine aufschlußreiche Botschaft!“ „Offenbar hatte dein Vater aber doch einen Grund, nach dir zu schicken und dich über Wilson auszufragen. Oder tut er das bei jeder Verabredung, die du triffst?“ Eleanor scharrte mit der Fußspitze im Kies. „Wir hatten eine häßliche Szene – meine erste Szene mit Vater. Mit welchem Recht konnte er mir verbieten, Herrn Wilson zu sehen?“ „Anscheinend kannte dein Vater Wilson und hatte etwas gegen ihn.“ „Er sagte, Herr Wilson wolle ihn vernichten. Er sagte, das einzige, wofür Herr Wilson lebe, sei, ihm zu schaden.“ „Klingt ziemlich melodramatisch“, warf ich ein. „Das sagte ich Vater auch. Aber er war lange nicht so schlimm wie Ed. Ed war völlig außer sich. Vater wurde ärgerlich über ihn und schrie ihn an, er solle den Mund halten. Er schnappte seine Zigarettendose auf und zu, immerfort, bis ich fast verrückt war.“ „Also Munn war auch dabei?“ „Ja, denk dir nur,“ sagte sie höhnisch, „Vater ließ ihn bei Wilson anrufen und ausrichten, ich könne nicht mit ihm essen. Ich war wütend.“ 152
„Natürlich. Aber du hast nicht erfahren, was Wilson gegen deinen Vater hatte?“ „Er sagte mir nur, Herr Wilson habe ihm einmal einen sehr schlechten Dienst geleistet.“ „Ja, aber danach mußte es doch eigentlich dein Vater sein, der Rachegedanken gegen Wilson hegte, nicht umgekehrt!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das sagte ich auch, aber Vater meinte, es sei menschlicher, jemand zu hassen, dem man Unrecht getan, als einen, von dem man Unrecht erlitten hat. Ich halte das auch für eine ganz vernünftige Psychologie. – Johnnie…“ Eleanor sah mich eindringlich an, sie strengte die Augen an, um in dem schlechten Licht genau meinen Ausdruck zu sehen. „Ja, Eleanor – was denn?“ „Als mein Vater mit dir sprach – hat er da ein Buch erwähnt?“ „Ein Buch? Was für ein Buch?“ „So – dann ist es nicht wichtig, glaube ich. Ich habe es mir sicher nur eingebildet.“ Eleanor seufzte. „Ich habe die Zeitungen alle gelesen, als er starb – aber es war nirgends von einem Manuskript die Rede.“ „Meinst du, daß Wilson ein Buch schrieb?“ „Er schrieb ein Buch“, sagte sie etwas ungeduldig, als hätte ich irgendwie durch Telepathie um diese Tatsache wissen müssen. „Als mein Vater sagte, Wilson lebe nur, um ihn zu vernichten, habe ich ihnen darüber erzählt, was ich wußte. Ich sagte, Herr Wilson lebe nur, um sein Buch zu beenden. Edward Munn wurde schrecklich aufgeregt, aber Vater meinte, Herr Wilson sei ein Betrüger und kein Mensch würde seinem Buch glauben.“ „Weißt du, wovon das Buch handelte?“ „Ich weiß den Titel.“ 153
„Und der hieß?“ „ ‚Die Autobiographie des Homer Peck‘.“ Meine Finger schlössen sich fest um die ihren. Diesmal sollte es keine Teufelsaustreibung ihrer Hysterie sein; es war meine impulsive Reaktion auf den Titel von Wilsons Buch. „Bist du auch erschrocken darüber? Was bedeutet der Titel?“ Ich atmete tief. „Ich weiß es nicht; als ich an der Wilsongeschichte arbeitete, kam ich auf eine Andeutung über diesen Homer Peck. Ich weiß noch nichts von ihm, aber irgendwo schlägt eine Glocke an. Erinnerst du dich daran, was sie über ‚Herrn Pecks Autobiographie‘ sagten?“ „Zuerst sagten sie gar nichts. Sie schienen den Atem anzuhalten. Du weißt, was ich meine, Johnnie…, das Schweigen wurde lauter als jeder Lärm. Es verwirrte mich, und ich fing an zu schwatzen. Ich sagte…“ „Was sagtest du?“ „Ach, es war dumm. Ich sprach über den Titel von Herrn Wilsons Buch. Ich hatte ihm nämlich gesagt, er gefiele mir nicht. Warum nannte er ein Buch eine ‚Auto‘biographie, wenn es nicht von ihm selbst handelte? Oder bloß ein Roman in Ichform war? Aber er sagte, es sei kein Roman. Er sagte, es sei die Wahrheit über einen Roman, und deshalb sei es seltsamer und phantastischer als ein Roman.“ „Und was meinte dein Vater dazu?“ „Ich weiß nicht mehr.“ Sie grübelte. „Ed wollte etwas sagen, aber Vater schickte ihn weg. Vater sagte, er wolle allein mit mir sprechen.“ „Und was sprach er mit dir?“ Sie lachte ein trauriges halbes Lachen. „Seine Lebens154
geschichte. Daß er meistens betrunken zu sein pflegte, daß er voll schlechter Leidenschaft war, daß seine liebe Mutter an gebrochenem Herzen gestorben sei, daß es seine Schuld war, daß meine Mutter sich das Leben nahm, und den ganzen alten Kram.“ „Es war also nicht das erstemal, daß er so zu dir sprach?“ „Seit ich sechs Jahre alt war, mußte ich es immer wieder hören.“ Sie lachte ein wenig schmerzlich. „Aber wenn mein Vater diese Geschichte erzählt, so hat das eine gewisse Wirkung. Er ist so ehrlich und stark, daß sich die Leute, als er öffentliche Vorlesungen hielt, zum Podium drängten, um ihre heimlichen Wünsche und ihre verborgenen Sünden zu bekennen.“ „Nun? Und hast du auch bekannt?“ „Ich hatte nichts zu bekennen. Aber er machte mich fertig. Das erreicht er immer. Er weckt in mir das Gefühl, ich sei ein eigensinniges Kind, als habe ich etwas Minderwertiges, Schwaches in mir, was ich aufzuwiegen versuche, indem ich meinen eigenen Willen durchsetzen will. Und dann zeigt er mir, daß ich nicht allein bin mit diesen unwürdigen Gefühlen, sondern daß er sie versteht und verzeiht – und dann bin ich tatsächlich wieder beruhigt. Vielleicht glaubst du mir’s nicht.“ „Doch. Es ist mir auch schon passiert. Wenn dein Vater seinen Charme ins Treffen führt, legen sich Löwe und Lamm zusammen schlafen.“ „Ja, aber wenn es vorbei ist und man ihn nicht mehr sieht, hört es auf zu wirken. Man fällt mit einem Plumps aus den Wolken. Ich bin in letzter Zeit oft aus den Wolken gefallen. Leute wie Gloria und Grace Eccles können einfach in seinem Buch lesen, um sich wieder aufgerichtet und erhoben zu fühlen. Ich aber nicht – wenigstens 155
nicht mehr.“ Sie lachte wieder, aber diesmal klang es natürlich und frei. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so mit jemandem gesprochen, Johnnie.“ „Und damals, in jener Nacht“, sagte ich langsam, „da fielst du auch mit einem Plumps aus den Wolken, wie? Hat es lange gedauert?“ „Im Laufe des Abends. Vater lud mich zu Tisch ein und machte schrecklich viel Aufhebens von mir. Es war wie in alten Zeiten, ehe er Gloria kennenlernte. Er brachte es fertig, daß ich mir wundervoll und bedeutend vorkam – und ich fand es einfach unfair, daß ich jemals an ihm gezweifelt hatte. Und dann…“, sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, „dann mußte er zum Mikrofon. Es war Freitag, wo er immer die Sendung ‚Die Stimme der Wahrheit‘ macht. Also setzte er mich in ein Taxi und schickte mich nach Hause. Und ganz plötzlich wurde mir klar, daß ich mich hatte einwickeln lassen und daß er mir nicht einen einzigen Grund angegeben hatte, warum ich Herrn Wilson nicht weiterhin sehen sollte. Also rief ich ihn an…“ „Um welche Zeit war das?“ „Vielleicht halb zehn, ich weiß es nicht mehr genau. Und Samstag rief ich wieder an, aber ich bekam keine Antwort. Ich dachte, er sei vielleicht über das Wochenende weggefahren.“ „Und wann hörtest du, daß er tot war?“ „Sonntag. Es wurde im Radio durchgegeben.“ In der verschwommenen Beleuchtung war ihr Gesicht wie eine Maske, aus zerbrechlichem Material, aus Ton oder aus Porzellan, und ihre Augen waren wie harte Steine in die Maske gesetzt. „Was sagte dein Vater dazu?“ „Ich habe es nie vor ihm erwähnt.“ 156
„Den Teufel hast du!“ Ich ließ Eleanors Hand los und stand auf. Ich konnte ihr nicht glauben. Es war zu unglaublich. Freitag Abend hatte sie einen Streit mit ihrem Vater gehabt – wegen Wilson. Am Sonntagmorgen entdeckte man Wilsons ermordeten Körper, und als Zeit seines Todes wurde ebendieser Freitagabend genannt. „Ihr müßt doch darüber gesprochen haben. Es ist nicht anders möglich!“ „Nein.“ Ihre Stimme war flach geworden. „Vater und Gloria waren Samstag morgens weggefahren, um das Wochenende in Washington mit dem Senator zu verleben. Ich sah ihn erst Montag spätnachmittags im Büro wieder.“ „Und da erwähntest du Wilson nicht?“ Die flache Stimme fuhr fort: „Vater fing nicht davon an; also sagte ich auch nichts. Ich habe immer Angst, Dingen gegenüberzutreten, von denen ich weiß, daß sie unangenehm sein werden. Ich fürchte, du glaubst mir nicht.“ „Hm…, für eine Familie von Wahrheitsfanatikern seid ihr Barclays die verschwiegensten Leute, die ich kenne. Warum hast du solche Angst, mit ihm darüber zu sprechen?“ Sie war steif geworden. Ich hatte Eleanor schon öfters so gesehen, wenn sie sich in der gleichen stählernen Art gegen die Witze und die Kritik der Zyniker am Redakteurstisch verteidigte. Heute Abend hatte ich zum erstenmal gehört, daß sie Zweifel an Barclays Aufrichtigkeit hegte. Sie hatte sich verraten. Bisher hatte ich gedacht, es sei ihre Liebe zu Noble Barclay, die sie so verächtlich gegen die Spötter machte. Sie hatte auch mir trotzig gesagt: „Ich liebe meinen Vater.“ Nun aber sah ich, daß es nicht Liebe und nicht Stolz waren, wenn sie ihn vertei157
digte – sondern Zweifel. Das gab bei mir den Ausschlag. Ich sagte: „Er glaubt, du warst es.“ „Mein Vater?“ „Er denkt, du warst es, die Wilson ermordete.“ „Hat er dir das gesagt, Johnnie?“ „Heute Nachmittag hat dein Vater mich davor gewarnt, weitere Versuche zur Aufklärung dieses Falles zu machen. Er wolle dich damit beschützen, er wolle damit nur sagen: Wenn ich dich liebe, müsse auch ich…“ „Und du glaubst es?“ „Nein“, sagte ich. „Ich glaube es nicht. Aber ich nehme an, du weißt mehr, als du zugibst.“ Sie zog den Pelzmantel fester um sich. „Du liebst mich nicht“, sagte sie bitter. „Du bist wie alle anderen – du versuchst bloß, etwas herauszufinden. Du wolltest über uns Bescheid wissen. Du willst reden und Artikel schreiben und angeben. Und du ließest mich glauben, du liebst mich.“ Eine Ambulanz sauste die Fünfte Avenue hinunter. Ihre Sirene schreckte mich auf. Eleanor war weggegangen. Sie war fortgestürzt, ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster. Ohne Hut, mit offenem Pelzmantel, wie die anderen Mädchen, die sie beneidete, die Studentinnen mit den unbedeutenden Vätern. Ich lief ihr nach. An der Fünften Avenue und Achten Straße sprang Eleanor in ein Taxi. Ich lief ihr nach, über die Straße weg, aber eine Hupe warnte mich, und ich mußte auf die Bordschwelle zurück. Die Lichter wurden grün. Eleanors Taxi fuhr ab. Ehe ich einen leeren Wagen fand, sah ich nur noch ein rotes Stopplicht zwischen vielen anderen roten Lichtern verschwinden. 158
Ich schritt die Fünfte Avenue hinauf. An der Dreiundzwanzigsten Straße fiel mir ein, daß ich noch nicht gegessen hatte. Ich beschloß, schnell in ein ChildsRestaurant zu gehen. Unterwegs kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las sie nicht gleich, ich war zu stark mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um mir aus der übrigen Welt etwas zu machen. Erst als die Kellnerin mir mein Steak und die gerösteten Kartoffeln brachte, schlug ich die Zeitung auf. Es war eine seriöse Zeitung, kein Skandalblättchen, und ich sah Lolas Bild erst, als ich Seite drei umblätterte. Es nahm eine Spalte ein und war nach einem alten Bild gemacht – aus der Zeit, als Lola noch jung und schlank und dunkelhaarig gewesen war. Die Überschrift lief über zwei Spalten. Sie lautete: DICHTERIN TOT AUFGEFUNDEN LOLA MANFREDS LEICHE IN IHREM APPARTEMENT IN GREENWICH VILLAGE ENTDECKT POLIZEITHEORIE: SELBSTMORD Ich stieß meinen Teller weg. Der Geruch der gerösteten Kartoffeln machte mich krank. Die Kellnerin kam über den gekachelten Fußboden, aber ich hatte schon meinen Hut und Mantel ergriffen. Ich deutete auf den Tisch, auf dem ich ihr eine Zweidollarnote hinterlassen hatte. Sie starrte mir durch die geschliffene Glastür nach. Ich ging zuerst nach Norden, ich dachte an Lola und was sie von ihrer Autobiographie gesagt hatte. „Sand gegen den Wind…“, das war der Titel, weil Lola über alles spottete; sie war Exhibitionistin geworden – so hatte sie es mir erklärt –, weil sie zu faul war, weiterhin Verse zu schrei159
ben. Aber es steckte mehr dahinter, dachte ich. Es war etwas anderes als die Faulheit, was ihr Talent gelähmt hatte… In der Vierunddreißigsten Straße ging ich in einen Zigarrenladen und stand Schlange, bis die Telefonzelle frei wurde. Zum Glück hatte ich Riordans Privatnummer in dem kleinen Buch, das ich immer in der Tasche trug. „Hier spricht Ansell“, sagte ich und wartete, bis er den Namen untergebracht hatte. „Ansell von der Zeitschrift ‚Wahrheit und Verbrechen‘.“ „Ich weiß. Brauchen Sie mich, Ansell?“ „Lola Manfred hat nicht Selbstmord begangen. Darauf wette ich meinen letzten Dollar!“ „Wer ist Lola Manfred?“ „Haben Sie die Zeitungen nicht gesehen? Eine Dichterin; die Leiche ist in ihrer Wohnung, einem Atelierappartement in Greenwich Village, gefunden worden. Man behauptet, es sei Selbstmord. Aber ich habe so eine Ahnung… Lola Manfred wußte nämlich, wer Warren G. Wilson ermordet hat…“ „Einen Augenblick“, sagte Riordan. Anscheinend legte er seine Hand über das Mundstück und sprach mit jemand anderem. Dann sagte er: „Treffen Sie mich im Hauptquartier. Ich brauche nicht mehr als zwanzig Minuten. Ich muß mich nämlich anziehen.“ Während ich abhängte, war mir, als hörte ich eine heftig protestierende Frauenstimme.
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Vierter Teil DRACHENZÄHNE von Eleanor Barclay
„Blickt tief in eure versunkene Vergangenheit. Laßt eure Gedanken ziellos treiben. Vielleicht fluten schreckliche Bilder in euren Geist, Bilder, die zu entsetzlich sind, als daß eure bewußte Persönlichkeit sie zu erkennen vermag. Unterdrückt sie nicht! Laßt euch nicht von Scham bezwingen! Wenn ihr jemals euer Selbst erobern wollt, so müßt ihr die verborgenen, verwischten, ausgelöschten, verurteilten Erinnerungen aus eurem Bewußtsein ausgraben. Fürchtet euch nicht! Wandert frei und nackt in den tiefsten, dunkelsten, schrecklichsten Urwäldern der Erinnerung.“ „Mein Leben ist Wahrheil Noble Barclay Als ich die Hand nach der Türklingel ausstreckte, begann mein Herz so zu schlagen, daß sein Pochen das ganze Foyer auszufüllen schien. Dieses elegante kleine Foyer, ganz in schwarzweißen Karos – von einem Innenarchitekten entworfen, der die Reichen im geheimen haßte und hoffte, sie würden Platzangst bekommen, wenn sie hier auf den Lift warteten. Meine Hand fiel von der Klingel herunter, und ich hielt sie über mein Herz, als könne der Druck das laute Pochen zum Schweigen bringen. Ich sollte meinem Vater gegenübertreten und ihm die Frage stellen, die ich seit 161
Monaten nicht einmal vor mir selbst zu flüstern gewagt hatte. Mein Leben lang hatte ich mich von Mißhelligkeiten abgewendet und lieber die Eisblumen an einer Fensterscheibe oder das Spiel von Licht und Schatten unter einem Baum studiert oder auf das Summen einer Fliege oder das Zischen des Dampfes in der Heizung gelauscht. Es waren de facto sogar zwei Fragen – die eine mochte ich meinem Vater nicht stellen, weil ich Angst hatte, und die andere war aus meinem Gespräch auf einer Parkbank mit Johnnie geboren. Als er mir die häßliche Geschichte erzählte, hatte ich mich nicht abgewandt. Jede Fiber in mir lauschte. Ich hörte nicht nur die Worte und die Stimme, sondern ich spitzte die Ohren, um jeden Unterton aufzufangen, die volle Bedeutung, den Sinn des Sinnes… „Heute Nachmittag hat dein Vater mich davor gewarnt, weitere Versuche zur Aufklärung dieses Falles zu machen. Er wolle dich damit beschützen, er wolle damit nur sagen: Wenn ich dich liebe, müsse auch ich…“ Hardy, Glorias Diener, öffnete die Tür. Ich eilte an ihm vorbei durch den Empiresalon, den Gloria von einem jungen Mann hatte einrichten lassen, der aus der Innenarchitektur eine Religion gemacht und jedem Raum einen Namen gegeben hatte. Vaters Studio – es hieß „Der Widerspruch“ – war hinten in der Halle des ersten Stockwerkes. Ich hoffte, ihn dort nicht vorzufinden – denn sonst mußte ich sofort meine Frage stellen, und mir sank schon der Mut. Die erste Etage war still, bis auf das Schwatzen der Dienstboten in der Küche. Im Wohnzimmer des zweiten Stocks fand ich Gloria. Sie lag auf einem Fell vor dem Kamin, trug einen Hausanzug aus Leopardenhaut und studierte ihre französische Grammatik. Der Raum war 162
mit einem kostbaren Parfüm erfüllt, einem dieser allzu künstlichen Gerüche, die gewöhnlich „Fierce“ oder „Flagrant“ oder „Pearless“ heißen. „Hallo, Eleanor! Ich hoffe, du weißt, daß du uns zu Tisch versetzt hast! Was dachtest du dir nur? Weißt du nicht, was für ein Abend heute ist?“ „Wo ist Vater?“ „Kind, du bist nicht recht bei Trost!“ Gloria rollte sich mit einer fließenden Bewegung herum auf den Rücken – in jahrelangem Balletttraining hatte sie Grazie gelernt. „Es ist Freitag!“ „Freitag?“ Es muß idiotisch geklungen haben. Im Familienkalender der Barclays war der Freitag noch heiliger als der Sabbath. „Ist es nicht schrecklich – mit Lola?“ „Was ist denn mit ihr?“ „Weißt du es noch nicht?“ Gloria richtete sich auf, umschlang ihre Knie und zog die Luft ein. „Sie hat Selbstmord begangen!“ Ich ging mit unsicherem Schritt zu einem Armstuhl dicht neben dem Feuer. Ich ließ mich in den Stuhl sinken, und mir war, als hätte ich immer gewußt, daß man Lola eines Tages auf der indischen Buntdruckdecke ihrer Couch im Studio tot auffinden würde, mit einem leeren Glas auf ihrem wurmstichigen Walnußtisch. „Warum hat sie es getan? Was meinst du?“ fragte Gloria, und ihr Busen wogte vor Erregung. „Sie war betrunken, denke ich.“ Hardy klopfte an die offene Tür, legte sein hübsches Gesicht in die vorschriftsmäßig feierlichen Falten und verkündete: „Es ist eine Minute vor neun, gnädige Frau.“ Unten in der Küche saßen die Dienstboten ums Radio, während die englische Nurse im Kinderzimmer in sno163
bistischer Einsamkeit lauschte. Aus jedem Teil des Hauses klang die Schlacht-Hymne der Republik, und ein Bariton sang eine Zeile: „… doch seine Wahrheit marschiert!“ Die Musik verklang, ein Ansager meldete: „Hier ist die ‚Stimme der Wahrheit‘ “ und nach einer Pause, so kurz wie ein Herzschlag, begann mein Vater: „Guten Abend, meine Freunde. Hier ist Noble Barclay.“ Ehe ich Lola Manfred kannte, hatte ich mein Herz jedem Zweifel verschlossen. Mein Glaube war in meiner Liebe zu Vater verwurzelt, nicht in seiner Philosophie. Ich hatte Perioden der Rebellion durchgemacht – einmal, als ich mich weigerte, mich länger als das „Junge Mädchen“ der „Wahrheit“ fotografieren zu lassen, und einmal sieben Wochen lang, als ich so sehnsüchtig wünschte, auf die Universität zu gehen. Aber zuletzt tat es mir leid, daß ich eigenwillig und treulos gewesen war. Bis zu meinem sechsten Jahr lebte ich bei der Familie meiner Mutter und hörte den Namen meines Vaters nur im Flüsterton, wie ein häßliches Wort. Als er kam, um mich zu holen, war ich so entsetzt, als sei der Teufel selbst gekommen, um mich in die Hölle mitzunehmen. Ich stieß mit den Füßen um mich und schlug und biß, bis mich die Bewegung des Zuges müde gemacht hatte und ich in seinen Armen einschlief. Die vorherrschende Note im Hause meines Vaters war anbetende Bewunderung. Wir hatten ergebene Dienstboten und Sekretärinnen, alles Barclayjünger, Exinvaliden oder gebesserte Sünder, die durch seine Lehren ihre Gesundheit und Ehrbarkeit wiedergewonnen hatten. Ich wurde der Trommler dieses Zuges von Bekehrten. Meine Gouvernanten lasen mir aus dem Buch meines Vaters vor, als sei es die Bibel. 164
Ein Wort erfüllte mein Herz mit Abscheu: Untreue! Das Wort warf seinen Schatten auf die Erinnerung an weggelaufene Dienstboten und Sekretäre. Als ich zwölf war, wurde plötzlich Janet, Vaters ehrerbietige Gattin, über Nacht so wütend und haßerfüllt wie ein ungetreues Dienstmädchen. Am nächsten Morgen ließ mein Vater meine Sachen packen, und ehe ich mich versah, war ich mit einer Gouvernante und einer derben, rothaarigen Sekretärin unterwegs nach Florida. Die Rothaarige blieb fast ein Jahr treu, dann verließ auch sie uns, und es kam eine glückliche Zwischenzeit, in der Noble Barclays Tochter, das „Junge Mädchen“ der „Wahrheit“, keinerlei Rivalinnen hatte. Meine Erziehung war Zufallssache gewesen. Was ich jemals gelernt habe,, verdanke ich Vaters zweiter Frau, Janet Ordmann Barclay; sie hielt Intelligenz und Wissen bei einer Erzieherin für wichtiger als hübsche Beine und üppigen Busen, wonach mein Vater die Werte maß. Er lehnte eine planmäßige Erziehung ab. Nachdem er in den Tagen vor seiner Wiedergeburt von vier Universitäten relegiert worden war, empfand er es später als heilige Pflicht, die Schwächen der modernen Erziehung bloßzulegen. Die Autoren des „Wahrheits-Verlages“ bewiesen, daß die College-Ausbildung die moralische Kraft schwächte, Perversität ausbrütete, Trunksucht förderte und Entartung nach sich zog. Karten mit kleinen Pappmännchen auf Leitern zeigten, daß der Prozentsatz der Versager unter den Akademikern höher sei als unter den Nichtstudierten. Noble Barclays Tochter erhielt ihre Erziehung in den Büros des „Wahrheits-Verlages“. Ich war damals jung und glaubte, was ich las. „Wahrheit und Liebe“ sprach von dem Fluch der frigiden Frau, und ich dachte, er lastete auch auf mir, weil es mir lästig und wi165
derlich war, wenn mein Verlobter versuchte, meine Hand zu halten. Niemand im Büro erfuhr etwas von unserer Verlobung. Ich wand mich vor Ekel, wenn Eds trockene, behutsame Finger mich berührten, und schrak zurück vor seinen Lippen, die sich wie Gummi anfühlten. Zum Glück hatte der Mann wenig Temperament. Er „respektierte die weibliche Feinfühligkeit“ und vermied jeden scharfen Konflikt zwischen uns. Meine Erziehung schritt fort. Ich sah mir andere Männer an, ich maß Ed an den gerissenen jungen Zynikern, die am Redakteurstisch faule Witze machten und ihre Stellung wegen Treulosigkeit verloren. Ich verglich ihn mit den geschniegelten jungen Inseratenwerbern in doppelreihigen Anzügen und bunten Schlipsen. Bald begann ich ein fein ersonnenes Versteckspiel, wurde spröde, kapriziös, anfällig, und endlich dachte ich mir Lügen aus, um ein Essen oder einen Abend mit ihm zu vermeiden. Eines Tages drehte sich Lola Manfred in ihrem Sessel im Büro herum und sagte: „Es muß ja nicht sein! Du kannst dem Ekel jederzeit nein sagen!“ Ich arbeitete gerade an einem Manuskript: „Eva Braun – die Wahrheit über Hitlers Liebesleben“. Die Bogen flogen auf die Erde, und ich bückte mich, um sie aufzuheben, froh über den Vorwand, der mein Erröten verbarg. „Über was sprichst du?“ fragte ich, aber die Worte blieben mir fast im Halse stecken. „Ich bin weder blind noch taub. Wenn ich deine Antwort höre, kann ich dir jedesmal genau sagen, wer am Telefon ist, und wenn er dir hier im Büro auf den Pelz rückt, wird mir schlecht beim Anblick der Qualen, die du ausstehst. Er ist dir zuwider, Eleanor. Warum erlaubst du ihm, dir nachzulaufen?“ 166
Ich gewann Lola sehr lieb, aber aus Selbstverteidigung war ich manchmal arrogant und immer zu stolz, um sie merken zu lassen, daß ich ihr mit Ed Munn recht geben mußte. Als ich endlich den Mut aufbrachte, meinem Vater zu sagen, daß ich die Verlobung lösen wolle (er mußte für mich mit Ed sprechen), feierte ich den großen Tag, indem ich mit Lola ausging. Als sie mich an diesem Tag zwischen Vorspeise und Salat allein ließ, lernte ich Herrn Wilson kennen. Es war ein harmloses Kennenlernen und eine unschuldige Freundschaft. Ich sprach oft mit Lola über ihn und plante immer ein Zusammensein an meinem sozusagen wahlverwandten Tisch. Ich dachte, Lola und Herr Wilson müßten sich gefallen. Ihre gemeinsame Leidenschaft für Blake, der kein populärer Dichter ist, war ein verheißungsvoller Zufall, und ich dachte, wir würden ein harmonisches Trio abgeben. Und beide verstanden mich in der Art älterer Menschen, die ihre Jugend nicht vergessen haben und neue Jugend verstehen können. Ich erzählte Lola von Herrn Wilson und Herrn Wilson von ihr und versuchte, eine kleine Gesellschaft zu arrangieren, aber es gelang mir nie. Ich dachte mir nichts dabei, daß Lola anfing zu maulen, wenn ich Herrn Wilson erwähnte. Lola war eine unglückliche Frau und daher sehr reizbar. Also hörte ich auf, von Dingen zu sprechen, die sie nervös machten. Und als Herr Wilson starb, waren die Umstände so rätselhaft, daß ich darüber grübelte und grübelte, aber nicht davon sprechen konnte, und ich habe Lola niemals erzählt, daß der Mann, dessen Mord die Zeitungen berichteten, mein Herr Wilson war. „Jetzt, nachdem Lola nicht mehr bei uns ist, wirst du wahrscheinlich Redakteurin von ‚W. u. L.‘ “ bemerkte 167
Gloria und sah von ihrer französischen Grammatik auf. Die Radiosendung war vorbei, und sie hatte wieder ihre Schulmädchenpose angenommen, damit mein Vater, wenn er hereinkam, kicherte und ihr einen Klaps auf die runde Kehrseite gab. „O pfui – sei doch still!“ „Was für liebenswürdige Manieren du hast, Fräulein Barclay!“ „Das ist mir gleich. Es ist einfach Leichenfledderei, an ihren Posten zu denken, wenn sie…“ „… noch nicht in ihrem Grabe kalt geworden ist, was?“ Gloria sah mich scharf an. „Und wie unordentlich du aussiehst, Eleanor! Warum läufst du andauernd ohne Hut herum? Du tätest besser, dich zu kämmen und anständig zu pudern, ehe dein Vater kommt!“ Als ich, gekämmt und fügsam, aus Glorias Ankleideraum kam, saß Vater in dem Ohrenstuhl beim Feuer und Gloria auf dem Boden zu seinen Füßen; sie stützte ihr vorspringendes Kinn in beide Hände. „Ed erledigt die Sache für mich“, meinte er gerade, „ich habe ihm gesagt: ‚Spare keine Ausgaben, gib ihr ein anständiges Begräbnis, ich zahle, was es kostet.‘ Sie hat natürlich keinen Cent hinterlassen, die arme Seele, nicht einmal genug für ein anständiges Begräbnis! Aber ich will, das alles die richtige Form hat; sie war eine getreue Jüngerin… “ Lola war tot und konnte die Bemerkung nicht mit Hohn zurückweisen. „Sie war keineswegs eine getreue Jüngerin“, sagte ich. „Sie hat dich gehaßt, und du wußtest es.“ „Nun, da sie tot ist“, sagte mein Vater vorwurfsvoll, „steht es! uns nicht an, übel von ihr zu sprechen. Die arme Lola hatte Fehler und Schwächen – aber welches 168
menschliche Wesen hätte sie nicht? Junge Menschen, Eleanor, neigen zur Unduldsamkeit. Du beurteilst Lola falsch. Sie hatte eine scharfe Zunge. Wahrscheinlich belustigte es sie, ihre Witzchen über mich zu machen – aber sie war nie ungetreu!“ Glorias Stimme schwankte im Genuß der verzerrten Situation. „Was hat man denn festgestellt? Betrunken natürlich, nicht wahr? Ich könnte wetten!“ „Es wird eine Untersuchung stattfinden. Du wirst vielleicht als Zeugin aussagen müssen, Eleanor.“ „Ich weiß doch nichts!“ „Nun, daß sie gefühlsmäßig sehr unausgeglichen war. Daß sie zuviel trank. Daß sie immer einen gewissen Hang zur Melancholie hatte. Du warst doch gestern mit ihr zusammen. In welcher Stimmung war sie?“ Ich beantwortete Vaters Frage nicht. Ich dachte an Lola, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte auf ihrem Pelzcape herumgetrampelt und war dann in den Waschraum gelaufen, aber als sie, reuig und zu bunt geschminkt, wiederkam, war sie zerknirscht und sehr bemüht, alles gutzumachen. Ich hatte zuviel mit mir selbst zu tun, um Lola große Aufmerksamkeit zu schenken. Ich war verstimmt, weil sie sich so kindisch benommen hatte, und war von lauter Nichtigkeiten in Anspruch genommen, denn Johnnie kam zu Tisch zu mir. Fünf Telefonanrufe an Brenda, alle geringfügig und lächerlich, die Cocktailgläser sollten gekühlt und die Teller gewärmt werden; waren die Blumen auch richtig arrangiert? Für Lola hatte ich keine Gedanken. Jetzt war es zu spät für Reue und Verzeihung, und es hatte keinen Sinn, zu grübeln, ob nicht meine Selbstsucht zum Teil an ihrer verzweifelten Stimmung schuld war. „Die Tragödie sinnloser Vergeudung. Vergeudung des 169
Lebens, Vergeudung eines Talentes. Und alles durch Alkohol.“ Gegen das Feuer sah meines Vaters Profil dunkel und stark und traurig aus. „Nein“, sagte ich, „so darfst du nicht sprechen. Es war etwas Schlimmeres als Alkohol…“ „Etwas Schlimmeres?“ rief Gloria schrill und strich den Hausanzug aus Leopardenhaut so glatt, daß ihre Hände die Aufmerksamkeit auf die Rundungen unter dem steifen Pelz ziehen mußten. „Ja, gibt es denn etwas Schlimmeres als Trunksucht und Selbstmord?“ „Ja…, das Unglück“, sagte ich. „Das Unglück, das Lola zur Trinkerin machte. Du müßtest das doch wissen, Vater. Denk an deine eigenen Erfahrungen. Nicht ehe du entdecktest, was es war, das dich zum betrunkenen Strolch machte, hast du…“ „Das ist etwas ganz anderes“, unterbrach Gloria, peinlich berührt. Als die Frau Noble Barclays hatte sie zwar an absolute Ehrlichkeit zu glauben, aber sie zog es vor, nicht an die weniger sauberen Kapitel in der Geschichte meines Vaters zu denken. „Du fandest dich selbst und lerntest deine Schwächen besiegen, und deshalb konntest du das Trinken aufgeben“, fuhr ich fort, zu meinem Vater gewandt und Glorias Zwischenruf nicht beachtend. „Lolas Kummer war schlimmer als deiner, weil sie ihn tiefer fühlte.“ „Unsinn“, schnaubte Gloria. „Ihr Gefühlsvermögen“, tastete ich weiter, „war einfach zuviel für sie. Sie konnte es nicht ertragen, daß die Welt so ist, wie sie ist, und daß die Menschen genarrt und betrogen und irregeführt werden, wenn sie demütig und innig versuchen, ehrlich und glücklich zu sein.“ „Wie lächerlich“, sagte Frau Barclay schnippisch. „Wenn sie mit den Menschen Mitleid hatte – warum ver170
suchte sie dann nicht, ihnen zu helfen, wie es dein Vater tut, statt sich in Alkohol und Ausschweifung zu stürzen. Stimmt das nicht, Pappi?“ Mein Vater seufzte. Die Knie wurden mir weich, meine Lippen zitterten, und meine Stimme überschlug sich, als ich sagte: „Vater, ich muß mit dir sprechen!“ Glorias blaue Augen glänzten erwartungsvoll. „Unter vier Augen“, setzte ich hinzu. „Es ist unendlich wichtig.“ Mein Vater war an solche Forderungen gewöhnt. Eine Audienz mit dem Schöpfer der Befreiung durch Wahrheit war eine Bevorzugung, die nur Familienmitgliedern, nahen Freunden und sehr reichen und mächtigen Leuten zuteil wurde. Er erhob sich und streckte die Hand aus, und nachdem wir uns bei Gloria entschuldigt hatten, gingen wir die Treppe hinunter in sein Studio. „Nun, was hast du mir zu sagen?“ fragte mein Vater zart. Ich schloß die Augen. In unserem Kodex war die schwärzeste Sünde Treulosigkeit, eine Gefahr, von der Barclays Tochter niemals bedroht war – hatte ich wenigstens bisher gedacht. In unserem Büro, wo Skepsis sozusagen epidemisch war, hatte ich mich immun geglaubt. Ich hatte mich schrill und gellend verteidigt, aber es war meiner Stimmkraft doch nicht gelungen, meine Schwäche zu verbergen. Ich hatte mich angesteckt bei den Menschen, die mir am liebsten waren, sie waren am offensten in ihrem Spott. Auch Herr Wilson trug zu meiner Erziehung zur Untreue bei. Er war nicht so geräuschvoll arrogant wie die Gruppe junger Leute am Redaktionstisch, aber er stellte viele Fragen über die praktische Glaubensübung meines Vaters, über unser Leben zu Hause (damals, als Janet 171
noch da war), über Vaters Heirat mit Gloria und über meine früheste Jugend in Vaters Haus in Great Neck. Herr Wilson hatte keine Kritik geübt. Er behandelte die Philosophie meines Vaters mit der belustigten Gleichgültigkeit eines kultivierten Bischofs, der die Narreteien eines hinterwäldlerischen Propheten erforscht. „Was hast du mir zu sagen?“ wiederholte mein Vater. Ich war völlig abwesend gewesen. Erschrocken fuhr ich auf und sah ihn an. Er kam mir wie ein Fremder vor, dieser Mann, der hier auf der harten Couch neben mir saß. Er war gepflegt, braungebrannt, trainiert, massiert, gut aussehend und gesund – und doch zeigte sein Gesicht die Spuren seiner lasterhaften Jugend. Ich blickte auf das starke Kinn und dachte an den schwankenden, jungen Trunkenbold, den meine Mutter so unsinnig geliebt hatte, daß der Irrtum ihrer Ehe für sie den Tod bedeutete. Meine Stimme war glatt und weich, die Sonntagnachmittagsstimme eines guten Kindes, als ich ihn fragte: „Warum hast du John Ansell das erzählt – was du ihm heute nachmittag sagtest?“ „Er ist also zu dir gekommen und hat geschwatzt. Ein Kavalier, wie?“ „Darum geht es nicht. Ich möchte wissen, warum du das gesagt hast.“ „Warum hast du an jenem Tag den Revolver mit in mein Büro gebracht?“ Ich sah weg, auf die weiße Gipshand, die den schwarzen Plüschvorhang zusammenhielt. „Der Revolver hat nichts damit zu tun. Der war eine Zufallssache; das weißt du genau, Vater. Mir wurde gesagt, ich solle sofort in dein Büro kommen; ich hatte gerade den Empfang des Revolvers unterschrieben; ich ergriff den Revolver statt meiner Handtasche und kam herauf. Darum handelt es 172
sich nicht…“ Die starke Hand meines Vaters umschloß fest mein Handgelenk: „Sag mir die Wahrheit, Kind!“ „Ich warte darauf, daß du mir die Wahrheit sagst, Vater. Warum stellst du dich, als glaubtest du, ich hätte Wilson umgebracht? Warum gerietest du in Wut, als du hörtest, daß ich ihn kannte? Warum sagtest du all die lächerlichen Phrasen, er hasse dich und wolle uns alle vernichten?“ Er seufzte. „Muß ich dir alles noch einmal wiederholen? Ich erklärte dir doch damals, daß…“ „Du hast mir nichts erklärt“, sagte ich; ich hatte vergessen, daß es eine Treulosigkeit war, Noble Barclay zu widersprechen. „Du markiertest den Heldenvater der alten Schule. Du schriest mich an und kommandiertest mich herum und erinnertest mich daran, daß ich dich zu respektieren hätte. Aber warum du das alles tatest, hast du mir nicht erzählt. Du hast mir nie deine unvernünftige Wut erklärt, ebensowenig deine dunklen, unlogischen Winke, daß ich gefährdet sei, weil ich Herrn Wilson kannte.“ „Er hatte mich betrogen. Es war ein Teil seines Planes. Er wollte meine Tochter als Werkzeug gegen mich gebrauchen.“ Ich blickte ihm in die Augen. „Du sagtest mir, Wilson hasse dich und lebe nur, um an dir Rache zu nehmen“, erinnerte ich ihn. „Und dann sagtest du, er habe schlecht an dir gehandelt, und da er nicht stark genug sei, die Wahrheit über seine eigenen Schwächen zuzugeben, habe er sich gegen dich gekehrt. Aber du sagtest mir nicht, was er getan hat und wie er…“ „Schsch…, schrei nicht so laut!“ „Ich muß es wissen!“ 173
„Du wirst hysterisch. Beruhige dich. Sitz erst einmal fünf Minuten still und sag gar nichts.“ Seine harten, dunklen Augen liefen zu der schwarzen Marmoruhr auf dem Kaminsims. „Sei fünf Minuten still – dann können wir uns durch die Wahrheiten über diesen unglückseligen Fall befreien, so bitter sie sind.“ „Ich bin gar nicht hysterisch, ich…,“ „Ruhig!“ Ich saß steif und gerade und sah zu, wie der Uhrzeiger sich so langsam bewegte, als wüßte er um meine Angst und wollte mich auf die Folter spannen. Szenen dieser Art waren mir nicht neu. Mein Vater hatte mich oft fünf Minuten regungslos sitzen lassen. In seinem Buch schlug er das als den Auftakt zu einer Beichte vor. Die Wirkung sollte beruhigend sein, aber mich hatte es nur immer nervös gemacht, dieses erzwungene Schweigen, das dem Aussprechen oder Anhören unangenehmer Dinge vorausging. Die Tür öffnete sich leise, und Ed Munn war da. Er hatte sich nicht die Mühe genommen anzuklopfen. Er stand in voller Länge im Türrahmen und sah auf uns nieder – mit mildem Blick und Gummilächeln. „Ich habe alles Nötige veranlaßt. Die Untersuchung ist am Montag, und am nächsten Morgen werden wir sie bestatten. Ein streng privates Begräbnis.“ Dicht in die Watte meiner eigenen Sorgen gebettet, hatte ich Lola vergessen. Die Erinnerung fuhr mir wie ein Dolch ins Herz. „Warum hat sie es getan?“ rief ich. „Hat man irgend etwas gefunden? Weißt du etwas Näheres, Ed?“ Ed nagte an seinen Lippen. „Natürlich betrunken. Der ganze Raum stand voll leerer Flaschen.“ „Warum? Betrunken war sie schon oft. Leere Flaschen 174
waren immer da. Es muß sie etwas entsetzlich bedrückt oder geängstigt haben…“ Ed zuckte verächtlich mit einer Schulter. Er nahm sich nicht einmal die Mühe eines richtigen Achselzuckens. „Sie hatte wahrscheinlich entdeckt, daß einer ihrer Liebhaber sie betrogen hat.“ Ich zitterte. Eds salbungsvolle Stimme machte mich ganz krank. Er hielt Lola für eine schlechte Person; ihre Tugend ging über seinen Verstand. Lola war des Mitleids, des Erbarmens, der Empörung fähig gewesen; Ed war von ölglatter Selbstgerechtigkeit. „Ich erwartete nicht, dich hier vorzufinden, Eleanor. Welch überraschendes Vergnügen!“ „Danke.“ „Warum bist du sarkastisch? Ich versuche, dir etwas Angenehmes zu sagen.“ „Bin ich sarkastisch? Du meintest, es sei dir ein Vergnügen, mich hier zu sehen, und ich dankte dir. Was ist dabei sarkastisch?“ „Du bist immer sarkastisch zu mir. Du tust, als wäre – als wäre ich nicht gut genug für dich. Nun ja, ich bin kein Akademiker, aber dafür bin ich auch kein unterlebensgroßer Knirps…“ „Bitte, Ed.“ Meine Stimme klang gereizt. Nichts ist mir widerlicher als kindische Redensarten bei einem erwachsenen Mann. „Schluß damit, Ed“, sagte mein Vater barsch. „Der Fall ist erledigt!“ „Ach nein – wirklich?“ „Vor länger als einem Jahr habe ich dir gesagt, daß sie dich nicht heiraten will. Und ich machte dir absolut klar, daß ich sie nicht dazu zwingen werde. Sie ist eine er175
wachsene Frau; ihr Leben gehört ihr. Ich habe es satt, mit dir darüber zu streiten.“ „Du hast mich einmal sehr nötig gebraucht“, erwiderte Ed. „Und du gabst mir das Versprechen, wenn ich dir hülfe, wolltest du deinen Einfluß gebrauchen…“ Meines Vaters Augen blitzten; das Licht der Lampe hinter seinem Kopf ließ sein weißes Haar wie eine Krone schimmern. Ed lehnte sich vor, mit abfallenden Schultern, die langen Arme hingen lose herab. Das Lampenlicht beleuchtete ihren Haß. Und plötzlich sah ich, daß Edward Munn eine geheime Macht besaß, die mein Vater fürchtete und haßte. „Bitte, Ed“, sagte ich ruhig. „Laß uns jetzt allein! Ich muß etwas mit meinem Vater besprechen.“ Ed Munn war sich seiner Macht bewußt und war stolz, meinem Vater zu zeigen, wie weit er gehen konnte. Ein Schwächling hatte die Achillesferse des Stärkeren entdeckt und hielt seinen Pfeil bereit. Er starrte ihn höhnisch an und lächelte mir verzerrt zu. „Über Wilsons Tod, was? Du willst wissen, warum dein Vater ihn dir zur Last legen will, nicht wahr;? Du willst wissen…“ „Du hast spioniert“, sagte ich. „Das ist mein Beruf.“ Eds Stimme war ölig und süß und selbstzufrieden. „Dein Vater hat es mir seit Jahren zur Aufgabe gemacht, für ihn zu spionieren. Solche Gewohnheiten entwickeln sich. Was kann ich dafür, daß ich zufällig auch ihn einmal bespitzele? Zur Abwechslung?“ Seine Rede klang, als habe er sie schon längst aufgeschrieben und auswendig gelernt. „Okay, Ed – aber jetzt scher dich zum Teufel, verstanden?“ sagte Vater. 176
„Nein, ich will hierbleiben.“ „Hinaus!“ Das Gummilächeln wurde noch breiter, als Ed sich an mich wandte. „Dein Verehrer ist ein bißchen zu neugierig, der gute Junge. Wir dachten, er würde den Schnabel halten, wenn er glaubt, du hättest es getan!“ „War das deine geistreiche Idee?“ fragte ich kalt. „Ich glaube gar, du bist machiavellistisch angehaucht!“ „Hinaus!“ sagte mein Vater nochmals. Ed setzte sich in einen der Metallsessel und umklammerte mit seinen weißen, dünnhäutigen Händen die Armlehnen. Seine Bewegungen waren prahlerisch, seine Stimme trotzig. „Ich habe es satt, mich herumschieben zu lassen. Ich habe eure gebrochenen Versprechungen satt. Ihr werdet mir jetzt Wort halten, oder…“ Die Pause war inhaltsschwer. „Ich muß sagen, Ed, deine Drohungen sind schrecklich!“ sagte mein Vater mit spöttischer Gemütlichkeit. „Ehrlich, ich zittere in den Kniekehlen, solche Angst habe ich vor dir!“ „Sage mir bitte, was soll das alles?“ fragte ich. „Warum lauter Geheimnisse? Warum wünschst du, daß Johnnie aufhört, nach dem Mörder Wilsons zu forschen?“ Niemand sprach. Ich sah auf zu meines Vaters glitzernden, schwarzen Augen und zu der weißen Krone seines Haars. Mein Vater, flüsterte es in meinem Herzen, mein eigener Vater, der, seinen Zeigefinger in meiner Hand, mit mir spazierenging und die Stellen küßte, wo ich mir weh getan hatte. Ich hatte die Geborgenheit in seinen Armen und die starke Zärtlichkeit seiner Liebkosungen nicht vergessen. Das waren sentimentale Dinge, aber die Erinnerung ist voll List und Trug, und ich wußte, ich war verloren, wenn ich sie nicht zurückstieß. Ich 177
dachte an Herrn Wilson, der ermordet worden war, und sagte mit klarer, kühner Stimme: „Warst du es, Vater?“ Er hob den Kopf. „Ich habe in meinem Leben viel Unrecht getan, Tochter. Ich bin verantwortlich für den Tod meiner Mutter und auch deiner Mutter, meiner sehr geliebten Frau. Mein trotziger Stolz und meine Schwächen und Laster haben ihnen das Herz gebrochen. Ich habe gesündigt – aber einen Mord habe ich nicht begangen. Ich habe nicht mit einem Revolver nach einem Menschenherzen gezielt.“ „Jemand hat Herrn Wilson in den Rücken geschossen“, sagte ich. Mein Vater schüttelte den Kopf, als lehne er die Beschuldigung ab, und seine Fäuste ballten sich und lösten sich wieder in nervöser Herausforderung. Hinter ihm waren die schwarzen Vorhänge und die weißen, amputierten Hände. „Hast du all diese Monate geglaubt, daß ich eines Mordes schuldig sei? Warum kamst du nicht offen zu mir und fragtest mich danach?“ „Du hast meine Frage nicht beantwortet, Vater.“ „Du warst mißtrauisch, Kind. Du hast den Verdacht in deinem Herzen verschlossen und wolltest das reinigende Licht der Wahrheit nicht einlassen.“ „Ich hatte Angst“, gab ich zu. „Du warst so sonderbar an jenem Abend – und dann entdeckte ich, daß Herr Wilson tot war. Ich hatte Angst, Vater…“ „Hättest du nur den Mut gehabt, mit mir zu sprechen“, unterbrach er. „Glaube mir, Kind, ich hatte nichts mit dem Morde zu tun. Um genau zu sein: erst am folgenden Montagmorgen im Zug von Washington hierher erfuhr ich von Wilsons Tod.“ „Die Nachricht muß ein .schwerer Schlag für dich ge178
wesen sein – Blitzstrahl aus heiterem Himmel, was?“ fragte Munn,. der unser Gespräch genossen hatte. „Bist du immer noch hier?“ sagte Vater. Ed drehte sich um, wandte sich zu mir und fragte mit einem Grinsen, das seinen bösen Sieg kennzeichnete: „Über eins hab ich mich gewundert, Eleanor. Warum brachtest du den Revolver mit aus dem Studio? Hat dir dein Vater befohlen, ihn heraufzubringen?“ „Pfui Teufel, Ed – es war ein Irrtum“, schrie ich ihn an. „Vater machte es so dringend, so daß ich aufgeregt und geistesabwesend war. Ich nahm den Revolver statt meiner Handtasche. Du weißt es.“ „Schsch… Ihr schreit!“ sagte mein Vater. „Natürlich war das ein dummer Zufall. Ed versuchte nur wieder einmal einen seiner Tricks.“ Zu Ed fügte er hinzu: „Du machst sie nervös. Wenn du etwas zu sagen hast, so sprich zu mir!“ „Arme Eleanor.“ Vater führte mich zur Couch. „Das arme Kind, ihre Nerven sind am Ende! Laß ihr jetzt Ruhe, Ed – sie muß sich von dem Schock erholen.“ Vater legte die Kissen zurecht und wartete besorgt, als sei ich schwerkrank, bis ich mich ausgestreckt hatte. „Komm jetzt, Ed – es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“ „Ich bleibe“, sagte Ed. Er saß, als sei er in dem Sessel festgewachsen. Vater ging hinaus. Ich schloß die Augen, spielte die Erschrockene und Müde und hoffte mit idiotischem Optimismus, daß Ed meine Mattigkeit schonen würde. Ein paar lange Sekunden verstrichen. Ich drehte mich zur Wand. Der moderne Stuhl knarrte nicht, als Ed aufstand, und der dicke Teppich verschlang seinen Schritt, aber jeder Nerv in mir spürte, daß er dicht an die Couch he179
rangekommen war. Ich drehte den Kopf herum und öffnete die Augen, und Ed hielt das für eine freundliche Geste und setzte sich neben mich. Er griff nach meiner Hand. Ich riß sie weg. „Bitte, laß mich los!“ „Was hast du gegen mich, Eleanor? Ich war dir früher gut genug – was hast du jetzt gegen mich?“ Er war früher gut genug… Er war der einzige Mann, den ich kannte, mein einziger Freund, mein Theaterbegleiter, mein Verehrer-Ersatz. Ich war ein einsames junges Ding gewesen, in einer großen Hotelwohnung, ohne Freunde und Schulgefährten, ohne Unterrichtsplan, der meinen Tagen eine Form gegeben hätte. Ich hatte Bücher aus einer Leihbibliothek in der Madison Avenue, ich hatte das Kino, ich hatte Ed Munn, der mich ausführte wie eine erwachsene Dame. Wenn er auch keineswegs reizvoll war – er war erwachsen, er war ein Freier, er schickte herrliche Schachteln mit französischem Konfekt und winzigen Veilchen als Garnierung der obersten Schicht. „Ich war doch immer nett zu dir. Warum hast du mich fallenlassen?“ „Sieh mal, Ed…“, begann ich. „Sieh mal! Sieh mal!“ unterbrach er. „Ist das das einzige Verb, das du gelernt hast? Verlangst du, daß ich etwas mit meinen Augen sehen soll, oder wünschst du, daß ich höre, was du sagst? Ich weiß, wo du diese Redensart aufgelesen hast. Du warst mit ihm zusammen, er ist dein… Ich glitt von der Couch. Ich stand mit dem Rücken gegen die Tür. Die Hand auf dem Türknopf, die Schultern hochgezogen, das Kinn in der Luft, sagte ich kalt: „Bitte, geh doch endlich.“ „Eleanor, Eleanor, kleines Mädchen!“ Seine Stimme 180
sollte zärtlich sein, aber sie klang falsch, und er winselte durch die Nase. „Warum liebst du mich nicht? Was kann er dir geben, was ich nicht auch hätte? Wer ist er überhaupt? Ein lächerlicher Knirps, ein Federfuchser, er hätte nicht einmal eine Stellung, wenn…“ „Geh hinaus!“ „Ich war immer wild auf dich“, wimmerte er, seine Stimme wurde schrill und hoch. „Du warst ein hübsches kleines Ding, als ich dich zum erstenmal sah, in einem roten Regenmantel mit einer kleinen Kapuze. Schon damals wußte ich, du warst das Mädchen, das ich haben wollte. Ich nahm mir vor, zu lernen und mich so heraufzuarbeiten, daß ich deiner würdig wurde. Du warst für mich wie eine Prinzessin…“ Nach dem, was ich an diesem Abend über ihn erfahren hatte, war es grauenhaft und höhnisch, ihn wie einen kleinen Jungen über rote Hauben und Prinzessinnen greinen zu hören. Als Edward Munn zuerst in unser Haus in Great Neck kam, war er der Sekretär meines Vaters gewesen, ein dünner, weißer Wurm, der sich platt gegen die Wand drückte, wenn ein Mitglied unserer Familie an ihm vorbeiging. Seine Hände hatten gezittert, wenn er sich mit uns zu Tisch setzte; er hatte kaum gegessen, vorsichtig kleine Häppchen genommen und sich viel zu oft den Mund gewischt. Ich hatte gehört, wie mein Vater ihn herumkommandierte, wie er sarkastisch über ihn lachte, wie er hochmütig von oben herab mit ihm sprach. Vater hatte seinen Charme nie an einen männlichen Sekretär verschwendet, und Ed war treu und ergeben, ob er nun einen Fußtritt bekam oder freundlich behandelt wurde. „Und alles paßt so gut“, sagte er und sah mich mit gemeinem Blick an, „du und ich sind die richtigen Erben für die Firma. Wer sollte sonst Noble Barclays Platz ein181
nehmen? Die Zwillinge? Es dauerte noch achtzehn oder zwanzig Jahre, bis sie alt genug sind, und nach der Art, wie die Madame sie verzieht, werden sie Polospieler und keine Geschäftsleute. Bis sie einmal alt genug sind, um ins Geschäft einzutreten, beherrschen wir beide, du und ich, längst…“ „Ach, sieh mal!“ sagte ich und lachte über seine falsche Rechtschaffenheit und seine durchsichtige Zuneigung. „Du müßtest einen Kursus für Liebeserklärungen nehmen! Erst das rote Regencape, und nun Vaters Geschäft! Ich bin vielleicht ein Prinzessin für dich, aber du hast eine morganatische Heirat für mich geplant – mit dir als glücklichem Teilhaber! Wenn du eine Unze Verstand dort hättest, wo deine schmutzigen Pläne wachsen, so wärst du wenigstens klug genug, über das Geschäft zu schweigen!“ „Was hat denn Ansell, was ich nicht habe? Warum läßt du dich von ihm lieben? Du warst ein kalter Typ. Du konntest es nicht ertragen, wenn man deine Hand hielt — ihn aber läßt du die ganze Nacht…“ „Du schmutziger Schleicher, du hast mir nachspioniert!“ Er tat, als lachte er, aber seine Heiterkeit war nicht echt. Es war nichts als leere Rache, und er erwartete, ich würde bitten und betteln, daß er Vater nichts sagen sollte. „Ich dachte mir schon, daß ich dich fangen würde!“ rief er und griff wieder nach mir, zog mich an sich und hielt mich mit seinen dünnen, zähen Armen gegen seine Brust gedrückt. Mir zuckten die Hände, ich wollte ihn schlagen oder kratzen, aber seine Arme waren wie Fesseln und meine Gegenwehr bloß noch der Kampf eines Tieres, das sich in einer Falle gefangen hat. „Du bist mir so zuwider. Ich 182
kann es nicht ertragen, wenn du mich anfaßt. Du bist abstoßend, du machst mich krank! Selbst als ich mit dir verlobt war, als ich so jung und dumm war, daß ich nicht wußte, was ich tat, habe ich mich geschämt, deinen Ring zu tragen oder es jemandem zu erzählen!“ Er zitterte vor ohnmächtiger Wut. Seine bleichen Wangen bekamen ein schwaches, mädchenhaftes Rot, und seine Augen traten heraus. „Du bist gemein“, schrie ich außer mir, denn die Wohltat, Ed Munn zu verletzen, hatte mich mit grausamer Energie erfüllt. Du bist ein gewöhnlicher, widerlicher Kerl; jeder Mensch lacht über dich; niemand nimmt dich ernst. Ach, wenn du Aussatz hättest“, fuhr ich wild fort, „könnte dir niemand ängstlicher aus dem Wege gehen! All die Mixturen, die du brauchst, das Haarwasser, das Mundwasser, das Pfefferminz – sie können nicht verbergen, daß du stinkst!“ „Ich bin gewöhnlich, so? Ich bin dir widerlich?“ Sein Mund verzerrte sich so, daß ich nicht wußte, ob es vor Wut oder perverser Lust war. Er fuhr mit der Hand in die Tasche, und einen Augenblick dachte ich, er greife nach einem Revolver. Er zog ein längs gefaltetes Manuskript hervor. „Wenn du das gelesen hast, Eleanor Barclay, wirst du vielleicht eine andere Tonart anschlagen!“ „Was ist es?“ „Lies es.“ Das Manuskript trug keinen Namen. Ich kannte das Papier – es waren die gelben Bogen, die wir im Büro für den zweiten Durchschlag unserer Originalmanuskripte verwendeten. Der Titel stand sechs Zeilen über dem ersten Satz: „Die kurze Geschichte des Homer Peck“. „Homer Peck!“ sagte ich. „Das ist der Name, den Herr 183
Wilson als Titel seines Buches gebrauchte. Es hieß ‚Autobiographie des Homer Peck‘. Wer war Homer Peck?“ „Das wirst du schon merken.“ Ed lachte. Es klang so falsch und mißtönend, daß mir die Dissonanz an den Nerven riß. Ich fing an zu lesen. „Vor dreiundzwanzig Jahren lag in einem armseligen Sanatorium in Arizona…“ Es fiel mir schwer, aufmerksam zu lesen. Dreiundzwanzig Jahre – das war lange her, und Arizona lag weit weg. „… ein junger Mann im Sterben.“ Ich las noch ein paar Sätze, dann blickte ich von dem Papier auf zu den weißen Gipshänden, welche die Falten des schwarzen Vorhanges hielten. Schwarz und weiß, Stahlmöbel mit harten Kordeln schufen die Atmosphäre einer Folterkammer, und die bunten Wände quälten mich wie das Stampfen eines Schiffes. „… hatte die dreißig Jahre seines Lebens genossen und blickte mit unverhohlener Furcht dem nahen Tod entgegen.“ Die Tür ging auf – da war mein Vater. Ich war froh. „Du scheinst ruhiger zu sein“, sagte er. „Fühlst du dich jetzt besser?“ Dann bemerkte er das Manuskript und kam näher. „Was ist das?“ Ed beugte sich über meinen Stuhl. „Darf ich?“ Er nahm das Manuskript und händigte es mit einer spöttischen Verbeugung meinem Vater ein. Diese höhnische Höflichkeit war sonderbar. Hohn und Rebellion standen ihm nicht zu Gesicht. Ed Munn war geboren, sich zu krümmen. Vater war weitsichtig, aber er wollte keine Brille, und so hielt er das Manuskript auf Armeslänge von sich. Ed Munn beobachtete ihn, die Augen geschwollen vor Bosheit. 184
„Wo hast du das her?“ fragte Vater. „Bist du mir nicht dankbar? Willst du mir nicht deine Anerkennung dafür aussprechen, daß ich es für dich in Sicherheit gebracht habe?“ Trotzig steckte sich Ed Munn eine Zigarette an. Er hatte nie in meines Vaters Gegenwart geraucht, aber jetzt schien es ihm gleichgültig zu sein, ob es Noble Barclay mißfiel oder nicht. „Ich erwarte meine Belohnung dafür, mußt du wissen!“ Vaters Schultern sanken herab. Seine Augen waren voller Vorwurf, aber dieser Vorwurf war nicht gegen seinen ungetreuen Helfer gerichtet. An der Wand, ihm gegenüber, hing ein ungerahmter Spiegel. Er warf das Bild des geschlagenen, ohnmächtigen Noble Barclay zurück. Ed griff nach dem Manuskript, und Vater ließ es sich ohne Protest wegnehmen. „Was ist es?“ fragte ich. „Warum fürchtest du dich so? Wer ist Homer Peck?“ „Na, wie steht es mit dem Versprechen?“ fragte Ed und hielt die gelben Blätter wie einen Schild vor sich. Sie schienen ihm Mut zu machen. Mit dem Manuskript in der Hand war er gleichberechtigt mit Noble Barclay, war seinesgleichen. „Gib mir, was ich haben will – dann bekommst du es und kannst es auch verbrennen.“ „Warum willst du es verbrennen?“ fragte ich. „Was ist es?“ Ich hätte meine Fragen ebenso in den Wind werfen können. Mein Vater hatte auch jetzt frische Farben, sein Haar stand silbern gegen die schwarzen Draperien, aber er sah aus wie ein buntes Wachsmodell, die Wachsfigur aus einem Schaufenster. „Sie findet mich gewöhnlich.“ Ed bewegte die Hand mit den gelben Bogen. Die Seiten knisterten. „Sie sagt, ich rieche schlecht. Sie sagt, die Leute meiden mich wie 185
einen Aussätzigen. Veranlasse sie bitte, ihre Ansichten zu ändern, sonst…“ „Was habe ich denn damit zu tun?“ Ich ging an meinem Vater vorbei und sah in Eds geschwollene, blutdurchschossene Augen. „Wenn du denkst, du kannst meinen Vater erpressen, daß er mich zur Heirat mit dir zwingt, weil du ein altes Geheimnis weißt…“ Mein Vater schob mich zur Seite. „Überlaß das mir“, sagte er. Und mit freundlicher, besänftigender Stimme drang er in Ed: „Wir wollen uns doch nichts vormachen, Ed. Du und ich – wir haben beide um einen hohen Einsatz gespielt. Wem würde es etwas nützen, wenn das Geschäft ruiniert wird? Wer außer mir wird die fünfundzwanzigtausend Dollars jährlich zahlen?“ Eds Zunge schlängelte sich langsam über seine Lippen. „Ich habe meine Pläne.“ Mein Vater nickte zu den gelben Blättern hin. „Du hast recht, mein Sohn. Ich habe dir etwas versprochen. Und ich bin ein Mann, der sein Wort hält.“ Ed kam auf mich zu. Der Geruch von Pfefferminz machte mich krank. „Nein“, schrie ich. „Sag ihm nein, Vater!“ Sanft drängte mich mein Vater zu Ed hinüber; er hob mit der Hand mein Kinn, er sah hinunter in meine Augen. Seine Stimme klang bekümmert, als hätte ein ungezogenes Kind ihm getrotzt. „Mein kleines Mädchen, meine einzige Tochter, wird ihren Vater nicht im Stich lassen!“ „Ich werde überhaupt nichts tun“, sagte ich, „bis ich weiß, um was hier gespielt wird!“ Das Telefon klingelte. Die gedämpfte Glocke schreckte uns empor aus dem Banne unserer Abgeschlossenheit. Dieses leise, spöttische Läuten sagte uns, daß wir nicht 186
allein waren, daß eine wirkliche Welt vorhanden war, außerhalb dieses weißschwarzen Phantasieraumes, und daß wir eine Verantwortlichkeit hatten gegenüber dieser äußeren Welt. Vater sagte: „Ja, sie ist hier.“ „Für mich?“ Ich wollte zum Telefon. Ed verstellte mir den Weg. „Ansell, vermutlich.“ Ich war erhitzt, wütend und leidenschaftlich. Ich hatte mich an diesem Abend zu oft beherrschen müssen. Die Spannung war zu groß. Mehr ertrag ich nicht. Meine Hand holte aus. Ich hörte es klatschen, fühlte einen raschen, scharfen Schmerz in meiner Handfläche, sah den roten, unregelmäßigen Fleck auf Eds Wange. „Du…, du…“ Er spie die Worte aus. Der Rest der Beschimpfung blieb ihm in der Kehle stecken. Sein Kinn zitterte, und er streckte die zähen, dünnen Arme nach mir aus. Vater trat dazwischen. „Es war Ansell“, sagte er. „Er wollte dir mitteilen, Eleanor, daß die Polizei unterwegs ist zu Eds Wohnung in Jackson Heights. Er soll verhaftet werden, im Zusammenhang mit dem Mord an Lola Manfred.“ „Du mußt sofort aus der Stadt verschwinden“, sagte mein Vater zu Ed. Er hatte das Bild heruntergeholt und nahm aus dem dahinter verborgenen Safe eine Anzahl Banknoten. „Zehntausend“, sagte er und händigte Ed Munn das Geld aus. Apathisch nahm Ed es an. Ich war überrascht, daß er nicht gierig zugriff. In den paar Minuten, seit Johnnie angerufen hatte, war Ed kleiner, dünner, älter geworden. Sein Körper schien in dem gewöhnlichen blauen SergeAnzug geschrumpft zu sein. Er bewegte sich ruckweise, 187
wie eine Marionette an ausgeleierten Fäden. „Ich habe es nicht getan, du mußt mir helfen“, wimmerte er. Der Protest ging unbeachtet vorbei. Vater schien es gleichgültig zu sein, ob Ed schuldig oder unschuldig war. Er hatte nur ein Interesse: ihn aus den Staaten herauszubringen. Er sollte das Haus durch den Personalaufzug verlassen, den Wagen nehmen, der draußen geparkt war, über die George-Washington-Brücke hinüber nach Jersey und weiter nach Philadelphia fahren, dort den Wagen stehenlassen und das erste Flugzeug nach St. Louis, Mephis oder New Orleans nehmen. Unter dem Namen James B. Thorpe. Vater hatte einen Führerschein für California – alles auf den Namen Thorpe. Als Herr Thorpe sollte Ed ein Visum und eine Touristenkarte für Mexiko bekommen. Vater gab ihm den Schein, die Wagenschlüssel und die Zehntausend. „Du wirst noch ungefähr neuntausend übrig haben, wenn du in Mexiko bist. Davon kannst du dort wie ein König leben. In sechs Monaten bekommst du die Touristenkarte erneuert, und in einem Jahr schicke ich dir wieder Geld – auf den Namen Thorpe, postlagernd.“ Auch Vater war wie verwandelt. Er war wieder obenauf, der Chef, der Machthaber. Die Aufregung vertiefte seine frischen Farben. Seine dunklen Augen glühten, und er arbeitete die Einzelheiten von Eds Flucht mit großer Begeisterung aus. „Ich kann mir nicht helfen – eigentlich beneide ich dich! Keine Arbeit, keine Verantwortlichkeit! Schöne Señoritas, Sonnenschein in Menge und massenhaft Zaster. Das Leben wird süß sein für Herrn James B. Thorpe, den geheimnisvollen Gringo!“ 188
„Ich will nicht weg.“ „Vielleicht ziehst du den elektrischen Stuhl vor“, höhnte Vater. Es war grausam, wie er die Situation genoß. Es war Heimzahlung – es war Rache. Es war der Ausgleich für viele Jahre erzwungener Langmut, unterdrückten, schwelenden Hasses. „Aber ich habe es doch gar nicht getan!“ Ed zerfloß in Selbstbedauern. „Du brauchst mich nicht für einen Dummkopf zu halten!“ schrie Vater. Ed verzerrte das Gesicht. „Was ich auch getan habe, Noble – du weißt, ich tat es für dich.“ Er war die personifizierte gekränkte Rechtschaffenheit. Er war das Opfer der Ungerechtigkeit. Er hatte für eine gute Sache gehandelt. „Du bist zu weit gegangen“, sagte Vater eiskalt. „Niemals hat jemand von dir Gewalttätigkeit verlangt. Ich bat dich, mir etwas zu verschaffen. Deine Methoden waren deine eigene Erfindung, für die nur du verantwortlich bist.“ Ed trat vor. „So – und was sollte der Revolver an jenem Tage auf deinem Schreibtisch? Bitte sag mir – was sollte er?“ Ich saß weit weg, am anderen Ende des Raumes. Vater und Ed waren nicht mehr wirklich für mich. Sie waren farblos. Sie waren wie flache Gestalten in einem Film. Es gab nichts Festes, Beständiges mehr. Die Wirklichkeit war Zelluloidphantasie geworden. Ich war ein Zuschauer in einem Sessel aus schwarzem Kord mit Stahlschienen. Jetzt mußte die Polizei schon Eds Wohnung in Jackson Heights durchsucht haben. Sie mußte jede Minute hiersein, um nach ihm zu fahnden, denn Edward Everett Munn war nicht nur Noble Barclays rechte Hand im Ge189
schäft, sondern auch sein bester Freund, ein häufiger Gast seines Hauses. „Vielleicht beeilst du dich! Du hast nicht die ganze Nacht vor dir!“ „Warum behandelst du mich so?“ beklagte sich Ed, wie eine Frau, die ihren kalten Liebhaber um Liebe anbettelt. „Ich tue es doch nur für dich, ich gebe alles auf, meine Position, meinen Platz in der Öffentlichkeit, alles, wofür ich gearbeitet habe. Du könntest zum mindesten ein bißchen Dankbarkeit zeigen!“ Ich wandte mich ab. Es war widerlich, dieses sklavische Schmeicheln und Kriechen mit anzusehen. Meinem Vater machte dieses Schauspiel menschlicher Entwürdigung ebensowenig Eindruck wie Eds wehleidiges Bitten. Er stand fest vor der Tür, die rechte Hand ausgestreckt. „Los, los! Mach deine Taschen leer. Gib mir alle deine Papiere“, forderte er. „Warum denn?“ „Sei. kein Narr. Die Polizei kann den Wagen anhalten und dich durchsuchen. Los, los – mach schnell!“ Als müsse er einen Schatz hergeben, reichte Ed meinem Vater eine lederne Brieftasche, ein Taschenadreßbuch, ein paar Briefe mit Eselsohren. Mein Vater schien nicht zufrieden zu sein. Er durchsuchte Eds Taschen, fand noch ein Schlüsselbund, ein Zigarettenetui mit Monogramm und eine Karte, die den Inhaber zu weiteren vier halbstündigen Massagen in einem Schönheitssalon berechtigte. „Wo ist das Manuskript?“ „Das Manuskript?“ Ed zeigte vage auf einen Ebenholztisch. „Komm, komm – halt uns nicht auf, gib es her!“ „Ich habe es nicht.“ 190
„Lüg mich nicht an. Ich lasse es dir nicht durchgehen. Stell dir vor, wenn du mit dem Manuskript verhaftet würdest“, schrie Vater. Ed sah sich ratlos um. „Ich habe es hingelegt. Es war da…“ „Raus damit, Ed! Mich betrügst du nicht!“ Ed schien wie betäubt. Vater verlor die Geduld und schlug zu. Bestürzt wimmerte Ed auf und wich zurück. Mein Vater schlug ihn noch einmal. Ich saß starr zurückgelehnt in meinem Stahlsessel, die Hände an den schwarzen Kordeln des Sitzes. Ich sah zum erstenmal in meinem Leben, daß sich Männer schlugen. Normalerweise schrecke ich vor dem Anblick jeder Gewalttätigkeit und Grausamkeit zurück. Aber diesmal beobachtete ich gierig jede Bewegung. Ich war voll Schadenfreude, als die Hiebe meines Vaters dichter und dichter fielen, härter und schneller. Er hat die Strafe verdient, dachte ich. Er hat zwei Menschen getötet, meine Freunde, und er hatte so viele andere verletzt und gekränkt – wehrlose Büromädchen und Schreiber und Laufjungen und Lehrlinge, aus bloßer Lust, seine Macht zu zeigen. Ed zeigte wenig Mut in seiner Verteidigung und versuchte nur matte Schläge gegen seinen Herrn. Als er sich krümmte und niederfiel, war es, als fiele eine Puppe zusammen. Die Türglocke schlug an. Vater achtete nicht darauf. Er kniete neben Ed, durchsuchte sein Rockfutter, fühlte unter sein Hemd nach dem Manuskript. Ed lag auf dem Teppich, schlaff und knochenlos, mit aschfarbenem Gesicht. Die Klingel schlug nochmals an. „Geh lieber nachsehen, Eleanor. Halte sie auf, solange 191
du kannst“, sagte Vater. Offenbar war die Dienerschaft aufgewacht. Ich hörte Stimmen und Schritte in der Küche. Gloria rief die Treppe herunter. Ich öffnete die Tür und sah Johnnie. Ich weiß nicht mehr, was ich fühlte, als er vor mir stand, ob ich ihn mit einem Wort begrüßte, ehe ich ohnmächtig wurde. Ich erinnere mich nur noch an Dunkelheit und den plötzlichen Schmerz des Lichtes, an Johnnies Arme, die mich fest umschlungen hielten, und seine ängstliche Stimme: „Wie ist dir denn, Kind?“ Mir war wieder gut, ich fühlte mich wieder sicher in einer Welt wirklicher Menschen. Johnnie war da; er war die Verkörperung von Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit in der Welt. Gloria war ein paar Stufen heruntergekommen und fragte verdrießlich, warum niemand zur Tür gegangen sei. Hardy, der Diener, eilte in einem schwarzen Schlafrock mit weißseidenem Schal aus dem Eßzimmer. Vater kam aus dem Studio. „Tut mir leid, daß Sie aufstehen mußten“, sagte er zu Hardy. „Gehen Sie nur wieder zu Bett.“ Gloria rief er zu: „Es ist Eleanors ungeduldiger Verehrer, der sie zu nachtschlafender Zeit besuchen kommt! Leg dich nur schlafen, Liebste!“ „Kommen Sie herein, mein Junge“, sagte Vater zu Johnnie und führte uns zum Studio. Das überraschte mich. Ich dachte, es wäre ihm nicht lieb, wenn Johnnie unter diesen Umständen Ed hier fand. Das Studio war leer. „Es tut mir leid, daß ich das ganze Haus gestört habe“, sagte Johnnie. „Aber ich dachte, Eleanor könnte sehr erschüttert und erschrocken über die Nachricht sein, deshalb wollte ich sie sehen. Erlauben Sie, daß ich rauche?“ „Natürlich. Tun Sie, als ob Sie zu Hause seien! Setzen Sie sich, machen Sie sich‘s bequem!!“ Vater machte 192
Umstände mit Johnnie, als fühle er sich sehr geehrt durch diesen mitternächtlichen Besuch. „Warum dachten Sie, Eleanor würde sich über diese Neuigkeit so sehr aufregen? Es ist doch schon ein halbes Jahr her, daß sie ihre Verlobung mit ihm gelöst hat.“ „Oh!“ sagte Johnnie. Nichts hatte mich an diesem Abend der erschütternden Enthüllungen so beschämt wie Johnnies erschrockener Blick, als er erfuhr, daß Ed Munn der Mann war, dem ich die Ehe versprochen hatte. Johnnie brauchte lange, bis seine Zigarette brannte. „Trotzdem“, sagte er dann, „muß es ein Schock für sie gewesen sein. Erst Lolas Tod – und dann die Entdeckung, daß jemand, der ihrem Vater so nahestand, ihre Freundin ermordet hat. Ist er auch Wilsons Mörder?“ Mit seinem schönen, schwingenden Schritt ging Vater Zum Schreibtisch. Er zog den Stuhl heraus, setzte sich und sah uns an, als seien wir hier, um eine Stellung zu suchen oder um eine Gehaltserhöhung zu bitten. „Wie kommen Sie auf diesen Gedanken, mein Junge?“ „Ich habe meine Gründe.“ „Gründe – oder nur Verdacht?“ Vater sah wie ein Staatsanwalt in unserem „W. u. V.“ aus. „Ich nehme an, Sie haben Ihren Verdacht Ihren Freunden von der Detektivabteilung mitgeteilt – Ihren alten Freunden, die Ihnen die guten Stoffe für ‚W. u. V.‘ geliefert haben?“ Johnnie hatte gerade die Asche von seiner Zigarette abklopfen wollen. Er hielt inne, starrte auf den Kristallaschbecher und ließ die Asche auf den Teppich fallen. „Sie irren, Herr Barclay. Ich habe nicht genug Beweise.“ „Was haben Sie ihnen denn gesagt?“ fragte Vater so nonchalant wie möglich, als habe er Johnnie nach der Adresse seines Schneiders gefragt. 193
Johnnie lächelte. „Als ich hörte, daß Lola Manfred ermordet worden war…“ „War es denn nicht Selbstmord?“ unterbrach mein Vater. „In der letzten Nacht war ein Mann bei ihr. Die Nachbarn hörten sie streiten.“ Vater zog die Augenbrauen hoch. „Ich fürchte, das passierte ziemlich häufig. Frau Manfred stand nicht in dem Ruf, ein klösterliches Leben zu führen.“ Es war quälend, sich zu erinnern, daß dieser milde, makellose, weißhaarige Mann vor ein paar Minuten einen Menschen zu Boden geschlagen und ihn einen Mörder genannt hatte. Ohne auf Vaters Argument zu achten, fuhr Johnnie fort: „Ich hielt es für Mord und rief Captain Riordan an, er solle die Sache untersuchen.“ „Und warum, wenn ich fragen darf? Hatten Sie persönliche Gründe, sich in diesen Fall einzumischen?“ Johnnie ignorierte die Frage und sagte: „Captain Riordan fand nicht nur den Beweis, daß Frau Manfred letzte Nacht einen Besucher gehabt hatte, sondern konnte eine Identifizierung vornehmen.“ „Hat er Ed identifiziert?“ fragte ich. Vater sah mich finster an. Johnnie fuhr fort: „Es war gut, daß ich mit Riordan in Lolas Wohnung ging, obwohl ich den Mörder auch später, wenn ich darüber in der Zeitung las, hätte beim Namen nennen können. Immerhin haben wir so noch die Möglichkeit, ihn zu fassen…“ „Und der Beweis, Ansell?“ Johnnie nahm den Aschbecher in die Hand und trug ihn zum Schreibtisch. Ich ging hinüber und sah ihn an. Zwei Stummel mit roten Flecken von meinem Lippenstift lagen darin. 194
„Sie wollen doch nicht etwa Eleanor in die Sache verwickeln?“ sagte Vater. „Eleanor ist bereits hineinverwickelt, Herr Barclay – aber nicht durch mich. Sehen Sie in den Aschbecher!“ Neben den beiden Stummeln mit den Lippenstiftflecken lagen lose Asche, ein Rest ungerauchten Tabaks und zwei winzige Bällchen aus zusammengeknülltem Zigarettenpapier. „Einer unserer besten Freunde hält nichts davon, daß man Zigarettenstummel liegenläßt – er denkt, sie verderben die Luft, und das ist nicht gut für die Gesundheit!“ sagte Johnnie. Er holte ein paar Fädchen Tabak heraus und roch daran. „Türkisch. Genau wie der türkische Tabak in Lolas Aschbecher. Sobald ich die kleinen Kugeln aus Zigarettenpapier sah, konnte ich Riordan den Namen von Lolas Gast nennen. Offenbar war er auch hier, und zwar heute abend.“ Ein plötzlicher Windstoß blies die Tür der Terrasse auf. Kälte drang ins Zimmer. Auf der Fünften Avenue heulte eine Sirene. Vater stand auf und schloß die aufgegangene Tür. „Ich sagte Captain Riordan, wenn er diesen peniblen Liebhaber des türkischen Tabaks aufliest, täte er gut daran, nicht ‚sehen Sie mal‘ zu sagen, wenn er ‚hören Sie mal‘ meint.“ Das Echo der Sirene erstarb, und ich fragte mich, ob ich es tatsächlich gehört hätte oder ob mir nur meine überreizte Phantasie einen Streich spielte. Ich war keiner Sache mehr sicher: War Ed Munn jemals in diesem Raum gewesen? Hatte ich sein mattes Leugnen des Mordes und sein Winseln um Dankbarkeit gehört? Mein Gehirn war wie umnebelt, bis ich wieder Johnnies Stimme hörte. 195
„… und ich grüble immer noch, was für eine Beziehung zwischen Munn und Lola Manfred bestand – und zwischen Lola und Warren G. Wilson. Kennen Sie sie, Herr Barclay?“ Mein Vater schüttelte den Kopf. Die Bewegung war müde und nicht überzeugend. „Warum haben Sie sich geweigert, mich die Wilsongeschichte in ‚W. u. V.‘ drucken zu lassen, Herr Barclay?“ Die Türklingel läutete wieder. „Vermutlich die Polizei, die nach Munn sucht“, sagte Johnnie. „War er hier, als ich telefonierte? Verdammt, daran habe ich erst nachher gedacht!“ Vater stand auf. „Bringen Sie sie nach Hause, Johnnie. Bringen Sie Eleanor von hier weg. Wir wollen sie aus der Sache heraushalten.“ „Aber vielleicht hat die Polizei ein paar Fragen an sie.“ „Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Ich übernehme die Verantwortung. Bringen Sie sie nach Hause, mein Junge – sie ist ganz erledigt.“ Johnnie drehte sich nach mir um. „Nun, Eleanor?“ „Ich bin müde. Bitte, bring mich nach Hause. Ich kann jetzt nicht mit ihnen sprechen. Jetzt nicht.“ Vater war sehr befriedigt. „Nehmt den Dienstbotenaufzug. Er hat Selbstbedienung. Fahrt durch bis zum Untergeschoß. Dort ist ein Gang, der direkt zur Madison Avenue führt.“ „Und auf diesem Wege ist Munn verschwunden, wie?“ fragte Johnnie. Es klingelte wieder. Mein Vater ging meinen Mantel holen, aber ich stürzte ihm voran in die Halle und riß ihm den Mantel aus der 196
Hand. Vater versuchte, ihn mir zu halten, aber ich zog ihn weg, auch vor Johnnie. Und auf dem Heimweg wickelte ich den Mantel ganz eng um mich und hielt ihn mit verschlungenen Armen fest, denn ich wollte nicht, daß irgend jemand – nicht einmal Johnnie! – wußte, daß ich in der Innentasche das Manuskript versteckt hatte. Ich legte es in einen verschließbaren Kasten, der in einem verschließbaren Schubfach meines Schrankes stand. In den ersten entsetzlichen Augenblicken, nachdem Johnnie angerufen hatte, um mir zu sagen, daß Ed von der Polizei gesucht würde, hatte ich das Manuskript von dem niedrigen Ebenholztisch genommen, während mein Vater die Vorbereitungen zu Eds Flucht traf und Ed mit blutlosen Händen an der Armlehne der Couch hing. Und als sie kämpften, als mein Vater Hieb um Hieb austeilte, als Ed sich auf dem Teppich krümmte und wand, hatte ich das Manuskript hinter meinem Rücken in den Armsessel gestopft. Als endlich die Türklingel anschlug und ich hinauseilte, um zu öffnen, war ich stehengeblieben, um es in der Tasche meines Mantelfutters zu verstecken. „Er hatte ihr Rosen gebracht“, sagte Johnnie, als wir in dem Taxi saßen, die Sirenen und Polizeiwagen und Detektive weit hinter uns lassend. Ich hatte meine Gedanken bei anderen Dingen, und es muß ziemlich töricht geklungen haben, als ich fragte: „Wer brachte Rosen? Wem?“ „Ed – Lola! In ihrem Wohnzimmer stand eine ungeöffnete Schachtel. Zwölf La-France-Rosen. Genau wie die Blumen, die sie gestern so wütend machten.“ „Nein, Johnnie, das ist unmöglich. Sie verabscheute ihn, und er verachtete sie. Ausgerechnet er – unmöglich! Lola hatte eine Menge Liebhaber. Die Rosen können von 197
einem anderen gewesen sein!“ „Erinnerst du dich zufällig an den Namen des Blumengeschäftes auf den Schachteln, die immer ins Büro kamen?“ Es waren stets die gleichen gewesen, La-FranceRosen, ein rundes Dutzend, langstielig, phantasielos und teuer. „G. Botticelli, der individuelle Blumenladen.“ Aber Ed Munn! In meinen wildesten Träumen hätte ich mir diese Romanze nicht einfallen lassen! War es nicht Lola gewesen, die mich mit spitzfindigen indirekten Reden und raffinierten Winken gedrängt hatte, meine Verlobung zu lösen? Johnnie wollte sprechen. Ich sagte ihm, ich sei zu müde, um über den Mord nachzudenken. Das war nur teilweise eine Lüge. Die Müdigkeit wirkte wie ein angenehmes Narkotikum, das mir Gefühl und Gedanken betäubte. Ich hatte zu viele Entdeckungen erlebt an diesem Abend, zu viele Aufregungen, allzu viele bittere Enttäuschungen. Wenn Johnnie jetzt gewisse Fragen gestellt hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als ihn zu belügen. Und ich mochte Johnnie nicht belügen. Als wir zu meiner Wohnung kamen, gab ich ihm meine Handtasche, und er holte den Schlüssel heraus. Er öffnete die Tür, drehte die Lichter an und wollte mir aus dem Mantel helfen. Ich zog mich mürrisch zurück und setzte mich hin, fest in meinen Mantel gewickelt. „Bist du ein launisches kleines Ding! Aber ich glaube, das ist nur, weil du so müde bist.“ „Bitte, sei mir nicht böse, Johnnie!“ „Hast du deinen Vater gefragt, warum er mir weismachen wollte, du seist in den Mord an Wilson verwickelt?“ „O bitte, heute Nacht nicht mehr! Ich bin so fertig! 198
Komm, mach mir etwas Nettes zu trinken – einen doppelten oder dreifachen Whisky-Soda.“ Das war ein Vorwand, ihn in die Küche zu bringen. Als ich hörte, wie er Wasser über die Eiskassette laufen ließ, stahl ich mich in mein Schlafzimmer, verbarg die gelben Bogen zwischen Bett und Matratze und hängte meinen Mantel auf. Johnnie blieb über Nacht da. Er meinte, es sei besser, wenn ich nicht allein sei, falls die Polizei käme. Nachdem er mich eingewickelt und geküßt hatte, machte er sich ein unbequemes Lager auf der Couch im Wohnzimmer. Sobald ich sein gleichmäßiges Atmen hörte und daraus schloß, daß er schlief, machte ich die Tür zwischen unseren Zimmern zu, wickelte mich in einen Angoraschal und las, eine Zigarette nach der anderen rauchend, das Manuskript. Als Johnnie morgens erwachte, war ich gebadet, gebürstet und gekämmt, hatte Rouge aufgelegt, ein gelbes Band im Haar und eine gestärkte Schürze über meinem besten Hauskleid. Die Küche roch nach gebratenem Schinken und Kaffee. Das Brot war aufgeschnitten und zum Toasten vorbereitet; Eier und ein Quirl warteten in einem Steintopf. Johnnie küßte meinen Nacken. „Du siehst viel besser aus. Gut geschlafen?“ Ich schlug die Eier in den Topf. „Bitte, geh doch hinunter und sieh nach, ob der Milchmann Sahne hingestellt hat. Ich kann sie auch mit Milch anrühren, aber mit Sahne sind sie besser. Und außerdem brauchst du sie zum Kaffee.“ „Ich muß dich verschiedenes fragen, Eleanor.“ „Nach dem Frühstück, Liebling. Ich spreche nie über seriöse Dinge, ehe ich etwas im Magen habe.“ 199
Als wir bei der zweiten Tasse Kaffee waren, läutete es. Johnnie setzte die Tasse hart auf den Teller. „Ich wünschte, wir könnten endlich reden“, sagte er, „aber du warst heute nacht entsetzlich nervös.“ „Jetzt ist mir wieder gut. Ich kann es vertragen.“ Er drückte auf den Knopf, der unten die Tür öffnete. „Sieh mal, Kind – sag mir doch die ganze Wahrheit, gleichviel, was es ist. Halbe Wahrheiten taugen nichts. Halbe Wahrheiten sind Lügen.“ Dann öffnete er die Tür. Groß und aufrecht, selbstbewußt, gut aussehend, trat Vater ein; er brachte die frische Luft des Dezembermorgens mit in das überheizte Zimmer. Er ging an Johnnie vorbei, küßte mich und sagte guten Morgen – nicht anders, als sei dieser Morgenbesuch etwas ganz Alltägliches. „Guten Morgen, Vater. Wir haben gerade gefrühstückt. Magst du eine Tasse Kaffee?“ „Aber liebes Kind!“ Seine Ablehnung klang so vorwurfsvoll, als hätte ich ihm etwas Unmoralisches zugemutet. „Milch?“ Er nickte, schüttelte Johnnie die Hand, zog den Mantel aus, sah sich im Zimmer um und wählte einen Sessel. Ich gab ihm seine Milch in einem großen Whisky-Soda-Glas, und er trank sie auf einen Zug aus. Zu Johnnie gewandt, sagte er: „Captain Riordan wollte Eleanor noch gestern sprechen, aber ich sagte ihm, sie sei zu müde. Er wird sie heute aufsuchen.“ Ich zündete mir eine Zigarette an. Meine Hand zitterte. „Ich wünschte, du rauchtest nicht soviel! Es macht dich nervös“, sagte Vater. „Riordan möchte auch Sie sprechen, John. Man wollte herausbekommen, ob Sie im Bilde waren, daß Munn bei uns war, als Sie anriefen. Ich 200
sagte ihnen, ich wüßte es nicht.“ Vaters Augen schweiften im Zimmer umher, sahen den Tisch, der für zwei gedeckt worden war, und die Couch mit den Kissen und Decken. „Ich bin über Nacht hier gewesen, Eleanor war so nervös“, erklärte Johnnie. Vater nickte. „Er ist ein guter Junge, Eleanor. Es gibt kein größeres Glück für eine Frau als einen rücksichtsvollen Mann. Du hast wirklich Glück, Kind. Aber ich wünschte, Sie ließen sie nicht soviel rauchen, John! Sie sehen, wie nervös es sie macht.“ „Nicht das Rauchen macht sie nervös, Herr Barclay!“ „Du bist so reizbar“, sprach mein Vater weiter zu mir, „ich mag den schrillen Ton in deiner Stimme nicht! Er erinnert mich an deine Mutter, ehe sie…“ „Bitte“, meine Stimme wurde noch schriller, „du bist doch wohl nicht hergekommen, um über mein Rauchen zu sprechen? Warum bist du gekommen?“ Vaters Blick wurde vorwurfsvoll. „Komm, setz dich zu mir, Eleanor. Ich muß mit dir sprechen.“ Er zog mich auf einen Stuhl dicht neuen sich. Seine Hände waren kalt und trocken. „Ich würde sie gern unter vier Augen sprechen, mein Junge.“ „Okay.“ Johnnie nahm Hut und Mantel. „Ich werde die Zeitungen holen. Möchtest du, daß ich wiederkomme. Eleanor?“ „Ja, bitte, komm wieder!“ „Ein famoser Bursche“, sagte mein Vater, als sich die Tür hinter Johnnie schloß. „Ein anständiger, ehrlicher Junge – ich könnte mir nichts Besseres für dich wünschen, Kind!“ „Warum bist du hergekommen?“ „Um mein kleines Mädchen zu sehen. Warum bist du so bissig? Hast du Angst, daß ich dich ausschelte?“ Er 201
sah auf die Decken und Kissen auf der Couch. „Du müßtest doch deinen Vater besser kennen, Kleines! Schließlich bin ich ziemlich tolerant – für einen Vater!“ Er lächelte entgegenkommend. „Was ist mit Ed passiert, Vater? Ist er entkommen?“ Vater war nicht mehr hübsch, nicht mehr strahlend, nicht mehr jung. Die Linien an seinem Munde waren vertieft. Die Backenknochen standen wie harte Knoten unter eingesunkenen Augen. Ich sah wieder die furchtbaren Gipfel, den quälenden Engpaß, den bodenlosen Abgrund und das Gesicht des Mannes in meinem Alptraum. „Was hast du der Polizei gesagt? Du mußt ihnen erzählt haben, daß Ed da war – denn sie fragten, ob Johnnie darum wußte. Wahrscheinlich mußtest du es ihnen sagen. Zu viele Leute wußten es – Gloria und Hardy und der Liftmann.“ „Eleanor…“ „Man wird mich fragen, was geschehen ist. Was soll ich ihnen sagen?“ „Daß du von nichts weißt“, sagte er, seine Worte sorgfältig betonend wie ein Mann, der nach langer Krankheit gerade die Macht der Sprache wiederfindet. „Du verließest das Studio. Ed war bei mir geblieben. Du gingst zur Entreetür, machtest auf, begrüßtest Johnnie, bliebst eine Weile mit ihm draußen, um zu plaudern oder ihn zu küssen oder dich küssen zu lassen…“ „Ich wurde ohnmächtig, Vater!“ „Nicht nötig, das zur Sprache zu bringen. Sie würden bloß lauter törichte Fragen stellen. Ich sagte ihnen, du seist eine Weile draußen geblieben — junge Liebesleute, sie verstünden schon…, etwa fünf Minuten, sagte ich. Ich sei hinausgegangen, um nachzusehen, wo du so lange bliebst, und inzwischen verschwand Ed. So habe ich es 202
ihnen erzählt.“ Nach einer Weile sagte ich: „Das Manuskript hast du nicht gefunden – oder?“ „Woher weißt du das?“ „Ich weiß es.“ Meine Stimme war leicht, meine Augen glänzten kalt, mein Lächeln war voller Hohn. „Du Eleanor… Du hast es?“ Ich lachte. „Wo ist es?“ Er wartete, aber ich antwortete nicht. Er packte meine Handgelenke, riß mich zu sich heran: „Eleanor… Tochter…“ Ich wollte entfliehen, aber seine Hände wurden wie Schraubstöcke, sie schienen so groß, so zäh, so stark, daß ich fühlte, wie meine Knochen unter ihnen knackten. Ich versuchte, mich zu befreien, aber der Druck wurde noch stärker, und ich fürchtete, er würde meine Handgelenke zerbrechen. Ich machte die Augen zu und schloß den grausamen Glanz seines Blickes aus; ich sah wieder ragende Felsen, die Paßstraße meines Alptraums…, den Abgrund…
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Fünfter Teil EINER WUNDERSCHÖNEN DAME… von John Miles Ansell
„Ich will mich selbst erkennen. Ich will die Wahrheit über mich selbst erkennen und sie bekennen, wie schmachvoll und schuldig sie auch sei – denn ich weiß: in meinem Herzen ist keine Scham, keine Schwäche, keine Schuld mehr, wenn ich der Wahrheit ins Auge zu schauen vermag und diese Scham, diese Schwäche, diese Schuld frei und laut beim Namen nenne…“ „Mein Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay Es war Samstag morgen. In der Boulevardpresse und in den Hearstzeitungen war Lola Manfred eine Überschrift in Schlagzeilen geworden. DICHTERIN IN GREENWICH WAHRSCHEINLICH ERMORDET! Daß sie alt, dick, müde, abgelebt und trunksüchtig war, schien keine Rolle zu spielen. Kein Reporter nahm sich die Mühe, zu berichten, daß sie seit Jahr und Tag kein Gedicht mehr geschrieben hatte. Der Mord hatte ihre Würde wiederhergestellt. Die seriösen Zeitungen waren weniger enthusiastisch. Die Formulierung „man nimmt an“ wurde häufig gebraucht. Ich las alles in einem Cafe an der Achten Straße, 204
beim Universitätsplatz, das gleichzeitig ein Ladengeschäft war. Ich trank zwei Tassen Kaffee und erfuhr, daß die Polizei einen Mann suchte, der vermutlich in der Nacht ihres Todes bei Frau Manfred gewesen war. Kein Blatt nannte Edward Munn. Ich bestellte eine dritte Tasse, damit ich sitzen bleiben und die Zeitungen weiterstudieren konnte. Eleanor hatte gewünscht, daß ich wegging, während sie mit ihrem Vater sprach. Ich brauchte weder Brille noch Hörrohr, um zu merken, daß sie etwas vor mir verbarg. Ehe sie zu Bett ging, war sie nervös gewesen, und später hatte der Alptraum sie zu Tode erschreckt. Sie glaubte mich genarrt zu haben, aber ich wußte, daß sie ihre Lampe brennen ließ und über eine Stunde mit Papier raschelte, nachdem sie sich schlafend gestellt hatte. Am Morgen spielte sie die fröhliche kleine Hausfrau, mit einem Band im Haar und einem koketten Schürzchen. So sah sie sich selbst. Ich überlegte, ob sie wohl merkte, daß sie mein Rührei gezuckert hatte. Zwanzig Minuten blieb ich noch im Cafe. Mein intensives Studium der Weckeruhren, der ausgestopften Tiere und der Grippekuren mußte den Geschäftsführer überzeugen, daß ich ein Konkurrenzunternehmen aufmachen wollte. Endlich kaufte ich drei Päckchen Zigaretten und machte mich auf den Rückweg. Als ich um die Ecke der Zehnten Straße Ost bog, sah ich einen langen, schwarzen „Sedan“ vor dem renovierten Ziegelbau halten, in dessen zweiter Etage Fräulein Eleanor Barclay, das „Junge Mädchen“ der „Wahrheit“, wohnte. Es war ein Polizeiwagen. Riordan stieg aus. „Sie kommen mir wie gerufen“, sagte er, „ich suchte Sie gerade.“ Er klopfte mir auf die Schulter. Das Vestibül lag drei Stufen tiefer. An einer Wand 205
waren Briefkästen und messinggerahmte Schildchen mit den Namen der Mieter. Riordan musterte die Schildchen rasch, klingelte aber nicht sofort an Eleanors Glocke. „Als Sie gestern Nacht Herrn Barclay anriefen – wußten Sie da schon, daß Munn bei ihm war?“ fragte er. „Ich habe nicht Barclay angerufen – ich versuchte, Fräulein Barclay zu finden.“ „Wußten Sie nicht, daß sie bei ihrem Vater war?“ „Keineswegs. Ich rief erst hier an, aber sie war nicht zu Hause. Deshalb versuchte ich es bei ihrem Vater.“ „Er sagt, Sie hätten sie nicht gesprochen.“ „Ich fragte nach ihr, aber er schien keine Lust zu haben, sie ans Telefon zu rufen. Deshalb sagte ich es ihm.“ „Und was sagten Sie ihm?“ „Nun, die Neuigkeit, daß sein Manager, seine rechte Hand, sein bester Freund, einen Mord begangen hatte.“ „Wir sind dessen nicht sicher“, sagte Riordan. „Was, zum Teufel?“ „Wir haben keine anderen Beweise als etwas Tabak und ein paar Kügelchen aus Zigarettenpapier!“ „Und die Blumen? Wie steht‘s mit denen? Hat der Florist Botticelli Ed Munn gekannt oder nicht? Hatte er vorher dort Blumen gekauft?“ „Das beweist nicht, daß Munn sie ermordet hat.“ „Ist er verhaftet?“ „Er ist getürmt.“ „Nun, und ist das auch kein Beweis?“ fragte ich. „Er wußte, daß Sie hinter ihm her waren – und da ist er getürmt. Muß doch wohl ein schlechtes Gewissen gehabt haben.“ „Wußten Sie, daß er bei Barclay war, als Sie dort anriefen?“ „Verdammt“, sagte ich, „wenn ich dem Kerl helfen 206
wollte – hätte ich Ihnen den Beweis im Aschenbecher gezeigt? Sie können vierzig Jahre lang nach einem Mann suchen, der sich seiner Zigarettenstummel auf diese Art entledigt, Riordan. Wenn ich Ihnen nicht den Namen angegeben hätte – würden Sie je erraten haben, daß E. E. Munn, Redakteur der gesamten ‚Wahrheits‘Publikationen, Lola in der Nacht besucht hatte?“ „Botticelli hätte es uns sagen können. Und wir hätten eine Chance gehabt, Munn festzunehmen, ehe er gewarnt war“, sagte Riordan. Ich war beleidigt. Wenn er mit mir in den Bars herumsaß, für mein Geld Whisky trank und mir dafür Geschichten für ‚W. u. V.‘ lieferte, war er mir immer wie ein guter Freund vorgekommen. Jetzt sah ich – er war zum kleinen Teil Freund, zum großen Teil Polizist. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, sagte er. „Wußten Sie, daß Munn bei Barclay war, als Sie dort anriefen?“ „Zum Teufel, wenn ich es gewußt hätte – glauben Sie, dann hätte ich angerufen? Besinnen Sie sich doch, Riordan, ich bin der Mann, der Sie auf Munns Spur gesetzt hat.“ „Fräulein Barclay ist Ihre Freundin, nicht wahr?“ „Wir beabsichtigen zu heiraten.“ „Vielleicht brannten Sie aus diesem Grunde darauf, sie wissen zu lassen, ihr Exfreund sei in die Manfredaffäre verwickelt?“ „Wollen Sie damit andeuten, ich hätte Ihnen den Hinweis auf Munn aus Eifersucht gegeben? Weil ich ihn aus dem Wege haben wollte?“ „Nicht unmöglich.“ „Sie sind ja verrückt!“ „Als Sie gestern in Barclays Haus kamen – wer hat 207
Ihnen die Tür aufgemacht?“ „Fräulein Barclay.“ Diese Antwort schien mit Barclays Darstellung übereinzustimmen. Riordan nickte. „Und wie lange blieben Sie zusammen draußen in der Halle?“ „Drei oder vier Minuten. Als sie mich sah, wurde sie ohnmächtig.“ „Ohnmächtig? Davon hat Barclay nichts gesagt.“ „Von solchen Sachen spricht er nicht gern. Er möchte es nicht wahrhaben, daß seine Tochter, die nach der ‚Wahrheit-und-Gesundheits‘-Methode erzogen wurde, menschlich und anfällig ist!“ Riordan schnitt ein Gesicht. Ich sah wohl, daß er nicht alle meine Antworten glaubte. Dadurch hatte ich das unangenehme Gefühl, er habe mich irgendwie ertappt und ich müßte mich verteidigen. Ich fühlte mich schuldig. „Warum fragen Sie mich das alles? Besteht die Vermutung, daß Munn getürmt ist, während ich mit Eleanor in der Halle war?“ „Das ist Barclays Lesart. Er behauptet, Munn sei in diesem einen Zimmer gewesen – dem verrückten, das wie das Empfangszimmer eines Irrenhauses aussieht –, und zwar mit Barclay und dem Mädchen. Als Sie klingelten, ging das Mädchen die Tür öffnen und blieb ziemlich lange weg, so daß Barclay hinausging, um zu sehen, wo sie bliebe. Und während er draußen war, machte sich Munn aus dem Staube.“ „Verdammt noch mal!“ „Barclay sagt, er habe wahrscheinlich den Hintereingang benutzt. Dort ist ein Personalaufzug mit Selbstbedienung und ein Korridor im Keller, der direkt auf die 208
Madison Avenue führt.“ „Ich weiß. Auf diesem Wege sind Eleanor und ich weggegangen.“ „Sind Sie? Sieh mal einer an! Warum?“ Ich überlegte. Barclay war so dringend gewesen, und Eleanor hatte so sehr gewünscht, nach Hause zu kommen, daß ich keine Fragen mehr stellte. Zu Riordan sagte ich: „Wir gingen, als Sie kamen. Eleanor war ganz erschöpft, und ihr Vater meinte, sie solle lieber erst schlafen, ehe sie mit Ihnen spräche. Er selbst schlug den Personalaufzug vor.“ Riordan drückte auf den Knopf neben Eleanors Namensschildchen. Der Summer ertönte. Der Riegel der inneren Tür schnappte. Ich lief vorwärts. Ich verstellte Riordan den Weg und fragte: „Haben Sie Warren G. Wilson erwähnt, als Sie mit Barclay sprachen? Was hat er geantwortet?“ Riordan schob mich beiseite und ging zur Treppe. Wir hörten, wie auf dem Absatz über uns eine Tür geöffnet wurde. Barclay streckte Riordan seine Hand entgegen und wünschte ihm guten Morgen. „Na, wieder zurück, mein Junge?“ fragte er mich jovial. Von Eleanor war keine Spur zu sehen. Kissen und Decken waren von der Couch verschwunden, das letzte Geschirr vom Frühstückstisch weggeräumt. „Setzen Sie sich, Captain! Nehmen Sie ihm den Mantel ab, John! Ich vermute, Sie wünschen meine Tochter zu sehen.“ Barclay tat, als sei er hier zu Hause und nicht Eleanor. „Schon eine Spur von dem Flüchtling?“ Riordan sagte: „Warum haben Sie den Diebstahl Ihres Wagens nicht gemeldet, Herr Barclay?“ 209
Barclay kratzte sich den Kopf. „Ist einer meiner Wagen gestohlen? Davon weiß ich nichts. Mein Chauffeur hat mir nichts von einem Diebstahl berichtet.“ „Heute morgen um drei Uhr fünfzehn wurde ein Mann namens James B. Thorpe in Philadelphia aufgegriffen.“ „In meinem Wagen?“ „In einem schwarzen ‚Chrysler‘-Coupé, zugelassen in New York als Eigentum von Noble Barclay.“ „Ich habe ein schwarzes ‚Chrysler‘-Coupé“, sagte Barclay. „Ich habe es erst gestern benutzt.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt, ich glaube, ich habe es wieder einmal stehenlassen! Ja! Und ich fürchte, ich fürchte“, seine Stimme klang zerknirscht, „ich habe die Schlüssel steckenlassen. Ich lasse es manchmal stehen, und der Chauffeur holt es dann ab.“ „Und was ist mit diesem Thorpe?“ fragte ich. „Wer ist er?“ „Nie von ihm gehört“, sagte Barclay. „Er hatte einen kalifornischen Führerschein. Nach der Beschreibung darin ist Thorpe sechs Fuß drei Zoll, Gewicht etwa zwei Zentner. Der Mann, der gefaßt wurde, ist aber leichter. Knochiger Bursche und rund sechs Fuß, sagt der Bericht.“ „Weshalb wurde er aufgegriffen?“ fragte ich. „Fuhr in betrunkenem Zustand.“ „Betrunken.“ Barclay flüsterte es wie ein unanständiges Wort. Er räusperte sich und fragte: „Ist er vernommen worden? Hat er gestanden, daß er meinen Wagen gestohlen hat?“ „Er wollte nicht ohne Rechtsbeistand vernommen werden.“ „Oh!“ Weiter sagte Barclay nichts. „Und dann verlangte er den besten Anwalt von Phila210
delphia. Den besten – darauf bestand er. Sagte, er sei ein Mann von Bedeutung, und wir würden überrascht sein, wenn wir wüßten, wer er tatsächlich ist. Hatte zehn Tausender in seiner Tasche.“ Barclay zog die Augenbrauen hoch. „Hat er schon mit seinem Anwalt gesprochen?“ „Wir bekommen Nachricht, wenn sich etwas Wichtiges herausstellt.“ Riordan schien gleichgültig, aber er beobachtete aus dem Augenwinkel Barclays Reaktion. Eleanor kam aus dem Schlafzimmer. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt statt des Hauskleides einen blauen Rock mit weißem Sweater. Sie sah sehr schön, aber sehr unglücklich aus. Die erweiterten Pupillen ließen ihre Augen dunkel erscheinen. Ihr Vater winkte sie zu sich heran, aber Eleanor wollte nicht neben ihm sitzen. Sie ging zum entgegengesetzten Ende des Zimmers. „Dies ist Captain Riordan, Eleanor. Captain – meine Tochter.“ Riordan befragte sie wegen Lola. Er wollte wissen, wie eng sie mit ihr befreundet war, ob ihr Lola viele persönliche Geheimnisse anvertraut habe und ob sie am Tage ihres Todes Anzeichen von Verzweiflung an Lola bemerkt habe. „Ja, sie schien ziemlich verzweifelt“, antwortete Eleanor nachdrücklich. „Am Morgen war sie ganz wie immer, aber nachmittags war sie sehr sonderbar. Sie verlor die Fassung und warf ihr Pelzcape auf den Boden und blieb merkwürdig lange im Waschraum. Das geschah, entweder weil sie zum Lunch zuviel getrunken oder weil ihr jemand Rosen geschickt hatte. Jemand, den sie nicht leiden konnte, vermute ich.“ „Soso, Rosen“, sagte Riordan, ließ aber den Gegenstand fallen. „Und das war das letzte, was Sie von ihr sa211
hen?“ Eleanor blickte auf. Sie hatte sich die Handgelenke gerieben. „Ja, das war das letzte. Ich ging ungefähr nach einer Stunde fort. Ich wollte noch etwas kaufen. Ich wollte einen neuen Hut kaufen.“ Sie warf diesen Satz trotzig in meine Richtung. „Was wissen Sie von ihren Beziehungen zu Munn?“ „Sie haßte und verabscheute ihn.“ „Wissen Sie das bestimmt?“ Eleanor hörte nicht auf, ihre Handgelenke zu massieren. „Bestimmt.“ Riordan wandte sich an Barclay. „Sie haben es mir anders geschildert.“ „Meine Tochter hat geglaubt, was Frau Manfred ihr vorgemacht hat. Was auch die anderen Leute im Büro glaubten.“ Barclay sah weise und verschwiegen aus. „Frau Manfred sagte jedem, daß sie Munn verachtete. Es war eine Finte, um die Wahrheit zu verbergen.“ Eleanor sprang auf. „Ich glaube es nicht! Ich habe mit Lola gearbeitet. Ich sah sie jeden Tag. Ich kenne sie besser als die anderen Leute im Büro.“ „Du wußtest genausoviel, wie Lola dich wissen lassen wollte“, sagte Barclay, und seine Stimme klang glatt wie Kastoröl. „Frau Manfred (man soll sicher nichts Schlechtes von den Toten sagen!) war sehr schlau. Sie wollte nicht, daß jemand im Büro, und besonders Eleanor, etwas von ihren Beziehungen zu Ed Munn wissen sollte, weil…“‚ Barclay lächelte und schüttelte den Kopf, „Eleanor nämlich früher einmal mit ihm verlobt war.“ „Das wußte niemand im Büro.“ Eleanor kehrte zu der Couch zurück. Sie lehnte matt in den Kissen, als sei sie übermüdet und erschöpft, obwohl es noch Vormittag war. „Ich kann nicht glauben, daß Lola ihn auch nur an212
gesehen hat! Sie hätte gelacht, wenn Ed je versucht hätte…“ „Deine Stimme wird schon wieder schrill, Kind. Erinnere dich daran, was ich dir heute früh sagte“, unterbrach sie Barclay. Riordan sah mich hilfesuchend an. Das Umschalten aus der Sphäre von „Wahrheit und Verbrechen“ in die Sphäre von „Wahrheit und Liebe“ war dem Detektiv höchst unbehaglich. Aber auch ich war kein starker Fels. Barclay hatte mich einmal mit seinen aalglatten Manieren eingewickelt – und die Erfahrung machte mich klug. Andererseits war eine gewisse Portion Glaubhaftigkeit in seiner Geschichte. Lola hatte getrunken und leichtsinnig gelebt; sie konnte auch raffiniert gewesen sein. Während sie Munn schmähte und beschimpfte oder uns am Redakteurstisch mit Geschichten seiner Dummheit traktierte, mochte sie heimlich über unsere Naivität gelacht haben. „Wußten Sie vor Lolas Tod etwas von dieser Beziehung?“ sagte ich zu Barclay. „O ja, schon eine ganze Weile“, antwortete er. „Hatte Munn sich Ihnen anvertraut?“ „Sie lassen sich nicht gern ein X für ein U vormachen, was?“ Barclay lachte. Zu Riordan fuhr er erklärend fort: „Unser junger Freund ist ein typischer Skeptiker, der alles bezweifelt, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Was meinen Sie, Captain? Glauben Sie, ich schwindle Ihnen etwas vor?“ Riordan zögerte. Er war schließlich Polizeibeamter. Und Barclay eine Kanone – ein Millionär, Autor und Verleger, Grundbesitzer –, kurzum: ein großer Herr. Warum sollte Barclay schwindeln? Hatte er als Chef irgend etwas zu gewinnen, wenn er sich eine Liebesgeschichte zwischen seinem Assistenten und einer lockeren Dame 213
ausdachte? „Was könnten Sie für Gründe haben zu schwindeln?“ fragte Riordan. Barclay ließ für Riordan seinen ganzen Charme spielen. „Ich gebe zu“, bekannte er freimütig, „daß ich getäuscht worden bin. Ich habe sicherlich Ed Munn falsch beurteilt. Ich wußte, daß diese Frau ihn verhöhnte und quälte, vor ihm mit ihren Liebhabern prahlte – aber ich hätte nie geahnt, daß er so weit gehen würde, sie zu töten! Ganz ehrlich, ich hätte nie gedacht“, er machte eine wirkungsvolle Pause, „daß Ed das Zeug dazu hätte. Ich habe selten einen friedfertigeren Mann gesehen.“ Riordan zupfte an seinem Ohr. „Ich würde gern ein paar Fragen an Fräulein Barclay richten. Ihnen habe ich sie gestern bereits vorgelegt, Herr Barclay, aber ich möchte gern Fräulein Barclays eigene Antworten hören.“ Das war eine polizeiliche Feinheit, darauf angelegt, Fräulein Barclay zu informieren, daß sie gut daran täte, ihre Aussage so einzurichten, daß sie zu ihres Vaters Angaben paßte. „Als Ihr Vater John Ansells Telefonanruf abnahm und Ihnen erzählte, daß wir in Verbindung mit Frau Manfreds Tod hinter Munn her seien – was tat Munn da?“ „Er leugnete es.“ „Was leugnete er?“ „Lola getötet zu haben.“ „Und wir haben ihm geglaubt, ach ja, Eleanor!“ Ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr Barclay fort: „Und das war nur natürlich – finden Sie nicht auch, Captain? Schließlich, wenn man viele Jahre mit einem Mann zusammen arbeitet, ist es schwer zu glauben, daß er einen Mord begangen hat! Und ich will Ihnen noch etwas sagen, Captain.“ Barclay war schmerzlich bewegt. 214
„Ich fürchte, ich würde Ihnen jetzt noch nicht glauben – wenn Ed nicht geflohen wäre!“ Eleanor hatte wieder angefangen, ihre Handgelenke zu reiben. Ich versuchte, ihren Blick zu fangen, aber sie mied meine Augen. Sie war sehr nervös. „Ich bin ein Mann, der stolz darauf ist, das menschliche Herz zu kennen“, sagte Barclay. „Da sieht man wieder einmal, wie trügerisch der Stolz ist. Und wie wenig ein Mensch wissen kann, was im Herzen des anderen vorgeht!“ Wir schluckten es schweigend. Eleanor griff über den Tisch nach der Porzellandose mit den Zigaretten. „Ehe wir einen Schritt weitergehen, Captain, möchte ich Sie eins wissen lassen.“ Barclay bewegte sich auf Riordan zu. Er zählte bestimmt bis zehn, ehe er weitersprach. Er maß die Pause präzis ab. Wir saßen alle auf der äußersten Kante unserer Stühle. „Mir gefällt Ihre Art, den Fall zu behandeln! Ich muß gestehen, ich bin tief beeindruckt von Ihrer Ehrlichkeit und Ihren unumwundenen Methoden, Captain. Würden Sie es mir wohl übelnehmen, wenn ich darüber mit dem Polizeichef spräche? Ich möchte ihm gern gratulieren zu der Tüchtigkeit seines Stabes, besonders eines gewissen Offiziers…“ Riordan wurde rot wie ein neugeborenes Baby. „Wie Sie wünschen, Herr Barclay – ganz wie Sie wünschen. Ich freue mich, daß Sie es so auffassen!“ Ich brannte vor Wut. Fähigkeit. Ehrlichkeit. Unumwundene Methoden. Barclays alter Schwindel – und Riordan hatte ihn geschluckt wie eine edle Auster. Auch ich war einmal auf Barclays Leim gegangen – hatte ihm erlaubt, mich einen winzigen Zwerg zu nennen, und hatte ihm dafür dankbar die Hand geschüttelt. Aber hier lag die 215
Sache anders. Das eine war der Friedensschluß nach dem Streit um eine Geschichte, die er nicht in seinem Magazin gedruckt haben wollte. Das andere war ein Mord. „Warten Sie einen Augenblick. Haben Sie nicht etwas vergessen“, meine Stimme ahmte sarkastisch Barclays schmeichlerische Verwendung von Riordans Titel nach, „lieber Captain?“ „Was soll ich vergessen haben?“ Riordan sah sich um. „Ach, nur Herrn Warren G. Wilson – erinnern Sie sich an ihn? Er war der Mann, der letzten Mai ermordet wurde. Als ich Sie gestern nacht anrief und Ihnen meinen Verdacht mitteilte, daß Lola nicht Selbstmord begangen hätte, sagte ich Ihnen auch, daß vielleicht eine Verbindung zwischen ihrem und Wilsons Tod bestünde. Sie wissen jetzt zwar, daß es nicht Selbstmord war – aber wie steht es mit Wilson? Das war doch Ihr Fall – und ich dachte, Sie hätten nur seinethalben gebeten, mit der Verfolgung des Falles Manfred betraut zu werden. Oder habe ich mich da geirrt?“ Eleanor glitt auf der Couch nach vorn. Riordan nahm seinen Hut aus der rechten in die linke Hand und verlegte sein Gewicht auf den anderen Fuß. Barclay sah mich stirnrunzelnd an. Es war eine Warnung. Unerschrocken stürzte ich mich in das Unwetter. „Als Sie letzte Nacht mit Herrn Barclay sprachen – haben Sie Wilson erwähnt, Captain?“ „Der Junge ist zähe“, sagte Barclay und blinzelte Riordan zu. „Wenn er sich eine Raupe in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht davon abzubringen! Manche Leute nennen ihn vielleicht halsstarrig, aber ich bewundere seine Zähigkeit. Sie ist ein Zeichen von Charakter.“ Ein Zeichen von Charakter – ach, wirklich? Okay, Barclay, du sollst Maß und Art des Charakters in John 216
Miles Ansell kennenlernen, bei Gott! „War Herr Barclay in der Lage, Ihnen etwas über Wilson zu sagen?“ „Herr Barclay kannte Wilson gar nicht“, antwortete Riordan. „Haben Sie ihn danach gefragt?“ „Gestern nacht.“ Riordan drehte sich scharf um und starrte mich an. „Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß diese Leute Wilson kannten?“ „Das habe ich ihnen erzählt.“ „Was haben Sie mir erzählt? Daß Sie das Gefühl hätten, Frau Manfred sei in den Wilsonfall verwickelt. Einen Beweis haben Sie nicht.“ „Sehen Sie“, sagte ich und versuchte, ihm eine gerade Antwort zu geben und zugleich Eleanor wissen zu lassen, daß ich ihren Namen nicht genannt hatte, „ich sagte Ihnen, ich hätte das Gefühl, Frau Manfred habe Wilson gekannt. Ich erzählte Ihnen, wie sie sich benahm, als ich sie nach ihm fragte…“ „Wie benahm sie sich?“ fragte Barclay. „Sie leugnete es“, entgegnete Riordan an meiner Stelle, „Jawohl, sie leugnete es“, sagte ich, „aber die Art, wie sie es leugnete, machte mir den Eindruck, daß sie log. Sie war zu trotzig, zu erregt…“ „Hatte sie getrunken?“ fragte Barclay. „Hmm…, ja…“ „War es nicht typisch für Frau Manfred, daß sie trotzig und aufgeregt war, besonders wenn sie getrunken hatte?“ Wieder antwortete Barclay, ohne mir die Möglichkeit eines Einwandes zu lassen. „Sehen Sie, mein Junge, ich kenne die Neigungen eines Alkoholikers besser als Sie! Meine eigene unglückliche Geschichte läßt mich die gefühlsmäßige Reaktion solcher Menschen besser verste217
hen. Sie sagen, sie leugnete trotzig und aufgeregt. Typisch, typisch!“ Eine Tür schlug zu. Eleanor war ins Schlafzimmer gegangen. Ich wußte nicht, war sie irritiert, weil ich ein Familiengeheimnis enthüllt hatte oder weil ihr Vater so ein widerlich öliger Heuchler war. Aber es war mir ziemlich gleichgültig. Barclay schien Eleanors Rückzug nicht zu bemerken. Er war zu sehr auf seine eigene Absicht bedacht. „Sehen Sie, Captain,“ sagte er, „der Junge hat keinerlei Beweis, daß Lola Herrn Wilson kannte. Sie war betrunken, sie war erregt, und daraus will er wer weiß was machen. Wie denken Sie darüber?“ „Ich kann es nicht beurteilen“, sagte Riordan. „Gestern nacht, als er mit mir darüber sprach, war ich bereit, die Spur aufzunehmen. Wenn man einen Fall aufzuklären hat, ergreift man willig jede Möglichkeit. Aber jetzt, nachdem ich alles erfahren habe, Herr Barclay, neige ich dazu, Ihnen recht zu geben. Es hat nicht Hand und Fuß.“ „Okay, es war bloß eine Vermutung“, sagte ich. „Aber eine ganz wertvolle Vermutung, was, Riordan? Wie steht es mit Munns Besuch bei Lola? Würden Sie etwas davon gewußt haben – ohne meine Vermutung?“ „Aber es beweist nicht, daß einer von ihnen beiden Wilson kannte.“ Barclay legte seine Hand tröstend auf meine Schulter. „Ich weiß, es wird Sie verletzen, mein Junge, wenn ich das sage, aber Sie haben es nicht verwunden, daß ich die Wilsongeschichte abgelehnt habe. Sie glaubten, Sie hätten ein Meisterstück geschrieben, und seitdem haben Sie ständig die verrückte Vermutung, daß meinerseits ein persönlicher Grund vorlag. Sie…“ „Sehen Sie, Herr Barclay…“ „Sie müssen lernen, sich mit so etwas abzufinden, 218
mein Sohn! Sie sind nicht vollkommen; Sie sind menschlich, wie die ganze übrige Menschheit. Sie mögen ein genialer Schriftsteller sein – aber selbst bei Shakespeare finden wir einige taube Nüsse. Und es geht schon ziemlich weit – meinen Sie nicht auch, Captain? –, wenn so ein junger Bursche andere Leute verdächtiger Machenschaften bezichtigt, bloß weil sie seinem literarischen Ehrgeiz einen Schlag versetzen.“ „Teufel“, sagte ich, „mir sind schon andere Geschichten abgelehnt worden – und bessere Geschichten und von besseren Zeitschriften als ‚W. u. V.‘. Wenn Sie behaupten wollen, das sei der Grund zu meiner Annahme, Sie…“ „Was für einen anderen Grund könnten Sie haben? Welchen Beweis haben Sie, daß Munn oder ich (da Sie ja darauf bestehen, mich in diese trügerische Theorie zu verwickeln) jemals eine andere Verbindung mit Wilson hatten, als daß uns Ihre Geschichte über seinen Tod nicht gefiel?“ Ich sah mich nach etwas um, was ich ihm an den Kopf werfen konnte, aber es waren nur Eleanors antikes Porzellan und ihre stilechten Möbel vorhanden… „Sehen Sie, Herr Barclay – hat man mich vergiftet oder nicht, in der Nacht, nachdem ich anfing, Fragen über den Fall Wilson zu stellen?“ „Vergiftet?“ Barclay schien mich nicht zu verstehen. „Ich esse keine Garnelen, Barclay – ich habe eine Aversion gegen Schalentiere!“ „Aber, aber, John!“ Das war der alte Barclay, der glatte, der professionelle Vertraute. „Sie müssen doch keine Tatsachen ableugnen! Jeder Mensch – Smith vom ‚Grill‘, die Kellnerinnen, der Arzt, Ihre Pflegerin –, sie wissen alle, daß Sie eine schwere Magensache hatten, weil Sie 219
verdorbene Garnelen aßen. Lesen Sie doch den Bericht im Krankenhaus durch – dann haben Sie den Beweis. Die Behauptung, man habe Sie vergiftet, ist nicht nur absurd, mein Junge, sie ist gefährlich! Sie ist geradezu ein Beweis dafür, daß Sie an Verfolgungswahn leiden!“ „Ich habe keine Garnelen gegessen! Ich esse nie welche. Sehen Sie, Riordan, er kann die Leute bestochen haben, daß sie so aussagen. Den Verdacht hatte ich längst – aber es ist nicht wahr! Ich sage Ihnen…“ Barclay lächelte. Er lächelte so verdammt nachsichtig, daß ich am liebsten mit der Faust in seine glatte Visage geschlagen hätte. Gegen sein ruhiges Selbstvertrauen klang mein Wüten wie das Gegreine eines Kindes. „Ich bin vergiftet worden!“ Ich stampfte mit den Füßen auf den Boden und schlug die Faust auf den Tisch. Das Mahagoni zitterte, und das Porzellan klirrte. Barclay lächelte traurig. Nach der Art, wie er es hinnahm, mußte ein Außenstehender denken, ich hätte die Vergiftungsgeschichte glatt erfunden und versuchte nun, mein Märchen durch Temperamentsausbrüche glaubhaft zu machen. „Warum haben Sie keine Anzeige erstattet?“ fragte Riordan. Barclay hätte am liebsten geschnurrt. „Weil man mich bestochen hat“, sagte ich, „und zwar mit fünfundsiebzig Zechinen pro Woche!“ „Stimmt das?“ Riordan sah Barclay antwortheischend an. „Ich habe nicht bemerkt, daß Sie Ihre Beförderung so auffaßten, John! Mir erschien Ihre Dankbarkeit aufrichtig.“ Barclay ließ das ganze Öl seiner Salbung über mich fließen. Seine Stimme triefte vor Mitgefühl. „Was haben Sie bloß auf dem Gewissen, junger Mensch, daß Sie sich eine Beförderung und Gehaltserhöhung nur so schrecklich verzerrt und entstellt erklären können! Welche trü220
ben Geheimnisse verbergen Sie? Was ist das für eine Wahrheit, der Sie nicht ins Gesicht zu sehen wagen?“ „Sie haben nicht unrecht“, sagte Riordan feierlich. „In meinem Beruf treffe ich eine Menge von Verbrechern, die andere Leute für ihre Fehler tadeln!“ Barclay nickte wohlgefällig zu dieser Bestätigung seiner Weisheit. „Das menschliche Herz“, sagte er, „ist das größte Naturphänomen aller Zeiten, das ‚achte Weltwunder‘. Seit Jahrhunderten hat die Wissenschaft es studiert, und was hat sie entdeckt? Nicht mehr, als ich Ihnen in einem einzigen Satze zusammenfassen kann: Ein Mensch kann sich selbst dazu zwingen, alles Beliebige für die Wahrheit zu halten – und wenn er es fest genug glaubt, so ist es seine Wahrheit!“ Riordan sann und bewegte sich auf die Zigarettendose zu. Barclay fuhr mit seiner Lektion fort: „Das gilt sowohl für die Religion wie für die Wissenschaft. Glaube, Selbstvertrauen… nun ja, der Glaube versetzt Berge. Haben Sie mein Buch gelesen, Captain?“ „Leider – nein…“, murmelte Riordan. „Oh, das macht nichts!“ sagte Barclay verzeihend. „Viele Leute haben es bis jetzt noch nicht gelesen. Ich werde Ihnen ein Exemplar schicken. Sie werden darin den Fall dieses jungen Menschen hier genau erklärt finden, Captain!“ „Und Herrn Barclay werden Sie ebenfalls finden, Riordan. Seine Lebensgeschichte ist nämlich bis in die intimsten Einzelheiten erzählt. Überschlagen Sie ja nicht die ‚Einleitung‘! Sie ist das größte menschliche Dokument, das je über die menschliche Verzweiflung geschrieben wurde!“ Der Deckel der Zigarettendose schloß sich mit einem Knall. Riordan wandte sich ab, die Versuchung weit hin221
ter sich lassend. Er hielt den Hut in beiden Händen und drehte ihn langsam. „Wir sind ziemlich weit von dem Mord abgekommen“, sagte ich. „Ziemlich weit weg von dem Fall Wilson und Lolas Tod und Munns Flucht. Barclays Philosophie ist äußerst fesselnd, finden Sie nicht, Captain? Wahrscheinlich haben Sie manche seiner Ideen schon einmal gehört. Barclay hat diverse Anleihen gemacht – bei den Christen und bei den Heiden, bei den Medizinmännern aus dem Busch und bei den Wissenschaftlern, Theosophen, Theologen, Psychoanalytikern und überspannten Sekten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist bemerkenswert, was der Mensch alles glauben kann, besonders wenn Sie wüßten, wie viele auf den Leim der Befreiung durch Wahrheit gegangen sind!“ Riordans Hut wirbelte schneller. Schließlich war er Detektiv, nicht Schiedsrichter der verschiedenen Philosophen. Barclay roch sein Schwanken. Gewinnend, als seien er und Riordan seit langen Zeiten Verbündete, sagte er: „Haben Sie auch bemerkt, Captain, daß alle Zyniker gleich sind? Alle Ungläubigen? Denn welch ein Unterschied besteht schon zwischen den Spöttern der alten Religionen und denen, welche die Erleuchtungen der modernen Philosophie schmähen? Was ist in ihren Seelen, was sie so unbeugsam macht? Warum hassen sie sich selbst und verachten die übrige Menschheit? Kann es Neid sein? Müssen sie den Glauben schmähen, weil sie selber unfähig sind zu glauben?“ Barclay beugte sich vor, er spähte erst in Riordans Gesicht, dann in das meine. Er gebärdete sich und sprach, als hätte er eine vieltausendköpfige Hörerschaft. Seine ganze Energie war in seiner Stimme zusammengedrängt. 222
„Sie brauchen nicht zu verzagen, John! Sie haben schwer gefehlt, aber noch haben Sie kein Unheil angerichtet, mein Junge! Noch ist es nur Ihr halsstarriger Wille, dieser Entschluß, den Größeren zu schlagen! Gestehen Sie es sich – sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht, Junge –, fügen Sie sich in Ihre Niederlage. Dann sind Sie größer als jeder andere auf Erden!“ Riordan grinste. Ich wußte, was er dachte. Genau, was Barclay wünschte: daß ich ein gehemmter, neidischer, bitterer Zwerg sei, der Zynismus und Sarkasmus als Waffe gegen die stattlichen Riesen führte. Die Taktik hatte für mich nicht den Reiz der Neuheit. Barclay hatte sie bereits einmal vor einem Spiegel exerziert, aber diese Vorstellung war noch besser; er brauchte keinen Spiegel. Er hatte mich da, wo er mich haben wollte: ich war hilflos und krümmte mich. Hätte ich Gründe angeführt, so hätte er meine Gründe gegen mich verdreht. Hätte ich Tatsachen konstatiert, so hätte er nachgewiesen, daß meine Tatsachen Ausgeburten des Neides und des Minderwertigkeitsgefühls seien. Barclay war der große Mann, und er konnte seine Größe nicht nur an Zentimetern messen. Er hatte Glauben. Das machte ihn sicher. Ich besaß keine Waffe, die stark genug war, um diesen Panzer zu durchbrechen, keinen Schild, um mich vor seinen Streichen zu schützen. Daher – ergo und quod erat demonstrandum –: ich war nicht vergiftet worden. Ich hatte Garnelen gegessen. Das Telefon läutete. Ich begrüßte die Unterbrechung. Mir floß der Schweiß übers Gesicht. Es machte mich verlegen, ihn wegzuwischen. Ich hoffte, die Debatte sei vorüber. Eleanor eilte aus dem Schlafzimmer. Aber Riordan hatte schon das Telefon in der Hand. Es war sein Büro 223
mit dem Bericht, sie hätten gerade von der Polizei in Philadelphia eine Meldung bekommen. Der Mann, der Barclays Coupé gestohlen hatte, war tot in seiner Zelle aufgefunden worden. Eine leere Glasphiole lag neben der Leiche auf dem Boden. Die Polizei hatte sie nicht entdeckt, als man ihn durchsuchte. Ich beobachtete Eleanor. Sie war nicht dabeigewesen, als Riordan ihrem Vater von dem Diebstahl des Wagens und der Verhaftung des betrunkenen Fahrers erzählte. Die Neuigkeit bedeutete ihr nichts, bis der Name James B.Thorpe fiel. Ihr Körper wurde steif. Sie starrte ihren Vater an. „Also nicht die Terrasse?“ Sie hatte kaum Atem genug für die paar Worte. „Die Terrasse?“ fragte Riordan befremdet. „Ich dachte, er sei hinuntergesprungen oder hätte…“ Sie wurde gewahr, daß Barclay ihr einen finsteren Blick zuwarf, und wandte sich ab. „Wahrscheinlich habe ich es geträumt – aber es war so wirklich. Es wäre doch unmöglich, nicht wahr? Denn dann müßte man seine Leiche doch auf der Straße gefunden haben. Es schien…“ „Hör auf zu plappern“, befahl Barclay. Zu Riordan sagte er: „Und er war bereits tot, als man ihn fand, sagen Sie?“ Riordan nickte. Mit einem feinen gestickten Taschentuch wischte Barclay sich den Schweiß von der Stirn. „Dann hat er also nichts gesagt? Seine Identität nicht enthüllt?“ „Wissen Sie denn, wer er war?“ „Armer Ed“, sagte Barclay. Sein Kopf war gebeugt. Das Taschentuch verbarg seinen Gesichtsausdruck. „Armer Kerl“, sagte er und schnaubte sich die Nase, „er muß gewußt haben, daß das Spiel aus war!“ 224
Die gerichtliche Untersuchung war eine kühle Sache. Lola Manfred wurde für tot erklärt. Ein paar Körner Tabak, ein paar winzige Bällchen aus Zigarettenpapier, eine ungeöffnete Schachtel mit La-Francc-Rosen bewiesen allenfalls, daß Ed Munn ihr letzter Gast gewesen war, aber nicht, daß er Bi-Sublimat in ihren letzten WhiskySoda gemischt hatte. Riordan dankte mir öffentlich für meine Hilfe im Falle Manfred – aber er erwähnte weder den Fall Wilson noch meine Ahnung, daß zwischen den beiden Morden eine Verbindung bestand. Wahrscheinlich hatte ihn Barclay zu der Ansicht bekehrt, ich hätte mich rächen wollen, weil er meine Wilsongeschichte abgelehnt hatte. Durch seine Brille gesehen, hatte Riordan nicht unrecht. Nicht der Schatten eines Beweises verknüpfte Lola Manfreds Tod mit dem Mord an Warren G. Wilson. Er durfte weder seine Zeit noch das Geld der Steuerzahler an die Theorie eines hysterischen jungen Redakteurs verschwenden. Eleanor sagte kurz aus. Sie war spät gekommen und schritt zwischen ihrem Vater und seinem Anwalt. Sie trug ein schwarzes Kostüm, einen schwarzen Sweater und eine Kette aus kleinen Perlen. Sie schien keine Notiz davon zu nehmen, daß ich im selben Räume war. Wir hatten uns während des Wochenendes nicht gesehen. Als am Samstagmorgen Barclay und Riordan ihre Wohnung verließen, bat sie auch mich wegzugehen. Sie sei müde, sagte sie. Ich rief mehrmals an, Samstag abend und sonntags, aber sie war immer zu abgespannt, um sich mit mir zu treffen. Ich war vor den Kopf gestoßen. Ich fand, es war nicht der richtige Augenblick für sie, mich einfach fallenzulassen. Ich stellte mir selbst alle möglichen Fragen, aber alle 225
Antworten ergaben eine glatte Null. Noble Barclay legte den Eid ab. Jeder Mensch im Saal beugte sich neugierig vor. Eleanors weiß behandschuhte Hand spielte mit den Perlen. Barclay gab zu, daß es ihm schwerfiel, sich mit dem Gedanken abzufinden, sein naher Freund und Mitarbeiter könne einen Mord begangen haben. Obwohl er (so fügte Barclay hinzu) sehr wohl die Beziehungen zwischen Munn und Lola Manfred bemerkt und gewußt hatte, daß Munn mit dem Feuer spielte. „Wissen. Sie absolut sicher, Herr Barclay, daß sie seine Geliebte war?“ „Ist jemand in diesem Saal, der es bezweifelt?“ Eleanors Kette riß. Die Perlen rollten auf den Boden. Es gab viel Gerede und Gerenne. Die Beamten, Zeugen und Beisitzer lagen auf den Knien und suchten. Ich blieb auf meinem Platz sitzen, Eleanor ebenfalls. Barclay setzte seine Zeugenaussage fort. Er war der einzige im Büro gewesen, deutete er an, der sich von dem Bluff der Liebenden nicht hatte täuschen lassen. Wir anderen, die Neunmalklugen und die Zyniker, hatten uns blind machen lassen, hatten geglaubt, daß ihre Liebe tatsächlich Feindschaft sei, waren zu kurzsichtig gewesen, um zu erkennen, daß Bitternis und Spott die Maske einer verschämten und unerlaubten Liebe waren. Nach Ende der Sitzung sammelte sich die Menge um Barclay. Die Männer standen Schlange, um ihm die Hand zu schütteln. Ordentliche, normale, rechtsliebende Bürger fühlten sich ausgezeichnet durch den Vorzug, den Verfasser von „Mein Leben ist Wahrheit“ kennenzulernen. Alle waren überrascht und begeistert, einen so großen Mann so bescheiden und so offen zu finden. Am Ende des Blocks war eine schmierige kleine Bar. 226
Ich suchte eine Nische in der dunkelsten Ecke. Ich saß allein und bestellte mir zwei doppelte Brandys. Eleanor war mit ihrem Vater und dem Anwalt in der Barclayschen Limousine weggefahren, die lang und schwarz war und wie ein Leichenwagen aussah. „Zwei doppelte Brandys?“ fragte der Kellner. „Ja, ich erwarte jemanden“, sagte ich. Das war eine Lüge, aber ich gehöre nicht zu den kraftvollen Seelen, die mit Barkellnern Befreiung durch Wahrheit spielen können. Er brachte die beiden Gläser. Ich ließ ihn eins vor meinen, eins vor den gegenüberliegenden Platz stellen. Er erriet wohl, daß ich niemanden erwartete, und als er zur Bar ging, merkte ich, daß er mich durch den Spiegel beobachtete. Ich hob mein Glas und trank im stillen Lola Manfred zu. Das war sinngemäßer, fand ich, als ein Kranz auf ihrem Grabe. Der Barkellner machte sich Sorgen. Ich winkte ihm, und er kam zu meiner Nische zurück. „Ich fürchte, mein Freund kommt nicht. Mögen Sie es trinken?“ Ich deutete auf das unberührte Glas. Lola hätte es nicht gern gesehen, daß der gute Brandy verschwendet wurde… „Ich mach mir nicht viel daraus. Aber einen Boubon hätte ich gern gehabt!“ „Also holen Sie sich auch einen ‚Bourbon‘!“ Ich warf fünf Dollar auf den Tisch, grüßte ihn und ging hinaus. Er griff sich an die Stirn. Zehn Minuten später kam ich ins Büro. Meine Mitarbeiter drängten sich um mich, als sei ich der öffentliche Held Nummer eins. Sie fragten vertraulich, ob es wahr sei, daß der verstorbene E. E. Munn und die verstorbene Frau Manfred etwas miteinander gehabt hatten. Es war geradezu lächerlich. Jeder, der Augen und Ohren im 227
Kopf hatte, mußte gemerkt haben, daß die beiden sich spinnefeind waren. Aber Barclay hatte am Samstag die Reporter empfangen, und die Artikel waren in den Sonntagsausgaben erschienen. Das machte es authentisch. Barclays Angestellte, die vom gedruckten Wort lebten, glaubten an das gedruckte Wort. Frau Kaufmann schloß die Bürotür, kam zu meinem Pult und sagte: „Mir klingt das Ganze nicht koscher. Ihnen etwa, Herr Ans eil?“ „Sehr vernünftig, Frau Kaufmann. Es richtet mich geradezu auf, daß es noch ehrlichen Skeptizismus in der Welt gibt!“ Ich gab ihr einen Kuß. „Bitte – nein! Ich bin eine ehrbare, verheiratete Frau! Wenn es sich nicht gerade um Bi-Sublimat handelte, hätte ich es nicht geglaubt. Aber seit ich las, die zehntausend Dollars, die er bei sich hatte, würden von seiner Schwester reklamiert, die einen Schönheitssalon hat…, ja, seitdem kann ich nicht umhin einzusehen, daß zwei mal zwei vier ist!“ „Ihre Rede klingt wie ein abgelehntes Manuskript von ‚W. u. L.‘, Frau Kaufmann. Was ist zwei mal zwei – und was ist die Endsumme?“ „In einem Schönheitssalon benutzt man Bi-Sublimat. Man bekommt es in Tablettenform und löst die Tabletten auf, um sie als Antiseptikum zu verwenden. Warum also sollte er sich nicht in dem Geschäft seiner Schwester solche Tabletten besorgt haben?“ „Kein Beweis dafür, daß und warum er sich welche besorgt hat.“ „Erinnern Sie sich“, fragte Frau Kaufmann, während sie mit einem sauberen Stückchen rosa Watte meine Brille polierte, „was Frau Manfred immer antwortete, wenn man sie fragte, wie sie es wagen könne, so unverschämte 228
Bemerkungen über Herrn Barclay zu machen? Sie pflegte zu sagen, sie wüßte, wo das Geheimnis begraben liegt!“ „Welches Geheimnis?“ „Das weiß ich doch nicht“, antwortete Frau Kaufmann. Sie reichte mir meine Brille und marschierte aus dem Büro. Den Rest des Nachmittags bezog sie Posten vor meiner Tür und sagte allen Besuchern, ich sei zu beschäftigt, um gestört zu werden. Ich verbrachte eine arbeitsreiche Stunde damit, auf dem Holz meines Schreibtischs herumzutrommeln. An der Wand gegenüber hing, durch vier Zwecken gesichert, ein Bild, das aus einer Frauenzeitschrift ausgeschnitten war. Frau Kaufmann hatte es dort als Talisman befestigt. Der Salat war grün, die Mayonnaise gelb, die Garnele rot… Kann noch nichts Bestimmtes sagen, ehe wir die Analyse haben … Einen anderen Fall, der genauso…, Bi-Sublimat… Oder hatte der Ambulanzarzt das niemals gesagt? Hatte meine Phantasie, durch zu viele Kriminalgeschichten angeregt, mir nur einen Streich gespielt? Nach dem Krankheitsbericht, nach Noble Barclay und I. G. Smith vom „Barclayhausgrill“ hatte ich verdorbene Garnelen gegessen. Die Dunkelheit verdichtete sich. Ein Gong ertönte. Frau Kaufmann tauchte kurz auf und fragte, ob ich sie heute noch benötigte. Ich schickte sie eiligst nach Hause zu ihrem Tapetenvertreter. Die Leute gingen lachend und redend vorbei zu den Lifts. Mädchen kicherten. Meine Fingerspitzen waren ganz taub, und ich hörte auf, den Takt zu meinen Gedanken auf dem Schreibtisch zu trommeln. Die Tür knarrte in den Angeln, als sie sich öffnete. Ich schwang in meinem Drehstuhl herum. Auch er knarrte. 229
‚Johnnie, bist du noch hier?“ fragte Eleanor. Sie kam ein paar Schritt ins Büro. Ich knipste die Schreibtischlampe an. Das plötzliche Licht schnitt mir in die Augen. Ich blinzelte. „Bitte, setz dich. Mach‘s dir gemütlich“, sagte ich. Ich dachte an das lange Wochenende und wurde ärgerlich. „Was gibt es? Warum siehst du so tragisch aus? Schließlich hat sich ja für dich alles äußerst günstig entwickelt!“ Eleanor griff mit der Hand an die Kehle, als sei sie am Ersticken. Dann fiel die Hand wieder herunter. „Es war doch eine wundervolle Vorstellung, die dein alter Herr da losließ“, sagte ich. „Ich hätte ihm wirklich gerne gratuliert, aber seine zahlreichen Bewunderer gaben mir keine Chance. Nun, jetzt kann ich dir wenigstens gratulieren. Du hast deine Sache selbst nicht übel gemacht!“ Ihre Unterlippe zitterte. „Johnnie…“ „Bitte“ Nach kurzem Schweigen sagte sie: „Ich will weg von hier!“ „Soso. Wohin denn?“ „Ich weiß es nicht. Irgendwohin. Nur weg von hier.“ „Warum denn?“ Sie antwortete nicht. Ihre Hände, noch immer in den weißen Handschuhen, krampften sich um ihre Handtasche. Ihre Pupillen waren so groß, daß ihre Augen schwarz erschienen. Ich dachte an das, was mir ihr Vater von seiner ersten Frau, Eleanors Mutter, erzählt hatte. Sie war immer in Hochspannung, übersensitiv, voller Geheimnisse gewesen. Ich dachte an das Kapitel der „Einleitung“, in dem Barclay den Selbstmord seiner jungen Frau beschrieb. 230
Eleanor seufzte. „Bitte, lach mich nicht aus. Ich brauche deine Hilfe, Johnnie!“ „Ich hätte dir gern geholfen, aber du machst es mir schwer.“ Ich bemühte mich, Teilnahme zu zeigen, sie aber gleichzeitig wissen zu lassen, daß bei mir keine Lügen und Ausflüchte mehr verfingen. „Die Zeit zum Herumtändeln ist vorbei. Entweder sind wir vollkommen ehrlich miteinander, oder wir machen Schluß.“ Mit erstickter Stimme murmelte sie: „Ich hab dir nichts vorgelogen, Johnnie. Ich kann mich keines Wortes, das ich sagte, erinnern, das nicht wahr gewesen wäre.“ „Du weißt mehr, als du gesagt hast. Audi, als du mir gesagt hast. Vielleicht hast du nicht absichtlich gelogen, aber du hast wohlbedacht die Wahrheit zurückgehalten. Ist es nicht so?“ Sie hob den Kopf. Ihre schmerzerfüllten Augen baten um Barmherzigkeit. Ich unterdrückte den heißen Wunsch, sie in meine Arme zu nehmen. Ausweichen und Versöhnen würden uns nur wieder im gleichen Kreis herumführen, zu dem gleichen Punkt zurück, von dem wir ausgegangen waren. „Vielleicht sollte ich dich nicht verantwortlich machen“, sagte ich kalt. „Vielleicht hast du überhaupt nie gelernt, was Ehrlichkeit ist. Deine Erziehung auf diesem Gebiet scheint etwas mangelhaft. Aber man hat dich gelehrt, deine Vorstellung der Wahrheit so lange zu drehen und zu kneten, bis sie in jede gewünschte Fasson paßt. Offenbar hast du nie gelernt, daß halbe Wahrheiten schlimmer sind als Lügen, weil sie irreführender sind. Es gibt nur eine Wahrheit, und das ist die ganze Wahrheit, und wenn wir nicht mit der ganzen Wahrheit anfangen, werden wir nie eine Chance haben.“ Ich hörte leise Schritte im Gang. Jemand nieste. Ich 231
sprang hoch, riß die Tür auf. Es war aber kein Lauscher, sondern nur ein müder Buchhalter, der länger geblieben war, um seine Rechnungen abzuschließen. Er wünschte mir leise guten Abend und trottete zum Lift. Ich machte die Bürotür wieder zu. „Sieh mal“, rief ich, blieb vor Eleanor stehen und legte meine Hände auf ihre Schultern, „du sagst, du liebst mich; du hast mir gelobt, mich zu heiraten, aber du bist entweder zu verängstigt oder zu halsstarrig, um mir zu sagen, was du über Wilsons Tod und Lolas Tod und Edward Everett Munn weißt. Immer bist du so gewesen, eigensinnig und heimlich. Vielleicht bin ich ein unerfahrener Säugling, vielleicht habe ich mich zu irgend etwas benutzen lassen, was ich nicht verstehe. Aber das sage ich dir: Ich lasse es kein zweites Mal darauf ankommen, von jemandem vergiftet zu werden!“ „Vergiftet? Du?“ Ihre Lippen formten die Worte, aber sie brachte sie nicht laut heraus. Sie schüttelte meine Hände ab und blickte zu mir auf. In ihrem Erstaunen war nichts Unechtes. Mir wurde klar, daß sie nicht allein die Schuldige war. Ich hatte mich der Unterlassungssünde schuldig gemacht. Wie alle anderen im Büro hatte auch Eleanor die Lüge mit den Garnelen geschluckt. Ich hatte ihr weder die wirklichen Tatsachen noch meinen Verdacht anvertraut. In meinem Bestreben, alles zwischen uns klar und freundlich zu halten, hatte ich sie um die Wahrheit betrogen. Nun berichtete ich ihr kurz die Sachlage, gab ihr aber eine genaue Schilderung des Streites über die Wilsongeschichte für „W. u. V.“, den Vorfall mit der blauen Thermosflasche und die erste Diagnose des Ambulanzarztes. Dann schilderte ich ihr mein Interview mit Noble 232
Barclay, seine Versprechungen und seine Andeutungen und unsere Unterhaltung über den Garnelencocktail. Als ich geendet hatte, entstand eine lange Pause. Eleanor atmete schwer. Plötzlich stieß sie hervor: „Hätte ich das gewußt, so hätte ich ihn umgebracht!“ „Deinen Vater?“ fragte ich. Die Bitterkeit war beabsichtigt. Ich wollte sie verletzen. Der Blick, mit dem sie mir antwortete, war eine Herausforderung. Ihr Kinn schoß vor, ihre Augen wurden schmal und fast farblos. Mit der behandschuhten Hand klopfte sie leise auf den Schreibtisch. In mir brannte die Ungeduld wie ein Fieber. „Also, sprich dich doch aus!“ rief ich. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich laufe nicht mit einer Anzeige zur Polizei. Sprich es aus, Eleanor – ich weiß es ohnedies.“ „Mein Vater hat keinen Mord begangen.“ Ihre plötzliche, gekränkte Würde gab mir einen Ruck. Sie war eine indignierte Dame, die bei einem Ansturm auf die Untergrundbahn grob gestoßen worden war. Ich setzte mich so hart zurück, daß mein Stuhl fast umkippte. „Warum sagte er mir dann, daß er dich im Verdacht habe, du hättest Wilson ermordet? Ich nahm an, er hätte sich damit selbst schützen wollen!“ „Und du glaubst, ich hätte es getan?“ Sie war immer noch die gekränkte große Dame. „Nein. Das habe ich niemals geglaubt, nicht einen Augenblick.“ Darauf hatte sie gewartet. Die gesellschaftliche Form, die sie als Schranke für ihr eigenes Temperament zwischen uns aufgerichtet hatte, brach zusammen, ebenso die fieberhafte Spannung und Gereiztheit. Alles wurde wieder normal. Sie beugte sich vor und küßte mich. „Jetzt, wo du es endlich ausgesprochen hast, Johnnie, 233
kann ich dir sagen, daß ich mich ganz frei von Schuld fühle. In gewisser Weise bin ich sogar verantwortlich für Wilsons Tod.“ „Was willst du damit sagen?“ „Ich habe den Revolver mit in Vaters Büro gebracht. Wir hatten im Studio die Bilder für ‚W. u. V.‘ gestellt, und als er mich so plötzlich holen ließ, ergriff ich den Revolver und nahm ihn mit.“ „Was dachtest du dir dabei?“ „Ich weiß nicht.“ Sie blickte hinunter auf ihre Hände, als wolle sie bei der Frage meinen Blick meiden. „Vielleicht war es unbewußt – mein zorniger Wunsch zu töten…“ „Komm mir bloß nicht mit freudschen Komplexen, Kind! Denn schließlich wußtest du damals doch noch gar nicht, daß dein Vater dich wegen deiner Verabredung mit Wilson sprechen wollte!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das nicht. Aber ich wußte, daß es dringend war, daß ich meine Arbeit stehen- und liegenlassen und sofort hinauflaufen sollte. Ich glaube, ich wußte, daß Vater mich schelten und daß auch Ed dabeisein würde, grinsend und immer auf dem Sprung, wie ein Tier, das auf seine Beute lauert.“ Sie schauderte und schlang die Arme umeinander. „Hast du ihn so sehr gehaßt, daß du den Revolver mit zu der Besprechung nahmst?“ „Hast du dich jemals vor jemandem wirklich gefürchtet, Johnnie? Nicht mit einer gewöhnlichen, normalen Angst – sondern mit einem Grauen, das dir bis ins tiefste Mark kroch? Ich wußte nicht, daß ich den Revolver hatte. Ich dachte, ich hätte meine Handschuhe mitgenommen. Es schien mir einfach ein geistesabwesender Irrtum. Ich dachte nicht einmal daran, bis ich hörte, daß Herr Wilson 234
mit genau so einem Revolver erschossen wurde.“ „Und du glaubtest, dein Vater hätte es getan?“ Sie nickte demütig. „Ich wußte nicht recht, was ich glauben sollte. Vater war so unlogisch wütend auf Herrn Wilson gewesen – ich sah keinen vernünftigen Grund dazu. Ehrlich, Johnnie, bis zu jener Nacht, bis zum Freitag, wußte ich nicht, daß Ed es gewesen war.“ „Und warum hat Munn Herrn Wilson getötet?“ „Er dachte, mein Vater wünschte es. Er dachte, Vater hätte mir gesagt, ich sollte den Revolver mitbringen. Aber, glaube mir, Vater hat nichts davon gewußt – er erfuhr es erst nachher. Ed Munn war verrückt.“ „Ja, so verrückt wie ein Fuchs!“ „Du hast ihn nicht gekannt. Er war…“, sie zögerte, suchte nach Worten, „er war wie ein Hund, der die Leute anfällt, die seinen Herrn zu bedrohen scheinen. Vater gibt zu, daß er zum Teil daran schuld ist. Er hat Ed zu groß werden lassen, hat ihm zuviel Macht gegeben und viel zuviel Verantwortlichkeit für einen Menschen von seinen immerhin sehr beschränkten Fähigkeiten!“ „Hübsche Theorie“, sagte ich. „Auch Munn hatte Angst“, sagte Eleanor. „Angst vor allem und jedem; jetzt, nachdem du mir erzählt hast, daß du vergiftet wurdest, während du an der Geschichte Wilsons für ‚W. u. V.‘ arbeitetest, fange ich an, es zu begreifen. Ed vermutete, du hättest etwas gegen ihn in der Hand. Er dachte vielleicht sogar, du arbeitetest für die Polizei. Du bist doch erst nach Wilsons Mord zu uns gekommen – siehst du die Zusammenhänge nicht?“ „Du magst recht haben, Munn kann diesen Verdacht gehabt haben“, sagte ich nervös. „Die Schuld kann einen Menschen zum Wahnsinn treiben. Aber stelle dir vor, ich wäre in der Nacht gestorben, und die Scheuerfrau wäre 235
nicht rechtzeitig aufgetaucht? Jede Leichenschau hätte die Spuren von Bi-Sublimat in meinem Körper erwiesen. Es hätten hier gerichtliche und polizeiliche Untersuchungen stattgefunden, und jemand hätte erwähnt, daß ich gerade an der Wilsongeschichte gearbeitet hatte. Wen hätte dein Vater dann bestochen? Und wie paßt er überhaupt in die ganze Theorie?“ Sie wandte sich ab. Ich sah ihren schmalen, zierlichen, gebeugten Rücken. Die Heizung war abgestellt worden, und die Temperatur im Büro näherte sich langsam dem Nullpunkt. „Ich weiß, daß dein Vater die Morde nicht selbst begangen hat“, sagte ich. „Er hat sie nur in Kauf genommen und verziehen. Bitte, stell dir vor, ich wäre damals gestorben. Dann hätte Noble Barclay diesen Mord mit einer vereitelten Liebesaffäre begründen können.“ Sie wirbelte herum. Mein schlechter Witz hatte sie gekränkt. Das hatte ich beabsichtigt. Ich hatte die ganze Sache satt, sie machte mich krank, ich war der Konflikte müde und ungeduldig durch die ewigen Unklarheiten. „Du brauchst mich nicht so anzusehen“, fuhr ich sie an, „ich weiß, daß ich dich verletze! Und, verdammt, ich will dich verletzen und werde dich so lange verletzen, bis ich weiß, wo du stehst, ob du auf meiner Seite bist oder ob du zu deinem Vater hältst!“ „Ich bin zu dir gekommen, weil ich dich um Hilfe bitten wollte!“ Eleanors Stimme war unsicher. Sie tastete an dem Verschluß ihrer Handtasche herum. Endlich bekam sie sie auf und zog ein Manuskript heraus, das mit Schreibmaschinenschrift auf gelbes Papier getippt war. „Was ist das?“ Müde strich sie die Locken zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren. „Ich möchte, daß du es liest“, sagte sie 236
und gab mir das Manuskript. Nach einem Augenblick hob sie die Hand und strich nochmals über ihr Haar. Es war eine trostlose Geste. Plötzlich drehte sie sich scharf um, ging hinaus und ließ mich allein im Büro zurück, mit den gelben Blättern in der Hand.
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Sechster Teil DIE KURZE GESCHICHTE DES HOMER PECK von Lola Manfred
„Mit dreißig Jahren war ich halb blind, halb taub, halb gelähmt und nur halb lebendig. Ich hatte alle Hoffnung auf Genesung und Erlösung aufgegeben, ich hatte nur noch ein Interesse: in schmutziger Trunkenheit das Nirwana zu finden. Und gerade damals fand ich wie durch ein Wunder das Licht! Es war nicht das göttliche Licht der Religion, nicht das weißglühende Licht der Wissenschaft – es war das einfache, vertraute Kerzenlicht der Wahrheit!“ „Mein Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay 1 Vor dreiundzwanzig Jahren lag in einem armseligen Sanatorium in Arizona ein junger Mann im Sterben. Er war bei allen beliebt, die sich dort aufhielten, denn seine Höflichkeit machte aus einer Scheuerfrau eine Herzogin, und er behandelte die abgearbeiteten Wärter wie Mitglieder eines vornehmen Klubs. Diese Großmut war das Produkt einer üppigen Phantasie. Der junge Kranke ließ der Phantasie in seinem Geist vollen Spielraum, aber er behielt immer genug Kontrolle darüber, um selbst die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung ganz genau zu erkennen. Er hatte die dreißig Jahre seines Lebens genossen und blickte mit unverhohlener Furcht dem nahen Tod entge238
gen. Als ehrgeiziger Mensch litt er darunter zu sterben, ohne Ruhm erworben zu haben. Sein Name paßte schlecht zu einer hervorragenden Rolle. Er hieß Homer Peck – ein Name, der eher in eine Rüpelkomödie gehörte. Seine Geschichte war die des Durchschnittsamerikaners, aus dem alltäglichen Garn gewoben; ihre Bestandteile, die Kindheit im Dorf, das ländliche College, seine frühen Kämpfe, paßten in die Biographie eines jeden Millionärs und eines jeden Gangsters. Mit achtzehn bekam er eine Stellung als Reporter an einer Chicagoer Zeitung. 1917 war er Feuer und Flamme für die Rettung der Demokratie, aber die Militärärzte entdeckten, daß das Fieber seines Patriotismus noch von seiner Körpertemperatur übertroffen wurde. Sie rieten ihm zu einem Jahr Bettruhe. Aber nach sechzehn Wochen brennender Ungeduld war er wieder an der Arbeit, dieses Mal bei einer Anzeigenagentur, wo seine Phantasie sich noch freier bestätigen konnte als im Büro der Chicagoer Tageszeitung. Im ersten Jahr der Prohibition war es Homer Peck, der einem burgunderfarbenen Mundwasser „das köstliche Aroma herbstlichen Weines“ zuschrieb, ein Parfüm „die Ouvertüre zu einer Romanze“ nannte und seine Behauptungen durch feierliche Gutachten von Kennerinnen wie Norma Talmagde und Theda Bara bestätigen ließ. Und kein anderer als er war es, der die Entdeckung machte, daß fünfundsechzig Prozent der Nation im geheimen Grimmdarm-Krüppel waren! Die magischen Anfangsbuchstaben G. K. eroberten das ganze Land. Von den schwersten Krankheiten heimgesuchte Menschen kamen einem wie Hypochonder vor, wenn man an die Qualen dachte, welche die armen Grimmdarm-Krüppel erdulde239
ten. Millionen schleppten ihre übelriechenden Leichname in die Apotheken und Drogerien und verlangten „Liberia, den Befreiungstrunk“. Noch heute, nach siebenundzwanzig Jahren, gehörten die Hersteller von „Liberta“ zu den reichsten Leuten des Landes, denn „Liberta“ ist die natürliche Essenz, die von der untragbaren Sklaverei befreit, die ein armer G. K. zu erdulden hat! In den Inseratenagenturen der Michigan Avenue wurde der Name Homer Peck mit Ehrfurcht ausgesprochen. Das junge Genie hätte ohne weiteres ein Jahresgehalt von zehntausend Dollar verlangen können. Aber das befriedigte Homer Peck nicht. Als eine entfernte Großtante starb und ihm ein sogenanntes hübsches Vermögen hinterließ, mit dem er sich als guter Bürger all den Sonnenschein und die Muße, die seine Krankheit erforderte, hätte kaufen können, zog er es vor, sich selbständig zu machen. Mit „Liberta“ hatte er Freiheit offeriert. In seiner eigenen neuen Branche bot Peck den sehnsüchtigen Tausenden, die wie er Rockefeller und Morgan beneideten und jede Nacht von Limousinen und Ozeanjachten träumten, den heißersehnten Erfolg! Erfolg, eine so gangbare Ware, konnte schließlich nicht schwerer zu verkaufen sein als ein Abführmittel. Peck wußte genau, nicht das milde Laxativ „Liberta“ hatte Tausende von Anerkennungsschreiben hereingebracht, sondern sein „Handbuch der Freiheit“, das den Käuferkreis in pseudowissenschaftlicher Sprache lehrte und anspornte, seine Furcht vor Verstopfung zu überwinden. In seinem neuen Unternehmen wollte Peck nun sein „Handbuch“ zu einem Korrespondenzkurs erweitern; fünf Dollar Anzahlung, fünfzehn Monatsraten zu fünf Dollar, alle vierzehn Tage eine schriftliche Unterweisung – und der Kunde hatte statt Freiheit von 240
Verdauungsbeschwerden nunmehr Freiheit von wirtschaftlichem, geschäftlichem und persönlichem Versagen erstanden. Peck schrieb seine Lehrbriefe in der ersten Person und in dem vertraulichen Stil, der den Lernenden fühlen läßt: sein Lehrer und Meister ist zugleich sein bester Freund. Aber wer würde sich an einen Meister namens Homer Peck halten? Und so wurde im Juli 1920 Warren G. Wilson geboren, aus einer Wahlkampagne zwischen zwei Präsidenten, unter der Patenschaft eines Postauftragsagenten. In den Lektionen, der Korrespondenz und selbst in den Lehrbriefen zeigte sich Wilson nicht als fischäugiger, kaltblütiger Kapitalist, sondern als gutmütiger, warmherziger Lehrer, der niemals mit den guten Ratschlägen kargte, die er seinen Schülern erteilte. Und daß er es mit den Zahlungen genau nahm, geschah nur, weil er wünschte, jeder Lernbeflissene möge rechtzeitig die Grundsätze des ehrlichen Geschäftes kennenlernen! Trotz des hochtrabenden Namens und der häufigen Hinweise auf eine Körperschaft war das Warren-G.Wilson-Unternehmen eine Einmanngründung. Auf der Höhe seines Daseins beschäftigte er sechs Leute: vier Stenotypistinnen, einen Laufjungen und Pecks ergebene, neunzehnjährige Sekretärin. Nachdem er zweiundzwanzig Lektionen geschrieben hatte, fing die Technik des Handelns an, Homer Peck zu langweilen. Er erweiterte die Interessensphäre Wilsons, lehrte seine Schüler, daß der geschäftliche Erfolg nicht alles sei, daß Millionäre oft unglückliche Menschen seien und daß das Wort Erfolg eigentlich etwas anderes bedeutete, nämlich die Kunst zu leben. Die Lektionen XXIIIXXX waren reichhaltig und behandelten die „Herrschaft über das Ich“, die „Befreiung von Hemmungen“, das 241
„Ich im Ich“ und das „Du im Du“, „Die fundamentale Bedeutung der Wahrheit“, „Die Kunst, sich selbst frei ins Auge zu sehen“ und die „Reinigung des Geistes, des Herzens und der Seele“. Als die XXX. Lektion gedruckt und in imitiertem Leder gebunden war, waren die Wangen des armen Homer noch hohler geworden, weil er ständig nachdenklich an ihnen saugte. Nein, das war der verkehrte Geist. Ein richtiger Anzeigenagent hat selbst Ehrfurcht vor den Qualitäten des Cold Cremes, des Knäckebrotes, des Schmiermittels, das er anpreist. Aber Peck besaß weder die Geduld noch die Pietät, an das Werk zu glauben, dem er soviel von seiner Zeit, seinem Geld und seiner Gesundheit geschenkt hatte. Als das Geschäft anfing, sich wirklich zu rentieren und das Geld wieder hereinzubringen, das in Druck, Platten und Reklame investiert war, hatte Homer Peck genug. Er ließ das Geschäft einfach fallen. Die restliche Büromiete wurde bezahlt, das Mobiliar verkauft, und Warren G. Wilsons glorreiche Laufbahn war beendet. Peck versuchte nicht einmal, das Copyright, den Satz und die Idee zu verkaufen. Seine Sekretärin liebte ihn. Wenn sie nicht damit zu tun hatte, Warren G. Wilsons Geschäften nachzugehen, schrieb das feurige, schlanke, dunkelhaarige Mädchen zarte Vierzeiler und schwungvolle Sonette – H. P. gewidmet. Sie trank mit Peck zusammen Cocktails aus einer Kaffeetasse, wie es die Prohibition vorschrieb, tanzte zu schmachtender Musik in den Kellernachtklubs, ging Hand in Hand mit ihm am Seeufer spazieren und rezitierte Edna St. Vincent Millay, Shakespeare und Blake. Das Mädchen war voll leidenschaftlicher Liebe bereit, seine Geliebte zu werden, aber Peck war tuberkulös. .Sein einziger Kuß traf ihr rechtes Ohr – an dem Tage, als er nach 242
Arizona abreiste, und sie ging, dreihundert Dollar von seinem Geld in der Tasche, nach Greenwich Village, um sich ins volle Menschenleben zu stürzen. Peck fand das Sanatorium in Arizona trist – es war ein Ort, der mit Hypochondern und kränklichen, ungebildeten Leuten vollgestopft war, die keine andere Unterhaltung kannten als die endlose Aufzählung ihrer Krankheitssymptome. Er las viel. „Ich interessiere mich“, so schrieb er an das Mädchen in Greenwich Village, „in der Hauptsache für Philosophie, Religion und Religionsgeschichte, Psychologie und Psychoanalyse. Ich habe alle bekannten Veröffentlichungen der Wiener Analytiker gelesen, aber ihr Stoff ist zu hochtrabend. Was dieses Land braucht, ist eine gute Fünf-Cents-Philosophie, mit einer reichlichen Dosis altmodischem Mystizismus gemischt. Man kann die Macht der Suggestion gar nicht überschätzen.“ Das war 1922, als das Coué-Fieber anfing, das Land zu erobern. „Eine neue Patientin“, schrieb Peck an das Mädchen, „hat uns die trostreiche Geschichte jener Frau D. aus Troyes mitgebracht, die von der Schwindsucht im allerletzten Stadium geheilt wurde. Acht Monate, nachdem sie Coué kennengelernt hatte, schrieb sie ihm, daß sie nicht nur geheilt, sondern auch in anderen Umständen sei. Unsere neue Patientin seufzte (wohl in der Hoffnung, einem aufgegebenen Patienten etwas Ermutigendes zu sagen). ‚Ein Wunder, Herr Peck! Warum versuchen Sie es nicht mit Autosuggestion? An Ihnen kann dasselbe Wunder geschehen!‘ Ich antwortete: ‚Madame, es ist zwar vorstellbar, daß ich von der Tb geheilt werde –, aber wenn mir das gleiche geschehen sollte wie dieser Frau D. – nämlich daß ich in andere Umstände käme –, das wäre wirklich ein Wunder!‘ „ Trotzdem interessierte er sich im stillen für Coués Me243
thode und ließ sich die „Meisterung des Ichs durch Autosuggestion“ schicken. Die Einfachheit verblüffte ihn geradezu. Als er den dünnen Band ausstudiert hatte, kam er zu dem Schluß, daß diese Einfachheit das ganze Geheimnis war. Die Heilung durch den Glauben mußte einfach sein. Die Natur des Wunders liegt nicht in dem heiligen Amulett, nicht in den Händen des Priesters, der Hexe oder des Arztes, nicht in den Worten des Gebets, sondern in der Natur des Menschen, der das Wunder sucht. Nur durch die Kraft seines Glaubens kann sich ein Mensch selbst heilen. Homer Peck fand, das Sanatorium sei ein äußerst bequemes und handliches Laboratorium. Es war nicht ausschließlich für Tb-Kranke eingerichtet. Jeder Patient wurde aufgenommen, dessen Familie die monatliche Pension bezahlen konnte. Hier fand Peck Frauen, die das Sanatoriumsbett dem ehelichen Lager vorzogen, und Männer, die den ewigen Wettbewerbskampf einer Welt nicht ertrugen, in der es die schlimmste aller Sünden war, nicht reich zu werden. Während er sie studierte, wurde Peck freundlich zu den Kranken, die er zuerst verächtlich behandelt hatte. Er wurde vertraut mit ihren Voreingenommenheiten und mit ihren Leiden und Schmerzen, er stellte Fragen und bekam die verblüffendsten Antworten über Eltern, Ehefrauen und Ehemänner, Chefs und sexuelle Partner dieser wie jener Art. Er verzeichnete alles säuberlich in seinem Notizbuch. Wären seine Absichten ehrlich gewesen, so hätte Peck einen vollwertigen Beitrag zum Studium der zeitgenössischen Neurotik liefern können. Aber er hatte die lügenhafte Schule des Reklamewesens hinter sich. Nicht weniger als Warren G. Wilsons liebe Studenten war auch Homer Peck das Opfer des 244
Dranges, Millionär zu werden. Und in diesem Geiste begann er sein Buch zu schreiben. „In gewisser Weise“, teilte er seiner Freundin in Greenwich Village mit, „will ich die Vorzüge des ‚Liberta‘-Handbuches mit Wilsons .Innerer Triebkraft‘ verbinden. Aber ich will einen neuen Zug hinzufügen: Der Patient soll lernen, sich selbst zu heilen, indem er nach der Wurzel seines Übels gräbt. Ich denke an eine Beichte, die vertraut und gewissermaßen behaglich ist, und es soll keine Sündenliste und keine vorgeschriebenen Sühnen geben. Ich werde das Buch ‚Bekenntnis und Suggestion‘ nennen. Ich will eine Formel finden, die der Patient (oder Novize) sich immer wieder vorbetet, bis er sich eine Art von Hypnose einflößt. Ich weiß noch nicht, soll ich zehn oder zwanzig Wiederholungen vorschreiben – wahrscheinlich ist eine ganz nebensächliche, aber mystische Zahl am geeignetsten. Die Wiederholung der Formel wird der erste Schritt sein. Der zweite ist schon aufregender – es ist die Vermählung der Autosuggestion mit der Psychoanalyse. Wenn der Patient sich selbst mit der Formel hypnotisiert hat, legt er sich auf ein Ruhebett, schließt die Augen und redet – genau: plappert – laut. Alles, was ihm gerade durch den Sinn geht, unzensiert, ohne Scham, ohne Zusammenhänge, und das alles führt auf die Spur seiner Schuld. Es macht nicht viel aus, ob er jemals bis zu der Wurzel kommt. Wahrscheinlich wird ihm das nicht glücken. Das einzige, worauf es ankommt, ist, daß er sich selbst geheilt glaubt. Der Glaube ist das Amulett, der Prüfstein, der Zauber. Mit welchem Namen soll ich das Buch zeichnen? Kann ein Mensch einem Messias folgen, der Homer Peck heißt? Hast du eine gute Idee? Der Autor muß geheimnisvoll sein und im Dunkel bleiben – denn es wäre pein245
lich, wenn es an die Öffentlichkeit käme, daß er nicht fähig war, sich selbst zu heilen.“ Im Dezember 1923 war das Buch vollendet. Das Mädchen in Greenwich Village war die erste, die es las. Sie konnte nicht glauben, daß Peck erwartete, man könne es ernst nehmen. Um aber dem Kranken ihren guten Willen zu zeigen, reichte sie es drei Verlegern ein, die es prompt ablehnten, und gab es dann einer klugen literarischen Agentin zu lesen, die sich weigerte, ihre Hände mit solchem Unflat zu beschmutzen. Während das Mädchen an seinen Fingernägeln kaute und am Bleistiftstummel knabberte und grübelte, wie sie Homer die traurige Nachricht beibringen sollte, bekam sie ein Telegramm von ihm. Es lautete ungefähr: GROSSE NEUIGKEIT STOP EIN WUNDER IST IN ARIZONA GESCHEHEN STOP MEINE METHODE IST ERFOLGREICH STOP INFORMIERE VERLEGER ICH KANN NICHT UNTER FÜNFZEHN PROZENT ABSCHLIESSEN STOP WARUM KEINE NACHRICHT VON DIR STOP WERDEN BALD REICH SEIN STOP IN LIEBE IMMER DEIN HOMER Das Mädchen dachte, Peck sei seiner eigenen Phantasie zum Opfer gefallen, er habe sich selbst den Glauben suggeriert, daß seine armen Lungen ausgeheilt seien. Sie war ein weichherziges Ding und konnte sich nicht überwinden, seine Begeisterung mit dem Telegramm zu beantworten, kein anständiger Agent oder Verleger wolle sein Buch auch nur mit der Feuerzange anfassen. Im übrigen war gerade ein Mann da, der sie gern heiraten wollte. Er ging nach Paris. Zwölf Stunden nach Pecks Tele246
gramm war sie verheiratet und weitere sechs Stunden später auf dem Wege nach Frankreich. Am nächsten Morgen reinigte ihre Wirtin das Zimmer. Im Kamin fand sie ein Häufchen schwarzer Asche. Und das war alles, was übrigblieb von Homer Pecks leuchtendem Traum – von dem Buch, das ihn zu einem neuen Messias machen sollte. 2 Wenn das Mädchen glaubte, ein eingefleischter Materialist wie Homer Peck könne an seinem, eigenen unwürdigen Fleisch ein Wunder vollbringen, so war sie ein schlechter Menschenkenner. Das Buch, das dazu bestimmt war, den Kranken Gesundheit zu bringen, kostete den Autor viel von seiner eigenen Kraft. Er brannte in einem immerwährenden Fieber und hustete, bis seine Lungen nur noch ein Filigrangewebe von Narben waren. Aber das erschütterte seinen Glauben an seine Methode nicht. Zwar verließ ihn seine letzte Kraft, zwar hatte er sein Mädchen verloren, zwar kam kein Wort der Ermutigung von den New-Yorker Verlegern – aber Homer Peck war Zeuge eines Wunders geworden. Ein siebenundzwanzigjähriger periodischer Trinker war in das Sanatorium gekommen, der überzeugt war, die Welt wäre besser dran, wenn sie von ihm befreit sei. Er war ein junger Mann von großem Charme, der, wenn er es darauf angelegt hätte, selbst einen heiligen Antonius zur Sünde oder den Teufel zur Heiligkeit herumgekriegt hätte. Seine trunkene Verworfenheit hatte seiner armen Mutter das Herz gebrochen und seine junge Frau in einen solchen Abgrund von Verzweiflung gestürzt, daß sie ihrem Leben durch Gift ein Ende machte. Sein Name war Noble Barclay. Im Jahre 1917, als alle körperlich einigermaßen 247
brauchbaren jungen Männer zu den Waffen gerufen wurden, war Noble Barclay bereits so weit auf dem Wege zur Hölle, daß die Armee nichts von ihm wissen wollte. Für eine kurze Zeit ernüchterte ihn die Schande. Verlegen, weil er nicht Soldat sein durfte, erklärte Noble, daß er seinem Vaterlande in einer wichtigeren Sparte diene. Und um dieser Lüge Glaubwürdigkeit zu geben und außerdem das schwere Geld zu verdienen, das die Kriegsindustrie damals zahlte, nahm er eine Stellung an, die er anderenfalls als unter seiner Würde, unter seiner Klasse und seiner Herkunft angesehen hätte. Es war nicht das kleinste seiner Talente, daß er alles glauben konnte, was er mit eigener Stimme aussprach, und es dauerte nicht lange, bis Noble Barclay wirklich glaubte, er brächte weit größere Opfer als die Jungen in Khaki. Durch diese Haltung errang er sich eine Frau. Sie war ein schönes Mädchen – aber ernsthaft, idealistisch und überzüchtet. Ihre Familie billigte des Bräutigams Herkunft, Erscheinung und Namen, akzeptierte seine Geschichte von geheimen Kriegsaufträgen und bereitete ihm eine feierliche und festliche Hochzeit. Es gab Champagner – und das war Barclays Unglück. Er hatte sich ein halbes Jahr nüchtern gehalten – und er glaubte, es würde ihm weniger schaden, ein Glas auf das Wohl seiner jungen Frau zu trinken, als seine Schwäche einzugestehen. Aber es gab viele Toaste, und nachdem Barclay alle älteren Verwandten unter den Tisch getrunken hatte, fehlte nicht mehr viel, und er hätte sich mit seiner Brautjungfer unmöglich gemacht. Mary Eleanor war ein stilles Mädchen. Die Geschichte ihrer Brautnacht wurde nie bekannt, aber sie muß ziemlich schrecklich gewesen sein, denn ihre sofortige Verwandlung war nicht zu übersehen. Ihre wilde, etwas 248
überspannte Anbetung wurde zu einem eisigen Hinnehmen der Tatsachen. Sie belog ihre Eltern, und es gelang ihr, ihnen mehrmals die Tatsache fernzuhalten, daß der junge Ehemann fast ständig betrunken war. Die Familie kam erst zu der Erkenntnis, daß es faul um Noble Barclay stand, als sie erfuhr, daß der geheimnisvolle Kriegsauftrag eine Lüge war und daß Noble Barclay zwischen ungebildeten Polen und Tschechen und Italienern einfach eine Maschine bediente. Sie waren alle erleichtert, als an jenem Neujahrsabend die Prohibition wieder zum nationalen Gesetz wurde. Barclay Selbst sah seine Rettung darin und feierte sie mit einer Limonadengesellschaft, bei der die Familie seiner Frau ihren alten Portwein und Rheinwein um seinetwillen verschmähte. Es gelang ihm, ein Jahr nüchtern zu bleiben, aber als er seine Stellung verlor und nicht so schnell eine neue finden konnte, suchte er Trost in einem verbotenen Nachtlokal. Der Alkohol wurde immer schlechter und teurer. Das hielt ihn nicht vom Trinken ab. Im Gegenteil, er schien ein perverses Vergnügen daran zu finden, die Einkünfte seiner Frau in schlechtem Gin zu vertrinken. Während ihrer Schwangerschaft war Mary Eleanor die Liebe ihres Gatten erspart geblieben, aber eines Nachts – es war im Mai, und ihre kleine Tochter war drei Monate alt – forderte Barclay seine Rechte als Ehemann. Mary Eleanors Fügsamkeit war zu Ende – sie warf sich ihm wie eine Wildkatze entgegen. Sie kämpften. Es war kein Streit, sondern ein regelrechter Kampf des Stärkeren gegen den Schwächeren, der damit endete, daß er sie schlug und mit Gewalt nahm. Er ließ sie auf dem Boden liegen, wo sie sich wand und hysterisch lachte, und ihm war, als verfolge ihn ihr Lachen durch das Haus und die Straßen 249
und bis zur Tür seiner nächtlichen Kneipe. Vier Tage später entdeckte man ihn bewußtlos im Zimmer einer verärgerten Hure und erzählte ihm, daß seine Frau sich getötet habe. Die Familie ließ ihn nicht zum Begräbnis kommen, verschloß ihm ihre Tür und ging auf die andere Straßenseite, wenn er des Weges kam. In den nächsten zwei Jahren arbeitete er mit Unterbrechungen und trank ohne Unterbrechung. Es amüsierte ihn, seine ehrbare Schwiegermutter zu quälen, nachts an ihrer Hausglocke zu läuten, Strolche in ihren eleganten Salon zu bringen und alle halben Jahre einen Skandal zu provozieren, indem er um die Vormundschaft über seine Tochter klagte. Im September 1923 brachte er sich der Familie seiner Frau ins Gedächtnis, als man ihn bewußtlos auf den Stufen des Kapitols fand, wo er in trunkenen Schlaf gefallen war. Als er sich von seiner Lungenentzündung erholt hatte, verfrachtete ihn die Familie nach Arizona. Die Ärzte, die das Sanatorium leiteten, waren weniger darauf bedacht, ihre Patienten zu heilen, als sich ihre zahlenden Gäste zu erhalten. Barclay erholte sich zu rasch, um viel Geld an seiner Kur zu verdienen. Also ließen sie ihm eine tägliche Dosis vom ordinärsten Gin zukommen, was sie in die Lage versetzte, seinen Verwandten eine monatliche Rechnung für Zimmer, Verpflegung, Behandlung und Extraaufwendungen zu schicken. Wäre Homer Peck nicht gewesen, so hätten sie Barclay dabehalten, bis seine Leber zersetzt war. Noble Barclay war Homer Pecks Meerschweinchen. Barclay war verzweifelt; einsam, schuldbewußt und dankbar für jedes freundliche Wort. Peck erzählte ihm von seiner neuen Methode, las ihm Absätze aus „Bekenntnis und Suggestion“ vor. In dem dämmerigen Zim250
mer – die Vorhänge waren gegen die Wüstensonne zugezogen, die Stille so intensiv, daß man sie fast greifen konnte – lag Barclay auf Pecks Bett und wiederholte die Formel, bis sein großer Körper sich zu winden begann, seine Lippen zuckten – und dann fing er an, die Geheimnisse seiner gemarterten Seele auszuschütten. Sie waren jämmerlich billig und gewöhnlich und schmutzig – Dinge, wie sie normale Jungen an Zäune und Wände schreiben. Aber Barclays Mutter hatte ihn „Noble“ genannt. In einem Zimmer, dessen Wände mit Burne-Jones und Watts-Reproduktionen geschmückt waren, hatte sie ihm „Idylls of a King“ vorgelesen und ihm eingeschärft, die schwärzeste aller Sünden sei die Wollust? Sie nannte sie nur „diese tierische Leidenschaft“. Als der Knabe ins Pubertätsalter kam und mit den anderen jungen Burschen herumstrich, lauschte er tiefunglücklich ihren Prahlereien. Groß gewachsen, muskulös, tölpelhaft und schüchterner als eine Dorfschöne, verwünschte er den albernen Namen, den ihm die Mutter gegeben hatte. Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr rührte er keine Frau an und war unglücklich dabei, und als er schließlich zu einer Hure ging, überzeugte ihn dieses Erlebnis, daß seine Mutter recht gehabt hatte, als sie von einer widerlichen und tierischen Sache sprach. Die Erfahrung kühlte aber sein Blut nicht ab, und er war schließlich überzeugt, daß er eine Art von Doppelleben führte wie Jekyll-Hyde, zwischen Edelmut und Bestialität schwankend. In seinem ersten Collegejahr entdeckte er den Alkohol. Vier Universitäten relegierten Noble Barclay. Aus Dartmouth floh er fünf Minuten vor seiner Verhaftung wegen ausgeübter Notzucht, was eine bittere Ironie war, denn die in Frage stehende Frau war eine stadtbekannte 251
und üble Prostituierte. Wäre die Sache nicht so tragisch gewesen, so hätte man eine Posse darüber schreiben können. Dieser baumstarke, torkelnde Don Juan, der so hübsch war, daß ihm die Frauen auf der Straße sehnsüchtig nachstarrten, war in Liebessachen unwissend wie ein Säugling. Da er den Liebesakt tierisch fand, benahm er sich tierischer als ein Tier. Er hatte niemals einen Kursus für Sexualhygiene mitgemacht, hatte kein Buch darüber gelesen, hatte sich im Physiologieunterricht sozusagen Scheuklappen umgebunden und konnte kein Gerippe sehen, ohne zu erröten. Hier war wirklich ein Wunder fällig. Barclay war zu überzeugt von seiner angeborenen bösen Sündhaftigkeit, als daß eine einfache Aufklärung über den Ursprung seiner Sünden ihm hätte helfen können. Pecks Methode war seinen Nöten sozusagen auf den Leib geschrieben. Es war das Glaubensbekenntnis des egozentrischen Mannes, eine nette, billige Religion, die sich nicht die Mühe nahm, sich um Gott zu kümmern. Und sie wirkte Wunder! Die Ginflaschen in Barclays Zimmer häuften sich – unangetastet, weil er kein Verlangen danach hatte. Ohne die Hilfe des Alkohols fand Barclay eine leichtlebige, stark erotische Pflegerin als Bettgenossin, die sich ein Vergnügen daraus machte, bei der Erziehung des hübschen Patienten behilflich zu sein. Barclays Dankbarkeit war überwältigend. Damals wäre ihm kein Opfer zu groß gewesen, um seine Ergebenheit zu beweisen. Als er schon längst genesen und aus dem Sanatorium entlassen war, konnte er sich nicht von seinem Freunde trennen. Nicht weniger sehnsüchtig als der Verfasser erwartete Barclay die Nachricht, daß sich ein Verleger für „Bekenntnis und Suggestion“ gefunden hätte. Barclay war ein echter Gläubiger. Er biß sich nicht 252
auf die Lippen und sog nicht an seinen Wangen – er glaubte viel inbrünstiger als Peck, daß die Welt nur auf die große Botschaft warte. Eines Tages war Pecks Geduld erschöpft. Großspurig meldete er ein Ferngespräch mit der Pension an, in der das Mädchen in New York gewohnt hatte. Dieselbe Wirtin, die damals die Asche seines Buches aus dem Kamin in ihren Mülleimer geworfen hatte, informierte ihn nun, daß das Mädchen verheiratet und nach Paris abgereist sei, wo nach ihrer Ansicht solche Flittchen hingehörten. Peck war wie erschlagen. Er hatte nie viel nach der Liebe des Mädchens gefragt, aber er hatte ihren Ergüssen geglaubt und war nun bitter gekränkt, daß sie sein Werk so verantwortungslos behandelt hatte. In dieser Stunde war es der Schüler, der den Meister tröstete. Eine Woche später machte sich Noble Barclay auf nach New York. In seiner Aktentasche waren zweihundert Dollar von Pecks Geld und der Durchschlag seines Buches. 3 Als Barclay den Zug nach Osten bestieg, war der Zweck seiner Reise, einen Verleger zu finden, günstige Bedingungen für Peck auszumachen und die frohe Botschaft zu verkünden. Aus Dankbarkeit für seine Heilung hatte sich Barclay erboten, Pecks Interessen zu vertreten, und als Peck von einer prozentualen Beteiligung sprach, war Barclay geradezu zurückgezuckt. Wie alle Neubekehrten war auch Barclay besessen von dem Eifer, Proselyten zu machen. Es war Frühling, und der Zug nach Osten führte viele Halbgenesene mit, die nach einem Winter in Arizonas Sonne wieder heimeilten. Während sich die Herren in den Raucherabteilen schlüpfrige Geschichten erzählten, war der Aussichtswagen vol253
ler Damen, die sich die verschiedenen Besonderheiten ihrer zahlreichen Leiden anvertrauten. Das war fruchtbarer Boden für Barclay. Er verstand es, auf die Damen anziehend zu wirken. Selbst in den Tagen vor seiner Bekehrung hatten sie ihm auf der Straße nachgesehen. Jetzt war er gesund und strahlend, von der Sonne gebräunt, mit dunklem, welligem Haar und dem ersten Silber an den Schläfen – und nun brauchte er nur mit der Wimper zu zucken, und die stärkste Frau wurde schwach. „Hätte mich ein anderer Mann so unbescheiden angesprochen, ich hätte glatt um Hilfe gerufen“, schrieb Fräulein Hanna Maierdorf mehrere Jahre später über ihr Abenteuer in der Eisenbahn. „Aber Noble Barclay wirkte weit eher wie ein Priester als wie ein Abenteurer. Er erzählte uns ohne jede Beschönigung die Geschichte seines sündhaften, furchtbar unglücklichen Lebens. Alle Damen waren erschüttert, und einige von uns sprachen Dinge aus, die sie bisher verborgen hätten wie die Freimaurer ihren heiligen Schrein.“ Fräulein Maierdorf war dazu berufen, in diesen Wendungen zu sprechen, denn ihr Bruder war in Mansfield, Ohio, Meister vom Stuhl einer sehr bekannten Freimaurerloge. Seit Jahren war Fräulein Maierdorf ein Opfer der Schlaflosigkeit. „Weder die Pillen noch Tropfen, die mir die berühmtesten Ärzte empfahlen, nicht einmal die tiefe Stille der Wüste schenkten mir die Segnungen des Schlafs“, bekannte sie weiter. „Aber in dieser Nacht – der Zug ratterte, und die Lokomotive stampfte, und die schrille Pfeife ertönte immer wieder, alles war voller Lärm und Unruhe – in dieser Nacht schlief ich fest und friedlich wie ein Kind.“ Auch eine von Asthma geplagte Patientin war (nach Fräulein Maierdorfs Bericht) im Zug. „Sie hörte plötzlich auf zu stöhnen und zu wimmern und 254
ist seither eine kräftige, normale und gesunde Frau!“ Frau Horatio Beach aus Kansas City war so tief beeindruckt, daß sie den jungen Mann flehentlich bat, sich ein paar Tage in ihrem Hause aufzuhalten und ihre Tochter zu heilen, die an einem Hüftleiden krankte. Barclay ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluß, daß einige Tage Verzögerung Homer Peck nichts schaden konnten, während die Protektion einer reichen Dame ihm vielleicht sehr nützlich wäre! Außerdem hatte die Matrone eine empfindsame Tochter mit einem Namen wie lauter Sommer und Sonne – Rosetta Beach. Die Beachs lebten in einem normannischen Schloß, tief in einem großen Garten. Noble Barclay sprach zu einem erlesenen Auditorium von Homer Peck, von dem Buch, das die Welt erschüttern würde, von seinen eigenen Sünden und Verfehlungen, seinem Elend, dem Leiden seiner unglücklichen Mutter, dem Tod seiner jungen Frau, von seinen Beziehungen zu Frauen, seiner Trunkenheit und Entwürdigung und endlich von seiner Wiedergeburt. Die Offenheit, mit der er die letztgenannten Themen behandelte, war so anreizend für Frau Beachs Freundinnen, daß viele um eine private Konsultation baten. Um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei hier erwähnt, daß Barclays Absichten mehr therapeutischer als erotischer Natur waren. Es war nicht seine Schuld, daß einige Damen buchstäblich aufhörten zu atmen, wenn sie mit ihm allein waren. Seine Erfahrung wuchs, seine Technik besserte sich, und schließlich konnte Barclay nicht umhin zu bemerken, daß die Damen apathisch waren, wenn er Pecks Loblied sang, aber in helle Aufregung gerieten, sobald er seine eigene Geschichte erzählte. Es war nur natürlich, daß er 255
diesen soviel mehr geschätzten Teil immer weiter ausschmückte, bis endlich sein Hinweis auf Homer Peck ebenso kurz wurde, wie er fadenscheinig war. Rosetta Beach war die erste, die es merkte. Als sie eines Tages zornig auf ihn wurde, warf sie es ihm vor. Barclay hatte einen ganzen Abend damit verbracht, Rosettas bester Freundin, einer neurotischen, aber sehr hübschen Debütantin, seine Hilfe angedeihen zu lassen. „Es wird gar nicht mehr lange dauern, Noble, bis Sie Peck vollständig auslassen und behaupten, Sie selbst hätten die Befreiung durch Wahrheit erfunden!“ Er fuhr zurück. „Sie haben mich mißverstanden!“ „Nun, jedenfalls erwähnen Sie ihn kaum noch.“ „Ich habe nie daran gedacht – und ich werde nie daran denken, meine tiefe Schuld meinem Wohltäter gegenüber zu verschweigen!“ Wenige Tage später fand Barclay, daß er lange genug in Kansas City gesäumt hatte. Die Zeit war nicht verschwendet, denn beim Umsetzen der Theorie in die Praxis hatte Barclay einige schwache Punkte entdeckt. „Kein Wunder, daß kein Verleger das Buch haben wollte“, sagte er zu Rosetta, als sie ihn reuig zur Bahn fuhr. „Es gehört noch eine Menge Arbeit dazu. Ich beabsichtige, die Lehre etwas zu erweitern und ein paar Experimente auszuarbeiten, ehe ich es wieder zu einem Verleger bringe. Damit kann ich wenigstens“, fügte er ernsthaft hinzu, „einen kleinen Teil meiner Schuld an Homer abtragen.“ 4 Als nach zwei Jahren die Freundin Pecks zurückkehrte – sie war geschieden und hatte Paris verlassen –, schrieb sie einen reuigen Brief und bat Homer, ihr ihre Schwäche zu verzeihen, sie habe es damals nicht über sich gebracht, ihn wissen zu lassen, daß kein Verleger 256
das Buch haben wollte. Der Brief kam an die Absenderin zurück. Auf dem Kuvert stand in frischer schwarzer Tinte: „Weilt nicht mehr bei uns.“ Vielleicht hatte auch Barclay unter der Adresse des Sanatoriums an Peck geschrieben; vielleicht war auch sein Brief mit diesem Begräbnisvermerk zurückgekommen. Jedenfalls glaubte er Peck tot. Wenigstens wollen wir barmherzigkeitshalber voraussetzen, daß diese Vermutung Barclay veranlaßte, das Buch mit seinem Namen zu zeichnen. Und als Peck selbst die Fälschung entdeckte, ging er auch zunächst von dieser Annahme aus. Damals war das Buch schon über ein Jahr im Handel, und eine Dreiviertelmillion Exemplare war bereits verkauft. Peck hatte nichts davon gehört, da er sich völlig von der Welt zurückgezogen hatte. Enttäuscht über die Treulosigkeit seines Mädchens, verzweifelt, weil keine gute Nachricht von Barclay eintraf, war er noch tiefer in die Wüste gegangen. Die Sanatoriumsärzte waren froh, diesen unbequemen Patienten loszuwerden, der die gut zahlenden unheilbaren Patienten kurierte. Vielleicht war die boshafte Behandlung seiner Post die Rache der Ärzte. Da dieses Sanatorium aber immer verschlampt und nicht auf der Höhe war, lag es vielleicht auch nur an der gewohnten Gleichgültigkeit, daß alle Briefe an die Adresse Homer Pecks mit dem makabren Vermerk „Weilt nicht mehr bei uns“ zurückgingen. Er war nach Neumexiko gezogen und hatte dort in einem einsamen Haus in der Wüste gewohnt, nur von einer alten Indianerin bedient, die dem Gerücht nach eine Hexe war. Einmal kam er – was sehr selten geschah – nach Albuquerque, um einige Besorgungen zu machen, und kaufte sich dort die letzte Nummer des „Amerikanischen Merkur“, und als er ihn abends im Bett studierte, stieß er 257
auf einen Artikel von J.S.D. Blackfort mit der Überschrift: „Das seltsame Phänomen – Noble Barclay“. Am nächsten Tage ratterte in aller Morgenfrühe Pecks alter Ford wieder nach dem Bücherladen in Albuquerque, und Peck stürzte geradezu hinein, um einem erstaunten Verkäufer den Auftrag zu geben, ihm umgehend ein Exemplar von „Mein Leben ist Wahrheit“ zu bestellen. Der Verkäufer brauchte nur die Hand auszustrecken und von einem ganzen Stapel dieser Neuerscheinung ein Exemplar herunterzunehmen. Den Rest des Morgens verbrachte Peck lesend in seinem geparkten Wagen. Barclays Bestseller war im wesentlichen Homer Pecks Manuskript „Bekenntnis und Suggestion“. Es war nur wenig verändert worden. Pecks rechtfertigendes, halb wissenschaftliches, halb humorvolles Vorwort war verschwunden. Kein Wort wies mehr auf die Wissenschaftler und Glaubensheiler hin, Pecks listiger Humor war ausgemerzt. Der Humor war nämlich Pecks größter Fehlgriff gewesen. Wer würde einem witzigen Messias folgen? Sobald man einmal lachen mußte, fiel „Bekenntnis und Suggestion“ wie ein Kartenhaus zusammen. Barclay hatte Pecks Vorwort durch seine sensationelle „Einführung“ ersetzt, in der er die ganze Geschichte seiner Jugend berichtete – seine Sünden, seinen Fall und seine Wiedergeburt. Jeder Schimmer von Humor war aus dem Text wie aus dem Vorwort verbannt. Die heitere Prosa war feierlich geworden. Pecks zaghafter, tastender Titel war fallengelassen, der Name seiner Philosophie ausgewechselt worden – sie hieß jetzt einfach und dramatisch „Befreiung durch Wahrheit“*. * Nach ihren eigenen Angaben erfand nicht Noble Barclay, sondern Rosetta Armistead geborene Beach die Worte Befreiung durch Wahrheit.
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Als ehemaliger Erfolgshascher, als reformierter Genießer phantastischer Träume erkannte Peck sehr wohl die praktischen Verbesserungen. Barclays Veränderungen hatten die Wahrheit nicht nur verklärt, sondern servierten sie in appetitlichen Portiönchen, gut gewürzt und hübsch angerichtet, zwischen den Rosinen der Sünde und den Mandeln der Sexualbeziehungen. Es gab keine Entschuldigungen, kein Ausweichen. Da standen in derber Holzschnittmanier häßliche Worte, und wenn man beim Lesen durch ein leises Schamgefühl gestört wurde, so brauchte man nur zurückzublättern zu Seite 10 und n der „Einführung“, und schon ging es einem wie Noble Barclay: Niemand anderer als die Eltern hatten schuld, daß es solche Worte gab – warum hatten sie einem nicht gesagt, daß das Leben schön ist? Barclays „Mein Leben ist Wahrheit“ wurde nicht etwa von einem alten, bekannten Verlag auf den Markt gebracht. Die Firma Ordmann & Co., unter den Gesetzen des Staates Maryland gegründet, gehörte gemeinsam Noble Barclay (vierzig Prozent) und der Familie Henry Ordmann (sechzig Prozent). Früher war Ordmann in der Brennereibranche gewesen. Als Mann von strenger Rechtlichkeit lehnte er es ab, nach der Prohibition das Gesetz zu umgehen, indem er Ersatzstoffe herstellte wie Pepsinwein (für Magenkranke) oder ungegorenen Traubensaft (nicht der Luft aussetzen, da sonst die Flüssigkeit Alkohol entwickelt, was gesetzlich verboten ist!).. Seine Tochter Janet brachte ihm bei, daß ein Verlag nicht nur ein legitimes, sondern auch ein lukratives Geschäft sei. Damals hatte sie vier Wochen vorher einen Vortrag von Noble Barclay in einem kleinen Salon in BellevueStratford bei Philadelphia gehört. Drei Tage nach der Verlagsgründung brannte sie mit Noble Barclay durch. 259
Dies alles erfuhr Peck aus dem Zeitungsartikel Blackforts. In derselben Nacht schrieb er einen Brief an Barclay. Pecks Brief war durchaus fair. Er erkannte Barclays Beitrag zu dem Buch an, ebenso seine Arbeit bei Herausgabe und Vertrieb, und schlug eine Teilung der Einnahmen vor. Ferner wollte er seinen Namen auf dem Umschlag vermerkt sehen. Trotz seines fatalen Sinns für Komik war er stolz auf sein Buch. Es war ein Erfolg geworden – und der Ehrgeiz nach Erfolg brannte noch immer in dem nunmehr erwachsenen Dorfjungen. Acht Tage voll Nervenspannung gingen vorbei. Am neunten bekam er einen Brief auf sehr elegantem, gediegenem Papier, das den Aufdruck „Noble Barclay“ trug. Der Originalbrief ging verloren, aber soweit sich Peck erinnerte, lautete er ziemlich genau folgendermaßen: „Lieber Herr Peck, Bezug nehmend auf Ihre Mitteilung vom 28. letzten Monats läßt Ihnen Herr Barclay sagen, daß er leider durch den Drang der Geschäfte und diverse Vortragsreisen verhindert ist, Ihren Brief persönlich zu beantworten. In Ihrem eigenen Interesse gestatten Sie dem Unterzeichneten, hinzuzufügen: es ist außerordentlich günstig für Sie, daß Herr Barclay derartig in Anspruch genommen ist. Hätte er Gelegenheit gehabt, sich den Rat seiner Anwälte betreffs Ihres Briefes einzuholen, so dürften Sie sich bereits in einer peinlichen Lage befinden. Jedoch Herr Barclay hat mir untersagt, Ihnen Betrug oder Erpressung vorzuwerfen. Er möchte zunächst die Behörden nicht von Ihrem Vorgehen in Kenntnis setzen, da dies unvermeidlich zu Konsequenzen führen 260
würde, die alle daran Interessierten besser vermeiden. Herr Barclay stellt nicht in Abrede, früher einmal einen Herrn namens Homer Peck gekannt zu haben. Herr Barclay erinnert sich sogar an eine oder zwei Gelegenheiten, bei denen er mit Herrn Peck die Prinzipien diskutierte, auf denen er später sein so erfolgreiches Werk ‚Mein Leben ist Wahrheit‘ aufgebaut hat. Er hat vielleicht sogar Herrn Peck wegen einiger belangloser Punkte um Rat gefragt. Herr Barclay muß allerdings zu seinem Bedauern hinzufügen, daß Herrn Pecks Vorschläge meistens zu witzig waren, um ernst genommen zu werden. Herrn Barclays flüchtige Bekanntschaft mit Herrn Peck und die oben angeführten Tatsachen bilden jedoch keinerlei Veranlassung für Ihre absurden Forderungen. Es ist auch kaum möglich, daß Sie derselbe Herr Peck sind, mit dem Herr Barclay seinerzeit die betreffenden Gespräche führte, da der erwähnte Herr Peck gestorben ist. Es ist meine persönliche Ansicht, daß Herr Barclay mehr als großzügig in seiner Haltung Ihren Ansprüchen gegenüber ist, und ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, dieselben nicht weiterzuverfolgen. Falls Ihnen die Gesetze nicht bekannt sein sollten: Erpressungsversuche dieser Art werden besonders hart bestraft. Hochachtungsvoll Edward Everett Munn Sekretär“ Für einen Mann von Homer Pecks Temperament gab es hier nur eine Antwort. Er wußte, Mark Twain hätte sich im Grabe umgedreht bei diesem Plagiat, aber er 261
drahtete zurück: DIE NACHRICHT VON MEINEM TODE IST GROB ÜBERTRIEBEN STOP WAS BIETEST DU MIR ALTER PHARISÄER Am nächsten Morgen bekam er ein Antworttelegramm, von Munn gezeichnet: ERKENNE IHREN ANSPRUCH NICHT AN STOP KOMME MORGEN UM DIE LAGE ZU BESPRECHEN STOP BIS DAHIN NICHTS UNTERNEHMEN Die drei nächsten Tage hindurch schmiedete Peck Schlachtpläne. Er nahm sich keinen Rechtsanwalt. Die Wahrheit war auf seiner Seite, und er glaubte an den Sieg der Wahrheit. Er studierte „Mein Leben ist Wahrheit“, rief sich die Gespräche mit Barclay genau ins Gedächtnis zurück und machte zahlreiche Notizen, die er Barclays Vertreter vorlegen wollte. Spät am Montagnachmittag klopfte ein Fremder an die Tür von Pecks Bungalow. Er war groß, mit langen, knochigen Storchenbeinen, aber er war gemein und ränkevoll, ein Storch, der die Babys in falschen Häusern abwirft. Sein Name auf der gestochenen, nagelneuen Visitenkarte lautete Edward Everett Munn. „Ich komme im Interesse von Herrn Noble Barclay.“ „Nun? Was schlagen Sie vor, Herr Munn?“ „Ich habe keine Veranlassung, Vorschläge zu machen. Ihre Ansprüche sind unbegründet.“ „Außer, daß ich das Buch geschrieben habe!“ „Herr Barclay ist Ihnen dankbar, daß Sie ihm zuhör262
ten, als er Ihnen gewisse Passagen aus seinem Buch laut vorlas, und daß Sie später die Gedankengänge mit ihm besprachen. Und da er mit dem Buch Erfolg hatte und ein ungewöhnlich großmütiger Mensch ist, möchte er Sie an seinem guten Stern ein wenig teilhaben lassen. Für Ihre kleinen Dienste damals ist Herr Barclay bereit, Ihnen einen – ich muß schon sagen – geradezu fürstlichen Betrag zu zahlen. Ich persönlich habe ihm zwar abgeraten, aber…“ „Sie verdammter Hundesohn! Ich habe das Buch geschrieben, und Noble Barclay hat es gestohlen!“ „Vorsicht, Herr Peck! Erpressung ist strafbar!“ Peck ging auf der verhängten Veranda auf und ab. „Barclay hat es geschrieben! – Barclay war dauernd so stockbetrunken, daß er seinen eigenen Namen nicht schreiben konnte! Manchmal konnte er sich nicht einmal an seinen Namen erinnern! Fragen Sie ihn, wer ihn von der Trunksucht kuriert hat! Fragen Sie ihn, wer ihm zu der Entdeckung verhalf, warum er nur unter Alkohol leben konnte! Fragen Sie ihn, wer ihm alles über Bienen und Vögel und das Liebesleben in der Natur…“ „Oh, das steht ja alles in der ‚Einleitung‘. Darf ich Sie auf die Kapitel hinweisen, die den Gesamttitel .Wiedergeburt‘ führen…“ „Ach, Sie meinen, wo er die ganze Nacht in der Wüste im Freien sitzt und über seine Sünden nachdenkt, tief in den Wurzeln der Scham schürft und sich endlich voller Verzweiflung selbst zu dem Entschluß aufpeitscht, darüber offen zu sprechen…“ „Das größte Dokument, das je über die menschliche Verzweiflung geschrieben wurde…“ „Ja, aber ich war derjenige, der ihn aufpeitschte. Ich ließ meine Knute, meine Peitsche auf sein Gemüt nieder263
sausen, bis er in unerträglichem Schmerz zitterte. Er flehte mich an, aufzuhören, aber ich war unerbittlich.“ Peck sprach pathetisch, als seien Wort und Erinnerung unzweifelhafte Beweise für seine Forderung. „Er ist bereit, Ihnen zweitausendfünfhundert Dollars zu zahlen.“ Peck kam in Fahrt. „Er will mich wohl bestechen, was? Zweitausendfünfhundert Dollars! Hält er mich für verrückt? Ich zerre die Sache vor jeden Gerichtshof in ganz Amerika…“ „Ich bin ermächtigt, Ihnen eine noch großzügigere Summe zu bieten“, sagte Munn vorsichtig, „jedoch nur, weil ich Sie abhalten will, sich selbst zu schaden! Erpressung ist ein schweres Vergehen. Das Gesetz…“ Munn hielt inne. Die Gegenüberstellung der Worte „Erpressung“ und „Gesetz“ hatte dramatisches Gewicht. Peck schien durch die Vorhangspalten seiner Veranda das Korallenrot und Aquamarin des Sonnenunterganges in der Wüste zu studieren, aber im Geiste sah er, was Munn ihm zeigen wollte – die Mauern der Gefängnisse von Atlanta und Leavenworth. Da er kein besseres Argument hatte, wiederholte er nochmals: „Ich schrieb das Buch!“ „Haben Sie einen Beweis dafür, Herr Peck?“ „Ich habe es geschrieben, verstehen Sie nicht? Es war meine Idee.“ Pecks Fieber stieg in den Abendstunden an. Seine Stimme zitterte, und seine Worte flossen ineinander. „Haben Sie ein Copyright? Oder ein Manuskript? Haben Sie zwei oder mehr glaubwürdige Zeugen, die Sie daran schreiben sahen?“ „Schreiben ist schließlich kein Sport, bei dem man Zuschauer braucht, Herr Munn. Jedoch waren genug 264
Leute im Sanatorium, und wenn ich die finden kann…“ „Haben Sie das Manuskript?“ „Es waren Pflegerinnen, Wärter, Patienten dort…, ich bin überzeugt, ich finde mit Leichtigkeit zwei Zeugen, die mich daran schreiben sahen.“ „Und das Manuskript?“ Munns Augenbrauen hoben sich in höflichem Skeptizismus. Seine Stimme blieb gleichmäßig. „Ich bedauere, Herr Peck – wenn Sie darauf bestehen, diesen Anspruch zu stellen, ist ein einwandfreier Beweis erforderlich.“ Peck war entschlossen, zu seiner Fahne zu stehen. Doch das Fieber wurde schlimmer, und er fing an, in der Abendkühle zu husten. „Jawohl, Beweise“, wiederholte Munn. „Haben Sie Beweise, die ein Gericht als einwandfrei akzeptieren würde?“ Munn hatte keineswegs Jura studiert, aber er hatte die Redewendungen auf dem Rücken eines Buches über Geschäftsenglisch einmal in der Untergrundbahn aus Langeweile auswendig gelernt, und diese Phrasen besaßen einen grimmigen, legalen Klang. „Besser, Sie einigen sich ohne Gericht, Herr Peck. Wenn Sie Beweise hätten, um Ihren Anspruch zu stützen, so würde ich Ihnen das Gegenteil raten. Aber in Ihrer Lage – glauben Sie mir – wäre es weitaus das klügste, Sie nähmen Herrn Barclays Anerbieten an.“ „Wie hoch will Barclay gehen, wenn ich nichts gegen ihn unternehme?“ „Fünftausend. Das ist das Maximum, Herr Peck. Anderenfalls sind wir gezwungen, die Sache unsererseits vor Gericht zu bringen. Erpressung ist kein leichtes Vergehen. Und wenn Sie keine angemessenen Beweise beibringen können…“ Beweise, Beweise. Die Wiederholung des Wortes war 265
wie der stete Wassertropfen, der den einsamen Gefangenen zum Wahnsinn treibt. Peck beschloß nachzugeben. „Kommen Sie morgen früh wieder“, sagte er und dachte eigentlich nur an sein bequemes Bett und seine warmen Decken. „Nein, ich möchte gern heute abend zurückfahren“, sagte Munn. „Ich kann noch den Schnellzug bekommen, wenn ich um elf in Albuquerque bin.“ Er sah auf seine Uhr. „Auf was wollen wir noch warten?“ Draußen stand ein Ford. Der Fahrer war nicht nur öffentlicher Notar, sondern einer der Beamten des Sheriffs. Munn brauchte nur die Tür zu öffnen und zu sagen: „Bitte, kommen Sie herein, und bestätigen Sie uns eine Unterschrift!“ – und schon war das strenge „Gesetz“ bereit, auf den Verbrecher herabzustoßen, sobald das Wort „Erpressung“ ausgesprochen wurde. Und auch ein fertiges Dokument war da. Es begann: „Ich, Homer Peck…“ und fuhr in legal klingenden Phrasen mit der Bestätigung fort, daß der in dem Brief vom 28 er. gemachte Anspruch unbegründet sei. Ferner versprach Homer Peck, besagten Anspruch nicht weiterzuverfolgen, da er sich der Tragweite einer solchen gesetzwidrigen Handlung voll bewußt sei. Peck verlangte einige Abänderungen, aber Munn blieb fest. Nachdem er einmal die Oberhand hatte, war die Glätte aus seiner Stimme und seinem Benehmen verschwunden. Mit dem Beamten des Sheriffs als seinem Verbündeten wurde er zum zweitklassigen Tyrannen. Und Peck war ein kranker Mann. Er fühlte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte, und vor allem wollte er seine Ruhe haben. Munn reichte ihm einen Füllfederhalter mit Goldringen, und er unterschrieb. Als die Besucher gegangen waren, blickte Peck auf 266
seine Hände, als habe er sie mit fünf knisternden Tausenddollarscheinen beschmutzt. 5 Homer Peck starb nicht. Vielleicht war es sein eigenes (oder Barclays) System, das sich rückwärts auswirkte. Jedenfalls, was auch immer die Ursache war – er fing langsam an zu genesen. Sein Wille, am Leben zu bleiben, wurde durch den festen Glauben gestärkt, daß er eines Tages den Beweis für Barclays Betrug in Händen halten und sich rächen würde. Und dieser Glaube siegte. Als er bald darauf in einem alten Koffer irgend etwas anderes suchte, stieß er plötzlich auf eine Kopie seines vergessenen Werkes, des Warren-G.-Wilson-Kurses „Aus innerer Triebkraft zum Erfolg“. Er las es sich durch, amüsiert über die pompöse Verlogenheit. Doch aus diesen staubigen Blättern tauchte plötzlich eine Tatsache auf, die ihm geradezu eine Ohrfeige gab. Er stöhnte laut und geriet in Wut über die Lahmheit seines Gedächtnisses. An dem Abend, als Munn ihn besuchte und immer wieder einen Beweis für seine Ansprüche forderte, hatte er nicht an die Lektionen XXIII-XXX gedacht. Schon seine Lektion XXV schlug das Bekenntnis als Heilmittel für den kranken Geist vor. Dieses ganze Kapitel, Wort für Wort, hatte er in „Bekenntnis und Suggestion“ aufgenommen. Mit anderen Worten: Barclay hatte ein Plagiat gestohlen. Aber Pecks Plagiat war legal gewesen, denn er besaß das Copyright für das Original. Einen besseren Beweis konnte kein Mensch besitzen. Das Gesetz erkennt den Diebstahl einer Idee nicht an, denn eine Idee ist zu unstofflich, um ein für allemal von einem Verfasser monopolisiert zu werden. Aber einzelne Sätze, Redewendungen, Paragraphen, noch dazu bereits in Druck, durch ein Copyright geschützt – das alles ist 267
greifbares Eigentum! Diesmal schrieb Peck keinen Brief. Er strengte auch keine Klage auf geistigen Diebstahl an. Er hatte in einsamer Wüstennacht in den wildesten Racheträumen geschwelgt, aber jetzt war er viel zu vernünftig, um eine so gewöhnliche Befriedigung zu suchen. Barclay zu vernichten wäre so unpraktisch gewesen, wie die Gans zu töten, ehe er seinen Anteil an den goldenen Eiern empfangen hatte. Für Homer Peck wurden die Lektionen XXIII-XXX zur Transfusion, die ihm Kraft gab, weiterzuleben. Niemand wußte besser als Peck um die Ironie der Tatsache, daß Barclays noch unberührte fünftausend Dollar nur eine Reise finanzierten, die dazu bestimmt war, alle zusätzlichen Beweise seines Betruges ans Tageslicht zu bringen. Durch das „Schatzkästlein“ (seine Verleger nannten es „Ein Buch der Zeugnisse der Jünger Noble Barclays“, tatsächlich aber war es nichts als eine Reklameflugschrift) erfuhr Peck die Namen von Fräulein Hanna Maierdorf und Familie Beach, die in einem nach Osten fahrenden Zug Barclays erste Verkündigung gehört hatten. Aber zu Pecks Leidwesen war Fräulein Maierdorf nach Mallorca verzogen (ihr Bruder, der Meister vom Stuhl, war gestorben und hatte ihr ein hübsches Vermögen hinterlassen); Frau Beach war tot und Rosetta hatte einen Baumwollmakler in New Orleans geheiratet. Sie war entsetzt, daß ihr Name gebraucht wurde, und war erst bereit, für Peck auszusagen, nachdem er versprochen hatte, ihr Zeugnis würde nie in die Zeitungen kommen. Sie unterzeichnete eine eidesstattliche Versicherung über die Umstände ihres Zusammentreffens mit Barclay in jenem Zuge, über die Kur, die er mit ihrer Mutter vorgenommen hatte, und über ihre eigene Kur und seinen dar268
auffolgenden Aufenthalt in ihrem Heim. Sie erinnerte sich ganz genau, daß Barclay damit begonnen hatte, Peck die ganze Ehre für sein Kredo zu geben; aber später sei seine Dankbarkeit so spärlich geworden, daß sie ihm spottend vorgeschlagen habe, doch gleich das ganze Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen. Von New Orleans reist Peck wieder westwärts, diesmal nach California, wo er einen der Ärzte auffand, denen das Sanatorium gehört hatte. Dr. Fillmore Macrae war Peck nicht wohlgesinnt. Er hegte noch immer den alten Groll gegen ihn, diesen Patienten, dessen Kuren wirksamer gewesen waren als seine Quacksalbereien. Aber Bargeld war immer Dr. Macraes liebste Medizin gewesen, und ein runder Tausender heilte seinen alten Groll. Auch er unterzeichnete eine eidesstattliche Versicherung. In Butte, Montana, fand Peck die gutmütige Pflegerin, die seinerzeit einen so tatkräftigen Beitrag zu Barclays Erziehung geliefert hatte. Sie erinnerte sich der Episode in den lebendigsten Einzelheiten und hätte es am liebsten gesehen, wenn Peck ihre Memoiren herausgegeben hätte. Aber er war ihr dankbar für die genaue Schilderung jener qualvollen Sitzungen in Pecks verdunkeltem Zimmer, für ihre Entrüstung über den Betrug, ihre Weigerung, für ihre eidesstattliche Versicherung Geld anzunehmen, und endlich für das selbstgekochte Mahl – sie hatte darauf bestanden, daß er daran teilnahm. Seine letzte Zeugin war sein ehemaliges Liebchen, das Mädchen, dem es nicht gelungen war, für das Originalmanuskript einen Verleger zu finden. Sie war nicht mehr schlank, und die Dunkelheit ihres Haares hatte sich in ein aufreizendes Rot verwandelt. Peck hatte ihren Namen unter einem leichten Verschen in einer bekannten Zeit269
schrift gefunden, an die Redaktion geschrieben und zehn Tage später ein Telegramm von ihr selbst bekommen, das ihr Erstaunen darüber ausdrückte, daß er noch am Leben war. Und eines Abends schlug die Türglocke an. „Homer!“ Und sie warf die Arme um den Hals des hageren, sonnengebräunten Gastes. Er zog ihre Arme sanft herunter, denn er war immer noch eifrig darauf bedacht, jeden Kontakt zu vermeiden, der seinem Tuberkelbazillus zu einem neuen Nährboden verhalf. „Ich bin nicht mehr Homer Peck“, sagte er zu ihr, „ich bin Warren G. Wilson.“ „Bist du närrisch? Warum denn?“ „Ich habe meinen Namen gewechselt“, bekannte er. Und da er wußte, daß die Frau nur lachen würde bei seiner Geschichte, erzählte er ihr das Ganze von der humoristischen Seite. Homer Peck hatte eine Erklärung unterschrieben, daß sein Anspruch gegen Barclay unberechtigt sei. Er hatte fünftausend Dollar als Preis für sein Schweigen angenommen. Aber Warren G. Wilson hatte vollste Freiheit und Berechtigung, seine Ansprüche gegen Barclay geltend zu machen; denn die Kapitel, die Barclay plagiiert hatte, waren von Warren G. Wilson unterzeichnet. Am nächsten Morgen suchte er Barclay im Büro auf. Barclay wurde weiß, als er seinen Gast erkannte. „Mein Name ist Warren G. Wilson“, sagte der Besucher mit dramatischer Betonung. „Sie haben vielleicht schon einmal etwas von meinem Kursus ‚Aus innerer Triebkraft zum Erfolg‘ gehört. Kapitel römisch vier, fünf, sieben und dreizehn Ihres ‚Mein Leben ist Wahrheit‘ sind identisch mit meinen Lektionen römisch dreiundzwanzig bis dreißig.“ 270
Barclay sprach in ein Kästchen auf seinem Pult. Als sei er direkt aus dem eichenen Paneel gesprungen, erschien Edward Everett Munn. Er war nicht mehr Barclays Sekretär. Dank seiner schmutzigen Dienstleistungen hatte er die Titel Chefredakteur, Verlagsdirektor und Bevollmächtigter Noble Barclays errungen. Er war behaglich in einem eleganten Privatbüro installiert und wußte, daß er einen Posten auf Lebenszeit besaß. Die Komödie machte Wilson Spaß, und er begann sie blumenreich auszuspinnen. „Sie brauchen mich nicht mehr zu bemitleiden, weil ich keinen Beweis dafür habe, daß man meine Arbeit gestohlen und unter dem Namen eines anderen Verfassers veröffentlicht hat. Ich habe jetzt den vollgültigen Beweis, meine Herren, und wenn ich ihn vor Gericht bringe, stehen mir nicht nur Millionen Schadenersatz zu, sondern ich kann auch Ihre Karriere ruinieren, die Grundlagen Ihres so lukrativen Geschäftes zerstören und Sie ins Gefängnis bringen. Vor allem aber Sie aus einem Symbol der Wahrheit in die Verkörperung der Betrügerei und Falschheit verwandeln!“ „Warum nehmen Sie sich nicht einfach einen Anwalt, wenn Sie solche Beweise haben“, zischte Munn, „statt mit unwahrscheinlichen Drohungen hierherzukommen?“ Zu Barclay gewandt, fuhr er fort: „Das ist wucherische Erpressung! Er will mehr Geld herausholen, das ist alles!“ Wilson kehrte Herrn Munn den Rücken zu. Diese Zurechtweisung war taktisch wohlberechnet. Nur Barclay war Wilsons Aufmerksamkeit wert. „Ich bin kein Narr, obwohl Sie mich die längste Zeit zum Narren gehalten haben! Meine Beweise können Sie ohne weiteres ruinieren, aber damit wäre gleichzeitig Ihr Geschäft erledigt und eine Menge Geld verloren, das rechtmäßig mir ge271
hört. Wenn man die Wahrheit erst einmal totgeschlagen hat, ist es schwierig, sie wiederauferstehen zu lassen. Deshalb schlage ich eine Einigung vor.“ Munn versuchte zu sprechen, aber Wilson schnitt ihm das Wort ab. „Ich wünsche nicht mit jemand anderem als mit Noble Barclay zu verhandeln. Diesmal bin ich in der Lage, Bedingungen zu stellen. Ich verlange eine Million Dollars.“ „Hören Sie nicht zu, Barclay, er versucht zu bluffen“, riet Munn. Barclay schwieg. „Ich halte diesen Vorschlag für durchaus vernünftig und angemessen“, fuhr Wilson fort. „Sie haben bereits mehrere Millionen aus meiner Idee herausgeschlagen, und wenn auch ein Teil des Geldes durch schlechte Investierung in unrentablen Magazinen verschwendet wurde, bleibt die Tatsache bestehen, daß Sie das Geld verdient haben und daß ich durchaus im Recht bin, wenn ich meinen Anteil an Ihrem Gewinn fordere…“ „Das ist alles bloß Bluff!“ unterbrach Munn. Barclay hob die Hand und gebot Schweigen. Die Bewegung war unsicher wie die erste Bewegung einer Hand nach einem Schlaganfall. Wilson sah, daß Barclay Angst hatte. „Dazu kommt noch mein Anteil an Ihrem Ruhm“, sagte er mit wachsender Sicherheit. „Ich verlange nicht einmal das Bekenntnis, daß Sie meine Idee gestohlen haben, Barclay. Dieser Preis wäre zu hoch. Ich fordere nur, daß Sie Ihre Dankesschuld an mich als Ihren Lehrer ausdrücklich anerkennen und öffentlich feststellen, daß meine Lehren die Quelle Ihrer Philosophie waren. In allen weiteren Ausgaben des Buches, in allen Besprechungen und der ganzen Auswertung verlange ich, als Gründer des Systems genannt zu werden, das Sie groß gemacht hat. Das ist mein 272
Vorschlag. Die Details können wir später besprechen.“ „Soll ich die Polizei anrufen?“ Munn bewegte sich hoffnungsvoll auf das Telefon zu. Aber Barclay machte eine zweite gequälte Geste. Nun sprach Munn zum erstenmal höflich zu Wilson: „Würden Sie bitte Herrn Barclay Zeit lassen, Ihren Vorschlag zu überlegen?“ „Sie ließen mir damals auch keine Zeit“, erinnerte ihn Wilson. „Eine Million Dollars ist viel Geld. Selbst Herr Barclay ist nicht reich genug, um einfach einen Scheck über diese Summe auszustellen.“ Barclay nickte matt. Es erinnerte Wilson an die alten Zeiten, an die Morgenstunden mit schwerem Kater, an den Blick eines geprügelten Hundes in Barclays kranken Spanielaugen, an das sinnlose Gestammel reuiger Bekenntnisse, die wilden Gelübde zur Abstinenz. Es war natürlich widersinnig, daß Wilson Mitleid mit einem Menschen fühlte, der ihn so grausam betrogen hatte, aber Wilson war jetzt der Sieger und konnte sich das leisten; er teilte Barclay mit, daß in seinem Hotelzimmer ein Koffer voller Dokumente und eidesstattlicher Versicherungen stehe, der Barclay ruinieren konnte, und bot mit seiner charakteristischen Großmut an, noch nichts zu unternehmen. Er hielt sich für streng und fest. „Morgen vormittag, pünktlich um elf, bin ich wieder hier. Wenn Sie dann meine Bedingungen nicht annehmen, gehe ich mit den Unterlagen zu meinem Anwalt und lasse ihn die Klage einreichen. Ich weiß, daß dieser Schritt uns alle viel Geld kosten würde, aber ich würde mich schadlos halten, indem ich die Geschichte dieses Schwindels an Ihre Konkurrenz verkaufe. Nicht weniger Verleger – davon bin 273
ich überzeugt – würden sich wie wild auf die Chance stürzen, meine Klage zu finanzieren.“ Munn schnurrte wie eine Katze. Barclay sah aus, als habe ihn ein König in der letzten Sekunde vor der Hinrichtung begnadigt. An diesem Abend trank Wilson mit seiner alten Freundin verbotenen Champagner, und sie beschlossen, die Zinsen von Barclays Million in Capri oder Mentone oder St. Tropez zu verbrauchen. Die Frau hatte ein zweites Mal geheiratet, und ihr Mann willigte in keine Scheidung – aber sie meinten, im Ausland würde kein Mensch sich darum kümmern. Wilson sah ein Leben in Luxus und Kultur, in Poesie und mit Champagner vor sich – und stellte sich vor, wie sie in bequemen Liegestühlen von einer grünen Terrasse auf das Mittelmeer hinausschauen würden… In einem Rausch von Glück betrat er sein Hotelzimmer. Beim ersten Blick meinte er, die Unordnung sei eine Ausgeburt des Prohibitions-Champagners. Jemand hatte die Schubladen geöffnet, die Schränke durchwühlt, den Schreibtisch durchsucht und das Gepäck ausgeraubt. Die Dokumente waren gestohlen, ebenso die Hefte des Wilsonkurses und die eidesstattlichen Versicherungen, die ihn soviel gekostet hatten. Er ließ den Manager des Hotels kommen, der sofort den Hausdetektiv rief. Man schickte zur Polizei. Eine gründliche Untersuchung wurde versprochen, aber die ersten Schritte zeitigten kein Resultat. Kein Liftjunge, kein Zimmermädchen hatte einen Fremden in Wilsons Zimmer gehen sehen. Das war ein schwerer Schlag. Wilson war knapp mit Geld. Die wirtschaftliche Depression hatte seine Erdengüter auf eine Summe herabgedrückt, bei der kaum eine Katze hätte von Heringen leben können, und der größte 274
Teil der fünftausend Dollar war bei der Suche nach Beweisen gegen Barclay draufgegangen. Der Diebstahl der Papiere raubte dem armen Wilson alles – die Million, die Riviera, den Traum, den Champagner und die Poesie. Am nächsten Morgen pünktlich um elf meldete die Vorzimmerdame, daß Herr Warren G. Wilson gekommen sei, um Herrn Barclay zu sprechen. Wilson kam herein. Er schwang sein Spazierstöckchen und trug seinen Stetsonhut, als stünde er schon im Begriff, seine Reise nach der Riviera anzutreten. Er setzte sich in einen hochlehnigen Sessel, Barclays Schreibtisch gegenüber. „Nun – haben Sie meinen Vorschlag erwogen?“ fragte er. Barclay räusperte sich und blickte verstohlen zu Edward Everett Munn, der die Daumen in die Ärmellöcher seiner Weste gesteckt hatte. „Ihr Anspruch ist betrügerischer Art“, erklärte Munn. „Wir wissen genau, daß nichts daran ist. Welchen Beweis wollen Sie erbringen, daß Barclay Ihre Idee gestohlen hat? Entweder ziehen Sie Ihre gesamten Forderungen zurück, oder wir übergeben Sie der Polizei.“ Barclay lächelte. Er hatte bemerkenswert schnell den Schlag des gestrigen Tages überwunden. „Sie scheinen an einer fixen Idee zu leiden, Herr Wilson. Es ist wahr, daß ich einmal einen gewissen Homer Peck kannte.“ (Er sprach den Namen mit diskretem Sarkasmus aus.) „Ich leugne auch nicht, meine Theorien gelegentlich mit ihm besprochen zu haben. Aber die Behauptung, meine Philosophie sei Ihre Idee, Ihre Schöpfung – das ist mehr als grober Betrug! Das ist heller Wahnsinn ! Ich habe nicht gern Scherereien mit den Gerichten, also rate ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse: Vergessen Sie die ganze Sache.“ 275
Barclays Ernst setzte Wilson in Erstaunen. Wie konnte ein Mensch mühelos ehrlich erscheinen, während er haushohe Lügen aussprach? Das kam ihm so unglaublich vor, daß er anfing zu stottern und zu stammeln, als sei er der Lügner. Das Bewußtsein seines Rechtes hielt Wilson aufrecht. Die Aufregung raubte ihm das Selbstvertrauen. „Und wollen Sie jetzt bitte gehen, Herr Wilson?“ fragte Munn mit einer Stimme, die ölig war vor Triumph. „Herr Barclay ist sehr beschäftigt, er hat Wichtigeres…“ Wilson stand auf. Innerlich zitterte er. „Nun gut, meine Herren“, sagte er, „wenn Sie so darüber denken, so werde ich meinen Anwalt beauftragen, Klage gegen Sie einzureichen.“ „Ich dachte, Sie wollten die Aufmerksamkeit gewisser Verleger auf die Angelegenheit lenken. Sie schienen gestern doch so sicher zu sein, daß diese Ihre Klage finanzieren würden?“ höhnte Munn. Wilson stand einen Augenblick schweigend auf seinen Stock gelehnt. Er brauchte alle seine Kräfte, um seinen Bluff durchzuführen. „Ich fürchte, Herr Munn“, sagte er lächelnd, „die Sache wird berüchtigt genug werden, ohne daß wir die sensationelle Öffentlichkeit direkt suchen. Gestern abend hatte ich verschiedene Gelegenheiten, meine Geschichte an gewisse Reporter weiterzugeben, aber ich hielt sie noch zurück. Es wurden nämlich einige wertvolle Papiere aus meinem Hotelzimmer gestohlen.“ Er machte eine Pause und bemerkte sehr wohl den raschen Blick, der zwischen Barclay und Munn gewechselt wurde. Sein Mut wuchs. „Ich ziehe es vor, die Angelegenheit auf dem üblichen Wege zu verfolgen, nämlich durch meine Anwälte. Zu Ihrem Unglück haben Sie, meine Herren, einen unzulänglichen Rechtsberater, oder… 276
„Wir haben die besten Anwälte von New York“, prahlte Munn. „Nun, vielleicht haben Sie vergessen, diese mit allen Tatsachen bekannt zu machen. Denn sicherlich wissen Sie, daß durch eine bloße Anfrage beim Copyrightregister in Washington jeder Bürger der Vereinigten Staaten eine Nachprüfung über den Status eines Copyrights vornehmen kann. Die Kosten betragen einen Dollar.“ „Und was würde Ihnen das nützen?“ fragte Munn und leckte sich die trocken gewordenen Lippen. „Ich glaube nicht, daß es besagtem Bürger schwerfallen würde, die Kopien jener Absätze und Kapitel aus dem Wilsonkursus zu bekommen, die, wie ich Ihnen bereits gestern sagte, mit Herrn Barclays Schriften identisch sind.“ „Halt, Homer – warten Sie bitte“, rief Barclay, als Wilson zur Tür schlenderte. „Vielleicht ist es doch vernünftiger, wir besprechen die Sache.“ „Was ist da noch zu besprechen?“ fragte Wilson, nachlässig sein Stöckchen schwingend. Barclay wollte sichergehen. „Selbst wenn ich überzeugt bin, daß Sie bluffen, ist mir der Gedanke an ein Gerichtsverfahren nicht sympathisch. Auch wenn wir dabei die Öffentlichkeit nicht suchen – sie wird uns zu finden wissen. Und da meine Karriere und mein guter Ruf auf den Glauben an die Wahrheit begründet sind, würde es mir schaden, in einen solchen Prozeß verwickelt zu werden, auch wenn ich ihn mit Glanz gewinne.“ Munn war unzufrieden. Er sagte leise etwas zu Barclay, der die Stirn runzelte und ihn anfuhr: „Setz dich hin, Ed, und laß mich die Sache erledigen.“ Auch Wilson setzte sich wieder. „Nun, Noble – was schlagen Sie vor?“ 277
„Ich bin nicht undankbar für die Hilfe, die Sie mir einmal angedeihen ließen“, begann Barclay. „Wenn Ihre Sätze auch keineswegs einen so wichtigen Teil meines Buches darstellen, wie Sie anzunehmen scheinen, so möchte ich Sie doch für Ihren Beistand belohnen. Ich möchte richtig handeln Ihnen gegenüber, Homer – vielleicht mehr als nur richtig.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versetzte sich allen Ernstes in die Rolle eines Philanthropen. Wilson sah, daß Barclay wirklich beunruhigt war, und diese Erkenntnis machte ihm Mut zu feilschen. Sie einigten sich schließlich auf zwölfhundert Dollar pro Monat. Das war viel Geld, besonders in der damaligen Zeit, aber gemessen an dem riesigen Einkommen Barclays, bedeutete es nur ein Almosen. 6 Mit der Zeit gelang es Wilson, sein monatliches Einkommen auf zweitausend Dollar zu erhöhen. Er brauchte das Geld nicht so nötig – aber es machte ihm Spaß, die Rolle des Erpressers zu spielen. In alten Zeiten, als er die Korrespondenzkurse angefangen hatte, war es eine Art Sport für ihn gewesen, die harmlosen Säuglinge von Schülern um monatlich fünf Dollar zu erleichtern. Jetzt wandte er die gleichen Methoden an, aber es ging um einen wesentlich höheren Einsatz. Die Zahlungen spielten sich immer höchst geheimnisvoll ab. Jeden Monat war Wilson genötigt, Munn in einer vollen Hotelhalle, einem Wartesaal oder einem Warenhaus zu treffen, wo beide sicher waren, nicht aufzufallen. Munn kam niemals in Wilsons Zimmer. Bei verschiedenen Gelegenheiten, wenn Wilson die Verabredung nicht einhalten konnte, wurde das Geld in einem gewöhnlichen Briefumschlag durch einen Boten geschickt. Und wenn 278
er in Maine oder Florida weilte, kam es im eingeschriebenen Brief. Wilson legte sich kostspielige Gewohnheiten zu, begünstigte die besten Schneider, trank die seltensten Weine und sammelte Erstausgaben. Aber all das befriedigte ihn nicht. Auch das Erpressungsspiel begann ihn zu langweilen, und er empfand sein bequemes Leben nur als eine armselige Medizin gegen die Begierde ohnmächtigen Ehrgeizes. Er neidete Barclay den Ruhm und verübelte ihm den Rosenschimmer der Gerechtigkeit, die den Herausgeber der „Wahrheits-Zeitschriften“ umschwebte. Mit masochistischer Energie quälte er sich selbst mit der Lektüre der sensationellen Liebes- und Kriminalgeschichten des Barclay-Verlages. „Jeden Monat wird er schlechter. Ich möchte ihn zu gern bloßstellen“, sagte er manchmal, schäumend vor Wut und Verachtung. „So? Und was wird aus dir, wenn die Leute aufhören, seinen Schund zu kaufen? Woher kommen dann deine beiden sympathischen Tausender?“ fragte seine alte Freundin. Während der Depression war sie zur literarischen Prostituierten geworden, die ihr Talent und ihre Routine an die verschiedensten Verleger billiger Romanmagazine verkaufte. Es war unvermeidlich, daß sie in Barclays Büro aufkreuzte. Sie blieb, wie Wilson behauptete, dort, um ihn zu quälen. Er bot ihr oft genug an, sein unredlich erworbenes Einkommen zu teilen, aber die Frau lehnte es ab. Nicht etwa, weil sie seine Methode des Erwerbs verachtete, sondern aus einem falschen Drang nach Unabhängigkeit. Sie hatten einmal versucht, zusammen zu leben, aber sie war eine Schlampe und Wilson eine zimperliche alte Jungfer geworden, und von ihrer Liebe war 279
nichts mehr übriggeblieben als der Schatten eines Skeletts. Sie zankten sich wütend, ließen Monate in grollender Einsamkeit vergehen, bis unweigerlich der eine oder andere eines Tages die große Versöhnung vorschlug; dann feierten sie ihre Wiedervereinigung, tranken sich ausgiebig zu und stritten sich wieder. Eines Tages verkündete Wilson bei einem solchen Fest: „Ich bin endlich zu einem Entschluß gekommen: Ich werde ein Buch über Barclay schreiben. Ich muß die ganze Sache aufdecken. Solange ich dazu schweige, bin ich auch nicht besser als er.“ „Meinst du nicht, daß dein zartes Gewissen etwas zu spät erwacht?“ „Um so begründeter ist mein Wunsch, diese Sünde zu tilgen!“ „Du hast dir die Gosse bereitet, in der du liegen wirst!“ „Ich will alle Beweise veröffentlichen, alle Tatsachen belegen ; in meinem Kapitel über den Diebstahl wird der „Wilsonkursus“ auf der rechten, Barclays „Wahrheit“ auf der linken Seite gedruckt sein!“ „Denke an deinen Leichnam. Und deinen zarten, an Gänseleberpastete gewöhnten Magen! Denke an das arme Filigrangewebe, das einmal deine Lunge war. Wie lange bleibst du mir in einer echten Gosse erhalten?“ „Du kannst mir helfen“, sagte Wilson. „Du kannst Barclays Privatleben bespitzeln, seine Frau, seine Kinder…“ „Weißt du, was dir fehlt, Homer?“ (Sie konnte sich nicht an den neuen Namen gewöhnen.) „Du liegst morgens zu lange im Bett. Du bist faul, verfällst in Betrachtungen, wirst Opfer der Moralität. Spring aus dem Bett und mache fünfzig Kniebeugen, trinke ein Glas heißes 280
Wasser und den Saft von zwei Zitronen, dann gäbe es für dich kein Kopfzerbrechen über solche Dinge! Denke an Barclay! Er raucht keine Virginias und trinkt keinen Liebfrauenmilch und stört seinen Metabolismus ganz sicher nicht durch den törichten Akt des Denkens! Wogegen Cassius…“ „Hör auf mit dem Unsinn – es ist mir Ernst!“ „Was willst du also wissen, Homer? Etwas über die anbetungswürdigen Zwillinge, die ihm Gloria, die ‚vollkommene Mutter‘, geschenkt hat? Oder vielleicht möchtest du gern hinter die Wahrheit über seine zweite Ehe kommen…?“ „Danke, nein, da bin ich völlig im Bilde.“ „Woher?“ „Durch Janet.“ „Oh! Wo hast du die zweite Frau Barclays kennengelernt?“ „Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, Sie ist durchaus bereit, mir bei meinem Buch zu helfen. Das Kapitel über die Zeit, als er anfing, die Befreiung durch Wahrheit zu predigen und ihren Vater dazu bewog, den Verlag zu gründen – das schreibt sozusagen Janet. Sie hat nicht eine Einzelheit vergessen.“ „Janet nährt eine Natter an ihrem Busen. Hat Noble ihr vielleicht in den dunklen Bereichen der Nacht einmal gestanden, daß er sein Kredo sozusagen geklaut hat?“ Wilson schüttelte den Kopf. Er hatte diese Frage selbst an Janet gestellt, aber sie hatte ihm versichert, daß Barclay immer so tat, als sei ihm diese Idee als göttliche Eingebung gekommen. „Janet besorgt mir das Material für die Übergangsperiode. ‚Mit einem Sprung vom Messias zum Verleger‘. Sie besitzt den ganzen Stoff aus der ersten Zeit seiner 281
Magazine, aber ich brauche Informationen über sein jetziges Leben; nicht nur, was ich aus seinen Schriften zusammenkombiniere, sondern tatsächliche Unterlagen. ‚Die Wahrheit‘ in einem Palast der Fünften Avenue. Kennst du die derzeitige Frau Barclay näher?“ „Gloria? Die könnte dir nicht mehr nützen als eine Nummer ‚ Wahrheit und Schönheit‘!“ „Und wie steht‘s mit der Tochter?“ „Die ist ein liebenswertes kleines Ding“, sagte die Frau. „Zur Zeit völlig verwirrt, weil die Welt nicht so ist, wie es ihr der Vater erzählt hat. Sie ist wie ein Kind, das orthodox erzogen ist und nun anfängt zu überlegen, ob es auf ewig in der Hölle schmoren muß, weil es zu zweifeln wagt.“ „Das wäre das Richtige für mich! Du mußt es einrichten, daß ich sie kennenlerne!“ „Du brätst dein Leghuhn, mein Lieber – und ich habe keine Lust, dir das schmackhafte Gewürz dazu zu liefern!“ Wilson beachtete die Weigerung gar nicht. Er wußte, was er wollte. „Du mußt es einrichten, daß ich sie kennenlerne – aber du darfst uns nicht miteinander bekannt machen. Denn das Mädel muß mir vertrauen.“ „Wie schmeichelhaft für mich, Homer! Eleanor hat mich aufrichtig gern. Ich habe einen heilsamen Einfluß auf sie – vom ersten Tage an, als sie ins Büro kam. Im Augenblick dränge ich sie zu dem Entschluß, ihrem Vater zu gestehen, daß sie angewidert ist von der Kreatur, die er sich als Schwiegersohn ausgesucht hat. Es ist rührend, wie sie meine Meinung respektiert.“ „Trotzdem muß sie gemerkt haben, daß du anti Barclay bist. Und wenn ich mit ihr Freundschaft schließe, muß sie ungetrübt sein von jedem feindlichen Hauch.“ 282
„Du brauchst dir nicht einzubilden, daß ich dir helfe!“ „Ich habe eine Idee. Du ladest sie einmal abends zum Essen ein – nicht hier, hier sind wir zu bekannt… Warst du schon einmal bei ‚Jean Pierre‘? Ich esse manchmal dort. Das Essen ist nebenbei ganz vorzüglich. Dort bringst du sie hin, und während ihr speist, fällt dir plötzlich eine vergessene, ganz dringende Verabredung ein, und du entschuldigst dich bei ihr…“ „Was für ein niederträchtiger Gedanke! Nichts dergleichen werde ich tun!“ Eine Woche später brachte sie Eleanor zum Abendessen zu „Jean Pierre“, sah Wilson am nächsten Tisch, ohne ihn zu begrüßen, erinnerte sich urplötzlich an einen jungen Verehrer, der gerade jetzt hungrig in der Halle des „Lafayette“ auf sie wartete, bat Eleanor um Entschuldigung und verschwand von der Bildfläche. Am nächsten Morgen gestand ihr Eleanor im Büro, daß sie sich von einem älteren Herrn – sichtlich einem Mann von Welt! – hatte ansprechen lassen. Den ganzen Winter lang lud Wilson das junge Mädchen häufig zu Tisch ein, sie besuchte ihn in seiner Wohnung, hörte seine Schallplatten an, betrachtete seine Bücher und Bilder und brüstete sich im Büro ein wenig mit ihrer Freundschaft mit diesem hochkultivierten und ungewöhnlichen Mann. Die Frau war verärgert, sie bildete sich ein, Wilson sei in Eleanor verliebt; sie trank noch mehr als früher und warf Wilson vor, er verführe Barclays Tochter. Wilson verlor die Geduld und erinnerte sie daran, daß Trunksucht und Hurerei sie selbst nicht gerade anziehender machten. Sie trennten sich als Feinde und sahen sich nur noch einmal wieder. 283
Sie begegneten sich in der Fünften Avenue vor der Bibliothek. Die Frau sagte: „Es ist eine Ewigkeit her, daß wir uns zuletzt gesehen haben! Was, zum Teufel, hast du mir eigentlich übelgenommen?“ „Du wirst dich nicht nach mir gesehnt haben, vermute ich. Solange eine Flasche Kognak und ein junger Esel zur Hand sind, um dich zu amüsieren, hast du wenig Bedarf für meine Gesellschaft!“ „Es ist immer entzückend, dich zu sehen, Homer – du sagst einem so reizende Dinge! Und was macht das junge Liebchen?“ „Sei nicht so idiotisch.“ Er faßte die Frau unter den Arm. „Du weißt genau, daß ich immer nur dich liebe, du alte Streunekatze… Komm mit, wir gehen zusammen essen!“ Sie speisten im Eichenzimmer des „Plaza“, und Wilson sprach über sein Buch. Er hoffte, in einem Monat damit fertig zu sein. „Ich muß dir wirklich danken, daß du das Zusammentreffen mit Eleanor arrangiert hast.“ Er sprach vorsichtig, immer gewärtig, daß der Name des Mädchens einen Sturm der Eifersucht entfesseln konnte. „Hat sie dir genützt?“ „Und wie! Sie ist dankbar, einen Menschen wie mich zu haben, der ganz neutral ist, ohne barclaysche Voreingenommenheiten, und mit dem sie sich offen aussprechen kann.“ „Du bist eine Ratte, weiß der Himmel! Zu mißbrauchen, was dir das harmlose Ding anvertraut! Sie weiß doch nichts über dein Buch, nicht wahr?“ „Nur, daß ich ein Buch schreibe. Aber ich habe ihr nicht gesagt, wovon es handelt. Nur den Titel habe ich ihr genannt – und damit kann sie nicht viel anfangen.“ „Oh, mir hast du den Titel nie genannt“, sagte die Frau 284
beleidigt. „Ich habe dich überhaupt nicht gesehen, seit ich diesen Titel gefunden habe. Er lautet: ‚Die Autobiographie des Homer Peck‘ – wie gefällt dir das?“ Später, als sie beim Mokka angelangt waren, sagte die Frau: „Ich wünschte, du hättest ihr nichts über das Buch erzählt!“ „Warum nicht?“ „Sie spricht vielleicht darüber. Erinnere dich, was seinerzeit mit deinen Papieren passiert ist.“ „Unsinn. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Sobald das Buch fertig ist, kommt eine Kopie in den Safe meiner Bank. Sagte ich dir schon, daß ich Frau Armistead endlich herumgekriegt habe, mir eine neue eidesstattliche Erklärung abzugeben?“ „Wen? Oh, Rosetta Beach, das Mädchen mit dem Sommersonnenschein – sie war die Erfinderin des Namens ‚Befreiung durch Wahrheit‘. Hat sie also zugestimmt, ihre purpurne Vergangenheit aufrollen zu lassen? Wahrscheinlich ist sie jetzt so alt, daß sie es ganz gern hat, wenn man darüber spricht.“ „Das Buch wird eine Sensation werden. In gewisser Weise bin ich sogar froh, daß die ersten Dokumente gestohlen wurden. Denn jetzt ist es eine reife Arbeit, nicht mehr in der Weißglut der ersten Wut geschrieben, sondern in ruhiger Überlegung.“ „Und hoffentlich mit weniger Klischees! Und wovon gedenkst du zu leben, wenn deine schicke Monatsrente versiegt?“ „Das Buch wird Geld bringen.“ „Nicht soviel wie die Rente!“ „Was kümmert mich das? Für mich ist es wichtiger, 285
daß endlich die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe etwas gespart – und im übrigen habe ich meine Erstausgaben, die sind ein hübsches rundes Sümmchen wert. Ich habe genug, um auszukommen, bis ich…“ Er hielt inne und fügte dann mit kurzem Achselzucken hinzu: „Ich habe nicht mehr lange zu leben, das weißt du ja!“ Er sagte das so kühl, wie man darüber spricht, daß es morgen vermutlich regnen wird. Die Frau war ergriffen. Sie war unbeständig gewesen und hatte Liebschaften gehabt – aber sie hatte nie einen anderen Mann so gern gehabt wie Homer. Um ihn ihre Niedergeschlagenheit nicht merken zu lassen, lachte sie ein wenig: „Na, ehe du dein fürstliches Einkommen wegwirfst, könntest du mir eigentlich noch einen ‚Courvoisier‘ bestellen!“ „Ich kaufe dir eine Flasche.“ Das war sein letztes Geschenk – und das letztemal, daß sie ihn sah. Als sie am folgenden Sonntagabend hörte, Warren G. Wilson sei mit einem Schuß in den Rücken tot aufgefunden worden, trank sie den Rest ihres guten Brandys. Als er zu Ende war, ging sie zu einer billigeren Sorte über, und als es auch dazu nicht mehr reichte, kaufte sie schlechten Whisky. Sie brachte nicht die Kraft auf, zur Polizei zu gehen und dort zu sagen, was sie von Wilson und seinen Plänen zur Bloßstellung Barclays wußte – sie war kein mutiger Mensch und zudem ziemlich magenkrank. Einen wirklichen Beweis hatte sie nicht – sie besaß nichts als ihr Wissen um die Geschichte Wilsons und um ein altes Geheimnis. Die Polizei hätte viele Fragen gestellt, und die Antworten hätten eine häßliche Vergangenheit und ein verfehltes Leben vor aller Augen bloßgelegt. Nachts, wenn sie schlafen gegangen war, erschien ihr häufig ein Gespenst. Nicht der Schatten des Homer Peck, 286
sondern die geschändete Seele ihrer weiblichen Ehre. Viele Male schwor sie vor der letzten Flasche, daß sie alles aussagen wolle, was sie von Wilsons Leben und den Ursachen seines Todes wußte. Bei Tageslicht aber verschwand das Gespenst, der Alkohol zerstörte ihr bißchen Mut, sie klammerte sich verzweifelt an ein Dasein, das sie verabscheute. Sie wurde zänkisch und launisch und albern und warf mit dunklen Andeutungen über ihr gefährliches Wissen um sich. Der Mörder war zuerst skeptisch gewesen, allmählich aber wurde er nervös. In letzter Zeit hat er versucht, zu einem Waffenstillstand zu kommen; er schmeichelt der Frau, schickt ihr Rosen und kommt in ihre Wohnung, um ihr den Hof zu machen. Es sieht fast so aus, als wollte er die Leute dazu bringen, eine Liebesaffäre zu vermuten – zwischen Lola Manfred und Edward Everett Munn.
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Siebenter Teil DIE TERRASSE von Eleanor und John
„Für die dunklen Existenzen, gleichviel ob Mann oder Frau, die in ihrem schwerbeladenen Hetzen ein Geheimnis tragen, habe ich nicht weniger Mitleid als für unheilbare Kranke. Denn Geheimnisse sind Krankheiten, Geheimnisse sind schwärende Wunden …“ „Mein Leben ist Wahrheit“ Noble Barclay Eleanor schreibt an John New York, 29. Mai „Mein Liebster! Ist es sehr arg für Dich, Strohwitwer zu sein? Sitzt Du einsam bei kärglichen Mahlzeiten in unserer kleinen Wohnküche und denkst dabei sehnsüchtig an Deine Frau, oder frequentierst Du die Großstadt wie die anderen Ehemänner von Hollywood… und womöglich mit einem blonden Glück? Auf die Gefahr hin, Dir als eifersüchtiger Hausdrachen zu erscheinen, mein Schatz, flehe ich Dich an: Quetsche jede mögliche Einladung aus unseren glücklich verheirateten Freunden heraus oder arbeite die Nächte durch oder lies gute Bücher. Auch kalte Bäder, Gymnastik und eine leichte Kost sollen sehr nützlich sein! Was mich anbelangt – ich habe Dich schon schreck288
lich vermißt, ehe Du mir noch den Abschiedskuß gabst, und seitdem atme ich sozusagen in einem Vakuum. Es leben zwar hundertvierzig Millionen Menschen in diesem Land, aber wenn Du nicht bei mir bist, kommt mir der Kontinent vor wie eine unbewohnte wüste Insel. Im übrigen hatte ich eine bequeme Reise, und Du hast wahrscheinlich recht, daß Du darauf bestandest. Ich mußte tatsächlich herkommen und den Tatsachen ins Gesicht sehen. Nun, Johnnie…, ich habe ihnen ins Gesicht gesehen. Ich habe heute meinen Vater besucht. Wenn mein Brief unordentlich geschrieben aussieht, liegt es nicht an der Schreibmaschine. Meine Hände sind noch unsicher, und wenn ich den Arm ausstrecke, zittern meine Finger wie Espenlaub. Das einzige, was ich tief bedauere, ist meine Sparsamkeit am falschen Platz – daß ich hier wohne, statt einfach in ein billiges Hotel zu gehen. Ein Büroschrank wäre meinem eleganten Zimmer vorzuziehen. Es fehlt natürlich nicht etwa an Luxus. Ich habe die „Gemächer‘ der Zwillinge, die Gloria mit der Nurse aufs Land geschickt hat. Ich komme mir ungefähr wie die eingesperrte Prinzessin im Turm vor, denn das Haus ist von oben bis unten bewacht – es fehlen bloß noch die Bluthunde. Vater ist angeblich in geheimer Mission von internationaler Wichtigkeit verreist – es wäre unglaubhaft, wollte man behaupten, ein Mann von seiner Energie und Vitalität hätte sich ins Privatleben zurückgezogen. Und die Wahrheit auch nur durchblicken zu lassen – das wäre niedrigste, gemeinste Ketzerei! Der Mann, der den Lift bedient (ein neuer, seit wir abreisten), starrte mich mißtrauisch an, als ich die Etage nannte. Erst als ich ihm sagte, ich sei Herrn Barclays Tochter, ließ er sich herab, mich zum Foyer zu fahren, 289
aber er klingelte für mich und wartete, bis die Tür geöffnet wurde – und zwar von einem Individuum, das auf acht Schritt gegen den Wind aussieht wie ein Privatdetektiv in Dienerlivree. Endlich war ich genug inspiziert und wurde weitergereicht – rat, zu wem!!! Du kommst nicht darauf: zu unserer lieben Freundin Grace Eccles! Als sie mich sah, brach sie in Tränen aus und machte ein so widerliches Theater, daß ich um ein Haar mein teures Frühstück wieder von mir gegeben hätte. Grace führte mich nach oben in meine Zimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter uns zugemacht, fing sie schon mit einer Flüsterkampagne gegen Gloria an. ‚Ihr Mangel an Glauben, Eleanor, ist einfach erschütternd! Sie ruft Ärzte zu Hilfe, konventionelle Mediziner, die nicht den leisesten Begriff haben von der wahren Ursache der verzweifelten Lage deines Vaters!‘ ‚Wenn jemand krank ist, versteht es sich doch von selbst, daß man einen Arzt zu Rate zieht. Nebenbei‘, erinnerte ich sie, ‚ist die Ursache zu Vaters Schlaganfall nur allzu klar. Selbst wenn er das Trinken schon vor vielen Jahren aufgegeben hat.‘ Grace unterbrach mich mit einem tiefen Seufzer. ‚Auch du, Brutus! Seine eigene Tochter! Kein Wunder, daß Cäsar fallen mußte!‘ ‚Und welches ist deine Diagnose, Grace?‘ Ihre Hände zeichneten vage Figuren in der Luft. ‚Weit, weit über dem Begreifen jener medizinischen Pfuscher, welche die Ursache physischer Katastrophen im Körper suchen!‘ Das erinnerte mich an den alten Unsinn, daß ich beinahe lachen mußte. ‚Vermutlich glaubst du, er könnte geheilt werden, wenn er die Geheimnisse ausgrübe, die schwärenden Wunden reinigte und das scharfe, saubere 290
Antiseptikum der Wahrheit auflegte?‘ ‚Wenn er das nur könnte!‘ Sie seufzte wieder. ‚Das ist ja die Tragödie – und die furchtbare Ironie! Daran zu denken, daß er, der Prophet, der Messias des Wahrheitsaustausches, nun selbst Gefangener seines schuldvollen Geheimnisses ist! Was kann es nur sein, Eleanor? Wie kann ein Mann, der ein so unsträfliches Leben geführt, der niemals geschwankt hat, wenn es galt, seine Sünden zu bekennen – wie kann er einen Grund zu Selbstvorwürfen haben oder gar eine Schuld? Manchmal, Eleanor, bin ich versucht, mit dem Schicksal zu hadern. Es ist so bitter ungerecht!‘ Es klopfte an der Tür, ich machte sie auf, und Gloria berührte mit ihren kühlen Lippen meine Wange. Ihre Begrüßungsworte waren honigsüße Berechnung. ‚Dein Vater ruht gerade. Sobald er erwacht, wird er dich gern sehen wollen. Aber komm jetzt mit, Liebe, ich möchte dir jemanden vorstellen.‘ Sie führte mich an der Hand durch den Korridor ins Empfangszimmer. Ein Mann stand auf und verbeugte sich (wie ein altmodischer Höfling, von der Taille aus!). Ich schenkte ihm nur einen halben Blick, denn ich starrte fasziniert auf ein neues Möbelstück, das im Zimmer aufgestellt worden war… Hier, offen zur Schau gestellt in meines Vaters Haus, stand eine Hausbar, deren offene Türen eine ganze Batterie Flaschen und Gläser zeigten! Als ich mich von dem Schock dieses merkwürdigen Anblicks erholt hatte, merkte ich, daß meine Hand kräftig von einer warmen, feuchten Handfläche gedrückt wurde. ‚Also das ist seine Tochter!‘ sagte er mit einem so schwachen Akzent, daß ich die Herkunft nicht bestimmen konnte. ‚Kein Wunder, daß Ihr lieber Vater so auf Ihren Besuch brennt! Du hast mir noch gar nicht erzählt, 291
daß sie so schön ist, Gloria!‘ Ich brachte mich wieder in den Besitz meiner Hand und trat etwas zurück. Der Mensch setzte sich auf den großen Sessel, den Vater immer bevorzugte. Er war mittelgroß, aber stämmig, und alles an ihm wirkte zottig – das ziemlich ungekämmte dichte Haar, die löwenhaften Augenbrauen, der Anzug, der für einen Mann seiner Figur zu massiv war. ‚Trinkst du etwas?‘ fragte Gloria und deutete auf die Hausbar. Als hätte ich eine Erklärung gefordert, fügte sie hastig hinzu: ‚Wir haben sie für General Podolsky angeschafft; er hat hier soviel Arbeit – er arbeitet lieber hier, und dein Vater liebt es, Fühlung zu behalten. Und so intensive Geistesarbeit erfordert ab und zu eine kleine Anregung.‘ Ich lachte. Podolskys schmale rotbraune Augen maßen mich kalt. Ein langes Schweigen entstand. Dann erhob er sich und begann auf und ab zu gehen, mit gesenktem Kopf, gerunzelten Brauen, die behaarten Hände auf dem Rücken gefaltet. Das Ganze war Theater, jede Wirkung berechnet. Mit dem Rücken zu mir erkundigte er sich nach Dir, Johnnie. Er sagte, er habe gehört, Du seiest ein glänzendes junges Talent, der Begabteste, den Vater je engagiert habe, ein geborener Redakteur. Ich stimmte seinen Schmeicheleien enthusiastisch zu und wollte gerade noch hinzufügen, daß Du ebensoviel Charakter wie Intelligenz hast, als Podolsky auf dem Absatz herumwirbelte, mir ins Gesicht starrte und vorschlug, Du und ich sollten zurückkommen und wieder an den BarclayZeitschriften mitarbeiten. ‚Ich spreche für Ihren Vater – ich weiß, es ist sein sehnlichster Wunsch, daß Sie und Ihr Gatte wieder in unseren Stab eintreten.‘ Ich war mir nicht ganz klar, ob 292
diese Großmut gegen uns schwarze Schafe tatsächlich jemals von Vater vorgeschlagen war oder ob Podolsky nur dem gewohnten Schema der barclayschen Bestechung folgte. Jedoch ich faßte sofort den Verdacht, daß er mehr von Vaters Geheimnis weiß, als er andeutet. Dieser Mensch ist aber kein Munn, Johnnie. Vielleicht war er geneigt, sich in das leer gewordene Zimmer Eds zu setzen und den Kriecher zu spielen, bis die Zeit kommt, wo Vaters Schatten Substanz annehmen kann – aber damit endet jede Ähnlichkeit. Ed Munn war dumm und war ein Narr. Ich bin sicher, Vater suchte sich Podolsky aus und gab ihm den Vorzug vor seinen sämtlichen Jasagern, weil er nicht wieder denselben Fehler machen wollte, nämlich einen dummen Menschen an einen Posten zu setzen, der Intelligenz erfordert. Was aber heute geschah, hat mich davon überzeugt, daß Vater viel besser getan hätte, wenn er Henry Roe oder Dr. Mason an Munns Stelle gesetzt hätte. Sein Anerbieten lehnte ich natürlich ab. Aber Podolsky läßt sich nicht so leicht abfertigen. Er gab mir zu bedenken, ob ich nicht erst bei Dir rückfragen wolle, ehe ich einen definitiven Bescheid gäbe, schilderte mir die Veränderungen in der Organisation, bot Gehälter, die mich geradezu schwindlig machten, sprach von interessanter Arbeit, von der Möglichkeit, viel zu reisen, und der Gelegenheit, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Durch den Ruf Barclays und den günstigen Markt sei die ‚Wahrheitsauslese‘ zum zweitgrößten Blatt dieses Typs geworden. Ich hörte geduldig zu und gab immer die gleiche Antwort. ‚Sie sind ein eigensinniges kleines Mädchen‘, sagte er. ‚Erlaubt Ihr Mann Ihnen denn, so von oben herunter Ent293
scheidungen von solchem Ausmaß zu treffen?‘ ‚Mein Mann und ich erlauben uns gegenseitig nicht, was wir sagen oder tun. Wir halten einander für durchaus fähig, Entscheidungen zu treffen. Dazu kommt noch‘, fügte ich stolz hinzu, ‚daß mein Mann gerade im Begriff steht, mit einer großen Filmgesellschaft abzuschließen.‘ (Ich habe die Hände gefaltet, während ich log, Johnnie. Ich mußte vor diesem Emporkömmling angeben…) ‚Ach, das ist ja herrlich‘, gurrte Gloria. Podolsky zog die Brauen hoch. Und Grace Eccles kam herein, um mir zu sagen, Vater sei jetzt wach und warte, daß ich zu ihm hinunterkäme. Auf der Treppe schlang sie den Arm um mich und sagte: ‚Du mußt dich wappnen, Liebe! Es wird zuerst sehr hart für dich sein. Der gefallene Adler!‘ Bei jedem Schritt wurden meine Knie weicher, und das Blut in meinen Adern wurde zu Wasser. Als wir Vaters Studio betraten, erinnerte ich mich des schrecklichen Abends dort – wie Vater und Ed wegen des Revolvers stritten, mit dem Herr Wilson getötet worden war. Die große Tür zur Terrasse stand offen, die Sonne vergoldete die weißen Gipshände, die die schwarzen Sammetvorhänge zurückhielten. Im hellen Tageslicht hatte der Raum seine Dissonanz und die Atmosphäre des Grauens verloren. Vater wartete auf der Terrasse. Ich sah ihn nicht gleich an – ich blickte zuerst auf die weißen Eisenmöbel, das geranienrote Sonnendach und die Kissen und auf das neue eiserne Gitter… Als ich die Terrasse zuletzt gesehen hatte, war nur die niedrige Brüstung da. Ich hatte eine größere Veränderung im Aussehen meines Vaters erwartet, aber Graces Warnung beherzigt und 294
mich gegen jedes Erschrecken gewappnet. Er ist natürlich dünner, aber die Knochen seines Kopfes sind dadurch in ihrer herrlichen Modellierung nur unterstrichen, und er hat seine frischen, gesunden Farben, das tiefe, warme Sonnenbraun. Er schritt auf mich zu – und da stand mein Herz still. Er zieht das rechte Bein nach, und der rechte Arm steht steif und gelähmt ab. Ich lief auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und küßte ihn. Er fing an zu zittern, und ich fürchtete, er würde fallen. Ich war zu schwach, um sein Gewicht zu stützen, und ich stolperte rückwärts. Plötzlich stand wie aus dem Boden gewachsen ein Wärter da und brachte ihn zurück zu seinem Stuhl. Und da sah ich, daß mein Vater weinte. Mit seiner Linken winkte er mir, ich solle mich zu ihm setzen, und ich zog mir einen der rot gepolsterten Sessel heran, setzte mich neben ihn und legte meine Hand in seine. Ich sprach rasch und atemlos, ich machte keine Pausen zwischen den Sätzen und Gedankengängen. Ich erzählte ihm von uns beiden, von unserer kleinen Wohnung, unserer Arbeit, unseren Hoffnungen und Plänen, ich sprach vom Klima, von den Canyons und der Küste. Nach einer Weile war ich ganz ausgepumpt und konnte nur noch sein Schweigen wartend hinnehmen. Der Druck seiner linken Hand wurde furchtbar schwer. Sein Mund ist verzerrt. Er kann überhaupt nicht sprechen. Er kann nur seltsame, abgerissene Laute ausstoßen, so mißtönend, daß man kaum eine Verwandtschaft mit der menschlichen Sprache erkennt. Hinter dem eisernen Gitter der Terrasse streckt sich der Zentralpark, voll Leben und Sonnenschein, blühendem Flieder, Kinderwagen und Rollschuhläufern. Im scharfen Vormittagslicht war Vaters ‚Sonnenbräune‘ nicht überzeugender als Hollywooder Schminke. Plötz295
lich stieß mich die kräftige linke Hand vorwärts, die harten braunen Augen heischten meine volle Aufmerksamkeit. Er versuchte mit Augen und Brauen, mit den Wangenmuskeln, der Anspannung seiner Finger, der gelähmten Stimme, sich mir verständlich zu machen. Ich glaube, ich verstand, was er mir sagen wollte. Hatte ich Lolas Manuskript erhalten? Wo war es? Hattest Du es gelesen? Planten wir, es gegen ihn zu benutzen? Ehe ich antworten konnte, schnitt Podolskys Stimme scharr dazwischen. Sie klang seltsam ätzend zu dem fettigen Öl seiner Worte: ‚Dürfen wir dieses fröhliche Wiedersehen unterbrechen? Das tut gut, Barclay, wie – wieder mit dem eigenen Kind sprechen zu können! Und sieht Eleanor nicht bezaubernd aus?‘ fragte er mit munterer Familiarität. Vater stieß einen seltsamen, abwehrenden, tierischen Laut aus. Ich folgte der Richtung seines bekümmerten Blickes. Podolsky hielt ein Whiskyglas in der Hand. Er stellte es auf die niedrige Brüstung vor dem eisernen Gitter und streckte seine dicken Beine auf den Kissen eines Liegestuhls. Gloria kam über die Terrasse. Sie ging im Bewußtsein ihrer weiblichen Reize, drehte die Hüften unter dem weichen Pyjama, und der Wind spielte mit dem dünnen Chiffon. Als sie an seinem Stuhl vorbeikam, streckte Vater seine gesunde Hand aus. Gloria aber wich ihr aus und ging zur Brüstung. ‚Allerlei Fragen, die Sie gern an Eleanor stellen würden, wie, Barclay? Kann ich mir vorstellen!‘ Podolsky hob sein Glas und genoß den Duft des Whiskys. ‚Hat sie Ihnen schon viel Interessantes erzählt?‘ Rote Flecke wie Muttermale erschienen auf Vaters künstlichem Sonnenbraun. Eine Ader zuckte auf seiner 296
Stirn. Sein unbrauchbarer rechter Arm schien zu zittern, und sein Kopf zuckte hin und her. Ich konnte das Rasen und Hämmern seines Herzens förmlich fühlen und wie das Blut ihm zu Kopfe stieg und nicht weiterfließen konnte. ‚Machen Sie sich Sorgen?‘ fuhr Podolsky mit so verwirrender Offenheit fort, daß auch mir das Blut zu Kopfe stieg. ‚Glauben Sie, Ihre eigene Tochter würde Sie betrügen?‘ Es war Podolskys volle Absicht, seine Grausamkeit da zu gebrauchen, wo sie Vater am tiefsten treffen mußte. Er erzählte nie etwas, machte keine Feststellungen, er fragte nur, fragte, fragte – einen Mann, der nicht antworten konnte. ‚Liegt Eleanor nicht ihr eigenes Interesse am Herzen? Ist sie nicht Miterbin, Barclay? Fällt ihr nicht nach Ihrem Tode ein hübscher Anteil zu? Wäre es nicht klug, ihr nahezulegen, daß ihre Interessen mit denen ihres Vaters identisch sind?‘ Vater beobachtete Gloria. Sie hatte sich von der Brüstung abgewandt, um einen Wink Podolskys aufzufangen. Es war alles sehr diskret – nur gerade ein Zucken des Augenlides. Aber die Luft der Verschwörung mischte sich mit dem Geruch von Glorias Schönheitsmitteln. Ich dachte an Geheimnisse, die in dunklen Schlafzimmern geflüstert werden, und grübelte, ob Vater jemals in einer indiskreten Befreiung durch Wahrheit mit seiner geliebten Frau geschwelgt hatte und ob Gloria, von der Last des Geheimnisses zu sehr bedrückt, weitergeflüstert hatte… ‚Ich hoffe, Sie verstehen, Eleanor, daß dieser Besuch mit absoluter Verschwiegenheit zu behandeln ist. Es wäre zu desillusionierend für die Millionen seiner Anhänger, wenn sie entdeckten, daß Noble Barclay unfähig ist, sich selbst durch Ausübung seiner Theorie zu heilen.‘ 297
Podolsky lachte und gestikulierte mit der Hand, die das leere Glas hielt. Dann befahl er Gloria, ihm einen zweiten Whisky zu bringen. Sie gehorchte sofort, in ihrem wehenden Chiffon über die Terrasse gleitend – man merkte, wie sie dem General ihre Reize anbot, während sie die ausgestreckte Hand des Gatten mied. Das Gesicht meines armen Vaters war blutlos geworden, die Lippen fahl und bläulich, und er zog die Lider über seine gequälten Augen. Er seufzte – und dieses Seufzen, der einzige menschliche Laut, den er von sich geben konnte, war so schmerzvoll, daß ich es nicht ertragen konnte. Ich verließ fluchtartig die Terrasse, lief blind durch das Studio und die Treppe hinauf. Ich war versucht, laut aus dem Fenster zu rufen oder hinunterzulaufen und ihm zu versprechen, daß wir Lolas Manuskript vernichten würden – ich hätte ihm so gern gelobt, daß ich sein Vertrauen niemals täuschen, seine Schuld niemals enthüllen würde. Aber der Gedanke an Dich hielt mich zurück. Ich weiß, was Du über dies alles denkst, wie Du fühlst, und ich entschloß mich, kein Versprechen abzugeben, keinen Kompromiß zu schließen, kein Erbarmen zu zeigen, bis ich von Dir Nachricht habe. Was sollen wir tun, mein Herz? Müssen wir sprechen? Ist eine Rache notwendig? Wird der Gerechtigkeit Genüge getan, wenn wir das armselige Etwas zerbrechen, das noch von diesem gebrochenen Mann übriggeblieben ist? Die Ermordeten sind vergessen, der Mörder ist tot. Können wir nicht diese eine Wahrheit begraben sein lassen? Bitte, schreibe mir sofort. Ich will tun, was Du sagst. Ich vertraue Dir mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt, und ich brauche Dich so verzweifelt nötig! Und ich hoffe nur, daß ich eines Tages etwas ganz Großes für Dich tun kann, um Dir meine Dankbarkeit zu beweisen, 298
für alles, alles, alles, was Du für mich getan hast! Nimm all meine Liebe! Deine Eleanor“ John an Eleanor Hollywood, 1. Juni „Mein Liebling! Das sind schwere Tage für Dich, nicht wahr? Als ich Deinen Brief bekommen hatte, rief ich sofort im Flughafen an und wollte mir einen Platz im Expreßflugzeug bestellen. Ich betonte sogar die Tatsache, daß ich Noble Barclays Schwiegersohn bin – und Du mußt zugeben, Liebste, das ist keine kleine Konzession für Ansell. Aber es war kein Platz frei, auch nicht für morgen und für übermorgen. Jetzt weiß ich es genau: Wir suchen keine Rache, Eleanor – weder Du noch ich. Als ich ein frisch gebackener Redakteur war und meine Autorität dadurch beweisen wollte, daß ich meine Geschichte nicht ohne weiteres ablehnen ließ – da wollte ich mich vielleicht aus verletztem Stolz rächen. Und wenn Du nichts weiter wolltest als Rache, so würdest Du einfach die Tatsache akzeptieren, daß die Götter eine zermalmende Form der Strafe für Deinen Vater ersonnen haben. Aber auch ehrenhafte Menschen werden von Schlaganfällen heimgesucht. Wenn es eine Strafe sein soll, so ist die Form psychologischer Natur. Vielleicht suchte Dein Vater noch Rettung durch seine Befreiung durch Wahrheit. Sein Drang zum Bekenntnis mag so stark geworden sein, der Druck so übermächtig, daß er unbewußt die Stummheit gewählt hat. Der Kreis ist teuflisch … Noble Barclay kann nicht 299
bekennen, weil er weder sprechen noch schreiben kann; und umgekehrt, er kann nicht von seinen Leiden genesen, weil er nicht imstande ist zu bekennen! Vielleicht sehe ich es falsch. Ich weiß so wenig. Ich weiß nur, daß es für Dich und mich nicht einfach eine Frage der Rache ist. Oder der Strafe. Du malst ein ergreifendes Bild von dem gebrochenen Adler in seinem Käfig in der Fünften Avenue, aber wir wollen uns nicht zu sehr dem Mitleid hingeben, Kind – denn auch das Mitleid ist lähmend! Die Morde sind nicht mehr wichtig. Auch nicht der alte Schwindel um die Entdeckung der Befreiung durch Wahrheit. Aber die Wahrheit muß ans Licht kommen. Nicht, um die arme Lola von der Verleumdung zu reinigen, sie sei Munns Geliebte gewesen, und auch nicht, weil Homer Pecks Geist uns quälen wird, bis wir der Welt sagen, wie bitter er bezahlen mußte für seine Sünde, eine Religion zu schaffen, die keinen Gott kennt; auch nicht wegen des abstrakten Begriffes Gerechtigkeit. Dein Vater mag jetzt hilflos und stumm sein, aber sein Einfluß wirkt weiter – der Schwindel, die Lügen, der Humbug, der in seinem Namen fortgesetzt wird! Nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte, fühlte ich, daß ich alles gründlich zu Ende denken mußte, und machte einen langen Spaziergang. Und weißt Du, welches Bild mich aus meinen Gedanken riß? Ein Zeitungsstand mit grellbunten Magazinen, und sechs davon kamen aus dem Verlag Noble Barclays! Ich kaufte sie alle sechs. Ich las sie. Ich fand sie früher ordinär und platt, aber komisch. Jetzt, nachdem mich sechs Monate von der frommen Atmosphäre der Barclaykonferenzen trennen, finde ich diese Magazine bösartig und übel. Zeit und Entfernung lassen mich klarer er300
kennen, daß solche Zeitschriften gute, leichtgläubige Bürger irreführen und falsch unterrichten – Menschen, die an die Lauterkeit des gedruckten Wortes glauben. Hier wird im Namen der Wahrheit jede Tatsache entstellt, es werden Gerüchte verbreitet, Hochstapler glorifiziert und Scharlatane und Galgenvögel ehrbar und glaubwürdig gemacht! Kennst Du Podolskys Geschichte? E. E. Munn war ein Waisenknabe gegen ihn. Bei einer Konferenz im Dezember erinnerte ich Deinen Vater daran, daß Podolskys politische Lügen von der New-Yorker Presse bloßgestellt wurden. Es war allgemein bekannt, daß er gut davon lebte, politische Mythen in Umlauf zu setzen und eine internationale Atmosphäre der Falschheit und des Mißtrauens zu schaffen. Als Usurpator im häuslichen Leben Deines Vaters ist Podolsky nicht annähernd so fürchterlich wie als Inhaber seines Privatbüros. Ich halte übrigens die Podolsky-Barclay-Achse nicht für verderblicher als andere Kombinationen, die verschwenderisch falsche Lehren und falsche Informationen unter unseren Landsleuten und Freunden verbreiten. Es gibt auch andere, die den wichtigen, sozialen Beruf der Presse in lockerer, anarchistischer Form betreiben. Dies Verbrechen ist allgemein. Aber das macht es nicht entschuldbar. Läßt man Mörder frei, weil jeden Tag gemordet wird? Was für ein Sermon! Du bittest mich um Hilfe, und ich schreibe Dir einen Leitartikel. Aber Du mußt das Ganze so objektiv ansehen, als hättest Du nie den Namen Barclay getragen. Was Dir das Herz zerreißt, mein Liebling, das ist der Konflikt zwischen zwei tief gewurzelten Bedürfnissen. Du weißt um Deines Vaters Schuld, und 301
Du hoffst dennoch, ihn zu schützen. Denn er ist und bleibt Dein Vater, er ist alt und krank, und Du bist nicht mit einem kalten Herzen geboren. Wir verlangen wenig vom Leben, Eleanor – nur unsere Chance, es ehrlich und anständig zu leben! Der Alptraum muß ausgetrieben werden, wie man die Teufel austrieb, oder wir werden selbst das Opfer des Alten und Üblen, des Unehrlichen und Sterbenden. Wir dürfen nicht weiter an Kindermärchen hängen – nur einem Gelähmten und Todgeweihten zuliebe, und erst recht nicht, um ölige Kriecher und buhlerische Intriganten zu schützen. Wenn wir uns entschließen müssen, offen zu sprechen, so geschieht es für unser Geschlecht, für die Jungen und Gesunden! Wie Deine Entscheidung auch ausfallen mag, ich werde Dich immer lieben. Aber es wäre nicht ehrlich, wenn ich Dir verschweigen würde, daß wir nach meiner tiefsten Überzeugung niemals ehrlich wir selbst bleiben können, wenn wir nicht die volle Wahrheit sagen. Wilson und Lola sind tot, und außer uns beiden gibt es keinen Menschen, der die Geschichte so genau in allen Einzelheiten kennt, und keinen, der sie so ehrlich erzählen kann wie Du und ich. Hast Du den Mut dazu, Eleanor? In inniger Liebe Dein John“
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1970 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409–160/10/70 • ES 8 C Lektor: Gisela Bentzien Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM*