Kösel Sachbuch Redaktion: Hermann Hemminger
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lackner, Stephan: Die fried...
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Kösel Sachbuch Redaktion: Hermann Hemminger
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lackner, Stephan: Die friedfertige Natur : Symbiose statt Kampf / Stephan Lackner. - München : Kösel. 1982. (Kösel-Sachbuch) ISBN 3-466-11022-X © 1982 Kösel-Verlag GmbH & Co., München Alle Rechte vorbehalten Bearbeitung: Hubert Stadier Umschlag: Design Team, München Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany ISBN3-466-11022-X
Inhalt
Die friedfertige Natur Erstes Kapitel - Wert und Unwert des Lebens ..............................
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Das Leben, manchmal strahlend, manchmal elend, kann ohne Kooperation nicht funktionieren: der Rasen braucht Regenwürmer zum Auflockern, unser Darm braucht Verdauungsbakterien. Zweites Kapitel — Sinn der biologischen Entwicklung ...............
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Die Karriere vieler Lebewesen zielt auf Verfeinerung und Verschönerung hin. Die Zuchtwahl wird nicht bloß durch Konkurrenz bestimmt, sondern ebenso durch liebevolle Partnerwahl.
Drittes Kapitel — Unsinn der Geschichte
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Die Triebkräfte der Geschichte sind nicht abstrakt zweckbedingt, sie sind beschränkte Lebensfunktionen. Hackordnung, territoriale Herrschsucht und Tabus können durchschaut und überwunden werden. Viertes Kapitel — Menschsein: ein Balanceakt..............................
Der Urmensch, sich aufrichtend, entdeckte den Stab als Verlängerung des zu kurz gebliebenen Arms. Trotz unbeschränkter Erweiterung seiner Einflußsphäre bleibt der Mensch labil, ungleichgewichtig, gefährdet.
99
Fünftes Kapitel — Möglicher Sinn, sinnvolle Möglichkeiten . . . . 131
Todesfurcht - Weltekel - Fatalismus: diese drei Hauptfeinde des frischen, frohen Lebensgefühls lassen sich durch die Vernunft überwinden. Das Ziel ist klar: der menschlichere Mensch. Zusammenfassung - Optimistisches Manifest ................................167
Die friedfertige Natur
Der Mensch ist nicht am Ende. Herausgefordert durch tödliche Gefahren, beginnt er sich erst jetzt voll zu entfalten.
(Robert Jungk, Der Jahrtausendmensch)
Die ungeheure Dringlichkeit der menschlichen Friedensbestrebungen wird durch das bisherige biologische Denken keineswegs unterstützt. Der Neo-Darwinismus behauptet, daß Kampf in der Natur nicht nur allgegenwärtig, sondern für die Entwicklung der Arten sogar heilsam sei. Die gewaltsame Auswahl der Geeignetsten durch und für den Lebenskampf: das ist die Prämisse des biologischen Denkens seit mehr als hundert Jahren. Aus diesem grausamen Dogma wird alles Wesentliche hergeleitet: die Höherentwicklung der Arten, die Rangordnung zwischen nicht miteinander verwandten Lebensformen, schließlich auch der industrielle Fortschritt, ja der Zweck des Lebens. Wenn der Biologe in die goldgrün webende, friedliche Natur hinausschaut, hat er fast ein schlechtes Gewissen, weil er gerade nicht die - natürlich vorhandenen — Kampfhandlungen aufspürt. Daß riesige Flamingoscharen ohne Feinde leben und doch nicht degenerieren, daß jede raubtierlose Inselfauna tadellos durch Jahrtausende gedeiht, das wird als zu belächelndes Ausnahmephänomen hingestellt. Das Eigentliche ist - für den Biologen - die harte Zuchtwahl durch Beseitigung der Schwächeren und Deformierten. Man will nicht zur Kenntnis nehmen, daß beispielsweise Bienen kaum todbringende Feinde haben, daß sie ganz überwiegend an Altersschwäche sterben; sie töten auch kaum andere Kreaturen. Sind sie deshalb etwa untüchtig? Die Natur ist unendlich vielfältiger, als man nach dem Prinzip des survival of the fittest (des Überlebens der Geeignetsten) annehmen dürfte. Die Natur hat von jeher sozusagen spielerisch zahllose neue, stabile Formen hervorgebracht. Liebe, Kooperation und Symbiose waren hierbei ebenso am Werk wie Konkurrenz. Wären die darwinistischen Zuchtwahlprinzipien wirklich allgültig, so müßte die Erde nur von tarnfarbenen, stachligen, übelschmeckenden oder gar giftigen Wesen bevölkert sein. Das ist nicht der Fall: mit
Blütenpracht und Vogelsang, mit Pfauen und Pfauenaugen breitet sich Schönheit in der Biosphäre aus. Also muß ein Prinzip in der Natur wirken, das der Verkrampfung des Lebens im »Kampf ums Dasein« entgegenarbeitet. Manche Biologen behaupten, daß der natürliche Tod eigentlich unnatürlich genannt werden sollte. Dies stimmt nachweislich nicht. In langjährigen Studien und Beobachtungen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß etwa 95 Prozent aller Wesen ein friedfertiges Leben führen und ihre Daseinsfrist einer innerlich ablaufenden Uhr entsprechend ausnützen. Dies gilt allerdings bloß dann, wenn die Raub- und Tötungssucht des Menschen nicht eingreift! Sicher, Grausamkeit und Gewalt spielen eine Rolle in der Biosphäre und haben die Evolution mitbestimmt; das kann man ruhig konstatieren, ohne es deshalb zu verherrlichen. Eine friedfertig orientierte Biologie gäbe auch dem Menschen neue Gründe zum Optimismus. Sie könnte zeigen, daß überall die Wesen das Leben als etwas Wünschenswertes empfinden und nicht als Vorspiel zu einer Katastrophe. Die meisten Jungtiere spielen offensichtlich lebensfroh miteinander, die Blüte wendet sich der Sonne zu, und der Schmetterling genießt ihren Honig. Wenn nun das Leben als solches ein erstrebenswertes Gut ist, braucht man nicht nach außerweltlichen, transzendenten oder sonstwie übergeordneten Lebenszwecken zu suchen. Dann kann man um des Lebens willen leben. Man kann sich dann an eine Weisheit halten, die bei vielen Denkern zu vielen Zeiten anklingt; so schreibt etwa Heinrich Heine an Karl Gutzkow (am 28. August 1838): »Kunst ist der Zweck der Kunst, wie Liebe der Zweck der Liebe und gar das Leben selbst der Zweck des Lebens ist.« Da die biologischen Fachwissenschaften ihre weltanschaulichen Grundlagen wohl kaum sehr bald revidieren werden, ist es an der Zeit, eine neue Weltansicht zu etablieren. »Biosophie«, also Lebensweisheit, will dem trostlosen Fatalismus der Existentialisten und Behavioristen einen begründeten Optimismus entgegenstellen. Das Leben ist nicht »Kampf aller gegen alle«. Eine biosophische Bestandsaufnahme und Zielsetzung hat Auswirkungen auf vielen Wissensgebieten, von der Paläontologie über die Geschichtswissenschaft bis zur Futurologie und zur praktischen Lebenshilfe. Die Biosophie zeigt, daß der Mensch nicht »natürlich« handelt, wenn er den Krieg als Grundgesetz des Daseins proklamiert, sondern daß er sich damit gegen die - größtenteils friedfertige — Natur vergeht. 10
Die Biosophie soll die Forschungsresultate der gründlichen biologischen Detailarbeit mit dem Verallgemeinerungswillen der Philosophie verbinden. Mit diesem Terminus ist keine Sektiererei beabsichtigt; es soll nur eine gewisse Tendenz unter einen einprägsamen, schlagwortartigen Begriff gebracht werden, um die Zusammenfassung schon vielfach bemerkbarer Bestrebungen zu erleichtern. Seit ich als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg die Sinnlosigkeit des menschlichen Zerstörungswillens in blutiger Nähe erfuhr, hat mich die Problematik aggressiven Verhaltens nicht mehr losgelassen. Und diese Gefahr wird von Jahr zu Jahr rasanter. Wie das Stockholmer Friedensinstitut festgestellt hat, waren im Ersten Weltkrieg 20 Prozent, im Zweiten Weltkrieg über die Hälfte und im Vietnamkrieg etwa 90 Prozent der Opfer Zivilisten. Man soll ja nicht linear in die Zukunft hinaus projizieren, aber... In einem berühmt-berüchtigten Interview, das der »Vater der Neutronenbombe«, Samuel T. Cohen, 1981 dem holländischen Fernsehen gab, wurde gefragt: »Denken Sie, daß es Krieg geben wird?« — Doktor Cohens Antwort: »Ja, es ist fürchterlich zu sagen. Ja, ich denke schon. Ich denke, daß es einfach in der Natur des Menschen liegt, das Kämpfen. Es hat immer Kriege gegeben...« Die These, daß der Aggressionstrieb in der Erbmasse des Menschen vorgegeben sei, wird jedoch durch zahlreiche neuere Forschungsergebnisse widerlegt. Das Beispiel der friedlichen Hunsa ist weithin bekannt geworden. Auch der kleine Stamm der Semai in Malaysia kennt keine Angriffslust. Kinder werden dort niemals körperlich bestraft, sie sehen keine Gewaltanwendung und können deshalb kein aggressives Verhaltensmodell imitieren. Mord ist daher bei den Semai unbekannt. — Selbst ein einziges solches Beispiel genügt, das alte fatalistische Einverständnis mit dem »natürlichen« Krieg grundlos zu machen. Immerhin hoffe ich, daß dieses Buch es der aktuellen Friedensbewegung ermöglichen wird, sich selbst nicht mehr als schwer durchsetzbare Ausnahme zu empfinden. Der Mensch muß sich endlich der - meistens friedfertigen - Natur einordnen und seine eigene, tatsächlich unnatürliche Aggression eindämmen. Santa Barbara, im Januar 1982
Stephan Lackner
Erstes Kapitel Wert und Unwert des Lebens
»Es wird dunkel«, sagte die Eintagsfliege, »der einzige Tag der Welt geht zu Ende.«
Schließlich und endlich, wir müßten doch herausfinden können, was unser Leben ist! Ist es ein sinnleerer Ablauf von Stoffwechselprozessen? Hat es absoluten Wert? Haben die zahlreichen Selbstmörder recht, die das Leben als solches verwerfen? Oder haben die Herzchirurgen recht, die es mit ungeheurer Mühe verlängern? Beide zugleich können nicht recht haben, jedenfalls nicht in ihrer Haltung zu dem eigentlichen Gegenstand Leben. Ist die grenzenlose Angst einer liebenden Mutter um ihr sterbendes Kind »richtiger« als das achselzuckende Jobgefühl des Piloten, der seine Bombenlast durch Hebeldruck auf Tausende entlädt? Rätsel, unabsehbare Rätsel. Und doch: das Leben ist hier! Es handelt sich nicht um einen Spiralnebel in unerreichbarer Ferne, nicht um das Erdinnere, von dem unsere Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen sind. Du und ich, wir sind ganz ausgefüllt mit Leben. Man sollte es ergreifen, begreifen können. Manchmal sagen wir so obenhin von einem Bekannten: Was für ein unmöglicher Mensch. Vielleicht haben wir unseren Planeten bereits so denaturiert, daß der Mensch tatsächlich unmöglich geworden ist? Unser Leben lang befinden wir uns mitten drin im Spiel und Widerspiel der lebendigen Kräfte ringsum, auch haben wir die beste Innenansicht vom Leben; sollen wir dann doch am Ende fragen: Was war das eigentlich, das Leben? Es ist vorübergeflirrt, bunt oder grau, manchmal berauschend schön, manchmal überwältigend gräßlich - einzig das Unsere - aber was war es eigentlich? Kann ein Philosoph viel mehr sagen als ein Schankwirt, der seinen deprimierten Gast tröstet: So ist das Leben eben - ?
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Wir müssen das Leben nach seinen eigenen Bedingungen akzeptieren. Es gibt keine anderen, jedenfalls keine, die für uns in Betracht kämen. Wir müssen von »gut« und »schlecht« reden, auch wenn uns die Relativität solcher Wertsetzungen völlig bewußt ist. »Gut für wen?« — so haben wir stets zu fragen, bevor wir Entscheidungen fällen. Je allgemeiner sich dieses »gut« auswirken kann, desto wünschenswerter. Die ansteigende Stufenleiter immer positiverer Werte stellt sich demnach etwa so dar: Gut für mich selbst - für meine Familie — für meine Gemeinde, meinen Verein, meine weltanschauliche oder religiöse Gruppe - für meine Nation - für die Menschheit; erst bei der allgemeinsten Zielsetzung »gut für das Leben« hebt sich die Relativität dann auf, und wir können ruhig ein allgemeinverbindliches Gut ins Auge fassen. Geradeso müssen wir von »groß« und »klein« sprechen, als ob das einen wohldefinierten, allgemeinverbindlichen Sinn ergäbe; es heißt aber nur: groß oder klein im Verhältnis zu meiner eignen Größe von nicht ganz zwei Metern. »Klein« bedeutet nie einflußlos oder minderwertig, die innere Struktur einer Zelle ist genauso perfekt wie der ganze Mensch, es fehlt da nichts infolge ihrer sogenannten Kleinheit. Für die Antike galt der Satz des Protagoras: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Ein gesundes Selbstbewußtsein ging damit einher. Erst nach der kopernikanischen Umstülpung des Weltbildes bekam der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex. 1686 berichtet Bernard de Fontenelle den Ausruf einer Dame, die von der damals hypermodernen Naturwissenschaft verstört war: »Dieses Universum ist zu groß, ich verliere mich darin. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich bin nichts mehr. Die Erde ist so erschreckend klein!« Noch 1973 machte Max Horkheimer eine gefühlsmäßig ganz ähnlich bedingte Aussage: »Die Wissenschaft macht nicht nur den einzelnen, sondern im Grunde die ganze Menschheit zu etwas Vergänglichem, ich möchte fast sagen - angesichts der zahllosen Milchstraßen - zu einem Nichts. Daraus erwächst nun, daß das Leben heute nicht mehr von einem Sinn durchdrungen ist...« Jedoch ist der Mensch keinesfalls deshalb zu verachten, weil der Planet, auf dem er zu Hause ist, im Vergleich zum Kosmos nur als ein Stäubchen erscheinen könnte. Sonst müßte es auch umgekehrt gelten: »Der Mensch untersucht die subatomaren Partikelchen und fühlt sich unendlich wichtig.« Wieso sagt das niemand? Weil der Mensch sein eigenes Maß ist! Groß ist ein Organismus, der größer als das Durchschnittslebewesen in unserer Alltagsumgebung ist. Riesig 16
im Wahrnehmungsbild ist der Blauwal, er erregt in uns den Schauer der Riesenhaftigkeit. Aber damit hört es eben auf, genau wie ein Kolibri nun mal sichtlich winzig ist. Der Mensch ist — normal. Nur keine Bescheidenheit am falschen Platz! Wir haben genug andere Fehler, die uns bescheiden stimmen können. Blaise Pascal erkannte dies deutlich im 17. Jahrhundert: »Was ist letztenendes der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.« Überraschend wurde diese intuitive Standortbestimmung im 20. Jahrhundert von Arthur Eddington aufs genaueste bestätigt: »Ungefähr in mittlerer Größenordnung zwischen dem Atom und dem Stern befindet sich ein nicht weniger bewundernswertes Gebilde — der menschliche Körper. Etwa 1027 Atome bilden diesen Körper; ungefähr 1028 Menschenleiber würden genug Materie liefern, um einen durchschnittlichen Stern zu bilden.« Die Ziffer zehn, gefolgt von 26 Nullen nach innen, von 27 Nullen nach außen: diese Symmetrie ist erstaunlich, und die Mitte zu bilden wäre eine geradezu kosmische Aufgabe für den Menschen. Vergessen wir jedoch nicht eine andere Ortung für den Menschen, die von Montaigne (1533—1592) stammt und sehr ernüchternd wirkt: »Auf den höchsten Thron der Welt erhoben, sitzen wir doch noch immer auf unserem eigenen Hintern.«
Alles in allem: Das Leben ist ein wunderbares Abenteuer! Muß man diesen Satz mit schlechtem Gewissen aussprechen, angesichts von Kriegen und Schikanen, angesichts von Entbehrung und Entmutigung ringsum? Ist die Liebe zum Leben heute etwas, dessen man sich zu schämen hätte? Entspringt sie einem unmodern gewordenen, naiven Optimismus? Ich glaube nicht. Ich bin überzeugt, daß dies die korrekte Beschreibung eines Tatbestandes ist: Das Leben ist ein begehrenswertes Gut. Die menschliche Seele ist nämlich flexibel genug, sich Auswege aus jeder Misere zu schaffen. Der Mensch ist nicht so geartet, daß er volle 24 Stunden des Tages unglücklich sein kann. Wir besitzen die Fähigkeit, Glücksgefühle in uns selbst zu erzeugen. Ich sage absichtlich nicht: Glück zu empfinden. Denn das Glücksgefühl ist keine Sinneswahrnehmung wie »grün« oder »warm«. Das heißt, die Beziehung »immer wenn, dann« besteht nicht für das Vorkommen 17
des Glücks. Jemand kann den Geschmack von Schokolade als Glück schlechthin empfinden, sich überfressen und plötzlich denselben Geschmackseindruck widerlich finden. Es herrscht da keine mechanistische Kausalverbindung. Nicht einmal der Geschlechtsakt gibt die Garantie für einen »Lustgewinn«. Das Glück wird tief in uns selbst erzeugt. Die Dichter beschreiben, daß einem »die Brust zerspringen will« vor Wonne. Physiologischer Nonsens? Gewiß; aber phänomenologisch eine gute Darstellung der Ausweitung des Ichs, die durch das Glücksgefühl zustande kommt. Jemand hat ein glückliches Temperament und kann Zufriedenheit spüren, wenn der Abendstern in sein Zellenfenster leuchtet. Ein anderer muß ein offizielles Bankett mit Kaviar und Sekt absolvieren und ist angeödet. Ein dritter ist humoristisch veranlagt und sieht komische Karikaturen in solchen Gesichtern von Mitmenschen, die einem vierten als furchterregende Fratzen erscheinen. Es gibt da keine Norm, das Glückspotential ist in jedem Menschen verschieden. Aber jeder kennt das Glück. Jeder besitzt ein anderes Glück. Das Merkwürdige ist nun, daß Glück trotzdem oft ansteckend wirkt. Ein Glücklicher kann - durch Suggestion, Erklärung oder Beispiel — die Möglichkeit der Lust (oder wenigstens der Freude) in seinem Nächsten hervorrufen. Als Junge verließ ich einmal mit meiner Mutter ein Haus; es hatte gerade geregnet, und die Straße stand voll unerwarteter Pfützen. »So ein häßlicher Dreck!« schimpfte meine Mutter. Ich widersprach: »Schau nur, wie hübsch sich die Wolken in den Pfützen spiegeln!« Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie ließ sich von mir über die Wasserlachen helfen. »Das ist gerade, als ob wir durch den Himmel hüpften!« sagte sie ganz vergnügt. Unsere Glücksfähigkeit ist etwas Kostbares. Wir sollten sie bewußter kultivieren, nicht nur um unserer selbst willen, sondern damit die Erde ein freundlicherer Aufenthalt wird. Selbstverständlich kann keiner mit Bestimmtheit wissen, was in einem ändern Ich vorgeht. Deine Lustempfindung kann völlig verschieden von der meinigen sein. Jedoch - Analogieschlüsse sind verführerisch. Gefühlsmäßig erscheint mir der Maulwurf als mißgelauntes Wesen. Aber vielleicht ist er sehr zufrieden da unten im Dunkeln - und manchmal sogar selig? »Wollust ward dem Wurm gegeben«, sagte Schiller. Woher kam ihm diese Kenntnis? War er selbst einmal ein Wurm? Kennt der Dichter den Wurm besser als der Wurm sich selbst? 18
Auf das Risiko hin, daß ich nur meine eigene Veranlagung auf andere projiziere, behaupte ich: Jedes höher entwickelte Lebewesen verspürt, für Augenblicke wenigstens, reine Lust. Ich glaube, jede Menschenseele ist von den äußeren Daseinsbedingungen so unabhängig, daß sie zwischendurch doch ein fast unbegründetes, ganz irrationales Jauchzen ausstößt. Der Grund mag im Überfließen einer endokrinen Drüse liegen; das ist egal. Wie herrlich ist es doch manchmal, sich lebendig zu fühlen, da zu sein! Es ist schon wie im amerikanischen Sprichwort, the best things in life are free; für die besten Momente im Leben braucht man nicht zu bezahlen, weder mit Geld noch mit einem Katzenjammer.
Das Vorwärtskommen im mechanischen Sinn ist unserem Dasein nicht gemäß. Theoretisch ließe sich ja denken, daß ein Kind schon einen ganz bestimmten Lebenszweck für sich erkennt oder wählt und dann unbeirrbar auf die Erfüllung zueilt. Praktisch ist dies nie der Fall. Es wäre auch angesichts der Vielfalt unserer Erlebnismöglichkeiten durchaus nicht wünschenswert. Gradlinig ist das Leben eines Schweines von den Zitzen der Muttersau bis zum Räucherofen. Da ist es vergleichsweise schon vorzuziehen, daß wir uns bisweilen sinnlos fühlen. Nur dürfen wir dieses subjektive Gefühl nicht objektivieren wollen. Das taedium vitae (der Lebensüberdruß) der spätrömischen Antike, die existentielle nausee (der Ekel) müssen uns als zeitgebunden, als überwindbar gelten. Sogar jeder Tagesverlauf gibt uns ein paar Zeitspannen der Erfüllung oder der Hoffnung. Kein Menschenleben bildet die kürzeste, also gerade Verbindung zwischen dem Punkt der Geburt und dem Abschlußpunkt. Aber auch kein Fluß bietet sich auf der Landkarte als Gerade dar, und doch fließt das Wasser auf dem kürzesten Wege bergab. Wie mutwillig und launenhaft erscheint jeder Fluß auf dem flachen Papier. Windungen und Schlingen sind Anzeichen nicht für Launen des Stromes, sondern für Hindernisse, Verlockungen der Täler, Abkürzungen, Abnutzung im Zeitverlauf. Man muß nur die Tiefendimension hinzurechnen, dann ist allerlei erklärt. Vom Flugzeugfenster aus »oberflächlich« beobachtet, sieht der Verlauf in der Fläche willkürlich und sinnlos aus. Vielleicht fehlt uns nur der Blick für eine gewisse Tief endimension, um das menschliche Leben und die Weltgeschichte zu verstehen? 19
Einigen von uns erscheint das Leben »tief«, mit Bedeutungen und aufregenden Stimmungen durchwoben. Die Probleme sind vielschichtig, Sinn ist wichtiger als funktionierende Mechanik, ein Streichquartett von Beethoven vermittelt mehr Ahnung vom Geist in der Welt, ein Gedicht von Hölderlin offenbart mehr vom Urgrund des Seins als alle Statistiken und Analysen. Aber seltsamerweise läßt sich die »Tiefe« der Welt nicht propagieren. Versuche nur mal einem Philister zu erklären, daß ungeheure Bedeutsamkeiten in unserem Erleben vorkommen - er wird sie einfach nicht erkennen und nicht anerkennen. Widerlegt das die Existenz der menschlichen Tiefe? Ist das Leben deshalb vielleicht flach und bedeutungslos ? Nein, der Philister kann mir das nicht einreden — so wenig wie ich ihm die Tiefe. Wer weiß, vielleicht gibt es Lösungen für die wichtigsten Probleme auf den vorhandenen Millionen und Abermillionen Seiten bedruckten Papiers, und sie sind nur nicht beachtet worden? Allerdings sieht ein Satz, als schwarzweißes Muster betrachtet, genauso aus wie ein anderer. Das erschwert unsere Suche. Die prätentiösesten Sätze, vom Autor selbst hervorgehoben, mögen lange nicht so aufschlußreich sein wie eine obskure Nebenbemerkung. Goethes Diktum »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«, als Gipfel des herrlichen Faust-Dramas hingestellt, ist, genau betrachtet, doch ziemlich sinnleer: Wo sind wirklich Engel - was heißt Erlösung - hat Faust sich etwa tatsächlich immer strebend bemüht, etwa in Gretchens Schlafkammer? — Dagegen ist Goethes wichtigster Satz ganz unauffällig in einem Brief niedergeschrieben, den er am 8. Februar 1792 an Heinrich Meyer richtete. In bescheidenem Gewände bietet dieser Grundsatz, obgleich er nicht einmal von einem Berufsphilosophen stammt, die Summe aller menschlichen Weisheit. »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst — und wenn wir nach innen das Unsrige getan haben, so wird sich das nach außen von selbst geben.« Das ist unübertrefflich. Im Goetheschen Sinne läßt sich der Leitsatz aufstellen: Leben um des Lebens willen. Mit Obertönen und Nebenbedeutungen dürfte dieser Satz alles umfassen, was unsereinem als Ziel vorschwebt. Auch mit dem basso ostinato des Todes darunter, der nicht unserem Willen entspricht, der aber das Leben nicht ungültig machen kann. 20
Mit Lust und Schmerz, mit heißem Begehren und kühlem Entsagen, mit schillernden Überraschungen und zähflüssiger Langeweile, mit Schuld und Vergessen, mit Grausen und Herrlichkeit: es ist dein Leben, dein einziges Leben, und darum für dich von unabdingbarer Bedeutung. Wir wollen, wir können um des Lebens willen leben!
Leben für das Leben selbst: diese Forderung hat nur Sinn, wenn das Leben wünschenswert, zielgerichtet und ganz allgemein biosophisch vertretbar ist. Sonst wäre sie wie der sagenhafte Skorpion, der sich mit dem eigenen Stachel ersticht. Wenn der Satz stimmte: »Das Leben ist Kampf aller gegen alle« - implicite also auch gegen uns selber - so wäre es kaum der Mühe wert, um eines solchen trüben Daseins willen große Anstrengungen zu machen und Opfer zu bringen. Unterdrückung der Schwächeren in unerbittlicher Hackordnung zur Durchsetzung hierarchischer Strukturen: für einen solchen Lebensbegriff könnten wir uns heute gefühlsmäßig nicht einsetzen. Aber ist das Leben denn nicht so geartet? Hören wir nicht immer wieder, sogar von Goethe: »Du mußt Amboß oder Hammer sein - « ? Lassen wir uns nicht durch ein unterbelichtetes Weltbild die Lebensfreude verderben! Das Leben umgibt den Erdball als ein funktionales Gewebe. Es besteht ebenso aus Zusammenarbeit wie aus Wettbewerb. Nicht gegen die Natur, sondern im großen Teppich natürlicher Phänomene und Tendenzen können wir unsere menschlichsten Ideen fassen und zu verwirklichen suchen. Kooperation ist in der Natur mindestens so häufig und entscheidend wie Konkurrenz. Um diesen Blickpunkt zu gewinnen, müssen wir nur die übergeordneten Einheiten des Lebens zu sehen lernen. Die Pflanzendecke eines Gebietes ist bestrebt, sich auszubreiten und gesund zu erhalten, sie heilt ihre Wunden, sie ist ein ganzheitlicher Organismus. Eine solche Zusammenschau, die wissenschaftlich vertretbar ist, führt zu hoffnungsvolleren Zielbildern als die frühdarwinistische Vorstellung, das Leben sei unablässiger Krieg. Ein Teich ist nicht nur ein äußerlicher Raumzeitausschnitt, das weiß heute jeder an Ökologie Interessierte. Vergiftungen beeinflussen den ganzen Tümpel, Zufuhr von Nährstoffen und Frischwasser kommen der Ganzheit des Ökosystems zugute, Raub und Symbiose sind im Gleichgewicht. Es gibt kranke und gesunde Gewässer, 21
ähnlich wie es sieche und vitale Individuen gibt. Der Teich ist fast ein Lebewesen; er ist den in ihm heimischen Wesen übergeordnet, ohne von ihnen prinzipiell verschieden zu sein. Ebenso ist der Wald ein Beispiel für naturgegebene Kooperation. Ein gesundes, unbeschädigtes Gehölz schützt und stützt seine Einzelglieder. Der Waldrand mit seinen dichtverwobenen, bis zum Boden hinunter belaubten Ästen, die er der Außenseite zukehrt, ist ein Organ, genauso wie die Haut eines Tieres ein Organ ist. Dieser Mantel ist grundsätzlich anders konstruiert als das hohle, kahlstämmige Waldesinnere, das dem Knochengerüst vergleichbar ist. Zusammen bilden sie einen großen Organismus, dem sein übergeordnetes Leben wichtiger zu sein scheint als die Erhaltung seiner Einzelglieder. Dem Wohlergehen dieses Überwesens werden unzählige Samen und Keimlinge geopfert, die im schattigen Waldesinnenraum nicht zur Entfaltung kommen können: dies entspricht dem Opfer der Millionen Spermien eines Tieres, von denen nur eins ein Ovum erreicht und befruchtet. Es entspricht nicht einer Ausrottungskampagne oder einem Völkermord. Wenn alle Keimlinge emporschießen dürften, würde der ganze Wald ersticken; und der Wald ist erhaltenswerter als ein Samenkorn. Waldrand und Blätterdach bilden gemeinsam eine Schutzhülle, die die Feuchtigkeit im Innern zurückhält, schädigende Stürme abwehrt und-vielleicht die wichtigste Aufgabe! - Übervölkerung verhindert. Durch diese strenge Auswahl wird das Fortbestehen des Waldes als Ganzheit gesichert. Die Menschheit könnte allmählich lernen, sich ähnlich als funktionelles Ganzes zu empfinden und zu verhalten. Genauso besteht das Getreidefeld aus sinnfällig gewordenen Hilfeleistungen: kein Mitglied dieser Bruderschaft könnte sich einzeln gegen Wind und Wetter verteidigen. Der zielbewußt züchtende Mensch hat dies begünstigt. Ein Getreidehalm muß sich darauf verlassen können, daß sein Nachbar ihn stützt. Wenn er seine eigene individuelle Standhaftigkeit in jedem Regen und Hagelsturm beweisen müßte, hätte er nicht genug Lebensenergie, um noch dicke, fruchtbare Körner hervorzubringen: all seine Vitalität ginge auf die Aufgabe drauf, seine Standfestigkeit mit immer mehr Zellulose und Kieselsäure zu erhöhen. Nicht der »Tüchtigste« im darwinisch-individualistischen Sinne überlebt, sondern der Kooperativste. Die Botaniker bringen an Wunder grenzende Manipulationen veredelter Getreidesorten hervor, zweckmäßige Umzüchtungen, die der hungrigen Menschheit und damit auch wiederum dem Getreide selbst zugutekommen, das so eben in ständig riesigeren Mengen ins 22
Leben eintritt. Menschenzüchtung in diesem Sinne ist nicht möglich, denn wir können uns nicht einigen, welche Erbeigenschaften wir begünstigen wollen. Es gab dergleichen Veredelungsversuche, von denen die Lebensborne der SS noch am deutlichsten ihres Zieles bewußt waren; das jus primae noctis des aristokratischen Herren und das Recht des Plantagenbesitzers auf seine Negersklavinnen entsprangen ähnlichem Hochmut. - Wünschenswert wäre jedoch, daß unsere Erzieher und Philosophen einen Menschentyp stärken und zur Vorherrschaft bringen könnten, der sich auf seine Nachbarn stützen und verlassen kann und damit mehr vitale Energie in nützliche, fruchtbringende und erfreuliche Tätigkeiten abzweigen dürfte, in wesentliche Tätigkeiten. Kooperation ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der Natur. Ohne übergeordnete Ökosysteme ist kein Einzelleben möglich. Jede Rasendecke ist organisch in sich verwoben: sie wächst in die Breite, sie regeneriert ihre Verletzungen, genau wie ein Körper Schäden ausheilt. Aus welchen Pflanzen ein Bodenbewuchs auch im einzelnen bestehen mag, seine Gesamtheitsgesetze sind dem Einzelschicksal jeder Pflanze übergeordnet. Sobald man einmal anfängt, Wälder und Wiesen als übergeordnete Lebewesen zu empfinden, erwirbt man eine innerliche Bereitschaft, sich über die Grausamkeiten des Auswahlprinzips hinwegzutrösten. Brutkontrolle stellt das ökologische Gleichgewicht her. Geburtenregelung erscheint heute als das Natürliche, nicht als ein willkürlicher Eingriff. Ohne Zusammenarbeit kein Leben. Ohne die Regenwürmer und Ameisen, die den ganzen Untergrund immer wieder durchverdauen und auflockern, gäbe es keine Rasendecke. Ohne Verdauungsbakterien gäbe es keine höher ausgebildeten Tierformen. Fortpflanzung und Kadaverbeseitigung (also Anfang und Ende) finden selbstverständlich stets kooperativ statt. Und noch die tote Meerschnecke muß mit dem Einsiedlerkrebs zusammenwirken. Strikt gesprochen gibt es gar keinen einsiedelnden Krebs.
Das Auswahlprinzip als unerbittlich grausames Gesetz, das in seiner Schrecklichkeit der indischen Todesgöttin Kali vergleichbar wäre, nahm in den Köpfen der Wissenschaftler und Laien ziemlich unvermittelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts Gestalt und überragende Bedeutung an. Während vorher die Natur als romanti23
sche Idylle empfunden wurde, trat damals, unter dem Einfluß der industriellen Revolution und des »Manchestertums«, der schrankenlose Wettbewerb in das Bewußtsein der Europäer ein. Alles war erlaubt, was dem Vorwärtskommen der »Tüchtigsten« diente. Daß das liebliche England schwarz von Kohlenstaub und Ruß wurde, gehörte zur Erfüllung des neuen Gesetzes. Charles Darwin war ein milder, hochkultivierter Gentleman, aber seinem Zeitstil konnte er nicht entkommen. Sein entscheidendes Beispiel für die »Auswahl der Tüchtigsten« als übergeordnetes Naturprinzip war ein Stückchen Boden, drei Fuß lang und zwei Fuß breit, das er selber umgegraben und von aller Vegetation befreit hatte. Er kennzeichnete alle Keimlinge von einheimischem Unkraut, die dort zu sprießen begannen: von 357 Keimen wurden nicht weniger als 295 zerstört, hauptsächlich durch Nacktschnecken und Insekten. Dieses Experiment machte ihm einen unauslöschlichen Eindruck. Wäre Darwin zufällig in den kalifornischen Redwoods aufgewachsen, so hätte er gezählt, daß von den tausendjährigen Nadelbäumen vielleicht in jedem Jahrzehnt ein Exemplar an Altersschwäche einginge. Das Bild einer Natur, die sich selbst auffrißt, wäre ihm dann nicht in den Sinn gekommen. Solche Ideen lagen jedoch in der Luft. Alfred Tennyson erdichtete im Jahre 1850, also neun Jahre vor Darwins grundlegenden Formulierungen, das Schreckgespenst einer Allmutter, deren Zähne und Klauen von Blut trieften: Nature, red in tooth and claw. Nicht Darwin selbst, aber manche seiner Nachfolger müssen damals eine rote Brille aufgesetzt haben. Die Natur ist nicht blutrot, sondern hoffnungsgrün! Vulgärdarwinistische und pseudonietzscheanische Vorstellungen prägten das hochkapitalistische Weltbild der Gründerzeit und gipfelten in Mussolinis und Hitlers lebensgefährlichen Chimären. Überleben der Tüchtigsten - Zuchtwahl der Besten in Stahlgewittern — schrankenloses Recht des Herrenmenschen: es war ein Hexensabbat von Wahnideen. Wir müssen behutsam vorgehen und spezifizieren. Die Nachkommenschaft eines Fischpaares wird oft zu 99 Prozent gefressen, die eines Elefantenpaares zu null Prozent. Diese divergierenden Phänomene, erforscht und statistisch erfaßt, können den Unterschied ausmachen, ob wir das Leben pessimistisch oder optimistisch zu betrachten haben. Leider liest man aber in den modernen Biologiebüchern solche Verallgemeinerungen: »Die Auswahl durch das Gefressenwerden 24
vernichtet schwächer werdende Individuen, lange bevor sie durch Altersschwäche sterben können.« Dabei wissen die Verfasser dieser Bücher, daß zum Beispiel sämtliche Eintagsfliegen ungefressen in ihren sanften Tod hinsinken und daß viele Insekten infolge ihrer Winzigkeit keine lohnenden Happen für Vogelschnäbel abgeben. Dennoch wird tatsächlich behauptet: »Der natürliche Tod ist eigentlich unnatürlich« (Garrett Hardin, Naturgesetz und Menschenschicksal, Stuttgart 1959). Als ich Professor Hardin einmal vorhielt, daß ja etwa die riesigen Ameisenvölker allergrößtenteils nicht gefressen werden, sondern ihr Leben aus Altersschwäche beschließen, meinte er freundlich: »Ach, daran habe ich gar nicht gedacht.« In der Tat fallen die paar Feinde der Ameisen (Echidna, Ameisenbär, Libellenlarven und vor allem kriegerische Ameisen unterschiedlicher Arten) bezüglich einer Bevölkerungsreduzierung kaum ins Gewicht. Wir haben hier Tiere vor uns, die zu beinah hundert Prozent eines innerlich, nicht äußerlich bedingten Todes sterben: nicht durch Katastrophen, sondern weil ihr biologisches Uhrwerk abgelaufen ist. Und die Zahl der Ameisen auf der Erdoberfläche übersteigt die Gesamtzahl der übrigen Landtiere. Welcher Prozentsatz einer Population von lebenstüchtigen, schmackhaften Pflanzenfressern wird nun tatsächlich gefressen? Man hat dies für einige Gebiete Ostafrikas genauer festgestellt. Im Wildschutzgebiet Tarangire kommt ein Löwe auf 260 Huftiere; im Kagerapark ist das Verhältnis eins zu 300; und im Albertpark erhalten sich 350 Antilopen, Zebras, Büffel usw. angesichts eines Löwen, wobei die unverletzlichen Elefanten und Flußpferde nicht mitgezählt werden. Durchschnittlich tötet ein Löwe 20 bis 36,5 Beutetiere im Jahr. Das könnte einen Darwinisten dazu verleiten, eine Tötungsquote von zehn Prozent anzunehmen. Jedoch sind in dieser Verhältniszahl die Löwen jungen, die von der Löwin miternährt werden, nicht Inbegriffen. Ein von Löwen gerissenes Gnu dient außerdem vielleicht einem Dutzend Hyänen und 20 Geiern zur Nahrung, von Ameisen, Aasfliegen und Fliegenlarven, Fäulnisbakterien und schließlich Pflanzen nicht zu reden. Das Zahlenverhältnis von Fressern zu Gefressenen ist im Fall des Löwen also minimal. Nur ganz wenige Tötungen sind nötig, um das ökologische Gleichgewicht zu erhalten. Die Boa constrictor, eine urtümlich schreckenerregende Riesenschlange, liebt es, ein Schwein ganz zu verschlingen. Danach aber frißt sie fast ein Jahr lang nichts mehr. Für die Bevölkerungszahl der Wildschweine ist sie nur ein verschwindend geringer Faktor. 25
Unsere Überbetonung der Grausamkeiten in der Natur liegt daran, daß Kriege und Verbrechen mehr »Nachrichtenwert« haben als der Alltagsschlendrian. Ameisenkriege mit geknackten Panzern und abgezwickten Beinen sind fotogener als die Sammeltätigkeit der friedfertigen Ameisenarten, die Weizenkörner aufspeichern, Blattläuse und Pilze züchten und pflegen. Die Ameisenheere der Dorylinae, die wirklich alles Tierleben auf ihrem Pfad vernichten, sind eindrucksvoller zu filmen als die vielen vegetarischen Arten. Bei den Gebietsschlachten etwa der Arten Tetramorium caespitum und Acanthomyops bleiben Tausende auf der Walstatt, was dem Beobachter gräßlich erscheint; aber die Populationen zählen ja Hunderttausende oder Millionen, so daß der vernichtete Prozentsatz leicht verkraftet werden kann. Darwin sprach manchmal von war of nature, manchmal von struggle for survival, als ob der Krieg und das Ringen um die Existenz identische Phänomene wären. Aber führt eine Pflanze am Wüstenrand, die überleben will, einen Krieg, so wie Darwin theoretisierte? Gewiß, eine halbe Milliarde Austerneier resultieren schließlich in einer einzigen erwachsenen Auster: dies ist wohl der extremste Fall von Brutvernichtung. Vergessen wir jedoch nicht die zahlreichen Arten, deren Brut fast niemals (vor dem Eingreifen des Menschen) gewaltsam reduziert wurde: Delphin und Wal, Rhinozeros, Bär und Tiger, Schwalbe, Adler und Pinguin, Känguruh und Strauß, viele Seehund- und Affenarten. Trotzdem behauptete Darwin: »Nicht die Verfügbarkeit von Nahrung, sondern daß sie anderen Tieren als Beute dienen, bestimmt die durchschnittliche Anzahl einer Gattung.« Die unstatthafte Verallgemeinerung, der gewaltsame Tod sei eben als das Naturgegebene zu akzeptieren, verfälscht seit über hundert Jahren unser Weltbild. Und daher nehmen unsere Politiker es gelassen hin, daß die aufgespeicherten Kernwaffen ein Explosiväquivalent von fünfzehn Tonnen Dynamit für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind bereithalten. Natürlich ist es das Natürliche, eines natürlichen Todes zu sterben!
In gewissen Epochen beschließt die Menschheit, daß sie mit grausamsten Zwangshandlungen weiterexistieren kann. Ein Bruchteil der Art kommt um, die Fortpflanzung gleicht den Ausfall aus, alles ist im Gleichgewicht. 26
Aber wie furchtbar muß der Gleichmut des Schicksals doch für die betroffenen Individuen sein! Wer auf dem aztekischen Blutaltar geopfert wird mit herausgerissenem Herzen; wer unter dem Anspruch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Guillotine besteigt; wer in sibirischen Arbeitslagern schmachtet, weil das Endprodukt einer klassenlosen Gesellschaft heraufgeführt werden soll; wer wegen mangelnder Demokratie mit Napalm überschüttet und verbrannt wird: der glaubt wohl nicht, daß der geringe Prozentsatz der Vernichteten ein tröstlicher Faktor sei.
Die großen Ideen sind nicht dazu geeignet, ein Menschenleben auszufüllen. Man kann nicht 24 Stunden des Tages meditieren, man kann sich nicht ständig in der Höhenluft der reinen Erkenntnis aufhalten. Die anima, die anderen Zeiten und Kulturen in ihren Forderungen unabdingbar erschien, wird meistens während des Tageslaufs durch die Mechanik des Lebenserhaltungstriebes überlagert und sogar ersetzt. Die Bedürfnisse siegen über das Erkennen. Unser Trost für dieses Ungenügen liegt darin, daß auch die sublimsten Ideen einer physiologischen Begründung nicht entraten können. Tod! Was für ein schauerliches Wort, würdig der tiefsten Versenkung in transzendentes Grübeln! Und doch war Todesfurcht einfach biologisch notwendig, um das Aussterben einer Rasse zu verhindern. Denn nur solche Exemplare konnten weiterexistieren und sich vermehren, die sich gegen Gefahren zu schützen begehrten. Und die ungeheuer bildhafte, evidente, suggestive Todesangst ist nur ein Trick der Natur, nichts kosmisch Vorgegebenes. Ohne die »schreckliche«, nämlich vom Zerfall abschreckende psychische Komponente hätte das Sterben gar nichts Negatives an sich. Ein Erdkloß zerfällt ohne Schmerz und Trauer. Ähnliches gilt für die Liebe. Wie erhaben, himmlisch schön und erfüllend ist das Liebeserlebnis! Aber was steckt dahinter? Der angeborene, in den Zellen programmierte, durch natürliche Zuchtwahl immer mehr verstärkte Trieb, das Aussterben hinauszuschieben. Wer unter den Lebewesen keine Fortpflanzungslust besäße, würde nach der ersten Generation aus der Vielfalt der Arten ausscheiden. Mechanik also? Irrtum der Innenansicht? Ja und nein. Hier wird etwas wirksam, was Schopenhauer die List der Vernunft nannte. Zugegeben, wir sind Fleischklumpen. Für uns 27
gibt es nichts Befriedigenderes, nichts Richtigeres, als den paar Trieben zur Dauer und zur Höherentwicklung zu folgen. Nur so ist unser Dasein gerechtfertigt: im Einklang mit der eingegebenen Sendung des Lebens, über die Jahrmillionen hinweg. Das Plasmaklümpchen und der lyrische Dichter verfolgen die gleichen Strebungen. Diese Einsicht ist unsere Rechtfertigung.
Schönheit ist »nur« eine Funktion des Lebens; deshalb kann sie nicht absolut sein. Wo immer Farben, Formen, Töne, Düfte dazu dienen, ein anderes Lebewesen anzuziehen, muß man vermuten, daß dort Schönheit empfunden wird. Dies mag eine kreisförmige Definition sein, aber wir haben es nun einmal mit dem Kreislauf des Lebens zu tun. Die Relativität des Schönheitsbegriffes macht diesen nicht unbrauchbar; ganz im Gegenteil, sie ordnet ihn in Relationen ein, verankert ihn im Leben. Wir sollten nachgerade daran gewöhnt sein, daß im modernen Weltbild die zwei gegensätzlichen Begriffe »absolut« und »relativ« ihre Rollen vertauscht haben. Die neue Bedeutung entspricht ja auch besser ihrer wörtlichen Verdeutschung. Relativ heißt: bezogen — also: im Gewebe der Erscheinungen begründet. Absolut heißt: losgelöst - also: unbegründet. Wir kommen nicht mehr darum herum, die Relativität auf allen möglichen Gebieten zu bejahen und sie zu neuen Erkenntnissen auszunützen. Die Relativisten haben in den verschiedensten Wissenschaftszweigen gesiegt. Die Physik der kleinsten wie der größten Bereiche kann ohne Einsteins Weltsicht nicht mehr auskommen. Ästhestik und Theologie haben ein normatives Dogma nach dem ändern aufgeben müssen. Die Ethik, einst ein System allgemein verbindlicher Sätze, die man mit geometrischer Exaktheit darlegen zu können meinte, ist völlig aufgespalten und relativiert: exotische und primitive Verhaltenssysteme lassen sich mit den abendländischen Gebräuchen kaum zur Kongruenz bringen. Die Relativierung war ein durchgehender Triumph der vorsichtigen und nachsichtigen Vernunft. Aber nun, nach diesem großen Sieg, müßten auch die Relativisten wieder menschlicher werden. Menschlichkeit, Menschenwürde, Nächstenliebe, Qualität des Lebens: dies sind keine exakt definierbaren Begriffe, und trotzdem können sie als Regulative wieder zu stärkerer Geltung kommen. »Leben um des Lebens willen«: dieser Satz kann die Konstante 28
bilden, um die herum ein neues Koordinatengefüge praktischer Werte zu errichten wäre. Es gibt allzuviele Variabeln, als daß wir auf diesen Rückhalt verzichten könnten. Das konkrete, vielfältige Leben mit all seinen törichten und weisen Strebungen, mit egoistischen Bedürfnissen und altruistischem Opferwillen muß unser Bezugssystem sein. Anders werden wir die unheimlichen Probleme schon der nächsten Zukunft nicht bewältigen können. Leben um des Lebens willen: dieser Leitsatz umfaßt Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Leben« ebenso wie Goethes Credo: »Leben bringt Lebendiges hervor«. Das Leben bezieht sich auf sich selbst, es ist seine eigene, in einem bestimmten Sinne absolute Wertsetzung. Alles, was das Leben fördert, ist eben dadurch gut: denn der Begriff »gut« existiert nur für Lebendiges. Güte also, menschliche Güte: um des Lebens willen sollten wir erproben, wohin dieser Zielbegriff uns führen könnte. »Das gute Leben«: aus dieser fraglos positiv bewerteten Vorstellung ergeben sich weiter solche lebendigen Regulative wie Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Wohlwollen - lauter Begriffe, die in ihrem scheinbar naiven Idealismus den Fachwissenschaften (der Soziologie, Jurisprudenz, Anthropologie, Politologie und wie sie alle sich nennen) heute nicht mehr gemäß zu sein scheinen, sondern nur der Biosophie, also der Lebensweisheit. So werden wir versuchen, uns eine Sinngebung zu biosophieren - um des Lebens willen.
Zweites Kapitel Sinn der biologischen Entwicklung
»Ein voreingenommener Richter!« zeterte die Brennessel, als ich sie im Gärtchen ausriß und die Petersilie daneben stehen ließ.
Was ist des Lebens Wille ? Was will das Leben, wie wir es auf der Erde kennen? Auf Hunderte von Jahrmillionen zurückblickend, während derer das Leben Spuren hinterließ, können wir vier Tendenzen beobachten, die der organischen Materie innewohnen: Erhaltung, Ausbreitung, Befriedigung und Verfeinerung. Erstens: Das Leben will sich erhalten. Das Leben ist bestrebt, sich selber zu bewahren. Der Selbsterhaltungstrieb des Lebens ist — mit der unbelebten Welt ringsum verglichen — etwas ganz Außergewöhnliches. Zwar halten Sonnen und Planeten sich selbst durch Gravitation in Kugelform zusammen und überwinden die Fliehkraft, die sie zu sprengen droht. Und auch ein Wassertropfen, der vom Hahn durch die Luft fällt, läßt seine Teilchen nicht los, seine Kohäsion bewahrt all seine Moleküle in Tropfenform, er zerspritzt nicht. Aber sobald er dann in die Wasserschüssel gefallen ist, hat er sich unwiederbringlich verteilt, die gleichen Moleküle werden sich nie wieder zum gleichen Tropfen kombinieren, den Tropfen als Gebilde gibt es einfach nicht mehr. Ganz anders das Leben. Die gleiche chemische oder sonstige Verbindung, die vor vielleicht einer Milliarde von Jahren ein paar Moleküle bildete, ist immer noch in dir vorhanden, das Leben ist inzwischen niemals ausgestorben und aufs neue entstanden, ein Teilchen oder ein Prinzip in dir selbst ist tatsächlich eine Milliarde Jahre alt! Es kann einem schwindlig werden, wenn man versucht, so m die Zeitentiefe zu spähen. Das fragile, weiche, exponierte, aber von innen heraus aktivierte Protoplasma erscheint beständiger als der passiv verwitternde Fels und als das härteste, aber bald von Rost zerfressene Eisen. Um sich selber gegen die eisigen und feurigen Bedrohungen des Kosmos, gegen die Gleichgültigkeit, Trägheit und Katastrophennei-
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gung der irdischen Umgebung durchzusetzen, standen dem Leben zwei Triebkräfte zur Verfügung: der Hunger und die Liebe. Der Hunger zwang jede Lebenseinheit, ihre verbrauchte Materie durch die Aufnahme von frischem Material zu ersetzen und so das Vorhandensein von Treibstoff zu garantieren. Der Hunger, der schon dem einzelligen Wesen eingegeben war, sorgte für die Erhaltung des Individuums; und die Liebe gewährleistete die Erhaltung der Art. Obwohl wir uns immer komplexer erfahren, diese primitivsten Triebkräfte wirken immer noch unwiderstehlich in uns weiter. Zweitens: Das Leben will sich ausbreiten. Das Leben strebt danach, sich auszubreiten. Nie und nirgends zieht es sich freiwillig auf ein kleineres Gebiet zurück, niemals gibt es seine Herrschaft freiwillig ab, überall versucht es, mehr und mehr anorganische Materie in organische zu verwandeln. Als höhere Organismen sind wir auf diese Habgier angewiesen: wir ernähren uns von organischer, bereits mehrfach durchverdauter Materie; und je Öfter diese durchverdaut wurde, desto bekömmlicher ist sie uns. Kochsalz, Wasser und Spurenelemente sind die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel: diese Stoffe nehmen wir unverändert aus der unbelebten Erdkruste in uns auf. Infolge des Ausbreitungstriebes umfaßt die Biosphäre bereits fast die gesamte temperierte Oberfläche unseres Planeten; und der Mensch erobert dazu noch arktische Gebiete, Minenschächte und den Mond. Drittens: Das Leben will sich befriedigen. Dem eingeborenen Willen, sich zu befriedigen, sind die drei anderen Tendenzen des Lebens untergeordnet: Selbsterhaltung. Ausbreitung und Verfeinerung verbessern die Bedingungen, unter denen die weitestgehende Triebbefriedigung gewährleistet wird. Unsere vitalen, sagen wir ruhig: unsere primitiven Triebe wie Hunger, Durst, Sexuallust, Atemreflex, Schlafbedürfnis, Entleerungsdrang und so weiter — sie alle verlangen gebieterisch, daß das Leben ihnen diene; so sehr, daß sogar die Todesdrohung für die Chance der Trieberfüllung in Kauf genommen wird. Es geht aber nicht an, die nicht lebenswichtigen Triebe - wie das Verlangen nach Macht, die Gebietsbehauptung, sadistische und masochistische Lüste - unter diese primären Bestrebungen zu rechnen. Der Aggressionstrieb kann abgebogen, durch Ritualhandlungen ersetzt und unschädlich gemacht werden. Ein Wesen, das dem Machtstreben eines anderen unterliegt oder der Gebietseroberung 34
eines Nachbarn weichen muß, kann weiterleben. Dergleichen Triebversagungen sind nicht tödlich. Kulturschäden rufen zwar zumindest Unbehagen hervor, aber sie können ertragen werden, bis Reformen oder Revolutionen die Lebensumstände wieder freizügiger machen - oder bis man endgültig resigniert hat. Hunger und Durst jedoch verlangen, gestillt zu werden — auch unter Todesstrafe. Und Sexualnot läßt oft das Dasein sinnlos erscheinen. In seelischer Hinsicht ist das Liebesbedürfnis ebenso dringlich wie die direkteren Aneignungstriebe. Hier führt der Befriedigungswille des Lebens selbst gradeswegs in die höchsten Sphären der Vergeistigung. Viertens: Das Leben will sich verfeinern. Dieses Streben nach Verfeinerung ist vielleicht am wenigsten unmittelbar einleuchtend, und doch ist es ebenso wichtig und wesentlich wie die drei anderen Tendenzen auf der vierfältigen Lebensbahn. Was ist hier mit Feinheit gemeint? An heute bestehenden Beispielen gezeigt: der Unterschied zwischen dem Molch, der sich dick und unbeholfen durch den Schlamm tastet, und der zarten, aber fest umhäuteten, agilen und grazilen Eidechse; zwischen dem schuppigen, blütenlosen, jedes Schmuckes baren Schachtelhalm und der prunkenden, differenzierten Orchidee; zwischen dem schwartigen, phlegmatischen, seit 50 Millionen Jahren »konservativen« Tapir und dem nervösen, hochgemuten, immer »progressiven« Pferd; zwischen dem körperlich übermächtigen, zotteligen Gorilla und dem schneidigen, hochgeschulten Flugzeugpiloten. Verfeinerung heißt: Komplizierung, Spezialisierung, Verschönerung, Intelligenzsteigerung, Fortschritt. All dies fällt unter unseren Begriff Verfeinerung: eine ganze Reihe verschiedener und doch parallellaufender Veränderungen im Habitus. Einfach als Beschreibung eines Phänomens läßt sich die fortschreitende Verfeinerung der meisten Lebewesen in ihrer Stammesgeschichte nicht leugnen. Ist sie dem Leben als solchem immanent? Komplizierung, Fortschritt, Durchorganisierung, Verschönerung sind so durchgehend zu beobachten, daß sie Teil des Lebensprozesses selbst zu sein scheinen. Bevor meine biologisch geschulten Leser »Lamarckismus« oder »Vitalismus« seufzen und meine Ansicht vervorurteilen, will ich versichern, daß ich hier nichts Mystisches im Sinne habe. Wir wissen genau, daß der Mensch tatsächlich in der äußersten Vorfront einer einseitig gerichteten Entwicklung steht, die man als 35
Fortschritt oder, unter Ausschaltung jedes Werturteils, als Komplizierung bezeichnen kann. Diese phylogenetische Tendenz ist dem Wachsen des Individuums vergleichbar. Der Wachstumsprozeß eines individuellen Lebewesens hat nicht das geringste mit darwinistischer Zuchtwahl zu tun, er wohnt der lebenden Materie als solcher inne: denn Zellteilung und Konglomeration ist nicht vorteilhafter im sogenannten Lebenskampf als einzelliges Vegetieren. Ebenso ist die gestaltliche Vervielfältigung, Verkomplizierung, Verfeinerung der Arten nicht an Zuchtwahl gebunden, sondern sicherlich eine autonome Funktion lebendiger Materie. Ich will dies begründen.
In der unbelebten Welt sind Aufbau und Zerfall völlig gleichberechtigt. Ein Berg wird aufgeworfen und durch Verwitterung wieder abgetragen. Ein Gletscher wird, entsprechend dem Klima, immer massiver, dann schmilzt er ab und zieht sich zurück; es ist nicht statthaft, den einen dieser Vorgänge gut, den ändern schlecht zu nennen, wie wir das mit Geburt und Sterben zu tun pflegen. Eis auf einem See kann schnell oder langsam entstehen, schnell oder langsam tauen, es gibt da keine Regel. Im Gegensatz hierzu gibt es in der belebten Natur keinen graduellen Abbau, sondern nur Aufbau mit irgendwann erfolgender Katastrophe. (Die langsame Abnutzung der Zähne, eine der wenigen Ausnahmen, bestätigt nur das Gesetz: sie ist kein lebendiger Stoffwechselprozeß, sondern ein mechanischer Vorgang.) Im Bereich des Lebens herrscht Wachstum als Prinzip, ohne jede Ausnahme. Kein Baum schrumpft im Alter wieder zu einem Samenkörnchen zusammen, stattdessen wird er faul und hohl und stürzt schließlich ein. Nichts Lebendiges bleibt stationär. Wachstum ist wohl eine Grundtendenz organisierbarer Materie. Einer unbeschränkten Vergrößerung stehen jedoch gewisse Hemmnisse entgegen. Austausch ist bei allem tätigen und daher sich verbrauchendem Lebendigen nötig, Schlacken müssen ausgeschieden werden, Nahrung muß aufgenommen und an alle Organe verteilt werden. Für diese Mechanismen ist krude Vermassung unzweckmäßig : denn die Oberfläche einer wachsenden Kugel nimmt proportional viel langsamer zu als ihr Inhalt, und nur die Oberfläche kann ja den Austausch mit der Umwelt bewerkstelligen. Die Zellmembran, durch die der Stoffwechsel sich vollziehen muß, wird bei wachsendem Inhalt immer ungenügender. Deshalb teilen sich alle Zellen, einfach 36
aus dem innerlichen Bedürfnis heraus, mehr Oberflächen für den Austauschprozeß des Organismus zu erhalten. Auch das Teilungsprinzip genügt aber dem steigenden Zirkulationsbedürfnis nicht. Also entwickeln jene Wesen, die den Wachstumstrieb imprägniert erhalten haben, differenziertere Organe — immer noch aus dem reinen anfänglichen Wachstumstrieb. Bald vergrößern groteske Ausbuchtungen, Kerben und Lappen die Oberfläche, mit deren Hilfe die nährende Umwelt für das Wesen ausgenützt werden kann. Der lockere, lappige, durchlöcherte Schwamm ist hierfür das beste Beispiel. Die Insekten, die dem Prinzip der optimalen Zirkulation nie so ganz angepaßt wurden, konnten daher nie so groß werden wie die Wirbeltiere. Allein schon die Stützung durch den äußeren Panzer war ungünstiger als die innere Skelettstützung, weil sie den Austausch mit der Umwelt abschnitt. Die Kerbtiere empfangen ihre Sauerstoff zufuhr durch verzweigte Gänge direkt von außen; da jedoch keine innere Zirkulation den Weitertransport besorgt, müßten Insekten von Menschengröße ersticken. Das größte landbewohnende Kerbtier aller Zeiten, eine Libelle, erreichte nur eine Flügelspannweite von etwa 50 Zentimetern. Die Wirbeltiere haben den entscheidenden Vorsprung im wahrhaftig »atemberaubenden« Wettlauf des Fortschritts errungen. Ein ganz entscheidender Schritt in der Evolution wurde sicherlich durch Verfeinerung und nicht durch Erhöhung kruder Kampfesstärke bewirkt. Die Säugetiere führten einen komplizierteren Lebensmechanismus ein, der den bis dahin herrschenden Kaltblütern überlegen war: sie erhielten ihre Bluttemperatur gleichmäßig warm, unabhängig von der schwankenden Außentemperatur. Dies gestattete ihnen Wachsein und Beweglichkeit auch bei bitterer Kälte. Ich stelle mir den Sieg der Warmblütigen über die Saurier ganz konkret vor. Die Riesenechsen wurden nachts, während keine Sonne sie erwärmte, unbeweglich und hilflos. Die neuartigen, kleinen Wesen, die ihr Blut und Muskelfleisch von innen her erwärmten, konnten sich auch in den Nächten und Kälteperioden frei und agil bewegen. Wenn so ein kleines Säugetier nachts einen ungeheuren Fleischhaufen daliegen sah, dachte es sich wohl: Na siehst du, Tyrannosaurus, gar so furchterregend bist du also doch nicht. Und es fraß ihm stillvergnügt die Leber aus dem weichen Bauch heraus. Die veralteten Echsen waren nachts zu starr, sich zu wehren, und zu groß, sich zu verstecken. Die Wissenschaft versucht vergeblich, eine einleuchtende Erklä37
rung für das ziemlich plötzliche Aussterben sämtlicher Dinosaurier vor etwa 63 Millionen Jahren zu finden. Angeführt werden: Abkühlung der Atmosphäre durch vulkanischen Staub - Erhitzung der Luft - Sinken des Meeresspiegels am Ende der mesozoischen Epoche — Unterbrechung der Ernährungskette. Die neueste Theorie besagt, daß ein riesiger Meteor die Erde traf und mit Iridium überschüttete (Scientific American, Januar 1982). All diese Spekulationen sind unbefriedigend. Der Sieg der Warmblüter über die Saurier vollzog sich nach dem biosophischen Grundsatz der Verfeinerung. Also: Komplizierung bedeutete automatisch einen Vorteil für jedes Lebewesen, das wachsen und besonders aktiv sein mußte oder wollte. Intensivierter Stoffwechsel bot einen Gewinn und war nur durch Komplikation des Körperbaus zu erreichen. Braucht man eigentlich weitere Erklärungen? Sobald das Prinzip der vielgestaltigen Entfaltung als nützlicher Trieb dem Leben eingeprägt war, waren dieser Entwicklung zur Verfeinerung keine Grenzen mehr gesetzt. Diesen Trend verstärkend, sorgte der eingeborene Aneignungstrieb für Strebsamkeit der Wesen, besonders in kaltem Klima, das erhöhten Stoffwechsel erforderte. Dieses Aneignungsbedürfnis umfaßt Hunger, Durst, Sexualtrieb und Atemreflex. Das Atembedürfnis, im allgemeinen kaum beachtet, war für den biologischen Fortschritt ebenso wichtig wie etwa der Hunger. Deshalb, nota bene, ist die industrielle Luftverpestung so grundgefährlich: sie deprimiert die Lebensgeister. Falls wir einmal, in naher oder fernerer Zukunft, Algenkuchen und Petroleumsteaks verspeisen werden, die nichts kosten, wird der ökonomische Unterschied zwischen Luft, Wasser und Nahrung verschwunden sein. Die Ubiquitäten Speise, Trank und Atemluft werden gleich nötig und gleich allgemein verfügbar sein. Ob das dann unserer Strebsamkeit ein Ende setzen wird? Ganz im Gegenteil, glaube ich. Der Trieb zu vitaler Betätigung und Verfeinerung wird dann erst, von der Sklaverei des Brotverdienens erlöst, in frei gewählte Bestrebungen vorstoßen. Denn der Drang nach Betätigung, nach Vielfachwerdung ist dem gesunden Menschenleben von der Natur eingegeben. Doch das sind nicht sehr aktuelle Spekulationen — leider. Zur Komplizierung noch ein paar Bemerkungen. Darmwindungen von vielen Metern Länge erhöhten das Austausch- und Verdauungs38
potential des menschlichen Bauches, der, von außen betrachtet, relativ klein erscheint. Und Hirnwindungen, die die graue Hirnrinde effektiv auf ein Vielfaches der Hirnmasse erhöhten, steigerten die Denkkapazität. Diese Entwicklung entsprach gewiß der normalen Tendenz des Lebenswillens durch viele, viele Arten und Vorformen hin. Mag sein, daß Auswahl der Tüchtigsten im darwinistischen Sinne nachhalf. Aber an und für sich bietet Intelligenz doch keinen so entscheidenden Vorteil im sogenannten Kampf ums Dasein: immense Fruchtbarkeit, Dickfelligkeit, Schnelligkeit sind — während der Latenzzeit der sich entwickelnden Intelligenz — genau so nützliche Prinzipien. Übrigens bestehen die Dummen in der Natur ruhig neben den klügeren Wesen weiter, was ihre Eignung für ihr spezialisiertes Dasein genugsam darlegt. Teilhard de Chardin nannte den Menschen »den aufsteigenden Pfeil in der großen biologischen Synthese«. Wenn wir die fast unvorstellbare Vergrößerung der Reichweite und die Verfeinerung der Wahrnehmung des Menschenwesens in Betracht ziehen, so müssen wir dem zustimmen. Unsere Sinneswerkzeuge sind bis zu den Spiralnebeln verlängert, unsere Höchstgeschwindigkeit steigt ins Kosmische an. Was Komplikation und Ausdehnung unseres Einflusses anbelangt, könnten wir doch eigentlich stolz sein? — Zumindest: dieses Potential legt uns eine hohe Verpflichtung auf.
Der Artenwille zur Raffinierung und Komplikation der meisten lebendigen Formen dürfte prinzipiell in den Geschlechtszellen der Organismen nachweisbar werden, so wie die Biochemiker heute schon den Wachstumshormonen und den molekularen Vererbungsmechanismen auf die Spur kommen. Die Wissenschaft wird herausfinden, warum einzellige Wesen zwar wachsen und Zellteilung betreiben, warum diese gespaltenen Zellen aber nicht beieinanderbleiben und größere Lebewesen aufbauen. Vorläufig ist es noch rätselhaft, warum Einzeller genau wie zu Beginn des Biozeitalters weiterbestehen, warum jedoch andere Zellen den Trieb mitbekommen haben, Vielzeller zu werden. Auf jeder Stufe der Entwicklung des Lebens gibt es konservative Arten, die sich weigern, den allgemeinen Fortschritt mitzumachen. Die Amöbe, der Schachtelhalm, der Tapir, die Königskrabbe (Xiphosurus), der Haifisch und viele andere sind vorzeitliche Arten, die sich seit undenklichen Zeiten einfach nur fortpflanzen, ohne ihre 39
Formen jemals zu ändern. Sie lebende Fossilien zu nennen ist unstatthaft, denn sie sind so vital wie die modernen Arten. Nach streng mechanistischen Evolutionsanschauungen müßten diese primitiven Tiere längst durch besser ausgerüstete verdrängt worden sein. Stattdessen breitet sich das Opossum — das einzige amerikanische Beuteltier — sogar immer weiter aus: früher wurde es nur in den mittelatlantischen Staaten Nordamerikas beobachtet, dann fand man es in Neuengland, und heute ist es sogar in Kalifornien verbreitet. Neulich trippelte ein Opossum die Straße neben unserer Stadtbibliothek in Santa Barbara entlang, wie um mir zu zeigen, daß ich mich neben Büchern auch auf den Augenschein verlassen sollte. Ich nahm es in meinen Garten mit und fand bald bestätigt, daß es ein sehr dummes, einfallsloses Tierchen ist. Warum es sich so vermehrt und seine spezielle »Nische« verlassen hat, scheint niemand erklären zu können; vielleicht nur, um sich über die Biologie-Lehrbücher lustig zu machen? Möglicherweise werden die Fachbiologen mit Statistiken und Computern nachweisen, daß die Wahrscheinlichkeit zweckloser Mutationen zur Komplizierung zahlreicher Arten hinführt. Vielleicht aber finden sie eines Tages, so wie ein Wachstumshormon, auch eine Komplizierungssubstanz oder einen molekularen Fortschrittsmechanismus. Wir müssen das abwarten. Ich gestehe, gefühlsmäßig neige ich zur zweiten Ansicht: ein immanenter Verfeinerungstrieb des Lebens würde mir philosophisches Vergnügen bereiten. Ich will sogleich zugeben, daß dies kein objektiver, wissenschaftlicher Gesichtspunkt ist. Aber als Arbeitshypothese muß diese Gerichtetheit dennoch in Betracht gezogen werden.
Um hervorzuheben, wie sehr diese vier Tendenzen — Selbsterhaltung, Ausbreitung, Triebbefriedigung und Komplizierung — dem Leben selber innewohnen, möchte ich einmal die Fragestellung umdrehen: Was will das Leben nicht? Das Leben will nicht schmerzfrei sein. Obgleich jedes Individuum die Schmerzempfindung haßt und nach Möglichkeit vermeidet, wirkt sich das nicht auf den Artwillen aus. Die Zuchtwahl steht dem entgegen. Wenn ein Tier den Schmerzdruck in sich abschaffen oder erträglich machen kann, unterliegt es bald den Gefahren und Verletzungen und hinterläßt keine schmerzfreien Nachkommen. Das Leben akzeptiert Schmerz und Leid. 40
Fernerhin will das Leben keine hundertprozentige Sicherung. Wenn der Auerhahn balzt, achtet er nicht auf Gefahren, er denkt nur an seine Auserkorene, und der Jäger hat es leicht, sich heranzupirschen und das Liebeslied mit einer Kugel zu beenden. Es scheint sogar, daß das Aufsperren des balzenden Schnabels den Gehörgang des Auerhahns zusammenkneift, so daß er physisch unfähig ist, seine Aufmerksamkeit zu teilen: eine sehr unzweckmäßige Konstruktion. Nach Darwins Theorie müßte der Auerhahn ausgestorben sein. Er wird heute nicht durch darwinistische Gesetze, sondern durch menschliche geschützt. Der Impetus des Am-Leben-Seins berauscht die Wesen oft derart, daß sie ihre Sicherheit außer acht lassen. Dieser Überschwang hat im Theoriegespinst des »Überlebens der Tüchtigsten« keinen Platz. Ein Pfau will sein blinkendes Gefieder entfalten, selbst wenn er sich dadurch buchstäblich in eine Zielscheibe verwandelt. Ein Singvogel will sein Lied aus voller Kehle schmettern, auch wenn er dadurch eine Fahndungsanzeige an die Raubtiere aufgibt. Nach den Ausleseprinzipien, wie sie etwa von Spencer und Haeckel unterstellt wurden, müßte unsere schöne Erde doch von stachligen, graugrünen, übelriechenden und übelschmeckenden Lebewesen bevölkert sein. Dies ist nicht der Fall. Das Sicherheitsbedürfnis ist nicht immer und überall das oberste Gesetz. Temperament und Lebensfreude wollen sich nicht ständig unterdrücken lassen. Das Leben will sich gelegentlich als abenteuerlich empfinden. Ferner: Überraschenderweise will das Leben seine Dauer im Individuum nicht verlängern. Das Leben will nicht individuelle Langlebigkeit. Obgleich jedes Einzelwesen seinen eigenen Tod hinauszögern möchte, kommt dies in der Evolution der Arten nicht zur Auswirkung. Kein Warmblüter lebt so lang wie die — viel urtümlichere - Schildkröte Testudo sumeiri, die man 152 Jahre lang lebend beobachtet hat. Die natürliche Lebensdauer eines gesunden, unverletzten und wohlgenährten Neanderthalers war vielleicht nicht kürzer als die Existenzspanne eines gesundheitlich vergleichbaren modernen Menschen. Die Bestrebungen jedes Individuums addieren sich da nicht, obgleich sie durch die Jahrtausende hin immer wieder in die gleiche Richtung zielen. Hierfür liegt die Erklärung nun wirklich in der natürlichen Zuchtwahl. Es ist für die Erhaltung und Ausbreitung der Art kein Vorteil, wenn ein Einzelwesen sehr alt wird; die Auslese der Langlebigsten bleibt wirkungslos, weil sich die meisten Wirbeltiere schon im ersten Drittel ihres Lebenslaufes fortpflanzen. Die uralten 41
Exemplare, die nach dem Absterben ihrer Generationsgenossen übrigbleiben, sind zwar thefittest, die Lebenstüchtigsten; aber sexuell und daher genetisch sind sie lang vor ihrem individuellen Tode abgestorben, für das Artenbild unwirksam geworden. Der Greisenwille, am Leben zu bleiben, kann nicht mehr vererbt werden.
Hingegen vererbt und steigert sich der Wille zur Schönheit. Das Leben will schöner werden. Ein Schachtelhalm der Karbonzeit war nicht so schön wie eine neuzeitliche Orchidee; ein primitiver Wurm ist häßlicher als ein hochdifferenzierter, bunter Schmetterling; ein urtümlicher Hai ist ästhetisch nicht so ansprechend wie die juwelenglitzernden Korallenfische oder Makropoden; der ungeschlachte Coelacanth sieht abscheulich aus, verglichen mit seinen Nachfahren, den bunten Molchen und flinken, smaragdfunkelnden Eidechsen: Saltoposuchus, der echsenhafte Ahne der Vögel, war nicht so hübsch wie Stieglitz und Goldammer. Und: ein Lemur oder ein Gorilla sind nicht so schön wie der Homo sapiens. Dies sind nicht durchgehende, sondern spezialisierte Entwicklungsreihen. Es gibt selbstverständlich viele neuzeitliche Tiere und Pflanzen, die für uns keinerlei ästhetischen Reiz haben. Aber es gibt auch wunderschöne, zauberhafte Wesen — und diese gehören überwiegend der Neuzeit an. Die Verschönerung, als Komponente der allgemeinen Tendenz zur Verfeinerung, ist von höchster Wichtigkeit: sie hat unsere biologische Umwelt weitgehend umgestaltet. Nun sagte zwar schon der vorsokratische Philosoph Epicharmos: »Für den Esel ist die Eselin das Schönste.« Eine weitgehende Subjektivität ästhetischer Urteile gehört zur Vielfalt des Lebens dazu. Aber dies hindert nicht, daß subjektive Urteile kongruent werden, wo die betreffenden Subjekte in vielen Gewohnheiten, Funktionen und Präferenzen übereinstimmen. Der doch ganz offensichtliche Verschönerungsvektor bleibt in den üblichen Biologie-Lehrbüchern unerwähnt. Aber sogar mechanistisch eingestellte Biologen geben die Tendenz zur Ausschmückung so nebenbei zu, nämlich in Spezialfallen wie den folgenden: Der Paradiesvogel, der Argusfasan, der Pfau opferten ihre freie Beweglichkeit und nützliche Camouflage der Sucht, vor ihren Weibchen zu prunken. Das Weibchen, vor die Wahl zwischen mehreren Bewerbern gestellt, suchte sich den Gatten aus, der längere oder buntere Schwanzfedern vorzuweisen hatte als die anderen Männchen, und 42
dieses immer wieder bevorzugte Merkmal vererbte sich dann auf die Nachkommenschaft. Charles Darwin, der gewiß unverdächtig ist, einem sentimentalen Ästhetizismus nachzugeben, glaubte sogar, daß wir Männer unsere schönen Barte entwickelten, um den wählerischen Frauen zu gefallen. Ob unsere hohen intellektuellen Fähigkeiten durch diese Auslese entstanden, bezweifelte Darwin jedoch, denn der männliche Intellekt hat angeblich keinen geschlechtlichen Reiz für die Frauen. Die »sexuelle Selektion«, wie Darwin dieses Prinzip nannte, war für ihn fast so bedeutsam wie die »natürliche Selektion«, das Überleben der Tüchtigsten als treibende Tendenz der Evolution. Die neueren Biologen haben diesen, durch unbefangene Beobachtung doch genau feststellbaren, Trieb zur Verschönerung hin oft außer acht gelassen, einfach weil Schönheit nicht in Ziffern und Tabellen und chemischen Analysen erfaßbar ist. Und dennoch ist und bleibt sie einer der wichtigsten Faktoren in der Gestaltung der Lebensformen.
Der Titel von Darwins epochemachendem Werk wird fast immer abgekürzt: The Origin of Species (Der Ursprung der Arten). Der ungekürzte Originaltitel ist beträchtlich aufschlußreicher und gibt, in Kapselform sozusagen, Darwins Philosophie mitsamt der Zeitstimmung wieder: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Uff. Darwin war willens, die Wohlgeformten und Schöngefärbten als »bevorzugte Rassen« anzusehen. Seine Schüler hingegen griffen aus seinem Titel meistens nur den »Kampf ums Dasein« heraus.
Es sei gestattet, hier etwas ausführlicher die Anschauung eines anerkannten und auch schönheitsempfänglichen Vererbungsforschers zu zitieren. Theodosius Dobzhansky schreibt in Mankind Evolving (Yale 1962, S. 215): »Soweit wir dies verstehen können, ist die biologische Funktion all dieser Pracht von Form und Farbe nur eine praktische: bei Tieren dient sie als Kennzeichnung der jeweiligen Art für die geschlechtliche Vereinigung. Das wirkliche, ungelöste Problem ist, warum solche Prunkentfaltungen auch dem Menschen so herrlich erscheinen. Wir können nicht glauben, daß die Weibchen und 43
Männchen der Schmetterlinge Ornithoptera oder Morpho ihren gegenseitigen Anblick mehr genießen als weibliche und männliche Läuse, die wir abstoßend finden. Trotzdem fällt es uns in einigen Situationen wirklich schwer, Tieren nicht irgendeine Art von Ästhetik zuzugestehen. Die Vorführungen der Bower birds (der Laubenvögel aus der Familie Ptilorhynchidae), die in etwa 19 Arten in Australien und Neuguinea vorkommen, sind ganz außerordentlich. Wenn die Paarungszeit kommt, bauen die Männchen Vorführungsplätze, die aus unterschiedlichen Lauben und Maibäumen bestehen, wohin sie dann die Weibchen locken... Sie dekorieren eine Annäherungsallee mit solchen Dingen wie gebleichten Tierknochen, Steinen, Metallstücken und Silbermünzen, wenn sie sich diese verschaffen können. Andere Arten bereiten eine Moosfläche, auf welcher sie buntfarbige Früchte und Blumen verteilen, die nur zur Ansicht da sind und nicht gefressen werden. Wieder andere bemalen die Laubenwände mit Fruchtmark oder Holzkohle oder dürrem, mit Speichel vermischtem Gras. Manche ersetzen welkende Blumen und faulende Früchte durch frische ... Obgleich ihre Tätigkeiten instinktiv und automatisch erscheinen, läßt sich unmöglich leugnen, daß eine wohlgeschmückte Laube dem Vogel ein Vergnügen bereitet, das nur ästhetisch genannt werden kann.« Die Entfaltung der Schönheit muß mehr sein als nur das Kennzeichen, an dem die Tiere erkennen, daß sie zur gleichen Art gehören und als Geschlechtspartner füreinander in Frage kommen. Der Trieb zur Schönheit hat einen tieferen Sinn; Schönheit ist mehr als ein Sexsymbol, mehr als das grüne Licht einer Verkehrsampel, die den Weg zum Geschlechtsakt freigeben würde. Manche heutigen Naturwissenschaftler haben einen blinden Fleck statt des Schönheitssinnes. Einige erwähnen immerhin - wenn auch nur en passant — die Wichtigkeit der Auswahl durch den Geschlechtspartner. Isaac Asimov (in The Wellsprings of Life, New York 1960, S. 48) anerkennt die »Formierung der Arten, sei es durch natürliche Selektion oder durch deren Variante, die sexuelle Selektion«. Wieso Variante? Die individuelle Auswahl der begehrenswerten Partner ist durchaus keine Abwandlung des darwinistischen »Überlebens der Tüchtigsten«; die beiden Prozesse haben nichts miteinander gemein, sie sind zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien, die oft in genau entgegengesetzter Richtung wirksam werden. Sie sind in allem verschieden: im Material, das sie verwenden, im Mechanismus ihrer Wirksamkeit, in der Gerichtetheit der durch sie bewirkten Auswahl. 44
Die geschlechtsbedingte natürliche Zuchtwahl wird von der modernen Wissenschaft total unterschätzt. Ich möchte dieses Prinzip noch weiter verfolgen als seinerzeit Darwin. Ich glaube, daß beispielsweise die Entwicklung vom kleinen, vierzehigen Eohippus (dem Morgenrötepferdchen) zum einhufigen, geschwinden Pferd durch die Vorliebe der Stuten für rasche Hengste - und umgekehrt - mitbestimmt wurde. Die orthodoxe Vererbungslehre bestreitet, daß so etwas wie ein Artenwille hier am Werk gewesen sein kann. Ein bekannter Biologe beklagt sogar, daß populäre Naturkundebücher diese Entwicklung auf Tafeln so zeichnen, als sei sie zielgerichtet. Auf diesen Seriendarstellungen erscheint nämlich ganz links die älteste bekannte Form, von Terriergröße, mit relativ kurzen Beinen und vier Zehen an jedem Fuß; bei den Zwischenstufen rutschen die äußeren Zehen allmählich nach oben, berühren den Boden nicht mehr, verkümmern; all diese Stufen sind durch zahlreiche Knochenfunde belegt. Ganz rechts auf diesen Illustrationen erscheint stolz unser Equus. Eine zielstrebige Entwicklung! Trotzdem sollen wir glauben, daß rein zufällige Mutationen diese Einbahnstraße bauten: kaum bemerkbare, aber erbliche Veränderungen im genetischen Code der DNA-moleküle sollen sich so lange addiert haben, bis ein zweckmäßiges Resultat entstand. Als ob zufällige Abweichungen sich nicht nach beiden Seiten hin verstreuen und statistisch gegenseitig ausgleichen müßten! Als ob kleine, fünf- und vierzehige Tiere nicht massenweise die Erde noch heute bevölkerten und vergnügt ihre Lebensfähigkeit darlegten! Wer einmal junge Stuten und Hengste auf der Weide hat spielen sehen und das Erwachen der Liebe bei diesen graziösen Kreaturen beobachtet hat, weiß, daß die Stuten rasche, energische Pferdeherren bevorzugen. Diese Vorliebe mußte sich ja über die Jahrmillionen hin auch statistisch auswirken. Selbst ein so vorzüglicher, pragmatisch eingestellter Pferdekenner wie Franz Hancar (Das Pferd, Wien 1955, S. 536) glaubt, nicht ohne eine Verbeugung vor der gängigen Schulmeinung auskommen zu können. Er schildert die »Spezialentwicklung zum Lauftier der Eiszeitsteppe, das nicht nur zur Flucht vor Gefahr im allseits eingesehenen baumlosen Gelände, sondern auch zur Futtererreichung mit dem flüchtigen Fuß ... geschwindigkeitsbegabt ist«. Sind diese Argumente stichhaltig? Gras läuft nicht fort; die Futtererreichung braucht also nicht schnell zu geschehen. Die Gefahren in der Steppe, in Nordamerika besonders, waren minimal: das Pferd war dort durch keine geschwinden Raubkatzen bedroht wie 45
in Asien, Europa und Afrika. Der Wolf — ein wirklicher Feind des Pferdes — schnappt nur die Kranken, Alten und noch Unentwickelten, er bleibt stets an der Peripherie der Herde: also ist die Herde besser dran, wenn sie nicht zu rasch flieht und dadurch in Gefahr gerät, sich zerstreuen zu lassen. Eine Pferdemutter, die ihr unbeholfenes Fohlen schützen will, braucht hierzu am allerwenigsten die Geschwindigkeit: sie will ihrem Jungen doch nicht wegrennen! Nein, Schnellfüßigkeit in der Steppe bietet keine praktischen Vorteile, die das Aussterben der Langsamen erklären und rechtfertigen würden. Pferde laufen gern schnell; so sind sie psychisch und physisch veranlagt. Das Grasen allein befriedigt ihr Bedürfnis nach Muskelbetätigung nicht. Wenn zahme Pferde sich mit Mustangs zusammenscharen dürfen, sind sie sogleich wie verwandelt: in der Freiheit, besonders also in der Bewegungsfreiheit, blühen sie auf. Die Freude eines Rosses, das ein bißchen schneller zu laufen vermag als seine Artgenossen, färbt seinen ganzen Habitus, macht es aktiv, stolz und zeugungswillig. Ein Pferd hingegen, das oft von seinen Konkurrenten überrundet wird, wird ein Sonderling und hat bald keine vitale Lust mehr, keinen Energieüberschuß, der es zu sexuellen Eroberungen treiben könnte. Solche oder ähnlich komplizierte Gründe bringen dann das Vorwiegen der immer schnelleren und tüchtigeren Tiere in der Erbfolge zuwege. Es ist gar nicht nötig anzunehmen, daß die schwerer Beweglichen größeren Gefahren unterliegen und von den Stärkeren, von den fittest ausgerottet werden. Die gegenseitige Bewunderung der Männchen und Weibchen innerhalb einer Gattung treibt die Zuchtwahl auf ein neues, in Schönheit und Tüchtigkeit gesteigertes Modell zu. Liebe, nicht Kampf, erklärt die Aufwärtsentwicklung der Wesen. Dies ist eine ungemein wesentliche Unterscheidung, die, wenn sie von den Fachbiologen bestätigt werden sollte, unser ganzes Weltbild freundlicher gestalten könnte.
Die Bedeutung des harten Auswahlprinzips durch die Vertilgung der Schwächeren soll ja hier gar nicht geleugnet werden. Eine Kröte füllt ihren Magen viermal pro Sommertag mit Insekten an; man schätzt, daß sie in jeder warmen Jahreszeit zehntausend Insekten frißt. Aber ein Elefant, ein Rhinozeros, ein Flußpferd werden nie von anderen Tieren gejagt, und sie jagen auch nicht. Wo soll bei diesen Riesen der Selektionsdruck, die Auswahl der Tüchtigeren herkommen? 46
Wenn die Mutationen nur zufällig entstünden, gleichsam als Würfelspiel der Natur, dann müßten die kurzlebigen Pflanzen und Tiere in viel mehr Arten aufgespalten sein als die Langlebigen. Denn die Möglichkeit zum Würfelwurf wird viel öfter gegeben sein, wenn die Generationen einander in geschwinder Folge ablösen. Die berühmte Taufliege (Drosophila), die gerade ihrer kurzen Lebensdauer und ihrer häufigen Generationenfolge wegen für genetische Experimente so beliebt ist, müßte demnach in hunderttausendmal mehr Varianten auftreten als beispielsweise Schmetterlinge, die ein Jahr zu ihrer individuellen Entwicklung brauchen. Und es müßte viel verschiedenartigere Mäusearten geben als Katzenarten. Das ist keineswegs der Fall. Das Würfelspiel ist also nicht so automatisch und gleichförmig, wie die Genetiker dies wahrhaben möchten. Nein, die Evolution ist kein Roulettespiel.
Die mechanistische Vererbungslehre besagt, daß die langsameren, kleineren, dümmeren, schwächlicheren Exemplare nicht erfolgreich im Kampf ums Dasein seien, daß sie beim Nahrungserwerb und bei der Flucht vor Feinden den kürzeren ziehen. Darwins Gefolgsleute stellten sich wohl ganz simpel vor, daß alle Schwächlinge, Unbegabten, Rückschrittlichen verdrängt, getötet und gefressen werden. Nach dieser Doktrin fällt der Streit, nicht die Liebe alle maßgeblichen Entscheidungen. Aber so ausnahmslos grausam ist das Leben ja wirklich nicht. Wir beobachten ringsum, daß zarte, törichte, vornehm zurückhaltende Wesen ihr eigenes, eigenartiges Dasein in Frieden zu Ende führen. Für die »Ertüchtigung« des Rassenhabitus sorgt nicht so sehr der Streit als die Liebe. Die »gelungenen« Exemplare einer Gattung sind zeugungsfähiger und zeugungswilliger als ihre nicht so begünstigten Artgenossen. Kränkliche und mißgestaltete Individuen haben soviel mit ihren eigenen Problemen zu tun, daß sie sich selten zur Werbung, zur Einfühlung in die Psyche des in Aussicht genommenen Partners, zum Wettkampf aufraffen können. Sie haben nicht die übersprudelnde Energie zur Sexualbetätigung; häufig treten sie erst gar nicht in den Wettbewerb ein, brauchen also nicht mit Gewalt ausgeschaltet zu werden. Unter den gesunden, fortpflanzungsfähigen Exemplaren werden dann diejenigen siegen, die den Weibchen besser gefallen oder die ihre Konkurrenten ausstechen können und wollen. Die Tierpsyche verfügt durchaus über Motive, die die Zuchtwahl 47
beeinflussen können: Bewunderung und Neid, Schönheitssinn und Vertrauen, Eifersucht und unersättliche Geilheit. All diese Äußerungen des individuellen Willens werden die Zuchtwahl lenken, und der Artenwille wird in das Roulettespiel der Gene entscheidend eingreifen. Die Psychotherapie weiß, daß Minderwertigkeitskomplexe beim Menschen oft zur Impotenz führen. Warum sollen Tiere von dieser psychischen Verkettung verschont sein? Sie würde als Auswahlagens bei der Artenbildung zur Wirkung kommen. Kein »Kampf ums Dasein« ist da mehr nötig und möglich. Um noch einmal auf den Stammbaum des Pferdes zurückzukommen : Wir haben heute keine Möglichkeit mehr, die Verhaltensweisen des Eohippus und der übrigen, durch Knochenfunde so genau belegten, Stufen auf dem Weg zum Equus caballus hin zu studieren. Wir wissen aber, daß die neuzeitlichen Hengste gern einen Harem von Stuten um sich versammeln. Um diesen Harem unter Kontrolle zu halten, ist Geschwindigkeit allerdings ein Vorteil: es fiele dem Hengst schwer, mehrere Weibchen zu bewachen, einzukreisen und gegen jüngere Freier zu schützen, wenn er nicht rasch laufen könnte. Falls diese Haremspsychologie schon bei den Vorformen des Pferdes ausgebildet gewesen sein sollte, so könnte diese Annahme helfen, die Geschwindigkeitssteigerung bis zum einzeiligen modernen Modell des Pferdes hin zu erklären, und zwar, wenn man so will, durch darwinistisch erfaßbare Auswahl der Geeignetsten. Der schnellste Hengst wird Herr des Harems und zeugt viele schnelle Nachkommen. Selbstverständlich spielt Kampf bei der natürlichen Züchtung kräftiger und tüchtiger Rassen auch eine Rolle. Dies wird schon durch die Tatsache belegt, daß keine Fleischfresser, sondern nur Pflanzenfresser Hörner entwickelt haben: da sie keine hauptberuflichen Waffen, also keine Reißzähne zur Verteidigung besitzen, bietet die Zurschaustellung von bedrohlichen Gehörnen einen Überlebensvorteil. Es geht jedoch nicht an, wie etwa Konrad Lorenz dies unternimmt (Das sogenannte Böse, Wien 1963, S. 60), sogar in friedlichen Umweltsituationen Rivalenkämpfe innerhalb einer und derselben Art als das einzig wirksame Ertüchtigungsmittel anzunehmen. Lorenz erklärt, daß auch bei Pferden die Eifersuchtskämpfe zur Herauszüchtung besonders großer und wehrhafter Familien- und Herdenverteidiger führten. Kann dies die ganze Motivierung des biologischen Fortschritts sein? Lorenz kommt nie auf die Vermutung, daß Rassenentwicklungen - wie die vom Eohippus zum Equus - auf 48
der Selektion durch den Eros, nicht durch die Aggression, bewerkstelligt wurden. Ich möchte aufs bestimmteste vermuten, daß auch die Emporzüchtung des Neandertalers zum Homo sapiens durch ästhetische und erotische Präferenzen der auswählenden Geschlechtspartner gefördert oder gar entschieden wurden: Millionen Akte der freien Wahl summierten sich da zur großartigsten Zucht in der gesamten Biologie. Durch Äonen hin haben wählerische Jünglinge und Jungfrauen Partner mit hoher Stirn, aufrechter Haltung, wenig haariger Haut bevorzugt. Ist das denn eine so unwahrscheinliche Hypothese? Für so verschiedenartige Kreaturen wie bunte Schmetterlinge, langgefiederte Fasane und Rennpferde können wir als sicher annehmen, daß nicht das Aussterben der ein bißchen Benachteiligten die Entwicklung ihrer Formen bestimmt habe; die Partnerwahl nach erotischen und ästhetischen Gesichtspunkten hat diese Arten ausgeformt. Dies kann man nicht nur als den immanenten Entwicklungswillen einer Art bezeichnen: es ist der Entfaltungstrieb, der dem Leben innewohnt. Das Leben selbst will »vollblütiger«, prächtiger, kräftiger, farbenfreudiger werden. Viele exakte Naturwissenschaftler haben eine Heidenangst (oder vielmehr eine Atheistenangst) vor Anthropomorphismen: sie wollen vermeiden, der »tumben« Natur menschliche Zwecke und Strebungen unterzuschieben. Warum eigentlich? Sind wir denn nicht selber »verwandt allem Lebendigen«, wie Hölderlin meinte — »verständigt« mit den inneren Naturkräften, wie Rilke dies wünschte? Die Dichter haben manchmal tiefere Einsichten als die Fachwissenschaftler. Bisweilen können wir von ihnen lernen.
Es ist an der Zeit, einen neuen Begriff einzuführen, der von allen anerkannten Prinzipien der heutigen Schulbiologie abweicht: die ästhetische Zuchtwahl. Zur ästhetischen Selektion gehören solche Auswahltendenzen wie die Bevorzugung von Luxusformen und Prunkfarben durch die wählerischen Geschlechtspartner sowie auch die Förderung immer attraktiverer Blüten und Früchte durch tierische Konsumenten: ein sehr weit abgestecktes Funktionsfeld also. Das Wirkungsmittel der ästhetischen Zuchtwahl ist die Sinnlichkeit: Sinnlichkeit des Auges, des Gaumens, der Riechorgane, des Geschlechtsverlangens; sie funktioniert durch - primitive, aber unleugbare - Werturteile. 49
Es ist tatsächlich so, daß die Sinnenfreude dem Fortschritt dient: ein Gedanke, der dem viktorianischen Zeitalter Darwins zuwider, ja fast undenkbar war. Die ästhetische Zuchtwahl dient nicht der Ertüchtigung, sondern der Veredlung. Die sinnliche Auswahl unter den Lebewesen scheidet farblose, langweilige, temperamentlose, uninteressante Individuen aus. Hingegen sind die typischen Opfer des darwinschen Daseinskampfes im engeren Sinne oft allzu interessant: tolldreist, auffällig am falschen Platz, unangepaßt. Das ästhetische Auswahlprinzip steigert den Reiz und den Abwechslungsreichtum unserer irdischen Heimat. Sexuelle und ästhetische Selektion — die oft, aber durchaus nicht immer einander in die Hände arbeiten — produzieren Lichtsignale (etwa bei Glühwürmchen und Tief Seefischen), farbliche Prachtentfaltung, Tänze, Riten, Gesang, Darbietung von Hochzeitsgeschenken und attraktive Körperformen. Die ästhetische Zuchtwahl verursacht, daß Beeren rot werden, um Vögel anzulocken, die diese Beeren fressen und mit ihrem Kot zu neuem Keimen und zu weiterer Verbreitung transportieren. Sie veranlaßt, daß Blumen und Tiere anziehende Geruchssignale aussenden: die Rose und das Moschustier erzeugen sehr verschiedene, aber anziehende Düfte, wovon dann - in künstlicher Fortsetzung der natürlichen Zuchtwahl - unsere parfümierten Damen profitieren. Früchte müssen an und für sich nicht süß sein, um fruchtbar zu sein. Erst die Auswahl der schon ein bißchen süßen Früchte durch Tiere, die den Geschmack zu schätzen wußten und die Samen unverdaut in ihren Eingeweiden immer weiter transportierten, brachte diesen Selektionsdruck zuwege, und so wurden die Früchte, je süßer, desto erfolgreicher. Die lieblichen Farben der gleichen Früchte, die für ihre Genießbarkeit Reklame machen, um ihren Kernen ein weiteres Verbreitungsgebiet zu verschaffen, erhöhen das ästhetische Niveau der Natur. Bei diesen Vorgängen kann man unmöglich von sexueller Selektion reden: sie sind reine »Geschmacksangelegenheiten«. Sie entstehen nur durch ästhetische Zuchtwahl. Zu den seltsamsten »Auswüchsen« im wahren Wortsinn, die der ästhetische Wettbewerb hervorbrachte, gehören die Hörner und Geweihe vieler männlicher Wiederkäuer. Hier herrscht keinerlei Zweckmäßigkeit. Je ausschweifender, je absurder diese Knochenund Horngebilde sind, desto erfolgreicher sind sie. Die Weibchen lassen sich durch vielverzweigte Geweihe oder durch schwungvoll gedrehte Hornspiralen zur Bewunderung hinreißen. Den konkurrie50
renden Männchen imponiert das drohende Aussehen dieser Aufbauten oft zur Genüge, bevor es zum Ausscheidungskampf kommt. Die Reklame für die stolz strotzende Maskulinität bringt die gewünschte Wirkung hervor. Hier läßt sich nun in der Tat demonstrieren, daß nicht immer der Tüchtigste überlebt, daß nicht stets und überall nur zweckmäßige Formen herausgezüchtet werden. Es gibt gelegentlich Hirsche — der Waidmann nennt sie »Mörderhirsche« — denen durch zufällige Mutation oder vielleicht durch Spezialernährung die Zacken des Geweihs fehlen. Sie tragen scharfe, einfache Dolche auf der Stirn. Der Selektionsdruck im darwinistischen Verstande müßte diese Hirsche siegreich, fruchtbar, vorherrschend machen und in einigen Generationen die ganze Art, den gesamten Begriff »Hirsch« auf ein neues, mörderisches Modell hin verändern. Dies ist nicht eingetreten. Die ausgezackten Geweihe blieben eben psychologisch wirksamer, für rivalisierende Männchen respekteinflößender, für läufige Weibchen ästhetisch verführerischer. Wie Lorenz nachgewiesen hat, sind die Kämpfe vieler Männchen um die verfügbaren Weibchen weitgehend zum Ritual geworden: sie sollen gar nicht zum blutigen Ausscheidungskampf gesteigert werden. Anläßlich der »plakatfarbigen« Korallenfische, die mit ihrer Kriegsbemalung protzen, beschreibt Lorenz sehr hübsch, daß sie »die Kriegsflagge hissen«. Das Gleiche gilt für die Geweihe der Hirsche und für die ganz unzweckmäßig spiralig gewundenen Hörner des Kudu und anderer Antilopen. Zum Aufspießen der Gegner sind sie unbrauchbar. Wohin solcher Reklameaufwand führen kann, sieht man am irischen Riesenhirsch und am amerikanischen Riesenelch: sie starben aus. Ihr Geweih, nutzlos dem Rücken aufliegend, wog in den Endstadien so viel wie ihr ganzes übriges Skelett. Der Selektionsdruck durch »Imponiergehabe« und durch die ästhetische Gattenwahl der Weibchen entschied ihren »Kampf ums Dasein« im negativsten Sinne. Ich vermute, daß Mammut und Mastodon infolge der gleichen anti-zweckmäßigen Zuchtwahl lebensuntüchtig wurden und ausstarben. Paläontologie und Zoologie haben jedenfalls bisher keine physiologische Erklärung des Riesenwuchses von Tierkörpern, von übertrieben ornamentalen Zähnen, Hörnern und Geweihen geliefert. Vielleicht war die ästhetische Zuchtwahl hier entscheidend.
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Die Kräfte und Bestrebungen, die die lebendige Materie durchwalten, sind vielfältiger und erfreulicher, als die Propheten des »allgegenwärtigen Kampfes ums Dasein« sich dies vorstellen. Unleugbar hat die friedliche, beiderseits nutzbringende Abhängigkeit, die symbiotische Verschmelzung, die früheste Fortschrittsentwicklung im Pflanzenreich erst ermöglicht: damals fanden sich die primitivsten Algen und Pilze zur Bildung von Flechten zusammen. Fortschritt und Behagen durch Symbiose: dieses Arrangement durchzieht die gesamte Biosphäre, von unseren eigenen, uns unentbehrlichen Verdauungsbakterien bis zu den liebenswürdigen Vögeln, die auf den Rücken von gewaltigen Dickhäutern hausen und diese mit ihren Schnäbeln von Ungeziefer befreien. Die Symbiose sorgt dafür, daß zwei oder mehrere Arten sich ans Zusammenleben adaptieren, so daß für beide der größtmögliche Gewinn entsteht. Sie sieht dem Altruismus zum Verwechseln ähnlich. Das wichtigste Beispiel nutzbringender Symbiose ist unser menschliches Verhältnis zu gezähmten Tieren und veredelten Pflanzen. Obgleich wir meinen, völlig egoistisch zu handeln, obgleich wir unsere Schutzbefohlenen schlachten bzw. ernten und essen, ermöglichen wir ihnen doch zunächst einen friedlichen und befriedigenden Lebenslauf. Die Domestizierung ist ein wechselseitig vorteilhafter Vertrag, sie kommt beiden Kontrahenten zugute. Oder ist es etwa kein Fortschritt auch im biologischen Sinn, wenn Tiere ohne ständige Angst vor Verfolgern und Hunger leben dürfen und wenn Blüten immer schöner, Früchte immer süßer, saftiger und fruchtbarer werden? Die vom Menschen praktizierte künstliche Zuchtwahl gehört genauso in die Tendenz zur Verfeinerung wie die natürliche, wilde Zuchtwahl. Der Homo sapiens mit seinen Zielvorstellungen und gerichteten Handlungen ist ja schließlich noch immer ein integraler Teil der Biosphäre.
Der neue Begriff »ästhetische Zuchtwahl« erklärt so verschiedenartige Phänomene wie die Kirschblüte und den Pfau. Ob nun der sexuelle Appetit der Pfauhenne oder der Appetit der Biene für einen Honigtrunk angeregt werden sollen: freundliche Anziehung ist beabsichtigt. Die ästhetische Selektion ist selbst ein Produkt des biologischen Fortschritts. Einst in der Triaszeit brauchten die Windblütler noch keine lieblich bunten Blüten zu entwickeln, denn 52
dem Wind, der die Sporen von Farnen und Nadelbäumen befördert, ist die Farbe gleichgültig. Von der Tertiärzeit an aber mußten die Blüten stets verlockender werden, um möglichst viele Insekten auf sich zu locken. Dadurch wurde das Bild der Welt immer attraktiver, der bunte Schleier der Maja wurde immer verführerischer. Die aggressive, gewaltsame Methode der Zuchtwahl will dagegen kein Entgegenkommen provozieren. Sie will ihr Objekt fressen, vertreiben, abschrecken, vernichten. Auch sie ist ständig stärker, absoluter geworden, bis sie in der oft sinnlosen Ausrottung zahlreicher prachtvoller Wildtierrassen durch den Menschen kulminierte. Wenn wir diese zwei Selektionsfunktionen, die aggressive und die ästhetische, so kraß einander gegenüberstellen, besteht kein Zweifel mehr, welcher von den beiden wir, in die Zukunft hinauswirkend, unsere menschliche Unterstützung geben müssen.
Was es zu entwickeln gilt, ist eine »sanfte« Biologie. Es geht nicht an, daß die Wissenschaftler sich geradezu mit Scheuklappen gegen die freundlichen Kräfte in der Natur abschließen. Typisch für diese Gesichtsfeldeinengung ist folgende Behauptung (Hans-Heinrich Vogt, Verhaltensforschung, München 1970): »Nicht allein der organische Tod durch Krankheit ist der Richter über das Schicksal eines Tieres, sondern auch seine großen, sichtbaren Feinde sind an seinem schnellen Verschwinden interessiert. Darin liegt also der Grund, weshalb in der Vorstellung des Laien noch immer >das muntere Rehlein springt< und >der lustige Vogel singtZweck< eine belanglose Kategorie für die Erklärung seiner Körperfunktionen ist - ihre eigene Tätigkeit Inbegriffen. Wissenschaftler, die von dem Zweck beseelt sind, ihre eigene Zwecklosigkeit zu beweisen. bilden ein interessantes Studienobjekt.« Inzwischen ist die »zweckfreie Wissenschaft« noch mächtiger geworden. Daß der Mensch ein Ideologisches Wesen ist, daß seine Gedanken und Bewegungen am besten verstanden werden können, wenn man sie nicht nur als kausal bedingt, sondern außerdem als zweckhaft ausgerichtet betrachtet, geht für mich aus der folgenden physiologischen Beobachtung hervor: Das menschliche Auge bewegt sich typischerweise nur rasch und ruckweise. Versucht man langsam in gleichmäßiger Bahn den Blick über den Himmel schweifen zu lassen, so entdeckt man bald, daß dies nicht funktioniert: die Blickbewegung wird zucken, in kurzen und längeren Abständen hängenbleiben. Führt man hingegen den Zeigefinger in ebenmäßiger Bewegung vor dem Himmel vorbei und fixiert mit dem Blick die Fingerspitze, so werden die Augen ihr völlig gleichmäßig in entsprechend langsamer Bewegung folgen. (Man kann das prüfen, indem man die Linie des 150
Nachbildes, wenn die Sonne neben dem Finger am Himmel steht, beobachtet: im ersteren Fall erscheint diese Einbrennung auf die Netzhaut ruckhaft, knotig, irregulär, im zweiten Fall als glatte Linie.) Wenn das Auge sich den Zweck setzt, einem fahrenden Auto zu folgen, bewegt es sich gleichmäßig; wenn es zwecklos durchs Zimmer schweift, bleibt der Blick an hundert Ecken und Enden hängen. Zwei sehr unterschiedliche Verhaltensweisen also. Hiermit ist dargelegt, daß das Auge nicht von den Augenmuskeln her dirigiert wird, sondern vom Sehen her, das heißt vom Objekt, von seinem Zweck her. Das Auge verhält sich zielgerichtet, also ideologisch! Das gleiche gilt für die arbeitenden Hände: die rechte und die linke Hand werden durch ganz verschiedene Muskelkontraktionen betätigt und erreichen doch, wenn gewünscht, ohne Zögern das gleiche Ziel. Der Zweck dirigiert die Tätigkeit, zweckhaftes Handeln hat andere Möglichkeiten und Gesetze als zweckfreies Existieren in den Zwischenpausen. Der Mensch kann sich erstaunlich sinnvoll verhalten. Dies trifft auch auf Tiere zu. Verhaltensforscher haben experimentell festgestellt, daß die Zielvorstellung einer andressierten Handlung ausschlaggebend ist. Man hat einer Ratte im Irrgarten beigebracht, Sackgassen und Umwege zu vermeiden und möglichst rasch zu einem Köder zu rennen. Später hat man den Irrgarten überschwemmt und die Ratte zu ihrem Ziel schwimmen lassen. Jede Einzelbewegung der Ratte mußte im Wasser anders werden als in der Luft, und doch erreichte sie ohne Zögern ihr Käseziel. Die Muskeln der Ratte waren also nicht auf Reflexbewegungen konditioniert. Sogar diese arme Ratte verhielt sich nicht kausal, sondern final. Nicht die Mechanik unserer Organe kommandiert unser Leben, sondern umgekehrt. Nach einem Schlaganfall schafft sich das Blut oft einen Umweg um die zerstörte Ader, es benutzt und erweitert Nebenadern. Man kann dies ursächlich beschreiben, sicherlich; die Beschreibung vom Zweck her ist jedoch der Natur entsprechender - natürlicher. Mit Entelechien oder göttlicher Vorsehung hat dies wohl nichts zu tun. Der Körper regeneriert sich um des Lebens willen. Wir leben um des Lebens willen.
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Teleologie und Kausalitätsglaube sind eben nicht unvereinbar. Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum kann kausal beschrieben werden durch Erforschung aller biochemischen Vorgänge: eine sehr komplizierte, aber im Prinzip mögliche Beschreibungsart. Die gleiche Entwicklung kann gleichermaßen logisch durch die Zielvorstellung beschrieben werden, die das Samenkorn in sich trägt: es verwirklicht die vorgegebene Gestalt des erwachsenen Baums, es führt den in ihm schlummernden Entwurf aus. Ob die Wurzeln nun stellenweise Steine, Lehm, Hohlraum, Sand antreffen, sie tasten sich doch durch den Untergrund vorwärts, bis sie ungefähr die gleiche symmetrische Gestalt auf allen Seiten angenommen haben. Die Umwelteinflüsse sind dabei fast bedeutungslos und wirkungslos, verglichen mit dem von innen her vorgegebenen Streben. Beim Menschen ist dieses Feedback noch deutlicher als beim Baum: Die Zielvorstellung wird zur Ursache unseres Verhaltens. (Schon Aristoteles sprach ja von »finaler Ursache«.) Das »immer wenn, dann« gilt als Kennzeichen einer kausalen Verknüpfung. Stimmt das ? Immer wenn die Uhr acht schlägt, dann betritt Herr Direktor Schulze sein Büro. Anscheinend haben wir hier eine induktive Gesetzmäßigkeit vor uns. — Aber die physiologischen Ursachen von Schulzes Handlungen sind jeden Tag verschieden: einmal hat er ein Ei zum Frühstück gegessen, das seine Kraftreserven auffrischte, ein andermal hat ein Hering ihm den morgendlichen Impetus gegeben. Einmal ging er zu Fuß, ein andermal nahm er ein Taxi: zwei völlig verschiedene Kausalreihen. Die Zielvorstellung, der Wille, um acht Uhr früh im Büro anzukommen, war der Beweggrund seines Handelns. Die physikalisch-chemische Kausalkette war schließlich für das Resultat unwichtig. Ein vorgestelltes, wahrgenommenes oder sonstwie magnetisierendes Ziel kann die Ursache einer Handlung, einer Entwicklung werden: Kausalität und Finalität ergänzen einander. So entsteht ein vielfältiges, unerschöpflich faszinierendes Muster auf dem Webstuhl des Lebens: Die Kettfäden sind von der Vergangenheit heraufgespannt, sie sind die Gegebenheiten in der Zeitdimension. Aber der Schußfaden des Zweckes fährt quer hindurch und verbindet sie zu einem sinnvollen Gewebe.
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Man könnte hierüber, wie seit Jahrhunderten, weiter hin und her theoretisieren, wenn es nicht eine praktische Nutzanwendung gäbe, die dringlichst eine Stellungnahme erfordert: nämlich das Problem der Verantwortung. Der Justizbetrieb verlangt gebieterisch, daß ein Täter so rasch wie tunlich abgeurteilt werde, daß das Ausmaß seiner Schuld festgestellt und mit entsprechender Sühne bedacht werde. Hier übersetzt sich das vage Verantwortlichkeitsgefühl ins Zahlenmäßige : soundsoviel Geld, soundsoviel Zeit müssen vom Schuldigen eingefordert werden. Darum müssen ethische Grundsätze in soziale Regeln übersetzt werden. Die Justiz des 20. Jahrhunderts fragt fast in jedem Straff all: Hat der Verbrecher frei gehandelt oder unter Zwang? Wenn er in kühlem Vorbedacht die Tat geplant hat, ist es seine Tat. Wenn aber zum Beispiel eine Geistesverwirrung ihn dazu veranlaßt hat, soll er nicht ganz so verantwortlich und deshalb weniger strafbar sein. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht logisch. Wenn man den Geistesgestörten einsperrt, so sperrt man ja damit auch seine Psychose ein, also wird der schuldige Teil bestraft. Aber die Logik darf hier nicht entscheidend sein, Menschlichkeit ist in jedem Fall wichtiger, die Möglichkeit der Heilung muß gewährleistet werden, die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit und die Gefahr für die Mitmenschen müssen abgewogen werden. Die relativistische Wende in der Jurisprudenz wurde erstmals 1924 deutlich, anläßlich des Mordfalls Leopold und Loeb in Chicago. Zwei verwöhnte junge Männer, Richard Loeb und Nathan Leopold, hatten ohne jeden Grund, einfach aus Sensationslust, einen vierzehnjährigen Jungen umgebracht. Der berühmte Rechtsanwalt Clarence •Darrow unternahm es, die beiden vor dem elektrischen Stuhl zu retten, indem er auf Verantwortungslosigkeit als milderndem Umstand plädierte: »Was hat dieser Junge damit« (mit seiner eigenen Mordtat) »zu tun? Er war nicht sein eigener Vater; er war nicht seine eigene Mutter; er war nicht seine eigenen Großeltern. Er hat sich nicht gemacht. Und doch soll er gezwungen werden zu bezahlen.« Darrow gewann, die Verbrecher kamen mit lebenslangem Zuchthaus davon - was damals noch durchaus ungewöhnlich war -, und die Rechtsprechung hat seither das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit immer weiter einschränken müssen. Wenn Darrow recht hätte, daß kein Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann, weil die Kausalbegründung einer Handlung sich bis vor die Geburt des Täters zurückverfolgen 'aßt, so dürfte auch keiner einen Nobelpreis erhalten, denn seine 153
Erbmasse und die Umstände, die seine Leistung ermöglichten, waren nicht sein Verdienst. Normalerweise aber hat ein erwachsener, durchschnittlich gesunder, in praktikabler Freiheit lebender Mensch genügend Möglichkeit zur Willensentfaltung, daß man ihn selbst, seine eigene Person, als Ursache seiner Aktionen einschalten kann und soll. All die juristischen Rezepte für die Menschenbehandlung — Belehrung, Zwang zur Wiedergutmachung, Abschreckung, Kur, Kastrierung, Folter, physische Ausschaltung — wurden und werden weiter von Fachleuten und Laien endlos abgewogen. Der Zeitgeist wird den Juristen jeweils verschiedene »Gerechtigkeiten« suggerieren. All dies sind praktische Probleme. Doch bleibt die Aufgabe, die Frage der Verursachung theoretisch weiter zu verfolgen. Wenn einer mit vorgehaltenem Revolver zu einer Untat gezwungen wird, betrachtet man ihn als nicht verantwortlich, obgleich seine Nachgiebigkeit gegen Drohungen wirklich sein Fehler gewesen sein mag. Wenn der Revolver gleichsam in ihm drinnen ist - nämlich als Fanatismus, Hurrapatriotismus, Gangstertum — so streitet man über seine Verantwortlichkeit. Wenn der Revolver sozusagen ein Teil seiner Persönlichkeit ist - also wenn er sich selbst als Berufsrevolutionär bezeichnet, wenn er ein gewerblicher Mörder oder ein Individuum ohne jeden Moralsinn ist - so isoliert oder vernichtet die Gesellschaft die Bedrohung mitsamt der Person. Das »Mördersein« ist also graduell verschieden, je nach dem inneren Zwang. Es ist nicht eine statische Eigenschaft, die einer ein für allemal hat oder nicht hat. Hier kommt zur Geltung, was man eine starke Persönlichkeit zu nennen pflegt. Michelangelo war die Ursache seiner Schöpfungen; wer könnte das bestreiten? Daß die Medici und Papst Julius der Zweite seine Werke bestellten, also im engsten Sinne verursachten, ist für die Verteilung des Verdienstes von sekundärer Bedeutung. Genau dies wird aber von den Behavioristen geleugnet. Ich sah einmal Professor Skinner während eines Fernsehinterviews, als er müde wurde und vielleicht Sätze durchschlüpfen ließ, die er beim ruhigen Schreiben zensuriert hätte. Die Frage wurde gestellt, ob irgendein beliebiger Mann, in die gleichen Umstände wie Michelangelo versetzt, auch diese Kunstwerke hervorgebracht hätte. »Ohne jeden Zweifel,« sprach Skinner und redete gleich über andere Dinge weiter. 154
Ich bin fest überzeugt, daß der Determinismus - der »Immer wenn, dann«-Komplex — für wichtige menschliche Entscheidungen keine wesentliche Rolle spielt. Zahlreiche alte und neue Bedenken gegen psychischen Determinismus lassen sich in drei grundsätzliche Einwände zusammenfassen. Erster Einwand: »Immer wenn, dann« - diese Kausalreihe ist beim Menschen unmöglich zu prüfen. Die Prüfung könnte nur durch Wiederholung erfolgen. Aber wenn eine Handlung wiederholt wird, ist der Handelnde ein wenig älter und vielleicht gleichgültiger geworden, die Engramme der ersten Ausführung in seinem Gehirn lassen sich nicht auslöschen, seine Absichten sind allein schon durch die Tatsache der Wiederholung umgefärbt; zuviele Ursachen und Anregungen wirken auf ihn ein, als daß man noch vom »gleichen Versuch« reden könnte (so wie in einer chemisch reinen Retorte oder im Rattenkäfig viele identische Versuche möglich sind). Man kann schlechterdings nicht behaupten, daß ein Mensch immer auf die gleichen Ursachen gleich reagiert, dies wäre eine wissenschaftlich unbeweisbare These. Das »immer wenn, dann« scheitert nicht an der Konklusion, sondern an der Prämisse: das »immer wenn« findet nicht statt. Der weise griechische Satz: »Du kannst nie zweimal in den gleichen Fluß steigen« betrifft nicht nur die Wandelbarkeit des Flusses; auch das Du ist nie zweimal das gleiche. Ergo: Es gibt keine hundertprozentig sichere Voraussage menschlichen Verhaltens.
Zweiter Einwand gegen den psychischen Determinismus: Das Ich ist flexibel. Das Ich saugt bei jeder Tat aufs neue verschiedene Ursachen in sich auf, es wird als Ganzes, inklusive vieler Ursachen, zum Täter. Wenn es später die Ursachen wieder ausscheiden will - wenn es etwa sagt, es habe nur auf höheren Befehl gehandelt - so ist dem entgegenzuhalten, daß zunächst die Empfänglichkeit für den Befehl ein effektiver Bestandteil seiner Ichstruktur gewesen sein muß: sonst hätte dieses Ich auf jenen Befehl schon nicht reagiert. Die Verantwortlichkeit als Aura des Ichs wechselt mit jeder Handlung, ist aber stets, größer oder kleiner, vorhanden und gehört daher jeweils zum Ich. Ergo: Der Mensch ist für seine (guten und schlechten) Taten verantwortlich. 155
Dritter Einwand gegen den psychischen Determinismus: Die Handlungen des Menschen sind nicht vorherbestimmt, obgleich das Kausalgesetz gilt (wenn nicht in galaktischen und inneratomaren Bereichen, so doch in der mittleren Sphäre unserer irdischen Belange). Denn Kausalität und Vorbestimmtsein sind keine identischen Prinzipien. Zum Vorausbestimmen gehört eine totale Abbildungsmöglichkeit, und diese gibt es nicht. Um einzelne Ereignisse vorhersagen zu können, genügt es keineswegs, allgemeine Gesetze zu kennen; es genügt auch nicht, die Begriffe zu kennen, unter welche sich einzelne Gegebenheiten subsumieren lassen. Man müßte sämtliche Tatsachen einzeln kennen, die irgendwann irgendwo Einfluß auf das Kausalgeflecht genommen haben und noch nehmen können. Dies hieße: eine komplette Duplizierung der Welt in einem einzigen Gehirn. Dergleichen ist offensichtlich unmöglich (außer für einen Weltgeist, und dieser wäre dann mit der Natur identisch, wie Spinoza das annahm). An dieser Stelle der Diskussion wird oft Werner Heisenbergs Unbestimmbarkeitsprinzip ins Feld geführt. Heisenberg hat nachgewiesen, daß wir innerhalb des Atoms nicht feststellen können, wo ein Elektron sich gerade befindet, wenn wir wissen, wie schnell es sich bewegt, und umgekehrt: wir können nur entweder seinen Ort oder seine Geschwindigkeit kennen. Die Physiker erkennen an, daß diese Unbestimmbarkeit kein Fehler der Beschreibung ist, sondern daß sie eine prinzipielle Unmöglichkeit darstellt. Wenn etwas prinzipiell nicht verifiziert werden kann, so kann es auch nicht das Objekt einer wissenschaftlichen Aussage sein. Genauso ist es unmöglich, den künftigen Verlauf eines Menschenlebens vorherzusagen, ganz gleichgültig, ob das Kausalgesetz menschliche Handlungen eigentlich, in der Welt der Dinge an sich, determiniert oder nicht. Was wir nicht verifizieren können, dürfen wir auch nicht behaupten. Sogar wenn wir kausal funktionieren, so funktionieren wir deshalb doch nicht auf vorhersagbarer oder auf vorherbestimmter Bahn. Ergo: Wir können nicht programmiert werden. Damit scheint mir die uralte Antinomie von Bedingheit versus Willensfreiheit aufgehoben, das Problem ist praktisch gelöst. Wir sind frei, uns über unsere Freiheit ganz maßlos zu freuen!
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Die theoretischen Angriffe auf unser persönliches, geliebtes Freiheitsgefühl unterliegen seltsamen - und einander widersprechenden - geistigen Modeströmungen. Früher war es der Glaube an Prädestination durch dämonische und göttliche Mächte: dieser Aberglaube wurde in zyklischer Wiederkehr anbefohlen und zerstört. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand man sich fast hypnotisch zu der Idee hingezogen, daß die Menschen erblich belastet seien, daß Charaktereigenschaften oder krankhafte Entartungen unserer Vorfahren unausweichlich unser Schicksal festlegen. Diese Leitidee gab etwa Zolas Romanserie eine packende Folgerichtigkeit; heute erscheint sie als geringes Problem. Danach wurde die Bestimmtheit durch ökonomische Verhältnisse als entscheidend angesehen, ihre Gesetze erschienen so zwingend wie Naturgesetze. (»Der Regen fällt immer nach unten, und du bist mein Klassenfeind.«) Auch diese Fixation dürfte im Abflauen begriffen sein. Ererbte Gene, vererbbare Krankheiten und Belastungen, erbliche Genialität: all diese beeinflussen jedes Individuum von innen her, und von außen her wirken wirtschaftliche, geistige, militärische Organisationen auf jede persönliche Entscheidung ein. Aber daß eines das andere ausschließen sollte, ist schlechterdings nicht zutreffend. Schließlich und endlich führen Einflüsse nur dann zu individuellen Entscheidungen, wenn der Mensch sich solchen Einwirkungen öffnet. Damit ist das Individuum selber wiederum in den Entscheidungsprozeß eingeschaltet. Falls man sich zu sehr darauf verläßt, daß die Leute in gleichen Situationen immer gleich handeln, kann es einem ergehen wie jenem österreichischen Monarchen, dem gemeldet wurde: »Majestät, die Bürger machen Revolution!« Worauf Majestät erwiderten: »Revolution? Jo derfen's denn das?« Es gibt keine scheußlichen oder edelmütigen Handlungen, zu denen sich im Verlauf unserer Geschichte nicht irgendwann einmal Menschen entschlossen haben. Wer sich in gewissen Zeiten zu absolut auf das angeborene Gute oder auf die Erbsündigkeit, auf Unterwürfigkeit oder auf Freiheitsliebe, auf ökonomische Bedingtheit oder wirtschaftliche Privatinitiative verläßt, muß zu seinem Schaden erkennen, daß das menschliche Verhalten vielleicht statistisch, nicht aber kausal vorhergesagt werden kann. Verunklärend kommt hinzu, daß jeder Mensch einen Fundus an tnergie in sich hat, der eine Handlung auslösen kann, so wie der Flintenhahn die Kugel auf den Weg schickt: nicht die Energie des Hahnes gibt der Kugel ihre Durchschlagskraft. Deshalb kann das 157
schwächste Motiv, am richtigen Punkt angreifend, gigantische Wirkungen auslösen; und ein offensichtliches, gradlinig zu verwirklichendes Interesse bleibt manchmal wirkungslos. Das Aufsaugen von Ursachen in das Ich, so daß die Ichstruktur selbst durch neue äußere Gegebenheiten verändert wird, ist möglicherweise das entscheidende Phänomen. Die Erfahrungen und Belehrungen, die das Individuum von außen erhält, werden ein integraler Teil seiner Person. Ein Physikstudent erhält Arbeitsmethoden, Ansichten und Hypothesen von einem älteren Professor; diese helfen ihm nur, wenn er sie absorbiert und in sein Ichgefüge aufnimmt; und wenn er dann zwanzig Jahre später den Nobelpreis erhält, hat eben nicht sein Lehrer, sondern sein eigenes Ich diese Anerkennung verdient. William James beschreibt, wie er an einem eiskalten Wintermorgen im Bett lag und sich nicht zum Aufstehen entschließen konnte; kein Motiv für seine Willensentfaltung war stark genug, aber im Prinzip wollte er sich doch erheben. Später entdeckte er, daß er aufgestanden war, und zwar gedankenlos, ohne zeitlich festlegbaren Willensimpuls. Durch James angeregt, habe ich in ähnlicher Lage ein bißchen Introspektion betrieben. Wenn ich mir abends vornahm, besonders früh am nächsten Morgen aufzuwachen, so fand ich, daß mein Ich die hierzu nötigen Anstöße von außen her aufsog. Ich hörte, noch im Schlafen, einen Hahn krähen; dann, im Halbschlaf, hörte ich Milchflaschen vor der Tür klappern usw. Ich hätte diese Störungen einfach überhört, wenn ich mir nicht den Willen zum Aufwachen abends eingeprägt hätte. Mein Wille benutzte diese Motive, mein Ich entschied. Trotz der äußeren Ursachen verhielt ich mich final, ich hatte die Wahl, die Motive zu akzeptieren. Ich war für mein frühes Aufstehen verantwortlich. Können wir wollen? Wollen wir wollen? Können wir wollen wollen? So läßt sich wie in einer Spiegelgalerie endlos der Punkt verfolgen, an dem der Wille einsetzt; man kann ihn immer weiter zeitlich rückwärts hinausschieben. Dies ist die Schwierigkeit, wenn man streng kausal denken will. Aber sobald man die Beobachtungsweise umdreht und final denkt — also wenn man die Reihe von psychischen Stadien vor der Handlung als gerichtet beurteilt -, löst sich die Schwierigkeit auf, und der individuelle Wille wird klar und einleuchtend. Ist dies ein philosophischer Taschenspielertrick ? Kaum; denn es ist unmöglich, durchs Kausalgeflecht zurückzudenken bis zu einer prima 158
causa hin. Einen Ansatzpunkt des Willens, dem keine Motive vorausgingen, gibt es nicht. Aber das Ich des Täters ist die Ursache der Tat, denn dieses Ich absorbiert und enthält die Motive. Der psychische Energiefundus, den ein Individuum schon als Kind zu erwerben beginnt, ist unbezweifelbar Teil seines Ichs, auch wenn er nicht manifest in Erscheinung tritt. Diesen Fundus von Charakterstärke, Wissen, Willensreserven kann das Individuum, wenn Entscheidungen gefordert werden, einsetzen und damit alle Berechnungen eines etwaigen Gegners zuschanden machen. Mehr noch: ein Erzieher oder Vorgesetzter kann diesen Fundus so aktivieren, daß die Reserven in ganz neuer Richtung wirken, die dem Individuum vorher kaum bekannt und bewußt gewesen sein mögen. Solche Möglichkeiten machen den Anhänger der Willensfreiheit menschenfreundlicher und optimistischer als den Fatalisten.
Von welch sinnlosen Zwangshandlungen die Menschheit geplagt wird! Ein Beispiel: Seit undenklichen Zeiten trat jeden Morgen im Park des Schlosses Zarskoye Selo ein Soldat an, um eine bestimmte Stelle zu bewachen. Durch die Jahrhunderte hindurch löste eine Wache die andere ab, und erst nach der Revolution erkundigte sich jemand, was denn an diesem leeren Rasenfleck so bewachenswert sei. Man ging der Sache nach und fand, daß Katharina die Große dort ein Veilchen gesehen und einem Gardisten befohlen hatte, das Blümchen zu schützen. Der Soldat war abgelöst worden und gestorben, niemand hatte Fragen gestellt, die zwanghafte Energieverschwendung war weitergegangen - und das Veilchen mag aus dem Veilchenhimmel kopfschüttelnd auf die törichte Menschenwelt herabgelächelt haben. Dies hübsche und harmlose Exempel zeigt, wie die Aufdeckung der Herkunft eines Brauches sofort das irrational Zwanghafte beseitigt und damit oft den Brauch auflöst. Wieviele unserer Sitten, Gesetze, Speise- und Anstandsregeln mögen auf solche längst verwesten »Veilchen der Kaiserin« zurückgehen? Wieviel Formelkram hindert uns an der Ausübung unseres freien Willens?
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Die Auseinandersetzung zwischen Wahlfreiheit und Determinismus mag angesichts der katastrophalen Zustände in gewissen Ländern zu gewissen Zeiten weltfremd erscheinen. Wo die Presse geknebelt und die Oppositionellen eingesperrt sind, wo der Hunger als Hebel des Konformismus angewandt wird, wo Reformen als Verrat bezeichnet werden: dort stellt man sich »die Freiheit« dinglicher und dringlicher vor. Dennoch: wenn die theoretischen Grundlagen nicht geklärt sind, werden oft auch praktische Verbesserungen behindert oder für unmöglich gehalten. Nur wenn wir uns als willensfrei ansehen dürfen, können wir auf die Einwirkung von Menschen rechnen, die guten Willens sind. Wir haben gefunden, daß die drei großen Feinde des Lebenssinnes — der Tod, der Überdruß und die Mechanik des Lebensablaufs — sich klar umschreiben und in ihre naturgegebenen Bereiche zurückweisen lassen. Sie sind keine überwältigenden Phantome, vor denen wir ohne Unterlaß in Furcht und Zittern existieren müßten.
Oft ist versucht worden, unsere Menschenwelt sub specie aeternitatis, unter dem Blickwinkel der Ewigkeit, oder wie ein Besucher von einem anderen Stern zu betrachten. Dies ist Selbstüberhebung. Möglicherweise kann der Output eines leidenschaftslosen Computers, wenn unser Denken ihn verarbeitet, uns die Illusion verschaffen, daß wir aus dem Kokon unseres Menschseins ausgeschlüpft seien. Aber irgendwann müssen sich unsere Gedanken doch wieder an anschaulichen Modellen orientieren. Wir können nicht heraus aus dem Menschentum. Der Mensch ist das Maß und die Mitte seiner Welt. Unsere gesamte Kulturgeschichte währte vielleicht Zwölftausend Jahre, also nur den fünftausendsten Teil der Tertiärzeit. Ist sie deshalb zu verachten? Keineswegs. Die Existenz gewisser radioaktiver Elemente wird in Tausendsteln einer Sekunde gemessen; vergleicht man diese Zeitabschnitte mit unserer Geschichte, so müßten unsere Belange fast unendlich wichtig erscheinen. Sie sind wichtig — für uns selber, unabhängig von der Dauer. Denn unsere Zeit ist unsere Zeit.
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Jeder Tag, den du erlebst, bringt ein Erwachen, Tätigkeiten, Enttäuschungen und Befriedigungen. Am Abend möchtest du vielleicht länger wachbleiben, noch Wichtiges erledigen oder Amüsantes aufnehmen. Du kämpfst gegen die Schläfrigkeit. Mit einiger Energie kannst du sie ein paar Stunden lang besiegen. Aber dann türmt sich die schwarze Wand immer näher vor dir empor und wird unübersteigbar. So rollst du dich schließlich zusammen und gibst dich zufrieden. Ein unbegrenztes Kontinuum des Wachseins ist uns nicht gestattet und wäre auch gar nicht wünschenswert. So ist das Leben ein Aufwachen zwischen zwei unendlich langen Schlafperioden. Nach unvorstellbar langem Schlummer öffnest du die Augen, gewöhnst dich erst langsam ans Wachsein, reißt Augen und Ohren auf vor Verwunderung über die bunte, zwitschernde, krachende, wehtuende, von sanfter Wärme zu Siedehitze und wieder zu grausamer Kälte wechselnde Welt. Du gewöhnst dich daran und glaubst fast, dieser Wachzustand sei das Übliche und könnte ja auch ewig dauern wie, rückblickend, der vorherige Schlaf. Diese Idee legst du bald ad acta und machst dich damit vertraut, daß du wieder in den Schlaf zurücksinken mußt; wann? Das weißt du nicht. Und dann lebst du Stunden, Tage, manchmal Jahre im dumpfen Halbschlummer dahin, die Zeit vertreibend - deine einzige Zeit. Könnten wir nur die Stunden des Wachseins richtig bis aufs äußerste ausnutzen, hellwach hinausschauen mit weitgeöffneten Augen, mit unerbittlicher Sinnenschärfe die eigene Tiefe ausloten, jede Gehirnzelle und jeden Muskel freudig und tätig zur Funktion bringen; könnten wir das Menschengewimmel um uns her als Bestandteil unseres übergeordneten Menschheitsorganismus auffassen und die Natur als Hilfe und Herrlichkeit suchen und genießen; könnten wir die Außenwelt als vollwertig anerkennen, die auf unsere Sinne angewiesen ist und deren Qualität wieder vergehen muß, sobald wir die Augen zum zweiten Schlaf schließen: ja, könnten wir nur einen Teil der Zeit überwach sein — dann wäre unser ganzes Leben der Mühe wert.
Was können wir also tun? Ich habe dargelegt, warum der projizierende Menschengeist eine fast unbeschränkte, eben eine geisterhafte Macht entfalten kann. Wenn wir ferner anerkennen, daß der Mensch sehr weitgehend zur freien Willensbildung fähig ist, so ergeben sich ungeheure Wirkungs161
möglichkeiten. Der Geist — und ich meine hier wirklich den kühl abwägenden Intellekt - der Geist muß die Entwicklungschancen unserer Spezies steigern, indem er die gefährliche Trieberbschaft aufarbeitet, die wir noch von unseren tierischen Vorfahren und vom Steinzeitmenschen her in uns mitschleppen. Zu dieser Erbschaft oder Belastung gehören, kurz zusammengefaßt: die Leithammelmentalität (zuzeiten auch Führerprinzip genannt); diese enthebt uns jeder wichtigen Entscheidung, gerade wenn wir den freien Sinn am nötigsten hätten. Ferner: die unflexible Hackordnung, die es Individuen schwer oder gar unmöglich macht, eine ihren Fähigkeiten gemäße Stellung im sozialen Gefüge einzunehmen. Hierher gehört auch die an eng begrenzte Landstriche gebundene, »hinterwäldlerische« Moralität; in ihrer provinziellen Beschränktheit macht sie es allzu leicht, alle Moralsysteme als örtlich und zeitlich bedingt zu entwerten, was wiederum den relativistischen Soziologen, Erziehern und Juristen ermöglicht, jeden absoluten Moralgrundsatz a priori abzulehnen. Wir sollten uns nachgerade entschließen, großzügige Moralgebote anzuerkennen, die der ganzen Menschheit gemein sind und die dem Leben dienen. Weitere Bestandteile der gefahrbringenden Tiererbschaft sind das Rudelverhalten und das exklusive Territorialgefühl. Dieser kurze Überblick zeigt schon die weite Verzweigtheit primitivistischer Normen und Verhaltensweisen in unserer anderweitig so fortgeschrittenen Gesellschaft. Am schädlichsten und bedrohlichsten sind wohl die fremdenfeindlichen Territorialansprüche. Eine Epoche, die Hochhäuser errichtet, darf nicht mehr in den Begriffen flacher Landstrecken denken. Wenn Menschen in dreistöckigen Häusern wohnen, ist die Bewohnbarkeit ihrer Siedlung um das Dreifache gesteigert. Da diese Multiplikation aber auf der Landkarte nicht ersichtlich wird, streiten Gruppen weiterhin um Gebietsfetzen. Das gleiche gilt für landwirtschaftliche Areale: der Ertrag eines kleinen, wohlgepflegten Ackers kann heute das Vielfache dessen betragen, was ein vernachlässigtes Gebiet erzeugt, aber auch dies kommt auf der Landkarte nicht zur Geltung. Es ist viel wichtiger, die Erdoberfläche intensiv auszuwerten, als extensive Ansprüche durchsetzen zu wollen. Nur weil der Neandertaler keine Düngemittel, keine Fahrstühle, keine Zentralheizung und keine Schnelltransportmittel hatte, dürfen unsere Territorialtriebe die technologische Umgestaltung nicht ignorieren. Das Großhirn muß dem Kleinhirn die Leviten lesen. Das klare, vorurteilslose Denken kann uns dahin bringen, daß wir 162
s in der Welt zu Hause fühlen. Schon einmal, im Römerreich mit seiner pax romana, war es den beweglicher gewordenen Bürgern möglich, überall im Mittelmeerbecken zu sagen: ubi bene, ibi patria - wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Die Kehrseite des Territorialsyndroms ist die Angst vor der Einkreisung. Eine Ratte, im Hinterhof in die Enge getrieben, verfällt in aggressive Panik; ein Spatz nicht, er pickt in der gleichen Distanz unbekümmert weiter und beäugt den Eindringling nur so nebenher. Seit ein Ballon 1871 aus dem belagerten Paris entkam, hat sich der bedrohliche Aspekt der Territorialgebundenheit weiter verflüchtigt; die Berliner Luftbrücke von 1949 hat diese dreidimensionale Befreiung endgültig unter Beweis gestellt. Vielleicht müssen wir all das als veraltet ansehen, was mit dem Urverhalten des Rudels zusammenhängt. Für Jäger, die das Mammut in die Falle locken wollten, war die Rudelorganisation unerläßlich. Die Mitgliederzahl der Jagdpartie war dadurch streng begrenzt, daß die Männer in Rufweite zusammenbleiben mußten, um kooperieren zu können. Infolge des Fernmeldewesens können heute beliebige Zusammenschlüsse gleich nützlich sein, sie brauchen bei der Größenordnung der Nation nicht stehenzubleiben. Die Gruppe könnte sich ohne weiteres zur Menschheit ausweiten, und ihre Wirkungskraft würde dadurch nur gesteigert. Das immer umfassendere Wirgefühl kann den Neandertaler in uns überwinden. Jäger mußten sich darauf verlassen können, daß die Mitglieder ihres Rudels in gleichen Situationen stets gleich reagierten. Sie mußten darauf vertrauen, daß Gefahren, Entbehrungen und Belohnungen nach einem bestimmten, als gerecht empfundenen Schlüssel verteilt wurden. Dies brachte wohl Übereinkünfte zuwege, die schon als Moral formulierbar waren. Später übertrug man die Moralgrundsätze auf einen Stamm, dann auf ein ganzes Volk, und die Kohäsion der überschaubaren Gruppe ermöglichte es, solche ethischen Vorschriften aufs strikteste durchzusetzen. Doch wurde auch mit der regionalen Ausweitung die Moral nicht absolut. In matriarchalischen Gesellschaften galt Vielmännerei als natürlich, in patriarchalisch organisierten Stämmen wurden Ehebrecherinnen gesteinigt. Der Kindermord war bei einigen Völkern ein notwendiges Ritual, bei anderen wurde er mit der Todesstrafe geahndet. Montaigne beklagte diese Wechselhaftigkeit der Bewertungen: »Was soll das Gute sein, dem man gestern Kredit gab, aber nicht mehr morgen, und das beim Überqueren eines Flusses zum Verbre163
chen wird? Was für eine Wahrheit ist das, die durch diese Gebirge begrenzt wird und die den Leuten jenseits der Berge als Irrtum gilt?« Im reiselustigen neunzehnten Jahrhundert sammelten die Völkerkundler genauere Beobachtungen über die Relativität von Bräuchen und Gesetzen, und diese Feststellungen führten viele Anthropologen und Philosophen dazu, eine verbindliche Moral überhaupt in Zweifel zu ziehen. Diese Skepsis gipfelte in unseren Tagen mit der sogenannten Situationsethik in dem Glauben, die Verhaltensregeln jedem Einzelfall anpassen zu sollen. Eine solche Aufweichung der Maßstäbe läßt keine Leitung der Jugend und keine Normen für Erwachsene mehr zu. Aber schließlich leugnen wir ja nicht die Erkenntnisse unserer Astronomen, nur weil wir wissen, daß die Systeme der Sternkundigen innerhalb weniger Jahrhunderte mehrmals umgeworfen wurden. Wir können schlechterdings nicht leugnen, daß die Moral, sogar wenn sie als relativ und wandelbar anzusehen ist, doch stets und überall vorhanden war. In jedem Kulturkreis, wann und wo auch immer, wird der einzelne, der die geltenden Sitten verletzt, als unmoralisch bestraft oder ausgestoßen. Vermeintlich gesetzlose Gangstergruppen sind sogar besonders rigoros in der Durchsetzung ihres eigenen pervertierten Ethiksystems. Thieves' honor, die Ehre unter Dieben, ist in ihrer Art verläßlicher als manche in alten Gesetzbüchern schimmelnde Statuten einer ehrbaren Bürgerschaft. Das Denken in immer mehr ausgeweiteten Gruppen führt überraschenderweise dazu, daß wir die Absolutheit vieler Bausteine eines Ethiksystems erkennen, anstreben und hoffentlich einmal durchsetzen können: einer Ethik, die den Dienst am Leben als letzte Instanz ansieht.
Mancherlei Modelle des Zukunftsmenschen werden feilgeboten. Vor noch nicht gar so langer Zeit propagierte man die eingleisige Steigerung zum Herrenmenschen; als Vorbild galt der Übermensch, der mit dem Hammer philosophiert, der das Mitleid in sich und die Untermenschen ringsum ausrottet. Heute wird oft der Homo technicus projiziert: eine Weiterbildung des Homo faber, des weltlich schaffenden Menschen. Dieser wurde als diametraler Gegensatz zum Homo contemplativus empfunden. In Wirklichkeit tragen wir alle wohl beide Zielbilder in uns, und zu verschiedenen Zeiten unseres Daseins kehren wir das eine oder das andere hervor. Doch darf der 164
Homo technicus nicht in das ausarten, was Mephisto »kristallisiertes Menschenvolk« nannte; und der kontemplative Mensch kann sich nicht in die künstlichen Paradiese von Rauschmitteln und Illusionen verabschieden, ohne der Menschenwelt Kräfte zu entziehen, die zu grundsätzlichen Reformen und auch schon zur Aufrechterhaltung des normalen, freundlichen Lebens benötigt werden. Welches Menschenmodell hätte Aussicht auf Verwirklichung ohne allzu gewaltsame Umwälzungen? Welches Zielbild erscheint den Meisten als natürlich und bequem realisierbar? Johann Gottfried Herder schrieb: »Der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist.« Das Ziel ist klar: Da wir nun einmal Menschen sind, wollen und sollen wir immer bewußter, immer ausgesprochener in unserer Menschlichkeit werden. Der Mensch als Aufgabe ist noch lange nicht erfüllt. Ist es nicht bedeutsam, daß in vielen Kultursprachen das Adjektiv »menschlich« gesteigert werden kann? Menschlicher, am menschlichsten - plus humain - the most humane. Dies ist nicht ohne weiteres selbstverständlich: froschiger, stubenfliegenhafter ergäbe keinen Sinn und keine mögliche Steigerung. Von allen widersprüchlichen Eigenschaften des Menschen hat die fast unbewußte Weisheit der Sprache die milderen als typisch herausgegriffen: Altruismus, Schonung, Friedfertigkeit, Mäßigung, Hilfsbereitschaft, Achtung vor dem Mitmenschen. Einzig bei diesem Charakterbild braucht der Mensch sich selber nur die kleine Nachsilbe »-lieh« anzuhängen. Welche Hoffnung liegt darin beschlossen! Unsere vorgezeichnete Steigerung ist, ganz schlicht und einfach, der menschlichere Mensch. Wir brauchen keine von außen her gesteckten Ziele und Zwecke, keine von Göttern, Priestern, Militärs verwalteten Imperative, um den Wert des Menschenlebens zu steigern. Alles, was vonnöten ist, ist die schrittweise Selbstverbesserung des Lebens - um des Lebens willen.
Zusammenfassung Optimistisches Manifest
»Drei Wünsche kann ich dir erfüllen,« sagte die Fee zum Kind. Die ersten zwei waren normale, beschränkte Wünsche. Dann aber äußerte das Wunschkind seine dritte Bitte: »Ich möchte drei Wünsche von dir erfüllt bekommen.« Und so fort, ins Unbegrenzte.
Von jeher schwankte der Mensch zwischen maßloser Selbstüberschätzung und depressiver Selbstverleugnung. Die Antike glaubte mit Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge; Kopernikus löste unsere Erde aus ihrer Mittelpunktsstellung heraus und versetzte unserem Egoismus einen tiefen Schock; Darwin gab unserem Selbstbewußtsein einen weiteren Nasenstüber, indem er unsere Spezialsteilung in der Schöpfung aufhob. So ist die bisweilen durchbrechende nihilistische Stimmung des modernen Menschen verständlich: er sieht keinerlei göttlich oder schicksalhaft angeordneten Zweck in seinen Aufgaben und Taten. Er schaut zu den Milchstraßen auf und fühlt sich als ein Stäubchen. - Aber mit genau dem gleichen Recht könnten wir uns auch mit den Atomen vergleichen und uns als göttergleiche Riesen empfinden! Realistischer ist die Ortung, die Pascal uns verschrieb: »Der Mensch ist eine Mitte zwischen Nichts und All.« Die Mitte zu bilden, das ist die uns gemäße natürliche Aufgabe. »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst,« schrieb Goethe. Aber war Goethes Leben nicht zweckvoller als das Dasein des Sisyphus? Wie, wenn jemand zufällig nicht Goethe ist? Könnte es jedem genügen, nur für das Leben zu leben, ohne sich für übergeordnete Ziele aufzuopfern? Wäre »Leben um des Lebens willen« nur ein endloser Zirkel? Nicht, wenn das Leben als solches ein begehrenswertes Gut ist; nicht, wenn es eine Gerichtetheit enthält. Da sich die früher jeweils als allgemeinverbindlich empfundenen und proklamierten Ziele mystischer, abergläubischer, provinzialpatriotischer Art sämtlich als enttäuschend herausgestellt haben, muß heute das Individuum seine eigenen Zwecke mit einer persönlichen Entscheidung akzeptieren. Kein Sinn ist von oben oder von außen her vorgegeben. Wenn eine konkrete Bestrebung als lebensfördernd erscheint, wird sie als sinnvoll empfunden. Aber ist das Leben so 169
geartet, daß man es als Hauptfaktor in der individuellen Sinngebung ansehen darf? Ist das Leben der Mühe wert? Was ist das Leben? Das Leben sei Kampf, lesen wir bei Demokrit, Spencer, Nietzsche, Darwin; dem Tüchtigsten gebührt der Sieg, die Untüchtigen werden ohne Bedauern vernichtet. Dies ist eine völlige Verfälschung unseres »menschlichen« Weltbildes, es stimmt ganz einfach nicht mit den beobachtbaren Tatsachen überein. Von den Eintagsfliegen, die am Abend sämtlich ungefressen in ihren sanften Tod hinsinken, bis zu den Elefanten, die feindlos ihre physiologisch gegebene Zeitspanne ausfüllen, gibt es unzählige Wesen, die niemals als Futter dienen und niemals andere Tiere verzehren. Die Ameisen, die mengenmäßig die überwiegende Erdbevölkerung bilden, werden selten getötet. Aber die Schwalbe? Sie saust den ganzen Tag durch den Luftraum und schnappt Tausende von lebenden, leidenden Insekten. Dies beruht darauf, daß es in der Luft keine Mimikry geben kann; deshalb müssen solche Insekten, die in der Luft leben wollen, durch ungeheure Fruchtbarkeit die Benachteiligung wettmachen. Damit ermöglichen sie erst die Schwalbe. Ein grausamer Vorgang? Bestimmt. Wo es ohne Fleischfressen nicht abgeht, macht die Natur durch Zuchtwahl den Fresser so tüchtig wie möglich. Jedoch betrifft die fleischverwendende Kreislaufmethode nur schätzungsweise ein Zwanzigstel aller Tiere. Man behauptet, Raubtiere seien nötig, um die Schwächlinge auszuscheiden und so die Arten zu verbessern. Auch dies ist nur bedingt wahr. Die Büffelherden Nordamerikas beispielsweise lebten äonenlang, ohne durch kapitale Raubtiere belästigt zu werden, und zeigten doch keine Degenerationserscheinungen. Die unbedrohte Fauna auf Inseln bringt die phantastischsten und schönsten Lebensformen hervor. Biosophisch gesehen sind Kooperation und Liebe unendlich wichtiger als Haß und Kampf. Schon die urtümlichsten Bakterien nahmen lebendige, einzellige, grüne Algen unverändert in ihren eigenen Organismus auf, um sich deren Fähigkeit zur Photosynthese, also zur Ausnützung der Sonnenenergie, zunutze zu machen. Symbiose ist in der Natur mindestens so häufig und so entscheidend wie Konkurrenz. Wir müssen nur die übergeordneten Einheiten des Lebens zu sehen lernen. Ein Wald schützt und stützt seine Einzelglieder; Blätterdach und Waldrand bilden zusammen ein Organ, das unserer Haut vergleichbar ist, diese Hülle hält zerstörerische Stürme vom Waldesinneren ab, sie schirmt den Waldkörper gegen zu krassen Temperaturwechsel und Austrocknung. Vor allem bewahrt dieser 170
Schutzmantel den Wald vor wildwuchernder Übervölkerung, damit der Baumbestand nicht erstickt: altruistische Geburtenkontrolle. Das Ried wird vom Sprachgebrauch als Einheit anerkannt, kein Halm könnte sich einzeln gegen Wind und Wetter verteidigen. Die Menschen haben sich dieses Prinzip in bewußter Züchtung zunutze macht: ein Getreidefeld besteht aus individuell hilflosen Pflanzen, aber jede kann im Vertrauen auf ihre Geschwister viel mehr Energie in nahrhafte Körner verwandeln, anstatt sie für harte, dicke Stengel zu verschwenden. Jede solche Landschaftseinheit besteht aus sinnfällig gewordenen Hilfeleistungen. Eine Wiese will sich ausbreiten und gesund erhalten, sie heilt ihre Wunden, sie ist ein ganzheitlicher Organismus. All das führt zu hoffnungsvolleren Zielbildern als die darwinistische Vorstellung, das Leben sei Kampf und sonst nichts. Wenn das Dasein nur Krieg aller gegen alle wäre, in dem Mimikry das Allheilmittel ist, so hätten sich sämtliche Wesen zu graugrün getarnten, stachligen, übelschmeckenden Gebilden entwickelt. Wieso sehen wir aber ringsum prachtvolle, herausfordernd bunte Blüten, Falter, Fische und Vögel ? Weil es in der Natur nicht so hart auf hart geht. Nicht alles Auffällige wird gleich gefressen. Der Satz eines Biologen, der natürliche Tod sei eigentlich unnatürlich zu nennen, stimmt nachweislich nicht mit den Tatsachen überein. Natürlich ist es das Natürliche, eines natürlichen Todes zu sterben. Die Fortentwicklung der Lebensformen zeigt eine gewisse Launigkeit, ein sozusagen augenzwinkerndes Spielen mit den Gestaltungen. Viele uns interessant oder hochwertig vorkommenden Eigenheiten haben keinen Erbvorteil, der ihre Selektion in einer Kampfwelt erzwingen würde; gerade die schönsten Formen - Argusfasan, Paradiesvogel — sind in keiner Weise durch survival of the fittest zu erklären, sie dienen der Liebe, nicht dem Kampf. Für die meisten Blüten und Schmetterlinge gelten nur die Gesetze der ästhetischen Selektion: die Schöneren bevorzugen einander und steigern ihren Reiz gegenseitig durch Zuchtwahl über ungezählte Generationen hin. Vogellieder dienen nicht der Abschreckung von Territorialkonkurrenten, sonst wären sie, gleichfalls durch Zuchtwahl, immer krächzender, fauchender, eben abschreckender geworden ; sie dienen der ehelichen Bindung des Weibchens und dem eigenen Genuß des Sängers. Das Leben hat einen immanenten Hang zur Verschönerung. spielerische Prachtentfaltung der Formen und Farben ist an keinen Erdteil gebunden: Papageien und Kolibris in Südamerika, Fasan und Auerhahn in Europa, der Leierschwanz in Australien, der 171
Pfau in Indien: unabhängig voneinander haben sie alle das Prinzip der schönen Zurschaustellung entwickelt. Nur der Mensch hat sich diesem Verschönerungsverein noch nicht mit bestem Gewissen angeschlossen. Manchmal sieht es so aus, als wolle er allein die gesteigerte Schönheitsentfaltung der Biosphäre umkehren. Wir stellen stillose Fabriken und schäbige Wohnkästen in die Landschaft und denaturieren sie mit Rauch, chemischer Vergiftung und Abfallbergen. Haben wir dafür das höchstwertige Gehirn entwickelt? Viele warmherzige und weitblickende Menschen stemmen sich diesem Verfall entgegen. Blake wollte schon im Jahre 1802, daß wir die dark satanic mills, die finsteren satanischen Fabriken, durch ein neues Jerusalem ersetzen. Zweifellos bahnt sich eine deutliche, sehr bewußte Änderung an: die Menschheit entwickelt ein Gewissen. Wir müssen den Fortschritt, der in der phylogenetischen Entwicklung so augenfällig war, in die Zukunft hinüberretten.
Wie paßt der Homo sapiens in unser optimistisches Zielbild? Seine Geschichte war bislang, über weite Zeitstrecken und große Gebiete hin, der Bezeichnung sapiens durchaus nicht würdig. Hinund Herwogen von einander feindlichen Stämmen und Dynastien, Völkerschlachten und Versklavung, Mißachtung und Quälerei des einzelnen lassen oft keinerlei Gerichtetheit in der gewaltigen Anstrengung erkennen. Aber erstens steht nirgends geschrieben, daß dies auf immerdar so bleiben muß. Zweitens kann man, von den blutigen Oberflächenerscheinungen abstrahierend, das Geistesleben ins Auge fassen. Und da erkennt man selbstverständlich eine Richtung. Die Vermehrung des Wissens und der Erkenntnisse, die technischen und medizinischen Glanzleistungen, die weitverbreitete Reproduktion von Kunst, Literatur und Musik: es ist schlechterdings unmöglich, all dies nicht als Fortschritt zu bezeichnen. Daß wir in politischer und sozialer Hinsicht noch keine Ideale verwirklichen konnten, darf uns nicht zum Pessimismus verleiten: immer mehr Menschen wissen doch wenigstens, was hier wünschenswert wäre. Mancherlei Zwangshandlungen, Hemmungen, Tabus, die sich einem wahren Fortschritt entgegenstemmten, sind bereits in Auflösung begriffen. Zum Beispiel: kein Staatsmann erklärt es heute noch für seinen Lebenszweck, sich Kriegsruhm zu erwerben. Wer einst keine Schlachten schlug, konnte nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Das ist vorbei. 172
Die beiden Männlichkeitsbeweise - nämlich daß man fruchtbar und furchtbar sein müsse - hoben sich jahrtausendelang gegenseitig auf und ermöglichten dadurch zwei krude Vergnügungen. Heute müssen beide, die Überproduktion von Säuglingen und von Erschlagenen, abgeschafft werden, beide sind zu gefährliche Gesellschaftsspiele geworden. Der Mensch kann seine schädlichen Triebe abbiegen und auf neue Zielsetzungen richten. Hierzu ist ihm ein einzigartiges Instrument verliehen. Der Menschengeist hat eine absolute Sonderstellung in der Natur: er ist das einzige Agens, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit von den Atomen zu den Spiralnebeln und zurück bewegen kann. Durch die Hebelwirkung der Projektion kann er unvergleichlich stärker auf die Dingwelt einwirken, als dies die relativ schwache, weiche, verwundbare Physis des Menschen zu gewährleisten scheint. Was die Physik als unechte Bewegungen bezeichnet - also etwa Wellenbewegungen, bei denen sich keine Teilchen mit der Schnelligkeit der Welle fortbewegen, oder ein Leuchtturmstrahl, der über den Horizont streicht —, diese Scheinbewegungen werden im Denken, im Planen, in der Reorganisierung der Weh völlig real. Infolgedessen sind der Wirksamkeit des Intellekts auf vielen Gebieten überhaupt keine Grenzen gesetzt. Warum ihn nicht endlich zur Verarbeitung unserer ererbten Neandertalertriebe einsetzen? Wir Menschen sind durchaus imstande, uns durch den Lernvorgang — der in unsere eigenen Hände gegeben ist - grundsätzlich zu ändern, zu unserem Vorteil und zum Vorteil der Biosphäre. Das Lernen ist das Instrument für eine beschleunigte Adaptation an die technisierte Welt, deren von uns verursachte Modifikationen jetzt auf die Natur zurückwirken. Das Lernen ist mehr als Datensammlung und Komplizierung, es wandelt unseren Charakter. Es setzt zwanglos die Aufwärtsentwicklung fort, die im Tierreich seit Millionen von Jahren herrscht und immer tüchtigere, gescheitere und auch schönere Formen hervorbringt. Das Leben als solches weist vier immanente Vektoren (oder, ein wenig zu anthropomorph ausgedrückt, Absichten) auf: Das Leben will sich selbst erhalten — es will sich ausbreiten — es will sich befriedigen - und es will sich verfeinern. Dieser vierfältige Pfad des Lebens hat die Erdoberfläche angenehmer gemacht. Es war durchaus keine gradlinige Fortentwicklung, wieder und wieder gab es Stagnationen und Rückfälle; aber es war ja genügend Zeit vorhanden. Das Resultat ist, daß die Biosphäre subtiler und schöner wurde. Aus Algen wurden Apfelbäume, aus 173
Würmern wurden Pfauen. Der Mensch, als integraler Bestandteil der Biosphäre, erbte eine Erde, die ständig bewohnbarer geworden war. Als Naturwesen — das er auch ist - trug der Mensch die vier Hauptbestrebungen als Erbgut in sich: Selbsterhaltung - Ausbreitung - Befriedigung — und Komplizierung. Wenn die Befriedigung zur Befriedung, die Komplizierung zur wahren Zivilisation wird. dann steht uns die Zukunft offen. Neben den ererbten Eigenschaften kann der Homo sapiens beliebig viele neue Eigenschaften erwerben, die er im Kulturprozeß von Generation zu Generation weitergibt: dies ist das Gelernte. Eine prekäre, aber unerläßliche Mitgift! Die Anzahl vererbter Eigenschaften ist beschränkt, die Anzahl gelernter Aktionen und Reaktionen ist hingegen völlig unbegrenzt und unbegrenzbar. Dies ist der hauptsächliche Vorteil, den das Lernen vor der rein biologischen Entwicklung besitzt. Der Kultivierungsprozeß ist aber nicht unnatürlicher als die vorhergegangene Zuchtwahlentwicklung. Die scharfe Trennung zwischen biologischer und kultureller Entwicklung hat die unerwünschte Wirkung, daß man versucht ist, Natur und Kultur als Gegensätze zu empfinden. Sie sind jedoch beide Teile eines einzigen, gerichteten Prozesses. Der Mensch ist schon körperlich auch auf Kulturprodukte und zivilisiertes Denken angewiesen. Im Gegensatz zu allen Tieren kann er sich nicht zur Wasserfläche hinunterbeugen und trinken, das Wasser würde ihn durch die Nase ersticken: er braucht also ein Gefäß. Als der Mensch vom Affenbaum herunterkletterte und aufrecht durch die Ebenen streifte, blieb seine Anatomie unausgeglichen : seine Arme sind zu kurz, als daß er sie - aufrechtstehend — zur Bewältigung der Bodenaufgaben benutzen könnte. Alle anderen Langbeine haben physiologische, kompositioneile Ausgleichshilfen entwickelt: Strauß, Storch und Giraffe den langen Hals, Iguanodon, Känguruh und Wüstenspringmaus den langen Schwanz als drittes, stützendes Bein. Nur der langbeinige Mensch blieb unausgewogen und mußte zwangsläufig den Stab adoptieren: zum Graben, zur Abwehr, als Stütze des Greises. Die Idee des nützlichen Dinges, des Werkzeugs also, war physiologisch bedingt — und das bedeutet: natürlich. Sicherlich wirkte die Benutzung der verschiedensten Werkzeuge dann auch wieder auf die Zuchtwahl zurück, wir brauchten einfach keine Reißzähne, keine Klauen, keine haarige Haut mehr. Die Kultur ist kein fremdartiger Überlagerungsprozeß, sie ist ein integraler Teil unseres Wesens. 174
Zurück zur Natur«? Dieses Ideal hat nur Sinn, wenn es nicht bedeutet: Zurück zur Neandertalermentalität. Die Komplizierung, die die Kultur mit sich bringt und die uns oft seufzen macht, ist keine Entwertung, sie ist eine Steigerung der Naturentwicklung, die auch mit einfachsten Formen begann und ihre Vielfalt über Jahrmillionen hin ausbreitete. Ferien von der Mechanisierung müßten allen Menschen ermöglicht werden. Kein unlösbares Problem. Um die Zukunft zu bewältigen, steht dem Menschen außer dem Geist die Willensfreiheit zur Verfügung. Es ist sicherlich falsch, den Menschen als im vorhinein programmierte Maschine aufzufassen. Wir können wählen. Jeden Tag fällen wir zahlreiche Entscheidungen. Es sind nicht die Motive, die eine Handlung verursachen, sondern es ist der Mensch, dessen Psyche diese Motive enthält. Geschlossene Systeme (gewisse Fabriken, Ozeandampfer) können automatisiert und von mechanischen Piloten gesteuert werden; aber ein Automobil, das dauernd auf unvorhersagbare Umwelteinflüsse reagieren muß, ist auf einen Menschen mit Entscheidungsgewalt angewiesen. Welchen Sinn hätte ein Lenker, wenn er keinen freien Willen hätte? Das Ich steht zwischen Zielvorstellungen und bringt diejenigen zur Geltung, die ihm einleuchten. Das alte Schulbeispiel von Buridans Esel, der unentschlossen zwischen zwei gleich attraktiven Heubündeln verhungert, ist einfach nicht realistisch. Kein Esel und kein Mensch läßt sich von einem scholastischen Dilemma lahmen. Nicht die äußeren Ursachen allein treffen die Wahl zwischen zwei möglichen Aktionsweisen. Der Mensch ist jedesmal eine eingeschaltete Ursache, und das bedeutet, daß er - mit all seinen Erfahrungen, Theorien, Urteilen, Geschmacksrichtungen und Motiven - die Entscheidung fällt. Also sind wir frei. Wir können aufatmen: unser Schicksal ist sehr weitgehend in unsere Hände gegeben. Wir haben daher »Ursache«, das Leben als begehrenswertes Gut anzusehen. So eröffnet sich uns eine geradezu unglaubliche Elastizität, eine fast schrankenlose Fülle des Daseins. Wir wissen nicht, wie lang das Leben auf der Erde schon existiert. Noch vor einigen Jahren begnügten sich die Wissenschaftler mit fünfhundert Jahrmillionen. Neuerdings schätzt man das Alter fossiler Algen auf mehr als drei Milliarden Jahre. Sicher wird der Rückblick sich klären. Wie steht es um die Voraussicht? Wie lang wird das Leben seinen Willen auf diesem Planeten durchsetzen? Wir können die Frage stellen, auch wenn wir wissen, daß es keine 175
Antwort gibt. Eines wissen wir aber: daß der Lebensfunke, der vor unausdenklichen Zeiten entstand, nie wieder zu glimmen aufgehört hat. Wie eine olympische Fackel wird er von Hand zu Hand weitergereicht. Legt uns dies nicht eine Verpflichtung auf? Es genügt aber nicht, daß wir die entscheidenden Geschlechtszellen in den unbekannten, dunklen Strom der Zukunft hinausschicken. Wir müssen auch den Lebenswillen vererben — in einer Zeit weitverbreiteter Entmutigung keine leichte Aufgabe. Diese Jahrzehnte sind vielleicht die gefährlichsten der Weltgeschichte, der Engpaß im Stundenglas. Wenn die Weisheit die uralten Kampfinstinkte zähmen kann, dann hat das Leben eine Chance, abermals wenn nicht Milliarden, so doch viele Tausende von Jahren anzudauern; wir wollen ja nicht unbescheiden sein. Dann kann das Leben wie von jeher sich weiter ausbreiten, sich verfeinern und verschönern und seine Befriedigungen suchen. Wir müssen den Engpaß durchmessen, den Funken umsorgen und schützen, das Leben erhalten — um des Lebens willen.