Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 03
Die fünf herrlichen Städte von Michael Marcus Thurner
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 03
Die fünf herrlichen Städte von Michael Marcus Thurner
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich der Unsterbliche zusammen mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen. Dabei verschlägt es die beiden zuerst auf einen fremden, fernen Planeten: Narukku. Dort treffen sie scheinbar auf Angehörige von Kytharas Volk – und DIE FÜNF HERRLICHEN STÄDTE …
Die fünf herrlichen Städte
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide muss fliehen. Kythara - Die Varganin erkennt das Geheimnis Narukkus. Etarmagan-Murloth - Der Kriegsherr zieht in den Kampf. Carnji-Murloth - Etarmagans Geliebte und Erzfeindin.
te. Merkwürdig dürre Varganen, die auf glänzenden Flugscheiben standen, starrten mich aus kalten, goldenen Augen an, richteten klobige Waffen auf mich, sagten etwas in schwer verständlichem Dialekt. Sie hatten Kythara und mich überrascht, hielten uns umzingelt, und es gab keinen Schlupfwinkel mehr, ich musste hecheln in der dünnen Höhenluft, und sie kamen näher, ganz nahe, sodass ich ihren heißen Atem spüren konnte, so nahe wie jene, die uns im Tal hatten erdrücken wollen, befahlen mir und Kythara, ihnen hinab ins Tal zu folgen auf das Schlachtfeld, wo bald ein Krieg beginnen würde, und ich sagte nichts darauf, denn ein Schock, schrecklich, oh, so schrecklich, hatte mich erfasst, und ich war auf einmal in katatonischer Starre gefangen, und mein Verstand hörte auf zu arbeiten, und alles war so verwirrend, und alles war völlig egal … … denn der Extrasinn war nicht mehr.
1. Etarmagan-Murloth Es war ein Wagnis gewesen, in der Dämmerung mit den dünnen, nur schwer auszubalancierenden Scheiben die steilen Hänge der Kamarkan-Berge hinaufzufliegen. Noch dazu, weil man sich vor den beiden Verfolgten, äußerst ungewöhnlichen Gestalten, hatte verbergen müssen. Dass es dennoch geklappt hatte, verdankten sie Farbenhoch, dem Kampfschmetterling. Er hatte eine Route ausgekundschaftet und sie geleitet. »Sie« – das waren er, der General Etarmagan-Murloth, seine beiden Adjutantinnen Betis und Sliva sowie eine Hand voll Chargen, auf die er sich leidlich verlassen konn-
»Zwingt mich nicht, von meiner Waffe Gebrauch zu machen!«, rief er laut, als die Verfolgten in der Kluft, in der Falle, auftauchten. Gleichzeitig blendete er sie mit dem Licht des Handscheinwerfers. Seine Hand zitterte, der Lichtkegel flackerte unruhig über die beiden hinweg. Kamen diese Unbekannten aus den Verborgenen Sektoren? Waren sie jene Wesen, die die Kraft besaßen, Naruks nach einem glorreichen Tod in der Schlacht wieder ins Leben zurückzurufen? Das Weib im Hintergrund besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit den Frauen seines Volkes. Bronzefarbene Haut, goldene Augen und blondes Haar ließen eine Verwandtschaft vermuten. Jedoch trug sie das Haar lang und offen. Zudem wirkte sie plump und fett. Dralle Kurven und riesige Brüste machten sie zu einer obszönen Karikatur ihrer selbst, ähnlich der antiken Statuette einer Fruchtbarkeitsgöttin. Und der Mann? Lange weiße Haare hingen in wirren Strähnen über seine breiten Schultern. Er stand da, stocksteif gefroren, zitternd. Trotz seines muskulösen Körperbaus offensichtlich ein Feigling, der von der Situation überfordert war. Obwohl … markante Gesichtszüge, die jenen eines Raubvogels ähnelten, zeichneten einen Ausdruck von Entschlossenheit, Erfahrung und ausreichend Verstand. Die Augen – im Licht des Scheinwerfers glänzten sie dunkelrot. Eine Missgeburt, dachte Etarmagan-Murloth. Oder? Hatte er nicht vor Jahren, lange bevor sein erfüllendes, kriegerisches Leben begonnen hatte, in den Büchern über ein Volk mit roten Augen gelesen, das in unendlichem Größenwahn glaubte, das ganze
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Himmelreich sei ihm untertan? Die Erinnerung an älteres, angelesenes Wissen verblasste zusehends. Mit jedem seiner täglichen Besuche in der Reinigungsmaschine veränderten sich die Wertigkeiten ein wenig. Kriegshandwerk, Taktik und die martialischen Kampfkünste rückten zunehmend in den Mittelpunkt seines neuen, viel schöneren Lebens. Der fremde Mann sagte nach wie vor kein Wort. Etarmagan-Murloth winkte seinen Begleitern, sich zwischen ihn und die Frau zu schieben und beide nach Waffen zu durchsuchen. »Ich heiße Kythara, und mein Begleiter ist Atlan«, sagte die Dralle plötzlich. »Ich hoffe, dass dies nur ein Missverständnis ist …« Sie besaß einen ungewöhnlichen Akzent, die Stimme war unangenehm tief. »Woher kommt ihr?«, fragte EtarmaganMurloth. »Etwa aus den Verborgenen Sektoren?« Er konnte das Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. Er glaubte nicht an Götter und noch weniger an das Schicksal. Sein Leben war einzig und allein dem Kampf untergeordnet. Aber dieser Moment, das erste Aufeinandertreffen mit Andersartigen – er hatte etwas Spirituelles an sich. »Nein«, erwiderte die Fremde ruhig. »Aber wir kommen in Frieden …« In diesem Moment griff der Mann an.
* Er stürzte sich mit einem markerschütternden Schrei nach vorne, fegte Betis von den Beinen. Nahm ihre Flugscheibe, warf sie von sich, sodass sie sich eine Mannslänge von Etarmagan-Murloth entfernt ins Gestein bohrte. Blitze zuckten bläulich um die scharfen Ränder, bevor jegliche energetische Aktivität mit einem letzten Funkenregen erlosch. Der Schrei des Fremden wollte nicht enden, und er war der eines Wahnsinnigen. Sliva und die anderen Chargen reagierten jetzt erst. Viel zu langsam für ausgebildete Murloth-Krieger visierten sie den Mann mit
den Strahlwaffen an, der wie eine geschmeidige Raubkatze hin und her sprang, mächtige Schläge austeilte, sich in der Dunkelheit hinter Vorsprüngen verbarg, erneut hervorgeschossen kam, mit riesigen Felsbrocken um sich warf, nie auch nur einen Moment ruhig blieb. »Sperrfeuer!«, schrie Sliva. »Tötet ihn!« »Nein!«, rief die fremdartige Frau, die mittlerweile von mehreren stumpf dreinblickenden Murloths zur Öffnung der Felswand geschleppt wurde. »Tut Atlan nichts!« Sie strampelte sich mit Händen und Füßen frei, wurde aber gleich darauf wieder eingefangen. »Nein!«, sagte nun auch Etarmagan-Murloth, einer Eingebung folgend. »Ich will ihn lebend!« Er sah die Wut und die kriegerische Leidenschaft in den Augen seiner Leute. Sie wollten Blut sehen, sie wollten den Kerl sprichwörtlich in der Luft zerreißen, und er fühlte die unbändige Kampfeslust in sich wachsen. Mit einem Kraftakt seines Willens schob er jeglichen Gedanken ans Töten beiseite. »Und wenn er die Lordrichter kennt?«, brüllte er über das Chaos in dem engen Felsspalt hinweg. »Wenn er uns von hier abholt – oder uns im Kampf unterrichten soll?« Seine Murloths erstarrten augenblicklich. Sie ließen die wenigen Handstrahler sinken, während der Mann namens Atlan nach wie vor tobte. Seine Handlungen waren nicht zielgerichtet. Er wandte sich gegen jeden und alles, was in seine Reichweite gelangte, egal ob Naruk oder blanker Fels. »Zieht euch zurück!«, rief Etarmagan-Murloth. Er flog höher, sodass ihn Atlan nicht mehr erreichen konnte. »Er besitzt keine Waffen. Wir warten, bis er sich beruhigt oder ihm vor Erschöpfung die Luft ausgeht.« So weit sollte es gar nicht kommen. Der Weißhaarige fiel plötzlich um, wie vom Blitz getroffen, und rührte sich nicht mehr.
2.
Die fünf herrlichen Städte Atlan Ich erwachte – und ich war ein Ganzes. Kann man dich nicht einmal kurz alleine lassen, ohne dass du die Nerven verlierst?, dröhnte die bekannte Stimme durch meinen Kopf. Ich spürte grenzenlose Erleichterung. Die psimaterielle Substanz des Extrasinnes war wieder spürbar! Diese während der ARK SUMMIA, der dritten und wertvollsten Reifeprüfung, aktivierte Denkkomponente umgab mein Bewusstsein wie eine Art Sicherheitsnetz oder wie ein Stützkorsett. Der Extrasinn gab sich in seiner Präsenz üblicherweise so unauffällig, dass er mir in der Regel gar nicht auffiel. Erst wenn er mir auf unnachahmlich logische, manchmal auch zynische Art weiterhalf, konnte ich ihn spüren. Oder wenn er plötzlich fehlte, wie soeben. Waren es Minuten, Stunden oder Tage gewesen, die ich alleine gewesen war? Mir fehlte jegliches Zeitempfinden. Ich hatte mich im grenzenlosen Wirrwarr meiner Gedanken verloren. Halte die Augen geschlossen, Narr!, keifte der Extrasinn auf gewohnte Art und Weise. Du – wir sollten uns ein wenig erholen. Und uns besprechen. Ich hätte fast lauthals drauflosgelacht. Wie war ich froh, die Stimme wieder in mir zu hören! Ruhig atmen!, empfahl er mir. Dein Kreislauf ist erheblich geschwächt. Was war mit dir?, dachte ich konzentriert. Er zögerte. Welch abstruser Gedanke! Er war in mir und ein Teil von mir – wie konnte er also vor mir selbst zögern? Und dennoch: Es war so. Schließlich antwortete er: Es muss die Psi-Quelle gewesen sein. Ich vermute, dass mich eine einzelne Psi-Spitze von außergewöhnlicher Stärke getrofen und in eine Art Schockzustand versetzt hat … … wie soll das möglich sein?, unterbrach ich (mich selbst!). Ich war schon oft genug hyperdimensionalen Einflüssen ausgesetzt.
5 Seit der Begegnung mit dem hyperkristallinen Mond in der Obsidian-Kluft hat die PsiBestrahlung eigentlich gar nicht mehr aufgehört, und es gab keinerlei Probleme … Du redest von einer gleichmäßigen Einwirkung auf einer enormen Bandbreite, Narr! In einem Bereich jenseits der zehn mal zehn hoch dreizehn Kalup sind die Variationsmöglichkeiten schier unendlich. Wir meinen jene terra incognita, in der paranormale Kräfte ihren Ursprung haben, genauso wie jene der Pararealistik, der SextadimPhänomene, psionischer Informationsquanten … Schon gut, du hast mich überzeugt. Du meinst also, dass eine einzige Psi-Spitze, ein gewaltiger Ausreißer in diesem riesigen Frequenzbereich, dich zielgenau ausgeschaltet hat? Um ein Bild, das dir verständlich ist, zu malen: Es war, als hätte jemand einen altertümlichen Kurzwellensender eingeschaltet und die Musik dröhnte plötzlich mit 120 Dezibel … Von einem Moment zum anderen war ich aufgelöst, zerrissen, verweht. Meine Substanz, also das, was mich als Bewusstsein ausmacht, war in einem schrecklich weiten und dunklen Land verteilt. Es dauerte Äonen, wieder zu mir zu finden. … und deine plötzliche Abwesenheit hat auf meinen Geist durchgeschlagen. Ich kann mich zwar nicht erinnern, was passiert ist, aber es muss jedes delirium tremens um Längen übertrofen haben. Siedend heiß fiel mir plötzlich ein, in welch prekärer Situation Kythara und ich uns befunden hatten, als der Extrasinn paralysiert worden war. Die Varganen, die uns mit aller Vehemenz gejagt und schließlich gestellt hatten! Der Gebirgsstock, die Verfolger auf silbernen Flugscheiben … Augenblicklich brach ich die innere Unterhaltung ab und setzte mich auf. Ich musste blinzeln. Grelles Tageslicht fiel durch eine Tür. Dies war eine jener Hütten, die Kythara und ich durchsucht hatten. Ich lag auf einem Bett mit strohgefüllter
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Matratze. Daneben standen ein Tisch, ein Sessel, ein Wasserkrug. Meine Ausrüstung befand sich nicht im Raum. Auch der Kombi-Strahler fehlte. Was mich vorerst nicht beunruhigte. Varganische und arkonidische Technik versagten hier ohnehin, siebentausend Kilometer von der »Ebene ohne Schatten« entfernt, in der wir das Zentrum des Psi-Sturmes wussten. Ich trug nach wie vor die einfache Kombination, die ich an Bord der AMENSOON angezogen hatte. Mein Körper fühlte sich an wie durch den Fleischwolf gedreht. Unbändiger Durst packte mich. Ich schnüffelte misstrauisch am Krug und trank schließlich in langen Zügen. Der Zellaktivator würde etwaige Krankheitskeime abtöten, dessen war ich mir sicher. Ein Schatten zeichnete sich an der Türschwelle ab. Ich sprang hoch. Rasch genug, um meinem Besucher zu zeigen, dass ich wieder Herr meiner Sinne war, aber nicht so schnell, dass es mein Besucher als bedrohliche Geste empfinden würde. Es war einer der Schmächtigen. Ich glaubte, sein Gesicht wieder zu erkennen. Er hatte mir auf einer der Flugscheiben im Kamin aufgelauert. »Du bist wach«, sagte er lapidar. »Das ist gut. Du hast noch bis morgen zu Sonnenaufgang Zeit, mich zu unterrichten. Dann beginnt die Schlacht.«
* »Schlacht?«, fragte ich ratlos. »Kannst du mich bitte aufklären, was das alles hier soll?« »Ich heiße Etarmagan-Murloth«, sagte der Mann stattdessen. Er ging überhaupt nicht auf meine Frage ein. »Wir haben das Wichtigste bereits von deiner Begleiterin erfahren. Es ist enttäuschend, dass ihr nicht aus den Verborgenen Sektoren stammt.« Die Mundwinkel in Etarmagan-Murloths schmalem, eingefallenem Gesicht zogen sich ganz leicht nach unten. Dies war die einzige Regung, mit der er seine angebliche
Enttäuschung zum Ausdruck brachte. Was zur Hölle waren die Verborgenen Sektoren? Und vor allem: »Wo ist Kythara? Geht es ihr gut?« Das Gefühl, für die Frau verantwortlich zu sein, wallte plötzlich in mir hoch. Unwillkürlich machte ich ein, zwei Schritte auf den kleinen Mann zu. Du wirkst bedrohlich auf ihn, Narr!, warnte mich der Extrasinn. Sei vorsichtig, bis die Situation geklärt ist. Etarmagan-Murloth ließ mich nicht aus den Augen, schnalzte lediglich mit der Zunge. Ein Angst einflößendes, hohes Sirren ertönte, und ein übergroßes Insekt flatterte in den Raum. Instinktiv hob ich die Hände schützend vor das Gesicht. Bei allen Göttern, war dieses Ding schauderhaft! Es ähnelte einem Schmetterling, stank jedoch nach Salmiakgeist, quietschte in ekelerregender Tonlage und sonderte bräunliche Flüssigkeit ab. »Das hier ist Farbenhoch, mein Kampfschmetterling. Ich habe ihn selbst gefertigt.« Klang da ein Hauch von Stolz in der dünnen Stimme mit? »Er wird darauf achten, dass du mich nicht angreifst. Ich habe deine Stärken in den Bergen kennen gelernt, und sie haben mich beeindruckt.« In den Bergen? Ich konnte mich nach wie vor nicht erinnern, was nach dem Schock über den vermeintlichen Verlust des Extrasinnes passiert war. Da war geistige Leere, sosehr ich mich anstrengte, mir die Geschehnisse in Erinnerung zu rufen. Offensichtlich hatte ich mich gegen die Gefangennahme gewehrt. Das würde die Müdigkeit und Schmerzen in all meinen Gliedern erklären. Die aufgerissenen Hände und Knöchel zeigten mir, dass die verstärkte heilende Wirkung des Zellaktivators noch nicht eingesetzt hatte. Immerhin wusste ich jetzt, dass ich nicht allzu viel Zeit durch die Bewusstlosigkeit verloren hatte. »Was erwartest du von mir?«, fragte ich. Vielleicht würde mir Etarmagan-Murloth die drängenden Fragen eher beantworten, wenn ich – scheinbar – auf seine Wünsche ein-
Die fünf herrlichen Städte ging. »Ich und Carnji haben unseren Kampf wegen eurer Ankunft auf morgen verschoben. Im Morgengrauen werden sich mehr als eine halbe Million Krieger auf dem großen Blutfeld gegenüberstehen. Im Namen der fünf herrlichen Städte von Narukku kämpfen wir um Ruhm und Ehre. Für die Lordrichter von Garb, um den Glanz, der größte Feldherr dieses Planeten zu sein. Und du, AtlanMurloth, wirst mir helfen, den Sieg zu erringen.«
* Ich wollte mir den Schrecken unter keinen Umständen anmerken lassen. Einerseits kannten Kythara und ich den Begriff »Lordrichter von Garb« bereits, seitdem ihn der sterbende Cappin Carscann in Zusammenhang mit einer drohenden Gefahr für die Galaxis Gruelfin genannt hatte. Die Verknüpfungen ließen sich noch nicht einmal erahnen – aber sie waren zweifellos vorhanden. Was mich ebenso erschreckte, war, dass Etarmagan-Murloth seinen Heimatplaneten Narukku nannte. Ich hatte diesem Planeten nach unserer Bruchlandung impulsiv denselben Namen gegeben! Ich erinnerte mich an den Alptraum, der mich in unserer ersten Nacht auf dieser unbekannten Welt geplagt hatte. War er etwa unter der Einwirkung der Psi-Quelle geformt worden? Schließlich hatte er den Verlust des Extrasinnes angedeutet; darüber hinaus hatte ich gesichtslose Wesen gesehen, die kaum eine Miene verzogen. So wie mein derzeitiges Gegenüber. Hatte ich, verstärkt durch die Impulse der unheimlichen Strahlungsquelle, einen verwaschenen Blick in die Zukunft geworfen und derart auch den Namen des Planeten erkannt? Es schien so. Ein weiteres kleines Rätsel auf der Suche nach dem großen Bild. »Was ist Murloth?«, fragte ich vorsichtig. Plötzlich war Feuer in den Augen des Hageren. »Murloth ist alles«, entgegnete er
7 überraschend. »Murloth ist der Kampf, die Glorie, der Mut. Er hilft uns, Schwächen auszumerzen und gefasst in den Tod zu gehen.« Pseudoreligiöses Gebrabbel. Wie ich es befürchtet hatte. Wieder wurden düstere Erinnerungen an Skanmanyon wach; jene pervertierte PsiQuelle, mit der ich im Jahre 2843 alter Zeitrechnung zu tun gehabt hatte. Alle Lebewesen, die in ihren Bann geraten waren, hatten die eigene Identität abgelegt und sich fortan »Skanmanyon« genannt. Die Parallelen waren nicht zu übersehen – und dennoch gab es Unterschiede. Etarmagan-Murloth hatte seinen Eigennamen behalten, und er sah sich als Anführer. Als Erster unter Gleichen, aber ein wenig gleicher. »Murloth heißt der Sternennebel, der unsere Welt umgibt«, fuhr der Vargane völlig entrückt fort. »Sein Leuchten, sein bunter Lichterschein, erhellt unsere Herzen im Kampf.« Jetzt wurde es interessant. »Du meinst also, ihr habt euch nach dem Emissionsnebel benannt, den man am Nachthimmel sieht?« »Wenn du es nicht spüren kannst, wirst du das Glück niemals erfahren«, flüsterte Etarmagan-Murloth. »Murloth ist der Nebel, ist der Kampf, ist mein Herz und das aller Naruks.« Übergangslos kehrte der Vargane in die Wirklichkeit zurück. »Setz dich und unterrichte mich!«, befahl er. »Was soll ich dir beibringen?«, fragte ich ratlos. Farbenhoch, der Schmetterling mit den glänzend geschliffenen Flügelkanten, schwebte beunruhigend nahe hinter mir. Ich spürte die Luftwirbel in meinem Nacken, die er mit jedem seiner vier Flügel auslöste. »Taktiken«, forderte Etarmagan-Murloth. »Ich möchte das Kriegshandwerk verstehen. Es fehlen meinem Volk und mir Fantasie und Vorstellungsvermögen. Ich will der beste und klügste Feldherr der Naruks werden, um von einem höheren Herrn in den Kampf berufen zu werden. Kythara meint, dass du ein erfahrener Führer deines Volkes seist
8 und dich glänzend auf das Kriegshandwerk verstündest.« »Mag sein«, entgegnete ich ausweichend. »Aber sag mir: Wo ist Kythara?« »Unterrichte mich heute, dann siehst du sie morgen.« Immerhin besaß er ausreichend Fantasie, um sich diese Erpressung auszudenken. Kurz überschlug ich in Gedanken die Alternativen. Wenn es denn überhaupt welche gab. Ich ging an Etarmagan-Murloth vorbei und trat durch die Tür. Er machte keine Anstalten, mich daran zu hindern. Ein weiterer Schock erwartete mich. Tausende dieser merkwürdigen Varganen warteten hier. Männliche wie weibliche, wobei die Unterschiede zwischen den Geschlechtern marginal waren. Sie starrten mich an, ohne einen Ton von sich zu geben. Regungslos standen sie da, jeweils in meterweiten Abständen voneinander. Hügelauf und hügelab, wie schlecht gelungene Marionetten, die jemand abgestellt und vergessen hatte. Ihre Blicke, stumpf und leblos, hingen an mir, folgten jeder meiner Bewegungen. Mich fröstelte. In welchen Alptraum waren Kythara und ich da geraten? Ich ging zurück in den Raum. Auch Etarmagan-Murloth beobachtete mich. »Du siehst, was ich meine?«, fragte er. »Meinen Murloths fehlt jegliche Eigeninitiative oder Fantasie. Sie brennen darauf, im Kampf gegeneinander anzutreten und notfalls das Leben zu lassen. Aber nicht jeder Tod ergibt ausreichend Sinn – und deswegen benötigen sie einen Führer.« »Tod macht nie einen Sinn«, entgegnete ich heftiger, als ich angesichts meiner prekären Situation eigentlich sollte. »Er ist etwas Unabänderliches, und ich halte es für ein Verbrechen, das eigene Leben mit einer derartigen Selbstverachtung wegwerfen zu wollen.« »Unser Leben ist der Kampf, und unser Leben gehört Murloth!« Was für Plattitüden! Wusste er eigentlich, was er da von sich gab? Ich bezweifelte es, und ich musste erneut an Skanmanyon denken.
Michael Marcus Thurner »Etarmagan-Murloth, hör mir gut zu«, sagte ich vorsichtig, »du scheinst mir im Vergleich zu deinen Landsleuten sehr aufgeweckt zu sein und manche Dinge besser zu verstehen. Ist das richtig?« Der Vargane nickte zögernd. Immerhin. »Erkennst du denn nicht, dass hier etwas fürchterlich falsch läuft? Es ist nicht Sinn des Lebens, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Man schätzt und achtet einander, man gründet Familien, man lernt und lebt sein Leben …« »Nein«, unterbrach mich Etarmagan mit fester, unverrückbarer Stimme. »Das mag auf dich und deinesgleichen zutreffen. Aber wir Naruks haben keine Familien, keine Kinder, keine Alten. Wir kämpfen und wir sterben. Das ist alles, was wir tun – und was wir wollen.« »Aber das alleine kann es einfach nicht sein! Dein Volk wird über kurz oder lang aussterben, wenn ihr so weitermacht …« »Schluss jetzt!«, sagte Etarmagan-Murloth schroff. »Entweder du unterrichtest mich in den Taktiken des Kampfes, oder ich töte dich an Ort und Stelle.« Das Gold in seinen Augen glitzerte und glänzte, und es zeigte unbarmherzige Härte. Von diesem Mann und seinem Volk hatte ich nichts zu erwarten. Ich musste gehorchen – oder sterben. Gewaltige Heeresverbände hatten einander gestern gegenübergestanden. Sie mussten tatsächlich in Hunderttausenden zählen. Diese Wahnsinnigen würden morgen in ihrem Kampfeseifer übereinander herfallen. Egal, ob ich eingriff oder nicht. Konnte ich es denn nicht gar als gute Tat verbuchen, wenn ich eine Überlegenheit für EtarmaganMurloths Truppen schuf und so seine Verluste an Kriegern so gering wie möglich hielt? Das ist billig, Arkonide!, flüsterte mir der Extrasinn zu. Und du weißt, dass du damit dein Gewissen nicht beruhigen kannst. »Wo ist Kythara eigentlich?«, fragte ich. »Bei Carnji. Meiner Partnerin.« »Du versprichst, dass ich sie morgen gesund wiedersehe, wenn ich dir helfe?«
Die fünf herrlichen Städte »Ja.« Ein Mann, gefühlskalt wie dieser hier, würde lügen, ohne moralische Bedenken zu empfinden. Ich konnte ihm niemals vertrauen. Aber hatte ich denn eine Wahl? »Gut«, sagte ich und seufzte tief. »Dann bereite dich auf eine lange Nacht vor …«
* »Du mieser Betrüger!«, brüllte ich Etarmagan-Murloth an. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass Kythara im feindlichen Heer dient?« »Ich habe nicht gelogen«, erwiderte der Vargane nüchtern. Unbeeindruckt saß er am Rand seiner Flugscheibe. Er schenkte mir jenes Interesse, mit dem man für gewöhnlich ein lästiges Insekt bedachte. »Ich versprach, dass du sie wiedersehen wirst.« Er reichte mir sein klobiges, schlecht geschliffenes Fernglas. Zum vielleicht fünften Mal blickte ich hindurch und sah Kythara, gleichermaßen an Händen und Füßen gebunden wie ich, neben der gegnerischen Heerführerin hocken. Und zum wohl zehnten Mal fragte ich entgeistert: »Das ist deine Gefährtin Carnji?« Der Vargane nickte. »Wir teilen von Zeit zu Zeit das Bett, aber wir kämpfen getrennt.« »Warum?« Ich konnte es einfach nicht fassen. »Was ist, wenn sie stirbt?« »Dann werden wir uns trotzdem wiedersehen.« Welch eine maßlose Idiotie, was für ein an Selbstaufgabe grenzender Fatalismus! Am liebsten hätte ich Etarmagan-Murloth gepackt und gerüttelt, mit den Fäusten ein wenig Verstand in ihn hineingeprügelt … … was deinen sicheren Tod bedeuten würde, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Ich war an Händen und Beinen gefesselt. Eine zusätzliche Fußfessel, die mich an einen stählernen Ring im Boden des Podestes gebunden hielt, erlaubte mir einen Bewegungsradius von gerade mal fünf Metern.
9 Es gab kein Entkommen. Eine unübersehbare Masse an Männern und Frauen umgab uns, und in einer Entfernung von nicht einmal einem Kilometer, auf einer leichten Anhöhe, wartete der Gegner. Kampfgeile Varganen, wohin man nur schaute. Sie trugen ein ungeheures Sammelsurium an Waffen und Rüstungsteilen an und bei sich, wie ich es noch nie gesehen hatte. Da waren Strahlwaffen genauso wie rostige Schwerter. Lange Glassplitter, die an einen Stiel gebunden waren und eine behelfsmäßige, aber nichtsdestotrotz todbringende Axt ergaben. Steinschleudern. Musketen mit überdimensionierten Zündkapseln. Lanzen mit Stahlspitzen. Armbrüste. Geschosse, die ganze Batterien von MolotowCocktails in die Reihen der Feinde schleudern sollten. Feuerräder, die man die Hügel hinab ins Getümmel rollen wollte. Ballisten. Gepanzerte Fahrzeuge mit Flammenwerfern. Gepeinigte Tiere, Kühen und Stieren nicht unähnlich, die schmerz- und panikerfüllt gegen die jeweils anderen Reihen losgehetzt werden würden. Reiter auf mannsgroßen Giraffen, deren Hälse mit langen Stahlspitzen verziert waren. Die bereits bekannten Flugscheiben, auf denen die höheren Chargen der Befehlshaber saßen und lenkend eingreifen sollten. Manche der Kämpfer besaßen energetische Schutzschirme, andere trugen einen ledernen, geflochtenen Brustschutz. Und viele Varganen, wahrscheinlich die Mehrzahl von ihnen, gingen ohne jegliche Bewaffnung in die Auseinandersetzung. »Warum dieses Durcheinander?«, fragte ich ratlos. »Warum gibt es keine einheitliche Ausrüstung?« »Wir nehmen das, was wir finden können, und produzieren Waffen daraus«, erwiderte Etarmagan-Murloth, ohne mich anzusehen. »Meist sind es Abfallprodukte oder Dinge, die wir aus den Büchereien nehmen und umbauen.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Wenn ich könnte, wie ich wollte, hätte ich Abertausende Strahlwaffen bauen lassen. Aber uns fehlen die elektronischen Bestand-
10 teile und die Fertigungsstätten. Hätte ich bloß eine Hand voll aufgeweckter Naruks um mich, die mich unterstützten, besäße ich bald Fabriken und Forschungsstätten. Flugzeuge, Lenkwaffen, atomare Sprengkörper, Nukleargeschosse. Sie würden den ganzen Planeten erschüttern …« Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Man musste für die Umstände dankbar sein. Andernfalls wäre Narukku wohl nur noch eine Partikelwolke, die inmitten des Emissionsnebels Murloth dahintrieb. Andererseits wurde das Rätsel um diese triebgesteuerten Varganen nicht kleiner. Warum diese sonderbare Mischung aus Hochtechnologie und primitivsten Bedingungen? Wer und was steckte dahinter? EtarmaganMurloth hatte mir während der Nachtstunden nichts verraten. Oder nicht verraten können. Die Helligkeit nahm zu. Nicht mehr lange, dann würde sich die Sonne Ziram über den Horizont erheben – und die Schlacht beginnen. Besser gesagt: das Abschlachten. Etarmagan reckte den dürren, aber zähen Körper und stieg auf seine Flugscheibe. Ich spürte, dass er sich mit jeder Faser seines Körpers nach einer Entscheidung sehnte … Selbst ich fühlte ein Kribbeln in mir. Wurde ich etwa von der Kriegslust der Varganen angesteckt? Ich verachtete mich selbst dafür und konnte es dennoch nicht leugnen: Ich wartete mit einem gewissen Interesse auf den Beginn der Schlacht. Es war dieses Kampffieber, dieser ureigene arkonidische Trieb, der in mir erwacht war. Ein Erbe, das ich manchmal nur schwer verwalten konnte. Mühsam brachte ich meine Gedanken wieder auf Kurs. Kythara und ich waren gegeneinander ausgespielt worden; ich hätte Etarmagan-Murloth eine solche Perfidie gar nicht zugetraut. Ich überlegte. Wir beide hatten unendlich viel Erfahrung, wenn es um Strategien ging. Ich war mir sicher, dass sie ähnlich wie ich geplant hatte und über Flankenzangen attackieren lassen würde. Auch ihr Plan würde
Michael Marcus Thurner es sein, dem Kampf ein möglichst rasches Ende zu bereiten. Zwei Köpfe – ein Gedanke. In diesem Fall mit einem katastrophalen Ausgang. Unsere Angriffsspitzen links und rechts würden heftig aufeinander prallen und sich auf engstem Raum aufreiben. Wenn mir nicht bald etwas einfiel, würde das sandige Feld vor uns rasch mit Blut getränkt sein. »Ziram kommt!«, schallte ein Ruf über die Menge. Hundertfach, tausendfach wurde er aufgenommen und weitergetragen. Erregte Varganen stampften mit den Beinen auf, schlugen mit den Armen auf hölzerne Schilde oder schrien rhythmisch ihre Berserkerwut hinaus. Nur noch kurze Zeit … Was konnte ich tun? Was konnten wir tun? Ich griff erneut zum Feldstecher, suchte Kythara. Da war sie, nunmehr hoch aufgerichtet, neben Carnji. Sie hielt ebenfalls ein Fernglas an ihre Augen und blickte in meine Richtung. Wir hatten Blickkontakt – aber was nutzte das? Viel, Arkonide!, hörte ich eine Stimme in mir. Ihr telepathieähnliches Talent! Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass sie zu mir durchdringen würde. Ich hätte sie gerne schon gestern oder während der Nacht gespürt. Warum nicht früher?, fragte ich daher angestrengt und mit leichtem Vorwurf. Kythara konnte meine Gedanken zwar nicht lesen, aber hoffentlich die Grundstimmung in meinem Kopf erfassen. Ich fand dich nicht, übermittelte mir die Varganin. Es waren stets zu viele Naruks um mich. Diese Wahnsinnigen denken zwar auf einer gänzlich anderen, abstrakten Ebene als wir, aber allein ihre Masse ließ nicht zu, dass ich dich erreichte. Erst der Blickkontakt half. Für lange Erklärungen blieb keine Zeit mehr. Das rhythmische Klopfen, Stampfen und Schreien der Kämpfer wurde lauter und lauter. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis Ziram die ersten Strahlen über das Binnenmeer schicken würde.
Die fünf herrlichen Städte Ich übermittelte Kythara eine Art geistiges Achselzucken. Was machen wir nun?, sollte es heißen. Ich hatte zwar ein paar Ansätze, aber die Zeit wurde knapp, und ich konnte der Varganin ohnehin keine detaillierten Gedanken übermitteln. Wir lassen sie ins Leere rennen, schlug die geistige Stimme in mir vor. Gleichzeitig verfolgte ich durch den Feldstecher, wie sich Kythara an Carnji wandte. Die Befehlshaberin der gegnerischen Truppen hörte aufmerksam zu, überlegte ein paar Momente und gab schließlich eine Reihe von Befehlen weiter. Umgruppierungen erfolgten, widerwillig durchgeführt von den kaum mehr zu bändigenden Fußtruppen. Wir greifen an der dem Meer zugewandten Flanke an, dachte Kythara an meine Adresse. Carnji vertraut mir; sie glaubt an einen weiteren taktischen Schachzug. Dort, auf und zwischen den hohen Sanddünen, ist wenig Platz. Die Angrifsspitze wird extrem dünn sein und hügelaufwärts nur langsam vorankommen. Lass deine Truppen dort hinaufstürmen, empfahl sie. Es mag zynisch klingen – aber vielleicht beruhigen sich die Gemüter, wenn einmal ein paar Dutzend Tote plakativ auf den Sandbuckeln herumliegen. Mich schauderte. Ein paar Dutzend Tote! Das war locker dahingesagt – beziehungsweise gedacht! –, aber hier handelte es sich um intelligentes Leben, nicht um Zinnfiguren. Ich wollte die Naruks unter allen Umständen vor ihren eigenen Aggressionen schützen. Wenn ich an die Geschehnisse im Canyon vor wahrscheinlich zwei Tagen zurückdachte … Mach es!, drängte mich Kythara. Der Rand der Sonne wurde sichtbar. »Etarmagan!«, schrie ich dem Führer der Murloth-Truppen zu. Er hörte mich nicht. Ich musste an seiner Hose zupfen, damit er endlich auf mich aufmerksam wurde und sich mir zuwandte. Ich erschrak. Sein Gesicht war hasserfüllt, er atmete schwer. »Eine Planänderung!«, rief ich. »Warum?«, zischte er. Er konnte sich
11 scheinbar nur unter Aufbietung aller Kräfte auf mich konzentrieren. »Erwartest du nicht genau das von mir? Intuition und Verständnis für die Situation? Jetzt habe ich eine Idee, also folge mir!« Harsche Worte, aber sie wirkten. »Nun gut«, sagte Etarmagan-Murloth schwer atmend. »Sprich!« »Vorerst nur über die rechte Flanke angreifen. Hauptsächlich unbewaffnete Naruks. Schwere Waffen bleiben hinter den Linien …« »Warum?« »Gib die Befehle weiter!«, fuhr ich ihn an. »Es ist keine Zeit für Diskussionen.« Etarmagan-Murloth gehorchte, brüllte mit seiner fistelnden, hohen Stimme über die Truppen hinweg. Die Chargen nahmen die Anweisungen zögernd, aber dennoch auf. Ziram war da, badete das Feld in gelbrotes Licht. Die Fußtruppen Carnjis stürmten mit lautem Gebrüll und unglaublich leichtfüßig den Hügel herab, schwenkten in Richtung Meer … Jetzt kam die Reaktion »unserer« Kämpfer. Sie folgten den letzten Anweisungen, liefen, mühsam von den Naruks auf den Flugscheiben gelenkt, in dieselbe Richtung. Was war das nur für eine zynische Tat! Wenige von ihnen zu opfern, um der Gesamtheit der beiden Heere den Wahnsinn einer Schlacht plakativ vor Augen zu führen. Beide Truppen, nicht viel mehr als jeweils fünfhundert Mann stark, stapften mit schweren Schritten die Sanddünen hinauf, trafen nahezu gleichzeitig oben an. Messer wurden gezogen, Steine geworfen, schwere Seile pfeifend in Richtung der Gegner geschwungen. Ein verirrter Strahlschuss peitschte in den Hügel, wirbelte eine Sandfontäne hoch, die uns Zusehern sekundenlang die Sicht versperrte. Erinnerungen drängten hoch. Bilder von zig Bodenschlachten, die ich miterlebt hatte und die sich so sehr glichen. Es spielte keine Rolle, ob es Maahks, Bestien, Arkoniden oder Blues gewesen waren – es hatte mir stets Übelkeit verursacht. Ich musste mich
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emotionell vom Schlachtenbild zurückziehen, alles Persönliche ausschalten. »Was soll das?«, fuhr mich Etarmagan plötzlich an. »Meine Murloths murren. Das ist nur ein Geplänkel ohne Sinn und ohne Aussicht auf Erfolg. Erkläre es mir!« Er deutete auf die Hügel, wo sich immer weniger der Kämpfer rührten. Auch sie fielen mit bloßen Händen übereinander her, würgten, kratzten, schlugen, traten. Sah er denn nicht den Schmerz, das Leid, die Qual? Nichts. Kein Erbarmen, kein Mitgefühl war in diesen hasserfüllten Augen. Ich senkte den Kopf. »Ich habe mich geirrt«, sagte ich und hoffte, dass ihm der doppelte Sinn verborgen blieb. »Das wird ein Nachspiel haben. Farbenhoch – du bewachst Atlan!« Dann gab er den Angriffsbefehl für alle Frontteile. Carnjis Truppen reagierten, und der Kampf begann.
* Ich war alt an Jahren und erfahren wie kaum ein anderer in diesem Universum – aber ein derartig widerwärtiges Abschlachten ohne Sinn und Zweck hatte ich noch nie gesehen. Da stand ich, auf einem kleinen hölzernen Podest, und sah zu, wie der Sandboden mit den Körpern toter Naruks regelrecht gepflastert wurde. Die Schreie des Hasses und des Kampfes wurden weniger, die der Schmerzen dafür umso lauter. Ich zwang mich, weiterhin zuzusehen. Ich wollte dieses Bild in all seiner Intensität in mir abspeichern. Seine Gerüche, seine Geräusche, seine Farben. Bis zum bitteren Ende. Denn dann, so hoffte ich, würde ich nie mehr in der Lage sein, auch nur einer Fliege etwas zuleide zu tun. Müde Schatten krochen über die Sandberge, hieben da und dort mit irgendwelchen Waffen zu, brachten letzte Schreie zum Verklingen.
Dies war Armageddon und Ragnarök und Götterdämmerung. Hier gelangte mein Verstand an seine Grenzen. Müde ließ ich mich auf dem Holzverschlag nieder. Carnji ist soeben gestorben!, spürte ich nach langer Zeit endlich wieder einen klaren Gedanken Kytharas. Ich habe mich mittlerweile befreien können. Keiner achtet auf mich. Ich kann dich sehen. Und den hässlichen Schmetterling oberhalb deines Kopfes. Ich komme, um dir zu helfen. Ihre mentale Stimme war müde und kraftlos. Sie wirkte ebenso verzweifelt, wie ich mich fühlte. Ich sandte ihr eine Warnung, ein Gefühl von Angst und Bedrohung, das ich in meinem derzeitigen Zustand kaum mehr künstlich heraufbeschwören musste. Wer hatte eigentlich gesiegt? Gab es jemanden, den man »Sieger« nennen durfte? Versprengte Grüppchen Naruks bewegten sich da und dort, bestenfalls waren es ein paar hundert. Die meisten trugen, soweit ich es erkennen konnte, rote Armschleifen, mit denen Etarmagan seine Truppen gekennzeichnet hatte. Das Schwirren des Kampfschmetterlings klang schrill und quietschend. Wahrscheinlich hätte er in den Kampf mit eingegriffen, wenn ihn nicht der Befehl seines Herrn an mich gebunden hätte. Ich beobachtete ihn. Sobald ich mich bewegte, reagierte er, hielt sich stets außerhalb meiner Reichweite. Das Ende seines Stabkörpers war gegen meine Brust gerichtet. Ich konnte nur vermuten, dass Geschosse mich durchlöchern würden, sobald ich eine unbedachte Bewegung tat. Eine Viertelstunde verging. Wo war Kythara? Sicherlich war sie dem Kampfplatz großräumig ausgewichen und näherte sich von der linken Seite. Wer wollte schon über die Körper der Gefallenen steigen? Ich wünschte, dass sie sich mehr beeilte. Ein Häuflein Überlebender kam langsam auf mich zugestapft. Wenn mich meine Augen nicht trogen, war Etarmagan unter ihnen. Die Flugscheibe war ihm offenbar abhanden gekommen. Aber der Schritt, fester und ziel-
Die fünf herrlichen Städte gerichteter als jener seiner Begleiter, wies ihn als den Anführer der Murloths aus. Und er kam schnurstracks auf mich zu. Ich blickte suchend umher. Dort, inmitten eines Feldes voll Dornengestrüpp, war Kythara! Sie kam von der Stadtseite her, wie ich es vermutet hatte. Schneller!, dachte ich. Mein Puls raste in die Höhe. Die Varganin würde meinen übermäßigen Adrenalinausstoß spüren. Etarmagan hielt eine klobige Strahlwaffe in der Hand. Er hatte soeben seine Gefährtin verloren, mit der er eine mir unverständliche Hass/Liebe-Beziehung geführt und gelebt hatte. Höchstwahrscheinlich würde er mir die Schuld für ihren Tod in die Schuhe schieben. Er hob die Waffe, zielte in meine Richtung. Wollte er mich töten oder bloß verwunden, um mich anschließend langsam zu Tode zu quälen? Ich vermute, dass er für die Folter nicht ausreichend Fantasie besitzt, beantwortete der Extrasinn unnötigerweise meine Frage. Ein Schuss. Ich warf mich reflexartig zu Boden. Unnötigerweise. Einem Strahl, so rasch wie das Licht, konnte man nicht ausweichen. Etarmagan hatte schlecht gezielt. Der Schuss ging mehrere Meter links an mir vorbei, setzte in einer hohen Stichflamme ein Fass mit öliger Flüssigkeit in Brand. Farbenhoch, der Kampfschmetterling, brummte zornig ob meiner Unruhe. Er senkte sich weit herab, kam näher, zischte mir ins Gesicht. Es klang wie eine Warnung. Aber was hatte ich zu verlieren angesichts des näher kommenden Etarmagan? Ich griff nach dem Schmetterling, wollte ihn packen, zu Boden schleudern. Umsonst. Er reagierte einfach schneller, flatterte scheinbar lässig ein Stückchen in die Höhe und fuhr mit der Kante eines Flügels wie beiläufig auf mich herab. Ich unterdrückte den Schmerzensschrei. Eine lange, aber nicht allzu tiefe Wunde auf meinem Handrücken begann augenblicklich zu bluten.
13 Ein zweiter Strahlschuss. Diesmal näher und an der anderen Seite des Podestes vorbei. Etarmagan hatte vielleicht noch fünfzig Meter, dann würde er mir direkt in die Augen sehen können. Kythara! Wo bist du?, dachte ich angestrengt. Ich hatte sie aus den Augen verloren. Zu weit weg!, kam eine stockende Antwort. Sie lief offensichtlich. »Du!«, brüllte mir Etarmagan entgegen. »DU!« Der nächste Schuss traf das Podest und setzte es in Flammen. Ein Vorteil für mich? Das feuchte Holz begann zu rauchen, verbarg mich augenblicklich vor den Blicken des Varganen. Wenn ich die Fessel über das Feuer hielt und riskierte, dass meine Hände dabei verkohlten … Aber wie würde Farbenhoch reagieren? Einerlei. Keine Zeit, nachzudenken. Ich warf mich nach vorne, auf die Flammen zu. Streckte die Arme aus, ignorierte die unglaubliche Hitze und den Schmerz. Etarmagan tauchte aus dem Rauch auf wie ein Monster aus einem billigen TrividFilm. Er konnte mich aus dieser Distanz einfach nicht mehr verfehlen. Der Kampfschmetterling kam auf mich herabgeschossen. Ein Klicken in seinem metallenen Stableib ließ vermuten, dass ein Mechanismus Munition – egal, welcher Art – nachfütterte. Ich senkte den Kopf, machte mich klein. Wann riss denn endlich der Strick? Ich hielt meine Hände immer noch über die Flammen. Der Schmerz war nahezu unerträglich, und der Tod erschien mir für einen Augenblick wie die Erlösung. Ein trockenes Knacksen, kurz darauf ein dumpfer Aufprall. Farbenhoch glitt antriebslos wie ein Blatt im Herbstwind zu Boden. Es ist vorbei!, sagte Kythara in meinem Geist, und wenig später hörte ich ihre laut gesprochenen Worte: »Etarmagan ist tot. Und jetzt schnell weg!«
*
14 Sie riss mich aus dem Feuer, das immer weiter um sich griff, kappte Bein- und Armfesselung mit einer Art Sarazenendolch. Meine Hände – ich spürte sie nicht mehr. Da war rotes, rohes Fleisch mit schwarz verkohlter Haut, die wie bei aufgeplatzten Bratwürsten an den Rändern in die Höhe stand. »Beeil dich!«, fuhr mich Kythara an. Sie hatte Recht. Wir mussten so schnell wie möglich weg. Etarmagan mochte tot sein – aber seine verbliebenen Krieger würden hinter uns her sein, bis sie uns zur Strecke gebracht hatten. Auf diesem Planeten kannte man kein Erbarmen. Diese Naruks akzeptierten nur Sieg oder Tod. »Zurück zur Stadt!«, befahl Kythara. »Ich weiß, wo unsere Ausrüstung steckt.« Was sollten wir mit Flugaggregaten, Waffen und weiterem technischen Schnickschnack anfangen, der nicht funktionierte? Um dir Erste Hilfe zu leisten, Narr!, wies mich der Extrasinn auf das Naheliegende hin. Und wer weiß, ob nicht zumindest ein Teil eurer Ausrüstung wieder einsatzbereit ist. Die Strahlwaffen der Naruks haben schließlich während der Kämpfe funktioniert. Natürlich. Es fiel mir immer schwerer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Die Schmerzen kamen und gingen; meine Arme fühlten sich wie Stumpen an, die lichterloh in Flammen standen. Stupide trabte ich dahin. Eins, zwei. Eins, zwei. Immer hinter der Frau her, deren hüftlanges, goldenes Haar im Laufrhythmus vor mir herschwebte. Hatten Verfolger unsere Spur aufgenommen? Wahrscheinlich. Ab und zu hörte ich das Klirren von Waffen auf einem Harnisch und Anfeuerungsrufe. Ich war zu müde und zu verwirrt, um mich umzudrehen. Es ging stets leicht bergauf. Erste Hütten kamen in Sicht. Viele waren zerstört, von den Kämpfen in Mitleidenschaft gezogen worden. Selbst hier lagen vereinzelt Leichen. Narukku erschien mir mit einem Mal wie ein riesiges Grab. Das Paradies jedes
Michael Marcus Thurner Bestattungsunternehmers. Ich musste lachen, fühlte Tränen über meine Wangen rinnen. Diese furchtbaren Schmerzen … Der Zellaktivator sandte beruhigende Impulse aus. Ich vermeinte, das Kosmokratenerzeugnis pulsieren zu spüren. Wie ein Ersatzherz hatte es die Kontrolle über meinen Kreislauf übernommen und verhinderte, dass ich frühzeitig kollabierte. Jeder Normalsterbliche wäre längst zusammengebrochen. Kythara drehte sich zu mir um, blickte an mir vorbei – und erstarrte. Meine Reaktionszeit war erheblich verlangsamt, und beinahe wäre ich in die Varganin hineingelaufen. »Was ist …?«, krächzte ich. Sie deutete an mir vorbei, hinab auf das Schlachtfeld. Für einen Moment hatte ich Bilder von Verdun vor meinen Augen. 1916, Erster Weltkrieg. 700.000 Tote binnen eines Halbjahres. Der sinnlose Kampf um Hügel 304 … »Sieh!«, rief die Varganin. Unsere Verfolger, ein kleines Trüppchen blutverschmierter Naruks, waren stehen geblieben. Ohne uns noch eines Blickes zu würdigen, wandten sie sich ab und marschierten nach allen Himmelsrichtungen davon. Es schien so, als hätten sie ihren Arbeitstag erledigt und wollten nun nach Hause gehen. »Dieselbe rätselhafte Reaktion wie im Canyon«, sagte ich und setzte mich auf einen kreisrunden Stein. Die Schmerzen waren nach wie vor groß, aber Verwunderung und Neugierde ebenso. Die Naruks verharrten plötzlich erneut. Wie zu Salzsäulen erstarrt. »Wir müssen weiter!«, drängte mich Kythara. »Egal, was die Naruks aufhält – wir sollten die Situation ausnutzen und uns endgültig absetzen.« »Nein!« Irgendetwas hielt mich hier. Ich konnte meine Augen nicht vom Schlachtfeld abwenden. Die Wetterlage änderte sich schlagartig.
Die fünf herrlichen Städte Feiner weißer Nebel senkte sich herab, verdeckte das Muttergestirn. Es wurde kühler. »Das ist kein normaler Nebel«, murmelte Kythara, die nun keinen Gedanken mehr an eine Fortsetzung der Flucht verschwendete. Die Nebelbänke zerfaserten, wurden kleiner, gewannen aber gleichzeitig an Festigkeit. »Das sind Luftwirbel!«, sagte ich. »Winzige, kleine Tornados.« »Mag sein – aber keine natürlichen«, entgegnete die Varganin. »Mir scheint, als senkten sie sich über die Toten.« Genau so war es. Kleine Drehwirbel, gerade mal mannsgroß, schwebten kreuz und quer über das Leichenfeld, als ob sie etwas suchten. Ein irres Bild. Eines, das keiner arkonoiden Fantasie entsprungen sein konnte. Leise Töne wurden durch den Wind an uns herangetragen. Geräusche, die dem Ploppen von erhitzten Maiskörnern ähnelten. Immer mehr hörten wir von ihnen, und in immer kürzeren Abständen erklangen sie. »Die Tornados verschwinden!«, rief Kythara aufgeregt. »Sie lösen sich wieder im Nichts auf!« »Sie teleportieren«, korrigierte ich leise. »Diese Geräusche – das ist plötzlich ins Vakuum nachströmende Luft.« Ich streckte die Hände von mir und versuchte, durch ständiges rasches Fächeln eine leichte Linderung der Brandschmerzen herbeizuführen. »Sind diese Tornados etwa Lebewesen?«, fragte Kythara ratlos. »Und was tun sie hier?« »Ich vermute, dass es sich um eine Art Räumkommando handelt«, entgegnete ich. »Siehst du nicht, dass jeder Mini-Tornado eine Leiche mit sich nimmt?«
* Der Vorgang dauerte eine knappe Viertelstunde. Dann war das Schlachtfeld leer. Alle Leichen waren weg. Lediglich Waffen und technisches Gerät lagen noch umher. Eingetrocknetes Blut wurde langsam von Sandverwehungen überdeckt.
15 In die Überlebenden indes, die regungslos stehen geblieben waren, kehrte das Leben zurück. »Wir sollten schauen, dass wir Land gewinnen«, sagte ich. »Wundern können wir uns später.« Und müde fügte ich hinzu: »Hilf mir bitte hoch.« Mit einem Ruck half mir Kythara auf die Beine und stützte mich an einer Schulter, während wir die schmalen Gassen der sonderbaren Stadt durchwanderten. In der Ferne ragte der Bibliotheksbau hoch, den ich mit dem Turm zu Babel verglichen hatte. »Dorthin!«, sagte die Varganin und deutete bergauf. Es ging in einen schmalen Seitencanyon hinein. Die Häuser wurden spärlicher. Kythara führte mich in das letzte Gebäude, das über und über mit roter Farbe beschmiert war. Nein. Es war keine Farbe. Es war das Blut der gemordeten Gegner, wie ich mittlerweile wusste. Doch weder Carnji, der dieses Anwesen hier gehörte, noch ihr Feind und Liebhaber Etarmagan-Murloth würden jemals wieder einen ihrer Landsleute töten. In einer Ecke lagen unsere Tornister, die mit einem Handgriff in den Rückenteilen der Overalls fixiert werden konnten. Die Energieaggregate zeigten zu unserer Enttäuschung nach wie vor keine Leistung an. Kythara schmierte mir eine geleeartige Masse über beide Hände. Sofort setzte lindernde Wirkung ein. Taubheit breitete sich bis zu den Ellenbogen aus, und ich fühlte grenzenlose Erleichterung nach dem Schmerz, der auf mir gelastet hatte. Kythara schob mir ein Breitbandantibiotikum in Tablettenform und eines ihrer biosynthetischen Nahrungskonzentrate in den Mund. Der Kraftriegel schmeckte fad, natürlich, aber er würde wie jede hochwertige Raumfahrernahrung meinem Körper alle benötigten Vitamine und Mineralstoffe schnellstmöglich zuführen. Das Gelee an meinen Händen erzeugte ein leichtes Kribbeln. »Eine weitere Anwendungsmöglichkeit
16 von bioaktiven Schichtmodulen«, beantwortete die Varganin meine unausgesprochene Frage. »Im Heilgelee werden bei Anwendung Enzyme aktiviert, die zerstörtes Gewebe sozusagen wegfressen und das Wachstum gesunden Fleisches darunter anregen.« »Das bedeutet?«, fragte ich knapp. »Eine um den Faktor einhundert beschleunigte Wundheilung.« Beeindruckend. Varganische Technik und Wissenschaft gaben immer wieder Anlass zum Staunen. »Bist du bereit?«, fragte sie mich. »Wir sollten so rasch wie möglich von hier verschwinden.« Ich nickte. Ich fühlte mich gut. Die Medikamente sprachen sofort an. Jeglicher Gedanke an die erlebten Schrecken war wie weggeblasen. »Danke für deine Hilfe«, sagte ich. »Gern geschehen«, erwiderte die Varganin bescheiden. Mehr war nicht nötig. Ich hätte ihr im umgekehrten Fall genauso geholfen – und sie wusste das. Allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Ich hätte es vermieden, EtarmaganMurloth zu töten. Und was wäre mit dem Kampfschmetterling passiert?, fragte mich der Extrasinn. Er war mit allen Funktionen an die Lebensimpulse seines Herrn gebunden. Hätte Kythara dem Naruk nicht das Genick gebrochen, wäre Farbenhoch über dich hergefallen. Ich erwiderte nichts. »Wenn«, »hätte« und »vielleicht« waren Begriffe, mit denen ich mich jetzt nicht beschäftigen wollte. Kythara nahm zuletzt die beiden unterarmlangen Handwaffen an sich. Stabförmige Energiestrahler im Kombimodus, die uns allerdings bislang keine guten Dienste erwiesen hatten. Sie waren nach wie vor energetisch inaktiv. »Wo wartet das nächste Beiboot?«, fragte ich. Hier waren wir unseres Lebens nicht sicher. Ein varganisches Schiff, auch wenn seine Leistungsreserven bei null standen,
Michael Marcus Thurner würde uns mehr Sicherheit bieten als diese Stadt mit dem so verharmlosenden Namen Klarschein. Kythara orientierte sich kurz. Sie verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und hatte die Standorte aller Tropfenbeiboote im Kopf. Umsichtigerweise hatten wir mehrere Ersatzschiffe im vollautomatischen Modus als Einsatzreserven mit uns geführt. Auch sie hatten nach und nach dank der weitgreifenden Strahlung der Psi-Quelle ihren Geist aufgegeben. Aber wir wussten, dass die Emissionen der Strahlungsquelle stark schwankten. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich die Beiboote bald wieder einmal bewegen ließen. »HEGELUNT-5«, sagte die Varganin. »Vierzig bis fünfzig Kilometer von hier. Am südöstlichen Ufer des Binnenmeeres.« »Ganz schlecht«, entgegnete ich missmutig. »Wir müssen also quer durch die Stadt und östlich vom Schlachtfeld hinab zum Meer.« Kythara startete einen erneuten Versuch, die Anzugaggregate zum Funktionieren zu bringen. Vergeblich. Sie sah hoch und fragte: »Hast du einen besseren Plan?« »Vielleicht. Wo hast du die nächstgelegene varganische Station angemessen?« »Ungefähr auf halbem Wege. Komm mit, ich zeige es dir!« Sie zog mich mit sich. Im hinteren Teil des Hauses, von den Naruks Kschemme genannt, führte eine primitive Steintreppe durch eine Luke auf das Flachdach. Der Blick über die Stadt Klarschein war atemberaubend. Es war ein wolkenfreier Tag. Die Sonne stand bereits hoch und würde bald ihren Scheitelpunkt überschreiten. Friedliche Insekten umsummten uns. Eine bunt schillernde Eidechse mit sechs Gliedern genoss die Wärme. Im Felsengewirr hinter uns entdeckte ich widderähnliche Geschöpfe, die geschickt von einem Stein zum nächsten sprangen. Eine nahezu naturbelas-
Die fünf herrlichen Städte sene Idylle. Tja, wenn nicht … »Dort müsste die Station verborgen sein.« Kythara deutete auf einen vorgelagerten Gebirgsstock, nahe zum Meer, halbrechts von unserem Standort aus gesehen. Er wirkte zerklüftet, als hätte ein Riese mit langen Krallen tiefe Furchen durch das Gestein gezogen. Ein grüner, ausgefranster Fleck an der uns zugewandten Flanke deutete auf stellenweise dichte Vegetation hin. »Wir versuchen, sie zu finden«, sagte ich bestimmt. »Ich bin mir fast sicher, dass dort der Schlüssel für die mysteriösen Vorgänge in diesen Städten verborgen liegt.« Ich überlegte. »Glaubst du, dass du dir Zutritt zu der Station verschaffen kannst?« »Ich hoffe nicht, dass sich in den letzten Jahrhunderttausenden etwas Grundlegendes an den Kodes geändert hat. Sie folgen seit jeher einem bestimmten Algorithmus …« Plötzlich sah ich eine Bewegung! »Duck dich!«, fuhr ich die Varganin an und verkroch mich hinter der verspielt wirkenden zinnenartigen Bewehrung des Hauses. Eine Gruppe Naruks kam den Weg herauf. Sie unterhielten sich nicht, sondern starrten nur geistesabwesend in die Ferne. So, wie wir es von ihnen bereits gewohnt waren. Sie verteilten sich auf ihre Häuser. Ringsumher, so weit ich sehen konnte, passierte dasselbe. Große Massen der dürren Varganen strebten ihrem Zuhause zu. Kamen diejenigen, die sich nicht an der großen Schlacht beteiligt hatten, etwa soeben von ihrer Arbeitsstätte zurück? Ich hatte längst jegliche Hoffnung aufgegeben, in den Vertretern dieses merkwürdigen Volkes so etwas wie eine Gefühlsregung, die über Hass und Kampfwut hinausging, zu entdecken. Dennoch war es immer wieder erschreckend, wie roboterhaft sie sich bewegten und verhielten. Kythara flüsterte mir zu: »Sie tragen rote oder blaue Armbinden. So wie Etarmagans und Carnjis Truppen.« »Vielleicht Fans, die ihre Transparente vergessen haben?« Der makabre Scherz erzielte keine Wir-
17 kung. Kythara verzog nicht eine Miene. »Wir warten noch ein paar Minuten, dann versuchen wir unser Glück«, sagte sie stattdessen. Eine letzte Gestalt, eine Frau, kam den Weg heraufgeeilt. Sie schritt forsch aus, wirkte wesentlich lebendiger als die anderen Naruks. Es verschlug mir den Atem. Ich stieß Kythara an, die sich wieder einmal mit den Funktionen ihres Energiekanisters beschäftigte. »Du kennst doch die arkonidisch-mythische Darstellung von der Auferstehung Tran-Atlans?« »Sicherlich«, erwiderte sie, ohne den Blick zu heben. »Auferstehungsmärchen gibt es in der Geschichte nahezu jeden Volkes …« »Es wird dich interessieren, zu hören, dass Tran-Atlan eine ernst zu nehmende Konkurrentin bekommen hat. Diese Frau dort unten ist ohne jeden Zweifel … deine Befehlshaberin Carnji.«
* Ich hatte dieses Gesicht nur durch einen Feldstecher gesehen, und dennoch war ich sicher, mich nicht zu irren. Mein Personengedächtnis und mein Erinnerungsvermögen waren schlichtweg unbestechlich. Kythara krallte ihre Hände in die Oberärmel meines Overalls. »Das … das ist sie! Aber ich war mir sicher …« »Du hast dich eben geirrt. Sie lebt. Nicht lange nachdenken, Kythara, dafür ist jetzt keine Zeit. Carnji wird gleich entdecken, dass unsere Ausrüstung fehlt, und ihre Schlüsse daraus ziehen. Wir machen uns über die Rückseite davon, sobald sie das Haus betritt.« »Was ist mit deinen Händen?«, fragte sie. Auf dem Boden des Daches lagen gekräuselte, schuppenartige Hautreste umher. Ich streifte den Rest der dunkel gewordenen Gelee-Schicht ab. Finger, ein wenig welk und knallrot, kamen zum Vorschein. »Alles wieder in Ordnung, schätze ich.«
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Ein prüfender Blick. Dann nickte sie. Carnji war heran und stapfte entschlossen in ihren Kschemme. »Jetzt!«, flüsterte ich und sprang hinab. Das Haus war zwar knapp zwei Mannshöhen hoch, aber in den Hang gebaut. Nicht mehr als zwei Meter also. Ein Kinderspiel. Lautlos wie eine Katze kam Kythara neben mir auf. Aufmerksam drehte sie sich nach links und rechts. Ich spähte um die Ecke. Niemand war zu sehen. »Auf geht's!«, wisperte ich ihr zu. Wir sprinteten los. Bergab, ohne zurückzublicken, an den zahlreicher werdenden Hütten vorbei. Nach ungefähr fünfhundert Metern erst drehte ich mich um. Noch hatte sie nicht reagiert. Noch … »Weiter!«, trieb ich Kythara an. »Wir müssen nach rechts. Nicht einmal zwei Kilometer, dann haben wir die Stadt verlassen und hoffentlich das Schlimmste überstanden.« Da ertönte Carnjis Wutschrei.
* Die Naruks reagierten zu unserem Glück langsam. Manche kamen aus ihren Häusern und sahen uns stumpfsinnig nach, während wir vorbeihetzten. In den meisten Kschemmen blieb es jedoch ruhig. »Dort entlang«, rief ich Kythara zu. Ich hatte mir das Stadtbild eingeprägt und leitete die Varganin in die richtige Richtung. Wir mussten jetzt, während Verwirrung herrschte, ausreichend Vorsprung gewinnen. In der Grundschnelligkeit waren uns die Naruks haushoch überlegen. Während der Schlacht hatte ich beobachten können, wie flink sie sich zu bewegen vermochten, wenn es darauf ankam. Zudem besaßen Einzelne von ihnen diese merkwürdigen Flugscheiben. Die Stadt lag bald hinter uns. Eine steinerne Ebene, leicht abschüssig, breitete sich vor uns aus. Ich verlor keinen Gedanken daran, hier nach Deckung zu suchen. Da und dort sah ich mannsgroße Felsen und ein paar
knorrige Obstbäume. Nichts, was uns für längere Zeit Unterschlupf gewähren würde. »Langsamer«, keuchte Kythara. »Der Weg ist weit.« Sie hatte Recht. Die klare Luft täuschte über die wahre Entfernung zum Berg, in dem wir die varganische Station vermuteten, hinweg. Noch achtzehn bis zwanzig Kilometer, erinnerte mich der Extrasinn. Zwei Stunden im allerbesten Fall. Unsere Schuhe und die Overalls waren praktisch, aber kaum für einen längeren Lauf geeignet. Zudem drückte der Aggregatkanister auf die Schultern. Ich verfluchte meinen allzu rasch gefassten Entschluss, die direkteste Route zu wählen. Wahrscheinlich hätten wir besser daran getan, uns im hochgebirgigen Hinterland zu verstecken und die Ansiedlungen der Naruks großräumig zu meiden. Aber nein – ich musste natürlich mittendurch … Für Reue ist es jetzt zu spät, mahnte der Extrasinn. Mach das Beste draus. Das Beste … Ich sah mich um. Wir näherten uns einem kleinen Hain, einer grünen Oase. Hier waren wir leidlich vor den Blicken etwaiger Verfolger geschützt. Etwa kopfgroße Nager mit vorstehenden Zähnen huschten zwischen Obstbäumen umher und taten sich am dürftigen Buschwerk gütlich. Links von uns, jenseits der Horizontlinie, wusste ich das Schlachtfeld. Ich kniff die Augen zusammen. Etwas bewegte sich dort. Naruks? Waren sie bereits auf dem Weg, uns zu suchen? Und warum kamen sie aus dieser Richtung? »Es sind diese Tiere mit langen Stachelhälsen, die die Naruks in der Schlacht verwendeten«, sagte Kythara. Sie hatte scharfe Augen. Reittiere? »Wir machen einen kleinen Umweg«, beschloss ich kurzerhand. »Dann verlieren wir unseren gesamten Vorsprung«, mahnte die Varganin, die meinen Plan erfasst hatte.
Die fünf herrlichen Städte Oder vielmehr: meine Hoffnung. »Besser eine kleine Chance als gar keine.« Ich deutete nach hinten. Erste Fußtruppen der Naruks wurden am Hügelkamm sichtbar. Noch waren sie nicht abmarschbereit, sondern organisierten sich. Bemerkten sie uns? Offenbar nicht. Sie standen dort, unschlüssig, warteten scheinbar auf einen Befehl. »Siehst du den Graben?«, fragte ich Kythara und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Wahrscheinlich ein ausgetrocknetes Flussbett. Wenn wir uns darin nach Westen in Richtung Schlachtfeld bewegen, haben wir eine Chance.« »Um die Tiere zu erreichen? Glaubst du, dass wir sie bändigen können?« »Die Naruks sind garantiert nicht die talentiertesten Reiter; wenn sie es geschafft haben, werden wir es ebenso hinbekommen.« »Einfach so? Aufsitzen und drauflos?« »Wenn wir weiter diskutieren, was alles schief gehen könnte, erledigt sich das Thema von selbst«, sagte ich verärgert. »Unsere Verfolger machen sich bereits auf den Weg.« Da war es wieder, dieses zögerliche Wesen, das Kythara ab und zu an den Tag legte. Ich sprang in den Graben und rannte geduckt drauflos, ohne auf die Varganin zu warten. Sekunden später hörte ich ihre leisen Fußtritte hinter mir. Die Naruks rückten nun in unglaublichem Tempo vor. Sie bewegten sich mindestens doppelt so schnell wie wir. Nur der schmale Einschnitt, das Flussbett, bewahrte uns vor einer vorzeitigen Entdeckung. Dies und die absolute Fantasielosigkeit unserer Gegner. Wahrscheinlich konnten sie sich nicht vorstellen, dass jemand von der einmal gewählten Richtung abwich. Stur liefen sie drauflos, weiter in die Ebene hinein, während wir unter Ausnutzung der wenigen natürlichen Deckungsmöglichkeiten den giraffenartigen Reittieren immer näher kamen. Nach einer halben Stunde waren wir heran. Der Wind wehte günstig. Die kleine Her-
19 de, mehrere angeschirrte Tiere, ließ sich nicht vom Grasen abhalten. Tausende Naruks waren mittlerweile weit in die Ebene vorgedrungen und suchten nach uns. Wären wir kopflos weitergelaufen, hätten sie uns längst eingeholt. »Jetzt kommt's darauf an«, flüsterte ich Kythara zu und wollte mich aufrichten. »Warte!«, sagte sie und deutete auf eines der Tiere, ein besonders kleines. »Das ist der Leithengst. Ihn musst du bändigen.« »Woher weißt du …« Ich brach ab. Natürlich. Ihre Psi-Gabe. Die Tiere besaßen offensichtlich eine Grundintelligenz, und die Varganin konnte irgendetwas, das als nonverbale Kommunikation zwischen ihnen ablief, spüren. Die Naruks waren nach wie vor in einer ganz anderen Ecke der Ebene beschäftigt, vielleicht in einer Entfernung von fünf Kilometern. Ich musste es nun wagen, die Deckung aufzugeben. Langsam stand ich auf. Ging Schritt für Schritt näher. Der Leithengst war ein Ausbund an Hässlichkeit. Sein Körper war lang gezogen, tonnenförmig und dabei wesentlich fetter als der seiner Artgenossen. Der lange, in Falbfarben gezeichnete Hals trug mehrere Schnittwunden. Am Kopfansatz saßen mehrere zwanzig Zentimeter lange Stahldornen, unter die Haut gearbeitet, die den Hengst beim Grasen stark behinderten. Sein Kopf, mit froschähnlichen Augen und von einer überdimensionalen Nase gekennzeichnet, nässte. Er sonderte eine dunkelgelbe Flüssigkeit ab. Ein Schweißsekret, vermutete der Extrasinn. Wahrscheinlich ist das Tier selbst jetzt, Stunden nach der Schlacht, extrem verschreckt. Deine Chancen stehen schlecht. Darauf konnte ich jetzt allerdings keine Rücksicht nehmen. Ich verließ mich auf meinen Instinkt, schnalzte leise mit der Zunge und streckte die Arme von mir. Das Giraffentier erschrak, machte einen Satz beiseite. Aber es war gebändigt und zugeritten, es kannte den Geruch fremder Wesen. Also beäugte es mich nur misstrauisch
20 und begann erneut zu grasen. »Ruhig, mein Schöner«, sagte ich mit möglichst hohem, gleichmäßigem Timbre. Ich imitierte die Stimmlage der Naruks, so gut es ging. Mordil, so hatte ich das Giraffenpferd mittlerweile getauft, ließ mich gewähren. Die hervorquellenden Augen kreisten stetig umher. Fellbesetzte Ohrspitzen ragten alarmiert nach oben. Mordil hielt den Kopf interessanterweise leicht schief. Er sieht dich nicht, wenn du dich direkt von vorne näherst, informierte mich der Extrasinn. Jedes Auge hat ein Sichtfeld von maximal einhundertfünfzig Grad. Das bedeutet, dass er nicht geradeaus schauen kann. Also achtete ich darauf, dass ich stets in seinem Blickfeld blieb und sein Vertrauen gewann. Mordil legte die Ohren an. Je weiter ich mich näherte, desto vorsichtiger wurde er. Nach wie vor bewegte ich mich gegen den Wind. Er konnte meine Ausdünstungen nicht riechen. Ein grobledernes Zügelpaar, nahezu zwei Meter lang, hing zu Boden. Wie beiläufig trat ich darauf – und triumphierte. Glaube nicht, dass du ihn jetzt sicher hast, mahnte der Extrasinn. Eher hat er dich. Ein rabenähnlicher Vogel flatterte aus einem nahen Gestrüpp. Mordil scheute, schlug mit den Hinterläufen mehrmals aus. Ich packte die Zügel, wickelte sie rasch um einen ausgetrockneten Holzstamm und rammte diesen in den nachgiebigen Boden. Doch Mordil stieg erneut hoch, diesmal mit den Vorderläufen. Mit einem Ruck seiner Halsmuskulatur riss er den Stamm aus dem Boden. Fluchend sprang ich nach den Zügeln und erhaschte sie, bevor das Tier davonstürmen konnte. »Die Naruks haben uns gesehen!«, rief mir Kythara zu, die herbeigelaufen kam. Ich kümmerte mich nicht darum. Wir hatten nur diesen einen Versuch, und auf den musste ich mich konzentrieren. Mordil hatte zu meinem Glück keinen ausgeprägten Fluchtreflex. Er bockte vorne und hinten hoch, wollte aber keinesfalls das Weite suchen, sondern mich einfach nur abschütteln.
Michael Marcus Thurner Griff um Griff packte ich die Zügel näher bei Nüstern und Nase. Der Bursche hatte erbärmlichen Mundgeruch und schleuderte zudem in seiner Angst weißen Schaum von sich. Vom gelben Sekret, das leicht ätzend wirkte, mal ganz abgesehen. »Hilf … mir!«, forderte ich Kythara zwischen zwei Bocksprüngen Mordils auf. Mit der Hilfe der Varganin schaffte ich es schließlich, einen Zügel zu ergreifen und den Giraffenhengst zu Boden zu ziehen. Wütende Stimmen drangen an meine Ohren. Die Horden der Naruks waren nahe, beunruhigend nahe … Nun war keine Zeit mehr für Gefühlsduseleien. Brutal zog ich Mordil die Zügel zur Brust, sodass ihm die dünne Kandare mit aller Gewalt ins Maul und die Mundwinkel fuhr. Eine Warnung, die er wohl kannte: Er jaulte auf wie eine Hyäne, machte aber nur einen schwachen Versuch, erneut hochzusteigen. »Still!«, befahl ich ihm – und hatte ganz offensichtlich das richtige Wort gefunden. Allmählich beruhigte sich der Hengst, blieb mit zitternden Flanken stehen. »Ruhig, mein Hübscher!« Ich tätschelte den schwitzenden Körper, musste Mordils Vertrauen gewinnen. Zuckerbrot und Peitsche. Eine jahrtausendealte Erziehungsmaßnahme, der ich im Normalfall wenig abgewinnen konnte. Auch wenn die Kriegsschreie der Naruks immer lauter wurden; auch wenn sie jeden Moment hinter uns auftauchen konnten – ich musste mich in Geduld üben … Ich rupfte ein paar der Buschblätter, an denen er vorher geknabbert hatte, und bot sie ihm an. Mordil schnupperte vorsichtig, schlabberte mit seiner feuchten, warzigen Nase über meine Hand, bis sie nass war, und nahm schließlich ganz vorsichtig die dargebotenen Blätter an. Das Gebrüll wurde ohrenbetäubend. »Schnell jetzt«, flüsterte ich Kythara zu. Ich hob sie auf Mordil, dessen Rücken sich sichtlich versteifte. Die Beine der Frau
Die fünf herrlichen Städte schleiften nahezu über den Boden. Diese merkwürdige Rasse an Paarhufern war ausnehmend kurzbeinig. Aber ich hatte sie während der Schlacht beobachtet. Sie konnten trotzdem ein bemerkenswertes Tempo entwickeln. Die Erde bebte unter den Schritten der näher kommenden Naruks. »Bleib ganz ruhig«, flüsterte ich Mordil zu. Er war kaum mehr zu halten; er spürte natürlich die Unruhe. Ich achtete darauf, den Kampfdornen am Hals nicht zu nahe zu kommen, schwang mich nach oben, kam vor Kythara zu sitzen. Rasch die Zügel aufnehmen, ein leichtes Zupfen … Es war nicht mehr notwendig. Zahllose Naruks stürmten auf breiter Front heran. Ihre Gesichter waren hassverzerrt, wie wir es bereits gewohnt waren. Die Herde der Giraffenpferde setzte sich panikartig in Bewegung, angeführt von Mordil. Er leitete seine Herde parallel zu den Naruks Richtung Meer. Tatsächlich: Wir waren schneller als die Varganen-Abkömmlinge! Wenn ich Mordil noch in die richtige Richtung lenken konnte … Es war eine seltsame Gangart, die der Leithengst anschlug. Angenehm ruhig, nicht so im Auf und Ab wie bei den großen irdischen Pferderassen. Wir beendeten unseren weiten Schwenk zum Targan-Binnenmeer. Die Naruks blieben nach und nach hinter uns zurück. Aber sie dachten nicht daran, aufzugeben. Im Gegenteil: Es hatte den Anschein, als würden sie ihre Anstrengungen nochmals verdoppeln. Mordil lief entspannt, mühelos über die Sanddünen. Ich lenkte ihn Richtung Westen. In jenes Gebiet, in dem wir die varganische Station vermuteten. Hatte der Giraffenhengst etwa Spaß daran? Genoss er es wie wir, den Naruks entkommen zu sein? Er trug unser Gewicht mit scheinbarer Leichtigkeit und jaulte hin und wieder hyänenartig. Dann streifte uns schaumiger Speichel, der aus seinem Maul troff.
21 Das nahmen wir gerne in Kauf. Hauptsache war, dass wir diesem Alptraum entrannen. Wir lachten. Es war ein befreiendes, herzliches Gejauchze und Gejohle. Wir waren frei, endlich frei! Kythara hieb mir anerkennend auf die Schultern. »Gut gemacht, Arkonide!«, rief sie mir zu. Was konnte ein kleiner Erfolg wie dieser ausmachen! Zwei Unsterbliche hatten dem Schicksal einmal mehr die Zähne gezeigt, und wir hatten wieder Spaß am Leben. Von nun an würde es bergauf gehen – das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers.
* Eine Viertelstunde später mussten wir Mordil tot zurücklassen. Der Rest seiner Herde, anfänglich zurückgeblieben, hatte aufgeschlossen. Sie standen um das Leittier, ihre Köpfe ruckten empor und herunter. Dann stupsten sie den Giraffenhengst mit ihren feuchten Nasen, als wollten sie ihn zum Aufstehen bewegen. Welch ein trauriges Bild sie abgaben! Ich blickte nur noch einmal zurück, nachdem wir losmarschiert waren. Die Herdentiere benutzten ihre breiten, felligen Hufe, um Mordil allmählich mit Erde und Sand zuzuscharren. Sie heulten herzzerreißend. Er war gerannt und gerannt, war nicht mehr zu stoppen gewesen. Du hast deine Reitkenntnisse völlig falsch eingeschätzt!, warf mir der Extrasinn vor. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte ich zu Kythara, die mit versteinertem Gesicht neben mir hermarschierte. »Kein Tier, kein Lebewesen kann dieses Tempo auf Dauer durchhalten und noch dazu mit doppelter Beladung.« »Lass endlich den Unsinn!«, schnappte sie. »Hör auf mit diesen Selbstvorwürfen.« »Was Mordil wohl dazu bewogen hat?«, grübelte ich weiter, ohne auf Kytharas Einwände zu achten. »Ist dieser Übermut ein Naturell der Rasse, das die Naruks beim Reiten künstlich einzugrenzen verstehen? Oder hat er bewusst den Tod gesucht?«
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»Miss dem Tod eines Tieres nicht zu viel Wert bei«, sagte Kythara vorwurfsvoll. »Ja – es ist traurig. Aber du solltest dich allmählich wieder auf unsere eigenen Probleme konzentrieren. Es sind vier bis fünf Kilometer bis zur Station, wenn ich die Daten richtig im Kopf habe.« Das hatte sie sicherlich. Manchmal dachte ich, dass die Varganin mehr Präzision als eine Maschine besaß – und noch weniger Gefühl. Wie konnte sie so einfach über den Tod des Tieres hinwegsehen? Ich spürte Zorn in mir. Weil … weil es sonst zu sehr schmerzt, hörte ich eine Stimme in meinem Geist. Mein Leben dauert bereits zu lange. Hätte ich um jeden Freund und jedes Lebewesen getrauert, das ich verloren habe – ich wäre längst dem Wahnsinn verfallen. Kythara marschierte mit ernstem Gesicht neben mir her, als wären Geist und Körper zwei voneinander getrennte Sachen. Nach außen hin strahlte sie weiterhin Kühle und Gelassenheit aus. Aber erstmals hatte sie den Vorhang ein wenig herabgezogen und einen Einblick in ihre tiefere Gedankenwelt gewährt.
* Würden wir die Naruks denn nie abschütteln? Wieder einmal hörten wir ihr Heulen und Toben, wieder einmal kamen sie uns gefährlich nahe. Das Land stieg allmählich an und wurde felsiger. Wir konnten unsere Verfolger bereits sehen – und sie uns wahrscheinlich auch. »Es … reicht!«, keuchte Kythara. »Wenn sie uns haben wollen – bitte sehr. Ich bin zu müde, um nur einen weiteren Schritt zu tun.« Sie ließ sich zu Boden fallen, rutschte auf der Kiesunterlage eine halbe Körperlänge nach unten. Ich zog sie mühsam zu mir hoch und steckte ihr eine Vitamintablette in den Mund. Ihre Lippen waren trocken und spröde.
Eine dicke Staubschicht überzog unsere Köpfe, die Hände waren erneut zerkratzt und blutig gerissen, aber wir spürten weniger körperliche Schmerzen als eine innere Erschöpfung. Das Gefühl, gegen Windmühlen ankämpfen zu müssen, die niemals aufhörten, sich zu drehen … Aber aufgeben – das kam für mich nicht in Frage. »Du gehst jetzt weiter!«, sagte ich bestimmt und zerrte Kythara mit mir. »Ein paar hundert Meter noch, dann sind wir in diesem Steinlabyrinth. Wir haben eine echte Chance, die Naruks dort loszuwerden.« »Du meinst so wie gestern?« Meine Begleiterin lachte bitter. Gestern hatten sie uns überlistet, waren mit ihren Flugscheiben vor uns in den nördlichen Bergen gewesen. Sie hatten Kythara und mich erwartet. »Ich lasse mich von diesen Kreaturen nicht unterkriegen!« Ich marschierte weiter, die blonde Frau im Schlepptau. »Wenn du meinst, aufgeben zu müssen – bitte sehr! Ich habe schon immer geahnt, dass ihr Varganen Abkömmlinge eines degenerierenden Volkes seid, das sich nur zu gerne seinem Schicksal ergibt.« Allmählich redete ich mich in Rage. All die Kleinigkeiten, die mich an meiner Begleiterin störten, kamen mir nun in den Sinn. »Ihr seid davongelaufen vor Magantilliken, einem einzelnen Verfolger. Ihr flüchtet und versteckt euch. So, wie du dich in der Obsidian-Kluft verborgen hast …« »Willst du behaupten, ich sei mit voller Absicht all die Jahrtausende auf diesem Scheinplaneten sitzen geblieben?« »Hast du jemals ernsthaft versucht zu entkommen?« Kythara sagte nichts, aber sie kam hinter mir her. Ich spürte ihren Zorn, ihre Bitternis über meine Unverschämtheiten. Gut so. Solange ich ihren Adrenalinspiegel hochhielt, würde sie mir folgen. Das Gelände wurde nun richtig steil. Es gab kaum Pflanzenbewuchs, nur an schattigen Stellen klebten ein paar dunkelgrüne
Die fünf herrlichen Städte Flechten, an denen wir uns mühsam hochzogen. Wir kamen immer langsamer voran – und die Verfolger holten umso rascher auf. »Kythara!«, gellte ein Ruf durch die dünne Luft. »Du Verräterin!« Carnji. Sie war bei den Ersten, die uns nachkamen. »Du Verräterin!«, echoten Dutzende Stimmen. Behände kletterten die Naruks heran. Schon wollten uns die Ersten seitlich überholen und in die Zange nehmen. Ich riss einen Felsbrocken hoch, schleuderte ihn auf unsere Verfolger, verlor beinahe das Gleichgewicht. Kythara hielt mich fest. Eine kleine Gerölllawine folgte dem kopfgroßen Stein, riss immer mehr Material mit sich … Unbeeindruckt ließen die Naruks alles über sich ergehen. Sie hatten keine Augen für die kleinen und großen Verwundungen, die sie davontrugen. Ich hörte keinen Schmerzensschrei, sah keine Reaktion. All ihre Sinne waren nur auf uns ausgerichtet. Sie waren wie … wie … »Dort oben!«, rief Kythara und deutete nach rechts. »Ein Pfad!« Tatsächlich! Ich konnte die Kante eines aus dem Felsen gehauenen Saumpfades erkennen, der in engen Serpentinen weiter bergauf führte. »Die paar Schritte schaffen wir!«, sagte ich. »Komm jetzt! Dort haben wir festen Stand und können uns verteidigen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, kletterte ich voran, zog mich mit zitterndem Körper über den Rand. Ich wartete, bis Kythara ebenfalls oben war. Dann löste ich auf einer Breite von mehreren Metern eine weitere Lawine aus. Kythara, die ihren mentalen Totpunkt längst überwunden hatte, schleuderte gezielt faustgroße Steine auf Carnji und ihre Begleiter. Acht oder neun Naruks fielen und rutschten den Abhang hinab. Stumm, ohne einen Laut von sich zu geben. Alle anderen stiegen unbeirrt weiter.
23 Ich sah nach links und rechts. Wo waren diejenigen, die uns seitlich überholt hatten? Sie mussten die Höhe des Saumpfades längst erreicht haben … Nein. Ich klopfte der wie besessen kämpfenden Kythara auf die Schultern. »Lass es bleiben – und sieh dir das an!« Sie nahm mich anfänglich gar nicht wahr. Ich fiel ihr in den Arm, bevor sie eine weitere Steinlawine auslösen konnte. Ihr tranceähnlicher Zustand, eine seltsame Mischung aus Erschöpfung, Zorn und Fatalismus, endete. »Was ist passiert?«, fragte sie mit leerem Blick. Wortlos deutete ich auf unsere Verfolger hinab. Da hockten sie, wie auf einer Perlenkette aufgefädelt, über mehrere hundert Meter an der Bergflanke verteilt. Die Naruks waren in ihren Bewegungen eingefroren. Sie starrten stumpfsinnig vor sich hin. Kein Wort war zu hören, keine Bewegung zu sehen, gar nichts. Die letzten Steine polterten hinab, der Staub legte sich, und es herrschte unheimliche Ruhe. »Sie verhalten sich so ähnlich wie nach der großen Schlacht«, flüsterte Kythara. »Ist es die Psi-Quelle, die auf sie einwirkt? Oder eine andere Geistesmacht, die wir nicht spüren? Und warum merken wir nichts davon?« Ich war einerseits ratlos, auf der anderen Seite aber auch erleichtert über die Ruhepause, die uns gegönnt wurde. »Eine unsichtbare Linie unterhalb dieser Windung des Pfades stellt eine Grenze für die Naruks dar, die sie nicht überschreiten können«, mutmaßte Kythara. »Die lenkende Kraft für den mentalen Schutzschild stammt also möglicherweise aus der varganischen Station.« »Glaubst du?« Kythara zuckte auf Menschenart mit den Achseln. Sie mochte Recht haben. Aber es war müßig, an dieser Stelle lang und breit zu theoretisieren, warum die Naruks aufgehalten worden waren. Wir hatten bloß einen Haufen
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Vermutungen. Gewissheit würden wir erst erlangen, wenn wir in die Station eindrangen. »Sie drehen um!«, rief Kythara plötzlich. Tatsächlich! Die Naruks stiegen, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, den Berg hinab. Lediglich Carnji, die uns am nächsten war, sah uns für Momente irritiert an, bevor sie ebenfalls kehrtmachte und den mühsamen Abstieg begann. »Ich konnte nichts Varganisches mehr in diesen Augen erkennen«, murmelte Kythara erschüttert. Sie hatte Probleme, mit ihren entarteten Landsleuten umzugehen. Für mich waren die Naruks schlicht und einfach grausam manipulierte Wesen – und Verrückte. Für meine Begleiterin, die seit Ewigkeiten keine Mitglieder ihres Volkes mehr gesehen hatte, stellte sich die Situation wesentlich komplizierter dar. Lange sahen wir den Naruks nach. Ruhig und ohne zu reden, wie wir es mittlerweile von ihnen gewohnt waren, marschierten sie in die Ebene hinein und dann in Richtung der fünf herrlichen Städte. Wir befanden uns in Sicherheit. Vorerst. Aber würde das, was uns in der varganischen Station erwartete, Freude bereiten? Wohl kaum. Ich warf einen letzten Blick hinab auf dieses friedlich wirkende und doch so blutige Land. Die rote Sonne senkte sich allmählich, um hinter dem äquatorialen Zentralmassiv unterzugehen. Zwei Gestalten waren am Fuße des Berges zurückgeblieben. Sie wirkten unschlüssig. Eine von ihnen wurde von einem großen Vogel umflattert. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass Etarmagan-Murloth tot war, dann … »Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fragte mich Kythara ungeduldig. Sie marschierte vorneweg, den Saumpfad hinauf. Seufzend folgte ich.
*
Etarmagan-Murloth: »Was tun wir hier?« Carnji: »Ich wusste es, aber ich habe es vergessen.« Etarmagan-Murloth: »Sind wir soeben aufgewacht?« Carnji: »Nein. Es war … anders diesmal. Ich erinnere mich bloß noch, dass ich Kythara, der Verräterin, nachgehetzt bin.« Etarmagan-Murloth: »Und Atlan. Ich weiß.« Carnji: »Die Erinnerung endet hier in der Ebene.« Etarmagan-Murloth: »Hier, wo der Zugang zu den Verborgenen Sektoren liegt.« Carnji: »Es fällt mir schwer, nur daran zu denken. Mein Geist verwirrt sich …« Etarmagan-Murloth: »Aber vielleicht ist es …« Carnji: »… ist es auch der Ort …« Etarmagan-Murloth: »… der Ort, an dem wir …« Carnji: »… wiedergeboren werden.« Etarmagan-Murloth: »Ich will Atlan!« Carnji: »Und ich will Kythara!« Etarmagan-Murloth: »Du weißt, wie wir dorthin gelangen können.« Carnji: »Ja.« Etarmagan-Murloth: »Und du weißt, dass wir uns wahrscheinlich an nichts erinnern können, wenn wir uns an diesem … Ort befinden.« Carnji: »Ja.« Etarmagan-Murloth: »Und trotzdem willst du es versuchen?« Carnji: »Ja.« Etarmagan-Murloth: »Gut. Tun wir es.« Carnji: »Vorher möchte ich dich um etwas bitten.« Etarmagan-Murloth: »Bitten? Ich erinnere mich an dieses Wort. Es hat mir einmal etwas bedeutet. Sag also, was du willst.« Carnji: »Nenne mich von nun an CarnjiMurloth. Alle Naruks gehören Murloth.« Etarmagan-Murloth: »So ist es. Wir alle gehören Murloth.« Er gab Farbenhoch, dem Kampfschmetterling, ein Zeichen, und der tötete sie beide.
Die fünf herrlichen Städte
* Der Saumpfad wand sich in geringer Steigung an der nördlichen Bergflanke hoch. Im Vergleich zur erschöpfenden Hetzjagd war es eine angenehme Wanderschaft, während der wir jeweils unseren eigenen Gedanken nachhingen und unsere kleinen Wehwehchen pflegten. Eine weitere Überprüfung des varganischen Energiepacks brachte keinerlei Neuigkeiten. Kurz flackerten Funktionsanzeigen auf, um gleich darauf wieder zu verlöschen. Ich konnte lediglich erkennen, dass soeben der 9. Mai 1225 terranischer Zeitrechnung begonnen hatte. War es Gewohnheit oder Bequemlichkeit, dass ich dem 24-Stunden-Rhythmus gegenüber dem arkonidischen mit seinen mehr als 28 Stunden den Vorzug gab? Oder eine Art stiller Protest gegen die Entwicklung auf meiner Heimatwelt, die sich immer mehr von jenen Idealen entfernte, die ich einst gehofft hatte, mit höchstem persönlichen Einsatz in Gang zu bringen? Aber was waren nationalistische Tendenzen, was bedeuteten sie auf einem Planeten wie diesem? All das tägliche Politikgeschäft erschien mir so weit weg, dass ich kaum mehr als eine nebulöse Erinnerung daran hatte. Auch wenn die Umstände übel waren und ich einmal mehr ins Ungewisse rannte – ein kleiner Teil von mir freute sich diebisch darüber, erneut im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Dass du trotz deiner merkwürdigen Einstellung zu Risiko und Lebenslust so lange überlebt hast, ist ausschließlich mir zu verdanken, vermittelte mir der Extrasinn. Und du hast es mir zu verdanken, dass du ständig in Bewegung bleibst, gab ich patzig zurück. Wäre es dir lieber, wenn ich mich dem süßen Nichtstun hingäbe und mich mit dir bloß noch über Anwendungen von Liebestechniken unterhielte? Der Extrasinn schwieg. Lediglich ein kur-
25 zer Körperschauder, den er initiierte, vermittelte mir, was er von der Idee hielt. Der Weg endete abrupt nach einer letzten, engen Windung. Vor uns, im Aufstieg bislang verborgen geblieben, lag jene Grünzone, die ich bereits von der Stadt Klarschein aus gesehen hatte. Efeu, Moose, Latschen, Gräser und allerlei Blumen wurden vom Wasser einer einzigen kleinen Quelle genährt, das knapp oberhalb unseres Standortes aus dem Fels zutage trat und über mehrere kleine Treppchen herabgetröpfelt kam. Der bislang steinige Weg wurde hier zum schmalen, sandbedeckten Trampelpfad, der sich zwischen zwei breiten Büschen versteckt fortsetzte. Wir stillten unseren Durst an dem grünblauen Gewässer. Diese zu groß geratene Pfütze und das darum drapierte Grün luden zu einer Pause ein, die wir uns redlich verdient hatten. Also nahmen wir uns von den Kraftnahrungsvorräten und genossen ein wenig die Ruhe. Was war schon eine verlorene Stunde, wenn sie uns unsere Kräfte zurückgeben würde? Die Varganin stand schließlich auf. »Ich werde mich jetzt waschen«, sagte sie. »Drehe dich bitte um.« Schamgefühl? Das hatte ich nie und nimmer erwartet. Aber ich respektierte ihren Wunsch – auch wenn der Anblick gewiss nicht ohne Reiz wäre … Ich lehnte mich an einen allein stehenden Stein und blickte erneut hinab. Ich schätzte, dass wir mehr als achthundert Meter hochgeklettert waren. Der Gebirgsstock streckte sich weitere siebenhundert Meter nach oben. Ich konnte alle fünf herrlichen Städte von Narukku, von denen mir Etarmagan-Murloth während der letzten Nacht erzählt hatte, von hier aus deutlich sehen. Sie lagen in einem Halbrund um das Südufer des TarganBinnenmeeres. Klarschein, Ebenmaß, Schönruh, Vollfried und Tiefglück hießen sie, von Ost nach West. Die Namen deuteten auf eine andere, friedliche Zeit hin. Lediglich ein paar vereinzelte Quellen
26 künstlichen Lichtes wurden mit der beginnenden Dämmerung in den Städten entzündet. Die Türme der jeweiligen Bibliotheksbauten jedoch waren strahlend hell beleuchtet. Wie Mahnmale, wie schrundige Felsen ragten sie weiß glühend in den Himmel. In der Nähe von Tiefglück, der westlichsten Stadt, brannte ein großes Feuer. Eine Schlacht? Ein weiterer unsinniger Kampf? Weißer Rauch breitete sich allmählich darüber aus. Kam es dort neuerlich zu jenen merkwürdigen Teleportations-Effekten? Gingen soeben mannsgroße Tornados nieder und nahmen die Toten mit sich, an einen unbekannten Ort? Ich verdrängte jeglichen Gedanken daran und konzentrierte mich auf die Bibliotheken. Hatte Etarmagan-Murloth gelogen, oder lagen tatsächlich Millionen von Büchern und Datenträger voll Wissen aus allen Ecken des Universums dort unten bereit? Bereit, um entdeckt zu werden? Ich hatte dem Naruk nur wenige Informationen über sein Leben entlocken können, während er mich immer wieder über Kriegstaktiken ausgefragt hatte. Soviel ich mitbekommen hatte, waren die Tage für ihn vor gar nicht allzu langer Zeit ganz anders verlaufen. Ruhig und ausschließlich von einem gelinden Wissensdrang geleitet. Bis er einem Lockruf erlegen war, den er »Murloth« genannt hatte und dessen oberste Richtlinie Kämpfen und Töten hieß. Wie hing das alles zusammen? Ein degeneriertes varganisches Volk. Die Psi-Quelle. Riesige Bibliotheken. Der Begriff Murloth, der ebenso für den Emissionsnebel stand, an dessen Rand sich der Planet Narukku befand. Die Lordrichter von Garb. Gruelfin … »Ich bin fertig«, meinte Kythara hinter mir. Ich stand auf und drehte mich um. Erstaunlich, was man mit ein wenig Wasser und geschickten Händen alles erreichen konnte! Vor mir stand wieder eine Goldene Göttin mit nahezu erdrückender Präsenz – und jenem gewissen Hauch von Überheb-
Michael Marcus Thurner lichkeit im Auftreten, den ich von Ischtar her schmerzlich in Erinnerung hatte. Das zerzauste, erschöpfte Wesen, das ich noch vor weniger als einer halben Stunde mit mir geführt hatte, war weg. Abgeschrubbt oder abgewaschen, so wie die dicke Schicht Staub, die Kythara an sich getragen hatte. Sie rümpfte die Nase. Bezaubernd! »Du könntest selbst ein Bad vertragen«, meinte sie. »Dein Wunsch ist mir Befehl«, lachte ich. Ich ging an ihr vorbei. »Dreh dich bitte um!«, forderte ich sie auf. »Bitte?« »Du hast schon verstanden, Kythara. Gleiches Recht für alle. Zieh dich gefälligst zurück, während ich Toilette mache.« Sie sah mich entgeistert an. »Touché!«, sagte sie schließlich und grinste breit. »Ich warte dort vorne auf dich.« »Und denke nicht einmal dran, dich umzudrehen!«, rief ich ihr hinterher.
* Der Trampelpfad wurde häufig benützt, das konnten wir selbst in der einsetzenden Dämmerung noch erkennen. Die Fußspuren, die sich im kieselsteinartigen Untergrund abzeichneten, ähnelten jenen der Naruks. Und sie führten nur in eine Richtung, nämlich in die entgegengesetzte, bergab führende. Was hatte das wieder zu bedeuten? Ich wusste, dass dies alles einen Sinn ergab, einen verrückten, kaum glaubhaften. Der Logiksektor schwieg. Seine messerscharfe Logik half mir hier nicht weiter. Wenn du alle Möglichkeiten in Betracht gezogen und keine Lösung gefunden hast – dann bedenke die Unmöglichkeiten, lautete ein weiser Spruch, den ich mir längst zu Eigen gemacht hatte. Nun, ich dachte an das völlig Unmögliche – aber ich wollte nicht daran glauben. Zumindest vorerst noch nicht. Wir hatten die grüne Oase hinter uns gelassen und waren dem Pfad gefolgt, der von
Die fünf herrlichen Städte der Bergflanke nach innen abwich. Der Boden hier war feucht, Wasser folgte unseren Schritten. Über uns wuchsen Felswände beinahe zusammen, ließen lediglich schmale Spalten. Der höhlenartige Durchgang endete bereits nach wenigen Schritten, weitete sich aus … »Ein Hochtal!«, entfuhr es Kythara. Der Murloth-Nebel strahlte mittlerweile in den sattsam bekannten Farben Rot, Braun und Gelb auf uns herab. Er lieferte ausreichend Licht, um die schroff hochragenden Seitenwände eines vulkanähnlichen Kessels erkennen zu lassen. Der Talboden selbst, flach und von nur wenigen Gesteinsformationen durchbrochen, fiel geringfügig nach Osten ab. Eine ausgeprägte Vegetationsinsel befand sich nur hier, am versteckten Durchgang nach »außen«. Sozusagen der Wurmfortsatz des kleinen Gartens Eden auf der anderen Seite. »Ich sehe Licht«, flüsterte Kythara und zog mich beiseite, zwischen zwei mannsgroße Felsen. Ich blickte umher. »Wo?« »Dort!« Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm. »Südliche Seitenwand, ungefähr in der Mitte des Tales«, fügte sie ungeduldig hinzu. Ich erkannte den leichten Lichterschein, kaum von dem zu unterscheiden, den der Murloth-Nebel von oben warf. Kythara erstaunte mich immer wieder. Möglicherweise reichte ihr Sehspektrum in den Infrarotbereich hinein; vielleicht erkannte sie eine Spur von Hitze. Wir warteten, ruhig, atemlos. Nichts rührte sich. »Los jetzt!«, sagte ich schließlich und machte mich auf den Weg. Ich wollte wissen, woran ich war und was uns hier erwartete. Ein breiter und lehmiger Weg, niedergetrampelt von Generationen, führte uns hinab ins Tal, das eine Längenausdehnung von vielleicht einem Kilometer besaß. Die Südwand war stark gefaltet. Der Schein, den
27 Kythara erahnt hatte, kam aus einer Öffnung hinter einer weit vorspringenden Felsnase. Aber kaum um die Ecke gegangen, wurden wir von einer Lichtflut überrascht, sodass wir die Augen schließen mussten. »Mindestens hundert Meter breit«, murmelte die Varganin. Sie hielt die Hände schützend gegen das ungewohnte Licht vor ihre Augen. Ich tat es ihr nach. »Und einhundert Meter hoch, in einem weit geschwungenen Bogen. Eindeutig künstlichen Ursprungs.« »Varganischen Ursprungs«, sagte Kythara. Sie deutete auf verwitterte Schriftzeichen an den Seitenwänden. »Aber sag mir, warum das Tor sperrangelweit offen steht!«
* Die Größe der Halle wirkte bedrückend. Ich war riesige Dimensionen gewöhnt. Raumhäfen, Schiffe, Werften – sie alle maßen in Kubikkilometern, hatten oftmals sogar eine eigene Klimasphäre. Aber es machte einen großen Unterschied, ob man sich in einer bekannten Umgebung bewegte, in der man jedes technische Detail kannte, oder ob man, wie wir soeben, ins Unbekannte lief. Vorsichtig betraten wir den riesigen, tunnelartigen Vorraum und orientierten uns an einer der Wände entlang. »Varganische Fertigungsweise, kein Zweifel«, murmelte Kythara. Mit ihren langen Fingern fuhr sie über die Wände und hinterließ dunkle Abdrücke. Hier war ebenfalls mit bioaktiven Schichten gearbeitet worden. Breite Streifen, in sich verschlungen und ein irritierendes Muster bildend, sorgten für ausreichend Licht. Obwohl wir uns bemühten, möglichst leise vorzudringen, hallten unsere Schritte laut von den Wänden wider. Der Boden bestand aus poliertem Stein und war spiegelglatt. Ich beobachtete meine Begleiterin. Sie fühlte sich unwohl. Die Begegnung mit ihrer Vergangenheit fiel bislang sicherlich ernüchternd aus. »Ich hätte irgendeinen Identifikationsme-
28 chanismus erwartet«, sagte ich. »Offen gestanden bin ich ebenfalls ratlos«, entgegnete Kythara leise. »Varganische Standardtechnik erfordert ein normiertes Identifikations- und Abwehrsystem am Eingang. DNS-Kontrolle, Mentalerkennung, genetischer Fingerabdruck und so weiter. Dahinter ein Intervallstrahl-Geschütz mit Schockimpuls-Wirkung und Thermostrahler und natürlich passive Sicherheitsmaßnahmen, meist in Form einer Kombi-Abschirmung …« Denkt endlich einmal nach!, donnerte der Extrasinn und bezog erstmals Kythara in seine Kritik mit ein. Warum wohl sind eure Aggregate ausgefallen? Natürlich! Dass ich nicht gleich auf diesen nahe liegenden Gedanken gekommen war! Laut sagte ich: »Die Psi-Quelle wirkt sich auf hyperdimensionale Technik aus, also auch auf die der Station …« »Mag sein«, sagte Kythara nachdenklich. »Aber die Gerätschaften, ob tot oder nicht, müssten zu sehen sein. Ich habe rein gar nichts entdecken können.« »Hörst du das?«, fragte ich sie. Wir blieben stehen. Meine Sinne hatten nicht getrogen. Allerdings spürte ich es mehr, als dass ich es hörte. Ein Wummern, Zischen, Klappern, Fauchen. All dies in kurzen, regelmäßigen Abständen. Immer und immer wieder. Die varganische Station war also keineswegs vollständig stillgelegt. »Weiter!«, sagte ich. Meine Neugierde wuchs. Der bioaktive Lichterschein wurde schwächer. Die irritierenden Muster endeten, als wären die Enzyme ausgelaugt, am Ende ihres Reaktionszyklus angelangt. Wir bewegten uns ins Halbdunkel weiter. Ich sah zurück. »Es geht leicht abwärts«, flüsterte ich, um das Echo nicht zu laut werden zu lassen. »Wir müssen schon gut einen Kilometer marschiert sein.« »Es scheint, als sei der gesamte Gebirgsstock unterminiert«, sinnierte Kythara. »Die meisten Stationen, die ich früher kennen gelernt habe, waren wesentlich kleiner.«
Michael Marcus Thurner Ein Windhauch streifte uns. Es roch muffig, abgestanden, sauer. Als hätte soeben jemand einen engen Raum geöffnet, der mit überproportional vielen Arkoniden gefüllt gewesen war. Strahlendes Licht flackerte auf und stabilisierte sich binnen weniger Augenblicke. Geblendet schloss ich die Augen. Geblendet – und erschreckt. Denn die Dimensionen dieser künstlichen Höhle übertrafen bei weitem das, was ich erwartet hatte. Dreitausend Meter im Durchmesser, schätzte der Extrasinn. Hatte unsere Gegenwart das Licht im gesamten Rund der Station angehen lassen? Nüchtern wirkende, mehreckige Deckplatten erhellten in regelmäßigen Abständen den Rundgang, auf dem wir uns nun befanden. Das Licht war leicht blaustichig, wie ich es von der AMENSOON her bereits gewohnt war. Ich sicherte nach links und rechts, in die Gänge, die sich plötzlich vor uns auftaten. Akute Gefahr schien keine zu bestehen, zumal ich mich in Begleitung einer Varganin befand, die zweifellos als zutrittsberechtigt galt. Also blickte ich mich genauer um. Terrassenartig angelegte Ebenen, jede vielleicht zehn Meter hoch, reichten weit in die Höhe – und ebenso weit hinab. Der Bau hat eine ungefähre Höhe von fünfhundert Metern, konstatierte der Extrasinn. Ich ging weiter und hielt mich vorsichtig an dem filigranen Geländer fest, das für meinen Geschmack ein wenig zu niedrig gebaut war. Die Ebene, in der wir uns befanden, war ungefähr die zwanzigste. Links, rechts und gegenüber befanden sich blockförmige Elemente, deren Zweck mir verborgen blieb. Energieaggregate? Fertigungsstätten? Kythara würde mir Auskunft geben müssen, doch vorerst beließ ich es dabei. Der Luftzug, den ich gespürt hatte, kam von unten. Es herrschte Aufwind, der höchstwahrscheinlich von einer ausgeklügelten Umluftanlage erzeugt wurde. Der annähernd runde Innentorso des Ge-
Die fünf herrlichen Städte ländes war weitgehend von Gerätschaften freigehalten. Hunderte dünne, leicht reflektierende Bänder, scheinbar auf altmodischer Kohlefaser basierend, zogen sich kreuz und quer, hinauf und hinunter. Zweck konnte ich keinen erkennen. Die sinterähnlichen Terrassen ober- und unterhalb unseres Standortes überlagerten sich an manchen Stellen oder bildeten stählerne Höhlen an anderen. Vielerorts gab es Grün-Oasen, die in dieser nüchternen Umgebung reichlich deplatziert wirkten. Drei Etagen höher sahen wir gar zusammengewachsene Grünmassen, die über Efeu-Vorhänge zwei Stockwerke miteinander verbanden. Alles in allem hatte der Innenarchitekt meiner Meinung nach kein glückliches Händchen bei der Gestaltung des riesigen Komplexes bewiesen. Seltsam. Die Pflanzenecken wirkten ordentlich und gepflegt. Herrschten Roboter oder Maschinen über diese riesenhafte, geheimnisvolle Station? Aber die würden sich kaum um die Aufrechterhaltung von Grün-Oasen kümmern. Außer wenn sie den Befehl dazu hatten. Was sollen diese wirren Spekulationen?, fuhr mich der Extrasinn an. Steh nicht einfach nur herum, sondern tu etwas! Er hatte natürlich Recht – aber ich fühlte mich von den Eindrücken wie erschlagen. Ein kurzer Seitenblick auf Kythara zeigte mir, dass es ihr nicht besser erging. Die Station war varganischen Ursprungs – und andererseits wieder nicht. »Hier hat jemand oder etwas Umbauten vorgenommen«, sagte sie auf meine unausgesprochene Frage. »Ich erkenne viele der Aggregate. Sie sind wahrscheinlich achthunderttausend oder mehr Jahre alt. Fraglos originäre Technik, wie wir sie aus unserem … Universum mit in die Milchstraße gerettet haben.« Sie seufzte wehmütig. »Wenn ich noch einen Beweis benötigt hätte, dass wir uns auf einer der Versunkenen Welten meines Volkes befinden – hier ist er.« Weitreichende Gedankengänge, die ich für Stunden oder Tage verdrängt hatte, fie-
29 len mir sofort wieder ein. Von den Versunkenen Welten konnte man über eine Transmitterbrücke angeblich die ominösen PsiStationen erreichen … Vielleicht die mögliche Psi-Quelle in der Ebene ohne Schatten, siebentausend Kilometer von hier entfernt? »Andererseits«, fuhr Kythara fort, »gibt es hier Umbauten, die nicht in ein varganisches Denkschema passen. Die Verschnürungen quer durch den Innenraum, was auch immer sie für einen Zweck haben mögen. Die Pflanzenlandschaften. Da und dort ein Kompaktaggregat, das nicht unserem Sinn für Design entspricht …« »Wie kannst du das so rasch beurteilen?«, wunderte ich mich. »Achthunderttausend Jahre sind eine kaum erfassbare Zeitspanne, und da kann sich viel ändern. Sieh dir nur die evolutionären Änderungen an, die die Naruks offensichtlich durchgemacht haben …« »Diese Geschöpfe sind alles, nur keine Varganen«, stellte Kythara unmissverständlich fest. »Sie mögen zwar eine genetische Verwandtschaft mit uns aufweisen – aber sie sind nicht unsere Erben. Zumal wir uns, wie ich schmerzhaft weiß, untereinander nicht fortpflanzen können.« Wunschdenken? Realitätsverweigerung? Wollte sie den Tatsachen nicht ins Auge schauen? Ach, was wusste ich schon, was im Kopf einer Varganin vorging! Auch wenn ich Ischtar wie mein eigenes Leben geliebt und mit ihr gegen jede Wahrscheinlichkeit einen Sohn gezeugt hatte – im Grunde waren mir die Goldenen stets völlig fremd geblieben. »Welche Bauten hier erkennst du nicht?«, fragte ich, um die Diskussion wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. »Zum Beispiel jene zwei Ebenen oberhalb unseres Standorts. Siehst du die kelchförmigen, blassgrauen Behälter mit den schmalen Verbindungsstegen? Wir Varganen verwenden, im Gegensatz zu euch Arkoniden, keine Kelchbauweise. Für das sind wir zu pragmatisch veranlagt. Ästhetik hatte selten einen Platz in unserem Denken.«
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Michael Marcus Thurner
»Ein Charakterzug, den man, wenn man so will, verstärkt bei den Naruks wieder findet.« »Lass deine Sticheleien«, entgegnete sie verärgert. »Ich habe dir meine Meinung zu diesem Thema gesagt.« Es klapperte, wummerte und zischte plötzlich mit deutlich verstärkter Vehemenz. Der Geräuschpegel war während unseres Hierseins allmählich gesunken, um nun wieder anzusteigen. »Woher kommt das?«, fragte mich die Varganin irritiert. »Von unterhalb«, antwortete ich. »Drei oder vier Ebenen, nicht mehr.« Das, was die Schöpfung der Varganin an schärferen Augen im Vergleich zu mir gegeben hatte, fehlte ihr beim Gehör. Oder vielleicht war es ein besserer Orientierungssinn, der uns Arkoniden auszeichnete. »Wohin also?« »Atlan zieht es immer dorthin, wo es am lautesten ist«, sagte ich augenzwinkernd. »Atlan ist auch ganz schön eingebildet, wenn er von sich in der dritten Person spricht. Und das in einem Alter von lächerlichen dreiundzwanzigtausend Jahren.«
* Entlang unseres Ringkorridors befanden sich mehrere Antigravschächte, die allesamt nicht in Betrieb waren. Wir nutzten also eine Nottreppe. »Ebenfalls nicht varganisch«, zischte Kythara zornig. »Und sieh dir diese schlampige Arbeit an.« Sie deutete auf den grob ausgefransten Rand des Plastbodens, an dem wir soeben vorbei nach unten stiegen. Für sie war es offensichtlich eine besondere Form der Ehrbeschneidung, dass es jemand gewagt hatte, sich in varganischen Bauten einzunisten und Veränderungen vorzunehmen. Ich musste allerdings zugeben, dass die Nottreppe, filigran, wie sie war, mich ebenfalls nicht zu überzeugen vermochte. Im Prinzip bestand sie aus einer ewig langen, frei schwebenden Stange, die von der unter-
sten bis zur obersten Ebene reichte und alle Böden einfach durchschnitt. An die Mittelstange waren dünne Sprossen gepfropft, kaum mehr als zwanzig Zentimeter zur Seite ragend und in gehörigem Abstand voneinander. Wir mussten uns an dieser primitiven Wendeltreppe hinabhangeln – und hatten dabei Sicht auf den Boden, der sich mehr als zweihundert Meter unter uns befand. Wer auch immer sich hier eingenistet hatte – war er arkonoid? Die filigranen Zusatzbauten, auf die wir hier allerorts stießen, ließen auf leichtere Geschöpfe schließen, die wahrscheinlich ein gutes Stück größer als wir waren. Der Lärm, dem wir folgten, ließ erneut nach. Eine merkwürdige Assoziation machte sich in meinem Kopf breit, während ich mühsam, Sprosse um Sprosse, hinabkletterte: Ich musste an »Metropolis«, das filmische Meisterwerk des Fritz Lang aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts alter Zeitrechnung denken. Die arbeitenden Massen, gesichtslos und ohne eigenen Willen. Die monströsen, alles verschlingenden Maschinen, die unter allen Umständen in Bewegung gehalten werden mussten … Ein Stummfilm – und dennoch hatte ich in meiner Fantasie stets schreckliche Töne gehört. Töne wie diese hier … Drei Ebenen weiter unten verließen wir die Nottreppe. Die an- und abschwellenden Geräusche waren hier derart intensiv, dass wir heftige Vibrationen in unseren Beinen spürten. Wenn ich an die auf Robustheit ausgelegte Bauweise der Varganen dachte – nun, dann mussten hier enorme Kräfte wirken. Der Hall war unangenehm. Er verzerrte die Töne zusätzlich, schob sie teilweise in einen schmerzhaft hohen Frequenzbereich. »Ich habe so etwas noch nie gehört.« Kythara ging voran. Vorsichtig, fast schleichend, was angesichts der Lautstärke wirklich nicht notwendig war. Sie schüttelte den Kopf, immer wieder, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie nicht träumte. Von Selbstsicherheit, wie man sie von einem varganischen Besucher an einer Stätte
Die fünf herrlichen Städte seiner Vergangenheit erwartete, war keine Rede. Ein stählernes Tor, unbeholfen in einen schiefen Rahmen gequetscht und geschweißt, markierte den endgültigen Zugang zur Quelle des Lärms. Der plumpe, rostige Riegel, der nach oben hin wegzuheben war, bildete den Gipfel an baulichen Fehlleistungen. Durch den feinen Mittelspalt drang grelles Licht. Die unterschiedlichen Geräusche waren hier, knapp an ihrem Ursprung, gut voneinander zu unterscheiden. Ich merkte mir die Reihenfolge, verinnerlichte die ungewohnten und doch irgendwie vertrauten Geräusche und sprach sie lautmalerisch mit: »Ilzz« – ein Sausen, als ob unter Höchstdruck ein Becken mit Flüssigkeit gefüllt würde. »Prutz« – das Fauchen und Entladen großer Energiemengen. »Gaschurrn« – ein Stampfen, wie das eines irdischen Großelefanten. »Vomp« – das Hinabsausen oder Aufeinandertreffen zweier Stahlblöcke. »Ratsch« – ein reißendes Geräusch, als würde ein Förderband Teile von einer Gesamtmasse trennen und ruckartig weiterbewegen. Schließlich begann der Rhythmus von neuem: »Ilzz – prutz – gaschurrn – vomp – ratsch.« »Wie bitte?« Kythara sah mich von der Seite an. Ihre Nase zuckte, und sie blinzelte beständig mit dem linken Augenlid. »Ich versuche, mich zu erinnern«, antwortete ich. »Ich habe so etwas Ähnliches schon einmal gehört.« »Lässt dich dein viel gerühmtes Gedächtnis etwa im Stich?« »Nein. Ich vergesse nie etwas. Allerdings geht es hier lediglich um die ähnliche Klangfolge einer Erinnerung.« »Ich würde vorschlagen, dass wir einfach nachsehen, bevor du dir den Kopf zerbrichst.« Sie wollte es möglichst rasch hinter sich bringen. Vielleicht ahnte sie, was sie erwar-
31 tete. Meine Vermutungen hatten sich mittlerweile fast zur Gewissheit verdichtet, aber ich wollte nicht vorgreifen. »Sei auf alles gefasst«, warnte ich. Kythara schüttelte unwirsch den Kopf und drängte mich beiseite. Ihre lange blonde Haarmähne flog wild umher. Varganen waren seit jeher Einzelkämpfer. Sie ließen sich nur ungern etwas sagen. Mit einem kräftigen Ruck hob sie den Riegel hoch und schleuderte ihn kurzerhand beiseite. Was immer dahinter wartete – es schreckte sie kein bisschen. So wollte sie es zumindest nach außen hin vermitteln.
* Etarmagan-Murloth: »Ich lebe erneut.« Carnji-Murloth: »Ich auch.« Etarmagan-Murloth: »Da war etwas, an das ich mich erinnern wollte …« (Lange Pause.) Carnji-Murloth: »Ky … Kytha … Kythara …« Etarmagan-Murloth: »Atlan und Kythara. Die Verräter.« Carnji-Murloth: »Wir müssen sie suchen.« Etarmagan-Murloth: »Und dann?« Carnji-Murloth: »Du weißt es.« Etarmagan-Murloth: »Ja, ich weiß es.«
* Wir sahen Becken an Becken gereiht, ein jedes übermannsgroß. Flüssigkeit, blauweiß schillernd und zäh, wurde von einer Art überdimensionaler Spritzdüse mit Hochdruck in die Becken gespritzt, in dem Einzelteile von Skeletten ruhten. »Ilzz«, das Sausen. Dämpfe erzeugende Chemikalien in unterschiedlichsten Farben wurden beigemengt; aus stabförmigen Antennen zuckten währenddessen grelle Entladungen in die Masse, die unter den Einschlägen aufwallte und brodelte. »Prutz«, das Fauchen.
32 Die zähe Suppe verdichtete sich in Sekundenschnelle, verfärbte sich, wurde hautfarben. Riesenhafte Kappmesser fuhren herab, schnitten Randteile weg und formten geringfügig unterschiedlich große rechteckige Brocken. »Gaschurrn«, das Stampfen und Schaben der Messer. Die dünnen Ränder der Becken fuhren nach unten hin weg. Die Ruhefläche eines jeden Blockes sauste nach oben, traf sich in ungefähr zwei Metern Höhe mit einer Hohlform, die mit ungeheurer Wucht herabgeschossen kam. Die beiden massiven Hälften trennten sich sofort wieder voneinander, und übrig blieb ein Torso in arkonoider Form, aus dem der Schädel des Skeletts ragte. »Vomp«, das Geräusch einer Stanze. Eine Rollbahn am Fuß der Stanzform transportierte den Körper langsam außer Sichtweite. Währenddessen fuhr eine Roboterhand mit einem Skalpell durch den Materialüberschuss. Sie ritzte ein Stück der Biomasse lediglich an; ein weiterer Roboterarm trennte sie lautstark ab. »Ratsch«, das Reißen. Kythara packte mich an der Hand und zog mich mit sich. Wir folgten den Torsi, die langsam in eine Nebenhalle glitten. Zwischen metallenen Blöcken, zylindrischen Türmen und einem wahren Wulst aus niedrig hängenden Röhren und Leitungen fanden wir unseren Weg. »Ist es notwendig, alles bis ins letzte Detail zu sehen?«, fragte ich. »Dies hier sind – oder werden – Androiden. Besser gesagt: Naruks! Wesen, denen irgendjemand vorgaukelt, dass sie ein selbständiges Bewusstsein besitzen. Dass sie Eigenverantwortung tragen und über ihr Schicksal selbst entscheiden können.« Ich schwieg und sah angeekelt zu, wie die Bioformen in eine aufrechte Position gedreht wurden. Flugfähige Miniaturroboter umschwirrten die Rohkörper wie ein Bienenschwarm. Sie bohrten die Plasmamassen an mehreren Stellen an oder zerschnipselten sie mit Lasern. Ein seitlicher Hieb mit einer Art Fleischermesser teilte oder faltete die Körper, ohne
Michael Marcus Thurner die Skelettteile zu beschädigen. Zerlegt wie ertrusische Rinderviertelchen dachte ich. Feinmechanische Roboterarme setzten oder stanzten durch die entstandenen Öffnungen Sehnen und Knorpel ein. Innere Organe wurden aus riesigen, durchsichtigen Kryobehältern herbeigeschafft, während die winzigen Maschinen nach und nach Klumpen der Biomasse ausschaufelten. Augen, Gedärme, Kapillarsysteme, breiige Gehirnsubstanz, Härchen für Augenbrauen und Achselhöhlen kamen herangekarrt, wurden Teil einer perfekt funktionierenden Maschinerie. Düsen spritzten Blut ins künstliche Gewebe ein. Da und dort begann ein Körper unter dem Druck unkontrolliert zu zucken … Mir schwindelte. Kythara sah wortlos zu. Manchmal, wenn es allzu widerlich wurde, zuckte sie zusammen. »Das kann einfach nicht sein«, murmelte sie schließlich betroffen. »Aber es funktioniert offensichtlich«, hielt ich ihr entgegen. »Dies sind varganische Aggregate und Maschinen. Willst du das bestreiten?« »Nein, keinesfalls, aber …« »Ich habe solche Anlagen bereits gesehen. In meiner Jugend. Auf Za'lbbisch im so genannten Schwarzen System. Und auf Trabraczon, einem eurer ehemaligen zentralen Stützpunkte.« Ich vermied es bewusst, den Namen Ischtar zu nennen. Die Goldene Göttin hatte sich auf jenem Stützpunkt ein Refugium errichtet. Dort waren Riesenbären in einem ähnlichen Verfahren hergestellt worden. Oder andere Monstrositäten speziell angefertigt. Für jeden beliebigen Zweck, ganz wie es den varganischen Bioingenieuren beliebte. Hybriden; Verschmelzungen von Pflanzen und Tieren. Winzige Putzteufelchen, deren Lebensinhalt die Sauberkeit von Triebwerksöffnungen war. Riesenstiere, die man als Reittiere verwendete. Mir waren damals Zweifel gekommen, ob nicht gar die Varganen selbst, das Volk, das aus einem Mikrokosmos stammte, die Produkte einer dieser Fertigungsstraßen waren. Ausgerechnet Ischtar hatte diesen Ver-
Die fünf herrlichen Städte dacht in mir geweckt. Sie hatte keinerlei körperlichen Makel besessen. Zumindest keinen, den ich entdeckt hätte – und ich war ein sehr leidenschaftlicher, pedantischer Betrachter ihrer Körperlandschaft gewesen. Wenn jemals eine Frau den Zusatz »perfekt« verdient hatte, so war es die Goldene Göttin gewesen. Kythara stand ihr äußerlich um nichts nach. Sie stellte für einen Arkoniden ein Idealbild dar, das man einfrieren und als Statue auf dem Kaminsims abstellen wollte. Meine alten Zweifel waren geweckt. Was war an der Frau, die mir gegenüber stand, varganisch? Wie sollte ich das Wort »varganisch« definieren? Musste ich von einem Bewusstsein oder von einer äußeren Hülle sprechen? Entsprach Kythara der urtümlichen Form einer Varganin? Oder war sie gezüchtet und mit äußerlichen Attributen versehen worden, um in der Milchstraße bestehen zu können? Um Männern wie mir oder zum Beispiel Lethem da Vokoban die Sinne zu verwirren, sie in ihren Bann zu ziehen? »Warum hast du nie daran gedacht, dass die Naruks das Produkt einer varganischen Fertigungsanlage sein könnten?«, fragte ich. »Liegt es denn nicht in eurer Art, euch ohne moralische Bedenken mit selbst geschneiderten Wesen zu umgeben, wie es euch gefällt?« »Spar dir deinen Zynismus«, wies sie mich zurecht. »Du verurteilst mich und die anderen meines Volkes, ohne die Hintergründe zu kennen.« »Dann erzähle mir darüber, verdammt noch mal! Ich würde mir gerne selbst ein Bild machen, was ich von dir und deinesgleichen halten soll!« Sie blickte mich an. Ihre goldenen Augen glänzten. »Soll ich dich nach dem beurteilen, was deine arkonidischen Landsleute in ihrem so hochnäsig Tai Ark'Tussan, dem Großen Imperium von Arkon, genannten Reich an Verbrechen begangen haben? Sollen wir über die Arkon-Bombe diskutieren, diese grausamste aller Waffen, von einem
33 eurer Wissenschaftler erdacht? Oder über Rassismus, Degenerationserscheinungen und ihre hässlichen Fratzen, brutalen Kolonialismus, Überheblichkeit, Standesdünkel, Größenwahn? Bist du das alles? Stehst du für das alles? Hast du gegen diese Dinge in all deinen Lebensjahren Abhilfe schaffen können?« »Natürlich nicht, aber …« »Dann schweig!« Mit einer bestimmenden Geste schnitt sie mir das Wort ab. »Ich wünsche – nein, ich verlange! –, dass du mich anhand dessen beurteilst, was du siehst und hörst.« Leise fügte sie hinzu: »Und fühlst.« Es war selten vorgekommen, dass mir jemand derart über den Mund gefahren war. Aber das, was ich zur Verteidigung hätte vorbringen können, war schwach. Was nutzten Verweise auf technische, wissenschaftliche und künstlerische Errungenschaften, die Arkoniden in die Öde Insel hinausgetragen hatten? Denn tief in meinem Herzen wusste ich, wie schlecht die Ansichten vieler Milchstraßenvölker über mein Volk waren. Trotz all der Anstrengungen, die ich in Wort und Tat unternommen hatte. »Du hast Recht«, sagte ich, nicht nur um des Friedens willen. Ich wollte keinen Anlass für weitere Diskussionen geben. Umso mehr, als ich ebenfalls hätte ahnen können, dass die Naruks Androiden waren. Meine Ausrede jedoch war plausibel: Die stetigen Rückgriffe auf Erinnerungswüste aus meiner Vergangenheit waren schmerzhaft intensiv. Die Gefahr, dem berüchtigten Redezwang zu unterliegen, sobald ich begann, mich mit meiner eigenen Geschichte zu beschäftigen, war jederzeit gegeben. Umso mehr, als ich befürchtete, dass der Extrasinn noch immer nicht ganz auf der Höhe war, um mich im Notfall zu unterstützen. Hier auf Narukku war es für Kythara sicherlich nicht vorteilhaft, einen stunden- oder tagelang sinnlos vor sich hin brabbelnden Arkoniden mit sich zu schleppen. Ich wechselte das Thema. »Woher kommen die Bewusstseinsinhalte für diese We-
34 sen?«, fragte ich grübelnd. »Wir sehen, wie die Körpersubstanz wächst und zu einem funktionierenden Naruk geformt wird. Aber wo ist der Geist, wo ist der so genannte göttliche Funke?« »In der nächsten Halle, vermute ich«, entgegnete Kythara. Sie fand allmählich zu gewohnter Nüchternheit zurück. Wir gingen weiter und suchten einen Durchgang. Nirgendwo bemerkten wir Beobachtungsmechanismen oder Alarmsysteme. Langsam begann ich zu glauben, dass wir uns in einer vollautomatisierten Anlage befanden, die in einer Endlosschleife gefangen war und Androiden »produzierte«. Nein! Es musste einen äußeren Einfluss geben. Der Begriff »Lordrichter von Garb« tauchte nicht einfach aus heiterem Himmel im Denken der Naruks auf. War es alleine die verstärkt strahlende Psi-Quelle, die das kriegerische Naturell der Naruks in den Vordergrund gerückt hatte? Und war dieser Vorgang bewusst gesteuert worden oder ein Zufallsprodukt? Was für einen Zusammenhang gab es zwischen der Psi-Quelle und den Lordrichtern? Endlose Reihen von halbfertigen Naruks ratterten auf Förderbändern an uns vorbei, hinüber in die nächste Halle. Sie glitten durch energetische Schemen, die die Körper in irgendeiner Art und Weise stimulierten. Ein Gefühl hielt mich davon ab, den Körpern über die Rollbänder zu folgen. Die hellblauen Überschlagsblitze machten mich misstrauisch. »Ich spüre dich nicht«, sagte Kythara plötzlich und blieb stehen. »Wie bitte?« »Seltsam. Es hätte mir viel früher auffallen sollen – aber ich kann dein Bewusstsein in diesen Fertigungshallen nicht fühlen.« »Hast du schon versucht, mir etwas zu übermitteln?« Das Gesicht der Varganin verzerrte sich vor Anstrengung. Sie schloss die Augen und ballte die Hände, um sie wenige Momente später wieder zu entspannen. »Nein. Ich kann weder senden noch erfassen, ob und wer sich in nächster Umgebung aufhält.«
Michael Marcus Thurner Die Antwort auf die Probleme deiner Begleiterin liegen möglicherweise hinter diesen Wänden, vermittelte mir der Extrasinn. Eine Vermutung, nichts weiter. Aber sie besaß Gewicht. Der Extrasinn extrapolierte Wahrscheinlichkeiten und kam stets zu einem zwingend logischen Schluss. »Hier!«, rief Kythara. Sie hatte die polierten Wände abgetastet und war auf ein Wärmefeld gestoßen. »Das hier ist eindeutig varganischen Ursprungs«, sagte sie. »Nur der seltsame Zugang zu dieser Sektion, dieses windschiefe Stahltor, entspringt keinesfalls der Denk- und Bauweise meines Volkes.« Sie sagte es trotzig, als müsste sie den klaren, nüchternen Sinn für Ästhetik, der den Varganen zu eigen war, mir gegenüber verteidigen. Herausfordernd sah sie mich an. Ich ging nicht weiter darauf ein. Wenn sie streiten wollte – bitte sehr. Aber nicht jetzt. »Sollen wir?«, fragte ich. Wortlos, fast enttäuscht öffnete sie und schlüpfte selbst als Erste durch das mannsgroße Tor. Hier herrschte ein spürbar anderes Klima. Es war nicht nur die feuchte Luft, auch nicht das grünliche, von einer dicken Wolkenschwade im Raum beeinflusste Licht. Vielmehr fühlte ich einen mentalen Druck. Nicht unangenehm, nicht erschreckend, aber präsent. »Es müssen an die tausend Naruks sein«, sagte Kythara. Sie lagen vor uns, bäuchlings, in langen Reihen aufgebahrt. Die Aggregate, die sich dahinter bewegten, ähnelten in gewisser Weise Doppelschwungrädern, in deren Pleuelauge mehrere Vorgelegewellen eingespannt waren, die um die eigene Achse rotierten. Die Hälfte von ihnen fing Blitze auf. Substanz, die aus der grünen Wolke zu stammen schien. Aus anderen schoss bläuliche Energie in die Köpfe der davor liegenden Naruks. War dies die Bewusstseinswerdung der Androiden? War hier der Ort, an dem varganische Maschinerie in den Schöpfungsakt eingriff?
Die fünf herrlichen Städte Der Vorgang war nicht greifbar, verstandesmäßig einfach nicht zu erfassen. Aus einem Plasmabrocken, aus unbeseelter Materie, wurde ein denkendes Wesen. »Diese Wolke – ist sie …?« »Ja«, antwortete Kythara. »Sie ist es, die meine Fähigkeiten behindert. Ich kann es spüren.« Ich blieb stehen, bewegungslos. Einerseits angewidert, andererseits fasziniert. Der Nebelvorhang wurde dünner. Normales, wie überall in diesen Hallen ins Blau stechendes Licht drang wieder durch. Die riesigen Wellen verstärkten ihre Rotationsbewegungen. Sie sogen die Reste der Wolke in sich auf. Letzte Blitze zuckten daraufhin in die Köpfe der schmal gebauten Naruks, stotterten ein wenig nach, um schließlich zu versiegen. Die Maschinerie kam zu einem Stillstand. »Und jetzt?«, fragte ich, nur um die Stille nicht zu wirksam werden zu lassen. Mir war unbehaglich zumute. »Wir warten. Es muss gleich beginnen.« Kythara war nicht bereit, auch nur ein Wort zu viel und zu früh zu verraten. Ein Schrei. Ein Körper zuckte konvulsivisch. Dann noch einer, und plötzlich war die Hölle los. Naruks schnappten gierig nach Luft, taten ihre ersten Atemzüge, brüllten ihre Geburtsschmerzen hinaus. Kunststoffbänder hielten sie vorerst auf ihren Liegen fest. Allmählich beruhigten sie sich und atmeten ruhig, als wüssten sie genau, was auf sie wartete. »Wir sollten uns verstecken«, flüsterte ich und zog Kythara mit mir. Hinter einem breiten Quader, dessen Funktion mir wie so vieles hier verborgen blieb, fanden wir Deckung. Die Fesseln der Naruks schnappten hörbar auf. Mit fließenden Bewegungen befreiten sich die Androiden aus der Bauchlage, setzten sich auf. Manche streckten ihre Glieder, andere starrten einfach stumpf vor sich hin. »Sie haben keine Ahnung, wo und was sie sind«, behauptete Kythara leise.
35 »Glaubst du?« »Wahrscheinlich marschieren sie jetzt los, zurück an die Oberfläche, und besiedeln die Häuser derjenigen, die in den Schlachten gestorben sind.« »Um an ihrer statt weiterzumachen?« Irgendetwas schien mir an dieser Theorie falsch. »Vielleicht handelt es sich um eine friedlichere Generation, die sich wieder ihren Büchern zuwendet.« Einer der Naruks begann zu sprechen, laut und deutlich: »Mein Tod kam rasch, und er war nicht sinnvoll. Ich werde meinen Mörder finden und Rache üben. Dann werde ich an der Seite Etarmagan-Murloths erneut kämpfen. So lange, bis ich würdig bin, in den Reihen der Lordrichter zu stehen.« Von vielen Seiten kam Zustimmung. Manche der Androiden traten vor die anderen und erzählten in der Tradition mittelalterlicher Marktschreier von ihren Kämpfen. Der Lärm endete plötzlich wie abgeschnitten. Die Naruks standen für einige Minuten still. Wie auf Kommando setzten sie sich schließlich in Bewegung. Große Tore hatten sich am anderen Ende der Halle geöffnet. Sie ließen die Tausendschaft passieren, um sich danach wieder zu schließen. Es herrschte Ruhe. Wir waren alleine mit unserer Angst.
* Schließlich brach ich das Schweigen. »Das ist es also! Sie werden wiedergeboren. Aber wie …« »Die weißen Tornados«, entgegnete Kythara. Auch sie wirkte wie vor den Kopf geschlagen. »Sie nehmen nicht nur die körperliche Substanz der Naruks mit sich und teleportieren sie in diese oder eine der anderen Stationen, um sie neu aufzubereiten. Alles, was verwertbar ist, wird in den Kreislauf des gezüchteten Lebens zurückgeschmissen, alles andere neu gezüchtet.« »Und das Bewusstsein des Sterbenden oder Toten wird mit aufgesogen und lagert
36 hier irgendwo in mentaler Wolkenform, um schließlich dem neu erzeugten Körper zugeordnet zu werden. Mit all seinen Erinnerungen, mit seinen Erfahrungen.« »So unwahrscheinlich es klingt – so dürfte es sein!« »Ist varganische Technik dazu in der Lage?« Kythara zögerte mit der Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich kraftlos. Ob ich wollte oder nicht – ich musste an die Sporenschiffe der Kosmokraten denken, die das Multiversum bereisten und Leben säten. Hier passierte, in kleinerem Rahmen und auf obszön verdrehte Art und Weise, etwas Ähnliches. Diese Fabrik erzeugte Leben, um anderes zu vernichten. Man züchtete Krieger heran, die sich ständig verbessern sollten und dafür einen x-fachen Tod in Kauf nahmen. Laut sagte ich: »Deswegen die mangelnde Todesangst und absolute Risikobereitschaft der Naruks. Sie wissen, dass sie rein gar nichts zu verlieren haben.« »Hat dir Etarmagan-Murloth über die so genannten Reinigungsmaschinen Auskunft gegeben? Jene Ruhebetten, die in jedem Kschemme stehen?«, fragte mich Kythara, scheinbar völlig aus dem Zusammenhang gerissen. »Nur peripher. Wenn ich mir das richtig zusammenreime, haben die Naruks vor ihrer Karriere als Kämpferbrigade zu Ehren der Lordrichter von Garb tagtäglich die riesigen Bibliotheksbauten besucht, um zu lesen und Wissen aufzunehmen.« »… und über die Reinigungsmaschinen wieder abzugeben«, ergänzte die Varganin. »Irgendeine übergeordnete Instanz sammelte Informationen. Unsortiert, völlig willkürlich. Sie nutzte die Kapazität der Naruks als Zwischenspeicher, ließ sie – in bescheidenem Rahmen – Assoziationen bilden, um die gewonnenen Daten schließlich weiterzuverarbeiten.« »Was soll das für einen Sinn haben?« »Keine Ahnung, und das tut jetzt nichts
Michael Marcus Thurner zur Sache. Worauf ich hinauswill: Der oder die Unbekannten machen sich dieses System zu Nutze. Sie bringen die Naruks dazu, ihr gesamtes geistiges Potenzial zur Erlernung des Kriegshandwerkes zu verwenden. Perfekte Krieger aus ihnen zu machen, die sie später einmal für ihre Pläne verwenden können. Eine diabolische Idee und eine böse Zweckentfremdung der hiesigen Maschinen!« »Und da kommen wir ins Spiel«, sagte ich nachdenklich, bevor Kythara vor Ärger explodieren konnte. »So lebensfähig die Androiden scheinen mögen – ihre Fantasie ist begrenzt. Sie lernen nicht rasch genug. Aber wenn man erfahrene alte Knacker wie uns beide in die Hände bekommen kann …« »Hmpf! Danke für das Kompliment!« »… machen sie weitaus rascher Fortschritte, um ihren geliebten Lordrichtern von Garb in der Schlacht beistehen zu dürfen.« »Was mir diese Herrschaften nicht unbedingt sympathischer macht, wer auch immer sie sein mögen.« »Meine Worte. Aber kurzfristig gesehen bedeutet das für uns etwas ganz anderes.« »Nämlich?« »Dass Etarmagan-Murloth lebt. Dass wir ihm und Carnji keineswegs entkommen sind. Sie werden keine Ruhe geben, bis sie uns gefunden haben.«
* Carnji-Murloth: »Wo können sie sein? Diese Gänge und Hallen verwirren mich.« Etarmagan-Murloth: »Ja.« (Pause.) »Seltsam. Erstmals sehen wir den Ort unserer Wiedergeburt bewusst.« Carnji-Murloth: »Ja. Es irritiert. Weil wir das alles nicht sehen sollten. Möglicherweise leben hier die Lordrichter von Garb. Vielleicht tötet uns ihr Anblick.« Etarmagan-Murloth: »Bist du neugierig?« Carnji-Murloth: »Nein.« Etarmagan-Murloth: »Ich auch nicht. Aber ich wäre es gerne.«
Die fünf herrlichen Städte Carnji-Murloth: »Lass uns weitersuchen. Wir haben etwas zu erledigen.« Etarmagan-Murloth: »Atlan und Kythara …«
* »Stammst du ebenfalls aus so einer Retorte?«, fragte ich. Kythara schoss herum. »Du! Wie kannst du es nur wagen!« Ihre ausgestreckten Hände zuckten blitzschnell vor. Mir blieb gerade noch Zeit, die Arme vor der Brust zu überkreuzen. Der Hieb hatte meinem Solarplexus gegolten. So verfing er sich in meiner Abwehr. Ich nutzte ihren Körperschwung aus, trat ein wenig zur Seite und ließ sie an mir vorbei ins Leere sausen. »Ho!«, keuchte ich. »Habe ich eine wunde Stelle getroffen?« Was brachte mich dazu, meine Begleiterin derart zu provozieren? Hatten wir nicht bereits genug Schwierigkeiten am Hals? Kythara hatte sich aufgerichtet wie eine gereizte Schlange, doch sie beruhigte sich bemerkenswert schnell. Ihre Körperspannung ließ merkbar nach. »Rede nie mehr so mit mir!«, forderte sie eindringlich und mit klirrend kalter Stimme. »Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, dem Volk der Varganen anzugehören.« Hier irrte Kythara, und das wollte ich ihr beweisen. »Habe ich dir von meinen Erlebnissen am Dreißig-Planeten-Wall erzählt?«, fragte ich. »Von meiner Begegnung mit dem Zeitwächter Ngulh? Einem Wesen, das sich als eine ›Verschmelzung von Varganenbewusstseinen mit einem elektronischen Trägerkörper‹ verstand?« Kythara blinzelte nervös. »Oder willst du vom Zentralorgan des so genannten Quaddin-Körpers hören, das eine Symbiose varganischer Wissenschaftler, Tiere und spezieller Pflanzen darstellte? Sie wollten aus reiner Neugierde ihr Bewusstsein erweitern und, ich zitiere: unglaublichere Dinge erschafen, als wir ohnehin schon zuwege gebracht haben.«
37 Sie wandte sich mit versteinerter Miene ab. Der Goldton ihrer Haut verlor an Glanz. Sie wirkte irritiert, verunsichert. Umso mehr, als ich ihr das Gefühl gab, mehr über ihr Volk zu wissen, als sie bislang angenommen hatte. Du hast ihr einen ziemlichen Dämpfer versetzt, bestätigte der Extrasinn. Noch ein paar kleinere Geschütze, und du hast sie dort, wo du sie haben willst. Wo auch immer das ist. Die Umgebung irritierte Kythara. Die Tatsache, dass scheinbar eine fremde Macht mit varganischer Technik hantierte, erhöhte zusätzlich ihre Nervosität. Und mit meiner Holzhammer-Technik brachte ich sie endgültig aus der Fassung. Erzähle ihr von den Kroitbloben auf Endroosen. Den Wesen, die wahrscheinlich Nachkommen einer Kolonie von VarganenAndroiden waren. Oder von deinem Verdacht, dass Magantilliken ebenfalls einen Kunstkörper besessen hatte … Bombardiere sie weiter mit Informationen, verunsichere sie. Nein! Ich weigerte mich. Mein Magen revoltierte, in meinem Kopf hämmerte eine Strafkolonie unbegabter Paukenspieler wild drauflos. Die Erinnerungen waren da, sie spülten hoch. Geschichte und Geschichten, die erzählt werden wollten, die Erlebnisse meiner Jugend … »Ist alles in Ordnung?« Ich hörte Kytharas Stimme, irgendwo, ganz weit weg, bat sie im Geiste, weiterzureden. Ich benötigte eine Rettungsleine aus dem Jetzt, die mich daran hinderte, weiter und tiefer in den Strudel der Vergangenheit gezogen zu werden. Der Logiksektor selbst, von dem ich mir eigentlich Hilfe erhofft hatte, trieb mich zum ungeeignetsten Zeitpunkt vorwärts, wollte mich zwingen, die Vergangenheit zu rekapitulieren! Ich war blind, taumelte, torkelte. Da! Eine Berührung, sehr weich und sanft. Bleib bei mir!, bat ich im Geiste, ohne den Mund öffnen zu können. Halte mich, lass
38 mich nicht allein … »… tlan! Atlan! Hörst du mich?« Etwas traf meine Wangen. Ich spürte es wie durch einen Wattebausch, während Erinnerungsfetzen an Fartuloon, Ra, den Blinden Sofgart, Corpkor, Farnathia auf und ab tänzelten, mich anschrien, -lachten, spuckten, -griffen. »… ist jemand! Wir sind entdeckt!« Die Geister meiner Vergangenheit – sie griffen nach mir mit verzerrten Grimassen, wollten mich mit sich reißen … Verfluchter Extrasinn! Warum trieb er mich immer weiter, warum ließ er die Toten nicht ruhen! Jeglicher Orientierungssinn war dahin. Ich musste nur den Mund öffnen, das erste Wort sagen, und wie Erbrochenes würde alles in weitem Bogen aus mir hervorschießen. Meine Vergangenheit, mein Leben. »… ich wusste es! Verlass dich nie auf einen Arkoniden!« Wo war ich? Was war ich? Ich bekam keine Luft mehr, drohte zu ersticken. Ich musste den Mund öffnen, atmen, reden, erzählen … Es ging nicht. Etwas hielt mich, verschloss mir den Mund. Ein stählerner Griff, der nichts mit meiner Verwirrtheit zu tun hatte. Meine Lungen brannten, gierten nach Sauerstoff. Die Erinnerungen verblassten, schrumpften, wurden zu einem singulären Punkt, der im Nichts verschwand. Sie machten dem zornigen Gesicht einer jungen Frau Platz, das ich von irgendwoher kannte. Kythara! Warum hielt sie mir Mund und Nase zu? Ich griff nach ihren Armen, drückte sie mit aller Kraft beiseite – und atmete. Gierig saugte ich die etwas abgestandene Luft ein. Was erlaubte sich die Frau? »Bist du verrückt …« »Ruhig!«, flüsterte sie mir zu. »Es ist jemand in der Halle!« Welcher Halle? Die Fertigungsanlage der Varganen! Schlagartig war die Erinnerung wieder da. »Es ist besser, wir ziehen uns vorläufig
Michael Marcus Thurner zurück«, sagte Kythara leise und nahm mich mit sich. Ich folgte und unterdrückte dabei einen Hustenreiz. Meine Lungen fühlten sich an, als wären sie soeben in ein Teerbad getaucht worden. Jetzt musste ein besseres Versteck her als jener Kubus, hinter dem wir uns vor den erweckten Naruks verborgen hatten. Der Besucher, wer auch immer es sein mochte, war nicht arkonoid. Man hörte es an seinem weiten Schritt, mit dem er über den Boden schleifte. Nicht eine Sekunde dachten wir darüber nach, einen friedlichen Kontakt zu dem Unbekannten zu suchen. Dieses Wesen stand auf der anderen Seite. Egal, wer oder was diese »andere Seite« war. Jemand, der für die Steuerung der Naruks verantwortlich war, hatte gänzlich andere moralische Ansichten als ich und Kythara. »Dort – die Loren!«, flüsterte ich. Mehrere Kunststoffbehälter, doppelt mannsbreit und vielleicht zweieinhalb Meter hoch, standen hintereinander. Sie waren auf einer Mono-Schiene geparkt, die parallel zu den stumm dastehenden Erweckungsmaschinerien lief. Der Hall der hohen Räume zerfaserte die Geräusche. Ich hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung sich der Unbekannte näherte. Fest stand nur, dass er immer näher kam. Wir sprinteten auf die vorderste Lore zu. Sechzig, siebzig Meter. Kythara hielt sich an meiner Seite. Über kurze Strecken war sie mir in Geschwindigkeit und Beschleunigung durchaus ebenbürtig. Ungehindert erreichten wir den riesigen Grubenhund. Ich half der Varganin über den schmalen Rand hinweg und kletterte dann hinterher, um mich, genau wie sie, ins Innere plumpsen zu lassen. Ein erstickter Schrei. Was auch immer dort auf mich wartete – es war nicht angenehm. Aber es gab keine Alternative. Wenn ich zu unserem Unbekannten »Guten Tag« sagen wollte, dann nur zu selbst diktierten Bedingungen und nicht bei einer zufälligen Begegnung. Also sprang
Die fünf herrlichen Städte ich hoch, bekam die schmerzhaft dünne Seitenwand zu fassen, schwang einmal, zweimal seitlich hin und her und brachte schließlich ein Bein über den Rand. Die schabenden Geräusche waren nahe. Ich wagte nicht, mich umzudrehen und den Verursacher zu suchen. Ein letzter Ruck, schmerzhaft durch meine ohnehin geplagten Hände zu spüren. Ich kippte nach innen, rutschte ins Halbdunkel der Lore. Der Aufprall war weich – aber es stank, und der Untergrund war schleimig, glitschig. »Abfälle«, flüsterte Kythara angewidert. »Still!«, fuhr ich sie an. Ich konzentrierte mich mit all meinen Sinnen auf das, was draußen vor sich ging. Die kratzenden, schleichenden Schritte waren heran. Der Unbekannte ging an uns vorbei … Nein! Er blieb stehen. Hatte er mich gesehen? Wusste er, wo wir uns versteckt hielten? Ich hielt die Luft an, ballte die Hände, blickte nach oben. Er sollte mich nicht unvorbereitet finden. Ein rasselnder Atemzug, als ob jemand eine Kette durch ein metallenes Rohr zöge. Ein Röcheln, einem Husten nicht unähnlich. Mechanische Geräusche, das Klappern von Werkzeug. Der Unbekannte hantierte an den Wiedererweckungsmaschinen. Er hatte uns nicht entdeckt. Es musste Zufall sein, dass er ausgerechnet neben uns seine Arbeit begann. Das schabende Geräusch seines Gehens – es hörte sich an, als kratze ein bloßer Knochen über den Boden. Oder war es Horn? Chitin? Erneut dieser rasselnde Husten. Ein kurzes Sirren, als sich eine der DoppelSchwungscheiben in Bewegung setzte. Ich konnte aus meinem Versteck ihren halben Umfang sehen, wie sie, leicht eiernd, auf und nieder sauste und ihre beiden Vorgelegewellen mit sich zog. Ein Testlauf oder eine Kontrolle, informierte mich der Extrasinn. Kein Grund zur Beunruhigung. Ich hoffte, der Logiksektor möge Recht
39 behalten. Ich hockte derweil in dieser stinkenden Lore voll zweifelhaften Inhalts, musste mich vor einem unbekannten Röchelmonster verstecken und hatte zudem einen mit knapper Not übertauchten Redezwang-Schub zu verdauen. Da du zu deinem merkwürdigen Sinn für Humor zurückgefunden hast, nehme ich an, dass es dir besser geht? Als ob er das als allgegenwärtiger Untermieter meines Geistes nicht ohnehin wusste … »Er verschwindet«, flüsterte Kythara mir zu. Sie richtete sich halb auf und wollte über den Rand lugen … »Runter!«, befahl ich so leise wie möglich und zog sie erneut herab. Sie entriss mir ihren Arm und starrte mich böse an. Nach wie vor stand einiges zwischen uns. Die schabenden Schritte verklangen in der Ferne, stoppten noch einmal. Unser Freund testete ein weiteres Aggregat und entfernte sich schließlich endgültig. Ich zählte bis einhundert, bevor ich Kythara ein Zeichen gab. Wir richteten uns auf. »Warum hast du mich zurückgehalten?«, fuhr sie mich an. »Nun wissen wir nicht einmal, wie er ausgesehen hat.« »Du bist zu unvorsichtig«, mahnte ich. »Hast du nicht versucht, die Schrittgeräusche zu deuten?« »Natürlich habe ich das! Ein Geschöpf mit wenig Körpergewicht, aber relativ groß, wie man anhand der Abstände zwischen seinen Schritten feststellen konnte. Das Schaben stammt möglicherweise von nackten Beinen oder …« Ich unterbrach sie. »Welcher Gattung im Tiergarten der Schöpfung würdest du diese Geräusche zuordnen?« »Vogelabkömmlingen vielleicht – oder Insektoiden.« »Ich tendiere zu Letzterem«, warf ich ein. »Und? Was hat das damit zu tun, dass ich nicht aufstehen durfte, um ihm nachzublicken?«
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Michael Marcus Thurner
Ich lächelte. »Insektoiden besitzen oftmals Facettenaugen – und damit eine ausgezeichnete Rundumsicht. Er, sie oder es hätte uns möglicherweise gesehen, auch während er, sie oder es von uns wegstolziert ist.« Kythara sah mich verblüfft an. Nach langer Pause sagte sie: »Da dürftest du Recht haben.« Doch auf eine Entschuldigung wartete ich vergeblich. »Damit sind wir quitt«, sagte die Varganin lediglich. »Weil du mich vorher aus meiner Trance geholt hast? Du musst verstehen – die Erinnerungen haben mich übermannt …« Sie winkte ab. »Ach – davon rede ich nicht, das war selbstverständlich.« »Was ist es dann?« »Ein guter Rat für die Zukunft: Das nächste Mal, wenn du für dich und ein junges Mädchen an deiner Seite nach einem Versteck suchst, frag es bitte vorher, ob es nicht lieber entdeckt und gefangen genommen werden will.« »Ich verstehe nicht …« »Hast du gar nicht gemerkt, wo wir uns eigentlich befinden?« Nein, hatte ich nicht. Ich holte es nach – und murmelte: »Entschuldigung. Aber wenigstens hat der Gestank unseren eigenen Körpergeruch überdeckt.« »Na, und Komplimente kannst du also auch noch machen! Danke schön!«, fauchte Kythara und drehte sich schwungvoll von mir weg. Wir standen knietief in faulenden Überresten. Allmählich zerfließende Plasmamasse, defekte Organe, undefinierbare Flüssigkeiten und Dinge, über die ich lieber nicht nachdachte, waren um uns.
* Mit aller gebotenen Vorsicht zogen wir uns aus den Fabrikationshallen zurück. Wir fanden einen Nassraum, in dem wir die Ausrüstung und uns hastig vom strengen Geruch befreiten. Der Verdacht, dass sich eine fremde Macht der Varganen-Technik bediente, hatte
sich endgültig bestätigt. Was aber, wenn das Wesen, das wir gehört hatten, selbst das Erzeugnis dieser Maschinerien war? Eine weitere Abart varganischer Bio-Manipulationen? Ich sprach diesen Verdacht nicht aus, hielt ich ihn doch für eher unwahrscheinlich. Kythara würde dies zudem nicht gerne hören wollen. »Wohin jetzt?«, fragte sie mich. »Dorthin, wo am meisten dieses Grünzeugs wächst«, entgegnete ich. »Denn wenn wir annehmen, dass es sich um Insektoide handelt – wie, glaubst du, würden sie ihren persönlichen Lebensraum gestalten?« »Möglichst naturnahe«, erwiderte sie sofort. »Mit vielen Blumen und Pflanzen um sich.« »Wo sollen wir unser Glück versuchen?«, fragte ich. »Vier Etagen weiter oben«, erwiderte die Varganin nach kurzem Nachdenken. »Dort, wo wir diese Pflanzenhöhle gesehen haben.« Ich nickte zustimmend. »Aber zuerst sollten wir uns ausruhen.« Wie lange war es her, seitdem wir letztmals Schlaf gefunden hatten? Fünfzig, sechzig Stunden? Auch wenn der Zellaktivator beständig regenerative Impulse aussandte – irgendwann war das körpereigene Energiereservoir aufgebraucht. Kythara nickte mir zu und atmete sichtlich erleichtert auf. Endlich verstand ich! All die Sticheleien zwischen uns – sie waren das Resultat eines Machtkampfes, der sich auf einer subtilen Ebene abspielte. Wer war dem anderen in puncto Erfahrung überlegen? Wer hörte, wer sah besser? Wer durchblickte den jeweils anderen rascher? Wer konnte länger wach bleiben, wer mehr aushalten, wer half wem öfter aus der Patsche? Tausend Details auf unserem langen Marsch über die Ebenen Naruks und durch diese Station fielen mir plötzlich ein. Vieles war ungesagt geblieben. Man wollte den anderen lediglich spüren lassen, dass man besser, schlauer, geschickter war.
Die fünf herrlichen Städte Kythara und ich waren zwei AlphaTierchen. Zwischen uns war eine Auseinandersetzung um den besten Platz am Futternapf in vollem Gange, ohne dass wir es bemerkten. Vor Jahrmillionen mochten sich unsere Vorfahren die Köpfe eingeschlagen haben, um zu einer Lösung zu kommen. Wir Zivilisierten hingegen sandten stille Signale aus oder gaben bestenfalls zynische Kommentare von uns. Aber die Idee blieb dieselbe. Wir konnten unser Erbe, dieses Gen, das uns tagtäglich anwies, den Platz an der Spitze der Nahrungskette neu zu erobern, einfach nicht verbergen. Dass ich – dass wir nicht früher daran gedacht hatten! »Kythara«, sagte ich eindringlich, »wir müssen miteinander reden und einige Dinge klarstellen.« Es wurde das beste Gespräch, das ich seit dem Verlust Li da Zoltrals geführt hatte.
* Der Schlaf tat gut. Wir verkrochen uns in einer Art Abstellkammer, möglichst weit weg von Fabrikationsanlagen und GrünOasen. Trotz unserer Nervosität und abwechselnder Wachphasen bekamen wir drei bis vier Stunden tiefen, traumlosen Schlaf. Selbst das Frühstück, das nur aus Pasten und bunten Pastillen bestand, konnte unsere gute Laune nicht trüben. Anschließend ging es über die dünnen Sprossen der Nottreppe aufwärts. Ich war oft genug insektoiden Intelligenzvölkern begegnet. Selten waren sie individuell geprägt gewesen, sondern von einer Königin, einem Rat oder einer schmalen Herrscherkaste gesteuert. Das einfache Volk gehorchte meist, ohne Rücksicht auf Verluste. War dieses »Anforderungsprofil« den Naruks ebenfalls eingeimpft und mit auf den Produktionsweg gegeben worden? »Ich habe mittlerweile mehrere Überwachungssysteme varganischer Bauart gesehen«, sagte Kythara leise, während wir uns
41 mit aller Vorsicht dem Ziel näherten. »Akustikfallen, Bewegungsmesser und Infrarotmelder; keines davon ist in Betrieb. Entweder können die Insektoiden die dazugehörigen Steuerungsanlagen nicht bedienen – oder sie sind sich ihrer Position derart sicher, dass sie auf eine Überwachung der Station verzichten.« »Ich tippe auf Letzteres«, entgegnete ich. »Sie wähnen sich in Sicherheit. Von den Naruks, ihren Geschöpfen, ist keine Gefahr zu erwarten. Und zufällige Besucher, wie wir es nun mal sind, scheinen nicht in ihr Denkschema zu passen.« »Meinst du tatsächlich, dass unsere Landung hier Zufall war?« »Keine Ahnung. Obwohl … Schicksal und Zufall nehmen in meinem Leben nur einen kleinen Platz ein. Manchmal komme ich mir wie eine Kasper-Marionette vor, die von den Puppenspielern je nach Belieben hin- und hergebeutelt wird …« »… so lange, bis das böse Krokodil kommt und dich auffrisst.« Sie lächelte. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannter als noch vor ein paar Stunden. »In meinem Puppentheater wimmelt es nur so von Krokodilen, Drachen, alten Hexen und Ungeheuern. Bloß erkennt man sie nicht sofort.« Warum denkst du plötzlich derart intensiv an die Kosmokraten?, mischte sich der Extrasinn in unser Zwiegespräch ein. Ich würdigte ihn keiner Antwort. »Leise jetzt!«, mahnte mich Kythara. Wir befanden uns längst auf einer Ebene mit der Grünzone. Rechter Hand befand sich der hohle Innenteil der Station, links von uns kubische Aggregatblöcke, die Kythara auf meine Frage hin lapidar als »Ersatzteile« bezeichnet hatte. Sie waren energetisch tot. Wie eigentlich alles, was wir bislang zu sehen bekommen hatten – natürlich mit Ausnahme der Fertigungsanlage. Immerhin boten die Reserveaggregate ausreichend Deckung, um uns an den pflanzenüberwachsenen Rundteil dieses Stockwerks heranzupirschen.
42 Wie lächerlich! Waren sich unsere Unbekannten ihrer Sache so sicher, dass sie keinerlei Abwehrmaßnahmen der Varganen nutzten? Nach wie vor waren keine Wachen, keine Beobachter zu sehen. Liefen wir etwa in eine Falle? Augen zu und durch!, empfahl der Extrasinn spöttisch. Ist es nicht das, wovon du immer träumst? Ich ignorierte ihn und winkte Kythara zu mir. Gebückt kam sie herangeeilt. Die Erregung der Jagd oder Entdeckung hatte sie gepackt, ich konnte es in ihren glänzenden Augen lesen. Der Übergang zu der von Pflanzen geprägten Zone war fließend. Oberhalb unseres Standortes hingen auf einer Breite von zehn Metern dünne Lianengewächse herab, ähnlich einem Blickvorhang. Sie verbanden sich mit einem lotosblumenähnlichen Pflanzenteppich, der fauligen Geruch aussandte und mehrere der Aggregatblöcke überwachsen hatte. Man störte sich wenig an der Zerstörung mancher Teile der varganischen Anlage. Die Besetzer der Station wussten offensichtlich ganz genau, welche Bereiche für sie wichtig waren und welche nicht. Wenige Meter hinter dem Pflanzenvorhang stieg ein Erdwall allmählich an, der von bunten Kriechblumen übersät war. Hüfthohe Gräser, grün und gelb, folgten dahinter. Mehr war von unserem Versteck aus nicht zu sehen. Einem Insektoiden mochte diese Anlage ebenso architektonisch korrekt vorkommen wie unsereinem die Anlagen vom Schloss Versailles. Vielleicht empfand er sie einfach nur als schön. »Augen zu und durch!«, empfahl ich Kythara – und ärgerte mich im selben Moment, die gleichen Worte wie mein Extrasinn gewählt zu haben. Wir huschten voran, schoben die Lianen beiseite. Sie juckten und brannten auf Hand und Gesicht. Egal – rasch weiter. Den Erdwall hinauf. Mit weiten Schritten, möglichst keine Spuren hinterlassend. Ich duckte mich und lugte über die scharfkantigen Wiesenbü-
Michael Marcus Thurner schel. Der Zugang zu einem in die Breite gehenden Bereich wurde hinter den Gräsern sichtbar. »Ein Korridor mit Wohnabteilen!«, flüsterte mir Kythara zu. »Standardeinrichtung. Ich kenne die Anordnung und die Nutzungsmöglichkeiten dieser internen Rekreationseinheiten aus dem Effeff.« »Das heißt?«, fragte ich gespannt. »Wenn dort drinnen alles halbwegs an seinem Platz ist, bekommen wir Zugriff auf die KI der Station.« Eine mehr als verlockende Aussicht! Aber mit viel Risiko verbunden. »Nervös, Arkonide?« »Ja. Und du?« »Ebenso.« Wir grinsten uns an. »Dann bringen wir's hinter uns«, sagte ich und zählte von drei hinab. Zugleich stürmten wir über den Erdwall, durchliefen einen Vorraum, der völlig verwüstet war und nach Exkrementen stank. Wahrscheinlich die öffentliche Toilettenanlage unserer unbekannten Freunde. Kythara übernahm die Führung. Sieben Korridore fanden hier strahlenförmig ihren Anfang. Die Varganin wählte, ohne zu überlegen, den mittleren. Es raschelte an allen Ecken und Enden. Chitinbesetzte Körperteile schabten aneinander. Brummen und Zischen ertönten. Schatten, die uns einen ersten Eindruck über das Aussehen der Insektoiden erlaubten, wurden aus halb geöffneten Zimmern in den Gang geworfen. Es blieb keine Zeit, mehr als einen Blick nach links und rechts zu werfen, dann hetzten wir weiter. Verarbeiten konnten wir die Bilder später. Links in einen Quergang. Sackgasse. Eine wulstige Masse, bräunlich und spröde wie getrockneter Kuhdung, versperrte uns den Weg. Kythara überlegte kurz, winkte mir zu, ihr weiterhin zu folgen. Wir hetzten zurück. Die Bilder begannen indessen in mir zu arbeiten. Mein verfluchtes Gedächtnis, das nichts und niemanden je vergessen konnte,
Die fünf herrlichen Städte begann, Vergleiche zu ziehen, in verschüttetem Wissen zu wühlen. Nur mühsam schaffte ich es, mich auf den Weg vor mir zu konzentrieren. Die Varganin wählte einen anderen, schmäleren Quergang. Blieb abrupt stehen, sodass ich gegen sie prallte. Vor uns öffnete sich die Tür zu einer Wohneinheit. Ein langes, filigranes Bein, behaart und mit Widerhaken versehen, zeigte sich. Kythara drückte mich in eine Nische. Schleimige, leicht klebrige Substanz reichte uns bis zu den Knien. Instinktiv zog ich die Masse wie einen Teig hoch und wickelte uns mit wenigen Körperdrehungen vollends darin ein. Ruhig bleiben, mahnte ich mich. Die Wand, an der ich lehnte, vibrierte. Eine Art Gesang übertrug sich, dazu hörte ich rhythmische Schabgeräusche. Die klebrige Masse war nahezu undurchsichtig. Ich erkannte lediglich Umrisse des Wesens, das aus seinem Wohnbereich gestelzt kam. Zweieinhalb Meter groß. Es machte halb hüpfende, halb schleifende Vorwärtsbewegungen. Das Schaben an der Wand hinter mir wurde indes lauter. Das einzelne Wesen blieb kurz stehen. Hatte es uns entdeckt? Ich hielt den Atem an. Nein – es marschierte weiter. Ich befreite Kythara und mich mühsam aus der Klebemasse und bedeutete ihr, den Weg fortzusetzen. Sie nickte, lief voran. An die Herkunft des Breis, der uns vorerst vor einer Entdeckung bewahrt hatte, verschwendete ich besser keinen Gedanken. Weiter ging es durch die für unsere Augen schrecklich verschmutzten Gänge. Links, rechts, geradeaus. Noch zweimal mussten wir bräunlicher Wulstmasse ausweichen, die quer über die Gänge geklebt war. Wir erreichten das Ende einer Sackgasse. Einen Raum mit der Hohlform einer vierseitigen Pyramide. Er war leer, staubig, ungenutzt. Die Besatzer hatten ihn wohl bislang ignoriert. Kein Wunder – bot er doch rein
43 gar nichts von Interesse. Kythara kümmerte sich nicht weiter um mich und machte sich in einer Ecke geheimnisvoll zu schaffen. Ich sicherte währenddessen den einzigen Zugang. Die Gefahr einer Entdeckung war hier relativ gering. Die Wohnfluchten der letzten drei Gänge, die wir entlanggelaufen waren, schienen unbewohnt gewesen zu sein. Das ist ein falscher Denkansatz, rügte mich der Extrasinn. Die Insektoiden haben anders entwickelte Sinne. Vielleicht riechen sie einen Eindringling auf einen Kilometer Entfernung, oder sie schmecken eure Präsenz. Ich fluchte. Natürlich hatte mein Logiksektor Recht. Nun – gegen den Geruch konnte ich möglicherweise etwas tun. Vorsichtig schlich ich bis zur nächsten Gangbiegung zurück. Wir waren hier an einer zweiten verklebten Nische vorbeigelaufen. Hastig riss ich einen Teil der dehnbaren Masse ab und nahm sie mit mir. Am Zugang zur Innenpyramide angekommen, fixierte ich den Klebebrei oben und unten. Wie Teig ließ er sich auseinander ziehen und haftete sofort. Ein seltsamer Eigengeruch hing ihm an, der den unseren hoffentlich überdecken würde. »Vorerst sind wir sicher«, seufzte ich und drehte mich zu Kythara um. Sie saß an einem goldglänzenden Tisch und war von einem ganzen Geschwader frei schwebender varganischer HighTech-Instrumente umgeben! »Wo … was …« »Schön, dich auch einmal überrascht zu sehen«, sagte sie grinsend, um gleich darauf wieder ernst zu werden: »Unsere Freunde haben diese Räumlichkeiten nur sehr oberflächlich durchsucht. Sie mögen zwar über die Bedienung der Fertigungsanlagen Bescheid wissen – aber nichts über die Steuerungsmöglichkeiten der Basis im Gesamten.« Kythara machte keinerlei Anstalten, mich darüber aufzuklären, wo all der technische Krimskrams hergekommen war. Ich respektierte stillschweigend ihre Geheimnistuerei.
44 Hauptsache war, dass wir endlich unser Informationspuzzle mit Hilfe der hiesigen KI zusammensetzen konnten. »Nun gut – dann wirf das gute Ding einmal an.« »Schon geschehen.« Die Varganin deutete auf mehrere HoloSchirme, die leere Hallen und Gänge zeigten. Gleichzeitig interpretierte sie murmelnd mehrere Datenblöcke, die auf einer flachen Bildmatte des Tisches herabscrollten. »Eher enttäuschend«, sagte sie. »Ich bin mit meinen Möglichkeiten auf die unmittelbare Umgebung beschränkt.« »Das bedeutet?« »Ich habe Einsicht in die Wohneinheiten und in ein paar Lagerräume dieser Ebene. Mehr nicht.« »Du kommst also an keine Basisdaten heran?«, fragte ich enttäuscht. »Nichts über die Historie der Anlage und die Besetzung durch die Insektoiden?« »Ich kann nur indirekt interpretieren.« Sie zögerte. »Anhand mehrerer Fehlermeldungen kann ich zum Beispiel schließen, dass die explosive Aufnahmemenge der PsiQuelle, wie eigentlich erwartet, hier ihre Spuren hinterlassen hat. Ein Haufen wichtige Backup-Knotenpunkte sind ausgefallen, die Systemüberwachung und redundante Sicherheitsmaßnahmen haben gänzlich versagt.« »Aber nicht alle!« »Nun – wie wir gesehen haben, produzieren die Fertigungsanlagen weiterhin. Möglicherweise hat es mit der Abschirmung durch den massiven Fels zu tun, dass die Wirkungszunahme der Psi-Quelle nicht voll auf die KI durchgeschlagen hat.« »Das kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen …« »Wir Varganen haben bei der Auswahl des Standorts und der Errichtung unserer Stationen kein Detail unberücksichtigt gelassen. Möglicherweise gibt es im Berg kleinere Mengen minderwertigen Howalgoniums, die für eine natürliche Abschirmung sorgen …«
Michael Marcus Thurner Es wurde mir alles zu theoretisch. Ungeduldig schwenkte ich auf ein anderes Thema: »Kannst du uns Bilder von unseren großen Unbekannten beschaffen? Schön langsam möchte ich Gewissheit haben …« Kythara tat überrascht. »Gewissheit? Du meinst, dass du die Insektoiden kennst?« »Kann sein.« Die Varganin sah mich prüfend an. Als sie merkte, dass sie mir keine weiteren Informationen würde entlocken können, drehte sie sich wieder zu ihrem Arbeitstisch. Mit den langen, grazilen Fingern drückte sie Befehlsfelder im Raum vor ihr, die nur sie sehen konnte. Es mutete ein wenig unheimlich an, doch ich war daran gewöhnt. Auch manche Arbeitsplätze arkonidischer Herkunft funktionierten auf ähnlicher Basis. Ein perfekt dreidimensionales holographisches Abbild erschien mitten im Raum. Ich zuckte leicht zusammen. Die Überraschung war nach den flüchtigen Eindrücken, die ich mittlerweile zu Gesicht bekommen hatte, nicht mehr allzu groß. Mein Abscheu umso mehr. »Orghs«, sagte ich beklommen. »Mordwespen.«
* Etarmagan-Murloth: »Ist das ein Lordrichter?« Carnji-Murloth: »Ist das ein Gott? Ich habe noch nie etwas so … Schönes gesehen.« (Dann, an den überlebensgroßen Naruk gewandt, der inneres Licht aussendete und sie mit seiner gnadenvollen Erhabenheit in die Knie drückte:) Etarmagan-Murloth: »Bist du … bist du ein Lordrichter? Gehörst du dem Schwert der Ordnung an?« Göttlicher Naruk: »Was sucht ihr hier? Geht zurück zu euresgleichen!« Carnji-Murloth: »Wir ließen uns töten, um einen Mann und eine Frau zu verfolgen, die hierher geflüchtet sind.« Göttliches Wesen: »Geflüchtet? Waren sie von eurer Brut?«
Die fünf herrlichen Städte Etarmagan-Murloth: »Ich verstehe nicht ganz …« Göttliches Wesen: »Sahen sie euch ähnlich?« Carnji-Murloth: »Die Frau, ja. Aber sie hatte längere Haare und war fett. Der Mann hingegen besaß silbernes Haar und rote Augen …« Göttliches Wesen: »Eindringlinge! Ich muss Alarm geben … Ihr beide folgt mir!« Etarmagan-Murloth und Carnji-Murloth gemeinsam: »Ja, Göttlicher!«
* Ich hatte von ihnen geträumt, am ersten Tag unserer Ankunft auf Narukku. Aber was waren schon Träume im Vergleich zur Wirklichkeit? Die Orghs waren aus den Weiten des Weltalls gekommen und genauso rasch wieder aus der Geschichtsschreibung der Menschheit verschwunden. Erst drei Jahrhunderte später hatten sie erneut eine gewisse Bedeutung erhalten. Am 9. Januar 2045 alter Zeitrechnung, vor einer Ewigkeit also, rettete die Besatzung eines Leichten Kreuzers namens BURMA Gucky und achtundzwanzig Ilt-Kinder vom explodierenden Planeten Tramp. Neunundzwanzig Ilts. Alle anderen waren auf ihrem Heimatplaneten gestorben. Hingemordet durch die so genannte Schwarze Wand, ein energetisches Phänomen, das die insektoide Rasse der Orghs aus unbekanntem Grund ausgelöst hatte. Organische Energie, so hatte es geheißen, war am Untergang Tramps schuld gewesen. Die Umstände waren rätselhaft geblieben. Der Ilt hatte diese Tat nie vergessen. Wie auch? Es war der Anfang vom Ende seiner Rasse gewesen, und heute war er als Einziger übrig geblieben, unser kleiner, trauriger Spaßvogel. Er hatte eine einigermaßen präzise Beschreibung der Orgh-Wesen abgeliefert. Ein tropfenförmiger, zweigeteilter Schädel, spitz nach oben zugelaufen, thronte auf einem
45 zweifach kugelgelenkartigen Wirbel. Darunter saß ein knapp dreißig Zentimeter durchmessender, wespenartiger Rumpf von brauner Schuppentönung. Im oberen Drittel des Leibes besaßen die Orghs vier dünne Arme. Ihre drei langen Beine – drei, wie merkwürdig! – waren gelenklos und funktionierten teleskopartig. Sie bewegten sich in seltsam anmutenden Sprüngen. Vorwärts, seitwärts oder rückwärts. Die Kopfform mit einem vorderen und hinteren Augenpaar ermöglichte ausgezeichnete Sicht für diese kontrollierte, aber merkwürdige Art der Fortbewegung. »Alleine aus der Beschreibung des Mausbibers, die er lediglich von einem sterbenden Artgenossen übermittelt bekam, schließt du, dass diese Unbekannten ebenfalls Orghs sind?«, unterbrach Kythara meine Ausführungen. »Es gab mehr als dreihundert Jahre später eine weitere Begegnung, und wieder war Gucky involviert. Unser Ilt-Freund erhielt von einer Orgh-Königin Informationen über eine Vielzahl an verwandten Insektenvölkern, die sich über Jahrtausende bekriegten. Das Material, das ich wenig später sichtete, war teilweise nebulös und nicht sehr aussagekräftig. Aber was das Aussehen betrifft, bin ich mir absolut sicher, dass es eine Verwandtschaft mit unseren Freunden hier gibt. Die drei Teleskopbeine sind ein einzigartiges Merkmal. Die Insektoiden hier sind allerdings deutlich größer.« »Warum haben wir diese Orghs noch nicht springen sehen?« Ich lächelte. »Denke an die Raumhöhe in den Quartieren. Sind es drei Meter? Drei Meter zwanzig? Sicherlich nicht ausreichend für die Orghs, um sich artentsprechend fortzubewegen, ohne sich dabei die Köpfe anzuschlagen.« »Und bei unserer ersten Begegnung in der letzten Fertigungshalle waren es die niedrig gehängten Röhren, vor denen sie sich fürchten mussten«, ergänzte Kythara nachdenklich. »Die beiden langen Spitzen ihrer Köpfe sind anscheinend sehr empfindlich. Sie äh-
46 neln übrigens Antennen mit getrenntem Sende- und Empfangsteil.« »Gut geraten!«, bestätigte ich. »Genau so ist es. Untereinander unterhalten sie sich meist über Gedankenimpulse, auch wenn sie schabende Sprechwerkzeuge besitzen, parallel liegenden Raspeln nicht unähnlich.« Ich griff in das Hologramm und zeigte ihr die betreffenden Stellen an Vorder- und Rückteil des Januskopfes. Es war ein merkwürdiges, unheimliches Gefühl. Die holographische Darstellung vermittels varganischer Technik war absolut realitätsnah. Kein Flimmern oder Markierungshinweis der KI darüber, dass es sich um ein generiertes Bild handelte. Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich musste lachen. »Jetzt weiß ich endlich, was diese wulstähnlichen Absperrungen über die Gänge für eine Bedeutung hatten.« »Nämlich?« »Das waren Ansätze zu eigenen Bauten. Das Ergebnis einer Art von Urtrieb, nehme ich an. Sie weben sich Nester. Und die Masse, mit der ich den Durchgang hier verstopft habe, wird Speichel sein. Brr!« »So, wie die Grünzonen generell Erinnerungen an ihre ursprüngliche Kultur darstellen«, sinnierte Kythara. Plötzlich wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit den Bildschirmen zu, die sie stets im Auge behalten hatte. »Da tut sich etwas!«, sagte sie. Ich trat näher. Die Varganin deutete auf die Übertragung eines breiten Ganges, in dem sich ein einzelner Orgh entlangbewegte. In seinem Schlepptau befanden sich – zwei Naruks! »Näher heran!«, forderte ich sie auf. Das Bild zoomte auf die Gesichter der beiden varganenähnlichen Geschöpfe. »Carnji und Etarmagan-Murloth!«, stieß meine Begleiterin verwundert aus. »Wie kommen die hierher?« »Wir mussten es befürchten«, erwiderte ich. »Mit ihrer Hartnäckigkeit würden sie uns in die tiefste Hölle folgen.« »Du hast eindeutig zu viel von den Menschen angenommen«, sagte die Varganin mit
Michael Marcus Thurner schiefem Blick. »Dein Wortschatz ist mehr humanoid als arkonoid.« »Lass das jetzt!«, forderte ich sie auf. »Sie reden miteinander.« Kythara erzeugte mit wenigen Handgriffen eine Beobachtungskette. Von nun an würde uns die KI den Orgh und die beiden Naruks von einem Kamera-Spion zum nächsten weiterreichen, ohne dass die Varganin einen weiteren Handgriff setzen musste. Endlich fuhr sie die Lautstärke hoch. »… und ihr habt euch tatsächlich töten lassen, um den beiden Fremdartigen hierher folgen zu können?«, fragte der Orgh. Ein Translator, der an einer Kette um seinen ovalen Oberkörper baumelte, übersetzte die Worte nahezu zeitgleich ins Naruk-Idiom, das wiederum weitestgehend dem varganischen entsprach. »Ja, Göttlicher«, antwortete Carnji. Sie schien seltsam entrückt. Die Verzückung in ihrem Gesicht und dem Etarmagan-Murloths war mir rätselhaft. »Sie sehen nicht, was wir sehen«, sagte Kythara mit einem Mal. »Wie meinst du das?« »Ich vermute, dass die Orghs den Androiden mehrere Sperrblöcke in ihre Gedanken gepflanzt haben. Daher kommt das seltsam ferngesteuerte Verhalten der wiedergeborenen Naruks, während sie diese Anlagen verlassen. Sie sehen dies alles mit ganz anderen Augen. Wer weiß – vielleicht wird ihnen eine paradiesische Landschaft projiziert, oder vielleicht existiert die Fabrik in ihren Gedanken gar nicht. In dem Orgh, der sie durch die Gänge leitet, erkennen sie ein übergeordnetes Wesen. Möglicherweise sogar einen Lordrichter von Garb.« »Alles eine Sache verschiedener Wirklichkeitsebenen«, sagte ich. Es war ein Thema, das immer wieder nachdenklich stimmte. Es schauderte mich bei dem Gedanken, gar keine reale Person, sondern das Fantasieprodukt eines anderen Wesens zu sein, wie eine altarkonidische Philosophenschule behauptete. Die Anhänger dieser Lehre weigerten sich, auch nur irgendetwas Produkti-
Die fünf herrlichen Städte ves zu tun, weil »ohnehin alles umsonst« sei. »Wie können wir dir helfen, Göttlicher?«, fragte Etarmagan-Murloth soeben. Der Orgh schob die beiden, ohne Antwort zu geben, in einen größeren Raum. Mehr als ein Dutzend der Insektoiden hielt sich hier auf. Es durfte sich um einen kleineren Kontrollraum handeln. Die Halle war hoch und groß genug, um den Orghs weite Sprünge zu erlauben. »Diese Modelle haben Eindringlinge beobachtet, Herr«, sagte der Orgh zu einem anderen Insektoiden, der um eine Spur größer gewachsen war und sofort herbeigehüpft kam. Sein zweites Halsgelenk war merkwürdig verwachsen. »Gajat!«, herrschte dieser den anderen an. Trotz der nüchternen Modulation durch den Translator hörte sich das Wort wie ein Fluch aus der untersten Schublade an. »Was haben die Modelle hier zu suchen?« »Ich dachte, dass sie uns bei der Suche nach den Eindringlingen helfen könnten.« Der Orgh duckte sich, nahm eine demütige Haltung ein. »Denken ist ein Recht, das den oberen Chargen vorbehalten ist. Die Lordrichter von Garb müssen dich strafen, und sie tun es durch meine Hand!« Der Verwachsene schlug seinem Untergebenen mit der vollen Wucht zweier Arme über den Spitzkopf, so dass dieser heftig zusammenzuckte. »Ja, Herr. Danke, Herr, für die Zurechtweisung im Namen der Lordrichter.« Der Orgh sagte es automatisiert, als würde er eine Formel herunterbeten. Er schwankte, fiel aber nicht. »Was soll ich mit den Modellen machen?« »Lass sie hier. Sie sind nutzlos. Wir werden sie entsorgen, sobald wir die Eindringlinge gefunden haben. Meine Geduld mit dieser Bauserie ist ohnehin weitestgehend erschöpft. Aus ihnen werden wohl nie gute Kämpfer für den Lordrichter.« »Ja, Herr.« Der Geschlagene entfernte sich mit kurzen, unterwürfig anmutenden Sprüngen.
47 »Gebt Alarm für diese ganze verfluchte Anlage!«, sagte der kommandierende Orgh. In der Nahaufnahme erkannte ich einen langen, krustig vernarbten Schnitt, der sich quer über seinen schmalen Oberkörper zog. »Informiert alle anderen GruppenKommandanten und lasst jeden Winkel durchsuchen. Währenddessen kümmere ich mich weiterhin um Murloths Berg.« Er stieß Carnji und Etarmagan beiseite und begab sich in die Mitte des Raumes. Dort stand ein ähnliches Pult wie jenes, an dem Kythara und ich uns befanden. Murloths Berg … »Sieh nur!«, stieß Kythara überrascht aus. Wieder fuhrwerkte sie hektisch und scheinbar sinnlos in der Luft, veränderte mehrere Parameter der Beobachtungsanlagen. Die Kamera oder was auch immer es war, zoomte auf zweidimensionale Bildschirme, neben denen der Befehlshaber nunmehr stand. »Die Ebene ohne Schatten«, sagte ich, nicht sonderlich beeindruckt, »sowie der schwebende Eisberg. Und damit das Kind endlich einen Namen bekommt: Murloths Berg. Die Orghs beobachten ihn.« Die Übertragung war gestört. Ein Grauschleier und stetiges Flackern beeinträchtigten die Qualität der Bilder. Dennoch konnte ich seltsame Lichteffekte ausmachen, die die mögliche Psi-Quelle irrlichtern ließen. Die Unterhaltung des vernarbten Kommandanten mit seinen Untergebenen war kaum mehr verständlich. Die Orghs benutzten großteils ihre naturgegebenen AntennenOrgane. Ein weiterer Translator, den der Kommandant umgehängt hatte, übersetzte lediglich einige Wortfetzen. »Kannst du ihn spüren? Kannst du passiv erfassen, was er sagt?« Kythara lächelte resigniert. »Es hat sich nichts geändert. Seitdem wir die Anlage betreten haben, ist mein zusätzlicher Sinn scheinbar nicht mehr vorhanden. Ich spüre keinen einzigen Orgh.« Enttäuscht wandte ich mich wieder den
48 Bildern zu. Auf der Ebene ohne Schatten kam es vereinzelt zu Wechselwirkungen zwischen den Resten der nach wie vor schwebenden Kristallmasse und der Psi-Quelle. Beziehungsweise dem schneeübergossenen Berg Murloth, wie wir nun wussten. Überschlagblitze zuckten hin und her, in allen Farben des Spektrums. Merkwürdige Verzerrungseffekte ließen psychedelisch anmutende Erscheinungen über die Schirme huschen. Es war, als würde alles Licht wie am Rande des Ereignishorizonts eines Schwarzen Loches aufgesogen, nur um in diesem Falle wieder ausgespuckt und in negativen Erscheinungsbildern zurückgeschleudert zu werden. »Beklemmend«, sagte Kythara. »Am Berg Murloth muss eine Psi-Konzentration von unglaublicher Stärke existieren. Kein Wunder, dass sie die Vergessene Positronik und die Reste des Kristallmondes aus der Obsidian-Kluft angezogen hat.« »Berg Murloth«, sinnierte ich. »Murloth-Nebel. Etarmagan-Murloth …« Ein Alarm gellte. Ich zuckte zusammen, zwang mich zu Besonnenheit. »Keine Angst«, sagte Kythara ruhig. »Mit Hilfe der Nebeneinheit kann ich ein paar kleine Tricks anwenden. Zum Beispiel diesen Raum aus der Wahrnehmung der Orghs nehmen.« »Du meinst: eine Art Deflektorschirm errichten?« »Nein.« Sie lächelte. »Ich erzeuge sozusagen einen blinden Fleck in den Konstruktionsplänen dieser Etage. Der Zugang zum letzten Gang wird ihnen wie ein Wandstück erscheinen. Die Insektoiden werden uns suchen, bis ihre Kopfspitzen stumpf und runzlig sind. Und wir sitzen die Situation mittlerweile in aller Bequemlichkeit aus.« Ich spürte keineswegs die Selbstsicherheit der Varganin. Wir steckten in einer Sackgasse, das machte mich nervös. »Was ist mit Waffensystemen und Schutzschirmen?«, fragte ich. »Ich sagte dir bereits, dass diese Neben-
Michael Marcus Thurner anlage nicht dafür ausgelegt ist.« Kythara wurde ungeduldig. Das ist das Erbe der Varganen, meinte der Extrasinn. Ein Hauch von Selbstüberschätzung, wenn es gegen kurzlebige Wesen geht. »Wir sollten dennoch von hier verschwinden«, drängte ich. »Deine Meinung in allen Ehren – aber ich fühle mich wie eine Maus in ihrem Loch gefangen.« Einige wieder halbwegs verständliche Wortfetzen drangen aus der Bildschirmübertragung an meine Ohren. Einer der Orghs wandte sich demütig an den narbigen Befehlshaber. »Herr«, sagte er, »ich habe, bevor ich meinen Waffendienst antrat, in der Nähe des Individual-Entspannungsnestes für einen Moment ähnliche Gerüche gewittert wie jene, die diese beiden Kriegermodelle aussenden.« »Das sagst du mir erst jetzt?« Der Narbige machte Anstalten, auch diesem Orgh mit den Händen über die Kopfantennen zu schlagen, überlegte es sich aber schließlich. Der Insektoide, dessen Schemen wir durch den Spuckschleim sahen, als er an uns vorbeimarschierte! Jetzt ist wirklich Feuer am Dach! »Führe die Einsatztruppen dorthin!«, befahl der Kommandant. »Ich werde mittlerweile Berg Murloth über die Eindringlinge informieren. Nehmt die beiden Kriegermodelle mit. Vielleicht können sie euch ja wirklich in irgendeiner Form helfen.« »Wie sollen wir vorgehen?«, fragte der einfache Soldat. »Eliminieren natürlich.« »Alle?« »Alle. Auch diese beiden, und zwar final. Im Namen der Lordrichter von Garb.« Der Vernarbte drehte sich um und deutete mit einer durchaus arkonoiden Geste seines Kopfes auf Carnji und Etarmagan. »Ihre nichtsnutzigen Kollegen auf der Planetenoberfläche sollten wir ohnehin mit Drahtkraut unter den Kugelhälsen kitzeln; das werde ich mit den anderen Kommandanten abklären. Ich
Die fünf herrlichen Städte habe diese langsamen Fortschritte in den Kampftaktiken mehr als satt.« »Ja, Herr.« »Was stehst du hier noch herum?«, raspelte der Vernarbte lautstark. »Töte die Eindringlinge!«
* Etarmagan-Murloth flüsternd): »Dies sind keine Göttlichen!« Carnji-Murloth (ebenso leise): »Nein. Niemals würde ein Lordrichter so abwertend über uns sprechen.« Etarmagan-Murloth: »Wir wurden betrogen.« Carnji-Murloth: »Wir wurden ausgenutzt.« Etarmagan-Murloth: »Vielleicht …« Carnji-Murloth: »Vielleicht – was?« Etarmagan-Murloth: »Möglicherweise war es falsch, dass wir uns dem Kampf und Murloth gewidmet haben.« Carnji-Murloth: »Welch seltsamer Gedanke.« Etarmagan: »Erinnerst du dich an Farbenhoch?« Carnji-Murloth: »Den Schmetterling? Ja.« Etarmagan: »Er war schön, nicht wahr?« Carnji-Murloth: »Schön. Schönheit. Ich kann mich an solche Worte nur schwer erinnern …« Etarmagan: »Denk an Jubelweiß, den ich dir geschenkt habe.« Carnji: »Ja. Jubelweiß war … schön.« Etarmagan: »Lass uns zum Abschluss etwas tun, was schön ist.« Carnji: »Ja.«
* »Weg, nur raus aus dieser Sackgasse!«, schrie ich Kythara an. »Lass uns endlich verschwinden!« »Wir sind hier absolut sicher!«, sagte ich. »Verstehst du denn nicht? Die Orghs haben unsere Witterung. Wenn dieser einfache
49 Soldat unseren Geruch durch die Schleimspucke hindurch wittern konnte, werden sie unsere Spur jetzt umso rascher aufnehmen! Und in einem Truppenbordell will ich keinesfalls sterben; darf denn das wahr sein?« Widerstrebend wandte sich die Varganin von ihrem Arbeitsplatz ab und ließ ihn mit wenigen Handbewegungen im Boden verschwinden. Ich zerriss den dünnen Vorhang, hinter dem ich mich bislang leidlich sicher gefühlt hatte, und umwickelte unsere beiden Körper mit den Resten. Vielleicht boten sie einen geringen Schutz gegen unsere Ausdünstungen. Wohin nur? Meine Gedanken flogen. Möglichst rasch raus aus diesem Bau. Zurück an die Oberfläche. Das nächste Beiboot erreichen, die HEGELUNT-5, die unweit von hier warten muss. Auf ein Wunder hofen. Dass die varganische Technik endlich wieder anspringt und wir zurück zur AMENSOON gelangen. »Vorwärts!«, feuerte ich die Varganin an. Immer noch zögerte sie, war mit meiner Entscheidung nicht einverstanden. Es ging vor bis zur ersten Ecke, dann links, knapp fünfzig Meter geradeaus, schließlich rechts. Dort war ein Verteiler, der uns mehrere Optionen zur Flucht offen ließ. Geräusche. Hastende Schritte. Dutzende Chitinbeine, die über den Boden scharrten, sich kräftig abstießen, in unsere Richtung stürmten. Zu spät. »Zurück!«, befahl ich und zog Kythara wiederum mit mir. Noch bestand eine geringe Hoffnung, dass sie an diesem toten Arm vorbeieilen, die Witterung verlieren würden. Aber nein. Wir stolperten in den Pyramidenraum zurück, drückten uns an die Seitenwände, da hörten wir auch schon erste gesprochene Kommandos. Ein Translator war aktiviert. »Kommt raus da!«, zirpte es aus dem Gerät. Gleich-
50 zeitig fuhr ein erster Strahlschuss an uns vorbei in die gegenüberliegende Wand. Feine, nebelartige Substanz stieg auf, der trüb glänzende Stahl verschwand einfach. Ich fluchte. Warum nur funktionierte deren Technik und unsere nicht? Sie ist primitiver. Reflexartig antwortete mir der Extrasinn. Möglicherweise herkömmliche Lasertechnik. Keinesfalls an UHF-Technologie gekoppelt wie die varganische oder arkonidische. »Wir haben wichtige Informationen für euch!«, rief ich zurück. »Über die Lordrichter!« Ich musste Zeit gewinnen. »Über das Schwert der Ordnung!« Schweigen. Dann die Replik: »Wir kommen und bringen euch zu unserem Kommandanten. Falls ihr irgendwelche Waffen tragt – legt sie weg. Euch wird nichts geschehen.« »Können wir ihnen vertrauen?«, fragte Kythara. Nein!, schrie der Extrasinn in mir. »Ja«, sagte ich, mühsam lächelnd. »Unsere Alternativen sind ohnehin ein wenig eingeschränkt.« Langsam wickelten wir uns aus der Spuckehaut. Dann rief ich in Richtung der Orghs: »Wir sind bereit und unbewaffnet. Ihr könnt kommen.« Ich reichte Kythara meine Hand. Gemeinsam traten wir zurück, in die Mitte des Raumes. Das Schaben und Schleifen näherte sich allmählich. Die Soldaten waren vorsichtig. Ich konnte das feste Stapfen der beiden Naruks heraushören. Es schien mir, als seien meine Sinne in dieser extrem belastenden Situation ums Zehnfache verfeinert. »Es wird alles gut«, flüsterte ich, fast reflexartig. Mein Beschützerinstinkt schlug durch. Acht, neun, zehn Mitglieder der OrghSoldateska betraten nach und nach den Raum. Dahinter Etarmagan-Murloth und Carnji. Sie wurden von einem der Insektoiden in unsere Richtung gestoßen. »Ihr habt die Wahrheit gesagt und seid
Michael Marcus Thurner tatsächlich unbewaffnet?« Ich nickte. Erinnerte mich daran, dass der Orgh die Geste unmöglich verstehen konnte, und sagte mit fester Stimme: »Ja. Und wir bringen Nachrichten von den Lordrichtern von Garb. Ihr begeht einen schweren Fehler, wenn …« »Wir haben unsere Vorschriften«, unterbrach mich einer der Insektoiden. Es war möglicherweise jener, der uns am Geruch erkannt hatte. »Sie lautet, euch zu töten.« »Aber ihr habt uns zugesagt …« »Wir haben gelogen.« Wie auf Kommando hoben vier von ihnen die Strahlwaffen, legten an und feuerten.
* Etarmagan: »Wir haben viel versäumt in unserem Leben.« Carnji: »Aber wir hatten ein paar schöne Momente.« Etarmagan: »Ja, die hatten wir.« Carnji: »Und es wird ein schöner, endgültiger Tod.«
* Noch bevor die Orghs feuern konnten, warfen sich Carnji und Etarmagan-Murloth in die Schussbahnen. Warum?, dachte ich. Die Körper der beiden Naruks, hinter denen wir uns instinktiv zusammenkauerten, diffundierten, lösten sich auf. War da ein kurzer, zufriedener Seufzer zu hören? Nein, das war wohl eine Täuschung meiner überbeanspruchten Sinne. Die Insektoiden ließen die dünnen Waffenarme kurz herabfallen. Ich hätte schwören können, Verblüffung in den an Ausdrucksmöglichkeiten so armen »Gesichtern« zu lesen. Doch schließlich legten sie erneut an, zielten auf uns, und … … hinter uns, um uns, in uns war Hitze. Wir wurden zerrissen, zerfasert, in subatomare Substanz zerstrahlt.
Die fünf herrlichen Städte
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Das ist nicht der Tod, teilte mir ein Hauch des Extrasinnes, der an mir vorbeitrieb, mit. Es ist eine Art Transition. Murloth, war mein letzter Gedanke, dann … Aus.
ENDE
ENDE
Murloths Berg von Bernhard Kempen Atlan und Kythara drohen in der Hitze zerrissen zu werden, die so plötzlich und von solch enormer Intensität einsetzt, dass die beiden ihr Bewusstsein verlieren. Was war geschehen?