BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12688 1. Auflage: August 1997 2. Auflage: Oktober 1997 Titel der amerikanischen Originala...
39 downloads
449 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12688 1. Auflage: August 1997 2. Auflage: Oktober 1997 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Homeland Komposition »Ragtime Rose« © 1993 by Charles Strouse © 1994 für die deutsche Ausgabe unter dem Titel: Licht und Schatten © 1995 Die Flamme der Freiheit by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Published by arrangement with the author c/o Rembar & Curtis, 19 West 44th Street, New York, NY 10036, USA Lizenzausgabe: Bastei Verlag Gustav H. Lübbe, GmbH & Co. Bergisch Gladbach Printed in Germany Einbandgestaltung und Illustrationen: Achim Kiel AGD/BDG PENCIL CORPORATE ART Braunschweig Satz: Kremerdruck GmbH, Lindlar Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-404-12688-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Gewidmet meinem Großvater William Carl Retz, geb. 1849 in Neuenstadt-am-Kocher, gest. 1936 in Terre Haute, Indiana Es gibt ein Photo von ihm in hohem Alter, auf dem er, immer noch gutaussehend mit seinem weißen Knebelbart, im gefleckten Sonnenlicht sitzt und einen Jungen auf dem Schoß hat. Ich erinnere mich an diesen oder einen ähnlichen Tag; die Sonne schien, und ein Exemplar von Argosy mit leuchtend gelbem Einband lag in Reichweite. Mein Großvater liebte gute Geschichten. In liebevollem Gedenken
VORBEMERKUNG DES AUTORS Dieser Roman ist der erste Band eines geplanten Zyklus über die Angehörigen einer amerikanischen Familie und ihre Verstrickung in die explosiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Man kann dieses Jahrhundert unmöglich verstehen, ohne etwas über das vergangene zu wissen. Diese Geschichte versucht daher, ein Bild von amerikanischem Leben und amerikanischer Historie in den Jahren zwischen 1890 und 1900 zu liefern, dem Jahrzehnt, in dem ein argloser Riese mit seinen Muskeln spielte und allmählich begann, ihre enorme Kraft zu begreifen und einzusetzen. Die Crowns leben in Chicago, weil es ein urtümlicher amerikanischer Ort ist und war und – was wahrscheinlich ebenso bedeutsam ist – weil ich schon immer über diesen wilden Schmelztiegel inmitten der Prärie schreiben wollte, in dem ich geboren und großgezogen wurde. Das zweite Thema des Romans, über das ich ebenfalls unbedingt schreiben wollte, ist die Situation der Einwanderer. Mein Großvater mütterlicherseits, dem dieses Buch gewidmet ist, war einer von ihnen. Er kam im Jahr 1870 in Castle Garden an. Die junge Deutsche, die er in Cincinnati heiratete, war ebenfalls eine Immigrantin. Die Wurzeln meiner Familie reichen zurück bis nach Deutschland, wo einige meiner Vettern immer noch wohnen, und zwar in Aalen, der Stadt, von der mein Großvater nach Amerika aufbrach. Deutschland, die Nation, die uns den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts bescherte, schenkte uns außerdem das weitaus größte Einwandererkontingent, das während des 19. Jahrhunderts hierher fand, starke Menschen und – trotz ihrer gelegentlich erzwungenen Loyalität – gute Amerikaner. Mein Großvater und seine Familie gelangten in Ohio und Indiana zu Wohlstand und Ansehen. Nicht alle Einwandererschicksale erfüllten sich auf diese Art und Weise. Jemand wie der Bäcker aus Wuppertal, eine eher unwichtige, aber typische Person in diesem Buch, war in der damaligen Zeit nicht gerade selten anzutreffen. J. J.
Denn er sagte, ich war ein Fremder in einem fremden Land. Exodus 2 Und ich stand heimatlos, wo Tausende daheim. William Wordsworth Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art und Weise unglücklich. Leo Tolstoi Erster Deutscher: »Ich habe einen Verwandten in Amerika.« Zweiter Deutscher: »Jeder hat einen Verwandten in Amerika.« Anonymus, um 1900
TEIL EINS
Berlin 1891-1892
Wellenumtost am Tor der Sonne sie stehen soll, Ein starkes Weib mit einer Fackel, die Flamme Ist der Blitz, von ihr gebändigt, ihr Name sei Mutter aller Fremden. 1883 The New Colossus ›von Emma Lazarus, geschrieben in der Absicht, Spenden zur Fertigstellung der Freiheitsstatue zu sammeln.‹
BERLIN 1891 – 1892
11
1 PAULI Er dachte: Wo ist mein Zuhause? Hier ist es nicht. Aus einem wackligen Wandregal neben seinem schmalen Bett zog er ein zerknittertes Stück Papier. Es war eine Weltkarte. Er hatte sie aus einem Buch herausgerissen, das er in einem Antiquariat gefunden hatte, obgleich er sich diese Geldausgabe eigentlich gar nicht hatte leisten können. Er hatte das Buch nur wegen der Karte gekauft. Er betrachtete die verschiedenen Regionen, als sei er ein gottähnliches Wesen, das die Macht hatte, an jedem Ort der Erde zu leben. Aber er wohnte in Berlin und nirgendwo sonst. Manchmal liebte er die Stadt, aber manchmal, so wie in diesem Moment, fühlte er sich dort wie in einem Gefängnis. Erschöpft von der Arbeit, war er gegen Mitternacht nach Hause zurückgekommen und lag nun unter dem alten Federbett. Er konnte nicht schlafen und studierte die Landkarte. Es war fast zwei Uhr nachts, und Tante Lotte war noch nicht zurück. Sicherlich war sie wieder mit einem ihrer Herren ausgegangen, vermutete er. Er machte sich Sorgen wegen ihr. Früher war sie eine überaus großzügige, freundliche Frau gewesen, doch nun war sie zu ihm immer so kurz angebunden, als könne sie ihn nicht leiden. Als hasse sie es, ihn in ihrer Nähe zu sehen. Sie trank mehr als gewöhnlich. Gerade an diesem Morgen hatte er vor dem Verlassen des Hauses beobachtet, wie sie zweimal über ein Möbelstück gestolpert war. Sein Zimmer kam ihm winzig und eng vor, wie eine Zelle. Der Platz reichte kaum für sein schmales Bett, einen alten Kleiderschrank, dessen fehlendes Bein durch einen Holzklotz ersetzt worden war, und für einen wackligen Hocker mit einer Petroleumlampe darauf. Ein Nachttopf stand in einer Ecke neben einer Holzkiste, in der einiges Kinderspielzeug lag. Das Zimmer gehörte zu einer Kellerwohnung. Es hatte noch nicht einmal ein Fenster. Dieser Raum war oft eisig kalt. Die meiste Zeit war er auch feucht. Tante Lotte beklagte sich, daß es darin unordentlich war, sehr un-deutsch. Das gleiche konnte man auch von ihm selbst behaupten. Seine Kleider waren meistens in Unordnung, häufig hing ihm das Hemd aus der Hose. Seine Hosentaschen waren ständig vollgestopft mit alten Bleistiftstummeln, Kreidestücken, Steinen und Papierfetzen, auf denen er seine Gedanken notierte oder was er noch erledigen mußte; auch vergaß er dort Kekse oder Süßigkeiten, bis sie schließlich zerbröselt oder geschmolzen waren. Er ging nicht mehr zur Schule. Es hatte ihm dort nie gefallen, und
12
TEIL EINS
deshalb hatte er den Schulbesuch vor einem Jahr eingestellt. Obgleich das Fernbleiben vom Unterricht gegen das Gesetz verstieß, kam niemand, um ihn zu holen. Niemanden schien es zu interessieren. Gedankenverloren berührte er die Landkarte, legte einen Finger auf einen Punkt mitten in Amerika, wo sein Onkel lebte. Wie so häufig nachts, drangen schmerzhafte Fragen in sein Bewußtsein. Fragen, die gewöhnlich so tief vergraben waren, daß er sie anderen Menschen gegenüber niemals laut äußerte. Wahrscheinlich fürchtete er, daß es darauf keine Antworten gab. Auch an diesem Abend blieben die Antworten aus. Langsam streckte er die Hand aus und legte die zerknitterte Landkarte wieder zurück ins Regal. Sein Name lautete Pauli Kroner. Er war dreizehn Jahre alt. Frühlingsregen trommelte gegen die triefnasse Glasscheibe. Blitze zuckten und leuchteten grell. Pauli blickte in das Schaufenster des Kaufhauses Wertheim in der Leipzigerstraße. Dekorateure hatten verschiedene Herrenund Damenmäntel um einen wunderschönen, prächtig kolorierten Globus drapiert. Die Erdkugel hatte an ihrer Achse Messinghalterungen und ruhte auf einem schweren, kunstvoll verzierten Holzständer. Die aufgemalten Meere und Kontinente des Globus schienen voller Geheimnisse und ungeahnter Möglichkeiten zu sein, erstaunliche Sehenswürdigkeiten, die Pauli gerne bewundert hätte. Wenn er doch nur genug Geld hätte, um sich einen solchen Globus zu kaufen … Etwas Hartes schlug gegen seinen Hinterkopf. »Verdammter Bengel! Lehn dich nicht gegen die Scheibe! Sonst zerbrichst du sie!« Pauli fuhr herum und sah den massigen Portier des Kaufhauses vor sich. Er verschwand beinahe in seinem schweren Mantel mit den goldenen Epauletten und Tressen. Regen tropfte vom Rand seiner ebenfalls betreßten Mütze herab. »Ich hab’ doch nur geguckt.« »Dann guck woanders. Wir dulden es nicht, daß so heruntergekommenes Pack wie du hier herumlungert. Das schreckt nur die Kundschaft ab.« Pauli stampfte mit dem Fuß auf und sagte: »Ich bin genauso gut wie jeder andere!« »Ach, tatsächlich?« erwiderte der Portier. »Du willst ein guter Kunde sein? Viel Geld ausgeben? Verschwinde lieber, ehe ich die Polizei rufe!« Pauli starrte den Portier wütend an, aber der Trotz verbarg nur, was er tatsächlich von sich hielt. Der Portier hatte es richtig erkannt: Er war ein Nichts.
BERLIN 1891 – 1892
13
Er rannte durch den Regen davon, die Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt. Bald darauf, an einem Sonntagvormittag, ging Pauli mit einem billigen Notizblock unter dem Arm in den Tiergarten. Am Vorabend hatte er sich nach der Arbeit anhören müssen, wie Tante Lotte klagte, daß an diesem Samstag keiner ihrer Bekannten vorbeikäme. Ihre Worte hatten schwerfällig und undeutlich geklungen. Sie hatte starken Apfelwein getrunken. Als er am Morgen das Haus verließ, schlief sie noch. Er hatte ihr Schnarchen durch die geschlossene Tür hindurch gehört. Pauli eilte mit langen, energischen Schritten durch den Tiergarten. Er sah älter aus als dreizehn. Er würde niemals eine attraktive Erscheinung sein, aber er hatte freundliche, lebhafte blaue Augen, breite Schultern und eine stämmige Figur, die seine Männlichkeit unterstrich. Das Blut seiner Vorfahren, die aus Süddeutschland stammten, floß in seinen Adern, und da in seiner Familie die Anlage zu roten Haaren vorhanden war, zeigten seine Haare einen rötlichen Schimmer. Wenn er sich wohlfühlte, verbreitete er eine Aura von Stärke und Selbstsicherheit, die sich seinen Mitmenschen stets mitteilte. An diesem Sommermorgen verbarg sich das Grün des Parks hinter einer feinen Dunstschicht. Paul steuerte auf einen ganz bestimmten Punkt zu, auf eine Erscheinung, die sein Interesse fesselte. Ein älterer Mann hatte sich auf einem mit Gras bewachsenen Hügel ausgestreckt. Er hatte seinen Strohhut und seine Meerschaumpfeife neben sich gelegt und war eingeschlafen. Dabei ragte sein dicker, mit Weste bekleideter Bauch wie ein kleiner Berg empor. Pauli kniete sich in sicherer Entfernung hin, strich das oberste Blatt des Notizblocks glatt und suchte in den Taschen nach seiner Zeichenkohle. Er leckte eine dünne Schokoladenschicht von der Spitze ab und hielt den Stift startbereit über das Notizblatt. Eifer und Nervosität versetzten ihn in eine innere Anspannung: Er wollte von dem schlafenden Mann eine möglichst gute Zeichnung anfertigen, aber er hatte Angst zu versagen. Er begann mit den äußeren Umrissen des Schläfers, wie sie sich von der Seite darstellten. Nach vier Strichen wischte er alles weg. Die Proportionen stimmten überhaupt nicht. Irgendwie schaffte seine Hand es nicht, die Signale seiner Augen und seines Geistes zu verstehen oder umzusetzen. Pauli riß das Blatt ab und zerknüllte es fluchend. Der alte Mann erschrak, setzte sich auf und sah ihn an. Pauli errötete. Er sprang auf und rannte mit dem Notizblock und der Zeichenkohle davon. Dabei vergaß er sogar, die losen Blätter aufzuheben, die im Gras zurückblieben.
14
TEIL EINS
Weshalb versuchte er es ständig wieder? Er wollte so gerne die wunderbaren Ansichten und Erscheinungen zeichnen, die so reichlich auf der Welt vorhanden waren. Aber er hatte nur wenig Talent dazu. Er bemühte sich immer wieder aufs neue, und jedesmal ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Manchmal kam es ihm so vor, als habe er zu nichts Talent. Einmal mehr stand Pauli auf dem Gehsteig vor dem großen Kaufhaus Wertheim in der Leipzigerstraße. Der Portier war nirgendwo zu sehen. Es war Ende Juli; die Abendsonne war angenehm warm und tauchte alles in ein goldenes Licht. Pauli sah eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Dame mit einem Einkaufsnetz aus dem Kaufhaus herauskommen. In diesem Augenblick löste sich ein bärtiger Mann aus der Schar der Passanten und stieß die alte Frau brutal zu Boden. Sie schrie auf, während er ihr das Einkaufsnetz entriß, wütend fluchend zwei Dosen Tee herausholte und dann kehrtmachte, um durch die Menschenmenge zu entkommen. Dabei rannte er auf Pauli zu. Pauli zögerte nicht. Er warf sich quer auf den Gehsteig. Der Dieb konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und stolperte über den Jungen. Pauli packte den zerschlissenen Mantelsaum des Diebs und brachte den Mann endgültig zu Fall. Dabei schlug er heftig mit dem Kopf aufs Pflaster. Der unfreundliche Pförtner erschien, aber er beachtete Pauli nicht. Aufgeregt beugte er sich über die alte Dame, redete beruhigend auf sie ein, während er ihr beim Aufstehen half und sie in das Kaufhaus geleitete. Der benommen am Boden liegende Dieb rührte sich und versuchte aufzustehen. Aber Pauli setzte sich auf ihn und hielt ihn fest. Zwei Kaufhausdetektive kamen heraus, um den Mann in Gewahrsam zu nehmen. Pauli stand auf und klopfte sich den Staub ab. Ein paar aufgebrachte Passanten versammelten sich und ballten drohend die Fäuste vor dem Straßenräuber. Die Polizei traf ein. Die Beamten bestanden darauf, daß Pauli auf die Wache mitkam. »Aber ich bin hier mit einem Freund verabredet.« Der Freund war Tonio Henkel, dessen Vater eine gutgehende Konditorei auf der Allee Unter den Linden besaß. »Keine Widerrede, du kommst mit!« Einer der Polizeibeamten ergriff seinen Arm, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Sie brachten ihn in ein Zimmer mit schmuddeligen gelben Wänden und dem unvermeidlichen Heldenbild von Kaiser Wilhelm II. als einzigem
BERLIN 1891 – 1892
15
Wandschmuck. Zwei ernsthafte Kriminalbeamte schossen ihre Fragen wie Kugeln ab. »Name?« »Pauli Kroner.« »Alter?« »Vierzehn, im vergangenen Monat. Am 15. Juni.« »Adresse?« Widerstrebend nannte er die Hausnummer der Müllerstraße. Die Beamten tauschten einen schnellen Blick aus. Sie kannten die Gegend. Eine heruntergekommene Straße in einer der Arbeitersiedlungen. Beinahe ein Elendsviertel. In der nächsten halben Stunde wiederholte Pauli seine Geschichte mehrmals. Plötzlich schlug eine Klingel an. Einer der Beamten wurde nach draußen gerufen. Als er drei Minuten später wieder erschien, hatte sein Verhalten sich völlig verändert. »Ich habe gerade ein Telephongespräch geführt«, sagte er zu Pauli. »Du hast einer sehr einflußreichen Dame geholfen. Frau Flüsser. Sie ist die Schwiegermutter des stellvertretenden Kaufhausdirektors. Sie möchte, daß du morgen zu ihr kommst. Um neun Uhr. Ich glaube, sie will dir eine Belohnung geben. Ich schreibe dir ihre Adresse auf.« Der andere Kriminalbeamte klopfte ihm auf die Schulter. »Bist ein aufgeweckter Junge.« Vor Erleichterung und Freude benommen, verließ Pauli das Gebäude und rannte zum vereinbarten Treffpunkt mit seinem Freund in der Allee Unter den Linden. »Und der Polizist hat tatsächlich gesagt, du seist ein aufgeweckter Junge?« fragte Tonio Henkel. Er und Paul saßen an einem der hinteren Tische in der Konditorei Henkel. »Ja, das hat er«, antwortete Pauli achselzuckend und mit dem Tonfall gespielter Bescheidenheit. Er stopfte sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund, kaute ein paarmal und schluckte es hinunter. Tonio lächelte. Sein großes rundes Gesicht wippte über der Tischplatte auf und ab. Sein Kopf war viel zu groß für seinen zarten Körper. Pauli und Anton Henkel hatten sich bereits in der Volksschule angefreundet, von der Pauli im Vorjahr zu Ostern nach dem siebenten Schuljahr abgegangen war. Er war nach dem vierten Schuljahr nicht auf die Oberschule übergewechselt wie viele intelligente Schüler. Deshalb gehörte er zu jenen, die niemals eine bessere Ausbildung am Gymnasium erhalten würden. Tante Lotte hatte gegen seinen Schulabgang nur wenige Argumente vorgebracht. Sie
16
TEIL EINS
brauchten jeden Pfennig, den er nun dazuverdienen konnte. Paulis Abgang von der Schule hatte seiner Freundschaft mit Tonio keinen Abbruch getan. Er mochte Tonios Sanftheit und seine anhaltende gute Laune. »Ich bekam es mit der Angst, als ich zu Wertheim kam und du nicht dort warst«, gestand Tonio ihm. »Ich konnte nichts dafür«, entschuldigte Pauli sich und bediente sich erneut von dem Kuchen, den er ebenso schnell vertilgte wie das Stück zuvor. Er warf einen Blick auf die vergoldete Wanduhr. Kurz vor zehn. Er mußte nach Hause und früh zu Bett gehen, um am nächsten Tag pünktlich zu sein. »Wann besuchst du die alte Dame, die dich belohnen will?« erkundigte sich Tonio. »Morgen früh um Punkt neun.« »Was meinst du, was die alte Dame dir geben wird? Vielleicht darfst du dir was wünschen.« »Ach, das glaube ich nicht.« Tonio grinste. »Vielleicht schenkt sie dir eine Fahrkarte nach Amerika.« »O ja, die wünsch’ ich mir«, sagte Pauli spöttisch. Dann fuhr er fort: »Ich gehe jetzt besser. Tante Lotte kennt meine Arbeitszeiten genau, sie weiß, daß meine Schicht zu Ende ist. Sicherlich wird sie sich schon längst fragen, wo ich bleibe.« Tonio ging mit ihm nach vorne in den Laden. Dabei hielt er seinen großen Kopf leicht gesenkt, als trüge er eine unendlich schwere Last. »Wie klappt es in der Schule?« wollte Pauli wissen. Tonio schien auf diese Frage nur ungern zu antworten. »Die Schule. Ja – nun, also – da hab’ ich schlechte Neuigkeiten.« Pauli blieb an der Tür stehen und warf einen Blick hinaus auf das Treiben der Allee. Die Linden, die ihr den Namen gaben und die Gehsteige säumten, bewegten sich sacht im Wind. Hübsche Pferdekutschen rumpelten vorüber. Der Abend war klar und frisch. Kälteres Wetter war von der Nordsee herangezogen. Pauli bemerkte einen völlig untypischen Ausdruck der Angst in den Augen seines Freundes. »Du weißt doch, daß jede Woche der Arzt zu uns kommt und uns auf Anzeichen von Krankheit oder Lernschwächen untersucht?« Pauli nickte. »Heute wurde ich untersucht und – äh – ausgesondert. Ich muß in Zukunft eine besondere Schule besuchen. Eigentlich soll es eher ein Lager sein, wie erzählt wird. Im Herbst werde ich dort angemeldet. Der Arzt sagte, es täte ihm leid, aber es sei notwendig.« »Das ist ja schlimm, Tonio.« Wenn ein Schüler von der Schule genommen wurde, weil er behindert oder geistig schwach war, dann gab es
BERLIN 1891 – 1892
17
keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu beeinflussen. Der Schularzt hatte einmal, als er zu einem Untersuchungstermin in der Schule war, erklärt: »Es ist die einzige Möglichkeit, um das Niveau zu halten. In Deutschland herrscht jetzt ein neuer Geist.« Wenn der neue Geist so aussah, dann hatte Pauli wenig dafür übrig. Vielleicht war das auch der Grund, daß er sich so brennend für das Land interessierte, in das sein Onkel vor einigen Jahren ausgewandert war. »Tonio, das tut mir wirklich leid.« »Ja, mir auch. Aber mach dir keine Sorgen, ich komme schon irgendwie zurecht.« Pauli legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter, drückte sie und machte sich auf den Heimweg. Seine Absätze klapperten auf dem Pflaster, als er durch die Straßen wanderte. Welkes Laub raschelte im kühlen Wind. Die Straßen hallten vom Lachen und den lebhaften Gesprächen der Passanten wider. Aus den Bierhallen drangen rauhe Stimmen und das Klirren von Bierkrügen. Dazwischen erklang die melodische Weise eines Leierkastens. Angesichts der Verabredung am nächsten Morgen war die Nacht voller Erwartung und Zauber. Pauli liebte Berlin wieder. Nun, warum auch nicht? Berlin war schließlich eine der größten Metropolen der Welt. Anderthalb Millionen Menschen drängten sich in den alten Straßen und erzeugten ständig Lärm und Hektik, zugleich aber auch eine Atmosphäre voller Energie, Kraft und Bedeutsamkeit. Das Rumpeln und Rattern der Kutschen und Pferdewagen würde bis zum frühen Morgen nicht verstummen. »Spree-Athen« nannten die alten Bewohner ihre Stadt. Für Rathenau, den Inhaber der Elektrizitätswerke, war sie wegen des Qualms, des Schmutzes und der unaufhaltsamen industriellen Entwicklung das »Chicago an der Spree«. Tante Lotte hatte andere, weniger schmeichelhafte Namen für die Stadt. »Dreckloch des Elends« war einer davon. In den Straßen sah man alle Arten von Menschen. Elegante Frauen und zerlumpte Zigeunerinnen. Reisende, Beamte, Geschäftsleute, Juden mit der typischen Barttracht und Schläfenlocken, bekleidet mit schwarzen Anzügen und langen schwarzen Mänteln. Pauli hatte noch nie mit einem Juden gesprochen, von den Ladenbesitzern unter ihnen einmal abgesehen. Man sah alte Landjunker, die von ihren Gütern angereist waren. Sie blickten überheblich und rauchten teure schlanke Zigarren. Tonios Vater behauptete immer, die Junker kontrollierten das Land, das neue kaiserliche Deutschland. Er sagte, der Eiserne Kanzler, Bismarck, habe die alte »Stahl-
18
TEIL EINS
und Roggenbande« zurückgeholt – die Soldaten und die Landbesitzer. Er sagte, ihr Einfluß sei gut für Deutschland im Verbund mit der Politik Bismarcks, der die Bedeutung Deutschlands durch ein starkes Militär festigen wollte. Ja, Berlin bot ein prächtiges Bild. Aber Pauli war nicht mehr so überzeugt, daß Berlin für immer seine Heimat sein würde. Er dachte immer häufiger an Amerika. Vor allem an eine Stadt, an Chicago, und an den Onkel, den er nie kennengelernt hatte. Den Onkel, der Bierbrauer war und reich. Außerdem verabscheute Pauli seine Arbeit in der Küche des berühmten und eleganten Hotels Kaiserhof. Dort wischte er den gefliesten Küchenboden, räumte die Tabletts mit schmutzigem Geschirr ab und leerte die stinkenden Eimer mit den Küchenabfällen, bemüht, den Faustschlägen und Fußtritten der leicht aufbrausenden Köche auszuweichen. Manchmal arbeitete er tagsüber und manchmal bis tief in die Nacht, aber die Plackerei war immer die gleiche. Der einzige Lichtblick war die Möglichkeit, sich ab und zu für einige Minuten zu Herrn Trautwein, dem Hausdiener, davonzustehlen. Er war ein stämmiger Junggeselle, der, wann immer es möglich war, in die Betten der weiblichen Gäste kroch. Er begeisterte sich außerdem für moderne Erfindungen jeder Art und erzählte ununterbrochen, aber niemals langweilig, vom neuen Zeitalter der Mechanisierung, das im nächsten Jahrhundert die Welt erleuchten würde. In der Müllerstraße klapperten die Abortentleerer – durchweg Frauen – mit den Deckeln der Fäkalienbehälter, als Pauli um die Ecke bog. Jemand beugte sich aus einem Fenster, um sich über den Lärm zu beschweren. Der Fäkaliengestank trieb durch die triste Straße. Nur der warme, würzige Geruch, der von der Norddeutschen Brauerei ein paar Straßen weiter herübergeweht wurde, milderte den durchdringenden Gestank von Exkrementen und Schmutz. Die Glocke der katholischen Kirche eine Straße weiter schlug die Viertelstunde. Pauli lief die Treppe zur Tür der Kellerwohnung hinunter, die er zusammen mit Tante Lotte und ihren zahllosen Herren bewohnte. Für lange Zeit, ehe Tante Lotte sich entschloß, Herrenbesuche zu empfangen, war eine Ecke des Wohnzimmers von ein oder zwei Schlafburschen benutzt worden, Untermietern, die tagsüber außer Haus waren und nachts hinter einem Vorhang dort schliefen. Nun gelangte jeder Gast früher oder später in Tante Lottes Schlafzimmer. Pauli öffnete die Tür. Es war eine kleine Wohnung mit bemalter Gipsdecke, die eine bedrückende Wirkung hatte. Die unentbehrlichen,
BERLIN 1891 – 1892
19
allmählich vergilbenden Spitzenvorhänge verbargen die wenigen Fenster des Raumes. Das Wohnzimmer, wo Pauli seine Tante antraf, war mit dunklen Möbeln zugestellt. Sie trug ihr bestes geblümtes Kleid und hatte Besuch von einem Amerikaner, der ungefähr alle sechs Monate bei ihr erschien. »Du kommst spät, wo warst du?« fragte Tante Lotte. »Du siehst ja noch unordentlicher aus als sonst.« Lotte war dreiundvierzig Jahre alt, eine attraktive, vollbusige Frau mit braunen Locken, hellblauen Augen und einem verkrüppelten linken Fuß. Der linke Schuh hatte eine mehrere Zentimeter dicke Sohle, und wenn sie ging, bemühte sie sich ständig, nicht zu sehr zu hinken. Pauli dachte oft, daß der Fuß sie sicherlich um die schönen Dinge des Lebens gebracht habe. Natürlich, sie legte auch einen gewissen Eigensinn an den Tag. Sie war sehr unabhängig und von sich selbst eingenommen, was er bei jemandem, der in solch ärmlichen Verhältnissen lebte, überaus sonderbar fand. Von ihrer Frage eingeschüchtert, wußte Pauli nicht, wo er anfangen sollte. Lotte hob ihr Glas. »Na los, red schon! Ich will eine Erklärung.« »Ich wurde auf dem Polizeirevier festgehalten –« »Polizei!« rief sie entsetzt. »Mein Gott, was hast du getan?« »Heh, laß den Jungen doch ausreden«, sagte der Gast. Er erhob sich, um sich ein weiteres Glas Champagner einzugießen. Er brachte immer eine Flasche als Gastgeschenk mit. Phil Reynard bereiste ganz Europa und verkaufte Globus-Nähmaschinen. Er war ein sich lässig bewegender, rundlicher Mann, der seine Haare färbte, damit sie ihre glänzende braune Farbe behielten. Sein Deutsch war hervorragend. »Nun erzähl schon, und faß dich kurz«, verlangte Tante Lotte. Und Paul berichtete alles. »Nicht schlecht, gar nicht übel. Er hat sich sogar eine Belohnung verdient«, sagte Reynard und lächelte amüsiert. Nun schenkte Tante Lotte sich von dem Champagner nach. »Schön, ich glaube, du hast das Richtige getan. Das entschuldigt jedoch nicht die Tatsache, daß dir alles Mögliche hätte zustoßen können. Gewöhn dir nur nicht an, dich mit Kriminellen abzugeben, Pauli. Und eins noch, wenn du morgen danach gefragt werden solltest, was du dir als Belohnung wünschst, dann bitte um Geld. Und jetzt geh ins Bett, und laß uns in Ruhe!« Pauli ging durch den langen, dunklen Korridor zu seinem Zimmer. Dort zündete er die Petroleumlampe an – in diesem Keller gab es noch kein elektrisches Licht. Er versetzte der Tür einen heftigen Stoß, damit das Schloß einschnappte. Während er seine Jacke abstreifte, fragte er sich, niedergeschlagen wie
20
TEIL EINS
schon so oft zuvor, was über seine Tante gekommen war. Bis vor einem Jahr hatte zwischen ihnen eine liebevolle, großzügige Beziehung bestanden. Dann hatte irgend etwas dafür gesorgt, daß sie sich veränderte. Er konnte nicht erraten, was es war, aber die Veränderung war da. Er konnte sie sogar an ihrem Gesicht ablesen, das früher einmal rosig und gesund gewesen war, nun jedoch ein geisterhaftes Grau angenommen hatte. Er sah sich in dem erbärmlichen Zimmer um, und sein Blick fiel auf die Andenkensammlung, die auf die alte Tapete mit ihren eher an Unkraut erinnernden Blumen geheftet worden war. Der größte Teil der Sammlung bestand aus Ansichtspostkarten mit vorwiegend exotischen Szenerien. Die Sphinx. Ein Rikschafahrer vor der Chinesischen Mauer. Die Zwiebeltürme von Moskau. Ein amerikanischer Cowboy auf seinem Pferd. Eine imposante Felsformation namens El Capitan im Yosemite Valley, einem abgelegenen Ort in Amerika. Postkarten mit Landschafts- und Witzmotiven waren in Deutschland überaus beliebt. Wenn die Bilderklärungen in Englisch waren, übersetzte Tante Lotte sie ihm. Dank der internationalen Kontakte in ihrem Gewerbe beherrschte sie verschiedene Sprachen bruchstückhaft. Pauli wurde es niemals leid, die Postkarten zu betrachten. Zwei Heftzwecken hielten die schwarz-rot-goldene Flagge der gescheiterten Revolution von ‘48. Darunter befanden sich Fähnchen in weiß, rot und blau, die er von einem Diplomatenempfang im Hotel mitgenommen hatte. Sie erinnerten ihn anschaulich und ständig daran, daß er einen Onkel in Amerika hatte. Pauli bemühte sich, nicht zu oft an seinen Wunsch zu denken, seinem Onkel zu folgen, denn der Traum war derart phantastisch, daß er ihm schon absurd vorkam. Er hatte jedoch ein Symbol dafür, das er separat von den anderen Postkarten und Andenken festgeheftet hatte. Es war ein rechteckiges Stück Pappe für ein Zimrnerstereoskop, sepiafarben und an zwei Ecken geknickt. Einer der Herren seiner Tante hatte es ihm gegeben, ein fetter Amerikaner, der Dynamos verkaufte und versuchte, SiemensHalske damit Konkurrenz zu machen. Auf der Karte blickte die Kamera in zwei Ansichten über den Bug eines großen Schiffes, das gerade in den Hafen von New York einlief. Die große Stadt ragte im Hintergrund auf. Im Vordergrund stand eine wundervolle Statue auf einer felsigen Insel. In der erhobenen Hand hielt sie die Fackel der Freiheit. In der Beuge ihres linken Arms ruhte eine große Schrifttafel. Ihr Gesicht unter den Strahlen ihrer Krone war ausdrucksstark und bildschön. Sie sei das erste, was die Einwanderer zu sehen bekämen, hatte der fette Amerikaner erzählt. Ihr Name lautete: »Die Freiheit, die die ganze Welt erleuchtet«. Sie hatte
BERLIN 1891 – 1892
21
Millionen anderer Ankömmlinge begrüßt, würde sie auch ihn begrüßen, wenn er die lange Reise auf sich nähme? Er amüsierte sich über den lächerlichen Gedanken. Wie sollte er jemals eine Ozeanreise unternehmen? Er konnte sich kaum von Tag zu Tag behaupten, und um zu überleben, versorgte er sich aus den Lieferungen überalterten Rindfleisches, die der Kaiserhof zurückgehen ließ. Er machte sich schnell für die Nacht fertig, löschte die Lampe und schlüpfte unter die dünne Steppdecke. Die Sommernacht hatte sich schlagartig abgekühlt. Er konnte sich nicht entspannen, mußte vielmehr immerzu an den nächsten Morgen denken. Der Staub in den Kissen reizte ihn zum Niesen und ließ ihn mit weit aufgerissenen Augen hochschrecken. Als er sich wieder hinlegte, störten ihn Geräusche aus dem anderen Schlafzimmer. Zuerst Tante Lottes mattes Husten, dann das vertraute Knarren und Quietschen des Bettgestells, gefolgt von lauten Stöhn- und Ächzlauten des Nähmaschinenvertreters. Pauli hatte sich lange genug auf der Straße herumgetrieben und wußte, was Männer und Frauen mit- und füreinander taten. Allerdings hatte er selbst bisher noch keine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet sammeln können. Er hatte gehört, daß Frauen dabei Vergnügen empfanden, daß sie es aber nicht zugeben durften. Gewiß hatte Tante Lotte keinen Spaß dabei. Nichts an ihr deutete darauf hin, daß ihr überhaupt noch etwas Spaß machte.
2 CHARLOTTE Lotte Kroner blickte auf das Bild, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Der Nähmaschinenvertreter schnarchte leise. Eine Hand mit einem protzigen Saphirring hatte er auf ihren massigen Oberschenkel gelegt. Die heruntergedrehte Lampe flackerte und ließ die verblaßte Metallplatte der Daguerreotypie in dem goldenen Rahmen matt schimmern. Das junge Mädchen auf dem Bild hatte wunderschöne, regelmäßige Gesichtszüge und dichtes, glänzendes Haar. Lotte wußte, daß es rot war. Das Mädchen war ihre uneheliche Tochter, über die sie mit Pauli niemals redete, ganz gleich wie oft er nach ihr fragte. Sie zog die mit Daunen gefüllte Steppdecke hoch, die an vielen Stellen gestopft und mit Flicken besetzt war. Die Decke hatte ebenso zu ihrer Aussteuer gehört wie all die andere Bettwäsche, die sie immer noch benutzte. Dann rutschte sie etwas weiter hoch, damit das dreieckige Keilkissen ihren Rücken etwas besser stützte. Reynard bewegte sich im Schlaf und murmelte protestierend. Sie achtete nicht darauf. Sie hatte
22
TEIL EINS
andere, weit größere Sorgen, vor allem mit ihrem Neffen. Ihr blieb nur noch wenig Zeit, ihm zu einem besseren Leben zu verhelfen. Sehr wenig Zeit. Als wolle er sie daran erinnern, schnitt ein scharfer Schmerz durch ihre Kehle. Sie preßte eine Hand auf den Mund, um ein Husten zu ersticken, und der Krampf löste sich wieder. Paulis Gesicht verfolgte sie, vor allem der verletzte Ausdruck seiner Augen, wenn sie in scharfem Ton im Wohnzimmer mit ihm redete. Sie wollte eigentlich nie unfreundlich zu ihm sein. Sie liebte ihn. Harte Worte und böse Blicke waren ein Teil ihrer sorgfältig geplanten Taktik, mit der sie zwischen ihnen beiden eine größere Distanz schaffen wollte. Es sollte ihm den Entschluß erleichtern, von Berlin wegzugehen. Das verstand er nicht. Wie sollte er auch? Ein weiteres vertrautes Bild schob sich in ihre Gedanken. Teile des wunderschönen blau-grauen Steingutgeschirrs aus Süddeutschland, das von ihren Freundinnen am Abend vor ihrer Hochzeit vor ihrem Haus zerschlagen worden war. Das Zertrümmern von Porzellan und Steingut am Polterabend sollte die bösen Poltergeister davon abhalten, einer Ehe zu schaden. Als ob ihr das etwas genutzt hätte. Sogar später noch war zerbrochenes Geschirr für Lotte ein Symbol ihres erbärmlichen Daseins. Der Marktflecken Aalen liegt gut vierzig Kilometer östlich von Stuttgart in Württemberg inmitten der idyllischen grünen Ausläufer des Schwäbischen Jura. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich in der Stadt nur wenig verändert seit jener fernen Zeit, als eine römische Kavallerieeinheit dort stationiert war, um die Grenzen des Imperiums zu bewachen. Die Wurzeln der Familie Kroner reichten tief in die Erde dieses kleinen Teils von Deutschland. Die Schwaben waren schon immer ein unbequemes, eigensinniges Volk gewesen. Fleißig und eifersüchtig über alles wachend, was sie sich erarbeitet hatten. Württemberg und Bayern waren der reinste Zunder für die revolutionären Feuerstürme, die 1848 in Paris entfacht wurden, über die Grenze schlugen und schließlich über ganz Deutschland hinwegfegten. Lottes Vater, Thomas Kroner, besaß ein kleines Hotel und eine Brauerei in der Radgasse in Aalen. Er galt in der Umgebung als revolutionärer Rädelsführer. Er zog sofort los, um sich an den Demonstrationen in Baden zu beteiligen. Unterdessen tagte in Frankfurt die Nationalversammlung. Nachdem einige Reformen verfügt worden waren und man sich um die Vereinigung vieler kleiner Staaten bemüht hatte, kamen die Delegierten nicht weiter. Sie konnten sich nicht über die Grenzen einer neuen Nation einig werden. Als
BERLIN 1891 – 1892
23
dem König von Preußen die Kaiserkrone eines konstitutionellen Deutschlands angeboten wurde, erklärte er, daß er niemals ein Zeichen der Herrscherwürde annehmen werde, »das aus dem Schmutz und dem Abfall der Untreue und des Verrats besteht«. Auf diese Weise in ihrer Haltung bestärkt, intensivierte die Land besitzende Klasse, die Junker, ihren Widerstand, und die Nationalversammlung löste sich auf. Im darauffolgenden Frühjahr kam es in Württemberg erneut zu Unruhen. Der Großherzog bat Preußen um Hilfe, und zwei Militäreinheiten unter dem Befehl von Kronprinz Wilhelm rückten auf Baden vor. Am 23. Juli 1843 kam es zur endgültigen Kapitulation der Revolutionäre. Es war das Ende der großen Hoffnung auf eine neue, demokratisch vereinte Nation, symbolisiert durch die drei Farben der Nationalflagge. Die Aristokraten hatten gesiegt. Hunderte der »Männer von ‘48« waren verbittert und flohen nach Amerika, weil sie um ihr Leben fürchteten. Thomas Kroner galt als einer der Anführer des Aufstands. Er hatte vier Kinder und eine Ehefrau, Gertrud Retz. Er hatte auch ein Geschäft, an das er denken mußte. Daher weigerte er sich, trotz der Gefahr, zu fliehen oder sich auch nur zu verstecken. Die Behörden verhafteten und verurteilten ihn. Er wurde schließlich drei Tage vor Weihnachten hingerichtet. Charlotte Kroner war das dritte Kind von Thomas und Gertrud. Während der Haft ihres Vaters wurde ihr ältester Bruder, Alfred, ebenfalls verhaftet und in eine Zelle gesperrt. Dort hielt man ihn achtundvierzig Stunden lang fest. Er war neun Jahre alt. Sadistische Gefängniswärter mißhandelten den Jungen mit Schlagstöcken. Durch die Prügel wurde ihm das linke Bein gebrochen. Der Schaden war irreparabel. Als Krüppel konnte Alfred Kroner danach kaum genug für seinen Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht aus Angst unterstützte er für den Rest seines Lebens begeistert jegliche Autorität und den vereinten deutschen Staat, der sich nach und nach herausbildete. Lotte selbst war bereits mit einem deformierten Fuß zur Welt gekommen. Manchmal – so dachte sie voller Bitterkeit, als sie älter wurde – schien es, als ob das Schicksal, die Geschichte oder irgendeine übelwollende himmlische Macht fast jeden Angehörigen der Familie Kroner gezeichnet hätte. Lotte war fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß Geist und Gemüt ihres Neffen nicht durch ein erbärmliches Leben eingeengt würden. Lottes Mutter war im Jahr 1853 gestorben. 1861 heiratete ihr verkrüppelter Bruder Alfred Karoline Wissen, eine junge Frau aus Aalen, die ihm keine
24
TEIL EINS
Kinder gebären konnte. 1871 wurde nach der Niederlage Frankreichs im FranzösischPreußischen Krieg im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das neue Deutsche Reich ausgerufen. Es war die Ära Bismarcks, des Eisernen Kanzlers. Er schwor gewalttätige Fürsten, Stadtstaaten und räuberische Lehnsherren auf die Idee des Nationalismus ein, verschmolz ihre Gebiete im Siegestaumel des Französisch-Preußischen Krieges und schmiedete daraus seine ganz persönliche Vision – das Erste Reich. Alfreds Frau Karoline starb ‘73, während das neue Deutschland aufblühte. Alfred heiratete bald darauf Pauline Marie Schönau, die ihm einen Sohn, Lottes Neffen, gebar und wenig später ebenfalls starb. Lotte hatte zwei weitere Brüder. Der Zweitälteste, Josef, war ihr ganzer Stolz. Aus eigenem Entschluß hatte er 1857 mit fünfzehn Jahren Aalen verlassen. Er hatte den Atlantik überquert und war in die amerikanische Großstadt Cincinnati gelangt, wo sich bereits zahlreiche andere Deutsche niedergelassen hatten. Im Staat Ohio entwickelte Josef ungewöhnliche Fähigkeiten in der Kunst des Bierbrauens, die er schon als Junge kennengelernt hatte. Er kämpfte im blutigen Bürgerkrieg und schlug sich für die Abschaffung der Sklaverei. Nach dem Krieg heiratete er und zog mit seiner Frau in eine größere Stadt, nach Chicago. Von dort schickte er Lotte regelmäßig Weihnachtsgeschenke sowie Grüße und Neuigkeiten aus seiner Familie auf wertvollem Briefpapier. Er änderte die Schreibweise seines Namens, so wie es auch seine in Deutschland geborene Ehefrau bereits getan hatte. Er beantragte die amerikanische Staatsbürgerschaft und wurde in jeder Hinsicht ein vollwertiger Amerikaner. Seine drei Kinder wuchsen unter dem Namen »Crown« auf. Der jüngere Bruder, Gerhard, war gelernter Bäcker. Nachdem das familieneigene Hotel und die Brauerei zur Tilgung alter Schulden verkauft worden waren, entschied er sich, in Aalen zu bleiben. Er war ein frommer Mensch und hatte wenig Ehrgeiz. Er backte und verkaufte sein Brot und seine sonstigen Backwaren in bescheidenen Mengen und war mit dem zufrieden, was er hatte. Lotte wußte, daß Gerhard sie für unmoralisch hielt und daß Josef für ihn gestorben war, da er angeblich Deutschland verraten hatte. Sie hatte Gerhard seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und lehnte weiterhin jeden Kontakt mit ihm ab. So wie Lotte es betrachtete, hatte sie in Aalen keine Angehörigen mehr. Lottes Ehe mit einem Möbeltischler aus einem Dorf in der Nähe von Aalen war beinahe genauso schnell zerbrochen wie die blaugrauen Tontöpfe an ihrem Polterabend. Ihr Mann war eine vierschrötige Erscheinung und glaubte fest an das Prinzip, daß eine Frau ihr Leben einzig
BERLIN 1891 – 1892
25
und allein den drei K’s zu widmen habe – Kinder, Küche, Kirche. Als Lotte auf vielfältige Art und Weise deutlich machte, daß sie das etwas anders sah, versuchte ihr Mann seinen Standpunkt mit der Faust durchzusetzen. Nach elf Monaten Ehe packte Lotte eines Abends einfach ihre Siebensachen zusammen, bedeckte ihre Blessuren mit Schminke, setzte sich in den nächsten Zug nach Stuttgart und kehrte nie mehr zurück. Ihr eigentliches Ziel hieß Berlin. Sie sehnte sich nach dem luxuriösen Stadtleben und suchte sich wohlhabende Herren, die sie in die Oper und in teure Restaurants ausführten, wofür sie ihnen dann häppchenweise ihre Gunst schenkte. Einer dieser Herren war Christines Vater. Unglücklicherweise verfügte Lotte weder über das makellose Äußere noch die Intelligenz, um eine erfolgreiche Kurtisane zu werden. Um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu sichern, mußte sie in Fabriken arbeiten, was sie nicht ohne triftigen Grund verabscheute. Damals mußte ein Mann – wenn er Glück hatte – für einen Wochenlohn von achtzehn bis zwanzig Mark harte Arbeit leisten. Frauen verdienten gewöhnlich vierzig bis fünfzig Prozent weniger. Mit fortschreitendem Alter mußte Lotte erkennen, daß sie nicht in der Lage war, ihrer Tochter die notwendige Erziehung angedeihen zu lassen. Christine war ein bildhübsches Kind. Sie war außerdem sehr eigensinnig. Als sie zehn war, schickte Lotte sie als Hausangestellte zu einer angesehenen und wohlhabenden Familie in Ulm. Sie hoffte inständig, daß Christine nicht zu schön und zu halsstarrig war, um ihre Stelle zu behalten, aber was wirklich geschah, erfuhr sie nicht. Genauso wie bei Pauli gab sie sich alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, als habe sie das Mädchen gar nicht gewollt. Damit wollte sie bewirken, daß Christine sich in ihrem neuen Zuhause heimisch und geborgen fühlte. Erst nach dem Abschied von Christine verfiel Lotte mehr und mehr dem Alkohol. Lottes Chancen sanken stetig. Sie wehrte sich verzweifelt gegen den Abstieg. Auf keinen Fall wollte sie in einem Stift landen, damals eine wohltätige Einrichtung für Frauen, die an der Erfüllung des weiblichen Daseins – Heirat, Kinder und die Führung eines ordentlichen Haushalts – gescheitert waren. Eine neue Ehe lehnte sie ab, da deutsche Männer sich nichts anderes wünschten als eine Dienerin, die sie mit der Bezeichnung »Ehefrau« aufwerteten. Ihr Bruder Gerhard hatte ihr, ein paar Monate, bevor er sie endgültig verurteilte, einen Brief geschrieben, in dem er ihr anbot, nach Aalen zurückzukehren und bei ihm, seiner Frau und seiner wachsenden Kinderschar zu leben. Vielen Dank, hatte Lotte gedacht. Sie hatte derartige Arrangements bei anderen Familien häufig genug mitansehen können. Die arme Verwandte, die alte Jungfer, wurde zur
26
TEIL EINS
Sklavin degradiert und gab ihre Unabhängigkeit für ein winziges Zimmer und tägliche Plackerei auf, um bis an ihr Lebensende ein Gegenstand des allgemeinen Mitleids zu sein. Daher stürzte Lotte sich zwischen unangenehmen Arbeiten in eine Reihe unbefriedigender Beziehungen. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zu dem Gewerbe, das sie derzeit ausübte. Sie war keine Hure, die auf der Straße operierte. So tief war sie noch nicht gesunken. Mittels gezielt verteilter Schmier- und Trinkgelder in den guten Hotels lernte sie durchreisende Fremde einer ganz bestimmten Klasse kennen. Sie besuchte in ihrer Begleitung Theater und Cafés und nahm sie anschließend mit in ihre Kellerwohnung. Auf diese Weise hielt sie sich über Wasser. Für die Ladeninhaber und andere Bekannte im Viertel rund um die Müllerstraße war sie Frau Kroner, eine schwäbische Witwe mit bescheidenem Vermögen. Keiner der Nachbarn bezichtigte sie der Lüge, so offensichtlich falsch ihre Geschichte auch war. Der Gemüsehändler machte das Spiel sogar mit, indem er besorgte Fragen nach ihrem Freund stellte. Daraufhin erfand sie weitere Legenden und Lügen. Paulis Vater Alfred war 1881 gestorben, vier Jahre nachdem seine Frau Pauline den Jungen zur Welt gebracht hatte. Pauline selbst verschied im Jahr 1885. Gerhard, der sich wahrscheinlich über die verschiedenen Fehlschläge und Unzulänglichkeiten seiner Verwandten ärgerte, erklärte, in seinem Haus sei es einfach zu eng, um Pauli bei sich aufzunehmen. Am Neujahrstag des Jahres 1886 traf Pauli Kroner, acht Jahre alt und schnell heranwachsend, mit ein paar Kleidern in einem billigen Koffer auf dem Bahnhof in Berlin ein. Er hatte eine schroff formulierte Nachricht von Gerhard bei sich, aus der hervorging, er weigere sich, die Mühe auf sich zu nehmen und mit Josef in Amerika zu korrespondieren. Pauli werde in ihre Obhut gegeben. Lotte bemerkte eine gewisse gehässige Schadenfreude zwischen den Zeilen von Gerhards Schreiben. Es machte ihr nichts aus. Freudig übernahm sie die Verantwortung für Pauli. Sie war glücklich über seine Gesellschaft, über seine Energie und seine ständig gute Laune. Natürlich stellte sie schon sehr bald fest, daß dieses Leben für ihn nicht besonders angenehm war. In der Gemeindeschule wurde er wie einer der ärmsten Wohlfahrtsempfänger behandelt. Er erhielt seine Latein- und Deutschbücher geschenkt. Im Winter bekam er täglich sein Frühstück aus Brot und Milch und einmal in der Woche eine kostenlose Eintrittskarte für ein öffentliches Bad. Sie sah, wie dieses Stigma
BERLIN 1891 – 1892
27
ihn quälte. Sie wünschte sich etwas Besseres für ihn. Das Problem war, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Das verriet der Spiegel ihr jeden Tag. Sie war grau und hager, und mit jedem Monat wies ihr Heft, in dem sie Buch führte, weniger auf. Sie wußte, daß sie am Ende gezwungen sein würde, in der Charité um Aufnahme zu bitten. Sie unterdrückte ein weiteres Husten, dann lehnte sie sich zur Seite und griff unter das Bett, wohin sie das Zierdeckchen vom Nachttisch geworfen hatte. Ihre Finger fanden das steife alte Spitzengeflecht. Sie hob es hoch ins Licht und betrachtete unverwandt den Schleim, der mittlerweile eingetrocknet war und sich braun verfärbt hatte. Nein, viel Zeit blieb ihr wirklich nicht.
3 PAULI Die alte Dame wohnte in einer Villa aus Klinker in einer ruhigen Straße im alten Westen, unweit des Tiergartens. Hier residierten die Vornehmsten und Reichsten, die wenig Wert darauf legten, sich selbst oder ihren Reichtum zur Schau zu stellen, indem sie eine protzige, überladene Wohnung im neuen Westteil bezogen, einem sich allmählich entwickelnden Viertel am Ku’damm. Überaus nervös stand Pauli um drei Minuten vor neun vor der Haustür. Er hatte sein bestes Jackett und seine beste Kniehose angezogen und dieses eine Mal versucht, sämtliche Bleistifte und anderen Gegenstände aus seinen Hosentaschen auszuräumen. Aber auf seinem linken Revers prangte dennoch ein großer Kohlefleck, der sich auch durch noch so heftiges Reiben nicht entfernen ließ. Ein Hausdiener mit ernster Miene öffnete die Tür. Er führte Pauli durch eine ganze Reihe geräumiger Zimmer, in denen schwere dunkle Möbel standen. So viele Möbel, daß er glaubte, im Schloß eines Adligen zu sein. Die alte Dame erwartete ihn in einem Korbsessel in einem sonnendurchfluteten Zimmer im Vorderteil des Hauses. Ein glänzender schwarzer Gehstock mit großem Silberknauf lag quer auf ihren Knien. Ihr Kleid – viele Meter schwarzer Seide – sah furchtbar warm aus. Die Frau hatte lebhafte braune Augen, die von tiefen Falten umgeben waren. »Der junge Herr«, meldete der Diener und zog sich zurück. »Guten Morgen«, sagte die alte Dame. »Setz dich in den Sessel hier neben mir. Ich denke, wir sollten eine Erfrischung nehmen.« Ein Hausmädchen erschien fast wie durch Zauber mit einem Silbertablett
28
TEIL EINS
voller Lebkuchen. Außerdem standen ein kleiner Silberkrug Dunkelbier für Pauli und Tee für die alte Dame auf dem Tablett. Sie schüttete aus einer Karaffe etwas Rum in den Tee. »Na schön«, sagte die alte Dame, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, »ich bin Frau Flüsser, und du bist sozusagen mein Wohltäter. Die Polizei teilte mir mit, daß du Pauli heißt.« »Pauli Kroner, ja«, sagte er und räusperte sich. Er hielt den Silberkrug in der linken Hand, balancierte den Teller auf dem rechten Knie und hatte das Gefühl, das eins von beiden oder sogar beides jeden Moment hinunterfallen würde. »Du hast schnell und mutig reagiert, als dieser Strolch mich berauben wollte, deshalb finde ich, daß du eine Belohnung verdient hast. Wußtest du, daß mein Schwiegersohn Otto der stellvertretende Direktor von Wertheim ist?« Pauli nickte. »Ich habe mit ihm gesprochen. Als Belohnung darfst du dir irgend etwas mit einem vernünftigen Preis aus dem Kaufhaus aussuchen. Hast du irgendeine Idee? Irgendeinen Wunsch?« Er überlegte einen Moment lang. »Haben sie Erdkugeln?« »Wie bitte? Bitte, sprich etwas lauter. Ich höre nicht so gut.« »Erdkugeln. Einen kleinen Globus. Ich sehe mir gerne fremde Länder an und stelle mir vor, wie es dort sein mag.« »Ein Globus«, sagte die Frau. »Das ist eine sehr ungewöhnliche Bitte, aber ich denke, die kann dir erfüllt werden. Ich rufe Otto heute vormittag an. Wohin sollen wir ihn schicken?« »In die Müllerstraße.« Zögernd nannte er die Hausnummer. »Ist das dein Zuhause?« »Im Augenblick ja. Ich wohne dort bei meiner Tante Charlotte.« »Wünschst du dir, eines Tages woanders zu wohnen?« »Ja, das ist mein allergrößter Wunsch.« »Und wo soll das sein?« »Das weiß ich nicht.« »Keine Vorstellung?« »Mein Onkel wohnt in Chicago, vielleicht dort. Deshalb wünsche ich mir einen Globus. Er zeigt mir alle möglichen Orte.« Frau Flüsser strahlte. »Amerika, das ist ein guter Ort. Ich würde ernsthaft darüber nachdenken, wenn ich du wäre. Mein Bruder Felix wohnt in St. Louis, meine Nichte Waltraud auch. Viele Deutsche wohnen in St. Louis. Ich würde sogar selbst dort hinziehen, wenn ich nicht so alt wäre und nicht genau wüßte, daß ich hierher gehöre.« Sie warf einen Blick auf ihre goldene Uhr, deren Zifferblatt auf dem
BERLIN 1891 – 1892
29
Kopf stand, da sie am Ende einer goldenen Kette vor ihrem großen, schlaffen Busen hing. »Ich sorge dafür, daß du schnellstens deinen Globus bekommst, damit du deine Suche fortsetzen kannst.« Güte lag in ihrem faltigen Gesicht. »Ich bin sehr dankbar für deinen Mut und deine Hilfe. Du darfst mir einen Kuß geben, wenn du möchtest.« Er erhob sich und küßte sie auf die Wange. Dabei wünschte er sich, sie wäre seine richtige Großmutter. »Auf Wiedersehen, Pauli Kroner.« »Auf Wiedersehen, Frau Flüsser.« »Wenn deine richtige Heimat nicht Berlin ist, dann wünsche ich dir, daß du deine Heimat bald findest, wo immer sie sein mag.« »Vielen Dank, ich auch.« »Glaub mir, wenn du sie gefunden hast, wirst du es sofort wissen. Irgendein Zeichen wird es dir mitteilen. Vielleicht geschieht etwas Unerwartetes, wer weiß? Als ich neun Jahre alt war, arbeitete mein Vater als Chorleiter in Luchow. Er wurde als Assistent an eine hiesige Kirche berufen. An dem Tag, an dem wir in Berlin ankamen, zogen wunderschöne Wolkenbilder am Himmel vorüber. Ich sah eine Wolke, die die Form einer Harfe hatte. Mein Vater konnte ganz hervorragend Harfe spielen. Ich liebte Harfenmusik. Als ich die Wolke erblickte, wußte ich, daß Berlin die Stadt war, wohin ich gehörte und wo ich für den Rest meiner Tage leben würde. Das war mein Zeichen. Und eines Tages wird es auch für dich so ein Zeichen geben.« Sie warf ihm eine Kußhand zu. Er lächelte und straffte sich. Dann verließ er das Haus und sah die Dame nie wieder. Als er nach der Arbeit an diesem Tag nach Hause kam, konnte er es kaum abwarten, Tante Lotte von seiner Belohnung zu erzählen. »Ein Globus?« Sie blinzelte ihn durch den Rauch ihrer starken französischen Zigaretten an. »Was für eine alberne, dumme Bitte! Du solltest doch Geld verlangen. In deinem Zimmer gibt es genug Landkarten und Postkarten, um einen ganzen Palast zu tapezieren. Was hast du damit vor? Willst du vielleicht Professor der Geographie werden? Das kann ich mir kaum vorstellen.« Sie schlurfte davon und ging an den Schrank, in dem sie ihre Schnapsflasche aufbewahrte. Frau Flüsser hielt ihr Versprechen. Ein Lieferwagen von Wertheim brachte den Globus in einem Geschenkkarton, der mit silbernem Zierband versehen war. Es war ein wunderschöner kleiner Holzglobus, mit hellen
30
TEIL EINS
Emaillefarben bemalt. Die Weltkugel lag auf einem vierbeinigen Ständer aus lackiertem Holz. Er vernichtete daraufhin seine Landkarte aus Papier und schaffte auf seinem Regal Platz. Abends nahm er den Globus von seinem Ständer und hielt ihn so, daß er jede Einzelheit darauf erkennen konnte. Er drehte und berührte ihn an verschiedenen Stellen, versuchte, sich jede Region in seiner Phantasie auszumalen. Mehr und mehr wurde sein Blick von Amerika angezogen, mit den grünen Prärien, blauen Seen und braunen Bergen. Immer wieder wanderte sein Finger zum Ende eines schmalen blauen Sees, wo Chicago lag; die Heimatstadt seines Onkels. Überall in der Stadt, an Kiosken und Wänden, tauchten Plakate auf. PREMIERE AM 24. AUGUST DIE ORIGINALE UND EINZIGARTIGE SHOW DER WILDE WESTEN VON BUFFALO BILL »Gehst du hin?« wollte Tonio von Pauli wissen. Tonio hatte von der Sonderschule erzählt, die er in ein paar Wochen besuchen würde, und war nun erfreut über die Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Sein armer Kopf sah viel größer und geschwollener aus, als Pauli ihn in Erinnerung hatte. »Nein, dafür habe ich kein Geld«, sagte Pauli. Sie saßen an einem Tisch in der Konditorei Henkel. »Papa hat versprochen, mit mir hinzugehen. Vielleicht bezahlt er auch für dich, so daß du mitgehen kannst.« »Nein, das wäre ein Almosen, und Almosen nehme ich nicht an. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ich werde die Cowboys und Indianer schon noch zu sehen bekommen, darauf kannst du dich verlassen.« Am Ankunftstag der Wildwesttruppe wachte er schon um fünf Uhr auf. Fünf Minuten später war er angezogen. Er stopfte sich eine Wollmütze in die Tasche, raffte seine Malutensilien zusammen und schlich auf Zehenspitzen an Tante Lottes geschlossener Zimmertür vorbei. Reynard war wieder in der Stadt. Erst um ein Uhr nachts war in der Kellerwohnung Ruhe eingekehrt. Er stürmte die Treppe hinauf. Kalter Nebel ließ die Dachfirste der vier-
BERLIN 1891 – 1892
31
und fünfstöckigen Häuser verschwimmen, die die Müllerstraße säumten. Er rannte weiter in die Wöhlertstraße und steuerte dann auf den Rangierund Güterbahnhof zu, der sich östlich der Pflugstraße erstreckte. Obgleich ihn noch einige Blocks von der Gleisanlage trennten, hörte er das Rattern der Waggons und das Zischen der Dampflokomotiven. Er überquerte ein mit Unkraut überwuchertes Stück Land vor dem Bahngelände. Auf dem ersten Gleis verließ gerade ein unendlich langer Güterzug den Bahnhof und versperrte ihm den Weg. Er entdeckte einen offenen Waggon, klemmte das Zeichenpapier hinter seinen Hosengürtel und rannte ein Stück neben dem Waggon her. Dann sprang er ab und schwang ein Bein in die Türöffnung. Mit beiden Händen packte er die Türkante und war innerhalb von Sekunden im Waggon. Er schob die Tür auf der anderen Seite auf, sprang hinaus und landete unsanft auf dem Schotterbett. Er raffte sich auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Bis auf einen kleinen Riß in einem Hosenbein waren sie unversehrt. Es gab immer eine Möglichkeit, ein Hindernis zu überwinden, man mußte nur danach suchen. Er überquerte die nächsten beiden Gleise. Zu seiner Enttäuschung sah er, daß der Sonderzug bereits da war. Doch er mußte eben erst eingefahren sein, da das Ausladen noch nicht begonnen hatte. Der Zug war lang, achtzehn Waggons und die Lokomotive. Mehrere Wagen waren mit großen bunten Bildern verziert: Trapper, die Colts abfeuerten, Indianer, die wildes Kriegsgeschrei ausstießen und ihre Tomahawks schwangen, eine Postkutsche, die vor rothäutigen Verfolgern davonjagte – und dann war da natürlich auch ein Porträt vom Star der Show, der grüßend seinen weißen Sombrero schwenkte, während sein prachtvoller Hengst sich aufbäumte. Es war eine prächtige Heldendarstellung – Roß, Codys Hut und Barttracht leuchteten strahlendweiß im Sonnenlicht des Bahngeländes. Pauli wartete, bis eine kleine Borsig-Rangierlok vorbeigedampft war, dann wagte er sich auf das nächste Gleis und überquerte es. Er war trotz allem nicht zu spät gekommen. Transportarbeiter in karierten Hemden begannen soeben, Stahlplatten zwischen den Waggons des Spezialzuges auszulegen, während andere eine breite Stahlrampe am Ende des letzten Waggons herunterklappten. Pauli vergaß die Müllerstraße, Tante Lotte, den armen Tonio – einfach alles. Bald herrschte rund um den Zug ein lebhaftes Treiben. Die Arbeiter schoben die Türen der Viehwaggons auf und zogen Abdeckplanen von Fahrzeugen herunter, die auf Niederbordwaggons festgezurrt waren. Der Zug war nach einem genauen Plan zusammengestellt. In einem
32
TEIL EINS
Viehwaggon am Ende befanden sich Zugpferde, die als erste über die Stahlrampe geführt wurden. Als nächstes kamen die Niederbordwaggons mit den Wagen, dann folgten in Richtung Lokomotive die restlichen Viehwaggons, deren Passagiere Pauli sehen und riechen konnte: Reitpferde, Maultiere, drei zottige Bisons und Isham, der Schimmel von Oberst Cody. Ganz vorne im Zug befanden sich Personenwagen mit Türen an den Wagenenden, nicht an der Seite, und der fremdartigen Aufschrift PULLMAN. Die Arbeiter brüllten und fluchten auf englisch, was Pauli dank seiner gelegentlichen Unterhaltungen mit Männern wie Reynard bruchstückhaft verstand. Er achtete darauf, den Arbeitern nicht im Weg zu sein, während er gaffend am Zug entlangstolperte. Beinahe stieß er dabei mit einem braunhäutigen Mann mit langen schwarzen Zöpfen zusammen. Ein Indianer! Bekleidet mit einen Anzug, einem Hemd mit steifem Kragen und einem hohen Seidenhut. Mutig nickte Pauli zum Gruß. Der Indianer machte ein finsteres Gesicht und hob eine Hand. Pauli grinste und machte die Geste nach. Der Indianer lachte schallend und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Er blieb für eine Weile neben einem Passagierwagen mit der Aufschrift BUFFALO BILL’S WILD WEST & CONGRESS OF ROUGH RIDERS – GRAND EUROPEAN TOUR stehen. Ein hochgewachsener Mann mit zerzaustem weißem Haar stolperte aus dem Wagen und die Trittleiter hinunter. Oberst Cody! Der Weltberühmte! Pauli erkannte ihn auf Anhieb. Pauli machte einen Schritt zurück. Es wäre nicht nötig gewesen. Der Oberst beachtete ihn gar nicht. Cody trug alte Stiefel, eine fleckige Hose und ein Unterhemd. Hosenträger hingen auf seine Oberschenkel herab. Er schwenkte eine Whiskeyflasche, während er zum Zugende stapfte. Dabei fluchte er und brüllte Befehle. Pauli war enttäuscht von der schäbigen Erscheinung des Obersts und von seinem ungehobelten Benehmen. Eine etwas sanftere, gesittetere Gruppe erschien einen Moment später: eine zierliche Dame, die noch etwas verschlafen wirkte und einen Pudel an einer Leine mit sich führte. Das war Fräulein Anne Oakley, die berühmte Scharfschützin. Er kannte sie von den Plakaten. Arbeiter hängten den letzten Waggon ab, der nun leer war, während andere Helfer die Rampe zum nächsten Waggon schleppten. Eine Rangierlok rollte rückwärts heran, wurde an den Waggon angekoppelt und zog ihn weg. Pauli kam das alles wunderbar gekonnt und durchdacht vor. Aber Oberst Cody paßte es offenbar gar nicht. Er hob die Whiskeyflasche hoch und brüllte etwas. Auch wenn Pauli die Worte im einzelnen nicht verstand, begriff er, daß Cody die Arbeiter zur Eile antrieb.
BERLIN 1891 – 1892
33
Sie spannten neben den Niederbordwaggon und den ersten Pferdewagen ein Gespann. Die Tiere begannen zu ziehen, während die Arbeiter den Wagen vom Waggon die Rampe hinunter lenkten. Die Männer führten das Gespann und den Wagen ein Stück zur Seite, damit ein zweites Pferdegespann das zweite Fahrzeug, die leuchtend bunte DeadwoodPostkutsche, abladen konnten. Pauli hatte im Hotel einen Prospekt gefunden und kannte daher sämtliche Szenen der Show. Die Rettung der DeadwoodPostkutsche war die berühmteste. Er konnte sich noch immer keine Eintrittskarte zu dem Showgelände leisten, das kurz vorher an der Ecke Augsburgerstraße und Ku’damm abgesperrt worden war, aber in seiner Phantasie hatte er sich das Geschehen viele Male ausgemalt – den aufregenden Angriff der Indianer und die anschließende Rettung durch die Kavallerie. Während weiter abgeladen wurde, ging Pauli zu einigen geschlossenen Güterwagen hinüber, die auf dem benachbarten Gleis standen. Er drückte die Schiebetür eines Wagens auf und setzte sich auf die Ladefläche. Er hatte die Absicht, etwas zu zeichnen. Sein Blick kehrte zu dem auffälligen Porträt von Buffalo Bill zurück. Das würde er versuchen. Er begann seine Skizze mit einem dunkelblauen Stift. Plötzlich tauchte zwischen seinem und dem nächsten Waggon eine Gestalt auf. Es war ein Mann; er blieb dort stehen und starrte Pauli an. In seinen dunklen Augen schien ein verzehrendes Feuer zu lodern. Für einen furchtbaren Moment glaubte Pauli, daß er dem Tod persönlich in die Augen schaute. Der Mann war hochgewachsen und sah unterernährt aus. Er besaß ein langes, schmales Gesicht und große weiße Zähne. Seine Haut hatte die Farbe von Haferschleim. Wahrscheinlich mied er die Sonne. Er war mindestens zehn Jahre älter als Pauli, etwa Mitte zwanzig. Er trug eine billige vergoldete Metallbrille mit runden Gläsern, die nicht größer als Pfennigstücke waren. Seine Kleidung war dunkel und schäbig – ein schmuddeliger Hemdkragen und eine speckig glänzende Krawatte, ein wadenlanger Staubmantel und eine Melone, die schon bessere Tage gesehen hatte. Über dem rechten Schuh trug er eine graue Gamasche, eine weiße über dem linken. Ein Zigarettenstummel glimmte in seiner rechten Hand, die vom Nikotin fleckig war. Trotz seiner offensichtlichen Armut trat der Mann ziemlich großspurig auf, als er auf Pauli zuging und dabei kurze, heftige Züge an seiner Zigarette machte. In seinen intensiv glühenden Augen lag ein anklagender Ausdruck, als wäre Pauli ein zwielichtiges Subjekt. Mit überheblicher Lässigkeit lehnte der Mann sich neben Pauli gegen
34
TEIL EINS
den Güterwagen. Er warf einen Blick auf die Zeichnung von Cody und hatte dafür nur ein spöttisches Grinsen übrig. »Das ist ja furchtbar«, sagte er. Pauli reckte das Kinn vor. »Ach, sind Sie Kunstkritiker?« »Nein, Journalist. Aber schlechte Kunst erkenne ich auf den ersten Blick, genauso wie ich schlechten Käse am Geruch erkenne.« Der Mann sprach Deutsch mit einem fremdartigen Akzent. Pauli war überzeugt, daß der Mann log. »Für welche Zeitung arbeiten Sie denn?« »Für jede, die meine Artikel kauft. Ich bin unabhängig tätig. Es gibt dafür eine interessante Bezeichnung, die ich vergangene Woche in Zürich aufgeschnappt habe. Freischaffend. Ich reise, ich schreibe, ich beobachte, ich sage voraus –« Der junge Mann zuckte die Achseln. »Manchmal sind Prophezeiungen nicht sehr beliebt, vor allem dann nicht, wenn der Prophet etwas anderes als süße Träume zu verkünden hat. Einige der Propheten des Alten Testaments wurden für ihre Vorhersagen umgebracht. Oft genug muß ich mich schnellstens aus dem Staub machen. Ich dachte, daß ich hier vielleicht eine gute Geschichte finden kann.« »Sie sind Ausländer –« »Was du nicht sagst«, erwiderte der Mann mit einem weiteren spöttischen Grinsen. Aber er schien ihn nur hänseln zu wollen, weil es ihm Spaß machte. »Ich heiße Mikhail Rhukov. Zumindest in Rußland. In diesem Land würde der Name ›Michael‹ lauten, glaube ich.« Er streckte sich, suchte sich eine bequemere Haltung an der Güterwagenwand und holte eine zweite Zigarette hervor, die er am Stummel der ersten anzündete. »Erstaunliche Leute, diese Amerikaner. Ich glaube, denen wird mal die ganze Welt gehören. Ich wünschte, sie würden ein wenig von ihrer Demokratie in mein Heimatland exportieren. Eine aufregende Zeit, in der wir leben, meinst du nicht auch? Alte Regierungen, alte Gewohnheiten, alte Ordnungen gehen in Blut und Flammen unter. Die Anarchie breitet sich aus. Die roten Fahnen des Sozialismus wehen überall. Zaren und Könige zittern um ihr Leben, Proletarier formieren sich und marschieren vorwärts – faszinierend.« »Von all dem habe ich noch nichts gehört«, erwiderte Pauli in einem Tonfall, der feindselig klingen sollte. Rhukov musterte ihn eindringlich. »Laß mal, ich hab’s eigentlich ganz freundlich gemeint.« »Ach, so nennen Sie das?« Rhukov lachte. »Du bist ein ganz schön frecher Bengel. Das gefällt mir.«
BERLIN 1891 – 1892
35
»Na schön, dann können Sie mich ja jetzt in Ruhe lassen.« Pauli hatte keine Angst mehr, fühlte sich nur noch gestört. Unglücklicherweise schien er einen neuen Freund oder zumindest einen neuen kurzfristigen Begleiter gefunden zu haben, ob es ihm paßte oder nicht. Rhukov holte ein billiges Notizbuch aus seiner Manteltasche und schrieb etwas mit einem Bleistift hinein. Pauli sprang von dem Güterwagen herunter und ging zum Zug hinüber. Der Russe folgte ihm. Pauli wünschte sich im stillen, der unangenehme Bursche fände jemand anderen, mit dem er sich anfreunden könnte. Vom Klang deutsch sprechender Männerstimmen überrascht, wandte Pauli sich nach rechts. Zu seiner Verblüffung entdeckte er eine Gruppe von sechs Heeresoffizieren, die unweit der Stahlrampe standen. Vier von ihnen befanden sich schon in vorgerücktem Alter. Sie trugen rote Generalsstreifen an ihren feldgrauen Uniformhosen. Die ebenfalls feldgrauen Röcke wiesen rote Epauletten und Paspelierungen auf. Die beiden jungen Leutnants trugen graue Hosen und dunkelblaue Röcke, ein Zeichen, daß sie zu einem bestimmten Regiment der Armee gehörten. Pauli konnte die Kragenspiegel nicht sofort erkennen. Er schob sich näher heran, steckte die Hände in die Taschen und bemühte sich, nicht aufzufallen. Bis auf einen schrieben alle Offiziere eifrig etwas in kleine ledergebundene Notizbücher oder verglichen miteinander die Zeit auf ihren Taschenuhren. Aus der Nähe identifizierte Pauli die Insignien auf den Uniformen der Leutnants. Sie gehörten zur jüngsten und modernsten Einheit innerhalb des Heeres, dem Ersten Eisenbahn-Regiment. Beide Leutnants trugen die klassische Pickelhaube, den offiziellen Helm des gesamten Heeres. »Ich habe schon einiges von diesen Leuten gehört«, sagte Rhukov zu Pauli. »Sie folgen Herrn Cody quer durch Deutschland. Sie studieren seine Methoden. Ein ziemlich überheblicher Verein, nicht wahr?« Pauli dachte, daß der Russe schon recht dreist war, sich über die Arroganz anderer zu mokieren, wo er doch selbst mindestens die gleiche Überheblichkeit an den Tag legte. Überdies waren deutsche Offiziere, vor allem die preußischen, stets hochnäsig, denn sie waren wegen ihrer absoluten Zuverlässigkeit und unbedingten Effizienz im gesamten Vaterland hoch angesehen und überall in Europa gefürchtet. Der ranghöchste Offizier, ein strammer Brigadegeneral, betrachtete den Eisenbahnzug durch ein Monokel. »Ich habe schon Berichte über diesen Vorgang gelesen, hatte aber bisher nicht die Gelegenheit, ihn genau zu beobachten. Sie sind wirklich sehr schnell unterwegs.« »Und wie Sie sehen, Herr General, verläßt alles den Zug in der
36
TEIL EINS
entsprechenden Reihenfolge für ihre Parade«, sagte ein Major mit nach vorne eingesunkenen Schultern. »Sie richten sich nach einem schriftlich genau festgelegten Plan für das Be- und Entladen. Ich habe ihn gesehen. Darin sind auch die kleinsten Gegenstände aufgeführt bis hin zu den persönlichen Gepäckstücken der Darsteller. Es wird genau angegeben, wo alles aufgehängt oder abgelegt wird. Es ist wirklich mustergültig.« »Es überrascht mich, daß Amerikaner derart klar denken können. Sehr eindrucksvoll.« »Vielleicht ist Büffel Bill Deutscher«, sagte der Major. Die Offiziere lachten, aber erst, nachdem der Brigadegeneral zu lachen begonnen hatte. Einer der jungen Leutnants vom Eisenbahn-Regiment klopfte auf sein Notizbuch. »Sie liegen jetzt achtundzwanzig Minuten hinter ihrem Zeitplan.« Pauli lehnte sich an einen Signalmast neben dem Gleis und betrachtete den Mann eingehend. Er war etwa mittelgroß, schlank, hielt sich sehr gerade und schien körperlich bestens in Form zu sein. Gewiß machte er jeden Tag Gymnastik- und Kraftübungen. Pauli fiel ein gewisser Kontrast in seiner Erscheinung auf. Die Gesichtszüge des Leutnants waren nicht sonderlich prägnant, sein Kinn war nicht übermäßig spitz, seine Nase durchschnittlich und die Wangen übersät mit hellen Sommersprossen. Seine Augen dagegen waren eindrucksvoll. Graue Augen, groß, kalt und hart. Das Lächeln, das ständig um die Lippen des jungen Offiziers zu spielen schien und einen angenehmen Ausdruck auf seinem Gesicht hinterließ, erreichte niemals seine eisigen, stechenden Augen. Der junge Offizier klemmte das Notizbuch hinter seinen Gürtel, holte ein flaches goldenes Etui hervor und hielt es einladend seinen Vorgesetzten hin. Der Brigadegeneral und der Major nahmen sich Zigaretten. Als der Leutnant sich halb umdrehte, um dem Brigadegeneral mit einem Streichholz Feuer zu geben, entdeckte Pauli eine hakenförmige Narbe auf seiner linken Wange. Wahrscheinlich hatte er sie sich in einer der Burschenschaften in Heidelberg geholt. Sie waren dafür berüchtigt, daß sie von ihren Mitgliedern regelmäßig Degenduelle forderten. Eine Narbe war ein Zeichen von Mut, sozusagen eine Ehrenmedaille. »Achtundzwanzig Minuten, hmm«, murmelte der Brigadegeneral und blies Rauch aus. »Das ist nicht gerade überwältigend.« Der Major hob die Schultern. »Wir haben die Ankunft nicht mitbekommen. Vielleicht hatte der Zug Verspätung.« »Der Zug ist, aus Braunschweig kommend, nur sechseinhalb Minuten später als vorgesehen eingelaufen«, sagte der Leutnant. »Ich habe mich sicherheitshalber bei mehreren Weichenstellern erkundigt.«
BERLIN 1891 – 1892
37
»Das dürfte der Artillerie auf der Fahrt zur Front nicht passieren«, stellte der Brigadegeneral fest. »Leutnant von Rike, haken Sie mal nach! Wenn möglich, versuchen Sie herauszubekommen, weshalb sie fast zweiundzwanzig Minuten verloren haben.« Der Leutnant salutierte zackig, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Pauli trat einen Schritt zur Seite, aber nicht schnell genug. Der Offizier hatte seine Augen auf den Zug gerichtet und sah Pauli erst, als er mit ihm zusammenprallte. »Verzeihung, mein Herr«, stotterte Pauli. Dem Leutnant stieg die Röte in die Wangen. Seine Hände und seine Kleidung rochen genauso streng nach Tabak wie Rhukovs Sachen. Er packte Pauli am Kragen und schleuderte ihn auf den Schotter. Ein scharfkantiger Stein riß Paulis Wange auf, daß sie zu bluten begann. »Paß in Zukunft besser auf, du kleiner Schwachkopf!« Wütend wollte Pauli aufspringen. Ehe er hochkam, mischte Rhukov sich ein. »Das war doch wohl nicht nötig. Der Junge hat Sie nicht absichtlich behindert.« Der Leutnant musterte Rhukov von Kopf bis Fuß. »Wir brauchen keine weisen Ratschläge von irgendwelchen verkommenen Fremden.« So seltsam er auch erschien, so bewies Rhukov doch erheblichen Mut. Er rührte sich nicht vom Fleck. »Sie haben wohl eine Lektion in anständigem Benehmen nötig, fürchte ich. Eine Entschuldigung bei dem Jungen wäre angebracht.« »Scheiß auf die Entschuldigung! Bald kommt der Tag, an dem wir mit Leuten wie Ihnen kurzen Prozeß machen. Und jetzt Platz da!« Er stieß Rhukov zur Seite und marschierte vorbei. Der Journalist streckte eine nikotinverfärbte Hand aus, um Pauli beim Aufstehen zu helfen. Die anderen Offiziere warfen ihnen drohende Blicke zu. Rhukov grinste spöttisch und wandte ihnen den Rücken zu. »Vielen Dank«, sagte Pauli und versuchte seine zerzausten Haare zu glätten. »Nichts zu danken.« »Wissen Sie, was er mit diesem Tag meinte? Es klang so wichtig.« »Der Tag? Er ist wichtig. Es ist der Tag, von dem viele deiner Landsleute schon lange träumen. Es ist der Tag in der Zukunft, an dem sie sich ihr Eigentum zurückholen. An dem sie alle Feinde bestrafen. Und soviel fremdes Gebiet erobern, wie sie wollen und wie ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Komm, gehen wir lieber.« Rhukov führte ihn weg, in sichere Entfernung von den Offizieren. Dabei redete er weiter. »Was für ein Haufen von albernen Fatzken! Unvorstellbar,
38
TEIL EINS
was in ihren Köpfen vorgeht. Unbesiegbare teutonische Ritter in preußischen Burgen, wo sie schwarze Falken für die Jagd züchten. Während Kaiser Barbarossa in seinem Berg schlummert, bereit, aufzuwachen und die Führung zu übernehmen, sobald Deutschland einen Retter braucht. Scheiße! Das Problem ist, daß sie tatsächlich daran glauben. Ich fürchte, sogar der Kaiser und das Heer sind davon überzeugt. Ihr Deutschen seid ein Volk, das im Morast der Mythen versinkt. Im Mythos von Überlegenheit, in den Mythen vom Ruhm des Krieges und des Heldentods. Von Wagners Wassernymphen, seinem magischen Goldschatz und seinen edlen Helden ganz zu schweigen, die mit den eigenen Schwestern schlafen. Entschuldige, aber ich hoffe, du bist nicht zu jung für solche Worte.« »Ich habe derartiges schon des öfteren gehört.« Pauli entschied, daß dieser Bursche, so heruntergekommen er auch wirkte, doch einiges auf dem Kasten hatte. Er wußte auf jeden Fall viel über die Deutschen und Deutschland. Zumindest hatte es den Anschein. Er schien sich außerdem sehr gerne reden zu hören. Rhukov zündete seine nächste Zigarette an. »Merk dir meine Worte! Die deutschen Mythen werden eines Tages Deutschland vernichten – wenn sie nicht noch vorher den Rest der Welt zerstören. Natürlich können wir mit einer Gnadenfrist rechnen, denn sie fangen mit ihrer Revanche sicherlich bei den Franzosen an. Ich beziehe mich dabei vorwiegend auf das deutsche Oberkommando, weißt du. Auf die Generäle und ihre wichtigsten Verbündeten, den Adel. Du bist natürlich ausgenommen. Du bist zwar ein schlechter Künstler, aber ansonsten scheinst du ganz in Ordnung zu sein.« »Vielen Dank.« Paulis Sarkasmus amüsierte Rhukov. Er lächelte verkniffen. »Du bist ein ganz schön zäher kleiner Teufel. Wo wohnst du?« »Keine Ahnung«, schnappte Pauli. »Ich will nicht darüber reden.« Zum erstenmal wußte Rhukov nicht, was er erwidern sollte. Pauli gefiel das. Leutnant von Rike kam zurück, marschierte an ihnen vorbei und streifte sie mit einem zornigen Blick. »Daß sie sich verspätet haben, war nicht ihre Schuld«, meldete er seinen Vorgesetzten. »Dafür ist der Bahnhofsvorsteher verantwortlich. Er hat irgendwelche Instruktionen falsch verstanden und die Rangierlok nicht rechtzeitig bereitgestellt.« Rhukov steckte sein Notizbuch weg. »Ich habe genug gesehen. Damit bekomme ich ein oder zwei Seiten zusammen. Lebewohl, mein Freund.« Er streckte eine Hand aus, und Pauli ergriff sie und drückte sie. »Wir sehen uns sicher noch«, sagte Rhukov. Er schlenderte zum Anfang des Zuges, und seine Schritte knirschten auf dem Schotterbett zwischen den Gleisen. Er tippte gegen seine Hutkrempe, als er an Fräulein Anne Oakley
BERLIN 1891 – 1892
39
vorbeiging. Ein seltsamer Bursche. Einige seiner Prophezeiungen für die Zukunft waren beängstigend. Der Betrieb am Zug lenkte Pauli für ein paar Sekunden ab. Als er sich wieder umdrehte, war Rhukov zwischen den Gleisen verschwunden, als wäre er nicht mehr als eine Rauchwolke im Sturm. Es war gespenstisch. Was für ein seltsamer Mann. Noch vor wenigen Augenblicken, als sie zum erstenmal zusammentrafen, hatte Pauli sich abgestoßen gefühlt. Nun tat es ihm leid, daß Rhukov verschwunden war. Er hatte das äußerst seltsame Gefühl, daß sie eines Tages wieder zusammentreffen würden. Pauli kehrte zu seinem Sitzplatz im offenen Güterwagen zurück, aber er zeichnete nicht weiter. Der Brigadegeneral und seine Männer beobachteten weiterhin den Wildwest-Zug. Sämtliche Showwagen waren mittlerweile abgeladen und in Reih und Glied aufgestellt worden. Nun wurden die Pferde, Esel, Büffel, das Rotwild und die Elche aus ihren Transportern geholt, an deren Enden sich jeweils Türen befanden. Der Morgen war schon fortgeschritten. Blaßgelbes Sonnenlicht ergoß sich über die qualmenden Schornsteine der häßlichen Mietskasernen in der Nähe. Oberst Cody war verschwunden, aber Fräulein Oakley führte ihren Pudel spazieren und wurde von einem Mann in einer mit Fransen besetzten Jacke begleitet. Pauli erkannte ihn. Es war Fräulein Oakleys Ehemann, Butler, der Kunstschütze. Mehrere Indianer standen herum und hielten ein Schwätzchen. Sie alle trugen gewöhnliche Jeanshosen. Zwei waren sogar mit normalen Anzugwesten bekleidet. Das war sehr enttäuschend. Dann gab es plötzlich eine weitere Ablenkung. Eine Gruppe von vier elegant gekleideten Touristen, zwei Männer und zwei Frauen, erschien. Sie unterhielten sich angeregt und machten sich gegenseitig auf bestimmte interessante Dinge in der Umgebung des Zuges aufmerksam. Einer der Männer trug einen kleinen schwarzen Kasten. Pauli sprang von dem Güterwagen herunter, um sich der Gruppe zu nähern. »Engländer«, sagte der Brigadegeneral. »Nein, Herr General. Mit Verlaub – das sind Amerikaner.« Der Major sagte noch etwas anderes, und die Männer reagierten mit belustigtem Grinsen. Die Besucher waren sorgfältig angezogen. Der Mann mit dem schwarzen Kasten trug einen hohen Hut und einen langen Mantel mit Samtkragen. Der zweite Mann hatte sich für eine sportliche Jacke und Knickerbocker, beide mit dunkelbraunen Karos auf hellbraunem Grund, und für weiße Leinengamaschen entschieden. Eine der Frauen wirkte sehr schlicht, aber die andere errang sofort Paulis Bewunderung. Sie trug ein
40
TEIL EINS
rotes Kleid und einen dazu passenden Hut mit einem ausgestopften grauen Vogel als Verzierung. Ihr Kleidersaum war grau von Schotterstaub, und der sportlich gekleidete Mann ging in die Knie, um ihn abzuklopfen. Der Mann mit hohem Hut beugte sich derweil über seinen schwarzen Kasten, den er auf den Indianer im Seidenhut richtete. Der Indianer schob wie Napoleon die linke Hand unter das Revers und hob die rechte Hand. Der Begleiter Fräulein Oakleys näherte sich dem Photographen. Butler stellte eine Frage. Pauli glaubte hören zu können, wie Butler das Wort Amerikaner aussprach. Der Besucher nickte heftig und stellte sich vor. Sein Name lautete Jasper oder Jaster. Eher Jaster, entschied Pauli. Er hörte auch den Namen eines Ortes, der wie Syracuse, New York klang. Oberst Butler und die Touristen schüttelten einander die Hände. Der Kunstschütze interessierte sich für den schwarzen Kasten. Pauli hörte die Worte George Eastman Kamera. Jaster nickte zu Butlers Bemerkung. »Eine Kodak.« Kodak war ein seltsames Wort, aber Pauli hatte es schon mal gehört, und zwar von Herrn Trautwein im Hotel. Der hatte damals von seiner Kodakkamera aus Amerika gesprochen. Das neue Wort mit seinem harten Klang ließ sich leicht merken. Jasters Frau drängte ihren Mann, Butler die Kamera zu zeigen, und er reichte sie dem Kunstschützen. Butler untersuchte sie, dann stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. Er wog sie in der Hand, um ihr geringes Gewicht zu demonstrieren. Jaster nahm die Kamera wieder an sich, um Butler vorzuführen, wie einfach es war, damit zu photographieren. Weil Jaster seine Erklärungen mit übertriebenen Gesten unterstrich, glaubte Pauli, alles verstehen zu können. Man drückte einfach auf einen Knopf an dem schwarzen Kasten, um ein Bild zu erzeugen. Es war eine aufregende Vorstellung. Jaster äußerte den Wunsch, Butler und dessen Frau zu photographieren. Der Kunstschütze fühlte sich geschmeichelt. Er winkte Fräulein Oakley zu. Sie kam herüber und zerrte den Pudel an der Leine hinter sich her. Jasters Frau gesellte sich zu den Showleuten, dann entschuldigten die Butlers sich und gingen weg. Die Touristen spazierten an der langen Prozession von Tieren und Wagen entlang, vorbei an gähnenden Cowboys mit riesigen Sombreros und bunten Halstüchern, an zwölf Männern in den blauen Uniformen der Vereinigten Staaten, an vier Kosaken mit Fellstiefeln und ebensolchen Mützen oder an Männern, die solche sehr gut verkörperten. Die Indianer erschienen wieder in Hemden und Beinkleidern aus Tierhaut. Ihre Gesichter hatten sie mit zahlreichen bunten Farben geschminkt. Die
BERLIN 1891 – 1892
41
Federn ihres imposanten Kriegskopfschmucks flatterten in der leichten Brise. Pauli folgte den Touristen. Er war völlig außer sich vor Aufregung, daß er die Buffalo-Bill-Truppe und eine echte Kodakkamera zu sehen bekam. Er wußte nicht, wie eine Kamera funktionierte, aber er begriff, was sie leistete. Sie erzeugte diese atemberaubenden Bilder von anderen Leuten, anderen Orten, die seine Zimmerwände zierten. Eine Kamera holte die ganze Welt in die Wohnungen von völlig durchschnittlichen Menschen, so wie er und Tante Lotte es waren. Herr und Frau Jaster und deren Freunde nahmen Paul für einen kurzen Moment die Sicht auf die prächtige Deadwood-Postkutsche, vor die mittlerweile sechs schnaubende Pferde gespannt waren. Pauli rief sich in Erinnerung, daß er um halb sieben im Kaiserhof sein mußte. Aber wie sollte er an Abfalleimer und schmutzige Fußböden denken, nachdem es ihm vergönnt war, derart phantastische Dinge mit eigenen Augen zu sehen? Jasters Frau wünschte sich ein Photo von den deutschen Offizieren. Jaster blieb etwa fünf Meter von ihnen entfernt stehen, und sie bemerkten den Amerikaner plötzlich. Der Brigadegeneral vollführte eine heftige, abwehrende Geste. »Heh, Sie da!« rief er auf deutsch. »Unterlassen Sie das! Keine Photos von deutschen Offizieren im Dienst!« »Was sagt er?« erkundigte sich der sportlich gekleidete Mann. Jaster ließ die Kamera sinken, aber seine Frau stieß ihn mit einem behandschuhten Finger an. Sie wollte nicht, daß er so schnell nachgab. Die Offiziere schienen verärgert zu sein. Pauli konnte nicht verstehen, weshalb sie etwas dagegen hatten, photographiert zu werden, es sei denn, es war ihre übliche Arroganz, die sich hier ausdrückte. Die finsteren Mienen und drohenden Blicke schienen Herrn Jaster nicht zu beeindrucken, der sich in seinen Vorbereitungen für das Photo nicht stören ließ. »Jemand soll ihn davon abhalten«, befahl der Brigadegeneral. Leutnant von Rike verstaute sein Notizbuch in einer Tasche. »Erteilen Sie ihm gleichzeitig eine Lektion.« Der Leutnant machte ein paar schnelle Schritte und riß Jaster brutal die Kodakkamera aus der Hand. Frau Jaster stieß einen erschreckten Schrei aus. Ihr Ehemann versuchte, nach der Kamera zu greifen. Von Rike wich spielerisch nach links aus, brachte Jaster aus dem Gleichgewicht, trat zurück und öffnete die Kamera. Entgeistert verfolgte Pauli, wie der Leutnant eine lange Papierschlange mit dunkler Beschichtung auf einer Seite herausriß. Dann schleuderte von Rike die Kamera auf den Schotter und trampelte darauf herum. Frau Jaster kreischte und jammerte.
42
TEIL EINS
Jaster raste vor Zorn. Obgleich er zwanzig Jahre älter war als der Leutnant, ballte er die Fäuste und führte, ohne zu zögern, mit der Rechten einen Schwinger aus. Von Rike wurde von seinen Kameraden begeistert angefeuert, als er ganz einfach durch einen Schritt nach rückwärts auswich. Als Jaster ein zweites Mal ausholte, schlug von Rike ihm den Hut vom Kopf und erwischte Jasters Stirn mit der flachen Hand. Der Treffer saß und brachte den Touristen ins Wanken. Er sank auf das rechte Knie. Der Leutnant kehrte zu seinen Kameraden zurück und nahm seinen Platz wieder ein. Er hatte seine Pflicht getan. Der Brigadegeneral bedachte ihn weder mit einem besonderen Lob noch mit einer wohlwollenden Geste. Dafür machte der Major eine Bemerkung. »Saubere Arbeit«, murmelte er. »Vielen Dank, Herr Major. Die beste Medizin gegen Eigensinn ist die, welche Seine Majestät zu verschreiben pflegt. Die eiserne Faust.« Der Brigadegeneral lachte leise, dann deutete er auf die Amerikaner und befahl ihnen, sich zu entfernen. Herr Jaster schimpfte und protestierte, während seine Freunde ihm vom Erdboden hochhalfen. Er wollte den Kampf wieder aufnehmen, aber sie hielten ihn zurück. Wenig später entfernten sich die vier Touristen und verschwanden um die Ecke eines Weichenstellerhäuschens. Pauli nahm erneut seinen Platz in der offenen Güterwagentür ein. Die Offiziere klappten ihre Notizbücher zu, und auch sie schlenderten davon und waren bald hinter dem Wildwest-Zug verschwunden. Die jüngeren Offiziere folgten ihren Vorgesetzten in respektvoller Entfernung. Pauli dankte dem Himmel, daß er nicht Soldat zu sein brauchte. Er hatte wenig Lust, Befehle von Hitzköpfen entgegenzunehmen und ausführen zu müssen, die fremdes Eigentum zerstörten und andere Leute ohne Hemmungen schlecht behandelten. Oberst Cody tauchte aus seinem Wagen auf. Er hatte sich umgezogen und trug nun kniehohe Stiefel, eine Whipcordhose, eine mit Fransen besetzte Büffellederjacke, die mit indianischem Flecht- und Federschmuck verziert war. Hinzu kamen ein flatterndes Halstuch und ein Sombrero. Er bestieg seinen Hengst Isham und trabte, weitere Befehle brüllend, an der startbereiten Paradeformation auf und ab. Er schien ungehalten zu sein. Paulis Interesse für die Wildwest-Show nahm merklich ab. Dafür konzentrierte er sich nun auf ein ganz bestimmtes Objekt, das er nicht anzusehen wagte aus Sorge, daß jemand anderer es bemerken und ihm zuvorkommen könnte. Die Kamera. Zertrümmert, völlig zerstört. Aber eine echte Kamera. Und sie lag verlassen auf dem Schotterbett… Mit dem Geräusch knallender Peitschen und quietschender Achsen verließ die Prozession das Gelände des Güterbahnhofs und begab sich zur
BERLIN 1891 – 1892
43
Morgenparade auf die Allee Unter den Linden. Paulis Mund war so trocken wie die Asche in einem offenen Kamin. Sich wachsam umblickend, stieg er langsam von dem Güterwagen herunter, rannte dann zu dem KameraWrack, hob es auf und jagte davon. Er wußte, daß die Kamera nicht mehr in Ordnung war, dennoch war sie ein seltener, wertvoller Schatz. Er ahnte, daß er zu spät zur Arbeit kommen würde. Er rannte fast den ganzen Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Er wollte schnellstens zum Kaiserhof und seinen Schatz Herrn Trautwein zeigen. Es war vier Uhr, ehe er Gelegenheit hatte, sich aus der Küche zu der Kammer hinter dem Pult des Hausdieners zu schleichen. Herr Trautwein geriet ins Schwärmen, als er die Kamera sah. »Ja, das ist eine echte Eastman-Schnappschußkamera, eine Kodak Nummer Eins, genauso wie meine. Ist dir klar, was für ein Wunderwerk sie ist? Sie wiegt weniger als ein Kilogramm und macht einhundert runde Photos auf eine Papierfilmrolle, die in die Kamera eingelegt wird, ehe man sie kauft. Wenn die Rolle verbraucht ist, schickst du die Kamera nach Amerika in die Fabrik – ich habe das schon zweimal getan! –, und sie entwickeln die Bilder, legen eine neue Filmrolle ein und schicken alles zurück. Eastman hat dafür einen Werbespruch: ›Sie drücken nur aufs Knöpfchen, alles andere machen wir!‹ Das stimmt genau. Die Photographie ist die neue Kunst der neuen Zeit. Es ist zu schade, daß du keine Kodak mitgebracht hast, die noch funktioniert.« »Vielleicht schaffe ich das eines Tages«, sagte Pauli. Er war ganz angetan von dem Werbespruch, den Trautwein zitiert hatte. In seinem Kopf hatte sich ein plötzlicher und phantastischer Sprung von »Sie drücken nur aufs Knöpfchen« zu allen Ansichtspostkarten an seiner Wand und von dort zu seinen ständigen und enttäuschenden Zeichenversuchen vollzogen. Das Photographieren könnte die Lösung sein. Es bot die Möglichkeit, ein Stück von der Welt einzufangen, auch wenn man kein Talent, sondern nur einen kräftigen Finger für den Auslöser hatte. Er verließ das Hotel an diesem Abend um halb neun. Vergessen waren für einen Moment Tante Lottes seltsame Launen und Gewohnheiten sowie der Eindruck, daß sie ihn los sein wollte und sich nichts mehr aus ihm machte. Seine Begeisterung erfüllte ihn und verdrängte alles andere. Er traf seine Tante im Morgenrock an. Wie ein verschrecktes Kind saß sie im Salon und hielt ein leeres Bierglas in der Hand. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. »Tante Lotte, was ist los?«
44
TEIL EINS
»Nichts, mein Liebling. Alles ist in Ordnung.« Sie wandte ihr Gesicht ab. »Ich sehe doch, daß überhaupt nichts in Ordnung ist.« Er zog sich einen alten Fußschemel heran und setzte sich. »Du mußt es mir erzählen. Was ist so schlimm?« Sie schlug die Hände vor die Augen. »Herr Reynard.« »Hat er dir etwas getan?« »Nein, er hat mich nicht angerührt, er hat nur – o Pauli!« Sie weinte und fuhr ihm mit der Hand zärtlich durch die Haare. »Wie soll ich es dir erklären? Es ist so schlimm.« Er legte seine Hände auf ihre Knie und spürte, wie sie zitterte. »Es ist schon gut.« Schließlich beruhigte seine Tante sich wieder. »Pauli, kennst du die Bedeutung des Wortes ›Schwindsucht‹?« »Ich habe das Wort schon mal in der Zeitung gelesen. Es ist eine Art Krankheit.« »Ja, ein furchtbares Leiden, das die Lungen befällt. Die Krankheit zerstört einen. Ich habe diese Krankheit. Ich weiß es schon seit über einem Jahr. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich es dir sagen soll, aber jetzt muß ich es tun, denn ich will nicht, daß du dich auch noch ansteckst. Du darfst nicht in dieser Wohnung bleiben, bis sie das reinste Pestloch ist. Wegen meiner Krankheit verschlimmern sich auch verschiedene andere Dinge.« Sie ging zu einem Biedermeierschrank, dessen Kirschfurnier hell leuchtete. Der Schrank war ihr bestes Möbelstück. Sie hatte ihn auf einem Möbelbasar gekauft. Sie fand eine Packung französische Zigaretten und zündete eine an. »Heute abend, nach dem Essen, wollte Herr Reynard mich wieder umarmen … ist dieser Ausdruck anständig genug? Ich hatte aber einen meiner Anfälle, den bisher schlimmsten. Dabei habe ich ins Bett gespuckt und alles verschmutzt. Herr Reynard war wütend. Er fluchte nur und rannte dann hinaus, ohne mir eine einzige Mark zu geben.« Sie beugte sich vor. »Er sagte, er werde nicht mehr zu mir kommen. Er sagte, ich gehörte in ein Krankenhaus. Er sagte, er werde meinen Namen in den Hotels und Cafés verbreiten, wo sich die Handlungsreisenden immer treffen. Schon bald wird mich kein Mann mehr besuchen wollen. Du siehst also –« Sie zog an ihrer Zigarette. »Wir müssen uns für dich etwas anderes überlegen.« Im Zimmer, im ganzen Keller war es völlig still. Pauli spürte, daß etwas
BERLIN 1891 – 1892
45
Grundlegendes geschehen würde. »Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß du nach Aalen zu deinem Onkel Gerhard zurückkehrst. Er ist ein engstirniger, dummer Mann. Eher schicke ich dich hinaus auf die Straße. Ich denke an etwas ganz anderes, Pauli.« Sie streichelte seine Wange. »Du mußt nach Amerika gehen.« »Nach Amerika?!« »Ja, wieso nicht? Es ist ein Land mit unzähligen Möglichkeiten. Zu Tausenden sind Angehörige unseres Volkes dorthin gezogen, und jede Woche machen sich noch mehr Menschen auf den Weg. Vergiß nicht, daß in Chicago ein Verwandter lebt, nämlich mein Bruder Josef, der Bierbrauer. Er ist wohlhabend und einflußreich. Ich will ihm noch heute schreiben, und ich bete zu Gott, daß er den Brief nicht wegwirft und ihn aufmerksam liest. Weißt du, ich habe zu meiner Familie nie eine besonders innige Beziehung gehabt.« Den Grund dafür verstand er sehr wohl. Wahrscheinlich war die Familie sogar froh darüber. Möglich, daß sie über die Affären mit ihren diversen Herren Bescheid wußte … Er war aufgeregt. Das Haus seines Onkels könnte genau das Zuhause sein, nach dem er sich sehnte. Andererseits konnte er nicht so einfach die Krankheit seiner Tante übergehen. »Ich kann doch nicht von dir weggehen, wenn du dich so schlecht fühlst –« »Natürlich kannst du das. Du bist fast erwachsen, du bist klug und stark, außerdem kannst du die Reise ganz allein unternehmen. Dein Onkel hat es auch geschafft. Ist denn die Vorstellung, in Amerika zu leben, für dich so furchtbar?« »O nein, ich habe schon immer den Wunsch gehabt, dieses Land einmal zu sehen.« »Es soll kein Besuch sein. Ich stelle mir eher vor, daß du dort lebst. Für immer. Könntest du das?« »Ich glaube schon. Ich würde schon alles versuchen, um dort glücklich zu werden. Um meinem Onkel Freude zu machen –« »Du mußt die Reise unternehmen. Es gibt keine andere Wahl. Ich werde Josef schreiben, und wir werden sofort damit anfangen, jeden Pfennig für deine Schiffspassage zu sparen. Ich habe mich bereits in Hamburg nach dem Preis erkundigt. Ungefähr hundertfünf Mark für eine Überfahrt auf dem Zwischendeck eines anständigen Schiffs. Das sind rund fünfundzwanzig amerikanische Dollars.« »Hundertfünf Deutsche Mark! Das ist ein Vermögen, Tante Lotte!«
46
TEIL EINS
»Ja, für Leute wie uns schon. Es wird einige Zeit dauern, bis wir gespart haben, was wir brauchen. Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr.« »Ich werde fleißig arbeiten, um den Fahrpreis zusammenzubekommen«, versprach Pauli. »Ich mache Überstunden, sooft ich kann.« »Dann haben wir das Geld vielleicht schon viel früher zusammen, als wir annehmen. Ganz gleich, wie lange es dauert, wir werden auf jeden Fall die Zeit nutzen. Ich bringe dir alles Englisch bei, das ich kann.« »Was ist mit Amerikanisch? Kannst du mir das ebenfalls beibringen?« Lotte lachte herzlich. »O Pauli! Die Sprache der Amerikaner ist Englisch. Naja, nicht ganz, sie ist lässiger. Es gibt mehr Witze. Mehr Slang. Es ist wie Englisch mit einer Prise Pfeffer.« »Dann ist es also beschlossene Sache?« »Ja, Pauli. Die Entscheidung ist gefallen. Amerika wird schön sein, wunderschön. Du wirst sehen.« Er schloß die Augen und erschauerte, als ein Bild in seinem Kopf entstand. Der Hafen von New York; die Freiheitsstatue mit ihrer Fackel. Sie schien ihm ein Zeichen zu geben, schien ihm und nur ihm zu winken. Die Antwort auf ihren Brief traf im Spätherbst ein. Sie war in säuberlicher Handschrift verfaßt, in gutem Deutsch und auf schwerem cremefarbenem Papier mit einem elegant gestalteten Schriftzug auf dem Kopf des Briefbogens. JOS. CROWN, MICHIGAN AVENUE, CHICAGO, USA. Darüber befand sich eine geprägte kleine Goldkrone. Liebste Schwester! Wie schön, daß ich wieder mal etwas von Dir höre. Ich hoffe, mit Deiner Gesundheit steht es zum besten. Uns geht es gut, und es wird ständig besser. Was deine Anfrage betrifft, so kann ich Dir nur mitteilen, ja, ich begrüße die Idee, daß Pauli zu uns kommt, wenn es nicht länger ratsam ist, daß er bei Dir wohnt. Bitte schick ihn herüber, sobald es geht. Du hast geschrieben, es wäre wahrscheinlich im Frühling oder Sommer des nächsten Jahres soweit, und wir teilen Deine Hoffnung. Wenn er hier eintrifft, werden Ilsa und ich und unsere Kinder ihn in Amerika willkommen heißen. Wir werden ihm helfen, ihm alles an Wissen vermitteln, was er braucht, um in einem fremden, neuen Land heimisch zu werden. Ich bin überzeugt, daß er von Amerika nicht enttäuscht sein wird, und ich bin auch sicher, daß sein neues Zuhause ihm gefallen wird. In brüderlicher Liebe, Joseph
BERLIN 1891 – 1892
47
An einem Frühlingstag im darauffolgenden Jahr, 1892, fuhr Pauli mit der Pferdebahn durch den westlichen Vorort Charlottenburg bis zur Endhaltestelle. Von dort wanderte er an der Spree entlang, bis er fast in Spandau war. Er hörte die Stimmen aus dem Sonderlager, ehe er es sah. Mehrere schlichte Holzhäuser waren rings um eine große Wiese angeordnet, auf der einige Gestalten schleppend im Sonnenschein auf und ab gingen. Andere saßen teilnahmslos auf weiß gestrichenen Holzstühlen. Paulis Stimmung verdüsterte sich beim Anblick so vieler trauriger, hilfloser Jungen und Mädchen. Einige von ihnen sahen wirklich schlimm aus, hatten schlaffe Münder, leere Augen oder abnorm geschwollene Köpfe. Im Sonnenschein unweit einer der Holzbaracken entdeckte Pauli seinen alten Gefährten Tonio. Er war leichenblaß, und sein bemitleidenswerter Kopf wirkte viel größer, als Pauli ihn in Erinnerung hatte. Tonio saß zurückgelehnt in einem der schweren Liegestühle. Er hob den Kopf nicht, sondern drehte ihn nur zur Seite, als er den Besucher herankommen hörte. Er lächelte. »Hallo, Pauli.« »Hallo, Tonio. Wie geht es dir?« »Ach, ganz gut. Es ist schön, daß du den weiten Weg hier heraus gekommen bist.« »Ich glaube, das ist mein letzter Besuch. Ich breche bald auf. Nach Amerika, zu meinem Onkel Joseph, um für immer dort zu bleiben.« »Ja, ich weiß. Mein Vater hat es mir erzählt, als er am Sonntag hier war. Es ist eine wundervolle Chance für dich.« Pauli reichte ihm eine Papiertüte. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« »Was denn?« Tonio versuchte sich aufzurichten, schaffte es aber nicht und sank wieder zurück. Aus der Tüte holte er ein verdrehtes Gebilde aus Brot, das mit Salzkristallen bestreut war. »Brezeln. Mein Lieblingsgebäck.« Er biß ein Stück ab und kaute. Speichel rann glänzend aus seinem Mundwinkel. »Tonio, ist dieser Ort hier – ich meine – wie fühlst du dich? Mir kommt es ziemlich grausam vor, Kinder hierher zu bringen und sie zu verstecken.« »Oh, die Schwestern behandeln uns sehr gut. Die Ärzte sind freundlich. Sie erzählen uns, daß wir für die Gesellschaft etwas Gutes tun – daß es wichtig ist, daß jeder entsprechend seinen Fähigkeiten lebt, damit die anderen nicht behindert werden. Das ist die neue deutsche Art.« Das mochte durchaus der Fall sein, aber Pauli gefiel das nicht. Wenn das die Art und Weise war, wie Deutsche andere Deutsche behandelten, dann war es nichts für ihn, und er war froh, daß er all das hinter sich lassen
48
TEIL EINS
würde. Tonios schlechte Behandlung erinnerte ihn seltsamerweise an Rhukovs Bemerkungen über das deutsche Heer und dessen Freude am Krieg. Fünf Minuten später verabschiedete er sich und umarmte Tonio, der bitterlich weinte. Pauli hatte es eilig, wollte dieses traurige Lager mitten im sonnendurchfluteten Tannenwald so schnell wie möglich hinter sich lassen. In seinem kleinen Zimmer nahm Pauli die Postkarten, die Photos und die anderen Erinnerungsstücke von den Wänden. Er legte sie säuberlich in den alten Kleiderschrank, der nun leer war bis auf den Karton, in dem sich das Spielzeugdorf befand. Vier Dinge behielt er zurück. Das eine war die Papierfahne der Revolution – rot, gold und schwarz. Das zweite war der Globus von Wertheim, das dritte die defekte Kamera. Obgleich sie völlig nutzlos war, schien es ihm wichtig, sie mitzunehmen. Das letzte Stück war für ihn ein ganz besonderer Talisman geworden. Es war die Stereoskopkarte von der Freiheitsstatue vor dem Schiffsbug. Schon bald würde er das Standbild in natura vor sich sehen. Sorgfältig packte er die Karte, die Papierfahne, den Globus und die defekte Kodak in seine Reisetasche, die Tante Lotte gebraucht gekauft hatte. Er legte sie nacheinander auf ein paar Kleidungsstücke, die er um ein englisches Sprachlehrbuch gewickelt hatte, das er in den vergangenen Monaten intensiv studiert hatte. Es trug den Titel Englisch für Reisende. Als er im Begriff war, das kleine Zimmer für immer zu verlassen, wandte er sich um. Er öffnete noch einmal den Kleiderschrank und holte die Andenkenkarte hervor, auf der Kaiser Wilhelm II. mit Ihrer Majestät seiner Frau und ihren Kindern posierte. Er dachte einige Sekunden lang nach, dann faßte er einen Entschluß. Er riß die Karte mitten durch und warf die beiden Hälften auf das Bett. Es kam ihm vor wie ein besonders dreister, mutiger Akt. Die richtige Geste für jemanden, der aufbrach in eine neue Heimat, in ein neues Zuhause, endlich. Dann sagte er etwas in holprigem Englisch. Es war eine Übung und vielleicht sogar eine Art Gebet. »America. Chicago. Hello, uncle Joseph. I am your nephew Pauli.« 4 CHARLOTTE In den Dampfschwaden und im Gewimmel des Bahnhofs Zoo verabschiedeten sie sich voneinander.
BERLIN 1891 – 1892
49
Wie jung und stark er aussah! So voller Hoffnung und Entschlossenheit, als er so dastand mit leuchtenden Augen und seiner wie immer etwas unordentlichen Kleidung. Die Dritter-Klasse-Fahrkarte für die Eisenbahnfahrt nach Hamburg schaute aus seiner Brusttasche heraus. Eine andere Tasche wurde von dem Apfel, den sie ihm mitgegeben hatte, und von ein paar Bonbons ausgeheult. Obwohl er sich die braunen Haare gekämmt hatte, waren sie wieder völlig zerzaust. Er sah schrecklich jung aus! Er hatte keine Ahnung von der Not und der Schlechtigkeit, die die Welt für ihn bereithielt. Lotte hatte auch nicht die Absicht, ihm davon zu erzählen. Dennoch hätte er vielleicht mehr Glück als sie, da ihr reicher Bruder in Chicago sich um ihn kümmern würde und er in ein Land kam, das nicht von völlig veralteten Ideen beherrscht war. Nun, da Pauli im Begriff war, in die Ferne zu entschwinden, floß sie geradezu über vor Liebe zu ihm. Sie hatte ihn mindestens genauso lieb wie ihre eigene Tochter Christine. Trotz ihrer vielen Unzulänglichkeiten hatte sie es irgendwie geschafft, verantwortungsvoll für den Jungen zu sorgen. Das tröstete sie und befreite sie wenigstens teilweise von der Schuld, die sie darüber empfand, bei ihrem eigenen Kind versagt zu haben. Sie hatte vor Sorge um Pauli in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan. Sie hatte viel von schlechten Männern gehört, die sich diesseits und jenseits des Ozeans mit Vorliebe an ahnungslose Einwanderer heranmachten. Außerdem gab es Gerüchte, daß in Hamburg die Pocken und die Cholera ausgebrochen wären. Die Schmerzen in ihrer Brust waren an diesem Morgen kaum zu ertragen. Sie hatte ihren ganzen Willen aufbieten müssen, um aus dem Bett aufzustehen, ihre sparsame Morgentoilette vorzunehmen, die Haare mit Henna zu waschen, das sie sich kaum leisten konnte, sich dann ihr bestes Kleid anzuziehen, ein Tuchkostüm mit Seidengürtel, und einen Hut mit Spitzenschleier und künstlichen Rosen, sehr französisch, aber mindestens seit zehn Jahren aus der Mode. Aus irgendeinem rätselhaften, kaum erklärbaren Impuls heraus hatte sie ihre Kommodenschubladen durchwühlt, bis sie den Rosenkranz aus der Zeit ihrer Ehe fand, und ihn in ihre Handtasche gesteckt. Schließlich schlüpfte sie in ein Cape aus grünem Loden. Das schwere Gewebe, das dem Regen so gut widerstand, schien eine melancholische Stimmung heraufzubeschwören. Pauli fragte sie, weshalb sie das Cape trüge, wo das Wetter doch recht warm sei. Sie gebot ihm in ziemlich scharfem Ton, lieber zu schweigen. Mit erhobener Stimme, um den Bahnhofslärm zu übertönen, sagte sie: »Ich möchte, daß es dir in deiner neuen Heimat gut ergeht, Pauli. In dir
50
TEIL EINS
stecken alle guten Eigenschaften der Deutschen. Wir sind ein edles und altes Volk, mußt du wissen. Sehr geschickt, sehr klug und sehr fleißig. Aber wir lieben auch das Leben. Wir singen und wandern gerne, wir komponieren wundervolle Musik und schreiben bedeutende Literatur.« Trotz ihrer Schmerzen, ihrer grauen Wangen, die keine noch so dicke Schicht Rouge verbergen konnte, fühlte sie sich ungewöhnlich sentimental und versöhnlich. »Aber du wirst Amerikaner, und du mußt ein guter Amerikaner sein und darfst niemals vergessen, daß du dein altes Heimatland gegen ein neues eingetauscht hast. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, um Berlin zu verlassen. Ehrlich gesagt, traue ich dieser Militärbande nicht. Nach meinem Dafürhalten verfolgt sie gefährliche Ideen. Ich glaube nicht, daß es in Amerika so kriegslüsterne Leute gibt, aber wenn dem so ist, dann nimm dich in acht. Vor allem paß auf dein Geld und auf den Brief auf, den dein Onkel Josef geschickt hat.« Zugbegleiter stießen in ihre Trillerpfeifen und schlossen die Waggontüren. Der eigentliche Abschied fand schnell und flüchtig statt. Es war nicht mehr als eine kurze Umarmung und ein hastiges Lebewohl. Sie brachte ihn zu dem Dritter-Klasse-Wagen, wo er zwischen einer Nonne und einem ärmlich aussehenden kleinen Mann Platz fand, der vielleicht Beamter war. Unter lautem Glockengebimmel, dem Knirschen stählerner Räder, dem zischenden Entweichen dichter Dampfwolken zog die Lokomotive den Zug aus dem Bahnhof und entführte ihr Pauli für immer. Als Charlotte das imposante Bahnhofsgebäude verließ, stellte sie fest, daß es zu regnen begonnen hatte. Es war ein warmer Sommerregen. Sie warf ihren Brief in einen Kasten, der mit dem gelben Horn der Post gekennzeichnet war. Es war ein Brief an ihre Tochter Christine, die sie weggegeben hatte. »Zu ihrem Besten« – das war die Lüge, die sie sich immer erzählt hatte. So war es ihr leichter gefallen, Christine als Hausmädchen zu verdingen, zu verschwinden und in Ruhe ein eigenes Leben zu leben. Sie hatte seit Jahren keine Verbindung mehr mit Christine. Jetzt wurde es Zeit. Die einzige Adresse, die sie hatte, war der Haushalt in Ulm. Sie hoffte, daß dort ihre neue Adresse bekannt war, falls ihre Tochter umgezogen sein sollte. Sie spazierte Unter den Linden einher, genoß die Stille unter den regennassen Bäumen. In einem Café, für das sie sich wegen der verhältnismäßig günstigen Preise auf der Speisekarte an der Tür entschied, gab sie ihr letztes Geld aus. Ihr Imbiß bestand aus Wurst, Schwarzbrot, hartgekochten Eiern, einem Glas köstlichen Moselweins sowie drei Gläsern
BERLIN 1891 – 1892
51
Weißbier. Sie brauchte heute abend Alkohol, um mutig zu sein. Während das Tageslicht der Abenddämmerung Platz machte, ging sie weiter zum Schloßplatz und betrachtete dort eingehend die Statue des Großen Kurfürsten. Sie schlenderte zur Spreebrücke. Der Abend senkte sich auf Berlin herab, dämpfte den Lärm ein wenig, milderte die Häßlichkeit. Der Regen fiel nun in Schauern. Sie empfand ihn sogar als durchaus angenehm. Lotte lehnte sich gegen das Brückengeländer und blickte hinab auf den verregneten Fluß. Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser, blinkten einladend. Sie schob die Hand in die Handtasche und fand den Rosenkranz. Die Berührung der Perlen war beruhigend. Stumm bat sie um Vergebung für das, was sie zu tun beabsichtigte. Ihr Glaube an Gott war nicht etwa schlagartig zurückgekehrt, aber es war immer gut, auf jede Karte zu setzen für den Fall, daß sich eine davon am Ende als Trumpf entpuppte. Sie dachte an den Zug, der durch die Nacht in Richtung Hamburg stampfte. Dem Himmel sei Dank, daß ihr Bruder Josef in Chicago wohlwollend auf den Vorschlag reagiert hatte, den sie ihm in ihrem Brief unterbreitet hatte. So ganz überraschend war es nicht; Josef war immer sehr großzügig gewesen, außerdem war er klug und reich. Was diesen Mistkerl Gerhard in Aalen betraf, der sollte in der Hölle schmoren, falls es diesen Ort überhaupt gab. Sie freute sich darüber, daß sie Pauli auf einen Weg gebracht hatte, der ihm ein besseres Leben verhieß. Er war jung, klug und gab nicht so schnell auf. Vielleicht fand er tatsächlich ein besseres Zuhause als das traurige und schäbige Heim, das sie ihm geboten hatte. Und dann würde sein Leben wirklich zu einem glücklichen Ende führen. Was sie selbst betraf – nun, mit dem Wein und dem Bier im Magen fühlte sie sich gar nicht so übel. Tatsächlich war sie innerlich ruhig und gelassen, während sie an dem gußeisernen Geländer stand und auf die Fluten der Spree hinabblickte. Sie nahm den Rosenkranz aus der Handtasche und hielt ihn ganz fest. Dann holte sie tief Luft, erkannte glücklich wie ein Kind, daß die Spree ihre Freundin war, sie willkommen hieß und in ihr die Antworten auf alle Fragen ihres Lebens zu finden waren. »Viel Glück, Pauli«, flüsterte sie in die Nacht.
TEIL ZWEI
Zwischendeck 1892
Ich schritt hinab zum Meeresstrand, Vertraute mich den Wogen an, Mich hielten keine starken Bande, Ich wollte mich retten, mit Kraft voran. Amerika heißt mich willkommen! Im fernen Land die neue Heimat sei. 1855 Gedicht von Jacob Groß, einem deutschen Einwanderer Amerikas
ZWISCHENDECK 1892
55
5 PAULI »Tausche Ihr deutsches Geld in Dollars um. Zum besten Wechselkurs! Du brauchst amerikanische Dollars auf dem Schiff, mein Junge. Also, was ist?« Pauli blickte von seinem englischen Sprachlehrbuch hoch. Er war müde, nervös und fühlte sich unwohl. Seit dem frühen Morgen saß er auf der Packkiste inmitten von sechs- oder siebenhundert weiteren Reisenden. Die Sonne warf den mächtigen Schatten des Dampfers wie ein schwarzes Leichentuch auf den Pier. Pauli hoffte, daß dies kein schlimmes Omen war. Der Wind, der die Elbe herauf ins Hafenbecken wehte, war heiß und feucht. Es war ein Tag, der eher in den August als in den Spätfrühling gepaßt hätte. Der Fluß stank unglaublich nach Fäulnis. Pauli hatte menschliche Exkremente vorbeitreiben sehen. Wie alle anderen auf dem Pier war er voller Unruhe, weil völlig unplanmäßig noch niemand an Bord hatte gehen dürfen. Er machte sich Sorgen wegen zahlreicher Gerüchte über ansteckende Krankheiten, die in der Stadt wüten sollten. Drei Tage und zwei Nächte hatte er in den verdreckten Auswandererbaracken der Schiffahrtslinie verbringen müssen. Es war kein Gerücht, sondern Tatsache, daß in Rußland die Cholera ausgebrochen war. Pauli war einer der letzten deutschen Emigranten gewesen, die mit einem planmäßigen Eisenbahnzug angekommen waren. Mittlerweile wurden sie mit hermetisch verschlossenen und plombierten Zügen nach Hamburg gebracht. Ringsum auf dem langen Pier saßen oder lagen die Passagiere für das Zwischendeck, oder sie wanderten umher. Es herrschte eine bedrückende Enge wie zuvor schon in den Baracken, und auch an Bord des Schiffs würde es nicht anders sein. Amerika lockte nicht nur Deutsche an, sondern auch Österreicher und Rumänen, Russen und Polen, darunter viele Juden. Die hoffnungsvollen Reisenden boten einen schäbigen Anblick. Sie unterhielten sich in verschiedenen seltsamen und unverständlichen Sprachen, von der eine fast wie Deutsch klang. Pauli nahm an, daß es Jiddisch war. Ihren gesamten irdischen Besitz hatten sie in Rucksäcken und alten Koffern, Weidenkörben und Kopfkissenbezügen, die mit dicken Stricken umwickelt waren, verstaut. Einige sahen durchaus umgänglich aus, andere machten einen unangenehmen Eindruck. Zu letzteren gehörten zwei junge Deutsche, groß und blond, die sich lautstark unterhielten, die Frauen dreist musterten, wobei sie sich gegenseitig anstießen, so daß sie an junge balgende Hunde erinnerten. Der Mann, der Pauli angesprochen hatte, beugte sich zu ihm hinüber. »Na, komm schon, wieviel willst du umtauschen?« Der Mann wirkte durchaus zuverlässig, bis man seinen schmuddeligen
56
TEIL ZWEI
Hemdkragen und die abgestoßenen Ärmelkanten seines Jacketts bemerkte. Pauli erinnerte sich an die Schalter unter einem großen Schild in der tristen und zugigen Buchungshalle der Schiffahrtsgesellschaft. WECHSELBANK UND PASSAGENBUCHUNGEN. Dieser Mann war kein Bankier. »Nichts«, erwiderte Pauli. »Auf dem Schiff kann man nur mit Deutscher Mark bezahlen. Ich habe mich erkundigt.« »Bist ein schlaues Bürschchen!« rief jemand in der Nähe ihm zu. »Wenn du ihm dein Geld gibst, siehst du es garantiert nie wieder!« Ein anderer lachte. Der Mann spuckte auf den Pier und entfernte sich schnell. Plötzlich empfand Pauli furchtbares Heimweh. Er wäre am liebsten aufgesprungen und zum Hauptbahnhof gerannt, um seinen närrischen Traum von Amerika aufzugeben. Vor seinem geistigen Auge erschien sein Zimmer in der Müllerstraße. In der Erinnerung wirkte es gar nicht mehr so übel. Zumindest war es dort warm und heimelig – Stopp! Das ist doch Blödsinn! Er wünschte, er könnte den scharfen antiseptischen Geruch seiner Kleider loswerden. Die Schiffahrtslinie achtete streng auf die Einhaltung der medizinischen Quarantäne für Zwischendeckpassagiere. Nach einer flüchtigen Untersuchung an seinem Ankunftstag waren er und alle anderen mit einer streng riechenden Flüssigkeit besprüht worden: Haare, Achselhöhlen, Schamgegend – überall. Danach hatte man sie gesammelt zu den Baracken der Schiffahrtslinie geführt, wo sie in hermetisch abgeriegelten Einheitsräumen auf dem Fußboden schlafen mußten. Abgesehen davon, daß er unangenehm roch, war er völlig ausgehungert. Seit dem Aufstehen hatte er nichts als einen Apfel gegessen; das Kerngehäuse steckte noch in seiner Tasche, er hatte es vergessen. Die Verpflegung in den Baracken bestand aus Tee und Brot zum Frühstück, Tee, Brot und einer fast ungenießbaren Wurst zu Mittag, und abends wieder aus Tee und Brot. Die Auswanderer mußten für jede Mahlzeit bezahlen. Pauli aß daher nur einmal am Tag. Er freute sich schon auf die regelmäßigen Mahlzeiten an Bord. Die Verpflegung sollte laut Werbung hervorragend und reichlich sein. Er versuchte, seine Studien wieder aufzunehmen. Es war nicht leicht. Englisch war eine verdammt schwere Sprache. Auch wenn viele Wörter dem entsprechenden deutschen Begriff stark ähnelten, gab es im Englischen zu viele Wörter, die ausgesprochen gleich klangen, jedoch unterschiedlich geschrieben wurden. Es war schrecklich verwirrend. Es gab keine Entsprechung für das »Du«, die vertrauliche Anrede, die Freunden oder Verwandten vorbehalten war. Am seltsamsten war jedoch,
ZWISCHENDECK 1892
57
daß die englische Grammatik das Verb irgendwo in die Mitte eines Satzes verlegte und nicht ans Ende, wohin ein Verb normalerweise gehörte. Wie sollte er das jemals lernen, geschweige denn selbst sprechen? Seufzend klappte er das Buch zu. Er lernte nicht schnell genug. Dafür prägte er sich andere Lektionen ein, sehr unangenehme Lektionen. Als er aus dem Zug gestiegen war, hatte er erwartet, daß die Hamburger ihren Landsleuten, die aufbrachen, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, freundlich und bereitwillig helfen würden. Das war ein Irrtum. Die Hamburger täuschten die Freundlichkeit nur vor, während sie ständig nach neuen Möglichkeiten suchten, die Reisenden zu betrügen und zu übervorteilen. Einen solchen Zeitgenossen lernte Pauli auf dem Barackenvorplatz kennen – einen schmierigen »Neuländer«, einen Verbindungsmann für die Neue Welt. Diese Kerle seien ungemein redegewandt, war er in seinem Zug von einem anderen Passagier gewarnt worden. Ein Neuländer betätigte sich als Agent für eine Schiffahrtslinie oder für einen Unternehmer in Übersee. Die meisten dieser Männer hatten sich niemals in Amerika aufgehalten. Der Neuländer drückte Pauli eine bunte Broschüre in die Hand. Das Titelbild zeigte ein unbeholfenes Gemälde von der Freiheitsstatue, die aussah, als bestünde sie aus Gold, was ihr zu einer funkelnden Aura verhalf. Dahinter hatte der Künstler hohe Gebäude angeordnet, die allesamt von riesigen Diamanten gekrönt wurden. »Hast du schon eine Passage gebucht, junger Freund?« »Ja.« »Und wartet schon ein Arbeitsplatz auf dich? Wenn nicht, kann ich dir in Baltimore etwas anbieten –« Der Neuländer biß wütend die Zähne zusammen, als er Paulis amüsierte Reaktion sah. »Was zum Teufel ist daran so lustig?« »Dies hier.« Pauli wedelte mit der Broschüre. »Sie halten mich wohl für einen dummen Bauern, oder? Hören Sie, ich komme aus Berlin.« »Na und?« »Diese Statue ist gar nicht aus Gold. Ich zeig’s Ihnen. Ich hab’ nämlich ein Bild von der richtigen Freiheitsstatue.« Er begann danach zu suchen, aber der Neuländer erklärte ihm unwirsch, daß er sonstwas mit dem Bild tun könne. Er riß ihm die Broschüre aus der Hand und trollte sich. Pauli stand auf dem Pier und seufzte in Anbetracht der Erinnerung. Es wimmelte nur so von Dieben – allesamt Deutsche, die Deutsche bestahlen. Er hatte von seinen Landsleuten und der Welt Besseres erwartet.
58
TEIL ZWEI
Seit über vierzig Jahren gab es in Deutschland eine Auswanderungsbewegung. Sie hatte Familien auseinandergerissen, in verschiedenen Landstrichen einen wirtschaftlichen Niedergang ausgelöst und war schon mehrmals Thema hitziger politischer Diskussionen gewesen. Tante Lotte hatte Pauli erzählt, daß bereits Hunderttausende weggegangen waren, darunter auch sein Onkel, und daß der Strom der Auswanderer nicht abreißen wollte. Wenn er sich auf dem Pier umsah und das Gedränge der Auswanderungswilligen betrachtete, glaubte er ihr aufs Wort. Die Reise nach Amerika nahm nicht immer ein glückliches Ende. Diese sehr deprimierende Information hatte er von einem Reisenden, der in der Buchungshalle neben ihm auf der Bank gesessen hatte. Paulis Zug war vor einer halben Stunde angekommen, und er war direkt in die Halle weitergegangen, um sich in die Passagierliste eintragen und seine Buchungsunterlagen abstempeln zu lassen. Dann hatte er sich hingesetzt, um die Dokumente eingehend zu studieren. Der Mann neben ihm gab einen traurigen Seufzer von sich. Da er sich nach der langen Reise in einer Schar von Fremden ziemlich einsam fühlte, sprach Pauli seinen Nachbarn an. »Reisen Sie auch nach Amerika, mein Herr?« »Ich komme gerade aus Amerika. Mein Bruder sollte mich hier abholen, um mir das Geld für die Eisenbahnfahrkarte zu bringen. Ich kehre nach Wuppertal zurück.« Der Reisende war ein alter Mann. Nicht unbedingt alt an Jahren, sondern dem Aussehen nach. Sein Gesicht war von Sorgenfalten durchfurcht, die Augen blickten traurig. »Willst du rüber?« fragte er. Pauli antwortete mit einem bekräftigenden Nicken. »Und ob.« »Tausende unternehmen die Reise, aber Hunderte kommen wieder zurück. So etwas erzählen sie einem nicht, oder? Ich habe zwölf Jahre in St. Louis gewohnt. Ich habe jede Sekunde gehaßt. Ich bin gelernter Bäcker. Aber es gibt jede Menge Bäcker in Amerika. Zu viele. Ich habe kaum genug verdient, um mich selbst über Wasser zu halten. An Ostern wurde mein Laden überfallen und ausgeraubt. Schon damals wäre ich beinahe nach Hause zurückgekehrt. Ich fand es drüben einfach entsetzlich.« »Es tut mir leid, daß Sie so schlechte Erfahrungen gemacht haben, mein Herr, aber es heißt auch, daß es im großen und ganzen ein wunderbares Land ist.« »O nein, überhaupt nicht. Die Menschen dort sind nicht so wie du und ich, sie kommen aus allen möglichen Ländern. Sie werfen ihre Traditionen zu schnell über Bord. In Amerika wird alles niedergerissen – Häuser, die gerade zehn Jahre alt sind, ganze Wohnviertel müssen neuen breiten
ZWISCHENDECK 1892
59
Straßen weichen. Und genauso räumen sie jeden aus dem Weg, der neue oder unerwünschte Ideen verbreitet. Nach deiner Ankunft denkst du eine ganze Weile, daß alles herrlich ist. Aber dann siehst du plötzlich den Schmutz und die Not – du erkennst die Wahrheit hinter dem Trugbild, das du dir selbst geschaffen hast und das sich der Rest der ganzen Herde Gutgläubiger und Hoffender ständig vorgaukelt. An deiner Stelle würde ich mir diese Erfahrung ersparen und zusehen, daß ich meine Buchung rückgängig mache und mir mein Geld zurückgeben lasse.« »Das geht nicht. Meine Verwandten erwarten mich in Chicago. Dort werde ich wohnen.« »Na ja, in ein paar Jahren bist du sicher wieder hier. Verlaß dich drauf!« Pauli entschuldigte sich und entfernte sich schnell. Er wünschte, er hätte den Bäcker aus Wuppertal nicht angesprochen. Der Tag ging zu Neige. Die Geräusche des Hafens – die Nebelhörner der großen Schiffe, das Kreischen der Dampfpfeifen, der Schlepper und Lastkähne, das klare Läuten der Schiffsglocken – erschienen von Sekunde zu Sekunde weniger erregend. Eine Glocke erklang nun von der Schiffsmitte her. Die Menschen stießen laute Rufe aus und wiesen in diese Richtung. Pauli sprang auf die Packkiste und reckte den Hals. Tatsächlich, an der Gangway für die Kabinenpassagiere war das Absperrseil aus Samt entfernt worden. Elegant gekleidete Damen und Herren mit ihren Familien gingen unter lebhaftem Winken und Gelächter an Bord. Die Gangway der Kabinenklasse war mit einer grüngestreiften Markise überdacht und mit Teppich ausgelegt. Die Gangway zum Zwischendeck, die immer noch in Höhe des Bugs am Schiffsrumpf befestigt war, besaß kein Dach, war schmal und wirkte nicht besonders vertrauenerweckend. Die Einstiegluke im Rumpf war geöffnet, aber niemand konnte an Bord gelangen, weil die Gangway nicht ausgeklappt und auf den Pier heruntergelassen war. Pauli setzte sich wieder hin. Unter seiner Jacke und dem Hemd scheuerte ihm ein Leinengürtel den Bauch auf. Tante Lotti hatte den Gürtel für ihn genäht. Darin steckten der Brief seines Onkels und seine letzten achtzehn Mark. Um sich etwas aufzumuntern, suchte er in dem Gürtel nach dem Brief seines Onkels und las die ermutigenden Sätze, die er eigentlich schon auswendig kannte, als zwei sonnengebräunte Matrosen in der Einstiegsluke erschienen. Auf Anweisung eines hochgewachsenen, hageren Mannes mit goldbetreßter Mütze und dunkelblauer Uniform lösten die Matrosen die Leinen und klappten die Gangway zur Seite. Einer der Männer lief darauf
60
TEIL ZWEI
entlang, bis sie sich auf den Pier hinabsenkte. Rings um Pauli sprangen alle Leute auf und stießen laute Rufe aus, während sie sich nach vorn drängten, um die ersten zu sein. Pauli wurde mit dem Brief in der Hand überrascht. Er hatte kaum Zeit, ihn an seine Brust zu drücken, als er auch schon von der Menge mitgerissen wurde. »Nicht so schnell, langsam, treten Sie zurück!« Das war die Stimme des hageren Stewards, der hinter einem ausgefransten Strick stand, der die Gangway absperrte. Ärgerlich rief jemand: »Hören Sie, wann können wir endlich an Bord?« »Wenn ich es gestatte.« Ausländer gestikulierten wild mit den Armen und schrien auf den Steward ein, bemüht, ihm zu erklären, daß sie ihn nicht verstanden hätten. Verächtlich wandte er ihnen den Rücken zu und warf einen Blick auf seine Ladelisten. »Julius – Margarete – ich bitte euch zum letztenmal, fahrt nicht!« Das kam von dem älteren Mann direkt hinter Pauli. Der Junge wandte sich um und sah, wie der Mann ein junges Paar anflehte. Schläfenlocken baumelten unter seinem schwarzen Hut hervor. »Kommt mit mir zurück nach Hause! Ihr werdet die Fahrt nicht überleben. Ihr habt doch die Geschichten über diese Schiffe gehört. Dunkelheit, schlechte Luft, Pestilenz, kein koscheres Essen – sehr wenige überstehen diese Reise heil.« Noch immer den Brief in der Hand haltend, blickte Pauli über die Schulter des jungen Mannes dem Juden in die funkelnden Augen. Noch einmal wandte sich der alte Mann beschwörend an die jungen Leute und auch an Pauli. »Es ist euer sicherer Tod!« Pauli fröstelte und wurde wieder nach vorn gestoßen. Als der Steward endlich das Seil löste und auf den Pier trat, strömten die Passagiere schnell an Bord. Pauli bemühte sich noch immer, den Brief in seinem Geldgürtel zu verstauen, als er an den Fuß der Gangway geschoben wurde. »Nachname?« »Kroner.« Der Steward hakte seinen Namen auf der Liste ab. Er bemerkte, wie Pauli an seiner Taille herumnestelte. Er sah den Geldgürtel. »Beweg dich und sieh zu, daß du aufs Schiff kommst«, sagte er mit einer ruckartigen Kopfbewegung. Pauli machte einen schnellen Schritt vorwärts, klammerte eine Hand ums Geländer, während er mit der anderen sein Hemd in die Hose stopfte. Ein schlechter Anfang. Nur wenige überstehen diese Reise heil… Pauli kämpfte sich die schwankende Gangway hoch zur Einstiegsluke, die ihm wie ein unergründlicher Schlund erschien.
ZWISCHENDECK 1892
61
Das Schiff hieß MS Rheinland. Es bot dreihundertfünfundzwanzig Passagieren in den Kabinen und höchstens neunhundert Personen im Zwischendeck Platz. Die MS Rheinland gehörte der Flying Stag Linie. Auf Fahnen, Wimpeln, sogar auf den Hemden der Besatzung konnte man ihr Symbol, einen geflügelten Hirsch in vollem Flug, erkennen. Das Zwischendeck lag tief im Schiffsbauch, und zwar im Vorderteil, wo die Ankerkette und die Schrauben einen furchtbaren Lärm erzeugten. Beaufsichtigt wurde es von dem Steward und zwei jungen Männern, die eher an Strauchdiebe und Wegelagerer erinnerten als an die Besatzungsmitglieder einer internationalen Dampfschiffahrtsgesellschaft. Die Auswanderer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt – Ehepaare mit Kindern und alle anderen. Die Quartiere für beide Gruppen sahen gleich aus: große Frachträume mit jeweils nur wenigen Bullaugen, die sich nicht öffnen ließen. In den Frachträumen standen stählerne Bettgestelle, jeweils fünf übereinander in Dreierreihen. Auf jedem Gestell lagen eine dünne, strohgefüllte Matratze und eine fadenscheinige Decke. Pauli beeilte sich, ein, wie er meinte, möglichst günstig gelegenes Bett zu besetzen – in der untersten Etage und am Ende einer Reihe. Sehr bald schon mußte er erkennen, daß es keinen Deut besser war als alle anderen, denn in keiner der Kojen konnte man sich aufsetzen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Die Fußböden im Zwischendeck waren allesamt mit weißer Farbe frisch gestrichen und die Räume ausgeräuchert worden, aber es dauerte nicht lange, bis die Böden vom Papierabfall und den Apfelsinenschalen der orientierungslosen Passagiere bedeckt waren und der strenge Geruch verschwitzter und schmutziger Körper die Luft erfüllte. Die Schiffahrtslinie pries ihre »wohlschmeckende und nahrhafte« Verpflegung an, aber auch hier sah die Wirklichkeit erheblich anders aus. Noch ehe das Schiff an diesem Abend aus dem Hafen geschleppt wurde, erklangen Gongs, und die Passagiere begaben sich fast im Laufschritt zu langen, auf Böcken aufgestellten Tischen im »Salon« des Zwischendecks. Ihre »wohlschmeckende« Mahlzeit bestand aus lauwarmer Kartoffelsuppe, Servierplatten mit Hering in einer fragwürdigen Essigsauce und altem Schwarzbrot. Pauli vertilgte seine Ration schneller und gründlicher als gewöhnlich. Der Steward ging zwischen den Tischen umher, rieb sich feierlich die Hände und erkundigte sich, ob alles wunschgemäß sei. Er stellte sich den Reisenden als Herr Proviantmeister Blechmann vor. Einer der frechen blonden Brüder sprach ihn an. »Wo bleibt das Bier? Sie haben uns Bier versprochen, daran kann ich mich noch verdammt gut erinnern.« »Das könnt ihr haben«, erwiderte der Proviantmeister und rieb dabei
62
TEIL ZWEI
Daumen und Zeigefinger in einer unmißverständlichen Geste gegeneinander. »Auch Wein und Trinkwasser, gegen Bezahlung natürlich.« Pauli entschied, daß er lieber weiter Durst litt und sich später den Mund auf der Herrentoilette ausspülen würde. Als er dann diese enge Einrichtung aufsuchte, mußte er von dem Gestank der Stahlbecken würgen, in die man, soweit er es erkennen konnte, stehenderweise urinierte und sitzend sein großes Geschäft verrichtete. Vier stählerne Waschbecken mit Wasserkränen waren an der Wand gegenüber den Toiletten angebracht. Er drehte einen Hahn auf und ließ Wasser in seine gewölbte Hand laufen. Den ersten Mundvoll spuckte er sofort wieder aus. Das Wasser war salzig. Am Fuß der schmalen Eisentreppe fand er den Proviantmeister. »Hören Sie, wo gibt es Trinkwasser?« »Das kannst du kaufen. Komm ruhig zu mir, wenn du etwas willst. Du kannst es dir doch leisten, oder?« Seine hagere Hand sank herab zu Paulis Taille und tätschelte die versteckte Wölbung des Geldgürtels. Pauli wich zurück und flüchtete. Das Gelächter des Proviantmeisters hallte durch den stinkenden Gang und verfolgte ihn. Die Rheinland legte um Mitternacht ab. Pauli erwachte vom Hupen der Schlepper, dem Schlagen und Rasseln der Taue und der Ankerkette sowie von den entsetzten, in vielen Sprachen erklingenden Rufen seiner Mitpassagiere. Der Mann im benachbarten Bett schlug sich mit den Fäusten vor die Brust und jammerte in einer Sprache, die Pauli als Russisch zu erkennen glaubte. Direkt über ihm schluchzte eine Frau wie eine Trauernde auf einem Begräbnis. Diese Klagen verbanden sich mit anderen zu einem Potpourri der Angst, das sein Fortissimo erreichte, als das Schiff sich vibrierend in Bewegung setzte. Im Zwischendeck herrschte totale Dunkelheit, was die Beunruhigung nur noch vergrößerte. Die wenigen Lichtflecken stammten von schwachen Glühbirnen, die wie einsame Sterne in einem kahlen schwarzen Raum funkelten. Einem Raum, in dem es wieder entsetzlich stank. Jemand hatte sich von seinen Blähungen Erleichterung verschafft. Pauli zog seine Reisetasche zu sich hoch aufs Bett, legte seinen Kopf darauf, deckte sich zu und versuchte zu schlafen. Er blieb stundenlang wach. Das Tageslicht und die Ausfahrt aus der Elbmündung brachte allen Abwechslung. Man unternahm einen Ausflug hinauf zur kleinen Freiluftplattform des Zwischendecks am Bug des Schiffs. Alle Passagiere des Zwischendecks dort unterzubringen glich dem Versuch, die gesamte
ZWISCHENDECK 1892
63
Bevölkerung Berlins auf einem Dorfplatz zu versammeln. Trotz der großen Menschenmenge gelang es Pauli dank seiner Gewandtheit, sich einen Platz an der Reling zu sichern. Er lehnte sich dagegen, spürte den Wind und füllte seine Lungen mit frischer, sauberer Luft. Andere Passagiere spielten auf dem Deck Karten, lasen oder blickten voller Sorge zum Horizont. Eine Familie probte die Ankunft in Amerika. Der Vater übernahm dabei die Rolle eines Einwanderungsbeamten, der den Kindern in barschem Ton Fragen stellte, sie knuffte, hin und her schubste und dann ihre Augen derart grob untersuchte, daß das jüngste Mädchen zu weinen begann. In Hamburg hatte Pauli schon von dem gefürchteten Arzt, dem »Augenmann«, gehört, der scharenweise Neuankömmlinge zurückschickte. Die amerikanischen Behörden waren in Gesundheitsfragen überaus streng. Viele Frauen vom Zwischendeck trugen bunte Kopftücher oder Schürzen. Sie bildeten damit einen scharfen Kontrast zu der eleganten, aber farblich ziemlich eintönigen Kleidung der Kabinenpassagiere, die sich zwei Decks höher knapp unterhalb der Kommandobrücke an der vorderen Reling drängten. Von dort aus betrachteten sie neugierig die Auswanderer, machten herablassende Bemerkungen über sie und warfen ihnen die Reste ihres Frühstücks, manchmal sogar ein paar Pfennige hinunter. Diese Schätze lösten ein hektisches Gerangel aus. Die beiden blonden Brüder stießen andere beiseite, um sich zu sichern, was sie haben wollten. Sie waren Deutsche von der Sorte, die Pauli nicht leiden konnte. Überdies gefiel es ihm überhaupt nicht, daß man von oben auf ihn herabsah, und das sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Schon bald fesselte eine andere Familie seine Aufmerksamkeit. Sie bestand aus einer kleinwüchsigen, korpulenten Frau, der Mutter, zwei fast ebenso kräftigen Töchtern und einem Jungen, der ein oder zwei Jahre jünger als Pauli zu sein schien. Der Junge war sehr dünn, fast zerbrechlich, hatte bleiche Haut, leuchtendblaue Augen, lächelte gern und oft, und seine borstigen schwarzen Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Er besaß eine alte Ziehharmonika, auf der er mit beachtlichem Geschick flotte Melodien spielte. Seine Lebhaftigkeit und seine gute Laune unterschieden ihn gründlich von seiner Mutter und den Schwestern, die ständig trübsinnig wirkten. Pauli versuchte, sich dem Jungen zu nähern, in der Hoffnung, mit ihm ein Gespräch beginnen zu können. Er hörte dabei, daß die Schwestern sich in einer fremden Sprache unterhielten, und gab seinen Versuch auf.
64
TEIL ZWEI
In der folgenden Nacht gerieten sie auf dem offenen Atlantik in einen Sturm, und das Zwischendeck verwandelte sich in eine Hölle. Bereits nach einem einzigen Tag hatte sich der schwache Räuchergeruch aus dem düsteren Frachtraum verflüchtigt und dem Gestank körperlicher Ausscheidungen Platz gemacht. Er drang aus den offenen Türen der Waschräume und Toiletten, entstand aber auch an anderen Stellen, denn diejenigen, denen schlecht wurde, nahmen auf ihre Umgebung keine Rücksicht und erleichterten sich in Nischen, unter den Treppen oder gleich in ihren Betten. Die Rheinland schlingerte und bebte heftig. Paulis Magen schien auf und nieder zu steigen und preßte saure Verdauungssäfte in seine Speiseröhre. Selbst als er flach auf dem Rücken in seinem Bett lag, war er völlig benommen. Der Mann in dem Bett auf der anderen Seite des Gangs weinte. Andere flehten um Hilfe oder schickten laute Stoßgebete zum Himmel, als der Sturm sich verschlimmerte. Donnerschläge hallten im mächtigen Schiffsrumpf wider wie das Geläute einer stählernen Glocke. »Hilfe, helft mir, ich sterbe«, heulte eine Frau auf deutsch in einem der Betten über Pauli. Pauli zauderte nicht lange. »Warten Sie, ich komme!« antwortete er. Er griff nach der Bettkante über sich und zog sich hoch, um aus seiner Koje zu steigen. Sein Kopf ragte hinaus in den Gang, als die Frau sich übergab. Erbrochenes ergoß sich auf Pauli, der nun selbst heftig zu würgen begann. Als er endlich auf unsicheren Füßen in dem glitschigen Gang stand, seufzte die Frau, nun gehe es ihr schon besser. Pauli fühlte sich sterbenselend. Würgend und sich ebenfalls erbrechend, rannte er zum Waschraum. Im Schein einer trüben Glühbirne drehte er einen Wasserkran auf und wusch sich das Gröbste mit Salzwasser ab. »Wenn du und deine Freunde halbwegs anständig schlafen wollen, solltet ihr die Schweinerei da drin entfernen. Wollt ihr ein paar Lappen? Es sind genug vorhanden.« Die Stimme gehörte Blechmann, der im Türrahmen stand, nur mit seiner Uniformhose und einem Unterhemd bekleidet. »Ist das denn nicht Ihre Aufgabe, sauberzumachen, Herr Proviantmeister?« »Aber nicht vor morgen früh, du Schlauberger.« »Na schön, wieviel?« »Sagen wir, eine Mark?« Pauli hatte wenig Lust, mit dem Mann Geschäfte zu machen und diesen Wucherpreis zu bezahlen. Aber er wollte auch nicht in Erbrochenem
ZWISCHENDECK 1892
65
schlafen. Er trennte sich daher von einer Mark und erhielt zwei Handtücher, klein und schon ziemlich verschlissen. Damit reinigte er seine Koje und den Fußboden davor. In dieser stürmischen Nacht zwang er sich dazu, sich entweder die Stereoskopkarte, Buffalo Bill oder den Brief seines Onkels mit der kleinen goldenen Krone im Briefkopf so deutlich wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Es war der verzweifelte Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, daß das, was ihn erwartete, all diese Qualen wert war. Am nächsten Tag besserte sich das Wetter, und das Meer beruhigte sich. Einige Passagiere wollten die winzigen Bullaugen öffnen, um den Frachtraum zu lüften, mußten aber feststellen, daß die Fenster hermetisch verschlossen waren. »Das ist eine Vorschrift der Schiffahrtslinie«, erklärte der Proviantmeister knapp, als er darauf angesprochen wurde. Pauli entdeckte, daß er inzwischen schon richtige Seemannsbeine hatte, die es ihm gestatteten, jeden verfügbaren Moment draußen an Deck zu verbringen. Er pflegte keinen Kontakt mit seinen Mitreisenden, vorwiegend, weil er zu schüchtern war. Im Verlauf des Vormittags ließ sich ein dicker Mann, vermutlich ein Ungar, neben ihm nieder. In schlechtem Deutsch lud er Pauli zum Kartenspielen ein. Dabei stellte er sich mit leiser Stimme vor und blies Pauli Knoblauchdämpfe ins Gesicht. Die Hand des Mannes schien wie zufällig auf Paulis Oberschenkel herabzusinken. Pauli sprang auf. »Nein, danke, ich spiele nicht!« rief er und rannte davon. Danach nahm er stets die defekte Kodakkamera mit an Deck und tat so, als photographiere er die Ankerketten, die Rettungsboote, die Kommandobrücke – alles, was sich photographieren ließ. Er war noch nie so einsam gewesen. Er wünschte sich, er könne mit jemandem reden, aber es war gefährlich. Ein Passagier, dessen Bett sich an einem anderen Gang befand, weckte seine Neugier. Es war ein älterer Mann, hager, aber mit betont gerader, straffer Haltung. Silbergraues Haar und ein buschiger, gepflegter Schnurrbart verliehen ihm eine würdevolle Erscheinung. Seine Kleidung war etwas seltsam. Er trug eine dunkelblaue Hose mit weißem Seitenstreifen sowie einen schmutzigroten Mantel in Uniformstil und mit dunkelblauen Schnüren und Biesen an den Ärmeln, den Schultern und auf der Brust. Der Mantel war zerschlissen und schmuddelig, aber der alte Knabe trug ihn mit Würde. Pauli konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Regiment solche Uniformfarben wählen würde, so stolz und traditionsbewußt es auch immer sein mochte. Der alte Herr pflegte eine kleine Holzkiste mit an Deck zu bringen. Er
66
TEIL ZWEI
stellte sie immer besonders behutsam ab und wischte mit einem großen Taschentuch darüber, ehe er darauf Platz nahm. Wenn er nicht aufs Meer hinausblickte, spuckte er auf seine rissigen Stiefel und säuberte sie mit dem Daumen. Am Ende war Paulis Einsamkeit größer als seine Angst. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, mein Herr, aber ich habe beobachtet, daß Sie diese Kiste jeden Tag säubern. Sie sind so ordentlich, daß Sie Deutscher sein könnten.« Der alte Herr lachte belustigt. »Meine Mutter ist Deutsche. Woher kommst du denn?« »Aus Berlin. Ich heiße Pauli Kroner.« »Berlin, sagst du. Sehr schön dort. Ich habe neun Jahre im Kaiserhof gearbeitet. Draußen auf der Straße – habe Taxis gerufen, beim Gepäck geholfen, wichtige Gäste begrüßt –« »Das gibt es doch gar nicht!« rief Pauli aus. »Ich war im selben Hotel in der Küche beschäftigt. Und wir sind uns niemals begegnet!« »Na ja, du hättest nicht immer hinten bleiben sollen. Außerdem liegt das schon zehn Jahre zurück.« Sie mußten beide lachen. So lernte Pauli den alten Valter kennen, Schlesier von Geburt und Hotelportier von Beruf, was seinen bunten Aufzug erklärte. Valter hatte in einigen der vornehmsten Häuser gearbeitet, in Paris, Brüssel, Warschau, Madrid. Er erklärte voller Stolz, er beherrsche neun Fremdsprachen. Er sei unterwegs zu seinem zweiten Sohn, der in einer Kleinstadt im amerikanischen Staat Pennsylvanien wohne. Das Wetter änderte sich wieder. Gegen vier Uhr nachmittags erschien weit voraus eine Nebelbank, die die Rheinland um sechs Uhr völlig einhüllte. Die ganze Nacht hindurch drang ein lautes Tuten aus dem mächtigen Nebelhorn, ein trostloses und erschreckendes Geräusch. Pauli betete im stillen, daß bald vor ihnen die amerikanische Küste auftauchen möge. Doch bis dahin würde es noch mindestens eine Woche dauern. Am Vormittag hob der Nebel sich allmählich. Pauli ging nach unten ins Zwischendeck, um sich das Gesicht mit kaltem Salzwasser zu waschen. Er bemerkte den hageren Herrn Blechmann, wie er durch den Schlafsaal schlenderte und dabei mit seinen seltsamen Glubschaugen Gepäckstücke und Koffer aufmerksam inspizierte. Pauli wich zurück und entfernte sich, ehe Blechmann ihn entdeckte. Er stieg die Eisentreppe hinauf und machte einen deutlichen Schimmer strahlenden Sonnenscheins über den dahinjagenden Wolken aus. Valter war nirgendwo zu sehen. Pauli erkannte in den verschiedenen Menschengruppen einige Mitreisende, unter ihnen auch die beiden blonden Brüder und die beiden jungen Frauen von sechzehn oder achtzehn Jahren,
ZWISCHENDECK 1892
67
die zu dem Jungen mit der Ziehharmonika gehörten. Heute befand er sich nicht bei ihnen. Die Schwestern waren so stämmig wie Bierfässer. Die ältere hatte ein feistes Gesicht und einen dunklen flaumigen Damenbart. Die andere war beinahe hübsch zu nennen. Sie hatte einen schönen Busen und gefühlvolle Augen. Die Mädchen waren ins Kartenspiel vertieft. Es war die hübschere der beiden, die die Aufmerksamkeit der blonden Brüder erregte. Pauli wurde unruhig, als er beobachtete, wie sie sich gegenseitig anstießen und vertraulich grinsten. Der dickere der beiden zog sich die Fischermütze verwegen in die Stirn und kam herübergeschlendert. Indem er so tat, als photographiere er mit seiner defekten Kamera, konnte Pauli die Ereignisse beobachten, ohne aufzufallen. Der blonde junge Mann beugte sich hinab, um der hübscheren der beiden Schwestern etwas ins Ohr zu flüstern. Sie sprang auf, wobei die Spielkarten von ihrem Schoß rutschten und aufs Deck flatterten. Der junge Mann lachte schallend und drückte mit dem Handrücken gegen den in ein Korsett eingeschnürten Busen des Mädchens. Ihre Schwester war zu verängstigt, um sich auch nur zu rühren. Pauli wollte sich nicht einmischen. Im Vergleich zu den blonden Brüdern war er nichts weiter als ein halbwüchsiger Bengel. Aber alle anderen an Deck – so wenige auch nur heraufgekommen waren – schauten geflissentlich weg. Fast gegen seinen Willen ging Pauli los, wobei seine Hände trotz der kühlen Seeluft heftig zu schwitzen begannen. »– normalerweise mag ich kein koscheres Fleisch, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen«, hörte Pauli den blonden Kerl verkünden. Dem Akzent nach war er Bayer. »Komm schon, Judenkind, stell dich nicht so an! Ich bin ein anständiger Kerl. Heiße Franz. Das dort ist mein Bruder Heinrich. Wir sind die Messer-Jungs.« Die andere Schwester reagierte nun auch. Sie begann mit den Armen zu gestikulieren und redete in ihrer Muttersprache drauflos. Der zweite Bruder war weniger freundlich. »Hör auf mit deinem Jiddisch!« »Das ist Polnisch, Heinz«, sagte Franz. »Jedenfalls klingt es für mich so.« Pauli ging um die Gruppe herum und baute sich rechts von Franz auf. Er hob die Kodak ans Auge, wobei er sie zum größten Teil mit seinen Händen bedeckte. Die beiden jungen Männer sollten nicht bemerken, daß sie defekt war. »He, was treibst du da, du kleine Rotznase?« rief Heinrich. »Ich mache ein paar Photos – für den Kapitän.« Die Messer-Brüder musterten die Kamera mit einem Ausdruck der Überraschung und Besorgnis. »Ist das einer von diesen Bilderkästen?«
68
TEIL ZWEI
»Ja, und auf den Bildern ist zu sehen, wie Sie die beiden Mädchen belästigen.« Der Bluff war völlig verrückt. Zwischendeckpassagiere bekamen den Kapitän eigentlich niemals persönlich zu Gesicht. Erst recht sprachen sie nicht mit ihm. Aber diese beiden Bayern waren strohdumm. »Hörst du seinen Akzent?« fragte Heinrich seinen Bruder. »Das ist einer von diesen eingebildeten Berlinern.« Die Berliner sahen im allgemeinen auf die Bayern herab. Sie hielten sie für dumme Bauern, die wegen der Einwirkung des südlichen Klimas zur Faulheit neigten. »Außerdem mischt dieser Rotzlöffel sich in etwas ein, was ihn überhaupt nichts angeht. Einen Augenblick, ihr Hübschen, ich bin gleich zurück.« Franz Messer drehte sich um und streckte seine großen, fleischigen Hände nach Pauli aus. Pauli sah den Schmutz unter den Fingernägeln. Er wußte, daß er sich mit seinem mutigen Eintreten für die Schwestern mindestens eine Tracht Prügel eingehandelt hatte. »Ich denke, meine Herren, das reicht jetzt.« Die strenge Stimme klang militärisch knapp. Pauli atmete erleichtert auf, als der alte Valter hinter ihn trat. Valter hielt Franz die Holzkiste unter die Nase. »Wenn ihr für einen Moment damit aufhören könnt, Frauen zu belästigen und euch mit Kindern anzulegen, bin ich gerne bereit, eure Kampfeslust zu dämpfen. Dann holen wir nämlich den Proviantmeister, damit er euch für den Rest unserer Reise einschließt.« Mit mörderischen Blicken fixierten die beiden Messers den alten Mann. Sie bemerkten ein paar andere Passagiere, die den Vorfall beobachteten, dann entdeckten sie Blechmann, der mit verschränkten Armen neben einer Luke stand. Franz zog seinen Bruder am Arm hinter sich her. »Komm schon, Heinz, wir klären diese Angelegenheit später.« Er funkelte Pauli wütend an. »Vor allem mit dir, du kleine Ratte!« Er stürmte davon, seinen Bruder im Schlepptau. Die beiden jungen Frauen stürzten sich auf Pauli, umarmten ihn und redeten wild auf Polnisch auf ihn ein. Valter konnte dolmetschen. »Diese beiden jungen Damen sind die Wolinski-Schwestern. Dies ist Mira« – die hübschere der beiden jungen Frauen, auf die die Messers es abgesehen hatten, nickte nervös mit dem Kopf –, »und das ist Renata. Sie wollen sich herzlich bei dir bedanken.« Dann hörte er wieder den Worten der aufgeregten Mädchen zu. »Ihre Mutter, Slova Wolinski, wird sich ebenfalls bei dir bedanken wollen, aber sie fühlt sich im Augenblick nicht sehr wohl und liegt in ihrer Koje. Auch ihr Bruder will dir seinen Dank aussprechen. Sie kommen aus der Nähe von Lodz in Polen und wollen nach Amerika.«
ZWISCHENDECK 1892
69
»Nun, was ich getan habe, war doch selbstverständlich«, sagte Pauli bescheiden. Aber er war sich auch darüber im klaren, daß er sich nach diesem Auftritt vorsehen mußte. Für den Rest der Reise brauchte er wohl auch hinten Augen. Den Messers wäre jede Schlechtigkeit zuzutrauen. Diese neue Bekanntschaft hatte aber auch ihre guten Seiten. Pauli brauchte sich nun nicht mehr völlig einsam zu fühlen. Er lernte auch den Jungen mit der Ziehharmonika, Herschel Wolinski, kennen. Vom ersten Moment ihres Zusammentreffens an waren die drei unzertrennlich: Pauli, der polnische Junge, der ein Jahr jünger war, und der ehemalige Hotelportier, der ihnen amüsiert zuhörte und ihre aufgeregte Unterhaltung übersetzte. »Ich liebe Amerika. Ich habe es noch nie gesehen, aber ich liebe es«, verkündete Herschel. Der Zusammenstoß mit den Messers lag zwei Tage zurück, und es war ein strahlend sonniger Vormittag mit einer milden nördlichen Brise. »Du ahnst ja gar nicht, wie lange und mühevoll wir diese Reise geplant und vorbereitet haben. Es geht den Armen in Polen schon schlecht genug, noch schlechter geht es jedoch den Juden.« »Werdet ihr verfolgt?« wollte Pauli wissen. Herschels erste Antwort war ein gleichgültiges Achselzucken. »Wir sind daran gewöhnt. Nach zehntausend Jahren oder noch ein paar mehr gewöhnt man sich daran, sagt der Rabbi immer.« Herschel schien ein sonniges Gemüt und eine Menge Energie und Zuversicht zu haben. Ständig machte er andere auf irgendwelche Dinge aufmerksam, seinen leuchtendblauen Augen entging nichts, und er konnte sich kaum eine Sekunde ruhig halten, als sprudele er über vor Lebensfreude und gespannter Erregung. Allein sein Anblick reizte zu einem belustigten Lachen. Seine widerspenstigen schwarzen Haare schienen gleichzeitig in sechs Richtungen zu wachsen. Pauli war von allen Wolinskis fasziniert, denn er hatte bisher noch keine Juden persönlich kennengelernt. Natürlich bekam er von Slova, der Mutter, nicht viel zu sehen, weil sie seit Hamburg unter der schlechten Luft und der nahezu ungenießbaren Verpflegung litt. »Sie weint Tag und Nacht«, erzählte Herschel betrübt. »Sie sagt, wir seien furchtbare Narren, weil wir völlig ohne Papiere aufgebrochen und nach Hamburg gewandert sind.« »Ihr seid den ganzen Weg zu Fuß gegangen?« »Wir und noch über ein Dutzend anderer. Tausende machen es so in Polen und in Rußland. Amerika ist eben wunderbar. Und das wissen sie.« Herschel griff nach seiner Ziehharmonika und stimmte eine lebhafte Melodie an, die wie ein Marsch klang. Valter lehnte sich an die Reling. Sein
70
TEIL ZWEI
silbernes Haar flatterte im Wind. Während er dolmetschte, stopfte er eine geschwungene Pfeife. »Das ist ein amerikanisches Lied aus dem großen Bürgerkrieg«, erklärte Herschel. »Ein Vetter von mir war längere Zeit in Amerika. Als Uhrmacher in einer kleinen Stadt namens Buffalo.« Er sprach es Boffla aus. »Er hat uns ‘87 besucht, ein Jahr, bevor er starb. Er hat mir das Lied beigebracht. Die Soldaten haben es während des Kriegs gesungen, als sie die farbigen Sklaven befreiten. Der Titel lautet Marching Through Georgia.« Seine Aussprache der Worte klang überaus seltsam. Pauli lauschte der Musik, atmete die Salzluft ein, gab sich dem Auf und Ab des Schiffs hin, das er nun als angenehm und beruhigend empfand. Im Augenblick fühlte er sich rundum wohl. Als Herschel das Lied beendet hatte, fragte er: »Ist es dir schwergefallen, Deutschland zu verlassen?« »Nicht sehr. Ich liebe mein Vaterland immer noch, aber ich hatte eigentlich kein richtiges Zuhause. Ich kann es kaum erwarten, nach Amerika zu kommen.« Herschel warf einen Blick zum tiefblauen Himmel. »Ich auch.« »Dort ist alles besser.« »Ganz gewiß«, sagte Herschel. Er begann eine traurige kleine Melodie zu spielen, vermutlich ein Wiegenlied. »Das habe ich mir selbst ausgedacht.« »Es ist sehr hübsch.« Ein weiteres Achselzucken. »Ich denke mir ständig Melodien aus. Eines Tages, wenn ich nicht soviel über alles mögliche nachdenken muß, würde ich sie gerne aufschreiben.« Er spielte leise weiter. »Du hast von Amerika geredet. Du wirst dort arbeiten müssen, wie wir alle.« »Natürlich.« »Das Hotelfach ist gar nicht übel«, warf Valter ein, wobei Tabaksqualm aus seinem Mund drang. »Vorne am Eingang vielleicht, aber nicht in den hinteren Räumen, in denen ich gearbeitet habe«, erwiderte Pauli. »Ich finde bestimmt etwas Interessantes –« Spontan hielt er die defekte Kamera hoch. »Etwas Neues und Technisches vielleicht. Wie zum Beispiel Photographieren.« »Kann man denn damit Geld verdienen?« erkundigte Herschel sich. Pauli blinzelte. »Das weiß ich nicht.« »Nun, ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, gestand Herschel, »aber was es auch ist, es wird sicherlich etwas Aufregendes sein. Ich möchte in jeder Hinsicht Amerikaner werden. Dazu gehört auch, daß ich mir einen neuen Namen suche.«
ZWISCHENDECK 1892
71
»Daran habe ich auch schon gedacht. Mein Onkel hat es genauso gemacht. Er wurde als Josef Kroner geboren und heißt jetzt Joseph Crown. Moment, ich zeige es dir.« Er legte die Kamera beiseite, zog sein Hemd hoch und knöpfte den Geldgürtel aus Leinenstoff auf. Er faltete den Brief mit der geprägten goldenen Krone auseinander. Herschel betastete die Prägung beinahe andächtig. »Dein Onkel muß sehr reich sein.« »Das ist er wohl, denke ich.« Das Feuer in Herschels Augen schien abrupt zu erlöschen. »Dann hast du also einen Gönner in Amerika.« »Einen Bürgen, ja. Onkel Joseph. Er war Soldat in dem Krieg, von dem du gerade gesprochen hast. Er hat mitgeholfen, die Neger zu befreien. Vielleicht hat er sogar dein Marschlied gesungen.« Herschel nickte. »Wir haben keinen Bürgen. Es heißt, daß es hilfreich ist, einen zu haben, wenn die Behörden sich mit dir beschäftigen. Mama sagte, wir sollten lieber zu Hause bleiben, weil wir keinen hätten. Ich habe auf sie eingeredet, bis sie ihre Meinung geändert hat. Jetzt wäre sie froh, sie hätte es nicht getan.« Valter zog so geräuschvoll an seiner Pfeife, daß man es über dem Rauschen der Wellen hören konnte. Er legte eine Hand auf Paulis Arm. »Ich würde an deiner Stelle den Brief lieber wegstecken. Nein, dreh dich nicht um.« »Was ist denn los?« flüsterte Pauli. »Der verdammte Proviantmeister schaut herüber. Ich fürchte, er hat deinen Geldgürtel gesehen.« Pauli schloß den letzten Knopf und zog sein Hemd wieder nach unten. »Ach, darüber weiß er schon seit Hamburg Bescheid.« »Ja, aber er hängt mit jemand anderem zusammen, und ich glaube, sie unterhalten sich darüber.« »Und mit wem?« »Mit diesem Franz. Hieß er nicht so?« Pauli erstarrte innerlich, aber er rührte sich nicht. Herschel sah fast eine ganze Minute hin, tat dabei so, als blicke er über Paulis Schulter in die Sonne. Dann entspannte er sich. »In Ordnung, sie sind weg. Unterhalten wir uns noch ein wenig über Amerika.«
72
TEIL ZWEI
6 HERSCHEL Sie waren schon seit fünf Tagen unterwegs. Die Überfahrt sollte acht bis zehn Tage dauern, je nachdem, welche Verhältnisse auf dem Ozean herrschten. Pauli erzählte seinem neuen Freund Herschel viel von Amerika. Er schien eine Menge über das Land, aber auch über Indianer und Cowboys zu wissen. Wenn er über diese Bewohner sprach, gefiel er sich darin, mit seinem Finger eine Pistole vorzutäuschen und »peng peng« zu rufen. Zum Ärger der anderen Passagiere lieferten Herschel und er sich dann schon bald mit lautem Gelächter ein Kugelgefecht. Eine Schönwetterperiode setzte ein. Man konnte sich auf der dicht bevölkerten Plattform des Zwischendecks kaum bewegen. Herschel nahm immer seine Ziehharmonika mit, wenn er sich in den Sonnenschein setzte. Er spielte für Pauli Melodien aus seiner Heimat. Irgendwann legte Valter dann seine Pfeife beiseite, stemmte die Fäuste in die Hüften und begann zu tanzen, sogar sehr lebhaft für einen Großvater. Andere folgten seinem Beispiel. Elegant gekleidete Männer und Frauen erschienen über ihnen an der Reling, um ihnen zuzusehen, sich über sie zu unterhalten und ihnen zu applaudieren. Herschel spielte fröhliche Weisen. Musik erfüllte seine Seele. Unglücklicherweise aber auch eine übermächtige Unzufriedenheit mit den allgemeinen Lebensumständen. Deshalb hatte er auch trotz seiner Jugend seine verwirrte Mutter und seine leicht zu beeinflussenden älteren Schwestern bestürmt und sie schließlich überzeugt, daß Amerika ihre einzige und aussichtsreichste Chance sei. Damals, in den Tagen seiner Kindheit – Herschel betrachtete sich mit seinen vierzehn Jahren bereits als erwachsen –, hatte er auf seine innere unzufriedene Stimme gehört, die ihm klargemacht hatte, daß er, um erfolgreich zu sein – ja, sogar um des nackten Überlebens willen –, der Enge des Schtetls entfliehen müsse. Das Schtetl lag nicht weit südwestlich von Lodz. Wie ähnliche Ansiedlungen der Juden war es ein armseliger, dicht bevölkerter Ort, dessen kleine Holzhäuser wie wahllos hingeworfen an vielfach gewundenen, schlammigen Straßen standen. Herschels mittlerweile verstorbener Vater hatte auf dem Markt eine Verkaufsbude betrieben, eine von vielen. Er war ein trübsinniger Mann mit hängenden Schultern, dem jeglicher auch noch so vager Drang fehlte, den man brauchte, um die Welt zu beherrschen. Aber er kannte sich mit Teppichen aus, die er aus Lodz geliefert bekam. Da man übers Jahr nicht sehr viele Teppiche verkaufen konnte, hängte er außerdem an einer Leine im hinteren Teil seiner Bude Arbeitshemden auf. Und die verkauften sich
ZWISCHENDECK 1892
73
sehr gut. Eine von Herschels frühesten Erinnerungen war die an seinen Vater, wie der mit einem Kunden handelte inmitten von Ständen und Buden, in denen alles verkauft wurde: von Zwiebeln bis hin zu Kartoffeln, von Fisch bis hin zu rohem Fleisch, aus dem Blut auf stinkende Hackblöcke tropfte. Herschel hatte angefangen, die Armseligkeit um sich herum zu hassen. Er hatte keine Lust, sein Leben damit zu verbringen, Teppiche oder Heringe, Schuhe oder Kalbsschnitzel zu verhökern. Auch andere Einflüsse machten sich bei ihm bemerkbar. Als Herschel sechs Jahre alt war, wickelte Papa ihn in einen Gebetsschal und brachte ihn zu seinem ersten Tag in der Religionsschule. Der melamed, der ihn unterrichten sollte, hob ihn hoch und setzte ihn auf eine Bank wie eine Statue, die zum Verkauf feilgeboten wurde. Dann sprach der Lehrer einen formellen Segen über den neuen Tora-Schüler. Er wies auf den wundervollen Nutzen hin, wenn der Junge die mizweß lernte, die Gebote, alle sechshundertdreizehn, die ein frommer Jude zu beachten habe. Herschel war entsetzt. Sechshundertdreizehn Gebote? Niemals! Aber er hätte sich vielleicht sogar in sein Schicksal gefügt, wäre sein Vater nicht vorzeitig gestorben und hätte seine Familie nicht sechs Monate vor diesem Ereignis in Warschau einen Besuch gemacht. Sie waren gegen den Willen Slovas nach Warschau gefahren, um Onkel Moritz zu besuchen, den angeblich mißratenen Bruder von Herschels Vater. Als junger Mann war Onkel Moritz aus dem Schtetl weggelaufen, um ausgerechnet Schauspieler zu werden. Er hatte bei einer der berühmtesten Truppen von Europa angefangen, an der Bühne des Herzogs von SachsenMeiningen. Slova Wolinski hatte gejammert, die Schauspielerei sei ein gottloses Gewerbe. In der Tat war Onkel Moritz zum Christentum übergetreten, um seine Chancen in diesem Beruf zu verbessern. Inzwischen war er praktizierender Katholik und Vater von vierzehn Kindern und genoß als Tragöde einen hervorragenden Ruf. In Herschels Erinnerung hatte sich der Anblick von Onkel Moritz eingeprägt, wie er mit geschwärztem Gesicht im Licht altmodischer Kalklampen deklamierend auf und ab schritt und den Mohren Othello darstellte. Nach der Vorstellung empfing Onkel Moritz die Wolinskis hinter der Bühne, ein faszinierender, exotischer Ort der Schatten mit halbbekleideten Frauen, die nach Puder dufteten und sehr viel lachten. Onkel Moritz nahm die Verwandtschaft mit nach Hause zu seiner resoluten gojischen – nichtjüdischen – Ehefrau und den ausgelassenen Kindern in der ElfZimmer-Wohnung. Dort ergab sich schließlich für Herschel die Gelegenheit, mit seinem berühmten Verwandten über die Reise nach Amerika zu reden.
74
TEIL ZWEI
»Ich würde sagen, daß es ein guter Gedanke ist, also tut es«, riet Onkel Moritz, hob den Jungen hoch und setzte ihn auf sein Knie. »Weshalb es gut ist, wirst du erst verstehen, wenn du älter bist, aber soviel kann ich dir jetzt schon sagen: In Polen herrscht eine Krankheit, und nicht nur dort, sondern in ganz Europa. Ich würde es sogar eine Seuche nennen. Der Jude ist schuld. Fallen die Börsenkurse? ›Die Juden haben sie manipuliert.‹ Wird unser Militär besiegt? ›Die Juden haben seine geheimen Pläne verraten.‹ Der Jude hat dies getan, er hat das getan. Er ist an allem schuld. Und warum? Ein paar Gründe kenne ich. Der Jude ist überall, der Jude ist schlau und intelligent, der Jude ist sehr oft überaus erfolgreich – selbst wenn er ab und zu dem Papst die Hand küssen muß«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. »Deshalb ist es eine durchaus willkommene Krankheit. Wenn du weiterhin Jude bleiben möchtest, dann sieh zu, daß du fliehst. In Amerika gibt es diese Krankheit sicher nicht.« In diesem Augenblick traf Herschel seine Entscheidung. Allerdings war alles leichter gesagt als getan. Herschel begann mit seiner Überzeugungsarbeit bei Slova, sofort nachdem Papa in seinem Laden tot umgefallen war, wobei sich ein Blutschwall aus seinem Mund auf einen Stapel neuer Teppiche ergossen hatte. Wahrscheinlich wäre es Herschel niemals gelungen, seine Mutter zu überreden, hätte er sich nicht der Unterstützung Miras und Renatas versichert und außerdem Onkel Moritz geschrieben, der ihnen genug Geld für die Reise schickte, damit sie vor der asiatischen Cholera die Flucht ergreifen konnten. Sie war schon vorher an einigen Stellen in Europa ausgebrochen, und Onkel Moritz hatte sie gewarnt und ihnen mitgeteilt, daß die Seuche aus einem geheimnisvollen Land namens Afghanistan in Rußland eingedrungen sei. Sie sei bereits von Kiew bis nach Moskau vorgedrungen, und im Sommer – die Cholera sei gerade in den heißen Monaten besonders gefährlich – werde sie, wie Onkel Moritz prophezeite, nach Westen wandern. Die Krankheit führte schnell zum Tod. Die Suppe ißt man noch als Gesunder, doch beim Nachtisch ist man bereits tot, schrieb Onkel Moritz. Fahrt los! Sofort! Nur meine Karriere und meine zahlreichen Verpflichtungen hindern mich daran mitzukommen. Herschel begab sich nach Lodz und ertrug dort lange Wartezeiten in zugigen Amtsfluren und die Unfreundlichkeiten der Bürokraten. Er verbrachte sogar eine Nacht, nur mit Zeitungspapier zugedeckt, in einer von Ratten bevölkerten Gasse, nur um sich die für die Reise notwendigen Papiere zu beschaffen. Am Ende hatte er sie zusammen. Die Familie brach mit achtzehn anderen Leuten aus der Gegend auf. Sie waren
ZWISCHENDECK 1892
75
übereingekommen, den weiten Weg aus Gründen der Sicherheit gemeinsam zu Fuß zurückzulegen. So wanderten sie durch Sonnenschein und Regen über staubige Straßen und Feldwege, die sich in Schlammseen verwandelt hatten. Sie kämpften gegen Erschöpfung, Ungeziefer, Hunger, überquerten eisige Flüsse, stemmten sich gegen staubige Windböen, gerieten sogar in einen heftigen Hagelsturm und mußten sich einige Male vor Rudeln streunender Hunde in Sicherheit bringen. Als sie sich der Grenze zu Ostpreußen näherten, warnte ein Bauer sie vor Militärpatrouillen, womit sie überhaupt nicht gerechnet hatten. Wegen der Choleraepidemie hatte Preußen die Grenzen geschlossen. Zwei Tage lang diskutierten sie über diese neue Schwierigkeit und versanken in tiefe Niedergeschlagenheit. Herschel war einer von nur drei Leuten, die dafür plädierten, weiterzuziehen – und auf ein Wunder zu hoffen. Es erschien in Gestalt zweier Schmuggler, die in ihrem Lager auftauchten. Für eine astronomische Summe pro Kopf boten die Schmuggler ihnen an, sie über die Grenze zu führen. Sie kannten Schleichwege vorbei an den zahlreichen Wachtposten auf beiden Seiten der Grenze. Man versicherte ihnen, die Schiffahrtsgesellschaften interessierten sich kaum für die Herkunft eines Auswanderers, so lange er nur nach Bremen oder Hamburg kam und die Passage bezahlen konnte. In der Nacht brachten die beiden Schmuggler sie im Licht des Vollmondes zur Furt eines Flusses mit starker Strömung und gaben ihnen eine Warnung mit auf den Weg: »Hier ist es am einfachsten, aber an der Straße dort drüben befindet sich ein polnischer Wachtposten. Die polnische Armee arbeitet mit den Preußen zusammen, denn die Epidemie bedeutet für alle eine Gefahr. Also seid leise.« Sekunden später, gerade als die Schmuggler sie in das kalte, schäumende Wasser trieben, hörten sie, daß jemand aus der Richtung des polnischen Grenzpostens schnell herangeritten kam. »Beeil dich, Mama!« rief Herschel, der bis zu den Knien im Wasser stand und im Licht des Vollmonds deutlich zu sehen war. Er umklammerte Slovas Ellbogen, um sie zu stützen und weiterzuziehen. Sie stolperte, kippte zur Seite und stürzte ins Wasser, ehe Herschel sie auffangen konnte. »Stehenbleiben!« ertönte die barsche Stimme des unsichtbaren Reiters. Ein lauter Knall folgte. Die Pistolenkugel rührte die glatte, mondbeschienene Wasseroberfläche in Tausende von Quecksilbertröpfchen auf. Triefnaß und nach Luft ringend, brach Slova Wolinski in Tränen aus. Andere schrien oder flehten um Gnade. Und Herschel, so klein und schwach er auch war, stellte fest, daß die Angst ihm unglaubliche Kräfte
76
TEIL ZWEI
verlieh. Er packte seine Mutter unter den Armen und zog sie hoch, dann stieß er sie vor sich her zum anderen Ufer, während weitere Kugeln ins silbrige Wasser einschlugen. Alle Auswanderungswilligen überquerten den Fluß unversehrt. Naß und frierend drängten sie sich zusammen. Der Reiter verfolgte sie nicht mehr. Angeführt von den Schmugglern, schlichen sie durch einen dichten Wald und mieden so das erste Wachhäuschen auf der deutschen Seite. Nicht lange, und die Schmuggler verschwanden, und sie mußten sich ihren Weg selbst suchen. Es war genauso schwierig wie vorher, vielleicht sogar noch mühsamer, denn nun waren sie geschwächt durch ihre Angst und die Entbehrungen des bisherigen Marsches. Als sie einige Tage später in Hamburg eintrafen, hörten die Beschwernisse der Familie dennoch nicht auf. Man mußte in den Quarantänebaracken der Schiffahrtsgesellschaft auf den Piers ständig wachsam und auf der Hut sein. Herschel wurde vor betrügerischen Buchungsagenten, Gepäckleuten und unverschämten Ärzten gewarnt, die versuchten, die jungen Frauen zu verführen, die sie gerade untersuchten. Er hielt sich ständig in Miras und Renatas Nähe auf, so daß es ihnen schon unangenehm wurde, aber er begegnete niemandem, der auch nur im entferntesten gefährlich erschien, abgesehen von einem kräftigen Gepäckträger, der Jiddisch sprach und Herschel Prügel androhte, als er das Angebot des Mannes ablehnte, ihm zu helfen. Nun lag Europa mit seiner Mühsal hinter ihnen, und auf sie wartete nur noch die langwierige Prozedur der Einreise nach Amerika. Herschel lauschte im Zwischendeck aufmerksam den Gesprächen und hörte viele Unterhaltungen über die Gefahren der Einreiseformalitäten im Hafen von New York. Die Behördenvertreter konnten sehr launisch reagieren, indem sie einen abwiesen, weil sie müde waren oder weil ihnen die Mütze auf dem Kopf des jeweiligen Einwanderers nicht gefiel. Dann waren da die medizinischen Gutachter, die Gerüchten zufolge unglaublich scharfe Augen hatten, denen nicht die geringste Krankheit oder medizinische Bedenklichkeit entging. Der berüchtigte »Augenmann« war am meisten gefürchtet. Er untersuchte auf Granulose, die weit verbreitet war. Herschel dachte sich verschiedene Möglichkeiten aus, wie er den Behördenvertretern gegenübertreten oder wie er sie überlisten könnte. Er war zuversichtlich, daß es ihm gelänge. Sein Selbstvertrauen verflüchtigte sich jedoch schlagartig, als Blechmann verkündete, daß sie »Long Island« schon in achtundvierzig Stunden sehen müßten. Jetzt gab es kein Zurück
ZWISCHENDECK 1892
77
mehr. Er bemerkte, daß sein neuer Freund ebenfalls ein besorgtes Gesicht machte. Genauso wie Herschel konnte Pauli es kaum erwarten, endlich in Amerika zu sein. Bald, sehr bald schon fiele die Entscheidung, ob sie dort leben könnten oder nicht.
7 PAULI Wahrend die Rheinland der amerikanischen Küste entgegenstampfte, bemerkte Pauli, daß die Messer-Brüder ihn sehr aufmerksam beobachteten. Es kam vor, daß er im Speisesaal von seinem Teller hochsah und einen der beiden dabei ertappte, wie er ihn fixierte. Tagsüber drückten sie sich auf Deck stets in seiner Nähe herum. Er wußte, daß ihr Interesse vorwiegend seinem Geldgürtel galt, von dem dieser verdammte Proviantmeister ihnen sicherlich erzählt hatte. Pauli wußte nicht, was er tun sollte, außer darauf zu achten, sich stets in Gesellschaft anderer Leute aufzuhalten. Gleichzeitig schlief er immer schlechter, weil er krank wurde. Schlimme Krämpfe wüteten in seinem Bauch, und er hatte Verdauungsbeschwerden. Er war streitsüchtig und schlechtgelaunt. Eine ähnliche Stimmung beobachtete er auch bei anderen Mitreisenden; sie brüllten einander manchmal völlig grundlos an. Sie vergaßen die einfachsten Formen der Höflichkeit und kämpften rücksichtslos um ihre Plätze an den Speisetischen und vor den Waschbecken. Immer wieder brachen Schlägereien unter den Männern aus. Pauli erkannte, daß sie völlig erschöpft und niedergeschlagen in Amerika eintreffen würden und auf keinen Fall in der richtigen Verfassung wären, um die mühsame Einreiseprozedur zu überstehen. Am Tag vor der vorausberechneten Ankunft kam starker Wind auf, und das Schiff kämpfte sich durch schwere See. Pauli bekam zum Abendessen nichts hinunter. Statt dessen ging er widerstrebend zum Tisch des Proviantmeisters in der Nähe des Eingangs zum Speisesaal und erstand eine kleine Blechkanne warmen Biers. Der Gestank und die mit Tabakrauch geschwängerte Luft des Speisesaals löste Übelkeit bei ihm aus. Sollte er es wagen, allein nach oben an Deck zu gehen? Blechmann schrieb wieder irgend etwas in sein Rechnungsbuch und achtete nicht auf ihn. Aus den Augenwinkeln hielt Pauli Ausschau nach den Messer-Brüdern. Sie saßen auf ihren Stammplätzen und unterhielten sich wie immer in aufdringlicher Lautstärke. Sie waren offenbar die einzigen Passagiere, die einigermaßen guter Laune waren. Pauli entschied, es zu riskieren. Er verließ unauffällig den Speisesaal.
78
TEIL ZWEI
Er holte die defekte Kamera aus seinem Bett und ging mit ihr und der Kanne Bier hinauf an Deck. Zu seiner Erleichterung lag es völlig verlassen da. Der Wind klärte seinen Kopf und vertrieb eine leichte Benommenheit. Das Schiff schlingerte und stampfte, während es sich unter einem wolkenlosen Himmel voll funkelnder Sterne durch hohe Brecher arbeitete. Die Decks der reichen Passagiere über ihm wirkten wie leuchtende Paläste und schienen mit ihren zahllosen Glühbirnen das dunkle Zwischendeck zu verspotten. Auswanderer, die eine teurere Passage gebucht hatten, brauchten sich, wie Valter erklärt hatte, in New York nicht dem strengen Einreiseritual zu unterziehen. Nur die Passagiere vom Zwischendeck wurden eingehend überprüft. »Amerika will nämlich keine armen Leute, die vielleicht irgendwann dem Staat auf der Tasche liegen.« Pauli setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Stahlwandung des Rumpfs und blickte zwischen den Stangen der Reling hinaus aufs Meer. Er trank von seinem warmen Bier. Es beruhigte seinen Magen. Er fühlte sich fast wieder richtig wohl. Er hantierte mit seiner Kodakkamera herum, stellte sich vor, Photograph zu sein, der dafür bezahlt wurde, das Gefunkel der Sterne über dem Schiff festzuhalten. Er betätigte den Auslöser für imaginäre Schnappschüsse, als er plötzlich ein leises Klirren, gefolgt von Schritten hörte. Er zuckte zusammen und blickte sich wachsam um. Zwei stämmige Gestalten waren als schwarze Schemen vor dem nächtlichen Himmel zu erkennen. »Da ist er ja, Heinz. Er hat sich vor uns versteckt.« »Gut, daß Blechmann uns gesagt hat, wo wir ihn finden können.« Heinrich Messer trat gegen Paulis ausgestreckten Fuß. »Hallo, du kleiner Scheißkerl. Hast wohl geglaubt, du kannst uns aus dem Weg gehen, oder?« Pauli kam schnellstens auf die Füße, aber die Brüder versperrten ihm sofort den Fluchtweg. Pauli wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Reling stieß. Franz grinste ihn an. »Blechmann hat uns erzählt, du hättest Bier bei ihm gekauft.« »Da ist es ja«, sagte Heinrich und hob die Kanne hoch. Er trank den Rest. »Mein Gott, hatte ich einen Durst.« Er schleuderte die Kanne über Bord. »Er meinte, du hättest mit Geld aus deinem Gürtel bezahlt, den du dauernd trägst. Kannst du uns nicht ein paar Mark leihen? Wir könnten es gut gebrauchen. New York soll ein teures Pflaster sein.« »Ich habe kein Geld mehr.« Paulis Gesicht lief rot an, als er diese Lüge hervorstieß. Franz grinste. »Tatsächlich? Du hast doch nichts dagegen, wenn wir das
ZWISCHENDECK 1892
79
nachprüfen, nicht wahr?« »Franz, sieh doch mal, er hat auch diesen Bilderkasten bei sich.« »So ein Ding habe ich noch nie aus der Nähe gesehen. Gib mal her!« forderte Franz. Pauli verbarg die Kamera unter dem rechten Arm. Franz trat ihm gegen das Schienbein. Pauli atmete zischend aus, schwankte, und Franz entriß ihm die Kamera. Pauli wollte sie sich zurückholen, sprang den Bayern an. Der lachte nur und tänzelte zurück. »Achtung, Heinz! Fang auf!« Die Brüder warfen die Kamera hin und her, lachten Pauli aus, der auf Zehenspitzen über das schwankende Deck stolperte und sich nach der umherfliegenden Kodak streckte. »Vielleicht geben wir sie dir wieder zurück, wenn du uns dein Geld überläßt«, sagte Heinrich und hielt die Kamera über seinen Kopf. Pauli war von ohnmächtiger Wut erfüllt. »Ihr Dreckschweine!« schrie er und boxte Heinrich in den Magen. Der war auf einen solchen entschlossenen Angriff nicht vorbereitet. Die Kodak entglitt seiner Hand und segelte über Bord, wo sie in den Wellen versank. Pauli konnte es nicht fassen. Mit weit aufgerissenem Mund starrte er ins Meer. Ein rasender Zorn loderte in ihm hoch. Er umklammerte die Reling, entschlossen, auf die Männer loszustürmen, ohne sich daran zu stören, wie groß und kräftig sie waren. Ein wuchtiger Treffer von hinten ließ ihn mit dem Kinn auf das Holz der oberen Relingstange krachen. Er biß sich auf die Zunge und spuckte Blut. »Dreckschwein hast du mich genannt? Na warte!« Heinrich trat ihn voller Wucht ins Gesäß. »Komm schon, Franz, er schreit nach Prügel.« »Die hat er auch verdient, unser Judenfreund!« »Ihr seid Schweine!« kreischte Pauli, taumelte auf die beiden Männer zu und hob die Fäuste. Franz trat ihm erneut gegen das Schienbein, dann griff er Pauli zwischen die Beine und drückte brutal zu. Pauli stieß einen quiekenden Schrei aus. Franz lachte rauh. Heinrich ballte die Fäuste und hämmerte sie in Paulis Rippen. Der Junge flog quer über das Deck. Franz kniete sich auf seinen Rücken, riß ihm das Hemd aus der Hose. »Da ist ja, was wir suchen.« Er hakte seine Hand unter den Gürtel und zog ruckartig daran. Die Schnur, mit der der Gürtel um die Taille befestigt war, zerriß. Der rauhe Leinenstoff des Gürtels scheuerte heiß über Paulis Haut, als Franz ihn wegzerrte. »Nehmt das Geld«, stöhnte Pauli. »Aber laßt mir den Brief von meinem Bürgen, ich brauche ihn dringend für –« Franz Messer stand auf und hielt triumphierend den Gürtel hoch. Er trat
80
TEIL ZWEI
seitlich gegen Paulis Kopf. Tränen schossen dem Jungen in die Augen. Die Messer-Brüder lachten spöttisch und entfernten sich. Kurz darauf hörte Pauli, wie eine Luke zugeschlagen wurde. Er blieb reglos auf den kalten Eisenplatten des Zwischendecks liegen, während das Schiff sich auf seiner Fahrt nach Amerika durch die tosende See wühlte. Als der nächste Tag verdämmerte, war von der Rheinland aus ein kleines Schiff zu sehen, das sich als das Feuerschiff von Ambrose entpuppte. Die Rheinland hatte gegenüber ihrem Fahrplan einen Vorsprung herausgefahren, daher dauerte es bis zum nächsten Morgen, ehe der Lotse an Bord kam. Alle Passagiere des Zwischendecks, die sich kräftig genug fühlten, kamen heraus, drängten an die Reling und schauten aufgeregt zu den vereinzelten Lichtpunkten in der Ferne. Mit besorgten und zugleich aufgeregten Stimmen wiederholten sie ständig nur ein Wort: »Amerika! Amerika! Amerika!« Pauli hörte die Rufe, während er noch unter Deck war. Ein Mann kam vorbei, um zwei Freunde aus dem Schmutz der Toilette herauszuholen. Nach den Tagen der Überfahrt stank alles nach menschlichen Ausscheidungen. Jeder Zentimeter Fußboden, jede Wand, jeder Spiegel und jedes Waschbecken war klebrig von Erbrochenem. »Man kann Amerika sehen!« rief der Mann seinen Freunden zu. Alle rannten hinaus und ließen einen Passagier zurück – Pauli. Mörderische Krämpfe schüttelten ihn und sorgten dafür, daß er sich nicht von der Toilette erheben konnte. Er schloß die Augen, fror und schwitzte zugleich. Die Krämpfe ließen nicht nach. Er hatte kein Geld mehr. Der Brief von Onkel Joseph war verschwunden. Er war krank. Die Amerikaner schickten jeden Kranken gleich nach der Ankunft wieder zurück. Und morgen schon sollten sie eintreffen … Pauli schleppte sich bei Tagesanbruch an Deck. Regenwolken, die ein heftiger Nordwind vor sich hertrieb, verhüllten zeitweise den Horizont. In der Ferne ertönte Donnergrollen. Die Rheinland fuhr in einem breiten Kanal zwischen einer Insel an Backbord und einer größeren, nur schwach zu erkennenden Landmasse an Steuerbord. Möwen machten Jagd auf Abfall, der vom Heck ins Meer geschüttet wurde. Trotz des Donners und der gelegentlichen Regenschauer herrschte auf Deck ein dichtes Gedränge. Fast jeder der graugesichtigen Passagiere war
ZWISCHENDECK 1892
81
von Erschöpfung, wenn nicht gar Krankheit gezeichnet. Dennoch wollten alle einen ersten Blick auf ihr Reiseziel werfen. Offenbar hielten sie es für unbedingt notwendig, ihre gesamte Habe zu dieser Gelegenheit mitzubringen. Dadurch wurde es auf der kleinen, schlüpfrigen Plattform noch beengter. Pauli schaffte es auf der Backbordseite, sich neben Valter zu drängeln. Der alte Herr hatte seine Portiersuniform abgebürstet und sich die Haare gekämmt, die nun vom Regen glänzten. Er las aus einem kleinen deutschsprachigen Reiseführer vor. »Man nennt dieses Stück hier die Narrows, eine Art Meerenge. Es gibt hier fast genauso viele Schiffe wie in Hamburg.« Es stimmte. Frachter mit den Flaggen Englands, der Niederlande, zahlreicher skandinavischer Länder und in den Farben von Paulis Heimat steuerten den Hafen hinter den tiefhängenden Regenwolken an oder verließen ihn gerade. Pauli wischte sich den Regen aus den Augen und sah, direkt voraus, eine Ansammlung hoher Gebäude, die ein Viertel des Horizonts ausfüllte. »New York!« rief jemand. Applaus brandete auf. Eine ältere Frau sank auf ihren mit einem Strick verschnürten Koffer nieder und begann haltlos zu weinen. Pauli war noch immer benommen und fühlte sich ausgebrannt und furchtbar schwach. Er kämpfte dagegen an. Er mußte wachsam bleiben, mußte sich einen Plan zurechtlegen. Schlimmer, als ohne Geld dazustehen, war die Tatsache, daß er nun keinen Beweis mehr für die Bürgschaft seines Onkels in Chicago besaß. Wenn die Behörden ihm nun die Einreise verweigerten? Wenn er diesen langen, mühsamen Weg für nichts und wieder nichts zurückgelegt hatte … Er würde es nicht dazu kommen lassen. So schwach und krank er sich auch fühlte, er würde sich schon irgendwie durchwinden. Plötzlich zupfte Valter an seinem Ärmel. »Sieh doch, Pauli! So sieht es immer auf den Ansichtskarten aus!« Und dann vergaß Pauli alles andere und nahm nur noch den Anblick des riesigen Standbildes in sich auf, das vor ihm aus dem Wasser zu steigen schien. In all seinen Träumen hatte er es sich nicht so groß und mächtig vorgestellt. Es berührte den Himmel, schien langsam, majestätisch auf ihn zuzutreiben. Die tiefhängenden Wolken verbargen die Insel, auf der es stand, aber er konnte einen Teil seines Sockels sehen, eine riesige, mit Stufen versehene Betonpyramide und darüber ein Podest aus Granit. Auch Valter war wie verzaubert und las eifrig weiter aus seinem Buch vor.
82
TEIL ZWEI
»›Das ist Bedloe’s Island, eine alte Armeefestung. Vor sechs Jahren wurde die Freiheitsstatue hier aufgerichtet. Sie ist das größte Standbild der Welt und etwa einhundert Meter hoch. Damit ist sie zehnmal größer als der David von Michelangelo und fast dreimal größer als die Große Sphinx von Gizeh.‹« Pauli erbebte innerlich, während er sie betrachtete. Ihr Mantel und ihr Gesicht, ihre Fackel und die Krone waren rötlich braun und regennaß. »›Sie wurde von dem Bildhauer Bartholdi geschaffen, aber das Skelett im Inneren ist eine Konstruktion des berühmten Ingenieurs Eiffel‹«, las Valter atemlos weiter. »›Ihre Krone besteht aus sieben Strahlen, die die sieben Meere und sieben Kontinente symbolisieren sollen. Auf der Tafel steht in römischen Ziffern das Datum, an dem Amerika seine Unabhängigkeit errang. Der 4. Juli 1776.‹« Sie befand sich jetzt genau vor dem Bug, und Pauli wollte weinen und irgend etwas schreien und diese wunderbare Frau umarmen, deren strenges, aber auch freundliches Gesicht bereits wieder über sie hinwegschaute, über das Heck der Rheinland hinaus auf den weiten Ozean, wo sie nach weiteren Neuankömmlingen Ausschau hielt. Der Wind peitschte den Regen wie einen Schleier über ihre Krone, wehte ihn in ihre Augen. Aber sie schien stärker zu sein als die Naturgewalten, die an ihr rüttelten, stark genug, jedem Sturm zu trotzen … In seiner Begeisterung drehte Pauli sich einmal um die eigene Achse, um zu beobachten, wie die Statue langsam nach achtern wanderte. Valter blickte in sein kleines Buch. »›Zu ihren Füßen befinden sich zerbrochene Ketten. Sie schreitet voraus, hat die Fessel der Tyrannei abgeschüttelt.‹ Wir können das von hier aus nicht erkennen. Erstens befinden wir uns auf der falschen Seite, und zweitens ist unser Standort zu niedrig.« Das mächtige Standbild trieb, umwogt von Regenschwaden und Dunstwolken, allmählich von dannen. »Germania ist unsere Mutter – Columbia unsere Braut«, sagte Valter. »Das habe ich oft in Hamburg gehört. Germania unsere Mutter – Columbia unsere Braut. Du wächst auf und verläßt deine Familie, um zu heiraten. Du schaust immer zurück, aber du kannst niemals zurückkehren.« Regen rann von Paulis Augenbrauen herab über Nase und Kinn. Er wischte sich die Augen. Ein Kloß saß in seinem Hals. Germania unsere Mutter – Columbia unsere Braut. Er würde das nicht vergessen und auch nicht alles andere, was er bisher erlebt hatte. Hier, in diesem neuen Land, würde er ein Zuhause und seine Berufung finden. Motorengeknatter weckte die Neugier der Versammelten. Eine schlanke Barkasse mit amtlichen Hoheitszeichen kam längsseits. Von der Rheinland
ZWISCHENDECK 1892
83
wurde mittschiffs eine Gangway herabgelassen, die von drei uniformierten Männern benutzt wurde. »Das sind die Vertreter der Einwanderungsbehörde«, erklärte Valter. »Für uns?« »Nein, für die Passagiere über uns. Wir müssen dorthin.« Er deutete nach vorn, wo eine Lücke in den Wolken den Blick auf eine weitere kleine Insel freigab, die von einem großen dunkelbraunen Holzbau beherrscht wurde. Das Gebäude war zwei Stockwerke hoch, besaß ein Spitzdach aus blauem Schiefer und vier spitze Türme an den Ecken. »Das sieht ja aus wie ein Sanatorium oder ein Hotel«, stellte Pauli fest. »Von außen vielleicht.« Valter blätterte in seinem kleinen Buch. »Es wurde als Ersatz für die ältere Wache, Castle Garden, gebaut. Es ist erst seit Januar in Betrieb. Es heißt Ellis. Ellis Island.« Im Laufe des Vormittags dampfte die Rheinland den Hudson-Fluß hinauf, vorbei an einem unglaublichen Gewimmel von Holz- und Klinkerbauten, die die City von New York darstellten. Der Wind vertrieb schließlich alle Regenwolken, sorgte für vereinzelte Flecken blauen Himmels und eine kühle, trockene Brise, schließlich sogar für strahlenden Sonnenschein. Mit Hilfe von Schleppern machte die Rheinland an einem der langen hölzernen Piers fest. Eine deutsche Musikkapelle, Männer in Tirolerhüten, weißen Hemden und Lederhosen, spielte eine Willkommensmelodie. Blechmann erschien. Er hatte seine Uniform mit dem Emblem der Schifffahrtslinie auf der Brust – dem fliegenden Hirschen – ordentlich zugeknöpft. In der Hand hielt er eine große Flüstertüte. »Alle mal herhören!« rief er. »Während die regulären Passagiere von Bord gehen, dürfen sich alle anderen Reisenden auf dem Pier aufhalten. Sie müssen jedoch innerhalb des mit Seilen abgesperrten Bereichs bleiben. Bitte nicht drängeln oder schieben. Nehmen Sie all Ihre Habseligkeiten mit, weil Sie nicht mehr auf das Schiff zurückkehren werden.« Eine Frau meldete sich zu Wort. »Ist der Pier schon Amerika?« »Ja, Sie betreten zum erstenmal den Boden eines neuen Landes. Und wer weiß? Vielleicht auch zum letztenmal.« »Was für ein gemeiner Kerl«, schimpfte Valter bei der plötzlich einsetzenden Hektik. Reisende luden sich ihre Reisetaschen und Bündel auf und strebten zu den Treppen an Bug und Steuerbord. Valter und Pauli gingen gemeinsam die Zwischendeckgangway hinunter. In dem Augenblick, als Valter den Pier betrat, blieb er breitbeinig stehen und zog Pauli vor sich, um ihn zu beschützen. Menschen drängten rechts und links vorbei. Valter hielt sein Gesicht in den Sonnenschein.
84
TEIL ZWEI
»Wenn du genau aufpaßt, Pauli, spürst du es unter deinen Sohlen. Koste es aus, und erinnere dich stets daran. Mittwoch, der 1. Juni 1892. Der wichtigste Tag in deinem Leben. Vergiß ihn nie!« »Das werde ich nicht. Wie könnte ich auch.« Andere drängten von hinten nach und murrten. Sie gingen weiter. Der Holzpier war noch naß vom Regen. Vierschrötige Polizisten mit langen Schlagstöcken trieben sie auf ein abgesperrtes Gelände. Weitere Polizisten bewachten den Bereich. In Paulis Nähe drängten die jungen Wolinskis sich um ihre Mutter, die in einem fort weinte und dabei hin und her schwankte, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Herschel schickte seinem neuen Freund einen verzweifelten Blick. Pauli kam sich vor, als habe er mit all dem nichts zu tun, als sei er unendlich weit davon entfernt. Er fand es erregend, auf amerikanischem Territorium zu stehen, hatte jedoch gleichzeitig schreckliche Angst, weil er immer noch nicht wußte, wie er an den Behördenvertretern vorbeigelangen sollte. Dann, als ihn totale Hoffnungslosigkeit zu überwältigen drohte, dachte er an etwas entwaffnend Einfaches. Er griff in seine Reisetasche und holte sein Englisch für Reisende hervor. Er blätterte darin herum, suchte sich mühsam Worte zusammen, um Sätze zu konstruieren, die er halblaut wiederholte und auswendig zu lernen begann. »Was sagst du?« fragte Valter, während er seine Pfeife stopfte. »Ich überlege, was ich den Beamten sagen werde.« Pauli wiederholte die Sätze. Valter deutete mit der Pfeife auf den Fluß. »Nun, du wirst ihnen bald gegenüberstehen. Dort kommt das Schiff, um uns nach Ellis Island zu bringen.« Eine kleine Hafenfähre und fünf offene Barkassen sollten alle Zwischendeckpassagiere aufnehmen. Weiteres Gedränge entstand, als die Fähre am Ende des Piers anlegte. »In einer Reihe aufstellen, nicht rennen!« brüllte ein Polizist, jedoch nahezu vergeblich. Pauli und Valter standen in der Schlange ziemlich weit hinten unweit der Wolinskis. Schon bald war die Fähre voll. Männer schlossen die Hecktore und machten die Leinen los. Sobald die Fähre auf den Fluß hinausfuhr, legte die erste Barkasse am Schiff an. Allmählich gewannen die Sonnenstrahlen an Kraft, und es wurde merklich wärmer. Die Schlange rückte langsam vorwärts. Die Neuankömmlinge schwitzten und fühlten sich in ihren schweren Kleidern unbehaglich. Es wurde über Hunger geklagt. Zum Frühstück hatte es nur
ZWISCHENDECK 1892
85
alte, zähe Brötchen gegeben. Leise und immer wieder spulte Pauli seine ersten englischen Sätze herunter. Am Anfang der Schlange kontrollierten Beamte die Einwanderer nacheinander und benutzten dabei Bescheinigungen, die von der Schiffsleitung ausgestellt worden waren. Jede Bescheinigung trug eine Nummer. Die einzelnen Reihen waren ebenfalls numeriert. Die Beamten suchten die Namen auf den Listen, hakten sie ab und gaben jedem Reisenden einen Papierstreifen. Dann redeten sie auf englisch auf sie ein, bis die Ankömmlinge begriffen, daß sie die Papierstreifen irgendwo gut sichtbar an ihren Kleidern befestigen sollten. Paulis Streifen trug die Aufschrift 8-11. Bescheinigung Nummer acht, Reihe elf. Die Barke legte an einem freien Platz vor dem Hauptgebäude an. Die leere Fähre fuhr an ihnen vorbei in den Hauptkanal. Sobald an Steuerbord eine Gangway herabgelassen wurde, begann wieder ein wildes Drängeln und Schieben. Pauli und Valter wurden auf die Eingangstüren zugeschoben, angetrieben von uniformierten Beamten, die riefen: »Weitergehen bis in die Gepäckhalle, dalli, dalli!« Hinter Pauli bemerkte eine Frau: »Sie sehen aus wie Polizisten.« In Europa bedeutete Polizei Terror; sie war der Feind, ein lautes Klopfen an der Tür mitten in der Nacht. Durch die Dunkelheit kurzzeitig verwirrt und ohne jede Orientierung, fand Pauli sich in einer riesigen, düsteren Halle wieder, in deren Mitte eine breite Treppe nach oben führte. In der Halle roch es nach frischer Farbe und ebenso nach frischem Bauholz. Andere Beamte winkten mit numerierten Karten und brüllten: »Bescheinigung zwei, hierher, und bitte zügig!« oder »Bescheinigung elf ist hier! Sie können Ihr Gepäck stehenlassen.« Ein Mann hinter Pauli war damit nicht einverstanden. »Ich lasse doch meine Habseligkeiten nicht zurück, damit Diebe sich bedienen können. Ich nehme alles mit.« Aber Pauli und Valter wagten es und deponierten ihr Gepäck in einem abgesperrten Bezirk, über dem eine Papptafel mit einer großen »8« darauf hing. Die Beamten brüllten weiter. »Sammeln Sie sich am Fuß der Treppe. Und bleiben Sie bei Ihrer Gruppe!« Die Gepäckhalle füllte sich schnell mit dem Geruch schmutziger Körper und Kleidung. Pauli murmelte immer noch seine englischen Sätze vor sich hin. Die Gruppen schoben sich schrittweise die Treppe hinauf. Valter hielt sich links neben Pauli, die Wolinskis gehörten zur Gruppe vor ihnen. Dann hörte Pauli von oben ein ganz neues Geräusch. Es war ein Summen und Brummen von Hunderten von Stimmen. Sonnenlicht fiel in Streifen durch die hohen Bogenfenster in den oberen Teil des Treppenschachtes. Valter zog heftig an Paulis Arm, um ihn auf einige Amerikaner aufmerksam zu machen, die militärisch aussehende
86
TEIL ZWEI
Mützen und blaue Uniformen mit Epauletten trugen. Sie standen hinter den Geländern am Kopf der Treppe und betrachteten die Menschenmenge. »Das sind Inspektoren«, flüsterte Valter, als meinte er die Polizei oder etwas noch Schlimmeres. Pauli hatte sich noch niemals in einem derart großen und lärmerfüllten Raum aufgehalten. Gruppenweise wurden sie zwischen hüfthohen Eisengeländern hindurchgetrieben, die fast die gesamte Grundfläche der Halle einnahmen und eher an Laufgassen für Vieh erinnerten. An den Gassen stand jeweils ein uniformierter Inspektor und unterzog die Einwanderer nacheinander einer genauen Kontrolle. Vor Pauli ging eine Mutter mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Der Inspektor sprach sie mit müder, unwirscher Stimme an. »Wie alt ist das Kind?« Sie schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß sie den Mann nicht verstanden hatte. Ein junger Dolmetscher hinter dem Arzt wiederholte die Frage. Die Frau antwortete auf deutsch. »Er ist im letzten Monat zwei geworden, Euer Exzellenz.« »Ich bin keine Exzellenz«, übersetzte der Dolmetscher die Antwort des Beamten. »Ich bin beim öffentlichen Gesundheitsdienst der Vereinigten Staaten. Stellen Sie den Jungen hin. Jedes Kind, das zwei Jahre oder älter ist, muß allein laufen können.« Erneute Übersetzung. Zitternd stellte die Frau ihren Sohn auf die Füße. Der Junge steckte einen Daumen in den Mund und rührte sich nicht. Seine Mutter versetzte ihm einen heftigen Stoß. Tränen glitzerten in seinen Augen, und dann wackelte er an dem Kontrolleur vorbei, der schon die nächste Person heranwinkte. Pauli beobachtete den Inspektor aufmerksam. Er hatte ein Stück Kreide in der Hand. Wenn ihm irgend etwas nicht gefiel, schrieb er einen großen Buchstaben auf die Kleidung des jeweiligen Auswanderers. F, H, X – Pauli hatte keine Ahnung, was die Buchstaben bedeuteten. Sein Herz schlug wie wild, als er an die Reihe kam. »Name?« »Pauli Kroner. Nummer 8-11.« Vor Aufregung verhaspelte er sich bei seinem englischen Satz. »I work – yes, I – ich bin – I – good worker.« »Was meint er?« Valter, der das Englische etwas fließender beherrschte, half und erklärte, daß Pauli fleißig arbeiten wolle. »Immer mit der Ruhe. Er wird nicht arbeiten oder sonst etwas tun, so lange wir ihn nicht passieren lassen. Du bist etwas blaß, mein Junge. Warst du krank?«
ZWISCHENDECK 1892
87
»Krank?« wiederholte Pauli, nachdem der Dolmetscher die Frage übersetzt hatte. »Ja, Sir – dort.« Er legte eine Hand auf seinen Leib. »Aber – « Schweiß trat auf seine Stirn. Er suchte nach den richtigen englischen Worten, wagte aber nicht, sein Buch hervorzuholen. »Nur wenig. Jetzt alles in Ordnung.« Der Inspektor schien ihn eine Ewigkeit lang zu betrachten. »Du siehst gar nicht in Ordnung aus. Aber du bist noch jung. Ich denke, du wirst es schon schaffen.« Ein weiterer eindringlicher Blick. Dann winkte er mit der Kreide. »Weitergehen.« Die Worte waren Pauli völlig fremd, aber er begriff ihre Bedeutung. Er eilte an dem Inspektor vorbei und hatte plötzlich ein ganz neues Verständnis von der Rolle, die Zufall und Glück bei diesem Prozeß spielten. Alle Ärzte und Inspektoren wirkten müde und ungehalten, als sei ihre Arbeitszeit viel zu lang und ihre Aufgabe zu schwierig. Sie konnten im Grunde jeden unter irgendeinem Vorwand zurückschicken, was die Chancen für die Auswanderer erheblich verschlechterte. Pauli fühlte sich schwach und mutlos, aber er schwor sich, daß er diese Prozedur überstehen würde. Er machte einen Schritt vorwärts. Doch dann sträubten sich seine Haare, als er eine vertraute Stimme aufschreien hörte. Entsetzt blickte er hinüber zur Nebengasse und sah, wie die Witwe Wolinski laut jammernd in die Arme ihrer Töchter sank.
8 HERSCHEL Die Wolinskis waren bis zur Station des dritten Inspektors vorgedrungen. Es war der berüchtigte »Augenmann«. Er stand mit einem Helfer neben einem Tisch, auf dem sich seine Mütze, ein Behälter mit einem scharf riechenden Desinfektionsmittel und ein Stapel Handtücher befanden. Mit Erleichterung sah Herschel, daß der Inspektor nicht sehr alt war und dank seiner Körperfülle ziemlich gemütlich wirkte. Sein Gesicht war so rosig und freundlich wie das eines Weihnachtsengels. Seine kleinen blauen Augen funkelten, als er Slova Wolinski mit einer Handbewegung bedeutete, sie möge etwas näher kommen. Er ließ sich von seinem Helfer ein angefeuchtetes Handtuch reichen und reinigte damit sanft Slova Wolinskis linkes Auge, dann ihr rechtes. Danach nahm er ein kleines hakenförmiges Instrument von einem Tablett. Damit hob er Slovas linkes Augenlid an. »Aha«, sagte er nicht sehr erfreut. Mittlerweile liefen dicke Tränen über Slovas Gesicht. Der Inspektor untersuchte ihr rechtes Auge auf ähnliche Art und Weise. »Da auch.« Er
88
TEIL ZWEI
legte den Haken beiseite und ergriff die Hände der Witwe. »Meine liebe Frau« – sein Helfer übersetzte ins Polnische – »Ihre beiden Augen zeigen die typischen Symptome der Granulose. Es ist eine altersbedingte Augenkrankheit, die bei Leuten, die hier ankommen, ziemlich häufig auftritt. Ich fürchte, Sie müssen sich in Quarantäne begeben, und Ihre Angehörigen ebenfalls, es sei denn Sie sind bereit, sich zu trennen.« Ja, ja, wir trennen uns, dachte Herschel, während es in seinen Ohren rauschte und der Boden unter ihm zu schwanken schien. Er bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Slova weinte schon für sie beide laut genug. »Nein, Sir«, sagte er, »wir haben uns gelobt zusammenzubleiben.« Der Helfer übersetzte. Dabei mußte er seine Stimme erheben, denn Slova jammerte immer lauter. Die Umgebung, die vielen Fremden, dann die schreckliche Untersuchung – es war für sie alles zuviel. »Entweder wir kommen alle nach Amerika, oder wir kehren gemeinsam um – das haben wir uns geschworen.« Traurig zuckte der Inspektor die Achseln. »Dann dort entlang«, sagte er und deutete auf eine andere Laufgasse. 9 PAULI Pauli passierte den »Augenmann« ohne Schwierigkeiten. Er ging zwischen den Eisengeländern weiter bis zum Ende einer Menschenschlange. Rechts und links davon hatten sich weitere Schlangen gebildet. Alle führten zu den Inspektoren, die an einer Reihe von langen Tischen, die die gesamte Seite der Halle einnahmen, die abschließenden Befragungen durchführten. Der Anblick dieser Tische bewirkte, daß Paulis Magen sich krampfartig zusammenzog. Als spürte er seine plötzlich aufkeimende Furcht, legte Valter eine Hand auf Paulis Schulter. Der Junge schloß die Augen und wiederholte in Gedanken noch einmal seine sorgfältig konstruierten englischen Sätze. Passagier für Passagier schrumpfte die Schlange vor ihm. Und dann war er an der Reihe. Der Inspektor hatte glattes dunkles Haar, das aussah wie ein nasses Otterfell, und eine von feinen roten Äderchen durchsetzte Nase, insgesamt das häßlichste, abstoßendste Gesicht, das Pauli je gesehen hatte. Der Mann winkte ihm. »Du, Bursche. Tritt vor!« »Bescheinigung 8, Reihe 11«, sagte der Dolmetscher. Der Inspektor knurrte und fuhr mit einem mit Tinte beschmierten Finger über die Seite
ZWISCHENDECK 1892
89
eines dicken Hauptbuchs. »Name?« »Kroner, Sir. Pauli Kroner.« Mit einem kratzigen Federhalter trug der Inspektor etwas in das Hauptbuch ein. »Alter?« Der zweite Mann übersetzte ins Deutsche. Pauli antwortete: »Vierzehn Jahre. Aber ich werde am Fünfzehnten dieses Monats schon fünfzehn.« Der Inspektor schrieb wieder. »Reist du mit jemandem zusammen?« Pauli schüttelte den Kopf. »Kannst du englisch lesen oder schreiben?« Pauli sprudelte seine einstudierten Sätze hervor: »Yes, thank you! America wonderful country!« Der Dolmetscher lachte nicht unfreundlich. Dann stellte er eine Frage: »Wo in der alten Heimat hast du deine Reise begonnen?« »In Berlin, Sir. Aber meine Familie stammt aus Schwaben.« »Das habe ich schon wegen deiner roten Haare vermutet. Feine Leute, die Schwaben. Ich stamme selbst aus dieser Region. Ich bin vor achtzehn Jahren herübergekommen.« Trotz seiner durchaus freundlichen Worte blieb die Miene des Inspektors völlig ausdruckslos, als er Pauli musterte. »Wer hat deine Überfahrt bezahlt?« »Meine Tante in Deutschland. Aber ich habe gearbeitet, um einen Teil zu verdienen.« Und auf englisch: »Ich will hier fleißig arbeiten – guter Arbeiter.« Während er seine Augen zu Schlitzen zusammenzog, fragte der Inspektor: »Hast du hier schon eine Arbeitsstelle?« Valter hatte ihn auf diese Frage vorbereitet. Wenn man sie mit »ja« beantwortete, wurde man zurückgeschickt, weil man möglicherweise einem Amerikaner die Arbeit wegnahm. Pauli schüttelte daher den Kopf. »Nein, Sir, aber ich hoffe, irgendwann eine Arbeitsstelle zu finden. Ich glaube, mein Onkel wird mir dabei helfen.« »Lebt dein Onkel hier?« »Nein, er wohnt in Chicago.« »Aber er bürgt für dich?« »Ja, Sir.« »Hast du irgend etwas, um das zu beweisen?« »Ich besaß einen Brief von ihm in Deutschland, aber zwei böse Männer auf dem Schiff haben ihn gestohlen.« Der Inspektor betrachtete Pauli lange. Dann, ohne eine sichtbare Gefühlsregung, sagte er: »Mein Junge, es gibt da ein Problem.« »Ja, Sir?« In Paulis Ohren war plötzlich wieder ein Rauschen.
90
TEIL ZWEI
Schmerzwellen fuhren wie Messer durch seine Eingeweide. »Die derzeit gültigen Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten verbieten die Einreise von Kindern unter sechzehn Jahren ohne Begleitung Erwachsener. Dein Onkel hätte dich persönlich abholen sollen. Dann hätten wir nämlich kein Problem.« »Ganz gewiß hat er angenommen – äh –«, Pauli errötete, suchte krampfhaft nach Worten. »Der Brief –« Der Dolmetscher übersetzte. »Ja, danke, ich glaube, er hatte angenommen, der Brief reiche aus.« »Das würde er auch. Wenn du ihn hättest.« »Sir, er konnte nicht herkommen. Er ist ein vielbeschäftigter und sehr reicher Mann, mein Onkel –« »Das glaube ich gerne, aber Gesetz ist Gesetz. Du wirst in Gewahrsam genommen, und dein Fall wird von einer Sonderprüfungskomission begutachtet.« »Was ist das?« Paulis Zuversicht schwand angesichts dieser schlechten Nachricht und der Flut fremder, unverständlicher Worte. »Drei Beamte, die sich mit Fällen wie deinem befassen. Du mußt hier auf der Insel bleiben, bis deine Verhandlung stattfindet.« »Darf ich dann nach Chicago weiterreisen?« Der Dolmetscher wandte den Blick ab. Der Inspektor räusperte sich. »Um ganz ehrlich zu sein, wahrscheinlich nicht, es sei denn, du kannst überzeugende Argumente vorbringen. Du darfst dir von niemandem helfen lassen. Keine Anwälte, keine Verwandten, keine Freunde – niemand.« Pauli verlor fast jeglichen Mut. Aber er ließ sich nichts anmerken, straffte sich und ballte die Fäuste. »Sir, ich hatte einen Beweis dafür, daß meine Verwandten mich erwarten. Er wurde gestohlen.« Sein Mund verzog sich. »Ich hätte bei der Angabe meines Alters lügen sollen.« Nach einem kurzen Moment sackten seine Schultern herab. »Nein, ich bin kein guter Lügner.« Der häßliche Inspektor dachte nach. Dann drehte er sich zu seinem Assistenten um. »Mr. Steiner, ich möchte in diesem Fall keinen Fehler machen. Meinen Sie nicht, daß der junge Mann aussieht, als sei er schon sechzehn? Auf mich macht er jedenfalls diesen Eindruck.« »Sir, auch mir tut es leid für ihn. Aber er hat bereits angegeben –« »Sechzehn.« Der Inspektor strich die vorherige Altersangabe im Hauptbuch durch und trug eine neue ein. Dann nahm er eine farbige Papptafel aus einer Zigarrenkiste und reichte sie Pauli. Dieser drehte sie hin und her und konnte die englische Beschriftung nicht entziffern. »Sir – was ist das?«
ZWISCHENDECK 1892
91
»Dein vorläufiger Ausweis, daß du ordnungsgemäß aufgenommen wurdest«, erklärte der Dolmetscher und lächelte. »Willkommen in Amerika«, sagte der häßliche Inspektor. »Bis Chicago ist es noch ein weiter Weg. Paß gut auf dich auf.« Er wartete, bis er sah, daß auch Valter seinen Ausweis erhielt, und rannte dann hinüber zur Wartezone, wo die Wolinski-Kinder sich um ihre erschöpfte und verzweifelte Mutter bemühten. Herschel gab sich Mühe, seine Niedergeschlagenheit zu überspielen, als er zum Geländer kam, das die zurückgewiesenen Auswanderer von allen anderen trennte. »Goodbye, goodbye«, sagte Pauli und winkte mit seinem Ausweis. Dieses englische Wort verstand Herschel. Tränen traten in seine blauen Augen, während er Paulis Hand ergriff und drückte. Valter kam heran und blieb schweigend bei den Jungen stehen. Herschel redete polnisch, und Valter übersetzte. »Lebewohl, du warst wirklich ein guter Freund. Ich werde mit Mama und meinen Schwestern zurückkehren, aber ich schwöre dir, daß ich nicht aufgeben werde. Sie können mich noch tausendmal nach Polen zurückschicken, ich werde es immer wieder aufs neue versuchen. Eines Tages begegnen wir uns wieder in diesem Land. Ich werde irgendwann Amerikaner sein – darauf kannst du dich verlassen!« Er beugte sich über das Geländer und umarmte Pauli. Dann schüttelte er Valter die Hand. »Auch Ihnen sage ich Lebewohl, mein Herr.« »Sagen Sie ihm, er soll auf sich aufpassen«, bat Pauli seinen deutschen Bekannten. Herschel lächelte. »Aber ganz gewiß. Du aber auch.« Er hob die Hand und richtete den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf auf Pauli. »Peng, peng.« Herschel kehrte zu seiner Mutter und seinen Schwestern zurück. Pauli und Valter entfernten sich. Nach ein paar Schritten drehte Pauli sich um. Er stand in einem breiten Streifen Sonne, der durch eines der Bogenfenster fiel und in dem Staubpartikel tanzten. Das vielsprachige Geplapper, die gelegentlichen schmerzlichen Ausrufe, wenn jemandem die Einreise verwehrt wurde, die lauten Stimmen der Inspektoren erschienen nicht mehr so bedrohlich. Trotz des herrschenden Durcheinanders wohnte der weitläufigen Registrierungshalle eine erhabene, beinahe kirchenhafte Schönheit inne. Pauli winkte. Herschel winkte zurück. Pauli holte tief Luft und ging, den Einreiseausweis krampfhaft festhaltend, mit Valter auf eine Doppeltür zu, die in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen als Ausgang markiert war. Eine Nervenprobe war überstanden. Nun begann die nächste.
92
TEIL ZWEI
»Hör mal zu«, sagte Valter zu Pauli, als sie durch die Tür gegangen waren. »Dem Inspektor gefiel mein Name nicht. Vielleicht hatte er ihn aber auch nicht richtig verstanden, als ich ihn nannte. Jedenfalls heiße ich jetzt Walters.« Er zeigte Pauli ein Papier, auf dem der Name in Blockbuchstaben aufgeschrieben war. »Siehst du? Mr. Walters. So hat er ihn auch in sein Buch eingetragen.« »Gefällt er Ihnen?« Valter lächelte versonnen. »Na ja, ich weiß noch nicht. Ich glaube, ich sollte mich damit anfreunden, denn er ist offiziell.« Im Korridor des oberen Stockwerks fanden sie mehrere Büros. Vor dem größten verkündete ein Schild GAMBIA VALUTAWECHSELGESCHAEFT – BUREAU DE CHANGE. Sie gingen daran vorbei. Pauli hatte nichts mehr, was er hätte umtauschen können. Auf ihrem Weg sahen sie auch die Post- und Telegraphenräume. Ein kleinerer Raum weckte Paulis Interesse. Das Schild an der Tür trug eine zweisprachige Aufschrift: DEUTSCHE GESELLSCHAFT German Aid Society Jedermann willkommen! »Ich würde gerne mal dort hineingehen«, sagte Pauli. »Na schön«, erwiderte Valter. »Ich warte unten in der Gepäckhalle auf dich.« In dem Büro wurde Pauli von einer Frau begrüßt, die eine weite weiße Bluse mit langen Ärmeln und eine Brille trug. Auf deutsch erkundigte sie sich nach seinem Namen. Er nannte ihn. Sie fragte ihn nach seinem Ziel. Er wollte sie mit seinen Englischkenntnissen beeindrucken. »I am – äh – zu, äh to – Chicago going.« Immer noch auf deutsch erwiderte sie: »Sehr schön, aber Sie dürfen das Verb nicht ans Ende stellen. Es heißt richtig I am going to Chicago.« »Ja, ich weiß, es ist schwer«, murmelte er und wurde schamrot. »Sie werden es bald lernen«, sagte sie freundlich. Sie reichte ihm eine Fahrkarte. »Damit kommen Sie mit der Pendelbarkasse zum Hauptbahnhof von New Jersey nördlich von hier. Es ist nicht sehr weit. Sie müssen ihn von der Fähre aus gesehen haben.« Pauli nickte. »Dieses Büro spendiert jedem deutschen Neuankömmling eine Fahrkarte plus einen Dollar.« Sie drückte ihm die große, schwere Münze in die Hand. Er hielt sie fest, als hinge sein Leben davon ab, und fühlte sich schon etwas sicherer.
ZWISCHENDECK 1892
93
»Bis Chicago haben Sie einen weiten Weg vor sich, Herr Kroner. Mehrere hundert Meilen. Es ist nicht ganz ungefährlich. Zuerst einmal halten Sie sich von allen Fremden fern. Wenn einer Sie ansprechen oder sonstwie belästigen sollte, gehen Sie sofort weg. Zweitens, falls Sie Wertsachen besitzen, dann verstecken Sie sie gut. Unter keinen Umständen lassen Sie sich mit Arbeitsvermittlern ein, die Ihnen eine Stelle in weit entfernten Städten versprechen. Die meisten sind Betrüger, und wenn sie tatsächlich irgendeine Arbeit vermitteln können, dann nur zu Hungerlöhnen.« Pauli hörte solche Dinge nur ungern. Er wollte sich die euphorische Stimmung, in die ihn seine erfolgreiche Ankunft versetzt hatte, um keinen Preis verderben lassen. »Sie werden feststellen, daß die Amerikaner im großen und ganzen wunderbare Menschen sind«, fuhr die Frau fort. »Aber die Eigenart des amerikanischen Systems gestattet den Bürgern sehr viele Freiheiten, wenn es ums Geldverdienen geht. Deshalb greifen einige Leute zu unehrlichen Methoden.« »Ich werde daran denken.« »Dann auf Wiedersehen, Herr Kroner. Und viel Glück!« Die Frau erhob sich und drückte ihm mit ernster Miene die Hand, als sei er im Begriff, eine Reise nach China oder in noch fernere Gefilde anzutreten. Pauli traf den alten Valter in der Gepäckhalle, unweit des Eisenbahnschalters, wo geschäftige Agenten Fahrkarten in alle Regionen des Landes verkauften. Valter holte ein anderes Stück Papier hervor. »Mein Sohn Willi kommt aus Pennsylvanien hierher, um mich in einer Pension in New York abzuholen. Hier ist die Adresse. Howstone Street, ich glaube, so wird es ausgesprochen. Komm mit! Du kannst meinen Sohn kennenlernen und ihn fragen, wie du am besten nach Chicago gelangst.« Pauli ließ sich das durch den Kopf gehen und entschied dann, daß er keine Zeit verlieren und sofort nach Chicago aufbrechen wollte. Er hatte sich zwar noch keinen Plan zurechtgelegt, aber ihm würde sicherlich bald etwas einfallen. »Nein, Herr Valter, vielen Dank. Ich fahre lieber gleich nach New Jersey.« »Aber du hast kein Geld.« »Ich habe diese Fahrkarte für die Fähre. Dann habe ich den Dollar von der Deutschen Gesellschaft. Wenn ich den ausgegeben habe, werde ich mir Arbeit suchen.« Er grinste und erprobte sein Englisch: »I am a good
94
TEIL ZWEI
worker.« Sie umarmten einander zum Abschied und trennten sich. Die Sonne brannte auf die offene Barkasse herab. Es war ein heißer Tag. Die kleine Dampfmaschine des Bootes stampfte laut. Pauli saß ein Stück von den anderen acht Passagieren entfernt und beobachtete, wie die Eisenbahnschuppen des Zentralbahnhofs von New Jersey in Sicht kamen. Der Bahnhofstand auf einem Stück Land, das in den Fluß hineinragte. Dahinter boten heruntergekommene Wohn- und baufällige Geschäftshäuser einen häßlichen Anblick, der die anderen Passagiere einzuschüchtern schien; sie sagten nur wenig. Für Pauli war der Anblick aufregend, zauberhaft – makellos. Er erinnerte sich an den Bäcker aus Wuppertal, der eine solche Reaktion vorausgesagt und warnend hinzugefügt hatte, daß sie sehr schnell verginge. Lächerlich. Ihm würde das ganz bestimmt nicht passieren. Er erinnerte sich an etwas, das Herschel gesagt hatte. »Ich möchte in jeder Hinsicht ein richtiger Amerikaner werden.« Ja, genau. Das hieß, daß er seinen deutschen Namen ablegen und sich einen neuen suchen mußte. Ihm gefiel die Vorstellung, sich verschiedene Möglichkeiten zu überlegen, alle zu verwerfen, bis eine einzige übrig blieb, die alle überstrahlte und genau die richtige wäre. Die Suche würde ihm die lange, aber durchaus informative Reise nach Chicago noch vergnüglicher machen. Die Barkasse stieß gegen den Pier, den sie angesteuert hatte. Öllachen auf dem Wasser spiegelten weiße Wolken wider, die am Himmel dahintrieben. Pauli war überwältigt vor Glückseligkeit, und als er auf dem Pier stand, konnte er nicht an sich halten. Er ließ seine Reisetasche fallen und drehte sich um. Ja, er konnte sie noch immer sehen, rostrot und wunderschön im Sonnenschein, in dem das Wasser des Hafenbeckens funkelte. Stolz und mutig stand sie da, blickte hinaus auf die See und wartete auf das nächste Schiff … Sie hatte ihn ohne Vorbehalte willkommen geheißen. Pauli breitete die Arme aus und begann wie ein aufgeregter Storch herumzutanzen. Die anderen Auswanderer starrten ihn verblüfft an. »Amerika!« rief er. »Amerika! Amerika!« »Verdammtes Greenhorn«, schimpfte einer der beiden Matrosen, die die Barkasse am Pier festmachten. »Sie sind alle gleich.« Der andere Matrose nickte. »Er wird schon noch bekehrt.«
ZWISCHENDECK 1892
95
Eine Zeitlang wanderte Pauli durch das Hafenviertel und besichtigte alles. Er bemühte sich, nicht auf seinen hungrigen Magen zu achten, der sich durch Knurren bemerkbar machte. Die Tageshitze nahm ständig zu, und die Luft wurde stickig. Im Schatten eines Lagerhauses setzte er sich auf seine Reisetasche, um eine Rast einzulegen. Kühler war es dort nicht. Er mußte sich beruhigen, mußte Ordnung in seine Gedanken bringen. An erster Stelle stand für ihn die Notwendigkeit, nach Chicago zu gelangen. Das mußte er irgendwie schaffen, ehe der Herbst mit schlechtem Wetter einsetzte und das Reisen erschwerte. Er ordnete seine Probleme und deren Lösungen in logischer Folge. Erstens: Wie sollte er reisen? Das war einfach. Sicherlich gab es Güterzüge, die kreuz und quer durch Amerika rollten. Wie man damit vom Fleck kam, wußte er recht gut. Das hatte er in Berlin gelernt. Er kannte jedoch die Strecke nicht. Daher mußte er sich irgendwie eine Landkarte beschaffen. Ihm kam der Gedanke, daß es wie in Deutschland sicherlich öffentliche Bibliotheken gab, wo er sich erkundigen konnte. Schön, nun zum dritten Problem. Auch wenn die Fahrt mit Güterzügen gratis war, brauchte er Geld, um sich etwas zu essen zu besorgen, und er hatte nur einen einzigen amerikanischen Dollar zur Verfügung. Damit käme er nicht sehr weit. Er brauchte also eine Arbeit, vielleicht nur für ein paar Wochen, um etwas Bargeld zusammenzusparen. Aber wo konnte er sich nach einer solchen Arbeit erkundigen? Auch diesmal fand er nach konzentriertem Nachdenken eine Antwort. Es gab in Amerika bereits viele Deutsche, also gewiß auch in dieser Stadt. Deutsche konnte man immer dort antreffen, wo es auch Bier gab. Daher machte Pauli sich auf die Suche nach einem Biergarten in Jersey City. Am späten Nachmittag entdeckte er einen. Er war nicht sehr groß, aber einigermaßen gut besucht, und lag in einer Nebenstraße. In der feuchten Hitze, die ihm viel drückender vorkam, als er sie jemals in seiner Heimat erlebt hatte, ging er durch den Garten vor dem Restaurant und hielt Ausschau nach dem Inhaber. Etwa ein Drittel der Tische war besetzt. Die Gäste hatten von der Hitze gerötete Gesichter und schwitzten. Wegen seiner einladenden Gemütlichkeit hätte es ein Biergarten mitten in Berlin sein können. Ein Kellner zeigte ihm den Wirt, der auf einem Hocker hinter der Registrierkasse saß. Pauli ging auf ihn zu und sprach ihn stockend auf englisch an. »Sir? Haben Sie Arbeit?« »Nein.« Der Mann massierte sein ausgeprägtes Kinn. »Aber Geizig da drüben, er sucht einen Laufburschen. Seine Hilfskraft hat vergangenen
96
TEIL ZWEI
Freitag gekündigt.« Pauli wurde von der verwirrenden Wortflut geradezu erschlagen. Der Wirt erkannte seine Ratlosigkeit und wiederholte alles auf deutsch. »Kommst du vom Schiff?« fragte er. »Jawohl. Ich bin gerade angekommen.« Der Mann schenkte ihm ein väterliches Lächeln und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Du bist bestimmt hungrig. Jedenfalls siehst du hungrig aus.« Er drehte sich auf dem Hocker um und winkte nach hinten. »Otto, dieser Landsmann braucht einen Teller Sauerkraut und ein großes Bier. Setz dich da hinten an den freien Tisch, mein Freund. Das Essen geht auf Kosten des Hauses. Du solltest lieber mit vollem Magen auf Arbeitssuche gehen. Ach ja, ehe du fragst, geh schnell in die Küche, und wasch dir Gesicht und Hände. Geizig legt besonderen Wert auf Reinlichkeit. Du brauchst dich aber nicht zu beeilen. Geizig ist noch eine Weile hier. Er geht selten vor sieben Uhr in seinen Laden.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Pauli etwas benommen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Der Geruch von Würstchen und Brot und Bier, der die feuchtschwüle Luft erfüllte, ließ ihn beinahe ohnmächtig werden. Amerika gefiel ihm von Stunde zu Stunde besser. Geizig wog etwa zweieinhalb Zentner. Sein Kopf war groß und rund wie ein Kohlkopf. Seine Ohren standen auffällig ab. Er reagierte mit betonter Freundlichkeit, doch Pauli sah in den kleinen, lauernden hellblauen Augen keine Güte. Er trat an Geizigs Tisch heran und fragte in mühsamem Englisch nach einer freien Arbeitsstelle. »Sprich deutsch, Englisch ist etwas für Barbaren«, bemerkte Geizig mit beißendem Spott. Fünf leere Bierkrüge standen vor ihm. Außerdem lag auf dem Tisch ein kleines Notizbuch voller Zahlen, in dem er blätterte, wenn er nicht gerade trank. »Wie heißt du?« Pauli beantwortete seine Frage. Dann wollte Geizig noch einige andere Dinge wissen. »Also, wir brauchen jemanden, der das schmutzige Geschirr und die leeren Gläser wegräumt. Außerdem muß er die Räume sauber halten – was weißt du von meinem Betrieb?« Pauli mußte gestehen, daß er überhaupt nichts darüber wußte. »Es ist ein Freizeitclub für Deutsche. Für Neuankömmlinge, wie du einer bist – allerdings sind meine Gäste etwas älter. Der Club ist ziemlich klein, gemütlich, nicht so laut wie dieser Laden hier. Abends servieren wir kleine Gerichte, dazu gibt es Bier, Wein und Kaffee. Ich bin außerdem meinen Gästen bei ihrer Korrespondenz behilflich und besorge auch schon mal Eisenbahnfahrkarten und so weiter. Es ist recht praktisch. Ich kann dir
ZWISCHENDECK 1892
97
dreißig – äh, zwanzig Cents am Tag zahlen. Außerdem bekommst du bei mir zu essen, und du kannst in einem Schuppen hinter dem Clubgebäude schlafen.« »Das klingt annehmbar, Sir.« »Nicht so hastig. Bist du auch bereit, eine Schürze zu tragen?« Pauli nickte. »Außerdem mußt du deine äußere Erscheinung erheblich aufmöbeln. Du siehst ja furchtbar aus.« Er griff nach dem nächsten vollen Bierkrug. Seine Finger waren dick, fleischig und erinnerten an kleine weiße Würstchen. »Warte draußen auf mich, ich komme gleich zu dir.« Der Name des Clubs lautete Die goldene Tür. Geizig erklärte Pauli, er habe den Namen aus einem Gedicht, das zu Ehren der Freiheitsstatue im Hafen geschrieben worden war. Er erzählte es mit einem spöttischen Unterton. Pauli war enttäuscht, als er den Club endlich zu Gesicht bekam. Es waren lediglich zwei stickige Räume mit angrenzender Küche im zweiten Stock eines mietshausähnlichen Gebäudes, auf dessen Rückseite sich eine schmale Gasse befand. Die Nebelhörner der Schiffe auf dem Fluß waren in den Räumen des Clubs zu hören. Nur einer davon verfügte über ein Fenster, der erste, der direkt hinter dem Eingang lag. Die Außentreppe, die zum Club hinaufführte, war wacklig und hatte mehrere brüchige Stufen. Die Außentür war verwittert und ihr Anstrich, der früher einmal gelb gewesen sein mochte, zu einem schmutzigen Senfgelb verblaßt. Eine Art Dachboden im obersten Stockwerk des Gebäudes diente als Schlafsaal mit wackligen Betten, wo Neuankömmlinge gegen eine Gebühr unterkommen konnten, bis sie sich eine feste Bleibe gesucht hatten oder wußten, wie sie ihre Weiterreise bewerkstelligen konnten. Der Schuppen, in dem Pauli wohnen sollte, stand auf einem kleinen, mit Abfall übersäten Hof auf der anderen Seite der Gasse. Aber Pauli durfte nicht wählerisch sein. Er würde einen Monat hier bleiben, nicht länger, seinen Verdienst in Empfang nehmen und einen Zug nach Chicago besteigen. In seiner Freizeit würde er seine Fahrtroute ausarbeiten. Zu Paulis Überraschung herrschte in der Goldenen Tür zwar kein übermäßiger, dafür aber ein ständiger Betrieb. Die meisten Gäste waren junge Deutsche in den Zwanzigern und ledig; weibliche Gäste gab es nicht. Offenbar bot der Club etwas, wonach bei den Einwanderern eine große Nachfrage bestand. Alle redeten deutsch, Gäste wie auch Angestellte. Das wurde von Geizig gefordert. Der Club beschäftigte auch zwei Bardamen, die Getränke und Essen
98
TEIL ZWEI
servierten. Letzteres wurde von Geizigs grauhaariger, wortkarger Frau ziemlich lieblos zubereitet. Pauli bemerkte sehr bald, daß am Ende des Abends gewöhnlich eine oder sogar beide Bardamen mit einem Kunden verschwanden. Das Abschiedsritual sah immer gleich aus: Geizig reichte der Frau einen Schlüssel, während der Gast dem Wirt ein paar Geldscheine auf die Theke legte. Eine der Bardamen, Magda, hatte ein pockennarbiges und verbittertes Gesicht, war aber immer sehr entgegenkommend; sie war weitaus freundlicher als die andere, die Waltraud hieß. Pauli faßte sich ein Herz, um ersterer eine Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte. »Wofür ist der Schlüssel, Magda?« »Für ein verriegeltes Zimmer im oberen Stockwerk. Aber sei nicht so neugierig.« Auf diese Art und Weise erfuhr er, daß Die Goldene Tür doch kein so unschuldiger Freizeitclub war, wie er es zu sein vorgab. Paulis Arbeitszeit begann erst gegen Mittag. Seine erste Aufgabe bestand darin, den Abfall einzusammeln, die Clubräume auszufegen und die Tische abzuwischen. Er hatte Dienst, bis der Club schloß, manchmal wurde es halb drei Uhr morgens. Wenn Frau Geizig nicht gerade kochte und ihr Mann ihr lange genug zuredete, hämmerte sie auf einem ramponierten Klavier im fensterlosen Raum deutsche Lieder herunter. Die Gäste sangen gelegentlich mit trunkener Inbrunst mit, aber Frau Geizigs Gesicht blieb verkniffen und mißgelaunt, während ihre Hände auf die Tasten einschlugen. Andere Vorgänge im Club beunruhigten Pauli. Viermal erlebte er, wie ein Gast plötzlich von Unwohlsein befallen wurde und zusammenzubrechen drohte. Diese Gäste begleitete Geizig persönlich über die Treppe nach unten auf die Straße. Keiner der vier hatte besonders viel getrunken, soweit Pauli es hatte verfolgen können. Weshalb ihnen schlecht geworden war, blieb ihm ein Rätsel. Er sah sie nie mehr wieder im Club. Was sie an Gepäck bei sich gehabt hatten, war ebenfalls verschwunden. Die Atmosphäre in der Goldenen Tür verursachte ihm Unbehagen und weckte in ihm den Wunsch, schnellstens zu verschwinden. Und ganz besonders an dem Abend, als er einen Mann in der Gasse wüste Drohungen ausstoßen hörte. Geizig sprang auf, um das halbe Dutzend Gäste zu beruhigen. »Es ist nichts Schlimmes. Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich schon darum.« Er rannte hinaus. Pauli lugte um den Türpfosten. In der Dunkelheit am Fuß der Treppe richtete Geizig etwas silbern glänzendes auf einen bärtigen jungen Mann.
ZWISCHENDECK 1892
99
Pauli zuckte zusammen, als er einen leichten Stoß in den Rücken bekam. »Magda!« flüsterte er. »Herr Geizig hat eine Pistole.« »Ja, komm wieder rein, das geht dich alles nichts an.« »Aber warum brüllt und flucht dieser Mann so?« »Ein Freund von mir. Er ist sehr eifersüchtig. Wenn er nüchtern ist, läßt er sich hier nicht blicken. Er hat heute abend offenbar zuviel getrunken. Komm wieder rein«, wiederholte sie mit ängstlicher Stimme. Nach ein paar Minuten verstummte die Stimme des Fremden schlagartig, und Geizig kam wieder die Treppe herauf. Die Pistole war nicht mehr zu sehen. Geizig ging direkt auf Magda zu und packte ihren Arm. »Sorg gefälligst dafür, daß dein verrückter Freund sich hier nicht mehr blicken läßt, sonst kannst du was erleben.« Magda machte sich los. »Jawohl, Sir.« Geizig sah sich mit zornfunkelnden Augen in dem von Petroleumlampen nur dürftig erleuchteten Raum um. Das Haus, dessen erster Stock leerstand, hatte noch nicht einmal einen Gasanschluß. Niemand wagte, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu dem Vorfall zu machen, am wenigstens Pauli. Sein Geburtstag verstrich. Er erzählte niemandem etwas davon. Es reichte ihm, daß seine körperliche Entwicklung merkliche Fortschritte machte. Er war ein gutes Stück gewachsen, und dank der schweren Arbeit hatten sich seine Oberarmmuskeln gut entwickelt. Wenn er nicht arbeitete, beschäftigte er sich intensiv mit seinem Sprachlehrbuch. Da er gezwungen war, sich täglich mit der neuen Fremdsprache auseinanderzusetzen, lernte er viel schneller als in Berlin oder auf dem Schiff. Er unterhielt sich mit Magda, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Er erzählte ihr von seinem Onkel und von Chicago und davon, daß er irgendwie dorthin gelangen müsse, ehe die kalte Jahreszeit mit ihren Schlechtwetterperioden einsetzte. Eines Morgens kam sie um zehn Uhr zu ihm, bekleidet mit einem zerschlissenen Mantel und einem Hut, und zeigte ihm den Weg zur Stadtbibliothek von Jersey City. Sie war in einem unscheinbaren einstöckigen Gebäude aus grauem Granit untergebracht. Dort, so erklärte Magda ihm, fände er alle Landkarten, die er brauche. Zögernd betrat er das Haus. Es herrschte ein angenehmer Geruch nach Papier und Bucheinbänden. Das Rascheln eines Rocks erklang, als die Bibliothekarin hinter ihrem großen Mahagonischreibtisch erschien. »Kann ich dir helfen, junger Mann?«
100
TEIL ZWEI
Mit dem Sprachlehrbuch in der Hand versuchte er ihr klarzumachen, was er suchte. Landkarten von Amerika. Sie schien sehr freundlich zu sein und aufrichtig interessiert, ihm zu helfen. Sie war eine rundliche junge Frau, zehn oder fünfzehn Jahre älter als Pauli. Sie zeigte ihm einen Sitzplatz an einem der Lesetische, dann verschwand sie in einem dunklen Gang zwischen hohen Regalen. Kurz darauf brachte sie zwei voluminöse Atlanten herbei. »Ich werde dir helfen. Ich bin übrigens hier die Bibliothekarin, Miss Lou Stillwell.« Miss Stillwell nahm neben ihm Platz, und er begann in farbigen Landkarten der Vereinigten Staaten zu blättern. Miss Stillwell ergriff seine Hand und führte seinen Zeigefinger von Jersey City entlang einer möglichen Reiseroute nach Chicago, ein Wort, das mit großen Lettern auf die blaue Fläche eines langgestreckten schmalen Sees gedruckt war. Auf der Route befand sich mindestens ein Gebirgszug, und zwar in einer Provinz namens Pennsylvania. Dann kam eine weitere Provinz, Ohio, und eine dritte, Indiana – seltsame, singende Namen, aber davon fand er eine ganze Reihe in Amerika. Dies seien keine Provinzen, klärte Miss Stillwell ihn auf, sondern Staaten. In der folgenden Woche kam er an mehreren Vormittagen vorbei, um sich die Landkarten einzuprägen und seinen Träumen nachzuhängen. »Es wäre klug, wenn du deinem Onkel schreiben würdest«, riet Miss Stillwell ihm während einem seiner Besuche. »Um ihm mitzuteilen, daß du wohlbehalten angekommen bist. Weißt du seine Adresse?« »Die steht in seinem Brief. Und den habe ich verloren. Aber es war Chicago. Und da stand etwas wie Mitch-i-gun Avenue.« »Was stand da?« Sie mußte lachen. Er versuchte, den Namen etwas deutlicher auszusprechen. »Mich-i-gan. Aber die Hausnummer weiß ich nicht.« »Nur die Straße?« »Ja, mehr hat er auch nicht geschrieben.« »Das ist nicht sehr viel, mein Junge, aber keine Sorge. Du wirst sicher bald nach Chicago aufbrechen, nicht wahr?« »Ja, sehr bald. Ich spare schon jetzt dafür.« Er verriet allerdings nicht, daß er vorhatte, auf Güterzügen als blinder Passagier mitzufahren. Er würde sich schon viel früher auf den Weg nach Chicago machen, als Miss Stillwell ahnte. Er war die unfreundliche, verdorbene Atmosphäre in der Goldenen Tür leid und hatte sich entschlossen, schon am Ende der Woche aufzubrechen. Er würde seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um von Geizig den Lohn zu verlangen, den er ihm gutgeschrieben
ZWISCHENDECK 1892
101
und zur Sicherheit zurückbehalten hatte. Mittlerweile schrieb man den 1. August, das hieß, daß er schon zwei Monate gearbeitet hatte. Demnach schuldete Geizig ihm insgesamt zwölf Dollars. »Was deinen Onkel betrifft«, sagte Miss Stillwell, »da habe ich eine Idee. Wir geben als Adresse einfach nur die Michigan Avenue in Chicago an. Vielleicht ist er dort so bekannt, daß er den Brief auch ohne Hausnummer erhält.« Es war ein einfacher Brief. Er bestand nur aus drei Sätzen in Englisch. Der erste teilte mit, daß Pauli am ersten Juni eingetroffen war. Der zweite Satz besagte, daß es ihm gut gehe. Der dritte bestand aus nur drei Worten. Erwartet mich bald. Auf Miss Stillwells Rat beendete er den Brief mit Dein Dich liebender Neffe, P. Kroner. Die Bibliothekarin versprach ihm, den Brief noch am gleichen Nachmittag zur Post zu bringen. »Vielen Dank«, sagte Pauli zu ihr. Draußen prasselte wieder ein warmer Sommerregen vom Himmel und hüllte Jersey City in eine dichte Dunstwolke ein. In der Bibliothek herrschte eine drückende Hitze. Überheizte Räume schienen in Amerika beliebt zu sein. »Vielen Dank«, sagte er noch einmal. »Ich habe aus den Landkarten eine ganze Menge erfahren. So bald werde ich wohl nicht mehr herkommen.« »Aber eines Tages sehe ich dich doch hoffentlich wieder«, erwiderte Miss Lou mit seltsam belegter Stimme. »Ich versuche es.« Am nächsten Montag wäre er wohl schon unterwegs, aber er wollte es ihr nicht erzählen und ihr damit möglicherweise weh tun. »Ja, bitte«, sagte sie. »Und verlier dies nicht.« Sie reichte ihm einen kleinen Stapel Skizzen, die sie nach den Atlanten angefertigt hatte. Sie hatte die Staaten zwischen New Jersey und dem Haus seines Onkels aufgezeichnet. In die Staaten hatte sie die Namen der größeren Städte eingetragen und den Verlauf der Eisenbahnlinie skizziert. Miss Lou Stillwell strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Du bist ein sehr netter Kerl, Pauli. Ein lieber Junge.« Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn, wobei sie ihre Zunge zwischen seine Lippen schob. Dann wich sie mit einem leisen, verschämten Aufschrei zurück und verschwand wieder in den düsteren Regalschluchten. Pauli wußte nicht, wie er dieses Verhalten zu verstehen hatte. Nachdem er einen Tag lang hin und her überlegt hatte, entschloß er sich, Magda ins Vertrauen zu ziehen und sie zu bitten, ihm diesen Vorfall zu erklären. »Nun, Pauli, zuerst mal nehme ich an, daß die Frau sich einsam fühlte.
102
TEIL ZWEI
Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, den du wahrscheinlich noch nicht erraten hast. Du bist zwar erst fünfzehn, aber trotzdem sieht du recht gut aus. Du hast kräftige Schultern, muskulöse Arme – bist also durchaus ein attraktiver junger Mann. Die Frauen fühlen sich zu dir hingezogen. Na ja, du bist nicht unbedingt das schönste männliche Wesen, das ich je gesehen habe. Aber du bist klug, du hast gute Manieren – Eigenschaften, die man nicht bei vielen Männern findet. Daher wissen die Frauen sie zu schätzen. Außerdem hast du ein wunderbares Lachen. Du würdest sogar mir den Kopf verdrehen, wenn ich nicht so eine alte Frau wäre.« Sie sagte es in neckendem Ton und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Eines will ich dir noch sagen. Bestimmt werden sich in dich eine ganze Reihe schöner Frauen verlieben. Aber diejenige, für die du dich entscheidest und mit der du zusammenbleiben willst, wird wahrscheinlich die einzige sein, die du nicht bekommen kannst. Das Leben spielt einem manch üblen Streich, Pauli.« An diesem Samstagabend änderten seine Pläne sich abrupt. Magda kam erst spät zur Arbeit und sah abgespannt aus. Geizig brüllte sie an. Sie lief weinend in die Küche. Als die Tür zufiel, konnte Pauli gerade noch eine rote Schwellung unter ihrem linken Auge erkennen. Ob das etwa wieder ihr eifersüchtiger Freund gewesen war? Sechs Männer hielten sich im Club auf. Vier tranken und spielten Karten. Zwei weiteren Gästen war Geizig mit einem Eisenbahnfahrplan behilflich. Er beschaffte häufiger Fahrkarten für Neuankömmlinge, die keine Englischkenntnisse hatten oder die zu unbeholfen waren, um sich ihre Fahrten selbst zu organisieren. Magda hatte Pauli unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß Geizig die Leute gewöhnlich betrog, indem er auf den Fahrpreis, den er ihnen abnahm, die Hälfte aufschlug. Kurz vor neun Uhr setzte der Inhaber seinen Hut auf und verließ ohne Erklärung den Club. Gegen halb zehn, Pauli wischte gerade einen Tisch ab, blieb Waltraud, die andere Bardame, neben ihm stehen. »Was ist das für ein sonderbarer Geruch?« »Er kommt von unten«, sagte einer der Kartenspieler. Frau Geizig kam aus der Küche herausgestürzt. »Was brennt denn hier?« Magda ließ einen gefüllten Bierkrug fallen. Er zerschellte auf dem Fußboden, und das Bier spritzte nach allen Seiten. Magda wurde leichenblaß und schlug die Hände vor das mißhandelte Gesicht. »O mein Gott, er hat es wirklich getan!« Pauli riß die Augen weit auf. Meinte sie ihren eifersüchtigen Freund? Hatte er etwa das Haus angezündet? Die Gäste sprangen erschreckt von ihren Stühlen auf. Pauli roch Qualm
ZWISCHENDECK 1892
103
und gewahrte durch das einzelne, schmuddelige Fenster einen matten, orangefarbenen Lichtschein. Er rannte zur Tür, war kurzzeitig geblendet und prallte gegen einen Stuhl. Sein Bein schmerzte. Voller Wut und Angst packte er den nächstbesten Tisch und kippte ihn um. Er konnte die Hitze durch den Fußboden spüren. Rauchschwaden stiegen aus den Fugen zwischen den Dielenbrettern auf. Er konnte das Prasseln und Knattern der Flammen in der Etage unter ihm hören. Draußen vor dem Fenster flackerte ein grelles Licht. Das baufällige Gebäude stand völlig in Flammen. Pauli riß die Tür auf. Ein Hitzeschwall trieb ihn zurück. Er klammerte sich an den Türrahmen, während er in ein Inferno aus Flammen, Funken und zusammenbrechenden Holzbalken starrte. »Gott im Himmel, die Treppe ist weg!« Er schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen, um nachzudenken. Das Holz unter seinen Handflächen war glühend heiß. Er wich zurück. Frau Geizig rang die Hände. »Wir müssen fliehen!« »Haben Sie denn nicht gehört? Die Treppe ist nicht mehr zu gebrauchen!« »Wir werden alle sterben«, jammerte Waltraud. »Gibt es keine andere Tür?« brüllte einer der Gäste Frau Geizig an. Die anderen kannten die Antwort. Schluchzend schüttelte Frau Geizig den Kopf. Alle schienen vor Furcht wie gelähmt zu sein. Dicker, erstickender Qualm drang aus der Küche, als habe das Feuer sich dort bereits durch den Fußboden gefressen. Pauli gab sich einen Ruck, schüttelte seine Benommenheit ab. Nachdem er so viele Mühen auf sich genommen hatte, um nach Amerika zu kommen, wollte er auf keinen Fall in diesem dreckigen Loch sterben. Er rannte durch den Clubraum und schrie: »Durch das Fenster, das ist der einzige Weg!« »Oh, ich kann nicht springen! Das schaffe ich nicht«, zeterte Frau Geizig. Einer der Gäste, die sich von Geizig hatten Zugverbindungen heraussuchen lassen, wußte in seiner Angst nicht mehr, was er tat. Er schlug die Frau mitten ins Gesicht. »Sei endlich still, du Schlampe!« Die Hitze und der Qualm nahmen ständig zu. Pauli wußte, daß ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Er rannte zu Magda hinüber. Rötlicher Flammenschein aus der Küche spiegelte sich in den Tränen ihres gezeichneten Gesichts wieder. »Komm schon, wir werden hier ganz bestimmt nicht sterben«, brüllte er ihr ins Ohr und zerrte so heftig an ihrem Arm, daß sie schmerzerfüllt aufstöhnte. Er drängte sie mit Gewalt zum Fenster. Flammen züngelten vom leeren
104
TEIL ZWEI
Stockwerk unter ihnen herauf. In der Dunkelheit auf der anderen Seite der Gasse erkannte er die Gesichter der Nachbarn als runde weiße Flecken. Er schob das Fenster vollends hoch und wurde von einem Hauch sengendheißer Luft im Gesicht getroffen. Die Flammen leckten unter dem Fenster hoch, schlugen in die Öffnung. Sie würden ziemlich weit springen müssen. »Na kommt schon, Leute, das ist die einzige Chance!« rief er. »Ich bin gleich hinter dir«, sagte einer der Neuankömmlinge, Waltraud war jedoch in dem Qualm nirgendwo zu sehen, und Frau Geizig lag ohnmächtig am Boden. »Durchhalten, Magda!« »Ich kann nicht, ich habe Angst –« »Nein, du schaffst es. Red nicht so einen Unsinn!« Keuchend schob er sie weiter zur Fensterbank und schlang einen Arm um ihre nicht sehr schlanke Taille. Für einen kurzen Moment hatte er panische Angst – das Feuer würde seinen gesamten Besitz verschlingen: die Stereoskopkarte, den Globus, die Landkartenskizzen –, aber dann fiel ihm ein, daß alles in seiner Reisetasche steckte, und die stand in seiner Behausung auf der anderen Seite der Gasse. »Spring!« rief er und zog Magda mit sich hinaus in die Dunkelheit und den Rauch und die lodernden Flammen. Während sie dem Erdboden entgegenstürzten, fing sein linkes Hosenbein Feuer. Dann raste schon der Boden auf sie zu und stoppte ihren Fall mit brutaler Wucht. 10 JOE CROWN Joseph Emanuel Crown, Inhaber der Brauerei Crown von Chicago, hatte Sorgen. Mehrere Dinge beunruhigten ihn, am meisten jedoch eine Bürgerpflicht, zu der er sich auf einer eilig anberaumten Krisensitzung an diesem Freitag, dem vierzehnten Oktober, äußern sollte. Die Sitzung hatte er selbst einberufen. Man konnte Joe Crown seine innersten Ängste und Sorgen selten ansehen. Doch an diesem Vormittag, an dem er in seinem Büro arbeitete, war es der Fall. Seine Beständigkeit, Rechtschaffenheit und sein Wohlstand waren vorbildlich. Er trug einen gediegenen mittelgrauen Anzug, der von einer dunkelroten Fliege unter einem hohen Hemdkragen belebt wurde. Da der Tag noch nicht allzu warm war, verzichtete er darauf, das Jackett abzulegen. Joes Haare waren eher silberfarben als weiß. Er wusch sie täglich, um
ZWISCHENDECK 1892
105
ihren Glanz zu erhalten. Seine Augen hinter den metallgefaßten Brillengläsern waren dunkel, ziemlich groß und wach. Schnurrbart und Backenbart verrieten sorgfältige Pflege. Er hatte um zwölf Uhr einen Termin für das allwöchentliche Trimmen. Seine Hände waren klein, aber kräftig. Er war nicht schön, aber er gebot Respekt. Drei Prinzipien bestimmten Joe Crowns Geschäftsgebaren und sein Privatleben. An erster Stelle stand die Ordnung. Ohne Ordnung, ohne Organisation, ohne vernünftige Planung regierte das Chaos. Das zweite Prinzip war Genauigkeit. Genauigkeit war beim Bierbrauen unabdingbar. Dort waren Zeitpunkt und Temperatur von entscheidender Bedeutung. Aber Genauigkeit war auch die Grundlage jedes Geschäftes, das Gewinn statt Verlust einbringen sollte. Das wichtigste Hilfsmittel zur Erlangung von Genauigkeit war die Mathematik. Joe Crown glaubte fest an die Macht korrekter Informationen und an die absolute Herrschaft von Zahlen, die diese Informationen lieferten. In Deutschland hatte er den Umgang mit Zahlen erlernt, ehe er lesen konnte. Obgleich er in den meisten Unterrichtsfächern ein mittelmäßiger Schüler gewesen war, galt er im Umgang mit Zahlen als absoluter Meister. Er konnte im Kopf mit erstaunlichem Tempo lange Zahlenkolonnen addieren oder komplizierte Berechnungen ausführen. In Cincinnati, seinem ersten Aufenthaltsort in Amerika, hatte er den Inhaber einer chinesischen Wäscherei gebeten, ihn im Gebrauch des Abakus zu unterweisen. Eines dieser altmodischen Rechengeräte konnte man in seinem Büro sehen, wo es in Reichweite auf einem niedrigen Schränkchen lag. Geld war das Maß des Erfolges, Zahlen das Maß des Geldes. Wenn er seinen Angestellten Fragen stellte, ging es häufig um Zahlen. »Wie lautet die genaue Temperatur?« »Wie viele potentielle Käufer können wir auf diesem oder jenem Markt erreichen?« »Wie viele Fässer Bier wurden in der vergangenen Woche ausgeliefert?« »Wie hoch ist der Quadratmeterpreis dieses geplanten Anbaus?« Was sein drittes Prinzip betraf, Modernität, so glaubte er, daß auch die im Geschäftsleben entscheidend war. Geschäftsleute, die behaupteten, daß die alten Methoden auch die besten seien, waren Narren, dazu verdammt, ins Hintertreffen zu geraten und zu scheitern. Joe hielt stets Ausschau nach den neuesten Methoden und Techniken, um die Produkte, den Ausstoß, die Leistungsfähigkeit und die Sauberkeit seiner Brauerei zu verbessern. Er hatte nicht gezögert, eine teure Pasteurisierungsanlage zu installieren, als er seinen ersten kleinen Brauereibetrieb in Chicago gründete. Er hatte als einer der ersten seiner Branche in Lastwagen mit Kühlaggregaten investiert. Er bestand darauf, daß in seinen Büros moderne Maschinen zum Einsatz
106
TEIL ZWEI
kamen. Von seinem Schreibtisch aus konnte er das angenehme Rattern einer mechanischen Addiermaschine hören. Es verschmolz mit den klickenden Typen und dem hellen Geklingel der schwarzen Stahlschreibmaschine, auf der sein Bürovorsteher, Stefan Zwick, die Firmenkorrespondenz erledigte. Ursprünglich hatte Stefan sich Joes Empfehlung widersetzt, die Bedienung einer Schreibmaschine zu erlernen. »Sir, bei allem Respekt, aber da weigere ich mich. Ein Federhalter reicht mir vollauf.« »Aber, Stefan«, erwiderte Joe freundlich, doch mit Nachdruck, »ich fürchte, mir reicht er nicht, denn damit wirkt Crown altmodisch. Ich nehme jedoch Rücksicht auf Ihre Gefühle. Seien Sie so nett, und geben Sie eine Annonce auf, daß wir eine Bürokraft suchen. Wir stellen eine dieser jungen Frauen ein, die mit diesen Maschinen umgehen können. Ich glaube, man nennt sie Maschinenschreiberinnen.« Zwick erbleichte. »Eine Frau? In meinem Büro?« »Es tut mir leid, Stefan, aber Sie lassen mir keine andere Wahl, wenn Sie das Maschinenschreiben nicht lernen wollen.« Stefan Zwick lernte Maschinenschreiben. Jedes solide Haus oder Gebäude stand auf einem starken Fundament. Und auch Joe Crowns drei Prinzipien ruhten auf einem solchen Fundament: Es war die freudige Anerkennung, um nicht zu sagen Ehrfurcht, die er harter Arbeit entgegenbrachte. Für Joe Crown war das nichts Ungewöhnliches oder Besonderes. Neben anderen Gegenständen wie Werbezetteln, Wimpeln und vergilbten braunen Photographien von den alljährlichen Betriebsausflügen der Brauereibelegschaft hing auch ein kleiner Sinnspruch an der Wand, den seine Frau als bunte Stickerei ausgeführt und mit einem vergoldeten Rahmen versehen hatte. Er lautete: Ohne Fleiß kein Preis. Wenn Joe Crown an seinem Schreibtisch saß, konnte er den goldgerahmten Sinnspruch nicht sehen. Er hing ein Stück nach rechts verschoben an der Wand hinter ihm. Aber er brauchte ihn auch nicht zu sehen. Er hatte ihn so tief verinnerlicht, daß an seiner Wahrheit für ihn kein Zweifel bestand. Joe Crown war schließlich Deutscher. Joe Crowns Brauerei nahm den gesamten Block Nummer 1000 auf der Westseite der North-Larrabee-Straße ein. Sämtliche Gebäude waren aus edlen roten Ziegeln mit Granitverzierungen erbaut. Der Verwaltungstrakt glich mit seiner Front in der Larrabee-Straße einer Festung mit einem quadratischen Turm an beiden vorderen Gebäudeecken. Auf den Türmen flatterte die Flagge der Brauerei mit dem Firmensymbol, der goldenen
ZWISCHENDECK 1892
107
Krone. An Nationalfeiertagen wurde die amerikanische Flagge gehißt. Über dem Eingang waren in wuchtigen Lettern die Worte BRAUEREI CROWN eingemeißelt. Die deutsche Schreibweise war ein Symbol der Wertschätzung und Hochachtung für die Heimat des Inhabers. Joe Crown hatte ein geräumiges Eckbüro im zweiten Stock des Hauptgebäudes. Die vorderen Fenster gingen auf die Larrabee-Straße hinaus, durch die Seitenfenster konnte man in Crowns firmeneigenen Biergarten hinunterblicken. Der Garten hatte ein kunstvoll geschmiedetes Tor zur Straße und direkt unter Joes Büro eine Tür, die in die Bierstube führte, welche den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. In der Schenke gab es Bier und Essen von mittags bis spätabends, desgleichen im Biergarten, sofern schönes Wetter herrschte. Fast alle großen Brauereien hatten derartige Einrichtungen. In einer Ecke des holzgetäfelten Büros stand die schwarz-weiß-rote Fahne Deutschlands auf einem schweren Nußbaumsockel. In der gegenüberliegenden Ecke, auf ähnliche Art und Weise arrangiert, war die amerikanische Fahne – doppelt so groß – zu sehen. Die ausgestopften Köpfe eines Elchs und eines Schwarzbären verzierten die Wände. Joe hatte sie nur gekauft, weil er fand, daß sie die angemessene Dekoration für ein Herrenzimmer waren. Er war nämlich kein Jäger. Der Morgen war noch ziemlich dunkel, und der Himmel war bedeckt. Durch die offenen Bürofenster drang ein ständiger Hintergrundlärm – die Stimmen von Arbeitern, das Klirren und Dröhnen schwerer Rohre, die umhergetragen und mit Hämmern bearbeitet wurden. Zwischen der zweiten Etage des Brauereigebäudes und der Flaschenabfüllung, die sich westlich davon auf der anderen Seite der Gasse befand, wurden neue Rohrleitungen verlegt. Kürzlich waren infolge massiven Drucks und intensiver Lobbytätigkeit durch die Großbrauereien wichtige Gesetze neu gefaßt worden. Obgleich er noch immer mit Steuermarken versehene Fässer von Hand über die Gasse transportieren ließ, setzte Crown alles daran, schnellstens Verbindungsleitungen zu installieren, um auf diese Praxis verzichten zu können. Die Umsatzsteigerungen, die sich aus der erhöhten Produktivität ergeben würden, waren sehr eindrucksvoll. An diesem Morgen stand Joe in der Mittagskonferenz eine unangenehme Aufgabe bevor. Obgleich er darauf vorbereitet war – der Schnellhefter mit den entsprechenden Unterlagen lag bereits auf seinem Schreibtisch –, freute er sich nicht gerade darauf, unangenehme Neuigkeiten bekanntzugeben. Hinzu kam, daß er familiäre Sorgen hatte. Wo war sein Neffe Pauli, der von Deutschland herüberkommen wollte? Der Junge hätte schon längst eingetroffen sein müssen. Und wenn er wirklich kam, wie würden Joes
108
TEIL ZWEI
eigene Kinder reagieren? Wie würden sie das neue Familienmitglied behandeln? Er bemühte sich, diese Sorgen beiseite zu schieben und sich in die stets notwendige und ständig zunehmende Arbeit zu stürzen, die mit der Leitung eines erfolgreichen und stetig expandierenden Brauereibetriebs einherging. Da ihm nun doch warm geworden war, hängte er sein Jackett an einen Wandhaken und arbeitete in Hemdsärmeln, nachdem er sich Ärmelhalter bis dicht unter die Ellbogen gestreift hatte. In der Ferne war rollender Donner zu vernehmen. Er las und strich einen Artikel über technische Fortschritte bei Kühlanlagen an, die er aus Der Amerikanische Bierbrauer, der Zeitung der U.S. Brewers’ Association – der Vereinigung der Bierbrauer Amerikas –, ausgeschnitten hatte. Dann korrigierte er einen Briefentwurf an einen Immobilienhändler unten in Terre Haute. Der Makler verhandelte wegen Grundstücken in der Nähe des dortigen Güterbahnhofs. Joe hatte überall im Land in sorgfältig ausgewählten Städten Vertriebsfilialen eingerichtet und wollte nun eine solche Agentur für den Süden Indianas eröffnen. Expansion war das Gebot der Stunde, wenn man mehr sein wollte als nur ein lokal operierender Brauereibetrieb. Er zeichnete eine Bankanweisung für seine Stadionloge in der nächsten Spielsaison der Chicago White Stockings ab. Baseball war eines seiner geheimen Laster. Eine Einladung zum Beitritt in einen neuen deutschen Gesangverein lehnte er ab. Er besaß zwar einen wohltönenden Bariton und sang sehr gerne, aber er hatte keine Zeit dazu. Als nächstes las er eine Aktennotiz seines Braumeisters Fred Schildkraut über Hefekulturen. Er tauchte die Feder ins Tintenfaß und schrieb eine Bemerkung an den Rand. Dann ging er zur Tür und bat Dolph Hix hereinzukommen. Hix war Joes Verkaufsleiter und einer der drei Männer, die in Chicago und den benachbarten Staaten unterwegs waren, um den Absatz der Brauereiprodukte zu steigern. Sie taten das auf unterschiedlichste Art und Weise. Die wirksamste war vermutlich der Einsatz eines großzügigen Spesenkontos, das es erlaubte, Kunden in Saloons mit Gratiskostproben von Crown-Bier zu bewirten. Hix erschien mit dem Entwurf für eine neue Reklame, die im Telephonbuch der Stadt untergebracht werden sollte. Er und Joe brauchten fünf Minuten, um den Entwurf zu zerpflücken. Joes Forderungen waren einfach und prägnant. Er äußerte sie in einem hervorragenden Englisch, aber immer noch mit deutschem Akzent. »Die Gerstenhalme als Illustration sind überflüssig. Weg damit, oder machen Sie sie wenigstens kleiner. Dafür
ZWISCHENDECK 1892
109
soll der Name der Brauerei viel größer sein. Wir verkaufen Crown’s, Dolph, und keine Gerste.« Sobald Hix sich verabschiedet hatte, studierte Joe einen Werbezettel für eine Vorrichtung, die ihn brennend interessierte – es war der neueste, korbähnliche Pasteurisierer für Flaschenbier. Crown stellte sowohl Flaschen- wie auch Faßbier her, und zwar jeweils mehrere verschiedene Sorten. Am besten verkaufte sich Crown’s, ein helles, leichtes, spritziges Pils. Heimatbier, nach altem Rezept gebraut und daher dunkler und mit einem höheren Alkoholgehalt, lag auf der Beliebtheitsskala an zweiter Stelle. Es wurde vor allem von älteren Deutschen bevorzugt und trug den Zusatz Qualität »Superior«. In den vergangenen zwanzig Jahren hatten die Amerikaner dem Lagerbier vor Porterbier, Ale oder anderen starken Brauereierzeugnissen, seien sie englischer oder deutscher Herkunft, den Vorzug gegeben. Joe Crown gehörte zu dem kleinen Kreis von Bierbrauern, die diese Vorliebe rechtzeitig gewittert und damit ein Vermögen verdient hatten. Zu dem Kreis gehörten die Gebrüder Schäfer in New York; Joe Schlitz, Valentin Blatz und Fred Miller in Milwaukee; Theo Hamm oben in St. Paul, Michael Diversey, jener erfolgreiche und hochgeschätzte deutsche Katholik, dessen früherer Brauereibetrieb in Chicago ein Vorbild für Joes eigenes Unternehmen gewesen war, und der wahrscheinlich kühnste und hervorragendste von allen, Adolphe Busch, der in Partnerschaft mit seinem Schwiegervater, Eberhard Anheuser, um 1850 die um ihre Existenz kämpfende Bavarian Brewery in St. Louis übernommen hatte. Von seinen Konkurrenten mochte Joe Busch am wenigsten. Er war ein ungehobelter, rücksichtsloser Mann, der selbst nur teure französische Weine trank und sein Brauereibier abfällig als »Gesöff« bezeichnete. Er war mit einer beachtlichen Summe von seinem Vater aus Kastel am Rhein nach Amerika gekommen. Er hatte nie hungern, hatte nie wirklich um seine Existenz kämpfen müssen. Sein Lebensweg entsprach kaum einem typischen Einwandererschicksal, obgleich er das sehr gerne vorgab. Trotzdem konnte man den Kontakt mit einem Mann wie Busch nicht umgehen. In vielen großen und kleineren Städten war er ein direkter Konkurrent. Das waren auch die anderen großen Bierbrauer. Und während sie einander als Konkurrenten auch hassen mochten, so empfanden sie doch auch einen stillen Stolz auf ihre Zugehörigkeit zu einem kleinen und elitären Unternehmerzirkel. Sie waren Landsleute, sie stellten Bier her – und sie trugen eine gemeinsame moralische Verpflichtung. Als Deutsche betrachteten sie Bier als ein Nahrungsmittel, als einen völlig normalen und gesunden Bestandteil des Lebens. Eher puritanisch eingestellte Amerikaner
110
TEIL ZWEI
und Angehörige anderer Nationalitäten waren anderer Auffassung. Für sie war Bier kein Nahrungsmittel, sondern ein Produkt des Teufels. Es überhaupt zu trinken war allein schon eine Sünde, aber der Genuß am Sonntag kam einer Gotteslästerung gleich. Dieser grundlegende kulturelle Unterschied schuf für Bierbrauer ein unlösbares Problem. Gegen elf Uhr nahm Joe am Rande wahr, daß der Geräuschpegel draußen merklich sank. Es war die Zeit des zweiten Frühstücks. Die Brauereiangestellten und die Bauarbeiter saßen herum und aßen hartgekochte Eier, Butterbrote mit Schinken oder Schwarzbrot mit Wurst und tranken dazu Bier aus Bechern. Joe betrachtete die Konstruktionszeichnung der Pasteurisiervorrichtung, als in der Stille eilige Schritte auf der Treppe und anschließend im Flur zu hören waren. Nach einem aufgeregten Klopfen flog die Tür auf. »Mr. Crown, kommen Sie schnell. Benno will Emil Tagg umbringen!« Der nach Luft ringende weißhaarige Mann war sein Bürovorsteher, Stefan Zwick. Joe sprang auf und folgte Zwick nach draußen, ohne Fragen zu stellen. Benno Strauss hatte schon früher Scherereien gemacht, und Bennos Scherereien waren immer eine ernstzunehmende Sache. Streitigkeiten zwischen den Männern wurden stets von der Geschäftsleitung geschlichtet, niemals vom Braumeister. Joe eilte die Hintertreppe hinunter, vorbei an einem offenen Fenster. Der Lärm hatte wieder zugenommen. Männer feuerten die an einem Zweikampf Beteiligten lautstark an. Nachdem er aus der Tür gestürmt war, überholte Joe Stefan Zwick und überquerte die Gasse zum Vorhof des Flaschenabfüllbetriebs. Etwa zwanzig Männer hatten einen Kreis um die Streithähne gebildet. Während Joe sich hindurchdrängte, wich er dem Blick eines der Männer aus, der ihn gespannt ansah und auf seine Reaktion wartete. Benno Strauss umklammerte mit beiden Händen den Hals Emil Taggs. Tagg lag mit dem Rücken auf einem Faß, das auf einem Handkarren stand. Der Handkarren war auf dem unebenen Ziegelboden umgekippt. Tagg war der Werkmeister der Flaschenabfüllung. Die Maschinen, für die er verantwortlich war, ratterten hinter einer offenen Tür unverdrossen weiter. Obwohl Joe Crown etwa Emils Statur hatte – also viel kleiner war als Benno –, rannte er direkt auf den größeren Mann zu, legte einen Arm um Bennos Hals, was nur möglich war, weil Benno sich weit vorbeugte. »Lassen Sie ihn los, Benno. Hören Sie auf der Stelle auf!« Er ruckte und zerrte an dem Mann. Benno wurde blaß im Gesicht. Joe spürte, wie Bennos Körper schlaff
ZWISCHENDECK 1892
111
wurde. Er ließ ihn los und trat zurück. Benno lockerte seinen Würgegriff um Emils Kehle, nachdem er ihn noch einmal heftig geschüttelt hatte. Emil beobachtete Benno wachsam und massierte sich den Hals. »Die anderen gehen sofort wieder an ihre Arbeit«, befahl Joe. Er musterte die Umstehenden mit wütenden Blicken. Die meisten trollten sich sofort, nur wenige murrten. Joe klopfte den Staub von seinen Hemdsärmeln. »Worum ging es denn diesmal?« Emil und Benno sahen einander weiterhin lauernd an. Benno Strauss war ein Riese. Mit seinen seltsamen, asiatisch geschnittenen Augen, seinem rasierten Schädel und seinem buschigen Schnurrbart erinnerte er Joe immer an einen orientalischen Flaschengeist. Er war ein »Achtundvierziger« – einer der Auswanderer, die nach der fehlgeschlagenen Revolution aus Deutschland geflohen waren. Benno nahm für sich in Anspruch, daß er im Gegensatz zu vielen anderen aktiv an den Kämpfen teilgenommen hatte. Im Alter von zehn Jahren war er Wasserträger für eine Gruppe rebellischer Studenten gewesen, die allesamt erschossen oder verhaftet worden waren. Jedenfalls schilderte er es so. Benno war der offizielle Gewerkschaftsvertreter bei Crown. Der vierundfünfzigjährige Junggeselle war doppelt so stark wie die meisten Männer mit zwanzig. Er gehörte zur National Union of Brewers, der Vereinigung der Brauereiingenieure, Heizer, Mälzer und Gewerkschaftler, die versuchte, mit ihren unmäßigen Forderungen die Industrie zu strangulieren. Tatsächlich war er das einzige Mitglied im Betrieb. Joe Crown erkannte die Gewerkschaft nicht an. »Heraus damit, ich verlange eine Erklärung. Sie sind gefragt, Benno, denn Sie haben angefangen.« Er war zornig; diese Störung ärgerte ihn. Vor allem weil der Schuldige ein fanatischer Radikaler war. Benno wischte sich das verschwitzte Gesicht mit dem Ärmel seines Kittels ab. »Der da hat mich beleidigt.« Bennos Akzent war nicht zu überhören, sein Englisch war stockend. »Womit? Was hat er gesagt?« »Etwas Schmutziges. Über meine Mutter. Ich werde es nicht wiederholen. Aber ich dulde es nicht, daß jemand so etwas zu mir sagt.« »Stimmt das, Emil?« »Ja, Mr. Crown. Aber verdammt noch mal, soll ich es mir gefallen lassen, Wenn er mich dauernd piesackt? Er hält einfach nicht den Mund. Er kam mit seinem üblichen Unsinn über einen Achtstundentag zu mir. Es ist der gleiche Blödsinn, wegen dem Spies und Parsons und die anderen Roten vom Haymarket gehängt oder ins Gefängnis gesteckt wurden. Das
112
TEIL ZWEI
verstehen Sie doch, oder?« Joe wich der Frage aus. Tagg war ein überaus fähiger Mann, aber Joe verabscheute seine kriecherische Art. »Ist das alles?« »Nein. Er hat dann noch von der Begnadigung angefangen.« Aha, die Begnadigung. Wahrscheinlich das brennendste Thema der letzten Jahre. Gouverneur John Peter Altgeld, ein aufrechter Deutscher, aber schändlicher Liberaler, wollte die Urteile von Fielden, Neebe und Schwab, den drei noch lebenden Verschwörern vom Haymarket, umwandeln. Die anderen fünf, die verhaftet worden waren, nachdem im Jahr 1886 während einer Arbeiterdemonstration auf dem Haymarket Square eine Bombe explodiert war, waren tot. Gouverneur Altgeld hatte stets darauf hingewiesen, daß der Prozeß gegen die acht angeklagten Verschwörer, darunter drei Deutsche, ihre Schuld niemals bewiesen hatte. Tatsächlich wurde offiziell eingeräumt, daß der eigentliche Bombenleger nicht erwischt oder auch nur identifiziert worden war. Die Urteile waren mit der Begründung gefällt worden, daß die Angeklagten durch ihr Verhalten dazu beigetragen hätten, daß eine Bombe gelegt wurde, indem sie eine Demonstration veranstaltet und die Menschenmenge mit ihren radikalen Thesen aufgewiegelt hätten. Benno ließ sich durch Taggs Anschuldigung überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. »Natürlich wollen wir eine Begnadigung der Männer vom Haymarket. Wir wollen auch einen Achtstundentag hier bei Crown, keine zehneinhalb Stunden täglich. Zu diesen Punkten zu schweigen ist feige. Man muß nur Propaganda machen für –« »Diesen Vorschlag, ich weiß«, beendete Joe den Satz. »Ich habe Sie schon früher gewarnt, Benno, verbreiten Sie Ihre roten Parolen nicht während der Arbeitszeit, für die ich zahle. Und stören Sie die Arbeit nicht. Noch ein solcher Streit – ein einziger nur –, und Sie werden entlassen!« »Okay, Sir. Ich habe Sie sehr gut verstanden.« Die Worte klangen überraschend unterwürfig. Aber Joe ließ sich nicht täuschen. Er klopfte sich noch einmal den Staub von den Ärmeln, was eher unbewußt geschah, drehte sich rasch um und marschierte dann in Richtung des Verwaltungsgebäudes davon. Was soll ich nur mit ihm machen? dachte Joe. Benno würde weiter agitieren, dessen war er sich sicher. Unter ungünstigeren Umständen – zum Beispiel angesichts eines allgemeinen Arbeiterprotestes in der Stadt – wäre es überaus gefährlich, ihn im Betrieb zu haben. Aber er ist stark wie ein Ochse und kann die Arbeit von drei Männern verrichten, wenn es nötig ist. Er blieb abrupt stehen. Sein Weg wurde von einem jungen Mann
ZWISCHENDECK 1892
113
versperrt, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Der junge Mann lächelte. Joe lief rot an. »Hast du meine Anweisungen nicht gehört? Geh an deine Arbeit.« Der junge Mann ließ die Arme herabsinken. »Klar doch, Pa. Du bist hier der Boß.« Hier. Joe Crown schob seinen Sohn beiseite und setzte mit grimmigem Gesicht seinen Weg fort. In seinem Büro dachte er weiter über Benno Strauss nach. Benno gehörte zu den Tausenden, die mit der zweiten großen Welle deutscher Einwanderer um 1880 nach Chicago gekommen waren. Er behauptete, nach der Revolution in einem halben Dutzend europäischer Länder gelebt zu haben. Daß er mehr als nur einmal im Gefängnis gesessen hätte, daß er aber auch die Polizei oft überlistet hätte und ihr entschlüpft wäre. Es war schwer zu entscheiden, welche seiner Geschichten über frühere Fluchten und Heldentaten im Kampf für sozialistisch-anarchistische Ideen reine Erfindung waren. Benno war ein Schaumschläger, ein Windbeutel, verliebt in den Klang seiner eigenen Stimme, in seine eigenen Ansichten. Wenn er auf deutsch loslegte, dann war er ein aufrüttelnder Redner, das mußte Joe ihm lassen. Benno gehörte dem Lehr- und Wehr-Verein an, der Liga militanter Arbeiter. Sie predigten die Selbstverteidigung gegen die kapitalistischen Feinde. Benno hatte eine Pistole zur Arbeit mitgenommen, bis Joe sie entdeckt und verboten hatte. Das war der erste Streitpunkt zwischen ihnen gewesen. Außerdem weigerte Benno sich, sich einbürgern zu lassen oder diesen Schritt auch nur in Erwägung zu ziehen. Joe warf ihm das insgeheim vor, obgleich ihm klar war, daß er fairerweise so etwas eigentlich nicht tun dürfte. Er beschäftigte mindestens ein Dutzend Männer, die sich genauso dagegen sträubten, und zwar entweder aus übermäßigem Stolz auf ihr Vaterland oder aus dem Gefühl heraus, daß sie eines Tages ihre Sachen packen und nach Hause zurückkehren würden, falls es ihnen nicht gelänge, in Amerika Fuß zu fassen. Benno war ein sehr guter Arbeiter, wenn er dazu aufgelegt war. Daher entschied Joe, sich einstweilen mit seinen Hetzkampagnen abzufinden in der Hoffnung, daß es nicht schlimmer würde. Wenn doch, müßte Benno den Betrieb verlassen. Joes Langmut hatte seine Grenzen. Er holte seine goldene Taschenuhr hervor und stellte fest, daß seine Hand leicht zitterte. Der Zwischenfall hatte ihn aufgeregt, vor allem die
114
TEIL ZWEI
Begegnung mit seinem Sohn. Mit dem Fingernagel öffnete er den dünnen goldenen Uhrdeckel. Das Zifferblatt zeigte zweiundzwanzig Minuten nach elf. Sein Fahrer würde in genau acht Minuten erscheinen, um ihn zuerst zum Palmer House, dann zu seinem Club, der Union League, zu bringen, wo er mit zwei weiteren Clubmitgliedern zu der Krisensitzung verabredet war. Der eine Gesprächspartner war der Transportunternehmer Charles Yerkes, ein Mann mit schillernder Vergangenheit, der wegen Börsenschwindels in Pennsylvania im Gefängnis gesessen hatte. Der andere Mann war der ehemalige Kongreßabgeordnete aus dem Achtzehnten Distrikt im südlichen Teil des Staates, Joseph Gurney Cannon, allgemein nur Uncle Joe genannt oder manchmal Lästermaul Joe, weil er dazu neigte, seine Reden mit Schimpfworten zu würzen. Wenn er sich im Kongreß erhob, um ans Rednerpult zu treten, verließen die Frauen gewöhnlich die Galerie. Nach langer Tätigkeit in dieser Position war Cannon im Zuge des demokratischen Sieges von 1890 abgewählt worden. Joe zog sein Jackett an und setzte einen weißen Filzhomburg mit elegantem Zierband an der Krempe auf. Er ergriff seinen Spazierstock mit Goldknauf sowie den Konferenzhefter und ging nach unten in die Bierstube. Auf der vorderen Theke stand das aktuellste Sinnbild moderner Technik, eine goldglänzende Registrierkasse. Es war das neueste Modell der National Cash Register Company in Dayton mit Geldschublade, Glocke, Anzeige, die im Sichtfenster erschien, und mit einem Papierstreifen, der täglich eine genaue Liste der einzelnen Verkäufe in chronologischer Ordnung lieferte. Ein wahres Zahlenwunder! Joes Chefkellner, Mickelmeyer, kam aus der Küche. Während er auf die Kasse tippte, fragte Joe: »Und wie funktioniert sie?« »Sie ist ein Wunderwerk, Joe, einfach fabelhaft«, erwiderte Mickelmeyer. »Ich hab’ auch was Schönes von zu Hause zu melden. Peter ist für das Herbstsemester angenommen worden.« »Das ist ja prima. Wann haben Sie das erfahren?« »Gestern kam der Brief.« Mickelmeyer strahlte. »Ich hätte niemals gedacht, daß der Junge das Gymnasium schafft, geschweige denn auf eine angesehene Universität kommt.« Die Universität von Chicago war nur in den Augen der Einwohner von Chicago eine angesehene Universität; sie hatte keine nennenswerte Tradition. Sie war noch sehr neu und zum großen Teil mit Geldern erbaut worden, die John D. Rockefeller gestiftet hatte. »Vielleicht hat Peter Zeit, bei diesem neuen Trainer, Stagg, Football zu spielen.«
ZWISCHENDECK 1892
115
»Das fände ich sehr schön«, sagte Mickelmeyer. »Seine Mutter ist allerdings dagegen.« »Frauen lassen sich auch schon mal umstimmen. Peter soll zusammen mit meinem Glückwunsch fünfzig Dollars erhalten. Kommen Sie nachher ins Büro, ich schreibe Ihnen eine Zahlungsanweisung.« »Das ist wieder mal sehr großzügig von Ihnen, Joe. Gott segne Sie.« Joe winkte ihm und ging hinaus. Mickelmeyer war ihm dankbar, aber er war nicht besonders überrascht. Wahrscheinlich erwartete er eine solche Geste von seinem Firmenchef. Genauso wie Joe war Mickelmeyer schon lange in seinem Gewerbe tätig. Bei Imbrey in Cincinnati, wo Joe seinen Beruf erlernt hatte, aßen der Inhaber und seine Männer stets gemeinsam an den Kantinentischen und nahmen gegenseitig an ihrem Leben Anteil, so wie sie auch gemeinsam die tägliche Arbeit bewältigten. Mickelmeyer hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. Das war früher üblich in Betrieben und ein Teil der Vergangenheit, den Joe zu erhalten versuchte. Die Sozialisten und Anarchisten erschwerten das, indem sie Mißtrauen und Feindseligkeit unter den Arbeitern säten. Im Biergarten fanden sich die ersten Mittagsgäste an den Tischen unter den Eichen und Ulmen ein. Die Luft war schwer und feucht, aber mit jenem besonderen Duft erfüllt, den Joe seit seiner Kindheit liebte: den Geruch von Treber und Wasser, Hefe und Hopfen, die zusammen das süße, herzhafte Brauereiaroma erzeugten. Er zählte aus Gewohnheit die noch freien Tische. Ein Tisch fiel ihm dabei auf. Er betrachtete ihn eingehend, dann winkte er einem Kellner. Es war der jüngste, der für diesen Tisch zuständig war. Joe machte ihn darauf aufmerksam, daß das Besteck sehr unordentlich aufgedeckt war. »Dieses Teil muß so liegen. Und die Gabel wird daneben gelegt.« Joe zeigte es ihm. »Gerade und exakt, wie es sich gehört. Bitte achten Sie in Zukunft darauf.« »Jawohl, Herr Crown«, sagte der Kellner verlegen auf deutsch. Er wußte, was geschähe, wenn er nicht auf den Eigentümer hörte. »Hier wird englisch gesprochen, es sei denn, der Gast beherrscht es nicht. Guten Morgen.« Er trat durch das Tor und ging zu dem Springbrunnen hinüber, der von einer ein Meter achtzig hohen Statue von Gambrinus, dem legendären flämischen König und Schutzheiligen der Bierbrauer, beherrscht wurde. König Gambrinus verdankte seinen Ruhm angeblich der Fähigkeit, bis zu Hundertfünfzig Glas Bier auf einmal trinken zu können. Wie schön es doch wäre, Gambrinus zu sein, dachte Joe. Er sah gelassen und zufrieden aus. Vielleicht nach all dem guten Bier …
116
TEIL ZWEI
Er hörte das Rattern von Rädern und blickte auf die Uhr, als ein Gespann prächtiger Pferde mitsamt Kutsche vor dem Tor anhielt. Es war ein englischer Landauer, das Fahrzeug eines reichen Mannes. Schwarze Seitenteile, ein horizontaler Zierstreifen und Hufstiefel für die Pferde stellten einen dezenten Schmuck dar. Die Sitzpolster waren aus gefärbtem Leder, das zur Farbe des Wagens paßte. Sogar der Kutschbock war wegen seines dunkelroten Tuchs mit schwarzen Lederkanten etwas Besonderes. Auf jeder Tür befand sich eine kleine goldene Krone. Das vordere sowie das hintere Verdeck waren wegen des unsicheren Wetters aufgespannt. »Fünf Minuten Verspätung, Nick«, sagte Joe und klappte den Deckel seiner Uhr zu. »Tut mir wirklich leid, Mr. Crown«, erwiderte Nicky Speers, der stämmige und rotbäckige Kutscher der Familie. Nicky war ein Engländer mittleren Alters; britische Kutscher waren beim Geldadel Chicagos sehr gefragt. »Auf der Clark-Street-Brücke gab es einen Stau. Ich hing dort fast zwanzig Minuten lang fest und konnte nicht umdrehen.« Joe Crown signalisierte mit einem kurzen Nicken, daß er diese Entschuldigung annahm, sie aber nicht unbedingt begrüßte. Er stieg in die Kutsche, und sie fuhr unter einem wenig verheißungsvollen Himmel zügig los. Joe lehnte sich gegen die Polster und dachte an die Mittagskonferenz. Der eigentliche Anlaß dazu war die große Ausstellung, die, nur für eine einzige Saison, am 1. Mai des folgenden Jahres ihre Tore öffnen sollte. Die World’s Columbian Exposition sollte eine gigantische Darstellung von Kunst und Wirtschaft werden und anläßlich des 400. Jahrestags der Entdeckung Amerikas stattfinden. Das internationale Ereignis würde weltweit die Aufmerksamkeit auf Chicago lenken. Um alle Ausstellungsstücke aufzunehmen, wurden im Jackson Park auf der Südseite im Eiltempo riesige Pavillons fertiggestellt. Der Kongreß hatte Chicago als Ort für die Ausstellung gegenüber konkurrierenden Städten bevorzugt und verfügt, daß die neuen Gebäude »mit einer angemessenen Zeremonie« eingeweiht werden sollten. Das führte umgehend zu Komplikationen, weil das passende Datum, der 12. Oktober, ausfiel. Präsident Harrison hatte erklärt, er müsse an diesem Tag unbedingt an der Kolumbus-Parade in New York teilnehmen. Als Ersatzdatum wurde der folgende Freitag, der 21. Oktober, festgesetzt. Der Einweihung sollte eine ganze Woche voller Feierlichkeiten vorausgehen, darunter auch ein Galaball, der unter der Schirmherrschaft von Armour, Field, Pullman und General Nelson Miles stattfinden sollte.
ZWISCHENDECK 1892
117
Eine große Parade war für den Donnerstag angesetzt. Präsident Harrison würde ihr beiwohnen. An diesem Abend würden er und andere Würdenträger zu einem Dinner geladen, das von ausgewählten Gästen arrangiert und finanziert würde. Freitag sollte dann der Höhepunkt folgen. Alle Unternehmer, mit Ausnahme der habgierigsten, würden ihre Firmen schließen, um an der Einweihungsfeier teilzunehmen. Am Vormittag war eine weitere Parade zum Ausstellungsgelände geplant, dann würde eine Einweihungszeremonie im riesigen Gebäude für Industriewesen und Freie Künste veranstaltet, für das bereits als »größtes Gebäude der Welt« Reklame gemacht wurde. Die ganze Nacht hindurch würden die Parks von Chicago von Feuerwerken erleuchtet sein. Die gesamte Woche war vom Festkomitee der Ausstellungsgesellschaft durchgeplant worden. Zu dem Komitee gehörte jede wohlhabende oder wichtige Persönlichkeit in Chicago sowie Dutzende, die diesen Status für sich in Anspruch nahmen. Joe Crowns Unterkomitee war für die Organisation des Empfangs und des Festbanketts mit dem Präsidenten am Donnerstag zuständig. Und in dieser Angelegenheit hatte Joe Crown schlechte Nachrichten zu überbringen. Er klappte seinen Schnellhefter auf, ging noch einmal die Speisenfolge durch, die in flüssiger Handschrift festgehalten worden war. Fünfunddreißig verschiedene Punkte. Austern. Eier »Florentine«. Murmeltierbraten. Kalbskoteletts. Spanische Sauce. Erdbeerkuchen. Kirschwasser. Kognak. Bier. Crown würde gratis drei Sorten Bier liefern. Andere Sponsoren waren nicht so freigebig. Deren Geiz hatte diese Krisensitzung erst notwendig gemacht. Joe klappte den Hefter zu. Er brauchte nicht schon wieder auf die traurigen Zahlen zu blicken, schließlich kannte er sie auswendig. Trotz der begrüßenswerten Aufmerksamkeit, die die Ausstellung hervorrufen, trotz der Millionen von Touristendollars, die sie einbringen würde, löste die Ausstellung gleichzeitig eine Flut von Habgier und Korruptheit aus. Selbst eine halbwegs respektable Persönlichkeit wie der Bürgermeister, Sir Carter Harrison, hatte sich begeistert für den »Fortschritt« und sich für »eine aufgeschlossene Stadt« während der Ausstellung stark gemacht. Die Unbekümmertheit des Bürgermeisters war typisch für die Stadt, aber Joe betrachtete sie auch als typisch für die Zeit allgemein. Habgier und Korruptheit hatten während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in diesem von ihm zur neuen Heimat auserkorenen Land zugenommen, und zwar seit der Regierung von U. S. Grant, dem Kriegshelden von erklärter politischer Unschuld. Grants Berater und Spießgesellen hatten ihre Posten
118
TEIL ZWEI
ausgenutzt, um sich auf illegale Weise zu bereichern, am schlimmsten im sogenannten Whiskey Ring, der die Regierung um Millionen an Alkoholsteuer betrog. Danach hatten Jay Gould und Jim Fisk versucht, die nationalen Goldvorräte aufzukaufen, und beinahe einen wirtschaftlichen Zusammenbruch ausgelöst. Der Tweed Ring in New York hatte Millionen aus dem Stadtsäckel abgezweigt, ehe man dem einen Riegel vorschob. Vier Anteilseigner der Union-Pacific- und der Central-Pacific-Eisenbahnen hatten ein Vermögen verdient, indem sie staatliche Subventionen für den Bau der transkontinentalen Eisenbahnstrecke einkassierten. John D. Rockefeller aus Cleveland hatte Standard Oil gegründet und die Öl-Firma rücksichtslos eingesetzt, um Konkurrenten an die Wand zu drücken. Nun stolzierte er herum und spielte die Rolle des uneigennützigen Menschenfreunds. Auf jeden dieser großen Skandale kamen tausend kleinere. Börsenschwindel, Grundstücksbetrug, Wahlfälschung, Preismanipulationen, Firmenkonzentrationen in den Händen weniger Unternehmer, die sich untereinander absprachen – all das war alltäglich. Kinder wurden illegal in Fabriken beschäftigt, die völlig verdreckt waren und höchst unsichere Arbeitsbedingungen boten. Viele dieser Kinder wurden krank oder bei Unfällen derart schwer verletzt, daß sie für den Rest ihres Lebens Krüppel blieben. In Chicago war die Mehrheit der Stimmen im Stadtrat – die berüchtigten »Grauen Wölfe« – ganz offen käuflich. Sogar die heutige Sitzung war die direkte Folge nackter Habgier. In Amerika schien es nur noch wenig Idealismus zu geben. Statt dessen herrschte fast überall nur der zynische Glaube an die Macht des Dollars. Ganz gleich, wie man zu Geld kam – ob durch Amtsmißbrauch im Rathaus oder harte Verhandlungen im Sitzungssaal –, Hauptsache, man bekam es. Die Sensationspresse steigerte ihre Auflagen mit Stories über »Raubritter« und »Kartelle«, »kriminelle Firmenbosse« und »Miethaie«, und die Meldungen wurden von der Mehrheit der anständigen Leute, die sich hilflos in ihr Schicksal ergaben, gleichmütig zur Kenntnis genommen. Unbekannte Autoren veröffentlichen Bücher, in denen sie Reformen forderten, die aber nur von wenigen gelesen wurden; vornehmlich von Frauen, Predigern und von beeinflußbaren jungen Männern wie zum Beispiel Joes ältestem Sohn. Ein paar prominente Persönlichkeiten wandten sich gegen die götzenähnliche Verehrung des Geldes und gegen die daraus folgende Korruption. Joes guter Freund Carl Schurz gehörte dazu. Unglücklicherweise waren solche Männer einsame Rufer in einer Wüste
ZWISCHENDECK 1892
119
allgemeiner Gleichgültigkeit. Die Reichen wurden reicher, indem sie das Gesetz beugten, und die Armen verhungerten oder starben in aller Stille. Die Zierde des amerikanischen Wirtschaftssystems – die Freiheiten, die es bot – war zugleich sein Fluch, denn es stellte eine unmißverständliche Einladung für die Wölfe dar, in den Pferch einzubrechen und ungehindert zu töten und zu plündern. Reformen waren dringend nötig. Aber wo sollte man beginnen? Welche moralisch unantastbare Persönlichkeit sollte sich an ihre Spitze stellen? Joe glaubte noch immer an die grundsätzliche Richtigkeit des amerikanischen Systems. Er glaubte an die Chancen, die es jemandem bot, der bereit war, hart zu arbeiten. Er betrachtete sich selbst nicht als Heiligen oder, Gott behüte, gar als Radikalen. Aber ebensowenig hielt er sich für genauso dumm wie einige seiner Kollegen; Unternehmer, die die menschliche Seite des Geschäftemachens total mißachteten. Gus Swift und Pork Vanderhoff zum Beispiel, zwei Lagerhausbetreiber großen Stils, die ganz offen erklärten, daß es nicht ihre Schuld sei, wenn einer ihrer Arbeiter sich in ihren Betrieben verletzte oder auf Dauer zu Schaden kam, sondern einzig und allein die Schuld des Geschädigten – er habe schließlich die Risiken gekannt und akzeptiert, als er seinen Job angetreten habe. Wenn solche Pechvögel in der Gosse landeten, sahen Swift und Vanderhoff geflissentlich weg. George Pullman war kaum besser. Er hatte sein Modell von der Arbeiterstadt Pullman, zwölf Meilen südlich der City, verwirklicht. Oberflächlich betrachtet schien sie ein wunderschönes und sehr humanes Experiment zu sein. Aber er bevölkerte die Stadt mit Firmenspionen, um Arbeitskämpfe zu verhindern, und er berechnete seinen Mietern das Dreifache der normalen Kosten für Gas, Strom und Wasser. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, dachte Joe. Was die Pullmans, Swifts und Vanderhoffs nicht zur Kenntnis nahmen, war die wachsende Zahl von Bennos auf der ganzen Welt; Männer, die entschlossen zum Handeln aufriefen. Und darunter verstanden sie auch Brandstiftung, Bombenattentate und sogar Mord. Er tadelte sich selbst dafür, daß er es zugelassen hatte, derart schwarzen Gedanken nachzuhängen. Daran waren vermutlich mehrere Umstände schuld, gewiß auch der düstere Himmel und die wachsende Sorge um seinen Neffen aus Deutschland. Im Keller des Palmer House nahm Joe auf dem Wartestuhl im Friseurladen Platz. Er begrüßte zwei Bekannte – der Laden war ein allgemeiner Treffpunkt für die Wirtschaftsbosse der Stadt – und entschuldigte sich beim Inhaber Antonio dafür, daß er sich um fünf Minuten
120
TEIL ZWEI
verspätet hatte. Antonios Lächeln und Achselzucken signalisierten, daß es nicht so schlimm sei. Mr. Crown hatte einen festen wöchentlichen Termin und gab stets großzügige Trinkgelder. Der Friseurladen im Palmer House war mit hohen verchromten Sesseln ausgerüstet. Die übrige Dekoration bestand aus zahlreichen Topfpflanzen und Dutzenden von Silberdollars, die in akkuraten Reihen in den Fußboden eingelassen waren. Wichtige Kunden hatten eigene Rasiertassen und pinsel, die in Wandregalen aufgereiht waren. Joe Crowns Tasse war mit dem bunten Bild eines lächelnden Königs verziert, der eine riesige Krone trug und gemütlich auf seinem Thron saß. Über der Darstellung stand in goldenen Lettern das Wort CROWN und darunter, ebenfalls in Gold, das Wort REX. Antonio zog das Rasiermesser am Lederriemen ab und seifte Joes Wangen oberhalb des Bartes ein. Joe genoß gewöhnlich diese Barbierbesuche, aber an diesem Vormittag war er dazu nicht in der richtigen Stimmung. Der Anblick der bunten Seifentasse weckte in ihm Erinnerungen an den Krieg, an seinen Dienst in der Unionsarmee, der einen so nachhaltigen Einfluß auf den Verlauf seines Lebens ausgeübt hatte. Während des Krieges hatte sich eine gewisse Neigung zu Sauberkeit und Ordnung zu einer alles beherrschenden Leidenschaft gesteigert, die tief in seiner deutschen Seele wurzelte und ihn für immer zum Ordnungsfanatiker machte. Die Rasiertasse. Eine ähnliche hatte es schon einmal in seinem Leben gegeben, damals, an einem tragischen Tag, als – Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Die Verhältnisse waren auch so schon bitter genug. Er lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen, während Antonio süß duftende Rasierseife auf seinen Wangen verteilte. Das stattliche, aus rotem Sandstein erbaute Clubgebäude der Union League stand an der Ecke West-Jackson-Straße und Custom-House-Straße. Die Union League war 1862 als Heimatverein gegründet worden, dessen Mitglieder sich verpflichteten, die Union zu erhalten und stets zu verteidigen. Die Union League hatte sich vor allem im Norden ausgebreitet, und nach dem Krieg waren daraus zahlreiche Gesellschaftsclubs hervorgegangen. Die beiden Mitglieder von Joes Unterkomitee erwarteten ihn bereits im geräumigen Salon. Die Männer bildeten ein extrem gegensätzliches Paar. Beide waren Mitte fünfzig. Charles Yerkes, deutscher Herkunft, war ein blasser, dunkeläugiger Mann mit einem üppigen Schnauzbart und einer löwenhaften, allmählich weiß werdenden Haarmähne. Jemand, der nichts
ZWISCHENDECK 1892
121
von seinem Ruf eines Hais unter den Geschäftsleuten wußte, hätte ihn mit seiner gelehrtenhaften Zurückhaltung und Aura der Überlegenheit für einen Universitätsprofessor halten können – obgleich kein Professor sich seine englischen Anzüge und maßgeschneiderten Oberhemden hätte leisten können. Die äußere Erscheinung des Kongreßabgeordneten Joe Cannon war gleichfalls irreführend. Auf den ersten Blick wirkte er trottelhaft schlampig mit seinem zerknautschten Filzhut, seiner unordentlichen Kleidung und einem Kinnbart, der dringend gestutzt werden mußte. Joe Crown hatte jedoch sehr bald erkannt, daß Cannons Anzüge alles andere als billig waren, sondern daß er sie lediglich nachlässig behandelte. Cannon machte darüber oft Scherze. »Meine treue Wählerschaft unten im Vermillion County ist doch nur ein Haufen altmodischer Bauerntölpel. Wie sähe es aus, wenn ich zu ihnen käme, herausgeputzt wie ein Fatzke? Der gute alte Chester Arthur wurde ‘84 nur deshalb nicht wiedergewählt, weil er zu elegant gekleidet war. Ich sage immer, Chesters Sieg ist im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gegangen.« Cannons betont bäurisches Gebaren überspielte einen autoritären Charakter, einen wachen Geist und eine unglaubliche Willensstärke. Unter angeregtem Geplauder begaben die drei sich in den zweistöckigen Speisesaal und nahmen in einer stillen Nische an dem Tisch Platz, den Yerkes hatte reservieren lassen. Hinter einem Wandschirm auf einer kleinen Bühne klimperte ein unsichtbarer Entertainer auf einer Mandoline leise Melodien. Während einer üppigen Mahlzeit unterhielten sie sich über den bedenklichen Zustand der Nation. Ja, die Amerikaner betrachteten die monopolistischen Industrie- und Wirtschaftskartelle als geradezu unanständig, als Symbole eines von Grund auf bösen und erdrückenden Einflusses auf das menschliche Leben allgemein. Infolgedessen wären alle Geschäftsleute suspekt. Das hätte politische Auswirkungen. Im Westen und im Süden gründeten Farmer und Arbeiter eine dritte Partei, die Populisten. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Kapital und Arbeit würde immer tiefer, stiftete zunehmend Uneinigkeit. Siehe Joes Schwierigkeiten mit Benno Strauss, die er erwähnte. Yerkes führte die gewalttätigen Ausschreitungen bei Carnegie Steel in Homestead, Pennsylvania, im vergangenen Juli an. Die Nationalgarde wäre zu Hilfe gerufen worden, um einen Streik zu verhindern. Bei den Schießereien seien mehrere Männer getötet worden. War Joes Ausblick in die Zukunft reichlich trübe, so schienen Yerkes’ Erwartungen geradezu trostlos zu sein.
122
TEIL ZWEI
»Ich besitze Tausende von Aktien von Philadelphia & Reading, und die sind praktisch wertlos. Alle Eisenbahngesellschaften stehen am Rand des Bankrotts. Letzte Woche in New York aß ich mit Belmont und Morgan zu Abend. Sie sind beide überzeugt, daß wir auf eine Katastrophe zusteuern. Sie haben versucht, Washington zu warnen. Niemand dort scheint sich dafür zu interessieren«, sagte er mit einem Seitenblick auf Cannon. Uncle Joe kratzte sich die Nase. »Ich weiß wirklich nicht, was wir tun können, Charlie. Es ist schließlich nicht Aufgabe der Regierung, einen freien Markt zu reglementieren. Aber du hast recht, daß es ziemlich trübe aussieht. Ich besitze ein paar Getreide- und Baumwollaktien. Befindet sich der Kurs heute noch in schwindelnden Höhen, kann er schon morgen schlechter sein als der Ruf einer Hure. Man braucht einen Hellseher mit Kristallkugel, um voraussagen zu können, was als nächstes passieren wird.« Er winkte dem Kellner, um noch mehr Kaffee zu bestellen. Dann wandte er sich an Joe. »Gehen deine Geschäfte gut?« »Ja, eigentlich wie immer. In schlechten Zeiten gehen die Verkäufe schon mal ein wenig zurück, aber niemals so weit, daß man sich Sorgen machen müßte. Bier ist ein billiger Balsam für die Seele.« Er meinte das durchaus ernst, aber Yerkes kicherte, als habe er einen besonders bissigen Witz gehört. Als jeder der Männer wieder eine volle Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, schlug Joe seinen Schnellhefter auf und zeigte ihnen die endgültige geänderte Speisenfolge. »Nun, Charles, bist du damit einverstanden?« Yerkes zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wenn es bis zum nächsten Donnerstag zu einem Börsenkrach kommen sollte, können wir dem Präsidenten nur noch trockenes Brot und Wasser vorsetzen.« »Uncle Joe?« »Ich denke, es ist okay. Ich mag euch beide wirklich, aber wenn ihr mich in einem C. & E. I.-Wagen von Danville über hundert Meilen schlechter Straßen, auf denen ich mir den Hintern wundgescheuert habe, hergeholt habt, nur um über eine verdammte Speisekarte zu entscheiden –« Mit dem Fuß schob er den Spucknapf unter dem Tisch ein Stück näher zu sich heran. Er beugte sich zur Seite und benutzte ihn geräuschvoll. »… dann nehmt euch in acht. Dann könnt ihr gleich euer blaues Wunder erleben, auch wenn ihr denkt, ihr hättet mich schon mal schimpfen gehört.« Er holte eine seiner billigen Zigarren hervor und zündete sie an. Joe schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt noch etwas Wichtigeres zu besprechen. Die beiden Firmen, die das Wild und die Spirituosen liefern sollen, haben willkürlich ihre Kostenvoranschläge heraufgesetzt. Jeweils um bedeutende Beträge.«
ZWISCHENDECK 1892
123
»Ach, schick sie zur Hölle, und such neue«, sagte Cannon und winkte ab. »Das schaffen wir nicht, dazu ist die Zeit zu knapp. Ich bin verdammt wütend, aber das nützt im Augenblick überhaupt nichts. Damit wird unser Problem nicht gelöst. Auch wenn wir ausverkauft sind – was tatsächlich der Fall ist –, nehmen wir nicht genug Geld ein, um die Kosten abzudecken. Da, seht selbst.« Er zeigte ihnen das Papier mit seinen Berechnungen. »Unser Unterkomitee ist dafür verantwortlich, die Kosten für das Menü innerhalb der Budgetgrenzen zu halten. Das Festkomitee zieht uns dreien das Fell über die Ohren, wenn wir rote Zahlen machen.« Cannon ließ sich gegen die hohe Lehne seines samtgepolsterten Stuhls sinken. »Seht mich nicht so an, Jungs, ich habe nichts in der Tasche als ein bißchen Kleingeld. Was glaubt ihr denn, was ein kleiner Landanwalt verdient, wenn ein Mistbauer den anderen wegen irgendwelcher Grundstücksstreitigkeiten vor Gericht zerrt? Ich verrate es euch gern: einen Hungerlohn!« Er bückte sich wieder zur Seite, um seine Feststellung mit einer weiteren Ladung in den Spucknapf zu unterstreichen. Mit einem Gesicht, als fühle er sich bis aufs Blut ausgenutzt, seufzte Charles Yerkes und sagte: »Na schön, ich steuere genug bei, um die Mehrkosten aufzufangen. Ich nehme an, das ist sowieso der einzige Grund, weshalb ich in dieses Komitee berufen wurde.« Joe atmete erleichtert auf. »Ich hatte auf dieses Angebot gehofft. Wenn du die Hälfte des Verlustes trägst, übernehme ich die andere Hälfte.« »Abgemacht«, sagte Yerkes und wirkte schon etwas fröhlicher. »Da das nun endlich geregelt ist«, sagte Uncle Joe mit gelangweilter Miene, »ist es vielleicht möglich, daß ich, verdammt noch mal, endlich was Anständiges zu trinken bekomme!« Joe verließ den Union League Club kurz nach zwei. Sein Wagen fuhr in nördlicher Richtung zur Larrabee-Straße. Er wußte, daß er eigentlich zufrieden darüber sein sollte, daß seine raffinierte Strategie ein wesentliches Problem gelöst hatte. Statt dessen beschäftigte sein Geist sich sofort mit einer neuen Frage. Wo blieb der Junge? Es gab keine Nachricht von ihm. Er sollte lieber seiner Schwester Charlotte schreiben und sich erkundigen, nur als Vorsichtsmaßnahme. Bestimmt hatte er schon viel zu lange abgewartet. Andererseits, vielleicht machte er sich völlig unnötig Sorgen. Wie sollte der Junge sich denn melden? Wahrscheinlich konnte er kein oder nur sehr wenig Englisch. Angenommen, er tauchte eines Tages auf, wie fände er sich zurecht?
124
TEIL ZWEI
Wäre er glücklich in Amerika, oder würde er schon bald enttäuscht wieder in die alte Heimat zurückkehren? Sollte er eine bessere Schulausbildung oder einen Arbeitsplatz bekommen? Die größte Sorge galt einem Punkt, über den er schon nachgedacht hatte. Würden seine und Ilsas Kinder bereitwillig einen Neuankömmling in die Familie aufnehmen? Im Haus der Crowns lebten drei Kinder, womit sich möglicherweise drei problematische Reaktionen auf die Ankunft eines Fremden ergeben konnten. Das älteste Kind, Joseph junior, war siebzehn Jahre alt. Er war ein zierlicher Junge mit einem feingeschnittenen, fast engelhaften Gesicht und einem wachen Verstand. Ilsa hatte ihm schon früh beigebracht, ausgiebig zu lesen. Rein äußerlich ähnelte er sehr stark seinem Vater, doch dem Temperament nach schien er alles abzulehnen, was für Joe Crown wichtig war. Er schien sich in der Rolle des Rebellen zu gefallen. Er war von nicht weniger als drei bedeutenden Schulen verwiesen worden. In seiner Verzweiflung hatte Joe ihn in der Brauerei untergebracht. Dort hatte er sich sofort mit den schlimmsten Elementen angefreundet, den radikalen Sozialisten, deren Rädelsführer Benno Strauss war. Frederica, Fritzi genannt, war elf. Im Augenblick erklärte sie noch, sie hasse alle Jungen. Sie war ein mageres Geschöpf mit wilden blonden Haaren, die sie von Ilsa geerbt haben mußte. Fritzi war sehr lebhaft, manchmal sogar geradezu aufdringlich. Ständig kämpfte sie um allgemeine Beachtung. Sie stand unter doppeltem Druck. Zum einen war sie das zweite Kind und wurde daher ständig mit dem erstgeborenen verglichen, und zum anderen war sie ein Mädchen in einer Familie – und einer Welt –, die von Männern beherrscht wurde. Joe vergötterte sie, aber sehr oft stellte sie seine Geduld auf eine harte Probe. Er lebte mit der geheimen Furcht, daß er sie wohl nie ganz verstehen würde. Carl war das jüngste Kind. Er würde im November zehn und war bereits genauso groß wie seine Schwester. Er war Ilsa wie aus dem Gesicht geschnitten, doch seine Schultern waren so breit, sein Oberkörper und seine Taille so rund und kräftig, daß er aussah, als stamme er von einem völlig anderen Elternpaar ab. Carl machte den Eindruck eines eher langsamen Denkers, bis er zu reden begann oder lächelte. Dann gewannen sein Charme und sein Lachen alle Sympathien. In häuslichen Dingen erschien er manchmal etwas unbeholfen, aber niemals beim Spiel oder beim Sport, für den er sich begeisterte. Carl war ein komplizierter kleiner Junge. Mindestens genauso ausgeprägt wie seine Begeisterung für alles Sportliche war seine Vorliebe für technische Dinge. Mit vier Jahren hatte er Joe und Ilsa mit einem plötzlich aufflammenden Interesse für Vorhängeschlösser,
ZWISCHENDECK 1892
125
Kombinationsverriegelungen, Riegel und Schlüssel aller Art beinahe um den Verstand gebracht. Danach war in jedem Jahr ein neues und anderes Interessengebiet gefolgt. Drei Kinder, die alle voll mißtrauischer Spannung auf ein neues und ständiges Mitglied des Haushalts warteten. Sie waren nicht sehr erfreut, daß ihr Leben auf diese Art und Weise gestört würde. Sie machten daraus kein Geheimnis. Joe versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß die Kinder sich mit ihrem Vetter über kurz oder lang schon anfreunden würden, aber ganz sicher war er sich dessen nicht. 11 PAULI Vier Menschen starben in dem Feuer, das Die goldene Tür verschlang: Frau Geizig, Waltraud und die beiden Neuankömmlinge, die im Speicher im dritten Stock schliefen. Geizig war in dem Augenblick nach Hause zurückgekommen, als das Feuer gerade ausbrach, und hatte keinen Finger gerührt, um den von den Flammen Eingeschlossenen zu helfen. Der Brandstifter, Magdas eifersüchtiger Freund, wurde nicht gefaßt. Pauli hatte sich das linke Bein durch den Sprung aus dem zweiten Stock derart verstaucht, daß ihm jeder Schritt schreckliche Schmerzen bereitete. Magda hatte zwei gebrochene Rippen und zahlreiche Prellungen davongetragen. Die örtliche Polizei verhörte Pauli, hielt ihn aber nicht fest. Er war immerhin fast so etwas wie ein Held. Er erklärte den Beamten, daß Geizig ihm seinen Lohn schulde. Sie sagten, der Eigentümer, der mittlerweile im Gefängnis sitze, behaupte, kein Geld zu haben. Ein Beamter der Polizeiwache, ein Mann mit deutschem Namen, erfuhr von Paulis Schicksal und schenkte ihm fünf Dollars aus seiner eigenen Tasche. Paulis Plan, auf Güterzügen nach Chicago zu gelangen, war nun nicht durchführbar. Mit seinem lädierten Bein wagte er es nicht, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Er machte sich Sorgen, weil der Herbst vor der Tür stand. Es wurde bereits merklich kälter. Die ersten Blätter verfärbten sich, wurden braun und fielen von den Bäumen. Magda begleitete ihn zum Bahnhof. Sie half ihm dabei, eine Fahrkarte zweiter Klasse für vier Dollars zu kaufen. Für den Rest würde er sich etwas zu essen besorgen, solange es reichte. Der Mann am Fahrkartenschalter erklärte, für vier Dollars käme er bis Pittsburgh. Pauli versah eine seiner
126
TEIL ZWEI
Landkartenskizzen mit einem Punkt und dem Buchstaben P. »Aber was willst du nach Pittsburgh tun?« wollte Magda wissen. Sie stand bei ihm, während lautes Glockengeläut ertönte, die Lokomotive zischend Dampf abließ und der Zug jeden Moment abfahren würde. »Laufen«, sagte Pauli mit weitaus mehr Zuversicht, als er tatsächlich verspürte. Der Wagen der zweiten Klasse gefiel ihm gar nicht. Er war schmutzig, die Sitzbänke waren hart, Ruß und Glutflocken wirbelten ständig durch die offenen Fenster herein, brannten in seinen Augen und setzten sich in seinen Haaren fest. Zwei Deckenlampen spendeten Licht, aber es war so trübe, daß er seine Augen anstrengen mußte, um in seinem Englisch-Lehrbuch zu lesen. Die zweite Klasse in Deutschland war viel besser. Auf jedem Bahnhof stiegen Passagiere ein und aus. Die meisten waren einfache Landleute. Fast jede Stunde saß eine andere Person neben ihm. Niemand machte sich die Mühe, ein Gespräch zu beginnen, erst recht nicht, nachdem die Fahrgäste ein paar Worte seines gebrochenen Englisch gehört hatten. Er kaufte eine kleine Tüte Lakritzrollen beim Zeitungs- und Süßwarenhändler, der durch den Zug ging. Er aß die Süßigkeiten und schaute aus dem Fenster. Er versuchte seine Laune aufzubessern, indem er aufmerksam die sich ständig verändernde Landschaft betrachtete. Das küstennahe Flachland ging in hügeliges Gelände über. Dann folgten niedrige Berge, deren Hänge dank des herbstlichen Laubs der Bäume in Flammen zu stehen schienen. In dieser Nacht wurde es empfindlich kalt, und der Eisenbahnschaffner zündete im Eisenofen am Kopfende des Waggons ein Holzfeuer an. Qualm wallte heraus, erzeugte Hustenanfälle und tränende Augen. Aber es war wenigstens warm im Wagen. Nein, es war heiß. Wie in einem Backofen. Wie seltsam, daß die Amerikaner in ihren Räumen und in öffentlichen Gebäuden solche Hitze bevorzugten. Er fragte sich, ob er sich wohl jemals daran gewöhnen würde. Es kam ihm vor wie eine Erlösung, als der qualmende, schmutzige Zug in eine langgestreckte Halle einfuhr und der laute Ruf des Schaffners ertönte: »Pittsburgh!« In Pittsburgh verbrauchte er seine restliche Barschaft für einen Beutel Äpfel, für Cracker und Bonbons. Dies schienen die geeignetsten Lebensmittel für die Straße zu sein. Er brach in Richtung Westen auf und fragte jeden nach dem Weg, der bereit war, mit ihm zu reden – Schulkinder,
ZWISCHENDECK 1892
127
Landstreicher, Frauen, die in ihren Vorgärten Wäsche zum Trocknen aufhängten, wenn ein frischer Wind wehte. An den ersten Tagen kam er wegen seines angeschlagenen Beins nur langsam voran. Jeder Schritt war ein Kampf; oft mußte er vor Schmerzen die Zähne zusammenbeißen. Mehrmals war er gezwungen, sich am Straßenrand hinzusetzen, keuchend und schwitzend, bis die Schmerzen abflauten. Aber er ließ sich in seinem Vorhaben nicht beirren. An den Spätnachmittagen färbte der Himmel sich dunkelblau. Das Licht wurde matter, die Sonne stand jeden Tag tiefer am Himmel. Die Felder und Äcker waren für den Winter bereits abgeerntet. Sein Wollmantel erwies sich schon jetzt als zu dünn. Er schlief in Heumieten oder grub sich unter mit Rauhreif bedeckten Büschen an einem Berghang ein. Sein Vorratssack war schon bald leer, und danach aß er, wann und wo er konnte. Manchmal bettelte er bei einem Farmhaus um Wasser und Essen und wollte als Gegenleistung dafür arbeiten. Einmal mußte er Holz hacken. In einem anderen Fall schleppte er mehr als zwei Stunden lang Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse in einen Keller. In einem dritten Farmhaus verlangte man von ihm, daß er Schweine fütterte, eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung für einen Jungen, der in den Straßen von Berlin aufgewachsen war. Ab und zu fuhr er ein paar Meilen bei Farmern mit, die mit Pferdewagen unterwegs waren, oder mit fliegenden Händlern, die von einer Stadt zur nächsten reisten. Einer von ihnen, ein umherziehender Klempner, brachte ihn fast dreißig Meilen weit in den Staat West Virginia, dann spendierte er ihm eine üppige Mahlzeit aus Beefsteak, Zwiebeln und Bier, ehe er ihm für den weiteren Weg alles Gute wünschte. Gleich hinter der Grenze des Staates Ohio, im kalten Zwielicht des Abends, das vom Funkeln einiger Sterne erhellt wurde, schlich er sich in einen Obstgarten, wo noch ein paar halbvertrocknete Äpfel an den Ästen hingen. Er pflückte einen verschrumpelten braunen Apfel und biß hungrig hinein, weil er seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. »Hallo, wer da?« Die barsche Stimme überraschte ihn völlig. Ein Hund begann zu kläffen. Er hörte, wie der Farmer durch den Dunst auf ihn zurannte. Er schnappte sich seine Reisetasche und entfernte sich schnell in entgegengesetzter Richtung. Er trat in irgendeinen Tierbau und fiel zu Boden. Dabei stieß er sich die Stirn am Stamm eines Apfelbaums. Der Farmer tauchte mit einer Schrotflinte im Anschlag auf. Pauli verbrachte wegen des Diebstahls eines einzigen wertlosen Apfels sieben Tage und Nächte im Dorfgefängnis.
128
TEIL ZWEI
Wenigstens war das Essen im Gefängnis reichlich und gut. Maisbrei, hausgemachtes Brot und Eingemachtes, wohlschmeckende Eintöpfe, würziger, starker Kaffee. Die Schwester des Gefängnisaufsehers war mit dem örtlichen Arzt verheiratet. Er kam mit seiner Ledertasche vorbei. Er sah aus wie ein Schwindsüchtiger, aber er war von behutsamer Art, und er untersuchte Paulis Bein sorgfältig. Die Haut war noch immer an einigen Stellen dunkelrot und gelb, und Pauli hatte Schwierigkeiten, sein ganzes Gewicht darauf zu verlagern. »Soweit ich es beurteilen kann, ist nichts gebrochen«, schloß der Arzt. »Ich habe eine Salbe, mit der du das Bein einreihen kannst. Du mußt trotzdem vorsichtig sein. Keine zu große Belastung! Wie weit hast du noch zu gehen?« »Bis nach Chicago.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das ist ein weiter Weg. Wie willst du den schaffen?« »Das weiß ich nicht. Aber ich werde hinkommen.« Der Arzt rümpfte die Nase. »Ehe du aufbrichst, mußt du noch einmal zu mir kommen. Meine Frau macht dann heißes Wasser. Du brauchst ein Bad. Wenn du weiterhin so riechst wie im Augenblick, wirst du bestimmt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet.« Pauli verstand nicht alles, weil der Arzt nuschelte und sehr schnell sprach. Aber er genoß das Bad in einer Zinkwanne und eine großzügige Mahlzeit, die von der resoluten Frau des Arztes zubereitet worden war. »Ich habe noch nie ein menschliches Wesen so schnell essen sehen. Ist das eine typisch deutsche Fähigkeit?« Nach dem Essen schlief Pauli selig in einem richtigen Bett und unter einer dicken Decke. Bei grauem, winterlichem Himmel brach er wieder nach Westen auf. Seine Kleider waren sauber, sein Bein roch nach der einmassierten Salbe, aber er humpelte noch immer. Auf seiner Reise begegnete er vielen seltsamen neuen Namen. Wheeling. Erie. Bucyrus. Toledo. Er prägte sich jeden Namen ein und merkte sich die Aussprache. Einfach war es nicht. Er sah Reklametafeln mit seltsamen Bildern und Aufschriften. Üppige junge Frauen in durchsichtigen Gewändern hielten gelbe Seifestücke hoch. Reizende kleine Mädchen in Nachthemden bissen in braune Kekse. Robuste Farmer mit Strohhüten auf den Köpfen hielten dem Betrachter einladend Tabakrollen hin. APPLEBAUM’S DIGESTIVE ELIXIR. FENWICK & HERMAN, MORTICIANS. HOLY GHOST TENT REVIVAL. Die Bilder
ZWISCHENDECK 1892
129
verstand er meistens, aber die Botschaften nur selten. Dennoch war er fasziniert von der Eindringlichkeit und Unverblümtheit der Reklame; von ihren fröhlichen Farben. Auch das war etwas Neues, etwas einzigartig Amerikanisches. Er reiste zusammen mit einem fahrenden Hufschmied nach Indiana. Mittlerweile war es Dezember geworden, und das kalte Wetter hatte sich unerwartet in eine sonnige und warme Periode verwandelt. Der Schmied sagte, solches Wetter sei so spät im Jahr für den Mittleren Westen sehr ungewöhnlich. Der Schmied ließ ihn an einer Kreuzung aussteigen, winkte ihm zum Abschied und bog auf die Straße ab, die nach Norden führte. Pauli trottete noch etwa eine Meile weiter, gelangte zu einer weiteren kleinen Landgemeinde mit einer einzigen ungepflasterten Hauptstraße. Er blieb vor einem Apothekerladen stehen. Es war ein stark besuchtes, aromatisch duftendes Geschäft, in dem außerdem Pferdezaumzeug, Damenhüte, Arbeitsschuhe, Hörrohre, künstliche Gliedmaßen und Glasaugen verkauft wurden. Der Apotheker war ein schroffer Mann mittleren Alters mit einem Schnauzer. Sein rechtes Bein schien steif zu sein, als habe er wie Pauli eine Verletzung davongetragen. Pauli holte sein Sprachlehrbuch hervor und suchte darin nach Hilfe für seine Fragen. Der Apotheker hörte ernst und aufmerksam zu, dann sagte er, Chicago sei nicht mehr als zweihundert Meilen weit entfernt. »Ich rate dir, deine Reise schnellstens zu beenden; dieses Wetter hält sich nicht ewig. Jeden Tag kann es einen Schneesturm geben.« Er legte den Kopf schief, während er den Besucher eingehend musterte. »Andererseits siehst du aus, als könntest du wenigstens noch eine weitere Nacht in einem richtigen Bett vertragen.« »Das könnte ich, ja, ganz sicher.« »Wunderbar. Ich finde es gut, Gesellschaft zu haben.« Er führte Pauli zu den Räumen über dem Laden. Dort öffnete er die Tür eines geräumigen Schlafzimmers, das muffig roch. »Meine Frau und ich haben dieses Zimmer jahrelang benutzt. Sie erlag im August des vorigen Jahres einem epileptischen Anfall. Seitdem habe ich im kleinen Zimmer geschlafen. Dieses hier kann ich nicht mehr ertragen. Mach es dir nur bequem. Da hast du eins meiner Nachthemden. Zieh es an, während ich deine Kleider wasche. Ich heiße übrigens Llewellyn Rhodes.« »Pauli Kroner, Sir, ich danke Ihnen sehr.« Rhodes bereitete Pauli ein umfangreiches Abendessen. Er vergaß seinen Laden und blieb mit seiner Kaffeetasse oben in der Küche, als hungere er
130
TEIL ZWEI
danach, mit jemandem zu reden, selbst wenn der Betreffende so viel jünger war als er. Er erzählte Pauli, daß er in seiner Freizeit ehrenamtlich als Chorleiter in der kleinen städtischen Kirche tätig sei. »Deutsche singen sehr viel«, sagte Pauli. »Sie gründen immer wieder neue Gesangvereine.« Aus melancholischen Augen schien Rhodes in weite Fernen zu blicken. »Wir haben während des Krieges viel gesungen. In der Anfangszeit sowieso. Ich diente sechsundvierzig Monate lang bei der 20. IndianaEinheit. Allesamt Freiwillige. Bauernjungs aus dem tiefsten Indiana, noch feucht hinter den Ohren. Von unserem Bürgerkrieg hast du doch schon mal gehört, oder?« »Von dem Krieg zur Befreiung der Neger? Ja.« »Es war der Krieg, um die Union zu schützen. Viele von uns haben sich selbst dafür geopfert. Verstehst du, was ich damit sage?« Er streckte sein rechtes Bein aus und zog das Hosenbein hoch. Paulis Augen weiteten sich. Rhodes hatte ein Holzbein. »Es reicht bis zum Knie. Wie alt bist du?« »Fünfzehn Jahre.« »Ich war kaum vier Jahre älter, als ich es verlor – am North-Anna-Fluß in Virginia. Ich habe deshalb niemals bittere Gefühle gehabt. Der Krieg war die einschneidendste Erfahrung meines Lebens. Die meisten Männer meines Alters, die damals gekämpft haben, denken so. Es war, als hätte man an einem Kreuzzug teilgenommen. Seitdem erschien alles andere fade und unbedeutend. Damals hatten wir alle ein Ziel. Nun lebe ich nur, um ein wenig Geld zu verdienen, mich um mein Geschäft zu kümmern und den Tag herumzubringen.« Seine Augen fixierten Pauli. »Man braucht ein solches Ziel, eine Aufgabe. Etwas, wofür man sich einsetzt, was einem wichtig ist. Geld zu wollen ist ganz in Ordnung, denn Geld ist etwas Notwendiges. Aber das reicht nicht aus. Nicht annähernd. Verstehst du mich?« Pauli nickte, obgleich er sich dessen nicht ganz sicher war. Am Morgen machte Pauli Anstalten, seine Reise fortzusetzen. Obgleich er in dieser Nacht gut geschlafen hatte, fühlte er sich ziemlich komisch. Er klapperte mit den Zähnen und schwitzte und fror abwechselnd. Der Apotheker bemerkte es und legte den Handrücken auf Paulis Stirn. »Du bist krank. Du solltest lieber noch ein oder zwei Tage hierbleiben und dich auskurieren.« »Nein, ich habe mich sowieso schon viel zu lange hier aufgehalten. Ich muß mich beeilen, nach Chicago zu kommen.« »Nun, der Zug von Pittsburgh über Fort Wayne nach Chicago fährt hier
ZWISCHENDECK 1892
131
durch. Ich kaufe dir eine Fahrkarte für den restlichen Weg. Sag nicht nein, ich bin fest entschlossen.« So kam es, daß Llewellyn Rhodes ihn zum Bahnhof brachte, so wie Magda es getan hatte. Der Himmel war düster. Ein heftiger Wind wehte. Es war über Nacht bitterkalt geworden. Rhodes schien tieftraurig zu sein, als er ihm vom Bahnsteig aus zum Abschied zuwinkte. Amerika, dachte Pauli, während er aus dem Fenster des Zuges nach Chicago schaute. Es gibt hier Menschen, die genauso vom Schicksal geschlagen sind wie Tante Lotte. Es war eine ernüchternde Lektion. Der Personenwagen unterschied sich nur wenig von dem, in dem er nach Pittsburgh gelangt war. Nach einer Stunde rann Pauli der Schweiß übers Gesicht. Diesmal war die Ursache nicht der alte Ofen, der den Wagen heizte. Er fühlte sich schwach, versank immer wieder in einen Zustand der Benommenheit. Er wurde krank, daran bestand kein Zweifel. Er drückte sich an das Fenster und betrachtete durch das Schneegestöber, das von Minute zu Minute dichter wurde, graue Felder, Drahtzäune und kahle Bäume. Ein stürmischer Wind heulte um den Wagen, brachte die Fenster zum Klirren. Schon bald fuhr der Zug nicht schneller als zehn Meilen die Stunde, dann fünf. Draußen versank alles in einem weißen Wirbel. Ein Schneesturm tobte um den Zug. Schneewehen türmten sich auf. Der Zug stampfte, blieb stehen, ruckte vorwärts, stampfte erneut, dann hielt er ein zweites Mal. Diesmal rührte er sich nicht mehr. Der Schaffner sprang vom Wagen. Nach kurzer Zeit erschien er wieder. Seine Schultern und sein Mützenschirm waren voller Schnee. »Die Gleise sind völlig zugeweht. Wir stecken hier fest, bis ein Rettungszug mit Schneepflug kommt. Das dürfte aber nicht allzu lange dauern.« Zwölf Stunden später, es war inzwischen Mitternacht und eisig kalt, warteten sie noch immer. Das Holz für die Öfen ging zu Neige. Es gab kein Petroleum, um die Lampen aufzufüllen. Es hörte auf zu schneien, auch der Sturm legte sich, aber der Zug saß fest. Die tapfersten Reisenden begannen ihre Siebensachen zusammenzupacken und den Zug zu verlassen. »Es ist eine Dummheit, sich bei diesen Verhältnissen nach draußen zu wagen«, warnte der Zugschaffner. »Ich habe keine Lust, hier zu erfrieren«, erwiderte ein Mann. »Wie weit ist es bis Chicago?«
132
TEIL ZWEI
»Sieben oder acht Meilen. Nach etwa drei Meilen kommt ein Vorortund Rangierbahnhof, aber –« »Ich versuche es.« Pauli holte seine Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Er ging mit. An einigen Stellen seines Weges reichte ihm der Schnee bis über die Knie. Hinter ihm erhellte eine fahle Morgendämmerung den östlichen Horizont, aber der Tag bescherte Erde und Himmel keine Wärme. Seine bloßen Hände wurden steif vor Kälte, während er sich vorwärts kämpfte. Ein gutes Stück voraus sah er ein halbes Dutzend tapferer Fahrgäste, deren Spur er folgte. Aber sie waren nicht krank, und trotz der Schneeverwehungen bauten sie ihren Vorsprung ständig aus. Sehr bald schrumpften sie zu winzigen Punkten in der Schneewüste. Der Frost des sonnenlosen Tages ließ ihn erstarren. Er stolperte weiter, stürzte mehrmals, fiel mit dem Gesicht voran in Schneewehen und wühlte sich allein mit der Kraft seiner zitternden Arme und mit Hilfe seines Willens, das Haus seines Onkels zu erreichen, wieder heraus. Er hatte es schließlich so weit geschafft, daß er einfach nicht daran dachte, sich durch Witterung, Krankheit oder irgend etwas anderes aufhalten zu lassen. Im Laufe des späten Vormittags erreichte er den kleinen Vorortbahnhof, der einsam und verlassen neben einem Rangierbahnhof stand. Von einem Zug mit Schneepflug war nichts zu sehen. Es rührte sich überhaupt nichts. Zwei Dutzend Güterwagen standen auf Nebengleisen, und in weiter Ferne kräuselte sich Rauch aus dem schlanken Schornstein eines hohen Stellwerkgebäudes. So weit schaffte er es nicht mehr. Er würde im Bahnhof Schutz suchen. Als er auf dem schneebedeckten Bahnsteig endlich vor dem Eingang stand, atmete er erleichtert auf. Er legte die Hand auf die Türklinke – abgeschlossen. Verzweifelt suchte er das ausgestorbene Bahnhofsgelände ab. Er konnte nicht hier draußen bleiben. Er würde erfrieren. Aber er war zu schwach, um noch weit laufen zu können. Wenn er wenigstens eine Stunde schlafen könnte, wäre er kräftig genug, um seinen Weg fortzusetzen. Mit tränenden Augen schleppte er sich über ein Gleis, dann über ein zweites und stolperte auf mehrere aneinandergekoppelte Güterwagen zu. Auf jedem der Waggons stand in großen und bunten Lettern BIG »V« PACKING. Wie bei den vielen anderen Schildern, die Pauli gesehen hatte, kannte er auch diesmal die Bedeutung nicht. Der erste Wagen war mit einem Vorhängeschloß gesichert. Der zweite ebenfalls. Seine von der Kälte völlig gefühllosen Hände bluteten aus
ZWISCHENDECK 1892
133
Kratzern und Schnittwunden, während er sich mit den eisernen Schlössern abmühte. Nachdem er sein Glück bei sechs Waggons versucht hatte, war er schon geneigt aufzugeben, aber er versuchte es noch einmal. Dieses Schloß war defekt. Er zog es aus dem Schließband und schob die Seitentür auf. Stroh bedeckte den Boden des Güterwagens. Die Innenwände waren mit einer kristallinen weißen Schicht bedeckt: vereiste Kühlschlangen. Pauli hatte ähnliche Leitungen im Kaiserhof in Berlin gesehen. Er warf seine Reisetasche hinein, brachte sein rechtes Bein hoch und hangelte sich mühsam in den Waggon. Dabei rang er heftig nach Luft. Er schob die Tür zu und ließ sich in der Dunkelheit auf den Boden sinken. Er häufte sich Stroh auf die Beine und den Oberkörper. Dann klemmte er seine eisigen Hände zwischen die Oberschenkel, um sie so gut wie möglich zu wärmen. Auf der Seite liegend, fiel er in einen fiebrigen Schlaf. Er hörte den Wind. Ein leiser Laut, als stöhne jemand. Kalter Staub rieselte auf ihn herab. Er spürte ihn auf seinem Gesicht und den Lippen, tastete mit der Zunge danach und seufzte. Er drehte sich auf den Rücken und schlug benommen die Augen auf. Durch ein Loch im Dach des Güterwagens fiel Schnee. Er selbst war mit Schnee bedeckt. Er hörte draußen Männerstimmen. »Mikey, an dem hier ist das Schloß verschwunden.« »Sieh lieber nach.« Die Tür wurde aufgedrückt. Eisiger Wind drang herein. Lichtstrahlen einer Laterne wanderten mehrmals über ihn hinweg. »Alles klar, Mikey.« »Okay, dann laß uns – nein, warte mal, da vorne ist jemand. Heh, du da. Aufstehen und rauskommen! Sofort!« Der zweite Mann war unfreundlicher als der erste. Zitternd wankte Pauli zur Tür. Die beiden Eisenbahnpolizisten standen draußen vor dem Waggon. Mehr konnte er nicht erkennen, weil es so dunkel war. Die Männer trugen Laternen, die den Schnee beleuchteten und zum Funkeln brachten. »Nur ein Junge, Mikey«, stellte der erste Mann fest. »Wohl doch etwas mehr. Wie heißt du?« »Kroner. Pauli Kroner.« »Hör ihn dir an«, sagte Mikey, der Unfreundliche. »Ein Greenhorn. Kommst direkt vom Schiff, nicht wahr, Junge?« »Ja, Schiff.« Pauli nickte. »Bitte, können Sie mir sagen – wo bin ich?« »Auf dem südlichen Rangierbahnhof der Pittsburgh & Fort Wayne-
134
TEIL ZWEI
Linie.« »Chicago?« »Ich stelle hier die Fragen«, sagte Mikey unwirsch. »Weißt du nicht, daß man in diesen Waggons nicht übernachten darf? Du kannst deswegen verhaftet werden.« »Der Schnee –«, begann Pauli. »Das tut nichts zur Sache. Es ist trotzdem verboten.« »Ich glaube nicht, daß er dich versteht, Mikey.« »Ich suche meinen Onkel«, sagte Pauli, mühsam nach jedem Wort suchend. »In Chicago. Er erwartet mich –« Wenn ich nicht vorher sterbe. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander. »Tatsächlich?« Der Unfreundliche blieb unbeeindruckt. »J-ja.« Pauli umklammerte die Türkante, um nicht wieder in den Schnee zu sinken. »Mikey, er ist krank, sieh doch mal den Schweiß auf seiner Stirn.« »Wer ist dein Onkel?« wollte der andere wissen. »Joseph – äh, Joseph Crown.« »Doch nicht der Bierbrauer?« hakte der erste, der Freundlichere, nach. »Ja, Sir, kennen Sie ihn?« »Na klar, welcher Biertrinker kennt ihn nicht? Kannst du beweisen, daß er dein Onkel ist?« »Ach, zum Teufel damit«, ergriff Mikey wieder das Wort. »Soll die Polizei sich darum kümmern, wenn er in Bridewell sitzt.« »Was ist das, bitte?« Pauli hatte eine Ahnung, daß es sich um ein Gefängnis handelte. »Das wirst du früh genug erfahren.« Pauli schwankte. Vor seinen Augen verschwamm alles. Aber er durfte nicht nachgeben, nicht so dicht vor dem Zuhause, von dem er schon so lange träumte. Wenn nötig, würde er mit diesen Männern kämpfen. Alles andere, nur nicht aufgeben – »Mikey, sei nicht so grob zu ihm«, sagte der erste nun. »Er wurde sicherlich von dem Unwetter überrascht. Lassen wir ihn laufen. Wir haben schließlich Weihnachten. Na ja, jedenfalls bald. Das wäre doch ein Grund, oder nicht?« Christmas? Weihnachten? War es schon so spät? Mikey kratzte sich am Kinn, während er sich die Bemerkung seines Partners durch den Kopf gehen ließ. »Hast du irgendeine Idee, wo dein Onkel wohnt?« Paulis Lippen waren völlig taub, als er antwortete. »In der Michigan Avenue.«
ZWISCHENDECK 1892
135
»Das ist richtig, ich kenne das Haus, jeder kennt es«, sagte der erste Mann. »Michigan Avenue, Ostseite, an der Ecke Zwanzigste Straße. Ein großes Gebäude. Nimmt das halbe Grundstück ein. Man erkennt es sofort. An der Außenseite sind überall Kronen zu sehen.« Der Barsche reagierte nun etwas freundlicher. »Dein Onkel braut ein feines Lagerbier, das muß ich zugeben.« »Das dürfte doch Grund genug sein, ihn laufen zu lassen, Mikey.« »Können Sie –«, Pauli hustete krampfhaft, »mir den Weg sagen? Ich meine – beschreiben Sie mir den –« »Ich versteh’ schon«, unterbrach ihn der Unfreundliche. »Ich denke, das können wir.« Er stellte die Laterne in den Waggon und legte seinen langen polierten Schlagstock daneben. Er streckte eine behandschuhte Hand hoch. »Steig runter. Die Züge fahren noch nicht. Du wirst zu Fuß gehen müssen. Es ist ein ziemlich langer Marsch.« »Das schaffe ich schon«, sagte Pauli gegen alle Vernunft, getrieben von seiner Entschlossenheit und seinem Willen. Er ergriff die Hand und sprang, aber seine geschwächten Beine gaben nach, und er stürzte. Er stieß einen erstickten Schrei aus. Die Männer halfen ihm hoch. Es war Mittag, als Pauli den Güterwagen der Pittsburgh & Fort WayneLinie verließ. Ganz Chicago war noch von dem Schneesturm lahmgelegt. Am frühen Abend waren die Straßen noch immer wie ausgestorben bis auf einen gelegentlich vorbeifahrenden Polizeiwagen oder ein Pferdegespann, das sich durch die Schneeverwehungen kämpfte. Es hatte wieder ein wenig zu schneien begonnen. Pauli folgte der Wegbeschreibung, die ihm die Eisenbahnpolizisten gegeben hatten, machte auf seinen schmutzigen, schmerzenden Füßen Schritt für Schritt, wie er es schon seit Wochen tat. Sie hatten ihm den Straßennamen M-i-c-h-i-g-a-n vorbuchstabiert, bis sie überzeugt waren, daß er ihn auf einem Schild erkennen würde. Das hatte er getan, und nun stolperte er über einen Boulevard, der mit hoch aufragenden Häusern gesäumt war. Im grauen Dämmerlicht starrte er auf die Hausnummern, bewegte sich auf der Michigan Avenue in nördlicher Richtung, entzifferte die Nummern der Querstraßen, bis er die Zwanzigste fand. Dort an der Ecke stand das Haus, ein richtiges Schloß. Elektrisches Licht drang aus allen Fenstern. Das Gebäude war drei Stockwerke hoch und aus grauen Kalksteinblöcken errichtet. Es hatte ein Mansardendach und eine überdachte Kutscheneinfahrt an der Seite. Ein schmiedeeiserner Zaun umgab das gesamte Anwesen. Es nahm die Hälfte des Blocks ein, in dem es lag. Mit seinem unbedeckten Kopf, der inzwischen so weiß wie der eines
136
TEIL ZWEI
Schneemannes war, stand Pauli da und betrachtete es staunend. Er wußte, daß es das richtige Haus war. Am schmiedeeisernen Tor an der Michigan Avenue befand sich eine Krone im Zierwerk des Torbogens. Eine Krone, die genauso aussah wie die auf dem Briefbogen seines Onkels. Pauli entdeckte weitere Kronen in den Ornamenten des Zauns. An mehreren Stellen der Hausfassade waren Kronen als Reliefs zu sehen. Das imposante Haus schüchterte ihn ein. Sollte er nicht lieber auf der Rückseite nach einem Dienstboteneingang suchen? Nein, er war schließlich in Amerika. Dieses Haus gehörte seiner Familie. Er drückte das Tor auf und bemerkte dabei an einem seiner Finger einen Farbfleck. Die Haut war aufgeplatzt. Er blutete. Er schleifte seine Reisetasche ein paar Stufen hinauf in den Schutz des überdachten Eingangs. Er griff nach einem mit Verzierungen versehenen Stahlknauf, der aus dem Schnitzwerk der Tür herausragte, und drehte ihn. Irgendwo im Haus ertönte eine Klingel. Paulis Mut sank, als er den ernsten Gesichtsausdruck des Mannes sah, der die Tür öffnete. Sein Onkel hatte ein blasses, kränkliches Pferdegesicht und mißtrauische Augen. »Wenn du zum Hinterausgang kommst, gibt der Koch dir was zu essen.« »Ich bin kein Bettler – äh, ich bin Ihr Neffe aus Deutschland.« »Wie bitte?« Der blasse Mann runzelte die Stirn. Pauli erkannte seinen Irrtum. Der Mann trug ein gestreiftes Hemd und Hosenträger sowie eine gestärkte weiße Schürze mit hohem Latz, auf dem eine eingestickte Krone zu erkennen war. »Warte mal einen Moment.« Die Tür fiel ins Schloß, aber zuvor wurde Pauli von einem warmen Hauch und einer Wolke süßen Tannendufts eingehüllt, und von einem hohen Weihnachtsbaum drang ein Funkeln und von irgendwo darüber ein strahlender Lichterglanz zu ihm. Der Wind pfiff. Paulis Beine waren wie geknickte Äste, zu schwach, um ihn noch zu tragen. Die Tür schwang wieder auf. Vor ihm stand ein Mann, der noch ernster wirkte als der Hausdiener, den Pauli fälschlicherweise für seinen Onkel gehalten hatte. Dieser Mann war ziemlich klein und drahtig, hatte glattes silbergraues Haar, einen Schnauzer und einen Vollbart. Seine Haltung war militärisch straff, die großen Augen hinter den Gläsern einer Stahlbrille blickten wachsam. Er trug Lederpantoffeln, eine graue Hose, dazu eine dunkelblaue Hausjacke aus einem glänzenden Stoff, in dem je nach Lichteinfall ein feines eingewebtes Muster zu erkennen war. Er roch angenehm nach Rasierpuder. Er flößte Pauli sofort Respekt und einen Anflug von Furcht
ZWISCHENDECK 1892
137
ein. Aber der Willkommensgruß des Mannes war durchaus herzlich. »Komm nur herein. Komm herein, und mach schnell die Tür zu! Es ist bitterkalt draußen.« Pauli gehorchte. »Onkel Josef? Ich bin dein Neffe Pauli!« rief er aus und wechselte vor Aufregung unbewußt zurück ins Deutsche. »In diesem Haus sprechen wir gewöhnlich englisch«, erwiderte der Mann auf deutsch und wiederholte den gleichen Satz noch einmal in der Sprache seiner neuen Heimat. »Ja, Englisch.« Pauli nickte. »Ein wenig verstehe ich.« In einem anderen Zimmer erklang eine Mädchenstimme. »Wer ist da, Papa?« Dann eine männliche Stimme. Sie klang älter. »Ist es jemand für uns? Etwa Julie mit ihren Schlittschuhen?« »Geduldet euch einen Moment, ja? Ich komme gleich.« Der Mann sprach ein hervorragendes Englisch, wenn auch mit starkem Akzent. Er beugte sich vor. Dabei spiegelten sich die funkelnden Glaskugeln und das Lametta des Weihnachtsbaumes in seinen Brillengläsern. Dutzende von weißen Kerzen, die noch nicht angezündet waren, zierten die Zweige. Der Baum stand im hinteren Teil einer geräumigen Halle am Fuß einer breiten Treppe. Der Mann legte die rechte Hand auf Paulis Schulter. Ein schlichter goldener Ring glänzte an einem Finger. Die rechte Hand war nach deutscher Tradition die Hand, an der der Trauring getragen wurde. Pauli war beruhigt. »So. Du bist also mein Neffe – endlich.« »Ja, Sir. Ihr Neffe. Aus Berlin. Ich nenne mich –« Er wußte nicht, woher es kam, aber er war plötzlich da, in seinem Kopf: der perfekte Name, den er brauchte und sich wünschte. »Paul Crown.« Er schluckte. »Ist das in Ordnung?« Joseph Crown betrachtete den kranken, verdreckten Jungen. Ein Lächeln bildete sich zwischen seinem Schnurrbart und seinem glänzenden Vollbart. »Paul Crown. Ja, in Ordnung, warum nicht? Du hast etwas Altes mit etwas Neuem verbunden. Genau das tun wir auch in der Brauerei, wir mischen verschiedene Zutaten, um etwas Gutes und Neues zu schaffen.« Seine Brillengläser funkelten, als er den Kopf bewegte. »Ich bin dein Onkel Joe. Komm herein und wärm dich auf. Du siehst nicht sehr gut aus.« »Mein Brief. Ist er angekommen?« »Ein Brief? Nein. Hier entlang. Die Familie hält sich im –« Pauli stellte seine Reisetasche ab und ging auf eine offene Flügeltür zu,
138
TEIL ZWEI
aus der helles Licht drang. Joe Crown trat beiseite, um ihn vorbeizulassen. Er hüstelte und hielt sich die Hand vor Mund und Nase, als er Paulis Geruch wahrnahm. Pauli bemerkte es nicht. Er legte den Kopf in den Nacken, konnte nur noch staunen. Die Halle, die er durchquerte, entfaltete ihre marmorne Pracht, zwei Stockwerke hoch, wie eine Kathedrale. Von der hohen Decke hing ein riesiger Kronleuchter herab, der aus Hunderten von Schnüren mit Glasperlen oder -prismen bestand, die eine große, glitzernde Kugel bildeten. Ein Dutzend elektrischer Glühbirnen, die in zwei konzentrischen Ringen über den Glasprismen angeordnet waren, ließen den Leuchter funkeln und strahlen. Onkel Joseph schob ihn sanft vorwärts. »Komm, laß uns reingehen. Hab keine Angst. Die Familie erwartet dich schon ungeduldig. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.« Mit roten Ohren und klopfendem Herzen schleppte sich Pauli auf die hohe Tür zu, aus der das Licht und die Wärme heranwogten. Die Tür zu einem neuen Leben … Von einem plötzlichen Schrecken erfüllt, hielt er noch auf der Schwelle inne. Der grelle Schein elektrischer Glühbirnen blendete seine Augen. An der Decke hing ein kleines Gegenstück des Kronleuchters in der Halle. Menschen waren in dem Raum versammelt, verschwommene Gestalten. Et brauchte einige Sekunden, um sie deutlich zu erkennen. Er sah eine Frau. Neben ihrer Rundlichkeit und der Fülle ihres rötlichbraunen Haars, das auf ihrem Kopf aufgetürmt war, fiel ihm besonders ein goldenes Funkeln an ihrer rechten Hand auf. Es war ein Trauring, der dem seines Onkels glich. Er sah drei junge Leute. Der kleinste Junge war stämmig gebaut; der ältere wirkte etwas schmaler. Er hatte eine rostbraune, gepflegte Barttracht. Alles, was er von dem Mädchen auf den ersten Blick erkennen konnte, war ihre schmächtige Erscheinung und ihr gekräuseltes Haar. Die drei starrten Pauli an. Ebenso der Hausdiener mit der Schürze. Holzscheite brannten im Kamin des Wohnzimmers. Es war kein Empfangssalon, sondern der Raum, wo sich die Familie im privaten Rahmen zu Gesprächen und Freizeitvergnügungen zu treffen pflegte. Hinter seiner Tante entdeckte Pauli den traditionellen langen Tisch, der mit roten Kerzen und grünen Zweigen dekoriert war und auf dem sich Pakete in allen Größen auftürmten, eingewickelt in goldenes, silbernes und buntes Geschenkpapier. Auf einer kleineren Anrichte stand ein Teller mit Pfefferkuchenplätzchen in der Form von Sternen und Halbmonden, Herzen und Ringen. Etwas abseits im Zimmer sah er das Adventshäuschen aus
ZWISCHENDECK 1892
139
buntem, lackiertem Holz. Drei der vier farbigen Glasfenster waren geöffnet. In jeder Öffnung brannte eine Kerze, die jeweils das Verstreichen einer Adventswoche anzeigte. Alles war so vertraut. Am liebsten hätte er vor Freude geweint. »Seht mal her«, sagte sein Onkel. »Pauli aus Deutschland ist endlich eingetroffen. Er hat einen neuen Namen, zu dem er euch gleich etwas sagen wird. Weißt du, Pauli, deine Tante Ilsa und ich haben dich schon viel früher erwartet. Wir haben uns große Sorgen gemacht. War die Reise besonders schwierig?« »O nein«, erwiderte er. Wahrscheinlich war das ein wenig dumm, aber er wollte diesen schönen Augenblick nicht verderben. Er drückte seine Beine durch. Vor seinen Augen verschwamm schon wieder alles. »Das freut mich zu hören. Wann hat dein Schiff in New York angelegt?« »Im Juni. Am ersten.« »Und seitdem bist du unterwegs?« Pauli nickte. »Wie bist du denn gereist?« Er suchte wieder nach den richtigen Worten. »Ein Stück – äh – mit dem Zug – Eisenbahn – aber mehr noch zu Fuß. Ich bin gelaufen.« »Erstaunlich«, sagte sein Onkel. »Eine wirklich große Leistung. Kein Wunder, daß wir nichts von dir gehört haben. Wir dachten schon, es sei etwas Schlimmes passiert, ein schrecklicher Unfall zum Beispiel. Du hast sicher eine Menge durchgemacht, mein Junge. Meine Reise von Castle Garden nach Cincinnati im Jahr 1857 war dagegen vermutlich ein Kinderspiel –« »Joseph«, unterbrach ihn die rundliche Frau, »können wir nicht später darüber reden? Der Junge sieht aus, als sei er halbverhungert.« Sie kam einen Schritt näher, übernahm sanft und geschickt die Führung, ohne sich jedoch aufzudrängen. Pauli mochte sie auf Anhieb. Ilsa Crown hakte ihn unter. »Wir haben Weihnachtsstollen, ganz frisch und sogar noch warm. Sicherlich möchtest du baden und dich ausruhen.« Sie legte eine Hand auf Paulis Stirn. »Joseph, er hat Fieber!« Mit einer weiteren Geste lenkte sie Paulis Aufmerksamkeit auf ein breites Sofa mit schweren Tatzenfüßen und einem Polsterbezug aus cremefarbenem Stoff, so fein und unberührt wie frischgefallener Schnee. »Bitte, setz dich, und ruh dich aus.« Pauli konnte es nicht glauben. Das Sofa. Der Ehrenplatz der Familie. Kein Gast setzte sich jemals auf ein deutsches Sofa, ohne eigens dazu aufgefordert worden zu sein. Er machte einen schwerfälligen Schritt vorwärts. Von einer Anrichte holte seine Tante die Platte mit dem köstlich
140
TEIL ZWEI
aussehenden Stollen. Er war so groß und schwer wie ein Brotlaib. Rosinen ragten aus dem Backwerk, und die Oberseite war mit weißem Zucker bestäubt. Er setzte an, um ihnen zu sagen, daß er nichts lieber hätte als ein Stück dieses Weihnachtsgebäcks, wollte ihnen allen seine Dankbarkeit aussprechen. Die Worte blieben in seiner Kehle stecken. Das Klingeln in seinen Ohren steigerte sich zu einem schrillen Geläut. Alles schwankte. Die Kerzen, das Feuer im Kamin, die Glühbirnen – alles erlosch schlagartig. 12 JOE CROWN Pauli sank ohnmächtig auf das große Sofa. Er rutschte herunter und hinterließ Schmutzstreifen und Blutflecken, wo seine Hand den Bezugsstoff berührte. Fritzi stieß erschreckte Schreie aus, Joe junior und Carl riefen um Hilfe. Joes Frau schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Joe Crown betrachtete das schmutzige Häuflein Elend auf dem Teppich. Etwas, das wie Brotkrumen oder Vogelfutter aussah, rieselte aus den Jackentaschen des Jungen. Geschmolzener Schnee tropfte von seinen Schuhen und besudelte Ilsas edlen Teppich mit schmutziggrauen Flecken. Durch ein Loch in einer Schuhsohle war der nackte Fuß zu sehen. Die Haut war mit einer bräunlichen Schicht bedeckt, die aussah wie eingetrocknetes Blut. Fritzi schüttelte den Kopf. »Papa, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schmutzig ist.« »Soll er tatsächlich hier wohnen?« fragte Carl. »Wenn ja, dann sollten wir ihn lieber vorher in eine Badewanne stecken«, empfahl Joe junior lachend. »Wir könnten ihn in Mamas Eau de toilette baden«, sagte Fritzi. »Dann riecht er wenigstens nicht so streng.« »Kinder.« Ilsa Crown erhob warnend den Finger. »Eure Mutter hat ganz recht, wir sollten nicht spotten«, erklärte Joe Crown. »Der Junge ist erschöpft und krank. Ein Bad, ein Bett und viel Ruhe werden ihn sicherlich wieder auf die Beine bringen. Wenn nötig auch die Fürsorge eines Arztes.« Die Reaktion der Kinder deutete darauf hin, daß der Neuankömmling nach solchen Maßnahmen sicherlich nicht willkommener wäre. Joe hatte den Eindruck, daß seine Befürchtungen sich bewahrheiteten. Der ohnmächtige Junge gab ein seltsames Geräusch von sich. Es war teils ein Pfeifen, teils ein tiefer, langer Seufzer der Erleichterung. Der Hausdiener konnte seine Verärgerung kaum verbergen. »Frau Crown, das
ZWISCHENDECK 1892
141
Sofa ist hin. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, ich weiß nicht, ob wir das noch mal sauber bekommen.« »Es ist doch nur ein Möbelstück, Manfred«, erwiderte Ilsa. »Richtig, und der Junge gehört zur Familie«, schloß ihr Mann sich an. Er war zutiefst bestürzt über den Zustand des neuen Familienmitglieds, die Umstände seiner Ankunft und die allgemeine Reaktion darauf. Während Joe Crown seinen Neffen nachdenklich betrachtete, vergaß er seine eigene Anordnung, die Sprache betreffend, und wechselte unbewußt vom Englischen ins Deutsche. »Großer Gott, was für ein Einstand!«
TEIL DREI
Chicago 1892-1893
Das nächste Mal berichte ich Dir von Chicago. Diese junge Stadt ist das größte Wunder Amerikas, wenn nicht gar der ganzen Welt. 1854 Carl Schurz, kurz nach seiner Einwanderung in einem Brief an seine Frau
CHICAGO 1892 – 1893
145
13 PAUL Raum und Licht. Licht und Raum. Noch nie hatte Pauli so viel von beidem gesehen. Sein Zimmer war unglaublich. Es hätte Teil eines Palastes sein können. Es lag im zweiten Stock des dreistöckigen, monumentalen Hauses. Man sah von dort hinaus auf den Hof und die Gärten, die sich nach Norden bis zur Neunzehnten Straße erstreckten. Es war fünfmal, nein zehnmal größer als der Keller in Berlin. Tante Ilsa sagte, Carl, das jüngste der Kinder, sei darin aufgewachsen, bis er alt genug war, um eins der normalen Schlafzimmer zu beziehen. Tante Ilsa erzählte ihm all das, während sie auf der Kante seines breiten – riesigen! – Pfostenbettes saß. Ihr Englisch hatte einen viel stärkeren Akzent als das seines Onkels. Sie war eine stämmige Frau mit rundem Gesicht und blauen Augen. Sie handelte zielstrebig und mit stiller Autorität, so daß er sehr schnell erkannte, daß sie nicht annähernd so sanft und nachgiebig war, wie sie sich gab. Sie machte ihm durch eine Bemerkung, eine Berührung, einen Blick klar, daß sie ihn mochte. Er empfand plötzlich eine überschwengliche Zuneigung für sie. Und er hatte das Gefühl, sie bereits eine Ewigkeit zu kennen. Raum und Licht waren Symbole des Wunders, das ihm widerfahren war. Raum, Licht und eine richtige Familie. Als er das erste Mal in dem Pfostenbett erwachte, war er mit einem Federbett von unglaublicher Weichheit bedeckt. Das saubere, gestärkte Laken unter ihm duftete kräftig nach Waschmittel. Während er unentwegt die verschwenderische Möblierung des Zimmers bewunderte und die gemusterte Tapete an den Wänden, die Grünpflanzen, die beiden hohen Fenster mit den teuren Spitzenvorhängen betrachtete, führte Onkel Joe einen rundlichen Mann mit Kinnbart herein. In der Hand trug er eine schwarze Tasche. Onkel Joe stellte ihn als den Hausarzt der Familie, Dr. Plattweiler, vor. »Wie fühlst du dich, mein Junge? Du heißt doch Paul, nicht wahr?« »Ja, Sir.« Paul. Es klang so seltsam. Aber das war es nicht. Es gehörte jetzt wie selbstverständlich zu ihm. Er würde nun von jedem Paul genannt werden. Von diesem Augenblick an würde er auch an sich selbst nur als Paul denken, niemals mehr als Pauli. Dr. Plattweiler forderte Paul auf, das knielange Flanellnachthemd
146
TEIL DREI
auszuziehen, das jemand ihm übergestreift hatte, nachdem er zusammengebrochen war. (»Wir haben alle deine Kleider verbrannt, es war das einzige, was man damit noch tun konnte«, erzählte Tante Ilsa ihm später.) Dr. Plattweiler drückte und tastete und blickte Paul fünf Minuten lang in Nase und Rachen, dann wandte er sich an Onkel Joe und Tante Ilsa. »Ich kann nichts Ernstes bei ihm feststellen. Er leidet an Erschöpfung, Unterernährung und an einer schweren Grippe. Ich verordne ihm zuerst einmal Bettruhe, zweitens reichlich kräftige Nahrung. Ich lasse vom Apotheker einige Medikamente gegen die verschiedenen Symptome vorbeischicken.« Dr. Plattweiler reckte einen Finger hoch. »Die Anweisungen sind buchstabengetreu zu befolgen!« »Was sonst?« erwiderte Onkel Joe sehr ernst. Wenige Minuten nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte, machte Paul eine weitere wundervolle Entdeckung. Im Winkel links neben ihm stand ein Eckregal, in das sein Globus, die Papierflagge und die Stereoskopkarte paßten. Aber wo waren seine Schätze? Erschrocken stützte er sich auf die Ellbogen. Er sah sich aufgeregt im Zimmer um. Dann sank er mit einem erleichterten Seufzer zurück. Sein alter Seesack lag auf dem Teppich, halb hinter einem Waschständer mit Marmorplatte versteckt. Paul entspannte sich und betrachtete versonnen die Reflexe der Wintersonne, die durch die beiden hohen Fenster schien. Er konnte sein Glück nicht fassen. Am dritten Tag, als er aus seinem Bett aufstehen durfte, um das separate Badezimmer am Ende des Korridors aufzusuchen, anstatt weiterhin den emaillierten Nachttopf zu benutzen, war er überwältigt von der Größe und Pracht des Hauses. Vierundzwanzig Zimmer verteilten sich auf drei Stockwerke – Tante Ilsa hatte ihm das so genau erzählt –, und im Keller gab es noch einen großen Vorratsraum und einen Arbeitsbereich. Die Räumlichkeiten der Familie befanden sich im zweiten Stockwerk. Eine schmale Hintertreppe direkt hinter dem großen Badezimmer führte zu den Zimmern hinauf, in denen einige Hausangestellte wohnten. Alles war modern eingerichtet, von der Porzellantoilette mit der Spülkette bis hin zur strahlend hellen elektrischen Beleuchtung. Decken- und Wandlampen in den Zimmern und Korridoren sowie große Leuchter überall erhellten nach Betätigung eines kleinen Schalters jeden Winkel. Auf Grund der Jahreszeit war das Haus erfüllt von herrlichen und verführerischen Düften. Die frisch geschnittenen Tannenzweige, die überall hingen, holten den kräftigen Geruch dichter Tannenwälder ins Haus. Sogar
CHICAGO 1892 – 1893
147
durch seine geschlossene Zimmertür konnte Paul das rauchige Talgaroma der Weihnachtskerzen und den würzigen Duft frischgebackenen Brotes und anderen Gebäcks wahrnehmen. Er war beinahe berauscht vor Glückseligkeit. Er lag sechs Tage lang im Bett, ständig umsorgt von seiner Tante und einer kleinen, stämmigen Frau mit einem blassen Gesicht voller Sommersprossen und einem fröhlichen Wesen. Sie hatte sich als Helga Blenkers vorgestellt. Sie war das Hausmädchen. Ihr Mann, Manfred, war der Chef des Personals und für die Hausdiener verantwortlich. Paul vermutete, daß er der unfreundliche Mann war, der bei seinem Eintreffen die Tür geöffnet hatte. Wegen dieses Vorfalls hatte Paul längst entschieden, daß er Manfred nicht mochte. Aber Mrs. Blenkers war nett. Sie brachte ihm Tabletts voller bester deutscher Speisen. Dicke Scheiben selbstgebackenen Pumpernickels und das leichtere Schwarzbrot. Weißbrotstangen, innen warm und weich und außen mit einer goldbraunen Kruste, die mit Kümmel bestreut war. Es gab Schweinebraten und Kalbsbraten – immer mit Knödeln –, und vor jedem Mittag- und Abendessen gab es heiße Hühnersuppe. Zum Nachtisch bekam er entweder Kompott oder ein Stück von Tante Ilsas köstlichen Torten. Vom zweiten Tag seiner Bettruhe an bekam er abwechselnd Besuch von den verschiedenen Familienmitgliedern. Er hatte sie, nachdem er vor dem Sturm ins Haus geflüchtet war, nicht gerade sehr genau wahrgenommen. Durch die Besuche lernte er sie allmählich kennen. Onkel Joes erster Besuch fand gegen neun Uhr nach dem Abendessen statt, in deutschen Haushalten selten vor acht Uhr eingenommen wurde, Pauls Onkel erschien am Bett in Rock und Krawatte. Er roch nach Talkumpuder und schien seine Bewegungen sehr genau zu steuern. Paul bemerkte es, als sein Onkel einen Sessel in einen Lichtfleck rechts von seinem Bett schob. Er kontrollierte die Position des Stuhls einige Sekunden lang und korrigierte sie ein wenig, ehe er sich setzte. »Wie fühlst du dich, Paul?« »Mir geht es gut, Onkel«, antwortete er und hatte immer noch Mühe mit jedem englischen Wort. »Und wie geht es dir?« »Bestens. Wir haben heute einige Zahlen zusammengerechnet, und wir werden wohl unser bestes Jahr verbuchen können. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird die Brauerei Crown am Einunddreißigsten dieses Monats sechshunderttausend Faß Bier hergestellt und vertrieben haben. Das ist für uns ein Rekord. Ich bin sehr stolz darauf.« »Ja, Sir«, sagte Paul und wußte nicht, was er sonst noch erwidern sollte. Trotz seiner eher kleinen Gestalt war Pauls Onkel ein äußerst
148
TEIL DREI
beeindruckender Mann. Paul wünschte sich, daß sein Onkel ihn achten und gern haben würde. »Bekommst du genug zu essen?« »O ja.« »Wir wollen, daß du hier glücklich bist. Du sollst dich in Chicago wohlfühlen. Ich zweifle nicht daran, daß das der Fall sein wird. Du findest in dieser Stadt sehr viele Landsleute. Bei der letzten Volkszählung gab es in Chicago einhundertsechzigtausend Menschen, die in Deutschland geboren wurden. Das ist ein Anteil von fünfzehn Prozent an der Gesamtbevölkerung von über einer Million und neunundneunzigtausend Menschen.« Paul murmelte etwas und bemühte sich, beeindruckt dreinzublicken. »Erzähl mir von meiner Schwester Lotte. Wie ging es ihr, als du abgereist bist?« Ein Warnsignal ertönte in seinem Kopf. Er durfte nichts von den Herren erzählen, es würde seinen Onkel nur verletzen. »Sie hat viel gearbeitet –, ja, viel gearbeitet, aber es ging ihr nicht gut.« »Die Tuberkulose«, sagte Onkel Joe und sah einen Augenblick lang sehr traurig aus. »Ich muß ihr unbedingt schreiben. Es war dein Glück, daß du aus Deutschland weggegangen bist. Kurz nach deiner Abreise ist in Hamburg eine Choleraepidemie ausgebrochen. Tausende sind daran gestorben.« Paul erschauerte. »Wie schrecklich! Das wußte ich nicht.« »Erzähl mir ein wenig von deiner Reise, ja? Welche Schwierigkeiten hattest du denn? Es war sicher nicht so einfach, du hast so lange gebraucht –« Paul nickte. Er begann mit der Beschreibung der Goldenen Tür, bagatellisierte aber seine heldenhafte Rettung Magdas. Er schilderte einige der anderen Vorfälle: seine Inhaftierung wegen Diebstahls eines Apfels; die Güte und Freundlichkeit von Llewellyn Rhodes; den Schneesturm, der den Zug gestoppt hatte. »Und du bist den ganzen Weg von dort zu Fuß gegangen? So krank wie du warst?« »Ja, wirklich, Sir. Ich war eben sehr – eifrig –« Er sucht krampfhaft nach dem richtigen englischen Wort, verstummte hilflos. »Entschlossen«, sagte sein Onkel sanft und überhaupt nicht überheblich oder ungeduldig. »Ja, entschlossen. Danke. Ich wußte, daß ich schon viel zu lange unterwegs war.« Sein Onkel stand auf. »Das ist sehr beeindruckend, Paul. Ganz erstaunlich. Das zeugt von Charakter.«
CHICAGO 1892 – 1893
149
Onkel Joe beugte sich vor und tätschelte seinen Arm. »Ruh dich jetzt aus. Ich hoffe wirklich, daß du bald wieder auf den Beinen bist. Du sollst schließlich deine Cousins kennenlernen. Ich bin sicher, daß du sie mögen wirst.« »Oh, ganz gewiß.« »Ich möchte, daß sie dich kennenlernen und dich gern haben.« »Ich auch«, sagte Paul, inständig hoffend, der Wunsch möge sich erfüllen. Fritzi machte Paul einen Besuch und kam danach mindestens zweimal täglich zu ihm. Sie hatte eine ziemlich lange Nase, und ihr Busen war noch nicht entwickelt. Bis zu ihrem zwölften Geburtstag würde nicht einmal mehr ein Monat verstreichen. Sie hatte dunkelbraune Augen wie ihr Vater und eine störrische blonde Mähne. Fritzi war lebhaft und freundlich. Genauso wie Tante Ilsa saß sie auf seiner Bettkante, wippte auf und nieder, während sie ihn mit Fragen eindeckte. Fragen über Deutschland, über die Atlantiküberquerung und Chicago – das er noch nicht einmal gesehen hatte, da es sich hinter einem doppelten Schleier aus Schneetreiben und Fieberträumen verbarg. Er hatte Schwierigkeiten, die Fragen zu verstehen und auf englisch zu beantworten. Er wußte, daß er wie ein Trottel wirkte, aber es schien ihr nichts auszumachen. »Ich mache gerne andere Leute nach, ich möchte nämlich Schauspielerin werden«, erzählte sie ihm bei ihrem vierten Besuch. »Kannst du erraten, wer das ist?« Sie sprang vom Bett herab, stemmte die Fäuste in die Hüften und zog ein langes Gesicht. Indem sie ihrer Stimme einen tiefen Klang verlieh, sagte sie: »Paß gut auf, mein Junge, wage niemals, in diesem Haus zu lachen.« Paul lachte. »Das ist der Mann, der die Tür aufgemacht hat, als ich hierher kam.« »Ja«, rief Fritzi und klatschte begeistert in die Hände. »Es ist Manfred, Helgas Mann. Woher wußtest du das? Hast du ihn hier oben gesehen? Hat er dich besucht?« »Nein, ich habe sein Gesicht nur am ersten Abend gesehen. Einmal war genug.« »Donnerwetter, hast du gute Augen. Mein Bruder Joe nennt ihn den ›Traurigen Dänen‹. Ich weiß nicht, weshalb Papa ihn behält, er ist so knurrig. Und streng. Nimm dich lieber vor ihm in acht; wenn du ihn wütend machst, dann zahlt er es dir immer irgendwie heim.« »Ich mache ihn schon nicht wütend.«
150
TEIL DREI
»Ich gehe jetzt lieber. Bitte, werd bald gesund, es ist fast Weihnachten und du sollst herunterkommen und mit uns die Ferien verbringen.« Sie stand auf, zupfte verlegen an ihrer Schürze herum. »Wir freuen uns sehr daß du da bist, Vetter Paul.« Sie kam ohne Vorwarnung ganz nahe heran und drückte einen Kuß auf seine Wange. Mit hochrotem Gesicht rannte sie hinaus. Er sank stirnrunzelnd auf sein Kopfkissen zurück. Etwas Unerwartetes war geschehen. Er wollte, daß seine Kusine und die Vettern ihn gern hatten, aber Fritzi war noch ein Kind, ein Mädchen – und für Mädchen interessierte er sich bisher sowieso kaum. Wann hatte er dazu auch schon Gelegenheit gehabt? Was ihm wirklich am Herzen lag, war, Freundschaft mit seinen Vettern zu schließen, speziell mit Joseph junior, der zwei Jahre älter war – ein riesiger, bedeutsamer Unterschied für Jugendliche. In Pauls Augen war Joe ein Erwachsener, eigentlich schon ein echter Mann. Er war alt genug, um sich einen Bart stehen zu lassen. Er kannte sich in der Welt aus; er arbeitete sechs Tage pro Woche in der Brauerei. Er war derjenige, dessen Freundschaft und Achtung Paul sich am meisten ersehnte. Er dachte wieder an Kusine Fritzi. Er hoffte, daß der bewundernde Glanz, den er in ihren Augen entdeckt hatte, nicht ein neues Problem darstellte. Auch Carl kam mit den besten Wünschen für Pauls Gesundheit vorbei und mit einer Frage. »Möchtest du mal meinen Baseball sehen?« »Ja, ja.« »Gut«, sagte Carl und zeigte den Ball her, der dicke rote Nähte besaß. »Es ist ein offiziell zugelassener Ball, mit dem in der Liga gespielt wird. Ich habe ihn aus Mr. Spaldings Laden in der Stadt. Sie nennen Mr. Spalding auch A.G. Er war einer der größten Werfer. Der Ball kostet einen ganzen Dollar. Und das ist mein Fanghandschuh, aus Hirschleder.« Carl schmetterte den Ball in den seltsamen rechten Handschuh, dessen einzelne Finger so dick wie Würste waren. Er war ein stämmiger dunkelhaariger Junge, dessen hellbraune Augen denen seiner Schwester glichen. Seine Gesichtszüge und sein Körperbau erinnerten an seine Mutter. »Spielst du mal Baseball mit mir?« »Du mußt mir das Spiel vorher beibringen. Ich habe schon davon gehört, aber ich kenne die Regeln nicht.« »Ich zeige es dir«, erklärte Carl und nickte begeistert. »Im Frühling geht Papa vielleicht mit uns zu den Spielen der Chicago White Stockings. Wir
CHICAGO 1892 – 1893
151
alle lieben die White Stockings. Papa hat früher immer Joe mitgenommen, aber Joe will nicht mehr mit.« »Ich komme mit.« »Gut!« rief Carl und sprang so heftig vom Bett, daß seine Schulter gegen das Eckregal stieß und es umkippte. »O weh!« Hastig stellte er das Regal wieder auf und sammelte Pauls verstreute Schätze ein. »Ich glaube nicht, daß er etwas abbekommen hat«, sagte er, während er Paul den Globus und seinen Ständer zur Begutachtung reichte. »Es tut mir leid.« »Nein, ist schon gut.« Paul erkannte, daß Carl ein kleiner Junge war, der über einen kräftigen Körper und überschüssige Energie verfügte. Das war vermutlich keine glückliche Kombination. Endlich, am dritten Tag von Pauls Krankheit, erschien Vetter Joe. Abgesehen von der Farbe seiner Augen, ähnelte Joseph Crown jun. seinem Vater. Sie waren hellblau, heller noch und leuchtender als die von Tante Ilsa. Er hatte schmale Hüften, kurze Beine und einen schlanken Oberkörper. Er sah zart, aber nicht schwach aus. Seine Barttracht ließ ihn viel älter als siebzehn erscheinen. Er war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Er trug Schuhe mit dicken Sohlen, eine dunkle Cordhose, ein verwaschenes Arbeitshemd, das am Kragen feucht war, als habe er sich soeben den Hals gewaschen. Joe junior war sehr freundlich, aber trotzdem reserviert. Als er sich nach Pauls Wohlbefinden erkundigte, nannte er ihn »alter Junge« – was für Paul genau wie das Gegenteil klang. Sein Vetter setzte sich nicht aufs Bett, sondern in den Sessel, so wie Onkel Joe es getan hatte. »Du arbeitest also in der Brauerei«, begann Paul. »Ja. An vorderster Front, könnte man sagen.« »Wie bitte?« »An der Front des Klassenkampfs. Dem Krieg zwischen Kapital und Arbeit. Im Augenblick ist es nur ein Krieg der Worte, aber er war früher blutig und wird sicher wieder blutig werden. Die Ausbeuter werden eben nicht klug. Sie denken nun mal nicht um.« Wie nüchtern und ernst er war. Und Paul hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete. Joe junior erkannte das und sagte: »Es ist nicht so schwer zu verstehen, Vetter. Mein Pa ist Kapitalist. Oder hast du das nicht schon auf den ersten Blick erkannt?« Seine Handbewegung umriß die Möbel, das Zimmer, das Haus. »Er ist nicht so schlimm wie einige andere, aber er gehört trotzdem zu dieser Klasse. Er wollte immer, daß ich auch dazugehöre, eines Tages in der Direktion sitze. Aber der Teufel soll mich
152
TEIL DREI
holen, wenn das geschehen sollte.« Er zeigte Paul seine Handflächen. »Ich arbeite mit meinen Händen und mit meinem Rücken. Ich schwitze genauso wie all die anderen Burschen in der Brauerei. Wie 99 Prozent der gesamten menschlichen Rasse. Wir schwitzen und sterben, damit das andere Prozent reich und immer reicher wird.« Immer noch verwirrt und unsicher, was er darauf erwidern sollte, beschloß Paul, überhaupt nichts zu sagen. Joe junior musterte ihn mit seinen strahlendblauen Augen. »Nun, da du hier angekommen bist, was gedenkst du zu tun?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, dein Vater wird es mir schon sagen.« »Darin ist er gut, im Herumkommandieren von anderen Menschen.« Eine kurze Pause entstand. »Soll ich dich lieber ›Kid‹ nennen? Das ist jemand, der noch sehr jung ist. Wie alt bist du überhaupt?« »Fünfzehn.« »Noch ein Baby.« Eine tiefe Röte stieg in Pauls Gesicht. Joe grinste. »Na komm schon, ich will dich nur ein wenig ärgern. Hast du eine Freundin in der Heimat?« Paul schüttelte den Kopf. Vetter Joe schob den Sessel etwas näher ans Bett. »Nun, ich habe ein Mädchen. Das hübscheste Ding, das man sich vorstellen kann. Du würdest nicht glauben, daß sie eine Bohunk ist.« Noch immer oder schon wieder verwirrt, murmelte Paul: »Eine was?« »So nennen sie hier die Böhmen, Bohunks.« »Ach ja, Böhmen.« Er machte sich wahrscheinlich schrecklich lächerlich. »Wie heißt sie denn?« »Roza Jablonec. Roza mit z. Sie haßt den Namen. Sie will ihn eines Tages ändern, wenn sie eine berühmte Sängerin ist. Ich nenne sie Rosie, das macht ihr nicht soviel aus. Ich hab’ sie an einem Sonntag während eines Arbeiterpicknicks kennengelernt, das Benno – nun, vergessen wir das.« Er schaute über die Schulter zur geschlossenen Tür und senkte die Stimme. »Rosie ist eine ganz heiße Nummer. Titten bis hier.« Er wölbte seine Hände fast fünfzehn Zentimeter vor seiner Brust. Pauls Augen weiteten sich. »Tatsächlich?« »Vielleicht finden wir auch für dich so ein Girl«, sagte Vetter Joe und stand auf. »Für das erste Mal, wenn du weißt, was ich meine.« »O ja.« Joe junior bedachte ihn mit einem weiteren dieser langen, prüfenden Blicke, dann lachte er verhalten in seinen gepflegten Bart. »Bis bald, Vetter. Werd gesund.« Er ging hinaus und ließ Paul wegen der angedeuteten Feindschaft zwischen Joe und seinem Vater verwirrt zurück. Er wünschte sich
CHICAGO 1892 – 1893
153
sehnlichst, daß sein Vetter ihn mochte und als einen Freund akzeptierte. Er wünschte sich auch, daß Onkel Joe ihn gern hatte. Er wollte auf keinen Fall zwischen die Fronten eines Familienkriegs geraten. Zwei Tage später erklärte Dr. Plattweiler ihn für gesund. »Gerade noch rechtzeitig, was? Am nächsten Sonntag ist Weihnachten. Frohes Fest!« Tante Ilsa brachte Kleider und Unterwäsche und ein Paar Schuhe herein. Die Kleider hatten immer noch die Falten aus dem Geschäft, die Schuhe waren eng und steif, aber alles war sauber und wunderbar neu. Nach all dem Schlaf und den Riesenportionen Essen fühlte er sich wieder kräftig. Er brannte darauf, sein Zimmer zu verlassen, sich nach unten zu den anderen zu gesellen, seine Umgebung allmählich zu erforschen, in dem Haus wirklich zu leben. Am Abend legte er die Hand auf den Treppenpfosten des Flures im zweiten Stock und blickte lange hinunter in die Vorhalle. Sein Onkel war zu Hause. Aus dem Speisezimmer drangen Stimmen und das Klappern des Geschirrs zu ihm herauf. Beklommenheit überfiel ihn. Nun geh schon, hab keine Angst, das ist doch, was du gewollt hast. Das ist dein Zuhause. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das jetzt schon glauben konnte. Sich langsam von Stufe zu Stufe vortastend, ohne das Geländer loszulassen, stieg er die breite Treppe hinunter. Er zögerte ein zweites Mal beim Anblick des riesigen und duftenden Baums, der geschmückt war mit unzähligen weißen Kerzen, die noch nicht brannten, wie der Brauch es vorschrieb. Die verzierten Schiebetüren eines Zimmers zu seiner Linken – im vorderen Teil des Hauses gelegen – waren fest geschlossen. Verriegelt, vermutete er. So pflegten die Deutschen bis zum großen Festtag ihre Geschenke vor der Familie zu verbergen. Stimmengemurmel und köstliche Düfte drangen aus den Türen des Eßzimmers, die einen Spalt weit offenstanden. Er überwand ein weiteres halbes Dutzend Stufen und blieb ein drittes Mal stehen. Dann schluckte er krampfhaft, holte tief Luft, legte die Hände an die Türen und schob sie auf. Tante Ilsa sprang von der langen Tafel auf. »Da ist Pauli ja!« »Komm rein, wir essen schon«, rief Carl und winkte ihm mit der Gabel zu. Fritzi ließ sich auf ihrem Stuhl mit einem langen Seufzer nach hinten sinken. Die verschränkten Arme von Vetter Joe und sein fragendes Grinsen verwirrten ihn etwas, aber Onkel Joe schob einen Stuhl zurecht, kam um den Tisch gerannt und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Endlich, Paul, herzlich willkommen! Setz dich. Und iß etwas.« Pauls Anspannung löste sich schlagartig, und mit einer inneren Freude,
154
TEIL DREI
die an Verzückung grenzte, grinste er und ging zu dem freien Stuhl. Er wußte, daß alles in bester Ordnung war. In der darauffolgenden Woche machte er eine ganze Menge neuer Erfahrungen, darunter zu seiner Beruhigung auch die, daß, obgleich er sich in Amerika befand, Weihnachten im Haus seiner Verwandten noch immer eine sehr deutsche Angelegenheit war. Der traditionelle Mistelzweig wurde aufgehängt, auch wenn die Deutschen nicht mehr an seine mystische Kraft glaubten, die angeblich böse Geister, Unglück und Krankheiten abwehren sollte. Jeden Abend nach dem Essen versammelte sich die Familie um das kleine Harmonium im Musikzimmer. Tante Ilsa spielte, und Onkel Joe dirigierte den Gesang. Er hatte eine schöne Stimme und erzählte Paul, daß er sicherlich einem der deutschen Gesangvereine in der Stadt beigetreten wäre, wenn ihn dies nicht soviel Zeit kosten würde. Alle sangen O Tannenbaum und Stille Nacht, heilige Nacht und andere beliebte Weihnachtslieder. Das heißt, alle außer Joe junior, der sich verabschiedete, was seinen Vater ganz offensichtlich ärgerte. Onkel Joe verkündete, daß die Brauerei am Montag, den 26. Dezember, geschlossen bliebe. Tante Ilsa traf bereits in der Küche Vorbereitungen für das große Weihnachtsfestmahl, dessen Hauptgang traditionell aus Fisch bestand. Joe junior und Onkel Joe gingen jeden Tag zur Arbeit, und Carl und Fritzi würden noch bis Freitag in der Schule sein, daher war Paul sich selbst überlassen. So hatte er Gelegenheit, sich das Haus anzusehen, das Hauspersonal kennenzulernen und sich mit den täglichen Abläufen vertraut zu machen. Der Alltag unterschied sich nicht wesentlich von dem eines typischen Haushalts in seinem Vaterland. Das Frühstück war üppig und bestand aus Brötchen, ungesalzener Butter und Marmelade, aus Platten mit kaltem Fleisch, Käse und verschiedenen Wurstsorten. Dazu gab es Kaffee, Tee oder Kakao, alles in separaten Kannen auf einer Anrichte bereitgestellt. Außerdem einen Krug mit kalter Milch. All das wurde schon bei Tagesanbruch von Louise, der Köchin, vorbereitet. Die Familienmitglieder kamen und gingen, aßen schnell oder langsam, wie es ihnen gerade gefiel. Es gab keine feste Frühstückszeit. Die gewöhnlich umfangreichste Mahlzeit des Tages, das Mittagessen, wurde nicht serviert, es sei denn Onkel Joe schaffte es, von seiner Arbeit nach Hause zu kommen. Das geschah in der ersten Woche, in der Paul wieder auf den Beinen war, nur einmal, und bei dieser Gelegenheit saßen sie nur zu dritt am Tisch – Paul, seine Tante und sein Onkel. Dennoch bereitete Louise
CHICAGO 1892 – 1893
155
stets eine vollständige Mahlzeit vor: Ochsenschwanzsuppe, gefolgt von einer Schüssel Knödel als Zwischengang vor dem Hauptgericht, das an diesem Tag aus Schweinebraten, Kartoffeln und drei verschiedenen Gemüsen bestand. Dazu konnte man sich reichlich mit Brot und Butter bedienen. Onkel Joe bekam außerdem ein ganz spezielles Fischgericht, nämlich Heringsröllchen, die mit Gurken und Zwiebeln in Essig eingelegt waren. Er verriet Paul, daß er Hering besonders gerne aß, und außerdem Berge von Schlagsahne auf seinem Stück Torte, die den Nachtisch bildete. Seinen Kaffee trank er ebenfalls mit Schlagsahne, die sich langsam verflüssigte. Das Eßzimmer war geräumig. Es war sonnig und genauso in Nußbaum getäfelt wie alle anderen Räume des Hauses. Der Eßtisch war sehr lang, die Möbel waren massiv und reich verziert. Ein großes Gemälde in goldenem Rahmen beherrschte die Wand über der Anrichte. Es zeigte eine Landschaft mit einem schneebedeckten Gipfel über einer sonnigen Wiese. Paul hatte den Eindruck, als hätte er dieses Motiv schon einmal gesehen. »Das ist das Yosemite Valley in Kalifornien«, erwiderte Onkel Joe auf seine Frage. Daraufhin erinnerte Paul sich an ein Postkartenphoto vom gleichen majestätischen Gipfel. »Ich habe es gekauft, weil der Künstler, Bierstadt, Deutscher ist. Ich bin mir nicht so sicher, ob er ein erstklassiges Talent ist.« »Oh, ich denke schon«, sagte Tante Ilsa. »Der Mann kann außerordentlich gut malen.« Onkel Joe schien sich über diesen Widerspruch überhaupt nicht zu ärgern, wie viele Ehemänner in der alten Heimat es sicherlich getan hätten. Die Mahlzeit verlief in angenehmer Atmosphäre bis zu dem Augenblick, als Onkel Joe seine Serviette zusammenfaltete und sagte: »Ich wollte schon länger mit dir über eine wichtige Angelegenheit sprechen, Paul. Nach Neujahr werden wir einige Pläne für dich schmieden. Wie sieht es mit deiner Schulbildung aus?« »Ich bin vor drei Jahren von der Schule abgegangen. Ich mußte arbeiten«, antwortete Paul, von einer plötzlichen Anspannung befallen. Onkel Joes Blick schien bis in sein Innerstes zu dringen. »Haben die Behörden das erlaubt?« »Sir, ich habe nicht gefragt. Tante Lotte, sie und ich, wir brauchten Geld. Es war damals eine sehr schwierige Zeit.« Niemals würde er ihm von Tante Lottes Herren erzählen. Kein Sterbenswörtchen. »Na schön, wie dem auch sei«, sagte Onkel Joe nach einigen Sekunden. »Wir müssen trotzdem über diese Angelegenheit reden. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen – schon gar nicht deine Zukunft.«
156
TEIL DREI
In dieser Woche wurde Paul außerdem offiziell dem Hauspersonal vorgestellt. An der Spitze der kleinen Schar stand der mürrische Diener, den Paul irrtümlich für seinen Onkel gehalten hatte. Es war der, den Fritzi nachgeäfft hatte und den Joe junior den Traurigen Dänen nannte. Er sagte nichts, nachdem Tante Ilsa Paul vorgestellt hatte, sondern reichte ihm nur eine kalte, rauhe Hand. Manfred bewegte sich nur schweigend durch das Haus. Er bewohnte es weniger, als daß er darin herumgeisterte. Wenn er redete, dann meistens nur, um einen Befehl zu geben. Er verhielt sich den Kindern gegenüber immer sehr herrisch. Paul stellte sehr bald fest, daß Fritzi sorgfältig darauf achtete, ihm nicht zu widersprechen, und daß Carl ganz offensichtlich Angst vor ihm hatte. Obgleich Tante Ilsa in der Küche das Regiment führte und auch sehr viel kochte, wie es Ehefrauen immer taten, beschäftigten die Crowns eine Köchin, eine kleine verwitwete Frau, deren vollständiger Name Louise Volzenheim lautete. Sie wohnte ebenso wie Herr und Frau Blenkers im dritten Stock. Der Gärtner Pietro de Julio – Pete – stammte aus der italienischen Schweiz. Er wohnte irgendwo in der Stadt. Nicky Speers, der Stallknecht und Kutscher, war Engländer. Er wohnte über dem Stall des Anwesens an der Neunzehnten Straße, die parallel zur Michigan Avenue verlief. Paul fühlte sich von all den neuen Worten, Vorstellungen und Erfahrungen, die auf ihn einstürmten, völlig überwältigt. Manchmal, wenn er versuchte, eine Frage zu stellen und bei Tisch Konversation zu machen, hatte er das Gefühl, sich mit Chinesisch herumzuschlagen und nicht mit einer Sprache, die er gelernt hatte. Carl machte es noch schlimmer, indem er einen völlig unverständlichen Slang benutzte. Ein »toller« Baseballspieler war für ihn »swell«. Und wenn man erregt war, dann rief man »Gee!« Aber wenn man enttäuscht war, ließ man die Schultern hängen und sagte ebenfalls »Gee«. Dies war die farbige Sprache, von der Tante Lotte erzählt hatte. Paul mußte auf Gesichter und Gesten achten, um alles zu verstehen. Manchmal war er richtig mutlos, aber er weigerte sich zu kapitulieren. Eines Tages würde er genauso gut englisch sprechen wie die anderen. Da es so viel zu sehen und zu lernen gab, verstrich die erste Woche wie im Fluge. Der Samstag bescherte dem Haushalt eine ganz besondere und deutlich spürbare Aufregung. Onkel Joe kam schon früh nach Hause, um halb vier. Desgleichen Joe junior, der zur Abwechslung mal einen fröhlichen Eindruck machte.
CHICAGO 1892 – 1893
157
Gegen vier Uhr bat Carl Paul, doch zum Spielen mit nach draußen zu kommen. Paul schlüpfte in einen Mantel, den Tante Ilsa ihm gegeben hatte, und folgte seinem Vetter hinaus auf den Hof. Carl reichte ihm den Baseball. »Wirf mal«, sagte er, kauerte sich hin und hob seinen Fanghandschuh hoch. Paul warf den Ball von unten so fest er konnte. Er landete klatschend in Carls Handschuh. Der Junge zuckte nicht mit der Wimper. »Mit gestrecktem Arm«, sagte Carl. »Etwa so.« Er machte es vor. Paul versuchte es und hatte nach ein paar Würfen den Bogen heraus. »Und jetzt wirf, so fest du kannst.« Paul ließ seinen Arm wie eine Windmühle kreisen, so wie Carl es getan hatte, und schleuderte den Ball nun mit höherer Geschwindigkeit. Er klatschte lauter als zuvor in den Handschuh, aber Carl schwankte noch nicht einmal, als er den Aufprall abfing. »Wirf noch fester.« Joe junior schlenderte auf einem Pfad von der Gartenanlage herbei. Sie bestand aus Buschwerk, Kieswegen, Steinbänken und einem kleinen Teichbecken, das jetzt, im Winter, leer war. Alles war so angeordnet, daß die Blicke der Besucher zum Ende des Gartens an der Michigan Avenue gelenkt wurden. Dort stand die große Statue eines betenden Engels, von Büschen eingerahmt, die dahinter im Halbkreis angepflanzt waren. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und die Flügel ausgebreitet. In das Podest war das Wort FRIEDE eingemeißelt. Joes prächtiger Bart bauschte sich im eisigen Wind. »Es gibt keinen Ball, den mein kleiner Bruder nicht fangen kann. Paß auf, ich zeig’s dir.« Er streckte eine Hand aus. Paul gab ihm den Ball und trat zurück. Joe junior nahm seine ganze Kraft zusammen. Er schleuderte den Ball mit unglaublicher Wucht. Diesmal blinzelte Carl, aber er wich keinen Deut zurück. Joe warf immer wieder, und Carl fing jeden Ball. Er lief zu seinem Bruder und schlang die Arme um dessen Taille. »Du brauchst nur den Ball zu werfen, und schon liebt er dich«, sagte Joe über Carls Kopf hinweg. Dabei strich er seinem Bruder liebevoll durchs Haar. Carl lehnte sich zurück, um Joe ins Gesicht zu sehen. »Joe, wir gehen doch im Frühling mal zu den White Stockings, oder?« Joes Lächeln verflog. »Nein, ich glaube nicht, Kid. Sie sind nicht mehr das alte Team, seit Billy Sunday das Außenfeld aufgab, um Prediger zu werden. Die Dinge ändern sich nun mal.« Mit einem letzten Blick auf das imposante Haus entfernte er sich. »Bis später, Paul«, sagte er über die Schulter. »Bis später«, sagte Paul etwas zu eifrig. Joe vergrub die Hände in den Hosentaschen und ließ sich nicht herab,
158
TEIL DREI
ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Um sechs Uhr begann es leicht zu schneien. Feierlich versammelten Familie und Hauspersonal sich vor dem Weihnachtsbaum. Tante Ilsa erschien mit einer einzelnen Kerze in einem Messinghalter. Manfred stellte eine Trittleiter auf. Onkel Joe, förmlich in Rock und Krawatte, hielt einen brennenden Holzspan an das Wachslicht, stieg auf die Leiter und entzündete die erste weiße Kerze und nach und nach die anderen. Schon bald erstrahlte der ganze Baum. Die Lichter befanden sich in speziellen Klemmhaltern, die sie von den Zweigen fernhielten. Und ganz in der Nähe standen Eimer mit Sand und Wasser für den Notfall bereit. Die Kerzen, weiß als Symbol für die Unschuld des Christkindes, wurden niemals vor diesem ganz besonderen Heiligen Abend angezündet. Paul war die Zeremonie vertraut, aber er und Tante Lotte hatten sich immer nur einen kleinen, armseligen Baum mit wenigen Kerzen leisten können. Zwei Jahre hintereinander hatten sie sogar überhaupt keinen Weihnachtsbaum gehabt. Paul war erfüllt von Begeisterung und Freude, von dem Gefühl, wirklich und wahrhaftig dorthin zu gehören. Dieses Gefühl vertiefte sich noch, als Tante Ilsa, die neben ihm stand, ihn an sich drückte. Sie zogen gemeinsam ins Eßzimmer zum Festmahl mit Karpfen und einem Dutzend Vorspeisen und Beilagen. Joe junior und Paul tranken Crown-Lagerbier aus prachtvoll verzierten Krügen mit silbernen Deckeln und Henkeln. Sogar Carl und Fritzi bekamen je ein kleines Glas. Tante Ilsa trank Punsch. Onkel Joe nahm eine doppelte Portion Schlagsahne in seinen Kaffee. Zweimal ertappte Paul Fritzi dabei, wie sie ihn mit verträumten Augen ansah. Jeder war fröhlich und zum Reden aufgelegt bis auf Joe junior, der nur wenig sagte. Nach dem Essen sangen sie eine halbe Stunde lang, begleitet vom Harmonium. Dann erschienen alle Hausangestellten wieder und folgten der Familie zur Tür des Empfangssalons. Feierlich holte Onkel Joe einen Messingschlüssel hervor und schloß auf. Er griff an die Wand und schaltete die Beleuchtung an. Fritzi stieß einen Seufzer aus, und Carl hüpfte auf und nieder beim Anblick der Geschenke, die überall gestapelt waren. Die Bediensteten erhielten kleine Geschenke und Geld von den Crowns. Paul war überrascht und tief gerührt, als Tante Ilsa ihm mehrere Päckchen gab – Fritzi und Carl waren schon eifrig damit beschäftigt, die bunte Verpackung ihrer Geschenke aufzureißen. Pauls Geschenke bestanden aus drei Oberhemden, einer Schiefertafel in glattem Holzrahmen, einem Rasierapparat mit seinem Namen auf einer kleinen Messingplatte – »Du bist jetzt alt genug dafür«, sagte Onkel Joe – und, was am schönsten war, einer
CHICAGO 1892 – 1893
159
goldenen Taschenuhr. »Joey, was hast du denn bekommen?« rief Fritzi hinter einem bunt bemalten Marionettentheater. »Hauptsächlich Kleidung. Was meinst du, soll ich sie den armen Leuten geben, die heute da draußen sitzen und hungern müssen?« Onkel Joe sah seinen Sohn scharf an. Joe junior erwiderte den Blick. Stummer Protest sprach aus seinen hellblauen Augen. Paul zog nervös seine Uhr auf. Am Samstag nach Weihnachten war Silvester – der Namenstag des heiligen Silvester und Vorabend des neuen Jahres 1893. Genauso wie Weihnachten war auch Silvester teils ein religiöser, teils ein weltlicher Feiertag. Die Crowns, selbst Protestanten, feierten ihn ausgiebig. Es gab wieder ein großes Festessen am Abend und spezielle Köstlichkeiten aus der Küche – Marzipan in allerlei verschiedenen Formen und Glücksschweinchen aus Schokolade. Carl kam spät von Ballspielen mit Nicky Speers nach Hause. »Carl«, sagte Onkel Joe, »wenn du von draußen hereinkommst, denk daran, deine Schuhe zu säubern. Deine Mutter möchte nicht, daß der Schmutz auf die guten Teppiche getragen wird.« Carl murmelte etwas vor sich hin. Sanft, aber eindringlich fügte Onkel Joe hinzu: »Bring das bitte in der Küche in Ordnung.« Carl ging hinaus. Einen Moment später sagte Onkel Joe: »Da ich gerade über korrektes Benehmen spreche, muß ich dir etwas sagen, Fritzi. Und dir, Paul.« Paul verging sofort der Appetit. Tante Ilsa musterte ihren Mann stirnrunzelnd, unterbrach ihn jedoch nicht. Onkel Joe fuhr fort. »Fritzi, ich habe gestern verfolgt, wie du der Köchin eine deiner Parodien vorgespielt hast. Ich suchte gerade etwas in der Speisekammer. Ich glaube, du wußtest gar nicht, daß ich in der Nähe war. Du hast ein wunderbares Talent zur Schauspielerei. Ich habe Mr. Carnet, den Briefträger, sofort wiedererkannt.« Fritzi kicherte und errötete. »Seine Schultern waren herabgesunken, die Augen schielten. Du hast ihn genau getroffen. Ich muß dir jedoch erklären, daß er nur deshalb so gebeugt geht, weil er jeden Tag fünfeinhalb Meilen laufen muß und weil er kein junger Mann mehr ist. Was seine Augen betrifft – es ist grausam, sich über die Gebrechen eines Menschen lustig zu machen. Er kann nichts dafür, daß es so ist, deshalb lenke nicht die Aufmerksamkeit darauf, es gehört sich nicht.«
160
TEIL DREI
Fritzi machte ein niedergeschlagenes Gesicht. Offenbar liebte sie ihren Vater sehr und haßte es, sein Mißfallen erregt zu haben. Sein spontanes warmes Lächeln nahm seinen Bemerkungen ein wenig die Spitze. Er drehte sich auf seinem Stuhl halb um. »Und nun zu dir, Paul –« »Sir!« rief der wie ein Rekrut, der seinem Unteroffizier Meldung machen soll. »Bitte, stopfe dein Hemd in die Hose, und fahr dir mal mit dem Kamm durch die Haare, ehe du an den Tisch kommst. Ordentliche Manieren fördern ordentliche Gedanken.« »Ich werde daran denken, Onkel Joseph«, sagte Paul und verrenkte sich, um den heraushängenden Hemdzipfel zu verstecken. Onkel Joe lächelte auch ihn an. Dann sagte er zu seinem ältesten Sohn: »Joe, ich möchte dir wegen deines gepflegten Bartes ein Kompliment machen. Du bist noch ziemlich jung dafür – die meisten Bärte, die man sieht, gehören Veteranen der Unionstruppen und sind fast so eine Art Ehrenzeichen für alte Soldaten –« Paul konnte Joe juniors Gesichtsausdruck und das, was in seinem Vetter vorging, nicht deuten. »Dein Bart sieht immer sehr ordentlich aus, was ich nicht erwartet habe, als du dir die ersten Stoppeln hast stehenlassen.« »Ich geb’ mir Mühe, Paps«, sagte Joe junior. »Ich weiß ja, was dir gefällt und was nicht.« Paul fragte sich, weshalb Joe sich bei seinem Vater nicht für das Kompliment bedankte. Onkel Joe nickte und aß weiter. Tante Ilsa schien den goldenen Rand ihres Tellers zu untersuchen. Und da Paul das Essen mundete, vergaß er dieses Intermezzo bald. Um Mitternacht rannten alle die hohe Veranda hinunter und durch das Tor hinaus auf die Michigan Avenue. Sie waren in Mäntel, Schals und Handschuhe gehüllt, hatten Glocken aus dem Haus mitgenommen, lärmten und riefen den Nachbarn fröhliche Wünsche zu, und Carl ließ ganze Ketten von Krachern und Böllern auf der Straße explodieren. Überall in der Stadt wurde in ähnlicher Weise gefeiert, mit Kirchengeläut, Kanonenschlägen, Gewehr- und Pistolenschüssen. Carl reichte Paul ein brennendes Stück Zunder, das er an eine Zündschnur hielt. Beide Jungen brachten sich durch einen Sprung in Sicherheit und hielten sich die Ohren zu. Die Kracher gingen los wie die Gewehre eines ganzen Infanterieregiments. Fritzi schrie, rannte zu Paul, sprang hoch und küßte ihn auf die Wange. Dann rannte sie schnell wieder weg. Er sah, wie Tante Ilsa die Arme verschränkte und lächelte. Alles war vollkommen.
CHICAGO 1892 – 1893
161
Bis zum nächsten Morgen, als Joe junior zum Frühstück erschien und so verändert war, daß Paul ihn auf den ersten Blick gar nicht erkannte. Paul und Onkel Joe aßen bereits. Onkel Joe saß im Oberhemd am Tisch und leerte eine Tasse Tee. »Ein frohes neues Jahr, mein Junge, ich –« Er verstummte und starrte seinen Sohn an. Joe junior hatte sich von seiner Barttracht getrennt. »Warum hast du das getan?« »Weil ich beim Aufwachen beschlossen habe, daß ich ihn leid bin.« »Ist das der Grund? Oder weil ich dir ein Kompliment gemacht habe? Hol dir etwas zu essen, und setz dich. Wir müssen darüber reden.« »Nein, ich glaube nicht, Papa. Ich habe keinen Appetit. Ich muß mich beeilen, ich werde abgeholt.« Während er hinausging, rief Onkel Joe: »Wo willst du hin?« »Nach Pullman, Rosie besuchen.« »Wann kommst du wieder zurück?« »Das weiß ich nicht.« Er verschwand. Einen Moment später hörte Paul, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Plötzlich blickte Onkel Joe Paul an. Er war ein völlig anderer Mensch. Bleich. Seine Hand zitterte deutlich. Als er seine Teetasse hochnahm, schlug er sie klirrend gegen die Untertasse. Etwas Tee schwappte über. Paul senkte den Blick. Ein Familienstreit, genau das, was er befürchtet hatte. Unvermittelt tat sich ein feiner Riß auf in dem glatten, glänzenden Gefüge des Familienlebens im Hause Crown. Wie schnell er dies hatte entdecken müssen! 14 ILSA Früh am Montag, dem zweiten Tag des neuen Jahres 1893, saß Ilsa am Ende des langen Eßtisches und hatte ihre übliche Kollektion Chicagoer Zeitungen, sowohl in englischer wie auch in deutscher Sprache, vor sich ausgebreitet. Zu ihrer Überraschung hörte sie die Schritte ihres Mannes draußen in der Halle. Sie hatte angenommen, daß er längst in der Brauerei war. Joe junior hatte bereits das Haus verlassen, ebenso die jüngeren Kinder. Die Ferien waren zu Ende, die Schule hatte wieder begonnen. Joe Crown kam mit federnden Schritten herein, gab seiner Frau einen Kuß auf die Wange, dann setzte er sich auf seinen Platz am Kopfende des Tisches. Er war fertig angezogen. Seine dunklen braunen Augen blickten müde, bläuliche Schatten lagen darunter.
162
TEIL DREI
Joe brach ein Brötchen durch und häufte mit einem kleinen Silberlöffel Marmelade darauf. Ilsa musterte ihn aufmerksam. »Du bist heute morgen spät dran, nicht wahr?« »Ja, ich wollte mit dir über unseren Neffen sprechen. Wo ist er?« »Draußen, bei Pete. Die Sonne hat gestern den Rasen sehr gut abgetrocknet. Pete und Paul harken das abgestorbene Gras zusammen. Gestern habe ich Pauli Feuerholz hereinholen lassen. Er ist sehr willig. Und er erledigt jede Arbeit mit Eifer.« Joe Crown blickte auf, nachdem er sich eine Tasse Tee eingeschenkt hatte. »Ich glaube, der Junge möchte gerne Paul genannt werden.« Ilsa lächelte. »Na ja, anscheinend kann ich mich nicht an den Namen gewöhnen. Seit er hier hereinmarschiert ist, von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und auf meinem Teppich ohnmächtig wurde, ist er Pauli für mich. Was wolltest du mit mir besprechen?« »Zuerst einmal das Thema Hauslehrer.« »Wir waren uns doch schon einig, daß das eine gute Idee ist.« »Na schön, ich habe Zwick angewiesen, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Nun zum allgemeinen Wohl des Jungen – es scheint, als habe er von sich selbst keine allzu hohe Meinung. Ich spüre das. Dazu äußert er sich nämlich nicht. Er braucht eine Tätigkeit, ein Handwerk. Anständige Arbeit in irgendeinem Bereich, wo er seine Erfolge sehen kann und wo sie auch von anderen anerkannt werden.« Ilsa seufzte. »Nicht die Brauerei, Joe. Noch nicht. Er braucht eine Schulausbildung. Und zwar in einer öffentlichen Schule, nicht durch einen Hauslehrer.« Ihr Mann sagte nichts. »Joe?« »Ist schon gut. Eine Schulausbildung. Ich wollte schließlich deine Meinung hören.« Er sah sie an, aber nicht mit Wärme. »Du verwirfst eine Arbeit in der Brauerei reichlich schnell, Ilsa.« »Nein, nein, überhaupt nicht. Aber zuerst braucht er –« »Nach all diesen Jahren«, unterbrach er sie, »ist meine Arbeit also noch immer ein Streitpunkt.« »Du kennst den Grund. Papa –« »Erspar mir das«, sagte er mit untypischer Knappheit. Es ärgerte sie. »Da ist auch noch die Frage des guten Rufs, über die wir schon häufig diskutiert haben. Du kannst dem nicht ausweichen, Joe. Viele, viele Leute haben eine ganz bestimmte Meinung von einem Bierbrauer. Sie sehen ihn als jemand, der sein Geld damit verdient, daß er die Trunkenheit fördert.«
CHICAGO 1892 – 1893
163
Joe Crown begann mit einem großen, polierten Eberzahn herumzuspielen, der an seiner Uhrkette hing. »Ich fördere nicht die Trunkenheit, Ilsa. Ich produziere und verkaufe ein gesundes, nahrhaftes Getränk. Ein traditionelles Getränk. So gut für den Menschen wie Käse oder Fleisch oder Milch. Ich durfte den ersten Schluck kosten, als ich sechs oder sieben war. Seitdem trinke ich in Maßen und erfreue mich stets bester Gesundheit. Ich bin es einfach leid, hören zu müssen, wie die Industrie ständig beschuldigt wird, Müßiggang, Verbrechen, sexuelle Freizügigkeit, die Auflösung der Familie zu unterstützen. Und mir wird vorgeworfen, daß wir unser Produkt panschen, daß wir es mit ›Verunreinigungen und Giften‹ verderben – die natürlich niemals genau benannt werden. Wir werden ständig mit den Whiskeybrennern in einen Topf geworfen – eine weitere Beleidigung. Überdies betreibe ich eine anständige, ehrliche Brauerei. Ich verweigere meinen Männern das übliche Privileg, sich frei zu bedienen, und entweder sie akzeptieren das, oder sie arbeiten nicht mehr für mich. Wenn jemand trotzdem ein paar Schlucke während der Arbeit trinkt, dann kann ich nichts dafür.« »Du beschäftigst drei Werbeagenten.« »Verdammt noch mal, Frau, Dolph Hix und seine Männer sind Vertreter, sie sollen verkaufen!« »Vertreter, ein schöner Titel. Aber Dolph und die anderen haben ständig eine Menge Geld in der Tasche, das du ihnen gibst. Dieses Geld geben sie in Saloons aus, indem sie rundenweise Crown-Bier für das ganze Lokal spendieren.« Er schob die Teetasse zurück. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Das ist eine fruchtlose Diskussion. Jedesmal, wenn wir darauf zu sprechen kommen, enden wir in der gleichen Sackgasse.« »Das stimmt, aber ich kann nicht für meine Empfindungen und meine Meinung zu –« »Entschuldige, Ilsa, aber ich habe mich bereits verspätet. Sorge bitte dafür, daß Paul in der Schule angemeldet wird. Ich komme heute mittag nicht zum Essen nach Hause. Mach’s gut.« Er blieb nicht an ihrem Tischende stehen, um ihr einen zweiten Kuß zu geben, wie er es sonst immer tat, wenn er zur Arbeit aufbrach. Er verließ den Raum mit betrübter Miene. Ilsa hörte, wie die Hintertür des Hauses laut ins Schloß fiel. Sie war verärgert und traurig zugleich. Sie wollte Joe wirklich nicht erzürnen oder in seinem Stolz verletzen. Aber sie hatte ihre eigenen Ansichten und Überzeugungen. Mit zwanzig Jahren hätte sie diese als
164
TEIL DREI
bescheidenes deutsches Mädchen in Cincinnati sicherlich gut verborgen. Aber die Zeiten waren vorbei. Ilsa war sich fast sicher, daß ihr Mann wieder im Begriff war, in einer seiner düsteren Phasen zu versinken. Mindestens zweimal im Jahr zog es ihn in den Süden. Er sagte, er wolle sich eine bestimmte Stadt ansehen, um dort vielleicht eine Brauereifiliale zu eröffnen oder sich über den Zustand gewisser Anlagen, die ihm im Staat South Carolina gehörten, zu informieren. Gewöhnlich unternahm er diese Reisen nach einer Phase verstärkter Arbeitsbelastung oder nach irgendwelchen geschäftlichen Rückschlägen. Diese Reisen schienen ihn zu beruhigen und ihm zu helfen, seine Gedanken neu zu ordnen. Wenn er wieder daheim war, erzählte er manchmal stundenlang, wo er gewesen war und was er getan hatte. Nach anderen Reisen hingegen sagte er gar nichts, erwähnte nicht einmal seinen Aufenthaltsort. Ilsa mißtraute ihrem Mann nicht und stellte sich auch nicht vor, daß er irgendwo eine Geliebte hatte. Doch sein Schweigen beunruhigte sie, denn sie fühlte, daß es auf einer Verfinsterung des Geistes beruhte, von der er nie ganz frei war. Mit Pessimismus, dessen Wiege der dunkle und kalte Norden Europas war, rechnete man als Deutscher und machte sogar seine Scherze darüber. Doch Joes Unbehagen ging tiefer. Es war eine Seite seiner Natur, die Ilsa ratlos machte; ein Teil seiner Seele, den er vor ihr verbarg, eine Mauer, die er aufgerichtet hatte und die sie niemals überwinden konnte. Ilsa Crown liebte ihren Mann vorbehaltlos. Sie kannte und tolerierte all seine Charaktereigenschaften, die guten wie die schlechten. Auch seine Stimmungen. Seinen brennenden Ehrgeiz. Joseph Crown war ein Mann, der nach Erfolg strebte. Sein Tatendrang versetzte sie in die Lage, in einer luxuriösen Umgebung zu leben und Kinder großzuziehen. Aber er hatte auch eine unangenehme Seite. Joe strebte auch danach, die Welt nach seinem Willen zu ordnen. In Anbetracht der Wechselfälle des Lebens, der Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur, führte das sehr häufig zu Konflikten. Bei der frohen Stimmung während der Feiertage fiel es leicht, die Konflikte innerhalb der Familie zu vergessen oder zu verdrängen. Aber diese Zeit war nun vorüber, nur das Dreikönigsfest stand noch bevor. Pauli hatte Ablenkung, etwas Neues und gute Laune in den Haushalt gebracht, aber auch das würde nicht lange anhalten. Sie und Joe hatten sich schon wieder über das Thema Alkohol gestritten wie schon sehr oft zuvor. In der Küche hing ein Sinnspruch in deutscher Sprache. Die Tafel hatte Ilsas Mutter gehört. Der Spruch lautete: Zufriedenheit ist des Hauses Glück.
CHICAGO 1892 – 1893
165
Ilsa saß an diesem Morgen ungewöhnlich lange am Frühstückstisch und fragte sich, ob die Zufriedenheit ihres Hauses in den kommenden Monaten wohl noch mehr gestört werden würde. Ilsa Crown war vier Jahre jünger als ihr Ehemann. Sie war im Jahr 1846 in Bayern als Ilse Schlottendorf zur Welt gekommen. Ihre Eltern waren Bauern, die nur dieses eine Kind hatten. Sie war in einer Umgebung aufgewachsen, die sie liebte, in einem typischen Bauernhaus, einem stabilen Holzbau, wo Mensch und Vieh unter einem roten Ziegeldach zusammenlebten. Ihr Zimmer befand sich direkt über dem Stall, und das Schlaflied ihrer Kindheit war das unentwegte Muhen der Milchkühe gewesen. Eine ihrer schönsten Erinnerungen war die an die Familie, wenn sie sich an einem Winterabend in der Küche des Bauernhauses versammelte, um in der Wärme des großen Steinofens mit seinen geometrisch gemusterten Kacheln die Abendmahlzeit einzunehmen. Aus diesem Raum stammte die kleine Tafel in der Küche mit dem Sprichwort über die Zufriedenheit. In Bayern hatte sie stets bei der Arbeit geholfen und war dadurch stark und zäh geworden. Sie hatte immer einen scharfen Verstand und so etwas wie geistige Unabhängigkeit bewiesen. Aber sie rebellierte nicht, sie war ein respektvolles, konventionelles Mädchen. Wenn ihre Mutter ausging und einen Hut aufsetzte, der sie als Hausfrau auswies, trug Ilsa einen Kranz, das Zeichen der jungen, unverheirateten Frau. Ihre liebste Zeit im Jahr war Ostern. Nach den heftigen Schneefällen des Winters und der nüchternen Phase der Fastenzeit bescherte Ostern den Menschen den Frühling und das Freudenfeuer im Dorf, bei dem die Strohpuppe, die Judas darstellte, verbrannt wurde. Außerdem konnte man in dieser Zeit den unvergeßlichen Anblick strohumflochtener Wagenräder genießen, die in der Abenddämmerung in Brand gesetzt und von den Berggipfeln zu Tal gerollt wurden. Gelegentlich träumte sie noch immer von den Osterrädern, die durch die Dunkelheit rumpelten und einen Funkenregen versprühten. Mehrere Jahre mit schlechter Witterung und dürftigen Ernten sowie das Talent ihres Vaters zur Mißwirtschaft hatten die Familie in Bayern fast in den Ruin getrieben. Der Hof wurde für viel weniger verkauft, als er wert war. Das Geld reichte gerade noch für Eisenbahnfahrkarten nach Bremen und die Schiffspassage nach New York. Die Schlottendorfs unternahmen die Überfahrt im Jahr 1856, als Ilsa gerade zehn Jahre alt war. Sie kamen durch Castle Garden und reisten, auf Anraten eines Freundes in ihrer Heimat, direkt weiter nach Cincinnati. Die Stadt auf den Bergen
166
TEIL DREI
oberhalb des Ohio-Flusses war eine von dreien, in denen Deutsche der ersten großen Einwanderungswelle gegen Mitte des Jahrhunderts sich in großer Zahl niederließen. Die anderen beiden Städte waren Milwaukee und St. Louis. In Cincinnati amerikanisierte Ilse auch ihren Namen, indem sie aus dem e ein a machte. Jemand empfahl ihr den Namen Elsa, aber sie schrieb ihn mehrmals auf, und das Schriftbild gefiel ihr nicht. Die Schlottendorfs mieteten ein kleines Haus im fünften Bezirk, in der Nähe des Kanals, wo es ein großes deutsches Viertel namens Over-theRhine gab. Als Joseph Kroner ein Jahr später in Cincinnati eintraf, nahm er sich ein billiges Zimmer in einem anderen Teil der Stadt. Trotz der neu aufkeimenden Hoffnung und seiner Begeisterung für visionäre Ideen scheiterte Ilsas Vater ein weiteres Mal. Zusammen mit zwei Partnern kaufte er ein großes Grundstück in Hanglage am Fluß unweit der Stadt. Da dieser Teil Amerikas den Weinanbaugebieten in Deutschland sehr ähnlich war, waren die Partner überzeugt, sie könnten Schößlinge vom Rhein und von der Mosel importieren und nach ein paar Jahren einen einträglichen Weinberg besitzen. Aber das Klima stimmte nicht, die warme Saison für das Wachstum der Trauben war zu kurz, und die Winter dauerten zu lang. Das noch im Aufbau befindliche Unternehmen ging sehr schnell ein, und mit ihm starb die letzte Hoffnung ihres Vaters. Was in den Monaten nach dem Scheitern des Weinanbaus geschah, hinterließ bei ihr schreckliche Spuren. Ilsa lernte ihren zukünftigen Ehemann erst in dem stürmischen, ereignisreichen Sommer des Jahres 1861 kennen. Die Union führte gegen den rebellischen Süden Krieg, junge Männer schrieben sich ein, junge Mädchen wie Ilsa waren aufgeregt beim Anblick so vieler Uniformen, und in Cincinnati brodelte es, da es unterschiedliche politische Zugehörigkeiten gab, obwohl die Stadt sich offiziell auf die Seite des Nordens stellte. Die Stadt war ein wichtiger Sammelpunkt für entlaufene schwarze Sklaven, die mit der Underground Railroad in den Norden nach Kanada in die Freiheit flohen. Sie war außerdem mit vielen Sympathisanten der Sezession bevölkert, von denen viele mit ehemaligen Sklavenhaltern des zerrissenen, blutigen Staates Kentucky auf der anderen Flußseite verwandt waren. Die »Männer von ‘48«, die sich in Amerika niederließen, waren nahezu unerschütterlich in ihrer Treue zur Union. Sie haßten die Sklaverei und all jene, die sie praktizierten. Ihre Frauen teilten diesen Haß. Ilsas Mutter arbeitete als freiwillige Krankenschwester für Quäker, die bei der Underground Railroad mitarbeiteten. Der Haushalt der Schlottendorfs enthielt eine kleine Bibliothek mit Literatur, die für die Abschaffung der Sklaverei plädierte, darunter auch Mrs. Stowes berühmten Roman sowie die
CHICAGO 1892 – 1893
167
Schriften von Frederick Douglass und William Lloyd Garrison. Die Teilnahme an Demonstrationen gegen die Sklaverei gehörte ebenfalls zu den Tätigkeiten, die diese Verfechter der Freiheit auf sich nahmen. So kam es, daß Ilsa Schlottendorf an einem schwülen Abend im August 1861 ihre zwanzigjährige Kusine zweiten Grades, Mary Schimmel, zu einer Abolitionistenversammlung in der Halle des Odd Fellows Lodge begleitete. Mehrere weiße Redner wandten sich nacheinander an die Versammlung und vermengten Argumente gegen die Sklaverei mit emotionalen Erklärungen zur Notwendigkeit des Krieges, der das System für immer und ewig vernichten sollte. Der letzte Redner des Abends war ein in Alabama geborener Farbiger mit wolligem grauem Haar namens Turk, dessen Vorfahren aus Dahome stammten. Er erzählte vom Verkauf seiner Ehefrau und seiner beiden kleinen Kinder durch seinen finanziell in Bedrängnis geratenen weißen Besitzer. Dann beschrieb er, was geschehen war, als er gegen die erzwungene Trennung der Familie protestiert hatte. Turk streifte sein Hemd ab und trat nach vorn zu der Reihe qualmender Petroleumlampen auf die Plattform. Als er sich umdrehte, schrie das Publikum unisono auf. Die junge Ilsa fiel beim Anblick der kreuz und quer verlaufenden Narben auf Turks Rücken beinahe in Ohnmacht. Am Ende von Turks Vorstellung forderte die Menge brüllend das Blut der Rebellen. Jedermann verließ die Halle mit der festen Entschlossenheit im Herzen, den Krieg zu unterstützen, obgleich es damals sehr unwahrscheinlich schien, daß der Sieg der Union leicht und ohne große Verluste zu erringen wäre. Ilsa und Mary wurden von anderen Versammlungsteilnehmern umhergestoßen, während sie durch die Tür nach draußen drängten. Eine schwüle Dunkelheit erwartete sie, erfüllt vom Dunst, der über dem Fluß aufstieg und sogar die Sterne verschleierte. Wo haben wir unser Pferd angebunden? fragte Ilsa sich. Eine Freifläche, nahezu stockdunkel, erstreckte sich neben der Holzhalle von der Vorderseite bis zur Hinterfront an der nächsten Straße. Wegen der großen Besuchermenge hatten die Mädchen ihren Wagen am hintersten Ende des Platzes abstellen müssen. Teilnehmer der Versammlung beeilten sich, den Ort zu verlassen; sie fuhren in ihren Kutschen schnellstens davon. Ilsa fächerte sich frische Luft zu, während sie durch die Staubwolken irrten, die von den davonrollenden Wagen hochgewirbelt wurden. Plötzlich umfaßte sie den Arm ihrer Kusine. »Mary, sieh doch, da ist unser Wagen. Was machen die Männer denn da?« Zwei Männer, als Silhouetten vor den Laternen eines Grogausschanks deutlich zu erkennen, hatten sich offensichtlich völlig willkürlich einen
168
TEIL DREI
Einspänner ausgesucht und hieben mit Messern auf die Zugriemen des Pferdes ein. Das befreite Tier stürmte auf die Straße und galoppierte davon. »He, hallo, was fällt Ihnen ein?« rief Ilsa und rannte los. Ihre ziemlich rundliche Kusine keuchte hinterdrein. Ilsa war viel zu wütend, um Angst zu empfinden. »Verschwindet! Das ist unser Eigentum!« schimpfte sie und stürzte sich auf den Mann, der ihr am nächsten stand. »Autsch, du deutsches Luder«, brüllte der Mann und rammte ihr den Ellbogen in die Brust. Angeschlagen wankte Ilsa zurück und prallte gegen Mary. »Komm, nehmen wir uns diese Niggerfreundinnen vor, Jud.« »O mein Gott, o mein Gott«, jammerte Mary auf deutsch. Entsetzt sah Ilsa sich auf dem verlassenen Platz um. Immer noch fuhren Leute weg, wobei die Räder ihrer Fuhrwerke dichte Staubwolken aufwirbelten. Der Staub behinderte die Sicht. Ilsa und ihre Kusine waren völlig allein, niemand nahm von ihnen Notiz … »Schnapp sie dir, Tom«, sagte Jud. Der andere Mann sprang mit einem Satz hinter Ilsa und hielt sie fest. »Ihr Rebellenmonster!« schrie Ilsa und schlug und trat wild um sich. Der Mann, der sie festhielt, riß sie herum. »Laß das, verdammt noch mal!« Er schlug ihr mit der blanken Hand ins Gesicht. Um sie drehte sich alles, der Staub, die trüben Lampen des Ausschanks, die verschwommenen Sterne am Himmel. Ilsa stolperte und stürzte mit einem Knie auf einen Grashaufen. Plötzlich hörte sie, wie der Mann namens Tom etwas brüllte: »Herrgott, paß auf!« In schwerfälligem Englisch rief jemand: »Laßt sofort die Frauen in Ruhe! Was seid ihr nur für ein Gesindel!« Ilsa erkannte, wie eine kleine, zierliche Gestalt die Pferdepeitsche aus der Halterung des Wagens riß. Er zog die Peitschenschnur mitten durch Toms Gesicht. Tom heulte auf. Der Fremde schlug weiter auf ihn ein. »Verschwindet von hier, verdammtes Pack! Und zwar dalli, ehe ich euch beide umbringe!« Die Rebellen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie humpelten vom Platz und verschwanden die furchige Straße hinunter. Der Fremde klopfte sich den Staub von seinem schweren schwarzen Mantel und strich sich durch das Haar. Er war noch jung, klein und drahtig. Seine Haltung verlieh ihm Autorität. Er stieg über den Grashaufen, über den Ilsa gestolpert war, und streckte ihr seine Hand entgegen. Als sie sie ergriff, spürte sie seine Kraft. Mit seiner Hilfe stand sie auf. Auf deutsch erkundigte er sich: »Ist alles in Ordnung?« »Ja. Aber meine Kusine – was ist mit ihr?« Der Fremde kniete sich hin, beugte sich über Mary, die in der Nähe des
CHICAGO 1892 – 1893
169
Einspänners mit geschlossenen Augen auf der Erde lag. »Sie ist nur in Ohnmacht gefallen, glaube ich. Dies ist eine schreckliche Geschichte. Freunde haben mich gewarnt, daß sich vor der Halle Gesindel aus dem Süden herumtreibt, aber ich hatte keine Ahnung, daß sie sich so schändlich aufführen würden.« Er begann, mit der einen Hand Marys Wange zu tätscheln und mit der anderen ihr Handgelenk zu massieren. Plötzlich hob er den Kopf. »Oh, entschuldigen Sie, ich bin sehr unhöflich. Ich habe völlig vergessen, mich vorzustellen.« Ilsa lachte schüchtern. »Nun – unter diesen Umständen –« Mary Schimmel stöhnte und richtete sich auf. Der Fremde trat einen Schritt zurück und blickte Ilsa an. Im Licht der Kneipenlampen sah Ilsa sein junges, markantes Gesicht zum erstenmal deutlicher. »Ich heiße Josef Kroner«, sagte er und verbeugte sich. Das war der Moment, so erzählte Ilsa später, als sie sich in ihn verliebte. Falls es nicht so gewesen sein sollte, erschien es doch in der Erinnerung so und ging damit in die Familiengeschichte ein. Josef Kroner, neunzehn Jahre alt, arbeitete in Imbrey’s Brewery, einer von mehreren Brauereien, die alle in deutschem Besitz standen und alle in Cincinnati angesiedelt waren. Er war gerade seit vier Monaten bei Imbrey’s beschäftigt, nachdem er vorher eine untergeordnete Stelle bei Rugeldorfer Ice innegehabt hatte, einer Firma, die an zahlreiche Privathaushalte und Firmen, darunter auch Imbrey’s, Eis lieferte. Sobald der Ohio-Fluß zufror, erzählte Josef Ilsa in der Zeit, in der sie sich kennenlernten, war die gesamte Belegschaft von Rugeldorfer damit beschäftigt, mit Quersägen Eis zu bergen. Sie arbeiteten sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag, bei Schnee, Hagel oder Minustemperaturen; die Saison war kurz, und die Nachfrage war groß. Lagerbier wurde immer beliebter, aber ehe Lager verkauft werden konnte, mußte man es in kühlen Kellern oder Höhlen altern oder ruhen lassen. Dazu war Eis nötig, und das tonnenweise. Die meisten Brauereien hatten keine Eisfabriken. Imbrey’s hatte den jungen Josef eigens dafür eingestellt, eine Eisfabrik auf dem Brauereigelände zu entwerfen, sie zu bauen und anschließend auch zu betreiben. Obwohl Imbrey’s eine gute alte Firma war, zuverlässig, wenn auch nicht gerade hervorragend, wurde Josefs Zukunft dort in dem Augenblick völlig unsicher, als der Krieg ausbrach. Die gesamte Gemeinde Over-the-Rhine war plötzlich von patriotischem Feuer beseelt. Nachdem Josef und Ilsa sich trafen, eröffnete er ihr als erstes, daß auch in ihm dieses Feuer brenne und
170
TEIL DREI
daß er mit Tausenden von Deutschen, von denen viele noch nicht einmal die englische Sprache beherrschten, losmarschieren und für sein neues Heimatland kämpfen wolle. Er habe sich bereits zur Truppe gemeldet, und zwar bei Oberst W. H. H. Taylor und seiner 5. Kavallerie aus Freiwilligen, der 5th Ohio Volunteer Cavalry. Er habe in der Eisfabrik viel mit Pferden zu tun und damit schon mehr Erfahrung, als die meisten Kavallerierekruten bieten könnten. Er würde sich Anfang September im Camp Dick Corwin, das in der Nähe von Cincinnati läge, zum Dienst melden. Als sie das hörte, war Ilsa begeistert, aber auch merkwürdig traurig. Diese seltsam gemischte Reaktion machte ihr zum erstenmal bewußt, daß sie diesen braunäugigen jungen Mann, der sich immer so betont gerade hielt, sehr gern hatte. Josef machte Ilsa erst nach dem Krieg einen Heiratsantrag. Mittlerweile hatte er den Namen Joe Crown angenommen. Er war ein erfahrener Veteran, nachdem er mit der Kavallerie der Generäle Sherman und Kilpatrick bis nach Savannah und durch North und South Carolina geritten war. Er war zweimal verwundet worden, aber er redete nur wenig über seine Kriegserlebnisse und wich Ilsas direkten Fragen danach aus. Er schien ins Grübeln zu kommen, wann immer die Rede darauf kam. Ilsa entschied, daß dies wohl ein Geheimnis war, das sie niemals vollständig ergründen würde. Joe formulierte seinen Heiratsantrag sehr einfach. »Würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden, Ilsa?« Ihre Antwort kam von Herzen. »Ich weiß nicht.« Er reagierte verblüfft, danach verletzt. »Du sagst, du liebst mich. Du hast es mehrmals gesagt.« »Ich liebe dich, ja. Aber dein Gewerbe liebe ich nicht.« Da lag das Problem. Sofort nach seiner nach Rückkehr nach Cincinnati hatte er ihr von seinem ehrgeizigen Plan erzählt. Er wollte Imbrey’s bald verlassen, sich auf eigene Füße stellen und eine eigene Brauerei aufbauen. Er wollte sein Leben in die Hand nehmen, sein Glück versuchen. »Weißt du, ich möchte nicht mit jemandem Zusammensein, der etwas mit einer Brauerei oder einer Brennerei zu tun hat«, fügte sie hinzu. »Moment mal!« rief er. »Das sind völlig unterschiedliche Bereiche. Bier ist gut. Bier ist deutsch, Brauer sind anständige, aufrechte Leute.« Er erinnerte sie daran, daß es die deutschen Brauer Amerikas waren, die bei der Finanzierung des Krieges mitgeholfen hatten, indem sie 1862 den Internal Revenue Act unterstützten, ein Gesetz, das jedes verkaufte Faß Bier mit einer Steuer von einem Dollar belegte. »Das weiß ich«, sagte sie. »Aber ich habe bestimmte Erinnerungen, Joe.
CHICAGO 1892 – 1893
171
Erinnerungen an meinen armen Vater.« »Dein Vater ist tot. Du hast mir nie viel von ihm erzählt, aber du hast erwähnt, er sei gestorben, während ich im Krieg war.« »Papa ist schuld daran, daß Mama eine verbrauchte Frau ist. Mehr als fünf Jahre lang hat sie sechs Tage pro Woche in der Bäckerei Kammel gearbeitet. Sie mußte für unseren Lebensunterhalt sorgen, weil Vater es nicht konnte. Er war ein Trinker. Du hast ihn nur ein- oder zweimal gesehen, ehe du in den Krieg gezogen bist. Deshalb hast du wahrscheinlich nie Verdacht geschöpft.« Joe sagte nichts. Vielleicht hatte er doch einen Verdacht gehabt. Sie wollte es nicht wissen. »Er trank ständig«, sagte sie. »Mama dachte, sein Trinken sei der Grund dafür gewesen, daß es mit dem Bauernhof nicht richtig klappte. Hier in Amerika wurde es noch schlimmer. Nachdem auch die Pläne mit seinem Weinberg fehlschlugen, trank er nur noch, und zwar alles, was er finden konnte, Wein, Whiskey – sogar Gärungsalkohol. Für eine Weile versuchten seine Freunde zu helfen, indem sie für ihn Arbeit suchten, aber er schaffte es nicht einmal, den einfachsten Job zu behalten. An dem Abend, als die Stadt den Sieg über den Süden bei Gettysburg feierte, betrank er sich wieder, stürzte in den Kanal und ertrank. Du begreifst also, weshalb ich nicht viel übrig habe für jemanden, der anderen Menschen zu einem solchen Schicksal verhilft.« Ilsa Schlottendorf heiratete Joe Crown trotzdem, weil ihre unendliche Liebe stärker war als ihre deutlich undeutsche Einstellung gegenüber Bier. Viele Jahre lang, als junge Frau und junge Mutter, erfüllte sie die allgemeinen Erwartungen und äußerte zu den Geschäften ihres Mannes niemals Einwände oder Kritik. In der letzten Zeit hatte sich das geändert. In der letzten Zeit änderten sich viele Dinge für die Crowns. Als Ilsa sich beruhigt hatte und das Eßzimmer verließ, suchte sie den größten Raum im ersten Stock auf; ihr persönliches Reich. Die Küche. In vieler Hinsicht waren Ilsa Crowns Charakter und Interessen ungewöhnlich für eine Person mit ihrem Hintergrund und ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ihre Beziehung zur Küche hingegen entsprach sehr deutlich der Tradition. Lange vor ihrer Ehe mit Joe hatte sie erkannt, daß eine perfekte Küche das Aushängeschild eines anständigen deutschen Haushalts war, und als Ehefrau widmete sie Stunden und Jahre dem Bemühen, eine solche Küche zu schaffen und zu erhalten. Die Arbeit – und sogar die Küche als solche – spendete ihr Trost und munterte sie auf, wenn sie Sorgen hatte.
172
TEIL DREI
Ilsa und Louise, eine kleine graue Frau, die an eine Maus erinnerte, nickten einander zu und murmelten eine Begrüßung. Louise bereitete gerade einen leichten Teig zur Herstellung von Nudeln vor. Joe aß sehr gerne Fadennudeln, in Butter gebraten. Ilsa würde sich ab jetzt um den Teig kümmern, und Louise würde nichts dagegen haben. Mehr noch, sie erwartete es sogar. Eine deutsch-amerikanische Hausfrau kochte sehr viele Mahlzeiten für ihre Familie selbst, auch wenn sie eine vollständige Mannschaft in ihrer Küche beschäftigte. Ilsas Küche war mit einem riesigen alten, auf Löwenklauen stehenden Monstrum von Holzherd ausgerüstet, aber ansonsten war sie sehr luftig und modern eingerichtet. Kupferpfannen aller Größen baumelten sauber aufgereiht an Deckenhaken. Holz- und Stahlutensilien – Löffel, Messer, Fleischbeile, Fleischsägen – hingen ähnlich geordnet an den Wänden, wo man sie ohne Schwierigkeiten erreichen konnte. In der Aufteilung und im Betreiben ihrer Küche bewies die Hausfrau aus der Alten Welt ihre Haupttugend, die Tüchtigkeit. Louise legte ein schweres Teigbrett neben den Fleischklotz auf den Arbeitstisch. Dann kippte sie den Teig aus einer Schüssel auf das Brett. Ilsa holte einen Mehlkasten. Nachdem sie die Knöpfe der Spitzenmanschetten ihres Kleides aufgeknöpft und die Manschetten bis über die Ellbogen hochgeschoben hatte, streute sie eine sorgfältig bemessene Handvoll Mehl auf das Brett und machte sich daran, es nach und nach in den Teig hineinzukneten. Louise hob den Deckel von einem Topf auf dem Herd. Der Geruch einer leise vor sich hinköchelnden Hühnerbrühe reicherte die schon sehr appetitlichen Düfte in Küche und angrenzender Speisekammer noch mehr an, wo Ilsa jemanden rumoren hörte. »Wer ist da drin, Louise?« »Der Botenjunge von Frankel. Er ist neu. Ich gab ihm einen Kaffee, weil er darum gebeten hat.« Dann flüsterte Louise hinter vorgehaltener Hand: »Er war ziemlich aufdringlich. Ich wette, Frankel wird ihn nicht sehr lange behalten.« Ilsa spürte, daß der Teig etwas fester wurde. Aber er war noch nicht fest genug. Sie bereitete den Teig nicht nach Rezept oder nach der Uhr, sondern allein nach Erfahrung und Instinkt. Sie hatte ihrer Mutter das erste Mal bei der Zubereitung von Nudeln geholfen, als sie vier Jahre alt war. Das rhythmische Kneten und Ziehen des Teigs besserte nach und nach ihre Laune. Vor sich hin pfeifend, tauchte der Botenjunge des Metzgers aus der Speisekammer auf, eine hochgewachsene, schlaksige Erscheinung von
CHICAGO 1892 – 1893
173
vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahren. Seine Haut war sehr weiß, die dunkelbraunen Augen zeigten einen lebhaften und stechenden Blick. Er trug eine schwarze Hose, eine schwarze Weste, ein weißes Hemd, dessen Ärmel rote Flecken von den verschiedenen Produkten in Frankels Fleischmarkt aufwiesen. Er stellte seine leere Kaffeetasse auf einen Stuhl und tippte an seine Stoffmütze. Seine schwarzen Haare waren sorgfältig zu einer öligen Tolle über die hohe Stirn gekämmt. Er sagte zu Louise: »Vielen Dank für den Kaffee, er war prima. Meine Mutter hat auch immer köstlichen Kaffee zubereitet. Den besten.« Louise warf ihrer Herrin einen vielsagenden Blick zu. Zu dem Botenjungen sagte sie: »Hast du das Fleisch an den Platz getan, den ich dir gezeigt habe?« »Gleich in die Eiskiste. Das ist wirklich eine große Speisekammer. Wir hatten zu Hause auch eine, wenn auch um die Hälfte größer, würde ich meinen, ‘n Morgen, Ma’am«, sagte er zu Ilsa, die ihn anlächelte und ihm zunickte, obgleich seine Augen ihr nicht gefielen. Sie tasteten sich durch die Küche, sprangen vom Kupfertopf zu einer Silberkelle, als begutachteten sie beides aus irgendeinem unbekannten Grund. »Wie lautet dein Name, junger Mann?« »Daws. Jimmy Daws.« »Louise erzählte mir, du seist ganz neu bei Abraham Frankel?« »Ja, ich hab’ vor zwei Wochen dort angefangen.« »Mr. Frankel ist ein anständiger Mann. Gefällt dir das Metzgerhandwerk?« »Ich denke schon«, sagte der Botenjunge mit einem Achselzucken, dessen träge Gleichgültigkeit ihr unangenehm auffiel. »Es ist immerhin besser, als auf der Straße Zeitungen zu verkaufen oder Schuhe zu putzen. All das habe ich schon getan und verdammt – hm, sogar viel mehr.« »Willst du denn Metzger werden?« »Das weiß ich noch nicht. Ich habe Angst, daß ich dann an Langeweile sterbe. Aber man muß schließlich von irgendwas leben, nicht wahr? Nun, guten Morgen die Damen, ich muß weiter. Noch mal danke, Herzchen.« Er ging hinaus. Die kleine Louise Volzenheim schäumte vor Wut. »Herzchen, was soll das denn heißen? Herzchen! Ein unverschämter Bengel. Solche wie der sind mir schon öfter begegnet, erzählen einem immer, in welcher Beziehung sie besser dran sind. Gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall.« Sie flüsterte schon wieder, obgleich niemand mehr da war, der hätte mithören können. »Frankel wird ihn sicher nicht behalten. Er sagte, der Junge sei ein Drückeberger.« Stirnrunzelnd blickte Ilsa auf die massive Tür zur Hintertreppe. »Ich
174
TEIL DREI
mag ihn auch nicht. Ich kann nicht mal sagen, weshalb. Irgendwie kommt er mir … verdächtig vor.« Fritzi zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie, kurz nachdem sie von der Schule hereingestürmt war, atemlos zu Ilsa in den Empfangssalon gelaufen kam und ihr um den Hals fiel. »Mama, ich muß dir eine Frage stellen. Unbedingt!« Ilsa lächelte; Fritzi liebte das Spiel, Schauspieler und Schauspielerinnen. Oft redete sie nicht einmal, sondern deklamierte. »Dann frag, bitte«, sagte Ilsa mit einem Kopfnicken. »Ich habe mich mit Gertrude Emmerling in der Schule unterhalten. Wir diskutierten, und ich wurde wütend, denn Gerti sagte, die Ehe zwischen Vettern und Kusinen ersten Grades sei unpassend.« »Ersten …?« Ilsa verstummte, als ihr die Bedeutung der Frage klar wurde. Sofort unterdrückte sie auch nur den Anflug eines Lächelns. »Beschäftigt dich das so sehr, Fritzi?« »Nun –« Fritzi wand sich unbehaglich. »Ein wenig. Es ist mir einfach eingefallen, es ist nur eine Frage, Mama.« Ilsa ergriff die Hände ihrer Tochter. »Ich muß dir leider sagen, daß Gertrude Emmerling recht hat. Eine Ehe zwischen Vettern und Kusinen ersten Grades wird als anstößig empfunden. Vielfach ist eine solche Verbindung sogar gesetzlich verboten. Was die Gesetze hier in Illinois sagen, weiß ich nicht –« Sie umarmte ihre Tochter. »Aber mach dir keine Sorgen, es dauert noch ein paar Jahre, ehe du ernsthaft über die Ehe und ähnliche Dinge nachdenken mußt.« »Ich hab’ doch nur gefragt«, rief Fritzi und stürmte hinaus. Ilsa lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Fritzi war also niedergeschlagen, enttäuscht. Ilsa konnte das verstehen. Sie hatte ähnliche Schulmädchenschwärmereien durchlitten. Fritzi würde darüber hinwegkommen.
CHICAGO 1892 – 1893
175
15 JOE CROWN Joe ärgerte sich über seinen Streit mit Ilsa. Es dauerte bis zum späten Vormittag, daß er sich soweit beruhigt hatte, um Yerkes anzurufen, was ihm sogar unter idealen Umständen unangenehm war. Sie mußten noch über einen weiteren feierlichen Empfang sprechen, für dessen Gestaltung ihr Komitee ausersehen worden war. Der Empfang sollte im Union League Club am Montag, den 1. Mai stattfinden – am Eröffnungstag der Ausstellung. Auch der Präsident nähme daran teil. Die Infantin von Spanien wurde erwartet, zusammen mit einem direkten Nachkommen von Christopher Columbus. Diese Feier würde noch größer und prächtiger werden als die feierliche Einweihung im vorangegangenen Herbst. Joe hatte bereits beschlossen, die Brauerei am Eröffnungstag zu schließen. Viele Unternehmen in Chicago planten das gleiche. Das Gespräch mit Yerkes dauerte zehn Minuten. Die Verbindung war sehr schlecht. Es knisterte, und ständig war ein seltsames Pfeifen in der Leitung zu hören. Diese modernen Einrichtungen waren alles andere als vollkommen. Joe empfand nach wie vor wenig Sympathien für Yerkes. Der Mann war ein regelrechter Bandit und dachte nur an seinen persönlichen Vorteil. Seiner Bürgerpflicht kam er nur in sehr berechnender Weise nach, was er offenbarte, indem er fragte: »Ist sich eigentlich eine der Zeitungen darüber im klaren, wieviel Arbeit wir in die ganze Angelegenheit hineinstecken?« »Du meinst, ob unsere Namen erwähnt wurden? Nicht daß ich wüßte.« Joe fügte gar nicht erst hinzu, daß er niemals in die Zeitung sah, um seinen Namen im Lokalteil zu suchen. »Macht das denn einen Unterschied?« »Aber natürlich. Wenn wir all diese Mühe auf uns nehmen, gebührt uns doch einiges an Anerkennung. Warum setzt du dich nicht mit irgend jemand in Verbindung? Vielleicht mit diesem Klatschreporter Gene Field von den Daily News.« »Wenn es für dich so wichtig ist, Charles, warum tust du es nicht selbst? Ich habe alle Hände voll zu tun.« Dabei schlug er einen etwas schärferen Ton an, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. »Na schön, Joe. Wenn du das so siehst, werde ich mich mal darum kümmern.« Nach einem Klicken und einem weiteren gespenstischen Pfeifton war die Verbindung unterbrochen. Joe hängte den Hörer ein und trat von dem großen Holzkasten an der Wand zurück. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er verärgert. Und dieses Gefühl erinnerte ihn wieder an seine Diskussion mit Ilsa.
176
TEIL DREI
Er verstand ihre Abneigung gegen die Brauerei, aber er ärgerte sich darüber. Sie reagierte – was recht menschlich war – rein gefühlsmäßig, aber in seinen Augen war ihre Ablehnung völlig unbegründet. Er meinte durchaus ernst, was er ihr gesagt hatte. Er führte den Betrieb auf ehrenhafte und aufrichtige Art und Weise. Er hatte sich niemals irgendwelcher hinterlistiger Praktiken bedient, wie sie in der Industrie üblich waren, etwa in Form von Preisabsprachen zwischen ein paar Herstellern, die sich in aller Heimlichkeit trafen. Oder in Form gezielter Preismanipulationen in einer bestimmten Stadt oder Region, um Konkurrenten aus dem Geschäft zu drängen. Er gestattete seinen Angestellten nicht, sich frei mit Bier zu bedienen, und sah auch nicht darüber hinweg – wie er seiner Frau klargemacht hatte. Er lieferte sein Bier nicht an Etablissements, in denen Prostitution getrieben wurde oder in denen Prostituierte offen ihrem Gewerbe nachgehen konnten. Er beschäftigte keine Kinder. Einige seiner Kollegen waren der Auffassung, daß ihm auf diese Art und Weise eine Menge guter Geschäfte entgingen. »Na schön«, pflegte er auf entsprechende Bemerkungen zu erwidern, »ich will eben um diesen Preis keine Geschäfte machen.« Und das reichte Ilsa noch immer nicht – wegen ihres Vaters und ihrer radikalen Freundinnen Miss Frances Willard von der Women’s Christian Temperance Union und Miss Jane Addams von der Hull-House-Stiftung und anderen. Joe Crown war stolz auf die Unabhängigkeit und die Intelligenz seiner Frau. Er wünschte sich nur, daß diese Unabhängigkeit und all die aufregenden Ideen der neuen Zeit – Sozialismus und Anarchismus, freie Liebe, Frauenrechte, um nur ein paar der schlimmsten aufzuzählen – sie nicht so mitgerissen hätten. Modern zu sein war für einen Mann durchaus in Ordnung. Aber nicht für eine Ehefrau. Am Nachmittag schloß er die Tür seines Büros, um sich besser auf einen Brief an Lotte konzentrieren zu können. Er schrieb ihn in schwarzer Tinte auf schwerem Büttenpapier mit einer goldenen Krone als Prägedruck am oberen Rand. Seine Handschrift war eher klein und sehr ordentlich. Meine liebe Schwester, es tut mir leid, daß ich Dir nicht schon eher geschrieben habe. Ich möchte Dir auf diesem Weg mitteilen, daß unser Neffe wohlbehalten eingetroffen ist. Er nennt sich jetzt Paul Crown, was mir sehr gefällt. Sei versichert, daß ich mich angemessen um ihn kümmern werde.
CHICAGO 1892 – 1893
177
Er überlegte für einen Moment, ehe er die nächsten Zeilen schrieb, und dabei runzelte er unbewußt die Stirn. Wir werden dafür sorgen, daß er weiter zur Schule geht. Ich hoffe, daß Du dich bester Gesundheit erfreust, daß Dein Weihnachtsfest harmonisch verlief und das neue Jahr viel Glück für Dich bereithält. Ich schreibe Dir ausführlicher, sobald ich dazu ausreichend Zeit finde. Einstweilen schicken ich und die ganze Familie Dir unsere lieben Wünsche und Grüße. Dein Dich liebender Bruder – Er tauchte seinen Federhalter erneut in die Tinte und setzte schwungvoll ein großes »J« ans Ende des Briefs. Im Vorzimmer zog er eine farbige Ansichtspostkarte aus einem Ständer, der zwei oder drei Dutzend davon enthielt. Alle Karten zeigten das gleiche Motiv: eine Darstellung der Fassade der Brauerei Crown, auf deren Ecktürmen die amerikanische Flagge wehte. Joe hatte eine Menge für die Arbeit des Werbezeichners und für den Druck bezahlt. Er war stolz auf die Karte, die er als nützliche Werbung betrachtete. Schließlich herrschte gerade eine große Nachfrage nach solchen Objekten, da sich das Sammeln von Bildpostkarten zunehmender Beliebtheit erfreute. Sogar Paul hatte eine der Karten an die schon jetzt überfüllte Merktafel in seinem Zimmer geheftet. Joe legte die Karte zu dem Brief, schrieb die Adresse auf den Briefumschlag und bat Zwick, ihn per Schiffspost abzuschicken. Während Joe an diesem Abend nach Hause fuhr und sich in seiner Kutsche entspannte, dachte er über Pauls Anwesenheit in der Familie nach. Einige seiner schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Der Junge war bereitwillig aufgenommen worden. Carl bewunderte ihn ganz eindeutig, zweifellos weil Paul älter war. Joe hätte jedoch niemals im Traum daran gedacht, daß Fritzi für ihren Vetter romantische Gefühle entwickeln würde. Der einzige dunkle Punkt war Joe juniors Reaktion auf Paul. Nicht gerade Ablehnung, aber Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar betonte Zurückhaltung. Paul litt sicherlich darunter. Joe junior stand Paul altersmäßig am nächsten, und Paul sah zu ihm auf, so wie Carl zu Paul aufschaute. Joe Crown verstand die Gründe für das Verhalten seines ältesten Sohnes nicht, es sei denn es war eine weitere Demonstration seiner Rebellion gegen die elterliche Autorität. Ach, wer konnte schon die Verhaltensweisen eines jungen Mannes
178
TEIL DREI
erklären oder analysieren, der von jemandem wie Benno Strauss beeinflußt wurde? Daß Joe senior im Alter seines Sohnes genauso eigensinnig gewesen war und sich gegen die Einwände der Ängstlichen und Neidischen auf den Weg nach Amerika gemacht hatte, stand nicht länger zur Diskussion. Ich muß mit Joe reden, entschied er. Er mußte etwas gegen dessen stumme Ablehnung Pauls unternehmen. An diesem Abend klopfte er nach dem Essen an Joe juniors Zimmertür. Eine unwirsche Stimme forderte ihn knapp auf einzutreten. Joe junior hatte die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Bett ausgestreckt. Ein Buch lag auf seinem Bauch. Er klappte es zu und behielt den Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten. Zu seinem Mißfallen sah Joe, welches Buch es war. Fortschritt und Armut von Henry George. Dieses verrückte Traktat! Henry George war ein ganz Radikaler, der den privaten Besitz von Land genauso verdammte wie jene, die aus einem solchen Besitz Gewinn schlugen. Er würde sie am liebsten mit einer hohen, drückenden Steuer belegen. Henry George und seine Ideen waren das reinste Gift. »Hallo, Pa«, begrüßte ihn sein Sohn. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.« »Ja?« Das alte respektvolle Sir, daß ihm seit seiner Kindheit eingetrichtert worden war, gehörte nicht mehr zu Joe juniors Vokabular. Unbewußt hob Joe eine Hand an die Weste. Daumen und Zeigefinger griffen nach dem Eberzahn, der an der goldenen Uhrkette hing. »Ich möchte, daß du auch ein wenig von deiner Zeit mit deinem Vetter verbringst. Daß du etwas freundlicher zu ihm bist.« Joe junior seufzte. »Pa, ich arbeite sechs Tage in der Woche, erinnerst du dich? Wenn ich nach Hause komme, bin ich so müde, daß ich kaum die Augen offenhalten kann. Wie übrigens jeder andere, der in der Brauerei arbeitet«, fügte er bedeutsam hinzu. Joe Crowns Zeigefinger und Daumen glitten auf dem glänzenden Zahn hin und her. »Du bist aber nicht zu müde, um irgendwelchen radikalen Unsinn zu lesen, wie ich sehe. Du könntest mit Paul sonntags etwas unternehmen.« Joe juniors Augen schienen kälter, eisig zu werden. »Der Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich Rosie sehen kann.« »Trotzdem möchte ich, daß du zu Paul etwas freundlicher bist. Er ist ein liebenswerter Junge –« »Ja, er ist schon in Ordnung«, sagte Joe junior mit einem gleichgültigen Achselzucken. »Wenn auch noch ein bißchen jung.« »Sobald es wieder wärmer wird, möchte ich, daß du ihm die Stadt zeigst. Spiel ein wenig den Reiseführer, zeig ihm die interessanten Plätze. Ich
CHICAGO 1892 – 1893
179
verlange nicht viel von dir, Joe, aber das ist eine ganz besondere Bitte.« Sie sahen einander in die Augen, fixierten sich, als wollten sie die Willensstärke des anderen prüfen. Joe junior errötete. Er wandte den Blick als erster ab. »Okay, Pa. Ich werd’ tun, was ich kann.« »Danke, Joe. Gute Nacht.« Er machte schnell kehrt, weil er abtreten wollte, solange er sich noch als Sieger fühlen konnte. Während er die Tür schloß, schreckte die gedämpfte Stimme seines Sohnes ihn auf. »Durchaus möglich, daß dir nicht gefällt, was ich ihm zeige.« Einen Fluch murmelnd, schritt Joe Crown durch den Korridor nach unten. Der Streit am Frühstückstisch kam nicht zur Sprache, als er und Ilsa zu Bett gingen. Joe faßte unter der Decke nach ihrer Hand. Sie schmiegte sich in der Dunkelheit an ihn und duftete nach einer der Cremes, die sie für die Nacht immer in ihrem Gesicht verteilte. Sie hauchte ihm einen Kuß auf das Kinn und streichelte es zärtlich. »Wegen Pauls Anmeldung in der Schule –« »Ich rede am Wochenende mit ihm. Ich ziehe bereits Erkundigungen ein.« »Danke, Joe.« Sie küßte ihn wieder. Wenige Augenblicke später fiel sie in den Schlaf, und er hörte das sanfte Geräusch ihres Atems. Er war hellwach. Das Haus knirschte und knackte in der eisigen Kälte der Januarnacht. Er dachte an Paul. An seine Schwierigkeiten auf dem Schiff; an das tragische Feuer in New Jersey; an seinen gefährlichen Marsch nach Chicago. Automatisch verglich er diese Erlebnisse mit seiner eigenen Auswanderung als Josef Kroner. Er hatte Not, Hunger und gelegentlich sogar Ablehnung und Feindschaft erlebt. Aber während seiner langen Reise von Aalen nach Cincinnati im Jahr 1857 hatte er niemals Gewalt erfahren. Bestimmte Abschnitte waren sogar sehr schön und vergnüglich verlaufen. Er erinnerte sich noch an die erste Etappe, die Fahrt auf einem Kohlenkahn den Rhein hinunter. Er hatte dem Kapitän ein paar Pfennige bezahlt und ansonsten für seinen Lebensunterhalt gearbeitet. Er war im Frühsommer unterwegs gewesen. In einigen Nächten hatte er an Deck gelegen und zu den tausendfach funkelnden Sternen am Himmel emporgeschaut. Er hatte eine Sternschnuppe mit langem Flammenschweif beobachtet, ein phantastischer Anblick. Er verließ Bremen auf einem Schiff der Norddeutschen-LloydSchifffahrtsgesellschaft. Die Unterbringung im Zwischendeck war
180
TEIL DREI
spartanisch, aber weder gefährlich noch ungesund. Die Verpflegung war einfach, aber reichlich gewesen, und der sommerliche Ozean hatte sich bis zum Ziel von seiner ruhigen Seite gezeigt. In New York City ging er an einem Ort namens Castle Garden an Land, einem riesigen, schuppenähnlichen Gebäude mit spitz zulaufendem Dach, das in einem hübschen Park an der Spitze der Halbinsel Manhattan stand. Jemand sagte, der Park trüge den Namen Battery. Es dauerte nur dreieinhalb Stunden, bis der junge Josef von den unfreundlichen und nörgelnden Behördenvertretern als Einwanderer anerkannt und von den Ärzten untersucht worden war. Er wußte, daß sehr viele Deutsche sich an und um eine Durchgangsstraße namens Bowery angesiedelt hatten. Diese fand er ohne Schwierigkeiten, ehe es dunkel wurde. In einem deutschen Restaurant trank er Bier und aß ein paar Wurstbrote, danach erkundigte er sich nach Arbeit. Es gelang ihm mit einigem Verhandlungsgeschick, sich eine vorübergehende Stelle bei dem Eigentümer zu verschaffen. Er half bei der Reparatur des Dachs, denn er brauchte Geld für die Weiterfahrt zu einer der von Deutschen bewohnten Städte im Landesinnern. Noch immer unter dem Namen Josef Kroner, schloß er die Dachreparatur nach zwei Monaten ab. Danach suchte er sich woanders Arbeit. Die Kommunikation war nicht sehr schwierig. Viele Leute in New York beherrschten seine Sprache. Er hatte sich bereits ein kleines Buch über englische Grammatik besorgt und lernte fleißig. Er fand eine Anstellung als Helfer im großen und düsteren BoweryTheater. Die Schauspiele, die er verfolgte, während er im hinteren Teil des Zuschauerraums stand, hatten im wesentlichen Schlägereien, Messerstechereien, Schießereien und versuchte Vergewaltigungen der jeweiligen Heldin zum Inhalt. Das Publikum im Parkett auf den harten Bänken ohne Lehnen schwatzte, lachte und beschimpfte sich gegenseitig. Die Zuschauer weiter oben auf den billigen Galerieplätzen waren nicht besser. Straßenlümmel, Prostituierte und ganze Familienclans bewarfen all die Schauspieler, die ihnen entweder gefielen oder die sie ablehnten, mit Münzen oder Apfelsinenschalen. Nach diesen Erfahrungen entwickelte Josef Kroner sehr frühzeitig eine Abneigung gegen das amerikanische Theater. Sobald er genug Geld gespart hätte, wollte er eine billige Fahrkarte nach St. Louis kaufen, einem Mekka für Deutsche, die soeben in Amerika gelandet waren. Der Kassierer des Theaters hatte zufälligerweise einen Bruder in Cincinnati, der eine Eisfabrik leitete. Er konnte Josef gut leiden und gab ihm daher einen Empfehlungsbrief mit. »Vergiß St. Louis«, sagte
CHICAGO 1892 – 1893
181
er. »Cincinnati ist um einiges schöner. Auch dort leben viele von unseren Leuten.« Es war schon seltsam, wie der Zufall manchmal Menschen auf einen ganz anderen Weg als den ursprünglich geplanten schicken konnte. Hätte er den Kassierer im Bowery-Theater nicht kennengelernt, hätte er sich wahrscheinlich in St. Louis niedergelassen. Und in diesem Fall hätte er wohl niemals als Lehrling in einer Brauerei angefangen, nie von einer eigenen Brauerei geträumt und sich auch nie in das Abenteuer gestürzt, von überwiegend zusammengeborgtem Geld einen solchen Betrieb in Chicago zu eröffnen. Er hätte niemals Ilsa kennengelernt, hätte weder die Gesichter seiner eigenen geliebten Kinder gesehen, seinem Neffen Unterkunft und eine Chance geboten, noch sich selbst als reichen, oft aber auch sorgenvollen Menschen in einer neuen Heimat wiedergefunden … Es war angenehm, über all das nachzudenken, während man in einer kalten Winternacht in einem warmen Bett lag. Joseph Crown war von seiner Kindheit als Josef Kroner geprägt. Seine frühesten Erinnerungen an Aalen waren sehr angenehm. Der Geruch von Hefe, Bier, frisch gebackenem Brot. Das lebhafte Geplapper der bunten und weltgewandten Gästeschar, die die zehn Zimmer des Hotel Kroner bewohnten – das im Hinterhaus sogar über eine kleine Brauerei verfügte. Als Junge spielte Josef häufig auf der gepflasterten Radgasse vor dem Hotel, oder er streunte mit anderen Jungen aus der Stadt durch die umliegenden Berge. Er zeigte hervorragende Leistungen in den verschiedenen Schulfächern, hatte aber für die strenge Routine der Schule an sich nicht sehr viel übrig. Sein Vater Thomas war ein fleißiger Mann, der sich stets über irgend etwas ärgerte. Er machte sich Gedanken über Politik, über den unbarmherzigen Adel, der das Land beherrschte, über das Schicksal Deutschlands. Seine Mutter Gertrud war eine praktische Person. Sie beaufsichtigte den Hotelbetrieb und führte die Bücher. Sie war besonders geschickt im Umgang mit Zahlen, eine Fähigkeit, die Josef von ihr geerbt hatte. Die Bedeutung der Revolution von 1848 verstand er erst viele Jahre später. Er wußte nur, daß die Familie eine schlimme Zeit durchmachte, denn sein Vater schloß sich sofort den Rebellen an, und sein älterer Bruder Alfred wurde des Nachts von Soldaten gefangengenommen und ins Gefängnis gesteckt. Alfred war neun Jahre alt, Josef sieben. Josef hatte Glück gehabt, daß man ihn nicht auch verhaftet hatte. Gertrud hatte ihn in
182
TEIL DREI
einem Kleiderschrank versteckt. Alfred war erwischt worden, während er in der kleinen Halle Staub wischte. Als Alfred nach Hause zurückkehrte, war er völlig verändert. Er war geschlagen und mißbraucht worden. Er konnte nie wieder normal gehen. Weihnachten 1849 gehörte zu der schlimmsten Zeit in Josefs Leben. Thomas Kroner wurde in Stuttgart gehängt und dann zur Beerdigung nach Aalen überführt. Am ersten Abend, als der geschlossene Sarg im Haus in der mit schwarzen Tüchern verhangenen Hotelhalle aufgestellt war, kam Josef zitternd herein. Er begriff, daß sein Vater in der billigen, rohen Holzkiste lag. Er warf sich auf den Sarg, schlug mit den Fäusten darauf ein, schrie seinen Haß und seine Trauer hinaus, bis er vom protestantischen Geistlichen der Familie weggezerrt wurde. Der Pastor schaffte Josef hinauf in sein Zimmer, während Gertrud, vom Kummer überwältigt, tatenlos zusah, unfähig einzugreifen. Der Pastor stieß Josef in sein Zimmer, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Josef schrie und trommelte gegen die Tür. Ein paar Minuten später hörte er draußen ein Scharren. Es war Alfred mit seinem bandagierten, verkrüppelten Fuß. Alfred flüsterte ihm durch die Tür etwas zu, versuchte ihn zu trösten. Vergeblich. Josef schrie erneut, lauter noch als vorher. Schließlich wurde der Schlüssel zum zweiten Mal herumgedreht, der Pastor kam mit einer Schüssel kalten Wassers herein und schüttete es dem jammernden Jungen über den Kopf. Josef wurde durch diese Dusche wieder in die Normalität zurückgeholt. Er rannte aus dem Zimmer hinaus nach unten und sank schluchzend seiner Mutter in die Arme. Er hatte sich noch nie so verrückt benommen. Er sollte es auch nie wieder tun. Nachdem Thomas Kroner zur ewigen Ruhe gebettet war, brachen für die Brauerei und das Hotel schwere Zeiten an. Es gab einfach zuviel Arbeit. Und Josefs Mutter war eine gebrochene Frau. Zuerst wurde 1851 die Brauerei geschlossen. Das Hotel wurde vernachlässigt, bekam einen zunehmend schlechten Ruf. Die Stammgäste blieben aus. Als Gertrud 1853 an einem Herzinfarkt starb, organisierten Freunde der Familie den Verkauf des Betriebs. Es wurde nur ein sehr niedriger Preis erlöst, der kaum ausreichte, um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen. Josef zog zu einer Familie ihrer Glaubensgemeinschaft, das gleiche taten auch sein Bruder und seine Schwester. So lebten sie mehrere Jahre lang, wanderten von einer Familie zur anderen wie Pakete, die niemand haben wollte. 1855, enttäuscht von Deutschland, von der Grausamkeit seiner
CHICAGO 1892 – 1893
183
Regierenden, der Hoffnungslosigkeit des Lebens dort, begann Josef aufmerksam zuzuhören, wenn jemand von Amerika erzählte, und fing an zu sparen. 1857, mit fünfzehn Jahren, verließ er Aalen für immer. Seine Schwester Charlotte war erst zehn, als er sich verabschiedete. Gerhard war kaum neun Jahre alt und bereits ein unangenehmer Junge, wahrscheinlich weil er nie einen richtigen Vater gehabt hatte. Später berichtete Gerhard in einigen Hetzbriefen an Josef, daß ihre Schwester in Berlin die Geliebte irgendeines Mannes sei, wenn nicht sogar eine richtige Hure. Josef, der sich mittlerweile Joseph Crown nannte, entschied, all dem keinen Glauben zu schenken. Er stellte niemals Nachforschungen an. Er hörte jedoch auf, Gerhard zu schreiben. Er schickte nicht einmal mehr Weihnachtsgrüße, was, nach Ilsas Meinung, unchristlich war. Am Ende der ersten Januarwoche 1893 fielen in Chicago fast vierzig Zentimeter Schnee. Am Sonntag – bei eisiger Kälte türmten sich noch immer Schneehaufen in den Straßen – holte Joe die ganze Familie nach draußen. Alle waren da außer Joe junior, der bereits zum Lincoln Park gegangen war, um dort mit seinen Freunden Schlittschuh zu laufen. Seine Freundin sei unpäßlich, hatte er beim Frühstück verkündet. Ilsa und die Kinder zogen sich ihre dicksten Mäntel, Ohrenschützer, Handschuhe und Stiefel an. Joe begnügte sich mit einem langen roten Schal, den er sich über Rock und Weste mehrmals um den Hals schlang. Seine Lederhandschuhe steckte er in die Taschen, weil sie seine Hände zu unbeholfen machten. Er nahm auch seine Kodakkamera mit. »Stellt euch bitte in einer Reihe auf! Ich möchte euch vor den Schneehaufen photographieren.« »Joe, die Sonne ist so hell«, sagte Ilsa. »Ich kann kaum was sehen. Kann man denn auf dem Bild nachher mehr als nur ein weißes Leuchten erkennen?« »Keine Ahnung, das ist für mich auch ganz neu. Wir werden es ja feststellen.« Joes Finger waren taub vor Kälte, als sie den schwarzen Kasten mit der rauhen Oberfläche hielten. Als er die Augen zusammenkniff, um den Ausschnitt für sein Bild zu bestimmen, bemerkte er Pauls Gesicht. Die Augen des Jungen fixierten die Kamera. Das einzige Wort, das seinen Zustand richtig beschreiben konnte, war »gebannt«. Fritzi streckte Carl die Zunge heraus, dann kicherte sie und zupfte an Pauls Ärmel, um ihm etwas zu sagen. Er achtete nicht darauf. Nachdem sie wieder ins Haus zurückgekehrt waren, um in der Küche heißen Kakao zu trinken, sagte Joe: »Paul, komm doch mal bitte in mein
184
TEIL DREI
Arbeitszimmer. Ich wollte schon die ganze Woche mit dir reden. Das ist jetzt ein günstiger Moment.« Joe Crowns Arbeitszimmer war ein kleiner Raum im ersten Stock der Villa. Dorthin zog er sich abends oder am Sonntag nach der Kirche und nach dem Abendessen zurück, erledigte irgendwelche Brauereiangelegenheiten, die er sich nach Hause mitgenommen hatte, oder beschäftigte sich mit Dingen, die die Familie betrafen – Fragen der Disziplin, irgendwelche Ratschläge, was immer gerade von Bedeutung war. »Schließ bitte die Tür, Paul, und setz dich.« Paul zog sich einen Sessel an den Schreibtisch heran. Joe legte die kastenförmige schwarze Kodakkamera auf einige Papiere. Winterlicher Sonnenschein flutete in den Raum. Er schien Paul zu blenden, so daß er blinzelte. Ehe Joe sich soweit gesammelt hatte, um zur Sache zu kommen, machte Paul schon den Mund auf. »Onkel Joe, wieviel hat das da gekostet?« Er deutete auf die Kamera. Joe sah den Jungen verblüfft an. »Wieso? Wünschst du dir so etwas?« »Sehr sogar, später mal, ja.« Pauls Englisch war noch sehr unbeholfen und hatte einen starken Akzent. Es klang stockend und wurde häufig von Pausen unterbrochen. Joe nahm die Kamera in die Hand. »Eastman bietet mittlerweile mehrere Modelle an. Dieses hier kostet genau acht Dollars und zwanzig Cents. Ein Sonderangebot. Und nun –« »Ich habe noch eine andere Frage, Onkel. Gibt es jemand, der mit Photographien Geld verdient?« Joe überlegte. »Vielleicht die Drucker, die Postkarten herstellen oder Bilder für Stereoskope in den Saloons.« »Ich meine – ob jemand Geld verdient –, indem er nur auf den Knopf drückt?« »Ach so. Indem er Bilder aufnimmt. Nein, das glaube ich nicht. Anständig leben kann man davon sowieso nicht. Ich habe in der Stadt einige Porträtstudios gesehen. Ziemlich schäbige Läden.« Paul runzelte die Stirn. »Schäbig. Armselig.« Jetzt verstand er. Paul lächelte, nickte. »Es ist eine bemerkenswerte Erfindung, aber ich glaube kaum, daß es jemals mehr sein wird als eine Kuriosität. Überleg doch mal, wie viele Bilder von seiner Familie oder von der Chinesischen Mauer kann jemand schon haben wollen?« Er legte die Kamera beiseite und bemerkte dabei den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Neffen. »Paul, ich muß mit dir über zwei Dinge reden, die beide mit deiner Erziehung und Ausbildung zu tun haben. Ich habe mit einem Mann
CHICAGO 1892 – 1893
185
gesprochen, der dich in Englisch unterweisen kann, und mit einem anderen unterhalte ich mich am nächsten Dienstag. Dann werde ich meine Entscheidung treffen. Wenn du hier im Haus Unterricht erhältst, ist es sicher für dich eine große Hilfe.« »Vielen Dank, Onkel.« »Deine Tante und ich haben uns ausführlich über dein Wohlergehen unterhalten. Wir denken – sie denkt –, daß du eine öffentliche Schule besuchen sollst. Zwar ist dein Englisch alles andere als perfekt – mißversteh mich bitte nicht, du hast in der verhältnismäßig kurzen Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht –, aber ich bin überzeugt, daß du die Sprache gut genug beherrschst, um einem Schulunterricht folgen zu können, wenn auch in einer etwas niedrigeren Klasse als deinem Alter eigentlich entspricht. Der Hauslehrer wird sicherlich auch von großem Nutzen sein. Daher werden wir dich so bald wie möglich auf eine Schule schicken.« »In dieselbe wie die von Fritzi und Carl?« »Nein, in eine andere, am anderen Ende der Stadt. Ich habe mich von einem Freund, George Hesselmeyer, beraten lassen. Er sitzt im Schulausschuß von Chicago. Dem Ausschuß gehören mehrere deutsche Mitglieder an. Hesselmeyer empfahl diese spezielle Schule wegen ihrer hervorragenden Lehrerschaft.« »Was für eine Schule ist es denn?« »Eine Volksschule. Aber du kommst gleich in die höchste Klasse. Dort triffst du noch andere Jungen und Mädchen, die – ist etwas nicht in Ordnung?« Pauls Handflächen lagen auf den Knien seiner Knickerbocker. Er drückte sie so fest zusammen, daß die Knöchel weiß wurden. »Sir, ich bin nicht gut im Lernen. Ich weiß nicht warum, aber es ist so.« »Magst du keine Schularbeit?« »Ehrlich gesagt, Sir – nein. Die Bücher – sie sind so langweilig. Die Lehrer auch. Ich möchte Dinge über Amerika lernen. Aber ganz frei. Direkt in der Stadt. Indem ich herumlaufe, mich umschaue –« »So wie du Lust und Laune hast, nicht wahr?« Sonnenschein lag auf der rechten Gesichtshälfte Joe Crowns, ließ sie hell und weiß werden, bis sie an weißen Marmor erinnerte. Er lächelte nicht mehr. Er verlieh seiner Stimme etwas mehr Kraft, hatte Mühe, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ich fürchte, wenn du in dieser Welt alles nur nach Lust und Laune tust, wirst du es nicht sehr weit bringen, Paul. Du mußt richtig ausgebildet werden.« »Ich bringe mir alles selbst bei, Sir. Lerne ganz allein –« Joe unterbrach ihn in scharfem Ton. »Kennst du das alte Sprichwort
186
TEIL DREI
nicht?« Er sagte es auf deutsch. »Wer sich selbst lehrt, der hat einen Narren zum Schulmeister.« Er wartete. »Hast du dazu noch etwas zu sagen?« »Ja, Sir. Mein Vetter, Joe, er arbeitet in Ihrer Brauerei. Könnte ich das nicht auch?« Mittlerweile lag in Pauls Stimme ein Ausdruck der Verzweiflung. »In einem oder zwei Jahren, wenn wir sehen, wie du vorankommst, dann ist das vielleicht möglich. Ich will nicht zu streng sein, Paul, aber du lebst in meinem Haus, ich bin für dich verantwortlich, deshalb treffe ich die Entscheidung, Du wirst angemeldet.« Paul ließ den Kopf sinken. »Ja, Sir«, sagte er leise. Er war am Boden zerstört. Seine Miene war die eines zum Tode Verurteilten. Joe Crown verspürte plötzlich eine innere Unruhe. Ilsa hatte sich geirrt, er war nicht dafür geeignet. Aber er konnte seine eigene Autorität nicht untergraben, indem er irgend etwas von seinen Entscheidungen zurücknahm oder gar nachgab. Mann und Frau mußten geeint auftreten, eine gemeinsame Front bilden. »Es wird schon gehen«, sagte Joe, nun etwas freundlicher. »Bald wirst du dich in der Schule wie zu Hause fühlen.« Paul nickte düster. »Danke, Paul, das ist im Augenblick alles.« Paul erhob sich, schob den Sessel an seinen Platz zurück und ging lautlos hinaus. Joe Crown legte eine Hand auf die Kodakkamera und dachte nach. Der Junge war klug. Hunderte von Menschen hatten sich selbst das nötige Wissen angeeignet. Auch er hatte es geschafft. Er hätte Ilsa widersprechen sollen. Er hatte das sichere Gefühl, daß diese Angelegenheit kein gutes Ende nehmen würde. 16 PAUL Schon der Gedanke an Schule war Paul verhaßt. Aber er war seiner Tante und seinem Onkel zutiefst dankbar für die Fürsorge und die Liebe, die sie ihm gegenüber bewiesen, und wollte nicht undankbar erscheinen. Er hatte vor Onkel Joe kapituliert. Er würde sich alle Mühe geben, aber er hatte wenig Hoffnung auf Erfolg. Zum Beispiel war Paul im Gegensatz zu seinem Onkel, der die Mathematik als edle und wichtige Wissenschaft betrachtete, im Umgang mit Zahlen nicht sehr geschickt. Zahlen interessierten ihn nicht, würden es auch niemals. Ja, die Aussicht, eine Schule zu besuchen, war wirklich furchtbar.
CHICAGO 1892 – 1893
187
Jeden Tag lernte Paul seine Vettern besser kennen. Carls Lieblingssportarten waren Baseball, Ringen und ein anderes ihm fremdes Spiel namens Football. Es waren Sportarten, bei denen Carl seine Kräfte mit anderen Jungen messen konnte. Das gefiel ihm. Immer wieder wollte er mit Paul Ringkämpfe austragen an verbotenen Orten im Haus, zum Beispiel im Wohnzimmer. Ab und zu gab Paul ihm nach. Er war größer als Carl und stärker, aber es war niemals ein einseitiger Wettstreit. In Carls rundlichem Körper steckten erstaunliche Kräfte. Joe junior hatte wenig Interesse an Gesellschaft und derartigen Wettbewerben, er war eher ein Einzelgänger. Er bevorzugte Aktivitäten, die er allein ausüben konnte, sprach vom Schwimmen im Michigan-See; es reizte ihn, sich weit in den See hinauszuwagen, gegen riesige Wellen und gefährliche Strömungen anzukämpfen. Er lief gerne Schlittschuh und ging fast jeden Sonntag im Winter, wenn er seine Freundin in Pullman nicht besuchen konnte, in den Lincoln-Park. Schlittschuhlaufen war in Deutschland sehr beliebt, aber Paul hatte es nie gelernt. Tante Lotte sagte immer, sie könnten es sich nicht leisten, ihr Geld für Schlittschuhe zu vergeuden. Paul wünschte sich, daß Joe ihn an einem Sonntagnachmittag einmal mitnehmen würde, aber das tat er nicht. Wahrscheinlich betrachtete sein älterer Vetter ihn als einen kleinen dummen Jungen. Fritzi war viel offener als die beiden Vettern; sie äußerte ihre Gefühle zu allem bereitwillig. Sie seufzte ständig, sank oft in einer gespielten Ohnmacht auf irgendwelche Sitzmöbel und legte theatralisch das Handgelenk gegen die Stirn. Tante Ilsa amüsierte sich darüber. Paul hielt dieses Benehmen für albern. Fritzi verschlang Romane und Bücher über Träume und deren Bedeutung. Ihre wahre Leidenschaft war jedoch die Bühne, das Theater. Schauspieler, Schauspielerinnen, die Welt der Kulissen und der Schminke und der Illusion. Fritzi sagte, daß sie mit ihrer Mutter, und manchmal auch mit ihrem Vater, das Theater besuchte, ihr Vater dafür aber nicht sehr viel übrig habe. Fritzi verfolgte Paul auf Schritt und Tritt. Ob er sich nicht ihre Sammlung von Theaterprogrammen ansehen wolle? Oder ihre neueste Pantomime? Ob sie ihm den göttlichen Edwin Booth darstellen solle? Oder den atemberaubend attraktiven James O’Neill, den Star der Bühnenproduktion Der Graf von Monte Christo? Wie wäre es dann mit der polnischen Schauspielerin Helena Modjeska oder der grandiosen Eleonora Düse? Paul hatte noch nie etwas von einem dieser Schauspieler gehört. Er äußerte das auch, aber das störte Fritzi nicht im geringsten.
188
TEIL DREI
Außerdem hatte sie eine seltsame Art, ihn am Abendbrottisch in Verlegenheit zu bringen. Wenn er irgendeine völlig harmlose, nebensächliche Bemerkung machte und dabei auch noch lächelte, warf Fritzi sich nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals, als sei er die geistreichste Persönlichkeit weit und breit. Nein, es war mehr als ein Lachen. Es war ein Aufschrei, ein begeistertes Kreischen. Tante Ilsa seufzte nur, und Onkel Joe hob die silbergrauen Augenbrauen, während Joe junior lediglich murmelte: »Oh, werd endlich erwachsen.« Während Paul darauf wartete, weitere Neuigkeiten über seinen Hauslehrer zu erfahren, offenbarte Carl eine andere Seite seiner Persönlichkeit. An einem ungewöhnlich warmen Nachmittag sprach er Paul an, der gerade im unteren Stockwerk des Stalls mit Fensterputzen beschäftigt war. »Hallo, Paul.« »Hallo.« Diese englische Begrüßung kam ihm mittlerweile sehr leicht über die Lippen. »Was macht deine Uhr?« »Meine Uhr? Die ist in Ordnung. Sie geht ganz genau.« »Möchtest du mal meine Uhr sehen?« »Ja, klar.« »Papa und Mama haben sie mir vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt.« Carl holte sie aus seiner Hosentasche. Das vergoldete Gehäuse glänzte im Sonnenschein. »Sie ist mir im vergangenen Sommer in den Michigan-See gefallen. Papa weiß nichts davon. Sie ging nicht mehr, deshalb habe ich sie repariert. Ich nehme gern Dinge auseinander und setze sie wieder zusammen. Willst du mal sehen?« Paul nickte. Carl holte ein kleines Taschenmesser hervor. Er schob die Spitze der Klinge unter den Rand des fest aufsitzenden Uhrdeckels. Er hebelte mit dem Messer herum, aber der Deckel öffnete sich nicht. Wahrend er sich vor Konzentration auf die Unterlippe biß, verstärkte er seine Bemühungen. Plötzlich sprang der Deckel ab. Eine Feder flog heraus. Reflexartig streckte Paul sich und griff danach. Er fing die Feder auf, trat jedoch beinahe in einen Wassereimer. Als er Carl die Feder reichte, sagte Carl: »Du bist aber flink. Du solltest wirklich Baseball spielen.« Carl stocherte mit dem Messer im Innenleben der Uhr herum. Ein winziges, messingfarbenes Teil fiel ins trockene Gras. Beide Jungen knieten sich auf den Boden und begannen zu suchen. Nach einigen Minuten fand Carl das Teil. Er setzte es wieder in die Uhr ein und schloß den Deckel mit
CHICAGO 1892 – 1893
189
einem etwas ratlosen Blick. »Ich glaube, ich muß es mir noch einmal ansehen.« Paul sagte nichts dazu. Carl verstaute Uhr und Messer in der Hosentasche. Von der hinteren Veranda rief Tante Ilsa, er solle hereinkommen und seine Hausaufgaben machen. Carl ging ein paar Schritte, blieb dann stehen und drehte sich um. »Ich mag dich, Paul.« Er rannte ins Haus. Aha, dachte Paul, außer sich vor Freude. Das sind schon zwei. Bleibt nur noch einer. Ende Januar saß Paul an einem Nachmittag in der Küche und trank eine Tasse heißen Kakao, die Louise für ihn zubereitet hatte. Tante Ilsa vermischte gerade Roggenmehl, ein wenig Wasser und ein paar Stücke alten Pumpernickels miteinander, um ihren Grundteig für einen neuen Vorrat Schwarzbrot vorzubereiten. Sie hielt in ihrer Arbeit inne, um Paul nach seinen Hobbys zu fragen. Er verstand kein Wort. »Etwas, das du besonders gerne zum Vergnügen tust.« Er sagte, er sammle sehr gerne Postkarten mit Photos von fernen Orten. »Aha, Ansichtskarten. Davon gibt es in Amerika sehr viele. Ich glaube, du brauchst irgend etwas, um sie in deinem Zimmer aufhängen zu können, oder?« Sie gab Carl den Auftrag, mit ihm im Keller nachzuschauen, ob sie nicht ein glattes Holzbrett finden konnten. Nicky Speers trieb eine Dose graue Farbe und einen Pinsel auf. Helga Blenkers war Paul dabei behilflich, das frisch gestrichene Brett mittels Haken und Draht in seinem Zimmer aufzuhängen. Es wirkte ziemlich wuchtig, aber Tante Ilsa meinte, es sehe hübsch aus. Mit einigen Nadeln, die sie ihm gab, heftete er vorsichtig die Stereoskopkarte an das Brett. Aus ihrer Schürzentasche holte Tante Ilsa dann eine nagelneue Ansichtspostkarte hervor, auf der hohe Wellen zu sehen waren, die ans Ufer des Michigan-Sees brandeten. Paul befestigte auch diese Karte. Ilsa betrachtete den hölzernen Globus und den Ständer. Sie drehte den Ständer um und entdeckte den Namen des deutschen Herstellers. »Paul, ich habe noch einen anderen Vorschlag für dich. Dir ist sicherlich klar, daß du schon ein weitgereister Junge bist. Vielleicht solltest du diese Reisen hier aufzeichnen. Mit einem winzigen Punkt für jeden wichtigen Ort, den du schon besucht hast.« Er war begeistert. Also wurde aus dem Keller eine weitere, kleinere Farbdose geholt sowie ein sehr feiner Pinsel. Während seine Tante ihm
190
TEIL DREI
zusah, setzte er einen winzigen Tupfer dunkelroter Farbe auf Berlin, dann einen Tupfer auf Hamburg, einen dritten auf New York und einen vierten auf Chicago. »Das sieht aber gut aus«, stellte Tante Ilsa fest, »es mindert die Schönheit des Globus überhaupt nicht. Im Laufe deines Lebens wirst du sicherlich noch viele andere Plätze und faszinierende Orte sehen. Da bin ich mir ganz sicher.« Sie umarmte ihn. Angesichts dieses neuen Beweises von Zuneigung schmolz er geradezu hin. Für Tante Ilsa – und auch für Onkel Joe – würde er die Schule ertragen, obgleich er genau wußte, daß es die reinste Hölle würde. Eines Tages kam Mr. W.E. Mars – Winston Elphinstone Mars –, geboren in Genesee Depot, Wisconsin, durch den hohen Schnee gestapft, bekleidet mit einem langen, fadenscheinigen Mantel mit Pelzkragen und einem weichen braunen Hut mit herabhängender Krempe. Er war der Hauslehrer. Mr. Mars war in den Dreißigern und so bleich wie frischgefallener Schnee. Er trug sein tintenschwarzes Haar mit einem Mittelscheitel und verschönte seine schäbige Kleidung mit seltsamen Verzierungen. Zum Beispiel mit einem kunstvoll gerafften Ziertuch aus feuerroter Seide; oder mit einer großen Sonnenblume, die aus bunten Stoffstreifen genäht war. In der Tasche trug er ein dünnes Büchlein von einem Mr. Wilde, den er offensichtlich verehrte. Paul hatte noch nie von diesem Mann gehört. Mr. Mars war eingestellt worden, um Paul jeden Nachmittag von drei bis sechs Uhr in seinem Zimmer zu unterrichten. Der Hauslehrer war ein sanfter, geduldiger Mann, und Paul mochte ihn auf Anhieb. Mr. Mars brachte seinem Schüler das Lesen bei, indem er ihm ein Buch mit dem Titel McGuffey’s Fifth Eclectic Reader gab. Die teuflischen Vertracktheiten der englischen Grammatik lehrte er mit Hilfe von Kreide und Schiefertafel. Das Lesebuch enthielt Auszüge aus Reden und Schriften bekannter Redner, Politiker, Philosophen und Dichter. Mr. Mars’ Lehrmethode bestand darin, daß er stundenlang geduldig zuhörte, während Paul langsam und mühsam vorlas, und jede falsche Aussprache behutsam verbesserte. Der Hauslehrer erklärte schwierige Wörter, aber er verlangte nicht, daß Paul irgend etwas auswendig lernte. »Wenn du anfängst, die Schule zu besuchen – wahrscheinlich im Februar, wenn das zweite Semester beginnt –, wirst du genauso vorlesen müssen. Das ist die übliche Methode. Aber du wirst auch lange Wortlisten auswendig lernen müssen. Ich versuche, etwas fortschrittlicher zu sein.« Am Mittwoch der letzten Januarwoche fand Paul den Mut, Mr. Mars in ein persönliches Gespräch zu verwickeln, um zu erfahren, ob die
CHICAGO 1892 – 1893
191
Hauslehrertätigkeit seine einzige Beschäftigung war. »O nein, ich habe schon vieles gemacht, obgleich ich denke, daß ich als Pädagoge am besten bin. Vor längerer Zeit entschied ich, daß der Zweck meines Daseins auf dieser Erde darin besteht, die schönen Dinge des Lebens zu erproben. Beruf, Essen, die Notwendigkeit, sich jeden Morgen zu waschen und anzuziehen – alles das dient nur dazu, Erhabenes zu erreichen.« Verblüfft sagte Paul: »Ich glaube, ich lese noch etwas.« Wahrend Mr. Mars an diesem Abend seinen Mantel und seinen Hut in der unteren Halle anzog, lauschte Paul auf dem oberen Treppenabsatz. Der Hauslehrer unterhielt sich mit Joe junior und redete von einem »neuen Zeitalter des Wahren und Schönen«. »Zum Teufel damit«, sagte Joe junior herausfordernd. »Das einzige Zeitalter, das wir erleben werden, ist ein neues Zeitalter der Revolution der Massen.« »Das ist ein häßlicher Gedanke, junger Mann. Nur schöne Gedanken machen auch das Leben schön.« Joe junior widersprach ihm, indem er ein weiteres, noch unverschämteres Wort murmelte. Mr. Mars war offensichtlich beleidigt, verließ das Haus und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Joe klopfte sich vergnügt auf die Schenkel und lachte schallend. Wie forsch sein Vetter doch war, dachte Paul und legte seine Wange gegen das polierte Treppengeländer. Am gleichen Abend rief Onkel Joe Paul wieder in sein Arbeitszimmer. Er kam herein und blieb vor dem Sessel seines Onkels stehen, nervös wie immer, wenn er sich in diesem Zimmer aufhielt. »Was deine Schulausbildung angeht, so habe ich eine weitere Entscheidung getroffen, Paul. Ich will es dir erklären. Lange bevor deine Tante und ich nach Chicago kamen, haben die Deutschen hervorragende Privatschulen zur Ausbildung ihrer Kinder gegründet. Diese Schulen gibt es noch immer, und sie stehen in hohem Ansehen. Sie sind in den meisten Punkten fraglos besser als die öffentlichen Schulen. Trotzdem betrachte ich sie als elitär, das heißt, sie sind nur für wenige Leute zugänglich.« Paul nickte. »Eine öffentliche Schule ist viel demokratischer. Diese Familie hat sich aus freiem Willen entschieden, amerikanisch zu sein, deshalb besucht Fritzi eine öffentliche Schule. Carl ebenfalls. Joseph junior besuchte eine solche, ehe wir ihn in eine Privatschule stecken mußten. Übrigens mit dem gleichen Mangel an Erfolg.«
192
TEIL DREI
Er schwieg einen Moment lang mit geschürzten Lippen. Seine Hand sank herab, ließ den Eberzahn los, den die Finger gerieben hatten. »Die öffentlichen Schulen in Chicago – ich darf wohl sagen im ganzen Land – bedürfen einer dringenden Neuorganisation. Sie lehren so gut wie keine Naturwissenschaften, ein Mangel, der in dieser Ära der Industrie und der Erfindungen geradezu kriminell ist. Es gibt dort keine Leibeserziehung oder Sport. Trotzdem – und darin stimmt deine Tante mir zu – kommt für dich nur eine öffentliche Schule in Frage.« Paul wartete. »Heute telephonierte ich mit dem Leiter der Schule, die du besuchen wirst. Er hat viel Verständnis für deine Situation als Neuankömmling. Er wird dafür sorgen, daß du eine besondere Betreuung erfährst und in die richtige Klasse kommst. Am nächsten Montag bringe ich dich mit unserer Kutsche zur Schule – hab keine Angst, ich gehe nur bis zum Büro mit, um die notwendigen Papiere zu unterschreiben. Danach benutzt du für den Hinund Rückweg die Straßenbahn.« Onkel Joe schwieg einen Moment. »Hast du dazu etwas zu sagen?« Ein tiefer Unwille regte sich in Paul. Ihm kam es so vor, als hätte sein Onkel ihm gerade die Wahl zwischen dem Galgen und einem Erschießungskommando angeboten. Er faßte sich ein Herz, nahm eine betont gerade Haltung an und blickte seinem Onkel in die Augen. »Ich möchte eigentlich nicht dorthin gehen, Sir. Ich würde viel lieber arbeiten.« »Das weiß ich. Aber die Sache ist entschieden. Gute Nacht, Paul.« Er hatte sich längst wieder seinem Schreibtisch zugewandt, als Paul an der Tür war. Am Samstagabend wurde Chicago wieder von einem Schneesturm heimgesucht. Er zog ziemlich schnell weiter und ließ ungefähr zwanzig Zentimeter Schnee auf den Gehsteigen rund um die Crown-Villa zurück. Nach dem Kirchgang am Sonntagmorgen – an dem Joe junior offenbar mit elterlicher Billigung nicht teilzunehmen brauchte – zogen Paul, Carl und Joe junior sich warm an und begannen die Gehsteige freizuschaufeln. Nach ein paar Minuten hielt Joe junior inne, stützte sich auf seine Schaufel und sagte zu Paul: »Morgen ist dein großer Tag, nicht wahr?« Joes Augen funkelten im Sonnenschein. Sein Lächeln war voller Spott. »Erzähl mir ja nicht, daß du ganz wild darauf bist.« »Nein, nein, ich hasse es.« Pauls Atem bildete eine dicke weiße Wolke, als er sprach. »Mir ging es genauso. Und ich bin wieder rausgekommen. Du kannst es
CHICAGO 1892 – 1893
193
auch schaffen.« »Ich wüßte nicht wie.« »Indem du dich einfach weigerst.« Paul kaute auf seiner Unterlippe, die von der Kälte rauh und rissig war. »Das kann ich nicht. Ich habe gesagt, daß ich hingehe.« »So ein Mist. Es hat nichts mit der realen Welt zu tun. Mit der rauhen Wirklichkeit. Was die Lehrer einem erzählen, ist keinen Cent wert. Aber ich habe ein paar Freunde in der Brauerei, die dir eine Menge beibringen können.« Er sah zum Haus hinüber, kniff die Augen zusammen, als er ins grelle Sonnenlicht sah, das von den Fenstern reflektiert wurde. »Eine Menge. Wenn du dir vornimmst, aus der Schule rauszukommen, dann schaffst du es auch. Lerne nicht. Stell dich dumm an, wenn du etwas gefragt wirst. Mach ein wenig Ärger – denk dir irgendwelche Streiche aus. Die Lehrer müssen dich hassen. Auf diese Art und Weise bin ich aus drei Schulen rausgekommen. Du müßtest es auch schaffen, denn du scheinst nicht dumm zu sein.« Paul studierte das Gesicht seines Vetters. Soweit er erkennen konnte, meinte Joe junior das Kompliment durchaus ernst. Paul begriff plötzlich, daß sein Vetter ihn zu seinem Verbündeten machen wollte – vielleicht sogar zum Freund. Nichts hätte ihn glücklicher machen können, wenn da nicht der Preis gewesen wäre, den er dafür zahlen müßte. »Joe – deine Mutter, dein Vater –, sie waren so gütig zu mir. Wenn ich wirklich täte, was du mir geraten hast, wären sie sehr enttäuscht. Sie wären zornig auf mich. So etwas könnte ich ihnen nicht antun.« »Ach, so ist das!« Joe juniors Gesicht verzog sich ärgerlich. »Sie haben dich eingewickelt.« »Eingewickelt? Wie meinst du das? Ich versteh’ dich nicht.« »Vergiß es«, sagte Joe und entfernte sich. Er suchte sich ein Stück Gehsteig, das noch von Schnee bedeckt war, und begann mit schnellen, wütenden Bewegungen zu schaufeln. Nach dem Abendessen am Sonntag erhob Tante Ilsa sich lächelnd von ihrem Platz. »Wir haben eine Überraschung für dich, Pauli.« Sie holte einen großen Teller aus der Küche, auf dem eine Zuckertüte lag. Es war ein aus Blätterteig geformtes Horn, das mit Bonbons, Keksen und Nüssen gefüllt war, die vom Teller herunterzupurzeln drohten. Tante Ilsa stellte den Teller vor ihm auf den Tisch. »Bestimmt kommst du dir dafür viel zu alt vor. Aber es ist ein uralter Brauch, am ersten Schultag eine Zuckertüte zu schenken. Wenn du morgen nachmittag nach deinem ersten Schulunterricht heimkommst, darfst du alles essen, was auf
194
TEIL DREI
dem Teller ist.« Onkel Joe lächelte. Tritzi rief: »Hurra!« Carl strahlte begeistert. »Darf ich auch etwas von den Sachen haben?« Joe junior verschränkte die Arme und lehnte sich schweigend zurück. Paul war fast zu Tränen gerührt. Wie könnte er sich nur gegen Leute auflehnen, die so gütig zu ihm waren? Der Montagmorgen war grau wie der Tod. Ein eisiger, feuchter Tag. Ein paar Schneeflocken schwebten herab. Die Kutsche hielt vor dem zweistöckigen Schulgebäude. Es war riesig, abweisend, ein häßlicher Kasten aus Klinker und Granit. Ein Gefängnis, außer daß die Gitterstäbe vor den erleuchteten Fenstern fehlten. Wenig später stiegen Paul und sein Onkel die abgetretene Holztreppe hinauf. Man hatte sie gebeten, eine Stunde nach Beginn des normalen Unterrichts ins Sekretariat zu kommen. Nach der letzten Treppenstufe drehte Paul sich um und schaute hinunter auf den Landauer, die dampfenden Nüstern der Kutschpferde, die triste, verlassene Straße, die tausend Verlockungen bereitzuhalten schien … Das Gesicht seines Onkels schob sich davor. Die dunklen Augen hinter den Gläsern in dem stählernen Brillengestell schüchterten Paul ein. »Bitte, geh hinein«, sagte Onkel Joe ungeduldig. Der Direktor, Mr. Relph, schüttelte Paul die Hand und sagte zu Onkel Joe, daß dem neuen Schüler, der sich gewiß noch nicht in Amerika eingelebt habe, jede Hilfe zuteil werden solle. Daher sei er der Klasse zugeteilt worden, die von einer der besten Lehrerinnen der Schule, Mrs. Petigru, unterrichtet werde. Onkel Joe nickte zufrieden. Das klinge vielversprechend. Er wünschte Paul viel Glück und verabschiedete sich von ihm. Paul folgte dem Direktor durch einen muffigen, düsteren Flur zu einer Holztür mit einem kleinen Glasfenster. Voller Entsetzen sah Paul die Schüler, die in dem Raum saßen. Vielen sahen aus, als seien sie mindestens ein Jahr jünger als er, und viele waren kleiner, richtige Kinder noch. Der Schulleiter öffnete die Tür, ging mit ihm hinein. »Mrs. Petigru, das ist Ihr neuer Schüler, Paul Crown.« Nach dieser kurzen Vorstellung ging der Direktor wieder hinaus. Paul blieb abwartend neben dem Lehrerpult stehen. Ein Dutzend Köpfe wandte sich ihm zu. Ein Dutzend Augenpaare musterte ihn eingehend. Der Raum war der reinste Backofen. Mit Eisblumen an den Fenstern. Wie war das möglich? »Dein Platz ist in der zweiten Reihe. In der letzten Bank. Dort.« Mrs. Petigru deutete auf den Platz. Sie war eine unattraktive, langweilig
CHICAGO 1892 – 1893
195
aussehende Frau mit großem Busen, grauen Haaren, die zu einem Knoten frisiert waren, und mit einem Mund in Form eines Schlitzes. Ihre Stimme klang wie Peitschenschläge. Sie zeigte mit einer von Kreidestaub weißen Hand nach unten. Erschrocken gewahrte Paul, wie schmelzender Schneematsch um seine Schuhe eine kleine Pfütze bildete. »Wenn du morgen zum Unterricht erscheinst, dann vergiß nicht, deine Füße abzuputzen, ehe du hereinkommst. Und kämm dir die Haare. Du siehst unmöglich aus.« »Entschuldigung, ich habe mich gekämmt, ehe ich –« »Keine Widerworte, junger Mann. Wenn du Widerworte gibst, bekommen wir beide bestimmt Streit.« Ihr Lächeln war frostig. »Das ist Regel Nummer Eins. Regel Nummer Zwei: Ich erwarte von meinen Schülern ein ordentliches Aussehen. Du scheinst beide Regeln nicht zu kennen. Aber du wirst sie in meiner Klasse kennenlernen und beachten. Für heute setz dich still hin. Rede nicht, ehe du dazu aufgefordert wirst. Komm nach dem Unterricht zu mir, damit wir die Bücher für dich aussuchen. Das ist alles.« »Ja, Ma’am«, sagte er, so wie Carl es oft zu seiner Mutter sagte. Der Tag verstrich wie in einem trüben Nebel. Im Speisesaal sprachen einige Schüler aus seiner Klasse ihn an, aber keiner setzte sich zu ihm. Er hatte einen Tisch und eine ganze Bank für sich allein, während ihn hundert Augen anzustarren schienen. Er schlang schnell zwei Würstchen hinunter und holte dann ein hartgekochtes Ei aus einem Beutel, den Tante Ilsa persönlich gepackt hatte. Sie hatte auch einen kleinen Salzstreuer aus Glas hineingelegt. Paul aß hartgekochte Eier gerne mit Salz. Er hatte das Ei zum Mund geführt und wollte gerade hineinbeißen, als jemand in sein linkes Ohr kniff, daß er vor Schmerz aufstöhnte. In nächster Nähe hörte er schadenfrohes Kichern. Er konnte nur das hagere Gesicht von Mrs. Petigru sehen, die sich von hinten an ihn herangeschlichen und sein Ohr gepackt hatte. »Sieh dir diese Schweinerei an! Überall Salz auf dem Fußboden.« Sie beugte sich vor. Sie roch nach Mottenkugeln, genauso wie die Kleider- und Wäscheschränke von Tante Ilsa. Sie schlug den Salzstreuer heftig auf den Tisch. »Nimm dies heute nachmittag wieder mit nach Hause, und bring es nie wieder her.« Sie verschränkte die Arme und musterte mit scharfem Blick ihre Schüler am nächsten Tisch. Sie beugten schnell die Köpfe über ihre Butterbrotbeutel und Teller. »Ich will ganz offen zu dir sein, Paul«, fuhr die Lehrerin fort. »Ich
196
TEIL DREI
wollte dich nicht in meiner Klasse haben. Ich habe dagegen protestiert und wurde überstimmt. Ich will dir auch verraten, weshalb ich dich nicht haben wollte. Erstens bist du zu alt. Zweitens ist dein Onkel Bierbrauer und Deutscher. Ich betrachte das als eine teuflische Kombination. Ich bin eine religiöse, gottesfürchtige Frau. Mein Mann Samuel ist Laienprediger. Wir mögen keine gottlosen Deutschen, die den Sabbat mit Ausschweifung und Alkohol schänden.« Paul ertrug das nicht. Er reckte das Kinn vor. Wut loderte in seinen Augen. »Mrs. Petigru – auch Deutsche gehen am Sonntag in die Kirche. Erst danach gönnen sie sich ein kleines Glas –« »Ich habe dir doch deutlich klargemacht, du sollst keine Widerworte geben.« Wieder dieses kalte Lächeln. »Ich hatte schon einige Schüler, die versucht haben, sich gegen mich aufzulehnen. Sie haben stets verloren.«
17 JOE CROWN Es blieb nicht aus, daß Joe Crown während der ersten Schulwochen seines Neffen zur Kenntnis nahm, daß der Junge bedrückt war und viel weniger lachte. Jeden Tag nach dem Abendessen entschuldigte er sich und verschwand in seinem Zimmer, wahrscheinlich um zu lernen. Mehrmals fragte Joe den Jungen, wie er zurechtkomme. Die Antwort lautete stets gleich. »Prima, Onkel Joe.« Joe kamen sehr bald Zweifel. Und wenn er in Pauls Augen schaute, sah er etwas, das vorher nicht dagewesen war. Einen Blick, der ihn an einen geprügelten Hund erinnerte. Erschüttert dachte er: Ich hatte eine schlimme Vorahnung. Ob sie sich schon bewahrheitet hat? Der April brach an und schenkte der Stadt Wärme und Sonnenschein. Es war ein Vorgeschmack auf den Sommer. Auf Joes Geheiß kam Mr. Mars nun an zwei Tagen in der Woche ins Haus. Die offensichtliche Intelligenz und Hingabe an seine Aufgabe hatten Joes anfängliche Abneigung gegen Mars’ aufdringlich weibisches Auftreten weggewischt. Dennoch kam es Joe so vor, als ob diese zusätzliche Unterweisung überhaupt nichts änderte. Überall in Chicago reinigten und wässerten Arbeitertrupps der Stadtverwaltung die Hauptstraßen regelmäßig, um alles für die Eröffnung der Ausstellung am 1. Mai vorzubereiten. Die Fassaden alter Häuser wurden renoviert; in den Parks wurden die Rasenflächen ausgebessert und junge Bäume angepflanzt. Eine festliche Stimmung schien alles zu
CHICAGO 1892 – 1893
197
überlagern. Aber die Geschäftswelt wußte, daß dunkle Wolken am Horizont aufzogen. Immer mehr Banken gerieten in Schwierigkeiten und kündigten eine mögliche Schließung an. Die Aktienkurse fielen rapide. Schon jetzt wurden die Straßen von Hunderten arbeitsloser Männer bevölkert. Obgleich diese Entwicklung Joe beunruhigte, war davon im Haushalt der Crowns wenig zu spüren. Ilsa war stets gutgelaunt und geschäftig und freute sich schon auf den Eröffnungstag. Eines Morgens erschien Joe am Frühstückstisch und sah, daß sie wie üblich in ihre Zeitungen vertieft war. Nachdem sie einander mit einem Kuß begrüßt hatten, setzte er sich und fragte: »Was hast du heute vor, meine Liebe?« Sie lächelte ihn schelmisch an. »Soll ich dir das wirklich verraten? In welcher Laune bist du gerade?« »Meine Laune ist gut genug, um alles zu ertragen. Es sieht so aus, als würde es heute ein besonders schöner Tag.« »Ich werde mit Ellen und Jane zu Mittag essen.« Ellen Starr und Jane Addams waren ihre Freundinnen aus der Hull-House-Stiftung. »Am Nachmittag besuchen wir einen Vortrag über Prostitution und Doppelmoral.« »Ich verstehe.« Er wollte sich nicht über sie ärgern, aber er tat es. Er sah keinen Sinn darin, daß Frauen Unruhe erzeugten, indem sie sich mit radikalen oder unangenehmen Themen befaßten. »Übrigens –« Sie griff nach einer Zeitung. »Ich habe im Inter-Ocean gelesen, daß Stead nach Chicago kommt.« Joe schaute auf seine Taschenuhr und schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein. »Mr. Stead, der englische Journalist und Neuerer.« »Ich weiß, wer er ist. Stead, der Unruhestifter.« »Vielleicht kann er in Chicago etwas Gutes bewirken, Joe. Du weißt, daß es eine der schlimmsten Städte der Welt ist. Glücksspiel, Raub, Mord – « Sie klopfte mit dem Finger auf eine andere Zeitung. »Erst gestern nacht wurde eine junge Frau in der State-Straße erstochen. Keine Handtasche, kein Ausweis, nichts, womit man sie identifizieren kann – und vom Mörder nicht die geringste Spur. Ist es da ein Wunder, daß wir die Stadt mit der höchsten Verhaftungsrate der Nation sind? Chicago ist durch und durch verdorben. Die Ratsherren – wie nennen sie sie noch?« »Die grauen Wölfe«, murmelte er. »Ja, richtig – also, sie haben praktisch öffentlich verkündet, was es kostet, ihre Stimmen zu kaufen oder einen städtischen Auftrag einzuheimsen. Stead könnte da wirklich Abhilfe schaffen.« »Ich kann schon jetzt voraussagen, was er als erstes tun wird. Zunächst einmal gegen die Saloons wettern. Jeder selbsternannte Retter der
198
TEIL DREI
Menschheit hat diesen Punkt in seinem Programm. Die sogenannten Reformatoren sind hinter jeder Brauerei in der Stadt her und verlangen deren Schließung. Offen gesagt, sähe ich es lieber, wenn du dich von Miss Addams und Miss Starr und vor allem von dieser Furie Francis Willard fernhalten würdest.« »Joe, Mrs. Willard ist eine feine, moralische Person. Die Women’s Christian Temperance Union predigt das Maßhalten, und es ist doch nichts Schlechtes daran –« »O doch, das ist es! Zuerst heißt es Maßhalten und dann Verbieten. Diese beiden Begriffe wurden schon früher in dieser Reihenfolge geschrien.« »Ich lasse nicht zu, daß du Dinge über diese Organisation äußerst, die einfach nicht wahr sind. Sie ist in vielen sozialen Bereichen tätig, und zwar in wichtigen. Kinderarbeit. Die Betreuung unglücklicher junger Frauen, die auf der Straße ihrem Gewerbe nachgehen – ich bin stolz darauf, für diese Bemühungen Geld zu spenden.« »Geld, das mit dem Verkauf von Bier verdient wurde, vergiß das bitte nicht.« »Vielleicht können meine Aktivitäten ein wenig von diesem Makel abwaschen.« Joe warf die Serviette neben seinen Teller auf den Tisch. »Verdammt noch mal, Frau, das ist unerhört!« Zerknirscht rutschte Ilsa um den Tisch herum und schlang ihm die Arme um den Hals. »Du hast recht, es tut mir leid. Ich will nur nicht, daß du mich einfach übergehst. Ich habe meine eigene Meinung. Aber ich habe natürlich kein Recht, so gemein zu sein. Verzeihst du mir?« »Aber immer.« Besänftigt gab er ihr einen Kuß auf die Wange. Während der Kutschfahrt zur Brauerei verzichtete Joe darauf, einige Fachartikel zu überfliegen, die er aus verschiedenen Zeitungen herausgerissen hatte. Statt dessen dachte er über Ilsas ständige Abneigung gegen sein Gewerbe nach. Sie stand damit nicht allein. Und ihre Einstellung dazu war durchaus menschlich und angesichts dessen, was mit ihrem Vater passiert war, vollauf zu verstehen. Dennoch ärgerte er sich darüber. Um so mehr, als der Aufstieg zu seinem augenblicklichen Erfolg lang und schwierig und manchmal sogar ausgesprochen gefährlich gewesen war. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was er für den Erfolg alles hatte auf sich nehmen müssen? Um die Brauerei aufzubauen, hatte er zum Beispiel weitaus mehr getan, als sich mit Herstellungsfragen, mit Preislisten für
CHICAGO 1892 – 1893
199
Grundstoffe, mit Verkaufszahlen, Bauplänen, Markenzeichen und Lohnlisten herumzuschlagen. In den Anfangsjahren hatte er manchmal monatelang jeden Tag bis zur totalen körperlichen Erschöpfung gearbeitet. Und das Brauereigewerbe konnte wirklich gefährlich sein. Im Leben etwas Bedeutendes zu erreichen war natürlich nicht ohne Risiko. Jemand, der Ehrgeiz und Courage besaß, ließ sich durch so etwas nicht aufhalten. Ein richtiger Mann stellte sich den Gefahren, den Regeln des Zufalls. Wenn er das nicht tat, erreichte er nichts. Die im Brauereigewerbe tätigen Männer erkrankten gewöhnlich an Rheuma und wurden dadurch nicht selten zu Krüppeln, denn sie arbeiteten jahrelang bei Feuchtigkeit und Kälte. Während der ersten Monate, die die Flaschenabfüllanlage der CrownBrauerei in Betrieb war, versuchten Joe und sein Betriebsleiter eines Morgens ein Problem mit der Anlage zu lösen, als plötzlich ein Arbeiter auf ein Anzeigeinstrument sah und aufgeregt meldete, der Druck steige viel zu schnell. »Alles abschalten!« brüllte Joe gegen den Lärm der Förderbänder an. In diesem Moment platzte die erste Flasche, zehn weitere explodierten, dann wieder zehn. Glassplitter schossen durch die Luft. Joe befand sich in nächster Nähe des Bereichs, wo die Flasche zerbarsten. Hätte er damals seine Brille nicht getragen, wäre er am Ende blind gewesen. Beide Brillengläser waren nachher mehrfach gesprungen, und sein entblößtes Gesicht war mit Wunden übersät. Der Betriebsleiter kniete auf dem Boden, preßte eine Hand auf das linke Auge. Blut sickerte zwischen den Fingern hindurch. Wochen später kehrte der Betriebsleiter an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte ein Glasauge, das vom echten nicht zu unterscheiden war. Joe bezahlte alles. Manchmal entstanden die Gefahren nicht aus Unfällen, sondern sie waren die Folge von menschlichem Versagen, menschlicher Habgier. Als die Pasteurisierung und Kühlung den Transport und Versand von Flaschenund Faßbier über lange Strecken ermöglichte, entwickelte Joe einen Plan, sein Produkt auch dort anzubieten, wo zahlreiche Deutsche lebten, aber nur wenige Brauereien existierten. South Carolina und Texas waren für ihn von besonderem Interesse. Kurz nachdem er seine dritte Verkaufsagentur in Texas eröffnet hatte, zeigte ihm in Austin ein Saloonbesitzer die Preisliste eines Konkurrenten. Joe erkannte sofort, daß die Zahlen einfach lächerlich waren. Niemand konnte Faßbier so billig verkaufen. Der Eigentümer ging auf Joes Fragen gar nicht erst ein, sondern bestand darauf, daß er den gleichen Preis
200
TEIL DREI
verlangte, wenn er wolle, daß sein Betrieb auch weiterhin Crown’s ausschenken solle. Joe bat darum, sich die Preisliste noch einmal ansehen zu dürfen. Er studierte sie schweigend. Dann sagte er, er wolle sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, und fragte, ob er die Liste haben könne. Der Eigentümer hatte nichts dagegen. Auf der Straße betrachtete Joe im hellen, staubigen Sonnenschein seinen Daumen. Er war mit Druckerschwärze beschmiert. Er stellte Nachforschungen an und verteilte Trinkgelder in den örtlichen Druckereien. Niemand half ihm weiter. Am Ende fand er einen Drucker in einer schmuddeligen kleinen Werkstatt in einer Gasse. Der Mann war offensichtlich auf der Jagd nach Aufträgen. Joe setzte ihm mit peinlichen Fragen zu. Schließlich gab der Drucker zu, daß er die Preisliste in der vorangegangenen Woche für den Saloonbesitzer gedruckt habe. Er gestand es nur, weil Joe ihm noch einmal die Hälfte dessen versprochen hatte, was er für den Auftrag ursprünglich bekommen hatte. Demnach war Joes Verdacht richtig gewesen. Die Preisliste stammte gar nicht von einer konkurrierenden Brauerei. Er brachte die Liste am nächsten Tag in den Saloon zurück und sagte zu dem Inhaber, er solle sie sich wer weiß wohin stecken. Der Mann stieß lauthals Drohungen aus. »Sie können von Glück reden, daß ich nicht zur Polizei gehe«, sagte Joe und ging hinaus. An diesem Abend feuerte jemand drei Kugeln durch die dünne Tür seines Hotelzimmers. Glücklicherweise saß Joe in diesem Moment auf der Toilette hinter einer Tür am Ende des Korridors und zollte den in der Stadt üblichen, scharf gewürzten Speisen seinen Tribut. Von diesem Vorfall hatte er Ilsa niemals etwas erzählt. Nur fünf Jahre zuvor war er nach St. Louis gefahren, um Adolphus Busch einen Besuch abzustatten. Er wollte bei Buschs Tochterfirma, der St. Louis Refrigerator Car Company, sechs Kühlfahrzeuge kaufen. Busch war etwa fünfzig Jahre alt, knapp zehn Zentimeter kleiner als sein Gast und ziemlich rundlich. Er hatte langes, welliges Haar und trug einen Schnauzer und einen Kinnbart, was ihm eine distinguierte Ausstrahlung verlieh. Er empfing Joe in einem feudal eingerichteten Büro in seiner Villa, die allgemein als Number One Busch Place bekannt war. Anfangs war Busch sehr freundlich. Er erkannte in Joe einen cleveren und aggressiven Konkurrenten. Er sagte, natürlich müsse er froh sein, Kühlwagen zu einem Freundschaftspreis verkaufen zu können. Dann klingelte er nach seinem Butler, der mit einem Silbertablett hereinkam, auf dem wunderschöne Weinkelche und eine Flasche von Mr. Buschs edlem französischen Wein standen.
CHICAGO 1892 – 1893
201
Joe trank aus Höflichkeit ein Glas. Dabei machte Busch wie selbstverständlich den Vorschlag, sich in den Regionen, in denen sie in direkter Konkurrenz zueinander standen, für ein Faß Bier auf einen festen Preis zu einigen. Joe lehnte höflich ab. Busch fragte ihn noch zweimal, jedesmal in ungehaltenerem Ton. Seine seltsam verhangenen Augen verloren jeden Ausdruck vorgetäuschter Freundlichkeit. Nach Joes dritter Ablehnung sprang Busch so heftig auf, daß er das Silbertablett vom Tisch stieß. Die Flasche zerschellte, der edle Wein war verschüttet. »Sie Hurensohn, ich mache Sie fertig, Sie und all die anderen scheinheiligen Kerle, die zu dumm sind, sich mit mir zusammenzutun. Verschwinden Sie von hier, verdammt noch mal, auf der Stelle! Sofort!« Seitdem hatte Joe Buschs Feindseligkeiten besonders zu spüren bekommen. Busch unterbot seinen Konkurrenten in bestimmten Bezirken wiederholt mit niedrigen Preisen, die garantiert Verlust brachten. Joes Reaktion war stets die gleiche. Er senkte seine eigenen Preise ein wenig und sprach persönlich mit seinen Abnehmern. Er beruhigte sie und bat sie durchzuhalten, bis der Preiskampf beendet sei. Busch war es stets schnell leid, sein Bier mit Verlust zu verkaufen, und die Preise stiegen wieder. Aber Joe war niemals so naiv anzunehmen, daß der König von St. Louis ihm verziehen hatte oder es jemals tun würde. Auch unversöhnliche Konkurrenten gehörten zu den Risiken des Geschäfts. Obgleich Joe und Ilsa schon viele Jahre zusammenlebten, begriff sie nicht in vollem Ausmaß, welchen Preis er für das Glück und die Zufriedenheit seiner Familie bezahlen mußte. Einen hohen Preis … »Mr. Crown? Wir sind da.« Nicky Speers stand am Bordstein und hielt die Kutschtür auf. Joe sah den Springbrunnen mit der Gambrinus-Statue. »Entschuldigung«, sagte er und schreckte aus seinen Gedanken hoch. Der Ordner mit den Zeitungsartikeln rutschte ihm vom Schoß. Während er die Blätter einsammelte, wurde ihm bewußt, daß der Alkohol das einzige Thema war, über das er sich mit seiner Frau noch nie hatte einigen können. Über hundertmal hatten sie ihre Differenzen beschönigt oder darüber hinweggesehen. Es war das einzige Thema, das einen Keil zwischen sie treiben konnte und alles bedrohte, was sie gemeinsam aufgebaut hatten. Er stieg aus der Kutsche und nahm von der frühlingshaften Aprilsonne und der milden Luft nichts mehr wahr. Ilsa hatte recht, er mußte unbedingt weg. Er spürte, daß sich wieder mal eine seiner düsteren Stimmungen ankündigte.
202
TEIL DREI
Aber er konnte dem Thema nicht entfliehen. Es war ständig da, eine Geschwulst, die unaufhaltsam weiter wucherte, ein Krebsgeschwür, das in ihm verborgen war. Es war kein gutes Omen. Aber er versuchte auch diesen Gedanken zu verdrängen.
18 PAUL Die Schule war eine Qual. Eine ständige Stumpfsinnigkeit erzeugende Wiederholung von Auswendiglernen und Aufsagen. Die täglichen Unterrichtsfächer bestanden aus Lesen und Literatur, Grammatik und Rechtschreibung, Mathematik und ersten Ausflügen in die Naturwissenschaften. Mrs. Petigru zitierte am liebsten aus dem wissenschaftlichen Text Unsere Körper und wie wir leben, auf dessen Titelseite der Hinweis zu lesen war: VON BEVOLLMÄCHTIGTEN DER WOMEN’S CHRISTIAN TEMPERANCE UNION ÜBERARBEITET UND GENEHMIGT. Paul kam es so vor, als bestünde das Buch mindestens zur Hälfte aus heftigen Attacken auf die schädlichen Wirkungen von Tabak und Alkohol. Zeichnen wurde an zwei Tagen in der Woche unterrichtet. Dann galt es, Illustrationen aus Büchern auf eine Schiefertafel zu kopieren. Mrs. Petigru stellte sich besonders gerne neben Paul auf, betrachtete das Durcheinander aus weißen Linien und weißen Wischflecken. »Hoffnungslos, absolut hoffnungslos«, murmelte sie dabei. Pauls mathematische Übungen wurden ständig getadelt. Mrs. Petigru schrieb Bemerkungen auf all seine Arbeiten, kritisierte seine Bleistiftflecken, die schlechte Handschrift, die allgemein unzureichende Qualität seiner Arbeit. Sie maßregelte Paul fast jeden Tag wegen seiner äußeren Erscheinung. Sie befahl ihm, das Hemd in die Hose zu stopfen, sich die Schuhe zuzubinden, sich auf der Toilette die Haare zu kämmen. »Du bist ein schlampiger Junge. Das habe ich gleich bemerkt, als ich dich das erste Mal sah. Und ich wußte sofort über deine Fähigkeiten Bescheid. Unordentliche Erscheinung – unordentlicher Geist.« Er hatte sich mit der englischen Sprache abgemüht, indem er morgens und nachmittags in der Straßenbahn einen Buffalo Bill-Roman las. Mrs. Petigru entdeckte das Heft auf seiner Schulbank, nahm es weg, tadelte ihn, weil er minderwertige Literatur in die Schule mitbrachte, und warf es in den Papierkorb. Und alles nur, weil sein Onkel ein deutscher Bierbrauer war.
CHICAGO 1892 – 1893
203
Die Leseübungen ähnelten denen, die Mars mit ihm abhielt. Schüler wurden nach vorne gerufen, um eine Passage aus McGuffey’s Lesebuch – allerdings einer Ausgabe für eine höhere Klasse – vorzulesen. An einem Tag war es eine Passage aus Hamlet, die von Wörtern wimmelte, die er unmöglich aussprechen konnte. (»Hat man bei dir in Deutschland schon mal etwas von Shakespeare gehört, Paul?«) Oder es war ein sehr rhythmisches, unheimliches Gedicht mit dem Titel Der Rabe. (»Sprich lauter, Paul. Oder hast du deine Stimme verloren?«) Er kam wieder an die Reihe mit einer Rede des berühmten amerikanischen Patrioten Patrick Henry vor einer Versammlung von Abgeordneten von Virginia. »Der Krieg ist un-ver-m …« »Unvermeidbar«, sagte Mrs. Petigru mit einem tiefen, resignierenden Seufzer. Ein schadenfroher Schüler namens Maury Flügel kicherte. Paul kämpfte sich Silbe um Silbe weiter. »… unvermeidbar – und er soll ruhig kommen. Ich wiederhole, Sir, er soll ruhig kommen. Es ist völlig sinnlos, das zu beschö …« »Beschönigen. Achte auf die Betonung. Wann begreifst du es endlich, Paul? Wir alle hoffen, daß es nicht mehr lange dauert.« Die ganze Klasse lachte schallend. Mrs. Elsie Petigru war seine Feindin. Aber er kannte die Gepflogenheiten in amerikanischen Schulen nicht und hatte daher keine Ahnung, was er dagegen unternehmen konnte. Sollte er Onkel Joe davon erzählen? Nein, er wollte nicht, daß sein Onkel bereits so frühzeitig zu der Überzeugung gelangte, er gerate schon jetzt ins Hintertreffen und sei nicht fähig, die Erwartungen der Familie zu erfüllen. Eines Morgens, nach der Pause, näherte sich ihm voller Scheu ein Junge aus der Klasse und fragte ihn, ob er mit ihm Murmeln spielen wolle. Paul stieß beinahe einen Freudenschrei aus. Er sagte jedoch, er besitze überhaupt keine Murmeln. Der Junge winkte ab. Er habe genug für beide. Damit war eine Art Bund besiegelt. Der Junge hieß Leo Rapoport. Er war ziemlich klein, hatte ein rundes Gesicht, schwarze Augen und eine lustige Knollennase. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Paul, aber er wirkte mehr wie ein alter Mann als wie ein Dreizehnjähriger. Paul stellte fest, daß Leo allzeit fröhlich und umgänglich gestimmt war. Dennoch war er seltsamerweise ebenfalls ein Außenseiter. Eines Tages erklärte er im Speisesaal, weshalb das so war: »Mein Vater ist Unitarier, aber er wurde als Jude geboren. Mama ist
204
TEIL DREI
r.k.« »Was?« »Römisch-katholisch. Eine Fischfresserin. Eine Papistin.« Leo nahm das Ganze philosophisch. »Eine ziemlich schlimme Kombination, ein Unitarier und eine Katholikin. Es bedeutet, daß man doppelt so schlimm verprügelt wird und doppelt so oft. Da ist nicht viel dran zu ändern.« »Erzähl mir mehr von deiner Mutter und deinem Vater«, sagte »So reich wie dein Onkel sind sie ganz sicher nicht. Mama ist tro; eine richtig feine Lady. Sie gibt Klavierstunden.« »Und was macht dein Vater?« »Er ist Vertreter«, antwortete Leo. »Pa bereist neun Staaten. Er verkauft Damenkorsetts. Heißes Zeug.« Leo verdrehte die Augen. »Vielleicht kann ich mal ein paar Bilder mitbringen.« »Ja sicher, warum nicht?« Leo gab ihm außerdem einen wertvollen Rat. »Bring die alte Petigru niemals in Wut. Wenn das passiert, dann holt sie ihr Lineal aus der untersten Schublade. Es ist so lang – und so dick. Sie schlägt dir damit auf die Hände. Im vergangenen Oktober machte Dora Gustavson eine Mutprobe. Sie ging in die Jungentoilette und zog die Hose herunter. Jemand verpetzte sie, ich glaube, es war Maury Flügel. Petigru holte das Lineal heraus. Dora konnte eine Woche lang nicht am Schönschreibunterricht teilnehmen.« Als die Tage wieder länger wurden, beeilte Paul sich an den Samstagen mit der Ausführung der Arbeiten, die Tante Ilsa ihm auftrug. Dann setzte er sich mit ihrer Erlaubnis in eine Straßenbahn, um die Stadt kennenzulernen. Manchmal begleitete Leo ihn. Leo war in Chicago geboren. Tatsächlich hatte er die Stadt niemals verlassen, außer im Sommer zu einem Strandpicknick in Indiana. Leo wußte eine Menge über die Stadt. Wenn er etwas nicht wußte, dann sprang Onkel Joe ein. Von ihnen und aus seinen eigenen genauen Beobachtungen bezog Paul gründliche Kenntnisse über die Geschichte und den Charakter der riesigen Großstadt. Che-cau-go war ein alter Name, erfuhr er. Niemand wußte genau, was es bedeutet, vielleicht »wilde Zwiebel« oder auch »schlimmer Gestank«. Im Laufe der Jahre, als ein Dorf um die erste Handelsstation in der Prärie neben dem See entstand und aus dem Dorf eine Stadt wurde, danach eine große City, folgten eine Reihe angemessenerer Namen. Da war zum Beispiel der Name Slab Town, Bretterstadt, wegen der zahlreichen Holzbauten, dann Garden City, Gartenstadt, dank der Vorliebe der ersten Bewohner, große Grundstücke für ihre Häuser abzustecken und darauf
CHICAGO 1892 – 1893
205
Bäume, hübsche Ziersträucher und Blumen anzupflanzen. Dann kam Porkopolis, Schweinopolis, auf Grund der Fleischverarbeitung, und schließlich Gem of the Prairie, Kleinod der Prärie, ein Name, der keiner weiteren Erläuterung bedarf. Aber trotz ihrer Modernität lag es noch keine ganze Generation zurück, daß die Indianer die Straßen bevölkert hatten. Bei dem Gedanken, dort zu stehen, wo einst Rothäute gelebt hatten, verspürte Paul einen Schauer. Fast eine Million Menschen bevölkerten nun Chicago. Es gab keinerlei Anzeichen, daß das Wachstum aufhörte oder sich auch nur verlangsamte. Und es gab nicht einmal mehr eine Spur von dem großen Feuer, das 1871 das Geschäftsviertel heimgesucht hatte. Es hatte vier Quadratmeilen vernichtet, über zweihundert Millionen Dollars Schaden verursacht, mehr als einhunderttausend Menschen aus ihren Heimen vertrieben, zweihundertfünfzig getötet und gewiß ungezählte Opfer in verkohlten Baracken und niedergebrannten Häusern hinterlassen. Wenn Onkel Joe und viele andere Bewohner Chicagos von der Vergangenheit sprachen, gaben sie den Zeitpunkt mit »vor dem großen Feuer« und »nach dem großen Feuer« an. Chicago hatte fast unmittelbar nach dem Feuer mit dem Wiederaufbau begonnen. Mittlerweile standen überall Gebäude in einem fortschrittlichen neuen Baustil. Eine Eisenbahn, deren Schienenstränge hoch über der Straße geführt wurden, verband den Süden und den Westen der Stadt miteinander. Außerdem gab es Pläne, sie bis ins Stadtzentrum verkehren zu lassen. Dieses Stadtzentrum war ein Gewimmel von Pferdekarren, Transportwagen, Straßenbahnen, Kutschen und Fußgängern, die alle hektisch durcheinanderhasteten. Man fand nirgendwo ausreichend Schutz vor der Sonne, denn in den geschäftigen Straßen gab es nur Telegraphenund Telephondrähte, die magere Schatten warfen. Aber es gab gut besuchte Theater und riesige Kaufhäuser wie Field’s und Elstree’s. Außerdem gab es prachtvolle Hotels, wie zum Beispiel Mr. Potter Palmers berühmtes achtstöckiges Palmer House in der State-Straße, das zweimal vernichtet und jedesmal noch prächtiger wiederaufgebaut worden war. Chicago verfügte über einige Sehenswürdigkeiten. Da waren einmal die alten Attraktionen wie der Wasserturm nördlich des Flusses, den das Feuer verschont hatte; und neue wie das zehnstöckige Auditorium Building – in dem das Symphonieorchester auftrat – an der Ecke Michigan und Congress Avenue. Die Stadt hatte auch zahlreiche solide Wohnbezirke – Viertel, in denen Iren und Böhmen, Polen und Skandinavier zusammenlebten. Auf der Nordseite der Stadt gab es auch ein Viertel, in dem die Deutschen den
206
TEIL DREI
größten Bevölkerungsanteil bildeten. Dorthin waren auch die Crowns gezogen, nachdem sie aus Cincinnati in die Stadt gekommen waren. Es gab auch Elendsviertel und verrufene Gegenden, die von kriminellen Elementen bevölkert wurden. Einer der schlimmsten Bezirke war Levee, der sich zwischen der Zweiundzwanzigsten und der Dearborn-Straße lag. Paul hielt sich von diesen Gegenden fern. Es gab auch Viertel mit den Villen der Neureichen – in einer so jungen Stadt fand man nicht viel ererbten Reichtum –, und in einer solchen Gegend, an der unteren Michigan Avenue, wohnten auch die Crowns. Die renommierteste Adresse war jedoch die Prairie Avenue in der Nähe der Achtzehnten Straße. Dort residierten die Pullmans, die Fields, die Armours. Tante Ilsa erzählte Paul, daß einige Anwohner der Prairie Avenue Potter Palmer einen Verräter nannten, weil er weggezogen war und sich sein Schloß am North Lake Shore Drive gebaut hatte. Chicago war ein Dorado der Werbung. Tausend Saloons zeigten das universelle Emblem, einen schäumenden Bierkrug. Einige dieser Schilder wiesen auch das Markenzeichen und den Namen der Crowns auf. Paul konnte Leo darüber aufklären, daß sein Onkel diese Werbetafeln kostenlos zur Verfügung stellte, wenn der jeweilige Betrieb ausschließlich Produkte der Brauerei ausschenkte. Zu jeder Stunde erklang in Chicagos Straßen ein heiserer Chor von fliegenden Händlern. Männer mit Handkarren boten Kurzwaren oder Obst feil, kleine Mädchen verkauften Zündhölzer, kleine Jungen riefen Zeitungen aus. Ältere Mädchen boten aus Blechschüsseln heiße Maiskolben an, und vielleicht, so deutete Leo an, verkauften sie sogar sich selbst. Männer, die sechs Mäntel und einen schwankenden Stapel von zehn und mehr Hüten auf dem Kopf trugen, machten auf ihr Angebot an gebrauchter Kleidung aufmerksam. Dazwischen mischte sich das Kreischen und Sirren der Scherenschleifmaschinen, begleitet von einem Feuerwerk sprühender Funken. Dann wieder hörte man die hellen Stimmen der Zeitungsjungen, die ein Extrablatt ankündigten. Das alles wurde untermalt vom Geschrei der Lumpen- und Altglassammler und dem Knarren ihrer Wagen. Kein Stadtteil, noch nicht einmal die Michigan und die Prairie Avenue, war frei von Straßenhändlern. Es gab aber auch stumme Geschäftemacher, leichenblasse Gestalten, die grellbunte Plakattafeln vor Bauch und Rücken trugen und mit müden Schritten von Block zu Block schlurften. Sandwichmänner nannte Vetter Carl sie, als einer von ihnen einmal an ihrem Haus vorbeikam. Beim Abendessen unterhielt die Familie sich über diese Sandwichmänner. Onkel Joe sagte, sie seien sozusagen die niedrigste Stufe des Straßenhandels, sie
CHICAGO 1892 – 1893
207
seien der Abschaum. Joe junior nannte sie jedoch »die Unterdrückten« und warf seinem Vater einen bedeutungsvollen Blick zu. Chicago lag unter einer Dunstglocke aus Kohlenqualm, vermischt mit dem Geruch von rohem Fleisch und den Ausdünstungen des fauligen Treibguts im Fluß, die durch den Gestank menschlicher und tierischer Ausscheidungen nur noch unerträglicher wurden. Chicago war gleichbedeutend mit Lärm, Schmutz, Armut, grellen Lichtern, sprühender Lebenskraft und lauernden Gefahren. Die Stadt erinnerte ihn lebhaft an Berlin, und trotz der Schrecken der Schule verliebte er sich in sie. Leo Rapoport besaß einen Hund, den er Flash nannte. Es war eine braune Promenadenmischung mit struppigem kurzhaarigem Fell. Manchmal wartete Flash auf Leo, wenn die Glocke den Schulschluß verkündete, und manchmal folgte er ihm morgens auch zur Schule. Eines Tages im April saß Paul wieder auf der Zementmauer, auf der er Leo mittlerweile jeden Tag erwartete. Er sah Leo auf dem Gehsteig herbeieilen, während Flash ihm schwanzwedelnd folgte. »Ich weiß nicht, was mit ihm heute nicht stimmt, Paul, er stellt sich furchtbar an. Vielleicht ist es der Frühling. Lauf nach Hause, Flash. Flash, marsch!« Flash ignorierte den Befehl. Zögernd gingen Paul und Leo auf das Schulgebäude zu. Irgendwie gelang es Leo nicht, die Tür schnell genug zu schließen, und Flash schlüpfte hinein. Er rannte über die Holztreppe in den ersten Stock hinauf, wobei seine Pfoten auf dem abgewetzten, gelblich braunen Holz klickende Geräusche erzeugten. Schüler, die zu ihren Klassenräumen eilten, lachten und machten sich gegenseitig auf den ungewöhnlichen Besucher aufmerksam. »Flash, lauf sofort nach Hause!« rief Leo und beschrieb eine dramatische Geste in Richtung Treppe. Aber Flashs Verspieltheit amüsierte ihn. Der Hund duckte sich und sprang dann an ihm hoch, wobei er sich um ein drohendes Knurren bemühte. Leo begann zu lachen. Er deutete weiterhin zur Tür und verlangte, daß der Hund das Haus verließ, unternahm aber keinen Versuch, ihn einzufangen. Schon bald krümmten Leo und Paul sich vor Lachen über die spaßige Ablenkung. »In Gottes Namen, was geht hier vor? Wessen Tier ist das?« wollte Mrs. Petigru wissen. Flash kläffte. Sie trat nach ihm. Paul bemerkte eine Veränderung in Flashs Knurren. Diesmal war es eindeutig drohend. Flash duckte sich. Mrs. Petigru versuchte erneut, ihn zu treten. Flash
208
TEIL DREI
knurrte, schnappte und schlug seine Zähne in den Saum ihres Rocks. Ein lautes Ratschen ertönte, als der Stoff zerriß. »Oh, seht euch das an! Nein!« kreischte Mrs. Petigru. Leo sank gegen die Wand, hielt sich an Paul fest und lachte hemmungslos. Mrs. Petigrus Gesicht verzerrte sich. Sie packte Leos Ohr, zog und drehte daran. Leos Lachen erstarb, und er stieß einen schmerzerfüllten Heulton aus. »Du frecher kleiner Bastard, ist das dein Hund? Sofort holt jemand den Direktor her!« Völlig verwandelt fletschte Flash die Zähne und knurrte laut, während er Mrs. Petigru lauernd umkreiste. Paul versuchte, sich zu sammeln und sein Lachen zu unterdrücken. Er gab ein letztes mattes Kichern von sich. »Du – du bist genauso schlimm!« schimpfte Mrs. Petigru. Ihre Hand schoß zu Pauls Ohr. »Meine Geduld mit dir ist erschöpft.« Sie packte zu und drehte schmerzhaft. »Und zwar endgültig!« Paul hörte sein Todesurteil in ihrer Stimme. Ihre Beziehung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mr. Relph und ein männliches Mitglied des Lehrerkollegiums schafften es schließlich, Flash in eine Ecke zu treiben und ihn die Treppe hinunter und aus dem Schulgebäude zu scheuchen. Leo rannte neben ihm her und lockte. »Bist ein guter Hund, Flash, brav. Geh jetzt.« Dabei zitterte seine Stimme ahnungsvoll. Der Direktor telephonierte an diesem Nachmittag mit Leos Mutter und Pauls Onkel. Nach der Schule äußerte Mr. Mars Mitgefühl und Verständnis für Pauls verzwickte Lage, konnte ihm aber keinen Rat geben außer: »Sag die Wahrheit, das ist wohl der ehrenhafteste Weg.« Onkel Joe kam nicht um die übliche Uhrzeit nach Hause. Dadurch verlängerte sich Pauls Leidenszeit. Schließlich, gegen zwanzig nach neun, kam Onkel Joe ins Haus gestürmt, entschuldigte sich bei Tante Ilsa mit Problemen in der Brauerei. Er machte ein grimmiges Gesicht. »Wir haben dir das Abendessen warmgehalten, Joe.« »Zuerst soll Paul zu mir ins Arbeitszimmer kommen.« Sobald die beiden allein waren, erging die schlichte Aufforderung seines Onkels: »Erzähl, was passiert ist.« Paul gab sich große Mühe. Er sagte, Flash sei der Hund seines Freundes und daß er ungehorsam gewesen und mit ihnen ins Schulgebäude gelaufen sei. Danach hätten die beiden Jungen sich vor Lachen kaum halten können. »Ich weiß, daß dieses Verhalten nicht richtig war. Es tut mir auch sehr leid.« »Ist das alles, was du zu deiner Verteidigung vorbringen kannst? Daß es
CHICAGO 1892 – 1893
209
dir leid tut?« Onkel Joe musterte ihn mit finsterer Miene. »Ich bin von dir zutiefst enttäuscht, Paul.« Paul haßte das Gefühl, die Erwartungen dieses starken Mannes nicht erfüllt zu haben, der zu ihm so gütig gewesen war. Er durfte seine Schuld nicht durch totales Schweigen untermauern. »Sir, darf ich noch etwas dazu bemerken?« Onkel Joes Antwort bestand aus einem knappen Kopfnicken. »Ich denke nicht, daß das Ganze so schlimm war. Es war eigentlich ganz harmlos, außer daß Flash ihr Kleid zerrissen hat. Mrs. Petigru ist keine nette Frau. Sie –« Er schluckte. »Sie mag ja eine gute Lehrerin sein, aber freundlich ist sie wirklich nicht. Sie mag keine Deutschen. Und sie hat etwas gegen Bier.« Onkel Joe ließ sich in seinem Sessel erstaunt nach hinten sinken. »Sie mag auch mich nicht«, fuhr Paul fort. »Sie hat mich bestraft, indem sie derart heftig an meinem Ohr riß, daß ich schon annahm, es würde bluten. Das ist die Wahrheit, Onkel.« »Nun, sogar der Direktor sagt, daß deine Lehrerin sehr streng auf Disziplin achtet. Strenge ist in Ordnung, Grausamkeit nicht.« Onkel Joe musterte ihn mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, wer das Sagen hatte. »Dieses Mal bringen wir die Sache in Ordnung. Ich sehe durchaus, daß der Vorfall auch eine spaßige Seite hat.« Er hob warnend einen Finger. »Aber du hättest dich nicht auflehnen dürfen – hättest nicht die Lehrerin auslachen dürfen. Tu das nie wieder. Du lebst jetzt in Amerika. Hier laufen die Dinge ein wenig anders. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns anzupassen. Aber laß uns jetzt zu Abend essen.« Onkel Joe verließ das Zimmer als erster. Paul folgte ihm und verspürte keinen richtigen Hunger mehr. Er hatte trotz allem seinen Onkel enttäuscht. Am Samstagmorgen, zwei Wochen vor dem großen Eröffnungstag der Ausstellung, trieb ein Klopfen an der Tür Paul schon um sechs Uhr früh aus dem Bett. Er stolperte zur Tür und sah zu seiner Überraschung Joe junior bereits vollständig angezogen vor sich. Sein Vetter schloß die Tür hinter sich und lehnte sich mit einem freundlichen Lächeln dagegen. »Wollte dir nur sagen, daß ich toll finde, wie du es deiner Lehrerin gegeben hast.« Paul errötete. »Dankeschön.« »Hast sie ganz schön fertiggemacht, was?« »Das will ich meinen. Ganz sicher.« Er freute sich über das Interesse und das Lob seines Vetters.
210
TEIL DREI
»Was hast du heute nachmittag vor?« »Pete hat draußen irgendwelche Arbeiten für mich. Ich weiß nicht, wieviel es ist.« »Sag ihm, du könntest heute nicht. Du würdest morgen kommen. Die Brauerei schließt wegen Lagerinventur schon gegen Mittag. Wir treffen uns dort, dann zeige ich dir was. Ecken in Chicago, die du alleine niemals finden würdest.« Er zwinkerte. Paul war sprachlos. Mit einer väterlich wirkenden Geste verschränkte Joe die Arme vor der Brust. »Nun, alter Junge, wie wär’s? Kommst du mit?« »Natürlich. Klar.« »Prima.« Joe junior schlüpfte durch die Tür hinaus und entfernte sich eilig durch den Korridor. Paul traf seinen Vetter dabei an, wie er auf der Laderampe der Brauerei Säcke mit Hopfen aufeinanderstapelte. Es war ein milder, klarer Frühlingsnachmittag. Eine angenehm warme, leichte Brise wehte aus Süden. Unglücklicherweise brachten solche Winde immer den Gestank der Abwässer und des Abfalls vom Chicago-Fluß mit. Paul konnte sogar die Rinder, Schweine und Schafe in den Union Stock Yards riechen, die meilenweit entfernt waren. »Bin gleich fertig«, sagte Joe junior, während er sich den letzten Sack auf die Schulter packte. Er trug ihn ins Lagerhaus und kam zurück. »Da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.« Er rief etwas in die dunkle Lagerhalle. Wenig später kam ein stämmiger, kahlköpfiger Mann heraus. Er war mit seinen breiten Schultern, der glänzenden Glatze und den funkelnden Augen eine sehr beeindruckende, wenn nicht gar furchteinflößende Erscheinung. »Benno, ich möchte dir meinen Vetter Paul Crown vorstellen. Paul, das ist Benno Strauss.« Pauls Gesicht wurde ganz heiß. Der berüchtigte Benno! Er hatte Onkel Joe beim Abendbrot über ihn schimpfen hören. Benno Strauss war der Anführer der sozialistisch-anarchistischen Gruppierung in der Brauerei. Benno schüttelte Paul die Hand. Paul hatte schon einen festen Händedruck, aber Bennos war um vieles kräftiger. Benno nickte und wandte sich an Joe: »Ist er das?« Sein Englisch war kehlig und rauh. »Ja, das ist er.« Benno musterte Paul mit einem langen, prüfenden Blick. Er war nicht gerade freundlich. Schließlich nickte er. »Okay.« Paul war verwirrt. Die Vettern gingen zur Treppe, die von der Rampe
CHICAGO 1892 – 1893
211
herunterführte. Benno sagte: »Bekommst du draußen in Pullman genug, Joey?« Joe grinste. »Reichlich.« Endlich lächelte Benno. Er hatte große, unregelmäßige weiße Zähne. Paul fühlte sich unwillkürlich an einen Tiger erinnert, den er einmal im Berliner Zoo gesehen hatte. »Ich bin heute nachmittag mit zwei jungen Damen verabredet. Huren, aber sauber. Ich dachte, daß du vielleicht mitkommen willst. Was mich betrifft, ich sehe nur allzugern, daß die Arbeiter das bekommen, was sie brauchen.« »Danke, aber ich hab’ schon was anderes vor«, sagte Joe junior. »Komm jetzt, Paul.« Benno kratzte sich zwischen den Beinen. Er sah Paul an und lächelte nicht mehr. »Bring ihm bei, was er wissen muß«, sagte er zu Joe junior, während sie sich entfernten. Paul hatte nie damit gerechnet, einen Ort aufzusuchen, der so einsam und trist war wie ein Friedhof, aber genau dorthin führte Joe junior ihn, nachdem sie in einem Saloon in der Clark-Straße ein paar Gläser Bier getrunken und die Gratismahlzeit verzehrt hatten. Danach gingen sie zur Harrison-Straße, weiter zur Desplaines Avenue und traten durch ein Tor. »Wie heißt dieser Ort?« fragte Paul, während sie über den gewundenen Weg zwischen den marmornen Grabsteinen entlangschritten. »German Waldheim Cemetery. Die eleganten, renommierten Friedhöfe wollten nicht so viele deutsche Auswanderer aufnehmen, daher wurde dieser Friedhof angelegt. Was ich dir zeigen will, befindet sich dort drüben, hinter der Kapelle.« Er spazierte über das junge Frühlingsgras, umrundete die cremefarbene Kapelle und gelangte zu einem kunstvollen Denkmal von beachtlicher Größe. Eine männliche Gestalt – ein Arbeiter, wie Paul vermutete – war dort in einer Haltung zu sehen, die auf seinen Tod hindeutete, während eine Frau in einem Mantel und mit Kapuze hinter sich griff, um ihm einen Kranz auf die Stirn zu legen; gleichzeitig schien die Frau sich trotzig aufzurichten. Eine Jahreszahl, 1887, war in das Denkmal eingraviert, und im Sockel war eine Inschrift zu sehen. DER TAG WIRD KOMMEN, AN DEM UNSER SCHWEIGEN LAUTER SEIN WIRD ALS DIE STIMMEN, DIE IHR HEUTE NOCH ERSTICKT.
212
TEIL DREI
Zahlreiche Blumensträuße lagen vor dem Denkmal. Einige waren verwelkt, andere sahen noch frisch aus. Joe junior verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete die Skulpturen mit einem beschwörenden, beinahe entrückten Gesichtsausdruck. Der Sonnenschein, der durch das junge Laub der Bäume drang, zauberte ein Muster aus Licht und Schatten auf sein Gesicht. »Paul, du mußt mir etwas versprechen. Wenn wir wieder zu Hause sind, darfst du diesen Ort niemals erwähnen.« »Natürlich, aber weshalb nicht?« »Weil Papa uns beide dann umbringen würde.« »Weshalb sind wir dann hergekommen?« Joe ballte eine Faust und schlug sie gegen die flache Hand. »Weil jemand es dir zeigen, dich aufklären muß. Genauso wie Benno es gesagt hat.« Ein blaues Feuer brannte in seinen Augen. »Das ist das Haymarket Memorial. Die Frau mit dem Kranz ist die Gerechtigkeit. Die den Märtyrern niemals zuteil wurde, außer an diesem Ort.« »Aber was ist Haymarket? Welche Märtyrer meinst du?« Joe junior deutete auf den treppenartigen Sockel des Denkmals. »Setz dich.« »Der Haymarket« – so erzählte Joe junior – »ist ein großer öffentlicher Platz nördlich von hier an der Randolph-Straße zwischen der Desplaines Avenue und der Halsted-Straße. Die Randolph verbreitert sich dort, und so wurde dieser Ort schon immer von den Bauern als Markt genutzt, auf dem sie ihr Obst und ihr Gemüse feilboten. Auf dem Haymarket geschah das schreckliche Verbrechen. In Chicago brodelten schon seit Jahren immer wieder Arbeiterunruhen. Dann, im Februar des Jahres 1886, kam es zur Explosion. Die Männer in der McCormick-Mähmaschinenfabrik legten die Arbeit nieder. Alles, was sie verlangten, war eine angemessene Bezahlung und ein Achtstundentag. McCormick wünschte seine Arbeiter zur Hölle und stellte neue Kräfte, Streikbrecher, ein. Arbeiter anderer Firmen reagierten ebenfalls, sogar bei Pullman hatten einige den Mut zu streiken. Einige Wochen lang nahm jedermann an, daß die Firmenbosse nachgeben, sich mit dem Achtstundentag einverstanden erklären und damit die Unruhen beendeten würden. Benno gibt zu, daß er damals den Teilnehmern der Protestversammlungen prophezeite, daß spätestens am 1. Mai, dem großen Feiertag der Arbeiter, an dem die roten Fahnen wehten – rot für das Blut der Unterdrückten –, der Achtstundentag Gesetz wäre.
CHICAGO 1892 – 1893
213
Du mußt verstehen, daß ich von all dem noch nichts mitbekam, weil ich damals noch ein kleines Kind war. Ich habe die ganze Geschichte von Benno gehört. Er arbeitete damals bei McCormick. Er gehörte zu den Streikenden. Der 1. Mai brach an, und der Streik war noch immer im Gange. Die Anführer riefen zu einer Kundgebung in der Black Road unweit der McCormick-Fabrik auf. Vier- oder fünftausend Menschen erschienen. Nach drei Monaten ohne Arbeit, ohne Bezahlung, ohne Lebensmittel für sich und ihre Familien waren sie ziemlich wütend. Die Redner heizten wie üblich die Stimmung noch weiter an. Benno redete ebenfalls an diesem Nachmittag. Er rechnete nicht damit, daß die Ereignisse außer Kontrolle gerieten. Die Redner sollten die Arbeiter nur in Stimmung bringen, damit sie nicht klein beigaben. Dann erklang bei McCormick die Glocke, die das Schichtende verkündete. Die Fabriktore öffneten sich, und eine Schar von Streikbrechern quoll heraus. Die Streikenden gerieten in Rage. Sie rannten los und belagerten die Fabrik. Sie trieben die Streikbrecher zurück und zwangen die Wachmannschaften der Fabrik an die Gewehrschränke. Die Polizei erschien in Wagen und zu Pferde. Trotzdem wollte die Menschenmenge sich nicht auflösen. Benno und einige andere stachelten sie zu einem weiteren Sturm auf das Fabriktor an. Die Arbeiter prügelten auf die Tore ein und schrien nach dem Blut der Streikbrecher. Die Wachmannschaften eröffneten das Feuer durch Schießscharten in den Mauern. Die Polizei riegelte nach hinten alles ab. Sechs Streikende wurden erschossen. Die Versammlung löste sich auf, und alle suchten das Weite. Die Demonstration war beendet. August Spies war der Herausgeber der Arbeiterzeitung. Die meisten Streikenden, eigentlich sogar die meisten Arbeiter in Chicago, waren Deutsche und sind es immer noch. Sie lasen Zeitungen und hörten sich Reden in ihrer eigenen Sprache an. Am Tag nach der McCormick-Demonstration ließ Spies Flugblätter drucken und schrieb einen Leitartikel. Die Botschaft bei beiden war die gleiche: »Greift zu den Waffen! Beschützt euch selbst!« Eine Protestversammlung wurde für Dienstagabend, den 4. Mai, auf dem Haymarket-Platz einberufen. Bei Anbruch der Dämmerung kamen die Leute zusammen. Der Himmel war dunkel, voller Wolken. Es donnerte in der Ferne, als wüßte Gott genau, was geschehen würde, und als wolle er alle darauf einstimmen. Schon bald drängten sich etwa tausend Menschen auf dem Platz. Einen Block entfernt, in der Polizeiwache der Desplaines Avenue, schnallten sich Polizisten kompanieweise Pistolen um und polierten ihre extralangen Schlagstöcke aus hartem Hickoryholz.
214
TEIL DREI
Ehe die Versammlung begann, mußte die Menschenmenge den Platz räumen. Sie drängte nach Norden in die Desplaines Avenue, um für die Redner eine Plattform zu suchen. Alles, was sie fanden, war ein leerer Materialwagen. August Spies kletterte auf die offene Ladefläche und redete unter einem Himmel, der jeden Moment seine Schleusen zu öffnen drohte. Blitze zuckten und flackerten, erzählte Benno, der sich in der Nähe des Wagens aufhielt. Als nächster ergriff Albert Parsons das Wort. Ein guter Mann, Sohn eines Generals, der im Krieg auf der Seite der Rebellen gekämpft hatte. Dann folgte Sam Fielden, ein Engländer, Methodist, der als Mitstreiter galt. Bürgermeister Harrison stand am Rand der Menge. Der alte Carter hatte wirklich Mut. Wie sich später herausstellte, urteilte er, daß es keine Probleme geben würde. Er sah keine Gefahr und damit keine Notwendigkeit für die Polizei, einzugreifen und gegen die Zuhörer vorzugehen. Er ging zum Reviergebäude und brachte das so vor. Ein Polizeioffizier, Inspektor John Bonfield, war jedoch entgegengesetzter Meinung. Er haßte die Gewerkschaften. Und er übernahm das Kommando. Er befahl seinen Männern, sich aufzustellen. Sie bildeten eine Kolonne und marschierten mit gezogenen Schlagstöcken und Revolvern die Desplaines Avenue hinauf. Sie stießen auf die Menge, kesselten die Menschen allmählich ein. Regen strömte vom Himmel. Aber noch passierte nichts. Ein Polizeioffizier befahl der Versammlung lauthals, sich aufzulösen. Vom Wagen rief Fielden herab, das täten sie nicht, die Demonstration verlaufe friedlich und verstieße gegen keinerlei Gesetz. Lautes Gebrüll erhob sich, und in demselben Augenblick schleuderte jemand eine Bombe mit brennender Lunte über die Köpfe der Menge hinweg. Bis heute weiß niemand, wer sie geworfen hat oder woher sie kam. Die Bombe explodierte in der Polizeikolonne. Sieben Beamte kamen ums Leben, sechzehn wurden verletzt. Die Polizei ging in Kampfaufstellung, nahm Schußposition ein und rückte mit gezückten Schlagstöcken vor. Der Regen rauschte vom Himmel. Gott ließ einen Blitz nach dem anderen aufflammen, berichtete Benno, und die Polizisten zeigten keine Gnade. Die Demonstration war nach fünf Minuten beendet. Diese Bombe war ein Verbrechen, das will ich gar nicht leugnen. Aber was folgte, war ein weit schlimmeres Verbrechen. Am nächsten Tag wurden Albert Spies und sein stellvertretender Chefredakteur, Schwab, verhaftet. Parsons ergab sich. Fielden wurde verhaftet sowie vier weitere Verdächtige – ein Zimmermann, ein Drucker, ein Fassadenmaler und ein Gewerkschaftsangehöriger der Bierkutscher, wie
CHICAGO 1892 – 1893
215
Benno später einer wurde. Die Gerichtsverhandlung war der reinste Zirkus. Die Polizei konnte nicht einen einzigen Beweis dafür vorlegen, daß einer der acht Männer die Bombe geworfen, sie hergestellt oder auch nur berührt hatte oder von ihr wußte. Sie waren schuldig, weil sie auf dem Haymarket-Platz und auch schon vorher Reden gehalten hatten. Sie hatten den Bombenleger erst auf den Gedanken gebracht. Sie hatten ihn angestiftet – ihn zu seinem Verbrechen getrieben. Dafür forderte Staatsanwalt Mills die Todesstrafe. Jeder Angeklagte gab noch eine abschließende Erklärung ab. Parsons pries die Gerechtigkeit und Fairneß von Bomben und Dynamit. Er sagte, beides seien Gleichmacher. Er erklärte außerdem, daß die Jury bedroht, ja sogar bestochen worden sei. Es nutzte nichts, die Entscheidungen waren bereits gefallen, den acht war in den Zeitungen schon längst der Prozeß gemacht worden. Nach dem Schuldspruch verurteilte Richter Gray sieben von ihnen zum Tod durch den Strang. Neebe, der Angehörige der Biertransportergewerkschaft, erhielt fünfzehn Jahre Zuchthaus. Die Räder der Justiz mahlten langsam, aber am Ende, im November ‘87, wurde Spies gehenkt. Sie hängten auch Parsons. Und Fischer, den Drucker, und Engle, den Fassadenmaler. Louie Ling, der Mann aus der Schreinergewerkschaft, kam ihnen zuvor. Jemand schmuggelte eine Dynamitkapsel in seine Gefängniszelle, ehe sie ihn hängen konnten. Er steckte sie in den Mund, biß darauf und sprengte sich den Kopf weg. Übrig blieben zwei Verurteilte, Schwab und Sam Fielden. Dem Gouverneur reichte es. Er wandelte ihre Todesurteile um. In der Stadt herrschte noch immer große Angst. Geschäftsleute räumten die Waffenläden leer. Eine Gruppe reicher Persönlichkeiten schenkte der amerikanischen Regierung im Uferbereich des Sees zweihundertvierzig Hektar Land als Gegenleistung für die Zusage, daß die Regierung Soldaten auf dem Gelände stationierte, um die Plutokraten vor Bombenattentätern zu schützen. Auf diese Weise entstand Fort Sheridan. In den letzten sechs Jahren hat sich nicht viel verändert. Mrs. Parsons, die Witwe, versucht eine öffentliche Diskussion über den Prozeß und dessen Ungerechtigkeit in Gang zu setzen. Jedesmal, wenn eine Versammlung mit Mrs. Parsons angekündigt wird, wird sie von der Polizei verhaftet, sobald sie das Podium betreten will. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Die Plutokraten können die Wahrheit über sich und über das, was sie getan haben, nicht ertragen. John P. Altgeld hat den Prozeß stets für eine Farce gehalten und die anschließenden Hinrichtungen für einen Skandal. Er möchte die beiden Männer, die noch im Gefängnis sitzen, begnadigen. Deshalb würden viele
216
TEIL DREI
Leute ihn am liebsten lynchen, so wie sie Parsons und die anderen gelyncht haben. Mein eigener Vater verabscheut den Gedanken an eine Begnadigung für diese beiden Männer. Dabei ändern selbst Begnadigungen nichts mehr. Es ist zu spät. Eine alte Rechnung muß beglichen werden.« »Und du hast geglaubt, wir hätten das Recht auf freie Rede?« Joe vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und stand mit leicht gespreizten Beinen vor Paul. Es war eine Haltung der Macht, der Autorität. »Es gibt auch noch ein anderes Haymarket-Denkmal auf dem Platz selbst. Die Bronzestatue eines aufrechten Chicagoer Polizisten mit erhobener Hand. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dir das zeige. Das mußt du dir schon allein ansehen. Gehen wir.« Mit grimmigem Gesicht machte Joe junior kehrt. Er ging mit schnellen Schritten zum Hauptweg, eilte durch das Wechselspiel von Licht und Schatten. Paul rannte ihm nach. Draußen vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor packte Joe junior Paul bei den Schultern. »Denk daran, kein Sterbenswörtchen! Kann ich mich darauf verlassen, daß du dichthältst?« »Klar, Joe.« »Über alles, was du siehst und was ich dir erzähle?« »Ja, ganz bestimmt. Aber ich verstehe immer noch nicht –« »Weil der ehrenwerte Mr. Joseph Crown ein verdammter Kapitalist ist, deshalb.« »Ist das so schlimm?« »Schlimm?« Joe junior lachte schallend. »Alles, woran Pa glaubt – alles Wichtige –, ist falsch. Zum Beispiel gibt es in der Brauerei keine Gewerkschaft. Gewerkschaften verteidigen die Rechte der Arbeiter, aber Pa ist strikt dagegen.« Paul schwieg. Er wollte das zarte Band der aufkeimenden Kameradschaft zwischen seinem Vetter und ihm nicht gefährden. Dennoch war er verwirrt und sogar ein wenig verärgert über Joes Feindseligkeit gegenüber Onkel Joe. Er entschied, daß er sich dazu äußern mußte. »Joe, du bist sehr klug, ich bin es nicht. Aber ich würde doch meinen, wenn dein Vater auch an die falschen Dinge glaubt, so haben sie ihm doch sicherlich zu einem schönen Haus und euch zu einem angenehmen Leben verhelfen.« »Hör mal, Kleiner, was du in der Michigan Avenue siehst, ist reine Fassade. Es ist ein Luxus, der mit dem Schweiß armer Malocher verdient wurde, die ihr ganzes Leben in Dreck und Armut verbringen, damit Leute wie Pa elegante Anzüge tragen und in dicken Villen residieren können.«
CHICAGO 1892 – 1893
217
»Ja, arme Menschen kenne ich und auch arme Stadtviertel. Ich habe in Berlin selbst in so einem gewohnt. Aber –« »Ich spreche von hier, mitten in Chicago.« Joe zog ihn am Arm hinter sich her. »Ich zeig’s dir.« Sie begaben sich in eine Gegend, die Joe junior den Neunzehnten Bezirk nannte, ebenfalls auf der West Side. Es war ein Viertel mit engen, dicht bevölkerten Straßen, kleinen armseligen Läden, baufälligen Baracken, jede mit einer Holzkiste für Ofenasche und Abfall vor der Tür. Die Hinterhöfe dieser Baracken waren winzig. Halbnackte Kinder spielten dort im Dreck. Die Gehsteige bestanden aus wurmstichigen Bohlengängen, die stellenweise durchgebrochen waren. Die Nebenstraßen waren ungepflastert und nicht mehr als getrocknete Schlammwege. In einer dieser Straßen entdeckte Paul Handkarren, hörte Geschrei von Straßenhändlern und schrille Stimmen schimpfender Hausfrauen. Pferdemist, Hundedreck und faulender Müll machten die Luft unerträglich. Er hatte bereits in Berlin Elendsviertel kennengelernt, aber das hier war viel schlimmer. »Arbeitende Menschen«, sagte Joe und deutete auf offene Fenster, in denen zerrissene Vorhänge flatterten. »Und dann gezwungen, so zu leben. Jedes System, das so etwas zuläßt, ist verdorben und dem Untergang geweiht – o mein Gott!« »Was ist los? Was hast du?« Joe war schlagartig bleich geworden und wich einen Schritt zurück. »Hymies«, flüsterte Joe und deutete zur nächsten Straßenecke. Paul zählte fünf kräftige Jungen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Sie trugen Baseballschläger und Flaschen. »Wie hast du sie genannt?« »Die Hymies. Das ist eine Bande. Eine der schlimmsten. Die alten Straßenhändler in dieser Gegend werden dauernd verprügelt und ausgeraubt, weil sie Juden sind, deshalb knöpft die Bande sich jeden vor, der ihr über den Weg läuft. Aus Rache. Laß uns lieber umkehren, ehe sie uns entdecken – o Herr Jesus. Zu spät! Lauf!« Er wirbelte herum und rannte los. Paul folgte ihm, während hinter ihm wilde Schreie ertönten. Paul riskierte einen kurzen Blick nach hinten. Die Jungen jagten ihnen nach. Einer, dunkelhaarig und offenbar der Anführer, prallte mit einem alten Mann auf der Straße zusammen, stieß ihn zu Boden. Keiner der Jungen kümmerte sich um ihn. Joe überquerte dicht vor einem Eiswagen die Straße. Das Pferd bäumte sich auf und wieherte. Der Kutscher schlug mit der Peitsche darauf ein und beschimpfte die Vettern. Mit rudernden Armen sah Paul sich ein zweites Mal um. Der Bandenführer grinste. Er wußte, daß sie ihre Opfer einholen
218
TEIL DREI
würden. »Da, dort entlang!« Joe junior riß ihn in eine enge Gasse mit Holzhütten auf der linken Seite. Rechts befand sich ein Bretterzaun. Er stöhnte auf, als er sah, daß ein Handkarren den Durchgang der Gasse zur Parallelstraße versperrte. Paul entdeckte etwas anderes und bremste abrupt. »Joe, da, das Faß! Roll es rüber!« »Warum, zum Teufel –« »Nun mach schon! Dann steig hinauf!« Sie bugsierten das alte Holzfaß unter die weit hinabreichende Dachrinne eines verlassenen Schuppens mit Giebeldach. Joe kletterte auf das Faß, dann weiter aufs Dach. Paul hielt sich dicht hinter ihm. Er schob seinen Vetter höher und über den Dachfirst auf die andere, der Gasse abgewandte Dachhälfte. Dort blieben sie liegen und preßten die Gesichter auf Schindeln aus dicker Dachpappe. Die Bande drang johlend und lachend in die Gasse ein. Plötzlich gab Joe junior einen erstickten Entsetzenslaut von sich. Er begann zu rutschen. Paul reckte die linke Hand über den Giebel und packte Joe mit der Rechten. Joe rutschte ein Stück abwärts, bis seine Beine über die Regenrinne hinaushingen. Paul biß die Zähne zusammen. Er schwitzte und kämpfte gegen den Schmerz in seinem Arm und seiner Schulter an. Die Bande auf der anderen Seite der Gasse wurde ärgerlich. »Was geht hier vor? Wo sind die Kerle, verdammt noch mal?« »Ich rutsche«, flüsterte Joe. Sein Gewicht drohte sie beide vom Dach zu ziehen. »Halte durch«, erwiderte Paul flüsternd. »Wenn wir abstürzen, dann hören sie uns, und das ist das Ende.« »Aber –« »Sei still!« »Die müssen schnell wie der Wind gewesen sein, die kleinen Mistkerle«, rief einer aus der Bande. »Kommt schon, wir suchen sie. Wenn wir die erwischen, machen wir sie fertig!« Paul konnte seinen Vetter nicht länger halten. Er ließ ihn los, Joe rutschte vom Dach und landete unter lautem Getöse auf einem Stapel ausrangierter Hühnerkäfige. Paul zog sich bis zum First hoch und beobachtete, wie die Bande am Ende der Gasse den Karren umkippte und den hilflosen Mann, dem er gehörte, anrempelte und zu Boden schleuderte. Dann rannte sie weiter und verschwand außer Sicht. Zitternd und völlig außer Atem kletterte Paul über den Dachfirst, rutschte vom Dach herunter und landete in der Gasse. Joe junior tauchte
CHICAGO 1892 – 1893
219
hinter einer Ecke des Schuppens auf. Er zupfte sich Hühnerfedern aus den Haaren. »Du hast uns gerettet«, sagte er anerkennend. »Ich gebe ehrlich zu, daß ich nicht schnell genug bin, um mit solchen Situationen fertig zu werden.« »Joe, entschuldige, ich glaube, wir sollten aufhören zu reden und schnellstens von hier verschwinden.« »Stimmt. Kein schlechter Gedanke.« Sie verließen die Gasse auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren. Paul zitterte noch immer, wenn er daran dachte, wie knapp sie entkommen waren. Aber er hatte sich damit etwas errungen, was er sich sehnlichst gewünscht hatte: Joe juniors Anerkennung, den Beginn einer Freundschaft. Sie fuhren mit einer Pferdetram in die Innenstadt. Als sie sich auf den harten Korbsitzen entspannten und die warme Frühlingsluft genossen, die durch das Fenster hereinwehte, riskierte Paul eine weitere wichtige Frage. »Magst du deinen Vater wirklich nicht? Bist du nicht stolz auf ihn? Er hat es in Amerika doch zu etwas gebracht.« Joe junior stützte die Ellbogen auf die Fensterbank. Die Schatten der Telephonmasten huschten über sein Gesicht. »Natürlich hat er es zu etwas gebracht – nach Meinung seiner reichen Kollegen.« »Aber, Joe, er kam allein hier herüber, dann hat er für die Sklaven und Abraham Lincoln gekämpft. Tante Lotte hat es mir erzählt.« Joe wandte sich zu seinem Vetter um und sah ihn beschwörend an. »Joe Crown ist das, was man einen Ausbeuter nennt. Er beutet die Arbeiterklasse aus. Er bedient sich ihrer zu seinem eigenen Vorteil. Zur Hölle, er würde sogar mich für den Rest meines Lebens ausbeuten, wenn ich es zuließe. Er würde mich mit Schlips und Kragen in der Brauerei vergraben. Meinst du, ich will so sein wie er? Diesen verdammten Laden leiten, wenn er nicht mehr ist? Nein, Sir. Niemals.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Fensterbank. Nachdem sie den Westarm des Flusses überquert hatten, verließen sie den ratternden Wagen. An der Kreuzung von Adams- und LaSalle-Straße zeigte Joe junior ihm ein ungewöhnliches neunstöckiges Gebäude. Es war die Hauptverwaltung der Home Insurance Company, einer Versicherungsgesellschaft. »Dies ist ein ganz schön erstaunliches Bauwerk. Es wurde vor fünf oder sechs Jahren errichtet – als erstes seiner Art. Im Innern befindet sich ein Skelett aus Stahlträgern. Dieses trägt den größten Teil der Last. Das heißt, daß die Außenmauern nicht sehr dick sein müssen. Ein derart konstruiertes
220
TEIL DREI
Gebäude kann leicht zwanzig bis sogar dreißig Stockwerke hoch sein. Man nennt es Wolkenkratzer.« »Das Wort habe ich schon in Berlin gehört. Diese Häuser kommen aus Chicago?« »Genau!« »Wer hat dieses erstaunliche Gebäude bezahlt? Deine Plutokraten?« Joe lachte und schlug Paul auf die Schulter. »Ein Punkt für dich, Kleiner. Weißt du, ich glaube, ich kann Chicago lieben, aber trotzdem die Blutsauger und Parasiten hassen, die hier leben.« Sie schlenderten durch das Menschengewimmel und wärmten sich im Sonnenschein. Paul dachte über seinen Vetter und Onkel Joe nach. Er hatte das seltsame Gefühl, daß Joe junior vielleicht nicht die ganze Wahrheit erzählte. Vielleicht bewunderte er seinen Vater – oder hatte es früher einmal getan – und wollte es jetzt nicht mehr zugeben. Was für eine Ursache mochte dieser schreckliche Bruch haben? Waren tatsächlich nur die bösen Kapitalisten und die Plutokraten schuld? »Mist«, sagte Joe und blieb abrupt stehen. »Mein Schnürsenkel ist gerissen.« Er sah die Straße hinunter. »Ich kann mir ja bei Elstree ein neues Paar kaufen.« Er ging mit Paul in ein elegantes vierstöckiges Gebäude an der Ecke Adams- und State-Straße. Er kaufte Schnürsenkel am Kurzwarenstand und gab seine fünf Cents einer hochgewachsenen Frau, die die beiden Jungen mißtrauisch musterte. Mit ihrer staubigen Kleidung und ihrem kräftigen Schweißgeruch wirkten sie kaum wie der typische Kunde eines solchen eleganten, hell erleuchteten Tempels. Die Angestellte gab einem Angehörigen der Hausaufsicht ein Zeichen, damit er Paul und Joe bis zum Ausgang in der State-Straße folgte. »Elstree hat hier angefangen. Es ist eine Chicagoer Familie.« Joe junior sprach erheblich lauter als vorher, um das Glockengeläut der Pferdetram und den allgemeinen Straßenlärm zu übertönen. »Jetzt sitzen sie auch in New York, in San Francisco und ich weiß nicht wo sonst noch. Im vergangenen Jahr gab es einen Riesenskandal, als der Laden Damenmäntel verkaufte und zwei Kundinnen starben. Es stellte sich heraus, daß die Mäntel aus einer Werkstatt von Ausbeutern stammten, die mit Pocken infiziert war. Natürlich hat niemand die Elstrees zur Rechenschaft gezogen. Das meine ich, wenn ich von der Ausbeutung armer Menschen rede.« »Ja, ich verstehe. Woher weißt du all diese Dinge?« »Ach, bestimmte Leute halten die Augen offen, keine Sorge.« Joe sah auf eine Uhr im Schaufenster eines Juweliers. »He, es ist schon halb fünf. Komm, wir fahren mit einer Straßenbahn runter zur Fünfzehnten
CHICAGO 1892 – 1893
221
Straße und gehen zu Fuß rüber zur Prairie. Nach dem, was wir an diesem Nachmittag erlebt und gesehen haben, würde ich meinen, daß wir einen Blick in den Himmel verdienen.« »Was meinst du damit?« »Etwas ganz Besonderes. Ich stelle dich jemandem vor.« Paul fragte, wen er meinte, aber sein Vetter rannte bereits über die Straße und entging um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem Fahrrad mit riesig großem Vorderrad. Der Fahrer auf seinem hohen Sattel wich dem Jungen aus und fuhr beinahe zwei Fußgänger über den Haufen. In der stillen und schattigen Prairie Avenue, in einem Viertel, wo die Häuser noch größer und feudaler waren als das der Crowns, blieb Joe neben einem Feuerhydranten unweit der Ecke Fünfzehnte Straße stehen. »Unsere Gegend ist ganz okay, aber die hier ist richtig schick. Auch wenn der alte Palmer zum North Lake Shore Drive umgezogen ist, gibt es hier noch immer genügend Millionäre.« Er deutete auf die Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Diese Hütte gehört Mr. Mason Putnam Vanderhoff III. Pork Vanderhoff, dem Fleischkönig. Wir warten nicht auf ihn, sondern auf seine Tochter. Sie heißt Juliette. Jeden Samstag, wenn das Wetter warm genug ist, spielt sie Rasentennis.« »Ich dachte, dein Mädchen heißt Rosie.« »Stimmt auch. Julie ist eine Freundin. Sie ist außerdem das schönste Geschöpf, das du je erblickt hast.« »Und du triffst dich hier draußen mit ihr?« »Gezwungenermaßen. Der alte Pork haßt Fremde und Pa ganz besonders. Ich weiß nicht genau weshalb. Mrs. Vanderhoff sitzt in irgendeinem Frauenkomitee, das mit der Ausstellung zu tun hat. Sie hat Mama daraus ferngehalten. Sie will nichts mit Mama zu tun haben.« »Woher kennst du dann das Mädchen?« »Ich hab’ Julie im vergangenen Winter kennengelernt, auf dem Eislaufplatz im Lincoln Park. Wir – Moment mal.« Er versteckte sich hinter dem Stamm einer Sykomore, der kaum dick genug war, um eine Zaunlatte zu verbergen. Von Norden kam ein kleiner, glänzend schwarzer Wagen die Prairie Avenue herunter. Er hatte kein Verdeck und war vorne tief heruntergezogen, um den Einstieg zu erleichtern. Gelenkt wurde er von einer jungen Frau in einem eleganten Tennisdreß aus weißem Leinen mit roten Streifen und Puffärmeln. Auf ihrem Kopf trug sie eine schnittige, leuchtendrote Flanellmütze. Während sich das schicke kleine Fahrzeug näherte, kam eine Windbö auf und schlug den Rock hoch, so daß Paul einen Blick auf schwarze
222
TEIL DREI
Strümpfe über auffallenden Leinenschuhen erhaschen konnte. Er sah auch den Tennisschläger neben ihr auf dem Sitz. Joe sprang hinter der Sykomore hervor, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Julie! Hier drüben.« Das Mädchen lenkte das Pony zur anderen Straßenseite und zog die Zügel, um anzuhalten. Dabei wirbelte sie eine Staubwolke auf. »Hallo, Joe Crown, das ist aber eine nette Überraschung.« Sie lächelte ihn strahlend an. Paul hoffte, daß er sie nicht zu auffällig anstarrte. Er hatte sich noch niemals in der Nähe einer derart reichen Person aufgehalten. In Berlin war Tennis ein Spiel, das nur von einer kleinen Elite ausgeübt wurde. Er vermutete, daß das für Amerika ebenfalls zutraf. »Ich war gerade in der Gegend«, erklärte sein Vetter. »Ich dachte, ich sag’ mal kurz hallo. Kommst du im nächsten Winter wieder zum Schlittschuhlaufen?« »Natürlich, du auch?« »Das lasse ich mir auf gar keinen Fall entgehen. Wie war dein Tennis heute?« »Ganz gut, aber nach zwei Sätzen war ich schon müde. Mama sagt, das sei bei einem Mädchen durchaus zu erwarten, aber ich wünschte, es wäre nicht so.« Nun sah sie Paul an, der sich im Hintergrund hielt und vom Aussehen des Mädchens wie verzaubert war. Miss Vanderhoff war ungefähr in seinem Alter. Sie war recht zierlich gebaut, hatte eine feine weiße Haut und große, leuchtende graue Augen. Ihr tiefschwarzes Haar unter der roten Mütze war kräftig und glänzte. Sie hatte ebenmäßige Zähne, und, was noch wichtiger war, ihr Lächeln war natürlich und voller Wärme. Joe junior bemerkte die Blicke, die zwischen den beiden hin und her gingen. »Oh, entschuldige.« Er vollführte eine kleine Verbeugung, über die sie lachen mußte. »Madam, darf ich Ihnen meinen Vetter vorstellen – Paul Crown? Paul, Miss Juliette Vanderhoff. Paul lebt seit Weihnachten bei uns. Er kommt aus Deutschland. Ich denke, das macht ihn zum Grünschnabel.« Ein kurze Pause trat ein. »Er ist in Ordnung.« »Guten Tag, Paul. Wie geht es dir?« Das Mädchen streckte ihm die Hand entgegen. Er spürte die Berührung ihrer kühlen Finger wie einen elektrischen Schlag. Dann hatte er Mühe, eine Antwort zu formulieren. »Sehr gut, danke.« Seine Stimme quakte wie ein Frosch. Wie peinlich. Sie schien es nicht zu bemerken. »Hast du vor, in Amerika zu bleiben?« »Ganz gewiß, es soll meine neue Heimat werden.« Er war sich seines Akzents bewußt: schwerfällig, fremdartig. Wahrscheinlich fand sie ihn
CHICAGO 1892 – 1893
223
komisch. »Dann herzlich willkommen«, sagte sie. »Läufst du auch Schlittschuh?« »O ja. Ich habe aber keine Schlittschuhe mitgebracht« – in Wirklichkeit hatte er noch nie welche besessen –, »aber in Berlin bin ich oft gelaufen, und das ganz gut.« Er wollte eigentlich nicht lügen und so dick auftragen, aber ihre Schönheit verwirrte ihn völlig. »Dann sehen wir uns sicherlich im Lincoln Park, wenn die Teiche im nächsten Winter zufrieren –« »Miss Vanderhoff! Ihre Mutter fragt nach Ihnen.« Der laute Ruf ließ sie zusammenzucken. Ein Hausdiener in Livree stand in der Tür der Vanderhoff-Villa. Seufzend wandte Julie sich zu Joe junior um. »Mama hat dich wahrscheinlich erkannt.« Und zu Paul gewandt, fuhr sie fort: »Ihr Salon im ersten Stock geht zur Straße hinaus. Ich muß gehen.« Julie lenkte das Pony wieder auf die Straße. »Schön, dich kennengelernt zu haben, Paul. Bis zum Winter, Joe.« Sie winkte. »Bis zum Winter«, erwiderte er und hob ebenfalls die Hand. Sie mochte zwar nur eine Freundin sein, aber Paul sah den bewundernden Ausdruck in den Augen seines Vetters. Joe knuffte ihm in die Seite. »Habe ich dir nicht versprochen, daß wir einen Blick in den Himmel tun?« »Du hast recht, sie ist wunderschön.« »Aber total unerreichbar, also komm nur nicht auf dumme Gedanken, Kleiner.« Sein Vetter stieß ihm erneut in die Seite. Dennoch schien in seiner Stimme ein Anflug von Enttäuschung mitzuschwingen. Während sie durch die Prairie Avenue nach Süden spazierten, stellte Paul fest, daß sein Mund völlig ausgetrocknet war und sein Herz noch immer heftig klopfte. Etwas Überraschendes und Unglaubliches war dort im Schatten der Sykomore passiert. Er hatte sich verliebt. »Ich kann geradezu hören, wie es in deinem Kopf arbeitet«, sagte Joe junior. »Was beschäftigt dich?« »Ich denke über einen Job nach. Ich wünschte, ich hätte einen Job anstatt einen Platz in der Schule. Dann könnte ich Geld sparen. Und von dem Geld würde ich mir dann Schlittschuhe kaufen.« Joes Augenbrauen ruckten hoch. Sein Mund verzog sich. Ehe er etwas sagen konnte, platzte Paul heraus: »Wenn du mich auslachst, bekommst du Prügel.«
224
TEIL DREI
Joe junior legte einen Arm um Pauls Schultern und drückte ihn brüderlich an sich. »Ich lache ganz bestimmt nicht. Ich weiß, wie so etwas ist. Unglücklicherweise interessiert sie sich überhaupt nicht für mich, außer als harmlosen Freund. Vielleicht hast du mehr Glück.« An diesem Abend im Bett kam Paul ein schlimmer Gedanke. Nun, da sich zwischen ihm und seinem Vetter eine Freundschaft zu entwickeln schien, hatte er seiner Meinung nach eine unsichtbare Grenze überschritten. Er hatte Partei ergriffen. Gegen Onkel Joe. Und wenn schon. Schließlich hatte Onkel Joe ihn zum Besuch dieser Schule verurteilt. Sein Vetter behandelte ihn beinahe wie jemand Gleichwertigen. Das war der große Unterschied.
19 JOE CROWN An einem Nachmittag, eine Woche vor Eröffnung der Ausstellung, erschien ein gewisser Oskar Hexhammer in Joes Büro. Joe kannte ihn hauptsächlich vom Hörensagen, obgleich sie einander schon einmal vorgestellt worden waren, und zwar durch einen gemeinsamen Bekannten in den exklusiven Räumen des Germania Club in der North-Clark-Straße, bei dem alle drei Männer Mitglied waren. Hexhammer war um die Dreißig, schlank und bis auf das dichte schwarze Haar, das wie kleine Flügel über den Ohren von seinem Kopf abstand, bereits kahl. Er trug eine Brille und legte eine Haltung absoluter Autorität an den Tag. Er war vor weniger als zehn Jahren in Chicago angekommen und hatte schon bald die Position eines Führers der konservativsten deutschen Bewegung inne. Offenbar hatte er eine bedeutende Erbschaft nach Amerika mitgebracht, mit der er die Deutsche Zeitung von Chicago gegründet hatte, eines der zahlreichen deutschsprachigen Nachrichtenblätter der Stadt. Er war Herausgeber und Chefredakteur zugleich. Joe hatte diese Zeitung nicht abonniert. Er fand sie engstirnig, einseitig und langweilig. Sie schien hauptsächlich dank städtischer Anzeigen zu überleben, welche die Stadtverwaltung immer in deutscher und englischer Sprache in Auftrag gab. Die Verbreitung der Zeitung kam auch nicht im entferntesten an Hermann Kohlsaats Abendpost oder an Anton Hesings Illinoiser Staatszeitung heran, ein Blatt, das Joe regelmäßig las. Als die Staatszeitung gegründet wurde, plädierte sie leidenschaftlich für die
CHICAGO 1892 – 1893
225
Abschaffung der Sklaverei und vertrat die Auffassungen, mit denen Joe übereinstimmte. Zur Frage des Achtstundentags vertrat sie die Meinung, daß Arbeiter mit zehn Stunden Arbeit »glücklicher« seien, weil sie ansonsten zwei weitere Stunden in Untätigkeit verbringen müßten, was am Ende zu Familienstreitigkeiten und sogar zu Verbrechen führen könnte. Obgleich Joe ungehalten auf Hexhammers lästiges Ersuchen reagierte, ihn ohne vorherige Terminabsprache sprechen zu wollen, begrüßte er den Mann mit Händedruck und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. »Wie geht es Ihnen, Herr Crown?« Das Deutsch des Besuchers hatte einen deutlich hörbaren Akzent. Berlin. Und zwar das snobistische Berlin. »Ich rede lieber englisch, Mr. Hexhammer. Was kann ich für Sie tun? Ich hoffe, Sie fassen sich kurz, denn wir haben hier immer sehr viel zu erledigen.« »Ich denke, daß Sie fünfzehn Minuten zum Nutzen der deutschen Kultur erübrigen können.« Joe witterte sogleich eine Bitte um finanzielle Unterstützung. Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander, so daß sie teilweise sein Gesicht verbargen. »Bitte, äußern Sie sich etwas genauer.« Hexhammer polierte seine Brille mit einem gestärkten Taschentuch. »Aber gerne. Sicherlich sind Sie mit mir darin einig, daß die Menschen in unserem Vaterland, wo Sie und ich geboren wurden, ein weitaus zivilisierteres, angenehmeres Leben führen als hier in Amerika.« Joe stöhnte innerlich auf. Schon wieder so ein Verfechter der Auffassung, daß alles Deutsche überlegen sei! »Nicht unbedingt«, sagte er. »Ich erinnere mich mit großer Zuneigung an meine Heimat, aber ich ziehe dieses Land vor. Ich liebe seine Demokratie, seine Energie, sogar seine Gewöhnlichkeit. Mir gefällt, daß es nicht der Vergangenheit verhaftet ist, sondern stets in die Zukunft blickt. Ich liebe die Grundidee, daß alle Menschen am gleichen Punkt starten und nur die eigenen Fähigkeiten und ihr Ehrgeiz bestimmt, wie weit sie kommen können. Ich liebe es, daß Amerika grundsätzlich jeden willkommen heißt. Erst vor kurzem, im Dezember, kam mein Neffe –« Hexhammer unterbrach ihn. »Ihnen gefällt die Vorstellung, sich mit Böhmen und Polen gemein zu machen? Sogar mit den dreckigen Iren – mit allem Abschaum der Erde?« Joe lachte. »Mir wurde gesagt, Sie seien ein verkappter Aristokrat. Das trifft tatsächlich zu.« Hexhammer fand das gar nicht amüsant. »Ihnen könnte man genau den gleichen Vorwurf machen, Sir. Sie haben schließlich entschieden, daß ein Haus auf der Nordseite, also unter Ihresgleichen, nicht exklusiv genug ist.
226
TEIL DREI
Deshalb sind Sie zur Michigan Avenue gezogen.« »Wo ich wohne und weshalb, ist allein meine Sache. Zu Ihrer Information – unser erstes Haus war einfach zu klein. Meine Adresse drückt in keiner Weise eine Minderung meiner Hochachtung vor meinem Geburtsland, meinem Volk und dessen Traditionen aus.« Joe blieb nach außenhin völlig ruhig. Aber er ärgerte sich über den Hinweis darauf, daß andere Schlechtes von ihm dachten, weil er von der vorwiegend von Deutschen bewohnten North Side vor fünf Jahren weggezogen war. Sein guter Ruf war für Joe sehr wichtig. »Um es noch genauer zu erklären, Mr. Hexhammer – unsere Familie gehört der Lutheranischen St.-Pauls-Kirche an der Ecke von Superior und Franklin Avenue an – was Ihnen, wie ich annehme, durchaus bekannt ist.« »Natürlich.« »Es ist die älteste lutheranische Kirche in der Stadt. Sie läßt sich bis 1848 zurückverfolgen. Deutsche haben sie aufgebaut, und unter den Gläubigen befinden sich vorwiegend Deutsche. In der Sonntagsschule wird immer noch auf deutsch unterrichtet. Außerdem spenden meine Frau und ich regelmäßig für das Krankenhaus des Alexianerordens, das von Mönchen aus Aachen gegründet wurde, und für das German Hospital an der Lincoln Avenue. Als ich das erste Mal finanziell in der Lage war, wohltätige Bemühungen zu unterstützen, gab ich alles, was ich entbehren konnte, dem Schwabenverein, um dem Verein dabei zu helfen, das Schiller-Denkmal im Lincoln Park aufzustellen. Beweist das genug Hochachtung für mein deutsches Erbe, Mr. Hexhammer?« »Sicherlich, gewiß.« »Worum geht es denn dann noch?« Der Besucher räusperte sich. »Kennen Sie die Vereinigung der PanGermanischen Liga in unserer Heimat?« »Ich weiß wenig darüber. Es ist doch eine Gruppierung von Superpatrioten, nicht wahr?« »So schlimm nun auch wieder nicht. Obgleich es sich um eine Bürgervereinigung handelt, ist die Liga ein notwendiger und überaus wichtiger Arm unserer Regierung.« »Meine Regierung sitzt in Washington. Aber fahren Sie fort.« Joe griff an seine Weste. Seine Finger begannen den Eberzahn zu reiben. »Die Liga hat ganz spezielle Ziele. Sie unterstützt eine höhere Bereitschaft zum Armeedienst, eine umfangreichere und stärkere Marine, die weltweit operieren kann, außerdem die Ausweitung der Kolonien in Übersee und natürlich Aufrüstung im Hinblick auf unsere Todfeinde Frankreich und das Britische Reich.«
CHICAGO 1892 – 1893
227
Joe schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum der Kaiser England so leidenschaftlich haßt, wo doch seine eigene Großmutter, Königin Victoria, dort regiert. Ich war schockiert, als er verlauten ließ, daß das englische Blut in seinen Adern für seinen verkrüppelten Arm verantwortlich sei.« »Meiner Meinung nach eine völlig richtige und angemessene Aussage. Um aber auf die Liga zurückzukommen – es ist eines ihrer anderen Ziele, das mich hierher führt. Die deutsche Diaspora hat sich über die ganze Welt ausgebreitet. Wo immer Deutsche sich niederlassen, bemüht die Liga sich, unsere Sprache und Kultur zu erhalten und zu fördern.« »Zurück zur deutschen Überlegenheit, ist es das?« Der Besucher erkannte den Sarkasmus nicht oder wollte ihn nicht erkennen. »Aus gutem Grund, Sir. Wir sind schließlich das Volk Beethovens. Das Volk Wagners und Goethes.« Hexhammer beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich stehe in enger Verbindung mit der Direktion der Liga in Übersee. In engster Verbindung sogar.« Was für ein aufgeblasener Esel, dachte Joe. Soll ich jetzt etwa auf die Knie sinken und vor Ehrfurcht erstarren? »Mr. Hexhammer, ehe wir dieses Gespräch fortsetzen, möchte ich, daß Sie mir eine Frage beantworten. Wenn die Kultur des Vaterlandes der amerikanischen so haushoch überlegen ist, weshalb sind Sie dann hier und nicht drüben?« »Ich dachte, das hätte ich längst klargemacht, mein Freund. Als Deutsche ist es unsere Pflicht, den politischen und gesellschaftlichen Kurs des Landes zu beeinflussen, in dem wir leben. Damit müssen wir schon bei den Kindern anfangen. Deshalb unterstützt die Liga die Gründung eines völlig neuen Turnvereins, der den Namen ›Kaiser-Wilhelm-Turnverein von Chicago‹ tragen soll.« Die letzten Worte sanken zu einem unverständlichen Gemurmel herab. Joe Crown betrachtete seinen Besucher mit skeptischem Blick. Hexhammer sammelte sich. »Sie glauben doch an die Lehren Friedrich Jahns, oder nicht? Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?« Anfang des Jahrhunderts hatte Jahn in Deutschland eine Bewegung gegründet, die sich der körperlichen Ertüchtigung verschrieb. Danach gründeten Einwanderer überall in Amerika typisch deutsche Turnvereine. »In der Tat. Ich habe meine Kinder immer dazu angehalten, sich ausgiebig körperlich zu betätigen und Sport zu treiben, um gesund zu bleiben.« »Sind sie zur Zeit Mitglieder in einem ordentlichen Verein?« »Nein. Sie waren in einem Verein, als sie noch kleiner waren.«
228
TEIL DREI
»Dann empfehle ich Ihnen, sie in unserem neuen Club anzumelden. Mit einem Gründungsbeitrag von mindestens eintausend Dollars. Ihre Kinder kommen auf diese Art und Weise in eine Elitevereinigung zur Propagierung deutscher Werte durch körperliches Training.« »Mr. Hexhammer«, sagte Joe, »es paßt mir überhaupt nicht, wenn jemand zu mir kommt und mir erklärt, daß ich mein Geld hierfür oder dafür ausgeben soll. Überdies, wenn ich mich entschließe, etwas zu spenden, dann bestimme ich allein den Betrag.« »Aber es ist Ihre Pflicht als Deut –« »Bitte erinnern Sie mich nicht an meine Pflicht. Die kenne ich selbst. Und zu meinem Pflichten gehört ganz sicher nicht, ausgerechnet diesen übertriebenen deutschen Patriotismus zu unterstützen.« Hexhammer zuckte in seinem Sessel zusammen. Er hatte vorher seine grauen Handschuhe abgestreift und auf seinen Schoß gelegt. Jetzt begann er, sie heftig zu zerknautschen. »Das ist eine sehr seltsame Haltung für jemanden, der vorgibt, sein Geburtsland zu lieben. Diese Einstellung ist vor allem bei einem Geschäftsmann verwirrend, der – und das darf ich wohl behaupten, oder? – sich auf das Wohlwollen deutscher Menschen verläßt.« Er hielt inne, während seine Worte wirkten. »In dieser Stadt, Sir, machen gewisse Neuigkeiten sehr schnell die Runde. Ich möchte nicht, daß Ihr Ruf Schaden erleidet. Oder daß Ihre Bierverkäufe zurückgehen.« Joe Crown erhob sich. Er kam langsam um den Schreibtisch herum und blieb vor Hexhammer stehen. »Ich betrachtete dieses Gespräch als beendet. Verlassen Sie mein Büro!« Hexhammer wand sich aus seinem Sessel und drängte sich an Joe vorbei. Mit unsicheren Seitenschritten ging er zur Tür. Dabei wrang er noch immer seine Handschuhe. »Ich glaube, das bereuen Sie noch. Sie sind kein guter Deutscher.« »Sie mögen recht haben. Ich bin schließlich ein amerikanischer Bürger. Und jetzt raus, bitte.« Hexhammer schlug die Tür zu. Joe ließ sich in seinen Sessel sinken. Er hatte genau das Richtige getan, aber er war sich völlig darüber im klaren, daß der junge Verleger unter den Ultrakonservativen in Chicago einen gewissen Einfluß hatte. Die Drohung hinsichtlich der Bierverkäufe machte ihm wegen eines wichtigen Punktes Sorgen. Er betrachtete sich als persönlich verantwortlich für das Wohlergehen jeder Person auf seiner Lohnliste. Und das Wohlergehen hing vom Erfolg der Brauerei von Woche zu Woche und von Monat zu Monat ab.
CHICAGO 1892 – 1893
229
Nun, er würde niemals jemanden wegen sinkender Verkäufe entlassen. Das hatte er schon vor langer Zeit entschieden. Eher würde er selbst pleite gehen. Er war noch nicht einmal besonders edel. Ein anständiger Mensch betrieb seine Geschäfte nun mal so. Er befürchtete, daß er mit Hexhammer noch nicht fertig war, genauer ausgedrückt, daß Hexhammer noch nicht mit ihm fertig war. Während er einen Stapel Briefe unterschrieb, die Zwick an diesem Morgen bereits auf der Maschine geschrieben hatte, versuchte er den Vorfall aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. 20 PAUL An dem großen Tag weckte ein fernes Donnergrollen Paul schon vor dem Morgengrauen. Er wollte wieder einschlafen. Er drehte sich auf die linke Seite. Er zwang sich zu gähnen. Er warf sich auf die rechte Seite. Sinnlos. Seine Gedanken kreisten um die Ausstellung. Ein ganzer Tag ohne Mrs. Petigru! In den eisernen Heizungsrohren, die sich durch das Haus schlängelten, hörte er ein Klappern und Klirren, eine ferne, geisterhafte Stimme. Obgleich es noch dunkel war, war Louise längst in der Küche. Tante Ilsa ebenfalls. Die Tante hatte verkündet, daß um halb sieben gefrühstückt würde. Manfred hatte etwas gegen diese Änderung des alltäglichen Zeitplans und hatte sich hinter Tante Ilsas Rücken in der Küche entsprechend geäußert. Manfred verabscheute alles, was er nicht selbst geplant und genehmigt hatte. Jemand klopfte. Paul sprang aus dem Bett, stolperte durch die Dunkelheit und flüsterte: »Wer ist da?« »Fritzi. Bist du wach?« »Nein, ich schlafe noch. Merkst du das denn nicht?« Fritzi kicherte. »Was willst du?« »Mach die Tür auf. Bitte.« Seufzend drehte er den Türknauf. Ein Geruch, der an irgendwelche Früchte erinnerte, drang in seine Nase. Er konnte Fritzis Gesicht nicht erkennen, sah nur die Silhouette ihrer langen Locken und des fußlangen Nachthemds vor dem matten Lichtschimmer am Ende des Korridors. »Ich wollte dich nicht wecken, Paul.« Er brummte etwas Unverständliches. »Ich bin so aufgeregt. Ich kann nicht schlafen.« »Ich bin auch aufgewacht«, gestand er. »Was interessiert dich denn auf der Ausstellung am meisten?«
230
TEIL DREI
»Alles.« »Ich möchte das Porträt von Ellen Terry sehen.« »Wer ist das denn?« »Paul, wo hast du nur die ganze Zeit gelebt? Ellen Terry ist eine der besten Schauspielerinnen der Welt.« »Aha.« Ein längeres Schweigen trat ein. Fritzi rieb mit den nackten Zehen über den weichen Teppich auf dem Korridor. »Na ja, ich glaube, ich gehe mich jetzt lieber kämmen oder so.« »Ja, tu das ruhig.« »Wir sehen uns dann beim Frühstück.« Er war völlig unvorbereitet, als sie vorschnellte und ihm einen Kuß auf die Wange drückte. Danach wirbelte sie herum und rannte mit fliegender Mähne in ihr Zimmer. Verblüfft und etwas benommen, schloß Paul die Tür und lehnte sich in der Dunkelheit gegen die Wand. Er legte die Finger auf die Stelle, die Fritzis Lippen berührt hatten. Seine Finger ertasteten etwas Klebriges. Er roch daran. Daher kam also der Geruch. Es war irgendeine süßliche Nachtcreme, die sie zur Pflege ihrer Haut verwendete. Das mit Kusine Fritzi ging einfach zu weit. Sie war nett, lebhaft und klug, obgleich es immer wieder vorkam, daß sie einem mit ihrem Geplapper und ihrem Schauspielern furchtbar auf die Nerven ging. Offensichtlich sah sie in ihm mehr als nur einen Verwandten. Sie hatte irgendwelche romantischen Anwandlungen. Er hatte das schon länger vermutet, es sich selbst gegenüber aber niemals eingestehen wollen. Der Kuß veränderte alles. Er durfte sie nicht ermutigen, nicht einmal andeutungsweise. Vettern und Kusinen durften keine Verbindung eingehen, und außerdem hatte er jemand ganz anderen im Sinn. Eine ältere. Von ihren entzückenden Augen, ihrem wundervollem Haar und ihrer bezaubernden Figur hatte er mehr als nur einmal geträumt. Er mußte dies Fritzi auf eine Art klarmachen, die sie überzeugte, aber nicht verletzte. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Aber nicht heute. Heute wurde gefeiert. Die einzige Person im Haus, der nicht danach zumute war, war Joe junior. Er äußerte sich stets ablehnend über die Ausstellung. Wie würde er sich bei den Eröffnungsfeierlichkeiten verhalten? Paul knipste das elektrische Licht an und begann, sich zu waschen und anzuziehen, als der Himmel über dem Michigan-See graute. Es war der 1. Mai 1893. Außer Vetter Joe fanden sich alle zum Frühstück ein. Onkel Joe saß auf
CHICAGO 1892 – 1893
231
seinem angestammten Platz, allerdings mußte er schon früh zu einem zweiten, wichtigeren Frühstück mit verschiedenen Würdenträgern in seinem Club aufbrechen. Er hatte nur einen Teller mit einem kleinen Stück Hering und eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich stehen. Onkel Joe sah eindrucksvoll aus in einem Gehrock mit Satinaufschlägen, einem dunkelrot und schwarz gestreiften Schal und einer grauschwarz gestreiften Hose. Als Tante Ilsa einen Teller mit Würstchen hereinbrachte, erkundigte er sich: »Darf ich erfahren, wo Joe junior bleibt?« »Er hat schreckliche Magenschmerzen. Er hat darum gebeten, heute dem Frühstück fernzubleiben, und ich war einverstanden.« »Na schön, soll er zu Hause bleiben. Wir können auf die Gesellschaft eines Spielverderbers durchaus verzichten. Wenn er die Ausstellung später besuchen will, dann kann er den Eintritt selbst bezahlen.« Donner grollte. Onkel Joe schaute stirnrunzelnd zum dunklen Himmel, der durch das Fenster neben ihm zu sehen war. »Hoffentlich fällt unser Freiluftprogramm nicht ins Wasser. Zumindest Präsident Cleveland ist bereits in der Stadt. Wir haben nämlich einen neuen Präsidenten, Paul. Er wurde im vergangenen November gewählt.« »Ich habe auf meiner Reise hierher sein Bild gesehen, glaube ich. Es gab viele Plakate.« Tante Ilsa und Louise liefen herum und präsentierten Platten mit Bergen von Essen. »Eßt, Kinder, wir haben einen langen Tag vor uns.« Manfred schritt zweimal durch das Eßzimmer, wobei das Mißfallen in seinen streng blickenden Augen deutlich zu sehen war. Mitten während der Mahlzeit entschuldigte Carl sich, um die Toilette aufzusuchen. Er kam zurückgerannt und prallte mit Manfred zusammen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Master Carl, dann achten Sie bitte darauf, wohin Sie laufen.« Onkel Joe räusperte sich. Es war ein sanfter, aber deutlicher Hinweis, daß Manfreds Tonfall zu streng war. Manfred errötete. Paul sagte: »Es war nicht seine Schuld, Mr. Blenkers, er kann schließlich nicht um die Ecke schauen.« »Oh, ich verstehe, danke für die Aufklärung, Master Paul.« Manfred starrte Paul eindringlich an, dann stolzierte er hinaus. Paul brauchte sich diesen letzten Vorfall nicht zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, daß Manfred eine tiefe Abneigung gegen ihn hegte. Wahrscheinlich hatte er allein durch seine Ankunft und seine Existenz die von Manfred geschaffene Haushaltsordnung empfindlich gestört. Der Diener würde wohl niemals sein Freund sein, aber das machte Paul nichts aus. Für ihn gehörte Manfred zu derselben Sorte Menschen wie seine
232
TEIL DREI
Lehrerin Mrs. Petigru. Ein heftiges Gewitter brach los, als Onkel Joe, der sich einen hohen Seidenzylinder aufgesetzt hatte, zu seinem Frühstücksempfang aufbrach. Der Regen trommelte auf das Dach und lief in Bächen an den Fensterscheiben hinunter. Für eine Weile konnte man nicht einmal mehr die Michigan Avenue erkennen. Fritzi fing an zu weinen und klagte, daß nun alles verdorben sei. Kurz nach dem Frühstück, während das Unwetter noch tobte, klopfte Paul leise an Joe juniors Tür. »Komm rein.« Zu seiner Verblüffung saß Vetter Joe im Nachthemd in seinem Bett. Er hatte ein Buch in der Hand und sah völlig gesund aus. »Joe, es tut mir leid, daß dir schlecht ist.« »Ich hab’ nur Leibschmerzen.« »Kannst du wirklich nicht mitkommen?« »Ich will nicht. Mama versteht das. Geh ruhig. Ich weiß ja, daß du alles sehen willst. Mir gefällt schon allein die Vorstellung nicht, zwischen diesen reichen Leuten eingepfercht zu sein. Du kannst mir ja morgen erzählen, wie es war.« »Ja, das tue ich bestimmt«, versprach Paul erleichtert. »Mach bitte die Tür hinter dir zu. Danke.« Joe junior war längst wieder in sein Buch vertieft. Fast wie durch ein Wunder ließ der Regen nach, die Gewitterwolken trieben weiter, und die Sonne kam heraus, so daß von den regennassen Straßen Dampf aufstieg. Als Nicky Speers die Familie gegen halb zehn zur Ausstellung kutschierte, herrschte schönes Wetter. Auf dem gesamten Weg zum Ausstellungsgelände beschwerte Fritzi sich, daß ihr Korsett drücke. Sie und Tante Ilsa hielten sich beim Gehen ein wenig vornübergebeugt, woran ihre sehr stramm geschnürte Kleidung schuld war. Erst am Vorabend hatte Fritzi diesen Gang, den sie »den Känguruh-Diener« nannte, nachgeahmt. Die Straßen zum Jackson-Park waren mit Kutschen, Wagen, Pferdetaxis und Fußgängern verstopft. Onkel Joe erwartete die Familie am Haupteingang und winkte ihnen zu, sie sollten sich beeilen. Von allen Seiten hin und her gestoßen, folgten sie ihm. Paul konnte es sich kaum verkneifen, die Gebäude anzugaffen, die prachtvoll und blendendweiß im Sonnenschein standen. Sie saßen auf gesonderten, aber nicht sehr bequemen Plätzen. Die harten Bänke waren am Fuß einer breiten Treppe an der Ostseite des
CHICAGO 1892 – 1893
233
Verwaltungsgebäudes aufgestellt worden. Eine reich geschmückte Plattform auf der Tribüne bot Platz für ein vollständiges Orchester, einen großen Chor und für alle Würdenträger, die Onkel Joe leise aufzählte. Der Präsident der Vereinigten Staaten, Grover Cleveland, der Vizepräsident Adlai Stevenson aus Illinois, Bürgermeister Harrison, Gouverneur Altgeld sowie drei Ehrengäste aus Spanien – der Herzog von Veragua, ein direkter Nachfahr von Columbus, seine Gattin und eine Frau, die Joe als Infanta Eulalia, die Tochter des Königs, identifizierte. Die Eröffnungsfeierlichkeiten begannen um Viertel nach elf. Das Orchester spielte eine Wagner-Ouvertüre. Darauf folgten Gebete, Chorgesang und mehrere langatmige Reden, bei denen Paul, Carl und Fritzi unruhig auf ihren Plätzen herumrutschten. Nach Osten zu, in Richtung See, drängten sich Tausende auf den Promenaden zu beiden Seiten des funkelnden Grand Basin. Onkel Joe sagte, daß an diesem Tag zwischen dreihundert- und fünfhunderttausend Besucher erwartet würden. Alle erhoben sich, um dem Präsidenten zu applaudieren, nachdem er begrüßt worden war. Mr. Cleveland war ein stämmiger, energischer Mann mit kräftiger Stimme, aber Paul achtete kaum auf das, was der Politiker zu sagen hatte. Seine Rede war lang, seine Sätze kompliziert, und außerdem wurde Paul ständig von den unglaublichen Sehenswürdigkeiten ringsum abgelenkt. Da waren weiße Gebäude von großer Schönheit und Symmetrie; breite Prachtstraßen; Seen und Teiche, die das Sonnenlicht reflektierten; Statuen und Plastiken jeder Art. Gegen halb eins beendete der Präsident seine Ausführungen. Stürmischer Applaus erklang – wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Auf beiden Seiten des Grand Basin und in den dazwischenliegenden Prachtstraßen wurde die Menschenmenge schnell wieder still. Onkel Joe beugte sich gespannt vor. »Paßt auf, gleich ist es soweit.« Präsident Cleveland streckte die Hand nach dem vergoldeten Schalter vor ihm aus. Seine Stimme hallte über die Köpfe der Besucher hinweg. »Genauso wie durch eine einzige Geste die Maschinen, die diese umfangreiche Ausstellung mit Leben erfüllen, in Gang gesetzt werden, so sollen im gleichen Augenblick unsere Hoffnungen und Bemühungen Kräfte wecken, die in künftigen Zeiten das Wohlergehen, die Würde und die Freiheit der Menschheit unterstützen.« Er betätigte den Schalter. Der Dirigent gab mit seinem Taktstock den Einsatz. Während die ersten Töne erklangen und der große Chor seinen Gesang anstimmte, stiegen aus den Brunnen überall auf dem Ausstellungsgelände schäumende Wassersäulen hoch, entfalteten Fahnenmasten auf wundersame Weise
234
TEIL DREI
Flaggen von Amerika, Spanien und anderen Nationen, fielen von jedem Dachfirst Wimpel und bunte Bänder herab. Gleichzeitig enthüllte sich eine riesige Statue der Republik, die sich auf einem Podest am östlichen Ende des Grand Basin erhob. Glocken schlugen und Dampfpfeifen ertönten von einer Flotte elektrisch betriebener Seefähren, die eigens gebaut worden waren, um die Besucher über die Wasserwege des Ausstellungsgeländes zu transportieren. Kanonen eines Hochseeschiffs, das in einiger Entfernung vom Seeufer vor Anker lag, schossen Salut. Von einem weißen Säulengang hinter dem Standbild der Republik stiegen zweihundert weiße Tauben aus ihren Käfigen gen Himmel auf. Tante Ilsa stieß Paul an. »Kennst du diese Musik, Pauli? Es ist das Halleluja. Der Komponist, Mr. Händel, war ein Deutscher wie wir. Aus Sachsen. Ist es nicht ergreifend?« Er mußte ihr recht geben. Während Flaggen, Springbrunnen und Wimpel die offizielle Eröffnung der Ausstellung verkündeten, überdeckte der Beifall der Massen die Musik Händels. Fritzi klammerte sich an Pauls Arm, hüpfte auf ihrem Platz auf und nieder und schluchzte tief bewegt. Onkel Joe legte einen Arm um seine Frau, während er sich mit einem großen Taschentuch verstohlen die Augen wischte. Tante Ilsa sah mit ihrem schicken kleinen Hut – schwarzer Filz mit blauen und schwarzen Straußenfedern – sehr hübsch aus. Sie hielt einen Sonnenschirm fest zusammengerollt in der Hand – Fritzi trug einen kleineren – und hatte ihr Gesicht mit Reispuder und Rouge dezent geschminkt. Ihr Kleid war an der Taille gerafft und besaß eine kleine Rüschenschleppe. Das Rascheln ihrer Unterröcke gefiel Paul. Carl sah sich mit großen Augen um und war genauso überwältigt wie sein Vetter. Die Jungen trugen kleinere Versionen von Onkel Joes elegantem Anzug, eigens für diesen Anlaß erstanden. Paul war noch nie so elegant gekleidet gewesen, obgleich er den engen, gestärkten Hemdkragen nicht sehr bequem fand. So sehr der ihn auch störte, so vermutete er doch, daß er nicht halb so schlimm litt wie die Frauen wegen bestimmter Kleidungsstücke. Händels Chorgesang endete. Das Orchester stimmte America an. Nachdem er in sein Programmheft geschaut hatte, sagte Onkel Joe: »Das ist der Schluß. Nun, Paul, was hältst du davon? Beeindruckend, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Versuch doch mal, deinem Vetter diesen Eindruck zu vermitteln.« »Papa, können wir endlich gehen?« fragte Fritzi. Sie hüpfte auf den Stufen zur Tribüne. Tante Ilsa ergriff ihre Hand. »Sei vorsichtig, damit du nicht hinfällst.« »O Mama, ich kann nicht stillstehen, ich bin viel zu aufgeregt. Ich will
CHICAGO 1892 – 1893
235
endlich das Porträt von Ellen Terry als Lady Macbeth sehen. Wo hängt es?« »Ich muß unbedingt in die Brauereiausstellung«, sagte Onkel Joe. »Vierundzwanzig meiner Konkurrenten zeigen dort ihre Produkte. Ich möchte mich vergewissern, ob Crown’s neben ihnen bestehen kann. Ich gehe jetzt hin, und wir treffen uns in einer halben Stunde. Vielleicht sollten wir danach mal den deutschen Pavillon aufsuchen. Ich habe das schmiedeeiserne Tor gesehen, als es in der letzten Woche montiert wurde. Es ist wirklich sehenswert.« »Nein, gehen wir lieber zur Krupp-Kanone«, sagte Carl. Tante Ilsa meldete einen weiteren Wunsch an. »An der Hauptstraße befindet sich sogar ein deutsches Modelldorf.« »Ja, zur Hauptstraße«, sagte Carl und hüpfte nun herum wie seine Schwester. »Ich möchte mal mit dem Rad fahren. Dürfen wir das, Papa?« In der Schule hatten alle nur von dem riesigen Rad mit den Gondeln gesprochen. Paul konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, mit einem solchen Ding bis zu den Wolken emporzusteigen. »Paul, gibt es etwas, was du besonders gerne sehen möchtest?« erkundigte Onkel Joe sich, während sie sich ihren Weg zum Ende der Sitzreihen bahnten. »Vielleicht Sandow, den Kraftmenschen? Er ist auch ein guter Deutscher.« »Nun, Sir, am liebsten würde ich zur Buffalo-Bill-Show gehen.« Codys Lager war direkt vor dem Ausstellungsgelände aufgeschlagen worden. Die Show fand täglich statt, bis die Ausstellung im Herbst die Tore schloß. »Das ist eine gute Idee. Carl erzählte, du hättest sie dir in Berlin ansehen wollen und hättest es damals nicht gekonnt. Ich kaufe Eintrittskarten für einen späteren Termin im Sommer. Das wäre doch eine gute Idee. Wir könnten dann deinen erfolgreichen Abschluß des Schuljahres feiern.« »Vielen Dank«, sagte Paul mit gequältem Gesichtsausdruck. »Jetzt kommt endlich. Wir müssen uns noch darauf einigen, wo wir uns nachher treffen.« Auf dem Ausstellungsgelände herrschte dichtes Gedränge. Man kam nur langsam vorwärts. Die Crowns bewunderten das große Standbild von Christopher Columbus. Er reckte sein Schwert in den Himmel, während hinter ihm die Flagge seines Heimatlandes flatterte. Eine elegant gekleidete, aber kränklich aussehende Frau kam auf sie zu. Tante Ilsa lächelte und sagte: »Guten Tag, Nell.« Die Frau wandte den Blick ab und ging grußlos vorbei. Fritzi zupfte ihre Mutter am Ärmel. »Mama, wer war das?« »Mrs. Vanderhoff.«
236
TEIL DREI
»Warum redet sie nicht mit dir?« »Ich weiß es nicht, aber es ist nicht das erste Mal. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Vanderhoff? Etwa eine Verwandte des netten Mädchens von der Prairie Avenue? Ob es auch da war? Vielleicht sah er es. Warum um alles in der Welt wollte jemand Tante Ilsa, die netteste aller Frauen, vor den Kopf stoßen? Tante Ilsa blieb vor einem ungewöhnlichen Gebäude stehen. Es hatte einen bühnenhaften Eingang aus Rundbögen, die von goldenem Laub umrankt wurden. Geradezu atemberaubend, dachte Paul. »Das ist der Transport-Pavillon, Kinder«, sagte Ilsa nach einem Blick in den Ausstellungsführer. »Mr. Sullivan hat ihn entworfen.« »Wer ist das?« fragte Carl gleichgültig. »Louis Sullivan ist ein Chicagoer Architekt. Er und sein Partner, Mr. Adler, sind sehr fortschrittlich. Einige bezeichnen Mr. Sullivan sogar als Genie.« Onkel Joe stieß wieder zu ihnen, nachdem er sich in der BrauereiAusstellung umgesehen hatte. »Unsere Präsentation ist in Ordnung. Freds Zeichnungen von den verschiedenen Schritten des Bierbrauens sind einfach, aber wirkungsvoll. Ich bin zufrieden.« Diese Stimmung schien bei ihm vorzuherrschen, während sie ihren Weg fortsetzten. »Ist diese Ausstellung nicht ein herrlicher Erfolg? Bevor der Kongreß Chicago vor allen anderen Städten den Zuschlag gab, erklärten alle Skeptiker, wir würden es nicht schaffen. Wir könnten niemals eine Ausstellung diesen Umfangs auf die Beine stellen, noch dazu termingerecht. Aber wir haben es ihnen bewiesen!« Sie bogen in eine andere Straße ein. In der Ferne gewahrte Paul das riesige Rad, das sich langsam drehte, das »Ferris-Rad«, benannt nach seinem Erfinder. Winzige Gestalten saßen in den Holzgondeln am äußeren Ring des Rads. Onkel Joe wandte sich an seine Frau. »Du hast bisher noch keinen Wunsch geäußert, Ilsa. Was möchtest du denn am liebsten sehen?« »Den Frauen-Pavillon.« »Tut mir leid, den mußt du wohl alleine aufsuchen. Ich habe niemals die Notwendigkeit gesehen, dem weiblichen Geschlecht ein besonderes Denkmal zu setzen, und ich sehe sie auch jetzt nicht.« »Natürlich nicht. Aber du mußt wissen, Joe, daß ich die Absicht habe, am Frauenkongreß teilzunehmen, wenn er in der Kunsthalle tagt. Ich werde so viele Sitzungen besuchen, wie es mir meine Zeit erlaubt.« »Na schön, aber bitte steig nicht auf die Barrikaden. Dort herrscht schon
CHICAGO 1892 – 1893
237
jetzt ein zu großes Gedränge von Roten und Freidenkern und diesen sogenannten neuen Frauen. Sollen wir abstimmen? Wohin zuerst?« Er klopfte auf die Brusttasche seines Gehrocks. »Ich habe einige Freikarten, die uns den kostenlosen Besuch der meisten Ausstellungen gestatten.« »Auch für das Ferris-Rad?« rief Carl. »Nein, für das nicht, fürchte ich. Es heißt, das Riesenrad werde wohl die meisten Besucher anziehen.« Sie einigten sich auf die Krupp-Kanone, die in einem eigenen Pavillon der Firma Krupp in der Nähe des Seeufers gezeigt wurde. Sogar Paul hatte schon von diesem renommierten deutschen Unternehmen aus Essen gehört. Der Pavillon glich einer preußischen Festung in Miniatur, mitsamt Wehrmauern und Wehrtürmen. Die Kanone war über sechsundzwanzig Meter lang. Eines ihrer Geschosse wog über eine Tonne. Sie konnte über sechzehn Meilen weit schießen, erklärte der Krupp-Ingenieur, der für Fragen bereitstand. Carl war aufgeregt und beeindruckt. Er stellte eine Frage nach der anderen. Onkel Joe schien diese Präsentation zu beunruhigen. Beim Hinausgehen sagte er: »Ob das heutzutage der einzige Stolz Deutschlands ist? Kriegswaffen? Läßt unser Vaterland hier vielleicht seine Muskeln spielen wie irgend so ein Rowdy von der Straße? Wenn ja, was hat das Ganze zu bedeuten? Gewiß nichts Erfreuliches.« Als nächstes besuchten sie den Kunstpavillon, wo das Porträt der Schauspielerin Ellen Terry hing. Es war von einem Mr. Sargent gemalt worden. Fritzi stand wie verzaubert fünf Minuten lang davor, faltete die Hände und seufzte wiederholt, während Onkel Joe seine goldene Taschenuhr zuklappte und sagte: »Es wird Zeit, weiterzugehen.« Sie spazierten zum Midway Plaisance, einer breiten, von Osten nach Westen verlaufenden Prachtstraße, die eine Meile lang zwischen der Neunundfünfzigsten und der Sechzigsten Straße durch den Nordteil des Geländes führte. Dort lagen alle Vergnügungseinrichtungen. Sie bewunderten das Blarney Castle aus Irland, wanderten dann durch die engen Gassen und winzigen Tore der Straßen von Kairo, die von Frauen in Schleiern und dunkelhäutigen Männern in langen Gewändern und mit roten Fezen auf den Köpfen bevölkert wurden. Es war ein exotisches, leicht verrucht wirkendes Ambiente, das Tante Ilsa überhaupt nicht gefiel. Sie lächelte auch nicht, als Onkel Joe sich dazu äußerte: »Wenn du in den Frauen-Pavillon gehst, sehe ich mir vielleicht eine Vorstellung dieser Tänzerin Little Egypt an. Die Männer in der Brauerei reden ständig von ihrer danse du ventre.«
238
TEIL DREI
Carl flüsterte Paul zu: »Das bedeutet, daß sie mit ihrem Bauch tanzt, habe ich in der Schule gehört.« Sie nahmen im deutschen Dorf ein frühes Abendessen ein, um sich dann am Riesenrad in die Schlange der Wartenden einzureihen. Sie saßen unter bunten Laternen an einem Tisch im Freien. Eine Wasserburg warf ihren mächtigen Schatten auf sie, die Nachbildung einer Festung aus dem 15. Jahrhundert. Eine deutsche Kapelle spielte bekannte Lieder, während die Familie Nudelsuppe und Huhn mit Spargel aß. Sie warteten fast eine Stunde, bis sie das Riesenrad zu einer Fahrt besteigen konnten. Eigentlich waren es zwei Räder, zwischen denen sechsunddreißig Gondeln befestigt waren. In der Dunkelheit dieser Frühlingsnacht verliehen die farbigen Lichter des Midway Plaisance und der Ausstellung dem Himmel einen hellen Schein. Schließlich kamen sie an die Reihe. Zusammen mit anderen Fahrgästen bestiegen sie eine vierzig Personen fassende Gondel mit großen Glasfenstern und bequemen Drehsesseln. Fritzi stieß einen Schrei aus, als das Rad sich ruckend in Bewegung setzte und die Gondel hochstieg, schwankte und dann wieder stillstand, während die Gondel darunter beladen wurde. »Ich habe gelesen, daß das Rad einen Durchmesser von über sechsundsiebzig Metern hat«, ließ Carl verlauten. »Hinzu kommen noch viereinhalb Meter für das Gerüst mit der Aufhängung, also für die Basis«, sagte sein Vater. »Fünfzig Cents sind ganz schön teuer für eine so kurze Fahrt«, stellte Fritzi fest. »Ach, seid doch still, und seht euch lieber um«, sagte Tante Ilsa. »Habt ihr schon einmal so was Schönes gesehen?« Sie beugte sich in ihrem Sessel vor und drückte mit einer behandschuhten Hand gegen die Glasscheibe. Ein grandioses, funkelndes Lichtermeer breitete sich unter ihnen aus und erstreckte sich mehr als eine Meile weit nach Süden. Tante Ilsa gab einen fröhlichen Laut von sich, halb Lachen, halb Glucksen, und drückte Pauls Hand. »Pauli, ist so etwas möglich? Kann es einen prächtigeren Anblick geben?« »Nein, niemals«, flüsterte er, während die Gondel in die Höhe fuhr und schaukelte. Sein Gesicht war überflutet vom bunten Licht der magisch blinkenden Lampen. Das Panorama unter ihm war ein Symbol für die grenzenlosen Wunder des neuen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das gerade seine höchste Blüte erlebte.
CHICAGO 1892 – 1893
239
In Amerika. Erschöpft wie sie waren, redeten sie nur wenig, als Nicky Speers sie gegen elf Uhr zur Michigan Avenue zurückfuhr. Paul schaute nach, ob unter Joe juniors Tür Licht durchschien, sah aber nichts. Dann eben morgen. Er verschlief und stand spät auf. Er hatte ja wieder Schule! Er rannte nach unten und fand kaum Zeit, sich ein Brötchen in den Mund zu stopfen und es mit Milch hinunterzuspülen. Joe junior hatte das Haus bereits verlassen, um mit der Straßenbahn zur Brauerei zu fahren. Onkel Joe weigerte sich, seinen Sohn in seinem Landauer mitzunehmen, weil er befürchtete, daß dadurch der Eindruck von Bevorzugung entstehen könnte. Erst gegen Viertel nach neun Uhr abends traf Paul seinen Vetter in seinem Zimmer an. »Dann erzähl mal. Wie hat es dir gefallen?« »Joe, werd nicht wütend, aber ich fand es ganz toll.« »Tatsächlich?« Sein Vetter musterte ihn eindringlich. Pauls Magen verkrampfte sich. Plötzlich grinste Joe. »Zum Teufel, ich habe nichts anderes erwartet. Ich hatte damit gerechnet, daß du überwältigt bist. Es ist doch eine Riesenshow. Allein die vielen einfallsreichen Namen dafür. Das Neue Jerusalem, Die Weiße Stadt. Sicherlich fandest du die Gebäude wunderschön, dabei ist es nur weiße Farbe auf billigem Gips. Diese Ausstellung hat auch noch eine Kehrseite, Paul. Das solltest du wissen.« »Eine Kehrseite?« »Vielleicht überlasse ich es Benno, dir davon zu erzählen.« Pauls Hände waren schweißnaß vor Aufregung. »Wann?« »Manchmal finden sonntags Arbeitertreffen mit Picknick draußen auf dem Land statt. Ich könnte dich irgendwann mal dorthin mitnehmen. Du darfst aber Mama und Papa nichts davon erzählen, okay? Auch nicht Fritzi und Carl.« Pauls Herzschlag beschleunigte sich. Sein Vetter zog ihn ins Vertrauen, ließ ihn an einem gefährlichen Geheimnis teilhaben. Wie ein echter Freund. Er reckte die rechte Hand hoch. »Ich werde schweigen wie ein Grab! Ehrenwort!« Paul rannte in sein Zimmer, warf sich auf sein Bett. Er war wie im siebten Himmel. Aber nur für kurze Zeit. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Das Geheimnis, das Vertrauen bereitete ihm bereits Sorgen. Indem er Joe junior die Zusage gemacht hatte, ihn zu begleiten, wann immer er den Vorschlag machte, und es dann geheimzuhalten, hatte er mit
240
TEIL DREI
seinem Vetter eine Art Pakt geschlossen. Einen Pakt, der weitaus schwerer wog als reine Freundschaft zwischen Jungen, die miteinander verwandt waren. Daraus konnten Probleme erwachsen. Das ahnte er tief in seinem Innersten. Er verbrachte eine schlaflose Nacht voller Sorgen und Gewissensbissen gegenüber seiner Tante und seinem Onkel. Das Ende des Schuljahres rückte näher. Paul versagte. Versagte bei jeder Prüfung; versagte bei seinen Übungen in Schönschreibschrift ebenso wie bei denen an der Tafel. Mrs. Petigru machte sich ein Vergnügen daraus, der Klasse seine schlechten Zensuren zu verkünden. Nach Unterrichtsschluß teilte ihm Mrs. Petigru mit, daß sie ihn sitzenlassen werde. »Entschuldigung, ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Ich weigere mich, dich in die nächste Klasse zu versetzen. Deine Leistungen sind in keiner Weise zufriedenstellend. Ich behalte dich hier, und du wirst das ganze Jahr wiederholen. Vielleicht bleiben im zweiten Jahr ein paar Brocken Wissen in deinem deutschen Dickschädel hängen.« Er taumelte hinaus. Noch ein weiteres Jahr bei Mrs. Petigru? Niemals. Eher würde er sich von einem Wolkenkratzer stürzen. Oder Gift schlucken. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Sein Geist war völlig leer. Und er schämte sich zu sehr seiner mißlichen Lage, um Onkel Joe oder seinem Hauslehrer davon zu erzählen. Im Haus ging Fritzi jedem mit ihrer Imitation Ellen Terrys auf die Nerven. Sie hatte sich aus goldenem Papier eine Krone gebastelt und sich von ihrer Mutter eine Stola ausgeborgt, um die kimonoähnlichen Ärmel von Miss Terrys Kleid nachzumachen. Immer wieder stießen Paul und die anderen in irgendeiner Ecke oder mitten auf der Treppe plötzlich auf Fritzi, die, eingehüllt in die Stola, die Krone mit beiden Händen über dem Kopf haltend, posierte und mit einem entrückten Ausdruck zum Himmel schaute. Carl schnaubte abfällig und nannte sie verrückt. Sie drohte ihm mit Prügel, was ihn aber nur noch mehr anstachelte. »Verrückt, verrückt, verrückt«, sang er und tänzelte um sie herum. Onkel Joe fand sie schließlich, wie sie sich über den Teppich wälzten, sich gegenseitig schlugen und an den Haaren zogen. Er gab Carl eine Ohrfeige und befahl Fritzi, ihre Posen endlich zu unterlassen. Fritzi rannte schluchzend auf ihr Zimmer, was Onkel Joe noch ungehaltener machte. Tatsächlich schien er in letzter Zeit mißgelaunt und reizbar zu sein. Als Fritzi mit rotgeweinten Augen zum Abendessen erschien, hielt er ihr eine Gardinenpredigt, »Hör auf zu schniefen. Ich bin diesen Theaterquatsch im Haus endgültig leid. Ich gehe nicht ins deutsche Theater, das ist mir zu altmodisch. Aber
CHICAGO 1892 – 1893
241
gelegentlich sehe ich mir gern ein englisches Schauspiel an, das wißt ihr auch. Ich habe jedoch wenig für die Leute übrig, die in solchen Darbietungen mitwirken. Die Bühne ist ein übel beleumundetes, gottloses Gewerbe. Jeder Mann und jede Frau, die dumm genug sind, sich dem zu verschreiben, verdienen es, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Und das ist auch bei den meisten der Fall. Und jetzt reich mir mal einer das Kartoffelpüree herüber.« Nach diesem Abend schien am Abendbrottisch ein ganz neuer Ernst zu herrschen. Onkel Joe wirkte bedrückt, unterhielt sich leise mit Tante Ilsa über den »Goldkurs« und »Aktien« und andere geheimnisvolle Dinge. Eines Abends, als er seine Neugier nicht mehr zügeln konnte, fragte Paul höflich, ob es irgendeinen besonderen Grund für derart ausgedehnte Gespräche über finanzielle Angelegenheiten gebe. Die gebe es tatsächlich, erwiderte Onkel Joe und erklärte, daß die Preise seit dem 5. Mai bei vielen Firmen drastisch gefallen seien. »Europäische Investoren ziehen Millionen von Dollars aus amerikanischen Banken ab. Illinois Trust ist in Schwierigkeiten, die Chemical National ebenfalls. Ich fürchte, das ist der Anfang der prophezeiten Panik.« Joe junior zuckte die Achseln. »Was hast du erwartet, Pa? Das System ist korrupt.« Tante Ilsa verzog gequält das Gesicht. Onkel Joe hatte Mühe, gelassen zu reagieren. »Vielen Dank für deine Aufklärung. Wir legen sicherlich viel Wert auf deine Weisheit und Erfahrung als Wirtschaftsfachmann.« Joe junior biß die Zähne zusammen und errötete. Er attackierte verbissen sein Essen mit der Gabel. Dennoch beschäftigte Onkel Joe sich nicht so ausgiebig mit der allgemeinen wirtschaftlichen Panikreaktion, daß er sein Interesse an anderen Dingen verloren hätte. Er nahm an einem Sonntagnachmittag Carl und Paul zu einem Baseballspiel zwischen den Chicago White Stockings und den Providence Grays mit. Er lenkte den Landauer selbst. Ihr Ziel war der Congress-Park draußen an der Congress Avenue in Loomis. Paul saß neben seinem Onkel auf der Kutschbank. Carl vertrieb sich hinten die Zeit, indem er ständig ein Lied mit dem Titel Slide, Kelly, Slide sang. »Ich wünschte, Joe wäre mitgekommen«, sagte Paul. Onkel Joe achtete mit ausdruckslosem Gesicht auf den Straßenverkehr. »Du weißt, daß er heute arbeitet. Auch wenn das nicht viel heißen muß. Früher hat er mich sehr gerne zu den Spielen begleitet. Jetzt nicht mehr.« Der Congress-Park war eine wunderschöne Anlage. Auf der einen Seite
242
TEIL DREI
gab es eine Radrennbahn, und auf der anderen befanden sich Tennisplätze. Eine hohe Ziegelmauer umgab das Spielfeld. Onkel Joe erzählte, das Stadion biete zehntausend Zuschauern Platz, aber es war an diesem Nachmittag nur halb gefüllt. Sie gingen durch ein Drehkreuz und stiegen zu Onkel Joes überdachter Privatloge hinauf. Sie verfügte über vier bequeme Sessel und war durch Vorhänge, die bereits aufgezogen und festgebunden waren, vor der Witterung geschützt. Beide Teams befanden sich auf dem Feld und spielten sich ein. Die Spielfläche leuchtete sattgrün, und ein würziger Duft von frisch gemähtem Rasen drang bis zu ihrer Loge herauf. Ein paar wie gemalt aussehende Wolken standen am tiefblauen Himmel. Auf den Tribünen boten fliegende Händler Bier, heiße Würstchen und geröstete Erdnüsse an. »Das ist Crown-Bier«, erklärte Onkel Joe stolz. »Ich kenne Bill Hulbert, den Kohlenhändler und Präsidenten des Clubs. Das hat sich als hilfreich bei der Entscheidung über den Bierlieferanten erwiesen.« Er lächelte. »Ich kenne die Spielregeln nicht, Onkel.« »Dann will ich mal versuchen, sie dir zu erklären. Ich begeistere mich schon seit vielen Jahren für Baseball. Während des Kriegs spielten die Soldaten in den Lagern sehr oft. Ich habe auch gespielt, wenn auch nicht besonders gut. Damals, ‘69, sah ich die erste professionelle Mannschaft, die Cincinnati Red Stockings, für nur einen Nickel Eintritt. Wenn ich an einem so schönen Tag wie heute hier oben sitzen kann, bin ich wunschlos glücklich. Ich gebe zu, daß da in mir eine Stimme ist, die mir vorwurfsvoll zuraunt, Joe, eigentlich solltest du arbeiten. Das ist eben mein deutsches Erbe. Zu jedem Lächeln gehört ein wenig schlechtes Gewissen. Und viele schaffen noch nicht einmal dieses Lächeln.« Aber ihm gelang es. Carl sang wieder Slide, Kelly, Slide. »Carl, nach dem fünften Mal geht mir dieses Lied allmählich auf die Nerven. Also hör auf.« Dann wandte er sich wieder an Paul. »Mike Kelly war einer der besten Spieler, den die White Stockings je hatten. Er spielte dort unten im Rechtsfeld. Er hat ‘84, ‘85 und ‘86 in der Liga die meisten Homeruns geschafft, das heißt, er hat das Ziel erreicht. King Kelly wurde er von allen genannt. Außerhalb des Spielfelds war er ein Tunichtgut, ein Säufer. Aber von seiner sportlichen Leistung mußte man einfach begeistert sein. Jetzt paß auf, sie nehmen ihre Positionen ein.« Er deutete auf den Manager der White Stockings, Cap Anson. »Er hat mal auf dem ersten Base gespielt. Er kennt das Spiel aus dem Effeff, aber ich mag ihn nicht. Er haßt Farbige. Es gab einmal einen hervorragenden farbigen Spieler in der Liga, Fleet Walker bei Toledo. Anson weigerte sich deshalb, die White Stockings gegen Toledo antreten zu lassen. Damit war
CHICAGO 1892 – 1893
243
Walker draußen.« Bald gab ein Mann in Hemdärmeln, der Schiedsrichter, das Zeichen zum Spielbeginn. Onkel Joe erklärte geduldig die einzelnen Spielzüge, und Paul begriff sehr schnell und konnte bald dem Geschehen folgen. Providence lag bald mit drei Runs zu einem in Führung. Das scheuchte einen farbigen Jungen von der Reservebank hoch. Paul hatte ihn bisher noch nicht bemerkt. Der schwarze Junge trug ein Trikot der White Stockings. Er rannte zum Schlagmal und tanzte dort wie wild herum. Die Zuschauer applaudierten und feuerten ihn an. »Das ist Clarence, das Maskottchen der Mannschaft«, sagte Onkel Joe. »Anson läßt ihn mit dieser Tanznummer bei jedem Spiel auftreten.« Carl sagte: »Anson nennt ihn seinen Glücksnigger.« »Carl, ich will nicht, daß du dieses Wort benutzt!« Mehrere Spieler von Chicago drängten sich um Clarence. Der Junge stand still da, während die weißen Spieler ihm mit den Knöcheln durchs krause Haar fuhren. »Das soll Glück bringen«, sagte Onkel Joe. »Sie mißhandeln den Jungen geradezu, machen sich über ihn lustig, weil er ein Neger ist. Das war Ansons Idee. Haben wir dafür dreißig Jahre lang gekämpft und geblutet?« Sein Gesicht hatte sich gerötet. Als Onkel Joe beim siebten Durchgang – Inning genannt – die Loge verließ, um ein paar Erfrischungen zu besorgen, lag Providence immer noch in Führung. Carl stellte einen Fuß auf das Geländer der Loge, was er nicht tun durfte, wenn Onkel Joe neben ihm saß. »Sie brauchen Billy Sunday. Er war Auswechselspieler fürs Außenfeld. Der schnellste Spieler, den man je sah. Er rannte wie ein gehetztes Reh.« »Hat er aufgehört?« »Jawohl. Gott bestimmte ihn zum Prediger, und Pa sagt, er sei dem Ruf gefolgt. Ich für meinen Teil wünschte mir, er hätte sich vorher die Ohren verstopft.« Onkel Joe kam mit einigen glatten, blassen Würstchen zurück, wie Paul sie noch nie gesehen hatte. Jede steckte in einem weichen Brötchen. »Das ist was Neues. Sie heißen Frankfurter. Du errätst sicherlich, woher sie kommen. Koste mal eins. Und hier ist auch noch eine Tüte Erdnüsse.« Nach der ersten Hälfte des neunten Inning brachte ein überraschender Homerun der Heimmannschaft auch die Läufer auf dem zweiten und dritten Base nach Hause. Die Zuschauer jubelten, als der Werfer den letzten Schläger in der zweiten Inninghälfte ausschaltete und damit das Spiel beendete. Onkel Joe lehnte sich über das Logengeländer, klatschte und rief: »Hurra! Gutgemacht!«
244
TEIL DREI
Im Westen ging bereits die Sonne unter. Die Spieler der White Stockings tanzten auf dem Rasen umher, umarmten sich gegenseitig und warfen bereits lange Schatten. Paul war vollgestopft mit Knabbereien, genoß die Zuneigung seines Onkels und war selig, mit Carl zusammenzusein. Es war ein herrlicher Nachmittag. Als er schläfrig in der Kutsche saß, fühlte er sich wundervoll. Diese Euphorie hielt an, bis sie vom Stall in die Küche gingen. Louise stand mit gesenktem Kopf vor dem Kochherd. Sie begrüßte sie nicht. Tante Ilsa holte etwas aus der Schürzentasche. Ihr Gesicht war ernst. »Das ist heute angekommen, Joe. Es ist dein Brief an Charlotte.« Onkel Joe nahm den schmuddeligen und zerknautschten Briefumschlag entgegen. Auf der Vorderseite stand in roter Stempelschrift ein einziges Wort. VERSTORBEN. »Verstorben? Wie ist das möglich? Was ist passiert?« Mit gequälter Miene wandte er sich zu Ilsa um. »Was soll das heißen?« »Ich glaube, das werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich war es die Krankheit, von der Pauli erzählt hat.« Auch Paul war erschüttert. Er hatte einen dicken Kloß im Hals, der ihm das Atmen schwer machte. Onkel Joe riß sich den Strohhut vom Kopf und schlug damit gegen seinen Oberschenkel. Dabei knickte die Krempe um. Der Brief entglitt seiner Hand. Tränen rannen über sein Gesicht. Ilsa schlang die Arme um ihn. Niemand redete. Onkel Joe ging mit ihnen ein zweites Mal in die Ausstellung – auch diesmal ohne Joe junior. Sie begannen mit einer Nachmittagsvorstellung von Eugen Sandow, dem weltberühmten Kraftmenschen. Danach begab Onkel Joe sich hinter die Bühne, um einen jungen Mann zu begrüßen. Es war Florenz Ziegfeld, der Sohn von Dr. Ziegfeld, dem Gründer und Direktor des Chicago Musical College. Der junge Florenz hatte die meisten Musikkapellen engagiert, die während der Ausstellung auftraten. Er war außerdem der amerikanische Manager Eugen Sandows. Onkel Joe schien jeden Chicagoer Deutschen zu kennen, der von Bedeutung war oder Großes geleistet hatte. Am Abend besuchten sie ein Konzert von Mr. Theodor Thomas und seinem Chicagoer Orchester. »Er stammt ursprünglich aus Cincinnati«, erklärte Onkel Joe. Auf dem Programm stand Musik des deutschen Komponisten Richard Wagner. Tante Ilsa sagte, Wagner sei ein Genie und ein Gewinn für alle Deutschen. Aber die langsame, schwere Musik war für Paul eine Qual. Viel besser gefiel ihm die Musik, die sie von einer Freiluftbühne kurz
CHICAGO 1892 – 1893
245
vor dem Feuerwerk zu hören bekamen. Liesegang’s Chicago Band und deren Gastdirigent, Mr. Sousa, spielten flotte Militärmärsche, darunter auch Marching Through Georgia, den Herschel Wolinski schon auf dem Schiff gespielt hatte. Der arme Herschel, wo mochte er wohl gerade sein? Paul glaubte nicht so recht daran, daß sie sich noch einmal wiedersehen würden. An einem Donnerstagabend Ende Mai packte Onkel Joe eine Reisetasche und nahm einen Abendzug nach Süden. Durch einen glücklichen Zufall fand am folgenden Sonntag ein Arbeiterpicknick statt. Es war ein politischkultureller Tag, wie Joe junior es nannte. Er fragte höflich seine Mutter, ob er und Paul gemeinsam eine kleine Wanderung über Land machen dürften. Tante Ilsa riet ihnen, vorsichtig zu sein und vor Einbruch der Dunkelheit heimzukommen. Ihr Ziel war ein Ort namens Ogden’s Grove außerhalb der Stadtgrenzen. »Warum treffen sie an einem so abgelegenen Ort zusammen?« fragte Paul, während sie mit einem ratternden Pferdewagen die erste Etappe ihres Ausflugs bewältigten. »Damit die Puritaner sich nicht wegen des sonntäglichen Biertrinkens aufregen und die Chicagoer Polizei niemanden zum Spionieren vorbeischickt. Auch wenn du dir keine einzige Rede anhörst, hier sind wichtige Dinge im Gange. Bei einem dieser Treffen habe ich im vergangenen Jahr mein Mädchen, Rosie, kennengelernt.« »Du weißt sehr viel über die Sozialisten. Woher hast du das alles?« »Ganz bestimmt nicht aus der Schule. Ich höre Benno und seinen Freunden zu. Ich habe alles darüber gelesen, was ich finden konnte: Karl Marx, einen Franzosen namens Proudhon und Bakunin. Er ist ein Russe und hat als erster verkündet, daß die alte Ordnung durch eine Revolution weggefegt werden muß. Ich habe außerdem viele Artikel von Prinz Kropotkin gelesen, einem Vertreter des russischen Adels. Er lebt jetzt in London wie ein ganz gewöhnlicher Bürger. Selbst in der Übersetzung ist dieses fremde Zeug ziemlich schwere Kost. Sehr viel verstehe ich davon nicht. Deshalb lese ich auch dies hier.« Er holte unter seinem Hemd eine Zeitung in deutscher Sprache hervor: Die Fackel. »Es ist eine spezielle Sonntagsausgabe der Chicagoer Arbeiterzeitung. Wenn Pa mich damit erwischt, zieht er mir die Haut in Streifen ab.« »Warum liest du sie dann? Um ihn zu ärgern?« Joe junior straffte sich. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. »Das ist eine dumme Frage. Ich lese die Zeitung und bin mit diesen Leuten zusammen, weil Pa und solche Männer wie er einem großen Irrtum unterliegen. Ihre Vorstellungen sind völlig falsch. Sie unterdrücken damit
246
TEIL DREI
die Armen.« »Aber töten würdest du sie nicht, oder?« Der Pferdewagen verlangsamte seine ohnehin schon gemütliche Fahrt, weil er sich dem Endpunkt der Reise näherte. Joe junior stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und betrachtete die verstreut liegenden kleinen Häuser, an denen sie vorbeirollten. »Du stellst aber verdammt viele Fragen.« »Ich will eben lernen.« Joe wirbelte herum und fixierte ihn beschwörend. »Damit du dich für die richtige Seite entscheiden kannst, nicht wahr?« Paul ging auf die Anspielung nicht ein. »Um zu lernen«, wiederholte er. Sein Vetter erforschte sein Gesicht, als suche er nach Anzeichen für Wahrheit oder Lüge. Plötzlich wich alle Anspannung aus ihm, er entspannte sich, legte einen Arm um Pauls Schultern und drückte ihn. »In Ordnung, das ist ganz okay. Achte nur darauf, daß du stets die richtigen Leute fragst.« Als die asphaltierte Straße endete, stiegen sie aus dem Wagen. Vor ihnen erstreckte sich ein staubiger, sonniger Weg mit zwei Furchen, der stellenweise von hohen alten Bäumen beschattet wurde. Auf einem Feld zu seiner Linken sah Paul Kühe weiden. Außerdem stand dort eine Scheune, die dringend eines frischen Farbanstrichs bedurfte. Sie wanderten etwa eine Meile weit, dann hörte Paul Musik. Es war eine Blaskapelle. Eine Tuba und zwei oder drei kleinere Trompeten. Sie gelangten zu einem windschiefen Holzbogen mit einem verwitterten Schild, ODGEN’S GROVE, der Eingang zum Wäldchen. Ein Stück weiter entdeckte Paul zwischen den Bäumen lange Tische mit kleinen Zelten aus Gazestoff über den Speisen als Schutz vor Fliegen. Leute wanderten umher, einige tanzten sogar im Gras, Kinder spielten in Flecken aus Licht und Schatten Fangen. Im Wäldchen machte Joe junior Paul so schnell mit den Anwesenden bekannt, daß er keine Zeit fand, sich Namen und Gesichter einzuprägen. Einige Dinge fielen ihm jedoch auf. Im allgemeinen waren die Familien nicht besonders gut gekleidet. Sehr viele Kleidungsstücke waren geflickt. Einige Männer wirkten dank ihrer wilden Bärte und langen Haare geradezu unheimlich. Einer von ihnen erinnerte Paul an den russischen Journalisten Rhukov. Er war überrascht über die große Zahl von Kindern und Jugendlichen und über die Vielfalt der Nationalitäten, die sich eingefunden hatten. Da waren nicht nur Deutsche, sondern auch Schweden, Böhmen und sogar zwei Engländer.
CHICAGO 1892 – 1893
247
Überall im Wald waren rote Fahnen mit ihren Stangen ins Erdreich gerammt worden. »Rot für das Blut der Unterdrückten«, sagte Joe junior. »Rot für die Internationale und für jeden, der im Namen der guten Sache gestorben ist.« Er fischte zwei saure Gurken aus einem Topf und verschloß diesen wieder mit dem Deckel. »Da hast du etwas, damit du nicht verhungerst. Komm, wir suchen Benno.« Sie fanden ihn auf der anderen Seite des Gehölzes, wo er mit einem halben Dutzend Männer diskutierte. Benno entdeckte sie, brach die Unterhaltung ab und kam grinsend zu ihnen herüber. Seine Zähne wirkten unter dem geschwungenen Schnurrbart riesig groß. »Hallo, sieh an! Der Schüler. Schön, dich wiederzusehen. Wie macht er sich, Joey?« Joe hob eine Hand. »Immer langsam.« »Du heißt Paul, nicht wahr? Der Neffe vom alten Joe?« Paul bejahte das. Benno kratzte sich an der Nase. »Und wie lange bist du schon im Lande?« »Seit Weihnachten, länger nicht.« »Dafür sprichst du die Sprache schon ganz gut. Meinst du nicht auch, Joey?« Joe junior nickte lächelnd. »Sehr gut sogar.« »Meine Tante in Berlin hat mir vor meiner Überfahrt ein bißchen was beigebracht.« »So etwas Ähnliches habe ich mir fast gedacht.« Im Sonnenschein glänzten Schweißtropfen auf Bennos kahlem Schädel. »Na schön, hol dir ein Glas Bier, Kleiner, es ist gratis. Gleich werden ein paar Reden gehalten. Sehr interessant, also hör gut zu. Bis später.« Benno kehrte zu seinen Freunden zurück, die Paul ausnahmslos mißtrauisch musterten. »Ne, er ist wirklich okay. Ich kenne ihn«, beruhigte Benno sie. Paul und Joe bedienten sich reichlich von den Würstchen, vom selbstgebackenen Brot und vom Bier aus einem unbeschrifteten Faß. Es war ein dunkles, bitteres Gebräu, ganz gewiß kein Crown-Bier. Wer hatte die Speisen und die Getränke bezahlt? »Wir haben unter den Reichen einige Gönner«, erzählte Joe. »Du wirst sie niemals bei solchen Anlässen wie diesem hier antreffen, aber sie zeigen ihre Mitarbeit auf andere Art und Weise.« Benno und ein paar andere Männer schoben Holzkisten zusammen und bauten eine provisorische Plattform. Drei Redner wandten sich an die Leute, die in einem weiten Halbkreis im Gras saßen oder lagen. Der erste Redner, ein Pole, hatte einen derart starken Akzent, daß Paul ihn kaum verstehen konnte. Der zweite, vorgestellt als Mr. Parkin-Lloyd, »einer unserer führenden sozialistischen Genossen aus England«, versuchte, einige Theorien des Autors Karl Marx, den Joe junior kurz vorher erwähnt
248
TEIL DREI
hatte, zu erklären und auf die realen Verhältnisse anzuwenden. Paul wußte nichts von diesem Marx und fand den Engländer einfach langweilig. Benno betrat als letzter Redner das Podium. Er begann mit einer Verurteilung der Ausstellung. »Sie haben diesen Zirkus nur veranstaltet, um der Welt zu zeigen, was Kapitalisten aus dem Schweiß der Arbeiter machen können. Glaubt ihr etwa, sie feiern damit die wunderbare amerikanische Demokratie? Okay, dann verratet mir doch mal eines – wie viele Neger waren am Eröffnungstag eingeladen, neben dem Präsidenten auf der Tribüne zu sitzen? Kein einziger nämlich! Wie viele Farbige waren an der Planung der Ausstellung beteiligt? Nicht ein einziger! Sie sind zwar freie Menschen, aber die weiße Oligarchie hat sie einfach ausgesperrt. Und noch was: Im Jackson-Park haben sie ein Gebäude errichtet, ich hab’ darüber gelesen. Ich selbst würde es mir niemals ansehen, außer vielleicht um es anzuspucken. Der gesamte Eingang ist vergoldet. Ja! Nur zur Zierde! Reinstes Gold, mit dem man Hunderte satt bekäme und bekleiden könnte! Dieses Gebäude und die ganze übrige Ausstellung kosten Millionen. Und dank der Panik, die die reichen Bankiers ausgelöst haben, verlieren von Tag zu Tag mehr Menschen ihre Arbeit. Es ist eine verdammte Schande!« Er verlangte ein »offenes Bekenntnis zu unserem Anliegen«, um eine allgemeine »Solidarität« zu demonstrieren. Er nannte Bomben und Pistolen »die besten Freunde, die wir haben«. Er rief nach »Vergeltung« und forderte den »gewalttätigen Sturz des Systems« und, wobei es Paul eiskalt über den Rücken lief, »die Köpfe der Plutokraten«. »Sie haben uns jahrelang das Blut ausgepreßt, okay, jetzt holen wir uns ihres!« Er reckte die Arme hoch. »Und zwar auf den Straßen Chicagos!« Er ließ die Arme wieder heruntersinken. »Genossen, ich danke euch!« Benno erhielt den lautesten Applaus des Tages. Er sprang von den Kisten herunter und verblüffte Paul, indem er direkt auf ihn zusteuerte. »Okay, was denkst du? Hast du die Botschaft verstanden?« »Ich habe sie gehört, Herr Strauss. Ich weiß aber nicht, ob sie mir so gut gefällt.« Bennos Gesicht verfinsterte sich, doch Paul beharrte auf seinem Standpunkt. Dieser Mann predigte den Haß gegen Pauls Familie. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, ob ich mich mit der Vorstellung anfreunden kann, auf den Straßen Blut zu vergießen.« »Wie sonst sollen wir denn gewinnen?« Joe junior kam hinzu. »He, Joey, tu mal was. Dein Freund ist noch nicht ganz überzeugt.« Bennos mächtige Faust krachte auf Pauls Schulter. »Du mußt dir schon darüber klar sein, Kleiner. Du kannst nicht herumlaufen und heute so und
CHICAGO 1892 – 1893
249
morgen so reden. Du mußt dich entscheiden. Früher oder später muß im Klassenkampf sowieso jeder seine Position beziehen.« »Mich gegen meinen Onkel stellen, meinen Sie das?« Benno fixierte ihn mit stechenden Blicken. »Ja, genau.« »Sie mögen meinen Onkel nicht sehr, oder?« Bennos erste Reaktion war ein Achselzucken. »Ob ich ihn mag oder nicht, hat damit nichts zu tun. Die Wahrheit ist, daß ich nicht annehme, daß Joe Crown tief in seinem Innersten ein schlechter Mensch ist. Er würde seiner Mutter nicht die letzte Brotkrume stehlen. Aber er kümmert sich mehr um sein Kapital als um die Rechte von uns Arbeitern. Außerdem ist er stur wie die meisten Deutschen. Eine schlimme Kombination.« Benno ballte seine massige Faust vor Pauls Nase. »Deshalb steht er zu einigen Dingen felsenfest. Wir haben eine nationale Gewerkschaft. Ein nationales Programm –« »Das Pa hundertprozentig ablehnt«, warf Joe ein. »Richtig, stimmt. Das könnte Ärger geben. Zwei- oder dreimal war es beinahe soweit. Was ich damit sagen will, Junge – du kannst nicht einfach unbeteiligt am Rande stehen und zusehen. Dort findest du nur eine Sorte Mensch, die Feiglinge.« Seine Hand umklammerte Pauls Schulter. Die dicken, kräftigen Finger taten ihm weh. »Du mußt dich für eine Seite entscheiden. Wenn du heute schon nichts anderes lernst, dann merk dir wenigstens das.« 21 JOE CROWN Er sah die rote Lehmstraße sich nach Süden winden. Er hörte das Klirren von Ausrüstungsgegenständen, das Knarren von Zaumzeug. Die Marschkolonne bewegte sich mit seltsam verträumter Eleganz durch den heißen Vormittag. Joe erkannte den hölzernen Wegweiser, der neben der Straße im Erdreich steckte. Er war roh zugehauen, geformt wie ein Pfeil und deutete voraus. HÖLLE FÜNF MEILEN KOMMT NUR, YANKEES! Und er hörte Hauptmann Ehrlich, der die Patrouille anführte, lachen und schwatzen, als befände er sich auf einer fröhlichen Landpartie.
250
TEIL DREI
Er hörte auch die Warnung des alten Negers ganz deutlich: »Das Schild da hinten hat ganz recht. Ein Stück weiter lauern schlimme Leute.« »Vielen Dank, Erasmus, aber wir haben den Befehl, vorzurücken. Doch wir werden die Augen offenhalten.« Hören Sie auf ihn, Ehrlich. Ich weiß, was kommt. Gehen Sie nicht weiter! »Nein! Nicht…« »Sir? Ist alles in Ordnung?« »Äh? Was ist?« »Sie haben ganz laut geschrien.« Er war in Schweiß gebadet, lag frierend in der Dunkelheit. Er wußte nicht, wo er war. Dann spürte er den harten Polstersitz unter seinen Beinen. Hörte das Rattern des Expreßzugs, der in Richtung Cincinnati donnerte. Sah die Lichter eines einsamen Farmhauses draußen am Fenster vorbeihuschen. Der Bahnschaffner war eine schwarze Masse vor der matten Laterne, die über der Abteiltür pendelte. »Ich habe geschrien? Tut mir leid. Hab’ wohl schlecht geträumt.« Der Schaffner brummte etwas und ging weiter. Joe lehnte seine Stirn gegen die Glasscheibe und begriff zu seiner Erleichterung, daß er in einem Zug nach Süden saß. Er war wach und befand sich nicht mehr in dem allzu vertrauten Traum auf der Straße ins nördliche Mississippi. Ein Traum, der ihn schon seit Jahren peinigte und einfach nicht mehr loslassen wollte. Joe Crown besaß ein großes Aktienpaket einer Textilfabrik in Millington, einer kleinen Stadt in den Sandbergen von South Carolina, die früher unter dem Namen Company Shops bekannt war, als dort noch Wartungsarbeiten der Eisenbahn durchgeführt wurden. Er besaß außerdem einen Wintersitz in South Carolina. Er war von beachtlichem Umfang und lag an einer unbefestigten Straße, etwa zwölf Meilen westlich der Atlantikküste und einen Stundenritt südlich von Charleston. Irgendein Glücksritter aus dem Norden hatte das Haus nach dem Krieg dort gebaut und ihm den Namen Royalton verliehen. Als Joe das Anwesen erwarb, taufte er es in Chimneys um. Er hatte während des gesamten Krieges bei der Kavallerie der Union gedient, war bis hinunter nach Savannah und wieder hinauf nach Carolina geritten, wo General Judson Kilpatrick und seine Reiter ganze Landstriche in Schutt und Asche legten. »Ich habe ihn Chimneys genannt«, sagte Joe über seinen Wintersitz, »weil wir in diesem wunderschönen Bundesstaat kaum mehr als ein paar
CHICAGO 1892 – 1893
251
Schornsteine – Chimneys – stehengelassen haben, als wir hindurchzogen.« Er war froh, daß er wieder zu einer seiner Geschäftsreisen aufbrechen und die Hektik Chicagos hinter sich lassen konnte, wo die Zeitungen voll waren von Meldungen über den Zusammenbruch solider Firmen und sinkender Aktienkurse. Wenn er ganz ehrlich war, dann war er außerdem froh, der Situation in seinem eigenen Haushalt entfliehen zu können. Paul lebte sich immer besser ein, hatte in der Schule Erfolg, zumindest erzählte er nichts Gegenteiliges. Carl hatte sich mit ihm angefreundet, und Fritzi hatte ihr Herz an ihn verloren. Aber Joe junior schien immer kälter zu werden. Er lehnte alles, was für Joe von Bedeutung war, entschieden ab, jetzt offenbar noch leidenschaftlicher als je zuvor. Es schien, als sei Joe allein auf Grund seiner Existenz für seinen ältesten Sohn ein rotes Tuch. Er war überzeugt, daß daran nur der Einfluß dieses verdammten Benno schuld war. Hinzu kam die allgemeine Verarmung, die das Land im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs heimsuchte. In der letzten Zeitung, die er vor seiner Abreise gelesen hatte, stand ein langer, bitterer Artikel über »eine wachsende Selbstmordrate unter den Armen des Landes«. Gegen seinen Willen verglich Joe immer wieder seinen Neffen mit Joe junior. Stets hatte er dabei ein schlechtes Gewissen, denn der Vergleich fiel immer zuungunsten seines eigenen Sohnes aus. Als er ganz allein in dem allmählich immer dunkleren Eisenbahnabteil saß, wanderten seine Gedanken zurück zu einem heftigen, wütenden Streit zwei Jahre zuvor. Zu dem Streit, der die unüberbrückbare Kluft zwischen Vater und Sohn aufgerissen zu haben schien. Selbst jetzt schreckte er vor der Erinnerung zurück, vor den heftigen Worten, den Anschuldigungen – allesamt ausgesprochen, als Joe junior mit dem Entlassungsschreiben seiner dritten Schule, einer teuren Privatakademie, nach Hause zurückkehrte. Für Schüler aus dem CrownHaushalt galten hohe Maßstäbe. Man setzte große Erwartungen in sie. Joe junior hatte sie nicht erfüllen können und später, als er sich darüber klar war, ganz offen mißachtet, indem er es geradezu darauf anlegte, ein Versager zu sein. Der Brief, den er nach Hause mitbrachte, setzte die Lunte schließlich in Brand. Die Explosion folgte nach fünfzehn Minuten scharfer Diskussion hinter geschlossenen Türen in seinem stickigen Arbeitszimmer. Joe Crown hatte damals etwas sehr Ungewöhnliches getan. Er hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Er hatte auf ein spöttisches Grinsen, auf irgendeine heftige Erwiderung seines Sohnes reagiert und ihm ins Gesicht geschlagen. Und zwar so heftig, daß die weißen Flecken seiner Finger wie
252
TEIL DREI
Wundmale noch fünfzehn bis zwanzig Sekunden danach sichtbar gewesen waren … Von Scham und einem bohrenden Schuldgefühl erfüllt, hatte er eine Entschuldigung geflüstert. Nicht für die heftigen Vorwürfe wegen Joe juniors Versagen, sondern für den Schlag. Ein anständiger und verantwortungsvoller Vater schlug nicht aus Zorn. Die Entschuldigung schien nichts zu bewirken. Joe juniors Augen waren hart und kalt. Seit diesem Tag war zwischen ihnen nichts mehr so, wie es früher einmal gewesen war. Der Zug kam in der hügeligen Stadt an, die er 1871 verlassen hatte, als er mit seiner Frau gerade zwei Jahre verheiratet war. In vielen eindringlichen Gesprächen hatte er Ilsa überzeugen können, daß es klug für ihn sei, die Stelle bei Imbrey in Cincinnati zu kündigen. Die alten Bierbrauereien befanden sich allesamt in Familienbesitz, wodurch ein Neuling nur sehr wenige Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Und das Feuer von 1871 in Chicago wirbelte die gesamte Geschäftswelt der Stadt völlig durcheinander. Joe witterte eine günstige Gelegenheit. Seit 1871 waren sie jeweils nur für kurze Aufenthalte nach Cincinnati zurückgekehrt, vorwiegend um Ilsas Verwandte zu besuchen, die fast alle schon älter waren. Joe Crown liebte die alte Stadt am Ohio. Er liebte die wunderschöne Roeblingbrücke, die die Stadt nun mit Kentucky verband. Aber Cincinnati würde und könnte niemals eine ernsthafte Konkurrenz für den ungehobelten, gigantischen Moloch am Michigan-See sein. Dort war sein Zuhause. Er hatte etwa zwei Stunden Zeit, bis der Anschlußzug nach Columbia und Charleston abfuhr. Er beschloß, bis dahin einen Spaziergang zu machen. Die Kriegserinnerungen überfielen ihn wieder mit aller Gewalt, wie sie es gelegentlich ohne nennenswerte oder vollkommen ohne Vorwarnung taten. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm vielleicht helfen, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Draußen hatte es gerade zu regnen begonnen. Joe stolperte beinahe über einen schätzungsweise zwanzigjährigen Mann, der mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzend an einer Säule lehnte und seine Mütze aufhielt. Joes Gesicht wurde zornrot beim Anblick der schmutzigblauen Uniformjacke des Bettlers. Sie gehörte zur Infanterieuniform der Union. An der linken Seite waren drei Orden angeheftet, billige Blechabzeichen, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Medaillen und Orden hatten, die er kannte. Wahrscheinlich hatte der junge Mann sie in einem Kramladen gekauft.
CHICAGO 1892 – 1893
253
»Sie sind viel zu jung, um diese Jacke zu tragen.« »Sie gehörte meinem Onkel«, winselte der Bettler. Er war einer dieser geistigen Krüppel, die sich einfach weigerten, sich aufzuraffen und sich selbst zu helfen. Soweit Joe es beurteilen konnte, war der Bursche völlig normal und gesund. »42. Ohio-Infanterie, Brigadier James A. Garfield –« »Sie entehren diese Uniform, wenn Sie darin betteln. Ziehen Sie die Jacke aus, ich kaufe sie Ihnen ab.« »Was zum Teufel –« »Da haben Sie fünf Dollars.« Joe warf die Scheine in die offene Mütze. »Und jetzt ziehen Sie sie aus, und geben Sie sie her, ehe ich meinen Stock benutze.« Der Bettler stopfte das Geld in seine Hosentasche. Er kam schwankend und schimpfend auf die Füße. »So ein Verrückter. Verdammter Dutchman.« Aber er streifte das Kleidungsstück hastig ab. Joe rollte es zusammen und klemmte es sich unter den Arm. In einem Saloon dem Bahnhof gegenüber bestellte er sich ein Imbrey’s Lager. Er blies ein wenig von dem Schaum hinunter, er kostete es und schnalzte mit der Zunge. »Noch immer so gut wie früher«, sagte er zu dem Barkeeper. Zusammen mit einem Dollarschein reichte er dem Mann die Uniformjacke über die Theke. »Vernichten Sie das für mich, bitte. Stellen Sie keine Fragen, verbrennen Sie es nur.« Joe stand betont gerade an der Bar, hatte einen Schuh mit grauer Gamasche auf die Messingstange gestellt und ließ sich von den düsteren Erinnerungen, dem Hauch jenes unglaublichen heiligen Krieges vor dreißig Jahren, wieder einholen und völlig in Besitz nehmen. Es war ein Phänomen, das er niemandem erklären konnte. Ilsa nicht und erst recht nicht seinen Kindern. Nur jemand, der im Krieg gekämpft hatte, konnte es verstehen. Eine düstere Stimmung senkte sich auf ihn herab. Obgleich er die Folgen kannte, war er völlig machtlos, sich dagegen zu wehren. Er verabscheute Verzögerungen, haßte alle Veränderungen des Gewohnten. Aber dies hier, so wie ähnliche Situationen in der Vergangenheit, war unausweichlich. Er kehrte durch den Regen zum Bahnhof zurück, holte seine Reisetasche aus der Gepäckaufbewahrung und tauschte seine Fahrkarte nach South Carolina gegen eine andere um, die ihn nach Tennessee bringen würde.
254
TEIL DREI
22 PAUL An einem Samstagvormittag Anfang Juni besuchte Paul die Ausstellung ganz allein. Die Schule dauerte noch eine Woche. An deren Ende, so vermutete er, würde Mrs. Petigru seiner Tante und seinem Onkel einen Brief schicken, um darin mitzuteilen, daß er noch bleiben müsse. Bisher hatte er so getan, als sei alles in Ordnung. Er hatte noch nicht einmal Vetter Joe von seinen Schwierigkeiten erzählt. Onkel Joe bereiste noch immer den Süden. Er hatte Tante Ilsa telegraphiert, daß es bis zu seiner Rückkehr durchaus noch zwei Wochen dauern könne. In der Textilfabrik seien irgendwelche Vergrößerungen geplant. Er müsse noch mit Architekten und Baufirmen verhandeln. Paul bat seine Tante um Erlaubnis, die Ausstellung besuchen zu dürfen, denn er hatte sich mit den kleinen Geldbeträgen, die er von ihr für die Arbeiten erhielt, die er im Haus ausführte, einen Dollar und fünfzig Cents zusammengespart. Eine Woche lang hatte er hin und her überlegt, ehe er sich zum Besuch der Ausstellung entschloß. Er hatte Juliette Vanderhoff nicht vergessen. Bis zum Winter mußte er Schlittschuhe haben. Carl war an einem Tag nach der Schule mit ihm in A. G. Spaldings Kaufhaus gegangen. Schlittschuhe waren während des Sommers nicht im Angebot, aber ein hilfsbereiter Verkäufer erklärte, ein Paar gute Rennschuhe – mit stahlverstärkter Fersen- und Vorderplatte, polierten vernickelten Kufen und Riemen aus rotbraunem Leder – kosteten zwei Dollars und fünfundzwanzig Cents. Paul war sicher, daß er bis zum ersten Frost soviel würde verdienen können. Daher wollte er sich noch einmal in der Ausstellung umsehen, so lange sich dazu die Gelegenheit bot. Er fuhr mit einer dicht besetzten gelb-roten Straßenbahn zum Eingang in der Siebenundfünfzigsten Straße und ging von dort zu Fuß ein paar Blocks nach Süden bis zum Lager der Buffalo-Bill-Show. Eine Weile stand er davor und strich mit der Hand über das rauhe Holz des Bretterzauns. Er konnte den Lärm der Vormittagsvorstellung hören. Das Knarren der Wagenräder, das Trappeln der Hufe, das Kriegsgeschrei der Indianer und das Knallen der Revolver – und anschließend das Klatschen, Pfeifen und Trampeln der Zuschauer. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Er fragte sich, ob er selbst die Show jemals sehen würde. Eiligen Schrittes begab er sich zu den Schaltern am Eingang in der Dreiundsechzigsten Straße, kaufte sich eine Eintrittskarte und ging durch das Drehkreuz. Er betrat ohne besonderen Plan die herrlichen weißen Gebäude und ließ ganz einfach eine Ausstellung und eine Sehenswürdigkeit
CHICAGO 1892 – 1893
255
nach der anderen auf sich einwirken. Im Pavillon für Ackerbau und Viehzucht stand er staunend vor einem Käse, der 998 Kilogramm wiegen sollte. Im Bergbau-Pavillon besichtigte er den größten Goldklumpen, den man je gefunden hatte. Laut Schild wog er 344,78 Unzen. Joe junior hatte ihm angedeutet, daß zwischen den Hunderten von langweiligen Bildern und Skulpturen im riesigen Kunstpavillon und seinen beiden Anbauten auch ein paar schärfere Sachen hingen. Daher war diese Abteilung sein nächstes Ziel. In den zahlreichen Räumen waren die Wände vom Fußboden bis zur Decke mit gerahmten Ölgemälden vollgehängt. Und Joe junior hatte recht. Es waren auch Nackte zu sehen. Stehende und liegende, große und kleine Nackte, die von vorne oder von hinten gezeigt wurden; große Brüste mit rosigen Warzen waren zur Schau gestellt und üppige Hinterteile. Auf jedem Bild wurde der intimste Bereich durch eine Hand des Modells, durch einen Vorhang oder durch ein paar Weinblätter verhüllt. Pauls Gesicht lief rot an, und er bekam beim Anblick dieser Bilder eine Erektion. Vor den aufregendsten Darstellungen blieb er länger stehen und betrachtete sie eindringlich, bis er sich jeweils zur Gestalt das Gesicht von Miss Juliette Vanderhoff vorstellen konnte. Die Saalwächter beobachteten ihn mißbilligend – in den Galerien waren keine anderen Jugendlichen ohne Erwachsenenbegleitung zu sehen –, und eine ältere Frau, die gerade vorbeiging, während er wieder einmal seine Phantasie spielen ließ, murmelte etwas von »verdorbener Jugend«. Während er das Gebäude verließ, entschied er, daß er sich etwas zu essen und ein Glas Bier leisten wolle, und schlug die Richtung zur Hauptstraße ein. Er widerstand den exotischen Verlockungen des Persischen Kaffeehauses, des Chinesischen Teegartens, der Französischen Apfelweinpresse und entschied sich statt dessen für ein Café ohne irgendwelche nationalen Eigenheiten, das am westlichen Ende des Ausstellungsgeländes lag. Er nahm an einem kleinen Tisch für zwei Personen unter einem bunt gestreiften Sonnenschirm Platz, direkt neben einem niedrigen Lattenzaun, der den Cafégarten von der Straße abtrennte. Die Sonne brannte bereits und durchdrang mit hartem weißem Licht die staubige Luft. Paul saß im Schatten und betrachtete zwischen den Bissen in seine Wurst die vorbeieilenden Menschenscharen. In seinem Kopf begann es schmerzhaft zu pochen. Er rieb sich die Augen, blinzelte mehrmals. Als er die Augen wieder öffnete, erschrak er. Ein Mann stand auf der anderen Zaunseite direkt neben seinem Tisch. Ein Mann, dessen Silhouette von einem Lichtkranz umgeben war. Ein Mann, der wie aus dem Nichts erschienen war.
256
TEIL DREI
»Ist das denn zu fassen? Der Junge aus Berlin. Hast du endlich Kunstunterricht genommen?« Er sprach deutsch. Sein Haar war länger als vorher und hing ihm über die Schultern wie die Haare der Heiligen auf den Kirchengemälden. Alles andere hatte sich nicht verändert, war genauso wie vorher. Die lange, bleiche, verhungerte Erscheinung. Der schäbige Hut, das schmierige Halstuch, der lange Mantel. Die Zigarette nah am Mund, von gelben Fingern gehalten. Woher war er gekommen? Aus der Erde? Vom Himmel? Paul erinnerte sich, daß er seine Augen bei ihrer ersten Begegnung für die des Todes gehalten hatte. »Was treiben Sie denn hier, Mr –?« »Rhukov.« »Ich erinnere mich.« »Gestattest du mir, daß ich dir die gleiche Frage stelle?« Rhukov stieg über den Zaun, zog sich vom Nachbartisch einen Stuhl heran und setzte sich. »Herr Ober, ein Bier!« Nach diesen englischen Worten fiel Rhukov wieder ins Deutsche zurück. »Du hast Berlin verlassen. Was hat dich von dort vertrieben, das allgemeine Säbelrasseln? Der abschreckende Gedanke an eine Einberufung? Oder hat Buffalo Bill dich weggelockt? Hast du davon geträumt, dein Leben als Cowboy zu verbringen?« Rhukov zog an seiner Zigarette und wartete. Paul schob seinen Teller beiseite. »Mein Onkel wohnt hier. Er ist Bierbrauer. Ich habe schon immer die Absicht gehabt, nach Amerika auszuwandern.« Das war wohl ein wenig geflunkert, oder? Aber Rhukov machte ihn nervös, vermittelte ihm das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, obgleich er diesen seltsamen jungen Mann auf eine unerklärliche Weise gern hatte. Der Ober brachte Rhukovs Bier in einem Glas mit dem Wappen der Pabst-Brauerei darauf. Er erhielt dafür ein Trinkgeld von drei Cents. »Wann bist du rübergekommen?« Paul nannte das Datum und lieferte eine Schilderung der Begleitumstände. »Von Hamburg aus, sagst du? Und du bist nicht krank geworden? Du hast aber einen guten Schutzengel, mein Freund. Dort herrschte eine Epidemie.« »Davon habe ich gehört.« »Acht- bis zehntausend mußten sterben, bis die Herbstkälte einsetzte und die Seuche gestoppt hat. Die Politiker in Hamburg haben eine Zeitlang
CHICAGO 1892 – 1893
257
versucht, die Epidemie zu ignorieren. Alles zu vertuschen. Hier ist alles in Ordnung, erklärten sie, während sie an Bergen von Leichen vorbeigingen, denen es noch im Tode vorne und hinten rauslief.« Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Na ja, was ist von denen, die an den Hebeln der Macht sitzen, schon anderes zu erwarten? Politiker, Minister, Prinzen – sie sind doch alle gleich! Ein Rudel Schakale. Schweine am Trog der Öffentlichkeit. Sie lügen, rauben und schlagen sogar ihre eigenen Mütter tot, um im Amt oder auf dem Thron zu bleiben. Du wirst dich noch daran gewöhnen, wenn du älter bist. Entweder das, oder du steigst auf einen Stuhl und erhängst dich.« Er schüttelte zwei Zigaretten aus einer zerknautschten Pappschachtel. Paul nahm eine. Rhukov riß ein Streichholz an und gab ihnen beiden Feuer. Paul machte einen Zug und krümmte sich hustend. »Du magst sie gar nicht«, stellte Rhukov fest. »Stimmt. Aber ich wollte höflich sein.« »Das ist Quatsch.« Er nahm ihm die Zigarette weg und schnippte sie über den Zaun auf die Straße. »Rhukovs Regel Nummer Eins: Tu nichts, was dir zuwider ist. Damit verkürzt du nur dein Leben.« Er legte den Kopf in den Nacken und trank den Rest seines Biers. »Ober. Noch eins.« »Für mich auch«, sagte Paul, obgleich die Hitze und der Staub und dieses überraschende Wiedersehen ihn ein wenig benommen machten. Rhukov bezahlte beide Biere und wischte Pauls Protest mit einer Handbewegung weg. »Gefällt dir Amerika?« »Bis auf die Schule ja.« »Schule! Was bringen sie dir denn bei?« »Nichts, was ich eigentlich wissen will. Ich bin sehr schlecht.« »Aber ansonsten glücklich.« »Sehr glücklich sogar.« »Ich frag’ dich in fünf Jahren noch mal.« »Sie haben aber noch nicht meine Frage beantwortet, Herr Rhukov. Was tun Sie hier?« »Das gleiche wie früher. Ich versuche, ein paar interessante Geschichten aufzuschnappen.« »Sie müssen Ihren Job sehr lieben.« »Oh, und wie! Das freie und prachtvolle Leben des allgegenwärtigen Journalisten! Bettflöhe und Kopfläuse. In billigen Absteigen übernachten. Mit älteren Huren schlafen, weil sie einem nicht soviel berechnen. Oder man riskiert es, von einem eifersüchtigen Ehemann eine Kugel auf den Pelz gebrannt zu bekommen. Allerdings esse ich ausgiebig und regelmäßig. Wirklich. Ich rasiere mich und streife dann durch die Hotels. Irgendein
258
TEIL DREI
Festessen findet immer statt. Kriegsveteranen, Enthaltsamkeitsvereine, die Vertreter der Elektromotorenbranche, Naturheiler, Geistliche, die anständig gewordene Huren vorstellen. Es bleibt immer genug übrig, das darauf wartet, weggeworfen zu werden. Ich weiß, wie man mit den Hotelpagen reden muß. Ich bin mit der Unterklasse per Du. Und jetzt bin ich hier und versuche einen Blick in die Zukunft zu werfen. Das kann man ausgiebig. Und sie ist gar nicht so schön, wie manche vorzugeben versuchen. Hast du schon die Kanone von Krupp gesehen?« »Ja.« »Unheimlich, was? Wie steht es denn mit der Ausstellung aus meinem eigenen geliebten Land?« Paul schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wie kannst du dir das entgehen lassen? Mütterchen Rußland ist hier sehr gut vertreten. Sie stellt eine der größten Abteilungen. Trink dein Glas leer, wir sehen es uns an!« Sie gingen zum Russischen Pavillon. Er befand sich neben mehreren anderen im riesigen Gebäude für Handwerk und Freie Künste. Rhukov führte Paul zu einem Arrangement wunderschöner Bronzeminiaturen von Tieren und Bauerngestalten. »Sehen sie nicht glücklich aus, diese kostbaren kleinen Dinger? Du kannst sie nicht riechen, du spürst nichts von ihrer Not, wenn die Ernte verdorben ist, du siehst keinen Rücken, der von Jahren der mühsamen Arbeit gebeugt ist. Die Leibeigenen fristen ihr Dasein in totaler Armut, ihre Kinder verhungern, und Zar Alexander hat verfügt, daß jeder Rubel, den dieser romantische Mist kostet – jedes russische Ausstellungsstück in diesem Zirkus –, direkt aus dem Reichsschatz bezahlt werden soll. Ist in seinem armseligen Hirn vielleicht jemals der Gedanke entstanden, daß er dasselbe Geld zur Unterstützung seines Volkes ausgeben könnte? Niemals. Nun, die Uhr für den Zaren und andere Herrscher seiner Art läuft allmählich ab. Es gibt Männer, die jetzt schon handfeste Pläne schmieden und Bomben bauen. Die Welt, wie sie ist, treibt ihrem Untergang entgegen, mein junger Berliner Freund. Die Geburt der neuen Welt wird blutig sein. Du wirst es in zehn Jahren erleben. Oder sogar früher.« Paul dachte an Benno Strauss. Trotz der Hitze fror er plötzlich. Rhukov hatte es eilig, den Pavillon zu verlassen. »Ich kann diese Verlogenheit nicht sehr lange ertragen. Ich brauche jetzt etwas anderes, um das zu vergessen. Etwas, das mir ein wenig Menschlichkeit vermittelt. Einen Funken Erleuchtung – ein wenig Fortschritt nur. Hast du schon das Haus der Elektrizität gesehen?« »Noch nicht.«
CHICAGO 1892 – 1893
259
Er zog Paul am Arm hinter sich her. »Das werden wir sofort ändern.« Im Haus der Elektrizität am südlichen Ende der Lagune standen sie vor Edisons Turm des Lichts, einer fast achtzig Fuß hohen Säule, die mit elektrischen Glühbirnen aller Größen und Farben bestückt war. Sie blinkten in ständig wechselnden Mustern und Rhythmen. »Das ist wirklich wunderbar, nicht wahr? Vor ein paar Jahren hatte ich noch keine Ahnung von solchen Erfindungen. Ich erkannte einfach nicht den Charakter, die Großartigkeit dessen, was wie eine Lokomotive in voller Fahrt auf uns zurast. In meinem ersten Jahr, als ich versuchte, meinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen, hatte ich ein Erlebnis, das mir die Augen öffnete. Es passierte in Wien, in einem großen Vergnügungspark, dem Prater. Schon mal davon gehört? Für ein paar Groschen verkauften sie dort Elektrizität. Man bezahlte und faßte zwei Griffe an, die einem einen Stoß von dieser neuen Elektrizität gaben. Ich spürte eine unglaubliche Kraft in meine Hände eindringen und durch meine Arme und den ganzen Körper rasen. Augenblicklich wußte ich, daß die Zukunft begonnen hatte, daß man ihr nicht entfliehen konnte. Neue Ideen stürmten auf uns ein, die Wissenschaft zog uns den sicher geglaubten Boden unter den Füßen weg, alles brach zusammen, wurde umgeworfen, neu geordnet – es war wie die Apokalypse, und diesmal noch nicht einmal eine politische. Sie ist hier, mein Junge – hier auf dieser Ausstellung, und du mußt dir nur die Mühe machen, sie zu suchen. Findest du nicht auch, daß dieser Turm grandios ist? Ich sehe, er beeindruckt dich, und deshalb will ich dir etwas zeigen, was du sicher nicht für möglich hältst. Komm mal mit in den Seitengang dort.« In der schmalen Nebenstraße herrschte Dämmerlicht. In kleinen Buden waren einige nicht besonders interessante Dinge zu besichtigen. Rhukov deutete auf ein Schild auf der linken Seite. DAS SENSATIONELLE TACHYSKOP Sehen Sie Bilder, die sich tatsächlich BEWEGEN! Bilder, die sich bewegten? Wie war das möglich? Die Bude selbst sah nicht besonders einladend aus. Vor ein paar eintönig grauen Vorhängen und zwischen Topfpalmen, die ihre Blätter hängen ließen, stand ein großer rechteckiger Kasten mit einer Holzstufe davor. Er hatte etwa Pauls Höhe. Ein Metallteil, das in etwa aussah wie das Okular eines Stereoskops, war in Augenhöhe an der leicht schräg geneigten Vorderwand befestigt. Daneben befand sich ein Münzschlitz. Paul war
260
TEIL DREI
gespannt, was es kosten würde. Er hatte nur noch ein paar Cents übrig. Hin- und hergerissen zwischen Skepsis und Neugier, folgte er Rhukov in die Bude. Zwei Männer standen an einem Tisch in der Ecke und unterhielten sich. Sie kamen herüber, um die Besucher zu begrüßen. »Da ist ja schon wieder der Journalist«, sagte der dickere der beiden. »Guten Tag, Sir.« Rhukov sprach nun langsamer und ziemlich undeutlich englisch. »Auch Ihnen einen guten Tag. Mein Freund hier –« Paul versuchte möglichst erwachsen und interessiert auszusehen. »Er will nicht glauben, was draußen auf Ihrem Schild steht.« Der Mann lachte verhalten. »Ein kleiner Skeptiker, was? Von der Sorte haben wir schon viele hier gehabt. Weißt du, Kleiner, dieser Gentleman dort ist Mr. Ottmar Anschütz, der Eigentümer und Konstrukteur des Tachyskops. Eine Demonstration dieses Geräts ist den bescheidenen Preis von einem Dime allemal wert.« »Und was für Bilder kann man sehen?« »Mein Junge«, sagte der Erfinder, ein Deutscher, »hast du schon die Tiere in Hagenbecks Zoo an der Hauptstraße gesehen?« »Nein, Sir.« »Dort tritt ein Elefant namens Bebe auf. In meinem Tachyskop bewegt Bebe sich genauso realistisch wie in freier Wildbahn. Die Bilder in dieser Maschine wurden im Tiergarten aufgenommen.« »In Berlin? Ich komme aus Berlin.« »Das habe ich wegen deines Akzents schon vermutet.« Anschütz holte eine Münze aus einer Tasche seiner karierten Weste. »Dann komm mal her. Ich werde dem jungen Skeptiker eine Vorführung spendieren.« Paul stieg auf die Holzstufe und blickte in den Sichtschacht. Er sah nur Dunkelheit. Neben ihm sagte der andere Mann, der dicke Amerikaner: »Mr. Edison sollte seine eigene Maschine, das Kinetoskop, ebenfalls hier ausstellen. Es funktioniert so ähnlich, aber sie haben es nicht rechtzeitig fertig bekommen.« »Paß gut auf«, sagte Anschütz. Die Münze rutschte in den Schlitz. Im Kasten surrte und klickte ein Mechanimus. Ein plötzlich aufflammendes, grelles weißes Licht blendete Paul für einen Moment. Er hielt sich am Kasten fest, denn er wäre vor Schreck beinahe von der Holzstufe gefallen. Im Sichtschacht sah er ein grobkörniges Bild von einem Elefanten mit einem lustigen Ballettröckchen um den Leib, der schwerfällig auf einer Grasfläche umhertanzte, die durchaus im Tiergarten sein mochte, was er aber nicht erkennen konnte. Das Tier bewegte sich tatsächlich!
CHICAGO 1892 – 1893
261
Paul wagte kaum zu atmen. Die Bewegungen wirkten abgehackt, ruckartig, als würden sie durch das flackernde Licht in kurzen Zeitabständen unterbrochen. Auf jeden Fall war es verblüffend, weitaus phantastischer als die leblosen Photographien, die er in seinem Zimmer in der Müllerstraße aufgehängt hatte. Dies war ein Moment, wie Rhukov ihn im Prater erlebt hatte. Licht, das aus einem Sichtschacht drang wie die blendenden Blitze der Offenbarung, ein Blitz nach dem anderen, immer wieder … Sekunden später, völlig durcheinander, trat er von dem Tachyskop zurück. »Meine Herren – Herr Rhukov –, das ist das Erstaunlichste, Unglaublichste – Moment mal … Wo ist er denn?« Die beiden anderen Männer schauten sich um, Anschütz verzog das Gesicht und zuckte die Achseln. Der Amerikaner sagte: »Gerade hat er noch dort gestanden. Ich sah seine Gestalt als Schatten vor dem EdisonTurm. Ich drehte mich um, sagte etwas zu Herrn Anschütz – es hat nicht länger als ein, zwei Sekunden gedauert –, und als ich wieder hinsah –« Wie eine Spieluhr, die abgelaufen war, wurde seine Stimme leiser, »da war er plötzlich weg.« Paul roch den Qualm der starken Zigarette und glaubte auch, eine blaue Rauchfahne zu sehen, die sich in Luft auflöste. In Berlin war Rhukov auf die gleiche gespenstische Art verschwunden. Aber dieses Phänomen wurde von dem Wunder des Tachyskops bei weitem übertroffen. Anschütz ging hinaus, um ein junges Ehepaar anzusprechen, das unschlüssig vor der Bude stand. Wahrscheinlich überlegten sie genauso wie Paul, ob sie für so etwas ihr Geld ausgeben sollten. Paul wandte sich an den Amerikaner. »Wissen Sie alles über diese Maschine?« »Ich weiß ein wenig darüber. Ich habe nämlich selbst ein Studio für Photographie.« »Wie funktioniert diese Maschine?« »Nun, eigentlich siehst du überhaupt keine Bilder, die sich tatsächlich bewegen, sondern nur einzelne Standphotos, die eine Illusion von Bewegung erzeugen, wenn sie in schneller Folge gezeigt werden. In dem Kasten befindet sich eine drehbare Trommel. Die Bilder von Bebe sind in entsprechender Reihenfolge auf die Trommel geklebt. Die Lichtblitze werden vom Leuchtgas in zwei Geissler-Röhren erzeugt. Das verstärkt den Effekt.« »Ich habe noch nie etwas so Lebensnahes gesehen. Es ist überwältigend. Wundervoll.« »Wie schön für dich! Ich wußte gleich, als ich dich zum erstenmal sah, daß du ein schlauer Bursche bist.«
262
TEIL DREI
Ein seltsamer kleiner Mann. Er trug einen völlig unauffälligen Anzug und eine Kordel als Krawatte und reichte Paul nur bis zur Schulter. Er hatte einen Kugelbauch und einen graumelierten Schnurrbart, der so buschig und widerspenstig war, daß er fast den ganzen Mund verbarg. Seine Haare mußten dringend geschnitten werden. Die übergroßen Augen steckten hinter dicken runden Brillengläsern. Seine Haut hatte die bleiche Farbe eines Molchs oder irgendeines anderen in ständiger Dunkelheit lebenden Getiers. Er war nicht furchteinflößend oder bedrohlich, wie der verschwundene Rhukov ihm manchmal vorkam. Er war einfach nur – seltsam. Bis auf die Augen. Die Brille vergrößerte sie, was sie noch auffälliger machte. Sie wirkten so, als könnten sie einem in den Kopf blicken, als könnten sie einem ins Gehirn dringen und es in einer Weise bearbeiten, daß man nachher alles glaubte, was dieser Mann einem erzählte. Wie von Rhukovs Augen ging eine besondere Kraft von ihnen aus. »Aber, Sir, meinen Sie, daß diese bewegten Bilder irgendwann einmal mehr sein werden als – äh –« »Eine weitere Erfindung?« »Ja, eine Erfindung. Ich glaube, das ist es, was ich meine.« »Natürlich glaube ich das. Sie werden irgendwann einmal der Unterhaltung dienen. Der Unterhaltung und der Erziehung, und das in einem Ausmaß, das du dir noch gar nicht vorstellen kannst. Eines Tages wird man bewegte Bilder in großen Sälen auf riesigen Schirmen zeigen, zum Vergnügen und zur Belehrung der Menschen. Solche Bilder sprechen eine universelle Sprache. Sie werden um die ganze Welt gehen, sie erobern. Es wird noch ein paar Jahre dauern. Zur Zeit bemühen einige Erfinder sich, eine bessere Projektionsmaschine zu entwickeln. Aber eines Tages wird es soweit sein, glaub mir. Es wird genauso sicher kommen wie das nächste Jahrhundert. Das sagt Rooney.« »Rooney?« »Wexford Rooney. Da ist meine Visitenkarte.« Er wühlte in seinen Taschen. In der dritten fand er schließlich das Gesuchte. »Das ist gegenwärtig die Adresse meines Studios. North-Clark-Straße. Komm einfach vorbei, falls du jemals eine Kamera brauchst oder irgendeinen Rat. Oder wenn du einfach nur ein Schwätzchen halten willst. Ich habe während der letzten Unannehmlichkeiten im ganzen Land meine Photos gemacht.« Paul sah ihn verständnislos an. »Ich meine den Bürgerkrieg. Seitdem bin ich im Geschäft. Komm ruhig mal vorbei.« »Ganz bestimmt, das verspreche ich. Ich habe noch eine Woche Schule, dann komme ich bestimmt.«
CHICAGO 1892 – 1893
263
»Prima, ganz prima. Es kann nie genug aufgeschlossene Interessenten geben. Neun Zehntel der Menschheit bestehen aus ungläubigen Thomasen. Alles Dummköpfe.« Er warf Paul eine weitere Münze zu. »Sieh dir Bebe noch mal auf meine Kosten an.« Er trat zurück, hakte die Daumen in die Armlöcher seiner Weste und verzog zufrieden das Gesicht. Paul beugte sich über das Tachyskop mit den weißen Lichtblitzen, die sich in seine Augen, seine Knochen, seine Seele einbrannten und dieses Wunder für immer zu einem festen Bestandteil seines Bewußtseins machten. Wahrend der Heimfahrt mit der Straßenbahn klopfte Paul mindestens ein dutzendmal auf seine Hemdtasche, um sich zu vergewissern, daß er Rooneys Visitenkarte nicht verloren hatte. Er hatte immer angenommen, daß das Standphoto, wie er es von der verlorenen Kodakkamera und seinen Ansichtspostkarten kannte, das größte aller Wunder des neuen Zeitalters sei. Er irrte sich, er hatte etwas gesehen, das dem noch um mindestens tausend Meilen weit voraus war. Er war in einer euphorischen Stimmung, als er um halb sechs in die Küche stürmte und beinahe Louise, die Köchin, umrannte. »Gott im Himmel, was ist denn in dich gefahren?« »Ist Tante Ilsa da?« »Nein, sie ist mit Fritzi und Carl ausgegangen.« »Und Joe junior?« »Der ist oben.« Er war außer Atem, als er an die Zimmertür seines Vetters klopfte. Joe junior hatte gerade gebadet. Er trug leichte Sommerunterwäsche, hellgrau, die er bis zur Hüfte aufgeknöpft und heruntergestreift hatte. Das Haar klebte naß an seinem Kopf. Er trocknete gerade seine muskulöse Brust ab. »Weshalb bist du denn so verdammt aufgeregt?« »Joe, ich muß dir unbedingt erzählen, was ich in der Ausstellung gesehen habe.« Joe junior kratzte sich im Schritt und ließ sich auf die Bettkante sinken. »Little Egypt.« »Nein, nein – eine Maschine! Eine wundervolle Maschine!« Er setzte sich neben seinen Vetter und suchte krampfhaft nach den richtigen englischen Worten, um das Wunder zu beschreiben. »Ich könnte es lernen, solche Bilder herzustellen, Joe. Ich wollte schon immer zeichnen, aber dazu habe ich kein Talent. Diese Kunst hingegen könnte ich erlernen, denn dazu sind Maschinen nötig.« »Wenn es so toll ist, wie kommt es dann, daß niemand darüber redet?
264
TEIL DREI
Ich habe noch nie etwas davon gehört.« »Aber –« »Welche Bedeutung, welche Auswirkung hat das Ganze? Inwiefern trägt es dazu bei, die Last zu mindern, die der einfache Arbeiter tragen muß?« Stumme Wut loderte in Paul hoch. Konnte sein Vetter denn von nichts anderem reden als von armen, unterdrückten Menschen? Joe legte Paul eine Hand auf die Schulter und gab ihm, begleitet von einem weisen Lächeln, einen altklugen Rat. »Ich würde an deiner Stelle nicht länger darüber nachdenken. Ruf mich, wenn das Abendessen auf dem Tisch steht, ja? Ich brauche noch ein kleines Schläfchen.« Paul verzieh seinem Vetter sehr schnell. Hatte Rooney nicht gesagt, die Welt sei voller Ungläubiger? Es war so einfach, zu spotten. An diesem Abend saß er auf seinem Bett. Sein Blick wanderte zwischen dem Brett mit den Ansichtspostkarten und der Visitenkarte in seiner Hand hin und her. Es war eine unansehnliche Karte. Alt, fleckig, an den Ecken umgeknickt. Die Druckerschwärze war verschmiert. Dennoch kam sie ihm vor wie der Zauberschlüssel zu einer magischen Tür. Auf der anderen Seite dieser Tür konnte er, wenn er Rooney Glauben schenken durfte, alles übers Photographieren und über das Herstellen von solchen Bildern lernen. Und dann vielleicht auch über Bilder, die sich bewegten. Eine Woche noch, bis die Schule vorüber war, dann hätte er genügend freie Zeit, dann könnte er hingehen. Der Gedanke, in Mrs. Petigrus Klasse bleiben zu müssen, beherrschte ihn nicht länger. Er heftete die Visitenkarte sorgfältig an sein Brett und betrachtete sie sehnsüchtig. Eine Woche. Ob er eine so lange Wartezeit überhaupt durchstehen könnte? Am Montagmorgen erzählte er Leo Rapoport vor Schulbeginn von seiner aufregenden Entdeckung. Genauso wie Vetter Joe war Leo kaum beeindruckt. Er nannte die Erfindung sogar »bekloppt«. Das, so erklärte er, sei das gleiche wie verrückt. Leo wollte über etwas ganz anderes reden. »Setz dich«, flüsterte er. Paul hockte sich auf die niedrige Zementmauer am Rand des Schulhofs. Nach wachsamen Blicken in beide Richtungen öffnete Leo seinen ramponierten Schulranzen aus braunem Segeltuch. Er holte einen Stapel zusammengefalteter Papierbögen heraus, die bedruckt waren. »Mein alter Herr hat endlich die Verkaufslisten vom vergangenen Jahr weggeworfen. Sieh dir das Zeug mal an, ja? Zeig es nur nicht überall
CHICAGO 1892 – 1893
265
herum. Ich passe auf.« Aufpassen? Weshalb? Paul faltete die Bögen auseinander und blätterte die Seiten schnell durch, die allesamt ähnlich aussahen. Über einem Textteil mit Informationen über Ausführung und Preise wurden drei Viertel jeder Seite von der Zeichnung einer wunderschönen Frau eingenommen, die ein Produkt aus Mr. Rapoports Angebot trug. Jedes Mädchen war unglaublich üppig dargestellt mit riesigen, schwellenden Brüsten, verführerisch aufgeworfenen Lippen sowie einer leicht vorgebeugten Körperhaltung, die einen tiefen Einblick in den Ausschnitt gestattete. Da waren Blätter mit schlichten, unverzierten Korsetts oder eleganten französischen Korsetts mit Seidenstickereien; mit leichten Sommerkorsetts mit vier Haken und mit Korsetts, die an den Oberschenkeln besonders hoch ausgeschnitten waren, um möglichst viel Fleisch zu entblößen. Die schwülsten Bilder zeigten den Fuß der jeweiligen Frau auf einem Stuhl oder einem Hocker und gewährten einen Blick auf die als tabu geltende Innenseite des Oberschenkels. »Das sind die Prospekte für die Vertreter, die für die Kaufhäuser ordern, nicht für die Ladies, die das Zeug tragen«, erklärte Leo. Plötzlich umklammerte er Pauls Arm. »Paß auf, da kommt Maury Flügel. Versteck die Listen, schnell. Wenn er sie sieht, dann verpetzt er uns.« Paul stopfte die zusammengefalteten Blätter in die linke Tasche seiner leinenen Schuljacke und schob sie tief hinein, ohne nach unten zu schauen. Maury erschien einen Augenblick später. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand er da und sagte: »Ich hab’ gesehen, wie ihr beiden etwas gelesen habt. Etwa ein schlimmes Buch? Komm schon, Leo, sei ein Freund, laß mal sehen.« »Du bist kein Freund, du bist eine alte Petze«, erwiderte Leo und schubste ihn aus dem Weg. Er ging aufs Schultor zu, dicht gefolgt von Paul. Während sie sich dem Tor näherten, kontrollierte dieser seine linke Tasche. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, daß eine Ecke der zusammengefalteten Verkaufslisten deutlich sichtbar herausgerutscht war. Sein Herz schlug wie wild. Er wagte nicht, sie zu berühren, ehe er im Schulgebäude und vor Maurys neugierigen Blicken geschützt war. In der Garderobe faltete er die Jackenhälften nach innen, überzeugte sich, daß die Listen nicht zu sehen waren, und hängte das Kleidungsstück am letzten Haken der Reihe auf. Kurz vor der großen Pause rief Mrs. Petigru Paul zu sich ans Lehrerpult, um ihm mitzuteilen, daß der Brief an seine Tante und seinen Onkel am Donnerstag geschrieben sei und daß er ihn nach Hause mitnehmen solle. Sie riefe noch am gleichen Tag an, um sicherzugehen, daß er ihn auch
266
TEIL DREI
abgegeben hätte. Die Pausenglocke erklang. Schüler drängten sich in die Garderobe, um sich etwas Warmes anzuziehen. Der Himmel war bedeckt, und es wehte ein kräftiger Wind. Paul wollte ebenfalls die Garderobe aufsuchen. »Bleib stehen, junger Mann, noch habe ich dich nicht entlassen.« Das Klassenzimmer war völlig leer, als sie ihm schließlich knapp zunickte. »Jetzt darfst du gehen.« Er rannte in die Garderobe. Jemand hatte sich an seiner Jacke zu schaffen gemacht. Er schob die Hand in die Tasche mit den Verkaufslisten. Sie war leer. Auf dem Schulhof nahm er Leo beiseite. Er erzählte ihm von der Katastrophe. Sie kannten den Übeltäter. Sie konnten nichts tun, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen und dabei zu riskieren, erwischt zu werden, wenn einer der Lehrer sie trennte. Als sie nach der Pause zurückkamen, saß Mrs. Petigru an ihrem Pult. Rote Flecken glühten auf ihren weißen Wangen. Ihre Augen suchten das Klassenzimmer ab, blieben an Paul hängen. Er hatte seine Lehrerin schon des öfteren wütend erlebt, aber noch nie war sie so außer sich gewesen wie in diesem Moment. Mit leiser, leicht vibrierender Stimme wendete Mrs. Petigru sich an die Klasse. »Gegen Ende der Pause fand ich etwas auf meinem Pult. Etwas, das nicht für junge Menschen bestimmt ist. Etwas Schmutziges, Verdorbenes und Obszönes.« Ihre linke Hand sank zu einer Schublade herab, öffnete sie. Sie legte die zusammengefalteten Verkaufslisten auf die Schreibunterlage und bedeckte sie schnell mit der rechten Hand, wobei sie die Finger spreizte. Schweiß sammelte sich in Pauls Kragen. Mrs. Petigru schloß die Schublade wieder. Das Geräusch war so laut wie ein Pistolenschuß. Ihre zornfunkelnden Augen richteten sich wieder auf ihn. »Paul Crown, komm mal her.« Maury Flügel kicherte, aber alle anderen waren starr vor Angst. Sie spürten den außerordentlichen Zorn der Lehrerin. Paul ging nach vorne, blieb neben dem Lehrerpult stehen und hielt sich dabei so gerade wie möglich. Zwischen den gespreizten Fingern Mrs. Petigrus konnte er erkennen, daß jemand auf die Rückseite des oberen Bestellformulars in Blockbuchstaben PAUL C. geschrieben hatte. Mrs. Petigru musterte ihn eindringlich. »Wem gehört das, Paul?« Er gab sich Mühe, seine Stimme laut und kräftig klingen zu lassen. »Ich sehe meinen Namen darauf. Also gehören die Blätter mir.«
CHICAGO 1892 – 1893
267
»Woher hast du sie?« Er konnte nicht sagen Von Leo. Er konnte auch nicht antworten Aus dem Haus meines Onkels. Also nahm er Zuflucht zu einer Antwort, die sie sicherlich glauben würde. »Ich habe sie von einem Mann in einem Biergarten gekauft.« »Schon wieder eine Kostprobe dieser einmaligen deutschen Moral, nicht wahr? Was ist los mit dir? Was für ein Mensch bist du? So etwas kann man nur verbrennen. Und genau das werde ich auch damit tun. Ich habe mir größte Mühe mit dir gegeben, Paul. Ich habe an dich appelliert, habe gekämpft, dir bewußt geholfen. Und wie dankst du mir diese Mühe? Indem du die Verderbnis der Bierhallen in meine Klasse trägst.« Mit jedem Wort wurde sie lauter. Speichel sprühte von ihren Lippen. »Du bist ein Tunichtgut. Und was noch schlimmer ist, du bist auch noch dumm dazu. Ein deutscher Dickschädel, nicht imstande, irgend etwas zu lernen.« Etwas in ihm bäumte sich auf. Er platzte heraus: »Ich könnte eine ganze Menge lernen, wenn es mir nur gefiele.« »Ach, tatsächlich?« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was zum Beispiel? Faulenzen? Dich mit Bier zu betrinken? Dich mit solchem Schmutz zu amüsieren?« »Das ist nicht fair, ich habe mich niemals –« »Sei still! Tritt einen Schritt vom Pult zurück. Leg beide Hände darauf.« Hinter sich hörte Paul, wie ein Mädchen einen erstickten Seufzer ausstieß. »Oh!« Paul schluckte, trat zurück. Er beugte sich vor, legte seine Handflächen auf die Schreibunterlage. Im Klassenzimmer scharrte jemand vor Aufregung mit den Füßen. »Mrs. Petigru, diese Bilder gehören mir. Ich habe sie mitgebracht.« »Setz dich, Leopold Rapoport. Ich habe etwas gegen Lügner. Du kannst einen Frevel nicht mit einem zweiten wiedergutmachen. Paul, spreiz die Finger.« Er gehorchte. Mrs. Petigru zog die mittlere Schublade auf und holte ihr langes, dickes Lineal heraus.
268
TEIL DREI
23 JOE CROWN Der Zug brachte ihn von Cincinnati bis tief ins westliche Tennessee. In Henderson Station stieg er aus seinem Wagen, eine straffe, zierliche Gestalt in einem weißen Anzug und mit dunklem Halstuch. Die Blicke, die ihm auf dem Bahnhof herumlungernde Gestalten zuwarfen, unterschieden sich nicht von denen, die jeder elegant gekleidete Fremde in jeder Kleinstadt auf sich lenken würde. Dennoch hatte er Angst, daß seine Schuld in seinem Gesicht zu sehen war wie ein Geburtsmal. Er mietete einen Pferdewagen, verstaute seine Reisetasche unter dem Sitz und schlug den Weg zum Fluß in südöstlicher Richtung ein, wo Pittsburgh Landing und Shiloh Church lagen. Es war eine schöne Landschaft, genauso wie er sie in Erinnerung hatte. Felder und Wiesen, hin und wieder eine Farm, umgeben von dichten Wäldern. Zerbrechliche Holzbrücken überspannten Bäche und Gräben an den Feldwegen. Er erinnerte sich auch daran, was vor dreißig Jahren am Vorabend der Schlacht geschehen war, als er gerade zwanzig war … Kurz nach Tagesanbruch, am Morgen des 6. April 1862, ruhte die Unionsarmee noch und bereitete sich auf das Frühstück vor. Niemand rechnete mit feindseligen Handlungen, am wenigsten General Grant, der irgendwo auf dem Tennessee-Fluß in einem Kanonenboot unterwegs war. Nach seiner triumphalen Eroberung von Fort Henry und Fort Donaldson rückte die Armee langsam nach Süden auf Corinth vor, einen strategischen Eisenbahnknotenpunkt im nördlichen Mississippi. Die Armee war noch sehr unerfahren, und das zeigte sich deutlich. Die Zäune wurden nur unzureichend in Ordnung gehalten, Kavalleriepatrouillen nur unregelmäßig durchgeführt. Verachtung für den Feind führte zu einer aus Trägheit geborenen Selbstüberschätzung. Daher wurden sie an diesem friedlichen Sonntag völlig überrumpelt, als die jungen Soldaten der jungen Konföderierten-Armee heulend und tobend aus den Wäldern im Süden hervorgestürmt kamen. Die 5. Ohio-Kavallerie wurde an diesem Morgen mobilisiert. Sie sollte versuchen, einen Überfall zu vereiteln. Joe erinnerte sich genau an die ängstlichen Jungengesichter – er vermutete, daß seins nicht viel anders ausgesehen hatte –, während die 5. Ohio sich um die Infanterie der Union verteilte, mit ihren Pferden über Zäune setzte und zu schießen versuchte, während die Granaten der Rebellen unter lautem Getöse einschlugen und braune Erde hochschleuderten … In seinem gemieteten Einspänner traf Joe spät am Nachmittag auf dem unkrautüberwucherten und verlassenen Schlachtfeld ein. Bei
CHICAGO 1892 – 1893
269
Sonnenuntergang fand er auch das vertraute Eichenwäldchen, wo die 5. Ohio sich den Rebellen entgegengestellt hatte, um die Unionsinfanterie an jenem fernen Sonntagnachmittag davor zu bewahren, an der rechten Flanke angegriffen zu werden. Joe war hinter Major Ricker im linken Flügel des Regiments geritten. Er erinnerte sich noch gut an den rasenden Angriff, an den Qualm, der so dicht war, daß man den Feind vor sich kaum sehen konnte, allein gelassen mit einem Kameraden neben sich. Als Joe im kühlen Schatten einer mächtigen Eiche stand, die immer noch Spuren der Schlacht trug, schluckte er und spürte, wie seine Augen feucht wurden, als er sich voller Stolz an all die jungen Stimmen erinnerte, die während des Angriffs ihre tapfere Entschlossenheit hinausgebrüllt hatten. Die älteren Offiziere hatten das Gebrüll angestimmt, das jeden noch so lauten Rebellenschrei übertönte, den er später hörte … Ein orangefarbenes Feuer wie im Herzen eines Stahlofens erhellte den westlichen Himmel. Joe Crown lehnte sich gegen den vernarbten Eichenstamm, spürte eine leichte Benommenheit und genoß die Kühlung, als der Wind sanft über sein verschwitztes Gesicht strich. Wie jung sie doch gewesen waren an jenem wunderschönen Sonntag, dem eine weitere Regennacht folgte. Wie mutig und heldenhaft beide Armeen doch gekämpft hatten! Bis sie zum allerersten Mal Hunderte und Aberhunderte toter Männer – von Kugeln durchlöchert, mit abgetrennten Gliedmaßen – sahen und um Mitternacht im strömenden Regen die Schreie der Amputierten in den Sanitätszelten hörten … Im Unwetter jener Nacht hatte Joe am Rand ihres Lagers Wache geschoben. Bei einem grellen Blitz erkannte er eine Gestalt, die mit einem Rucksack auf dem Rücken zwischen den Bäumen über den Erdboden davonkroch. Joe holte sofort seinen Revolver unter dem Gummiponcho hervor. »Halt! Halt, oder ich schieße!« Der Soldat erstarrte mitten in der Bewegung. »Kommen Sie her! Hände hoch!« kommandierte Joe. Das glucksende Geräusch der Schuhe des Mannes auf dem nassen Untergrund übertönte das Rauschen des Regens. Joe spürte den Mann neben sich. Hörte seinen heftigen Atem. Ein weiterer Blitz zuckte auf, riß das Gesicht des Flüchtlings aus der Dunkelheit. »Soldat Linzee!« Joe sah das Gesicht des Jungen in seiner Erinnerung, naß von Tränen und vom Regen … Hans Linzee war achtzehn, ein Stellmacherlehrling aus Hamilton, Ohio; ein guter Soldat. Er sprach englisch mit Akzent. Er war ein schüchterner, empfindsamer Junge und wegen seiner bemerkenswerten künstlerischen
270
TEIL DREI
Begabung ein besonderer Liebling Joes. Linzee hatte einen Farbkasten und Pinsel in seinem Gepäck. Er malte wundervolle Aquarelle von Landschaften, Armeecamps, rastenden Soldaten. Linzee hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich. Joe wollte ihn ermutigen, nach dem Krieg etwas anderes zu anzufangen, als das Stellmacherhandwerk auszuüben. Er sollte lieber etwas für die weitere Ausbildung seines erstaunlichen Talents tun. »Linzee, was treiben Sie denn hier?« Joe verstaute den Revolver wieder unter seinem Poncho. Es bestand keine Gefahr. »Wollten Sie weglaufen?« Niedergeschlagen nickte Linzee. »Ja, Sir.« »Das kann ich nicht zulassen. Und zwar nicht wegen der Vorschriften, die interessieren mich nicht, sondern allein um Ihretwillen. Wenn Sie jetzt verschwinden, dann wäre Ihr ganzes Leben verpfuscht. Sie würden sich selbst hassen. Eher würde ich Sie wegen Fahnenflucht niederschießen.« Joe zupfte sanft am Ärmel des Jungen. »Kommen Sie, dort unter dem Baum stehen wir etwas geschützter.« Der Regen rauschte auch dort herab, aber nicht so heftig. Joe hockte sich hin. »Und jetzt, Hans, erzählen Sie mir mal, weshalb Sie weglaufen wollten.« »Ich war im Wald, verrichtete meine Notdurft«, sagte Linzee mit matter Stimme. »Dort stolperte ich über eine Leiche ohne Kopf. Und da waren auch Hausschweine, sie rissen Fleischstücke aus dem Halsstumpf – o Sir, Sir, es war – es ist furchtbar – schrecklich. Ich hasse diesen Krieg.« »Aus gutem Grund. Aber Sie haben sich bisher doch nicht davon beeindrucken lassen. Das dürfen Sie jetzt auch nicht. Sie sind einer meiner besten Soldaten.« »Vielen Dank, aber ich kann nicht mehr. Wird es morgen zum Kampf kommen?« »Ja, ganz gewiß. General Grant und General Sherman werden sich nicht mit einer Niederlage abfinden.« Linzee brach in Tränen aus. »Mein Gott, Herr Leutnant – ich habe Angst. Soviel Angst.« Joe nahm den Jungen wie ein Kind in die Arme und beruhigte ihn. Er war genau zwei Jahre älter als Hans Linzee. »Die haben wir alle. Jeder Mann in dieser Armee hat Angst. Wenn er sie nicht hätte, wäre er verrückt. Ruhen Sie sich jetzt aus. Reißen Sie sich zusammen. Heute nacht brauchen Sie sich vor nichts zu fürchten.« Er fuhr fort, den Jungen zu trösten, während der Regen sie beide bis auf die Haut durchnäßte. Der Konföderiertengeneral Albert Sidney Johnston fiel in Shiloh
CHICAGO 1892 – 1893
271
während der Schlacht am Sonntag. Tausende andere fielen ebenfalls. Fast fünfundzwanzigtausend Männer insgesamt, auf beiden Seiten. Zehnmal so viele wie bei der ersten Schlacht am Bull-Run-Fluß ums Leben gekommen waren. Joes Prophezeiung der Regennacht traf ein. Das Unentschieden von Sonntag und die Beinahe-Niederlage verwandelte sich am Montag in einen echten Sieg der Union. Die Konföderierten unter Beauregard zogen sich nach Corinth zurück. Es geschah nach Pittsburgh Landing, daß Joe Crown den Krieg zu hassen begann, und zwar genauso leidenschaftlich, wie er ihn vorher verteidigt hatte. Er haßte den Schmutz und das Durcheinander. Die Zufälligkeit von Leid und Tod. Die brutale Hand des Schicksals. Er haßte die Art und Weise, wie er anständige, ehrenhafte junge Männer wie Hans Linzee zu winselnden Feiglingen machte. Alles in seiner Natur bäumte sich gegen diese so offensichtlich sinnlose Unordnung auf, die die meiste Zeit herrschte. Er konnte seine Zuversicht und seinen Mut nur aufrechterhalten, indem er an das große Anliegen dachte. An die Union. An das Ende der Sklaverei. Aber es fiel ihm sehr schwer. Ein paar Tage später kam Linzee zu ihm. Offensichtlich hatte er wieder frischen Mut gefaßt. »Herr Leutnant, ich danke Ihnen, daß Sie mich neulich in der Nacht vor mir selbst und vor der Schande beschützt haben. Ich werde Ihnen dafür etwas ganz Besonderes schenken.« Joe lächelte und winkte ab und sagte, das sei nicht nötig. »O doch, das ist es ganz bestimmt«, erwiderte Linzee. Also antwortete Joe, er sei einverstanden. Und dann, in Mississippi, stand er plötzlich auf einer gewundenen roten Lehmstraße. Mai 1862. Unter der Führung von General Halleck, »Old Brains«, wie er genannt wurde, zog die Unionsarmee vom Eisenbahnknotenpunkt Corinth nach Süden. Die dort eingeschlossenen Kommandeure von General Beauregard, die Generäle Van Dorn und Bragg, hatten die Stadt Ende Mai verlassen. Die Hufe der Pferde wirbelten ziegelroten Staub in dichten Wolken von der gewundenen Straße hoch. Vorkommandos der 5. Ohio suchten nach feindlichen Hinterhalten, nach versprengten Feinden. Zweimal schon war es zu Schießereien mit berittenen Rebellen gekommen. Der Tag war schwül und still. Leutnant Joe Crowns dunkelblaue Uniformjacke war unerträglich warm. Er roch seinen eigenen ungewaschenen Körper, als er den Kopf beugte, um niedrig hängenden
272
TEIL DREI
Büscheln Spanischen Mooses auszuweichen. Der Anführer der Patrouille, sein befehlshabender Offizier, Hauptmann Frank Ehrlich, lachte und schwatzte, als befände er sich auf einem Picknick. Ehrlich betrieb im Zivilleben einen Eisenwarenladen in Lebanon an der Straße nach Cincinnati. Er hatte nur die Grundschule besucht. Nach Joes Auffassung war er für das Kommando nicht qualifiziert. Er war zu wenig organisiert und – für einen Deutschen – ungewöhnlich faul. Aber Ehrlich hatte einen Bruder, der bei den Justizbehörden von Ohio arbeitete. In der 5. Ohio gab es eine ganze Menge hoher Positionen, die deren Inhaber Beziehungen zu verdanken hatten. Bei den gemeinen Soldaten sah es jedoch nicht viel besser aus. Nur wenige Soldaten hatten nützliche Erfahrungen mit Pferden. Die meisten waren Stadtleute – Kaufleute, Schullehrer, Büroangestellte – und im Unterschied zu den Kavalleristen aus dem Süden überhaupt nicht für den Dienst im Sattel ausgebildet. An der Spitze der Vorhut, steif und schwerfällig in seinem McClellanSattel sitzend, verschwand Hauptmann Ehrlich nach und nach außer Sicht, als er in eine Senke ritt, durch die sich ein Bach schlängelte. Joe sah ihn auf der anderen Seite wieder hochkommen und neben einem Holzzeichen anhalten, das roh zugeschnitten war und aussah wie ein Pfeil. HÖLLE FÜNF MEILEN KOMMT NUR, YANKEES! Die dichten Wälder schienen an diesem heißen Vormittag friedlich dazuliegen. Aber das Schild brachte die Gespräche der Männer zum Verstummen, und alle warfen nervöse Blicke in das düstere Dickicht zwischen den Bäumen. Nach einer Viertelmeile verlief die Straße wieder in ebenem Gelände. Hauptmann Ehrlich deutete nach links. Joe trieb sein Pferd an, um zu ihm aufzuschließen. Ein alter Neger war hinter einem grünen Busch aufgetaucht. Revolver wurden gezückt. Hauptmann Ehrlich hob die Hand. »Nicht schießen, er ist unbewaffnet.« Der schwarze Mann preßte seinen alten Strohhut gegen die Brust seines geflickten und verblichenen Arbeitshemdes. »Ist schon gut, Cap’n, es besteht keine Gefahr. Ich bin Erasmus, ein Freund. Das Schild da hinten hat ganz recht. Es stimmt, was drauf steht. Ein Stück weiter lauern ganz schlimme Leute.« »Soldaten?«
CHICAGO 1892 – 1893
273
»Ein paar. Hauptsächlich alte Männer und Jungs aus der Gegend hier. Aber sie sind ganz wild darauf, ein paar von euch Yankees umzubringen. Sie haben eine Menge Gewehre. Zieht nicht weiter, kehrt lieber um. Es wird schlimm für euch, wenn die Nacht hereinbricht.« Frank Ehrlich machte ein ernstes, furchtloses Gesicht, als er entgegnete: »Vielen Dank, Erasmus, aber wir haben den Befehl vorzurücken. Doch wir werden die Augen offenhalten.« Ehrlich hob wieder die Hand und gab dem Trupp das Zeichen, weiterzuziehen. Joe Crown ritt an dem alten Neger mit den traurigen Augen vorbei, der seinen Strohhut an die Brust drückte. Eine schreckliche Vorahnung befiel ihn. Sie kampierten an diesem Abend ein Stück abseits der Straße an einem Bach, wo die Männer in der Dunkelheit badeten. Ein Kochfeuer wurde entfacht, aber die Offiziere warnten die Männer, sich nur dann in seine Nähe zu wagen, wenn es absolut notwendig sei. Joe dachte, sie hätten lieber überhaupt kein Feuer anzünden sollen, aber die Männer waren seit sechsunddreißig Stunden ohne eine warme Mahlzeit, und Hauptmann Ehrlich hatte auf einem Feuer bestanden. Joe hielt sich in sicherer Entfernung von den Flammen und kaute auf einem Stück Pökelfleisch. Die einzigen Laute waren das Plätschern des Bachs, die Rufe der Nachtvögel, das Planschen der Badenden. Dennoch fühlte er sich unbehaglich. Er beobachtete den dunklen Wald jenseits der Wachtposten. Ob dort unsichtbare Rebellen umherschlichen? »Sir?« Joe blickte auf. Es war Linzee. »Das ist das Geschenk, das ich Ihnen versprochen habe«, sagte er und lächelte stolz. Joe sah zu seiner Verblüffung eine weiße Rasiertasse aus Porzellan. »Wo um alles in der Welt haben Sie die denn her?« »Aus dem Laden gestern. Der Inhaber wollte die Tasse keinem Yankee verkaufen. Ich zeigte ihm mein Gewehr. Daraufhin bat er mich, sie doch anzunehmen, umsonst.« Mit einer eleganten Bewegung seiner linken Hand drehte Linzee die Tasse und zeigte ihre bemalte Seite. Joe lachte überrascht und erfreut. Einige Männer, die sich in der Nähe im Gras ausgestreckt hatten, wandten die Köpfe. Im Feuerschein war ein gemalter König zu sehen, dick und fröhlich. Er war in einen roten Mantel gehüllt, saß auf einem goldenen Thron und trug eine mit Juwelen besetzte Krone, die fast genauso groß wie sein Kopf war. In wundervollen Buchstaben war das Wort CROWN über der Gestalt aufgemalt. Darunter stand das Wort Rex. »Hans, ich bin geradezu überwältigt. Das war wirklich nicht nötig, aber
274
TEIL DREI
ich danke Ihnen. Ich werde die Tasse immer voller Stolz benutzen.« Einer seiner Feldwebel richtete sich halb auf und rief: »He, Leutnant, können wir auch mal sehen?« Joe nickte Linzee zu, der sich zu den anderen umdrehte. »Zu dunkel, geh mal etwas näher ans Feuer.« Joe lauschte. Er glaubte, leise Geräusche zu hören, die mit dem Plätschern des Bachs verschmolzen. »Nein, ich glaube, Sie sollten nicht –« Während er noch redete, machte Linzee zwei Schritte auf das Feuer zu. Er stand im hellen Lichtschein und grinste selig. Die Kugel schlug in seinen Hinterkopf, sprengte seine Stirn und die Augen weg und besprühte Joe mit einem Blutregen. Linzee kippte seitlich ins Feuer. Sein Blut zischte, als es in die Glut spritzte. Die Männer rannten vom Feuer weg. Weitere Schüsse fielen. Hauptmann Ehrlich brüllte etwas, übernahm das Kommando. Joe zitterte. Er hielt etwas fest. Verblüfft starrte er auf die Rasiertasse, die Linzee beim Sturz offensichtlich aus der Hand geschleudert worden war. Joe erinnerte sich nicht, sie aufgefangen zu haben. »Übernehmen Sie«, rief Hauptmann Ehrlich, sprang zum Feuer und trat in die Glut, um sie zu verteilen und zu löschen. »Hauptmann!« brüllte Joe. »Gehen Sie da weg, ehe Sie –« Wieder feuerten Gewehre aus der Dunkelheit. Frank Ehrlich zuckte wie eine Marionette, an deren Schnüren brutal gerissen wurde. Seine Augen wurden im Tod stumpf, während seine Beine nachgaben und sein Körper unweit des Feuers dumpf auf den Boden sackte. Joe zog sich schnellstens zurück, riß sein Holster auf und zückte den Revolver. Ein harter Schlag traf seinen linken Arm. Als er nach unten schaute, sah er seinen wollenen Ärmel glänzen. Die Schmerzen setzten ein, als er begriff, daß er von einer Kugel getroffen worden war. Er hob den Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Dann rief er seinen Männern zu, sie sollten auf den Teil des Waldes zielen, wo die Rebellen sich versteckt hielten. Bald schon glichen die Kugeln der Unionstruppen einem Bienenschwarm, der durch die Nacht summte. Nach fünf Minuten rief Joe: »Feuer einstellen!« Er spürte, daß ihn leichte Benommenheit befiel. Sein linker Arm hing kraftlos an seiner Seite herab. Blut strömte über seinen Handrücken und tropfte von den Fingerspitzen auf den Sandboden. Er trat auf etwas, das unter seiner Stiefelsohle knirschte und zerbrach. Es war ein Stück Porzellan. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, die Tasse fallen gelassen zu
CHICAGO 1892 – 1893
275
haben. Die Scherben lagen verstreut neben Hans Linzees Leiche. »Leutnant, hören Sie! Sie fliehen …« Er hörte den Galopp der Pferde, die sich nach Süden entfernten. Joe steckte den heißen Revolver hinter den Gürtel, nahm sich zusammen und zog Linzee erst die Uniformjacke aus, dann das Unterhemd. Es war blutig, aber es würde seinen Zweck als Druckverband erfüllen. Er rief nach Hilfe. Einer seiner Soldaten riß das Unterhemd in Streifen, knotete sie fest zusammen und verband Joes Wunde. Dann wies Joe seine Männer an, Baumäste abzubrechen und als Fackeln zu benutzen. Er war überzeugt, daß die Gefahr einstweilen gebannt war. Wie in einem Nebel ging er im Lager umher und besah sich den Schaden. Ehrlich tot. Linzee tot. Vier Männer verwundet, zwei davon schwer. Er blieb für einen Moment stehen und blickte auf Linzees nackten Oberkörper; auf die bleiche, weiche Brust ohne Haare. Linzees Hand berührte fast eine Scherbe der zerschellten Rasiertasse. Joe mußte sich abwenden. Er schleppte sich hinunter zum Bachufer, und dort, hinter einem Busch, weinte er. Falls jemand ihn sah, respektierte er seine Trauer. Nach fünf Minuten richtete er sich wieder auf, immer noch schwach und voller Bitterkeit, aber wieder fähig zu funktionieren, weil es sein mußte. Er kletterte mit zitternden Beinen die Uferböschung hoch. Sein Kopf brummte. Genauso wie Linzee hätte er am liebsten seinen Dienst quittiert. Das kam nicht in Frage. Ehrlich war tot, jetzt hatte Joe das Kommando. Es gab Verwundete, er mußte schnellstens ein Feldlazarett finden. Er schritt über den verwüsteten Lagerplatz, gab seinen Leuten den Befehl zum Aufräumen und half ihnen, die Toten zu begraben und den Verwundeten Bahren aus Baumästen zu bauen. Ehe sie im Morgengrauen den Lagerplatz verließen, sammelte er die Scherben der Rasiertasse ein und verstaute sie in seiner Satteltasche. Dann führte er den Rückzug nach Norden über die Straße, wobei er seinen schmerzhaft pochenden Arm krampfhaft gegen seine Seite drückte. Seitdem war er nicht mehr der gleiche Mensch wie zuvor. Ein Feldarzt wollte den verletzten Arm amputieren, aber Joe weigerte sich, es zuzulassen. Er schlug dem Chirurgen mit der rechten Faust eine Flasche mit Betäubungswhiskey aus der Hand, als der Arzt sich über den hölzernen Operationstisch beugte. Seine Vorgesetzten belobigten ihn, beförderten ihn zum Hauptmann und setzten ihn offiziell auf Ehrlichs Posten. Er nahm seinen Dienst wieder auf,
276
TEIL DREI
während er seinen linken Arm noch in einer Schlinge tragen mußte. Ein Jahr später wurde er zum Major ernannt und dann in Georgia, sechs Monate vor Kriegsende, zum Oberst. Auf rätselhafte Art, die er selbst nicht verstand, schwand durch die Verwundung, durch das ausgeflossene Blut, der letzte Rest seines Deutschtums aus ihm. Der Bürgerkrieg zur Erhaltung und Rettung der Union machte ihn endgültig zum Amerikaner. Der Krieg beeinflußte sein Leben auch noch auf andere Art und Weise. Er steigerte seine Vorliebe für Ordnung zu einer Besessenheit, die ihn völlig beherrschte. Ordnung. Er hatte nunmehr ein intensives Bedürfnis, sein Leben und alles, was damit in Berührung kam, einem rationalen Muster zu unterwerfen. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, aber noch nie mit einem solchen Verständnis, mit einer solchen Einsicht wie auf dem dunklen Schlachtfeld. Ordnung war sein Ziel und seine Überzeugung: die Mächte der Ordnung, der Vernunft, der Zivilisation gegen die allgegenwärtigen, bedrohlichen Mächte des Zufalls, der Anarchie, des Chaos. Ordnung war die Ursache für seinen ständigen Kampf gegen Benno Strauss. Sie war die Ursache seiner Streitigkeiten zu Hause. Joe junior trieb willentlich oder versehentlich ins Chaos. Er erkannte das mit einer Klarheit, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Vielleicht konnte er seinen Kampf jetzt, da er zu mehr Verständnis gelangt war, wirkungsvoller führen. Gott sei Dank war sein Neffe nicht so wie sein Junge. Joe bezweifelte seine Fähigkeit, einen erfolgreichen Zweifrontenkrieg führen zu können. Er zwang sich, aus seinen Grübeleien aufzutauchen, und nahm die späte Uhrzeit zur Kenntnis. Er zog sacht an den Zügeln, die auf dem Rücken des alten Gauls lagen. Die ledernen Riemen, an denen der Wagen im Fahrgestell aufgehängt war, knarrten, und die Hinterachse quietschte, während er den düsteren Schatten des Kampfplatzes verließ. Auf dem Rückweg zu seinem Gasthaus kam er an dem kleinen Versammlungshaus von Shiloh vorbei. Die weißen Balken leuchteten unschuldig durch die Abenddämmerung. Daß eine Kirche Gottes einem Schlachtfeld seinen Namen verlieh … war das nicht erstaunlich? Um das Versammlungshaus wucherte dichtes Unkraut. Der Wind fuhr hindurch, erzeugte einen raschelnden Flüsterlaut, der an gefallene Soldaten erinnerte, die mit dem letzten Atemzug ein Lebewohl seufzen. Joe Crown trieb das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, als er den Wagen in der hereinbrechenden Nacht über die furchige Straße lenkte. Er blickte nicht mehr zurück. Ein paar Tage später trat er morgens aus dem State Hotel in Columbia, South Carolina. Es war ein schöner Junitag, der 27. Ein farbiger Junge
CHICAGO 1892 – 1893
277
verkaufte ihm eine Zeitung. Joe stellte sich an den Bordstein und überflog die Schlagzeilen. Am Vortag hatte der Aktienmarkt den tiefsten Stand seit Monaten erreicht. Alle in der Saloonbar, die wohlhabenden Einwohner von Columbia, hatten am Vorabend darüber diskutiert. Sämtliche Zeitungen hatten von einem »Crash« gesprochen. Wieviel schlimmer konnte die Lage denn noch werden? Viel schlimmer. Er entdeckte die kleinere Überschrift einer Meldung aus Springfield, Illinois. ALTGELD UNTERZEICHNET BEGNADIGUNG Drei Haymarket-Verschwörer ab sofort frei »Ein schlimmes Unrecht wird wiedergutgemacht«, verkündet der Gouverneur von Illinois. Joes Fluch ließ den Zeitungsjungen erschrocken zusammenzucken. »Sir? Haben Sie noch einen Wunsch?« »Ich sagte nur ›verdammt noch mal‹, verdammt noch mal eine verteufelte Geschichte.« Er schleuderte die Zeitung in die Gosse. Es kam noch mehr auf ihn zu. Als er die Geschäfte dieses Tages abgeschlossen hatte und in sein Hotel zurückkehrte, griff der Angestellte an der Rezeption in ein Brieffach und reichte ihm eine telegraphische Nachricht. Sein Blick suchte zuerst die Unterschrift. Ilsa hatte ein Telegramm geschickt, das sehr kurz war. BITTE KOMM NACH HAUSE. PAULI VON SCHULE GEFLOGEN.
24 PAUL Onkel Joe betrat am Donnerstag, dem 29. Juni, um halb sechs das Haus. Er reichte Manfred seine Reisetasche und wand sich aus seinem verdreckten Mantel, während er ohne ein Wort die Treppe hinaufstieg. »Er badet«, sagte Tante Ilsa zu Paul ein paar Minuten später in der Küche. »Du sollst um Viertel nach sechs in sein Arbeitszimmer kommen.« Paul beobachtete nervös die Großvateruhr in der Diele und klopfte in dem Augenblick an, als der Uhrzeiger sich bewegte. Als Onkel Joe ihn
278
TEIL DREI
hereinrief, sah er zu seiner Überraschung und Erleichterung Tante Ilsa am Ende des Schreibtisches unweit des offenen Fensters sitzen. Ein leichter Wind bauschte die Vorhänge. Drei Wände des Raums bestanden aus Regalen, die vom Boden bis hinauf zur Decke mit hübsch gebundenen Büchern gefüllt waren. Die Hälfte der Bände waren in Deutsch. Onkel Joe hatte sich ein frisches Hemd ohne Halstuch angezogen. Er deutete auf den freien Stuhl vor ihm. »Setz dich. Erzähl deine Geschichte.« Paul tat es, wobei er weder seine eigene Handlungsweise verniedlichte noch Mrs. Petigrus Grausamkeit ausschmückte. Er wandte während seines kurzen Berichts kein einziges Mal den Blick ab und schaute seinem Onkel dauernd in die Augen. Sein Herz klopfte wie wild, sein Magen schmerzte, aber nach außen hin wirkte er ruhig und gefaßt. Es kostete ihn eine ungeheure Mühe. Am Ende nahm Onkel Joe seine Brille ab und ließ sie zwischen den Fingern über die Sessellehne baumeln. Tante Ilsa zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit Stirn und Oberlippe ab. »Ich glaube dir, Paul«, sagte sein Onkel. »Deine Worte klingen, als entsprächen sie der Wahrheit. Außerdem widerspricht das, was du erzählt hast, grundsätzlich nicht den Ereignissen, wie sie im Brief des Direktors beschrieben wurden.« Er klopfte auf den Brief, der hinter ihm auf dem Schreibtisch lag. Paul hatte ihn bisher noch nicht gesehen. »Er gibt auch zu, daß Mrs. Petigru dich strenger bestraft hat, als es angemessen war. Laß mal deine Hände sehen.« Paul hielt sie hoch. Blasse rote Flecken und Streifen zogen sich über die Finger und die Handrücken bis zu den Gelenken. Sie hatte ihm so hart auf die Hände geschlagen, daß er noch drei Tage danach die Finger nur unter großen Schmerzen krümmen konnte. »Kannst du deine Finger wieder ungehindert bewegen?« »O ja.« Er bog und streckte sie. »Es geht wieder.« Er schickte Tante Ilsa einen dankbaren Blick. Sie hatte Dr. Plattweiler angerufen, damit er ihm eine Salbe verschrieb, die sehr geholfen hatte. »Gut. Bedauerlicherweise schließt der Direktor seinen Brief mit der Feststellung, daß er die Autorität seiner Lehrer unterstützen muß. Du kannst daher diese Schule nicht wieder besuchen. Du hast mich gewarnt, daß du nicht zum Lernen und Studieren geeignet bist, und es scheint, als hättest du damit recht. Vielleicht war es falsch, dich so schnell ins amerikanische System hineinzustoßen. Auf jeden Fall haben deine Tante und ich uns ausführlich über dich unterhalten und uns auf den nächsten Schritt geeinigt.
CHICAGO 1892 – 1893
279
Ich werde morgen Mr. Mars entlassen, indem ich ihm einen Monatslohn extra zahle, und am Montag trittst du deine Arbeitsstelle in der Brauerei an.« Paul war sprachlos. Onkel Joe sagte: »Wenn du uns jetzt alleine lassen würdest, Ilsa, dann kann ich mit Paul noch über die Einzelheiten sprechen.« Sie nickte zustimmend und hauchte Paul einen Kuß zu, während sie an ihm vorbeiging. Die Tür wurde aufgeschoben und schloß sich wieder. Pauls Herz schlug noch immer heftig. Ein paar Wochen nach seiner Ankunft war die Aussicht, in der Brauerei zu arbeiten, durchaus reizvoll gewesen. Nun gab es etwas weitaus Interessanteres, das ihn verlockte. Wie sollte er es seinem Onkel beibringen? »Nun, da deine Tante nicht mehr da ist, kann ich etwas freier reden.« Onkel Joe griff nach dem Brief des Direktors. »Diese Affäre macht mich wirklich traurig. Nicht die Anschuldigung, du habest obszöne Dinge in die Schule mitgebracht. Das klingt einfach lächerlich angesichts deiner Beschreibung der Zeichnungen und ihrer Herkunft aus der Tasche eines Handelsvertreters. Es ist durchaus bewundernswert, daß du versucht hast, deinen Freund zu schützen. Aber ansonsten finde ich an dem, was du getan hast, nichts weiter bewundernswert. Ich hatte allerhand Hoffnungen in dich gesetzt, Paul. Wirklich große Hoffnungen. Jetzt muß ich feststellen, daß du schon seit Wochen, Monaten völlig versagt hast. Du hast nie darüber gesprochen. Du hast mir immer nur gesagt, alles sei in bester Ordnung.« »Ich wollte dich nicht enttäuschen, Onkel.« »Was denkst du denn, was du damit getan hast?« Er warf den Brief auf den Tisch. »Ich kann nicht verstehen, wie du so schlechte Zensuren bekommen konntest. Deutsche sind gute Denker. Wenigstens hättest du in Mathematik bestehen können, denn Deutsche können auch immer gut mit Zahlen umgehen –« Seine Stimme zitterte, was für ihn völlig untypisch war. Paul begriff, daß sein Onkel sich über die Maßen aufregte. Er wartete angespannt, während sein Onkel seine Brille mit einem Taschentuch putzte. Das schien ihn zu beruhigen. Seine normale Gesichtsfarbe kehrte wieder zurück. »Die Brauerei –«, begann er. »Sir, darf ich Sie bitte unterbrechen?« »Was ist denn?« Seinem Onkel gefiel das nicht. »In der Ausstellung habe ich etwas Phantastisches gesehen. Eine Maschine, die Bilder zeigt, welche sich anscheinend bewegen.« Er beschrieb den tanzenden Elefanten. »Wann genau war das?« »Am letzten Samstag. Ich war alleine dort. Oh, Tante Ilsa hat es mir
280
TEIL DREI
erlaubt –« »Ich habe von diesem Apparat gehört, aber ich habe ihn noch nicht gesehen. Fahre fort.« »An dem – hmm – Marktstand –« »In der Bude.« »Ja, richtig, danke. Also in der Bude habe ich einen Gentleman kennengelernt, der ein Studio für Photographie betreibt. Er weiß, wie die bewegten Bilder hergestellt werden. Sein Name lautet Mr. Rooney.« Paul holte die wertvolle Visitenkarte aus seiner Hemdtasche. Sein Onkel inspizierte sie mit einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck. »Ich sagte, ich sei interessiert an der Sache. Ich würde gerne lernen, wie man solche Bilder herstellt. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Er sagte, er werde es mir beibringen. Könnte ich ihn nicht nach einem Job fragen? Eines Tages –« Pauls Gesicht glühte erregt. »Eines Tages lerne ich vielleicht, Bilder für die Maschine zu produzieren, die ich gesehen habe.« Onkel Joe gab ihm die Visitenkarte zurück. »Ich bin durchaus dafür, sinnvolle Erfindungen kennenzulernen und auch einzusetzen, aber bei der, die du mir gerade beschrieben hast, erkenne ich keinen sinnvollen Nutzen. Was ist schon an Bildern von einem tanzenden Elefanten wichtig und gut? Ich habe mich gar nicht erst bemüht, mir diese Maschine anzusehen, weil sie nur ein Spielzeug ist. Ein Kuriosum. Und das willst du zu deinem Beruf machen? Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber dieser Vorschlag ist überaus lächerlich.« In dem Bemühen, seine Wut zu unterdrücken, stemmte Paul die Fäuste auf die Knie seiner Knickerbocker, bis die Knöchel schneeweiß waren. »Na schön, Onkel, ich rede nicht mehr von der Maschine. Aber Mr. Rooneys Studio ist ein richtiges Geschäft. Ich denke, er macht alle möglichen Arten von Photos.« »Nach meiner Einschätzung ist das Ganze ein ziemlich armseliges Gewerbe. Und in diesen Zeiten auch sehr risikoreich. Leute, die arbeitslos sind, vergeuden kein Geld für Photos. Aber sie kaufen sich ein paar Gläser Bier – danach fühlen sie sich besser.« »Onkel, ich bitte dich, ich flehe dich an, laß mich wenigstens diesen Gentleman besuchen und ihn fragen, ob er mich einstellt.« »Nein.« »Ich protestiere!« »Du protestierst? Du bist überhaupt nicht in der Position, um zu protestieren, junger Mann. Du hast dieser Familie Schande gemacht. Am nächsten Montag fängst du bei Crown zu arbeiten an. Deine Arbeitszeit geht von sechs Uhr morgens bis halb fünf Uhr nachmittags, sechs Tage die
CHICAGO 1892 – 1893
281
Woche. Am Sonntag wird nicht gearbeitet. Ich zahle gute Anfangslöhne. Zehneinviertel Dollars in der Woche. Das ist ein ganzer Dollar mehr, als meine Konkurrenten anbieten. Bestimmte Männer in meiner Belegschaft übersehen diese Tatsache gerne, aber es stimmt. Außerdem bezahle ich keine guten Löhne, weil jemand mich dazu nötigt, sondern weil es den Fleiß und die Loyalität fördert. Da du bei uns wohnst, brauchst du nichts für Verpflegung oder Miete abzugeben. Du kannst alles sparen, was du verdienst. Ein großer Vorteil.« Nach dieser Feststellung lehnte Onkel Joe sich in seinem Sessel zurück. Paul war wütend. Er fühlte sich zurückgewiesen, beiseite geschoben wie ein unartiges Kind, das keine Ahnung hat. »Montag, Punkt sechs. Und jetzt entschuldige mich, ich muß mich noch mit ein paar Rechnungen und einigen Briefen beschäftigen, ehe es Abendbrot gibt.« Er wandte sich um und beugte sich über den Schreibtisch, ehe Paul die Schiebetüren erreicht hatte. 25 JOE CROWN Am ersten Tag, als er sich wieder in die Brauerei begab, sah Joe eine große Anzahl Männer auf den Straßen herumlungern. Männer mit ausgezehrten Gesichtern versammelten sich an den Straßenecken, die noch vor der Wirtschaftskrise stets völlig leer gewesen waren. Er wandte sich vom Kutschenfenster ab und überflog schnell die Titelseiten mehrerer Zeitungen. Die Begnadigung gehörte noch immer zu den beherrschenden Themen, und ein großer Teil der Nation war über die Freilassung von Fielden, Neebe und Schwab der gleichen Meinung wie er. Ein Pfarrer in New Jersey verkündete von seiner Kanzel: »Illinois gerät durch die drei As – Altgeld, Ausländer, Anarchisten – in Verruf.« Nur die liberalen Presseorgane lobten die Entscheidung des Gouverneurs. Altgeld war politisch am Ende, soviel war schon mal sicher. Es war die angemessene Strafe für jemanden, der rechtmäßig verurteilten Terroristen die Freiheit schenken wollte. Ein wichtigeres Thema als die Begnadigung war die Wirtschaftslage. Die Aktienkurse hatten sich nicht im mindesten erholt. Ständig schlossen bislang solide Firmen ihre Tore. Die Zeitungen waren voll von Andeutungen, daß große Eisenbahngesellschaften, die nationalen wirtschaftlichen Gradmesser, in Konkurs zu gehen drohten.
282
TEIL DREI
Infolge des Zusammenbruchs spaltete der Bimetallismus – die unbegrenzte Ausgabe von Silber- und Goldwährung – die Nation in zwei Lager. Seit zwanzig Jahren setzten die Silberproduzenten des Westens sich für einen größeren Absatz ihrer Produkte ein und forderten einen von der Regierung garantierten und überwachten Markt. Die Farmer des Westens wünschten mehr Dollars für weitere Kredite, mehr Dollars, als auf Grund des derzeitigen Rückgangs der weltweiten Goldförderung zur Verfügung standen. Der Goldvorrat der amerikanischen Regierung schmolz dahin. Investoren aus Übersee äußerten seit kurzem großes Unbehagen darüber, daß ihnen Kredite möglicherweise mit Silber zurückgezahlt würden. Sie wollten eine Goldgarantie als Sicherheit der von ihnen gewährten Gelder. An dem Tag, als der Aktienmarkt zusammenbrach, hatte die Regierung Indiens die Herstellung von Silbergeld schlagartig eingestellt und damit nicht nur eine deutliche Botschaft geschickt – sondern auch den Finanzzentren der Vereinigten Staaten einen Schock bereitet. Trotz des allgemeinen Krisengeredes blieb Joe ein standhafter Verfechter der goldgestützten Währung. Er betrachtete die Silberbarone aus dem Westen als eine Bande selbstsüchtiger Barbaren, die die Absicht hatten, die Wirtschaft endgültig zu vernichten. Sobald er sein Büro betreten hatte, meldete Stefan Zwick sich bei ihm. »Sir, ich überbringe nur sehr ungern schlechte Nachrichten. Die Verkäufe und Lieferungen sind in der vergangenen Woche gegenüber der Vorwoche um acht Prozent zurückgegangen.« »Die Zahlen, bitte.« »Ja, ich habe sie gerade zusammengestellt.« Zwick reichte Joe mehrere beschriebene Hauptbuchblätter. Er rekapitulierte die darauf festgehaltenen Angaben aus dem Gedächtnis. »Letzte Woche zehntausendsechshundertvierzig Faß gegenüber elftausendfünfhundertdreiundachtzig in der Woche davor. Ein Rückgang von neunhundertdreiundvierzig Faß, der sich auch in einem entsprechenden Rückgang bei Einzelverkäufen und Nachbestellungen ausdrückt.« »Gibt es dafür eine Erklärung?« »Ich fürchte, daran ist Oskar Hexhammer schuld. Er hat in der Deutschen Zeitung einen scharfen Leitartikel abgedruckt.« »Sie wissen, daß ich dieses Blättchen nicht lese. Was stand denn in dem Artikel?« »Eine ganze Menge deutscher Überlegenheitsquatsch. Aber Hexhammer nannte Sie beim Namen als einen gebürtigen Deutschen, der sich weigert, den neuen Turnverein oder auch nur deutsche Kultur zu unterstützen.« »Was für eine unverschämte Lüge.«
CHICAGO 1892 – 1893
283
»Nichtsdestotrotz glaube ich, daß uns diese Aussage geschadet hat.« »Gibt es irgendwelche typischen Anzeichen bei unseren Umsatzrückgängen, die diese Auffassung bestätigen?« »Aber ja. Die Verluste konzentrieren sich ausschließlich auf Chicago. Und zwar bei Familienbetrieben. Bei den Biergärten in deutschen Wohnvierteln. Die Umsätze in anderen Gegenden sind stabil.« Joe schüttelte den Kopf. »Was macht man mit einem derart schädlichen Narren wie Hexhammer? Außer zu hoffen, daß er bald wieder von der Bildfläche verschwindet.« »Ich fürchte, sein Einfluß bei den alten Bierkonsumenten wird erhalten bleiben.« »Nun, machen Sie sich keine Sorgen, das ist allein meine Sache. Lassen Sie die Zahlen hier. Ich rede mit Dolph Hix. Mal sehen, was wir tun können, um die Werbung in den Kneipen anzukurbeln und die Verluste aufzufangen. Wir werden diese Krise schon überstehen. Wie ich immer wieder sage, ist ein Glas Bier in schlechten Zeiten wie diesen die richtige Medizin gegen Sorgen und Trübsinn.« Aber es war ein schlechter Tagesanfang. Im Laufe des Vormittags stieg die Temperatur bis auf über dreißig Grad. Kurz vor elf platzte ein Rohr im Brauhaus und verursachte einen sechsstündigen Produktionsstopp und den Verlust des gesamten Inhalts der Kupferkessel. Während des Nachmittags versuchte Joe seine Arbeit in einem Durcheinander fortzusetzen, das von zwei unbeholfenen Männern verursacht wurde, als sie die Wandtäfelung seines Büros herunterrissen und Löcher in die Büromauer stemmten, um eine Telegraphenleitung und einen Telegraphen zu installieren. Er sollte eine schnellere Verbindung zu derzeitigen und zukünftigen Verkaufsagenturen herstellen. Die Hämmerei, der Staub, die Schimpfworte und die ständigen Klagen der beiden, die offenbar nicht damit zufrieden schienen, eine anständige Arbeit zu haben, ärgerten ihn und lenkten ihn ab. Als er wenig später in die Brauerei hinunterging und Benno begegnete, konnte er seine Wut nicht mehr im Zaum halten. »Nun, Benno, jetzt haben Sie ja, was Sie immer wollten. Ihre Märtyrer sind frei.« Bis zur Taille nackt, wuchtete Benno gerade ein Faß auf einen Handkarren. Sein Oberkörper glänzte von Schweiß. Er fixierte das Faß noch mit einem Fuß. »Sie waren niemals schuldig, Mr. Crown.« Ein Schweißtropfen fiel von Joes Stirn auf seine Nasenspitze. Sein
284
TEIL DREI
Oberhemd fühlte sich an wie ein Gummianzug, der ihm auf der Haut klebte. »Dann, so denke ich, können Sie ja zufrieden sein.« »Nun, Sir – mit allem Respekt, das sind wir noch nicht. Wir müssen noch das durchsetzen, was die Gewerkschaft von Crown und den anderen Brauereien fordert.« »Was ihr bei Crown zur Zeit bekommt, ist alles, was ihr haben könnt. Ich behandle meine Männer anständig. Besser als die meisten.« »Sir, das gebe ich zu. Aber wir haben immer noch bestimmte Forderungen –« »Aber nicht solange ich Sie bezahle. Gehen Sie wieder an die Arbeit.« Ein Lächeln – halb bedauernd, halb anerkennend – huschte über Bennos Gesicht. »Sie sind ein harter Brocken, Mr. Crown. Unbeugsam wie ein Fels. Das ist bewundernswert bei einem Mann, und ich habe davor allen Respekt. Aber wir werden auch Sie in die Knie zwingen.« »Aus dem Weg!« Joe stieß den Mann gegen die Ziegelmauer. Er stürmte davon und ließ Benno in einem Zustand der Verblüffung zurück, die sich schnell in Wut verwandelte. Ilsa kniete vor dem Bett und sprach ihr Abendgebet. Joe lag stocksteif in seinem Bett und strich sich mit einer Hand nervös über den Bauch. Alle Fenster des Schlafzimmers – keine amerikanischen Schiebefenster, sondern gute europäische, die man weit aufklappen konnte – waren geöffnet, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Aber kein Wind regte sich. Die gestärkten Spitzenvorhänge hingen schlaff herab. Die Sterne am Himmel funkelten durch die dunstige Luft. Ilsa schlüpfte ins Bett und drehte sich auf die Seite, um ihren Mann zu betrachten. Sie trug trotz der Hitze auch jetzt ihr langes Flanellnachthemd. Der Saum berührte seine Hand. »Du bist heute sehr still, Joe.« »Mir geht vieles durch den Kopf.« »Was meinst du, wie Pauli in der Brauerei zurechtkommt?« »Er heißt Paul. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Er hat sich selbst entschieden, sich Paul zu nennen.« »Für mich wird er immer Pauli bleiben. Pauli ist ein deutscher Name, er ist ein deutscher Junge. Ich kann nicht anders von ihm denken. Der kleine Pauli aus Berlin, der auf meinem Perserteppich ohnmächtig zusammengesunken ist.« Joe schenkte es sich, dieses Thema weiterzuverfolgen. »Er hat es ganz gut aufgenommen, als ich ihm erklärte, er sei ein mutiger Kerl. Er ist
CHICAGO 1892 – 1893
285
intelligent und schnell, seine Schwierigkeiten tun dem keinen Abbruch. Er sollte eigentlich durchaus erfolgreich sein, wenn er sich von den Unruhestiftern fernhält.« Er kaute für einen Moment auf seiner Unterlippe. »In dieser Hinsicht muß ich ein Geständnis machen. Heute nachmittag habe ich bei Benno Strauss die Geduld verloren. Es ging um die Begnadigung der Haymarket-Mörder. Ich habe Benno tätlich angegriffen und ihn weggestoßen.« Auf der Michigan Avenue fuhr eine Pferdekutsche vorbei. Es war ein einsames Geräusch in der drückenden Nacht. »Ich wußte doch, daß es einen Grund für dein Schweigen geben muß. Es tut mir leid, daß das passiert ist.« »Mir auch. Ich habe es schon in dem Moment bedauert, als ich mich hinreißen ließ. Unglücklicherweise ein wenig zu spät.« »Wird es deswegen Schwierigkeiten geben?« »Schwer zu sagen. Im Augenblick herrschen schlimme Zeiten. Stefan erzählte mir, daß unten im Levee die Stadträte ihre arbeitslosen Sympathisanten mit Gratismahlzeiten in den Saloons durchfüttern. Und zwar Hunderte. Ein Vertrauensmann erzählte mir heute nachmittag am Telephon, daß George Pullman Sparmaßnahmen geplant hat. Lohnkürzungen, vielleicht sogar Entlassungen. Pullman ist ein wichtiger Arbeitgeber der Stadt. Diese Maßnahmen werden erhebliche Auswirkungen haben. Hungrige Menschen sind verzweifelte Menschen. Ihre Unzufriedenheit kann ansteckend sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Manchmal frage ich mich, wie viele Belastungen das System noch ertragen kann.« »Oder diese Familie«, sagte Ilsa. Er suchte ihre Hand, fand sie und drückte sie. Als Ilsa längst eingeschlafen war, lag er noch lange wach und starrte in die Dunkelheit.
286
TEIL DREI
26 JOE JUNIOR Als Joe junior am Freitagabend die Brauerei verließ, begann er zu niesen. Er hoffte, daß dies nicht die Vorboten einer Krankheit waren. Am Sonntag wollte er wieder nach Pullman hinausfahren, und er fieberte diesem Besuch entgegen. Rosie war immer heiß auf Sex, aber seit kurzem hatten sie verstärkt mit widrigen Umständen zu kämpfen. Erst in der vergangenen Woche hatten sie nur Händchen halten, einander ein wenig streicheln und Zungenküsse austauschen können. Sie hatte ihre Tage gehabt. Am Sonntag davor waren ihre Eltern den ganzen Nachmittag zu Hause geblieben, so daß sie keine Minute allein waren. So etwas machte ihn mürrisch und hinterließ ein quälendes Begehren. Wilde Träume schufen da nur wenig Erleichterung. Sein Vater hatte stets Einwände gegen seine Fahrten nach Pullman. Joe Crown mochte Rosie nicht, obgleich er sie noch nie persönlich kennengelernt hatte. Er verabscheute sie, weil sie eine bohunk war, wie viele Deutsche die Menschen aus Böhmen verächtlich nannten. Er hatte Rosie niemals laut kritisiert – das hätte ihn als Snob abgestempelt –, aber er drückte seine Meinung mit Blicken und gezielten Fragen aus, wann immer Joe von ihr sprach. Natürlich war sein Vater gegen alles, was er tat. Das galt auch umgekehrt. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sie einander früher sehr nahe gestanden hatten. Er erinnerte sich daran, daß Pa mit Paul und Carl zum Spiel der White Stockings gegangen war. Eigentlich wäre er gern mitgegangen. Sicher, er arbeitete in der Brauerei, aber er hätte sich freinehmen können, wenn Pa ihn gefragt hätte. An jenem Tag war er wieder einmal wütend auf seinen Vater und eifersüchtig auf Paul gewesen. Joes Zorn war deshalb besonders heftig, weil Pa ihn oft zu solchen Spielen mitgenommen hatte, als er noch klein war. Damals spielten die White Stockings noch im Lake-Front-Park an der Randolph-Straße am Michigan-See. Man konnte von der Tribüne aus das blaue Wasser und die Schaumkronen sehen. Joe junior konnte sich noch gut daran erinnern, wie er und sein Vater der Chicagoer Mannschaft zugejubelt hatten. Alles änderte sich, nachdem er von der letzten Schule geflogen war, der Bayerischen Akademie, einer guten, langweiligen deutschen Schule auf der Nordseite. Als Pa den Brief erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß Joe junior wegen schlechten Benehmens die Akademie verlassen müsse, hatten Vater und Sohn ihren heftigsten Streit. Pa machte Joe lautstark Vorwürfe, während dieser sich nur entschuldigen konnte und in ohnmächtiger Wut
CHICAGO 1892 – 1893
287
zuhören mußte. An diesem Tag hatte sein Vater ihn – zum erstenmal – ins Gesicht geschlagen. Seitdem war alles schiefgegangen, von seiner Begegnung mit Rosie einmal abgesehen; allerdings war er sich nicht einmal sicher, ob die Beziehung von Dauer sein würde. In der Brauerei machte er sich insgeheim Sorgen wegen der zunehmend feindseligen Stimmung. Benno heizte die allgemeine Unruhe mit Erklärungen und Drohungen ständig weiter an, die um so unverschämter wurden, als die Verhältnisse im Land sich verschlechterten. Joe schlug sich meistens auf Bennos Seite, aber er fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem Benno seine Einstellung auf die Probe stellen würde, indem er verlangte, Joe solle sich an irgendeiner gewaltsamen Aktion beteiligen. An einer »Demonstration für die Sache«. All seine Ängste und sein Unmut schienen auf die ein oder andere Weise mit seinem Vater in Verbindung zu stehen. Aber in seltenen stillen Momenten konnte er sich auch eingestehen, daß der Zorn nur etwas anderes überdeckte, was wie ein Stein im tiefen Brunnen seines Herzens verborgen war, ein Stein der Traurigkeit wegen Pa, ein Stein des Verlustes, den er niemals ans Licht holen würde, damit niemand ihn sehen konnte. Nicht einmal Mama. All das ging ihm an diesem Freitagnachmittag durch den Kopf. Er bog im dunstig gelben Licht des Sommertags um die Ecke Michigan Avenue und Neunzehnte Straße. Sein Hemd war von Schweiß durchtränkt und stank. Den ganzen Tag hatte er Fässer geschleppt und gerollt. Ein alter Pullover lag über seiner Schulter. Bei Tagesanbruch, als er sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, war es noch kühl und feucht gewesen. Paul würde am Montag das Haus um die gleiche Uhrzeit verlassen. Insgeheim freute Joe junior sich darüber, daß Paul in der Schule gescheitert war und nun in der Brauerei anfing. Das würde sie einander näherbringen. Auf dem Hof spielte Carl mit zwei Jungen, deren Haut schokoladenbraun war, Football. Sie gehörten zu dem Kleiderhändler, der einmal in der Woche mit seinem Wagen durch das Viertel fuhr und ausrangierte Kleidungsstücke einsammelte, manchmal sogar ein paar Cents dafür zahlte, wenn sie besonders elegant und gut erhalten waren. Joe sah den Pferdewagen des Mannes in der Gasse hinter dem Stall stehen. Er winkte Carl und den farbigen Jungen zu und ging durch den Garten, wo er seine Schwester antraf. In der Nähe eines steinernen Engels tanzte und wiegte Fritzi sich zu einer Musik, die nur sie hören konnte. Ihre Augen waren geschlossen. Sie trug noch immer das schwarze Stoffarmband, das sie übergestreift hatte, als eines ihrer Idole, Edwin Booth, gestorben war. Er bemerkte an Fritzis Nase einen langen Kratzer, der am Vortag noch nicht
288
TEIL DREI
dagewesen war. Sie hörte das Scharren seiner Schuhe auf den Pflastersteinen des Weges, unterbrach ihren Tanz und rannte auf ihn zu. Er bückte sich, damit sie ihm einen Kuß auf die Wange geben konnte. Fritzi verzog das Gesicht. »Pfui. Du mußt baden.« »Das tue ich auch. Wenn ich mich ein wenig ausgeruht habe.« Er ließ sich auf das Ende einer Steinbank sinken und nieste. »Bist du etwa krank, Joey? Es gibt nichts Schlimmeres als eine Sommergrippe.« »Mit geht’s gut.« Er putzte sich die Nase mit seinem Taschentuch. »Woher hast du den Kratzer?« »Aus der Schule. Molly Helfrich hat gesagt, du seist ein Roter. Ich hab’ sie dafür an den Haaren gezogen, und sie hat mich geschlagen. Aber ich hab’ gewonnen.« Er lachte. »Bist du ein Roter, Joey?« »Ich denke schon. Ich würde sagen, ich bin ein Sozialist, aber kein Anarchist.« »Weshalb bist du das? Weil Papa das nicht recht ist?« »Klar, ich kann doch nicht dulden, daß Pa mir sagt, was ich denken soll, oder?« Obgleich er lächelte, meinte er es ernst. Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, sagte Fritzi: »Ist Paul ein Roter?« »Noch nicht.« »Magst du ihn?« »Ja, ich hab’ ihn gern.« »Seid ihr Busenfreunde?« »Freunde«, verbesserte er sie. »Mehr nicht.« »Mama hat Paul sehr viel geholfen. Sie hat sich ständig um ihn gekümmert.« »So etwas war zu erwarten. Er muß sich noch immer hier einleben.« »Ich glaube, das macht mir nichts aus. Nicht sehr viel jedenfalls. Wenn es jemand anderer wäre, würde ich mich ganz schön ärgern.« Er lachte wieder und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Ach, die Liebe!« »Joey Crown, wenn du das noch mal sagst, wenn du noch mal über mich lachst, dann bringe ich dich um! Ganz bestimmt!« »Aber, aber, ich lache doch gar nicht. Ich bin dein lieber Bruder.« Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie gingen gemeinsam zum Haus. Kurz nachdem Joe gebadet und sich abgetrocknet hatte, hörte er irgendwo im Haus das Telephon klingeln. Er ging nach unten und traf seine
CHICAGO 1892 – 1893
289
Mutter, die soeben aus dem Arbeitszimmer seines Vaters gekommen war. Mamas Gesicht war sorgenvoll und lächelte nicht. »Heute wird etwas später zu Abend gegessen. Dein Vater hat gerade angerufen. Er ist im Bezirksgefängnis. Die Polizei hat heute nachmittag Benno Strauss verhaftet.« »Benno.« Er überlegte. »Ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Ich hatte angenommen, daß er irgendwelche Lieferfahrten macht.« »Ich weiß nicht, weshalb er im Gefängnis ist. Das hat dein Vater nicht erwähnt. Er ist sehr wütend.« Die Familie fand sich erst gegen Viertel nach neun am Abendbrottisch ein. Papa war zehn Minuten vorher nach Hause gekommen, hatte mit den Türen geschlagen und war ungewöhnlich laut nach oben gegangen. »Ich werde euch erklären, weshalb ich so spät hier bin«, sagte er zornig, während er sich Kartoffelbrei auf den Teller lud. »Benno Strauss hat gegen Mittag seinen Arbeitsplatz ohne Erlaubnis verlassen. Er ging runter in die Stadt zur Seepromenade. Dort haben er und vierzig andere Männer einen Protestmarsch mit Spruchbändern abgehalten. Offenbar forderten sie neue Arbeitsstellen. Die meisten Teilnehmer waren arbeitslos. Die Polizei hat versucht, sie zu zerstreuen –« »Wahrscheinlich damit die Touristen nicht sehen, was wirklich in Chicago los ist«, sagte Joe junior murmelnd zu Paul. »Die Demonstranten haben Gegenwehr geleistet und sitzen jetzt alle hinter Gittern. Bennos Kaution hat mich fünfunddreißig Dollars gekostet. Das Cook-Gefängnis ist ein schlimmer Ort. Ich hoffe, daß ich nie mehr dorthin muß.« »Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Mama. »Benno ist doch gar nicht arbeitslos. Er hat einen guten Job.« »Den er offenbar überhaupt nicht schätzt.« Er spießte mit der Gabel ein Stück von Mamas Schmorbraten auf, der wegen seiner Verspätung nun trocken und zäh war. »Ich glaube, er ist aus reiner Sympathie mitmarschiert. Die meisten der Verhafteten gehören irgendeiner verdammten Gewerkschaft an, entschuldigt meine Ausdrucksweise.« Mama schüttelte den Kopf. »Wenn ich bedenke, wie du zu Benno stehst, wundere ich mich, daß du ihm überhaupt geholfen hast.« »Das ist eben mein Prinzip. Ich mußte einem Angestellten beistehen. Von mir aus hätte Benno Strauss dort bis zum Jüngsten Tag schmoren können. Aber er ist ein Arbeiter Joe Crowns – deshalb mußte ihm geholfen werden.« Er nahm einen weiteren Happen Fleisch. »Paß gut auf, Paul.
290
TEIL DREI
Wenn du deine Arbeitsstelle antrittst, dann halte dich tunlichst von Strauss fern.« Joe junior sah seinen Vater gerne in diesem Zustand der Unruhe. Das geschah nur selten. Er zwinkerte seinem Vetter zu. »Ach, es gibt sicherlich schlechtere Lehrer als Benno. Ich glaube, so einen hattest du in der Schule.« Sein Vater führte die Gabel gerade zum Mund. Auf halbem Weg hielt er inne und ließ sie auf den Teller fallen. Ein lautes Klirren ertönte. »Behalte deine Kommentare gefälligst für dich, junger Mann. Du weißt nur sehr wenig, denn du hast für die Schule ja nicht viel übrig. Alles, was du weißt, wurde dir von einer Bande sozialistischer Unruhestifter beigebracht.« »Nun, ich mache Benno keinen Vorwurf, daß er demonstriert hat. Ich unterstütze jeden, der keine Arbeit hat, weil Männer wie –« »Welches Recht hast du dazu? Wer bist du, das zu entscheiden? Du führst ein angenehmes Leben, du weißt nicht, was Hunger, Not, Verzweiflung bedeuten –« »Ach, jetzt geht es schon wieder los«, sagte Joe junior geringschätzig und drehte sich leicht in Pauls Richtung. »Gleich kommt die Geschichte von dem tapferen und fleißigen Auswandererjungen.« Mama sprang auf. »Das gehört sich nicht, junger Mann. Das ist unerträglich. Du solltest dich schämen. Geh sofort auf dein Zimmer!« Mit offenem Mund starrte er sie an. Sich gegen Papa aufzulehnen war die eine Sache, aber Mama zu widersprechen war etwas ganz anderes. Daß er sie so wütend und am ganzen Körper zittern sah, machte ihn zutiefst betroffen. »Joseph.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich sagte ›Geh!‹ Gehorche lieber!« Er warf seine Serviette auf den Tisch und verließ das Zimmer, wobei er niemanden ansah. Eine halbe Stunde später saß er noch immer auf seiner Bettkante. Er war in einem furchtbaren Gemütszustand. Ein leises Klopfen ließ ihn zusammenzucken. Mama trat ein, ehe er reagieren konnte. »Joey, es tut mir leid, daß ich dir gegenüber die Stimme erhoben habe. Unseligerweise hast du mich provoziert.« Er wandte den Kopf ab. »Bitte, sieh mir in die Augen! Warum macht es dir soviel Spaß, dich mit deinem Vater zu streiten? Er ist kein böser Kapitalist, sondern er ist ein Mann mit starkem Charakter, der hart gearbeitet hat, um im Leben Erfolg zu haben.« Irgendwie fiel ihm darauf keine zusammenhängende Erwiderung ein.
CHICAGO 1892 – 1893
291
Mamas Röcke raschelten leise. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Stirn. Ihre Finger waren weich und warm. »Liebling, rede doch. Was ist los?« Er sprang vom Bett auf, entzog sich ihr. Er rammte die Hände in die Hosentaschen und schaute aus dem Fenster auf die Lichter der Villen auf der anderen Seite der Michigan Avenue. »Er will jeden kontrollieren. Er will auch mich unter Kontrolle haben. Aber er hat Deutschland verlassen, weil er selbst nicht kontrolliert werden wollte, nicht durch Armut, nicht durch ein verdorbenes System, das immer schlimmer wurde –« Er wirbelte herum, fixierte seine Mutter. »All das hat er einmal gesagt, Mama, ich habe es selbst gehört. Er kam her, um seinen eigenen Weg zu gehen. Er war frei, unabhängig, niemand stieß ihn herum – « »Unsinn. Er hatte auf seinem Weg viele Chefs. Chefs in der Eisfabrik, Chefs bei Imbrey’s. Und in der Armee hatte er sogar Scharen von Vorgesetzten.« »Aber er wußte immer, wohin er wollte, und er machte seinen Weg, er hat sich von niemandem in eine andere Richtung drängen lassen. Ich will lediglich die gleiche Chance. Verstehst du nicht?« Verdammt… ihm kamen die Tränen. Tränen eines schwachen kleinen Jungen, die er nicht zurückhalten konnte. Mama kam wieder zu ihm. »Ich verstehe, aber ich habe eine sehr wichtige Frage. Sie ist wichtiger als deine Erwartungen und Wünsche, Joey. Liebst du deinen Vater?« »Welchen Unterschied macht das?« »Bitte schrei nicht.« »Na schön, aber ich werde diesen verdammten Laden nicht übernehmen, was er ja am liebsten sähe. Ich bin der Älteste – er erwartet es von mir.« »O nein, Joey. Vielleicht hat er das mal erwartet. Oder er hat es zumindest gehofft. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht mehr –« »Es ist auch egal, ich würde es sowieso niemals tun.« Die Tränen flossen weiter. Was für eine Schande! Er schlug sich mit der Faust gegen das Bein. »Er kann mir nicht vorschreiben, was ich tun soll!« Mama nahm das mit ihrer üblichen Gelassenheit zur Kenntnis und sagte leise: »Aber das ist seine Natur, Joey. Jeden zu lenken und zu leiten, jeden Bereich seines Lebens zu organisieren, auch unseres Lebens. Wenn das ein Fehler ist, dann müssen wir uns damit abfinden.« »Ich nicht. Niemals.« Sie machte einen tiefen Atemzug, als resignierte sie. Sie atmete wieder aus, und ihr Busen senkte sich.
292
TEIL DREI
»Na schön, du hast gesagt, was du denkst. Und jetzt bin ich an der Reihe. Es macht keinen Unterschied, was du empfindest, er ist dein Vater. Solange du unter seinem Dach lebst, hat er Anspruch auf deinen Respekt. Du wirst dich bei ihm entschuldigen.« Sie ging zur Tür. Die Glühbirnen zauberten einen seltsamen Reflex in ihre Augen und ließen sie kalt glänzen wie Diamanten. Sie zog die Tür auf. »Du wirst es sofort tun. Er ist unten in seinem Arbeitszimmer. Und wartet auf dich.« Im unteren Stockwerk waren die meisten Lampen gelöscht. Im Haus herrschte eine Stimmung wie in einem Mausoleum, und die großen Schatten der Kronleuchter und der Möbel verstärkten den Eindruck noch. Mit trockener, zugeschnürter Kehle ging er zur Schiebetür des Arbeitszimmers. Er klopfte leise an. »Papa?« »Komm herein.« Vaters Stimme klang ausdruckslos, abweisend. Er schob die Schiebetüren auf. Papa saß am Schreibtisch und drehte sich zu ihm um. Er hielt einen Federhalter in der Hand. Die üblichen Papiere und Schriftstücke waren ordentlich vor ihm aufgestapelt. Er mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen, um seinem Vater in die Augen zu blicken. »Ich entschuldige mich für meine Worte und mein Verhalten während des Abendessens.« »Angenommen, danke«, erwiderte sein Vater mit einem knappen Kopfnicken. »Auch ich bedaure, was ich gesagt habe. Es war ein schwerer Tag. Bennos Verhaftung hat mich sehr aufgeregt.« Joe junior verspürte den Wunsch, den Teppich zu überqueren, seinem Vater um den Hals zu fallen, ihn an sich zu drücken und ihm zu sagen, das verstehe er. Für einen winzigen Moment zögerte er, und dann – ob es zu viele Erinnerungen, zu viele Zurückweisungen in der Vergangenheit, zu viele Befehle waren – zerstörte irgend etwas diesen Impuls. Er kam sich seltsam vor, wie er so dastand. Papa spürte es. Den Federhalter in der Hand, machte er eine kleine Geste, versuchte zu lächeln. Es war ein gequältes, müdes Lächeln. »Du darfst jetzt zu Bett gehen, mein Sohn. Ich habe noch sehr viel zu arbeiten.« »Ja, gute Nacht, Papa.« Schnell machte er kehrt und schloß die Türen hinter sich. Er lehnte sich in der Dunkelheit dagegen, erschöpft; er erschauerte. Irgend etwas hatte sich heute verändert. Heute hatte er seiner Mutter seine tiefe Wut gestanden und hatte festgestellt, daß sie ihn nicht
CHICAGO 1892 – 1893
293
besänftigen konnte. Das machte ihm angst. Niemals mehr würde es so sein wie damals, als er und sein Vater zu den Baseballspielen gegangen waren, denn seine Wut saß tief, und sie ließ sich nicht vertreiben. Vielleicht hatten sie alle das an diesem Abend zum erstenmal klar erkannt. Während er die dunkle Treppe hinaufstieg, kam die Wut zurück. Er hatte sich entschuldigt, weil Mama es gewünscht hatte. Das war der einzige Grund. Paul würde am Montag in der Brauerei anfangen. Das war eine Gelegenheit. Er würde Paul bearbeiten. Ihn auf seine Seite ziehen. Er würde es Papa heimzahlen, daß er ihm solche Qualen bereitete. Auf halbem Weg nach oben mußte er wieder niesen. Er stützte sich auf das Geländer. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Er fror schrecklich.
27 ILSA Ilsa verbrachte eine lange durchwachte Nacht neben ihrem Mann. Joe war schnell eingeschlafen, wahrscheinlich um den Erinnerungen an den Abend zu entfliehen. Dieser düstere Tag, an dem ihr Mann und ihr Sohn ihren schrecklichen Gefühlen freien Lauf gelassen hatten, schien das Ende eines Sommers zu symbolisieren, der als der einmalige, wunderbare Sommer der großen Ausstellung so vielversprechend begonnen hatte. Die erste Enttäuschung hatte Ilsa lange vor dem Eröffnungstag erlebt. Sie hatte sich sehr gewünscht, zum Komitee der weiblichen Veranstalter der Ausstellung zugelassen zu werden, weil dieses Komitee einen Schritt nach vorne darstellte. Hier leisteten Frauen wichtige Arbeit nur für Frauen. Ilsa besaß genug Geld und hatte einen ausreichend hohen gesellschaftlichen Stand, um für einen Platz im Komitee qualifiziert zu sein. Aber irgend jemand hatte bei der Zulassungskommission gegen sie opponiert. Später erzählte eine Freundin ihr, daß Nell Vanderhoff die Betreffende gewesen sei. Ihr Mann, Pork Vanderhoff, und Joe Crown waren einmal recht gute Freunde gewesen. Dann, in einem Sommer beim jährlichen Picknick der Brauerei, hatte sich das geändert. Vanderhoff besuchte gelegentlich das Picknick, weil seine Firma das Fleisch dafür lieferte. Ilsa hatte in jenem Jahr nicht am Picknick teilgenommen, und Joe erzählte später nur sehr wenig darüber. Aber er schwor, daß Vanderhoff den Streit vom Zaun gebrochen habe, obgleich es am Ende völlig gleichgültig war, wer angefangen hatte. Die Beziehung wurde eisig. Im darauffolgenden Jahr kaufte Crown die Picknickwürste bei einer anderen Fleischfirma.
294
TEIL DREI
Ilsa hatte im Mai an zahlreichen Veranstaltungen teilgenommen, die vom Frauenkongreß angeboten wurden, wie sie es Joe erklärt hatte. Der Kongreß trat im Institut für Kunst in der Michigan Avenue zusammen, und zwar in renovierten Räumlichkeiten, die in Columbus-Halle und Washington-Halle umgetauft worden waren. Ilsa hatte dort Lucy Stone gehört, die klein und gebrechlich, aber trotzdem immer noch eine feurige Rednerin war. Sie hatte erneut verkündet, daß der Zwang, Frauen in den Haushalt zu verbannen und nur dorthin, eine »stählerne Fessel der Gesellschaft« sei. Sie hörte andere Frauen, die genau das Gegenteil behaupteten – daß die Aufzucht von Kindern und die Versorgung des Haushalts den höchsten Ausdruck für das Wesen der Frau und ihre Hauptaufgabe darstellten. Sie applaudierte ihrer Freundin Jane Addams, die von dem guten Einfluß redete, der durch Frauen im Haushalt ausgeübt werde, die ihre Arbeit nicht einfach nur mechanisch absolvierten, sondern sie mit Hingabe und einer gründlichen Ausbildung erledigten. Einer Ausbildung, wie Miss Addams’ Stiftungshaus sie in seinen Programmen für Bedürftige anbot. Und Ilsa hatte Fritzi zu einer Darbietung berühmter Schauspielerinnen mitgenommen. Diesmal wurde eine historische Szene zum Thema Frauen auf der Bühne geboten, die von Madam Modjeska vorgetragen wurde. Aber all das war nicht so, wie es hätte sein können, wenn man Ilsa gestattet hätte, an der Planung des Frauenpavillons mitzuwirken; in der Jury des Wettbewerbs für weibliche Architekten zu sitzen, die sich für einen neoklassizistischen Entwurf von Sophia Hayden entschied, die ihren Beruf am Institut für Technologie von Massachusetts gelernt hatte; mitzubestimmen über Größe, Beschaffenheit und Plazierung der Ausstellungsstücke in dem Pavillon. Am Eröffnungstag hätte Ilsa, anstatt mit ihrer Familie durch das Gelände zu trotten, auf dem Podium gesessen, während Bertha Palmer und ihr Komitee den Frauenpavillon seiner Bestimmung übergaben. Sie hätte dort im Kreis mit Mrs. Altgeld und Mrs. Adlai Stevenson und anderen distinguierten Frauen aus der ganzen Welt gesessen. Sie wußte, daß Joe stolz daraufgewesen wäre, trotz seiner reichlich primitiven Ansichten über die Rolle der Frauen. Am Eröffnungstag ließ sie ihm gegenüber kein Wort dazu verlauten. Sie haßte Selbstmitleid und Klagen. Dennoch tat es weh. Und dann war da Paulis Ausschluß aus der Schule. Pauli war ein kluger Junge, auf seine Art sogar außergewöhnlich klug, aber die normale Schulausbildung war für ihn überhaupt nicht das richtige. Außerdem hatte er monatelang Ablehnung und Erniedrigung durch eine schlechte Lehrerin in der Schule ertragen müssen. Durch eine Frau, die
CHICAGO 1892 – 1893
295
Deutsche verabscheute. Und sie hatte ihn mit dazu gedrängt. Als er die Schule verlassen mußte, hatte sie Joes Entscheidung für die Brauerei widerstrebend zugestimmt. Es war die einzige richtige Entscheidung, wenn auch keine gute. Seit sie Pauli im Arbeitszimmer verkündet worden war, hatte er sich verhalten wie jemand, der am Boden zerstört war. Am schlimmsten war natürlich der Streit an diesem Abend gewesen. Joe juniors Entschuldigung löste das Problem nicht, kittete überhaupt nichts. Sie hatte darauf bestanden, weil es sich so gehörte, aber ohne sie angehört zu haben, wußte sie, daß es nur eine hohle Geste war. Joes Rebellion gegen seinen Vater war durchaus verständlich. Er war voller Energie, ungeduldig, von wacher Intelligenz. Er verfügte über alle Eigenschaften, die junge Männer selbstbewußt machten. Ilsa war sicher, daß ihr Mann und ihr Sohn sich mochten, obgleich sie sich in Streitsituationen nicht selten wie Todfeinde gegenüberstanden. Was ihr jetzt große Sorgen bereitete, war das untrügliche Gefühl, daß die Kluft zwischen ihnen sich an diesem Tag verbreitert hatte. Und zwar so sehr, daß Vater und Sohn wahrscheinlich nie mehr fähig wären, sie zu überbrücken, zueinander zu kommen, einander wieder in Liebe gegenüberzutreten. In dieser Nacht drehte sie sich auf die Seite zu Joe um, wie sie es immer taten, um sich gegenseitig zu trösten. Ihre Hand berührte das Haar über seinem linken Ohr, streichelte es sanft. »Joe, Joe«, flüsterte sie. »Bitte – bitte! Laß nichts Schlimmes geschehen!« Für einen winzigen Moment wurde ihr gar nicht bewußt, daß sie in ihre Muttersprache verfallen war. Die Bitte galt nicht ihm allein. Es war ein Wunsch, ein Flehen, das sich aus dem Schlafzimmer hinausschwang, aufstieg zu etwas Unsichtbarem, Rätselhaftem, an das sie noch immer glaubte. Es war ein Gebet, ein Symbol für den brüchigen Zustand der Familie. Ein Zeichen für ihre tiefe Verzweiflung. Bitte, bitte! Laß nichts Schlimmes geschehen! 28 PAUL Paul war erschüttert über die offene Feindschaft zwischen seinem Onkel und seinem Vetter. Er hatte von ihr gewußt, aber niemals geahnt, daß sie so erschreckend heftig war. Am Samstagmorgen, als er in die Küche ging, um sich eine zweite Tasse Kaffee zu holen, knetete Tante Ilsa wieder Brotteig mit heftigen, fast
296
TEIL DREI
wütenden Bewegungen. Ihr Gesichtsausdruck beunruhigte Paul. Sie war ein Mensch, der nur selten schlecht gelaunt war. Gegen elf Uhr erschien Mr. Mars, um seinen letzten Lohn abzuholen. Er und Paul spazierten durch den Garten, nahmen den Weg, der zum Seitenhof führte. Carl spielte dort mit einem neuen Spielzeug. Es war ein Stock mit einer Schnur und einem vierflügeligen Propeller darauf. Paul und der Hauslehrer sahen zu, wie Carl die Schnur auf den Stock aufwickelte, dann daran zog. Der Propeller und der Stock erhoben sich in die Luft, schwebten dort einen Moment, als gäbe es keine Schwerkraft für sie. Dann fiel das Spielzeug herunter. »Der Penaud-Helikopter«, sagte Mr. Mars »Fünfundzwanzig Cents. Es gibt sie zu Millionen in den Spielzeugkisten amerikanischer Kinder. Sie wurden in Frankreich erfunden. Hattest du nicht auch so einen?« »Ich hatte kein Spielzeug aus dem Laden. Meins war handgeschnitzt oder selbstgebastelt.« Carl zog den Propeller auf und ließ ihn erneut starten. Er klatschte in die Hände, als er diesmal etwas höher stieg. Erst eine Stunde vorher hatte Tante Ilsa ihn dafür bestraft, daß er an ihrer Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald herumgefummelt hatte. Carl hatte sie von der Wand genommen und sie auseinandermontiert, um zu sehen, wie sie funktionierte. Er hatte sie wieder zusammengesetzt, aber nun tickte sie nicht mehr und rief auch nicht »Kuckuck«. Dafür hatte Tante Ilsa ihm einige Arbeiten aufgetragen, die er ohne Bezahlung ausführen mußte. Das schien seine gute Laune in keiner Weise zu mindern. Paul wünschte sich, er könnte sich genauso schnell von seinen Schwierigkeiten erholen und sie vergessen. Mr. Mars ging weiter bis zu dem betenden Engel und ließ sich daneben auf der Steinbank nieder. Er fächelte sich mit seinem breitkrempigen Filzhut Kühlung zu. »Das ist ein trauriger Tag für mich, Paul. Die Unterrichtsstunden mit dir werden mir fehlen. Du bist fleißig und klug. Wenn du dich für ein Fach interessierst«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu. »Ich prophezeie dir, daß du deinen Weg machen wirst, wenn du deine richtige Bestimmung findest.« Verbittert dachte Paul: Ich hab’ sie schon gefunden. Onkel Joe hat gemeint, sie brächte mir nichts ein. »Was werden Sie jetzt tun, Mr. Mars?« »Tja, ich – so weitermachen wie bisher. Verzogene Töchter eingebildeter Geldsäcke unterrichten. Ihnen Französisch beibringen. Oder Literatur und Dichtung. Sie unterrichten – und gleichzeitig wissen, daß sie sehr bald alles wieder vergessen werden.« »Ich werde nichts vergessen. Ich danke Ihnen. Ich bin nämlich im
CHICAGO 1892 – 1893
297
Englischen schon viel besser.« »Na ja, übertreib mal nicht. Dein Englisch macht wirklich Fortschritte, aber sehr gut ist es noch lange nicht. Ich werde dich auch nicht vergessen.« Sie drückten sich die Hand. Paul stand an der Straßenecke und sah Mr. Mars nach, der Saum seines langen grün-blauen Überwurfs flatterte im Sommerwind. Vor dem Schulgebäude verabschiedete Paul sich von Leo. Er hatte dieses Treffen arrangiert, indem er am Freitag, seinem letzten Schultag, eine Notiz hinterlassen hatte. Die Assistentin des Direktors, eine freundliche junge Frau, war sehr nett und verständnisvoll gewesen. Sie hatte mit keiner Silbe auf den Schulverweis angespielt. Der Schulhof war leer, blankgefegt von einem Sommerwind, der eine Blechdose lärmend über den Schotter trieb und mit Pauls ungekämmten Haaren spielte. Sein gestreiftes Hemd hing halb aus der Hose. Er rannte auf Leo zu, als dieser mit Flash um die Ecke kam, und erzählte ihm, daß er in Zukunft in der Brauerei arbeiten werde. »Einstweilen müssen wir jetzt Lebewohl sagen, Leo. Aber ich sehe dich bestimmt wieder. Wenn du mir deine Adresse gibst, dann besuche ich dich mal.« Leo errötete. »Das geht nicht, wir ziehen nämlich um. Papa hat die Kündigung bekommen. Ich glaube, im Augenblick kauft niemand Korsetts. Pa ist deshalb ziemlich niedergeschlagen …« Mit trauriger Miene kraulte er Flash hinter den Ohren. »Ich schicke dir meine Adresse, sobald wir eine neue Wohnung gefunden haben.« »Gut, ich verlaß mich darauf.« Sie umarmten einander. Leo schickte die Adresse nie. Später am gleichen Tag stand Paul vor dem Schaufenster des Ladens in der North-Clark-Straße. Er drückte erneut seine Nase an der Scheibe platt. Dahinter war es dunkel und leer. Er konnte es nicht fassen. Auf das Glas hatte jemand mit dicker roter Temperafarbe die Worte ZU VERMIETEN gepinselt. Auf einer Trittleiter ging ein Mann, der auf einem Zahnstocher herumkaute, seiner Arbeit nach. Er hängte Ketten ab, die ein verblichenes Schild hielten. Darauf stand zu lesen ROONEYS TEMPEL DER PHOTOGRAPHIE. »Aber wo ist er?« fragte Paul und hielt als Erklärung die Visitenkarte hoch.
298
TEIL DREI
Der Mann nahm den Zahnstocher aus dem Mund, beugte sich zur anderen Seite und spuckte einen dicken Strahl Tabaksaft auf den Bürgersteig. »Wen interessiert das schon? Dieser Rooney war ein ganz übler Kunde.« »Wann ist er umgezogen?« »Er ist nicht umgezogen, ich hab’ ihn rausgeworfen. Am Dienstag. Mein Gott, er war fünfeinhalb Monate mit der Miete im Rückstand. Ich hab’ ihn lange genug mitgeschleppt.« »Aber sagen Sie mir doch bitte, wo ist er hin?« »Versucht mal auf irgendeiner Parkbank. Oder im CookBezirksgefängnis. Hinter diesem miesen kleinen Bastard war ein ganzer Schwarm Gläubiger her. Rooney bezahlt keine Rechnungen. Jedenfalls nicht regelmäßig. Er kann die Finger nicht von den Pferden lassen, das ist sein Problem.« Paul verstand die Bemerkung über die Pferde nicht. Während er sich von dem bemalten Schaufenster abwandte, löste der Mann eine Kette von dem Schild. Paul ging zum Bordstein, zerknüllte die Visitenkarte und warf sie zu dem anderen Abfall in die Gosse. Am Montag erwachte er schon früh, lange vor Tagesanbruch. Genauso wie an dem Morgen, als er zum Güterbahnhof pilgerte, um sich den Zug von Buffalo Bill anzusehen, oder am Eröffnungstag der Ausstellung. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Er beeilte sich, sein Gesicht einzuseifen, sich zu rasieren und sich anzuziehen. Er sollte sich um Punkt sechs Uhr beim Braumeister Mr. Friedrich Schildkraut melden. In jeder guten Brauerei war der Braumeister ein kleiner Herrgott, und das traf auch auf Crown zu. Onkel Joe wies ausdrücklich darauf hin, als er Paul während des Abendessens am Sonntag letzte Anweisungen gab: »Wir können es im wesentlichen Fred Schildkraut verdanken, daß wir ein erfolgreiches Unternehmen sind. Es gibt niemanden, dem ich seine Position anvertrauen würde – ich war selbst Braumeister, bis meine Verpflichtungen in anderen Bereichen zu umfangreich wurden. Ich habe Fred bei Pabst in Milwaukee abgeworben, indem ich ihm das Dreifache seines dortigen Gehalts anbot. Er hat in vielen Dingen vom Brauhandwerk sehr viel mehr Ahnung als ich. Zum Beispiel, wenn es um die mechanische Kühlung geht. In den Anfangstagen war ein Braumeister eigentlich nicht mehr als ein besserer Koch, aber nun ist er der Eckpfeiler des gesamten Unternehmens. Fred lebt praktisch für die Brauerei. Das ist gut für mich, aber schlecht für seine Frau und seine vier Jungen. In Spitzenzeiten, oder
CHICAGO 1892 – 1893
299
wenn er sich mit einem Problem herumschlagen muß, bleibt Fred schon mal zwei, drei, vier Tage hintereinander im Betrieb, ohne nach Hause zu gehen. Ich versuche dann, ihn zu überreden, Feierabend zu machen, aber er weigert sich. Er arbeitet dann die ganze Nacht hindurch, bis er an seinem Schreibtisch einschläft. Fred erwartet dich um sechs Uhr. Ich wäre an deiner Stelle pünktlich, ja, ich würde sogar zusehen, daß ich ein paar Minuten früher einträfe. Fred ist katholisch. Und das mit Hingabe. Also keine schlimmen Worte in seinem Beisein.« Vetter Joe würde an diesem Morgen nicht mit ihm zur Brauerei gehen. Seine Grippe hatte sich am Sonntag verschlimmert. Tante Ilsa hatte ihn mit Fieber ins Bett gepackt. Daher mußte Paul allein auf Zehenspitzen durch das schlafende Haus schleichen und in die Küche gehen, wo er das Pausenbrot holte, das Louise in eine Papiertüte gewickelt und für ihn bereitgelegt hatte. Mit einem Pferdewagen fuhr er die zwei Blocks bis zur Brauerei. Die verlassenen Straßen glänzten. Ein leichter Dunst oder Nebel bildete sich in der feuchten Luft, während er zum Angestellteneingang am südlichen Ende des Brauereigeländes ging. Eine gepflasterte Gasse führte parallel zur Larrabee-Straße ins Herz der Brauerei. Der Dunst trieb langsam über den Boden dahin und verbarg die Fundamente der festungsähnlichen Gebäude. Irgendwo klirrten Maschinen; Dampf zischte. Kein anderer Arbeiter war zu sehen. Ein alter Nachtwächter saß in einer kleinen Bude und las bei Laternenlicht in einer Zeitung. Paul klopfte an die Glasscheibe. Der Wächter kam herausgeschlurft. »Guten Morgen, ich heiße Paul Crown. Ich arbeite ab heute hier.« »Ja, das wurde mir gesagt. Geh ruhig weiter.« »Ich soll mich bei Mr. Schildkraut melden.« »Im zweiten Stock im vorderen Gebäude. Die Gasse hinunter und dann nach rechts. Die Tür zur Bierstube müßte eigentlich offen sein. Fred ist schon vor einer halben Stunde gekommen.« Er ließ die Bude des Nachtwächters hinter sich und tauchte in den finsteren Schlund der Gasse ein. Die schwarzen Gebäude ragten zu beiden Seiten wie mittelalterliche Burgen auf. Das würde nun sein Leben sein. Sein ganzes Leben. Er hatte kein Ziel, sondern nur einen Job, den sein Onkel ihm aufgezwungen hatte. Trübe Empfindungen quälten ihn, während er über das Pflaster trottete. Onkel Joe hatte für seine Wünsche nichts übrig. Er interessierte sich nur für Zahlen, Verkaufsmengen und dafür, daß alles nach seinen eigenen Vorstellungen ablief. Paul hatte eine Arbeit gefunden, die er mit großer
300
TEIL DREI
Begeisterung in Angriff nehmen würde, und Onkel Joe hatte dafür nur Spott übrig gehabt. Paul verstand nun Vetter Joes rebellische Haltung. Er blieb stehen und betrachtete die Brauereigebäude. Ein paar vereinzelte Lampen brannten hinter blinden Fensterscheiben. Die Maschinen klirrten und klapperten. Die Luft war erfüllt mit den würzigen Gerüchen, die für eine Brauerei typisch sind. Es war alles andere als appetitlich. Mein Gott, weshalb war er eigentlich hier? Vielleicht hatte er in Amerika überhaupt nichts zu suchen. Wie der Bäcker aus Wuppertal jetzt lachen würde, wenn er ihn so sehen könnte. Beruhige dich, dieser Job muß ja nicht für die Ewigkeit sein. Er hat einen Vorteil. Und zwar einen sehr wichtigen. Wenn der Winter anbricht, besitzt du ganz sicher ein Paar Schlittschuhe. Während er sich Juliette Vanderhoffs Gesicht in Erinnerung rief, setzte er seinen Weg in die Brauerei fort. Friedrich Schildkrauts Büro befand sich ebenso wie Onkels Joes in einem Eckzimmer, allerdings mit Blick auf die hintere Gasse und die Produktionsbauten. Ein Lichtschimmer drang aus dem Spalt der geschlossenen Tür. Paul fuhr sich mit der Hand über sein widerspenstiges Haar und klopfte. »Komm rein, junger Mann.« Das Büro war dunkler als das von Onkel Joe und weitaus unaufgeräumter. Überall lagen Kolbenflaschen und Thermometer, kleine Musselinsäcke mit Getreide und Hopfen, Diagramme, Blaupausen und Konstruktionspläne in deutscher Sprache herum. Inmitten dieses Durcheinanders sah der Besucher ein Schild mit goldenen Lettern. F. SCHILDKRAUT, BRAUMEISTER. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein blutender Christus an einem Holzkreuz. Daneben befand sich die gerahmte Photographie eines bärtigen Mannes. Schildkraut bemerkte, daß Paul es eingehend betrachtete. »Das ist Louis Pasteur. Ein begeisterter Biertrinker, wie sich herausstellte. Allerdings betrieb Pasteur seine Forschungen hauptsächlich, um den Weinherstellern in Frankreich zu helfen. Damit sie sich neben den deutschen Bierbrauern behaupten konnten.« Schildkrauts Lippen zuckten. Man konnte diese Reaktion kaum als Lächeln bezeichnen. »Setz dich doch.« Sobald Paul Platz genommen hatte, erhob der Braumeister sich. Er war ein hochgewachsener, ernster Mann um die Vierzig mit länglichem Gesicht und ausgeprägtem Kinn. Sein kräftiges blondes Haar wurde von ersten grauen Strähnen durchzogen. Sein linker Arm endete am Ellbogen. Ärmel
CHICAGO 1892 – 1893
301
und Manschette waren säuberlich umgeklappt und mit einer Sicherheitsnadel fixiert worden. Als junger Mann hatte Schildkraut, wie Onkel Joe seinem Neffen erzählt hatte, seinen Arm bei einer Staubexplosion in einer Mälzerei verloren. Das Pendel einer Wanduhr erzeugte ein lautes Ticken. Aus seiner einschüchternden Höhe blickte der Braumeister auf Paul herab. »Was weißt du über Bier? Hast du eine Ahnung, was dies hier ist?« fragte Schildkraut, ohne ihm Gelegenheit zu geben, die erste Frage zu beantworten. Er nahm ein trichterförmiges Gebilde aus Metall, das stark zerbeult war, vom Tisch. »Nein, Sir, das weiß ich nicht.« »Das nennen wir Schwimmer. Es wurde mit Eis gefüllt und ins Bier eingesetzt, um die Gärungstemperatur zu kontrollieren. Das war, bevor es Kühlungsverfahren gab. In den Tagen der unterirdischen Keller und der Kühlräume. Als man noch nicht das ganze Jahr hindurch Lagerbier brauen konnte, sondern nur so lange, wie die Vorräte an Flußeis reichten.« Er warf den Schwimmer zurück auf den Schreibtisch. Am Fenster verzog er mißmutig das Gesicht wegen etwas, das er draußen erblickte. Er wirbelte plötzlich herum und bellte Paul an wie ein Armeeausbilder. »Weißt du, woher der Begriff ›Lager‹ kommt?« »Vom Deutschen lagern?« »Natürlich. Lagern. Aufbewahren. Ruhen lassen. Nach dem Gärungsprozeß ruht das Lagerbier zwei bis drei Monate an einem kühlen Ort. Weißt du, ob Lager unter- oder obergärig ist?« »Nein, Sir.« »Es ist untergärig – im Gegensatz zu englischen Bieren. Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts war es nicht möglich, in Amerika Lager zu brauen. Davor, so erzählt man sich, ging jede Hefekultur ein, ehe sie die lange Reise über den Atlantik beendet hatte. Dann kamen die schnellen Klipper und schafften die Überfahrt in drei Wochen oder sogar noch schneller. Die Hefe blieb am Leben. Ich sehe schon, wir müssen dir wirklich fast alles beibringen. Vor allem da dein Onkel mir erklärt hat, daß das vielleicht dein Beruf werden könnte.« In Pauls Nacken entstand ein Kribbeln. »Wie bitte, Sir?« »Hast du nicht gehört? Dein Onkel sagte, daß das Brauereihandwerk dich vielleicht so sehr interessieren könnte, daß du damit später deinen Lebensunterhalt verdienst. Wir haben versucht, den jungen Mr. Joe entsprechend auszubilden, aber ohne Erfolg. Es freut mich, daß sich vielleicht eine weitere Gelegenheit ergibt –« Paul unterbrach ihn, indem er aufstand. Der Braumeister musterte ihn unwirsch.
302
TEIL DREI
»Möchtest du etwas sagen?« »Ja, Mr. Schildkraut. Mein Onkel war so nett, mir diese Stelle zu verschaffen. Es wurde Zeit, daß ich zu arbeiten anfange. Aber ich habe niemals behauptet, ich wolle für den Rest meines Lebens Bierbrauer sein. Ich weiß noch gar nicht, was ich überhaupt will.« Das war eine Lüge. Eine notwendige und strategische Lüge, aber auf jeden Fall eine Lüge. Er war ganz sicher, daß er nicht Bierbrauer werden wollte. Er hatte schließlich den Elefanten tanzen gesehen … »Die Wahrheit ist, Sir, daß ich nach Amerika kam, um zu entscheiden, was ich sein will und was nicht – nun, auf jeden Fall nicht, um mir vorschreiben zu lassen, was ich sein muß. Die Menschen in Amerika können sich frei entscheiden. Aus diesem Grund bin ich herübergekommen.« Langsam ließ Friedrich Schildkraut seine rechte Hand auf die Rückenlehne seines Drehsessels sinken. Er umklammerte sie mit langen, spitz zulaufenden Fingern. Er beugte sich vor. Er ist wütend. Ich werde sicher entlassen, ehe ich überhaupt angefangen habe. »Gut! Du hast Rückgrat. Für Schwächlinge ist in einer Brauerei kein Platz.« Schildkraut lächelte tatsächlich. »Wir werden alles tun, um dich davon zu überzeugen, daß es ein achtbares Gewerbe ist. Ich sage dir gern, daß Mr. Crown meinte, du seist ein vielversprechender junger Mann.« Auf einmal wirkte Schildkraut viel lockerer, entspannter, nicht so bedrohlich. »Wir bringen dir alles bei. Wir fangen dort an, wo die Bierproduktion beginnt, in der Mälzerei. Wir malzen selbst und kaufen nichts von draußen. Einige deiner Aufgaben werden mühsam und anstrengend sein. Unsere Maischekessel werden direkt befeuert und nicht mit Dampf geheizt. Du wirst einige Monate lang die Feuer in Gang halten. Du wirst Geräte und Maschinen reinigen. Du wirst nach Hause zurückkehren und so müde sein, daß dir die Augen tränen. Aber du wirst ein edles Handwerk erlernen. Laß dich hier nur nicht mit den falschen Leuten ein.« Schildkraut umrundete den Schreibtisch und legte Paul seine gesunde Hand auf die Schulter. »Wir haben mindestens einen Angestellten, der der erhabenen, grandiosen nationalen Gewerkschaft der Vereinigten Brauereiarbeiter der USA angehört, ein gewisser Mr. Benno Strauss.« Er spuckte in einen Spucknapf, der neben dem Schreibtisch auf dem Fußboden stand. »Benno und seine Freunde sind Unruhestifter. Hör nicht auf sie. Der junge Master Joe hat sich nicht an diesen Rat gehalten, und das hat ihn auf den falschen Weg geführt. Tatsache ist, daß wir bei Crown keine
CHICAGO 1892 – 1893
303
sozialistische Gewerkschaft dulden. Dagegen wehren wir uns, solange dein Onkel oder ich noch die Kraft dazu haben. Wir wünschen auch keinen Achtstundentag. Männer, die zusätzliche zwei oder drei Stunden am Tag dem Müßiggang ausgeliefert sind, fallen leicht neuen Versuchungen zum Opfer. Das lassen wir nicht zu. Niemals.« Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf Schildkrauts Stirn gebildet. Aber sein Griff lockerte sich. »Dort entlang«, sagte er und ging in geradezu militärischer Haltung auf die Tür zu. »Ich bringe dich persönlich zur Mälzerei und weise dich ein.« Paul nickte unterwürfig, aber innerlich bäumte sich alles auf. In was war er hineingeraten? War das eine Brauerei oder ein Schlachtfeld?
TEIL VIER
Julie 1893-1894
Wir befürworten die gründliche Erziehung und Ausbildung der Frau, um sie in die Lage zu versetzen, alles zu meistern, was das Leben für sie bereithalten mag. Um sie nicht nur auf die Fabrik oder die Werkstatt vorzubereiten oder auf die freien Berufe und die Kunst, sondern, was noch wichtiger ist als alles andere, um sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Hüterin des heimischen Herdes einzustimmen. Gerade dafür, das höchste Gut weiblichen Strebens, sind eine breitgefächerte Ausbildung und viel Übung vonnöten. 1893 Mrs. Potter Palmer bei der Einweihung des Frauen-Pavillons der Weltausstellung
JULIE 1893 – 1894
307
29 JULIE Am ersten Samstagmorgen im September kämmte Mrs. Vanderhoff ihrer Tochter das Haar. Dieses allwöchentliche Ritual fand in Julies Ankleidezimmer statt. Julies gelöstes Haar hing bis über die Taille herab. Kohlrabenschwarzes Haar. Haar, das glänzte wie verschüttete Tinte. Haar, das Juliette Vanderhoffs ganzer Stolz und ihr wertvollster Schatz war, weil ihre Mutter ihr das immer wieder eingetrichtert hatte. Mrs. Vanderhoff hatte ihrer Tochter sehr viele Dinge über Frauen beigebracht, über ihre Anlagen und möglichen Anfechtungen, ihre Pflichten als wohlerzogene junge Damen, als angehende Bräute, dann als Mütter und schließlich als erfolgreiche Gastgeberinnen. Nell Fishburne Vanderhoff, als jüngere von zwei Töchtern der Familie Fishburne in Lexington, Kentucky, geboren, war knapp ein Meter sechzig groß und hatte eine stämmige Figur. Früher, in der Blüte ihrer Jugend, hatte sie vielleicht den Liebreiz eines Porzellanpüppchens. Nun, da sie um die Vierzig war, sah sie nur noch zerbrechlich aus. Falten der Erschöpfung hatten sich tief in ihr Gesicht eingegraben. Große braune Schatten umgaben ihre Augen. Ihre Haut erinnerte an blaßgelben Marmor mit blauer Äderung, ihre Hände zitterten oft, wenn auch nicht an diesem Morgen. Julie hatte am 28. Mai ihren 16. Geburtstag gefeiert. Ihre Figur war inzwischen so weit entwickelt, daß sie Frauenkleidung trug, an diesem Morgen einen teuren Hausmantel aus pfirsichfarbener Seide. Er war bei Redfern kreiert und angefertigt worden, der New Yorker Filiale des vornehmen Londoner Schneiders. Julie saß regungslos da und betrachtete sich in einem großen ovalen Spiegel, während Nell mit Kamm und Bürste hantierte. Sie konnte dieses Ritual nicht mehr so genießen wie früher. Sie fühlte sich zu alt. Auch an diesem Morgen störte die qualvolle Erinnerung an den Jungen, den sie vor einigen Monaten kennengelernt hatte, ihre innere Ausgeglichenheit. Joey Crowns Vetter, der deutsche Junge. Ihre Begegnung auf der Straße war nur kurz gewesen, dennoch erinnerte sie sich an ihn. An seine breiten Schultern und sein ausdrucksvolles, ehrliches Gesicht. An seine braunen Augen, groß und glänzend und mit einer seltsamen Eindringlichkeit, die in ihr unangemessene Gedanken und Gefühle weckten, die sie nicht in Worte zu fassen wagte. Er hatte einen furchtbaren Akzent, aber sein Lächeln war offen und aufrichtig. Er war von einer Direktheit und so frei von Arroganz, wie sie es bei jungen Männern ihres Alters und ihrer Gesellschaftsschicht noch nie erlebt hatte. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein, weil er ein Einwanderer mit einer gewissen
308
TEIL VIER
exotischen Ausstrahlung war. Vielleicht entsprach – abgesehen von seiner äußeren Erscheinung – nichts von dem, was sie in ihm sah, tatsächlich der Realität. Es war ihr gleichgültig, sie empfand Sympathie für diesen Jungen. Sie wünschte sich, sie könnten einander besser kennenlernen. Nell Vanderhoff fuhr mit der Bürste noch einige Male durch das Haar, und das Ritual war beendet. Sie legte Kamm und Bürste beiseite. Dann, indem sie von hinten Julies Wange mit der Hand berührte, betrachtete sie Julies Gesicht im Spiegel. »Ich habe dich noch nie mit derart roten Wangen gesehen. Du bist viel zuviel in der Sonne, spielst zuviel Tennis.« »Ich spiele aber gerne Tennis, Mama.« »Du übertreibst, genauso wie du es im Winter mit dem Schlittschuhlaufen übertreibst. Übertreibung ist in beiden Fällen schlecht für den Teint, den Kreislauf – die gesamte Verfassung. Ich habe es dir immer wieder gesagt, Juliette, Mädchen und Frauen sind empfindlich. Damit mußt du rechnen. Du mußt dich darauf einstellen. Mußt dich vor den Auswirkungen rauhen Wetters schützen, vor Nervenbelastungen, vor –« »O Mama, ich kann nicht verstehen, daß frische Luft schlecht sein soll.« »Aber es ist so. Dr. Woodrow wird es bestätigen – und sei nicht so halsstarrig und behaupte, du wüßtest besser Bescheid als ein Arzt, der in den Schweizer Kliniken Erfahrungen gesammelt hat. Du wirst von Tag zu Tag eigensinniger. Das liegt sicher an deinem Alter. Ein vorübergehender Zustand. Hoffentlich geht das bald vorbei, denn mich damit auseinanderzusetzen ermüdet mich. Es zerrüttet meine Nerven.« Sie zog die Hände zurück, während sie weiterhin in Julies Augen blickte. Ihre Miene zeigte ständig den gleichen Ausdruck: Sorge, Enttäuschung, aber auch Verärgerung. Es vermittelte Julie stets ein Gefühl der Schuld, eine Gewißheit, daß sie als einziges Kind ihrer Mutter versagt hatte. »Mama, du weißt, ich möchte, daß du dir um mich niemals Sorgen machen sollst.« »Ich hoffe es, Liebes. Ich hoffe es.« Das physische und emotionale Wohlbefinden von Mrs. M. P. Vanderhoff III. war ein ständiges Thema in der Familie. Neurasthenie – Erschöpfungszustände der Nerven und des Gehirns – war eine immer wiederkehrende Erscheinung bei Nell. Viele Frauen ihrer sozialen Schicht und Herkunft litten darunter, aber bei Nell war es besonders extrem, das gab sogar Dr. Woodrow zu. Julies Mutter litt unter quälenden Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen. Sehr oft flüchtete sie sich in hysterische Anfälle oder versank für längere Zeit in Zustände mürrischen Schweigens. Sie
JULIE 1893 – 1894
309
verbrachte viele Stunden, manchmal sogar Tage, bei zugezogenen Vorhängen im Bett. Sie las ausgiebig in einschlägigen Zeitschriften, suchte nach neuen Wundermitteln. Sie bestürmte den armen Dr. Woodrow, neue Behandlungsmethoden zu suchen und anzuwenden. War es in dem einen Monat ein Eisentonikum, versuchte sie es im nächsten mit einem Präparat aus Rhabarber oder Kampfer oder Senf. Sie nahm Schwefelbäder; sie machte Seetangpackungen. Sie zwang Woodrow, seine chirurgischen Instrumente mitzubringen und sie zur Ader zu lassen. Regelmäßig stellten diese Maßnahmen ihre Energie und ihren Lebensmut wieder her. Aber genauso regelmäßig kehrten Niedergeschlagenheit und Erschöpfung wieder zurück, und alles begann von neuem. Nell machte ihrer Tochter klar, daß derartige Leiden das Los der Frauen waren. Daß man sie als eine Folge der weiblichen Natur und Gemütsverfassung betrachten mußte. Julie dürfe nicht erwarten, daß ihr Leben sich von dem ihrer Mutter in irgendeiner Weise unterschied. Julie haßte diese Unausweichlichkeit, aber es schien zuzutreffen. Auch sie wurde immer wieder von Kopfschmerzen heimgesucht, litt unter länger andauernden depressiven Phasen, in denen sie zu überhaupt nichts Lust hatte und niemanden sehen wollte. Damit stand sie aber überhaupt nicht allein. Viele ihrer jungen weiblichen Bekannten wurden von Krankheiten heimgesucht, die von Zuständen nervlicher Überreizung bis hin zu chronischer Erkältung, Magenkrämpfen, Katarrhen und Depressionen in Verbindung mit der monatlich wiederkehrenden Indisponiertheit reichten. Julie gelangte zu der Überzeugung, daß die Gesundheit der amerikanischen Frauen allgemein schlecht war, und fragte sich, weshalb das so war. Andererseits verschwanden ihre Gesundheitsprobleme, wenn sie sich regelmäßig und ausgiebig körperlich betätigte. Hier das richtige Maß zu finden war nicht so einfach, denn Nell lehnte Sport für junge Damen strikt ab. Julie faltete die Hände im Schoß und betrachtete sich wieder. Ihre Wangen waren tatsächlich von der Sonne verbrannt, doch die Farbe wurde intensiver, noch während sie hinsah. Sie verspürte eine starke, unkontrollierbare, leicht lüsterne Sehnsucht, den deutschen Jungen wiederzusehen. Ihre Vernunft ließ diesen Traum sehr schnell platzen. Was sie da wollte, war unmöglich. Es konnte und durfte nicht sein. Der deutsche Junge gehörte zu den Crowns. Und Mama und Papa haßten die Crowns, und zwar jeden einzelnen von ihnen. Nun, welchen Unterschied machte das schon? Wahrscheinlich erinnerte
310
TEIL VIER
er sich gar nicht mehr an sie. Wahrscheinlich hatte sie an dem Nachmittag, als sie sich begegnet waren, überhaupt keinen Eindruck bei ihm hinterlassen. Dieser traurige Gedanke verdarb ihr für den Rest des Tages gründlich die Laune.
30 PAUL Es war genauso, wie Friedrich Schildkraut prophezeit hatte – er lernte. Und auf Grund der Leistung, die Schildkraut von seinen Männern verlangte, machte er gute Fortschritte. Er erlernte den gesamten Prozeß, angefangen mit dem Einweichen der Braugerste in der Mälzerei, bis sie richtig keimte. Dann wurde sie in der Darre getrocknet, gereinigt, gemahlen und in den großen Kupferkesseln mit Wasser vermischt. Durch den Kochvorgang wurde der Zucker freigesetzt, der Trester setzte sich am Boden ab, und übrig blieb die Würze. Nach dem Abkühlen wurde die Würze zusammen mit dem Hopfen gekocht, die dadurch entstandene Maische wurde erneut – und zwar im Schnellverfahren – gekühlt und in einen Gärbottich geleitet, wo die Hefe wirksam wurde und den Zucker in Alkohol verwandelte, der je nach Menge zwischen vier und fünf Prozent Volumen hatte. Jede Partie, jedes Bier war das Ergebnis strengster Überwachung der Zutaten, Temperaturen, Kochzeiten, Abkühlzeiten, des Gärungsprozesses und der Lagerdauer. Die Vorarbeiter bei Crown trugen ständig irgendwelche Daten in ihre Braubücher ein. Kein Wunder, daß die Deutschen in diesem Gewerbe führend waren. Es erforderte strengste Genauigkeit bis ins kleinste Detail. Paul schmierte und reinigte die Braugeräte. Er half bei Reparaturen. Er arbeitete an den großen Mühlen, die fünfhundert Scheffel Malz in der Stunde verarbeiteten, an den pneumatischen Mälzanlagen, die die Feuchtigkeit und die Temperatur der Keimkammern steuerten; an den Baudelot-Kühlvorrichtungen, die die Wassertemperatur mittels einer Mischung aus Wasser, Ammoniak und Salz senkten; im Keller überwachte er die Feuer unter den Braukesseln. Ihm machte die schwere Arbeit nichts aus. Jede Woche legte er ein wenig Geld beiseite. Schon nach einem Monat hatte er in einem Marmeladenglas genug zusammen, um sich ein paar Schlittschuhe zu kaufen, sobald sie bei Spalding wieder in den Auslagen auftauchten. Juliette Vanderhoff war ständig in seinem Bewußtsein; sie erinnerte ihn daran, daß die ganze Mühsal einen Zweck, ein Ziel hatte.
JULIE 1893 – 1894
311
Die Arbeit machte ihn zäh. Seine Beinmuskeln nahmen zu, und seine Arme wurden dicker. Auch sein Bart entwickelte sich zusehends. Außerdem wuchs Paul noch, veränderte sich. Er reifte schnell zum Mann. Ihm wurde in der Brauerei auch noch etwas anderes klar. Seine erste Reaktion war durchaus richtig gewesen. Er wollte nicht sein ganzes Leben als Bierbrauer fristen. Es mußte für ihn eine Möglichkeit geben, die völlig neue Welt der Photographie zu erforschen. Es mußte auch noch jemanden anderen geben, der ihm die entsprechenden Techniken beibringen würde, nun da Rooney von der Bildfläche verschwunden war. Wie Schildkraut ihm vorausgesagt hatte, kam er jeden Abend völlig erschöpft nach Hause. Die Muskeln seiner Arme und Beine und sein Rücken schmerzten höllisch. Manchmal war er so müde, daß er am Abendbrottisch beinahe einschlief. Einmal, während Paul den Kopf ruckartig hob, als er merkte, daß er zwischen zwei Bissen eingenickt war, betrachtete Onkel Joe ihn mit einem zufriedenen Lächeln. Endlich holte man bei Spalding die Winterwaren aus dem Lager. Paul erstand ein Paar Renner, wie der Verkäufer sie ihm lange vor der Zeit beschrieben hatte. Er steuerte unbeirrbar auf eine Zusammenkunft mit Miss Vanderhoff zu, doch es waren noch weitere Vorbereitungen erforderlich als nur der Kauf von Schlittschuhen. Jeden Abend, wenn er eigentlich nichts anderes tun wollte, als zu Bett zu gehen und sich auszuschlafen, zwang er sich zu einem fünfundvierzigminütigen Programm von Kniebeugen und anderer Beingymnastik. Joe junior sagte, um das Schlittschuhlaufen zu erlernen, müsse man seine Beinmuskeln und vor allem die Fußgelenke kräftigen. Anschließend fiel er immer todmüde und mit bohrenden Schmerzen in den Knochen auf sein Bett. Doch schon bald linderten Visionen von Juliette Vanderhoffs feiner Haut, ihrem vollen ebenholzfarbenen Haar und ihren zarten Rundungen seine Qual. An einem warmen Sonntag Ende September besuchte Onkel Joe mit der ganzen Familie außer Joe junior die Vorstellung der Buffalo Bill Wild West and Congress of Rough Riders Show. Pauls Vetter fuhr an diesem Tag hinaus nach Pullman, um sich mit seiner Freundin zu treffen. Onkel Joe hatte Karten für eine der besten Logen ganz vorn gekauft. Paul konnte kaum stillsitzen, als er eine Vorstellung zu sehen bekam, von der er in Berlin nur hatte träumen können. Oberst Cody, mit seinem weißen Hut auf dem Kopf so edel und eindrucksvoll wie eh und je, galoppierte auf Isham auf und ab und zerschoß blaue Glaskugeln, die seine Assistenten ins Licht greller Bogenlampen schleuderten, in tausend Stücke. Im Rahmen der von allen erwarteten und vielgerühmten Deadwood-
312
TEIL VIER
Nummer gab es eine Überraschung. Die Kutsche beschrieb langsam einen weiten Kreis in der Arena, und der schnurrbärtige Kutscher blieb hier und da stehen, um auf einen Zuschauer zu deuten – der auf diese Art und Weise eingeladen wurde, für den Rest der Show in die Kutsche zu steigen. Paul konnte es kaum fassen, als der Kutscher ausgerechnet auf ihn zeigte. Er kletterte über das Geländer, während seine Tante, Fritzi und Carl ihm durch anfeuernde Rufe Mut machten. Er quetschte sich zwischen eine dicke Frau und einen Mann, der nach Haarpomade roch. Während die Kutsche in der Arena umherratterte und –schwankte, stürmten die berittenen Indianer auf sie zu, schwangen drohend ihre Speere und stießen blutrünstige Schreie aus. Eine Salve Pistolenschüsse kündigte das Erscheinen von Buffalo Bill und seinen Cowboys an. Sie schlugen die Indianer schnell in die Flucht und ließen die Kutsche noch eine Runde durch die Arena fahren, um die begeisterten Passagiere wieder aussteigen und ihre Tribünenplätze einnehmen zu lassen. Anschließend schüttelte Paul seinem Onkel die Hand und bedankte sich überschwenglich bei ihm. »Gern geschehen«, sagte Onkel Joe und schaute bereits woanders hin. Er entfernte sich eilig, um einen Bekannten zu begrüßen, der ebenfalls die Show mit seiner Familie verließ. Onkel Joes Reserviertheit verwirrte ihn. Als Joe junior an diesem Abend nach Hause kam, unterhielt Paul sich mit ihm darüber. »Ist es dein Ernst, daß du den Grund dafür nicht verstehst? Ich bitte dich! Du bist zwar noch immer Pas Neffe, aber jetzt arbeitest du für ihn. Du bist Teil seines Eigentums. Vielleicht verbündest du dich sogar mit Benno – « »Ich habe mit Benno überhaupt nichts zu tun. Ich mag diesen Burschen nicht.« »Das macht für Pa keinen Unterschied. Du stehst auf der anderen Seite des Zauns. Du bist zwar kein Gewerkschaftsmitglied, aber fast so etwas Ähnliches. Und daran kannst du nun mal nichts ändern. Also nimm dich in acht.« Joe junior war in die Flaschenabfüllung versetzt worden, daher sah Paul ihn während der regulären Arbeitszeit nur selten. Gewöhnlich trafen sie sich während der halbstündigen Mittagspause. Während sie aßen, entwickelte Joe seine Theorien über Arbeit und Kapital, die er, wie Paul vermutete, von Benno Strauss übernommen hatte. Abends, nach dem Essen, erschien Joe junior gelegentlich in Pauls Zimmer, um ihm ein Buch in die Hand zu drücken.
JULIE 1893 – 1894
313
»Das ist auch ein Teil deiner Ausbildung, Paul. Du mußt diese Dinge ebenfalls lernen.« Es gab einen amerikanischen Philosophen, Thoreau, den Joe junior besonders liebte, weil seine Schriften zum Ungehorsam gegenüber ungerechten Gesetzen aufriefen. Es gab auch einen Roman mit dem Titel Looking Backward von Edward Bellamy. »Ein Mann schläft ein und wacht fünfzig Jahre später auf. Man schreibt das Jahr 1957, und die Welt ist eine vollkommene sozialistische Utopie.« Joe junior wollte auch, daß er Artikel eines örtlichen Reformators mit Namen Henry Demarest Lloyd las, der bei der Chicago Tribune als Redakteur arbeitete. »Ein echter Agitator. Er hat ein grandioses Buch über die Grubenbesitzer geschrieben, die ihre Arbeiter ausgesperrt haben, weil sie ein paar Grundforderungen gestellt haben. Die Grubenarbeiter sind praktisch kurz vor dem Verhungern. Lloyd hat soeben ein zweites Buch geschrieben, und das ist sogar noch besser. Wealth Against Commonwealth. Du hast doch schon mal von Charles Darwin gehört, oder?« »Gehört habe ich von ihm, aber mehr nicht.« Paul vollführte voller Hingabe seine Kniebeugen, während Joe es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte. »Darwin vertrat die Theorie, daß in der Tierwelt nur die Stärksten überleben. Alle Kapitalisten – die Handelsaristrokratie nennt Lloyd sie –, sie denken, daß es zu ihnen paßt. Sie stellen sich vor, daß sie den kleinen Mann weichkauen und dann ausspucken können, weil das die Art und Weise ist, wie die Natur arbeitet. Lloyd geißelt sie dafür. Und das ist schon ganz schön radikal für einen Zeitungsredakteur, der für Plutokraten arbeitet.« »Ich würde meinen, dafür verliert er seinen Job.« Joe junior grinste. »Außer wenn eine Sache nicht wäre. Lloyd ist nämlich mit der Tochter des Verlegers verheiratet. Ich besorge dir sein Buch, sobald du die dort ausgelesen hast«, sagte er und deutete auf einen kleinen Stapel auf dem Fußboden neben dem Bett. Paul las auch mehrere Zeitungen, suchte sich die alten zusammen, die von den Brauereiarbeitern liegengelassen worden waren. Viele der Begriffe in den Leitartikeln und Meldungen verstand er gar nicht, deshalb kaufte er sich ein billiges Taschenwörterbuch. Sehr bald erkannte er einen bestimmten Tenor in der einfachen Sprache der meisten Zeitungsartikel. Arbeiter wurden fast ausnahmslos gehaßt oder zumindest als gefährlich eingestuft. Paul erkannte, daß Joe trotz seiner Übertreibungen, seiner Abneigung gegen seinen Vater in einem Punkt völlig recht hatte: Chicago, und damit auch Amerika, war von Streitigkeiten zerrissen. Arbeiter gegen Eigentümer, Eigentümer gegen Arbeiter. Die
314
TEIL VIER
Auseinandersetzungen bestanden aus giftigen Beschimpfungen, aus Haß und sehr oft auch aus Gewalt. Ehe er das Licht ausknipste, saß Paul noch oft an seinem Tisch und betrachtete das Stereoskopbild der Freiheitsstatue und fragte sich dabei, ob all das, was sie symbolisierte, tatsächlich so friedlich, so unverdorben und edel war, wie er es früher einmal geglaubt hatte. An einem sonnigen Mittag stiegen er und Joe junior auf das Dach der Brauerei, um dort ihre Wurstbrote aus den Papiertüten zu verzehren. Louise legte jeden Tag außer Sonntag zwei Provianttüten für sie bereit. Diese Tüten waren das einzige äußere Zeichen, daß Paul und Joe aus einem wohlhabenden Haushalt kamen. Benno Strauss und seine Kumpel waren bereits mit ihren Proviantdosen aus Blech auf dem Dach. Wie immer empfand Paul es als ziemlich gewagt, trotz der Warnungen Onkel Joes und Schildkrauts hier oben mit den Sozialisten zusammenzusitzen. Benno war immer freundlich zu Paul. Wenn sie einander zufällig in der Brauerei begegneten, hatte er immer irgendeine Bemerkung auf den Lippen wie: »Na, Kleiner, ist Joey ein guter Lehrer?« »Ich denke schon«, erwiderte Paul dann. Er hatte keine Ahnung, welchen Wert die Erklärungen seines Vetters hatten, und er war sich auch nicht so sicher, was er von Benno halten sollte. Benno bot ganz sicher einen furchteinflößenden Anblick. Und er war stark. Dennoch war er ein Angeber. Selbst die, die ihn mochten, erzählten sich das hinter seinem Rücken. Benno und seine Freunde aßen und unterhielten sich lautstark. Ein Mann blickte über die Dachkante nach unten und machte unverschämte Bemerkungen über die elegant gekleideten Gäste, die im Biergarten unter den schattigen Bäumen ihr Mittagsmahl einnahmen. Paul und Joe saßen nur ein kleines Stück von Bennos Leuten entfernt. Benno verschlang seine enorme Mittagsmahlzeit aus Salami, Zwiebel und Knoblauch auf Schwarzbrot mit der Geschwindigkeit eines ausgehungerten Bären, der die Knochen eines Beutetiers zermalmt. Sobald er damit fertig war, unterbrach er irgendein Gespräch und ergriff das Wort, als hätte er das naturgegebene Recht dazu. »Als ich im Winter 1871 in Paris war, hatten wir nicht soviel zu essen. Ehe die Belagerung beendet war und der Feind einmarschierte, verzehrten wir bereits gebratene Katzen und Ratten. Glaubt mir, ich war wirklich froh, endlich diese verdammten Deutschen zu sehen. Gegen Abend konnten wir uns aus dem Staub machen. Wir schnitten irgendeinem Corporal die Kehle
JULIE 1893 – 1894
315
durch und stahlen einen Proviantsack, um uns die Bäuche vollzuschlagen.« Einer seiner Freunde verzog skeptisch das Gesicht. »Du hast Deutsche umgebracht, also deine eigenen Leute, als sie die Stadt eroberten?« »Meine eigenen Leute waren in Paris. Die Tapferen, die im Frühjahr ‘71 die Kommune gegründet hatten. Die Deutschen waren doch nur ein Haufen imperialistischer Hunde.« Ein anderer Freund winkte lächelnd ab. »Ach laß doch, Benno. Wahrscheinlich hast du die ganze Zeit besoffen bei irgendeinem Hürchen im Bett gelegen.« »Hör zu, ich geh’ zu den Huren, aber ich gehe auch auf die Barrikaden. Ich hab’ es noch immer geschafft, erst zu kämpfen und es direkt hinterher den Mädels zu besorgen.« Die Männer lachten, und Paul und Joe stimmten mit ein. Benno hörte das. »Heh, ihr Grünschnäbel, ihr solltet das lieber glauben.« »Jetzt mal im Ernst, Benno«, sagte ein anderer Freund. »Wir haben in letzter Zeit den Chef ziemlich in Ruhe gelassen. Meinst du, das ist richtig?« Paul und sein Vetter warfen einander verstohlene Blicke zu. »Nein, richtig ist das nicht, aber ich habe etwas Besonderes vor. Wir werden ihm schon wieder die Hölle heiß machen, unseren Neunstundentag fordern. Außerdem einen Lehrling für je fünfzehn Mann, und nicht für zwanzig. Auch wenn wir keine Gewerkschaft im Betrieb haben, das entspricht genau ihren Forderungen.« Paul ging zu der Gruppe hinüber. »Mr. Strauss, darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?« »Sicher, raus damit.« »Ich habe auch schon andere Leute nach Ihrer Gewerkschaft befragt. Mir wurde erklärt, die Gewerkschaft verlange einen Monatslohn von mindestens sechzig Dollars für Mälzer. Mein Onkel zahlt aber fünfundsiebzig. Ist er damit denn kein guter Chef?« »Ne, laß dich nicht täuschen. Dein Onkel zahlt hier und da ein wenig mehr, aber er spart eine Menge, indem er seine Schäfchen still hält und die Gewerkschaft nicht in seinen Betrieb reinläßt. Das war eine sehr dumme Frage.« Pauls Gesicht lief rot an. »Ich versuche nur dazuzulernen, herauszufinden, was berechtigt und was –« »He, Paul«, rief Vetter Joe. Es war eine Warnung. Gar nicht mehr so freundlich, sprang Benno auf und stieß Paul unsanft den Daumen vor die Brust. »Die Gewerkschaft ist berechtigt. Der Sozialismus ist berechtigt. Dein Onkel hat unrecht, weil alle Kapitalisten unrecht haben. Sieh dir doch an, was sie mit dieser Stadt machen!« Benno
316
TEIL VIER
deutete mit einer ausholenden Geste auf das Panorama, das die Dächer, den Fluß und den silbernen See hinter den Dunstschleiern des Ostens bot. »Hunderte von Männern da draußen haben keine Arbeit. Sie haben aber leere Bäuche, ihre Frauen und Kinder hungern ebenfalls – aber wen interessiert’s? Und sobald diese gottverdammte Ausstellung die Tore schließt, wird man zehnmal so viele Arbeitslose auf den Straßen sehen.« »Benno«, sagte jemand mit gedämpfter Stimme. Bennos seltsam geschlitzte Augen blickten zur Dachtür. Ein unscheinbarer kleiner Mann in einem karierten Anzug kam gemütlich heraus und bearbeitete seine Zähne mit einem goldenen Zahnstocher. »‘n Tag Jungs. Ein schöner Tag. Genießt ihn nur. Bald haben wir wieder mehr Eis und Schnee, als uns lieb ist.« Ein paar Begrüßungen wurden gemurmelt, aber sie klangen nicht sehr freundlich. Der Name des Besuchers war Sam Traub. Er hatte seinen Schreibtisch im Hauptgebäude, und er kam jeden Tag zur Arbeit, aber sein Gehalt wurde von der amerikanischen Regierung bezahlt. Die Steuergesetze verlangten, daß in jeder Brauerei ein Zollbeamter sitzen müsse. Joe junior sagte, es werde vermutet, daß Traub für Onkel Joe und Schildkraut im Betrieb spioniere. »Weshalb machen Sie sich Sorgen wegen des Wetters, Sam?« fragte Benno. »Sie können sich doch jederzeit den Hintern am Kamin vom Boß wärmen, oder etwa nicht?« Seine Freunde lachten. Traub ebenfalls, aber es schwang auch verhaltener Ärger mit. »Ach, Benno, warum zum Teufel gehen Sie denn nicht zurück in Ihre Heimat, wenn es Ihnen hier nicht gefällt?« Benno hakte die Daumen hinter seinen Gürtel. Er amüsierte sich. »Weil wir dieses Land erst reformieren müssen.« »Da wäre ich mir nicht allzu sicher. Die Polizisten und Richter Lynch, die werden euch zuerst reformieren. Und das wäre noch nicht mal schlecht.« »Sam«, sagte Benno, »du kannst mich mal.« Zwei seiner Kumpel applaudierten. Traub nahm den goldenen Zahnstocher aus dem Mund. »Wenn ich euch Roten zuhöre, kriege ich immer Magenschmerzen.« Der Knall, mit dem die Dachtür zuschlug, war laut wie ein Pistolenschuß. Benno kicherte und setzte sich auf die Randmauer. »Dem hab’ ich’s gegeben, was?« Er strich sich mit einem Zeigefinger über eine Schnurrbarthälfte. Dabei bemerkte er Pauls Stirnrunzeln. »Stimmt etwas nicht mit dir, Kleiner?« »Nur noch eine Frage.«
JULIE 1893 – 1894
317
»Spuck sie aus.« Paul wußte, daß er lieber den Mund halten sollte, aber er wollte es wissen. »Es geht um das, was Sie sagen. Ständig erzählen Sie, Sie hätten diesen oder jenen Plan, aber Sie bleiben trotzdem in Ihrem Job und verdienen ganz gut damit. Sie lassen sich sogar von meinem Onkel aus dem Gefängnis freikaufen –« Angst regte sich in ihm, als Benno aufstand und auf ihn zukam. »Willst du etwa behaupten, wir seien ein Haufen Feiglinge und Angeber?« »Ich sage nur –« Benno packte Paul am Kragen, beugte sich zu ihm herab und blies ihm eine Wolke aus Knoblauch- und Zwiebelgeruch entgegen. »Du hast völlig falsche Vorstellungen, mein Junge. Joey?« Joe junior sprang auf die Füße und wirkte fast wie ein Soldat, der einem Befehl gehorchte. »Wir müssen wohl schwerere Geschütze auffahren, damit der Junge etwas klarer sieht. Schafft ihr beiden es am nächsten Sonntag, von zu Hause zu verschwinden?« »Klar.« »Dann bring ihn mit. Kommt gegen elf. Nehmt den Zug, der den Güterbahnhof des Illinois-Zentralbahnhofs um sechs nach verläßt.« »Wohin soll ich mitkommen?« fragte Paul. »Nach Indiana«, sagte Joe. »In die Dünen.« »Dort zeigen wir dir, daß die Revolution nicht nur Gerede ist, junger Freund.« Ein grauer Himmel stieß am Horizont mit grauen Wassermassen zusammen, auf denen weiße Gischtkronen tanzten. Der eisige Wind rötete Pauls Wangen und erzeugte einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund. Während der verhältnismäßig kurzen Eisenbahnfahrt hatte Vetter Joe Paul erzählt, daß die Männer, die sie treffen würden, keine Sozialisten seien, sondern überzeugte Anarchisten. Sie verließen den Zug auf einem kleinen ländlichen Bahnhof und wanderten zwei Meilen nach Norden zu diesem einsamen Strandabschnitt des Sees. Dort trafen sie Benno mit fünf Freunden. Keinen von ihnen hatte Paul schon mal bei Crown gesehen. Benno war der einzige in der Gruppe, der imponierend wirkte. Die anderen erinnerten eher an Schulmeister, die sich niemals hinaus in die freie Natur wagten, oder an ständig gebückt einherschleichende Bürohengste. Zwei Männer trugen Brillen, einer hatte ein geschwärztes Augenglas. Der Bart eines anderen reichte fast bis zum Gürtel. Alle waren schäbig
318
TEIL VIER
gekleidet. Zwei trugen Anzüge und Melonen, zwei andere seltsame Kombinationen aus geflickten Hosen, Jeansmänteln und billigen Wollmützen. Der armseligste der fünf trug eine abgelegte Armeekluft: einen dunkelblauen Mantel mit Schulterumhang und schmuddelige hellblaue Hosen mit gelben Seitenstreifen. Wohl kaum ein heldenhafter Haufen, dachte Paul. Der Anblick verstärkte seinen Verdacht, daß Benno Strauss ein Schaumschläger, ein Schwindler war. Fröstelnd standen er und sein Vetter etwas abseits von den anderen bei Benno. Joe stampfte mit den Füßen auf. »Mein Gott, ich erfriere bald. Ich wünschte, sie würden sich was beeilen.« »Sei still, wir müssen alles richtig machen«, sagte Benno. Eine Wollmütze bedeckte seinen kahlen Schädel. Der bunte Pompon bewegte sich im Wind. »Sie sind gleich fertig.« Bennos fünf Kollegen nagelten rohe Holzbretter und große Stücke Teerpappe auf eine kleine Hütte, die sie auf der ersten Düne unweit der an den Strand rollenden Brandung zusammengezimmert hatten. Weshalb sie ein solches Bauwerk an diesem einsamen Ort errichtet hatten, war Paul schleierhaft. Er hauchte in seine Hände und stampfte ebenso wie sein Vetter mit den Füßen. »Wann haben Sie mit dem Bau der Hütte begonnen?« »Heute morgen. Wir sind mit dem Sechs-Uhr-Zug gekommen.« »Sind Sie oft hier?« Es gab eindeutige Hinweise, die diese Vermutung nahelegten. Stücke verkohlten Holzes lagen verteilt in drei verschiedenen Löchern auf der windabgewandten Seite der Dünen. »Einmal im Monat, manchmal auch öfter.« Benno holte ein kleines Notizbuch aus seinem Overall, dann einen Bleistiftstummel. Er befeuchtete die Mine mit der Zungenspitze und begann zu schreiben. Vor der Hütte, die weder über eine Tür noch über Fenster verfügte, stand der Mann in dem alten Armeemantel und winkte Benno zu. Sein Ruf war bei dem heftigen Wind nicht zu verstehen. Benno winkte zurück, dann sagte er: »Falls Joey es dir noch nicht erklärt hat, wir üben hier. Wir schärfen die Waffen, mit denen wir die Reichen zur Strecke bringen werden. Und uns endlich holen, was wir haben wollen.« Die Männer begannen sich aus der nächsten Umgebung der Hütte zurückzuziehen, alle bis auf den mit dem schwarzen Augenglas. Er beugte sich über einen alten Koffer, holte etwas heraus und schob es vorsichtig durch ein kleines Loch, das in der Seitenwand der Hütte offengelassen worden war. Der Mann bei der Hütte sank auf die Knie, und Paul sah eine kleine Rauchwolke in der Nähe der Öffnung. Der Mann sprang auf und rannte
JULIE 1893 – 1894
319
hinter den anderen her, als sei der Teufel ihm auf den Fersen. Benno legte einen mächtigen Arm um die beiden Jungen. »Runter, schnell!« Sie warfen sich auf den Bauch, und noch während Pauls Gesicht den Sand berührte, zerriß eine Explosion die Hütte. Das Echo schien eine Ewigkeit über den Strand zu wogen. Nach und nach wurde es vom Pfeifen des Windes und vom Rauschen der Brandung überlagert. Die letzten Trümmer der Hütte fielen vom Himmel herab. Ein Stück qualmende Teerpappe segelte wie eine betrunkene Fledermaus über die Dünen davon. Paul war entsetzt. »Seht doch mal«, rief Benno, während er mit einer Geschwindigkeit durch den Sand rannte, die für einen Mann seines Alters und seiner Statur erstaunlich war. Paul und Joe folgten ihm. »Mein Gott, das habe ich nicht erwartet«, keuchte Joe junior. »Das letzte Mal hatten sie nur ein paar Dynamitstäbe, die haben sie angezündet und geworfen –« Alle versammelten sich um den Standort der Hütte. Die Anarchisten lachten und beglückwünschten sich gegenseitig. »Der Trichter ist mindestens einen Meter tief«, stellte Paul fest. »Dann sieh lieber noch mal hin, es sind eher anderthalb bis zwei Meter«, sagte ein Mann. Auch ein Deutscher. Sein Englisch war so schlecht, daß Paul ihn kaum verstand. Benno schrieb etwas in sein kleines Notizbuch. Er war aufgeregt. »Wir machen das nicht zum Vergnügen«, sagte er zu seinen Besuchern. »Wir untersuchen die Schäden und die Art und Weise, wie Dynamit wirkt. Das Verkünden der Idee verlangt weitaus mehr als nur große Worte.« Sein Blick fiel auf Paul. »Ich will dir keine Angst einjagen, aber eines solltest du besser glauben: Wenn dein Onkel uns nicht ohne Blutvergießen geben will, was wir haben wollen, dann wird er sein eigenes Blut zu schmecken bekommen. Er und der ganze Rest.« Joe junior sah Benno mit einem seltsamen gequälten Blick an. Ganz bestimmt kann er seinen eigenen Vater nicht so sehr hassen, um ihm etwas derart Schlimmes anzutun, dachte Paul. Bestimmt liebt er ihn noch ein wenig … »Was genau haben Sie benutzt, um die Hütte zu sprengen?« fragte Paul. »Ganz normales, handelsübliches Dynamit. Jeder kann es kaufen. Auch du. Sicher weißt du, was über Dynamit gesagt wird. Es ist sehr demokratisch und macht alle Menschen gleich.« Seine Freunde stießen Beifallsrufe aus und klatschten in die Hände. Benno genoß diese Reaktion. Dann, unvermittelt, packte er Pauls Arm und verdrehte ihn schmerzhaft.
320
TEIL VIER
»Und auch das sollte dir klar sein. Erzähl kein Wort über das, was du gesehen hast. Niemandem. Klar, Joey?« »Ist schon in Ordnung«, sagte Vetter Joe. »Du brauchst bei uns nicht mitzumachen«, sagte Benno. »Du brauchst noch nicht einmal so zu sein wie wir. Aber wenn du uns verpfeifst, dann wird es schlimm für dich.« Benno schüttelte ihn heftig. »Verstanden?« »Ja, ich verstehe. Ich sage bestimmt nichts.« Benno ließ ihn los. Ein verbrannter Strauch am Rand der letzten Grube qualmte leicht. Der schwarze Rauchfaden wurde eilends vom Wind weggerissen und zerfasert. Paul hatte wirklich Angst. Von nun an nahm er Bennos Drohungen ernst, und zwar jede einzelne. Während der Rückfahrt redeten die beiden Vettern fast überhaupt nicht miteinander. Joe junior lehnte seine Wange gegen das schmutzige Zugfenster und hing seinen Gedanken nach. Und es waren keine glücklichen, davon war Paul überzeugt. Auf dem Hinweg hatte Joe noch Scherze darüber gemacht, daß er Paul mit seinen gefährlichen Freunden bekannt machen würde. Nun schien er von der Demonstration ehrlich erschüttert zu sein. Er hatte gesehen, was Benno Onkel Joe antun konnte. In der Michigan Avenue gingen beide nach einem gemurmelten »Gute Nacht« auf ihre Zimmer. Sie redeten nicht über das, was sie gesehen hatten, nicht an diesem Abend und auch später nicht. Am 28. Oktober, dem Tag, bevor die Ausstellung ihre Tore schloß, öffnete Bürgermeister Carter Harrison auf ein Klopfen die Tür seiner Villa in der Ashland Avenue. Harrison war ein geselliger und beliebter Mann, der häufig Besuch von Anhängern und Arbeitssuchenden erhielt. Diesmal war es kein Anhänger, sondern ein Arbeitsloser namens Prendergast, der überzeugt war, Harrison habe dafür gesorgt, daß er bei der Stadtverwaltung keine Arbeitsstelle erhielt. Prendergast gab drei Schüsse aus seiner Pistole ab. Innerhalb von fünfzehn Minuten war der Bürgermeister verblutet. »Wahnsinn«, sagte Onkel Joe am nächsten Abend. »Auf den Straßen führen Wilde das Regiment. Daß es soweit gekommen ist, haben wir den Sozialisten und Anarchisten zu verdanken.« Joe starrte nur stumm und düster vor sich hin. Paul hingegen dachte, daß Onkel Joe mit dieser Einschätzung nicht ganz unrecht hatte. Die lebhaften Farben des Herbstes, ein tiefroter Himmel und die leuchtendroten Bäume machten der Eintönigkeit des Winters Platz. Die Sonne war eine matte, zitronenfarbene Scheibe hinter dahinjagenden
JULIE 1893 – 1894
321
dunklen Wolken, und eines Tages blieb sie völlig verschwunden. Für Paul konnte es gar nicht schnell genug kalt werden. Vielleicht gab es an Thanksgiving schon Schnee und Eis. Dieser Feiertag war in Deutschland unbekannt. Der große Präsident Lincoln hatte ihn 1863 geschaffen, um das Überleben der Union und den Sieg ihrer Soldaten zu feiern. Der Nordwind riß das Laub von den Bäumen auf dem Anwesen der Crowns. Als Paul Zeit hatte, half er Carl, die trockenen Blätter zusammenzukehren und sie im Rinnstein der Neunzehnten Straße zu verbrennen. Der süßliche Geruch schwelender Laubhaufen war etwas Neues, Unvergeßliches und machte traurig. Joe junior half niemals bei solchen Arbeiten. Er nannte Paul einen Narren. Arbeitete er denn nicht schon in der Brauerei wie ein Pferd? In der Hoffnung, daß sein Vetter diesen Vorwurf nicht ganz ernst meinte, wehrte Paul sich: »Mir macht es nichts aus. Ich habe mich noch für viele Dinge zu revanchieren.« Obgleich er Onkel Joe nicht mehr die warmen Gefühle entgegenbrachte wie kurz nach seiner Ankunft, meinte er durchaus, was er sagte. Joe junior schüttelte nur überheblich den Kopf und ging einfach weg. Abgesehen von einigen zornigen Reaktionen seines Vetters schien es keine Auswirkungen auf ihre wachsende Freundschaft zu haben, wenn Paul seine geheimsten Gedanken äußerte. Dafür war Paul dankbar. Als die Ausstellung geschlossen wurde, bewahrheitete sich Bennos Prophezeiung. Tausende weiterer Arbeiter wurden entlassen. Sie streiften scharenweise durch die Straßen. Benno und seine Freunde bei Crown prangerten die Not der Arbeitslosen an, aber Paul dachte, daß sie sich insgeheim darüber freuten. Weil nämlich jedes Leid ihrer Sache diente und den Ausbruch von Gewalt und Klassenkämpfen beschleunigte. In seinem Taschenwörterbuch fand Paul ein Wort, das die Haltung Bennos und seiner Freunde treffend beschrieb. Er hatte es zum erstenmal in einer Zeitung gesehen. Das Wort war »Zynismus«. Die Männer betrachteten die herrschende Not mit Zynismus. Aber Paul war nicht mehr so naiv, die Männer für harmlos zu halten.
322
TEIL VIER
31 JOE CROWN Im November 1893 erhielt Joe Crown willkommenen Besuch aus New York. Es war ein alter Freund, den er durch die Republikanische Partei kennengelernt hatte, als sie beide dort aktiv gewesen waren. Carl Schurz war zwölf Jahre älter als Joe. Er war außerdem unwidersprochen der berühmteste Amerikaner deutscher Herkunft. In der Nähe von Köln geboren, hatte er sich in die Revolution von 1848 gestürzt, während er die Universität in Bonn besuchte. Er wanderte in den fünfziger Jahren nach Amerika aus, ließ sich in Wisconsin nieder und trat dort der neuen und idealistischen Republikanischen Partei bei. Als der Krieg ausbrach, arbeitete er bereits als Rechtsanwalt. Er half, Lincolns Nominierung für die Präsidentenwahl abzusichern, hatte kurz den Posten eines Ministers für Spanien inne und kehrte 1862 in seine neue Heimat zurück, um die Unionstruppen zu führen. Er kämpfte im Second Bull Run, Chancellorsville, Gettysburg und verließ die Armee im Range eines Generalmajors. Dann wandte er sich dem Journalismus zu und war Besitzer und Herausgeber des Blattes Westliche Post St. Louis, als er in Missouri zum Senator gewählt wurde. Er war damit der erste deutschstämmige Bürger, der ein derart hohes Amt bekleidete. Nun war er wieder als Journalist tätig. Er war Chefredakteur und Leitartikler des Harper’s Weekly und hatte anläßlich einer seiner Informationsreisen einen Abstecher nach Chicago gemacht. Schurz war ein schlaksiger, gelehrtenhafter Mann mit einem wilden Wust grauer Haare, die nach allen Richtungen von seinem Kopf abstanden. Seine wachen, zuckenden Augen schienen durch die kleinen runden Gläser seiner Brille noch vergrößert zu werden. Er war bei den Crowns wohlgelitten, und Ilsa hieß ihn herzlich im Haus in der Michigan Avenue willkommen. Alle Kinder wurden ihm nacheinander vorgestellt. Schurz hatte für jeden ein Lob übrig und beschäftigte sich vor allem mit Carl, der ihm zu Ehren auf seinen Vornamen getauft worden war. Fritzi kicherte und flirtete schamlos, dann fragte sie, ob sie den Gast einmal nachahmen dürfe. Schurz amüsierte sich darüber, aber Ilsa duldete es nicht. Die ganze Zeit war Joe junior höflich, blieb aber stumm. Das entging seinem Vater nicht. Als Paul vorgestellt wurde, sagte Schurz: »Ich kann deiner Entscheidung, Amerika zu deiner neuen Heimat zu machen, nur Beifall zollen. Ich habe auch diese Entscheidung getroffen, ebenso wie dein Onkel. Damit wären wir schon drei weise Männer, nicht wahr?« Ilsa lachte ein wenig zu laut, und Schurz strahlte. Er war sich seiner eigenen Wichtigkeit
JULIE 1893 – 1894
323
durchaus bewußt und kehrte sie hervor, wo es eben ging. Die Familie und der Besucher nahmen an diesem Nachmittag ein umfangreiches Mahl ein. Dann zogen Schurz und Joe sich ins Arbeitszimmer zurück und unterhielten sich bei einigen Drinks – HeimatDunkelbier für Joe, Schnaps für Carl – über den Zustand der Nation im besonderen und der Welt im allgemeinen. Daß sie beide Republikaner waren, bedeutete nicht, daß sie in allen Dingen übereinstimmten. Joe gehörte zu den Hunderten und Tausenden von Unionsveteranen, die in unerschütterlicher Treue Präsident Grant unterstützten, obwohl in seinen letzten Amtsjahren zahlreiche Vorwürfe wegen Amtsmißbrauchs und völliger Unfähigkeit gegen ihn erhoben wurden. Schurz hatte damals die Anti-Grant-Fraktion angeführt. Auch andere Themen heizten die Diskussion zwischen den beiden Männern an. Eine Reform des Futterkrippensystems, die Ämtervergabe an Anhänger der gewählten Parteien, war eins davon. Schurz verteidigte den öffentlichen Dienst, aber Joe betrachtete etwas Derartiges lediglich als unerwünschte Einmischung der Regierung. Ein weiteres kontroverses Thema war Kuba. Diese Insel, neunzig Meilen vor Florida gelegen, erregte schon seit Jahren das Interesse und die Besorgnis der Amerikaner. Joe und Schurz waren sich einig, daß Spanien sich im Laufe der Geschichte durch Unterdrückung und mangelhafte Regierung auf seiner Inselkolonie hervorgetan hatte. Sie stimmten darin überein, daß das Bemühen Kubas, das Joch Madrids abzuwerfen, völlig legitim war. Der Kampf hatte Anfang der siebziger Jahre begonnen, als eine zahlenmäßig umfangreiche Gruppe von Exilanten, die kubanische Junta, sich in einer Pension in Manhattan niederließ und von dort aus Gelder sammelte, um Sabotageexpeditionen zu finanzieren. Der sogenannte Zehnjährige Krieg zwischen Spanien und den rebellischen Kolonisten schleppte sich bis zum unheilvollen Friedensvertrag von Zanjón im Jahr 1878 hin. Aber die Freiheit war eine Idee, die sich nicht so leicht unterdrücken ließ. In New York gab es weiterhin eine mächtige Gruppe von Flüchtlingen, die offiziell die Kubanische Revolutionspartei gründeten. Die Rebellen steuerten ihre Aktionen von einem Lagerhaus unweit des New Yorker Hafens aus. Die Anführer waren ein alter Soldat, General Máximo Gómez, und ein junger Journalist und Ideologe, Jose Martí, der im Alter von fünfzehn Jahren zur Strafe für revolutionäre Aktivitäten in einem Steinbruch hatte arbeiten müssen. Es war Martí gewesen, der seit kurzem die Kampagne für ein Cuba libre, ein freies Kuba, anführte. Nun, im Herbst 1893, war die Kampagne wieder zum Stillstand gekommen. Durch die Wirtschaftskrise waren
324
TEIL VIER
zahlreiche Zigarrenfabriken und Ausbeutungsbetriebe geschlossen worden. Stellungslose kubanische Zigarrenarbeiter hatten kein Geld, das sie den Revolutionären hätten spenden können. »Und es hat außerdem noch sein Gutes«, sagte Schurz in Joes Arbeitszimmer. »Wenn Martís Invasionspläne nicht finanziert werden können, dann zerschlagen sie sich vielleicht endgültig.« »Du bist gegen den Sturz eines tyrannischen Regimes? Du bist gegen die Freiheit?« »Ich bin gegen den Imperialismus, der sich unter dieser Fahne versteckt, Joseph. Es gibt eine starke Bewegung in diesem Lande, die genau das tut. Es ist eine Gruppierung, die ständig lauter die Stimme erhebt und an Einfluß gewinnt. Eine Gruppierung, die insgeheim nicht die Ausweitung amerikanischer Freiheiten ersehnt, sondern von neuen Märkten für den Absatz amerikanischer Güter träumt.« Joe schüttelte den Kopf und leerte sein Bierglas. »Diese Nation sollte alles in ihren Kräften Stehende tun, um Kuba zu befreien. Wenn nötig, sollten wir sogar bewaffnete Hilfe anbieten.« »Wie kannst du nur so argumentieren? Wenn nun das Vaterland seine Art von Regierung exportieren wollte, und zwar mit Hilfe einer Armee, die den Erfolg derartiger Unternehmen in Übersee garantieren soll? Lach nicht, das Militär ist in Berlin sehr stark vertreten und übt großen Einfluß aus. Solche Gedanken sind in der Umgebung des Kanzlers durchaus im Schwange.« »Das ist nicht dasselbe, in keiner Weise.« Schurz streckte seine langen Beine aus und wärmte sie am lodernden Feuer des Kamins. »Wie du meinst. Ich habe nicht die Absicht, einen lieben Gastgeber zu verärgern.« Er hob sein kleines Schnapsglas. »Prosit.« Joe hob die Schultern. »Das kubanische Problem läßt sich nicht so einfach lösen, weißt du. Martí und seine Männer erhalten breite Unterstützung. Einige der größten Zeitungen in New York stehen hinter ihnen. Sam Gompers, der einzige Gewerkschaftler, der nicht machtbesessen ist und ständig rotes Gedankengut verbreitet –« »Ich weiß, ich weiß.« Schurz hob besänftigend eine Hand. »Wir können die Frage hier und jetzt doch nicht beantworten. Ich würde viel lieber einen Spaziergang machen.« Vom Fenster sagte Joe: »Es ist sehr kalt. Und es gibt Schnee.« »Ich brauche frische Luft.« So marschierten sie dann, eingepackt in schwere Mäntel, warme Hüte, Ohrenschützer und Handschuhe, an diesem bitterkalten, grauen Nachmittag hinunter zum dunklen, aufgewühlten See.
JULIE 1893 – 1894
325
»Wie gehen deine Geschäfte, Joseph?« »Es läuft wieder ganz gut.« Er beschrieb das Problem, das sich durch Hexhammers Leitartikel ergeben hatte. »In schlechten Zeiten verlangen die Leute noch viel dringender nach ihrem Bier als je zuvor. Damit hatte er nicht gerechnet.« Joe ging voraus über einen Weg, der zwischen mächtigen Granitblöcken hindurchführte, die nach einem erfolglosen Bauvorhaben einfach liegengelassen worden waren. Die Wellen schlugen gegen die andere Seite, so daß eisiges Wasser auf ihre Hüte spritzte. »Die Arbeitssituation hingegen – das ist eine ganz andere Sache. In der Brauerei nimmt der Druck zu. Ich spüre es, obgleich ich nur selten äußere Anzeichen erkennen kann. Dieser verdammte Eugene Debs und seine neue Gewerkschaft sind teilweise schuld daran.« Joe bezog sich auf die große Amerikanische Eisenbahnergewerkschaft. Sie hatte sich während des Sommers aus mehreren kleinen Eisenbahnervereinen gebildet, und zwar im wesentlichen auf Betreiben eines Arbeiterführers aus Indiana. »Ich habe Debs bisher noch nicht kennengelernt«, sagte Schurz. »Es heißt, er sei ein guter Mann – fast ein Heiliger.« Joe schnaubte. »Hat er viele Anhänger in Chicago?« »Nicht unter meinen Freunden. Er ist Sozialist und macht daraus kein Geheimnis.« Joe umrundete einen Granitblock, in den jemand einen Sims gemeißelt hatte. Er blickte hinaus auf den riesigen See, der kalt und abweisend dalag. »Ich habe in der Brauerei ein mehr persönliches Problem. Es gibt da eine radikale Gruppierung, und mein ältester Sohn, Joe, sympathisiert mit ihr.« Schurz Wangen leuchteten tiefrot vom Wind. Die beiden Freunde standen nebeneinander auf dem Sims, die behandschuhten Hände in den Manteltaschen. »Joseph, eines solltest du nicht vergessen – damals, ‘48, gehörte auch ich mal zu den radikalen Elementen im Staate.« Als hätte er Schurz’ Bemerkung gar nicht gehört, fuhr Joe fort: »Ich würde Joe am liebsten bestrafen – ihn sofort aus der Brauerei herausholen – , aber ich fürchte, daß ich ihn diesen Leuten dann erst recht in die Arme treibe. Er ist in vieler Hinsicht ein kluger Junge, aber andererseits kann er auch sehr dumm sein. Ich hoffe, daß er irgendwann vernünftig wird. Offen gesagt, habe ich manchmal den Eindruck, als sei er überhaupt nicht mein Kind.« Er wandte sich um, betrachtete die dunkle Häusersilhouette der Stadt. Sie waren ziemlich weit gegangen. Er konnte über den Granitblöcken das zehnstöckige Auditorium-Hotel in der Congress-Straße erkennen und nach Norden und in direkter Nähe das eindrucksvolle Studebaker-Gebäude.
326
TEIL VIER
»Es ist jetzt zwanzig Jahre her, daß ich nach Chicago kam – und sechsunddreißig, daß ich den Boden dieses Landes betrat –, und ich erkenne beide kaum wieder. Ich weiß nicht, was ich mit der Welt von heute anfangen soll, was ich von ihr zu erwarten habe. Elektrisches Licht. Telephone. Bilder, die wie durch ein Wunder aus dem kleinen schwarzen Kasten Eastmans herauskommen. Alle fahren wie die Wilden auf Rädern umher – man redet sogar schon von Kutschen, die von Maschinen angetrieben und nicht mehr von Pferden gezogen werden; kannst du dir so etwas vorstellen? In Artikeln schreiben sie sogar von Maschinen, die durch die Luft fliegen! Sieh dir nur die Stadt an. Was siehst du dort? Arbeiter, die anständig bezahlt und gut behandelt werden und trotzdem ihren Arbeitgebern ins Gesicht spucken. Häuser, in denen all die bereitwillig aufgenommen werden, die die Gesellschaft zerstören wollen – die ihre Parolen öffentlich verkünden dürfen und dafür auch noch Applaus erhalten! Es gibt Clubs und Universitäten für Frauen – Frauen, die in die Küche und ins Kinderzimmer gehören! Carl, was geschieht da?« »Ich denke, es ist das Alter. Wir werden älter, du und ich, während der Fortschritt weitergeht.« Joe Crown fluchte. Er tat es selten, aber wenn er sich einmal dazu hinreißen ließ, dann benutzte er bissige, scharfe, verletzende Wörter der deutschen Sprache. Schurz schwieg dazu. Einige Menschen wurden mit zunehmendem Alter geradezu erzkonservativ, und offensichtlich gehörte sein Freund zu diesen Leuten. Dies minderte Schurz’ Zuneigung jedoch nicht. Joe Crown war ein feiner Mann. In der Ausübung seiner Geschäfte war er absolut ehrlich und zuverlässig. Er war ein fürsorglicher Vater und zuvorkommender Ehemann. Schurz brauchte sich den politischen und gesellschaftlichen Ansichten seines Freundes nicht anzuschließen, um zu verstehen, wie sehr er unter beidem litt. Joes Zorn verrauchte. Er wirkte traurig, ratlos. Sein Besucher sah ihn fragend an. »Deine Befürchtungen wegen der Brauerei – meinst du wirklich, daß es dort Ärger geben wird?« »Wenn sie mich weiterhin angreifen – wenn sie ihre Forderungen immer höher schrauben –, dann ja. Die Krise macht die Roten nur noch rücksichtsloser, unverschämter. Sie wollen beweisen, daß sie ihre Programme um jeden Preis durchsetzen können, während ehrliche Unternehmer und Geschäftsleute scheitern.« »Du befürchtest doch wohl keine gewalttätigen Ausschreitungen, oder etwa doch? So weit wird es doch nicht kommen.«
JULIE 1893 – 1894
327
»Alles ist möglich.« »Nun, ich wünsche und hoffe, daß dein Sohn nicht darin verwickelt wird.« »Wer weiß? Im Augenblick will er nichts mehr von mir wissen.« »Junge Männer haben des öfteren mit ihren Vätern Meinungsverschiedenheiten. So etwas scheint einfach dazuzugehören, wenn man heranwächst.« »Tatsächlich? Auch diese Verachtung für alles, was ich ihm gegeben habe? Für alles, was ich ihm bieten kann? O nein!« Joe Crowns Hut wurde ihm plötzlich vom Kopf geweht. Gewandt sprang er von dem Steinsims herunter und fing ihn auf, als er gerade Anstalten machte, über die gefrorene Erde davonzutanzen. Während Joe den Hut wieder aufsetzte, blinzelte er plötzlich und streckte die Zunge heraus, um etwas in der Luft zu schmecken. Schurz nahm es ebenfalls wahr. Er streifte einen Handschuh ab und berührte seine Wange. »Schnee.« »Ja.« Aus dem Norden, wo der Himmel sich schiefergrau gefärbt hatte, wehten winzige Schneeflocken heran, die ständig dicker wurden. »Ein Zeichen, daß der Winter vor der Tür steht, Carl. Vielleicht läßt Joe junior uns nun für ein paar Monate in Frieden. Er liebt diese Jahreszeit und verbringt jede freie Minute draußen unter freiem Himmel. Er läuft gerne Schlittschuh. Mein Neffe hat sich auch so ein Paar Dinger gekauft. Erst gestern hat er sie mir gezeigt. Er wollte wissen, wie lange es noch dauert, bis die Teiche im Lincoln-Park zugefroren sind. Komm, wir sollten nach Hause zurückgehen.« 32 PAUL Tief über dem Horizont stand der riesige Wintermond und tauchte das Eis in blaßgoldenes Licht. Der Wind bewegte die Baumäste über der Uferböschung, wo Paul saß und mit klammen Fingern seine Schlittschuhe anschnallte. In seiner Nähe versuchte Joe junior gegen die Kälte anzukämpfen, indem er auf der Stelle trampelte und mit den Armen schlug. Sein Atem gefror. Es war halb sechs Uhr morgens. »Das ist verrückt, Paul. Du kannst doch gar nicht Schlittschuh laufen.« »Wenn ich nicht Schlittschuh laufen kann, dann kann ich sie auch nicht treffen. Das hast du selbst gesagt.«
328
TEIL VIER
»Ich habe auch gesagt, daß es keinen verdammten Unterschied macht, ob du sie triffst. Vanderhoff verabscheut Deutsche, Bohunks, Iren – alle. Vor allem haßt er Pa.« »Das ist mir gleich. Ich werde sie treffen. Hilfst du mir mal hoch?« Vetter Joe reichte ihm die Hand, und Paul hielt sich daran fest und kämpfte sich auf die Schlittschuhe. Der Lincoln-Park lag einsam und verlassen im Mondlicht. Mit dem linken Schlittschuh machte Paul einen kleinen Schritt auf dem Erdboden. Seine Beine waren kräftig, aber seine Fußgelenke wackelten noch immer bedenklich. Ein weiterer kurzer Schritt brachte den rechten Schlittschuh bis an den Rand der Eisfläche des Teichs. »Ich weiß nicht, ob das Eis schon dick genug ist«, sagte Joe junior. »Es hat erst vorgestern angefangen zu frieren.« »Egal, ich muß es trotzdem versuchen.« Pauls Wangen fühlten sich an wie rohes Fleisch. Sein wollener Wintermantel kam ihm vor, als sei er nicht dicker als Zeitungspapier. Er zog sich die Wollmütze über die schmerzenden Ohren und streifte sich Wollhandschuhe über. Er stellte den linken Schlittschuh aufs Eis, dann den rechten. Sein linkes Fußgelenk knickte um. Er stürzte. »Mein Gott, das klappt doch niemals.« »Hilf mir aufstehen, Joe. Ich will Schlittschuh laufen lernen.« »Und bei dem Versuch sterben.« Aber Joe reichte Paul wieder die Hand. Er bewegte sich auf seinen Schlittschuhen ohne Mühe. Paul schwankte und schaffte es kaum, das Gleichgewicht zu halten. »Gib mir mal bitte einen Stoß. Vielleicht kann ich dann ein Stück weit gleiten.« Joe schob ihn in Gesäßhöhe von hinten an. Paul rutschte etwa einen Meter weit, wobei seine Kufen in der Stille über das Eis scharrten. In der Ferne heulte die Dampfpfeife eines Eisenbahnzugs. Der Ton stieg zu tausend funkelnden Sternen empor. »Es klappt, ich gleite!« rief Paul. Mit einem Freudenschrei ruderte er mit den Armen. Er stürzte. Diesmal schaffte er es, ohne Hilfe aufzustehen. »Setz dich, Joe, ruh dich aus. Jetzt übe ich allein.« »Wenn du das tust, dann sind wir Weihnachten noch immer hier.« Joe kurvte zum Ufer zurück, setzte sich dort auf die Böschung und schlang die Arme um seine Knie, um sich warm zu halten. Paul machte mit dem rechten Fuß einen Schlittschuhschritt und fiel hin. Er rappelte sich auf und versuchte es erneut. Er stürzte wieder. Schon bald tat sein Hinterteil schrecklich weh. Aber er versuchte es weiter. Er fiel insgesamt siebzehnmal hin, ehe es ihm gelang, drei Meter
JULIE 1893 – 1894
329
weit zur Mitte des Teichs zu gleiten. Der Mond, der allmählich am Himmel hochstieg, wechselte seine Farbe von Gold zu fahlem Weiß. Das Eis knisterte unter Pauls Schlittschuhkufen. »Joe, sieh doch, ich bleibe oben. Ich lerne, wie es geht!« rief er. Er stieß sich wieder mit einem Fuß ab und segelte noch weiter zur Teichmitte. Das Eis knisterte immer lauter. Eisige Luft peitschte ihm ins Gesicht. Er lachte begeistert, segelte weiter – Das Eis brach. Er versank im schwarzen Wasser und hörte Joe schreien, während er untertauchte. Seine Kleider zogen ihn hinab. Das eisige Wasser erschreckte ihn. Aber er war schon immer ein passabler Schwimmer gewesen, und er war stark. Er berührte den Teichgrund, zog die Beine an und stieß sich nach oben ab. Er hob die rechte Hand über den Kopf und ertastete das Eis. Es zerbrach in dem Moment, als er zupacken wollte. O mein Gott, dachte er, ich bin geliefert. Und versank wieder. Jemand faßte seinen Arm, stoppte seinen Untergang. Joe junior, der unsicher auf dem Eis balancierte, das gefährlich krachte und knisterte und jeden Moment wieder zu brechen drohte, zog ihn mit reiner Kraft halbwegs aus dem Loch. Dann brach das Eis erneut. Beide Jungen ruderten im Wasser herum und spritzten silbrige Tropfen in die Luft. Joe junior bewahrte einen kühlen Kopf. Er wußte, auf welcher Seite des Lochs das Eis wahrscheinlich dicker war. Dort schaffte er es hinauszuklettern. Er zerrte Paul hinter sich her. »Mein Gott, wie verdammt dämlich das war!« keuchte er. Dann lachte er. »Du siehst vielleicht aus!« Pauls triefende Wollmütze war ihm über ein Auge gerutscht. »Du aber auch.« Sie lachten beide schallend. Pauls Zähne begannen klappernd aufeinanderzuschlagen. »Das reicht wohl für heute«, stellte sein Vetter fest. »Wir gehen in die Brauerei. Der Nachtwächter läßt uns sicher rein. Wir können uns dort abtrocknen, ehe die Schicht beginnt.« Paul folgte seinem Vetter zum Ufer. Dabei schaffte er wieder ein paar Schlittschuhschritte. »Aber morgen bin ich wieder hier.« »Ich fürchte, das ist dein Ernst.« »Ich werde sie treffen, Joe. Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn ich hier lerne und übe.« »Du erwartest, daß ich zu Hause bleibe und dich ertrinken lasse? Ein oder zwei tote Kapitalisten würden mein Gewissen nicht im mindesten belasten, aber ein toter Vetter – das ist etwas ganz anderes.«
330
TEIL VIER
Joe junior stieß ihn an. »Da ist sie.« Es war an einem Sonntagnachmittag im Dezember. Es war sehr kalt. Aber die Sonne schien. Aus einem großen Pavillon am Ostufer des Teichs drang die beschwingte Melodie von Grandfather’s Clock, gespielt auf einer Drehorgel, zu ihnen herüber. Trotz der Kälte wurde es Paul ganz warm. Vielleicht lag es an seiner Nervosität und Erregung. Auf dem Eis wimmelte es von Schlittschuhläufern, Jungen und Mädchen, Familien mit Kindern, einige langsam dahingleitend, andere zügig ihre Kreise ziehend und zwischen den anderen herumkurvend. Trotzdem war es unmöglich, Juliette Vanderhoff zu übersehen. Sie hielt sich in einem kleineren Pavillon am nahegelegenen Ufer auf. Der Pavillon war dunkelgrün und hatte in der Mitte einen gemauerten Kamin mit Schornstein. Ein Holzfeuer loderte darin. Am Dachüberstand hing ein Schild. SCHLITTSCHUHCLUB LINCOLN-PARK – Nur für Mitglieder – Juliette Vanderhoff wärmte sich in dem Pavillon auf. Sie war durch ihr Cape und die große Kapuze aus rotem Samt schon von weitem zu erkennen. Sieben oder acht junge Männer umringten sie lachend und schwatzend. Die jungen Männer sahen allesamt elegant und wohlhabend aus. »Wir müssen rübergehen«, sagte Paul. »Du kannst sie ja daran erinnern, daß wir uns in diesem Sommer kennengelernt haben.« »Na schön, aber du hast große Konkurrenz. Ein ganzer Haufen feiner Pinkel!« »Feine Pinkel?« »Reiche Jungs. Aber keine Angst, was hast du schon zu verlieren!« Alles, dachte Paul. Sie stiegen hinunter aufs Eis. Paul konnte mittlerweile einigermaßen geschickt Schlittschuh laufen. In langen Übungsnächten hatte er an Sicherheit gewonnen. »He, Julie, hallo!« rief Joe junior, während sie mit klappernden Kufen den Clubpavillon betraten, wobei ihre Schlittschuhe über die Steinplatten scharrten. Er drängte zwei ihrer Verehrer beiseite. »Erinnerst du dich noch an meinen Vetter Paul?« Paul riß sich die Mütze vom Kopf und wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Die grauen Augen, das reizende warme Lächeln verhexten ihn völlig. Ihr üppiges schwarzes Haar schimmerte unter der Kapuze hervor. »Aber ja, der deutsche Junge.« Das Wort »Junge« zerstörte ihn am
JULIE 1893 – 1894
331
Boden. Sie streckte ihm ihre Hand im schwarzen Handschuh entgegen. »Wie schön, daß ich dich mal wiedersehe.« Sie reichten sich die Hände. Zu den anderen gewandt, sagte sie: »Das ist der Vetter von Joseph, Paul Crown.« Paul spürte die Blicke der anderen jungen Männer auf sich. Ein hochgewachsener grinsender Blondschopf schlug ihm auf die Schulter. »Hallo, Dutch. Julie, sollen wir wieder aufs Eis gehen?« »Natürlich.« Sie lächelte den blonden Jungen an, allerdings schien sie vorher Paul einen verheißungsvollen Blick zuzuwerfen. »Paul, das ist Strickland Welliver II. Er ist unser Clubmeister im Eisschnellauf.« »Paß auf, wie gleich das Eis qualmt«, sagte Welliver mit überheblicher Miene. Er legte eine Hand besitzergreifend auf Julies Arm. Beeil dich, sag was. Wenn er sich jetzt nicht rührte, würde Welliver mit ihr von dannen ziehen, und seine Chance wäre vertan. »Miss Vanderhoff, ich glaube, vorher sollten Sie mich begleiten«, sagte er und kämpfte gleichermaßen mit der englischen Sprache und mit seinen Nerven. »Da drüben wartet ein Parkwächter, der Sie sprechen möchte.« Strickland Welliver runzelte die Stirn. »Wer?« Joe junior bekam einen Hustenanfall. »Ein Polizist – so heißt es doch bei Ihnen, nicht wahr?« Paul deutete auf den dicht bevölkerten Teich. »Gleich da drüben. Wenn Sie kurz mitkommen würden.« Obgleich er befürchtete, daß sie ihm eine Ohrfeige geben würde, faßte er trotzdem nach ihrem Arm. Ihre grauen Augen musterten ihn prüfend, neugierig, überrascht, dann erfreut. »In Ordnung. Entschuldigt mich, Strickland – Joe – alle miteinander.« Sie folgte Paul aus dem Pavillon hinaus und in den Sonnenschein. Sie liefen Schlittschuh. Sie glitten über den Teich, ließen sich vom Strom der anderen Läufer mitziehen und fuhren ihre Runden entgegen dem Uhrzeigersinn. Sie hielten auf den Pavillon zu, wo der Orgelspieler gerade das Lied The Bowery beendete und eine schnelle Version von Old Black Joe anstimmte. Julies Wangen leuchteten hellrot. Sie lief mit kurzen, knappen Schritten, und ihr Oberkörper schien ohne Mühe oder irgendeine Verbindung mit ihren Beinen dahinzuschweben. Paul war völlig verkrampft und hatte ständig Angst zu stürzen. Julie überschattete ihre Augen. »Wo ist der Beamte? Ich sehe ihn nicht.« »Nun –« Paul ertrug es nicht mehr. Er bremste. Sie prallte gegen ihn. »Oh«, sagte sie leise, wich etwas zurück, blieb aber trotzdem dicht bei
332
TEIL VIER
ihm. Sie waren gleichgroß. Der Hauch ihres Atems mischte sich. Aus der Nähe erschienen ihre grauen Augen riesengroß. Paul fühlte, daß sich zwischen seinen Beinen etwas regte. »Miss Vanderhoff, ich muß Ihnen etwas gestehen. Es gibt keinen Polizisten. Ich habe es nur gesagt, um Sie von den anderen wegzuholen.« »Das ist sehr raffiniert. Und gewagt –« »Aber wenn dort ein Polizist wäre, dann würde er Sie sicherlich sprechen wollen, weil –« Er schluckte und riskierte alles. »Sie sind sehr schön, verzeihen Sie, ich bin so nervös –, Sie sind sogar wunderschön.« »Nun, vielen Dank, Paul.« Sie schien nicht verärgert zu sein, eher gerührt. Sie schaute zurück zum Clubpavillon, von wo Strickland Welliver sie beobachtete. Er hatte die behandschuhten Hände in die Hüften gestemmt. »Du bist ein äußerst ungewöhnlicher junger Mann, Paul. Höflich, aber auch gewitzt.« »So jung bin ich gar nicht, Miss –« »Wir wurden offiziell miteinander bekannt gemacht, du mußt Julie zu mir sagen.« »Julie.« Allein der Klang ihres Namens, der ihm zum erstenmal in ihrer Gegenwart über die Lippen kam, brachte ihn fast um den Verstand. »Du hast mich einen jungen Mann genannt – nun, so jung bin ich nicht. Ich bin schon sechzehn.« »Ich auch. Ich hatte am 28. Mai Geburtstag.« »Ich am 15. Juni.« »Dann bin ich älter. Mal sehen – genau achtzehn Tage. Also wirst du wohl immer tun müssen, was ich von dir verlange.« In ihren Augen tanzte ein belustigtes Funkeln. »Paul – ich muß dir auch ein Geständnis machen.« Sie wartete, bis zwei junge Männer an ihnen vorbeigeglitten waren. »Ich wußte, daß es gar keinen Polizisten gab. Aber ich habe mich gefreut, daß du einen erfunden hast.« Ihr Atem streifte ihn und verströmte einen schwachen, süßlichen Zwiebelgeruch. Ihr rotes Cape flatterte gegen seinen Mantel. Für einen kurzen Moment spürte er die weiche Wölbung ihrer Brust. In seinem Kopf entstand ein Dröhnen. »Paul?« »Ja? Ja?« »Sollen wir noch ein wenig Schlittschuh laufen?« Sie bemerkte, daß er ungeübt war, und lief langsam. Er hielt das Tempo, ohne zu stürzen. Daß sie seine ziemlich plumpe List hingenommen hatte, lockerte die anfängliche Verlegenheit zwischen ihnen ein wenig. Joe lief an
JULIE 1893 – 1894
333
ihnen vorbei, rückwärts. Sein gerötetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er winkte ihnen zu und lief weiterhin rückwärts, wobei er wie durch ein Wunder mit niemandem zusammenstieß. »Du sprichst sehr gut englisch«, sagte sie. »Vielen Dank. Ich habe es eifrig gelernt, ganz allein und mit – einem Hauslehrer.« Verlegen murmelte er: »Ich kenne das englische Wort dafür nicht mehr.« Sie sagte es ihm. »Du meinst einen Tutor?« »Ja, das ist das Wort. Ich hatte einen Tutor. Danke schön.« Sie liefen weiter. »Arbeitest du jetzt in der Brauerei Crown?« »Ja. Der Sonntag ist mein freier Tag.« Sie liefen Schlittschuh. »Ich mag deinen Vetter Joe. Er ist ein guter Freund. Er ist sehr intelligent. Ich glaube, er liest sehr viel, nicht wahr? Einige seiner Ideen sind ziemlich beunruhigend, aber ich höre ihm immer gerne zu. Ich wünschte, ich könnte ihn öfter sehen. Ich fürchte, mein Vater hat etwas – hmm … gegen Leute, die noch nicht so lange in diesem Land leben wie unsere Familie. Die ersten Vanderhoffs kamen schon vor der Revolution nach Connecticut.« »Du mußt sicherlich immer tun, was dein Vater wünscht, nehme ich an.« »Das ist richtig. Von Töchtern in meinem Alter wird Gehorsam verlangt.« Sie liefen Schlittschuh. »Ich dachte schon, ich käme heute nachmittag nicht von zu Hause weg«, sagte sie. »Meine Mutter ist mal wieder bettlägerig. Sie ist ziemlich krank.« »Das tut mir leid.« »Danke für die Anteilnahme.« »Kam es überraschend?« »O nein. Mama hat ein chronisches Leiden. Es heißt Neurasthenie. Das sind schlimme Erschöpfungszustände der Nerven und des Gehirns. Dann versinkt sie immer in einer düsteren Stimmung. Manchmal redet sie tagelang nicht mit uns. Ich finde es ganz schrecklich, aber Dr. Woodrow meint, bei Frauen sei das ganz normal. Meine Tante Willis, die in New York wohnt, sagt, das sei Unsinn, aber Vater glaubt ihr nicht. Er verabscheut Tante Willis’ Auffassungen. Sie besucht uns zweimal im Jahr. Auch das gefällt ihm nicht.« »Magst du deine Tante?« »Sehr sogar, obgleich einige ihrer Ansichten ziemlich ungewöhnlich sind. Sie erinnert mich in vielem an deinen Vetter.«
334
TEIL VIER
Sie liefen weiter. »Wie gefällt dir Amerika?« Seit er seinen kleinen Schwindel zugegeben hatte, ahnte er, daß er ehrlich zu ihr sein konnte. »Mir gefällt es nicht so gut, wie ich anfangs erwartet hatte.« Er lächelte. »Aber jetzt bin ich schon viel lieber hier.« Ein Mann lief vorbei, vollführte eine gekonnte Drehung auf der Stelle und schien sich gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu bewegen. Er war etwa mittelgroß, trug eine Melone, einen langen Schal aus dunkelblauer Wolle, teure Schweinslederhandschuhe und unter seinem zweireihigen Tweedanzug einen Rollkragenpullover. Paul hätte überhaupt nicht auf ihn geachtet, wäre da nicht noch etwas Besonderes gewesen. Der Mann trug außerdem ein Monokel an einem langen Band. Er schien sich für Julie zu interessieren. Paul sah ihn flüchtig an. Der Mann lächelte und bog abrupt nach links ab. Paul vergaß ihn wieder. Ein Kastanienverkäufer schob seinen kleinen Karren am Ufer entlang und rief seine Ware aus. Die Drehorgel spielte Daisy Bell, einen Schlager vom Vorjahr. Man hörte ihn immer noch überall. Fritzi sagte, es sei das ideale Schlittschuhlied und eigens dafür geschrieben worden. Julie sah Paul an. Er betrachtete sie … »Paß auf, du Idiot.« Ein fettes Kindermädchen schaffte es gerade noch, auszuweichen und ein Kind auf winzigen Schlittschuhen hinter sich herzuziehen. Paul machte vor Schreck eine heftige Bewegung, er stolperte und stürzte auf die Uferböschung. Julie schaffte es geschickt, dort anzuhalten, wo die Eisfläche zu Ende war. Beschämt kämpfte Paul sich hoch und klopfte seine Hose ab. »Ich fürchte, ich bin kein guter Schlittschuhläufer.« »Du hast doch gesagt, du seist in Berlin viel gelaufen.« »Daran erinnerst du dich noch?« »Natürlich.« »Juliette – das – es war nur ein weiteres Märchen. Ich wollte – ach! –, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« »Das Wort heißt ›beeindrucken‹.« »Ja. Ich wollte dich beeindrucken.« Mit einem freundlichen Lächeln legte sie ihre behandschuhte Hand auf seinen Arm. »Das hast du auch.« Der blonde Mr. Strickland Welliver II. kam aus der untergehenden Sonne herausgeschossen und machte sich bei Julie bemerkbar, während er eine makellose Acht auf das Eis zeichnete. »Willst du den ganzen Tag mit ihm herumschleichen?« »Nein, Strickland, nun sei doch nicht so ungeduldig.« Zu Paul sagte sie
JULIE 1893 – 1894
335
flüsternd: »Wenn du möchtest, kann ich dir am nächsten Sonntag ein paar Schlittschuhtips geben.« »Ja! Wunderbar!« Aber wie sollte er sieben lange Tage überstehen, ohne sie zu sehen? »Auf Wiedersehen, Paul. Vielen Dank.« Sie drückte seine Hand und entfernte sich, verfolgt von dem jungen blonden Gott namens Strickland Welliver. In der dicht besetzten Straßenbahn, die ratternd auf der State-Straße nach Süden rollte, platzte Paul vor seinem Vetter mit seinem Geheimnis heraus. »Ich liebe dieses Mädchen. Ich habe mich in sie verknallt.« »Du bist verrückt.« »Nein, verliebt.« »Dann, mein Freund, steckst du in der Tinte. Sie mag dich ja gern haben, aber wenn Papa Pork es herausbekommt, dann bringt er es fertig, sie zu verprügeln und dich gleich mit. Habe ich dir nicht erzählt, daß der alte Vanderhoff alle Fremden haßt? Er verabscheut jeden, der kein blaues Blut in den Adern hat – und damit auch uns.« Paul träumte so sehr von Julies Augen, ihrem schwarzen Haar, dem herrlich geformten Busen, daß er die Warnung kaum wahrnahm.
33 ELSTREE Er lief langsam Schlittschuh. Seine Beute an diesem Nachmittag war sehr mager. Was eigentlich ein großes Pech war, denn die Umstände waren ideal. Er sah keinen Bekannten außer Vanderhoffs Tochter, die längst nach Hause gegangen war. Er ließ die eifrigeren Schlittschuhläufer vorbei, damit er das potentielle Angebot um so besser studieren konnte. Die Abenddämmerung senkte sich herab und brachte Feuchtigkeit und Kälte mit. Ein alter Parkwächter stellte Holzfeuer in Blechfässern rund um den Teich auf. Die Flammen spiegelten sich im Monokel des Eisläufers wider. Wahrscheinlich war es dumm von ihm, ein Monokel zu tragen, da er damit die Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber ihm gefiel die vornehme Ausstrahlung, die es erzeugte. Man konnte es natürlich auch noch anders betrachten. Falls jemand sich auf sein Monokel konzentrierte und sich daran erinnerte, dann vergaß er wahrscheinlich sein Gesicht. Dennoch blieb ein gewisses Risiko, das er genoß. Es war die Würze dieses Unternehmens. Er dachte an die kleine Vanderhoff, Juliette mit Namen. Sie war mit
336
TEIL VIER
einem jungen Mann mit blauen Augen, rötlichbraunem Haar und kräftiger Statur Schlittschuh gelaufen. Er war eifersüchtig auf den Jungen, sagte sich aber, selbst wenn Miss Vanderhoff ohne Begleitung gewesen wäre, hätte er sie wohl kaum ansprechen können. Sie hätte sich möglicherweise an ihn erinnert. Es war zwar unwahrscheinlich, aber es hätte passieren können. Er war ihr vor drei Jahren einmal in der Garderobe des Auditoriums vorgestellt worden, wohin Vanderhoff und seine affektierte Frau aus dem Süden ihre Tochter zu einem Symphoniekonzert mit Werken von Wagner mitgenommen hatten. »Juliette«, sagte ihr Vater damals, »darf ich dir Mr. William Vann Elstree III. vorstellen? Seiner Familie gehört das Kaufhaus, das deine Mutter so gerne aufsucht – zum großen Verdruß von Mr. Marshall Field.« Er konnte sich noch lebhaft an Juliettes jugendliche Schönheit an diesem Abend erinnern. An das Kleid, das sie trug – ein jungfräuliches Weiß, das zu den Aigretten in ihrem ungewöhnlich schwarzen Haar paßte. Damals waren ihre Brüste nicht mehr als zarte Knospen gewesen, die erst allmählich aufblühten. Die Erinnerung daran erregte ihn, während er Schlittschuh lief. Wie sehr er sich doch wünschte, dieses schwarze Haar gelöst zu sehen, wie es fließend ihre weiße Nacktheit umspielte. Gern hätte er gesehen, ob sie das gleiche schwarze Haar genauso üppig auch an anderen Körperstellen … Ach, was half’s, davon zu träumen? Er war durchaus bereit, gewisse Risiken einzugehen, aber wenn eine Frau unmöglich zu haben war, verzichtete er. Dennoch hatte er Mühe, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Er streifte seine Handschuhe ab und wärmte seine Hände an einem der Feuerfässer. Schweiß bedeckte sein Gesicht. Aber nicht von den heißen Flammen. Custom House Place von der Harrison- bis zur Zwölften Straße war das eleganteste Laster- und Vergnügungsviertel von Chicago, eines der berühmtesten in ganz Amerika. Es war eine Gegend, die von der ständig wachsenden Krise völlig unberührt blieb. Diese Beobachtung machte Elstree, als seine Kutsche am Bordstein vor dem Society Club anhielt. Für einen kalten Sonntagabend herrschte auf der Straße lebhafter Betrieb. Andere Pferdewagen und viele Fußgänger. Die meisten Etablissements am Custom House Place bedienten eine gehobenere Klientel. Es gab einige Spelunken, aber die wurden von den anderen Eigentümern streng überwacht. Ein Gentleman konnte sich hier
JULIE 1893 – 1894
337
vergleichsweise sicher bewegen. Dennoch ließ er es nie darauf ankommen. Er trug stets eine kleine Pistole bei sich. Der über zwei Meter große Portier des Clubs, ein Mann mit mahagonifarbener Haut und langem weißem Bart, eilte die breite Eingangstreppe hinunter und öffnete die Kutschentür. »Guten Abend, Sir. Willkommen zu Hause.« Elstree sprang aus der Kutsche und bezahlte den Fahrer. Er trug jetzt Abendkleidung: weiße Krawatte, hoher Zylinder, kurzes Cape, Handschuhe. Er sah elegant aus. »Guten Abend, Johannes.« Jeder nannte den Portier nur Johannes den Täufer. Die Betreiber des Clubs erzählten, er sei ein Parse aus Kalkutta. Er trug eine verblichene Livree, die aus dem Kostümfundus eines Theaters stammte. Verziert war die Uniform mit einer blauen Seidenschärpe, hinter der ein Dolch mit Scheide steckte. »Heute ist offenbar wieder eine Sondervorstellung fällig.« »Ja, Sir. Wir haben schon ziemlich viel Betrieb. Das wird eine tolle Show heute abend. Es geht gleich los. Beeilen Sie sich.« Elstree stieg die von flackernden Gaslaternen beleuchtete Treppe empor – noch gab es hier keinen elektrischen Strom – und klopfte an eine mit Schnitzereien verzierte Tür. Ein anderer Angestellter in Livree öffnete die Tür zu einem Foyer, das im gepflegten, dezenten Stil einer eleganten Privatwohnung möbliert war. Das einzige aus dem Rahmen fallende in dieser Umgebung war ein Papagei in einem Käfig, der an einem Ständer hing. Der Vogel stieß einen schrillen Pfiff aus, legte den Kopf schief und krähte: »Willkommen, Mister, willkommen, Mister.« »Hallo, mein Freund. Auf die Sekunde pünktlich, nicht wahr?« Aus einem Salon rechts von Elstree kam eine kleine, zierlich gebaute Frau. Sie war mindestens sechzig Jahre alt und trug ein elegantes Kleid in Großmuttergrau. Sie ergriff seine Hand, drückte sie. »Wir freuen uns, Sie wieder bei uns zu sehen.« Er reichte sein Cape, Hut und Handschuhe dem Lakaien, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Danke, Sue. Sind wir oben im Salon?« Little Sue, die weißer Hautfarbe war, leitete das Bordell in gleichrangiger Partnerschaft zusammen mit Big Sue, einer Farbigen. »Nein, hinten im Billardzimmer. Wir mußten den Tisch herausholen. Es sind zu viele Besucher gekommen. Ich habe für diesen Spaß ein Mädchen aus dem Levee hergebracht. Da unten wird sie von allen Beefsteak Bert genannt; sie ist kräftig. Eine kleinere würde die Nummer heute nicht durchstehen.«
338
TEIL VIER
Little Sue zwinkerte ihm zu, ein erster Verstoß gegen ihre auf Großmutter getrimmte Erscheinung und Rolle. Elstree lachte verhalten. »Heute der übliche Preis?« »Richtig, fünfundsiebzig. Wir setzen es auf Ihre Rechnung. Gehen Sie nur nach hinten, dort wird noch Champagner ausgeschenkt.« Im Society Club war dies das einzige Getränk, das ständig angeboten wurde. Whiskey oder Bier mußte vom jeweiligen Gast lange im voraus bestellt werden, und das auch noch zu exorbitanten Preisen. Elstree eilte durch den schlecht beleuchteten Korridor, dessen kastanienfarbene Wandbespannung mit lotusähnlichen Blüten gemustert war. In einem verrauchten Raum am Ende des Korridors saßen und standen mehrere Gentlemen mit einem Glas Champagner herum. Er hörte ein Knurren. In die Anwesenden geriet Bewegung, und er sah einen vierschrötigen kleinen Mann mit Stoppelbart, der sich an eine lange Leine klammerte. Am anderen Ende der Leine befand sich ein mächtiger gelbbrauner Boxerhund. Elstree blieb stehen, als sich rechts von ihm eine Tür zu einem Nebenraum öffnete. Eine dröhnende Stimme begrüßte ihn. »Sieh mal an, wer da ist. Bill! Bei Gott, jetzt ist wenigstens auch etwas Klasse da.« »Sei so nett und schrei meinen Namen nicht so laut, Sue«, sagte Elstree, obgleich im Billardzimmer so viel Lärm herrschte, daß zu bezweifeln war, daß jemand den kurzen Dialog mitgehört hatte. Er betrat den Raum. Big Sue, eine dreihundert Pfund schwere Frau, trug ein schwarzes Bombasinkleid mit langen Ärmeln und einem hohen Kragen, der von einem breiten Brillanthalsband gehalten wurde. Sie verströmte einen betäubend süßen Parfümduft. »Wie geht es Ihnen?« fragte sie. Big Sue war immer gutgelaunt und freundlich, und wenn er auch nicht viel für Neger übrig hatte, mußte er doch zugeben, daß sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau war. »Mir geht es sicherlich besser, wenn ich erst mal ein paar Stunden hier war.« Grinsend fragte Sue: »Und wie geht’s Ihrer Frau?« Er legte eine Hand unter ihr Kinn, kniff sie. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht und zeigte dabei ihre ebenmäßigen weißen Zähne. »Werd nicht frech! Du weißt doch, was ich mit Mädchen zu tun pflege, die mir frech kommen. Es gibt zwei Arten von Moral auf dieser Welt. Die eine gilt für Ehefrauen, die andere für Ehemänner. Merk dir das!« Elstree kniff sie noch einmal, so daß sie leise aufstöhnte. Dann schlenderte er weiter zum Billardzimmer. Köpfe drehten sich in seine Richtung, als er eintrat. Zwei Bekannte
JULIE 1893 – 1894
339
grüßten ihn, allerdings nicht mit Namen. Ebensowenig nannte er ihren. Er fand einen freien Platz und holte sich ein Glas Champagner. Eine Seitentür schwang auf. Mehrere Gäste stießen begeisterte Rufe aus und applaudierten. Heraus kam Beefsteak Bert, eine Frau um die Dreißig mit langem schmutzigblondem Haar und Schultern wie ein Stahlarbeiter. Ihr Satinmantel war mit aufgestickten Pfauen verziert. Sie lächelte geziert und verbeugte sich vor dem Publikum, dann löste sie den Gürtel ihres Mantels und ließ ihn von ihren Schultern gleiten. Erneut gab es Applaus. Elstree beteiligte sich daran, eine frisch angezündete Havannazigarre klemmte verwegen zwischen seinen Lippen. Beefsteak Bert stützte die Hände auf die Knie, blickte scheu über die Schulter und reckte ihr riesiges weißes Hinterteil hoch. Der Hundeführer konnte kaum den Hund festhalten, dessen aufgeregt scharrende Pfoten den Teppich zu zerfetzen drohten. Im dichten Zigarrenqualm sah Elstree plötzlich eine Vision; berauschend wie ein starker Drink wischte sie sämtliche Gedanken an die bevorstehende Show hinweg. Diese Vision war Juliette Vanderhoff – weitaus begehrenswerter als diese verkommene Hure, aber genauso nackt.
34 PAUL Julie fegte alles aus seinem Bewußtsein: seine bohrende Unzufriedenheit mit den Crowns, weil er genau wußte, welchen Beruf er ergreifen wollte, aber keine Ahnung hatte, wie er ihn erlernen sollte; seine Sorge und sein vorweggenommenes Schuldgefühl darüber, daß er Onkel Joe ein zweites Mal enttäuschen würde, sollte er die Brauerei verlassen – was ihm nunmehr beinahe unausweichlich erschien; die unterschwellige Feindschaft zwischen seinem Onkel und seinem Vetter, die er beide in sein Herz geschlossen hatte; und die alte Frage, die ihm nur selten aus dem Kopf ging: Hatte er tatsächlich seine Heimat gefunden, den Ort, an den er für den Rest seines Lebens gehörte? Nicht so sehr dieses spezielle Haus in der Michigan Avenue, sondern Chicago, Amerika. Nichts von alledem schien mehr von Bedeutung zu sein. Sehnsucht, Angst vor Verlust und heftige Eifersucht auf die Menschen in Julies Umgebung quälten ihn, Eifersucht auf ihre Eltern, Freunde, auf jeden, der sich erdreistete, sie von ihm fernzuhalten oder sie bei ihren zärtlichen Gedanken zu stören. Inbrünstig hoffte er, ja, er betete darum, daß diese Gedanken ihm galten.
340
TEIL VIER
Am darauffolgenden Sonntag regnete es. Trotzdem machte er sich auf den weiten Weg zum Lincoln-Park. Er stellte fest, daß das Eis auf dem Teich taute und die Pavillons verwaist waren. Fast eine Stunde lang lief er auf der Straße unweit der Villa an der Ecke der Fünfzehnten Straße und der Prairie Avenue auf und ab. Aber Julie sah er nicht. Als Paul ins Haus der Crowns zurückkam, konnte er Joe junior nirgends finden. Er ging in den Stall. Der englische Kutscher, Nicky Speers, striegelte Onkel Joes wertvolles Kutschpferd, einen wunderschönen Braunen namens Prince. »Nicky, haben Sie Joe gesehen?« Speers streichelte liebevoll den Kopf des Pferdes. Prince schnaubte. »Der junge Master Joseph erzählt mir nicht alles, aber ich vermute stark, daß er nach Pullman hinausgefahren ist.« »Haben Sie seine Freundin schon mal gesehen?« »Er hat sie eines Abends mal für fünf Minuten reingeschmuggelt. Sie ist eine bohunk. Ein hübsches Ding. Reizende Figur, aber irgendwie wirkt sie kalt. Reich mir mal die Bürste, bitte. Danke, bist ein feiner Kerl.« Joe junior kehrte erst nach dem Abendessen zurück. Durch die halboffene Tür seines Zimmers hörte Paul, daß sein Vetter pfeifend durch den Flur ging. Ein paar Minuten später klopfte Paul an seine Tür. Joe forderte ihn auf, hereinzukommen. Er zog gerade sein Hemd aus. Auf seinem Rücken befanden sich drei kurze, parallel verlaufende Kratzer. »Ich habe heute Julie im Park gesucht.« »Bei dieser Wärme? Paul, mein Junge, dich hat es aber erwischt. Und zwar ganz schlimm.« Paul ließ sich mit düsterer Miene auf das Bett sinken. »Du hast heute deine Freundin gesehen, nehme ich an.« Joe zwinkerte. »Jawohl, Sir.« »Lerne ich sie irgendwann mal kennen?« »Niemals in diesem Haus. Wenn ich sie herbrächte, würde Pa einen Affentanz veranstalten – genauso wie Pork Vanderhoff, wenn er das mit dir herausbekäme. Rosies Vater, Tabor, ist Mitglied der Eisenbahnergewerkschaft, die Gene Debs im vergangenen Sommer gegründet hat. Drei oder vier Meilen Schienenstrang berühren die PullmanWerke, daher hat Debs auch dort die Arbeiter organisiert. George Pullman, der King, sieht das gar nicht gern. Und Rosies Ma macht sich große Sorgen, weil sie in einer Werkswohnung leben.« »Aber du hattest heute deinen Spaß.« »Und wie! Rosie ist nicht eins von diesen heiklen Mädchen der besseren
JULIE 1893 – 1894
341
Gesellschaft. Die glauben, daß die Babys vom Himmel kommen, oder in Ohnmacht fallen, wenn sie zwei Hunde sehen, die miteinander etwas völlig Natürliches treiben. Mit Julie könntest du solche Probleme bekommen.« »Oh, ich würde niemals auf die Idee kommen –« »Ich bitte dich, natürlich würdest du. Du bist doch ein Mann, oder?« Pauls Gesicht war rot angelaufen. Nachdenklich fügte Vetter Joe hinzu: »Julie ist etwas ganz Süßes, aber ich denke, sie ist ein anständiges Mädchen. Zumindest haben die Vanderhoffs sie so erzogen. Also sei nicht zu sehr enttäuscht, wenn sie – nun – wenn sie sich zurückhält.« Mitfühlend legte er eine Hand auf Pauls Schulter. »Du weißt, was ich meine, oder?« »Klar. Aber ich glaube, du irrst dich bei ihr. Wie dem auch sei, sie wird mein Mädchen.« »Klar. Klar wird sie das«, sagte Joe junior mit falscher Herzlichkeit. »Hör mal, ich bin ziemlich schachmatt. Morgen ist wieder ein Arbeitstag.« Paul sagte gute Nacht und kehrte in sein Zimmer zurück. Die Bemerkungen seines Vetters über Julie hatten ihn zutiefst verunsichert und stimmten ihn nachdenklich. Die Crowns hielten an vielen deutschen Traditionen fest, vernachlässigten aber auch einige. In der Heimat wurde der Tannenbaum, das Symbol für das Weihnachtsfest, am Heiligen Abend aufgestellt. Die Crowns holten ihren Baum zwei Wochen früher und schmückten ihn. Onkel Joe liebte die Vorfreude und die festliche Stimmung, die der Baum erzeugte. Aber er gestattete niemals, daß die Kerzen vor dem Heiligen Abend angezündet wurden, und er hängte persönlich den Zapfen auf, wie jeder gute deutsche Vater es tat. Wenn alle anderen den Raum verlassen hatten, versteckte er den kleinen Glasschmuck am Baum, so gut er nur konnte. Eine Belohnung von einem Golddollar wartete auf jedes jüngere Mitglied der Familie, das ihn fand, ohne den Baum zu berühren. Vor einem Jahr hatte Paul den Schmuck zuerst entdeckt, nach weniger als einer Minute. Joe junior hatte sich geweigert, an diesem Spiel teilzunehmen. Er sei zu alt dafür, hatte er erklärt. Die Crowns gingen während der Adventszeit oft in die Kirche. Es gab viele besondere Gottesdienste. Paul hatte immer sehr gerne Weihnachtsmusik gehört, und im vorangegangenen Jahr hatten die Hymnen und Lieder fröhlich, jubelnd und unglaublich schön geklungen. Dieses Jahr empfand er die Kirche – und eigentlich sogar das ganze Fest – als furchtbar lästig. Er empfand alles als lästig und störend, bis auf die junge Frau, die in seinem Leben mittlerweile eine beherrschende Rolle spielte. Trotzdem bekam er am Heiligen Abend eine Gänsehaut, als der Chor
342
TEIL VIER
und die Kirchengemeinde im warmen Glanz der Kerzen, die den Altar erleuchteten, das Lied Stille Nacht anstimmten. Als alle wieder zu Hause in der Michigan Avenue waren, entzündeten sie die Kerzen am Baum und stießen mit Glühwein auf das Weihnachtsfest an. Onkel Joe prostete Paul zu. »Dies ist ein ganz besonders wichtiger Gedenktag. Vor einem Jahr bekamen wir ein neues Familienmitglied. Möge das kommende Jahr für dich noch besser und glücklicher sein, Paul.« »Vielen Dank, Onkel.« »Pauli. Unser Pauli«, sagte Tante Ilsa, umarmte ihn und gab ihm einen dicken Kuß. Dabei schaffte sie es, ein wenig Glühwein auf ihr hübsches Festtagskleid zu schütten. Für eine kurzen Moment hatte Paul das Gefühl, daß er wirklich dort war, wo er hingehörte. Weihnachten fiel auf einen Montag. Onkel Joe und Tante Ilsa verteilten wieder großzügig Geschenke. Paul bekam mehrere Oberhemden, zwei Knickerbockerhosen aus Cord und ein versilbertes Frisierset, das aus Bürste und Kamm bestand. Offensichtlich war es etwas besonders Wertvolles, denn Bürste und Kamm trugen auf dem Rücken jeweils das CrownEmblem. Pauls schönstes Geschenk war ein eleganter Fahrradanzug – Sakko und knielange Hose – aus feiner Kaschmirwolle mit braunem Karomuster. Er war begeistert. Er wünschte sich nur, er hätte Julie auch irgendwie ein Geschenk machen können. Am Mittwoch jener Woche war der halbe Haushalt erkältet, desgleichen die Hälfte der Brauereibelegschaft. Am Samstagmittag wurde Paul mit Fieber nach Hause geschickt. Der Lieferwagen von Metzgerei Frankel war am Haltering neben dem Hintereingang in der Neunzehnten Straße angebunden. Paul schleppte sich in die Küche, die leer war bis auf Frankels Botenjungen, einen schlaksigen älteren Jungen mit einer übergroßen Haartolle, die er so frisiert hatte, daß sie seine Halbglatze einigermaßen verdeckte. Der Botenjunge trug einen weiten braunen Kittel, der bis zu seinen Knien reichte. »Hör mal, Kumpel, ich hab’ ein Problem«, sagte er. »Wo ist eure Köchin? Ich suche sie schon überall und kann sie nicht finden.« »Louise hat gestern abend angefangen zu niesen und zu husten, deshalb hat sie sich ins Bett gelegt. Ich denke, sie ist auf ihrem Zimmer.« »Dann muß ich mit der Hausherrin sprechen.« »Die ist den ganzen Tag unterwegs. Zumindest hat sie sich heute morgen entsprechend geäußert.« »Himmel, dann wird es schwierig.« Der Botenjunge puhlte mit dem
JULIE 1893 – 1894
343
Nagel seines kleinen Fingers in einer Lücke zwischen zwei Schneidezähnen herum. Er schnippte etwas von seinem Fingernagel und sagte: »Ich soll hier irgendeine Liste mit Bestellungen für Silvester und Neujahr abholen.« Ohne sich viel dabei zu denken, sagte Paul: »Warum gehst du nicht rauf zu Louises Zimmer im dritten Stock? Klopf leise an, damit du sie nicht weckst, falls sie schläft. Wenn sie wach ist, wird sie dir sicher die Liste geben können. Nimm die Hintertreppe neben der Speisekammer. Oben ist es dann die zweite Tür auf der linken Seite.« Der ältere Junge bedankte sich bei ihm, redete ihn noch einmal mit »Kumpel« an und verschwand. Paul hängte den Wasserkessel zum Kochen über die Feuerstelle. Er wollte sich eine kräftige Tasse Tee mit Milch zubereiten. Ein paar Minuten später ging er von der Küche hinüber in den kurzen Flur. Dort war es verhältnismäßig dunkel. Von hier beobachtete er den Botenjungen, der vor dem geschmückten Weihnachtsbaum stand und ihn bewunderte. Ehe Paul sich bemerkbar machen konnte, dröhnte vom Treppenabsatz im zweiten Stock eine Stimme herunter. »Du da unten! Was treibst du da?« »Ich sehe mir nur mal den Baum an, Kumpel.« Manfred Blenkers kam die Treppe heruntergeeilt. »Ich hab’ dich doch schon mal gesehen. Wie heißt du?« »Jimmy Daws. Ich komme von Frankel.« »Wir gestatten Lieferanten zu diesem Teil des Hauses keinen Zutritt. Verschwinde augenblicklich!« Aus Manfred Blenkers’ Mund klang das Wort »Lieferanten« wie ein schlimmes Schimpfwort. Obgleich Manfred die oberste Instanz in allen Haushaltsangelegenheiten war, dachte Paul, daß dies doch etwas zu weit ging. Er machte ein paar Schritte, damit sie ihn sehen konnten. »Ich habe ihn raufgeschickt, Manfred. Er wollte zu Louise, um eine Bestelliste für Montag abzuholen. Ich sagte, er könne zu ihr raufgehen und sich bei ihr die Liste holen, falls sie wach ist.« »Du hast dieser Person gestattet, ungehindert im Haus herumzuschleichen?« »Ja, was ist denn daran so schlimm?« Paul ärgerte sich über den anklagenden Ton in Manfreds Worten. »Hören Sie«, ergriff der Botenjunge das Wort. »Ich bin über die Hintertreppe raufgegangen, hab’ mit ihr geredet, bekam die Liste und kam wieder runter. Na und? Sie regen sich verdammt noch mal über nichts auf.« »Fluche nicht in diesem Haus, oder ich sorge dafür, daß du rausfliegst, du Gossenbengel. Sieh zu, daß du schnellstens von hier verschwindest.« Paul entschied, daß er das nicht zulassen durfte. Er nahm seinen ganzen
344
TEIL VIER
Mut zusammen und machte einen Schritt vorwärts. »Mr. Blenkers, Sie haben kein Recht, ihn derart zu beschimpfen.« »Wie bitte? Was sagst du zu mir?« Irgendwo über ihnen erklang ein erschrockener Seufzer. Paul entdeckte Fritzi, die hinter dem Geländer auf dem oberen Treppenabsatz kauerte. »Ich habe gerade gesagt, Mr. Blenkers, daß er mit Louise sprechen mußte. Ich habe ihm nur erklärt, wo sie war. Was ist daran so schlimm?« »Das wird dein Onkel entscheiden, wenn er nach Hause kommt.« »Wenn Sie es ihm erzählen wollen, nur zu. Ich werde meinen Standpunkt erklären, und dann werden wir sehen, wer am Ende Sieger ist.« Paul sagte es ruhig und sah dabei den Hausdiener an, der mittlerweile einen gequälten Gesichtsausdruck hatte. Der Botenjunge klopfte die ganze Zeit nervös mit der rechten Hand auf die Vorderfront seines langen braunen Kittels. Seine linke Hand hatte er tief in der Tasche vergraben, als habe er Leibschmerzen und hielte sich den Bauch. Manfred begriff, daß seine Autorität verletzt worden war. Mit einer heftigen Handbewegung rief er: »In Ordnung, das reicht jetzt. Verschwindet! Und zwar beide!« Er stampfte die Treppe hinauf. Grinsend deutete Paul mit einem Kopfnicken auf die Küche, und der Botenjunge folgte ihm nach draußen. Als die Tür zufiel, hörte Paul Fritzis fröhliches Lachen und Händeklatschen. Der Kessel dampfte. Paul nahm ihn mit einer Zange vom Haken und stellte ihn zum Abkühlen auf eine Zierfliese. Jimmy Daws betrachtete ihn eindringlich. Offenbar wollte er sich zu dem Vorfall äußern. »Vielen Dank, daß du mir bei diesem Kerl geholfen hast. Ich bin früher schon mal mit ihm aneinandergeraten. Irgendwann schneide ich ihm die Kehle durch.« Paul konnte sich nicht vorstellen, daß es dem Botenjungen damit ernst war. »Manfred ist eigentlich ganz in Ordnung, aber manchmal benimmt er sich, als habe er hier das Kommando. Niemand kann ihn besonders gut leiden. Möchtest du eine Tasse Tee?« »Ich mag das Zeug nicht. Muß sowieso weiter. Hab’ noch weitere Lieferungen zu machen. Aber eins kann ich dir sagen, normalerweise freunde ich mich mit Deutschen nicht so schnell an. Bei dir mache ich eine Ausnahme. Hand drauf, Kumpel.« Sie besiegelten das neue Bündnis mit einem Händedruck. Dabei behielt Jimmy Daws die linke Hand in der Kitteltasche. Er verließ die Küche, und Paul bereitete sich seinen Tee. Als die Familie sich an diesem Abend zum Essen niederließ, bemerkte Tante Ilsa sofort etwas Ungewöhnliches und schlug entsetzt die Hand vor
JULIE 1893 – 1894
345
den Mund. Eines der Regalbretter im Porzellanschrank mit dem goldgeränderten bayerischen Geschirr war leer. »Der größte Teller ist verschwunden. Das wertvollste Stück.« Sie ging zum Schrank. »Und ein kleiner Teller fehlt. Nein, zwei!« Paul erinnerte sich, daß der Botenjunge ständig eine Hand in der Tasche gehabt hatte, als verstecke er etwas unter seinem Kittel… Tante Ilsa entschuldigte sich und zog ein Taschentuch hinterm Gürtel ihres Rocks hervor, während sie hinausging. Paul war wie am Boden zerstört. Er schob seinen Teller beiseite. Der Appetit war ihm vergangen. »Onkel Joe, ich glaube, es war meine Schuld.« »Nein!« rief Fritzi von der anderen Seite des Tisches. Niemand beachtete sie. Paul erklärte, was geschehen war. »Ich hab’ ihn nach oben geschickt. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er ein Dieb ist.« »Wie solltest du auch?« Das war Tante Ilsa. Sie war wieder zurückgekommen und tupfte sich mit dem Taschentuch die von Tränen geröteten Augen ab. Sie trat hinter Pauls Stuhl und tätschelte seine Schulter. »Du bist ein vertrauensvoller Mensch, Pauli. Du hast in bester Absicht gehandelt. Sage ich nicht immer, daß Menschen viel wichtiger sind als irgendwelche Dinge?« »Es war auch gar nicht Pauls Schuld«, sagte Fritzi. »Manfred ist mit dem Botenjungen umgesprungen, als sei er der letzte Dreck. Paul war sehr tapfer. Er hat Manfred zurechtgewiesen.« »Ich bezweifle nicht, daß Manfred den Tadel verdient hat«, stellte Onkel Joe fest. »Er ist ein hervorragender Angestellter, aber manchmal kann er furchtbar –« Er verstummte, als Helga mit dem Nachtisch auf einem Tablett hereinkam. Es gab Kullerpfirsiche, Meringuetörtchen und frischgebackene Springerle. Onkel Joe schickte warnende Blick über den Tisch. Niemand redete. Paul brach sich beinahe einen Zahn ab, als er herzhaft in das harte, mit Anis gewürzte Springerle biß, dessen Oberseite einen Weihnachtsbaum zeigte. Er hatte für den Keks keine Augen. Dafür warf er Fritzi einen dankbaren Blick zu. Sie reagierte mit einem verträumten Lächeln. Sie hat keine Ahnung, daß ich eine Freundin habe … Nun, er würde Fritzi nichts von Julie erzählen. Sie hatte sich für ihn eingesetzt. Wie konnte er jemanden verletzen, der sich so fürsorglich und loyal gezeigt hatte? Seine Erkältung hielt sich hartnäckig. Sein Fieber stieg sogar. Zwei Tage lang lag er phantasierend im Bett. Dann sank die Temperatur, begleitet von
346
TEIL VIER
heftigen Schweißausbrüchen. Tante Ilsa wechselte selbst seine Bettwäsche und bestand darauf, daß er sich noch mindestens drei weitere Tage ausruhte. Fritzi besuchte ihn beinahe stündlich. Ob er ein Glas heiße Milch haben wolle? Oder sollte sie sich aus dem Haus schleichen und ihm ein paar Nick Carter-Romane kaufen? Sie könne ihm aber auch eines ihrer Bücher über Traumdeutung leihen. Oder Tennysons Idylls of the King? Ihr Theateralbum vielleicht? »Ich habe wunderschöne neue Bilder von Richard Mansfield und James O’Neill.« Oder hätte er Lust auf ein paar Pantomimen? Wenn ja, auf welche –? »Es geht mir gut, Fritzi, danke, ich brauche nichts. Vielen Dank auch dafür, daß du mich verteidigt hast.« »Vetter Paul, ich muß dich vor etwas warnen.« »Und wovor?« Sie beugte sich über das Bett und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Es ist etwas sehr Ernstes. Nicky Speers hat es mir verraten.« Fritzi liebte Theatralik. Sie konnte aus dem nebensächlichsten Thema ein Melodram machen. »Was hat er dir verraten?« »Manfred hat es auf dich abgesehen. Er hat Nicky erzählt, daß du ihn blamiert hast. Daß du seine Autorität untergraben hast.« »Was habe ich?« »Seine Position erschüttert. Manfred verzeiht es niemals, wenn jemand mit ihm auf diese Weise umspringt. Sei lieber vorsichtig.« »Ich werde daran denken.« »Ich meine nicht nur heute, sondern auch in Zukunft.« »Ich verspreche es. Was ist denn mit dir? Du hast für mich Partei ergriffen!« »Mit mir sollte er sich lieber nicht anlegen! Sonst rede ich mit Papa, und der wirft ihn dann raus!« Paul entschied, daß sie ihm diesmal nichts vorspielte. Sie war ein mutiges Mädchen. Nein, eine junge Frau. Im Januar würde sie ihren dreizehnten Geburtstag feiern. Sie wuchs sichtlich heran, allerdings nicht an den entscheidenden Stellen. Obgleich Tante Ilsa immer darauf hinwies, daß das kein Thema war, über das man sich vor Jungen äußerte, beklagte Fritzi sich oft über ihren flachen Busen. Für sie schien es kein Thema zu geben, über das man nicht reden durfte. »Ehe ich wieder gehe –« Sie faßte in ihre Schürzentasche. »Ich hab’ dir eine kleine Glocke mitgebracht. Klingle, wenn du irgend etwas brauchst. Auch mitten in der Nacht. Ich komme sofort.« »Ja, danke, ich klingle ganz bestimmt.« Kaum hatte sie das Zimmer
JULIE 1893 – 1894
347
verlassen, schob er die Glocke unters Bett. Er gähnte ausgiebig. Er vergaß seine Kusine augenblicklich und begann von Julie zu träumen. Wie sollte er es nach der Eislaufsaison anstellen, sie wiederzusehen? Das war ein Problem, das er unbedingt lösen mußte. Er würde sich etwas ausdenken. Er war zu allem entschlossen. Sollte ihr Vater nur versuchen, ihn aufzuhalten … 35 JOE CROWN Am Samstagabend nach dem Diebstahl telephonierte Joe Crown mit Abraham Frankel. Frankel war wie vom Donner gerührt und empört. Nein, Jimmy Daws sei am Abend nicht zurückgekommen. »Ach, ich hätte ihn schon vor ein paar Wochen rauswerfen sollen. Ich habe geahnt, daß er ein verkommenes Subjekt ist. Herr Crown, es tut mir wirklich leid. Ich werde Ihnen natürlich den Schaden ersetzen.« »Das ist nicht nötig«, wehrte Joe ab. »Ilsa ist sehr traurig, aber es waren am Ende doch nur ein paar Teller. Sie wird schon darüber hinwegkommen. Dieser Botenjunge – wissen Sie, wo er wohnt?« »In den Elendsvierteln, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Er wollte mir seine Adresse nicht nennen. Er prahlte damit, daß er in einer großen Wohnung in einer anständigen Gegend lebe, aber ich wußte, daß das eine Lüge war. Jimmy hat ständig irgendwelche Schwindeleien über sich selbst und sein Zuhause erzählt.« Joe erstattete Anzeige gegen ihn, allerdings ohne Erfolg. Es war einfach unmöglich, einen Dieb aufzustöbern, der entschlossen war, sich in der kriminellen Unterwelt Chicagos zu verstecken.
348
TEIL VIER
36 JULIE Am Neujahrsmorgen bürstete Nell Vanderhoff Julies Haar. Dieses Ritual war an diesem Tag besonders wichtig. Am 1. Januar fand stets eines der bedeutendsten gesellschaftlichen Ereignisse statt, an denen die Vanderhoffs dank Nell immer teilnahmen. Ihre Familie, die Fishburnes aus Lexington, gehörte zur elitären Chicagoer Gemeinde der Leute aus Kentucky, und dies traf auch auf die Gastgeberin zu, deren Haus sie an diesem Nachmittag aufsuchen würden. Julie fühlte sich an diesem Morgen wunderbar. Seit Beginn der Eislaufsaison hatten ihre Gesundheitsprobleme sich verflüchtigt. Ausgiebige körperliche Betätigung in frischer Winterluft war nicht die einzige Erklärung. Julies Spiegelbild löste die längst vertraute Klage ihrer Mutter aus. »Deine Wangen sind schon wieder gerötet. Viel zu sehr. Mir wäre es lieber, du würdest nicht jeden Sonntag in den Schlittschuhclub gehen. Eine ganze Menge übles Volk trifft sich immer im Lincoln-Park. Welliver Strickland hat mir das in der vergangenen Woche erzählt, als er anrief und du noch oben in deinem Zimmer warst.« Julies graue Augen funkelten zornig. »Der junge Joe Crown ist doch auch in diesem Club, nicht wahr?« »Ja – manchmal.« Sie ging darüber hinweg, als sei sie mit Joe nur ganz flüchtig bekannt. »Du darfst dich nicht mit ihm abgeben. Auch der kleinste Verdacht würde bei deinem Vater einen Tobsuchtsanfall zur Folge haben.« »Ich weiß, Mama. Dabei habe ich eigentlich nie verstanden, weshalb Papa die Crowns haßt.« »Aus vielen Gründen. Sie sind Fremde. Und sie sprechen mit einem grauenhaften Akzent.« »Aber nicht Joe, er ist –« »Es steckt mehr dahinter, viel mehr sogar«, unterbrach Nell sie. »Vor einigen Jahren hörte dein Vater zufällig mit, wie Joe Crown senior häßliche und beleidigende Bemerkungen über die Unternehmer, die sich im Fleischhandel betätigen, fallen ließ. Als sei ein Bierbrauer grundsätzlich etwas Besseres als Philip Armour und Gus Swift und dein Vater.« »Davon habe ich schon gehört, Mama. Aber niemand will mir verraten, was genau Mr. Crown gesagt hat. Welche Bemerkungen hat er denn nun gemacht?« »Dein Vater erging sich nur in vagen Andeutungen, und ich weigere mich, selbst die zu wiederholen. Du mußt mir schon glauben, daß der Zorn deines Vaters voll und ganz gerechtfertigt ist.«
JULIE 1893 – 1894
349
Nell legte ihre zierlichen, von feinen Adern überzogenen Hände auf Julies Schultern. Der Atem der älteren Frau roch leicht muffig wie die Luft eines Krankenzimmers. »Es ist mein Ernst, Juliette, du darfst dich mit dieser Familie nicht abgeben. Wenn du deinen Vater liebst und achtest, wirst du bestimmt –« Julie sprang auf. »O Mama, weshalb wird es immer so hingestellt? Wenn ich dich und Papa liebe, dann soll ich dies tun, dann soll ich das tun. Ich kenne Mr. Crown nicht, aber Joe ist ein anständiger Kerl.« »Eben das glaube ich nicht. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß er radikale Ansichten vertritt. Er ist ein richtiger Sozialist und macht seinem Vater damit eine Menge Ärger.« »Das kann schon sein, aber ich mag ihn.« Nell löste sich von ihrer Tochter und trat einen Schritt zurück. »Ich bin sehr enttäuscht.« »Tut mir leid. Aber ich bin sechzehn, fast siebzehn. Ich habe meine eigene Meinung. Das heißt nicht, daß ich dich oder Papa nicht liebe.« »Ich bin enttäuscht«, wiederholte Nell. »Was ich damit sagen will – wenn ich es unbedingt offen aussprechen muß – ist, daß es mich tief verletzt.« Bitte, nicht schon wieder. »Mama, du weißt, daß ich niemals –« »Ich muß mich sofort hinlegen. Mein Herz schlägt wieder wie rasend.« Oh, ich flehe dich an … »Ich schicke eins der Mädchen, damit es dir mit dem Korsett hilft. Wir dürfen nicht zu spät kommen.« »Mama«, rief sie verzweifelt. Umsonst. Die Tür zum Flur fiel ins Schloß. Julie ließ sich zurücksinken, verschränkte die Hände, bis sie sich weiß färbten. Warum mußte Mutter immer ihre angegriffene Gesundheit als Waffe einsetzen? Dagegen konnte Julie überhaupt nichts ausrichten, denn tief in ihrem Innern war sie immer noch die gehorsame Tochter. Die alles recht machen wollte; die geliebt werden wollte … Sie erinnerte sich an den fürchterlichen Streit wegen ihrer weiteren Ausbildung im vergangenen Jahr. Tante Willis, die ältere Schwester ihrer Mutter, hatte nach dem Bürgerkrieg zwei Jahre lang das Oberlin College besucht. Während einer ihrer Besuche hatte Tante Willis Julie davon überzeugen können, daß junge Frauen gebraucht würden und tatsächlich ein Anrecht auf die gleiche höhere Erziehung hätten wie Männer. Als Beispiel nannte sie eine berühmte Frau aus der Stadt, Miss Jane Addams von der Hull-House-Stiftung. Miss Addams und ihre weiblichen Mitstreiterinnen
350
TEIL VIER
halfen erfolgreich den Armen Chicagos und schufen ein Modellprogramm, das Vorbildcharakter hatte. Tante Willis sagte weiterhin, dazu seien sie nur deshalb in der Lage gewesen, weil sie gebildet wären. »Aufgeklärt«, das war das Wort, das Willis benutzt hatte. Nach mehreren Diskussionen über dieses Thema mit ihrer Tante hatte Julie ihren Eltern verkündet, daß sie das College besuchen wolle. Julies Vater, ein polternder, gottloser Mensch, hatte seine Schwägerin am Abendbrottisch beschimpft und verflucht. Nell Vanderhoff sagte, sie wolle über die Bitte ihrer Tochter nachdenken, allerdings wurde diese Erklärung von einem leidenden Blick begleitet. Am nächsten Tag schloß sie sich in ihr Zimmer ein und legte sich mit einem ihrer Anfälle ins Bett. Willis reiste am Tag danach ab. Drei weitere Tage verstrichen, qualvolle Tage für Julie. Am vierten Tag ging sie zu ihrem Vater und erklärte, sie habe sich alles noch einmal überlegt, sie wolle eigentlich doch nicht aufs College gehen. Was schließlich alles für sie geändert hatte, war der deutsche Junge. So nannte sie ihn meistens, wenn sie an ihn dachte, der deutsche Junge, weil er achtzehn Tage jünger war als sie. Aber er war kaum mehr ein Junge. Er war stark und schon fast ein reifer Mann. Er war still. Äußerte sich niemals zu irgendwelchen trivialen Dingen. Manche mochten das irrtümlich für eine gewisse Trägheit oder Schüchternheit halten. Das war ein Irrtum. Während ihrer gemeinsam verbrachten Sonntage war Julie zu der Überzeugung gelangt, daß Paul nur deshalb so still war, weil er zuhören, beobachten und lernen wollte. Nicht daß es ihm an Geist oder Ehrgeiz mangelte. Von beidem besaß er genug. Er hatte des öfteren davon erzählt, wie aufregend es wäre, wenn er sich in diesem neuen Bereich der Photographie betätigen könne. Er hatte eine ganz besondere Art an sich. Eine grundlegende Anständigkeit. Freundlichkeit, Intelligenz, Stärke – eine wunderbare Kombination von Vorzügen, dachte sie, während sie sich ankleidete. In ihren Augen hatte der deutsche Junge keine Mängel, keinen Fehler. Sie war in ihn verliebt. Und er ahnte wahrscheinlich nicht einmal etwas von ihren Gefühlen. Daß sie bei jeder Berührung durch ihn geradezu dahinschmolz. Daß sie fast in Ohnmacht fiel, wenn er beim Schlittschuhlaufen seinen starken Arm um ihre Taille legte. Allein seinetwegen träumte sie ständig von einer idyllischen Zukunft. Aber über ihren Tagträumen lag ein bedrohlicher Schatten. Was würde wohl geschehen, wenn sie vor die Wahl gestellt würde, sich für Paul oder
JULIE 1893 – 1894
351
für ihre Familie zu entscheiden? Sie wollte ihrer Mutter nicht weh tun. Aber sie konnte den deutschen Jungen auch nicht aufgeben … In diesem Zustand innerer Zerrissenheit machte Julie sich gegen halb zwei mit ihren Eltern in der Familienkutsche auf den Weg. Ihr Ziel war das Haus von Mr. und Mrs. Potter Palmer, 1350 Lake Shore Drive, das von Freunden wie Feinden allgemein nur Palmer Castle, Palmer-Burg, genannt wurde. Während der Wirtschaftskrise von 1893 waren bereits etwa 16000 Firmen pleite gegangen. Mehr als 50 verfügten über ein Kapital von über 1 Million Dollars. Große Industriebetriebe wie die Pullman-Werke hatten zahlreiche Arbeiter entlassen, die Arbeitszeit der verbliebenen verkürzt und ihre Löhne um 30,40, ja sogar 50 Prozent herabgesetzt. Man erzählte sich, daß in den Wohnungen und Bruchbuden der Arbeitslosen die Kinder den ganzen Tag im Bett blieben, weil dies die einzige Möglichkeit war, sich warm zu halten und den Winter zu überstehen. Diese Not drang niemals bis Palmer Castle vor. Sogar dessen Türen signalisierten Uneinnehmbarkeit. Es gab keinen Knauf und keine Klinke. Nicht einmal Schlüssellöcher oder Verriegelungen waren zu sehen. Mit ihrem 25 Meter hohen Turm und ihren mit Zinnen bewehrten Gebäuden erinnerte die Palmer-Residenz an eine alte englische Burg. Potter Palmer und seine Frau hatten das Bauwerk eigenhändig entworfen, und es hieß sogar, daß sie auch verantwortlich waren für das seltsame, abweisende Fassadenmaterial – Granit aus Wisconsin, kombiniert mit Sandstein aus Ohio. Als die Vanderhoffs eintrafen, war die Auffahrt mit Fahrzeugen verstopft, die von livrierten Männern gelenkt wurden. Sie alle traten ziemlich großspurig auf. Die Vanderhoff-Kutsche war durchaus groß und teuer, aber eher unscheinbar, verglichen mit dem Gefährt, das bereits einige Plätze vor ihnen in der Schlange stand. Nell deutete darauf. »Die Pullmans sind schon da!« Mason Putnam Vanderhoff III. knurrte gereizt. War Nell ein elfenhaftes Geschöpf, so war Pork Vanderhoff ein Riese. Er war ein massiger, breitschultriger Klotz von einem Mann und fast zwei Meter groß. Er wog zwischen 122 und 127 Kilo, wovon ein beachtlicher Anteil einen eindrucksvollen Bauch bildete. Pork hatte einen faltigen Hals und kleine graue Augen, die niemals stillzustehen schienen. Obgleich er schon zu den Leuten mittleren Alters zählte, war sein Haar noch immer so schwarz wie das eines Indianers. Er hatte es mit Pomade auf Hochglanz gebracht und trug es straff nach hinten gekämmt. Die Leute sagten, er sei der attraktivere
352
TEIL VIER
der beiden Brüder, die das Unternehmen Vanderhoff mit seinen verschiedenen Produkten führten, die unter dem »Big V«-Markenzeichen vertrieben wurden. Israel Washington Vanderhoff- I.W. wie er genannt wurde – war das leitende Finanzgenie, während Pork für Produktion und Vertrieb verantwortlich war. I.W. wohnte in New York. Er war dreimal geschieden und stieg jeder jungen Schauspielerin nach. Mindestens einmal im Jahr schwor er dem Alkohol ab und machte eine Wasserkur. Porks Körpergröße war eine ständige Last für ihn. Er mußte sich bücken, um durch Türen zu gehen oder um halbwegs bequem in Kutschen sitzen zu können. Genauso wie der Gastgeber dieses Nachmittags, Potter Palmer, war Pork ein schüchterner, stiller Mann, wenn er sich unter Leuten befand, die er nicht kannte; andererseits war er sehr laut und pflegte eine ausgesprochen drastische Ausdrucksweise, was Nell stets vor Scham im Boden versinken ließ. Viele Industrielle Chicagos waren im Begriff, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen und sich zur Ruhe zur setzen. Einige, wie Marshall Field, den Pork aus dem exklusiven Commercial Club kannte, weigerten sich sogar, zu gesellschaftlichen Ereignissen zu erscheinen. Seine Ehefrau Nanny pflegte ihn zu vertreten. »Übrigens, Mason«, sagte Nell und rückte nervös ihren Hut zurecht, »erhielt ich gestern einen Brief von Willis. Sie kommt uns wie üblich im Frühjahr besuchen.« »O verdammt noch mal, warum kann diese Frau nicht mal ernstlich krank werden? Ich verabscheue sie. Sie ist fast so schlimm wie eine Hure. Die würde sogar einen Nigger küssen, wenn sich ihr halbwegs die Chance dazu böte.« Julie krümmte sich innerlich, weil sie ihre wilde und ungebundene Tante von Herzen liebte. Der Vater der Fishburne-Schwestern hatte sich sehnlichst einen männlichen Nachkommen gewünscht. Als das Schicksal ihm die Erfüllung seines Wunsches versagte, bestand er darauf, daß sein Erstgeborenes nach ihm benannt wurde. Daher Willis. Im Süden herrschte die schöne Tradition, Mädchen angesehener Familien auf den Namen des Familienoberhaupts zu taufen. Aber die Mädchen mußten sich dann für den Rest ihres Lebens mit den Verwicklungen herumschlagen, die durch das Tragen eines männlichen Namens entstehen konnten. Die Kutsche bewegte sich wieder. Einige Diener Palmers sprangen herbei, um den Schlag zu öffnen. Kurze Zeit später legten die Vanderhoffs in der riesigen achteckigen Eingangshalle ihre Umhänge ab. Die Halle ragte drei Stockwerke hoch auf, ihre Wände waren mit Gobelins bedeckt. Den harten, hallenden Fußboden zierte ein Mosaik aus italienischem Marmor. Tannenduft erfüllte das ganze Haus. Irgendwo in der Ferne spielte ein
JULIE 1893 – 1894
353
Streichorchester gegen das allgemeine Gemurmel an. Eine unüberschaubare Gästeschar hatte sich eingefunden. Aufgeregt sagte Nell: »Ich muß unbedingt Bertha suchen. Komm doch bitte mit, Juliette.« »Ich sehe mich mal um, ob ich einen von den Jungs auf treibe«, sagte Pork. Mit »Jungs« meinte er seine gleichrangigen Kollegen in Geschäftswelt und Gesellschaft. »Es ist schon jetzt gottverdammt heiß hier.« Nell verdrehte die Augen. Pork marschierte davon und unterhielt sich wenig später mit dem Eigentümer der Tribune, Joe Medill, einem ehemaligen Bürgermeister. Er und Pork waren stramme Republikaner. Medill, mittlerweile über Siebzig, wurde allgemein als Gründer der Partei angesehen. Einige erzählten sogar, er habe ihr den Namen verliehen. In Kanada geboren, war er in den fünfziger Jahren aus Ohio nach Chicago gekommen und hatte sich mit einer bescheidenen Summe in die Tribune eingekauft. Er wurde ein enger Freund Abraham Lincolns und unterstützte seine Nominierung, als die Republikaner 1860 im Wigwam in Chicago ihren Parteitag abhielten. Nell Vanderhoff behandelte Joe Medill nur deshalb mit Respekt, weil er eine wichtige Persönlichkeit war. Als echte Tochter Kentuckys und Angehörige einer konservativen Familie hatte sie nicht vergessen, daß Medill nicht nur vehement die Abschaffung der Sklavenhaltung verfochten hatte, also Abolitionist war, sondern auch die Politik der Konfiszierung, als er nach Ende des Krieges öffentlich gefordert hatte, das Grundeigentum der Bewohner des Südens einzuziehen. In diesem Punkt wurde Mr. Medill von seinem Freund geschlagen, dem später ermordeten Präsidenten, der eine etwas gemäßigtere Politik vertrat. Nell grüßte Medill mit einem Kopfnicken, als sie an ihm vorbeiging. Seiner Frau Katharine, für die sie einiges mehr übrig hatte, winkte sie lächelnd zu. Katharine entfernte sich gerade von ihrem Mann, um sich zu einer Gruppe zu gesellen, zu der auch Samuel Insull, der aus England stammende Direktor der Chicago Edison Power Company, gehörte. Mr. Insull war ein ernster, ja pedantischer Mann mit beginnender Glatze und einem Kneifer auf der Nase. Er war etwa fünfunddreißig und einer der wohlhabendsten Junggesellen der Stadt. Nell hatte dies einmal beiläufig gegenüber Juliette erwähnt und sie damit über die Maßen erschreckt. Mr. Insull galt allgemein als kleine Berühmtheit, denn er hatte für einige Zeit sehr eng mit Thomas Edison in England zusammengearbeitet. In England hatte er mitgeholfen, eine sehr erfolgreiche Edison-Filiale zu gründen. Dadurch hatte er sich die Beförderung zum Privatsekretär des berühmten Mannes in Amerika erstritten. Pork Vanderhoff, selbst ein
354
TEIL VIER
aggressiver Geschäftsmann, hatte schon mehr als einmal in ehrfürchtiger Bewunderung von Insull gesprochen. »Ein gottverdammt gerissener Engländer. Die Jungs sagen, daß er auch eine Portion jüdisches Blut in seinen Adern hat. Ein echter Machertyp.« Am Ende fanden Edisons Partner und sogar dessen Familie Insull einfach zu überlegen und ehrgeizig. Deshalb erzwangen sie seine Entlassung. Edison half ihm persönlich, einen neuen Posten zu finden. Der Erfinder betrachtete den Mittleren Westen als einen vielversprechenden Markt für elektrischen Strom, daher wurde Insull als der ideale Mann vorgestellt, um die neue Chicago Edison Company zu leiten. Viele Stromgesellschaften belieferten damals die Stadt. Die handelsüblichen Generatoren konnten nur Strom für ein Gebiet von etwa vier Straßenblocks erzeugen. Als die Maschinen besser und leistungsfähiger wurden, schluckte Insull still und stetig andere Firmen und vergrößerte das eigene Leitungsnetz. »Dieser Mann hat sämtliche Kerzen und Petroleumlampen in Chicago zum Verlöschen gebracht«, sagte Pork. »Das gleiche wird er noch im ganzen Land machen, wartet nur ab.« Nell achtete genau auf Mr. Insulls Reaktion auf die Ankunft von Katharine Medill. Er begrüßte sie mit einer formellen Verbeugung, ergriff aber nicht die Hand, die sie ihm reichte. »Er mag keine Zeitungsleute, er hält sie für aufdringliche Schwätzer«, flüsterte Nell ihrer Tochter Julie ins Ohr. »Es überrascht mich, daß Bertha es überhaupt geschafft hat, ihn herzulocken. Er trinkt nichts und besucht nur sehr selten Parties.« Während sie Insulls arrogantes Auftreten beobachtete, dachte Julie, daß Gastgeberinnen wahrscheinlich grundsätzlich kaum den Wunsch hatten, ihn einzuladen, es sei denn, sie hatten ledige Töchter. »Sollen wir mal in den Salon gehen und nachsehen, ob wir Bertha dort finden?« fragte Nell. Julie folgte ihr gehorsam, und während sie sich ihren Weg durch das Gedränge der Gäste bahnten, sahen sie mehrere McCormick-Kinder, mittlerweile erwachsen, sowie Nettie McCormick. Sie war die zerbrechlich wirkende, aber berüchtigt zähe und unbeugsame Witwe des ziemlich ungebildeten Virginiers, der mit der Mähmaschine, die er zuerst in den dreißiger Jahren gebastelt hatte, ein Wirtschaftsimperium aufgebaut hatte. Cyrus McCormick war 1847 nach Chicago gezogen und hatte dort eine kleine Fabrik eröffnet, um die Herstellung seiner Mähmaschine zu zentralisieren. Die Mähmaschine revolutionierte den Ackerbau in den weiten Ebenen von Kansas bis hin zu den russischen Steppen. Sie bildete den Grundstein zum riesigen McCormick-Vermögen, aber McCormick erfand noch viele andere landwirtschaftliche Maschinen. In späteren Jahren
JULIE 1893 – 1894
355
hielten er oder seine Stellvertreter sich ständig in irgendwelchen Gerichtssälen auf, wo sie in Patentrechtsprozessen als Kläger oder Beklagte auftraten. Lincoln hatte einmal einen Prozeß gegen ihn gewonnen. Die Geschichte seines Imperiums war nicht frei von blutigen Kapiteln: Der Streik in seiner Fabrik war der Auslöser für die Haymarket-Demonstration gewesen. Die Suche unter den Gästen führte Nell und Julie in die Nähe eines stämmigen Gentleman mit silberner Haarmähne, funkelnden blauen Augen und mächtiger Stirn. Nell beschleunigte ihre Schritte und eilte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Potter.« »Meine liebe Nell! Und Julie. Wie reizend ihr beiden ausseht! Ein glückliches neues Jahr wünsche ich. Vielen Dank, daß ihr gekommen seid.« »Kann ich mir so etwas entgehen lassen? Niemals, mein Lieber. Wo können wir Bertha finden? Hier herrscht ja solch ein Betrieb.« »Dort drin. Sie ist bei unserem Ehrengast aus New York, der Schriftstellerin.« Potter Palmer unterhielt sich mit den Vanderhoffs in freundlichem, lässigem Ton. Auf Grund der Verbindung mit Kentucky kannte er sie sehr gut. Auch mit Pork verband ihn einiges. Palmer war ein Yankee aus dem Osten, der seine Chance gewittert und ergriffen hatte, als Chicago noch eine junge Stadt gewesen war. Das gleiche galt auch für Pork, der aus Connecticut, und für Field, der aus Massachusetts stammte, sowie für Armour und Pullman, beides Männer aus dem Staate New York. Wie sie war Palmer in den dreißiger Jahren geboren. Er hatte ein Vermögen mit Immobiliengeschäften, Baumwollhandel – während des Bürgerkriegs – und mit Gemischtwaren verdient. Lange Zeit schickte R.H. Macy, der Kaufhausbetreiber, alljährlich Beauftragte aus, damit sie in Palmers Warenhaus spionierten, es war berühmt für seine Sonderangebote, seine geschmackvollen Schaufensterdekorationen und sein ständiges, hingebungsvolles Bemühen um die Zufriedenheit der Kundschaft. Marshall Field und sein Partner Levi Leiter hatten ihr eigenes Vermögen damit verdient, daß sie sich ihren Anteil am Palmer-Laden auszahlen ließen. »Ich habe zwar keine Zeit, um viel zu lesen, aber ich nehme an, Sie kennen die Romane dieser Lady, Nell«, fuhr Palmer, an Nell und Julie gewandt, fort und hakte sie unter, um sie zum Weitergehen zu animieren. Andere Gäste erwarteten bereits, daß er ein wenig Zeit für sie erübrigte. Indem er mit einem Kopfnicken auf Julie wies, fügte er hinzu: »Für junge Mädchen sollen sie angeblich zu schlüpfrig sein, wurde mir erzählt.« Nell lächelte affektiert. »Wenn ich den Namen der Lady wüßte, könnte ich …«
356
TEIL VIER
»Habe ich den noch nicht genannt? Mrs. I. J. Blauvelt.« »Du liebe Zeit, tatsächlich?« Nell fächelte sich mit einem Taschentuch frische Luft zu. Julie wurde es schlagartig wärmer. Mrs. I. J. – für Isabel Judith – Blauvelt schrieb jene Art von Romanen, die man mit aufgeregt geröteten Wangen und fliegendem Puls heimlich unter der Bettdecke las. Sie hatten etwa die gleiche literarische Qualität wie ein Kochrezept, aber das störte niemanden. Mrs. Blauvelt selbst wurde allgemein verdammt. »Sie überschreitet die Grenze zur Lüsternheit unter dem Deckmantel des Naturalismus«, lautete der Vorwurf eines Geistlichen. Ihr jüngstes Werk, Eine Zierde der Gesellschaft, war trotzdem zehntausendmal verkauft worden. Julie liebte Mrs. Blauvelts Bücher, die sie entweder kaufte oder bei Freunden und Bekannten auslieh. Sie waren einander auf beruhigende Art und Weise ähnlich. Die Heldinnen waren immer tugendhaft, immer reich, und sie mußten sich stets gegen Mitgiftjäger und »alte Schwerenöter« wehren. Irgendein anständiger, armer junger Mann – ein athletischer Decksteward, ein wortgewandter Reporter, ein verkanntes Dichtergenie – tauchte gegen Ende jeder Story auf, um auf die wahren Werte des Lebens zu verweisen und die Heldin aus den Klauen ihres nichtswürdigen Verehrers zu befreien und sie in ein seliges letztes Kapitel voller malerischer Sonnenuntergänge, Schwärme weißer Tauben und mit Blumen berankter Landhäuser zu entführen. Das Ganze spielte sich stets an besonders prächtigen Schauplätzen ab: in einem Seebad in Europa, in Saratoga während der Rennsaison oder in den Villen von Newport und New York. Mrs. Blauvelt wählte für ihre sensationsgierigen Leser niemals Terre Haute, Laramie oder Palatka in Florida. Julie teilte ihre Vorliebe für billige und gewagte Romane mit einer Legion Frauen jeden Alters, von der kleinen Verkäuferin bis hin zur eleganten, reichen Lady. Was für eine Sensation, Mrs. Blauvelt unter den Gästen zu haben! Sekundenlang dachte sie sogar nicht einmal mehr an Paul. Mutter und Tochter drängten sich in den überfüllten Salon, der im Stil Ludwigs XVI. gehalten war. Er war der erste seiner Art in Chicago – ein Traum in Gold und Weiß – mit einer eigens dafür geschaffenen Wand- und Deckendekoration, die ein Meer von Rosenblüten und drallen, rosigen Amorgestalten im Flug zeigte. »Ah, dort ist sie ja!« rief Nell. »Bertha!« »Liebste Nell«, sagte Bertha Honoré Palmer und schwebte heran, um ihre Freundin zu umarmen. Sie beeilte sich niemals. Sie vertraute darauf, daß man stets auf sie wartete. »Wie reizend, daß Sie hergekommen sind. Und Julie auch. Haben Sie Judith schon kennengelernt? Kommen Sie, Sie müssen sie sehen.«
JULIE 1893 – 1894
357
Mutter und Tochter folgten der Frau, die sich selbst den Titel »Gastgeberin der Nation« verliehen hatte – und das nicht ohne eine gewisse Berechtigung. Bertha Palmer war intelligent, hatte eine führende gesellschaftliche Stellung, äußerte stets mit Nachdruck ihre Ansichten und betätigte sich immer wieder als Wohltäterin der Bedürftigen. Sie besaß einflußreiche Kontakte zum Osten. Ihre Schwester Ida war die Ehefrau Fred Dent Grants, des ältesten Sohnes des früheren Präsidenten. Sie ist außerdem wunderbar selbstsicher und attraktiv, dachte Julie. Sie war über Vierzig und hatte eindrucksvolle dunkle Augen und hübsche Gesichtszüge. Zu diesem Empfang trug sie ein weites Kleid in ihrer Lieblingsfarbe Blau und hatte sich winzige Rosenblüten zwischen die Brillanten in ihrem Haar geflochten. »Aber ja, ich habe ihn mit meinem Sonnenschirm geschlagen«, sagte die korpulente Frau gerade, zu der Bertha sie hinführte. Sie stand inmitten eines Dutzends andächtig lauschender Verehrerinnen. »Dreimal! Ich lasse mich nicht von irgendeinem billigen Zeitungsschreiberling beleidigen. Das Interview hatte noch keine fünf Minuten gedauert, da fragte er mich schon, ob ich meine Werke nicht für Schrott hielte. Schrott? Das ist die Zeit der neuen Literatur! Des neuen Realismus! Ich bin eine Künstlerin!« Julie wußte, daß es zutraf, aber nicht so, wie es gemeint war. Mrs. Blauvelt war eine ehemalige Zirkusartistin, die vom Drahtseil herabgestiegen war, um mit dem Schreiben anzufangen, und so zu Reichtum gelangt war. Ihre weiblichen Anhänger murmelten zustimmend und spendeten ihrer Erklärung Beifall. Nell und Julie wurden ihr vorgestellt. »Sehr angenehm«, sagte Mrs. Blauvelt und war sichtlich ungehalten über die Unterbrechung ihres Vertrags in eigener Sache. Sie hatte ein richtiges Pferdegebiß und Augen wie Glasmurmeln. Unter ihrem Kleid wogte ein üppiger Busen. Für das Drahtseil schien sie entschieden zu schwer zu sein. »Wir unterhielten uns gerade über Gene Field, den Kerl, der Isabel verrissen hat«, erklärte eine ältere Frau, von der Julie annahm, daß sie eine McCormick war. Sie brachte die verschiedenen McCormicks ständig durcheinander, glaubte aber, die Frau von Leander, dem Bruder und Partner von Cyrus, vor sich zu haben. »Seine Zeitungskolumne mag ja beliebt sein, aber ich finde ihn einfach unverschämt.« »Wenigstens kann man ihn verstehen«, sagte eine andere Frau. »Dieser furchtbare irische Dialekt Dunnes ist einfach unmöglich.« Sie bezog sich auf Finley Peter Dunnes Mr. Dooley, einen fiktiven Chicagoer Salooninhaber, der philosophische Weisheiten und politische Ansichten im Rahmen einer Kolumne in der Evening Post verbreitete. Julie fand Mr. Dooley spaßig, aber das wagte sie ihren Eltern nicht zu gestehen. Pork
358
TEIL VIER
Vanderhoff haßte die »Saloon-Iren« und ihre ganze Kultur. Julie gefiel die Daily-News-Kolumne »Hieb und Stich« von Eugene Fields – nicht verwandt mit Marshall – sogar noch besser als Mr. Dooley. Field haßte Pomp und Konventionen. Pork konnte Mr. Field natürlich nicht ausstehen. Und Julies Mutter hatte einmal gesagt: »Wie ist es möglich – wie kommt es, daß ausgerechnet jemand, der Lieder und Gedichte schreibt, die bei kleinen Kindern so beliebt sind« – Julie selbst hatte in ihren ersten Schuljahren Little Boy Blue auswendig gelernt –, »sich derart sarkastisch und verächtlich über jene äußert, von denen er weiß, daß sie ihm überlegen sind?« Mrs. Blauvelts Stimme riß Julie aus ihren Gedanken. Die Autorin hatte den autobiographischen Monolog der Selbstbeweihräucherung wieder aufgenommen. Einmal verglich sie sich sogar mit Gustave Flaubert und Emile Zola. Als sie erkannte, daß sich in den Gesichtern der Umstehenden zunehmend Langeweile ausdrückte, stampfte sie sofort davon, um sich neue Zuhörer zu suchen. Die kleine Gruppe löste sich auf. Nell winkte einer anderen Bekannten zu, aber Julie wollte nicht den ganzen Nachmittag damit verbringen, hinter ihrer Mutter herzulaufen, sie schaffte es, zu entwischen, als Nell in eine andere Richtung steuerte. Allein wanderte sie durch die anderen Räume der Villa. Sie ging durch das spanische Musikzimmer, das englische Eßzimmer und durch den maurischen Wandelgang, der in den Ballsaal führte, wo das Orchester musizierte. Der Ballsaal war zweifellos der Mittelpunkt des Festes. Er war fast 35 Meter lang, und es herrschte dichtes Gedränge. Die Gäste bedienten sich mit Eierflip und Madeira, Geflügelsalat und Austern sowie anderen Köstlichkeiten, die auf langen Buffettischen aufgebaut waren. Zahlreiche in Öl gemalte Ladies und Gentlemen blickten von abgesperrten Bildergalerien auf allen Seiten des Raums auf das Treiben herab. Das kleine, elegant gekleidete Orchester spielte auf einem Balkon am hinteren Saalende. Riesige Tiffanyleuchter erhellten die Szenerie, deren Glanz in jedes Dekor gepaßt hätte, das Mrs. Blauvelt sich nur ausdenken konnte. Julie holte sich einen Eierflip und fragte sich betrübt, was Paul in diesem Augenblick wohl tun mochte. Hoffentlich hat er etwas mehr Spaß, dachte sie. Leider würde er niemals zu den Palmers eingeladen. Sie wünschte sich, sie wäre bei ihm. Sie schaute sich suchend um, bis sie flüchtige Bekannte erblickte: Charles Yerkes, den König des Transportwesens, und seine bildschöne zweite Frau Mary Adelaide. Julie wollte nicht mit ihnen reden. Papa konnte den Mann nicht leiden. Er sagte, Yerkes habe wegen irgendeines
JULIE 1893 – 1894
359
Börsenschwindels im Gefängnis gesessen. In Chicago betrieb er ein ganzes Netz von Baufirmen, Dienstleistungs- und Holdinggesellschaften, und obgleich Julie von geschäftlichen Angelegenheiten keine Ahnung hatte und sich auch nicht dafür interessierte, war sie bereits mit den mangelhaften Wagen von Mr. Yerkes gefahren und kannte seine halsabschneiderischen Fahrpreise. Yerkes ignorierte sämtliche Klagen und Beschwerden. Als das Thema der Überfüllung zur Sprache kam, reagierte er darauf mit einem spöttischen Kommentar, der in allen Zeitungen abgedruckt wurde: »Es sind allein die Stehplatzinhaber, die die Dividenden zahlen.« Julies Vater sagte über Yerkes: »Wenn man schon ein gottverdammter Gauner ist, dann ist man es seiner Familie schuldig, es möglichst geheimzuhalten.« Sie schlich sich um Mr. und Mrs. Yerkes herum, nickte und lächelte, als Mary Adelaide sie grüßte. Sie entdeckte ihren Vater in einer Gruppe von Männern und Frauen, die aufmerksam einem anderen Gentleman zuhörten. Sie konnte den Sprecher nicht einordnen, denn sie sah nur seinen Rücken. Sie schob sich durch das Gewimmel der Gäste, bis sie einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Dann erkannte sie ihn sofort. Es war George Pullman, ein imponierender Mann um die Sechzig mit einem buschigen und sorgfältig getrimmten Knebelbart. George Mortimer Pullman war ebenfalls einer der Giganten Chicagos. Auch er hatte genau wie McCormick die Schule frühzeitig an den Nagel gehängt. Er hatte als Schranktischler im Staat New York angefangen, aber er interessierte sich schon frühzeitig für größere Objekte und Ideen. Sein Vermögen, seine große Fabrik und die vorbildhafte Arbeiterstadt, die er in der Nähe erbaut hatte, waren allesamt Früchte einer einzigen Erfindung. Ende der fünfziger Jahre hatte Mr. Pullman zwei Personenwagen der Chicago & Alton-Eisenbahnlinie umgebaut und seine patentierten herunterklappbaren oberen Schlafliegen an die Seitenwände des Waggons geschraubt. Die Passagiere waren von diesem Schlafwagenprototypen begeistert, doch die Eisenbahngesellschaften reagierten skeptisch und übervorsichtig. Nachdem Mr. Pullman 1865 auch eine untere zusammenklappbare Liege vervollkommnet und patentiert hatte, mußte er seinen eigenen Eisenbahnwagen, den Pioneer, selbst finanzieren. Aber der erwies sich als zu groß für die bestehenden Bahnhöfe und Unterführungen. Er wollte jedoch seine Konstruktion, die der Öffentlichkeit gut gefiel, nicht ändern, daher kapitulierten schließlich die Eisenbahngesellschaften vor der Pullman Palace Car Company und bauten ihre Bahnhöfe und Überführungen um. Mr. Pullman hatte außerdem den Speisewagen und den Salonwagen sowie den Eisenbahnwagen mit Harmonikaverbindung erfunden. Papa hielt
360
TEIL VIER
Pullman für anmaßend und arrogant, aber er war immer noch akzeptabel, weil er republikanisch wählte. Mr. Pullman redete ohne Unterlaß, als rechne er nicht mit Unterbrechungen. Seine Gesten waren ausladend und theatralisch. Dieser Mann strahlte wirklich eine unerträgliche Überheblichkeit aus. Julie gesellte sich zu den Zuhörern und fand einen Platz neben Pullmans Frau Hattie. Pork warf seiner Tochter einen flüchtigen Blick zu und bohrte dann gedankenlos die Spitze seines kleinen Fingers in sein rechtes Ohr, als wolle er Ohrenschmalz herauskratzen. »Sie kläffen mich an wie ein Rudel Straßenköter, weil ich die Löhne der Arbeiter gekürzt habe. Das tat ich nur, weil die Bestellungen zurückgegangen sind. Aber nun werde ich dafür gegeißelt, daß ich ähnliche Kürzungen nicht bei den Gehältern der leitenden Angestellten und der Vorarbeiter vorgenommen habe. Und daran erkennt man das totale Unverständnis für die Wirtschaft und das amerikanische System.« »Wie meinen Sie das, Sir?« fragte jemand. »Begreifen Sie denn nicht? Wenn ich die Gehälter meiner leitenden Angestellten kürze, ergibt sich die Gefahr von Massenkündigungen. Am Ende, wenn der wirtschaftliche Aufschwung wieder einsetzt, stünde ich dann nur noch mit einem unvollständigen Management da. Die Gehälter der höheren Leitungsebene nicht anzutasten ist geradezu eine zwingende Notwendigkeit. Desgleichen die Aufrechterhaltung unserer Dividendenzahlungen. Die Öffentlichkeit erwartet acht Prozent bei Pullman-Aktien, also zahlen wir auch acht Prozent. Es ist eine Frage des Vertrauens.« »Diese Leute, die George ständig anklagen, sind ganz einfach hinterhältig und gemein«, verkündete Hattie. »Es gibt sogar unzufriedene Arbeiter, die aber weiterhin ihre Pullman-Löhne beziehen.« »Sie meinen Leute, die eine Stelle haben und trotzdem die Firma kritisieren?« sagte ein Gentleman verblüfft. »Das kann ich nicht glauben.« »Es trifft absolut zu«, sagte Pullman. Wie selbstgefällig er doch ist, dachte Julie. »Aber in dieser Hinsicht bin ich nicht ganz hilflos. Ich habe ein Netz von – nennen wir sie mal Beobachtern – aufgebaut. Sie helfen mir, die schlimmsten Unruhestifter schnell zu erkennen und zu entfernen. Sobald ich so einen entdecke, endet sofort sein Mietvertrag in der PullmanSiedlung.« »Das ist nur gerecht«, meldete Hattie sich wieder zur Wort. »George hat schließlich Hunderttausende investiert, um eine Modellstadt zu errichten. Eine Stadt, in der alles, was häßlich, störend und demoralisierend ist, abgeschafft wurde.«
JULIE 1893 – 1894
361
Julie zögerte, hob aber dann doch die Hand. »Mrs. Pullman, darf ich mal eine Frage stellen?« Hattie Pullman erstarrte. »Wenn Sie wünschen, Miss Vanderhoff.« »Eigentlich geht es nur darum, daß ich etwas nicht ganz verstehe. In den Zeitungen steht, daß man sich in der Arbeiterstadt Pullman darüber beklagt, daß die Mieten nicht gesenkt wurden, obgleich die Arbeiter, also die Mieter, nun viel weniger verdienen.« In Wirklichkeit las sie eigentlich nie Zeitung. Sie hatte es vom jungen Joe Crown gehört. Sie stellte ihre Frage in einem unschuldigen Ton, der eine freundliche Reaktion verdiente. Sie dachte, sie habe eine logische, naheliegende und durchaus berechtigte Frage gestellt. Sie wollte nichts anderes, als von Pullman direkt aufgeklärt werden. Daher war sie überhaupt nicht auf die stumme, wütende Miene ihres Vaters, den vernichtenden Blick Hattie Pullmans und den Zorn des großen Mannes selbst vorbereitet. »Miss Vanderhoff, gehören etwa auch Sie zu jenen schlecht informierten Leuten, die von geschäftlichen Dingen nicht die geringste Ahnung haben? Pullman der Fabrikant und Pullman der Hausherr und Vermieter sind völlig verschiedene Geschäftsunternehmen. Sie dürfen diese beiden nicht durcheinanderbringen.« »Aber es erscheint mir nicht ganz richtig, daß –« »Juliette, wo ist deine Mutter?« unterbrach Pork sie laut. »Wir müssen jetzt leider gehen. George – Hattie – Freunde – ein frohes neues Jahr Ihnen allen.« »Und auch für Sie«, sagte George Pullman ausdruckslos. Er sah Julie an. Es war der Blick, mit dem er normalerweise jemanden musterte, der schmutzig war und stank. In der Kutsche redete niemand. Nell tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab. Als Julie sich vorbeugte, um die Hand ihrer Mutter zu ergreifen und zu erklären, daß sie sich wirklich nichts Böses bei ihrer Frage gedacht habe, zog ihre Mutter die eigene Hand mit einem verletzten Gesichtsausdruck zurück. Sie lehnte die Stirn gegen das Seitenfenster und schloß die Augen. Zu Hause suchte sie sofort ihr Zimmer auf, ohne ein einziges Wort von sich zu geben. Julie ging in ihrem Zimmer auf und ab und wurde immer unruhiger. Krachend flog die Tür auf. »Papa –« »Sag jetzt nichts! Nicht ein verdammtes Wort. Du hättest nicht so mit Pullman reden dürfen. Alle werden davon erfahren. Hast du nicht gesehen, wie sie uns alle angestarrt haben, ehe wir gingen?«
362
TEIL VIER
Julie verlor die Nerven. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es war eine völlig normale Frage –« »Aber nicht von einer wohlerzogenen jungen Frau. Verdammt noch mal! Dein Platz ist im Hintergrund, der Platz einer aufmerksamen, hübsch anzusehenden Zuhörerin. Du hast deiner Mutter heute nachmittag Schande gemacht. Sie liegt schon wieder im Bett, sie ist völlig entkräftet.« An diesem Abend versank Julie in der Düsternis ihres Zimmers ebenfalls in einen Zustand der Düsternis. Sie kämpfte dagegen an, erkannte, was es war: die ersten Anzeichen eines Leidens, das dem ihrer Mutter ähnelte; ein Zustand der Bedrücktheit und Tatenlosigkeit, der Tage, ja Wochen anhalten konnte. Sie begriff, daß ihre Empfindungen wahrscheinlich eine Schuldreaktion auf die Entrüstung waren, die sie mit ihrer Frage ausgelöst hatte. Daß sie das begriff, half ihr nicht, ihre Verzweiflung zu meistern. Paul war vergessen. Sie zog die Bettdecke über den Kopf, rollte sich zu einer Kugel zusammen, verschränkte die Hände und versteckte sich. Warum auch nicht? Frauen hatten nun mal ein empfindliches Nervenkostüm. Derartige Leidenszustände waren unvermeidbar. Das hatte Mama ihr oft genug erklärt.
37 PAUL An einem warmen Märztag, als Tauwetter herrschte, strich Paul durch die Regalgänge in McClurgs Buchhandlung, einem Chicagoer Wahrzeichen in einem alten Klinkerbau an der Ecke Monroe- und Walsh-Straße. In dem Laden roch es aromatisch nach Buchpapier und Ledereinbänden und nach dem Kaffee in der Kanne, die auf einer kleinen Gasflamme in der Nähe einiger Schaukelstühle im hinteren Teil des Ladens stand. Vetter Joe sagte, dies sei die Nische der Heiligen und der Sünder. Viele literarische Persönlichkeiten hatten dort geschaukelt, gelesen und diskutiert. Dort saß ein Mann mit einem aufgeschlagenen Buch. Paul grüßte nervös, als er das erste Mal an ihm vorbeiging. Der Mann antwortete freundlich. Paul fragte sich, ob es jemand Berühmtes war. Der Mann war Anfang Vierzig, lang und hager. Er lümmelte im Schaukelstuhl und hatte ein Bein über die Armlehne gelegt. Er hatte ein freundliches, regelmäßiges Gesicht, blaue Augen wie Vetter Joe, schütteres glattes Haar und ein großes Muttermal auf der linken Wange. Sein zerknautschter Anzug hatte ein grelles Karomuster in Braun, Gelb und Grün. Eine zerbeulte schwarze
JULIE 1893 – 1894
363
Melone lag unter seinem Stuhl. Paul schlenderte langsam durch den Gang und bog in den nächsten ein. Er gab sich Mühe, so leise wie möglich aufzutreten, um den Mann nicht beim Lesen zu stören. Als Paul wieder in seine Nähe kam, blickte der Mann plötzlich hoch und schien etwas zu bemerken. Seine Augen blinzelten warnend. Eine Sekunde später hörte Paul hinter sich dumpfe Schritte. »Junger Mann!« Er wirbelte herum. Es war der kleinliche Angestellte, der ihn schon mißtrauisch beäugt hatte, als er hereingekommen war. »Du wanderst hier herum, als hättest du dich verirrt. Hast du die Absicht, ein Buch zu kaufen?« Nervös griff Paul nach dem Buch, das ihm am nächsten stand. »Ich warte hier auf eine Bekannte. Ist das möglich?« »Es kommt darauf an. Sind deine Hände sauber? Wenn nein, dann faß bitte keine Ware an.« Hastig stellte Paul das Buch zurück. Der Mann im Schaukelstuhl meldete sich zu Wort. »Hören Sie, Simpkins, ich glaube, ich hab’ da hinten eine Schlange gesehen.« »Eine Schlange? Mein Gott, wo?« »Drüben in der Ecke.« Der Mann stand auf. Er war hochgewachsen, schlaksig und hatte hängende Schultern. Er deutete in die angegebene Richtung. Seine Nägel waren bis auf die Fingerkuppen abgekaut. »Ich hab’ gesehen, wie sie hinter die Kiste da vorne gekrochen ist.« »Wir hatten noch nie Reptilien hier drin –« Der Angestellte rannte nach vorne und kam im Laufschritt mit einem Besen zurück. Er hielt ihn vor sich im Anschlag wie ein Gewehr, während er auf die Kiste zuschlich. Der Mann in der Ecke blinzelte Paul zu. Der Angestellte schob die Kiste mit einem Tritt zur Seite. Dort war nichts, außer Staub und einem Spinnennetz. »Mr. Field, ist das wieder einer Ihrer seltsamen Scherze?« Der Mann hatte ein ansteckendes Grinsen auf den Lippen. »Nennen Sie es einfach eine notwendige Ablenkung.« »Zu welchem Zweck, wenn ich fragen dürfte?« »Simpkins, seien Sie nicht so hochnäsig. Wir sind hier bei McClurg’s und nicht in einem Mädchenpensionat. Der Zweck der Übung war, Sie davon abzuhalten, unschuldige Kunden wie diesen jungen Burschen zu belästigen. Haben Sie vergessen, daß eine Buchhandlung dazu da ist, darin herumzustöbern? Das ist ihr einziger, vom Himmel gewollter Zweck. Wenn Sie sich daran nicht mehr erinnern können, gehen Sie lieber auf Schlangenjagd.«
364
TEIL VIER
Simpkins marschierte mit hochrotem Kopf davon. Er funkelte Paul wütend an, als er an ihm vorbeiging. Immer noch amüsiert, ließ der große Mann sich wieder nieder. »Ich glaube, ich muß mich mal mit General McClurg über diesen Wurm unterhalten.« Paul näherte sich dem Schaukelstuhl. »Gestatten Sie mir, daß ich mich bei Ihnen bedanke, Sir.« »Klar, Dutch, und ich sag’ dir auch, wie am besten. Kauf die Daily News. Und lies in Zukunft nichts anderes.« Paul entschied, daß der Spitzname Dutch gar nicht so schlecht klang, wenn jemand ihn in freundlicher Absicht aussprach. »Arbeiten Sie für die Zeitung?« fragte er. »Ich schreibe dafür. Field ist mein Name. Geh schon, sieh dir alle Bücher an, die dich interessieren. Dieser Wurm wird dich nicht mehr stören.« »Danke, ich warte auf jemanden. Sie scheint sich zu verspäten.« »Na ja, hoffen wir, daß sie dich nicht draufgesetzt hat.« Er wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Paul verstand nicht, was »draufsetzen« heißen sollte, es sei denn, es bedeutete, daß Julie nicht käme. Er hatte sie sechs Wochen lang nicht mehr gesehen. Vetter Joe auch nicht. Er wurde fast verrückt vor Sorge und Sehnsucht. Er hoffte, er hatte am vorangegangenen Tag keinen Fehler gemacht, indem er einem der Stallknechte der Vanderhoffs fünfzig Cents gegeben hatte, um eine Nachricht ins Haus zu schmuggeln. »Ich tu’s«, hatte der Bursche gesagt. »Aber es ist möglich, daß sie den Zettel nicht sofort liest. Es geht ihr nicht gut.« »Ist sie krank? Was fehlt ihr?« »Ich hörte, es ist irgendeine Frauensache.« Er nahm seine Wanderung wieder auf und knetete nervös seine Mütze. Er trug noch immer seine Arbeitskleidung. Außerdem hatte er seine Haare länger wachsen lassen, so daß sie ihm fast bis zum Kragen reichten, zum Mißfallen Tante Ilsas, die sich ablehnend dazu äußerte. Sie kommt nicht, es ist vorbei. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich werde sie nie wiedersehen … Das Klingeln der kleinen Glocke über der Ladentür ließ ihn herumwirbeln. Eine Mädchengestalt stand als Silhouette vor dem grellen Schein der Mittagssonne. Draußen schmolzen schmutzigweiße Schneehaufen. Er erkannte sie und war erleichtert. Sie kam durch den Gang geeilt, warf flüchtige Blicke auf den Angestellten und den anderen Kunden. Sein Herz klopfte heftig.
JULIE 1893 – 1894
365
Sie sah nicht gesund aus. Ihre Haut hatte die Farbe frischgefallenen Schnees. Breite, bläuliche Schatten um die Augen veränderten fast unmerklich deren Ton und minderten den Glanz, an den er sich erinnerte. Paul ergriff ihre behandschuhte Hand. »Geht es dir gut?« »Ja, prima.« »Du hast die Nachricht erhalten?« »Ja, und niemand weiß davon außer dem jungen Mann, der sie mir gebracht hat.« »Er sagte, du seist krank.« Sie senkte den Blick. »Es sind die Nerven. Aber es geht mir schon besser.« Das mochte zwar so sein, aber ihr fehlte jene fröhliche Zuversicht, die für ihn ein Teil ihrer Natur war. »Weshalb arbeitest du nicht?« fragte sie. »Es ist Samstag.« »Ich habe mir ein paar Stunden frei genommen. Der Braumeister kann mich gut leiden, er hatte nichts dagegen. Ich mußte dich sehen, Julie, das Eis auf dem Teich ist schon längst getaut.« »Ist der Schlittschuhclub geschlossen?« »Schon seit ein paar Tagen. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, uns jede Woche zu sehen. Deshalb habe ich dir die Nachricht geschickt. Fährst du Fahrrad?« Ganz gewiß tat sie das; jeder in Amerika fuhr Fahrrad. Amerika war ganz wild darauf. »Ja, aber Mama mag es nicht. Sie findet es vulgär. Weshalb fragst du?« »Weil ich einen Plan habe. Du mußt im Lincoln-Park Fahrrad fahren. Du kannst dir dort eins mieten, ich habe mich bereits erkundigt. Ich tue dann so, als sei ich dein Fahrradlehrer.« Sie traute ihren Ohren nicht. »Mein –?« »Lehrer. Trainer. Wie soll ich mich nennen? Leopold? Thomas? Sammy? Thomas, das klingt ehrenwert. Thomas, der Fahrradexperte. Mein Unterricht ist – zuverlässig –« Er suchte nach dem richtigen englischen Wort. »Gründlich?« Sie nickte zustimmend. »Zuverlässig und stets zuvorkommend.« Er verbeugte sich, schnitt dabei Grimassen und versuchte sie aufzumuntern. Der Angestellte tauchte im Nebengang auf, fuhr mit einem Staubwedel über die Bücher, während er zu lauschen versuchte. »Ich komme immer am Sonntag. Ich kann vor dem Haus warten, respektvoll, wie es sich gehört, und du kannst herauskommen. Ich trage Klammern an meiner Knickerbocker. Du kannst mich den Leuten im Haus zeigen. Meine demütige Haltung. Du kannst sogar so tun, als würdest du mich bezahlen. Ich gebe dir dann später das Geld zurück.« Sie lachte. »O Paul, ich weiß gar nicht, was ich von dir und deinen Ideen
366
TEIL VIER
halten soll.« »Ich setze stets alles daran, mein Ziel zu erreichen. Wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere.« »Das ist skandalös.« »O nein, ich mache keinen Skandal – niemals. Ich werde stets deine Ehre verteidigen.« »Du hast mich mißverstanden.« Sie berührte seine Hand; ließ ihre behandschuhten Finger über seine Haut gleiten. »Ich mag deinen Mut.« »Vielen Dank.« Er grinste. Er fühlte sich wie einer dieser Abenteurer, von denen er gelesen hatte, die sich verbotenerweise in einem Faß die Niagarafälle hinunterstürzten. Er kam sich im Augenblick vor wie im freien Fall, genauso wie sie. »Ich will dich sehen, ich muß dich sehen.« Nun streichelte er sie, ergriff sanft ihre Hand. »Ich kann nicht anders.« Sie schien aus seinen Worten Kraft zu schöpfen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde plötzlich entschlossener. Nun sah er wieder die junge Frau mit dem starken Willen und der ansteckenden Fröhlichkeit vor sich, mit der er am ersten Tag Schlittschuh gelaufen war. Leise sagte sie: »Ich auch nicht.« Der aufdringliche Angestellte starrte sie, kaum einen Meter entfernt, über ein Regalbrett hinweg an. Paul trat zwischen ihn und Julie und verdeckte ihm so die Sicht. Er beugte sich zu Julie vor, um ihr etwas zuzuflüstern. »Ich liebe dich«, raunte er auf deutsch. »Was hast du gesagt?« Er errötete. »Ich habe nicht den Mut, es auf englisch auszusprechen.« »Ich glaube, ich weiß, was es heißt. Ich empfinde – das gleiche.« »Dann laß mich bitte dein Fahrradlehrer sein.« »O ja. Aber ich glaube nicht, daß es klug von dir wäre, wenn du zum Haus kämst. Ich erzähle meinen Eltern, ich hätte dich durch einen Freund kennengelernt, der Mitglied im Reit- und Fahrradclub ist. Das ist eine ganz hervorragende Empfehlung. Mama wird sich aufregen, aber mit ihr komme ich schon zurecht. Ich werde mir Mühe geben.« »Das wäre dann sonntags.« »Ja, sonntags.« »Schon bald?« »Wir können morgen anfangen. Ich bin so froh, daß du die Nachricht geschickt hast. Du bist sehr mutig, Paul. Mutig und ganz süß –« Sie war den Tränen nahe, aber es waren Tränen des Glücks. »Würdest du die Worte noch einmal wiederholen?«
JULIE 1893 – 1894
367
»Ich liebe dich.« Als sei nun seine Geduld erschöpft, machte der Angestellte den Mund auf, um etwas zu sagen. Paul zog an Julies Arm. Der Reporter, Mr. Field, sah ihnen amüsiert zu. Er griff in seine Weste und holte ein kleines Notizbuch und einen Bleistift hervor. Draußen spürten sie den Wind vom See. Sie standen im Sonnenschein, während kühle Windböen von den Schneehaufen herüberwehten. Pauls Herz schlug heftig. »Würdest du es auch zu mir sagen?« »Ich liebe dich, Paul. Wenn ich tausend Sprachen sprechen würde, müßte ich es in jeder sagen. Ich liebe dich.« Er war im Himmel. Die Gesänge der Loreley, die auf ihrem Felsen über dem Rhein saß, konnten nicht lieblicher sein als diese Musik. Er wußte, daß sein Leben sich für immer geändert hatte.
TEIL FÜNF
Pullman 1894
Solltet ihr krank sein, arm, hungrig, unterdrückt oder bekümmert, so stehen eure Chancen auf Mitgefühl und Hilfe von E. V. Debs bei hundert zu eins. Bei G. M. Pullman habt ihr nahezu keine Chance, Unterstützung zu bekommen. 1894 Eugene Field von den ›Chicago Daily News‹ Wenn Sie nicht sofort gezielte Maßnahmen ergreifen, geraten Aufruhr und Rebellion außer Kontrolle, und es kommt zu Blutvergießen und Verwüstung. … ich bete zu Gott, daß er Ihnen den Vulkan zeigt, auf dem wir alle stehen. 1894 Nachricht eines Chicagoer Geschäftsmannes an Präsident Cleveland
PULLMAN 1894
371
38 JOE JUNIOR In diesem Winter verbrachte Joe junior weniger Zeit mit seinem Vetter. Paul brauchte seine Dienste als Mittelsmann im Lincoln-Park nicht mehr. Er und Julie waren bis über die Ohren ineinander verliebt; sie nahmen ihre Umgebung kaum wahr. Joe junior erkundigte sich bei Paul nach seinen Plänen hinsichtlich Julie, wenn der Frühling käme und der Clubpavillon schlösse. Paul grinste und sagte, er habe sich bereits einen raffinierten Plan zurechtgelegt. Joe beglückwünschte ihn, warnte seinen Vetter aber gleichzeitig. »Paß nur auf, daß der alte Vanderhoff nichts merkt.« Joe hatte nichts dagegen, von seinen Pflichten als Sendbote der Liebe entbunden zu sein. Er hatte schließlich seine eigene Freundin, an die er denken mußte. Um Roza Jablonec zu besuchen, mußte er zehn Meilen weit bis nach Pullman hinausfahren, in jene Modellstadt, die 1882 als Wohnsiedlung für fünftausend Arbeiter der Pullman Palace Car Company gegründet und errichtet worden war. Die Strecke legte er in zwei Etappen zurück, wobei er von einer Pferdebahn in die nächste umstieg. Die Fahrt selbst machte ihm nichts aus, denn er war eigentlich sehr gerne allein. Gewöhnlich steckte er sich ein Buch in die Tasche. Er liebte es, sich allein irgendwohin zurückzuziehen und in Ruhe zu lesen. Das war schon immer so gewesen. Auch die Sportarten, die man allein ausüben konnte, wie Schlittschuhlaufen und Schwimmen, bevorzugte er. Im Unterschied zu Carl fügte er sich ungern in eine Mannschaft ein. Wenn er an einem Sonntag mit der Pferdebahn nach Süden fuhr, malte er sich manchmal in den lebhaftesten Farben aus, wie der Tag verliefe, wenn er Glück hätte. Rosie auf dem Rücken unter ihm, stöhnend, sich ihm entgegendrängend und ihn zu noch größerem Tempo anstachelnd. Es konnte aber auch ganz anders kommen. Es hing einzig und allein davon ab, ob Rosies Eltern, Tabor und Maritza, einen Spaziergang unternahmen oder nicht. Joe junior und Rosie liebten sich immer nur im Haus. Ihr erster Versuch, es woanders zu wagen, auf dem Heuboden einer Scheune, endete damit, daß der Eigentümer sie erwischte und sie flüchten mußten, als Joe gerade die Hose heruntergezogen hatte. Bei einer anderen Gelegenheit, in einem Wäldchen draußen auf dem Land, war Rosie zweimal von einer Hornisse gestochen worden. Damit war die Suche nach einem Liebesnest außerhalb Pullmans zu Ende. Während seiner Fahrten am Sonntagmorgen dachte er nicht immer an Sex. Manchmal las er besonders schwierige Passagen eines Buchs mehrmals, bis er sie verstand. Manchmal dachte er über die Zukunft des
372
TEIL FÜNF
Landes nach oder über seine Familie. Über Pa, der niemals aufhörte, seine Angestellten, seine Frau, seine Kinder zu kontrollieren. Der niemals einen Hehl daraus machte, daß er alles unter Kontrolle hatte, was mit seinem Leben in Berührung kam. Der sich niemals ändern würde. Und manchmal dachte er über seinen Vetter nach. Paul war ein guter Kerl. Jung, zäh. Jämmerlich unerfahren. Ein Träumer, ein Sternengucker. Paul dachte, Amerika sei viel besser als die alte Heimat. Besser als jeder andere Ort der Erde. Er dachte, daß in Amerika niemand Intrigen spann und betrog und mordete, um das zu bekommen, was er wollte. Daß niemand Politiker bestach. Niemand den ordinären Arbeiter wie eine kleine Schachfigur betrachtete, als Spielmarke in einem großen Geldkarussell, das von einigen wenigen in Gang gehalten und gesteuert wurde. Joe versuchte ständig, seinen Vetter über alles mögliche aufzuklären. Es schien nichts zu nutzen. Obgleich die Vettern einander sehr gern hatten, diskutierten sie häufig und leidenschaftlich miteinander. Einmal hatten sie sogar einen richtigen Streit. Nach der Arbeit ging Joe junior oft in Donophan’s Pool and Billiard Hall in der Lake-Straße. Es war ein lauter, verrauchter Treffpunkt, der bei den Arbeitern sehr beliebt war. Und es gab dort kein Crown-Bier, sondern nur Budweiser von Busch in St. Louis. Bei Donophan’s spielte Joe junior auch schon mal mit anderen Gästen. Außerdem spielte er Poolbillard gegen sich selbst. Paul bat ihn einmal, ihm dieses Spiel zu erklären. Daher nahm Joe ihn an einem Abend mit. Er rieb sein Queue mit Kreide ein, reichte ein zweites seinem Vetter und sagte: »Denk dran, es ist kein Wettkampf. Ich demonstriere nur.« Er legte die farbigen Kugeln auf. Paul hatte den ersten Stoß. Er entwickelte noch kein Gefühl für das Queue. Sie spielten Rotation, und Joe versenkte die Kugeln bis auf eine. Nach drei weiteren genauso einseitigen Spielen traten sie ans Messinggeländer der Bar und bestellten sich jeder einen Krug Bier für einen Nickel. Der stupsnasige Barkeeper betrachtete sie argwöhnisch. »Wie alt seid ihr denn, Freunde?« »Alt genug«, erwiderte Joe junior. »Geben Sie uns nur unser Bier, klar?« »Ist ja schon gut, nun macht euch mal nicht gleich in die Hose.« Joe junior stützte sich mit den Ellbogen auf die zerkratzte Mahagonitheke. »Ich zahl’ einen Dime, damit wir ein Gratisessen bekommen.« »Aber wenn du bezahlst, dann ist es doch nicht gratis.« »Das stimmt.« Paul schüttelte verblüfft den Kopf. »Amerika!« Sie gingen an der Bar entlang zu den Platten, die auf fleckigen Servietten standen. Es gab Roggenbrotscheiben, hartgekochte Eier, Salzfische, saure
PULLMAN 1894
373
Gurken, eine Schüssel Sauerkraut. Joe nahm zwei Happen Sauerkraut und reichte danach Paul die Gabel, der sich ein Stück von dem Fisch nahm. Jemand anderer bat um die Gabel – sie war für die gesamte Bar gedacht –, und Paul gab sie ihm. Der stupsnasige Barkeeper brachte das Bier. Paul blies den Schaum herunter und kostete. »Das ist aber nicht so gut wie unseres.« Joe junior lachte. »So spricht der treue Lohnsklave.« »Joe«, sagte Paul und machte plötzlich ein ernstes Gesicht. »Ich habe von den Problemen in der Pullman-Fabrik gelesen. Was wird dort passieren?« »Überhaupt nichts, wenn man sich darauf verläßt, daß die Bosse ein faires Spiel treiben. Sie sind genauso wie alle anderen Kapitalisten in diesem Land. Das würdest auch du feststellen, wenn du nur ein paar von den Büchern lesen würdest –« »Ich weiß, ich weiß. Die Bücher. Im Augenblick arbeite ich die englische Grammatik durch, die ich mir gekauft habe.« »Darin wirst du aber kaum die Wahrheit finden.« »Du redest dauernd von der Wahrheit, aber was ist die Wahrheit?« »Etwas, was du nicht hören willst. Du willst nicht hören, daß unsere glorreiche Freiheit nicht das ist, was sie angeblich sein soll. Du bist frei, das ist richtig. Frei, jeden auszubeuten, der schwächer ist als du. Frei, kleine Kinder an gefährlichen Maschinen in einer schmutzigen, finsteren Fabrik arbeiten zu lassen. Frei, selbst das Leben eines Sklaven zu führen.« »Angenommen, ich arbeite in einer Fabrik, die so schlimm ist, wie du sie beschreibst. Dann habe ich die Freiheit zu kündigen. Das entspricht doch auch der Wahrheit, oder?« Joes Lachen schien ihn zu verspotten. »Natürlich. Du hast wirklich alle Freiheit der Welt, aufzuhören, auf der Straße zu hungern, dich in Lumpen zu kleiden – zu sterben. Du denkst wohl, wir sind hier etwas Besonderes, nicht wahr? Das sind wir nicht. Dieses Amerika, das du dir da zusammengesetzt hast, existiert nur in deinem Kopf, Paul. Es ist eine Phantasievorstellung. Du denkst wohl, daß jeder, der fleißig arbeitet und sich an die Gesetze und Regeln hält, am Ende so reich wird wie Pa, oder? Einen Teufel wird er sein. Ein paar wenige schaffen es, zu Bossen aufzusteigen, und die bestimmen dann die Spielregeln und das Spiel. Sie rauben und betrügen und organisieren dein Leben! Das ist die Wahrheit.« Paul schwieg und dachte stirnrunzelnd nach. »Joe, dann beantworte mir doch mal folgende Frage. Wenn Amerika gar nicht besser ist als jeder andere Ort, weshalb setzen so viele Menschen alles aufs Spiel, um hierherzukommen? Warum bin ich dann gekommen?«
374
TEIL FÜNF
Joe junior legte einen Arm um die Schultern seines Vetters. »Die zweite Frage werde ich nicht beantworten, Kleiner. Aber die erste. Wir haben hier in Chicago einen Mann namens Mike McDonald. Big Mike. Er ist Spieler. Er ist reich. Er leitet ein Etablissement namens Store an der Ecke Clarkund Monroe-Straße. Er kontrolliert außerdem die Ratsherren und Politiker der Demokratischen Partei. Big Mike sagt immer: ›Jede Minute wird ein neuer Trottel geboren.‹« »Was meint er damit?« Joe griff nach seinem Bierkrug und leerte ihn. »Er meint damit jemanden, der alles glaubt, was man ihm erzählt.« Paul stellte mit einer heftigen Bewegung seinen Krug auf die Bar. Sein Gesicht rötete sich schlagartig. »Du denkst also, so einer bin ich? Na schön –« »Moment mal, ich –« »– vielen Dank.« Paul nahm den Fuß von der Messingstange und stürmte davon. Joe junior folgte ihm und holte ihn dicht vor dem Ausgang ein. »He, jetzt sei doch nicht wütend! Ich habe dich nicht ausgelacht, ich habe nur versucht, etwas zu erklären. Dir die Wahrheit zu erzählen. Du hast schließlich danach gefragt.« »Die Wahrheit, die du siehst. Ich sehe etwas anderes. Ich sehe all die Menschen auf dem Schiff, wie sie zur Freiheitsstatue im New Yorker Hafen emporblicken und hoffen, daß sie das Tor zu einem besseren Ort bewacht als den, den sie soeben verlassen haben. Ich war einer von diesen Menschen.« Joe seufzte. »Na schön! Belassen wir es dabei. Ich wollte dich nicht ärgern.« Er streckte ihm eine Hand entgegen. »Freunde?« Paul entspannte sich. Das Blut wich aus seinen Wangen. »Klar. Freunde.« Sie schüttelten sich die Hände. Dann gingen sie Arm in Arm die Lake-Straße hinauf. Damit war die Diskussion für diesen Tag beendet. Aber endgültig geklärt war damit natürlich gar nichts. Der April kam. Amerika steckte noch immer im Würgegriff der Wirtschaftskrise. Die kleinen Leute waren völlig machtlos – irgendwie fühlten sie sich aus der Ferne kontrolliert durch Kräfte, gegen die sie sich nicht wehren und die sie nicht verstehen konnten. Es war die Rede von »Bossen«, »Konzernen« und »Goldgierigen« – fernen, unheimlichen Instanzen, die durch Intrigen die Wirtschaft manipulierten und mit der Existenz armer Menschen spielten, ohne sich darum zu scheren, ob diese leben oder sterben würden.
PULLMAN 1894
375
In Ohio hatte ein gewisser Jacob Coxey aus Massillon mehrere hundert Arbeitslose mit der Absicht zusammengetrommelt, sie in einem Protestmarsch nach Washington zu führen. Coxey war Farmer, ein gläubiger Christ, Populist, Bürgerkriegsveteran und echter KleinstadtExzentriker. Sein jüngstes Kind hatte er Legal Tender Coxey genannt. Eine kleine Journalistengruppe folgte »General« Coxeys Armee, als sie durch kalte Regengüsse nach Osten zog. Der Kampfgeist schien unter dem schlechten Wetter und wundgelaufenen Füßen nicht zu leiden, schrieben die Reporter. Eine kleine Kapelle namens Commonwealth of Christ Brass Band spielte Melodien zum Marschieren und Mitsingen. Besonders beliebt war eine parodistische Version von After the Ball, in der sich die Hoffnung ausdrückte, daß eine Gesetzesänderung noch im Mai eine Verbesserung für die Arbeiterschaft bringen werde. Das war zweifelhaft. Sehr zweifelhaft, befand Joe junior. Am 28. April würde Joe seinen 18. Geburtstag feiern. Er hatte seine körperliche Reife erreicht; er würde stets die kleine, zierliche Gestalt haben, die er von seinem Vater geerbt hatte. Aber seine Schultern, Arme und Beine waren muskulös, seine Handflächen von der Arbeit hart und schwielig. Mit jener unbewußten Arroganz der Jugend betrachtete er sich selbst als ausgewachsenen Mann. In diesem April hatte der Mann von fast achtzehn Jahren in Pullman an zwei Sonntagen hintereinander Pech gehabt. Tabor Jablonec war ausgegangen, aber seine farblose Frau Maritza war zu Hause geblieben. Tabor wurde ständig von Sorgen gequält wie fast jeder, der für George Pullman arbeitete. Infolgedessen trank er. Um ein paar Gläser billigen roten Weins zu bekommen, mußte er ins benachbarte Dorf Kensington laufen. Auf Geheiß Mr. Pullmans gab es in seiner Stadt der Zukunft keine Saloons für Arbeiter. Nur in einer kleinen Bar im Siebzig-Zimmer-Hotel Florence, so benannt nach Pullmans Lieblingstochter, gab es Drinks für Manager und leitende Angestellte, doch die waren derart teuer, daß einfache Arbeiter sie sich nicht leisten konnten. Mr. Pullman war überzeugt, daß Männer, die den ganzen Tag hart gearbeitet hatten, weniger leistungsfähig und produktiv seien, wenn sie abends Alkohol tränken. Tabor Jablonec hatte durchaus Grund, zu trinken und sich Sorgen zu machen. Er war Schreiner in den Pullman-Reparaturwerkstätten, wo Wagen repariert und renoviert wurden, bevor sie wieder auf die Reise geschickt wurden. Pullman-Wagen verkehrten auf drei Vierteln aller Eisenbahnstrecken in den Vereinigten Staaten, aber nicht ein Wagen gehörte der Eisenbahngesellschaft. Sie betrieb die Wagen auf der Grundlage
376
TEIL FÜNF
eines Vertrages und heuerte eigene Schaffner, Gepäckträger und Köche an. Für den Reparaturservice kassierte sie eine Pauschale von zwei Cents pro gefahrenen Kilometer. Anfang 1894 war Tabors Stundenlohn um 20 Prozent gekürzt worden und Ende Februar um weitere 15 Prozent. Nach der zweiten Kürzung zählte Tabor zusammen, was er seinem Vermieter und anderen schuldete, trank während der Mittagspause eine halbe Flasche Rotwein und tat etwas, was er noch nie zuvor getan oder auch nur in Erwägung gezogen hatte. Er ging zu seinem Aufseher, Castleberry, baute sich vor dessen Schreibtisch auf, knetete seine Mütze mit blassen, narbigen Händen und protestierte gegen die letzte Lohnkürzung. Castleberry reagierte darauf in einer Weise, die von der Unternehmensführung durchaus geduldet, sogar empfohlen wurde. Er sprang von seinem Stuhl hoch, schlug Tabor zu Boden und beschimpfte ihn. Er nannte ihn unter anderem einen »schmutzigen, undankbaren Scheißkerl von einem bohunk«. Der Vorarbeiter warnte Tabor, daß eine weitere Beschwerde ihn seine Stellung kosten könne. Am Ende wurde Tabor mit einem Monat unbezahltem Zwangsurlaub bestraft und war noch froh darüber, so glimpflich davongekommen zu sein. »Warum ziehen Sie nicht einfach aus Pullman weg?« wollte Joe junior einmal von Tabor wissen. »Sie sollten nicht hierbleiben, eine derartig hohe Miete bezahlen und sich von ihnen ausnutzen lassen.« Tabor antwortete mit seinem schwerfälligen Akzent: »Ich muß bleiben, wenn ich meine Arbeit nicht verlieren will. Wenn die Firma ihre Leute wieder zur Arbeit zurückholt, rutschen alle, die nicht in Pullman wohnen, ans Ende der Liste.« Joe juniors einziger gemurmelter Kommentar war ein »O Gott«, womit er sich einen strafenden Blick von Rosies furchtsamer Mutter einhandelte. Maritza Jablonec hoffte darauf, daß ihr Herr Jesus Christus irgendwann Mr. Pullman auf den Pfad der Rechtschaffenheit bringen würde. Wenn nicht in diesem Leben, dann wenigstens im nächsten. Roza Jablonecs Vater war ein schmächtiger Mann mit schwermütigen dunklen Augen und einer hohen, gewölbten Stirn, die Joe junior an Bilder von Daniel Webster erinnerte. Unglücklicherweise wurde dieser Eindruck von einem fliehenden Kinn und einem kleinen, schlaffen Mund getrübt. Tabors einziges Kind hatte von ihm seine schönsten Merkmale geerbt, nur die vollen Lippen und Brüste sowie ein starkes Kinn hatte sie von ihrer ansonsten unscheinbaren Mutter. Rosie war anderthalb Jahre älter als Joe, was einen großen Teil ihres Reizes ausmachte.
PULLMAN 1894
377
Er hatte sie auf dem Land kennengelernt, nämlich in Odgen’s Grove, wohin er Paul mitgenommen hatte. Der Anlaß war das erste jener politischkulturellen Picknicks gewesen, zu dem Benno ihn eingeladen hatte. An jenem heißen, trockenen Sonntag im Herbst 1892 war er vom radikalen Charakter der Versammelten und den kühnen und gesetzlosen Bemerkungen in den Reden geradezu eingeschüchtert worden. Er fragte sich, ob nicht jeden Moment Polizeiwagen in den Wald gerauscht kommen würden, um die aufrührerische Versammlung aufzulösen. Um seine Nervosität und Scheu unter Fremden ein wenig zu mildern, leerte er einen ganzen Krug Bier und einen zweiten, ehe das Unterhaltungsprogramm begann. Rosie war die dritte Attraktion der Show. Es war nicht ihr Vater gewesen, der sie zu dem Treffen mitgenommen hatte, aber davon hatte Joe junior zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wie er auch ihren Namen nicht wußte oder sonst etwas von ihr, außer daß sie ihn von dem Augenblick an erregte, als er sie zum erstenmal sah. Während sie auf die Bühne stieg, die aus Kisten und Brettern zusammengezimmert worden war, raffte sie ihre Röcke und entblößte ihre Fesseln. Applaus brandete auf, vorwiegend von Männern, denen ihr Gesicht und ihre Figur besonders gefiel. Ihr Showtalent war bis dahin noch eine unbekannte Größe. Roza Jablonec hatte breite Hüften und stämmige Beine. Ihr Haar war dunkelbraun, dick und gewellt. Ihr ausladender Busen entsprach dem geltenden Schönheitsideal. Zu dem Picknick trug sie eine hochgeschlossene Bluse aus rauhem weißem Stoff. Auf den Saum ihres Rocks waren bunte und offensichtlich selbstgemachte Stoffblumen genäht. Joe junior lehnte an einem Baum in der Nähe der improvisierten Bühne, auf der Miss Roza Jablonec als vielversprechende junge Sängerin vorgestellt wurde. Benno rülpste, stieß dabei eine Wolke Zwiebel- und Knoblauchgeruch aus und tippte ihn an. »Ich wünschte, sie ließe mich an ihre Titten. Ein Gedicht! Damit könnte sie einen glatt erschlagen. Eine wundervolle Art zu sterben, nicht wahr?« Ein krummbeiniger, weißhaariger Mann saß mit einem Akkordeon auf einem Faß am Rand der Bühne. Einige Zeit später erfuhr Joe, daß der Musiker der Vater von Rosies einziger Freundin war. Er war ebenfalls ein Pullman-Arbeiter, nur noch wütender und weniger furchtsam als Tabor. Die Tochter hatte Rosie zu dem Landausflug eingeladen, und sie hatte Tabor und Maritza erklärt, sie nähmen an einem Picknick am See teil. Das Publikum, das sich im welkenden Gras ausgestreckt hatte, wurde langsam still. Die Sängerin verschränkte die Hände in einer steifen, künstlichen Pose und begann zu singen, Ta-ra-ra Boom-de-day. Die
378
TEIL FÜNF
schnelle, laute Darbietung kaschierte gewisse Mängel, die schon bei ihrer zweiten Nummer, My Sweetheart’s The Man In The Moon, deutlich hervortraten. Ihre Stimme war süß, aber ziemlich dünn, und sogar Joe juniors ungeübtes Ohr konnte hören, daß sie manchmal nicht genau den richtigen Ton traf. Er fand sie dennoch überaus reizend. Nicht so sehr ihre körperlichen Vorzüge, obgleich die durchaus beachtlich waren. Er spürte, daß sie eine besonders natürliche Ausstrahlung hatte, eine Lüsternheit, die sie kundtat, indem sie ihre Hüften bewegte und ihr dunkles welliges Haar nach hinten warf. Dabei flirteten ihre großen dunklen Augen mit dem einen oder anderen Mann im Publikum. Es war schon später Nachmittag, und einige der Junggesellen im Publikum hatten eine Menge Bier getrunken. Während die junge Frau noch immer sang, hörte Joe junior, wie jemand aus dem Publikum eine zweideutige Aufforderung rief. Dann schwenkte ein dicker Kerl seinen Bierkrug und rief: »Okay, Kindchen, das reicht. Die nächste Nummer.« Die Finger des Akkordeonspielers produzierten einen letzten, quietschenden Ton. Das Mädchen hörte mitten im Text auf zu singen und schaute mit zunehmendem Zorn ins Publikum. Ohne lange darüber nachzudenken, trat Joe vor. »Seid still, gebt ihr eine Chance. Wo sind eure Manieren?« rief er. Der dicke Mann erschrak und sah sich verlegen um. Hinter Joe junior kicherte einer der Männer aus der Brauerei Crown. »Dort, wo auch ihr Talent ist. Nämlich abwesend, weg, nicht vorhanden.« Joe machte eine unbeholfene Geste und versuchte der jungen Frau klarzumachen, sie solle ihr Lied weitersingen. Ihre Blicke richteten sich auf ihn. Ein flüchtiges, warmes Lächeln vertrieb den Zorn aus ihrem Gesicht. Sie deutete ein Kopfnicken an. Er erwiderte es. Das Akkordeon spielte wieder die Melodie. Verschwitzt und leicht erregt, umklammerte er den Zinnkrug mit beiden Händen, während sie die Ballade beendete. Viel Applaus bekam sie nicht, aber es gab auch keine Buh’s und keine abfälligen Bemerkungen. Joe junior klatschte ausgiebig und achtete nicht auf Bennos spöttisch grinsende Freunde. Er eilte zum Ende der Bühne, als das Mädchen heruntersprang, wobei sie ihre Röcke mit beiden Händen hochhob. Sie stolperte, als sie landete. Er war rechtzeitig bei ihr, um sie bei den Schultern aufzufangen und einen Sturz zu verhindern. Sie war etwas außer Atem, schnappte nach Luft und preßte für einen kurzen Moment ihre großen, weichen Brüste gegen sein Hemd. Sie mußte auch selbst etwas gespürt haben, denn sie atmete zischend aus, und ihre Augen weiteten sich.
PULLMAN 1894
379
Irgendeine Kraft, ein starker Funke sprang über und schuf eine Verbindung, ohne daß sie ein Wort gesprochen hätten. Er ließ sie los, trat etwas zurück und hatte Mühe, seine Stimme wiederzufinden. »Ich heiße Joe. Mir hat dein Lied gefallen.« »Ich heiße Roza.« »Roza, das ist schön. Es klingt wie Rose.« »Du bist auch sehr nett. Hol mich in zehn Minuten ab. Dann können wir einen Spaziergang machen.« Ein gutes Stück von der Lichtung entfernt, sicher verborgen im Schatten gelben und roten Laubs, lehnte sie sich an einen Baum und hob ihre Röcke. Er zog ihr Höschen herunter und berührte ihren üppigen dunklen Busch, während seine Schläfen pochten. Sie lachte und leckte mit ihrer Zunge über seine Lippen. Es war für ihn das erste Mal, aber nicht für sie, vermutete er. Sie machte es ganz einfach, und so schnell es auch vorüber war, es war die reinste Glückseligkeit. Von da an traf er sich regelmäßig mit ihr in Pullman. Er nannte sie Rosie, und das gefiel ihr. Sie war nicht lernbegierig oder klug im herkömmlichen Sinn. Sie las keine Bücher. Dennoch hatte sie eine ganze Menge über das Leben gelernt und eine klare, um nicht zu sagen harte Philosophie entwickelt, vor allem was ihren Vater betraf. »Papa wurde in Böhmen in Armut geboren und wuchs in Armut auf, und das hat ihn für sein ganzes Leben gezeichnet. Er wird in der Fabrik niemals aufbegehren. Er läßt sich von ihnen widerspruchslos herumschubsen, solange sie ihn jede Woche bezahlen. Ich habe daraus gelernt, Joey. Ich habe gelernt, was an erster Stelle steht. Man muß jemand sein, man muß Beziehungen haben, damit sie einen nicht fertigmachen können. Und dann muß man auch noch Geld haben. Je mehr, desto besser.« »Ich denke aber nicht so, Rosie.« »Ich weiß, ich hab’ dich ziemlich schnell durchschaut. Du hast all diese wunderschönen Ideen, die dich im Winter nicht wärmen und dir den Bauch nicht füllen können, und deshalb werden wir wohl nicht zusammenbleiben. Und wenn schon? Miteinander zu schlafen reicht doch im Augenblick.« Das sagte sich so leicht, war jedoch schwierig in die Tat umzusetzen. An zwei Sonntagen hintereinander hatten sie und Joe keine Gelegenheit mehr gehabt, allein zu sein. Aber das entmutigte ihn nicht. Es machte ihn
380
TEIL FÜNF
allenfalls ungehalten – und entschlossener. Am 22. April, sechs Tage vor seinem Geburtstag, bestieg er wie üblich den Wagen der Pferdebahn. Das Wetter war mild und sonnig. Es war ein idealer Tag, um seine Hände auf die Wanderschaft zu schicken und das Ohr eines Mädchens zu liebkosen, bis sie schließlich nachgab und ihre Röcke hob. Während der langen Fahrt gab er sich alle Mühe, seine Gedanken von Rosies intimen Zonen abzulenken, die er schon früher genossen hatte und die ihn mit unbändigem Verlangen erfüllten. Er holte aus seiner Tasche ein Buch, dessen Titel auf dem Umschlag nur in winziger Schrift aufgedruckt war, damit man es nicht gleich erkannte. Es handelte sich um eine Übersetzung des Werks Arbeitergespräche von dem italienischen Anarchisten Enrico Malatesta. Benno hatte es ihm geliehen. Es verdammte leidenschaftlich sämtliche Grundbesitzer und Kapitalisten – also Männer wie Pullman und Joe Crown, seinen eigenen Vater. Begreifst du denn nicht, daß jedes Stück Brot, das sie essen, deinen Kindern weggenommen wurde? Daß jedes schöne Geschenk, das sie ihren Frauen machen, für dich und deinesgleichen Armut, Hunger, Kälte, vielleicht sogar Prostitution bedeutet? Pa war nicht so schlimm, das wußte er. Dennoch gehörte Joe Crown zu der Klasse, die Malatesta haßte, und er teilte viele Auffassungen mit Männern, die weitaus skrupelloser waren. Er stopfte das Buch wieder in die Tasche. Er hatte keine Lust, weiterzulesen und sich so den Vormittag zu verderben. Dafür verbrachte er den Rest der Fahrt damit, darüber nachzudenken, wie sehr er sich nach seinem Mädchen sehnte. Tabor Jablonec wohnte mit Frau und Tochter in einem der Klinkerbauten von Pullman, die für verheiratete Arbeiter bestimmt waren. Diese Behausungen waren deutlich ärmlicher als die Häuser im Vorarbeiterviertel und entsprachen nicht ganz dem Ideal, das Mr. Pullman und sein Management propagierten. Die Mieten waren hoch, desgleichen die Gebühren für Wasser und Gas, die Pullman von Chicago erwarb, bevor er beides mit einem Aufschlag an die Mieter weiterverkaufte. Trotz der Lohnkürzungen verlangte Pullman die gleichen Preise wie vor der Wirtschaftskrise. Als Joe junior anklopfte und Rosie ihn einließ, legte sie einen Finger auf
PULLMAN 1894
381
den Mund. »Wir haben Besuch.« Indem er innerlich fluchte, während er die Küche betrat, zwang er sich zu den üblichen höflichen Begrüßungsfloskeln. Der Besucher war eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, ziemlich klein, schlicht gekleidet, mit einem Haarknoten im Nacken. Ein kantiges Kinn verriet einen starken, wenn nicht unbeugsamen Willen. Sie schüttelte heftig Joes Hand, als sie erfuhr, wer er war. »Ich kenne Ihre Mutter sehr gut. Sie ist eine meiner größten Hilfen im Stiftungshaus. Wenn es ginge, würden wir sie dort täglich einsetzen. Würden Sie sie herzlich von mir grüßen?« »Gewiß, das tue ich«, versprach er lächelnd. Nun war er von der Besucherin eher fasziniert als über ihre Anwesenheit verärgert. Er fragte sich, was die Gründerin der Hull-House-Stiftung in Pullman an einem wackligen Küchentisch, der mit dicht beschriebenen Bögen Papier bedeckt war, zu suchen hatte. Rosies Mutter lieferte ungefragt die Erklärung. »Miss Addams informiert sich darüber, wie wir leben.« Maritzas Englisch war besser als das ihres Mannes. Ihr Akzent war nicht so ausgeprägt. »Und ich kann die Antwort ganz kurz und knapp zusammenfassen: schlecht.« Während sie das sagte, faltete Jane Addams ihre Papiere zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Zu Joe junior gewandt, sagte sie: »Angesichts der extremen Not, die durch den Niedergang der Wirtschaft verursacht wird, wurde ich gebeten, für die Bürgervereinigung von Chicago Zahlenmaterial zu beschaffen. Was ich hier vorfinde, ist eine Schande.« »Ich weiß, daß es hier sehr schlimm ist«, sagte Tabor. Er saß am Tisch, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und hatte den Kopf in die Hände gelegt. »Wenn man hart arbeitet und nicht trinkt – wenn man eine Frau hat, die mithilft und spart – und wenn man zehn Jahre lang für den gleichen Boß arbeitet und immer noch nicht aus den Schulden rauskommt, dann stimmt irgend etwas nicht.« »Ich würde kündigen«, sagte Miss Addams. »Zumindest würde ich mich heftigst zur Wehr setzen.« »Das habe ich einmal getan und damit Schwierigkeiten bekommen.« Nachdem Jane Addams sich bei der Familie bedankt und sich verabschiedet hatte, setzte Tabor seine Mütze auf. »Ich gehe mal rüber nach Kensington.« Maritza nickte stumm und handelte sich damit weitere stumme Verwünschungen von Joe junior ein. Maritza Jablonec setzte sich anschließend in das kleine, enge Wohnzimmer und stopfte und flickte den ganzen Nachmittag über Strümpfe und Arbeitskleidung. Rosie und Joe blieben in der Küche und unterhielten
382
TEIL FÜNF
sich. Er schaffte es, ein paarmal seine Hand unter ihr Kleid zu schieben. Von Maritza im Wohnzimmer unbeobachtet, leckte er mit der Zunge über Rosies Lippen und liebkoste sie mit der Zunge. Das war noch schlimmer, als sie überhaupt nicht zu berühren. Gegen halb fünf ging die Küchentür auf, und Tabor stolperte herein, gefolgt von zwei anderen Männern, die ebenfalls bei Pullman arbeiteten. Einer war ein spindeldürrer Bursche, den Tabor als Link Randolph vorstellte. Der andere war ein mürrischer, beleibter Mann namens Dice Harrod. Link hielt eine braune Flasche Whiskey, die schon beinahe leer war, in der Hand. Er schimpfte. »In einem Pullman-Haus geboren. Aufgewachsen mit Lebensmitteln aus einem Pullman-Laden. In einer Pullman-Kirche getauft. Wenn man sich zur Ruhe setzt, dann ist die Pullman-Rente das Eintrittsgeld fürs Armenhaus. Und wenn man stirbt, fährt man wahrscheinlich in die Pullman-Hölle hinab. Sie tun so, als geben sie uns alles, dabei nehmen sie uns alles weg, auch unsere Selbstachtung. Sie holen sich sogar den Dreck aus unseren Toiletten, verdammt noch mal.« Maritza schlug die Hände vor den Mund. Joe junior sagte, die letzte Bemerkung habe er nicht ganz verstanden. »Die Abwässer. King George benutzt sie als Dünger in seiner Gemüsefarm. Dieser Bastard!« Er schleuderte die leere Flasche gegen die Wand. Braune Glasscherben flogen klirrend hinter den Herd. Maritza starrte trübsinnig ihre besudelte Wand an. Dice Harrod riß ein Streichholz an, um eine kurze dicke Zigarre anzuzünden. Er blinzelte wie ein Frosch auf einem Seerosenblatt durch die dichten Qualmwolken, die aus seinem Mund strömten. »Was hast du denn vor, Link?« »Ich trete dem Komitee bei.« »Welchem Komitee?« »Dem Komitee, das zusammentritt, um zu den Bossen zu gehen und von ihnen zu verlangen, daß sie die Löhne wieder auf den Stand von vor der Kürzung anheben.« Dice Harrod blinzelte. »Habe ich richtig gehört? Hast du von »verlangen« gesprochen?« »Das habe ich gesagt. Diese oder nächste Woche tun wir es, du kannst dich drauf verlassen.« Joe junior bemerkte, wie Maritza ihrem Mann besorgte Blicke zuwarf. Dice Harrod paffte vor sich hin. »Mein Gott, das ist aber ganz schön gefährlich, Link. Wenn du dich zu weit vorwagst, dann weißt du ja, was passiert. Sie zahlen es dir heim.« »Das ist mir jetzt egal, verdammt noch mal!«
PULLMAN 1894
383
»Gefährlich«, murmelte Dice Harrod wieder kopfschüttelnd. »Wer ist denn noch in dem Komitee?« »Das braucht dich nicht zu kümmern. Jedenfalls ist es eine tolle Gruppe.« »Und du gehörst dazu.« »Aber ganz sicher.« »Und du, Tabor?« »Nein! Ich bin zwar interessiert, aber ich laß mich auf eine solche Sache nicht ein.« Als die Männer gegangen waren, sagte Maritza: »Dice hat recht, Link sollte es nicht tun.« »Ja, Dice hat recht. Er vertritt zwar die Meinung der Firma, aber er hat recht«, pflichtete Tabor ihr bei. Joe junior wollte etwas sagen, schwieg aber. Statt dessen schob er sich näher an Rosie heran und steckte seine Nase in ihr Haar. Es duftete nach Rosen. Er hatte ihr nämlich ein Stück parfümierte Seife für zehn Cents gekauft. Sie benutzte sie nur sonntags. Sie gingen hinaus. Da die Küchentür nur einen kleinen Spaltbreit offenstand, drängte er sie gegen die Wand. Er schob ihr Haar mit einer Hand beiseite und ließ seine Zungenspitze sanft über ihre Ohrmuschel gleiten. »Ich hatte damit gerechnet, ein Geburtstagsgeschenk zu bekommen.« »Keine Angst, ich spare es für dich auf«, flüsterte sie, preßte ihre Beine zusammen und stemmte sich mit wiegenden Hüften gegen seine Hand. Ihr Schlüpfer war feucht. Sein Glied war so hart, daß es weh tat. Bei seinem nächsten Besuch erzählte Rosie ihm, daß Link Randolph hinausgeworfen worden sei und daß die Pullman-Vermietungsgesellschaft ihm die Kündigung seiner Wohnung und die Räumungsverfügung präsentiert habe. »Dice Harrod war einer ihrer verdammten Spione. Wenigstens dieses eine Mal hat Papa klug gehandelt und Dice Harrods Köder nicht geschluckt.« Mittlerweile auf fünfhundert Mitglieder angewachsen, erreichte »General« Coxeys Armee Washington und marschierte die Pennsylvania Avenue hinauf. Der Anführer hatte eine Petition aufgesetzt, in der er ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm forderte, um den Arbeitslosen zu helfen. Vor dem Capitol wurde Coxey sofort verhaftet, als er eine Rasenfläche betrat, die Eigentum der Regierung war. Einer seiner Anhänger versuchte, den Polizeikordon zu durchbrechen, und wurde mit Faust- und
384
TEIL FÜNF
Stockschlägen zurückgedrängt. Die berittene Polizei, die den Demonstranten gefolgt war, trieb ihnen die Pferde entgegen und schwang die Schlagstöcke. Die »Armee« löste sich auf und zerstreute sich, als hätte es sie nie gegeben. In der Brauerei wurde ausgiebig und hitzig über Coxeys Marsch diskutiert. Einige hielten ihn für mutig, andere meinten, es sei von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Benno hatte dazu seine eigene Meinung. Er tat sie Joe junior nach Feierabend in dem Raum mit den Kleiderspinden kund, den Joe Crown für seine Leute eingerichtet hatte. »Mit Marschieren erreicht man nichts. Wenn man mit einem Stück Papier in Washington herumwedelt, auch nicht. Ich sag’ dir, was sie hätten tun sollen: Sie hätten besser ein paar Stangen Dynamit mitgenommen.« Am 6. Mai machte Joe junior sich wieder auf den Weg nach Pullman, begleitet von der bedrückenden Vorahnung einer weiteren Niederlage. Er war seit Wochen nicht mehr mit Rosie intim gewesen. Dieser Sonntag bildete darin keine Ausnahme. Tabor lud ihn ein, ihn nach Kensington zu einer Werkstatthalle zu begleiten, wo eine große Anzahl Pullman-Arbeiter erwartet wurde. Sie wollten sich einen ganz besonderen Redner anhören, nämlich Eugene Debs von der Amerikanischen Eisenbahnergewerkschaft. Joe junior entschied, daß er genausogut mitgehen konnte, da Maritza angedeutet hatte, sie wolle den Nachmittag wieder zu Hause verbringen. Rosie war offensichtlich verärgert, und zwar sowohl über ihre Mutter als auch über ihn. Joe junior hatte Debs noch niemals persönlich gesehen, sondern nur auf Bildern in Zeitschriften, die gewöhnlich von heftigen Attacken gegen seine sozialistischen Predigten begleitet wurden. Er hätte über die äußere Erscheinung des Mannes nicht verblüffter sein können. Erwartet hatte er einen rauhen, wilden Menschen, einen Benno Strauss aus Terre Haute im tiefsten Indiana. Statt dessen sah er einen schlanken, ordentlich rasierten Mann mit schütterem Haar, der genausogut Buchhalter hätte sein können. Debs war etwa eins achtzig groß und um die dreißig Jahre alt. Der Nachmittag war heiß, dennoch trug er einen makellos gebügelten Tweedanzug und ein Hemd mit gestärktem weißem Kragen. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Schon in seiner früheren Funktion als Schatzmeister der Brotherhood of Locomotive Firemen, der Vereinigung der Dampflok-Heizer, hatte er an der Realisierung seiner Vorstellung gearbeitet, sämtliche Eisenbahnergewerkschaften zu ihrem gemeinsamen Nutzen zu einer einzigen zusammenzuführen. Die American Railway Union, kurz A.R.U. hatte nun fast dreihunderttausend Mitglieder. Das
PULLMAN 1894
385
Argument, mit dem sie neue Mitglieder warb, war überzeugend. Wenn jemand der A.R.U beitrat, dann war er geschützt, falls die Bosse der Eisenbahngesellschaften versuchen sollten, eine Gemeinschaft gegen die andere mit dem Ziel auszuspielen, einen Streik zu brechen. Debs redete eine halbe Stunde ohne Manuskript. Nach zwei Minuten war Joe beeindruckt, nach fünf war er wie hypnotisiert. »Ich bin während der letzten beiden Tage durch Pullman spaziert«, sagte Debs. »Ich habe mit Leuten gesprochen, habe Fragen gestellt, aber die meiste Zeit habe ich nur zugehört. Ich bin zu einer unwiderlegbaren Schlußfolgerung gelangt. Wenn ihr, nachdem ihr jahrelang für George M. Pullman gearbeitet habt, vorübergehend entlassen werdet und zwei Wochen nach Arbeitsende hungern und um euer Überleben kämpfen müßt, kann man dazu eigentlich nur eins bemerken: George Mortimer Pullman hat sich dadurch selbst als Räuber entlarvt. Er hat überhaupt kein menschliches Interesse an euch, er hat es lediglich vorgetäuscht. Seine angebliche Fürsorge ist nur die eines Sklavenhalters gegenüber seinen menschlichen Arbeitstieren. Deshalb fordere ich euch mit Nachdruck auf, morgen euer Komitee zu unterstützen. Seid mutig und entschlossen, vertretet tapfer euer Anliegen, und ihr werdet am Ende den Sieg davontragen.« »Welches Komitee meint er denn?« erkundigte sich Joe flüsternd bei Tabor. »Das gleiche, weswegen Link Randolph rausgeworfen wurde.« »Und was haben sie vor?« »Ich weiß nichts darüber. Ich will auch gar nichts wissen.« Debs kam zum Rand des Podiums, nahm die Brille ab, um seinen Blick über sein Publikum wandern zu lassen, das aus einfachen, müden, armseligen Männern bestand. »Ich will mit einem letzten Hinweis schließen. Vergeßt nicht, daß die American Railway Union hinter euch steht. Unsere Philosophie ist einfach. Wenn ein Bruder angegriffen wird, dann kommen alle anderen ihm zu Hilfe. In diesem Kampf stehen alle Arbeiter zusammen. Verlaßt euch darauf!« Männer sprangen auf, pfiffen und applaudierten. Joe junior klatschte laut. Der Hallenboden erzitterte unter dem Beifall aus stampfenden Stiefeln und trampelnden Schuhen. Tabor schüttelte bedrückt den Kopf. »Durch solches Gerede landet man auf der Straße. Komm, ich brauche jetzt etwas zu trinken.« Joe ging mit in den Saloon, aber nach einem Glas von dem billigen roten Wein konnte er Tabors Haltung eines geprügelten Hundes nicht mehr ertragen. Er fragte, ob Tabor nicht nach Hause gehen wolle. »Noch nicht.« Tabor bestellte ein zweites Glas. Sofort erkannte Joe die
386
TEIL FÜNF
Gelegenheit, diese Situation zu seinem Vorteil auszunutzen. Wieder in Pullman, sagte er eine Stunde später zu Maritza: »Ich fürchte, Mr. Jablonec ist in Kensington schon ziemlich angeschlagen. Es war eine aufregende Versammlung, die Leute waren am Ende ziemlich in Rage. Mr. Jablonec hatte schon mehrere Glas Wein getrunken, als ich mich von ihm trennte und zurückging.« »Mein Gott, wo ist er denn? Bei Fanucci?« »Ja. Er hatte noch keine Lust, Schluß zu machen.« »Ich werde wohl hingehen und ihn abholen müssen. Rosie kann dir etwas zum Essen zubereiten.« Er nickte ernst, während sie hinausging, um ihr Kopftuch umzubinden. Von der anderen Seite des Küchentisches lächelte Rosie ihn verzückt an. Joe junior und Rosie stürmten ihr schmales Bett. In der Zeit, die sie nun schon miteinander befreundet waren, hatte er sie noch nie so schnell ihre Kleider herunterreißen sehen. Er warf sich mit der Heftigkeit und der Geschwindigkeit eines Ausgehungerten in sie hinein. Nach weniger als einer Minute explodierte er in ihr, und sie wand und krümmte sich und schrie nach mehr. Er ruhte sich vierzig Minuten lang aus und nahm sie erneut, langsamer diesmal, mit mehr Hitze und mehr Schweiß und mehr Gestöhne aus ihrem gierigen Mund, als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. Nachher, während er sich auf den Ellbogen aufstützte und ihre weißen Brüste streichelte, sagte er: »Ich hasse es immer, nach Hause zurückzukehren, wenn ich bei dir war. Ich hasse es, in der Michigan Avenue zu leben, während hier draußen soviel Hunger und Angst herrschen.« Rosie lachte. »Du willst nicht zurück nach Hause in die Michigan Avenue? Ich würde sofort mit dir tauschen.« »Du verstehst nicht, daß es ein schlimmes Gefühl ist, von goldgeränderten Tellern zu essen, während Menschen arbeitslos sind? Während sie hungern müssen?« »Ist mir egal, was das für ein Gefühl ist, ich jedenfalls möchte gern von so ‘nem Teller essen. Ich möchte so ‘ne Teller sogar besitzen!« »Solche, Rosie. Solche Teller. Wie willst du denn weiterkommen, wenn du dich nicht mal richtig ausdrücken kannst?« Sie hatten sich schon früher deshalb gegenseitig aufgezogen. »Von einem Mädchen wie mir erwartet man wohl kaum Grammatiklektionen, Joe«, sagte sie. Damit faßte sie ihm zwischen die Schenkel und drückte zu. »Ich hab’ was andres zu bieten.«
PULLMAN 1894
387
Er drehte sich auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke empor, die mit Wasserflecken übersät war. Irgendwo pfiff eine Lokomotive. In der Ecke brannte ein Kerzenstummel auf einem kleinen Teller. Das Gas war abgestellt worden, da die Rechnung noch nicht bezahlt war. »Ich wünschte, du würdest dich nicht über die Dinge lustig machen, an die ich glaube«, sagte er. »Wahrscheinlich tätest du das auch nicht, wenn du sie nur besser verstehen würdest. Ich könnte dir Bücher geben über –« »Um Gottes willen, keine Bücher! Du selbst liest ja schon viel zuviel. Deshalb redest du auch ständig von verhungernden Menschen, während du doch eigentlich glücklich sein solltest, daß du ein schönes warmes Bett und genug zu essen hast – eine Familie mit einem ansehnlichen Bankkonto. Ich möchte bloß wissen, weshalb du so total verdreht bist.« »Vielleicht nennt man das, was ich empfinde, ein schlechtes Gewissen.« »Vielleicht nennt man es auch verrückt. Abgesehen davon habe ich sowieso den Eindruck, daß eine Menge von diesem Gerede über Arbeit und Unrecht nichts als heiße Luft ist.« Er drehte sich wieder zu ihr um, so daß die Kerzenflamme sich in seinen Augen widerspiegelte. »Das ist es nicht.« »Was du nicht sagst. Na schön.« »Lach mich nicht aus. Du wirst schon sehen.« »Werde ich das? Wann?« Er setzte zu einer Antwort an, dann errötete er so heftig, daß die Farbe sich sogar bis zu seinem Hals ausbreitete. »Ich weiß es noch nicht. Aber wenn der richtige Zeitpunkt kommt, werde ich ein Zeichen setzen, um unserer Sache zu helfen. Ich werde etwas tun.« »O Joey, red nicht so, das ist doch albern. Wenn du anfängst, an das zu glauben, was –« »Ich glaube daran!« »– dann bringst du dich in Gefahr und wirst am Ende noch getötet. Soll man sein Leben für Ideen aus irgendeinem Buch wegwerfen? Ich tu’ das jedenfalls nicht.« »Rosie, laß uns nicht streiten.« »Ich streite nicht, ich sag’ dir nur, daß ich zuallererst für mich sorge.« Er lehnte sich zu ihr hinüber und küßte sie heftig. »Ich sorge auch für dich. Vielleicht schenke ich dir zur Hochzeit ein paar Teller mit goldenem Rand, wie wäre das?« Die Spannung zwischen ihnen entlud sich; sie lachte. »Erzähl keinen Unsinn, Joey. Es gibt zwei Arten von Mädchen, nämlich die, welche geheiratet werden, und die, mit denen man schläft. Ich gehöre zur zweiten Art und mache mir deswegen keine Illusionen. Ich weiß, was ich bin.
388
TEIL FÜNF
Welche Sorte von Mädchen. Ein Mädchen, das gelernt hat, Männer zu verwöhnen, und es gerne tut. Das ist ganz in Ordnung, denn ich kann mir damit ein angenehmes Leben machen, eine schöne Wohnung bekommen, hübsche Kleider. Ich erwarte nicht, daß du von Heiraten redest, Joey. Und wenn du es tätest, würde ich nein sagen; ich habe größere Dinge vor.« Sie ließ ihre Hand wieder nach unten in seinen Schoß wandern und schloß sie um sein Geschlecht. »Über die red’ ich auch nicht. Und jetzt komm, ich kann schon wieder. So lange braucht Mama auch nicht, um von Kensington zurückzukommen. Zieh dir wieder eins von diesen Dingern drüber. Ich will keine Babys, weder von dir noch von einem anderen. Entweder schaffe ich den Aufstieg und verlasse diesen traurigen Ort, oder ich sterbe. Ich werde irgendwann vom goldgeränderten Teller irgendeines Mannes essen, auch wenn du es nicht tust.« Am 7. Mai erschien ein Beschwerdekomitee bei der PullmanGeschäftsleitung, um die Wiedereinführung normaler Löhne zu fordern. Die leitenden Angestellten hörten sich das Anliegen wohlwollend an und legten dann erneut die Position der Firma dar. Die Zeiten seien schlecht. Die Bestellungen seien auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Lohnkürzungen betrügen nicht 40, 50 oder 60 Prozent, wie behauptet werde; sie bewegten sich durchschnittlich bei 19 Prozent. Außerdem baue Pullman seine Waggons zur Zeit mit Verlust, um die Produktionsbetriebe in Gang zu halten und wenigstens einen Teil der Belegschaft beschäftigen zu können. Das Treffen endete in freundlicher Atmosphäre. Unter der PullmanBelegschaft verbreitete sich schnell die Nachricht, daß die drei Mitglieder des Komitees einstweilen zufrieden seien. Mitte der Woche erhielt jeder der drei eine Verfügung, daß er auf unbestimmte Zeit von seiner Arbeit suspendiert sei. Am Freitag, dem 11. Mai, um die Mittagszeit, legten 3 100 Arbeiter der Pullman Palace Car Company ihre Arbeit nieder und verließen die Montagehallen. Sie verlangten niedrigere Mieten in Pullman, die Rücknahme der Lohnkürzungen von 1893 und die sofortige Wiedereinstellung der drei Komiteemitglieder. Nicht alle Arbeiter bei Pullman beteiligten sich an der Arbeitsniederlegung. Tabor Jablonec gehörte zu denen, die an ihrem Arbeitsplatz ausharrten. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Rosie zu Joe junior, als sie ihm von den Vorgängen erzählte. Tabors Loyalität half ihm wenig. Am Montag entließ die Firmenleitung auch die dreihundert restlichen Arbeiter auf unbestimmte Zeit.
PULLMAN 1894
389
39 JULIE Tante Willis Fishburne traf während der zweiten Woche des PullmanStreiks ein. Sie blieb nie lange, wenn sie zu Besuch kam. Sie hielt sich an das, was sie ihre »Drei-Tage-Regel« nannte. »Nach drei Tagen fangen Fisch und Besuch sehr schnell an zu stinken.« Drei Tage reichten auch aus, um Vanderhoff halbwegs um den Verstand zu bringen, aber sie waren nicht annähernd genug für Julie. Tante Willis würde bald ihren achtundvierzigsten Geburtstag feiern. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Nell war sie eine große Frau mit herben Gesichtszügen, ausgeprägtem Kinn, langer Nase und eingefallenen Wangen. Sie trug ihr mit grauen Strähnen durchsetztes Haar männlich kurz und schlicht. Sie hatte für die kleinen Löckchen, die Turmfrisuren und schweren Nackenknoten, die gerade in Mode waren, nichts übrig. Willis Schlankheit war von jener Art, die manchmal auch sehnig genannt wurde. Ihr Busen war winzig. Sie wirkte wie eine Frau von irgendeiner hinterwäldlerischen Plantage im Süden, wo das Leben hart und grundsätzlich freudlos war. Bis man ihre Augen sah. Sie strahlten abwechselnd Wärme, Heiterkeit und Zynismus aus. Sie waren wie Fenster, durch die man regelrechte Feuerwerke betrachten konnte. Tante Willis erschien mit einer Mietdroschke in der Prairie Avenue. Sie unterhielt sich länger als nötig mit dem Droschkenkutscher und gab ihm eine Flasche zurück, aus der er sie offenbar hatte trinken lassen. Sie trug wie üblich ein Kostüm, das schockieren sollte: Haremshosen unter einem kurzen Rock und einem maßgeschneiderten Hemd, flache Schnürschuhe und rote Seidenstrümpfe mit einem Karomuster. Willis hatte die Lehren von Mrs. Amelia Bloomer aus Seneca Falls, New York, studiert. Das war jene emanzipierte Frau, die in den fünfziger Jahren als erste die Einführung hygienischer Kleidung propagiert hatte. Einmal über deren Vorteile aufgeklärt, hatte Willis mit der alten Mode nichts mehr im Sinn. Sie verachtete die übereinandergetürmten Viktorianischen Krinolinenröcke, die Krausen und Volants, die schweren Turnüren, die mühsam umgeschnürt werden mußten. Sie sagte, sie bewirkten eine Unterdrückung der normalen und gesunden Weiblichkeit. Julies Tante war das sprichwörtliche schwarze Schaf der Familie. Sie war von ihrem Zuhause in Kentucky ausgerissen, als sie fünfzehn Jahre alt war. Wegen eines Jungen. Eines Jungen, den ihre Eltern ablehnten, hatte Nell ihrer Tochter einmal anvertraut. Das war jedoch nicht der einzige Grund. Von allen Fishburnes war Willis die einzige gewesen, die von der Krankheit des Abolitionismus angesteckt worden war.
390
TEIL FÜNF
Als Mädchen hatte sie am liebsten Geschichten über geflohene Sklaven gelesen und ganze Seiten des aufrührerischen Romans von Mrs. Stowe auswendig gelernt. Sie begann, auf die Verhältnisse in ihrer direkten Umgebung zu achten. Dieses neue Interesse bescherte ihr Konflikte mit allen anderen Mitgliedern des Fishburne-Haushalts. »Ich erinnere mich an schreckliche Szenen«, erzählte Nell. »Sie beschimpfte Vater wegen des Frevels der Sklavenhaltung, klagte den Wahnsinn der Sezession an. Sie stellte sich auf einen Stuhl und riß sich die Unterwäsche vom Leib, weil sie aus Baumwolle bestand, und Baumwolle stammte aus dem Süden, wo die Sklaverei herrschte. Bis heute lehnt meine Schwester das Tragen von Baumwollunterwäsche kategorisch ab. Sie trägt ausschließlich Seide.« Willis war zu einem Störfaktor geworden, den Nell vor der Welt zu verstecken versuchte. Glücklicherweise wohnte Willis in New York. Dort setzte sie sich für Anliegen ein, die ihre Schwester erbleichen ließen. Sie erklärte sich mit Huren solidarisch und ging zu ihnen auf die Straße, um gegen ihre sexuelle Ausbeutung zu kämpfen. Sie formulierte Flugblätter, auf denen die Änderung einseitiger Scheidungsgesetze gefordert wurde. Sie setzte sich in aller Offenheit für die freie Liebe ein und erklärte Julie, daß eine Frau das totale und absolute Recht habe, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Kein Arzt habe dieses Recht; kein Politiker oder Geistlicher habe dieses Recht; kein anderer Mensch habe dieses Recht – allerdings versuchten all diese Leute immer wieder, es für sich zu beanspruchen. Zwei Jahre zuvor hatte Willis den letzten ihrer drei Ehemänner verloren, deren Hinterlassenschaft ihr zu einem Status völliger finanzieller Unabhängigkeit verhelfen hatten. Nell war es ganz recht, nichts Näheres über die Männer zu erfahren. Der erste war ein Radikaler, der zweite ein Lebemann und der dritte ein Jude gewesen. Willis’ erster Ehemann, Reverend Chauncey Stone Coffin, war zwanzig Jahre älter als sie. Von seinem Vater hatte er den unitarischen Glauben geerbt sowie mehrere Millionen Dollars aus der in New England ansässigen Schiffahrtslinie. Er war eine führende Persönlichkeit im Kreuzzug für den Abolitionismus und die Gleichberechtigung der Neger. Willis lernte ihn während des Krieges in Chicago kennen. Sie lebte allein und bestritt ihren Lebensunterhalt mit niedrigen Arbeiten und nutzte außerdem jede freie Minute für wohltätige Zwecke. Im St. Luke’s Hospital, wo verwundete Unionssoldaten und Rebellen manchmal nebeneinander lagen, wechselte sie das Bettzeug und leerte Bettpfannen als Hilfspflegerin. Zweimal in der Woche begab sie sich ins Camp Douglas, das Gefangenenlager draußen in Cottage Grove, und half den Männern aus dem Süden, die nicht lesen und
PULLMAN 1894
391
schreiben konnten, Briefe nach Hause zu schicken, oder sie redete einfach nur mit ihnen, hielt ihnen die Hand und nahm Anteil an ihrem Leid, Hunderte Meilen entfernt von zu Hause und allen Angehörigen von amerikanischen Landsleuten eingesperrt worden zu sein. Gegen Ende des Krieges kam Reverend Coffin auch in das Gefangenenlager, lernte Willis kennen und machte ihr fortan den Hof. Er warb zwei Jahre lang um sie, während sie das Oberlin College besuchte. Am Ende erhörte sie sein Flehen. Die Leidenschaft des Reverend für die Freiheit der Schwarzen und die Bestrafung der Bewohner des Südens kannte keine Grenzen. Unglücklicherweise traf das auch auf seine Vorliebe für die weiblichen Mitglieder seiner Gemeinde zu. Auf einer seiner Predigtreisen nach der Hochzeit wurde er in einem Hotelzimmer in St. Louis erwischt, wo er sich gerade mit der nackten Ehefrau eines Würdenträgers der örtlichen Kirche in engster Umarmung befand. Willis erfuhr von dieser Affäre, und Coffin überließ ihr eine Million Dollars als Gegenleistung für ihre Diskretion und eine unauffällige Scheidung. Ihren zweiten Ehemann, Loyal McBee, nahm sie ein paar Jahre später. Er war Schauspieler und fiel der gefährlichsten Versuchung seines Gewerbes, dem Trinken, schon sehr frühzeitig zum Opfer. Sein Talent reichte allenfalls für Nebenrollen. Er schaffte es nicht, einen einzigen Penny in der Tasche zu behalten, aber Willis liebte ihn wahnsinnig und vorbehaltlos. Ihre Ehe dauerte vier Jahre. Während einer Tournee in Detroit spielte er in Julius Caesar neben Mr. Booths Mark Anton den Cassius. Er verließ das Theater nach einer Matinee, fand in der Nähe einen Saloon, beendete nach einer Stunde sein Gastspiel an der dortigen Bar und stürzte vor einen Pferdewagen. Er brach sich das Genick und starb sofort. Es dauerte eine Woche, bis Willis zum erstenmal davon erfuhr, daß Loyals Familie in Rochester, New York, eine große Getreidemühle besaß und ihm eine halbe Million Dollars in Form eines Treuhandfonds überschrieben hatte, über die er so lange nicht hatte verfügen dürfen, wie er das anrüchige Gewerbe der Schauspielerei betrieb. Willis erbte das Geld. Simon Mordecai Weiss war ihr letzter Ehemann. Weiss war ein Handelsprinz – oder, genauer, ein alternder König –, als Willis ihn kennenlernte. Weiss hatte den Schrotthandel seines Vaters übernommen und sich im Laufe der Jahre zu Amerikas wichtigstem Großhändler für Eisenwaren gemausert. Er hatte ständig schmutzige Hände oder Schmierflecken im Gesicht. Größere Posten, die ihm zum Kauf angeboten wurden, überprüfte
392
TEIL FÜNF
er persönlich. Er war ein überaus freundlicher, gütiger Mann, der vorher schon mit zwei Frauen verheiratet gewesen war, von denen er sich hatte scheiden lassen. Beide waren habgierig und fade gewesen. Er und Willis lernten sich durch Zufall bei einem Lichtbildervortrag über Zentralafrika kennen. Gehalten wurde der Vortrag von Mr. Henry M. Stanley, dem Journalisten, der der Welt die Sensation bescherte, im Jahr 1871 den verschollen geglaubten Dr. Livingstone am Tanganjikasee aufzustöbern. Willis und Weiss hatten Eintrittskarten für nebeneinander liegende Sitze und kamen ins Gespräch. Willis mochte den alten Herrn schon, ehe sie überhaupt wußte, wer oder was er war. Zwei Wochen später machte er ihr einen einfachen und ehrlichen Antrag. Wenn sie ihn heiratete und mit ihm lebte, reiste und ihn für den Rest seines Lebens mit intelligenten, lebhaften Gesprächen unterhielt (es war ihre kluge, selbstbewußte Art, die ihm auf Anhieb gefallen hatte), würde er sie zu seiner Alleinerbin machen. Er hatte keine Familie. Als er ihr seinen Antrag machte, gestand er außerdem, daß er ein schwaches Herz habe und damit rechne, nicht länger als fünf Jahre zu leben; er war zu diesem Zeitpunkt siebenundsiebzig. Tatsächlich lebte er noch vierzehn Monate. Am Tag nach seinem Tod meldeten seine Anwälte sich bei seiner Witwe mit zwei Angeboten von Konkurrenten des Verstorbenen. Weiss hatte oft angedeutet, er erwarte, daß sie die Firma nach seinem Hinscheiden verkaufe. Sie sei eine zu lebensfrohe Frau, um ihr Leben mit Nieten und Schrauben und Winkeleisen zu verbringen. Sie verhandelte mit großem Geschick. Die konkurrierenden Bieter erhöhten mehrmals ihr Angebot, und sie verkaufte schließlich an den Mann, der ihr siebeneinhalb Millionen Dollars zahlen wollte. Nachdem sie den gütigen und klugen Weiss beerdigt hatte, trauerte sie einen Monat lang um ihn. Willis hatte niemals Interesse am Reichtum ihrer Ehemänner gehabt. Oft fragte sie sich, ob das nicht vielleicht der Grund dafür war, daß der Reichtum ihr am Ende in den Schoß gefallen war. Trotz ihrer fortschrittlichen Ansichten und ihres aktiven Interesses an weniger achtbaren Anliegen hatte Willis sich viele Tugenden einer Südstaatlerin bewahrt. Solange sie durch Dummheit nicht tyrannisiert oder direkt beleidigt wurde, begegnete sie ihren Mitmenschen sehr taktvoll, ausgenommen ungehobelten Leuten und hoffnungslosen Dummköpfen. Ihr Schwager paßte eigentlich in beide Kategorien, aber da er nun zur Familie gehörte, versuchte sie, sich in seiner Gegenwart mit Kommentaren zurückzuhalten. Sie schaffte es nicht immer. Was ihr als gesunder Menschenverstand
PULLMAN 1894
393
erschien, war für ihren Schwager und für Nell häufig völlig undenkbar. Daher schaffte sie es bei jedem ihrer Besuche mindestens einmal, sie in Rage zu bringen. Dieses Mal geschah es bereits während des ersten Abendessens in Chicago. Sie leerte ihre Mokkatasse und zündete sich eine ihrer schlanken dunkelbraunen Zigarren an. »Im Zug habe ich einiges über Mr. Pullman und seinen Streit mit seinen Arbeitern gelesen. Er klingt schrecklich überheblich. Ich hoffe nur, daß die Streikenden durchhalten, bis sie anständig behandelt werden. Vielleicht zwingen sie Pullman diesmal in die Knie.« »Das sieht dir ähnlich«, murmelte Pork. Nell warf ihm einen beschwörenden Blick zu – Wirst du wohl Frieden halten? In drei Tagen haben wir es überstanden. Ich weiß, daß sie verrückt ist, aber sie ist immer noch meine Schwester. Julies Vater schien nicht gewillt, auf das Signal zu reagieren. Seine Tochter war ganz zappelig. Sie wollte unbedingt allein mit Tante Willis reden. Ihr von Paul erzählen. Sie um Rat fragen. Willis streifte die Zigarrenasche auf ihrer Untertasse ab. Nell versuchte, ihre Mißbilligung zu verbergen. Julies Mutter sah im grellen Licht des elektrischen Kronleuchters erschreckend kränklich aus. Willis bemerkte das sehr wohl. »Fühlst du dich wieder mal nicht wohl, Nellie?« »Na ja, ich habe ein paar Tage im Bett gelegen –« »Auf Anraten dieses Doktors mit dem Chorknabengesicht, nehme ich an.« »Dr. Woodrow.« »Wen interessiert es, wie er heißt? Jeder, der Bettruhe bei totaler Dunkelheit verschreibt, während draußen die Sonne scheint, ist ein Quacksalber.« Willis machte mit ihrer Zigarre eine wegwerfende Bewegung. Nell zog ein Gesicht wie ein beleidigter Vogel. »Wenn du so krank wärest, würdest du ihn nicht als Quacksalber titulieren. Du kannst Gott danken, daß du eine jener seltenen Erscheinungen bist, Schwester. Nämlich eine gesunde Frau.« »Meine liebe Schwester, das ist Quatsch. Ich bin gesund, weil ich ein gesundes Leben führe. Ich trage keine einschnürenden Kleider. Spiele niemals die Kranke. Unternehme jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge. Ich esse und trinke gut und ausgiebig –« »Und du hast Männer«, platzte Vanderhoff heraus. Julie schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund. Aber der erwartete Wutausbruch blieb aus. Willis lächelte ihren Schwager an.
394
TEIL FÜNF
»Das ist richtig, Mason. Ich hatte drei wunderbare Ehemänner. Aber ich habe beschlossen, nicht mehr zu heiraten. Erstens wäre es schwierig, jemanden zu finden, der den Vorgängern halbwegs ebenbürtig wäre. Ferner ist es in diesen modernen Zeiten nicht nötig. Man braucht keinen Ring am Finger zu tragen, um das andere Geschlecht genießen zu können.« Nellie schnappte nach Luft. »Willis, das ist ja widerlich!« »Ja, ja, ich kann mir vorstellen, daß du so denkst. Ich hatte vergessen, daß wir hier ja noch im tiefsten Mittelalter leben.« »Du meinst hier in Chicago«, sagte Vanderhoff. »Hier in der Prärie. In der Provinz.« »Genauso ist es, Mason«, erwiderte Willis mit ihrem süßesten Südstaatenlächeln. Julie verspürte den unbändigen Drang zu kichern. Sie liebte Papa, aber es amüsierte sie immer wieder, wenn irgend etwas ihn ärgerte und er sich aufblies wie ein Ochsenfrosch. In freudiger Erwartung eines Einkaufsbummels mit Tante Willis am nächsten Tag verbrachte Julie eine unruhige Nacht und erwachte schon vor Tagesanbruch. Sie und ihre Tante verbrachten den größten Teil des Tages bei Elstree und Field und in anderen großen Kaufhäusern, danach begaben sie sich zum Abendessen in Willis’ bevorzugtes Restaurant, das English Chop House. Es war ein urwüchsiges, verrufenes Etablissement in der Gamblers’ Alley, mit seinen unternehmungslustigen Männern, geschminkten Frauen, dickbäuchigen Politikern und wortgewandten Journalisten sehr volkstümlich. Inmitten der dunklen Holzeinrichtung und bei einer Luft, in die sich zu gleichen Teilen Tabakqualm, Bratenfettgeruch und Whiskeydämpfe mischten, fühlte Willis sich zu Hause. »Na los, dann erzähl mal«, sagte sie, nachdem sie einen Tisch gefunden hatten und sie sich eine frische Zigarre angezündet hatte. Julies Augen weiteten sich fragend. »Was denn?« »Ich bitte dich, meinst du, ich hätte die Veränderungen seit meinem letzten Besuch nicht bemerkt? Deine Wangen sind voll und rot, aber deine Augen sehen richtig abgespannt und sorgenvoll aus. Wenn junge Frauen schlecht schlafen, dann meistens wegen irgendwelcher junger Männer.« Sie streckte die Arme aus und drückte Julies Hände. »Erzähl schon.« Julie sprudelte bereitwillig alles hervor – alles über Paul Crown, der zu der Familie gehörte, die die Vanderhoffs haßten. »Du hast dich trotzdem mit ihm verabredet.« Willis ließ die Feststellung wie eine Frage klingen. »Jeden Sonntag. Jetzt, wo das Wetter sich gebessert hat, fahren wir im Lincoln-Park Fahrrad. Er mimt dabei meinen Lehrer. Er ist sehr
PULLMAN 1894
395
entschlossen und wagemutig. Ich glaube, ich liebe ihn, Tante Willis.« Willis schwieg für einen Moment. »Wie alt bist du, Juliette?« »Also, das weißt du doch. Du schickst mir immerhin jedes Jahr ein wunderschönes Geschenk. Am achtundzwanzigsten dieses Monats werde ich siebzehn.« »Ja, das weiß ich. Aber das laut auszusprechen hat durchaus seinen Sinn. Du bist jung. Es ist also durchaus möglich, daß diese Schwärmerei irgendwann vorübergeht.« »Das wird sie nicht. Ich habe genug Bücher gelesen, um zu wissen, daß vor gar nicht langer Zeit Mädchen, die viel jünger waren als ich, sich verliebt, dann geheiratet haben und schließlich Kinder bekamen, kaum daß sie vierzehn oder fünfzehn Jahre alt waren.« »Ja, aber sie hatten einen guten Grund dafür. Sie hatten ein viel härteres und kürzeres Leben. Sie mußten sich beeilen, das brauchst du nicht. Du hast so viele Vorteile – so viel, was noch vor dir liegt. Ich tue doch nichts anderes, als dich ein wenig zu bremsen, dich zum Nachdenken anzuhalten. Du mußt deiner Sache sehr sicher sein.« »Das bin ich.« Willis musterte sie einige Sekunden lang mit ernster Miene. »Na schön. Wenn es stimmt und sich auch als dauerhaft erweist, dann sag nicht, daß du glaubst, den Jungen zu lieben, sondern erkläre es ganz offen.« Julie rührte mit ihrem kleinen Silberlöffel in ihrem geschmolzenen Eisdessert herum. »Was ist denn mit Mama und Papa? Sie werden ihn hassen. Ich würde aber sterben, wenn ich ihn nicht mehr sehen dürfte.« »Dann sag nichts.« »Richtig, das meine ich auch. Aber was soll ich tun, wenn sie es herausbekämen?« »Wehr dich gegen sie.« »Mich wehren? Oh, Tante Willis, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich glaube, ich bin nicht prüde und alles andere als tugendhaft, aber ich liebe Mama und Papa. Ich wünsche mir ihre Achtung und ihre Zustimmung. Ihre Liebe –« »– die sie davon abhängig machen, wie du dich verhältst.« Julie wandte den Blick ab. Ihre Tante hatte es richtig erkannt. »Ich nehme deine Gefühle ernst, mein Kind. Du bist eine gehorsame Tochter und eine anständige Person. Bedauerlicherweise kann Anständigkeit in der Welt von heute ein Handikap bedeuten. Überdies hat deine Mutter – die aus demselben Fleisch und Blut ist wie ich – dir den Kopf vollgestopft mit irgendwelchem Unsinn über deine empfindliche Gesundheit, über schwache Nerven und einen allgemeinen Mangel an
396
TEIL FÜNF
Widerstandskraft. Du darfst nichts davon glauben. Das gehört zu dem Unsinn, den man den Frauen immer noch erzählt. Nimm nur dieses Ammenmärchen, daß Frauen einmal im Monat so krank werden, daß sie sich hinlegen müssen. Lächerlich. Den Mädchen wird dieser Quatsch von der Gesellschaft und von ihren Müttern weisgemacht. Schönes Haar scheint immer noch wichtiger zu sein als ein intaktes, zum Denken fähiges Gehirn. Die Hauptfunktion der Frau besteht immer noch darin, als Zierde des Mannes aufzutreten. Außer natürlich, wenn sie sich als Zuchtsau betätigt.« »Tante Willis«, flüsterte Julie schockiert und schlug eine Hand vor den Mund. »Na komm schon, es ist doch nichts Schlimmes daran, wenn man die Wahrheit offen ausspricht. Eine Frau kommt mit Intelligenz und Charakter auf die Welt. Und zwar hat sie von allem mehr, als der durchschnittliche Mann besitzt. Eine Frau ist zu bedeutsameren Dingen fähig, als nur wie eine Puppe zur Dekoration im Haus herumzusitzen. Kennst du das Theaterstück, daß Mr. Ibsen über diese Nora geschrieben hat?« »Nein. Ich habe lediglich den Namen Ibsen schon mal gehört. Die Leute sagen, er schreibe unanständige Theaterstücke.« »Natürlich. Die Menschen haben immer einen ganzen Haufen bewährter Anschuldigungen, die sie jemandem entgegenschleudern können, der sich mit einer neuen Idee vorwagt. Henrik Ibsen ist ein fähiger, überzeugender Dramatiker. Ein Genie. Für einen Mann weiß er erstaunlich gut über unser Geschlecht Bescheid. Eine Frau braucht eine Aufgabe, einen Lebenssinn, Julie. Eine Mission, von der sie weiß, daß sie wichtig ist. Das und ein Glas besten Kentucky Bourbon, ausgiebiges Schwimmen oder ein starker Liebhaber können fast alles kurieren, worunter man jeweils leiden mag. Dennoch – wenn wir all das erst mal beiseite lassen – weiß ich, daß du wegen dieses Jungen vor einer ganz anderen, weitaus akuteren Frage stehst. Nämlich – um wessen Leben geht es hier? Um das deiner Mutter, deines Vaters oder dein eigenes?« Unsicher betrachtete Julie ihre Hände. Sie kannte die tapfere Antwort auf diese Frage. Sie konnte nur nicht ertragen, sich den Konsequenzen zu stellen, die sich daraus ergaben. Tante Willis schien es gut zu verstehen. Sie ergriff Julies Hand. An jedem Finger trug sie einen Ring mit einem anderen Edelstein. »Fang nicht an, an dir zu zweifeln. Du hast den Mut und die Kraft, den richtigen Weg einzuschlagen, wenn du nur fest davon überzeugt bist. Wenn du es tust, wird es zumindest für einige Zeit ziemlich qualvoll für dich sein, aber du wirst es am Ende überleben. Du hättest deinen Standpunkt erfolgreich verteidigt.«
PULLMAN 1894
397
»Ich hoffe es.« »Ich habe es in Kentucky genauso gemacht und habe es geschafft.« »Davon hast du mir nie erzählt.« »Ach, habe ich das nicht?« Willis lehnte sich zurück und schloß halb die Augen. Ein seltsam verträumter Ausdruck breitete sich kurz auf ihrem Gesicht aus und ließ es in nie gesehener Schönheit erstrahlen. Ihre Stimme bekam einen weichen Klang. »Es ist eigentlich nur eine kurze Geschichte. Im Staat Kentucky gab es zwei Lager, die gegeneinander stritten. Die Fishburnes waren für die Abtrennung. Billy Boyntons Leute waren Loyalisten. Arme Loyalisten. Schlammspringer. Mir war es gleich. Ich packte ein paar Sachen zu einem Bündel zusammen, rutschte am Regenrohr hinunter und lief von zu Hause weg. Ich war sechs Tage und Nächte mit Billy zusammen, ehe er einrücken mußte.« »Hast du ihn geheiratet?« »Nein, das habe ich nicht. Kein Geistlicher hätte die Zeremonie vorgenommen ohne eine schriftliche Erklärung, daß wir dazu die elterliche Erlaubnis hatten.« Julie war entgeistert. »Dazu muß aber viel Mut nötig gewesen sein – du warst schließlich erst fünfzehn. Hast du jemals –?« Sie wartete, bis der Kellner ein Silbertablett mit der Rechnung auf ihren Tisch gestellt hatte. »Hast du jemals bereut, was du getan hast?« »Kein einziges Mal. Diese sechs Tage und Nächte mit Billy Boynton gehörten zu den glücklichsten, die ich je erlebt habe. Ich würde nicht auf sie verzichten wollen, selbst wenn man mich dafür zur Kaiserin von China machen würde.« »Was ist deinem Freund passiert?« Willis drückte ihre Zigarette mit heftigen Bewegungen in einer Kristallschale aus. »Er fiel in Chickamauga. Moment, ich zahle die Rechnung. Es wird Zeit für uns, nach Hause zurückzukehren. Eine Sache noch.« Sie tätschelte noch einmal die Hand ihrer Nichte. »Wenn diese Liebesgeschichte so ernst wird, daß du glaubst, nicht mehr alleine damit fertig zu werden, dann denk an mich. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du eine Zuflucht oder eine Freundin brauchst.« 40 PAUL Onkel Joe wetterte weiterhin laut und oft gegen den Streik bei Pullman. Das
398
TEIL FÜNF
gleiche taten auch die Zeitungen, die ins Haus kamen. Paul las sie langsam, mühsam, und stets hielt er eine kleine englische Grammatik und sein Taschenwörterbuch bereit. Die Zeitungen sprachen sich so entschieden gegen die Streikenden aus, daß Paul sich zu fragen begann, ob es zwischen ihnen und Mr. Pullman irgendwelche verborgenen Kontakte gab. Er erinnerte sich, wie Vetter Joe einmal davon geredet hatte, daß die Reichen sich gegen die Armen verschworen. Diese einseitigen Darstellungen konnten durchaus ein Beweis dafür sein. Niemand konnte so selbstsüchtig, verantwortungslos, verdorben und gesetzlos sein, wie die Zeitungen die Streikenden beschrieben. Die Diskussion um den Streik weckte Zweifel, die Paul verdrängte. Er wollte nicht an den Bäcker aus Wuppertal erinnert werden. Er wollte nicht den düsteren Andeutungen seines Vetters über Amerika glauben – jener ständig wiederholten »Wahrheit«. Aber die Zweifel waren da, und sie wurden mit jedem Tag stärker. An einem heißen Junitag überredete Joe junior Paul nach der Arbeit, ihn noch zu einer Versammlung zu begleiten, ehe sie nach Hause gingen. Es war ein Samstag, der Tag nach Pauls siebzehntem Geburtstag. »Gene Debs tritt heute nachmittag auf. Er ist ein phantastischer Redner, du mußt ihn dir anhören.« Paul befürchtete, daß er die Botschaft des Gewerkschaftlers längst kannte. Um ihrer Freundschaft willen erklärte er sich jedoch bereit mitzugehen, obgleich er am liebsten nach Hause gegangen wäre und sich schlafen gelegt hätte, um sich die Wartezeit bis zum darauffolgenden Sonntagnachmittag zu verkürzen. Nachdem sie die Brauerei verlassen hatten, aßen sie zu Mittag in einem Saloon und gingen dann zur Uhlich-Halle im Ashland-Block. Der schmuddelige Saal war heiß und beinahe voll, als sie die Treppe zur Galerie hinaufstiegen. Paul fühlte sich in dieser Menge, die sicherlich nur aus Sozialisten bestand, ausgesprochen unwohl. Die meisten waren dürftig gekleidet und hatten das ärmliche Aussehen von Tagelöhnern. Vetter Joe sagte: »Debs’ Gewerkschaft hält diese Versammlung hier schon seit fünf Tagen ab. Alle sind gespannt, ob Debs heute eine wichtige Erklärung abgibt. Nämlich, daß er den Streik unterstützt. Siehst du die Reporter da unten?« Er deutete auf einen abgesperrten Bereich im Saal. Dort herrschte dichtes Gedränge. Um Punkt zwei Uhr betrat ein Mann die Bühne. Er stellte sich als George Howard vor, Vizepräsident der American Railway Union. Mit einigen rhetorischen Schnörkeln präsentierte er den Vorsitzenden, Mr. Debs. Langer Applaus, Pfiffe, Fußgetrampel empfingen Debs, als er aus den
PULLMAN 1894
399
Kulissen trat. Paul dachte, daß Mr. Debs, der Radikale, eher wie ein Mönch aussah, der irrtümlich einen normalen Anzug mit Schlips und Kragen trug. Als der Applaus verebbte, trat Debs ans Rednerpult. Er sprach ohne Notizen. »Meine Herren, ich möchte Ihnen eine Entscheidung bekanntgeben, die vom Vorstand Ihrer Bruderschaft getroffen wurde. Als persönliche Bemerkung möchte ich vorausschicken, daß ich, wie viele von Ihnen wissen, mich immer wieder dagegen gesträubt habe, den Streikenden der Pullman-Werke offen unsere Unterstützung zuzusagen. Ich bin noch immer sehr skeptisch.« Seine Stimme drang bis in den letzten Winkel des Saals und bewegte sogar Paul. »Es trifft zu, daß die American Railway Union in sehr kurzer Zeit sehr groß geworden ist. Aber wir sind noch immer eine junge und bisher nicht geforderte Organisation. Man kann über die Pullman Palace Car Company sagen, was man will« – vereinzelt wurden Buh-Rufe laut –, »kein vernünftiger Mensch kann leugnen, daß sie eine Firma mit bedeutenden finanziellen Mitteln und einflußreichen Beziehungen bis in die höchsten Kreise der örtlichen wie auch der nationalen Regierung ist. Allein aus diesem Grund war ich nicht bereit, eine Aktion zu empfehlen, um unsere Solidarität mit jenen zu demonstrieren, die tapfer für ihre Rechte kämpfen.« Paul beugte sich zu seinem Vetter hinüber. »Was meint er mit Aktion?« »Einen Sympathiestreik durch diese Gewerkschaft.« Debs hob den Kopf. Sein Blick wanderte über die Galerie. »Fünf Tage dauert unsere Versammlung schon. Wir haben Berichte über den Mißbrauch und die Ausbeutung von Arbeitern bei Pullman gehört, einen Mißbrauch, der sich mit der Moral eines modernen, zivilisierten Landes nicht verträgt. Wir haben auf die andauernde, offene Unnachgiebigkeit des Managements bei Pullman hingewiesen. Das Management erklärt stur, daß es nichts zu verhandeln gibt. Mit blinden Augen, tauben Ohren und Herzen, in denen kein christliches Mitgefühl mehr existiert, wendet die Pullman Company sich von ihren eigenen Angestellten ab, die hungern und leiden wegen – ja, wegen was? Wegen unmäßiger oder unvernünftiger Forderungen? Nein! Nur wegen der Fortzahlung eines Mindestlohns!« Joe junior rutschte gespannt nach vorne auf die Sitzkante. »Ich glaube, er tut’s.« Debs machte eine kleine Pause, um aus einem Glas einen Schluck Wasser zu trinken. Als er das Glas zur Hälfte geleert hatte, stellte er es beiseite und umklammerte mit den Händen die Seiten des Rednerpults. Sekunden verstrichen. In der Uhlich-Halle war es so still, daß Paul eine
400
TEIL FÜNF
Bodendiele knarren hörte, als jemand sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagerte. »Gentlemen – aus allen soeben genannten Gründen habe ich meine Bedenken beiseite geschoben.« Jemand stieß einen Pfiff aus, andere reagierten mit Beifallsrufen. Debs hob schnell die Hand und bat um Ruhe. »Ich werde nicht widersprechen, sondern schließe mich der Entscheidung des Vorstands der Vereinigung an. Diese Entscheidung ist das Ergebnis langer und sorgfältiger Überlegungen. Wenn die Pullman Palace Car Company sich nicht innerhalb von zehn Tagen zu einer gutwilligen Schlichtung der Meinungsverschiedenheiten bereit erklärt, dann wird die American Railway Union einen Boykott aller Pullman-Betriebe empfehlen.« Unter den Reportern im Saal entstand Bewegung. Ein Mann mit Strohhut drängte sich zum Mittelgang. Debs stoppte ihn mit scharfer Stimme. »Einen Moment. Ich bin noch nicht fertig.« Protestierend setzte der Reporter sich wieder. Seine Kollegen bedeuteten ihm zu schweigen. »Während des Boykotts wird die Bruderschaft sich weigern, PullmanWagen zu warten oder zu betreiben, ganz gleich bei welcher Linie sie verkehren. Wir werden keine Gewalt anwenden. Wir werden keine Züge anhalten. Wir werden ganz einfach keinen Finger mehr rühren. Unsere Bemühungen werden friedlich sein und nicht ehrverletzend. Wir werden die Firma auf jeden Fall besser behandeln, als sie es mit ihren eigenen Leuten tut. Aber wir werden unbeugsam sein und den Boykott aufrechterhalten, bis ernsthafte Verhandlungen beginnen.« Langsam ließ Debs seinen Blick durch die mittlerweile totenstille Halle wandern. Er hatte sie nach und nach mit seinen Worten gebannt. Sogar Paul, der von der Rede des Mannes langsam und beinahe unbewußt hypnotisiert worden war. »Das ist unsere Botschaft an die Welt. In diesen finsteren und schwierigen Zeiten können wir nichts anderes tun, als unsere tapferen Brüder, amerikanische Arbeiter wie wir, zu unterstützen. Ich kann und werde nichts anderes tun, solange ich atme. Vielen Dank und guten Tag.« Der Vizepräsident der A.R.U. Howard, sprang von seinem Platz auf, um zu applaudieren. Joe junior schoß hoch und Paul ebenfalls, wenn auch zögerlicher. Debs stützte sich auf das Rednerpult, schwankte, als habe er sich verausgabt. Seine Blicke wanderten durch die Halle. Ein schwaches, müdes Lächeln war seine einzige Reaktion auf das Händeklatschen und Füße trampeln. Reporter drängten sich aus der Presseloge und versuchten, an Debs heranzukommen. Männer aus dem Publikum erreichten ihn zuerst, klopften
PULLMAN 1894
401
ihm auf den Rücken und drückten ihm die Hand. Während Paul und sein Vetter zum Ausgang strebten, war Joe junior geradezu außer sich vor Freude. »Das ist es, jetzt wird endlich gehandelt.« »Wahrscheinlich hast du recht.« »Warum so mißgelaunt? Ist dir das mit dem Streik egal?« »Ich denke, das sollte es wohl nicht sein, aber –« »Du kannst an gar nichts anderes mehr denken als nur an Julie, stimmt’s?« Paul versuchte zu lächeln. »Scheint so.« »Nun, du mußt jetzt an etwas anderes denken. Der Arbeitsboykott verändert alles. Er ist das reinste Dynamit.« Während die beiden die Halle verließen, fragte Paul sich, ob seinem Vetter bewußt war, welches Wort er benutzt hatte. Bilder zuckten durch seinen Kopf. Die Sanddünen. Die explodierende Baracke. Benno Strauss’ begeistertes Lachen … Schlimme Bilder. Waren sie die Vorboten von noch Schlimmerem? Er hoffte nicht. Zwei glänzende Fleetwing-Sicherheitsfahrräder lehnten am Stamm der Platane. Auf der anderen Seite, im Schatten des Baums, lagen Paul und Julie im jungen Gras. Ihr rechter Arm, in Weiß gekleidet, und sein linker, in einem gestärkten Hemd, dessen Ärmel hochgerollt war, ruhten dicht nebeneinander, berührten sich. Sie hatten sich heute zwei Stunden später als sonst getroffen, um vier Uhr. Tante Ilsa hatte das sonntägliche Mittagessen wegen eines besonderen Empfangs nach dem Morgengottesdienst in der St. Pauls-Kirche verschoben. Pastor Wunder stellte einen neuen Assistenten vor, der soeben ordiniert worden war. Als Paul an diesem frühen Sonntagmorgen davon erfuhr, rannte er im Dauerlauf bis zur Prairie Avenue und drückte sich in der Nähe der Vanderhoff-Villa herum, bis die Familie zur Kirche fuhr. Dann eilte er schnell durch die Fünfzehnte Straße zur Rückseite des Anwesens, wo ein kurzer Fußweg vom Bürgersteig zur Stalltür führte. Sieben melonengroße, gekalkte Steine säumten jede Seite des Weges. Ihr Stein war der zweite auf der linken Seite, wenn man auf den Stall blickte. Paul hatte den Stein ausgesucht, nachdem Julie angedeutet hatte, daß sie am Ende ganz sicher erwischt würden, falls sie sich weiterhin des Hauspersonals bedienten, um Nachrichten zwischen ihnen hin und her zu schicken.
402
TEIL FÜNF
Er versteckte eine Nachricht unter dem Stein und glättete die Erde sorgfältig. Julie sah immer unter dem Stein nach, ehe sie das Haus verließ. Er war völlig außer Atem und schwitzte, als er ins Crown-Haus zurückkam. Egal. Eine ganze Woche zu überstehen, ohne sie gesehen zu haben, wäre einfach unerträglich. Ihr Treffpunkt war die Fahrradvermietung in der Nähe von Fishers Biergarten auf der nördlichen Seite des Lincoln-Parks. Er traf zwanzig Minuten zu früh ein. Sie erschien pünktlich. »Ja, ich habe die Nachricht gefunden.« Sie reichten sich die Hände, tauschten einen innigen Händedruck aus, dann trennten sie sich mit einem schuldbewußten Lächeln. Sie trug schicke neue Fahrradkleidung. Flache Schuhe aus weißem Leinen, weiße Gamaschen, einen knielangen Überrock, ein enges weißes Bolerojäckchen sowie eine fröhliche Matrosenmütze mit einem breiten smaragdgrünen Satinband. In Pauls Augen hätte niemand zu irgendeiner Zeit und an irgendeinem Ort schöner aussehen können. Sie radelten auf einer Straße nach Süden, die mitten durch den LincolnPark führte. Der Park war erfüllt von sommerlichen Geräuschen. Spielende Kinder. Fahrradfahrer, die ihre Klingeln ertönen ließen. Das Knallen eines voll getroffenen Baseballs mit anschließenden Beifallsrufen. Am südlichen Ende des Parks machten sie kehrt, radelten zurück zu Fisher, wo sie abstiegen und die Straße verließen. Paul und Julie suchten ihren Lieblingsplatz am Seeufer unter der großen Platane auf. Im Biergarten spielte die deutsche Kapelle Die Wacht am Rhein. Aus einer Tasche seines leichten Leinensakkos holte Paul einen kleinen Zeichenblock und ein Stück Zeichenkohle. Er versuchte sie zu skizzieren, während sie sich unterhielten. Er kam auf den Streik zu sprechen. »Ich weiß nicht viel darüber«, erwiderte Julie. »Papa sagt, die Streikenden sollten verhaftet werden. Und die Rädelsführer erschossen. Ich glaube nicht, daß er das ernst meint.« »Nein, aber das Thema scheint die Menschen sehr in Rage zu bringen. Mein Onkel redet genauso.« »Reiche Leute«, sagte sie achselzuckend. »Sie denken alle gleich. Bitte, laß mich mal sehen.« Verlegen zeigte er ihr die Zeichnung. »Schlecht wie immer. Ich versuche es, habe aber kein Talent. Ich möchte mit einer Kamera Bilder machen. Vielleicht sogar Bilder, die sich bewegen. Das wäre wirklich aufregend.« »Davon habe ich schon gehört. Papa hat sich eine Vorführung während der großen Ausstellung angesehen. Er sagte, die Bilder wären überflüssig und wertlos gewesen.«
PULLMAN 1894
403
»O nein, das finde ich nicht.« Er legte die kitschige Zeichnung beiseite. »Wie wäre es denn, wenn man wirklich bedeutende Dinge photographieren könnte? Dinge, die kein normaler Mensch jemals zu sehen bekäme? Präsidenten oder Könige oder Kannibalen? Ägypten oder China oder die Felswände irgendeines hohen Berges wie zum Beispiel der Jungfrau? Wenn man Kriege photographieren könnte? Es wäre genauso, als würde man ein Geschichtsbuch zum Leben erwecken. Und das wäre doch nicht überflüssig oder wertlos.« »Nein, das natürlich nicht.« Er lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm. »Das wäre eine Arbeit, der ich mein ganzes Leben widmen könnte, Julie.« »Du würdest den Betrieb deines Onkels verlassen?« »Ja, ich bin das Brauerhandwerk schon jetzt leid. Die Bezahlung ist zwar sehr gut, aber ich interessiere mich überhaupt nicht für die Bierherstellung, sondern nur fürs Trinken.« Sie lachte. »Ich möchte photographieren. Natürlich müßte ich es zuerst erlernen. Bei der Ausstellung habe ich einen Mann kennengelernt, der es mir beigebracht hätte, aber sein Laden ist geschlossen. Ich habe keine Ahnung, wohin er gegangen ist.« »Es muß doch noch einen anderen Weg geben. Du wirst ihn schon finden. Ich glaube sowieso, daß du fast alles schaffst, was du willst.« Sie war unfaßbar schön. Ihre Stirn leuchtete. Ihre Lippen waren weich und rosig. Die Hitze hatte einen silbernen Tautropfen auf ihre Oberlippe gezaubert. Sein Kopf füllte sich mit chaotischen Gedanken an Nacktheit, verschlungene Gliedmaßen, leise, leidenschaftliche Schreie. Er schob seine linke Hand über ihre. Julie drehte sich zu ihm hin. Die schwarzen Strähnen ihres Haars flatterten über den ausgepolsterten Schultern ihres Jäckchens. »Bitte, Paul. Das dürfen wir nicht.« Er ließ sie nicht los. »Ich fühle mich ganz schlimm, Julie.« »Weil wir uns auf diese Weise sehen?« »Nein, weil ich anständig sein muß, während ich an nichts anderes denke, als dich zu umarmen und zu küssen.« »Wir dürfen damit nicht anfangen. Das dürfen wir nicht wagen. Es könnte sein, daß ich nicht stark genug bin, um aufzuhören.« Er richtete sich auf, kniete sich hin. Zwei Fahrradfahrer fuhren auf der Straße vorbei. Paul sah kurz zu ihnen hinüber, dann beugte er sich vor und küßte sie. Sie hatten sich schon vorher zweimal auf den Mund geküßt, ganz züchtig. Aber nun war Juni; es war Sommer, und Hitze stieg aus der Erde auf, erfüllte die Luft, brachte ihr Blut in Wallung.
404
TEIL FÜNF
Er preßte seinen Mund auf ihren, spürte, wie die kühlen Lippen sich schnell erwärmten. Irgendwie öffnete sich ihr Mund. Ihre Zungen berührten sich. Sie stieß einen leisen Schrei aus und schlang die Arme um seine Taille, preßte sich an ihn. Er streichelte ihr glänzendes Haar, fragte nicht, wer sie so sehen konnte. »Ich will mehr, als mich immer nur so mit dir zu treffen. Bitte laß mich mit deinem Vater reden. Ich werde ihm klarmachen, daß ich aufrichtige, ernsthafte Absichten habe. Er wird seine Antipathie gegen meinen Onkel ablegen –« »Nein, das wird er nicht, und du darfst kein Wort sagen. Wenn du mit Papa reden würdest, dürfte ich dich nicht wiedersehen, niemals mehr. Wir würden sogar diese wenigen Stunden verlieren.« »Aber ich kann dies hier nicht mehr lange ertragen, ich will dir viel näher sein. Fühl doch«, stieß er hervor und zog sie an sich, so daß sie seine Erregtheit an ihrer Brust spürte. Mit geschlossenen Augen drängte sie sich noch heftiger gegen ihn. Dabei drangen Laute der Leidenschaft aus ihrer Kehle. »Ich kann mich nicht für den Rest meines Lebens heimlich mit dir treffen, Julie.« »Oh, das kann ich auch nicht, aber – aber –« Sie begann zu weinen. Er umarmte sie und strich ihr wieder über das dunkle, glänzende Haar. »Was sollen wir also tun?« »Ich weiß es nicht.« Er löste sich von ihr, als ihr Schluchzen heftiger wurde. Er war sowieso schon zudringlicher und intimer geworden, als der allgemeine Anstand es zuließ. Er berührte ihr von Tränen gerötetes Gesicht. Legte seine Hände an ihre Wangen. Beugte sich wieder hinab, um sie zärtlich, tröstend, sanft zu küssen, während über ihnen das Laub der Platane im Wind raschelte … »He! Hallo, ihr da!« Der Ruf riß sie geradezu auseinander. Paul schaute sich um, suchte die Störquelle. Er sah ein schickes rotes Tandemfahrrad auf der gewundenen Straße, das eine Staubwolke hinter sich herzog. Die junge Frau auf dem vorderen Sitz schaute unter ihrem Strohhut hervor über die Schulter. Wegen des hochgewirbelten Staubs konnte Paul sie oder ihren blonden Begleiter nicht auf Anhieb erkennen. Julie wußte wenige Sekunden vor Paul, wer es war. »O mein Gott, Paul!« Es war ihr reicher Freund Welliver.
PULLMAN 1894
405
41 ILSA Im Herbst 1889 hatten zwei junge Frauen namens Jane Addams und Ellen Starr den zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses an der Ecke Polk- und Halsted-Straße untervermietet. In dem Gebäude wohnten vorwiegend Angehörige der Arbeiterklasse, aber man erinnerte sich noch immer an den ersten Eigentümer des Hauses, einen Immobilienmogul namens Charles Hull. Die Adresse lautet daher für immer und ewig Hull House. Die Hull-House-Stiftung unterwies die bildungsmäßig vernachlässigten Leute in der Umgebung nicht nur in praktischen Dingen wie Ernährungsfragen, Kindeserziehung, Gesundheitspflege, Kosteneinsparungen, sondern sie führte auch Bildungs- und Kulturveranstaltungen durch. Kammermusikensembles spielten im Hull House. Schriftsteller lasen aus ihren Werken und stellten sich anschließend den Fragen ihrer Zuhörer und Leser. Kunstmaler präsentierten ihre Werke und hielten praktische Kurse ab. Universitätsdozenten hielten Vorlesungen über Ästhetik, Geschichte und Literatur. Redner aus den unterschiedlichsten Lagern stellten ihre Gesellschaftsmodelle vor. Aber die Hull-House-Stiftung erreichte nicht nur die nächste Umgebung, sondern sie wirkte sogar bis in die Familien der wohlhabenden und einflußreichen Frauen Chicagos. Dort hatte sie sich zur Aufgabe gemacht, die Wahrheit über die Not der Armen und Bedürftigen Chicagos zu verbreiten. Miss Addams und ihre Freundin Miss Starr waren in gewisser Hinsicht typisch für die weiblichen Vertreter ihrer Gesellschaftsschicht und ihrer Generation. Sie hatten das College besucht und betrachteten ein sinnvolles, der Wohltätigkeit verschriebenes Leben als unvereinbar mit einer Ehe. »Als ich mein Studium am Rockford Female Seminary abschloß«, erzählte Miss Addams Ilsa Ende der achtziger Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, »wollte ich eigentlich umherreisen und die Jahre mit irgendwelchen sinnlosen Aktivitäten verbummeln wie viele andere Frauen aus wohlhabenden Kreisen. Ich war zweimal in Europa und hatte während meiner zweiten Reise in einer Bierbrauerei in Coburg in Bayern ein einschneidendes Erlebnis. Ich sah, wie junge Frauen von fünf Uhr in der Frühe bis sieben Uhr abends schwere Bierfässer auf dem Rücken umherschleppten. Das Bier war noch heiß. Sie brachten es ins Kühlhaus. Sehr oft schwappte das Bier über und verbrühte sie. Entstellte sie wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens. Trotzdem arbeiteten sie weiter. Vierzehn Stunden am Tag für einen Lohn von anderthalb Mark. Das sind in
406
TEIL FÜNF
unserer Währung siebenunddreißig Cents. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich bin keine Heilige, Ilsa. Ich bin nicht besonders durchgeistigt, ich betrachte mich selbst als eher praktisch veranlagte Frau. Aber ich erkannte in Coburg, daß ich für mein Leben eine Mission, eine Aufgabe brauchte. Und ich wußte, daß die Aufgabe darin bestehen sollte, den Frauen in meiner eigenen Heimat zu helfen, denn auch dort waren sie teilweise durch unmenschliche Arbeiten zu einem Leben voller Hoffnungslosigkeit verdammt.« Ehe das Gespräch beendet war, hatte Ilsa Crown sich ebenfalls zur Arbeit im Hull House verpflichtet. Sie wußte, daß ihr Ehemann sich dagegen aussprechen würde. Diese Entscheidung hatte einen radikalen Anstrich. Das war ihr gleichgültig. In dieser Angelegenheit würde Joe sich ihrer Haltung als moderne Frau beugen müssen. Während jenes unruhigen Frühlings und Sommers des Jahres 1894 sammelte Jane Addams einen Zirkel wohlhabender Frauen um sich und überzeugte sie, ihren Einfluß im Zusammenhang mit dem Streik in den Pullman-Werken geltend zu machen. An einem Montag Ende Juni, einen Tag vor Beginn des Boykotts durch die A.R.U. zeigte sie sieben Frauen, die sich in ihrem Salon versammelt hatten, eine Seite des Magazins Harper’s Weekly. »Dort werden die Streikenden als »Erpresser und Banditen« bezeichnet.« Sie hielt eine Ausgabe der Tribune hoch. »Hier steht ›Diktator Debs‹ ruft die ›DebsRevolution‹ aus. Für die Presse sind sie alle Monster. Aber ich war gestern wieder draußen in Pullman, und ich bin überzeugt, daß die Streikenden im großen und ganzen friedliche und anständige Menschen sind, die von ihren Arbeitgebern ausgenutzt wurden.« »Wird der Streik denn wie geplant stattfinden, Miss Addams?« fragte Ilsa. Ganz gleich, wie eng jeweils die Freundschaft war, niemand redete sie mit Jane an. »Ich befürchte es. Ich habe mit Wickes gesprochen, dem Vizedirektor, der sich mit allem befaßt, was mit den Arbeitsbedingungen zu tun hat. Er hat den Standpunkt der Firma wiederholt. Es gibt nichts zu verhandeln. Nichts zu vermitteln. Wie Sie alle sicherlich längst gelesen haben, hat die General Managers Association in Erwartung der Tatsache, daß der Arbeitsboykott sich zu einem Streik gegen alle Pullman-Wagen ausweitet, ihren eigenen Mann ernannt, John Egan, der sich der Angelegenheit annehmen soll. Die G.M.A. vertritt die vierundzwanzig Eisenbahnlinien, deren Sitz in Chicago ist oder die hier enden. John Egan ist der Direktor der Chicago & Great Western. Er hat Büros eröffnet, und seine Männer sind bereits unterwegs und halten Ausschau nach Bewerbern.«
PULLMAN 1894
407
»Bewerbern wofür?« fragte eine Frau. »Für eine Streitmacht von Sonderbewachern und Helfern. Sie werden dazu verpflichtet, die Züge zu bemannen, die von Mr. Debs’ Leuten nicht bedient werden. Sie werden sich gegen die Streikposten durchsetzen.« »Ist das nicht eine völlig legitime Reaktion?« überlegte Ilsa laut. »Oder war das nicht zumindest zu erwarten? Der Justizminister in Washington, Mr. Olney, sitzt im Aufsichtsrat von sieben Eisenbahngesellschaften und steht auf seiten der Eigentümer. Ist es denn nicht logisch, daß er sich zu einer solchen Taktik entschließt?« »Das ist nicht der Punkt, Ilsa. Die G.M.A. hat sehr schlimmes Volk eingestellt. Schläger, Taschendiebe, Zuhälter – jeden Abschaum, den sie finden konnte. Sie bewaffnen die Leute und verpassen ihnen vorübergehend ein Abzeichen und einen offiziellen Status. Ich bitte Sie alle, mit Ihren Männern zu reden, auf sie einzuwirken. Sie sollen mit den Entscheidungsträgern sprechen, die sie vielleicht bei den verschiedenen Eisenbahnlinien oder bei der Regierung kennen. Auf jeden Fall muß die Ordnung erhalten werden. Wir dürfen nicht zulassen, daß im Namen des Kapitalismus Rechtlosigkeit und Ungesetzlichkeit regieren.« Ilsa konfrontierte Joe am Abendbrottisch mit diesem Thema. Er reagierte unwirsch. »Was ist daran unrecht, wenn man sich darauf vorbereitet, sich gegen den Pöbel zu verteidigen? Nichts! Wenn die Situation außer Kontrolle gerät, sollten die Behörden staatliche Hilfstruppen alarmieren. Altgeld ist in seiner Gesinnung derart rot angehaucht, daß er sich wahrscheinlich gegen jeden Einsatz des Staates sträubt. Fritzi, zum letzten Mal, unterlaß das bei Tisch!« Sie hatte versucht, ihren jüngsten Schatz herumzuzeigen. Er hatte sie einen ganzen Dollar gekostet, den sie sich von ihrem Taschengeld zusammengespart hatte. Es war eine ziemlich abgegriffene Autogrammkarte, wie sie üblicherweise von Theatern verteilt wurden, damit die Besucher sich damit Autogramme von den auftretenden Schauspielern holen konnten. Was diese Karte zu etwas Besonderem machte, war das Autogramm des jungen Schauspielers, der seinen Namen in schwungvoller Handschrift daraufgesetzt hatte: J. W. Booth. Mit einem traurigen Seufzer ließ Fritzi die Karte in der Tasche ihrer bestickten Schürze verschwinden. Sobald ihr Vater sich von ihr abwendete, faltete sie aus ihrer Serviette ein Kopftuch, hielt es unterm Kinn fest, bewegte den Kopf hin und her und spielte irgendeine Bühnenrolle. Verärgert nahm Ilsa ihrer Tochter das Tuch ab. Carl versuchte
408
TEIL FÜNF
währenddessen, die Zinken zweier Gabeln derart miteinander zu verhaken, daß die Gabeln aufrecht in Form eines V stehenblieben. Er konnte ein Kichern nur mühsam unterdrücken. »Ich stehe voll und ganz hinter der G.M.A.«, verkündete Joe senior. »Dieser schreckliche Debs baut sich ein persönliches Imperium auf dem Rücken der Trottel auf, die ihm hinterherlaufen.« »Pa, das ist doch lächerlich«, widersprach Joe junior. »Meinst du wirklich?« »Ja, und ich unterstütze die Streikenden.« Aus der Brusttasche seiner Cordjacke zog er ein langes weißes Stoffband. Joe Crown schob die Brille auf seiner Nase ein Stück nach unten und blickte über den Rand hinweg. »Was zum Teufel ist das denn, wenn ich fragen darf?« »Die Eisenbahnergewerkschaft verteilt diese Bänder an Mitglieder und Sympathisanten. Debs möchte, daß seine Leute in einer Menschenmenge leicht zu erkennen sind, damit ihnen niemand irgendwelche kriminellen Handlungen anhängt. Außerdem sind die Bänder ein Zeichen der Solidarität.« »Aber nicht in meinem Haus. Und auch nicht in der Brauerei.« »Es tut mir leid, Pa, das ist eine Frage des Gewissens.« Joe junior begann sich das Band um den linken Arm zu knoten. »Stopp!« Joe senior streckte ihm auffordernd die offene Hand entgegen. »Gib es her, Joe. Sofort.« »Pa –« »Auf der Stelle!« Sie sahen einander in die Augen. Joe junior gab nach. Er ließ das Band in die Hand seines Vaters fallen. Joe senior zerknüllte es. »Du darfst jetzt deine Mahlzeit fortsetzen.« Ilsa saß stocksteif da, hatte Angst sich zu rühren, die Situation noch zu verschlimmern. Sie wußte, daß Joe junior über die eiserne Disziplin seines Vaters wütend war; sich wahrscheinlich noch mehr über sich selbst ärgerte, weil er nachgegeben hatte … »Ich möchte nichts mehr«, sagte Joe junior. »Ich bitte darum, mich entschuldigen zu dürfen.« »Geh nur!« Joe senior machte eine Handbewegung. »Du verdirbst mir sowieso den Appetit, du und dein radikaler Unsinn.« »Joe, bitte«, ergriff Ilsa das Wort. »Einiges von dem, was dein Sohn dir erzählt, entspricht der Wahrheit.« Joe senior ließ die Hand zum Eberzahn an seiner Uhrkette herabfallen. »Miss Addams ist der Meinung, daß die Streikenden bei Pullman insgesamt friedlich sind. Sie –« »Miss Addams, Miss Addams – offen gesagt, Ilsa, bin ich es leid, die
PULLMAN 1894
409
Meinung einer alten Jungfer zu hören, die keine Ahnung von der Wirklichkeit hat.« »Oh, das ist unfair«, entgegnete sie. Sie wurde allmählich ebenfalls zornig. Joe junior stand auf, murmelte »Entschuldigt mich« und ging hinaus. Pauls Miene verriet Bedrückung. Carls Gabeln fielen klappernd um. Sein Vater strafte ihn mit Blicken. Carl senkte den Kopf. Joe Crown trank den Rest seines dunklen Heimat-Biers. Der Krug war mit dem Familienwappen verziert. »Kein Wunder, daß er gegen Gesetz und Ordnung opponiert. In dieser Stadt gibt es mittlerweile mehr Anarchisten als in St. Petersburg.« Ilsa hielt ihren Zorn nur mit Mühe im Zaum. »Sich ein Band um den Arm zu wickeln ist doch nicht so schlimm –« »Es symbolisiert die Anarchie. Es ist eine Schande für diese Familie. Ich dulde das nicht. Und damit wäre das Thema wohl erledigt.« Fritzi, Carl und Paul verfolgten das Geschehen mit angespannten Gesichtern. Carl sah aus, als habe er echte Angst. Um der Harmonie willen und um den Frieden am Tisch zu erhalten, besann Ilsa sich und unterdrückte ihren Zorn. »Bitte eßt weiter.« Auch sie hatte klein beigegeben. Darauf war sie überhaupt nicht stolz. Sie verachtete sich dafür. Oder ihren Mann, weil er es erzwungen hatte. Am darauffolgenden Tag, nachdem Ilsa noch einmal über alles nachgedacht hatte, was Jane Addams gesagt hatte, entschied sie, daß sie die Pflicht habe, dies an andere weiterzugeben, ganz gleich wie Joe darüber dachte. Sie würde tun, was sie tun mußte, und ihm nichts sagen. Obgleich moderne Einrichtungen wie das Telephon sie nervös machten, rief sie trotzdem ihre nächste südliche Nachbarin, Mrs. Sophie Pelmoor, an, um ihr den Streik aus der Sicht der Arbeiter zu erklären. Mrs. Pelmoor legte mitten im Satz auf. Verblüfft und verärgert tätigte Ilsa trotzdem sechs weitere Anrufe zu Bekannten in der Nachbarschaft. Emmeline De Vore, deren Ehemann eine kleine Versicherungsgesellschaft betrieb, verurteilte die Erklärung und die Anruferin gleich mit: »So was wie Sie brauchen wir hier nicht, Mrs. Crown. Kehren Sie lieber auf die Nordseite zurück, wie es bei Ihnen auf deutsch heißt. Oder noch besser, verschwinden Sie gleich wieder nach Deutschland!« Am nächsten Morgen stellte Pete, der Hofaufseher, fest, daß jemand während der Nacht das Haus mit Eiern beworfen hatte. Joe Senior kam nach draußen, um sich den Schaden anzusehen. Er stemmte die Hände in die Hüften und biß die Zähne zusammen. Dann sagte er: »Ilsa, ich bitte
410
TEIL FÜNF
dich in aller Form, dich von diesen Furien im Haus der Stiftung fernzuhalten. Wir haben damit nichts zu schaffen. In meinem Gewerbe kann ich etwas Derartiges nicht gebrauchen.« Ilsa gab keine Antwort. Er erwartete auch keine von ihr. Er ging davon aus, daß sie ihm gehorchte. Als er und die anderen zur Arbeit gegangen waren, schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und weinte bitterlich. Das war nicht ihre übliche Art und Weise, auf Schwierigkeiten zu reagieren. Ilsa hatte etwas gegen Heulsusen; gegen Frauen, die Tränen als Hilfsmittel benutzten, als Schutzschild, als ein Mittel der Überredung. Aber es hatte vor Jahren einen Tag gegeben, an den sie sich noch lebhaft erinnerte; damals hatte sie geweint, als ginge die Welt unter … In Over-the-Rhine, nördlich des Miami-Kanals, waren sie jungverheiratet und nicht sehr wohlhabend. An einem Frühlingssamstag im Jahr 1870 schenkte Herr Imbrey ihnen etwas, das die Crowns sich niemals selbst hätten leisten können: zwei Eintrittskarten für ein Konzert des Männerchors, des ältesten und feinsten Gesangsvereins von Cincinnati. Für diesen besonderen Anlaß hatte Ilsa sich das Haar in einer Weise geschmückt, die sie sich leisten konnte, nämlich mit einem selbstgepflückten Maiglöckchenstrauß. Nach dem Konzert spazierten sie und Joe Hand in Hand zu Weinert in der Vine-Straße und setzten sich an einen kleinen Tisch im Garten. Über ihnen schaukelten Papierlaternen im Wind. Am weißen Ziergitter hinter ihrem Mann hing ein lithographiertes Porträt von Wolfgang Amadeus Mozart. Im Garten herrschte laute Fröhlichkeit, unterstrichen vom dumpfen Ton der Baßtuba in der kleinen Musikkapelle. Joe arbeitete sehr hart in jener Zeit. Er verbrachte jede freie Minute in der Young Men’s Mercantile Library in der Walnut-Straße, einer Leihbücherei, wo er Bücher über Handel und Finanzen studierte und sich den Kopf vollstopfte zur Vorbereitung auf seine Selbständigkeit als Geschäftsmann. Ilsa war heftig in ihren jungen Ehemann verliebt. Mit seiner Zärtlichkeit, seiner freundlichen Art und seiner Güte hatte er ihr eine ganz neue Welt körperlicher Nähe und Intimität eröffnet. Und sie genoß es – was sie noch nicht einmal ihrer Mutter gegenüber zugegeben hätte. Dennoch gab es eine große dunkle Wolke am Horizont. Sie hatten noch kein Kind gezeugt. Dabei wünschten sie sich so verzweifelt eines. Mehrere sogar. Joe bestellte zwei Glas Lagerbier von einem der zu allen möglichen Späßen aufgelegten Kellner. Das Bier machte ihn heiter und ein wenig geschwätzig. Beim Lärm der Musik und ausgelassenen Stimmen beugte er
PULLMAN 1894
411
sich vor und ergriff ihre Hand. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?« »Ja, aber ich fürchte, es sind die gleichen wie im vergangenen Monat.« Dabei wandte sie ihren Blick ab. Es gehörte sich nicht, über solche Dinge zu reden, noch nicht einmal mit dem eigenen Ehemann. »Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt, Joe.« Sie brach in Tränen aus. »Nichts ist bei dir nicht in Ordnung, Liebes«, rief er, sprang auf, um sie zu trösten, und stieß dabei seinen Stuhl um. Er beugte sich zu ihr herab und umarmte sie. Gäste in der Nähe sahen herüber. »Wir müssen es wieder versuchen. Wir schaffen es, ich bin ganz sicher.« Er richtete seinen Stuhl wieder auf und setzte sich. »Wir schaffen es, weil wir müssen. Leben und Arbeit sind nichts wert ohne eine Familie. Familien sind die Grundlage des Lebens, Ilsa. Unsere einzige Chance der Unsterblichkeit. Der Segen der Welt.« Ilsa entschuldigte sich wegen ihrer Tränen. Aber sie waren echt, und es flossen noch mehr, bis der lange Kampf beendet war und sie das Kind empfing, das im Jahr 1875, sechs lange Jahre nach ihrer Hochzeit, geboren und auf den Namen Joseph junior getauft wurde. Kein Freund oder Arzt konnte die Verzögerung erklären oder weshalb es mit Fritzi und Carl, die verhältnismäßig schnell empfangen und geboren wurden, keine ähnlichen Probleme gegeben hatte. Das lange Warten auf das erste Kind hatte eine grundlegende Auswirkung auf die Crowns. Es intensivierte ihre Liebe zu ihrem Sprößling. In gewisser Weise war diese Zeit des Wartens auch für Joes Zorn auf seinen Ältesten verantwortlich. Der Zorn war die Kehrseite der Medaille namens Liebe. Ilsas Tränen am Morgen im Juni waren heilsam; sie milderten ihr Gefühl, versagt zu haben, aber sie vertrieben es nicht vollständig. Sie hatte Miss Addams im Stich gelassen, Joe und ihre Nachbarn gegen sich aufgebracht. Ilsa fand, daß ihr Verhalten wirkungslos geblieben und – im entscheidenden Augenblick – feige gewesen war. Sie trocknete ihre Tränen und suchte Zuflucht in ihren regelmäßigen Aufgaben und Pflichten. Ilsa folgte dabei einer Routine, wie sie von Generationen duldsamer und fleißiger Hausfrauen gepflegt wurde. Am Montag war Waschtag. Am Dienstag wurde gebügelt. Mittwochs wurde gestopft, eine Fähigkeit, die eine Spezialität der besonders perfekten Hausfrau war. Rein theoretisch war der Donnerstag eine Zeit der Ruhe als Vorbereitung auf den Hausputz am Freitag. Am Samstag wurde immer für die darauffolgende Woche vorgebacken. Es war Mittwoch, daher saß sie am späten Vormittag in ihrem Wohnzimmer im Schaukelstuhl. Sie trug ihre stärkste Brille. Sie hatte sich
412
TEIL FÜNF
außerdem ihre Stopfeier aus Marmor und Holz zurechtgelegt sowie ihr dicht besetztes Nadelkissen und den Karton mit den vielfarbigen Garnrollen. Der Korb mit den ausbesserungsbedürftigen Unterhemden, Unterhosen, Strümpfen und Socken stand auf dem Teppich neben ihrem Fußbänkchen. Gegen Mittag rief Joe aus dem Büro an und entschuldigte sich in ziemlich barschem Ton. Sie bat ebenfalls um Verzeihung. Sie erkundigte sich nach Joe junior und Pauli. Ja, sie wären beide wie gewöhnlich zur Arbeit angetreten, und es schien keine weiteren Anzeichen für eine Revolte zu geben. Vielleicht habe ihr Sohn sich beruhigt, sagte Joe. Ilsa schwieg und bezweifelte es. »Ich habe jedoch bekanntgegeben, daß ich das Tragen weißer Bänder auf dem Firmengelände streng verbiete. Fred Schildkraut entläßt jeden, der ein solches Band am Arm hat.« »Ich verstehe. Ist das alles?« »Ja.« Eine längere Pause entstand; sie hörte, wie er sich räusperte. Dann beendete er das Gespräch mit seinem üblichen »Ich liebe dich« und legte auf. Die Aktion der A.R.U. gegen alle Pullman-Wagen begann wie geplant am Dienstag, dem 26. Juni. Bisher hatte es keine Kämpfe oder Demonstrationen durch aufrührerische Arbeiter gegeben. Eugene Debs verkündete erneut, daß die Arbeitsniederlegung weiterhin friedlich verlaufen werde. Aber die Zeitungsbesitzer und –herausgeber blieben allesamt gleich feindselig. Die Tribune, die auf einem Hocker in der Nähe von Ilsas Nähtisch lag, bezeichnete Mr. Debs in einer Schlagzeile als den Verfechter der Anarchie und verspottete ihn in der Unterzeile: »SECHS TAGE SOLLST DU ARBEITEN« – BIBEL »ABER NUR, WENN ICH ES AUCH WILL« – DEBS Als Ilsa draußen auf der Treppe laute Schritte hörte, legte sie Joes Sommerunterwäsche, die sie gerade stopfte, beiseite. Fritzi kam von der Schule zurück. Nächte Woche begännen die Sommerferien. Dann wäre sie den ganzen Tag zu Hause und im Weg. »Mama, ich möchte dir etwas aufsagen.« »Was denn?« »Wir haben einen neuen Fahneneid. Miss Jacobs sagt, er sei in einer Illustrierten erschienen.« »Ja, aber das ist schon fast zwei Jahre her«, sagte Ilsa kopfnickend. »Ab September müssen wir ihn jeden Morgen aufsagen.« Fritzi schob
PULLMAN 1894
413
sich Ilsas Fußhocker zurecht, hüpfte darauf und legte eine Hand auf ihr Herz. »Ich gelobe meine Treue der Fahne und der Republik, deren Zeichen sie ist. Auf eine unteilbare Nation mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.« Ilsa reagierte mit dem gewünschten Applaus. Fritzi sprang von dem Hocker herunter und verbeugte sich. Dann griff sie in die Tasche ihres Trägerkleids. »Sieh mal, was ich gefunden habe, Mama. Es ist eine Nachricht. Ich glaube, sie gehört Paul. Er hat sie wohl verloren.« Sie hielt ein zerknülltes taubenblaues Notizblatt hoch. »Wenn sie von Pauli ist, dann sollten wir sie nicht lesen.« »O doch, du mußt, Mutter!« Um ihr den Gefallen zu tun, glättete Ilsa das Stück Papier und hielt es schräg zum Fenster, durch das die Sonne hereinschien. In den letzten Jahren hatte sie zunehmend Schwierigkeiten beim Lesen festgestellt. Die Nachricht las sich mühelos. Die weibliche Schrift war groß, die Botschaft kurz. P. Am Sonntag wie üblich. Ich liebe Dich so! J. »Könnte das Initial möglicherweise für Juliette Vanderhoff stehen, Fritzi?« »Da bin ich mir ganz sicher, Mama.« »Er trifft sie noch immer.« »Was meinst du denn, wohin er jeden Sonntag geht? Es ist einfach abscheulich.« Ilsa hätte sich eigentlich über Fritzis Eifersucht amüsieren müssen, aber das tat sie nicht. Sie wußte, daß Pauli im Winter mit der Tochter der Vanderhoffs Schlittschuh gelaufen war. Joe junior hatte vor einigen Monaten eine Bemerkung darüber fallenlassen. Ilsa hatte sogar mit ihrem Mann darüber gesprochen. »Ich habe Joe junior ausgefragt, und er hat zugegeben, daß Paul bis über beide Ohren verliebt ist. Meinst du, er kommt darüber hinweg?« »Wahrscheinlich. Er ist ja noch jung. Er überlegt es sich ganz bestimmt, falls Vanderhoff es herausbekommt. Dieser dumme Esel bringt es am Ende noch fertig und verpaßt ihm ein paar kräftige Hiebe mit der Pferdepeitsche.« »Dein Sohn Joe hat ihn darauf aufmerksam gemacht. Pauli ist es egal. Junge Liebespaare meinen ja, sie seien unsterblich.«
414
TEIL FÜNF
»Ja, aber sind sie das denn nicht?« hatte er gemurmelt und nach ihrer Hand gegriffen … Ilsa gab Fritzi den Zettel zurück. »Es wäre am besten, du legst ihn wieder dorthin, wo du ihn gefunden hast – nein, ich habe eine bessere Idee. Leg ihn irgendwo in die Nähe von Paulis Zimmer. Dann findet er den Zettel sehr schnell, und niemandem wurde geschadet.« »Na schön.« Fritzi gefiel dieser Vorschlag gar nicht. Sie hielt die Nachricht von sich, als habe sie einen üblen Geruch, und verschwand. Draußen zogen die ersten dunkelgrauen Abendwolken mit hoher Geschwindigkeit vor die Sonne. Ilsa schaukelte langsam und hing ihren Gedanken nach, während das Licht verblaßte. Sehr bald brach die Dunkelheit herein, die nur vom Lichtschein der Straßenlaternen erhellt wurde. Sie betete darum, daß Paulis jugendliche Schwärmerei von selbst vergehen möge. Falls es nicht dazu käme – wenn es ihm mit dem Mädchen wirklich ernst sein sollte –, dann würden die Vanderhoffs sich einschalten, und das würde ihm das Herz brechen. Entweder das würde passieren oder sogar noch Schlimmeres … 42 PAUL In Zeitungen und Gesprächen wurde aus dem Pullman-Boykott der Pullman-Streik. Paul kam nicht umhin, einiges darüber zu hören und zu lesen. Bei den Crowns wurde kaum über etwas anderes gesprochen. Jeden Tag nach der Arbeit bestand Joe junior darauf, daß sie erst einmal zur Uhlich-Halle gingen, wo Debs und seine Männer ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Die Atmosphäre dort ließ sich am besten mit dem Begriff »Tollhaus« beschreiben. Gewerkschaftler diskutierten und gaben Erklärungen ab; Journalisten lungerten herum und machten sich Notizen, atemlose Botenjungen rannten alle paar Minuten zum Telegraphenbüro. Als Paul sich bei einem Offiziellen erkundigte, was all diese Boten denn täten, erklärte der Mann, die A. R. U. schicke jeden Tag Hunderte von Telegrammen an andere Ortsgruppen der Bruderschaft. »Wir müssen ihnen moralische Unterstützung geben. Müssen dafür sorgen, daß sie durchhalten, ohne zu Gewalt zu greifen. Das würde Gene niemals dulden.« »Ich wette, er wird umdenken, ehe das Ganze vorbei ist«, sagte Joe junior, nachdem der Vertreter des Streikkomitees wieder verschwunden war. »Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn wir siegen wollen.« Es geschah in der Uhlich-Halle am Abend des 28. Juni – der Boykott
PULLMAN 1894
415
war gerade zwei Tage alt –, daß die Vettern beobachteten, wie Mr. Debs aus dem Konferenzraum herausgestürmt kam, wo sein Exekutivausschuß ständig tagte. Debs’ Weste war zugeknöpft, seine Krawatte ordentlich gebunden; hochgekrempelte Ärmel waren seine einzige Konzession an das heiße Wetter. Seine Miene verriet, daß es schlechte Nachrichten gab. Zwei Reporter standen von ihrem Tisch auf. Debs sagte zu ihnen: »Ich muß telephonieren. Die G.M.A. hat verfügt, daß jeder hinausgeworfen wird, der sich weigert, mit Pullman-Wagen zu arbeiten.« »Was werden Sie tun, Gene?« »Standhaft bleiben. Was sonst?« Nach ein paar Abenden kannten die Männer in der Uhlich-Halle Paul und Joe allmählich. Auch Debs wurde auf sie aufmerksam. Eines Abends, als gerade die Boten knapp waren, bat er die Vettern um Hilfe; Joe junior ergriff begeistert die Chance, zum Telegraphenbüro zu laufen, nachdem er Paul zugerufen hatte, er solle auf ihn warten. Eine Stunde später machte er einen zweiten Botengang. Die Vettern kehrten gegen halb zehn in die Michigan Avenue zurück. Tante Ilsa, bereits in ihrem Nachthemd, hielt sich noch in der Küche auf. Sie hatte ungeduldig auf sie gewartet und wollte wissen, wo sie gewesen waren. Ohne zu zögern, antwortete Joe junior: »Überall und nirgendwo. Wir sind spazierengegangen. Haben uns unterhalten. Der Abend war so schön.« Paul konnte nicht fassen, daß sein Vetter Tante Ilsa so dreist anlog. Sie schien die Erklärung zu akzeptieren, allerdings nicht kommentarlos. »Ich glaube, das ist schon in Ordnung, ihr seid schließlich junge Männer. Und stark. Aber ich sehe euch nicht gerne draußen in den Straßen bei all diesen Streikunruhen. Ihr müßt euch in acht nehmen.« »Klar doch, Mama«, sagte Joe junior und umarmte sie. »Bitte, geht jetzt zu Bett. Morgen ist wieder ein Arbeitstag.« Sie eilten nach oben. Paul konnte nicht einschlafen. Mit dieser Lüge, so kam es ihm vor, hatte Joe juniors Beziehung zu seinen Eltern sich entscheidend verändert. Zum Schlechteren. Am nächsten Abend dezimierte ein heftiges Gewitter die Anzahl der Männer in der Uhlich-Halle. Joe junior und Paul waren da, naß aber treu. Joe wurde zum Telegraphenbüro geschickt, und Paul saß da und wünschte sich im stillen, jemand möge auch ihm einen Auftrag geben. In der Halle war es ungewöhnlich still. Ein Reporter döste am Tisch vor sich hin. Ein Mann schrieb Zahlen auf eine große Tafel, die auf einem Stativ ruhte.
416
TEIL FÜNF
GELIEF. FRACHTMENGE VERGANGENE WOCHE – 40000 TONNEN GELIEF. FRACHTMENGE LAUFENDE WOCHE – 10000 TONNEN Am Abend vorher, als sie die Tafel zum erstenmal sahen, hatte ihnen ein Offizieller erklärt, daß viele Fernzüge aus Güterwagen und Pullman-Wagen zusammengestellt würden. Auf der Tafel würde die Frachtmenge notiert, die in Chicago eintraf und die die Stadt verließ; der Boykott zeigte tatsächlich Wirkung. Die Tür zu einem Hinterzimmer öffnete sich, und Debs kam mit einem anderen Mann heraus. Begleitet wurden sie von dem appetitlichen Duft gebratenen Specks. Der Reporter erwachte. »Gibt es was Neues, Gene?« Debs schüttelte den Kopf. Der Reporter holte sich seinen Regenschirm und schlurfte hinaus. Paul gähnte, wurde aber plötzlich hellwach, als Debs den anderen Mann in einer vertrauten Sprache anredete. Nach der kurzen Unterhaltung setzte der Mann seine Mütze auf, ging durch den Mittelgang hinaus. Paul sah, daß er der letzte Mensch im Saal war, obgleich ständig Männer im Konferenzraum zusammenkamen. Ihre Schatten bewegten sich hinter der Milchglasscheibe. Debs winkte Paul grüßend zu und wollte ins Hinterzimmer zurückkehren. Überaus neugierig geworden, sprang Paul auf. »Herr Debs? Sprechen Sie deutsch?« »Ja, seit vielen Jahren. Ich habe es von meinem Vater gelernt. Auch Französisch. Er stammt aus dem Elsaß. Du bist Deutscher?« fragte er, immer noch in Pauls Muttersprache. »Ja, Sir.« »Und dieser junge Bursche, den ich mit dem Telegramm weggeschickt habe – wer ist das?« »Mein Vetter. Ich warte auf ihn.« »Er ist sicher gleich zurück. Wenn du Hunger hast, dann komm mit nach hinten. Ich brate gerade ein paar Eier mit Speck.« Paul folgte ihm bereitwillig. Das Hinterzimmer war ein improvisiertes Schlafzimmer mit Kochnische. Dort stand ein Bett, daneben eine Kiste, auf der einige Bücher gestapelt waren. Stapel von Chicagoer Zeitungen waren auf dem Fußboden verteilt, und auf einem wackligen Tisch lag Schreibmaterial. Auf einem kleinen Herd in der Zimmerecke brutzelte eine Scheibe Speck in einer Bratpfanne. Debs nahm die Scheibe mit einer Gabel schnell aus der Pfanne und legte sie auf einen Teller. Er holte ein paar Eier aus einer Papiertüte und schlug sie auf. »Räum den Kram dort vom Tisch, und fühl dich wie zu Hause«, sagte er
PULLMAN 1894
417
immer noch auf deutsch. Er hatte eine angenehme und gepflegte Art sich auszudrücken und schien alles andere als der Teufel zu sein, als den die Zeitungen ihn beschrieben. Paul fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Debs deutete auf die brutzelnden Eier. »Meine Frau Kate ist eine exzellente Köchin, aber ich selbst bin auch nicht schlecht. Als Kind habe ich in Terre Haute oft am Herd gestanden und meiner Mutter geholfen. Kannst du kochen?« »Nein, Sir.« »Es ist ganz nützlich, wenn man weiß, wie es geht. Wenn du soviel umherreist wie ich, dann bist du das Restaurantessen sehr bald leid. Ich sehe immer zu, daß ich in Pensionen absteige, wo ich einen Herd zur Verfügung habe. Vor zwei Tagen, als es hier ganz schön hoch herging, habe ich Steaks mit Spargel und einer Sauce Vinaigrette zubereitet. Ich fürchte, heute abend müssen wir uns mit Speck und Eiern begnügen.« »Das macht nichts, Sir. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und mein Mittagessen liegt schon einige Stunden zurück.« »Wo arbeitest du?« »In der Brauerei Crown. Der Inhaber ist mein Onkel. Ich heiße Paul Crown.« »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Bruder Crown.« Debs schüttelte ihm die Hand. »Ich hab ein- oder zweimal Crown Lager getrunken. Hervorragend. Die Eier von beiden Seiten braten?« »Ja, bitte. Wenn ich eins bemerken darf – Sie sprechen sehr gut deutsch.« »Mein Vater war zwar kein reicher Mann, aber er war gebildet und lernte gerne dazu. Er kam 1849 nach Amerika, ohne einen Penny in der Tasche, und brachte sich selbst Englisch bei. Jeden Abend las er Texte berühmter Autoren laut der Familie vor, oft sogar in der Originalsprache. Ich habe Goethe und Schiller auf deutsch gehört und auf französisch den größten von allen, Victor Hugo. Mein zweiter Name lautet Victor, weil Vater ihn so bewundert und verehrt hat.« »Wie sind Sie zu dieser Gewerkschaftsarbeit gekommen, wenn ich fragen darf?« »Auf Umwegen sozusagen. Als ich vierzehn war, ging ich von der Highschool ab und fing an, auf dem Güterbahnhof in Terre Haute zu arbeiten. Ich entfernte die Schmiere und das Öl von den Drehgestellen der Güterzuglokomotiven. Ein Jahr später kam ich zum erstenmal als Heizer ins Führerhaus. Ich erfuhr, wie es ist, rund um die Uhr zu arbeiten, in der einen Minute zu frieren und in der nächsten gebraten zu werden, dabei ständig Kohlen zu schaufeln für wenig Geld und ohne Schutz vor Unrecht oder
418
TEIL FÜNF
Krankheit, unabhängig davon, wer sie verursacht. Es war eine falsche Entscheidung, die Schule so frühzeitig zu verlassen. Aber die Arbeit als solche war auch ein guter Lehrmeister. Desgleichen Appleton’s Enzyclopedia. Ich habe sie vom ersten bis zum letzten Wort gelesen.« Geschickt bugsierte er die Eier aus der Pfanne auf die Teller, dann schnitt er den Speck mit einem Messer in der Mitte durch. Der Geruch von Speck und Eiern weckte Pauls Hunger erst recht. Debs stellte die Teller auf den Tisch und füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Mein größter, gründlichster Lehrer von allen war Victor Hugo. Hast du schon Les Misérables gelesen?« »Nein, wir hatten bei uns zu Hause in Deutschland keine französischen Romane.« »Schade. Ich rate dir, dieses Buch mal zu lesen. Es ist die Geschichte eines armen, hungernden Menschen, der sein ganzes Leben lang verfolgt wird, weil er irgendwann einmal ein Stück Brot gestohlen hat. Diese Geschichte erzählt dir alles, was du darüber wissen mußt, wie diese Welt funktioniert. Das heißt, wie sie funktioniert, solange niemand aufsteht und sein Recht – Gerechtigkeit – fordert. Wahrscheinlich ist Victor Hugo sogar der eigentliche Grund, weshalb ich Gewerkschaftler geworden bin.« Sie hörten, wie die Tür zur Straße aufging und geschlossen wurde, dann kamen Schritte den Mittelgang herunter. Paul ging zur Tür. »Hier sind wir, Joe.« Joe junior war durchnäßt und verblüfft, Paul anzutreffen, wie er mit dem Anführer des Pullman-Streiks am Tisch saß und einen Imbiß verzehrte. Debs stellte sich förmlich vor. Dann schlug er zwei weitere Eier auf und gab sie mit einer zweiten Scheibe Speck in die Bratpfanne. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sie auch über den Streik sprachen. Joe junior erklärte, er unterstütze ihn. Auch Paul erklärte dies, allerdings nicht so leidenschaftlich. »Miteinander zu verhandeln und zu schlichten ist die beste Methode, um das Los der Arbeiter zu verbessern«, sagte Debs. »Ich habe mich eigentlich nie für Streiks stark gemacht, aber wenn ein Streik notwendig ist – wenn die Unternehmer völlig ungewillt sind zu verhandeln –, dann muß der Streik friedlich ablaufen. Es dürfen keine Gesetze gebrochen werden, kein Blut darf fließen. Gewalt ist immer von Übel. Überdies verliert man die Sympathie der Öffentlichkeit, wenn man Gewalt anwendet. Und man gefährdet damit das Anliegen, für das wir alle so mühsam arbeiten.« Paul sah seinen Vetter an. Joe hob den Blick nicht vom Teller. Als sie die Halle verließen, hatte der Regen aufgehört. Joe junior stapfte
PULLMAN 1894
419
mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen durch die nassen, einsamen Straßen. Eier mit Speck zu essen, die Mr. Debs gebraten hatte, verlieh dem Streik neue Bedeutung. Paul las nun jeden Bericht, so tendenziös er auch sein mochte. Er lieh sich in der Brauerei Zeitungen und klaubte sie sogar aus Papierkörben. Der Streik bedeutete einen tiefen Einschnitt für die Chicagoer Wirtschaft. Die Frachtmengen nahmen ständig ab. Die Zeitungen riefen immer lauter nach Aktionen gegen die Streikenden, und die General Managers Association unterstützte diesen Ruf mit einem ganz neuen Argument. Die Eisenbahnen seien öffentliche Einrichtungen. Daher sei der Streik der A.R.U. eine gegen jeden amerikanischen Bürger gerichtete Maßnahme. Auf Empfehlung des Streikmanagers Egan von der G.M.A. stellten die Eisenbahngesellschaften ihre Züge etwas anders zusammen. PullmanWagen wurden an Güterzüge angehängt, mit denen sie normalerweise nicht verkehrten, oder an Kurzstreckenzüge, die Pendler zwischen der City und den Vororten hin und her transportierten. Oder man hängte Postwagen hinter Pullman-Waggons und erhielt damit den Beweis, daß der Streik auch das Staatseigentum beeinträchtigte. Unter dem Schutz des Chicagoer Polizeichefs Brennan warb die G.M.A. weiterhin Wachpersonal an, um das Eigentum der Eisenbahnlinie zu schützen und um die Post weiterzubefördern. Darunter war viel lichtscheues Gesindel, doch es meldeten sich auch zahlreiche Eisenbahner: Maschinisten, Heizer, Bremser. Der Justizminister der Vereinigten Staaten unternahm sofort eine Reise nach Chicago, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Onkel Joe erzählte während des Abendessens davon. »Olney kommt aus Boston. Er kennt sich in den Eisenbahngesetzen aus, denn er hat den Direktorposten bei Atchison, bei der CB & Q und bei mindestens einer weiteren Eisenbahn-Gesellschaft. Er wird die Angelegenheit schon regeln.« Eugene Debs in der Uhlich-Halle sah das allerdings ein wenig anders. Die G.M.A. will Washington in den Streit hineinziehen. Der Boykott soll als Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Regierung gewertet werden.« Die Strategie erwies sich als erfolgreich. Präsident Cleveland forderte, daß die Post nicht behindert werden dürfe. »Und wenn es jeden Dollar des Schatzamtes oder jeden Soldaten der amerikanischen Armee kosten sollte,
420
TEIL FÜNF
auch nur eine einzige Postkarte nach Chicago zu bringen, dann wird diese Karte befördert.« Ein Wetter, das an ein türkisches Bad erinnerte, senkte sich auf die Stadt herab. Der Himmel war dunstig, der Michigan-See lag glatt und strahlend da wie polierter Stahl, und kein Lufthauch rührte sich. Der Gestank von Abfall und Abwässern drang sogar bis in die elegantesten Straßen. In der Brauerei brachen offene Streitigkeiten aus. Mitten in dieser Phase, am Montag, dem 2. Juli, handelte die Regierung. Richter Peter Grosscup vom Verwaltungsgericht in Chicago erließ eine einstweilige Verfügung, die Debs et al. untersagte, den Postbetrieb, den zwischenstaatlichen Handel und die Tätigkeit von dreiundzwanzig Eisenbahngesellschaften, die in der Verfügung namentlich aufgeführt wurden, zu behindern. Die Vettern hielten sich an jenem Abend in der Uhlich-Halle auf, als Debs aus dem Konferenzraum herauskam, um sich mit einer Ansprache an die zahlreichen Versammelten zu wenden. Paul hatte den Eindruck, daß Mr. Debs viel dünner und mitgenommener aussah als je zuvor. »Der Fehdehandschuh wurde geworfen«, teilte Debs den gespannt lauschenden Zuhörern mit. »Noch nie zuvor wurde das Instrument der einstweiligen Verfügung mißbraucht, um ehrliche Arbeiter daran zu hindern, einen ehrlichen und gesetzlich zulässigen Protest vorzubringen. Diese Verfügung beraubt uns des Rechts zu streiken. Sie drückt unmißverständlich aus, daß eine derartige Aktion als Vergehen gewertet wird. Derartige angebliche Vergehen dürfen noch nicht einmal vor Gericht verhandelt werden. Die Richter setzen nach Gutdünken die jeweilige Strafe fest. Und welchen Richter kennen wir schon, der auf unserer Seite steht?« Zum erstenmal hörte Paul in Debs’ Stimme einen zornigen Unterton. »Erkennt ihr alle die Lage, in die sie uns hineinmanövriert haben? Wenn wir die einstweilige Verfügung beachten und eine gerichtliche Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit abwarten, mit der frühestens in einigen Monaten zu rechnen ist, bricht der Streik zusammen. Wenn wir nicht gehorchen, übertreten wir das Gesetz.« Auf der Galerie meldete sich jemand zu Wort. »Was haben Sie jetzt vor, Gene?« Debs wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Er brachte ein Lächeln zustande. »Nun, wir machen weiter. Der Exekutivausschuß hat die Entscheidung getroffen, alle Eisenbahnergewerkschaften zum Streik aufzurufen.« Inmitten eines lauten Tumults von Bravorufen und Fußgetrampel verließen Paul und Joe junior die Halle. Pauls Vetter lachte triumphierend.
PULLMAN 1894
421
Diesmal reagierte Paul schweigsam. Stück für Stück schien der Streik in eine gewalttätige Auseinandersetzung auszuarten, die Mr. Debs im Grunde verabscheute. Auf dem Dach mußte die Temperatur am nächsten Tag über 30 Grad Celsius betragen haben. Das Dach war leer bis auf Paul. Von seiner Stirn tropfte der Schweiß. Die Hitze machte ihn schlapp. Seine Laune war ziemlich schlecht. Er hatte Julie seit drei Sonntagen hintereinander nicht mehr gesehen. Die Vanderhoffs waren zu Hause. Er wußte das, weil er eines Abends vor dem Haus herumgelungert war. War Julie vielleicht wieder erkrankt? Sie hatte ihm von ihren Leiden erzählt, aber niemals irgendwelche Einzelheiten mitgeteilt. Sie redete nur von »furchtbaren Kopfschmerzen« oder davon, daß sie »tagelang dahindämmere«. Das erinnerte ihn an Tante Lottes Launen. Julie erklärte, ihr Leiden sei ein unausweichliches »weibliches Problem«, wie alle Frauen es hätten. Stimmte das? Er hatte keinen Appetit auf die Wurst und das Brot in seinem Verpflegungsbeutel. Er schlug eine Ausgabe der Tribune auf. Die Schlagzeile sprang ihm regelrecht entgegen. STREIK IST KRIEG! Ein Mann trat durch die Dachtür nach draußen. Es war Sam Traub, der Finanzbeamte. Auch er hielt eine Zeitung in der Hand. Er breitete einen Teil auf der Begrenzungsmauer neben Paul aus. Traubs Krawatte hatte einen peinlich adretten Knoten und wurde durch seine zugeknöpfte Weste zur Hälfte bedeckt. Der Talkumpuder verlieh seinen Wangen einen hellen Schimmer. Er sah kühl und trocken und irgendwie wächsern aus. Traub holte einen kleinen Apfel aus der Tasche und halbierte ihn mit seinem Klappmesser. Er verzehrte den Apfel, während er die restlichen Seiten seiner Zeitung durchblätterte. »Dieses verdammte Wetter hat schon das nächste Opfer auf dem Gewissen. Damit sind es insgesamt sieben.« Er zeigte Paul die Meldung. MRS. ELSTREE VERSTORBEN Begräbnisvorbereitungen für Frau des Kaufhauserben sind bereits im Gange. Ihr plötzlicher Tod ist vermutlich eine Folge der Hitzewelle. Paul trocknete sich Nacken und Gesicht mit seinem Halstuch. Es überraschte ihn nicht, daß Menschen bei diesen Temperaturen starben.
422
TEIL FÜNF
Im Südosten bemerkte er eine aufsteigende schwarze Qualmwolke. »Was ist das?« »Ich wette, das sind wieder ein paar Güterwagen. Gestern abend sind in Blue Island sechs oder sieben in Flammen aufgegangen.« »Die Streikenden zünden Güterwagen an?« Traub grinste verschlagen. »Nicht ganz. Die Wachleute selbst kippen sie um und setzen sie in Brand. Dadurch erscheinen die Streikenden in einem sehr schlechten Licht. Das geschieht den verdammten Roten ganz recht.« »Oh, das finde ich nicht, Mr. Traub.« »Was weißt du denn schon? Du bist doch noch ein Greenhorn, ein Anfänger, hast keine Ahnung, wie es in diesem Land zugeht. Ich rate dir, deine Nase aus diesen Angelegenheiten herauszuhalten.« Paul betrachtete die bedrohliche schwarze Rauchfahne. Bomben, Feuer, Drohungen, Sonderbewacher – mein Gott, es entwickelte sich alles genauso, wie Vetter Joe es vorausgesagt hatte. Streik sei Krieg, hatte die Tribune verkündet, und so kam es auch. Kopien der einstweiligen Verfügung wurden überall in der Stadt an Telegraphenmasten genagelt. Gerichtsboten überreichten Debs eine Kopie, und er nahm sie widerspruchslos entgegen. Weniger gelassen verhielten sich zweitausend Protestler, die sich zu einer Großversammlung auf dem Blue-Island-Bahnhof der Chicago, RockIsland & Pacific-Linie eingefunden hatten. Arnold, der Chef der Justizbeamten, erschien mit einer ganzen Schar Anwälte und Wachbeamter. Er verlas den Text der einstweiligen Verfügung, während die Menge mit Pfiffen und Protestrufen reagierte. Danach forderte er die Anwesenden auf, nach Hause zu gehen. Die Protestierenden weigerten sich und brüllten Drohungen. Steine und Flaschen wurden geworfen. Arnold und seine Männer ergriffen die Flucht. Am Unabhängigkeitstag, einem Mittwoch, marschierten vier Kompanien der 15. Infanterie aus Fort Sheridan am Seeufer auf, wo sie ihr Lager aufschlugen. Präsident Cleveland war dem Ruf nach Einsatz der Armee gefolgt. An diesem Tag wurde der Pöbel aktiv. Fast fünfzig Güterwagen verbrannten auf den zentralen Bahnhöfen von Illinois. Der Eisenbahnverkehr wurde durch falsch gestellte Weichen und außer Betrieb gesetzte Signale empfindlich gestört. Züge wurden im Schutz der Dunkelheit von Streikenden mit Steinen beworfen. General Nelson Miles erschien, um das Kommando über die Soldaten zu übernehmen. Er richtete sein Hauptquartier an der Ecke der Michigan
PULLMAN 1894
423
Avenue und der Adams-Straße ein – im Pullman-Gebäude. Unternehmer und Zeitungsverleger reagierten erleichtert und erfreut. In der Brauerei hatte Joe Crown einen großen Raum als Aufenthalts- und Waschbereich für seine Männer abgeteilt. Einzelne Holzspinde standen an einer Wand. Seit Beginn der Hitzewelle hatte Paul in seinem Spind stets ein zweites blaues Arbeitshemd, das er den ganzen Tag tragen und durchschwitzen konnte. Über Nacht hängte er es dann zum Trocknen auf. Manchmal herrschte in dem Raum abends dichtes Gedränge, manchmal aber auch nicht. Bei Arbeitsende am Donnerstag stieß Paul die Tür auf und hörte jemanden singen. Er erkannte Benno an der Stimme, ehe er ihn sah. Benno stand vor einem Waschbecken. Die Träger seines Overalls hingen auf seine Hüften herab, und sein Arbeitshemd klaffte bis zur Taille auf. Er säuberte seine Brust mit einem nassen Lappen und sang vor sich hin. Sonst hielt niemand sich im Raum auf. Paul nickte Benno zum Gruß zu und ging zu seinem Spind. Benno unterbrach seine Körperpflege und grinste. »Sie sehen nicht gerade glücklich aus, Mr. Pauli.« »Es ist teuflisch heiß, und ich bin müde.« Paul öffnete seinen Spind, zog sein Hemd aus und begann sich mit einem Handtuch abzutrocknen. Aus seinem Spind nahm Benno ein in Wachspapier eingewickeltes Päckchen. »Wollen Sie ein Lakritz?« »Nein danke, ich habe keinen Hunger.« Benno zuckte die Achseln und wollte das Lakritz wieder in seinen Schrank zurücklegen. Aus irgendeinem Grund fiel es ihm auf den Fußboden. Er bückte sich danach, und etwas Schweres rutschte aus seinem Hemd und landete zwischen seinen schweren Schuhen auf dem feuchten Beton. Ein blauschwarzer Revolver mit einem weißen Band um den Lauf. Sie sahen einander an. Benno warf einen schnellen Blick zur Tür. Männer näherten sich. Er hob den Revolver auf und stopfte ihn sich unters Hemd. Er schloß die drei untersten Knöpfe und zog die Träger seines Overalls hoch. Er kam zu Paul herüber. Er lächelte nicht mehr. Seine mächtige Faust legte sich auf Pauls Schulter. »Scheinst ein anständiger Junge zu sein, Pauli. Schlau. Deshalb mache ich es ganz harmlos, nur eine Warnung.« Aber es war gar nicht harmlos. Seine Hand auf Pauls Schulter schloß sich und drückte zu, bis Schmerzen einsetzten. Die Stimmen im Flur, das Gelächter und die Kommentare zum Geschehen des Tages wurden lauter.
424
TEIL FÜNF
»Du hast nichts gesehen. Wenn du etwas anderes erzählst, deinem Onkel oder sonst jemandem, dann hast du deinen Job nicht mehr lange. Vielleicht hast du dann auch keine heilen Arme und Beine mehr, verstanden?« »Ja«, erwiderte Paul, so ruhig er konnte. Er wollte seine Angst nicht vor Benno Strauss zeigen. Andererseits gab es auch keinen Grund, dumm zu sein und jemandem zu widersprechen, der so groß und entschlossen war. »Sehr gut. Das ist klug von dir«, sagte Benno. Die äußere Tür flog krachend auf. Ein halbes Dutzend Männer kam hereingetrottet. Benno verwandelte sich schlagartig. Er schlug Paul aufmunternd auf die Schulter und grinste ihn an, als hätten sie sich gerade noch über irgend etwas Spaßiges unterhalten. Dann begrüßte er die anderen. Paul schlüpfte schnell in ein frisches Hemd und verschwand. Gewarnt oder nicht, es gab eine Person, der er alles erzählen mußte. Nach dem Abendessen zog er Vetter Joe hinter sich her hinaus in den Garten. Über den gestutzten Sträuchern leuchtete der Abendhimmel dunkelrot. In wenigen Worten schilderte er den Zusammenstoß mit Benno. Die Reaktion seines Vetters überraschte ihn. »Ja, ich hab’ es auch gesehen. Er hat mir das Ding gezeigt. In der Brauerei sind noch vier andere, die Pistolen bei sich haben. Das heißt, vier Männer, von denen ich es weiß.« »Er hat dir den Revolver gezeigt?« »Hat er. Er hat mich vorgestern abend am Bahngleis beiseite genommen. Er sagte: ›Du bist ein guter Soldat, nicht wahr? Wir können doch auf dich zählen?‹« »Auf dich zählen? Wofür?« »Ich weiß es nicht, er hat es nicht näher erklärt, sondern er hat mich nur scharf angesehen und ist dann weggegangen.« Joe junior starrte auf seine Hände. »Ich stehe auf Bennos Seite, aber ich hätte niemals erwartet, daß es innerhalb der Brauerei Schußwaffen gibt, nachdem Pa sie von dort verbannt hat.« »Benno gab mir eine Warnung auf den Weg, Joe. Er hat es nicht eindeutig ausgedrückt, aber ich weiß genau, was er damit meinte. Daß er mir irgend etwas antun oder mich sogar töten würde, wenn ich ihn – wie heißt das Wort noch mal, das du manchmal benutzt?« »Verpfeifen?« »Ja. Wenn ich ihn verpfeifen würde.« Joe junior nickte. »Er hat mich ebenfalls gewarnt.« Paul erschauerte. »Er hatte ein ganz böses Gesicht. Der ganze Streik wird immer häßlicher. Du hattest recht mit –« Er suchte nach dem richtigen
PULLMAN 1894
425
englischen Wort. »– der Gewalt.« Joe junior sah ihn ernst an. Sie hörten in der Ferne das Knallen von Feuerwerkskörpern. Es konnte aber auch Gewehrfeuer sein. Sie hörten einen Polizeiwagen vor dem Haus vorbeijagen, hörten den Hufschlag galoppierender Pferde, das Geklingel einer Warnglocke. »Joe?« »Ja? Was ist?« »Kann Benno auf dich zählen?« Die lebhaften blauen Augen fingen Lichtreflexe der erhellten Fenster ein. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ich glaube, Pa steht auf der falschen Seite, auf der Seite Pullmans, der Seite der Plutokraten. Ich möchte niemanden töten.« »Ich auch nicht.« Sie saßen auf der Steinbank vor dem betenden Engel. Ihre Schultern berührten sich. Keiner der beiden rührte sich. Das Schweigen dehnte sich aus und war Ausdruck einer tiefen gemeinsamen Furcht. 43 ROSIE Am Sonntagabend, bevor Richter Grosscup seine einstweilige Verfügung gegen Debs verhängte, hatte Rosies Herzbube, nachdem er mit Rosie und Maritza zu Abend gegessen hatte, sie gegen halb neun verlassen. Tabor war nicht zugegen. Wieder auf einem seiner sonntäglichen Ausflüge. Betrunken in einem Saloon, vermutete Rosie. Es war ein enttäuschender Tag gewesen. Keine Zeit allein mit Joey, nichts als einige Küsse und etwas Streicheln zwischen den Beinen und ansonsten furchtbare Qualen, denn sie war ganz heiß und verlangte mehr denn je nach ihm. Das Abendessen war auch so ärmlich wie immer. Brot, das bereits vier Tage alt war, als ihre Mutter es kaufte, und ein jämmerlich dünner Eintopf aus Bohnen, ein paar gekochten Kartoffeln und einigen wenigen Stücken Hammelfleisch, das bereits leicht verdorben schmeckte. Der Eintopf, die heißen, stickigen Zimmer ihres kleinen Hauses, die Angst, die wie ein Nebel auf Pullman lag, all das machte sie mißgelaunt und reizbar und ließ sie verstärkt daran denken, wie und wann sie sich aus diesem gottverdammten Loch würde herausarbeiten können. Sie brauchte Gesangsstunden, um ihre Stimme auszubilden. Sie mußte sich einen Mann suchen, der ihr den Unterricht bezahlen würde. Sie brauchte eine Fahrkarte nach New York. Vom selben Mann oder vielleicht
426
TEIL FÜNF
auch von einem anderen. Nachdem sie Joey Crown kennenlernte, hatte sie den kindischen Traum gehabt, sie könne ihn heiraten. Lange glaubte sie nicht daran. Er hatte kein Geld, um die Gesangsstunden oder ihre Fahrkarte zu bezahlen. Er konnte sich kaum ein kleines Stück Seife mit Rosenduft erlauben. Sie bewunderte Joey in vieler Hinsicht. Er war gescheit; las Bücher, die sie noch nicht einmal verstehen konnte, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengte. Unter ihrer Anleitung war er ein geschickter, guter Liebhaber geworden, leidenschaftlich, aber auch zärtlich, immer dann, wenn ihre Gefühle es verlangten; er tat ihr niemals weh. Unglücklicherweise waren einige seiner Ideen töricht. Wer außer Joey lehnte die Möglichkeit ab, eine Brauerei zu führen, reich zu sein und sich niemals mehr den Kopf zu zerbrechen, woher er den nächsten Dollar oder etwas anderes bekäme? Tabor betrat lärmend die Wohnung. Sein Gesicht war verschwitzt und von der Hitze gerötet. Er war aufgeregt, was für ihn nicht gerade typisch war. Was immer geschehen sein mochte, er sah irgendwie verändert aus. Er war beinahe wieder der gutaussehende Vater, an den sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte und den sie verehrte. Der Vater, der mit ihr auf dem See in einem gemieteten Boot ruderte. Der ihr Puppen aus Maiskolben oder Tüten voller Kandiszucker kaufte, wenn er sich von dem Geld lieber eine neue Mütze hätte kaufen sollen, die ihn in den wilden Schneestürmen der harten Winter von Illinois warmhalten würde. Der Vater, der immer so gerne mit ihr gespielt hatte. Schach, Karten, Rommé, Skat, wenn Maritza wollte. »Ratet mal, was ich habe! Ich habe eine Stelle!« Maritza kam in die Küche. »Was habe ich da gehört? Was sagst du? Du hast doch schon eine Stelle, Tabor, du wartest nur darauf, daß man dich wieder an die Arbeit ruft.« »Das ist ein ganz spezieller Job, nebenbei. Zweieinhalb Dollars am Tag. Hör doch, es ist alles okay. Ehe ich ihn annahm, war ich drüben bei Castleberry.« Maritza stemmte die Hände in die Hüften. »Und was hat dein Vorarbeiter dazu gesagt?« »Nun, er sagte, es sei in Ordnung, der Firma würde es gefallen, es mache sich in meinen Papieren sehr gut, wenn ich wieder zurückkäme.« »Was für eine Arbeit ist es denn, Pa?« Rosie hatte bereits einen unheilvollen Verdacht, der auf einigen Dingen basierte, die sie in Pullman aufgeschnappt hatte. Er klopfte sich auf die linke Hemdtasche. »Sonderwachdienst. Ich bekomme morgen mein Abzeichen und meine Waffe.«
PULLMAN 1894
427
»Du willst schwarzarbeiten? Als Streikbrecher?« Tabor machte ein beleidigtes Gesicht. »Rosie, Liebling, das ist ein schlimmes Wort. Ich helfe lediglich mit, das Eigentum der Gesellschaft zu bewachen. Und diesen Streik zu beenden, der unsere Lage nur noch verschlimmert.« Rosies Mutter knetete ein schmutziges graues Taschentuch in ihren abgearbeiteten Händen. »Tabor, du hast doch keine Ahnung von Pistolen. Das darfst du nicht tun.« »Hör mal, es ist eine große Ehre.« »Papa, Papa – zwei Dollars und fünfzig Cents am Tag und die Chance, getötet zu werden, sind keine Ehre. Tu es nicht! – Mach nicht, daß wir alle am Ende auf dich wütend sind.« »Mädchen, hüte deine Zunge!« »Hör auf sie«, sagte Maritza. »Und hör auf mich. Ich bitte dich, laß dich nicht auf diese verrückte Sache ein.« »Was zum Teufel ist mit euch los? Es kommt wieder Geld ins Haus, und es macht sich in meinen Papieren gut. Das hat Castleberry gesagt.« »Pa, hör mir bitte zu. Du weißt genau, wie ich denke – man soll ruhig alles tun, womit man Geld verdienen kann, und darauf scheißen, ob es in Ordnung ist –« »Roza!« rief ihre Mutter entrüstet. »– aber diesmal ist das Geld nicht so wichtig. Lehn es ab! Sag ihnen, nein, es sei das Risiko nicht wert. Dieser Streik ist ebenfalls bedeutungslos. Wer gewinnt oder verliert – es ist alles ein reines Glücksspiel. Jeder muß am Ende für sich selbst sorgen. Das war schon immer so und wird immer so sein. Ich will nicht, daß dir auch nur ein Haar gekrümmt wird, Papa.« »Das ist lieb von dir, Rosie, du bist wirklich eine gute und brave Tochter, das freut mich.« Tabors Augen hatten einen feuchten Glanz, und er erinnerte an einen treuen Hund. »Dann sag ihnen, du machst es nicht.« »Ja, Tabor, bitte«, flehte Maritza ihn an. Mit einem schuldbewußten Blick zu seiner Frau und dann zu Rosie sagte Tabor: »Ich kann nicht. Ich hab’ schon unterschrieben.« »Oh, Pa!« Was für ein schwacher, dummer Mann er doch war. Sie haßte sich dafür, daß sie ihn so bedingungslos liebte, trotz seiner Fehler und Mängel. Gott sei Dank hatte man in seinem Leben immer nur einen einzigen Vater.
428
TEIL FÜNF
44 PAUL Die Rauchschwaden über Chicago wurden immer dichter. Paul roch es durch das offene Fenster seines Zimmers. Er roch es in den Wagen, mit denen er zur Arbeit und wieder nach Hause fuhr. Manchmal roch er es sogar in der Brauerei. Abends konnte er wegen des Gestanks kaum einschlafen. Er erinnerte ihn an Benno und seine Pistole. Er würde jeden Ärger vermeiden, indem er Bennos Warnung ernstnahm und sich still verhielt. Vetter Joes Situation war gefährlicher. Er war ein Verbündeter, falls Benno ihn brauchte. Für Vetter Joe war es die eine Sache, sich mit Worten und Blicken gegen seinen Vater zu stellen. Ein offener Akt war etwas völlig anderes. Das war seinem Vetter durchaus klar. Er war angespannt, nachdenklich, er lachte kaum noch und scherzte mit Paul nicht mehr herum. Fünfzehn Eisenbahngesellschaften, die nach Chicago verkehrten, wurden teilweise oder ganz stillgelegt. Die Stände und Buden des Marktes in der Water-Straße standen seit fast zwei Wochen leer. Lange Schlangen von Güterwagen warteten vor der Stadt, während ihre Ladungen an Getreide und Gemüse aufweichten und verfaulten. Auf den Viehhöfen standen ganze Waggons voller Fleisch auf Abstellgleisen. Das Fleisch färbte sich grau und wimmelte von Maden, und aus den Türen lief eine faulig stinkende Flüssigkeit heraus. Der Fäulnisgestank wehte von den Güterbahnhöfen herüber und vermischte sich mit dem Qualmgeruch. Der Pöbel, der nachts durch die Straßen zog, wurde ständig größer. Mehr Soldaten wurden aus Michigan und Iowa, aus Colorado und Kalifornien zusammengezogen, obgleich der Gouverneur bereits zwei Telegramme an Präsident Cleveland geschickt hatte mit der Aufforderung, die Bundestruppen abzuziehen. Altgeld bestand darauf, daß nur er das Recht habe, Soldaten anzufordern, und daß er dieses Recht nicht wahrgenommen habe. Die Antwort des Präsidenten an den Gouverneur bestand aus Schweigen, eine krasse Beleidigung. Und zugleich ein deutlicher Hinweis, daß die nationale Macht über der des Staates rangierte. Weitere Soldaten trafen ein. Weitere Sonderbewacher wurden engagiert und auf die Straßen geschickt. Sie betreuten die wenigen noch verkehrenden Züge. Arbeiter in der Brauerei redeten voller Unbehagen von einem neuen Slogan, der unter Soldaten und Sicherheitsleuten an Bedeutung zu gewinnen schien: »Schießt auf die schmutzigen weißen Bänder.« Heizer und Weichensteller, Telegraphisten und Maschinisten schlossen
PULLMAN 1894
429
sich dem Streik an, ohne von ihren jeweiligen Bruderschaften dazu aufgefordert worden zu sein. Die G.M.A. gab bekannt, daß ab Samstag, den 7. Juli, bewaffnete Miliz jeden Postzug begleiten werde, der die Bahnhöfe in der Union- und Dearborn-Straße und die Bahnhöfe der Linien I.C. Rock Island und Northwest verlasse. Jeder Soldat verfüge über hundert Schuß Munition, um jeden abzuschrecken, der versuche, den Betrieb zu stören. Schießt auf die schmutzigen weißen Bänder … Am Freitagnachmittag, ehe die letzte Verfügung der G.M.A. wirksam werden sollte, wurde Paul aus der Flaschenabfüllabteilung ins Büro seines Onkels gerufen. Onkel Joe verschwand wie immer hinter einem Stapel unerledigter Akten. Er wirkte klein und abgekämpft. Er las etwas auf einem faltigen Stück schweren braunen Papiers und verzog ungehalten das Gesicht. Er faltete das Stück Papier zusammen und stopfte es in eine Schublade. Sein Begrüßungslächeln war kaum mehr als ein Zucken seiner Lippen. »Paul, ich habe einen Auftrag für dich. Eigentlich fällt die Angelegenheit ins Ressort von Dolph Hix, aber er ist gerade nicht da und die beiden anderen Verkaufsagenten auch nicht. Die Sache erfordert einiges an Diplomatie.« »Was meinst du?« »Fingerspitzengefühl.« »Ach so. Und?« »Du kannst mir demonstrieren, wie du Aufträge ausführst, die etwas mehr verlangen als nur ein kräftiges Kreuz. Büroaufgaben, zum Beispiel.« O nein, ich werde auf keinen Fall Vetter Joe ersetzen. Er mußte seinem Onkel erklären, wo seine wahren Interessen lagen. Er hatte es schon einmal getan, und Onkel Joe hatte es einfach beiseite gewischt. Er mußte es erneut versuchen. Aber nicht jetzt. »Ich nehme an, du weißt, was mit dem Ausdruck ›Rotlicht-Viertel‹ gemeint ist?« fragte sein Onkel. »Ein Bordellviertel? Ich weiß Bescheid. In Berlin gab es viele von der Sorte.« »Hier gibt es auch einige. Ich habe gerade erfahren, daß einer meiner Kunden, Canadian Gardens, im ersten Stock ein Clubzimmer eröffnet hat. Der Begriff ›Clubzimmer‹ ist ein Geheimzeichen, ein Signal, daß Gäste dort nicht nur Bier trinken können, sondern – na ja, du weißt schon. Ich habe mit dem Eigentümer der Canadian Gardens telephoniert. Er nennt sich Toronto Bob. Jeder billige Gauner und Hurenbock sucht sich irgendeinen tollen Namen. Als ich Bob erzählte, was ich gehört habe, lachte er nur und leugnete noch nicht einmal. Ich habe ihm dann erklärt, daß ich meine
430
TEIL FÜNF
Lieferungen einstellen würde. Ich verkaufe kein Bier an Betriebe, in denen sich Frauen anbieten. Aber ich will meine Crown-Zapfhähne zurückhaben.« Er griff hinter sich, um einen zu suchen. Paul hatte sie schon in verschiedenen Kneipen und in der Bierstube unten gesehen. Sie sahen hübsch aus, verjüngten sich nach unten. Sie wurden aus massivem Nußbaum gedreht, dann wurde das Crown-Symbol aufgemalt, anschließend erhielten sie eine Lackschicht. Am Ende wurde noch ein solider Messingring an der Stelle aufgezogen, wo sie in der Zapfvorrichtung saßen. »Diese Dinger sind teuer. Sie kosten drei Dollars zwanzig pro Stück. Dafür bekommt man schon drei Paar feinste Schuhe, und bekommt sogar noch Geld heraus. Ich will die Hähne und auch das Schild von draußen vor dem Lokal zurückhaben. Es ist zwar aus Metall, aber nicht so groß, daß du es nicht tragen kannst.« Viele Brauereien lieferten Schilder gratis. Die meisten hatten die Form eines Bierkrugs, waren bunt bemalt und trugen als Aufschrift den Namen der Brauerei. »Da hast du die Adresse. Das Wirtshaus liegt südlich der Van Buren in der Clark-Straße im sogenannten Little Cheyenne. Das ist eine ziemlich üble Gegend. Nicht so schlimm wie Bad Lands südlich der Taylor-Straße oder, Gott behüte, das Levee. In diesen Vierteln gehen die Polizisten nur zu zweit Streife. Aber Little Cheyenne ist auch schon schlimm genug. Also nimm dich in acht!« »Mach’ ich, Sir. Aber ich bin in Berlin schon oft genug durch solche Gegenden gerannt.« Und durch den Westen von Chicago, wo die Bande die Vettern verfolgt hatte. »Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, Onkel.« Onkel Joe lehnte sich in seinem Sessel weit zurück und betrachtete ihn lange und eingehend. »Das glaube ich. Ich will nur mal sehen, ob ich mit meiner Einschätzung recht habe.« Während Paul hinausging, zog Onkel Joe eine Schublade auf, faltete die Nachricht auseinander, die auf braunes Papier geschrieben war, und strich den Zettel auf der Schreibunterlage glatt. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Onkel Joe hatte mit seiner Beschreibung von Little Cheyenne nicht übertrieben. Das Viertel war nach einer typischen Eisenbahnstadt im Westen benannt worden. Ein Schatten schien darüber zu liegen, ein Schatten aus Armut, Schmutz und Verfall. Paul eilte über den Bohlengang in der Clark-Straße und mußte sich seinen Weg vorbei an herumlungernden Säufern und einigen stark geschminkten Frauen suchen. Die Musik eines Akkordeons drang aus
PULLMAN 1894
431
einem Konzertsaloon. Fast jedes Etablissement schenkte alkoholische Getränke aus, es sei denn es handelte sich um eine Pfandleihe. Ein grauhaariger Schlepper winkte ihm aus einem Hauseingang zu. »Komm rein zu Candy Molly, mein Freund. Fünfzig Cents für beste Unterhaltung und ein Pfefferminz gratis.« Paul schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg durch das menschliche Treibgut fort, das die Gehsteige bevölkerte. Niemand belästigte ihn. Er war jetzt groß und kräftig und schritt selbstbewußt und entschlossen aus. Er hatte vor den Bewohnern von Little Cheyenne keine Angst, im Gegenteil, das Treiben dort faszinierte ihn. Er wünschte sich im stillen, er hätte eine Kamera, um ein paar Photographien zu machen. Zwei Blocks hinter der Van Buren, auf der anderen Straßenseite, entdeckte er das Metallschild vor den Canadian Gardens. Schmutz und Ruß hatten den gemalten Bierkrug mit seinem schneeweißen Schaum, das vertraute Brauereizeichen, sowie die große rote Inschrift CROWN’S dunkel gefärbt. Er überquerte die Straße und bemerkt sofort, daß er von einem Jungen von neun oder zehn Jahren verfolgt wurde. Er hatte ein Fuchsgesicht und trug zerlumpte Kleidung. Paul stufte ihn sofort als Taschendieb ein und funkelte ihn drohend an. Der Junge trollte sich, nachdem er ihm ein obszönes Zeichen gemacht hatte. Toronto Bobs Canadian Gardens war ein ziemlich großer Saal zu ebener Erde mit niedriger Decke, einer langen Bartheke unter trompetenförmigen Lampen und ein paar Tischen, die auf einem mit Sägemehl bestreuten Fußboden standen. Abgesehen von dem Gestank der Spucknäpfe und dem ärmlichen Aussehen der wenigen Gäste war es eigentlich nicht so übel. Im Hintergrund begleitete ein müde aussehendes Mädchen einen fetten Mann eine Treppe hinauf. Paul trat ans vordere Ende der Bar. Der Barkeeper war ein einäugiger Knirps von einem Mann mit schwarzer Augenklappe. Während Paul sein Anliegen vorbrachte, schnitt der Barkeeper ihm das Wort ab. »Ich wußte, daß jemand kommen würde. Bob hat mir Bescheid gesagt. Du kannst dir eine Leiter holen und das Schild selbst abmontieren. Und was die Zapfhähne angeht – du siehst ja selbst, daß sie verschwunden sind. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Da mußt du mit Bob reden. Und der ist nicht da.« »Können Sie mir verraten, wo ich ihn finden kann?« »Mein Gott, du verlangst aber gar nicht viel, oder? Bob ist vor fünf Minuten losgezogen. Er wollte seine Kodak zu Rooney bringen. Er wollte fragen, ob man sie doch noch reparieren kann. Irgendwas klemmt daran, was weiß ich. Vielleicht erwischst du ihn dort.«
432
TEIL FÜNF
Rooney? »Sir, bitte – wo ist dieser Rooney?« »Am Ende des Blocks, und dann links. Es ist der übernächste Laden nach dem Stundenhotel.« Die Seitenstraße war noch enger, schmutziger und dunkler. Mietshäuser ragten zu beiden Seiten hoch und neigten sich, als wollten sie jeden Moment auf die Straße kippen. Paul blickte zu dem schmalen Streifen Himmel hinauf. Er war strahlendblau mit kleinen weißen Sommerwölkchen. Nur wenig Licht drang bis nach unten in die Häuserschlucht. Er stieg über die Überreste einer toten Katze. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, aber niemand war zu sehen außer einem einzelnen mickrigen Burschen, der unter dem Namensschild von Wamplers Hotel an der Wand lehnte und mit den Fingern zwischen seinen Zähnen herumpuhlte. Paul lief an ihm vorbei und warf einen kurzen Blick in die schäbige Halle. Eine stämmige Frau mit dick geschminkten Augen winkte ihn herein. Er vergaß die ärmliche Umgebung in dem Moment, als er den Laden entdeckte. Über einem schmuddeligen Schaufenster hing ein buntes Schild, das noch nicht verwittert oder verschmutzt war. Auf cremefarbenem Grund verkündete eine rote Zirkusschrift mit goldenen Konturen: ROONEYS TEMPEL DER PHOTOGRAPHIE Hinter dem mit Fliegendreck beschmutzten Glasfenster lagen auf einem verknautschten Samttuch mehrere Kastenkameras. Eine davon war ein genaues Duplikat der defekten Kodak, die während der Überfahrt von der Rheinland ins Meer geflogen war. Auf einem kleinen Podest lagen vier Linsen. Ein Schild machte auf gebrauchte Kameras aufmerksam, ein anderes versprach photographische Porträts. Aufgeregt versuchte Paul in dem Laden etwas zu erkennen. Es war dunkel im Innern bis auf ein mattes Licht im Hintergrund. Er trat ein. Eine kleine Glocke an einem Federarm über der Tür klingelte. Ein strenger Geruch nach Chemikalien machte sich bemerkbar. »Ich komme schon, wer ist denn da?« Ein Klicken, und eine schwache Glühbirne an der Decke erhellte den Laden. Paul hätte vor Freude beinahe in die Hände geklatscht. Es war derselbe kleine Mann! Krümel hingen in seinem graumelierten Schnurrbart. Seine dicken Brillengläser reflektierten das Deckenlicht. Er trug einen fleckigen Kittel. »Ja? Kann ich Ihnen helfen –? He, Himmel! Ich kenn’ dich, nicht
PULLMAN 1894
433
wahr?« »Jawohl, Sir. Ich war während der Ausstellung bei Ihnen. Sie haben mir die Maschine mit den bewegten Bildern gezeigt. Und Sie haben mir erklärt, wie sie funktioniert.« »Das habe ich, tatsächlich.« Der kleine Mann nahm seine Brille ab. Sogar unvergrößert waren seine dunklen Augen genauso durchdringend und hypnotisch, wie Paul sie in Erinnerung hatte. »Hab’ dir meine Karte gegeben. Du sagtest, du wärst interessiert, bist aber nie vorbeigekommen.« »Doch, Sir, ich war da. Der Laden war geschlossen. Es hieß, Sie wären weggezogen.« Weil Sie die Miete nicht bezahlt haben. Er erinnerte sich an die rätselhafte Bemerkung über Pferde. Er verstand sie noch immer nicht. »Ja, ja, stimmt, das bin ich, richtig«, sagte Rooney schnell. »Ich brauchte einen günstigere Lage. Ich habe jede Menge Kundschaft, die mit dem Wagen kommt, mußt du wissen.« Eine bessere Lage in Little Cheyenne? Wagenkundschaft? Paul hatte seine Zweifel. »Dann erzähl mal, wie hast du mich gefunden?« »Es ist ein glücklicher Zufall.« Er erklärte