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Die Festung des Zwielichts Cadderly ist zusammen mit Danica und seinen Freunden in die Erhebende Bibliothek zurückgekehrt, doch er weiß das er so schnell wie möglich nach Burg Trinitatis ziehen muß. Dort wartet der Magier Aballister Bonaduce auf ihn, einzig von dem Gedanken beseelt. Cadderly endlich zu vernichten. Zunächst aber will Cadderly den legendären roten Drachen Fyrentennimar aufsuchen, dem er eine ganz besondere Aufgabe zugedacht hat. Doch nicht nur der einbrechende Winter erschwert den Weg zum Berg Nachtglut, wo der Drache haust- auch die Zauberin Dorigen hat die Gefährten längst ausgespäht...
Die Festung des Zwielichts Prolog Aballister lief die Promenade von Carradoon hinunter. Der hagere Zauberer hatte sich fest in seinen schwarzen Mantel gewickelt, um die winterlichen Böen abzuhalten, die vom Impresksee herüberpeitschten. Er war noch keinen ganzen Tag in Carradoon, hatte aber schon von den erschreckenden Vorkommnissen in der »Drachenbörse« gehört. Cadderly, sein Sohn und Widersacher, war anscheinend der Mörderbande entkommen, die Aballister ausgesandt hatte, um ihn zu toten. Der Zauberer kicherte beim Gedanken daran, ein unangenehmes, boshaftes Geräusch. Cadderly war entkommen? Aballister fand diese Formulierung geradezu anmaßend. Cadderly hatte mehr getan als zu entkommen. Mit
Hilfe seiner Freunde hatte der junge Priester die Bande der Nachtmasken ausgelöscht, über zwanzig Berufsmörder, und auch Bogo Rath getötet, Aballisters zweiten Stellvertreter in der strengen Hierarchie von Burg Trinitatis. In ganz Carradoon sprach man über die Taten des jungen Priesters aus der Erhebenden Bibliothek. Es wurde schon geflüstert, daß Cadderly in diesen dunklen Zeiten die Hoffnung der kleinen Leute sei. Cadderly war für Aballister inzwischen kein geringes Problem mehr. Der Zauberer zog keinen väterlichen Stolz aus den Taten seines Sohnes. Aballister hatte Plane für diese Gegend, wollte sie erobern, wie es ihm der Avatar der bösen Göttin Talona eingeflüstert hatte. Noch im vergangenen Frühjahr hatte es so ausgesehen, als waren diese Plane leicht umzusetzen. Damals war die Armee von Burg Trinitatis auf achttausend Krieger angeschwollen, einschließlich der Zauberer und der Priester der Talona. Doch dann hatte Cadderly unerwarteterweise Barjin ausgeschaltet, den mächtigen Priester, der das Herz der guten Kräfte angegriffen hatte, die Erhebende Bibliothek. Im darauffolgenden Herbst hatte Cadderly den Elfen des Waldes von Shilmista im Westen zu einem verblüffenden Sieg über die Armeen von Goblins und Riesen verholfen und eine beträchtliche Zahl der Soldaten von Burg Trinitatis in ihre Berghohlen zurückgejagt. Selbst die Nachtmasken, die vielleicht gefürchtetste Assassinenbande der mittleren Reiche, waren nicht in der Lage gewesen, Cadderly aufzuhalten. Jetzt stand der Winter vor der Tür. Der erste Schnee war bereits gefallen, und der Überfall auf Carradoon würde warten müssen. Das Nachmittagslicht ging schon in Dämmerung über, als Aballister in eine Straße einbog, die zwischen niedrigen Holzhäusern hindurch nach Süden führte. Er durchquerte die offenen Tore des Stadtfriedhofs und bediente sich eines
einfachen Zaubers, um das schlichte Grab von Bogo Rath ausfindig zu machen. Dann wartete er darauf, daß die Nacht das Land gänzlich umschloß, zeichnete einige Schutzrunen in den Schneematsch um das Grab und zog gegen die eisige Kalte seinen Mantel fester um sich. Als die Lichter der Stadt verloschen und die Straßen sich leerten, begann der Zauberer mit seiner Beschwörung des Geistes von Bogo Rath. Der Wind schien nur noch den ausgemergelten Zauberer zu umwehen und sammelte die nächtlichen Nebel zu einem wirbelnden Muster, das den Boden über dem Grab verdeckte. Plötzlich teilte sich der Nebel, und die Erscheinung stand vor Aballister. Obwohl sie ganz gewiß keinen Körper besaß, sah sie weitgehend so aus, wie Aballister den jungen Bogo in Erinnerung hatte – glattes, strähniges Haar, das nach einer Seite fiel; Augen, die forschend und mißtrauisch hin und her schossen. Einen Unterschied gab es jedoch, etwas, das selbst den hartgesottenen Aballister zusammenzucken ließ. Eine gräßliche Wunde klaffte mitten in Bogos Brust. Selbst in der Finsternis konnte Aballister durch die Rippen und Lungen der Erscheinung bis zu ihrem spektralen Ruckgrat sehen. »Eine Axt«, erklärte Bogo mit trauervoller, schleppender Stimme. Er legte eine körperlose Hand in die Wunde und setzte ein grausiges Lächeln auf. »Möchtet Ihr mal fühlen?« Aballister hatte schon hundertmal mit heraufbeschworenen Geistern zu tun gehabt und wußte, daß er die Wunde auch dann nicht fühlen wurde, wenn er wollte. Er wußte, das hier war nur eine Erscheinung, das letzte Bild von Bogos schwerverwundetem Körper. Der Geist konnte dem Zauberer nichts tun, konnte ihn nicht einmal berühren, und unter der bindenden Kraft von Aballisters magischem Ruf würde er eine bestimmte Anzahl von Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Trotzdem zuckte der Zauberer unwillkürlich erneut zusammen
und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, denn der Gedanke, seine Hand in diese Wunde zu legen, stieß ihn ab. »Cadderly und seine Freunde haben dich getötet«, sagte er. »Ja«, antwortete Bogo, als waren Aballisters Worte nicht eine Feststellung, sondern eine Frage gewesen. Insgeheim verfluchte sich der Zauberer für seine Dummheit. Es war nur eine bestimmte Anzahl Fragen gestattet, ehe der Bann den Geist wieder freigeben würde. Er mahnte sich, seine Feststellungen eindeutig zu formulieren, damit sie nicht als Fragen ausgelegt werden konnten. »Ich weiß, daß Cadderly und seine Freunde dich getötet und die Assassinenbande ausgelöscht haben«, erklärte er. Die Erscheinung schien zu lächeln, und Aballister war sich nicht sicher, ob das schlaue Wesen ihn ködern wollte, noch eine Frage zu verschwenden. Er wollte seine Befragung wie geplant fortsetzen, aber er konnte dem Köder nicht widerstehen. »Sind alle …«, begann er stockend. Er wollte versuchen, das Schicksal der gesamten Assassinenbande auf dem direktesten Weg herauszufinden. Aber dann hielt er klugerweise inne und beschloß, geschickter vorzugehen. »Welche der Assassinen leben noch?« »Nur einer«, antwortete Bogo gehorsam. »Ein verräterischer Firbolg namens Vander.« Wieder die unentrinnbare Falle. »Verräterisch?« wiederholte Aballister. »Hat dieser Vander sich unseren Feinden angeschlossen?« »Ja – und ja.« Verdammt, dachte Aballister. Noch mehr Schwierigkeiten. Immer schien es Ärger zu geben, wenn sein mißratener Sohn im Spiel war. »Sind sie zur Bibliothek gezogen?« fragte er. »Ja.« »Werden sie nach Burg Trinitatis kommen?«
Der Geist, der bereits verblaßte, antwortete nicht, und Aballister merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte der Erscheinung eine Frage gestellt, die nur eine Prophezeiung klären konnte, eine Frage, auf die es im Augenblick noch keine eindeutige Antwort gab. »Du bist noch nicht entlassen!« schrie er in dem Bemühen, das körperlose Wesen festzuhalten. Er griff zu, doch seine Hände glitten durch Bogos blasser werdendes Abbild hindurch. Auch seine Gedanken fanden nichts Greifbares. Aballister stand allein vor dem Grab. Er wußte, daß Bogos Geist zurückkommen würde, wenn er eine eindeutige Antwort auf die Frage gefunden hatte. Aber wann würde das sein? Und welches Unheil würden Cadderly und seine Freunde anrichten, bis Aballister die Informationen hatte, die er brauchte, um mit ihnen fertig zu werden? »Heda!« kam ein Ruf von der Straße, gefolgt von Stiefelschritten, die über das Kopfsteinpflaster hallten. »Wer ist da nach Einbruch der Nacht auf dem Friedhof? Bleib, wo du bist!« Aballister nahm kaum Notiz von den zwei Stadtwachen, die durch das Friedhofstor kamen, ihn entdeckten und eilig auf ihn zurannten. Der Zauberer dachte an Bogo, an den toten Barjin, einst mächtigster Kleriker auf Burg Trinitatis, und an den toten Ragnor, den stärksten Kämpfer der Burg. Vor allem aber dachte er an Cadderly, den Urheber all dieser Probleme. Die Wachen waren schon fast bei Aballister angelangt, als dieser zu singen anhob. Er riß die Arme nach oben, als sie nach ihm greifen wollten. Der Klang der letzten, auslösenden Rune ließ die beiden Männer in hohem Bogen durch die Luft fliegen, als die Macht des Spruches freigesetzt wurde und Aballister seinen Körper im Handumdrehen in sein Zimmer auf Burg Trinitatis zurückversetzte. Die benommenen Stadtwachen rappelten sich vom nassen Boden auf, sahen einander ungläubig an und flüchteten auf die
Straße hinaus. Sie waren davon überzeugt, daß sie besser dran wären, wenn sie so taten, als wäre auf dem unheimlichen Friedhof nichts vorgefallen. Cadderly saß auf dem flachen Dach eines Erkers der Erhebenden Bibliothek und sah zu, wie die Sonne ihre Strahlen über die Ebene östlich der Berge ausstreckte. Andere leuchteten von den höchsten Gipfeln hinunter bis zu Cadderlys Platz und dann hinunter zu jenen, die vom Gras heraufkrochen. Bergbäche erwachten silbern glitzernd zum Leben, und das herbstliche Blattwerk in Braun, Gelb, Rot und strahlendem Orange loderte Flammen gleich. Percival, das weiße Eichhörnchen, kletterte an der Regenrinne des Daches entlang, bis es den jungen Priester entdeckte. Cadderly hätte fast laut gelacht, als er sah, wie eilig es das Eichhörnchen hatte, zu ihm zu gelangen – ein Wunsch, der Percivals ewig knurrendem Magen entsprang, wie Cadderly wußte. Er schob die Hand in einen Beutel an seinem Gürtel und zog einige Cacasanüsse heraus, die er Percival vor die Füße streute. Das erinnerte den jungen Priester an frühere Jahre: So war es immer gewesen. Percival hüpfte glücklich zu seinen Lieblingsnüssen, und die Sonne stieg höher und vertrieb dabei selbst so hoch oben in den Schneeflockenbergen die Kälte des Spätherbstes. Aber Cadderly durchschaute die Fassade. Nichts mehr war wie früher, weder für ihn selbst noch für die Erhebende Bibliothek. Er war unterwegs gewesen, im Elfenwald von Shilmista und in der Stadt Carradoon, hatte in der Schlacht gestanden, aus erster Hand die rauhe Wirklichkeit der Welt kennengelernt und auch gelernt, daß die Priester der Bibliothek, Männer und Frauen, zu denen er sein Leben lang aufgeblickt hatte, nicht so weise oder mächtig waren, wie er einmal geglaubt hatte.
Während er so auf dem sonnigen Dach saß, dachte Cadderly vor allem darüber nach, daß etwas im Orden des Deneir und im Orden der Oghma-Priester, den beiden gastgebenden Orden der Bibliothek, gewaltig im argen lag. Es kam ihm so vor, als seien die Rituale wichtiger geworden als alles andere, als ließen sich die Priester der Bibliothek von Bergen nutzlosen Papiers erdrücken, wenn doch entschlossenes Handeln vonnöten war. Und diese faulen Wurzeln waren, wie Cadderly nur zu gut wußte, noch tiefer gedrungen. Er dachte an Namenlos, den bedauernswerten Leprakranken, den er vor Carradoon auf der Straße getroffen hatte. Namenlos war auf der Suche nach Hilfe in die Bibliothek gepilgert und hatte feststellen müssen, daß sich die Priester mehr um ihr eigenes Versagen bei seiner Heilung sorgten als um die Qualen, die dieses schwere Leiden dem armen Mann auferlegen würde. Ja, befand Cadderly, in seiner geliebten Bibliothek war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Er lehnte sich auf das graue, leicht geneigte Dach zurück und schnippte dem Eichhörnchen beiläufig eine weitere Nuß zu.
Keine Zeit für Schuldgefühle Die Seele hörte den Ruf von weit her, während sie durch die graue Leere der stinkenden, trostlosen Ebene schwebte. Die düsteren Töne formten kein verständliches Wort, doch die Seele fühlte sich beim Namen gerufen. Geist. Deutlich hörte er den Ruf, der ihn aus der Hölle zog. Geist, hörte er es abermals. Das armselige Geschöpf sah die knurrenden, zusammengekauerten Schatten um sich herum an, boshafte Seelen, die Überreste boshafter Menschen. Auch er war ein knurrender Schatten, ein gequältes Wesen, das die Strafe für ein Leben voller Bosheit erlitt.
Aber jetzt wurde er gerufen, von den Klängen einer vertrauten Melodie aus der Folter erlöst. Vertraut? Der dünne Faden, der von Geists lebendem Bewußtsein geblieben war, bemühte sich, sich genauer zu erinnern, wie sein Leben vor dieser abstoßenden, leeren Existenzform gewesen war. Geist dachte an Sonnenlicht, an Schatten, an Töten … Der Ghearufu! Er verstand. Der Ghearufu, die magischen Gegenstände, die er in seinem Leben so viele Jahrzehnte bei sich getragen hatte, riefen nach ihm, führten ihn noch aus den Feuern der Hölle zurück! »Cadderly! Cadderly!« Vicero Belago, der Alchimist der Erhebenden Bibliothek, freute sich, den jungen Priester und Danica endlich wiederzusehen. »Mein Junge – wie schön, daß du wieder bei uns bist!« Der drahtige Mann bebte regelrecht vor Freude, während er sich zwischen den Tischen voller Bechergläser und Phiolen, Tropfschnüren und Stapeln dicker Bücher hindurchwand. Als er endlich vor Cadderly stand, umarmte er den jungen Priester und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Cadderly warf Danica über Belagos Schulter einen hilflosen Blick zu, den sie mit einem Zwinkern und einem strahlenden Lächeln beantwortete. »Wir haben gehört, daß dir ein paar Mordgesellen auf den Fersen waren, mein Junge«, erzählte Belago, während er den jungen Mann auf Armeslänge von sich weghielt und ihn musterte, als erwartete er, daß ein Assassinendolch aus Cadderlys Brust ragte. »Ich hatte Angst, du würdest nie wiederkommen.« Der Alchimist drückte auch Cadderlys Oberarme, denn er war offenbar überrascht, wie kräftig der junge Priester in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit geworden war. Wie eine besorgte Tante strich Belago dem jungen Mann die stets ungekämmten Locken aus dem Gesicht.
»Es geht mir gut«, erwiderte Cadderly gelassen. »Dies ist das Haus von Deneir, und ich bin ein Jünger von Deneir. Warum sollte ich nicht zurückkehren?« Seine Untertreibung hatte eine beruhigende Wirkung auf den aufgeregten Alchimisten ebenso wie der heitere Ausdruck in Cadderlys grauen Augen. Belago wollte etwas sagen, hielt jedoch mitten in seinem Gestammel inne und nickte statt dessen. »Und die verehrte Danica«, fuhr er schließlich fort. Er streckte die Hand aus und streichelte mit freundlichem Lächeln Danicas rötlichblonden Schopf. Dann aber verschwand sein Strahlen fast augenblicklich. Er ließ die Arme sinken und starrte zu Boden. »Wir haben von Großmeister Avery gehört«, sagte er leise. Seine Miene war von trauriger Ergebenheit überschattet. Die Erwähnung von Avery Schell, Cadderlys Ziehvater, traf den jungen Priester tief. Er wollte dem armen Belago erklären, daß Averys Seele bei ihrem Gott weiterlebte. Aber wo sollte er beginnen? Belago würde es nicht verstehen; niemand, der die Welt des Jenseits noch nicht betreten hatte und Zeuge dieses heiligen, ehrwürdigen Gefühls geworden war, konnte es verstehen. Gegen dieses Unverständnis würde alles, was Cadderly sagen konnte, wie ein lächerliches Klischee klingen: die üblichen, tröstenden Worte, die gewöhnlich ohne Überzeugung ausgesprochen und angehört wurden. »Man hat mir gesagt, daß du mich sprechen wolltest?« sagte er schließlich statt dessen, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. »Ja«, antwortete Belago leise. Seine Augen wurden groß, als er dem tröstenden Blick des Priesters begegnete. »Ach ja!« rief er, als wäre ihm das gerade erst wieder eingefallen. »Das wollte ich – natürlich wollte ich das!« Verlegen eilte der drahtige Mann durch den Laden zurück zu einem kleinen Schrank. Er fummelte an einem übergroßen
Schlüsselring herum und murmelte dabei unablässig vor sich hin. »Du bist ein Held geworden«, stellte Danica fest, der Belagos Unsicherheit auffiel. Das konnte Cadderly nicht abstreiten. Vicero Belago war zuvor nie außer sich vor Freude gewesen, wenn der junge Priester vorbeikam. Cadderly war immer ein anspruchsvoller Kunde gewesen, der Belagos Kunst oft überfordert hatte. Wegen eines riskanten Projekts, das Cadderly dem Alchimisten aufgetragen hatte, war einmal sogar Belagos Laden explodiert. Das war allerdings lange her, vor der Schlacht im Wald von Shilmista, vor Cadderlys Taten in Carradoon, der Stadt im Osten an den Ufern des Impresksees. Bevor Cadderly zum Helden geworden war. Held! Was für ein lächerlicher Titel, dachte der junge Priester. In Carradoon hatte er nicht mehr getan als Danica oder Ivan und Pikel, die Zwergenbrüder. Und im Gegensatz zu seinen standhafteren Freunden war er vor der Schlacht im Wald von Shilmista davongelaufen, war geflohen, weil er das Grauen nicht mehr hatte ertragen können. Wieder sah er Danica an, deren liebevoller Blick ihn tröstete, so gut es ging. Wie schön sie ist, dachte Cadderly, ihre Figur so zart wie die eines Rehkitzes, und ihre Haare tanzen wild gelockt über ihre Schultern. Schön und ungezähmt, befand er, und von einer inneren Stärke, die deutlich aus ihren exotischen Mandelaugen sprach. Belago stand wieder vor ihnen. Nervös hielt er die Hände hinter dem Rücken versteckt. »Du hast das hiergelassen, als du aus dem Elfenwald zurückkamst«, erklärte er und brachte die linke Hand nach vorn. Er hielt einen Ledergürtel mit einer breiten, flachen Scheide an einer Seite, in der eine Handarmbrust steckte. »Ich hatte keine Ahnung, daß ich die im friedlichen Carradoon brauchen würde«, antwortete Cadderly leichthin, nahm den Gürtel und legte ihn sich um die Hüften.
Danica sah den jungen Priester neugierig an. Die Armbrust war für Cadderly ein Symbol der Gewalt geworden, und für jene, die ihn sehr gut kannten, ein Symbol seines Abscheus vor Gewalt. Daß er sie so leicht anlegte, mit fast ritterlicher Haltung, brach Danica beinahe das Herz. Cadderly spürte sowohl den Blick der jungen Frau als auch ihre Verwirrung. Er zwang sich, beides zu akzeptieren, denn er dachte daran, daß er in den kommenden Tagen wahrscheinlich noch viele alte Freunde verstören würde. Denn Cadderly sah die Gefahren, die der Erhebenden Bibliothek drohten, inzwischen in einer Weise, die anderen kaum möglich war. »Ich habe bemerkt, daß du deinen Vorrat an Bolzen fast aufgebraucht hast«, stammelte Belago. »Ich meine … der Nachschub hier ist umsonst.« Er zog die andere Hand hervor und präsentierte einen Gurt mit Bolzen, die speziell für die kleine Armbrust gefertigt waren. »Ich finde, das war ich dir schuldig – wir alle sind es dir schuldig, Cadderly.« Cadderly hätte angesichts dieser absurden Erklärung fast laut gelacht, aber er hielt sich respektvoll zurück und nahm das kostspielige Geschenk des Alchimisten mit ernstem, zustimmendem Nicken an. Die Pfeile waren wirklich etwas Besonderes, denn sie waren innen hohl und mit einer Ampulle versehen, die Belago mit dem zerstörerischen Wuchtöl gefüllt hatte. »Vielen Dank für das Geschenk«, sagte der junge Priester. »Sei versichert, daß du damit unserer Bibliothek beim Kampf gegen das Böse in Burg Trinitatis schon sehr geholfen hast.« Belago war über diese Bemerkung eindeutig erfreut. Wieder nickte er und ließ sich bereitwillig von Cadderly die Hand schütteln. Er stand noch immer am selben Fleck und strahlte von einem Ohr zum anderen, als Cadderly und Danica auf den Gang hinaustraten. Cadderly spürte Danicas Unbehagen und erkannte die Enttäuschung, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Ich
habe die Schuld abgestreift, weil sie mir nicht gebührt«, war die einzige Erklärung, die er anbot. »Nicht jetzt, wo noch soviel anderes zu tun ist. Aber ich habe weder Barjin noch jenen schicksalhaften Tag in den Katakomben vergessen.« Danica sah ihn nicht an, hakte sich aber bei ihm ein, um ihm ihr Vertrauen zu beweisen. Eine andere – wohlgeformte und unübersehbar weibliche – Gestalt kam ihnen entgegen, als sie zu Danicas Zimmer am Südende des Gebäudes gingen. Danica hielt Cadderlys Arm fester umklammert, als sie den Duft eines überwältigenden exotischen Parfüms bemerkte. »Seid gegrüßt, schöner Cadderly«, flötete die attraktive Priesterin in dem tief roten Gewand. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß Ihr zurück seid.« Danicas Griff drückte Cadderly fast das Blut ab. Er merkte schon, wie seine Finger prickelten. Er wußte, daß er knallrot angelaufen war, so rot wie das offenherzige Gewand der Priesterin Histra. Immerhin erkannte er, daß es das wahrscheinlich züchtigste Kleid war, in dem er die wollüstige Priesterin der Sune, der Göttin der Liebe, je gesehen hatte – was allerdings nach üblichen Maßstäben immer noch nicht besonders züchtig war. Vorn hatte es einen tiefen, spitzen Ausschnitt, der so weit herunterreichte, daß Cadderly das Gefühl hatte, er müßte Histras Nabel sehen können, wenn er sich auf die Zehen stellte. Obwohl es ein langes Kleid war, war der Rock hoch geschlitzt, so daß man Histras wohlgeformtes Bein in seiner ganzen Länge zu sehen bekam, wenn sie in ihrer typischen Verführungspose einen Fuß vor den anderen stellte. Histra ließ sich weder von Cadderlys offensichtlichem Unbehagen noch von Danicas wachsendem Zorn beeindrucken. Sie beugte ein Knie, damit ihr Oberschenkel ganz aus den Falten des Kleids hervorkam.
Cadderly hörte sich schlucken, ohne zu merken, daß er diese gewagte Zurschaustellung anstarrte, bis Danicas kurze Fingernägel tiefe Löcher in seinen Oberarm gruben. »Kommt doch und besucht mich, mein lieber Cadderly«, gurrte Histra. Verächtlich blickte sie die Frau an seiner Seite an. »Wenn Ihr gerade in nicht so festen Händen seid, natürlich.« Aufreizend langsam verschwand Histra wieder in ihrem Zimmer. Das leise Klicken der Tür, die sie hinter sich schloß, ging in einem erneuten heftigen Schlucken Cadderlys unter. »Ich –«, stammelte er, als er Danica endlich in die Augen sah. Danica lachte und führte ihn weiter. »Keine Angst«, sagte sie herablassend. »Ich verstehe dein Verhältnis zur Priesterin der Sune. Eigentlich ist sie zu bemitleiden.« Cadderly sah verwirrt auf Danica herab. Wenn Danica die Wahrheit sagte, warum liefen dann dünne Blutfäden seinen muskulösen Arm herunter? »Ich bin bestimmt nicht eifersüchtig auf Histra«, fuhr Danica fort. »Ich vertraue dir von ganzem Herzen.« Vor ihrem Zimmer blieb sie stehen und sah Cadderly direkt ins Gesicht. Mit der einen Hand streichelte sie ihm über die Wange, die andere lag noch auf seinem Arm. »Ich vertraue dir«, sagte sie wieder. »Und außerdem«, fügte sie mit völlig veränderter, festerer Stimme hinzu, als sie sich ihrem Zimmer zuwandte, »wenn sich jemals eine Liebelei zwischen dir und diesem angepinselten, bebenden Fleischklumpen, der immer nur eins im Sinn hat, anbahnen sollte, dann sorge ich dafür, daß sie ihre Nase hinter ihren Ohren wiederfindet.« Abrupt verschwand Danica in ihrem Zimmer, um die Unterlagen zu holen, die sie und Cadderly für ihre Begegnung mit Abt Thobicus vorbereitet hatten. Der junge Priester blieb im Flur stehen, dachte über diese Drohung nach und lachte in
sich hinein. Danica war einen ganzen Fuß kleiner als er und bestimmt hundert Pfund leichter. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin – und kämpfte mit der Wut eines Bären, der von Bienen gestochen worden war. Der junge Priester machte sich jedoch keine Sorgen. Histra mochte lebenslange Übung in der Kunst der Verführung haben und kein Geheimnis daraus machen, was sie mit Cadderly vorhatte. Aber sie hatte keine Chance. Keine Frau auf der Welt hatte eine Chance, Cadderlys Verbindung zu Danica zu zerstören. Eine schwarzverkohlte Hand riß die frisch aufgeworfene Erde auf, reckte sich verzweifelt nach oben in die Luft. Ein zweiter Arm, ähnlich verkohlt und auf halbem Weg zwischen Handgelenk und Ellbogen häßlich gebrochen, folgte. Er griff in die Erde, durchwühlte das Gefängnis, das den mitgenommenen Körper festhielt. Schließlich fand die Kreatur soviel Halt, daß sie ihren unbehaarten Kopf aus dem flachen Grab heben und wieder in die Welt der Lebenden blicken konnte. Der verkohlte Kopf wackelte an einem Hals, der nur noch aus Haut bestand, die fest an den Knochen geschrumpft war. Die Kreatur sah sich um. Einen flüchtigen Augenblick fragte sie sich, was geschehen war. Wie war sie in dieses Grab gekommen? Etwas weiter entfernt, am Fuß eines kleinen Hügels, sah sie den Lichtschein, der aus einem kleinen Bauernhaus fiel. Daneben stand ein weiteres Gebäude, eine Scheune. Eine Scheune! Der dünne Rest Bewußtsein, der einst einem Mann namens Geist gehört hatte, erinnerte sich an diese Scheune. Geist hatte seinen Körper, diesen Körper, gesehen, nachdem der verdammte Cadderly ihn eben in jener Scheune verbrannt hatte! Der Leichnam sog ein wenig Luft ein – bei einem
untoten Wesen konnte man kaum von Atmen sprechen – und zog seinen geschwärzten, geschrumpften Körper ganz aus dem Loch heraus. Die Töne jener fernen, aber seltsam vertrauten Melodie summten weiter im Hintergrund seines schwachen Bewußtseins. Unsicher hinkte Geist auf den Hof zu. Bei jedem Schritt kam die Erinnerung an jenen schrecklichen, schicksalhaften Tag deutlicher zurück. Geist hatte den Ghearufu benutzt, einen mächtigen Gegenstand mit magischen Energien, die auf die Geisterwelt gerichtet waren, um den Körper seines unwilligen Gefolgsmanns Vander zu stehlen. In Vanders Gestalt, mit der Kraft eines Riesen, hatte Geist dann seinen eigenen Körper zermalmt und ihn durch die Scheune geschleudert. Und dann hatte Cadderly ihn verbrannt. Der Untote sah auf seine knochigen Arme und die vorstehenden Rippen hinab, diese hohle Schale, die irgendwie lebte. Cadderly hatte seinen Körper verbrannt – diesen Körper! Ein Haß, der nur ein Ziel kannte, verzehrte die armselige Kreatur. Geist wollte Cadderly töten, jeden töten, der dem jungen Priester teuer war, überhaupt jeden töten. Dann war er in der Scheune. Die Gedanken an Cadderly hatten sich in nichts aufgelöst, waren ungezieltem Zorn gewichen. Die Tür lag an der Scheunenseite, doch die Kreatur begriff, daß sie keine Tür brauchte, denn sie war kein Teil der Materie mehr wie die einfachen Holzbretter, die ihr den Weg versperrten. Die verkohlte Gestalt flimmerte, wurde ätherisch und ging einfach durch die Wand. Er hörte das Pferd wiehern, noch ehe er wieder ganz auf der materiellen Ebene war, sah das arme Tier mit rollenden Augen und schweißgebadet dastehen. Dieser Anblick gefiel dem untoten Wesen ungeahnte Glücksgefühle durchliefen Geist, als er die Panik des Tiers witterte. Er hinkte zu dem Pferd hin und
ließ die Zunge gierig aus dem Mund hängen. Da von der Zunge ringsum alle Haut verbrannt war, hing ihre Spitze Geist bis weit unter das geschwärzte Kinn. Das Pferd war so verängstigt, daß es sich nicht rühren, ja nicht einmal atmen konnte. Röchelnd vor Vorfreude legte Geist dem Tier seine tödlich kalten Hände an beide Seiten des Kopfes. Das Pferd fiel tot um. Der Untote zischte vor Vergnügen, doch obwohl das Töten ihn begeistert hatte, fühlte er sich noch nicht gesättigt. Sein Hunger verlangte nach mehr, ließ sich durch den Tod eines einzelnen Tieres nicht besänftigen. Er lief durch die Scheune, trat wieder durch die Wand und spähte zu dem erleuchteten Fenster des Bauernhauses. Ein Schatten, der Schatten eines Menschen, bewegte sich dahinter. Geist war an der Vordertür, unschlüssig, ob er durch das Holz laufen, die Tür einschlagen oder einfach klopfen und die Schafe zum Wolf kommen lassen sollte. Doch ihm wurde die Entscheidung abgenommen, als er neben der Tür in eine kleine Glasscheibe blickte und zum ersten Mal sein eigenes Spiegelbild sah. Rotes Glühen schimmerte aus leeren Augenhöhlen. Die Nase war ganz verschwunden, an ihrer Stelle saß ein noch schwärzeres Loch, das von Fetzen verkohlter Haut umrahmt war. Der winzige Teil von Geists Bewußtsein, der sich an sein früheres Leben erinnerte, verlor jegliche Selbstbeherrschung, als er dieses schauerliche Spiegelbild sah. Sein Aufheulen ließ die Hoftiere in Panik ausbrechen und zerriß die Stille der ruhigen Herbstnacht schlimmer, als es jeder wütende Sturm vermocht hätte. Im Haus war ein Schlurfen zu hören, gleich hinter der Tür, doch der wutentbrannte Untote nahm das nicht einmal wahr. Mit einer Kraft, die die Stärke eines jeden Sterblichen bei weitem übertraf, trieb er seine Knochenhände
durch die Tür und riß sie dann zur Seite, wobei das Holz so widerstandslos zersplitterte wie ein dünnes Blatt Pergament. Drinnen stand ein Mann in der Uniform der Stadtwachen von Carradoon. Auf seinem Gesicht malte sich blankes Entsetzen, sein Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen, und seine Augen traten so weit vor, daß sie ihm fast aus dem Gesicht zu fallen schienen. Geist brach durch die zertrümmerte Tür und fiel über den Mann her, dessen Haut unter der Berührung der Kreatur schlagartig alterte. Seine rabenschwarzen Haare wurden weiß und fielen dann büschelweise aus. Schließlich kehrte die Stimme des Wächters zurück. Er schrie und heulte und schlug hilflos um sich. Geist riß ihn in Stücke, zerfetzte seine Kehle, bis der entlarvende Schrei nur noch ein Gurgeln blutgefüllter Lungen war. Der Untote hörte Schritte. Als er von seinem Opfer aufsah, erblickte er einen zweiten Mann, der aus einem anderen Zimmer auf die Schwelle zu der kleinen Küche des Hauses getreten war. »Bei den Göttern«, flüsterte dieser Mann, wich schnell zurück und schlug die Tür zu. Mit einer Hand hob Geist den Toten hoch und schleuderte ihn durch die zerschmetterte Eingangstür halb über den Hof. Geist schwebte über den Boden. Er hatte das Töten genossen, doch ihn hungerte nach mehr. Seine Gestalt flackerte wieder, als er durch den Raum und durch eine weitere geschlossene Tür glitt. Der zweite Mann schlug voller Panik mit seinem Schwert auf das entsetzliche Wesen ein, doch die Waffe berührte Geist überhaupt nicht, glitt einfach durch den substanzlosen, durchsichtigen Nebel, zu dem er geworden war. Der Mann wollte weglaufen, aber Geist hielt mit ihm Schritt, lief durch Möbel, über die der Mann stolperte, durchtrat Wände und
begegnete seinem entsetzten Opfer auf der anderen Seite der Tür. Diese Folter ging quälend lange so weiter, bis der hilflose Mann schließlich in die Nacht hinausstolperte. Als er die Verandatreppe hinuntertaumelte, verlor er sein Schwert. Er rappelte sich auf und rannte in die dunkle Nacht, lief schreiend auf Carradoon zu. Geist hätte sich jederzeit wieder materialisieren und den Mann in Stücke reißen können, aber er merkte, daß ihm dieses Gefühl, dieser Angstgeruch, noch besser gefiel als das eigentliche Töten. Geist fühlte sich dadurch gestärkt, als ob er die Gefühle und Schreie des entsetzten Mannes irgendwie in sich aufgenommen hätte. Aber jetzt war es vorbei. Der Mann war fort, und der andere war längst tot, was keinen Spaß mehr machte. Geist heulte wieder auf, als der dünne Schleier seines verbliebenen Bewußtseins überlegte, was aus ihm geworden war, was der verfluchte Cadderly erschaffen hatte. Der Untote erinnerte sich kaum noch an sein früheres Leben, nur noch daran, daß er zu den bestbezahlten Mördern im Reich der Lebenden gezählt hatte, ein Berufsmörder, ein wahrer Künstler. Jetzt war er ein untotes Wesen, ein Geist, eine leere, wiederbelebte Hülle aus böser Energie. Nach über einem Jahrhundert im Besitz des Ghearufu, hatte Geist sterbliche Körper ganz anders betrachtet als die meisten Menschen. Zweimal hatte er die Kräfte seines magischen Hilfsmittels genutzt, um den Körper dauerhaft zu wechseln, hatte seine vorherige Gestalt getötet und den neuen Körper für sich beansprucht. Und jetzt war seine Seele – zumindest ein Teil davon – irgendwie in diese Welt zurückgekehrt. Durch einen seltsamen Schachzug des Schicksals war Geist von den Toten auferstanden. Aber wie? Er konnte sich an seinen Platz im Leben nach dem Tod nicht genau erinnern, hatte aber das Gefühl, daß es
kein angenehmer Ort gewesen war, ganz und gar nicht. Bilder von grollenden Schatten umgab en ihn; schwarze Klauen zerrissen vor seinem inneren Auge die Luft. Was hatte ihn aus dem Grab zurückgeholt, was zwang seine Seele, wieder über die Erde zu wandern? Das Wesen suchte seine Finger und Zehen nach Spuren jenes Regenerationsrings ab, den Geist einst getragen hatte. Aber er erinnerte sich vage daran, daß Cadderly ihm den Ring gestohlen hatte. Geist spürte einen stummen, aber zwingenden Ruf im Wind, einen bekannten Ruf. Er wandte seine glühenden Augen den fernen Bergen zu und hörte den Ruf erneut. Der Ghearufu. Er begriff, denn er erinnerte sich, diese Melodie bereits am Ort seiner ewigen Strafe vernommen zu haben. Der Ghearufu hatte ihn zurückgerufen. Die Macht des Ghearufu ließ ihn wieder auf Erden wandeln. In diesem verwirrenden, überwältigenden Augenblick konnte der Untote nicht entscheiden, ob das gut war oder nicht. Wieder sah er seine geschrumpelten, abstoßenden Arme und seinen Leib an. Er fragte sich, ob er dem Tageslicht trotzen konnte. Welche Zukunft erwartete ihn in einem solchen Zustand? Welche Hoffnungen durfte er hegen? Wieder kam der stumme Ruf. Der Ghearufu! Er wollte Geist wiederhaben – und durch seine Macht würde Geist sich bestimmt eine neue Gestalt, einen lebenden Körper stehlen können. In Carradoon, nicht weit von dem Bauernhof, stolperte der fassungslose Wächter vor das geschlossene Tor, kreischte etwas von Geistern und weinte um seinen zerrissenen Kameraden. Falls die Soldaten, die das Tor bewachten, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Mannes hatten, brauchten sie ihm nur ins Gesicht zu sehen, ein Gesicht, das viel älter aussah als das eines Dreißigjährigen.
Eine knappe Stunde später ritt eine große Truppe, der auch ein Priester aus dem Ilmater-Tempel angehörte, aus Carradoon heraus direkt zu dem Bauernhaus, fest entschlossen, den Kampf mit dem Ungeheuer aufzunehmen. Doch da war Geist schon längst fort. Teils gehend, teils über die Felder schwebend, folgte er dem Ruf des Ghearufu, seiner einzigen Chance zur Erlösung. Nur die Rufe der Nachttiere, das entsetzte Blöken der Schafe und das erschrockene Aufheulen einer Eule verrieten, welchen Weg er eingeschlagen hatte.
Ein Schritt über eine gefährliche Grenze Der Morgen war längst angebrochen, doch der Raum, den Cadderly betrat, war immer noch dunkel, denn man hatte die Fenster dicht verhängt. Der junge Priester trat an das Bett und kniete sich leise hin, weil er Großmeisterin Pertelope nicht im Schlaf stören wollte. Wenn Großmeister Avery Cadderlys Ziehvater gewesen war, so hatte die kluge Pertelope ihm die Mutter ersetzt. Jetzt, mit seiner neugewonnenen Einsicht in das harmonische Lied des Deneir, hatte Cadderly das Gefühl, Pertelope mehr denn je zu brauchen. Denn auch sie hörte die geheimnisvollen Töne jenes endlosen Liedes, auch sie überschritt die üblichen Grenzen des Klerikerordens. Wenn Pertelope Cadderly während seiner Diskussion mit Thobicus beigestanden hätte, hätten seine Überlegungen Rückendeckung gehabt, und der alternde Abt wäre gezwungen gewesen, die Wahrheit in Cadderlys Einsichten anzuerkennen. Aber Pertelope konnte ihm nicht beistehen. Todkrank lag sie in ihrem Bett, gefangen in den Klauen eines außer Kontrolle geratenen Spruches. Ihr Körper war irgendwo in einer Verwandlung von der glatten, weichen Haut eines Menschen
und der scharfkantigen Haut eines Haies steckengeblieben, und jetzt konnten weder Luft noch Wasser die körperlichen Bedürfnisse der Großmeisterin erfüllen. Cadderly streichelte ihr über das Haar, das grauer war als in seiner Erinnerung, als ob Pertelope gealtert wäre. Er war etwas überrascht, als sie die Augen aufschlug, die immer noch ihren neugierigen Glanz behalten hatten, und ein Lächeln zustande brachte. Cadderly bemühte sich, diesen Blick zu erwidern. »Du mußt wieder zu Kräften kommen«, flüsterte er ihr zu. »Ich brauche dich.« Pertelope lächelte wieder und schloß langsam die Augen. Cadderly seufzte resigniert. Er wollte gehen, weil er Pertelopes schwindende Kräfte nicht überbeanspruchen wollte, doch dann sprach ihn die Großmeisterin plötzlich an. »Wie ist deine Unterredung mit Abt Thobicus verlaufen?« Cadderly drehte sich wieder um, überrascht über die Kraft in ihrer Stimme und darüber, daß Pertelope wußte, daß er beim Abt gewesen war. Sie hatte ihr Zimmer seit vielen Tagen nicht verlassen, und bei den wenigen Malen, die Cadderly sie besucht hatte, hatte er das bevorstehende Treffen nicht erwähnt. Doch es war zu erwarten gewesen, daß sie es wußte. Schließlich vernahm auch sie das Lied von Deneir. Pertelope und Cadderly waren durch Kräfte eng verbunden, die weit über das Begriffsvermögen der anderen Priester in der Bibliothek hinausgingen, denn sie beide badeten im Fluß des göttlichen Liedes. »Nicht gut«, gestand Cadderly. »Abt Thobicus versteht es nicht«, folgerte Pertelope, und Cadderly vermutete, daß die Großmeisterin viele ähnliche Begegnungen mit Thobicus und anderen Priestern durchgestanden hatte, die ihre besondere Verbindung zu Deneir nicht begreifen konnten.
»Er bezweifelt, daß ich das Recht hatte, Kierkan Rufo zu brandmarken«, erklärte Cadderly. »Und er hat mir befohlen, den Ghearufu …« Cadderly hielt inne, denn er fragte sich, wie er mit knappen Worten erklären sollte, was dieser gefährliche Gegenstand war. Pertelope jedoch drückte lächelnd seine Hand, und er wußte, sie verstand. »Abt Thobicus hat mir befohlen, ihn dem Vorsteher der Bibliothek auszuhändigen«, schloß Cadderly. »Du hältst nichts davon?« »Ich habe Angst davor«, gestand Cadderly. »Das Ding hat einen eigenen Willen, wie eine bewußte Macht, die jeden überwältigen könnte, der mit ihr zu tun hat. Selbst ich mußte gegen seine verführerischen Rufe ankämpfen, seit ich ihn dem verbrannten Körper des Assassinen abgenommen habe.« »Du klingst hochmütig, junger Priester«, unterbrach Pertelope mit Betonung auf dem Wort »jung«. Cadderly überdachte diese Erwiderung. Vielleicht konnte man seine Gefühle für Hochmut halten, aber er vertraute ihnen trotzdem. Er konnte die Macht des Ghearufu beherrschen, hatte es jedenfalls bisher vermocht. Cadderly erkannte, daß er jetzt über besondere Einsicht verfügte, ein Geschenk von Deneir, das anderen aus seinem Orden – mit Ausnahme von Pertelope – offenbar fehlte. »Das ist gut«, sagte die Großmeisterin als Antwort auf ihre eigene Anklage. Cadderly sah sie neugierig an, denn er verstand nicht recht, worauf sie hinauswollte. »Deneir hat dich gerufen«, erklärte Pertelope. »Du mußt diesem Ruf vertrauen. Als du deine knospenden Kräfte zum ersten Mal entdecktest, hast du sie nicht verstanden und hattest Angst vor ihnen. Erst als du ihnen vertrautest, hast du ihren Nutzen und ihre Grenzen erkannt. So muß es auch mit deinem Instinkt und deinen Gefühlen sein, die durch das Lied, das ständig in deinem Geist spielt, intensiviert werden. Glaubst du, daß du weißt, was bezüglich des Ghearufu das Beste wäre?«
»Das weiß ich«, erwiderte Cadderly fest, ohne sich darum zu kümmern, daß er jetzt wirklich hochmütig klang. »Und was ist mit Kierkan Rufos Brandmarkung?« Cadderly überlegte einen Moment, denn Rufos Fall schien viel schwieriger zu sein. Hier gab es eine offizielle Vorgehensweise, die Cadderly eindeutig umgangen hatte. »Ich habe getan, was die Ethik des Deneir gelehrt hat«, befand er. »Trotzdem hat Abt Thobicus mit gutem Grund Zweifel an meiner Autorität.« »Von seinem Standpunkt aus, ja«, entgegnete Pertelope. »Du hattest das moralische Recht – die Macht des Abtes stammt aus einer anderen Quelle.« »Aus der künstlich geschaffenen Hierarchie«, fügte Cadderly hinzu. »Einer Hierarchie, die für die Wahrheit von Deneir blind ist.« Sein Lachen klang verächtlicher, als er beabsichtigt hatte. »Einer Hierarchie, die uns in Schach halten wird, selbst wenn uns der Krieg gegen Burg Trinitatis dann zehnmal, ach was, hundertmal so teuer zu stehen kommt.« »Wird sie das?« Es war die schlichte Frage einer Frau, die nicht einmal mehr die Kraft hatte, sich aus ihrem Bett zu erheben. Für Cadderly jedoch war die Bedeutung der Frage weit komplexer, denn sie deutete an, daß er und seine künftigen Handlungen die einzig mögliche Antwort waren. In seinem Herzen wußte er, daß Pertelope ihn aufrief zu verhindern, was er gerade vorhergesagt hatte. Sie bat ihn, die Autorität des höchstrangigen Priesters seines Ordens anzufechten und dem Einfluß von Burg Trinitatis rasch ein Ende zu machen. Ihr durchtriebenes Lächeln bestätigte seine Vermutungen. »Hast du je gewagt, den Abt zu übergehen?« fragte Cadderly offen. »Ich war niemals in einer so verzweifelten Lage«, erwiderte die Großmeisterin. Ihre Stimme klang plötzlich schwach, als hätten ihre Bemühungen um Stärke ein Ende gefunden.
»Als du deine Gabe entdecktest, habe ich dir gesagt, daß viel von dir verlangt und dein Mut oft auf die Probe gestellt werden würde. Deneir fordert Intelligenz, aber er fordert auch ein tapferes Herz, damit intelligente Entscheidungen durchgesetzt werden können.« »Cadderly?« Der leise Ruf kam von der Tür her. Als Cadderly über die Schulter blickte, sah er Danica dort stehen, mit ernster Miene. Hinter ihr stand Shayleigh aus dem Wald von Shilmista, die schöne Elfenkriegerin mit dem goldglänzenden Haar und den veilchenblauen Augen, die wie die Dämmerung schimmerten. Sie begrüßte Cadderly nicht, obwohl sie ihn wochenlang nicht gesehen hatte, denn sie respektierte die offensichtlich ernste Unterredung. »Abt Thobicus sucht dich«, erklärte Danica leise und mit beklommener Stimme. »Du hast den Ghearufu nicht …« Ihre Stimme wurde leiser, als Cadderly zum Bett zurücksah, zu Pertelope, die sehr alt und sehr müde aussah. »Mut«, flüsterte Pertelope, und während Cadderly voller Verständnis zuschaute, starb die Großmeisterin einen friedlichen Tod. Cadderly klopfte nicht und wartete nicht auf die Erlaubnis, das Arbeitszimmer von Abt Thobicus zu betreten. Der alte Mann saß auf seinem Stuhl und starrte aus dem Fenster. Cadderly wußte, daß der Abt gerade die Nachricht von Großmeisterin Pertelopes Tod erhalten hatte. »Hast du getan, wie dir geheißen war?« fauchte Thobicus, sobald er bemerkte, daß Cadderly eingetreten war. Zu diesem Zeitpunkt stand der junge Priester bereits an seinem Schreibtisch. »Das habe ich«, erwiderte Cadderly. »Gut«, sagte Thobicus, und sein Zorn wich der sichtlichen Trauer um Pertelopes Tod.
»Ich habe Danica und Shayleigh gebeten, die Zwergenbrüder und Vander zur Vordertür zu bitten und mit Vorräten für die Reise auszustatten«, erklärte Cadderly und setzte seinen blauen, breitkrempigen Hut auf. »In den Wald von Shilmista?« fragte Thobicus zögernd, als ob er sich vor dem fürchtete, was Cadderly zu sagen hatte. Eine der Möglichkeiten, die Thobicus Cadderly angeboten hatte, war, als Gesandter zu den Elfen und zu Prinz Elbereth zu ziehen, doch er glaubte nicht, daß der jungt Priester das tatsächlich vorhatte. »Nein«, kam die schlichte Antwort. Thobicus richtete sich sehr gerade auf. Auf seinem hohlwangigen, faltigen Gesicht stand ein Ausdruck der Verblüffung. Jetzt fiel ihm auf, daß Cadderly seine Handarmbrust und den Gurt mit den explosiven Bolzen dabeihatte. Di« Spindelscheiben, Cadderlys zweite ungewöhnliche Waffe hingen am breiten Gürtel des jungen Priesters neben einen Rohr, das er erfunden hatte. Es konnte einen konzentrier ten Lichtstrahl aussenden. Thobicus dachte gründlich über diese Hinweise nach »Hast du den Ghearufu dem Vorsteher der Bibliothek über geben?« fragte er direkt. »Nein.« Thobicus zitterte vor Zorn. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, kaute statt dessen aber schließlich an seinen Lippen. »Du hast gerade gesagt, du hättest getan, wie dir auf getragen war!« brüllte er schließlich so wütend, wie Cadderly den normalerweise ruhigen Mann noch nie gesehen hatte. »Ich habe getan, was Deneir mir aufgetragen hat«, er klärte Cadderly. »Du hochmütiger … du … Gotteslästerer –«, stammelt Thobicus, dessen Gesicht dunkelrot anlief, während er hinter seinem Tisch aufstand.
»Wohl kaum«, stellte Cadderly mit fester Stimme richtig »Ich habe getan, was Deneir mir aufgetragen hat, und jetzt wirst auch du Deneirs Gebot befolgen. Du wirst mit mir in die Eingangshalle gehen und mir und meinen Freunden für unsere überaus wichtige Reise nach Burg Trinitatis Glück wünschen.« Der Abt wollte ihn unterbrechen, aber etwas, das er nicht verstand, etwas, das in seine Gedanken eindrang, zwang ihn zu schweigen. »Dann wirst du einen Angriff für den Frühling vorbereiten«, erläuterte Cadderly, »einen Ersatzplan, falls meine Freunde und ich nicht vollbringen können, was wir vorhaben.« »Du bist verrückt!« knurrte Thobicus. Kaum. Thobicus wollte Einwände erheben – bis er erkannte, daß Cadderly das Wort nicht ausgesprochen hatte. Entsetzt riß der Abt die Augen auf, als er erkannte, daß etwas ihn berührte – in seinem Geist! »Was hast du vor?« wollte er wissen. Du brauchst nicht zu sprechen, versicherte ihm Cadderly telepathisch. »Das ist …«, setzte der Abt an. »… anmaßend, ein Angriff auf meine Position«, beendete Cadderly seinen Satz, denn er fühlte die Worte kommen, noch ehe Thobicus sie aussprechen konnte. Der Abt fiel auf seinen Stuhl zurück. Sind dir die Konsequenzen deiner Handlungen klar? fragte er stumm. Ist dir klar, daß ich deinen Geist zermalmen könnte? gab Cadderly voller Selbstsicherheit zurück. Ist dir darüber hinaus klar, daß meine Kräfte von Deneir stammen? Das Gesicht des Abtes verzerrte sich vor Verwirrung und Unglauben. Was wollte dieser eingebildete Jungpriester andeuten? Cadderly hatte wenig Spaß an diesem häßlichen Spiel, aber er hatte zu wenig Zeit, um alle üblichen Umwege zu befolgen, die die Erhebende Bibliothek verlangte. Mental befahl er dem Abt, aufzustehen und sich auf seinen Tisch zu stellen. Bevor
Thobicus wußte, wie ihm geschah, sah er sich von seiner hohen Warte auf den jungen Priester hinunterschauen. Cadderly blickte zum Fenster, und Thobicus spürte telepathisch, daß der junge Priester insgeheim überlegte, wie leicht er den Abt zum Hinausspringen überreden könnte – und plötzlich glaubte auch Thobicus, daß Cadderly dies vermochte! Dann entließ Cadderly Thobicus plötzlich aus seinem mentalen Zugriff, und der Abt rutschte von dem Eichentisch auf seinen Stuhl zurück. »Es macht mir keine Freude, dich derart zu beherrschen«, erklärte Cadderly ernst, denn ihm war klar, daß es ihm nur helfen konnte, wenn er den Stolz des überwältigten Mannes wieder aufbaute. »Mir wird diese Macht von dem Gott gewährt, den wir beide anerkennen. Dies ist Deneirs Art, dir zu zeigen, daß ich in diesen Dingen recht habe. Es ist ein Zeichen für uns beide, weiter nichts. Alles, worum ich bitte –« »Ich lasse dich brandmarken!« explodierte Thobicus. »Ich werde dafür sorgen, daß du in Ketten aus der Bibliothek geführt wirst und den ganzen Weg zu leiden hast, bis du diese Region verlassen hast!« Seine Worte trafen Cadderly tief. Der Abt setzte seine Schimpftirade fort, drohte mit jeder denkbaren Strafe, die im Orden des Deneir erlaubt war. Cadderly war mit diesen Ordensregeln aufgewachsen, mit der Vorstellung, daß das Wort des Abtes in der Bibliothek Gesetz war, und für den jungen Priester war es wahrhaft schrecklich, die Konventionen zu übergehen, selbst im Lichte der größeren Wahrheit, die in den Tönen des Lieds von Deneir erklang. Cadderly konzentrierte sich in diesem grausamen Moment auf Pertelope, erinnerte sich an ihren Aufruf zu Mut und Entschlossenheit. Er hörte die Harmonie des Liedes, das in seinem Geist spielte, betrat seinen mitreißenden Fluß und fand jene Energiekanäle wieder, die ihm Zutritt zum privaten Bereich der Gedanken von Abt Thobicus gewährten.
Ein paar Minuten später kamen Cadderly und der Abt aus der Bibliothek und trafen dort Danica und Shayleigh, den Riesen Vander (der seine angeborene magische Fähigkeit nutzte, als hünenhafter, rotbärtiger Mann zu erscheinen) und die beiden Zwerge, den untersetzten, gelbbärtigen Ivan und den rundschultrigen Pikel mit dem grüngefärbten Bart, den er sich über die Ohren zurückgezogen und mit seinen langen Haaren über den halben Rücken geflochten hatte. Ein lächelnder Abt wünschte Cadderly und seinen fünf Freunden alles Gute für ihre überaus wichtige Reise und winkte ihnen freundlich nach, als sie in die Schneeflockenberge hinauszogen.
Die Mittel heiligen Aballister lehnte sich so dicht über Dorigen, daß die Frau sich etwas unwohl fühlte. Dorigen ließ ihre Konzentration von den Bildern in der Kristallkugel abschweifen und schüttelte heftig den Kopf, wobei sie absichtlich ihr langes, von grauen Fäden durchzogenes Haar fliegen ließ, so daß es dem neugierigen Aballister ins Gesicht schlug. Der ältere Zauberer wich einen Schritt zurück, zog eine Haarsträhne von seinen Lippen und funkelte Dorigen an. »Ich hatte nicht gemerkt, daß du so nah warst«, entschuldigte sich Dorigen wenig zerknirscht. »Natürlich«, erwiderte Aballister ähnlich heuchlerisch. Dorigen erkannte deutlich, wie verärgert er war, doch sie verstand, daß er ihre Frechheit ohne großes Murren hinnehmen würde. Aballister hatte seinen eigenen magischen Spiegel zerbrochen, und diese Erfahrung ließ ihn vor weiteren Hellsehversuchen zurückschrecken. Jetzt brauchte er Dorigen, denn sie war in dieser Kunst recht erfahren. »Ich hätte sagen sollen, daß ich hier bin, und warten müssen, bis du mit deiner Suche fertig bist«, sagte Aballister, was einer Entschuldigung
erstaunlich nahe kam. So hatte Dorigen den Mann noch nie gehört. »Das wäre angemessen gewesen«, stimmte Dorigen zu, und ihre Augen blitzten … Was blitzte darin, fragte sich Aballister. Offener Haß? Ihre Beziehung hatte sich immer mehr verschlechtert, seit Dorigen von ihrer demütigenden Niederlage im Wald von Shilmista zurückgekehrt war, einer Niederlage, die sie Aballisters mißratenem Sohn zu verdanken hatte. Dann tat er seine persönlichen Probleme mit einem Schulterzucken ab. »Hast du sie gefunden?« fragte er ungerührt. Er und Dorigen konnten ihren Zwist ausfechten, sobald die unmittelbare Drohung ausgeschaltet war – im Augenblick gab es drängendere Probleme. Letzte Nacht war der Geist von Bogo Rath mit der Information zu Aballister zurückgekehrt, daß Cadderly tatsächlich nach Burg Trinitatis unterwegs war. Bei diesem Bericht war der alte Zauberer erschrocken, aber auch begeistert gewesen. Aballister war von dem Gedanken besessen, die gesamte Umgebung zu erobern, ein Ziel, das ihm der Avatar der Talona persönlich gesteckt hatte, und Cadderly war gewiß eines der deutlichsten Hindernisse für diese Pläne. Der Zauberer konnte nicht abstreiten, daß ihn Vorfreude erfüllte, wenn er daran dachte, sich mit seinem vortrefflichen Sohn im Kampf messen zu können. Allen Berichten zufolge wußte Cadderly nicht einmal von seiner Verwandtschaft mit Aballister, und der Gedanke, den jungen Emporkömmling sowohl im magischen Kampf als auch – durch die bisher geheimgehaltene Wahrheit – emotional zu zermalmen, zauberte ein unwillkürliches Grinsen auf die scharfen Züge des grausamen Aballister. Bei Dorigen jedoch rief die Nachricht von Cadderlys Abmarsch nichts als Angst hervor. Sie hatte nicht den Wunsch, dem jungen Priester und seinen Freunden wieder in die Quere
zu geraten, am allerwenigsten jetzt, wo ihre Hände noch von den Schlägen wund waren, die Cadderly ihnen versetzt hatte. Viele ihrer Sprüche erforderten exakte Handbewegungen, und wegen ihrer krummen Finger und gebrochenen Gelenke war seit ihrer Rückkehr aus dem Elfenwald mehr als ein Spruch auf sie zurückgefallen. »Ich habe keine Spur von Cadderly gefunden«, antwortete Dorigen nach einer langen Pause, in der sie wieder die verschwommenen Bilder in der Kristallkugel angestarrt hatte. »Ich vermute, daß er und seine Gefährten die Bibliothek erst kürzlich verlassen haben, wenn sie überhaupt schon aufgebrochen sind, und ich wage es nicht, meinen magischen Blick so nah an die Festung unserer Feinde zu senden.« »Zwei Stunden, und du hast nichts gefunden?« Aballister klang nicht erfreut. Er durchschritt den kleinen Raum und fuhr mit seinen dürren Fingern über einen Vorhang, der diesen Bereich von Dorigens Schlafgemach abtrennte. Trotz seiner Befürchtungen glitt ein Lächeln über das Gesicht des Zauberers, als er sich an die Spiele erinnerte, denen er und Dorigen sich hinter eben diesem Vorhang hingegeben hatten. »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Dorigen scharf, denn sie verstand das vielsagende Grinsen. Wieder drehte sie sich zu ihrer Kristallkugel um. Aballister durchquerte rasch den Raum, um seiner Kollegin wieder über die Schulter zu sehen. Zuerst wirbelte nur ein grauer Nebel im Inneren der Kristallkugel, aber auf Dorigens Locken hin begann er sich allmählich zu heben und Gestalt anzunehmen. Die beiden Zauberer sahen die Ausläufer der Schneeflockenberge, offenbar die südöstliche Bergregion, denn die Straße nach Carradoon war deutlich zu sehen. Etwas bewegte sich diese Straße entlang, etwas Gräßliches. »Der Assassine«, hauchte Aballister. Dorigen sah den alten Zauberer neugierig an.
»In dieser Beziehung hat sich Bogos Geist unklar ausgedrückt«, erklärte Aballister. »Was du entdeckt hast, war einer der Anführer der Nachtmaskenbande, den man – jetzt könnte man sagen: passenderweise – Geist nannte. Offenbar hat unser lieber Cadderly Geist einen magischen Gegenstand abgenommen, und nun ist dieses verfluchte Ding zurückgekehrt, um ihm nachzujagen. Kannst du durch deine Kugel die Macht dieses Wesens spüren?« »Natürlich nicht«, antwortete Dorigen ungehalten. »Dann geh raus in die Berge und paß auf ihn auf«, knurrte Aballister sie an. »Wir könnten in ihm einen mächtigen Verbündeten haben, einen, der unsere Probleme löst, bevor sie überhaupt in Burg Trinitatis ankommen.« »Das tue ich nicht.« Aballister richtete sich auf, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpaßt. »Ich bin noch nicht wieder gesund«, erklärte Dorigen. »Meine Sprüche sind unzuverlässig. Du willst, daß ich zu einem bösartigen Geist und in die Nähe deines gefährlichen Sohnes gehe, ohne meine Fähigkeiten voll ausschöpfen zu können?« Bei ihrem Hinweis, daß Cadderly Aballisters Sohn war, zog der ältere Zauberer den Kopf ein, denn Dorigen wollte damit wieder einmal andeuten, daß all ihre Schwierigkeiten Aballisters Schuld waren. »Du hast jemanden zur Verfugung, der viel geeigneter ist, die Stärke dieses untoten Monsters einzuschätzen«, fuhr Dorigen fort, ohne einen Moment zurückzuweichen. »Einen, der mit dieser Kreatur reden kann, falls es nötig ist, und der sicher mehr über ihre Absichten in Erfahrung bringen kann als ich.« Aballisters Zorn schmolz dahin, als er Dorigens Überlegungen nachvollzog. »Druzil«, erwiderte er. Er sprach von seinem Vertrauten, einem hinterhältigen Teufelchen von den Unteren Ebenen.
»Druzil«, echote Dorigen verächtlich. Aballister legte die Hand an sein spitzes Kinn und murmelte vor sich hin. Er schien noch nicht ganz überzeugt. »Außerdem«, schnurrte Dorigen, »wenn ich in Trinitatis bleiben würde, dann könnten wir beide vielleicht …« Sie ließ den Satz offen, doch ihr Blick lenkte Aballisters Augen zu dem Vorhang auf der anderen Seite des kleinen Raums. Aballister riß überrascht die Augen auf und ließ die Hand sinken. »Setz deine Suche nach meinem S … nach Cadderly fort«, sagte Aballister zu ihr. »Ruf mich sofort, wenn du ihn ausfindig gemacht hast. Vielleicht habe ich Möglichkeiten, den dummen Jungen zu erwischen, bevor er auch nur in die Nähe von Burg Trinitatis gelangt.« Dann zog sich der Zauberer abrupt zurück. Er wirkte durcheinander, hatte aber einen sichtlich hoffnungsvollen, elastischeren Schritt als vorher. Dorigen widmete sich wieder ihrer Kristallkugel. Allerdings machte sie sich nicht sofort wieder auf die Suche, sondern dachte statt dessen darüber nach, mit welchem Mittel sie Aballister gerade davon abgebracht hatte, sie fortzuschicken. Sie empfand für den Mann keine Liebe mehr, nicht einmal Respekt, obwohl er bestimmt zu den mächtigsten Zauberern zählte, die sie je kennengelernt hatte. Aber Dorigen hatte eine Entscheidung getroffen – eine Entscheidung, zu der sie ihr Wille gezwungen hatte, dieses ganze Abenteuer zu einem sicheren Abschluß zu bringen. Sie kannte sich gut genug, um zugeben zu können, daß Cadderly sie im Elfenwald wirklich erschreckt hatte. Ihre Gedanken führten sie zum Nachsinnen über Aballisters Pläne mit seinem Sohn. Der Zauberer hatte Verbündete, verzauberte Ungeheuer, die er in seinem extradimensionalen Haus in geheimen Käfigen hielt. Dorigen mußte ihm nur den Weg weisen. Die Zauberin sah auf ihre noch immer geschwollenen, grünblauen Hände, erinnerte sich an die Katastrophe in
Shilmista und daran, daß Cadderly sie leicht hätte töten können, wenn er gewollt hätte. Das erste Lager schlugen sie auf einem hohen Paß in den Schneeflockenbergen auf. Eine kleine Nische in der Felswand des Berges bot ihnen Schutz vor dem beißenden Winterwind. Nachdem Vanders Riesenkörper ihnen weitere Deckung vor den scharfen Böen gewährte (die Kälte schien dem Firbolg überhaupt nichts auszumachen), hatten Ivan und Pikel bald ein prasselndes Feuer entfacht. Doch immer noch fand der Wind unweigerlich seinen Weg zu den Gefährten, und selbst die Zwerge waren bald am Zittern. Bebend rieben sie ihre Hände dicht an den Flammen. Pikels typisches »Ooooh«-Gestöhne kam mehr als »O-o-o-o-oh« heraus, weil seine Zähne dabei wild klapperten. Cadderly war so tief in Gedanken versunken, daß er nichts davon bemerkte, nicht einmal den Umstand, daß seine Finger allmählich eine bläuliche Farbe annahmen. Mit gesenktem Kopf und halb geschlossenen Augen saß er am weitesten von den Flammen entfernt – mit Ausnahme von Vander, der um die Ecke des natürlichen Alkovens getreten war, um den vollen Ansturm des erfrischenden Windes an seinen geröteten Wangen zu spüren. »Wir brauchen Schlaf«, stotterte Ivan und richtete diese Bemerkung direkt an den gedankenverlorenen Priester. »Ei, ei«, stimmte Pikel eifrig zu. »Es w-wird nicht leicht sein, bei d-dieser Kälte zu schlafen«, sagte Danica Cadderly ziemlich laut ins Ohr. Die vier Freunde sahen sich ungläubig an, dann blickten sie wieder zu Cadderly. Danica rückte achselzuckend wieder an die Flammen und rieb dabei unablässig ihre Hände, aber Ivan, der immer für eine etwas gröbere Taktik war, nahm Shayleighs Langbogen zur Hand, langte damit über das Feuer und klopfte
Cadderly einige Male auf den Kopf. Cadderly schaute den Zwerg an. »Was ist?« »Wir sagten gerade, daß es reichlich kühl ist zum Schlafen«, knurrte Ivan ihn an. Seine Aussage wurde von den eisigen Atemwolken unterstrichen, die jedes seiner gestammelten Worte begleiteten. Cadderly sah sich unter seinen bibbernden Begleitern um. Dann schien er seine eigenen, absterbenden Gliedmaßen zum ersten Mal zu bemerken. »Deneir wird uns beschützen«, versicherte er ihnen und ließ sein inneres Auge auf die Seiten des Buches der Universellen Harmonie zurückschweifen, des heiligsten Buches seines Gottes. Wieder hörte er die schönen, fließenden Töne des endlosen Liedes und entnahm ihnen einen ziemlich einfachen Spruch, den er solange wiederholte, bis der Zauber alle seine Freunde berührt hatte. »Ooh!« rief Pikel aus, doch dieses Mal klapperten seine Zähne nicht. Die Kälte war verflogen – anders war das Gefühl nicht zu erklären, das jeden einzelnen von ihnen bei Cadderlys segensreicher Berührung sofort überkam. »Hast auch lang genug gebraucht«, war Ivans letzte, mürrische Bemerkung, ehe er an seinen (zumindest für einen Zwerg) gemütlichen Felsen zurücksank, die Hände hinterm Kopf verschränkte und die Augen schloß. Innerhalb von Minuten schnarchten beide Zwerge, und bald ruhte auch Shayleigh, die ihren Kopf auf ihre Arme stützte, welche den aufgestützten Langbogen festhielten. Cadderly hatte seine kontemplative Haltung von vorher wieder eingenommen. Danica, die vermutete, daß ihrem Liebsten etwas furchtbar zu schaffen machte, kämpfte gegen die Versuchung des Schlafes an und wachte schützend über Cadderly. Sie hätte es vorgezogen, wenn Cadderly sich ihr bereitwillig geöffnet und selbst die Diskussion eingeleitet hätte, die er offensichtlich brauchte. Danica kannte ihn allerdings besser,
als wirklich damit zu rechnen. Sie wußte, daß Cadderly Stunden, ja Tage so dasitzen und über etwas nachgrübeln konnte. »Du hast etwas Falsches getan?« Ihre Frage war wie eine Feststellung. »Oder ist es Avery?« Cadderly sah zu ihr hoch, und sein überraschter Blick verriet Danica viel, obwohl sie ihren Verdacht nicht sofort in Worte fassen konnte. »Ich habe nichts Falsches getan«, sagte Cadderly schließlich etwas zuhablehnend. Da begriff die aufmerksame Frau, welche ihrer Vermutungen ins Schwarze getroffen hatte. »Schon erstaunlich, daß Abt Thobicus seine Meinung zu unserem Plan so vollständig geändert hat«, sagte Danica vorsichtig. Cadderly zuckte unangenehm berührt zusammen – ein weiterer Hinweis für Danicas aufmerksames Auge. »Der Abt ist ein Kleriker des Deneir«, erwiderte Cadderly, als ob das alles erklärte. »Er sucht Wissen und Harmonie, und wenn sich ihm die Wahrheit offenbart, läßt er nicht zu, daß sein Stolz einer Meinungsänderung im Weg steht.« Danica nickte, doch ihre Miene blieb zweifelnd. »Unser Weg war der richtige«, fügte Cadderly nachdrücklich hinzu. »Der Abt war anderer Meinung.« »Er hat die Wahrheit erfahren«, antwortete Cadderly sofort. »Hat er das?« fragte Danica. »Oder wurde die Wahrheit ihm aufgezwungen?« Cadderly sah zur Seite, wo Vander am Rand des Feuerscheins im peitschenden Wind herumlief und immer wieder in die Bergluft schnupperte, während er seine Wache abschritt. Sein Blick richtete sich öfter an den kristallklaren, sternenübersäten Himmel als auf die zerklüftete Berglandschaft.
»Was hast du mit ihm gemacht?« fragte Danica offen. Cadderly musterte sie sofort mit finsterem Blick, aber sie schreckte nicht im mindesten zurück, denn sie vertraute ihrem Geliebten und darauf, daß der junge Priester sie nicht anlügen konnte. »Ich habe ihn überzeugt.« Cadderly spuckte jedes Wort einzeln aus. »Magisch.« Wie gut du mich kennst, dachte der Priester wahrhaft erstaunt. »Es mußte sein«, sagte er leise. Danica kam auf die Knie hoch und schüttelte den Kopf. »Sollte ich Thobicus erlauben, uns auf einen Weg der Zerstörung zu führen?« fragte Cadderly sie. »Er hätte –« »Thobicus?« Cadderlys Gesicht war ein einziges Fragezeichen, denn er verstand die Bedeutung von Danicas Zwischenfrage nicht. »Wer läßt jetzt sein Urteil von seinem Stolz beeinflussen?« fragte Danica anklagend. Noch immer verstand Cadderly nicht. »Thobicus?« wiederholte die Mönchen. »Meinst du etwa Abt Thobicus?« Ihre Betonung des Titels zeigte Cadderly die Wahrheit. Selbst die Großmeister der Bibliothek sprachen selten ohne den angemessenen Titel von ihrem höchstrangigen Priester. Cadderly verbrachte einige Zeit damit, über seinen Ausrutscher nachzudenken. Bisher hatte er immer darauf geachtet, von dem geachteten Abt in passender Weise zu sprechen. Immer hatte er dem Namen automatisch den Titel hinzugefügt, und es hatte falsch geklungen, wenn er oder jemand anders den Mann nicht auch als den Abt bezeichnete. Jetzt aber kam ihm aus irgendeinem Grunde der einfache Verweis auf Thobicus harmonischer vor. »Du hast deine Magie gegen das Oberhaupt deines Ordens eingesetzt«, stellte Danica fest.
»Ich habe getan, was getan werden mußte«, erklärte Cadderly entschlossen. »Hab keine Angst. Thobicus«, diesmal hatte er wirklich »Abt Thobicus« sagen wollen, »erinnert sich nicht einmal an den Vorfall. Es war nicht schwer, seine Erinnerung anzupassen, und er glaubt wirklich, daß er uns als Spähtrupp ausgeschickt hat. Er erwartet, daß wir bald zurückkehren, um von den Aktivitäten unserer Feinde zu berichten, damit er seine lächerlichen Pläne für einen umfassenden Schlag umsetzen kann.« Es konnte keinen Zweifel daran geben, wie tief Cadderlys Geständnis Danica entsetzt hatte. Kopfschüttelnd und mit offenstehendem Mund schrak sie regelrecht vor dem jungen Priester zurück. »Wären nicht Tausende in einem solchen Krieg umgekommen?« rief der junge Priester laut, womit er Vanders Aufmerksamkeit erregte und auch Shayleigh dazu brachte, verschlafen ein Auge zu Öffnen. Nur das Schnarchen der Zwerge ging ununterbrochen weiter. »Ich konnte nicht zulassen, daß Thobicus so etwas tut«, fuhr Cadderly auf Danicas anklagendes Schweigen hin fort. »Ich konnte nicht zulassen, daß die Feigheit eines Mannes vielleicht den Tod von Tausenden verursacht, nicht, wenn ich einen besseren Weg sehe, um dieser Bedrohung ein Ende zu setzen.« »Das ist Anmaßung«, hielt Danica ungläubig dagegen. »Es ist die Wahrheit!« gab Cadderly wütend zurück. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er fest an seine Aussage glaubte. »Der Abt steht über dir«, erinnerte ihn Danica in etwas milderem Ton. »Nur in den Augen einer falschen Hierarchie«, erklärte Cadderly, der ebenfalls seine Stimme mäßigte. Er sah sich zu Shayleigh und Vander um, die jetzt beide sichtlich an der ursprünglich privaten Unterhaltung interessiert waren. »In
Wahrheit war Großmeisterin Pertelope die Höchstrangige unter den Priestern des Deneir«, versicherte Cadderly. Diese Bemerkung gab Danica zu denken – besonders, weil sie vor Pertelope größten Respekt gehabt hatte und nicht daran zweifelte, daß Pertelope unter den Bewohnern der Erhebenden Bibliothek zu den Weisesten zählte. »Es war Pertelope, die mir diesen Weg gewiesen hat«, fuhr Cadderly fort. Plötzlich wirkte er verwundbar, klein und unsicher, denn ein Quentchen Zweifel schlich sich in seine sture Entschlossenheit. »Ich brauche dich an meiner Seite«, sagte er zu Danica so leise, daß Shayleigh und Vander es nicht hören konnten. Die Elfenfrau allerdings grinste, ehe sie respektvoll die glitzernden, veilchenblauen Augen schloß, und Cadderly wurde klar, daß ihre scharfen Ohren jede Silbe verstanden hatten. Danica starrte einen langen Augenblick an den sternenübersäten Himmel, dann rückte sie neben Cadderly, griff sanft nach seinem Arm und drückte sich eng an ihn. Sie sah zum Feuer zurück und schloß dann die Augen. Es mußte nichts mehr gesagt werden. Cadderly wußte jedoch, daß Danica immer noch Zweifel hegte – wie auch er. Er war ein hohes Risiko eingegangen, als er Thobicus mental angegriffen hatte. Damit hatte er eindeutig die Bande der Bruderschaft und der anerkannten Hierarchie in der Bibliothek zerrissen. Jetzt war er auf dem Weg, den er in seinem tiefsten Inneren für den richtigen hielt, aber rechtfertigte der Zweck die Mittel? Da so viele Leben an seiner Entscheidung hingen, mußte Cadderly glauben, daß es – in diesem Fall – so war. In einem Lager tief unter den Bergpfaden von Cadderlys Gruppe schliefen vier abenteuerlustige Reisende tief und fest. Sie merkten nicht, daß ihr Lagerfeuer kurz eine blaue Farbe
annahm, merkten auch nicht, daß Druzils Hundegesicht sie aus den Flammen musterte. Druzil murmelte krächzende Flüche. Er nutzte das Knistern der Flammen, um seinen unbestreitbaren Ärger zu verhüllen. Das Teufelchen verabscheute diesen Spähgang, denn es befürchtete, stundenlang dem Schnarchen belangloser Menschen lauschen und sich dabei zu Tode langweilen zu müssen. Doch Druzil war Aballisters Vertrauter, ein – wenn auch nicht immer williger – Diener des Zauberers, und als Aballister in Burg Trinitatis ein Tor geöffnet hatte und ihm befohlen hatte zu gehen, war er gezwungen gewesen zu gehorchen. Der feurige Tunnel hatte hierhergeführt, ihn durch die Dimensionen in dieses Lagerfeuer gesandt, das Dorigens Suche im östlichen Vorgebirge der Schneeflockenberge ausgemacht hatte. Mit Hilfe eines Beutels mit magischem blauem Pulver hatte Druzil das gewöhnliche Lagerfeuer zu einem Tor gemacht, das dem in Burg Trinitatis ähnelte. Jetzt umklammerte das Teufelchen einen Beutel mit rotem Pulver, das das Tor hinter ihm schließen konnte. Druzil hielt das rote Pulver noch einige Augenblicke zurück, denn er fragte sich, ob es nicht Spaß machen würde, das Tor zwischen den Ebenen offenzulassen. Welche Aufregung eine Schar Bewohner der Unteren Ebenen hier hervorrufen könnte! Doch er besann sich sofort eines Besseren und schüttete das rote Pulver in die Flammen. Wenn er das Tor offenließ und die falschen Wesen hindurchtraten, würden Burg Trinitatis' Pläne, die ganze Gegend zu erobern, in Chaos und Zerstörung untergehen. Über eine Stunde saß er in den Flammen und beobachtete die langweiligen Menschen. »Aballister bene tellemara«, murmelte er viele Male, ein Ausdruck in der Sprache der Unteren Ebenen, der Druzils Zaubermeister ungefähr die Intelligenz einer Schnecke zugestand.
Eine Bewegung seitlich des Lagers erregte Druzils Aufmerksamkeit. Einen Moment lang dachte er – hoffte er –, daß etwas Aufregendes geschehen würde. Aber es war bloß ein weiterer Mann, der offenbar genauso gelangweilt wie das Teufelchen im Umkreis des Lagers Wache hielt. Bald darauf war er wieder außer Sicht, irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Noch eine lange Stunde verstrich, und das Feuer brannte herunter, bis Druzil gezwungen war, sich zu ducken, damit ihn die Flammen noch verdeckten. Das Teufelchen schüttelte seinen hündischen Kopf und wackelte mit den Schlappohren. »Aballister bene tellemara«, zischte er trotzig wieder und wieder, eine Litanei gegen die Langeweile. Der Zauberer hatte ihn mit dem Versprechen losgeschickt, daß er die Mission unterhaltsam finden würde, aber Druzil, der die üblichen Aufträge kannte, die man Vertrauten meistens auftrug – Wache stehen oder Zauberzutaten suchen –, hatte diese Lüge schon öfter gehört. Nicht einmal Dorigens geheimnisvoller Hinweis auf »jemanden, den das Teufelchen seinem eigenen Wesen verwandt finden könnte«, gab Druzil viel Hoffnung. Cadderly war auf dem Weg nach Burg Trinitatis – das war der Ort, wo Druzil sein wollte. Er wollte die magischen Explosionen sehen, wenn Aballister endgültig mit seinem lästigen Sohn abrechnete. Wieder hörte das Teufelchen ein Geräusch am Rand des Lagers, eine Art Keuchen, gefolgt von Raschem. Druzil hob sein Hundegesicht über die Flammen empor, um einen besseren Überblick zu haben, und sah die Wache stolpernd zurückweichen. Der Mann hatte sein Schwert ausgestreckt, und sein Mund war unglaublich weit aufgerissen, zum schweigenden Zerrbild eines Schreis. Es war die Kreatur, die der Wache unbeirrbar folgte, die dem Teufelchen Schauer verzückter Freude über das echsenartige Rückgrat laufen ließ. Einst war sie ein Mensch
gewesen, glaubte Druzil, aber jetzt war sie nur noch eine verkohlte, schwarze Leiche, bucklig und häßlich. Sie sah so aus, als wären all ihre Körperflüssigkeiten verdampft. Druzil konnte wirklich das Böse wittern, das dieses verruchte Ding in seinen untoten Zustand zurückgeholt hatte. »Köstlich«, schnarrte das Teufelchen, und sein gifttriefender Schwanz peitschte angeregt hinter ihm durch die Kohle. Die Wache wich noch immer zurück, versuchte noch immer vergeblich zu schreien. Die Kreatur schlug das Schwert des entsetzten Mannes zur Seite und packte ihn am Handgelenk. Druzil quiekte vor Freude, als die Haut des unrettbar verlorenen Mannes runzlig und ledrig wurde und seine Haare ihren jugendlichen Glanz und alle Farbe verloren und büschelweise ausfielen. Die Hand des Geistes traf den Mann wieder, diesmal ins Gesicht. Seine Augen wölbten sich so weit nach vorn, daß es aussah, als wollten sie aus ihren Höhlen springen. Aus seinem offenen Mund kamen gurgelnde, erstickte Geräusche und aus seinen Lungen, die plötzlich zu alt und hart waren, um ordentlich Luft zu holen, nur noch ein Pfeifen. Der Sterbende taumelte rücklings über einen Baumstumpf und lag ganz still am Boden, Augen und Mund noch immer unglaublich weit aufgerissen. Ein Schrei vom Lager her zeigte, daß die Unruhe einen der anderen geweckt hatte. Ein stämmiger Mann, seinen muskulösen Armen nach ein Krieger, stürmte vor das Feuer und stellte sich mutig dem Geist. Das große Schwert des Kriegers zuckte nach vorn, in die Schulter der Kreatur. Es schien etwas zu treffen, doch dann glitt es einfach durch das untote Wesen hindurch wie durch eine substanzlose Erscheinung. Der Geist näherte sich abermals und griff mit dem Arm nach dem nächsten Opfer seines unersättlichen Hungers.
Druzil klatschte mindestens hundertmal in die übergroßen Hände, denn ihm gefiel dieses Schauspiel wirklich. Die anderen Männer sprangen aus dem Schlaf auf. Einer rannte kreischend in den Wald, doch die anderen kamen ihrem kühnen Gefährten zu Hilfe. Die Kreatur erwischte einen an den Haaren, ohne sich von den wilden Axthieben des Mannes beeindrucken zu lassen. Sie drehte dem Mann den Kopf zur Seite und biß ihm die Kehle durch. Mit unvorstellbarer Kraft schleuderte das Ungeheuer die blutige Leiche weg, die zwanzig Fuß hinter dem Lager in den Bäumen landete. Die übrigen beiden Männer hatten genug gesehen, zuviel gesehen. Sie drehten sich um und flohen. Einer warf vor unbändigem Schrecken seine Waffe weg. Geist griff einmal nach ihnen, doch vergeblich. Dann stand er einen Augenblick da und sah ihnen nach, ehe er sich an dem zerstörten Lager vorbei wieder auf den Weg machte, immer hinauf in die Schneeflockenberge, als ob dieses Blutbad nichts als eine zufällige Begegnung gewesen wäre. Druzil verstand jedoch, daß das Wesen von den Schreien der fliehenden Männer zehrte und eine perverse Freude an ihrem Schrecken hatte. Druzil mochte diese Kreatur. Das Teufelchen trat aus den Flammen und blickte auf den gealterten, sterbenden Mann herab, der um Atem rang und dem jede Bewegung Schmerzen bereitete. Dann hörte Druzil, wie der Arm des Mannes einfach vor Altersschwäche brach, als er in die Luft griff, und hörte ein Stöhnen, das sich in das vergebliche Keuchen mischte. Das Teufelchen lachte nur und wandte sich ab. Druzil hatte einen Teil von Aballisters Unterredung mit dem Geist von Bogo Rath mit angehört, und obwohl diese Unterredung verschlüsselt gewesen war, vermutete das Teufelchen jetzt, daß diese abscheuliche Kreatur einen besonderen Groll gegen
Cadderly hegte. Jedenfalls schien sich das Ungeheuer gezielt zu bewegen; es hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, die fliehenden Männer zu verfolgen. Druzil versetzte sich in einen unsichtbaren Zustand, schlug mit seinen ledrigen Fledermausflügeln und stieg auf, um den Geist zu verfolgen. Vielleicht hatte er diesmal zu Unrecht an Aballisters Versprechen gezweifelt, daß dies eine lustige Mission werden würde.
Eine Kostprobe Aballister durchschritt einen großen Raum voller Käfige und bewunderte seine private Menagerie exotischer Ungeheuer. »Dorigen hat den jungen Priester und seine Freunde gefunden«, sagte der Zauberer leise, als er zwischen zweien der großen Käfige stehenblieb. In jedem saß ein seltsam anmutendes Ungeheuer, das wie eine Mischung aus zwei oder mehr normalen Tieren aussah. »Hast du Hunger?« fragte Aballister ein geflügeltes, löwenähnliches Monster, dessen Schwanz von einer Vielzahl eisenharter Stacheln bedeckt war. Das Tier brüllte zur Antwort und warf seine mächtige, kraftvolle Brust gegen die Gitterstäbe. »Dann flieg«, lockte der Zauberer, öffnete die Käfigtür und fuhr mit knochigen Händen durch die dichte Mähne des Tiers, als es vorbeikam. »Dorigen wird dich zu meinem verwünschten Sohn fuhren. Erteile ihm eine Lektion.« Der alte Zauberer lachte herzlich. Er hatte viele Stunden allein in dieser extradimensionalen Region verbracht. Schon während seines Studiums an der Erhebenden Bibliothek hatte er diesen Ort geschaffen. Aballisters größte Sorge waren damals die herumschnüffelnden Priester gewesen, die ihm dauernd über die Schulter schauten, um sicherzugehen, daß seine Arbeit mit ihren strengen Regeln übereinstimmte. Wie sollten sie auch
wissen, daß Aballister ihre wachsamen Blicke umgangen hatte, indem er diesen besonderen Bereich zusätzlichen Raumes geschaffen hatte, damit er seine geliebten, wenn auch höchst gefährlichen Experimente fortsetzen konnte. Das war vor über zwanzig Jahren gewesen, als Cadderly noch ein Baby war und als das Löwenmonster und das dreiköpfige Untier dahinter ebenfalls Babys waren, wie der Zauberer jetzt überlegte. Aballister lachte laut bei dem Gedanken: Er schickte zwei seiner Kinder aus, um das dritte zu toten. Die beiden mächtigen Tiere folgten Aballister aus dem Raum und durch eine andere Tür in dem extradimensionalen Haus, die zu dem Felsgrat oberhalb von Burg Trinitatis führte, auf dem Dorigen mit ihrer Kristallkugel wartete. »Wir sind zu weit oben«, protestierte Vander, als die Gruppe auf einem schmalen Bergpfad schon über die Hälfte eines zwölftausend Fuß hohen Berges erklommen hatte. Ein paar struppige Büsche ohne Blätter säumten den Pfad, doch zum größten Teil gab es hier nur noch vom Wind geformte Felsen, an manchen Stellen zerklüftet, an anderen blank gerieben. An diesem Ort war der Winter schon voll hereingebrochen. Der Schnee lag tief, und der beißende Wind zwang die Gefährten, sich trotz Cadderlys magischer Schutzsprüche ständig die Hände zu reiben, damit ihre Finger nicht klamm wurden. Immerhin war der schmale Pfad durch unablässigen Wind gut begehbar, denn der Schnee fand hier kaum Halt. »Wir müssen uns von den tiefer gelegenen Wegen fernhalten«, gab Cadderly zurück, obwohl er schreien mußte, um durch den tosenden Wind gehört zu werden. »Es sind viele Goblins und Riesen unterwegs, die aus Shilmista in ihre Berglöcher zurück geflohen sind.« »Lieber stelle ich mich denen als dem, was wir hier oben antreffen könnten«, hielt Vander dagegen. Die donnernde
Stimme des zwölf Fuß großen Riesen, dessen dicker, roter Bart von Flugeis überkrustet war, hatte keine Schwierigkeiten, das Heulen des Windes zu übertönen. »Du kennst die Bewohner der Länder nicht, wo der Schnee niemals schmilzt, kleiner Priester.« Der zerzauste Firbolg sprach offensichtlich aus Erfahrung, und die Zwerge, Shayleigh und Danica sahen Cadderly an, weil sie hofften, daß Vanders Warnung ihn beeinflussen würde. »Genau! Zum Beispiel diesen Riesenvogel, den ich gesehen habe, der eine Meile weiter auf dem Wind segelte«, warf Ivan ein. »Das war ein Adler«, beharrte Cadderly, obwohl nur Ivan das fliegende Wesen gesehen hatte. »Manche Adler in den Schneeflockenbergen sind ziemlich groß, und ich bezweifle …« »Eine Meile entfernt?« bellte Ivan. »Ich bezweifle, daß es eine Meile war«, endete Cadderly, worauf Ivan nur den Kopf schüttelte, seinen Helm, auf dem ein Hirschgeweih befestigt war, fester zurrte und einen nicht gerade freundlichen Blick in Cadderlys Richtung warf. Inzwischen hatte Cadderly schon eine neue Person zum Weiterstreiten gefunden, denn Danica war hinter ihm aufgetaucht und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Er sah ihre strenge Miene und erkannte sofort, daß sie derselben Meinung war wie die anderen. »Ich habe keine Angst vor Ungeheuern«, verteidigte sie sich, denn nur sie verstand, was Cadderly ausgestanden hatte, bis diese Expedition endlich unterwegs war. »Aber diese Umgebung hier ist trügerisch und der Wind beißend. Wenn einer von uns einmal auf dem Eis ausrutscht, rollt er den ganzen Berg hinunter.« Dann blickte Danica den Hang zur Rechten hoch und fuhr unheilvoll fort: »Und der Schnee hängt direkt über uns.«
Cadderly mußte ihrem aufwärts gerichteten Blick nicht folgen, um zu verstehen, daß sie auf die sehr reale Bedrohung durch eine Lawine anspielte. Sie waren an einem Dutzend Überresten solcher Katastrophen vorbeigekommen, wenn die meisten auch alt waren, wahrscheinlich von der Schneeschmelze im letzten Frühjahr. Cadderly holte tief Luft und erinnerte sich an den heimlichen Grund für ihren Aufenthalt in dieser Höhe. Er ließ sich nicht beirren. »Der Schnee liegt hier nur im Winter«, antwortete er Vander laut. »Außer auf den Spitzen der Berge, wo wir nicht hingehen.« Vander wollte protestieren – Cadderly erwartete, daß der Firbolg einwenden würde, daß jene furchtbaren Schneewesen leicht von den Bergspitzen heruntersteigen konnten, wenn der Schnee so tief lag. Er hatte jedoch kaum die erste Silbe seines Protestes hervorgebracht, als Cadderly ihn mit einer telepathischen Botschaft unterbrach, einer magischen Bitte, daß der Firbolg sie ohne weiteren Streit führen sollte, denn Stehenbleiben und Diskutieren kosteten nur Zeit, in der sie längst in gastlichere Gefilde hinuntersteigen könnten. Vander grunzte und drehte sich um. Dabei schlug er seinen weißen Bärenfellumhang über eine Schulter, um den anderen zu zeigen, daß die Hand unruhig auf dem schön geschnitzten Griff seines Riesenschwertes lag. »Was den Wind und das Eis angeht«, sagte Cadderly zu Danica, »so müssen wir auf unsere Schritte achten und fest bei unserem Entschluß bleiben.« »Falls wir nicht von einem vorbeifliegenden Vogel erwischt werden«, sagte Ivan trocken. »Das war nur ein Adler.« Mit aufflammendem Zorn fuhr Cadderly zu dem Zwerg herum. Ivan zuckte die Schultern und ging weiter. Pikel, dem die ganze Streiterei anscheinend egal war und der bereitwillig überall hinging, wohin ihn die anderen führten, hopste fröhlich neben seinem Bruder her.
»Schon mal einen Adler mit vier Beinen gesehen?« fauchte Ivan über seine Schulter, als er und Pikel ein Stück weiter waren. Pikel dachte einen langen Augenblick über diese Bemerkung nach, ehe er wie angewurzelt stehenblieb, sein Lächeln sich auflöste und er ein beeindrucktes »Ooooh!« von sich gab. Dann eilte der grünbärtige Zwerg rasch weiter, um mit dem weiterstapfenden Ivan Schritt zu halten. Zusammen marschierten sie dicht hinter dem Firbolg her und rückten auch neben Vander auf, wenn der Weg breit genug für alle wurde. Der Firbolg und die Zwerge waren in den vergangenen Tagen dicke Freunde geworden und hatten sich viele Geschichten von ihren Heimatländern erzählt, welche beide ein ähnlich zerklüftetes Terrain und schlaue Raubtiere vorzuweisen hatten. Als nächster in der Reihe kam Cadderly, der allein seinen Gedanken nachhing. Noch immer versuchte er, seinen magischen Angriff auf Thobicus zu rechtfertigen, und sann über die Prüfungen nach, denen er sich bald stellen mußte, sowohl in Burg Trinitatis, als auch hinterher. Danica ließ Cadderly ein Stück vorgehen, ehe sie den Marsch wieder aufnahm. Ihre Augen verrieten eine Mischung aus Schmach und Schmerz über die Art, wie er sie gerade zurückgewiesen hatte. »Er hat Angst«, sagte Shayleigh zu Danica und trat an ihre Seite. »Und er ist stur«, fügte Danica hinzu. Das offene Lächeln der Elfenfrau war so ansteckend, daß Danica nicht länger ihren finsteren Gedanken nachhängen konnte. Danica war froh, daß Shayleigh wieder bei ihr war, denn sie fühlte sich der mutigen Elfin fast schwesterlich verbunden. Angesichts von Cadderlys Laune in letzter Zeit und seinem heimlichen Vorgehen fand Danica, daß sie eine Schwester dringend nötig hatte.
Für Shayleigh bedeutete die Reise sowohl die Rückzahlung einer Schuld als auch eine Tat echter Freundschaft. Cadderly, Danica und die Zwerge waren gekommen, um den Elfen von Shilmista in ihrem Kampf beizustehen, und während dieser gemeinsam verbrachten Zeit hatte Shayleigh sie alle lieben gelernt. Mehr als einer der eingebildeten Elfen von Shilmista hatte auf Shayleighs Kosten Witze gerissen über den Gedanken, daß ein Elf sich so mit einem Zwerg anfreunden könnte, aber Shayleigh hatte alles ohne Murren hingenommen. Eine knappe halbe Stunde später, auf einem offenen Wegstück, wo der Berg rechts von ihnen sanfter anstieg, während der Abgrund links von ihnen weiterhin steil abfiel, blieb Vander plötzlich stehen und streckte die großen Hände nach den Seiten aus, um die Zwerge anzuhalten. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Der Wind peitschte die eisigen Flocken so dicht vor sich her, daß alle aus der Gruppe ihre Reisemäntel vor das Gesicht halten mußten. Weil die Sicht so schlecht war, war Vander unsicher, was den ungewöhnlichen Schatten anging, den er ein Stück vor ihnen auf dem Weg entdeckt hatte. Der Riese machte zögernd einen Schritt nach vorn und zog dabei sein gewaltiges Schwert halb aus der Scheide. Ivan und Pikel lehnten sich zurück und wechselten hinter dem Firbolg einen Blick. Auch sie griffen nach den Waffen, obwohl sie keine Ahnung hatten, was Vander so in Habachtstellung gebracht hatte. Dann entspannte sich der Riese sichtlich, und die Zwerge tauschten ein Achselzucken aus und steckten die Hände unter ihre dicken Mäntel zurück. Zwei Schritte weiter schnellte die Gestalt, die Vander für ein Schneebrett gehalten hatte, wie eine riesige Schlange vor und schnappte nach dem Riesen. Sie streifte seine ausgestreckten Finger.
Vander schrie auf und sprang zurück. Er umklammerte seine plötzlich blutige Hand. »Der verdammte Schnee hat ihn gebissen!« wetterte Ivan und stürmte los, um mit der Doppelaxt zuzuschlagen. Die Klinge schlug das seltsame Monster in der Mitte durch und traf den blanken Stein darunter. Mindestens ein Viertel vom Rumpf des Wesens war abgehackt. Aber dieses Viertel war genauso lebendig und genauso bösartig wie der Hauptkörper, und jetzt hatten sie zwei Monster zu bekämpfen. Vander sprang vor und schlug mit dem Schwert in der unverletzten Hand zu. Dann gab es drei Monster. Ivan fühlte ein schmerzhaftes Brennen an einem Arm, aber geblendet durch den peitschenden Wind und die Lust am Kämpfen erkannte der Zwerg nicht, was sein Tun bewirkte. Er ließ seine Axt wiederholt heruntersausen, wobei er die Reihen der Monster vervielfachte, ohne es auch nur zu merken. Cadderly hatte gerade erst die hektischen Bewegungen vor sich bemerkt, als ihn Shayleighs Schrei herumfahren ließ. Entsetzt riß er die Augen auf, als er die wahre Gestalt von Ivans »Adler« sah – ein löwenartiges Untier, größer als Cadderly und mit einer Spannweite von vollen fünfundzwanzig Fuß. Die herabschießende Kreatur kam nicht in Danicas und Shayleighs Nähe, sondern stoppte den Schwung ihres Sturzflugs urplötzlich, bäumte sich in der Luft auf und peitschte mit dem Schwanz über die eine, starke Schulter. Ein Hagel eisenharter Stachel schoß auf die beiden los. Danica stieß Shayleigh zur Seite und verrenkte ihren eigenen Körper dann irgendwie so, daß sie wundersamerweise nicht ernstlich verletzt wurde, obwohl sofort ein Blutfaden – dunkelrot vor dem weißen Hintergrund – an ihrem Arm sichtbar wurde.
Shayleigh hatte schnell ihren Bogen bereit, aber das Löwentier flog weg, und ihr Schuß ging in die Weite, wo er sich im Wind und im Schneetreiben verlor. Weiter vorn wurde Vander wieder getroffen und kreischte, wie Cadderly es dem stoischen, stolzen Riesen niemals zugetraut hätte. Der junge Priester stolperte vorwärts, um den Anlaß des Kampfes zu erkennen. Blinzelnd schüttelte er den Kopf, denn er konnte nicht glauben, daß seine Freunde von so etwas wie belebtem Schnee umgeben waren! Ihre wiederholten Hiebe hatten keinen anderen Erfolg, als weitere Monster zu erschaffen. Cadderly verband sich mit dem Lied von Deneir, der Logik, die die Harmonie seiner Welt lenkte. Er sah die Sphären, nicht nur die himmlischen Sphären, sondern die magischen Sphären elementarer, energiegeladener Kraft. Die einfache, offensichtliche Wahrheit ließ Cadderly schnell schlußfolgern, daß Schnee am besten durch Feuer zu bekämpfen war, und ohne lange über die Bewegung nachzudenken, hob der junge Priester seine Faust und murmelte »Fete!«, das Elfenwort für »Feuer«. Ein Flammenstrahl schoß aus Cadderlys goldenem Ring mit dem Onyx und umfing mehrere der Schneemonster mit zischendem Aufflackern. Aus dem belebten Schnee wurden substanzloser Dampf und Gase, die vom Wind davongetragen wurden. Dann traf etwas Cadderly hart gegen den Rücken und warf ihn zu Boden. Seine Angst sagte ihm, daß das löwenhafte Monster zurück sein mußte, und er fuhr herum, die geballte Faust vorgestreckt. Er sah Danica schützend vor sich stehen und begriff, daß sie ihn niedergeworfen hatte. Jetzt stand sie dem neuesten Untier gegenüber, das den Kampfplatz betreten hatte, einem Ungeheuer, das es offensichtlich auf den abgelenkten jungen Priester abgesehen hatte.
»Chimäre?« Cadderlys Frage war eine halbe Feststellung, als das geflügelte dreiköpfige Monster auf Danica losging. Sein mittlerer Kopf und der Körper waren wie bei dem anderen Untier löwenartig, aber dieses Tier hatte auch einen orangegeschuppten Hals und den Kopf eines kleinen Drachen daneben und einen schwarzen Ziegenkopf dahinter. Das Wesen bäumte sich in der Luft auf; der Drachenkopf spie einen Flammenstoß aus. Danica sprang zur Seite, von Cadderly weg, dann hoch, wo sie am Felsen Halt fand. Sie zog die Füße ganz hoch und entkam so irgendwie dem Flammenstrahl. Nachdem das Feuer erloschen war, landete sie wieder auf dem Sims, kam jedoch ins Rutschen, denn die Flammen hatten den Schnee geschmolzen und diesen Teil des Weges teilweise zerstört. Durch den strengen Frost bildete sich fast augenblicklich eine Eisschicht, und die junge Adeptin landete hart auf dem Rücken. Und dann rutschte sie über den Rand des Abgrunds. Cadderlys Welt stand still. Weiter unten am Pfad machte Shayleigh tödlichen Gebrauch von ihrem Bogen, indem sie Pfeil um Pfeil auf das löwenartige Ungeheuer abschoß. Trotz des kräftigen Windes trafen viele ihrer Schüsse ins Ziel, doch das Ungeheuer war zäh, und als sein Stachelschwanz wieder hochpeitschte, konnte Shayleigh nirgendwohin ausweichen. Sie verzog das Gesicht, als mehrere Geschosse sie mit dumpfem Aufprall in eine halb sitzende, halb angelehnte Haltung am Berghang zwangen. Sie spürte die plötzliche Wärme ihres eigenen Blutes, das aus mehreren Wunden floß. Störrisch legte die Elfenkriegerin einen neuen Pfeil auf ihre Bogensehne und schoß ihn ab. Diesmal landete sie einen guten Treffer in der muskelbepackten Brust des Monsters. Cadderly warf sich flach auf den Stein und griff verzweifelt nach Danica, die sich mehrere Fuß unterhalb des Weges unsicher festklammerte. Bei dem peitschenden Wind und dem
Schnee konnte sie unmöglich über das Eis hochklettern, und trotz aller Anstrengung konnte Cadderly sie nicht erreichen. Der Priester sang das Lied des Deneir mit, suchte wieder eine Elementarsphäre, doch diesmal suchte er seine Antwort im Reich der Lüfte. Danica hörte ihn singen und sah flehentlich hoch, denn sie wußte, daß ihre eine Hand sie nicht sehr lange hier halten konnte. Augenblicke später beendete Cadderly sein Lied, schaute zu Danica zurück und befahl ihr mit magisch verstärkter Stimme, zu ihm hochzuspringen. Das tat sie, denn sie vertraute ihrem Geliebten. Ihre Hände streiften sich nur einen Augenblick, doch in diesem Moment hörte Danica Cadderly eine geheime Rune ausstoßen, das auslösende Wort für einen Spruch, und sie bemerkte ein Kitzeln, als irgendwelche Kräfte zwischen ihnen ausgetauscht wurden. Dann stürzte Danica ab. Cadderly hatte keine Zeit, ihr nachzuschauen, mußte ganz auf die Wahrheit vertrauen, die ihm sein Gott enthüllt hatte. Er blickte sich nach allen Seiten um. Zu seiner Erleichterung sah er, daß der starke Wind für sie arbeitete, denn er zwang die beiden geflügelten Monster zu weiten Anflügen, um an den Sims zu kommen. Ein Stück weiter hatte Vander die Lücke genutzt, die Cadderlys Feuer geschlagen hatte, um dem Kreis der Monster zu entkommen. Ivan hatte er mitgenommen, indem er den Zwerg mit einer Hand, an der kaum noch Haut hing, hoch in die Luft hielt. Pikel war auf einen Felsen geklettert, war jedoch wieder umzingelt. Er schlug wild mit seiner Baumstammkeule nach den vielen blutrünstigen Kreaturen.
Cadderly hob seinen Onyxring, fand jedoch keinen klaren Winkel. Statt dessen suchte er wieder im Lied, diesmal im Reich des Feuers. »Brüderchen!« heulte Ivan, der sich aus Vanders Griff losriß. Der gelbbärtige Zwerg erwartete, daß Vander mit ihm loslaufen würde, doch als er den Firbolg ansah, wurde ihm die schreckliche Wahrheit klar. Die Schneewesen hatten Vander mehrfach an Händen und Unterarmen erwischt und einmal – wahrscheinlich, als der Riese sich gebückt hatte, um Ivan aufzuheben – seitlich am Gesicht. An jeder dieser Stellen hatte sich Vanders Haut einfach aufgelöst. Schreckliche Wunden waren zurückgeblieben. Jetzt war der Firbolg kaum noch bei Besinnung, taumelte von einer Seite zur andern und konnte kaum noch stehen. »Au, au!« kam ein Schrei von vorne. Pikel brauchte Hilfe. Ivan machte einen Satz auf seinen Bruder zu, fiel jede zu Tode erschrocken zurück, als ein Flammenring um Pi aufschoß. »Brüderchen!« schrie Ivan wieder über das plötzliche Brüllen der Flammen hinweg. Er wollte vorlaufen, war – zumindest innerlich – bereit, dieses unerklärliche Feuer zu durchbrechen, um neben seinem geliebten Bruder sterben. Aber die Hitze war zu stark, denn die Flammen liefen weiter nach außen, und der Vorhang war volle zwanzig Fuß hoch. Dampf mischte sich in das Feuer, als Schnee, Eis und die Monster vollständig verzehrt wurden. Durch seine Verzweiflung hörte Ivan einen Hoffnungsschrei, hörte, wie Cadderly Pikel zurief: »Bleib stehen!« Ein Ziegenkopf traf Ivan fest an der Schulter, und eine Löwentatze landete auf dem Kopf des Zwergs und riß zurück. Er prallte gegen Vanders Knie, wobei sein Hirschgeweih am Helm die Haut des Firbolgs aufriß und der Schwung dem
benommenen Riesen die Beine wegriß. Vander kippte um und landete auf Ivan. Blut füllte eins von Shayleighs klaren Veilchenaugen, noch sah sie Cadderly auf dem Sims liegen, sah, wie Chimäre den Zwerg angriff und dann vom starken Wind wieder abgetrieben wurde. Cadderly zog etwas Kleines heraus, fummelte an dem schweren Gurt herum, den er quer über der Brust trug, begann zu singen. Aus dem verzweifelten Gesichts; druck des jungen Priesters schloß Shayleigh, daß Löwenmonster zurückgekehrt war. Es war kaum zu sehen, denn es war noch gut dreißig Fuß vor dem Weg. Shayleigh erkannte, daß diesmal Cadderly das Ziel war, vielleicht auch der gestürzte Riese und der Zwerg nicht weit neben dem jungen Priester. Das Monster schloß plötzlich heran und bäumte sich auf, wobei sein tödlicher Schwanz vorwärtszuckte. »Nein!« schrie die Elfenkriegerin, die den nächsten Pfeil auflegte. Als sie voller Angst zum Weg zurückschaute, bemerkte sie ein leichtes Schimmern, das in der Luft vor Cadderly auftauchte. Shayleigh verwarf es als optische Täuschung durch Schnee und Wind – bis die Stacheln des mutierten Mantikors diesen Bereich erreichten und plötzlich die Richtung änderten. Sie schossen auf das überraschte Ungeheuer zurück. Blut spritzte aus der Löwenbrust, als das Tier in der Luft zurückgeworfen wurde. Shayleigh sah wieder zu Cadderly, der mit der freien Hand die Armbrust bereithielt. Schnell schoß sie dem Monster einen Pfeil in die Flanke, denn sie war der Meinung, daß Cadderlys winzige Armbrust ziemlich nutzlos sein würde. Der Armbrustbolzen sauste auf das Monster zu. Der Löwe brüllte – und brüllte noch lauter, als der Bolzen seine Nase traf. Einen Augenblick lang wirkte der Bolzen gegenüber der
schieren Größe und Stärke des Untiers winzig, doch dann zerbrach er und setzte dadurch das Wuchtöl frei. Die folgende Explosion verstreute Teile der Schnauze und der Zähne des Ungeheuers in alle Himmelsrichtungen und trieb das vordere Ende des Bolzens in den dicken Schädel des Tiers. Vier Tatzen schlugen wild um sich, als das sterbende Monster abstürzte. Cadderly schaute zu seinem Feuerring zurück. Er war sicher, daß dieser die Schneewesen erledigt hatte. Alles, was blieb, war die Chimäre, die irgendwo hinter dem wirbelnden Schnee auf dem Wind schwebte. »Hinter dir!« schrie Shayleigh plötzlich, warf sich herum und schoß zwei Pfeile ab. Die Chimäre kreischte auf. Ihr Drachenkopf kam auf Cadderlys Höhe, wo sie noch einmal ihren Feueratem ausstoßen wollte. Cadderly antwortete mit einem schnellen, einfachen Spruch aus dem Element des Wassers. Im selben Augenblick, als der Drachenkopf ausatmete, brach ein Wasserstrahl aus Cadderlys Händen, der aus dem Drachenfeuer eine harmlose Dampfwolke machte. Die Chimäre brach direkt über dem jungen Priester durch den grauen Schleier, schlug mit den Vorderklauen nach Cadderly und warf ihn zu Boden. »Du zusammengewürfelter Haufen Körperteile!« höhnte Ivan, der sich endlich unter dem gestürzten Riesen hervorgearbeitet hatte. Zwei lange Schritte brachten den wutentbrannten Zwerg an die Seite des tobenden Monsters. Er Sprang hoch, griff nach einem Horn des schwarzen Ziegenkopfes und zog sich rittlings auf das Tier. Shayleigh verfolgte, wie sie aufstiegen, denn sie wollte einen weiteren Pfeil abschießen, doch dann hielt sie plötzlich fassungslos inne.
Danica war wieder aufgetaucht. Sie lief mitten durch die Luft! Die Chimäre, deren drei Köpfe entweder nach unten blickten oder nach dem aufgebrachten Zwerg, der ihr auf den Rücken gekrabbelt war, sah die Adeptin nicht. Danicas wirbelnder Tritt traf den Löwenkiefer und schleuderte das fünfhundert Pfund schwere Ungeheuer zur Seite. Dann war die behende Danica auch schon oben neben Ivan, zog einen Dolch mit Silbergriff in Form eines Drachenkopfes aus einem Stiefel, nahm ihn fest in ihre freie Hand und stach damit gezielt auf den Löwenkopf ein. Noch wilder ging Ivan Felsenschulter vor, dessen Hände die Ziegenhörner umklammerten und diesen Kopf vor- und zurückrissen. Die Chimäre warf sich abrupt nach hinten und kam dabei dem Weg so nahe, daß Shayleigh zwei weitere Schüsse abgeben konnte, ehe der Schneesturm das Ungeheuer und ihre beiden Freunde wieder verschluckt hatte. Einen Augenblick später kam die Chimäre wieder in Sicht, und die Elfenkriegerin bereitete den nächsten Schuß vor. Aber plötzlich fuhr Ivan hoch und sah sie ungläubig an: Einer von Shayleighs Pfeilen hing gesplittert in seinem Hirschgeweihhelm. »He!« schimpfte der Zwerg, und sie senkte den Bogen. Ivans Ablenkung kostete ihn jedoch einiges, denn der Ziegenkopf riß sich einen Augenblick aus seinen Händen los und stieß ihn mit Wucht gegen Gesicht und Stirn. Ivan spuckte einen Zahn aus, ergriff die Hörner mit beiden Händen und warf sich zurück. Shayleigh hatte den Eindruck, daß der Angriff des Zwergs bei weitem wirksamer gewesen war. Dann waren sie wieder hinter den Schneeschwaden verschwunden. Plötzlich war alles still, nur der Wind heulte weiter. Vander regte sich und stützte sich auf die Ellenbogen hoch. Die von Cadderly beschworene Feuerwand brannte herunter und gab den Blick auf Pikel frei, der gemütlich auf
dem Stein saß und an einer Hammelkeule nagte, die der praktisch veranlagte Zwerg aus seinem Rucksack gezogen und in den magischen Flammen gebraten hatte. »Oh«, sagte er nun und versteckte das Fleisch hinter seinem Rücken, als er Cadderlys überraschtes Gesicht bemerkte. »Siehst du sie?« fragte Shayleigh, die zu Cadderly hinkte und seinen Blick in den Sturm hinaus lenkte. Cadderly blinzelte in den Schnee und schüttelte den kopf. Als er jedoch zu Shayleigh zurückschaute, schwanden alle Gedanken an seine Freunde auf dem Monster angesichts der Nöte der verwundeten Elf in. Mehrere Stacheln hatten Shayleigh getroffen. Einer hatte sie seitlich am Kopf getroffen und einen häßlichen Riß hinterlassen, ein anderer war tief in ihren Oberschenkel gedrungen, ein dritter steckte so in ihrem Handgelenk, daß sie die Hand nicht mehr schließen konnte, ein vierter stak aus ihren Rippen hervor. Cadderly konnte kaum fassen, daß Shayleigh noch stand, geschweige ihren Bogen benutzt hatte. Sofort lauschte er dem Lied von Deneir, um daraus die magischen Kräfte zu ziehen, die es ihm ermöglichen würden, Shayleighs Wunden zu heilen. Shayleigh sagte nichts, sondern verzog nur stoisch das Gesicht, als Cadderly langsam die Stacheln herauszog. Die ganze Zeit hielt die Kriegerin ihren Bogen fest und starrte auf der Suche nach ihren vermißten Freunden in den Wind. Die Minuten verstrichen. Cadderly hatte die schlimmsten Wunden geschlossen, und Shayleigh gab ihm ein Zeichnen, daß es fürs erste genügte. Cadderly erhob keinen Einspruch, sondern widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Suche nach Danica und Ivan. »Wenn das Ungeheuer sie abschüttelt …«, setzte Shayleigh unheilverkündend an.
»Danica fällt nicht«, versicherte ihr Cadderly. »Nicht bei dem Zauber, den ich über sie geworfen habe. Und sie wird auch nicht zulassen, daß Ivan abstürzt.« In der Stimme des Priesters lag ehrliche Überzeugung, aber trotzdem atmete er erleichtert auf, als die Chimäre schließlich wieder in Sichtweite kam. Sie raste direkt auf den Weg zu. Shayleigh hob ihren Bogen, aber ihr verletztes Handgelenk gestattete ihr nicht mehr, die Sehne straff genug zu spannen. Cadderly schoß mit seiner Armbrust, doch die Chimäre bäumte sich auf, und der explosive Bolzen flog harmlos an ihr vorbei. Das Ungeheuer brüllte vor Zorn, als es vorbeiraste, ohne sie anzugreifen, und die Freunde auf dem Sims konnten sehen, daß sowohl der Drachenkopf als auch der Ziegenkopf leblos im Wind baumelten. Ivan, der die Löwenmähne umklammerte, jauchzte vor Begeisterung, während er versuchte, das Tier in die eine oder andere Richtung zu lenken. »Spring ab!« schrie Danica dem Zwerg zu, als der Berg vor ihnen aufragte. Die junge Frau sprang von dem Untier, als es über den Sims flog, hüpfte (unter Pikels erstauntem »Ei, ei!« und Vanders ungläubigem Starren) durch die Luft hinunter und gesellte sich zu Cadderly und Shayleigh. Der gelbbärtige Zwerg schien sie nicht zu hören, und Danica sprang vorsichtshalber noch einmal vom Sims, falls das Ungeheuer erneut abdrehen wollte. Die Chimäre widersetzte sich tatsächlich Ivans hartnäckigem Zerren und wollte ausbrechen, aber diesmal konnten sowohl Cadderly als auch Shayleigh einen perfekten Treffer landen. Shayleighs Pfeil drang tief in den Körper der Chimäre, und Cadderlys Schuß erwischte das Tier am Flügel. Die Kraft der Explosion zerschmetterte den Knochen und brachte die Chimäre dazu, sich mehrfach zu überschlagen. Ivan riß und zerrte hektisch an der Kreatur, während er nach einem sicheren Landeplatz Ausschau hielt, doch da warf sich
das Ungeheuer herum und wandte sich wieder dem vor ihnen aufragenden Berg zu. »Spring!« flehten die Gefährten den Zwerg an. »Schneebrett!« kreischte Ivan hoffnungsvoll auf und hielt den Löwenkopf auf eine weiße Nase zu, die nur ein Dutzend Fuß über dem Weg aus dem Berghang herausragte. »Schneebrett!« Nicht ganz – die dünne Schneeschicht, die den herausragenden Felsen bedeckte, stellte keineswegs ein Schneebrett dar. »Bumm«, bemerkte Pikel und schnitt eine Grimasse, als die Chimäre und Ivan schwer aufprallten, wobei der Zwerg zurückgeworfen wurde. Schlitternd und rutschend kam er herunter, bis er – erstaunlicherweise auf beiden Füßen – auf dem Weg zum Halten kam. Die zerschmetterte Chimäre schlug noch einen Augenblick um sich, bis Shayleighs nächster Pfeil in den Löwenkopf sank, um ihre Todesqualen zu beenden. Ivan drehte sich zu Cadderly und den anderen um. Seine Augen rollten unabhängig voneinander in den Augenhöhlen herum. Irgendwie trug Ivan immer noch seinen Hirschgeweihhelm, und irgendwie war Shayleighs gesplitterter Pfeil nicht verrutscht. »Wer hätte das gedacht?« fragte er unschuldig und mit einem lahmen Versuch, die Achseln zu zucken, ehe er vornüber auf den Weg kippte.
Prüfung der Willenskraft Cadderly und Shayleigh liefen augenblicklich auf den sprachlosen Zwerg zu, aber Danica sprang auf den Sims zurück, griff nach Cadderly, zog ihn zu sich herum und küßte
ihn heftig auf den Mund. Dann wich sie zurück, und ihre Züge waren vor Bewunderung und Dankbarkeit verzerrt – und vor Ekstase. Ihr Atem ging hektisch, ihre Augen schossen wild hin und her, von der Luft hinter dem Abgrund zu ihren verzauberten Füßen und zu dem Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. »Ich will noch mal!« platzte sie heraus. Cadderly sah erstaunt aus, bis ihm klar wurde, daß seine Geliebte gerade in der Luft gelaufen war. Was für eine unglaubliche Erfahrung mußte das gewesen sein! Er starrte Danica an. Als ihm dann Ivans Lage wieder einfiel, sah er zu Pikel, der glücklich an seiner Hammelkeule knabberte (anscheinend war Ivan nicht besonders schwer verletzt), und zu dem Felsen, an dem der wilde Ritt des Zwerges und der Chimäre ein abruptes Ende gefunden hatte. Was für ein Wahnsinn, mitten in einem verzweifelten Vorhaben, von dessen Erfolg leicht das Leben der Menschen und Elfen in der ganzen Umgebung abhängen konnte! Und Danicas funkelnde braune Augen, die so voller Bewunderung waren, verrieten Cadderly noch etwas. Er stand in vorderster Front, denn er hatte unvermeidlich die Führung in diesem Kreuzzug übernommen. Er hatte nach der Verantwortung verlangt – insbesondere, als er Abt Thobicus' Geist beeinflußt hatte –, aber jetzt, wo ihm ihr wahres Gewicht bewußter wurde, bekam er es mit der Angst zu tun. Bisher hatte er sich stets auf seine starken Freunde verlassen. Er hatte den Weg gewiesen, und sie hatten – mit Waffen und mit List – seine Pläne umgesetzt. Aus dem Ausdruck in Danicas Augen war jedoch zu schließen, daß Cadderlys Bürde sich nunmehr vergrößert hatte. Seine wachsenden magischen Kräfte waren zur wichtigsten Waffe der Gruppe geworden. Cadderly wollte vor seiner neuen Rolle nicht zurückschrecken, wollte von ganzem Herzen und mit aller Kraft weiterkämpfen. Aber er fragte sich, ob er den
Erwartungen seiner Freunde gerecht werden, ob der Danicas Augen weiterhin zum Funkeln bringen konnte. Das war alles zuviel für den überlasteten jungen Priester. Es begann mit einem peinlich berührten Kichern und endete damit, daß Cadderly auf dem steinigen Weg saß und einen fast hysterischen Lachanfall bekam. Der Anblick von Vander, der aufgestanden war und auf ihn zukam, ernüchterte ihn. Obwohl Vanders furchtbare Wunden sich bereits schlossen, verriet das Gesicht des Riesen, welche Schmerzen er litt und daß er die ganze Situation überhaupt nicht komisch fand. »Ich hatte dir gesagt, daß wir zu hoch oben sind«, erklärte der Firbolg mit leiser, fester Stimme. Cadderly dachte einen Augenblick nach. Dann erläuterte er dem Riesen, daß zwar das seltsame belebte Schneewesen ein natürliches Ungeheuer dieser Gegend gewesen sein könnte, doch sowohl die Chimäre als auch das andere geflügelte Ungeheuer, der Mantikor, magischer Natur und keine Bewohner kalter, einsamer Berggipfel waren. Cadderly brachte seine Erklärung jedoch nicht mehr zu Ende, denn plötzlich wurde er sich der Bedeutung seiner eigenen Schlußfolgerungen bewußt. Magische Wesen? Was war ich für ein Dummkopf, dachte Cadderly. Vander und seinen Freunden bot er nur ein plötzlich verwirrtes Gesicht. Er schloß die Augen und durchsuchte im Geist die Region, fahndete nach dem magischen Auge des heimlichen Zauberers – denn zweifellos hatte jemand diese beiden Ungeheuer gelenkt! Fast augenblicklich spürte er die Verbindung, spürte die gezielte Linie magischer Energie, die nur dem Suchen eines hellsehenden Zauberers entspringen konnte, und ließ sofort eine Gegenlinie los, um die Gegenseite abzulenken. Dann baute er magische Schutzschirme auf, die einen Schleier um ihn und seine Freunde legten, der durch
suchende Augen aus der Ferne nicht leicht zu durchdringen sein würde. »Was ist denn?«, fragte Danica, als er schließlich seine grauen Augen wieder aufschlug. Cadderly schüttelte den Kopf. Dann sah er Vander an. »Such einen geschützten Platz, wo wir unser Lager aufschlagen und die Wunden versorgen können«, wies er den Firbolg an. Danica starrte ihn immer noch an, denn sie erwartete eine Erklärung, doch der junge Priester bot nur ein weiteres Kopf schütteln an, weil er sich wirklich dumm vorkam, daß er sie alle nicht schon viel früher auf dieser Reise gegen suchende Zauberer geschützt hatte. Wieder fragte er sich, ob er die enttäuschen würde, die gelernt hatten, ihm zu vertrauen. Die Chimäre und der Mantikor waren von Aballister geschaffen, waren wie Kinder, welche die Magie des mächtigen Zauberers ins Leben gerufen und aufgezogen hatte, bis sie groß und mächtig waren. Als sie in den Bergen fielen, spürte Aballister den Verlust, als hätte man ihm einen Teil seiner eigenen Energie entrissen. Er verließ sein Zimmer so unvermittelt, daß er nicht einmal mehr sein Zauberbuch zuschlug oder Schutzrunen gegen Eindringlinge anbrachte. Er stürmte den Gang zu Dorigens Raum hinunter und hämmerte an die Tür, wodurch er die Frau beim Lesen störte. »Finde sie«, fauchte Aballister und drängte ins Zimmer, sobald Dorigen die Tür geöffnet hatte. »Was ist passiert?« fragte sie. »Finde sie!« befahl Aballister wieder. Er fuhr herum, packte Dorigens Hand und zog sie zu dem Platz vor ihrer Kristallkugel. Dorigen riß ihre Hand aus Aballisters Griff und sah ihn unheilverkündend an.
»Finde sie!« knurrte der Zauberer zum dritten Mal, ohne einen Fingerbreit vor ihrem drohenden Blick zurückzuweichen. Dorigen las aus Aballisters Gesicht, wie dringend es dem Zauberer war. Er wäre nicht hergekommen und hätte sie so respektlos behandelt, wenn er nicht schreckliche Angst hätte. Sie holte ihre Kristallkugel und starrte lange Zeit hinein, während sie sich darauf konzentrierte, die Verbindung zu Cadderly wieder herzustellen. Eine ganze Weile zeigte die Kugel nichts als wirbelnden, grauen Nebel. Dorigen drängte weiter, befahl dem Nebel, Gestalt anzunehmen. Die Kugel wurde tiefschwarz. Die Zauberin blickte hilflos zu Aballister auf, worauf dieser sie wegdrängte und ihren Platz einnahm. Mit all seiner magischen Kraft widmete er sich der Kugel, warf seine unglaubliche Willenskraft gegen die schwarze Barriere ins Feld. Jemand hatte sich vor Dorigens Spähzauber geschützt. Aballister knurrte und steckte noch mehr magische Energie in seine Anstrengungen, bis er den schwarzen Schleier fast durchstoßen hatte. Die Macht der Verteidigung verriet ihm unmißverständlich, wer ihr Urheber war. »Nein!« knurrte Aballister. Er war entschlossen, sich den Weg durch diesen Schutzzauber zu erzwingen. Die Kugel blieb stumm. »Verdammt soll er sein!« rief der Zauberer und schlug die Kristallkugel aus ihrem Ständer. Dorigen fing die massive Kugel auf, als sie vom Rand des Tisches rollte. Sie sah Aballister zusammenzucken, obwohl er stur genug war, nicht nach seiner sogleich anschwellenden Hand zu greifen. »Dein Sohn ist vortrefflicher …«, setzte Dorigen an, aber Aballister schnitt ihr mit einem gereizten Knurren das Wort ab. Er sprang auf und brachte dabei den Stuhl zum Kippen. »Mein Sohn ist eine lästige Fliege«, höhnte Aballister, der an die vielen Möglichkeiten dachte, mit denen er Cadderly und seine Freunde für den Verlust der Chimäre und des Mantikors
zahlen lassen würde. »Die nächste Überraschung, die ich ihm schicke, wird eine Kostprobe meiner eigenen Kräfte sein.« Ein Schauer lief Dorigen über den Rücken. Sie hatte Aballister noch nie so entschlossen erlebt. Sie war seine Schülerin, hatte viele machtvolle magische Demonstrationen Aballisters erlebt – und immer gewußt, daß sie nur ein Bruchteil dessen waren, was er entfesseln konnte. »Finde sie!« grollte Aballister nun wieder, bevor er – so nahe an einem unkontrollierten Wutausbruch, wie Dorigen ihn noch nie gesehen hatte – aus dem Raum fegte und die Tür hinter sich zuschlug. Dorigen nickte gehorsam, aber sobald sie überzeugt war, daß Aballister nicht sofort zurückkehren würde, legte sie die Kugel wieder auf ihren Ständer und breitete ein Tuch darüber. Cadderly hatte sich gegen ihre Magie zur Wehr gesetzt, und die Kugel würde mindestens einen Tag lang nicht antworten, wie Dorigen wußte. In Wirklichkeit erwartete sie auch am nächsten Tag nicht mehr Erfolg, denn Cadderly hatte ihre heimliche Beobachtung inzwischen offenbar bemerkt und würde vermutlich nicht mehr so unvorsichtig sein. Dorigen blickte zu der geschlossenen Tür und dachte wieder, daß Aballister die Macht seines Sohnes nicht verstand. Ebensowenig wie sein Mitgefühl, erkannte sie, als sie ihre noch immer nicht verheilten Hände ballte und bedachte, daß sie allein durch Cadderlys Gnade noch sehr lebendig war. Aber genausowenig verstand Cadderly die Macht seines Vaters. Dorigen war froh, daß Druzil und nicht sie in die Nähe des jungen Priesters ausgesandt worden war, denn wenn Aballister seinen nächsten Schlag gegen Cadderly führen würde, würde er – so vermutete Dorigen – ganze Berge dem Erdboden gleichmachen. Als Danica erwachte, war das Feuer heruntergebrannt und beleuchtete gerade noch die vordersten Ecken der großen Höhle, die die Gruppe gefunden hatte. Sie hörte das
beruhigende Schnarchen der Zwerge, Ivans Knurren, das Pikels Pfeifen ergänzte, und spürte, daß Shayleigh hinter ihr an der Wand friedlich ruhte. Auch Vander schlief. Er lehnte auf der anderen Seite des leinen Feuers an einem Stein. Die Nacht war dunkel und ruhig, der Schneefall hatte aufgehört, obwohl der nachlassende Wind weiterhin ein ruhiges, stetiges Stöhnen am Breiten Eingang zur Höhle verursachte. Allem Anschein nach war im Lager alles friedlich, doch der geschärfte Instinkt der Adeptin verriet ihr, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Sie stützte sich auf den Ellenbogen und sah sich um. Ein zweiter Lichtschein war in der Höhle zu sehen, seitlich und teilweise verdeckt von Cadderlys sitzender Gestalt. Cadderly? Danica blickte zum offenen Höhleneingang, wo der junge Priester eigentlich Wache halten sollte. Sie hörte ein leises Rascheln und dann gedämpftes Rezitieren. Lautlos schälte sich Danica aus ihren Decken und schlich über den Steinboden. Cadderly saß im Schneidersitz vor einer brennenden Kerze. Neben ihm auf dem Boden lag ein ausgebreitetes Pergament, das von kleinen Steinen gehalten wurde. Daneben sah sie die Schreibsachen des jungen Priesters und das Buch der Universellen Harmonie, das heilige Buch des Deneir, beides geöffnet. Danica schlich näher heran, hörte Cadderly leise singen und sah, wie der junge Priester ein paar Elfenbeinstäbchen vor sich auf den Boden warf. Er machte ein Zeichen auf das Pergament, dann warf er eine neue Feder vor sich in die Luft, sah zu, wie sie auf den Stein trudelte, und machte danach eine Notiz über ihre Richtung. Danica hatte lange genug unter Priestern gelebt, um zu wissen, daß ihr Geliebter eine Art Wahrsagezauber durchführte. Sie wäre fast schreiend aufgesprungen, als sie eine Hand auf ihrem Rücken spürte, aber sie war noch geistesgegenwärtig genug, sich genügend Zeit zu lassen, um zu erkennen, daß
Shayleigh neben sie rückte. Die Elfenfrau warf einen neugierigen Blick auf Cadderly, dann auf Danica, doch die schüttelte nur den Kopf und breitete die Hände aus. Cadderly las etwas aus dem Buch, dann wühlte er in seinem Gepäck herum und zog einen kleinen Spiegel mit Goldrand und ein Paar Handschuhe, einen schwarzen und einen weißen, hervor. Danica blieb der Mund offenstehen. Cadderly hatte den Ghearufu mitgenommen, die drei bösen Gegenstände, die der Assassine bei sich gehabt hatte und die er laut Geheiß von Abt Thobicus zur Untersuchung in der Bibliothek hatte lassen sollen! Die Bedeutung des Ghearufu rief in Danica unzählige Fragen auf. Nach allem, was sie mitbekommen und was Cadderly ihr gesagt hatte, hatten diese Dinge etwas mit Besessenheit zu tun – konnten Cadderlys seltsames Benehmen, sein hysterisches Gelächter auf dem Sims und sein Beharren darauf, daß die Gruppe gefährlich hoch in den Bergen blieb, irgendwie mit dem Ghearufu in Verbindung stehen? Kämpfte Cadderly etwa selbst gegen irgendeine Form der Besessenheit, eine böse Präsenz, die sein Urteilsvermögen umwölkte und sie dabei alle in die Irre führte? Shayleigh legte Danica wieder die Hand auf den Rücken und sah die Mönchin besorgt an, doch eine Bewegung neben ihnen lenkte sie beide ab. Mit drei schnellen Sätzen hatte Vander die Höhle durchquert, Cadderly hinten an seiner Tunika gepackt und den jungen Priester hochgehoben. »Was denkst du dir eigentlich?« schrie der Firbolg. »Willst du etwa hier drinnen Wache halten …?« Vander blieben die Worte im Halse stecken; alles Blut wich aus seinem geröteten Gesicht. Vor seinen Augen lag der Ghearufu, der teuflische Apparat, der ihn so viele tragische Jahre zum Sklaven gemacht hatte.
Danica und Shayleigh rannten zu ihnen, denn Danica befürchtete, daß Vander Cadderly vor Überraschung und Entsetzen durch die Höhle schleudern könnte. »Ja, was denkst du dir eigentlich?« stimmte Danica Vander zu, doch während sie das sagte, stellte sie sich vor den Firbolg und setzte geschickt ihren Daumen an einen Druckpunkt auf Vanders Unterarm, wodurch sie den Riesen schweigend zwang, Cadderly loszulassen. Mit finsterer Miene zog der junge Priester seine Tunika zurecht und ging dann daran, seine Sachen einzusammeln. Zuerst wirkte er beschämt, doch als er dann Danicas resoluten Blick wahrnahm, machte er ebenfalls ein entschlossenes Gesicht. »Du hättest das nicht mitnehmen dürfen«, sagte Danica zu ihm. Cadderly antwortete nicht sofort, obwohl er innerlich schrie, daß der Ghearufu der Hauptgrund für ihr Hiersein war. Die anderen drei wechselten besorgte Blicke. »Wir sind nach Burg Trinitatis unterwegs«, argumentierte Danica. »Das ist nur ein Grund«, erwiderte Cadderly geheimnisvoll. Er war sich nicht sicher, ob er ihnen die Wahrheit sagen und ob er sie überhaupt zwingen sollte, ihn zu dem schrecklichen Ort zu begleiten, wo der Ghearufu zerstört werden konnte. Danica merkte, wie sich Vanders Muskeln spannten, und lehnte sich fester gegen den Firbolg, um ihn davon abzuhalten, vorzuspringen und den jungen Priester zu erdrosseln. »Hast du immer so wichtige Geheimnisse vor denen, die mit dir ziehen?« fragte Shayleigh. »Oder glaubst du, daß Vertrauen kein grundlegender Bestandteil jeder Abenteurergruppe ist?« »Ich hätte es euch ja gesagt!« fauchte Cadderly sie an. »Wann?« grollte Danica zurück. Er sah zwischen den beiden Frauen hin und her, dann in Vanders wütendes Gesicht und schien die Fassung zu verlieren.
»Hat der Ghearufu dich im Griff?« fragte Danica offen. »Nein!« gab Cadderly augenblicklich zurück. »Obwohl er es versucht hat. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie abgrundtief böse dieses Ding ist.« Vander räusperte sich, eine gezielte Erinnerung daran, daß der Firbolg den Stachel des Ghearufu schon gespürt hatte, lange bevor Cadderly überhaupt von dessen Existenz wußte. »Welchen Nutzen soll er also bringen?« schimpfte Shayleigh. Cadderly biß sich auf die Unterlippe und blickte von einem zum anderen. Er befürchtete, daß seine Begleiter seinen Prioritäten nicht beipflichten würden, daß sie Burg Trinitatis weiterhin als ihr wichtigstes Ziel ansahen. Wieder plagten den jungen Priester Zweifel daran, daß er die Führung übernehmen konnte. Er sagte sich, daß er seinen Freunden zumindest eine Erklärung schuldig war. Aber das war nur eine Verstandesentscheidung, wie er sehr genau wußte. Er wollte seinen Freunden alles erklären, wollte sie bei der überaus gefährlichen Aufgabe an seiner Seite wissen. »Wir sind ausgezogen, um Burg Trinitatis zu suchen«, fing er an, während sein Gewissen mit jedem Wort zu kämpfen hatte. »Aber das ist nur das eine Ziel. Ich habe viel nachgeforscht und habe erkannt, daß es nur wenige – sehr wenige – Möglichkeiten gibt, um den Ghearufu dauerhaft zu zerstören.« »Und das konnte nicht warten?« fragte Danica. »Nein!« gab Cadderly verärgert zurück. Bei seinem plötzlich aggressiven Tonfall wechselten die drei Zweifler erneut besorgte Blicke, und Danica fauchte förmlich, als sie den Ghearufu ansah. »Wenn ich den Ghearufu in der Bibliothek gelassen hätte, wäre das Ausmaß der Katastrophe, die wir bei unserer Rückkehr vorgefunden hätten, nicht auszudenken gewesen«,
erläuterte Cadderly, der sich wieder etwas gefangen hatte. »Und wenn wir ihn den ganzen Weg bis Burg Trinitatis mitnehmen, könnten unsere Feinde einen Weg finden, ihn gegen uns zu verwenden.« Auch er sah die drei Gegenstände an. Sein Gesicht war vor Angst ganz blaß. »Aber zu dieser gefährlichen Situation wird es nicht kommen«, sagte er schließlich fest. »Es gibt einen Weg, die Bedrohung durch den Ghearufu für immer zu beenden. Deshalb haben wir die hohen Pfade eingeschlagen«, erklärte er mit einem direkten Blick zu Vander. »Es gibt hier in der Nähe einen Berg, der in der Gegend ziemlich bekannt ist.« »Fyrentennimar?« stieß Danica aus, und Shayleigh, die den gefürchteten Namen erkannte, schnappte unwillkürlich nach Luft. »Der Gipfel heißt Nachtglut«, fuhr Cadderly uneingeschüchtert fort. »In früheren Jahren soll im Dunkel der Nacht ein Feuer darin geleuchtet haben, ein Schein, den man bis Carradoon und über die ganze Leuchtende Ebene hin sehen konnte.« »Ein Vulkan«, überlegte Vander, dem seine eigene zerklüftete Heimat zwischen den vielen lavaspeienden Bergen einfiel. »Ein Drache«, stellte Danica richtig. »Der Legende nach ein alter Roter.« »Noch älter, denn die Geschichten sind über zwei Jahrhunderte alt«, ergänzte Shayleigh ernst. »Und nicht nur eine Legende«, versicherte sie ihnen. »Galladel, der alte König des Waldes von Shilmista, konnte sich noch an die Zeit des Drachen erinnern, an die Verwüstung, die der alte Fyren über Carradoon und den Wald gebracht hat.« »Der verflixte Grünschnabel hat vor, einen Drachen zu wecken?« bellte Ivan und stürmte herbei, um sich dem Kreis um Cadderly beizugesellen. Alle waren so gebannt gewesen,
daß keinem aufgefallen war, daß das rhythmische Schnarchen der Zwerge aufgehört hatte. »Eh, eh«, sagte Pikel zu Cadderly und wackelte vor dessen Gesicht mit seinem Finger hin und her. »Wollt ihr, daß der Ghearufu zerstört wird?« fragte Cadderly nur und wandte sich damit besonders an Vander, der wohl am leichtesten als Verbündeter gegen den wachsenden Proteststurm zu gewinnen war. Der Firbolg war hin- und hergerissen. »Um welchen Preis?« fragte Danica, noch ehe Vander seine Gedanken ordnen konnte. »Der Drache schläft seit Jahrhunderten – Jahrhunderten des Friedens. Wie viele Leben wird es kosten, wenn er beim Erwachen seinen Hunger stillen will?« »Einen schlafenden Wurm soll man nicht wecken, hat mein Papi immer gesagt«, flocht Ivan ein. »Joh«, fügte Pikel eifrig nickend hinzu. Cadderly seufzte resigniert, stopfte den Ghearufu in sein Gepäck und warf es sich über eine Schulter. »Ich habe den Auftrag, den Ghearufu zu zerstören«, sagte er mit einer Stimme voller Resignation. »Es gibt nur den einen Weg.« »Dann muß es warten«, erwiderte Danica. »Die Bedrohung der gesamten Region …« »Ist eine vorübergehende Gefahr in einer Gesellschaft, die vergehen wird«, beendete Cadderly den Satz philosophisch. »Der Ghearufu ist nichts Vorübergehendes. Er hat die Welt heimgesucht, seit er vor vielen tausend Jahren in den Unteren Ebenen geschaffen wurde. Ich zwinge euch nichts auf«, fuhr Cadderly ruhig fort. »Ich werde von der Voraussicht eines Gottes geführt, den ihr nicht anbetet. Geht und beratet euch untereinander, trefft eine gemeinsame Entscheidung oder jeder eine eigene. Dies ist meine Aufgabe, und sie wird nur zur euren, wenn ihr das so wollt. Und du hast recht«, sagte er ehrlich zerknirscht zu Shayleigh.
»Es war falsch, daß ich euch nicht gleich alles verraten habe, als wir aus der Bibliothek fortgingen. Die Situation war … schwierig.« Er sah Danica an, denn er wußte, daß sie allein verstand, was er durchgemacht hatte, um Abt Thobicus zu »überzeugen«. Die anderen zogen sich langsam zurück, nicht ohne Cadderly alle noch einmal anzuschauen. »Der Junge ist verrückt«, war Ivans Kommentar, der laut genug ausfiel, daß Cadderly ihn hören konnte. »Er folgt der Stimme seines Herzens«, hielt Danica ruhig dagegen. »Auch ich zweifle nicht an Cadderlys Ehrlichkeit«, fügte Shayleigh hinzu. »Es ist seine Weisheit, an der ich meine Zweifel habe.« Pikel nickte weiterhin eifrig zustimmend. »Einen Drachen wecken«, sagte Vander grimmig und schüttelte den Kopf. »Einen Roten«, fügte Danica betont hinzu, denn rote Drachen waren die bösartigsten und mächtigsten. »Inzwischen womöglich einen uralten Roten.« Noch immer nickte Pikel, und Ivan gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Au«, sagte der grünbärtige Zwerg mit finsterem Blick zu seinem Bruder. »Man geht doch nicht los und weckt einen Drachen«, warf Ivan ein, wieder so laut, daß Cadderly es hören mußte. »Ich befürchte etwas anderes«, sagte Danica. »Wird Cadderly auch wirklich von seinem Gott geführt, oder führt ihn vielleicht der Ghearufu in die Irre, zu einem Ort, wo er einen mächtigen Verbündeten finden könnte?« Der Gedanke ließ die anderen entsetzt zurückweichen. Shayleigh und Vander seufzten tief auf, und Pikel und Ivan stießen ein »Ooooh«, aus, bis Ivan auffiel, daß er Pikel nachmachte, und er seinen Bruder mißtrauisch anstarrte.
»Was machen wir also?« fragte Shayleigh. Sie standen eine ganze Weile still da, bis Danica eine Entscheidung wagte. »Die größte Gefahr droht im Augenblick aus Burg Trinitatis«, befand sie. »Aber der Ghearufu kommt nicht mit uns«, beharrte Vander, der seine Riesenstimme kaum zu dämpfen vermochte. »Wir können ihn hier in den Bergen vergraben und ihn wieder abholen, wenn die andere Aufgabe vollbracht ist.« »Da wird Cadderly nicht mitmachen«, überlegte Shayleigh, die zu dem entschlossenen jungen Priester hinübersah. »Dann fragen wir ihn gar nicht erst«, erwiderte Ivan mit verstohlenem Augenzwinkern. Er sah in Danicas Richtung und nickte. Nach einem flehentlichen Blick zu dem Mann, den sie liebte, gab Danica das Nicken zurück. Allein ging sie zu Cadderly, und Ivan glaubte, sie würde den jungen Priester sofort überwältigen. »Ihr geht nicht mit auf den Berg Nachtglut«, stellte Cadderly fest, als Danica nahte. Danica sagte kein Wort. Unbewußt ballte und entspannte sie eine Faust an ihrer Seite – eine Bewegung, die Cadderly nicht entging. »Der Ghearufu ist von größter Bedeutung«, sagte er. Noch immer antwortete Danica nicht. Cadderly aber las ihre Gedanken, sah, daß sie mit dem beschlossenen Vorgehen haderte, und begriff, daß dies nur ein Hinweis auf Verrat sein konnte. Er begann leise zu singen, als Danica auf ihn zukam. Plötzlich bewegte sie sich sehr schnell; sie versuchte, nach ihm zu greifen, stellte jedoch fest, daß er substanzlos geworden war. »Helft mir!« rief Danica ihren Freunden zu, die gleich herbeieilten. Ivan und Pikel warfen sich hin, um nach Cadderlys Beinen zu greifen. Die Zwerge stießen mit den Köpfen aneinander und verknäulten sich ringend, bis sie nach
einigen Sekunden erkannten, daß sie sich nur gegenseitig erwischt hatten. Denn Cadderlys Gestalt verblaßte rasch und wurde vom Wind davongetragen.
Unterwegs Druzil saß auf einem geborstenen Baumstumpf. Seine Klauenfinger hämmerten nervös auf seine knochigen Beine. Von hier aus kannte das Teufelchen den Weg zur Erhebenden Bibliothek und wußte, daß der bösartige Geist die falsche Richtung eingeschlagen hatte und jetzt in die offenen, wilden Berge zog. Druzil war nicht übermäßig enttäuscht – er wollte wirklich nicht wieder in die Nähe der furchtbaren Bibliothek gelangen und bezweifelte, daß selbst dieser mächtige Geist sehr lange gegen die vereinten Kräfte der vielen guten Priester dort bestehen konnte. Dennoch war er verwirrt. Wurde dieser Geist von einem echten Ziel geleitet, wie Druzil anfänglich geglaubt hatte, weil Aballister es ihn hatte glauben lassen? Oder würde das verdammte Ding ziellos durch die Berge streifen, um jede Kreatur zu vernichten, die ihm zufällig in den Weg geriet? Dieser Gedanke paßte dem ungeduldigen Teufelchen überhaupt nicht. Logischerweise erkannte Druzil, daß es eine wichtige Verbindung zu diesem Untoten geben mußte, wahrscheinlich eine Verbindung, die mit Cadderly zu tun hatte. Wenn nicht, warum sollte Aballister ihn dann hierherschicken, damit er über das unkontrollierbare Wesen Wache hielt? Zu viele Gedanken bedrängten das Teufelchen, zu viele Möglichkeiten, die Druzil zu bedenken hatte. Er sah zu dem Ungeheuer, das reißend und mordend einen Weg nach Norden verfolgte und dabei mit scheinbar unendlicher Wut Tiere erschreckte und Pflanzen zerfetzte. Dann richtete Druzil den
Blick nach innen, um sich auf jenen magischen Bereich zu konzentrieren, der extraplanaren Wesen gemeinsam ist. Er sandte seine Gedanken quer über die Bergpässe aus, denn er wünschte eine telepathische Verbindung zu seinem Zaubermeister. Trotz aller Dringlichkeit seines Rufes war er allerdings überrascht, als Aballister auf sein mentales Eindringen sofort reagierte. Wo ist Cadderly? kamen die Gedanken des Zauberers zu ihm. Hat der Geist ihn eingeholt? Viele von Druzils Fragen waren gerade beantwortet worden. Aballisters mentale Befragung ging ohne Pause weiter; der Zauberer bedrängte Druzils Gedanken mit einer so schnellen Abfolge von Fragen, daß Druzil nicht einmal Zeit zum Antworten hatte. Das verschlagene Teufelchen begriff sofort, daß es bei dieser Unterhaltung am längeren Hebel saß. Aballister brauchte dringend Antworten. Druzil rieb sich die Klauenhände, genoß seine Überlegenheit und war zuversichtlich, alle Informationen zu bekommen, die er brauchte, indem er Antwort für Antwort teuer verkaufte. Viele Minuten später schlug Druzil die Augen auf, denn nun sah er die Situation ganz anders. Aballister war nervös gewesen – das hatte Druzil sowohl aus der Intensität der telepathischen Antworten des Zauberers als auch aus der Tatsache entnehmen können, daß Aballister diesmal wenig unbeantwortet gelassen hatte. Der Zauberer gehörte eigentlich zur verschlossenen Sorte, hielt immer Informationen zurück, von denen er glaubte, daß seine Untergebenen sie nicht zu wissen brauchten. Nicht aber dieses Mal. Diesmal hatte der Zauberer Druzil mit Informationen über den Geist und über Cadderly überflutet. Da das Teufelchen das Verhalten seines Meisters gut kannte, konnte es keinen Zweifel geben, daß Aballister auf einem sehr gefährlichen Grat balancierte. Seit er Druzil einst zu sich gerufen hatte, hatte das Teufelchen sich danach gesehnt,
Aballisters voll entfesselte Macht zu sehen. Er hatte gesehen, wie Aballister einen Rivalen mit einem Blitzschlag niedergestreckt und buchstäblich gebraten hatte; er war Zeuge geworden, wie der Zauberer eine Höhle prahlerischer Goblins mit einem Feuerball erfüllt hatte, der die Steine geschwärzt und sämtliche Ungeheuer erledigt hatte; er war mit dem Zauberer ins ferne Nordland gezogen und hatte mit angesehen, wie Aballister einen ganzen Stamm Taer – zottiger weißer Kreaturen – ausgelöscht hatte. Aber das waren nur Andeutungen gewesen, ein aufreizender Vorgeschmack auf das, was kommen mußte. Obwohl er den Zauberer nie wirklich respektiert hatte (Druzil hatte noch nie jemanden aus der Ebene der Materie respektiert), hatte er immer die innere Kraft des Mannes gespürt. Der nervöse, gereizte Aballister, der vor Wut kochte, daß ausgerechnet sein eigener Sohn seine Pläne für die Region bedrohte, brodelte wie ein Topf vor dem Überkochen. Und Druzil, dieser Inbegriff von Bosheit und Chaos, fand die ganze Sache ausgesprochen delikat. Er schlug mit den Flügeln und brach auf, um den inzwischen weit entfernten Geist zu suchen. Der Spur des Wesens zu folgen – einem breiten Streifen beinahe vollständiger Zerstörung – war nicht schwer, und nach einer knappen Stunde war es wieder in Sicht. Er beschloß, versuchsweise Kontakt mit dem Geist aufzunehmen, um seine Verbindung zu dem Wesen zu festigen, ehe es Cadderly einholte und ehe Aballister seine zerstörerischen Kräfte für sich beanspruchen konnte. Immer noch unsichtbar flog das Teufelchen um den marschierenden Geist herum und hockte sich auf einen niedrigen Zweig in einer Pinie ein Stück weiter in die Richtung, die der Geist eingeschlagen hatte. Der Geist witterte, als Druzil vorbeiflog, schlug sogar träge zu, doch da war das schnelle Teufelchen längst fort. Sobald
Druzil außer Reichweite war, schien der Geist der unsichtbaren Störung keine Beachtung mehr zu schenken. Druzil nahm Gestalt an, als der Geist sich näherte. »Ich bin ein Freund«, erklärte er sowohl in der Umgangssprache als auch telepathisch. Die Kreatur fauchte und rückte schneller vor, immer ihrem verkohlten Arm nach. »Freund«, wiederholte Druzil, diesmal in der knurrenden, zischenden Sprache der Unteren Ebenen. Noch immer reagierte das vorrückende Wesen nicht. Druzil bombardierte den Geist geradezu mit Gedanken, die alle Freundschaft oder Bündnis verhießen, doch das Ungeheuer kam nur weiterhin drohend auf ihn zu. »Freund, du dummes Ding!« schrie Druzil, der aufsprang und trotzig seine Hände in die Hüften stemmte. Die Kreatur war nur noch wenige Schritte entfernt. Ein Fauchen und ein Sprung brachten das Ungeheuer bis zu Druzil, wo der ungebrochene Arm nach dem Teufelchen langte. Dieses quiekte, weil ihm plötzlich die Gefahr bewußt wurde, und flatterte heftig mit den Flügeln, um aufzusteigen. Geist riß einfach den Ast vom Baum, schleuderte ihn fort und schlug weiter wütend zu, und Druzil, der im Nadelkleid der dichten, immergrünen Bäume gefangen war, flatterte um sein Leben. Mit schlagenden Flügeln und reißenden Klauen versuchte er, eine Öffnung zu erzwingen, durch die er ins Freie entkommen konnte. Er machte sich wieder unsichtbar, doch das Ungeheuer schien ihn trotzdem zu spüren, denn seine Verfolgung blieb konzentriert und unnachgiebig. Das Wesen war direkt hinter ihm. Druzils peitschenartiger Schwanz, von dem tödliches Gift tropfte, traf die Kreatur ins Gesicht, wo sie ein tiefes Loch in die hohle Wange schlug. Die Kreatur zuckte nicht einmal. Der starke Arm kam wieder hoch, riß einen großen Ast ab und öffnete dadurch das
Dickicht so weit, daß der nächste Angriff nicht abgelenkt werden würde. Druzil schlug mit allen vieren um sich, kämpfte wild gegen das Gestrüpp. Und dann war er durch, schoß an die Luft, wo ihn wenige Flügelschläge außer Reichweite des fauchenden Ungeheuers trugen. Der Untote tauchte einige Augenblicke später aus dem mitgenommenen Baum auf. Offensichtlich verschwendete er keinen zweiten Gedanken an das Wesen, das gerade vor seiner erschreckenden Kraft geflohen war. »Bene tellemara«, murmelte das tieferschütterte Teufelchen, nachdem es sich auf einen Felsvorsprung über dem Pfad gehockt hatte und das stete, unablässige Vorrücken des unkontrollierbaren Ungeheuers beobachtete. »Bene tellemara.« Bis zum Bauch im Schnee steckend, sah Cadderly den langen, steilen Hang zum nebelumwölkten Gipfel des Berges Nachtglut empor. Obwohl der junge Priester seine magischen Sprüche anwendete, um die Kälte abzuhalten, fühlte er den Biß des scharfen Windes und das taube Gefühl, das in seine Beine kroch. Diesmal überlegte er, ob er seine mächtigste Magie anrufen sollte, wie er es getan hatte, als er seinen fehlgeleiteten Freunden entkommen mußte. Dann könnte er auf dem Wind den Berg hochlaufen. Doch er besann sich schnell eines Besseren, denn ihm war klar, daß er es nicht verantworten konnte, noch mehr magische Energie zu verschwenden – nicht, wenn ein alter roter Drache ihn erwartete. Er schüttelte entschlossen den Kopf und kämpfte sich weiter, Schritt für Schritt, zog sein Bein aus dem tiefen Schneesumpf und setzte es fest vor sich. Ein Schritt zur Zeit, höher und höher. Die Sonne war aufgegangen. Es war ein schöner, klarer Tag, so daß Cadderly beständig gegen die gleißende Helle der
Sonnenstrahlen anblinzeln mußte, die von dem unberührten Schnee reflektiert wurden. Hin und wieder verrutschte ein Abschnitt unter seinem Gewicht und knirschte; dann hielt Cadderly ganz still, weil er erwartete, daß eine Lawine ihn mitreißen würde. Er glaubte, einen Ruf zu hören, vielleicht Danica, die seinen Namen rief. Das war nicht unmöglich; er hatte seine Freunde nicht allzuweit von hier zurückgelassen, und er hatte ihnen gesagt, wohin er wollte. Dieser Gedanke ließ Cadderly wieder klarwerden, wie verwundbar er aussehen mußte. Ein schwarzer Punkt auf einem offenen Schneefeld, der langsam aufstieg und dabei kaum vorwärts kam. Kreisten noch mehr Chimären oder andere geflügelte Ungeheuer in dieser Gegend, die nach seinem Blut dürsteten? Direkt bevor er diesen letzten Hang in Angriff genommen hatte, hatte er innerlich nach Anzeichen für suchende Zauberer Ausschau gehalten. Er hatte keine gefunden, aber dennoch hatte er einige Schutzzauber gewirkt. Als er aber im Freien auf diesem Hang stand, war der junge Priester doch beunruhigt. Er zog seinen Mantel fester um den Hals und überlegte wieder, auf welche Magie er zurückgreifen konnte, um sich diesen anstrengenden Aufstieg zu erleichtern. Letztendlich jedoch nutzte er einzig seine Entschlossenheit. Die Beine taten ihm weh, und er stellte fest, daß ihm bei der Anstrengung in der dünnen Luft das Atmen schwerfiel. Weiter oben, unter dem Nebelschleier, fand er wieder ein Gebiet aus bloßem Stein vor und war zunächst überrascht – bis er den Grund dafür erkannte, daß diese Gegend so viel wärmer erschien. Also folgte Cadderly einfach der Wärme, und als er um einen großen Felsen herumkam, fand er eine geräumige Höhlenöffnung, die allerdings sicher nicht groß genug für einen ausgewachsenen Drachen war. Der junge Priester wußte trotzdem, daß er Fyrentennimar gefunden hatte, denn nur der Schlupfwinkel eines einzigen
Wesens konnte genug Wärme ausstrahlen, um im Winter den Schnee auf dem Berg Nachtglut zum Schmelzen zu bringen. Cadderly zog einige seiner äußeren Kleidungsstücke aus und setzte sich, um tief durchzuatmen und seinen müden Gliedern Ruhe zu gönnen. Wieder dachte er an den mächtigen Gegner, dem er bald gegenüberstehen, und an die Sprüche, die er wahrscheinlich brauchen würde, wenn er bei dieser ungeheuerlichen Aufgabe eine Chance haben wollte. »Ungeheuerlich?« flüsterte Cadderly, der dem Klang des ernsten Wortes lauschte. Selbst der zu allem entschlossene junge Priester fragte sich mittlerweile, ob »absurd« nicht das passendere Wort war.
Ehrfurcht Cadderly konnte nicht fassen, wie warm die Luft wurde, sobald er durch die Öffnung in den Berg eingedrungen war. Er befand sich eher in einem Tunnel als in einer Höhle. Die Wände verliefen uneben und wanden sich wie ein Wurmloch allmählich ins Herz des Berges hinunter. Der junge Priester nahm seinen Reisemantel ab, schnürte ihn fest zusammen und legte ihn in seinen Packsack, wo er ihn sorgfältig um das Buch der Universellen Harmonie schlang. Er überlegte, ob er das dicke Buch und ein paar seiner wertvollsten Besitztümer am Eingang zurücklassen sollte, denn er befürchtete, daß – selbst wenn er seine Begegnung mit Fyrentennimar irgendwie überleben sollte – einige seiner Sachen verbrannt werden könnten. Mit trotzigem Kopfschütteln warf er dann den Packsack wieder über die Schulter. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt für pessimistische Gedanken. Er nahm eine Metallröhre heraus und zog die Verschlußkappe ab, wodurch er einen konzentrierten Lichtstrahl, der von einer verzauberten Scheibe
in der Röhre ausging, nach vorne richtete. Dann brach er auf. Im Gehen rief er sich das Lied des Deneir ins Gedächtnis, denn er wußte, daß er unter Umständen nur einen Lidschlag Zeit haben würde, auf seine magische Energie zurückzugreifen, wenn er gegen den gewaltigen Drachen eine Chance haben wollte. Zwanzig Minuten später war er immer noch unterwegs. Er kletterte gerade einen lockeren Geröllhang hinunter. Die Hitze war jetzt intensiver; selbst nachdem Cadderly seinen Spruch zum Schutz vor Kälte aufgehoben hatte, standen ihm die Schweißperlen auf der Stirn und brannten ihm in den Augen. Er durchquerte mehrere große Höhlen, während er durch die Tunnel hinabstieg, und fühlte sich ziemlich angreifbar, denn vor ihm war nur ein kleiner Streifen beleuchtet, und an beiden Seiten lauerte tiefe Finsternis. Ein Drehen an der äußeren Metallhülle seines Lichtapparats zog das Rohr zurück, so daß der Lichtstrahl etwas breiter wurde, aber noch immer mußte Cadderly gegen den nervösen Drang ankämpfen, seine Magie anzurufen und den ganzen Bereich zu beleuchten. Er atmete auf, als er wieder in einen engeren Tunnel kam, der jedenfalls so eng war, daß sich kein Drache hindurchquetschen konnte. Über hundert Fuß lang neigte sich der Boden gleichmäßig nach unten, doch dann fiel er plötzlich nahezu senkrecht ab. Eine Art Kamin führte ins Dunkle. Am Schachtrand sicherte Cadderly seine Ausrüstung und band seine Lichtröhre so unter dem Bolzengurt fest, daß sie seine Füße umleuchtete. Dann beugte er sich vor und suchte sich vorsichtig einen Weg. Die Luft war zum Ersticken, die Felsen bedrückten ihn, aber Cadderly setzte seinen Abstieg fort, bis er plötzlich feststellte, daß das Loch sich unter ihm weit auf tat. Einen Augenblick strampelten seine Füße in der Luft, und er wäre fast hinuntergefallen. Irgendwie gelang es ihm jedoch, sich zu sichern und die Füße wieder hochzuziehen, so daß er sie gegen
die feste Wand stemmen konnte. Mit seiner freien Hand langte der junge Priester zaghaft nach der Lichtröhre und leuchtete damit nach unten. Er stellte fest, daß er die Decke einer weiträumigen Höhle erreicht hatte. Eine große, hohe Höhle, wie Cadderly befürchtete, denn das Licht zeigte ihm unten keinen Boden. Zum ersten Mal, seit er die Tunnel betreten hatte, fragte er sich, ob sein Weg ihn am Ende tatsächlich in die Nähe des Drachen führen würde. Jedenfalls war die kleine Höhle in der Flanke des Berges nicht die Eingangspforte eines riesigen Drachen gewesen. Cadderly hatte nicht bedacht, daß das Höhlengewirr innerhalb des Berges verschlungen und möglicherweise unpassierbar sein konnte. Der hartnäckige junge Priester verengte den Lichtstrahl, so daß er weiter nach unten fiel. Da erkannte er die unauffällige Farbveränderung, den dunkleren Stein auf dem Boden, gut zwanzig Fuß unter ihm. Er überlegte, ob er sich fallen lassen sollte – bis ihm wieder einfiel, daß er einen Gurt voller Phiolen des explosiven Wuchtöls trug. Cadderly verfluchte seine Lage. Wenn er den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen wollte, mußte er auf seine Magie zurückgreifen – Magie, die er in vollem Umfang brauchen würde, wenn er gegen einen wie den alten Fyren antrat. Mit resigniertem Seufzen verband er sich mit dem Lied von Deneir, denn er dachte an den Teil, den er für Danica gesungen hatte, als sie von dem Bergpfad gefallen war. Dann stieg er zum Höhlenboden hinunter, lief einfach durch die Luft. Cadderly verstand Danicas Ekstase, das fast sprachlose Entzücken, das die junge Frau bei diesem Zauber empfunden hatte. Jede Logik sagte Cadderly, daß er fallen müßte, doch er tat es nicht. Mit Hilfe der Magie hatte er den Naturgesetzen vollständig getrotzt, und er mußte sich eingestehen, daß es ein grandioses Gefühl war, durch die Luft zu gehen, besser als der
Eintritt in die Welt der Geister, besser, als wenn er seinen Körper auflöste, um auf dem Wind zu reiten. Einen Augenblick später hätte er auf den Stein treten können, aber er tat es nicht. Er lief weiter durch die große Höhle und in die Tunnel, gerade einen Fuß über dem Boden, und rechtfertigte seinen Leichtsinn vor sich selbst, indem er sich sagte, daß er sich so geräuschloser bewegte. Trotz der unheimlichen Atmosphäre, die ihn umgab, und trotz der Tatsache, daß er seinen Freunden davongelaufen war und sich allein in solche Gefahr begeben hatte, lächelte der junge Priester, als der Spruch nachließ. Aber die Hitze war stärker geworden, zehnmal so stark, wie es ihm vorkam, und was bald wie ein fernes Grollen klang, erinnerte Cadderly daran, daß sein Weg sich dem Ende näherte. Einige Augenblicke stand er ganz still am Rande einer weiteren, ausgedehnten Höhle, war sich aber nicht sicher, ob das rhythmische Atmen, das er zu hören glaubte, seiner Phantasie entsprang oder ob es die Geräusche des Drachen waren. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, murmelte er grimmig und zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gebückt lief er über den Boden, Lichtrohr und Armbrust vor sich ausgestreckt. Er sah, daß die Höhle voller Steine lag, und wunderte sich, warum alle Steine ungefähr gleich groß waren und eine ähnliche, rötliche Farbe hatten. Cadderly fragte sich, ob sie vielleicht irgendwie vom Drachen geschaffen waren, Überbleibsel vom Feueratem des Ungeheuers vielleicht. Er hatte gesehen, wie Katzen Haarballen auswürgen – vielleicht hustete ein Drache Steine aus? Dieser Gedanke ließ Cadderly unsicher kichern, doch er verbiß sich das Lachen augenblicklich, während er überrascht die Augen aufriß. Einer der Steine hatte ihn angeblinzelt!
Cadderly blieb wie angewurzelt stehen und versuchte, den Lichtstrahl genau auf das Tier zu halten. Seitlich von ihm bewegte sich ein anderer Stein und erregte so Cadderlys Aufmerksamkeit. Sobald er das Licht herumschwenkte, stellte er fest, daß er keineswegs von Steinen umgeben war, sondern von roten Riesenkröten, deren gereckte Köpfe über Cadderlys Gürtellinie hinausragten. Gerade als Cadderly beschlossen hatte, daß er keine plötzlichen Bewegungen machen durfte und versuchen mußte, sich vorsichtig einen Weg durch diese seltsamen Wesen zu suchen, regte sich irgendwo hinter ihm eine Kröte. Trotz seines Entschlusses fuhr Cadderly herum, riß dabei das Licht mit und schreckte eine ganze Anzahl weiterer Ungeheuer auf. »Ich geh' doch nicht da hoch und kämpf gegen so einen verdammten Wurm!« schimpfte Ivan, der seine kräftigen Arme vor der Brust verschränkt hatte, die gerade drei Fingerbreit über die Oberfläche des tiefen Schnees hinausragte. Der Zwerg blickte betont von dem Hang des Berges Nachtglut weg. »Ui, ui«, murmelte Pikel. »Cadderly ist da oben«, erinnerte Danica den sturen, gelbbärtigen Zwerg. »Dann ist Cadderly blöd«, grummelte Ivan auf der Stelle. Plötzlich umschlang ihn ein Riesenarm, hob ihn in die Luft und steckte ihn an Vanders Seite fest. »Hihihi.« Pikels Spott diente nicht gerade dazu, Ivans Stimmung zu verbessern. »He, du diebischer, zwergenentführender Sohn eines rothaarigen Drachen!« wetterte Ivan, der heftig, aber vergeblich gegen den mächtigen Griff des Firbolgs anstrampelte. »Wir sollten direkt zur Öffnung hochsteigen«, überlegte Danica. »Genau in Cadderlys Spur«, stimmte Shayleigh zu.
»Können wir uns beeilen?« bat Vander. »Ivan beißt mich in den Arm.« Danica war sofort aufgebrochen, kämpfte sich mit aller Kraft den Hang hoch und folgte Cadderlys gut sichtbaren Fußstapfen. Shayleigh kam direkt hinter ihr. Die leichtfüßige Elfenfrau hatte kaum Schwierigkeiten, durch den Tiefschnee vorwärtszukommen. Sie hielt ihren Bogen bereit, denn sie übernahm die Wache, während Danica den Weg suchte. Vander trottete hinter ihr her. Er kämpfte gegen den Drang an, dem bösartigen Ivan den Dickschädel einzuschlagen. Als letzter kam Pikel, der im Schlepptau des riesigen Firbolgs leicht dahinhüpfte. Einige Minuten später standen sie auf dem geschmolzenen Bereich vor dem Höhleneingang. Shayleigh spähte hinein, denn sie wollte ihre elfische Fähigkeit anwenden, Wärme zu sehen, doch gleich darauf zog sie mit hilflosem Achselzucken den Kopf zurück und erklärte, daß die Luft dort drin so warm sei, daß sie nichts Besonderes erkennen könne. »Cadderly ist hineingegangen«, sagte Danica, sowohl um ihren eigenen Entschluß zu bekräftigen wie auch zu den anderen. »Deshalb müssen wir es auch.« »Nichts da«, kam Ivans vorhersehbare Antwort. »Der Zauber, den Cadderly letzte Nacht über dich gesprochen hat, wird nicht mehr lange anhalten«, erinnerte ihn Shayleigh. »Selbst für zähe Zwerge ist die Luft so hoch oben zu kalt.« »Lieber erfroren als geröstet«, knurrte Ivan. Danica ignorierte seine Bemerkung und schlüpfte in die Höhle. Shayleigh schüttelte den Kopf und folgte ihr. Vander setzte Ivan ab, was ihm neugierige Blicke von beiden Zwergen einbrachte. »Ich werde dich nicht in eine Drachenhöhle zwingen«, erklärte der Firbolg und ging vorbei, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Dann quetschte er sich durch den engen Eingang.
»Oh«, stöhnte Pikel, der es gar nicht komisch fand, daß sie jetzt einen so entscheidenden Moment erreicht hatten. Ivan stand resolut da, die stämmigen Arme vor der Brust verschränkt, und tappte mit einem Fuß auf den nassen Steinboden. Pikel sah von seinem Bruder zur Höhle, zurück zu seinem Bruder und wieder zur Höhle, ohne zu wissen, was er tun sollte. »Na, geh schon«, knurrte Ivan ihn einige Augenblicke später an. »Ich finde nicht, daß dieser Trottel seinen Drachen allein bekämpfen sollte!« Pikels pausbäckiges Gesicht hellte sich beträchtlich auf, als Ivan ihn beiseite stieß und voranging. Als dem grünbärtigen Zwerg einfiel, daß sie fröhlich unterwegs waren, sich einem roten Drachen zu stellen, verschwand sein durchtriebenes Lächeln. Weit unten auf dem Weg zum Berg Nachtglut beobachtete Druzil, wie die schwarzen Punkte unter dem hohen, deckenden Nebelschleier verschwanden. Das Teufelchen hatte keine Ahnung, wo der Riese herkam – warum sollte ein Riese mit Cadderly ziehen? –, aber es war ziemlich sicher, daß die anderen Gestalten in der Ferne, besonders die zwei stämmigen, hüpfenden Wesen, zu Cadderlys Freunden zählten. Der Untote schien sicher genug zu sein. Ob er die Gruppe in der Ferne wirklich »sah«, konnte Druzil nicht feststellen, doch der Weg, den er eingeschlagen hatte, wies genau in ihre Richtung und wurde mit aller Macht verfolgt. Eine Art Leuchtfeuer lenkte diesen Geist aus der anderen Welt, führte ihn ohne Zögern durch das Dunkel der Nacht und die Helle des Tages. Die Kreatur war nicht langsamer geworden und hatte nicht geruht (allmählich wünschte sich der erschöpfte Druzil, sie würde es tun!), so daß sie und Druzil innerhalb sehr kurzer Zeit eine unglaubliche Entfernung zurückgelegt hatten. Jetzt, wo das Ziel anscheinend in Sicht kam, arbeitete sich das Wesen noch wütender an den Fuß von Nachtgluts
baumlosen Hang vor, drang so zornig durch den Schnee, als ob die hinderliche Tiefe des weißen Pulvers eine absichtliche Verschwörung wäre, die das Ghulwesen von Cadderly fernhalten wollte. Als Bewohner der feurigen Unteren Ebenen war Druzil kein Freund des kalten Schnees. Aber als Bewohner der chaotischen Unteren Ebenen eilte das Teufelchen bereitwillig hinter dem Untoten her und rieb sich seine Klauenhände, wenn es an das Blutbad dachte, das bald kommen mußte. Cadderly schob vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ganz langsam rückte er zum fernen Ausgang der Höhle vor. Die roten Riesenkröten hatten sich wieder beruhigt, doch der junge Priester fühlte viele Augen auf sich ruhen, die ihn mit mehr als flüchtigem Interesse beobachteten. Ein paar Schritte weiter brachten ihn genau vor den Ausgang; zehn lange Sätze würden ihn hindurchtragen. Er blieb, wo er war, um den Mut zum Losrennen aufzubringen, aber auch, um zu beschließen, ob das wohl das klügste war. Ängstlich neigte er sich vor und zählte innerlich bis zu dem Zeitpunkt, wenn er losspringen wollte. Eine Kröte hüpfte vor den Ausgang und versperrte ihn. Cadderly riß erschrocken die Augen auf und blickte von einer Seite zur anderen, um einen anderen Weg zu finden. Hinter ihm hatte sich lautlos eine Gruppe Kröten zusammengeschart, die ihm den Rückweg abschnitt. Trieben sie ihn gezielt irgendwohin, fragte sich der junge Priester völlig verblüfft. Was es auch war, Cadderly wußte, daß er schnell handeln mußte. Er dachte an seine Magie, fragte sich, welche Hilfe er im Lied von Deneir finden könnte. Dann beschloß er sofort, direkter zu handeln, und begann, mit seinem Lichtstrahl nach der blockierenden Kröte weiter vorn zu wedeln, um sie vielleicht so zu erschrecken, daß sie aus dem Weg sprang.
Die Kröte schien sich nur noch breiter niederzulassen, bis ihr umfangreicher Leib über den Steinboden schleifte. Dann zuckte sie plötzlich hoch – einen Augenblick befürchtete Cadderly, daß sie ihn anspringen wollte –, doch nur ihr Kopf zuckte nach vorn, der Mund klappte auf, und ein Flammenstoß brach heraus. Cadderly fiel einen Schritt zurück, als der kleine Feuerball dicht vor ihm zerbarst und sein Gesicht rötete. Er stieß einen überraschten Schrei aus und hörte, wie die Kröten hinter ihm hurtig weiterrutschten. Instinktiv nahm der junge Priester seine Armbrust zur Hand. Er sah sich nicht um, sondern konzentrierte sich ganz auf den Fluchtweg vor sich, während er den Bolzen abschoß. Direkt nach dem Schuß rannte er los, denn er hatte Angst, daß ein Dutzend kleiner Feuerbälle ihn von hinten braten würden, ehe er auch nur in die Nähe des Ausgangs kam. Der Mund der Kröte schnappte nach dem kleinen Geschoß; eine klebrige Zunge erwischte es im Flug und zog es hinein. Der Bolzen war nicht explodiert! Anscheinend hatte ihn die Zunge erwischt, ohne die Phiole zu zerbrechen. Und Cadderly, der direkt auf die Kröte zurannte, hatte keinen anderen Plan parat, hatte weder seinen verzauberten Wanderstab noch seine Spindelscheiben zur Hand. Hektisch blinkte er wieder mit seinem Lichtrohr, weil er entgegen aller Vernunft hoffte, die eindrucksvolle Kröte wegzuscheuchen. Das Biest saß einfach da und wartete. Dann gab das Tier ein seltsam rülpsendes Geräusch von sich. Seine Kehle blähte sich auf und zog sich wieder zurück, bis es kurz darauf explodierte. Kröteneingeweide flogen in alle Richtungen. Cadderly zog beide Arme vors Gesicht, als er durch den Krötenregen lief, und duckte sich klugerweise rechtzeitig, um nicht mit dem Kopf gegen die Oberkante des niedrigen Tunnels zu rennen. Er war viele, lange Sätze hinter der Höhle, ehe er es
wagte, sich umzublicken, um sicherzugehen, daß ihn keine Kröten verfolgten. Immer noch rannte er weiter, jagte den gewundenen Weg hinunter, bis er rutschend zum Stehen kam und sich zunächst wieder umsah, weil er spürte, daß der Tunnel um ihn herum plötzlich weiter geworden war. Cadderly blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt dachte er nicht mehr an die Kröten, sondern war mehr mit dem rhythmischen Atemgeräusch beschäftigt, einem Atmen, das wie ein Unwetter in einem engen Tunnel klang. Langsam drehte Cadderly den Kopf herum, und noch langsamer führte er den Lichtstrahl nach vorn. »Ach, du lieber Deneir«, hauchte der junge Priester lautlos, als das Licht über die schuppige Haut des unvorstellbar langen, unvorstellbar großen Dachen wanderte. »Ach, du lieber Deneir.« Das Licht streifte die speerartigen Hörner des Drachen, lief über den schmalen Schädel des furchtbaren Tiers, dann über das geschlossene Auge bis zu dem Maul, das den riesigen Vander nahezu mühelos hätte durchbeißen können. »Ach, du lieber Deneir«, murmelte der junge Priester, und dann ging er in die Knie, ohne überhaupt zu merken, daß seine Beine unter ihm nachgegeben hatten.
Der ehrwürdige Fyren Das Ungeheuer war hundert Fuß lang, sein zusammengerollter Schwanz weitere hundert Fuß, und es war am ganzen Körper durch große, überlappende Schuppen geschützt, die wie Metall glänzten – und Cadderly zweifelte keinen Augenblick daran, daß diese glatten, roten Schuppen in jeder Hinsicht genauso stark wie gehämmerter Stahl waren. Die großen, ledrigen Drachenflügel waren jetzt
zusammengefaltet, sie umgaben das Tier fest wie eine Babydecke. Aber dieser Eindruck hielt gegen das wahre Wesen von Fyrentennimar nicht stand. War ein aufwühlender Traum Anlaß für die mehr als fingertiefen Klauenspuren im Fels direkt neben den Vorderbeinen des Drachen gewesen? Und wie viele Menschen waren Teil jenes Mahls gewesen, das den Hunger des Untiers so gestillt hatte, daß es nun schon Jahrhunderte schlief? In den nächsten Sekunden dankte der junge Priester den Göttern mindestens tausendmal, daß er in Fyrentennimars Höhle gestolpert war, während der Drache schlief. Wäre er hier blindlings hineingerannt und der alte Fyren wäre wach gewesen, so hätte Cadderly nie erfahren, was geschehen wäre. Sein Glück hielt an, denn keine der Kröten folgte ihm – die kleinen Biester waren schlauer, als Cadderly gedacht hatte. Dennoch wußte er, daß Drachenschlaf bestenfalls unberechenbar war. Er mußte gleich an die Arbeit gehen, seine magische Verteidigung aufbauen und sich mental auf den Kampf mit diesem ehrfurchtgebietenden Ungeheuer vorbereiten. Er rief sich das Lied von Deneir ins Gedächtnis, aber viele Momente lang – für den entsetzten Cadderly unendliche Momente – konnte er die Noten nicht in eine logische Folge bringen, konnte die Harmonie der Musik nicht wirklich genießen und in ihren mystischen Noten nicht das Zentrum seiner Anbetung finden. Es war genau diese Harmonie, das Verständnis für universelle Wahrheiten, woraus Cadderly seine magischen Kräfte bezog. Schließlich gelang es ihm, eine magische Schutzsphäre aufzubauen, eine elementare Umkehrung der echten Luft um ihn herum, die ihn hoffentlich vor dem Feueratem des Drachen schützen würde.
Der junge Priester holte das Buch der Universellen Harmonie heraus, um eine Seite aufzuschlagen, die er schon vor seinem Aufbruch aus der Erhebenden Bibliothek markiert hatte. Woher Drachen stammten, war unbekannt, doch die Gelehrten waren sich einig, daß diese Tiere nicht den üblichen Naturgesetzen unterworfen waren. Bei der Größe dieser Kreaturen war es völlig unlogisch, daß Drachenflügel dazu fähig sein sollten, ihren Besitzer in der Luft zu halten, und doch zählten Drachen zu den schnellsten Fliegern der Welt. Druidische Magie, die selbst auf die mächtigsten Tiere wirkte, hatte kaum Einfluß auf Drachen, so daß Zauberer und Priester, die vor Jahrtausenden in der damals wilderen Welt zu überleben suchten, besondere Schutzzeichen entwickelt hatten, um sich gegen die mächtigen Ungeheuer zu wappnen. Die Seite im Buch der Universellen Harmonie zeigte Cadderly diese Zeichen, lenkte seine Gedanken in etwas anderer Art in das Lied des Deneir, denn einige Noten waren verändert. Bald hatte er eine Schranke mit dem Namen Drachenbann errichtet, die einige Fuß vor ihm von Wand zu Wand reichte und die der gewaltige Wyrm den Schriften zufolge nicht physisch passieren konnte. Fyrentennimar wurde unruhig; Cadderly nahm an, daß der Wyrm wohl die magischen Energien fühlte, die im Raum zusammengezogen worden waren. Der junge Priester holte tief Luft und sagte sich wieder und wieder, daß er mit dieser überaus wichtigen Aufgabe fortfahren mußte. Er mußte auf seine Magie vertrauen und auf sich selbst. Er nahm den Ghearufu aus seinem Gepäck, packte seine lächerlichen Waffen weg (selbst seine gefährliche Armbrust würde gegen ein solches Ungeheuer kaum etwas ausrichten) und wischte die schweißnassen Handflächen an seiner Tunika ab. Er sprach einen einfachen Zauberspruch, durch den sein Händeklatschen wie ein Donnerschlag klang. Große Flügel flatterten lautstark los und hoben den vorderen Teil des Wyrms
hoch. Auf der Stelle wandte sich der Kopf des alten Fyren Cadderly zu. Der junge Priester mußte gegen den Drang ankämpfen, vor diesem prachtvollen Geschöpf zu Boden zu sinken. Wie konnte er so vermessen sein anzunehmen, daß er irgend etwas ausrichten konnte, das dem furchtbaren Fyrentennimar auch nur ein Haar krümmen würde? Und diese Augen! Zwei Leuchtfeuer, die jede Einzelheit wahrnahmen und den jungen Priester ins Verhör nahmen, bevor auch nur ein Wort gesprochen war. Unbestreitbar schien aus ihnen ein eigenes Licht, das ebenso intensiv war wie das, das aus Cadderlys verzaubertem Lichtrohr fiel. Die Schwäche in Cadderlys Beinen verzehnfachte sich, als der müde, gereizte Drache, der überhaupt keine Lust auf ein Schwätzchen verspürte, seinen sengenden Atem ausstieß. Ein Flammenstrahl kam auf Cadderly zu, teilte sich jedoch, als er seinen magischen Schutzschild erreichte, und umrundete ihn als Feuersturm. Die durchscheinende Schutzkugel nahm beim Angriff eine grünliche Färbung an. Zunächst wirkte sie dick, doch als der Drache weiter Feuer spie, schien sie dünner zu werden. Cadderly lief der Schweiß in Strömen herunter. Seine Zunge wurde trocken, und sein Rücken juckte, als ob alle Flüssigkeit in seinem Körper verdampfte. Rauchfäden stiegen von den Rändern seiner Tunika auf. Eine seiner Hände lag auf den Spindelscheiben aus Adamant, die er jedoch loslassen mußte, als das Metall sich erhitzte, und er mußte sein metallenes Lichtrohr eilig zwischen beiden Händen hin- und herwerfen. Noch immer kam das Feuer, während die großen Drachenlungen ihren Inhalt ausstießen. Hörte der alte Fyren denn niemals auf? Und dann war es vorbei. »Ach, du lieber Deneir«, hauchte der junge Priester, als das Grün seiner Magieblase verblaßte und er auf den Boden vor seiner geschützten Stelle blickte. Er brauchte kein Lichtrohr, um dieses Schauspiel mitanzusehen.
Geschmolzener Stein glänzte und blubberte und kühlte rasch ab, um dann wellenartig in der Form auszuhärten, in die ihn die Flammen gezwungen hatten. Cadderly sah, wie sich die schlitzartigen Echsenaugen des Drachen ungläubig weiteten, weil etwas seinen sengenden Atem überlebt hatte. Doch schnell wurden diese bösen Augen wieder schmal, während der Drache ein tiefes, drohendes Grollen ausstieß, das den Boden unter Cadderlys Füßen erzittern ließ. Was habe ich mir da nur vorgenommen, fragte sich Cadderly, doch er verdrängte den angstvollen Gedanken sofort und dachte an das Böse, das der Ghearufu über das Land gebracht hatte und weiter verbreiten würde, wenn er ihn nicht zerstörte. »Mächtiger Fyrentennimar«, begann er tapfer, »ich bin nur ein armer, demütiger Priester, den sein Glaube mit einer Bitte hergeführt hat.« Das scharfe Einatmen von Fyren zog Cadderlys Mantel mit und riß den Priester fast hinter die Grenze des magischen Drachenbanns. Cadderly wußte, was kommen würde, und stimmte verzweifelt wieder sein Lied an, sang, so laut er konnte, um seinen ausgedünnten Feuerschild zu verstärken. Der Atem kam wie ein Fegefeuer, womöglich noch stärker als beim vorigen Mal. Cadderly sah, wie die dünne, grüne Blase zu nichts wurde, fühlte einen Hitzestoß und glaubte, er würde an Ort und Stelle geröstet werden. Doch eine blaue Kugel ersetzte die grüne, lenkte das Feuer wieder von ihm ab. Cadderlys ganzer Körper schmerzte, als wäre er im Hochsommer in der Sonne eingeschlafen; er mußte kleine Flammen an den Nähten seiner Stiefel austreten. »Mein Glaube hat mich hergeführt!« schrie er laut, als der Sturm endete und Fyrens Augen vor Unglauben noch größer
wurden. »Ich bitte nur um einen kleinen Gefallen, dann darfst du in deinen Schlaf zurückkehren!« Das Erstaunen wich ungezügelter Wut, die alles übertraf, was Cadderly je für möglich gehalten hätte. Der Drache riß weit das Maul auf, in dem reihenweise grausige, ellenlange Reißzähne glänzten, und dann schoß sein Kopf nach vorn, denn der Hals war vorgeschnellt wie aus dem zusammengerollten Körper einer Schlange. Cadderly stöhnte und kippte beinahe um, denn im ersten Moment war er sich sicher, er würde gleich sein Bewußtsein und dann auch sein Leben verlieren. Aber trotz seines Schreckens hätte der Priester fast laut aufgelacht, als er nach vorn blinzelte, wo Fyrentennimar sein Gesicht komisch verzerrt gegen die Mauer des magischen Drachenbanns preßte. Cadderly mußte dabei an die frechen kleinen Jungen in der Erhebenden Bibliothek denken, die ihre Gesichter an das Glas der Fenster zu den Studierzimmern drückten, um die Lernenden dahinter zu erschrecken, und dann lachend durch die ehrwürdigen Hallen davonliefen. Seine unbeabsichtigte Heiterkeit half dem Priester zum Glück sogar, denn der Drache wich zurück und sah sich nach allen Seiten um, zum ersten Mal verunsichert. »Dieb!« donnerte Fyren, dessen mächtige Drachenstimme Cadderly einen Schritt zurückzwang. »Kein Dieb«, versicherte Cadderly dem Wyrm sicherheitshalber. »Nur ein demütiger Priester …« »Dieb und Lügner!« brüllte Fyrentennimar. »Kein demütiger Priester überlebt den Atem von Fyrentennimar dem Großen! Welche Schätze hast du gestohlen?« »Ich bin nicht wegen deiner Schätze hier«, erklärte Cadderly mit fester Stimme. »Und auch nicht, um den Schlaf eines so prachtvollen Wyrms zu stören.« Fyrentennimar wollte etwas erwidern, doch er schien es sich anders zu überlegen, als ob Cadderlys »prachtvolles« Kompliment ihm zu denken gegeben hätte.
»Eine kleine Aufgabe, wie ich schon sagte«, fuhr Cadderly fort, der seinen Schwung nutzte. »Einfach für Fyrentennimar den Großen, aber unmöglich für jeden anderen im Land. Wenn du diese Aufgabe …« »Aufgabe?« brüllte der Drache, und Cadderly, dessen Haar durch die Gewalt des heißen Drachenatems zurückgeblasen wurde, fragte sich, ob sein Gehör wohl dauerhaften Schaden nehmen würde. »Fyrentennimar erledigt keine Aufgaben! Deine kleine Bitte interessiert mich nicht, dummer Priester.« Der Drache musterte die Stelle direkt vor Cadderly, als versuchte er herauszufinden, welche Schranke aufgebaut worden war, um ihn in Schach zu halten. Cadderly überprüfte die wenigen Möglichkeiten, die ihm offenstanden. Wahrscheinlich war es noch das günstigste, wenn er dem Ungeheuer weiter schmeichelte. Er hatte viele Geschichten von abenteuerlustigen Helden gelesen, die erfolgreich das Ego der Drachen ausgenutzt hatten, besonders bei roten Drachen, die in dem Ruf standen, die eitelsten von allen zu sein. »Könnte ich dich nur besser sehen!« sagte er dramatisch. Er schnipste mit den Fingern, als ob ihm gerade erst ein Gedanke käme, dann schwang er seinen schlanken Stab nach vorn und murmelte: »Domin illu.« Sofort war die große Höhle in magisches Licht getaucht, und Fyrentennimars ganze Pracht lag vor ihm. Während er sich insgeheim gratulierte, steckte Cadderly den Stab wieder unter seinen Mantel und sah sich weiter um, wobei ihm erstmals der angehäufte Schatz, der hinter dem Leib des Drachen lag, auffiel. »Könntest du mich nur besser sehen«, setzte Fyrentennimar argwöhnisch an, »oder meinen Schatz, demütiger Dieb?« Bei diesen Worten zwinkerte Cadderly und erkannte seinen Fehler. Der mörderische Ausdruck auf Fyrentennimars Gesicht war unmißverständlich. Dann merkte der junge Priester, wie sein Lichtrohr unangenehm heiß wurde, bis er es fallen lassen
mußte. Sein Unterarm streifte seine Gürtelschnalle, und er zuckte vor Schmerz zusammen, als die bloße Haut das sich rasch erhitzende Metall berührte. Cadderly brauchte nicht lange, bis er verstand, denn ihm fiel ein, daß auch viele Drachen Zugang zur Welt der magischen Energien hatten. Er mußte schnell handeln, mußte den Wyrm demütigen, damit er zu verhandeln bereit war. Er sang sofort los, wobei er absichtlich die Rauchfäden ignorierte, die nahe der Schnalle von seinem Ledergürtel aufstiegen. Ein wirbelnder Ring magischer {Gingen tauchte in der Luft über Fyrentennimars Kopf auf. »Sie werden zuhacken!« drohte Cadderly und senkte die Klingen ab, bis sie gefährlich dicht über dem Drachenkopf hingen. Er hoffte, den alten Fyren niederzwingen zu können, damit das Ungeheuer nicht mehr in einer solchen Position körperlicher Überlegenheit war, hoffte, daß diese Demonstration seiner Macht den Wyrm auf den Gedanken bringen würde, daß es keine kluge Entscheidung wäre, diesen Kampf fortzusetzen. »Sollen sie doch!« fauchte der alte Fyren, der seine Schwingen ausbreitete und den riesigen Kopf höher hob, um der vollen Kraft des Spruches zu begegnen. Funken flogen, als die Klingen Teile des Drachenpanzers abhackten. Winzige Schuppenstückchen flogen weg, und Cadderly war zutiefst erschüttert, als Fyrentennimars Gebrüll die Form von Hohngelächter annahm. Der Drachenschwanz peitschte herum und knallte hinterhältig gegen Cadderlys magische Schranke, so daß die Schallwellen die Höhle erschütterten und Cadderly umwarfen. Der Drachenbann hielt, doch Cadderly befürchtete, daß die Höhlendecke nicht halten könnte. Jetzt wurde ihm klar, wie verwundbar er wirklich war, wie armselig er diesem Wyrm erscheinen mußte, der Jahrhunderte alt war und sich an den
Knochen von Hunderten von Menschen gütlich getan hatte, die mächtiger gewesen waren als er. Cadderly hatte einen Schutz vor dem Feueratem geschaffen, eine Barriere, die das Untier nicht mit seinem Körper durchbrechen konnte (obwohl er fürchtete, daß keins von beiden noch lange halten würde), aber welche Verteidigung konnte er gegen Fyrentennimars zweifellos machtvolles Arsenal an Sprüchen aufbringen? Jetzt erkannte er, daß seine Niederlage einfach darin bestehen konnte, daß Fyrentennimar einen Felsbrocken aus der Wand riß und auf ihn schleuderte! Der Drache warf seinen gepanzerten Kopf vor und zurück, um Cadderlys Zauberklingen herauszufordern und seinen Spruch zu verspotten. Fyrentennimars Vorderklauen gruben tiefe Rillen in den Felsboden der Höhle, und der lange Schwanz peitschte herum, zerschmetterte Steine und ließ die Wände springen. Cadderly konnte nicht lange durchhalten. Er war sicher, daß er nichts in seinem Repertoire hatte, womit er dieses Ungeheuer auch nur verwunden konnte. Er hatte nur eine Alternative, und die fürchtete er fast so sehr, wie er Fyrentennimar fürchtete. Das Lied von Deneir hatte ihn gelehrt, daß die magischen Energien des Universums auf vielerlei Weise zugänglich waren, und die Art, wie man sich ihnen näherte, bestimmte ihre Gruppierung und die magische Sphäre der Sprüche, die man dort finden konnte. Cadderly zum Beispiel hatte sich den universellen Energien anders genähert, als er seine Schranke des magischen Drachenbanns erschaffen hatte, als beim Betreten der Sphäre des Feuerelements, mit deren Hilfe er eine Schutzmauer gegen Fyrentennimars Flammen errichtet hatte. Deneir war ein Gott der Künste, der Poesie und des brausenden Geistes, der eine Myriade durchdachter Ansätze schätzte und akzeptierte. Deneirs Lied klang durch den ganzen Himmel, pochte durch die Macht vieler solcher Energien, und
deshalb konnte ein Priester, der sich auf das Lied dieses Gottes einstimmte, von vielen verschiedenen Seiten her Zugang bekommen, um die universellen Energien in unzählige Richtungen zu biegen. Doch es gab eine bestimmte Richtung dieser Energien, die der Harmonie Deneirs zuwiderlief, in der kein Ton klar erklang und keine Harmonie aufrechterhalten werden konnte. Das war die Sphäre des Chaos, ein Ort der Disharmonie und Unlogik, und genau dorthin mußte der junge Cadderly gehen. »Da geht's fünf Zwerge tief runter!« protestierte Ivan, der Danicas Handgelenk festhielt. Danica konnte den Boden unter dem senkrechten Schacht nicht einmal erkennen und mußte der Schätzung von Ivans hitzeempfindlichem Zwergenblick vertrauen. Diese Schätzung »fünf Zwerge tief«, also zwanzig Fuß, war nicht sehr vielversprechend. Aber Danica hatte den Donnerschlag von Cadderlys Klatschen gehört, mit dem er den Drachen geweckt hatte, und wußte innerlich, daß ihr Geliebter in großer Not war. Sie riß sich von Ivans Hand los, kletterte den restlichen Weg durch den engen Schacht hinunter und ließ sich ohne Zögern in die Dunkelheit fallen. Sie betete nur darum, daß sie schnell genug reagieren konnte, sobald sie unten ankam, hoffte, daß das fahle Licht der Fackel, die Shayleigh oben im Kamin hielt, ihr den Boden zeigen würde, ehe sie aufprallte. Sie sah das Grau und warf vor dem Aufkommen ihre Füße zur Seite, um sich seitwärts mit einer halben Drehung abzurollen. Dann überschlug sie sich nach hinten, so daß sie wieder auf den Füßen landete. Ohne langsamer zu werden, federte Danica zu einem Salto rückwärts in die Luft, denn sie hatte noch nicht genug von der Energie des Falls verbraucht. Sie kam auf den Füßen auf und sprang wieder los, diesmal nach vorn, wo sie mit einer Rolle hochkam, gleich losrannte und den restlichen Schwung mit langen, schnellen Schritten ausglich.
»Na, da bin ich doch eine weinselige Fee«, murmelte Ivan ungläubig, während er dem Schauspiel von oben zusah. Trotz all seines Murrens konnte der Zwerg nicht zulassen, daß seine Freunde sich ohne ihn der Gefahr stellten, und er wußte, daß jedes Zögern Danica jetzt zwingen würde, sich den vor ihr liegenden Aufgaben allein auszusetzen. »Versuch bloß nicht, mich aufzufangen, Mädchen!« warnte er, als er losließ. Ivans Landetechnik war nicht viel anders als Danicas. Aber während Danica rollte und sprang, sich geschickt überschlug und mit geschmeidigen, leichtfüßigen Wendungen die Richtung wechselte, hopste Ivan nur. Er war jedoch schnell wieder auf den Beinen. Dann rückte er seinen Hirschgeweihhelm zurecht und erwischte Danica an ihrem wehenden Mantel, als sie in die andere Richtung zurückrannte, um den anhaltenden Geräuschen von Osten her zu folgen. Vander ließ sich als nächster fallen. Für den Firbolg stellte der enge Schacht ein größeres Problem dar als der (für einen Riesen) gar nicht so hohe Sprung. Shayleigh fiel in seine wartenden Arme, aus denen sie regelrecht heraussprang, um eilig Ivan und Danica zu folgen. Zuletzt kam Pikel, den Vander ebenfalls auffing. Der Firbolg betrachtete den Zwerg in seinen Armen einen Augenblick neugierig, denn ihm war aufgefallen, daß etwas zu fehlen schien. »Deine Keule?« setzte Vander an, doch er verstand es einen Sekundenbruchteil später, als Pikels Keule dem Zwerg nachfiel und von seinem Schädel abprallte. »Huppsala«, entschuldigte sich Pikel, und als er Vanders Stirnrunzeln sah, war er froh, daß sie keine Zeit hatten, herumzustehen und über die Sache zu diskutieren. Danica hätte Ivan blitzschnell hinter sich gelassen – wenn der Zwerg ihren Reisemantel wieder losgelassen hätte. Inzwischen hörten sie das Grollen von Fyrentennimars Stimme in der Ferne, und obwohl sie keine einzelnen Worte
verstanden, führte der Lärm sie. Ivan war froh, als er feststellte, daß Shayleigh, die immer noch ihre Fackel hielt, sie allmählich einholte. Sie liefen durch ein paar Höhlen, mehrere enge Gänge hinunter und einen breiten Korridor entlang. Die wachsende Hitze verriet ihnen, daß sie sich der Drachenhöhle näherten, und ließ sie befürchten, daß Fyrentennimar seinen tödlichen Atem bereits losgelassen hatte. Shayleigh überholte Ivan, wobei sie genauso verzweifelt wie Danica wirkte, und prompt streckte der Zwerg die Hand aus und packte auch sie am Mantel. Er verstand ihre Eile, verstand, daß die beiden Bilder von einem gerösteten Cadderly vor Augen hatten, aber Ivan blieb pragmatisch. Wenn der Zwerg noch ein Wörtchen mitzureden hatte, würden sie nicht holterdiepolter ins wartende Maul des alten Fyren rennen. Shayleighs Fackel zeigte, daß sie sich einer weiteren großen Höhle näherten. Sie sahen Licht vor sich, einen langsam nachlassenden Schein, wie es aussah, und das führte sie zu einem unausweichlichen Schluß. Trotz all seiner vorherigen Proteste und seiner Starrköpfigkeit zeigte Ivan Felsenschulter jetzt seine wahre Ergebenheit. In dem Glauben, daß der furchtbare Fyrentennimar genau vor ihnen wartete, riß der zähe Zwerg beide Mäntel zurück, sprang an Danica und Shayleigh vorbei und stürmte als erster in die Höhle, bevor er auch nur Zeit hatte, seine Doppelstreitaxt zu zücken. Eine vorschnellende Zunge traf ihn zwei Sätze hinter dem Durchgang – traf ihn, umschlang ihn und zog ihn zur Seite. Danica und Shayleigh kamen hinterhergerutscht und standen in einer Höhle voller aufgebrachter roter Riesenkröten. Sie entdeckten Ivan, zumindest seine Stiefel, die aus dem Maul einer zufrieden aussehenden Kröte zur Rechten staken. Danica wollte hinspringen, doch ein kleiner Feuerball und dann noch
einer hinderten sie daran, als zwei weitere Kröten zum Angriff übergingen. Shayleigh schleuderte ihre Fackel nach vorn, hatte augenblicklich ihren Bogen zur Hand und ging damit an ihr tödliches Werk. Ivan wußte nicht, was ihn erwischt hatte, fand seine Lage aber ziemlich unbequem. Er konnte nicht einmal die Arme nach hinten bringen, um die Axt abzunehmen, die er sich auf den Rücken gebunden hatte. Da er sich noch nie lange mit seinen eigenen Beschwerden aufgehalten hatte, tat Ivan das einzige, was ihm übrigblieb: Er begann, um sich zu schlagen, versuchte zu beißen, versuchte, etwas zu finden, das er festhalten und drehen konnte. Das Hirschgeweih auf seinem Helm blieb oben an etwas hängen, und wieder jammerte Ivan nicht über sein Pech, sondern fuhr einfach mit dem Kopf nach oben, so gewaltsam er konnte. Eine Kröte sprang Shayleigh mit langem, hohem Satz an, doch die drei Pfeile, die die Elf in schnell hintereinander abfeuerte, unterbrachen den Schwung des Tiers noch im Flug und ließen es tot zu Boden fallen. Zwei weitere Kröten sprangen gleichzeitig auf die Elfenfrau zu. Obwohl sie beide perfekt traf, konnte sie ihren Flug nicht aufhalten. Die eine streifte ihre Schulter, die andere krachte gegen ihre Scheinbeine, so daß Shayleigh nach hinten stürzte. Sie wäre hart auf dem Höhlenboden aufgeschlagen, aber Vander, der gerade aus dem Gang kam, fing sie mit der einen Hand sanft auf und hielt sie auf den Beinen. Sofort war der Firbolg an ihr vorbei, hackte mit seinem großen Schwert nach allen Seiten und halbierte die beiden angreifenden Kröten. Ein drittes Ungeheuer kam von der Seite angeflogen, aber Pikel warf sich zwischen die Kröte und Shayleigh. Er hielt seine Baumstammkeule mit beiden Händen fest an eine Schulter gedrückt und hatte das schmale Ende der Waffe umklammert. Mit einem entzückten Juchzer schlug der grünbärtige Zwerg die fliegende Kröte beiseite. Sie fiel
benommen hin, und schon stand Pikel über ihr, um sie mit wiederholten Schlägen zu zerquetschen. Danica fiel auf den Rücken und rollte sich eiligst herum, um den Feuerstößen auszuweichen. Sie zog die Füße an, weil sie hoffte, sie könnte zum Stehen zurückrollen, und griff an ihre Stiefel, aus denen sie zwei Dolche zog, einen mit goldenem Griff, der wie ein Tiger gearbeitet war, und einen, der wie ein Silberdrache aussah. Sie kam im Werfen hoch, landete zwei Treffer auf der nächsten Kröte. Diese schloß die Augen und drückte sich tief an den Boden, so daß Danica nicht wußte, ob sie nun tot war oder nicht. Sie hatte auch keine Zeit, das herauszufinden. Ein anderes Untier war schon neben ihr und zuckte mit seiner klebrigen Zunge. Danica sprang senkrecht hoch, ein Mungo gegen eine zubeißende Schlange, und zog die Beine fest an. Sie sprang wieder hoch, sobald ihre Füße Stein spürten, hoch und weit vor, bevor die Kröte ihre Zunge wieder ausfahren konnte. Diesmal landete Danica hart auf dem Kopf der Kreatur. Nachdem sie einen Fuß fest aufgesetzt hatte, wirbelte sie herum, brachte ihr Gesicht dicht an ihrem Knöchel vorbei und stieß dabei den anderen Fuß hoch nach oben. Nach der ersten Umdrehung, bei der ihr Schwung noch gewachsen war, spannte sie die Muskeln in ihrem freien Fuß an und trat damit direkt in das gewölbte Auge der Kröte. Die Wucht des Tritts zwang Danica von dem toten Tier herunter, und sie fuhr herum, um das nächste Opfer zu suchen. Zuerst glaubte sie, die Kröte neben ihr wäre eine der erstaunlichsten Kreuzungen, die es gab. Aber dann erkannte Danica, daß das Geweih nicht der Kröte, sondern vielmehr dem unverdaulichen Zwerg gehörte, den sie dummerweise verschlungen hatte.
Das Geweih ruckte hin und her, bis Ivans schleimverschmierter Kopf durchkam. Der Zwerg grunzte, verrenkte sich irgendwie, bis er schon seine eigenen Fersen sah, die aus dem Maul der Kröte ragten – und Danica, die ihn ungläubig anstarrte. »Du kannst mir nicht zufällig hier raushelfen?« fragte er, und Danica sah, wie die Augen der jetzt toten Kröte sich wölbten und dann wieder normale Große annahmen, als Ivan die Schultern bewegte. Das vertraute Lied spielte in Cadderlys Kopf, doch er fiel nicht in seinen harmonischen Fluß ein. Statt dessen sang er es rückwärts, sang es von der Seite, irgendwie, zwang immer die unzusammenhängendsten Noten hervor. Ihm rann ein Schauer über den Rücken; er hatte das Gefühl, er müßte unter dem magischen Ansturm zerspringen. Er war genau dort, wo ein Priester des Deneir nicht sein durfte, verspottete die Harmonie des Universums, verkehrte die Noten des zeitlosen Liedes, bis sie schmerzhaft durch seinen Geist zuckten, schlug die Türen zu allen Enthüllungen zu, die das Lied ihm gezeigt hatte. Cadderlys Stimme klang kehlig, gurgelnd, und sein Hals war voller Schleim. Sein Kopf tat weh, und die intensiven Schauder, die ihm über den Rücken liefen, waren beinahe schmerzhaft. Er glaubte wahnsinnig zu werden, wahnsinnig zu sein, denn er war an einem Ort, wo jeder logische Schluß ziellos dahinzutreiben schien, wo eins und eins drei war – oder zehn. Cadderlys Gefühle waren ähnlich vage. Er war wütend, aufgebracht … worüber? Er wußte es nicht, wußte nur, daß er voller Verzweiflung war. Dann wieder fühlte er sich plötzlich unverwundbar, als ob er vor seine magische Schranke treten und unter den Drachennüstern des Winzlings Fyrentennimar mit den Fingern schnippen könnte. Immer noch krächzte er gegen den harmonischen Fluß des wunderbaren Liedes an, immer noch bestritt er die universellen
Wahrheiten, die das Lied ihm offenbart hatte. Plötzlich merkte Cadderly, daß er etwas Schreckliches in sich entfesselt hatte. Er konnte die aufblitzenden Bilder und den schaurigen Schmerz nicht aufhalten. Sein Geist schoß ziellos hin und her, das Rad eines Spielers, das ohne festen Halt durch die erreichbare magische Energie zuckte. Er fiel und fiel, kippte in ein endloses Loch, aus dem es kein Entkommen geben konnte. Er würde den Drachen fressen, oder der Drache würde ihn fressen, aber wie auch immer, Cadderly spürte, daß es egal war. Er hatte sich selbst gebrochen – der einzige logische Gedanke, den er länger als einen flüchtigen Moment beibehalten konnte, war, daß er seine Grenzen überschritten hatte, als er in seiner Verzweiflung in das ultimative, unendliche Chaos gestürmt war. Noch immer krächzte er die unzusammenhängenden Noten, ließ zufällige Bruchstücke von Halbwahrheiten und Unwahrheiten in seinem Geist erklingen. Eins und eins war diesmal siebzehn. Eins und eins. Was Cadderlys Geist auch bestürmte, er rief noch immer die einfache mathematische Gleichung von eins und eins auf. Hundert verschiedene Antworten kamen ihm in schneller Folge, entstanden zufällig an diesem Ort seines Verstandes, wo keine Regeln mehr galten. Tausend verschiedene Antworten ohne Zusammenhang und ohne Führung rasten an ihm vorbei. Und Cadderly ließ sie mit dem Rest seiner treibenden Gedanken davonfliegen, denn er wußte, daß es Lügen waren. Eins und eins war zwei. Cadderly griff nach diesem Gedanken, dieser Hoffnung. Die einfache Gleichung, die einfache, logische Wahrheit, die als einzige harmonische Note in der Disharmonie erklang. Eins und eins war zwei!
Ein dünner Faden von Deneirs Lied spielte gleichzeitig, aber unabhängig von dem Mißklang in Cadderlys Geist. Er war wie eine Rettungsleine für den jungen Priester, nach der dieser eifrig griff. Er wollte sich nicht aus dem Mißklang ziehen lassen, sondern brauchte nur eine Hilfe, in dieser schlüpfrigen Sphäre des Chaos er selbst zu bleiben. Jetzt durchforschte Cadderly das gefährliche Gelände, fand eine Region emotionalen Aufruhrs und verkehrter Gesinnung und schleuderte diese mit all seiner geistigen Kraft nach Fyrentennimar. Die Wut des Drachen hielt an, und Cadderly verstand, daß er die angeborene Magieresistenz des Drachen noch nicht durchbrochen hatte. Jetzt merkte Cadderly, daß er saß. Irgendwann während seiner inneren Reise hatte das Erdbeben von Fyrentennimars Toben ihn umgeworfen. Wieder suchte Cadderly die besondere Region im Chaos, die er brauchte – diesmal eine andere Stelle –, und wieder schmetterte er sie dem Wyrm entgegen. Und dann ein drittes Mal und ein viertes. Der Kopf tat ihm weh, während er weiter den Zauber einforderte, den störrischen Drachen immer wieder mit falschen Gefühlen und falschen Überzeugungen angriff. Die Höhle war totenstill bis auf einige Geräusche, die aus dem Tunnel hinter Cadderly an seine Ohren drangen, hinten aus der Krötenhöhle vielleicht. Langsam schlug er die Augen auf und sah, daß der alte Fyren ruhig dasaß und ihn ansah. »Willkommen, demütiger Priester«, sagte der Drache mit ruhiger, kontrollierter Stimme. »Bitte vergib mir meinen Ausbruch. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.« Der Drache zwinkerte mit seinen Reptilienaugen und sah sich neugierig nach allen Seiten um. »Und nun zu dieser kleinen Aufgabe, um die du mich bittest.« Auch Cadderly zwinkerte viele Male vor Unglauben. »Eins und eins macht zwei«, murmelte er in sich hinein. »Hoffe ich.«
Restenergie Danica war die erste, die das Ende des Tunnels erreichte, der in die Drachenhöhle führte. Auf Händen und Knien kroch die Adeptin leise ans Licht und spähte hinein. Sie merkte, wie ihr die Knie weich wurden, als sie den prachtvollen Drachen zu Gesicht bekam, der hundertmal schrecklicher war, als es die Legenden auch nur ansatzweise schilderten. Aber dann verzerrten sich Danicas zarte Gesichtszüge vor Verwirrung über den unerwarteten Anblick. Cadderly stand genau neben dem Drachen, unterhielt sich freundlich mit ihm und zeigte auf den Ghearufu, den weißen und den schwarzen Handschuh mit dem goldenen Spiegel, die alle etwas weiter entfernt auf dem Boden lagen. Danica hätte fast laut aufgeschrien, als sie eine Hand auf ihrem Bein spürte. Sie stellte fest, daß es nur Shayleigh war, die wie geplant hinter sie schlich. Auch die Elfenfrau wirkte fassungslos angesichts dessen, was sie in der Höhle sah. »Gehen wir rein?« flüsterte sie Danica zu. Danica überdachte die Frage einen langen Augenblick, denn sie war wirklich verunsichert, welche Rolle sie übernehmen sollten. Cadderly schien die Lage zu beherrschen; würde ihr unerwartetes Auftauchen den Drachen stutzig machen und den alten Fyren zu einem entsetzlichen Wutausbruch veranlassen? Als Danica gerade mit dem Kopf schütteln wollte, kam ein ungeduldiger Ruf von hinten aus dem Tunnel. »Was seht ihr?« wollte Ivan wissen. Er war von den schleimigen Innereien der Kröte bedeckt und ganz und gar nicht glücklich. Sofort ging der glühende Blick des Drachen zum Tunnel, und wieder versagten Danica und Shayleigh die Glieder unter dem furchtbaren Starren.
»Wer kommt ungeladen in den Hort von …«, setzte der große Wyrm an, brach aber mitten im Satz ab und neigte seinen gewaltigen Kopf, damit er besser hören konnte, was Cadderly ihm gelassen von der Seite her zuflüsterte. »Dann kommt herein«, lud der Drache die beiden im Tunnel einen Augenblick später ein. »Willkommen, Freunde des demütigen Priesters!« Danica und Shayleigh brauchten etwas Zeit, bis sie den Mut aufbrachten, die Drachenhöhle tatsächlich zu betreten. Sie liefen direkt zu Cadderly, bei dem Danica sich einhakte, um ihn dann ungläubig anzuhimmeln. Cadderly fühlte das Gewicht dieses vertrauensvollen Blicks. Wieder war er in die vorderste Linie geraten, war der Anführer seiner Freunde geworden. Er allein verstand, wie brüchig sein Einfluß auf den Drachen sein konnte, und jetzt, wo Danica und die anderen eingetroffen waren, ruhte ihr Schicksal einzig in seinen Händen. Sie bewunderten ihn, sie vertrauten ihm, aber Cadderly war nicht so sicher, ob er sich selbst vertraute. Würde er die Schuld je abstreifen können, wenn er versagte und dies einen Freund das Leben kostete? Er wollte nach Hause in die Bibliothek, auf einem sonnenüberfluteten Dach sitzen und Percival mit Cacasanüssen füttern, den einzigen Freund, der (außer Cacasanüssen) keine Erwartungen an ihn hatte. »Der Drache mag mich«, erklärte der junge Priester, der sich bemühte, von einem Ohr zum anderen zu strahlen. »Und Fyrentennimar – der große Fyrentennimar – hat eingewilligt, mir bei meinem Problem zu helfen«, fügte er mit einem Nicken zum Ghearufu hinzu. Danica blickte auf den immer noch glühenden Boden neben dem Zugang zur Höhle und schloß daraus, daß der Drache seinen tödlichen Atem schon mindestens einmal benutzt hatte. Aber Cadderly wirkte unverletzt – und unerschrocken. Danica wollte ihn fragen, wie es zu dieser seltsamen Wendung der Dinge gekommen war, aber er brachte sie sofort mit einem
besorgten Blick zum Schweigen, und sie verstand, daß diese Diskussion lieber aufgeschoben werden sollte, bis sie in sicherer Entfernung waren. Ivan und Pikel rutschten in die Hohle, Vander direkt hinter ihnen, so daß er fast über sie gestolpert wäre. »Ui, ui!« quiekte Pikel beim Anblick des Wyrms, und Ivans Gesicht wurde blaß. »Zwerge!« donnerte Fyrentennimar. Die Wucht seines Schreis ließ die drei Bärte – den gelben, den roten und den grünen – hinter die Freunde wehen, und die Hitze von Fyrens Atem ließ sie die Augen zusammenkneifen. »Noch mehr Freunde!« rief Cadderly dem Drachen zu, und weil er es logisch fand, daß schatzhortende Drachen keine große Vorliebe für schatzhortende Zwerge hegten, winkte der junge Priester den dreien zu, hinten am Tunnel zu bleiben. Fyrentennimar stieß ein langes, tiefes Grollen aus und schien wenig überzeugt. Doch der Drache konnte seinen Zorn nicht aufrechterhalten. Er zwinkerte neugierig, warf Cadderly einen fast flehenden Blick zu und sah dann wieder zum Ghearufu hin. »Noch mehr Freunde«, stimmte Fyrentennimar zu. Cadderly blickte zürn Ghearufu und hielt es für sicherer, einfach seine Aufgabe zu erledigen und dann hier zu verschwinden. »Bleibt hinter mir«, warnte der alte Fyren Cadderly und die beiden Frauen, Dann folgte das scharfe Einatmen, bei dem der Drache seine Lungen aufblähte. Als Fyrentennimar diesmal blies, war kein magischer Schutzschild da, der sein Feuer abgelenkt hätte. Die Flammen trafen den Ghearufu und den Boden. Der Stein warf Blasen, und der Ghearufu zischte, als wäre er wütend, als würde seine mächtige Magie gegen diesen unglaublichen Angriff ankämpfen. »Ooooh«, murmelte Ivan ungläubig. Pikel stemmte die Hände in die Hüften und knurrte seinen Bruder an, der ihm das
Wort aus dem Munde genommen hatte. Sie setzten ihren Zwist jedoch nicht fort, weil die sengende Hitze des Drachenatems sie erfaßte. Vander schnappte sich die Brüder und drückte sich rückwärts an die Wand, wo er sich einen Riesenarm schützend vor die Augen hielt. Das feurige Atmen des Drachen hörte nicht auf. Es gab eine Reihe knallender Explosionen in der Flamme, und dicker, grauer Rauch erhob sich, der die feurige Säule umkreiste und ihr blendendes, gelbes Licht dämpfte. Cadderly nickte Danica und Shayleigh zu. Er war zuversichtlich, daß das Drachenfeuer sein Werk vollbrachte. Die Flammensäule verschwand, und Fyrentennimar zog sich zurück, wobei seine Reptilienaugen die Umgebung und die magischen Gegenstände genau beobachteten. Der Rauch umwirbelte den Ghearufu weiter wie eine Rohre. Auf beiden Handschuhen brannten kleine Feuer; der Goldrand des Spiegels war flüssig geworden und zu einer breiten, flachen Platte zerlaufen. Der Spiegel selbst pulsierte, wobei er sich merkwürdig wölbte, blieb aber anscheinend unversehrt. »Ist es vollbracht, demütiger Priester?« fragte Fyrentennimar. Cadderly war sich nicht sicher. Der dicke Rauchwirbel schien an Schwung zuzunehmen; der Spiegel pulsierte noch immer auf und ab. Dann brach er entzwei. Cadderlys blauer Hut flog davon, sein Umhang schlug über seinen Kopf und seine Schultern, stand gerade ab und knallte mehrmals bei dem plötzlichen Sog. Jetzt peitschte der Rauch kreisförmig herum, und aus dem Wirbelwind wurde ein donnerndes Brüllen. Shayleighs Pfeile flogen aus dem Köcher, knallten gegen Cadderlys Rücken und prallten von ihm ab. Der junge Priester konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er mußte sich kräftig gegen den furchtbaren Sog anstemmen. Alles Kleine aus der
Höhle sammelte sich auf dem zerbrochenen Spiegel an. Der immer noch formbare, geschmolzene Felsboden rollte wie eine Welle um das Zentrum dieses gewaltigen Sogs. Etwas schlug von hinten hart gegen Cadderlys Beine, was ihn seinen wackligen Stand kostete. Als er hinuntersah, bemerkte er Shayleigh, die sich – von ihrem wild peitschenden, goldenen Haar geblendet – vergeblich bemühte, mit den Händen Halt am Stein zu finden. Cadderly stürzte über sie, und sie rutschte auf das Tosen zu. Danica stand einige Fuß weiter hinten ganz still, hatte die Augen zur Meditation geschlossen und ihre Beine breit und fest aufgestellt. Hinten am Tunnel hatten Vander und die Zwerge eine Kette gebildet. Der Firbolg hielt Pikel, Pikel hielt Ivan. Plötzlich rutschte Pikels Hand ab, und Ivan schrie auf. Er widerstand dem Sog gerade den Moment lang, den Pikel brauchte, um sich hinzuwerfen und Ivans Knöchel zu umklammern. »Demütiger Priester!« brüllte der verwirrte Fyrentenninimar, und selbst das Drachengebrüll schien angesichts dieses tobenden Windes aus der Ferne zu kommen. Cadderly schrie nach Shayleigh, merkte, wie er ihr folgte, als der saugende Wind an Stärke zunahm. Hinter ihm schlug Danica die Augen auf, und die Sorge um ihre Freunde raubte ihr die Ruhe zur Konzentration. Sie machte einen langen Satz nach vorn, um Cadderly festzuhalten, doch als sie anhalten wollte, stellte sie fest, daß ihr Schwung zu groß war und sie einfach über den jungen Priester und Shayleigh hinwegtrug. Jetzt plötzlich war sie es, die dem wütenden Wirbelsturm am nächsten war. Ivan und Pikel befanden sich jetzt in der Luft. Pikel umklammerte Ivans Knöchel, und Vander hinter ihm hatte eine Hand fest um Pikels Knöchel gelegt, mit der anderen hielt er sich an einem Vorsprung im Tunnel fest.
Danicas Schreckensschrei, als sie in den Wirbel flog, ließ alles Blut aus Cadderlys Gesicht weichen. Shayleigh kam direkt nach ihr und wurde fest auf sie gedrückt, dann lag Cadderly oben auf dem Stapel. »Was mache ich nur, demütiger Priester?« rief der verwirrte Drache, aber Fyrentennimar wurde abgelenkt, denn sein eigener Schatzhaufen folgte dem Ruf des Wirbelsturms, wobei er hart gegen den Rücken des Drachen und seine weitausgebreiteten Flügel schlug. Was ist so ein Schatz schon wert, fragte sich der Drache, und in seinem magisch verwirrten Zustand beschloß Fyrentennimar hier und jetzt, seine Höhle bald von dem wertlosen Plunder zu säubern. »Ooooooh!« heulte Pikel, der von seinem Bart geblendet wurde (genau wie Ivan). Seine starken Arme schmerzten vor Anspannung, und sein Bein litt unter Vanders kräftigem Riesengriff. Pikel befürchtete, einfach entzweigerissen zu werden, aber um seines geliebten Bruders willen ließ er nicht los. Cadderly spürte ein starkes Brennen. Er kam sich vor, als wäre sein Innerstes einfach durch seine Haut gerissen worden. Er fiel, drehte sich in einem grauen Nebel, wirbelte unkontrolliert immer weiter nach unten. Er landete im Schlamm, in knietiefem Matsch, und sah sich und seine Umgebung ungläubig an. Er war nackt und schmutzig, anscheinend unverletzt, doch er stand in einer unendlichen Ebene langweiligen Graus, einem See aus blubberndem Matsch, der sich, soweit er sehen konnte, nach allen Seiten erstreckte. Danica und Shayleigh standen neben ihm, aber aus irgendeinem Grund, den der junge Priester nicht verstehen konnte, hatten sie immer noch ihre Kleider an. Aus Anstand kreuzte Cadderly seine Arme vor dem Körper und stellte fest, daß seine beiden Begleiterinnen dasselbe taten.
Danicas Lippen bewegten sich, als ob sie fragen wollte: »Wo sind wir?«, aber es schien sinnlos zu sein, diese unbeantwortbare Frage zu stellen. Weit unter der schneebedeckten Seite des Berges Nachtglut kratzte Druzil sein häßliches Gesicht und beobachtete das Beben der untoten Kreatur. Geist hatte sich schon viele Sekunden lang nicht mehr bewegt. Es war seit vielen Tagen das erste Mal, daß Druzil sah, daß das unermüdliche Wesen eine Pause einlegte. Das schauerliche Ding regte sich überhaupt nicht, abgesehen von dem sichtlichen Zittern. »Warum machst du das?« fragte das Teufelchen mit krächzender Stimme in sich hinein. Er hoffte, daß das Wesen ihn nicht irgendwie entdeckt hatte und nun seine magischen Kräfte anrief, um ihn zu finden und zu vernichten. Das Zittern verstärkte sich zu gewaltsamem Schütteln. Druzil jammerte und schlug schützend seine Lederflügel um sich, obwohl sie den schrecklichen Anblick nicht verbergen konnten, denn auch sie waren unsichtbar. Von dem untoten Monster gingen knisternde Geräusche aus, kleine Risse erschienen in seiner geschwärzten Haut, Rauchfäden stiegen daraus in die hell leuchtende Luft. »Ha?« fragte das Teufelchen einen Augenblick später, als der Untote zu einem Haufen verkohlter, zerbrochener Späne zusammenfiel. Cadderly starrte weiterhin verwirrt die Umgebung, sich selbst und seine Freunde an. Auch Danica schien es wichtig zu sein, sich zu bedecken, was Cadderly nicht verstand, denn sie war vollständig bekleidet. Oder nicht? Ein Heulen irgendwo aus unsichtbarer Ferne ließ sie alle zusammenzucken. Shayleigh hockte sich hin, drehte sich
langsam um und schaute nach allen Seiten, wobei sie abwehrend die Fäuste vor sich ballte. Wenn sie einen Angriff befürchtete, warum nahm sie dann ihren Bogen nicht von der Schulter, fragte sich Cadderly, Und dann verstand er. Mit wissendem Nicken vergaß der Priester seinen nutzlosen Anstand und stellte sich aufrecht hin. Ein neuerlicher Schrei, ein Schmerzensschrei, erklang irgendwo weiter weg, gefolgt von einem lauten Platschen. »Wo sind wir?« wollte Danica wissen. »Und wieso bin ich die einzige, die keine Kleider anhat?« Shayleigh sah sie ungläubig an, dann an ihrem eigenen Körper herunter. Eine Welle rollte auf sie zu, die den unangenehmen, bräunlichen Matsch bis in Taillenhöhe ansteigen ließ. Cadderly verzog das Gesicht, als er das eklige Zeug fühlte und zum ersten Mal den Gestank bemerkte. »Was hat eine so große Welle verursacht?« flüsterte Shayleigh, und ihre aufmerksame Feststellung erinnerte Cadderly daran, daß Unbehagen sein kleinstes Problem sein konnte. Die Erscheinung, eine kleine, menschenähnliche Gestalt, deren einer Arm gebrochen war, stieg zwanzig Fuß von ihnen entfernt aus dem Schlamm auf. Ihre bedrohlichen Augen verengten sich, als sie sie ansah. »Der Assassine«, hauchte Danica. »Aber er ist tot, und wir …« Mit weit aufgerissenen braunen Augen schaute sie Cadderly an. »Vom Ghearufu gefangen«, erwiderte Cadderly, der nicht bereit war, die Möglichkeit einzuräumen, daß auch sie gestorben waren. »Gefangen!« brüllte die mickrige Gestalt mit mächtiger Riesenstimme, »Gefangen, damit ihr eure angemessene Strafe erhaltet!«
»Nimm doch deinen Bogen!« schrie Danica Shayleigh an. Die Mönchin hatte noch nie solche Angst gehabt. Wieder warf die Elfenfrau Danica einen ungläubigen Blick zu, dann griff sie hilflos an ihre – in ihren Augen – leere Schulter. Danica sprang kopfschüttelnd zwischen Shayleigh und Cadderly hindurch, um sich abwehrend zwischen sie und die nahende Erscheinung zu stellen. Cadderly schaute nach unten, auf den langweiligen Schlamm, um seinen Kopf zu klären und alles wahrzunehmen, was er gesehen und gehört hatte. Warum war er der einzige, der nackt war? Oder vielmehr, warum kam es ihm so vor? Genau wie Danica, wie er aus ihren Worten entnehmen konnte. Und wenn Shayleigh geglaubt hätte, ihren Bogen zu haben, wenn sie nicht der Meinung wäre, daß auch sie ohne Kleider und Ausrüstung dastand, warum hatte sie dann nicht die Waffe von ihrem Rücken genommen? Danicas Hände begannen einen komplizierten Tanz vor ihr, mit dem sie ihr Gleichgewicht hielt. Die Erscheinung von Geist zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht, sondern glitt weiter stetig durch den Schlamm. Danica merkte, daß Geist plötzlich größer wirkte, und stellte fest, daß die Erscheinung immer weiter wuchs. »Cadderly«, flüsterte sie lautlos, denn jetzt war ihr Gegner volle zehn Fuß groß, fast so groß wie Vander. Er machte noch einen Schritt und verdoppelte dabei wieder seine Größe. »Cadderly!« Sie alle glaubten, sie wären nackt, aber jeder sah den anderen, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, überlegte Cadderly, der wußte, daß in diesem Umstand etwas Wichtiges verborgen liegen mußte. Er tastete seinen Körper ab, denn er fragte sich, ob seine Ausrüstung ihm nur unsichtbar erschien, ob seine durchschlagende Handarmbrust wohl noch an seiner Hüfte hing und nur darauf wartete, von ihm ergriffen zu werden.
Aber er spürte nur seine Haut und die schleimigen Spritzer des ekelhaften, braunen Schlicks. Die Erscheinung ragte dreißig Fuß hoch vor ihnen auf. Ihr Gelächter verspottete Danicas lächerliche Verteidigungshaltung. Mit saugendem Geräusch kam ein Fuß aus dem Schlamm und hing drohend hoch in der Luft. »Strafe!« grollte der böse Geist und trat zu. Danica warf sich zur Seite, platschte durch den Schlamm und tauchte wieder auf. Jetzt klebten ihre erdbeerroten Locken von dickem, braunem Matsch überzogen an ihrem Kopf. Das Aufspritzen weckte Cadderly aus seinen Überlegungen. Er riß die grauen Augen weit auf, als er sich nach Danica umsah und befürchtete, sie wäre zertreten worden. Da war Shayleigh auch schon bei der Adeptin und zog sie von dem gigantischen Ungeheuer weg. Geist jedoch zeigte kein Interesse mehr an Danica, nicht jetzt, da Cadderly, der Urheber des Desasters, der Zerstörer seiner eigenen Gestalt und des kostbaren Ghearufu, vor ihm stand. »Hast du deinen Frieden mit deinem Gott gemacht?« zog ihn die Riesenstimme auf. Wo sind wir? Die Frage lief durch Cadderlys Gedanken, jetzt, wo das Ungeheuer ihn bedroht hatte und anscheinend gerade bestätigt hatte, daß sie nicht tot waren. Doch dieser Ort ähnelte entfernt der Geisterwelt, die Cadderly kannte, denn er hatte sich schon mehrfach in diesen körperlosen Zustand gewagt. Danica und Shayleigh stellten sich vor den jungen Priester. Dann sprang Danica ein Bein des Riesen an, krallte sich in die Kniekehle, biß hinein. Der Riese trat aus und versuchte, sie abzuschütteln, aber falls ihr ungezügelter Angriff irgendwelchen Schaden anrichtete, zeigte der lächelnde Geist es nicht.
»Scheinbar verwundbar«, murmelte Cadderly, um seinem Denken auf die Sprünge zu helfen. Sein Selbstbild, die Bilder seiner Freunde und das Bild ihres Verhängnisses mußten eine Frage der Wahrnehmung sein, denn er und seine beiden Begleiterinnen hielten sich selbst für nackt und die anderen zwei für bekleidet. Shayleigh rutschte vom Bein des anderen Monsters ab, als Geist es hoch über Cadderlys Kopf hob. »Cadderly!« schrien Danica und die Elfenkriegerin ihrem offenbar abgelenkten Freund gleichzeitig zu. Der riesige Fuß trat zu; Danica wurde beinahe ohnmächtig bei dem Gedanken, daß ihr Geliebter zerquetscht wurde. Cadderly fing den Fuß mit einer Hand ab und hielt ihn mühelos über seinem Kopf fest. Auch er begann zu wachsen. »Was ist denn jetzt los?« rief die frustrierte, entsetzte Danica aus, die vom Knie des Riesen abfiel und davon – platschte. Shayleigh holte sie ein und hielt sie fest. Sie brauchte genausoviel Unterstützung, wie sie spendete. Cadderly war schon halb so groß wie Geist, und jetzt war es dieser, der verwirrt schien. Der junge Priester stemmte sich gegen den Fuß und schleuderte Geist rückwärts, so daß er im Schlamm landete. Bis das Wesen wieder auf den Beinen war, war Cadderly der Größere. Geist kam trotzdem fauchend an, um seinen verhaßten Feind fest zu umklammern. Danica und Shayleigh rückten von den Titanen ab, denn sie verstanden gar nichts mehr und konnten nicht helfen. Cadderlys dicke Arme bogen und verrenkten sich. Geists ebenfalls, und lange Zeit schien keiner der Titanen einen Vorteil zu gewinnen. Geist biß fest in Cadderlys Hals, um dann wie wild seinen Kopf hin und her zu werfen. Doch es war er, nicht Cadderly,
der dann vor Schmerz aufschrie, denn er biß nicht in bloße Haut, sondern in eine stählerne Rüstung! Das wilde Monster hob den Arm; seine Finger wuchsen zu Eisenspitzen, die er auf Cadderlys Schulter herunterfahren ließ. Der junge Priester kreischte auf vor Qual. Cadderlys Arm wurde zum Speer, den er Geist durch den Bauch bohrte. Geists Haut teilte sich ringsherum und formte ein Loch, durch das der Armspeer gleiten konnte, ohne einen Schnitt zu hinterlassen. Dann schloß sich die Haut des bösen Wesens um Cadderlys Auswuchs und hielt ihn fest. Geists Mund ging unvorstellbar weit auf und sah aus wie das Maul einer Schlange, einschließlich der gifttriefenden Reißzähne. »Cadderly«, flüsterte Danica, die ihren Liebsten für verhören hielt und glaubte, daß auch sie und Shayleigh dieser gräßlichen Erscheinung zum Opfer fallen würden. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was folgte; sie vergaß fast das Luftholen. Cadderly zuckte nicht mit der Wimper. Sein Kopf wurde dicker, sein Gesicht flacher wie der Kopf eines Hammers, und er schlug gerade nach unten. Diesmal hatte sein Angriff Geist anscheinend überrascht, denn der Schlangenkiefer des Assassinen zerbrach, und Blut spülte das Gift weg. Cadderly verstand, daß das Spiel auf mentaler Schnelligkeit beruhte, die für jeden Angriff die passende Verteidigung fand und die richtige Perspektive (ja, das war das Schlüsselwort!) gegenüber furchteinflößenden Anblicken und unmöglichen Wirklichkeiten einnahm. Er hatte Geist verwirrt und benommen gemacht, und deshalb konnte er den Augenblick nutzen. Sein freier Arm wurde zur Axt. Die rasiermesserscharfe Hand hackte von der Seite auf Geists Hals ein. Das Ungeheuer reagierte schnell, indem es seiner Schulter einen Schild wachsen ließ, aber Cadderly hatte sich gleichzeitig einen
Schwanz wie den des Mantikors wachsen lassen, den er auf dem Bergpfad bekämpft hatte. Noch während die Axthand von Geists Schild abprallte, wirbelte der Schwanz herum und schnellte wie eine Peitsche vor, um Geist zahlreiche Eisendornen in die Brust zu jagen. Cadderly schwenkte seinen festhängenden Arm unnachgiebig herum. Geist schaffte es irgendwie, seine Haut den Bewegungen anzupassen, um Cadderly davon abzuhalten, ihn buchstäblich in Stücke zu reißen. Der Schwanz kam wieder hoch, doch Geists Brust verdickte sich durch eine heraufbeschworene Rüstung, welche die schweren Treffer etwas abhielt. Cadderly hatte Geist an seine mentale Grenze gebracht, hatte Geists Verstand ans äußerste seiner Denkfähigkeit gezwungen. Es war ein Schachspiel, das wußte Cadderly, ein Spiel gleichzeitiger Bewegung und vorweggenommener Verteidigung. Geists Schlangenmaul formte sich im Handumdrehen neu – Cadderly war wirklich überrascht, daß der Assassine, der immer noch seine Verteidigung aufrechterhielt, zu dieser Veränderung fähig war. Gleichzeitig jedoch wurde Cadderlys Kopf zu seinem Drachenkopf, dem Kopf von Fyrentennimar. Geist riß seine Schlangenaugen weit auf. Er versuchte, seinen Kopf in etwas zu verwandeln, das den Angriff abhalten konnte, etwas, was Drachenatem standhalten konnte. Er dachte nicht schnell genug. Cadderly atmete einen Flammenstrahl aus, der Geists Gesicht verbrannte und seine Haut so versengte, daß nur noch ein halb menschlicher, halb schlangenhafter Schädel auf dem knochigen Hals des Titanen saß. Im Griff dieser Qualen konnte Geist die Kontrolle über seine mentale Verteidigung nicht mehr aufrechterhalten. Cadderlys Mantikorschwanz senkte ein halbes Dutzend Stacheln in Geists Brust. Cadderlys Axthand drang tief in Geists Schlüsselbein.
Mit dem Siegesschrei eines Drachen riß Cadderly seinen festsitzenden Arm hin und her und schnitt Geist mitten durch. Die obere Hälfte des besiegten Titanen plumpste in den Schlamm und überzog Danica und Shayleigh mit Spritzern. Fast augenblicklich nahm der Rumpf des getöteten Geists wieder seine normale Größe an und versank in dem braunen See. Geists zitternde Beine wankten beim Schrumpfen und glitten fast lautlos in den Matsch. Cadderlys Kopf wurde wieder menschlich, als er sich seinen überwältigten Gefährtinnen zuwandte. Er nahm sie jedoch nur flüchtig wahr, ehe sich eine schwarze Wand vor ihm auftürmte und ihn besinnungslos schlug.
Brausen »Uff!« stöhnten Ivan und Pikel einstimmig, als die zerrende Kraft des Wirbelsturms abrupt abbrach und sie platt auf dem Steinboden landeten. Auch Vander stöhnte und kippte rückwärts gegen die Wand. Die dicken Muskeln in seinen Armen zitterten vor Erschöpfung. Der Wind hatte einfach aufgehört, und der Rauch löste sich jetzt auf, so daß Danica, Cadderly und Shayleigh auftauchten, die übereinander auf einem Haufen lagen. »Geht es dir gut, demütiger Priester?« fragte Fyrentennimar mit echter Sorge. Cadderly blickte zu dem großen Wesen auf und nickte. Er war sehr froh, daß die Gesinnungsumkehr, die er über den alten Fyren gesprochen hatte, während seiner spirituellen Abwesenheit angedauert hatte. Danica zwang sich auf die Beine, und Cadderly kletterte seinerseits von Shayleigh. Bei der Bewegung schmerzte ihm jeder Knochen im Leib. Er wußte zwar, daß sein Zweikampf mit Geist mentaler Art gewesen war, nicht körperlicher, eine Überzeugung, in der er
noch bestärkt wurde, weil weder er noch Danica oder Shayleigh etwas von dem abscheulichen Matsch an sich hatten und wirklich genauso aussahen wie vor ihrer Reise. Dennoch kam der junge Priester sich vor, als wäre er ordentlich durchgeprügelt worden. »Was war das für ein Monster?« fragte Danica. »Ich dachte, du hättest gesagt, der Assassine sei tot.« »Das war nicht Geist«, erwiderte Cadderly. »Nicht richtig. Was wir gefunden haben, war die Verkörperung des Ghearufu, vielleicht eine Verschmelzung der magischen Gegenstände mit ihrem Besitzer.« »Wo?« wollte Shayleigh wissen. Diesmal wußte Cadderly keine rechte Antwort. »Irgendeine Vorhölle zwischen den Existenzebenen«, antwortete er mit einem Schulterzucken, das zeigen sollte, daß dies nur eine Vermutung war. »Der Ghearufu existiert schon seit vielen tausend Jahren und wurde von mächtigen Bewohnern des Chaos geschaffen. Deshalb mußte ich hierherkommen, noch vor unserer wichtige! Reise nach Burg Trinitatis.« »Und du hättest das verdammte Ding nicht einfach bei den Priestern lassen können?« grollte Ivan, der Steine und Geröll wegtrat, während er nach seinem fortgerissenen Helm suchte. Cadderly wollte noch einmal die Wichtigkeit dieser Aufgabe erklären, daß die Vernichtung des Ghearufu im allgemeinen Plan der universellen Harmonie wichtiger war als alles, was ihr relativ unwichtiges Leben direkt betreffen mochte. Er ließ es jedoch sein, weil er erkannte, daß der pragmatische, dickschädelige Zwerg keinen Sinn für solche tiefsinnigen philosophischen Argumente hatte. Danica aber legte ihm die Hand auf die Schulter und nickte ihm zu, als er sich nach ihr umsah. Sie vertraute ihm wieder – das verrieten ihre Augen deutlich. Er war froh über dieses Vertrauen, und gleichzeitig machte es ihm angst.
Er winkte Danica und Shayleigh, sich zu den anderen an den Eingang zu begeben. »Mächtiger Fyrentennimar«, rief er den Drachen an, während er sich tief und anerkennend verbeugte. »Die Worte der Götter haben sich bewahrheitet.« Cadderly trat einen Schritt zur Seite und hob einen der ruinierten, noch immer rauchenden Handschuhe hoch. »Auf der ganzen Welt hätte nichts als der Atem des mächtigen Fyrentennimar den Ghearufu zerstören können; keine Macht der Welt kommt der Wut deines Feuers gleich!« Diese Feststellung entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber obwohl der Drache anscheinend immer noch fest im Griff von Cadderlys chaotischer Bezauberung war, hielt der junge Priester es für weise, mit seinem Lob großzügig umzugehen. Fyrentennimar schien es zu gefallen. Der Drache blähte seine ohnehin schon enorme Brust auf und reckte den Kopf mit dem Kamm stolz in die Höhe. »Und jetzt müssen meine Freunde und ich dich deinem Schlaf überlassen«, erklärte Cadderly. »Keine Sorge, wir werden deinen Schlummer kein zweites Mal stören.« »Mußt du wirklich gehen, demütiger Priester?« fragte der Drache sichtlich betrübt, was ein neugieriges, mitleidiges »Ooh« von Pikel und eine Sammlung ungläubiger Flüche von Ivan zur Folge hatte. Cadderly antwortete mit einem schlichten »Ja«, bat den Drachen, sich hinzulegen und auszuruhen, und wandte sich zum Gehen. Am Tunneleingang blieb er stehen und sah seine Freunde an. »Was ist mit den Kröten?« fragte er, denn die fielen ihm gerade zum ersten Mal, seit er den furchtbaren Drachen erblickt hatte, ein. »Platt«, versicherte ihm Pikel. »Du solltest dir lieber um das Wetter Gedanken machen«, stellte Vander mit ernster Stimme fest. »Du hast keine Ahnung,
wie stark die Stürme im Hochgebirge werden, und verstehst auch nicht, welchen Preis dein persönliches Abenteuer uns alle kosten könnte.« Cadderly nahm die Schelte hin, während der Firbolg fortfuhr und Ivan und selbst Shayleigh mit einfielen. Der junge Priester wollte sich verteidigen, sie alle überzeugen, wie er Danica überzeugt hatte, daß die Zerstörung des Ghearufu die wichtigere Aufgabe gewesen war. Selbst wenn sie hier bis zum Frühling festsaßen, selbst wenn die Verzögerung bedeuten mochte, daß Fyrentennimar sie alle tötete und die Region in ihrem Kampf gegen Burg Trinitatis teuer zu stehen kam, war die Zerstörung des bösartigen magischen Gegenstands den Preis wert gewesen. Ein jüngerer Cadderly wäre auf seine Kritiker losgegangen. Jetzt sagte er nichts, verteidigte sich auch nicht gegen den gerechtfertigten Zorn seiner Freunde. Er hatte seine Wahl guten Gewissens getroffen, die einzige Wahl, die sein Herz und sein Glaube zulassen konnten, und nun würde er die Folgen tragen, für sich, für seine Freunde und für die ganze Region. Die treue, vertrauensvolle Danica, die seinen Arm festhielt, zeigte ihm, daß er die Folgen nicht allein tragen würde. »Wir werden durch die hohen Pässe ziehen«, sagte Danica, nachdem Vander seinem Ärger Luft gemacht hatte. »Und wir werden uns gegen den Zauberer Aballister und seine Truppen in der Festung unserer Feinde behaupten.« »Allein käme ich vielleicht durch«, stimmte der Firbolg zu. »Denn ich stamme aus den kalten Bergen. Mein Blut ist voller Wärme, und meine Beine sind lang und stark und können sich durch turmhohe Schneewehen kämpfen.« »Meine Beine sind aber nicht so lang«, warf Ivan sarkastisch ein. »Was hast du denn für mich?« fragte er Cadderly scharf. »Welche Sprüche und wie viele? Du verflixter Dummkopf von einem Priester! Wenn du hierherkommen wolltest, hättest du nicht bis zum Sommer warten können?«
»Jo.« Pikels unerwartete Zustimmung traf Cadderly mehr, als es das Murren des grantigen Ivan je vermocht hätte. Aber dann sah sich Cadderly nach Unterstützung durch Danica um und entdeckte einen durchtriebenen Blick in ihren funkelnden Augen. »Wie freundlich ist denn der Drache?« fragte sie und führte damit alle Augen zu dem gelassenen Fyrentennimar zurück. Cadderly lächelte sofort, doch Ivan brauchte länger, bis er begriff. »Oh nein, das nicht!« bellte der gelbbärtige Zwerg, aber angesichts des gewagten Plans, der auf den Gesichtern von Cadderly und Danica zu lesen war, und angesichts des plötzlichen Lächelns von Shayleigh und dem Firbolg wußte Ivan, daß er auf verlorenem Posten stand. Zerstört! teilte Druzil telepathisch zum vielleicht zehnten Mal mit. Zerstört! Weg! Vom anderen Ende der mentalen Verbindung kam keine sofortige Antwort, als ob Aballister nicht verstehen könnte, wovon das Teufelchen redete. Schon zweimal hatte Aballister Druzil befohlen, das untote Monster zu suchen und herauszufinden, was die körperliche Hülle der bösen Kreatur zerstört hatte. Beide Male hatte Druzil erwidert, daß die Aufgabe praktisch unmöglich sei, denn er habe keine Ahnung, wo er zu suchen anfangen sollte. Wo der Geist auch hingeflogen war, Druzil wußte, daß er nicht mehr in Verbindung zur Ebene der Materie stand. Das Teufelchen erinnerte den Zauberer nachdrücklich daran, daß es nur einen roten und einen blauen Beutel Zauberpulver erhalten hatte und durch Aballisters Mangel an Voraussicht fast hundert Meilen entfernt von Burg Trinitatis festsaß, ohne jede Möglichkeit, ein magisches Tor benutzen zu können. Eine Welle aus Ärger, die von Aballister ausging, überschwemmte Druzil. Das Gehirn des Teufelchens glühte vor Schmerz; Druzil fürchtete, daß schon der wachsende Zorn des
Zauberers ihn vernichten könnte. Ein Dutzend Befehle jagte vorbei, jeder von einer gemeinen Drohung begleitet. Druzil war sprachlos. Noch nie hatte er Aballister so erbost erlebt. Druzil versuchte, die Verbindung abzubrechen – früher hatte er das oft getan –, aber Aballisters telepathischer Griff blieb bestehen und hielt ihn fest. Als Aballister endlich fertig war und das plötzlich erschöpfte Teufelchen entließ, lehnte sich Druzil an einen Baumstumpf und legte seinen hundegesichtigen Kopf ganz verloren in die Klauenhände. Er starrte auf die verstreuten Überreste des bösartigen Monsters, ließ seinen Blick den imponierenden Aufstieg zum Berg Nachtglut hochwandern, zu dem Nebel und den Wolken, in denen Cadderly und seine Freunde verschwunden waren. Aballister wollte, daß Druzil den jungen Priester aufspürte und verfolgte. Er sollte sogar versuchen, Cadderly zu töten, falls sich eine Gelegenheit bot. Keine Drohung Aballisters und keine Demonstration seiner Macht würde Druzil dazu bringen, diesen verrückten Versuch zu unternehmen. Das Teufelchen wußte, daß es Cadderly nicht gewachsen war, und es wußte auch, daß Aballister möglicherweise der einzige in der ganzen Region war, der es sein könnte. Aber für Druzil war offensichtlich, daß Aballister es nicht so weit kommen lassen wollte. Welche Befriedigung der alte Zauberer auch daraus ziehen konnte, wenn er Cadderly persönlich vernichtete, es kam einfach zu ungelegen zu einer Zeit, wo der Zauberer sich größeren Angelegenheiten widmen wollte. Aballister hatte den Untoten als möglichen Verbündeten bezeichnet. Jetzt war er fort, und Druzil spürte, daß Cadderly bei seiner Zerstörung mitgewirkt hatte. Das Teufelchen glaubte auch, daß seine eigene Rolle in diesem Drama beendet war. Das Wesen war sein Führer zu Cadderly gewesen. Druzil bezweifelte, daß er den jungen Priester ohne es auch nur ausfindig machen konnte. Und da das Wetter rasch
in richtige Winterstürme überging, war Druzil klar, daß er Wochen brauchen würde, nach Burg Trinitatis zurückzukehren – wahrscheinlich lange nachdem Cadderly nicht mehr als ein rotbrauner Fleck auf einem Steinboden war. »Bene tellemara«, sagte das Teufelchen immer wieder, während es den törichten Aballister verfluchte, der ihm nicht mehr von dem Zauberpulver gegeben hatte, das die Tore öffnete. Es verfluchte das scheußliche, kalte Wetter, verfluchte den Untoten, weil er versagt hatte, und schließlich verfluchte es Cadderly. Druzil war so frustriert, daß er keinen Schritt mehr zum Berg Nachtglut machte, ja, daß er sich überhaupt nicht mehr rührte. Stundenlang fiel der Schnee auf seine Hundeschnauze und die gefalteten Flügel, während das störrische Teufelchen regungslos an seinem Baumstumpf hockte und »Bene tellemara« murmelte. »Ich weiß nicht, wie lange der Zauber auf den Drachen wirken wird«, gab Cadderly einige Zeit später zu, nachdem Fyrentinnemar sie bereitwillig zum Haupteingang der riesigen Höhle am Nordhang des Berges geführt hatte, einer Öffnung, die so groß war, daß der Drache ein- und ausfliegen konnte, ohne seine enormen Schwingen anzulegen. »Wär' doch ein echtes Fest für den alten Fyren, sich an den alten Fyren zu erinnern, wenn wir auf seinem verdammten Rücken tausend Fuß in der Luft sind!« schnaubte Ivan so laut, daß es ihm wütende Blicke von seinen Kameraden und einen Klaps auf den Hinterkopf von Pikel einbrachte. »Du hast gerade gesagt …«, wollte der gelbbärtige Zwerg an Cadderly gerichtet aufbegehren. »Was ich gerade gestanden habe, ist keine Information, die man so einfach an Fyrentennimar weitergeben darf!« flüsterte Cadderly kurz angebunden. Der Drache lag ein Stück entfernt, wo er in den heulenden Wind spähte und über die Strecke
nachdachte, die sie nehmen wollten, aber Cadderly hatte viele Geschichten gelesen, in denen die außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Drachen beschrieben wurden, wo ein Flüstern hinter vorgehaltener Hand eine verhandelnde Gruppe gegenüber einem höchst geschmeichelten Wyrm teuer zu stehen gekommen war. »Es wird eine kurze Reise sein«, überlegte Shayleigh. »Du wirst Fyrentennimar nicht lange beeinflussen müssen.« Cadderly sah, daß die furchtlose Elfenkriegerin sich auf den Ritt freute und daß auch Danica angesichts des möglichen Vorteils keine Vorbehalte hegte. Da Pikel auf und ab hüpfte, in seine plumpen Hände klatschte und die ganze Zeit lächelte, war seine Stimmung auch unschwer zu erraten. »Was meinst du?« fragte Cadderly Vander, den einzigen von ihnen, der seine Gefühle noch nicht gezeigt hatte. »Ich finde, daß du verrückt bist, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen«, erwiderte der Firbolg ohne Umschweife. »Aber ich stehe auf ewig in deiner Schuld, und wenn du dich für den Flug entscheidest, komme ich mit.« Er warf einen Seitenblick auf den murrenden Ivan, »Genau wie der Zwerg, nur keine Sorge.« »Für wen redest du da?« knurrte Ivan zurück. »Willst du allein in der Höhle zurückbleiben und die Rückkehr des Drachen erwarten?« fragte der Firbolg beiläufig. Ivan dachte ein paar Minuten darüber nach, dann stieß er trotzig aus: »Gutes Argument.« Bald darauf brausten sie in die Fänge des jetzt tosenden Sturms. Der Wind konnte das Vorwärtskommen des mächtigen Drachen jedoch kaum behindern, und die Hitze von Fyrentennimars innerem Glutofen, die Hitze, die dem furchtbaren Atem des Drachen ihre Macht verlieh, hielt die sechs Freunde warm genug. Tief geduckt saß Cadderly mit geschlossenen Augen am nächsten am Kopf des alten Fyren, direkt am Ansatz des
schlangenartigen Drachenhalses. Wieder griff der junge Priester in die Sphäre der chaotischen Magie und konzentrierte sich mit ganzer Kraft darauf, seinen für sie alle lebenswichtigen Zauber aufrechtzuerhalten. Zu seiner Erleichterung schien der Drache richtig Spaß daran zu haben, seine Reiter zu tragen, Spaß daran, einfach mal wieder die weite Welt zu sehen. Dieser Gedanke weckte keine geringe Furcht in Cadderly – hatte Ivan nicht gesagt, daß man schlafende Hunde nicht wecken sollte? Er dachte an die möglichen Folgen für die Menschen in der Umgebung, besonders die Folgen für Carradoon, das in den Augen eines fliegenden Drachen nicht gerade weit weg war. Doch Cadderly hatte seine Wahl getroffen, und jetzt mußte er auf die Weisheit dieser Entscheidung vertrauen und das Beste hoffen. Danica saß direkt hinter ihrem Geliebten. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen, achtete aber sehr darauf, den jungen Priester nicht aus seiner Konzentration zu reißen. Sie stiegen über den Sturm hinaus in das glitzernde Sonnenlicht, brausten durch die eisige Luft. Als sie durch die Wolken gestoßen waren, schoß Fyrentennimar in eine Schlucht zwischen zwei Bergen hinunter und legte sich in dem engen Paß schräg. Seine ledrigen Flügel fingen den Aufwind ein und nutzten ihn optimal aus, als der Drache zwischen den steilen Wänden hervorkam und nun eine Geschwindigkeit entwickelte, die sich seine begeisterten Reiter nie hätten vorstellen können. Danica genoß dieses Gefühl, das viele Male aufregender war als das Laufen durch die Luft, so sehr, daß sie Cadderly losließ, ihre Arme weit ausbreitete und den Wind durch ihre offenen Haare peitschen ließ. Die Welt verschwamm unter ihnen; Ivan beschwerte sich, ihm würde schlecht werden, aber keiner kümmerte sich um ihn. Sie rasten auf einen Grat zu, und alle – außer dem konzentrierten Cadderly – schrien laut auf, weil sie Angst hatten, sie würden dagegenprallen. Aber Fyrentennimar war
kein ungeübter Flieger, und plötzlich war der Grat verschwunden, blitzschnell überquert. »Du Sohn eines schlauen Goblins!« schrie Ivan, der so beeindruckt war, daß er vergaß, daß ihm eigentlich übel war. »Mach das noch mal!« kreischte er hingerissen, und der Drache hörte ihn anscheinend, denn ein weiterer Grat, dann noch einer und dann noch ein spitzer Gipfel rasten in wilder Folge unter oder neben ihnen vorbei, begleitet von einem Chor aufgeregter Schreie, die vom begeisterten Brüllen eines gelbbärtigen Zwergs übertönt wurden. Keiner von ihnen konnte auch nur annähernd schätzen, wie schnell sie vorwärts kamen. Das Tempo des Drachenflugs war unbegreiflich. In Minutenschnelle überquerten sie das Massiv der Schneeflockenberge, und dabei stimmten alle, einschließlich Vander und Ivan, mittlerweile überein, daß es eine gute Entscheidung gewesen war, den gezähmten Wyrm zu reiten. Aber dann bäumte sich der mächtige Fyrentennimar ganz unvermittelt auf, schien in der Luft stehenzubleiben und wandte seinen gewaltigen gehörnten Kopf mit dem Maul voller Reißzähne Cadderly zu. »Ui, ui«, murmelte Pikel im Glauben, der Spaß sei zu Ende. Cadderly setzte sich aufrecht hin, denn er fürchtete, er habe die Grenzen seiner Kontrolle erreicht. Die chaotische Magie war für ihn unberechenbar, denn sie gründete sich auf Unlogik und kam im harmonischen Lied des Deneir einfach nicht vor. Cadderly schaute zu Danica und Shayleigh zurück, aus deren Gesichtern der Ausdruck der Begeisterung gewichen war, dann zum finsteren Vander, der nickte, als ob er diese Katastrophe die ganze Zeit erwartet hätte. Cadderly wollte den Drachen ansprechen, Fyrentennimar fragen, was nicht stimmte, aber auf dem Rücken des zerstörerischen Ungeheuers, tausend Fuß hoch über der Erde, brachte er den Mut nicht auf.
Dorigen sah verwundert zu, wie ihre Holztür sich ächzend wölbte. Dicke Holzblasen dehnten sich in ihren Raum und zogen sich dann wieder zurück. Sicherheitshalber wich sie an die Seite des kleinen Zimmers aus, um nicht zu Schaden zu kommen. Eine riesige Wölbung beanspruchte das Holz lange Momente aufs äußerste. Dann zerbarst die Tür in tausend Splitter, von denen jeder von der restlichen Energie silbern leuchtete. Silberne Funken wurden augenblicklich blau, und kein einziger Splitter traf den Boden oder die Wand gegenüber, denn sie wurden einfach im Flug zu nichts. Aballister stürmte herein. »Der Geist hat versagt«, stellte Dorigen fest, bevor der schäumende Zauberer auch nur ein Wort gesagt hatte. Aballister blieb stehen und musterte die jüngere Zauberin mißtrauisch. »Du hast es durch deine Kristallkugel gesehen«, zischte er, als ihm das Gerät auf dem Tisch vor Dorigen einfiel. »Ich lese es aus deinem Gesicht«, gab Dorigen rasch zurück, denn sie befürchtete, der Zauberer würde mit ihr umspringen wie mit ihrer Tür. Sie warf ihr langes, graumeliertes Haar zurück, fuhr mit gekrümmten Fingern hindurch und vollzog unzählige andere Bewegungen, alles mit dem Ziel, Aballisters wachsende Wut abzulenken. Tatsächlich schien der Zauberer kurz vor dem Explodieren zu stehen. Seine tiefliegenden dunklen Augen verengten sich gefährlich, während er seine knochige Hand abwechselnd ballte und streckte. »Deine Ängste sind leicht zu erkennen«, sagte Dorigen unverhohlen, obwohl sie wußte, daß genau das dem Zauberer zu schaffen machte. Dorigen wußte, daß Aballister ein Mensch war, der darauf stolz war, seine Gefühle zu verbergen und nie alle Karten auf den Tisch zu legen, damit seine Feinde und Rivalen keinen emotionalen Ansatzpunkt fanden, den sie gegen ihn benutzen konnten. »Ruhe und Distanz zu bewahren ist das
Geheimnis der Stärke eines Zauberers«, hatte der kaltherzige Aballister oft gesagt, aber so verhielt er sich jetzt nicht, nicht, da der zähe Cadderly seinem Ziel, Burg Trinitatis, offenbar näher rückte. »Du hast es in deiner Kristallkugel gesehen«, klagte Aballister sie wieder an, diesmal mit leiser, grollender Stimme, und Dorigen verstand, daß es unklug wäre, ein zweites Mal zu widersprechen. »Die Chimäre und der Mantikor sind besiegt?« stellte Dorigen fragend fest. Das hatte sie seit Aballisters letztem Besuch bei ihr vermutet, als er so außer sich gewesen war und ihre Suche erfolglos blieb. Aballister gestand den Verlust mit einem Nicken. »Und jetzt der Untote«, fuhr Dorigen fort. »Ich weiß nicht, ob Cadderly bei dessen Untergang die Hand im Spiel hatte«, fauchte Aballister. »Ich habe Druzil bereits auf die Sache angesetzt.« Dorigen nickte, war aber insgeheim ganz anderer Meinung. Wenn der Geist vernichtet war, dann steckte sicher der erstaunliche Cadderly dahinter. Und das wußte auch Aballister, ob er es offen zugab oder nicht. »Haben wir noch etwas, womit wir zuschlagen können?« fragte Dorigen. »Hast du ihn mit deiner kostbaren Kristallkugel gefunden?« fuhr Aballister sie wütend an. Dorigen wandte den Blick ab, weil sie den obersten Zauberer nicht die Wut in ihren bernsteinfarbenen Augen sehen lassen wollte. Wenn er ihre Sehversuche jämmerlich fand, warum übernahm Aballister diese Aufgabe nicht selbst? Er war schließlich kein Anfänger in dieser Kunst. Er hatte Barjins Vorrücken verfolgt, als der Priester die Erhebende Bibliothek betreten hatte, hatte sogar seinen wertvollen Zauberspiegel zerstört, als er seine Magie hindurchgezwungen hatte. Seit dieser Zeit hatte Aballister keine Versuche mehr unternommen,
in die Ferne zu sehen, abgesehen von dem einen, früheren Versuch in Dorigens Zimmer. »Also, hast du ihn?« fragte Aballister barsch. Dorigen warf ihm einen zornigen Blick zu. »Schon einfache Sprüche können jede Suche abblocken«, gab sie zurück. »Und ich versichere dir, mit einfachen Sprüchen hat dem Sohn keine Probleme!« Aballister schien schockiert, daß Dorigen so ungeniert zu ihm gesprochen und einmal mehr betont hatte, daß diese Gefahr für Burg Trinitatis von Aballisters eigenem Sohn ausging. Der Zauberer zitterte buchstäblich vor Zorn und zog sogar in Betracht, Dorigen mit seiner ganzen Macht zu strafen. »Bereite deine Verteidigung vor«, sagte Dorigen zu ihm. Wieder verschlug ihre Offenheit ihm die Sprache. »Cadderly wird nie so nah an Burg Trinitatis herankommen«, gelobte Aballister, und ein boshaftes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er sich sichtlich beruhigte. »Es ist an der Zeit, daß ich mich persönlich um dieses ungeratene Kind kümmere.« »Du ziehst selber los?« Dorigens Stimme klang ungläubig. »Meine Magie zieht los«, stellte Aballister richtig. »Die Berge selbst werden erzittern, und der Himmel wird um den Tod dieses dummen Jungen Cadderly weinen! Wollen wir mal sehen, ob ein Priester sich mit einem Zauberer messen kann!« Er lachte höhnisch, drehte sich um und verließ schwungvoll Dorigens Zimmer. Die Zauberin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte auf die gesprengte Tür, deren Pfosten noch glühten, nachdem Aballister längst verschwunden war. Sie würde es weiter mit ihrer Kristallkugel versuchen, mehr weil dieser junge Priester und seine außergewöhnlichen Freunde sie neugierig machten als um Aballisters willen. Insgeheim glaubte Dorigen sogar, daß sie kurz vor Aballisters Hereinplatzen Kontakt bekommen hatte, aber sie war sich nicht sicher, deshalb hatte sie es dem
drängenden Zauberer gegenüber nicht erwähnt. Es war nur ein flüchtiges Gefühl von brausender Luft gewesen, ein Gefühl von Freiheit, vom Fliegen. Sie hatte den Drachen nicht gesehen, konnte nicht einmal sicher sein, daß sie tatsächlich mit Cadderly in Kontakt getreten war. Aber wenn es der junge Priester war, dann vermutete Dorigen, daß er sich nicht an den erwarteten Zeitplan hielt und schon bald an die Türen von Burg Trinitatis klopfen würde. Das brauchte Aballister nicht zu wissen.
Im Tiefflug »Feinde?« Fyrentennimars donnernde Frage ließ die sechs schrecklich ausgelieferten Freunde vor Angst den Atem anhalten. »Wir sind Freunde«, erwiderte Cadderly kläglich, als der Drache in kurzen Abständen abtauchte und aufstieg, was einem Flattern auf der Stelle so nahe kam, wie es dem gewaltigen Ungeheuer möglich war. Fyrentennimar verdrehte den Schlangenhals, bis sein Kopf leicht schief lag, fast wie bei einem neugierigen Hund. »Sind das Feinde?« brüllte der Drache wieder. Das? Cadderly merkte neugierig und hoffnungsvoll auf. »Wo?« Fyrentennimar nickte und brach in Gelächter aus. »Natürlich, natürlich!« schrie er, und jetzt klang seine Stimme nicht mehr nach der eines hysterischen Drachen. »Eure Augen sind nicht so scharf wie Drachenaugen! Das muß ich mir merken.« »Von was für möglichen Feinden redest du?« fragte Cadderly ungeduldig, nachdem er gemerkt hatte, daß Fyrentennimars zielloses Geschwätz noch eine Weile so
weitergehen könnte. Er wußte, daß sein Zauber vielleicht nicht mehr lange anhalten würde. »Unten auf dem Pfad«, erklärte der Drache. »Eine Reihe Goblins und Riesen.« Cadderly drehte sich zu Danica und Shayleigh um. »Wir sollten unseren Weg fortsetzen«, schlug er vor. »Ich kann Fyrentennimar bitten, uns weitab von dieser Karawane abzusetzen.« »Wie viele?« fragte Shayleigh grimmig, eine Hand fest um ihren Bogen gelegt und ein aufgeregtes Funkeln in ihren Veilchenaugen. Cadderly wie Danica erkannten an diesem Blick, daß die Elfenkriegerin die Ungeheuer nicht einfach weiterziehen lassen wollte. Cadderly bat Danica mit einem Blick um Unterstützung, Als diese nicht gleich kam, fuhr er fort: »Ich weiß nicht, wie lange der Drache stillhalten wird. Das Risiko …« »Der ganze Flug ist ein Risiko«, entgegnete Danica schlicht, und Shayleigh schien derselben Meinung zu sein. »Wenn Shilmista deine Heimat wäre, würdest du den Riesen und Goblins nicht so einfach erlauben, in ihre Schlupflöcher zurückzukehren«, sagte die Elfenkriegerin zu Cadderly. »Wir aus dem Wald wissen sehr wohl, was der Frühling uns bringen wird.« »Wenn wir Burg Trinitatis zerstören, kommen die Ungeheuer vielleicht nicht zurück«, gab Cadderly zu bedenken. »Wenn du aus Shilmista wärst, würdest du dieses Risiko in Kauf nehmen?« Danica nickte zu Shayleighs Logik, aber ihr Lächeln verschwand, als sie Cadderlys finsteren Blick sah. »Lassen wir doch unsere Freunde entscheiden«, schlug die Adeptin vor. Ohne zu wissen, wie sehr der mürrische Ivan den Drachenflug mittlerweile genoß, stimmte Cadderly bereitwillig zu. Bis jetzt hatten Ivan, Pikel und Vander, die sich an den
kurzen, flatternden Luftsprüngen des großen, roten Drachen erfreuten, von der Diskussion nichts mitbekommen. »Ivan!« rief Danica dem Zwerg hinten zu. »Hättest du Lust, ein paar Goblins die Köpfe einzuschlagen?« Der gelbbärtige Zwerg brüllte auf, Pikel quietschte begeistert, und Danica drehte sich mit zufriedenem Lächeln wieder zu Cadderly um. Dieser runzelte die Stirn, denn er hielt Danicas Art, Ivan zu fragen, für schrecklich unfair – welcher Zwerg würde solch eine Frage mit »Nein« beantworten? »Nutzen wir unseren neuen Verbündeten zu unserem bestmöglichen Vorteil«, sagte Shayleigh zu dem unterlegenen jungen Priester. Cadderly legte sich an den schuppigen Drachenhals und versuchte, sich einen Überblick über ihre gesamte Lage zu verschaffen. Er wußte, daß sie direkt nach Burg Trinitatis ziehen mußten. Jeder Kampf zu diesem Zeitpunkt konnte ihre späteren Erfolgsaussichten mindern, besonders, falls der Drache der Bezauberung entkam. Aber war er bereit für Burg Trinitatis? Nach seinem Kampf zur Zerstörung des Ghearufu und seinem titanischen Ringen mit Geist war Cadderly sich nicht so sicher. Bis jetzt war er hauptsächlich mit dem Ghearufu beschäftigt gewesen, aber nachdem diese Aufgabe erledigt war, hatte er nach vorne geblickt – auf mächtige Zauberer und eine gut ausgebildete Armee, die sich in einer geheimen Bergfestung verbarrikadiert hatten. Cadderly brauchte Zeit, um zu sich zu kommen und die Gefahren am Ende des vor ihm liegenden Weges besser zu bedenken. Er entschied, daß ein Angriff auf die Goblinhorde mit einem Drachen an seiner Seite vielleicht wirklich ein willkommener Aufschub war. Und er konnte nicht guten Gewissens Shayleighs Angst um Shilmista und den flehenden, entschlossenen Ausdruck auf ihrem schönen Elfengesicht übergehen. Zumindest sich selbst
mußte der junge Priester eingestehen, daß etwas Faszinierendes an dem Gedanken war, von seinem sicheren Ausguck aus die ungezügelte Macht des Drachen mitzuerleben. »Ich glaube, es sind Feinde, mächtiger Fyrentennimar«, rief Cadderly dem ungewöhnlich geduldigen Drachen zu. »Gibt es etwas, was wir gegen sie unternehmen könnten?« Zur Antwort knickte der Drache einen Flügel ab und setzte zum Sturzflug an, schoß mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinab, bis er abbremste und seinen Schwung nutzte, um eine große Runde um den Berg zu fliegen. Von dieser Höhe aus hatten die Freunde keine Schwierigkeiten mehr, die Karawane auszumachen, einige hundert Goblins und eine ganze Reihe Riesen, die hintereinander durch ein enges Tal trotteten, das von steilen Felswänden begrenzt wurde. Fyrentennimar blieb nah am Gipfel, kreiste von den Ungeheuern weg. Innerhalb von Sekunden schienen das Tal und die Karawane weit entfernt. »Sag es mir, demütiger Priester«, bedrängte der sichtlich kampflustige Drache Cadderly. Dieser blickte noch einmal zu seinen Freunden, um die Entscheidung zu bekräftigen, und sah fünf nickende Köpfe, die ihm zugewandt waren. »Es sind Feinde«, bestätigte Cadderly. »Welche Rolle sollen wir in dem Kampf übernehmen?« »Ihr?« rief das gewaltige Tier ungläubig. »Ihr haltet euch mit eurer ganzen jämmerlichen Kraft an meinem Kamm fest!« Der Drache kippte, bis seine Flügel fast senkrecht zum Boden standen (was Ivan und Pikel einen neuerlichen Jubelschrei entlockte), dann schoß er um den anvisierten Berg herum. Die Freunde spürten, wie die Wärme in dem Wyrm anstieg, das glühende Feuer des ergrimmten alten Fyren. Die Reptilienaugen verengten sich böse, und als Cadderly den wachsenden Eifer des Drachen bemerkte, war er nicht ganz sicher, ob ihm die ganze Angelegenheit gefiel.
Sie kamen um den Fuß des Berges in das enge Tal hinein, immer noch in scharfer Schräglage, so daß die Felswände schwindelerregend rasch an den sechs erstaunten Freunden vorbeirauschten. Der Drache ging in die Waagerechte über und sank noch tiefer, bis die Spitzen seiner weiten Flügel nur noch ein gutes Dutzend Fuß von den Felsen entfernt waren. Die Goblins und Riesen am Ende der Karawane drehten sich um und stießen entsetzte Schreie aus, aber der Drachenflug war so schnell, daß sie nicht einmal die Zeit hatten, ihre Marschordnung aufzulösen, ehe Fyrentennimar über ihnen war. Ein glühendheißer Feuerstrahl schoß auf die Ungeheuer hinunter. Goblins rollten sich zu verkohlten Knäueln zusammen; mächtige Riesen kamen ins Wanken, während sie vergeblich nach den tödlichen Flammen schlugen, die ihre Körper verzehrten. Beißender Rauch stieg hinter dem Drachen auf. Seine Flammen waren erschöpft, bevor er sehr weit über die lange Reihe vorgedrungen war, aber Fyrentennimar behielt stolz seinen Tiefflug bei, denn er wollte, daß seine Feinde ihn sahen und fürchteten. Im ganzen Tal brach helle Panik aus. Riesen zertrampelten Goblins und prallten gegen andere Riesen; Goblins prügelten auf ihre Artgenossen ein, schlugen sogar mit dem Schwert zu, um irgendwie davonzukommen. »Ach, du Heber Deneir«, murmelte Cadderly, den die entfesselte Macht des Drachen wieder zutiefst beeindruckte, genauso wie das fassungslose Entsetzen, das Fyrentennimar bei jenen bemitleidenswerten Geschöpfen auf dem Boden hervorgerufen hatte. Nein, sagte sich Cadderly, nicht bemitleidenswert. Das da waren die Invasoren von Shilmista, die Pest, die den Elfenwald verwüstet und viele aus dem Volk des Elfenprinzen Elbereth getötet hatte. Die Pest, die zweifellos im Frühjahr zurückkehren würde, um zu vollenden, was sie begonnen hatte.
Shayleigh schoß mit zusammengekniffenen, wütenden Augen einige gutgezielte Pfeile ab. Sie sah einen Goblin mit einem einfachen Bogen auf den Drachen zielen, aber er war zu dumm, um die unglaubliche Geschwindigkeit seines Gegners einzukalkulieren, so daß sein Schuß weit hinter ihnen vorbeiflog. Shayleigh war die bessere Bogenschützin – ihr Pfeil traf den fluchenden Goblin in den Mund. Ein zweiter Schuß folgte augenblicklich, diesmal in den Rücken eines Goblins, worauf das armselige Geschöpf tot zu Boden fiel. Diesmal zuckte Cadderly zusammen, denn es war nicht zu übersehen, daß dieser Goblin nur versucht hatte zu fliehen und keine Bedrohung darstellte. Dieser Gedanke lastete auf dem sensiblen Gewissen des jungen Priesters. Bis er wieder an den Elfenwald und die Narben von Shilmista dachte. Das da waren Feinde, beschloß er endlich, worauf er auch nach Rache dürstete. Der junge Priester stimmte sich auf das Lied des Deneir ein und machte plötzlich ein ebenso finsteres Gesicht wie seine Elfenfreundin. Er hörte die Töne laut und kraftvoll in seinem Kopf, als hieße Deneir seine Entscheidung gut, und er überließ sich bereitwillig ihrem Fluß. Fyrentennimar warf sich hoch, als das Tal enger wurde. Sobald er die steilen Wände hinter sich hatte, legte sich der Drache wieder schief und setzte zu einem zweiten Angriff auf seine Gegner an. Die Ungeheuer an der Spitze der Karawane wären vielleicht davongekommen, indem sie aus dem schmalen Ende des Tals in die Weite flohen, wo sie ihre Formation hätten auflösen können. Cadderly hielt sie auf. Er rief die Felswände am Ende des Tals an, konzentrierte sich auf einen hohen Bogen. Das vorderste Ungeheuer, ein dickwanstiger Riese, stürmte unter diesem Bogen hindurch, als die Felsen zum Leben erwachten und wiederholt wie ein
enormes Maul zuschnappten, womit sie den überrumpelten Riesen zu einem blutigen Haufen zermantschten. Der zweite Riese kam abrupt zum Stehen und sah den Felsen baff vor Staunen zu. Weil er diese unglaubliche Falle überprüfen wollte, hob der Gigant einen hilflosen Goblin neben sich hoch und warf diesen nach vorn. Schmatzende Kaugeräusche begleiteten die Schreie des Goblins und gingen noch lange weiter, nachdem die Schreie verebbt waren. Überreste des Goblins rieselten auf der anderen Seite der Schranke heraus. Als der Drache vorüber war, war die grausige Szene auch aus Cadderlys Sichtfeld sofort verschwunden. Für einen Wyrm war es eine scharfe Wende, doch der riesige Fyrentennimar mußte sich dennoch ein ganzes Stück von dem Tal entfernen, um sie zu schaffen. »Er soll mich runterlassen«, beschwor Danica Cadderly. »Und mich!« rief Vander von weiter hinten. Der Firbolg und Danica wechselten aufgeregte Blicke, denn beide brannten darauf, nebeneinander zu kämpfen. Cadderly schüttelte den Kopf über diese absurde Vorstellung und schloß die Augen, um wieder in seinen Gesang zu verfallen. »Laß mich runter, ehrwürdiger Fyren!« rief Danica aus. Cadderlys Augen flogen weit auf, doch der gehorsame Drache hielt direkt neben einem Grat, wo Danica und Vander von ihren Plätzen sprangen und davonrannten, bevor Cadderly reagieren konnte. »He, wir verpassen den ganzen Spaß!« merkte Ivan, als der Wyrm wieder abflog und schnell an Höhe gewann. Der Zwerg wollte dem Drachen etwas zurufen, aber Pikel hielt ihn am Bart fest, zog ihn dicht zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ivan brüllte glücklich auf, und beide Zwerge kletterten vom Rücken des Drachen, jeder an einen Flügel. »Was macht ihr denn da?« wollte Cadderly wissen.
»Sag dem verdammten Wyrm einfach, er soll gut festhalten!« schrie Ivan zurück, dann verschwand er aus Cadderlys Blickfeld, um sich Hand um Hand an der schuppigen Seite des Drachen hinunterzuhangeln. Einen Augenblick später tauchte sein Kopf noch einmal auf. »Aber nicht zu fest!« fügte er hinzu, dann war er verschwunden. »Was?« fragte Cadderly ungläubig zurück. Er brauchte einige Zeit, bis er begriffen hatte. »Fyrentennimar!« schrie er verzweifelt. Danica und Vander rannten auf das hintere, weite Ende des Tals zu, um nach Feinden zu suchen, die sich vielleicht durch den Gestank und den Rauch hindurchgekämpft hatten. Nur wenige Minuten, nachdem Fyrentennimar sie abgesetzt hatte, während der Drache noch seinen weiten Bogen beschrieb und allmählich zum zweiten Durchgang ansetzte, entdeckten die beiden einige Goblins und einen einzelnen, turmhohen Riesen, die von einem kahlen, steinigen Hang herunter direkt auf sie zuhielten. Der Firbolg und die Adeptin nickten einander zu und wichen auseinander, damit sich jeder ein eigenes Versteck hinter den vielen Felsen dieser Gegend suchen konnte. Die Goblins und der Riese sahen mehr nach hinten als nach vorn, denn sie hatten solche Angst vor dem Drachen, daß sie gar nicht darauf kamen, daß vor ihnen eine Gefahr lauern könnte. Danica griff schwungvoll von der Seite an, warf ihre zwei Dolche, womit sie zwei Goblins zu Fall brachte, und stürmte dann weiter. Mit einer Rolle tauchte sie vor ihren überraschten Gegnern auf. Sie zertrümmerte Gesichtsknochen, und ihre Messerfinger zerquetschten eine Luftröhre. Noch ehe Danica ihren Schwung voll ausgenutzt hatte, lagen vier der neun Goblins tot zu ihren Füßen.
Der Riese auf der anderen Seite der Gruppe wollte sich ihrem Angriff stellen, doch dann bemerkte er eine Bewegung hinter sich und fuhr herum, die gewaltige Keule schlagbereit. Ein Goblin hetzte vorbei, der Danica beäugte und vor Angst kreischte. Vander schlug ihn mitten entzwei. »Riese-Bruder«, sagte das keulenschwingende Monster zu Vander in der rollenden, donnernden Sprache der Hügelriesen. Vander rümpfte seine Nase und griff an. Sein großes Schwert beschrieb einen blitzschnellen Bogen. Der Hügelriese wich zurück, warf noch zur Verteidigung seine Keule hoch und hatte Glück: Die Keule blockierte das herunterrasende Schwert, und Vanders Klinge saß mehrere Finger breit im Holz. Vander versuchte, das Schwert zurückzuziehen, damit er noch einmal ausholen und zuschlagen konnte, aber das harte Holz der Keule hielt es fest. Der Hügelriese, der viel größer und viele Male schwerer war als Vanders achthundert Pfund, warf sich nach vorn, ließ seine Keule los und breitete seine Riesenarme weit aus, um seinen Gegner zu umklammern. Vander wand sich, schlug mit der Faust zu, traf gut, konnte aber den Schwung seines Feindes kaum abfangen. Der Firbolg fiel unter den zwei Tonnen Hügelriesenfleisch schwer zu Boden. Die übrigen vier Goblins beäugten einander ebenso wachsam wie Danica, denn jeder wartete, daß einer seiner Kameraden den ersten Schritt machte. Sie umkreisten die scheinbar unbewaffnete Frau. Einer hob einen Speer. Nachdem die erste Überraschung vorüber war, nahm Danica jetzt eine verteidigende Hockstellung ein, denn sie zog es vor, ihre Feinde zu sich kommen zu lassen. Die Goblins verteilten sich klugerweise um sie herum, aber sie blieb zuversichtlich und drehte sich langsam, damit keiner hinter ihr Stellung beziehen konnte.
Der Goblin mit dem Speer zuckte mit dem Arm, und Danica wollte nach rechts abtauchen, hielt jedoch inne, denn sie erkannte die Bewegung des Goblins als Finte und nutzte die Pause zu ihrem Vorteil, indem sie blitzschnell nach links ausbrach, eine tiefe Wende vollzog und einen der anderen Goblins waagerecht gegen das Knie trat. Das Ungeheuer fuhr hoch, dann wich es zurück, wobei es sein gebrochenes Gelenk umklammerte. Danica war schon wieder im Kreis zurück. Jetzt sah sie den mit dem Speer genauer an, schätzte seine Stärke ein und nutzte seine Körpersprache, um seine Gedanken zu lesen. Cadderly sah den Kampf drüben an der Seite und bekam mit, wie Vander unter der Masse des monströsen Hügelriesen begraben wurde. Er wollte sich etwas Hilfreiches ausdenken, aber plötzlich war er wieder ringsum von Felswänden umgeben, denn Fyrentennimar begann einen neuen atemberaubenden Angriff. Shayleigh bewegte sich geschickt auf dem Drachenrücken umher, denn sie war entschlossen, ihren Teil beizutragen, und schoß wiederholt ihren Bogen ab. Zuerst schoß sie ohne Strategie, obwohl fast jeder Pfeil ein Treffer war, doch dann konzentrierte sie sich ganz auf einen Hügelriesen. Bis Fyrentennimars Flug sie außer Schußweite gebracht hatte, steckten ein halbes Dutzend Pfeile in dessen breiter Brust. »Weiter runter, du verdammter Spielverderber von Drache!« kam es von unten, ein Schrei, der Cadderly verriet, daß Ivan und Pikel Stellung bezogen hatten. Der junge Priester legte sich flach auf den Bauch und spähte über den vorderen Rand des Drachenflügels. Unter ihm hingen die Gebrüder Felsenschulter, jeder in einer von Fyrentennimars geschlossenen Klauen. Der Drache flog wirklich tiefer, und Pikel jauchzte höhnisch auf, als er seine Baumstammkeule bereithielt und die Schnelligkeit des Drachen ausnutzte, um einem Riesen, der sich zu langsam
geduckt hatte, den Kopf zu zermalmen. Ivan zog seine Axt schwungvoll nach der anderen Seite, als sie vorbeikamen, aber er wählte einen völlig falschen Zeitpunkt und erwischte nichts als Luft. »Sandstein!« bellte der frustrierte Zwerg. Cadderlys Sinn für Ordnung konnte die Verrücktheit um ihn her nicht akzeptieren. Unter hilflosem Kopfschütteln gelang es ihm, sich aufzusetzen und eine Hand in einen beerengefüllten Beutel zu stecken. Mit resignierter Stimme sprach er die letzten Worte des Zaubers, dann holte er eine Handvoll Beeren heraus und warf sie einfach in die Luft. Die Beeren explodierten überall, wo sie aufkamen, in kleine Flammenbälle, erschreckten mit ihrem Biß die Riesen und verwundeten oder töteten gar ein paar Goblins. Fyrentennimar flog wieder etwas höher, als das Tal enger wurde, aber die Freunde wußten, daß er nicht davonbrausen würde. Er hatte den Angriff noch nicht beendet. Ein Schwarm ihrer Gegner drängte sich am hinteren Ende des Tals zusammen, gefangen zwischen den senkrechten Felswänden und Cadderlys Beißzauber. Ihre Panik überschlug sich geradezu, als der Drache sich vor ihnen aufbäumte. Riesen warfen Goblins durch den Bogen (einer kam tatsächlich durch, ohne getroffen zu werden, und rannte dann kreischend den Felshang auf der anderen Seite hinunter), dann sprangen viele aus lauter Schrecken vor dem großen Drachen selbst hinein. Der Schlangenhals des Drachen schoß vor, und dann kamen die Flammen. Fyrentennimars Maul schwenkte von einer Seite zur anderen, veränderte den Winkel des Feuers und erfaßte den ganzen Monsterhaufen. Es ging weiter und weiter, unendlich lang für den überwältigten Cadderly. Gequälte Schreie entrangen sich Wesen, die bald nichts mehr als knisternde Knochen waren; die ganze Horde schien zu einer einzigen blubbernden Masse zusammenzufließen.
»Ooh«, murmelte Pikel bewundernd, denn von seinem tiefen Platz aus hatte der Zwerg gute Sicht auf das Inferno. Ivan, der ungläubig den Kopf schüttelte, fand keine Worte zur Erwiderung. Danica sah Panik in dem Goblin aufkeimen und wußte, daß er nur noch seinen Speer werfen und davonrennen wollte. Sie starrte ihn fest an, zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken, deren Intensität fast hypnotisch war. Sie mußte den Wurf des Goblins noch etwas länger zurückhalten, bis der ängstliche Keulenschwinger rechts von ihr den ersten Schritt machte. Danica richtete sich auf und schien sich zu entspannen, obwohl sie ihren einschüchternden Blick beibehielt. Dann bückte sie sich plötzlich und drehte sich um, wodurch sie die Keule, die wie vorhergesehen zuschlug, mit beiden Händen auffangen und herunterziehen konnte. Dabei schlang sie ihren Fuß um die Knie des überraschten Goblins und zog ihn um sich herum. Plötzlich zuckte der Goblin und riß die Augen weit auf. Obwohl Danica den Speer nicht sah, der in seinem Rücken steckte, wußte sie, daß ihr Einsatz und ihre Einschätzung der Gegner perfekt gewesen waren. Wirbelnd kam sie herum, entriß dem sterbenden Ungeheuer die Keule und stieß sie augenblicklich dem nächsten angreifenden Goblin in die Brust. Der rang einen Augenblick mit dem unerwarteten Geschoß, hatte Schwierigkeiten mit seinem eigenen Schwert und warf es schließlich zur Seite. Er hatte sich gerade wieder auf Danica konzentriert, als ihr Fuß seine Kehle traf. Wieder fuhr Danica herum, sprang über den toten Goblin mit der Keule und riß ihm den Speer aus dem Rücken. Drei Sätze weiter ließ sie die einfache Waffe fliegen. Der Speer traf sein Ziel nicht richtig, geriet seinem ursprünglichen Besitzer
aber so zwischen die Beine, daß der Goblin unsanft auf dem Bauch landete. Dann war Danica über ihm, und er war tot. Die Adeptin sah sich zu dem einzigen überlebenden Goblin um, dem ersten der vier, die sie getroffen hatte. Er taumelte halb hüpfend, halb kriechend herum und hielt sich weiter die zerschmetterte Kniescheibe. Er war an zwei seiner Gefährten vorbeigekommen, zwei Goblins, die mit einem Griff nach den Dolchen gestorben waren. Um sich zu bewaffnen, humpelte das Ungeheuer mühsam auf die Dolche zu, doch es blieb entsetzt stehen und blickte auf, denn Danica hatte es überholt. Vander schlug vergeblich gegen den Leib des Riesen, hieb mit aller Kraft um sich, biß das Ungeheuer sogar in den Hals. Aber trotz aller Wildheit, die der mächtige Firbolg aufbringen konnte, wirkte er unter der schieren Größe des Hügelriesen winzig. Vander merkte, wie ihm das Atmen schwerfiel, und fragte sich, wie lange er unter dem zwei Tonnen schweren Giganten durchhalten konnte. Seine Schätzung verminderte sich erheblich, als der Hügelriese zu hüpfen begann, indem er sich mit seinen gewaltigen Händen vom Boden abstieß und sich dann auf den armen Vander zurückfallen ließ. Vanders erster Gedanke war, sich zusammenzukugeln. Er erkannte jedoch, daß sein Körper dem Druck nicht lange standhalten würde, egal, was er tat – der erster Hüpfer hatte ihm den Atem genommen, und nun konnte er zwischen den nachfolgenden Anläufen nur kleine Mengen Luft holen. Jedesmal, wenn der Hügelriese wieder herunterkrachte, erwartete Vander, daß sein Brustkorb zusammenbrechen würde. Ohne über die Bewegung lange nachzudenken, nutzte Vander einen freien Moment, um die Beine an den Bauch zu ziehen. Das Glück war mit dem Firbolg, denn als der Hügelriese wieder herunterkam, trieb ihm sein eigenes Gewicht
Vanders Knie fest in den Bauch. Wieder fuhr der Hügelriese hoch, diesmal höher, und breitete weit seine Arme aus, damit er mit einem letzten Aufprall ein Ende machen konnte. Vanders Füße reckten sich dem Bauch des Riesen entgegen und hielten ihn hoch, bevor er genug Schwung gewinnen konnte. Der verzweifelte Firbolg strengte alle seine Kräfte an; seine Beinmuskeln vibrierten und standen wie Seile hervor. Der Riese, dessen Bauch mehrere Fuß über dem Boden hing, zog die Hand hoch und boxte Vander ins Gesicht, worauf dieser fast die Besinnung verlor. Vander nahm den Schlag hin, konzentrierte sich aber weiter auf seine Beine und zwang sie, sich zu strecken. Der Riese stieg noch etwas höher auf. Vander wußte, daß er das Gewicht nicht halten konnte. Er trat ein letztes Mal zu, um sich kostbare Sekunden und Raum zu erkaufen, dann zog er die Beine an und rollte zur Seite, während er den Knauf seines Schwertes in die Erde drückte und die Klinge senkrecht nach oben hielt. Der Riese riß die Augen erschrocken auf und schlug im Fall noch mit den Armen, doch er konnte nicht ausweichen, sich nicht zur Seite werfen. Das Schwert traf am Übergang zwischen Bauch und Brust und durchstieß das Zwerchfell des Ungeheuers. Es fing sich mit bebenden Armen ab und bremste so den Fall, damit es sich nicht weiter aufspießte. Vander war jetzt frei, doch er rollte sich nicht sofort unter dem Riesen weg. Mit beiden Armen griff er nach seinem Schwert und stieß es direkt nach oben, tiefer in das Fleisch des Gegners. Die zitternden Arme knickten vollends ein, und der Riese rutschte die Klinge entlang und stieß ein langes, tiefes Stöhnen aus, als die Spitze der Klinge an sein Rückgrat stieß und dort einen Augenblick steckenblieb. Dann rutschte das Schwert ab, und der Gigant lag ganz still, denn er spürte keinen Schmerz. Er spürte gar nichts mehr.
Vander, der wieder fast unter dem enormen Gewicht zerdrückt wurde, ruckte einige Male an dem Schwert, um sicherzugehen, daß der Riese wirklich tot war, bevor er anfing, unter ihm herauszukriechen. Danica, die ihre eigene Aufgabe beendet hatte, hockte bald neben ihm. Irgendwann ließ das Drachenfeuer nach und ließ die ganze Horde am engen Ausgang des Tals als blasige, schmorende Masse zurück. Die Ungeheuer hinter dem Drachen hätten einen Sturmangriff versuchen können, aber sie taten es nicht, denn sie waren zu entsetzt, um sich dem todbringenden Wyrm auch nur zu nähern. Ivan und Pikel drohten ihnen mit ihren Waffen und verspotteten sie in der Hoffnung, sie näher heranzulocken. »Ach, haut doch ab, ihr feigen Hunde!« schrie der frustrierte Ivan. Einen Augenblick später, als die Drachenklauen die Zwerge losließen, stieß Ivan einen überraschten Schrei aus. Er und Pikel plumpsten fünfzehn Fuß tief auf die Erde, wo sie prompt wieder aufsprangen und benommen herumhüpften. Fünfzig Fuß hinter ihnen drehten sich die fliehenden Riesen und Goblins um und starrten sie neugierig an, weil sie nicht wußten, in welche Richtung sie nun laufen sollten. »Demütiger Priester, runter mit dir!« brüllte Fyrentennimar, womit er Cadderly aus seiner Benommenheit rüttelte. Der junge Priester drehte sich zu dem alten Fyren um und fragte sich, ob der Gesinnungszauber abgelaufen war und ob er jetzt wohl sterben würde. »Runter mit dir!« rief Fyrentennimar wieder, und die Macht seiner Stimme, die Steine zum Bersten bringen konnte, warf Cadderly beinahe von seinem Platz. Er und Shayleigh rührten sich augenblicklich, kletterten am Kamm den Rücken und den
Schwanz hinunter und ließen sich die letzten paar Fuß bis zum Boden fallen, wo sie neben Ivan und Pikel landeten. »Mit Drachen spielen«, meinte Ivan sarkastisch, aber fast unhörbar. Shayleigh hob ihren Bogen, mußte aber die Augen schließen und wegsehen, als sich Fyrentennimar mit wildem Flügelschlagen in die Luft schraubte und dabei Rauch und Staub aufwirbelte. Der Drache kam wieder ein Stück herunter, bäumte sich erneut auf und fiel dann mit peitschendem Schwanz, reißenden Vorderklauen und tretenden Hinterbeinen über die verbliebene Monstergruppe her, wobei seine Flügel einen wahren Orkan verursachten. Ein Schlag des Drachenschwanzes ließ vier Goblins durch die Luft fliegen und mit soviel Wucht gegen die Talwand krachen, daß ihnen fast jeder Knochen im Körper brach. Dann traf der Schwanz selbst die Wand, schlug einen tiefen Riß in den Stein und hinterließ blutrote Flecken, wo die Goblins gewesen waren. Ein völlig fassungsloser Riese hob seine Keule und griff an. Fyrentennimars Maul packte ihn und riß ihn mühelos in die Luft. Quiekend wie ein Tier im Schlachthaus steckte der Riese einen freien Arm aus dem Maul des Wyrms und schlug mit seiner armseligen Keule auf den gepanzerten Kopf ein. Fyrentennimar biß den Riesen einfach in der Mitte durch. Selbst der hartgesottene Ivan ließ sich durch das hingebungsvolle Gemetzel des Drachen und die Menge der zerfetzten Leichen erschüttern. »Ein Glück, daß er auf unserer Seite ist«, sagte Ivan, dessen atemlose Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. Cadderly verzog bei diesen Worten das Gesicht, denn er dachte an den Tonfall, mit dem Fyrentennimar seinen Abstieg befohlen hatte. Er musterte die mordgierigen, hungrigen Bewegungen des alten Fyren, der das blutige Schlachten genoß. »Ist er das?« murmelte der junge Priester in sich hinein.
Chaos Ein zerbissener Riesenkörper kam über die Talwand geflogen, landete unsanft und kullerte an Vander und Danica vorbei den Felshang hinunter. Sie hörten das Chaos im Tal, hörten das Brüllen des Drachen und das entsetzte Kreischen der verzweifelten Feinde. Weder Danica noch Vander hegten viel Mitleid mit Goblins und Riesen, aber sie sahen einander mit echter Furcht an, weil der beginnende Sturm zwischen diesen engen Wänden sie einfach überwältigte. Danica winkte Vander zu, zum Taleingang zu laufen, während sie den direkteren Weg den Hang hinauf nahm. Noch bevor sie oben angekommen war, sah sie Goblins und Goblinteile durch die Luft fliegen, sich überschlagen und in das Chaos zurückfallen. Obwohl Danica mit den Nerven am Ende war, konnte sie ein Kichern nicht unterdrücken, denn sie fand, daß die Szene sie an Pikels Arbeit in der Erhebenden Bibliothek erinnerte, wenn der druidenliebende Zwerg gegen Ivans lautstarke Proteste störrisch (und umständlich) einen Waldblumensalat zubereitete. Da mußte der Drachenschwanz die Felswand getroffen haben, denn Danica fand sich plötzlich auf dem Boden sitzend wieder, obwohl sie durch vierzig Fuß massiven Stein von dem Schlag getrennt war. Cadderly schlüpfte in den Traumzustand, in das Lied von Deneir, und dehnte seine mentale Wahrnehmung auf Fyrentennimar aus. Eine rote Wand blockierte ihm den Zugang. »Was ist denn?« fragte Shayleigh, die die Besorgnis, ja Furcht auf dem Gesicht des jungen Priesters erkannte.
Cadderly antwortete nicht. Wieder fiel er in das Lied zurück und griff nach dem Drachen. Aber Fyrentennimars wilder Zorn blockte ihn ab und ließ keine richtige Kommunikation zu. Innerlich wußte Cadderly, daß der alte Fyren ihn nicht länger als Verbündeten betrachten würde. In seiner Mordlust war der Drache zu seiner wahren, grausamen Natur zurückgekehrt. Cadderly bewegte sich durch die Noten des Liedes auf die Sphäre des Chaos zu, weil er noch einmal dort eintauchen und einen Versuch unternehmen wollte, den Wyrm zu zähmen. Er öffnete seine Augen nur eine Minute lang, sah zu, wie die verbliebenen Ungeheuer restlos abgeschlachtet wurden, und spürte, daß ein solcher Spruch die instinktive, mentale Verteidigung des tobenden Drachen unmöglich durchdringen konnte. »Geh ans hintere Ende des Tals zurück«, sagte er so ruhig wie möglich zu Shayleigh. »Halte deinen Bogen bereit.« Die Elfenfrau sah ihn ernst an, weil ihr die Bedeutung seines festen Tonfalls klar war. »Der Zauber wirkt nicht mehr?« fragte sie. »Halt deinen Bogen bereit«, wiederholte Cadderly. Von der Kolonne war nicht mehr viel übrig. In wenigen Minuten würde Fyrentennimar mit ihnen fertig sein. Cadderly rief seine Schutzmagie auf, zog eine Linie Drachenbann über den Talboden und legte um sich und die zwei verwirrten Zwerge an seiner Seite einen magischen Feuerschild. »Was machst du denn da?« wollte Ivan wissen, der Magie gegenüber ohnehin mißtrauisch war, besonders aber mit einem wütenden Drachen in knapp hundert Schritt Entfernung. »Das ist ein Elementarzauber«, versuchte Cadderly zu erklären. »Bei mir wird er das Drachenfeuer aufhalten.« »Ui, ui«, murmelte Pikel, dem die Bedeutung von Cadderlys Vorkehrungen klar wurde.
»Bei euch wird er das Feuer abfangen, aber nicht vollständig«, endete der junge Priester. »Geht an die Wand und sucht euch einen Felsen, hinter dem ihr euch verstecken könnt.« Das brauchte er den Zwergen nicht zweimal zu sagen. Normalerweise hätten sie ihrem Verbündeten kühn zur Seite gestanden und sich dem Kampf gestellt. Aber das hier war schließlich ein Drache. Deshalb stand Cadderly allein im Zentrum des Tals, umgeben von zerrissenen Leichen, die an den Zorn des Drachen erinnerten. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Staub aus einer von Fyrentennimars Fußstapfen, dann richtete er sich entschlossen auf und erinnerte sich bewußt daran, daß er vollbracht hatte, was die Gebote Deneirs verlangen. Er hatte den Ghearufu zerstört. Aber er dachte auch an Danica, seine Geliebte, und an das neue Leben, das sie in Carradoon begonnen harten, und er wollte nicht sterben. Fyrentennimar verschluckte den letzten Goblin am Stück und drehte sich um. Die Reptilienaugen verengten sich und sandten selbst im Tageslicht gleißende Strahlen aus. Fast augenblicklich konzentrierten sich diese Strahlen auf Cadderly. »Gut gemacht, mächtiger Wyrm!« schrie Cadderly in der Hoffnung, seine Vermutung wäre falsch und der Drache immer noch in seinem Zauber gefangen. »Demütiger Priester …«, entgegnete Fyrentennimar, und Cadderly fürchtete, die donnernde Stimme würde sein Hörvermögen zerstören. Seit er den Zauber über den Drachen gelegt hatte, hatte Cadderly diese Stimme erst zweimal vernommen, beide Male, als der Drache Feinde zu sehen glaubte. Wie ein Jagdhund überwand Fyren tief geduckt auf allen vieren rasch die Hälfte der hundert Schritt Entfernung zu Cadderly. Seine Lederflügel hatte er fest an den Rücken gelegt.
»Du hast uns einen großen Dienst erwiesen«, begann Cadderly. »Demütiger Priester!« unterbrach Fyrentennimar. Das Lied des Deneir erklang in Cadderlys Gedanken. Er wußte, er würde eine Ablenkung brauchen, etwas Sichtbares, Mächtiges, um Zeit zu gewinnen, während er die Noten eines Spruches durchging, den er noch nicht richtig verstand. »Sowohl in deiner Höhle als auch beim Flug über die Berge«, fuhr Cadderly fort, weil er hoffte, durch Schmeichelei Zeit zu schinden. Beim Sprechen blieb er sich des Liedes bewußt, und die Noten des Spruches, den er brauchte, wurden mit jedem Mal deutlicher. »Aber jetzt ist es Zeit für dich …«. »Demütiger Priester!« Cadderly fand keine Antwort auf das ohrenbetäubende Gebrüll, das sichere Zeichen dafür, daß Fyrentennimar der Meinung war, noch nicht genug getötet zu haben. Mit tiefem Grollen, das den Stein unter Cadderlys Füßen erzittern ließ, pirschte der Drache lauernd vor. Diese Augen! Cadderly war von ihrer hypnotischen Intensität so gebannt, daß er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Er fühlte sich hilflos, verlor jede Hoffnung, denn gegen diese gottähnliche Kreatur hatte er keine Chance. Seine Angst war unbeschreiblich. Er rang nach Luft, kämpfte gegen die aufkeimende Panik, die ihn dazu bringen wollte, um sein Leben zu rennen. Fyrentennimar war nah. Wie war Fyrentennimar so verdammt nah herangekommen? Der Drachenkopf bewegte sich langsam nach hinten, wobei der Schlangenhals sich einrollte. Eine Vorderklaue war eng an die Brust des gewaltigen Tiers gezogen, während seine Hinterbeine sich fest auf dem Stein abstützten. »Weg da!« brüllte Ivan; er merkte, daß das Untier springen wollte. Cadderly hörte die Worte und stimmte ihnen von ganzem Herzen zu, konnte seine Beine aber nicht regen.
Ein Pfeil sauste über Cadderlys Kopf hinweg, zersplitterte aber, als er die undurchdringliche natürliche Rüstung des Drachen traf. Fyrentennimar war so auf Cadderly, den Täuscher, versessen, daß er den Pfeil nicht einmal zu bemerken schien. Von allem, was Cadderly in seinem Leben sehen würde, würde nichts dem unaussprechlichen Schrecken nahekommen, Fyrentennimars bevorstehenden Sprung mitanzusehen. Dieser riesige Drache schoß schnell wie eine Viper vor, kam mit einem Maul auf ihn zu, das weit genug aufgerissen war, ihn am Stück zu verschlingen, und glitzernde Reihen von Zähnen zeigte, von denen jeder einzelne so lang wie der Unterarm des jungen Priesters war. In diesem Bruchteil einer Sekunde versagten Cadderly die Augen, als ob sein Verstand das Bild einfach nicht hinnehmen könnte. Gerade ein Dutzend Fuß vor ihm änderte sich Fyrentennimars Ausdruck plötzlich. Sein Kopf wurde zur Seite gerissen und verzerrte sich merkwürdig, als ob er gegen eine zähe Blase drückte. »Drachenbann«, murmelte Cadderly, dem der Erfolg seines Schutzzaubers ein klein wenig Hoffnung schenkte. Der alte Fyren wand sich und kämpfte gegen die blockierende Linie an. Er wollte nicht nachgeben. Seine Hinterbeine gruben tiefe Rillen in den Stein, und das hungrige Maul schnappte immer wieder zu, weil es etwas Faßbares zum Zerreißen suchte. Cadderly begann zu singen. Ein weiterer Pfeil peitschte an ihm vorbei, der diesmal Fyrentennimars Auge streifte. Der Drache breitete weit die Flügel aus, die ihn emporhoben, bis er aufrecht stand. Dann brüllte und zischte er und sog die Luft ein. Cadderly schloß die Augen und sang weiter, indem er seine Gedanken ganz auf die Töne von Deneirs Lied richtete.
Die Flammen umschlossen ihn, bis der Stein zu seinen Füßen zu schmelzen begann. Seine Freunde schrien auf, weil sie ihn vom Feuer verzehrt glaubten, aber er hörte sie nicht. Seine grüne Schutzsphäre knisterte um ihn herum und wurde gefährlich dünn, doch Cadderly sah es nicht. Alles, was er hörte, war das Lied von Deneir; alles, was er wahrnahm, war die Musik der himmlischen Sphären. Als Danica auf die Wand zum Tal sprang und sah, wie ihr Geliebter offenbar von den Flammen gefressen wurde, wurden ihr die Knie weich, und ihr Herz setzte fast aus – sie dachte, es werde für immer stehenbleiben. Ihr Kampfinstinkt forderte sie auf, ihrem Liebsten zu Hilfe zu kommen, aber was vermochte sie schon gegen Wesen wie Fyrentennimar? Ihre Hände und Füße konnten tödliche Waffen gegen Orks und Goblins sein, selbst gegen Riesen, aber wenn sie die eisenharten Schuppen des Drachen trafen, würden sie kaum Schaden anrichten. Danica konnte ihre Dolche mit den Kristallklingen einem Oger auf zehn Schritt Entfernung ins Herz schleudern, aber im Vergleich zur enormen Masse von Fyrentennimar waren diese Klingen winzige Waffen. Das Drachenfeuer ebbte ab, und als sie sah, wie Cadderly dem Wyrm im offenen Tal so kühn entgegentrat, wußte Danica, daß sie etwas tun mußte. »Fyrentennimar, der Ehrfurchtgebietende?« schrie sie ungläubig. »Ein mickriges, schwaches Ding ist er, das seh' ich doch. Ein Großmaul, das sich duckt, wenn die Gefahr naht!« Der Drachenkopf fuhr zu der Frau herum, die ganz oben auf der Talwand stand. »Häßlicher Wurm«, schimpfte Danica mit Betonung auf dem Wort »Wurm« anstatt »Wyrm«, der wohl schlimmsten Beleidigung, die man einem Drachen antun konnte. »Häßlicher, schwacher Wurm!«
Der Drachenschwanz zuckte gefährlich, Fyrens Augen wurden zu dünnen Schlitzen, und das tiefe Knurren des alten Drachen ließ die Steine des Tals vibrieren. Cadderly nahm seinen Gesang wieder auf. Er war wirklich froh über die Ablenkung, hatte aber schreckliche Angst, daß Danica den gereizten Drachen übermäßig provozieren könnte. Danica lachte den alten Fyren aus, legte beide Hände auf den Bauch und schüttelte sich vor Lachen. Ihre Gedanken jedoch waren ziemlich ernst. Sie dachte an die alten Schriften von Penpahg D'Ahn, dem Großmeister ihres Ordens. Du siehst die Angriffe deiner Feinde voraus, hatte der Großmeister versprochen. Du reagierst nicht, sondern bewegst dich, ehe dein Feind sich bewegt. Wenn der Schütze feuert, ist sein Ziel verschwunden. Wenn der Kämpfer mit dem Schwert zustößt, bist du, sein Feind, schon hinter ihm. Und wenn der Drache bläst, hatte Penpahg gesagt, dann soll sein Feuer nur den leeren Stein berühren. Danica brauchte diese Worte jetzt, wo Fyrentennimars Kopf sich nur hundert Fuß unter ihr bewegte. Penpahg D'Ahns Schriften waren die Quelle ihrer Kraft, die Inspiration für ihr Leben, und sie mußte ihnen jetzt vertrauen, selbst im Angesicht eines tobenden roten Drachen. »Häßlicher, häßlicher Fyrentennimar, was bist du nur so stolz«, sang sie. »Deine Klauen sind zu stumpf für Baumwolle, dein Feuer zu kalt für Holz!« Kein umwerfender Reim vielleicht, aber die Worte trafen den eingebildeten Fyrentennimar tiefer als jede Waffe. Die Drachenflügel schlugen plötzlich wild und hoben den Drachen in die Luft – hätten es jedenfalls fast getan. In diesem Augenblick vollendete Cadderly seinen Spruch, und der Stein unter Fyrentennimar veränderte seine Gestalt, wurde lebendig und packte die Hinterbeine des Drachen. Der
alte Fyren streckte sich, bis es nicht mehr weiterging, und glich fast einer Sprungfeder, als er zurückkrachte und hart auf seine Hinterbeine fiel, doch alles Herumwerfen konnte den Griff des Talbodens nicht lockern. Fyrentennimar wußte sofort, wo der Urheber seiner Gefangenschaft steckte, und sein großer Kopf peitschte herum, um hart gegen die blockierende Linie des Drachenbanns zu schlagen. Cadderly erblaßte – konnte seine Schutzsphäre einen zweiten sengendheißen Flammenstoß abwenden? »Seine Flügel können den Schwabbelbauch nicht heben«, schrie Danica. »Sein Schwanz zerquetscht nicht mal eine Mücke.« Das darauffolgende Gebrüll des Drachen hallte noch ein Dutzend Meilen weiter von den Bergwänden wider und ließ Tiere und Ungeheuer in den Schneeflockenbergen Schutz in ihren Höhlen suchen. Der Schlangenhals reckte sich vor, und lodernde Flammen gingen über Danica nieder. Ein rotglühender Fluß aus geschmolzenem Stein strömte vom Rand herunter. Pikel, der sich in dieser Richtung in einer Nische versteckte, stieß ein erschrockenes Quieken aus und rannte davon. Cadderly wäre fast in Panik ausgebrochen, denn er war sich sicher, daß er gerade den Tod seiner Geliebten mit angesehen hatte. Tief im Herzen wußte er trotz der logischen Einwände seines Gewissens, daß nichts, weder die Zerstörung des Ghearufu noch der Fall von Burg Trinitatis, einen solchen Verlust wert war. Er beruhigte sich jedoch, als ihm bewußt wurde, an wen er da dachte, als ihm die Weisheit und die fast magischen Talente seiner geliebten Danica einfielen. Er mußte ihr vertrauen, wie sie ihm oft vertraute, mußte daran glauben, daß ihre Entscheidungen die richtigen waren.
»Seine Hörner hängen an jeder Brücke«, fuhr Danica mit ihrer Tirade fort und lachte über ihre eigenen Worte, als sie dreißig Fuß seitlich von ihrem vorherigen Standpunkt wieder auf den Grat trat. »Und seine Muskeln sind bloß Fett!« Fyrentennimar riß voll ungläubiger Wut die Augen auf. Er schlug mit Schwanz und Beinen, rammte seinen gehörnten Kopf immer wieder gegen den magischen Drachenbann und schlug so heftig mit den Flügeln, daß der Wind die Goblinleichen erfaßte und bewegte. Wie Danica grinste Cadderly breit, obwohl er wußte, daß der Kampf noch lange nicht gewonnen war. Eine von Fyrentennimars Klauen war schon aus dem Stein freigebrochen, die andere würde bald folgen. Der junge Priester beendete seinen nächsten Spruch, den er aus der Sphäre der Zeit entnommen hatte, und schleuderte Wellen magischer Energie auf den abgelenkten Drachen. Der alte Fyren merkte, wie sich der Stein um sein, gefangenes Bein löste, sich dann aber sofort wieder festzog. Trotz der Weisheit seiner Jahre verstand der Drache nicht, was das bedeutete, auch nicht, weshalb das Tal ihm plötzlich größer vorkam. Wieder spürte der Wyrm, daß Cadderly irgendwie die Hand im Spiel hatte. Er bezähmte seinen Zorn und warf einen wütenden Blick auf den angeblich so »demütigen« Priester. »Was hast du gemacht?« wollte Fyrentennimar wissen. Der Drache zuckte plötzlich zusammen, weil Vander ihn von hinten getroffen hatte. Das riesige Schwert des Firbolgs hatte hart auf Fyrentennimars feststeckendes Hinterbein geschlagen. »Und los!« schrie Ivan seinem Bruder zu, worauf die beiden Zwerge hinter ihren Felsen hervorsprangen und Hals über Kopf herunterstürmten. Der Treffer des Firbolgs konnte dem Drachen keinen echten Schaden zufügen. Ein Schwanzschlag ließ Vander
davonfliegen und gegen den Fuß der Talwand prallen. Der zähe Firbolg stand gleich wieder auf, denn er wußte, daß keiner aus der Gruppe dem Schmerz und dem Schrecken nachgeben durfte. Bei einem so gnadenlosen, schrecklichen Gegner halfen weder Rückzug noch jede Bitte um Verschonung. Die neue Ablenkung hätte für Cadderly zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Wieder schwollen die Wellen seiner tückischen Magie, und dem alten Fyren kam das Tal noch größer vor. Da verstand der Drache – der »demütige« Priester stahl sein Alter! Und für einen Drachen war das Alter das Maß seiner Größe und Stärke. Der alte Fyren war den armseligen Freunden mehr als überlegen, aber der junge Fyren sah sich plötzlich arg bedrängt. »Geflügelter Molch mit höckriger Rübe, lauf nur, lauf, sonst bist du hinüber!« schrie Danica ihm zu. Die unmittelbare Bedrohung ging von den angreifenden Zwergen und dem demütigen Priester mit seiner teuflischen Magie aus. Eigentlich wußte Fyrentennimar das auch. Er wußte, daß er sein Maul auf die heranstürmenden Zwerge richten und sie einäschern müßte, bevor sie ihn erreichten. Aber kein anständiger roter Drache konnte die Schmähung »geflügelter Molch« hinnehmen, und Fyrentennimar hob den Kopf wieder zum Grat hoch und spie sein Feuer in Danicas Richtung. Jedenfalls in die Richtung, wo Danica gewesen war. Als das Feuer schließlich endete und weiteres geschmolzenes Gestein vom Grat rann, hackten Ivan und Pikel bereits auf den Drachen ein. An den Panzerschuppen des alten Fyren wären ihre Waffen einfach abgeglitten, doch seine jetzt dünneren, kleineren Schuppen konnten sie aufreißen. Nach nur drei wütenden Hieben grub sich Ivans Axt tief in das Drachenfleisch.
In ähnlicher Weise durchschlugen Shayleighs Pfeile die Schuppen. Die Elfenfrau zielte so perfekt, daß die nächsten sechs Pfeile, die ihre Sehne verließen, den Drachen auf einer Fläche nicht größer als Cadderlys blauer Hut trafen. Cadderly war wirklich erschöpft. Die Augenlider wurden ihm schwer; das Herz klopfte und schlug ihm bis zum Hals. Wieder aber kehrte er zum Lied zurück, stählte störrisch seinen Blick und entfesselte die Energien. Diesmal war Fyrentennimar auf den magischen Angriff vorbereitet, und der Spruch wurde abgewehrt. Cadderly drang wieder auf ihn ein, dann ein drittes Mal. Der junge Priester konnte kaum noch deutlich sehen, wußte kaum noch, was er tat und warum er es tat. In seinem Kopf hämmerte es; es kam ihm so vor, als ob jede Unze magischer Energie, die er ausschickte, eine Unze seiner eigenen Lebenskraft wäre. Dennoch sang er weiter. Dann lag er auf der Erde, und sein Kopf blutete von dem unerwarteten Aufprall auf dem Talboden. Er blickte auf und sah, daß sein Zauber zum Glück noch einmal durchgekommen war. Fyrentennimar kam ihm nicht mehr so groß vor, kaum größer als ein Hügelriese. Aber Cadderly wußte, daß die Sprüche nicht halten würden. Fyrentennimars gestohlene Jahrhunderte würden bald zurückkehren. Sie mußten den Drachen sofort richtig treffen; Cadderly mußte eine Angriffsmagie finden, die das Ungeheuer zermalmte, solange der Drache in seiner verkleinerten Form vor ihm hockte. Aber das Lied des Deneir stellte sich nicht mehr im Kopf des jungen Priesters ein. Er konnte sich nicht mehr an den Namen seines heiligen Buches erinnern, nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen. Sein Kopf tat ihm so weh, daß alle Gedankengänge blockiert waren. In seiner Brust pochte es so heftig, daß er vor Anstrengung kaum noch Luft bekam. Er legte eine Hand auf sein klopfendes Herz und ertastete seinen
Bolzengurt. Auf diesen einen gezielten Gedanken hin zückte er seine Handarmbrust. Ivan und Pikel brachen unter den wild zuschlagenden Vorderklauen des Drachen in hektische Betriebsamkeit aus. Ivan bekam einen Flügelschlag ab, hakte aber die Axt an dem Flügel fest und ließ sich nicht wegschleudern. Vanders nächster Schlag gegen die Hinterbeine des Drachen ließ mehrere Schuppen zerbrechen und verursachte eine tiefe Wunde. Fyrentennimar brüllte vor Schmerz auf, warf seinen Schlangenhals herum und schnappte mit offenem Maul nach dem gefährlichen Riesen. Vander riß sein Schwert zurück, denn er wußte, er mußte schnell sein, um nicht in zwei Teile gebissen zu werden. Cadderly brauchte einige Zeit, bis er seine Waffe geladen und angelegt hatte, und als er auf den Kampf zurücksah, sah er sich Fyrentennimar unmittelbar gegenüber. Er starrte ihm aus wenigen Fuß Entfernung in die Augen. Cadderly schrie auf und feuerte. Sein Bolzen drang in eine Nüster des Drachen und sprengte Fetzen aus seinem Gesicht. Cadderly, der mit letzter Kraft auf allen vieren davonkroch, sah den Treffer nicht einmal. Als er sich schließlich umschaute, wurde er wieder ruhiger – denn er stellte fest, daß Fyrentennimars Kopf nur deshalb in seiner Nähe gewesen war und die Drachenbannlinie nur passiert hatte, weil Vander dem Drachen den Hals durchtrennt hatte. Pikel stand neben dem gestürzten Rumpf und murmelte ein ums andere Mal »Ooooh«. Cadderly, dessen Sinne langsam zurückkehrten, verstand nicht, weshalb der grünbärtige Zwerg besorgt war, bis er ein Stück von Ivans Kopf entdeckte, der sich unter der Brust des toten Wyrms hervorwand. Mit einem Schwall Verwünschungen, der einen Wirt in Tiefwassers Hafenviertel hätte rot werden lassen, zog sich Ivan heraus und schlug dabei noch die helfende Hand weg, die Pikel ihm entgegenstreckte. Der gelbbärtige Zwerg sprang auf die Beine,
setzte beide Hände auf die Hüften und musterte Vander drohend. »Und?« brüllte der Zwerg den verwirrten Firbolg an. Vander sah Pikel fragend an, doch der grünbärtige Felsenschulter zuckte nur mit den Achseln und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Schieb das verdammte Ding weg, damit ich meine Axt wiederkriege!« heulte Ivan als Erklärung. Angewidert schüttelte er den Kopf, stapfte zu Cadderly und zog den Mann unsanft auf die Füße. »Und komm mir bloß nie wieder auf die Idee, einen dummen Drachen mitzuschleppen!« Der Zwerg drängte sich an Cadderly vorbei und stürmte davon, um sich ein ruhiges Plätzchen zu suchen, wo er vor sich hin brüten konnte. Pikel folgte ihm, nachdem er Cadderly tröstend auf die Schulter geklopft hatte. Cadderly lächelte trotz seiner Schmerzen und seiner Erschöpfung, als er Pikel nachsah. Solange alles gut ausging, kümmerte sich der umgängliche Zwerg wenig um die unangenehmen Einzelheiten – wie auch aus Pikels kaum verhohlenen »Hihihi« zu entnehmen war, als er hinter seinem eingeschnappten Bruder herhüpfte. Cadderly hätte ungläubig den Kopf geschüttelt, doch er fürchtete, daß diese Geste ihn sein mühsam aufrechterhaltenes Gleichgewicht kosten könnte. »Ihr geht es gut«, beruhigte ihn Shayleigh, die seinem besorgten Blick zum geschmolzenen Grat folgte. Zur Bestätigung ihrer Worte kam Danica einen Augenblick später durch den Zugang zum Tal hereingerannt und lief, so schnell sie konnte, auf ihren Liebsten zu. Sie umarmte Cadderly fest und drückte ihn an sich. Er mußte sich auf sie stützen, denn die schlimmste Müdigkeit, die er je erlebt hatte, kam jetzt mit ganzer Wucht zurück.
Vertrauen Sie sah den Drachen, der wieder seine volle Größe angenommen hatte, tot im Tal liegen und konzentrierte sich auf den abgeschlagenen Kopf, der einige Fuß vor dem schuppigen Leib lag. Rund um diese grausige Szene sah Dorigen die schmorenden, zerrissenen Überreste von Goblins und Riesen liegen, scharenweise. Und aus dem Tal marschierten – vielleicht müde, aber ohne sichtbare ernsthafte Verletzungen – Cadderly und Danica, flankiert von den beiden Zwergen, der Elfenfrau und dem verräterischen Firbolg. Dorigen rutschte in ihrem Stuhl zurück und gestattete dem Bild, aus ihrer Kristallkugel zu verschwinden. Zuerst war sie überrascht gewesen, daß sie Cadderlys magische Abwehr so leicht durchbrochen und den jungen Priester entdeckt hatte, doch als sie die Szene näher ansah, den Leichnam und die Auswirkungen der Wut von Fyrentennimar, hatte sie begriffen, wieso der junge Priester im Augenblick nicht an Abwehrzauber dachte. Dorigen hatte angenommen, sie werde Cadderlys Ende mit ansehen, das Ende der Drohung gegen Burg Trinitatis. Fast hätte sie Aballister hergerufen und dem Zauberer geraten, auszuziehen und Fyrentennimar als Verbündeten für ihren Angriff auf Carradoon zu gewinnen. Ihre Überraschung, als Cadderly den großen Wyrm buchstäblich schrumpfen ließ – indem er sein Alter stahl, wie Dorigen vermutete –, hätte nicht größer sein können, und als sie sich nun hinsetzte und ehrlich überlegte, was sie während des Kampfes empfunden hatte, war ihre Überraschung ebenso groß. Sie war betrübt gewesen, als sie Cadderly für verloren hielt. Eigentlich hätte die ehrgeizige Zauberin sich sagen müssen, daß Cadderlys Tod gut für die Pläne von Burg Trinitatis und
daß die Einmischung des jungen Priesters nicht länger zu dulden sei und daß Fyrentennimar Aballister nur Ärger ersparte, wenn er den jungen Priester umbrachte. Eigentlich hätte Dorigen kein Mitleid mit Cadderly haben dürfen, als er scheinbar hilflos vor dem furchtbaren Wyrm stand. Aber sie hatte Mitleid, und insgeheim hatte sie Cadderly und seine tapferen Freunde bei ihrem titanischen Kampf angefeuert, war vor Freude aufgesprungen, als der Firbolg sich von hinten angeschlichen und dem Drachen den Kopf abgeschlagen hatte. Warum hatte sie das getan? »Hast du heute etwas gesichtet?« Die Stimme erschreckte Dorigen dermaßen, daß sie fast vom Stuhl gefallen wäre. Schnell warf sie das Tuch über die Kristallkugel, obwohl deren Inneres schon wieder eine Wolke aus nichts war, und bemühte sich, gefaßt zu wirken, als Aballister den Vorhang aufriß, der ihr jetzt die Eingangstur ersetzte, und neben sie trat. »Druzil hat den Kontakt zu dem jungen Priester verloren«, fuhr Aballister ärgerlich fort. »Es sieht so aus, als käme dieser Cadderly in den Bergen gut voran.« Wenn du wüßtest, dachte Dorigen, schwieg aber. Aballister konnte unmöglich erraten, daß der junge Priester derzeit nicht weiter als einen Tagesmarsch von Burg Trinitatis entfernt war. Genausowenig, wie der Zauberer sich vorstellen konnte, daß Cadderly und seine Freunde geschickt und mächtig genug sein könnten, einen wie den alten Fyren zu überlisten. »Was weißt du?« fragte der argwöhnische Aballister und riß Dorigen damit aus ihren geheimen Überlegungen. »Ich?« erwiderte Dorigen unschuldig, zeigte mit einem Finger auf ihre Brust und riß die Bernsteinaugen in gespielter Überraschung weit auf. Wäre Aballister in diesem Augenblick nicht so mit sich selbst beschäftigt gewesen, so hätte er Dorigens offensichtliche Überreaktion sicherlich bemerkt.
»Ja, du«, fauchte der Zauberer. »Ist es dir heute gelungen, mit Cadderly Kontakt aufzunehmen?« Dorigen sah zu der Kristallkugel hin, dachte kurz über die Frage nach und antwortete dann: »Nein.« Als sie zurückblickte, sah sie, daß Aballister sie weiter mißtrauisch anstarrte. »Warum hast du mit deiner Antwort gezögert?« fragte er. »Ich dachte, ich hätte Kontakt«, log Dorigen. »Aber als ich genauer nachforschte, stellte sich heraus, daß es nur ein Goblin war.« Aballisters Stirnrunzeln verriet, daß sie ihn nicht überzeugt hatte. »Ich fürchte, dein Sohn hat meinen Sehversuch gezielt fehlgeleitet«, fügte Dorigen rasch hinzu, um den Zauberer in die Defensive zu treiben. »Das letzte Mal, als Druzil Cadderly gesehen hat, war er am Berg Nachtglut«, sagte Aballister, und Dorigen nickte bestätigend. »In der Gegend braut sich jetzt ein Sturm zusammen, so daß er wahrscheinlich nicht weit gekommen ist.« »Das erscheint logisch«, pflichtete Dorigen ihm bei, obwohl sie es besser wußte. Der alte Zauberer grinste böse. »Ein Sturm braut sich zusammen«, sann er vor sich hin. »Aber einen solchen Sturm hat mein törichter Sohn noch nie erlebt!« Jetzt war Dorigen diejenige, die ihn mißtrauisch ansah. »Was hast du getan?« »Getan?« Aballister lachte. »Frag lieber, was ich tun werde!« Aballister drehte sich so begeistert im Kreis, wie Dorigen ihn seit dem Beginn dieser ganzen Sache vor fast einem Jahr, als Barjin die Erhebende Bibliothek betreten hatte, nicht mehr gesehen hatte. »Ich bin das Spielchen allmählich leid!« sagte Aballister plötzlich grimmig und brach seine Drehung so ab, daß sein
hageres Gesicht nur wenige Fingerbreit vor Dorigens krummer Nase hing. »Und deshalb werde ich ihm jetzt ein Ende machen!« Mit einem Finger schnippen verließ er den Raum und ließ Dorigen darüber nachgrübeln, was er wohl vorhatte. Der Vorhang, der ihr jetzt die Tür ersetzte, kam ihr wie eine deutliche Erinnerung an Aballisters Zorn vor, und sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, wenn sie an die Magie dachte, die Aballister bald in Cadderlys Richtung schleudern würde. Oder dorthin, wo er Cadderly vermutete. Warum hatte sie ihrem Lehrmeister nicht die Wahrheit gesagt? Aballister plante etwas Großes, wollte vielleicht sogar persönlich ausziehen, um mit seinem Sohn abzurechnen, und Dorigen hatte ihm nicht verraten, was sie über Cadderlys Aufenthaltsort wußte – daß der junge Priester viele Meilen vom Berg Nachtglut entfernt war. Vom Verstand her hätte sie sich dafür einsetzen müssen, daß Aballister loszog, um Cadderly zu töten, denn wenn Cadderlys Angriff auf Burg Trinitatis erfolgreich verlief, würde Dorigen, die keine Verbündete des jungen Priesters war, wahrscheinlich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Die Zauberin fuhr mit den Fingern an ihrer krummen Nase entlang, schüttelte die langen Haare aus dem Gesicht und betrachtete das Tuch, das die Kristallkugel verhüllte. Cadderly würde vielleicht schon morgen vor den Toren stehen, und sie hatte Aballister nicht gewarnt! Dorigen fühlte sich seltsam fern von den sich überschlagenden Ereignissen um sie herum, wie ein entfernter Zuschauer. Cadderly hätte sie im Wald von Shilmista töten können, hatte sie ohnmächtig zu Füßen gehabt. Er hatte ihr die Hände gebrochen und ihre magischen Gegenstände an sich genommen, um sie kampfunfähig zu machen. Aber er hatte ihr Leben verschont.
Vielleicht war es Ehrgefühl, was Dorigen jetzt leitete, ein unausgesprochenes Abkommen zwischen ihr und dem jungen Priester. Ein Gefühl von Verpflichtung befahl ihr, den Dingen ihren Lauf zu lassen und beiseite zu stehen, bis sie erfuhren, wer der Stärkere war, der Vater oder der Sohn. In seinen Privatgemächern hielt Aballister mittlerweile mit zitternden Händen ein rauchendes Becherglas in die Luft. Er konzentrierte sich auf Nachtglut, das Zielgebiet, und auf den Inhalt des Becherglases, ein Elixier von großer Kraft. Er sprach die Zauberworte, die uralten Silben, aus fast meditativem Zustand, verlor sich selbst in den wachsenden, wirbelnden Energien. Fast eine Stunde fuhr er so fort, bis die bebende Kraft in dem Becherglas zu explodieren und ganz Burg Trinitatis mitzureißen drohte. Der Zauberer schleuderte das Glas durch den Raum, worauf es an der Wand zerschellte. Eine graue Rauchwolke stieg grollend und donnernd darüber auf. »Mykos, mykos makom deignin«, flüsterte Aballister. »Zieh aus, zieh aus, meine Kleine.« Als ob sie den Auftrag des Zauberers gehört hätte, zog die graue Wolke durch einen Riß in der Steinmauer ab und suchte sich dann ihren Weg durch alle Wände und aus Burg Trinitatis hinaus. Sie erhob sich hoch in die Luft, folgte mitunter dem Wind, um sich dann wieder aus eigener Kraft zu bewegen, und die ganze Zeit wuchs und verdüsterte sich die magische Sturmwolke des Zauberers. Es blitzte und donnerte, als die Wolke über die Berge brauste. Noch immer verdickte und verdunkelte sie sich und schien vor angestauter Energie fast zu bersten. Sie raste über die hohen Gipfel der Schneeflockenberge unbeirrt auf ihr Ziel zu, die Region um den Nachtglut. Cadderly und seine Freunde bemerkten die seltsame Wolke, die so viel dunkler war als die allgemeine Bewölkung an einem schneereichen Tag. Cadderly bemerkte auch, daß die meisten
anderen Wolken von West nach Ost zu wandern schienen, wie es für das Wetter in dieser Gegend normal war, während diese seltsame Wolke fast genau nach Süden brauste. Bald darauf hörten sie das erste Donnergrollen, einen gewaltigen, wenn auch fernen Schlag, der den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ. »Gewitter?« bellte Ivan. »Wer hätte je von einem Gewitter mitten im verdammten Winter gehört?« Cadderly bat Vander, sie höher hinauf zu führen, wo sie sehen konnten, was hinter ihnen geschah. Als sie ein höheres Plateau erreichten, das ihnen über viele andere Berge hinweg den Blick zurück auf den Nachtglut freigab, war sich der junge Priester nicht mehr so sicher, daß er zusehen wollte. Blitz auf Blitz zuckte sengend hinab, meilenweit kristallklar zu sehen, da das ohnehin fahle Tageslicht bereits schwand. Die Blitze schlugen in den Hang ein, zerschmetterten Felsen, spalteten Bäume und zischten in den Schnee. Starker Wind bog die Fichten an den tieferen Hängen des Berges fast waagerecht, und auf den dicken Zweigen sammelte sich eine Eisschicht, die die Bäume noch tiefer bog. »Es war klug, daß wir den Drachen genommen haben«, stellte Shayleigh ziemlich beeindruckt fest. Auch ihre Gefährten waren von der Wildheit des Sturms überwältigt. Vander grunzte, als ob er es ihnen allen gleich gesagt hätte, aber in Wahrheit konnte sich selbst der Firbolg, der im rauhen Klima des nördlichen Bergzugs des Grats der Welt aufgewachsen war, die unglaubliche Macht dieses fernen Sturms nicht erklären. Ein neuer furchtbarer Blitz schlug in den Berghang ein, erhellte die zunehmende Dunkelheit und löste mit seinem Donnern eine sich überschlagende, tonnenschwere Schneelawine am Nordhang des Nachtglut aus. »Wer hätte so was schon mal gehört?« fragte Ivan ungläubig.
Das Schlimmste kam noch. Weitere Blitze und mehr Eis gingen über der Region um den Berg nieder. Bald setzten Lawinen ein, Tonnen um Tonnen Schnee rasten den Berg hinunter, um weiter unten zur Ruhe zu kommen. Dann kam der Tornado, schwärzer als die anbrechende Nacht, ein Wirbelsturm, der bestimmt die Grundfläche der Erhebenden Bibliothek besaß. Er umkreiste Nachtglut, riß Bäume aus und grub tiefe Abgründe in den hoch aufgetürmten Schnee. »Wir müssen gehen«, erinnerte der Firbolg, denn er war der Ansicht, sie hätten mehr als genug gesehen. Shayleigh bemerkte noch einmal, daß sie gut beraten gewesen waren, auf dem Drachen loszureiten, und Vander meinte, daß Winterstürme in dieser Höhe unberechenbar und unbedingt tödlich seien. Alle stimmten dem Firbolg bereitwillig zu, aber jeder wußte, was sich dort hinten am Nachtglut abspielte, war mehr als ein »Wintersturm«. Vander fand bald eine unbewohnte Höhle für sie, nicht weit von dem Tal des Überfalls, und sie waren alle wirklich froh, vor den tosenden Elementen geschützt zu sein. Die Höhle hatte drei Kammern und war recht komfortabel, denn die niedrige Decke und der noch niedrigere Eingang hielten den Großteil des Winterwindes ab. Vander und die Zwerge legten ihre Schlafrollen in der Eingangshöhle, der größten Kammer, ab. Cadderly nahm die kleinste Kammer – links – für sich, während Danica und Shayleigh nach rechts gingen, obwohl sich die Adeptin bei jedem Schritt besorgt nach Cadderly umsah. Bald darauf wurde es dunkel, und es folgte eine ruhige, sternklare Nacht, die so ganz anders war als der Sturm. Dann echote das gewohnte grollende und pfeifende Schnarchen von Ivan und Pikel durch die Kammern. Danica schlich in die Haupthöhle zurück, wo sie Vander in den Eingang gelehnt vorfand. Obwohl er sich wieder einmal
freiwillig zur Wache gemeldet hatte, war der Firbolg eingeschlafen, was Danica ihm nicht verdenken konnte. Ihr kam alles sicher vor, als ob die Welt eine kurze Pause vom Chaos machte, deshalb schlüpfte sie leise, ohne die anderen zu stören, zu Cadderlys Kammer hinüber. Der junge Priester saß über eine winzige Kerze gebeugt mitten auf dem Boden. Er war so tief in seine Meditation versunken, daß er Danicas Nahen nicht bemerkte. »Du solltest schlafen«, riet die junge Frau ihm, als sie ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte. Cadderly schlug seine müden Augen auf und nickte. Er griff über die Schulter und zog Danica nach unten, bis sie dicht neben ihm saß. »Ich habe mich ausgeruht«, versicherte er ihr. Danica hatte Cadderly mehrere erholsame Meditationstechniken beigebracht und stritt seine Behauptung nicht ab. »Der Weg war schwieriger, als du erwartet hast«, sagte Danica leise. In ihrer normalerweise gefaßten Stimme schwang eine Spur Furcht mit. »Und das Schwierigste haben wir womöglich noch vor uns.« Der junge Priester verstand ihre Überlegungen. Auch er glaubte, daß die Wut, die sich vor ihren Augen an den Hängen des Nachtglut ausgetobt hatte, ein Trumpf von Aballister gewesen war. Und auch er hatte Angst. Sie hatten im letzten Jahr und in den letzten paar Tagen dieser Reise viele schlimme Prüfungen überlebt, aber wenn dieser Sturm ein Zeichen war, dann lag die schwerste noch vor ihnen, wartete in Burg Trinitatis auf sie. Seit dem Angriff des Mantikors und der Chimäre hatte Cadderly gewußt, daß Aballister es auf sie abgesehen hatte, aber er hatte sich die gewaltige Kraft des Zauberers nicht vorstellen können. Bilder der Lawinen und des Tornados quälten ihn. Cadderly hatte in letzter Zeit selbst große Zauber gewirkt, aber so ein
Spektakel überstieg seine Kräfte wahrscheinlich bei weitem; es war einfach unvorstellbar! Er schloß die Augen und seufzte. »Mit soviel Schwierigkeiten habe ich nicht gerechnet«, gab er zu. »Sogar ein Drache«, meinte Danica. »Ich kann es immer noch nicht glauben …« Ihre Stimme verebbte zu einem ungläubigen Seufzen. »Ich wußte, daß es nicht einfach sein würde, mit dem alten Fyren fertig zu werden«, stimmte Cadderly ihr zu. »Mußten wir dorthin?« In Danicas leiser Stimme lag kein Hauch von Ärger mehr. Cadderly nickte. »Für die Welt ist es besser, daß der Ghearufu vernichtet ist – und daß Fyrentennimar vernichtet ist, obwohl ich das nicht für wahrscheinlich gehalten habe, nicht einmal für möglich. Von allem, was ich in meinem Leben vollbracht habe, war die Zerstörung des Ghearufu vielleicht das Wichtigste.« Ein melancholisches Lächeln legte sich auf Danicas Züge, als sie den Schimmer in Cadderlys kaum geöffneten, aber eindeutig lächelnden grauen Augen bemerkte. »Aber nicht das Wichtigste von allem, was du noch vorhast«, sagte sie scheu. Cadderly sah Danica mit ehrlicher Bewunderung an. Wie gut sie ihn kannte! Er hatte gerade an die vielen Aufgaben gedacht, die noch vor ihm lagen, die vielen Anforderungen, die seine besondere Beziehung zu seinem Gott noch an ihn stellen würde. Danica hatte es gesehen, hatte in seine Augen geblickt und genau gewußt, woran er dachte, auch wenn sie die Einzelheiten nicht kannte. »Ich sehe einen Weg vor mir«, gestand er ihr mit gedämpfter, aber fest entschlossener Stimme. »Einen gefährlichen, schwierigen Weg, ganz gewiß.« Cadderly kicherte über die Ironie, worauf Danica ihn irritiert und verständnislos ansah.
»Selbst nach allem, was wir mit angesehen haben, bevor wir unser Lager aufschlugen, fürchte ich, daß die schwierigsten Prüfungen diejenigen sein werden, die meine Freunde mir stellen«, erklärte er. Danica machte sich steif und rückte von ihm ab. »Du doch nicht«, versicherte ihr Cadderly rasch. »Ich sehe Veränderungen in der Erhebenden Bibliothek vorher, drastische Veränderungen, die jene nicht gutheißen werden, die am meisten zu verlieren haben.« »Abt Thobicus?« Cadderly nickte mit finsterer Miene. »Und die Großmeister«, fügte er hinzu. »Die Hierarchie hat sich vom Geiste Deneirs wegbewegt, ist zu etwas geworden, das auf falschen Traditionen und Stapeln wertlosen Papiers beruht.« Er grinste wieder, aber in seiner Stimme lag eine gewisse Trauer. »Verstehst du, was ich Thobicus angetan habe, damit er uns gestattete, hier hinaus zu ziehen?« fragte er. »Du hast ihn überrumpelt«, erwiderte Danica. »Ich habe ihn beherrscht«, stellte Cadderly richtig. »Ich habe seinen Geist betreten und seinen Willen gebeugt. Ich hätte ihn dabei leicht töten können, und die Wirkung des Angriffs wird ihn vielleicht den Rest seines Lebens zeichnen.« Danica sah ihn verwirrt an, doch die Verwirrung wich schnell dem Entsetzen. »Hypnose?« »Weit mehr als das«, erwiderte Cadderly ernst. »Durch Hypnose hätte ich Thobicus vielleicht überzeugen können umzudenken.« Cadderly wandte beschämt den Blick ab. »Ich habe Thobicus nicht überzeugt. Ich habe die Veränderung gegen seinen Willen erzeugt, und dann habe ich seinen Geist noch einmal betreten und sein Gedächtnis so umgeformt, daß wir keine Sanktionen zu befürchten haben, wenn … falls wir in die Bibliothek zurückkehren.« Danicas Mandelaugen weiteten sich vor Schreck. Sie hatte gewußt, daß Cadderly kein gutes Gewissen hatte, weil er
Thobicus etwas angetan hatte, aber sie hatte angenommen, daß ihr Geliebter einen Bann über den Abt geworfen hatte. Was Cadderly ihr nun erzählte, kam ihr irgendwie hinterhältiger vor, obwohl das Resultat einem Zauber gleichkam. »Ich habe seinen Willen in meiner Hand gehalten und ihn zermalmt«, gab Cadderly zu. »Ich habe ihm das wahre Wesen seines Ichs gestohlen. Wenn Thobicus sich an diesen Vorfall erinnert, wird sich sein Stolz niemals wieder von dem Schock erholen.« »Warum hast du es dann getan?« fragte Danica leise. »Weil größere Mächte als ich meinen Weg festgelegt haben«, sagte Cadderly. »Auch größere als Thobicus.« »Wie viele Tyrannen haben sich schon auf diese Weise zu rechtfertigen versucht?« fragte Danica, die sich sehr bemühte, nicht sarkastisch zu klingen. Cadderly lächelte hilflos und nickte. »Das ist meine Angst. Aber ich wußte, was ich zu tun hatte. Der Ghearufu mußte zerstört werden – ein solches Werkzeug des Bösen zu untersuchen hätte nur mit einer Katastrophe geendet –, und der Krieg gegen Burg Trinitatis, falls er denn ausbricht, wird ein Massaker werden, das nicht zu dulden ist, ganz gleich, welche Seite siegreich daraus hervorgeht. Ich habe Thobicus auf eine Weise zugesetzt, die einen schlechten Geschmack in meinem Mund zurückgelassen hat«, räumte Cadderly ein. »Aber ich würde es wieder tun, und ich muß es vielleicht wieder tun, wenn meine Ängste sich als berechtigt erweisen.« Er schwieg einen Augenblick und dachte an die vielen Übel, die er mit angesehen hatte, die vielen Dinge in der Erhebenden Bibliothek, die seit langer Zeit vom Pfad des Deneir abwichen, denn er suchte nach einem greifbaren Beispiel, das er Danica anbieten könnte. »Wenn ein junger Kleriker in der Bibliothek eine Idee hat«, sagte er schließlich, »dann kann er sie – auch wenn er sie für göttliche Eingebung hält – erst ausführen, wenn er zuvor die Zustimmung des Abts
und die Erlaubnis, Zeit von unwichtigen Pflichten abzuziehen, eingeholt hat.« »Thobicus muß doch die Übersicht behalten …«, wollte Danica dagegenhalten, um den pragmatischen Blickwinkel zu übernehmen. »Dieser Prozeß dauert oft über ein Jahr«, unterbrach Cadderly, der keine Lust mehr hatte, logische Argumente für eine Vorgehungsweise zu hören, die er innerlich als falsch erkannt hatte. Cadderly hatte diese Argumente sein Leben lang von Großmeister Avery vernommen, und sie hatten in ihm eine Gleichgültigkeit erzeugt, die so sehr gewachsen war, daß er den Orden des Deneir beinahe verlassen hätte. »Du hast gesehen, wie Thobicus vorgeht«, sagte er nachdrücklich. »Ein verlorenes Jahr verstreicht, und obwohl die Gedanken, die der junge Kleriker niederschreiben, oder das Bild, das er rahmen möchte, vielleicht bleiben, sind die Aura, das Gefühl, daß etwas Göttliches seine Hand führt, bis dahin längst vorüber.« »Du sprichst aus eigener Erfahrung«, stellte Danica fest. »Viele Male«, erwiderte Cadderly ohne Zögern. »Und ich weiß, daß viele der Dinge, an die ich mich gewöhnt habe, viele der Dinge, von denen ich weiß, daß ich sie ändern muß, nicht ändern möchte, weil ich Angst habe.« Er legte einen Finger an Danicas Lippen, um ihrer Antwort zuvorzukommen. »Du gehörst nicht dazu«, versicherte er ihr, um dann sehr still zu werden. Die ganze Welt, selbst das Schnarchen der Zwerge, schien vor Erwartung stiller zu werden. »Ich glaube allerdings, daß unsere Beziehung sich ändern muß«, fuhr Cadderly fort. »Was in Carradoon begonnen hat, muß wachsen, oder es muß sterben.« Danica griff nach seinem Handgelenk und zog seine Hand von ihrem Gesicht weg. Dabei sah sie ihm fest in die Augen, denn sie wußte nicht, was sie als nächstes von diesem erstaunlichen jungen Mann zu erwarten hatte.
»Heirate mich«, sagte Cadderly plötzlich. »Richtig.« Jetzt zwinkerte Danica doch und schloß die Augen, um das Echo dieser Worte in der folgenden Sekunde noch tausendmal zu hören. So lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, hatte sich danach gesehnt und sich gleichzeitig davor gefürchtet. Denn obwohl sie Cadderly von ganzem Herzen liebte, erwartete man von einer Ehefrau in Faerun doch eine gewisse Dienstbarkeit. Und die stolze, begabte Danica diente niemandem. »Du bist mit den Veränderungen einverstanden«, sagte Cadderly. »Du bist mit dem Lauf einverstanden, den mein Leben nehmen wird. Ich schaffe es nicht allein, meine Liebste.« Er stockte und wußte fast nicht mehr weiter. »Ich will es nicht alleine tun! Wenn ich das vollbracht haben werde, was Deneir von mir fordert, wenn ich auf das Werk zurückblicke, werde ich nicht zufrieden sein, wenn du nicht neben mir bist.« »Wenn ich es vollbracht habe?« wiederholte Danica fragend und betonte damit Cadderlys Gebrauch des persönlichen Fürworts, um herauszufinden, welche Rolle Cadderly ihr eigentlich zugedacht hatte. Cadderly dachte über die Betonung nach, die in ihrer Antwort lag, dann nickte er. »Ich bin ein Jünger Deneirs«, erklärte er. »Viele der Kämpfe, in die er mich führt, muß ich allein ausfechten. Das ist für mich genauso wie bei dir mit deinen Übungen. Ich weiß, daß meine Zufriedenheit, wenn ich ein Ziel erreicht habe, um so größer sein wird, je …« »Was ist mit meinen Übungen?« unterbrach Danica. Cadderly war auf diese Frage gefaßt und verstand Danicas Besorgnis. »Als du den Stein zerbrochen und Gigel Nugel erreicht hast«, begann er, um an eine alte Reifeprüfung zu erinnern, die Danica vor kurzem bestanden hatte, »was hast du da gedacht?«
Danica erinnerte sich an das Erlebnis, und ein breites Lächeln trat auf ihre Lippen. »Ich habe deinen Arm um mich gespürt«, erwiderte sie. Cadderly nickte und zog sie an sich, um ihr einen sanften Kuß auf die Wange zu geben. »Wir haben einander soviel zu zeigen«, sagte er. »Meine Ausbildung könnte mich fortrufen«, meinte Danica, die sich ihm entzog. Cadderly lachte laut. »Wenn es sein muß, dann gehst du eben«, sagte er. »Aber du kommst zu mir zurück, sonst ziehe ich dir nach. Ich vertraue darauf, Danica, daß die Wege, die wir gewählt haben, uns nicht trennen werden. Ich vertraue dir und mir.« Die düstere Wolke auf Danicas schönem Gesicht schien zu verfliegen. Ihr Lächeln wurde breiter, ihre Grübchen kamen zum Vorschein, und in ihren braunen Augen glitzerten Freudentränen. Sie zog Cadderly wieder an sich und gab ihm einen langen, festen Kuß. »Cadderly«, sagte sie scheu, während ihr sehnsüchtiges, freches Lächeln einen Strom von Gedanken bei ihm hervorrief. Ein Schauder lief seinen Rücken hoch und wieder hinunter, als Danica hinzufügte: »Wir sind allein.« Viel später in der Nacht, als er die schlafende Danica in seinen Armen hielt und dem gleichmäßigen Schnarchrhythmus der Zwerge lauschte, ging der junge Priester ihr Gespräch noch einmal durch. »Wie viele Tyrannen haben sich schon auf diese Weise zu rechtfertigen versucht?« flüsterte er. Noch einmal dachte er Über sein Vorgehen nach, dachte an die tiefgreifende Wirkung, die sein Vorhaben auf das ganze Gebiet um den Impresksee haben würde. Er war davon überzeugt, daß die Veränderungen allen zugute kommen würden, daß die Bibliothek wieder auf den wahren Pfad des Deneir zurückkehren würde. Er glaubte, daß er recht hatte, daß sein Vorgehen von dem Gott inspiriert
war, dem er vertraute. Aber wie viele Tyrannen hatten schon Ähnliches behauptet? »Alle«, antwortete Cadderly grimmig und schloß Danica fest in die Arme.
Die Festung Von seinem magischen Angriff erschöpft, lehnte sich Aballister in seinem Stuhl zurück. Er hatte seine gesamte Energie gegen Cadderly ausgespielt, hatte der Bergregion gnadenlos zugesetzt. Das Lächeln des Zauberers blieb lange Zeit bestehen, wahrend er darüber nachdachte, was Cadderly jetzt wohl dachte – für den unwahrscheinlichen Fall, daß der Junge noch am Leben war. Aballister fühlte ein Zupfen in seinem Gehirn, ein leichtes Drängen. Das war Druzil, wie er wußte, denn er hatte den Ruf des Teufelchens erwartet. Das Lächeln des Zauberers wurde zum offenen Lachen – was mochte das Teufelchen, das dem Nachtglut so nahe gewesen war, jetzt wohl von ihm denken? Weil er das nur zu gern erfahren wollte, ließ er es in seinen Geist ein. Sei gegrüßt, lieber Druzil, sagte Aballister. Bene tellemara! Aballister keckerte höhnisch. Mein lieber, lieber Druzil, dachte er nach einem Augenblick, was ist denn bloß los? Das Teufelchen ließ eine Reihe Wutschreie, Flüche und Beschimpfungen gegen Aballister und Zauberer im allgemeinen vom Stapel. Druzil war vom Randbereich von Aballisters Sturm erfaßt, von Hagel überkrustet und fast von einem Blitzschlag verschmort worden. Jetzt wollte das Teufelchen, das jämmerlich fror, nur noch nach Burg Trinitatis zurück. Du könntest mich holen kommen, schlug es telepathisch vor.
Ich habe keine Energie mehr, kam Aballisters Antwort wie erwartet. Da du Cadderly hast entkommen lassen, war ich gezwungen, mich der Sache selbst anzunehmen. Und ich habe immer noch einiges vorzubereiten für den unwahrscheinlichen Fall, daß Cadderly oder einer seiner törichten Freunde überlebt hat. »Bene tellemara«, flüsterte das frustrierte Teufelchen in sich hinein. Jetzt, wo Druzil glaubte, daß er Aballister brauchte, achtete er darauf, eine abschirmende Wand unverfänglicher Gedanken aufzubauen, damit der Zauberer die Beleidigung nicht hörte. Es wäre besser, wenn ich bei dir bin, falls Cadderly kommt, erwiderte Druzil, der nach einem Argument suchte, das den störrischen Zauberer erweichen könnte. Mit seiner Magie konnte sich der mächtige Aballister zu Druzil teleportieren, das Teufelchen schnappen und sie beide in nur zwei Minuten sicher nach Burg Trinitatis zurückbringen. Ich habe dir doch gesagt, daß ich zu müde bin, kamen Aballisters Gedanken zurück – und Druzil begriff, daß der Zauberer ihn einfach bestrafen wollte. Besser, wenn du bei mir wärst? meinte Aballister höhnisch. Ich habe dich auf eine höchst wichtige Mission geschickt, und du hast versagt. Lieber stelle ich mich Cadderly allein, sag' ich dir, als mit einem unzuverlässigen, lästigen Teufelchen an meiner Seite. Ich weiß nicht, was die Vernichtung des bösen Geistes ermöglicht hat, Druzil, aber wenn ich herausfinde, daß du daran irgendwie beteiligt warst, wird deine Strafe unangenehm ausfallen. Viel wahrscheinlicher war es dein eigener Sohn, knurrte Druzils Geist zurück. Das Teufelchen spürte eine Welle ungezielter mentaler Energie, einen so elementaren Zorn, daß Aballister sich nicht die Zeit gelassen hatte, ihn in deutliche Worte zu fassen. Druzil wußte, daß sein Hinweis auf Cadderlys Verwandtschaft mit
Aballister eine empfindliche Stelle getroffen hatte, obwohl sich der Zauberer des Problems doch offenbar angenommen hatte. Du wirst jetzt nach den Leichen von Cadderly und seinen Freunden suchen, antwortete Aballister. Dann läufst du zu mir zurück oder flatterst auf deinen schwächlichen Flügeln, wenn es der Wind erlaubt! Ich laß dir nichts mehr durchgehen, Druzil. Nimm dich vor dem nächsten Sturm in acht, den ich in die Berge schicke! Damit brach der Zauberer die Unterhaltung abrupt ab und ließ den frierenden Druzil im Schnee sitzen, wo er über diese letzten Sätze nachgrübeln konnte. Das Teufelchen war ehrlich entrüstet über die lächerlichen Anschuldigungen und die ständigen Drohungen. Er mußte allerdings zugeben, daß sie ziemlichbeeindruckend waren. Druzil konnte nicht fassen, welche Zerstörung Aballister auf dem Berg Nachtglut und in der umliegenden Gegend angerichtet hatte. Aber jetzt war ihm kalt und scheußlich zumute, er steckte tief in den verschneiten Bergen und mußte sich dauernd den frischen Schnee von seinen ledrigen Flügeln schütteln. Ihm gefiel sein derzeitiger Aufenthaltsort gewiß nicht, aber andererseits war Druzil erleichtert, daß Aballister seine Bitte, ihn nach Hause zu holen, abgelehnt hatte. Wenn der junge Priester Aballisters Zorn tatsächlich entgangen war – und Druzil hielt das für gar nicht so unmöglich –, dann zog das Teufelchen es vor, weit weg zu sein, wenn der Zauberer endlich seinem Sohn gegenüberstand. Druzil war einmal im mentalen Zweikampf gegen Cadderly angetreten und überwältigt worden. Das Teufelchen hatte auch gegen die Frau, Danica, gekämpft und war besiegt worden – gegen sie war selbst sein Gift wirkungslos gewesen. Druzils Vorrat an Tricks ging schnell zur Neige, was den jungen Priester betraf. Das Risiko war einfach zu groß.
Aber diese Berge! Druzil war ein Wesen der Unteren Ebenen, einer dunklen Region, die größtenteils aus schwarzem Feuer und dichtem Rauch bestand. Er mochte die Kälte nicht, mochte das nasse Gefühl des verwünschten Schnees nicht, und das gleißende Sonnenlicht auf der geneigten, weißen Oberfläche der Berghänge schmerzte seinen empfindlichen Augen. Er mußte jedoch weitergehen und würde irgendwann zurückkehren und sich seinem Zaubermeister stellen müssen. Irgendwann. Druzil gefiel der Klang dieses Wortes. Er wischte den Schnee von den Flügeln und flog träge auf. Sofort entschied er, daß jede Suche nach Cadderly und seinen Freunden absurd wäre, deshalb wandte er sich von den abgerutschten Schneemassen um den Nachtglut ab. Seine Richtung war aber auch nicht Norden, wo Burg Trinitatis lag. Druzil ging nach Osten, auf dem kürzesten Weg aus den Schneeflockenbergen hinaus, einen Weg, der ihn in das bebaute Land um Carradoon führen würde. »Mach dich bereit«, sagte Dorigen, sobald sie unangekündigt und unerwartet Aballisters Raum betreten hatte. »Was weißt du?« knurrte der erschöpfte Zauberer. »Cadderly lebt!« »Du hast ihn gesehen?« fauchte Aballister und sprang auf. Seine dunklen Augen erwachten mit wütendem Funkeln zum Leben. »Nein«, log Dorigen. »Aber meine Suche wird immer noch durch Abwehrsprüche behindert. Der junge Priester ist höchst lebendig.« Aballisters Reaktion war genau das Gegenteil von dem, was Dorigen erwartet hatte. Er brach in Gelächter aus, schlug mit einer Hand auf die Armlehne seines Stuhls und wirkte beinahe ausgelassen. Dann sah er seine Kollegin an und sah ihre ungläubig fragende Miene.
»Der Junge macht es amüsant!« sagte der Zauberer. »Eine solche Herausforderung habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt!« Dorigen fand, daß Aballister ziemlich verrückt geworden war. Eine solche Herausforderung hast du überhaupt noch nie erlebt, wollte sie den Mann anschreien, aber diesen gefährlichen Gedanken behielt sie für sich. »Wir müssen uns vorbereiten«, sagte sie ruhig. »Cadderly ist am Leben, und es könnte sein, daß er deinem Zorn entgangen ist, weil er viel näher war, als wir angenommen haben.« Aballister schien sofort nüchtern zu werden und wandte Dorigen den Rücken zu. Er legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. »Es war deine Auskunft, die mich dazu gebracht hat, den Berg Nachtglut anzugreifen«, erinnerte er sie. »Das war eher Druzils Führung als meine«, stellte sie schnell richtig, weil sie angesichts von Aballisters unberechenbarer und unglaublich gefährlicher Laune echte Angst hatte, die Schuld für irgend etwas auf sich zu nehmen. Sie seufzte, als sie sah, daß Aballister kaum merklich zustimmend nickte. »Bereite …«, setzte sie ein drittes Mal an, aber der Zauberer fuhr so plötzlich herum, daß sein finsteres Gesicht ihr die Sprache verschlug. »Oh, wir werden uns vorbereiten!« zischte Aballister durch gefletschte Zähne. »Es wäre besser für Cadderly, wenn er dem Sturm zum Opfer gefallen wäre!« »Ich gebe den Soldaten die nötigen Anweisungen«, sagte Dorigen und wandte sich zur Tür. »Nein!« Das Wort ließ die Zauberin innehalten. Langsam drehte sie den Kopf und sah Aballister über die Schulter hinweg an. »Die Sache ist persönlich«, erklärte der Zauberer und führte Dorigens fragenden Blick quer durch den Raum zu dem
wirbelnden Nebelball, der an der jenseitigen Wand hing und den Eingang zu Aballisters extradimensionalem Haus darstellte. »Wir werden die Soldaten nicht brauchen.« Von einem hohen Platz blickten sie auf neue Befestigungsanlagen und einen einzelnen Turm hinunter. Von außen sah Burg Trinitatis nicht gerade bemerkenswert oder eindrucksvoll aus, trotz der neuen Anbauten. Vander, der die vernetzten Tunnel unter der Felsnase gesehen hatte, belehrte sie eines Besseren. Die Arbeit an den neuen Mauern ging jetzt, wo der Winter richtig angebrochen war, langsam vorwärts, aber es waren Unmengen von Wachen – zumeist Menschen –, unterwegs, die vorgeschriebene Patrouillenstrecken abliefen und gegen den eisigen Wind ständig die Hände rieben. »Das ist das Haupttor«, erklärte Vander und zeigte auf den mittleren Bereich der vordersten Mauer. Eine riesige eisenbeschlagene Eichentür war tief in den Stein eingelassen, umgeben von Wehrgängen mit Brustwehr und vielen Soldaten. »Hinter der Tür geht es in eine Höhle, die durch ein Fallgitter gesichert ist, dann folgt eine zweite, ähnliche Tür. Auf jedem Schritt unseres Weges werden wir auf gut bewaffnete und gründlich gedrillte Wachen treffen.« »Pah, wir spazieren doch nicht einfach durch die Vordertür rein!« protestierte Ivan, und diesmal fand der gelbbärtige Zwerg Unterstützung für sein Murren. Danica stimmte bereitwillig zu, indem sie alle daran erinnerte, daß ihre einzige Chance in der Heimlichkeit lag, und Shayleigh schlug sogar vor, daß sie vielleicht besser mit Carradoons Armee im Rücken hierhergekommen wären. Cadderly hörte dem Gerede kaum zu, denn er versuchte, sich einen Zauber auszudenken, der sie in die Festung bringen könnte, ohne seine noch immer begrenzte Energie zu sehr zu beanspruchen. Seine Freunde waren optimistisch geblieben, weil sie glaubten, daß er mit der Situation fertig würde. Cadderly gefiel dieses Vertrauen; er wünschte nur, er könnte es
teilen. Am Morgen, als sie die Höhle verlassen hatten und unter den blauen Himmel getreten waren, hatte Ivan über den Sturm, der Nachtglut heimgesucht hatte, die Nase gerümpft, ihn einen simplen Zaubertrick genannt und Aballister gerügt, weil er nicht einmal ordentlich zielen konnte. »Erste Regel bei Fernzaubern!« hatte der Zwerg gewettert. »Das verdammte Ziel treffen!« »Ei, ei!« hatte Pikel von ganzem Herzen zugestimmt, und dann hatte auch der grünbärtige Zwerg sich mit einem stillen »Hihihi« über den Sturm amüsiert. Cadderly wußte es besser, denn er verstand die Gewalt hinter dem unglaublichen Schauspiel des Zauberers. Der junge Priester glaubte immer noch, daß er den wahren Pfad des Deneir beschritt, aber die Bilder von Aballisters Wut, die den Berg selbst in die Knie gezwungen hatte, verfolgten ihn den ganzen Morgen. Er schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und versuchte, sich auf die augenblickliche Situation zu konzentrieren. »Gibt es einen anderen Zugang?« hörte er Danica fragen. »Am Fuß des Turms«, antwortete Vander. »Aballister hat uns … hat die Nachtmasken dort eingelassen, durch eine kleinere, nicht so stark bewachte Tür. Der Zauberer wollte die gemeinen Soldaten seiner Armee nicht wissen lassen, daß er Assassinen angeheuert hatte.« »Zuviel offenes Gelände«, stellte Danica fest. Der Turm lag ein Stück hinter den fast fertigen, senkrechten Mauern, und obwohl auch der Turm anscheinend noch nicht fertiggestellt war, ragte er bereits imponierende dreißig Fuß empor und trug auf der Spitze einen vorläufigen Zinnenring. Selbst wenn die Freunde es schafften, die Wachen an den ersten Mauern zu überwinden, konnte ihnen eine Handvoll Bogenschützen auf diesem Turm das Leben schwermachen.
»Was für Tricks hast du auf Lager, um uns den Rücken freizuhalten, solange wir stürmen?« fragte Ivan Cadderly mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter, um den Priester aus seinen Gedanken zu reißen. »Der kürzeste Weg wäre von rechts, von unterhalb der Felsnase«, überlegte dieser. »Aber dann müßten wir bergraufrennen und wären angreifbar. Ich schlage vor, daß wir von links kommen, den Hang von der Nase hinunter und um die kürzere Mauer.« »Die Mauer ist aber bewacht«, hielt Ivan dagegen. Cadderlys verschmitztes Lächeln beendete die Debatte. Die Freunde verbrachten den größten Teil der folgenden Stunde mit einem weiten Umweg bis zu einer bestimmten Stelle auf der Felsnase, weit oberhalb von Burg Trinitatis. Von diesem neuen Blickwinkel aus, seitlich von der größten, vordersten Mauer, konnten sie scharenweise Soldaten sehen, darunter auch große, haarige Grottenschrate, zehn Fuß hohe Oger und sogar einen Riesen. Cadderly wußte, daß dies eine echte Kraftprobe werden würde – für das Vertrauen seiner Freunde in ihn und für seine Fähigkeiten. Wenn diese beeindruckende Armee sie aufhielt, bevor sie durch die Hintertür eindringen konnten, würde alles verloren sein. Der Turm lag volle dreißig Schritt hinter der erster! Mauer und volle vierzig Schritt von der äußersten Spitze der senkrechten Mauer entfernt, der Mauer, um die sie herumrennen mußten. Ivan schüttelte den haarigen Kopf; Pikel ergänzte ein gelegentliches »Ooh« zum Zeichen, daß nicht einmal die Zwerge, die kampferfahrensten Mitglieder der Gruppe, die Idee für durchführbar hielten. Aber Cadderly ließ sich nicht einschüchtern; sein Lächeln war unverändert. »Der erste Geschoßhagel wird sie aufschrecken – der zweite müßte sie in Positionen bringen, die uns näher an die Mauer heranlassen dürften«, erklärte er.
Die anderen sahen sich verwirrt an, mit ungläubigen Mienen. Die meisten Blicke blieben an Shayleighs Köcher und der Handarmbrust an Cadderlys Seite hängen. »Sobald der dritte Geschoßhagel mit brennendem Pech auf die erste Mauer zuschießt, gebe ich das Zeichen, und wir rennen zum Turm«, fuhr Cadderly fort. »Du führst den Sturm an«, sagte er zu Danica. Obwohl Danica immer noch keine Ahnung hatte, auf welchen »Geschoßhagel« sich der junge Priester bezog, lächelte sie schief, denn es gefiel ihr, daß Cadderly nicht versuchte, sie zu bevormunden oder zu beschützen, wenn die Lage es offensichtlich erforderte, daß jeder von ihnen gefährliche Aufgaben übernahm. Danica wußte, daß nicht viele Männer ihren geliebten Frauen gestatten würden, vor ihnen in die Gefahr hinauszustürmen, und es war Cadderlys vorbehaltloses Vertrauen in sie und sein Respekt vor ihr, wofür sie ihn so sehr liebte. »Wenn die Bogenschützen dort oben uns sichten«, fuhr Cadderly fort, diesmal an Shayleigh gewandt, »werden wir dich brauchen, um sie niederzustrecken.« »Was für ein Geschoßhagel?« wollte Shayleigh wissen, die die Geheimnistuerei leid war. »Was für brennendes Pech?« Cadderly, der bereits tief in seine Zauberkonzentration absackte, antwortete nicht. Gleich darauf sang er schon leise vor sich hin, und seine Freunde duckten sich und warteten auf die Wirkung der Klerikermagie. »Hui«, murmelte Pikel im gleichen Moment, als eine der Wachen am Haupttor überrascht aufschrie. Brennende Pechkugeln und große Speere tauchten mitten in der Luft auf und kamen dicht an der Mauer geräuschvoll herunter. Die Soldaten warfen sich eilig auf den Boden; der Riese hob eine Steinplatte hoch, die er schützend vor sich hielt. In wenigen Momenten war es vorbei, ohne daß noch etwas brannte und ohne ersichtlichen Schaden an der Steinmauer. Die
Soldaten aber blieben in Deckung, riefen hektische Befehle und zeigten auf viele denkbare Artillerieverstecke in den Felsen jenseits des Tors. Cadderly nickte Danica zu, worauf sie und Shayleigh sich von der Seite her anschlichen, von einem Stein zum anderen huschten. Bis jetzt hatte die Ablenkung anscheinend funktioniert, denn kaum eine Wache achtete noch auf das höher liegende Gelände seitlich der Mauern. Der zweite illusionäre »Geschoßhagel« traf weiter unterhalb der ersten Mauer auf, ein ganzes Stück hinter dem Haupttor, um die Aufmerksamkeit der Feinde auf die angreifbare Ecke zu richten, wo die dritte Mauer noch errichtet werden sollte. Wie Cadderly vorhergesagt hatte, suchten die Soldaten von der Seitenmauer Deckung hinter der schützenden dickeren vorderen Mauer. Wieder hielten die Explosionen nur wenige Sekunden an, aber die Wachen standen jetzt kurz vor einer Panik und drückten sich dicht an die Zinnen und den Fuß der Mauer. Kein einziger wandte die Augen nach Südwesten zum höheren Gelände, von wo aus sich die Gefährten näherten. Danica und Shayleigh führten sie ohne Zwischenfall zu der nunmehr verlassenen Seitenmauer, huschten unbemerkt zu der Seite, die der Vordermauer abgewandt war, und spähten um die Ecke, die in den leeren Hof führte. Cadderly trat vor die Gruppe und hob die Hand, um seine Freunde zurückzuhalten. Er konzentrierte sich auf die Vordermauer und griff nach den Luftpartikeln um sich herum, deren Natur ihm von den Noten aus dem Lied des Deneir enthüllt wurde. Langsam und kaum merklich veränderte der junge Priester durch bestimmte Worte und die Energie der Klerikermagie die Zusammensetzung dieser Teilchen, fügte sie zusammen und verdickte sie. Ein dichter Nebel erhob sich an der vorderen Mauer und in der vorderen Hälfte des unvollendeten Burghofs.
»Los«, flüsterte Cadderly Danica zu, gab den Zwergen ein Zeichen, ihr zu folgen, und Shayleigh einen Wink, sich so aufzustellen, daß sie den Turm sehen konnte. Ohne zu zögern, rannte die mutige Adeptin im Zickzack über den unebenen, gefrorenen Boden davon. Plötzlich nahm Cadderly Shayleigh ihren Pfeil aus der Hand. »Schieß den oben auf den Turm«, wies er sie an, sprach einen Zauber darüber und gab ihn ihr zurück. Danica war zwanzig Schritt weit draußen, schon auf halbem Wege am Turm, ehe sie überhaupt bemerkt wurde. Drei Bogenschützen griffen zu ihren Waffen und wollten Alarm schlagen, als Shayleighs Pfeil einen in die Schulter traf. Der Mann sackte zusammen; die beiden anderen gerieten in Panik, rissen weit den Mund auf und versuchten, nach ihren Kameraden am Vordertor zu rufen. Kein Laut kam von der Spitze des Turms, denn der verzauberte Pfeil hatte die Umgebung magisch in Schweigen gehüllt. Die zwei verbliebenen feindlichen Schützen eröffneten das Feuer auf Danica, doch die junge Frau bewegte sich zu behende. Die Pfeile prallten vom gefrorenen Boden ab oder zerbrachen beim Aufschlag, aber Danica, die sich abrollte, wegtauchte und schärfere Haken schlug, als die Soldaten erwarteten, war nie in Gefahr, getroffen zu werden. »Hihihi«, kicherte Pikel, der mit Ivan weit hinter der Adeptin gelaufen kam und das Spektakel von Herzen genoß. Shayleigh erwiderte das Feuer mit brutaler Treffsicherheit, lenkte ihre Pfeile durch die Locher der Brustwehr und zwang die Wachen, sich mehr darauf zu konzentrieren, ihre Köpfe einzuziehen, als auf Danica zu schießen. Noch immer versuchten die Männer vergeblich, aufzuschreien und ihre Verbündeten vor der Gefahr zu warnen. Vander riß Shayleigh hoch, setzte sie auf seine breiten Schultern und lief den Zwergen nach.
Cadderly konzentrierte sich wieder auf die vordere Mauer und löste einen neuen illusionären Geschoßhagel aus, um sicherzugehen, daß die Soldaten auch in ihren Löchern blieben. Lächelnd über seine eigene Schlauheit, lief der junge Priester schließlich seinen Freunden hinterher. Als Danica den Fuß des Turms erreicht hatte, wurde eine Tür aufgerissen, und ein Schwertkämpfer sprang heraus, um sich ihr entgegenzustellen. Sie war reaktionsschnell genug, sich kopfüber abzurollen und innerhalb des Bogens hochzukommen, den die herabzischende Waffe beschrieb. Ihre geballte Faust traf den Kämpfer unterm Kinn und warf ihn zurück. Über Danica lehnte sich einer, der Bogenschützen vor und zielte zu einem tödlichen Schuß. Shayleighs Pfeil, der heransauste, bevor der Mann noch seinen Bogen gespannt hatte, traf ihn tief unter dem Schlüsselbein. Der andere Bogenschütze, der sich dicht an einen Eckstein lehnte, antwortete mit einem Schuß, der Vander in die Brust traf, doch der Pfeil konnte den Riesen kaum aufhalten. Grollend riß Vander den winzigen Pfeil heraus und warf ihn fort. Von ihrer Position aus – zehn Fuß über dem Boden – hatte Shayleigh einen besseren Schußwinkel, darum lächelte sie finster und schoß abermals. Der Pfeil prallte von dem Eckstein ab und traf den feindlichen Schützen ins Auge. Der Mann fiel nach hinten und schrie zweifellos vor Schmerzen – aber wieder drang kein Laut aus dem verzauberten Bereich. Ivan und Pikel verschwanden hinter Danica im Turm. Cadderly konnte erkennen, daß drinnen ein Kampf entbrannte. Der junge Priester rannte mit aller Kraft und kam direkt hinter Vander an, doch bis er, der Firbolg und die Elfenfrau durchs Tor traten, waren die fünf Goblinwachen im Erdgeschoß des Turms bereits tot.
Danica kniete vor einer Tür auf der anderen Seite des kleinen Raums und untersuchte das Schloß. Sie zog ihre Gürtelschnalle ab, bog sie mit den Zähnen zurecht, führte den Dorn dann langsam ein und begann damit herumzustochern. »Schnell«, bat Shayleigh, die an der äußeren Tür stand. Von der anderen Seite des Hofes waren Schreie zu hören: »Feinde im Turm!« Die Elfenkriegerin zuckte die Schultern – die Täuschung war vorüber – und schickte sich an, die Feinde mit ein paar Pfeilen zurückzutreiben. Nachdem ihr erster Köcher leer war und der zweite immer leichter wurde, bedauerte sie inzwischen ihre Entscheidung, sich der Schlacht im Tal angeschlossen zu haben. Cadderly zog sie am Ellbogen herein und schloß die Tür. Für den Priester war es ein leichtes, magisch in die Essenz des Holzes zu greifen und es aufquellen und sich verziehen zu lassen, so daß der Eingang fest verschlossen war. Vander stapelte als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme die toten Goblins vor der Tür, und wieder richteten sich alle Augen auf Danica. »Schnell«, wiederholte Shayleigh, deren Worte mehr Gewicht bekamen, als etwas Schweres gegen die Turmtür schlug. Mit einem Grinsen zu ihren Gefährten schob Danica ihren improvisierten Dietrich hinter ein Ohr und stieß die Tür auf, worauf eine nach unten führende Treppe zu sehen war. Cadderly blickte neugierig in den Treppenschacht. »Nicht schwer bewacht und keine Falle?« überlegte er laut. »Es gab eine Falle«, stellte Danica richtig. Sie zeigte auf einen Draht, der an der Seite des Türpfostens entlanglief und mit dem anderen Teil ihres Gürtels gesichert war. Doch keiner von ihnen hatte Zeit, das Werk der geschickten Adeptin zu bewundern, denn ein weiterer, lauterer Knall erklang an der Außentür, wo die Spitze einer Axtklinge durch das Holz drang. Ivan und Pikel drängten sich an Danica vorbei und polterten Seite an Seite die Treppe hinunter. Vander und Shayleigh
folgten, wobei der Firbolg seine angeborene magische Fähigkeit nutzte, sich auf Menschengröße zu verkleinern. Danach kam Cadderly, dann Danica, die sich umdrehte und mit einer leichten Drehung ihres Dietrichs die Tür verschloß und die Falle wieder einsetzte. Am Ende der Treppe versperrte ihnen eine weitere Tür den Weg, doch die Zwergenbrüder senkten die Köpfe, verschränkten die Arme und wurden noch schneller. »Sie könnte gesichert sein!« rief Cadderly ihnen zu, als er ihre Absicht durchschaute. Die Felsenschulterbrüder brachen durch die Tür, worauf hinter ihnen eine Reihe feuriger Explosionen losging, während sie durch zersplittertes, qualmendes Holz kullerten. Die beiden hatten wirklich Glück gehabt, die Tür so schnell zu durchbrechen, denn aus beiden Türpfosten ragten winzige, gifttriefende Pfeile. In den unterirdischen Tunneln hinter der Tür wurden Hörner geblasen – ein magischer Alarm, wie Cadderly glaubte. »Was hast du gesagt?« rief Ivan durch das Getöse, als die anderen in den unteren Gang kamen. »Egal«, war alles, was Cadderly zurückgab. Seine Stimme klang ernst, trotz des Anblicks von Pikel, der wild herumhopste und versuchte, die Rauchschwaden auszuschlagen, die von seinen Hacken und vom Rücken aufstiegen. Sie waren nur deshalb mit einer so kleinen Gruppe nach Burg Trinitatis gekommen, weil sie die Anführer der feindlichen Verschwörung angreifen wollten, doch nachdem nun Hörner bliesen und Feinde an die verschlossenen Türen hinter ihnen hämmerten, schien dieses Ziel kaum noch erreichbar. »Ach, komm schon und amüsier dich!« riet Ivan dem offensichtlich bedrückten jungen Priester. »Halt dich an meinem Mantel fest, Jungchen! Ich bring' dich hin, wo du hin willst!«
»Ei, ei!« stimmte Pikel zu, und die Brüder polterten weiter. Sie trafen auf Widerstand, noch bevor sie um die erste Ecke gebogen waren, und pflügten hingebungsvoll durch die überraschte Gruppe Goblins, die entweder getötet wurden oder davonrannten. »Wo lang?« rief Ivan zurück. Seine Worte kamen am Ende eines Grunzens, als er mit seiner mächtigen Axt das Rückgrat eines Goblins durchschlagen hatte, der sich eine Sekunde zu spät zur Flucht gewandt hatte. Der fackelbeleuchtete Gang hinter dem toten Goblin wies zahlreiche Türen und mindestens zwei abzweigende Tunnel auf. Die Freunde sahen Cadderly an, aber der junge Priester zuckte hilflos die Achseln, weil er in dem plötzlichen Durcheinander nicht sofort eine Antwort parat hatte. Eine Reihe Explosionen weit hinter ihnen verriet ihm, daß ihre Feinde die zweite Tür durchbrochen und die Falle nicht erfolgreich entschärft hatten. Ivan trat die nächste Tür auf, die in einen riesigen Raum führte, in dem eine Einheit menschlicher Bogenschützen und eine Gruppe Riesen dabei waren, eine Wurfmaschine auszubalancieren. »Hier nicht lang!« erklärte der Zwerg kurz angebunden, machte die Tür schnell wieder zu und rannte weiter. In dem wilden Lauf, der jetzt folgte, verlor Cadderly jegliche Orientierung. Sie rannten durch viele Türen, bogen um viele Ecken und schlugen viele höchst überraschte Feinde nieder. Bald kamen sie in einen Bereich, in dem die Tunnel besser ausgebaut waren und Runen und Reliefs des Tränensymbols der Talona in die Steinmauern geschlagen waren. Cadderly blickte zu Vander, weil er hoffte, der Firbolg werde sich unterwegs an irgendein Zeichen erinnern, aber Vander war sich nicht sicher.
An der nächsten Tür warf Pikel ein elektrischer Schlag zurück. Ivan knurrte, rannte mit der Schulter voran die Tür ein und brach so in einen neuen, langen und schmalen Gang, welcher diesmal von Wandbehängen geschmückt war, die die Herrin des Giftes darstellten. Sie lächelte verschlagen, als könnte sie die Eindringlinge deutlich sehen. Der zähe Pikel, dessen grüne Barthaare knisternd aus seinem straffen Zopf herauszuckten, schloß sich seinem Bruder augenblicklich an. Zwanzig Schritt weiter wurde die Gruppe von einem Ball absoluter Finsternis verschluckt. »Weiterlaufen!« gebot Shayleigh den Zwergen, denn mit ihren scharfen Elfenohren hatte sie gehört, daß von hinten Feinde nahten. Cadderly fühlte den Luftzug neben seinem Gesicht, als die Elfenfrau einen Pfeil losschickte. Er achtete jedoch nicht besonders auf Shayleighs Bewegungen, denn er kämpfte mit den Riemen seines Rucksacks, weil er sein Lichtrohr oder den Stab suchen wollte, um den Dunkelheitszauber zu bekämpfen. Danica, die anscheinend gemerkt hatte, daß er stehengeblieben war, nahm den jungen Priester am Arm und zog ihn mit – vorsichtig, damit sie seine Bemühungen nicht störte. Es gab ein lautes Klick und das Kratzen von Stein auf Stein, dem ein leiser werdendes »Ooooh …« folgte. »Domin illu!« rief Cadderly, hielt den Stab hoch, und die Dunkelheit schwand. Cadderly stand mit seinem Stab bereit, Shayleigh mit ihrem Bogen, und Danica und Vander hatten beide eine geduckte Verteidigungshaltung eingenommen, während sie sich an den Mauern entlangtasteten. Aber Ivan und Pikel waren verschwunden. »Falltüren!« rief Danica, als sie vor sich auf dem Boden dünne Linien entdeckte. »Ivan!«
Es kam keine Antwort, und Danica fand keine sichtbare Möglichkeit, die exakt eingepaßten Klappen zu öffnen. Nirgendwo waren Griffe zu sehen. »Weiter!« schrie Shayleigh plötzlich, zog Cadderly hinter sich und spannte ihren Bogen. Knapp fünfzig Fuß hinter ihnen kamen feindliche Soldaten durch die Tür. Danica sprang über die Stelle mit der Falle; Vander nahm wieder seine normale Größe an und stieg hinüber. Cadderly holte er nach. »Augen zu«, flüsterte der junge Priester seinen Freunden zu, streckte den Stab zur Tür hin aus und befahl: »Mas illu!« Ein schillernder orange-grüner Lichtblitz schoß hervor, der in unzählige gleißende Blitze in allen Regenbogenfarben zerbarst. Es war sofort wieder vorbei, doch die Soldaten rieben sich die Augen und stolperten geblendet umher. »Weiter!« sagte Shayleigh wieder, während sie noch zwei Pfeile auf die verwirrte Truppe abschoß. Die anderen drei liefen auf die Tür am anderen Ende des Korridors zu. Als die Elfenkriegerin sich umdrehte und ihren Freunden folgen wollte, merkten diese, daß auch sie von Cadderlys magischem Blitzlicht erwischt worden war. Ihre sonst klaren Veilchenaugen sahen wie blutrote Punkte aus, und sie tastete sich nur langsam den Gang entlang, während sie festzustellen versuchte, wo sie springen sollte. »Wir kommen dich holen!« schrie Danica, aber Shayleigh hatte bereits zum Sprung angesetzt. Sie landete mit den Fersen auf dem Rand der Falltür und balancierte eine halbe Ewigkeit am Rande des Fallens; Vander warf sich der Länge nach auf den Boden und langte verzweifelt nach ihr. Er erwischte nur Luft, während Shayleigh rückwärts in die Grube fiel und die teuflische Tür fest hinter ihr zurückschwang. Danica war neben dem Firbolg und zog ihn am Ärmel, und Cadderly war mit erneut ausgestrecktem Stab neben ihr.
»Mas illu«, sagte er wieder mit gedämpfter Stimme, und wieder traf der schillernde Lichtblitz die Soldaten, die sich inzwischen erholt hatten. Viele von ihnen dachten diesmal daran, die Augen zu schließen, und der Angriff würde zwar verzögert werden, aber nicht aufgehalten. Vander stürmte auf die hintere Tür zu und hatte sie schon fast erreicht, als ein zehn Fuß langes Stück des Korridors sich plötzlich so verlagerte, daß es insgesamt schräg zu seiner ursprünglichen Position stand. Der überraschte Firbolg kippte zur Seite in den plötzlich entstandenen schiefen Schacht aus Boden und Wand und verschwand aus ihrem Blickfeld, als diese Ecke der Falle um einen Mittelzapfen rotierte. Danica sprang über das gekippte Stück des Korridors und brach mit einem gezielten Tritt gegen die Tür deren Schloß auf. Die Tür Öffnete sich quietschend einen Fingerbreit auf Danica zu, worauf die Adeptin sie packte und schwungvoll aufzog, als ob sie waghalsig eine weitere Falle auslösen wollte. Der überwältigte Cadderly rannte zu ihr. Noch immer schaute er zu der Stelle zurück, wo drei seiner Freunde verschluckt worden waren, und zu der Wand, die den Firbolg aufgenommen hatte. Danica ergriff seine Hand und zog ihn hinein – ein kurzer Gang diesmal, ohne Teppiche an den Wänden, der nach nur zwölf Fuß an einer weiteren Tür endete. Sobald sie über die Schwelle traten, raste hinter ihnen eine dicke Steinplatte herunter, die jede Rückzugsmöglichkeit abschnitt, und ein Fallgitter ratterte vor der Tür vor ihnen nach unten und versperrte ihnen den Weg. Natürlich wußten sie sofort, daß sie in der Falle saßen, aber sie hatten keine Ahnung, wie prekär ihre Lage tatsächlich war, bis Danica einen Moment später bemerkte, daß die Seitenmauern des kurzen Gangs allmählich aufeinander zurückten.
Das heilige Wort Danica warf sich mit dem Rücken gegen die Wand und drückte mit aller Kraft, während sie versuchte, ihre Füße auf dem glatten Boden fest zu verankern. Sie rutschte nur vorwärts, und der Gang wurde unaufhaltsam enger. Cadderlys erschrockener Blick schoß überall herum, von der Steinplatte zum Fallgitter, zu den sich verengenden Seitenwänden. Er versuchte, das Lied des Deneir anzurufen, aber ihm fiel so schnell nichts aus den harmonischen Noten ein, das ihnen jetzt helfen könnte. Die Wände waren knapp acht Fuß auseinander. Sieben Fuß. Cadderly kämpfte gegen Panik an, schloß die Augen und befahl sich selbst, sich zu konzentrieren und auf die harmonische Musik zu vertrauen. Er merkte, wie Danica grob nach seinen Armen griff, versuchte jedoch, die Störung zu ignorieren. Sie zog wieder, diesmal fester, und zwang Cadderly so, sie anzusehen. »Halt deine Hände steif vor dich«, wies sie ihn an, während sie Cadderlys Handflächen nach oben drehte. Er sah neugierig zu, wie Danica sich auf seinen Handflächen horizontal ausstreckte, die Füße gegen die eine Wand stemmte und die Arme über den Kopf streckte, um die andere, sich nähernde Wand »aufzufangen«. »Das kannst du nicht«, wollte Cadderly einwenden, aber noch während er das sagte, schlossen sich die Wände innerhalb von Danicas Reichweite und wurden dann vom steifen Körper der meditierenden Adeptin so sicher aufgehalten, als ob ein Metallpfeiler zwischen sie gesteckt worden wäre. Cadderly nahm seine Hände von Danicas Bauch – ihr steifer Körper hielt sie sicher fest – und zwang sich, seine Aufmerksamkeit von der erstaunlichen Frau abzuwenden und über ihre Lage im allgemeinen nachzudenken. Wenn der Feind
entdeckte, daß die Wände sich nicht mehr bewegten, hatten er und Danica bald unliebsame Gesellschaft zu erwarten. Cadderly zog seine Armbrust heraus und legte einen explosiven Bolzen ein. Er hörte Gemurmel hinter der jenseitigen Tür mit dem Fallgitter und trat näher heran, um zu lauschen. »Buga yarg grrr mukadig«, erklang eine tiefe, kehlige Stimme, und Cadderly mit seiner umfassenden Kenntnis vieler Sprachen verstand, daß ein Oger draußen vor der Tür gerade festgestellt hatte, daß die Wände ihre Arbeit inzwischen beendet haben dürften. Cadderly rannte zurück, schlüpfte unter Danica hindurch und legte den Arm mit der Armbrust zwecks ruhigerer Haltung auf ihren Rücken. Auch seine Spindelscheiben legte er gut in Reichweite auf Danica und hielt in der freien Hand seinen zauberverstärkten Wanderstab. Es gab ein schabendes Geräusch, als das Fallgitter sich zu heben begann, und Cadderly hörte, wie ein Schlüssel ins Türschloß geschoben wurde. Er hielt seine Armbrust bereit und stählte seine Nerven, als ihm bewußt wurde, daß er den Feind so lange abwehren mußte, bis Danica Zeit hatte, herunterzuspringen und hinter ihm hinauszulaufen. Die Tür öffnete sich nach innen, und mit ihr kam das Gesicht eines eifrigen Ogers, der mit dämlichem Grinsen nach den zerquetschten Überresten der Eindringlinge Ausschau hielt. Cadderlys Pfeil traf genau in die Lücke zwischen seinen beiden Schneidezähnen. Der junge Priester stürmte mutig vor und schwang dabei seine Spindelscheiben. Die Backen des Ogers wölbten sich geradezu absurd nach außen, seine Augen sprangen beinahe aus ihren Höhlen, und dann klappten seine Lippen nach außen und spien einen Blutstrom und abgebrochene Zähne aus.
»Duh, Mogie?« fragte sein verblüffter Begleiter, als das zerfetzte Monster auf den Boden rutschte. Der zweite Oger beugte sich herunter, um herauszufinden, was geschehen war, dann sah er gerade noch rechtzeitig zu der Falle zurück, daß Cadderlys fliegende Adamantscheiben ihn seitlich an der Nase trafen. Cadderly machte einen scharfen Ruck mit dem Handgelenk, so daß die Spindelscheiben zu ihm zurückrollten, gegen seine Hand prallten und dann wieder heftig lossausten. Die Hand des Ogers ging nach oben, jedoch nicht schnell genug für eine Abwehr, und die Scheiben trafen ihn ins Auge. Doch der Arm des Ogers, der seine Aufwärtsbewegung fortsetzte, blieb in der Schnur hängen, und Cadderly konnte die Scheiben nicht mehr ordentlich zu einem dritten Angriff zurückziehen. Der Priester nahm deshalb seinen Wanderstab in beide Hände und schlug damit fest gegen den dicken Unterarm des benommenen Gegners. Den nächsten Schlag setzte er tiefer an. Er traf die ungeschützten Rippen, worauf der Oger, wie Cadderly es erwartet hatte, reflexartig den Arm herunterzog. Cadderlys nächster Hieb ging wieder hoch auf die ohnehin schon angeschlagene Nase, die er diesmal zerschmetterte. Der junge Priester ließ nicht locker, griff um und kam andersherum zurück: Der Widderkopf seines Wanderstabs traf hart gegen den Schädelansatz des Ogers. Plötzlich brach das Ungeheuer in die Knie. Die Arme hingen ihm schlaff an der Seite herunter. Cadderly schlug noch mehrmals mit dem Wanderstab zu, bis Danica vorbeiraste und dabei dem knienden Monster noch ihr Knie unter das Kinn rammte. Der Ogerkopf klappte ruckartig zurück, und endlich kippte das gewaltige Ungeheuer neben seinen toten Kameraden auf den Boden.
»Laden!« wies Danica Cadderly an und gab ihm seine Armbrust zurück. Hinter sich hörten sie Holz knirschen, als die sich schließenden Wände auf die geöffnete Tür trafen. Keiner von ihnen hatte Lust, sich umzusehen. Der Schacht war schlüpfrig und steil, und trotz verzweifelter Bemühungen konnte Shayleigh ihren Absturz kaum verlangsamen. Schließlich lag sie mit dem Rücken fest an dem schiefen Boden und stocherte mit ihrem Langbogen in der Luft herum, um irgendwo Halt zu finden. Es gab keinen. Die andere Seite des Schachts war ebenso glatt wie die, an der sie herabrutschte. Ein Haufen unschöner Bilder rasten der Elfenkriegerin durch den Kopf, besonders solche, bei denen sie neben Ivan und Pikel an einer Wand zugespitzter Giftpfähle aufgespießt wurde. Oder hinter Ivan und Pikel, so daß sie ihre bereits feststeckenden Freunde tiefer auf die Stacheln drückte, die sie sich ausmalte. Ohne ihren Bogen loszulassen, gelang es ihr, sich so weit aufzurichten, daß sie ihre Füße gegen eine Wand und ihre Schulter schräg gegenüber gegen die andere stemmen konnte. Sie hob den Kopf und blinzelte an ihrem Körper entlang in die Dunkelheit, weil sie sich ein Warnzeichen vor dem Aufprall erhoffte. Mit ihren wärmeempfindlichen Augen konnte sie Spuren des Vorbeirutschens der Zwerge erkennen, denn die Körperwärme von Ivan und Pikel war stellenweise noch auf dem Boden und an den abgerundeten Wänden zu bemerken. Und dann kam einfach eine Wand am Ende des Schachts. Einen Sekundenbruchteil vor ihrem Aufprall verstand Shayleigh, daß es sich – da die Zwerge nirgends in Sicht waren – um eine Art Schwingfalltür handeln mußte. Sie prallte auf und rutschte hindurch, ergriff aber mit weit ausgebreiteten Armen beide Seiten der Tür. Ihr Bogen fiel
hinunter, und sie hörte einen Zwerg grunzen und danach ein leises Platschen. Die Falltür schwang »zurück, so daß Shayleighs Unterarme zwischen der Tür und der Steinwand feststeckten. Hartnäckig hielt sie sich fest, denn sie vermutete, daß dies ihr einziger Weg aus dieser teuflischen Grube sein könnte. »Schön, daß du's geschafft hast, Elfe«, sagte Ivan von unten. »Aber du solltest dich wohl lieber von der Tür da verkrümeln, falls noch mehr kommen.« Shayleigh gelang ein senkrechter Blick nach unten, wo sie die unscharfen, warmen Gestalten von Ivan und Pikel erkannte, die bis zum Bauch in einem schlammigen Teich standen. Die genauen Ausmaße des Raums konnte sie nicht feststellen, aber er war nicht groß, und es gab keine andere sichtbare Tür. »Geht es euch gut?« fragte sie. »Bloß naß«, knurrte Ivan. »Und ich kriege eine Beule am Kopf, wo mein Bruder auf mir gelandet ist.« Pikel begann zu pfeifen und drehte sich weg. Einen Augenblick später fuhr der grünbärtige Zwerg entsetzt zurück und sprang auf seinen Bruder, den er damit fast unter das Wasser gestoßen hätte. »Was ist denn in dich gefahren?« wollte der mürrische Ivan wissen. Pikel quiekte und gab sich größte Mühe, seine Füße aus dem Wasser zu halten. Ivan stieß einen plötzlichen Schrei aus und warf Pikel ab. Als der grünbärtige Zwerg ins Wasser klatschte, begann Ivan, mit seiner Axt wild um sich zu hacken, bis die Spritzer selbst Shayleigh oben an der Wand erreichten. »Was ist denn?« rief Shayleigh. Beide Zwerge sprangen herum und schlugen mit ihren Waffen auf das Wasser ein. »Etwas Langes, Glitschiges!« brüllte Ivan zurück. Er rannte zu der Wand direkt unter der hängenden Elfenfrau und sprang im vergeblichen Versuch, ihre Stiefel zu erwischen, immer
wieder hoch. Im Nu war Pikel auf seinem Rücken, aber Ivan duckte sich, warf Pikel der Länge nach in den Schlamm und sprang dann selbst auf Pikels Rücken. Die ganze Zeit bat Shayleigh die beiden, sich zu beruhigen, was sie schließlich auch erschöpft taten, ohne die Elfin auch nur berührt zu haben. »Nehmt meinen Langbogen«, schlug Shayleigh vor. »He?« quietschte Pikel verwirrt, aber Ivan begriff. Er planschte herum, bis er endlich den heruntergefallenen Bogen fand, dann kam er zur Wand und streckte ihn nach oben, um sich damit an Shayleighs Fuß festzuhaken. »Und du hast ganz sicher genug Halt?« fragte der Zwerg höflich. »Schnell«, gab Shayleigh zurück. Ivan sprang hoch, griff zu und zog sich an dem Bogen hoch, bis er sich am Stiefel der Elfenfrau festhalten konnte. »Klettere über mich drüber«, wies Shayleigh ihn an. »Du mußt zuerst in den Schacht gelangen und dich dort irgendwie abstützen.« Dem stämmigen Ivan war es peinlich, auf diese Weise über eine zierliche Elfenfrau zu klettern, aber er verstand die praktische Seite des Plans, besonders als sein Bruder, der noch unten war, ein besorgtes »Ui, ui« von sich gab. Ivan spähte nach unten, wo Pikel ganz still stand. Ein Schlangenkopf war aus dem Wasser aufgetaucht und pendelte langsam nur einen Fuß vor Pikel und fast auf Augenhöhe mit dem Zwerg vor und zurück. »Brüderchen«, flüsterte Ivan, dem fast die Stimme versagte. Er dachte daran, wieder ins Wasser zu springen und sich zwischen Pikel und die Schlange zu stellen. »Hoch mit dir«, sagte Shayleigh zu ihm. Pikel begann, mit der Schlange hin und her zu pendeln und zu pfeifen, während er von einer Seite zur anderen schwang. Sie schienen irgendwie im Gleichklang zu stehen. Es war wie
ein Tanz, und die Schlange machte keine Anstalten, den Zwerg anzugreifen. »Hoch mit dir«, sagte Shayleigh wieder zu Ivan. »Pikel kann nicht kommen, solange du noch im Weg bist.« Ivan hatte sich immer als Beschützer seines Bruders gefühlt, und ein großer Teil von ihm wollte zu der Schlange zurückspringen und Pikel schnellstens zu Hilfe eilen. Es gelang ihm jedoch, diesen Impuls zu bekämpfen, sowohl aus Zustimmung zu Shayleighs Logik als auch wegen seiner gräßlichen Angst vor Schlangen. Geschickt hielt er sich an Shayleighs Kleidern fest und kam auf gleiche Höhe mit ihr. Dabei tröstete ihn Pikels unablässiges Pfeifen, ein ruhiges Lied, das der unangenehmen Situation viel von ihrer Spannung nahm. Ivan kletterte über Shayleighs Rücken und quetschte sich durch die enge Lücke zwischen ihr und der schweren Tür. Als er ganz in dem schrägen Schacht war, drehte er sich zur Seite und stemmte sich mit Händen und Füßen an den gegenüberliegenden Wänden ab. »Pikel?« fragte Shayleigh atemlos, denn das Pfeifen hatte aufgehört. »Ei, ei!« kam die beherzte Antwort von unten. Gleich darauf spürte Shayleigh das Gewicht an ihrem Fuß, als der zweite Bruder am Langbogen hochzuklettern begann. Der umsichtige Pikel nahm den Bogen mit, als er an Shayleigh entlang krabbelte, dann in den Korridor schlüpfte und über Ivan stieg, seinem ausgestreckten Bruder fest die nassen Sandalen in die Seite pflanzte und dann über Ivan zurücklangte, um Shayleigh zu helfen. Das war der komplizierteste Teil des Manövers, denn Pikel und Ivan mußten irgendwie die Türklappe lange und weit genug aufhalten, damit Shayleigh durchklettern konnte, und der Elfenfrau gleichzeitig etwas zum Festhalten geben.
Pikel drückte seine Keule gegen die Tür, zwischen Shayleighs ausgestreckte, schmerzende Arme. »Wenn mein Bruder schiebt, mußt du mit einer Hand loslassen und nach mir greifen«, wies Ivan sie an. »Fertig?« »Mach auf«, bettelte Shayleigh, und Pikel begann langsam zu drücken. Sobald der Druck nachließ, langte Shayleigh nach Ivan. Sie verpaßte ihn, doch mit der anderen Hand konnte sie sich nicht mehr genug festhalten. Mit einem Schrei stürzte die Elfenfrau ab. Ivan fing ihr Handgelenk, schlang seine kräftigen Finger fest darum und drückte sie schnell gegen die schleimige Wand. »Ooooh«, jammerte Pikel, als die ganze Gruppe wieder gefährlich auf das Ende des Schachts rutschte. Aber Ivan knurrte und straffte seinen starken Rücken, um sich wieder festen Halt zu verschaffen. Und Pikel, dem doch von dem unangenehmen Winkel die Arme schmerzten, konnte den Druck gegen die schwere Tür aufrechterhalten und sie so weit geöffnet lassen, daß Shayleigh durchklettern konnte. Sie stieg über Ivan, dann neben Pikel, und der ließ die Tür zufallen. Dann streckte er sich quer zu seinem sicher abgestutzten Bruder aus, und Shayleigh kletterte über ihn und drehte sich genauso hin, wie Ivan sich gedreht hatte. Darauf kletterte Ivan auf Pikel, während dieser sich an der Elfenkriegerin festhielt. Ivan kam an Shayleigh vorbei und stand nun aufrecht im Schacht. Hierauf kletterte Pikel an die Spitze, bildete seitlich neben Ivan die nächste Sprosse, und so arbeiteten sich die drei wie eine lebende Leiter nach oben. »He?« machte Pikel, als er hinter einer Kurve und ein großes Stück hinter dem Ende des Schachts gerade eine neue Stufe bildete. »Was ist denn los?« fragte Ivan, der auf seine Höhe kletterte. Dann sah auch Ivan die Linien in der Schachtwand gerade, parallele Linien, wie von einer Tür.
Der Zwerg legte sich über den Rücken seines Bruders und tastete mit den Händen die Wand ab. Er fand eine leichte Vertiefung – nur ein Zwerg konnte eine so minimale Abweichung an der unauffälligen Wand entdecken – und drückte fest. Die Geheimtür glitt beiseite und enthüllte einen zweiten Tunnel, der genau wie dieser nach oben führte, jedoch mit weniger Gefalle. Ivan sah zu Shayleigh und Pikel zurück. »Wir wissen, was über uns ist«, meinte Shayleigh. »Aber kommen wir durch die Falltür?« fragte Ivan zurück. »Schsch«, bat Pikel die beiden, während er mit dem Kinn in den neuen Tunnel zeigte. Als die anderen ruhig wurden, hörten sie von innen in weiter Ferne Geräusche, als ob dort ein Kampf stattfand. »Könnten unsere Freunde sein, könnten uns brauchen!« brüllte Ivan, sprang in den neuen Tunnel und zog Shayleigh und dann Pikel hinter sich her. Indem er wieder nach der Vertiefung im Stein tastete, gelang es Ivan, die Geheimtür hinter ihnen zu schließen, und mit dem geringeren Gefalle kamen die drei schneller voran. Kurze Zeit später kamen sie an eine Gabelung, wo der Tunnel auf einer Seite weiter nach oben führte, auf der anderen Seite aber ein engerer Schacht abging. Ihr Instinkt forderte sie auf, weiter hochzusteigen – sie hatten ihre Freunde weiter oben zurückgelassen –, aber die Kampfgeräusche kamen aus dem tieferen Tunnel. »Das könnte Cadderly sein«, überlegte Shayleigh. »Du Riesenköter!« kam eine bekannte Stimme von unten. »Verräter!« brüllte eine andere, noch tiefere Stimme. Pikel war schon kopfüber in den Schacht getaucht, bevor Ivan auch nur »Vander!« rufen konnte. Welche Tür, fragte sich Cadderly, als er sich unter den vielen möglichen Ausgängen aus dem großen kreisrunden
Raum umsah, nachdem er die beiden toten Oger hinter sich gelassen hatte. Er bemerkte auch die vielen Symbole, die in die Wand geschlagen waren, Dreizacke mit kleinen Gläschen über jeder Spitze, abwechselnd mit dreieckigen Feldern, die drei Tränen enthielten, das geläufigere Symbol der Göttin Talona. »Wir müssen in der Nähe der Kapelle sein«, flüsterte Cadderly Danica zu. Wie zur Bestätigung öffnete sich die Tür gegenüber, und ein gräßlich vernarbter Mann in den zerlumpten grau-grünen Roben eines Talonapriesters sprang in den runden Raum. Danica ging in die Hocke; Cadderly legte die Armbrust auf das Gesicht des Mannes an. Der Priester aber lächelte nur, und einen Augenblick später gingen schlagartig alle Türen des kreisrunden Raums auf. Cadderly und Danica sahen sich einer Horde Orks und Goblins und böse grinsender Männer gegenüber, darunter zahlreiche weitere in den Roben der Talonapriester. Die Freunde spähten zu dem Gang mit den Fallen zurück, dem einzig möglichen Fluchtweg, aber die Wände lagen inzwischen fest aneinander und machten keine Anstalten, sich zu öffnen. Aus irgendeinem Grund griffen ihre Feinde nicht sofort an. Statt dessen standen alle da und sahen von Cadderly und Danica zu dem Priester, der zuerst eingetreten und anscheinend ihr Anführer war. »Dachtet ihr, es wäre so einfach?« kreischte der vernarbte Mann hysterisch. »Dachtet ihr, ihr könntet einfach ohne Gegenwehr durch unsere Festung spazieren?« Cadderly legte eine Hand auf Danicas Arm, um sie von einem Angriff auf den verruchten Mann abzuhalten. Sie würde ihn vielleicht erreichen, ihn vielleicht auch töten, aber sie hatten keine Chance, diese Masse an Gegnern zu besiegen. Außer … Cadderly hörte das Lied in seinen Gedanken spielen. Er hatte das seltsame Gefühl, daß ein machtvoller Gefolgsmann
seines Gottes nach ihm rief, ihm Anweisungen gab, ihn zwang, auf die Harmonie der Musik zu lauschen. Der böse Priester lachte und klatschte in die Hände, worauf der Boden vor ihm sich plötzlich wellte, hob und eine riesige, menschenähnliche Gestalt annahm. »Elementare«, hauchte Danica, wodurch sie Cadderlys Aufmerksamkeit erweckte. Tatsächlich waren zwei Wesen der Elementarebene der Erde dem Ruf des bösen Priesters gefolgt, und Cadderly wurde klar, daß dieser Mann wirklich mächtig sein mußte, wenn er über so gewaltige Verbündete verfügen konnte. Doch diesen düsteren Gedanken schüttelte er sofort ab, fiel in das Lied zurück und hörte, wie die Musik zu einer rühmenden Hymne anschwoll. , »Er zaubert!« rief einer der fremden Priester aus. Diese Warnung ließ die gesamte feindliche Streitmacht in hektische Aktivitäten ausbrechen. Die Soldaten griffen an. Ein Schütze nahm seinen Bogen und feuerte, während die Kleriker eigene Sprüche anstimmten, einige webten Schutzzauber, andere riefen nach magischen Sprüchen, mit denen sie die Eindringlinge angreifen wollten. Danica rief Cadderly eine Warnung zu und trat instinktiv aus, um gerade noch einen Pfeil abzuwehren, der auf seine Brust zuraste. Sie wollte ihn beschützen, doch sie wußte, daß sie beide auf jeden Fall verloren waren, denn sie hatten keine Zeit … Ein einziges Wort, falls es ein Wort war, entwich den Lippen des jungen Priesters. Ein Trompetenton, wie es schien so klar und vollkommen, daß Danica vor Freude erschauerte, denn er lud sie in seinen perfekten Klang ein und hielt sie wie in Trance in seiner anhaltenden Schönheit gefangen. Auf Cadderlys Feinde, die Männer und Ungeheuer, die die heilige Harmonie von Deneirs Lied nicht akzeptieren konnten,
hatte der Ton eine ganz andere Wirkung. Orks und einige der Männer langten an ihre blutigen Ohren und fielen tot oder bewußtlos zu Boden, denn das Wort hatte ihnen das Trommelfell platzen lassen. Andere Männer taumelten, weil der unverhohlene Glanz von Deneirs Wahrheit ihnen die Kraft raubte. Auch die Elementare sackten in den Stein des Bodens zurück, um auf ihre eigene Existenzebene zu fliehen. Viele Augenblicke lang stand Danica zitternd mit geschlossenen Augen da. Erst als die letzten, nachschwingenden Echos des perfekten Tons verklungen waren, erkannte sie, wie dumm dieses Zögern gewesen war, und erwartete, daß die ganze Horde über sie herfiele, Doch als sie die Augen aufschlug, standen nur noch drei Feinde: der Priester, der den Raum als erster betreten hatte, und ein weiterer an einer Seitenwand – beide hielten sich die Ohren zu –, dazu ein dritter Mann, kein Priester, sondern ein Soldat, der gar nicht weit entfernt stand und sich völlig verwirrt umsah. Danica sprang vor und trat dem Mann das Schwert aus der Hand. Er sah sie an. Noch immer war er zu verblüfft, um zu reagieren, und die Mönchin packte ihn an der Tunika und warf sich nach hinten, wobei sie die Füße gegen seinen Bauch stemmte, als er über sie fiel, und ihn fest neben Cadderly an die Wand schleuderte, wo er vor Schmerz zusammenbrach. Augenblicklich war Danica über ihm, die Finger schon zum tödlichen Schlag gespannt. »Töte ihn nicht«, sagte Cadderly zu ihr, denn der junge Priester erkannte, daß dieser Mann, wenn er den Schmerzen seines heiligsten Spruchs entgangen war und den absolut harmonischen Ton ertragen konnte, wahrscheinlich nicht von Natur aus böse war. Cadderly warf ihm nur einen kurzen Blick zu, aber er bemerkte klärende Schatten auf den Schultern des Mannes, seine personifizierte Aura. Das waren nicht die geduckten, bösen Wesen, die der junge Priester oft bemerkt hatte, wenn er verderbte Menschen auf diese Art musterte.
Danica, die Cadderlys Urteil vertraute, nahm den Mann nur sicherheitshalber in den Schwitzkasten, während Cadderly seine Aufmerksamkeit wieder den noch stehenden Priestern zuwandte. »Sei verflucht!« knurrte der schaurig vernarbte Anführer mit lauter Stimme – und die unpassende Lautstärke dieser Bemerkung verriet Cadderly, daß seine heilige Silbe den Mann wahrscheinlich taub gemacht hatte. »Wo ist Aballister?« rief Cadderly aus. Der Mann sah ihn neugierig an, dann klopfte er auf seine Ohren, was Cadderlys Verdacht bestätigte. Beide Talona-Priester begannen, wild drauflos zusingen, setzten zu neuen Sprüchen an, worauf Danica den Soldaten auf den Boden stieß und vorwärts rannte. »Zurück!« warnte Cadderly. Die Adeptin war im Zwiespalt Sie wußte, wie wichtig es war, die Zaubernden zu erreichen, bevor sie ihren Spruch vollendet hatten, wußte aber auch, daß sie Cadderlys Warnung vertrauen mußte. Mit absolutem Selbstvertrauen fiel Cadderly in den Fluß der Musik zurück und begann zu singen. Gegen die Priester einer bösen Gottheit fühlte er sich unverwundbar. Er spürte Wellen betäubender Energie, als der Priester seitlich von ihm einen lähmenden Spruch auf ihn warf, doch im schützenden Fluß von Deneirs Lied hatte ein solcher Spruch keine Macht über ihn. Der Oberpriester hob den Arm und warf einen Edelstein, der so mächtige Energien enthielt, daß er glühte. Danica sprang vor, um ihn abzufangen, wie sie einen Pfeil abgefangen hätte, während Cadderly auf den Stein zeigte und etwas rief. Das Leuchten des Edelsteins verschwand, und in einer plötzlichen Eingebung (einer lautlosen, telepathischen Botschaft von Cadderly) fing Danica den Stein auf. Cadderly ergriff Danica hinten an ihrer Tunika und zog sie hinter sich, während er weitersang. Gleichungen und Zahlen blitzten bei jeder Note durch seine Gedanken. Er sah die reine
Substanz seiner Umgebung, die Verflechtungen und die Dichte der verschiedenen Materialien. Energie drang aus den Fackeln in ihren Wandhalterungen, und die Statik des Raums, die bindende Kraft, die alles an seinem Platz hielt, war deutlich zu sehen. Die Talona-Priester begannen hartnäckig wieder zu singen, aber jetzt war Cadderly an der Reihe. Er konzentrierte sich auf diese bindende Kraft, wiederholte die Gleichungen, änderte aber ihre Faktoren und zwang so Wahrheit zu Unwahrheit. Nein, nicht Unwahrheit, erkannte Cadderly. Kein Chaos wie in dem Zauber, den er dem alten Fyren aufgezwungen hatte. In den entlarvenden Gleichungen fand Cadderly eine abweichende Wahrheit, eine Verzerrung, keine Perversion der physikalischen Gesetze. Durch reine Willenskraft und Einsichten, die das Lied des Deneir ihm ermöglicht hatte, beugte der junge Priester die bindende Kraft, lenkte sie auf den Anführer der Feinde und machte ihn zum Zentrum der Schwerkraft. Für jeden ungesicherten Gegenstand in der Nähe des Mannes war der Boden kein Ruheplatz mehr. Tote und gestürzte Soldaten »fielen« auf ihren Anführer; sie rutschten nicht über den Boden, sondern kippten und stürzten, als ob der Boden jetzt senkrecht abfiele. Ein Tisch aus dem Raum hinter dem überraschten Priester krachte ihm in den Rücken, und alle Gegenstände auf dem Tisch klebten an ihm, als wäre er ein lebendiger Magnet geworden. Zwei Fackeln im Bereich dieser verdrehten Wahrheit lehnten sich auf den bösen Priester zu und rutschten langsam an die Seiten ihrer Halterungen, um in einem gefährlichen Winkel hängenzubleiben, während ihre Flammen zur Seite wiesen, weg von dem verfluchten Mann. Der Priester, der an der Seite des Raums gestanden hatte, hing waagerecht ausgestreckt; seine Füße zeigten auf seinen
Herrn, mit den Händen hielt er sich verzweifelt am Türpfosten fest. Bei diesem lächerlichen Anblick mußte Danica kichern, denn eine Kugel aus Körpern und Gegenständen hatte sich um den Oberpriester zusammengezogen und traf ihn aus jeder Richtung. Der Priester an der Seite fiel als letzter und prallte unsanft auf einen toten Ork. Dann kam alles wieder zur Ruhe – nachdem im Umkreis von fünfzig Fuß um den Talona-Priester alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf ihn eingestürzt war und ihn begraben hatte. Der andere Priester, der auf der Außenseite des verwirrten Haufens lag, blickte Cadderly mit blankem Haß an und begann stur wieder mit seinem Lied. »Tu's nicht!« warnte ihn Cadderly. Der Priester brach ab, aber nicht wegen Cadderlys Warnung. Aus demselben Raum, in dem der Tisch gestanden hatte, kippte jetzt ein unglaublich dicker Riese mit solcher Gewalt auf den Haufen, daß einiges auf der anderen Seite, wo Cadderly und Danica standen, seitlich herauskippte, dann zurückfiel und wieder still auf dem Stapel zu liegen kam. Jetzt verstummte der Oberpriester zum ersten Mal, und Cadderly zog den Kopf ein, weil er erkannte, daß der Riese den Mann wahrscheinlich zermalmt hatte. Der Riese allerdings war ziemlich lebendig. Brüllend schlug er um sich, warf Leichen zur Seite und schlug auf sie ein, wenn sie unausweichlich auf den Haufen zurückfielen. »Wie lange wird es anhalten?« fragte Danica. Ihr Blick, der hin und her schoß, verriet ihre Angst, denn es war kein Weg zu sehen, auf dem sie und Cadderly den Raum verlassen konnten. Viele der Krieger, denen das heilige Wort das Bewußtsein geraubt hatte, erwachten allmählich, und der wilde Riese war nicht schwer verwundet. In Cadderly wuchs die Beklommenheit, dunkle Ängste vor dem, was er tun mußte, um diesen Kampf abzuschließen. Er ging seine Sprüche durch, lauschte sorgfältig auf das Lied,
suchte nach etwas, das ihm und Danica gestatten würde, ohne weiteres Blutvergießen durchzukommen. Aber was war mit seinen Freunden? Wenn sie hinter ihm herauskamen und der Spruch nicht mehr wirkte, würden sie einer eindrucksvollen Armee gegenüberstehen. Wieder sang der wütende Priester oben auf dem Haufen; ein Soldat an seiner Seite schleuderte einen Dolch in Cadderlys Richtung, doch es war, als ob er versuchte, ihn eine Klippe hinaufzuwerfen. Das Messer fiel in das Gewirr zurück und blieb im Rücken eines toten Goblins stecken. Als nächstes kletterte der Riese los, auf dessen breitem Gesicht offener Haß geschrieben stand. Cadderly blickte zu Danica, die noch den Edelstein, ein Stück Bernstein, in der Hand hielt. Von allen Prüfungen, die der junge Priester je durchmachen würde, konnte keine so qualvoll sein wie diese Prüfung seines Gewissens. Doch er durfte jetzt nicht versagen, durfte nicht erlauben, daß seine Schwäche seine Aufgabe bedrohte – alle gutgesinnten Bewohner der Region bedrohte. Er strich mit der Hand über den Edelstein, sagte ein paar Worte, und der Stein begann wieder vor magischer Energie zu glühen. »Wirf ihn«, befahl er. »Auf sie?« Cadderly dachte nach und zuckte die Schultern, als ob das keine Rolle spielte. »Zur Seite«, sagte er und zeigte auf den Türpfosten, an dem sich der Priester festgehalten hatte. Danica schien noch immer nicht zu verstehen, doch sie warf den verzauberten Stein. Ein paar Fuß lang folgte er der normalen, erwarteten Richtung, dann drang er in das Gebiet ein, das Cadderlys Zauber verzerrt hatte, und fiel in einem unbeirrbaren Bogen auf die angehäuften Feinde. Mit einem grellen Aufblitzen stand der ganze Haufen in Flammen. Die Männer schrien auf, dann wurden sie still. Der Riese schlug wild um sich, konnte jedoch nirgendwohin, fand
keinen Ort zum Wegrollen, der nicht ebenfalls brannte. Es dauerte scheinbar quälend lange, doch in Wahrheit waren es nur Minuten, bis das einzige Geräusch das Knistern hungriger Flammen war. Pikel durchbrach eine weitere Falltürklappe, fiel fünfzehn Fuß tief und landete mit einem nachhallenden »Uff!« auf dem Boden eines Gangs. Benommen und aus dem Gleichgewicht gebracht, wandte der Zwerg seinen Blick zur Seite und sah Vander – jedenfalls Vanders Pelzstiefel – über die Leichen mehrerer Oger stolpern. Noch größere Stiefel hielten mit dem tanzenden Firbolg Schritt, ein, Hügelriese wahrscheinlich, dazu die schmutzigen, nackten Füße eines weiteren Ogers. Pikel wußte, daß Vander ihn brauchte, deshalb stieß er ein entschlossenen Grunzen aus und begann, sich aufzurappeln. Der herunterplumpsende Ivan landete genau auf seinem Rücken. Der gelbbärtige Zwerg prallte von seinem gepolsterten Landeplatz ab und stürmte vor, weil auch er Vanders verzweifelte Lage sofort erfaßte. Der Hügelriese hielt Vander mit seinen riesigen Armen umschlungen, und der Oger, der eine riesige Stachelkeule trug, umkreiste beide und suchte nach einer Möglichkeit zum Zuschlagen. »Verräter!« brüllte der Hügelriese erneut. Vander stieß mit der Stirn nach vorn, wodurch er dem Riesen die Nase brach. Aufbrüllend warf sich dieser zur Seite und schmetterte Vander mit so viel Wucht gegen die Wand, daß es den ganzen Korridor erschütterte. Vander fiel einen Schritt zurück und versuchte, sein Schwert zu heben, doch der Oger stürmte sofort vor und traf ihn mit einem weit ausholenden Schlag, der ihm einen Stachel seitlich in den Kopf trieb. Auf den Knien bemerkte der sterbende Firbolg noch, wie Ivan heranstürmte, und stieß mit heroischer Anstrengung sein
Schwert wie einen Speer nach vorn. Die Klinge traf die Schulter des Hügelriesen und stieß das Ungeheuer zurück, das an der gegenüberliegenden Wand zusammensackte und sich mit seinen riesigen Händen abzustützen versuchte, damit es die Waffe herausziehen konnte. Die große Keule des Ogers traf erneut, und Vander sah nichts mehr. Tränen traten Ivan in die Augen, während er den Gang hinunter rannte. Er sprang auf den verwundeten Riesen und schlug ihm mit seiner Axt den dicken Schädel ein. Beim Anblick des Zwergs brüllte der Oger auf und rannte mit wild geschwungener Keule auf ihn zu. Ivan sprang beiseite, und die Stachelkeule des Ogers riß blutige Schmarren ins Gesicht des Riesen und ließ den Giganten zu Boden gehen. »Oh«, stöhnte der Oger, dann zuckte er weg, weil Ivans Axt ihn am Bein erwischt hatte. Wie ein Holzhacker ging der Zwerg ans Werk, hackte wild drauflos, und vier Schläge später kippte der Oger um. Hinter Ivan versuchte der Riese stöhnend, sich aufzurichten. Ein »Ooooh!«-Schrei, dem der kräftige Schlag einer Baumstammkeule folgte, zauberte ein grimmiges Lächeln auf das Gesicht des gelbbärtigen Zwergs. Pikel traf den benommenen Riesen noch einmal und setzte zu einem dritten Schlag an. Doch der störrische Gigant war noch keineswegs erledigt, sondern fing die Keule ab und stieß sie weg. Pikel ließ mit einer Hand los, streckte den Arm aus und zeigte auf den Riesen, der anscheinend nicht verstand – erst als etwas aus Pikels lose sitzendem Ärmel schnappte, etwas mit gifttriefenden Reißzähnen, die sich in das Gesicht des überraschten Riesen schlugen. Der Riese ließ die Keule los und fiel zurück. Entsetzt griff er an die schmerzhafte Wunde.
Er hörte Pikels »Oooooh!«, als der Zwerg mit der Keule in der Hand Anlauf nahm, doch den tödlichen Schlag sah er nicht mehr kommen. Der waffenlose Oger am anderen Ende des Gangs hob abwehrend die Arme und wollte sich ergeben. Aber diese Arme, so dick sie auch waren, waren Ivans blinder Wut nicht gewachsen. Vander lag tot hinter ihm, und der Zwerg war kaum in der Stimmung, sich anzuhören was das entsetzte Ungeheuer vielleicht zu sagen hatte. Die Zwergenaxt hackte immer wieder zu, durchschlug Fleisch und Knochen, und als Shayleigh schließlich bei Ivan war und ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte, waren die Schreie des Ogers für immer verstummt.
Ein Schrei im Wind Der Mann am Fuß der Wand stöhnte. Augenblicklich war Danica über ihm, zog ihm grob die Arme auf den Rücken und stieß ihn mit dem Gesicht nach unten auf den harten Steinboden. »Wie lange wird dein Zauber uns den Weg versperren?« fauchte sie den Priester an. »Nicht lange«, gab der junge Priester zurück. Danicas harscher Ton überraschte ihn. »Und was machen wir mit dem hier?« Danica zog bei dieser Frage unsanft an den Armen des gefangenen Soldaten, was dem geschundenen Mann ein neues Stöhnen entlockte. »Sei etwas freundlicher zu ihm«, sagte Cadderly. »So wie du zu denen?« fragte Danica sarkastisch und machte einen Wink zu dem brennenden Haufen. Jetzt verstand Cadderly Danicas Zorn. Es war ein harter Kampf gewesen, an den der Gestank nach brennendem Fleisch noch erinnerte.
»Warum hast du mir nicht gesagt, was dieser Stein anrichten würde?« Danicas Frage klang wie ein Flehen. Cadderly fiel es nicht leicht, diese scheinbare Umkehrung ihrer Rollen zu verarbeiten. Gewöhnlich war er derjenige, der zu weichherzig war, der sie in Schwierigkeiten brachte, weil er nicht entschieden genug gegen ihre erklärten Feinde kämpfte. Im Wald von Shilmista hatte er Dorigen verschont, hatte sie am Leben gelassen, als sie hilflos vor ihm auf dem Boden lag, obwohl Danica ihn angewiesen hatte, sie zu töten. Und jetzt hatte Cadderly gnadenlos gehandelt, hatte entgegen seinen Instinkten getan, was die Lage von ihm verlangte. Cadderly verspürte wenig Bedauern – er wußte, daß alle Menschen in dem feurigen Knäuel ein böses Herz gehabt hatten –, doch er war wirklich überrascht über Danicas Kälte. Sie riß noch einmal an den Armen des Gefangenen, als ob sie den Schmerz des Mannes benutzen wollte, um Cadderly zu quälen. »Er ist kein schlechter Mensch«, sagte Cadderly ruhig. Danica zögerte. Ihre Mandelaugen forschten in Cadderlys grauen Augen, wie aufrichtig er war. Sie war immer in der Lage gewesen, die Gedanken des jungen Priesters zu lesen, und glaubte auch jetzt, daß er die Wahrheit sagte. »Aber die da waren es?« fragte sie trotzdem und zeigte wieder auf den Haufen. »Ja«, antwortete Cadderly. »Als ich das heilige Wort aussprach, was hast du da gefühlt?« Die schlichte Erinnerung an diesen wundervollen Moment nahm Danicas schönem Gesicht viel von seiner Spannung. Was hatte sie gefühlt? Sie hatte Liebe gespürt, war im Einklang mit der Welt gewesen, als ob nichts Häßliches sie erreichen könnte. »Du hast gesehen, was es mit ihnen gemacht hat«, fuhr Cadderly fort und fand in Danicas gelöstem Gesichtsausdruck seine Antwort.
Danica, die seiner Logik folgte, ließ den Mann langsam los. »Aber dem hier ist nichts Schlimmes passiert«, sagte sie. »Er ist kein schlechter Mensch«, wiederholte Cadderly. Danica nickte. Sie sah jedoch zu Cadderly zurück, und ihre Miene wurde wieder kalt, mehr ein Ausdruck der Enttäuschung als des Ärgers. Cadderly verstand, hatte aber keine Antwort für seine geliebte Freundin. Danica war enttäuscht, weil Cadderly getan hatte, was erforderlich war. Er hatte sich ganz dem Kampf ergeben. Sie war auf ihn wütend gewesen, als er Dorigen verschont hatte, doch das war ein Zorn, der in ihrer Angst vor der Zauberin gründete. In Wahrheit hatte Danica Cadderly um so mehr geliebt, weil er versucht hatte, um jeden Preis die Schrecken der Schlacht zu vermeiden. Cadderly sah zu dem Leichenhaufen hinüber. Er hatte nachgegeben und sich von ganzem Herzen dem Kampf gestellt. Es mußte so sein, das wußte er. Er war genauso entsetzt wie Danica über das, was er gerade getan hatte, doch er hätte die Handlung nicht zurückgenommen, selbst wenn das möglich gewesen wäre. Die Freunde waren in einer verzweifelten Lage – die ganze Region war in einer verzweifelten Lage –, und die Gefahr ging von den Bewohnern dieser Festung aus. Burg Trinitatis, nicht Cadderly, war für die Leben verantwortlich, die heute enden würden. Aber obwohl dieses Argument auf logischer Ebene stichhaltig war, konnte Cadderly den Schmerz in seiner Brust nicht leugnen, wenn er auf den Haufen toter Männer sah – genausowenig wie den Stich in sein Herz angesichts von Danicas Enttäuschung. »Wir müssen weiter!« sagte Shayleigh zu Ivan. Sie zog den Zwerg am Arm und schaute zum Gang hinter ihnen, wo die Tritte vieler Stiefel zu hören waren.
Ivan seufzte, als er Vander betrachtete. Der Kopf des Firbolgs war zermalmt und verdreht. Auf einen ähnlichen Seufzer hinter ihm drehte sich Ivan zu Pikel um. Neugierig sah er seinen Bruder an, denn etwas entlang von Pikels Tunika und Unterhemd schien fehl am Platze. »Wie bist du der Schlange entkommen?« fragte Ivan, dem plötzlich ihr vorheriges Abenteuer einfiel. Pikel pfiff kurz, worauf der Kopf der Schlange aus seinem Halskragen kroch und genau neben seiner grünbärtigen Wange in der Luft hing. Shayleigh und Ivan wichen entsetzt zurück. Ivan hob abwehrend die Axt zwischen sich und seinen erstaunlichen Bruder. »Hei jo!« bekräftigte Pikel glücklich und streichelte die Schlange, die diese Behandlung zu genießen schien. Dann nickte Pikel, um anzudeuten, daß sie sich in Marsch setzen sollten. »Hei jo?« fragte Shayleigh, als Pikel davon hüpfte. »Er will doch immer ein Druide sein«, erklärte Ivan, der seinem Bruder bereits nachsetzte. »Er weiß nicht, daß Zwerge keine Druiden sein können.« Shayleigh dachte einen Moment über seine Worte nach. »Die Schlange weiß es aber auch nicht«, befand sie, und mit einem letzten, hilflosen Blick auf den toten Vander rannte sie hinter ihren Gefährten her. »Vielen Dank«, flüsterte der Soldat Cadderly zu, während er unablässig die verkohle Masse seiner toten Kameraden anstarrte. Der Haufen fiel jetzt auseinander, da Cadderlys seltsamer Zauber sich löste. »Wo ist Aballister?« wollte der junge Priester wissen. Die Miene des Mannes versteinerte. Cadderly sprang an Danica vorbei, packte den Mann am Kragen und schlug ihn fest gegen die Wand. »Du bist immer
noch unser Gefangener!« knurrte er den überraschten Mann an. »Du kannst ein Gewinn für uns sein, dann werden wir es dir entsprechend vergelten. Oder du kannst uns schaden.« Bei diesen Worten warf er einen Blick auf den Haufen, und die unausgesprochene Drohung ließ dem Gefangenen das Blut aus dem Gesicht weichen. »Führ uns zu dem Zauberer«, verlangte Cadderly. »Auf dem direktesten Weg.« Der Mann schaute Danica hilfesuchend an, doch die Adeptin sah gleichgültig beiseite. Diese Geste verriet nichts über den Aufruhr in Danicas Herzen. Cadderlys Vorgehen und die Drohung gegen den Gefangenen, einen Menschen, den er gerade für nicht böse erklärt hatte, überraschten sie. Sie hatte Cadderly noch nie so berechnend erlebt, und obwohl sie sein entschiedenes Handeln verstehen konnte, vermochte sie ihre Ängste nicht zu verdrängen. Der Gefangene führte sie durch eine Seitentür ungefähr auf der Hälfte des runden Raums. Sie waren erst ein Dutzend Schritt weit gekommen, als Cadderly wieder nach dem Mann griff, ihn an die Wand stieß und unsanft jedes Stück seiner klappernden Rüstung abstreifte, selbst die hartbesohlten Stiefel. »Still«, flüsterte er dem Soldaten zu. »Ich brauche nur noch einen Kampf zu bestehen, nämlich den gegen Aballister.« Der Mann stieß Cadderly knurrend weg, fand sich aber auf der Stelle mit Danicas Silberdolch an der Kehle wieder. »Der Zauberer ist mächtig«, warnte der Gefangene, der klugerweise seine Stimme gedämpft hielt. Cadderly nickte. »Und du fürchtest die Konsequenzen, falls Aballister gegen uns gewinnt«, stellte er fest. Wieder starrte der Mann ihn nur an, und er machte keine Anstalten zu antworten. Cadderly schob Danica weg und brachte sein Gesicht wieder dicht an das des Soldaten. »Dann wähle«, sagte der junge Priester mit leiser, drohender Stimme.
»Gehst du das Risiko ein, daß Aballister nicht als Sieger hervorgeht?« Der Mann blickte nervös nach allen Seiten, sagte aber nichts. »Aballister ist nicht hier«, erinnerte ihn Cadderly. »Keiner deiner Verbündeten ist hier. Nur du und ich, und du weißt, wozu ich fähig bin.« Der Mann lief augenblicklich wieder los. Seine bloßen Füße machten kaum ein Geräusch, als er mit der gebotenen Vorsicht den Gang entlang tappte. Sie kamen an zahlreichen Seitengängen vorbei, wo sie häufig andere Soldaten herumrennen hörten, die wahrscheinlich nach ihnen suchten. Jedesmal, wenn eine Gruppe in der Nähe war, sah Danica nervös zu Cadderly, als ob sie sagen wollte, daß dieser Mann, der sie mit einem einfachen Ruf verraten konnte, in seiner Verantwortung stand. Aber der Mann hielt sich an die Bedingungen seiner Gefangenschaft und bewegte sich so verstohlen wie möglich, während sie sich an einem Posten nach dem anderen vorbeischlichen. Als sie aber einen langen Gang betraten, kam gleichzeitig eine Gruppe Goblins von der anderen Seite her, und sie stellten fest, daß es keinen Fluchtweg gab. Die sechs Goblins näherten sich vorsichtig mit gezogenen Waffen. Der Gefangene sprach sie in ihrer eigenen, krächzenden Sprache an, und Cadderly verstand genug, um zu wissen, daß der Mann eine Lüge erfunden hatte: Er wäre von den Priestern mit wichtigen Informationen zu Aballister geschickt worden. Dennoch warfen die Goblins drohende Blicke auf Cadderly und Danica und tauschten einige – offensichtlich zweifelnde – Bemerkungen aus. Selbst Cadderlys Gefangener sah sich mit ehrlich besorgter Miene nach hinten um.
Danica wartete nicht, bis die Ereignisse ihren absehbaren Lauf nahmen. Sie sprang plötzlich los, boxte den vordersten Goblin in den Hals, fuhr herum und riß ihren Fuß hoch, der den nächsten vor die Brust traf, und stieß dem dritten einen Dolch ins Gesicht. Dann duckte sie sich tief unter einem Schwerthieb hindurch, sprang aus der Hocke wieder hoch und verpaßte dem Schwertkämpfer einen Doppeltritt gegen Brust und Gesicht. Zwei Goblins rannten an ihr vorbei. Sie dachten mehr an Flucht als an ein Handgemenge mit Cadderly und dem Soldaten, aber Cadderly erwischte den einen mit seinem Wanderstab und zerschmetterte ihm das Knie, während der Soldat den anderen auf sich nahm. Danica wirbelte herum und trat wieder zu, worauf ein Goblin gegen die Wand flog. Er stieß hart gegen den Stein und sackte nach hinten, worauf Danica, die ihre Umdrehung perfekt berechnet hatte, ihm prompt noch einen Tritt versetzte. Wieder kippte der Goblin; wieder wurde er von einem perfekt abgestimmten Tritt zurückgeschleudert. Beim vierten Mal durfte der Goblin zu Boden fallen, denn Danica setzte über ihren Gefangenen hinweg und sprang dem Goblin in den Rücken, der dem Zugriff des Soldaten entkommen war. Mit einer Hand faßte sie den Goblin am Kinn, während sie ihn mit der anderen am Hinterkopf ergriff. Der Goblin quietschte und versuchte, sich umzudrehen, doch Danica kam direkt neben ihn, vollzog eine teuflische Drehung mit ihren Armen und brach dem jämmerlichen Wesen den Hals. »Runter!« rief Danica, als sie hinter Cadderly auftauchte. Der junge Priester warf sich zu Boden, und der Goblin, der ihm gegenüberstand, war völlig überrumpelt, als Danica vorbeistürzte und ihm einen schweren Haken ins Gesicht verpaßte. Er flog mehrere Fuß zurück, schlug stöhnend auf den Steinboden, und Danica lief vorbei.
Der Goblin, den sie in den Hals gestoßen hatte, kniete bereits wieder und versuchte aufzustehen. Danica sprang hoch in die Luft und kam so herunter, daß sie dem knochigen Geschöpf ihre Knie in den Rücken trieb und es heftig zu Boden warf. Sie zog den zweiten Dolch aus dem Stiefel, packte mit der freien Hand ein Büschel Haare, riß dem Goblin den Kopf zurück und schnitt ihm sauber die Kehle durch. Dasselbe machte sie mit dem Ungeheuer, dem ihr anderer Dolch im Gesicht steckte. Dann drehte sie sich um und sah, daß Cadderly und der Gefangene sie ungläubig anstarrten. »Mit Goblins verhandele ich nicht«, sagte Danica finster, während sie ihre Dolche an der schmutzigen Tunika einer der Leichen abwischte. »Man kann ihr nicht entkommen«, meinte Cadderly zu dem Gefangenen, der dem jungen Priester seinerseits einen ungläubigen Blick zuwarf. »Ich dachte nur, ich sollte das erwähnen«, sagte Cadderly. Sie brachen sofort wieder auf, denn Cadderly und Danica wollten unbedingt Abstand zwischen sich und den Schauplatz des Gemetzels bringen. Der Gefangene sagte gar nichts, sondern führte sie in schnellem Tempo weiter. Bald wurden die Tunnel ruhiger und waren weniger von rennenden Soldaten erfüllt. Cadderly merkte, daß die Wände in diesem Teil nicht natürlich waren, obwohl sie wie unbehauener Stein aussahen. Er konnte die Restenergie der Magie spüren, die zur Erschaffung dieses Ortes nötig gewesen war, und dieser Eindruck löste in ihm gemischte Gefühle aus. Er war froh, daß der gefangene Soldat sie anscheinend nicht in die Irre führte und ihre Suche vielleicht bald ein Ende haben würde. Aber er machte sich auch Sorgen, denn wenn Aballister diese Tunnel geschaffen hatte, wenn er auf magische Weise den Stein aus diesen Gängen geholt hatte, dann war der Sturm über dem Berg Nachtglut nur eine kleine Kostprobe seiner Macht gewesen.
Da drang etwas anderes in Cadderlys Gedanken ein, ein ferner, flüchtiger Laut, als ob ihn jemand herbeiriefe. Er blieb stehen und schloß die Augen. Cadderly. Er hörte es deutlich, wenn auch von fern. Er tastete nach dem Amulett in seiner Tasche, das er vor einiger Zeit an sich genommen hatte und über das er mit dem Teufelchen Druzil Verbindung aufnehmen konnte. Jetzt war es kühl, ein Zeichen, das Druzil nicht in der Nähe war. Cadderly. Es war nicht Druzil, und Cadderly glaubte auch nicht, daß es Dorigen war. Wer dann, fragte sich der junge Priester. Wer war so auf ihn eingestimmt, daß er ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung telepathischen Kontakt mit ihm aufnehmen konnte? Er schlug die Augen auf und beschloß, sich nicht ablenken zu lassen. »Weiter«, wies er seine Begleiter an. Aber der Ruf hielt an, ungreifbar und fern und, was Cadderly am allermeisten zu schaffen machte, irgendwie überaus vertraut.
Wenn Zwerge leise sind Wir müssen leise sein«, wies Shayleigh ihre Zwergenfreunde betont auf eine für sie ganz selbstverständliche Vorsichtsmaßnahme hin. Dennoch mußte die Elfin bald einsehen, daß ihre Vorstellung von »leise sein« sich anscheinend ziemlich von Ivans und Pikels unterschied. Das Poltern von Ivans Stiefeln hallte laut von den Steinwänden wider, und Pikels Sandalen schlappten bei jedem raschen Schritt zweimal – einmal auf dem Boden und einmal an seinem Fuß.
Sie eilten durch einige lange, dunkle Korridore, in denen das einzige Licht von Fackeln stammte, die in weiten Abständen in eisernen Halterungen hingen. Nach einem Knick kamen die drei Gefährten durch einen Torbogen und fanden an den Wänden zahlreiche Becken vor, die mit einer klaren, wäßrigen Flüssigkeit gefüllt waren. Ivan, der einen frischen Schluck brauchte, blieb stehen und wollte sich daraus etwas schöpfen, aber Pikel schlug schnell seine Hand weg und wackelte mit einem Finger vor dem Gesicht seines überraschten Bruders herum. »Ui-ui«, beschwor ihn der grünbärtige Zwerg, sprang hoch und zog eine Fackel aus ihrer Halterung. Als er das Feuer an die Flüssigkeit in einem der Becken hielt, zischte und spritzte es, und eine ungesund graue Wolke stieg auf und bewirkte, daß Ivan sich die Nase zuhielt. Pikel streckte die Zunge heraus und machte »Bah«. »Wie konnte er das wissen?« fragte Shayleigh Ivan, als sie den stinkenden Bereich hinter sich gelassen hatten. Ivan zuckte die Schultern. »Muß was mit diesem Druidenkram zu tun haben.« »Hei jo!« bestätigte Pikel. »Hei jo«, murmelte Ivan. »Oder du wußtest eben, daß dieser Ort Talona geweiht ist und Talona die Göttin des Giftes ist.« Der gewiefte Pikel ließ sich auf nichts ein. Er folgte einfach den anderen beiden und kicherte immer wieder vor sich hin. Nach einer scharfen Biegung des Gangs sahen sich die drei einer Gruppe Feinde gegenüber. Shayleigh feuerte zwischen den nickenden Zwergenköpfen hindurch einen Pfeil ab, der einen Ork in die Brust traf und zu Boden streckte. »Frosch!« rief Ivan als Anspielung auf ein Spiel, das er mit seinem Bruder oft gespielt hatte. Pikel lief vor und kauerte sich vor den nächsten Ork, worauf Ivan von hinten auf ihn sprang und sich auf Pikels Schultern setzte. Pikel kippte vor, hakte
Ivans Füße unter und ließ seinen vorwärtsstürzenden Bruder im Bogen heruntersausen. Der Ork erstarrte vor Überraschung und stand praktisch ohne jede Verteidigung da, als Ivans Axt ihm auch schon den Schädel spaltete. Sie drang so tief durch den Kopf des Ungeheuers, daß es aussah, als ob er buchstäblich entzweigeschlagen würde. Nach diesem Angriff lagen beide Zwerge platt auf dem Boden, während zahlreiche Feinde immer noch unverletzt um sie herumstanden, aber da diese mitangesehen hatten, wie ihr Kamerad der Länge nach aufgeschlitzt worden war, schien keiner von ihnen es mit einem Angriff besonders eilig zu haben. Die Schußlinie zwischen ihnen und Shayleigh war frei, und ihr Zögern erwies sich nicht als sonderlich weise. Die Elfenkriegerin zielte kaum, sondern feuerte einfach in die Masse feindlicher Körper. Ein paar Sekunden und ein paar Pfeile später stob der Rest der Orks in wilder Flucht davon. »Jetzt aber leise«, wies Shayleigh sie durch zusammengebissene Zähne an. »Leise!« schimpfte Ivan ungläubig. »Laß doch die ganze verdammte Bande kommen, sage ich!« »Ei, ei!« rief Pikel. Einig drehten sich die Brüder zu Shayleigh um, fanden aber die Elfenkriegerin mit erhobenem Bogen an der letzten Ecke wieder, wo sie nach hinten spähte. »Möglich, daß euer Wunsch in Erfüllung geht«, erläuterte sie. »Goblins, angeführt von einem Oger.« Ivan und Pikel stürzten zu ihr und rückten einander zu, als wären sie bereits zu einer stillschweigenden Übereinkunft gekommen, wie sie diesen neuen Kampf angehen mußten. Ivan bückte sich, und diesmal kletterte Pikel auf seine Schultern, lehnte sich an die Wand und legte eine Hand nach oben, wo er die Finger verräterisch um die Ecke bog, so daß die nahenden Feinde sie gut sehen konnten.
Ivan bedeutete Shayleigh mit einem Nicken, einige Schritte zurückzuweichen. Der Oger kam um die Ecke und erwartete wegen Pikels hoch oben erscheinender Hand einen großen Gegner. Als der Oger um die Ecke bog, sprang Pikel zurück, und die zuschlagende Keule prallte harmlos von der leeren Steinwand ab. Ivans Axt grub sich tief in den Oberschenkel des Ogerbeins, wo sie Muskeln und Sehnen durchtrennte. Da der verwundete Oger seinen Schwung nicht bremsen konnte, setzte er seine Drehung fort, wodurch er Shayleigh den Rücken zuwandte. Immer noch rückwärts laufend, zuckte er zweimal kurz nacheinander zusammen, als sich Pfeile in seine Schulterblätter bohrten. Dann geriet er endgültig ins Stolpern und kippte nach hinten. Ein Pfeil zerbrach unter dem gewaltigen Gewicht, doch der andere hatte einen so perfekten Winkel, daß er beim Auf treffen auf den Boden weitergestoßen wurde und sich durch das Herz des dicken Ungeheuers bohrte, bis die Pfeilspitze vorne wieder herauskam. Bis die Goblins, die nur zwei Schritte hinter dem Oger gewesen waren, um die Ecke bogen, lag ihr Anführer schon tot am Boden. Allerdings hatten die ersten Goblins überhaupt keine Zeit, die Szene zu begreifen. Pikel, der hinter der Ecke hockte, zog seine Keule quer über den Boden gegen ihre Schienbeine und ließ zwei der Gegner direkt vor Ivans Füße fallen. Der gelbbärtige Zwerg schlug unerbittlich mit der Axt zu und machte kurzen Prozeß. Der Rest der Mannschaft suchte in typischer Goblintreue sein Heil in der Flucht. »Die von vorne werden wiederkommen«, sagte Shayleigh grimmig.
»Ja, und die dummen Goblins werden den Kampflärm hören und andersrum zurückrennen, wahrscheinlich noch mit hundert Artgenossen!« pflichtete Ivan ihr bei. »Vielleicht wird dir dein Wunsch wirklich noch erfüllt, Ivan«, meinte die Elfenfrau finster. »Bald dürfte uns die gesamte Armee von Burg Trinitatis von zwei Seiten zerquetschen.« Shayleigh lief zur Ecke und schaute zurück, dann rannte sie vor und spähte so weit wie möglich nach vorne, weil sie auf einen Seitentunnel hoffte, durch den sie dieser gefährlichen Stelle entkommen konnten. Pikel, der ihre verhängnisvolle Lage verstand, zog sich aus der Diskussion zurück. Auf den Knien kroch er an der gemauerten Wand entlang und stieß mit der Stirn gegen jeden vielversprechenden Stein. »Was macht er denn da?« wollte Shayleigh wissen, die das scheinbar lächerliche Verhalten des Zwergs sichtlich irritierte. Hoch während sie das sagte, drückte Pikel seine Stirn gegen einen weiteren Stein. Strahlend bis über beide Ohren drehte er sich zu Ivan um und quiekte. »Da ist der Weg!« bellte Ivan, der neben seinem Bruder in die Knie ging, woraufhin beide emsig an den Kanten des behauenen Steins herumtasteten. »Man baut immer geheime Tunnel neben die Gänge«, erklärte Ivan, der Shayleighs zweifelnde Miene bemerkt hatte. »Läßt bei Überflutung das Wasser ablaufen.« Shayleighs scharfe Ohren nahmen Schritte wahr, die sich aus beiden Richtungen näherten. »Schnell«, beschwor sie die Zwerge. Dann rannte sie zur Wand, ergriff eine Fackel, lief zur Ecke zurück und so weit nach unten, wie sie es wagte, dann kehrte sie um und eilte zurück, wobei sie die Fackel in jedes Becken tauchte, an dem sie vorbeikam, und alle anderen Fackeln herauszog. Bald war der ganze Gang hinter ihr von einer giftigen grauen Wolke erfüllt, und der Weg lag in rauchiger Finsternis. Trotzdem konnte Shayleigh bald rote
Goblinaugen ausmachen, denn die Ungeheuer konnten ebenfalls Wärme sehen. »Halsstarrig«, murmelte sie, rannte um die Ecke und in der anderen Richtung den Gang entlang, wo sie die Prozedur wiederholte. Bis sie wieder bei den Zwergen war, kamen die Feinde von beiden Seiten angerückt. Ein Goblin blinzelte um die Ecke, fiel aber sofort zurück, einen Pfeil im Auge. »Schnell!« flüsterte Shayleigh. Sie hustete, weil der üble Rauch sie bereits einhüllte. »Mach doch selber schnell«, knurrte Ivan zurück. Er zog die Elfin herunter und stopfte sie regelrecht durch die Öffnung in einen schmierigen, abfallenden Schacht. Pikel folgte grinsend und legte sowohl seine Keule als auch Ivans Axt hinter sich auf die Schräge. »Was macht er denn?« fragte Shayleigh, aber Pikel legte nur einen dicken Finger an die Lippen und flüsterte: »Schsch!« Ivan stürmte los, stellte sich mit dem Rücken an die Ecke und schloß die Augen, damit ihn der rote Glanz seiner Wärmesicht nicht verraten konnte. Goblins schlurften hinter ihm heran. Die Hauptarmee der Feinde kam von der anderen Seite. »Mehr als wir gedenkt!« brüllte Ivan in der quietschenden, krächzenden Goblinsprache. Die Goblins um den Zwerg blickten durch den verwirrenden Schleier nach vorn und griffen zu den Waffen. »Wir angreifen! Wir töten!« bellte Ivan, und der Ruf wurde von vielen Goblins aufgegriffen, als die beiden Horden aufeinander zustürmten. Verwirrt drangen sie aufeinander ein und schlugen zu, denn jede hielt die anderen für die Eindringlinge. Ivan schlich in aller Ruhe zu dem Geheimtunnel zurück. Pikel streckte ihm die Hand hin, aber Ivan zögerte, weil er den Kampf ausgesprochen genoß. Schließlich war Pikel mit seiner Geduld am Ende, griff mit beiden Händen zu, packte Ivan an
den Knöcheln und riß ihn herunter, um ihn in den Tunnel zu ziehen. Der grünbärtige Zwerg kletterte so weit über seinen Bruder, der mit dem Gesicht nach unten lag, daß er den Stein einigermaßen an seinen Platz zurückbefördern konnte. Jetzt war er es, der zögerte, weil ihn das Chaos in Bann schlug, und er kicherte, als ein abgeschlagener Goblinkopf vorbeikullerte. Ivan, der keine Gelegenheit zur Revanche ungenutzt ließ, packte Pikel an den Knöcheln und zerrte ihn mit einem Ruck in den Matsch. Bald darauf fanden die drei Freunde einen Weg aus dem Kriechtunnel in einen anderen gemauerten Gang, der vom Kampfplatz wegführte. Ivan und Pikel rannten los. Ihre Gesichter waren vor Entschlossenheit verzerrt. Shayleigh schüttelte während der nächsten paar Minuten viele Male ungläubig den Kopf, als die Zwerge durch die Burg polterten und unterwegs alles umrannten, einschließlich ein paar überraschter Goblins. Sie riet ihnen aber nicht wieder, leise zu sein, denn sie wußte, daß ihre Flucht ihnen nur kurzfristig helfen konnte. Ganz gleich, wie heimlich sie jetzt weiter vorrückten, früher oder später würden sie auf eine gezielte Verteidigung treffen. Dann lächelte die Elfenfrau, denn sie war froh, sich in Gesellschaft der ruppigen Gebrüder Felsenschulter zu befinden. So hatte sie die beiden schon früher erlebt, damals, im Kampf um Shilmista. Sollte der Feind nur kommen! Sollte er sich ruhig den kampflustigen, beherzten Zwergen stellen! Ivan und Pikel wurden nun doch langsamer und etwas ruhiger, weil sie sich einer Treppe näherten, die gleich hinter einer Kreuzung von zwei breiten Gängen unabsehbar weit nach oben führte. Ein perfekter Platz für einen Hinterhalt. Von der Treppe aus hörten sie Gesang, eine donnernde Riesenstimme. Der Gang hinter ihnen und die beiden Seiten schienen leer, also schlichen sie weiter.
Die Treppe führte nach oben, doch schon bald sahen sie Riesenstiefel auf der Treppe. Das gewaltige Ungeheuer setzte seinen mißtönenden Singsang fort. Anscheinend wußte es noch nichts von den Eindringlingen in Burg Trinitatis. »Schnell hoch mit dir«, war die einzige Erklärung, die Ivan Shayleigh gab, zwinkerte seinem Bruder zu, und schon waren die beiden Zwerge losgelaufen. Sie nutzten die donnernde Stimme des Riesen aus, die ihre schweren Schritte auf den Holzstufen übertönte. Shayleigh sah sich nervös nach allen Seiten um, weil sie ihre Lage für ungünstig hielt. Doch dann hörte sie die Zwerge auch schon höhnisch aufbrüllen und als nächstes die Schläge von Ivans Axt und Pikels Keule, die die Beine des Riesen trafen. Der Fußboden bebte, als der Gigant die Treppe herunterfiel. Shayleigh wollte dem fallenden Ungeheuer eigentlich noch einen Pfeil verpassen, doch sie hörte, wie die drei Gänge hinter ihr sich schnell mit feindlichen Soldaten füllten. Deshalb drehte sie sich lieber um und sandte den Pfeil dorthin, ohne abzuwarten, ob er überhaupt traf. Der Riese war zwar noch sehr lebendig und äußerst erbost, doch er lag auf dem Rücken, mit dem Kopf zu Shayleigh und den Füßen weit oben auf der Treppe. Er versuchte, sich aufzurichten, doch sein Körper füllte die nicht sehr breite Treppe nahezu aus, so daß er wegen seiner verletzten Beine in dieser unbequemen Lage nur kläglich herumzappeln konnte. Shayleigh zog ihr Kurzschwert und sprang nach vorn zum Gesicht des Gegners. Der Riese griff mit beiden Händen nach ihr, aber sie wich ihm aus und stach auf eine Hand ein, die ihr zu nahe kam. Der Riese hob ein Bein und winkelte es im Knie an, um Shayleigh aufzuhalten, aber die Elfin stieß ihr Schwert tief in den dicken Schenkel. Als sie den gewaltigen Leib überquerte, sah die Elfenfrau Pikel von der anderen Seite her unter dem erhobenen Bein durchlaufen.
Sie stieß einen Warnruf aus, doch der Zwerg steckte bereits zwischen den Stufen und dem dicken Riesenhintern fest. Feinde schwärmten am Fuß der Treppe aus. Einige kletterten auf den Riesen, andere nahmen ihre Bögen zur Hand und zielten auf Shayleigh und Ivan, als der gelbbärtige Zwerg herunterrannte, um nach der Elfenkriegerin zu fassen – Pikels zahme Schlange biß den Riesen in sein fleischiges Hinterteil, und das darauffolgende Zucken des Ungeheuers gab dem Zwerg allen Schwung, den er brauchte. Pikel spannte die Muskeln an, keuchte und stöhnte und kippte den Giganten auf die Schultern, so daß ein Fleischwall zwischen seinen Freunden und den Feinden lag. Der Riese grunzte mehrmals, weil er Pfeile abbekam, und weil Pikels stämmige Beine gnadenlos weiter zutraten, kippte er endgültig um und versperrte damit den niedrigen, schmalen Eingang zur Treppe. Pikel tätschelte seiner Schlange den Kopf und steckte sie in den Ärmel zurück. Dann rannte er seinen Freunden nach, wobei Ivan ihm im Vorbeispringen die Keule zurückgab. Shayleigh stand wieder einmal da und schüttelte den Kopf. »Stärker, als du gedacht hast, was?« meinte Ivan und zog sie weiter. Am oberen Ende der Treppe trafen sie keine weiteren Gegner an. Also stürmten Ivan und Pikel sofort weiter. Shayleigh hörte keine anderen Geräusche als das Echo der Zwergensandalen und Zwergenstiefel, aber sie bezweifelte, ob dieses blinde Durchstürmen der Burg sie irgendwo hinführen würde. Schließlich gelang es Shayleigh, den wilden Lauf der Brüder zu bremsen, indem sie sie erinnerte, daß sie Cadderly und Danica finden mußten. Als die Zwerge einen Augenblick innehielten, hörten sie tatsächlich ein Geräusch, ein leises Murmeln aus einem Gang von links. Shayleigh wollte gerade flüstern, daß sie vorgehen und die Lage überprüfen werde, doch ihre Worte wurden unter
Pikels herzhaftem »Ei, ei!« und dem hallenden Lärm des wiederaufgenommenen Sturmangriffs begraben.
Die fünfte Ecke Dort«, sagte der Gefangene zu Cadderly und Danica und zeigte auf eine unauffällige Tür. »Das ist der Zugang zu den Räumen des Zauberers.« Cadderly Wieder erklang der Ruf im Bewußtsein des jungen Priesters aus gar nicht so weiter Entfernung. Cadderly schloß die Augen und konzentrierte sich, bis er verstand, daß der Ruf von irgendwo hinter dieser unauffälligen Tür ausging. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, daß Danica ihn fragend musterte. »Der Mann lügt nicht«, sagte Cadderly zu ihr. Der Gefangene schien sich bei dieser Bemerkung zu entspannen. »Warum sind denn keine Wachen da?« fragte Danica mehr den Gefangenen als Cadderly. Darauf wußte der Mann keine Antwort. »Er ist ein Zauberer«, erinnerte Cadderly die beiden. »Ein mächtiger Zauberer, nach allem, was wir gehört haben. Es könnte tatsächlich einen Wächter oder einen Schutzzauber geben.« Danica stieß den Gefangenen unsanft vorwärts. »Du gehst vor«, sagte sie kalt. Sofort trat Cadderly neben den Mann, hielt ihn am Arm zurück und warf einen Blick auf Danica. »Wir gehen gemeinsam?« meinte er halb fragend, halb feststellend. Danica sah zu der Tür, zu Cadderly und zu dem anderen. Sie verstand das Mitleid und den Beschützerinstinkt ihres
Geliebten für den hilflosen Mann. Da Cadderly davon Überzeugt war, daß der Soldat kein schlechter Mensch war, würde er ihn auch nicht in den Tod schicken. »Er und ich gehen vor«, entschied Danica. »Du kommst nach.« Leise schlich sich die Adeptin zu der Abzweigung und spähte in beide Richtungen. Sie drehte sich zu Cadderly um und zuckte die Schultern, dann bedeutete sie dem Gefangenen, bei ihr zu bleiben, und huschte zur Tür – fast. Das Wesen schien sich direkt aus der Luft zu entfalten. Zuerst war es eine schwarze Linie, die sich dann nach rechts und links ausbreitete, zunächst zweidimensional, dann dreidimensional. Fünf Schlangenköpfe erhoben sich vor den überrumpelten Gefährten. Eine Hydra. Danica blieb abrupt stehen und warf sich nach links, um dem Vorschnellen von drei großen Köpfen zu entkommen. Der Gefangene, der nicht so schnell war wie die junge Frau, schaffte nur einen Schritt, ehe ein gewaltiges Maul nach seinem Bauch schnappte. Er schrie und schlug vergeblich auf den schuppigen Kopf ein, während die nadelspitzen Zähne seinen Leib aufrissen. Ein zweites Maul senkte sich über den ungeschützten Kopf des Mannes und brachte seinen Schrei damit zum Schweigen. Beide Köpfe arbeiteten zusammen, als die Hydra den Mann entzweiriß. Cadderly wäre bei diesem Anblick fast ohnmächtig geworden. Er legte die geladene Armbrust an und schwenkte sie hin und her in dem Versuch, der fast hypnotischen Bewegung der sich windenden Köpfe zu folgen. Wohin sollte er schießen? Er zielte auf die Mitte des großen Körpers, und die Hydra brüllte vor Wut, als der Bolzen traf und explodierte. Während zwei Köpfe noch nach der abtauchenden Danica schnappten,
fraßen die anderen zwei weiter an dem getöteten Mann, und der fünfte schoß vor. Weil er noch weit von Cadderly entfernt war, zwang er den unförmigen Körper der Hydra zu einem kurzen Anlauf auf den jungen Priester. Danica wollte erst zu Cadderly eilen, änderte jedoch rasch die Richtung, als die Hydra vorbeikam, und entschied sich statt dessen dafür, hinter das Untier zu gelangen. Sie schrie Cadderly zu, er solle davonrennen, obwohl sie ihn um das riesige Monster herum nicht sehen konnte. Das vorderste Maul kam pfeilgerade auf den jungen Priester zu und kostete ihn einige Nerven, da er noch damit kämpfte, seine Waffe zum zweiten Mal zu spannen. Das Schlangenmaul war nur noch zwei Fuß entfernt, als Cadderly den Arm endlich hochriß und abdrückte, so daß der Bolzen durch fingerlange Reißzähne in den Schlund des Monsters drang und mit einer gedämpften Explosion auftraf. Kopf und Hals fielen schlaff auf den Boden, was den Angriff der Hydra verlangsamte. Die zwei Köpfe, die hinter Danica her gewesen waren, und der eine, der mit dem toten Gefangenen fertig war, schossen jedoch nach vorn, und der junge Priester wich klugerweise zurück, zog aber noch seinen Wanderstab vor sich, um den nächsten Angriff abzuwehren. Er wußte, daß er weit genug wegkommen mußte, um die Armbrust neu zu laden. Und er mußte in das Lied von Deneir verfallen und etwas, irgend etwas, daraus benutzen. Aber angesichts des Wirrwarrs aus vorschießenden Köpfen und des Ungeheuers, das ihm bei jedem Schritt nachsetzte, konnte Cadderly das Lied nicht einmal ansatzweise vernehmen, sondern mußte sich einfach darauf konzentrieren, mit dem Wanderstab vor sich hin und her zu schlagen. Einmal traf er durch Zufall und schlug dem vordersten Maul mit dem verzauberten Widderkopf einen Zahn aus. Der Kopf fuhr brüllend hoch, worauf Cadderly instinktiv unter ihn lief, um
den Schlangenhals als Schild gegen die beiden anderen Köpfe zu benutzen, die ihn jagten. Der vierte Kopf – der zweite rechte – ließ von der Leiche des Soldaten ab und hätte den jungen Priester jetzt erwischt, wenn Danica nicht von hinten gekommen wäre und ihm einen Tritt unter den Kiefer verabreicht hätte. Das Maul klappte zu; die Schlangenzunge fiel abgebissen zu Boden. Cadderly hielt weiter auf die Tür zu und konzentrierte sich darauf, seine Armbrust zu spannen. Danica trat an seine Seite und schaute dabei zu der Hydra zurück, die ihren toten Kopf nachzog, während sie sich mühsam umdrehte. »Rein!« rief sie, aber Cadderly war trotz ihrer gefährlichen Lage klug genug, sich von der Tür fernzuhalten. Sie war gesichert, er spürte die Magie. Schulter an Schulter mit Danica hob er die Armbrust wieder hoch, als wollte er auf die Hydra schießen. Aber dann drehte er sich um, um statt dessen auf das Türschloß zu feuern, womit er ein großes Loch in das Holz trieb. Danica packte Cadderly an der Schulter und schleuderte ihn zur Seite. An der Wand kam er benommen wieder hoch, nur um zu sehen, daß seine Geliebte von vier wild schnappenden Hydraköpfen umgeben war. Sie lief genau auf das Ungeheuer zu, rannte zwischen den zuschnappenden Mäulern hindurch, drehte und wand sich und schlug blindlings auf alles ein, was ihr in die Nähe kam. Ein Kopf drehte sich weit genug, um sie zu erwischen. Sie packte ihn an seinem Horn und drehte ihn mit einem Ruck so weit um, daß das Maul sie nicht erfassen konnte, obwohl die Schnauze ihr in die Rippen stieß. Danicas zweite Hand schoß in eine andere Richtung vor, wo ihre versteiften Finger sich durch ein Auge eines weiteren schnappenden Kopfes bohrten. Alle Köpfe der Hydra waren jetzt auf den massigen Rumpf des Wesens gerichtet. Danica packte den halb geblendeten
Kopf, warf sich mit dem Rücken gegen den dicken Schlangenhals und duckte sich zur Seite, als ein zweiter Kopf vorschoß, der mit weit geöffnetem Maul seinen eigenen Bruder in den Hals biß. Noch ehe die Hydra ihren Fehler erkannte, fiel der andere Kopf tot ab. Danica saß immer noch an ihrem höllischen Platz fest, doch ein Bolzen prallte von der Seite eines der Köpfe ab – nur um einen zweiten richtig zu treffen. Der erste angegriffene Kopf fuhr herum, um den neuen Angreifer zu sehen, während die Wucht der folgenden Explosion den zweiten Kopf so weit zur Seite warf, daß Danica ein Schlupfloch fand. »Die Tür ist gesichert!« schrie Cadderly ihr zu, als sie direkt darauf zulief. Das war überflüssig, denn Danica hatte gar nicht die Absicht, die Tür zu öffnen. Sie blieb stehen, und als sie spürte, daß ein Maul nach ihrem Rücken schnappte, sprang sie hoch, erwischte den Querbalken über der Tür und zog sich ganz nach oben. Der Hydrakopf schlug durch die Tür. Mehrere Blitze flammten auf, und aus allen Ecken des magisch gesicherten Türrahmens zuckten lodernde Flammen. Mit nur noch zwei verbliebenen Köpfen wich die versengte Hydra zurück. Die Schlangenhälse überkreuzten sich. Die Reptilienaugen betrachteten die beiden Gefährten mit plötzlichem Respekt. Cadderly wollte sich konzentrieren, um einen Schuß abzugeben, zögerte aber, weil er keinen Fehlschuß riskieren wollte. »Verdammt«, zischte er frustriert, nachdem ein langer, ereignisloser Moment verstrichen war. Er schoß den Bolzen in den Leib der Hydra, wo er anscheinend keinen ernsten Schaden anrichtete, das Untier aber immerhin einen Schritt zurücktrieb. Die lebenden Köpfe der Hydra brüllten einstimmig auf. Das Ungeheuer bewegte sich seitwärts, wobei die drei toten Hälse über den Boden schleiften.
»Schieß auf meinen Rücken«, befahl Danica, und noch ehe Cadderly fragen konnte, was sie da redete, stürmte sie los, genau zwischen den beiden schwankenden Köpfen hindurch, die sie so auf sich lenkte. »Jetzt!« rief Danica. Cadderly mußte ihr vertrauen. Seine Armbrust klickte, und Danica warf sich plötzlich zu Boden, so daß der Bolzen über sie hinwegging und in ein sehr überraschtes Hydragesicht drang. Dieser verwundete Kopf starb allerdings nicht, und Danica, die jetzt auf dem Rücken lag, hatte nunmehr zwei zuschnappende Mäuler über sich. Mit einem Aufschrei rannte Cadderly auf das Ungeheuer zu, seinen Stab mit dem Widderkopf mit beiden Händen umklammernd. Danica trat nach oben, erst mit einem Fuß, dann mit dem anderen, und hielt so die Köpfe auf Abstand. Cadderly sah, daß der Kopf, auf den er geschossen hatte, blind zu sein schien, sprang über Danicas ausgestreckten Körper hinweg und versetzte dem Kopf einen harten Schlag mit seinem Stock. Der Kopf zuckte zurück, doch Cadderly folgte ihm mit wiederholten Schlägen. Der zweite Kopf schoß auf Cadderlys Rücken zu, aber Danica warf die Beine hoch, zog sie wieder herunter, bog den Rücken durch und kam so auf die Beine. Ein einziger Satz brachte sie neben den zubeißenden Kopf, wo sie sich bückte, einen Dolch aus ihrem Stiefel zog, dann hochkam und das Messer bis zu seinem silbernen Drachengriff in den Unterkiefer der Hydra stieß. Cadderly schlug mit wirbelnden Bewegungen den bereits entstellten Kopf zu einer blutigen Masse. Der letzte Kopf zuckte hoch nach oben, aber Danica schlang ihm einen Arm um den Hals und machte die Bewegung mit, ohne ihren feststeckenden Dolch loszulassen. Sie zog die Beine
hoch, damit sie den zweiten Dolch im Stiefel herausziehen konnte. Dann klammerte sie sich hartnäckig fest, während das Ungeheuer sie abzuschütteln versuchte. Als seine Wildheit endlich nachließ, stieß Danica ihm ihr zweites Messer ins Auge, zog es wieder heraus und trieb es abermals hinein. Wieder wurde die Hydra wild. Cadderly, der Danica zu erreichen versuchte, wurde dabei erwischt und zehn Fuß über den Korridor geschleudert. Aber Danica hielt sich fest, ließ ihre beiden Dolche stecken und zerrte sie hin und her, wobei sie die Griffe in ihren Händen drehte. Dann kippte der Schlangenhals nach vorn, und Danica fiel mit ihm. Die benommene junge Frau konnte kaum Luft holen, nicht mehr deutlich sehen und war sich nur vage bewußt, daß sie immer noch die Messer festhielt. Ihre Instinkte forderten sie auf zu reagieren, wegzukriechen. Ihre Instinkte schrien ihr zu, daß sie verwundbar war, daß der Hydrakopf sie leicht abschütteln und zerreißen konnte. Aber die Hydra rührte sich nicht mehr, und einen Augenblick später war Cadderly bei Danica, löste ihre Arme und schob den dicken Schlangenhals von ihr herunter. Shayleigh hörte Gemurmel von vorne, das Geräusch vieler gedämpfter Stimmen. Sie wollte den Zwergenbrüdern eine Warnung zurufen, doch die hatten das Geräusch anscheinend ebenfalls vernommen, denn sie senkten die Köpfe und legten an Tempo zu, Pikel mit schlappenden Sandalen, Ivan mit trampelnden Stiefeln. Shayleigh reihte sich stillschweigend und mit schußbereitem Bogen hinter ihnen ein. Nach einer Krümmung des Korridors hatten sie einen geraden Gang vor sich, der über zwei Kreuzungen führte und an einer Doppeltür endete.
»Zu viele!« flüsterte die Elfenfrau heiser, während sie langsamer wurde. »Zu viele!« Eine Doppeltür versperrte ihnen den Weg, dann hing die Doppeltür schief in gebrochenen Angeln. Ivan und Pikel waren mit erhobenen Waffen in den Raum geplatzt. »Ui, ui«, murmelte der grünbärtige Zwerg, was genau die Gefühle seines Bruders ausdrückte, denn sie waren in eine riesige Halle gelangt, einen Speisesaal, der jetzt anscheinend auch als Kommandozentrale diente, denn er enthielt Dutzende von Tischen und nicht gerade wenige ihrer Feinde. Shayleigh seufzte ergeben und lief den tobenden Zwergen hinterher, die in ihrem Schwung bereits an den ersten, unbesetzten Tischen vorbeigestürmt waren. Eine Gruppe Orks, die der Tür am nächsten saß, hatte kaum Zeit, von ihren Schüsseln aufzusehen, bevor die Zwerge hackend und tretend über sie herfielen. Ivan stieß mit seinem Hirschgeweihhelm zu, und Pikel war ein wahrer Wirbelsturm aus fliegenden Knien und Ellenbogen, zustoßender Stirn und seiner Baumstammkeule. Nur einer der sechs Orks konnte überhaupt von seinem Stuhl aufstehen, doch noch bevor das überraschte Ungeheuer zwei Schritte zurückgelegt hatte, traf es ein Pfeil von der Seite in den Kopf und ließ es tot zu Boden gehen. Die Zwerge rannten weiter und Shayleigh mit ihnen. Ihre einzige Hoffnung lag in der Bewegung, das wußte die Elfenkriegerin. Sie mußten so schnell durchstürmen, daß den unzähligen Feinden in dieser Halle keine Zeit blieb, sich organisiert gegen sie zu wenden. In vollem Lauf schickte sie einen Pfeil zur Seite, der einen Mann in die Schulter traf, welcher selbst versucht hatte, seinen Bogen zu heben. Tische wurden umgeworfen und Stühle zur Seite geschleudert, weil die Menschen und Ungeheuer dem Unheil aus dem Weg zu gehen suchten. Ein unglücklicher Goblin blieb am Stuhl seines Nachbarn hängen. Als die Zwerge vorüber
waren, lagen der Goblin wie der Stuhl platt auf dem Boden. Ein Oger rannte nicht davon, sondern verschränkte die dicken Arme vor der Brust und stand breitbeinig da, denn er hielt sich für eine imponierende Sperre. Er wurde nicht nur in seinem Stolz getroffen, als Ivan mit hoch erhobener Axt mitten durch diese weit gespreizten Beine stürmte. Der Oger wankte, weil er sich an seine aufgerissenen Geschlechtsteile griff, während Pikel neben ihm vorbeilief und ihn von der Seite ans Knie schlug, und schließlich lag er noch nicht einmal richtig am Boden, als Shayleigh hochsprang, einen Fuß auf sein abgewandtes Gesicht und den anderen auf seine Rippen setzte und einfach über ihn hinwegsprang. Im Lauf der Zwerge schien keine Methode zu liegen, kein anderes Ziel als allgemeines Chaos. Dann entdeckte Pikel die Theke, einen langen Tresen entlang der Rückwand. »Oooh!« quietschte der grünbärtige Zwerg, während er mit einem dicken Finger in diese Richtung zeigte. Einer der drei Köche hob eine Armbrust, aber Shayleighs Pfeil streckte ihn nieder. Ein zweiter hielt ein Holztablett wie einen Schild vor sich, doch das schlug Ivans Axt entzwei, die auch gleich das Gesicht des Mannes spaltete. Der Schild des dritten Mannes, ein Eisentopf, wirkte eindrucksvoller, aber Pikels Keule traf ihn mit der dicken Seite, worauf der Topf zurückschnellte und den Mann an den Kopf traf. Blitzschnell waren die drei Freunde über die Theke gesprungen. Shayleigh drehte sich um und ließ ihre Bogensehne surren, denn nun wurden sie von vielen Feinden verfolgt. Die Elfin erzielte einen Treffer nach dem anderen, doch es schien keine Möglichkeit zu geben, die anstürmende Horde wirklich aufzuhalten. Ivan und Pikel postierten sich rechts und links von Shayleigh, hinter Stapeln von Metalltellern. Mit fliegenden Scheiben eröffneten die Zwerge ihr Bombardement. Teller pfiffen durch die Luft und trafen die nahenden Feinde.
Trafen sie und hielten sie so lange auf, daß Shayleigh sie systematisch niederschießen konnte. »Hihihi«, kicherte Pikel, der von der Theke sprang und einen Topf dicker, grüner Suppe anhob, die er schwungvoll auf die andere Seite kippte. Nun hatten die Feinde, die zu nahe kamen, auch noch einen rutschigen Boden zu überwinden. Der Zwerg schöpfte auch noch eine Riesenkelle kochendes Wasser, ehe er wieder auf die Theke kletterte. Ein Pfeil sauste direkt an Ivans Ohr vorbei und traf die Wand hinter ihm. Shayleigh, die sich auf das größte der nahenden Ungeheuer – einen weiteren Oger – konzentriert hatte, bemerkte den Schützen an der Seite, wo er hinter einem umgekippten Tisch hockte. »Du nimmst die Bogenschützen!« schrie Ivan. »Ich und mein Brüderchen kümmern uns um die Dummköpfe, die es bis hierher schaffen!« Das klang vernünftig, und die Elfenkriegerin zwang sich, die Nerven zu behalten, die naheliegende Bedrohung zu ignorieren und ihren Gefährten zu vertrauen. Sie schwenkte den Bogen zur Seite, wo ein Schütze dämlicherweise die Hüfte hinter seiner Deckung hervorschauen ließ, während er nachlud, und verpaßte ihm prompt einen Pfeil. Dem anstürmenden Oger steckten vier Pfeile in der Brust, aber noch immer kam er hartnäckig angerannt, genau auf Pikel und die hilflose Shayleigh zu. Die Augen des Zwergs schienen sich vor Angst zu weiten, und Pikel tat so, als ob er sich duckte, was Shayleigh aufschreien ließ. Doch im letzten Moment kam Pikel hoch, ließ die Kelle vorschnellen und spritzte dem überraschten Oger kochendes Wasser in Augen und Gesicht. Erwartungsgemäß zuckte der Oger zusammen und hob die Hände zu den verbrühten Augen. Diese Gewichtsverlagerung kostete das Ungeheuer seinen ohnehin schon prekären Stand in der grünen Suppe, und es rutschte heran, nur um sich an der
stabilen Steintheke noch die Knie anzuschlagen. Als der Oger dort schließlich sein Gleichgewicht und sein Sehvermögen wiederzubekommen hoffte, spürte er neuerlich einen brennenden Schmerz, eine heftige Explosion, als ihm mit der Keule der Schädel eingeschlagen wurde. Pikel legte die hirnverschmierte Keule weg und nahm noch ein paar Teller, die er nach ihren Feinden schleuderte, welche plötzlich ein größeres Interesse zeigten, nicht zu Schaden zu kommen, als sich den Eindringlingen zu nähern. »Bei einer Küchenschlacht sind die Brüder Felsenschulter so schnell nicht zu übertreffen«, meinte Ivan, und als Shayleigh das Chaos und die Leichenberge betrachtete, wollte sie nicht widersprechen. Aber die Elfenfrau wußte, daß mehr als Kampfeswut nötig war, um diese Schlacht zu gewinnen. Dutzende von Feinden waren noch übrig, denn es waren weitere in den Raum gekommen, die Tische vor sich kippten und dahinter in Deckung gingen. Sie sah einen Bogenschützen über den oberen Rand eines Tisches blinzeln, sah seinen Bogen hochkommen. Shayleigh spannte schneller und landete den besseren Schuß. Während der Pfeil des Mannes zu hoch und zu weit angesetzt war, traf Shayleigh den Schützen zwischen den Augen. Die Befriedigung der Elfin war jedoch von kurzer Dauer, als sie merkte, daß ihr nur noch fünf Pfeile geblieben waren und daß auch Ivans und Pikels Vorrat an Metalltellern erschöpft war. Cadderly kniete über den Überresten seines Gefangenen, dem zerbissenen Kopf und den Schultern des Mannes. Schwarze Schatten der Schuld quälten das Gewissen des jungen Priesters, lauernde Bilder, die ihm einflüsterten, daß der Tod dieses wehrlosen Mannes seine Schuld war. Danica hockte neben dem jungen Priester und drängte ihn aufzustehen.
Cadderly entriß ihr den Arm und starrte unbeirrt das grausige Bild an. Er überlegte, ob er in das Reich der Geister reisen sollte, um den Toten zu finden und … Und dann? Sollte er die Seele zurückholen? Er sah sich nach dem zerrissenen Unterleib des Mannes um. Wohin sollte er die Seele zurückbringen? Verfügte er über die Magie, diesen zerfetzten Körper zu heilen? »Es war nicht deine Schuld«, flüsterte Danica, denn sie wußte genau, was ihren Geliebten plagte. »Du hast dem Mann eine Chance gegeben. Das ist mehr, als die meisten in unserer Lage getan hätten.« Cadderly schluckte hörbar, nahm Danicas weise Worte in sich auf und ließ seine dunklen Gedanken und seine Schuld von ihnen vertreiben. »Es hätte jeden von uns treffen können«, erinnerte ihn Danica. Cadderly nickte und erhob sich. Die Hydra hatte sie alle drei angegriffen, hätte ebensogut Danica zerreißen können, wäre diese nicht so schnell gewesen. Selbst wenn Cadderly dem Gefangenen seine Waffe gelassen hätte, hätte der Mann sich gegen den brutalen Überraschungsangriff der Hydra nicht wehren können. »Wir müssen hier verschwinden«, sagte Danica, und wieder nickte Cadderly, während er sich zu der lose in den Angeln hängenden, verbrannten und aufgesprengten Tür umdrehte. Er und Danica traten Seite an Seite hindurch und fanden sich in einem kleinen Vorzimmer wieder. Im ersten Moment traten ihnen keine Feinde entgegen, aber das konnte die beiden kaum beruhigen, denn von einem Sims, der hoch oben rund um den Raum verlief, starrten sie lechzende Gargylen an, die nadelspitze Dolche in Händen hielten, die Lieblingswaffe der Talona. Dämonische Reliefs schmückten den Stein der Stützpfeiler, Horden schauriger Wesen, die um die täuschend schöne Herrin des Gifts herumtanzten. Wandteppiche säumten
den Raum; sie alle zeigten blutrünstige Schlachten, in denen Horden von Goblins und Orks mit Waffen, die vor Blut und Gift trieften, Scharen flüchtender Menschen und Elfen überrannten. Ein einzelner Stuhl stand auf einem Podest und war von großen Eisenstatuen gefährlicher Krieger flankiert, die gigantische Schwerter vor sich hielten – während ihre zweite Hand unauffällig einen Dolch umfaßte. Es waren keine weiteren Türen zu sehen, doch ein Vorhang hing vor der Wand direkt hinter dem Stuhl. Während Danica schützend neben ihm stehenblieb, rief Cadderly sich das Lied des Deneir ins Gedächtnis, suchte in den Noten nach Hinweisen über die Natur der Dinge, die ihn hier umgaben. Er war erleichtert, als er an den Gargylenskulpturen keinen magischen Einfluß bemerkte, wäre jedoch fast zurückgewichen, als er sich den Eisenstatuen zuwandte. Ein Teil von ihnen – vor allem Mund und Arme – bebte vor magischer Kraft. »Golems?« flüsterte Danica, als sie die Reaktion des Priesters bemerkte. Cadderly hätte es nicht sagen können. Golems waren durch und durch magisch, belebte Körper aus Eisen, Stein oder anderen unbelebten Materialien. Sie wären hier am richtigen Platz gewesen, denn solche Ungeheuer wurden gewöhnlich von mächtigen Zauberern oder Priestern als Wächter geschaffen. Nach allem, was Cadderly über Aballister gehört hatte, war der Gedanke, daß der Zauberer Eisengolems besaß, die mächtigste Golemart, nicht ausgeschlossen. Aber an einem solchen Wesen hätte Cadderly mehr Magie erwartet. »Wohin?« fragte Danica, deren Stimme verriet, daß sie sich zunehmend unwohl fühlte, so angreifbar im Vorzimmer eines Zauberers zu stehen.
Cadderly wartete einen Augenblick. Er hatte das Gefühl, daß sie zu dem Vorhang mußten, aber wenn das dort Eisengolems waren und er und Danica zwischen sie traten … Er schüttelte den unangenehmen Gedanken ab. »Zum Vorhang«, sagte er entschlossen. Danica wollte loslaufen, aber Cadderly hielt sie am Arm fest. Wenn sie ihm trauen wollte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er sich selber traute, dann würde er neben ihr gehen, nicht hinter ihr. Mit seinem Wanderstab stieß Cadderly behutsam den Vorhang weg, hinter dem eine Tür zum Vorschein kam. Er wollte sich lächelnd zu Danica umdrehen, doch plötzlich, noch ehe einer von ihnen reagieren konnte, schwangen die Eisenstatuen herum. Die Schwerter blieben einen knappen Fingerbreit vor und hinter ihnen stehen. »Sprich das Wort«, verlangten die Eisenstatuen einstimmig. Cadderly sah, wie Danica sich spannte, und erwartete, daß sie ihren metallenen Gegner blitzschnell angreifen würde. Ein paar Noten zogen an seinem Bewußtsein vorüber, und er erkannte die anschwellende magische Energie in den Armen der Eisenstatuen, besonders in den weniger auffälligen Armen mit den Dolchen. Cadderly brauchte keine Magie, um zu vermuten, daß die Spitzen dieser heimlichen Waffen mit Gift getränkt waren. »Sprich das Wort«, forderten die Statuen wieder. Cadderly konzentrierte sich ganz auf die magische Energie, sah, wie sie sich gefährlich verstärkte. »Nicht bewegen«, flüsterte er Danica zu, denn er spürte, daß die beiden Dolche ihr Werk mit tödlicher Gründlichkeit verrichten würden. Danica ließ die Hände sinken, obwohl sie nicht gerade entspannt wirkte. Sie vertraute seinem Urteil, aber Cadderly fragte sich ernsthaft, ob das gut war. Die magische Energie schien kurz vor dem Überkochen zu stehen, und er hatte immer noch nicht herausgefunden, wie er sich ihr widersetzen oder sie zerstreuen konnte.
»Sprich das Wort!« Die einstimmige Forderung der Golems klang wie eine letzte Warnung. Cadderly wollte Danica anweisen abzutauchen, in der Hoffnung, daß wenigstens sie frei sein würde, ehe diese scheußlichen Dolche zustießen oder diese Schwerter zuschlugen. »Das Wort ist Bonaduce«, kam ein Ruf von hinter der Tür, eine Frauenstimme, die beide Gefährten erkannten. »Dorigen«, hauchte Danica, das Gesicht von plötzlichem Zorn verzerrt. Cadderly war derselben Meinung. Er wußte, es wäre eine gewagte, ja verzweifelte Entscheidung, Dorigen zu vertrauen. Aber etwas an dem Wort »Bonaduce« kam dem jungen Priester wahr und irgendwie vertraut vor. »Bonaduce!« rief Cadderly. »Das Wort ist Bonaduce!« Danicas ungläubiger Blick wurde noch fassungsloser, als die Golems in ihren gleichgültigen, wie eingefrorenen Zustand zurückkehrten. Auch Cadderly verstand überhaupt nichts mehr. Warum sollte Dorigen ihnen beistehen, besonders wenn sie in so furchtbarer Gefahr waren? Er ging auf die Tür zu und zog den Vorhang vollends beiseite. »Sie wird gesichert sein«, sagte Danica leise. Sie hielt Cadderlys Arm fest, damit er nicht nach dem Zugring griff. Cadderly schüttelte den Kopf und erfaßte den Ring. Bevor Danica Einwände erheben konnte, riß er die Tür auf. Sie hatten einen behaglich eingerichteten Raum vor sich. Weich gepolsterte Stühle waren großzügig verteilt, Wandbehänge in satten, ruhigen Farben schmückten jede Wand, und ein Bärenfell diente als Teppich. Das einzige Möbelstück mit harten Kanten war ein Holztisch in einer Ecke gegenüber der Tür. Dort saß Dorigen, die mit einem dünnen Stab an die Seite ihrer Nase tippte.
Danica nahm sofort ihre hockende Verteidigungsposition ein, während ihre Hand an ihren Stiefel glitt, um einen Dolch zu ziehen. Danica wich wieder zur Seite, und Dorigen riß den Stab nach unten. Ihre Miene war plötzlich finster geworden. »Machen wir weiter?« wollte sie wissen, während sie mit dem Stab nach vorne zeigte. »Oder lassen wir dieses Spiel so ausgehen, wie die Götter es stets beabsichtigt haben?« Eine neue schweigende Botschaft drang in Danicas Gedanken und bat sie, sich zu beruhigen. »Was meint Ihr?« fragte Cadderly. »Ist das nicht offensichtlich?« erwiderte Dorigen, um dann leise zu lachen, weil ihr einfiel, daß Cadderly noch immer keine Ahnung hatte, daß Aballister sein Vater war. »Ihr gegen Aballister, das ist es, worum es in diesem Krieg geht.« Cadderly und Danica sahen einander an. Beide fragten sich, ob Dorigen wohl verrückt geworden war. »Das war nicht Aballisters Absicht«, fuhr Dorigen fort, die immer noch leise lachte. »Er wußte nicht einmal, daß Ihr noch am Leben wart, als Barjin die ganze Sache ins Rollen brachte.« Der Name des toten Priesters ließ Cadderly unwillkürlich zusammenzucken. »Und es war gewiß nicht Eure Absicht«, fuhr Dorigen fort. »Ihr habt die Bedeutung nicht verstanden, versteht sie immer noch nicht. Ihr wußtet nicht einmal, daß Aballister existiert.« »Ihr faselt«, sagte Cadderly. Dorigens Erheiterung wuchs. »Vielleicht«, räumte sie ein. »Und dennoch muß ich glauben, daß es mehr als Zufall ist, was uns alle bis zu diesem Punkt geführt hat. Aballister hat selbst daran teilgehabt, einen Teil, den er möglicherweise noch bedauern wird.« »Indem er den Krieg angezettelt hat«, überlegte Cadderly.
»Indem er Euch das Leben gerettet hat«, stellte Dorigen richtig. Cadderlys Gesicht wurde zu einem einzigen Fragezeichen. »Aus Versehen«, fügte die Frau rasch hinzu. »Sein Haß auf Barjin, seinen Rivalen, überstieg seine Vorstellung davon, was für ein giftiger Dorn Ihr werden würdet.« »Sie lügt«, entschied Danica, die sich einen Schritt näher an den Tisch schob und sich offenbar dafür rüstete, vorzuspringen und die geheimnistuerische Zauberin zu erdrosseln. »Ihr erinnert Euch an Eure letzte Begegnung mit Barjin?« fragte Dorigen. Cadderly nickte ernst. Niemals würde er jenen schicksalhaften Tag vergessen, den Tag, an dem er zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte. »Der Zwerg, der mit dem gelben Bart, wurde von Barjins Magie festgehalten«, half Dorigen ihm auf die Sprünge, und das Bild erschien deutlich vor dem jungen Priester. Ivan hatte seinen Angriff auf Barjin abgebrochen, war einfach erstarrt, so daß Cadderly praktisch hilflos gewesen war. Damals war Cadderly noch kein mächtiger Kleriker gewesen, hätte kaum gegen einen einfachen Goblin bestehen können, und der Priester hätte ihn sicher getötet. Aber im letzten Moment hatte sich Ivan aus dem Bann lösen können, wodurch Cadderly Barjins tödlichem Zugriff entkommen konnte. »Aballister hat die Magie des Priesters aufgehoben«, erklärte Dorigen. »Der Zauberer ist nicht Euer Freund«, ergänzte sie schnell. »Er wußte damals nur nicht, was die Götter noch für ihn auf Lager hatten, soweit es den kleinen Cadderly betraf.« »Wie also geht es weiter, weise Dorigen?« fragte Cadderly sarkastisch, weil er die unverständliche Erheiterung der Frau und ihre kryptischen Verweise auf die Götter satt hatte. Dorigen zeigte auf die gegenüberliegende Wand, sagte ein Zauberwort, und es tauchte eine wirbelnde Tür aus
Nebelschwaden auf. »Ich hatte den Auftrag, mit all meiner Macht einen Schlag gegen Euch zu führen und mich dann zurückzuziehen. Ich sollte versuchen. Euch von Euren Freunden zu trennen und durch diese Tür zu führen«, erklärte sie. »Dahinter liegt Aballisters Haus, der Ort, wo er den jungen Priester töten wollte, der zu einem solchen Problem geworden ist.« Cadderly musterte Dorigen bei jedem Wort genau und nutzte seine Aurasicht, um mögliche Fallen zu entdecken, die die Frau vielleicht auf Lager hatte. Danica schaute ihn fragend an, doch er zuckte nur die Schultern. Entgegen aller Vernunft war er davon überzeugt, daß Dorigen wieder die Wahrheit gesagt hatte. »Und deshalb ergebe ich mich Euch«, sagte Dorigen. Sie hätte Cadderly und Danica keine größere Überraschung bereiten können. Die Frau legte ihren Stab auf den Tisch und lehnte sich bequem zurück. »Geht und spielt es bis zum Ende durch, junger Priester«, bat sie Cadderly mit neuerlichem Verweis auf die wirbelnde Tür. »Soll das Schicksal der Region doch von dem persönlichen Kampf entschieden werden, wie das Schicksal es die ganze Zeit schon vorhatte.« »Ich glaube nicht an Schicksal«, erwiderte Cadderly fest. »Glaubt Ihr an Krieg?« fragte Dorigen. »Tu's nicht«, flüsterte Danica über die Schulter zurück. Dorigens Lächeln wurde wieder breiter. »›Bonaduce‹ bringt Euch auch durch diese Tür.« »Nicht«, sagte Danica wieder, diesmal laut. Cadderly ging auf die Wand zu. »Cadderly!« rief Danica ihm nach. Der junge Priester hörte nicht auf sie. Er war hierhergekommen, um Aballister zu besiegen und die Armee in Burg Trinitatis führerlos zu machen, damit nicht Tausende im Krieg sterben mußten. Es konnte eine Falle sein, vielleicht ein Portal, das ihn auf eine der Unteren Ebenen führen würde, wo
er dann bis in alle Ewigkeit festsitzen konnte. Aber Cadderly konnte die Möglichkeit nicht außer acht lassen, die Dorigen ihm durch ihre Angaben aufgezeigt hatte. Genausowenig konnte er die Wahrheit unbeachtet lassen, die seine Magie ihm enthüllt hatte. Er hörte, wie sich Danica hinter ihm bewegte. »Bonaduce!« rief er, sprang in den Wirbel und war verschwunden.
Freunde verloren, Freunde gefunden Die vier Fuß hohe Theke schützte die drei Gefährten, die in der Falle saßen, von zwei Seiten, denn an einem Ende wurde die acht Fuß lange Frontplatte von einer dicken Säule gehalten, die vom Boden bis zur Decke reichte. Hinter ihnen war die Wand, so daß nur noch eine schmale Lücke übrigblieb, um von der anderen Seite hinter die Theke zu gelangen – breit genug für zwei Goblins oder einen großen Menschen. Bisher hatte erst ein einziger Feind diesen Weg ausprobiert, und der war von der Elfenkriegerin mit ihrem tödlichen Bogen erlegt worden. Ivan und Pikel standen auf der Theke, als die Meute nahte, und stießen wüste Drohungen aus, obwohl bisher kein Feind auf Reichweite herangekommen war. Als Ivan ausrief, Orks wären »nur dazu geboren, um den Ogern ihren grünen Popel aus der Nase zu pulen«, stürmten drei der schweinsgesichtigen Humanoiden wild drauflos. Der erste rutschte auf der verschütteten Suppe aus, als er auf Pikel zuspringen wollte. In einer weiten Grätsche krachte er schwungvoll gegen die Theke, so daß der Knöchel und der vordere Fuß noch über den Rand ragten. Pikel setzte prompt seine Ferse auf den Orkzeh und drückte diesen flach auf die Theke, indem er sein volles Gewicht darauf stellte.
Die nachfolgenden Orks stolperten umher, stützten sich aber an ihrem gefallenen Freund ab und konnten einigermaßen das Gleichgewicht halten, als sie mit einem Rums gegen die Theke rutschten. Ivans Axt spaltete einem von beiden den Schädel, doch der andere schaffte es, Pikels ersten Keulenangriff abzuwehren. Dieser Ork wurde jedoch bald gegen die Seite gequetscht, denn viele seiner Kameraden rannten hinterher, als sie sahen, daß die Eindringlinge plötzlich in Bedrängnis geraten waren. »Wir können uns nicht halten!« schrie Shayleigh. »Kümmere du dich nur um die Schützen«, gab Ivan schnaufend zurück, während er mit seiner Axt wütende Hiebe austeilte, um den plötzlichen Ansturm zurückzuschlagen. »Ich und mein Brüderchen übernehmen die Jungs hier!« Shayleigh warf einen hilflosen Blick auf ihren fast leeren Köcher. Ihre Hand glitt an ihr Kurzschwert, als ein Soldat sich von der Seite her näherte, doch sie erkannte, daß sie keine Zeit für einen Zweikampf hatte. Sie bedauerte, daß sie einen weiteren Pfeil verschwenden mußte, schoß den Mann aber trotzdem nieder, denn sie hoffte, daß sein plötzlicher Tod anderen Feinden zu denken geben würde, ehe sie einen ähnlichen Weg versuchten. Die Theke bekam einen unerwarteten Ruck, als ein Oger von hinten in die Menge drang, und Shayleigh glaubte, der Tisch würde auseinanderbrechen und sie unter dem Drängen der unbeirrbaren Ungeheuer an die Wand gequetscht werden. In ihrem Schrecken drehte sie sich um und jagte dem Oger einen Pfeil ins Gesicht. Er fiel zurück, und die Theke schien wieder fester zu stehen. Da die Elfin noch nicht so recht daran glaubte, kletterte sie auf ein Regal an der Rückwand, von wo aus sie einen besseren Überblick über den Raum hinter dem unmittelbaren Kampfgeschehen hatte.
Ein Mann stützte beide Hände und einen Fuß auf die Theke und wollte hinaufspringen, weil er glaubte, die Zwerge wären zu beschäftigt, um ihn aufzuhalten. Prompt brach Ivans Axt ihm das Rückgrat, obwohl der Zwerg für dieses Manöver einen bösen Treffer an der Hüfte einstecken mußte. Ivan verzog das Gesicht, verdrängte dann aber den Schmerz mit einem Knurren und schlug wie verrückt auf seinen Angreifer ein, den die mächtige Axt des Zwergs mitten ins Gesicht traf. Ivan konnte seinen Treffer jedoch nicht auskosten, denn die Flut der Schwerter und Speere, grausam angespitzten Stöcke und zustechenden Dolche ließ nicht nach. Der Zwerg sprang herum, duckte sich, parierte, und hin und wieder gelang ihm sogar ein eigener Angriff. Plötzlich tauchte ein Pfeil auf, der auf halber Höhe durch Ivans Bart drang, und die Wellen des Schmerzes, die den Zwerg heimsuchten, verrieten ihm, daß der Pfeil auch sein Kinn gestreift hatte. »Ich hab' dir doch gesagt, du sollst dir die Schützen holen!« schrie er Shayleigh wütend zu, doch er hörte sofort wieder auf zu zetern, als er in die Richtung sah, aus der der Pfeil gekommen war, und der feindliche Schütze tot am Boden lag – mit einem Elfenpfeil in der Stirn. »Was soll's«, murmelte der betretene Zwerg. Er sprang hoch, als ein Schwert flach über die Theke gezogen wurde, und landete mit einem Stiefel auf der Waffe, die er so festhielt. Ivan trat zu, zerschmetterte dem Angreifer den Kiefer und stieß ihn in die Meute zurück. Doch zwei andere nahmen seinen Platz ein, und Ivan war wieder hart bedrängt. Pikel erging es kaum besser. Der Zwerg erzielte drei schnelle, tödliche Treffer, blutete aber selbst bereits an mehreren Stellen. Eine der Wunden war ziemlich gefährlich. Er schlug mit seiner Keule nach allen Seiten und versuchte, die
Erschöpfung seiner starken Arme und die absolute Hoffnungslosigkeit des Ganzen zu vergessen. Er schwang nach rechts, um einen erhobenen Speer wegzuschlagen, doch ein Schwert stieß hinter seiner Keule zu, traf etwas unter seinem Ärmel, rutschte dann weiter und ritzte seinen Unterarm. »Aua!« quiekte Pikel und zog seinen Arm schnell dicht an die Seite. Sein Schmerz war jedoch gleich verflogen und wich einem Schock, als die obere Hälfte seiner zahmen Schlange aus dem Ärmel auf die Theke fiel. »Ooooooh!« heulte Pikel und setzte zum Sprung an. »Ooooooh!« Der Schwertkämpfer versuchte einen geraden Stoß, aber Pikel fing die Klinge mit der freien Hand und lenkte sie ab, ohne auf die Schnitte zu achten, die er damit seiner ungeschützten Hand beibrachte. Der andere Arm des Zwergs schoß geradeaus nach vorn, um dem Angreifer das Ende der Keule ins Gesicht zu rammen. Schließlich packte Pikel die Keule wieder mit beiden Händen und schlug den Mann mit drei schnell aufeinanderfolgenden Hieben zu Boden. Dann wischte der ergrimmte Zwerg mit einem Rückhandschlag einen Goblin weg, der einige Fuß entfernt die Gelegenheit nutzen wollte, um auf die Theke zu klettern. Vor und zurück schwang die schwere Keule, zerbrach Waffen und Knochen. Vor und zurück in ungebremster Wut, und keine Abwehr konnte den Schlägen des brüllenden Zwergs standhalten. »Ooooooh!« Ein Oger stieß Männer und Orks beiseite, um die Theke zu stürmen. Mutig – und dumm – sprang er hinauf. Pikel zerschmetterte ihm das Knie, vollzog eine ganze Drehung und traf ihn im Fallen erneut, diesmal vor die Brust, so daß er rückwärts in die Menge kippte. Da die Feinde
unmittelbar vor ihm von dem hingestreckten Oger umgeworfen worden waren, sprang der aufgebrachte Zwerg zur Seite. »Oooooh!« Ein Schwertkämpfer stieß nach Ivan, aber Pikel stieß den Ellenbogen des Mannes an den Rand der Theke, bevor dessen Schwert seinem Bruder auch nur nahe kam. »He, das ist meiner!« protestierte Ivan, aber Pikel, der ihn nicht einmal hörte, heulte und tobte weiter. Sein nächster Schlag brach dem Mann den Hals, doch danach holte der Zwerg zu weit nach hinten aus, erwischte Ivan und ließ ihn rückwärts von der Theke fliegen. Pikel war sich nicht einmal bewußt, daß er jetzt alleine stand. Alles, was er sah, war seine tote Schlange, die Schlange, die er gezähmt hatte. Er rannte auf der Theke hin und her, und seine wild strampelnden Beine verrieten keine Müdigkeit, denn er spürte nichts von seinen immer zahlreicher werdenden Wunden, kostete nur süße Rache, als er weiter zuschlug, um die plötzlich zögernde Meute zu besiegen. »Wir brauchen mehr Unterstützung hier vorne!« raunzte Ivan aufgebracht, als Shayleigh ihm wieder auf die Beine half. »Woher soll ich die Pfeile nehmen?« fragte Shayleigh mit einem Wink zu ihrem leeren Köcher und dem letzten Pfeil, den sie auf ihrer Bogensehne liegen hatte. Ivan griff hoch und riß den Pfeil aus seinem Gesicht. »Hier ist noch einer für dich«, meinte der Zwerg grimmig. Plötzlich zuckte er zusammen, griff dann über die Schulter und reichte ihr einen weiteren, langen Pfeil. Shayleigh riß beide Augen auf, als sie an dem Zwerg vorbeischaute und sah, daß der Feind einen Tisch in Stellung gebracht hatte, hinter dem einige Schützen durch die Öffnung in der Seite der Theke hineinschießen konnten. Sofort legte sie ihren Bogen an und feuerte, traf aber nur das Holz des Tisches. Immerhin zwang sie die feindlichen Bogenschützen, sich dahinter zu ducken.
»Ich hol' dir Pfeile!« fluchte Ivan, als er sich umdrehte und die Situation erfaßte. Und schon rannte der Zwerg davon, so schnell er konnte. Ein Schütze steckte den Kopf heraus, um zu zielen, doch er verlor die Nerven, als der brüllende Zwerg näher kam, und sein Schuß ging harmlos in die Luft. Ivan konzentrierte sich nur noch auf sein Ziel und schenkte den vielen Feinden, die von der Seite her in seine Richtung zeigten und schrien, keine Beachtung. Er senkte den Kopf, rammte den schweren Tisch mit voller Kraft, kippte ihn dadurch wieder auf seine Beine und sprang darauf. Die drei verblüfften Bogenschützen unter dem Tisch starrten sprachlos nach oben. Sie merkten nicht, wie angreifbar sie plötzlich waren, nachdem ihre Barrikade nun über ihnen war bis ein Pfeil einen von ihnen tötete. Zwei Augenpaare blickten zu Shayleigh zurück; beide Männer waren erleichtert, als ein Goblin vorbeirannte, der unweigerlich den nächsten Schuß der Elfenfrau abfing und dafür mit seinem eigenen Leben bezahlte. Ivan kam über die Rückseite des stehenden Tisches herunter, rollte sich mit dem Kopf voran unter die Männer und traf dabei den einen der Schützen mit der flachen Seite seiner Axt am Kopf. Der andere wollte noch schnell einen Dolch ziehen, bevor der Zwerg sich aufrichten und seine Axt wieder einsetzen konnte. Aber Ivan hatte die Waffe fallen lassen, kroch vor und preßte seine starken Hände von beiden Seiten gegen den Kopf des letzten Schützen. Ein Dolch traf den Zwerg in die Schulter, aber Ivan richtete sich grollend auf und stieß den Kopf des Mannes mit Wucht gegen die Unterseite des Tisches. Dann drückte er weiter, stellte beide Füße fest auf, drückte mit seinen Schultern gegen den Tisch und hievte ihn mit aller Kraft hoch. Ivan duckte sich, als der Tisch einen Fuß hochflog und sich dann wieder senkte, doch die Arme und den Kopf seines Feindes hielt er weiter hoch.
»Hat bestimmt weh getan«, murmelte er, als der Tisch wieder herunterkam und das Gesicht des Mannes platt schlug. Der Mann saß eigenartig da, hatte die verrenkten Beine unter sich gezogen und die Augen immer noch fest geschlossen. Ivan boxte ihn trotzdem noch einmal ins Gesicht, um ihn aus dem Weg zu schaffen, dann schnappte sich der Zwerg seine Axt und die nächsten Köcher und rannte unter dem Tisch hervor zur Theke zurück. Ein Armbrustbolzen traf seinen Unterschenkel, worauf er kopfüber hinschlug, doch er hatte sich gleich wieder aufgerichtet und rannte weiter. Shayleigh mußte herumfahren und ihren dritten und letzten Pfeil einem Ork ins Gesicht schießen, der über die hintere Seite der Theke geschlüpft und dabei Pikels noch immer andauernder Mordlust entgangen war. Als die Elfenfrau sich wieder zu Ivan umdrehte, sah sie sich einem weiteren Goblin gegenüber. Weil sie keine Zeit hatte, ihr Schwert zu ziehen, peitschte sie verzweifelt mit ihrem Bogen nach dem Goblin. »Du sein tot«, versprach der Goblin, doch Shayleigh schüttelte den Kopf, ja lächelte sogar, denn sie sah eine große Doppelaxt hinter dem Kopf des Ungeheuers hochkommen. Ivan stolperte über den Rücken des Goblins, als dieser fiel. »Hier sind deine Pfeile!« rief er, während er Shayleigh drei fast volle Köcher zuwarf. Er hatte jedoch keine Zeit, auf ihre Antwort zu warten, denn er fuhr mit wild fliegender Axt herum, um einen geworfenen Speer abzuwehren. Auch Shayleigh wirbelte herum, legte in der Bewegung schon einen Pfeil auf und feuerte über die Theke hinter Ivan, einmal, dann noch einmal, als die Feinde von allen drei Seiten auf sie eindrängten. »Tote Schlange!« schrie Ivan wiederholt, um seinen tobenden Bruder neu anzustacheln. »Tote Schlange!« »Ooooooh!« heulte Pikel, und wieder war ein Feind erledigt. Aber Shayleigh wußte, daß sie mehr als Pikels Wut brauchen würden, um auszuhalten, auch mehr als die zwei
Dutzend Pfeile, die Ivan ihr gerade verschafft hatte. Ihr Bogen war ständig im Einsatz, jeder Schuß war ein perfekter Treffer, jeder Schuß hinterließ eine Öffnung – in die gleich ein neuer Feind treten konnte. »Bonaduce!« rief Danica, lief auf die Wand zu und sprang in den wirbelnden Nebel. Sie stieß hart gegen die Steinwand und fiel benommen in den Raum zurück. Mit einem abwehrenden Überschlag fing sie ihren Schwung ab, doch sie fühlte sich verraten und verwundbar. Dorigen war Cadderly los, und die gefährliche Frau besaß noch immer ihren Stab. Danica vollführte einen zweiten Überschlag und kam etwa auf halbem Weg durch den Raum vor der immer noch sitzenden Zauberin zum Stehen. »Das Losungswort hieß Bonaduce«, sagte Danica anklagend. »Nur der, den Aballister einläßt, darf seine privaten Gemächer betreten, selbst wenn er das Wort kennt«, erklärte Dorigen ruhig. »Er wollte Cadderly sehen. Ihr wart offenbar nicht Inbegriffen.« Danicas Arm zuckte plötzlich, und einer ihrer Dolche sauste auf Dorigen zu. Er blitzte auf, als er gegen einen magischen Schild prallte und neben der Frau herunterfiel, die prompt ihren Stab auf Danica richtete und ihre freie Hand hob, um die Adeptin warnend zurückzuhalten. »Verrat«, flüsterte Danica, doch Dorigen schüttelte nur verneinend den Kopf. »Glaubt Ihr, Ihr könnt mich mit diesem Stab töten?« fragte Danica. »Ich möchte es nicht ausprobieren«, erwiderte Dorigen ernst. »Einen Spruch, Dorigen«, knurrte Danica. »Oder einen einzigen Versuch mit Eurem Stab. Das ist alles, was Ihr schaffen werdet.«
»Ich möchte es nicht ausprobieren«, sagte die ältere Frau wieder, diesmal mit festerer Stimme, und um ihre Aussage zu bekräftigen, legte sie den Stab auf den Tisch. Danica war ehrlich verblüfft. »Ich habe Euch nicht angelogen«, erklärte Dorigen. »Ebensowenig, wie ich Cadderly überlistet habe, irgendwo hinzugehen, wo er nicht wirklich hingehört.« Wieder diese Andeutung, daß Dorigen glaubte, eine höhere Macht würde diese Begegnung lenken. Danica war davon nicht so überzeugt wie ihre Gegnerin. Sie glaubte an die Kraft des einzelnen, an die Wahl des einzelnen und nicht an einen vorbestimmten Pfad. »Aballister wird mich wahrscheinlich bestrafen, weil ich den jungen Priester durchgelassen habe«, fuhr Dorigen angesichts von Danicas zweifelnder Miene fort. »Er hoffte, ich würde Cadderly töten oder wenigstens seine magischen Kräfte erschöpfen.« Sie lachte und wandte den Blick ab. Danica erkannte, daß sie auf den Tisch springen und die Zauberin erwürgen könnte, ehe diese genügend Zeit für eine Reaktion hätte. Sie rührte sich nicht, denn der Ernst in der Stimme der Zauberin hielt sie zurück. »Aballister dachte, der böse Geist, diese Verkörperung des Ghearufu, würde der Bedrohung von Burg Trinitatis ein Ende setzen«, fuhr Dorigen fort. »Der Geist, den Ihr auf uns angesetzt habt«, klagte Danica sie an. »Nicht ganz«, erwiderte Dorigen. »Ursprünglich hat Aballister die Nachtmasken nach Carradoon geschickt, um Cadderly zu töten, aber die Rückkehr des Geistes war reiner Zufall – wenn auch ein glücklicher Zufall, was Aballister anging. Er wußte nicht, daß Cadderly diesen Geist besiegen konnte«, fuhr Dorigen fort, und wieder kam dieses seltsame Lachen.
»Er dachte, dieser Sturm würde Euch alle sicher zerstören, und das hätte er auch, nur wußte Aballister nicht, daß Ihr da schon weit vom Berg Nachtglut entfernt wart. Gewiß hätte er Angst bekommen, wenn er erfahren hätte, daß Cadderly sogar den alten Fyren besiegen konnte, nachdem er den Wyrm zuvor in seinem Sinne beeinflußt hatte.« Danica war fassungslos. Sie riß ihre Mandelaugen weit auf. »Ja, ich habe diesen Kampf mit angesehen«, erläuterte Dorigen, »aber ich habe Aballister nichts davon erzählt. Ich wollte, daß er überrascht würde, wenn Cadderly so bald schon in Burg Trinitatis auftaucht.« »Ist das Reue?« fragte Danica. Dorigen sah auf ihren Tisch und schüttelte langsam den Kopf, während sie sich mit krummen Fingern durch ihr langes, silberschwarzes Haar fuhr. »Eher Pragmatismus, würde ich sagen«, meinte sie mit einem Blick zu Danica. »Aballister hat viele Fehler gemacht. Ich weiß nicht, ob er Cadderly oder Euch und Eure anderen Freunde besiegen wird. Und selbst wenn wir heute siegen, wie können wir uns erhoffen, mit einer zerschlagenen Armee die Region zu erobern?« Danica stellte fest, daß sie den Worten der Frau wirklich Glauben schenkte, und das ließ sie noch mehr auf der Hut sein, denn sie fürchtete, Dorigen habe einen Bann auf sie gelegt. »Eure Kehrtwende entschuldigt nicht Euer Verhalten während der letzten Monate«, merkte sie grimmig an. »Nein«, stimmte Dorigen ohne Zögern zu. »Und ich würde es auch nicht ›Kehrtwende‹ nennen. Warten wir ab, wer da drin gewinnt.« Sie zeigte auf den wirbelnden Nebel an der Wand. »Warten wir ab, wohin das Schicksal uns führt.« Danica schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ihr versteht es immer noch nicht, wie?« fragte Dorigen scharf, und ihr veränderter Tonfall ließ die Adeptin sofort wieder in ihre geduckte Drohhaltung verfallen. »Was redet Ihr da?« wollte Danica wissen.
Bei Dorigens Antwort wurden Danica die Knie weich denn sie traf die junge Frau so unerwartet, daß sie nicht ein mal eine Erwiderung herausbrachte. »Sie sind Vater und Sohn!« Ivan erging es von den drei eingeschlossenen Freunden noch am besten. In der engen, seitlichen Öffnung bildeten der untersetzte Zwerg und seine mächtige Axt eine undurchdringliche Barriere. Menschen und Ungeheuer stürmten gegen ihn an, konnten jedoch nicht hoffen, seine wütende Abwehr zu durchbrechen. Und obwohl Ivan schwer verwundet war, stimmte er ein zwergisches Schlachtlied an und verringerte seine Wahrnehmung so sehr, daß sie ihm kein Schmerzempfinden mehr gestattete und seinen verwundeten Gliedern keine Schwäche erlaubte. Dennoch hinderte das gnadenlose Nachrücken der Feinde Ivan daran, zu seinem Bruder oder zu Shayleigh zu gelangen, die beide seine Unterstützung dringend gebraucht hätten. Das Beste, was der gelbbärtige Zwerg vermochte, war, hin und wieder »Tote Schlange!« zu schreien, um Pikels Raserei zu erhöhen. Shayleigh tötete den ersten Mann, der versuchte, über die Theke zu springen, traf den nächsten Gegner, einen Grottenschrat, mit vier Pfeilen rasch hintereinander, so daß das behaarte Ungeheuer ebenfalls umkippte, bevor es auch nur in den Nahkampfbereich kam. Dann schoß sie einmal seitlich durch Pikels Beine durch, womit sie einen Ork ins Gesicht traf, und wandte sich zurück, als ein neuer Feind, ein Goblin, auf den Tisch sprang. Sie schoß ihn in die Brust, worauf er sich setzte, dann schoß sie erneut und löschte so das Licht in seinen Augen. Die Goblins hinter diesem Opfer erwiesen sich als schlauer denn der tote Goblin fiel nicht um. Mit der blutenden Leiche als Schild kam der nächste Goblin auf die Theke gesprungen. Shayleigh traf ihn trotzdem ins Auge, als er über die Schulter
seines toten Kameraden blinzelte, doch als beide Ungeheuer über die Theke kippten, hatte der folgende Goblin freie Bahn zu der Elfenkriegerin. Da Shayleigh keine Zeit mehr blieb, einen neuen Pfeil zu zücken, griff sie instinktiv nach ihrem Schwert. Mit einer Hand zog sie rasch ihren Bogen durch die Luft, um den Speerstoß abzuwehren, und schaffte es gerade noch, ihr Kurzschwert direkt vor sich zu halten, als der Goblin heranstürmte und sich durch seinen eigenen Schwung aufspießte. Shayleigh warf das tote Ungeheuer mit einem Ruck zur Seite und riß ihr Schwert zurück, dessen gute Klinge durch elfische Zauber drohend glühte. Ihr blieb jedoch nicht die Zeit, den Bogen wieder aufzunehmen, und sie wußte, daß sie wohl kaum eine Chance bekommen würde, ihn in diesem Kampf noch einmal zum Einsatz zu bringen. Deshalb warf sie ihn auf den Boden und stürmte vor, um sich dem nächsten Gegner zu stellen, bevor dieser ganz über die Theke gelangen konnte. Der Goblin war nicht im Gleichgewicht, denn er setzte gerade zu seinem Sprung an, als Shayleigh bei ihm ankam und mit ihrem Kurzschwert seine Abwehr mit zwei schnellen Hieben zerschlug. Schneller, als sich der Goblin fangen konnte, stieß Shayleigh ihr Schwert geradeaus und bohrte ein sauberes Loch in seine Kehle. Die Schultern des Ungeheuers benutzte sie als Sprungbrett, so daß sie gleichzeitig mit dem nächsten feindlichen Soldaten auf der Theke stand. Der Mann hatte diesen Angriff nicht erwartet und wurde zurückgestoßen. Er kippte in die nachdrängende Menge, wodurch Shayleigh freie Bahn hatte, den Ork niederzuschlagen, der ihm folgte. Sie tötete ihn mit einem sauberen Schlag, doch als sie sich dabei bückte, wurde ein Speer über seine Schulter gestoßen. Shayleigh richtete sich sehr gerade auf und versuchte, trotz des plötzlichen Rucks und der heftigen Schmerzen ihre Konzentration zu wahren. Sie sah den Speer tief aus ihrer
Hüfte ragen, sah einen Mann nach seinem anderen Ende greifen. Wenn es ihm gelang, den Schaft umzudrehen … Shayleigh schlug den Speer direkt unter der Spitze, die in ihrem Fleisch steckte, mit dem Schwert durch. Die scharfe Elfenwaffe durchtrennte das Holz, doch bei dem schmerzhaften Ruck wurde Shayleigh fast schwarz vor Augen. Reine Sturheit ließ sie durchhalten und ihr Schwert die vertrautesten Angriffsmanöver durchführen, um die herandrängenden Feinde in Schach zu halten, bis die Wellen des Schwindels vorüber waren. »Oooooh!« Pikels Keule tanzte vor dem verdatterten Gesicht eines Ogers. Das Riesenmonster machte eine wegwischende Handbewegung und versuchte, die komische Waffe zu greifen, doch da war die Keule schon verschwunden, denn sie befand sich hoch über dem Kopf des Zwergs. »Duh?« fragte der Oger blöd. Die Keule knallte auf seinen Schädel. Der Oger schüttelte sich. Er blickte auf, um zu sehen, was ihn getroffen hatte, nach oben und immer weiter hinauf, bis sein Blick zur Decke ging, er das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Dabei begrub er drei kleinere Kameraden unter sich. Pikel, der bereits ans andere Ende der Theke gestürmt war, sah den Oger nicht einmal mehr fallen. Ein Mann war nach oben gestiegen, und der Zwerg rutschte tief geduckt auf ihn zu, um ihm mit einem niedrigen Keulenschlag die Füße wegzuschlagen. Ein Schwert riß Pikels Hüfte auf, doch aus dieser Position konnte er seine arme tote Schlange noch deutlicher sehen. Seine Keule vollzog einen blitzschnellen Querschlag, riß den Kopf des Schwertkämpfers zur Seite und brach ihm so den Hals. »Ooooooh!« Pikel war mit erneuter Wut schon wieder aufgesprungen. Er rutschte in die andere Richtung zurück, wo
er eine mögliche Bresche schloß, dann kam er zurückgesaust und brachte einen Goblin zu Fall, der zurückstolperte, sich das Kinn anschlug und an der Theke hängenblieb. Das war keine gute Position, da Pikels Keule sich rasch auf ihn nieder senkte. Aber wie lange konnte der Zwerg noch durchhalten? Trotz seiner Raserei konnte er nicht bestreiten, daß seine Bewegungen langsamer wurden, daß das Vordrängen der Feinde nicht nachgelassen hatte und daß für jeden getöteten Soldaten zwei neue Kameraden in den hinteren Bereich des Speisesaals gekommen waren. Und die Freunde waren alle verletzt, alle bluteten, alle waren erschöpft. Auf der anderen Seite des Saals, nahe der Tür, flog plötzlich ein Mann durch die Luft und mit strampelnden Armen und Beinen über den Oger hinweg, der vor ihm stand. Pikel warf neugierige Blicke in diese Richtung, wann immer er dazu Gelegenheit bekam, und schaute gerade rechtzeitig wieder hin, um zu sehen, daß ein riesiges Schwert aus der Brust des Ogers ragte. Mit einer Kraft, die alles überstieg, was der Zwerg je gesehen hatte, riß der Angreifer das Schwert durch Brust und Schlüsselbein des Ogers senkrecht nach oben, bis es am Hals des toten Monsters seitlich wieder herauskam. Ein Riesenarm schwang herum, packte die Schulter des Ogers kräftig an und ließ das tote Ungeheuer Hals über Kopf davonfliegen. Und Vander – Vander! – stapfte heran. Seine grausamen Schwerthiebe streckten immer zwei Feinde auf einmal nieder. »Ei, ei!« schrie Pikel, während er mit seinem dicken Finger auf die Tür zeigte. Auch Shayleigh bemerkte den Firbolg, und dieser Anblick gab ihr neue Hoffnung und neuen Kampfgeist. Sie war gerade auf der Theke mit einem Ork verstrickt, boxte aber jetzt mit ihrer freien linken Hand und traf den Kiefer ihres Gegners. Dann führte sie einen Scheinangriff mit dem Schwert, bevor sie ein zweites und drittes Mal zuschlug.
Der Ork taumelte und balancierte wackelig auf dem Rand der Theke. Irgendwie fing er noch Shayleighs zustoßendes Schwert ab, aber ihr hochschnellender Fuß traf ihn vor die Brust und stieß ihn zurück. »Vander ist da!« schrie sie, damit auch Ivan es mitbekam. Dann rannte sie zum vorderen Rand, wo sie sich tief duckte und nach unten schlug, um den nächsten Angreifer gleich hier abzuwehren. »Der verdammte Ring!« bellte Ivan dem Mann ins Gesicht, der vor ihm stand. Er bezog sich auf den magischen Regenerationsring, den Vander trug, einen Ring, der den Firbolg schon einmal (und jetzt anscheinend erneut) von den Toten zurückgeholt hatte. Ivans wildes Gelächter ließ seinen Gegner verdutzt innehalten. Der Zwerg hob die Axt über eine Schulter, und der überraschte Mann reagierte, indem er sein Schwert nach oben riß. Ivan löste die untere Hand vom Griff und zog die obere nach unten, worauf der Stiel seiner Axt dem Mann genau ins Gesicht schoß. Betäubt fiel dieser zurück, worauf Ivan seine Axt hoch in die Luft warf, sie mit einer einzigen, fließenden Bewegung mit beiden Händen wieder auffing und sie schräg in die Schulter des Mannes trieb. Ungefähr in der Mitte des Saals stieß ein Speerkämpfer nach der Hüfte des Firbolgs und erzielte einen leichten Treffer. Vander fuhr herum und trat zu. Sein schwerer Stiefel traf den Mann in den Bauch, geriet unter dessen Rippen und schleuderte ihn fünfzehn Fuß durch die Luft. Vander drehte sich wieder um und legte sein ganzes Gewicht in einen Überkopfschlag, der einen Goblin spaltete. Dieser Anblick war zuviel für dessen umstehende Kumpane. Heulend vor Schrecken stürmten sie aus dem Raum. Es waren zu viele andere Feinde da, als daß Vander auch nur an eine Verfolgung der Goblins hätte denken können. Ein Oger stürmte
auf ihn zu und schmetterte ihm seine Keule direkt vor die Brust. Vander zuckte nicht einmal, sondern lächelte nur böse, um seinem Angreifer zu zeigen, daß er nicht verletzt war. »Duh?« »Warum sagen sie das immer?« fragte sich der Firbolg, während sein Schwert dem überraschten Oger den Kopf abschlug. Für die Gefährten, die immer noch an der Theke ausharrten, glich Vanders Vorrücken einem Schiff, das durch unruhige See fährt, denn wo er durchbrach, flog ein Sprühnebel aus Goblins, Orks und Menschen hoch in die Luft, und in seinem Kielwasser trieben die Leichen der Feinde. In nur einer Minute war Vander an der Theke und teilte die feindliche Armee. Pikel kam neben ihn heruntergesprungen, und zusammen schlugen sie eine seitliche Öffnung, damit auch Ivan sich anschließen konnte. Als die drei schließlich bei Shayleigh anlangten, saß diese auf der Theke und lehnte sich erschöpft an die Stützsäule, denn ihre restlichen Feinde waren kreischend nach draußen geflüchtet. Vander hob die verwundete Kriegerin hoch und wie ein Baby auf den Arm. »Wir müssen hier verschwinden«, sagte er. »Die kommen zurück«, bestätigte Ivan. Sie sahen Pikel an, der ehrfürchtig die untere Hälfte seiner zerteilten Schlange aus seinem zerrissenen Ärmel zog und bei jedem Fingerbreit, der herausglitt, ein bedauerndes »Ooooh« von sich gab.
Blitz um Blitz, Feuer um Feuer Cadderly hatte keine Ahnung, wo er sich befand; dieser prächtige, mit Teppichen ausgelegte Raum ähnelte in keiner Weise dem rauhen Steinboden der unterirdischen Burg Trinitatis. Blattgoldornamente und schön gewebte
Wandteppiche schmückten die Mauern, und alle zeigten Bilder von Talona oder ihrem Symbol. Die Decke war mit Stuck dekoriert und mit einem exotischen Holz ausgestattet, das Cadderly nicht kannte. Jeder einzelne der zehn Sessel in dem riesigen Raum, deren Lehnen und Sitzflächen so geschnitzt waren, daß sie Tränen ähnelten, schien einen ganzen Drachenhort wert zu sein, denn Beine und Armlehnen waren mit funkelnden Edelsteinen besetzt, und sie hatten üppige Seidenpolster. Das ganze Bild erinnerte Cadderly an den Palast eines Paschas aus dem fernen Calimport oder an die Privatgemächer eines Lords von Tiefwasser. Bis er genauer hinsah. Ohne bewußten Ruf tauchte in Cadderlys Gedanken das Lied des Deneir auf, als ob sein Gott ihn erinnern wollte, daß dies hier kein gewöhnlicher Raum und kein gewöhnlicher Besitzer war. Der Ort war außerdimensional, erkannte Cadderly, durch Magie erschaffen und bis ins letzte Detail aus magischer Energie gemacht. Als Cadderly den vordersten Sessel genauer betrachtete, während das Lied jetzt laut in seinen Gedanken spielte, erkannte er, daß die Edelsteine Variationen magischer Energie waren. Auch die glatte Seide sah er als gleichmäßiges, magisches Feld, weiter nichts. Cadderly erinnerte sich an eine Erfahrung im Turm des Zauberers Belisarius, wo er einen illusionären Minotaurus in einem illusionären unterirdischen Gang bekämpft hatte. Damals hatte der junge Priester Belisarius' Kunstwerk abgeändert, in den Schlund des Minotaurus gegriffen und ein selbst erschaffenes, illusionäres Herz herausgezogen. In dieser unbekannten und offensichtlich gefährlichen Umgebung brauchte Cadderly jetzt etwas, um sein Selbstvertrauen zu stärken. Er konzentrierte sich wieder auf den Sessel, langte in das magische Feld der Lehne und veränderte es, verlängerte es und drückte es platt.
»Ein Tisch würde hier besser aussehen«, stellte er fest, denn er ging davon aus, daß sein Gastgeber, Aballister, jedes Wort hören konnte. Und so wurde aus dem Sessel ein Tisch aus poliertem Holz mit dicken, gebogenen Beinen, in die Augen, Kerzen und Schriftrollen geschnitzt waren, die Symbole von Cadderlys Gott und seinem Brudergott Oghma. Cadderly blickte zu dem einzigen sichtbaren Ausgang aus dem großen Raum, einem breiten Gang, der von verzierten Stützbogen getragen wurde und genau gegenüber der Wand lag, durch die er irgendwie hereingekommen war. Er schlug eine andere Seite des Lieds von Deneir auf, um nach unsichtbaren Gegenständen oder anderen extra-dimensionalen Bereichen in diesem Bereich zu suchen, fand aber keine Spur von Aballister. Der junge Priester ging zu dem Tisch, den er gerade erschaffen hatte, und fuhr mit den Händen über das glatte Holz. Er lächelte, denn ihm kam eine Inspiration – eine heilige Inspiration, wie er fand. Dann rief er seine Magie an und konzentrierte sich auf den nächsten Wandteppich, dessen Muster er neu webte. Er erinnerte sich an den herrlichen Wandteppich im großen Saal der Erhebenden Bibliothek, stellte sich jedes Detail genau vor und machte aus diesem hier ein fast exaktes Replikat. Ein Sessel neben ihm wurde zum Schreibpult, einschließlich eines Tintenfasses mit Runen des Deneir. Ein zweiter Wandteppich wurde zur Schriftrolle des Oghma, so daß die Worte des heiligsten Gebets dieses Gottes das vorherige Bild, eines der bösen Talona und ihres vergifteten Dolches, ersetzten. Cadderly spürte, wie die Bilder seiner eigenen Schöpfung seine Kraft steigerten. Es war, als würde sein Werk ihn näher zu seinem Gott, der Quelle seiner Kraft, bringen. Je mehr er den Raum veränderte, desto mehr ähnelte dieser Ort einem Schrein der Erhebenden Bibliothek, und desto mehr Selbstvertrauen gewann der junge Priester. Mit jedem Bild der
Verehrung Deneirs, das er erschuf, spielte das heilige Lied lauter in Cadderlys Gedanken und seinem Herzen. Plötzlich stand Aballister – es konnte nur Aballister sein – im Eingang zu dem prächtigen Saal. »Ich habe ein paar … Verbesserungen vorgenommen«, erklärte Cadderly dem verärgerten Zauberer mit einem Schulterzucken. Seine Geistesgegenwart hatte vielleicht seinem Feind verborgen, wie nervös er war, aber Cadderly konnte nicht bestreiten, daß seine Handflächen feucht wurden. Mit abrupter Geste klatschte Aballister in die Hände und rief ein Wort der Macht, das Cadderly nicht kannte. Sofort verschwand die neue Klerikereinrichtung, und der Raum befand sich wieder in seinem ursprünglichen Zustand. Etwas an der Bewegung des Zauberers und dem plötzlichen Zornesausbruch des scheinbar kontrollierten Mannes kam Cadderly irgendwie bekannt vor, nagte von weither am Rand seines Bewußtseins. »Ich halte nichts davon, daß die Sinnbilder falscher Götter meine Privatgemächer schmücken«, sagte der Zauberer mit fester Stimme. Cadderly nickte und brachte ein Lächeln zustande; ein Streit war hier wirklich sinnlos. Der Zauberer ging an den Rand des Zugangs. Seine schwarzen Roben schleiften geheimnisvoll hinter ihm her, doch sein hohler Blick haftete ganz an dem jungen Priester. Cadderly drehte sich um, damit er dem Mann weiter genau gegenüber stand, prüfte jede Bewegung des gefährlichen Zauberers und ließ das Lied des Deneir weiter durch seine Gedanken fluten. Er hatte schon mehrere Verteidigungssprüche ausgewählt, die er jederzeit auslösen konnte. »Du hast mir viel Verdruß bereitet«, sagte Aballister mit rauher Stimme, denn die Jahre, in denen er mächtige Magie beschworen hatte, hatten seiner Kehle geschadet. »Aber du warst auch von großem Nutzen.«
Cadderly konzentrierte sich auf den Tonfall der Stimme, nicht auf die einzelnen Worte. Etwas daran ließ ihn nicht los. Wieder kam es wie aus weiter Ferne. Etwas daran beschwor Bilder aus Carradoon herauf, doch das war lange her. »Ich hätte sonst den ganzen Spaß versäumt, weißt du«, fuhr Aballister fort. »Ich hätte gemütlich hier hinten gesessen und die Menschen der Region von meiner vortrefflichen Armee unter meine Herrschaft bringen lassen. Das Regieren wird mir gefallen – ich liebe die Intrige –, aber auch Eroberung kann … köstlich sein. Meinst du nicht auch?« »Mir schmeckt kein Essen, das auf Kosten anderer zustande gekommen ist«, sagte Cadderly. »Aber natürlich schmeckt es dir!« erklärte der Zauberer sofort. »Nein!« gab der junge Priester noch schneller zurück. Der Zauberer lachte ihn aus. »Du bist so stolz auf alles, was du bisher erreicht hast, auf die Kämpfe, die dich an meine Tür geführt haben. Du hast getötet, lieber Cadderly. Menschen getötet. Kannst du bestreiten, wie köstlich das war, diese Macht zu spüren?« Diese Behauptung war absurd. Der Gedanke an Töten wie das Töten selbst hatten bei Cadderly nichts als Ekel ausgelöst. Hätte der Zauberer allerdings ein paar Monate früher so zu ihm gesprochen hätte, als die Schuld an Barjins Tod noch schwer auf seinen Schultern gelastet hatte, wären diese Worte vernichtend gewesen. Jetzt nicht mehr. Cadderly hatte inzwischen akzeptiert, welchen Weg ihm das Schicksal wies, konnte die Rolle akzeptieren, die ihm auf gezwungen wurde. Seine Seele trauerte nicht länger um den toten Barjin oder um einen der anderen. »Ich habe das getan, wozu ich gezwungen war«, gab er mit echter Selbstsicherheit zurück. »Dieser Krieg hätte niemals ausbrechen dürfen, aber wenn er stattfinden muß, dann strebe ich den Sieg an.«
»Gut«, schnurrte der Zauberer. »Mit dem Recht auf deiner Seite?« »Ja.« Cadderly zuckte bei dieser sicheren Antwort nicht mit der Wimper. »Bist du stolz auf dich?« fragte Aballister. »Ich werde froh sein, wenn die Region wieder sicher ist«, antwortete Cadderly. »Das ist keine Frage des Stolzes. Es ist eine Frage der Moral und, wie Ihr gesagt habt, der Gerechtigkeit.« »So eingebildet«, sagte der Zauberer mit leisem Lachen mehr zu sich selbst als zu Cadderly. Aballister legte einen knochigen Finger an die Lippen und musterte den jungen Priester eindringlich, sah ihn ganz genau an. Cadderly kam diese Geste merkwürdig vor – als ob dieser Mann aus irgendeinem Grunde erwartete, daß Cadderly von ihm gelobt werden wollte. Als ob die Einschätzung des Zauberers, was Cadderlys Methoden anging, dem jüngeren Mann wichtig sein könnte. »Du bist ein stolzer junger Hahn in einem Hof voller Füchse«, erklärte der Zauberer schließlich. »Ein Aufblitzen von Selbstvertrauen und Brillanz, das bald in einem See von Blut verloren sein wird.« »Hier geht es um mehr als um meinen Stolz«, sagte Cadderly grimmig. »Es geht um deinen Stolz!« fauchte Aballister zurück. »Und um meinen. Was zählt schon in diesem Elend, das wir Leben nennen, außer unseren Erfolgen und dem Erbe, das wir hinterlassen?« Bei diesen Worten zuckte Cadderly innerlich zusammen. wie konnte ein Mensch, besonders einer, der intelligent genug war, die Zauberkunst zu betreiben, nur so einseitig und von sich selbst besessen sein?
»Könnt Ihr das Leid übersehen, das Ihr verursacht habt?« fragte der junge Priester ungläubig. »Hört Ihr nicht die Schreie der Toten und derer, die um sie trauern?« »Die zählen nicht!« knurrte Aballister, doch der Nachdruck seiner Worte ließ Cadderly vermuten, daß er eine empfindliche Saite angeschlagen hatte. Vielleicht existierte doch noch ein Hauch von Gewissen unter der selbstsüchtigen Hülle dieses Mannes. »Ich bin alles, was zählt!« schäumte Aballister. »Mein Leben, meine Ziele.« Cadderly wurde fast ohnmächtig. Er hatte genau diese Worte schon gehört, genau so waren sie gesprochen worden. Wieder kam ihm Carradoon in den Sinn, aber das Bild war neblig, in einem Wirbel von … ja, wovon verloren? Von Ferne? Als er aufsah, rezitierte der Zauberer bereits, bewegte die Finger der einen Hand vor sich in die Luft, während seine ausgestreckte andere Hand einen kleinen Metallstab hielt. Cadderly beschimpfte sich insgeheim selbst, wie er so dumm hatte sein können, in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Mit lauter Stimme sang er sein Lied, um schnell noch seine Abwehr aufzubauen, ehe der Zauberer ihn röstete. Die Worte blieben Cadderly in der Kehle hängen, als ein Blitzschlag heranzuckte und ihn blendete. »Ausgezeichnet!« lobte der Zauberer, als er sah, daß sein Schlag rund um den jungen Priester in blaue Farbschatten zersprang. Nachdem Cadderly wieder sehen konnte, begutachtete er seinen Schutzschild und stellte fest, daß dieser eine Angriff ihn schon gefährlich ausgedünnt hatte. Ein zweiter Blitz sauste heran, schlug vor Cadderlys Füßen ein und verbrannte den Teppich um ihn her. »Wie viele kannst du aufhalten?« schrie der Zauberer in plötzlichem Zorn. Er nahm sein Lied zum dritten Mal auf, und
Cadderly wußte, daß sein Schutzzauber die volle Wucht dieses Schlags nicht ablenken konnte. Er griff in seinen Beutel und zog eine Handvoll verzauberter Samen heraus. Er mußte schnell handeln, um den Spruch des Zauberers zu unterbrechen. Er rief eine Zauberrune und schleuderte die Samen quer durch den Raum, womit er eine Reihe knallender, funkensprühender Explosionen auslöste. Die aufschießenden Flammen nahmen ihm die Sicht, doch Cadderly war zu klug, um zu glauben, daß ein so einfacher Zauber seinen Feind besiegt haben könnte. Sobald die Samen seine Hand verlassen hatten, begann er mit einem neuen Lied. Aballister zitterte vor Wut. Der ganze Raum um ihn herum schmorte, mehrere kleine Feuer bahnten sich knisternd einen Weg durch die Falten eines magischen Wandbehangs hinter ihm. Er selbst jedoch erschien unverletzt, und das Gebiet in seiner unmittelbaren Nähe war unversehrt. »Wie kannst du es wagen?« fragte der Zauberer. »Weißt du nicht, wer ich bin?« Sein wilder, vollkommen ungläubiger Blick erschreckte Cadderly, denn er brachte ferne Erinnerungen und Bilder zurück, bei denen der junge Priester sich wirklich sehr klein vorkam. Cadderly verstand überhaupt nichts davon – welche unbekannte Macht konnte dieser Zauberer über ihn haben? »Deine Magie hat den Blitzschlag abgewendet«, krächzte Aballister. »Wie hältst du dich gegen Feuer?« Eine kleine, glühende Kugel flog durch die Luft, und diesmal war Cadderly zu abgelenkt, um die Magie rechtzeitig zu zerstören. Der Feuerball erfaßte den ganzen Raum bis auf Aballisters geschützten Bereich, und Cadderly umgab ein grünes Leuchten, als derselbe Abwehrzauber, den er gegen den Atem des alten Fyren angewendet hatte, den Angriff erfolgreich abwehrte. Hinterhältiger allerdings waren die Nachwirkungen des Zauberspruchs. Rauch drang aus den Wandteppichen, Funken
flogen in alle Richtungen, weil unablässig weitere magische Energie frei wurde. Jedesmal leuchtete ein neuer grüner oder blauer Punkt auf Cadderlys Verteidigungsschild auf und schmälerte ihn mehr. Und der junge Priester konnte nichts gegen den dichten Rauch unternehmen, der ihm in den Augen brannte und ihm den Atem nahm. Cadderly konnte hören, daß Aballister wieder zauberte. Rein instinktiv riß der junge Priester seine geballte Faust hoch und rief: »Fete!« Ein Feuerstrahl schoß zur gleichen Zeit aus seinem Ring, wo Aballisters nächster Blitzschlag heranraste. Dieser zerschlug die blaue Kugel, schlängelte sich durch, bis er Cadderly vor die Brust traf und ihn rückwärts an die brennende Wand warf. Seine Haare standen zuckend in alle Richtungen ab; sein blauer Umhang und die hintere Krempe seines ausladenden Huts wurden versengt. Die Luft klärte sich soweit, daß er Aballister wieder sehen konnte, der unverletzt dastand, obwohl sein ausgezehrtes Gesicht vor Wut verzerrt war. Mit Hilfe welcher Magie konnte der junge Priester wohl den scheinbar undurchdringlichen Schutz des Zauberers durchdringen? Cadderly hatte die ganze Zeit gewußt, daß Zauberei besser zum Angriff taugte als Klerikermagie, aber er hatte bei Aballister keine so perfekte Abwehr erwartet. Panik keimte in dem jungen Priester auf, doch er konzentrierte sich auf die süßen Harmonien des Liedes und verdrängte seine Ängste. Er arbeitete schnell, um dasselbe Spiegelfeld zu erschaffen, das er gegen den Mantikor eingesetzt hatte. Die Magie des Zauberers auf diesen zurückzuwerfen war seine einzige Chance. Aballister war schneller, wackelte wieder mit seinen knochigen Fingern und murmelte ein paar kurze Zauberworte. Grünliche Energie brach aus seinen Fingerspitzen und zuckte durch den Raum. Das erste Geschoß traf Cadderly schmerzhaft brennend in die Schulter. Der junge Priester hielt störrisch
seine Konzentration aufrecht, rief das schimmernde Feld auf, und das zweite Geschoß sowie die drei folgenden schienen einen Augenblick zu verschwinden und dann wieder aufzutauchen – sie jagten auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Aballister riß vor Überraschung die Augen auf und wollte sich instinktiv zur Seite werfen. Doch wie zuvor bei Cadderly schluckte der Schutzschirm des Zauberers die Energie. »Verdammt!« schrie der frustrierte Aballister. Der Metallstab schoß heraus, ein neuer Blitzschlag zuckte heran, und Cadderly, der von den vorherigen Treffern noch immer benommen war, Schmerzen litt und in dem dichten Rauch um Luft rang, duckte sich. Der Blitzschlag traf das Spiegelfeld und schoß zurück, um dann gegen Aballisters Schutzsphäre zu prallen und bunte Funken in alle Richtungen abzugeben. »Verdammt!« grollte Aballister wieder. Cadderly bemerkte die Enttäuschung und fragte sich, ob dem Zauberer wohl die Angriffssprüche ausgingen oder seine Kugel nicht mehr lange halten würde. Der zerschundene junge Priester klammerte sich an diese Hoffnung, nahm Aballisters offenkundige Verstimmung als Litanei gegen den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit. Ein neuer Blitzschlag jagte knisternd heran, diesmal ganz tief, so daß er ein Loch in den Teppich riß und unter Cadderlys Schild schlüpfte. Der junge Priester fühlte die Explosion unter seinen Füßen und merkte, wie er plötzlich durch die Luft wirbelte. »Kein besonders großer Schild!« rief Aballister aus, dessen Stimme wieder vor Selbstvertrauen strotzte. »Und sag mir doch, wie geht er mit Winkeln um?« Cadderly, der auf dem Boden lag, um Atem rang und die Wirkung des Schlags abzuschütteln versuchte, erkannte, daß er sterben würde. Er konzentrierte sich auf die letzte Frage des
Zauberers, den er wieder reden sah. Er hielt diesen Metallstab, blickte aber zur Seite, an die Wand. Verzweiflung überkam den jungen Priester, ein instinktiver Überlebensdrang, der vorläufig allen Schmerz betäubte. Er hörte das Lied von Deneir, erinnerte sich an die Brücke, die er in Carradoon hatte einstürzen lassen, und an die Felsen in dem Bergtal, die er zum Beißen gebracht hatte. Hektisch suchte er nach der elementaren Zusammensetzung der Wand hinter sich. Aballisters Blitzschlag traf die Seitenwand und prallte im rechten Winkel von ihr ab. Doch Cadderly griff nach der Wand hinter sich, erfaßte mit seiner magischen Energie den Stein und zog einen Teil davon heraus, den er umformte. Der Blitzschlag traf die hintere Wand und wäre wieder im perfekten Winkel abgeprallt, um Cadderly zu vernichten, nur war die Oberfläche der Wand verändert und zeigte nun in eine andere Richtung. Der zuckende Blitz schoß quer durch den Raum, wo er wieder gegen den Schutzschild des Zauberers prallte und harmlos in bunte Funken zerstob. Cadderly, der immer noch auf dem Boden lag, schloß die Augen und überließ sich ganz dem Lied. Weitere magische Geschosse kamen an, umzuckten das Spiegelfeld und versuchten, den jungen Priester zu versengen. Das heilige Lied drängte Cadderly, in seine süßesten Töne zu verfallen, die Töne der heilenden Magie, aber Cadderly wußte, daß die Verzögerung, die dadurch entstehen könnte, daß er sich um seine eigenen Wunden kümmerte, nur weitere Angriffe des Zauberers provozieren würde. Er verschob das Lied in eine andere Richtung, hörte das Krächzen seiner schmerzgeplagten Stimme und glaubte, er müßte an dem beißenden Rauch bald ersticken. Ein neues Geschoß traf sein Gesicht und verbrannte ihm die Wange, als wäre es bis zum Knochen gedrungen.
Cadderly sang mit aller Kraft, folgte dem Lied in die Elementarebene des Feuers und zog daraus einen lodernden Flammenball, der einen Feuerstrahl auf den Zauberer abschoß. Cadderly sah nichts davon, doch er hörte Aballisters gequälten Aufschrei und wie sich Schritte über den Steinboden des Gangs hinter dem Raum entfernten. Der Rauch wurde immer dichter, würde ihn ersticken. Er mußte hier raus! Cadderly versuchte, die Luft anzuhalten, fand aber keine Luft, die er hätte anhalten können. Er versuchte, nach dem Lied zu greifen, aber sein Verstand war zu taub, zu erfüllt von wirren Bildern von seinem bevorstehenden Tod. Er trat und kroch und zog sich blind an zerrissenen Teppichkanten weiter, immer in der Hoffnung, sich an den richtigen Weg aus diesem Raum zu erinnern.
Waffenstillstand? Danica starrte Dorigen eine ganze Weile verständnislos an. Sie war sich über ihre Gefühle im unklaren und von der Neuigkeit, die Dorigen ihr gerade mitgeteilt hatte, wie vom Donner gerührt, so daß sie jetzt keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte. Und was sollte Danica mit dieser gefährlichen Gegnerin anstellen, der Frau, gegen die sie schon früher gekämpft hatte, der Frau, die Cadderly auf ihr Geheiß hin hatte töten sollen, als er Dorigen im Wald von Shilmista hilflos vor seinen Füßen liegen hatte? »Ich habe nicht die Absicht, mich hier einzumischen«, sagte Dorigen, die einige der Fragen beantworten wollte, die deutlich auf Danicas feinen Zügen geschrieben standen. »Gegen Cadderly oder gegen Euch und Eure anderen Freunde.« Andere Freunde! In dem ganzen Irrsinn der letzten paar Minuten – dem Kampf gegen die Hydra, dem verzweifelten
Versuch, zu dem Zauberer zu gelangen – hatte Danica die anderen fast vergessen. »Wo sind sie?« wollte sie wissen. Dorigen breitete erstaunt die Hände aus. »Wir wurden in einem Gang getrennt«, erklärte Danica, als sie erkannte, daß Dorigen wahrscheinlich nicht wußte, auf welchem Weg sie in diesen Raum gelangt waren. »Ein Gang mit vielen Fallen. Dunkelheit hat uns umschlossen, und das Ende des Gangs legte sich schief, wenn man darüber gehen wollte.« »Der Bereich der Kleriker«, unterbrach Dorigen. »Sie sind recht gewitzt darin, ihr Territorium zu verteidigen.« Der deutlich herablassende Tonfall bei der Erwähnung der Kleriker ließ Danica hoffen, daß die sichtliche Rivalität in Burg Trinitatis eine Schwäche anzeigen könnte. »Die Zwerge und die Elfenfrau sind durch Falltüren gefallen«, fuhr Danica fort, obwohl sie sich fragte, ob sie ihrer Feindin womöglich Informationen gab, die ihren vermißten Freunden schaden konnten. Sie hatte allerdings das Gefühl, Dorigen vertrauen zu dürfen. Sie mußte Dorigen vertrauen, und diese Erkenntnis ließ sie doppelt auf der Hut sein, denn wieder stieg die Angst in ihr auf, daß die Zauberin sie mit irgendeinem Spruch belegt hatte. Danica wandte sich nach innen, griff auf ihre Disziplin und ihren starken Willen zurück. Nur wenige Bannsprüche konnten einen Menschen von ihrer strengen mentalen Ausbildung beeinflussen, besonders, wenn ihr bewußt war, daß so ein Einfluß vorhanden sein könnte. Als sie sich wieder auf Dorigen konzentrierte, schüttelte die Zauberin langsam und mit ernster Miene den Kopf. »Der Riese ist durch einen Seitenschacht gerutscht«, fuhr Danica fort, die ihren Gedanken zu Ende führen wollte, ehe die Frau einen bösen Einfluß auf sie ausüben konnte. »Dann ist es dem Riesen vermutlich besser ergangen als den anderen«, sagte Dorigen. »Der Schacht müßte ihn in einen der unteren Gänge gebracht haben, aber die Falltüren …« Sie ließ
den Gedanken unheilvoll in der Luft hängen, während sie langsam den Kopf schüttelte. »Wenn sie tot sind …«, warnte Danica, die ihre Worte ebenso unvollendet stehen ließ. Als Dorigen hinter ihrem Tisch aufstand, nahm Danica eine Verteidigungsstellung ein. »Mal sehen, was aus ihnen geworden ist«, antwortete die Zauberin, die sich von der Drohung offensichtlich nicht beirren ließ. »Dann können wir besser entscheiden, was wir als nächstes tun sollten.« Danica hatte gerade begonnen, sich aufzurichten, als die Tür aufflog und eine Abordnung aus mehreren bewaffneten Wachen, sowohl Menschen als auch Orks, hereinkam. Danica sprang sofort auf Dorigen zu, doch die Zauberin murmelte einen schnellen Spruch und verschwand, so daß die Adeptin ins Leere griff. Danica fuhr herum, um sich den sechs Soldaten zu stellen, die bereits mit gezogenen Waffen ausfächerten. »Halt!« erklang ein Schrei, als Dorigen an der Wand hinter den Soldaten wieder auftauchte. Die Soldaten blieben stehen und starrten Dorigen ungläubig an. »Ich habe einen Waffenstillstand ausgehandelt«, erklärte Dorigen. Sie sah Danica genau in die Augen, als sie fortfuhr: »Der Kampf ist beendet, zumindest so lange, bis wichtigere Fragen geklärt sind.« Keiner der Kämpfer steckte sein Schwert ein. Sie blickten von Danica zur Zauberin, dann sahen sie einander verständnislos an, als ob sie eine Täuschung befürchteten. »Was fallen Euch ein?« herrschte ein bulliger Ork die Zauberin an. »Wir fünfzig Tote im Speisesaal.« Danicas Augen funkelten bei dieser Nachricht. Vielleicht lebten ihre Freunde wirklich noch. »Fünfzig Tote, und wo sind die Feinde?« mußte Danica fragen.
»Klappe!« brüllte der Ork sie an, doch Danica lächelte angesichts seines ungezügelten Zorns. Ein Ork sorgte sich selten um tote Kameraden, solange die Drohung für seine eigene wertlose Haut ausgemerzt war. »Der Waffenstillstand gilt«, erklärte Dorigen. Der bullige Ork sah zu dem Soldaten neben sich, einem anderen Ork, dessen schmutzige Hände begierig seinen Schwertgriff massierten. Danica wußte, daß sie wortlos entschieden, ob sie angreifen sollten oder nicht, und es sah so aus, als ob die Zauberin derselben Meinung war, denn sie sang bereits leise. Dorigen wurde wieder unsichtbar. Die Orks wandten sich Danica zu, brüllten und rückten vor. Dorigen tauchte unmittelbar vor dem bulligen Ork wieder auf. Sie hielt die Hände vor sich ausgestreckt, so daß sich die Daumen ihrer weit gespreizten Finger berührten. Der Ork warf schützend die Arme hoch, doch die Flammenbündel, die plötzlich aus den Fingerspitzen der Zauberin schossen, rollten über die armselige Fleischbarriere hinweg und versengten dem Ungeheuer Gesicht und Brust. Der andere Ork drang unmittelbar auf Danica ein. Sie lief auf den Tisch zu und nahm Anlauf, als ob sie hinüberspringen wollte. Der Ork drehte sich zur Seite, doch Danica hielt in der Bewegung inne und trat sein Schwert dann weit nach außen. Der Ork wollte die Waffe zurückziehen, aber Danica erwischte sein Handgelenk und fing dann mit ihrer freien Hand sein Kinn. Sie ließ den Kopf des Ungeheuers einmal kräftig nach hinten und wieder nach vorn schnellen, dann versetzte sie ihm einen kurzen Boxhieb in den Hals, der ihn zu einem japsenden Häufchen zusammensinken ließ. Augenblicklich stand Danicas Fuß seitlich auf dem Gesicht des Orks, um ihm den Hals zu brechen, falls einer seiner Kameraden näher kam.
Sie kamen nicht, und alle bis auf einen hatten ihre Waffen wieder eingesteckt. Der letzte Feind, der noch sein Schwert hielt, sah Dorigen und die rauchende Leiche vor ihr an, dann die wilde Danica und beschloß eilig, daß seine restlichen Freunde klug beraten gewesen waren, ihre Waffen einzustecken. »Ich verfüge einen Waffenstillstand«, knurrte Dorigen die Soldaten an, und keiner von ihnen deutete noch durch irgendeine Bewegung an, daß er nicht einverstanden war. Dorigen drehte sich zu Danica um und nickte ihr zu: »In den Speisesaal.« Cadderly lag auf dem Steinboden, wo er röchelnd Luft in seine ausgedörrte Kehle sog, während die Feuer im Raum hinter ihm erstarben, nachdem sie die magisch erschaffene Einrichtung – Vorhänge, Wandbehänge, Teppich und Holz – verzehrt hatten. Cadderly begriff, daß dieser eindrucksvolle Gang ganz dem Bild von Stein entsprach, magische Felder, die zu dicht waren, um einfach von Flammen entzündet zu werden. Der junge Priester fühlte sich vor allem Feuer sicher, und er fand es bemerkenswert, daß die Eigenschaften solcher extradimensionaler Taschen denselben physikalischen Gesetzen folgten, die das echte Material beherrschten. Welche Möglichkeiten mochten sich eröffnen, wenn er durch Magie etwas außerhalb der bekannten Dimensionen erschuf und auf seine eigene Ebene zurückbrachte? Cadderly speicherte diesen Gedanken im Hinterkopf, erinnerte sich aber daran, daß seine gegenwärtige Aufgabe viel drängender war als alle hypothetischen Möglichkeiten, die durch seine stets forschenden Gedanken zuckten. Er zwang sich auf die Knie und bemerkte die rußigen Fußspuren auf dem Boden, deren lange Abstände und kleine Abdrücke ihm verrieten, daß Aballister den Raum überstürzt verlassen hatte.
Ein Dutzend Schritte weiter, wo sich auf jeder Seite des Gangs mehrere Türen befanden, hatte der Zauberer offenbar bemerkt, daß er eine deutliche Spur hinter sich herzog, denn sie verschwand einfach, womit es Cadderly überlassen blieb auszuknobeln, welchen Weg Aballister genommen hatte. Noch kniend zog Cadderly die Armbrust heraus und lud einen explosiven Bolzen. Er legte die Waffe neben sich auf den Boden und stellte mit stillem Nicken fest, daß er Aballister gegenüber einen Vorteil hatte, den größten Vorteil eines Klerikers gegenüber einem Zauberer. Cadderly fand, daß Aballister unklug gehandelt hatte, als er den Zweikampf abbrach, ganz gleich, wie schwer ihn Cadderlys Flammensäule verletzt hatte, denn jetzt verfiel der junge Priester in das Lied des Deneir und ließ sich von ihm dorthin tragen, wohin es ihn vorhin schon gedrängt hatte, in die Sphäre der Heilung. Er strich mit der Hand über seine verbrannte Wange, schloß die Wunde und ließ die Haut perfekt wieder zusammenwachsen. Dann legte er seine Hand fest an die Stelle auf seiner Brust, wo der Blitzschlag ihn getroffen hatte. Als er nur wenige Minuten später die Armbrust nahm und aufstand, kamen ihm seine Verletzungen nicht mehr sehr schlimm vor. Aber wohin sollte er jetzt gehen? Und welche Fallen und Schutzrunen hatte der schlaue Aballister für ihn vorbereitet? Er ging auf die nächste Tür zu, eine einfache, unauffällige Tür zur Linken. Er prüfte sie auf auffällige Fallen, dann rief er seine Magie zu Hilfe, um sie genauer zu untersuchen. Unauffällig anscheinend und nach allem, was Cadderly feststellen konnte, unverschlossen. Er holte tief Luft, um sich zu wappnen, hielt die Armbrust vor sich, ergriff mit einer Hand den Türknauf und drehte diesen langsam. Er hörte ein deutliches Klicken und ein zischendes Geräusch. Die Tür flog ihm aus der Hand, riß im Handumdrehen auf. Ein ungestümer Wind griff nach Cadderly und zerrte ihn auf
die Schwelle. Seine Augen weiteten sich vor Furcht, als ihm bewußt wurde, daß dies ein Tor zu einer weiteren Ebene war – den drohenden Schatten und dem beißenden Rauch nach, mit denen die grenzenlose Region vor ihm angefüllt war, eine der bösen Unteren Ebenen. Er griff nach dem Türknauf und hielt sich mit aller Kraft daran fest, ohne dabei seine kostbare Armbrust loszulassen. Mit den Füßen voran hing er waagerecht ausgestreckt in die neue Ebene hinein. Ein beängstigendes Kitzeln lief über seinen Körper, ein Gefühl, daß böse Wesen in seiner Nähe waren und ihn berührten! Der Sog war zu stark; Cadderly wußte, daß er nicht lange durchhalten konnte. Er ließ seine Hände, wo sie waren, und zwang sich zur Ruhe. Wie schon in dem vorherigen Raumbenutzte er seine Magie, um die Magie dieses Gebietes, der Tür und der Schwelle zu untersuchen. Der gesamte Durchgang war natürlich magisch, aber ein bestimmter Bereich fiel Cadderly auf, weil seine Ausstrahlung anders und intensiver war als die der Felder, die ihn umgaben. Der junge Priester ließ mit einer Hand los, richtete seine Armbrust aus und spannte sie. Er konnte nicht sicher sein, ob dies der Ort des eigentlichen Tors war, der direkte Schlüssel zu der Grenze zwischen den Ebenen, aber seine Handlungen wurden von der Verzweiflung diktiert. Er legte die Armbrust an und drückte ab. Sein Schuß traf nicht ins Ziel, jedoch immerhin so nahe, daß die anschließende Explosion den Zielbereich mit einschloß. Der Wind hörte auf. Cadderlys Instinkt und sein wachsendes Verständnis für die Magie forderten ihn dringend auf, über die Schwelle zu rollen, die Beine anzuziehen und die Hände vom Türknauf zu lösen. Er war klug genug, diese Instinkte nicht zu hinterfragen, und warf sich schnellstens über die Schwelle, gerade noch vor der plötzlich zuklappenden Tür.
Die Tür knallte ins Schloß, erwischte Cadderly dabei und versetzte ihm noch einen Stoß. Erst auf der anderen Seite des Gangs blieb er mit Prellungen an Beinen und Hinterteil liegen. Als er zurückblickte, staunte er, denn die Tür schwoll an und veränderte ihre Gestalt, verkantete sich derart an ihrem Platz, daß sie mit dem Türrahmen zu verschmelzen schien. Offenbar schützte Aballisters extradimensionales Haus sich selbst vor solchen zerrissenen Übergängen zwischen den Ebenen. Cadderly brachte ein Lächeln zustande. Er war froh, daß Aballisters Werk so vollständig und weitsichtig war, froh, daß er nicht irgendwo in einer formlosen Region zwischen den bekannten Ebenen hing, wo gar nichts war. Zehn Schritte weiter warteten noch zwei Türen auf ihn. Die eine war unauffällig wie die, mit der Cadderly gerade Bekanntschaft gemacht hatte, aber die andere war mit schweren Eisenbändern beschlagen und wies ein Schlüsselloch unter dem Griff auf. Cadderly suchte nach Fallen, prüfte an den Rändern jeden Bereich, der ihm verraten mochte, ob auch dies ein Portal zu einer anderen Ebene darstellte. Es war nichts Gefährliches zu entdecken, deshalb griff er zu und drehte langsam den Griff. Die Tür war verschlossen. In den nächsten paar Sekunden kam Cadderly mehr als einmal in den Sinn, daß Aballister runter dieser Tür noch eines seiner kleinen Ungeheuer beherbergen konnte. Wenn Cadderly die Tür aufsprengte, mußte er womöglich gegen eine weitere Hydra oder gar Schlimmeres antreten. Andererseits konnte natürlich auch Aballister hinter dieser Tür stecken, sich erholen und teuflische Zauber vorbereiten. Cadderly brachte seine Armbrust auf gleiche Höhe mit dem Schloß und feuerte, wobei er gegen den erwarteten Blitz die Augen schloß. Er nutzte den Moment, um einen weiteren Bolzen abzufeuern, und als er wieder hinsah, fand er ein verbranntes Loch, wo Schloß und Griff gewesen waren, und die Tür hing lose in ihren Angeln.
Cadderly duckte sich zur Seite und stieß die Tür mit schußbereiter Armbrust auf. Die Armbrust sank herunter, und er lächelte wieder erfreut, als ihm bewußt wurde, was dieser Raum beherbergte – ein Alchimistenlager. »Was könnte dich aus deinem Versteck locken, Zauberer?« murmelte der junge Priester in sich hinein. Er stieß die Tür runter sich wieder zu und ging zu den Tischen mit den Bechergläsern. Cadderly hatte viel über Tränke und magische Zutaten gelesen, und obwohl er kein Alchimist war, wußte er, welche Bestandteile er gefahrlos mischen durfte. Und – wichtiger für das, was der junge Priester jetzt im Sinn hatte – welche nicht. Ivan und Pikel führten den Angriff durch den Gang, durch einen Seitenraum und aus einer Hintertür dieses Raums in einen weiteren Gang. Vander folgte ihnen brüllend auf dem Fuß. Noch immer hielt er Shayleigh im Arm, obwohl die Elfenkriegerin bei Bewußtsein war und verlangte, daß er sie absetzte. Während dieses ersten eiligen Davonrennens stellten sich den Freunden keine Feinde entgegen. Die feindlichen Soldaten, die ihnen begegneten, selbst zwei Oger, stolperten über ihre eigenen Füße, während sie Hals über Kopf davonrannten. Ivan, der schwerer verwundet war, als er freiwillig zugegeben hätte, ließ sie rennen. Der Zwerg wollte nur Cadderly und Danica finden – oder einen Ort, wo er und seine drei Gefährten sich verstecken und erholen konnten. Als sie aus der Hintertür eines weiteren Raums kamen, überraschten die Zwerge einen Mann, der gerade von der anderen Seite her eintreten wollte. Er hatte eben den Türgriff angefaßt, als Pikels Keule dagegen schlug und ihn quer durch den Gang gegen die Wand fliegen ließ. Beide Zwerge rannten durch den Korridor und fielen über ihn her, Ivan mit einem linken Haken, Pikel mit einem rechten, und trafen den Kopf des unglückseligen Mannes von beiden Seiten.
Ivan dachte kurz daran, den bewußtlosen Soldaten zu töten, während seine Freunde vorbeieilten, aber er schulterte seine Axt und rannte hinter ihnen her. »Verdammter Jungspund«, knurrte er. Er meinte Cadderly, dessen ständige Mitleidsforderung ihm anscheinend doch zugesetzt hatte. »An der Seite!« schrie Shayleigh, als Vander und Pikel an der Öffnung eines Seitengangs vorbeirannten. »Ooh!« quiekte Pikel, der mit dem Firbolg weiterflitzte, während hinter ihnen eine Gruppe feindlicher Soldaten eilig um die Ecke bog. Ivan donnerte mitten in die Truppe hinein und schlug mit seiner großen Axt nach allen Seiten. Zwanzig Fuß weiter vorne setzte Vander Shayleigh ab, die sofort ans Werk ging und einen Pfeil anlegte. Der Firbolg drehte sich neben Pikel um, um zu Ivans Rettung durchzubrechen. Die beiden hatten kaum einen Schritt getan, als Shayleigh ausrief: »Andere Seite!« Und tatsächlich drang eine große Zahl Feinde unter der Führung einer Gruppe Oger aus einem anderen Seitengang weiter hinten in den Korridor vor. Shayleigh sandte drei Pfeile in rascher Folge aus, wodurch sie einen der vordersten Oger niederstreckte, doch dessen Platz wurde gleich von einem anderen eingenommen, der einfach über den Rücken seines gestürzten Kameraden trampelte. Shayleigh feuerte wieder, erzielte einen neuen Treffer und legte den nächsten Pfeil auf ihre Sehne. Sie konnte die Feinde jedoch nicht zurückhalten. Auch wenn jeder Schuß perfekt gelang und jeder einen Gegner tötete, würde sie gewiß überrannt werden, wo sie stand. Sie feuerte wieder, und dann war der Oger bei ihr – mit hoch erhobener Keule und einem Siegesschrei. Vanders Unterarm traf ihn vors Kinn und schleuderte ihn zwischen seine Kameraden zurück. Das große Schwert des
Firbolgs schlug einmal zu, riß dem nächsten Oger den Bauch auf und trieb die Feinde weiter zurück. Ivan hackte drauflos und wirbelte herum. Jeder Schlag war ein Treffer. Er sah einen Arm von einem Orkleib wegfliegen und lachte grimmig, doch das Lachen verging ihm, als er sich weiter drehte und ihn die Keule eines Goblins mitten ins Gesicht traf und ihm dabei einen Zahn ausschlug. Benommen, aber immer noch ausholend, taumelte der Zwerg zurück und zur Seite, um irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Er wußte, wenn er fiel, würde er überwältigt werden. Er hörte seinen Bruder von gar nicht so weit her rufen, hörte einen Feind grunzen und stöhnen, als Pikels Keule hart auf bloße Haut traf. Etwas schlug Ivan gegen die Stirn. Von seinem eigenen Blut geblendet, hackte er los und traf etwas Festes. Wieder hörte er Pikel, diesmal neben sich, und stolperte einen Schritt in seine Richtung. Eine Ogerkeule erwischte den gelbbärtigen Zwerg unten am Rücken, so daß er sich überschlagend durch die Luft flog. Er stieß gegen mehrere Gegner und als letztes gegen Pikel, den er unter sich begrub. Pikel hievte Ivan hinter sich und sprang wieder auf die Beine, um mit seiner Keule wild auf den zappelnden Haufen vor sich einzuschlagen. Er quiekte hektisch, Ivan solle sich ihm anschließen, und dieser versuchte das auch, stellte aber fest, daß seine Beine dem Ruf seines Hirns nicht Folge leisteten. Ivan wollte aufstehen und sich neben seinen Bruder stellen. Erst da wurde ihm bewußt, daß er irgendwie seine Axt verloren hatte, daß er nichts sehen und nicht stehen konnte. Finsternis überwältigte seine Gedanken wie zuvor seine Augen, und das letzte, was er fühlte, waren schmale, aber kräftige Hände, die ihn an den Schultern erfaßten und rückwärts über den Boden schleppten.
Im Eingang zum Speisesaal wurden sie vom Stöhnen und Schreien der Verwundeten begrüßt. Danica wollte loslaufen, denn ihre erste Eingebung war, daß sie in diesem Blutbad nach ihren Freunden suchen mußte. Doch sie blieb sofort stehen und fuhr herum, beide Hände kampfbereit in Position. Der Anblick ihrer toten Kameraden hatte die Soldaten, die Danica und Dorigen begleiteten, in Wut gebracht, und zwei von ihnen standen unmittelbar mit erhobenen Speeren vor der Adeptin. Ihre Gesichter zeigten, daß sie zu kämpfen gewillt waren. »Der Waffenstillstand gilt«, sagte Dorigen, die sich von den Haufen toter und verstümmelter Trinitatis-Soldaten nicht im mindesten überrascht zeigte. Einer der Speerkämpfer wich zurück, doch der andere stand ungerührt und reglos da, als ob er sich entscheiden müßte, ob die Folgen seines Ungehorsams die Befriedigung übersteigen würden, diesen Eindringling aufzuspießen. Danica las seine Gedanken genau richtig, sah den kochenden Haß in seinen Augen. »Tu's doch«, drängte sie, denn sie war genauso darauf versessen, ihn zu bekämpfen. Dorigen legte dem Mann eine Hand auf den Rücken. Elektrische Spannung baute sich im Körper der Zauberin auf, lief ihren Arm hinunter und durch ihre Finger und ließ den Mann mehrere Fuß weit fliegen. Er fiel zu Boden, dann richtete er sich verdutzt in eine sitzende Haltung auf. Die Schulter seiner Ledertunika rauchte, die metallene Speerspitze war zersprungen, und seine Haare standen knisternd nach allen Seiten ab. »Beim nächsten Mal stirbst du«, versprach Dorigen ihm und den anderen Soldaten, die unsicher in der Nähe herumstanden, finster. »Der Waffenstillstand gilt.« Die Zauberin nickte Danica zu, welche sich sofort im Raum umsah. Bald hatte sie herausgefunden, daß ihre Freunde sich hinter der kleinen Theke an der Rückseite des Saals wacker
geschlagen hatten. Den Weg zu finden, auf dem sie diesen Ort verlassen hatten, war nicht schwer, denn er war blutgetränkt. »Herrin Dorigen!« rief ein Mann, der hinter der Zauberin und ihren Soldaten hereingestürmt kam. »Wir haben sie!« Danicas Mandelaugen flackerten bei dieser schmerzlichen Nachricht. »Wo?« wollte Dorigen wissen. »Zwei Gänge weiter«, berichtete der Mann strahlend, doch sein Lächeln ließ nach, als er Danica frei herumrennen sah. Er packte seine Waffe fester, aber obwohl er gründlich verwirrt war, machte er keine sofortigen Anstalten, die gefährliche Mönchin zu bedrohen. »Sind sie tot?« fragte Danica. Der Mann sah Dorigen um Erklärung heischend an. Sie nickte ihm zu, damit er antwortete. »Letzten Meldungen zufolge sind sie am Leben«, berichtete er, »aber ganz umstellt und ziemlich bedrängt.« Wieder war Danica von Dorigens ehrlich bestürztem Gesichtsausdruck überrascht. »Schnell«, sagte die Zauberin zu ihr, nahm Danicas Hand und rannte los. Die verwirrten Soldaten von Burg Trinitatis nahmen hinter ihnen Formation an. Pikel sprang im Korridor vor und zurück, um mit seiner Keule die feindliche Linie zurückzuhalten, während Shayleigh um ihn herum tödliche Schüsse abfeuerte. »Oger!« hörte sie Vander schreien und mußte sich umdrehen. Ein Oger war an dem grimmigen Firbolg vorbeigeschlüpft und kam auf die Elfin zu. Sie riß schnell den Bogen hoch und feuerte schnurgerade auf den Oger, in dessen Fleischmassen ihr Pfeil verschwand. Doch das hielt das Ungeheuer nicht auf, und der Keulenschlag, den es Shayleigh verpaßte, ließ sie rückwärts gegen die Wand krachen, wo sie
über Ivan kippte. Schon halb ohnmächtig, versuchte sie, ihren Bogen neu zu spannen, während der Oger vorrückte. Pikel warf einen Blick über die Schulter – und ein Schwert drang über seine gesenkte Keule in seinen Oberarm. »Au«, stöhnte er und drehte sich gerade rechtzeitig um, um ein zweites Schwert von der anderen Seite her zu sehen, das seinen anderen Arm aufriß. »Au.« Der Zwerg schoß zu einem Scheinangriff nach vorne, worauf seine Feinde zurückwichen, dann fuhr er herum, und der Schwung seiner Kehrtwendung übertrug sich auf seine weitausholende Keule. Der Oger brüllte, als sein Hüftgelenk laut knackte und er seitlich einknickte. Shayleighs nächster Pfeil drang ihm in die Brust; Vanders schweres Schwert riß eine klaffende Wunde in seine Seite. Er fiel der Länge nach über Pikel, der nur noch »Ui, ui« murmelte und sich nach vorn warf, um schleunigst zu verschwinden. Ein Mann hinter Pikel, der nur auf den Zwerg aus war, reagierte nicht schnell genug und wurde unter sechshundert Pfund Ogerfleisch begraben. Pikel lag platt auf dem Boden, wo er mühsam an den Hüften des niedergestreckten Ogers vorbei zwischen dessen Beinen hinauskroch. Andere Feinde waren über den Rücken des Ungeheuers geklettert und warteten auf den Zwerg, auf den sie einstachen, als er wieder auftauchte. Wiederholt quiekte er »Au! Au!«, während er einen schmerzhaften Treffer nach dem anderen einsteckte, aufzustehen versuchte und sich umdrehen wollte, damit er die Waffen abwehren konnte, die über ihn gekommen waren. Ein Pfeil durchschnitt die Luft über ihm. Er nutzte die Ablenkung und den Schutz eines stürzenden Feinds, um sich ganz unter dem gefällten Oger herauszurollen. Drei stolpernde
Schritte brachten ihn neben Shayleigh, die jetzt ihr Schwert tief vor sich hielt, aber nur unsicher stand. Weitere Keulen und Dolche flogen auf den Zwerg zu. Pikels Abwehrbewegungen fingen einige ab. Neugierig blickte er einen Dolchgriff an, der zitternd aus seiner Schulter ragte, neugierig sah er auch seinen Arm an, der plötzlich schlaff am Körper herunterhing. Er versuchte, sich zurückzuziehen, stolperte und fiel über Shayleigh, ohne die Kraft zu haben, noch einmal aufzustehen. Am Boden liegend und aus nur noch mühsam offengehaltenen Augen nahm Shayleigh die vorsichtige Annäherung der feindlichen Horde wahr, aber ihr schwindendes Bewußtsein begriff die furchtbaren Konsequenzen bereits nicht mehr. Die Elfenfrau sah nur noch Schwärze, als ein schwerer Stiefel genau vor ihrem Gesicht auf den Stein donnerte, der Absatz nur einen Fingerbreit vor ihrer blutenden Nase.
Trumpf Cadderly rannte aus dem Alchimistenlager und zog die gesprengte Tür hinter sich zu. Einen Augenblick später lag der junge Priester der Länge nach auf dem Boden, und die Tür war nur noch ein Häufchen brennender Zunder an der gegenüberliegenden Wand des Gangs. Cadderly hatte nicht erwartet, daß die Mischung so schnell reagieren würde! Er kam wieder auf die Beine und lief los. Als eine zweite Explosion diesen Bereich erschütterte, welche die Tür gegenüber dem Alchimistenlager zerschmetterte und in den Wänden des Gangs Risse erscheinen ließ, konnte er sich aufrecht halten. Cadderly bog um eine Ecke. Im Zurückblicken sah er, daß ein Feuerball den Bereich erfaßt hatte. Er konnte nur hoffen, daß die zweite Tür, die er zerstört hatte, nicht ein weiteres
Portal zu den Unteren Ebenen war und daß keine Ungeheuer von dort hinter ihm in den Korridor sprangen. Er rannte an einer weiteren Tür vorbei und kam bei der nächsten abrupt zum Stehen. Diese bestand aus Eisen, nicht aus Holz, und stand offen. »Was hast du getan?« ertönte ein wütender Ruf von drinnen. Dich gezwungen, dich mir zu stellen, antwortete Cadderly schweigend, während ein zufriedener Ausdruck die Anspannung aus seinem Gesicht vertrieb. Langsam ging er zu der Tür und stieß sie ganz auf. Käfige und Glaskästen in verschiedenen Größen säumten die Wände des riesigen Raums, und der junge Priester wurde von tumultartigem Knurren und Kreischen begrüßt. Der Zauberer stand gegenüber von einer weiteren Tür zwischen den vier größten Käfigen. Drei von ihnen waren leer – waren dort der Mantikor, die Chimäre und die Hydra untergebracht gewesen? –, aber der vierte enthielt ein Wesen, das zu einem wahrhaft furchterregenden Ungeheuer heranwachsen würde. Ein junger Drache mit glänzend schwarzen Schuppen kniff bösartig die Reptilaugen zusammen, während er Cadderly beobachtete. Cadderly bemerkte, daß die Schultern des Zauberers ein wenig zitterten, und er schloß daraus, daß die magischen Energien des erschöpften Mannes allmählich zur Neige gingen. Und die Flammensäule des jungen Priesters hatte Aballister verletzt – der Hals des Zauberers war auf einer Seite rot und blasig, und seine Robe hing in Fetzen. Eine weitere Explosion erschütterte das extradimensionale Gebäude. Aballister biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Worte kamen als einziges Grollen heraus. Cadderly wußte nicht, wie er reagieren sollte. Sollte er verlangen, daß der Mann sich ergab? Auch er selbst war müde,
vielleicht genauso müde wie der alte Zauberer. Vielleicht war dieser Kampf noch lange nicht ausgestanden. »Ihr hattet kein Recht zu Eurem Angriff auf den Wald von Shilmista«, sagte der junge Priester so ruhig wie möglich. »Genausowenig wie Barjin mit seinem Überfall auf die Erhebende Bibliothek.« Der Zauberer grinste. »Und was war mit der Attacke in Carradoon?« fragte er dreist. »Als ich die Nachtmasken ausgeschickt habe, um dich zu töten.« Cadderly nahm an, daß der Mann ihn zum Handeln herausfordern wollte. Er wollte Cadderly ködern, damit dieser den ersten Schritt tat. Wieder sah der junge Priester zu dem schwarzen Drachen, der ihn hungrig anstarrte. »Es bleibt immer noch die Möglichkeit, sich zu ergeben«, bemerkte Cadderly im Versuch, dem Zauberer an Selbstsicherheit gleichzukommen. »Vielleicht akzeptiere ich deine Unterwerfung«, erwiderte Aballister sarkastisch, »vielleicht auch nicht!« Die dunklen Augen des Zauberers blitzten plötzlich auf, und seine Hände begannen zu kreisen. Augenblicklich hatte Cadderly seine gespannte Armbrust zur Hand und schoß den Bolzen ohne das geringste Zögern auf Aballister ab. Sein Schuß war gut gezielt, doch der Bolzen prallte vom neuesten magischen Schild des Zauberers ab und wurde hoch an die Rückwand abgelenkt, in die er ein sauberes Loch riß. Funken glimmten an den verbrannten Rändern, und die Wucht der Explosion drohte die bindende magische Energie aufzulösen – magische Energie, die bereits durch die anhaltenden Explosionen aus dem Alchimistenlager beansprucht war. Sobald der Bolzen weit danebenging, wußte Cadderly, daß er verwundbar war. Da er einen gewöhnlichen Angriff gewählt hatte, konnte er keinen Abwehrschirm mehr aufbauen. Zum Glück kam der Angriff des Zauberers in Form von Feuer, das
Aballister als Flammenball durch den Raum schleuderte. Das Feuer kam genau auf Cadderly zu und hätte ihm Gesicht und Haare verbrannt, wenn von seiner Schutzsphäre nicht noch so viel übrig gewesen wäre, daß die Flammen in einen grünen Glanz umgewandelt wurden. Der junge Priester erholte sich schnell von seinem Schrecken und griff bereits in seinen Beutel, um ein paar Samen zurückzuwerfen. Doch dann ließ Cadderly sie einfach in den Beutel zurückrieseln und wurde fast ohnmächtig, denn jetzt war weder er am Zug noch der Zauberer. Der schwarze Drache spie zwischen den Gitterstäben seines Käfigs einen Säurestrahl hervor. Cadderly schrie auf und warf sich blitzschnell zur Seite. Er riß nicht die Arme vor sich hoch, wie sein Instinkt es von ihm forderte – wenn er das getan hätte, wären sie ganz sicher verätzt worden. Er nutzte eine Technik, die Danica ihm beigebracht hatte, sich so gut wie möglich aus dem Weg zu werfen. Die Säure streifte seine Brust, wo sie die Haut verätzte. Als Cadderly über den Boden rollte, sah er, daß seine Tunika in Brand geraten war. Auch sein Bolzengurt brannte. Sein Bolzengurt brannte! Schreiend vor Schrecken und Schmerzen kam der junge Priester auf die Knie und riß sich den Gurt über den Kopf. Aballister, der anscheinend glaubte, daß das Blatt sich zu seinen Gunsten gewendet hatte, schenkte Cadderlys hektischen Bewegungen keine Beachtung, denn er war tief in seinen nächsten Spruch versunken. Cadderly ließ den brennenden Gurt ein paar Mal über dem Kopf kreisen und schleuderte ihn dann quer durch den Raum, um sofort danach in Deckung zu gehen und sich fest zusammenzurollen, beide Hände hinter dem Kopf verschränkt. Aballister schrie zu Tode erschrocken auf, und der Drache brüllte, als der erste der magischen Bolzen explodierte.
Eine nach der anderen zündeten die winzigen Bomben, jede Explosion scheinbar lauter als die vorhergehende. Metallspitzen und Bolzenenden sausten durch den Raum, prallten von Gitterstäben und Steinmauern ab und zerschlugen Glas. Cadderly konnte die Explosionen nicht zählen, doch er wußte, daß noch weit über dreißig Bolzen in dem Gurt gewesen waren. Instinktiv zog er die Arme fester über den Kopf und schrie immer weiter, vielleicht nur, um den schrecklichen Lärm in dem Raum nicht so wahrzunehmen. Und dann war es vorbei. Cadderly wagte einen Blick. Überall loderten noch funkensprühende Feuer. Der Drache war tot, dem zahlreiche fliegende Bolzen hatten seinen Leib zerrissen, doch vom Zauberer gab es keine Spur. Cadderly war gerade aufgestanden, als er aus dem Augenwinkel eine Riesenschlange bemerkte, die seitlich aus einem zerbrochenen Glasbehälter glitt. Er setzte ihr seinen Wanderstab auf den Kopf, um sie zurückzuhalten, bis er vorbeigeschlüpft war. Eine Metallstange auf der anderen Seite löste sich mit einem Lichtblitz auf. Eine andere folgte unmittelbar darauf. Cadderly kam der Gedanke, daß er unabsichtlich die Bindungen dieser ganzen magischen Tasche gelöst hatte. Der junge Priester stürmte durch den Raum, durch die hintere Tür und in einen neuen, engeren Gang. Vierzig Fuß weiter stand der Zauberer. Ein Arm hing ihm schlaff an der Seite, Blut quoll ihm aus der Schulter, und sein Gesicht war rußgeschwärzt. »Dummkopf!« schrie Aballister ihn an. »Du hast mein Haus zerstört, aber mit seinem Zusammenbruch hast du dich selbst verdammt!« Das war die Wahrheit, erkannte Cadderly. Die magischen Bindungen lösten sich auf. Er wollte antworten, aber Aballister
hörte nicht zu. Der Zauberer floh durch eine nahe Tür und war verschwunden. Cadderly rannte hinterher, doch die schwere Holztür wollte nicht nachgeben. Es gab eine neue Explosion, die den Boden so heftig verzog, daß Cadderly auf die Knie fiel. Verzweifelt sah er sich um, in der Hoffnung, einen anderen Ausweg zu finden. Er griff nach seiner Armbrust, doch dabei fiel ihm ein, daß er keine Bolzen mehr hatte. Gleißendes Licht flackerte durch die offene Tür, die er hinter sich gelassen hatte – das Licht von zerfallendem Material, wie Cadderly wußte. Er versuchte, seine Magie aufzurufen und das Lied nach einem Ausweg zu durchforsten. Ein Blitz zuckte über ihm die Decke entlang und hinterließ einen breiten Riß. Cadderly erkannte, daß er keine Zeit zu verlieren hatte. Er nahm seine Spindelscheiben aus Adamant zur Hand und schlang die Schnur um seine Finger. Dann ließ er sie ein paarmal vorschnellen, ganz bis zum Ende der Schnur, und fing sie in der Handfläche wieder auf, um die Schnur straff zu ziehen. »Ich hoffe, du hast sie gut gemacht«, murmelte er, als ob Ivan Felsenschulter neben ihm stünde. Mit entschlossenem Grunzen schleuderte der junge Priester die Spindelscheiben gegen die Tür, wo sie Holz absplittern ließen und eine tiefe Kerbe in die Oberfläche schlugen. Ein Zucken von Cadderlys Handgelenk ließ sie in seine Hand zurücksausen, woraufhin er sie ein zweites Mal an dieselbe Stelle warf. Der dritte Treffer schlug ein Loch in das Holz, und ein kräftiger Wind, der roten, beißenden Staub mit sich führte, erfaßte Cadderly. Der junge Priester behielt sein Gleichgewicht und seine Fassung und griff erneut die Tür an, um das Loch darin noch zu vergrößern. Das flackernde Licht neben ihm wurde jetzt gleichmäßig. Als Cadderly einen Blick dorthin warf, sah er, daß der Gang
selbst sich auflöste und elektrische Finger sich nach ihm ausstreckten und den magisch erschaffenen Stein aufbrachen. Kaum zwanzig Fuß weiter drohte das Nichts. Cadderlys Waffe traf die Tür mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Durch den beißenden Staub konnte er nicht einmal etwas sehen, sondern ließ die Scheiben einfach verzweifelt vorschnellen. Zehn Fuß weiter war der Gang verschwunden. Cadderly spürte es, ließ die Scheiben ein letztes Mal vorzucken und warf sich dann mit seinem ganzen Gewicht gegen die geschwächte Tür. Danica und Dorigen kämpften sich an Scharen ausgeschwärmter Burgsoldaten vorbei, Menschen wie Ungeheuern. Viele blieben stehen und warfen der grimmigen Adeptin neugierige Blicke zu, doch da sie Dorigen neben Danica sahen, gingen sie achselzuckend ihrer Wege. Danica wußte, daß Dorigen sie jederzeit mit einem einzigen Wort überwältigen konnte, und sie verbrachte mehr Zeit mit der Beobachtung der Zauberin als mit der der herumrennenden Soldaten, um genauer herauszubekommen, welchen Grund Dorigen wirklich für ihr Verhalten hatte. Sie hörten das Brüllen des Firbolgs, als sie an eine Ecke kamen, hörten das Sausen von Vanders weitausholendem Schwert und die entsetzten Schreie der ausweichenden Feinde. Ein Goblin rannte um die Ecke und kam direkt vor Dorigen zum Stehen. »Drei von denen unten!« kreischte der Goblin, während er vier krumme Finger hoch streckte. »Drei von denen unten!« Danica wurde von Übelkeit übermannt. »Drei von denen unten!« Das Grinsen des Goblins verschwand unter dem Nachdruck von Danicas vorschnellender Faust.
»Wir haben Waffenstillstand«, erinnerte Dorigen die aufgebrachte junge Frau ruhig, aber Danica kam es vor, als ob Dorigen sich um den verwundeten Goblin, der sich auf dem Boden wand, wenig Sorgen machte, sondern sich eher über ihn amüsierte. Danica war sofort an der Ecke, spähte herum und sah, was sie befürchtet hatte. Ivan, Pikel und Shayleigh lagen hilflos am Boden, doch Vander, der ein Dutzend schwerer Wunden aufwies, stand breitbeinig vor ihnen. Das Riesenschwert des Firbolgs schwang wütend vor und zurück, um. die Vielzahl der anstürmenden Feinde zurückzuhalten. Ein Ork schrie etwas, das Danica nicht verstand, und die feindlichen Truppen lösten ihre Stellung auf, um vor dem Firbolg an Danica vorbei davonzurennen und sich hinter ihr in den Gang zu werfen. Sie begriff den Rückzug, als der Schauplatz sichtbar wurde und sich im Gang hinter dem Firbolg eine Batterie Armbrustschützen mit angelegten, schußbereiten Waffen zeigte. Vander schrie auf, denn er wußte, daß er keine Chance mehr hatte. Aber dann tauchte hinter ihm eine schimmernde Hand auf, die ihn berührte. Er schwang herum, doch sein Schwert durchschnitt nur die leere Luft. Danica wollte spontan herumfahren und auf die Zauberin einschlagen, denn sie erriet, daß Dorigen es gewesen war, die die Geisterhand vorgeschickt hatte, und sie fürchtete die Folgen ihrer Tat. Noch bevor die Adeptin sich rühren konnte, eröffneten die Armbrustschützen allerdings das Feuer und sandten einen Hagel schwerer Bolzen gegen Vander. Die Bolzen prallten harmlos von dem Firbolg ab. Einige blieben mitten in der Luft stehen, bebten und fielen dann zu Boden, als ihre Wucht aufgebraucht war. »Ich stehe zu meinem Wort«, sagte Dorigen trocken, während sie an Danica vorbei in den offenen Gang trat. Sie rief Vander zu, sich zu beruhigen, und befahl ihren eigenen
Truppen, den Kampf abzubrechen. Einige Soldaten neben Danica, vor allem die Orks, warfen der Adeptin drohende Blicke zu. Die Soldaten, die Danica und Dorigen von den Zauberergemächern her begleitet und Dorigens Zorn auf den Ork miterlebt hatten, der gegen ihre Befehle verstoßen hatte, ließen flüsternd eine Nachricht durch die Reihen gehen. Bald entspannte sich Danica, denn die Bedrohung hatte offensichtlich ein Ende. Sie lief um die Ecke, wo sie Vander an die Wand gelehnt vorfand. Er war völlig erschöpft und schwer verwundet. »Ist es vorbei?« fragte der Firbolg atemlos. »Kein Kämpfen mehr«, bestätigte Danica. Vander schloß die Augen und rutschte langsam auf den Boden. Danica hatte den Eindruck, er sei dem Tode nah. Die Zwerge und Shayleigh waren zumindest noch am Leben. Shayleigh brachte es sogar fertig, sich aufzusetzen und eine Hand zum Gruß zu heben. Ivan war von allen dreien am schlimmsten dran. Er hatte reichlich Blut verloren und verlor immer mehr, während Danica sich erfolglos bemühte, den Blutfluß zu stoppen. Noch schlimmer war, daß seine Beine völlig taub waren. »Habt Ihr Heiler?« fragte Danica Dorigen, die über ihr stand. »Die Kleriker sind alle tot«, antwortete ein Soldat anstelle der Zauberin. Seine Worte hatten einen scharfen Unterton, denn auch er kümmerte sich um einen Verwundeten, einen anderen Soldaten, der rasch ins Reich der Toten abglitt. Danica zog den Kopf ein, denn sie erinnerte sich an Cadderlys brutales Vorgehen gegen diese Gruppe. Es kam ihr wie schreckliche Ironie vor, daß sein notwendiges Handeln gegenüber den Priestern von Trinitatis jetzt seine Freunde das Leben kosten könnte.
Cadderly! Der Name traf Danica wie ein feindlicher Speer. Wo war er? Jetzt, als sie Ivan hilflos in ihren Armen wiegte, wurden ihr die möglicherweise katastrophalen Folgen seines Endkampfes gegen Aballister, seinen Vater, klar. Shayleigh wirkte mit jedem verstreichenden Augenblick kräftiger; Vanders Blut war bereits geronnen, und seine Wunden begannen auf geheimnisvolle Weise zu heilen; Pikel stöhnte und murrte, bis er sich schließlich mit einem neugierigen »Hm?« herumrollte. Aber Ivan … Danica wußte, daß nur seine zähe Zwergennatur ihn am Leben hielt, und bezweifelte, daß selbst diese beträchtliche Stärke ihn noch sehr lange unterstützen konnte. Ivan brauchte einen Priester, der Zugang zu mächtigen Heilsprüchen hatte – Ivan brauchte Cadderly. Dorigen wies mehrere Männer an, Danica bei ihren Bemühungen zu helfen, und schickte ein paar andere in die Privatgemächer der Priester, um dort nach Binden, Heiltränken und Salben zu suchen. Keiner der Männer, die im Blut ihrer eigenen Verbündeten standen, schien es besonders eilig zu haben, den brutalen Eindringlingen zu helfen, aber keiner wagte es, der Zauberin den Gehorsam zu verweigern. Danica, die mit blutüberströmtem Arm fest auf eine pulsierende Wunde in Ivans Brust drückte, konnte nur warten und beten. Die kleine Sonne leuchtete rot. Die Luft war von wirbelndem Staub verhangen, und die kahle, steinige Landschaft wies Schattierungen von Orange bis zu tiefem Scharlach auf. Alles war ruhig, bis auf den endlosen, stöhnenden Ruf des beißenden, peitschenden Windes. Cadderly sah kein Leben um sich her, weder Pflanzen noch Tiere, nicht einmal einen Hinweis auf Wasser, und er konnte sich nichts vorstellen, was an diesem lebensfeindlichen Ort überleben konnte. Er fragte sich, wo er war, und wußte nur,
daß diese unfruchtbare Region nirgends auf Toril zu finden war. »Kein Ort, der einen Namen hätte«, beantwortete Aballister die unausgesprochene Frage des jungen Priesters. Der Zauberer kam hinter einem nahen Felsen hervor und stellte sich gegenüber von Cadderly auf. »Jedenfalls keinen, den ich je gehört hätte.« Cadderly zog Trost aus der Tatsache, daß er immer noch Deneirs Lied in seinen Gedanken hören konnte. Er begann, stumm mitzusingen, während er die Hand mit dem magischen Ring zur Faust ballte. »Ich wäre sehr vorsichtig, bevor ich irgendwelche Sprüche einsetzen würde«, warnte Aballister, der Cadderlys Absicht erriet. »Magie hat hier nicht dieselben Eigenschaften wie in unserer eigenen Welt. Ein einfacher Feuerstrahl«, der Zauberer sah bei diesen Worten den Ring an, »könnte leicht diesen ganzen Planeten in einen Feuerball verwandeln. Es ist der Staub, weißt du«, fuhr der Zauberer fort, während er eine Hand in den Wind hielt und dann die langen, dünnen Finger bog, um das rote Pulver in seiner Handfläche zu zerreiben. »So gefährlich.« Aballisters Gelassenheit beunruhigte den jungen Priester. »Euer extradimensionales Haus existiert nicht mehr«, sagte Cadderly im Versuch, ihm seine Großspurigkeit zu nehmen. Aballister runzelte die Stirn. »Ja, lieber Cadderly, du bist so lästig geworden. Ich werde viele Monate brauchen, um dieses phantastische Werk nachzubauen. Es war phantastisch, findest du nicht?« »Wir sind hier gestrandet.« Das war eine Feststellung, aber insgeheim meinte Cadderly seine Worte als Frage, denn er fürchtete, sie könnten wahr sein. Aballisters Gesicht verzog sich ungläubig, als fände er diese Behauptung absurd. Das tröstete Cadderly ein wenig, denn wenn der Zauberer über Magie verfügte, die sie nach Hause
bringen konnte, dann konnte Deneir ihm sicher auch den Weg zeigen. »Du bist kein Abenteurer«, stellte Aballister kopfschüttelnd fest. Er wirkte beinahe enttäuscht. »Ich hätte nie gedacht, daß die Annehmlichkeiten dieser armseligen Bibliothek dich so lähmen könnten.« Jetzt war es Cadderly, der das Gesicht verzog. Was sagte der Mann? Er hätte es nie gedacht? Welche Offenbarung lag in der Wortwahl – und in der Zeitwahl – des Zauberers? »Wer seid Ihr?« fragte Cadderly plötzlich, ohne nachzudenken, ohne diesen Gedanken überhaupt aussprechen zu wollen. Aballisters Heiterkeitsausbruch verspottete ihn. »Ich bin jemand, der viele Jahre länger gelebt hat als du, der mehr über dich weiß, als du denkst, und der Menschen und Ungeheuer besiegt hat, die mächtiger waren als du«, prahlte er, und wieder verriet sein Tonfall echte Heiterkeit. »Vielleicht hast du mir mit deiner sturen Entschlossenheit und deiner überraschenden Vielseitigkeit sogar einen Gefallen getan«, fuhr Aballister fort. »Deinetwegen sind sowohl Barjin als auch Ragnor tot, meine Hauptrivalen, und vermutlich auch Dorigen, da du allein in mein Haus gekommen bist.« »Dorigen hat mir den Weg gewiesen«, stellte Cadderly richtig, der mehr daran interessiert war, Aballister zu ernüchtern, als die Frau zu beschützen. »Sie ist ausgesprochen lebendig.« Zum ersten Mal wirkte Aballister ehrlich bestürzt oder doch zumindest verblüfft. »Sie würde es nicht schätzen, daß du mir von ihrem Verrat berichtest«, überlegte er. Er wollte den Gedanken weiter fortfuhren, brach aber plötzlich ab, weil er merkte, daß etwas in seine Gedanken eindrang, eine Präsenz, die nicht dorthin gehörte. Cadderly verstärkte den Spruch der Beherrschung, mit dem er auch Abt Thobicus »überzeugt« hatte, ihm seinen Aufbruch
nach Burg Trinitatis zu gestatten. Er konzentrierte sich auf den schwarzen Bereich, der Aballisters Identität darstellte, und sandte einen leuchtenden Energieball ab, um den Verstand des Zauberers anzugreifen. Aballister fing die leuchtende Kugel ab und stieß sie zu dem jungen Priester zurück. Wie leicht du die Einschränkungen unserer äußeren Umgebung umgehst, gratulierte der Zauberer telepathisch. Obwohl du wirklich ein Dummkopf bist, daß du mich so herausforderst! Cadderly achtete nicht auf die Botschaft, sondern drängte mit all seiner mentalen Kraft weiter. Der leuchtende Ball aus mentaler Energie schien sich zu verzerren und wurde platt, rührte sich aber nicht von der Stelle, als Aballister störrisch zurückdrückte. Du bist stark, bemerkte der Zauberer. Cadderly hatte ein ähnliches Gefühl, was seinen Gegner anging. Er wußte, daß seine ganze Kraft dem Ball galt, und dennoch hielt Aballister ihn in Schach. Der junge Priester verstand, wie sich Aballisters Gedanken formten, den klaren Fluß der Überlegungen, die verzweifelte Neugier, und Cadderly kam es fast so vor, als blickte er in eine Art mentalen Spiegel. Sie waren einander so ähnlich und doch so verschieden! Cadderlys Gedanken begannen abzuschweifen, denn er fragte sich, wie viele Menschen wohl ähnliche mentale Kräfte und ähnliche geistige Verbindungen haben mochten. Sehr wenige, vermutete er, und das ließ ihn die Wahrscheinlichkeit ihrer Begegnung abschätzen … Die leuchtende Kugel, eine mentale Projektion reinen Schmerzes, sprang in seine Richtung, und Cadderly verwarf die aufgekommenen Gedanken, um sich schnell wieder zu konzentrieren. Der Kampf ging eine ganze Weile so weiter, ohne daß einer von ihnen die Oberhand gewann oder auch nur einen Fingerbreit zurückweichen wollte. Es ist sinnlos, kamen Aballisters Gedanken. Nur einer wird diesen Ort verlassen, erwiderte Cadderly.
Er drängte wieder vor, kam jedoch erneut nicht weiter. Aber dann vernahm Cadderly die Melodie des Liedes von Deneir, die neben ihm floß, in seinen Spruch mit einstimmte und dann in ihm war. Das waren Töne vollkommener Harmonie, die Cadderlys Konzentration derart schärften, daß der ungläubige Zauberer nicht mithalten konnte. Aballisters Verstand mochte dem von Cadderly gleichkommen, aber dem Zauberer fehlte die Harmonie der Seele, die Begleitung einer göttlichen Gestalt. Aballister hatte keine Antworten auf die tiefsten Fragen der menschlichen Existenz, und darin lagen seine Schwäche und seine Selbstzweifel. Der leuchtende Ball begann, sich langsam, aber unausweichlich auf den Zauberer zuzubewegen. Cadderly spürte Aballisters aufkeimende Panik, die seine Konzentration nur noch weiter schwächte. Weißt du denn nicht, wer ich bin? fragte der Zauberer telepathisch. Die Verzweiflung dieser Gedanken ließ Cadderly vermuten, daß die Worte eine neue, sinnlose Prahlerei waren, ein inständiges Leugnen, daß jemand den Zauberer im mentalen Zweikampf schlagen konnte. Der junge Priester ließ sich nicht ablenken, sondern behielt Konzentration und Druck bei – bis Aballister seinen Trumpf ausspielte. »Ich bin dein Vater!« schrie der Zauberer. Die Worte trafen Cadderly schlimmer als jeder Blitzschlag. Der leuchtende Ball war verpufft und der mentale Kontakt unter dieser überwältigenden Überraschung abgerissen. Jetzt erst verstand der junge Priester alles, und es war ebenso furchtbar wie unwiderlegbar. Nachdem er die Gedankengänge des Zauberers mit angesehen hatte, die den seinen so ähnlich, ja gleich waren, konnte Cadderly diese Behauptung nicht ernsthaft anzweifeln. Ich bin dein Vater! Diese Worte erklangen in Cadderlys Gedanken wie eine Verwünschung, ein plötzliches Bewußtsein seiner Einsamkeit und der Trauer um alles, was hatte sein können.
»Du erinnerst dich nicht?« fragte der Zauberer, dessen Stimme dem wie vom Donner gerührten jungen Priester plötzlich überaus süß vorkam. Cadderly zwinkerte, um die Augen zu öffnen, und sah den Mann an, der in resignierter, wenig bedrohlicher Haltung dastand. Aballister hob die Arme, als würde er ein Baby darin wiegen. »Ich erinnere mich, wie ich dich getragen habe«, säuselte er. »Ich habe dir vorgesungen – wie unendlich kostbar warst du doch für mich, nachdem deine Mutter bei der Geburt gestorben war!« Cadderly merkte, wie ihm die Knie weich wurden. »Erinnerst du dich?« fragte der Zauberer sanft. »Natürlich tust du das. Es gibt Dinge, die sind tief in unsere Gedanken und Herzen eingraviert. Du kannst nicht vergessen, welche Momente wir miteinander erlebt haben, du und ich, Vater und Sohn.« Aballisters Worte ließen unzählige Bilder in Cadderlys Gedanken aufsteigen, Bilder aus frühester Kindheit, wie glücklich und geborgen er sich in den Armen seines Vaters gefühlt hatte. Wie wunderbar war die Welt damals für ihn gewesen! So voller Liebe und Harmonie! »Ich erinnere mich an den Tag, als ich gezwungen war, dich wegzugeben«, gurrte Aballister weiter. Seine Stimme brach; eine Träne lief über sein müdes, altes Gesicht. »Ich erinnere mich so deutlich. Die Zeit hat diesen Schmerz nicht gelindert.« »Warum?« brachte Cadderly stammelnd heraus. Aballister schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst«, entgegnete er. »Angst, daß ich allein dir nicht das Leben bieten könnte, das du verdient hattest.« Cadderly fühlte nur Mitleid mit dem Mann. Er hatte Aballister schon vergeben, bevor der Zauberer überhaupt um Vergebung bat. »Alle waren sie gegen mich«, fuhr Aballister fort, der nun einen unmißverständlich gereizten Tonfall annahm – und für
Cadderly schien die Schärfe des wachsenden Zorns des Zauberers alles zu bestätigen, was Aballister bisher von sich gegeben hatte. »Die Priester, die Beamten aus Carradoon. ›Es wäre besser für den Jungen‹, sagten sie alle, und jetzt verstehe ich ihre Gründe.« Cadderly blickte fragend auf, weil ihm die Logik entgangen war. »Ich wäre Bürgermeister von Carradoon geworden«, erklärte Aballister. »Es war unausweichlich. Und du, mein Erbe, mein Herz, meine Seele, wärst mir nachgefolgt. Meine politischen Rivalen konnten das nicht zulassen, denn sie konnten nicht ertragen, daß die Familie Bonaduce so wichtig. wurde. Eifersucht hat sie getrieben, sie alle!« dem verblüfften jungen Priester kam alles völlig stimmig vor. Er merkte, wie er die Erhebende Bibliothek haßte, wie er Abt Thobicus haßte, den alten Lügner, und sogar Großmeister Avery Schell, den Mann, der ihm so viele Jahre lang den Vater ersetzt hatte. Pertelope ebenso! Was war sie doch für eine Schwindlerin gewesen! Was für eine Heuchlerin! »Und deshalb habe ich mich gegen sie erhoben«, verkündete Aballister. »Und ich habe nach dir gesucht. Wir sind wieder vereint, mein Sohn.« Cadderly schloß die Augen, senkte den Kopf und sog diese kostbaren Worte in sich auf, Worte, die er hatte hören wollen, seit er denken konnte. Aballister redete weiter, aber Cadderlys Gedanken blieben an diesen sechs süßen Worten hängen. Wir sind wieder vereint, mein Sohn. Seine Mutter war nicht bei der Geburt gestorben. Cadderly erinnerte sich nicht richtig an sie, hatte nur Bilder, Eindrücke von ihrem lächelnden Gesicht. Aber diese Bilder stammten sicher nicht von dem Augenblick seiner Geburt. Und ich habe nach dir gesucht. Aber was war mit den Nachtmasken? Cadderlys Vernunft meldete sich laut zu Wort. Aballister hatte wirklich nach ihm
gesucht, hatte Mörder nach ihm ausgeschickt, um ihn und Danica umbringen zu lassen. Erst jetzt kam dem jungen Priester der Verdacht, daß der Zauberer einen Bann über ihn geworfen hatte. Er hatte seine Worte durch subtile magische Energie versüßt. Cadderlys Herz kämpfte gegen seine Vernunft an, gegen die logischen Einwände, denn er wollte nicht glauben, daß er betrogen wurde. So furchtbar gern wollte er an die Ehrlichkeit seines Vaters glauben! Aber seine Mutter war nicht bei seiner Geburt gestorben! Aballisters Zaubervorhang begann sich aufzulösen. Cadderly lauschte wieder seinem unablässigen Raunen – und stellte fest, daß der Mann keine lieblichen Bilder mehr beschwor, sondern zauberte. Cadderly hatte in seiner Wachsamkeit nachgelassen und war deshalb vor dem bevorstehenden Spruch überhaupt nicht geschützt. Erblickte auf und sah, wie Aballister einen knisternden blauen Blitz losließ, der im Zickzack durch den aufstiebenden roten Staub zuckte. Der Zauberer verstand sich offenbar auf die Eigenheiten dieser Umgebung, denn der Blitz hielt unbeirrbar auf Cadderly zu. Der junge Priester riß die Arme hoch, fühlte den Ruck der brennenden Explosion, die seine Muskeln zusammenzucken ließ, spürte, wie sie nach seinem Herzen griff und grausam zudrückte. Er spürte, daß er flog, empfand aber nichts. Er spürte, daß er fest gegen einen Stein geprallt war, aber das war jenseits von Schmerz. »Jetzt bist du tot«, hörte er Aballister in der Ferne sagen, als ob er und der Zauberer einander nicht länger gegenüberstünden, nicht mehr auf derselben Existenzebene weilten. Cadderly verstand die Wahrheit in Aballisters Worten, denn er fühlte, wie die Lebenskraft aus seiner sterblichen Hülle entwich und in die Welt der Seelen, das Reich der Toten, glitt.
Als er nach unten schaute, sah er sich selbst verschmort und mit gebrochenen Gliedern auf dem roten Boden liegen. Dann war seine Seele in das heilige Licht getaucht. Es war dasselbe überwältigende Gefühl, das er vor Wochen in der »Drachenbörse« verspürt hatte, als er Großmeister Averys Seele nachgegangen war. Eins, zwei, spielten die Noten des Lieds von Deneir. Er kannte nur Frieden und Heiterkeit, fühlte sich mehr zu Hause als je zuvor und wußte, daß er an einen Ort gekommen war, an dem er vielleicht Ruhe finden würde. Eins, zwei. Alle Gedanken an die Welt der Materie verblaßten. Selbst Bilder von Danica, seiner großen Liebe, waren nicht von Bedauern gefärbt, denn Cadderly vertraute darauf, daß sie beide eines Tages wieder vereint sein würden. Sein Herz wurde leicht; er spürte, wie seine Seele erglühte. Eins, zwei, erklang das Lied. Wie ein Herzschlag. Cadderly sah wieder den Körper tief unter ihm, sah einen Finger leise zucken. Nein! protestierte er. Eins, zwei, zwang das Lied. Cadderly wurde nicht gefragt, das war ein Befehl. Er schaute zu Aballister, der wieder zauberte und eine schimmernde Tür in der roten Luft beschwor. Aballister würde nach Burg Trinitatis zurückkehren, wurde dem jungen Priester plötzlich klar, und dann würde die ganze Region in Dunkelheit versinken. Cadderly verstand die Bitte seines Gottes, und diesmal protestierte sein Geist nicht mehr. Eins, zwei, pochte sein Herz. Als er seine körperlichen Augen aufschlug und Aballister ansah, wurde er wieder von dem warmen Gefühl der Kindheitsbilder überflutet, die der Zauberer heraufbeschworen hatte. Rational verstand Cadderly, daß er bezaubert worden war. Er verstand, daß einfache Logik Aballister Lügen strafte.
Aber der Köder, den sein Gegner für ihn ausgeworfen hatte, war nicht so leicht zu überwinden. Dann kam dem jungen Priester ein anderes Bild, eine Erinnerung, die er verdrängt hatte, vor langer, langer Zeit in einem fernen Winkel seines Gedächtnisses verstaut hatte. Er stand vor den Toren der Erhebenden Bibliothek, wo ein junger, nicht so beleibter Großmeister Avery seinem Vater gegenüberstand. Averys Gesicht war vor Wut dunkelrot. Er schrie Aballister an, verfluchte ihn sogar und wiederholte, daß ihm der Zutritt zur Erhebenden Bibliothek für immer verwehrt wäre. Aballister zeigte keinerlei Reue, lachte den gedrungenen Priester sogar aus. »Dann nehmt den Balg«, grinste er und schob Cadderly grob nach vorn. Als er die Hand wegzog, riß er Cadderly ein Büschel Haare aus. Es war ein durchdringender Schmerz, körperlich wie emotional, aber Cadderly schrie nicht auf, damals nicht und heute nicht. Als er auf diesen furchtbaren Moment zurückblickte, wurde ihm bewußt, daß er nicht aufgeschrien hatte, weil er an Aballisters allgegenwärtige Mißhandlungen so gewöhnt gewesen war. Er war der Sündenbock für die Fehlschläge des Zauberers geworden. Er war der Sündenbock, wie seine Mutter der Sündenbock gewesen war. Seine Mutter! Irgendwie war es Cadderly gelungen, sich wieder aufzurichten, und als Aballister sich umdrehte, riß er überrascht die Augen auf, als er sah, daß sein Sohn noch lebte. Hinter dem Zauberer glühte und schimmerte das Portal, das hin und wieder ein Bild des Vorraums zum Haus des Zauberers in seinem magischen Rahmen zeigte. Aballister würde ihn jetzt verlassen, wie er ihn damals verlassen hatte, würde seinen Angelegenheiten nachgehen und seinen Sohn, »den Balg«, seinem Schicksal überlassen. Neue Erinnerungen bestürmten den jungen Priester, als hätte er eine Kiste geöffnet, die er nicht mehr schließen konnte. Er
sah Aballisters Gesicht, das vor Wut dämonisch verzerrt war, hörte die mitleiderregenden Schreie seiner Mutter und sein eigenes, leises Schluchzen. Ein riesiges Schwert tauchte vor ihm in der roten Luft auf, wo es drohend zuckte. »Leg dich hin und stirb«, hörte er den Zauberer sagen. Dieses Schwert! Aballister hatte es gegen Cadderlys Mutter benutzt, hatte genau diesen Spruch benutzt, um Cadderlys Mutter umzubringen! »Ach, du lieber Deneir«, hörte der verzweifelte junge Priester sich wimmern. Das Lied erscholl aus eigenem Antrieb in seinem Kopf. Cadderly zwang es nicht herbei und hörte die Harmonie seiner süßen Noten kaum. In diesem Augenblick glaubte er, Großmeister Averys Stimme zu hören, aber dieser Eindruck ging verloren, als er sah, wie das magische Schwert auf ihn zufuhr, nach seinem ungeschützten Hals schlug. Es war viel zu nahe, als daß er sich noch wegducken könnte. Das Schwert traf ihn und loste sich dann mit scharfem Knistern auf. »Verdammt!« schrie der Zauberer, sein Vater. Cadderly sah nichts als das Gesicht seiner Mutter, empfand nichts als rasende Wut auf ihren Mörder, diesen Betrüger. Er hörte, wie sich seinen Lippen ein Laut entrang, ein Ausbruch von Zorn und magischer Energie, den er einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Er kam als die schrillste Note des Deneirliedes heraus, die Cadderly je gehört hatte, eine wahrhaft zerstörerische Verkehrung der köstlichen Harmonie. Vor ihm bäumte sich der Boden auf, und Cadderly schrie weiter. Wie eine Meereswelle rollte die rote Erde auf Aballister zu, und ein Spalt brach auf, der breiter wurde. »Was tust du da?« protestierte der Zauberer. Wie schwach und winzig seine Stimme sich neben dem Gebrüll von Cadderlys Urschrei anhörte!
Aballister wurde von der Welle in die Luft geschleudert. Er schlug mit den Armen um sich, als er wieder herunterkam, flatterte vergeblich und landete in dem aufgerissenen Spalt. Die Welle nahm ab, als sie ausrollte und der Boden sich wieder beruhigte. »Ich bin dein Vater!« kam Aballisters flehentlicher, schmerzerfüllter Schrei von unterhalb des Randes. Ein zweiter Schrei brach aus Cadderlys schmerzenden Lungen, er riß die Hände nach oben und klatschte. Und auf sein Zeichen hin klappte auch der Riß im Boden zu. Aballisters Schreien brach ab.
Kriegsende Ein erschöpfter Cadderly trat durch die Tür, die Aballister freundlicherweise erschaffen hatte, durch die Wand, die nicht mehr von wirbelndem Nebel verdeckt war, in den Raum, wo er Danica zurückgelassen hatte. Ein Dutzend feindlicher Soldaten liefen dort herum und knurrten einander an, aber wie sie erschraken, als der junge Priester plötzlich in ihrer Mitte auftauchte! Sie schrien, stießen einander beiseite, kämpften darum, dem gefährlichen Mann auszuweichen. Nach wenigen Augenblicken waren nur noch sechs im Raum zurückgeblieben, und die waren klug genug, ihre Waffen zu ziehen und sich dem jungen Priester zu stellen. »Lauf zu Dorigen!« bellte der eine Mann einen anderen an, der sogleich davonrannte. »Bleibt, wo Ihr seid, ich warne Euch!« knurrte ein anderer Mann Cadderly an, während er drohend seinen Speer vor zucken ließ. Cadderly hatte Kopfschmerzen. Er wollte nicht gegen diese Leute kämpfen – mit niemandem mehr –, aber er konnte seine gefährliche Lage kaum ignorieren. Er nahm Zuflucht zum Lied
des Deneir, obwohl die Anstrengung ihm Schmerzen bereitete, und beim nächsten Vorstoß des Mannes stellte dieser fest, daß er keinen Speer hielt, sondern eine sich windende, offensichtlich unglückliche Schlange. Der Mann kreischte, ließ das Tier fallen und zog sich eilig zurück, obwohl es keine Anstalten machte anzugreifen. »Wir haben Eure Freunde!« rief ein anderer Mann, der Soldat, der seinen Kameraden fortgeschickt hatte, um Dorigen zu holen. »Wenn Ihr uns tötet, werden auch sie sterben!« Cadderly hörte den zweiten Satz nicht einmal mehr. Die Erklärung, daß seine Freunde Gefangene waren und nicht tot, verlieh seiner Hoffnung Flügel. Er lehnte sich rücklings an die Wand und gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, daß er gerade seinen eigenen Vater vernichtet hatte. Einen Augenblick später raste Danica ins Zimmer, warf sich Cadderly um den Hals und zerquetschte ihn fast in ihrer Umarmung. »Aballister ist tot«, sagte der junge Priester über Danicas Schulter hinweg zu Dorigen. Diese bedachte ihn mit einem forschenden Blick, und auch Danica wich auf Armeslänge zurück und starrte ihren Geliebten durchdringend an. »Ich weiß«, sagte Cadderly ruhig. »Er war dein Vater?« fragte Danica, deren Gesicht ebensoviel Schmerz zeigte wie das von Cadderly. Cadderly nickte, und seine Lippen wurden schmal, als er versuchte, eine entschlossene Miene aufzusetzen. »Ivan braucht dich«, sagte Danica zu ihm. Sie sah den jungen Priester genau an. Dann schüttelte sie zweifelnd den Kopf, weil sie seine offensichtliche Erschöpfung erkannte. Dorigen führte Cadderly und Danica in den Raum zurück, in dem die Verwundeten versorgt wurden. Dort befanden sich Cadderlys vier Freunde – obwohl Vander kaum noch verwundet wirkte – zusammen mit einer Handvoll
Menschensoldaten aus Burg Trinitatis. Die Orks und anderen Goblinwesen waren ihrem Brauch gefolgt, ihre ernstlich verletzten Genossen umzubringen. Pikel und Shayleigh hatten sich aufgesetzt, obwohl beide noch ziemlich mitgenommen wirkten. Ihre Mienen hellten sich auf, als Cadderly kam, und sie winkten ihn gleich zu Ivan hin, der totenblaß auf einem Feldbett neben ihnen lag. Cadderly kniete sich neben den gelbbärtigen Zwerg. Angesichts der bloßen Anzahl scheußlicher Wunden, die er eingesteckt hatte, war es erstaunlich, daß Ivan überhaupt noch atmete. Der junge Priester erkannte, daß seinem Freund trotz all seiner Zähigkeit nicht mehr viel Zeit blieb, und er wußte, daß er irgendwie die Kraft aufbringen mußte, dem Lied in die Sphäre der Heilung zu folgen und mächtige Magie daraus zu ziehen. Leise begann Cadderly zu singen, und er hörte die Musik, doch sie war fern, so fern. Cadderly griff innerlich danach, fühlte den Druck in seinen Schläfen und schloß die Augen, als er in den Fluß einstimmte und diesen lenkte. Er schwamm an den Noten der einfachen Heilsprüche vorbei, denn er wußte, daß diese zur Behandlung der schlimmsten Wunden des Zwergs nichts taugten. Das Lied in seinen Gedanken schwoll zu einem donnernden Crescendo an, ging auf Cadderlys Verlangen hin in den Bereich der stärksten Heilsprüche über. Das nächste, was der junge Priester wußte, war, daß er auf dem Boden lag und in Danicas besorgtes Gesicht blickte. Sie half ihm beim Aufsetzen. Hoffnungslos blickte er Ivan an. »Cadderly?« fragte Danica, und der junge Priester konnte sich denken, wie viele Fragen in diesem einen Wort enthalten waren. »Er ist zu müde«, antwortete Dorigen, die sich neben die beiden kniete. Die Zauberin sah in Cadderlys tiefliegende graue Augen und nickte verständnisvoll.
»Ich muß Zugang zur Magie bekommen«, sagte der junge Priester entschlossen, und er verfiel gleich wieder in las Lied. Er hatte schwer zu kämpfen, denn jetzt kam es im sogar noch ferner vor. Zwanzig Minuten vergingen, bevor er das nächste Mal wieder erwachte, und Cadderly wußte, daß er noch viele Stunden Ruhe brauchen würde, ehe er auch nur den Versuch unternehmen konnte, wieder in die höchsten Stufen der Heilungsmagie zu gelangen. Nach einem Blick auf den Zwerg wußte er auch, daß Ivan nicht mehr so lange leben würde. »Warum tust du mir das an?« fragte Cadderly laut – eine Frage ein seinen Gott. Alle Umstehenden sahen ihn neugierig an. »Deneir«, erklärte er Danica gedämpft. »In der Zeit meiner größten Not hat er mich verlassen. Ich kann nicht glauben, daß er Ivan sterben läßt.« »Euer Gott bestimmt nicht über das unwichtige Schicksal von unwichtigen Mitspielern«, sagte Dorigen, die sich den beiden wieder näherte. Cadderly warf ihr einen verächtlichen Blick zu, der deutlich fragte, was die Zauberin wohl davon wissen mochte. »Ich verstehe die Wirkungsweise der Magie«, erwiderte Dorigen mit fester Stimme. »Man kann immer noch Zugang zu der Magie bekommen, nur habt Ihr nicht die Kraft. Es ist nicht Deneir, der versagt.« Danica machte eine Bewegung, als ob sie nach der Frau schlagen wollte, aber Cadderly streckte die Hände aus, um sie zurückzuhalten. Er nickte Dorigen zustimmend zu. »Und deshalb wird Eure Magie zurückgehalten«, stellte Dorigen fest. »Ist das alles, was Ihr einem sterbenden Freund zu bieten habt?« Zunächst glaubte Cadderly, daß ihre unerwarteten Worte bedeuteten, daß er von Ivan Abschied nehmen sollte, wie es ein Freund tun würde, doch nach kurzem Nachdenken legte der
junge Priester die Worte anders aus. Er winkte Danica weg, um sich eine lange Minute zu besinnen und nach möglichen Antworten zu suchen. »Deinen Ring«, verlangte er plötzlich von Vander. Der Firbolg warf einen schnellen Blick auf seine Hand, doch die anfängliche Aufregung in der Gruppe legte sich rasch. »Das wird nicht klappen«, meinte Vander. »Der Ring muß getragen werden, während man die Wunden empfängt.« »Gib ihn mir, bitte«, sagte Cadderly, der sich durch diese Erklärung nicht im mindesten beirren ließ. Er zog dem bereitwilligen Firbolg den Ring ab und steckte ihn auf seinen eigenen Finger. »Es gibt zwei Arten von Heilungsmagie«, erklärte Cadderly Vander und den anderen. »Zwei Arten, doch ich habe nur die Methode angerufen, die die Götter bei der Heilung zerrissener Haut und gebrochener Knochen um Hilfe bittet.« Danica wollte weitere Fragen stellen, aber Cadderly hatte seine Augen geschlossen und begann bereits wieder zu singen. Er brauchte einige Zeit, bis er den Fluß des Liedes gefunden hatte. Wieder spürte er den Druck in seinen Schläfen, als er dem ermüdenden Strom folgte, aber er blieb zuversichtlich, denn er wußte, daß er diesmal nicht so weit gehen mußte. Die vier Freunde und Dorigen versammelten sich um das Feldbett und rissen einträchtig die Augen auf, als Ivans schwere Halswunde einfach verschwand. Dann keuchten sie wieder, als die Wunde an Cadderlys Hals auftauchte! Blut strömte aus der aufgerissenen Kehle des jungen Priesters, während er weiter Worte aus seinem Mund zwang. Eine weitere von Ivans Wunden wurde vom Körper des Zwergs getilgt, nur um bei Cadderly an ähnlicher Stelle wieder zu erscheinen. Danica schrie auf und wollte zu ihrem Liebsten laufen, aber Dorigen und Shayleigh hielten sie davon ab und überzeugten sie, dem jungen Priester zu vertrauen.
Bald schlief Ivan ganz friedlich, während Cadderly, der jede grausame Wunde aufwies, die der Zwerg erlitten hatte, zu Boden fiel. »Ooooh«, stöhnte ein unglücklicher Pikel. »Cadderly!« schrie Danica wieder, riß sich von Shayleigh und Dorigen los und rannte zu ihm. Sie legte ihren Kopf an seine Brust, um seinem Herzschlag zu lauschen, strich ihm die braunen Locken aus dem Gesicht und brachte ihre Wange nah an seine, um ihm Lebenswillen einzuflüstern. Vanders Lachen ließ sie wütend herumfahren. »Er trägt den Ring!« brüllte der Firbolg. »Oh, schlauer, kleiner Priester!« »Ei, ei!« quietschte Pikel begeistert. Als Danica sich wieder umdrehte, gab ihr Cadderly, der den Kopf gehoben hatte, einen kurzen Kuß. »Tut das weh«, stöhnte er, brachte jedoch beim Sprechen ein Lächeln zustande. Dann sank sein Kopf langsam wieder auf den Boden zurück, und seine Augen schlossen sich. »Was ist denn mit dem los?« knurrte Ivan, der sich aufsetzte und sich mit verwirrter Miene im Raum umschaute. Bis die Freunde Ivan weggeschoben und Cadderly an seiner Stelle auf das Feldbett gelegt hatten, atmete der junge Priester schon viel leichter, und viele seiner Wunden waren unzweifelhaft am Heilen. Später in der Nacht erhob sich der immer noch müde Cadderly von seinem Lager und ging wieder leise singend durch das kleine Lazarett, um die Wunden seiner anderen Freunde und die der Soldaten aus Burg Trinitatis zu versorgen. »Er war mein Vater«, sagte Cadderly schonungslos. Der junge Priester rieb sich die feuchten Augen, um mit der plötzlichen Explosion von Erinnerungen fertig zu werden, die ihn bestürmten, Erinnerungen, die er viele Jahre verdrängt hatte.
Danica rückte näher an ihn heran, um sich bei ihm einzuhaken. »Dorigen hat es mir erzählt«, erklärte sie. »Er hat meine Mutter getötet«, sagte Cadderly plötzlich. Danica sah zu ihm auf. Entsetzen zeichnete ihr schönes Gesicht. »Es war ein Unfall«, fuhr Cadderly fort, der stur geradeaus blickte. »Aber nicht ohne Schuld. Mein Va… Aballister experimentierte dauernd mit neuer Magie herum, reizte die Energien immer bis an ihre Grenzen aus – und an die Grenzen seiner Beherrschung. Eines Tages beschwor er ein Schwert, ein prachtvolles, glänzendes Schwert, das in der Luft hin und her schwang und von selbst fliegen konnte.« Cadderly konnte sich ein ironisches Kichern nicht verkneifen. »Er war so stolz«, sagte der junge Priester und schüttelte den Kopf, so daß seine ungebärdigen hellbraunen Locken von einer Seite zur anderen flogen. »So stolz. Aber er konnte das magische Schwert nicht beherrschen. Er hatte seine magischen Fähigkeiten überschritten, und noch ehe er das Schwert verschwinden lassen konnte, war meine Mutter tot.« Danica murmelte lautlos den Namen ihres Liebsten, zog ihn fester an sich und legte ihren Kopf an seine Schulter. Der junge Priester aber rückte wieder von ihr ab, damit er ihr in die Augen sehen konnte. »Ich erinnere mich nicht einmal an ihren Namen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ihr Gesicht sehe ich wieder deutlich vor mir, das erste Gesicht, das ich auf dieser Welt erblickt habe, aber ich erinnere mich nicht einmal an ihren Namen!« Wieder saßen sie schweigend nebeneinander. Danica dachte an ihre eigenen toten Eltern, und Cadderly spielte mit den unzähligen, flüchtigen Bildern, in denen er logische Erinnerungen an seine früheste Kindheit zu finden suchte. Er erinnerte sich auch an eine Gelegenheit, wo der behäbige Großmeister Avery ihn einen »Gondanhänger« gescholten hatte. Er hatte auf eine bestimmte Priestersekte angespielt, die
dafür bekannt war, geniale und oft zerstörerische Werkzeuge und Waffen zu erfinden, ohne sich um die Auswirkungen ihrer Erfindungen zu scheren. Jetzt, nachdem Cadderly Aballister kennengelernt hatte und sich an das Schicksal seiner eigenen Mutter erinnerte, konnte der junge Priester die Befürchtungen des guten Avery besser verstehen. Aber er war nicht wie sein Vater, erinnerte er sich schweigend. Er hatte Deneir gefunden, hatte die Wahrheit und die Stimme seines Gewissens gefunden. Und er hatte den Krieg – den Krieg, den Aballister vorbereitet hatte – zum einzig möglichen Ende geführt. Cadderly saß da und wurde von einem Tumult lang begrabener, verwirrender Erinnerungen heimgesucht, von sinnlosen Wünschen, was alles hätte sein können, und von einer Unmenge jüngerer Erinnerungen, die er jetzt aus einem ganz neuen Blickwinkel sah. Eine tiefe Traurigkeit, die er nicht verleugnen konnte, überkam ihn, eine Trauer, die er noch nie zuvor empfunden hatte – um Avery, um Pertelope, um seine Mutter und um Aballister. Seine Trauer um seinen Vater galt jedoch nicht dem Tod des Mannes, sondern seinem Leben. Wiederholt sah Cadderly, wie sich die rote Erde jener fernen Welt über dem gestürzten Zauberer schloß und ein trauriges Kapitel verschwendeter, mißbrauchter Talente zuschlug. »Du mußtest es tun«, sagte Danica unvermittelt. Cadderly warf ihr einen ungläubigen Blick zu, der bald einem Lächeln wich. Wie gut sie ihn kannte! Seine Antwort war ein Nicken und ein ehrliches, wenn auch resigniertes Lächeln. Cadderly verspürte keine Schuld. Er hatte die Wahrheit gefunden, was seinem Vater nie gelungen war. Aballister, nicht Cadderly, hatte diesen Ausgang herbeigezwungen. Der kleine Raum wurde hell, als Dorigen mit einem Leuchter eintrat. »Die Soldaten von Burg Trinitatis verstreuen
sich in alle vier Himmelsrichtungen«, sagte sie. »Alle ihre Anführer sind tot – bis auf mich, und ich habe kein Interesse daran, das fortzuführen, was Aballister begonnen hat.« Danica nickte zustimmend, doch Cadderly machte ein finsteres Gesicht. »Was ist denn?« fragte die überraschte Adeptin. »Sollen wir sie einfach laufenlassen, damit sie vielleicht noch mehr Unheil anrichten?« fragte er. »Es sind noch fast dreitausend«, erinnerte ihn Dorigen. »Ihr habt in dieser Sache wirklich kaum eine Wahl. Aber nur Mut, kleiner Priester, denn die Bedrohung für Carradoon, für die Bibliothek und für die ganze Umgebung ist sicher vorbei. Und ich werde mit Euch in Eure Bibliothek zurückkehren, um das Urteil Eurer Oberen entgegenzunehmen.« Meiner Oberen? Cadderly zog ungläubig die Augenbrauen hoch. Abt Thobicus? Diese Bemerkung erinnerte ihn daran, daß er noch viel zu tun hatte, wenn er dem Pfad folgen wollte, den Deneir ihm gezeigt hatte. Eine Schlacht war beendet, aber es stand noch eine weitere aus. »Ihr Urteil wird hart ausfallen«, erwiderte Danica, aus deren Stimme deutlich zu erkennen war, daß sie nicht wünschte, daß der reuigen Zauberin ernsthafter Schaden widerfuhr. »Vielleicht sogar Hinrichtung …« Danicas ernste Stimme verstummte, als Dorigen nickte. Sie würde auch dieses Los hinnehmen. »Nein, das nicht«, sagte Cadderly ruhig. »Ihr werdet mit uns kommen, Dorigen, und man wird Euch eine Strafe auferlegen. Aber mit Euren Kräften und bei ehrlichem Bemühen habt Ihr viel zu geben. Ihr, Dorigen, werdet dabei helfen, die Wunden zu heilen, die dieser Krieg geschlagen hat, zum Besten der ganzen Region. Das ist die angemessene Richtung, und diese Richtung wird die Bibliothek einschlagen.« Danica warf Cadderly einen zweifelnden Blick zu, doch ihre Zweifel legten sich, als sie die Entschlossenheit bemerkte, die
sich auf dem Gesicht des jungen Priesters abzeichnete. Sie wußte, was Cadderly Abt Thobicus angetan hatte, um sie überhaupt hierherzuführen; jetzt konnte sie mutmaßen, was Cadderly dem Mann noch antun würde, wenn sie in die Erhebende Bibliothek zurückkehrten. Wieder nickte Dorigen und lächelte Cadderly offen an, den Mann, der sie im Wald von Shilmista verschont hatte, den Mann, der anscheinend vorhatte, sie erneut zu verschonen. »Erzählt mir von Gnade, weiser Cadderly«, meinte Dorigen. »Ist sie Stärke oder Schwäche?« »Stärke«, antwortete der junge Priester ohne Zögern. Flankiert von seinen fünf Freunden, stand Cadderly auf dem felsigen Hang über Burg Trinitatis. »Ihr habt ihnen befohlen, diesen Ort zu verlassen?« fragte er Dorigen, die den Hang heraufkam, um sich ihnen anzuschließen. »Ich habe den Männern gesagt, daß sie in Carradoon willkommen waren«, erwiderte die Zauberin. »Obwohl ich bezweifle, daß viele diesen Weg einschlagen werden. Ich habe den Ogern, den Orks und den Goblins befohlen, sie sollten gehen und sich Höhlen in den Bergen suchen und kein Unheil mehr anrichten.« »Aber es sind noch viele in der Festung?« Cadderlys Frage war mehr eine Feststellung. Dorigen schaute auf die unvollendeten Mauern um Trinitatis zurück und zuckte die Schultern. »Oger, Orks und Goblins sind störrische Biester.« Cadderly sah die Festung abschätzig an. Er dachte an die andere Ebene, das Erdbeben, das er hervorgerufen hatte, um Aballister zu begraben, und dachte daransetzt dasselbe zu tun – Burg Trinitatis zu zerstören und den Berg zu reinigen. Mit bösem Lachen verfiel der junge Priester in das Lied des Deneir, um nach dieser mächtigen Magie zu suchen.
Er fand nichts, das dem Erdbeben gleichgekommen wäre. Verwirrt bedrängte Cadderly die Noten, rief nach mentaler Führung. Dann verstand er. Die Macht, die er auf jener anderen Ebene heraufbeschworen hatte, war eine Reaktion auf tiefe Gefühle gewesen, nicht bewußt heraufbeschworen, sondern ihm von den Ereignissen aufgezwungen. Cadderly lachte laut. Als er die Augen aufschlug, sah er, daß seine Begleiter alle um ihn herumstanden und ihn neugierig ansahen. »Was ist denn?« fragte Danica. »Ihr habt daran gedacht, die Festung zu zerstören«, stellte Dorigen fest. »Ja, mach doch!« rief Ivan. »Spalte den Boden und kipp sie rein!« »Ei, ei« Cadderly sah sich unter seinen Gefährten um, den Freunden, die ihn für unbesiegbar, ja gottgleich hielten. Als sein Blick jedoch auf Shayleigh fiel, bemerkte er, daß die Elfenkriegerin den Kopf schüttelte. Sie verstand. Genau wie Danica. »Den Boden spalten und sie hineinkippen?« fragte Danica Ivan ungläubig. »Wenn Cadderly so etwas tun könnte, warum sind wir dann überhaupt in diesem verdammten Ding herumgeirrt?« »Wir erwarten allmählich zuviel«, fügte Shayleigh hinzu. »Ooh.« Das kam von Pikel, doch es spiegelte genau Ivans Gedanken. »Also, dann kommt«, meinte der gelbbärtige Zwerg nach einer langen Pause. Er legte Cadderly eine Hand auf den Rücken und schob den jungen Priester vor sich her. »Wir haben einen Monat Marsch vor uns, aber keine Bange, ich und mein Brüderchen, wir kriegen euch alle durch!« Das war ein guter Anfang, fand Cadderly. Ivan übernahm die Führung und
einen Teil der Verantwortung. Ein guter Anfang für einen langen Weg.
Epilog Todesqualen überkamen Druzil, als Aballister starb, ein Schmerz, den nur ein Vertrauter, der seinen Zaubermeister verloren hatte, nachvollziehen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Vertrauten gelang es dem Teufelchen, diesen Angriff zu überleben, und als die Qualen schließlich nachließen, hinkte es die Pfade der östlichen Schneeflockenberge hinunter. »Bene tellemara, Aballister«, knurrte es in sich hinein, eine Litanei gegen seine wachsende Furcht. Für das intelligente Teufelchen war es nicht schwer festzustellen, wer Aballister besiegt hatte. Genauso schnell kam es darauf, daß – selbst wenn Burg Trinitatis noch stand – seine Rolle bei den Eroberungsplanen ein jähes Ende gefunden hatte. Druzil dachte kurz daran, in die Burg zu ziehen und festzustellen, ob Dorigen überlebt hatte. Diesen Gedanken verwarf er jedoch gleich wieder, als ihm einfiel, daß die Zauberin nicht sonderlich viel von ihm hielt. Aber wohin sollte er sich wenden? Zaubermeister waren für abtrünnige Teufelchen gar nicht so leicht zu finden, ebensowenig wie Tore zwischen den Ebenen, die Druzil in die dunklen, rauchigen Gebiete zurückbringen konnten, wohin er in Wahrheit gehörte. Außerdem fand er, daß seine Aufgabe auf dieser Ebene noch nicht recht beendet war, solange der kostbare Chaosfluch, den er zusammengebraut hatte, verschlossen in den Katakomben der Erhebenden Bibliothek ruhte. Druzil wollte die Flasche zurück. Er mußte einen Weg finden, sie zu bekommen, bevor dieser verflixte Cadderly zurückkehrte, falls der noch am Leben war.
Vorläufig allerdings hatte das Teufelchen dringendere Bedürfnisse. Er wollte das Schneeflockengebirge verlassen, wollte in einem Haus vor dem eisigen Biß des Winters Schutz suchen, und deshalb setzte er seinen Weg aus der Höhe zur Stadt Carradoon hinunter fort. Nach einigen Tagen und einigen Beinahezusammenstößen mit den mißtrauischen Bauern, die am Rand der wilden Berge lebten, hockte Druzil in den Dachsparren einer Scheune, als er von einer vielversprechenden Gelegenheit hörte. Ein Einsiedler hatte nicht sehr weit von den äußersten Gehöften eine abgelegene Hütte bezogen, ein einzelner Mann ohne Freunde und Familie. »Keine Zeugen«, krächzte das Teufelchen, dessen Giftschwanz schon begierig zuckte. Sobald die Sonne unterging, flatterte Druzil zu der Hütte hin, denn er hatte vor, den Einsiedler zu töten und sein Haus für sich zu beanspruchen. Dann konnte er während des kalten Winters vom Fleisch des Toten zehren. Wie sich seine Pläne änderten, als er einen Blick auf den Einsiedler warf und das Zeichen sah, das deutlich auf dessen Stirn eingebrannt war! Plötzlich war Druzil mehr daran gelegen, diesen Mann am Leben zu erhalten. Er dachte wieder an die Erhebende Bibliothek und die Flasche mit dem mächtigen Chaosfluch, die in den Katakomben weggeschlossen war. Er dachte wieder daran, daß er sie in seinen Besitz bekommen mußte, und durch einen glücklichen Zufall kam es Druzil jetzt so vor, als würde sein Wunsch doch noch in Erfüllung gehen. Tief gebeugt unter der Last eines Sacks voll Feuerholz, schlurfte Kierkan Rufo langsam und mutlos zu seiner baufälligen Hütte zurück.