Freder van Holk Die Faust der Erde
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Freder van Holk Die Faust der Erde
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus. 7550 Rastatt Neu bearbeitet von Heinz Reck Copyright (c) 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt Agentur Transgalaxis Titelbild: Nikolai Lutohin Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Clausen & Bosse. Leck Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg. Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier. Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 33 9616 29, Telex 02 161024 Printed in Germany Dezember 1978 Scan by Brrazo 03/2006
1. Flugplatz Hongkong. Sun Koh, begleitet von Nimba und Hal, betrat den Hangar, in dem sein Flugzeug überholt wurde. Die beiden Monteure, die an der Maschine arbeiteten, kamen herunter und tippten an die Mützen. Der ältere von ihnen setzte sich auf eine Werkzeugkiste und frühstückte. Der jüngere – er war noch keine dreißig und hieß Jed Pidgeon – kam heran. »Guten Morgen«, grüßte er freundlich. »Wir haben Sie verständigen lassen, weil um neun Uhr ein Gespräch für Sie kommt.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. Sun Koh fragte erstaunt: »Über Bordfunk?« »Ja.« Sun Koh blickte den Monteur fragend an. »Hoffentlich hören Sie keine Geisterstimmen?« Jed Pidgeon grinste unbefangen. »Ich war gerade auf Ihrer Welle, als der Anruf kam. Ich habe mich natürlich gemeldet…« »Augenblick«, unterbrach Sun Koh. »Wieso waren Sie gerade auf unserer Welle?« Jed Pidgeon blinzelte. »Sie werden sich deswegen hoffentlich nicht aufregen, Sir. Es war schließlich Ihr Vorteil. Ich bin nun
einmal der Elektriker – und Funker nebenbei. Ich habe mir gedacht, daß das Aggregat auch überholt werden soll. Und als alter Praktiker weiß man natürlich Bescheid. Am Sender sind einige Stellen, an denen Metall auf Metall arbeitet. Das gibt immer feine Kratzer.« »Und?« »Der Schlüssel!« platzte Jed Pidgeon heraus. »Mich hat der Schlüssel interessiert.« »Schnüffler!« zensierte Hal laut. »Wer hat angerufen?« fragte Sun Koh. »Hm, einen Namen hat er nicht genannt.« »Und was hat er gesagt?« Der Monteur grinste vorsichtig. »Hm, eine Menge, aber das betraf hauptsächlich mich. Es paßte ihm nicht, daß ich auf der Welle war. Manche Leute scheinen sich einzubilden, daß sie die ganze Weisheit für sich allein gepachtet haben. Ich habe ihm natürlich contra gegeben. Unsereins kommt schließlich auch in der Welt herum, und ich habe zufällig bis vor zwei Monaten auf einer IonosphärenStation gearbeitet. Da lernt man solche Sachen. Mich wunderte bloß, daß Sie schon darauf eingestellt sind. Natürlich weiß jeder Funker Bescheid, aber das ist der erste Apparat, an dem ich einen Gleitschlüssel nach Zeit und Ort gefunden habe.« Sun Koh lächelte. »Sie nehmen es mit Ihrer Untersuchung genau. Nun, das ist ja schließlich Ihre Auf6
gabe. Der Anruf soll also um neun Uhr wiederholt werden?« »Ja. Ich habe versprochen, Sie zu verständigen.« »Danke, Mister Pidgeon«, sagte Sun Koh. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk und stieg die Gangway hinauf. Hal und Nimba blieben, wo sie waren. Nach einer Weile fragte Nimba: »Was ist eigentlich mit dem Schlüssel? Ist da etwas Besonderes dabei?« »Nicht die Spur«, meinte Hal. »Das ist bloß ein Neunmalgescheiter, der sich wundert, daß andere auch wissen, was er weiß.« »He!« »Etwa nicht?« stichelte Hal. Jed Pidgeon sagte: »So einfach ist das nicht. Wer den Schlüssel dort oben ausgearbeitet hat, kennt sich besser aus als die Professoren von unserer Ionosphären-Station. Das ist nämlich ein mächtiger Unterschied, ob man nach Schnauze über die Skala geht, wie man das als Funker gewöhnlich tut, oder ob man einen genau stimmenden Schlüssel zur Hand hat. Dazu gehört ein Haufen Testarbeit.« »Hä?« sagte Nimba. »Mach den Mund zu, Nimba«, riet Hal wohlwollend. »Du gehörst auch zu denen, die ihre Wurst essen, ohne vorher Lebensmittelchemie studiert zu haben. Er meint, daß die Kurzwelle, mit der wir senden und empfangen, ihr Tücken hat. Die Dinge liegen 7
nicht so einfach, daß man mit einer bestimmten Kurzwelle vierundzwanzig Stunden lang um die Erde herumfunken kann. Du kommst meinetwegen mit einer 20-Meter-Welle von zwanzig bis vierundzwanzig Uhr großartig durch, und dann vielleicht noch einmal von sechs bis acht Uhr, aber in den Zwischenzeiten ist nichts zu machen. Die Welle verschwindet glatt und bringt keine Verbindung. Mit einer anderen hast du vielleicht von Mitternacht bis Morgen und von Mittag bis Abend Verbindung, aber in der restlichen Zeit geht sie wie in Löschpapier hinein. Wenn du also Dauerverbindung haben willst, brauchst du eine Tabelle, aus der man ersieht, welche Welle zu einer bestimmten Zeit über eine bestimmte Entfernung hinweg mit Sicherheit trägt. Das ist der Schlüssel, von dem er redet. Klar?« »Sicher«, sagte Nimba. »Ich frage mich bloß, warum die Wellen so unregelmäßig durchkommen.« »Dich darfst du nicht fragen«, erwiderte Hal, »denn du weißt es ja nicht. Aber unser Oberschlaukopf hier wird es dir sagen. Er hat nämlich auf Ionosphäre studiert.« »Es hängt tatsächlich mit der Ionosphäre zusammen«, sagte Jed Pidgeon. »Das ist eine Schicht von 100 bis 300 Kilometer Höhe, von der die Kurzwellen immer wieder reflektiert werden, so daß sie im Zickzack zwischen der Ionosphäre und der Erde um die Erde herumgehen. Die Reflektionsschicht liegt aber 8
mal höher, mal tiefer, je nach dem Sonnenstand, und zu bestimmten Zeiten ist sie für eine bestimmte Welle überhaupt nicht da, sondern läßt sie durch oder verschluckt sie.« »Und wenn die Ionosphäre den Schluckauf hat, hörst du eben nichts«, erklärte Hal. »Unsinn!« brummte Nimba. »Wenn die Welle im Zickzack zwischen der Ionosphäre und der Erde hinund hergehen würde, müßte sie unhörbar sein, sobald sie sich jeweils oben an der Ionosphäre befindet. Das gäbe dann so alle hundert oder zweihundert Kilometer stumme Zonen. Genau das stimmt aber nicht. Wenn ich auf einer Welle bin, und ich fliege mit achthundert über das Meer, kann ich sie stundenlang ununterbrochen hören. Wäre eine schöne Schweinerei für die Funker auf den Schiffen, wenn sie nur dort Verbindung bekämen, wo die Welle gerade auf die Erde herunterspiegelt.« »Wau!« murmelte Hal. »Was sagen Sie jetzt, Sie Weisheitsschlauch?« Jed Pidgeon staunte. Sun Koh führte inzwischen oben in der Kanzel ein Gespräch. Es war Manuel Garcia, der sich meldete. »Na, endlich!« kam seine unsympathische Stimme aus der Ferne. »Ich dachte schon, ich müßte halb Hongkong nach Ihnen absuchen.« »Wie geht es Miss Martini?« fragte Sun Koh. 9
»Wenn sie nicht von meinem Bruder Juan entführt wurde, den ich immer noch unter den Lebenden wähne, urlaubt sie bei einer Freundin. Ich wollte Ihnen aber von einem ›Time‹-Bericht erzählen …« »Was ist damit?« »Nun, da geht es um eine einige Wochen alte Geschichte, die Sie mit Atlantis ein erhebliches Stück weiterbringen kann.« »Was läßt Sie das vermuten?« fragte Sun Koh. »In der Story geht es um den Untergang des Schiffes ›Oakland‹, wenigstens nach den Aussagen eines Kapitäns Krotthoff, der als einziger Überlebender wieder auftauchte. Die ›Oakland‹ geriet südlich der Oster-Insel in ein Seebeben oder etwas ähnliches …« »Das ist für uns nicht wichtig.« »Was denn, was denn? Wenn Sie sich nicht für diesen Krotthoff interessieren …« »Kommen Sie endlich zur Sache, Manuel!« drängte Sun Koh. »Na also«, sagte Manuel Garcia zufrieden. »Also, die ›Oakland‹ ging südlich der Oster-Insel unter. Kapitän Krotthoff behauptet nun, er hätte im Augenblick der Katastrophe vor dem Schiff eine Insel gesehen, die auf keiner Karte eingetragen ist. Auf der Insel hätte sich ein silberner Turm befunden, und auf dem Turm hätte er deutlich zwei Menschen wahrgenommen. Klingt sonderbar, nicht?« Sun Koh blieb sachlich. »Sie haben den Aufent10
haltsort dieses Kapitäns ermittelt?« »Hm, ich habe natürlich ein bißchen herumgefragt. Wie ist denn das Wetter bei Ihnen?« »Wo ist er?« fragte Sun Koh mit drohender Stimme. »In Hongkong.« Manuel Garcia seufzte. »Was dachten Sie, warum ich Sie anrufe? Sie sind ihm am nächsten, und da dachte ich …« »Ich werde ihn suchen.« Sun Koh gab ihm noch einige Anweisungen für dringende Forschungsarbeiten in den Labors, dann unterbrach er die Verbindung mit dem quasseligen Mann. Der Sekretär des US-Konsulats, an den Sun Koh geriet, war ein salopper junger Mann. Er schüttelte Sun Koh die Hand, nötigte ihn in einen Korbstuhl, stellte den halben Inhalt eines Barschränkchens bis zu den Eiswürfeln auf den Tisch und hängte sich mit einem Bein locker über eine Sessellehne. Dann erst nahm er den Faden auf, den Sun Koh ihm zugeworfen hatte. »Also Kapitän Krotthoff … Tja, er lebt im Augenblick bei einem Flittchen, aber ich denke nicht, daß ihm das etwas ausmacht. Manche Leute vertragen es sogar, unter Pygmäen zu leben. Sie kennen die Geschichte?« »Nein.« »Hm, dann ist es vielleicht besser, wenn ich Sie unterrichte. Ich weiß nicht, was Sie von Krotthoff 11
wollen …« »Er verlor sein Schiff?« Der Sekretär nickte und schwenkte sein Glas, so daß die Eiswürfel klirrten. »Die ›Oakland‹. Sie fuhr im Auftrag eines gewissen Kennan, der sich mit seiner Tochter an Bord befand. Eine Art Expeditionsschiff. Tiefseeforschung und solche Sachen. Nach dem Bericht Krotthoffs geriet das Schiff südlich der Oster-Insel in einen schweren Wirbelsturm, gegen den es sich mit Not und Mühe hielt. Es kam jedoch nicht heraus, sondern wurde einen ganzen Tag und länger mitgenommen. Dann kam die Katastrophe. Die Wolkenwände rissen plötzlich auf, und Krotthoff sah wenige Meilen vor sich eine bergige Insel, auf die das Schiff direkt zugetrieben wurde. Auf der Höhe des Inselberges entdeckte er einen runden Silberturm, und als er das Glas ansetzte, sah er auf dem Turm zwei Menschen, vermutlich Männer. In der gleichen Sekunde muß das Schiff auf Klippen oder Korallenbänke geraten sein. Krotthoff wurde mit einem Ruck von der Brükke geschleudert, schlug irgendwo mit dem Kopf an und verlor das Bewußtsein.« »Ein Silberturm?« »Nun, das dürfen Sie vielleicht nicht wörtlich nehmen. Krotthoff selbst glaubt an nassen Stein, auf den durch eine Wolkenlücke etwas Sonne fiel. Das gibt einen ähnlichen Eindruck.« 12
»Die Position?« »Nur die letzte, die vor Ausbruch des Wirbelsturms aufgenommen wurde. Damit ist nicht viel zu machen. Der Sturm hat das Schiff sicher Hunderte von Kilometern mitgenommen.« »Die Insel ist auf seiner Karte verzeichnet?« »Nein, aber das braucht nicht viel zu besagen. Im Pazifik gibt es bestimmt noch Hunderte von Inseln, die auf keiner Karte zu finden sind, und dieses Gebiet südlich der Oster-Insel ist verkehrstechnisch gesehen ein riesiges Loch. Dort kommt nur selten ein Schiff hin, und es ist schon denkbar, daß es dort unbekannte Inseln gibt. Nur – ein Turm und Menschen …« »Die ›Oakland‹ ging unter?« »Sieht so aus. Halten wir uns an den Bericht Krotthoffs. Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem der Boote der ›Oakland‹, zusammen mit einem halben Dutzend Männer der Besatzung, die ihn aufgelesen und mitgenommen hatten. Nach ihren Berichten wurde das Schiff von Klippen aufgeschlitzt, aber dann vom Sturm knapp an der Insel vorbeigetrieben und versank. Wer konnte, ging über Bord oder versuchte, mit einem Boot loszukommen. Die Männer hielten sich aber für die einzigen, denen es gelungen war, mit einem Boot abzukommen. Und sie hatten weder Wasser noch Lebensmittel in nennenswerten Mengen bei sich.« 13
»Schwer.« »Die übliche Tragödie in einem kaum befahrenen Gebiet. Sie befanden sich schon auf glatter, stiller See irgendwo im Pazifik, als Krotthoff zu Bewußtsein kam. Und sie hatten nichts als ein paar Ruder, um weiterzukommen. Um es kurz zu machen: Sie verhungerten, verdursteten, wurden wahnsinnig. Krotthoff blieb als letzter übrig. Er hatte mehr zuzusetzen als die anderen, körperlich und wohl auch willensmäßig. Nach Wochen entdeckte ein Liberianer zufällig das treibende Boot und nahm Krotthoff auf – einen halbirren Schwerkranken aus Haut und Knochen. Der Liberianer hatte keinen Arzt an Bord und lud ihn auf einer der Paumotu-Inseln ab.« »Krotthoff wurde gesund?« »Ja. Ein Pflanzer und einige Eingeborene brachten ihn wieder auf die Beine. Das dauerte jedoch viele Monate. Schließlich schlug er sich nach Hongkong durch. Die ›Oakland‹ war seit neun Monaten verschollen, als er endlich hier auftauchte und sich den Behörden stellte. Die Situation war für beide Seiten schwierig. Sein Bericht konnte stimmen und auch wieder nicht. Man konnte ihm offiziell nichts nachweisen, aber andererseits – hm, also jedenfalls war es für ihn auch nicht besonders erfreulich. Es wird ihm schwerfallen, wieder ein Schiff zu finden. Wenn Sie mit ihm persönlich sprechen wollen …« Er schlenderte zu seinem Schreibtisch, schrieb die 14
Adresse auf und gab sie Sun Koh. Wenig später verabschiedete sich Sun Koh. Das Hotel, in dem Krotthoff wohnte, konnte nur mit viel Toleranz als Hotel bezeichnet werden. Es lag mitten im chinesischen Viertel und erwies sich als ein schmales dreistöckiges Gebäude, das aussah, als würde es im nächsten Moment altersmüde in die Knie gehen. Es war jedoch nicht schmutziger und unansehnlicher als seine Umgebung und gab gerade den richtigen Hintergrund ab für das wirre, bunte Treiben auf der schmalen Straße. Im Erdgeschoß befand sich ein größerer Raum für die Gäste, der Bar, Restaurant oder Tanzdiele sein konnte. Am Fenster quetschten sich einige Chinesinnen die Nase breit, um den Wagen zu bewundern, hinter dessen Steuer Nimba wie ein Filmstar saß. Neben dem Lokal führte ein enger, dämmriger Gang in das Haus. Am Ende fand Sun Koh neben einer Treppe ein Stehpult und dahinter einen jungen Chinesen, der ihn wie eine Erscheinung anstarrte. »Kapitän Krotthoff?« »Zweiter Stock, Zimmer acht«, brachte der Chinese heraus, drehte sich ein Stück und starrte hinter Sun Koh her. Das Innere des Hauses war überraschend sauber und erinnerte schon eher an ein Hotel. Es bereitete keine Mühe, den angegebenen Raum zu finden. Sun Koh klopfte und trat auf einen Zuruf hinein. 15
Das Zimmer war klein, dürftig eingerichtet, aber ebenfalls sauber. Auf dem Metallbett lag ein Mann in Hose und Hemd. Er blinzelte verschlafen; dann schnellte er auf und kam auf seine Füße. Jetzt war der Raum nicht mehr klein, sondern winzig. Krotthoff war ein breitschultriger Hüne um die Vierzig, der ganz danach aussah, als könnte er die Wände auseinandertreiben. Sein rotblondes Haar und sein energisches, trotziges Gesicht wirkten in dieser Umgebung geradezu gefährlich. »Kapitän Krotthoff?« vergewisserte sich Sun Koh. »Ja.« »Sun Koh. Bitte, setzen Sie sich wieder.« Krotthoff ließ sich mechanisch auf die Bettkante sinken und wies mit einer Handbewegung auf den einzigen Stuhl, der sich im Raum befand. »Man hat mir Ihre Geschichte erzählt, Kapitän. Ich sehe keinen Grund, sich in diesem Viertel zu verstecken.« »Verstecken?« wiederholte Krotthoff rauh. »Davon ist keine Rede. Ich wohne hier, weil es billig ist und ich nur wenig Geld habe. Was wünschen Sie?« »Sie sahen kurz vor dem Schiffbruch eine unbekannte, aber bewohnte Insel. Ich suche jemand, der mich auf diese Insel bringt. Sind Sie in der Lage, die Insel wiederzufinden?« »Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere, der die letzte Position der ›Oakland‹ kennt«, antwor16
tete der Kapitän ruhig. »Letzten Endes ist es eine Frage der Geduld. Die Insel mit dem Turm kann sich nach jeder Richtung tausend Kilometer von der letzten Position befinden. Das bedeutet, daß ein Gebiet von einigen Millionen Quadratkilometer abzusuchen ist, also etwa ein Gebiet von der Größe Europas. Stellen Sie sich vor, Sie müßten mit einem Schiff in Europa einen mäßigen Hügel finden, der sich ebensogut bei Rom wie bei London befinden kann. Nicht einfach, Sir.« »Ein Flugzeug wäre nützlicher als ein Schiff, nicht wahr?« »Sicher, aber kein Flugzeug bringt soviel Aktionsradius auf, wie in diesem Fall notwendig wäre. Man müßte doch ein Schiff als Stützpunkt mitschicken.« »Ich verstehe. Ein Schiff und ein Flugzeug. Sie legen wohl nicht zufällig Wert darauf, noch einmal jene Gegend aufzusuchen?« In die Stimme des Kapitäns kam ein drohender Unterton. »Was glauben Sie, warum ich hier in Hongkong herumhocke? Ich bin in San Francisco zu Hause. Ich habe hier auf ein Schiff gewartet, mit dem ich auf die Suche gehen kann.« »Warum?« »Ich lasse mir nicht gern nachsagen, daß ich phantasiere. Ich weiß, was gewisse Leute denken, und ich möchte sie ganz gern mit der Nase auf die Insel drücken. Abgesehen davon – die ›Oakland‹ ging in un17
mittelbarer Nähe der Insel zugrunde. Vielleicht ist es einigen gelungen, sich zu retten. Können Sie sich vorstellen, wie diese Leute seit fast einem Jahr Tag für Tag den Horizont absuchen und auf ein Schiff hoffen, das sie wieder in die Heimat bringt?« »Glauben Sie, hier in Hongkong ein Schiff zu finden?« »Wenn Mister Watson nicht gestorben wäre …« Er brach mit einem Schulterzucken ab, so daß Sun Koh nachgreifen mußte. »Wer ist Mister Watson?« »Ich denke, Sie kennen meine Geschichte?« »Von einem Watson war nicht die Rede.« »Ein Freund von Professor Kennan, für den die ›Oakland‹ fuhr. Er wollte mit seiner neuen Hochseejacht eben auf Jungfernfahrt gehen, als ich mich mit ihm in Verbindung setzte. Die Bezeichnung Jacht dürfen Sie freilich nicht so genau nehmen. Die ›Star of California‹ ist ein hochseetüchtiges Luxusschiff, ein Millionärsschiff. Watson war sofort dabei, auf die Suche zu gehen. Ich sollte hier auf ihn warten und dann das Schiff übernehmen. Bis Hongkong sollte es eine Vergnügungsfahrt für Watson und ein Dutzend Gäste sein.« »Und?« »Watson starb unterwegs an einem Herzschlag. Das Schiff liegt jetzt hier im Hafen. Die Gäste haben es verlassen. Die Mannschaft auch. Man munkelt, 18
daß es auf der ›Star of California‹ gespukt haben soll, und das vertragen Seeleute schlecht. Alles Unsinn. Für mich ist es natürlich bitter. Die Erben denken gar nicht daran, mir das Schiff anzuvertrauen oder gar noch die Mittel für eine Suchexpedition zu stiften.« »Das Schiff würde sich eignen?« »Sicher.« »Ist es verkäuflich?« »Zweifellos.« »Würden Sie es übernehmen, wenn ich es kaufe?« Der Kapitän kniff die Augen zusammen. »Das ist keine Frage, aber – haben Sie ein Vorstellung davon, was ein derartiges Millionärsschiff kostet?« »Offen gestanden nicht«, sagte Sun Koh. »Ich hoffe aber, daß es mein Bankkonto mit dem Ihres Mr. Watson aufnehmen kann. Kommen Sie, Kapitän. Wir wollen uns die ›Star of California‹ ansehen und dann das Notwendige regeln.« Krotthoff atmete tief auf. »Sie machen keine Umstände, wenn Sie den Weihnachtsmann spielen, nicht?« Sun Koh blickte an ihm vorbei in eine unbestimmte Ferne. »Nun, vielleicht habe auch ich ein Ziel, das ich verfolge. Also kommen Sie.« * 19
Ein Jahr zurück! George Kennan erwachte aus seiner Betäubung. Mühsam richtete er sich auf und sah sich um. Er lag am Strand einer Insel. Wenige Meter hinter ihm liefen die Wogen des Ozeans flach aus, vor ihm und seitlich dehnte sich ein Sandstreifen, der durch die grüne Wand eines Palmenhains abgesetzt wurde. Der Himmel war noch mit schweren Wolken verhängt, die der Sturm vor sich hertrieb, aber sie hatten sich schon aufgelockert und ließen hier und da die Sonne ahnen. Mit dem Bewußtsein, daß er lebte und nicht erheblich verletzt war, kehrte langsam die Erinnerung zurück. Einen Tag lang war die »Oakland« im Sturmzentrum herumgewirbelt worden, bis keiner der Menschen auf ihr mehr wußte, wo ihm der Kopf stand. Dann war die Katastrophe gekommen. Innerhalb von Minuten war das Schiff gesunken. Kennan hatte keine Ahnung, wie und wodurch es geschehen war. Er erinnerte sich nur noch, daß jemand »Land voraus«, geschrien hatte, dann waren ein Wasserberg, eine feurige Lohe und beißende Glut vor ihm gewesen, und er war mit vielen anderen verzweifelt in das tobende Wasser hinuntergesprungen. Er hatte das Land erreicht – oder richtiger: Die Flut hatte ihn hinaufgeworfen, denn er hatte nichts 20
mit Bewußtsein unternommen, um hierher zu gelangen. Aber die andern? Sybill? Der Gedanke durchzuckte ihn schmerzhaft. Sein einziges Kind war mit ihm zusammen in die Tiefe gesprungen. War Sybill ertrunken? Er taumelte hoch und wankte den Strand entlang. »Sybill! Sybill!« Das noch immer lebhafte Brausen in der Luft verschlang den erschütternden Ruf. Er erhielt keine Antwort. Kennan sank in die Knie. Mit blicklosen Augen starrte er in den Sand, während sein überreiztes Gehirn reflektierte. Hatte ihn das Meer nur deshalb ausgeworfen, um ihn zu strafen, um ihn die Qualen des Verlustes tragen zu lassen? Hätte er diese Expedition nur nicht unternommen. Sybill hatte zu Hause bleiben sollen, aber sie hatte ihn überredet, und so hatte er sie gegen seinen ursprünglichen Vorsatz doch mitgenommen. Drang da nicht ein schwacher Ruf an sein Ohr? »Vater! Vater!« Er riß sich hoch und stürzte vorwärts, während er gleichzeitig gellend schrie. Um die Bäume herum sah er zwei Gestalten auftauchen. Wunder über Wunder. Das war Sybill. Und neben ihr ging Hugh Carpool, der Ingenieur der »Oakland«. 21
Vater und Tochter sanken sich weinend in die Arme. Sie vergaßen über der Freude, sich lebend wiederzusehen, ihre Lage. Der Ingenieur mußte sie nach einer Weile daran erinnern. »Äh, Mr. Kennan, haben Sie noch jemand von der ›Oakland‹ gesehen?« Kennan schüttelte stumm den Kopf, worauf Carpool fortfuhr: »Dann schlage ich vor, daß wir jetzt erst einmal den Strand absuchen.« Sie schritten in die Richtung, aus der Kennan gekommen war. Nicht weit von seinem ersten Platz fanden sie Jens Uhlen, den Steuermann. Er war der einzige, den sie noch entdeckten, obgleich sie rings um die ganze Insel marschierten. Diese Wanderung gab ihnen jedoch wichtige Aufschlüsse über ihren Aufenthaltsort. »Wir befinden uns also auf einer unbekannten Insel von geringer Größe«, stellte Kennan fest, nachdem sie die Runde vollendet hatten. »Sie stellt den Ausläufer einer größeren Insel dar, die wir einige Kilometer östlich von hier liegen sahen. Diese Insel ist bewohnt. Wir haben die Häuser unterhalb des Höhenzugs und den spitzen Turm auf der Höhe bemerkt. Es wird wohl das beste sein, wenn wir so schnell wie möglich versuchen, hinüber zu gelangen oder uns wenigstens bemerkbar zu machen, damit man uns hinüberholt.« »Wir kennen die Leute dort drüben nicht«, gab 22
Carpool zu bedenken. »Was, wenn man uns feindlich behandelt?« Kennan hob die Schultern. »Wir müssen es darauf ankommen lassen. Drüben müssen sich Weiße aufhalten, nach den Bauten zu schließen. Andererseits ist mir rätselhaft, wie sie auf diese Insel kommen sollten, von der man nie etwas gehört hat. Oder sind Sie der Meinung, daß wir vor einer bekannten, auf den Karten verzeichneten Insel Schiffbruch erlitten haben?« »Das halte ich für ausgeschlossen«, gab Carpool entschieden zurück. »Allenfalls kämen noch die Oster-Insel oder Salay Gomez in Frage, aber erstens würde die Entfernung nicht stimmen, und zweitens kenne ich beide ganz genau. Diese Insel hier ist auf keiner Karte verzeichnet, darauf können Sie Gift nehmen. Warum meinen Sie denn überhaupt, daß dort drüben Weiße leben müßten?« »Weil es Steinbauten sind«, erwiderte Kennan. »Die Bauten der Südsee sehen für gewöhnlich anders aus. Ich denke ja nicht, daß wir Schwierigkeiten bekommen werden. Bemerken wird man uns ohnehin bald, aber es ist sicher besser für uns, wenn wir nicht erst lange darauf warten.« »Verhungern werden wir nicht gleich«, warf Uhlen beruhigend ein. »Es gibt hier Fische und Palmen, außerdem genügend Trinkwasser. Das ist mehr, als man von einer einsamen Insel verlangen kann.« 23
»Trotzdem wollen wir nicht unnötig Zeit vertrödeln«, beharrte Kennan. »Wozu wollen wir hier Robinson spielen, wenn wir drüben Tisch und Bett finden können? Die Frage ist nur, wie wir die Leute am schnellsten aufmerksam machen können, falls sie bisher nichts von uns und unserem Schiffbruch bemerkt haben.« »Wir schwimmen einfach hinüber«, schlug Sybill Kennan vor. »Ich bin Nichtschwimmer«, erklärte Carpool trokken. »Ich ebenfalls«, schloß sich der Steuermann an. »Und mit mir ist es nicht weit her«, vollendete Kennan. »Dann schwimme ich allein.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Denk an die Haie und Klippen, an denen es hier sicher nicht fehlt. Aber begeben wir uns einstweilen auf die andere Seite, vielleicht bemerkt man uns auch so.« Sie schritten am Strand entlang der Ostseite der Insel zu, vier Menschen voller Hoffnung, die nicht ahnten, wie das Schicksal sie narrte. Voran ging George Kennan. Er war hochgewachsen und schlank, fast etwas schmal. Sein Gesicht zeigte klare, scharfgeschnittene Züge, eine hohe Stirn und darüber graumeliertes Haar. Sybill Kennans braunes Haar war wild zerzaust, 24
aber es paßte gut zu den leuchtenden braunen Augen und zu dem lebenskräftigen Ausdruck ihres Gesichts, zu der sonnendurchglühten Haut, durch die das Blut schimmerte, und zu den festen, weißen Zähnen. Das war kein Zierpüppchen, diese junge Frau, sondern ein warmer, lebendiger Mensch, der in Wind und Wetter nicht umfiel. Sybill Kennan durfte sich trotz der Unzulänglichkeit ihrer Kleidüng sehen lassen. Jung war sie übrigens auch, kaum älter als achtzehn Jahre. Hugh Carpool stampfte mit dem schweren Schritt des Seemannes an ihrer Seite. Er besaß das typische, etwas harte und bartlose Gesicht des Amerikaners. Er zeigte allerdings schon gewisse weiche Partien, die seine fünfzig Jahre verrieten. Fast im gleichen Alter stand wohl der Steuermann, der an der rechten Seite Sybills schritt. Während Carpool von mittlerer Größe war, konnte man Uhlen allenfalls als vierschrötig bezeichnen. Sein Gesicht war rot verwittert und derb, im Gesamtausdruck jedoch recht gutmütig. Zähne und Haare existierten nur noch in wehmütigen Erinnerungen. Vom Ostrand aus konnten sie die gegenüberliegende Insel recht gut erkennen. Der Sturm hatte nachgelassen, die Sonne begann eben durch die Wolken durchzubrechen und ihre warmen Strahlen auf die durchnäßten Körper zu werfen. In ihrem Licht sahen sie drüben einen dichtbewaldeten Hö25
henzug mit dem herausragenden Turm, darunter, etwas oberhalb des Strandes, einige graue Steinhäuser, die sich in den Wald hineinzogen. Menschen bemerkten sie nicht. Sie warteten eine Weile in der Hoffnung, daß sich im nächsten Augenblick der jenseitige Strand beleben würde. Doch nichts geschah dort drüben. Alles blieb still und unbewegt. »Seltsame Insel«, knurrte Carpool endlich verdrossen. »Entweder sind die Leute dort drüben blind, oder es lebt überhaupt niemand dort.« Kennan ließ die Hand, mit der er seine Augen beschattet hatte, sinken. »Ich muß zugeben, daß diese Häuser einen merkwürdigen Eindruck von Verlassenheit auf mich machen. Es sind überhaupt seltsame Bauten. Ich erinnere mich nicht, jemals etwas Ähnliches gesehen zu haben, wenn auch die Entfernung keine einwandfreie Beurteilung zuläßt. Es wäre jedenfalls recht unangenehm für uns, wenn dort drüben niemand wohnen würde.« »Vielleicht schlafen sie alle?« warf Uhlen ein. »Ich werde doch hinüberschwimmen müssen«, drängte Sybill. Doch ihr Vater lehnte abermals ab. »Das wirst du sein lassen. Wir können auf einfachere Weise feststellen, ob jemand dort drüben wohnt. Doch zunächst wollen wir noch warten.« 26
Sie bewegten sich hin und her, um den Bewohnern der Insel Gelegenheit zu geben, sie zu bemerken. Mit dieser Beschäftigung verbrachten sie eine halbe Stunde. Dann war die Geduld des Ingenieurs am Ende. Er nahm Kennan beim Arm und brummte: »Hören Sie, Mr. Kennan, Sie wollen doch nicht etwa ewig hier herumlaufen und warten, bis wir abgeholt werden? Ich friere wie ein junger Hund, Hunger habe ich auch, und in einer Stunde ist die Sonne untergegangen. Wir müssen uns auf die Nacht einrichten.« Kennan sah die Berechtigung dieser Mahnung ein. »Wir sind einer Meinung, Mr. Carpool. Das beste ist wohl, wenn wir vor allem ein Feuer entzünden. Das wird uns die erforderliche Wärme geben und ist das sicherste Mittel, um die Leute in den Häusern auf uns aufmerksam zu machen.« »Feuermachen ist gut«, knurrte der Ingenieur, »aber haben Sie Streichhölzer bei sich?« Kennan sah ihn betroffen an. »Streichhölzer? Hm, richtig, wir müssen ja das Feuer anzünden können.« Sie kramten beide in ihren Taschen, konnten aber nichts entdecken, womit sie Feuer entfachen konnten. Ratlos winkte Carpool schließlich dem Steuermann, der mit Sybill weiter unten am Strand auf und ab ging. »Hallo Uhlen, haben Sie Streichhölzer?« Der andere grinste. 27
»Streichhölzer? Nein, die würden ohnehin aufgeweicht sein. Aber ich kann Ihnen mein Feuerzeug zur Verfügung stellen.« »Gott sei Dank!« Die beiden Männer atmeten auf. Uhlen und Sybill kamen heran. Nach kurzer Besprechung über ihre Lage gingen sie gemeinsam an die Arbeit. Sie bestanden im wesentlichen darin, daß sie Holz zusammentrugen und heruntergefallene Kokosnüsse auflasen. Als die Sonne sank, loderte das Feuer auf. Sie hatten es am östlichen Rand des Palmenhains entfacht. Der Schein zuckte über die hohen, glatten Stämme und schuf gespenstische Schatten. Schweigsam setzten sie sich dicht herum. Ihren Hunger hatten sie mit dem weißen Fleisch der Nüsse gestillt, ihren Durst an dem winzigen Bach gelöscht, ihre Kleidung war trocken, und trotzdem stand die Stimmung außerordentlich tief. Gedrückt und unlustig hockten sie zwischen der hellen Flamme und der Schwärze der Nacht im Sand. Erschöpfung und Müdigkeit lagen in ihren Gliedern, und doch kamen sie nicht zur Ruhe, weil alle vier nicht gewöhnt waren, auf der bloßen Erde unter freiem Himmel zu schlafen, vorn geröstet zu werden und hinten zu frieren. Sie litten unter der quälenden Ungewißheit ihrer Lage ebensosehr wie unter der Unbequemlichkeit ihrer Verhältnisse. In ihren Ohren lag das Prasseln und Knistern des brennenden Holzes, aber zugleich versuchten sie, von der 28
fernen Insel einen Laut, das Zeichen eines Menschen aufzufangen. Eine Stunde nach der anderen verging. Allmählich sanken ihre Körper um und entspannten sich. Sie fielen in einen unruhigen Halbschlaf voll düsterer, verwirrender Träume. Niemand von ihnen sah, wie sich auf der Hauptinsel ein Jüngling ins Meer stürzte und mit gleichmäßigen, starken Stößen zu ihnen herüberschwamm. Niemand beobachtete, wie er in geringer Entfernung von ihnen aus dem Wasser stieg und sich geräuschlos an sie heranschlich. Niemand merkte, daß zwei helle, scharfe Augen ihren Schlaf verfolgten. Und doch schreckte Kennan plötzlich aus irgendeinem Grund hoch und starrte um sich. Und da sahen seine Augen plötzlich den Unbekannten, der wenige Meter von ihm entfernt im matten Schein des heruntergebrannten Feuers stand. Er sah einen jungen Menschen vor sich, der auf der Grenze zwischen dem Jünglings- und Mannesalter stehen mochte. Seine Beine waren mit einer braunen, groben Hose bekleidet, die sich eng an die harten Muskeln der Schenkel anlegte. Sein Oberkörper war nackt. Er war eher schlank als breit, aber die Muskulatur war kräftig ausgebildet und verriet athletische Stärke. Dazu paßte der kraftvolle Ausdruck der leicht vorspringenden Kiefer, der festen Lippen und der kühnen Nase. Die Haare des Fremden waren 29
hell, seine Augen blau oder grau, die Haut war im Grundton weiß. Alle diese Feststellungen traf Kennan im flüchtigen Bruchteil einer Sekunde. Zu einer eingehenden Betrachtung hatte er keine Zeit, denn die Haltung des Unbekannten veranlaßte ihn, schleunigst aufzuspringen. Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß er wenig freundliche Absichten hatte. In seiner rechten Hand schwang er ein schweres Beil, und sein Gesicht verriet, wozu er es benutzen wollte. Kennan wußte wohl, daß er gegen diesen Fremden nicht viel ausrichten konnte. Er war körperlich unterlegen und außerdem unbewaffnet. Er wußte auch, daß ihm die Hilfe der anderen nichts nützen könnte. Trotzdem stieß er einen lauten Warnschrei aus. Sybill Kennan war schon aufgewacht, als ihr Vater aufsprang. Sie erkannte die Gefahr, warf sich mit einem Aufschrei dem Angreifer entgegen und umklammerte dessen Arm. »Nicht, nicht!« schrie sie. »Sehen Sie denn nicht, daß Sie einen Wehrlosen vor sich haben?« Der Arm des halbnackten Jünglings blieb mitsamt dem Beil in der Schwebe. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck des Staunens und des Suchens. Er sah aus wie ein Mensch, der urplötzlich in eine neue Situation gestellt wird und nicht fähig ist, sie zu begreifen. Es war eine seltsame Gruppe. Der Schrei Kennans 30
hatte die beiden anderen Männer ebenfalls aus dem Schlaf gerissen. Sie saßen mit nicht gerade geistreichen Gesichtern im Sand und starrten auf den Unbekannten. Sybill stemmte sich gegen den Arm des Fremden. Dann kam es hart und schroff aus dem Mund des Jünglings: »Ihr müßt sterben, Mac will es.« Sie verstanden, was er sagte, und weil sie das eigentlich am wenigsten erwartet hatten, kam es ihnen überraschend. Dieser Fremde sprach ein schwerfälliges Englisch, aber das lag weniger in den Worten und Sätzen als in den Bewegungen der Lippen. Er sprach wie ein Mensch, der in seinem Leben nicht viel gesprochen hat. »Wer sind Sie?« fragte Sybill. Der Halbnackte blickte sie grübelnd an, schien aber die Frage verstanden zu haben, denn er erwiderte: »Rob.« »Rob?« wiederholte sie. »Robert?« Er nickte. Es schien ein starkes Erlebnis für ihn zu sein, seinen Namen aus dem Mund der Frau zu hören. »Ich heiße Sybill Kennan«, fuhr sie fort und sah ihn dabei fest an. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern fing ihn mit seinen hellen Augen. Seine Lippen murmelten tonlos und doch zugleich irgendwie andächtig: »Sybill, Sybill?« 31
Die drei Männer näherten sich den beiden, nachdem sie untereinander Blicke getauscht hatten. Sofort straffte sich die Gestalt des Fremden, sein Arm wurde stählern. Sybill Kennan wandte sich um und erkannte, was vorging. Sie spürte die Absicht der Männer und ahnte zugleich den Ausgang. Deshalb rief sie halb angstvoll, halb entschieden: »Nicht, bleibt stehen, es gibt nur ein Unglück.« Die drei waren vernünftig genug, es einzusehen. Außerdem gewannen sie nicht den Eindruck, daß der Fremde dem Mädchen etwas zuleide tun wollte. Deshalb verhielten sie sich still. Sybill blickte wieder in das grübelnde Gesicht Robs. »Sind Sie wirklich gekommen, um uns zu töten?« Seine Gedanken schienen aus der Ferne zurückzukehren. »Ja.« Er nickte. »Ich soll euch töten. Mac hat es befohlen.« »Aber wir haben euch doch nichts getan«, rief sie mit leichtem Zorn. »Wir sind Schiffbrüchige, die auf den Strand geworfen wurden.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß, aber es sollen keine Fremden auf die Insel kommen. Ihre Schiffe gehen unter, und sie sterben im Wasser, sonst müssen sie getötet werden.« »Aber warum?« »Sie sollen nicht auf die Insel.« Er wandte sich 32
dabei halb um und wies mit dem freien Arm nach der großen Insel. »Wir sind doch gar nicht dort und haben auch nicht die Absicht, sie aufzusuchen«, kämpfte Sybill unbeirrt weiter. Er dachte darüber nach, dann erklärte er schwerfällig: »Ich weiß nicht – ich muß noch einmal mit Mac darüber sprechen. Er will nur nicht, daß Fremde auf die große Insel kommen. Ich werde euch nicht töten.« Sie atmete auf und gab den drei Männern ein Zeichen. »Komm, Dad, das Mißverständnis ist beseitigt. Er will uns nichts tun. Rob heißt er.« »Kennan ist mein Name.« Der Wissenschaftler streckte seine Hand aus. Rob berührte sie, als hätte er nie von einem Händedruck gehört, ließ sie wieder fallen und murmelte: »Kennan?« Ähnlich wiederholte er auch die Namen der beiden anderen Männern, als müßte er sie auswendig lernen. Dann trat eine Pause ein, in der Befangenheit und Unsicherheit lagen. Niemand wußte recht, was weiter geschehen sollte. Da trat der junge Fremde plötzlich aus dem Kreis heraus, ging an das zusammengesunkene Feuer heran und warf frisches Holz auf. »Die Nacht wird kalt«, sagte er. »Du frierst, Sy33
bill, du auch Kennan, du auch, Carpool, und du auch, Uhlen.« Ein Schimmer von Freude lag dabei auf seinem Gesicht. Es schien ihm Vergnügen zu bereiten, die fremden Namen auszusprechen. Da hellten sich auch die Gesichter der anderen auf. Das Eis war gebrochen. 2. »Star of California« … Das Herz lachte einem, wenn man das Schiff nur sah. Und wenn man gar Kapitän darauf war, hatte man allen Anlaß, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Hanns Krotthoff war es. Er dehnte sich vor Vergnügen, während er wie so oft seine Blicke über das Deck der schmucken Jacht gehen ließ. Schmal und rassig war sie wie ein junges Mädchen, nervös am Steuer wie ein Vollblut und funkelnagelneu wie die erste Monatsrate. Watson mußte ein Schiffsnarr gewesen sein, daß er in eine so verhältnismäßig kleine Zahl von Bruttotonnen soviel Geld gesteckt hatte. Das war keine gewöhnliche Vergnügungsjacht mehr, sondern eine künstlerische Schöpfung, die schlechthin alle Ansprüche erfüllte. Sie lief schneller als ein Torpedobootsjäger und war zugleich luxuriös wie ein Millionärspalast. Selbstverständlich waren alle Schi34
kanen vorhanden: von der Gasfeuerung über die elektrische Küche bis zum Parfümzerstäuber. Sun Koh hatte die Jacht für einen Bruchteil ihres Wertes erworben. Es war ein herrliches Schiff, aber es hatten sich so merkwürdige Dinge auf ihm ereignet, daß es stark in Verruf gekommen war. Dabei hatte es bisher nur eine Fahrt hinter sich. James Watson hatte es bauen lassen und von San Francisco aus darauf die Jungfernfahrt nach Hongkong angetreten. Er hatte ein Dutzend Leute als Gäste bei sich gehabt – und keiner von diesen sah gern wieder in die Richtung, in der das Schiff lag. Der Besitzer hatte Hongkong nicht erreicht. Er war auf hoher See gestorben. Man sprach von einem Herzschlag, hob aber gleichzeitig bedeutungsvoll die Schultern. Er konnte nichts mehr erzählen, um so mehr taten es seine Gäste, nachdem sie einmal sicheren Boden unter sich fühlten. Sie schworen samt und sonders, nie wieder einen Fuß auf die Planken der Jacht zu setzen, und schilderten dann, wie es gleich hinter Frisco ausgebrochen sei. Gespukt habe es in allen Ecken, es sei ein Wunder, daß nicht alle vor Angst gestorben seien. Einzelheiten klangen so seltsam, daß man sie nur mit Unglauben aufnehmen konnte. Aber bei allen Zweifeln –mit der »Star of California« war etwas nicht in Ordnung. Das genügte, ihren Kauf wert bis auf ein Drittel herabzusetzen. 35
Hanns Krotthoff hatte die Arme gereckt und gelacht. Er würde dem Spuk schon ein Ende bereiten. Er hatte die Besatzung ruhig ziehen lassen und sich eine neue Mannschaft angemustert, handfeste Kerle, die sich vor Tod und Teufel nicht fürchteten. Nur zwei hatte er übernommen, erstens, weil er für sie keinen passenden Ersatz fand, und zweitens, weil die Leute gern von sich aus bleiben wollten. Der eine war der Oberheizer und der andere der Schiffsarzt. Acht Tage nach der ersten Besichtigung war die Jacht in See gegangen. Außer dem Kapitän waren dreißig Mann Besatzung, ferner Sun Koh, Hal Mervin und Nimba an Bord. Das Ziel war die unbekannte, geheimnisvolle Insel, die irgendwo im Großen Ozean südlich der Oster-Insel liegen sollte. Die »Star of California« befand sich jetzt nördlich der Marschallinseln. Sun Koh war mit seinen beiden Freunden schon seit einigen Tagen nicht mehr an Bord. Er hatte mit seinem Flugzeug einen Abstecher nach der Insel Ponape unternommen, von dem er heute oder morgen zurückerwartet wurde. Eben kam Carnell, der aus der alten Besatzung übernommene Schiffsarzt, die Treppe herauf. Krotthoff rief ihn an: »Hallo, Doktor, frische Luft schnappen?« Carnell kam langsam herangeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, und knurrte: »Warum nicht? Es ist wenigstens eine Abwechslung. Verflucht 36
langweilige Geschichte hier auf dem Kasten. Ihre Leute sind alle zu gesund, Kapitän.« »Seien Sie doch froh.« Krotthoff lachte. »Besser ein Arzt, der Langeweile hat, als ein Schiff voll kranker Leute.« Eine Weile starrten die beiden Männer schweigend voraus, dann sagte Krotthoff: »Der Spukgeist scheint uns ganz hübsch im Stich zu lassen, Doktor. Ich denke, auf der Fahrt nach Hongkong war hier auf dem Schiff so viel los? Da haben Sie bestimmt nicht an Langeweile gelitten. Aber wahrscheinlich hatten Sie nur ein paar hysterische Weiber an Bord.« »Das auch«, brummte Carnell, »aber mit dem Spuk hatten die nichts zu tun. Wünschen Sie sich die Geschichte lieber nicht auf den Hals.« Der Kapitän lachte. »Denken Sie etwa, daß ich von dem ganzen faulen Zauber auch nur ein Wort glaube? Ich würde dem Spuk rasch ein Ende machen.« Carnell setzte zur Antwort an, aber da ertönte plötzlich hinter dem Rücken Krotthoffs eine fremde Stimme: »So siehst du gerade aus.« Der Kapitän fuhr herum. »Was?« »Sehen Sie, da geht’s schon los«, meinte Carnell. »Quatsch. Da hat sich einer von den Leuten einen Witz gemacht. Gnade ihm Gott, wenn ich den Kerl erwische.« »Großmaul«, äffte die Stimme. 37
Diesmal drehte sich der Kapitän noch schneller um seine Achse als vorher. Aber wieder erwischte er den Rufer nicht. Das Verdeck hinter ihm war leer und still. Die nächste Ecke der Aufbauten, um die jemand hätte verschwinden können, war annähernd zehn Meter entfernt. Der Mann hatte aber dicht hinter ihm gesprochen. Es war unmöglich, daß jemand im Bruchteil einer Sekunde so schnell verschwinden konnte. Und Schritte waren auch nicht zu hören gewesen. »Mannometer«, murmelte er, »das ist doch vielleicht ein dicker Wauwau. Wo mag der Kerl nur stecken?« »Da können Sie lange suchen«, sagte Carnell teilnehmend. »Geister sind nun mal unsichtbar.« Krotthoff wurde wild. »Reden Sie kein Blech, Doktor. Geister! Ha, daß ich nicht wiehere. Grober Unfug ist es, aber keine Geister.« »Na«, meinte der andere, »wenn Sie nur nicht Ihre Meinung noch ändern. Es hat schon manchen gegeben, der erst große Töne redete und nachher sehr kleinlaut wurde. Ich halte jede Wette, daß Sie in ein paar Tagen anders denken.« »Ich wette dagegen«, brummte der Kapitän etwas unwirsch. Der Funker kam aus seiner Kabine gestürzt und meldete, daß Sun Kohs Maschine im Anflug sei. 38
Eine halbe Stunde später setzte das Flugzeug auf dem Vorderdeck der Jacht auf. Sun Koh, Nimba und Hal sprangen heraus. Krotthoff schüttelte einem nach dem anderen die Hand. »Glücklich zurück?« »Wie Sie sehen«, rief Sun Koh gutgelaunt. »Ist hier alles in Ordnung?« »Jawohl.« »Schön, dann wollen wir uns erst mal wieder menschlich machen. In den Urwäldern dieser Inseln gibt es kein Warmwasser.« Eine Stunde später saßen sie sich im kleinen Salon gegenüber. Der Kapitän wartete geduldig, bis Sun Koh zu sprechen begann. »Die Berichte stimmen«, sagte Sun Koh. »Wir waren zunächst auf der Karolinen-Insel Ponape. An deren Ostküste fanden wir die beschriebenen Ruinen. Es war ein merkwürdiger Anblick. Stellen Sie sich vor: Fünfzig künstliche Inseln von verschiedenster Größe, manche klein und nur zwei Meter über dem Wasserspiegel aufragend, andere wieder außerordentlich groß, mit Höfen, gepflasterten Plätzen und Grabstätten aller Art. Jede einzelne aber ist umgeben von Steinmauern, die aus langen, abwechselnd kreuz und quer gelegten Basaltblöcken gebildet werden und fast gänzlich von Schlingpflanzen, Farnen und Sträuchern überwuchert sind. Die Eingeborenen nennen diese Bauten Nanmantal. Die größten der Bauten 39
führen besondere Namen. Die eine heißt zum Beispiel Itet, die andere Nan-Tauatsch. In diesem NanTauatsch haben wir Basaltblöcke bis zu vier Meter Länge und ein Quadratmeter Querschnitt gefunden. Die äußere Mauer umschließt hier eine Fläche von sechzig Meter Länge und fünfunddreißig Meter Breite. Die Mauer selbst hat eine Höhe von neun Meter und eine Dicke von acht Meter.« »Donnerwetter«, murmelte der Kapitän verblüfft. »In dem Innenhof selbst«, berichtete Sun Koh weiter, »müssen früher eine Anzahl riesiger Säulen gestanden haben, deren Trümmer wir jetzt unter Tropengestrüpp und Farnkräutern am Boden fanden. In der Mitte erhebt sich noch jetzt ein eigenartiges Grabgewölbe, das ebenfalls aus gewaltigen Basaltsäulen gebildet ist. Die Eingeborenen berichten darüber, daß es das Grabmal eines Königs sei, der im Kampf gegen Feinde aus dem Süden gefallen sei. Im übrigen scheint den Eingeborenen aber jede Erinnerung an die Erbauer dieser seltsamen Bauten entschwunden zu sein. Die Ruinen stehen völlig beziehungslos zu dem Leben der jetzigen Bewohner. Das ist auch ganz natürlich, denn zweifellos hat die jetzige Bevölkerung nichts mit den Schöpfern der künstlichen Inseln zu tun. Denselben Eindruck hatten wir auch in Lele.« »Sie waren auch noch dort unten?« »Wie vorgesehen. Da das Wetter günstig war, 40
machten die zweihundertfünfzig Seemeilen weiter nach Süden keine Schwierigkeiten. Sie wissen, daß Lele unmittelbar vor der östlichen Karolinen-Insel Kusaie liegt. Während Kusaie jedoch bis zu siebenhundert Meter in wildzerrissenen Felsen aufsteigt, ist Lele selbst flach. Diese Insel ist eine der merkwürdigsten Dinge, die mir je begegnet sind. Ich hätte Ihnen den Anblick wahrhaftig gegönnt. Die ganze Insel ist ein einziger riesiger Trümmerhaufen ehemaliger gewaltiger Bauten. Rings um die Insel ziehen sich mächtige Mauern, Werften und Kaie. Weiter oben sind noch die Ruinen eines starken Schlosses zu sehen, dessen Mauern noch heute eine Höhe von sieben Meter und eine Dicke von fünf Meter besitzen. Diese kleine Insel muß vor sehr, sehr langen Zeiten ein vortrefflich geschützter Hafen und eine uneinnehmbare Festung gewesen sein. Auch hier haben die Eingeborenen nicht die geringste Überlieferung von den Erbauern. Die Ruinen, zwischen denen sie leben, sind ihnen ebensosehr Rätsel wie jenem Europäer, der sie zuerst entdeckte.« Krotthoff schüttelte den Kopf. »Ich muß schon sagen, daß ich einigermaßen sprachlos bin. Als Sie mir in Hongkong den Reisebericht zu lesen gaben, habe ich die Geschichte für Schwindel gehalten. Und wenn Sie es nicht wären …« »Würden Sie mich einen Lügner nennen«, vollendete Sun Koh. 41
Krotthoff machte eine entschuldigende Bewegung. »Sagen Sie selbst, Mister Koh, klingt das nicht geradezu phantastisch, was Sie da erzählen? Diese Inseln in Mikronesien sind meines Wissen zwar alle idyllisch, aber auch nicht viel mehr. Die Eingeborenen sind nach unseren Begriffen unkultiviert. Sie leben in Hütten aus Blättern und Holz, und nun sollen sie auf einmal so mächtige Steinbauten errichtet haben?« »Das hat selbst der Verfasser jenes Reiseberichts nicht zu behaupten gewagt«, sagte Sun Koh. »Jene Eingeborenen sind bestimmt nicht die Erbauer.« »Wer dann? Das nächste Festland ist Australien oder Neuguinea – na, und dort leben bestimmt auch keine Leute, die für solche Bauten verantwortlich zeichnen könnten. Der Reisende sprach ja von Japanern, aber daran kann ich auch nicht recht glauben.« »Ich auch nicht.« Sun Koh lächelte. »Japanischen Ursprungs sind die Ruinen sicher nicht. Jener Reisende hat die Bauten aber auch gar nicht den Japanern zugeschrieben, sondern einem Volk, das vor den Japanern in Japan gelebt hat.« »Den Unterschied denke ich mir recht geringfügig«, brummte Krotthoff. »Sie urteilen voreilig«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Zwei Völker können nacheinander ein Land bewohnt haben und dabei völlig verschiedenen Charakter zeigen. Es steht jedenfalls fest, daß die Aino, die 42
jetzt in Japan leben, erst später dort hingekommen sind. Es steht ferner fest, daß vor ihnen ein mysteriöses Volk die Insel bewohnt und sie dann aus irgendeinem Grunde restlos geräumt hat. Man kann auch die Behauptung jenes Reisenden bejahen, wonach die Steinbauten auf Lele eine starke Ähnlichkeit mit den Grundmauern des alten Feudalschlosses von Osaka haben. Man kann also die Möglichkeiten offen lassen, daß tatsächlich die gleichen Leute, die einst die japanischen Inseln bewohnten, auch die Bauten auf Ponape und Lele schufen. Das alles bringt uns aber keinen Schritt dem eigentlichen Problem näher, wer nämlich jene Leute eigentlich waren.« »Und was ist Ihre persönliche Meinung?« Sun Koh hob die Schultern. »Es wäre unvorsichtig und voreilig, sich an Hand des geringen Materials eine Meinung zu bilden. Es genügt ja auch vorläufig völlig die überraschende Entdeckung, daß auf diesen weltverlorenen, verträumten Inseln des Großen Ozeans einst ein ausgeprägtes Kulturvolk geherrscht haben muß, das ohne Zweifel zwei Eigenschaften besaß, nämlich Kriegsund Seetüchtigkeit. Die Männer dieses Volkes waren bestimmt gute Krieger und gute Seeleute. Darauf weisen erstens ihre ausgedehnten Hafenanlagen und Schutzmauern hin und zweitens die Tatsache, daß sie es verstanden, die riesigen Steinmassen über das Meer hinweg nach Lele zu schaffen. Ich bin nunmehr 43
außerordentlich gespannt auf Tonga und auf die Osterinsel, besonders auf die letztere, denn dort sollen ja Inschriften zu finden sein. Aber nun berichten Sie über die Ereignisse während unserer Abwesenheit.« Der Kapitän schob ihm das Logbuch zu, das er schon mitgebracht hatte. »Es ist überhaupt nichts Besonderes vorgefallen. Sie finden hier die üblichen Eintragungen.« Sun Koh schob das Buch zurück. »Danke, dann kann ich mir die Einsicht sparen.« »Wollen Sie nicht von Ihrem Geist erzählen?« erkundigte sich Carnell, der bisher schweigend im Hintergrund gesessen hatte. Krotthoff fuhr ihn wütend an: »Sie müssen natürlich von dem Quatsch anfangen. Es gibt wahrhaftig Gescheiteres zu besprechen.« »Was ist?« fragte Sun Koh. Der Kapitän war etwas verlegen. »Nichts, Sir. Es hat sich nur einer von den Leuten einen dummen Witz erlaubt und hinter meinem Rükken Bemerkungen gemacht, als ich mich vor Ihrer Ankunft mit dem Doktor unterhielt.« »Warum spricht dann Mister Carnell von einem Geist?« Der Arzt war schneller als der Kapitän mit der Antwort bei der Hand. »Weil einer unmittelbar hinter Mister Krotthoff sprach und trotzdem auf weite Sicht nichts von ei44
nem Menschen zu sehen war.« »Der Kerl ist ausgerissen«, knurrte der Kapitän. Carnell hob die Schultern und grinste. »Ausgerissen ist gut. Es ist Ihnen wohl gar nicht bewußt geworden, daß ich Ihnen gegenüberstand und jeden hätte sehen müssen, der sich Ihnen auf zehn Meter Entfernung genähert hätte. Ich versichere Ihnen aber, daß ich wohl die Stimme hörte, aber auch nicht einen Augenblick lang eine Spur von einem Menschen wahrnahm.« Sun Koh sah die beiden Männer prüfend an und sagte langsam: »Meine Herren, ich verstehe Sie noch nicht ganz. Nach Ihrer Darstellung haben Sie, Herr Kapitän, unmittelbar hinter sich sprechen hören, ohne den Urheber entdecken zu können. Und Sie, Mister Carnell, sind der Überzeugung, daß es sich um eine ähnliche Erscheinung handelt wie jene, die Sie auf der ersten Fahrt dieses Schiffes kennengelernt haben.« »Jawohl«, bestätigte der Doktor, »es war ein Geist.« »Ach«, meinte Hal, »dem Kapitän hat vielleicht der Magen geknurrt.« Sun Koh sah ihn verweisend an. »Laß deine Bemerkungen, Hal.« Der sommersprossige Junge zog eine teils entschuldigende, teils vorwurfsvolle Miene. »Verzeihung, Sir, ich meinte doch nur, daß es 45
Quatsch ist mit dem Geist. Sie glauben doch nicht etwa selbst, was der Doktor da sagt?« Carnell wandte sich mit einer Erregung, die die anderen zum Lachen brachte, zu Hal hin. »Du willst natürlich wieder alles besser wissen als ein erfahrener Mann. Für dich gibt es sowas wie Geister nicht. Warte nur ab, wenn du erst einmal hinter den Ohren trocken geworden bist, dann wirst du schon anders über solche Sachen denken.« »Das sollte mich schwer wundern«, meinte Hal grinsend. »Ich will Sie nicht beleidigen, Doktor, aber an den Schwindel von Geistern, Spiritismus und so weiter glaubt der älteste Papa nicht mehr. Das hat man früher den Leuten weismachen können, aber heute ist der ganze Humbug zu sehr bekanntgeworden.« Carnell war durchaus nicht beleidigt, sondern lachte nun ebenfalls. »Du hast noch keinen Respekt im Leib, mein Junge. Aber warte nur ab, das wird sich alles ändern. Schwindel ist Schwindel, aber Geist bleibt trotzdem Geist.« »Und Geschäft bleibt Geschäft«, ergänzte Hal doppeldeutig. Aus der ersten Begegnung zwischen Rob und den Schiffbrüchigen wurden Dutzende und Hunderte. Mehr und mehr verlor Rob die Scheu vor den Frem46
den und bewegte sich bald ohne Argwohn unter ihnen wie unter guten Freunden. Er sorgte in wahrhaft rührender Weise für sie. Die Gestrandeten waren alle miteinander nicht übermäßig für eine Robinsonade begabt, außerdem lebten sie nicht auf einer üppigen Insel, die alle Bedürfnisse deckte. Er war es, der einige Hütten baute, er versorgte sie mit brauchbarem Werkzeug, er brachte Stoffe, aus denen sich Sybill Kleider nähen konnte, er deckte die an sich kärgliche Tafel mit Braten, Brotfladen und Früchten, die er von der Hauptinsel brachte. Rob war schlechthin unentbehrlich. Nur eins tat er nicht: Er erlaubte und half ihnen nicht, die große Insel aufzusuchen, von der er kam. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bevor Kennan die Gründe begriffen hatte. Für ihn war dieser blonde Jüngling ein Rätsel, das er zäh zu lösen versuchte. Das gelang ihm im gleichen Maße, wie der sprachlichen Ausdruck Robs Fortschritte machte. Kennan unterhielt sich stundenlang mit Rob und erreichte es auf diese Weise, daß der Gedankenausdruck Robs immer klarer und flüssiger wurde. Die entscheidende Unterhaltung, die über die nächste Zukunft der Schiffbrüchigen entschied, fand naturgemäß schon recht frühzeitig statt. »Wo befinden wir uns eigentlich?« fragte Kennan den jungen Mann. »Du stehst auf Rona«, sagte Rob bereitwillig. 47
»Und wie heißt die große Insel?« forschte der Amerikaner weiter, während er hinüber deutete. »Barra.« »Barra?« wiederholte Ingenieur Carpool verwundert, der bei der Unterhaltung zuhörte. »Kommt Ihnen der Name bekannt vor?« fragte Kennan. Carpool nickte. »Barra ist eine Insel in der Gruppe der Neuen Hebriden oder Western-Inseln, die nordwestlich vor Schottland liegen. Wenn ich nicht irre, gibt es dort auch eine winzige Insel mit dem Namen Rona.« »Das wäre bemerkenswert«, meinte Kennan nachdenklich. »Aber wir wollen weiter hören. Warum willst du uns eigentlich nicht auf die große Insel, die du Barra nennst, hinüberlassen, Rob?« »Mac würde euch töten.« »Wer ist Mac?« Rob schien die Frage nicht zu begreifen. »Ist er alt oder jung?« »Er ist viel älter als ich.« »Ist er der Anführer der Menschen, die auf der Insel wohnen?« Wieder grübelte Rob und suchte nach Ausdrücken. »Es ist niemand auf Barra«, erwiderte er schließlich unbeholfen. Kennan sah ihn erstaunt an. »Niemand? Niemand außer dir und Mac?« »Es gibt niemand auf der Insel außer uns beiden.« »Unglaublich. Wie seid ihr denn 48
auf die Insel gekommen?« »Ich weiß es nicht. Wir waren schon immer da.« »Warum wollte Mac uns töten lassen, und warum verbietet er, daß wir auf die Insel kommen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Rob. »Mac will es nicht.« »Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht.« Kennan mußte diese Redewendung noch oft hören. »Hast du gesehen, wie unser Schiff unterging?« fragte er weiter. »Ja.« »Wie geschah das?« »Der Vulkan brach aus«, gab Rob überraschend klar und sachlich Antwort. Kennan blickte wieder nach Barra. »Diese Insel stellt wohl ein vulkanisches Gebilde dar, aber sicher hat es hier seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden keinen Ausbruch gegeben. Der Krater ist anscheinend völlig geschlossen und abgerundet. Du mußt dich irren, Rob.« Rob schüttelte den Kopf. »Der Vulkan liegt unter dem Wasser. Nur manchmal schießt das Feuer für kurze Zeit hoch. Das ist weit dort draußen, wo dein Schiff versank.« Kennan verstand. Die »Oakland« war also unglücklicherweise gerade in einen solchen Ausbruch hineingelaufen. Solche Unterwasserbeben mit gelegentlichen Ausbrüchen über den Spiegel des Meeres hinweg sind gar nicht selten. In den Weltmeeren ent49
stehen alljährlich Dutzende neuer Inseln infolge vulkanischer Ausbrüche, die nach kurzer Zeit wieder versinken. »Warum seid ihr beide, Mac und du, auf der Insel geblieben? Warum habt ihr sie nicht verlassen?« »Warum sollen wir Barra verlassen?« fragte Rob verwundert. »Nun, um zu den anderen Menschen zu gelangen!« Rob schüttelte wie so oft den Kopf. »Mac will nicht zu den anderen Menschen, sie sind alle schlecht. Außerdem ist es so weit, daß niemand über das Meer hinwegkommen kann.« »Habt ihr es versucht?« »Nein.« So ging das Gespräch oft genug im Kreis, mit immer neuen Fragen und Antworten. Kennan ließ sich die Mühe nicht verdrießen, und Rob schien Gefallen am Sprechen zu finden. Im Laufe von Tagen und Wochen rundete sich das Bild. George Kennan gewann eine immer klarere Vorstellung von allem, was mit diesem Rob zusammenhing, zumal sich Rob nicht scheute, die Antwort auf offengebliebene Fragen von dem geheimnisvollen Mac zu holen. Er brachte sie freilich auch nur soweit, als Mac sie geben wollte. Vieles mußte sich Kennan selbst zusammenreimen, vieles konnte er nur vermuten. 50
Es ergab sich folgendes Bild: Zunächst hatten die beiden Bewohner von Barra weder mit dem Turm noch mit den Häusern zu tun. Diese Bauten waren Überreste eines ausgestorbenen Volkes, Zeugen einer untergegangenen Kultur. Solange man sie nicht selbst gesehen und durchforscht hatte, ließ sich wenig darüber sagen. Mac und Rob wußten jedenfalls nichts darüber, wenn sie auch in einem der steinernen Häuser wohnten. Die Einzelstücke, die Rob gelegentlich mitbrachte, vor allem Schmucksachen, gaben keinen Zusammenhang mit einem bestehenden Kulturkreis. Andererseits stammten Stoffe und Werkzeuge, die Rob von der großen Insel herüberschaffte, sicher von Schiffen, die in früheren Zeiten in der Nähe der Insel untergegangen waren. Sie trugen die Stempel europäischer Firmen und waren möglicherweise Strandgut von dem gleichen Schiff, mit dem die beiden zu der Insel gekommen waren. Es bestand bald kein Zweifel darüber, daß die beiden Männer selbst Schiffbrüchige waren. Der Schiffbruch mußte allerdings recht weit zurückliegen. Rob versicherte nachdrücklich, daß er sich nicht daran erinnern könne. Er mußte also damals sehr jung, ein Kind in den ersten Lebensjahren gewesen sein. Mac hatte ihn aufgezogen. Der Charakter dieses Mannes wurde vielleicht vom Menschenhaß, vielleicht auch von Menschenscheu beherrscht. Es 51
schien auch nicht ausgeschlossen, daß er wichtige Gründe besaß, sich vor den Menschen zu verbergen. Kennan erwog, daß er ein Verbrecher sein könne, der die ewige Einsamkeit dem Aufenthalt in einem Gefängnis vorziehe. Auf alle Fälle war sein Menschenhaß groß genug, um keine Begegnung mit den andern Schiffbrüchigen zu wünschen. Zweifellos sah er es nicht gern, daß Rob sich dauernd auf der kleinen Insel Rona aufhielt. Und noch weniger Zweifel gab es, daß er mit allen Mitteln zu verhindern suchen würde, daß die Schiffbrüchigen die große Insel betraten. Aus Robs Darstellung ging hervor, daß die »Oakland« das zweite Schiff gewesen war, das die beiden von der Insel aus gesichtet hatten. Die Ankunft des ersten Schiffes lag rund zehn Jahre zurück. Auch dieses war dem unterseeischen Vulkan zum Opfer gefallen. Rob wußte aber nicht mehr, ob es damals Schiffbrüchige gegeben hatte und was aus ihnen geworden war. Der unterseeische Vulkan brach mit einer gewissen Regelmäßigkeit aus, wobei die Inseln von heftigen Erdstößen erschüttert wurden. Er konnte natürlich nur Schiffe gefährden, die sich in einem Ausschnitt aus der Umgebung der Insel bewegten. Eigenartigerweise schien aber gerade dieser Ausschnitt besondere Anziehungskraft zu besitzen. Kennan erfuhr erst sehr viel später, daß der Insel umfangreiche Klippengebiete vorgelagert waren, die bis dicht an 52
die Oberfläche reichten, daß gerade in jenem gefährlichen Ausschnitt die offene Einfahrt lag und daß dort eine starke Wechselströmung arbeitete. Wie furchtbar der Vulkan sein Werk verrichtete, erlebten sie eines Tages in grauenhafter Weise. Am frühen Morgen sichtete Carpool die Rauchfahne eines Dampfers. Freudig teilte er es den anderen mit. Von nun an hingen aller Augen in fiebernder Erwartung am Horizont. Bevor das Schiff selbst über die Kimme kam, verdunkelte sich jedoch der Himmel, und eines der furchtbaren Unwetter zog herauf, wie sie in der letzten Zeit schon mehrere kennengelernt hatten. Damit war das Schiff ihrer Beobachtung entzogen. Trotzdem gaben sie die Hoffnung nicht auf. Wenn es einmal gelang, den Dampfer auf die Insel und auf sie aufmerksam zu machen, würde das Schiff sicher früher oder später nach dem Abflauen des Sturmes zurückkommen und sich um sie kümmern. Der Holzstoß, der seit Wochen bereitlag, flammte trotz Regen und Sturm auf. Sie deckten das Feuer mit ihren Körpern, bis es stark genug war, um den Güssen zu widerstehen. Sie hofften, daß es etwas nützen würde, weil sie hoffen wollten. Jeder von ihnen sah aber, wie der Sturm das bißchen Feuer zerriß und wie wenig das Feuer durch die Dunkelheit des strömenden Regens zu dringen vermochte. Den ganzen Tag hielten sie sich trotz stark fort53
schreitender Erschöpfung draußen und spähten nach dem Schiff, ohne es ein einziges Mal mehr zu bemerken. Gegen Abend traf ein mächtiger Erdstoß die Insel, so daß sie im ersten Schreck fürchteten, das Ende sei gekommen. Ein zweiter Stoß, dann flammte draußen auf dem Meer eine rote Feuergarbe auf, breitete sich fächerförmig aus und brach wieder zusammen. In dem Feuerschein sahen sie das Schiff, nach dem sie so viele Stunden ausgeschaut hatten, wie es den Bug schräg nach oben richtete. Dann sanken sie wie betäubt zusammen. Am nächsten Tag trieben einige Trümmerstücke des Schiffes am Strand von Rona an. Von ihrer Hoffnung war nichts geblieben. Bei einer ähnlichen Katastrophe mochte Rob auf die Insel gekommen sein. Nach seinen Worten war er damals ein Kind gewesen, und seine Wesensart bestätigte das. Rob besaß nicht die geringste Anschauung von der Welt außerhalb dieser Insel. Mac hatte es wohl absichtlich vermieden, ihn einzuführen. Die Seele des jungen Menschen war noch gänzlich ungeformt und sein Geist ein Brachland. Es fehlte ihm das Wissen um unzählige Dinge, die seinen Altersgenossen selbstverständlich waren, es fehlte ihm das Erleben sozialer Beziehungen und damit ethische Wertungen und große Teile der Gefühlsskala. Aber sein Wesen war gut und edel. Es wurde Ken54
nan zur köstlichen Freude, Rob mit den Begriffen und Denkweisen einer fernen Welt vertraut zu machen, seine Seele zu formen und die Anschauungen seiner eigenen Seele einzupflanzen. Er spürte, daß er Erfolg hatte. Rob nahm willig und freudig auf und ließ sich im besten Sinn formen. Nach Monaten war er wie ein junger Baum, der immer neue Blüten trieb. Natürlich verfügte er noch immer über keine planvoll anerzogene Bildung, mit der Schrift haperte es sogar noch gewaltig, aber er besaß eine hervorragende natürliche Intelligenz und wußte genau so viel, wie ihm sein väterlicher Freund in tausend Gesprächen geboten hatte. Und das war sicher mehr, als Hunderttausende seines Alters ihr geistiges Eigentum nennen konnten. Kennan hatte seine helle Freude an ihm. Aber auch seine Sorge. Sie stieg im Laufe der Monate immer häufiger in ihm auf, je öfter er Rob mit Sybill zusammen sah. Und sie waren oft zusammen. Es konnte kaum ein schöneres Bild geben, als wenn diese beiden zusammenstanden. Kennan las in der Seele Robs wie in einem offenen Buch, und Sybill konnte keine Geheimnisse verbergen. Er wußte, was es bedeutete, wenn sich die beiden nach wilder Jagd oder Schwimmtour oft schweigsam und nachdenklich gegenübersaßen, wenn sie sich manchmal scheu von der Seite her mu55
sterten, wenn manche einfache Bewegung plötzlich wie eine Liebkosung aussah. Er wußte, warum Sybill zeitweise jäh in ihren Stimmungen umsprang, er deutete Blicke und Worte. Während die beiden jungen Menschen sich erst ahnten und noch weit entfernt von Deutung oder Einverständnis waren, fühlte er bereits die Gewißheit. Rob liebte Sybill, und Sybill liebte Rob. Es war im Grunde genommen kein Wunder. Beide standen im Alter der treibenden Kräfte, und beide waren aufeinander angewiesen. Beide schienen füreinander bestimmt zu sein, so gut ergänzten sie sich. Täglich kamen sie einander näher. Was Rob an Kultur und Erziehung gewann, das gewann Sybill an Natur und an Freiheit von vergangenen Bindungen. Kennan seufzte manchmal, wenn er in stiller Nachtstunde an einer Palme lehnte, über das Meer hinaussah und dabei das Schicksal dieser beiden bedachte. Was sollte werden, wenn sich die beiden ihrer Liebe bewußt werden? Was konnte er dagegen tun? Vielleicht waren sie noch für Jahre, vielleicht für immer verurteilt, hier auf der Insel leben zu müssen. Dann war es unmöglich, die zwangsläufige Entwicklung aufhalten zu wollen. In der Einsamkeit des Weltmeeres würde dann hier ein neues Geschlecht entstehen. 56
Doch die Einsamkeit schien fast das kleinere Übel. Schwerer und verwickelter wurde das Problem erst, wenn eines Tages doch die Rückkehr in die Heimat erfolgte. Würde es dann gelingen, Rob in die neuen Verhältnisse überzuführen, ihn einzugewöhnen und zu einem Amerikaner zu machen? Würde sich Sybill nicht plötzlich in das zurückverwandeln, was sie gewesen war? Würde nicht die Kluft zwischen den beiden Menschen, die er hier zusammen gab, trotz aller Liebe aufreißen, so daß keine Überbrückung erfolgen konnte? George Kennan konnte sich diese Fragen nicht beantworten. Er ließ sie offen und trug sie als seine Sorgen. Carpool und Uhlen wußten natürlich darum, da sie ja ebenfalls Augen im Kopf hatten. Gelegentlich sprachen sie auch gemeinsam darüber, aber einen Rat konnte keiner von beiden geben. So vergingen die Monate, einer nach dem anderen. Ein Schiff wurde nicht wieder sichtbar. Und dann, ohne daß es ihnen recht bewußt wurde, war plötzlich ein volles Jahr in die Ewigkeit hinabgesunken. 3. Hal Mervin war sehr müde und schlief entsprechend schnell ein. Er wußte nichts von Sorgen und Nervosität. Er schlummerte tief und fest wie ein junges Tier. 57
Trotzdem erwachte er mitten in der Nacht. Ein ungewohntes Geräusch mußte ihn aufgeschreckt haben. Da er auf dem Rücken lag, bemerkte er zunächst nur die niedrige Decke und ein Stück der inneren Wand, auf die durch das Bullauge ein matter, zerstreuter Schein von außen fiel. Es war ein gelbliches, weiches Licht, und es war so schwach, daß man den Raum eher als dunkel denn als hell bezeichnen mußte. Immerhin waren die Gegenstände leidlich zu erkennen. Hal wälzte sich langsam auf die Seite. Er wußte, daß ihn etwas Außergewöhnliches geweckt hatte, und wollte nun sehen, was es gewesen war. Er hatte die Drehung noch nicht vollendet, als er zusammenzuckte. Das war doch die Höhe! Mitten im Raum stand ein Geist! Hal sah ein langes, hemdähnliches Gewand, unter dem Füße erkennbar waren. Der Kopf über dem Gewand war ein Männerkopf mit hohlen Backen und auffallend glühenden Augen. Dieser Kopf bewegte sich langsam hin und her, als wollte er Verwunderung und Tadel zum Ausdruck bringen. Hal Mervin sprangen fast die Augen aus dem Kopf. So etwas war ihm denn doch noch nicht vorgekommen. Mitten in der Kabine und nur ein paar Meter von ihm entfernt! 58
Und jetzt begann der Geist auch noch zu sprechen. Mit rauher, heiserer Stimme dröhnte er: »Ich grüße dich auf dem Weg ins Totenreich. Mache dich bereit.« Hal fauchte: »Das könnte dir so passen. Wer bist du?« »Ich bin der Geist des Fliegenden Holländers. Mache dich bereit.« Hal holte tief Atem. »Du sprichst ganz hübsch amerikanisch für einen Holländer, mein Lieber. Mach du dich bereit, nämlich zu verschwinden, sonst bringe ich dir das Fliegen bei.« Mit einer gleichgültigen Feierlichkeit, die fast etwas Unheimliches an sich hatte, sagte der Geist: »Mache dich bereit, deine Stunde ist gekommen.« Hal wurde wütend. »Deine auch! Verschwinde, sonst…« Er richtete sich auf und griff nach seiner Pistole, die auf dem Nachttisch lag. Sie war geladen. Er legte den Sicherungsflügel um. Während er die Beine herumschwang und sich auf die Bettkante setzte, legte er an und vollendete: »… sonst knalle ich dir eine Kugel auf den Pelz, daß dein Hemdchen aus der Façon kommt. Ich zähle bis drei. Eins – zwei…« »Mache dich bereit!« widerholte der Geist hartnäckig. » …drei!« Hal schoß. 59
Es war ein sicheres Ziel – aus höchstens drei Meter Entfernung in die rechte Schulter. Der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen. Der Geist pendelte weiter mit dem Kopf hin und her, als hätte er nichts gespürt. Das war um so erstaunlicher, als Hal ganz deutlich gehört hatte, wie die Kugel weich eingeschlagen war. Hal spürte nun kalten Schweiß auf der Stirn. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Er wollte sich mit seinen Händen Gewißheit verschaffen. Er zog sich zum Sprung zusammen. Plötzlich hörte er hinter sich ein höhnisches Meckern. Er ruckte herum. Hinter ihm befand sich die glatte Wand. War das nur eine Täuschung gewesen? Er drehte sich wieder um. Der Geist war verschwunden, die Kabine leer. Spurlos verschwunden. Dabei hatte sich bestimmt die Tür nicht bewegt. Durch das Bullauge konnte er auch nicht entwichen sein. Hal zuckte zurück, als er den Kopf unwillkürlich zum Bullauge herumdrehte. Durch das runde Fenster starrte ein Gesicht herein. Das gleiche Gesicht, das er eben noch mitten in der Kabine gesehen hatte. Jetzt sah es freilich gräßlicher aus, weil es sich von draußen gegen die Scheibe preßte und die Fleischteile verschob. »Zum Teufel!« fluchte Hal und schoß. Das Gesicht verschwand. 60
Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen. Das elektrische Licht flammte auf. Im Türrahmen erschienen Sun Koh, Nimba, Krotthoff und zwei Matrosen. »Was ist geschehen?« fragte Sun Koh besorgt. Die Hand des Jungen, die die Pistole hielt, senkte sich langsam. Sein Gesicht war blaß. Seine Lippen zitterten vor Wut und Scham. »Was ist vorgefallen?« wiederholte Sun Koh seine Frage. Da raffte sich Hal zu einer Antwort auf und sagte kläglich: »Lachen Sie bitte nicht, Sir. Ich habe mich eben mit einem Geist herumgeschlagen.« Sun Koh musterte ihn erstaunt. »Mit einem Geist? Du hast wahrscheinlich geträumt?« Hal schüttelte den Kopf. »Ich war so wach wie jetzt. Dort hat er gestanden, dort an dieser Stelle.« Nimba tippte vielsagend gegen seine Stirn. Krotthoff schickte einen seiner Leute nach dem Schiffsarzt. Hal berichtete nun ausführlich, was er erlebt hatte. Den anderen fiel es nicht leicht, ihn ernst zu nehmen. Als Hal geendet hatte, sagte Sun Koh: »Du hast also den zweiten Schuß gegen das Fenster gezielt. Wir wollen sehen, ob wir den Einschlag feststellen können. Die Scheibe müßte ja eigentlich durch den Schuß zertrümmert worden sein.« Die Scheibe war ganz. Dieser Umstand war den 61
anderen auch schon aufgefallen. Bei näherer Betrachtung entdeckte man allerdings, daß sie tatsächlich von einer Kugel getroffen worden war. Das Geschoß hatte jedoch nur einige feine Risse in das Glas gesprengt und war dann zu Boden gefallen. »Ein bemerkenswert zähes Glas«, stellte Sun Koh nachdenklich fest. »Splittersicheres Glas modernster Konstruktion«, erläuterte der eben eintretende Doktor von der Tür her. »Es besteht aus zwölf aufeinander verleimten Schichten und ist widerstandsfähig wie eine Panzerplatte. Wir haben verschiedene Scheiben im Schiff, gegen die mit dem gleichen geringen Erfolg geschossen wurde.« Sun Koh sah ihn prüfend an. »Was wollen Sie damit sagen?« Carnell hob die Schultern. »Es gab auf der ersten Fahrt dieser Jacht eine ganze Reihe beherzter Männer, die den Geistererscheinungen ins Gesicht schossen und dabei die Glasscheiben trafen.« Eine Pause entstand, dann gab Sun Koh leicht spöttisch zurück: »Welche Voraussicht vom Erbauer des Schiffes, daß er vorsorglich die gefährdeten Scheiben aus solchem Glas herstellte.« Fast schien es, als zuckte der Doktor zusammen, als würde sein Gesicht bleicher. Doch seine Stimme klang gelassen, als er erwiderte: »Watson hatte sei62
nen Spleen. Er wollte von allen Dingen das Modernste haben, selbst wenn es eigentlich überflüssig war.« Sun Koh wandte sich wieder an Hal. »Den ersten Schuß hast du in dieser Richtung abgefeuert?« »Ja, Sir.« Der Neger warf ein: »Es ist ihm sicher so ergangen wie mir damals in der Sonnenstadt.« Sun Koh nickte. »Daran dachte ich auch. Man hat ihn mit einem stereoskopischen Lichtbild genarrt. Dann müßte der Einschlag der Kugel hier an dieser Wand zu sehen sein.« Er brauchte nicht lange zu suchen, um zu einem niederschmetternden Ergebnis dieser Nacht zu kommen. Es war nicht das geringste von einem Kugeleinschlag zu sehen. Die Wände waren glatt und unversehrt. Betroffen sahen sich die Männer an. »Das ist erstaunlich«, sagte Sun Koh schließlich. »Entweder deine Erscheinung war von Fleisch und Blut, dann müßten wenigstens Blutstropfen zu sehen sein, obgleich es dann unerklärlich wäre, wieso der Mann so schnell verschwinden konnte. Oder deine Erscheinung war eine Bildspiegelung nach Garcias System, dann aber müßte an der Wand der Einschlag deines Schusses zu finden sein. Zwei Möglichkeiten, und doch scheint keine von beiden zu stimmen.« 63
»Warum lassen Sie die dritte Möglichkeit außer acht?« erkundigte sich Carnell. »Weil es keine Geister gibt«, antwortete Sun Koh kurz. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Sie sollten sich durch die Tatsachen eines Besseren belehren lassen. Der Junge hat geschossen. Wo ist der Mann? Wo sind die Kugeln? Die einzige Erklärung ist, daß er es mit einem Geist zu tun gehabt hat. Ein Geist vermag alles. Der kann die Kugeln mit der Hand auffangen und in die Tasche stecken. Wären Sie nur auf der ersten Fahrt mit dabei gewesen. Ich sage Ihnen, da hat man noch ganz andere Dinge probiert. Mit Kugeln hat man den Geist gespickt, und er hat nur gelacht. Gefüllte Wasserflaschen hat man ihm in der Aufregung an den Kopf geworfen, und dann ist er mitsamt der Flasche verschwunden.« »Das ist alles Schwindel«, entgegnete Hal wütend. Zwischen Sun Kohs Brauen stand eine feine Falte. Nach einigem Hin und Her leerte sich die Kabine. Sun Koh blieb allein zurück. Nachdem er das Licht gelöscht hatte, legte er sich auf Hals Bett und wartete auf die geisterhafte Erscheinung. Er wartete vergebens. Fast zwei Stunden später kam aus Nimbas Kabine ein wildes Auf brüllen. Da raste Sun Koh hinüber. Nimba und Hal waren trotz aller Aufregung wie64
der eingeschlafen. Der Neger auf seinem Bett, der Junge auf dem Diwan. Plötzlich erwachte Nimba von einem schleifenden Geräusch. Er riß die Augen auf und starrte unmittelbar auf die gleiche weißgekleidete Gestalt mit den glühenden Augen, die Hal so eingehend beschrieben hatte. Hal schlief. Einen Augenblick lang fühlte der Neger das übermächtige Bedürfnis, den Kopf unter die Decke zu stecken und sich tief einzuwühlen, aber er gab ihm nicht nach. Mit verzweifelter Willensanstrengung griff er zur Pistole. Da fiel ihm ein, daß Hal schon nutzlos geschossen hatte. »Mach dich bereit…«, begann der Geist zu mahnen. Da gab es einen Knacks in dem Neger. Sein heldenhafter Mut schoß glühend über die eingeborene Furcht empor. Er warf mit jähem Ruck die Decke beiseite, zog im Aufhocken seinen Körper zusammen und warf sich mit einem weiten Sprung auf die Erscheinung. Er erreichte sie. Seine Hände packten die Schultern, dann fand sein fliegender Körper harten Widerstand, prallte ab … Plötzlich war es stockdunkel. Ein kräftiger Schlag traf Nimbas zurückstürzenden Körper, eine eiserne Hand klammerte sich wie eine 65
Zange um seinen Knöchel und preßte ihn schmerzhaft. Da war es um Nimbas Besinnung geschehen. Die Angst wurde übermächtig in ihm, die Furcht stach wie Wahnsinn in sein Gehirn. Mit einem verzweifelten Ruck riß er sich los und brüllte gleichzeitig hemmungslos auf. Sein Fuß wurde frei, und er stürzte nach vorn an die Wand. Dort blieb er liegen, den Kopf in die Arme vergraben. Plötzlich war wieder das gewohnte matte Licht im Raum. Und schon rüttelte Sun Koh an der verschlossenen Tür. Hal sprang auf und öffnete. Sun Koh war kaum herein, als er wieder zuschloß. »Was ist geschehen?« fragte Sun Koh. »Nimba! Was ist mit Nimba?« Hals Stimme war heiser und fahrig. »Ich glaube, er ist besinnungslos vor Schreck. Er muß vor Furcht geschrien haben.« »Erzähle.« »Ich weiß so gut wie nichts. Als ich aufwachte, war es stockdunkel, keine Spur von Licht. Dann hörte ich einen dumpfen Schlag, dann Nimbas Aufschrei, und plötzlich wurde es wieder hell, und Nimba lag dort an der Wand.« Sun Koh kniete neben dem Neger nieder und legte ihm die Hand auf die Schulter. 66
»Nimba, bist du verletzt?« »Der Geist! Der Geist!« stöhnte Nimba. »Er hat mich angefaßt, ich muß sterben!« Sun Kohs Stimme wurde scharf. »Nimba, mach dich nicht lächerlich. Es ist nichts von einem Geist zu sehen.« Mit einem Ruck warf sich der Neger herum, seine Augen gingen durch den Raum. Sein Gesicht zeigte grenzenlose Verblüffung. Unsicher deutete er nach vorn. »Dort, Sir, dort hat er gestanden, ganz deutlich. Und ich habe ihn gefühlt, habe ihn in den Händen gehabt, aber dann packte er mich.« »Du hast die Erscheinung angesprungen?« fragte Sun Koh. »Ja. Ich wollte nicht schießen, weil das schon bei Hal zwecklos gewesen war. Deshalb sprang ich. Ich kam schlecht an, weil ich gelegen hatte, aber ich fühlte mit meinen Händen die Schultern und prallte gegen den Körper.« »Du fühltest den Geist? Das genügt wohl eigentlich als Beweis, daß er keiner war.« »Ich weiß nicht, Sir. Jedenfalls prallte ich ab, und dann wurde es dunkel, und er schlug mich. Ich stürzte und fühlte plötzlich seine Hand wie aus Stahl an meinem Knöchel. Da habe ich mich losgerissen und geschrien. Ich weiß nicht, warum – aber das war auch kein Mensch. Und nun ist er auf einmal ver67
schwunden.« Sun Koh schüttelte den Kopf. Die Angelegenheit wurde immer rätselhafter. Draußen rüttelte es an der Tür. Man hörte verschiedene Stimmen. »Schließ auf«, gebot Sun Koh dem Jungen. Hal öffnete die Tür. * Kapitän Krotthoff wollte sich nach dem zweiten Zwischenfall noch etwas zur Ruhe legen und schritt deshalb den langen Gang entlang auf seine Kabine zu. Plötzlich schlug ihm jemand von hinten auf die Schulter. »Hallo, alter Freund!« Krotthoff wandte sich um und riß dann verblüfft die Augen auf. Der Gang war völlig leer. Eine Weile stand der Kapitän reglos, dann knurrte er ärgerlich: »Da soll doch der Teufel dreinschlagen! Der ganze Kasten scheint verhext zu sein.« »Ganz richtig«, entgegnete eine Stimme an seiner Seite. Krotthoff preßte sich an die Wand und warf forschende Blicke um sich. Entdecken konnte er freilich nichts. »Ist jemand da?« fragte er endlich laut. »Nein«, kam es spöttisch zurück. 68
Der Kapitän antwortete nicht. Er wartete. Vielleicht gab sich der Spuk doch eine Blöße. Als er zehn Minuten lang reglos gestanden hatte, gab er es auf und ging weiter. Er wollte gerade die Tür zu seiner Kajüte aufschließen, als er einen gräßlichen Schrei hörte, der förmlich das Blut in den Adern gerinnen ließ. Es klang, als würde ein Mensch bis zum Wahnsinn gefoltert. Der Schrei ging in ein langgezogenes, entsetzliches Stöhnen über, schwoll wieder bis zum Aufbrüllen an und verebbte von neuem in Seufzen und Wimmern. Krotthoff war sich im klaren, daß der Schrei nur aus der Kabine kommen konnte, die wenige Meter von seiner Kajüte lag. Diese Kabine aber war leer. Sie wurde nicht gebraucht, da sich nur wenig Gäste an Bord befanden. Nachdem er eine kurze Erstarrung überwunden hatte, stürzte er auf die Kabine zu. Tatsächlich, hinter dieser Tür erklangen die schrecklichen Laute. Als sie sich als verschlossen erwies, hämmerte er wild mit den Fäusten gegen die Tür und schrie: »Aufmachen! Was ist los? Wer steckt dort drin?« Das Wimmern brach nicht ab, sondern steigerte sich. Da nahm Krotthoff den kurzen Anlauf, den ihm die Gangbreite bot, und warf sich mit der Wucht seines schweren Körpers gegen die Tür. Sie zitterte und schwankte, aber sie wich nicht. 69
Erst beim dritten Ansturm, als sich schon der Gang mit erregten Männern füllte, gab sie nach. Sie brach splitternd aus dem Schloß und gab den Blick in das Innere der Kabine frei. Im gleichen Augenblick verstummte das gräßliche Schreien. Krotthoff half mit seinen Händen nach und drückte die Tür vollends zurück. Der Anblick, der sich ihm bot, machte ihn für die nächsten Stunden sprachlos. Er hatte gehofft, noch rechtzeitig zu kommen, um einen Menschen aus den Händen seiner Mörder reißen zu können oder einen Gequälten von der Grenze des Wahnsinns zurückzuholen. Er hatte ein wüstes Durcheinander, eine grausige Stätte, Widerstand und Kampf erwartet. Und statt dessen? Die Kabine war leer. Bett und Möbel befanden sich in bester Ordnung. Das Fenster war geschlossen. Eine feine Staubschicht bewies, daß der Raum längere Zeit nicht betreten worden war. Lange, sehr lange stand Kapitän Krotthoff mit herabhängenden Armen da. Dann wandte er sich schroff um, schob die Leute beiseite, die hinter ihm hereingekommen waren, passierte die zersplitterte Tür und ging mit schweren Schritten davon. Man stellte ihm Fragen, aber er winkte wortlos ab. Er ging in seine Kajüte, schloß die Tür hinter sich 70
und hockte sich in seinen Sessel. Er war verwirrt und wütend. Und er brauchte Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten. Über der Tafelrunde, die sich am nächsten Tag zusammenfand, herrschte eine merkwürdige Stimmung. Sun Koh kam als erster auf die Vorfälle der Nacht zu sprechen. »Wir haben offenbar Glück, Mr. Carnell«, wandte er sich an den Arzt. »Wir beide sind heute nacht von diesem Geist verschont worden. Was meinen Sie dazu? Zufall oder Absicht?« Der Arzt antwortete in dem gleichen heiteren Ton, in dem er gefragt worden war. »Keine Ahnung, Sir. Ich persönlich hatte jedenfalls schon auf der Fahrt nach Hongkong das Vergnügen. Und Sie werden es sicher auch noch genießen. Ich wüßte jedenfalls nicht, warum der Geist Sie auslassen sollte. Aber wir können uns ja einmal erkundigen.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, wir brauchen es nur mit dem Tischrücken zu versuchen. Der Geist ist so stark, daß er uns sicher sofort antworten wird.« Mit einem Schlag lag die Spannung greifbar über der Runde. Sun Koh lächelte. »Schön, ich bin einverstanden. Führen Sie uns das bitte vor.« 71
Hal Mervin platzte wegwerfend heraus: »Tischrücken? Das weiß jedes kleine Kind, daß das Schwindel ist.« »An diese Art des Tischrückens dachte ich natürlich nicht«, sagte der Arzt. »Der Geist würde uns schön auf die Finger klopfen, wenn wir ihm Mätzchen vormachen würden. Wir dürfen weiter nichts tun, als die Finger in einer geschlossenen Kette auf den Tisch legen. Freilich – diese Tische sind eigentlich unbrauchbar, denn sie sind ja am Boden festgeschraubt.« Das war richtig. Die Tischbeine saßen ausnahmslos in starken Eisenwinkeln, damit sie bei den Bewegungen des Schiffes nicht hin und her rutschten. Sun Koh sagte: »Einem Geist ist nichts unmöglich. Nach allem, was er in der Nacht gezeigt hat, dürften ihm diese Befestigungen eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten.« Der Arzt hob die Brauen. »Spotten Sie nicht. Der Geist – da…« Sie starrten alle in die angedeutete Richtung. Gleich neben der Tür stand ein viereckiges Tischchen, das gewöhnlich zum Abstellen von Geschirr benutzt wurde. Augenblicklich war es leer. Auch dieser Tisch besaß an den Füßen die starken Eisenwinkel mit den kräftigen Schrauben. Was nun geschah, grenzte an Magie. Der Tisch verließ plötzlich seinen Standplatz und 72
rutschte in das Zimmer hinein, als würde er von einer unsichtbaren Person geschoben. Die vier Eisenwinkel blieben einsam am Boden. Die gerade Bewegung ging langsam in eine Kurve über, dann zog der Tisch eine spiralige Schleife, drehte sich schnell mehrere Male an Ort und Stelle herum und glitt schließlich wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war. Kaum eine Minute nach seiner ersten Bewegung stand er wieder ruhig und fest in den vier Eisenwinkeln, als ob er sie nie verlassen hätte. Erst eine ganze Weile später wurde das drückende Schweigen gebrochen. »Eine Halluzination!« ächzte Kapitän Krotthoff. »Zum Verrücktwerden!« stöhnte Nimba, auf dessen Stirn Schweißtropfen standen. »Fabelhafter Trick«, sagte Hal zweifelnd und zugleich gereizt, weil der Vorgang über sein Verständnis hinausging. Alle drei blickten auf Sun Koh und den Schiffsarzt, die noch immer schwiegen. Endlich hüstelte der Doktor und murmelte: »Sind Sie nun zufrieden, Sir?« Sun Koh sah den Mann nachdenklich an. Nach einer Pause meinte er langsam: »Watson war ein seltsamer Spaßvogel, nicht wahr?« Carnell erwiderte zögernd: »Kann sein, daß er seine Launen hatte. Aber was sagen Sie zu dem Tisch?« »Die Fähigkeiten des Geistes grenzen ans Wun73
derbare. Er machte sogar das Unmögliche möglich.« »Ah, sehen Sie das nun auch ein?« Sun Koh nickte und erhob sich. »Gewiß, nur müssen Sie berücksichtigen, daß das Unmögliche, sobald es tatsächlich geschieht, ein Kunstfehler ist.« Der Arzt blickte ihn verblüfft an. Sun Koh trat, gefolgt von den anderen, an das Tischchen heran und versuchte, es anzuheben. Es stand fest. »Natürlich ist es an den Eisenwinkeln verschraubt«, sagte er mit einem Unterton von Spott. »Ich frage mich nur, wo die Schrauben waren, als der Tisch im Raum herumtanzte.« Alle sahen sich fragend an. Die Antwort kam unvermutet von der Decke her. »Das möchtest du wohl gern wissen, he?« Sun Koh blickte nicht einmal nach oben, wie es die anderen taten. Er nahm gleichmütig die Bemerkung auf. »Ich weiß es, Sie Bauchredner. Eben darum sprach ich von einem Kunstfehler. Hal, gib mir einmal das Tischmesser.« Hal reichte es ihm. Sun Koh bückte sich und fuhr mit der Klinge von oben in die Ritze zwischen Tischbein und Eisenwinkel. Das Messer fuhr bis auf den Boden hinunter, obgleich es von Rechts wegen durch die Schrauben hätte aufgehalten werden müssen. Genau so ging es am zweiten, dritten und vierten Tischbein. Zwischen Ei74
sen und Holz befanden sich keine Schrauben, die den Tisch festhielten. »Das ist der Kunstfehler«, stellte Sun Koh fest. »Selbst für einen Geist ist es unmöglich, eine zersprengte Schraube im Augenblick wieder zusammenzuschweißen. Und es ist ihm noch unmöglicher, die reparierte Schraube nach Belieben schneidbar zu machen. Der Tatbestand ist klar: Zwischen Holz und Eisen befinden sich keine Schrauben. Die Schraubenköpfe hier außen sind nur Attrappen. Trotzdem steht der Tisch unverrückbar. Auf welche Weise ist er befestigt? Es wäre interessant, darüber nachzudenken und die Löcher, die sich genau unter den Tischbeinen zeigten, damit in Verbindung zu bringen. Oder nicht, Doktor?« Der Schiffsarzt schnappte nach Luft. »Ich – ja wieso – ich verstehe nicht…« »Denken Sie darüber nach«, bat Sun Koh sanft. »Warum sollten nicht einmal Geister zum Zeitvertreib werden? Manche Menschen lieben das. Es ist nur unangenehm, wenn sie es zu toll treiben.« »Sicher, sicher«, murmelte Carnell, wobei er aussah, als fühle er sich in seiner Haut nicht wohl. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, und ich denke, daß uns der Geist nicht weiter beunruhigen wird.« »Nun, das wäre auch wieder schade. Manche Probleme machen nur dann Spaß, wenn man sie nicht gewaltsam zu lösen braucht. Wenn …« 75
»Feuer im Schiff! Feuer im Schiff!« gellte es plötzlich draußen auf dem Gang und oben auf dem Deck mit überlauter Stimme. Der Ruf ließ alles andere vergessen. Weg mit Tischrücken und Geistern. Jetzt brannte die Gefahr auf den Fingernägeln. Jetzt gab es nur noch das Schiff und das Leben. Sun Koh jagte als erster hinaus. Hinter ihm stürzten die anderen durch den Gang, die Treppe hinauf und auf Deck. Oben wirbelte schon die Mannschaft durcheinander, scheinbar wirr, doch tatsächlich nach einem festen Plan. Der Erste Offizier gab kühl und klar seine Befehle. »Wo brennt’s?« fragte Kapitän Krotthoff noch halb aus dem Gang heraus. »Brandherd noch nicht festgestellt!« kam die Antwort. »Löschkommandos zum Einsatz bereit, Sir.« »Ich übernehme das Kommando. Wer hat das Feuer festgestellt?« Niemand meldete sich. Einen Augenblick lang lag tiefes Schweigen über dem Deck, dann griff der Erste ein. »He, Johnson, war das nicht Ihre Meldung?« »Ich gab den Ruf nur weiter, Sir. Die Meldung kam von vorn.« »Also wer hat das Feuer bemerkt?« wiederholte 76
Kapitän Krotthoff ungeduldig. Niemand meldete sich. Kapitän Krotthoff lief dunkelrot an, aber er beherrschte sich und befahl dem Ersten Offizier, das Schiff durchsuchen zu lassen. Die »Star of California« war nicht groß. Bereits nach einer Viertelstunde wurde dem Kapitän gemeldet, daß nirgends Brandgeruch oder Rauch feststellbar wären. Wieder beherrschte sich Krotthoff und schickte den Ersten Offizier zu einer zweiten und gründlicheren Untersuchung weg, aber als dieser außer Hörweite war, ließ er eine derartige Ladung von Flüchen vom Stapel, daß selbst Hal achtungsvoll erschauerte. Niemand zweifelte mehr daran, daß man irregeführt worden war. Irgend jemand hatte sich einen Scherz erlaubt – einen sehr, sehr schlechten Scherz. Sun Koh suchte nach dem Schiffsarzt, um ihm einige ernste Worte zu sagen, aber Carnell war verschwunden. Er erschien erst eine ganze Weile später wieder, nachdem sich einwandfrei herausgestellt hatte, daß keine Brandgefahr bestand. Er sah sehr ernst aus und näherte sich Sun Koh mit offensichtlicher Verlegenheit. »Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?« fragte er gedrückt. Sun Koh gab seinen beiden Begleitern einen 77
Wink, ihn mit Carnell allein zu lassen, dann sagte er ernst: »Auch dieser falsche Alarm war ein Kunstfehler, nicht wahr? Ich verstehe nur nicht, wie Sie ihn wagen konnten, nachdem ich Sie eben erst gewarnt hatte.« »Es war Keepmanns Schuld«, erwiderte der Schiffsarzt hastig. »Keepmann ist der Oberheizer, der schon bei der ersten Fahrt mit dabei war. Er hat auf eigene Faust gehandelt.« »Ich dachte es mir.« »Sie wissen alles?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur wenig, habe aber selbstverständlich keinen Augenblick lang an Ihre Geistergeschichte geglaubt. Es wäre mir interessant gewesen, allmählich hinter Ihre Tricks zu kommen, aber da diese zum Teil reichlich grob sind, ist es wohl doch besser, wenn Sie mit dem Treiben Schluß machen und mir einige Aufklärungen geben.« Carnell seufzte bekümmert. »Wenn mich der Kapitän mit seinem Unglauben nicht so gereizt hätte, wäre alles unterblieben. Sie hatten mich von Anfang an im Verdacht?« Sun Koh lächelte flüchtig. »Es blieb kaum etwas anderes übrig. Was man den Geistern nicht zutraut, muß man bei den Menschen suchen. Sie waren außer dem Heizer der einzige, der sich von der früheren Besatzung an Bord befand. Sie 78
haben vermutlich auch bei der ersten Fahrt den Spuk arrangiert?« Doktor Carnell nickte. »Ich war mit Watson recht gut befreundet. Er hatte seine Schrullen und liebte absonderliche Spaße. Vor allem war er geradezu leidenschaftlich darauf aus, Leute zu erschrecken. Deshalb ließ er sich in seine Jacht allen möglichen Unsinn einbauen. Er weihte mich ein, erledigte aber alles selbst. Seine Gäste waren wirklich zu bedauern. Kein Wunder, daß sie das Schiff in Hongkong fluchtartig verließen. Eigentlich war vorgesehen, daß Watson sie hinterher aufklären sollte, aber er starb unterwegs. Das Schiff wurde an Sie verkauft. Ich blieb, weil es mir auf der Jacht gefällt. Keepmann blieb aus dem gleichen Grund. Er war auch von Anfang an eingeweiht. Die Maschinerie zu dem ganzen Spuk hängt nämlich mit an der Hauptwelle des Schiffs. Deshalb brauchte Watson unten einen Mann, der Bescheid wußte. Ich versichere Ihnen, daß wir nicht die Absicht hatten, den Spuk wieder loszulassen. Erst durch die Redereien kam ich dann doch auf den Einfall, den Spuk auszuprobieren.« »Schon gut«, wehrte Sun Koh ab. »Ich wundere mich, daß keiner der Gäste Watsons Erscheinungen auf den Grund ging. Die fehlenden Schrauben am Tisch mußten doch leicht auffallen.« Carnells Gesicht wurde heller, seine Stimme leb79
hafter. »Nicht alle Leute beobachten so scharf wie Sie. Die Leute wußten nach einigen Tagen überhaupt nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Es war kein Wunder, daß sie nicht mehr genau hinsahen.« »Der Tisch wird von unten her festgehalten und bewegt?« »Gewiß. Die Verklammerung erfolgt durch starke Stahlbolzen, die sich in die Bodenlöcher einschieben. Die Bewegung erfolgt mit Hilfe eines kräftigen Magneten, für den im Blindboden eine besondere Apparatur eingebaut ist. Der ganze Spuk wickelt sich selbsttätig ab, wenn man eine Leiste an der Unterseite des großen Tisches betätigt.« »Sie sind Bauchredner?« »Ja. Die Stimmen kamen allerdings überwiegend aus Lautsprechern, die überall eingebaut sind, und von Schallplatten, die automatisch ablaufen. Der Hilfeschrei, auf den der Kapitän hereinfiel, wurde auf diese Weise erzeugt.« »Er spürte einen Schlag auf die Schulter?« »Das war keine Hand, sondern eine Holzleiste, die eine Sekunde lang aus der Wand herausschnellte. Ich war am anderen Ende des Ganges und beobachtete ihn. Auch die Geistererscheinungen …« »Augenblick«, unterbrach Sun Koh. »Ich will Ihnen zunächst meine eigenen Vermutungen mitteilen. Ihre Geistererscheinungen sind Puppen, die auf der 80
Innenseite eines beweglichen Bodenteils befestigt sind. Stimmt das?« Carnell war verblüfft. »Allerdings, aber wie können Sie …« »Hal hat geschossen. Irgendwo mußte sich der Einschlag seiner Kugel befinden. Da sie nicht in der Wand saß, mußte sie vorher aufgehalten worden sein. Da Menschen und Geist ausschieden, blieb nur irgendein anderer Widerstand. Ich habe den Fußboden untersucht und eine Spalte gefunden, die meine Annahme bestätigte. Öffnen konnte ich die Klappe freilich nicht. Die gleichen Spalten entdeckte ich in Nimbas Kabine. Er ist gegen das aufrechtstehende Bodenstück geprallt. Als dieses sich wieder schloß, wurde sein Fuß eingeklemmt. Das verleitete ihn zu dem Eindruck, sein Fuß würde von einem Geist festgehalten werden. Die Verdunkelung der Kabine bei Nimba, das plötzliche Lachen bei Hal waren nur Ablenkungsmanöver, um die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. Das Gesicht, das Hal am Fenster sah, werden wir vermutlich auf einem großen Diapositiv rechts oder links neben dem Fenster in einem Wandschlitz finden.« »Fabelhaft, fabelhaft!« bewunderte der Arzt. »Stimmt alles haargenau. Ihr Scharfsinn bringt meinen Geist um das ganze Vergnügen. Und ich wollte Ihnen eigentlich noch Verschiedenes vorzaubern.« »Lassen Sie das lieber sein«, riet Sun Koh. »Sie 81
werden bei Kapitän Krotthoff ohnehin einen schweren Stand haben.« »Er frißt mich auf, wenn ich ihm beichte.« Carnell seufzte. »Aber ich bin ihm die Aufklärung schuldig. Am besten suche ich ihn gleich auf.« Sun Koh nickte zustimmend, und Carnell machte sich auf den Weg. Was zwischen ihm und dem Kapitän in der nächsten Stunde gesprochen wurde, erfuhr niemand. Jedenfalls lief Krotthoff den ganzen Tag wie eine Gewitterwolke herum, während der Schiffsarzt unsichtbar blieb. Am nächsten Tag war jedoch das Gleichgewicht wieder hergestellt. Der Arzt mußte es sich nur gefallen lassen, gelegentlich als Geisterbeschwörer verulkt zu werden. Der Geist des Fliegenden Holländers machte sich nicht wieder bemerkbar. Zwischen der Tokelau- und Manihiki-Insel verließ Sun Koh mit Hal und Nimba das Schiff wieder mit dem Flugzeug. Die Jacht blieb auf südöstlichem Kurs, während das Flugzeug nach Süden abbog und Tonga anflog. Tonga ist die Hauptinsel der ganzen Gruppe kleiner Inseln, die unter dem Namen »Freundschaftsinseln« bekannt geworden sind. Sie unterscheiden sich kaum von anderen Erdfleckchen im Großen Ozean. Es sind idyllische Inseln mit einer noch leidlich naturnahen, friedliebenden Bevölkerung und verstreu82
ten Faktoreien. Sun Koh suchte Tonga wegen eines Hinweises auf, den er in Hongkong erhalten hatte. Er war nach den Erfahrungen von Ponape und Lele nicht überrascht, als er an Ort und Stelle die Angaben, die man ihm gemacht hatte, bestätigt fand. Mitten im üppigen Tropenwald stand ein mächtiger Torbogen von ungefähr sechs Meter Höhe. Er bestand aus drei riesigen Steinblöcken, von denen jeder sechs Meter lang war und mindestens einen Quadratmeter im Durchschnitt hatte. Der obere Monolith lag fast fugenlos in Nuten der senkrechten Pfeiler. Um die einsamen Steine herum wucherte ungehemmt der Urwald. »Ein schlichtes Tor«, sagte Sun Koh zu seinen Begleitern, nachdem er vergeblich nach Inschriften geforscht hatte. »Trotzdem ist es eins der seltsamsten Rätsel. Wer hat dieses Tor gesetzt?« »Die Eingeborenen können es wohl nicht gewesen sein?« fragte Hal. »Nein«, lehnte Sun Koh die naheliegende Vermutung ab. »Vielleicht hätten sie es noch fertiggebracht, die Pfeiler zu stellen, aber es ist ausgeschlossen, daß sie diesen über zweihundert Zentner schweren Schlußstein auf sechs Meter Höhe bringen und sauber einpassen konnten. Dazu reichte weder ihr Geist noch ihr technisches Vermögen. Selbst heute würde ihnen ein derartiges Unternehmen nicht im Traum 83
einfallen. Im übrigen steht das Tor vermutlich schon seit Jahrtausenden so.« »Und wer hat es dann gesetzt, Sir?« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. »Wer hat die befestigten Inseln auf Ponape geschaffen? Wer baute die Mauern und Forts? Auch hier waren keine Inschriften zu finden.« In geringer Entfernung trafen sie auf zwei Häuptlingsgräber. Es waren schlichte Steingräber, die auf dreistufigen Terrassen standen und von steinernen Umfassungsmauern umgeben waren. Auch hier waren keine Inschriften zu finden. Am zweiten Grab entdeckten sie einen uralten, eingeschrumpften Eingeborenen, der in seiner Ruhestellung eher einer vertrockneten Baumwurzel als einem Menschen glich. Seine Stimme kam wie unter Asche heraus, als er auf Sun Kohs Frage antwortete: »Die Göttlichen ruhen hier, Herr, die Göttlichen, die einst auf Tonga herrschten.« »Was weiß du von ihnen?« »Nichts, Herr.« »Nichts?« Der Alte nickte. »Sie herrschten früher, als unsere ältesten Geschichten berichten. Das war vor vielen tausend Jahren. Wir wissen nur, daß es Göttliche waren, mehr nicht.« Die Aussage stimmte mit dem überein, was Sun 84
Koh bereits gehört hatte. Die jetzige Bevölkerung überlieferte kein Wissen um den Torbogen und die Gräber. Es handelte sich um Dinge, die vor ihrer Geschichte lagen. Ohne das Rätsel von Tonga gelöst zu haben, stieg Sun Koh bereits nach wenigen Stunden wieder auf und flog zum Schiff zurück. Mit fast östlichem Kurs steuerte er über die Cook-Inseln und dann über die Gesellschaftsinseln hinweg auf die Paumotu-Inseln zu, die die Jacht nördlich passieren sollte. »Donnerwetter, hier gibt’s aber eine Menge Inseln!« rief Hal staunend. »Das geht doch in die Hunderte!« »Sehr bescheiden«, meinte Sun Koh lachend, »du solltest besser von Tausenden sprechen. Allein schon die Paumotu-Gruppe hat rund hundert einzelne Inseln. Sie ist zwar besonders umfangreich, aber dafür gibt es auch sehr viele solcher Inselgruppen.« »Die Tonga und die Karolinen kenne ich schon, die Tokelau, Samoa und Cook-Inseln habe ich von oben gesehen, und das dort sind doch die Gesellschaftsinseln. Was gibt es noch?« »Die Marschall, Ralik und Ratak, die Gilbert, Phönix und Lagunen, die Manihiki und Marquesas, die Kermandec, Fidschi und Santa Cruz, die Lovalty, Salomon und Neue Hebriden, die …« »Um Gottes willen, hören Sie auf! Die kann ich mir doch unmöglich alle merken. Hier scheint ein 85
ganzer Erdteil in lauter Stücke auseinandergesprungen zu sein.« Sun Koh wurde plötzlich ernst und nachdenklich. »Ein zertrümmerter Erdteil«, sagte er leise. »Du hast eine Gabe, Hal, gewisse Dinge in aller Harmlosigkeit zu erkennen, die förmlich verblüffend wirkt.« Der sommersprossige Junge riß die Augen auf. »Das verstehe ich nicht, Sir.« Sun Koh strich ihm über das rötliche Haar. »Du sprichst von einem Erdteil, der in Stücke gesprungen ist, und hast dich noch nie ernstlich mit dem Problem, das diese Inseln dem Wissenschaftler bieten, beschäftigt. Was meinst du dazu, daß tatsächlich ernste und gelehrte Leute diese Inseln als Rest eines großen Erdteils ansehen, der sich einst hier befunden haben soll?« »Allerhand. Aber ich finde es ganz vernünftig. Da habe ich mal gelesen, daß man eine englische Expedition ausgeschickt hat. Sie sollte auf einer Insel Ausgrabungen vornehmen, und man hoffte, ganz alte Tiere und Affenmenschen zu finden. Wenn ich nicht irre, war das auch in der Gegend.« Sun Koh nickte. »Kann schon stimmen. Hier soll sich einst der Erdteil Lemurien befunden haben, den man als den ältesten Erdteil bezeichnet. Alles Leben auf der Erde soll letzten Endes von hier stammen. Das ist freilich eine sehr umstrittene Behauptung. Aber es ist bemer86
kenswert, daß man hier allerlei frühe Entwicklungsformen noch vortrefflich erhalten findet. Letzten Endes hat ja ein Teil dieser Inselwelt seine Entstehung auch einer Übergangsstufe von der Pflanze zum Tier zu verdanken.« »Wieso?« »Ein Teil dieser Inseln ist erst vom Meeresgrund hochgewachsen, auch alle Inseln der vor uns liegenden Paumotu-Gruppe, ferner die Karolinen- und die Marschall-Inseln. Sie sind aus Korallen aufgebaut worden.« »Kenne ich, kenne ich«, meinte Hal eifrig. »Das Zeug ist verästelt wie Bäume und besteht aus Kalk. Wenn das Tiere sein sollen, dann haben die aber ganz verrückte Leiber.« »Du scheinst dir die Korallen recht groß vorzustellen«, sagte Sun Koh. »Es sind ganz winzige Tierchen, deren Leib mit einem Kalkpanzer umgeben ist. Zu einem Korallenzweig von einigen Zentimetern Länge gehören unzählige Tausende von Einzeltierchen, die sich nebeneinander und übereinander bauen und so den steinernen Strang bilden.« »Ach so«, sagte Hal überrascht. »Und ich habe immer gedacht, so ein Korallenbusch ist ein einziges Tier. Aber warum bauen sie so merkwürdige Bäume?« »Ich weiß auch nicht, warum diese Milliarden von Lebewesen auf dem Grund des Meeres ihre seltsa87
men Wälder aufbauen und sie immer höher bis an die Oberfläche des Meeres führen.« »Dann hören sie auf?« »Freilich. Außerhalb des Wassers können sie nicht leben. Aber der steinerne Wald bleibt stehen. Er verwittert, bildet Erde, darauf trägt der Wind Samen, es beginnt zu grünen und zu leben – die Koralleninsel ist fertig. Sieh nach unten, eben überfliegen wir eine solche Insel.« »Wie können Sie wissen, daß es eine Koralleninsel ist, Sir?« »Die Korallen bauen nach einem bestimmten Plan, den sie stets einhalten. Jede Koralleninsel sieht aus wie diese. Ein riesiger, ziemlich genauer Kreisbogen, der an einer Stelle offen ist. Er umschließt einen See, in dessen Mitte erhebt sich die Kerninsel, Atoll, Lagune und Insel – so wiederholt es sich tausendfach.« »Wunderbar.« Hal staunte. »Da kommt schon wieder eine, da rechts noch eine.« »Wir sind bereits über den Paumotu-Inseln. Etwas nördlicher, Nimba, die Jacht kann nicht mehr weit entfernt sein.« Eine Stunde später senkte sich das Flugzeug wieder auf die »Star of California« hinab. »Nun, haben sich die Geister wieder gezeigt?« erkundigte sich Sun Koh bei Krotthoff. Der Kapitän nickte. »Jawohl, das heißt, ich habe sie mir zeigen lassen. 88
Carnell hat mir den ganzen Schwindel vorgeführt. Toll, sage ich Ihnen, so richtig, um die Leute verrückt zu machen. Ich bin heilfroh, daß Sie die Geschichte beizeiten abgestoppt haben. Übrigens wollte ich Sie fragen, ob die Einrichtungen zerstört werden sollen?« »Dazu liegt kein Anlaß vor. Die Spukapparatur stört uns nicht, also mag sie ruhig bleiben, wie sie ist. Vielleicht können wir sie doch noch einmal gebrauchen.« »Da wäre ich neugierig«, sagte Krotthoff schmunzelnd. Sun Koh hielt sich nur bis zum nächsten Tag auf dem Schiff auf. Er gab dem Kapitän neue Aufträge und vereinbarte mit ihm die Stelle, wo sie sich treffen wollten, dann stieg er von neuem auf. Nimba und Hal begleiteten ihn wie gewöhnlich. * Die Oster-Insel liegt in weltabgeschiedener Einsamkeit auf 110 Grad westlicher Länge und 27 Grad südlicher Breite. Völlig beziehungslos ragt sie aus annähernd viertausend Metern Tiefe empor. Ihre nächsten Nachbarn sind, Hunderte von Seemeilen entfernt, Pitcairn im Westen und Sala-y-Gomez im Osten. Ein Punkt im Ozean ist diese Insel, aber ein recht merkwürdiger Punkt. Das hatte Hal Mervin schon 89
gleich nach der Landung heraus. Nimba war kaum aus der Maschine gestiegen, als der Junge auch schon feierlich mit einem Taschentuch angerückt kam. »Bück dich, Nimba«, befahl er dem hünenhaften Neger. Nimba grinste. »Ich werde mich hüten. Du hast wohl eine Stecknadel in der Hand?« »Quatsch«, wehrte Hal entrüstet den schmählichen Verdacht ab. »Du sollst nur deinen Kopf herunterhalten, damit ich dir die Augen verbinden kann.« Der Neger blinzelte mißtrauisch das Tuch an, während Sun Koh von der Seite her amüsiert beobachtete, was der Junge wieder aushecken würde. »Augen verbinden«, knurrte Nimba schließlich, »wozu?« »Damit du nichts zu sehen brauchst natürlich«, belehrte ihn Hal. »Deine Nerven sind zu zart, verehrtes Baby. Ich möchte nicht, daß du Schreikrämpfe kriegst.« »Na, paß nur auf, daß ich dir nicht zu Schreikrämpfen verhelfe«, erwiderte der andere anzüglich. »Was soll der Unfug?« Hal richtete sich beleidigt auf. »Unfug? So beschimpfst du meine mütterliche Fürsorge? Immerzu, meinetwegen stirb am Herzschlag. Hier gibt es nämlich Geister.« 90
Nimba tippte sich an die Stirn. »Wenn es bei dir wenigstens Geist geben würde. Geister? Du spinnst wohl?« Hal zuckte mit den Schultern. »Blödes Gestammle. Sieh dich nur um.« Der Neger drehte sich herum. »Au verfl…«, stieß er heraus und zuckte zusammen. »Siehste«, murmelte Hal bekümmert. »Fehlte gar nicht viel bis zum Nervenschock. Aber beruhige dich, das Ding ist aus Stein.« »Das sieht doch jeder«, murmelte der Neger ärgerlich. Der plötzliche Anblick war wirklich erschreckend. Gar nicht weit von der Maschine erhob sich nämlich aus dem niedrigen Grad eine riesige Steinfigur von rund zwanzig Metern Höhe, die den Rumpf und den Kopf eines Mannes darstellte. Der Rumpf war im Grunde genommen nur ein mächtiger, roh behauener Klotz ohne Einzelheiten, eine unförmige Walze, ähnlich jenen, die Kinder als Leib eines Schneemannes formen. Der daraufsitzende Kopf war trotz aller Grobheit gut ausgeprägt. Er zeigte ein breites, fast eckiges Kinn von unerhörter Kraft und Entschlossenheit, einen schmallippigen Mund, dessen Winkel sich nach unten bogen, darüber eine breitrückige Nase mit merkwürdig leeren Augenhöhlen, an die sich fast unmittelbar die anlie91
genden Ohren ansetzten. Die Stirn dieses Steinkopfes sprang vor, war dann aber in halber Höhe wie mit einem Messer glatt abgeschnitten. Die obere Hälfte des Schädels fehlte. Sie war nicht etwa durch die Verwitterung zerstört worden, sondern sie fehlte von Anfang an. Der Bildhauer hatte sie weggelassen, vielleicht weil der Stein nicht größer war, denn die ganze Figur bestand aus einem Stück. Eine Kolossalstatue von zwanzig Metern, roh in ihrer ganzen Ausführung, und doch von einer unbeschreiblichen Wucht des Ausdrucks. Fast übermächtig stark wirkte dieses Gesicht. Es war nicht das Antlitz eines primitiven Wilden, sondern das Gesicht eines Eroberers, eines harten, kühnen Feldherrn, eines trotzigen, unbeugsamen Herrschers. Groß und gewaltig, überragend und bei aller Einfachheit unleugbar majestätisch – das war der Eindruck, den die drei hatten. Sie schritten langsam heran. »Der Stein ist grauer Trachyt«, erklärte Sun Koh, »aus einem Stück gehauen. Eine ganz beachtliche Arbeit.« »Hm, aber ohne Schädel«, bemängelte Hal. »Wenn schon der Stein nicht reichte, konnten sie doch wenigstens ein Stück vom Bauch weglassen.« Sun Koh warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann lächelte er. »Ach so? Nun, am Stein hat es wohl kaum gefehlt, Hal. Dort liegt das Stück, das dir noch 92
fehlt.« Er wies auf eine massive Walze aus rötlichem Gestein, die halb eingesunken im dürren, gelben Gras lag. »Diese Walze saß auf dem Kopf der Statue. Sie stellt die Haartracht des Mannes dar.« Hal hob die Brauen, ging mißtrauisch um die rote Steinwalze herum und schüttelte den Kopf. »Da muß Ihnen jemand einen Bären aufgebunden haben, Sir«, sagte er vorwurfsvoll. »Der Stein hat ungefähr fünf, sechs Kubikmeter. Das ist ein Gewicht von mindestens zehn Tonnen oder zweihundert Zentner. Die Leute hätten schon einen Kran haben müssen, um die Frisur auf den Kopf zu setzen.« Sun Koh nickte. »Sieht so aus. Die Dinge liegen aber noch viel schlimmer. Diese Figur ist annähernd zwanzig Meter hoch. Ich schätze, daß sie ein Gewicht von ungefähr fünfzig Tonnen hat. Trotzdem wurde sie nicht nur aufgestellt, sondern auch kilometerweit transportiert. Hübsch, nicht?« »Aber…« »Später, Hal. Wir wollen uns erst einmal umsehen.« Nimba, der schon ein Stück vorausgegangen war, winkte eifrig. »Sir, hier sind Inka gewesen. Sehen Sie sich das an.« Er wies auf die Stützmauer einer Terrasse. Sie bestand aus mächtigen, sorgfältig behauenen Felsblök93
ken, die ohne Bindemittel so genau aneinander gefügt waren, daß man nicht einmal mit dem Messer in die Ritzen hineinkam. Das war zweifellos die gleiche kunstvolle und zugleich geheimnisvolle Steinmetzarbeit, die Sun Koh und seine Begleiter schon an den alten Inkabauten in den Anden kennengelernt hatten. Die Anden befanden sich aber Tausende von Kilometern entfernt, und zwischen ihnen und dieser einsamen Insel lag eine einzige riesige Wasserwüste. »Allerhand!« murmelte Hal staunend. »Da müssen sich doch tatsächlich Inka bis auf die Oster-Insel verlaufen haben. Was meinen Sie, Sir?« »Verlaufen nicht, aber vielleicht verfahren. Und nicht einmal das stimmt. Die Oster-Insel ist nämlich von Peru aus besiedelt worden. Ich habe darüber bei den Inkas einen alten Bericht gefunden. In ihm ist allerdings nicht von der Oster-Insel die Rede, sondern die Insel wird als ›Nabel der Welt‹ bezeichnet.« »Aber wie konnten denn die Inka über ein paar tausend Kilometer Meer kommen? Sie hatten doch überhaupt keine Schiffe?« »Doch, sie hatten welche«, widersprach Sun Koh, während sie langsam den steilen Grashang, auf dem sie gelandet waren, weiter hinauf schritten. »Sie entsprachen nur nicht ganz unseren üblichen Vorstellungen. Es waren Schiffe aus Schilf, die von Segeln aus Schilf- und Binsenmatten getrieben wurden. Du erinnerst dich an das hohe Schilf im Titicaca-See?« 94
»Ja, aber sie konnten doch unmöglich mit ein paar Schilfkähnen über solche Entfernungen …« »Warum nicht? Zunächst einmal ist das eine ganz eigene Schilfsorte. Es ist unsinkbar, nimmt kein Wasser an und verrottet deshalb auch nicht, wenn es monatelang im Wasser liegt. Das einfachste Floß, aus einigen Schilfbündeln zusammengebunden, ist unsinkbarer und hochseefester als ein modernes Rettungsboot. Und die Schiffe, die man sich damals baute, waren zwar für unsere Begriffe winzig und gebrechlich, aber sie hielten sich so gut auf dem Meer wie moderne Dampfer. Wenn jene Seefahrer mit den Wind- und Meeresströmungen in dieser Gegend vertraut waren, konnten sie immerhin mit einiger Sicherheit von Südamerika zu dieser Insel und wieder zurück kommen.« »Hm, wenn es sogar einen Bericht darüber gibt?« »Ja. Es ist sogar ein Bericht über eine der ersten Reisen, die hierher unternommen wurden. Sie fand vor ungefähr fünfzehnhundert Jahren statt. Ihr Hauptzweck war, Schilfwurzeln vom Titicaca-See zur Insel zu bringen und hier einzupflanzen, damit beschädigt landende Schiffe hier ausgebessert werden konnten. Soweit ich unterrichtet bin, gibt es hier auch das gleiche Schilf wie am Titicaca-See in großen Beständen, und zwar in einem See, der sich im Innern eines erloschenen Vulkans befindet.« »Das ist auch ein Vulkan«, sagte Nimba. 95
Sie erreichten die Höhe des Berges. Vor ihnen brach der Felsen steil und tief zu einem ausgedehnten Krater ab, der schon seit Jahrtausenden keinen Ausbruch mehr erlebt haben konnte. Von hier aus hatten sie einen großartigen und zugleich bestürzenden Überblick. Im Krater und auf den Terrassen der abfallenden Wände wimmelte es geradezu von Statuen in allen Zuständen der Bearbeitung. Es mußten weit über hundert sein. Sie standen nicht, sondern lagen lang ausgestreckt. Manche waren fertig, andere nur halbfertig oder gerade erst angefangen. Es sah aus, als wären die Steinmetze mitten in der Arbeit gestört worden und weggegangen. Einige Steinbilder lagen auch oben am Kraterrand, andere waren über den abfallenden Hang verteilt, bald weniger, bald mehr sichtbar. Das erweckte den sonderbaren Eindruck, als wären diese Kolosse geradewegs aus dem Krater herausmarschiert und dann hier oder dort gestürzt, um für ewige Zeit liegen zu bleiben. »Tolles Ding!« murmelte Hal. »Sie konnten wahrscheinlich noch nicht fotografieren und haben sich auf diese Weise verewigt.« »Wenig wahrscheinlich«, sagte Sun Koh. »Die Figuren haben praktisch alle die gleichen Gesichter. Das sind keine Porträtbüsten, sondern irgendwelche symbolischen Darstellungen.« 96
»Aber eine strenge Erziehung müssen sie gehabt haben«, erwog Hal. »Sieh dir das an, Nimba. Das ist genau das, was dir in deinen Kindertagen gefehlt hat.« »Hä?« machte Nimba. »Die Ohren«, sagte Hal sanft. »Irgendwer hat ihnen die Ohren langgezogen.« Er hatte es wie üblich erfaßt. Die Statuen besaßen ungewöhnlich lange Ohren. Die Bildhauer mußten sich etwas dabei gedacht haben. »So viel Erfolg hat die Erziehung nie«, sagte eine fremde Stimme in der Nähe, und gleichzeitig tauchte hinter einem Felsblock ein Mann auf. Er war zierlich und beweglich, kaum älter als dreißig und schwarzhaarig, wirkte intelligent und machte einen freundlichen Eindruck. Er trug eine Reithose und Halbschuhe, dazu ein helles, farbenfreudiges Wollhemd, beides so sauber, als wäre es eben aus dem Schrank geholt worden. »Ich sah Sie landen, wollte aber nicht stören«, fuhr er fort, während er herankam und sich verbeugte. Er sprach ziemlich fließend Englisch, wenn auch nicht ohne Fehler. »Pedro Sala ist mein Name. Ich bin der Lehrer von Hangaroa.« »Ich dachte, das wäre eine unbewohnte Insel?« sagte Hal. »Oh, hier gibt es ungefähr dreißigtausend Schafe und tausend Menschen, einen Flugplatz, eine Schule, 97
ein kleines Krankenhaus, einen Arzt, einen Gouverneur, einen Priester und einige Nonnen und sogar einige Polizisten.« »Fehlt nur noch Coca-Cola.« »Auch das können Sie haben«, sagte der andere lachend. »Wir sind zivilisiert.« Sun Koh stellte sich und seine Begleiter vor, dann wies er auf die Statuen. »Für einen Fremden ist das sehr eindrucksvoll.« »Für mich auch«, bestätigte der Lehrer. »Ich bin Chilene und befinde mich erst seit einigen Monaten auf der Insel. Sie wissen ja wohl, daß sie chilenischer Besitz ist. Ich reite oft von Hangaroa, dem einzigen Ort auf der Insel, herüber, um hier ein bißchen Geschichte zu atmen. Das kann man zwar überall auf der Insel, aber nirgends so stark wie hier. Die Langohren haben mir’s angetan. Ich würde eine Menge dafür geben, wenn ich das einzige Rätsel dieser Insel lösen könnte.« »Das einzige Rätsel?« griff Sun Koh auf. »Nun, wir sehen auf Anhieb ein Dutzend oder mehr. Sie meinen den Transport dieser riesigen Figuren?« Pedro Sala lehnte sich an einen Felsblock und schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Es ist bekannt, wie diese Steinbilder hergestellt, transportiert und aufgerichtet wurden.« »Na na?« zweifelte Hal. 98
»Doch«, beharrte Sala. »Das hat man alles festgestellt und sogar praktisch erprobt. Es erscheint auf den ersten Blick alles unmöglich, aber trotzdem ist es sehr einfach. Sehen Sie her …« Er bückte sich, hob einen Stein auf und wies ihn auf den flachen Handflächen vor. Es war ein eiförmiger, grober Stein, der gerade in eine Hand paßte. Er lief in eine scharfe, abgesplitterte Kante aus. »Das ist ein Handbeil, wie sie hier zu Tausenden herumliegen«, erklärte er. »Der Stein ist weniger fest als diese Kraterwände, aus denen die Steinfiguren herausgehauen wurden. Trotzdem sind diese steinernen Handbeile die einzigen Werkzeuge gewesen, die man verwendete. Wenn Sie damit gegen den Felsen schlagen, hinterlassen sie nicht einmal einen Eindruck. Die Langohren kannten jedoch den Trick, trotzdem solche Kolosse herauszuarbeiten. Erstens näßten sie die Oberfläche des Felsens unaufhörlich und weichten sie gewissermaßen Millimeter für Millimeter auf, und zweitens trommelten sie dicht nebeneinander unaufhörlich auf die gewünschte Linie los, bis sie genügend tief war oder eine Bruchspalte bekam.« »Das ist denkbar«, gab Sun Koh zu. »Es gehört nur eine ungewöhnliche innere Triebkraft dazu, soviel Geduld und Mühe aufzubringen. Wie wurden die Statuen transportiert?« »Sie wurden auf eine Baumgabel gelagert. Dann 99
legten sich einige hundert Männer in die Seile. Auch das wurde ausprobiert. Es geht viel besser, als man sich das vorstellt.« »Und die Aufstellung dieser Standbilder?« »Wahrscheinlich durch Hypnose«, stichelte Hal, der dem Chilenen nicht recht traute. »Das nicht«, entgegnete der Lehrer belustigt, »aber ein Trick war natürlich dabei. Die Figuren wurden durch kräftige Hebel um Millimeter oder Zentimeter am Kopfende gelüftet. Dann schob man Steine darunter, ganz allmählich immer mehr, so daß die Figur im Laufe von vielen Tagen durch den wachsenden Steinhügel schräg gestellt wurde. Man fütterte dann immer mehr Stein unter, bis der steinerne Koloß in die Senkrechte kippte und auf seiner Unterlage stand. Einfach, aber geschickt, nicht wahr?« »Und diese roten Hüte?« »Nun, der Steinberg war ja vorhanden. Er brauchte nur noch ein Stück erhöht zu werden, um den Schlußstein auch noch aufzusetzen.« »Wirklich tolles Ding!« Hal schüttelte den Kopf. »Schneewittchen ist gar nichts dagegen.« »Das sind keine Märchen«, wehrte sich der Lehrer strenger. »Die Langohren haben mit Geduld und einigen technischen Tricks noch andere Dinge fertig gebracht. Diese roten Schlußsteine zum Beispiel kommen von weit drüben und wurden auf Schilfschiffen oder Flößen um die Insel herumgebracht, 100
sogar zwei Stück auf einmal, obgleich jeder einige hundert Zentner wiegt. Sie haben sogar extra steinerne Laderampen ins Meer hineingebaut, um verladen zu können.« »Wo sind sie geblieben?« fragte Sun Koh und wies mit einer Kopfbewegung in den Krater hinein. »Das sieht aus, als wäre der Betrieb fluchtartig verlassen worden.« Der Lehrer nickte. »So ungefähr könnte es gewesen sein, doch kann es niemand mit Bestimmtheit sagen. An sich ist ja die Geschichte dieser Insel im großen und ganzen geklärt, teils durch die Überlieferungen, teils durch Aufzeichnungen auf den Rongo-rongo-Platten und teils durch die verschiedenen Funde in den Höhlen.« »Höhlen?« »Ja. Die ganze Insel wird von Höhlen und Gängen durchzogen, von denen man nur einen Teil kennt. In ihnen werden zahlreiche Stücke aus der Vergangenheit aufbewahrt, zum Teil noch streng gehütet und durch Tabus geschützt. Man hat aber schon genug gefunden, um rekonstruieren zu können.« »Und was erzählt die Geschichte der Insel?« »Sie beginnt ungefähr 500 nach Christus mit der Besiedlung durch seefahrende Inkas oder gar deren Vorfahren, die aus der Gegend des Titicaca-Sees kamen. Sie erreichten die Oster-Insel mit Schiffen aus Schilf, pflanzten das Schilf hier an und bauten 101
kunstvolle Terrassenmauern, die Sie weiter unten sehen können. Sie verschwanden irgendwann im Laufe der folgenden Jahrhunderte. Die Insel wurde von den Langohren erobert. Gleichzeitig mit ihnen oder später, vielleicht aber auch schon früher, tauchten die Kurzohren auf der Insel auf. Die Langohren schufen diese Steinkolosse. Zwischen den Langohren und den Kurzohren muß erbitterte Feindschaft geherrscht haben, ein ständiger Krieg, der dazu führte, daß sich das Leben in unterirdischen Höhlen mit komplizierten Zugängen verlagerte. Die Langohren zogen sich später auf jene Halbinsel dort drüben zurück. Sie schützten sie durch einen tiefen Graben von einigen Kilometern Länge, den sie mit Reisig und Holz anfüllten, um etwaige Angreifer zu verbrennen. Das ist Ikos Graben, den man wieder freigelegt hat. Die Kurzohren kamen jedoch durch eine List auf die Halbinsel hinüber und trieben die Langohren in den brennenden Graben. Sie vernichteten sie bis auf wenige Überlebende, die sich schließlich mit den Kurzohren vermischten. Seitdem haben die Kurzohren die Insel für sich. Das ist ungefähr vierhundert Jahre her. Sie kamen dann mit europäischen Seefahrern in Berührung, wurden als Sklaven verschleppt und durch Krankheiten dezimiert. Die Nachkommen von dem, was übrig blieb, finden Sie drüben in Hangaroa.« »Und was ist das einzige Rätsel, das übrig geblieben ist und Sie beschäftigt?« 102
Pedro Sala zögerte, entschloß sich jedoch dann zu antworten. »Nun, es ist wirklich ein Rätsel. Wissen Sie, warum man den Steinbildern diese roten Steine aufstülpte, die man zehn Kilometer weit drüben brechen und mit vielen Mühen herüberschaffen mußte? Sie sollen keine Hüte, sondern Haartrachten darstellen. Rote Steine!« »Jetzt aber langsam!« warnte Hal giftig. »Wenn Sie uns etwa auch noch erzählen wollen, daß diese Langohren rothaarig waren, beantrage ich den Dichterpreis für Sie.« »Sie waren rothaarig«, sagte der Lehrer kurz. »Und mehr als das: Sie waren weißhäutig und besaßen blaue Augen. Sie hießen sogar Ohotea, und das bedeutet nichts anderes als Weißhäute.« »Mann …«, setzte Hal entrüstet an, aber Sun Koh brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich an Sala. »Das ist sicher?« »Absolut sicher. Absolut zweifelsfrei. Im übrigen haben wir drüben in Hangaroa noch direkte Nachkommen der Langohren. Einige von ihnen sind heute noch weißhäutig und rothaarig mit blauen Augen.« »Da wird sich wohl ein Seemann verewigt haben«, murmelte Hal verächtlich. »Das ist allerdings ein Rätsel«, sagte Sun Koh ernst. »Es wird schwerfallen, die Herkunft dieser 103
Langohren zu ermitteln.« »Wem sagen Sie das?« seufzte Pedro Sala. Südlich der Oster-Insel befindet sich verkehrstechnisch gesehen ein großes Loch. Der ganze südöstliche Teil des Stillen Ozeans liegt außerhalb der üblichen Schiffahrtswege. Das ist fast so gut wie ein Tabu. Der Kapitän eines Passagierdampfers oder eines Frachters hat seine vorgeschriebene Route, die gewöhnlich die kürzeste Verbindung zwischen zwei Häfen darstellt. Nichts außer den Naturgewalten kann ihn veranlassen, davon abzuweichen. Wenn also ein Gebiet außerhalb der Schiffahrtslinien liegt, bleibt es mehr oder weniger unbekannt. Das gilt besonders für jene Meeresgebiete, deren Besuch sich auch nicht aus anderen Gründen lohnt, zum Beispiel, um Fische zu fangen. Das gilt nicht zuletzt für das riesige Meeresgebiet südlich der Oster-Insel. Vielleicht wird es jedes Jahr einmal von einem oder zwei Schiffen durchquert, aber was will das bei der Größe des Gebiets schon besagen? Vor rund siebzig Jahren hat einmal ein fürstlicher Forscher eine Expedition unternommen und diesen Teil des Stillen Ozeans durchsegelt. Er berichtete von rund zweihundert neuentdeckten Inseln. Er war jedoch der einzige, der sich dafür interessierte. Erst vor einem Jahr unternahm George Kennan eine Ex104
pedition mit ungefähr den gleichen Zielen. Sie ging mit der »Oakland« unter. Und nun versuchte Sun Koh, jene unbekannte Insel zu finden, deren Klippen die »Oakland« aufgeschlitzt hatten. Die »Star of California« erreichte die Position, die Kapitän Krotthoff als letzte im Logbuch der »Oakland« verzeichnet hatte, bevor der Wirbelsturm das Schiff mitnahm. Das Wetter war an diesem Tag ausgezeichnet. Nirgends zeigte sich eine dunkle Wolke. Der Himmel lag als blaßblaue Schale auf einem Dunstrand, der die flimmernde Scheibe des Ozeans ringsum einfaßte. Sun Koh stieg mit dem Flugzeug auf und stieß in das unbekannte Gebiet hinein. Er entdeckte an diesem Tag einige winzige Inseln, die wie Bergspitzen mit einem schmalen Schwemmsaum aus dem Meer herauskamen und nichts mit der gesuchten Insel zu tun hatten. Am nächsten Tag holte er weiter aus. Fast vierhundert Kilometer südöstlich von der Position der »Star of California« entdeckte er aus dreitausend Meter Höhe die gesuchte Insel. Das war kein winziges Eiland mehr, sondern eine ausgedehnte Insel von beträchtlicher Größe mit einem regelrechten Höhenzug, der mit Wäldern überzogen war. Sie konnte eher noch etwas größer sein als die Oster-Insel, die sich immerhin über fünfzehn 105
Kilometer erstreckte. Vor der Insel lag eine kleine Insel, von der aus Klippen ins Meer hineinliefen. Auf der höchsten Erhebung ragte ein runder, steinerner Turm auf, etwas tiefer ein zweiter. Krotthoffs Turm! Sun Koh hielt sich seitlich und in großer Höhe, um die Bewohner der Insel nicht zu alarmieren. Er flog zum Schiff zurück. »Gott sei Dank!« sagte Krotthoff mit Inbrunst. »Jetzt fühle ich mich endlich wieder wohl. Es ist eine dumme Sache, wenn man nicht mehr genau weiß, ob man sich auf seine fünf Sinne verlassen kann. Sie haben die Position?« Sun Koh gab sie ihm. »Nehmen Sie Kurs auf die Insel, gehen Sie aber nur bis auf dreißig Kilometer heran. Das Schiff muß vorläufig außer Sicht bleiben. Ich möchte zunächst mit dem Flugzeug erkunden, wie es um die Insel steht.« Krotthoff nickte und ging seiner Wege. Hal war eifriger. »Wir könnten gleich wieder losfliegen, Sir«, schlug er vor. »Der Tag ist noch lang.« »Ja«, sagte Sun Koh. »Aber ich fliege allein. Ihr bleibt beide hier.« Hal seufzte enttäuscht. »Aber…«, begann Nimba, doch Sun Koh wehrte mit einer Handbewegung ab. »Ihr bleibt. Ich brauche euch diesmal als Reserve. 106
Wenn der Kapitän damals richtig gesehen hat, ist die Insel bewohnt, und wenn jenes Zeitungsblatt auf Yukatan etwas bedeutet, könnte die Insel ein Stützpunkt von Leuten sein, die über alle modernen Mittel verfügen und nicht gerade unsere Freunde sind. Ich weiß nicht, ob ich unbeobachtet herankomme. Sollte ich die Bewegungsfreiheit verlieren, so ist es mir lieber, wenn ihr sie noch besitzt. Nichts gegen den Kapitän und die Mannschaft, aber ihr werdet eher herausfinden, was zu tun ist.« Hal drückte seinen Brustkasten heraus. »Hm, wenn das so ist – wir holen Sie schon aus der Klemme heraus.« »Nett von dir«, meinte Sun Koh lächelnd. »Wenn ich zehn Schritte hinter Ihnen die Rückendeckung übernehmen würde …«, schlug Nimba vor, aber Sun Koh schüttelte den Kopf. Er wollte allein vorgehen. Er mußte damit rechnen, daß Gegner bereitstanden, wo immer er niederging. Unter diesen Umständen war es zweckmäßiger, das Risiko allein zu tragen und nicht auch noch seine beiden Begleiter abfangen zu lassen. 4. Groß und gewaltig ist der Ozean. Größer und gewaltiger noch der Himmel in der Bläue der Unendlichkeit. 107
Am größten und gewaltigsten aber ist der winzige Mensch, der sich den klammernden Fäusten der Schwerkraft entzieht und zwischen Himmel und Ozean mit einigen Tonnen Gewicht mühelos dahinschwebt, als sei er leichter als Luft. Dreitausend Meter über dem Meer, das sich glatt schimmernd in sanfter Wölbung duckte, schoß das Flugzeug mit gedrosseltem Motor dahin. Am Steuer saß Sun Koh. Sein Gesicht war aufmerksam gespannt. Während seine Hände mechanisch die Apparate bedienten, beobachteten seine Augen voll wacher Sorgfalt die Insel, die sich mehr und mehr unter das Flugzeug schob. Tief unten stauten sich dunkle Risse im klaren Wasser. Klippen? Die Insel war gut geschützt. Aber dort zog sich eine breite Einfahrt durch die zahllosen Klippen hindurch. Es würde gut sein, sich den Verlauf zu merken, falls die Jacht die Insel ansteuern wollte. Eine kleine Insel, die der Hauptinsel vorgelagert war. Sah es nicht aus, als ob sich dort Menschen bewegten? Nein, ihn würden sie wohl kaum sehen oder hören. Ein breiter Wasserstreifen. Jetzt lag die Insel selbst unter dem Flugzeug. Sun Koh ging in eine Spiralkurve, um nicht über das Ziel hinauszuschießen. Die Maschine senkte sich geräuschlos auf den Höhenzug zu, der quer durch die 108
Insel lief. Wald, überall Wald. Nur unten nach dem Strand zu zeigte sich freies Gelände, aber dort schien eine Landung am wenigsten ratsam zu sein. Sun Kohs Augen entdeckten eine ansteigende Felsnase, die aus dem Wald herausstieß. Sie war kahl, ein lichter, bräunlicher Fleck in dem dunklen Grün. Vorsichtig setzte er das Flugzeug auf die Felsplatte auf. Dank seiner modernen Konstruktion konnte er senkrecht niedergehen. Dennoch ließ er das Flugzeug in die grüne Tiefe hinabrollen, um es den Blicken der Inselbewohner zu entziehen. Unmittelbar am Rand des üppigen Waldes, dort, wo die kahle Felsplatte untertauchte, brachte er die Maschine zum Stehen. Nachdem er sich flüchtig vergewissert hatte, daß keine Menschen in der Nähe zu bemerken waren, rief er die »Star of California« an. Man spürte in Krotthoffs Stimme die verhaltene Erregung, als er sich meldete: »›Star of California‹, Kapitän Krotthoff. Sind Sie es, Mr. Sun Koh?« »Ich bin’s«, bestätigte Sun Koh sachlich. »Die Landung ist geglückt, von Menschen habe ich bis jetzt nichts bemerkt.« »Dann können wir vielleicht auch heran?« Sun Koh wehrte entschieden ab. »Sie halten sich an die Anweisungen. Ich werde jetzt das Flugzeug verlassen und einen Streifzug 109
durch die Insel unternehmen. Ich rufe wieder an, sobald ich hierher komme.« »Ich wollte, ich könnte mit drüben sein. Seien Sie nur vorsichtig.« »Keine Sorge. Also auf später.« »Hals- und Beinbruch!« Sun Koh stieg aus. Seine Füße berührten den Boden der fremden Insel, die eine der namenlosen des Weltmeeres war. Welche Geheimnisse mochte dieses Eiland bergen? Sekundenlang stand er nachdenklich und blickte still in die Ferne. Dann straffte er sich und begann vorwärts zu schreiten, in das Dickicht hinein, das unter den Bäumen wucherte. Das Abenteuer begann. Er wandte sich aufwärts und wanderte in die Richtung, in der der Turm auf der höchsten Anhöhe stehen mußte. Dort, wo das Gelände nach allen Seiten am übersichtlichsten sein mußte, wollte er mit seinem Erkundungsmarsch beginnen. Es war nicht leicht, die Richtung zu halten. Der Wald war außerordentlich dicht und zeigte keine Wegspuren. Sun Koh fand manche Eigentümlichkeit, die ihn überraschte. Das war kein tropischer Urwald, der sich in tausendfältigen, üppigen Verschlingungen zu einer bunten, feuchten Wildnis zusammenballte. Der ganze Charakter des Waldes entsprach vielmehr der gemäßigten Zone. Eichen und Buchen herrschten vor, und der Boden war verhältnismäßig trocken. 110
Trotzdem war der Wald nur schwer zu passieren. Riesige Stämme von mächtigem Umfang, deren Alter viele Hunderte von Jahren betragen mußte, standen wie die Säulen einer ägyptischen Tempelhalle dicht beieinander, so dicht, daß es rätselhaft blieb, wieso sie sich nicht gegenseitig erdrückten und die Nahrung wegnahmen. Und zwischen ihnen schossen junge Bäume empor und versuchten die Lücken auszufüllen. Generation von Riesenbäumen standen nebeneinander. Tod und Verfall, Morschwerden und Verfaulen schien sich hier auf ein Mindestmaß zu beschränken. Der Boden mußte außerordentlich fruchtbar sein. Sun Koh wand sich zwischen den Stämmen hindurch und stand doch immer wieder vor einer Mauer lebenden Holzes. Es war ein verwirrendes Spiel, dieser Marsch durch den Wald, ein Spiel, das. den Richtungsinstinkt, der im Menschen ohnehin nicht stark ausgeprägt ist, verlorengehen ließ. Es war schwer, sich aus der verführerischen Kreisbahn herauszuhalten, in die der Mensch einzuschwenken pflegt, wenn er in die Irre geht. Selbst Sun Koh mußte sein Wissen um diese Tatsache mit einsetzen und zeitweise gewaltsam nach rechts halten, um der Gefahr zu entgehen. Eine Stunde lang drang er vorwärts, dann wurde der Weg leichter. Einesteils standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht, andernteils wurde die Richtung 111
nunmehr durch den merklichen Aufstieg des Geländes festgelegt. Nach einer weiteren halben Stunde öffnete sich plötzlich die hölzerne Mauer. Zwei, drei helle Streifen schnitten senkrecht hindurch, dann, etwas später, hatte Sun Koh den Wald hinter sich. Er stand am Rand eines scharf aufsteigenden, völlig kahlen Felsenhanges, der hundert Meter weiter zum Gipfel des Höhenzuges führte. Dort oben stand ein Turm. Er war insgesamt ungefähr zwanzig Meter hoch. Davon entfielen fünf Meter auf einen würfelförmigen Unterbau aus schwärzlichem Gestein. Auf ihm erhob sich mit etwa acht Metern das eigentliche Rund des Turmes aus dem gleichen Gestein. Und darauf saß die Turmspitze, die mit einem silbrig schimmernden Metall überzogen war. Sun Koh hielt es freilich nicht für Silber, sondern vermutete eher Platin oder eine unbekannte Legierung. Er hielt sich nicht lange mit der Betrachtung aus der Ferne auf. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß nichts die Anwesenheit eines Menschen verriet, stieg er bergaufwärts. Seine Füße setzten leicht auf, so daß keine unnötigen Geräusche entstanden. Auf halber Höhe sah er sich um. Der Blick von hier aus über die breitgelagerte Insel mit ihren vorgelagerten Fleckchen und Klippen war geradezu herrlich. Im weiten Rund dehnte sich der Ozean. Als er zum Turm zurückblickte, zuckte er zusam112
men. Dort stand jetzt ein Mann. Er erinnerte irgendwie an die Bäume, die unten im Wald standen. Riesenhaft, urwüchsig und knorrig stand er dort oben und starrte auf das Meer hinaus. Der mäßige Wind preßte die grobe Kleidung, die aus kunstloser Hose und Jacke bestand, gegen die stark ausgebildete Muskulatur. Das Alter dieses Mannes mochte zwischen fünfzig und sechzig liegen. Sun Koh duckte sich unwillkürlich hinter die großen Steine. Als er nach wenigen Augenblicken wieder aufsah, war der Mann verschwunden. War er davongegangen und bergabwärts gestiegen oder hielt er sich an der verdeckten Seite des Turmes auf? Hatte er Sun Kohs Anwesenheit etwa bemerkt? Ein Wunder wäre es nicht gewesen, da Sun Koh sekundenlang unbedacht gewesen war. Sun Koh schlich sich behutsam vorwärts. Er schlug einen großen Bogen, um auf die Rückseite des Turmes zu kommen, dann gewann er langsam Höhe. Ununterbrochen sicherte er nach allen Seiten, um nicht heimlich angegriffen zu werden, vor allem natürlich nach vorn, wo er den Gegner vermutete. Er sah nichts mehr von ihm. Nach einer halben Stunde war er bis auf zehn Meter an den Turm herangekommen. Vor ihm befand sich deckungsfreies Gelände. Seitlich führte ein 113
schmaler, aber offenbar viel benutzter Pfad den Hang hinunter. Diesen hatte der Mann am Turm wohl benutzt, so daß jetzt hier oben die Luft rein war. Er sprang auf und schnellte auf den Turm zu. So, jetzt hatte er Rückendeckung und konnte in aller Ruhe die Umgebung mustern. Ringsum fiel der Felsen steil ab und verschwand unten in der grünen Mauer des Waldes. Jenseits wurde der Strand sichtbar, das Wasser und kleine Inseln. Langsam schritt Sun Koh herum. Als er nach vorn gelangt war, stutzte er. Bewegten sich dort auf einer der vorgelagerten Inseln nicht Menschen? Hatte er nicht vorhin vom Flugzeug aus schon den gleichen Eindruck gehabt? Er legte seine Hand über die Augen, um die blendende Sonne abzuschirmen, aber er kam nicht dazu, seine Beobachtungen zu erweitern. Ein Geräusch über ihm ließ ihn hochfahren. Er sah einen kopfgroßen Stein auf sich zufliegen, sah am oberen Rand des Turmunterbaus einen ausgestreckten Arm und einen Kopf mit grauer Mähne … Dann brach er zusammen. Der Spielraum war zu kurz gewesen. Er hatte sich zwar noch etwas zur Seite werfen können, aber es reichte nicht aus. Der Stein hatte seinen Kopf noch gestreift. Und er war mit derart furchtbarer Wucht geworfen worden, daß auch der Streifer betäubte. Hätte er voll getroffen, dann wäre die Hirnschale 114
zermalmt gewesen. Während Sun Koh in die Bewußtlosigkeit hinabglitt, spürte er ein brennendes Gefühl der Scham, daß er sich hatte übertölpeln lassen. Der Unterbau besaß eine Art Brüstung, dahinter hatte der andere gelauert und ihn von dort aus erledigt. Der grauköpfige Hüne sprang mit überraschender Gelenkigkeit ab und ging mit schweren Schritten auf den Feind zu. Lange starrte er mit grübelndem Gesichtsausdruck auf ihn nieder. Wie kam der Fremde hierher? Es war doch seit langer Zeit kein Schiff in Sicht gekommen? Sollte er etwa von der Insel Rona herübergeschwommen sein? Rob mußte es wissen. Rob würde sehr zornig werden, wenn er diesen Toten sah. Denn tot war der Fremde, sein Herz schlug nicht mehr. Was mußte er auch auf die Insel kommen? Mac nahm den schlanken Körper Sun Kohs auf, legte ihn über seine Schulter und trug ihn bergabwärts davon, nachdem er noch einen Blick über den Horizont geworfen hatte. Drei Stunden lang wanderte er auf dem Höhenzug entlang, fast genau nach Süden. Es war ein Glück für Sun Koh, daß er dabei einen Pfad benutzte und sich nicht durch das Gewirr der Stämme drängte. Der Höhenzug fiel im Süden schroff zum Meer ab. 115
Mac trat mit seiner Last bis dicht an den senkrechten Absturz heran, als wollte er den Mann, den er für tot hielt, dort hinunterwerfen. Das wäre das Ende gewesen. Bis zum Meeresspiegel waren es mindestens dreihundert Meter, und unten gab es Klippen. Doch der Hüne dachte nicht daran, sich des Fremden auf diese Weise zu entledigen. Dort unten konnte Rob die Leiche finden, und Mac scheute sich insgeheim vor den immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen mit dem Jüngeren. Nein, Rob sollte überhaupt nicht erfahren, daß Mac auf den Fremden getroffen war und ihn getötet hatte. Fünfzig Meter vor dem Absturz befand sich ein brunnenartiges Loch, dessen Wände mit leichter Schrägung in die Tiefe führten. Was hier hinein verschwand, kam bestimmt nicht wieder zum Vorschein. Mac wußte das aus Erfahrung. Er legte seine Last dicht am Rand der Bodenöffnung nieder, starrte wieder minutenlang auf den Leblosen und gab ihm dann einen kurzen Stoß mit dem Fuß, so daß er über die Kante hinweg in die Tiefe rutschte. In diesem Augenblick rang sich Sun Koh aus der Betäubung hoch. In der Erkenntnis letzter Gefahr stieß er einen dumpfen Schrei aus, während seine Hände nach einem Halt hochzuckten. Es war schon zu spät. Unaufhaltsam, mit zunehmender Geschwindigkeit 116
glitt er an der glatten Wand des schrägen Rohrs in den schwarzen Schlund hinab, in die unbekannte Tiefe, aus der noch nie etwas zurückgekehrt war. Hatte Mac den Schrei noch gehört? Er wandte sich ab und wanderte mit schweren, festen Schritten nach Norden. * Rob starrte in den rötlichen Ball der untergehenden Sonne, deren Schein in sein helles Haar goldene Feuerfunken aufblitzen ließ. Von unten kam ein Ruf. Rob erwiderte ihn kurz, während sein Blick aus der Ferne zurückkehrte und seine Gestalt sich straffte. Nach einer Weile traf Mac auf dem Gipfel ein. Sie begrüßten sich in einem Ton, der eine gewisse gegenseitige Zurückhaltung verriet, dann setzten sie sich schweigend nebeneinander. »Du warst fort?« fragte Rob, als das Schweigen übermächtig wurde. »Ja, ich war fort«, bestätigte Mac. »Ist etwas geschehen?« »Nichts.« Wie ein Stein, der dumpf den Abhang hinunterschlägt, kam die Antwort des Älteren. Rob streckte mit einer schnellen Bewegung seine Hand aus und hielt ihm einen Gegenstand unter die 117
Augen, den Sun Koh als sein Taschenmesser erkannt haben würde. »Nichts?« fragte er scharf. »Dann verrate mir bitte, wie dieses Messer an den Turm kommt und in welchem Zusammenhang es mit einer Blutlache und einem großen Stein steht?« Mac sah düster auf. Nun kam die Auseinandersetzung doch, die er hatte vermeiden wollen. »Ein Fremder war hier«, bekannte er rauh. Rob faßte seinen Arm. »Ah, ein Fremder? Wo ist er?« Mac machte seinen Arm frei und erwiderte schleppend: »Ich warf ihn in das Loch am südlichen Absturz.« Rob beugte sich jäh vor und schrie dem anderen förmlich ins Gesicht: »Du hast ihn getötet?« »Ja.« »Du hast ihn getötet?« murmelte Rob endlich ganz leise, als könnte er es noch nicht fassen. Mac machte eine harte Bewegung. »Ich habe dich gewarnt. Ich will keinen Fremden auf der Insel sehen. Es war deine Schuld. Du solltest Fremde von hier fernhalten.« In Robs Gesicht stieg Verwunderung. »Meine Freunde von Rona? Sie sind alle unten. Es war keiner von ihnen.« »Du lügst.« »Ich lüge nicht. Das Messer gehört keinem meiner 118
Freunde. Wie sah der Fremde aus?« »Er war nicht viel älter als du und …« »Also ist es ein Fremder gewesen, denn auf Rona lebt niemand, der nicht viel älter als ich ist.« Mac schüttelte schwerfällig den Kopf. »Wie sollte der Mann auf die Insel kommen? Wo sollte er herkommen, wenn nicht von Rona?« »Hättest du ihn doch am Leben gelassen«, gab Rob bitter zurück, »dann hätte er dir deine Fragen beantworten können. Du bist ein gemeiner Mörder, Mac.« Mac fuhr auf. »Hüte deine Zunge, Knabe. Du hast nicht das Recht, mich so zu verurteilen. Du bist zu jung, um zu verstehen, warum ich so handle.« Rob sah ihn stolz an. »Es wird dir auch einem Älteren gegenüber schwerfallen, Verständnis für deine gemeine Mordtat zu finden.« »Du nennst Mord, was in Wirklichkeit Notwehr ist.« »Notwehr? Hat dich der Fremde angegriffen?« »Nicht so, wie du es meinst, aber er hat den Frieden dieser Insel bedroht.« »Also hat er doch nicht angegriffen, und du hattest kein Recht, ihn zu töten. Dieser Mord trennt uns für immer.« Mac lachte rauh auf. 119
»Du redest wie ein Buch. Zwischen uns gibt es schon lange nichts mehr zu trennen, seitdem die Fremden auf Rona sind. Du bist fast dauernd bei ihnen, fühlst dich zu ihnen gehörig und redest ihnen nach dem Mund. Schade, daß ich nie das Schwimmen gelernt habe, sonst wäre es nicht soweit gekommen.« »Wie meinst du das?« »In jener ersten Nacht wäre sonst ich hinübergeschwommen. Ich hätte jedoch nicht Freundschaft mit den Schiffbrüchigen geschlossen.« Rob schauderte. »Du wärst auch an ihnen zum Mörder geworden?« »Das kannst du dir an den Fingern abzählen«, kam es grob zurück. »Warum?« »Warum? Vielleicht nur deshalb, damit du sie nicht kennenlernen solltest. Ich dachte mir, es sollte dir einmal besser gehen als mir.« »Wie meinst du das?« Mac hob die Schultern. »Was soll ich dir da erklären? Glaubst du, ich spüre nicht, wie sie dich zum Narren machen?« »Das ist nicht wahr.« »Es ist wahr. Du bist in die Frau verliebt. Rede nicht, ich habe Augen im Kopf. Gib nur acht, eines Tages werden sie dir einen Tritt geben, wenn sie dich nicht mehr brauchen. Du kennst die Menschen nicht, 120
aber ich habe mich lange genug mit ihnen herumgeschlagen und weiß Bescheid. Doch ich kann dich nicht abhalten, wenn du gewaltsam in dein Unglück hineinrennen und dich unter Menschen mischen willst, statt hier frei und unabhängig zu leben.« Rob sah vor sich auf die Erde. Zögernd fragte er: »Warum, Mac, warum haßt du die Menschen so?« Nach langer Pause gab der Ältere Antwort: »Du hast mich schon manchmal danach gefragt. Heute will ich dir’s sagen, weil unsere Wege sich wohl nun endgültig trennen. Ich wurde vor mehr als fünfzig Jahren auf Barra geboren. Das ist nicht diese Insel, sondern eine Insel, die zur Western-Gruppe in der Nähe von England gehört. Meine Eltern waren arme Fischerleute, sie sind längst gestorben. Mit dreizehn Jahren kam ich zum erstenmal auf ein größeres Schiff. Ich war Schiffsjunge, Leichtmatrose und Vollmatrose und lernte dabei die Welt kennen. Später machte ich mein Steuermannsexamen. In jener Zeit lernte ich in Edinburgh eine Frau kennen, dir mir gefiel. Sie hieß Margret und war so schön, wie eine Frau nur sein kann, um einem Mann den Kopf zu verdrehen. Mir verdrehte sie ihn gründlich. Ich liebte sie. Sie wurde meine Frau. Lange dauerte es nicht, da kam ich dahinter, daß sie mich betrog. Nun, ich schlug sie halbtot und warf sie hinaus. Seit jener Zeit wußte ich, was ich von den Frauen zu halten hatte.« Da er lange aussetzte, fragte Rob: »Deshalb also 121
sind dir die Menschen so verhaßt?« Mac schüttelte den Kopf. »Nicht deshalb allein. Die Frau haßte mich, weil ich ihre Schliche aufgedeckt und sie geschlagen hatte. Und sie hatte ihre Liebhaber gut in der Hand. Der eine war der Sohn des Reeders, für den ich fuhr. Ich verlor meinen Posten. Einige Zeit später wurde ich wegen Diebstahls verhaftet und für einige Monate ins Gefängnis geschickt. Man fand gestohlene Sachen bei mir und brachte Zeugen, die mich gesehen haben wollten. Dabei war ich so unschuldig wie nur irgendeiner. Die ganze verfluchte Bande arbeitete gegen mich. Nun, ich ließ mich nicht unterkriegen. Als ich aus dem Gefängnis herauskam, fing ich ganz von vorn an. Ich ließ mir durch einen Bekannten neue Papiere ausstellen und ging nach Amerika. Dort trieb ich mich jahrelang als alles Mögliche herum. Es hat wenig Zweck, dir davon zu erzählen. Jedenfalls fand ich keine Gelegenheit, mein Urteil über die Menschen zu ändern, im Gegenteil, ich fand es stets und überall bestätigt. Hinterlistig, gemein und falsch waren sie alle, immer darauf bedacht, dem andern zu schaden, um sich selbst dadurch zu nützen. Glaube mir, ich hatte sie satt. Als ich eines Tages allein an diese Insel geworfen wurde, da war ich nicht unglücklich darüber, sondern froh.« Überzeugend klang die Darstellung für Rob nicht. Einesteils sprach Mac sehr ruhig und fast ohne Bit122
terkeit, andernteils deutete er nur an, was für ihn wichtige Erlebnisse gewesen waren. »Wie kamst du auf diese Insel?« fragte er weiter. »Ich ging später wieder zur See, nicht mehr als Steuermann, sondern als gewöhnlicher Matrose. Zuletzt ließ ich mich auf einem Frachtdampfer anheuern, der den Stillen Ozean befuhr. Der Kapitän war ein Engländer. Walter Doughton hieß er. Robert Dougthon war sein Bruder. Er fuhr als Passagier mit auf dem Schiff, wollte nach Australien, um sich dort eine neue Existenz zu gründen. Er hatte seine Frau und seinen zweijährigen Jungen mit. Der Junge hieß Robert wie der Vater. Das warst du.« »Wie heißt meine Mutter?« »Das weiß ich nicht mehr, ich habe es vergessen.« »Erzähle weiter.« »Wir kamen in einen Sturm, der tagelang Fangball mit uns spielte. Dann fuhren wir eines Nachts auf den Klippen auf. Das Schiff barst auseinander, bevor die Boote herabgelassen werden konnten. Ich sprang wie die andern ins Wasser. Dein Vater war wohl auf eine Klippe geraten und hatte dich losgelassen. Ich sah dich jedenfalls plötzlich vor mir und packte zu, bevor du versinken konntest. Als ich dann hier am Strand erwachte, hatte ich dich im Arm. Vom Schiff und seinen Menschen war nichts mehr zu sehen, nur die Trümmer und einige Leichen wurden angetrieben. Das geschah vor rund zwanzig Jah123
ren. Seitdem leben wir beide allein auf dieser Insel.« Rob war voller Unruhe. »Meine Eltern ertranken also vor der Insel?« »Ja.« »Du hast nie den Versuch gemacht, sie zu verlassen?« »Nein. Ich schwor mir, bis an mein Lebensende hier zu bleiben. Ich baute kein Boot und kein Floß, sondern richtete mich auf der Insel ein. Zur Not hatte ich an dir Gesellschaft genug.« »Du hättest aber nun als reicher Mann in die Welt zurückkehren können?« »Ich wollte aber nicht. Sie hätten mich doch nur wieder betrogen. Hier habe ich nun zwanzig Jahre lang in Frieden gelebt, und hier will ich auch sterben.« »Du willst, daß ich es dir gleich tun soll?« Mac machte eine Bewegung, die wohl Verzicht ausdrücken sollte. »Ich wünschte es dir. Eines Tages, wenn du die Welt kennengelernt hast, wirst du wünschen, hier geblieben zu sein. Aber ich weiß, daß jeder seine Erfahrungen selbst machen muß. Ich kann dich nicht halten, sobald sich dir und den andern eine Chance bietet, die Insel zu verlassen. Ich gehe aber nicht mit, und ich will auch nicht, daß irgend jemand die Insel betritt.« »Vielleicht geben dir deine Erfahrungen recht«, 124
erwiderte Rob nachdenklich. »Aber ist es nötig, einen Menschen, der zufällig hierherkommt, deshalb zu töten?« »Ja«, gab der Ältere hart zurück, »denn das ist das einzige Mittel, um ihn für die Dauer zu entfernen. Vergiß nicht, daß dort unten in den Häusern Schätze liegen, von deren Größe du dir vielleicht noch keine richtige Vorstellung machst. Sobald ein Fremder von ihnen erfährt, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu bekommen. Er wird so bald wie möglich von hier verschwinden, aber eines Tages mit einem Schiff wieder da sein. Dann ist es aus mit der Einsamkeit auf dieser Insel.« »Wirf die Schätze doch ins Meer.« Mac schüttelte den Kopf. »Es wird nicht mehr nötig sein. Früher oder später wirst du die Insel verlassen, dann sollst du das Zeug mitnehmen, damit du wenigstens nicht arm bist. Man wird dich zwar bald darum betrügen, aber du sollst mir nicht den Vorwurf machen, daß ich nicht alles getan hätte, um deine Zukunft zu sichern.« »Die Schätze sind dein Eigentum.« »Wieso? Sie liegen seit Jahrhunderten dort. Ich will nichts davon wissen. Wenn es dir Spaß macht, kannst du dich damit behängen.« Wieder entstand eine Pause, dann sagte Rob: »Kennan meinte, die Insel sei gefährlicher Boden. Früher oder später würde der erloschene Vulkan 125
wieder ausbrechen.« Mac zuckte mit den Schultern. »Pah, er ist seit zwanzig Jahren nicht ausgebrochen und vorher seit vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht, soviel ich davon verstehe. Ich weiß natürlich nicht, seit wann das Ventil dort unter dem Meer arbeitet, aber solange es arbeitet, ist bestimmt nichts zu befürchten. Und wenn es einmal eine Katastrophe gibt, dann wird es für mich nicht schlimm sein. Ich bin alt genug, um den Tod mit Fassung zu tragen.« Damit war das Gespräch im großen und ganzen zu Ende. * Einige Stunden später unterhielt sich Rob mit Kennan über das, was er gehört hatte. »Das entspricht meinen eigenen Vermutungen«, sagte Kennan. »Du bist ebenso wie Mac ein Schiffbrüchiger. Und Mac gehört sicher zu den schwerblütigen Naturen, die stärker unter der Welt leiden als andere. Die Untreue seiner Frau hat ihn verstört, davon hat er sich nie wieder recht erholt, sondern hat die Menschen nur noch durch eine besondere Brille gesehen. Man kann ihn schon verstehen.« Rob hatte bisher vermieden, von dem Fremden zu sprechen. Nun meinte er zögernd: »Ich kann es nicht 126
beurteilen, aber darf Mac deshalb, weil er die Menschen haßt, einen Mord begehen?« »Natürlich nicht. Hat er dir gesagt, daß er gemordet hat?« »Ja.« »Hm, vielleicht liegt aber darin mit der Grund, warum er sich verbirgt? Es hat jedoch keinen Zweck, alte Geschichten aufzurühren. Wir leben hier außerhalb der Gesetze, und es wird ihn niemand zur Verantwortung ziehen.« Rob schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Er hat heute erst gemordet.« Kennan prallte zurück. »Heute erst? Aber wieso, wen denn?« »Er fand einen Fremden auf der Insel. Sieh, dieses Messer stammt von ihm. Ich fand es am Turm und stellte Mac zur Rede. Er gestand, daß er einen Fremden gefunden, ihn erschlagen und fortgeschafft habe.« Kennan war so fassungslos, daß er nur schwer Worte fand. »Er hat – einen Fremden?« würgte er. »Also hat Carpool doch recht gehabt?« »Wovon sprichst du?« Kennan riß sich zusammen. »Carpool behauptete, er habe für ganz kurze Zeit dicht über der Insel ein Flugzeug bemerkt, wie es 127
sich auf sie niedersenkte. Wir lachten ihn aus und nahmen an, daß er einer Sinnestäuschung zum. Opfer gefallen sei.« »Ein Flugzeug?« murmelte Rob. »Das würde erklären, wieso sich plötzlich ein Fremder auf der Insel befand. Wie sollte er sonst hingekommen sein?« »Freilich. Aber dann muß das Flugzeug irgendwo stehen, und ich werde es finden.« »Was nützt uns das, wenn Mac den Fremden getötet hat? Herrgott, es ist nicht auszudenken. In dem gleichen Augenblick, in dem sich die Gelegenheit bietet, der Welt von unserem Schicksal Kunde zu geben, wird uns die Hoffnung erschlagen. Das ist furchtbar.« Rob nickte düster. »Mac hätte es nicht tun dürfen. Er haßt die Menschen zu sehr.« Kennan wurde heftig. »Niemals gibt ihm dieser Haß die Berechtigung, einen Menschen zu töten. Und vielleicht hat er mit diesem einen uns alle gemordet. Wenn es eines Tages hier eine Erdkatastrophe gibt, so wird er daran schuld sein, wenn wir mit untergehen müssen.« »Du rechnest mit einem Unheil?« »Nein«, erwiderte Kennan ruhiger. »Es läßt sich in diesem Punkt wenig voraussagen. Die Inseln können noch Jahrzehnte so stehen, vielleicht auch immer. 128
Möglicherweise baut sich dort draußen allmählich eine neue vulkanische Insel aus dem Wasser heraus auf, ohne daß hier wesentliche Veränderungen eintreten. Wer will das sagen? Aber für uns wäre es auf jeden Fall besser, wir könnten von hier fort.« »Wollen wir immer noch kein Boot oder Floß bauen?« Kennan schüttelte den Kopf. »Ich bin nach wie vor dagegen. Die Entfernungen bis zum Festland oder bis zu befahrenen Inseln sind riesig. Unser Floß würde nur sehr wenig seetüchtig sein. Es hieße das Schicksal gar zu sehr herausfordern.« »Dann bleibt ihr also.« »Wohl oder übel.« * Sun Koh schoß mit den Füßen voraus in den Schacht hinein. Es war kein freier Fall, aber er hatte große Ähnlichkeit damit. Die Geschwindigkeitszunahme war ganz beträchtlich, die Reibung gering. Die glatte Wand bot den suchenden Händen keinen Widerstand. Die Gefahr hatte den letzten Schleier der Betäubung von Sun Kohs Gehirn gerissen. Er dachte klar und schnell. Trotzdem fand er keine Möglichkeit, die Lage zu seinen Gunsten zu ändern. Wenn der Sturz 129
so weiterging, konnte er nur irgendwo mit zerschmetterten Gliedern landen. Als einzige ungewisse Aussicht und Hoffnung blieb, daß die Fahrt in tiefem Wasser enden könnte. Der Schacht war fast kreisrund und besaß einen Durchmesser von ungefähr drei Meter. Dieser Durchmesser machte es unmöglich, sich durch Spreizen der Beine oder der Arme einzuklemmen und dadurch die Geschwindigkeit zu verringern. Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, was geschehen würde. Jetzt wurde der Schacht enger. Sun Koh ahnte im letzten Sekundenbruchteil ein Hindernis unter seinen Füßen. Er straffte seine Muskeln, und schon schmetterte ein harter Schlag gegen seine Füße, der als gewaltiger Ruck durch den Körper hindurch bis zum Kopf stieß. Sekundenlang standen die Wände des Schachts still. Sun Koh war auf einen Gegenstand aufgeprallt, der sich in dem Schacht eingeklemmt hatte. Es war ein Glück, daß er sich beim Aufprall nicht die Beine gebrochen hatte. Das Hindernis mußte aus mürbe gewordenem Holz gewesen sein, das einen Teil der Wucht federnd abgefangen hatte. Die Reise ging weiter. Das unbekannte Hindernis war aus der Klemme herausgetrieben worden. Jetzt stürzte es in die Tiefe, und Sun Koh folgte ihm. Er hielt es jedoch für äußerst günstig, daß seine Geschwindigkeit für kurze Zeit noch einmal auf den 130
Nullpunkt zurückgeführt worden war. Jetzt nahm sie wieder zu, aber nicht lange. Die Fahrt staute sich an einem zweiten Hindernis. Diesmal wurde Sun Koh durch ein vorangehendes Geräusch gewarnt, so daß er den Stoß weich auffangen konnte. Von nun an ging es verhältnismäßig langsam vorwärts. Die Geschwindigkeit blieb gering. Unter Sun Koh mußte sich im Schacht ein sperriges Hindernis befinden, daß mit den Wänden Reibung besaß und die Fahrt bremste. Er schätzte gerade, daß er ungefähr zweihundert Meter gefallen sein konnte, als er spürte, wie das Holz unter seinen Füßen beschleunigt wich. Kurz darauf verschwand es völlig. Gleichzeitig spürte Sun Koh eine feuchte Kälte. Er verlor den Kontakt mit der Wand des Schachts und stürzte frei in schwarze Ungewißheit hinab. Der Sturz dauerte nicht lang. Sun Kohs Füße schlugen auf Widerstand, sein Rücken prallte gegen eine harte Kante, dann hämmerte ein Schlag gegen seinen Kopf. Er verlor das Bewußtsein. Irgendwann kam er wieder zu sich. Sein Körper war durchkühlt und steif. Er mußte seine Muskeln zwingen, sich wieder zu bewegen. Gebrochen war glücklicherweise nichts. Sehen konnte er nichts. Nirgends war eine Spur von einfallendem Licht zu entdecken. Die Dunkel131
heit lag wie ein dicker Mantel über seinen Augen. Die Luft roch nach Wasser. Die eigentümliche Stille und Kälte ließ ihn vermuten, daß er in eine Höhle geraten war. Sun Koh griff in seine Tasche, nachdem er aufgestanden war. Tatsächlich, sie hatten ihm die Taschenlampe gelassen. Und sie funktionierte sogar noch. Der helle Schein stach in die schwarze Finsternis hinein. Das spitze Strahlenbündel tastete wie ein langer Finger über die Umgebung hin. Das Lichtfeld war nicht groß, aber es dauerte nicht lange, bis Sun Koh über seine Umgebung unterrichtet war. Sie bot einige Überraschungen. Er befand sich in einer Höhle. Ihre Decke hing nur zehn Meter über ihm. Nach hinten senkte sie sich tief hinab, nach vorn stieg sie weiter an und erreichte schließlich eine Höhe von ungefähr fünfzig Metern über dem Meeresspiegel. Der Grund der Höhle war mit Wasser ausgefüllt. Wo es herkam, war zunächst unerfindlich, denn nirgends zeigte sich eine Öffnung. Sicher mußte es jedoch auf irgendeine Weise mit dem Meer in Verbindung stehen, denn seine Oberfläche wurde durch eine leichte Wellenbewegung beunruhigt. Außerdem bewiesen dunkle Streifen am anstehenden Felsen, daß das Wasser zeitweilig höher stand als im Augenblick. Die Wände der Höhle stiegen fast senkrecht empor. Im Hintergrund verengten sie sich und bildeten mit der herabkommenden Decke ein stumpfes Drei132
eck. Zwischen den sich annähernden Wänden lag eingeklemmt ein Schiff. Auf dem Verdeck dieses Schiffes stand Sun Koh. Das Schiff bedeutete für ihn die größte Überraschung. War es an sich schon merkwürdig, daß in der verschlossenen Höhle ein Schiff lag, so noch mehr das Aussehen des Schiffes. Es erinnerte Sun Koh an einen Kupferstich, den er einmal gesehen hatte, an eine mittelalterliche Zeichnung, die eine Karavelle darstellte. Er stand auf dem schmalen, hochgebauten Achterdeck des altertümlichen Schiffes und konnte es in seiner ganzen Länge übersehen. Von der schmalen Fläche des Achterdecks führten einige Stufen auf das Hauptdeck hinunter, auf dem die zertrümmerte Poop stand. Dahinter ragte ein gebrochener Mast auf, an dem noch ein gespenstiges Gewirr von Segelresten und Tauen hing. Die Steuerbordreling war ganz verschwunden. Backbords standen noch Reste des hölzernen Geländers. Sie sahen aus, als würden sie im nächsten Augenblick zusammenfallen. Für seine Zeit war das sicher ein stattliches Schiff gewesen. Sun Koh erschien es winzig, da er an die Größen der modernen Dampfer gewöhnt war. Ein Wunder, daß Menschen mit so kleinen Schiffen über den Ozean gekommen waren. Auf dem Deck wimmelte es von Spuren des Ver133
falls. Hier lagen zerbrochene Spieren und allerlei andere Holzteile, dort die Trümmer eines Bootes und verfaultes Tauwerk. In den Bodenplanken klaffte ein gähnendes Loch. Auf den Planken lag eine grauweiße Schicht, die wie Schimmel aussah. Die Bretter bestanden mehr aus modrigem Zunder als aus Holz. Die Zerstörung mußte jahrhundertelang gearbeitet haben. Am wildesten sah es auf dem Achterdeck aus. Sun Koh stand mitten in einem wirren Haufen von allen möglichen Dingen. Es war, als hätte man den Schacht als eine Abfallgrube benutzt und wahllos alles in ihn hineingeworfen, was oben auf der Insel nutzlos geworden war. Dicht vor seinen Füßen befand sich die Kiste, die unter ihm vorausgefallen war und seinen Sturz gebremst hatte. Sie war geplatzt. Aus einem der klaffenden Risse hing ein Stück bunte Seide heraus. Sun Koh verzichtete darauf, sich das Gewirr um ihn herum näher anzusehen. Es bildete ohnehin nur den Bruchteil eines größeren Haufens, der hinter dem Achterdeck auf dem Grund der Höhle lag und an das buntscheckige Lager eines Lumpenhändlers erinnerte. Sun Koh stieg mit aller gebotenen Behutsamkeit die Stufen zum Hauptdeck hinunter. Seine Füße traten wie auf eine weiche Matte, die befürchten ließ, daß sie nicht mehr trug und im nächsten Augenblick 134
nachgab. Doch sie trug noch. Unter der Fäulnis mußte sich ein Rest von gesundem Holz befinden. Damals hatte man für die Schiffsbauten wohl hauptsächlich Eiche verwendet, und Eiche war nicht leicht zu zermürben. Ein anderes Holz hätte die jahrhundertelange Beanspruchung durch diese feuchte Luft wohl kaum so überstanden. Die Tür des Deckhauses hing schräg in den Angeln. Drinnen sah es wüst aus – genau so, als hätte man alles stehen und liegen gelassen, wie es der Sturm durcheinander gebracht hatte. An der Wand hing noch der schwärzliche Rest einer Landkarte. Mit einiger Mühe konnte Sun Koh die Jahreszahl entziffern. Anno Domini 1603. Mehr als dreieinhalb Jahrhunderte waren seitdem verflossen. Was mochte mit den verwegenen Seefahrern geschehen sein, die an diese Küste – verschlagen worden waren? Wieder kam Sun Koh eine erstaunliche Tatsache zum Bewußtsein. Das Schiff lag in einer Höhle, die ringsum verschlossen war. Wie hatte es in die Höhle hineingelangen können? Nun, es gab eigentlich nur eine Antwort. Die Höhle mußte früher offen gewesen sein. Das Schiff war in sie hineingetrieben worden, und später hatte ein Felssturz die Höhlung verschlossen. Sun Koh ahnte, daß die Frage nach einem Aus135
gang aus dieser Höhle für ihn zur Lebensfrage werden sollte. Er versuchte deshalb vor allem, eine Antwort auf sie zu finden. Der steile Schacht kam für eine Rückkehr zum Tageslicht nicht in Frage. Wo aber befand sich eine andere Öffnung? Er sprang vom Schiff herunter. Unterhalb der Steuerbordreling zog sich ein schmales, unregelmäßiges Felsband hin, dem er bis in den Hintergrund der Höhle folgen konnte. Er stieß auf undurchdringlich gewachsene Felswände. So kehrte er bald um und folgte dem Band nach der anderen Seite hin. Der Felsstreifen verengte sich mehr und mehr. Schließlich tauchte er unter den Wasserspiegel. Sun Koh mußte wohl oder übel schwimmend weitersuchen. Das Wasser war von durchdringender Kälte. Es bekam dem Körper sicher nicht gut, sich lange in ihm aufzuhalten. Sun Koh tastete schwimmend die Wand ab. Felsen, Felsen, Felsen! Erst am breiten Ende der Höhle machte er eine Entdeckung, die ihn hoffen ließ. Die steinerne Wand vor ihm war nicht gewachsen, sondern bestand aus rohen Felsblöcken verschiedener Größe, die wild und ungeordnet aufeinanderlagen. Hier bot sich für seinen Fuß auch wieder genügend Halt, so daß er aus dem Wasser heraussteigen konnte. Die Situation ließ sich leicht erfassen. An dieser Stelle hatte irgendwann nach der Einfahrt des Schif136
fes ein Bergrutsch stattgefunden. Das vordere Stück der Höhle war zusammengebrochen und hatte den Eingang versperrt. Es kam nun darauf an, in welcher Mächtigkeit der Bruch erfolgt war und wie sich die Felsmassen gestaut hatten. Wahrscheinlich befanden sich weiter oben Lücken, die einen Weg in die Freiheit wiesen. Sun Koh kletterte nach oben. Fünfzig Meter waren keine beeindruckende Höhe, aber es war auch alles andere als ein angenehmer Aufstieg. Die Blöcke standen immerhin stellenweise recht steil aufeinander und zwangen Sun Koh, sich auf die Kraft seiner Finger und Zehen zu verlassen. Finger und Zehen waren jedoch in der Kälte der Höhle und des Wassers schon reichlich steif geworden. Sun Koh wußte, daß diese Höhle sein Grab werden würde, wenn es ihm nicht gelang, einen Ausgang zu finden. Und er mußte ihn in absehbarer Zeit finden, bevor er Kraft und Körperwärme verlor. Deshalb setzte er sich nicht erst hin, um zu brüten, sondern er ging unverzüglich gegen die Lebensbedrohungen an, die in dieser finsteren Höhle lag. Und hier an dieser zusammengebrochenen Wand mußte er eigentlich einen Ausgang finden. So regelmäßig erfolgte wohl kaum ein Felssturz, daß nicht irgendwo eine Lücke blieb. Unten war nichts zu erhoffen, da dort die Felsmassen im breiten Sockel lagen, aber nach oben zu mußte die Wand dünner wer137
den. Er erreichte die Höhe und stieß mit dem Kopf gegen die lastende Decke, aber in seine Augen drang keine Spur von Licht. Er tastete sich zur Seite, kam zurück, glitt etwas tiefer und suchte wieder seitlich. Da – zehn Meter unter der Decke stach eine feine Lichtnadel in seine Augen. Das bestätigte seine Hoffnungen. Das Licht kam von draußen, wo die Sonne schien und das Meer rauschte. Aber die Strecke, die es in diesem fast punktförmigen Spalt zurücklegen mußte, schien reichlich lang zu sein. Einige Meter vielleicht. Das war nicht gut. Es sah nicht so aus, als könnte er hier durchkommen. Er mußte es weiter oben versuchen. Er kletterte wieder höher und begann, die Wand noch einmal genauer abzusuchen. Endlich entdeckte er eine neue Spalte, durch die etwas Licht hindurchdrang. Aber die Wand war auch hier oben noch zu dick. Die Steine lagen fest aufeinander und waren so schwer, daß es ihm nicht gelang, einen von ihnen herauszubrechen. Nach langen, nutzlosen Bemühungen zwangen ihn Erschöpfung und Erstarrung zur Rückkehr in die Tiefe. Sein Körper war schon so steif, daß ihm der Abstieg endlos lang und mühevoll erschien. 138
Endlich konnte er sich in das Wasser fallen lassen, das ihm jetzt geradezu lau vorkam. Er schwamm zum Felsband zurück, zog seine Kleidung über, machte Freiübungen, um wieder auf Temperatur zu kommen. Der erste Versuch war mißglückt. Er wagte bald den zweiten. Wenn die abschließende Wand keine brauchbare Lücke bot, dann vielleicht der Grund, auf dem sie stand. Das Meer hatte von der anderen Seite aus jahrhundertelang dagegen gearbeitet. Vielleicht hatte es eine Öffnung geschaffen, durch die man hindurchschwimmen konnte? Sie mußte sich durch eine Strömung verraten. Er warf sich wieder ins Wasser und schwamm zum breiten Ende der Höhle zurück. Nun begann er planmäßig zu tauchen. Er fing in der Mitte an und rückte langsam zur Seite. Von Zeit zu Zeit stieß er nach oben und schöpfte wieder Luft. Die durchschnittliche Tiefe des Wassers betrug ungefähr zwanzig Meter. Die Suche erforderte deshalb viel Zeit. Er konnte sich jetzt nicht mehr darauf verlassen, daß ihn ein Lichtschimmer aufmerksam machte, sondern mußte Meter für Meter abstreifen, um eine etwaige Strömung zu spüren. Zunächst sah es recht vielversprechend dort unten aus. Die Wand ging ungleichmäßig in die Tiefe. Die Felsblöcke setzten bald höher, bald tiefer auf dem klippigen Boden auf. Das ganze Fundament war sehr 139
unregelmäßig und bot immer neue Möglichkeiten. Sun Koh ließ nichts außer acht. Er suchte äußerst sorgfältig. Und er fand tatsächlich eine Einbuchtung, die seine Hoffnungen hochschnellen ließ. Die Bewegung des strömenden Wassers war ganz deutlich zu spüren. Er stieß vorwärts. Schon nach wenigen Metern schloß sich der Spalt zu einer engen Klemme, durch die sich wohl das Wasser hindurchdrücken konnte, nicht aber ein menschlicher Körper. Die Enttäuschung beklemmte. Dort lockte die Freiheit, das offene Wasser und das Licht, dessen matter Schein bis in die Verengung hineinreichte. Aber die Felsblöcke rechts und links konnten nicht überwunden werden. Sun Koh gab nicht so schnell auf. Er hockte noch dreimal unten in der Tiefe vor ähnlichen Stellen, aber er mußte immer wieder froh sein, noch rechtzeitig wenden und wieder an die Oberfläche kommen zu können. Darüber hinaus narrte ihn manche andere Einbuchtung. Er hörte nicht auf, bevor er nicht die ganze Wand abgesucht hatte. Dann wußte er, daß es auch unter Wasser keinen Ausweg für ihn gab. Er war in der Höhle gefangen. Hilfe konnte nur von außen kommen. Wer aber sollte Hilfe bringen? Selbst wenn sich seine Leute nicht an ihre Anweisungen hielten und 140
mit der ganzen Mannschaft der »Star of California« die Insel absuchten, hieß das noch lange nicht, daß man ihn finden würde. Er konnte sich ja noch nicht einmal bemerkbar machen. Sun Koh fiel trotz seiner trostlosen Lage und trotz aller Kälte in Schlaf – ein verlorener Mann in der ewigen Nacht eines großen Grabes, das mit stillem Frost die Glieder lähmte. Trotzdem fühlte sich Sun Koh erfrischt und weniger erschöpft, als er wieder erwachte. Nachdem er die Starre aus seinen Gliedern vertrieben hatte, nahm er sich das Schiff zu einer genaueren Untersuchung vor. Wenn er schon zum Abwarten verurteilt war, so wollte er doch wenigstens nicht untätig sein. Nachdem er eine Weile herumgestöbert hatte, entdeckte er im Vorschiff eine verriegelte, niedrige Tür, deren Bohlen noch fest waren. In dem kleinen Raum hinter ihr befand sich ein Dutzend kleiner, eisenbeschlagener Holzfässer. Die durchgerosteten Eisenbänder gaben leicht nach, aber die Hölzer mußten mit Kraft auseinandergerissen werden. Sun Koh fand seine Vermutung bestätigt. Als die Dauben nachgaben, lief ein dunkles Pulver heraus. Schießpulver. Offensichtlich hatten ihm weder die Jahrhunderte noch die Nässe etwas anhaben können. Das Eichenholz hatte es geschützt. Das Pulver war verhältnis141
mäßig trocken. Sun Koh sah flüchtig eine Vision. Er sah die sperrende Felswand in einer riesigen Fontäne von Trümmern zerreißen. Er sah das Licht hereinschießen und dahinter sah er das Meer und die Freiheit. Er ging an die Arbeit. Er wußte nicht, ob das Pulver seine Sprengkraft behalten und wieviel es überhaupt jemals besessen hatte. Es war ihm jedoch klar, daß er nicht einfach eine Pulverladung in einen Spalt legen und zünden konnte. Das Pulver wäre verpufft, ohne zu zerstören. Es war nötig, die Ladung so einzuschließen, daß sich die Sprengkraft auf die Felsblöcke auswirkte. Er wählte einen Spalt unterhalb der Decke, der ihm am geeignetsten zu sein schien. Er war jedoch nicht groß genug, um eine ausreichende Pulverladung aufzunehmen. Er mußte erst noch weiter aufgesprengt werden. Sun Koh suchte sich auf dem Schiff geeignetes Dichtungsmaterial zusammen, holte sich so etwas wie eine Zündschnur und schaffte alles mit dem Pulverfäßchen zur Wand hinüber. Dann präparierte er den Spalt. Es dauerte lange, bis er damit fertig war. Er mußte oft an der Wand auf und nieder steigen, an der es nicht so einfach war, sich festzuklammern und im Dunkeln zu arbeiten. Endlich war es soweit. Er glitt ein Stück tiefer und hielt die Flamme des Feuerzeugs an die kümmerliche 142
Zündschnur. Die Glut fraß sich langsam und widerwillig nach oben. Die Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen. Der Funke glitt in die Lücke zwischen den Stein hinein. Würde es durchhalten oder vorher ersticken? Ein matter, dumpfer Knall beantwortete die Frage. Mehr nicht! Er zog sich nach oben und atmete gleich darauf auf. Nein, die Mühe war doch nicht vergebens gewesen. Die kleine Sprengladung hatte vom oberen Block eine Platte abgelöst, die sich mit einiger Mühe entfernen ließ. Die Öffnung war dadurch nicht größer geworden, doch er konnte jetzt eine größere Ladung unterbringen. Die Arbeit begann damit von neuem. Wieder ging es die Felswand herauf und herunter, wieder mußte er einige Male zum Schiff schwimmen, wieder hing er in der nachtschwarzen Wand und baute seine Sprengladung ein. Die zweite Sprengung zermürbte die umgebenden Blöcke. Als Sun Koh ausgeräumt hatte, sah er eine kleine Höhlung vor sich, in der mehrere Fässer Pulver Platz hatten. Er brachte sie unter. Endlich konnte er die Flamme wieder an die Zündschnur halten. Seine Hand zitterte vor Erschöpfung. Es dauerte lange, bevor die Schnur Feuer faßte 143
und sich der schwelende Brand nach oben fraß. Sun Koh glitt so schnell wie möglich an der Felswand herunter, warf sich ins Wasser und schwamm weg. Diesmal konnte es gefährlich werden. Sun Koh tauchte auf und wartete. Er wartete vergebens. Der ersehnte Knall blieb aus. Die Explosion erfolgte nicht. Erschöpft kletterte er wieder nach oben. Es war nicht einfach, eine neue Zündschnur zu legen. Er mußte die Verkeilung beseitigen und die Ladung freilegen, um dann wieder zu dichten. Endlich war es soweit. Der Funke fraß sich nach oben. Sun Koh ließ sich an der Wand abgleiten, fiel ins Wasser und schwamm zum Ansatz des Felsbandes hinüber. Seine Füße faßten eben Grund, als es in der Höhe schütternd grollte und dann zu einem dumpfen Krach hochdonnerte. Steine schmetterten gegen Steine, Steine klatschten schwer ins Wasser, und dann… Licht! Ein breiter Strahl hellen Sonnenlichts schoß in die schwarze Höhle hinein, stieß durch eine Wolke von Staub und schlug gegen die Augen, die kein Licht mehr gewöhnt waren. Sun Koh warf sich wieder ins Wasser, schwamm und zog sich von Fels zu Fels nach oben. Und als er vorwärts kroch, sah er vor sich das 144
Meer groß, herrlich und gewaltig unter der Sonne liegen. Sun Koh war durch die Überanstrengung erschöpft. Er spürte erst jetzt richtig, wie ausgepumpt er war. Er kletterte nicht mehr, sondern taumelte Meter um Meter hinunter, ohne zu wissen, wie er immer wieder Halt bekam. Das letzte Stück ließ er sich einfach in das tiefe Wasser fallen, das er unter sich sah. In halber Bewußtlosigkeit schwamm er dem Ufer zu. Er erreichte es, zog sich hinauf und warf sich erschöpft nieder. Sekunden später hätte er wohl bereits geschlafen. Doch in diesem Augenblick, als sein Körper ausgepumpt war, als sein Gehirn wie ein Bleiklumpen im Kopf lag, als sein bisher herrschender Wille in die Tiefe der Bewußtlosigkeit untertauchen wollte, geschah das Schrecklichste. Der Feind tauchte auf. Um die Felsen herum kam ein Mensch gerannt, dessen helles Haar im Wind flatterte. Er stieß einen Ruf aus und schwang den Arm, der ein klobiges Beil hielt. Zum letztenmal bäumte sich der Trieb zur Selbsterhaltung in ihm auf. Stöhnend, mit zusammengebissenen Zähnen richtete er sich hoch. Seine Knie wollten versagen, aber dann strafften sie sich und schnellten ihn vor, dem Gegner entgegen. Die beiden Körper prallten zusammen, das Beil 145
fiel unter einem Schlag zur Erde. Sun Koh packte zu. Er konnte den anderen mit einem Ruck ausheben und auf den Boden niederwerfen. Doch der Triumph war kurz. Rob ließ es in der ersten Verblüffung mit sich geschehen. Er rief dem Fremden zu, daß er als Freund gekommen sei, aber dieser wollte anscheinend nicht hören. Da blieb Rob nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen. Er schleuderte Sun Koh von sich und sprang auf. Aber Sun Koh gab nicht auf. Sie zerrten sich sekundenlang hin und her, dann löste sich Rob mit einem scharfen Schrei von ihm. Sun Koh spürte Gefahr, wandte sich ab und bemerkte hinter sich den grauen Riesen, den er schon oben beim Turm kennengelernt hatte, den gleichen Mann, dem er den Aufenthalt in jener Höhle verdankte. Er zuckte zurück, aber er konnte weder dem Schlag ausweichen noch ihn aufhalten. Hämmernd traf die harte Faust gegen seine Schläfe. Da stürzte er mit einem letzten Aufschrei zusammen und sank in die Nacht der Bewußtlosigkeit hinein. 5. Der grauhaarige Mac stand mit vorgeneigtem Oberkörper über dem Mann, den er niedergeschlagen hatte, und blickte finster auf ihn herab. Dann richtete er 146
sich auf. Sein Blick fiel auf Robs Beil, das ein Stück seitwärts auf der Erde lag. Er hob es rasch auf, schwang es hoch und kehrte zu Sun Koh zurück. Rob trat dicht an den Betäubten heran. »Was soll das?« schrie er den Grauhaarigen an. »Der Mann ist noch nicht tot«, knurrte der Hüne. »Geh zur Seite.« Rob ballte die Hände zu Fäusten. »Nein, du wirst ihn nicht töten. Er steht unter meinem Schutz.« »Was redest du? Auf dieser Insel bestimme ich. Der Fremde wird sterben. Geh weg!« Er holte mit dem Beil aus, um es auf den Bewußtlosen niedersausen zu lassen. Aber sein Arm kam nicht herunter, da sich Rob mit kraftvoller Wucht dazwischen warf und ihn auffing. »Du wirst ihn nicht töten!« schrie er abermals. In Macs Gesicht stand der kalte Zorn. »Du stellst dich gegen mich?« grollte er. »Noch nie hast du es gewagt, die Hand gegen mich zu erheben.« »Dann wird es jetzt das erstemal sein«, rief Rob. Mac nickte. »So mußte es kommen. Die Gedanken der Fremden, die auf Rona wohnen, sitzen bereits in dir. Zwanzig Jahre lang haben wir friedlich zusammengelebt, und du hast in mir deinen Vater gesehen. Jetzt 147
hat man dich vergiftet. Zwanzig Jahre lang habe ich die Insel frei gehalten. Du wirst mich nicht hindern, es auch weiter zu tun.« »Ich werde dich hindern«, erwiderte Rob nachdrücklich. Mac schüttelte wie in Verwunderung den Kopf. »Was war ich für ein Narr? Ich habe dich gerettet, als du ein Kind warst, ich habe dich aufgezogen und dich großgefüttert. Mit Dankbarkeit rechnete ich nicht, wohl aber damit, daß du meine Anschauungen in dich aufnehmen würdest. Und nun sprichst du so? Du bist die letzte Enttäuschung meines Lebens.« Rob wurde nun auch ruhiger. »Ich kann nicht anders handeln«, sagte er leise. »Begreife es doch. Das Schicksal will es nicht, daß der Fremde stirbt. Jetzt steht er unter meinem Schutz.« »Du rettest sein Leben auf Kosten des meinen.« »Nein.« »Doch«, beharrte Mac düster. »Ich werde es nicht mehr ertragen, wenn es von Fremden auf dieser Insel wimmelt.« Rob schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Kennan hat recht, wenn er sagt, daß du in Wirklichkeit krank bist. Deine Menschenscheu ist krankhaft.« »Schweig!« fuhr Mac auf. »Ich will nicht das Gewäsch hören, das dir ins Ohr geflüstert wird. Ich will 148
nur den Frieden hier auf dieser Insel.« Rob wies auf Sun Koh. »Fürchtest du, daß dieser ihn stören wird? Ich verspreche dir, er wird so schnell wie möglich die Insel verlassen und nicht wieder zurückkehren.« Mac lachte kurz auf. »Pah, meinst du, daß er sich um deine Wünsche kümmern wird, wenn ihn die Neugier treibt? Willst du ihn nach Rona schaffen?« »Vielleicht? Kennan sagte, der Fremde sei mit einem Flugzeug gekommen. Vielleicht kann er damit die Insel verlassen.« Mac runzelte die Brauen. »Du bist ein Narr.« Nach langen Sekunden murmelte er. »Nun gut, ich will mich an dir nicht vergreifen. Bleib ein Narr. Ich werde dem Fremden nichts tun, wenn du ihn so schnell wie möglich von der Insel herunterbringst.« Rob atmete erleichtert auf. »Das will ich gern versprechen.« Mac wandte sich ab und ging davon. Rob legte Sun Koh über seine Schulter und ging ebenfalls davon. Eine Stunde lang wanderte er am Strand entlang, dann sank die Sonne. Rob legte seine Last ab. Der Fremde war noch immer nicht bei Bewußtsein. Das bereitete ihm Sorge.
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Schließlich kam er zu einem Entschluß, trug Sun Koh weg und bettete ihn behutsam zwischen zwei Bäumen. Dann lief er zum Wasser und warf sich hinein. Er wollte sich Rat von Rona holen. Kennan würde ihm sagen können, was zu geschehen hatte. Mit langen Stößen schwamm er durch das Wasser, das ihm mit kleinen silbrigen Wellenköpfen entgegenrollte. Fast eine Stunde lang schwamm er, dann faßten seine Füße Grund. Er watete an Land, wie er es so oft während der letzten Jahre getan hatte. Rob schritt auf den Feuerschein zu, der auf der offenen Tür einer einfachen Hütte lag. Aus ihr trat ein Mann, der durch das knirschende Geräusch der herannahenden Schritte aufmerksam gemacht worden war. Seine Kleidung war dürftig und vielfach grob geflickt, Haare und Bart zeigten den Mangel an Pflege, aber seine Haltung war stolz und frei. »Du bist es, Rob?« fragte er in überraschtem Ton leise, als er einige Meter vor der Hütte auf den Ankömmling traf. »Ja, ich bin’s«, erwiderte Rob. »Du kamst noch nie zu so später Stunde. Ist etwas geschehen?« Rob zögerte. »Ich erzählte dir doch von dem Fremden, dessen Messer ich fand?« »Den Mac erschlug und in die Höhle warf?« 150
»Ja.« »Na und, was ist mit ihm?« »Er ist nicht tot. Er hat sich aus der Höhle befreien können.« In Kennan schoß die Erregung hoch. »Der Fremde lebt?« Rob nickte. »Er lebt. Ich traf am Strand auf ihn. Er griff mich an, weil er wohl glaubte, ich sei sein Feind. Ich hielt ihn von mir ab und wollte ihn beruhigen, aber Mac kam dazu und schlug ihn nieder. Er wollte ihn töten, aber ich ließ es nicht zu.« »Gott sei Dank!« Kennan atmete auf. »Das Leben dieses Mannes ist so unendlich kostbar für uns, wenn es richtig ist, daß er irgendwo auf der Insel ein Flugzeug verborgen hält. Hast du mit dem Fremden schon gesprochen? Was sagt er?« »Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Er ist nicht bei Bewußtsein. Ich kam zu dir, weil ich mir Sorgen darüber machte. Ich weiß nicht, wie ich ihn behandeln soll. Tot ist er nicht, denn sein Herz schlägt. Was soll ich tun, damit er zu sich kommt?« Kennan hob die Schultern. »Tja, ich bin kein Arzt. Und wenn ich es wäre, könnte ich es aus der Ferne auch nicht gut beurteilen. Ich müßte hinüber und ihn mir ansehen, oder du müßtest ihn herbringen.« »Ihr dürft nicht auf die Insel, und ich will ihn nicht 151
herübertragen, weil er so schwach aussieht. Ich fürchte, er könnte sterben.« Der Amerikaner dachte nach. »Dann will ich abwarten, bis er von allein erwacht«, entschloß sich Rob. »Wird Mac ihn nicht inzwischen töten?« fragte Kennan besorgt. »Nein, ich habe ihn versteckt, außerdem hat Mac gesagt, daß er ihn nicht töten will.« »Er hat sich also damit abgefunden, daß sich noch ein Fremder auf der Insel aufhält?« Rob schüttelte den Kopf. »Er war einverstanden, daß ich den Fremden unter meinen Schutz nahm. Ich versprach ihm jedoch, ihn sobald wie möglich von der Insel zu bringen.« »Hast du das Flugzeug noch nicht entdeckt?« »Ich hatte zu wenig Zeit, danach zu suchen«, gab Rob zu. »Du freust dich.« »Ist das eine Frage?« »Du freust dich, weil du Hoffnung hast, hier fortzukommen?« »Natürlich.« »Sybill wird sich auch freuen.« »Aber selbstverständlich. Du würdest natürlich mit uns kommen.« Die hastig angefügte Bemerkung machte Robs Gesicht nicht wieder froh. 152
»Vielleicht freust du dich zu früh«, sagte er schwer. »Es ist besser, wenn du Sybill und den anderen nichts sagst.« »Das hatte ich mir schon vorgenommen. Wenn es eine Enttäuschung wird, will ich sie schon lieber allein tragen.« »Ich werde am Tag wiederkommen«, versprach Rob. »Doch nun muß ich fort und nach dem Fremden sehen.« Kennan hielt ihn nicht. * Sun Koh erwachte, während sich die beiden Männer auf der kleinen Insel Rona unterhielten. Irgendeine Kleinigkeit vertrieb die Betäubung, die über ihm lag, dann riß der Durst ihn hoch. Er stellte fest, daß er noch lebte, erhob sich und ging auf den kleinen Wasserlauf zu, der in geringer Entfernung an ihm vorbei dem Meer zuströmte. Nachdem er getrunken hatte, überlegte er. Es schien ihm am besten, zuerst nach dem Flugzeug zu sehen, um sich mit dem Schiff in Verbindung zu setzen. Dann konnte er immer noch die Insel weiter durchforschen. Er wanderte am Strand entlang, bis er die Turmspitze über den Bäumen entdeckte. Plötzlich stand er inmitten mächtiger Steinbauten, 153
die riesig und grau seitlich des Weges standen. Sie schienen vor Jahrtausenden erbaut worden zu sein, aber man konnte weder die mit mächtigen Quadern belegten Straßen noch die würfelförmigen Steinkästen als Ruinen bezeichnen. Der Stein selbst hatte gut gehalten, nur hier und dort liefen breite Sprünge durch das Mauerwerk hin, die auf heftige Erdbewegungen deuteten. Die Stadt wirkte unsagbar leer. Über den grauen Gebäuden, deren Einzelheiten in dem schwachen Licht nicht zu erfassen waren, lag der Hauch des Todes und der Verlassenheit. Die Stille schien hier zu atmen. Nirgends wurde ein Geräusch laut, nur Sun Kohs Schritte hallten dumpf wider. Rechts seitlich türmten sich die Steinmassen zu einem Palast oder Tempel, der von einem ähnlichen Kegeldach überragt war, wie es oben auf der Höhe den Turm bedeckte. Sun Koh drückte sich vorsichtig an den Wänden entlang. Die Stadt schien keine Menschen zu beherbergen, aber er wußte, daß es auf der Insel Menschen gab. Wo sollten sie wohnen, wenn nicht hier? Endlich nahm ihn der Wald wieder auf. Diesmal brauchte er sich nicht hindurchzuschlängeln, sondern konnte einem Pfad folgen, der aufwärts führte. Das erleichterte ungemein und ermöglichte ihm, in schnellem Tempo voranzukommen. Es dauerte lang, bevor er den Turm vor sich sah. 154
Er stand mondbeschienen auf der Höhe. Nichts in seiner Nähe deutete auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Er wollte gerade am Turm vorbei, als er Geräusche aus der Tiefe vernahm. Schritte näherten sich, ein Mensch kam herauf. Sun Koh zog sich hastig ein Stück zurück und warf sich hinter den ersten Felsblock. Es war Rob, der zum Turm kam. Er hatte mit Bestürzung festgestellt, daß der Fremde verschwunden war. Für ihn gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte sich Mac doch wieder an dem Fremden vergriffen, oder dieser war erwacht und hatte sich fortgeschleppt. Das letztere hielt er für wahrscheinlicher, da er im Sand des Ufers Fußstapfen vorgefunden hatte. Sein nächstes Bestreben war gewesen, Mac zu finden, um festzustellen, was dieser wußte. Mac hatte sich jedoch nicht unten im Steinhaus aufgehalten. Rob vermutete ihn nun am Turm auf seinem Lieblingsplatz. Deshalb war er nach oben geeilt. Sun Koh erkannte trotz des schwachen Lichts den hellhaarigen Jüngling, gegen den er unten am Strand gekämpft hatte. Jetzt wußte er nicht mehr genau, ob jener Freund oder Feind war. Er hätte ihn töten können und es doch nicht getan. Er kam jetzt allein und war unbewaffnet, soviel man sehen konnte. Es lag nicht in Sun Kohs Natur, 155
einen Menschen ungewarnt aus dem Hinterhalt anzugehen. Er sprang vor, als sich Rob auf wenige Meter genähert hatte. Dann blieb er sprungbereit stehen. Sobald Rob zum Angriff überging, wollte er sich auf ihn stürzen und diesmal besser kämpfen als unten am Strand. Rob wich einen Schritt zurück, nahm unwillkürlich eine ähnliche Haltung wie Sun Koh ein, stand aber dann ebenfalls reglos. Sekundenlang begegneten sich ihre Blicke. Einer überwachte die Haltung des andern. Endlich fand Rob die Sprache wieder und sagte überrascht: »Es ist dir also doch nichts geschehen, Fremder? Ich glaubte dich in Gefahr, und vorher hielt ich dich fast für einen Toten.« Auch Sun Koh konnte sich eines Staunens nicht erwehren. »Du sprichst wie ein Amerikaner. Bist du Amerikaner?« »Nein.« Die aufmerksame Spannung der beiden Männer ließ nach. Fast gleichzeitig schritten sie aufeinander zu. Knapp einen Meter voneinander entfernt blieben sie stehen und musterten sich von neuem. Sun Koh knüpfte die Unterhaltung wieder an. »Vor einigen Stunden hast du gegen mich gekämpft, wenn ich mich nicht irre«, stellte er kurz, aber nicht unfreundlich fest. »Sind wir nun Freund 156
oder Feind?« Rob breitete die Arme aus. »Du siehst daß ich keine Waffen bei mir trage. Es ist nicht meine Absicht, gegen dich zu kämpfen. Ich wollte dir helfen, aber du griffst mich an, so daß ich mich verteidigen mußte.« »Ein Mißverständnis also?« meinte Sun Koh zögernd. »Und warum hast du mir nicht gesagt, daß du helfen wolltest? Und warum hast du mich dann niedergeschlagen?« »Ich rief es dir zu, aber du hast nicht darauf geachtet.« »Aber ich wurde niedergeschlagen.« »Das war nicht ich, sondern Mac.« »Ist Mac der grauhaarige, große Mann, der mich schon einmal überfiel und mich in die Höhle warf?« »Ja«, bestätigte Rob. »Er wollte dich töten, aber ich stellte mich dazwischen.« »Wußtest du, daß er mich in jene Höhle geworfen hatte?« »Ja, ich hielt dich aber für tot.« »Hm, und wie kam ich an die Stelle, an der ich erwachte?« »Ich trug dich dorthin. Da du nicht aufgewacht bist, geriet ich in Sorge und wollte mir Rat holen. Als ich zurückkam, fand ich dich nicht mehr vor. Ich fürchtete, daß Mac seine Hand im Spiel haben könnte, aber ich sehe, daß ich mich irrte. Ich freue mich, 157
daß du lebst und gesund bist.« Die Worte kamen so ehrlich heraus, daß Sun Koh an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln konnte. Er streckte deswegen seine Hand aus und erwiderte herzlich: »Ich danke dir. Sun Koh ist mein Name. Ich muß gestehen, daß ich bisher annahm, auf dieser Insel sei man Fremden gegenüber nur feindlich gesinnt.« Rob schüttelte die Hand. »Nenne mich Rob. Du hast recht und doch wieder nicht. Mac will keinen Fremden auf der Insel sehen, aber ich beschütze dich.« »Und die andern?« Auf Robs Gesicht erschien Verwunderung. »Die andern? Es lebt doch sonst niemand auf der Insel.« Sun Koh erschrak. »Was? Du und jener grauhaarige Mann, Mac, ihr seid die einzigen Bewohner der Insel?« »Ja.« »Das weißt du genau?« »Natürlich.« »Auch in den Häusern dort unten hält sich niemand auf?« »Sie stehen leer.« »Es ist ausgeschlossen, daß ihr euch irrt?« »Das ist ausgeschlossen«, betonte Rob. »Ich lebe nun seit zwanzig Jahren auf der Insel und kenne sie 158
genau. Allerdings …« Sun Koh unterbrach. »Was sagtest du eben? Ihr lebt seit zwanzig Jahren hier?« »So ist es.« Sun Kohs Blick wurde mißtrauisch. Er stieß auf neue, unbekannte Dinge und sah die Zusammenhänge noch nicht. »Bist du älter als zwanzig Jahre?« Rob lächelte. »Ich bin mit zwei Jahren auf die Insel gekommen, zusammen mit Mac.« »So also? Schiffbrüchige. Dann wundert es mich eigentlich, daß dieser Mac nicht froh ist, wenn sich ihm nun endlich die Möglichkeit bietet, wieder in die Welt zu kommen.« »Er freut sich deshalb nicht, weil sich bei ihm ein krankhafter Trieb zur Einsamkeit herausgebildet hat.« Sun Koh wunderte sich immer mehr über die kultivierte Sprache dieses jungen Menschen. »Das mag sein«, sagte er. »Er muß sich aber recht oft mit dir unterhalten haben, deine Sprache verrät das.« »Die verdanke ich Kennan.« »Wer ist das?« »Er ist einer von den Amerikanern, die auf Rona wohnen.« »Was ist Rona?« forschte er. 159
Rob wies in die Tiefe. »Die kleine Insel, die du dort siehst.« »Ah, deshalb hatte ich bei meiner Landung den Eindruck, daß sich dort Menschen bewegten. Dort wohnen also die Amerikaner.« »Ja, seit einem Jahr. Ihr Schiff ging unter.« »Etwa die ›Oakland‹?« »So hieß das Schiff.« »Ah, wieviel sind es?« »Vier.« »Wie kommt es, daß sie nicht hier auf der großen Insel wohnen?« »Sie wurden vom Sturm auf Rona geworfen. Mac wollte nicht, daß ich sie herüberholte. Er wollte sie töten.« »Aber du hast dich mit ihnen befreundet?« »Ja, wir verstehen uns gut.« »Dann hättest du sie doch gegen Macs Willen hierher bringen können?« Rob hob die Schultern. »Vielleicht. Es war aber nicht nötig, weil sie auf Rona auch leben können. Sybill wollte ja oft mit herüberschwimmen, aber das wollte ich nicht, um sie nicht in Gefahr zu bringen.« »Sybill? Gehört zu den Schiffbrüchigen auch eine Frau?« Rob neigte den Kopf. »Ja, Sybill lebt auf Rona. Sie ist die Tochter Ken160
nans.« »Eine junge Frau?« »Sie ist jung.« Sun Koh verstand den anderen. »Kennst du das Schiff, das in der Höhle liegt?« Rob war erstaunt. »Ein Schiff in einer Höhle? Nein, davon weiß ich nichts.« Sun Koh nickte. »Das kann ich mir denken. Hast du dir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich auf die Insel gekommen bin?« »Doch. Kennan meint, du müßtest mit einem Flugzeug gekommen sein. Carpool behauptet, eins gesehen zu haben.« »Wer ist Carpool?« »Der Ingenieur des untergegangenen Schiffs.« »Er hat richtig gesehen. Ich bin mit einem Flugzeug gekommen.« »Kennan wird sich sehr darüber freuen. Er hofft, daß du ihn von hier wegbringen kannst.« »Sicher. Ich werde die Amerikaner von hier wegholen und nehme an, daß du dich anschließen wirst?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Rob zögernd. »Ich möchte schon, aber Mac warnt mich. Er sagt, die Menschen wären schlecht, und ich würde es bereuen, wenn ich die Insel verließe.« »Er sieht die Menschen wohl zu einseitig«, beruhigte Sun Koh. »Hältst du diese Amerikaner für schlecht?« 161
»Nein.« »Dann halte ich es für selbstverständlich, daß du nicht auf der Insel bleibst, aber es eilt ja nicht mit deinem Entschluß. Bevor du dich endgültig entscheiden mußt, können noch Tage vergehen. Jetzt möchte ich vor allem zu meinem Flugzeug.« Rob kehrte sofort in die Gegenwart zurück. »Ja. Wo liegt es?« »Dort, wo der nackte Felsen wie eine Nase aus dem Wald herausstößt.« »Ich kenne die Stelle. Aber wollen wir nicht erst nach Rona hinüber?« »Nein«, sagte Sun Koh. »Draußen auf dem Meer liegt ein Schiff, das auf meine Rückkehr wartet. Ich muß mich mit ihm in Verbindung setzen. Das Schiff soll die Amerikaner in ihre Heimat zurückbringen. Vom Flugzeug aus kann ich mit dem Schiff sprechen.« »Ich werde dich führen«, murmelte Rob und ging voran. »Danke«, sagte Sun Koh, während er sich anschloß. »Übrigens – etwas zu essen hast du wohl nicht bei dir? Ich bin ziemlich hungrig.« Rob drehte sich bestürzt zu ihm um. »Oh, warum hast du das nicht schon eher gesagt?« Er zog eine Art Brotfladen aus dem Beutel an seinem Gürtel und reichte ihn Sun Koh. Es war eine bescheidene und zähe Nahrung, aber Sun Koh 162
schmeckte sie wie Manna. Er war ausgehungert. Sein erschöpfter Körper verlangte gierig nach Nahrung. Der Weg durch den schwarzen Riesenwald war trotz der Dunkelheit leichter, als Sun Koh befürchtet hatte. Rob kannte sich aus und vermied alle Hindernisse. Endlich erreichten sie die Lichtung. Dann traf sie der Schock. Das Flugzeug war vorhanden, aber auf seinem Rumpf lagen mächtige Steinblöcke, die Dach und Glas durchschlagen hatten und den Pilotenraum ausfüllten. Der Rest war ein wildes Durcheinander von Steinblöcken, zerknickten Streben und verbogenen Blechen. Damit konnte niemand mehr fliegen. Das war das Ende. Zweifellos war dieser Mac hier gewesen. Er hatte die Maschine zum Wrack gemacht. Eine Reparatur war ausgeschlossen. Er konnte die Insel nicht mehr verlassen. Die einzige Hoffnung lag darin, daß sich die »Star of California« in der Nähe befand und daß ihre Besatzung wußte, daß er sich auf der Insel aufhielt. Hal und Nimba würden sich früher oder später nach ihm umsehen. »Das war Mac!« stöhnte Rob an seiner Seite. Sun Koh hatte sich inzwischen gefaßt. »Nun, er hat sein Werk wirklich gründlich verrichtet. Mit dieser Maschine kann niemand mehr fliegen. Wir sind aber noch nicht verloren. Früher oder später 163
wird Hilfe herankommen.« »Wer soll Hilfe bringen?« »Das Schiff befindet sich in der Nähe.« »Und wenn es auf die Klippen gerät?« Sun Koh antwortete nicht, aber ein Schatten ging über sein Gesicht. Sie blickten stumm auf die Trümmer. Rob straffte sich schließlich. »Komm, ich bringe dich zu meinen Freunden.« Sun Koh nickte und wandte sich ab. Der Wald nahm sie wieder auf. 6. George Kennan war voll innerer Unruhe zum Feuer und zur Hütte zurückgekehrt, nachdem Rob ihn verlassen hatte. Er schwankte zwischen Zweifel und Hoffnung. Die anderen schliefen, so daß er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Der Fremde lebte. Würden sie mit seiner Hilfe die Insel verlassen können? Über eins empfand Kennan eine tiefe und starke Freude. Rob hatte in dieser Nacht eine Art Feuerprobe bestanden. Ein Fremder befand sich auf der Insel und lebte, obgleich Mac keinen Fremden dulden wollte. Kennan unterbrach plötzlich sein Nachdenken, straffte sich und reckte den Kopf vor. Ein leichtes 164
Geräusch ließ ihn stutzen. Seine Sinne waren im Laufe dieses Jahres geschärft worden, außerdem hatte ihn die Erfahrung gelehrt, welche Geräusche zu dem nächtlichen Palmenhain gehörten und welche fremd waren. Seine Augen faßten die Andeutung eines Schattens an einem der Stämme und dann zwei mattschimmernde Punkte in Kopfhöhe. Er zwinkerte. Was war das? Schon kam eine tiefe, dunkle Stimme von der anderen Seite des Feuers zu ihm herüber, leise und doch eindringlich genug, so daß sie nicht überhört werden konnte: »Schreien Sie nicht und vermeiden Sie jede Bewegung, wenn Ihnen das Leben lieb ist, Fremder. Und dann sagen Sie mir schnell, welche Rolle Sie hier spielen, damit ich weiß, ob ich Freund oder Feind vor mir habe.« In Kennan wollten die Nebel einer plötzlichen Ohnmacht aufsteigen, als er die englischen Worte aus fremdem Mund hörte. Er riß sich jedoch zusammen und rief heiser: »Freund. Ich bin George Kennan, mit meiner Tochter und zwei andern hier schiffbrüchig seit einem Jahr.« »Welches Schiff?« »Oakland.« »Gut«, kam es befriedigt zurück. »Sie dürfen sich bewegen.« Gleichzeitig löste sich der dunkle Schatten ab und 165
kam heran. Er entwickelte sich zu einem hünenhaften Neger, der freundlich lachend seine weißen Zähne zeigte und seine beängstigend große Hand hinstreckte. Dicht hinter ihm folgte, schmächtig, zierlich, ein bedeutend jüngerer Mann mit einem durchtriebenen, aber sympathischen Jungengesicht. »Ich bin Nimba«, stellte sich der schwarze Riese vor, während er behutsam die schmale Hand des Gelehrten drückte. »Das hier ist Hal Mervin. Wir kommen augenblicklich vom ›Star of California‹, der unter dem Horizont liegt. Haben Sie Sun Koh gesehen?« Kennan schaffte es nicht zu antworten. Er stützte sich gegen den Baum, um nicht umzusinken. Die Überraschung, die jähe Freude und der völlige Umschwung der Lage, den das Erscheinen der beiden andeutete, überwältigte ihn. Nimba faßte ihn vorsorglich unter. »Hoppla, Mann«, sagte er halb verdutzt und halb mitleidig. »Das ist Ihnen wohl etwas plötzlich gekommen? Nehmen Sie sich Zeit, wir können das schon verstehen. Ein Jahr ist eine lange Zeit.« Der Amerikaner richtete sich auf. »Entschuldigen Sie«, sagte er mühsam, »es kam tatsächlich etwas plötzlich. Aber es geht mir schon besser, ich bin gleich beisammen.« Nachdem Sun Koh das Schiff im Flugzeug verlassen 166
hatte, waren drei schreckliche Tage vergangen, von denen jede Stunde zehnfach gezählt hatte. Die beiden Begleiter waren von der Reling überhaupt nicht mehr wegzubringen gewesen und hatten ununterbrochen nach Osten gestarrt in der Hoffnung, Sun Koh zurückkehren zu sehen. Von Stunde zu Stunde waren sie ungenießbarer geworden. und nach drei Tagen hatte selbst der Kapitän einen großen Bogen um sie geschlagen. Als er dann darauf hingewiesen hatte, daß er nun pflichtgemäß zur Oster-Insel fahren müsse, hatten sie sich nicht mehr zurückhalten können. Sie hatten geschworen, daß sie nie und nimmer Sun Koh im Stich lassen und eher den ganzen Kasten in die Luft sprengen und sonst noch was tun würden, bevor sie Sun Koh aufgeben würden. Daraufhin war Hanns Krotthoff aber noch länger liegen geblieben, als vorgesehen war. Rein äußerlich hatte sich auf der Fahrt auch wenig ereignet. Es stimmte bis zu einem gewissen Grad, wenn Hal sagte, daß sie einfach drauflos gefahren seien. Er zählte dabei allerdings nicht die Sekunden und Minuten andauernder Spannung, in denen sie nicht wußten, ob sie ihr Ziel auch erreichen würden. Einige Male war das Boot bedenklich über Klippen hinweggeschrammt, aber es war nicht gekentert und nicht aufgeschlitzt worden. Und von einem Seebeben hatten sie nichts bemerkt. Das Feuer auf der kleinen Insel hatte sie angezo167
gen. Bevor sie die dunkel aufragende, große Insel besuchten, wollten sie erkunden, wer sich hier aufhielt. Deshalb waren sie hier gelandet. Kennan überwand allmählich seinen Schock. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben«, sagte er leise, »deshalb traf es mich, und wenn Sie nichts dagegen haben, will ich die andern verständigen.« Hal Mervin winkte ab. »Nehmen Sie sich Zeit, die schlafen gerade. Man hört sie bis hierher schnarchen.« Das stimmte und stimmte auch nicht, denn eben trat Sybill Kennan aus der Tür der zweiten Hütte. Sie war durch die gewechselten Worte geweckt worden und starrte nun in begreiflicher Erregung auf die Fremden. »Paps?« rief sie, während sie heraneilte. »Was bedeutet das?« Kennan umschlang sie liebevoll. »Das bedeutet die Freiheit, mein Kind. Draußen auf dem Meer liegt ein Schiff, und diese beiden Herren sind gekommen, um uns zu holen.« Sie fiel nicht um und weinte nicht, sondern sprach impulsiv den Gedanken aus, der in ihr hochschoß: »Herrlich, aber – was wird Rob dazu sagen?« Kennan zog es vor, keine Antwort darauf zu suchen. Er wandte sich an die beiden. »Das ist meine Tochter Sybill, meine Herren. Um ihretwillen ist es mir eine besondere Freude, daß wir 168
gerettet werden.« Nimba und Hal verbeugten sich und schüttelten dann die Hand, die ihnen das Mädchen entgegenstreckte. »Die Freude ist auf unserer Seite«, sagte Hal formvollendet. »Wir werden Sie sobald wie möglich zum Schiff bringen. Zunächst müssen wir uns freilich darum kümmern, was aus Sun Koh geworden ist. Er landete vor einigen Tagen drüben auf der großen Insel und ließ seitdem nicht wieder von sich hören. Wir sind in Sorge um ihn. Haben Sie nichts von ihm bemerkt?« »Nein«, erwiderte Sybill sofort. Ihr Vater nickte eifrig und meinte aufgeregt: »Doch, doch. Drüben auf der Insel befindet sich ein Fremder, der vor einigen Tagen mit einem Flugzeug ankam. Er ist jetzt betäubt oder stark erschöpft, aber er lebt.« »Aber Vater?« Sybill wandte sich vorwurfsvoll ihm zu. »Es ist so«, beharrte Kennan. »Ich habe es euch nur verschwiegen, weil ich nicht vorzeitig Hoffnungen erwecken wollte. Rob war vorhin hier, als du schliefst. Er sagte mir, daß er einen bewußtlosen Fremden am Strand liegen habe.« Sie wurde blaß. »O Gott, er wird ihn doch nicht töten?« Bevor ihr Vater sie beruhigen konnte, kam aus 169
dem Mund des Negers ein vielsagendes Knurren und die drohende Bemerkung von Hal: »Das würde ihm aber schlecht bekommen, wenn er sich an Sun Koh vergreifen wollte. Wer ist denn dieser Rob?« »Einer der Inselbewohner«, antwortete Kennan. »Ha«, fuhr Hal auf, »einer von da drüben? Nun, den Kerl stellen wir an die Wand, wenn er sich mausig macht, nicht wahr, Nimba?« Der Neger nickte düster und entschlossen. Er sah in diesem Augenblick gefährlich aus. Sybill Kennan war erschrocken. Angstvoll und mit blassem Gesicht rief sie: »Sie wollen Rob doch nicht etwa töten?« »Doch.« Hal nickte bekräftigend. »Wir werden einen Kerl, der Sun Koh ermorden will, doch nicht etwa leben lassen?« Die junge Frau trat mit zwei Schritten dicht an ihn heran. Ihre Blässe war verschwunden, ihre Augen funkelten, und ihre Stimme bebte vor Erregung und Zorn, als sie heftig erwiderte: »Dann wäre es besser gewesen, Sie wären dort geblieben, wo Sie herkommen. Nehmen Sie Ihr Schiff und fahren Sie wieder ab. Sie haben kein Recht, Rob etwas zu tun, und Sie werden ihm nichts tun, sonst…« Ihre Stimme brach mit einem Aufschluchzen ab. »Donnerwetter«, murmelte Nimba verblüfft. »Donnerwetter«, wiederholte Hal. Kennan erkannte, daß in dieser Minute seine 170
Tochter sich ihrer Liebe bewußt geworden war, und griff ein. »Es liegt ein Mißverständnis vor, meine Herren. Rob ist zwar ein Bewohner der Insel, aber er wird jenem Fremden dort drüben, der vermutlich Ihr gesuchter Sun Koh ist, bestimmt nichts tun. Im Gegenteil, er fragte mich sogar um Rat, wie man ihm helfen könne.« Die Gesichter der beiden erhellten sich. »Ach so«, platzte Hal heraus. »Dann ist die Geschichte freilich anders. Unter diesen Umständen werden wir Ihren Rob am Leben lassen, Miss Kennan.« »Du redest wie ein Buch«, meinte der Neger bewundernd. »Selbstverständlich werden wir ihm nichts tun. Aber die Miss sagte doch selbst, er wollte ihn töten?« Sybill Kennan wischte sich über die Augen. »Ich meinte doch den andern, den Mac.« »Ach, der ist hinter Sun Koh her?« forschte Hal. »Er will keinen Fremden auf der Insel dulden.« »Warum denn nicht? Ist er der König dieser Insel? Was sagen denn die andern dazu?« Kennan mischte sich ein. »Es gibt keine anderen Bewohner der Insel«, erklärte er. »Drüben wohnen nur zwei Menschen, Mac und Rob. Sie wurden vor rund zwanzig Jahren hier schiffbrüchig. Mac ist uns und allen Fremden feind171
lich gesinnt, Rob dagegen ist unser Freund. Mac hat Sun Koh vor Tagen niedergeschlagen und in eine Höhle geworfen, aus der er sich erst gestern befreien konnte. Er wollte ihn töten, aber Rob hat ihn daran gehindert.« »Hm, Mac kann sich auf etwas gefaßt machen, wenn wir ihn erwischen. Sonst lebt niemand auf der Insel?« »Nein.« »Das wissen Sie bestimmt?« »Freilich.« »Na schön, da wird es ja keine großen Schwierigkeiten drüben geben. Komm, Nimba.« »Sie wolle uns verlassen?« erkundigte sich Kennan besorgt. Hal nickte. »Natürlich, wir müssen uns doch zuerst um Sun Koh kümmern. Sie können sich ja hier mittlerweile zum Aufbruch bereitmachen. Wenn alles klappt, nehmen wir Sie dann gleich mit.« Nimba und Hal verschwanden im Dunkel. Bald darauf hörten Vater und Tochter das schwache Knattern eines Motors. Der Neger lenkte das Fahrzeug um die Insel herum und steuerte die Hauptinsel an. In kurzer Zeit schob sich der Kiel drüben auf den Sand. Sie sprangen heraus, machten das Boot fest und gingen dann suchend ein Stück am Strand auf und ab. Sie wußten nicht 172
recht, wie sie beginnen sollten. Die Insel besaß immerhin eine ansehnliche Größe, und sie hatten keine Ahnung, wo sie Sun Koh suchen sollten. Plötzlich richtete sich kurz vor ihnen eine mächtige Gestalt hinter einem Steinblock auf und kam drohend auf sie zu. Es war Mac. In seinem Gesicht lag Wut und düstere Entschlossenheit. Er hatte die Landung der Fremden beobachtet. Die beiden sahen den Hünen vor sich aufschießen und griffen unwillkürlich nach den Pistolen. Doch gleich darauf rief Nimba schnell: »Nicht schießen, es könnte dieser Rob sein. Hallo, wer sind Sie und was wollen Sie?« Die Frage galt Mac, doch der beachtete sie überhaupt nicht, sondern drang auf die beiden ein. Es wurde höchste Zeit, daß sich Nimba zur Wehr setzte. Zwischen ihm und Mac entwickelte sich blitzschnell ein Kampf, der Hal fassungslos machte. »Teufel noch mal«, flüsterte Hal heiser vor Erregung, »ich hätte doch lieber schießen sollen. Ich dachte schon, die Geschichte würde schiefgehen.« Der Neger wischte sich den Schweiß ab und legte los: »Uff, der Kerl war ja von Eisen. Wenn hier noch mehr von der Sorte lebten, könnten wir uns auf was gefaßt machen.« Hal wog die Pistole in der Hand. »Na, das sage ich dir gleich, beim nächsten schieße ich. Deine Hände haben genug abgekriegt.« 173
Nimba starrte auf seine Hände. »Sieht bös’ aus, aber das heilt wieder. Mensch, Hal, das war ein Boxkampf!« Der Junge hob die Schultern. »Quatsch war es, aber kein Boxkampf. Du hast geboxt, aber der andere hat bloß eingesteckt. Ebensogut hättest du auf Stein trommeln können. Wie fühlst du dich sonst?« Der Neger stand auf. »So lala. Sehen wir weiter. Dort müssen Häuser stehen, wenn ich nicht irre. Wir wollen sie uns mal ansehen.« »Weit können wir nicht weg«, gab Hal zu bedenken, »sonst klauen sie uns das Boot.« »Bis dahin können wir schon gehen. Aus den Augen dürfen wir es freilich nicht verlieren.« Sie pirschten sich vorsichtig an den ersten grauen Steinkasten heran, der die dunkle Mauer des Waldes unterbrach. Da sich nichts regte, drangen sie ein Stück weiter vor, bis sie auf einer regelrechten Straße standen. Plötzlich vernahmen sie Schritte. Gleich darauf sahen sie die halbnackte, muskulöse Gestalt Robs um die Ecke biegen. Im Nu waren ihre Pistolen im Anschlag. »Hände hoch!« dröhnte Nimba. Rob stutzte. »Der versteht kein Englisch«, meinte Hal und 174
schoß blind los. »Wir müssen ihm schon deutlicher kommen.« Rob hob die Arme, jedoch nicht wegen des Schusses, sondern weil er den Zuruf verstanden hatte. Während Nimba und Hal heraneilten, tauchte hinter Rob eine zweite Gestalt auf. Es war Sun Koh, der rein zufällig hinter seinem Begleiter ein Stück zurückgeblieben war, um eine auffallende Steinfigur zu betrachten. Im ersten Augenblick wollten seine Leute auch auf ihn anlegen, aber dann erkannten sie ihn und schrien freudig auf. Minutenlang war Rob vergessen. Schließlich fragte er mit ernstem Gesicht: »Soll ich meine Hände immer noch oben behalten?« Sun Koh drückte sie lächelnd herunter. Nimba riß den Mund auf, und Hal stotterte: »Nanu, sind – sind Sie denn Amerikaner? Wir – wir dachten, Sie wären auch einer von den Inselbrüdern.« »Das ist Rob«, sagte Sun Koh. »Ach herrjeh«, murmelte Nimba, »da habe ich vorhin mit dem Falschen geboxt. Wir wurden von einem Kerl angefallen, an dem ich mir erst die Hände zerschlagen mußte, bevor er ausriß.« »Das war Mac. Rob ist unser Freund. Er wird die Insel mit uns verlassen.« Hal nickte. »Da wird sich Miss Kennan aber freuen.« 175
»So?« Sun Koh hob die Brauen, forschte aber nicht weiter nach, sondern meinte: »Wir fahren zunächst zu der kleinen Insel, dort können wir uns über das Weitere schlüssig werden. Kommt.« Das Motorboot nahm sie auf. * Es war nicht viel, was die vier Schiffbrüchigen auf der kleinen Insel ihr eigen nannten, aber es kam ihnen auf einmal vor, als habe jedes Ding seine besondere Bedeutung. Am einfachsten Gegenstand hingen hunderte Gefühle und Erinnerungen, die jetzt groß und beachtenswert wurden. Der Maßstab der Schiffbrüchigen war im Laufe des Jahres ein anderer geworden. Jede Kleinigkeit schien unentbehrlich zu sein, und obgleich sie das Gegenteil genau wußten, waren sie doch auf dem besten Weg, den gesamten Inhalt der Hütten zum Strand zu bringen. Nur Sybill Kennan rührte keine Hand. Sie stand an eine Palme gelehnt und starrte nach der großen Insel hinüber. Nach einer Weile trat ihr Vater neben sie und fragte behutsam: »Du machst dir Sorgen um Rob, Sybill?« »Ja, Paps. Ich hörte einen Schuß.« Er strich ihr beruhigend über das Haar. »Man wird ihm bestimmt nichts tun. Was willst du 176
eigentlich alles mitnehmen?« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann nicht, Paps. Erledige du alles. Aber höre…« »Ja, mein Kind?« »Was wird mit Rob, wenn wir die Insel verlassen?« Kennan gab keine Antwort. Nach einer Weile fragte sie unsicher und unruhig: »Du schweigst, Paps?« Er trat dich an sie heran, faßte sie bei den Schultern und sagte gütig und weich: »Du liebst ihn, Sybill?« Sie sah ihm offen ins Gesicht. »Ja.« Er seufzte leicht. »Ich wußte es. Hast du auch an deine Zukunft gedacht?« Sie zögerte. »Nein – ich weiß nur, daß ich mich von Rob nicht trennen möchte. Wir können ihn doch unmöglich hier zurücklassen. Er muß mit uns kommen, er muß, sonst verfällt er wieder der Einsamkeit. Das geht doch nicht. Ich würde lieber hierbleiben, als ohne ihn wegfahren.« Ihre Stimme drängte und forderte, aber Kennan blieb behutsam. »Ich glaube sicher, daß er mitkommt. Wir können 177
ihn zwar nicht zwingen, aber es besteht wenig Grund für ihn hierzubleiben, dafür desto mehr Grund mitzufahren. Doch, Sybill, es gibt da vieles zu bedenken. Du liebst ihn, wie du sagst. Aber du bist noch jung, und es gibt noch tausend andere liebenswerte Männer auf der Welt.« »Ich liebe nur Rob«, gab sie fest zurück. »Vielleicht, doch du kommst jetzt wieder in Verhältnisse, die sich von den hiesigen völlig unterscheiden. Dein ganzes Wesen wird sich umstellen und verändern.« »Das gleiche gilt für Rob.« Sein Ton wurde noch milder. »Bitte versteife dich nicht, Sybill, sondern überlege vernünftig. Du weißt selbst, wie gern ich ihn habe. Aber es steckt noch viel Rohmaterial in ihm, und die Rückkehr in die Welt bedeutet für ihn in ungleich stärkerem Maße als für dich eine völlige Umwälzung. Man weiß nie, wie sich dieser junge Mensch unter dem Einfluß der Welt entwickeln kann. Begreifst du meine Bedenken, Sybill?« Sie nickte schwach. »Ich glaube, ich verstehe dich, aber …« »Warte«, unterbrach er sie, »wir wollen uns nicht nutzlos über das streiten, was keiner von uns mit Bestimmtheit behaupten kann. Laß mich ausreden. Wie gesagt, Rob wird wohl mitkommen. Ich habe mich entschlossen, mich persönlich seiner anzunehmen. 178
Ich werde ihm genügend Mittel sicherstellen, so daß er sein eigener Herr sein kann. Vor allem werde ich natürlich dafür sorgen, daß alles geschieht, um seine wertvollen Anlagen und Eigenschaften voll zu entwickeln und unnötige Gefährdung zu vermeiden.« »Du bist gut, Paps.« Er lächelte. »Höre erst meine Bedingung. Wir werden in unsere Heimat zurückkehren. Bis dahin darf nichts geschehen, was dich ernstlich an Rob bindet. Und dann mußt du ein Jahr vergehen lassen, währenddessen ihr euch nicht sehen dürft. Wenn ihr beide nach Ablauf dieses Jahres immer noch so empfindet wie jetzt, dann sollt ihr meinen Segen haben. Bist du bereit, auf diese Bedingungen einzugehen?« Sie legte die Arme um seinen Hals. »Ja, Paps, aber …« »Aber?« »Wenn er mich nun im Laufe dieses Jahres vergißt?« »Dann hat seine Liebe nichts getaugt.« »Aber – ich weiß doch noch gar nicht, ob er mich überhaupt liebt.« Er strich ihr zärtlich über die heißen Wangen. »In dieser Hinsicht kannst du beruhigt sein, Sybill. Ich habe ihm schon vor einem halben Jahr angesehen, daß er dich liebt.« Zwei Stunden später führte Sun Koh mit Rob an 179
der gleichen Stelle ein Unterredung über den gleichen Gegenstand. »Ich habe mit Kennan über deine Zukunft gesprochen«, begann er. »Ja?« »Er weiß, daß du Sybill liebst.« »Ich liebe sie«, gab Rob leise zu und senkte den Kopf. »Er weiß auch, daß Sybill dich liebt.« Rob hob schnell wieder den Kopf. Sein Gesicht war plötzlich hell. »Sie liebt mich? Sie ist so froh, daß sie von hier weg kann.« Sun Koh lächelte. »Aber nur, weil sie weiß, daß du mitkommen wirst. Sie hat sich mit ihrem Vater ausgesprochen. Er hat nichts gegen eure Liebe, aber er stellt die Bedingung, daß ihr euch ein Jahr lang nicht seht.« »Warum?« »Du wirst viel Neues erleben, Rob, und ein anderer Mensch werden. Verhältnisse und Lebensweisen werden sich von Grund auf ändern. Kennan will dir Zeit geben, dich in die große Welt einzuleben.« Rob neigte den Kopf. »Ich werde Sybill immer liebhaben, aber ich sehe ein, daß Kennan recht hat. Aber mitkommen werde ich doch.« »Darüber waren wir uns bereits klar. Ich habe einige 180
junge Freunde, zu denen ich dich führen werde. Kennan ist damit einverstanden, daß ich ihm diese Sorge abnehme. Er besteht allerdings darauf, daß er eine Geldsumme sicherstellt, damit du unabhängig bist. Es soll ein bescheidener Ausdruck seines Dankes sein.« »Das verstehe ich nicht ganz. Kennan erzählte mit schon, wie wertvoll das Geld in der Welt sei, aber ich brauche doch kein Geld.« »Man braucht es schon, Rob. In Amerika kann man nicht jagen und fischen und davon leben.« In Robs Gesicht arbeitete es, und schließlich meinte er: »Als ich Sybill die große Kette schenkte, sagte Kennan, sie sei viel Geld wert. Ist das richtig?« Sun Koh stutzte. »Welche Kette? Ich habe bisher nicht auf sie geachtet.« »Sybill trägt sie. Kennan meinte, sie sei Millionen wert.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nun wieder nicht. Davon hätte doch Kennan etwas sagen können? Warte bitte.« Er ging zu den andern zurück. Sybill Kennan lief ihm glücklicherweise als erste über den Weg. »Miss Kennan«, fragte er, »ist es richtig, daß Sie von Rob eine Kette geschenkt bekamen?« »Ja«, sagte sie, »es ist schon einige Monate her. Soll ich sie holen?« »Bitte.« 181
Sie lief zu ihren Sachen und kam schnell wieder zurück. In ihrer Hand hielt sie die Kette, außerdem ein Armband. Die Kette bestand zu Sun Kohs Erstaunen aus altertümlicher Goldschmiedearbeit und war mit sechs großen Diamanten besetzt, die einen sehr hohen Wert darstellten. Auch der Armreif war eine Kostbarkeit. Während Sun Koh noch prüfte, kam Kennan heran. »Ach«, sagte er förmlich erschrocken, »ich sehe, Sie haben gerade den Schmuck in der Hand. In der Aufregung habe ich ihn ganz vergessen. Was sagen Sie dazu?« »Der Schmuck stellt ein kleines Vermögen dar.« »Nicht wahr? Mich interessiert vor allem diese eigenartige Arbeit, deren Stil mir unbekannt ist.« »Mir auch. Haben Sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wo er herstammt?« »Rob sagte mir, er hätte ihn in einem der Häuser gefunden. Ich nehme an, daß er dort von früheren Bewohnern zurückgelassen wurde. Da für mich keine Möglichkeit bestand hinüberzukommen, habe ich mich nicht besonders damit beschäftigt.« Sun Koh händigte die Schmuckstücke wieder aus und ging zu Rob zurück. »Ich habe die Kette gesehen. Sie ist sehr wertvoll.« »Das sagte Kennan auch. Da dachte ich, wenn 182
man mehr solche Dinge mitnehmen würde, brauchte man doch kein Geld?« Sun Koh war nicht sehr überrascht. »Drüben auf der Insel gibt es noch mehr solcher Schmuckstücke?« »Ja, einen ganzen Berg davon.« Sun Koh sah ihn nachdenklich an. »Dann muß dort drüben ein riesiges Vermögen aufgestapelt liegen. Es empfiehlt sich, es mitzunehmen. Wenn du es mitnimmst, wirst du sehr reich sein.« »Es ist gut, reich zu sein, nicht wahr?« vergewisserte sich Rob. »In den Augen der Welt sicherlich.« »Dann nehme ich es mit«, entschloß sich Rob. »Was wird Mac dazu sagen?« »Nichts, denn ihm sind die Schätze gleichgültig. Er wird sie mir überlassen. Und er müßte sie mir überlassen, wenn ich sie brauche.« »Also nehmen wir sie mit«, sagte Sun Koh. * Sun Koh und Nimba, Carpool und Uhlen stiegen nach einer kurzen Auseinandersetzung in das Motorboot, um zum Schiff zu fahren. Hal Mervin blieb bei den Kennans als Gesellschafter. Inzwischen schwamm Rob zu der großen Insel hinüber, um von 183
Mac Abschied zu nehmen. Rob traf am Strand auf Mac, als die Sonne ihre ersten Strahlen über das Meer warf. »Du hast mich gerufen?« fragte Mac, während er sich schwerfällig von den Bäumen löste. »Ich rief dich, um von dir Abschied zu nehmen. Ich werde die Insel verlassen. Doch ich bitte dich zugleich, bei mir zu bleiben und mitzukommen. Es ist nicht gut, wenn du auf der Insel allein bleibst.« Das Gesicht des Grauhaarigen verzerrte sich leicht. »Du wirst die Insel nicht verlassen. Rob. Ich habe das Flugzeug des Fremden zerstört. Wo ist der Fremde überhaupt?« »Er befindet sich nicht mehr auf der Insel. Du irrst, wenn du meinst, daß ich die Insel nicht verlassen kann. Es ist über Nacht ein kleines Schiff über das Meer gekommen …« »Ah, also doch. Ich sah es und kämpfte gegen einen Fremden.« »Ja, und das kleine Schiff ist jetzt unterwegs, um ein großes Schiff heranzuholen. Es wird uns heute noch fortbringen.« »Wenn es nicht in die Klippen gerät oder der Vulkan ausbricht.« »Das wird nicht geschehen.« »Sei deiner Sache nicht zu sicher, es grollt wieder einmal in der Erde. Es ist besser, wenn du hier184
bleibst.« »Ich gehe«, gab Rob mit Bestimmtheit zurück. »Doch ich bitte dich mitzukommen.« »Nein.« »Das ist endgültig?« »Ja.« »Dann lebe wohl.« Rob streckte ihm die Hände hin, aber Mac beachtete sie überhaupt nicht. Rob ließ sie schließlich wieder fallen. »Noch eins, Mac«, sagte er leise. »Ich werde die Schätze aus der Steinkammer mitnehmen.« »Das habe ich mir gedacht«, erwiderte der andere finster. »Aber tue es nur, ich brauche sie nicht. Wegen dieser Schätze wollen dich ja die Fremden auch nur mitnehmen. Belade dich nur, um so geringer wird die Gefahr, daß andere hierherkommen.« »Dann also – viel Glück, Mac.« »Viel Glück in der Welt, Rob.« Mit einer Hast, als ob er zuviel gesagt hätte, wandte sich Mac ab und verschwand im Wald. »Mac?« rief Rob ihm noch einmal nach, aber der grauhaarige Riese ließ sich nicht wieder sehen. * Hal leistete unterdessen den beiden Kennans Gesellschaft. Er benutzte die Gelegenheit, um wieder ein185
mal gründlich aufzuschneiden, da die beiden allerlei über Sun Koh wissen wollten. »Jawohl«, sagte er unter anderem, »was glauben Sie wohl, was für eine gefährliche Sache das in Hongkong war? Die Chinesen hatten doch die ganze Stadt unterminiert. Überall Dynamit, wohin man nur trat. Jawohl, das war schon eine kitzlige Geschichte. Jeden Augenblick konnte alles in die Luft gehen, der geringste Funke hätte genügt. Da haben die Leute die Beine aber gehoben, das kann ich Ihnen versichern. Die Soldaten mußten sogar in Socken aus der Kaserne, weil sie doch Eisen unter den Stiefeln hatten, die manchmal beim Auftreten Funken geben. Jawohl, so war das.« Kennan lachte, und Sybill rief entrüstet: »Na, soviel Schwindel habe ich in meinem Leben noch nicht gehört!« Hal grinste. »Was kann ich schon dafür, daß Sie noch jung sind?« »So ein Erzlügner«, stöhnte Sybill zwischen Lachen und Entrüstung. Hal wollte sich seiner Haut wehren, aber plötzlich schwankte der Boden unter ihnen, so daß sie taumelten. Eine wellenförmige Bewegung ging über den Strand, eine zweite folgte, Die ihnen abermals fast das Gleichgewicht raubte, ein unruhiges Dröhnen kam aus der Erde, das an ein fernes Gewitter erinner186
te. Nach Sekunden war alles vorüber. Kennan schüttelte verstört den Kopf und sagte: »Das war ein regelrechter Erdstoß.« Hal zuckte mit den Schultern. »Sie meinen, das war ein regelrechtes Erdbeben. Sehr interessant, ich habe nämlich noch keines mitgemacht. Ein bißchen gefährlicher hatte ich es mir freilich vorgestellt.« Kennan blickte düster drein. »Es ist vielleicht gefährlicher, als du meinst. Das war nur einer der Erdstöße, die einen Vulkanausbruch ankündigen. Wenn der unterseeische Vulkan ausbricht, während sich das Schiff in der Nähe der Insel befindet, dann …« Er vollendete nicht. Hal hatte auch so begriffen. Von nun an war ihm die Lust aufzuschneiden vergangen. * Stunden später führte Rob seine Begleiter quer durch die toten Straßen der ganzen Stadt zu den massigen Bauten, die von einem Turm überragt wurden. Was draußen in der Stadt an äußerem Beiwerk fehlte, war hier in überreichem Maße vorhanden. Jedes der Gebäude trug einen anderen Stil. Fast schmerzhaft streng wirkte unter all dem 187
Prunk die klobige, graue Masse des Turms. Die Wucht seiner Einfachheit ließ alles ringsum als Plunder erscheinen. Sie traten durch die Tür im Unterbau des Turms in das Innere. Nach zwei Schritten gebot ihnen eine steinerne Brüstung Halt. Sun Koh ließ seine Lampe aufflammen. Dann standen sie minutenlang unbeweglich. Sie befanden sich auf einer Art Plattform. Vor ihnen ging der Turm tiefer hinab. Er bildete einen Schacht, dessen Boden man augenblicklich nicht sehen konnte. Er war nämlich mit einem kaum faßbaren Durcheinander von Gold, Silber und Edelsteinen in allen möglichen Formen und Schattierungen, als Schmuck, als Rüstung, als Gefäß, als Standbilder bedeckt. Sun Koh brach als ersten das Schweigen. »Wie tief ist der Turm?« fragte er. »Ich weiß nicht«, erwiderte Rob. »Ich habe nur einige Male etwas von oben weggenommen.« »Hier liegen nicht Millionen, sondern Milliarden. Du wirst reicher sein, als dir lieb ist. Da wir nicht unnötige Zeit verlieren möchten, schlage ich vor, nur die wertvollsten Stücke mitzunehmen.« »Ich bin einverstanden.« Sun Koh nickte nachdenklich. »Was für ein Fund für einen Sammler, nicht wahr, Mister Kennan? Schade, daß wir über die Geschichte 188
dieses Volkes, das solche Schätze zurückließ, nichts wissen.« »Es gibt ein geschriebenes Buch hier«, bemerkte Rob. »Was?« fuhren Sun Koh und Kennan auf. »Wo?« Rob sprang hinunter und schwang sich mit einem flachen, edelsteinbesetzten Kasten wieder hinauf. »Hier.« »Warum hast du es nicht früher schon einmal zu mir gebracht?« fragte Kennan vorwurfsvoll. »Ich wußte nicht, daß du es sehen wolltest«, verteidigte sich Rob. Der Kasten enthielt tatsächlich ein Buch, genauer eine Reihe von Pergamentblättern, die mit unbeholfenen Schriftzügen bedeckt waren. »Das ist flämisch geschrieben, anscheinend aus dem siebzehnten Jahrhundert«, stellte Kennan sofort fest. »Sie können es lesen?« fragte Sun Koh. »Ja. Aber wollen wir nicht ans Tageslicht gehen?« »Einverstanden. Inzwischen kann die Verladung beginnen. Hal?« »Ja, Sir.« »Du füllst die Säcke. Ich denke, du weißt ungefähr, worauf es ankommt. Alle Edelsteine und die kleineren Goldsachen. Die großen Stücke laßt ihr liegen. Nimba, du nimmst dir einen Hammer aus dem Motorboot und schlägst nach Möglichkeit aus 189
den großen Stücken die wertvollen Steine heraus. Aber nicht die Steine selbst zerschlagen.« »Jawohl«, kam es zurück. Kennan und Sun Koh gingen hinaus. Draußen warteten ein Dutzend Leute. Sun Koh gab ihnen die erforderlichen Anweisungen. Sie sollten die gefüllten Säcke zu den Booten bringen, mit denen sie dann aufs Schiff geschafft werden würden, das weiter in der Lücke zwischen den Klippen lag. Während er die Leute noch unterrichtete, kam einer der Matrosen vom Strand hergelaufen und meldete, daß es oben auf dem Berg brenne. Er überzeugte sich selbst, daß tatsächlich der Wald hoch oben im weiten Umkreis brannte. »Mac will uns von der Insel vertreiben, indem er das Feuer sich hinunterfressen läßt«, sagte Kennan. »Wir müssen uns beieilen.« Die Arbeit begann. Sun Koh und Kennan traten beiseite. Kennan nahm die recht gut erhaltenen Blätter heraus und übersetzte: »Anno Domini 1653. Zu Nutz und Frommen derer, die es finden, schreibe ich auf, was geschehen ist, seitdem unser Schiff ›Santa Maria‹ mit fünfundzwanzig Mann Besatzung den Hafen von Valparaiso verließ. Das Wetter war uns zunächst günstig, aber dann gerieten wir in einen grausigen Sturm, der die Segel zerriß und den Mast zerbrach, so daß wir uns treiben lassen mußten. Der Wind und 190
die Strömung trieb uns direkt auf die Insel. Wie durch ein Wunder blieben wir nicht in den zahlreichen Klippen hängen, sondern fuhren in eine mächtige, offene Höhle hinein, in der wir mit gewaltigem Krach zur Ruhe kamen. Seitdem leben wir auf dieser Insel. Wir trafen bald auf Eingeborene, die die Insel, die von ihnen Rmoahala genannt wird, bewohnen. Sie sind groß und stark wie die Bäume, die hier wachsen, auch sehr dunkel. Sie zeigten sich nicht feindlich gesinnt. Es dauerte jedoch nur einige Tage, so wurden viele von uns und von den Bewohnern der Insel krank. Die Rmoahala, so nennen sie sich, waren nur erkältet, und wir lachten über ihre Besorgnisse. Doch starben viele an der Erkältung. Unsere Leute bekamen eine Krankheit, die von den Eingeborenen als harmlos bezeichnet wurde. Innerhalb von wenigen Tagen starb der größte Teil der Schiffsbesatzung. Es herrschte ein grausiges Sterben auf der Insel. Nach Wochen blieb ich als einziger von unserem Schiff am Leben, dazu einige der Rmoahala. Alle Frauen und Kinder sind gestorben. Wir sind zu wenige, um das Schiff wieder instand zu setzen und die Insel zu verlassen. Wir haben beschlossen, die Reichtümer der Insel, die einst den Toten gehörten, zusammenzutragen und in den Turm zu werfen. Sie haben ihn aus aller Welt zusammengetragen. Die Rmoahala waren einst ein 191
mächtiges Volk, das ein großes Reich bewohnte. Das war vor vielen tausend Jahren. Doch Erdbeben und Sintfluten verschlangen das Land bis auf diese und die andere Insel, die weiter im Norden liegen soll und die Insel der Steinköpfe heißt. Die Rmoahala lebten nach dem Untergang ihres Reiches auf dieser Insel. Sie vermehrten sich zahlreich. Sie bauten Schiffe und fuhren wieder hinaus auf das Meer und kehrten nicht wieder. Die Rmoahala auf den Schiffen entdeckten ferne Länder und fremde Völker. Sie machten sich diese Untertan und wurden Herren der Erde. Sie vergaßen aber niemals ihre Heimat. Und nach Jahrhunderten, da fuhr ein Teil wieder zurück über das Meer in die Heimat der Ahnen und brachte seine Schätze mit. Man nahm sie freundlichst auf und ließ sie sogar Denkmäler jener fremden Völker bauen, aber sie brachten furchtbare Krankheiten mit, die das Volk arm an Menschen machten. Sie überwanden diese Krankheiten, und abermals zogen junge Männer aus, eroberten sich neue Reiche und ließen nichts von sich hören, bis ihre Nachkommen zurückkamen und neue Krankheiten brachten. Da verbot man schließlich, daß die jungen Männer weiter hinausgeschickt wurden. Wir haben nun abermals Krankheiten über die Insel gebracht. Das Volk ist bis auf wenige Mann ausgestorben. Eines Tages wird die Insel leer sein, wenn nicht vorher ein Schiff auftaucht.« 192
Kennan suchte in dem Kasten. »Der Schluß fehlt.« »Vielleicht ist der Schreiber nicht dazu gekommen, seinen Bericht fortzusetzen.« »Da können Sie recht haben«, meinte Kennan. »Eine letzte Nachricht aus Urzeiten der Menschheit«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Es läßt sich jedoch schwer sagen, ob dieser Bericht historische Wahrheit gibt. Tatsache ist, daß jetzt englische und amerikanische Expeditionen auf den Philippinen und einigen Südseeinseln nach den Resten einer verschollenen Kultur suchen, die mit einem Erdteil Lemuria oder Gondwana zusammenhängen sollen. Sie wissen ja wohl, daß die ganze Südsee geologisch eigentlich nichts anderes als das Trümmergebiet eines untergegangenen Erdteils ist.« »Das ist mir bekannt«, bestätigte Kennan. »Finden Sie es nicht merkwürdig, daß hier von Krankheiten gesprochen wird, die plötzlich das ganze Volk vernichtet haben sollen?« »Durchaus nicht«, sagte Kennan. »Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Rassen und Völker auf Krankheiten ganz verschieden reagieren. Ein Neger kann bekanntlich an Masern sehr schnell sterben, während diese bei uns als leichte Krankheit gilt, ebenso werden umgekehrt die weißen Völker schrecklich von Krankheiten getroffen, unter denen die Eingeborenen kaum leiden.« 193
»Der Waldbrand frißt sich immer tiefer, es ist besser, wir helfen mit, damit wir sobald wie möglich von hier wegkommen«, schlug nun Sun Koh vor. Kennan war einverstanden. Sie halfen alle mit, die Säcke zu füllen. Es dauerte aber nicht lange, da kam die Meldung, daß die Säcke nicht ausreichten. Daraufhin befahl Sun Koh nun doch, daß sie einfach ausgeschüttet werden sollten. Mitten in die Arbeit hinein erfolgte ein leichter Erdstoß. Dann kam die Meldung vom Strand, daß die Boote nicht mehr fassen könnten, wenn man sie nicht überladen wollte. Da machte Sun Koh Schluß. Sie verließen alle den Turm, benommen und erschöpft. Mit steifen Gliedern wankten sie zu den Booten, in denen es blitzte und gleißte. Man schwieg im Boot. Die Eingeweihten wußten, daß hier ein Mensch von der Stätte seiner Jugend Abschied nahm. Endlich wandte sich Rob mit einem Ruck um und kam mit schnellen Schritten zum Boot. Ein Sprung und ein Zeichen, das Boot löste sich vom Ufer und folgte dem andern zum Schiff. Hanns Krotthoff schüttelte wortlos Sun Koh und den anderen die Hände. Man merkte ihm an, daß er auch erregt war. Sun Koh legte die Hand auf Robs Schulter. »Das ist Rob, der Eigentümer dieser Dinge. Er 194
wird Ihnen und Ihren Leuten jede Stunde dieser Arbeit mit Gold aufwiegen. Sie haben wohl noch nie so viele Edelsteine und Gold auf einem Haufen gesehen. Das ist verständlich.« Krotthoff wurde bei der Erwähnung seiner Pflichten sachlich und ruhig. »Jawohl, ich habe genügend Leute von der Arbeit frei gehalten, so daß wir sofort fahren können.« »Dann bitte vor allem aus den Klippen heraus. Man weiß bei diesen Erdstößen nie, was geschehen kann.« Der Kapitän schwenkte ab. Sun Koh schritt mit Rob zur Reling. Der brennende Wald bot ein majestätisches, aber zugleich grausiges Bild. Die Flammenwände hatte sich schon fast bis zum Strand hinuntergeschoben, oben wurden von Zeit zu Zeit dunkle Stellen im Rauch sichtbar. Das Schiff fuhr. Rechts und links drohten die Klippen. Immer kleiner wurde die Insel. Da lief ein Schrei aus vielen Kehlen über das Schiff. Die Insel schien sich zu heben. Eben befahl Krotthoff volle Fahrt voraus, ein Zeichen, daß er die Enge zwischen den Klippen passiert hatte. Die Insel. Plötzlich barst der ganze Gipfel auseinander, so 195
daß mächtige Sprünge nach unten in die Feuermauer hineinliefen. Aus den anfänglich schwarzen Spalten quoll es rotglühend heraus wie aus einem geborstenen Topf. Und nun spritzte der ganze kahle Gipfel in einer ungeheuren Detonation auseinander und schoß auf der Spitze einer feurigen Fontäne senkrecht in die Höhe. »Ein Vulkanausbruch!« »Wir sind außer Gefahr!« schrie Krotthoff. Und wieder stieß drüben die gewaltige Faust von unten hoch. Und dann kam der Sturm und das Seebeben und stieß die Jacht mit rasender Wucht nach Westen, immer weiter von der feuerspeienden Insel weg. ENDE
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 12 erscheint: Freder van Holk
Attentat auf den Südpol Ein blindes Genie und ein eiskalter, haßgetriebener Verbrecher finden sich zusammen, um einen wahnwitzigen Plan zu verwirklichen: Die mächtige Eisdecke der Antarktis soll aufgeschmolzen werden, um den sechsten Kontinent bloßzulegen. Sun Koh stößt auf die Spur seines wahrhaft satanischen Gegenspielers. Ein Gelehrter baut am Südpol Getreide an und kämpft mit der Schwerkraft, ein Filmstar spielt seine letzte Rolle, und Sun Koh wird in Ketten geschlagen, während turmhohe Springfluten gegen die Kontinente rasen. Wird der Erde das Unheil erspart bleiben? Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.