Karin Bruder wurde 1960 geboren, studierte Landschaftspflege und war als freie Garten- und Landschaftsarchitektin tätig...
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Karin Bruder wurde 1960 geboren, studierte Landschaftspflege und war als freie Garten- und Landschaftsarchitektin tätig. Nachdem sie sich 1997 dem Schreiben zuwandte, erschien 1999 ihr erstes Jugendbuch »Katzenzauber für Kolumbus«. 2002 erhielt sie ein Arbeitsstipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.
Karin Bruder
Die Erben � der Pharaonin �
UEBERREUTER
Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet �
Danksagung Ich danke Sina Rinke, meiner Tochter Ines, meinem Mann, Sieglinde und Bertram Offner, Claudia Dauth und dem Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch. ISBN 3-8000-5103-6 Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten. Umschlaggestaltung von Doris K. Künster Coverfotos © Sülberg/Künster
Copyright © 2004 by FUU Verlag Carl Ueberreuter, Wien Druck: Ueberreuter Print 1 3 5 7 6 4 2 Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at
Begegnungen � Eins � Unser zweiter Tag in Hurghada. Ich schiebe mir einen Kaugummi in den Mund, kaue. Blicke auf das Thermometer, das neben dem Balkonfenster hängt, und staune. Dreiunddreißig Grad um acht Uhr abends. Ich werde mich an diese Hitze nicht gewöhnen. Das ist beschlossene Sache. Wenn man lacht, schwitzt man in den Mundwinkeln. Ich lache nicht. Dabei könnte ich mich freuen. Heute Abend ist großer Tanz. Happy Party nennt sich die Veranstaltung, die in einem Zelt im Hotelpark stattfindet. »Du siehst hübsch aus«, behauptet Mama, lächelt aufmunternd, wie nur Mütter lächeln können, mit schief heruntergezogenem Mundwinkel. Wir stehen uns im Zimmer gegenüber und sie schaut mir zu, wie ich mich in meinen Wickelrock wickle. »Ich glaube nicht, dass ich lange bleibe. Hier gibt's nur
öde Typen«, betone ich, ziehe verächtlich die Nase kraus. »Bleib so lange, wie du willst, aber um elf Uhr bist du wieder auf dem Zimmer.« »Sehr witzig«, kontere ich und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Die Tür fliegt auf und Lisa kommt ins Zimmer gepoltert. Ihre kleinen Füße trommeln auf den gelben Fliesen wie Kastagnetten in der Hand einer spanischen Tänzerin. Sie hüpft begeistert auf und nieder und schwenkt etwas Dunkelgrünes, Undefinierbares in ihrer ausgestreckten rechten Hand. Erst beim zweiten Hinschauen erkenne ich, dass es sich dabei nicht um ein neuartiges Gymnastikband, sondern um eine Schlange mit platt gewalztem Körper handelt. »Hab ich gefunden, stell dir vor.« Und von Mama will sie wissen: »Ist das eine Giftschlange?« Meine Mutter ist beim Anblick des schleimverschmierten Tieres blass geworden, vom Bett aufgesprungen und hat sich zur Flucht entschlossen. Doch vor der Tür steht Lisa. Lisa mit der Schlange. Und um vom Balkon zu springen, fehlt ihr der Mut. Mama ändert ihren Plan und weicht in die hinterste Zimmerecke zurück. Eine Antwort kann oder will sie nicht geben. Ihre Arme rudern ungeduldig durch die Luft, als könne sie so das verloren gegangene Gleichgewicht wiederfinden. Wie sie da steht, mit zu Berge stehenden schwarzen Locken, ängstlich, aber auch ein
bisschen verlegen, sieht sie noch kleiner aus als sonst. Ein Gartenzwerg von einem Meter sechzig. Wenn ich mich mit hohen Schuhen neben sie stelle, überrage ich sie um eine ganze Kopflänge. Ich stelle mich nicht neben sie, werde sie nicht beschützen, ihr mein Mitleid verweigern. Sie ist selber schuld. Sie hat dieses Kind geboren und verzogen. »Was ist das?«, piepst Mama mit hoher Stimme. »Sollst du mir doch sagen.« »Ist die tot?«, fragt Mama. »Klaro ist die tot.« »Was willst du dann mit ihr?« Komische Frage. Mama hat sich etwas entspannt, doch sie traut der Sache immer noch nicht. Immerzu schleppt Lisa tote oder halb tote Tiere an. Das macht sie zu Hause und das macht sie auch hier. Es ist einfach ekelhaft. »Schmeiß sie weg!«, fordere ich. »Das Vieh bleibt nicht in unserem Zimmer.« »Die will ich aber Papa zeigen«, erklärt Lisa und kommt mit dem Ding gefährlich nahe an mich heran. Ich sehe die matt glänzende Schlangenhaut, die silbrig überzogenen, toten Augen, den fischartigen weichen Mund, trete nun ebenfalls zurück. »Der kommt erst am Sonntag«, versuche ich es mit Logik. »Die stinkt jetzt schon.«
»Klaro stinkt die, die habe ich ja auch aus einem Mülleimer geholt. Glaubst du, dass die jemanden gebissen hat? Bevor sie tot war, meine ich.« »Den Gummireifen eines Lastwagens vielleicht«, brumme ich ungehalten und schlängle mich an Lisa und dem toten Ding vorbei. »Sag dem Baby«, werfe ich meiner Mutter noch zu, »dass die Schlange verschwinden muss. Das hier ist auch mein Zimmer, und tschüss.« »Du sollst mich nicht Baby nennen«, schimpft meine kleine Schwester, dreht sich um und wirft die stinkende Schlange nach mir. Doch da bin ich bereits aus dem Zimmer. Von drinnen höre ich den Aufschrei meiner Mutter und das gurgelnde Zischen einer fast toten Schlange. Ich gehe, nein, ich schreite, denn ich trage hohe Absätze wie eine Dame, über weinroten Teppichboden zum Lift und lasse mich vom Liftboy, der in ein buntes Alibabakostüm gezwängt ist, ins Foyer hinunterfahren. Grüne Topfpalmen in Tonkrügen, künstliche Wasserfälle, mehrere Polstergruppen, Fernsehraum, Bar, Basarshop. Wir sind in einem edlen Fünfsterneschuppen gelandet. Aus Versehen sozusagen, weil wir nicht rechtzeitig gebucht haben und nichts »Normales« mehr frei war. Aber was ist schon normal in einem Entwicklungsland? Hier, in dieser Hotelanlage, befinden wir uns in einer abgeschotteten Welt mit eigenem Strand, Tennisplätzen, Restaurants, Swimmingpools, Surfschule. Von dem Leben draußen,
dem echten Ägypten, müssen wir nichts mitkriegen, wenn wir nicht wollen. Mit klopfendem Herzen nähere ich mich dem bunt gestreiften Partyzelt. Große Menschenansammlungen sind mir ein Gräuel. Ich sollte umdrehen, doch eine unbekannte Kraft zieht oder lockt mich dorthin, wo Musik gespielt und getanzt wird. Schließlich bin ich mitgefahren, damit ich ein bisschen Spaß habe, damit ich nicht alleine zu Hause sitzen und immerzu an Michi denken muss. Michi ist mit seinen Eltern nach Frankreich gefahren. Dort wäre ich jetzt auch gerne. Da ist alles ein bisschen normaler als hier. Doch seine und auch meine Eltern waren dagegen. »Ihr klebt sowieso dauernd aneinander«, hat Michis Mutter gesagt. »Ihr könnt euch während der Schulzeit jeden Tag sehen«, hat meine Mutter sie unterstützt. Möchte mal wissen, was die das angeht. Ich will mit Michi so viel zusammenkleben oder -hängen, wie ich will, beziehungsweise wie wir wollen. Aber alle Proteste nutzten nichts. »Entweder du bleibst bei Oma Lenchen oder du kommst mit nach Ägypten, basta.« Papas Worte. Papa sagt oft basta. Da weiß ich, dass er von seiner Meinung nicht mehr abweicht. Eltern werden stur geboren, das weiß doch jedes
Kind. Ich lehne mich an den Stamm einer hohen Palme und zähle bis zehn. Eve, spreche ich mir selbst Mut zu, wenn du die nächsten Tage nicht versauern willst, dann musst du jetzt da hinein. Die Begrüßung ist denkbar ungehobelt, zwei junge Kerle lungern vor dem Eingang herum, taxieren mich mit neugierigem Blick. Wie alt? Wie hübsch? Wie leicht zu kriegen?, fragen ihre Augen. Ich schiebe mich so unauffällig wie möglich an ihnen vorbei, betrete das vielversprechende Innere und sehe: nichts! Strahler wurden ah der Decke montiert, schütten ihr grelles, mehrfarbiges Licht über mir aus, blenden mich, machen mich blind. Es blitzt und funkelt und nur nach und nach kann ich die Körper der Tanzenden aus der hellen Umgebung herausschälen. Es sind total wenige. Die meisten Anwesenden stehen alleine oder in Grüppchen herum, trinken, rauchen, blicken gelangweilt. Sie starren auf die Tanzfläche, als gelte es, den besten Tänzer oder die beste Tänzerin zu ermitteln. Vielleicht werden später Preise vergeben. Ich schaue mich weiter um, sehe den langen Tresen, das riesige Musikpult, das einen Großteil des Zeltes einnimmt. Was soll ich tun? Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Zigaretten sind eklig, färben die Zähne gelb, und Alkohol und Cola machen dick. Daher beschließe ich gleich zu tanzen. Ich hüpfe nicht nur wie ein Flummi rauf und runter und warte darauf, müde zu werden, sondern versuche mich dem Rhythmus der Musik anzupassen. Das macht Spaß, auch wenn man alleine ist. Doch schon bald ändert sich die Musik, aus den Boxen erklingen langsame Schnulzen. Stücke, auf die man nur
kuscheln kann. Rechts und links neben mir hängen sich die Mädchen an ihre Lover und mir wird ganz flau im Magen. Ich weiß nicht, ob das vom Hunger oder von der heißen, schwülen Luft kommt. Die Erinnerung an Michi kriecht mir von unten durch den Bauchnabel bis ins Hirn hinauf und ich ahne, dass man jemanden vor allem dann liebt, wenn er einem fehlt. Ich gehe zur Theke rüber und bestelle mir einen Kaffee. Kaffee haben sie nicht, ich muss einen Orangensaft nehmen. Frisch gepresst. Während ich auf meinen Saft warte, schaue ich mich um. Nebenbei klaube ich die fette Kaugummikugel aus der Backe, klebe sie unter den Tresen. Ich kapiere nicht, warum ich in den zwei Tagen immer noch niemanden kennen gelernt habe. Mama sagt, im Urlaub lernt man immer haufenweise Leute kennen, weil man viel offener und freier ist. Ich bin nicht offener und nicht freier. Ich bin nur alleine. Ich nehme mir vor, beim nächsten guten Song aufzustehen, noch ein wenig zu tanzen und dann ins Hotel zurückzugehen. Ich habe Michi heute bereits einen Brief geschrieben, aber vielleicht schreibe ich ihm noch einen. Wenn mich hier niemand will, dann will ich auch niemanden. Plötzlich entdecke ich am gegenüberliegenden Ende des Tresens ein Mädchen, das still und in sich versunken vor einem Bierglas steht. Ich mustere sie neugierig und schätze, sie ist in meinem Alter und auch Deutsche. Sieht nicht besonders deutsch aus, kaut aber äußerst deutsch auf ihrer Unterlippe herum. Sie wäre mir nicht aufgefallen, wenn nicht der Kerl neben mir ständig zu ihr rüberstarren würde. Er hat mir seinen Hocker
angeboten und ich dachte schon: Oh, das ist aber süß von ihm. Ein echter Kavalier. Doch er hat mich bei dem Deal nicht angesehen. Wollte nur aufstehen, damit er sie, diese gut aussehende Tante, besser im Blick hat. Ich setze mich trotzdem auf den Hocker und sehe ihm dabei zu, wie er sie beobachtet. Was denkt sich so einer? Denkt er, er wäre allein auf der Welt und könnte tun, was er will? Einfach andere Leute anstarren ohne zu fragen? Ich rege mich umsonst auf. Dem dunkelhäutigen Mädchen scheint es zu gefallen. Sie erwidert seinen Blick offen, aber mit mäßigem Interesse, als würde sie nur zufällig in seine Richtung schauen oder sogar durch ihn hindurch. Ihre dunklen Augen sind weit aufgerissen, eine Pupille ist deutlich größer als die andere. Mein Orangensaft kommt. Ich bezahle und nippe vorsichtig daran. Als ich mich umdrehe, hat sich die Szene vor mir kein bisschen verändert. Im Hintergrund wackeln die Liebespärchen im langsamen Rhythmus der Musik, neben mir wird gelacht und jede Menge Bier getrunken und vor mir starrt der Junge. Was ist dran an ihr, was an mir nicht dran ist, grüble ich und stemme mich ein bisschen hoch, um besser sehen zu können. Sie ist groß, dabei trägt sie sehr flache, altmodische Riemensandalen. Ihre Klamotten, einfarbig schwarz, sehen ebenfalls eher langweilig aus, betonen zudem alles Dunkle an ihr und davon hat sie jede Menge. Ihre Haare allerdings, besser gesagt, ihre nicht vorhandenen Haare, sind wirklich stark. Megakurz geschnitten, wie bei einer rasierten Katze, und rabenschwarz. Mama schneidet Papa mit dem Bartschneider die Haare auch immer ganz kurz, doch das sieht
bei weitem nicht so gut aus. Und ich weiß auch warum, denn Papa hat ein ganz normales Gesicht. Dieses Mädchen aber, das muss ich voller Neid zugeben, hat ein Supergesicht. Geschwungene Augenbrauen über schräg gestellten Mandelaugen, eine sehr dünne, sehr gerade Nase, ein wunderbar vollkommener Mund. Da würden Haare fast stören. Sie schafft es tatsächlich, dass ich mehr über sie nachdenke als über den Kerl, der mir doch ganz gut gefällt. Ich meine, was geht sie mich an? Als Freundin kommt sie nicht in Frage, denn sie steht auf die gleiche Sorte Männer, ich meine Jungs, wie ich. Das würde nur Ärger geben. Die Musik wechselt, ich lasse mein Glas stehen, schwinge mich vom Barhocker, will ein paar Takte tanzen. Doch mein dämlicher Rock verheddert sich im Stuhl, und noch während ich darüber nachdenke, warum das ausgerechnet mir passieren muss, kippe ich mitsamt dem Stuhl nach vorne, direkt auf diesen Kerl drauf. Der sieht mich natürlich nicht, schließlich starrt er wie hypnotisiert immer in die gleiche Richtung, kann deshalb weder ausweichen noch mich auffangen und ich knalle volle Breitseite auf ihn drauf. Er wankt, dreht sich entrüstet um und im nächsten Moment donnern wir beide zu Boden. Das alles passiert in einer einzigen Sekunde. Uff! Ich schlage mir das Schienbein an, den Knöchel auch und möchte am liebsten laut aufschreien. Doch ich sage keinen Ton, so peinlich ist mir die Sache. Dafür schimpft er wie ein Rohrspatz:
»He, bist du verrückt oder was?« Dann reißt er sich zusammen, fährt sich energisch durch die verwuschelten Haare und versucht ein lässiges Lächeln. Um uns herum schadenfreudiges Kichern. »Entschuldigung«, kriege ich zwischen den Zähnen hervor. Dann rapple ich mich auf, streiche meinen Rock glatt und stelle den Hocker wieder hin. Zögernd versuche ich ihm aufzuhelfen, doch er ist längst auf den Beinen, schüttelt sich wie ein nasser Pudel und eilt davon. Mein Blick gleitet zum Ende der Theke, doch ihr Platz ist leer.
Zwei Die Lust auf Tanzen, auf Leute, ist mir gründlich vergangen. Lauter Jammergestalten, schimpfe ich vor mich hin und bewege mich Richtung Ausgang. Von weitem schon erkenne ich den hell leuchtenden Sternenhimmel, spüre die warme Sommerluft und mir wird bewusst, dass Ferien sind. Das heißt, ich befinde mich in einem fremden Land, keiner kennt mich. Alles kann mir egal sein. Ich atme tief durch und halte mich an der Zeltstange fest. Zumindest dachte ich, dass da eine Zeltstange wäre. Doch die fasst sich verdammt weich an und die Zeltstange zetert auf Deutsch: »He, Pfoten weg!« Ich zucke zusammen und blinzle. In einer absolut dunklen Ecke neben dem Ausgang steht die Tante von vorhin. Steht da und starrt in die Nacht hinein, wie sie vorhin auf den
Kerl gestarrt hat. Mit messerscharfem, kalten Blick. »Was ist los, kannst du dich nicht entschuldigen?«, keift sie mich an, dreht sich aber nicht zu mir um. Ich denke, klar kann ich das, will ich aber nicht. Sehe ich gar nicht ein. Bin ich so was wie eine Kinderschänderin oder was? Die muss doch gesehen haben, dass es keine Absicht war. Ich hab den Mond angeguckt und nicht aufgepasst. »Sag schon was«, zischt die Tante erneut. »Identifiziere dich, damit ich weiß, wer du bist.« Hä?, denke ich, was soll das nun wieder heißen? Sind wir hier bei der Armee oder was? »Mein Code ist 67835«, antworte ich schlagfertig und lache ein hohes, kicherndes Lachen. »Ach du«, erwidert sie. Ihre Stimme klingt jetzt ganz normal, nicht mehr so schrill und biestig. Erleichtert fällt sie in mein Lachen ein. Dabei senkt sie ihren Blick und schaut zum ersten Mal zu mir herüber. Mir fällt auf, dass ihre Bewegungen merkwürdig gesteuert wirken, als hätte sie einen steifen Hals oder so. Fast ebenso langsam hebt sie die Hand, führt eine lange Zigarette zum Mund. Eine Zigarette, die in einem Mundstück endet. Sieht gut aus, denke ich anerkennend, obwohl ich Raucher eigentlich nicht leiden kann. »Was meinst du mit: Ach du?«, will ich wissen. »Wir kennen uns doch gar nicht.«
»Ich habe gehört, wie du dich drin im Zelt entschuldigt hast, das war doch deine Stimme? Bist du vorhin umgefallen oder was?« »Ja«, gebe ich kleinlaut zu und fingere an den Bändern meines Rockes herum, »ich bin mit meinem Rock am Barhocker hängen geblieben.« Ein kühler Lufthauch weht vom Meer her und ich beginne zu frieren. »Du zitterst ja«, sagt sie prompt und tastet mit langen Fingern nach mir. Sie kriegt meine Hand zu fassen, krabbelt daran entlang und befühlt meinen Unterarm. »Gänsehaut«, diagnostiziert sie. »Sollen wir wieder rein?« Als hätte ich ihrem Vorschlag zugestimmt, nimmt sie ihre Zigarette aus dem Halter und erstickt die Flamme zwischen den Fingern. Das habe ich noch nie gesehen und gut finden kann ich das auch nicht. Das muss tierisch wehtun, denke ich und starre angeekelt auf ihren Daumen und Zeigefinger. Tatsächlich haben sich dort dunkle Flecken gebildet. »Ich wollte gerade gehen«, sage ich kurz angebunden und drehe mich unentschlossen im Kreis. Es wäre schon toll, jemanden zu haben, mit dem man reden, vielleicht auch tanzen kann, doch irgendwie traue ich ihr nicht über den Weg. Sie ist einfach so anders als ich. Und jetzt, da ich so dicht neben ihr stehe, kommt sie mir auch viel älter vor. Als hätte sie meine Gedanken erraten, will sie wissen: »Wie alt bist du? Bist du alleine hier?«
Das ist ja nun matt, wenn man nach zwei Dingen gleichzeitig gefragt wird. Weil man dann nicht weiß, auf welche Frage man zuerst antworten soll. Die zweite Frage ist mir gegenwärtiger, also antworte ich mit einem klaren »Ja«. »Ich auch«, erzählt sie freudestrahlend. »Ägypten ist etwas ganz Besonderes, nicht wahr? Ich habe mir so viele Jahre lang gewünscht, hier zu sein, aber ich glaube, ich bin noch nicht richtig angekommen. Ich brauche immer ein bisschen Zeit. Wie lange bist du schon hier?« Schon wieder eine Frage, dabei habe ich die letzten noch gar nicht verdaut. Hatte sie nun gemeint, ob ich alleine die Party besuche oder ob ich alleine nach Ägypten gereist bin? Letzteres kann ja wohl kaum ernst gemeint sein, schließlich sehe ich aus wie eine Vierzehnjährige, auch wenn ich geschminkt bin. »Ich bin erst zwei Tage hier«, antworte ich, drehe mich unruhig hin und her. »Dann sind wir vielleicht mit dem gleichen Flugzeug gekommen? Bist du auch in Berlin gestartet? Aber nein«, antwortet sie sich selbst, »deinem Akzent nach zu urteilen kommst du eher aus Süddeutschland.« He, denke ich, wo will die einen Akzent hören? Doch ich gehe nicht auf ihr Gequatsche ein. »Ich habe Hunger«, höre ich mich stattdessen sagen und plötzlich wird mir bewusst, dass mir fast übel ist. Ich
hätte das Abendessen doch nicht ausfallen lassen sollen. »Das werden wir gleich ändern. Lass uns auf mein Zimmer gehen«, schlägt sie vor und greift nach mir. »Ich heiße Kleo und wie heißt du?« Noch während sie die Frage stellt, löst sie sich von der Zeltwand und verstärkt den Druck auf meinen Arm. Ich antworte nicht und höre auch nicht auf ihre weiteren Fragen, denn was ich jetzt sehe, lässt mich starr werden vor Schreck und Staunen. Dieses große, stolze Mädchen, das mich um etliche Zentimeter überragt, dreht sich mit langsamen, aber sicheren Bewegungen um, greift nach hinten und holt einen langen weißen Stock hervor. Er muss an der Zeltwand gelehnt haben. Und noch bevor mein Gehirn die Information verarbeitet hat und zu dem Schluss kommt: weißer Stock = Blindenstock = Sehbehinderung, beginnt sie schon die Umgebung gleichmäßig mit dem Stab abzutasten und sich ohne Eile in Bewegung zu setzen. Bedächtig, doch zielstrebig ertastet sie sich den schmalen Weg durch den Hotelpark und mich zieht sie, einem widerspenstigen Dackel gleich, hinter sich her. Geschieht mir ganz recht, gebe ich zu. Ich bin ja zu blöde, um eine Blinde zu erkennen, selbst wenn sie direkt vor mir steht und mich anstarrt. Im Grunde aber kann ich es immer noch nicht glauben und deshalb kommt mir die Idee, dass sie mich veräppelt, dass sie gar nicht blind ist, nicht blind sein kann, denn Blinde sitzen zu Hause, Blinde haben einen Blindenhund, Blinde lassen sich
begleiten von Sehenden, wenigstens das. Ich starre sie an, sammle das Mondlicht in meinen Augen und beobachte jede ihrer Bewegungen. Sehe, wie sie mit dem Stock aufschlägt und rechts und links nach Hindernissen sucht. Sobald ein Baum oder Laternenpfahl auftaucht, zögert sie kurz, beschreibt einen etwas größeren Bogen, wirkt aber keineswegs unsicher. Als sich der Weg gabelt, geht sie ohne zu zögern nach rechts, in die richtige Richtung. Ich bin ratlos, für eine Blinde ist sie verdammt gut, für eine Sehende aber zu wacklig und zu unruhig. Immer wieder streckt sie ihren Hals, macht ihn lang wie eine Antenne, an dessen Ende der Kopf sitzt, der sich gleichmäßig hin- und herbewegt, als müsste er Schallwellen auffangen. Ist das so, grüble ich, dass sich Blinde durch zufällig aufgeschnappte Geräusche orientieren? Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als sich uns eine dunkle Gestalt in den Weg stellt. Noch bevor ich etwas sehe und lange bevor ihr Stock auf ein Hindernis stößt, hat meine Begleiterin die Gestalt gehört oder gespürt und ist stehen geblieben. Ich staune nicht schlecht, als ich feststelle, dass es genau der Typ ist, der sie vor meinen empörten Augen mit seinem gierigen Blick vernascht hat. »Hi«, grüßt er, nimmt eine Hand aus der Hosentasche und winkt uns extra cool zu. Er muss uns, besser gesagt ihr, aufgelauert haben.
»Da hat einer Hi gesagt«, beugt sich Kleo vertraulich zu mir rüber, als rede sie nur mit mir, doch ihre Stimme ist klar und deutlich zu hören. »Ein männliches Wesen, schätzungsweise fünfzehn Jahre alt, ein Meter zweiundachtzig groß, Pfälzer Dialekt. Der ist was für dich, ihr seid ja praktisch Nachbarn.« Vorsichtiges Lachen folgt ihren Worten. Ich schlucke verdattert und auch mein Gegenüber kriegt keinen Ton mehr heraus. Eine kleine Pause entsteht, dann will sie wissen: »Was führt dich zu uns, Fremder? Sag etwas oder mach den Weg frei für zwei Jungfrauen, die sonst Hungers sterben.« Nun muss auch ich lachen, bewundere gleichzeitig ihre Schlagfertigkeit. Einer, der sich einschüchtern lässt, scheint sie besonders zu reizen, denn sie fügt hinzu: »Zweifelst du etwa an meinen aufrichtigen Worten?« Ich weiß nicht, ob ich mich auch so verhalten würde. Ich meine, wenn jemand blind ist so wie sie, dann muss es doch doppelt wichtig sein, freundschaftlichen Kontakt zu Mitmenschen herzustellen. Hat sie aber nicht nötig. Als der Typ immer noch nichts herauskriegt, zielt sie mit dem Stock auf ihn, drückt ab, schreit: »Peng!«, lacht noch lauter als zuvor und setzt sich in Bewegung. »Ich, ich«, stottert der Junge, weicht aber nicht zur Seite, sodass wir erneut stehen bleiben müssen. »Ich dachte, ich kann dich vielleicht begleiten. Ich beobachte dich schon seit ein paar
Tagen und du läufst nachts immer alleine durch die Gegend. Das finde ich nicht ungefährlich.« »Nicht ungefährlich für wen?«, kichert sie. »Tagsüber ist es für sie genauso dunkel wie nachts«, sage ich, um auch irgendetwas zu sagen. Doch statt Applaus ernte ich jede Menge Schelte. »Nun mal langsam«, betont Kleo und lässt demonstrativ meinen Arm los. »Ihr beiden beginnt mir auf den Keks zu gehen. Ich mag zwar behindert sein, aber ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen. Bald werdet ihr euch über mich unterhalten, als wäre ich nicht anwesend. Und wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es, dass sich zwei Nichtbehinderte nach der »Nimmt sie Zucker?«-Methode über mich auslassen. Also, entweder wir gehen jetzt auf meine Bude und mampfen was oder ich gehe alleine weiter und ihr beiden macht euch miteinander bekannt.« Ich zucke die Schultern, blicke den Typ an, blicke Kleo an. Was will sie von mir hören? »Gebongt«, sagt der Schönling. »Ich heiße Oliver. Soll ich noch einen Freund für die Kleine mitnehmen?« Für die Kleine? Meint der mich? Ich versinke fast im Erdboden und spüre, wie sich mein Gesicht von unten nach oben langsam rot färbt. Aber nicht vor Wut, sondern vor Enttäuschung.
»So, das war's«, entscheidet Kleo mit fester Stimme. »Dies hier ist ein freies Land, wir sind freie Menschen, wir haben Urlaub, was besagt, dass man nur das tun soll, was man will. Mit deiner letzten Bemerkung hast du dich selbst als arrogantes Arschloch geoutet. Ich nehme somit meine Einladung zurück. Lass uns gehen«, sagt sie zu mir und zieht mich am Arm. Ich bin jedoch hin und her gerissen, immer noch. Der Typ ist eine fiese Kralle, doch er sieht so süß aus, dass man sich gerne was von ihm gefallen lässt, und vielleicht wäre sein Freund ja auch ganz annehmbar. »He«, unterbricht Kleo meine Gedanken, »klammere dich bitte nicht ganz so stark an mich. Du bringst mich aus dem Gleichgewicht. Willst du lernen, wie man Blinde führt?« Ich nicke mit dem Kopf, und als hätte sie das gesehen, fährt sie fort: »Du winkelst deinen Arm an und ich lege meine Hand darauf. Ganz leicht, siehst du. Viele vergessen, dass ich Hindernisse, herabhängende Zweige oder Mauervorsprünge, nicht sehen und ihnen dadurch auch nicht ausweichen kann. Und fass ja nicht meinen Stock an. Wenn du ihn hältst und damit auf Gegenstände zeigst, nutzt mir das gar nichts. Aber wenn ich ihn halte, dann ist er die Verlängerung meiner Hand. Ich sehe mit den Händen. Oft schreit jemand: Achtung Treppe, drei Stufen!-, doch das bringt mich absolut nicht weiter. Besser, du sagst mir, ob sie hoch- oder runterführt. Die Stufen an sich kann ich gut ertasten.« Wir haben das Foyer durchquert, umrunden wild
wuchernde Pflanzen in großen Trögen, als mir die Frau hinter dem wuchtigen Rezeptionstisch auffällt. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen und trotzdem kommt sie mir bekannt vor. Okay, wir sind erst kurze Zeit hier und das Personal wechselt oft, doch eine Frau an der Rezeption wäre mir aufgefallen und diese ganz bestimmt. Sie trägt nämlich einen auffallend modernen Hosenanzug und die Spitzen ihres Hemdkragens ragen wie Schwerter von ihrem Hals ab. Nicht gerade mein Geschmack, aber im Vergleich zu den sackartigen Klamotten, die Frauen wie Männer sich hier sonst überstülpen, sieht das recht peppig aus. Auffallend sind auch ihre dunklen Augen, die stark geschminkt sind und dadurch riesig wirken. Kleo klopft sich ihren Weg zur Rezeption und verlangt nach dem Schlüssel. Ob gewollt oder nicht, der schneeweiße, sehr lange, sehr dünne Stock sticht wie ein Fremdkörper von ihrer schwarzen, extravaganten Kleidung ab. Ihre schwarze Hose ist weit und lässig geschnitten, erinnert eher an einen Rock. Dazu trägt sie ein ebenfalls weit geschnittenes schwarzes Hemd. Keine Bluse, kein Träger-hemdchen oder so, sondern ein richtiges Hemd. Ein Herrenhemd mit Kragen und Manschetten. Das würde altbacken aussehen, hätte sie das Teil richtig herum angezogen. Hat sie aber nicht. Die Knopfleiste sitzt nämlich auf dem Rücken. Das sieht verrückt aus. Vorne drückt ihr der Kragen das Kinn hoch, was ihr ein stolzes, fast hochnäsiges Aussehen gibt, hinten lässt der Ausschnitt einen Teil ihres schönen Rückens frei. Ich kaue gedankenverloren an den Fingernägeln und sehe den beiden zu. Im Zeitlupentempo dreht sich die Frau
mit den großen Augen um, greift zum Schlüsselbord, klimpert an mehreren Schlüsseln, bis sie endlich den richtigen gefunden hat. »So eine dumme Nudel«, flüstere ich, nachdem Kleo wieder neben mir steht. »Wer?« »Na, die Schnalle an der Rezeption. Die dir den Schlüssel erst nicht geben wollte und kein Wort zu dir gesagt hat, weder ›Hallo‹ oder ›Gute Nacht‹ noch sonst was.« »Ach«, erwidert Kleo, »das war eine Frau? Sonst gibt's doch nur Männer hier. Merkwürdig, oder? Ich kenne die Namen fast aller Angestellten, denn für mich besitzen die Menschen kein Gesicht. Ich muss mir ihre Namen und Stimmen merken, wenn ich sie auseinander halten will.« »Da musst du dir aber jede Menge Namen merken«, erwidere ich anerkennend. Kleo fasst mich am Arm, zieht mich zum Lift und fragt: »Wie sieht sie denn aus, die Frau?« Ich wundere mich über die Frage, drehe mich aber noch mal um und beschreibe sie. »Riesige Glubschaugen, kurze Haare, rot gefärbt, so das Übliche. Sie starrt uns übrigens die ganze Zeit hinterher.« »So etwas Tolles wie mich kriegt man nicht jeden Tag zu sehen«, kichert Kleo, setzt ihren Weg unbeirrt fort.
Wie Recht sie hat. Überall Menschen, die sie aus den Augenwinkeln heraus beobachten, die unauffällig wegschauen oder einen großen Bogen um uns beschreiben. Meine neue Freundin sieht das nicht, aber vielleicht spürt sie es, denn während wir hochfahren, sagt sie mit ihrer tiefen, nachdenklichen Stimme: »Für mich ist es nichts Neues, aber für dich mag es ein merkwürdiges Gefühl sein.« Ich bin mir nicht sicher, was sie damit meint, und antworte deshalb nicht. Doch eine Frage, die mir schon lange auf der Zunge liegt, muss jetzt sofort ausgesprochen werden. »Bist du ganz blind?« »Ja«, lacht sie, »und zwar zweihundert Pro.« »Wenn du ganz blind bist, warum hast du dann keinen Blindenhund?« Eine Frage, ausgespuckt wie einen faulen Apfel oder wie etwas, auf dem man zu lange herumgekaut hat und das nun fad schmeckt. Kleo bleibt abrupt stehen. Doch das liegt nicht an meiner Bemerkung, sondern daran, dass wir vor dem Zimmer mit der Nummer 342 angekommen sind. Das ist ihr Zimmer, doch woher weiß sie das? »Du würdest mich also gerne als Herrin eines großen, treu blickenden Schäferhundes sehen? Wie geschmackvoll. Die Idee kannst du getrost vergessen. Tatsache ist, dass nur ganz wenige Blinde einen Hund besitzen. Die kosten nämlich ein Schweinegeld. Ich hab erst gar nicht probiert einen zu bekommen, weil ich keine Futterdosen im Kühlschrank
herumstehen haben will. Ich bin Vegane-rin. Und außerdem hätte die Krankenkasse mir keinen bezahlt, weil ich nicht von Geburt an blind bin.« »Was bist du? Klingt ja geil.« »Verwechselst du das mit Vagina oder was? Ich esse eben kein Fleisch und auch sonst keine tierischen Produkte.« »Und was hat das mit den Futterdosen zu tun?« »Nichts«, muss Kleo zugeben und lacht. Noch eine andere Frage liegt mir auf der Zunge. Wie das denn kam, mit ihrer Blindheit und so? Ich traue mich aber nicht, sie zu stellen, ist schließlich eine verdammt persönliche Sache. Stattdessen will ich wissen: »Wie kannst du dich so gut zurechtfinden? Ich meine, du bist erst vor ein paar Tagen angekommen und trotzdem scheinst du alle Wege zu kennen.« »Da gibt es einen ganz einfachen Trick.« Kleo kichert wie ein Kind. »Wenn ich irgendwohin komme, an einen neuen Ort, dann bleibe ich einen ganzen Tag lang auf meinem Zimmer und rühre mich nicht vom Fleck.« »Klasse, aber was soll das bringen?«, frage ich und wundere mich gleichzeitig darüber, warum sie nicht aufschließt. Schließlich wollte ich nicht auf dem Flur Wurzeln schlagen. Vielleicht kann sie sich nur auf eine Sache konzentrieren. Entweder auf die Beantwortung der Fragen oder auf das Öffnen einer Tür.
»Das liegt doch auf der Hand«, antwortet Kleo mit Lehrerinnenstimme. »Niemand kann mich blöd anquatschen und mir gut gemeinte, aber dumme Ratschläge geben. Ich bekomme nicht erklärt, wo sich dieses und jenes befindet und dass der Wasserfall im Foyer ganz, ganz wunderbar aussieht, ich aber leider viel zu blind bin, um ihn zu sehen. Nachts dann, wenn alle schlafen einschließlich dem Portier, schleiche ich mich aus dem Zimmer und erkunde in aller Ruhe meine neue Umgebung. Jetzt weiß ich genau, welche Tür wohin führt, wo sich der Lift befindet, wo ich Zeitungen und Postkarten kaufen kann und so weiter. Schlimm ist nicht das Blindsein. Schlimm sind die dummen Sprüche der Sehenden, die meinen, sie müssten einem tröstend und helfend zur Seite stehen.« »Hm«, mache ich. Klingt ganz schön arrogant, aber sie muss es ja wissen. Gespannt sehe ich ihr dabei zu, wie sie den Schlüssel umständlich ins Schloss steckt. Sie braucht eine kleine Ewigkeit dafür, was mich ganz nervös macht, doch ich werde den Teufel tun und ihr helfen.
Drei Das Türschloss knackt und Kleo drückt die Klinke herunter. Wir gehen rein. Ich sehe ein ordentliches Bett mit giftgrünem Überwurf, einen großen Tisch mit Papieren -dann sehe ich gar nichts mehr. Hinter mir hat sich die Tür sanft geschlossen und ich
habe plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckt mich. Der Gedanke, in etwas hineingezogen zu werden, das ich nicht will, in eine Welt abzudriften, die nicht die meine ist. Auf meiner Kopfhaut kräuseln sich die Haare. Wie aus weiter Ferne höre ich das Tack-tack von Kleos Stock, höre, wie sie in einer entfernten Ecke des Zimmers herumkramt, und weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Meine Nerven spielen verrückt, tauchen mich in ein Wechselbad der Gefühle. »Darf ich das Licht anmachen?«, frage ich vorsichtig. »Licht? Na klar. Tu, was du willst, solange du mir nicht schadest.« Jetzt kann ich mich in Ruhe umschauen. Da steht tatsächlich ein Bett und nur eins. Sie ist wirklich und wahrhaftig allein unterwegs. Daneben ein großer Tisch, zwei Stühle, ein blauer Pezziball, ein Nachttischchen, aber kein Schminktisch wie bei uns. Dafür ein Fernseher, ein Kühlschrank und eine Kommode, auf der Geschirr und Nahrungsmittel aufgeschichtet sind. Alles ordentlich abgewaschen und sortiert, in Reih und Glied. »Du kochst dir selbst?«, stelle ich verwundert fest. »Nenn es kochen, wenn du willst.« Das ist anscheinend so ihre Art, zu antworten. Gibt's denn keine Frage, die ich stellen kann, ohne blöde angemacht zu werden? Und dabei habe ich viele, verdammt viele Fragen.
Ich meine, was macht eine Fünfzehnjährige, oder vielleicht auch Sechzehnjährige, alleine in Ägypten? Und zusätzlich ist sie blind. Da stimmt doch was nicht. Und deshalb beschließe ich mir selbst ein Bild zu machen. Ich schaue mir die Nahrungsmittel auf dem Tischchen genauer an und stelle fest, es handelt sich um zehn verschiedene Brotpackungen. Angefangen von Knäckebrot über Fladenbrot, Pumpernickel, Zwieback, bis hin zu ungesäuertem Matzebrot. Wenn das wirklich alles ist und im Kühlschrank nur Getränke stehen, kann man wirklich nicht von Kochen sprechen und es grenzt an Unverschämtheit, eine arme Hungernde wie mich zum Essen einzuladen. »Kann ich ein Stück Brot haben?«, lästere ich mit ironischem Unterton. Kleo dreht sich um und ich sehe, sie hält etwas in der Hand, das sie aus dem aufgeklappten Koffer gefischt hat. Erdnüsse, denke ich, doch als sie freudig auf mich zukommt, erkenne ich, es muss sich um die elfte Brotsorte handeln. »Gerstenbrot aus der Ukraine«, erklärt sie prompt. »Die ernten dort wilde Gerste und du kannst dir nicht vorstellen, wie stark dieses Brot schmeckt. Du brauchst gar nichts draufzuschmieren, am besten schmeckt es pur.« Toll, gebe ich in Gedanken zu. Schon wieder Kalorien gespart. Wo ich doch eigentlich so spät nichts mehr essen will. Doch heute ist alles anders und was sind schon ein paar Gramm Übergewicht gegenüber der totalen Finsternis.
Hoppla, jetzt geht das schon wieder los. Jetzt reite ich schon wieder auf der Welle der Schadenfreude. Sie hat aber immer noch ihr Supergesicht und der Witz ist, dass dieser Typ mit ihr losziehen wollte, obwohl er wusste, dass sie blind ist. Vielleicht ist das eine tolle Masche, blind zu sein. Vielleicht laufen einem dann die Kerle wie liebeskranke Kater hinterher. Gespannt schaue ich zu, wie Kleo die Dose öffnet, daran schnuppert, den Geruch tief einsaugt und die Augen genüsslich schließt. Das sieht so witzig aus, dass ich lachen muss. Sie hat die gleiche Mimik wie Sehende. Auch Kleo lacht ohne zu ahnen, worüber, dann steckt sie ihre langen Finger in die Dose und fischt zwei diskusförmige Brotscheiben heraus. Die packt sie auf je einen Teller mit Goldrand, geht zum Tisch und serviert sie mit elegant einladender Handbewegung. »Darf ich bitten«, lädt sie mich ein und untersucht schnell, ob mein Stuhl leer geräumt ist. Ist er, so wie alles in diesem Zimmer an seinem Platz zu sein scheint. Ganz anders als bei mir, aber wahrscheinlich hat sie keinen Bock, ständig über ihre Schuhe und den anderen Krempel zu fallen. Für sich selbst zieht sie den riesigen Pezziball unter dem Tisch hervor, setzt sich. »Hast du auch ein Glas Wasser?«, frage ich in aller Bescheidenheit. Trockenes Wildgerstebrot mag für dieses merkwürdige Mädchen die reinste Erfüllung sein, ich esse es nur, damit ich noch ein bisschen durchhalte. Und Wasser wäre ganz gut zum Hinunterspülen. »Sony, na klar habe ich Wasser.« Sie springt von dem
Ball auf und bleibt am Tisch hängen. Der Tisch wackelt und das Geschirr klirrt leise wie bei einer chinesischen Teezeremonie. Zum ersten Mal sehe ich so etwas wie einen unsicheren Gesichtsausdruck bei ihr. Ein dunkler Schatten huscht über ihre Mandelaugen, ihr rechter Mundwinkel zuckt. Doch sie hat sich schnell gefasst, hangelt sich zum Kühlschrank, holt eine Flasche Wasser und zwei Gläser. »So«, beginnt sie die Unterhaltung, »jetzt hast du mich beobachtet und von oben bis unten gemustert, nun will ich wissen, wie du heißt und wer du bist.« Mit diesen Worten greift sie zu mir rüber und umfasst mit beiden Händen mein Gesicht. Ich zucke zusammen, klar zucke ich, doch da ist sie mit ihren Fingern schon weitergewandert, fummelt an meinem Hals herum, fährt meine Ohrläppchen entlang und lacht sich fast kaputt dabei, weil ich ganz und gar unmusikalisch bin, wie sie behauptet. Bei meinen Haaren stößt sie hingegen kleine Entzückungsschreie aus und sagt »Oh!« und »Ah, wie schön!«. Mein Mund lässt sie kalt und dass meine Nase nervös hin und her tänzelt, scheint sie einfach zu übersehen. Nun ist aber genug, denke ich, denn natürlich bin ich so ein Herumbefummele nicht gewöhnt, doch ihre Hände geben keine Ruhe, wandern nach unten, über die Schultern. »Entschuldigung«, grinst sie gut gelaunt, »ich hätte dir ein ganzes Schwein gegrillt, wenn ich gewusst hätte, dass du so klapperdürr bist. Wie alt bist du?« »Vierzehn und ich heiße übrigens Eve. Eve Fell«, füge
ich hinzu. »Und ich bin ganz bestimmt nicht klapperdürr, ich will abnehmen.« »Abnehmen, so, so. Also gut, ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Ich bin fünfzehn und ich will zunehmen.« Erneut lachen wir, doch es ist ein komisches, fast melancholisches Lachen. Denn ist es nicht so, dass wir überhaupt nicht zusammenpassen? »Wir passen überhaupt nicht zusammen«, sagt sie wie aus der Pistole geschossen und ich finde, dass sie viel zu viele meiner Gedanken errät. Oder aber wir passen doch zusammen, weil wir immer die gleichen Gedanken haben. »Erzähl mir was von dir«, fordert sie mich auf und ich fange mit meinem Vater an, berichte, dass er am deutschen Archäologischen Institut in Kairo arbeitet, als Kunsthistoriker, und wir deshalb hier sind. »Er schreibt Artikel für die Fachpresse, berichtet über Ausgrabungen und den Zustand der Kulturdenkmäler. Er hat auch schon zwei Bücher veröffentlicht.« Ich warte, will ihr die Chance geben, eine anerkennende Bemerkung loszuwerden, doch die Tatsache, dass mein Vater Bücher schreibt, scheint sie nicht zu beeindrucken. »Mama und Lisa werden nach unserem Urlaub bei ihm in Kairo bleiben. Ich fahre zurück und passe auf unser Haus auf. Nicht alleine, klaro, meine Oma wird zu mir ziehen. Weil gerade Ferien sind, bin ich mit Mama und Lisa mitgefahren. Aber ich finde es ziemlich öde hier. Nur Wasser und Fische und Sand und Sonne.«
»Und jede Menge Sport und jede Menge Kultur.« »Interessiert mich nicht«, gebe ich zu. »Früher«, erklärt Kleo nach einer bedrückenden Pause, »früher konnte ich Tennis spielen, ich konnte in einem voll besetzten Schwimmbad schwimmen, ich konnte alleine Rad fahren, ich konnte ...« Sie bricht ihre Aufzählung ab, legt erneut eine Pause ein. »Heute bin ich bei fast jeder Sportart auf Hilfe angewiesen.« Ihre rechte Hand fährt ungeduldig durch die Luft, als wolle sie die trüben Gedanken wegwischen, mit der Linken tastet sie besänftigend nach mir. »Aber was sage ich da? Damals war mir das auch nicht bewusst. Ich habe alles getan und nicht getan, was ich wollte, und dachte keine Sekunde lang darüber nach, dass es eines Tages vorbei sein könnte. Blind sein bedeutet nämlich viel mehr, als nur das Augenlicht zu verlieren. Du verlierst alles. Dein Selbstvertrauen, deine Mobilität.« »Diesen Eindruck vermittelst du aber gar nicht«, erwidere ich ehrlich erstaunt. Sie ist niemand, mit dem man Mitleid hat. »Nicht mehr«, kontert Kleo. »Man gewöhnt sich daran und lernt andere Dinge zu schätzen. Aber du bist ein Dummkopf, wenn du deinen Körper und deinen Geist vernachlässigst. Du musst raus und dir alles holen, was die Welt zu bieten hat. Alles!« He, he, jetzt mal langsam. Sind wir hier in der Schule oder was? Warum soll ich Dinge tun, zu denen ich keinen
Bock habe? Kleos Art hat sich verändert und mir fällt auf, dass ihre Sprüche ziemlich bescheiden, um nicht zu sagen mütterlich, geworden sind. Kann daran liegen, dass sich kein männliches Wesen mehr in unserer Nähe befindet. Kleo schüttelt nachdenklich den Kopf. »Und deine Mutter? Ist die happy über den Klimawechsel?« »Wie meinst du das?«, stutze ich angesichts des unerwarteten Themenwechsels. »Du erzählst nur von deinem Vater. Er wollte beruflich nach Ägypten. Aber was wollte deine Mutter?« Ja, was wollte meine Mutter? Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Um so erstaunlicher finde ich, dass Kleo darüber nachdenkt. »Natürlich war meine Mutter zunächst hin und her gerissen«, gebe ich zu. »Schließlich musste sie ihre Stelle bei der Bank aufgeben. Und dass ich nicht umziehen will, hat ihr den Rest gegeben. Aber schließlich liebt sie meinen Vater und deshalb…« »Pah«, unterbricht mich Kleo und ihre Hand tänzelt aufgebracht vor meiner Nase auf und ab. »Du bist vielleicht eine naive Tussi.« Doch noch bevor ich fragen kann, was das denn bitte heißen soll, fragt sie versöhnlich: »Hast du noch Hunger?« Echt, sie ist eine einzige Katastrophe. Dauernd regt sie sich auf, um sich Sekunden später wieder abzuregen. Sie ist
ein Jojo, das im ständigen Wechsel rauf- und runterhüpft. Und was soll die letzte Frage? Natürlich habe ich Hunger, aber keinen Bock auf noch mehr Brot. Also schiebe ich mir einen Kaugummi zwischen die Zähne, fasse im Stillen zusammen: Sie ist blind und sie ist allein. Aber das kann nicht alles sein. Ich spüre, da steckt mehr dahinter. »Was machen denn deine Eltern?«, frage ich neugierig. »Meine Eltern?«, wiederholt Kleo, als würde ich undeutlich sprechen, und man merkt, dass sie an dem Wort ein bisschen herumkaut. Kaut darauf herum und zögert, als müsse sie sich noch die richtige Antwort zurechtlegen. Dann schüttelt sie den Kopf, legt ihn schief, was drollig aussieht, weil es an einen Vogel erinnert, grinst und beginnt wie ein Buch zu berichten. Von ihrem tollen Vater und ihrer tollen Mutter und deren Jobs in irgendeiner großen, tollen Bank und dass sie noch drei kleine Geschwister hat, die aber alle bei einer Tante auf dem Land leben. Die Tante ist auch ganz toll. Sie aber, Kleo, wohnt bei einer Tante in Berlin. Das ist natürlich eine andere Tante. Aber deshalb ist die nicht weniger toll. Und zur Schule geht sie auch, na klar, aber auf kein normales Gymnasium, sondern auf eine ganz tolle Spezialschule. Und während des ganzen Monologs glühen ihre Wangen und ihre Hände tanzen einen wilden Cha-ChaCha. Ich bin wie erschlagen durch diese Menge an Worten und Gesten, doch ich verstehe nur Bahnhof. Kein Wunder, dass sie so komisch ist und sich nur von Brot ernährt, bei dem Durcheinander an tollen Tanten und tollen Eltern und Geschwistern.
»Und wo ist das, ich meine, in welcher Stadt wohnen deine Eltern?« Funkstille. Da habe ich eine Frage gestellt, die man nicht stellen darf. Alter, Name, Schule, das alles darf man wissen, aber beim Wohnort, da hört es auf. »Ist nicht so wichtig«, hakt sie es einfach ab, »das erzähle ich dir ein anderes Mal.« Und plötzlich steht sie auf, holt eine kleine Uhr aus der Hosentasche, drückt auf einen Knopf und eine piepsige Stimme verrät uns: »Es ist dreiundzwanzig Uhr und dreiundzwanzig Minuten.« »Schluss, Aus, Ende der Vorstellung«, beschließt Kleo in strengem Ton. »Kleine Kinder wie wir sollten längst im Bett sein. Ich denke, deine Mutti wird sich freuen, dich wiederzuhaben.« Und bevor ich lachen oder protestieren oder sonst etwas tun kann, beginnt dieses groß geratene Mädchen zu singen: »Nütze die Zeit, denn das Leben ist nur ein Traum und alles geht dahin ...« Singt leise, aber mit einer solchen Eindringlichkeit und Kraft, dass ich erstaunt die Luft anhalte. »Ist ja gut, ich gehe schon«, ergebe ich mich, möchte noch eine Floskel hinzufügen, doch Kleo ist schneller: »Können wir uns wiedersehen?« »Kein Problem«, antworte ich so lässig wie möglich, »ich hab kein Programm.« »Aber ich«, kontert sie und setzt sich wieder. »Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier. Schließlich befinden
wir uns nicht in irgendeinem Urlaubsland, sondern in Ägypten. Wie wär's, wenn wir uns den Tempel der Hatschepsut gemeinsam anschauen würden? Du weißt schon, den Terrassentempel in Der el-Bahri.« Ich weiß natürlich nichts davon und einen so komplizierten Namen kann ich mir ganz bestimmt nicht länger als drei Sekunden merken, obwohl mein Vater alles dransetzt, mich kulturell zu bilden. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, schon ist der Name weg. Ich mache ein griesgrämiges Gesicht, doch das nutzt bei Kleo natürlich gar nichts, schließlich ist sie blind. Dass ich dumm herumstehe, abreisefertig sozusagen, scheint sie vergessen zu haben. Ungeniert fährt sie fort, mir Wissenswertes über diese erste ägyptische Pharaonin zu erzählen, und obwohl sich in ihre Stimme wieder ein besserwisserischer Unterton mischt, lehrerhaft, setze ich mich wieder hin, höre zu. »Sie war mit Thutmosis II. verheiratet, weißt du. Nach seinem Tod hat sie für ihren unmündigen Stiefsohn die Geschäfte geführt, doch nach ein paar Jahren hat sie sich selbst zur Pharaonin krönen lassen. Ein Orakel hatte diese Weissagung getroffen und sie ist ihr gefolgt.« »Hätte ich an ihrer Stelle auch gemacht. Man muss das dominante männliche Geschlecht aushebeln, wo es nur geht. Ich glaube, ich habe mal von einem Thutmosis geträumt, dabei kenn ich den gar nicht.« Der letzte Satz geht in Kleos lautem Gelächter unter. »Hört, hört«, frohlockt sie und schlägt sich begeistert in
die Hände, »mit dir ist mir eine echte Emanze ins Netz gegangen.« Ich falle in ihr Lachen ein, denn ganz bestimmt bin ich keine Emanze. Doch Kleo fordert mich heraus. Sie übernimmt sofort wieder das Gespräch, kaut lange auf dem Thema herum, dass die Pharaonen übersinnliche Kräfte besaßen und dem Volk dienten, indem sie eine Brücke zwischen den Göttern und den Menschen herstellten. Das hört sich ganz schön gruselig an und ich setze immer wieder zu einem Einspruch an, komme aber nicht zu Wort. Das sieht für eine Blinde natürlich so aus, als würde man aufmerksam zuhören, eine Tatsache, die mich ganz besonders ärgert. »Maat-ka-Ra Hatschepsut war sehr beliebt und erhielt Rückendeckung von der Priesterschaft. Zeit ihres Lebens betrieb sie eine ausgesprochene Friedenspolitik, deshalb nennt man sie auch die Friedenspharaonin. Was, wie du vorhin so schön gesagt hast, mal wieder zeigt, dass Frauen an die Macht gehören. Nach ihrem Tod hat man versucht, das Andenken an sie zu zerstören, hat sie aus zahlreichen Schriften getilgt, doch ihr Tempel steht heute noch. Er zählt nicht zu den Schönsten, aber ...« Es ist schwer, ihr zu folgen, denn sie redet wie ein Wasserfall, fast so, als würde sie aus einem Buch vorlesen. Bei Buch fällt mir etwas ein und ich schiele auf den Tisch hinüber um zu sehen, mit was sie sich beschäftigt. Doch meine Neugierde kann ich getrost vergessen, denn alle Blätter sind neutral weiß, sehen aus wie überdimensionales Klopapier.
Kleine, erhabene Pünktchen, anstelle von Schriftzeichen, erinnern daran, dass ich es mit einer Blinden zu tun habe. »Das Bemerkenswerte daran ist ...«, höre ich Kleo sagen, »... dass man ihre Mumie nie gefunden hat.« Ich schnappe mir einen der dicken Papierstapel und blättere darin. Fahre mit der Fingerkuppe über das geprägte Papier. »Grabräuber haben die Kammern offen stehen gelassen. Vielleicht mussten sie fliehen und Schakale haben sich den einbalsamierten Leichnam geschnappt.« Mein Blick fällt auf eine kleine Maschine, die aussieht wie eine Schreibmaschine und ich beschließe, mir die Funktion der sechs Tasten erklären zu lassen. Würde mich mehr interessieren als alle Pharaonen der Welt. »Oder aber«, doziert Kleo weiter, »sie wurde nicht in ihrem Grab beigesetzt, sondern an einem geheimen Ort.« Schon gut, schon gut, wehre ich in Gedanken ab, und sie muss diese Ablehnung spüren, denn sie hört augenblicklich mit ihrem Vortrag auf. Sofort schäme ich mich. Aber ich kann nichts für meine Gefühle. Neben ihrem Wissen, vor allem aber neben ihrem beflügelten Interesse, komme ich mir mickrig und langweilig vor. »Was liest du da?«, frage ich also, um nicht ganz desinteressiert dazustehen.
Natürlich begreift sie nicht sofort. Schließlich kann sie nicht wissen, was ich in den Händen halte. Ich reiche ihr den gebundenen weißen Papierstapel, beobachte, wie ihre Hände über die erste Linie gleitet. »Das sind Auszüge aus dem ›Stern‹.« »Stern?«, frage ich entgeistert, »meinst du das Magazin?« Möchte gerne hinzufügen: Dieses Käseblatt, das sich vor allem durch grelle, nach Aufmerksamkeit heischende Bilder auszeichnet und dessen Texte vernachlässigbar sind? »Man muss lesen, was man kriegt«, antwortet Kleo prompt. Wenn sie schon nichts sieht, so kann sie offensichtlich sehr gut heraushören, was ich fühle und denke. »Den Stern kriege ich umsonst«, gibt sie zu »und schließlich habt ihr Sehenden nicht das Recht gepachtet, euch mit Banalthemen abzugeben!« Darauf kann oder will ich nichts sagen und stehe deshalb erneut auf, streiche mir die Krümel vom Rock, halte ihr die Hand hin. Selbstverständlich greift sie nicht danach. Mein Blick fällt auf das Gerät auf dem Tisch und ich nutze die Gelegenheit: »Was hat es mit dieser Maschine auf sich?« Diesmal bin ich schnell genug, um sie ihr vor die Nase zu stellen, damit sie sie befingern und erklären kann. Eifrig greift Kleo unter den Tisch, holt aus einer Tasche ein Stück Papier heraus, spannt es ein und beginnt auf der Maschine schnell und geschickt zu schreiben. »Sechs Tasten mit eins bis sechs Punkten, für insgesamt
64 Kombinationen«, erklärt sie. »Reicht aus, um alle Buchstaben und Ziffern darzustellen. Nimmt nur furchtbar viel Platz in Anspruch, deshalb sind die Bücher alle so groß und schwer.« Sehr interessant! Wirklich! Kleo zeigt mir alle Buchstaben und ich übe mich selbst im Schreiben, doch bald können wir beide das Gähnen nicht mehr unterdrücken und ich stehe zum dritten Mal auf, verabschiede mich. Da fällt mir ein, dass ich meinen Teller wegräumen sollte und das tue ich auch. Doch als sie mich mit dem Geschirr klappern hört, fährt sie erschreckt hoch, wackelt wie ein Vogel nervös mit dem Kopf und herrscht mich an: »Lass das sein, ich mach das.« Schnell wie ein Wiesel ist sie bei mir, greift nach dem Teller und zerrt ihn mir aus der Hand. »Alle halten mich für minderbemittelt, weil ich blind bin. Ich räume aber sehr gerne auf, weil ich dann die Sachen wiederfinde.« »Wie du willst«, brumme ich, zucke entschuldigend mit den Schultern und beeile mich ins Bett zu kommen. Und obwohl es sehr spät ist, dauert es verdammt lange, bis ich einschlafen kann.
Vier Mama, Lisa und ich sitzen gerade beim Frühstück, als ich das Tack-tack eines Stockes im Speisesaal höre. Ich fahre wie der Blitz hoch, lasse das Messer fallen und bin schon bei Kleo, bevor Mama mir dumme Fragen stellen kann.
»Guten Morgen, Eve«, begrüßt sie mich und ich muss mich wieder darüber wundern, wie schnell sie reagiert. Ich könnte doch irgendjemand sein. »Es ist dein Parfüm«, kichert sie. »Ich erkenne dich an deinem Parfüm.« »Ich hasse Parfüm«, erwidere ich erstaunt, doch sie lässt sich nicht verunsichern. »Dann benutzt du eben ein stark riechendes Duschgel oder Deo.« Sie lacht immer noch, kommt mit kleinen Schritten näher und fordert mich auf: »Komm, häng dich bei mir ein, wir wollen spazieren gehen.« »Ich bin beim Frühstücken«, protestiere ich kleinlaut. »Macht nichts, ich habe Brot dabei.« Das ist eine ihrer komischen Antworten, kann nicht ernst gemeint sein, doch sie setzt sich tatsächlich in Bewegung, zieht mich mit. »He, warte mal«, bremse ich erneut. »Ich muss meiner Mutter Bescheid sagen.« Nach kurzem Zögern lasse ich sie stehen, eile zurück zum Tisch und teile meiner Mutter mit, dass ich eine neue Freundin habe und sie in den nächsten Stunden nicht mit mir zu rechnen braucht. Das sieht sie natürlich überhaupt nicht ein, sie hat sich vorgestellt, dass wir nach ... fahren. Mama lässt einen unaussprechlichen Namen fallen und ich grüble, ob das der Tempel der Hat-schepsut sein könnte. Wie auch immer, ich schüttele energisch den Kopf und werfe ihr einen meiner Null-Bock-Blicke zu. Sie unternimmt keinen weiteren Versuch, mich zu überreden. Bestimmt nicht, weil ich sie schwer beeindruckt habe, vielmehr hat sie der
Anblick einer scheinbar hilflosen Blinden eingeschüchtert. »Ist deine neue Freundin blind?« »Ja! Und tschüss, bis später«, verabschiede ich mich, greife nach meinen Zeichensachen und eile zurück zu Kleo. Erst jetzt wird mir ihr verändertes Erscheinungsbild bewusst. Gestern ist sie durch schwarze Klamotten aufgefallen, heute trägt sie leuchtendes Weiß. Das sieht einfach toll aus. Ich überlege mir, wie sie es schafft, die Kleidungsstücke auseinander zu halten, wo sie doch nichts sieht. Und woher hat sie ihr Gefühl für Farben und Effekte? Vielleicht ist es aber auch so, dass sie den einfachsten Weg wählt: Sie bleibt konsequent bei einer Nichtfarbe, damit es zu keinen peinlichen Verwechslungen kommen kann. Neugierde kann wehtun und deshalb nehme ich mir vor, bei nächster Gelegenheit einen kleinen Blick in ihren Kleiderschrank zu werfen. »Was machen wir?«, frage ich, während wir durchs Foyer gehen. »Hast du viel gefrühstückt?«, kommt die Gegenfrage. »Nein, wieso?« »Weil ich mal wieder joggen möchte.« »Joggen, wie soll das denn gehen?« »Ganz einfach, ich benutze ein Seil, das mich mit dem Vordermann verbindet. In diesem Fall mit dir.« »Ich jogge aber nicht, nach drei Metern bin ich schlapp.
Außerdem habe ich Urlaub.« »Dann wenigstens spazieren.« Kleos Stimme drängt und sie schiebt mich Richtung Ausgang. »Spazieren gehen ist öde«, antworte ich, doch an Kleos Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass sie bald die Geduld mit mir verlieren wird. »Für dich vielleicht, aber du verstehst sicherlich, dass ich dich ausnützen muss. Ich meine«, lacht Kleo, »dass ich die Gelegenheit ausnützen muss, eine Begleiterin zu haben. Wie dir vielleicht aufgefallen sein dürfte, ist mein Radius begrenzt. Ich kann mich auf festen Wegen und in Gebäuden zurechtfinden, doch ein Spaziergang am Meer ist sehr anstrengend. Offene, große Räume jagen mir Angst ein. Viele Nichtblinde meinen, wir Blinden müssten uns im Freien am wohlsten fühlen, doch das stimmt nicht. Wir brauchen Anhaltspunkte für die Orientierung und die gibt's draußen nicht. Außerdem kriege ich wenig von meiner Umgebung mit. Du könntest ein bisschen für mich dolmetschen, einverstanden?« »Dolmetschen? Du meinst, ich soll dir meine Augen leihen?« »Ja, genau das sollst du.« »Dann kann ich dir gleich verraten, dass niemand geringerer als der Typ von gestern Abend im Garten steht und zum Hotel herüberglotzt«, erzähle ich und kneife sie leicht in
die Seite. »Ich glaube, er hat uns gesehen.« »Dieses Ekelpaket schon wieder? Würg!« »Der sieht aber toll aus!«, beteuere ich. Kleo zeigt sich kein bisschen beeindruckt, sondern erzählt in genervtem Ton, dass sie heute bereits zwei Heiratsanträge bekommen hat. Einen vom Koch höchstpersönlich und einen vom Liftboy. »Lass uns fliehen!«, schreit Kleo übermütig und beginnt mich wegzuzerren. Was soll ich tun? Ich sage dem Typ in Gedanken Ade und gehe mit Kleo einen kleinen Weg um das Hauptgebäude herum, an den Vogelvolieren vorbei und über Umwege zum Strand hinunter. Dabei bin ich froh, dass der Park neu angelegt und sehr gepflegt ist. Die Wege sind breit und gepflastert. Ich erinnere mich an Urlaubsdomizile in Griechenland oder Italien, wo Kleo ständig gestolpert wäre. »Gibt's so was wie ausgesuchte Hotelanlagen für Blinde?«, will ich wissen, nachdem wir hinter einer Liege in Deckung gegangen sind. Kleo tastet gerade den Sand unter uns nach Steinen ab, wie ein Tier das tut, bevor es sich hinlegt. Spazieren gehen scheint gestrichen zu sein. »Du meinst, ob es Hotelanlagen gibt, in denen Blinde erlaubt sind so wie Hunde?« »Nein«, wehre ich mich gegen diese Unterstellung. »Es gibt doch Familienhotels, in denen alles auf Familien mit kleinen Kindern zugeschnitten ist, gibt's so was auch für
Blinde?« »Kann sein«, antwortet Kleo vage. »Ich war ja noch nie weg. Und dieses Hotel hat mir meine Tante ausgesucht.« »Warum ist sie nicht mitgefahren?« Ich muss diese Frage einfach stellen. »Sie konnte nicht«, erwidert Kleo, noch bevor ich ausgesprochen habe. Etwas ruhiger fügt sie hinzu: »Sie steht nicht auf Ägypten und die Pyramiden und so, obwohl sie mir einen ägyptischen Namen gegeben hat.« »Sie hat dir deinen Namen gegeben?«, wundere ich mich. »Haben das nicht deine Eltern getan?« Kleo wird etwas blass um die Nase und stottert: »Natürlich haben meine Eltern meinen Namen ausgesucht. Ich heiße Johanna, genau wie zehntausend andere deutsche Mädchen. Aber meine Tante nennt mich Kleo. Von Kleopatra.« »Schöner Name«, schmeichle ich, »passt zu dir. Du hast was Ägyptisches.« »Sag das noch mal«, fordert eindringlich, bleibt abrupt stehen.
meine
Freundin
»Du siehst ägyptisch aus?«, wiederhole ich vorsichtig. Bei Kleo weiß man nie, ob sie beleidigt ist oder nicht. »Aber Ägypterinnen rauchen nicht.« »Habe ich je geraucht?«
»Gestern habe ich dich mit einer Zigarette kennen gelernt.« »Das war ein Joint, du Äffchen. Davon kann ich mir nicht jeden Tag einen leisten.« Das Wort hängt wie ein Korken in meinem Ohr, lässt meinen Kopf brummen. Natürlich kenne ich welche, die Hasch rauchen, doch die kenne ich nicht gut genug, dass ich ihnen gegenüber zugeben müsste, mich zu jung für das Zeug zu fühlen. Kleo hilft mir auf die Sprünge: »Keine Sorge, ich deale nicht mit dem Zeug. Ich werde dich nicht dazu überreden, auch nur einen einzigen Zug zu nehmen. Ehrlich gesagt habe ich darüber nachgedacht, dieses teure Hobby an den Nagel zu hängen, passt sowieso nicht zu mir. Aber was ich noch sagen wollte ...« »Du bist manchmal verdammt ernst«, unterbreche ich sie, kicke ein paar Steinchen zur Seite. »Weiß ich.« »Kommt das, weil du blind bist?« »Nein, ich war immer schon anders.« »Vergisst du manchmal, dass du blind bist?« »Natürlich, dauernd. Wenn ich träume zum Beispiel. In meinen Träumen bin ich eine Königin, wunderschön und unnahbar und meine Augen sind das wichtigste Instrument
meiner Macht, besser gesagt meiner Machtausübung. Ein kalter Blick, ein kurzes Zucken und meine Wünsche werden sofort erfüllt. In meinen Träumen besitze ich hellseherische Fähigkeiten, kann in die Zukunft schauen und die Geschicke der Menschen um mich herum lenken.« Sie steht auf, gebietet mir mit ihr spazieren zu gehen. Gebietet wirklich, mit hoher, fordernder Stimme. »Besonders wirklichkeitsbezogen bist du nicht«, lache ich. »Ich sehe ein, dass ich dir die Welt um dich herum beschreiben muss.« Und viel mehr machen wir auch nicht an diesem Tag. Ich erzähle ihr, was ich sehe, und sie kommentiert es, weil sie zu allem ihren Senf dazugeben muss. Trotzdem kann ich nicht genug von ihr kriegen. Auch sie schaut mich beim Abschied ein bisschen wehmütig an und sagt: »Schade, dass ihr morgen nach Karnak fahrt, so ganz ohne mich.« »Mir wär's auch lieber, wir könnten was zusammen machen. Das wird bestimmt saulangweilig.« Mein Gesicht in den staubigen Fensterscheiben eines vorübertuckernden Touristenbusses. Ich sehe es aufleuchten, für Sekunden nur, doch ich erkenne zwei große, weit aufgerissene Augen, einen blassen, zu einem dünnen Strich gezogenen Mund, blonde, vom Wind zerzauste Haare, die wie eine zerfetzte Fahne meinen Kopf umrahmen. Der Ausdruck auf meinem Gesicht erinnert mich an den eines sehr kleinen Kindes, das zum ersten Mal den Zoo besucht und sich vor den großen Tieren fürchtet. Vor kleinen auch.
Ich ziehe meine Lippen auseinander, probiere ein Lächeln, doch der Bus ist davongebraust, trägt mein Spiegelbild und das darin eingefrorene hilflose Lächeln mit sich fort. Ich denke an Kleo und daran, dass ich gerne bei ihr geblieben wäre, aber Mama ließ nicht mit sich reden. »Pflicht ist Pflicht und Schnaps ist Schnaps.« Ihre Worte, nicht meine. Wir fahren durch Luxor. Mama, Lisa und ich. Lisa, in ihrem kurzen geblümten Sommerkleid, hundert verschiedenfarbige Spangen im Kraushaar, plappert unaufhörlich. Mama, buntes, wadenlanges Kleid, erzählt ein bisschen. Und ich, in kurzer Jeanshose und Trägerhemdchen, sage gar nichts mehr. Ich meine, ich weiß schon, dass wir in ein Entwicklungsland gefahren sind, in ein Land also, in dem die allermeisten Menschen bettelarm sind. Doch zwischen Wissen und Sehen ist ein großer Unterschied und ich wusste nicht, dass Menschen so arm sein können. Lisa ist ebenso aufgewühlt wie ich, thront auf Mamas Schoß, quiekt laut und erzählt ohne Pause, was nur sie zu sehen glaubt. »Mama, schau, der Esel!« Lisa zeigt auf ein schmächtiges Tier, dessen mageres Vorderteil in einem Zeitschriftenladen steht. Das ist merkwürdig, denn meines Wissens können Esel nicht lesen. »Und warum sitzen die Kinder dort drüben auf einem Berg Müll? Bewachen sie ihn gegen wilde Räuber?« »Sei endlich still!«, pfeife ich sie an, ernte einen bitterbösen Blick von meiner Mutter.
Karnak steht auf dem Programm, der große Tempelbezirk, an dem nicht ein Herrscher, sondern wahnsinnig viele Pharaonen herumgebastelt haben, fast tausend Jahre lang, auf dass er noch größer und noch pompöser werde. Das alles weiß ich von Papa, denn er versucht zeitweise, ein gebildetes Mädchen aus mir zu machen. Mama hat vor, meinen Vater in Sachen Kultur würdig zu vertreten. Das bedeutet, dass sie alle naselang stehen bleibt, um uns etwas zu erklären. Doch da sie ein miserables Gedächtnis hat, erzählt sie nicht frei, sondern liest uns aus dem Reiseführer vor. Das läuft dann so ab, dass wir inmitten aller anderen Touristen im großen Säulensaal stehen, den Kopf im Schatten, damit wir keinen Dachschaden kriegen, und uns anhören müssen, wer wann weshalb diese Säulen oder jene Obelisken oder jene Sphinxallee gebaut hat, beziehungsweise bauen ließ. Namen wie Ramses II. und Ramses III., Sethos I. und Hatschepsut fliegen wie Herbstblätter durch die Luft. Ich will sie einfangen, doch der Wind treibt sie immer weiter fort und schließlich gebe ich auf, schalte auf Durchzug und gucke zwischen dem Wald aus weißen Papyrussäulen hindurch in den Himmel. Das kann man nicht ewig machen. Mein Blick gleitet wie eine Kamera zurück auf die Erde und ich betrachte die aufgeregten Menschen um mich herum und denke nur, dass ich mir das ganz anders vorgestellt habe, feierlicher irgendwie. Mama ist echt peinlich, wie sie dasteht, in ihrem Kleidchen, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, und uns vorliest. Ich bezweifle, dass es eine gute Idee war,
mitzufahren. Mir ist total heiß und komisch zumute. »Das ist ja alles wunderbar und beeindruckend«, gebe ich zu, schiebe mir einen Kaugummi in den Mund. »Aber irgendwie sieht alles gleich aus. Ich meine, es sind nur Steine. Kann ich ein Eis haben?« »Ich will auch Eis haben«, piepst Lisa, springt auf und hüpft begeistert auf der Stelle. »Eis, Eis, Eis!«, fordert sie lautstark. Aber Mama lässt sich nicht beeindrucken: Sie muss unbedingt noch was loswerden, von wegen tonnenschwere Granitblöcke und bemerkenswerte Leistung. Da platzt mir der Kragen und ich blicke ihr tief in die vor Begeisterung glühenden Augen, knirsche mit den Zähnen wie ein Wolf und erinnere sie daran, dass sie mir jahrelang Vorträge darüber gehalten hat, dass so ein gigantischer Plunder nur mit Hilfe von billigen Sklaven hochgezogen werden konnte. Daraufhin ist Mama erst einmal still, spendiert ein Eis. Doch danach machen wir weiter auf Kultur, gucken uns die Große Festhalle von Thutmosis III. und seinen Totentempel an, was gar nicht so schlimm ist, denn mit diesem Namen kann ich seit gestern etwas anfangen. Ich passe gut auf, um Kleo später mit meinem Wissen zu beeindrucken. Ich vermisse sie, finde es schade, dass wir den Tag nicht zusammen verbringen konnten. Am frühen Abend treffe ich Kleo am Strand wieder. Sie sitzt an der gleichen Stelle, scheint auf mich zu warten. Vorsichtig schleiche ich mich an sie heran, will sie
überraschen. Doch das kann man bei ihr getrost vergessen, sie hat mich längst gehört oder gespürt. Aufgeregt reckt sie ihren langen Hals, wendet den Kopf, blickt mir entgegen, lächelt. Während ich ihr von unserem Ausflug erzähle, driftet sie jedoch wieder in ihre Welt ab. Plötzlich habe ich eine Idee, ich schließe die Augen, versuche so zu sein wie sie. Zu hören, was sie hört, zu spüren, was sie spürt. Und stelle erstaunt fest, dass sich die Dinge nach und nach verändern. Das Rauschen des Meeres, eben noch ein unwichtiges Hintergrundgeräusch, kommt mir sehr laut, sehr intensiv vor. Die warme Sonne, allgegenwärtig, wärmend und hell, brennt nun heiß auf meiner Haut, erhitzt und kitzelt mich gleichzeitig, lässt mich niesen. Und da ist Kleo, die leise summt, deren Herzschlag ich nicht hören, aber spüren kann. Irgendwie fühlt sich dieses Blindsein schön an und trotzdem fehlt etwas, das Licht, die Farben. Gierig sauge ich die salzige Meeresluft ein, öffne die Augen und bin wieder ich selbst. »Es ist schön hier«, sage ich und lasse den warmen Sand zwischen den gespreizten Fingern hindurchgleiten. »Es ist trügerisch«, antwortet Kleo ernst. Rasch drehe ich mich zu ihr, will wissen, will sehen, was diese komische Bemerkung bedeuten soll. Alles erscheint mir ruhig und friedlich. Zwei Minuten später werde ich eines Besseren belehrt. Dunkle Wolken ziehen auf, der Himmel verfärbt sich in Sekundenschnelle und bevor ich wirklich begreife, was geschieht, prasseln dicke, schwere Regentropfen
auf uns nieder. Kleo lacht, beginnt aufgeregt mit dem Kopf zu wackeln, möchte, dass ich sie auf ein freies Stück Strand bringe, sofort. »Keine Liege in meiner Nähe, keine Steine, nichts, versprichst du mir das?« Ich nicke mal wieder, tue, was sie will, und dann schüttle ich staunend den Kopf. Kleo breitet die Hände wie Flügel aus, wirft den Kopf nach hinten, schließt die Augen und beginnt sich im Kreis zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller und schließlich wirbelt sie über den Sand, taumelt, fängt sich wieder, macht weiter und weiter. Sie tanzt endlich so, wie sie es in geschlossenen Räumen mit festem Untergrund nicht darf. Bietet dem Regengott oder wer weiß wem ihren Körper an. Ohne Hemmungen, ohne Angst, wie es scheint. Sie kann nicht wissen, dass alle Touristen das Weite gesucht haben, bis auf einige wenige, die sich rasch in die Fluten gestürzt haben, doch das wäre ihr wahrscheinlich auch egal. Sie ist, wie sie ist, und sie nimmt für sich das Recht in Anspruch, in diesem gottverdammten Regen zu tanzen, wenn es ihr gefällt. Dicke Regentropfen haben sich in ihren Haaren gesammelt, suchen sich einen Weg übers Gesicht, fließen als kleine Bäche über ihre Schultern, ihre Brüste, den Bauch und die Beine hinunter und kullern schließlich als Perlen in den Sand. Gierig ist dieser Sand, saugt die Feuchtigkeit in Sekundenschnelle auf, und gierig kommt mir auch Kleo vor. Aus den Augenwinkeln heraus nehme ich wahr, dass sich Oliver und noch so ein Typ an uns herangeschlichen haben. In
einiger Entfernung sitzen sie unter einem Sonnenschirm, beobachten, was wir treiben. Kleos Kleidung ist vollkommen durchnässt, obwohl der Regen genauso schlagartig wieder aufgehört hat, wie er begann. Ihr Pulli, doppelt so lang wie vor wenigen Minuten, hat sich in ein weißes, eng anliegendes Kleid verwandelt, das ihre großen Brüste, die Hüften, selbst den Schamhügel deutlich sichtbar werden lässt. Wie sie so dasteht, dem Naturereignis nachspürt, erinnert sie mich an eine ägyptische Statue. Schön und unsterblich. Regen ist etwas Herrliches«, erklärt Kleo kurze Zeit später. »Auch zu Hause liebe ich es, im Regen spazieren zu gehen, denn der Regen macht die Welt für mich sichtbar. Je nach Untergrund verursachen die Tropfen unterschiedliche Geräusche. Dann sehe ich unser Hausdach, sehe den Rasen, die Pflastersteine. Ein Mal, ein einziges Mal möchte ich, dass es in meinem Zimmer regnet, so richtig toll regnet.« Ich sage nichts dazu, bin gefangen in einer Traurigkeit, die nicht die meine ist. Seit ich Kleo kenne, fühle ich mich schuldig. Schuldig, weil ich sehen kann und sie nicht. Sie hat immerhin zwei Verehrer, fällt mir ein. Ich drehe mich nach den beiden um, will sehen, was sie treiben, doch der Platz unter dem Sonnenschirm ist leer.
Fünf »Aber Morgen fahren wir weg, versprochen?«, fordert Kleo.
Es ist spät. Den ganzen Abend hat sie kein Wort über die Hatschepsut verloren und ich dachte, sie hätte die alte Dame und ihren Tempel vergessen. Ich bin hundemüde und auf Kultur habe ich überhaupt keinen Bock mehr. Andererseits ist es der absolute Wahnsinn, mit Kleo zusammen zu sein, denn ihr fällt ständig etwas Neues ein, als würde sie nur auf die Momente hinarbeiten, in denen sie etwas anstellen kann. »Wohin willst du denn?«, frage ich neugierig. »Na, immer noch nach Der el-Bahri«, antwortet sie lachend. »Ich habe uns schon angemeldet.« Absolut hammermäßig, was denkt sie sich dabei? »Das kannst du doch nicht machen«, protestiere ich. »Schließlich bin ich nicht alleine unterwegs wie du.« »Keine Sorge, ich habe mit deiner Mutter gesprochen«, kontert Kleo. »Sie ist einverstanden.« Ich stoße mit einem wilden Seufzer die Luft aus und überlege, ob ich sauer oder belustigt sein soll. Gerade habe ich sie gedanklich noch über den Klee gelobt, jetzt könnte ich sie in der Luft zerreißen. Ist das so, wenn man mit einer Verrückten befreundet ist? Ja, so ist es, antworte ich mir selbst und beginne nun doch zu lachen. »Du bist unmöglich, Kleo«, sage ich zwischen den Lachpausen. »Weiß ich, weiß ich.« Sie verzieht das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, dann schubst sie mich sanft und sagt: »Und
nun hau endlich ab! Ich muss fernsehen. Hier gibt's keine Zeitschriften für mich und ich muss doch wissen, was in der Welt passiert.« Eine Sekunde später überlegt sie es sich anders, tastet sich an meinen Armen nach oben, packt mein Gesicht mit ihren langen Krallen und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ganz leicht, ganz zart. Ihre Berührungen haben etwas Feierliches, Ernsthaftes wie bei einer heiligen Zeremonie. In dieser Stimmung wirkt sie sehr erwachsen. Erwachsen und fremd. Kein Hauch von Unsicherheit oder Verlegenheit geht von ihr aus. Dafür winde ich mich wie ein gefangener Fisch, dem die Luft ausgeht. Sie hält mein Gesicht lange zwischen den Händen, lächelt mich an. Dann dreht sie sich um. Ich weiß, ich bin entlassen. Ohne Eile schlendere ich zu meinem Zimmer und überlege, wie es kommt, dass sie mir so wichtig ist. Obwohl ich sie kaum kenne. Obwohl sie so anders ist als alle anderen Mädchen. Obwohl sie lügt. Als ich den Schlüssel hervorholen will, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie eine Frau den Kopf aus einem der angrenzenden Zimmer steckt. Ich kann sie nur wenige Sekunden lang sehen, denn als sie mich bemerkt, zieht sie sich schnell zurück, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es die gleiche Frau ist, die vorgestern an der Rezeption stand. Ich erkenne sie an ihren großen, dunkel geschminkten Augen und wundere mich darüber, was sie in einem Hotelzimmer zu suchen hat und warum sie sich vor mir versteckt. Doch schließlich geht sie mich nichts an.
Ich schließe auf, gehe leise ins Zimmer. Um sieben Uhr klingelt der Wecker zum Kulturrausch. Lisa, wie immer schon wach, rüttelt und schüttelt an mir, damit ich endlich aus den Federn komme. »Mama war schon da und hat gesagt, ich soll dich auf keinen Fall wieder einschlafen lassen. Notfalls soll ich mich auf dich setzen und auf dir herumhüpfen.« Das macht die Göre doch glatt. »He, runter, du Trampeltier!«, schimpfe ich und nehme mir vor: Beim Frühstück werde ich eine gelangweilte Miene aufsetzen, mit Gleichmut den Anblick der Wüste ertragen und den Tempel nur unter Murren und Maulen betreten. Nicht dass Kleo und Mama meinen, sie könnten jeden Tag einen auf Kultur mit mir machen. Mit Schaudern denke ich daran, dass wir für die Besichtigung von Karnak über sechs Stunden gebraucht haben. Es kommt natürlich wieder einmal ganz anders als geplant. Lisa und Kleo verstehen sich auf Anhieb und ich lasse mich auf ihre fröhliche und ausgelassene Stimmung ein, sodass wir die ganze Busfahrt über kichern, quatschen und rumalbern. Von der Landschaft verpassen wir nicht viel, zumal wir gestern bereits das Vergnügen hatten. Zunächst fahren wir am Roten Meer entlang, anschließend durch die Wüste, die aus einer einzigen braungelben Gebirgskette zu bestehen scheint und mich ebenfalls nicht vom Hocker reißt. Kleo unterhält uns mit Geschichten aus ihrer Schule, erzählt,
dass dort alle blind sind, sogar manche der Lehrer. Die sind aber trotzdem schlimm und eigentlich ist sie froh, wenn weit und breit niemand von ihrer »Rasse«, wie sie sich selber nennt, unterwegs ist. »Wie ist es, wenn man blind ist?«, möchte Lisa wissen und spitzt sensationslüstern ihren kleinen Mund. Ich zwinkere sie böse an, doch Kleo winkt gelassen mit der Hand ab. Woher weiß sie, dass ich zwinkere? »Das ist, als würdest du die Rollläden runterlassen und vergessen, sie wieder hochzuziehen«, schlägt Kleo vor, ergreift Lisas Hand und legt sie auf deren Augen. Lisa kann's nicht lassen, noch weitere Fragen zu stellen, und so erfahre ich, dass Kleo bis zu ihrem elften Lebensjahr die allerbesten, dann etwas miese und seit etwa zwei Jahren die allerblödes-ten Augen der ganzen Welt hat, nämlich gar keine mehr. »Und keiner weiß warum. Alle Ärzte und Wissenschaftler dieses Planeten stehen vor einem Rätsel. Nur gut, dass ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, nicht mehr mit den Augen zu sehen. Jetzt sehe ich mit meinem ganzen Körper. Mit meinen Händen, meiner Nase, meinen Ohren. Aber leider ist die Landschaft da draußen so weit weg, dass ich sie nicht anfassen kann, also bitte ...« Diese Aufforderung kenne ich bereits. Wir müssen ihr jeden vorbeiziehenden Pferdekarren beschreiben, jedes Taubenhaus, jede Lehmhütte, die Farben der Feldfrüchte. Und sie? Sie sperrt einem hungrigen Küken gleich den Mund weit auf, lässt sich mit Worten füttern, schlingt gierig alles herunter, verlangt nach
mehr und noch mehr Informationen. Längst haben wir die Arabische Wüste verlassen, fahren am Nil entlang Richtung Süden. Unser Bus überholt eine am Straßenrand wandernde Karawane aus schwarz gekleideten Frauen. Ich beuge mich aus dem Fenster, sehe, dass sie alle etwas auf dem Kopf balancieren. Die eine einen Taubenkäfig, eine andere einen riesengroßen Heuballen, eine dritte und vierte Weidenkörbe mit Kleidung oder Tüchern darin. Die meisten haben sich außerdem je ein Huhn unter den Arm geklemmt, ein lebendiges natürlich. Hühner gehören in Ägypten zum Alltagsleben. Sie liegen nicht tiefgefroren in Kühltruhen herum oder sitzen in großen Hallen in Käfigbatterien, sondern leben unmittelbar zwischen und mit den Menschen, werden spazieren getragen, ausgeführt. Der Staub, den unser Bus aufwirbelt, pudert die Frauen und Tiere grau ein, doch das scheint die einen wie die anderen nicht weiter zu stören. Gelassen marschieren und hängen sie weiter herum. Am Westufer des Nils schließlich hält der Bus, wir müssen umsteigen. »Wir trennen uns von der Reisegruppe«, schlägt Mama vor »und reiten auf eigene Faust weiter.« »Weiterreiten?«, kichert Lisa. »Auf Kamelen?« »Wart's ab.« »Esel, ich rieche Esel«, jauchzt Kleo kurze Zeit später.
Und wieder überrascht sie uns, denn als wir bei den Eseltreibern ankommen, bewegt sie sich mit einer Zielstrebigkeit und Selbstsicherheit auf die Tiere zu, als würde sie hier arbeiten. Ohne zu zögern hält sie den Tieren die offene Hand hin, lässt sie daran schnuppern, schnuppert selbst, wie es scheint, und entscheidet sich zielsicher für einen weißen Esel, der etwas abseits steht. Der Führer, ein junger Kerl von kaum zwanzig Jahren, protestiert zwar, das sei sein Esel, doch sie lässt sich nicht umstimmen. Wir handeln einen Preis aus, dann bekommt jeder von uns einen Esel zwischen die Beine geklemmt und ab geht's. Bei mir geht's allerdings kaum vorwärts, denn mein Tier scheint die letzten Tage nichts zu essen bekommen zu haben. Es muss an jedem grünen Feld stehen bleiben und sich erst einmal den Bauch voll schlagen. »Jalla, jalla!«, ruft der Führer energisch, kommt zu mir zurückgeritten und klopft Hubert, so habe ich ihn getauft, unsanft aufs Hinterteil. Ich funkle den Eseltreiber böse an, doch nach der zehnten Futterpause von Hubert ist der Abstand zwischen mir und den anderen so groß, dass ich ihm selbst kräftig eins hintendrauf gebe. Mein Ton hat sich auch geändert. »Jalla, jalla!«, brülle ich voller Inbrunst. »Los, du fauler Kerl, du Fresssack, du Faulpelz, du ...« Das klappt ganz gut, Hubert holt auf. Die grünen Felder haben wir inzwischen verlassen und vor uns windet sich ein schmaler Trampelpfad den Berg hinauf. Der Weg ist so schmal, dass gerade mal ein Esel Platz hat, doch nun scheint mein Esel seine anfängliche Faulheit wieder gutmachen zu wollen. Plötzlich steigert er sein Tempo und überholt einen
Esel nach dem anderen, allerdings immer auf der dem Berg abgewandten Seite. »He, links überholen!«, schreie ich ihm entsetzt ins Ohr, denn mich und ihn trennen nur wenige Millimeter vom Abgrund. Der Führer lacht vergnügt und scheint Hubert sogar noch anzuspornen. Selbst Mama kichert verhalten, doch nach dem dritten Überholmanöver vergeht ihr das Lachen und sie fordert den Führer auf, anzuhalten. Wir gehen zu Fuß weiter und bald schon verfluche ich meine Ängstlichkeit. Die Sonne steht hoch am Himmel, brennt kleine Löcher durch mein blaues T-Shirt. Erst jetzt begreife ich, dass eine lange, weit geschnittene Tunika, wie Kleo sie trägt, ihre Vorteile hat, vor allem wenn sie weiß ist und das Sonnenlicht reflektiert. »Na, wie geht es dir?«, möchte meine Mutter wissen, grinst, ist wieder ganz Kind. Abenteuer haben ihr schon immer gefallen. »Mir ist heiß, ich sterbe!«, rufe ich verzweifelt. Doch eine Pause ist nicht möglich, weit und breit kein Baum, kein Strauch, daher auch kein Fleckchen Schatten. Karg und öde dehnen sich die Berge vor uns aus, erinnern an eine unbewohnte Mondlandschaft. Wir schaffen es schließlich doch, erklimmen den Berg, winden uns in Serpentinen wieder hinunter, bis sich vor uns das Tal der Könige erstreckt. Ich will mich schon freuen, doch wir haben unser Ziel noch lange nicht erreicht. »Was?«, protestiere ich und wische mir den Schweiß
von der Stirn. »Ich sehe überall Touristen, die in schattigen Erdhöhlen verschwinden. Da will ich auch hin, ich will nicht mehr reiten.« »Es geht aber nicht darum, was du willst oder nicht willst«, sagt meine Mutter gnadenlos und galoppiert weiter. Thutmosis IV. lese ich und unter einem Pfeil steht Ramesseum. Das muss der riesige Klotz auf der rechten Seite sein. »He, warum gucken wir nicht mal da rein?«, schlage ich vor, doch niemand scheint mich ernst zu nehmen. Mama quasselt mit dem Eseltreiber, Kleo und Lisa kichern über irgendetwas, das ich nicht mitbekommen habe, und ich trotte hinterdrein, ungeliebt, vergessen. Plötzlich bleibt mir der Mund offen stehen. Auf der rechten Seite entdecke ich eine Gruppe von Touristen, die vor diesem RamesseumDingsbums steht und wie gebannt einen Wald aus zerstörten Säulen angafft. Doch nicht die Gruppe oder das Gebäude erregen meine Neugierde, sondern ein Mädchen, das etwas abseits steht und ihren schmalen weißen Stock über die Stufen führt. Sie hat schulterlanges schwarzes Haar, ist ungefähr in meinem Alter und erinnert mich verdammt stark an Kleo. Weil sie blind zu sein scheint, klar, doch auch weil sie Kleo total ähnlich sieht. »He, wartet mal!«, schreie ich nach vorne, diesmal drängender, doch weil sie mich für eine Nervensäge halten, geben sie ihren Eseln die Sporen und machen sich einen Spaß daraus, davonzugaloppieren. So ein Mist! Als ich sie endlich
eingeholt habe, ist es natürlich sinnlos, ihnen von der verblüffenden Ähnlichkeit zu erzählen. Sie würden mir kein Wort glauben. Bald hat Kleo sowieso nur noch Interesse für den Tempel. Ihre ausgelassene Stimmung ändert sich schlagartig, als wir uns das letzte Stück zu Fuß dem Allerheiligsten nähern. Ich nenne das nur so, für mich haben diese Tempel und Pyramiden nicht allzu viel Heiliges. Sie wurden von Menschen für Menschen erschaffen und dienten meistens allein dem Zweck, den Königen ein Denkmal zu setzen. Und obwohl sie großartig und einmalig sein mögen, sie bestehen doch nur aus aufeinander gesetzten Steinen. Den ganzen Klimbim, der darum gemacht wird, und da können weder Mama noch Kleo mich umstimmen, kann ich nicht nachvollziehen. Sobald der Tempel in Sichtweite ist, beginnt Kleo langsam, dann immer stärker zu zittern. Ich meine nicht dieses Zittern, das man kriegt, wenn man Angst hat oder weint oder so, sondern dieses feine, ganz sanfte Zittern, das einen überfällt, wenn man etwas Aufregendes sieht oder spürt und einem vor Wonne die Gänsehaut den Rücken hoch- oder runterwandert. So ein Schauer ist nicht sichtbar, aber spürbar, schließlich gehen wir Arm in Arm nebeneinander. Wir sind so etwas wie siamesische Zwillinge und ich merke, wie mir meine Gedanken aus dem Kopf herausgesogen werden und ihre Empfindungen in mich hineinfließen. Keine Ahnung, wie ich das erklären soll, es klingt bescheuert, aber Kleo hebt regelrecht ab neben mir. Sie kriegt Flügel wie ein Engel und
einen Glanz in den Augen wie eine Heilige und ich denke, es gibt bestimmt Dinge, die man mit dem Kopf nicht erklären kann, wenn man die Gedanken auch noch so lange hin und her kaut. Manche Sachen muss man einfach erfahren. Kleo ist ja blind, sozusagen behindert, aber gerade deshalb sind ihre anderen Sinne derart fein ausgeprägt, dass sie überdurchschnittliche Kräfte zu besitzen scheint. So versuche ich mir ihr komisches Verhalten zu erklären. Abrupt bleibt sie stehen, richtet ihren leeren Blick auf den Tempel mit dem klangvollen Namen Der el-Bahri und zittert. »Sag, was du siehst«, wispert sie eindringlich und kneift mich in den Unterarm. »Ich sehe einen mächtigen Gebirgshang. Ich hoffe, wir müssen da nicht drüber. Dann sehe ich ein Gebäude, das sich ... wie soll ich sagen, wie ein mit vielen kleinen Zähnen besetztes Haifischmaul aus dem Berg herausgefressen hat.« »Konzentriere dich«, raunt Kleo, »du musst doch mehr sehen.« Na klar, ich sehe einen Kasten, der wie ein modernes Heizkraftwerk aussieht. Das sage ich natürlich nicht, gebe stattdessen ihrer Erregung nach und erläutere: »Also gut, die Zähne sind keine Zähne, sondern eckige Säulen«, korrigiere ich, »unglaublich viele Säulen, auf drei Ebenen verteilt. Hier mochte es jemand klar und einfach. Die runden Säulen in Karnak haben mir besser gefallen. Doch dafür führen schöne
Rampen von einer zur nächsten Plattform.« Kleo schnaubt ungehalten, scharrt wie ein nervöses Pferd in der staubigen Erde. »Ich kann es nicht besser erklären«, rechtfertige ich mich und fordere sie auf, nicht so zu zappeln. »Lass uns näher rangehen, es ist unerträglich heiß hier, wie in einem Backofen.« Kein Wunder, dass sie ihre Könige hier beerdigt haben, totes Land für tote Menschen. »Du musst dir vorstellen«, belehrt mich Kleo, als hätte sie gespürt, woran ich denke, »dass hier früher blühende Gärten rechts und links des "Weges angelegt waren und eine Allee aus Löwenfiguren die Priester zum Tempel geleitete.« »Na klar, na klar«, brumme ich. Kleo ist ja fast so oberlehrerhaft wie mein Vater. Zu dieser Reise habe ich mich nur überreden lassen, nachdem Papa mir versprochen hat, dass wir keine einzige noch so mickrige Pyramide und kein noch so unbedeutendes Museum gemeinsam besuchen. Trotzdem ist es bei Kleo anders. Sie scheint ehrlich betroffen zu sein. Daher beschreibe ich weitere Details des Tempels, ziehe sie langsam, aber hartnäckig näher heran und in den Schatten. »Da stehen lebensgroße Figuren rechts und links der Aufgänge, komm, die gucken wir uns an.« Doch was ich auch sage, es ist nicht gut genug. Echt, ich weiß gar nicht, was sie alles wissen will. Wie viele Pfeiler und wie viele Vorhöfe und wie die Färbung der Steine ist. Sie findet alles wahnsinnig interessant.
»Steine sehen wie Steine aus«, sage ich etwas barsch. »Du hast dich doch vorbereitet. Eigentlich musst du alles im Kopf haben.« »Hab ich auch, hab ich auch, ich weiß genau, aus welchem Material der Tempel besteht und wie viele Terrassen es gibt, doch inzwischen wurde er restauriert und nun will ich wissen, was ihr seht, welchen Eindruck er auf euch macht.« Mein Gott, man könnte meinen, sie hat ihn selber geplant und gebaut, so aufgeregt ist sie. Doch wie gesagt, ich bin nur oberflächlich genervt, sie hat mich mit ihrer Begeisterung angesteckt und irgendwo tief in meinem Inneren hat sich eine Erregung festgesetzt, die nach Befriedigung sucht. Ich will wissen, was es mit diesem Ding auf sich hat, ich will da rein und von mir aus darf Kleo und auch Mama mich mit Fakten voll labern, so viel sie wollen. Es kommt dann noch härter als gedacht, denn nachdem wir schwitzend und ächzend die Rampe hochgestiegen sind und in den Schatten der Säulen eintauchen, beginnt der erste Expertenstreit der beiden. Es ist natürlich kein richtiger Streit, denn Mama hat keine Chance, doch lustig ist es trotzdem, wie die beiden sich gegenüberstehen, die eine einen weißen Stock in der Hand schwingend, die andere einen dicken Reiseführer. Und beide versuchen einander zu belehren, zu widerlegen und zu beeindrucken. Mama gibt nach einer mehrminütigen Diskussion auf, zieht den Kopf ein, klappt das Buch zu und wir folgen Kleo voller Bewunderung zur so genannten Geburtenhalle. Jetzt, im Inneren des Tempels, lehnt sie jede
Hilfe ab. Sie ist mal wieder zickig und behauptet, ich würde sie einengen und sie brauchte Raum zum Atmen. Sie läuft vor uns her, lässt ihren Stock das inzwischen vertraute Tacktack vollführen, bläht ihre Nüstern wie ein Pferd und bricht in Entzückungsschreie aus: »Riecht ihr das, riecht ihr das?«, fragt sie und ihr Kopf tänzelt immer aufgeregter hin und her. »Es riecht immer noch nach Weihwasser und nach der Asche vom heiligen Feuer.« Ich denke: Hä, Weihwasser? Vertut sie sich da nicht? Weihwasser gibt's doch in der katholischen Kirche! »Ihr müsst wissen«, erläutert Kleo, als hätte sie mal wieder in meinen Kopf hineingeschaut, »dass der ägyptische Glaube die christliche Religion stark geprägt hat, so wie die christliche Religion den moslemischen Glauben geprägt hat und so weiter. Wir ...«, Sie sagt wirklich wir, »... haben lange vor den Christen an die Erschaffung der Welt durch nur einen Gott geglaubt. Ptah hat die Welt allein durch Gedanken und Worte zum Leben erweckt. Das haben die Christen aufgenommen, denn im Johannes-Evangelium steht: Im Anfang war das Wort. »Das stimmt«, pflichtet Mama ihr bei, dabei hat sie sich meines Wissens noch nie für Religion interessiert. »Beim Jüngsten Gericht«, fährt Kleo fort, »richtet Gott über die Toten. Auch im alten Ägypten stellte man sich vor, dass das Herz eines Toten in eine Waagschale gelegt wird. Als Gegengewicht diente eine Feder. Ist das Herz leicht und rein, hat also der Tote gute Taten im Leben vollbracht, so darf er auf
ein ewiges Leben hoffen. Dass sie sich dieses Leben als wunderschön, inmitten von Göttern vorgestellt haben, ist klar. Es muss hier Wandmalereien mit Wassergärten und Lotusblüten geben. Aber ich weiß nicht mehr wo. Hier jedenfalls nicht. Hier ist die Geburtsgeschichte der Hatschepsut dargestellt. Wie Jesus, so galt auch jeder ägyptische Prinz und jede Prinzessin als von Gott gezeugt. Eve, hilf mir, zeig mir, wo die Königin Ahmes und der Gott Amun abgebildet sind.« Ahmes, Amun? Soll ich lachen? Ich würde ihr ja gerne helfen, doch ich fühle mich beim besten Willen nicht in der Lage dazu. Ich sehe zwar jede Menge gut erhaltener Relieffiguren, die alle sehr hübsch aussehen, doch sie sind so zahlreich, dass sie zu einem einzigen, verrückten Flickenteppich zerfließen. Kleo mag zwar sehr belesen sein, doch als Reiseführerin taugt sie nicht, weil sie nicht sehen kann. Im nächsten Augenblick jedoch bleibt mir die Luft weg, denn sie lehnt sich an eine Wand und schreit begeistert. »Ich hab's, ich hab's, ich glaube, hier muss es sein! Was siehst du, Eve?« Tatsächlich, da sind sie, die Königin und ein hübscher Jüngling mit einem riesigen Federhut auf dem Kopf. Das könnte gut ein Gott sein. Aber Genaues weiß ich nicht, und deshalb lassen wir uns von Kleo erzählen, was wir sehen könnten, wenn wir nicht so verdammt unwissend wären. »Da ist ein Frosch!«, schreit Lisa auf wie um zu zeigen, dass wir doch nicht ganz blind sind und zeigt auf das dritte
Bild. »Der sieht aber komisch aus. Igitt!« »Vielleicht meinst du die Geburtshelfergöttin Heket. Sie hat einen Froschkopf. Tiere galten nicht als eklig, selbst der Skarabäus-Käfer nicht«, belehrt uns Kleo, »dabei legt er seine Eier in Mistkugeln. Er galt als heilig und glückbringend.« Wir hören zu, Mama mehr, ich weniger, da stellen wir plötzlich fest, dass Lisa verschwunden ist. »Los, suchen!«, kommandiert meine Mutter. »Warum?«, maule ich, doch Mama gibt nicht nach, behauptet, dass ich sie und Kleo mit meinen Kommentaren nur nerve und ein kleiner Fußmarsch mir gut tun würde. Ist das zu fassen? Ich finde Lisa eine ganze Etage höher in einer winzigen Kapelle, doch auch als ich sie rufe, bleibt sie nicht stehen, läuft aufgeregt von einer Ecke in die andere, als würde sie etwas suchen. Als ich sie endlich eingeholt habe, will sie wissen: »Haben hier echte Mumien gelebt? Und hatten die ganz viel Gold und Edelsteine?« »Ne, Mumien leben nicht, du Doofi«, erkläre ich ihr, »die sind nämlich tot. Einbalsamiert und eingewickelt und so lässt sich's nur schwer herumlaufen. Und hier schon gar nicht. Das ist eine Kapelle und das ganze Drumherum ein Tempel, kein Grab.«
»Aber Mama hat gesagt, es gab jede Menge Essen hier und Diener und sogar Wagen und ...« »Nicht hier. Dieses Ding haben sie gebaut, damit sich die Menschen an die Königin erinnern.« »Und wozu haben sie die Pharaonen eingewickelt?« Echt, Lisa ist zu dumm, will einfach von ihrem Gruselthema nicht weg. Sie ist zwar erst sechs, doch ich in ihrem Alter war bestimmt viel gescheiter. »Hast du nicht zugehört, was Kleo erzählt hat?« »Nein, die redet zu schnell, so wie Papa.« Da muss ich lachen, mich innerlich bei Lisa entschuldigen. »Also, einbalsamiert wurden die Typen, damit die Leichen nicht verschimmeln. Ich meine, damit sie länger halten. Die ganzen Eingeweide wurden ihnen mit langen Zangen durch die Nasenlöcher herausgezogen«, sage ich, als sich Lisas Gesicht ins Grünliche verfärbt und ich plötzlich Schiss habe, sie zum Heulen zu bringen. Aber vom Heulen ist sie meilenweit entfernt. »Du lügst«, tobt sie herum. »Du willst mir Angst machen und deshalb erzählst du solche Sachen, aber ich glaube dir kein Wort. Mama hat nämlich etwas ganz anderes gesagt. Dass die weitergelebt haben, mit Essen und Dienern und allem. Und wie sollen die das ohne Eingeweide gemacht haben?« Da hat die Kleine ins Schwarze getroffen. Das ist
nämlich das Unlogische an der Geschichte, doch davon erzähle ich Lisa natürlich nichts. »Komm, wir gehen zurück«, dränge ich. Wir sind nicht vermisst worden, denn Kleo und Mama befinden sich wieder in einem hitzigen Streitgespräch. Nur gut, dass Papa nicht dabei ist. »Man kann Pharaonen sehen, die im Garten Eden arbeiten«, erzählt Kleo. »Sie wussten also, dass die Menschen im Jenseits alle gleich sind.« »Das stimmt nur teilweise«, kontert meine Mutter und ich drehe mich genervt um, trete ein Stück zur Seite und betrachte die Reliefzeichnungen. Doch Mamas laute Stimme ist nicht zu überhören. »Die Pharaonen wollten sich mit diesem Glauben nicht abfinden und haben sich einen Trick ausgedacht, um der Fronarbeit zu entgehen. Im Grab von Tutanchamun haben sie 365 Tonfiguren gefunden, die die Gesichtszüge des jungen Herrschers tragen. Sie sollten lebendig werden und an 365 Tagen für ihn arbeiten. Und damit sie es auch wirklich tun, gab es noch Figuren, die mit einer Peitsche bewaffnet waren. Das waren die Aufseher. Das muss man sich mal vorstellen ...«, entrüstet sich meine Mutter. »Es ist nur menschlich«, rechtfertigt Kleo die Könige, »dass ...» Meine Freundin stockt mitten im Satz, dreht sich schnuppernd um und wispert mir ins Ohr: »Eve, was riechst du?«
»Deinen Schweißgeruch«, mache ich mich lustig. »Nein, das meine ich nicht. Es ist ein Duft, der mich an zu Hause erinnert, an eine bestimmte Person. Wer ist noch in unserer Nähe?« »Niemand, nur Lisa und Mama, aber im nächsten Raum ist eine Reisegruppe. Sehen aus wie Amis.« Kleo überlegt einen Augenblick, dann entspannt sich ihre Miene, sie will sich den Tag nicht verderben lassen.
Sechs Irgendwann ist auch das tollste Gemäuer durchschritten und irgendwann wird auch der schönste Lebenslauf langweilig. Wir unterbrechen Kleo zuerst sanft, dann immer energischer, und irgendwann kapiert sie es. Wir wollen zurück in die Vorhalle, uns dort mit den mitgebrachten Butterbroten stärken und dann zurückreiten. Auch wenn wir uns von unserer Reisegruppe getrennt haben, so müssen wir doch pünktlich wieder am Busparkplatz sein, sonst steht eine teure Taxifahrt an. »Ich verzichte auf eine Pause«, behauptet Kleo und fischt aus ihrer Hosentasche ein altes Brötchen. »Lasst mich noch ein bisschen hier herumlaufen. Ich komme in einer halben Stunde nach.« »Meinst du, das ist eine gute Idee?«, forscht Mama und
ihr Blick ist besorgt. Meine Mutter und ich gucken uns an und zucken hilflos die Schultern, doch wir geben ihrem Wunsch nach. Es wird eine halbe Stunde später, eine drei viertel Stunde später. Lisa heult, weil es nichts mehr zu trinken gibt und sie das Klo sprichwörtlich beschissen findet. Mama ist losgezogen, um Kleo zu suchen. Ich greife energisch nach Lisas Hand und schüttele sie. »Hör endlich auf zu heulen, davon verlierst du noch mehr Wasser und bekommst noch mehr Durst.« »Blöde Kuh«, antwortet Lisa und tritt mir gegen das Schienbein. Ich hole aus, will ihr eine kleben, der kleinen Ziege, doch vorher schaue ich mich um, ob wir auch wirklich allein sind. Wir sind nicht allein und ich muss meine Hand mitten im Schwung bremsen. Das ist schwer, mit einer richtigen Wut im Bauch und einer inneren Unruhe erst recht. Die Unruhe rührt daher, dass ich nicht weiß, wo Kleo steckt, und ich mir Sorgen um sie mache. Sie ist zwar älter als ich, doch sie ist auch blind. Zum anderen bin ich beunruhigt, weil ich beim Umdrehen niemand Geringeren als die großäugige Frau aus unserem Hotel gesehen habe. Die von der Rezeption und genau die gleiche, die gestern Abend vor mir den Kopf eingezogen hat. Ich reiße die Augen auf, starre in die Ecke, in der sie steht, nehme ihre Gestalt in mich auf und denke, ich leide unter Verfolgungswahn. Das ist sie und ist sie auch nicht, denn sie kann nicht in offizieller Mission, also als Reisebegleiterin, unterwegs sein. Schließlich trägt sie ein Kind
auf dem Arm und ist wie eine Touristin gekleidet. Mit Bermudashorts und einer hässlichen Bluse. Sofort vergesse ich Lisa, versuche nur noch herauszufinden, ob die Frau diejenige ist, die ich auf dem Kieker habe, als Mama wieder auftaucht. Kleo ist nicht dabei, doch Mama versichert mir, dass sie in zwei Minuten da sein wird. »In zwei Minuten?«, frage ich zähneknirschend. »Mich hättest du an den Haaren herbeigezerrt, wenn ich so spät dran wäre.« »Du bist ja auch meine Tochter«, erinnert mich meine Mutter. Lisa fängt an zu plärren. »Eve hat mich gehauen.« »Hab ich nicht, du Dussel.« Als ich wieder Zeit habe, mich um die geheimnisvolle Frau zu kümmern, ist sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Auch recht, denke ich, was geht mich diese Verrückte an. Wenn sie meint, sie müsste sich jeden Tag verstecken und verkleiden, dann soll sie das tun. Tack-tack macht es neben mir, Kleo kommt strahlend auf uns zu. Sie sieht aus wie eine Eidechse, die nach vier Monaten strengem Winter die ersten Sonnenstrahlen getankt hat, oder wie jemand, der an einer besonderen Zapfsäule mit ganz viel Liebe aufgefüllt wurde. Wenn sie einen Heiligenschein auf ihrem Haupt spazieren getragen hätte, hätte es mich auch nicht gewundert.
»Wir müssen uns beeilen«, drängt Mama. »Los, Tempo Kinder!« »Morgen komme ich wieder«, erklärt Kleo begeistert und wir sehen sie nur verwundert an. Ist die noch ganz dicht?, denke ich, denke es den ganzen Heimweg und den ganzen Abend lang. Kleo träumt vor sich hin, redet wenig und wenn, dann kommt in jedem zweiten Satz das Wort »Hatschepsut« vor. Ich versuche gelassen zu bleiben, doch es fällt mir verdammt schwer. Gegen zwanzig Uhr verabschiede ich mich, obwohl doch Ferien sind und wir alle Zeit der Welt haben und tanzen und schwimmen und alles Mögliche unternehmen könnten. Ich will fragen, ob das wirklich ihr Ernst ist, dass sie morgen schon wieder zum Terrassentempel will, doch ich lasse es bleiben. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen ist sie immer noch dort.
Sieben Am nächsten Tag laufe ich herum wie ein Roboter. Ich gehe ein bisschen an den Strand, ich kreise um den Pool, ich lese die Aushänge der angebotenen Busreisen, ich lese die Seite 112 des Buches »Point of no return« von K. D. Remus dreimal. In meinem Bauch sitzen kleine Ameisen, die jedes Mal, wenn ich ein klopfendes Geräusch höre, hin und her krabbeln und mich hochschnellen lassen. Dann schiebe ich meine Brille von der
Nase und suche sie. Ich muss ein bisschen verrückt geworden sein, denn vor vier Tagen habe ich ja auch ohne Kleo gelebt. Ich bin nicht die Einzige, die auf sie wartet. Ich liege am Pool auf einer dieser Oma-Liegen, versuche die Seite 112 endlich zu verstehen, als mich eine fremde Stimme anquatscht. »Ich heiße Oliver«, sagt der blonde Typ von vorvorgestern Abend oder war es vorvorvorgestern Abend? »Weiß ich doch.« »Und ich bin der Sven.« Neben dem Blonden taucht ein kleines Milchgesicht auf, eins, das gut lachen kann, und deshalb weiß ich sofort, das ist der Nettere von beiden, ein bisschen schüchtern, ein bisschen jung, ein bisschen pickelig, ein bisschen klein, aber mit den eindeutig freundlicheren Augen. »Die Party neulich Abend war echt stark«, ergreift Oliver wieder das Wort und sein Freund nickt begeistert. »Und wie du auf mich draufgefallen bist, war echt der Lacher.« Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und deshalb entsteht eine total bescheuerte Pause. Das merken die beiden auch und beginnen damit, mich über Gott und die Welt auszufragen. Ich rattere mehr oder weniger begeistert die Standardantworten herunter, doch bald schon habe ich den Verdacht, dass sie mir gar nicht zuhören. »Ihr seid doch nur hier«, vermute ich, »um euch nach
Kleo zu erkundigen, nicht wahr?« »Wo ist sie denn?«, will Oliver wissen und nun ist die Katze aus dem Sack. »Sie macht einen Ausflug«, erkläre ich nicht ohne Schadenfreude. Ich habe den Satz noch nicht beendet, da dreht Oliver sich um. Sein Freund schaut verdattert drein. »Sag ihr liebe Grüße«, lautet Olivers Schlusssatz, dann kann ich ihn nur noch von hinten bewundern. Ich blicke den beiden halb grinsend, halb beleidigt hinterher und schlage mein Buch wieder auf. Das Lesezeichen liegt immer noch zwischen Seite 112 und Seite 113. Um drei Uhr, ich habe gerade mein viertes Eis gegessen und mir ist ein bisschen schlecht, komme ich auf die glorreiche Idee, Kleo anzurufen. In jedem Zimmer steht ein Telefon. Ich kann ihre Nummer von der Rezeption aus wählen, herausfinden, ob sie nicht vielleicht schon oben ist. Doch noch bevor ich meine Frage ins Englische übersetzt habe, sehe ich, dass ihr Schlüssel nicht mehr am Haken hängt. Ich stürze zum Lift. Ein Liftboy in dunkelblauer Uniform steht neben der Tür und grinst. Das ist ein junger Mensch in meinem Alter und er hat den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als sich in schlechtem Englisch sagen zu lassen, welchen Knopf er drücken soll. »Three«, zische ich durch die Zähne und er gehorcht sofort. Die dunkle Hand greift zur Wand, drückt den
gewünschten Knopf. Ich beeile mich auszusteigen. Zwischen Lift und Zimmer drehe ich mich noch einmal um und sehe, dass der Liftboy in ein Gespräch mit einer Frau vertieft ist. Die Frau will nicht einsteigen, sie ist auch nicht mit mir hochgefahren, sie will nur mit ihm reden. In dem Moment drehen beide die Köpfe und ich sehe, dass es wieder diese Frau ist. Die Frau mit den großen Augen. Diesmal trägt sie weder Bermudashorts noch einen modischen Anzug, sondern einen traditionellen Umhang, wie ihn Ägypterinnen über ihren Kleidern tragen, eine so genannte Mileya. Die Frau wispert dem Jungen etwas zu, dann dreht sie sich um und verschwindet im angrenzenden Treppenhaus. Auch ich gehe weiter, doch in meinem Hals bildet sich ein Klumpen. Ein Klumpen, der weder nach oben noch nach unten rutschen will, der einem das Gefühl gibt, man kriegt wenig Luft. So ein Gefühl habe ich oft vor Klassenarbeiten. Da bin ich nicht die Einzige, wie ich weiß. Doch mitten im Urlaub einen Klassenarbeitenhals zu kriegen, finde ich ganz schön bedrohlich. Etwas unsicher und wie benommen klopfe ich an Kleos Tür. »Ich könnte sterben und keiner würde es merken!« Das sind die Worte, mit denen Kleo mich begrüßt. Sie liegt im Bett, leichenblass, und feine Schweißperlen benetzen ihre Stirn. Nein, sie sei natürlich nirgends hingefahren, herrscht sie mich an, das könne ich mir ja wohl denken. Spät in der Nacht hat sie starke Magenschmerzen bekommen und hätte stündlich aufs
Klo gemusst. Sie versteht nicht, wie das passieren konnte, schließlich isst sie nur Brot und das ist bekanntlich selten vergiftet. »Du meinst verdorben«, korrigiere ich. »Nein, ich meine vergiftet.« Die leidet unter Verfolgungswahn, denke ich, doch um sie nicht noch mehr aufzuregen, halte ich lieber meinen Mund. »So ein Scheiß«, jammert Kleo, richtet sich ein bisschen auf und zum ersten Mal sehe ich, dass Blinde weinen können. Warum auch nicht, sage ich mir selbst und ziehe schnell einen Stuhl heran, um mich neben ihr Bett zu setzen. »Hast du denn niemanden gerufen?«, frage ich. »Einen Arzt oder so was?« »Ein Arzt war da«, gibt sie zu, »aber sonst niemand.« Und dieses »sonst niemand« sagt sie gedehnt und leidend, als hätte sie niemanden auf der Welt. »Warum hast du mich nicht angerufen?«, will ich wissen. »Hab ich versucht. Bestimmt zehnmal. Sie haben mich mit deinem Zimmer verbunden, doch es ging niemand ran. Den ganzen Tag nicht. Sie sagten, du wärst nicht im Haus.« »So ein Quatsch! In der Mittagspause war ich ganz bestimmt auf dem Zimmer.« Irgendetwas stimmte da nicht.
»Ich hatte gehofft, du kommst so vorbei«, unterbricht Kleo meine Gedanken und ich schlucke verdattert, denn nun überkommt mich blitzschnell ein schlechtes Gewissen. Doch warum eigentlich? Schließlich bin ich da, spät zwar, aber ich bin da. Leider weiß ich nicht, was ich machen soll, bin ja keine Krankenschwester. Wenn Lisa krank ist, kümmert Mama sich um sie. »Brauchst du was? Soll ich dir etwas besorgen?«, frage ich vorsichtig. »Nein, geht schon. Ich habe Tabletten bekommen und muss viel trinken, wegen des Wasserverlusts. Die Tabletten machen nur so schrecklich müde.« »Es wird schon wieder«, versuche ich sie zu trösten, obwohl ich weiß, dass es banal klingt. Um irgendetwas zu tun, lege ich meine Hand vorsichtig in die Nähe ihrer Hand. Sofort greift sie danach, packt mich wie ein Schraubstock, drückt und knetet meine Finger. Nun sind ihre Tränen nicht mehr zu halten. Schwer rollen sie über ihr blasses Gesicht. Und weil ihr Kopf vor lauter Kummer nicht still liegen kann, tropfen sie rechts und links aufs Bettzeug, bilden feuchte graue Flecke. Hilflos starre ich sie an, weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Was für einen Damm habe ich da eingerissen? »Entschuldige, entschuldige«, schnieft sie immer wieder, als würde sie meine Angst und Verwirrung ahnen. »Es ist wirklich nichts.« Trotzdem kann sie mit dem Weinen nicht aufhören. Deshalb streiche ich ihr vorsichtig über die Stirn, dann über die Haare, komme mir vor, als suche ich nach einer
Antenne, einem Knopf, um den gestörten Empfang zwischen uns wiederherzustellen. Sie beruhigt sich tatsächlich etwas. »Ich war zu lange allein, weißt du, und kam mir wie gefangen vor in diesem beschissenen Hotelzimmer. Es war so verdammt still. Stille hinter meinen Augen, Stille um mich herum. Und ich hatte Angst, dass du gar nicht mehr kommst.« Wieder dieser Vorwurf, wieder dieses Einnehmende, Fordernde, das mir schmeichelt und mich erschreckt. Rasch konzentriere ich mich auf praktische Dinge. Ich hole Wasser und einen Waschlappen, lege ihn ihr auf die Stirn. Dann schneide ich ihr Lieblingsbrot in kleine Stückchen, füttere sie wie einen Vogel. Als Nachtisch gibt's eine Tablette, die ich auf einem Teller mit Goldrand zerdrücke und in einem Wasserglas auflöse. So möchte sie es haben und so mache ich es. Sie weiß genau, was sie will, und hat das Zeug dazu, einen gnadenlos herumzuscheuchen. Aber ich lasse mich gerne herumkommandieren, Hauptsache, sie weint nicht mehr. Kleo probiert sogar ein Lächeln, und wäre sie eine Katze, würde sie jetzt schnurren. Man kann ihre Zufriedenheit und zurückkehrende Zuversicht spüren. »Du bist lieb«, sagt sie, als ich nichts mehr für sie tun kann, und ich stutze, weil mir der Satz nicht behagt. Ausdrücke wie »bärenstark«, »super« oder »'ne echte Kanone« wären mir lieber. Die Sonne scheint nicht mehr ganz so hell ins Zimmer, ich kann hören, wie das Gekreische am Pool nachlässt, und deshalb blicke ich verstohlen auf die Uhr.
»Ich muss jetzt gehen«, entschuldige ich mich. »Meine Mutter weiß nicht, wo ich bin, und ich schätze, dass sie und Lisa vom Einkaufen zurück sind.« Sofort verhärten sich Kleos Gesichtszüge, ihr Mund, eben noch entspannt und friedlich, zuckt nervös. Ihre Augen kullern in den Augenhöhlen hin und her, als versuchten sie zu begreifen, was sie nicht sehen können. Doch sie hat sich schnell wieder im Griff. »Na klar, na klar, geh nur. Du kannst ja morgen wiederkommen.« Das klingt wiederzukommen.
wie:
Du
brauchst
gar
nicht
mehr
»Ich bin nicht so selbstständig wie du«, rechtfertige ich mich, winke ihr zum Abschied zu. Im Flur blicke ich mich um, als würde ich etwas suchen. Aber wonach suche ich? Nach Leuten, die mir hinterherblicken, die mich beobachten und belauern? Schon möglich. Nachdenklich gehe ich zum Lift, beschließe dann aber ausnahmsweise die Treppen zu benutzen. Mein Zimmer liegt ja nur ein Stockwerk höher. Doch als ich vor der Tür zum Treppenhaus stehe, muss ich feststellen, dass sie verschlossen ist. Ein kleines, mehrsprachiges Schildchen weist darauf hin, dass Renovierungsarbeiten nötig geworden sind. Komisch finde ich das, denn unser Hotel ist erst letztes Jahr eröffnet
worden. Und darf man ein Treppenhaus überhaupt abschließen, von wegen Fluchtweg und so? Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, linse neugierig durch das kleine, viereckige Fenster und sehe einen Putzeimer, etwas, das aussieht wie ein Fernglas, und jede Menge Taschen und Krempel. Das Fernglas ragt aus einem offen stehenden Fenster, zielt auf den Strand. Was hat das zu bedeuten? Der Fluchtweg durchs Treppenhaus ist blockiert, aber dafür werden wir gut beschützt, antworte ich mir selber und ziehe achselzuckend ab. Das mit dem »beschützen« meine ich ironisch, denn mir gehen die hohen Mauern, die das ganze Hotelgrundstück umschließen und die uns vor den Einheimischen und die vor uns schützen sollen, mächtig auf den Keks. Das Militär in und vor allen öffentlichen Gebäuden und Denkmälern natürlich auch. Mama sagt, das sei wichtig, denn auf Touristen wird in Ägypten Jagd gemacht. Die politischen Zusammenhänge hat sie mir auch erklärt, habe ich aber nicht begriffen. Hat was mit Erpressung zu tun und dass die strenggläubigen Moslems an die Macht wollen. Wieder einmal wird die Religion dazu benutzt, Einfluss zu gewinnen, so viel steht fest. Bereits im Flur kann ich das Geschrei von Lisa hören. Lustlos betrete ich das Zimmer. »Das sollst du gleich wegwerfen, das mag ich nicht!«, schreit meine kleine Schwester rot vor Zorn. »Ich wollte das nie haben, ich wollte das mit der dicken roten Erdbeere drauf, das weißt du ganz genau.« In Händen hält sie ein lachsrosa TShirt, zerrt daran, bis eine Naht stöhnend reißt. Mama, hilflos, starrt auf das sich wild gebärdende Kind.
Ich beschließe, nicht nur bei der Auswahl des Mannes, sondern auch bei der meiner Kinder aufzupassen. In einigen Jahren, schätze ich, wird die Gentechnik so weit sein, dass ich mir ein Kind im Katalog aussuchen kann. So eine Göre wie Lisa will ich auf keinen Fall haben.
Acht Als ich am Abend bei Kleo vorbeischauen will, ist sie weg. Verschwunden, nicht mehr auffindbar. Ich klopfe einmal, klopfe mehrmals. Drücke vorsichtig die Türklinke runter, es ist offen, rufe, schalte das Licht an. Rufe erneut ihren Namen, obwohl ich sofort sehe, ihr Bett, das Zimmer ist leer. Eine merkwürdige Beklommenheit beschleicht mich, lässt mich im Laufschritt das angrenzende Bad stürmen, doch weder Kleo noch irgendein Hinweis, eine Nachricht ist zu finden. Erneut durchsuche ich das Schlafzimmer. Sehe, die Medizinfläschchen stehen ordentlich aufgereiht auf dem Nachttisch, das Fenster ist zum Lüften geöffnet. Sieht ganz so aus, als wäre Kleo nur kurz rausgegangen. Aber warum hat sie ihre Zimmertür nicht abgeschlossen? Instinktiv schließe ich das Fenster, der Stechmücken wegen, der Vorhang klemmt sich ein. Ich will wissen, wo das Mistding festsitzt, da entdecke ich etwas metallisch Glänzendes oberhalb der Gardinenstange. War vorher nicht zu sehen. Das sieht wie eine
Überwachungskamera aus. Klar bin ich neugierig, neugierig genug, mir einen Stuhl heranzuholen. Ich stehe bereits mit einem Fuß auf dem Stuhl, als hinter mir die Tür mit lautem Getöse aufgerissen wird. Sofort kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil Kleo bestimmt wissen will, was ich in ihrem Zimmer zu suchen habe. Doch nicht Kleo, sondern ein Trupp von Hotelangestellten kommt hereingesegelt. Es sind mindestens fünf Mann, die wild gestikulierend und Schrubber und Putzeimer schwingend auf mich zugelaufen kommen. »We are cleaning now, please go out«, erklärt einer von ihnen in schlechtem Englisch und befördert mich sanft aber entschieden nach draußen. Wischeimer?, denke ich, in einem Zimmer mit Teppichboden, um acht Uhr abends? Wollt ihr mich verscheißern? Doch ich bin viel zu überrascht von diesem Überfall, um mich zu beschweren. Und da es sich ja schließlich nicht um mein Zimmer handelt, kann ich sowieso nicht viel ausrichten. Gut möglich, dass Kleo eine übertriebene Angst vor Bakterien hat und den Desinfektionstrupp bestellt hat. Vielleicht ist sie deshalb aus dem Zimmer geflohen. Eine Nachricht hätte sie mir trotzdem hinterlassen können, stelle ich grimmig fest und nehme mir vor, ihr das deutlich zu sagen. Ich renne also wieder einmal auf der Suche nach Kleo herum. Suche sie im Foyer, im Restaurant, sogar an der Bar und im Fernsehzimmer. Fehlanzeige. Schließlich gehe ich nach draußen. Vielleicht hatte sie Lust auf einen kleinen
Spaziergang unter dem malerischen Himmelszelt. Unverhofft überfällt mich ein romantischer Gedanke: Oliver, den Turban verwegen ins Gesicht gezogen, den weiten Umhang locker über die Schultern gelegt, galoppiert auf seiner weißen Kamelstute Alija in die Wüste hinaus. Vor ihm sitzt Kleo, verängstigt und aufgeregt zugleich, die Augen nass von Tränen. Oliver hält sie fest im Griff, flüstert ihr tröstende Worte ins Ohr. Das Bild verfliegt und wie ich Kleo kenne, würde sie nicht vor Rührung, sondern vor Wut weinen. Weil sie nämlich gar nicht der romantische Typ ist, der sich gerne entführen lässt. Der Park ist durchkämmt, bleibt der Strand übrig. Merkwürdig schief hängt der Mond am Himmel, ganz dünn, ganz lang, spendet zusammen mit der Parkbeleuchtung gerade so viel Licht, dass ich einen schmalen Streifen Strand überblicken kann. Alles, was dahinter ist, in Meeresnähe also, liegt im Dunkeln. Trotzdem muss ich da hin. Auf den letzten Stufen werde ich langsamer, versuche mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Und weil ich bald im Sand versinken werde, setzte ich mich erst einmal hin und ziehe die Schuhe aus. Plötzlich höre ich hastige Schritte hinter mir, drehe mich nervös um und sehe, wie ein junger Typ im zitronengelben Sweatshirt die Treppen auf mich zugestürmt kommt, zwei Stufen auf einmal nehmend. Auch er will zum Strand. Ich starre ihn an, doch er eilt grußlos an mir vorbei. Mein Blick folgt dem Geräusch und erst jetzt erkenne ich, dass in einiger Entfernung vom hoteleigenen Strandstück ein großes
Lagerfeuer brennt. Ich bin nicht der geborene Pfadfinder, doch das sieht gut aus. Und wo ein Lagerfeuer ist, so mache ich mir selber Mut, da sitzen mindestens zwei Menschen. Entschlossen trete ich in den hellen Schein des Feuers, zähle neugierig die Köpfe der Anwesenden, schätze ihr Alter, suche nach bekannten Gesichtern, stolpere und falle der Länge nach hin. Muss das sein? In diesem Moment hasse ich mich. Nicht weil mir das oft passiert, sondern weil es so schrecklich peinlich ist. Ich könnte jedes Mal in die Luft gehen oder im Erdboden versinken. Ist bei mir ein und dasselbe Gefühl. Ich hole meine gepuderte Nase aus dem Sand, schaue mich um, sehe einen langen Ast, über den ich gefallen bin, sehe mindestens zehn Augenpaare, die die Dunkelheit neugierig nach mir durchforsten, und erkenne zwei herbeieilende Hosenbeine, dazugehörende schwere Schnürstiefel, glänzend neu. Die Stiefel sind bei mir, als ich mich gerade halb aufgerichtet habe. Zwei Hände greifen nach meinen Armen, ziehen mich in die Höhe. Ich schaue verdattert in dunkle Brillengläser, erkenne den Jungen mit dem zitronengelben Sweatshirt, der mich auf der Treppe überholt hat. Der Typ sagt nichts und auch ich bleibe stumm wie ein verängstigtes Kaninchen. Ich könnte mich bedanken, doch ich kriege keinen Ton heraus. Der Typ erinnert mich nämlich verdammt noch mal an Kleo. Die gleiche Kopfform, oben spitz, unten breit, die gleichen schön geschwungenen Lippen, die gleiche sehr lange, sehr schmale Nase, dunkle Haare. Allerdings sind seine Haare fast schulterlang, fallen ihm immer wieder ins Gesicht. Die Augen
kann ich leider nicht vergleichen, sie bleiben mir wegen der schwarzen Sonnenbrille verborgen. »Would you like to join us?«, fragt der Junge und ich schüttele verwundert den Kopf. Erstens, weil ich auf Englisch nicht eingestellt bin, und zweitens ... zweitens, weil er eine so süße Stimme hat und ich ganz aufgeregt werde. Sofort zwinge ich mich an Michi zu denken, an sein hübsches Lächeln, die leuchtend blauen Augen. »Ich habe eine Nixe gefunden«, freut sich der Typ. Er hat mich losgelassen, mustert mich jetzt neugierig. »Sie ist an Land gespült worden und kann weder englisch noch deutsch sprechen.« »Sehr witzig«, kontere ich. Und weil das als Unterhaltung noch nicht reicht, füge ich schnell hinzu: »Ich suche jemanden.« »Klar, wir suchen alle jemanden«, entgegnet er seinerseits und so könnten wir von mir aus den ganzen Tag, ich meine, die ganze Nacht lang weitermachen. Er und ich. Zwei einsame Erdlinge, die sich gegenseitig bissige Bemerkungen an den Kopf werfen. Doch daraus wird nichts, natürlich nicht, denn im nächsten Augenblick taucht ein Mädchen vor uns auf, mustert mich, wie man einen stinkenden Fisch mustert, und wenn ich ihren Augen trauen kann, dann hat sie soeben beschlossen, mich ins Meer zurückzuwerfen. Ich mag diesem Blick nicht weiter begegnen und deshalb gehe ich an ihr vorbei, passe höllisch auf, dass ich über nichts, über gar nichts stolpere, trete ans Feuer und gucke
mir die Leute genau an. Kleo ist nicht dabei. Enttäuscht will ich abziehen, doch da entdecke ich Oliver, Kleos Verehrer. Und neben ihm sitzt niemand anderes als die Frau mit den großen Augen. Die Frau, die sich nicht nur gerne verkleidet, sondern offensichtlich auch gerne in unterschiedlichste Rollen schlüpft. Jetzt trägt sie eine dunkelblaue Seidenbluse, eine kurze Jeanshose, weiße Sandalen - Touristenlook, unauffällig. Die Augen sind nur schwach geschminkt, wirken trotzdem riesig. Auch Oliver starrt zu mir herüber. Ich frage ihn über das Feuer hinweg, ob er Kleo gesehen hat. Eine einfache Frage, mit einem klaren Ja oder Nein ausreichend zu beantworten. Doch Oliver zieht hilflos die Schultern hoch, guckt seine Nachbarin an, die Großäugige. Ich kann es nicht fassen, diese mir fast schon vertraute Frau nickt unmerklich, erteilt Oliver die Erlaubnis zum Sprechen. »Ich hab sie vor einer Stunde im Foyer ge-gesehen. Mit Koffer und so, sie wollte abreisen«, stottert der Junge. »Abreisen?!«, wiederhole ich laut. Kreische fast, obwohl das gar nicht nötig ist. Das Meer rollt in sanften Wellen an den Strand, sorgt für ein gleichmäßiges Geräusch. Das Feuer zischt und spuckt kleine Funken in den Himmel, doch ansonsten ist alles mucksmäuschenstill. Keiner der Anwesenden scheint auch nur zu atmen. Ich entdecke aus den Augenwinkeln heraus eine Gitarre, sehe zwei Liebende, die sich eng umschlungen halten, die Münder wie zum Kuss gespitzt, doch alle Tätigkeiten ruhen. Die Aufmerksamkeit der Gruppe ist
einzig und allein auf mich und Oliver gerichtet. Ich komme mir vor wie in Dornröschens verzaubertem Schloss, könnte lachen, wenn mir nicht nach Weinen zumute wäre. »Moment«, beginne ich, »du sagst, sie wollte abreisen. Weist du wohin? Ich meine, wollte sie heim oder in ein anderes Hotel oder ...?« Wieder huscht sein Blick zur Nachbarin, dieser schweigsamen Geheimniskrämerin, die ich langsam zu hassen beginne, obwohl sie mir nichts getan hat. Ich reiße mich von ihrem Gesicht los, betrachte Oliver, der unruhig auf Anweisungen wartet. Doch die böse Fee nickt nicht und deshalb weiß er, dass er den Mund halten soll. »Sag schon«, fahre ich ihn an. »Hast du mit ihr geredet, hat sie jemand abgeholt?« »Keine Ahnung. Ich kenne sie ja gar nicht.« Da hat er Recht. Und ich, kenne ich sie? Frustriert lasse ich den Jungen in Ruhe, sehe ein, dass es wenig Sinn hat, weiterzubohren. Die beiden wissen etwas, wollen aber nichts sagen. Bleibt für mich die Frage: Wer ist die Großäugige, warum beobachtet sie mich und warum erzählen die beiden, Kleo wäre abgereist? Das kann doch gar nicht sein. Ich schaue mich noch einmal in der Runde um, will wissen, ob den anderen Olivers Verhalten auch komisch vorkommt, doch ich sehe nur undurchdringliche, lächelnde Masken. Unmerklich beginne ich zu schrumpfen. So ähnlich muss es sein, wenn man als Gesunde in eine Irrenanstalt eingeliefert wird. Zuerst kann man es nicht fassen und dann überlegt man, ob man nicht
doch verrückt ist.
Neun »He, wo willst du hin?«, fragt eine Stimme hinter mir. Ich bin ein gutes Stück durch die Nacht gehetzt, so gut das eben mit diesem Mistding von Wickelrock geht, als ich ihn hinter mir höre. »Du hast deine Schuhe im Sand liegen gelassen. Hübsche Treter. Ich würde sie ja behalten, aber leider passen sie mir nicht.« Übermütiges Lachen. Ich weiß natürlich, wem diese Stimme gehört, habe die dazu passenden, dunklen Haare genau vor Augen, das schmale, fast eckige Gesicht mit der hohen Stirn und den breiten Lippen. Ich bleibe nicht stehen, lasse ihn hinter mir herlaufen, meine Schuhe sind mir herzlich egal. Ein paar Meter noch, dann bin ich bei der Treppe und im Licht. Ich will hoch, will zur Rezeption, will hören, was ich nicht glauben kann. Miss Soundso, ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen, ist heute abgereist. Ja, ganz plötzlich. Und ich werde erwidern: Ich war vor kurzem bei ihr und sie war krank. Wie kann es sein, dass sie keine Zeit hatte, ihre Medizinflaschen und persönlichen Dinge mitzunehmen? Ich habe zwar nicht darauf geachtet, doch ich bin sicher, dass alles an seinem Platz stand und lag. Die Bücher, die Brottüten, die Zahnbürste im Badezimmer. Das kann der
Reinigungsdienst bezeugen. Vor allem aber kann, darf Kleo nicht weggeflogen sein, nicht ohne sich von mir zu verabschieden. »Mach mal langsam«, erklingt wieder seine Stimme. Er ist jetzt neben mir, eilt im Gleichschritt mit mir die Treppe nach oben. Ich drehe mich zu ihm, reiße ihm die Schuhe aus der Hand, murmele ein Dankeschön und denke, das war's, die Sache ist damit erledigt. Doch er lässt nicht locker, verfolgt mich weiterhin. »Wie bitte?«, versucht er nachzuhaken. »Du redest so schnell wie du läufst.« Lacht wieder, als hätte er keine Sorgen auf der Welt. Hat er aber. Von unten höre ich aufgeregtes Gemurmel und laute Rufe. Jojo, so heißt der gut aussehende Jüngling, wird zurückgepfiffen. Von der hohen, ungeduldigen Mädchenstimme. Das scheint ihn aber nicht zu stören, so wenig, wie es ihn zu stören scheint, dass ich, so Leid mir das auch tut, im Moment keine, aber auch wirklich keine Zeit für ihn habe. »Ein anderes Mal, in Ordnung«, sage ich deshalb und versuche ihn abzuschütteln, doch schon bombardiert er mich mit neuen Fragen und langsam wir mir klar, der meint nicht mich, der ist nicht an mir als Person interessiert, sondern an der Sache, die mich in helle Aufregung versetzt. »Wen suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen!«, brüllt er mir ins Ohr. »Ich bin erst heute Nachmittag angekommen, doch ich habe eine gute Nase, wenn es darum geht, Dingen auf den Grund zu gehen.«
»Geh, wohin du willst, von mir aus auf den Grund des Ozeans, aber lass mich endlich in Ruhe!«, herrsche ich ihn an. So schnell ist der Lack ab von einem Typ. Schleimer, wo man hintritt, beschließe ich und renne durch die Halle, meiner Mutter direkt in die Arme. »Kleo ist weg, sie ist nach Hause geflogen«, teilt Mama mir aufgeregt mit, kaum dass sie mich sieht. »Woher weißt du das?« »Ich habe nachgefragt. Zuerst war ich in ihrem Zimmer, weil ich wissen wollte, ob sie meine Hilfe braucht. Doch ihr Zimmer ist leer geräumt. Sie ist zurück nach Berlin.« »Weißt du überhaupt ihren Nachnamen?«, forsche ich, als würde ich meiner Mutter nicht über den Weg trauen. »Gute Frage«, gibt Mama zu. »Zuerst habe ich versucht, Kleo zu beschreiben. Schließlich war sie die einzige Blinde hier, doch die Frau an der Rezeption stellte sich dämlich, zuckte immer wieder die Schultern. Da fiel mir ein, dass Kleo dir diesen Kalender geschenkt hat. Den Kalender, bei dem sie die Texte entworfen hat. Er ist in Blindenschrift, aber auch in der normalen, ich meine, in unserer Schrift geschrieben. Ihr Name war trotzdem nicht leicht zu finden, denn sie heißt nicht Kleo, sie heißt Johanna. Johanna Beer.« Mein Blick hastet zur Rezeption, ich suche ein ganz bestimmtes Gesicht, ein Gesicht mit großen Augen. Ein Gesicht, das etwas zu verheimlichen hat. Doch natürlich
werde ich nicht fündig, schließlich habe ich die Frau vor wenigen Minuten am Strand gesehen. Hätte mich trotzdem irgendwie nicht gewundert, wenn die Großäugige es geschafft hätte, mich zu überrunden, sich schnell umzuziehen, um dann lächelnd hinter der Rezeption zu stehen. »Wann war das, ich meine, wann ist sie abgereist?« »Vor einer Stunde. Das hat mir die Frau gesagt, die vorhin Dienst hatte.« Meine Mutter hat meinen Blick zur Theke bemerkt und ist ihm gefolgt. »Das Personal wechselt ständig«, knurre ich. »Die Frau, mit der du geredet hast, kenne ich. Merkwürdige Dinge gehen hier vor. Vor einer Stunde war ich in Kleos Zimmer und da war das Zimmer nicht leer. Außerdem tut Kleo so was nicht, sie fährt doch nicht weg, ohne sich von uns zu verabschieden.« Ich bin fast am Flennen, will Mama noch mehr anvertrauen, doch da lese ich in ihrem Gesicht, dass sie mir kein Wort glaubt. Wütend stürme ich an ihr vorbei, lasse sie wortlos stehen. Gereizt fahre ich mit dem Lift nach oben, trete auf den Flur hinaus und erstarre. Wer steht da, mitten im Gang, glotzt die Tür mit der Nummer 342 an? Kein Geringerer als Mr Sherlock Holmes persönlich. Die Haare hat er mit einem Gummi zusammengebunden, doch immer noch trägt er die dunkle Sonnenbrille, als könnte er es nicht ertragen, wenn ihm jemand direkt in die Augen schaut. »Was machst du hier? Verpiss dich!«, zische ich,
schreite hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei, drücke die Türklinke schwungvoll herunter. »Ho-ho«, sagt der Kerl neben mir und grinst schadenfroh. »Das habe ich auch schon probiert. Ich heiße übrigens Jojo.« »Und ich bin Rapunzel, bitte schließ mir die Tür auf.« Jojo lacht ein hohes, wunderbares Lachen, kramt in seiner Hosentasche und zieht, ich traue meinen Augen nicht, eine Haarspange hervor. Ich meine, wofür braucht ein Typ wie er eine Haarspange? Macht er sich damit nachts einen Dutt? Wohl kaum. Er wollte einbrechen, folgere ich. Ganz klarer Fall. Fasziniert und erschreckt zugleich schaue ich ihm zu, wie er verstohlen nach rechts und links schaut, dann die Haarnadel geschickt zu einem Haken biegt und sich am Türschloss zu schaffen macht. Eine, vielleicht zwei Sekunden lang. Das Schloss ist geknackt. Ich will applaudieren, schließlich erlebt man so eine Show nicht jeden Tag, doch plötzlich grinst der Junge nicht mehr, sondern greift mit seinen großen Händen nach mir und schiebt mich unsanft in das Zimmer. Die Tür fällt leise ins Schloss und wir stehen im Dunkeln. »He, was soll das?« Ich will noch mehr sagen, doch er drückt seine große Hand auf meinen Mund, den Arm legt er um meine Brust und ich werde unsanft nach hinten, gegen seinen Körper, gezogen. Unverzüglich beginne ich damit, nach diesem Mistkerl zu treten. »Tsch, sei leise«, zischt Jojo in mein Ohr. »Hast du den
Typ nicht gesehen, der gerade aus dem Fahrstuhl gestiegen ist? Wir können kein Licht machen.« Ist mir doch egal, denke ich und stampfe und trete mit den Füßen wie ein eingesperrtes Rhinozeros. Würde ich meine Zähne auseinander bekommen, ich würde ihm in die Hand beißen, so sauer bin ich. Aber auch fasziniert. Seine Hand fühlt sich nämlich weich und gut an. Noch während ich meine Gedanken hin und her schiebe, höre ich Schritte vor der Tür. Jetzt halte auch ich den Atem an. Sind wir tatsächlich beobachtet worden und was wird als Nächstes passieren? Doch die Schritte entfernen sich, es wird wieder ruhig. Auch Jojos hastiger Atem beruhigt sich, der Druck seiner Hände lässt nach. Erst ein bisschen, dann ganz. Ich schnappe nach Luft, merke, dass eine tiefe Beklemmung in mir hochsteigt. Keine Spur von Erleichterung festzustellen. Starr wie eine Statue verfolge ich, wie er auf leisen Sohlen schleicht, die Wand neben uns abtastet. Kurz darauf blendet mich der grelle Schein der Deckenlampe. Ich blinzele erschrocken. Jojo fängt meinen Blick auf, zuckt die Schultern. »Entschuldigung«, murmelt er. »Du hast dich bestimmt erschreckt, aber ich wollte nicht riskieren, dass wir wegen Einbruchs festgenommen werden.« Ich drehe mich im Kreis und sehe: Das Zimmer ist tatsächlich leer. Das Bett abgezogen, die Stühle umgedreht auf den Tisch gestellt. Durch die offen stehende Schranktür kann ich erkennen, dass Kleos Kleidungsstücke verschwunden sind.
Ich werde jetzt nie erfahren, ob sie nur schwarze und weiße Klamotten besitzt. Das ist der erste Gedanke, der mich bewegt. Dann gehe ich ins Bad, habe die irrsinnige Hoffnung, dass sich dort ihre Zahnbürste, irgendetwas Persönliches findet. Doch der Anblick der auf dem Fußboden liegenden Handtücher ist ernüchternd. Da fällt mir wieder dieses merkwürdige Gerät ein, ich schnappe mir einen Stuhl und haste damit zum Fenster. Jojo beobachtet mich, stellt aber keine Fragen, wartet. Gerne würde ich ihm eine Sensation bieten. Eine Überwachungskamera. Wie in einem Psychokrimi. Aber nichts ist zu sehen außer einem kleinen Bohrloch. Der Dübel hängt zur Hälfte heraus wie der Zeigefinger eines Gnomen, der mich auszulachen scheint. »Was suchst du?«, forscht Jojo. Was soll ich antworten? Ich suche eine Überwachungskamera? Er würde mich für verrückt halten, deshalb sage ich vorsichtig: »Da war was montiert. Aber das Ding ist weg.« »Hat das deine Freundin mitgenommen?« Ich lache heiser und erwidere: »Bestimmt nicht.« »Warum sagst du mir nicht einfach, was du weißt, und ich sage dir, was ich weiß?«, fordert er mich auf, grinst erwartungsvoll. Es macht mich ganz nervös, dass ich nicht weiß, warum er hier herumschnüffelt. Ich beschließe vorsichtig zu sein, steige vom Stuhl, bringe meinen Rock in Ordnung, überlege mir einen guten Abgang. War nett, dich kennen zu lernen, will ich sagen, nichts für ungut, aber hobbymäßige Schnüffler finde ich ziemlich daneben. Ich meine, du kanntest Kleo doch gar nicht, und
deshalb denke ich, dass wir beide nichts gemeinsam haben. Der Satz befriedigt mich aber nicht, und während ich grüble, kommt er zu mir, legt mir seine Hand auf den Arm, drückt mich ganz sanft auf den Stuhl und stellt sich einen zweiten Stuhl daneben. »Okay, dann erzähle ich zuerst«, erklärt er munter. Sein Mund grinst, zwei Reihen strahlend weißer Zähne werden sichtbar. Ich denke: Jetzt, genau jetzt könnte er, sollte er, müsste er endlich diese blöde Brille abnehmen. Nicht weil ich so neugierig auf seine Augen bin, aber an den Augen kann man erkennen, ob einer lügt oder nicht. »Nimmst du bitte die Brille ab«, rutscht es mir heraus, doch Jojo tut so, als hätte er mich nicht gehört. »Also, worden.«
wir
sind
hier
heute
zwangseingewiesen
Wortwörtlich. Zwangseingewiesen. Als wäre er in einem Internat oder Irrenhaus gelandet. Ich grinse verständnislos und deshalb erklärt er mir: »Wir, das sind Lars und ich. Lars ist ein Kumpel von mir. Kumpel ist ein bisschen übertrieben, ich kenne ihn erst seit ein paar Wochen, bin durch Zufall auf ihn gestoßen, als ich mich auf diese Reise vorbereitet habe. Vorbereitet ist auch übertrieben. Ich wollte den Sommer mit Freunden nach Frankreich fahren, zum Paddeln, doch daraus ist nichts geworden, und da hat sich mein Onkel als sehr großzügig erwiesen und mir eine Pauschalreise nach Ägypten spendiert.
Ich bin das erste Mal alleine unterwegs. Besser gesagt, ich bin überhaupt das erste Mal unterwegs. Interessiert dich bestimmt nicht«, unterbricht er sich selbst und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Das tut er mit einer hastigen, ungeduldigen Bewegung und ich kann nicht anders, ich frage mich sofort, ob er wegen mir nervös ist. »Nun, viel Geld habe ich nicht, Lars hingegen hat reiche Eltern, die spendieren ihm die teuerste Reise, nur damit sie ihn los sind. Habe ich dir schon erzählt, dass ich ihn im Internet kennen gelernt habe? Nun ja, gefunden trifft die Sache besser. Unter dem Stichwort Ägyptenurlaub hat er einen Bericht über das Tauchen im Roten Meer veröffentlicht und gleichzeitig eine Suchmeldung für einen Reisepartner aufgegeben. Ich bin zwar kein Tauchkollege für ihn, doch da ich unbedingt ans Meer wollte, habe ich mich bei ihm gemeldet. Wir haben uns gleich verstanden. Lars und ich haben uns auf ein günstiges Hotel geeinigt, doch als wir gestern Nacht ankamen, wurde uns erklärt, wir könnten da leider nicht hin. Ob wir damit einverstanden wären, in dieses nette Fünfsternehotel gebracht zu werden. Für den gleichen Preis, versteht sich. Nicht schlecht, oder?« »Erzähl weiter!«, fordere ich ihn auf, starre mit weit aufgerissenen Augen auf den Höcker an seinem Hals, der bei jedem Atemzug rauf und runter hüpft. Nennt man so ein Ding Adamsapfel? »Du fragst dich doch sicher, warum ich so neugierig bin?« Jojo legt den Kopf schief, grinst mich an und wartet auf
eine Bestätigung. Ich antworte aber nicht, sondern versuche hinter seine Brillengläser zu schielen. »Ich werd's dir verraten. Wir hatten gerade ausgepackt, Lars und ich, da hörten wir Schreie, nun ja, sagen wir einmal, lautes Jammern wie von einer Katze, der man immer wieder auf den Schwanz tritt. Unser Zimmer liegt genau unter diesem Zimmer, ein Stockwerk tiefer, und die Fenster waren geöffnet. Zuerst dachte ich, da wird ein Kind durchgeprügelt, doch es war die Stimme einer jungen Frau oder eines Mädchens, das sich gegen jemanden zur Wehr setzte. Kurz darauf folgte lautes Gepolter, dann Totenstille. Lars und ich rannten neugierig zum Fenster und sahen nach oben, doch wir konnten nicht viel erkennen. Eine Hand klammerte sich ans Fenstersims. Sah witzig aus. Wir haben gelacht und gerufen: Spring schon, wir fangen dich auf. Doch als es so schrecklich still wurde, haben wir es mit der Angst zu tun bekommen. Besser gesagt, ich hab's mit der Angst zu tun bekommen. Lars glaubte immer noch an eine harmlose Auseinandersetzung und weigerte sich, mit mir nach oben zu gehen. Ich bin also alleine hoch, horchte an der Tür, klopfte sogar leise, doch als niemand antwortete, habe ich mich verdrückt. Nicht mein Problem, beschloss ich. Als ich zum Lift zurückging, kamen mir zwei Männer in weißen Kitteln entgegen. Ich sehe ja nicht so gut, aber die beiden würde ich sofort wiedererkennen. Sie blickten ziemlich finster drein. Hatten so ein wild entschlossenes Grinsen im Gesicht. Nun ja, richtige Schlägertypen waren es nicht, aber ein bisschen komisch sahen
sie schon aus. Und noch etwas ist mir aufgefallen: Sie waren weiß, ich meine, hellhäutig. Deshalb frage ich mich die ganze Zeit, wenn es Krankenpfleger waren, woher kamen die so schnell? Und warum sahen sie aus, als seien sie es gewöhnt, anderen Menschen Angst einzujagen?« »Kann ich dir nicht sagen«, antworte ich trocken, »ich sehe selten Krimis.« »Machst du dich über mich lustig?«, braust Jojo auf. »Ich rede nicht von Krimis, ich rede vom realen Leben. Die Männer gingen hier in dieses Zimmer und sie kamen aus dem Treppenhaus, da bin ich mir ziemlich sicher.« Aus dem Treppenhaus? Viele Dinge fallen mir plötzlich ein, die wie Puzzleteile zu einer grausamen Wahrheit zusammengesetzt werden könnten. Nicht ich, sondern Kleo wurde beschattet. Das muss nicht stimmen, doch es kann stimmen. Und das ist erschreckend genug. Auf jeden Fall bekommen dadurch einige Ungereimtheiten einen Sinn. »Ich will dir keine Angst einjagen.« Mein neuer Bekannter schüttelt traurig den Kopf. »Aber heute, am späten Nachmittag, ist etwas ganz Schreckliches, ich meine natürlich, etwas ganz Ungewöhnliches passiert, und zwar genau hier in diesem Zimmer.«
Zehn
Ich knipse das Licht an und werfe einen Blick auf die Armbanduhr, die auf dem Nachtkästchen liegt. Null Uhr und zweiundzwanzig Minuten. Weil ich meinem Wecker nicht traue, habe ich überhaupt nicht geschlafen. Lisa atmet in ihrem Bett tief und regelmäßig. Ihr blonder, zerzauster Lockenkopf breitet sich wie Lametta auf dem Kissen aus, wird vom hereinfallenden Mondlicht hell erleuchtet. Es ist schrecklich, das Zimmer mit einem Baby teilen zu müssen, vor allem, wenn man ein so aufregendes Leben führt wie ich. Um ein Uhr, hat er gesagt, doch ich stehe schon mal auf, dehne und strecke mich wie eine Katze und ziehe mich an, stecke mir einen Kaugummi in den Mund, um meine Nerven zu beruhigen. »Zieh dir eine Hose an, was Dunkles«, hat er hinzugefügt und auf meinen Rock gedeutet. Wir mussten beide grinsen. Dieser komische, Brille tragende Kauz ist meine zweite Sorge, denn er geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Dabei will ich das gar nicht, hab genug mit Kleo zu tun. Und Michi ist ja schließlich auch noch da. Ich glaube, wenn es Kleos Verschwinden nicht gäbe, wäre Jojos Interesse an mir gleich null. Als ich ihm nämlich von meinen Beobachtungen, der Sache mit der Kamera und dem Fernglas im Treppenhaus erzählte, ging ein Strahlen über Jojos Gesicht, als habe er im Lotto gewonnen. »Bingo!«, ereiferte er sich, sprang aufgeregt in die Höhe, »da
haben wir einen wirklich interessanten Fall aufgetan. Okay«, korrigierte er sich, »man kann natürlich nie wissen, ob da wirklich ein Fall dahinter steckt, doch in einem privaten Zimmer eine Überwachungskamera zu finden, davon träume ich schon seit Jahren. Gefunden habe ich sie natürlich nicht, du hast sie gefunden, sie gehört dir, auch Kleo gehört dir. Trotzdem denke ich, wir sollten der Sache gemeinsam auf den Grund gehen. Lass mich überlegen; wir sollten dieser Spur nachgehen.« »Spur nachgehen?«, wiederholte ich. »Du redest absolut jamesbondisch. Was machen wir, wenn sie uns erwischen?« »Kein Problem, wir sind zu jung.« »Aha, du kennst dich ja saugut aus. Machst so was wohl öfters, einbrechen und so.« »Ne, mach ich nicht, aber ich war ein paar Monate lang in einem Internat«, sagte er endlich, und so stockend, wie er das zugab, ahnte ich, dass er von einem schlimmen Ort mit noch schlimmeren Erinnerungen sprach. Doch sein Humor kehrte schnell zurück und grinsend erklärte er: »Dort lernt man die nützlichsten Dinge. Verschlossene Türen aufzubekommen zum Beispiel. Wir beide drehen das Ding heute Nacht. Ich kann Türen öffnen und du kannst besser sehen als ich.« Das waren seine Worte. Gesprochen, bevor ich ihm die Brille wegnahm. Ich hätte es also ahnen können, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmte. Doch wie oft hört man etwas, ohne den dahinter liegenden Sinn zu erfassen. Und weil er gerade von Partnern gesprochen hatte und ich das mit
Partnerschaft und Freundschaft verwechselte, holte ich aus und nahm ihm die Brille von der Nase. Hab mir echt null dabei gedacht. Er ist wie ein Wahnsinniger aufgesprungen, hat mir die Brille aus der Hand gerissen und mich böse angefunkelt. Da war es aber schon zu spät. Da habe ich schon gesehen, was los war. Ein Auge rot geschwollen, als wären alle Äderchen darin geplatzt, das andere etwas größer als normal, so wie bei Kleo. Mein erster Gedanke war, wegzulaufen, weil das ein richtiger Schock für mich war. Ich meine, er sieht toll aus, überall, und dann so was. Und weil er so ein Theater um die Brille machte und sie schnell wieder aufsetzte, wusste ich, dass es nicht nur eine harmlose Entzündung sein konnte. Natürlich bin ich nicht weggelaufen, konnte gar nicht, saß starr da, einem hypnotisierten Kaninchen gleich, und glotzte ihn immerzu an. Wieder fiel mir die äußere Ähnlichkeit zwischen ihm und Kleo auf. Bestimmt besitzen beide südländische Vorfahren, doch macht sie das automatisch ähnlich? Und nun verbindet sie noch etwas, sie haben beide Probleme mit ihren Augen. Komischer Zufall. Ich lerne innerhalb von wenigen Tagen zwei Menschen kennen, die mich sofort faszinieren, die eine ist blind, der andere hat eine schlimme Augenentzündung. »Entschuldigung«, murmelte ich, stand auf, weil ich sowieso gehen wollte. »Bis zwei Uhr dann.« Er hat nichts gesagt, machte auch keine Anstalten, mich zu begleiten. Seine ganze Redseligkeit war verschwunden, sein freundschaftliches
Lächeln auch. Er tat mir richtig Leid. Doch ich tat mir noch viel mehr Leid. Im Zimmer wartete Mama auf mich, wollte wissen, wo ich war. Sie telefonierte gerade mit dem Flughafen, doch Kleos Name tauchte weder auf der Liste der Inlands- noch der Auslandsflüge auf. Sie erzählte mir, dass sich keiner der Taxifahrer an ein blindes Mädchen erinnerte. Und die an der Rezeption wiederholten immer wieder die gleiche Leier: Miss Beer ist abgereist! Hinzu kam, dass die Auskunft in Deutschland keine Maria oder Johanna Beer im Berliner Telefonbuch finden konnte. Es war wie verhext. »Eve!«, höre ich eine Stimme rufen. Er ist da. Leise schleiche ich zur Tür, schließe erwartungsvoll auf und erstarre. Jojo ist nicht allein. Neben ihm, im dämmrigen Licht der Notbeleuchtung nur verschwommen zu erkennen, steht ein Gespenst, kreidebleich, mit blonder, ungezähmter Lockenpracht, weißem Hemd und beigefarbener Hose, aber dunkle, schwere Stiefel an den Füßen, als wolle er noch heute Nacht den Mount Everest besteigen. Wer soll das denn sein? Und noch etwas erstaunt mich: Jojo trägt keine Brille. Er trägt auch kein zitronengelbes Sweatshirt, sondern ein dunkelblaues. »Das ist Lars«, wispert Jojo mir aufmunternd zu. »Er wird Schmiere stehen.« Schmiere stehen wiederhole ich innerlich. Schon wieder so ein Wort aus dem Kriminalgenre. Vorsichtig schließe ich die
Tür, wie geübte Kriminalhelden das zu tun pflegen. Dann begrüße ich den Neuen. Seine Hand ist klein und zierlich, erinnert mich daran, dass er ein verwöhntes Kind aus gutem Hause ist. Aber er gehört jetzt zu unserer Gang, spielt im gleichen Film. »Kommt schon«, winkt Jojo uns heran, sein Gesicht wirkt genervt wie von einem, der Chef sein will, aber Autoritätsprobleme hat. Ich kichere leise, kann nicht anders, finde alles, was wir tun, komisch, benutze die Langsamkeit, um meine Angst zu vergessen. Heute Nachmittag waren wir noch ganz normale Touristen, jetzt spielen wir Räuber und Gendarm. Auf jedes meiner Geräusche achtend gleite ich über den dunklen Teppichboden, bewege mich im Schatten der Wände, weiche dem roten Licht der Notbeleuchtung so gut wie möglich aus. Erschrecke plötzlich, weil im Zimmer 412 ein heiseres Husten erklingt, ein Bett knarrt. Ich werde deutlich schneller. Als ich die beiden eingeholt habe, macht Jojo sich bereits am Türschloss des Treppenhauses zu schaffen. Diesmal hat er einen echten Dietrich aufgetrieben, keine Ahnung, woher. Trotzdem dauert es diesmal länger, erheblich länger. »Eve, du kommst mit mir«, kommandiert Jojo, als die Tür endlich aufschwingt. Sein Ton ist ernst, seine Mimik auch. Der Mund verkniffen, die Nasenflügel gebläht wie bei einem Rennpferd, das auf den Startschuss wartet. »Lars wird hier oben bleiben und ganz fürchterlich husten, wenn er jemanden
kommen sieht oder hört.« »Jawohl, Chef!«, antworte ich mit tiefer Stimme, salutiere und tue so etwas Ähnliches wie die Hacken zusammenzuschlagen. Leise flüstere ich Jojo ins Ohr: »Warum trägt unser Schmiermann weiße Klamotten?« An Jojos hochgezogenen Augenbrauen kann ich erkennen, dass ich ihm ziemlich auf die Nerven gehe. »Weil es nicht geplant war, dass er mitkommt. Er ist aufgewacht und deshalb habe ich ihn mitnehmen müssen.« Mit diesen Worten schiebt er mich in das dunkle Treppenhaus, in dem, o Schreck, nicht einmal eine Notbeleuchtung brennt. Jojo zögert kurz, dann knipst er eine Taschenlampe an. »Risiko«, raunt er mir zu und geht voran. »Wir müssen in den dritten Stock, dort hast du die Taschen und das Fernrohr gesehen, nicht wahr?« Nachdenklich nicke ich, denn erst jetzt fällt mir ein, dass es absoluter Humbug ist, eine Wache aufzustellen. Was nutzt uns ein Warnruf, wenn wir nicht abhauen können? Doch Jojo denkt an alles. Sobald wir das dritte Stockwerk erreicht haben, klemmt er sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und öffnet auch diese Etagentür mit dem Dietrich. Diesmal ohne Probleme, zügig und schnell. Das Fernglas steht immer noch am gleichen Platz, doch die schwarzen Taschen sind verschwunden. Wir linsen hinter die Treppe, haben jedoch kein Glück.
»Manchmal kann es auch Glück bedeuten, etwas nicht zu finden«, tröste ich ihn und mich. Inzwischen ist mir wieder mulmig zumute, und als Jojo die Taschenlampe ausmacht, um durchs Fernrohr zu schauen, bekomme ich eine Gänsehaut. Im Dunkeln fühle ich mich total hilflos, verletzlich. Auch wenn jemand bei mir ist. Auch wenn Jojo bei mir ist. »Was siehst du?«, frage ich, um meine eigene Stimme zu hören. »Das Fernglas ist auf den hoteleigenen Strand gerichtet«, raunt Jojo mir zu. »Aber ich kann nicht erkennen, wer oder was beobachtet werden soll.« Enttäuschung liegt in seiner Stimme, er dreht sich zu mir um und knipst die Taschenlampe wieder an. Sein krankes Auge wirkt übergroß, ich muss mich zwingen, ihn nicht anzustarren. »Lass uns weitersuchen«, entscheidet er, »so schnell gebe ich nicht auf.« Ich schon, will ich sagen, doch ich traue mich nicht. Will kein Spielverderber, kein Angsthase sein, andererseits bin ich zu alt, um jemand anderem blindlings zu folgen. Wenn es nichts zu entdecken gibt, sagt mir mein gesunder Menschenverstand, dann sollten wir dieses Spiel beenden. Doch Jojo ist schon vorausgeeilt und ich muss mich ranhalten, um ihn und den Schein der Taschenlampe nicht zu verlieren. Im ersten Stock und im Erdgeschoss gibt's kein Fernrohr, dafür dringt uns ein unangenehmer Geruch in die Nase,
Lösungsmittel. Mir kommen berechtigte Zweifel, ob das Treppenhaus nicht doch renoviert werden soll und die Absperrung einen triftigen Grund hat. Jojo scheint mich fast vergessen zu haben, doch der Geruch irritiert auch ihn und er schenkt mir einen kurzen Blick. Hoffnungslosigkeit liegt darin und die Traurigkeit, die einen überfällt, wenn der geplante Sonntagsausflug in den Vergnügungspark ins Wasser fällt. Muss ich ihn trösten, weil wir immer noch kein Rauschgift oder eine Leiche gefunden haben? »Nur noch eine Treppe«, bestimmt Jojo. Er sagt es streng und fordernd, als würde er meinen Widerstand spüren. »Von mir aus. Dann öffnest du uns aber bitte noch eine dieser Türen, zur Sicherheit«, betone ich und zeige auf zwei Türen, die eine aus Holz wie in den anderen Stockwerken vorher, die andere aus glattem, grau gestrichenem Metall. Wir befinden uns im Erdgeschoss und hier enden die Zugänge zum Treppenhaus. Jojo macht sich an der Metalltür zu schaffen, doch sein Dietrich will nicht greifen. Ungeduldig drückt er die Klinke herunter und stellt erstaunt fest, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Mein erster Gedanke ist: Prima, dass die Arbeiter vergessen haben zuzuschließen. Mein zweiter Gedanke: Jemand ist unmittelbar vor uns durch diese Tür gegangen und wartet im Keller auf uns! Ich starre Jojo an. Gemeinsam lauschen wir nach oben, lauschen nach unten, doch alles ist mucksmäuschenstill. Inzwischen bin ich mir längst sicher, dass wir Lars Warnung hier unten nicht hören würden. Wir hätten das ganz anders
organisieren sollen. Noch während ich das denke, ist Jojo durch die Tür geschlüpft, und ich wundere mich, denn er wollte doch eigentlich in den Keller. Ängstlich folge ich ihm und erkenne, dass wir in einem mit Plexiglas überdachten Außenbereich stehen. Über unseren Köpfen leuchten tausend Sterne und ein heller Sichelmond zaubert weiße Streifen auf die asphaltierte Fläche vor unseren Füßen. »Hier könnten sie deine Freundin weggeschafft haben, ohne dass es Zeugen gab«, höre ich Jojo sagen und sofort verfinstert sich der Mond über uns. »Mit einem unauffälligen Transportauto kann man bis zu dieser Tür fahren. Die Männer hatten keine Zeit, Kleos Sachen zu packen, die haben sie erst später geholt. Ihr Pech, dass du in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer warst. Das wird ihnen ganz und gar nicht gefallen haben.« Die letzte Bemerkung überhöre ich geflissentlich, und wenn ich es mir recht überlege, will ich von dem Rest auch nichts wissen.
Elf Wir gehen ins Treppenhaus zurück. Jojo kramt nach der Taschenlampe. »Mist, die muss ich draußen hingestellt haben. Bin gleich zurück.« Jojo ist verschwunden, bevor ich richtig kapiere, was los
ist, doch ich bin zu müde um ihm zu folgen. Ich lehne mich an die Wand und warte. Ich müsste jetzt Angst haben, geht es mir durch den Kopf, doch auch dazu bin ich zu müde. Wenige Sekunden später fahre ich hoch, spitze die Ohren. Da kommt jemand die Treppe herunter. Ich höre keine Stimmen, nur Schritte, schwer, wie von hohen Schnürstiefeln. Lars trägt solche. Bestimmt sucht er uns. Schließlich sind wir schon eine halbe Ewigkeit unterwegs, er wird ungeduldig geworden sein. Trotzdem versetzen diese Schritte mich in hellste Aufregung. Wenn es nun nicht Lars ist? Ich muss auf jeden Fall Jojo warnen, doch als ich die Klinke herunterdrücken will, höre ich von draußen aufgebrachtes Gemurmel. Zunächst kann ich die einzelnen Wortfetzen nicht unterscheiden, doch dann verstehe ich Wort für Wort. »... die ganze Zeit hier herum? Wie viele seid ihr?« Die tiefe Stimme eines Mannes. Die Stimme eines deutschen Mannes. Ein Tourist, der sich mitten in der Nacht am Hintereingang herumdrückt und unangenehme Fragen stellt? Unwahrscheinlich. Das kann nur einer der beiden Männer sein, die Kleo mitgenommen haben. Doch es wird noch viel verrückter, denn nun höre ich auch die Stimme von Lars. Sie klingt schrill und aufgebracht, kommt eindeutig von draußen. »Mach schon, Jojo, wir gehen.« Warum steht Lars im Hof? Und vor allem: Wenn das Lars ist, wer befindet sich über mir im Treppenhaus, kommt unaufhörlich näher? Die Falle ist zugeschnappt und ich sitze mittendrin. Bin zur Maus geworden, die gejagt wird.
Die Außentür wird aufgerissen und ich habe gerade noch Zeit, mich unter einer dicken Plastikfolie, die neben Malerutensilien auf dem Boden liegt, zu verstecken. Einer Kellerassel gleich rolle ich mich zusammen, versuche hartnäckig mit der Umgebung zu verschmelzen. Eine Taschenlampe flammt auf und der runde Lichtkegel wandert über die Wände und den Boden. Auch über die Folie, unter der ich begraben liege. Was man in einem solchen Augenblick denkt, lässt sich kaum in Worte fassen. Alle Sinne sind hellwach, senden permanent Signale und Botschaften ans Gehirn. Man hört, sieht, riecht tausendfach verstärkt. Die Gefahr lähmt und aktiviert einen gleichermaßen. Ich bin so fasziniert von diesem Zustand, dass meine Angst auf ein Minimum zusammenschmilzt. Warum verstecke ich mich überhaupt? Wäre es nicht viel gescheiter, sich zu zeigen, nachdem Jojo und Lars entdeckt wurden? Was soll ich alleine ausrichten? Und was können uns die Männer schon anhaben, wir haben schließlich nichts Schlimmes getan? Aber ich verhalte mich ruhig, halte den Atem an, was angesichts der mit Farbstoff verklebten Folie auch gesünder ist, werde immer flacher und wundere mich darüber, dass keine Aufforderung erfolgt: »He, komm raus da!« Stattdessen höre ich: »Für heute habt ihr genug Cowboy und Indianer gespielt, haut schon ab!« Die tiefe Stimme des Mannes vermischt sich mit unschlüssigem Füßescharren. Schließlich fordert Lars: »Komm, lass uns tun, was er sagt.«
»Nicht so eilig«, antwortet Jojo und ich denke: Klar zögert er. Schließlich weiß er, dass ich mich im Treppenhaus befinde, will sich umschauen und sichergehen, dass ich abgehauen bin. Da fallen mir die Schritte ein, die ich gehört habe. Dieser unbekannte Jemand müsste längst unten angekommen sein. Ist er aber nicht. Jojo murmelt etwas wie: »He, fassen Sie mich nicht an, Sie haben uns gar nichts zu befehlen«, dann höre ich das Geräusch von eiligen Schritten, eine Tür fällt ins Schloss. Sie sind fort und haben mich allein gelassen. Immerhin haben sie mich nicht entdeckt, tröste ich mich, atme tief durch. Da fällt mir auf, dass das Licht der Taschenlampe immer noch brennt. Und nun höre ich ihn auch, er atmet schwer, ungleichmäßig. Neben mir steht immer noch dieser fremde Mensch. Worauf wartet er? Hat er mich doch entdeckt und wollte es geheim halten? Wird er mich jetzt rauszerren? Kurz darauf wird mir klar, worauf der Mann wartet, denn nun hört man Schritte von oben. »Das dürfte reichen«, sagt eine neue Stimme. Es ist die Stimme eines Mannes mit ausländischem Akzent. »Sie haben ihren Spaß gehabt, aber da sie nichts gefunden haben, werden sie aufhören nach ihr zu suchen. Komisch, dass ausgerechnet dieser Jussuf so neugierig ist. Jetzt, wo es zu spät ist.« »Was meinst du mit zu spät?« »Hast du es immer noch nicht kapiert?«, ereifert sich der Mann mit dem ausländischen Akzent. »Das Treffen sollte
hier, in diesem Hotel, stattfinden, doch jetzt haben sie herausgefunden, dass die Augenkrankheit nicht harmlos ist. Deshalb soll das Mädchen nach Kairo geflogen werden. Zu der anderen. Und dieser Jussuf so bald wie möglich auch. Wir können den ganzen Krempel, die Videoausrüstung und alles, zusammenpacken, der ganze Aufwand war umsonst.« »Mir egal«, brummt der andere, »solange ich für meine Arbeit anständig bezahlt werde. Aber warum erzählt einem niemand, wozu das ganze Theater gut sein soll? Und seit wann weißt du das mit der ansteckenden Krankheit? Hattest du mir auch vorher sagen können, he? Wink nicht ab. Ich habe schließlich das Mädchen angefasst, nicht du.« »Von ansteckend hat niemand was gesagt«, beruhigt der andere, lacht verhalten. Dabei muss er gegen einen Eimer gestoßen sein, denn es gibt einen Riesenradau und kurz darauf donnert ein schwerer Gegenstand gegen meine gekrümmte Hüfte. Ich zucke zusammen, verschlucke vor Aufregung meinen Kaugummi und bin sicher, dass jetzt mein letztes Stündchen geschlagen hat. Doch vielleicht bin ich ja wirklich im Erdboden versunken, unsichtbar geworden, denn das Gespräch geht weiter. »Verflixt«, stöhnt einer der Männer, »sei nicht so laut. Hast du oben wieder abgeschlossen? Dann lass uns nachschauen, ob die Jungs wirklich abgezogen sind. Sie sind die allerletzten, die ...«
Mehr verstehe ich nicht, denn die beiden Männer verlassen das Treppenhaus, eine schwere Tür fällt hinter ihnen ins Schloss. Und, o Schreck, sie schließen von außen ab. Stille umfängt mich, ich bin mutterseelenallein im Dunkeln. Mit einem Sack voller Fragezeichen. Was soll nun aus mir werden? Meine Mama hat mich dazu erzogen, lieb und freundlich und hilfsbereit zu sein. Ich war lieb und freundlich und hilfsbereit zu Kleo, ich war lieb und freundlich und hilfsbereit zu Jojo. Und was hat mir das gebracht? Angstschweiß auf der Stirn und kalte Hände, Zittern im Bauch. Habe ich das wirklich verdient? Bin ich deshalb nach Ägypten gereist? Gott, der dies hier alles eingefädelt hat, weiß doch, dass ich mich im Dunkeln fürchte. Wenn ich nicht bald hier herauskomme, fange ich ganz furchtbar an zu heulen. Soll ich? Nein, beschließe ich, noch nicht. Wer weint, der kann nicht nachdenken, und ich muss nachdenken. Die Informationen, die mir die beiden Männer unfreiwillig geliefert haben, müssen verarbeitet werden. Von einem Treffen war die Rede, einem Treffen zwischen einem Mädchen, von dem ich annehme, dass Kleo gemeint ist, und einem Jus-suf. Jussuf wie Jojo? Ja!, antworte ich mir selbst. Es kann kein Zufall sein, dass sich die beiden ähneln, dass sie beide sehbehindert sind, dass sie sich zur gleichen Zeit im gleichen Hotel aufhalten. Aber weshalb sollten sie sich hier treffen und wozu wird dieses Treffen geheim gehalten? Nun spüre ich es auch, den Kitzel, der Detektive antreibt, der auch Jojo angetrieben hat. Es geht mir nicht mehr nur darum, Kleo
zu finden, ich will auch wissen, was hinter der Geschichte steckt. Apropos Kleo. Das Mädchen, von dem die Männer sprachen, soll nach Kairo geflogen werden. Zukunftsform. Das bedeutet, dass Kleo sich noch irgendwo hier, in Hurghada, befinden muss. In diesem oder in einem anderen Hotel. Und noch etwas hat er gesagt: »Sie haben nichts gefunden.« Demnach gibt es etwas zu finden. Eine Etage tiefer vielleicht, im Keller? Gut möglich. Sehr wahrscheinlich sogar. Doch da werde ich ganz bestimmt nicht alleine runtergehen. Inzwischen habe ich mich unter der Plastikfolie tappe unbeholfen durchs dunkle herausgeschält, Treppenhaus. Eine Notbeleuchtung ist bestimmt vorgeschrieben und wurde extra außer Betrieb gesetzt. Zehn Minuten sind seit dem Verschwinden der Männer vergangen. Fünfzehn Minuten seit dem Verschwinden von Jojo und Lars. Ich drücke vorsichtig die Türklinken herunter. Zunächst im Erdgeschoss, dann in jedem der anderen Stockwerke. Ohne Erfolg. Alle Türen sind verschlossen und ich besitze weder eine Haarnadel noch einen Dietrich. Kleo und ich haben die Rollen getauscht. Nein, verbessere ich mich, ich bin so geworden wie sie: zur Blinden, Hilflosen und Eingesperrten. Verdammt, verdammt! Warum kommt Jojo nicht zurück, um mir aufzuschließen? Meine Ohren sind groß geworden wie Suppenteller, es gibt kein noch so unbedeutendes Geräusch, das ihnen entgeht. Doch außer dem Zirpen der Zikaden und dem Rascheln der Palmblätter höre ich nichts. Keine Schritte, keine Stimmen, keine umgedrehten Schlüssel. Was soll ich denken? Scheißkerle, denke ich. Mehrzahl. Gebe meinem
Vater die Schuld, weil der mich in dieses Land verschleppt hat und nie da ist, wenn man ihn braucht. Schimpfe auf Jojo und Lars, weil die doch inzwischen herausgefunden haben müssten, dass ich hier drin verschimmle. Und zuletzt knalle ich, gedanklich, versteht sich, die wirklichen Verbrecher ab. Päng, päng! Diese Schweine! Sie haben Kleo entführt und mich hier eingeschlossen. Doch die haben nur ihren Job erledigt. »Hauptsache, wir bekommen unser Geld«, hat einer von ihnen gesagt. Und: »Uns haben sie nichts gesagt. Die ganze Ausrüstung muss zurück. Hat sich überhaupt nicht gelohnt.« Das klingt nach Auftragsarbeit. Jemand hat die beiden Männer angeheuert, um Kleo und Jojo zusammenzubringen. Ein merkwürdiger Gedanke. Wozu soll das gut sein? Jojo, komm doch endlich!, flehe ich, beiße mir auf die Lippen. Bestimmt ist er zu meinem Zimmer gegangen, hat geklopft, gewartet, ob ich reagiere. Aber vielleicht, so denke ich zu seiner Entschuldigung, stehen die beiden Männer vor seiner Zimmertür, lassen ihn und Lars nicht raus, oder sie gehen davon aus, dass ich durch eines der Fenster klettere. Leider sind die Fenster im Erdgeschoss vergittert und ich werde den Teufel tun und aus dem ersten Stock springen. Deprimiert gehe ich zurück ins Erdgeschoss. Und weil beide Türen immer noch verschlossen sind, hangle ich mich noch weiter in den Keller hinunter. Trotz meiner Angst, trotz fehlenden Lichts. Vielleicht habe ich Glück und finde ein unvergittertes Fenster. Zunächst jedoch wird es immer dunkler, ich bin auf
meinen Tastsinn angewiesen. Und Geruchssinn. Auch hier riecht es nach Farbe und Klebstoffen. Meine Hände wedeln hektisch durch die Luft, ertasten Farbeimer und mannshohe Teppichrollen. Nie habe ich Kleo so hilflos erlebt wie mich jetzt. Ich kann meine Füße nur zentimeterweise vorwärts schieben. Endlich habe ich das Ende der Treppe erreicht und beginne zu beten. Bitte, bitte, bete ich zu dem Gott, an den ich erst seit heute wieder glaube, lass eine Tür unverschlossen sein. Und wenn ich aus diesem Kellerloch auch nicht entfliehen, sondern ...! An dieser Stelle bricht mein Gebet ab, denn die erste Klinke, die ich ergreife und herunterdrücke, öffnet mir einen Raum. Einen Raum, der durch ein Kellerfenster matt erleuchtet wird. Ich reiße Augen und Ohren auf, überprüfe die dunklen Konturen auf schlafende Menschengestalten. Ich erkenne schemenhaft Schränke und Regale, höre das feine Summen eines Kühlschrankes. Meine empfindliche Nase schnuppert verstört, kräuselt sich verächtlich, denn ich rieche Knoblauch, Tabak, Schweißfüße, Sauerkraut. Sauerkraut in Afrika? Vorsichtig taste ich an der Wand entlang, mache Licht. Vor mir stehen keine Schränke, sondern ein riesiger Schreibtisch, auf dem sich zwei Reihen übereinander gestapelter Fernsehgeräte befinden. Zwanzig Stück an der Zahl. Davor Unterlagen, Mikrofone, Tonbänder, eine Videokamera. Klein genug, um sie hinter einer Gardine zu verstecken. Ich weiß sofort, wozu dieser Raum dient, obwohl ich so etwas noch nie zuvor gesehen habe. Ich befinde mich in einer Überwachungszentrale. Hier also haben die aus allen Poren stinkenden und rauchenden Gesellen Wache geschoben, Tag für Tag. Und das ist wohl die Ausrüstung, von
der die Männer gesprochen haben. Die Bildschirme sind ausgeschaltet, dünne und dicke Kabel liegen auf dem Tisch verstreut. Das bedeutet genau das, wonach es aussieht, nämlich dass die Überwachung abgeschlossen ist, weil die Person, die es zu überwachen galt, abgereist ist oder abgereist wurde. Ich spüre wieder diesen Kloß in meinem Hals und muss mich erst einmal hinsetzen. Was gibt es an einem blinden Mädchen zu überwachen, wundere ich mich. Ich meine, selbst wenn ihre Eltern jede Menge Kohle besitzen und sich eine Entführung lohnt, erscheint mir ein solcher Aufwand übertrieben. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich von der Materie keine Ahnung habe. Ich bin ja immer noch das liebe, nette Mädchen, das keine Krimis mag. Genau in dem Moment entdecke ich zu meiner Rechten eine Art magnetische Pinnwand, bestückt mit zahlreichen Fotografien, aber auch mit Schlüsseln, Zangen und Dietrichen. Mich fröstelt es bei dem Anblick. Schon von weitem erkenne ich, dass es sich bei der geknipsten Person um Kleo handelt. Kleo im Garten, Kleo beim Baden mit einem mir unbekannten jungen Mann, Kleo beim Tempel der Hatschepsut Arm in Arm mit mir, Kleo in ihrem Zimmer beim An- oder Ausziehen. So eine Sauerei, schimpfe ich, spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Und je mehr ich mich aufrege, desto besser fühle ich mich. Und deshalb mache ich etwas, was ich unter normalen Umständen nie machen würde. Ich gehe zurück zum Schreibtisch und beginne ihn zu durchsuchen. Hatschepsut steht auf der Akte, die ich wenige Minuten
später aus einem der Fächer ziehe. Ich hätte auch die Akte mit der Aufschrift Thutmosis III. oder Nofrure nehmen können. Doch der Name Hatschepsut kommt mir vertraut vor, ich spüre regelrecht, dass er mit Kleo verflochten ist. Ich schlage die Akte wahllos in der Mitte auf und Bingo!, das Foto meiner Freundin strahlt mich an. Kleo schlafend im Bett bei hellster Beleuchtung. Es folgen Eintragungen in deutscher Sprache von ihren Ess- und Trinkgewohnheiten, wie oft sie im Meer schwimmen geht, mit wem sie sich unterhält. Mein Name ist sorgfältig eingetragen, Nachname, Rufname, alles vorhanden, dazu Geburtsdatum, Passnummer. Meine Passnummer! Hektisch blättere ich an den Anfang und erkenne, dass Tag für Tag, Woche für Woche penibel über Kleo Buch geführt wird und wurde. In Deutschland schon, über Jahre hinweg. Von Arztbesuchen über Schulleistungen, Besuche von Bekannten und Auftritten mit dem Jugendorchester ist alles genau verzeichnet. Und immer wieder taucht der Name Maria als Unterschrift unter den Berichten auf. Ist das nicht der Name ihrer Tante? Mir dämmert langsam, hier wird ein Menschenleben dokumentiert. Kleo ist das Ziel einer groß angelegten Beschattung. Leider reicht die Akte nur drei Jahre zurück, doch da es keinen Hinweis auf den Grund der Eintragungen gibt, nehme ich an, dass es sich um eine von mehreren Akten handeln muss. Ich ziehe also alle Schubladen auf, durchforste sie nach älteren Unterlagen, kann jedoch nichts finden. Deshalb kehre ich zu meinem ersten Fundort zurück, schnappe mir die Akte mit dem Namen Nofrure, schlage sie auf. Und obwohl ich nun mit fast allem rechne, bin ich erneut völlig sprachlos. Auch dieses Mädchen kenne ich.
Es ist die Doppelgängerin, vielleicht auch eine Schwester von Kleo. Das Mädchen, das ich vor zwei Tagen vor dem Ramesseum im Tal der Könige gesehen habe. Aus den Unterlagen geht hervor, dass sie Engländerin ist. Sie scheint erst seit kurzem blind zu sein, lebt aber schon lange in Kairo, in einer Klinik. Behandelnder Arzt, lese ich, Dr. Abdul Hassan, Leiter der Psychiatrischen Klinik an der Ain-Shams-Universität, Kairo. Kontaktperson im Ägyptischen Museum: Prof. Dr.J. Pahl. Und auch hier wieder Fotos über Fotos, abgeheftete Arzneimittelrezepte, Friseurrechnungen, Dokumentationen über Gespräche im Krankenhaus. Das sind ausgesprochene Stasimethoden, geht es mir durch den Kopf, pfui Teufel aber auch. Wenn ich das meinem Vater erzähle, der wird Augen machen. Gerne würde ich die Ordner genauer prüfen, auch den mit dem spannenden Namen Thutmosis III. War das nicht der Stiefsohn und Neffe der Hatschepsut? Doch plötzlich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Ein Raum mit so vielen Beweisen wird doch nicht einfach offen stehen gelassen. Ein Hausmeister, eine Putzfrau, neugierige Mädchen wie ich könnten sich hierher verlaufen und sich wundern. Wie elektrisiert springe ich vom Stuhl auf, drehe mich im Kreis. Ich blicke zur Decke, kontrolliere die Wandregale, suche nach der versteckten Kamera, die mich die ganze Zeit über gefilmt hat. Kann aber keine finden und ahne deshalb, dass ich mich mit meiner verzweifelten Suche nach einem Ausgang erst recht in die Falle begeben habe. In die innerste Falle. Denn wenn die Männer wirklich wussten, dass dieser Raum nicht abgeschlossen ist, hätten sie doch
gründlicher nach mir gesucht. Es sei denn, sie wollten, dass ich das hier finde und sie einen Grund haben ...! Plötzlich habe ich das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen vibriert, gibt nach und ich sinke immer schneller in die Tiefe. Rasch klappe ich die Akten wieder zu, verstaue sie an ihrem Platz und renne zur Tür. Keine Sekunde länger will ich hier bleiben, denn die Geschichte ist mir um einige Nummern zu groß. Doch ich habe nach wie vor ein großes Problem: Die Türen sind immer noch verschlossen. Blitzschnell muss ich mich entscheiden, welcher der dreißig Schlüssel für eine der Türen im Erdgeschoss in Frage kommen könnte. Doch die Schlüssel sind weder durch Nummern noch sonst wie gekennzeichnet. Also entschließe ich mich dazu, es Jojo nachzumachen und einen der Dietriche zu probieren. Ich greife nach einem der schmalen Werkzeuge, als mein Blick auf eine handschriftliche Notiz fällt. Sun Beach Hotel lese ich in verschnörkelter Schrift, darunter die Nummer 212 und eine sechsstellige Ziffer, von der ich annehme, dass es sich dabei um eine Telefonnummer handelt. Der Zettel wurde aus einer der Akten herausgerissen und zwischen die Fotos und Dietriche geheftet. Könnte es sich bei der Adresse um das Hotel handeln, in dem Kleo vorläufig untergebracht wurde? Ich weiß, dass Oliver dort wohnt. Vielleicht auch die Frau mit den großen Augen. Schließlich stecken die beiden irgendwie unter einer Decke. Obwohl ich meine Chancen auf einen solchen Treffer als minimal einstufe, schnappe ich mir den Zettel, gehe zurück in den Flur und eile die Treppe nach oben.
Halt!, schreit eine innere Stimme. Was tust du? Was ist mit den anderen Räumen im Keller? Die müssen ebenfalls durchsucht werden, auch wenn du Angst hast. Ich zögere, doch schließlich schleiche ich zurück. Ich öffne die zweite Tür, leuchte mit einem Feuerzeug, das ich aus dem Büro entwendet habe, hinein und erkenne Öltanks, Pumpen und undefinierbares Gerät. Im nächsten Raum befinden sich Arbeitsanzüge, Stiefel, Rasenmäher und Schaufeln. Ich atme erleichtert aus. Völlig sinnlos, hier herumzuschnüffeln, necke ich mich selbst. Ohne zu zögern drücke ich die Klinke der vierten Tür herunter. Sie ist verschlossen. Nicht weiter schlimm, der Schlüssel steckt im Schloss. Ich öffne sie, muss richtig ziehen, denn es handelt sich um eine massive Sicherheitstür. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, einen Raum mit Rettungswesten vielleicht, schließlich sind wir am Meer, oder eine gut eingerichtete Werkstatt. Selbst mit einer gefangen gehaltenen und geknebelten Kleo war zu rechnen, doch nicht mit einem schlafenden Jojo. Er liegt auf dem Rücken, atmet ungleichmäßig. Eine dünne Wolldecke liegt über seinen Beinen. Fassungslos trete ich näher, schaue mich um. Es ist ein kalter, steriler Raum ohne Fenster. Wenige Quadratmeter groß und bis an die Decke mit weißen Fliesen gekachelt. Die einzigen Möbelstücke sind das Bett auf Rollen und ein Stehklo, das sich in der hintersten Ecke befindet. Es riecht frisch und freundlich, nach Seifenlauge oder so. Ein Krankenzimmer, könnte man denken, doch dafür ist es zu spartanisch eingerichtet. Gefängniszelle kommt der Sache schon näher.
Wie viel Zeit mag seit unserer Trennung verstrichen sein? Nicht mehr als eine halbe Stunde, vermute ich, blicke Hilfe suchend auf mein Handgelenk, doch verflixt, ich habe meine Uhr vergessen. Weiß also nicht, wie spät es ist, weiß auch nicht, wie Jojo hier hereingekommen ist, warum er schläft. Und wie kann es sein, dass ich nichts, absolut nichts gehört habe? Es gibt nur eine Erklärung: Ich muss zu dem Zeitpunkt in den oberen Stockwerken die Türen überprüft haben. Angst. Angst, dass die Männer zurückkommen und auch mich hier einsperren. Dann reiße ich mich zusammen. Trete dicht an die Liege heran, leuchte Jojo direkt ins Gesicht. Seine Augenlider flattern auf und nieder, doch er wacht nicht auf. Was ist los mit ihm? Erschreckt schüttle ich ihn, rufe leise seinen Namen. Nach einer kleinen Ewigkeit reißt er die Augendeckel auf, fixiert mich mit seinem gesunden Auge, doch ich habe nicht den Eindruck, dass er mich erkennt. Er wirkt total weggetreten und bald schon klappen seine Augenlider wieder zu, sein Atem beruhigt sich. Sie werden ihm ein Betäubungsmittel verpasst haben, grüble ich. Vier Türen habe ich geöffnet, bleibt eine übrig. Ich verlasse Jojo, trete auf den Flur und stelle meine Ohren auf Empfang. Sind die Männer in der Nähe? Außer dem Brummen der Heizungsanlage ist nichts zu hören. Meinen ganzen Mut zusammennehmend trete ich auf die letzte Tür zu, versuche sie zu öffnen, muss jedoch auch hier erst den Schlüssel umdrehen. Jetzt erwarte ich es fast und bin doch erstaunt, das Gewünschte vorzufinden. Einen kleinen, fensterlosen Raum, eine Liege, eine Schlafende im Dunkeln. Kleo! Ich könnte
jauchzen vor Freude, wenn ich nicht glauben müsste, dass auch sie unter starken Beruhigungsmitteln steht. Tut sie aber nicht. Kleo kann kein Licht sehen, aber vielleicht spürt sie es, vielleicht hat sie auch den Luftzug bemerkt, der durch die sich öffnende Tür entstand. Auf jeden Fall setzt sie sich kerzengerade auf und schaut suchend um sich. »Kleo«, rufe ich leise und schalte gleichzeitig die Deckenbeleuchtung ein, »ich bin's.« Kleo wendet sich mir zu, auf ihren Wangen sehe ich Tränen schimmern, ihr Make-up ist verschmiert, die Augen vom Weinen rot umrandet. Ungeduldig wischt sie die neuen Tränen von der Wange, stellt beide Beine auf den Boden. Ich bin sofort bei ihr, nehme sie in die Arme und drücke sie fest. Sie legt mir beide Hände um den Hals, hängt sich mit ihrem ganzen Gewicht an meine Schultern, schluchzt mir in den Halsausschnitt. Ich sage nichts, kann nichts sagen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag lässt Kleo sich total gehen, doch erst jetzt verstehe ich das ganze Ausmaß ihrer Verstörung. Eigentlich haben wir längst den nächsten Tag, es ist nach Mitternacht. Und wenn das nicht wieder ein Tag in Gefangenschaft werden soll, müssen wir uns beeilen, schleunigst hier herauszukommen.
Zwölf �
Mit einer blinden und verängstigten Kleo einen bestimmt siebzig Kilo schweren Menschen vierzehn Stufen hochzutragen oder besser gesagt hochzuzerren, erscheint mir fast unmöglich. Trotzdem müssen wir es probieren. Kleo hat sich so weit beruhigt, dass ich ihr leise und eindringlich erklären kann, was vorgefallen ist. Dass ich sie seit dem Abend suche, zuerst am Strand, dann in ihrem Zimmer, zuerst alleine, dann mit Jojo. Dass ich hier im Keller eine Akte über sie gefunden habe, über ihre Doppelgängerin auch und dass sie auch Jojo geschnappt haben und er im Zimmer nebenan liegt. »Wir müssen gemeinsam anpacken«, flüstere ich eindringlich, »alleine schaffe ich es nicht.« Kleo hört zu ohne zu verstehen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich alles auf einmal erzähle und mir keine Zeit für Erläuterungen nehme. Aber wir haben keine Zeit, deshalb winke ich ab. »Lass gut sein, später werde ich dir alles erklären, jetzt müssen wir uns und Jojo in Sicherheit bringen.« »Wer ist Jojo, ein Mann, ein Kind, ein Spielzeug?«, will sie zuerst wissen. Nun ist sie wieder ganz die Alte. Kühl und selbstbewusst, rational. »Ein Junge natürlich«, kläre ich sie auf, »aber schwer.« »Sollen wir nicht lieber deine Mutter holen?«, schlägt Kleo vor. Die Frage liegt nahe, aber von dieser Idee halte ich gar nichts. Bis ich nämlich meiner Mutter alles erzählt habe und sie sich endlich bereit erklärt, uns zu helfen, kann es früher
Morgen werden. »Sie ist die kritischste Tante, die du dir vorstellen kannst. Ohne Beweise tut sie gar nichts. Einen fremden Jungen aus dem Keller zu holen wird ihr nicht im Traum einfallen. Nicht ohne vorhergehende Rücksprache mit der Hotelrezeption. Das kannst du echt vergessen.« »Okay«, gibt Kleo nach. Hand in Hand gehen wir in den Flur hinaus und in das Zimmer, in dem Jojo immer noch schlafend liegt; das Licht und unsere Geräusche haben ihn nicht wecken können. Obwohl ich spüre, dass Kleo an meiner Seite zögert, schiebe ich sie bis an den Rand der Liege. »Vorne oder hinten?«, will ich wissen, doch Kleo antwortet nicht, steht stumm da, schnuppert mit weit geblähten Nasenlöchern und öffnet den Mund wie ein Fisch, der zu wenig Sauerstoff kriegt. Nach einer kleinen Ewigkeit löst sie sich aus der Erstarrung, legt eine Hand auf Jojos Körper, ertastet den Oberarm. »Also oben!«, bestätige ich und hebe an. Doch von ihrer Seite kommt keine Hilfe. Kleos Hand ruht auf Jojos Kinn. Sie nimmt die zweite Hand zu Hilfe und beginnt Zentimeter für Zentimeter des Gesichts abzutasten. Genauso hat sie das auch mit mir gemacht, damals, an unserem ersten Abend, doch jetzt haben wir keine Zeit für solche Spielereien, und aufwecken kann sie ihn so auch nicht.
»Zwecklos«, erkläre ich barsch, »den haben sie total umgemäht. Ich habe schon alles probiert.« Meine Freundin antwortet nicht, streichelt unbeirrt weiter, ergreift beide Ohren mit ihren langen, schlanken Fingern, untersucht sie eingehend, streicht über die Nase, die Wangenknochen. Was in Gottes Namen sucht sie? Kleos Gesichtszüge sind angespannt, eine steile Falte hat sich in ihre Stirn gegraben. Ihr Mund steht immer noch offen, sie will etwas sagen, vielleicht auch fragen, doch nur ein kehliger, unverständlicher Ton verlässt ihre Lippen. Plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper, sie hat den stark hervortretenden Adamsapfel gefunden und flippt nun vollkommen aus. Legt sich mit dem Oberkörper auf Jojo, weint, jauchzt und jammert in einem. »Was ist?«, raune ich ziemlich aufgebracht, lasse Jojos Turnschuhe los und eile zu Kleo. Ein spitzer Dorn hat sich in meine Brust gebohrt, ein Dorn, der auf den Namen Eifersucht hört. Ich habe ihn zuerst entdeckt, zische ich in Gedanken, habe ihn gefunden, wie man eine seltene Muschel findet, und deshalb gehört er mir allein. Du sollst mir lediglich bei der Bergung des Schatzes zur Hand gehen. »Was ist?«, wiederhole ich, warte. Warte, bis Kleo sich beruhigt oder bis die Sonne aufgeht oder die Männer kommen. Sie schüttelt den Kopf, tastet nach meinem Gesicht, streicht mir besänftigend über die Wange. »Ich weiß es nicht. Schau mich nicht so an, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich
kenne ihn. Ich kenne sein Gesicht.« »Es ist dein Gesicht«, antworte ich trocken, doch ich glaube, Kleo hat mich nicht gehört. Sie ist an das Kopfende der Liege herangetreten, greift nach Jojos Armen, zieht ihn hoch, scheint jetzt voller Eifer. Wir leisten wirkliche Schwerstarbeit, zerren und ziehen den Körper nach oben, hoffen auf jeder Stufe, dass er aufwacht und sich von alleine bewegt. Dieser Faulpelz denkt aber nicht im Traum daran. Oben angekommen hätten wir uns eine saftige Belohnung verdient, stattdessen stehen wir vor der nächsten Hürde. Ich stecke den Dietrich tief ins Schloss, drehe um, nichts passiert. Ich stecke ihn nur ein kurzes Stück hinein, drehe um, wieder nichts. Das Schloss sagt: »Nein, ich will nicht.« Ich probiere die zweite Tür, die ins Foyer führt, doch auch das will nicht gelingen. Jojo liegt auf dem Boden und schnarcht. Leise sind wir längst nicht mehr. Ich fluche und weine, trete gegen die Tür. Kleo nimmt mir den Dietrich aus der Hand und öffnet uns in sekundenschnelle den Fluchtweg. Endlich weht uns frische Luft entgegen. Wir befinden uns im Hinterhof, fast unter freiem Himmel, fast frei. Jetzt müssen wir uns nur noch bis zum Haupteingang durchschlagen, dann sind wir in Sicherheit. Ich blicke mich um, sehe einen Wagen auf Rollen, schnappe ihn mir. Leere Fisch- und Obstkisten sind darauf gestapelt. Ein Hauch von Restaurant und Urlaub umweht mich, doch nur für Sekunden, dann bin ich wieder voll in unser Abenteuer verstrickt. So leise wie möglich zerre ich die
Kisten herunter, schiebe den Wagen zum Eingang. Kleo hat längst gehört, was zu tun ist, geht rein, schnappt sich Jojos Füße und gemeinsam zerren wir ihn nach draußen, legen ihn auf das untere Brett des Wagens. Dabei gehen wir nicht gerade zimperlich mit ihm um, verbiegen seine Beine und Arme wie Kaugummi, drücken seinen Kopf nach vorne, damit er an Breite zu und an Länge abnimmt. »Passt«, freue ich mich, da stöhnt Jojo plötzlich im Schlaf, versucht sich aufzurichten. Ihn und das darüber liegende Metallbrett trennen nur wenige Zentimeter, kein Wunder also, dass er sich gewaltig den Schädel anschlägt. Doch das Ganze hat auch sein Gutes, denn endlich öffnet er die Augen, schaut mich an, schaut Kleo an, blickt zum Himmel und schüttelt ungläubig den Kopf. »Wie, wo?«, will er wissen. »Was?« »Heißt du Jussuf?«, stelle ich ihm eine Gegenfrage. »Ja, warum?« »Nicht jetzt!«, zischt Kleo. »Lass uns weg von hier, weit, weit weg. Ich habe Angst.« Keine Ahnung, was ich gedacht habe, doch für mich stand fest, dass ich Kleo und Jojo nur bis zum Eingang bringen muss, danach würden freundliche Helfer aus dem Foyer stürzen, allen voran meine Mutter, und mir die Verantwortung abnehmen. Viel später, so erwartete ich, würde der Bundeskanzler oder Bundespräsident mir das
deutsche Bundesverdienstkreuz überreichen. Auf einem kleinen Kissen aus rotem Samt. Ich würde ein dunkles Kleid mit sehr tiefem Ausschnitt tragen und glücklich in die blitzenden Kameras lächeln. Der Spuk wäre zu Ende, alles hatte sich zum Guten gewendet. Wie naiv von mir, das zu glauben. »Ich betrete dieses Hotel nicht mehr, weder durch den Haupt- noch durch sonst einen Eingang.« Das ist Kleos Kommentar, als ich sie auffordere, sich zwischen den schwankenden Jojo und mich zu stellen, damit wir endlich von diesem Hintereingang wegkommen und auf unsere Zimmer zurückkehren können. »Ich bin müde«, jammert Jojo. »Ich will nur noch schlafen. Nie mehr aufwachen.« »Ist gut, ich bringe euch nach oben.« »Ich gehe da nicht rein.« Fünf Sätze mit ich begonnen! Lächerlich, denke ich, und gefährlich, wie wir dastehen, verängstigt, müde, fassungslos, nach einer Lösung ringend. »Dann sag, wohin du willst«, zische ich, blicke Kleo scharf an. Auch ich bin überreizt, am Ende meiner Kräfte. »Weg, weg von hier!«, bestimmt Kleo erneut. »Dahin, wo viele Menschen sind. Ich möchte nie mehr alleine sein.« Jojo legt seinen Arm um mich, doch nicht um mich zu
trösten, er sucht eine Stütze, greift blind nach meiner Schulter und knickt in den Beinen ein. Ungeduldig schüttle ich ihn ab, brauche Luft zum Denken, zum Atmen. »Hier können wir auf jeden Fall nicht stehen bleiben.« »Dann weck deine Mutter, sie soll uns fahren«, schlägt Kleo vor. Jojo sagt gar nichts mehr. Gleich schläft er wieder ein. »Meine Mutter kannst du vergessen. Und vor allem hat die doch gar kein Auto.« »Dann hol ein Taxi.« »Und wo willst du hin, Kleo?« »Egal.« »Gut, dann gehen wir jetzt ins Foyer und bestellen einen Wagen.« »Nein, nicht hier rein. Wir suchen ein anderes Hotel. Hier ist doch ein Hotel am anderen, nicht wahr?« Alles klar! Kleo führt Regie, ich habe eine unbedeutende Nebenrolle. Vielleicht spiele ich das Zimmermädchen in dem modernen Stück: Die Entführung der schönen Kleopatra. Ich meckere nicht, halte mich ans Drehbuch. »Das nächste Hotel heißt Sun Beach, aber da sollten wir nicht hin«, flöte ich.
»Dann zum übernächsten.« Jetzt ist es Kleo, die sich an mich klammert, mich drängt, endlich loszulaufen. Also laufe ich los. Wir müssen auf jeden Fall von diesem dunklen Hintereingang verschwinden. Vorsichtig schaue ich um die Ecke, sehe die schwarzen Silhouetten der Palmen, die menschenleeren Wege, die sich im Dunkeln durch den schwach erleuchteten Park schlängeln. »Am Haupteingang führt kein Weg vorbei, doch im Augenblick ist die Luft rein.« Die Luft ist rein, was für ein komischer Ausdruck. Als ob Verbrecher die Luft verpesten würden. »He, macht langsam«, protestiert Jojo, der sich mühsam auf den Beinen hält. »Ich brauche einen Eimer Wasser, sonst schlafe ich wieder ein. Die Scheißkerle haben mir eine Spritze verpasst. Klar, sonst hätten sie mich nie und nimmer einsperren können. Diese Fieslinge, diese Bastarde. Ich werde sie aufspüren und ...« Der Rest seiner Schimpforgie ist nicht zu verstehen, der Abstand zwischen ihm und uns vergrößert sich schnell. Erstaunt stelle ich fest, dass Kleos Uhr kurz nach drei anzeigt. Es ist also immer noch tiefste Nacht. Dabei hätte ich schwören können, mich stundenlang, nein, tagelang im Treppenhaus und im Keller aufgehalten zu haben. Zähneknirschend blicke ich zum Himmel hinauf. Will sehen, ob er da oben uns zuschaut, sich über uns lustig macht oder ob er ruhig und zufrieden seufzt, wie alte Männer eben seufzen, weil er sich etwas dabei gedacht hat. Könnte ja sein.
Ich wünsche mir jemanden, den ich für das hier verantwortlich machen könnte, der, wenngleich nicht immer vernünftig, so doch nach einem geheimnisvollen Plan arbeitet. Jojo ist aufgerückt und gemeinsam überqueren wir die Straße, immer noch schweigend, als müssten wir auf die Stimmen in unserem Inneren hören. Nach zweihundert Metern taucht das Schild Sun Beach Hotel auf und ich erkläre kurz, warum wir da nicht hingehen sollten. »Weil ich nämlich im Keller einen Zettel mit einer Zimmer- und Telefonnummer vom Sun Beach Hotel gefunden habe. Ich dachte, sie hätten Kleo dort versteckt«, füge ich hinzu. »Doch jetzt ist klar, dass einer aus der ... aus der Bande sich dort aufhält.« Unvermittelt durchtrennt das tiefe Brummen eines Wagens die Stille, wir drehen uns erschreckt um, sehen grelle Lichter wie Fremdkörper aus der Dunkelheit heraustreten. Der Wagen fährt schnell, braucht viel Platz, weil er Schlangenlinien beschreibt. Rasch gehen wir in Deckung. »Anhalten!«, ruft Kleo irgendwohin mitnehmen.«
plötzlich.
»Er
kann
uns
Doch da ist es bereits zu spät, der Fahrer ist an uns vorbeigebraust, ohne uns zu sehen. »Vergiss es, der war stockbetrunken und da vorne ist schon die Einfahrt zum nächsten Hotel.«
Wir wanken weiter und stehen nach wenigen Minuten vor einem großen Kasten, der den klangvollen Namen Golden Sun trägt. Und ich kann unser Glück nicht fassen, denn davor steht ein schwarz-weiß lackiertes Taxi. Verstohlen blicke ich ins Innere, sehe eine zusammengekauerte, sehr ägyptische Gestalt auf der Rückbank und erkläre Kleo: »Der pennt zwar, aber wenn ihr wollt, könnt ihr ihn wecken und abhauen.« »Abhauen, wohin?«, sträubt sich Jojo. »Eve, ich muss erst wissen, woher du meinen Namen kennst und was du herausgefunden hast. Lasst uns zu der Bank da rübergehen.« Er schaut mich fordernd an, ist immer noch fix und fertig. Ich hole weit aus, erzähle alles, was ich weiß, von den Akten, von Maria, von den merkwürdigen Gesprächen der Männer. Bereits beim Wort Maria ist Kleo aufgesprungen, unterbricht mich. »Was sagst du da, dass die Einträge in den Akten mit ihrem Namen unterschrieben sind? Das ... das kann doch nur bedeuten, dass meine Tante für diese Leute arbeitet. Unser Verhältnis war absolut horrormäßig, aber ...« Kleo beißt sich auf die Lippen, schließt die Augen. Doch sie kann nicht verhindern, dass sich dicke Tränen unter den Lidern ihren Weg nach draußen suchen. Mit einer wütenden Bewegung trocknet sie sie, strafft sich: »Die Männer haben behauptet, Maria hätte sie geschickt. Als sie merkten, dass ich nicht zu überzeugen war, haben sie mich gegen meinen Willen geschnappt und mich auf eine Trage geschnallt. Jemand hat mir eine Spritze in den Oberschenkel verpasst.«
Jojo mischt sich ein, wir diskutieren über die Männer, woher sie wohl kommen und was sie gesagt haben. Es ist schwer, sich an jedes einzelne Wort zu erinnern. Aber nicht nur die beiden, auch ich habe jede Menge Fragen. Ob sie sich kennen oder nicht, will ich wissen, doch aus Kleos Antwort kann man mal wieder nicht schlau werden. »Ich kenne ihn und kenne ihn nicht, mein Kopf sagt Nein, meine Hände aber ...« Ein scharrendes Geräusch lässt uns plötzlich verstummen. Irgendwo am Ende des Gebäudes läuft jemand über den Kies. Ich halte die Luft an, recke den Hals, um an Kleo vorbeizuschielen. Auch sie hat den Kopf gedreht, horcht in die finstere Nacht hinein. Ihr Arm, eben noch wild gestikulierend, liegt nun ruhig auf meinem. Endlich sehen wir ihn. Es ist ein großer schwarzer Hund, der sich langsam aus der Dunkelheit herausschält. Zunächst sehe ich nur seine Umrisse, dann die gelben Augen, sein struppiges Fell, schließlich den eingezogenen Schwanz, den er wie einen merkwürdig verbogenen Stock zwischen die Beine geklemmt hat. »Hau ab, du blöder Köter!«, schimpft Jojo, bückt sich und wirft einen Stein nach dem Tier. »He, was soll das?«, will ich wissen. »Der hat dir doch nichts getan.« »Aber er stört.«
»Mich nicht«, beharre ich, beobachte den Hund. Er sieht total ausgehungert aus. Ist nur wenige Meter zurückgewichen, sitzt jetzt auf dem Rasen, glotzt uns an, wartet. Wartet auf bessere Zeiten. »Ihr müsst eure Eltern anrufen. Jemand muss zur Polizei gehen und Anzeige erstatten«, dränge ich. »Das können sie doch nicht mit euch machen. Mich wundert nur, dass sie so zielstrebig vorgegangen sind.« »Das liegt daran«, gibt meine Freundin kleinlaut zu, fährt sich immer wieder verzweifelt durch die kurzen Stoppelhaare, »dass ich keine Eltern habe, die sich für mich einsetzen können.« »Ich ... ich auch nicht«, stottert Jojo, schaut sich Hilfe suchend um. »Klar müssen wir zur Polizei, aber zu welcher? Ich weiß nicht, wie die ägyptische Polizei arbeitet, aber mit Sicherheit wird sie schlecht bezahlt. Es dürfte ein Leichtes sein, sie durch Schmiergelder zu bestechen.« »Wenn du immer schon alles vorher weißt«, brumme ich ungehalten, »dann können wir jede Diskussion vergessen.« »Ich bin nur realistisch. Und deshalb denke ich, abhauen alleine reicht nicht, jemand muss die Akten aus dem Keller holen.« Natürlich schaut er mich an. »Dorthin zurückzugehen ist viel zu gefährlich«, widerspricht Kleo. »Wir müssen einen anderen Weg finden. Eve hat doch erzählt, dass es eine Kontaktadresse in Kairo
gibt.« »Du hast Recht«, überlegt Jojo. »In Kairo werden sie uns nicht finden.« Inzwischen ist er hellwach, pflanzt sich mit gespreizten Beinen vor uns auf, einem Cowboy gleich, der entschlossen auf seine Gegner wartet. Langsam hege ich den Verdacht, dass es ihm gar nicht darum geht, zu fliehen, sich und Kleo in »Sicherheit« zu bringen, er will das Abenteuer vergrößern, mit den Leuten Katz und Maus spielen und seine Kräfte messen. »Hat einer von euch ein Handy?«, frage ich. »Ich muss euch doch erreichen können.« An den Mienen der beiden kann ich erkennen, dass sie ebenfalls kein Handy besitzen. »Mein Vater hat mir meins auch abgenommen.« »Wir werden dich auf dem Laufenden halten, keine Sorge«, verspricht Jojo. »Es ist nämlich so, dass du unbedingt mitkommen musst, wir brauchen einen unbeteiligten Dritten.« Jetzt schenkt er mir seine ganze Aufmerksamkeit, legt den Kopf schief, grinst mich an. »Außerdem weißt du mehr als wir.« »Mitkommen?«, wundere ich mich, fühle mich geschmeichelt und verunsichert zugleich, erglühe unter seinem forschenden Blick. »Warum fliegt ihr nicht nach Hause?«, überlege ich laut und wundere mich darüber, dass Jojo gleich die passende Antwort parat hat.
»Wenn es stimmt, was du erzählt hast, und Kleo bereits in Berlin überwacht wurde, dann hat es keinen Sinn, zurückzufliegen und so zu tun, als wäre nur unser Urlaub ins Wasser gefallen. Kleos Geschichte hat schon viel früher begonnen. Sie muss uns mehr über sich erzählen, damit wir das, was passiert ist, besser verstehen können. Und irgendwie stecke ich auch in der Sache mit drin. Wahrscheinlich tiefer, als ich mir das überhaupt vorstellen kann.« Kleo reckt ihren langen Hals, aufgeregter Stimme unseren Dialog.
unterbricht
mit
»Das Taxi bewegt sich, sicher ist der Fahrer aufgewacht. Lasst uns fahren«, fordert sie. Mein Blick fällt auf das zerbeulte Auto, ich erkenne einen schlecht rasierten Ägypter, der kerzengerade hinter dem Steuer sitzt und uns aus verschlafenen, aber nichts desto trotz äußerst neugierigen Augen beobachtet. »Aber an eins hast du nicht gedacht, wovon sollen wir das Taxi bezahlen?«, bremst Jojo sie. »Meine ganzen Sachen sind im Hotel, mein Pass, mein Geld, einfach alles.« Sein Blick gleitet erneut zu mir und sein Mund verzieht sich zu einem schmeichelnden Lächeln, sodass ich sofort Bescheid weiß. »Eve«, sagt er auch prompt, »du bist die Einzige, die sich noch im Hotel blicken lassen kann. So wie ich es sehe, wissen die Männer nicht, dass du im Treppenhaus warst, sonst hätten sie intensiver nach dir gesucht. Könntest du in mein Zimmer gehen und Lars erklären,
dass ich verschwinden muss? Von mir aus lüg ihm etwas vor, aber bring mir bitte meinen Rucksack. Alle meine Wertsachen sind da drin. Wie gut, dass ich kaum etwas ausgepackt habe.« »Mist, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, jammert Kleo, noch bevor ich antworten kann. »Meine Kleider, mein Rückflugticket!« »Dein Pass, dein Geld«, addiert Jojo. »Kannst du alles getrost vergessen. Bestimmt steht das Zeug irgendwo im Keller. In Kairo gehen wir zur deutschen Botschaft, die werden uns helfen.« Während er das sagt, schaut er nicht etwa Kleo an, sondern kommt auf mich zu, ergreift meine Schulter, zieht mich hoch, versucht mich mit seinem Blick zu hypnotisieren. »Es sei denn«, beginnt er und in diesem Moment hasse ich ihn fast für seine sanfte Stimme, »es sei denn, unsere kleine Eve traut sich noch mal in den Keller.« Seine Augenbrauen wandern nach oben, ein Lächeln huscht über sein Gesicht und ich merke, wie ich weich und weicher werde. »Nein!«, höre ich mich rufen. »Ihr bringt euch in Sicherheit und mich wollt ihr an die Löwen verfüttern? Tut mir Leid. Ich hole dir deinen Rucksack, ich begleite euch sogar nach Kairo, besser gesagt, ich werde versuchen nachzukommen, aber in den Keller gehe ich nicht mehr runter, nicht alleine. Heute jedenfalls nicht.« Sofort lässt Jojo meine Schultern los, zuckt die Achseln. »Okay, dann eben nicht«, brummt er und das hört sich in meinen Ohren ziemlich mies und ungerecht an.
Trotzdem trabe ich los. Trabe wirklich, obwohl ich zum Umfallen müde bin. Unterwegs aber schmiede ich Pläne. Ich muss Papa davon überzeugen, dass der Urlaub stinklangweilig ist. Kairo ist bestimmt viel spannender, werde ich flunkern und anhand von Beispielen beweisen, dass ich kein Beach-, sondern ein City-Typ bin.
Dreizehn Worte wie durch eine dichte Nebelwand. »Sie lebt«, höre ich meine Mutter belustigt jauchzen. »Volker, sie hat sich bewegt, gewisse Grundfunktionen scheinen vorhanden zu sein.« »Mama, was sind Grundfunktionen?«, quiekt Lisa übermütig. Es muss Sonntag sein. Das Wort Volker fällt in direkter Anrede nur noch sonntags. Papa ist aus Kairo zu Besuch gekommen. Noch ein Grund, sich zu verstecken, denke ich, denn das bedeutet, dass jetzt auf Familie gemacht wird. Als Papa jedoch einen Fuß von mir unter der Decke hervorzieht und daran ganz sanft, dann immer kräftiger zu knabbern beginnt, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich ziehe mit einem spitzen Schrei den Fuß ein, doch da ist er schon am anderen Ende, schiebt die Bettdecke von meinem Kopf und nimmt mich in die Arme. Das hat er seit ewigen Zeiten nicht mehr getan und bestimmt liegt das daran, dass ich im Bett
kleiner und niedlicher wirke. Auf jeden Fall nimmt er sich mächtig viel Zeit für mich, herzt und küsst mich und ich lasse es geschehen und denke an Jojo. Das ist gemein, aber ich kann nicht anders. Meine Gedanken kreisten während des Einschlafens um ihn, kreisen jetzt um ihn. Bestimmt habe ich auch von ihm geträumt, habe ihn vor Gefahren gerettet und mich von ihm retten lassen. Papa hat mich losgelassen, er sitzt neben mir, ein großer, stattlicher Mann in Anzug und mit Krawatte, und eine Sekunde lang denke ich daran, ihm und Mama alles zu erzählen. Mama steht hinter ihm und beide gucken mich erwartungsvoll an. Spüren sie, dass da etwas ist, was mir fast den Verstand raubt? Nichts dergleichen, die beiden sind nur mit sich selbst beschäftigt. »Überraschung!«, trompetet mein Vater. »Wir haben eine Wohnung. Ein Haus war unmöglich aufzutreiben, die Preise sind abnorm hoch, da habe ich mich für eine Wohnung in einem Block entschieden. Nicht weit von uns gibt's eine Haltestelle, der Bus fährt direkt zur Internationalen Schule, du kannst es dir also immer noch überlegen.« »Ja«, sage ich. Ich sage nicht: Guten Morgen, Papa. Ich frage nicht, wie spät es ist, ich will nicht wissen, in welchem Stadtteil von Kairo die Wohnung liegt und wer neben uns wohnt, ich sage einfach Ja. Das muss auch meinen Eltern aufgefallen sein, denn sie reißen erstaunt die Augen auf, schauen mich an und brechen in ein kindisches Lachen aus. Auch Lisa kommt angewetzt, schiebt ihr lachendes
Gesicht zwischen Mama und Papa und staunt mich begeistert an. »Echt, Eve, du bleibst? Das ist ja geil. Aber willst du dir die Bude nicht erst einmal angucken?« Wie sie das sagt, dieses »echt« und dieses »geil«, ist zu putzig und wir müssen alle losprusten. Und ich denke, wie einfach das manchmal geht, das Glücklichsein und das Glücklichmachen. Gleichzeitig denke ich: Mist, war doch gar nicht geplant, war auch gar nicht nötig, viel zu hoch gepokert. Ich hätte doch auch so mit nach Kairo fahren können. »Lisa hat Recht, ich will nicht zu viel versprechen, aber ich schau mir die Wohnung und das Drumherum mal an«, versuche ich auszuweichen. »Wann geht's denn los?« Über Mamas Gesicht huscht ein Schatten, doch sie lächelt tapfer, auch wenn in ihre Augen Tränen treten. Ich spüre, dass das ein ganz besonderer Augenblick ist. Ich bin nicht oft glücklich mit meinen Eltern, in letzter Zeit, meine ich. Aber wenn sie mich so anschauen und ihre Gesichter vor Liebe überfließen, dann muss auch ich sie lieb haben. Während des nun folgenden Mittagessens haben meine Eltern viel zu besprechen. Falls ich nicht nach Deutschland zurückkehre, muss man mich an der neuen Schule an- und an der alten abmelden. Oma Lenchen soll heute noch angerufen werden, um sie von meinen seelischen Schwankungen zu unterrichten, und einige meiner Sachen müssen nachgeschickt werden. »Und du musst Michi schreiben!«
»Ja, ja!« Ich winke genervt ab. Wer ist Michi? »Und du brauchst eine Schuluniform«, posaunt mein Vater. »Langsam, langsam«, protestiere ich. »Ihr habt mich falsch verstanden. Ich will mir Kairo erst mal anschauen. Und zwar jetzt, solange noch Ferien sind. Wenn es mir gefällt, bleibe ich eine Weile, wenn nicht ...« Die letzten Worte haben meine Eltern kurz zum Schweigen gebracht, etwa drei Sekunden lang. Dann lässt meine Mutter jede Menge Bedenken vom Stapel, von wegen riesige Stadt und ich noch so klein und so hilflos und überhaupt. Sie will mich nicht aus den Augen lassen, denkt laut darüber nach, Papa und mich zu begleiten. Echt, sie ist eine furchtbare Klette und es ist mein Glück, dass Lisa ein Riesentheater veranstaltet; ihr gefällt es nämlich in Hurghada ausgesprochen gut. Ich schicke ihr über den Tisch eine Kusshand zu. Und wie zur Bestätigung beginnt sie von Kleo zu erzählen und leitet damit einen Themenwechsel ein, der alle gleichermaßen fesselt. Detailliert lasse ich mir berichten, auf welchen ausgefallenen Wegen meine Mutter versucht hat, Kleos Heimatadresse herauszufinden. Sie hat alle Berliner Blindenvereine angerufen und sämtliche Blindenschulen Deutschlands. Zusätzlich hat sie mit der deutschen Botschaft in Kairo telefoniert und mehrmals mit der örtlichen Touristenpolizei. Leider absolut erfolglos. Obwohl ich merke, dass sie sich große Sorgen macht, erzähle ich ihr immer noch nichts von unserem Abenteuer. Sitze da, glotze sie an, beiße mir auf die Lippen. Mein Schweigen hält sie für Kummer, legt mir die Hand auf den Arm, nickt mir
tröstend zu. Und tatsächlich sind alle meine Gedanken wieder auf den Fall konzentriert. Ich hatte gehofft, Lars im Restaurant zu treffen, doch er ist nicht zum Mittagessen erschienen. Und gestern, nein, heute Morgen, als ich Jojos Rucksack aus dem Zimmer geholt habe, war er nicht in seinem Bett. Ich mache mir Sorgen um ihn, frage mich, ob ihm etwas passiert ist. Inzwischen müssen die Männer gemerkt haben, dass Jojo und Kleo verschwunden sind. Haben sie Lars in Verdacht, den beiden geholfen zu haben? Unter dem Vorwand, packen zu müssen, verlasse ich das Restaurant. Doch statt in mein Zimmer zu gehen, mache ich mich auf die Suche nach Jojos Freund. Und habe Glück. Bereits im Foyer entdecke ich Lars' prächtige Lockenmähne. Mein Herz vollführt einen Freudensprung. Gott sei Dank, es ist ihm nichts passiert! Und das ist wirklich klasse, denn er ist der Einzige, mit dem ich offen reden kann. Erleichtert winke ich ihm zu. Er steht direkt vor der Drehtür, starrt mich an. Starrt mich an und verharrt bewegungslos, den einen Fuß leicht vorangestellt, als hätte er vergessen, was zu tun sei. Die Leute schieben sich an ihm vorbei, drängen ungeduldig nach draußen, manche schimpfen. Ich will zu ihm laufen und ihn begrüßen, doch als hätte er meine Absicht gespürt, dreht er sich abrupt zur Seite, hastet in Richtung Lift davon. Es ist sein ernster Blick, der mich daran hindert, ihn anzusprechen. Eine Sekunde lang denke ich, dass ich im falschen Film bin, da nehme ich aus den Augenwinkeln heraus wahr, dass er einen kleinen Zettel neben den Mülleimer fallen lässt. Ein Versehen? Ein Hinweis?
Neugierig blicke ich mich um. Sehe jede Menge Touristen, zwei Hotelangestellte, eine hübsche Verkäuferin, einen Taxifahrer, der zwei Koffer zur Rezeption trägt. Die Frau mit den großen Augen sehe ich nicht. Zwei Männer, die sich auffällig benehmen, auch nicht. Normaler Hotelalltag also. Doch trügerisch durch und durch. Lars und ich wissen, dass Kleo beschattet wurde. Auch heute Nacht wurden wir beobachtet. Warum also sollte das jetzt nicht der Fall sein? Lars ist clever genug, das zu ahnen. Doch wie komme ich an den Zettel heran, ohne dass es auffällt? Mir kommt ein sagenhafter Gedanke, zumindest hoffe ich, dass er sich als solcher herausstellt. Ich renne schnell zum Kiosk, besorge mir eine Packung Kaugummis und stopfe mir drei gleichzeitig in den Mund. Den Zettel lasse ich dabei nicht aus den Augen. Lars allerdings ist verschwunden. Ob er in den Lift eingestiegen ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Während ich so kaue und mit einem aufsteigenden Würgreiz kämpfe, beobachte ich alle Personen, die in der Hotelhalle stehen. Die Verkäuferin vom Kiosk, die Männer an der Rezeption, die gestresst wirkenden Touristen. Jeder von ihnen könnte dazu abgestellt sein, mich zu »beschatten«. Aber ich sehe weder ein mir verdächtiges noch ein mir bekanntes Gesicht. Immerhin kenne ich bereits drei Leute der Bande. Ich denke Bande, denke Krimi, denke verdeckte Observation und muss plötzlich prusten vor Lachen. Die fette Kaugummikugel fliegt wie ein Sektkorken aus meinem Mund und direkt in die nächstgelegene Topfpflanze hinein. So ein Mist! Wie kriege ich sie jetzt wie geplant an meine Sohle? Unauffällig nähere ich mich dem Kübel, schiebe die Blätter der üppig wuchernden
Pflanze zur Seite. Ich stell mich wirklich zu blöde an, aber ist das ein Wunder? Eine kleine Ewigkeit später klebt der nächste Kaugummiklumpen unter meiner Sohle, nur dass ich bis zum Lift mindestens zwanzig Schritte zurücklegen muss, ohne am Boden festkleben zu dürfen. Nervosität kenne ich normalerweise nur in der Schule, doch inzwischen begleitet sie mich wie ein heimlicher Schatten. Schweißnasse Hände, kalte Füße, Flattern im Bauch. Aber es hilft nichts, ich muss wissen, was auf dem Zettel steht, und wenn nichts draufsteht, kriege ich hier, vor allen Leuten, einen Schreikrampf. Dieser trotzige Gedanke bringt mich wieder zum Schmunzeln und dämlich grinsend humpele ich zu dem Papierfetzen, der immer noch zwischen Treppenaufgang und Lift liegt. Ich hab's gerade geschafft, als die Lifttür aufschwingt und der freundliche Liftboy mich hereinbittet. Ich rudere aufgeregt mit den Armen, will die Chance, nach oben zu kommen, gerne nutzen, doch nicht ohne Zettel. Als würde ich einen seltsamen Tanz ausprobieren, zapple ich hin und her, drehe mich ungeschickt auf der Stelle. Der Liftboy lächelt, steckt den Kopf heraus, will wissen, für wen die Aufführung gedacht ist, kann niemanden entdecken. Gerade als er ungeduldig zu werden beginnt, bleibt der Zettel am Kaugummi hängen, ich atme erleichtert aus und versuche ihn und mich so elegant wie möglich in den Lift hineinzureiten. In meinem Zimmer angekommen lese ich endlich die handschriftliche Nachricht:
Treffpunkt: zwanzig Uhr beim alten Wrack Keine Anrede, kein Absender. Mist, Mist, denke ich. Zwanzig Uhr, warum hat er nicht gleich nächstes Jahr geschrieben? Und altes Wrack, woher zum Teufel soll ich wissen, wo ein altes Wrack ist? Soll ich den ganzen Strand ablaufen? Ich habe was Besseres zu tun, packen zum Beispiel, vielleicht in den Keller gehen. Nein, es ist beschlossene Sache, Lars wird das erledigen. Schließlich ist Jojo sein Freund und Freunde sind einander was schuldig. Viel hat er uns ja noch nicht geholfen. Ein bisschen Schmiere gestanden und das ziemlich lausig. Es geht nicht anders, beschließe ich, ich muss ihm auf die Pelle rücken und zwar sofort. Entschlossen renne ich zum Lift zurück, lasse mich von dem Liftboy doof angucken und ins zweite Stockwerk fahren. Kurz darauf stürme ich Lars' Zimmer. Und finde einen verstörten Jungen vor, der mit tränenfeuchtem Gesicht mitten im Raum steht. »Was ist los?«, möchte ich wissen. Doch Lars reißt entsetzt die Augen auf, schüttelt wortlos den Kopf. Dann, als ich meine Frage wiederhole, hastet er auf mich zu, legt mir eine verschwitzte Hand auf den Mund, zerrt mich auf den Flur hinaus. »Können wir zu dir gehen?«, wispert er, wie nur geheimnisvolle Gestalten wispern können, schaut sich dabei ängstlich um. »Da drin, da drin sind ...«
»... Wanzen«, vollende ich den Satz, schlucke, schlucke zweimal und eile voraus. »Und warum glaubst du, dass in meinem Zimmer keine Wanzen sind?« »Das weiß ich eben!« Atemlos kommen wir in meinem Zimmer an, als mir bewusst wird, es ist nicht nur mein Zimmer. Hier wohnt noch jemand. »Warum bist du nicht am Pool?«, frage ich meine kleine Schwester verwundert. Sie steckt nämlich wie alle im Wasser lebenden Säugetiere nur dann ihren Kopf aus dem Wasser heraus, wenn sie atmen muss. Sie würde sogar im Wasser schlafen, wenn Mama sie lassen würde. »Komm schon, geh spielen!«, fordere ich sie auf. »Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.« Lars steht unschlüssig an der Tür, weiß nicht, was er sagen oder tun soll. »Mama hat gesagt, ich soll Mittagsruhe halten«, antwortet Lisa und mustert meinen Besucher neugierig. »Dann geh in Mamas Zimmer und halt dort deine Mittagsruhe.« »Das wollte ich ja, aber Mama und Papa wollen nicht gestört werden.« Alles klar, denke ich, die haben sich ja eine Woche lang nicht gesehen. Wahrscheinlich leiden sie unter Liebesentzug. Als ob das in dem Alter noch wichtig wäre.
»Sag, du hast Bauchschmerzen oder so, dann lassen sie dich rein.« Im Verteilen von guten Tipps bin ich großartig, das weiß meine Schwester längst, doch mein Besucher hat sie neugierig gemacht. Ich muss schon Hand anlegen, um sie loszuwerden. »Hau schon ab, ich erzähl dir hinterher alles«, lüge ich und schiebe sie aus dem Zimmer. Als wir endlich alleine sind, wende ich mich Lars zu: »Setz dich bitte.« Ich deute auf einen Stuhl. Lars bewegt sich sehr zögernd, streicht sich nervös ein paar Locken aus dem Gesicht, will sich setzen, springt aber wieder auf, kommt auf mich zugestürmt, umklammert mich, hängt sich wie ein nasser Sack an meine Schultern, schluchzt. »He!« Ungeduldig schüttle ich ihn ab, halte ihn mit gestreckten Armen auf Abstand. Auf seinem breiten, sehr hellen Vollmondgesicht schimmern Tränen. Ich greife in meine Tasche, halte ihm ein Taschentuch hin. Lars nimmt lieber seinen Ärmel, wischt sich damit über die Nase. Das hätte er bleiben lassen können, denn kaum ist die Nase trocken, beginnt er erneut zu heulen. »He, he ...«, wiederhole ich. »"Was ist denn?« Es stellt sich heraus, dass Lars von Anfang an Bescheid wusste. Über Jojo, meine ich, über Kleo auch. Noch bevor Jojo Kontakt mit ihm aufgenommen hat, war eine Frau bei ihm, erzählte ihm eine rührende Geschichte. »Sie kam an einem Wochentag, als meine Eltern nicht zu Hause waren. Zuerst wollte ich sie nicht hereinlassen, doch
sie tat so geheimnisvoll, sagte, dass sie nur mit mir sprechen wollte, meine Eltern dürften nichts davon wissen. Klang gut, vielversprechend, aufregend. Sie war schon ein bisschen komisch, nur halb so groß wie normale, erwachsene Menschen. Machte aber einen ... wie soll ich sagen, einen recht korrekten Eindruck auf mich«, erzählt Lars und lässt sich samt Bergstiefel auf mein Bett fallen, das unter der Erschütterung laut aufstöhnt. »Mal lachte sie ganz laut, aber ohne besonderen Grund, dann wieder war sie feierlich und ernst, sodass ich nicht so recht wusste, was ich von ihr halten sollte. Aber was sie mir erzählte, fand ich cool, richtig stark. Ich sollte so eine Art Agent werden. Meine Adresse hatte sie aus dem Internet. Weißt du«, grinst Lars und seine Stimme bekommt einen prahlerischen Unterton, »ich war letztes Jahr schon hier, auch mit einem Freund, und darüber habe ich einen Bericht im Internet veröffentlicht. Hier gibt's nämlich die super Buchten zum Tauchen. Das interessiert eine ganze Menge Leute. Ich habe schon Riesenrochen gesehen und Hammerhaie und den seltenen ...« »Ja und?«, unterbreche ich ihn ungehalten. »Was war mit Jojo? Du kannst nicht so ausführlich labern, ich muss dir schließlich auch noch was erzählen.« Lars beeilt sich, seine Geschichte weiterzuerzählen, aber Schnelligkeit ist nicht seine Stärke und deshalb dauert es eine Ewigkeit, bis er am Kern anlangt. »Jojo sollte in Hurghada seine Schwestern treffen.« »Was?«, unterbreche ich ihn. »Sag das noch mal.«
»Sei-ne Schwe-stern.« Lars betont jede Silbe einzeln, fährt mit seinen ungeheuerlichen Behauptungen fort. »Zwei an der Zahl. Stell dir vor, alle drei sind in Ägypten geboren. Ist doch echt stark, oder?« Er guckt mich an wie ein dummes Schaf, das er wahrscheinlich auch ist, doch ich bin jetzt ganz still, warte ab. »Nach dem frühen Tod der Eltern wurden die drei bei verschiedenen Adoptiveltern untergebracht, deshalb haben sie sich nie kennen gelernt. Hier in Hurghada sollte ein Begrüßungsfest stattfinden. Die hatten nämlich vor kurzem fünfzehnten Birthday!« An dieser Stelle platzt mir der Kragen, sein harmloser Tonfall geht mir gehörig auf den Keks und ich schreie den verdutzten Lars an: »Merkst du denn gar nicht, wie bescheuert du bist? Du hast Jojo angelogen und hintergangen. Du bist nicht sein Freund, du bist sein Bewacher. Und jetzt versuchst du auch mir ein Märchen aufzutischen. Zufällig weiß ich, dass sie, was Jojo und Kleo betrifft, an verschiedenen Tagen Geburtstag haben. Sie können keine Zwillinge oder Drillinge sein. Geschwister aber auch nicht, denn sie haben im gleichen Jahr Geburtstag. Du lässt dich dafür bezahlen, dass du nicht nachdenkst. Aber jetzt könntest du doch nachdenken oder ist das zu viel verlangt?« Lars zuckt zusammen wie unter einem Fausthieb, zieht sich an die Wand zurück. Sein Gesicht, von Natur aus weiß, wird noch eine Spur blasser.
»Ich, ich ...«, stottert er,«... habe der Frau die Geschichte geglaubt, warum auch nicht? Ich kannte weder Jojo noch diese Mädchen. Da fällt mir ein, ich habe Fragen gestellt, na klar. Warum die sich erst jetzt kennen lernen und warum das Treffen in Ägypten stattfinden soll und all so was.« Lars richtet sich wieder auf, offensichtlich haben ihn seine Worte mit neuem Selbstvertrauen erfüllt. »Und sie hat mir bereitwillig geantwortet. Das Treffen sollte nicht an die große Glocke gehängt werden, sollte so spontan wie nur möglich vor sich gehen. Ohne Adoptiveltern. Die Frau bat mich, Jojo zu begleiten. Natürlich habe ich zugesagt. Mich kostet die Reise nämlich keinen Cent. Ach so, ich musste versprechen, niemandem etwas davon zu erzählen, selbst meinen Eltern nicht. Und Jojo sollte glauben, dass wir uns zufällig kennen gelernt haben, obwohl alles geplant war.« »Wieso sagst du natürlich. Findest du so eine Geheimniskrämerei natürlich? Spätestens als du hier angekommen bist und gehört hast, dass ein Mädchen verschwunden ist, hättest du hellhörig werden müssen.« »Mensch, du kannst mir glauben, dass ich mich ganz mies fühle. Gestern Abend, beim Lagerfeuer, hat eine Frau Kontakt mit mir aufgenommen und mir erzählt, dass Jojos Schwester krank geworden ist und deshalb nach Kairo geflogen werden musste. Aber seit auch Jojo weg ist, weiß ich natürlich, dass da irgendetwas nicht stimmt. Trotzdem hatte ich Angst, dich im Foyer anzusprechen, denn die Typen sind inzwischen ganz schön gereizt. Ich habe übrigens nicht gesagt, dass du heute Nacht im Treppenhaus warst. Sie denken, Jojo
war allein. Diese Frau und zwei Männer kamen heute Morgen in mein Zimmer, haben alles durchsucht und mich wegen Jojo ausgefragt.« »Die konnten nichts finden, weil ich Jojos Sachen heute Morgen ...« Der Satz bleibt unvollendet. Ich huste verlegen, beschließe nachzudenken, bevor ich weiterrede. Schaue mir von der Seite diesen Jungen noch einmal gründlich an. Betrachte sein weißes Gesicht, die blonden Locken, die runden Backen. Sieht so ein Supersportler aus, ein begeisterter Taucher? Einer, der allein oder mit einem Kumpel in den Urlaub fährt? Alles Lug und Trug, murmelt eine Stimme tief in meinem Inneren. Andererseits wirkt sein Gesicht unschuldig, durch und durch ehrlich. Unmöglich, dass ein solches Gesicht auf Kommando weinen kann. Trotzdem schrecke ich davor zurück, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Ich werde ihm nicht verraten, wo Jojo und Kleo abgeblieben sind, und ich werde ihn nicht bitten, nach Kleos Sachen und den Akten zu suchen, denn dafür müsste ich ihm zu viel erzählen. Merkwürdigerweise hat er auch nicht wissen wollen, ob ich etwas im Keller gefunden habe. Selbst nach dem Verbleib von Jojo hat er sich nicht erkundigt. Scheint davon ausgegangen zu sein, dass Jojo abgehauen ist. Ich räuspere mich, genehmige ihm und mir einen Kaugummi, frage: »Die Frauen, wie heißen die Frauen? Die, die dich zu Hause besucht hat, und die, die sich hier herumtreibt?« Ich ernte ein Schulterzucken. »Das kann nicht sein«, protestiere ich und raufe mir die
Haare. Bin nun genauso nervös wie er. »Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Sie müssen dir einen Namen genannt haben, schließlich geben sie dir Anweisungen. Die erste hat dein Ticket bezahlt und die Reise arrangiert. Ist deinen Eltern nicht aufgefallen, dass du kein Geld gebraucht hast?« »Ganz so blöd bin ich auch nicht«, verteidigt sich Lars. »Klaro habe ich meine Ernährer um Geld angebettelt. Nicht zu viel, nicht zu wenig. So wie letztes Jahr, damit es nicht auffällt. Das Geld liegt auf meinem Konto, da kümmern sie sich nie drum, solange es keinen Ärger gibt. Und das andere Geld habe ich bar gekriegt.« »Aha«, sage ich. Mehr sage ich nicht. Das ist nicht meine Welt. Ich drehe keine krummen Dinger, lasse mich von niemandem kaufen, frage zumindest nach dem Namen, wenn mir jemand viel Geld für eine geringe Gegenleistung anbietet. Lars könnte jedoch naiv genug sein, um hinter einem solchen Deal keinen Pferdefuß zu vermuten. Da fällt mein Blick auf die Uhr und ich erschrecke. »Schon so spät«, jammere ich und winke Lars vom Bett hoch. »Ich muss jetzt packen.« »Packen?«, wundert sich der Junge, doch er bohrt nicht weiter, scheint mir doch ziemlich einfältig zu sein. In diesem Fall jedoch ist mir das ganz recht. »Wir fahren für zwei Tage nach Karnak«, lüge ich und zerre einen riesigen Koffer unter dem Bett hervor. Lars hat die Tür noch nicht ganz geschlossen, da habe
ich ihn bereits vergessen. Abgehakt. So wie Oliver, so wie Michi. Wie kommt das? Dass einem manche Menschen durch und durch wichtig sind, nach wenigen Stunden schon. Andere, mit denen man viel länger zusammen war, vergisst man einfach. Weil ich das eigentlich nicht will und erst recht nicht verstehen kann, werde ich schlagartig traurig. Ich gehe ins Bad, suche meine Zahnbürste und so 'n Zeug zusammen und bin traurig. Ich sitze auf meinem Koffer, kriege das Mistding nicht zu und bin traurig. Wir fahren mit dem Taxi zum Flughafen und ich bin traurig. Mama und Papa gucken mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Was ist denn los mit dir?«, wollen sie wissen, »möchtest du lieber hier bleiben?« Ich schüttle den Kopf. »Sollen wir nicht doch lieber mitkommen, Lisa und ...?« Mama fängt meinen entsetzten Blick auf und verstummt. Meine Abwehr ist so heftig, dass sie aufgibt. Nur Lisa blickt es mal wieder nicht und zielt mit ihren spitzen Fragen auf mich. »Hast du Hunger?«, sorgt sie sich. »Sei still«, zische ich. »Oder ist es wegen dem Kerl in deinem Zimmer? Oder hast du Liebeskummer?« »Halt den Mund!«, kreische ich und versuche an
meinem Vater vorbei nach ihr zu hauen. Doch das lässt sie natürlich erst recht weitersticheln. »Eve ist verknallt. Eve ist in diesen dunklen Typ verknallt, der sie mitten in der Nacht aus dem Bett herausgeholt hat«, jubiliert Lisa und klatscht vergnügt in die Hände. »Das darf Michi aber nicht wissen, stimmt's? Nein, nein, das darf er nicht!« Mama und Papa starren mich an, wissen zunächst nicht, was sie sagen oder tun sollen, tun dann aber doch etwas, nämlich genau das Falsche. »Eve, du verheimlichst uns doch etwas«, sagen sie wie aus einem Mund. Und Mama, die vorne neben dem Fahrer sitzt, dreht sich entsetzt um und bohrt: »Wovon redet Lisa? War da etwas, was wir wissen sollten? Wann bist du nachts aufgestanden? Und wozu?« »Lasst mich einfach in Ruhe!«, brülle ich, so laut ich kann, und merke, wie der Fahrer sich auch noch neugierig zu mir umdreht. Sofort bin ich hellwach und mein Kummer ist wie weggeblasen. Ich muss vorsichtig sein mit dem, was ich sage. Auf keinen Fall will ich, dass die Namen Kleo oder Jojo im Zusammenhang mit meinem Flug nach Kairo fallen. »Es ist wegen Michi«, lüge ich, lüge nur noch. Doch meine Eltern schlucken den Köder, bringen auch meine kleine Schwester dazu, ihre Klappe zu halten. Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Und ich denke an Jojos Abschiedssatz: »Erstes Treffen am Montag, zwölf Uhr«, hatte
er voller Eifer vorgeschlagen. »Wenn du zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kairo bist, kommen wir am Dienstag und am Mittwoch wieder.«
Die Suche nach der Wahrheit Eins Der Tag in Kairo beginnt früh. Wie der lang gezogene Schrei eines einsamen Bussards ertönt der Ruf des Muezzins, schraubt sich nach oben, klagend, jammernd, lobpreisend. In der Moschee, die uns am nächsten liegt, besorgt das ein Kassettenrekorder, behauptet Papa, und ich glaube, er hat Recht. Wenn man zum Minarett hinaufschaut, ist da weit und breit niemand zu sehen, den man für die frühe Ruhestörung verantwortlich machen könnte. Mir geht's total mies und ich grüble darüber nach, ob mir die Typen im Hotel ein bisschen Rattengift ins Essen
gemischt haben. Gegen zehn quäle ich mich aus dem Bett. Papa nimmt sich Zeit für mich, macht Frühstück. Ich kriege aber nichts runter, setze mich trotzdem zu ihm an den Tisch, schau ihm zu. »Gegen Ende der Woche werden wir ein Dienstmädchen bekommen«, erzählt Papa. »Das ist hier so üblich. Wenn man sich kein Dienstmädchen hält ...«Er sagt tatsächlich hält, als ginge es um einen Wellensittich oder ein Meerschweinchen. ».. .gilt man als geizig. Weil man von seinem Wohlstand nichts abgeben will.« Wir geben ab. Wir sind großzügig. Kunststück, denn hier kostet ein ganzer, arbeitseifriger Mensch einen ganzen Tag lang weniger als in Deutschland ein Mensch für eine Viertelstunde. »Eine Agentur wird uns jemanden schicken, der englisch spricht«, sagt Papa und fügt im gleichen Atemzug hinzu: »Bis dahin bist du für die Küche zuständig.« Ich maule angemessen, doch schließlich war es mein Wunsch, ihn zu begleiten. »Vergiss nicht, du bist in einem arabischen Land. Wenn du alleine unterwegs bist, musst du ein Kopftuch tragen, und schau keinem Mann direkt in die Augen, das gilt als Zeichen der Verlobung. Und du willst dich doch nicht verloben, oder?« Papa lacht und ich lache auch. Ein bisschen hysterisch freilich. Worauf habe ich mich da eingelassen? Manchmal zweifle ich an meinem Verstand. Deutschland ist meine Heimat. Ich gebe
auf dieses Wort nicht viel, doch mir wird bewusst, dass es Vorteile hat, sich auszukeimen. In meiner Heimat kenne ich mich aus, weiß, was richtig ist und was nicht. »Wenn du später mal von einer ägyptischen Freundin eingeladen wirst«, doziert Papa weiter, »dann musst du höflich ablehnen und zwar dreimal, erst beim vierten Mal darfst du die Einladung annehmen. Und das Haus oder die Wohnung darfst du nicht mit Schuhen betreten. Zieh sie aus und zwar immer den rechten Schuh zuerst. Gegessen wird mit der rechten Hand, aber nur mit den ersten drei Fingern. Die linke Hand gilt als unrein, sie darf nicht zum Essen benutzt werden.« »Welche Finger meinst du?«, frage ich kopfschüttelnd. »Fängt man beim Daumen an zu zählen oder beim kleinen Finger?« Ich sitze ihm gegenüber, probiere mit drei Fingern ein Brötchen aus dem Brotkorb zu fischen. Das klappt miserabel, doch das ist nicht weiter schlimm, schließlich kann ich immer noch nichts essen. In meinem Magen dreht sich ein Karussell, manchmal sogar eine Achterbahn, die mich mit ihren Loopings fast umhaut. Den restlichen Tag verbringe ich damit, vom Bett ins Bad und zurück zu rennen. Dabei lerne ich den Flur kennen, das Bad, das Kinderzimmer. Mehr nicht. Gestern Abend habe ich weder von der Fahrt durch die hell erleuchteten Straßen Kairos noch von der Wohnung etwas mitgekriegt. Keine Ahnung also, in welchem Teil von Kairo wir leben, ich weiß nur, dass unser Mietshaus in einem der besten und teuersten Wohnviertel liegt, nämlich auf der Insel
Roda, eingebettet zwischen zwei Nilarmen. Die Wohnung besitzt zwei Schlafzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und drei Balkone. Papa hat mir vorgeschwärmt, dass man von einem Balkon bis zu den Pyramiden von Giseh blicken kann, vom anderen sieht man den Nil, wie er sich im Süden teilt, und vor dem dritten Balkon erhebt sich die sagenhafte Skyline der Altstadt mit der El-Ashar-Moschee, der Sultan-HasanMoschee und ... Den Rest habe ich vergessen. Papa ist vollkommen aus dem Häuschen, stolz und glücklich darüber, dass er mir das alles bieten kann. Ich will ihn nicht allzu sehr enttäuschen, lächle, nicke, doch im Grunde interessiert mich die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten nicht besonders. Ich bin schließlich nur hier, um Kleo und Jojo wiederzusehen und ihnen zu helfen. Erst gegen Abend schaffe ich es, aufzustehen und mich anzuziehen. Papa ist immer noch nicht zurück, obwohl er versprochen hat, früh nach Hause zu kommen. Aber das ist typisch für ihn. Er ist eigentlich kein richtiger Vater, jedenfalls kein Exemplar, wie man es aus Filmen und Geschichten kennt. Er braucht Termine, wichtige Geschäftspartner, Aktion, Atmosphäre, was weiß ich. Inzwischen bin ich daran gewöhnt. Mama hat uns dafür doppelt und dreifach behütet. Jetzt fehlt sie mir. Sterben könnte man und keiner würde es merken, sind das nicht Kleos Worte gewesen, als sie krank war und sich vernachlässigt fühlte? Ja, Kleo bestimmt hauptsächlich meine Gedanken. Erst durch sie bin ich auf die Idee gekommen, über mein Leben und meine Familie nachzudenken. So wie Papa kein richtiger
Vater ist, so sind wir keine richtige Familie. Meine Eltern haben jeder für sich ein eigen- und selbstständiges Leben geführt. Das brachte der Beruf meines Vaters mit sich, vielleicht wollten sie es aber auch so. Wie wird es ihnen bekommen, wenn sie sich jeden Morgen und jeden Abend sehen? Hat es Mama deshalb nicht eilig, nach Kairo zu kommen, weil sie Angst vor der Enge hat? Zudem, da hat Kleo wirklich Recht, wird sie ihre Arbeit vermissen. Was soll sie den ganzen Tag lang in dieser Wohnung machen, mit einem Dienstmädchen, das alle anfallenden Arbeiten erledigt? Ich schlüpfe in Mamas Haut und schaue mich in der Wohnung um, bewundere die geschmacklose Tapete an den Wänden, die bunten Teppiche, den Zierrat und Plunder. Keine Ecke, in der sich nicht von feinem Staub bedeckte Plastikblumen und Porzellankitsch zu merkwürdigen Gebilden vereinigen. Die Möbel sind schwer und gediegen, mit allerlei Überwürfen und Schonbezügen bedeckt. Plastikfolien schützen die wiederum. Brrr. Das ist so schlimm, dass es fast schon wieder toll aussieht. Eine Zeit lang werden wir es wohl hier aushalten, beschließe ich. Im Schlafzimmer meiner Eltern entdecke ich einen Computer, ein kleiner Lichtblick an einem ansonsten langweiligen Tag. Von einem aufregenden Tag erwarte ich mittlerweile eine ganze Menge: mindestens einen Einbruch, ein getarntes Manöver oder einen neuen, interessanten Menschen. Ohne lange zu überlegen setze ich mich an den
Schreibtisch, starte den Computer, suche nach dem Internet Explorer, wähle mich ein, einfach so aus Langeweile. Wenn Papa sein Codewort nicht von Zeit zu Zeit erneuert, ist er selber schuld. Was suche ich eigentlich im Internet? Alles was ich brauche, sind ein paar Informationen über Kairo und die kann ich genauso gut in den Büchern finden, die zu einem kleinen Turm gestapelt auf dem Wohnzimmertisch liegen. Doch Internet ist besser. Unter dem Stichwort Kairo lasse ich den Stadtplan vor mir auftauchen, entdecke die Insel Roda, das Ägyptische Museum, die Ain-Shams-Universität, zu der die Klinik gehört, in der Kleos Doppelgängerin lebt. Mehr brauche ich von Kairo nicht zu wissen. Das heutige Treffen habe ich zwar verpasst, aber morgen, so stelle ich mir vor, morgen um zwölf Uhr werde ich Kleo und Jojo vor dem Eingang zur Universität treffen. Ich kann es kaum erwarten. Plötzlich fällt mir Michi ein. Michi, wie er auf dem Schulhof auf mich wartete, die Zigarettenkippe lässig im Mundwinkel. Michi, wie er gelangweilt auf meinem Bett lag und darauf wartete, dass ich etwas sagte oder tat. Ich ertappe mich dabei, wie ich in der Vergangenheitsform an ihn denke. Michi hatte ein hübsches Lächeln, einen hübschen Körper. Als wäre er jetzt tot. Ist er aber nicht, deshalb muss ich ihm dringend einen Brief schreiben. Und weil ich weder über Kleo noch über Jojo erzählen will, verständlicherweise, werde ich ihm schreiben, dass ich mich unsterblich in die schöne Skyline von Kairo verknallt habe und bis auf weiteres hier bleiben werde. Ich hole mir einen Schreibblock, schnappe mir aus dem
Wohnzimmer ein Kissen mit riesengroßen aufgestickten Rosen. Klopfe den Staub heraus und trete damit auf einen der Balkone. Das Kissen lege ich auf die breite Balkonbrüstung, lehne mich darauf und blicke mich um. Bin überrascht und fasziniert zugleich, wie groß eine einzige Stadt sein kann. Die größte Stadt des afrikanischen Kontinents. So weit das Auge reicht, erstreckt sich ein vielfarbiger Teppich aus großen und kleinen Häusern, breiten Straßen, engen Gässchen, Türmen und Kuppeln. Dazwischen fließt der Nil, ruhig, gelassen, als wäre er sich seiner Jahrtausende alten Kraft bewusst. Die Menschen haben ihn gezähmt und eingeengt, aber noch lange nicht besiegt. Feiner Dunst liegt über der Stadt, lässt die Konturen verschwimmen, beraubt Kairo seiner Härte und Unnahbarkeit. Was ich gestern Abend als ein einziges Chaos aus hupenden Autos und hektisch herumlaufenden Menschen empfunden habe, wirkt nun, von oben betrachtet, wie ein gut organisiertes Ameisenreich, in dem jeder seinen Platz zu kennen scheint. Spitze Türme ragen aus dieser Ordnung heraus, stoßen wie erhobene Zeigefinger durch die niedrig hängenden Schwaden. Ich versuche die Minarette zu zählen, doch das ist ein sinnloses Unterfangen, es gibt einfach zu viele davon. Weit hinten, am Horizont, erstrecken sich die Berge, braun und kahl, erinnern daran, dass Ägypten die wohl größte Oase der Welt ist, ein Geschenk des Nils. Dann suche ich das Herz von Kairo, den Midan el-Tahrir, den Platz der Befreiung. Dort befindet sich das Ägyptische Museum, dort starten und enden viele Buslinien. Dort werde ich morgen umsteigen, um mich
mit Jojo und Kleo vor der Universität zu treffen. Wir haben verabredet, dass sie mir zusätzlich eine Nachricht in der deutschen Botschaft hinterlassen, in welchem Hotel sie abgestiegen sind. Neugierig geworden nehme ich mein Kissen unter den Arm, renne zum Schlafzimmer meiner Eltern, reiße die Balkontür dort auf. Hier ist der Nilarm viel breiter, zwei große Brücken verbinden die Insel Roda mit dem Festland. Mein Blick fällt auf die Wüste, die sich im Westen Kairos bis zur Grenze von Libyen ausdehnt. Hier sind keine dunstigen Wolken zu sehen, sondern ein milchigblauer Abendhimmel, durch die letzten Strahlen der Abendsonne orangerot eingefärbt. Inmitten der hell schimmernden Wüste suche ich nach den Pyramiden von Giseh, erinnere mich an Fotos, die Papa mir gezeigt hat, doch ich werde enttäuscht. Die ständig wachsende Stadt hat sich bis zu den Steinkolossen herangefressen, sodass sie nun wie an den Stadtrand gebaut wirken. Dabei ist die Cheopspyramide das älteste, noch bestehende Bauwerk, das die Menschheit kennt, zählt zu den sieben Weltwundern. Ja, das alles weiß ich, weil ich Kleo begegnet bin und mich von ihrem Wissensdurst habe anstecken lassen.
Zwei »Wann gehst du los?« Papa steht mit der Zahnbürste in der Badezimmertür, spricht mit vollem Mund. Weißer Schaum
tropft auf die Fliesen, das sollte ich mal machen. Ich trage den letzten Frühstücksteller in die Küche und murmle: »Ich weiß noch nicht.« »Das Ägyptische Museum öffnet bereits um neun Uhr. Und pass ja auf, dass sie dich in der Mittagspause nicht einschließen. Vor nicht allzu langer Zeit«, berichtet er weiter, »wurde ich von der Durchsage überrascht und hatte Mühe, rechtzeitig fertig zu werden. Beinahe wäre ich eingesperrt worden. Aber glaub mir, du wirst von den Kunstschätzen begeistert sein.« Erneut zögere ich, ob ich ihm nicht von Kleo und Jojo erzählen und ihm gestehen soll, dass ich keineswegs einen auf Kultur machen will. Er könnte mir, besser gesagt ihnen, helfen. Bestimmt brauchen die beiden Geld und professionelle Hilfe. Doch Papa hat bereits ausgespült, steht im Anzug vor mir und haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Heute wird es spät«, entschuldigt er sich, zuckt mit den Schultern. »Ich hoffe, du kommst ohne mich klar, denk daran, dass du zwei Schlüssel mitnehmen musst.« Und schon dreht er sich um. Sein Gesicht glüht, seine Augen strahlen. Ich lasse ihn gehen, sage nichts, frage nichts. Bestimmt haben Kleo und Jojo die deutsche Botschaft aufgesucht, haben dort um Hilfe angefragt und auch welche bekommen. Dafür sind die Jungs schließlich da. Kurz vor neun halte ich es in der mir fremden
Wohnung nicht mehr aus, mache mich mit Stadtplan und Reiseführer bewaffnet auf den Weg in die Innenstadt. Papa hat mir die Buslinien und unsere Adresse auf einen Zettel geschrieben. Im Notfall soll ich mir ein Taxi nehmen. Wie großzügig. Natürlich ziehe ich kein Kopftuch auf, doch ich habe das weiteste T-Shirt aus Papas Schrank herausgekramt, trage es lang über meine Jeans herabfallend. Doch das nutzt überhaupt nichts. Kaum bin ich aus der Tür getreten, drehen sich die ersten Männer nach mir um, der Portier, der Zeitungsjunge auf der Straße, die Männer, die rauchend und schwatzend im Kaffeehaus sitzen. Ich stelle mir vor, wie Lisa neben mir herläuft, ihre kleinen Füße beeilen sich mit mir Schritt zu halten, und immer wieder stehen bleibt, staunt, mit ausgestrecktem Finger auf Dinge und Gegenstände zeigt, mir Löcher in den Bauch fragt. »Warum hat die einen Käfig auf dem Kopf? Wieso fallen die Kisten nicht vom Wagen, das müssen ja eine Million und Tausend sein? Wohin schleppen die Kinder den Müll?« Diese und ähnliche Fragen hat sie in Luxor während der Fahrt zum Tempelbezirk gestellt. Wie kann man jemanden vermissen, der einem fast permanent auf die Nerven geht? Ich denke, ich bin einfach nicht gerne allein. »Die Frauen sind pfui Teufel fett«, flüstert Lisa mir ins Ohr, »weil sie zu viel von dem süßen Zeug essen.« Ihre kleine Hand fährt in die Höhe, zeigt auf eine Bäckerei, deren Türen weit geöffnet sind. Ein uralter Mann in einer verschwitzten Galabiya steht in der engen Backstube, rührt in einem ölverschmierten Fass Honig, Nüsse und dünne Teigfäden
zusammen, bis entstanden ist.
daraus
eine
braune,
knusprige
Masse
Inzwischen habe ich die Bushaltestelle entdeckt, eine Traube von Menschen steht neben einer verbeulten Bank und wartet. Kein Schild zeigt mir, welche Buslinien hier halten. Ich bin darauf angewiesen, um Hilfe zu bitten. Das ist nicht schwierig, denn viele Ägypter sprechen Englisch, können mir weiterhelfen. Es ist traurig, das zuzugeben, doch ich bin den Engländern dankbar dafür, dass sie sich Ende des vorigen Jahrhunderts in diesem Land breit gemacht und der Bevölkerung ihre Sprache als Andenken hinterlassen haben. Doch Busfahren ist schwieriger, als ich vermutet hätte. Erst beim zweiten Anlauf schaffe ich es, mitgenommen zu werden. Ein freundliches Mädchen kümmert sich um mich, gibt mir einen Schubs und bugsiert mich in das voll besetzte Gefährt hinein. Sie selbst springt elegant auf das Trittbrett, hält sich an einer Eisenstange fest. Hängt mehr draußen als drinnen. Kein Problem, die Türen, so weit vorhanden, scheinen nicht zuzugehen. Ihre frisch gebügelte Schuluniform bläht sich durch den Fahrtwind, doch als wir nach über einer Viertelstunde am Midan el-Tahrir ankommen, sieht sie gepflegt aus, als hätte sie keinen Fuß aus dem Haus getan. Die Innenstadt von Kairo, in der sich Tausende von Menschen zu Fuß, mit dem Eselskarren, Bus, Auto oder Fahrrad fortbewegen, ist ein richtiger Schock. Stickige, rußgeschwärzte Luft schlägt mir entgegen, lässt mich taumeln und ich bleibe einen Augenblick reglos stehen, um mich an das bunte und laute Leben zu gewöhnen.
Dann hole ich meinen Stadtplan heraus, versuche ihn in dem dichten Gewirr aus Leibern zu entfalten. Doch als sich immer wieder junge Männer um mich scharen und mir helfen wollen, falte ich ihn wieder zusammen und spreche stattdessen eine Frau an, von der ich annehme, dass sie englisch spricht. Sie trägt moderne, westliche Kleidung, ist sorgfältig geschminkt. Ihr dunkles Haar jedoch hat sie unter einem seidenen Kopftuch versteckt. Schüchtern, fast verschreckt bleibt sie stehen, hört sich meine Bitte an. Es ist klar, mit Ausländern hat sie noch nicht oft zu tun gehabt, dabei ist ihr Englisch einwandfrei. Freundlich erklärt sie mir, welchen Bus ich nehmen muss, um zur Universität zu gelangen. Nachdem sie mich ein Stück begleitet hat, will sie sich gerade von mir verabschieden, als mein Magen zu einem Stein wird und ich zusammengekrümmt nach vorne kippe. Ich falle nicht um, doch ich muss mich an ihr festhalten, um das Gleichgewicht zu bewahren. Verflixt und zugenäht. Ich kann mich immer noch nicht rühren, bin nur damit beschäftigt, den Schmerz auszuhalten. Trotz gekrümmter Haltung erkenne ich, wie sich Kinder, Frauen und Männer zu einer dichten Traube um uns versammeln und mich neugierig mustern. Endlich habe ich mich so weit in der Gewalt, dass ich mich wieder aufrichten kann, doch das bekommt mir gar nicht. Kreischende Laute dringen an meine empfindlichen Ohren, der Gestank von Dieselmotoren und frisch gebackenen Teigwaren vermischt sich zu einem süßlich ekligen Gestank und mir wird noch ein bisschen übler, gleich muss ich kotzen. Neben mir ist immer
noch die junge Frau mit dem seidenen Kopftuch, tätschelt freundlich meine Hand, spricht beruhigend auf mich ein. »Slowly, slowly ...«, murmelt sie, »where do you live?« Und schon beginnt sie in meinem Rucksack nach einer Adresse zu suchen. Ich will protestieren, nach der Uhrzeit fragen, so rasch wie möglich abhauen, doch meine Beine fühlen sich an wie matschiges Obst. Doch ich weiß, dass ich nicht nach Hause will. Ich muss zur Ain-Shams-Univer-sität, auch wenn ich auf allen vieren dorthin kriechen muss. Gerade weil Jojo und Kleo nicht wissen können, ob und wann ich es schaffe, nach Kairo zu kommen, werden sie nicht ewig auf mich warten. Heute ist bereits Dienstag. Verdammt, warum haben wir keine Handys, das Leben wäre so einfach. Über mir taucht ein Stück blauer Himmel auf, die Menschen verstreuen sich, werden energisch von meiner Helferin zur Seite gedrängt. Sie, die mir so schüchtern und vorsichtig vorgekommen ist, hat ohne Mühe das Kommando übernommen, als sei sie daran gewöhnt, Ordnung zu schaffen. Energisch schickt sie einen Mann los, der ein Taxi organisiert, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, sitze ich darin. »Ain-Shams-University«, krächze ich mit einer sich überschlagenden Stimme, doch im gleichen Augenblick krampft sich mein Magen erneut zusammen und ich ahne, dass mein Gesicht zu einer Grimasse wird wie nach dem Genuss einer rohen Zitrone. Die junge Frau drängt mich behutsam zur Seite, setzt sich neben mich und spricht eifrig auf den Fahrer ein. Und ich? Ich versinke in dem viel zu
weichen, da sehr alten, Ledersitz und höre auf zu denken. Wir sind eine ganze Weile gefahren, als ich endlich die Kraft finde, mich vorsichtig aufzurichten. Zu meiner Rechten erkenne ich das schlammige Wasser des Nils und ahne: Wir befinden uns auf der Al Manyal Brücke, fahren auf die Insel Roda. Inzwischen ist mir alles egal, ich habe nur noch einen Wunsch: Ich will so schnell wie möglich auf ein Klo und anschließend ins Bett.
Drei Dr. Abdul Hassan, Leiter der psychiatrischen Klinik an der Ain-Shams-Universität. Mit diesem Gedanken wache ich am nächsten Morgen auf. Ich bin schweißgebadet, meine Haut fühlt sich klebrig und durchweicht an, doch mein Kopf ist klar und ich habe keine Schmerzen mehr. Werden Kleo und Jojo heute da sein, auch wenn sie zwei Tage vergebens gewartet haben? Was werden sie dazu sagen, wenn ich ihnen mitteile, dass sie Geschwister sein sollen? Meine Gedanken wandern rückwärts, grübeln darüber nach, was gestern geschehen ist, warum etwas geschieht und etwas anderes nicht. Wer bestimmt unser Schicksal? Und wenn da niemand ist, sind wir einzig und allein dem Zufall ausgeliefert? Wann soll man den Zufall begrüßen und wann eingreifen? Wie kann ich ein Leben leben, Entscheidungen
treffen, wenn alles nur passiert, ohne dass man etwas dafür oder dagegen tun kann? Aber eins ist klar: Wäre ich gestern nicht zusammengeklappt, hätte ich Noa nicht kennen gelernt. Wie sich herausstellte, ist sie Medizinstudentin, steht kurz vor dem Abschluss. Und sie studiert natürlich an der Ain-ShamsUniversität. Nachdem sie mich kurz untersucht hat, lief sie los, holte mir ein Mittel gegen Magenverstimmung, wies mich an, das Bett beziehungsweise das Klo zu hüten und nur Bananen und Weißbrot zu essen. Klar war ich sauer, dass sie sich in meine Angelegenheiten mischte, gleichzeitig wusste ich: Sie ist ein Geschenk des Himmels. Ich habe ihre Adresse und kann sie anrufen, wenn ich Hilfe brauche. Sie kennt diesen Dr. Abdul Hassan, hat einige Vorlesungen bei ihm belegt. Weil ich aber auf ihre Fragen, woher ich den Namen kenne und was ich von ihm will, nicht antworten konnte, habe ich rasch das Thema gewechselt. »Alles zu seiner Zeit«, habe ich beschlossen. Auch ein MamaSpruch. Ich glaube, mir bekommt die Trennung von meiner Mutter nicht gut. Ich stehe auf und stelle fest, dass Papa bereits die Wohnung verlassen hat. Dabei hätte ich ihm heute, heute bestimmt, von Kleo, Jojo und ihren Schwierigkeiten erzählt. Aber so sind Eltern nun mal, entweder sie laufen einem ständig hinterher und überwachen jeden Schritt, den man tut, oder sie kümmern sich überhaupt nicht mehr um einen. Wenn man sie braucht, sind sie jedenfalls nie zur Stelle. Auch sonst
ist niemand da, kein Freund, keine Katze, keine Schildkröte, nichts. Wenn ich so weitermache, grüble ich, ende ich als Einzelgänger. Da ich wieder früh dran bin, beschließe ich, einen Teil des Weges zu Fuß zurückzulegen. So bekomme ich mehr von meiner neuen Umgebung mit und bestimmt tut mir ein bisschen Bewegung gut. Weil heute ein wolkenverhangener Tag ist, ziehe ich mich warm an. Ich schlüpfe in meine bequemen Turnschuhe, trete auf die staubige Straße. Unmöglich, sich vor dem Sand aus der nahe gelegenen Wüste und dem Dreck aus den Auspuffrohren zu schützen. Das Viertel, in dem wir seit wenigen Tagen leben, wird von modernen Wohnblocks geprägt, aber auch von einer breiten, von stinkendem Verkehr verstopften Straße. Ich beschleunige meine Schritte und tauche in eine Nebengasse ein. Auch hier brummt und rattert es, wenn auch etwas leiser, vornehmer. Schnell erreiche ich eine der Brücken, die über den Nil führen und unsere Insel mit der Innenstadt verbinden. Inzwischen mischen sich Esels- und Handkarren unter das Gedränge. Noch ein Stück weiter begegnet mir das eigentliche Kairo, das Kairo der Armut, der Anpassung und Improvisation. Hier leben die Menschen dicht gedrängt in winzig kleinen Wohnungen, zusammen mit Ziegen, Hühnern und Tauben. Gestern schien die Sonne, malte bunte Bilder auf die abbruchreifen Häuser und eingeschlagenen Fensterscheiben, heute verschlucken graue Wolken die Idylle der Verwahrlosung, lassen die Kinder dreckig, die Hühner gerupft, die Frauen müde aussehen.
Staunend bleibe ich vor einem Abbruchgrundstück stehen, sehe die Wunde, die ein Bagger hier gerissen hat, vor Gott weiß wie vielen Jahren. Eine schorfige Kruste ist darüber gewachsen. Aus Latten, Wellblech und Pappkartons wurden zuerst ein, dann zwei, dann drei Zimmer gebastelt, das Zuhause einer Großfamilie. Ziegen sind am Straßenrand an einen Pfahl gebunden und bedienen sich aus der Futterkrippe, einer ehemaligen Badewanne. Ein Zicklein springt von Stein zu Stein, klaut der Hausfrau ein Wäschestück aus dem Zuber. Sie rennt ihm keifend hinterher, stolpert, schimpft noch mehr. Lautes Lachen ertönt, ich drehe mich um und sehe zwei schmutzverschmierte Kinder, die sich johlend aus dem Fenster lehnen. Sie sehen glücklich aus. Als mache es ihnen überhaupt nichts aus, in einer schäbigen Hütte ohne Klospülung und fließendem Wasser zu leben. Ich lächle zurück, denke mir, dass ich das alles habe, das Klo, warmes Wasser, ein eigenes Zimmer, aber dieses Glück war mir nie bewusst, bevor ich nach Ägypten kam. Vor einem Fleischerladen steht ein junger Mann in westlicher Kleidung. Er hat ein spitzes, insektenartiges Gesicht und ist in ein Gespräch mit dem Metzger vertieft. Der ist unschwer an seinem blutigen Kittel zu erkennen, der sich über seinen runden Bauch spannt. Als der junge Mann mich entdeckt, verabschiedet er sich hastig, eilt auf mich zu. Der Metzger, stehen gelassen, greift zum Messer, trennt dem von der Decke baumelnden Rind sauber und ohne Eile die Gliedmaßen ab. Pech für die Fliegen, die sich friedlich, aber viel zu kurz, am Fleisch laben durften. Sie sind sauer, fliegen
brummend und schimpfend auf. Das alles nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, denn eigentlich beobachte ich ja ihn, will wissen, was da auf mich zukommt. »Hello, are you English?«, fragt er, als er mich eingeholt hat. »No, German«, antworte ich ohne meine Schritte zu verlangsamen. Doch meine Unhöflichkeit scheint ihn nicht zu beeindrucken. Er passt sich geschickt meinem Tempo an und beginnt mit dem »Woher? Wohin? Mit wem?«-Spielchen. Ich erkläre ihm, dass ich an der Universität verabredet bin und leider sehr wenig Zeit habe. Zur Universität, sagt er freudestrahlend, da muss er auch gerade hin. Sehr witzig, denke ich und verdrehe die Augen. Doch bald vergeht mir das Augenrollen, denn er will wissen, mit wem ich verabredet bin und ob ich jemanden kenne, der dort studiert und bei welchem Professor und seit wann. Ich winke ab und sage, dass mich die Bibliothek interessiert. -Jede Universität hat doch wohl eine Bibliothek. »The library«, schwärmt er, »very big, very good, but in arabic language.« Da habe ich den Salat. Erneut geistert mir ein MamaSpruch durch den Kopf: »Lügen haben kurze Beine.« Ziemlich kleinlaut laufe ich weiter, betrachte die Ladenbesitzer und Passanten um mich herum und ärgere mich darüber, dass ich meiner Neugierde ihn betreffend nicht nachgeben kann. Aber ich weiß, er ist mindestens zwanzig Jahre alt, trägt einen
blaugrauen Anzug und ein babyblaues Hemd, spricht sehr gut Englisch. Er ist also etwas Besseres, könnte mir vielleicht behilflich sein, doch ich weiß nicht, ob ich mir von einem Mann helfen lassen darf. Ich möchte ungern plötzlich verlobt sein. Es gibt auch eine amerikanische Universität, berichtet er stolz, ob er mich dorthin begleiten soll. Ich winke ab. »Bye-bye«, sage ich, denn jetzt steht fest, dass sein angekündigter Unibesuch nur ein Vorwand war, um mich kennen zu lernen. Doch er ist wie eine Klette, beschleunigt ebenfalls seine Schritte und folgt mir treppauf, treppab wie ein Hund seinem Herrn. Um den Fußgängern einigermaßen das Überleben zu sichern, haben sich in der Innenstadt von Kairo hellblaue Fußgängerüberwege durchgesetzt, die sich wie Bandwürmer über Straßen und Plätze schlängeln. In dem dichten Gedränge kann ich ihn endlich abschütteln, finde auch gleich den richtigen Bus. Durch ihn oder durch mein Getrödel habe ich schrecklich viel Zeit verloren, es ist bereits nach zwölf, als ich die Universität erreiche. Ich frage mich durch, finde das Krankenhaus, doch sosehr ich meine Augen auch anstrenge, von Jojo und Kleo keine Spur. Mit wild klopfendem Herzen setze ich mich in Bewegung, gehe auf das graue, mit allerlei Nischen und Vorsprüngen verzierte Gebäude zu und steige vier Stufen nach oben. Die große Holztüre ist nur angelehnt, trotzdem wirkt sie abweisend. Ich stemme sie auf, betrete die Halle. Kühle, frische Luft weht mir entgegen und mein Blick gleitet zu einem monströsen Ventilator, der sich surrend in luftiger Höhe dreht. Noch während ich hochschaue, wittere
ich Gefahr, zucke zusammen. Aus einer dunklen Ecke kommt ein hochgeschossener Mann in wallendem Gewand auf mich zu, bremst wenige Schritte vor mir und fragt mich in unsicherem Englisch, was ich hier suche. Kann man denn keinen Schritt tun, ohne dumm angequatscht zu werden? Ich stottere etwas von »Psychiatrie Hospital«, doch mein Gegenüber winkt aufgeregt mit der Hand, als müsse er einen räudigen Köter vertreiben. Der räudige Köter bin ich, ganz klar, doch warum ich so sehr störe, ist mir nicht klar. Mürrisch stülpe ich die Unterlippe nach vorne, dränge den Mann zur Seite und will zur Treppe gehen, die in den ersten Stock führt. Doch sofort ist er wieder neben mir, ruft sogar nach Verstärkung und bald bin ich von einer Gruppe aus Männern und Jungen umringt, die mir nicht nur den Weg verstellen, sondern mich auch mit Fragen bombardieren. »What do you want?« »I'm looking for somebody«, antworte ich wahrheitsgemäß und mit Nachdruck in der Stimme, doch sofort überschütten sie mich mit neuen Fragen. »Which nationality?«
relation,
which
Student
number,
your
Ich antworte so gut und präzise, wie es mir möglich ist, doch entweder sie wollen oder können mich nicht verstehen. Ich will doch nur wissen, ob Kleo oder Jojo hier waren und ob sie eine Nachricht für mich hinterlassen haben. »Ihr seid und bleibt Idioten!«, schimpfe ich auf Deutsch, drehe mich auf dem Absatz um und verlasse gedemütigt das Gebäude. Erstaunte
Gesichter begegnen mir, mustern mich von oben bis unten und ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen steigt. Bestimmt gibt es mehrere Eingänge zu diesem Komplex, tröste ich mich und trete auf den Kiesweg, umrunde das Gebäude, rüttle an jeder Tür, von denen es eine Menge gibt, doch sie sind allesamt verschlossen. Inzwischen ist es zwanzig Minuten nach zwölf. Keuchend und verschwitzt kehre ich zum Hauptportal zurück, doch die beiden sind immer noch nirgends zu sehen. Frustriert lehne ich mich gegen eine Palme und starre das finstere Gebäude an. Die Fenster bestehen aus undurchsichtigem Milchglas und sind mit dicken Gitterstäben gesichert. Keine Feuerleitern, die hoch- oder herunterführen. Warum sind alle Seiteneingänge verschlossen? Ein Gefängnis? Mein Blick fällt auf ein Fenster im ersten Stock. Wie auf Kommando öffnet es sich. Im Rahmen lehnt ein großer, breitschultriger Mann von etwa vierzig Jahren. Helle Haut, dunkle Haare, weißer Kittel: ein Arzt. Neben ihm steht ein Mädchen, schaut zu ihm hoch. Schaut ihm direkt ins Gesicht und doch weiß ich, ihre Augen sind blind. Es ist die Kopfhaltung und dieser merkwürdig traurige Blick, der mir das verrät. Die langen schwarze Haare hat sie hochgesteckt und so kommt ihre Ähnlichkeit mit Kleo noch besser zur Geltung. Es ist das Mädchen, das ich auf den Treppenstufen des Ramesseums gesehen habe. Der Name ihrer Akte lautet Nofrure. Sie ist also tatsächlich hier. Hat Kleo sie auch gesehen? Das geht ja nicht! Ich lache, lache wie über einen guten Witz, dabei fühle ich mich total traurig. Traurig und mutlos. Und trotzdem. Jetzt erst recht. Wenn die Angaben aus der
Akte stimmen, sind wir auf der richtigen Spur. Und wenn ich die Spur auch alleine verfolgen muss, was mir ganz und gar nicht behagt, will ich es doch wenigstens versuchen. Ich muss mit dem Mädchen sprechen. Laut Akteneintrag ist sie Engländerin. Mein englischer Wortschatz ist bestimmt nicht der umfangreichste, viel erklären werde ich ihr nicht können, doch vielleicht bekomme ich etwas aus ihr heraus. Während ich wieder auf das Gebäude zugehe, fällt mir ein Zeitungsbericht ein, in dem beschrieben stand, dass Zwillinge früh getrennt wurden, um in sozial unterschiedlichen Familien erzogen zu werden. Der Versuch sollte zeigen, inwieweit das soziale Umfeld für die Entwicklung eines Menschen prägend ist. Könnte Kleo eine von mehreren Geschwistern sein, die Opfer einer medizinischen Versuchsreihe sind oder waren? Ich nehme all meinen Mut zusammen, steige die Treppen nach oben, doch ich bin klug genug zu warten, bis sich eine Gruppe von Studenten dem Portal nähert. Erst als sie hineingehen, trete auch ich durch die Tür, mische mich unter sie, mache mich so klein und unauffällig wie möglich. Bin längst an der Pforte vorbei und atme erleichtert aus, als hinter mir lautes Geschrei ertönt. Obwohl ich mich nicht umdrehe, weiß ich doch sofort: Die Giftzwerge haben mich erneut entdeckt. Schweißnasse Hände greifen nach mir, zerren mich unsanft zur Seite und ich lasse es geschehen. Ohne zu protestieren, ohne auch nur einen Blick an die Kerle zu verschwenden, lasse ich mich unter
aufgeregtem schieben.
Stimmengemurmel
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Ausgang
Tja, das war's. Die erste Runde geht an sie, doch ich weiß, dass ich heute Abend noch mit Noa, der Medizinstudentin, telefonieren werde. Ja, das werde ich tun, denke ich bockig. Die Schlacht ist noch lange nicht verloren. Bevor ich zur Insel Gesira, der zweiten großen Nilinsel, fahre, dort befindet sich die deutsche Botschaft und wie ich hoffe freundliche, hilfsbereite Menschen, drücke ich mich eine weitere Stunde vor der Uni herum, beobachte den Eingang, die Umgebung. Doch weder kann ich Näheres über Kleos Doppelgängerin erfahren noch tauchen Kleo und Jojo selbst auf. Ich überlege, ob ich irgendwo eine Nachricht hinterlassen soll, doch mir fällt außer der Pforte kein Platz ein und dort will und kann ich mich nicht mehr blicken lassen. Pech auf der ganzen Linie. Auch der Besuch in der deutschen Botschaft wird zum Reinfall. Am frühen Nachmittag werden die Rollläden heruntergelassen und die Beamten verabschieden sich in die Freizeit. Am nächsten Tag fahre ich wieder hin, verlange Auskunft, erhalte sogar einen Termin, stehe endlich dem zuständigen Sachbearbeiter gegenüber. Jetzt wird's schwierig. Die Fragen habe ich mir schön sauber zurechtgelegt, trotzdem weiß ich nicht, wie ich anfangen soll. Mir gegenüber sitzt ein älterer Mann in mausgrauem Anzug, den Kopf mit der dichten Silbermähne leicht schräg gelegt, einer Taube gleich, die auf Futter wartet.
»Nun, was führt dich zu uns?«, hilft er mir auf die Sprünge. Das unerwartete Du lässt mich zusammenzucken. Ich will ernst genommen werden, will erwachsen wirken und nun stellt er mich auf eine Stufe mit einem Schulmädchen. »Ich suche zwei Jugendliche«, beginne ich vorsichtig, »Johanna Beer und Jussuf, den Nachnamen habe ich leider vergessen. Wir haben uns in Hurghada kennen gelernt. Die beiden haben Hurghada vor vier Tagen verlassen und nun wollte ich fragen, ob sie sich hier gemeldet haben. Sie wollten eine Nachricht für mich ans schwarze Brett hängen. Doch jetzt habe ich erfahren, dass es hier so etwas wie ein Informationsbrett gar nicht gibt.« Ich räuspere mich. »Das Mädchen hatte keinen Ausweis und kein Geld, bestimmt hat sie um Hilfe ge...« »Und du?«, unterbricht mich der Typ barsch, richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Seine aschgrauen Augen funkeln. Aus dem freundlich nachsichtigen Opa-Typ ist ein knallharter Geschäftsmann geworden, der deutsche Steuergelder vor gierigem Zugriff schützen muss. Ich verstehe sofort und doch stelle ich mich dumm. »Was soll mit mir sein?«, frage ich zurück und setze mich auch kerzengerade hin, drücke mein Kreuz durch und schiebe die Brust vor. »Haben sie dir auch dein Rückflugticket und alles geklaut?« Unverschämtheit. Dieser Mensch unterstellt jedem
Jugendlichen, mit Geld nicht umgehen zu können. Zudem duzt er mich, außerdem weiß ich, dass die deutsche Botschaft in Notfällen Gelder vorstreckt, es sich aber später von den Erziehungsberechtigten wieder holt. Warum also bläht er sich so auf? Tief durchatmen, sage ich mir, und versuche ein freundliches Grinsen. »Es geht nicht um Geld, ich möchte nur eine Auskunft. Waren die beiden bei ihnen, Johanna Beer und Jussuf ...?« Das mit Jojos Namen ist doof, das weiß ich selbst. Es macht keinen guten Eindruck, wenn man nicht einmal den Namen weiß. Neugierig wie ich war, hatte ich Jojos Pass aus dem Rucksack gekramt, hatte mir sein Bild angeschaut, geguckt, wann er Geburtstag hat, wie alt er ist, doch den Namen habe ich nicht behalten. Prompt grinst der gute Mann schadenfroh, lehnt sich erleichtert in seinem Stuhl zurück und fragt: »In welchem Verhältnis stehst du zu den genannten Personen?« Das ist eine Frage, die gut in ein Polizeiverhör passen würde. Ich bin aber weder ein Verbrecher noch ein Opfer. »Warum können sie mich nicht wie einen normalen Menschen behandeln?« Meine Stimme ist leise, ganz und gar nicht biestig. Trauer liegt darin, denn ich ahne längst: Von diesem Mann ist keine Hilfe zu erwarten. »Weißt du, wenn du mit den beiden nicht verwandt bist, darf ich dir keine Auskunft geben.« »Sie waren also hier«, stelle ich fest, denn warum sonst
sollte er so lange um den heißen Brei herumreden. »Sie waren hier und Kleo, ich meine Johanna, hat sich einen neuen Pass ausstellen lassen. Wenn Sie mir schon nicht sagen können, in welchem Hotel sie wohnen, können Sie mir wenigstens verraten, ob sie sich noch in Kairo aufhalten? Sie müssen nichts sagen, es reicht, wenn Sie mit dem Kopf ...«Mehr frage ich nicht, denn da war es, ein fast unmerkliches Nicken. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, sondern gleichgültig. Zieh ab, soll das Nicken auch heißen, lass mich in Ruhe. Gerne würde ich ihn fragen, welche Möglichkeiten es gibt, als NichtStudent in die Ain-Shams-Universität hineinzukommen, doch sein Mund hat sich zu einem schmalen Strich verengt und ein Blick in seine kalten grauen Augen raubt mir jeglichen Mut. Anschließend suche ich das Touristenbüro auf, doch die schicken mich gleich weiter zur Touristenpolizei. Auch dort Fehlanzeige: Kleo und Jojo wurden in dieser Stadt weder gesehen noch überfahren noch sonst wie aktenkundig erfasst. Zumindest gibt man mir keine Auskunft darüber. Ich komme mir wie eine Mutter vor, die auf der Suche nach ihren vermissten Kindern ist. Ich bin nicht wirklich beunruhigt, denn die Kinder sind längst erwachsen. Natürlich fahre ich auch an diesem Tag zur Uni, setze mich kurz vor zwölf unter meine Lieblingspalme, schaue den Rasenschneiderinnen zu, wie sie eine Fläche so groß wie ein Fußballfeld mit der Nagelschere bearbeiten, hoffe, dass ich nicht zu oft angequatscht werde, warte. Warte ohne große
Hoffnung und doch mit rasendem Herzklopfen. Schließlich kann es sein, dass Jojo und Kleo auftauchen, auch wenn wir uns nur für die ersten drei Tage der Woche verabredet hatten. Nach einer Stunde beschließe ich, die dumme Wartezeit zu beenden. Wenn die beiden noch in Kairo sind, so tröste ich mich, werden sie über kurz oder lang auf die Idee kommen, meine Mutter in Hurghada anzurufen. Sie werden meine Kairoer Adresse herausfinden und eines Tages vor unserem Haus auf mich warten. Auf dem Rückweg setze ich mich in ein Straßencafe, zähle mein Geld, denke nach, versuche an Michi einen Brief auf eine Serviette zu schreiben, im Telefonamt erneut Noa zu erreichen, rufe am Flughafen an. Alles vergebens. Dem Ziel, etwas herauszufinden, komme ich dadurch keinen Millimeter näher. Ich schiebe mir einen Kaugummi zwischen die Zähne, denke nach. Recherchieren fällt mir ein. Das Wort schmeckt süß und sauer zugleich, schmeckt nach Arbeit, aber auch nach Abenteuer. War da nicht ein weiterer Hinweis in den Akten? Der Hinweis auf eine Kontaktperson im Ägyptischen Museum? Den Namen, Prof. Pahl, habe ich nicht vergessen. Es könnte ein Deutscher sein. Wenn das so ist, dann hat er Verbindungen nach Deutschland, zu den Personen, die Kleo und Jojo in dieses Land gelockt haben. Könnte es nicht sein, dass Jojo und Kleo im Museum eine Nachricht für mich hinterlassen haben?
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Stunden später kehre ich aus dem Ägyptischen Museum zurück, bin müde und noch ein bisschen frustrierter als am Nachmittag. Weder konnte mir jemand sagen, ob ein Herr Pahl im Ägyptischen Museum arbeitet, noch war eine Nachricht für mich hinterlegt worden. Trotzdem habe ich brav meinen Eintritt gelöhnt und bin hoch in den Mumiensaal, wollte sehen, was es mit den Pharaonen, die als Decknamen herhalten mussten, auf sich hat. Der Mumiensaal aber ist wegen des zu hohen Besucherandrangs schon seit Jahren geschlossen. Ist das zu fassen? Vor lauter Wut habe ich auf dem Heimweg einen kühnen Plan ausgearbeitet. Einen Superplan, einen absoluten Wahnsinnsplan: Ich werde versuchen, in den Mumiensaal einzudringen. Der Saal ist deshalb so interessant für mich, weil ich in einem Kulturführer gelesen habe, dass die Mumie der Hat-schepsut eine seltsame Tätowierung unter den Augen aufweist. Im Museumsführer allerdings stand, dass die Mumie nie gefunden wurde. Das hat auch Kleo behauptet. Was also stimmt nun? Bestimmt bin ich einem wissenschaftlichen Rätsel auf der Spur. Erstaunt stelle ich fest, dass Papa bereits zu Hause ist. Bald weiß ich auch warum. Die neue Haushaltshilfe ist da. Sie heißt Leila, ist erst achtzehn Jahre alt und schwarz wie die Nacht. Damit meine ich nicht nur ihren Körper. Ihr ganzes Outfit ist schwarz. Schwarz das Kleid, schwarz die Schuhe, die Socken, das Kopftuch. Nur ihre große, schwere Armbanduhr glänzt golden, sticht wie ein Fremdkörper von ihr ab. Ein Erbstück, erklärt sie auf Englisch, sehr kostbar, eines der wenigen Dinge, die sie retten konnte. Ihre Familie stammt aus Nubien, wurde
aus der Heimat vertrieben, als der Assuanstaudamm gebaut wurde. Ihr ehemaliges Dorf ist jetzt überflutet. »Ich bin kein Waisenkind, aber ein Flüchtlingskind«, sagt sie von sich selbst, obwohl sie »ihr Dorf« nie kennen gelernt haben kann. Ich finde, dass Leila gut in meine neue »Sammlung« passt, schließe sie sofort in mein Herz. Endlich bin ich nicht mehr allein. Wenn Leila den Mund aufmacht, werden zwei Reihen schneeweißer Zähne sichtbar. Zähne wie Perlen auf einer Schnur, so ebenmäßig sind sie gewachsen. Doch leider, mittendrin, klafft eine riesige Zahnlücke. Eine Perle wurde geklaut oder eingeschlagen. Papa ist ein bisschen entsetzt darüber, dass die Agentur Leila bereits jetzt geschickt hat, denn schließlich muss Mama entscheiden, ob sie mit ihr auskommt oder nicht. Und Mama wird erst in zwei Tagen hier eintrudeln. »Stell dir vor«, erzählt Papa, als wir wieder alleine sind, »heute Mittag komme ich vom Essen, da sitzen zwei Frauen vor meiner Bürotür. Leila und ihre weiße Agentin. Lach nicht, so hat sie sich selber genannt. Dieses Mädchen wäre gerade durch Zufall frei geworden, sie sei die Beste. Wenn ich sie nicht nehmen würde, dann müsste ich lange auf ein ähnliches Angebot warten.« Papa lacht nicht, schüttelt nur immer wieder verwundert den Kopf. »Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Sie haben sie mir praktisch aufgedrängt.« »Macht
nichts«,
sage
ich.
»Mama
ist
ja,
was
Hauspersonal angeht, nicht verwöhnt. Hast du nicht selber gesagt, eigentlich brauchen wir sie nicht? Nehmen sie nur, damit wir nicht als geizig angesehen werden? Ich habe mit Leila gesprochen, sie ist top. Sie sieht aus wie eine dieser herzensguten schwarzen Hausangestellten in amerikanischen Filmen, nur dass sie erstaunlich jung ist. Aber das ist gut so. Ich werde mit ihr Englisch üben und sie hat mir heute Nachmittag ein paar Brocken Ägyptisch beigebracht. Ich kann jetzt nach dem richtigen Bus fragen, nach einer bestimmten Straße, weiß, wie man in einem Laden einkauft. Manche Wörter sind ganz einfach.« Und ich gebe ihm gleich eine Kostprobe meines Könnens: »wahid, itnen, talata, arbaa, chamßa ...« »Halt!«, ruft Papa gut gelaunt und klopft mir begeistert auf die Schulter. »So gut kann nicht mal ich zählen, das muss ich wirklich zugeben. Wenn wir nicht aufpassen, verliebst du dich in dieses Land, und wenn ich in ein, zwei Jahren beschließe, wieder nach Deutschland zurückzufahren, willst du nicht mehr mit.« »Tja, das hast du dann davon. Ich heirate einen reichen Scheich und lebe in einem Harem und du darfst mich nur noch zu offiziellen Anlässen sehen. Und selbst dann werde ich den Schleier tragen.« »Nun, so schlimm wird's hoffentlich nicht werden.« Da Leila bereits heimgegangen ist, muss ich den Tisch abräumen. Ich ertappe mich dabei, dass ich es gerne mache. Im Vergleich zu den schwierigen Aufgaben, die in letzter Zeit auf
mich eingestürmt sind, ist diese Arbeit richtig erholsam. Papa ist im Bad verschwunden, und weil er eine ganze Weile nicht auftaucht, gehe ich ihm hinterher, muss ihn dringend interviewen. Während er sich auszieht und unter die Dusche stellt, setze ich mich auf den Badewannenrand, wippe mit den Beinen, überlege, wie ich anfangen soll. Papa kann ganz schön nervig werden, wenn es um sein Lieblingsthema Ägypten geht. Dann ist er wie ein Radio, dessen Ausschaltknopf nicht mehr funktioniert. »Papa?« »Ja, mein Schatz?« »Du kennst dich doch ein bisschen mit Pharaonen aus.« Ein tiefes, dröhnendes Lachen erklingt. Papa prustet und hält den Duschkopf so schräg, dass das Wasser am Duschvorhang vorbei einen Weg zu mir findet. »Ih!«, kreische ich. »Pass doch auf! Jetzt mal ernsthaft. Weißt du was über die Pharaonin Hatschepsut?« Mein Vater steigt umständlich aus der Dusche und ich gucke ein bisschen beschämt zur Seite, denn schließlich bin ich fast schon erwachsen. »Was genau willst du wissen?«, fragt er leicht genervt und da ahne ich, dass es ein gutes Gespräch wird. Er hat wenig Zeit und wird mir daher keinen Vortrag halten. »Leider weiß ich nicht genau, was ich wissen will«,
stammle ich, »aber es gibt da drei Namen, die mich wahnsinnig beschäftigen. Hatschepsut, Thutmosis III. und Nofrure. Ich meine, wie hängen die Namen zusammen?« Ich verstumme, überdenke meine Worte. Natürlich weiß ich Bescheid, Kleo hat mir genug über die drei erzählt, doch ich möchte sozusagen eine zweite, unabhängige Meinung einholen. »Ein bisschen was konnte ich im Internet über die Hatschepsut herausfinden«, erkläre ich Papa, »doch die Angaben widersprechen sich. Das finde ich ganz schön seltsam.« »Es stimmt«, gibt er zu, »dass gerade über diese Pharaonin relativ wenig und Widersprüchliches geschrieben wird, aber sie war auch nicht besonders bedeutend.« »Wie kannst du das sagen?«, unterbreche ich ihn empört, vermute hinter seinen Worten eine frauenfeindliche Äußerung. »Geschichtsbücher wurden lange Zeit nur von Männern geschrieben und die haben den Frauen weniger Raum eingeräumt als den Männern. In diesem besonderen Fall besaß sie zudem die Frechheit, sehr erfolgreich und beliebt gewesen zu sein.« »Soll ich dir nun etwas über die Hatschepsut erzählen oder nicht?« Mein Vater verdreht die Augen, blickt zur Decke. »Wenn ja, dann hältst du jetzt kurz deinen vorlauten Schnabel. Also, die Hatschepsut wurde als Prinzessin, das heißt als legitime Tochter von Thutmosis I. und dessen Halbschwester Ahmes gezeugt.« »Halt!«, rufe ich erneut dazwischen, und weil er mich
beleidigt anschaut, reiche ich ihm eifrig den Bademantel und erkläre: »Ich glaube, das verwechselst du. Die Hatschepsut und ihr Mann waren Halbgeschwister.« »Habe ich doch nicht bestritten«, grinst mein Vater und nickt zur Abwechslung einmal anerkennend. »Ihr Vater und ihre Mutter waren das ebenfalls.« »Also war es zu der Zeit gang und gäbe, dass man seinen eigenen Bruder heiratet«, schlussfolgere ich. »Das ist ja ekelhaft.« »Ekelhaft würde ich nicht gerade sagen, aber es war problematisch. Inzwischen wissen wir, dass dadurch Erbfehler und Krankheiten gehäuft auftreten. Ganze Herrscherhäuser auch in Europa sind auf diese Art dem Schwachsinn geopfert worden.« »Papa, du wolltest mir was über die Hatschepsut erzählen«, ermahne ich ihn. »Ja, ja«, gibt er zu und wirft einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, offensichtlich will er noch weg. »Der Legende zufolge, die zu Lebzeiten der Hatschepsut und anderen Pharaonen kräftig geschürt wurde, wurden die Herrscher von Amun, der obersten Gottheit, gezeugt. Höchstpersönlich! Dadurch galten sie ebenfalls als göttlich. Ihr habt euch doch bestimmt die Geburtenhalle in Der el-Bahri angesehen. Das mit der göttlichen Zeugung kann man glauben oder nicht. Die Menschen damals haben es geglaubt.« Papa grinst, geht ins Schlafzimmer und ich folge ihm. »Trotzdem
durfte die Hatschepsut nach dem Tod ihres Vaters nicht Pharaonin werden, denn nur ein männlicher Nachkomme konnte den Thron besteigen. Was tun, wenn kein Junge zur Welt kommen will? Man nimmt sich zu Lebzeiten mehrere Nebenfrauen und versucht mit denen sein Glück. Doch die Kinder von Nebenfrauen galten nicht als göttlich. Um dieses Dilemma zu beheben, verheiratete man die junge Hatschepsut mit ihrem Stiefbruder. Dadurch ging ihre Kraft auf ihn über und er erlangte die Legitimation zur Thronfolge. Die beiden hatten wiederum eine gemeinsame Tochter, Nofrure.« »Aha! War Nofrure das einzige Kind der Hatschepsut?« Papa nickt, zieht sich langsam und bedächtig an. »Was gibt es Besonderes über Nofrure zu berichten?«, versuche ich herauszufinden. »Nicht viel. Sie ist ein unbeschriebenes Blatt. Nach dem frühen Tod ihres Vaters wurde erneut der Sohn einer Nebenfrau zum Herrscher ernannt. Da dieser jedoch noch ein Kind war und die Amtsgeschäfte nicht übernehmen konnte, ließ sich die Königin Hatschepsut dazu überreden, die Rolle der vorläufigen Regentin zu spielen.« Papa grinst ironisch und natürlich ahne ich sofort, worauf er hinaus will. »Viele Darstellungen zeigen die Hatschepsut als Mann gekleidet, mit dem Bart des Pharaos und den Insignien der Macht.« »Sie war wenigstens gerecht und friedliebend. Das hat Kleo mir erzählt.« Inzwischen sitze ich nicht mehr, bin aufgestanden, stehe breitbeinig im Zimmer.
»Ich höre immer nur Kleo. Kleo hat das gesagt, Kleo hat jenes gesagt«, regt sich mein Vater auf. »Ist ja gut!«, beschwichtige ich, lasse jedoch nicht locker. »Was ich nicht verstehe, ist, warum sich die Angaben widersprechen, Kleo hat ... ich meine, manche behaupten, die Hatschepsut und dieser Stiefsohn hätten einträchtig regiert, andere wiederum schreiben, dass er ihren Namen aus der Pharaonenliste streichen ließ, als er Alleinherrscher wurde.« »Man darf eben nicht alles glauben. Es gibt zahlreiche Interpretationen, weil die Wissenschaftler nicht frei von Ehrgeiz und Meinungsmache sind.« »Kapier ich nicht.« »Brauchst du auch nicht«, erwidert mein Vater zuerst barsch, überdenkt dann aber seine Worte und fügt erklärend hinzu: »Es ist lange her, da gab es in Berlin einen ziemlichen Skandal um eine Doktorarbeit genau zu dem Thema, das du angeschnitten hast.« Papa legt eine Pause ein, beißt sich auf die Lippen, als müsse er darüber nachdenken, wie viel er mir erzählen darf. Endlich räuspert er sich: »Es ging um die Beziehung der Hatschepsut zu ihrem Stiefsohn und Neffen Thutmosis III. Damals behauptete eine junge Frau, eine angehende Doktorandin, es gäbe Schriftrollen, anhand derer bewiesen werden könnte, dass die beiden, Thutmosis und seine Stiefmutter, ein Paar gewesen seien. Im privaten wie im öffentlichen Bereich. Doch die vorgelegten Papyrusrollen erwiesen sich als
Fälschungen, die Doktorarbeit wurde abgelehnt. Das ist nichts Ungewöhnliches, ungewöhnlich war nur, dass kurze Zeit später ein mysteriöser Anschlag auf den für die Ablehnung verantwortlichen Professor verübt wurde. Ich war damals nicht mehr in Berlin, doch ich habe die Sache deshalb so genau verfolgt, weil es sich bei dem Professor um einen Freund von mir handelte.« »Und, wie ist er gestorben?«, hake ich nach, bin entsetzt und neugierig zugleich. »Wer sagt, dass er gestorben ist?« »Warum erzählst du mir das dann?« Enttäuschung liegt in meiner Stimme, bringt Papa zum Lachen. »Du sensationsgeiles Gör, ich erzähle dir die Geschichte, damit du siehst, dass in diesem Bereich viel gelogen und manipuliert wird. Und dass es oft um sehr viel Geld und um noch mehr Prestige geht. Zudem reagiere ich sehr empfindlich auf nicht zu beweisende Behauptungen, egal ob sie nun von so genannten Laien wie deiner Freundin oder von Möchtegernwissenschaftlern stammen.« »Aber Kleo kann trotzdem Recht haben.« Papa seufzt, verdreht die Augen himmelwärts. Typisch Papa. Jetzt ist er beleidigt, schaut an mir vorbei, weil er es nicht leiden kann, wenn ich das letzte Wort habe. Ich lache ihn aus, gebe ihm einen freundschaftlichen Schubs und trolle mich. Doch da hält er mich am Arm fest, durchforstet
mein Gesicht mit neugierigem Blick. »Hast du etwas von deiner Freundin, dieser Kleo, gehört? Mama hat angerufen und danach gefragt. Du sollst sie, falls du mal eine Sekunde Zeit erübrigen kannst, zurückrufen.« »Mach ich. Und du Papa, wenn du mal eine Sekunde Zeit hast, besorg mir bitte weitere Informationen zum Thema Hatschepsut und Co. Ich meine, neue Erkenntnisse, aktuelle Berichte, an die nur ein Insider drankommt. Mich interessiert alles.« »Warum?«, kommt die prompte Frage. »Da steckt doch mehr dahinter, das kann ich spüren.« »Papa«, zögere ich, dehne die Anrede und gebe schließlich zu. »Das Ganze hat was mit Kleo zu tun und mit ihrem Verschwinden. Und ehrlich, ich verspreche dir, dass ich dir mehr erzähle, sobald ich selbst durchblicke, aber im Augenblick geht das noch nicht. Kümmere du dich also bitte um Material, dann »Okay, ich höre mich für dich um«, unterbricht er mich mit gönnerhafter Miene, streckt mir beide Hände mit den Handflächen entgegen und ich schlage ein, als hätten wir beim Volleyball einen guten Schmetterball gelandet. Am nächsten Vormittag kriege ich endlich eine Verbindung mit Berlin. Unter der Verlagsadresse, die auf dem Kalender steht, den Kleo mir voller Stolz geschenkt und an dem sie
selbst mitgearbeitet hat, meldet sich eine Frau. Einfach ist das Gespräch nicht, wer rückt schon gerne Telefonnummern an Unbekannte heraus? Doch als ich ihr von Ägypten und Durchfall und Kleos schlechter Verfassung erzähle, bricht der Widerstand. Vor Aufregung zitternd wähle ich kurz darauf Kleos Berliner Nummer. Ich weiß, ich muss vorsichtig sein, schließlich spielt Frau Beer ein doppeltes Spiel. Wie erwartet meldet sich eine Frauenstimme, aber es ist nur die Putzfrau. Kurz angebunden und in gebrochenem Deutsch teilt sie mir mit: »Die große und die kleine Beer in Urlaub sind. In Ägypten, seit die fünfzehnte Juli. Zurück in zwei Wochen.« Kann das sein? Das würde ja bedeuten, dass Kleos Tante zeitgleich mit ihrer Nichte nach Ägypten geflogen ist. Ohne dass Kleo davon weiß. Na ja, gestehe ich mir ein, schließlich wurde Kleo auch in Hurghada rund um die Uhr beobachtet. Nicht nur die Männer, auch die Frau mit den großen Augen hat Kleo hinterherspioniert. Könnte das Maria Beer gewesen sein? Maria Beer, die an der Rezeption stand, an jenem Abend, als ich Kleo kennen lernte? Hat sie deshalb nicht mit Kleo geredet, um ihre Identität nicht preiszugeben? Und hat Kleo sich im Tempel der Hatschep-sut nicht erkundigt, wer sich in ihrer Nähe befindet? Kurz danach ist die Großäugige, als Touristin verkleidet, aufgetaucht. Das wäre ja ein Hammer. Um Klarheit in die Sache zu bringen, rufe ich meine Mutter in Hurghada an — und erfahre, dass Jojo angerufen
hat. »Was hat Jojo gesagt und weißt du, woher er angerufen hat? Kleo ist nämlich bei ihm, und wenn er in Sicherheit ist, dann ist sie es auch.« »Nein, dieser Jojo hat weder gesagt, wo er ist, noch wie es ihm geht. Auch von Kleo kein Wort. Könnte daran gelegen haben, dass die Telefonverbindung miserabel war. Er hat nur kurz nach deiner Adresse gefragt, sich bedankt und aufgelegt.« Plötzlich bin ich so aufgeregt, dass ich vergessen habe, was ich noch von meiner Mutter wissen wollte, doch dann fällt's mir wieder ein: »Hast du die Frau noch einmal gesehen, die manchmal an der Rezeption stand, die mit den großen Glubschaugen?« »Nein, die ist nicht mehr aufgetaucht. Aber Lisa hat mir einen Jungen gezeigt, mit dem du zusammen warst, sein Name ist Lars. Ja, Lars. Den habe ich mir vorgeknöpft. Eve, was ist los? Du hast den Jungen angelogen, hast ihm erzählt, du würdest nach Luxor fahren, und du hast auch mich angelogen. Ihr wart nachts in einem abgeschlossenen Treppenhaus, um nach Kleo zu suchen. Und weil du sie nicht gefunden hast, bist du nach Kairo gefahren, stimmt das?« Unfähig, einen Ton herauszubekommen, lasse ich sie weiterreden. Ihre Stimme ist laut, Besorgnis liegt darin. »Du hast immer gesagt, in diese Millionenstadt kriegen wir dich nicht. Und jetzt bist du nicht nur freiwillig hingefahren, du bist
auch den ganzen Tag unterwegs. Ich versuche pausenlos, dich anzurufen. Eye, bitte sag mir, was du unternimmst! Wo gehst du tagsüber hin?« »Ich fahre nur zum vereinbarten Treffpunkt«, rechtfertige ich mich. Bin nicht sicher, ob ich erleichtert oder sauer sein soll. Sie spioniert mir hinterher, misstraut mir. »Doch wenn Jojo jetzt meine Adresse und Telefonnummer hat, dann wird er sich melden. Ich werde also gar nichts mehr unternehmen, nur noch warten.« »Hörst du eigentlich nicht zu? Der Junge hat nicht nach deiner Telefonnummer gefragt.« Das ganze Gespräch über habe ich an meinen Fingernägeln gekaut, halte jetzt inne. Hat Jojo Angst, dass unser Telefon abgehört wird, frage ich mich. Entsetzt starre ich den altmodischen Hörer an. Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Wer sollte auf die Idee kommen, uns zu überwachen? Doch wenn, dann ist jedes gesprochene Wort zu viel. »Mama, ich muss jetzt Schluss machen. Leila wartet mit dem Essen auf mich und »Hör zu«, unterbricht mich meine Mutter, die meine Verheimlichungstaktik durchschaut hat, »ich werde mit deinem Vater reden. Du bleibst ab sofort zu Hause, versprochen?« »Versprochen!« Ich knalle den Hörer hin, tanze durchs
Wohnzimmer. »Jojo hat angerufen, Jojo hat angerufen. Endlich tut sich was.« Leila kommt aus dem Bad, schüttelt verwundert den Kopf, reißt die Augen neugierig auf. Doch auch wenn ich sie von Anfang an ins Herz geschlossen habe, von Jojo und Kleo mag ich ihr nichts erzählen. Aber ich erkläre ihr, dass ich dringend wegmuss, sie soll mir alle Telefonanrufe auf einen Zettel notieren. Wenn jemand an der Tür klingelt, aufmachen, festhalten. Am besten an einen Stuhl fesseln. Wir lachen beide, tanzen um den Tisch herum. Schnell haste ich in mein Zimmer, schreibe einen Brief für Jojo und Kleo. Am liebsten würde ich zu Hause bleiben, warten, an den Fingernägeln kauen, Kaugummi kauen, an Jojo denken. Doch ich habe mir etwas vorgenommen und das werde ich auch ausführen. Ich stehe an der Bushaltestelle, warte auf den Bus, der mich ins Zentrum von Kairo, zum Midan el-Tahrir bringen soll. Die Luft ist heiß und stickig, obwohl die Sonne von einer dicken Wolkenschicht verdeckt wird und ein leichter Wind die Galabiyas der umstehenden Männer wie instabile Zelte verbiegt. Direkt neben mir steht ein Junge, schätzungsweise zehn Jahre alt. Auf dem Kopf trägt er eine dicke Strickmütze, an den Händen Wollhandschuhe. Aber keine Jacke, keine Socken, nicht einmal Schuhe. Nur eine dünne Stoffhose, ein löchriges T-Shirt, dessen rechter Ärmel fehlt. Ich lache still vor mich hin. Dann fällt mir ein, dass dieser Junge womöglich zur Arbeit geht oder von der Arbeit kommt. Die Handschuhe, die Mütze sind möglicherweise Teil seiner Schutzkleidung. Mein Grinsen erstirbt. Ich habe noch nie gearbeitet, sieht man
einmal von Hausaufgaben und Klassenarbeiten ab, habe noch nie Hunger gelitten, habe mehr T-Shirts im Schrank, als ich anziehen kann. Ich könnte ihm fünf abgeben, fünf ohne Löcher, mit je zwei Ärmeln dran. Der Bus rollt heran und ich erkenne bereits von weitem, dass er nicht nur voll besetzt ist, sondern die Menschen zu einer dichten Traube vereint auch auf dem Trittbrett stehen. Sofort vergesse ich mein Mitleid, rüste mich für den Überlebenskampf. Der Bus bleibt stehen, ein paar Reisende steigen aus und ich dränge mich in die nicht erkennbare Lücke. So dicht neben Fremden zu stehen ist mir unangenehm, ich rieche ihren Schweiß, ihr billiges Parfüm, ihre Hektik und weiß nicht, wo ich mich festhalten soll. Am liebsten gehe ich zu Fuß, da bin ich mein eigener Herr, doch die Entfernung zum Ägyptischen Museum ist zu groß und ich bin spät dran. Um die Mittagszeit schließen sich die Pforten und ich muss vorher hineinkommen. Das Ägyptische Museum in Kairo bedeutet: sehr große, sehr hohe, künstlich beleuchtete Räume, die voll gestopft sind mit langen Glasvitrinen, unglaublich vielen Skulpturen in allen Größen und Spielarten, Terrakottascherben, Särgen, Masken und noch mehr Särgen, aber auch mit den sagenhaften Beigaben, die im Grab des Tutanchamun gefunden wurden. Die Frau an der Kasse sieht mich erstaunt an, als ich nach einer Eintrittskarte verlange. »We are closing in a few minutes«, gibt sie mir zu verstehen.
»I know, I know«, stimme ich ihr zu, winke wichtigtuerisch mit meinem Manuskript. »I have to do a five minute work.« Was ich Manuskript nenne, ist nicht viel mehr als ein knallroter Aktenordner mit ein paar karierten Seiten darin, auf denen ich alles Wissenswerte über die Königin Hatschepsut, Thutmosis III. und Nofrure zusammengetragen habe. Es kann kein Zufall sein, dass diese Namen als Aktennamen benutzt werden und ein hier arbeitender Prof. Pahl als Kontaktperson dient. Ich schau mir die Kassiererin genauer an, freue mich, dass sie gestern keinen Dienst hatte, und frage daher erneut nach Prof. Pahl. Und es ist nicht zu fassen, sie bittet mich Platz zu nehmen, schickt jemanden los, um Herrn Pahl zu holen. Doch der junge Mann kommt zurück, schüttelt bedauernd den Kopf. »Nicht im Büro«, flüstert er auf Englisch. Die Kassiererin fordert mich auf, meinen Namen und meine Adresse zu hinterlassen, schiebt mir ein Blatt entgegen. Das will ich aber nicht und deshalb murmle ich etwas Unverständliches und eile nach oben. Ich drücke mich nur ein bisschen in den Sälen mit den Königssärgen herum, und als ich sehe, dass mich niemand beobachtet, schleiche ich zur Damentoilette und klettere auf einen der Sitze. Meine Uhr geht sehr genau. Wenn es stimmt, was Papa gesagt hat, werden sie in exakt vier Minuten durchs Mikrofon durchsagen, dass bitte alle Besucher das Gebäude verlassen sollen.
Papa wurde fast eingesperrt, versehentlich, ich hingegen lege es darauf an. Dabei bin ich so aufgeregt, dass ich mir fast in die Hose mache. Nicht weiter schlimm, wenn man über einer Kloschüssel hängt, könnte man denken, ist aber trotzdem schlimm. Zur Beruhigung meiner Nerven kaue ich Kaugummi. Der Lautsprecher quietscht, eine Frauenstimme hüstelt, dann kommt die Durchsage. Erst in ägyptischer, dann in englischer und französischer Sprache. »Bitte verlassen sie die Räume, wir begrüßen sie gerne wieder um 14 Uhr.« Um mein Herz krampft sich eine Faust zusammen, ich bin im Begriff, etwas total Verbotenes zu tun. Aber schließlich, so tröste ich mich, ist es für einen guten Zweck. Die Tür zur Damentoilette fliegt auf, eilige Schritte hasten herein und ich erstarre. Das ist niemand vom Aufsichtspersonal. Ich habe nicht abgeschlossen und bete zu Gott, dass ... meine Tür geht auf und ich höre ein erschrecktes, piepsiges »Sony«. Ein kleines Mädchen guckt mich aus großen Froschaugen an, sieht mich wie einen Vogel auf der Kloschüssel hocken und beginnt zu kichern. Dann wird die Tür lautstark wieder zugeschlagen und die Kleine lässt sich auf dem Klo neben dem meinen nieder. Die Niagarafälle und ein erleichtertes Aufatmen erklingen. Während sie zieht, höre ich eine Frauenstimme rufen, die Außentür fliegt erneut auf, eine Frau und jemand vom Aufsichtspersonal reden hastig durcheinander und ich komme mir wie im Theater vor, nur
dass ich weder zu den Zuschauern noch zu den Schauspielern gehöre. Ich bin der unsichtbare und unwichtige Kritiker. Aus, aus, sage ich mir, die Kleine wird mich verpfeifen. Doch schon bald fällt die schwere Tür ins Schloss und um mich herum herrscht absolute Stille. Erleichtert atme ich aus, stelle meine Beine auf den Boden und mache erst einmal Pipi. Ich bin noch nicht fertig, als über mir das Licht ausgeht und ich die Augen aufreißen muss, um das Klopapier zu finden. Es ist keines da! Ich warte noch fünfzehn Minuten, bevor ich vorsichtig in den Flur hinausspähe. Alle Lichter sind erloschen, und da kein Tageslicht in die Räume fällt, ist es überall stockdunkel. Das Museum schläft, während die Menschen draußen ihren Freizeitvergnügungen nachgehen. Auf den Straßen wird gegessen, gerülpst, verdaut. Hier drinnen jedoch bin ich allein mit bis zu fünftausend Jahre alten Kunstgegenständen. Das ist ein berauschendes, ganz und gar neues Gefühl. So ähnlich muss es diesen Archäologen-freaks ergangen sein, als sie die ersten Königsgräber fanden. So ein bisschen was von ihrem Entdeckerfeeling spüre ich jetzt, da alle Gegenstände mir zu gehören oder wenigstens nur für mich herumzustehen scheinen. Da gibt es die allerkleinsten und allerfeinsten Skulpturen aus Jade oder Gold, daneben mächtige Kolossalfiguren, die menschengroß sind und einem gehörigen Respekt abverlangen, vor allem wenn man so allein unterwegs ist wie ich und regelrecht im Dunkeln tappt. Ich habe zwar eine Taschenlampe dabei, doch die will ich nur im äußersten Notfall einschalten.
Ohne Hast steige ich noch eine Treppe nach oben und stehe nun im zweiten Stock. Aus dem gestern gekauften Museumsführer weiß ich, dass von 120 000 Kunstwerken nur ein Drittel öffentlich gezeigt werden. Trotzdem sind die Flure, stellenweise auch die Treppen, mit altem Krempel, oder sagt man Exponate, voll gestellt. Vorsichtig schreite ich die Gänge ab, bleibe vor dem Mumiensaal stehen, drücke die Türklinke herunter. Die Tür ist verschlossen, wie zu erwarten war. Ohne Eile hole ich den Dietrich hervor, den ich im Keller des Hotels mitgenommen habe. Es stimmt nicht, dass ich bei Kaugummi an Jojo denken muss. Ich muss beim Anblick eines Kaugummis, eines Dietrichs, eines Treppenhauses, einer Sonnenbrille ... eigentlich ständig an ihn denken. Mein Magen zieht sich zusammen, doch weniger aus Liebeskummer denn aus Furcht. Was werden die hundert oder zweihundert Mumien dazu sagen, wenn ich sie in ihrer heiligen Ruhe störe, vorausgesetzt ich schaffe es, die Tür zu öffnen? Werden sie sich über meinen Besuch freuen? Richtig gestört wurden sie ja bereits vor langer, langer Zeit durch Grabräuber! Und regelrecht verschleppt zu Anfang des Jahrhunderts, als die Engländer und Franzosen nichts anderes zu tun hatten, als sie reihenweise auszubuddeln, zu begutachten, zu sezieren und zu »lebensverlängerndem« Pulver zu verarbeiten.
Fünf Ich stecke den Dietrich langsam ins Schloss, kontrolliere, ob ich beobachtet werde, erst dann drehe ich ihn um. Das
Türschloss knackt hörbar, doch öffnen lässt es sich nicht. Meine Hände schwitzen, ich muss sie an meiner Jeans abwischen und es erneut probieren. Diesmal halte ich den Dietrich ganz leicht in der Hand, wippe ihn wie eine Feder auf und ab, wie ich es bei Jojo gesehen habe, und stoße dann zu. Es knackt erneut und diesmal schwingt die Tür auf. Fast möchte ich schreien vor Erregung und Glück, aber nur fast, denn schließlich befinde ich mich an einer Art Friedhof und da soll man bekanntlich ruhig sein. Es riecht tatsächlich nach Tod und Verwesung. Staubige, abgestandene Luft schlägt mir entgegen und ich muss mehrmals laut niesen. »Entschuldigung«, flüstere ich hastig, dann fällt mir ein, dass hier ägyptisch gesprochen wird, und ich korrigiere mich, sage: »Pardon«, was modernes Ägyptisch ist. Grinsend gehe ich weiter, knipse die Taschenlampe an und versuche mich erst einmal zu orientieren. Ich suche nichts und doch spüre ich, dass ich einem Geheimnis auf der Spur bin. In sieben Reihen stehen die Sarkophage auf hohen Tischen, scheinen mich anzufeuern, näher zu treten. Die bunt bemalten Deckel sind teilweise entfernt worden und lehnen an den Seitenwänden, dicht an dicht wie ausrangierte Schränke. Manche sind riesig groß, sehen aus wie aus Stein gehauen, was dem Raum zusätzlich an Größe nimmt, ihn eng und gedrungen erscheinen lässt. Vorsichtig schließe ich die Tür, überlege mir, wie ich vorgehen soll. Ich habe fast zwei Stunden Zeit, doch plötzliche Unruhe drängt mich voran. Ich gehe zur ersten Reihe der Sarkophage und versuche die Namen der einzelnen Mumien zu entziffern. Dabei hüte ich
mich, in das Innere der Särge zu sehen. Das hebe ich mir auf, bis ich jemanden entdeckt habe, den ich kenne. Ich meine, ich kenne sie natürlich alle nicht, aber wenn ich den Namen Thutmosis I. lese, dann weiß ich zum Beispiel: Das war Hatschepsuts Vater. Ich gebe ja gerne zu, dass mein Wissen begrenzt ist. Vielleicht kann ich bei Gelegenheit trotzdem damit protzen. Der Druck auf meinen Magen nimmt zu, als ich meine Neugierde nicht mehr bezähmen kann und in einen offenen Sarg hineinlinse. Der Anblick ist nicht weiter schlimm, denn der Herr - ich lese schnell, mit wem ich es zu tun habe Herr Senthos ist bis zur Unkenntlichkeit bandagiert worden und gleicht eher einer Schmetterlingspuppe als einem Toten. Auf seinem Haupt liegt eine bunt bemalte Totenmaske, und auch das so genannte Totenhemd ist hübsch anzusehen. Mutig blicke ich jetzt der Reihe nach in die Särge, doch bald lasse ich das wieder sein, denn an manchen haben entweder die Ratten geknabbert oder sie sind schlechten Handwerkern, sprich Einbalsamierern, in die Hände geraten. Auf jeden Fall sind bei manchen Mumien die Bandagen beschädigt, hängen wie kleine Hautfetzen weg. Zusammen mit den Masken, die ihre Gesichter schmücken, gibt ihnen das ein äußerst gruseliges Aussehen. Endlich finde ich einen bekannten Namen, doch ich habe so wenig mit ihm gerechnet, dass ich regelrecht von den Socken bin. Hatschepsut steht da in kleiner, von Hand geschriebener Schrift. Der karierte Zettel wurde aus einem Notizblock gerissen und womit auch immer an den einfachen Holzsarg geheftet. Das sieht reichlich improvisiert aus, und
weil ich zudem weiß, dass man im Grab der Hatschepsut einen leeren Sandsteinsarg gefunden hat, bin ich erst recht neugierig. Der Holzsarg ist, im Gegensatz zu den meisten anderen, verschlossen. Ich überwinde meine Furcht und fasse den Deckel, probiere, ob er sich anheben lässt. Das tut er, doch er ist so schwer, dass ich die Taschenlampe auf dem Nachbarsarkophag ablegen muss, um beide Arme frei zu haben. Mit vor Aufregung zitternden Fingern stemme ich den Holzdeckel hoch, doch nun ist das Licht so schwach, dass ich nichts erkennen kann. Aber ich kann sie riechen. Sie riecht nach Kamille und Salbei und auch das ist komisch. Wurde sie frisch parfümiert, für ein Fest hergerichtet? Hastig klemme ich mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und gucke erneut in den Sarg. Welche Enttäuschung: Der Sarg ist leer. Meine Neugierde jedoch hat nicht nachgelassen. Der Reihe nach sehe ich mir die nächsten Sarkophage an. Entdecke den von Thutmosis I, Thutmosis II. Beide da. Fein säuberlich in bräunlich weiße Binden gewickelt. Jeder Finger einzeln, die Zehen ebenfalls. Bei den Sarkophagen von Thutmosis III. und Prinzessin Nofrure erlebe ich jedoch erneut eine Überraschung. Oder auch nicht. Auch ihre Särge sind verschlossen, der Tarnung halber, doch die darin zu vermutenden Mumien sind verschwunden. Dafür entströmt den Särgen ein Duft nach frischen Kräutern. Was sagt mir das? Nichts sagt mir das. Doch nun weiß ich, dass zwischen den nicht vorhandenen Mumien und den Akten im Hotel tatsächlich und zweifelsohne ein Zusammenhang bestehen muss. Bei den verwendeten Decknamen handelt es sich nicht um zufällig gewählte Namen. Die dazugehörigen Mumien
fehlen. Und zwar nur die! Was können drei Jugendliche mit den verschwundenen, mehr als dreitausend Jahre alten Mumien zu tun haben? Absurde Gedanken wildern durch meinen Kopf. Kann es sein, dass man die Mumien entfernt hat, damit die Särge frei sind? Für Kinder, die man entführen und über die Grenze schmuggeln will? Doch dazu kann man jeden beliebigen Sarg benutzen, es müssen keine alten Särge sein. Oder doch? Sarkophage gelten immerhin als heilig, als unantastbar! Solche Vermutungen bringen mich nicht weiter, stattdessen sollte ich lieber nach dem Verbleib der Mumien forschen. Vielleicht befinden sie sich ganz in der Nähe. Wo Särge sind, müssen auch Leichen sein. Wo sich ein frisch geschriebener Zettel befindet, erst recht. Also mache ich mich erneut auf die Suche. Gehe nochmals die Reihen der Toten durch, betrachte die Mumien eingehend, vergleiche die Namen, bücke mich unter Tische, öffne Schubladen. Keine herumliegenden Pharaonen zu entdecken. Doch im hinteren Teil des Raumes, hinter einem schweren, mit orientalischen Motiven bestickten Vorhang, entdecke ich zwei Türen. Verbindungstüren zu weiteren Sälen? Gut möglich. Beide aber verschlossen. Eine Hundenase wäre jetzt prima. Sie könnte mich dahin führen, wohin ich möchte, zu Mumien, die nach frischen Kräutern duften. Zwei Türen mit dem Dietrich zu öffnen wird seine Zeit dauern. Doch was soll's, ich muss es wenigstens probieren. Ich ziehe also erneut das mir lieb gewordene Werkzeug aus der Hosentasche, schließe die Augen und hauche einen zarten Kuss auf das kalte Metall. »Bitte, bitte, lieber Dietrich«, flüstere ich, »tu deine Arbeit gut
und schnell.« So ein kleines Stoßgebet kann nie schaden. Helfen tut es freilich nicht. Ich rackere mich ab, versuche es mit Feingefühl, schließlich mit Gewalt. Die Tür vor meinen Augen starrt mich finster an, stöhnt unter meinem Drängen. Ich versetze ihr einen wütenden Tritt mit dem Fuß und wende mich der nächsten Tür zu. Da erklingt ein ohrenbetäubendes Quietschen. Ein Quietschen, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Doch nur für wenige Sekunden. Dann drehe ich mich um, grinse erleichtert die sich langsam öffnende Tür an. Sie war gar nicht verschlossen, lediglich verklemmt. Doch die Enttäuschung überkommt mich so schnell wie vorhin die Freude, denn bei dem Raum handelt es sich lediglich um ein Materiallager. Ich gehe trotzdem hinein. Entdecke mannshohe Metallschränke, blitzblank poliert wie in einer Klinik, daneben einen großen Apparat, der sich bei näherem Betrachten als Röntgengerät herausstellt. Hier also werden die Mumien durchleuchtet. Neugierig öffne ich die Schränke, suche nach versteckten oder vergessenen Toten, doch das erweist sich alsbald als sinnlos. Außer Binden, Chemikalien und sterilem Operationsbesteck kann ich nichts Aufregendes entdecken. Entschlossen trete ich wieder in den Hauptsaal, stoße den ausgestreckten Fuß wie einen Rammbock gegen die zweite Tür. Nichts! Was soll ich machen? Ich muss es noch einmal versuchen, mit noch mehr Kraft. - Geschafft, die Tür springt auf. Ein hastiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch über eine Stunde Zeit habe. Nichts regt sich, also betrete ich gespannt den zweiten Raum und weiß sofort, dass ich hier richtig bin. Ich muss gewaltig niesen. Meine empfindlich
gewordene Nase beruhigt sich nur langsam, nimmt dann den Geruch von frischen Kräutern und Desinfektionsmitteln wahr. Ich befinde mich in einem Labor. Oder Operationssaal. Weiße Kacheln bedecken Boden, Wände und sogar die Decke. Hohe Metallschränke zu meiner Rechten, Tische mit Laborgeräten und Computerbildschirmen zu meiner Linken. Der Arbeitsraum von Medizinern und Chemikern. Der Schein meiner Taschenlampe huscht gespenstisch durch den Raum und endlich entdecke ich sie. Die, nach denen ich gesucht habe. Die Mumien liegen dicht nebeneinander auf kalt und unbequem aussehenden Operationstischen. Sie sind keimfrei abgedeckt mit grünen Leintüchern, aber eindeutig als menschliche Körper zu erkennen. Drei Stück an der Zahl, wie erhofft und erwartet. Trotzdem bin ich sprachlos. Sprachlos vor Angst. Und diese Angst hält auch an, als ich näher trete, den Zipfel des ersten Leintuches, des zweiten, schließlich des dritten anhebe. Alle drei Mumien sind nackt und diese Nacktheit lässt sie nicht mehr wie Mumien, sondern wie frische Leichen aussehen. Das ist ein Schock, mit dem ich nicht gerechnet habe. Rasch drehe ich mich um, will wissen, ob es irgendwo einen Lichtschalter gibt. Ich muss das Neonlicht anschalten, muss diesem Spuk aus blasser Haut und gespenstischen Schatten ein Ende bereiten. Und tatsächlich, als das helle Licht der Deckenlampen angeht, entspanne ich mich, hole tief Luft und bin fast wieder die Alte. Zittere nur noch ein bisschen und fühle mich stark genug, die Mumie, die mir am nächsten liegt, ganz zu entblößen. Wie mir die Beschriftung an ihrem Handgelenk verrät, handelt es sich um die Königin Hatschepsut.
Ich sehe eine vollständig nackte Frau mit schulterlangen, welligen rötlich schwarzen Haaren, die wie künstlich angeklebt wirken, weil sie so gut erhalten sind. Die Hände sind über dem eingefallenen Brustkorb gefaltet und der Zeigefinger der rechten Hand zeigt steil in die Höhe, als wolle sie mich für begangene Übertretungen tadeln. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken, mein Mund fühlt sich trocken und trotzdem schmierig an. Doch anstatt mich schnell abzuwenden, versuche ich jedes Detail zu erfassen, mir ihre Züge genau einzuprägen, als müsste ich sie später zu Papier bringen. Die Gesichtsform hat es mir besonders angetan. Fasziniert betrachte ich die stark hervortretenden Kieferknochen, die hohe Stirn, die lange, sehr schmale Nase, die ihr einen strengen, fast herrischen Ausdruck verleiht. Doch das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich ist alles Fett von ihren Rippen verschwunden und durch die ledrige, fleckige Haut sieht sie alt und ausgemergelt aus. Und trotzdem: Wenn sie die Augen aufschlagen würde, würde ich mich kein bisschen wundern, so lebendig und echt wirkt sie. Die Augen freilich wird sie nie mehr öffnen können, denn jemand hat sich die Mühe gemacht, sie fein säuberlich zuzunähen. Normalerweise wurden den Toten Zwiebelscheiben auf die Augenlider gelegt, damit diese sich schließen. Aber zunähen, wo gibt's denn so was? Ich nehme mir vor, Papa nach diesem Detail zu fragen. Von den angegebenen Tätowierungen, die meine Neugierde auf den Mumiensaal erst ausgelöst haben, kann ich nichts entdecken. Dass die Mumie nackt ist, finde ich ebenfalls rätselhaft. Doch
dann wird mir wieder bewusst, dass sie erstaunlich gut riecht, und ich nehme an, dass sie neu konserviert werden soll. Bald wird sie ihre neue Bandagierung erhalten. Ich betrachte noch einmal den traurig verkniffenen Mund, die langen, gewellten Haare und denke, sie war bestimmt einmal wunderschön. Und jetzt endlich weiß ich, was mich die ganze Zeit über bewegt: Sie erinnert mich in ihrer stolzen Schönheit an Kleo. Möglicherweise hat Kleo deshalb diesen Decknamen erhalten. Weil beide schön sind. Doch wie lassen sich die anderen Aktennamen erklären und warum stammen sie alle aus der unmittelbaren Umgebung der Hatschepsut? Ich wende mich den anderen Mumien zu, bemerke, dass auch ihre Augen zugenäht wurden, ihre Körper ansonsten aber unversehrt sind. Bei den beiden handelt es sich um Thutmosis III. und Nofrure, die Tochter der Hat-schepsut. Wie die erste Mumie, so sind auch diese beiden nackt, glänzen im Licht der Deckenlampe matt, als wären sie frisch eingeölt worden. Bei Thutmosis, der im Gegensatz zu den Frauen fast keine Haare mehr auf dem Kopf hat, fallen mir die goldenen Hülsen auf, die er an Finger und Zehenspitzen trägt. Und erst nachdem ich das Leintuch weiter anhebe, entdecke ich den vergoldeten Hoden-und Penishalter, der passgenau um seine Geschlechtsteile gelegt wurde. Ohne zu wollen muss ich lachen, reiße mich dann zusammen. Ich blicke unter die Tische, sehe Rollschränkchen mit Klemmen und Skalpellen, Operationsbesteck also, doch ich kann mir trotzdem keinen Reim darauf machen, warum ausgerechnet diese drei ausgepackt hier liegen. Warum wird gerade an diesen
Mumien herumbalsamiert und bandagiert? Da steckt doch ein Geheimnis dahinter. Plötzlich dringt in mein Bewusstsein, dass ich einen zusammengerollten Zettel im Sarg der Hatschepsut gesehen habe. Darauf könnte die Antwort auf diese Frage stehen. Ich verabschiede mich mit einer kleinen Verbeugung von den drei ehrwürdigen Toten, entschuldige mich für die Störung und gehe zurück in den Mumiensaal. Diesmal hebe ich den Deckel nicht nur an, sondern schiebe ihn zur Seite, schaffe Platz für meine Neugierde. Vorsichtig entnehme ich das Stück Papier, bei dem es sich eindeutig um ein modernes Schriftstück handelt. Ich will es gerade näher studieren, als ich höre, wie die Türklinke der Tür zum Flur heruntergedrückt wird. Mein Herz sinkt in die Hose oder noch tiefer, doch ich bin geistesgegenwärtig genug, das Papier unter meinem Pulli verschwinden zu lassen und den Deckel des Sarges zurechtzurücken. Leider ist es zu spät, um sich zu verstecken, das Licht der Taschenlampe hat mich verraten. Eine hohe Frauenstimme fragt in strengem Ton, der mich sehr an meine ehemalige Englischlehrerin erinnert: »Who are you?« Was soll man darauf antworten? Sie hat schließlich nicht gefragt: »Ist da jemand?« Denn darauf hätte man mit tiefem Schweigen antworten können. Nein, sie will wissen, wer ich bin. Die Höflichkeit gebietet es, sich vorzustellen. Ach verflixt, ich will nicht höflich sein und nichts. Mir steht das Wasser bis zum Hals, ich fühle mich in die Ecke gedrängt und
verängstigt, deshalb ziepe ich wie ein krankes Vögelchen: »My name is Eve, Eve Fell.« Augenblicklich geht das Licht an, ich werde von zwanzig Strahlern geblendet und ziehe erschreckt den Hals ein. He, nicht so toll, denke ich, das schadet den Mumien. Ich sage aber nichts, sondern stehe mit eingezogenem Hals wie ein auffrischer Tat ertappter Ladendieb neben dem offenen Sarg von Senthos und tätschele seine dreitausend Jahre alte Hand. Als ich begreife, was ich da mache, schreie ich entsetzt auf und wische mir die Finger an der Hose ab. Neben der Tür steht eine junge, etwas untersetzte Frau mit kurzen blonden Haaren und lächelt mich an. Lächelt mich an, wie man ganz bestimmt keinen Ladendieb oder Einbrecher anlächeln würde. Ich fasse wieder Mut. »Are you german?«, will sie wissen, und als ich vorsichtig nicke, weil ich nicht weiß, ob ich je nach Nationalität länger oder kürzer hinter Gitter muss, kommt sie langsam auf mich zu. Ihr Blick ist jedoch nicht auf mich gerichtet, sondern tänzelt aufmerksam hin und her, als wollte sie sich vergewissern, dass ich der einzige Eindringling bin. Als sie meine Angst spürt, ich weiche nämlich einen Schritt zurück, bleibt sie stehen und winkt mich zu sich heran. »Komm her, ich tu dir nichts«, sagt sie auf Deutsch. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur so, dass dieser Saal normalerweise abgeschlossen ist. Die täglichen Touristenströme würden die Mumien stark angreifen. Hast du dich verlaufen?«
»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß, weiß allerdings nicht, wie ich weitermachen soll. Nimmt sie wirklich an, der Raum wäre offen gewesen, oder ist das eine Falle? Ich beschließe es mit der Verdrehung der Wahrheit zu probieren und gebe zu: »Ich bin zu spät aus der Toilette raus, und als ich dann runterkam, war der Eingang bereits verschlossen. Ich habe gerufen, doch es hat mich niemand gehört. Dann ... dann fand ich es spannend, hier im Dunkeln herumzulaufen.« Mir fällt ein, dass sie das Licht meiner Taschenlampe gesehen haben könnte, und deshalb füge ich schnell hinzu: »Ich meine, ganz dunkel war's nicht, denn ich hatte zufällig eine Taschenlampe dabei. Aber es ist trotzdem gruselig hier, finden Sie nicht auch?« Ich lache ein albernes Lachen, setze ein denkbar unschuldiges Gesicht auf. Die Frau belohnt mich mit einem freundlichen Grinsen, sie scheint mir nicht zu misstrauen. Trotzdem beginne ich nervös an meinen Fingernägeln zu kauen. Gott verdammt, warum habe ich meine Kaugummis vergessen. »Suchst du nur den Nervenkitzel oder interessierst du dich wirklich für ägyptische Mumien?« Jetzt kommt sie endgültig näher, ich beiße und kaue immer stärker, zwinge mich aber dazu, stehen zu bleiben, nicht wegzulaufen. Schließlich habe ich nichts, fast nichts verbrochen. »Tja«, gestehe ich verlegen, »ich bin ein bisschen hin und her gerissen. Manches von dem alten Zeug finde ich toll und spannend, aber die Säle sind so voll gestopft, ich meine ... «
Ein helles Lachen unterbricht mein Gestotter. Die Frau steht nun unmittelbar vor mir, sieht absolut winzig aus, ist noch kleiner als meine Mutter. Neugierig, aber auch um das Gespräch nicht abreißen zu lassen, frage ich: »Sind Sie auch eingeschlossen worden?« Wieder lacht sie, lacht und lacht, als hätte ich den besten Witz aller Zeiten gerissen, ich, der Clown, der für die Pointen zuständig ist. Dann aber reißt sie sich zusammen. »Nein, ich arbeite hier. In der Mittagspause gehe ich selten essen, denn normalerweise ... normalerweise ist es hier dann wunderbar ruhig, zum Arbeiten wie geschaffen.« »Ich wollte Sie nicht stören, ich meine, ich war doch leise«, stottere ich. »Eben. Du warst zu leise, fast so leise wie eine Ein...« Prustendes Lachen unterbricht ihren Satz. Sie wiehert wie ein Pferd, kriegt sich kaum ein vor Lachen und haut mir begeistert auf die Schulter. Ich weiche aus, trete einen Schritt zurück. Nun ist mir die Lust an dem Gespräch endgültig vergangen. Diese Frau benimmt sich wirklich seltsam. Wie kann man inmitten von so vielen hochkarätigen und mausetoten Herrschern ein derartiges Spektakel veranstalten. Ich will hier raus, und zwar so schnell wie möglich, bevor sie einen weiteren Anfall bekommt. »Haben Sie einen Schlüssel?«, bedränge ich sie. »Können Sie mich herauslassen?« Als hätte sie mich nicht verstanden, greift sie nach
meiner Hand, führt mich zu dem nächstgelegenen Sarg. Es ist der von Thutmosis III. »Er ist mein Liebling«, sagt sie ohne jeden Zusammenhang und zeigt auf den verschlossenen Deckel. Die verschwommene Darstellung eines Pharaos ist darauf zu sehen, doch mehr auch nicht. Ich zucke verständnislos mit den Schultern. »Das liegt einfach daran, dass er so ein hübscher Kerl war und ich manchmal den Eindruck habe, so was gibt's heutzutage nicht mehr, oder bist du anderer Meinung?« Herrje, denke ich, meint sie den toten Greis, der im Nachbarzimmer liegt? Der war bestimmt mal hübsch, doch jetzt ist er tot, mausetot sogar. Braucht die einen Psychiater oder was? Woher soll ich wissen, wie Thutmosis aussah, bevor er zu lederharter Schuhsohle wurde? »Liegt er da drin?«, frage ich, um sie auf die Probe zu stellen. »Nein«, ist die ehrliche Antwort. Und weil ich meinen Kopf neugierig recke, erklärt sie mir: »Vor nicht allzu langer Zeit wurden Untersuchungen bei ihm und einigen anderen durchgeführt. Wir wollten wissen, an welchen Krankheiten die Pharaonen gelitten haben, wie alt sie geworden sind, woran sie gestorben sind. Aber bei den meisten konnte die genaue Todesursache nicht festgestellt werden.« »Ich habe vorhin gesehen, dass sich die Königin Hat-
schepsut, besser gesagt ihr Sarg«, korrigiere ich mich schnell, »auch hier befindet. In manchen Büchern steht, ihre Mumie wäre nie gefunden worden.« Überrascht reißt die Frau ihre hellblauen Augen auf, schnalzt mit der Zunge und stellt dann bewundernd fest: »Du hast dich informiert. Das finde ich toll! Die meisten kennen außer Tutanchamun keinen einzigen Pharao. Dabei zählt gerade die Hatschepsut zu den wichtigsten Pharaonen überhaupt. Sie war die erste Frau, die sich krönen ließ. Kommt in ihrer Bedeutung gleich nach ...« Sie wirft mir tausend Namen um die Ohren, bis mir ganz schwindlig ist. Zunächst nicke ich noch höflich, dann platzt mir der Kragen und ich frage: »Und was ist nun mit der Hatschepsut, wann ist sie gefunden worden?« »Die Hatschepsut?«, fragt die Blonde verdattert, lacht wieder ihr lautes Lachen. »Ja, die gute, alte Hatschepsut. Die, die ... ja, die ist schon vor fünfzehn Jahren entdeckt worden, im Tal der Könige, nicht weit von ihrem Grab entfernt.« »Sie meinen, nicht weit vom Terrassentempel entfernt«, unterbreche ich sie. »Wenn ich Grab sage«, belehrt mich die Blonde und wirkt nun wirklich wie ein Oberlehrer, die ja immer alles besser wissen, »dann meine ich auch Grab. Der Terrassentempel war zu ihren Ehren, als Heiligtum, erbaut
worden. Also, gefunden wurde sie in einem Massengrab, zusammen mit vielen anderen Pharaonen. Eine sehr interessante Persönlichkeit. Thutmosis III. war ihr Mitregent«, flötet die Blonde entzückt und wippt auf ihren Stöckelschuhen auf und nieder. Weil ich Angst habe, dass sie wieder vom Thema abschweift, werfe ich schnell die nächste Frage in den Raum: »Ist mit der Untersuchung ein deutsches Team beauftragt? Ein Herr Professor Pahl vielleicht?« Pause! Ihre rechte Augenbraue wandert nach oben, dann die linke. »Ja«, gesteht sie schließlich, grinst übertrieben freundlich, versucht mir erneut auf die Schulter zu klopfen, als hätte ich bei einem Wettbewerb den ersten Preis gewonnen. Doch dann versteift sie sich ein bisschen und, o Wunder, wird ganz höflich und sagt Sie zu mir: »Wieso fragen Sie, sind Sie vom Fach? Aber nein, unmöglich«, korrigiert sie sich selber, »Sie ... ich meine, du bist noch zu jung. Erzähl, was du in Kairo machst! Es ist doch sehr ungewöhnlich, dass du so alleine, ich meine, ohne Familie unterwegs bist. Oder hat dich deine Mama auf dem Klo vergessen?« Ich schlucke meinen Unmut herunter und erzähle ihr, dass ich in Kairo lebe und für die Schule ein Referat ausarbeiten will. Um die Lüge noch ein bisschen auszubauen, fahre ich fort: »Mein Vater hat mir aus einer Fachzeitschrift vorgelesen, dass ein deutscher Professor, ein gewisser Doktor Pahl, am Ägyptischen Museum arbeitet. Da, da dachte ich, es wäre einfacher, sich an jemanden zu wenden, der ... der
Ahnung hat und Deutsch reden kann.« »Das verstehe ich, das verstehe ich gut.« Die kleine Blonde grinst, zwinkert mit ihren hübschen hellblauen Babyaugen. »Worüber sollst du denn referieren?« Peng!, so eine einfache Frage. Hingeworfen wie ein achtloser Köder und ich weiß nicht, ob ich danach schnappen soll oder nicht. »Über ... über die Hatschepsut«, sage ich rasch, denn dieser Name hat sich nun einmal in meinem Kopf festgesetzt. »Fantastisch, fantastisch«, frohlockt sie und ich ärgere mich maßlos über meine Dummheit. Jetzt hat sie mich genau da, wo sie mich haben wollte. »Erlaube mir, dass ich dir helfe. Das ist genau mein Fachbereich. Nur leider ...« Sie wirft einen bedauernden Blick auf ihre Armbanduhr. »Leider habe ich jetzt keine Zeit. Kannst du morgen wiederkommen?« Ohne meine Antwort abzuwarten greift sie nach meinem Arm, plappert freundlich auf mich ein und zieht mich aus dem Raum. »Den morgigen Vormittag kann ich mir für dich freihalten«, schlägt sie vor, eilt voraus. »Und was ist mit Professor Pahl?«, bohre ich, denn ich will den Kniich unbedingt kennen lernen. Keine Ahnung, was mir das bringen soll, denn er wird mir ganz bestimmt nicht freiwillig erzählen, was hier los ist, doch er ist neben diesem Dr. Abdul Hassan meine einzige Spur. »Wir
werden
sehen«,
antwortet
die
Blonde
unverbindlich. »Komm einfach morgen Vormittag her, sagen wir um zehn Uhr. Ich hole dich im Foyer ab.« Inzwischen sind wir unten angekommen, sie scheint es plötzlich sehr eilig zu haben und ich gebe ihrem Druck bereitwillig nach. Sie schließt die Tür auf, blickt nervös nach rechts und links und schiebt mich dann hinaus. »Bis morgen«, raunt sie mir hinterher. »Ja, bis morgen«, antworte ich reichlich verwirrt. Zu spät fällt mir ein, dass morgen Samstag ist. Hat die Tante das bedacht? Auch ihren Namen hat sie mir nicht genannt, ich kann sie nicht einmal anrufen und fragen. Ich gehe noch mal zum Eingang zurück, doch das Tor ist verschlossen, die kleine Blonde verschwunden, als wäre sie ein Gespenst gewesen. Aber immerhin, ein Messingschild bestätigt mir, dass das Museum auch samstags geöffnet ist. Komische Tante, denke ich im Weggehen. Aber so merkwürdig sie auch sein mag, sie ist meine Eintrittskarte zu diesem Prof. Pahl und allein deshalb muss ich sie ertragen. Meine Hand tastet unruhig den Pullover ab, fühlt, ob das zerknüllte Papier noch sicher darunter verborgen ist, dann mache ich mich auf den Weg nach Hause.
Sechs Jojo und Kleo haben nicht angerufen. Jojo und Kleo sind nicht aufgetaucht. Überhaupt niemand hat angerufen. Auch Noa
nicht, der ich eine Nachricht hinterlassen hatte. Doch im Augenblick bin ich so aufgeregt, dass ich nicht Trübsal blasen kann. Leila muss begrüßt werden, daran führt kein Weg vorbei, doch dann verschwinde ich gleich in meinem Zimmer, schließe die Tür zu. Den ganzen Weg habe ich mit mir gerungen, ob ich das Papier herausnehmen und lesen soll. Doch da ich mich nie allein und unbeobachtet fühlte, habe ich meine Neugierde bezwungen. Jetzt ist es soweit. Ich falte den Zettel auseinander, beginne zu lesen: - Gewebeproben von H. entnommen, am 2. Mai an die Rosendorfer Klinik nach Berlin geschickt; Untersuchung ohne Ergebnis; - zweite Gewebeentnahme am 30. Juni (Hornhaut); erneut Kultur angesetzt; Untersuchung in einem Labor in Kairo; - Ergebnis vom 20. Juli: starker Befall mit Pilzsporen; Sporen sind in der Mumie nicht mehr aktiv: Es handelt sich um einen bisher nicht bekannten Pilz, der auf kein verfügbares Fungizid reagiert. Die Vermutung liegt nahe, dass er mit der Mumie konserviert wurde. Darunter befindet sich ein handschriftlicher Eintrag: Untersuchungen von Thutmosis III. und Nofrure zeigen Parallelen auf. In der Hornhaut konnten Pilzsporen nachgewiesen werden. Veröffentlichung nachzulesen unter www.epahl.de.
Es ist unbekannt, wie die Pilzsporen in die Probanden gelangen konnten. Ergebnisse müssen mit den Auswertungen von Dr. A. Hassan von der psychiatrischen Klinik Kairo verglichen werden. Die drei fugendlichen befinden sich in Ägypten, ursprünglich geplantes Treffen musste jedoch abgesagt bzw. verschoben werden. Neues, übergeordnetes Ziel: Verbreitung der Krankheit muss verhindert werden. Keine Unterschrift. Doch wegen der Internetadresse gehe ich davon aus, dass Prof. Pahl dahinter steckt. Wow, das ist ja ein Ding. Ich kann mein Glück nicht fassen. Dieses unscheinbare Papier ist fast so viel wert wie die Entdeckung des Überwachungsraumes. Ich lege mich auf mein Bett und denke nach. Drei Probanden. Proband klingt nach medizinischen Tests, nach Versuchskaninchen. Wer damit gemeint ist, lässt sich leicht erraten: Kleo, ihre Doppelgängerin und Jojo! Drei Personen, über die Akten geführt werden, drei Personen, die nach Ägypten gelockt und beschattet wurden. Tatsache ist ebenfalls, dass alle drei unter einer Augenkrankheit leiden. Und nun vermuten die Wissenschaftler, dass die Sporen, die in den Mumien gefunden wurden, die teilweise oder komplette Erblindung bewirkt haben. Plötzlich fällt mir etwas ein, ich springe auf, haste zurück zum Schreibtisch, lese den Bericht noch einmal durch. Ergebnis vom 20. Juli steht da. Keine Jahreszahl. Aber bestimmt handelt es sich um dieses Jahr. Das ist erst acht Tage her. Kurz danach wurde Kleo in den Keller
verschleppt und das mysteriöse Treffen abgesagt. Alles passt zusammen. Kein Wort davon, dass die drei betroffenen Jugendlichen Geschwister sein sollen. Warum nicht? Wie auch immer, das Ganze ist kein Zufall. Die Geheimnistuerei, die merkwürdigen Leute im Hotel, die dicken Akten, die ausgepackten Mumien, das alles hat einen gemeinsamen Hintergrund. Nach dieser Erkenntnis kommen gleich die Selbstvorwürfe: Ich hätte noch in Hurghada herausfinden sollen, welche Rolle die Großäugige spielt. Sie ist eine Schlüsselfigur, hat über alles Bescheid gewusst. Aber in Hurghada war ich ängstlich und zurückhaltend. Die Initiative ging von Jojo aus. Jetzt fühle ich mich kampfbereit. Und deshalb warte ich auch nicht, bis mein Vater nach Hause kommt, sondern schleiche ins Schlafzimmer, starte den Computer und wähle mich ins Internet ein. Unter der angegebenen Homepage finde ich einige Vermutungen bestätigt. Dieser Prof. Dr. Pahl beschäftigt sich mit experimenteller Biochemie und Molekulargenetik, hat zahlreiche medizinische Forschungsergebnisse veröffentlicht und arbeitet derzeit in Deutschland und Ägypten. Unter Neuentdeckung eines Pilzes kann man nachlesen, wie der genaue Aufbau ist, dass er auf den Namen Mu 63 getauft wurde und dass Rhesusaffen Anfang Juni damit infiziert wurden, nachdem ihre Immunabwehr künstlich gesenkt wurde. Daraufhin breitete sich der Pilz bei 80% der
Versuchstiere aus. Auswirkungen sind jedoch noch nicht bekannt, da der Versuch erst angelaufen ist. Ich verstehe nicht, wie bereits im Juni an den Affen herumexperimentiert werden konnte, lange vor dem offiziellen Ergebnis der Untersuchung. Auch bei der Angabe des Fundortes erlebe ich eine Überraschung. Genannt wird ein Gletscher in den französischen Alpen. Hier ist etwas oberfaul. Gespannt lese ich weiter, doch der Bericht wird derart wissenschaftlich und die Zusammenhänge so kompliziert, dass ich den Sinn nicht mehr erfassen kann. Dafür stoße ich auf einen Link, der mich zu der Website der Zeitschrift »Science« führt. Eine zwei Jahre zurückliegende Veröffentlichung befasst sich mit drei Versuchspersonen: ... Entwicklung der Probanden problematisch, da Augenentzündungen in allen drei Fällen aufgetreten sind. Bei Proband H. ist bereits die völlige, bei Proband N. die teilweise Erblindung erfolgt. Mit einer völligen Erblindung in naher Zukunft ist zu rechnen. Untersuchungen in der Klinik von Dr. Rosendorfer werden verstärkt. Die Ursachen der rätselhaften Krankheit werden in Ägypten vermutet. Ich finde noch mehrere Stellen, die Bezug auf drei sehr junge Probanden nehmen, doch die Informationen sind verschlüsselt oder unvollständig, in jedem Fall für einen Laien wie mich nicht zu verstehen. Ich verlasse die Seite und gebe den Suchbegriff »Retortenbabys« ein. Das ist nur so eine Idee von mir, doch
schließlich ist das Leben eine Kette von Zufällen. Vielleicht finde ich unter den angegebenen Namen der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, auch den von Dr. Pahl. Informationen über Informationen rollen vor meinen Augen ab. Ich lese, dass man in Amerika Kinder wie aus einem Katalog bestellen kann, indem man sich Leihmutter und Samenspender vorher aussucht. Intelligenz und Schönheit sind bei Samen- und Eispender die am häufigsten genannten Kriterien für die Auswahl. 2500 Dollar sind für ein Ei zu bezahlen, Samen gibt es fast umsonst. Über eine halbe Million Embryos liegen weltweit tiefgefroren in den Kühltanks, wurden künstlich gezeugt und nicht ausgetragen. Das ist die Vorstufe für geklonte Kinder. Retortenbabys sind längst out, hat unser Biologielehrer gesagt, in naher Zukunft wird man Kinder klonen. Da steht das Ergebnis von vornherein fest, nichts mehr wird dem Zufall überlassen. Noch während ich an diesem Gedanken kaue, durchzuckt mich eine ganz neue, noch viel erschreckendere Idee. Klonen bedeutet, dass der Zellkern einer beliebigen tierischen oder menschlichen Zelle in eine entleerte Eizelle gepflanzt wird. Dadurch erfolgt die genetische Reproduktion eines bereits existierenden Wesens. Was ist, wenn man das Erbmaterial einer dreitausend Jahre alten Mumie dazu verwenden würde? - Quatsch, denn es müssen lebende Zellen sein, und die einer Mumie sind bestimmt schon lange abgestorben. Aber haben sie nicht diese Pilzsporen gefunden, die die Zeit überdauert haben? Und hat sich Kleo nicht total
merkwürdig aufgeführt im Tempel der Hatschepsut? Kann es sein, dass ihr Körper eine Ahnung davon besitzt, dass er früher bereits dort war? Ich hole tief Luft. Wenn mein Gedankengang stimmt, wäre sie die Reproduktion der Hatschepsut! Das kann nicht sein, allein biologisch gesehen, und doch würde sich dadurch einiges erklären. Aber dann wäre Jojo identisch mit Thutmosis III.! Das darf und kann noch viel weniger wahr sein und deshalb verwerfe ich diese Gedanken so schnell, wie sie gekommen sind. Trotzdem läuft mir ein Schauer über den Rücken und noch einer und noch einer. Rasch verlasse ich den Computer, renne, fliehe in mein Zimmer und verkrieche mich in meinem Bett. Nasenspitze ins Kopfkissen, Decke bis über beide Ohren. Doch das hilft natürlich überhaupt nicht. Hatschepsut, Thutmosis, Nofrure geht es mir durch den Kopf. Da rennen drei ehemalige Pharaonen durch die Gegend und niemand bis auf eine Hand voll Wissenschaftler weiß davon. Und im Grunde weiß auch ich nichts, ich mutmaße nur. Mein Vater ist Wissenschaftler. Ob er von dieser Schweinerei weiß? Ich muss ihn fragen, ich weiß nur noch nicht, wie und wann. Entschlossen, mir selbst zu helfen, gehe ich zurück zum Computer, aber erst nachdem ich einen kleinen Abstecher in die Küche gemacht und mich mit Leckereien versorgt habe. Leila will wissen, was ich treibe, und nachdem ich sage, dass ich am Computer arbeite, wird sie neugierig, bearbeitet mich so lange, bis ich sie mitnehme. Das Suchwort »Klonen« bringt viel zu viele Ergebnisse.
Ich gebe stattdessen den Begriff »Menschenklon« ein, doch die Einträge sind immer noch zu umfangreich. Außerdem sind viele Einträge über Gentechnik. Mich interessiert aber nicht der Austausch einzelner Gene, sondern wie Klone hergestellt werden können. Geduldig arbeite ich mich durch einige Websites, doch wenn man nicht genau weiß, was man sucht, wird das Surfen zur Qual und bald schon jucken meine Augen zum Verrücktwerden. Doch immerhin, unter dem Begriff »Gentechnikkongress Köln« auf der »Ärzte2eitung«-Homepage und bei »Spiegel-Online« finde ich ein paar interessante Stellungnahmen. Auffallend ist der Unterschied der Standpunkte zwischen den Wissenschaftlern, die dem Thema eindeutig euphorisch gegenüberstehen, und den Journalisten, die auf Abstand gehen und die gentechnische Entwicklung kritisch hinterfragen. Ich überfliege die Schlagzeilen und die fett gedruckten Kommentare: Ein Leben ohne Sex Das Klonen ist die älteste Form der Vervielfältigung! Der Klonbegriff stammt vom griechischen Wort für Schössling, wurde später auf Mensch und Tier angewendet, die durch ungeschlechtliche Vermehrung entstanden, natürliche Variante: eineiige Zwillinge und Drillinge künstliche Variante: im Labor gezeugt und durch Leihmutter ausgetragen
Was war los in Nazareth? Jungfernzeugung bei Jesus? Maria = erste Leihmutter? Jesus = erster nicht Zwillings-Klon? Neue Kasten werden entstehen: Die Kaste der »Gen-Reichen« und die Kaste der »Natürlichen« Der Markt bestimmt die Wissenschaft, behauptete E. Silver von der Princeton University bereits im Jahre 2000. Reiche Gesellschaften werden viel Geld investieren, um ihre Kinder aufzurüsten. Endlich scheint der Gebärneid der Männer überwunden! Aber mit der serienmäßigen Homo-Sapiens-Produktion wird auch die Notwendigkeit der sexuellen Vermehrung verschwinden und als neues Ziel könnte am Ende des »Wunschtunnels« die Abschaffung der Geschlechter schlechthin stehen. Ein Zwitterwesen wird entstehen, nicht weiblich, nicht männlich, in sich zerstritten oder auch nicht, nach außen hin farb- und geschmacklos. Die Reparaturwerkstatt Therapeutisches Klonen. Klone können als Ersatzteillager � für ihre Besitzer dienen! � 2 Millionen Dollar sind nötig, um den ersten Menschen zu � klonen. � Weil wir unsere Gesellschaft nicht in den Griff kriegen,
behaupten wir, alles sei eine Sache der Gene. Das Schulversagen der Jugendlichen, die Gewalt und die Drogen, die Sinnlosigkeit, unter der so viele leiden. Wie Genforscher Whitfield auf der AAAS festlegte: »Ich träume von einer Welt, in der es nur positive Gene gibt.« Klingt irgendwie beängstigend, finde ich, wobei ich persönlich gegen ein paar »nette Gene« nichts einzuwenden hätte. Ich versuche noch einen Blick auf die Website meines Vaters zu werfen, doch ein Baustellenschild erscheint und so muss ich entnervt aufgeben. Leila lacht über mich, behauptet, ich würde wie ein Frosch aussehen, mit meinen roten, verquollenen Augen. Ich soll doch den komischen Fernseher ausschalten, der Film wäre langweilig. Da lache auch ich und beschließe für heute Schluss zu machen. Es ist sowieso äußerst unwahrscheinlich, dass ich auf konkretes Material stoße. Ich brauchte dringend jemanden, der mehr Ahnung von Biologie hat und mir bei der Sache weiterhilft. Aber ich kenne niemanden, dem ich vertrauen könnte. Ich werde mich direkt an Prof. Pahl wenden müssen. Als Erstes werde ich ihn fragen, was ein Biochemiker in einem Museum verloren hat.
Sieben �
Es ist mitten in der Nacht, ich bin im Wohnzimmer eingeschlafen, als ich durch das Knacken der Wohnungstür erwache. Ich bin schweißgebadet, muss schlecht geträumt haben. Mein Vater rumpelt durch den Flur, ich höre eine Tasche auf den Boden donnern, höre Kleiderbügel, die gegeneinander geschoben werden, dann ist es ruhig. Papa ist im Klo verschwunden und es dauert lange, bis er zu mir ins Wohnzimmer kommt. Ich hatte den ganzen Abend Zeit, darüber nachzudenken, was ich ihn fragen soll, wie viel ich von meinem Wissen preisgeben darf, doch ich habe die Zeit nicht genutzt. »He, noch wach?« Klar bin ich wach, sonst könnte ich ihn nicht sehen, nicht hören, nicht antworten. »Ich habe auf dich gewartet. Musst du immer so lange arbeiten?« »Oha, spielst du die beleidigte Ehefrau, die ihren Mann zur Rede stellt? Ja, ich musste so lange arbeiten.« »Das sagen sie immer, die Männer.« »Das tun sie auch immer, die Männer! Sie arbeiten hart, damit kleine, verwöhnte Mädchen wie du einen Fernseher, Nagelack, neue Klamotten, was zum Beißen haben.« »Du arbeitest nur für mich?«, frage ich und grinse zum ersten Mal. Er ist so süß, wenn er sich aufregt und mich richtig ernst nimmt. »Ja, ich habe für dich herumtelefoniert und einiges
herausgefunden.« Ich auch, will ich sagen, schließlich bin ich stolz auf meine Leistung, doch dann schweige ich, blicke ihn nur gespannt an und stelle meine Ohren auf Empfang. »Erzähl!« »Langsam, ich muss erst was essen.« »Jetzt noch?«, frage ich empört. »Du bist verrückt! Denk an deine Figur und denk daran, dass ich ins Bett muss. Bitte, mach's nicht so spannend.« Mein Vater kommt grinsend näher, lässt sich neben mich aufs Sofa fallen, guckt aber nicht mich, sondern das Fernsehbild an. Ich schnappe mir rasch die Fernbedienung, schalte aus. Beuge mich zu ihm rüber und zwinge ihn, sich auf mich zu konzentrieren. »Also gut«, beginnt er, »ich habe den halben Tag mit Berlin telefoniert. Mit ehemaligen Kollegen vom Institut, mit Leuten aus der Redaktion, mit allen möglichen Wissenschaftlern, die sich in den letzten Jahren mit Archäologie beschäftigt haben. Du oder deine Freundin Kleo, ihr seid auf reines Dynamit gestoßen.« Ich sage nichts, versuche mir die innere Erregung nicht anmerken zu lassen, cool zu bleiben. »Wahrscheinlich weißt du mehr als ich, du Schlitzohr«, grunzt er prompt, fuchtelt mit erhobenem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum. »Du hast Mama und mich an der Nase herumgeführt, denn du weißt Dinge, von denen ich erst heute erfahren habe.«
Beleidigt sieht er aus und müde. Ich greife an seinen Hals, lockere die Krawatte, die ihm schief vor der Brust hängt, will ihn beruhigen und dazu ermutigen, weiterzuerzählen. »In den letzten Monaten und Wochen wurden verstärkt Mumien untersucht«, sagt er endlich, »nachdem das Thema jahrelang als ausreichend erforscht galt. Die Dinger haben mich nie sonderlich interessiert, muss ich zugeben, aber so wie es aussieht, haben die Molekulargenetiker die Mumien für sich entdeckt und die Erlaubnis erhalten, an ihnen herumzuexperimentieren.« »He, was sind Molekulargenetiker?«, frage ich. »Die befassen sich mit den biochemischen Substanzen, die bei der Vererbung eine Rolle spielen. So genau weiß ich das auch nicht. Leider konnte ich weder die genauen Namen der untersuchten Mumien noch Sinn und Zweck der Untersuchungen oder vorläufige Ergebnisse erfahren.« Mein Vater stöhnt laut auf. »Dazu reichen meine Kontakte nicht aus, doch ich weiß, dass sowohl deutsche als auch englische und ägyptische Wissenschaftler an diesen Untersuchungen beteiligt sind. Ansonsten ist da absolute Geheimhaltungsstufe angesagt. Wie also bist du auf dieses Thema gekommen und was hat deine Freundin damit zu tun?« Enttäuscht starre ich ihn an. Ist das alles?, will ich fragen. Sind das deine ganz tollen Erkenntnisse? Doch dann komme ich zu dem Schluss, dass mein Vater mir zwar nichts Neues, erst recht keine Beweise zu bieten hat, doch dass sich seine Informationen mit meinen decken und das ist doch
immerhin etwas. Das Reizwort Molekulargenetik ist gefallen und das könnte bedeuten, dass ich auf der richtigen Fährte bin. Verlegen schlucke ich. Letzte Chance, darüber nachzudenken, wie viel ich verraten darf ohne zu riskieren, dass er mich morgen Früh hier einsperrt. Zunächst erzähle ich, wie ich Kleo und Jojo kennen gelernt habe, woher sie kommen, warum sie aus Hurghada fliehen mussten und dass möglicherweise ein Treffen zwischen den vermeintlichen Geschwistern geplant war. Papa winkt ab, vieles hat er bereits von meiner Mutter erfahren. Er will wissen, warum wir im Keller waren. »Um Kleo zu suchen, ist doch klar«, antworte ich etwas barsch und erzähle so undramatisch wie möglich von ihrer Befreiung. Dass Jojo ebenfalls eingesperrt und betäubt war, lasse ich unter den Tisch fallen, das würde die Sache nur verkomplizieren. Von der ebenfalls blinden Nofrure allerdings muss ich ihm erzählen, denn ich möchte, dass er mir hilft, ins Krankenhaus der Universität zu gelangen, und wenn möglich soll er Kontakt zu dem Leiter der psychiatrischen Klinik, Dr. Hassan, aufnehmen. Er könnte ja ein Interview vortäuschen. Erleichtert atme ich aus, als er mir seine Hilfe zusichert. Ich will zwar nicht alles verraten und nicht alle Fäden aus der Hand geben, doch es tut verdammt gut, nicht mehr ganz allein dazustehen. »Woher kommt dein Interesse am Mumiensaal?«, bohrt mein Vater weiter.
»Weil Kleo sich im Tal der Könige so merkwürdig verhalten hat«, lüge ich mehr oder weniger geschickt, vermeide es, direkt auf seine Frage einzugehen. »Sie wusste Dinge, die sie normalerweise gar nicht wissen konnte.« »Nun ja, sie wird sich gut vorbereitet haben«, gibt mein Vater zu bedenken. »Ja«, murmle ich müde. »Du musst mir noch sagen, wie es deiner Meinung nach weitergehen soll. Was wollt ihr machen, wenn Kleo und Jojo morgen hier auftauchen, und wie stellst du dir das mit Nofrure vor? Du mischt dich in Dinge, die nicht nur eine, sondern hundert Nummern zu groß für dich sind. Um es drastischer auszudrücken, du spielst mit dem Feuer, ohne zu ahnen, dass du auf einem gigantischen Pulverfass sitzt.« »Halb so schlimm«, besänftige ich meinen Vater, schiebe ihn Richtung Badezimmer. Es ist zehn Uhr. Ich stehe in der Eingangshalle des Ägyptischen Museums, lächle und warte. Es ist zehn Uhr dreißig und ich warte immer noch. Jetzt sieht mein Gesicht bestimmt nicht mehr freundlich und gelassen aus. Ich bin sauer, denn Warten gehört zu den Dingen, die ich am allerwenigsten kann. Dabei ist es nicht schwer. Mit etwas Humor betrachtet muss man beim Warten nichts tun, außer herumzustehen. Aber genau das ist mein Problem. Ich kann nicht herumstehen ohne zu denken. Ich denke zum Beispiel: Soll ich weiterwarten oder soll ich die Blonde ausrufen lassen?
Leider kenne ich weder ihren Namen noch ihr Aufgabengebiet. Soll ich eine Nachricht hinterlassen, oder ...? Ich beschließe, meinen letzten und einzigen Trumpf auszuspielen, trete an die Kasse und frage den mir unbekannten jungen Mann, wo ich Prof. Pahl finden kann. Er blickt mich verwundert an, mustert mich kritisch. An seinen zusammengezogenen Augenbrauen merke ich, dass er einen Augenblick lang nachdenkt, dann rümpft er die Nase wie zum Zeichen, dass ihn die Geschichte nichts angeht, und schickt mich in den ersten Stock. Ich bedanke mich, eile davon. So als müsste ich die versäumte Zeit aufholen, fliege ich nach oben, nehme zwei Stufen auf einmal und spüre, wie gut es tut, aktiv zu sein. Ich habe den oberen Treppenabsatz gerade erreicht, als die Tür neben mir aufgeht und die kleine Blonde heraustritt. Sie hat mehrere Bücher unter dem Arm, eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase und wirkt zerstreut. Ich strahle sie erkennend an, strecke ihr sogar die Hand entgegen, doch sie zuckt wie vor einer Hühnerkralle zurück. Ungeduldig schüttelt sie den Kopf, als wolle sie mich, einer lästigen Fliege gleich, verscheuchen. Als sie mein beleidigtes Gesicht sieht, zwingt sie sich zu einem schmalen Lächeln. »Ach, du schon hier«, begrüßt sie mich. Sie hüstelt, dreht sich nervös hin und her und scheint zu überlegen, wohin sie mit mir soll. »Am besten, wir gehen runter in die Bibliothek«, seufzt sie. Seufzt wie jemand, der starke
Schmerzen hat und dem alles zu viel ist. Mir fällt der Name Pahl wieder ein und dass er vielleicht hinter dieser Tür mit dem Schild »Auditorium - no ent-rance« zu finden ist. Aufgeregt lege ich los: »Wissen Sie, ob HerrPa...?« Ich werde unterbrochen, ein Flügel der Doppeltür schwingt auf und ein großer, sehr hellhäutiger Mann mittleren Alters steckt den Kopf heraus. Mein Herz bleibt stehen und ich beobachte fasziniert, wie er auf uns zukommt, ein Blatt Papier in der Hand schwenkend, das er der kleinen Blonden reicht. »Schön, dass Sie noch hier sind«, sagt er auf Deutsch, aber mit deutlichem Akzent. »Sie haben diesen Notizzettel vergessen, Frau Doktor Pahl.« Er überreicht der Blonden das Papier, nickt uns freundlich zu, dann verschwindet er wieder hinter der Tür. Ich möchte nicht wissen, wie ich in diesem Moment aussehe, aber ich komme mir wie ein kompletter Idiot vor. Nein, wie ein verschrecktes, idiotisches Kaninchen, das einem großen, bösen Wolf zum Frühstück serviert wird. Dabei ist gar nichts Schlimmes passiert, außer dass ich jetzt endlich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Das also ist der gefiirchtete, mit Menschenleben jonglierende Herr Prof. Pahl. Eine Frau. Eine sehr jung aussehende, sehr unschuldig wirkende Frau. Blass ist sie geworden, anscheinend wollte sie mir ihren Namen nicht so bald verraten, doch sie fängt sich schnell, nimmt die dunkle Brille ab und putzt sie gedankenverloren an
ihrem Ärmel. »Komm, lass uns gehen«, winkt sie mir zu und mir fällt auf, dass sie heute meine Nähe meidet. Wortlos folge ich ihr, mustere sie aus den Augenwinkeln, versuche herauszufinden, was es mit dieser Lügnerin auf sich hat. Dass sie ihre wahre Identität vor mir verheimlichen wollte, beweist doch, sie hat irgendetwas zu verbergen oder ist verrückt. Verrückt ist sie auf jeden Fall. Wie sonst kann sich ein Mensch derart verändern. Gestern war sie aufgekratzt und albern, heute wirkt sie nervös und griesgrämig. Im Schneckentempo schleichen wir durch den Gang, eine Treppe hinunter, und immer wieder greift sie Halt suchend nach dem Geländer. Als hätte sie Mühe, die Stufen vor sich zu erkennen. Da endlich kapiere ich es: Sie sieht nicht gut! Gestern ist mir das nicht aufgefallen, doch heute ist es eindeutig. Sie trägt die dunkle Brille, um eine Sehbehinderung zu kaschieren. Bin ich denn nur von blinden Maulwürfen umgeben? Mir wird heiß und kalt zugleich und ein schrecklicher Gedanke schleicht sich in mein Bewusstsein: O Gott, hat sie sich durch ihre Arbeit an den Mumien angesteckt und werde ich die Nächste sein? Ich habe die Mumien zwar nicht berührt, aber die Leintücher, unter denen sie lagen. Vielleicht reicht es auch schon aus, die Atemluft im Labor einzuatmen. Eine Sekunde später fällt mir der Bericht mit den Rhesusaffen ein. Nur achtzig Prozent von ihnen erkrankten und erst nachdem ihre Immunabwehr künstlich gesenkt wurde. Ist das nicht eine verdammt gute Nachricht? Schließlich bin ich viel widerstandsfähiger als Rhesusaffen, fühle mich sogar topfit. Ein Zeitungsartikel fällt
mir ein: »Selbst sekundenlanges Lächeln steigert die Abwehrkräfte.« Mit einem schiefen Lächeln im Gesicht versuche ich mich zu entspannen und meine Ängste zu vergessen. Wir haben endlich das Erdgeschoss erreicht und je näher wir dem angestrebten Ziel kommen, desto schneller und selbstsicherer wird Frau Pahl. Als wir uns an einem der kleinen Tische in der Bibliothek gegenübersitzen, ist sie fast wie gestern. »Ich habe leider nicht so viel Zeit, wie ich dachte«, beginnt sie das Gespräch und nestelt nervös an ihrem Kopftuch herum. »Ich habe heute erfahren, dass mein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird und deshalb werde ich bald abreisen müssen. Es tut mir sehr Leid, aber du wirst verstehen, dass ich vor meiner Abreise noch einiges zu erledigen habe.« Enttäuscht ziehe ich die Nase kraus, atme den muffigen Geruch von verstaubten Büchern ein. »Wann fahren Sie denn?«, erkundige ich mich, schaue mich um, ob uns jemand zuhört, doch bis auf einen hageren Mann hinter der Ausleihtheke ist niemand zu sehen. »In ein, zwei Wochen«, erklärt sie und hüstelt verlegen. Das käme einem Rauswurf gleich. Bei einem Arbeitsvertrag, das weiß selbst ich, muss eine Kündigungsfrist eingehalten werden. »Sie fahren nach Berlin«, stelle ich fest. Es ist keine
Frage. Berlin - Kairo, zwischen beiden Städten scheint es eine rege Zusammenarbeit zu geben. »Nein, Erlangen«, stammelt sie. »Ich bin ...« Und nun lacht sie wieder so wie gestern, ganz verrückt und dem Anlass nicht entsprechend. »Ich war eine Leihgabe der Universität Erlangen.« Das sagt mir nun gar nichts, doch ich bin nicht bereit, so schnell aufzugeben. »Die Universität Erlangen arbeitet mit der RosendorferKlinik eng zusammen und deshalb sind Sie oft in Berlin«, tippe ich erneut und diesmal habe ich ins Schwarze getroffen. Ihr Gesicht wird noch eine Spur schmaler. »Ja, ja«, gibt sie stotternd zu und dreht sich nun aufgeregt nach allen Seiten um, als fürchte sie Zuhörer. »Aber warum interessiert dich das so sehr?«, fährt sie mit kindlicher Stimme fort. »Ich dachte, dir geht's um ein Referat. Hier in der Bibliothek findest du genug Material, und falls du noch Fragen hast, kannst du dich an Herrn Dreve wenden. Das ist der Mann, der vorhin aus dem Auditorium kam. Er ist Niederländer, spricht aber ausgezeichnet Deutsch.« Schon will sie aufspringen und gehen, doch ich kann nicht anders. Ich nehme all meinen Mut zusammen, greife nach ihrem Arm und halte sie fest. Deutlich spüre ich ihre Unsicherheit. Das ist meine Chance, ihr ein paar Geheimnisse zu entlocken. Und ich will nicht wieder den gleichen Fehler machen wie in Hurghada, wo Zurückhaltung mich vom Fragen abhielt.
»Bestimmt arbeiten Sie auch mit der Universität von Kairo zusammen. Kennen Sie den Leiter der psychiatrischen Abteilung, Doktor Abdul Hassan?« Jetzt ist es heraus. Spätestens jetzt weiß sie, dass mehr hinter meinen Fragen steckt. Ich lasse ihre Hand los, denn als sie den Namen hört, fällt sie wie ein Hefeteig in sich zusammen. »Liebes Kind«, haucht sie erschreckt, »du weißt nicht, wovon du sprichst.« Ihre letzten Worte sind gezischt, wie unter großer Anstrengung hervorgestoßen. Doch vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, denn kurz darauf setzt sie sich wieder kerzengerade hin, beginnt ohne jeden Grund zu lachen. »Ach, es gibt so viele gute Mediziner in der Stadt«, kichert sie. »Man kennt sich, doch lang nicht so gut, dass man alles übereinander weiß.« »Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sage ich mit vor Wut erstickter Stimme. »Sie haben mir gestern Ihren Namen nicht umsonst verschwiegen. Bestimmt kennen Sie Kleo und Jojo? Welche Verbindung besteht zwischen ihnen und den Mumien? Und was haben Sie als Biochemikerin, die sich mit Zellforschung beschäftigt, hier im Museum zu suchen?« Ich warte, doch sie presst den Mund nur noch fester zusammen, starrt mich hinter dunklen Brillengläsern an. »Wenn Sie schon nicht reden wollen, müssen Sie mir wenigstens helfen. Sie sind der einzige Mensch, der weiß, was los ist und warum die beiden beobachtet werden.« Statt Druck auf sie auszuüben, komme ich mir vor wie eine jammernde Bittstellerin. Als hätte sie meine Worte nicht verstanden, setzt sie ein
höhnisches Lächeln auf und sagt: »Ich wünsche dir viel Glück bei deinem Referat. Aber wenn du mich fragst, solltest du lieber nach Deutschland zurückfliegen. Die Schulen sind dort besser. Schöne Grüße an Frau Hofheinz. Übrigens, wenn du Jojo siehst, sag ihm, dass er sich in seinem eigenen Interesse in der Klinik melden soll. Auf Wiedersehen.« Mit einer linkischen Handbewegung verabschiedet sie sich, lässt mich blass und mit einem flauen Gefühl im Magen zurück, von dem ich nicht weiß, ob es Wut oder Angst oder Hass oder ein Cocktail aus allem zusammen ist. Ich schaue ihr nach, bemerke, dass ihre weiße Hose hinten eingerissen ist, als wäre sie über einen Zaun geklettert oder in eine Schlägerei geraten. Beides erscheint mir unwahrscheinlich, doch ich stecke diese Beobachtung zu den anderen Puzzleteilen, um sie später zu einem Bild zusammenfügen zu können. Ja, später! Später will ich das, was ich gerade gehört habe, verarbeiten, jetzt bin ich einfach zu kaputt dazu. Was Frau Pahl mir nämlich zuletzt zugeraunt hat, lässt meine Knie immer noch zittern, das war eindeutig eine Warnung. Eine ernst zu nehmende Warnung. Frau Hofheinz ist meine Klassenlehrerin. Und ich bin sicher, dass ich ihren Namen während der Ferien kein einziges Mal erwähnt habe. Dass Frau Pahl so gut über mein Privatleben Bescheid weiß, zeigt, dass sie in der Lage ist, alle Informationen über mich einzuholen, die sie braucht. Und noch etwas wird mir schmerzlich bewusst: »Wenn du Jojo siehst ...«, hat sie gesagt, »sag ihm, dass er sich in seinem eigenen Interesse in der Klinik melden soll.« Warum hat sie
Kleo nicht erwähnt' Auch meine Mutter hat kein Wort über Kleo gesagt. Haben sie sie erneut entführt? »Mist, Mist!«, schimpfe ich laut. Ich habe mich total blöd angestellt. Ich habe nichts, aber auch gar nichts herausgefunden. Keine einzige meiner Fragen hat sie wirklich beantwortet. Benommen, aber auch mit einer neuen Wut und Entschlossenheit im Bauch, trete ich auf die Straße und atme tief durch, als wollte ich neue Kraft in meine Lungen pumpen. Wieder einmal komme ich mir einsam vor, ausgesetzt auf einem Planeten, den ich nicht kenne, verstrickt in eine Geschichte, die nicht meine ist. Vor mir dreht sich das bunte Verkehrskarussell, tausend Geräusche und Gerüche stürzen auf mich ein, doch heute macht mir das nichts aus. So kann ich die vielen Fragen, die mir durch den Kopf geistern, besser überhören. Umständlich beginne ich in meinem Rucksack zu kramen, hole den Geldbeutel hervor und zähle die ägyptischen Lira, die Papa mir heute Morgen hingelegt hat. Rasch überlege ich, was ich mir kaufen soll um mich abzulenken. Ich beschließe mich erst einmal durch die Straßen treiben zu lassen. Und nebenbei werde ich an jedem Bäckerladen anhalten und mich mit so vielen Leckereien eindecken, dass ich den ganzen Nachmittag davon zehren kann. Kaugummi ist endgültig out. Doch dann kommt alles anders, ich habe noch kein einziges süßes Teil gekauft, noch kein brauchbares T-Shirt
gesehen, als eine seltsame Unruhe von mir Besitz ergreift. Mich beschleicht ein bestimmter Verdacht und ich steuere die erstbeste Saftbude an. Ich genehmige mir ein Glas, trinke im Stehen, lese nebenher in meinem Reiseführer. Ich habe mein Glas fast geleert, da entdecke ich ihn vor dem gegenüberliegenden Zeitschriftengeschäft. Natürlich bin ich nicht sicher, schließlich laufen, stehen, reden, rauchen und wimmeln Hunderte von Männern, Frauen und Kindern um mich herum und fast alle starren mich kürzer oder länger an. Doch der, den ich angepeilt habe, benimmt sich so auffällig desinteressiert, dass er sich damit schon wieder verdächtig macht. Um Zeit zu gewinnen, falte ich meinen Stadtplan auseinander und frage den freundlichen Saftverkäufer nach einer bestimmten Straße. Erfreut stellt er sich neben mich und beginnt umständlich nach der Straße zu suchen. Währenddessen kann ich in aller Ruhe den jungen Mann mustern, der nun schon zum dritten Mal den Zeitschriftenständer umrundet. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, denn er steht unter einem tief hängenden Vordach, doch ich sehe, dass er einen Turban und eine lange, traditionelle Galabiya trägt. Demnach muss er ein Fellache sein, ein einfacher Bauer. Warum sollte der mich beobachten? Wahrscheinlich benimmt er sich nur deshalb so auffällig, weil er fremd in der Stadt ist und nicht so oft mit Zeitschriften zu tun hat. Von Papa weiß ich, dass die Zahl der Analphabeten erschreckend hoch ist. Mein freundlicher Helfer hat die Straße auf dem Plan nicht gefunden, doch nun schickt er mich mit knappen
Erklärungen geradeaus, dann nach rechts, nach links und so weiter. Mehrere Passanten haben sich zu uns gesellt und unterstützen ihn tatkräftig. Ich bedanke mich höflich und entfliehe dem Rummel. Das ist gar nicht so leicht, denn sie sind alle so schrecklich nett, dass sie mich am liebsten begleiten möchten. Das will ich aber nicht, denn schließlich interessiert mich die gesuchte Straße kein bisschen. Endlich habe ich mich freigekämpft, marschiere zielstrebig weiter, biege wie gewünscht rechts ein, als ich aus den Augenwinkeln meinen Fellachen sehe. Ich nenne ihn meinen, denn nun bin ich sicher, dass er mich verfolgt. Jetzt sofort muss ich überlegen, ob die Situation gefährlich ist, ob ich sofort ein Taxi rufen und nach Hause fahren soll, oder ob ich mich auf ein kleines Katz-und-Maus-Spielchen einlassen kann. Mein Verfolger schaut auf, sieht mein grübelndes Gesicht, lacht, und ich kann nicht anders, ich lache herzlich zurück. Nein, Ägypter sind nicht gefährlich, sie sind nur neugierig, und vielleicht ist dieser Fellache ein neuer Verehrer von mir. Ich beschleunige meine Schritte, habe längst vergessen, dass ich bummeln und naschen wollte, bleibe nirgends mehr stehen, sondern jage immer schneller durch die Straßen von Kairo. Die Worte des Safthändlers habe ich noch gut im Ohr, folge seinen Anweisungen, rechts, links, an der MohammedAli-Pascha-Moschee vorbei und über den Al-Gumhuriya-Platz Richtung Norden. Was ich dort soll, weiß ich nicht, doch es
macht Spaß, den jungen Kerl an der Nase herumzuführen. Jedes Mal, wenn ich eine Straße überquere und mich umdrehen kann, stelle ich befriedigt fest, dass er mir immer noch hinterher humpelt. Seine Augen sind durch eine dunkle Brille vor meinen Blicken geschützt und das um den Kopf geschlungene Tuch hat er so weit in die Stirn gezogen, dass ich nicht einmal seine Haarfarbe erkennen kann. Interessant finde ich, dass er einen modernen Rucksack trägt und seine Füße in Adidas-Turnschuhen stecken. Die dürften hier ziemlich teuer sein.
Acht Bald hat sich der Abstand zwischen uns so vergrößert, dass ich ihn nur noch an seinem schleppenden Gang und der weißgrün gestreiften Galabiya erkenne. Leider habe ich vor lauter Schadenfreude vergessen, auf den Weg zu achten und muss jetzt entsetzt feststellen, dass ich mich verlaufen habe. Ich sollte auf einen kleinen Park stoßen, doch der Park kommt und kommt nicht. Nicht weiter tragisch, schließlich muss ich nur eine der Hauptstraßen finden, von der ich zum el-Tahrir zurückfahren kann. Doch die Straßen werden immer schmaler und plötzlich stehe ich mitten in einer Lebensmittelstraße, die so eng ist, dass nur Esel- und Handkarren hindurchpassen. Die Gehwege sind voll gepflastert mit Tüten, Säcken, Kartons und Körben, aus denen Zucker, Feigen, Rosinen, Kaffee und
vieles mehr quillt. Verunsichert springe ich zwischen den Eselskarren hindurch und überlege, wen ich nach dem Weg fragen soll. Panik steigt in mir auf. Wieder spüre ich seinen Blick in meinem Rücken. Kaum zu beschreiben, dieses Gefühl, doch es ist verdammt noch mal so, als würden einem mit einem Feuerzeug kleine Löcher ins Kreuz gebrannt werden. In diesem Moment höre ich, wie jemand meinen Namen ruft: »Eve!«, und noch einmal: »Eve!« Ich bleibe mitten auf der Straße stehen, drehe mich um, sehe meinen Verfolger und kann es nicht glauben. Er steht keine fünfzig Schritte von mir entfernt gegen eine Wand gelehnt, atmet schwer und ruft meinen Namen. Sein Gesicht wirkt erhitzt, der Mund zuckt nervös. Er winkt mich ungeduldig heran, doch da ich immer noch nicht reagiere, ruft er auf Deutsch: »Eve, komm bitte her.« Seine Hand mit den langen Fingern fuchtelt unglücklich durch die Luft, ich sehe den Ring an seinem kleinen Finger, erkenne auch den Adamsapfel, der bei jedem Atemholen rauf und runter hüpft. Karren und Fußgänger bahnen sich ihren Weg an mir vorbei, manche von ihnen fluchen laut, doch ich kriege nichts mit. Starre ihn an, als würde ich ihn das erste Mal sehen. Betrachte sein schmales Gesicht mit dem kantigen Kinn, stolpere über den dünnen Schnurrbart, der mir fremd und albern vorkommt, wandere hoch zu der dunklen Sonnenbrille und noch höher zu dem wackligen Turban. Mir gegenüber steht ein Fremder und doch sind mindestens hundert Schmetterlinge in meinem Bauch zum Leben erwacht, tanzen auf und nieder, treiben mich zuerst langsam, dann immer
schneller über die Straße und in seine Arme. Glücklich halte ich mich an ihm fest, stelle mich auf die Zehenspitzen, recke den Hals, so gut es geht, und lache ihm mitten in sein schönes Gesicht. Das ist natürlich unerhört. In Ägypten dürfen sich Mann und Frau auf der Straße nicht berühren, schon gar nicht so verrückt benehmen, doch ich muss ihn einfach drücken und spüren und mich von seiner Echtheit überzeugen. »Warum verfolgst du mich?«, frage ich erstaunt und strahle ihn fassungslos an. Jojo schnappt nach Luft, dann antwortet er kopfschüttelnd: »Ich verfolge dich doch nicht. Wollte dich nur ein bisschen beobachten, sehen, ob du alleine bist oder ob sie hinter dir her sind. Dann bist du plötzlich so schnell geworden, dass ich Mühe hatte, dir hinterher zu kommen. Ich wollte mich schon viel früher zu erkennen geben, aber du bist nicht mehr stehen geblieben.« »Was ist denn mit deinem Bein los?« Jojo schaut mich an, als würde er nicht verstehen. Dann endlich erklärt er mit trauriger Stimme: »Das ist eine lange Geschichte. Hängt mit Kleo zusammen. Kleo ist weg. Lass uns irgendwohin gehen, dann erzähle ich dir alles.« »Wir waren Montag und Dienstag vor der Uni, aber ausgerechnet am Mittwoch konnte ich nicht kommen«, beginnt Jojo, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich ihn und
Kleo seit Mittwoch überall suche. Wir sitzen uns in einer muffig riechenden Wohnung gegenüber und schlürfen herrlich heißen, herrlich süßen Tee. So schnell es Jojos angeschlagenes Bein zuließ, sind wir hierher, in die Wohnung seines ehemaligen Lehrers, gegangen, bei dem er seit zwei Tagen wohnt. »Unser Bus überschlug sich, als wir auf dem Weg zur Uni waren. Hm, überschlagen ist vielleicht der falsche Ausdruck, wir sind auf einen Pfosten geknallt. Stell dir vor, unser Busfahrer stieg aus, um sich ein Auto und einen Eselskarren anzugucken, die in einen Unfall verwickelt waren. Natürlich ließ er den Motor laufen, die Bremse löste sich und unser Bus rollte die Straße hinunter auf eine voll besetzte Bushaltestelle zu. Kannst du das glauben? Die Leute schrien und sprangen in Panik aus dem Bus. Es gab haufenweise Verletzte, auch Kleo war darunter. Sie kam ins Krankenhaus, Gehirnerschütterung, drei Tage Bettruhe. Was sollte ich machen? Mir verpassten sie einen Verband, ich wurde entlassen und ging zurück ins Hotel. Vorher fuhr ich noch zur Universität, aber du warst natürlich nicht mehr da.« Ein nachdenklicher Blick streift mich, als müsse er sich vergewissern, dass ich jetzt da bin. Ich gebe ihm einen leichten Stoß, lache ihm ins Gesicht. Das Zimmer ist abgedunkelt, deshalb hat er seine Sonnenbrille abgenommen und ich kann sehen, dass sein Auge immer noch ungesund rot ist, wie durch einen himbeerfarbigen Vorhang verschleiert. Inzwischen habe ich mich an den Anblick
gewöhnt. Wir sind allein in einem kleinen Raum, der als Wohnzimmer, aber auch als Gästezimmer dient. Über mehreren Teppichschichten, die verdammt staubig aussehen, sind große und kleine Kissen verteilt, die für eine gemütliche Atmosphäre sorgen sollen. Sofort schäme ich mich meiner Gedanken, denn die Frau des Lehrers war sehr nett zu uns. Sie hat uns auf einem großen Tablett Tee serviert. Danach hat sie sich dezent zurückgezogen, doch die Tür zum Flur bewusst offen stehen gelassen, als wolle sie uns darauf hinweisen, dass wir uns keine Intimitäten erlauben dürften. Jojo hat mir erzählt, dass er nie mit ihr allein in der Wohnung sein darf. Sobald er auftaucht und Fuad, sein Lehrer, nicht zu Hause ist, holt die Frau ihre Schwester ab, die drei Häuser weiter wohnt. Erst dann gehen sie gemeinsam nach oben. »Erzähl weiter«, fordere ich Jojo auf, dessen Gedanken ebenfalls abgeschweift sind. »Am nächsten Tag wollte ich zu Kleo, doch sie ließen mich nicht zu ihr. Es hieß, nur Familienmitglieder dürften sie besuchen. Wie sich herausstellte, war sie gar nicht mehr im Krankenhaus: Nachdem ich einen Riesenaufstand veranstaltete, kam der Chefarzt und sagte mir, dass ihre Tante sie abgeholt hätte. Eine Nachricht sei nicht für mich abgegeben worden. Wer soll das denn glauben? Ich habe alle großen Hotels abgeklappert, war auf der deutschen Botschaft, doch überall haben sie mich abgewiesen.«
»Das ging mir nicht anders. Und diese Tante ist tatsächlich in Ägypten, und zwar seit über einer Woche. Ich habe mit ihrer Putzfrau in Berlin telefoniert. Erinnerst du dich, wie Kleo erzählte, die beiden Männer hätten ihr gesagt, sie müsse dringend ins Krankenhaus, sie solle sich keine Sorgen machen, ihre Tante sei im Anflug? Alles erstunken und erlogen.« Das ist die Gelegenheit, ihm von all den anderen Geheimnissen zu berichten, doch es fällt mir schwer, einen Anfang zu finden, deshalb bitte ich ihn: »Aber bevor ich loslege, musst du deine Geschichte zu Ende erzählen. Ich muss wissen, warum du dich als Fellache verkleidet hast und warum du hier und nicht in einem Hotel wohnst?« »Das ist keine Verkleidung, das ist echt geil. Hosen kneifen, drücken dir die Eier platt.« Jojo freut sich über mein pikiertes Gesicht, aber um mir über meine Verlegenheit hinwegzuhelfen, schluckt er sein Lachen herunter und erzählt weiter: »Wir waren mehrmals in der deutschen Botschaft. Die haben Kleo zwar einen provisorischen Pass ausgestellt und ihr Geld für eine Flugkarte vorgestreckt, doch mit der Entführung wollten sie nichts zu tun haben. Das sei Sache der Polizei. Allerdings, so gaben sie zu, wäre die Polizei hier nicht sehr zuverlässig, wir sollten besser so schnell wie möglich das Land verlassen und uns in Deutschland an die Behörden wenden. Guter Tipp, nicht wahr? Ich meine, bis wir in Deutschland wären, hätten die doch den Keller längst leer geräumt und alle Beweise vernichtet. Kleo und ich haben hin und her überlegt, doch wir konnten uns nicht dazu entschließen, nach Berlin zurückzufliegen. Stattdessen gingen wir zur ägyptischen
Polizei und versuchten auch mit diesem Doktor Abdul Hassan Kontakt aufzunehmen, doch nichts klappte. Dann passierte der Unfall, Kleo verschwand und mir wurde klar, dass sie uns systematisch gesucht hatten. Ich fühlte mich im Hotel nicht mehr sicher und erinnerte mich an meinen früheren Lehrer. Ich bin nämlich in Ägypten geboren und habe zehn Jahre lang in Kairo gelebt.« »Das hast du mir schon auf dem Weg hierher erzählt und dass deine Mutter Deutsche war und dass du deshalb zu Pflegeeltern nach Berlin gekommen bist.« Jojo steht auf, geht zu seinem Rucksack, holt eine Brieftasche heraus und reicht mir ein Foto. Es ist an allen Seiten ausgefranst, als wäre es seit vielen Jahren in dieser Brieftasche unterwegs. Ich erkenne eine junge blonde Frau mit einem aufgesetzten Lächeln, daneben einen dunkelhäutigen Mann in Uniform. Sie wirken ehrlich gesagt nicht sehr verliebt. »Ist das alles, was du von deinen Eltern hast?«, kann ich mir nicht verkneifen zu fragen. Und als hätte er genau diesen Satz befürchtet, brüllt er: »Ja, verdammt noch mal, das ist alles! Es gibt nur dieses eine verdammte Bild von ihnen und ich weiß, was du denkst, sie sehen nicht besonders glücklich aus, nicht wahr?« »Und bei wem wohnst du jetzt in Berlin?«, lenke ich schnell ab. »Die letzten beiden Jahre habe ich bei meinem Onkel
gewohnt.« »Was für ein Onkel? So ein Onkel taucht doch nicht plötzlich auf, nachdem du jahrelang in verschiedenen Pflegefamilien warst.« »Du redest von Dingen, von denen du keine Ahnung hast«, giftet er mich an. So aggressiv habe ich ihn noch nie erlebt und ich überlege allen Ernstes, ob sein Verhalten an der merkwürdigen Verkleidung liegen kann. Verwandelt einen eine Galabiya in einen anderen Menschen? Jojo beruhigt sich wieder, doch sein Blick geht an mir vorbei, durchbohrt die Wand in meinem Rücken. Seine Augen bekommen einen eigentümlichen Glanz, als würden sie in die Zukunft blicken. Er ist aber mit der Vergangenheit beschäftigt, erklärt mir lang und breit, wie der Bruder seiner Mutter in einer Pflegefamilie auftauchte und ihn zu sich nahm. »Meine Mutter hat den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, als sie nach Kairo zog. Wie auch immer, ich bin froh darüber, dass es Klaus gibt, auch wenn er eine alte Nervensäge ist. Seit ich bei ihm lebe, geht's mir gut. Als mein Onkel erzählte, dass ich dieses Jahr nach Ägypten reisen dürfte, bin ich schier ausgeflippt vor Freude. Es ist nur schade, dass er nicht mitfahren konnte, schließlich hat er die Reise finanziert. Doch sein Pass wurde nicht rechtzeitig verlängert.« »Aha!«, sage ich, nur um irgendetwas zu sagen. In
meinem Inneren summiere ich die ganzen Ungereimtheiten zu einer furchtbaren Erkenntnis. Meine schlimmsten Vermutungen bewahrheiten sich. Kleo und Jojo leben nicht bei ihren Eltern, haben ihre Eltern nie gekannt, konnten sie gar nicht kennen, weil sie nämlich künstlich in einem Labor gezeugt wurden. Nofrure, von deren Lebenslauf ich nur wenig weiß, lebte viele Jahre lang in England, bevor sie in die Klinik nach Kairo kam. Ich vermute, bei Adoptiveltern. Plötzlich steigt uns ein würziger Geruch in die Nase. Das Essen wird uns auf einem silbernen Tablett serviert. Es gibt knusprig gebratenes Fleisch, Bohneneintopf, der »Ful« genannt wird, verschiedene Soßen und frisches Fladenbrot. Unsere Gastgeberin wünscht einen guten Appetit und zieht sich wieder dezent zurück. Für kurze Zeit tauchen Jojo und ich in die Welt des Genusses ein. »Wie es scheint, schmecken uns die gleichen Dinge, scharf und würzig«, meint Jojo, während ihm etwas Bratensaft übers Kinn rinnt. »Hm«, antworte ich schmatzend. Endlich finde ich den Mut, das Gespräch wieder aufzunehmen. »Kann es sein, dass das Foto, das du da mit dir herumträgst, gar nicht deine Eltern zeigt? Ich meine, hast du je den Verdacht gehabt, dass dein Lebenslauf nicht ...« Mir fehlen die Worte. »... nicht richtig, sozusagen erfunden sein könnte?«
Jojo kaut gerade an einem Bissen Fleisch, als sein Adamsapfel wie verrückt zu zucken beginnt. Das Fleisch bleibt ihm im Hals stecken und Jojo verwandelt sich in ein lila Stiefmütterchen. Ich denke: Jetzt erstickt er gleich und ich ganz allein habe ihn auf dem Gewissen. Doch er wechselt die Farbe, wird knallrot im Gesicht und hustet unter großer Anstrengung den Brocken Fleisch wieder heraus. Zu meiner Frage sagt er nichts, gar nichts. Selbst nachdem er sich beruhigt hat und wieder normal zu atmen scheint. Starrt mich nur an, aus großen, fragenden Augen. Ich werte das als stilles Einverständnis und fahre fort, ihm von meinen Erkenntnissen zu erzählen. Zunächst berichte ich von meinem Treffen mit Lars und in welcher Form er in die Sache verwickelt ist, erzähle dann von den Mumien im ägyptischen Museum sowie den Laborbefunden, die ich im Sarg der Hatschepsut gefunden habe, und von den Berichten im Internet. Von Frau Dr. Pahl hatte ich ihm bereits erzählt, doch ich fasse alles noch einmal zusammen. Das Wort Klon nehme ich nicht in den Mund, doch die vielen Hinweise, die ich ihm geliefert habe, könnten ausreichen. Er müsste nur zwei und zwei zusammenzählen, um zu dem gleichen erschreckenden Ergebnis zu kommen wie ich. Tut er aber nicht. Sitzt nur da und starrt hoch zur Decke. Ehrlich gesagt bin ich erleichtert, aber auch verwundert. Ich habe mit einem Aufschrei, einem unbeherrschten Ausbruch gerechnet. Meine Behauptungen zielen schließlich auch darauf ab, dass sein Onkel ihn seit Jahren anlügt und betrügt, und den scheint er ja sehr zu mögen. Doch Jojo schweigt. Starrt Löcher in die Luft. Ich weiß nicht, was ich mit diesem traurigen Blick anfangen soll. Sanft lege ich meine Hand auf
sein Knie, will ihn trösten und ermuntern, etwas zu sagen, doch er zuckt zurück. Zehn Minuten später halte ich das Schweigen nicht mehr aus. Ich stehe auf, will gehen. »Es ist spät geworden, ich muss nach Hause.« Jojo braucht eine Weile, bis er merkt, dass ich mit ihm spreche, er erwacht wie aus einem tiefen Schlaf, ist aber sofort auf den Beinen, als er sieht, dass ich gehen will. »Wo willst du hin? Du kannst mich jetzt unmöglich allein lassen.« Die gleichen Worte, der gleiche beleidigte Tonfall wie bei Kleo. Verwöhnte Königshäupter, geht es mir durch den Kopf, von Kindesbeinen an daran gewöhnt, andere herumzukommandieren. Voreilige Gedanken, Jojo ist kein herrischer Typ, braucht nur ein bisschen länger, um zu verstehen. »Be... begreifst du denn nicht ...«, stammelt er, »dass Kleo, Nofrure und ich uns nicht zufällig ähneln?« Der hält mich tatsächlich für bescheuert, doch ich sage nichts, lasse ihn reden. »Keiner von uns lebt bei seinen Eltern, wir kennen sie nicht einmal. Das ist das Einzige, was ich von Kleo mit Sicherheit weiß. In ihrer Fantasie besitzt sie manchmal eine Familie, doch sie und ihre Tante leben alleine. Sie hat mir erzählt, dass sie mit Maria sehr schlecht auskommt, ein ständiges Misstrauen herrscht zwischen ihnen, keine ist der
anderen gegenüber ehrlich.« Bei diesen Worten schluckt er verlegen, rauft sich die Haare. Er denkt das Gleiche wie ich, mit allen Konsequenzen, doch er hat Angst davor, es auszusprechen. »Was ist mit deinem Onkel Klaus?«, bohre ich gnadenlos. »Was soll schon sein? Er ist ein toller Typ, war immer für mich da.« Jojo hat laut geredet, mich mit finsterem Blick gemustert, als wäre ich schuld an seinem Schicksal. »Jetzt ...«, fährt er leiser fort,«... im Nachhinein ist mir klar, dass alles zu glatt ging. Ich hab mich darüber gewundert, wo das viele Geld plötzlich herkam, die ungewohnte Großzügigkeit von Klaus. Aber hätte ich protestieren sollen? Ich wollte nicht in das teure Fünfsternehotel, trotzdem haben sie einen Weg gefunden, um mich dorthin zu kriegen. Mir wird gerade einiges klar. Dass Kleo und ich nicht zufällig im gleichen Hotel waren, habe ich inzwischen akzeptiert, aber das mit den Mumien und der Krankheit, ich meine diese Pilz-Story, das glaube ich nicht. Du musst dich irren. Ich bin doch nicht blind. Ich gehöre vielleicht gar nicht dazu. Nicht so wie die anderen.« Jojos Stimme bricht ab, Tränen treten aus seinen Augen, sein Mund klappt auf und zu. Es ist ein stummes, erdrückendes Weinen, das seinen Körper schüttelt. Diesmal lasse ich mich nicht abweisen, gehe zu ihm, lege meinen Arm um seine Schultern und drücke ihn an mich. »Bestimmt ist es bei dir anders«, höre ich mich sagen. »Du bist ja auch ein Junge.«
Warum labere ich so einen Schwachsinn? Warum lasse ich ihn nicht einfach in Ruhe? Doch meine Reaktion war anscheinend gar nicht so falsch, denn anstatt in Selbstmitleid zu verfallen, richtet er sich auf, blickt mich wütend an: »Willst du mich verarschen? Was soll es mir helfen, ein Junge zu sein? Gar nichts hilft es mir. Wenn ich tatsächlich dieser Thutmosis bin, dann werden die Pilze meine Augen auffressen. Bestimmt war nur ein harmloses Treffen geplant, doch nun begreife ich, warum es abgesagt wurde. Sie haben diese Pilze gefunden und es mit der Angst zu tun bekommen. Sie befürchten, die Pilze könnten auf andere Menschen übergreifen, haben uns deshalb in den Keller gesperrt. Du sagst, dass diese Frau Pahl von mir erwartet, dass ich mich freiwillig bei ihr beziehungsweise in der Klinik melde, aber das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Irgendwie müssen sie herausgefunden haben, dass Kleo sich in einem Unfallkrankenhaus aufhält, aber ich glaube nicht, dass sie sie zu ihrer eigenen Sicherheit dort herausgeholt haben.« »Nein«, gebe ich zu, doch mir fällt ein neuer Aspekt ein: »Möglicherweise haben sie ein Mittel gefunden, das die Ausbreitung der Pilze stoppt. Könnte doch sein? Und schließlich sind die Berichte, die ich im Internet gefunden habe, nicht aktuell.« Jojo unterbricht mich. »Internet ist immer aktuell! Und die Mumien liegen doch noch ausgepackt im Museum herum, das heißt, die Erkenntnisse sind brandneu. Sie können in der kurzen Zeit gar kein Gegenmittel gefunden haben.«
»Ich habe dir noch nicht erzählt, dass Frau Pahl auch erkrankt ist. Es kann Zufall sein, doch sie hat was an den Augen und sie wirkte sehr verstört. Wenn es stimmt, was sie sagt, will sie so schnell wie möglich nach Deutschland fliegen.« »Warum begibt sie sich nicht in die bewährten Hände dieses Abdul Hassan? Ist doch echt komisch, oder? Vielleicht will sie abhauen, sich in Sicherheit bringen. Ich an deiner Stelle hätte diese Frau viel härter angepackt, ich hätte die Wahrheit aus ihr herausgepresst. Ich hätte versucht sie ...« »Angeber«, unterbreche ich ihn verärgert, muss aber gleichzeitig lachen, weil Jojo sich immer mehr hineinsteigert. »Mir war nicht klar, wie viel sie weiß«, versuche ich mich zu rechtfertigen. »Ich kann doch nicht aufs Geratewohl fremde Menschen beschuldigen. Gut möglich, dass sie nur eine Nebenfigur ist und gar keine Ahnung von der Geschichte hat.« »Das würde mich aber sehr wundern, schließlich läuft die Website auf ihren Namen und unter dem Stichwort -Abdul Hassan« hast du nichts gefunden.« Jojo wirkt erregt und angespannt, schlägt sich immer wieder mit der geballten Faust in die offene Hand, doch diese neu erwachte Wut ist mir tausendmal lieber als der grenzenlose Kummer, in dem er noch vor wenigen Minuten zu versinken drohte. Mir brummt langsam der Schädel. Ich wäre froh, jetzt gehen zu können. »Mir fällt noch was ein«, versuche ich die Sache
abzuschließen. »Ich habe an meinem zweiten Tag in Kairo eine Medizinstudentin kennen gelernt. Der reine Zufall. Sie heißt Noa. Die ganze Zeit habe ich vergebens probiert sie anzurufen, doch heute Morgen hat es endlich geklappt. Ich habe ihr einiges verraten müssen, doch jetzt ist sie bereit, mir zu helfen. Wir treffen uns um sechs Uhr abends vor der Uni. Sie sagt, dass sie mich ins Krankenhaus schmuggeln kann. Ich müsste mich allerdings als ausländische Studentin ausgeben. Auf der geschlossenen Station, sagt sie, leben zwei blinde Mädchen, eine von ihnen schon sehr lange. Während dem Schichtwechsel könnte ich kurz mit den Mädchen sprechen. Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, glaube ich, dass eine von ihnen Kleo ist. Du kannst ja mitkommen, wenn du willst.« Erst jetzt merke ich, wie komisch sich das anhört. Als wäre er ein Unbeteiligter, der mit dem Fall nichts zu tun hat. Jojo schluckt, schaut mich an, als würde er an meinem Verstand zweifeln. »Na klar komme ich mit, dachtest du, ich sitze hier herum und warte darauf, dass mir die Pilze aus den Augen wachsen und ich blind werde?« »Entschuldigung, war nicht so gemeint, aber ich habe ja nicht gewusst, was du jetzt vorhast. Ich will jedenfalls weiterhin nach Kleo suchen.« Erneut zeigt mir sein entgeisterter Gesichtsausdruck, dass ich zielsicher ins nächste Fettnäpfchen getreten bin. »Ja meinst du, ich etwa nicht' Jetzt erst recht. Kleo und ich sind doch ... wir sind ...«Jojo wird blass um die Nase, stottert, schluckt verlegen. »Wir gehören zusammen.«
In mir will sich wieder die Eifersucht regen. Ja, sehr wahrscheinlich seid ihr Neffe und Tante, doch ich spreche meine Gedanken nicht aus, wende mich stattdessen zur Tür. »He, nicht so schnell«, versucht er mich aufzuhalten, doch ich bin bereits durch den Flur geeilt, stehe unentschlossen an der Tür. Schwingt da etwa Sorge in seiner Stimme mit? Jojo springt auf mich zu, verheddert sich in seiner Galabiya, kippt nach vorne und ich muss ihn auffangen, damit er nicht fällt. »Nachthemden und Wickelröcke sind einfach scheiße«, lache ich, weil mich die Situation an unsere erste Begegnung am Lagerfeuer erinnert. »Wann treffen wir uns?«, fragt seine weiche Stimme und ich merke, wie ich genau auf diesen Satz gewartet habe. »Um sechs vor dem Haupteingang.« In dem Augenblick, als Jojo meine Hand loslässt, treten die Gastgeberin und noch eine Frau aus der Küche, betrachten uns neugierig, wissen wohl nicht, warum wir so lange im Flur herumstehen. Sechs kugelrunde schokoladenbraune Augen mustern uns ohne Scheu. Fuads Frau hält ein kleines, rundgesichtiges Mädchen auf dem Arm, das eifrig auf uns einplappert. Ich lobe das gute Essen, die hübsche Wohnung, ihr süßes Mädchen und freue mich an ihrem lachenden Gesicht, das sich bei mir zu bedanken scheint. Dann gehen Jojo und ich
die Treppe hinunter. Die Außentüre ist verschlossen, muss erst umständlich geöffnet werden. Ich will Jojo zum Abschied in den Arm nehmen, ihm irgendetwas Aufmunterndes sagen, doch sein Gesicht ist so abweisend, dass mir nichts Passendes einfällt. Mein Blick bleibt wohl zu lange an ihm hängen, denn er braust plötzlich auf: »Schau mich nicht so an! Was erwartest du von mir? Dass ich mich plötzlich wie ein Pharao gebärde?« »Nein«, stammele ich verwirrt, will aber immer noch nicht gehen. Da hebt er seine Hand und nimmt die typische Haltung eines jungen Ägypters ein, gespreizte Beine, langgezogener Hals, stolzer Blick: Geh!, suggeriert diese Haltung. Er, dieser blöde, dumme, eingebildete ... ach, was weiß ich denn was für ein Lackaffe, zerreißt das Band unserer Freundschaft mit einer einzigen verächtlichen Handbewegung. Ratsch! Wenige Sekunden später stehe ich allein auf der Straße und fühle mich so einsam wie noch nie in meinem Leben. In Hurghada war es anders zwischen uns, es war fast wie der Beginn einer Liebe. Dicke Tränen kullern mir über die Wangen. Ich wische sie ungeduldig ab und beschließe, mich nie mehr in einen Jungen zu verlieben. Jungs sind blöde. Sie sind gerade gut genug, um mit ihnen Räuber und Gendarm zu spielen. Für
mehr taugen sie nicht. Ein letztes Mal blicke ich zum ersten Stock hoch, sehe die fest verschlossenen Rollläden, dann mache ich mich auf den Weg. Ich werde mich beeilen, denn mein Vater hat heute mit Dr. Hassan gesprochen, dem Leiter der psychiatrischen Abteilung am Universitätskrankenhaus, und ich muss wissen, was dabei herausgekommen ist, bevor ich selbst zum Krankenhaus fahre.
Neun Wie sie in den weißen Kissen liegt, bleich und mit geschlossenen Augen, erinnert sie mich an eine leblose Porzellanpuppe. Laut dreht sich ein großer Ventilator an der Decke, der hellblau getünchte Raum ist kahl und abweisend wie alle Krankenhauszimmer dieser Welt. Mich fröstelt und ich schlinge die Arme um meinen Körper, um mich selber zu wärmen. Vorsichtig setze ich mich auf den Rand des Bettes, betrachte Kleos schmales Gesicht, die wie mit dem Pinsel gezogenen dunklen Augenbrauen, den blassroten Mund. Wer hätte gedacht, dass es so leicht sein würde, zu ihr zu gelangen. Sie scheint tief und fest zu schlafen. Hilflos blicke ich Jojo an. »Nicht sehr vielversprechend«, murmle ich. »Nofrure war wach, wollte aber nicht mit uns sprechen, und Kleo wacht nicht auf.«
Noa, die draußen Wache schiebt, erwartet, dass wir uns beeilen. Im Augenblick ist Schichtwechsel, aber bald kommen die Nachtschwestern, bringen das Abendessen. Spätestens dann müssen wir alle die Station verlassen haben. »Kleo, hörst du mich?«, flüstere ich, rüttle sanft an ihrer schmalen Schulter. »Wach bitte auf!« Auf dem Tischchen neben dem Bett steht eine Flasche Wasser, ein angebissener Apfel, ein halb volles Kompottschälchen. Nichts weist darauf hin, dass Kleo Schlafmittel bekommen hat, doch ich bin trotzdem davon überzeugt. Kein normaler Mensch hat um achtzehn Uhr einen so tiefen Schlaf. »Kleo«, wiederhole ich, packe ein bisschen fester zu. Sie schlägt die Augen auf, fährt sich mit der Hand durchs Gesicht. Es fällt ihr ganz offensichtlich schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Ich beuge mich über sie, damit sie meinen Atem spürt, meine Nähe begreift, ganz aufwacht. Sie soll wissen, dass wir sie gefunden haben, dass sie nicht mehr alleine ist. »Hallo«, raune ich, »hörst du mich? Ich bin's, Eve.« Doch Kleo reagiert immer noch nicht. Jojo drängt sich zwischen uns, nimmt Kleos Gesicht in die Hände und trommelt mit den Handflächen gegen ihre Wangen. Ich ziehe geräuschvoll die Luft ein, schiebe ihn ungeduldig weg. »Was machst du da?«, will ich wissen, doch im gleichen
Augenblick gibt Kleo gurgelnde Geräusche von sich und richtet sich ein bisschen auf. »Schenk frisches Wasser ein!«, befiehlt Jojo und zeigt auf die angebrochene Mineralwasserflasche. Ich stehe auf und sofort nimmt Jojo meinen Platz ein. »Kleo!« Er zieht sie zu sich hoch und zwingt sie, sich aufzusetzen. Weil sie das aus eigener Kraft nicht kann, hält er sie fest umschlungen. Sie legt erschöpft ihren Kopf auf seine Schulter. »Weißt du, wo du bist?«, fragt er und rüttelt sie ein bisschen, als wolle er sie wach halten. »Und weißt du vor allem, warum?« »Ich bin krank, sie untersuchen mich täglich«, murmelt Kleo träge. Ich gieße Wasser in ein Glas, suche nach einem Taschentuch und reiche beides Jojo. Vorsichtig lässt er Kleos Kopf nach hinten kippen, flößt ihr nach und nach Flüssigkeit ein, tupft anschließend die Mundwinkel ab. »Wer untersucht dich?« »Doktor Hassan. Meine Tante ist auch hier«, murmelt Kleo. »Ich bin so schrecklich müde.« »Wir nehmen dich mit!«, beschließt Jojo, steht auf, beginnt im Schrank nach ihren Sachen zu suchen. »Wo sind deine Klamotten?«, flucht er, schiebt leere Kleiderbügel hin
und her, reißt Schubladen auf. »Wir hätten was mitbringen müssen.« »Glaubst du wirklich, dass wir sie mitnehmen können? Schau sie dir an«, bremse ich seinen Eifer. »Willst du, dass sie ihr weiteres Leben hier verbringt? Genau das kann ihr nämlich blühen. Sie wird daran zerbrechen, genau wie Nofrure. Bestimmt ist Nofrure eingesperrt worden, weil sie das falsche Spiel ihrer Pflegeeltern durchschaute. Inzwischen hat man sie mit Medikamenten voll gepumpt und sie will nicht mehr weg von hier.« »Du hast ja Recht«, entgegne ich, »aber ...«Mein Blick fällt auf Kleo, die sich nicht mehr alleine aufrecht halten kann. »Ich will weg«, fordert sie und jetzt ist die Sache entschieden. Behutsam schiebe ich die dünne Decke zur Seite, versuche ihr aus dem Bett zu helfen. Sie trägt nur ein hauchdünnes, aber immerhin bodenlanges Kleid. Jojo packt Kleo unter den Armen, zieht sie hoch, während ich unter dem Bett nach ihren Schuhen krame. Keiner von uns sagt ein Wort. Wir sind gerade damit beschäftigt, Kleo die Schuhe anzuziehen, als die Tür aufgerissen wird und Noa hereinplatzt. Ihr Kopftuch ist verrutscht und ihre dunklen Pupillen haben sich zu riesigen Murmeln vergrößert. »What happens here?« Sie erwartet jedoch keine
Antwort, die Situation ist eindeutig. »Ihr habt gesagt, dass ihr ... nur mit den beiden Mädchen ... reden wollt«, ereifert sie sich, verhaspelt sich mehrere Male, weil ihr in der Aufregung die englischen Wörter nicht einfallen. »Wir müssen weg!« »Aber nicht ohne Kleo«, entgegne ich in bestimmtem Ton. »Das geht nicht«, unterbricht mich die erboste Noa, die nun alle Regeln der Höflichkeit vergisst und an mir, aber auch an Jojo herumzerrt, in dem verzweifelten Versuch, uns von Kleo wegzuziehen. »Die Schwestern sind bereits da. Ihr habt keine Zeit mehr. Ich verliere meine Zulassung.« Aus Kleos Kehle ertönt ein tiefes Brummen. Wie viel sie mitbekommt, ist mir nicht klar, doch plötzlich steht sie aus eigener Kraft, dreht sich um und tastet sich zu ihrem Bett zurück. Ich eile zu ihr, will sie zwingen mitzukommen, es wenigstens zu versuchen, doch sie schüttelt entschlossen den Kopf, legt sich mit Schuhen ins Bett und ich ahne, wir haben vielleicht unsere einzige Chance vertan. Verquatscht. Doch Kleo murmelt etwas, und obwohl ich sie nicht ganz verstehe, keimt wieder Hoffnung in mir auf. »Morgen Nachmittag, im Nile Hilton Hotel! Haut endlich ab!«, schnieft sie. »Bis morgen.« »Welches Hilton?«, frage ich. »Was machst du dort?« »Kommt am späten Nachmittag, achtzehn Uhr. Sie werden mich hinbringen. Meine Tante und…«
Mehr verstehe ich nicht, Noa hat mich am Arm gepackt und zieht mich nach draußen. Jojo muss bereits vorgegangen sein. Er hat natürlich Angst, dass sie ihn hier festhalten könnten. Ich spreize die Beine wie ein störrischer Esel, will nicht gehen, doch Noa entwickelt ungeahnte Kräfte, zerrt mich auf den Flur hinaus. Spätestens dort erwacht mein Selbsterhaltungstrieb, denn mein Blick fällt auf eine Krankenschwester, die summend an einem Servierwagen hantiert. Noch während wir davonzuschleichen versuchen, tritt eine zweite Krankenschwester auf den Gang, starrt uns verwundert an. In arabischer Sprache spricht sie uns an und fragt nach unseren Namen. Doch wir reagieren nicht, huschen über den Flur, erreichen die Stationstür, setzen unseren Weg unbeirrt fort, als hätten wir sie nicht gesehen. In unseren weißen, weit geöffneten Mänteln rauschen wir die Treppe hinunter. Unten angekommen müssen wir warten, bis Noa die Außentür aufgeschlossen hat. Sie ist so nervös, dass sie den Schlüssel mehrmals fallen lässt. Schließlich bückt sich Jojo nach dem Schlüssel, nimmt die Sache in die Hand. Die Tür schwingt auf, als über uns aufgeregte Schritte durchs Treppenhaus hallen. Unser Eindringen ist entdeckt worden, wird für Wirbel sorgen. Vielleicht müssen nun Kleo und Nofrure, die ja eigentlich nichts dafür können, darunter leiden. Entsetzt jagen wir nach draußen, rennen über die verlassenen Wege und mischen uns an einer Bushaltestelle zwischen die Wartenden. Unsere weißen Mäntel haben wir während dem Lauf in eine Plastiktüte gestopft.
Nachdem Noa uns wutentbrannt verlassen hat, bleiben Jojo und ich an der Bushaltestelle zurück, trösten uns gegenseitig. »Dass wir überhaupt reingekommen sind, grenzt an ein Wunder.« »Noa jedenfalls wird uns nicht mehr so schnell helfen.« »Du hast ja noch deinen Vater. Ich denke, er hat mit Doktor Hassan geredet?« »Ja, aber was dabei herausgekommen ist, weiß ich nicht. Ich konnte ihn heute Nachmittag nicht erreichen. Und er spioniert ja auch nur ein bisschen herum.« »Also müssen wir uns an das Hilton halten.« Jojo nickt entschlossen. »Da müssen wir auf jeden Fall hin.« »Nach dem Zwischenfall im Krankenhaus müssen wir vorsichtig sein«, gebe ich zu bedenken. »Jetzt sind sie gewarnt.« Traurig lege ich meine Hand auf Jojos Arm, schaue ihn inmitten der vielen Leute erwartungsvoll an. Bitte umarme mich, bettelt meine Hand, und ich versuche hinter seine dunklen Brillengläser zu schauen. Doch das ist unmöglich. Nur selten nimmt Jojo seine Brille ab, eigentlich nur in abgedunkelten Räumen. Jojo ignoriert mein Flehen, dreht sich nach einem näher kommenden Bus um, erkennt die richtige Nummer und winkt
mir zu. »Bis morgen dann.« Und schon ist Menschengewühl verschwunden.
er
im
Zehn Es gibt mal wieder keinen Strom, der Aufzug funktioniert also nicht und ich muss die sechsundneunzig Stufen bis in den sechsten Stock zu Fuß hochstapfen. Vorbei an ausrangierten Benzinkanistern, Kinderwagen und alten Teppichen. In diesem Haus leben nur »besserverdienende« Familien, trotzdem sind sie im Vergleich zu uns arm und verteidigen ihren Müll gegenüber den freischaffenden Müllsammlern. Alles, was sich noch irgendwann irgendwie zu Geld machen lassen könnte, wird im Treppenhaus zwischengelagert und später an den Mann gebracht. Oben angekommen werfe ich mich erst einmal aufs Sofa und schaue Leila zu, wie sie unter und über den Schonbezügen Staub wischt. Dabei scheint es weniger darauf anzukommen, den Staub wirklich zu beseitigen, es reicht, ihn in der Luft zu verteilen. Leila trägt wie immer ein schwarzes Kleid, ein dazu passendes Kopftuch, das ihre Locken jedoch kaum bändigen kann, und eine grüne Schürze mit riesigen roten Rosen. Goldene Ohrringe funkeln an ihren Ohren, am Arm trägt sie die schwere Golduhr und mehrere Armreifen, ebenfalls aus Gold. Mir kommt das merkwürdig vor, denn sie ist noch sehr jung und viel verdienen tut sie nicht. Nicht bei uns jedenfalls. Doch schließlich besitzt sie sonst nichts, keine aufwändige Garderobe, kein Auto, kein einziges Möbelstück, nichts. Sie
wohnt bei ihren Eltern, und wenn sie einmal heiratet, braucht sie die Armbänder, um sich einen Kinderwagen und ein Kinderbett zu kaufen. Immer wieder merke ich, dass ich von den Menschen hier, ihren Sitten und Wertvorstellungen, nur sehr wenig weiß, aber schließlich bin ich erst seit zwei Wochen in Ägypten und mehr oder weniger auf der Durchreise. Ein herrlicher Duft zieht durch die Wohnung, erstickt die staubige Luft und kitzelt, meinen Gaumen. Habe ich etwa schon wieder Hunger? »What time is it?«, möchte ich wissen. Eigentlich will ich nur hören, dass es spät ist und sie bald geht. So gerne ich Leila auch habe, im Augenblick möchte ich niemanden sehen. Seit dem frühen Anruf von Noa ist so viel passiert, dass ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Das Treffen mit Frau Pahl liegt hinter mir, das Wiedersehen mit Jojo, eine missglückte Befreiungsaktion und die Auseinandersetzung mit Noa. Und wer weiß, was mein Vater mir alles erzählen wird, wenn er nach Hause kommt. Hoffentlich bringt er gute Nachrichten mit. Könnte ja sein, ein Wunder geschieht und das ganze Durcheinander entpuppt sich als ein riesengroßes Missverständnis: Kleo und Nofrure sind wirklich nur zu Genesungszwecken in der Klinik, sie werden bald entlassen, Jojo bleibt von den Pilzen unbehelligt und er und Kleo sind natürlich keine Klone, welch lächerlicher Gedanke, sie sind ... Ja, verdammt, was sollten sie sonst sein? Und wird ihr Leben je normal werden, selbst wenn sie ihren Peinigern entfliehen können? Und warum wird Kleo morgen ins Nile Hilton
gebracht? Inzwischen ist mir wieder eingefallen, dass ich das Hotel kenne. Es liegt zentral am Midan el-Tahrir, Taxis stehen vor der Tür. Kleo könnte auch alleine fliehen und vielleicht hat sie genau das geplant. Wir sollen sie nur dabei unterstützen. Endlich geht die Wohnungstür auf und ich höre meinen Vater hereinpoltern. »Hey«, winkt er uns beiden zu. Auch er scheint müde zu sein, macht einen ungeduldigen Eindruck, als wolle er Leila loswerden. »It is late«, sagt er und schaut dabei demonstrativ auf seine Uhr. »Dinner is ready«, antwortet das Mädchen, wischt weiter, als hätte sie seine Mimik nicht verstanden. Papa gibt mir ein Zeichen und gemeinsam gehen wir in die Küche. Der Tisch ist gedeckt, das Essen köchelt auf kleiner Flamme auf dem Herd. Ich will gerade meinen Teller mit dem herrlich riechenden Gemüseeintopf füllen, als Leila hereinrauscht und uns bedeutet, Platz zu nehmen. Sie will uns bedienen. Das ist ungewöhnlich. Abends hat sie es normalerweise sehr eilig, nach Hause zu ihrer Familie zu kommen. »Doktor Hassan ist nicht der Kopf des Projektes«, beginnt mein Vater zu erzählen, kaum dass wir uns gegenübersitzen, »jetzt, da ich ihn kennen gelernt habe, weiß ich, dass er nicht das Format dafür besitzt. Ich hatte mich im Vorfeld bei seinen Kollegen nach ihm erkundigt: Er ist Neurologe, hat einen einwandfreien Ruf und ist seit vielen
Jahren Chefarzt. Es gibt keine negativen Schlagzeilen über ihn. Trotzdem bin ich ihm mit gemischten Gefühlen entgegengetreten. Meiner Einschätzung nach ist er kompetent, fürsorglich, korrekt. Da er jedoch einen schwerbehinderten Sohn hat, könnte es sein, dass er Geld für die Pflege gut gebrauchen kann und käuflich ist. Studiert hat er übrigens in Deutschland. Hochinteressant, nicht wahr?« Papa grinst hinterlistig, stopft sich ein großes Stück Fladenbrot in den Mund, überlegt es sich dann anders, holt das Brot wieder heraus und tunkt es tief in seinen Teller, bis es sich mit dunkelroter, fettiger Soße voll gesogen hat. »Wonder-ful«, schmatzt er laut, wirft Leila ein anerkennendes Nicken zu. Die hantiert im Hintergrund mit Töpfen und Geschirr, scheint ihn nicht gehört zu haben. »Sehr gut!«, rufe ich etwas lauter, necke sie, indem ich Deutsch rede. Jetzt schaut sie auf, lächelt, freut sich über das Kompliment. »He, erst ein paar Tage bei uns und du verstehst uns bereits. Super! - Was meinst du mit käuflich?«, wende ich mich wieder Papa zu. »Also, das war sehr spannend. Wir saßen uns in seinem Büro gegenüber und ich habe die Maske des interessierten Journalisten gleich am Anfang fallen lassen und ihn nach einem blinden Mädchen gefragt. Natürlich musste ich ihm erzählen, wie und wo du Kleo kennen gelernt hast und dass es ein Mädchen in der Klinik gibt, das ihr sehr ähnelt. Er schien weder über meine Informationen noch über meine ehrliche und direkte Vorgehensweise überrascht zu sein. Ohne zu zögern stand er auf, führte mich in den dritten Stock zu den
Krankenräumen. Von einer Kleo wisse er nichts, sagte er, aber Kathy dürfe ich besuchen. Wir gingen in ihr Zimmer, er zeigte auf das blasse Mädchen im Bett, bat sie aufzustehen und mich zu begrüßen. Sie kam mir wie eine Puppe vor, ich würde sogar das Wort Marionette verwenden. Artig wie ein kleines Kind reichte sie mir die Hand, und was auch immer ich fragte, beantwortete sie mit einem freundlichen Lächeln, doch ohne ein Wort zu sagen. Es beeindruckte mich sehr, welch tiefes Vertrauen dieses Mädchen ihrem Arzt entgegenbringt und…« »Darauf fällst du rein?«, unterbreche ich ihn. »Ich muss dir auch etwas erzählen. Heute Nachmittag habe ich Jojo getroffen. Er hat vor dem Ägyptischen Museum auf mich gewartet. Und am Abend waren wir zusammen im Krankenhaus. Und stell dir vor, Kleo liegt dort. Wir haben mit beiden Mädchen gesprochen. Natürlich vergöttert Nofrure diesen Doktor Hassan, aber bestimmt nicht, weil er so toll ist, sondern weil sie von ihm abhängig ist.« Von Kleo erzähle ich ihm auch, dass sie aus dem Unfallkrankenhaus entführt und dass sie unter Drogen gesetzt wurde. Von unserem vergeblichen Befreiungsversuch berichte ich nicht. Inzwischen kenne ich meinen Vater gut genug und weiß, dass er übervorsichtig ist. »Was hat er denn erzählt, dieser Hassan, warum Nofrure im Krankenhaus ist?« Papa zuckt mit den Achseln. Was Dr. Hassan vorhat und mit wem er zusammenarbeitet, hat er nicht herausgefunden. »Hat
er
denn
was
mit
Gentechnik
oder
Molekulargenetik zu tun und hast du ihn auf den Namen Frau Doktor Pahl angesprochen?«, bohre ich weiter. Wir sind mit dem Essen fertig, stochern gedankenverloren in unseren Zähnen, beobachten Leila beim Abwaschen. »Frau Pahl?«, braust mein Vater plötzlich auf. »Was ist das für ein Name?« »Das habe ich dir doch erzählt, das ist die deutsche Biotante, die im Ägyptischen Museum an irgendeinem Forschungsobjekt arbeitet«, rechtfertige ich mich, halte plötzlich inne. Habe ich sie tatsächlich erwähnt oder ihre Existenz absichtlich unterschlagen, um meinen Einbruch im Mumiensaal zu vertuschen? Es ist schlimm, wenn man vor lauter Lügen nicht mehr weiß, wem man was erzählt hat. »Weißt du was über sie?« »Pahl, Pahl ...!«, ruft mein Vater übertrieben laut. »Natürlich kenne ich den Namen. So hieß die junge Habilitandin, die damals in Berlin für Wirbel sorgte, weil sie aufgrund gefälschter Unterlagen die Beziehung zwischen der Pharaonin Hatschepsut und Thutmosis III. neu definieren wollte. Das ist ja ein Hammer. Ich habe noch nie an Zufälle geglaubt, doch dass ausgerechnet ich auf diesen mysteriösen Fall gestoßen bin.« »Du? Das ich nicht lache«, meckere ich. Was bildet er sich ein? Doch mein Vater ist längst aufgesprungen, seine Augen haben einen fieberhaften Glanz angenommen. Seine Müdigkeit scheint vergessen zu sein, vergessen auch ich und Leila. Ohne eine Erklärung jagt er an uns vorbei in sein
Schlafzimmer. Perplex sehe ich, wie er nach dem Telefon greift. Gleichzeitig höre ich, wie der Rechner hochgefahren wird. Mein Vater ist kein Journalist im eigentlichen Sinne, er muss keine reißerischen, sensationslüsternen Artikel schreiben, ist nicht darauf aus, Menschen hinterherzuspionieren und unangenehme Wahrheiten in ihren Lebensläufen zu entdecken. Trotzdem scheint dieser Instinkt in ihm zu schlummern, denn die nächsten Stunden verbringt er wie in einem Rauschzustand, seine ganze Energie scheint nur ein einziges Ziel zu haben: Er will herausfinden, wer Frau Pahl ist, was sie in den letzten Jahren gemacht hat, mit wem sie zusammenarbeitet. Endlich hat er den Zipfel zu fassen bekommen, der ihn weg von den oberflächlichen Ereignissen, hin zum wahren Kern der Geschichte führen kann. Zum ersten mal verwendet er den Begriff »Klontechnik«. Plötzlich beschleicht mich Angst. Ist er es leid, immer nur über mehr oder weniger unspektakuläre Funde und Restaurierungsarbeiten zu berichten? Will er auch mal ganz groß herauskommen, seinen Namen auf der Titelseite einer angesehenen Zeitung lesen? Leila und ich blicken uns fragend an. Sie kann ja nicht verstehen, was hier vor sich geht, doch auch sie scheint zu spüren, dass mein Vater weit mehr als nur unhöflich ist. Auf ihrem dunklen Gesicht vermischen sich Besorgnis und Furcht. Unruhig schiebt sie ihre rosa Zunge zwischen die vollen Lippen, schnalzt mehrmals. Plötzlich hat sie es eilig, von hier wegzukommen. Ich gehe zu Papa, will ihn daran erinnern, dass Mama
auf einen Rückruf wartet, doch er schenkt mir nur ein kleines Lächeln, vergräbt seinen Kopf in einem Stapel Papier. Da es um Kleo und Jojo geht, lege ich mich auf sein Bett, stelle ihm ab und zu bohrende Fragen, höre ihm beim Telefonieren zu, doch das macht ihn nervös und bald schon verbannt er mich aus seinem Zimmer. »Räum deine Klamotten auf. Dein Bett ist der reinste Saustall. Du bist schließlich nicht allein auf der Welt. Übermorgen muss Lisa mit in dem Zimmer schlafen können.« »He, mal langsam!«, betone ich, glaube an einen Scherz, doch er scheint wirklich genervt zu sein. »Warum willst du mich loswerden?« »Weil es spät ist und die Sache ...» »Ja?« »... weil die Sache zu groß für dich ist. Ich erklär's dir morgen.« »Morgen Früh bist du längst weg, ich kenn dich. Du denkst jetzt nur an deine Story. Du suchst in Gedanken bereits nach einem Käufer für die Geschichte, stimmt's?« »Die Geschichte, die Geschichte. Verwechsle mich bitte nicht mit einem Bildzeitungsreporter. Mir geht's darum, einen Skandal aufzudecken, okay! Doch in erster Linie will ich deinen Freunden helfen. Es ist nicht ungefährlich, in diesem Ameisenhaufen zu wühlen. Mir wäre es daher lieber, wenn du dich in den nächsten Tagen zurückhältst.«
»Du meinst, ich soll zu Hause bleiben und Däumchen drehen?« »Ja, so ungefähr. Ich werde Leila dazu abstellen, auf dich aufzupassen.« »Dass ich nicht lache!« Und ich lache wirklich, mit hoher, sich überschlagender Stimme. Leila ist längst weg, ihr Name verhallt wie eine leere Drohung. Nein, beschließe ich. Ich werde nicht aufgeben, ich werde mich nicht einschüchtern lassen und ganz bestimmt lasse ich mich nicht einsperren. Nur gut, dass ich ihm nichts vom Nile Hilton Hotel erzählt habe.
Elf Es regnet. Einer von fünf oder sechs Regentagen pro Jahr ergießt sich auf mein ohnehin schon bedrücktes Haupt. Muss das sein? Wütend schaue ich zum Himmel. Meine Jacke habe ich oben liegen gelassen, doch jetzt ist es zu spät, ich habe keine Zeit mehr, sie zu holen. Vor allem aber habe ich Leila erzählt, ich würde mir nur schnell etwas Süßes kaufen gehen. Ich beschließe Jojo nicht abzuholen, sondern direkt zum Hilton zu fahren. Der Bus rollt heran und ich quetsche mich zwischen die schwitzenden und dampfenden Menschen. Draußen auf der Straße spielt sich ein Schauspiel der besonderen Art ab. Aufgeschreckt wie Federvieh laufen die Werkstatt- und Ladenbesitzer hin und her, sammeln ihr Hab
und Gut von der Straße ein und versuchen es in die viel zu engen Geschäftsräume zu zerren. Dicke Mäntel und Mützen werden hervorgeholt, und wer zu Fuß unterwegs ist, versucht sich verzweifelt vor dem Niederschlag zu retten. Dabei regnet es nicht stark, es ist ein dichter, aber feiner Nieselregen, wie man ihn bei uns den ganzen Winter lang ertragen muss. In Kairo jedoch ist der Regen die Sensation des Tages und wer Zeit und Muße hat, lehnt am Fenster und staunt. Meine Gedanken kehren zu Kleo zurück. Ich male mir unser Wiedersehen aus, bin gespannt, was sie sagen und wie es mit uns weitergehen wird. Erst jetzt wird mir bewusst, dass Kleo doppelt gestraft ist. Die ganze Zeit über habe ich die Tatsache, dass sie blind ist, entweder vergessen oder verdrängt. Ihr normales Leben ist eingeschränkt genug, durch den Verlust ihrer Freiheit ist sie nun doppelt behindert. Ich bin so in Gedanken vertieft, dass ich erstaunt aufspringe, als sich um mich herum der Bus leert. Wir sind am Midan elTahrir angekommen. Ich steige aus, stelle fest, dass es immer noch regnet und ich durchweicht im Hotel ankommen werde. Eine Frau hastet auf mich zu, reicht mir eine Plastiktüte, lächelt mich an. Weil ich null kapiere, setzt sie mir die Tüte auf den Kopf, lacht wie über einen guten Witz. Ich stottere »Schukran« und springe über die Pfützen davon. Vor dem Haupteingang des Nile Hilton Hotels staut sich der Verkehr, ein lang gezogenes Hupkonzert dringt an meine Ohren. Als ich näher komme, erkenne ich den Grund
der Aufregung, eine Hochzeitsgesellschaft versucht sich ins Innere des Hotels zu retten. Weil jeder als Erster dem Regen entfliehen will, hat sich ein Pfropfen vor dem Eingang gebildet, nichts läuft mehr. Wie sollen wir in dem Durcheinander Kleo finden? Doch dann fällt mir ein, dass das unsere Superchance sein könnte. In dem Trubel können wir schneller zuschlagen und mit Kleo verschwinden. Zu dumm, dass sie mir nicht mehr Infos liefern konnte. Darf ich an der Rezeption nach ihr fragen oder sie gar ausrufen lassen? Ich schaue auf die Uhr. Ich bin fünfzehn Minuten zu früh dran. Trotzdem: Wo bleibt Jojo? Inzwischen gießt es wie aus Kübeln. Ich stehe mit meiner Plastiktüte am Rand des Geschehens und warte darauf, dass sich die Aufregung legt. Doch immer neue, immer größere Autos fahren vor, entlassen Schwärme von fein gekleideten Ägyptern. Die Männer tragen alle teure Anzüge, die Damen hasten in steifen Brokatkleidern durch den Regen. Nur die ganz jungen Frauen haben sich in modische Westkleider gezwängt. Der Regen tropft hartnäckig auf meinen Kopf, sammelt sich in einer Falte der Plastiktüte und läuft von dort auf meine Nasenspitze. Dem stillen Protest der feinen Leute zum Trotz dränge ich mich in ihre Mitte und lasse mich in die Eingangshalle schieben. Dort erwartet mich laute orientalische Musik. Die Hochzeitsgäste drängen durch die offen stehenden Flügel in einen großen Saal. Das Brautpaar, rechts und links
von Begleitern flankiert, steht noch an der Garderobe, entledigt sich der regennassen Mäntel. Der junge Mann sieht ganz nett aus, doch von der Braut kann man kaum etwas erkennen, da sie einen blickdichten Vorhang aus edler Spitze vor dem Gesicht trägt. Hoffentlich erlebt der Bräutigam keine böse Überraschung, wenn er sie das erste Mal ohne Schleier sieht.
Zwölf Fünf Minuten vor sechs. Die Hochzeitsgäste haben sich verkrümelt, das Foyer gehört wieder den Touristen, doch von Jojo immer noch keine Spur. Von Kleo auch nicht. Ich krieg die totale Krise. Kann man sich denn auf niemanden mehr verlassen? Hektisch gucke ich hinter jede Säule, renne von einer Ecke zur nächsten, schaue aus dem Haupteingang. Nichts, keine mir bekannte Menschenseele zu sehen. Inzwischen ist es achtzehn Uhr. Ich hasse Unpünktlichkeit. Kurz entschlossen steuere ich die Rezeption an, überlege es mir doch wieder anders und drehe lieber noch ein Runde. Gehe zurück zur Leseecke, zum Bankschalter, schaue erneut ins Restaurant, durchsuche die Telefonzellen. Wo ist die Bar? Endlich nehme ich meinen Mut zusammen, trete an den Tresen und frage den jungen Mann, ob eine Freundin von mir hier abgestiegen sei. Während ich ihn neugierig mustere, versuche ich meiner Stimme einen harmlosen, fast gleichgültigen Klang zu geben.
»Sie ist blind«, beschreibe ich Kleo. »Vielleicht hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?« Natürlich will er sofort unsere Namen wissen und mir bleibt nichts anderes übrig, als sie zu nennen. »Johanna Beer und ich heiße Eve Fell«, wispere ich kaum hörbar. Er sieht zuerst in seinem großen Buch nach, dann bei den Postsachen, doch als er hochblickt und ein enttäuschtes Lächeln zeigt, weiß ich Bescheid. Ich werde Geduld haben müssen. Aber Geduld war noch nie meine Stärke, bald schon merke ich, wie ich die Wände hochgehen könnte. Um mich abzulenken, drücke ich mich am Postkartenständer herum, suche nach einer Möglichkeit, Jojo anzurufen, habe sogar die Spitzenidee, in jede Telefonzelle reinzuschauen und nach einem absichtlich liegen gelassenen Zettel zu suchen. Ich finde auch jede Menge Zettel mit allen möglichen Nummern und Namen, doch keinen, der auch nur den leisesten Hinweis auf Kleo oder Jojo gibt. Ohne Handy ist man echt aufgeschmissen. Verflixt und zugenäht! Nach meiner Uhr sind bereits dreißig Minuten vergangen. Wie lange soll ich warten? Spätestens um neunzehn Uhr muss ich mich zu Hause melden, sonst wird Papa Leila terrorisieren. Die anderen Menschen in der Halle wirken geschäftig, geben mir das Gefühl, ein unbedeutendes Nichts zu sein. Aus dem Saal ertönt laute, arabische Tanzmusik, alle scheinen sich bestens zu amüsieren, nur für mich dehnen sich die Minuten zur Unendlichkeit.
Eine weitere halbe Stunde später beschließe ich, dass es jetzt reicht. Ich habe mein Bestes gegeben. Es ist neunzehn Uhr, ich muss Papa anrufen. Oder soll ich ihn einfach ignorieren? Schließlich hat er mich gestern Abend einfach auf mein Zimmer geschickt und sich tagsüber kein einziges Mal bei mir gemeldet. Schlecht gelaunt beschließe ich erneut aufs Klo zu gehen. Zwei aufgetakelte Damen, die im Vorraum der Toilette stehen und sich die Hände waschen, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, doch ich habe keine Zeit und auch keinen Grund, sie mir genauer anzuschauen. Doch während des Pipimachens höre ich sie reden und zucke zusammen, als hätte jemand auf mich geschossen. »Nutze die Zeit«, sagt eine von ihnen und ich weiß sofort, wem diese Stimme gehört, »denn das Leben ist nur ein Traum ...«An der Stelle schleift die Stimme, als hätte sie Mühe, die Worte zu transportieren. »... und alles geht dahin und muss sterben.« Die gleichen Worte hat Kleo mir an unserem ersten Abend zum Abschied gesagt und deshalb weiß ich, da draußen steht sie, keine zwei Schritte von mir entfernt. Eine zweite Stimme redet beruhigend auf Kleo ein, deutsche Wortfetzen dringen an mein Ohr, dann folgt ein Seufzer und ein Schlag, als würde jemand gegen den Spiegel donnern. Ich beeile mich, bleibe an meiner Unterhose hängen, verheddere mich beim Zuknöpfen der Hose, und als ich endlich aus dem Klo stürme, ist von den beiden nichts mehr
zu sehen. Ohne mir die Hände zu waschen haste ich an den verwunderten Klodamen vorbei, renne ins Foyer und bin sicher, sie dort zu sehen. Sie hatten sehr helle, fast weiße Kleider an, doch da ich nicht richtig auf sie geachtet habe, könnte ich sie nicht beschreiben. Ich weiß nur, dass ich Kleo nicht hinter diesem Kostüm aus Spitzen und Rosetten vermutet hätte. Die Hochzeit! Na klar, Kleo befindet sich unter den Hochzeitsgästen, deshalb war sie so merkwürdig angezogen. Doch wie kommt sie dazu, an dieser Feier teilzunehmen? Sie ist krank und die Krankheit vielleicht ansteckend! Und wer war die Frau, die beruhigend auf sie einredete? Freundin oder Feindin? Ich stürze also erneut zur Rezeption und frage, ob es zum Tanzsaal einen Nebeneingang gibt. Ja, sagt der junge Mann ohne zu zögern, doch es handle sich um eine geschlossene Gesellschaft, ich könne da nicht rein. »Nur mal gucken, bitte, bitte«, flehe ich, und weil ich gerade dabei bin, klimpere ich auch mit den Wimpern. Der Mann zieht die Augenbrauen nach oben, grinst und nickt. Dann redet er kurz mit seinem Kollegen, kommt um den Tresen herum, und ich kann's nicht fassen, er geleitet mich höchstpersönlich zum Tanzsaal. Ist das zu glauben? Wer hätte gedacht, dass ich so viel Charme besitze. Das verleiht mir mächtigen Auftrieb und ich frage ihn mit rollenden Augen, ob
er nicht möglicherweise eine Mileya für mich hat. Leihweise, versteht sich. »Because it is a traditional party«, gebe ich zu bedenken und er nickt ernsthaft. Es scheint zu klappen. Er geht mit mir zum hoteleigenen Basar, redet mit der Verkäuferin und schiebt mich hinter einen Vorhang. Und dann geht alles sehr schnell. Die Frau kommt mit einem dunkelblauen, nicht sehr schönen Umhang zu mir, doch ich will nicht meckern. Sie zeigt mir sogar, wie ich das Ding anziehe, knüpft mir unaufgefordert ein Tuch um den Kopf und hält mir die offene Hand hin. Ich lege ihr zuerst ein paar, dann immer mehr Lira in die Hand, bis sie endlich zufrieden ist, den Weg freigibt und den Vorhang zur Seite schiebt. Dort wartet der Mann von der Rezeption, mustert mich und schnalzt zufrieden mit der Zunge. »Und nun zum Seiteneingang!«, kommandiere ich. Ohne weiteren Kommentar schiebt er mich dicht an eine Tür heran, öffnet sie einen kleinen Spalt, damit ich mir ein Bild der Lage machen kann. Er kann unmöglich wissen, was ich vorhabe, doch er spürt natürlich, dass ich mich auf unsicherem Boden bewege. Laute Musik und der Rauch von unzähligen Zigaretten schlägt uns entgegen, übertüncht die Wohlgerüche des Essens, das auf unendlich vielen Platten die Tische füllt. Unmengen von Gläsern, Flaschen und Karaffen fallen mir ins Auge und überall blüht und grünt Plastikschmuck. »Thank you very much«, bedanke ich mich bei meinem
Helfer und entlasse ihn mit einem freundlichen Lächeln. Sehe ihm nach, wie er zögernd zu seinem Platz zurückkehrt, dann schließe ich hinter mir die Tür und konzentriere mich ganz auf das Treiben vor mir. Der Raum ist von meinem Platz aus fast vollständig zu überblicken, doch eine unübersichtlich große Zahl von Gästen sitzt, steht und bewegt sich zwischen den langen Tischen. Es müssen Hunderte sein. Viele der Gäste tummeln sich auf der Tanzfläche, Frauen und Männer fein säuberlich getrennt. Wie soll ich Kleo in diesem Gedränge finden? Ein kleines Mädchen huscht an mir vorbei, ich erschrecke und trete einen Schritt zurück, doch die Kleine hat mich nicht gesehen. Sie rennt weiter zu ihren Freundinnen, gesellt sich zu den Tanzenden und schwingt gekonnt die Hüften, zieht mich für wenige Sekunden in ihren Bann. So eine arabische Hochzeit ist etwas Schönes, etwas Wunderschönes. Meine Augen jedoch huschen von einer Frau zur nächsten, viele Kopftücher haben sich gelockert und bestimmt ist Kleo zu finden. Schließlich weiß ich, dass sie ein helles Kleid trägt und mit Sicherheit die kürzesten, modernsten Stoppelhaare in diesem Saal besitzt. Trotzdem kann ich sie nicht entdecken. Natürlich kann es sein, dass sie genau in den wenigen Minuten, in denen ich mich verkleidet habe, den Raum verlassen hat. Oder sie war gar nicht mehr drin, sondern ist gleich in ein Taxi gestiegen, doch das will ich nicht glauben. Ich will sie jetzt finden, ich will, ich will! Erst spät merke ich, dass ich wild mit dem Fuß aufstampfe und die
Aufmerksamkeit einer Gruppe Frauen auf mich ziehe. Mit hochgezogenen Augenbrauen drehen sie sich nach mir um, beginnen zu tuscheln. Gott sei Dank schwingt in diesem Moment die Haupttür am anderen Ende des Saales auf und eine Horde Männer kommt herein. Die Aufmerksamkeit der Frauen richtet sich auf sie. Unter dem jubelnden Klatschen aller Anwesenden wandern die Männer zur Bühne. Ich erkenne den Bräutigam in ihrer Mitte, denn er trägt als Einziger einen schneeweißen Anzug. Zwei Frauen treten auf ihn zu, die eine groß und stattlich, die andere wirkt sehr jung, schüchtern, mit hängenden Schultern und weißem Rüschenkleid: die Braut. Immer noch ist sie verschleiert. Die Feier scheint ihr nicht gut bekommen zu sein, sie lässt sich ziehen und bitten, als wäre sie ein Lamm, das zum Opfertisch geführt wird. Was kommt jetzt? Soll sie mit ihrem frisch angetrauten Göttergatten tanzen oder was? Auf jeden Fall windet sie sich in den Armen der älteren Frau, redet auf sie ein, wirkt unglücklich durch und durch. Und da endlich begreife ich es. Kleo, das ist Kleo! Getarnt als verschleierte Braut. Durch Drogen willenlos gemacht. Was haben sie mit ihr vor? Warum treten immer mehr Menschen in den Kreis, warum schwillt die Musik zu immer höheren Akkorden an und weshalb kreischen und jubeln die Frauen und Kinder immer hysterischer? Als wäre das alles noch nicht genug, wird die Musik noch eine Spur lauter, eindringlicher, bevor sie abrupt abbricht. Im gleichen Augenblick flattern Geldscheine und Reis oder grobe Salzkörner auf das junge Paar hernieder und sie verlassen unter lauten Jubelschreien den Saal. Die Braut kann nicht alleine gehen, wird gestützt von der älteren
Frau. Jetzt endlich erkenne ich sie. Es ist die Großäugige aus dem Hotel in Hurghada. Kleos Tante! Inzwischen stehe ich bebend im Foyer, sehe, wie die drei den Saal verlassen und die große Halle durchqueren. Meine Fantasie reicht aus, mir vorzustellen, dass sie ihre Mäntel holen, zum Ausgang gehen und in ein am Straßenrand parkendes, blumengeschmücktes Auto steigen werden. Was soll ich tun? Verdammt, ich hatte so viel Zeit, darüber nachzudenken, doch immer noch habe ich keinen Plan. Da steht plötzlich ein Riese neben mir und dieser Riese ist kein anderer als mein Vater. »Jesus, wo ... wo kommst du her?«, stottere ich, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt habe. Papa gebietet mir mit einer einzigen Handbewegung, ruhig zu sein. Sein angespanntes Gesicht ist sehr blass und an seinem hechelnden Atem kann ich erkennen, dass er gerannt sein muss. Seine dunklen Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht. »Hat Jojo dir gesagt, dass ich hier bin? Wo ist er?«, frage ich aufgeregt, beobachte weiter die Szene vor mir. Der Bräutigam hält gerade der Braut einen dünnen Mantel entgegen, doch sie ist unfähig, hineinzuschlüpfen, die Großäugige muss ihr helfen, die Arme einzeln anheben und durch die schmalen Ärmel schieben. Überrascht blickt mein Vater mich an, doch er antwortet immer noch nicht. Ich merke,
wie aufgeregt er ist. Was hat er herausgefunden? Wenn er Jojo nicht getroffen hat, wer hat ihm gesagt, dass Kleo sich hier aufhält? Und vor allem, was hat er vor? Wie um meine Ängste zu zerstreuen, legt Papa seinen Arm um mich, beugt sich zu mir herunter und flüstert mir mit leiser Stimme ins Ohr: »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und bin zur Klinik gefahren. Doktor Hassan war nicht im Haus und es hat lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, wo er steckt. Er muss hier unter den Gästen sein. Eve, hör zu, sie wollen Kleo außer Landes bringen. Sie ist die Braut. Den Zirkus veranstalten sie nur, damit sie einen neuen Namen erhält. Draußen steht ein Taxi, der Fahrer weiß Bescheid. Bring Kleo zu uns nach Hause!« Noch während er das sagt, richtet er sich wieder auf, den Blick starr auf die Brautleute geheftet. Ich will ihn fragen, ob unsere Wohnung denn als Versteck sicher ist, doch da marschiert er bereits mit langen Schritten durch die Halle, mischt sich zwischen die Dreiergruppe, schiebt die Braut sanft zur Seite und beginnt mit der Großäugigen eine Auseinandersetzung um einen Mantel. Wie immer bei solchen Gelegenheiten mischen sich alsbald jede Menge Unbeteiligter ein und es entsteht innerhalb kürzester Zeit ein regelrechter Menschenauflauf. Papas ungewöhnliche Größe bewirkt, dass sich noch mehr Menschen als gewöhnlich um die Brautleute scharen. Das ist meine Chance, begreife ich sofort, renne hin und ziehe die völlig verdatterte Kleo aus der Menge, flüstere ihr zu, dass wir uns beeilen müssen, und zerre sie zum Ausgang. Dabei kommt mir meine Verkleidung zugute. Niemand hält uns auf, niemand
stellt dumme Fragen. Es regnet längst nicht mehr, der Belag vor dem Hotel ist aber noch glitschig. Kleo schlittert, doch ich habe sie fest im Griff, ziehe sie zum wartenden Taxi und schiebe sie hinein. Der Fahrer dreht sich nicht nach uns um, startet den Wagen und mir ist klar, dass er uns direkt nach Hause bringt, wenn ich nichts sage. Schnell gebe ich die Adresse von Jojos Lehrer an, sicher ist sicher. Das Taxi fährt los und es fährt schnell, was in diesem Verkehrsgewühl natürlich nicht einfach ist. Deshalb gucke ich mich hektisch um, will wissen, ob uns jemand gefolgt ist und nun seinerseits ein Taxi heranwinkt. Was ich allerdings sehe, haut mich glatt um. Hinter uns fährt ein Wagen und auf dem Beifahrersitz sitzt eine Frau mit wilder Lockenmähne, beugt sich weit nach vorne, als wäre sie kurzsichtig, starrt mir direkt in die Augen. Es ist dunkel, ich bin aufgewühlt, unser Rücklicht spiegelt sich in der Fensterscheibe des uns nachfolgenden Wagens, doch ich bin mir absolut sicher: dort neben dem Fahrer sitzt Leila. Mein Herz krampft sich zusammen, obwohl ich nicht verstehe, was ihre Anwesenheit bedeutet. Ungeduldig fordere ich den Fahrer auf, schneller zu fahren. Dann erst komme ich auf die Idee, den Schleier der Braut zu lüften. Ich hab ja keine Ahnung, ob es wirklich Kleo ist, für die ich Kopf und Kragen riskiere. Mit zitternden Fingern greife ich nach der hellen Spitze, doch Kleo sinkt mir bereits mit einem tiefen Seufzer und einem erstickten »Eve« in die Arme. Ich halte sie fest und wiege sie wie ein Kind, während ihre langen Finger unruhig über meinen Körper
tasten. Kurz darauf fängt sie an zu kichern. Sie lacht und weint, gibt ein deutsches Weihnachtslied zum besten. Inzwischen habe ich den Schleier zu fassen bekommen, lüfte ihn und erkenne eine bis zur Unkenntlichkeit grell geschminkte Mädchenfrau. Dunkelbraune, weit aufgerissene Augen starren mich mit dem Ausdruck einer Irren an und mir wird klar: Kleo wurde mit Drogen voll gepumpt, fühlt sich nicht nur körperlich schlecht, sondern ist auch nicht Herr ihrer Sinne. Wie wir vom el-Tahrir wegkommen sind, weiß ich nicht mehr, denn ich bin viel zu sehr mit Kleo beschäftigt. »Zur Sharia Gamalija?«, frage ich den Fahrer erstaunt, als ich feststelle, dass er mehrmals im Kreis fährt. Der Fahrer nickt und zeigt auf den uns verfolgenden Wagen. »Not good«, zischt er zwischen den Zähnen hervor und gibt Gas. Ich bin in einem Krimi, ganz eindeutig. Erschöpft lehne ich mich zurück, überlasse allen Männern dieser Welt, die Sache zu Ende zu bringen. Papa hat mir geholfen, Kleo zu entführen, ein Taxifahrer wird mir hoffentlich helfen, das uns verfolgende Taxi abzuhängen. »Bakschisch, Bakschisch«, verspreche ich ihm und drücke ihm und uns die Daumen. Bei dem Wort Bakschisch lacht er laut auf, seine Augen funkeln und selbst der Wagen vollführt einen Freudensprung. Als wir jedoch in die Sharia Gamalija einbiegen und am anderen Ende ein Polizeifahrzeug steht, ist es um die ausgelassene Stimmung des Fahrers geschehen. Ohne sein
Gesicht zu sehen, weiß ich, dass er Angst hat. Es war dumm, hierher zu fahren. Jojo ist nicht grundlos weggeblieben. Bestimmt haben sie ihn verhaftet. »Umdrehen!«, rufe ich auf Englisch, doch das kann ich mir jetzt sparen. Unser Fahrer ist zu einem verängstigten Kaninchen erstarrt. Er fährt sofort an den Rand, schaltet den Motor und die Lichter aus und befiehlt uns, augenblicklich den Wagen zu verlassen. Ich will protestieren, doch sein Tonfall wird immer lauter und selbst das hingehaltene Geld will er nicht annehmen. Resigniert zupfe ich Kleos Schleier zurecht, knüpfe mein Tuch enger und merke zum ersten Mal, dass so eine Verkleidung einem Halt und Sicherheit geben kann. Vielleicht lassen sich deshalb junge Mädchen auf diese strenge Kleidersitte ein. »Kleo, komm«, flüstere ich eindringlich und ziehe sie vom Sitz hoch. »Du musst dich jetzt zusammenreißen, ich kann dich nicht tragen.« Das sage ich, obwohl ich keinen Schimmer habe, wohin wir gehen sollen. Wenn der Polizeijeep nur zufällig in der Straße steht und Jojo einen harmlosen Grund für sein Fernbleiben hat, wäre es dumm, abzuhauen. Leider kann ich von hier aus nicht beurteilen, wie weit es bis zu Fuads Haus ist. Die drei Soldaten oder Polizisten lehnen lässig an ihrem Auto, unterhalten sich und blicken zu einem Cafe hinüber. Vielleicht warten sie nur darauf, dass ihr Chef austrinkt. Im Schutz der Dunkelheit könnte ich mich an ihnen
vorbeischleichen und herausfinden, ob mit Fuads Haus alles in Ordnung ist. Andererseits traue ich mich nicht, Kleo allein zu lassen. Sie hängt schwer an meinem Arm. Immer noch ist die Straße voller Menschen. Die Händler beginnen zwar damit, einzelne Waren nach drinnen zu räumen, doch das kann noch Stunden dauern. Aus dem nahe gelegenen Cafe dringt laute, wehmütige Musik, die Männer sitzen an kleinen Tischen, rauchen Wasserpfeife oder spielen Brettspiele. Heile Welt. Kleo bewegt den Kopf schnuppernd hin und her, als wollte sie herausfinden, was um sie herum vor sich geht, doch sie ist schlapp und müde, kann sich nicht lange konzentrieren. Ihr Kopf, schwer von den Medikamenten, fällt immer wieder seitlich auf meine Schulter herab. »Der Taxifahrer wird unruhig, wir müssen weg von hier«, zwinge ich sie, bohre meine Fingernägel tief in ihren Arm und warte darauf, dass sie aufschreckt, flucht und wie ein Automat einen Fuß vor den anderen setzt. »Alles wird gut.« Leere Worte. Ich weiß ja nicht einmal, ob wir nach rechts oder links laufen sollen. Mein Körper ist es, der letztendlich die Entscheidung fällt. Meine Beine setzen sich in Bewegung und sie steuern in die Richtung, in der ich Fuads Haus vermute. Plötzlich höre ich hastige Schritte hinter uns und weiß sofort, dass wir verfolgt werden. Deshalb beschleunige ich, zerre an Kleo und wir wechseln die Straßenseite. Doch Kleo zu stützen und zu ziehen kostet mich so viel Kraft, dass wir kaum vorankommen. Die Luft wird mir knapp, das Tuch um meinen
Kopf rutscht herunter, und weil ich zwei Schichten Kleider übereinander trage, beginne ich fürchterlich zu schwitzen. »Weiter, weiter«, mache ich mir und Kleo Mut, »wir müssen es schaffen. Vielleicht fällt mir ein, wo die Schwester von Fuads Frau wohnt. Jojo hat es mir gestern gezeigt, aber ... «So plappere ich vor mich hin, leise, eindringlich, will Kleo wach und mich bei Laune halten. Ein verzweifelter Versuch, der mich unnötig Kraft kostet, denn die Schritte hinter uns kommen immer näher, und als ich mich umdrehe, erkenne ich eine Frau in dunkler Kleidung. Unter dem schwarzen Kopftuch quellen tausend Locken hervor und die hellen Augen leuchten wie Scheinwerfer in dem schwarzen Gesicht. Leila ist dicht hinter uns. Wir haben sie also nicht abgeschüttelt. Ich kenne sie erst seit wenigen Tagen, doch ich hätte ihr mein Leben anvertraut. Jetzt sieht das anders aus. Sie folgt uns, sie bedrängt uns, sie macht gemeinsame Sache mit wem auch immer. Neben mir richtet Kleo sich auf, wird ganz leicht und ich ziehe sie lässig über den Gehweg wie eine auf Rollen montierte Puppe. Ohne ein Wort zu sagen hat Leila Kleo unter-gefasst und nun streben wir gemeinsam einem unbekannten Ziel zu. Ein kurzer Blick in Leilas liebes, freundliches Gesicht sagt mir, dass ich ihr vertrauen kann. Sie ist aus Sorge um mich hinter mir hergefahren. Sie hilft uns, greift Kleo buchstäblich unter die Arme. Doch das Ganze hat auch Nachteile, zu dritt sind wir noch auffälliger, die Menschen drehen sich nach uns um und es ist allerhöchste Zeit, dass wir irgendwo untertauchen. Längst habe ich
festgestellt, dass wir nicht zu Fuad gehen können. Der Jeep parkt nur zwei Häuser von der Eingangstür entfernt. Und das Haus seiner Schwägerin finde ich im Dunkeln nicht. Ängstlich bleibe ich stehen, verschnaufe einen kurzen Augenblick, dann raune ich Leila zu: »Wir müssen sie verstecken. Nach Hause können wir sie nämlich nicht bringen.« Leila nickt, hat längst kapiert, was vor sich geht. »Hat Papa dir gesagt, dass du mir folgen sollst'« Diesmal antwortet Leila nicht sofort. Dann nickt sie, verdreht die Augen und bedeutet mir, dass wir später weiterreden sollen. »Let's go to the cemetery.« Cemetery, denke ich, was ist denn das? Das Wort kenne ich aus einem Song, aber ich komme nicht darauf, was es bedeutet. Verständnislos starre ich sie an, doch sie hat sich längst abgewendet, kontrolliert die Straße, als wolle sie sie überqueren. »No«, protestiere ich, »the police.« »I know«, antwortet sie, zieht uns trotzdem über die Straße. Was soll das? Dort drüben gibt es auch keine Seitenstraße, die wir einschlagen können. Entweder wir verschwinden jetzt in einem der Geschäfte oder Hauseingänge oder wir laufen den Soldaten direkt in die Hände. Die lehnen immer noch rauchend an ihrer Karosse, blicken mal dahin, mal dorthin. Kleo stöhnt in unserer Mitte wie ein gepeinigtes Tier, sie wird immer schwerer, und als würde sie absichtlich
auffallen wollen, beginnt sie eine Melodie vor sich hinzusummen. Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss kichern, so laut kichern, dass ich Kleos unmelodischen Singsang übertöne. Leila fällt in mein Lachen mit ein, wir stecken die Köpfe zusammen und nehmen Kleo wie mit einer Kneifzange zwischen uns. Unsere Schritte hasten über den Gehweg, die Soldaten schauen verwundert zu uns herüber, doch weil wir unansprechbar wirken, lassen sie uns passieren. Ihre Blicke sind allerdings nach wie vor auf uns gerichtet. Nicht weit vor uns erkenne ich das Ende der lärmenden Einkaufsstraße. Sie geht in eine Wohnstraße über und dadurch wird die Beleuchtung sparsamer. Erleichtert atme ich aus, hoffe, dass uns bald die Dunkelheit verschlucken wird.
Dreizehn Inzwischen ist mir klar, was »cemetery« bedeutet, denn ich habe mir die Knie schon etliche Male an schräg herausstehenden Grabsteinen gestoßen, bin an Mauervorsprüngen und unebenen Pflastersteinen hängen geblieben. Leila hetzt uns gnadenlos voran. Jetzt, da wir die Straße verlassen haben, scheint sie es noch eiliger zu haben. Erstaunlich ist, wie gut sich Leila zurechtfindet. Entweder sie
besitzt Augen wie ein Luchs oder sie kennt diesen Friedhof inund auswendig. Über uns erhebt sich ein sagenhafter Sternenhimmel, doch der Mond versteckt sich hinter einer Wolke und beleuchtet nur ab und zu unseren Weg. Meine Luft ist knapp, trotzdem muss ich es jetzt endlich wissen: »Warum warst du im Hilton?« »Ich bin dir gefolgt. Dein Vater hat mich darum gebeten.« »So einfach ist das?« »Ja! Und ich habe ihn auch angerufen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass du alleine klarkommst. Doch er wusste schon Bescheid, besser gesagt, er wusste, dass Doktor Hassan und Kleo im Hotel waren und vermutete auch dich dort.« »Und warum bist du nicht reingekommen? Du hättest mir helfen können«, bohre ich weiter, denn nicht zum ersten Mal habe ich den Eindruck, dass Leila nur die halbe Wahrheit sagt. »Weil man mich kennt.« »Wer kennt dich?«, frage ich verwundert. »Jemand im Hilton Hotel«, weicht sie aus und beschleunigt ihre Schritte. Doch ich will endlich wissen, was mit Leila los ist. Daher bleibe ich stehen, versuche ihr Gesicht zu ergründen, aber dafür ist es zu dunkel.
»Nein«, beharre ich, »ich finde, du benimmst dich komisch, du bist kein normales Dienstmädchen, du bist viel zu intelligent und ...» Die englischen Wörter in meinem Mund verhaspeln sich und ich merke, dass ich dabei bin, Vorurteile und Ängste miteinander zu vermengen, also bin ich lieber still. Vorsichtig setzen wir unseren Weg über umgefallene Steine und kleine Gräber fort. »Wann können wir endlich wieder ein Taxi nehmen?«, wechsle ich das Thema, will zu einem späteren Zeitpunkt auf meine Fragen zurückkommen. Zunächst sollten wir so schnell wie möglich von diesem Friedhof runter. Als geschickte Abkürzung würde ich den Weg nun doch nicht mehr bezeichnen. Die Gefahr, sich die Beine zu brechen, ist einfach zu groß. »Werden wir zu deinen Eltern fahren?«, will ich wissen, doch Leila zischt ungehalten, gebietet mir zu schweigen. Stimmengemurmel und Gelächter sind plötzlich zu hören. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Tatsächlich flackern hie und da Lichter auf, von weitem habe ich sie für Grablichter gehalten, doch jetzt kommt mir der Verdacht, dass hinter den Bretterverschlägen Menschen leben. Wo sind wir gelandet? Ein Esel ruft laut und eindringlich, ruft, als wolle er mich holen. Ist das hier nun ein Friedhof oder ein Wohnviertel oder beides? Unmöglich, dass Esel aus Gräbern auferstehen und nachts Unfug treiben. Inzwischen sind wir stehen geblieben, Leila schnuppert nervös, ein schwarzer Schatten huscht nicht weit von uns entfernt über den Weg. Wir drücken
uns an eine Wand, atmen tief durch, gehen erst weiter, nachdem die Luft rein ist. »Ich kann nicht mehr«, jammert Kleo, doch wir hören ihr schon gar nicht mehr zu. »Tsch«, zischt Leila erneut, »here lives the Mu'allim.« Sehr schön. Hübscher Name, doch für wen? Für den Esel, den ich vorhin gehört habe, oder handelt es sich um eine wichtige Staatsperson, die es sich auf diesem Friedhof bequem gemacht hat? Mir ist inzwischen alles egal. Ich will nach Hause, ich will meine Ruhe, nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen. »How far is it?« Natürlich weiß ich, dass meine Stimme nörgelig klingt, doch langsam müssen wir diesen doofen Friedhof durchquert haben, selbst wenn wir diagonal oder im Zickzackkurs unterwegs sind. Leila antwortet nicht und kurz darauf dämmert mir auch, warum. Sie ist stehen geblieben, dreht sich zu mir um. Diesmal will sie niemandem ausweichen, sich nicht ducken, wir haben unser Ziel erreicht. »What?«, flüstere ich empört, sehe hilflos mit an, wie sie mit den Fingerspitzen gegen eine Bretterwand trommelt. Wir stehen vor einer zwei Meter hohen Wand aus unterschiedlich breiten Brettern, eine Wand, die so aussieht, als würde sie beim leichtesten Windhauch zusammenkrachen. Eine dünne Stimme fragt Leila nach ihrem Namen,
dann öffnet sich die Bretterwand vor meinen staunenden Augen. Ein großes Brett wird zur Seite gehoben und ein dunkelhäutiges Männlein steckt seinen Lockenkopf durch die Öffnung. Seine Augen sind fast schwarz, voller Übermut und Interesse. »Jalla, jalla«, winkt er uns herein, verschließt die Öffnung hinter uns. In dem Hof, in dem wir nun stehen, brennt eine Gaslampe und ich erkenne, dass zwei kleine Mausoleen das Herz dieser merkwürdigen Behausung bilden. Zwei Grabhäuser also, die in diesem speziellen Fall durch ein Holzdach miteinander verbunden sind. Darunter liegen Matten. Sehr gemütlich. Ich erkenne auch einen Tisch mit einem Kocher, Geschirr, diverse Haushaltsutensilien. Vor der Tür des einen Häuschens steht ein Schubkarren und dahinter leuchten ein, zwei, drei, vier, mindestens fünf Augenpaare. Besuch, Kinder!, will ich in meiner Not rufen. Steht auf! Kommt raus! Guckt uns an! Es gibt noch Verrücktere als euch! Ich meine, auf einem Friedhof zu leben, in den Grüften einstmals reicher Kaufleute, ist schon verrückt genug, doch wir setzen dem Ganzen die Krone auf, indem wir uns hier verstecken müssen. Tatsächlich folgt nun die große Begrüßung. Wir werden in eines der Häuser geleitet, das gerade genug Platz bietet, damit jeder einen Stehplatz abkriegt, dann wird mit Namen Pingpong gespielt. Leila hat inzwischen ihre Scheu vollkommen verloren, sie redet laut, fühlt sich wie zu Hause.
»This is my cousin Muhammad.« Sie zeigt auf den Herrn des Hauses, der etwa doppelt so alt sein dürfte wie Leila, dann zeigt sie nacheinander auf die vier Kinder: »Muhammad, Achmed, Ibrahim, Naima.« Ganz zuletzt legt sie ihre Hand auf den Arm der großen Frau, deren dunkle Augen den gleichen verängstigten Ausdruck wie die der Kinder haben: »And this is Aisha.« Ich nicke freundlich. In diesem Augenblick sackt Kleo zusammen, und weil ich nicht schnell genug reagiere, entgleitet sie mir, rutscht langsam zu Boden. Nicht weiter schlimm, der winzige Raum ist mit Strohmatten ausgelegt, die wohl als Betten dienen. Aisha beugt sich über Kleo, fühlt ihren Puls, kontrolliert die Augen. Dann schickt sie eines der Kinder los, das bald darauf mit Wasser zurückkommt. Zu zweit flößen sie der bewusstlosen Kleo Flüssigkeit ein, und als das nichts hilft, schüttet Leila ihr einen Becher Wasser über den Kopf. Dabei wird wie wild durcheinander geredet und gestikuliert. Kleos Zustand versetzt alle Anwesenden in helle Aufregung, auch mich. Der Ton wird lauter und gleicht einem heftigen Streit. Doch da ich nur Bahnhof verstehe, kann ich nicht mitmischen. Immer wieder versuche ich Leilas Aufmerksamkeit zu erregen, will wissen, was los ist, doch die kniet am Boden neben der immer noch bewusstlosen Kleo. Inzwischen hat der Hausherr eine große Schüssel von der Wand genommen, während seine Frau Kleos Pupillen erneut mit einem Feuerzeug beleuchtet. Was haben sie vor? Um besser sehen zu können, trete ich ein Stück näher, doch im gleichen
Augenblick werden alle Kinder hinausgewunken, ich auch. Das finde ich nun ganz und gar nicht lustig, schließlich bin ich Kleos beste Freundin. Andererseits sehe ich ein, dass ich nicht helfen kann. Das Mausoleum besitzt keine Tür, ich spähe also hinein, nichts soll ohne meine Kontrolle ablaufen. Doch als ich die lauten Würgegeräusche höre, den sich aufbäumenden Körper von Kleo sehe, drehe ich mich entsetzt weg, lehne mich draußen an die kühle Steinwand und zähle bis Tausend. Über mir breitet sich immer noch der wunderbare Sternenhimmel wie eine Filmleinwand aus und vor mir haben sich vier Kinder postiert, betrachten mich aus verschlafenen, aber neugierigen Augen. Eine halbe Stunde später geht es Kleo besser, sie ist eingeschlafen und Leila erklärt mir, dass dies hier ein sicheres Versteck für sie ist. »Mein Cousin hat uns ein Taxi bestellt, komm, wir müssen noch ein Stück laufen.« »Warum tut ihr das für uns? Warum hilfst du meiner Freundin, die du doch gar nicht kennst?« »Ich helfe dir.« »Aber auch mich kennst du kaum.« »Man kann Menschen lieben ...« Sie sagt tatsächlich lieben. »... auch wenn man sie kaum kennt.« »Erklärst du mir jetzt endlich, warum du nicht ins Hotel
reingekommen bist?« »Vertrau mir! Ich kann dir das nicht sagen. Jemand hätte mich erkennen können.« Mehr sagt sie nicht und ich gebe mich mit dieser Antwort zufrieden. Obwohl es spät ist, kann ich Leila dazu überreden, in der Sharia Gamalija Halt zu machen. Der Polizeijeep ist weg und ich husche schnell zu Fuads Haus, klopfe an die Tür. Alle Lichter sind gelöscht. Wir werden nicht erwartet, sind nicht erwünscht. Doch ich muss es wissen. Muss wissen, ob es Jojo gut geht oder ob der Jeep ihn abgeholt hat. Deshalb gebe ich nicht auf, trommle immer lauter an die Tür. Endlich öffnet der verschlafene Hausherr. Nein, wundert er sich, Jojo sei nicht abgeholt worden, die Polizei sei nicht bei ihnen gewesen, Gott sei Dank. Jojo litte aber unter »diarrhea«, könne nicht aufstehen. »Durchfall«, übersetzt Leila und ich bin zu erleichtert, auch zu müde, um mich über ihre Deutschkenntnisse zu wundern. Total erledigt lasse ich mich wieder ins Taxi fallen und wir schaukeln weiter durch die matt erleuchteten Straßen von Kairo. »Ist sie in Sicherheit?«, beginnt mein Vater sein Verhör. »Ja!« »Wo ist sie? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.« »Ich habe mich nicht getraut, sie hierher zu bringen,
deshalb ist sie bei Verwandten von Leila.« Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch, blickt mich misstrauisch an. »Du warst es schließlich, der Leila alles erzählt hat, und du hast sie hinter mir hergeschickt, scheinst mich für ein Baby zu halten«, erkläre ich in vorwurfsvollem Ton. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Um wen?«, frage ich, schüttle zornig den Kopf. »Was meinst du mit um wen?« »Hast du dir Sorgen um Kleo oder um mich gemacht?« »Um dich natürlich, um ... um euch beide. Bist du eifersüchtig?« Papa lacht, doch sein Lachen klingt nicht fröhlich, nur müde. »Ich bin nicht die Spur eifersüchtig. Aber ich wundere mich. Warum fragst du nicht, wie es Jojo geht? Er ist genauso beschissen dran wie Kleo.« »Nofrure auch, aber du hast dich trotzdem nicht um sie gekümmert.« »Das stimmt«, gebe ich zu, merke, dass ich meinem Vater alles Mögliche zutraue. »Warum interessierst du dich so für Kleo?« »Weil die Gefahr besteht, dass sie ermordet wird.«
»Und deshalb haben sie sie verheiratet?« Ganz schlecht ist mir geworden. Von entführen, einsperren, Nötigung zur Heirat bis hin zu Mord ist es ein langer Weg. »Jetzt setzt dich erst mal hin, du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenklappen.« Mein Vater drückt mich mit sanftem Nachdruck auf einen Küchenstuhl, schiebt mir einen Teller mit kaltem Essen unter die Nase. Dann setzt er sich ebenfalls. Morgen kommen Mama und Lisa zurück, fällt mir ein und ich spüre, dass ich mich auf die beiden freue, als würde ihre Anwesenheit unser Leben endlich wieder in normale Bahnen lenken. »Jojo liegt mit schlimmem Durchfall im Bett«, sage ich laut und beginne damit, Fladenbrot in die kalte Tomatensoße zu tunken, »deshalb werde ich Kleo morgen besuchen und ihr die ganze Wahrheit sagen.« Noch während ich mir diese Scheißsituation vorstelle, fährt mein Vater mit seinen Vermutungen fort. »Kleos Heirat diente wohl nur dem einen Zweck, ihr eine neue Identität zu verleihen.« Er mustert mich kritisch, als müsse er beurteilen, wie viel er mir anvertrauen kann. »Und einen solchen Aufwand betreibt man nur, wenn man alle Spuren verwischen will.« »Aber Ausweise kann man fälschen, diese Heirat war furchtbar aufwändig inszeniert«, werfe ich ein.
»Da hast du absolut Recht. Warum sie so ein Risiko eingegangen sind, weiß ich nicht. Aber selbst Verbrecher handeln nicht immer streng logisch oder sie haben einen Grund, den wir nicht verstehen.« »Was hast du über Frau Doktor Pahl herausgefunden?« Nicht zum ersten Mal habe ich den Verdacht, dass er mit seinen Informationen genauso hinter dem Berg hält wie ich. Wir könnten ein prima Team sein, doch irgendwie machen wir alles falsch, arbeiten mehr gegen- als miteinander. »Sie ist tatsächlich die Ethnologin, von der ich dir erzählt habe. Ihren Doktor hat sie allerdings in Biologie gemacht. Eine furchtbar ehrgeizige Frau, die alles macht, um sich selber Recht zu verschaffen. Wo auch immer ich nachgefragt habe, niemand kann sie leiden. Sie ist wankelmütig und unberechenbar. Trotzdem hat sie es geschafft, dass ihr dieses ägyptische Projekt unterstellt wurde, dessen Inhalt ich noch nicht genau kenne.« Verlegen räuspert sich mein Vater, beginnt meinen Teller abzuräumen, obwohl ich noch gar nicht fertig gegessen habe. »Es ist alles so kompliziert«, stöhne ich. »Hey, wo ist dein Humor geblieben?«, neckt mich mein Vater, zieht mich rasch zu sich hoch und schlingt seine langen Arme um mich. Ich reiche ihm gerade bis zum Kinn, obwohl ich einen ganzen Kopf größer bin als meine Mutter. Traurig lasse ich meinen Kopf gegen seine Brust sinken, rieche die Mischung aus Schweiß und Rasierwasser und denke an Jojo. Freue mich darüber, dass er krank und nicht verhaftet ist, und
bin trotzdem traurig.
Vierzehn Am nächsten Morgen stehe ich früh auf und stelle total verwundert fest, dass mein Vater die Wohnung bereits verlassen hat. Ein Zettel mit einer Nachricht ist nicht zu finden. Ich vergleiche meine Armbanduhr mit dem Wecker. Es ist tatsächlich erst sieben. Mama und Lisa kommen heute, doch die müssen erst um zehn Uhr abgeholt werden. Kann es sein, dass mein Vater trotzdem schon zum Flughafen gefahren ist? Und wo ist Leila? Sie wollte ganz früh vorbeikommen und mich zum Friedhof begleiten. Sie weiß, dass ich spätestens um elf wieder zu Hause sein muss. Verärgert ziehe ich mich an, schreibe eine Nachricht für meinen Vater, zerreiße den Zettel, werfe ihn in den Mülleimer und mache mich alleine auf den Weg zum Bab an-Nasr Friedhof. Etwas Gruseligeres, als einen Friedhof bei Nacht zu besuchen, gibt es nicht, dachte ich bislang. Doch das gilt für ganz normale Friedhöfe, für den Bab an-Nasr Friedhof gilt das nicht. Okay, ich bin ein von Luxus verwöhntes Gör, empfindlich und kleinlich, immer noch, obwohl ich in den letzten zwei Wochen mehr erlebt habe als in den ganzen vierzehn Jahren davor. Aber es ist einfach unglaublich. Man betritt den Bab an-Nasr Friedhof durch ein großes
Steintor. In der Entfernung sieht man Gräber, die nicht so aussehen wie bei uns, nicht platt und eben, sondern wie kleine Häuser. Dann ist man mittendrin und merkt, das ist kein Friedhof, das ist ein Labyrinth aus hohen Bretterzäunen, hinter denen irgendetwas versteckt ist. Hühnergegacker ist zu hören und das Scharren von ungeduldigen Krallen. Und nicht lange darauf erklingt das erste Kinderlachen und das Keifen einer ungeduldigen Mutter. Astlöcher, durch die man eben noch hindurchsehen konnte, verdunkeln sich plötzlich, werden verdeckt von einem neugierigen Auge. Da lebt und raschelt und brodelt es. Schließlich steht man vor einem offenen Mausoleum, sieht Holzbänke, einen wackligen Tisch, große Alubehälter, aus denen heißer Dampf zum Himmel emporsteigt. Hühner rennen unter den Holzbänken herum, streiten um Reis- und Zuckerkörner. Um zwölf Uhr verwandelt sich dieser Ort in ein Restaurant mit hungrigen Gästen, die die Teller in der Hand jonglierend und in aller Eile ein billiges Mahl zu sich nehmen. Unweit dieses Gastronomiebetriebes stehe ich vor einem offenen Grab. Für wen? Für einen frischen Toten oder soll hier das Fundament für ein zwei mal ein Meter großes Hochhaus entstehen? Ich weiß, dass das Quatsch ist. Also doch ein Grab. Hier wird beerdigt, doch offensichtlich wird hier auch gelebt. Schubkarren versperren den Weg, kaputte Dreiräder und offene Pferdegespanne. Viele, die aufgrund der extremen Wohnungsnot nirgends untergekommen sind, haben es sich hier gemütlich gemacht. Ich weiß nicht weiter. Den Friedhof zu finden war nicht
schwierig, doch wie soll ich das Haus von Leilas Cousin wiederfinden? Sein Name fällt mir nicht ein, seine Frau heißt Aisha. Ich gehe zurück zum Restaurant und warte. Wo gekocht wird, da gibt's auch einen Koch. Der Koch ist eine Köchin, sehr jung, sehr hübsch. Ihr Bauch ist enorm groß, bauscht das geblümte Hauskleid. Sie ist schwanger. Ohne mich aus den Augen zu lassen geht sie zu ihren Töpfen, nickt mir zu und beginnt darin zu rühren. Ich trete näher, atme den herzhaften Duft von Bohnen ein und frage, ob sie Englisch spricht. Leider schüttelt sie den Kopf und ich bin mit meinem Latein am Ende. Wo ist Aisha?, könnte ich auf Ägyptisch fragen, doch mehr auch nicht. Ich probiere es, stülpe die Lippen zusammen: »Fen Aisha?« Die junge Frau stutzt, dann beginnt sie schallend zu lachen. Zwei Reihen weißer Zähne werden sichtbar, strahlend und makellos. Mit einer Handbewegung zeigt sie auf sich, lacht, klopft sich auf die Schulter. Ihr nach hinten gebundenes leuchtend rotes Kopftuch gerät ins Rutschen. Ich starre sie erstaunt an, weiß nicht, was ich sagen und denken soll. Sie lacht immer noch, kommt auf mich zu, nimmt mich am Arm und zieht mich zu der erstbesten Hütte. Sie klopft dagegen, schreit Aisha. Dann rennt sie weiter, ich hinterher, denn sie hat mich immer noch im Schlepptau, poltert erneut gegen eine Bretterwand, schreit Aisha und so weiter. Natürlich habe ich es längst kapiert. Aisha ist so was wie Lisa, ein Modename.
»Cousin von Aisha«, versuche ich die junge Frau zu unterbrechen und erbleiche, als plötzlich aus allen Ecken Frauen, aber auch Kinder und Alte, auf uns zu gerannt kommen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Meldung: Eine Ausländerin sucht eine Aisha, die Stecknadel im Heuhaufen. Das sorgt für reichlich Wirbel und Gelächter. Mir wird immer mulmiger zumute, schließlich bringe ich Kleo in Gefahr, dadurch dass ich so einen Aufstand mache. Noch hat sich die Nachricht vielleicht nicht herumgesprochen, dass eine blinde Almanya, eine blinde Deutsche, in Bab an-Nasr versteckt wird, doch ich bin auf dem besten Weg, durch meine Unvorsichtigkeit das Geheimnis preiszugeben. Da tritt plötzlich ein hagerer, aber nichtsdestotrotz einflussreich wirkender Mann in einer schneeweißen Galabiya in den Kreis. Er überragt alle Anwesenden deutlich und flößt mir allein schon deshalb Respekt ein. Alle Frauen treten ehrfürchtig zur Seite, verbeugen sich, als wäre es der Scheich höchstpersönlich. »How do you do?«, begrüßt er mich aufs Höflichste. Ich denke: Polizei! Ich denke: Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts! Ich denke: abhauen! Doch dafür ist es zu spät, ich bin umzingelt, eingekreist von mindestens zwanzig neugierigen und aufgeregten Menschen. Also probiere ich in meinem besten Englisch zu erklären, dass ich mich verlaufen habe. Ich hätte eine Freundin namens Aisha gesucht und feststellen müssen ...! Noch bevor ich den Satz beendet habe, verbeugt sich
dieser wichtig aussehende Mann vor mir, durchbricht den Kreis der gaffenden Menschen mit einer einzigen Handbewegung und führt mich weg. Verdattert stolpere ich hinterher, an leeren Ölfässern, angeketteten Eseln und Ziegen vorbei. Ich versuche mir den Weg zu merken, doch das ist unmöglich. Seine schmale Gestalt, durch die weiße Galabiya verhüllt, huscht leichtfüßig die für mich unsichtbaren Wege entlang, biegt nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Er kennt sich aus, das merkt man ihm an und deshalb folge ich ihm wortlos, obwohl ich keine Ahnung habe, wohin er mich führt. Wir sind bestimmt schon zehn Minuten unterwegs, da sehe ich zwei Gestalten, von der mir zumindest die eine sehr, sehr bekannt vorkommt. Sie ist groß, trägt einen hellgrauen Anzug und auf Hochglanz polierte Lederschuhe, die an diesem Ort völlig fehl wirken. »Papa!«, rufe ich, merke, dass Freude in meiner Stimme mitschwingt, dabei sollte ich sauer sein. Mit gemischten Gefühlen überhole ich meinen Begleiter, renne auf das Pärchen zu. Nun erkenne ich auch Leila. »Warum habt ihr mich nicht geweckt?«, maule ich. Eine Antwort erhalte ich nicht, denn mein wichtiger Begleiter mischt sich ein. Redet zuerst mit meinem Vater, dann mit Leila. Da ich keine Silbe verstehe, kann ich nur ahnen, dass der gestenreiche Wortwechsel durch meine oder Kleos Anwesenheit entfacht wurde. Schweigegeld ist angesagt. Leila schlägt sich tapfer, drückt ihren Busen wie ein
Verteidigungsschild heraus, spitzt die Lippen und kontert energisch. Am Ende kann sie sich jedoch nicht durchsetzen. Verstohlen gräbt sie in den Falten ihrer Mileya, holt ein zusammengefaltetes Bündel Geldscheine hervor, das mit einem Gummi zusammengehalten wird, und überreicht dem Mann ein paar Scheine. Erst später erfahre ich, dass es sich nicht um Schweigegeld, sondern um eine Art Kopfmiete handelt. Wer auf seinem Friedhof wohnt, der muss monatlich eine exakt festgesetzte Miete bezahlen. Die richtet sich nach der Größe der Gruft und der Anzahl der dort wohnenden Personen. Der Mu'allim, der Meister, wie Leila ihn ehrfürchtig nennt, hat längst mitbekommen, dass im »Haus« von Leilas Cousin eine Person untergeschlüpft ist. Wer sie ist, scheint ihm ziemlich egal zu sein, doch umsonst darf sie nicht hier wohnen. Der Mu'allim nimmt stolz erhobenen Hauptes das Geld entgegen, verabschiedet sich mit einem »Masalam« und verschwindet hinter der nächsten Bretterwand. Komische Verhältnisse, wundere ich mich und außerdem frage ich mich, woher nimmt Leila das viele Geld? Doch Zeit, darüber nachzudenken, bleibt mir nicht, denn Papa beschimpft mich plötzlich als unvernünftiges, überhebliches, besserwisserisches Gör, das man am besten in ein Heim für schwer erziehbare Mädchen stecken sollte. Doch seine Augen lächeln dabei. »Während ich mir die Nacht um die Ohren schlage, um nach Hintergründen und Drahtziehern zu forschen, schleichst du dich aus dem Haus und bringst dich und alle anderen in Gefahr. Du hast selbst gesagt, dass denen unsere Adresse bekannt ist. Jemand kann dir gefolgt sein.«
»Mir ist niemand gefolgt«, rechtfertige ich mich. »Glaubst du, ich bin blöd? Ich hab aufgepasst.« »Dass ich nicht lache, meine Tochter, die perfekte Agentin.« Traurig schüttelt er den Kopf. »Ahnst du nicht, mit wem wir es zu tun haben? Manchmal wäre es mir lieber, du wärst in Deutschland geblieben.« »Vergiss nicht, ohne mich wüsstest du gar nichts von der Geschichte«, spiele ich die Beleidigte. »Schu, schu«, zischt Leila beruhigend. »Let's go inside.« Sie hat es eilig, diesen halb öffentlichen Raum zu verlassen. Längst haben sich neugierige Kinder um uns geschart, betteln um Bonbons. Kleo schläft noch. Papa und ich setzen uns vor die »Eingangstür« von Kleos »Schlafzimmer« und reden leise miteinander. Vor uns scharren die Hühner im Sand, suchen pickend nach Brotkrümeln. »Warum behandelst du mich wie ein Kleinkind?«, meckere ich. »Und was ist mit Mama und Lisa, wer holt sie vom Flughafen ab? Können wir Leila vertrauen? Woher hat sie so viel Geld? Und wer sagt Kleo die Wahrheit? Soll sie alles erfahren? Sollen Kleo und Jojo in Ägypten bleiben oder müssen sie so schnell wie möglich das Land verlassen? Wer sind die ››Auftraggeber« für diese Klone?« Papa antwortet einsilbig, stellt mir im Gegenzug Fragen über Fragen über Kleo, ihre Krankheit, ihre Tante, ihre
Freunde, dabei habe ich das meiste bereits erzählt. Mein Blick löst sich vom Gesicht meines Vaters und wandert zu Kleo hinüber. Sie liegt im hinteren Teil der Gruft, zu einer Kugel zusammengerollt, gleicht einer Katze, die sich schützen und wärmen will. Obwohl sie im Dunkeln liegt, erkenne ich die Halbmonde ihrer geschlossenen Augen, zwei schmale Linien, die durch dichte schwarze Wimpern betont werden. Auch mein Vater hat sich ihr zugewandt, seine Mundwinkel ziehen sich nach oben, er lächelt. Lächelt wie jemand, der etwas sehr Wertvolles, Beschüt-zenswertes sieht. »Sie wird bald aufwachen«, murmle ich. »Erzählst du ihr die Wahrheit?« Damit gebe ich etwas ab, was mir gehört hat. Kleo ist, war meine Freundin. Papa hat aufgehört zu erzählen, räuspert sich verlegen. Die Stille, die nun eintritt, drückt auf uns wie eine zentnerschwere Last. Noch einmal öffnet mein Vater den Mund, will etwas hinzufügen, doch Kleos starrer, in die Ferne gerichteter Blick lässt ihn verstummen. Es reicht, sagen auch meine Augen, doch er schaut mich nicht an. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Kleo. »Wie geht es dir?«, möchte ich wissen, rücke näher an meine Freundin, doch ich traue mich nicht, sie in den Arm zu nehmen. Kleo hat sich nach dem Aufwachen noch weiter in die Ecke zurückgezogen, sich in die Decke eingewickelt wie ein verschrecktes Kaninchen. Merkwürdigerweise ist sie mit jedem Satz, mit jeder grausamen Eröffnung, ruhiger
geworden, hat sich nach und nach aufgerichtet, wie jemand, der lange nach der Wahrheit gesucht hat und jetzt froh ist, sie gefunden zu haben. »Ich bin Kleo, nicht die Pharaonin Hatschepsut!«, sagt sie endlich, dann bricht ihre Stimme wieder ab. Sie scheint sich diesen Satz abgerungen zu haben, mehr hat sie uns nicht zu sagen. Mein Vater legt seinen Arm um ihre Schulter. »Das weiß ich doch«, flüstert er, lächelt geheimnisvoll, als hätte sie ihm mit diesen einfachen Worten ein kostbares Geschenk gemacht. Die vier Kinder von Aisha und Muhammad, dicht gedrängt in der gegenüberliegenden Ecke sitzend, bemerken die seltsame Veränderung in Papas Stimme und kichern verhalten. Die ganze Zeit haben sie uns still und voller Ehrfurcht betrachtet. »Alles wird gut«, sagt mein Vater in die Stille hinein und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Die gleichen Worte habe ich gestern benutzt. Gestern habe ich sie gestützt, war ihre Beschützerin, heute hält mein Vater sie im Arm. Was ist er für sie, was ist sie für ihn? Will er sie adoptieren, sie zu meiner Schwester machen, oder hat er ganz andere Pläne? Warum sitzt er hier neben uns, während Mama und Lisa am Flughafen darauf warten, abgeholt zu werden? Natürlich warten sie nicht, er hat meine Mutter längst angerufen, sie gebeten, ein Taxi zu nehmen.
»Was wird gut werden?«, brause ich auf. Mein Vater funkelt mich böse an. Nicht jetzt, sagen seine Augen, doch ich kann nicht anders. Die Art, wie er Kleo anschaut, wie er sie tröstet, wie er ihr schonend die Wahrheit beibringt, bringt mich gegen ihn auf. Da ist etwas Zweideutiges in seiner Art, etwas, das ich nicht verstehe. »Sie werden nach Kleo und Jojo suchen«, bohre ich weiter. »Du hast selbst gesagt, die beiden könnten nicht in Ägypten bleiben.« »Das habe ich gesagt, aber ich habe es langfristig gemeint. Die Verstecke sind momentan sicher. Aber wir bringen sie durch unsere Besuche in Gefahr. Um die beiden zu finden, werden sie sich an uns halten. Das heißt, wir müssen auf der Hut sein.« »Wer sind eigentlich ›sie‹?«, bohre ich nach. »Meinst du Frau Pahl, Doktor Hassan, Kleos Tante, die beiden Männer oder irgendwelche im Hintergrund agierenden Auftraggeber? Wer ist denn wirklich gefährlich?« »Wenn ich das wüsste, brauchten Kleo und Jojo sich nicht zu verstecken. Im Augenblick sind die Helfershelfer deshalb so gefährlich, weil sie die wahren Auftraggeber zu decken versuchen und weil sie noch nicht verstanden haben, dass sie sowieso verloren haben, selbst wenn sie es schaffen, das Beweismaterial zu vernichten. Ganz egal, was sie tun, ich habe damit begonnen, zusammen mit einem Freund, mehrere Artikel zu schreiben. Dieser Freund arbeitet beim Spiegel-,
kennt sich mit dieser Art der Berichterstattung aus. Die Wahrheit kommt auf jeden Fall ans Licht.« »Mit Vernichtung von Beweismaterial meinst du wohl mich und Jojo«, unterbricht Kleo meinen Vater. »Lasst mich jetzt bitte allein.« Ihre Stimme überschlägt sich fast. Jetzt, denke ich, jetzt wird der Damm brechen und alle zurückgehaltenen Tränen werden sich einen Weg bahnen. Doch Kleo fängt sich wieder, blickt uns eindringlich an. Sie muss ihre toten Augen zu Hilfe nehmen, um uns in die Schranken zu weisen. »Willst du wirklich alleine sein? Ausgerechnet jetzt?«, vergewissere ich mich. »Ja!« Langsam stehe ich auf, aber mein Vater verharrt auf seinem Platz, bis Kleo seinen Arm von ihrer Schulter nimmt. »Wir sehen uns morgen und bitte bringt Jojo mit.« Das sind Abschiedsworte, ganz eindeutig. Umständlich erhebt sich mein Vater. Mamas und Lisas Taxi kommt zeitgleich mit unserem an. Erregung und Freude brodeln in mir auf, mir wird ganz warm. Nach der eisigen Stille, die zwischen Papa und mir herrschte, tut das verdammt gut. Auch über sein Gesicht huscht ein breites Grinsen, lässt ihn jünger aussehen. Doch anstatt Mama zu begrüßen, schnappt er sich Lisa, hebt sie zu sich hoch und drückt sie an seine Brust. Ich küsse Mama artig
auf die Wange, lege meinen Arm um sie und führe sie ins Haus. Doch in der Eingangshalle bleibt sie stocksteif stehen, ihre Miene verdüstert sich. »Wie geht es Kleo?« »Gut«, lüge ich und denke, nicht schon wieder das Thema, ich mag nicht mehr. »Papa hat gesagt, dass diese Geschichte noch auf Jahre Staub aufwirbeln wird. Wir stehen erst am Anfang einer Sensation.« »Jetzt schau dir erst mal unsere tolle Wohnung an«, lenke ich ab, verachte meine Mutter dafür, wie sie das Wort Sensation verwendet. Was denkt sie sich dabei? Dass das Ganze ein Spiel ist? Mama lässt mich stehen, geht zu meinem Vater zurück, hängt sich bei ihm ein und überschüttet ihn mit Fragen. Also darf ich mich mit Lisa und dem Scheißgepäck abmühen. Eine ganze Weile später tauchen die beiden in der Wohnung auf und nun ist Mama ganz aufgekratzt, beguckt sich alle Zimmer, das Geschirr, Lisas neue Spielsachen, das Dienstmädchen. Leila muss sich zu uns an den Tisch setzen und Rede und Antwort stehen, was ihr äußerst unangenehm zu sein scheint. Mama ist aber auch oberpeinlich. Sie stellt eine Frage nach der anderen, will nicht nur alles über Kleo und Jojo wissen, sondern sinnlose Details über Leilas Familie und Papas Arbeit. Sie saugt die Neuigkeiten in sich auf, auch nachdem Papa aufgesprungen ist und das Wohnzimmer
fluchtartig verlassen hat. Er habe noch Wichtiges zu tun. Komplizenhaft blinzle ich Leila zu. Wir haben ausgemacht, dass wir am späten Nachmittag noch mal zu Jojo fahren. Ich schaffe es nicht, den ganzen Tag hier zu Hause zu sitzen und Mamas und Lisas Gequatsche zu ertragen.
Fünfzehn Am nächsten Tag betreten Leila, Jojo und ich gemeinsam Muhammads Haus und sehen alle draußen unter dem Vordach sitzen und zu Mittag essen. Muhammad, Aisha und die vier Kinder. Nur Kleo nicht. Sofort mache ich mir Gedanken, bange um ihre Gesundheit. Doch kaum erschallen die freundschaftlichen Begrüßungsworte: »Salam, salam«, »guten Tag, guten Tag«, da erscheint eine ganz in Weiß gekleidete Fee im Türrahmen des linken Mausoleums, tastet sich mit einer Hand an der Wand entlang und schnuppert. Die Hausfrau springt rasch auf, eilt zu Kleo, will sie stützen. Doch Kleo schiebt die Helferin mit einer energischen Handbewegung zur Seite. Ihre braunen Augen sind aufgerissen wie bei einer Sehenden, die nicht glauben kann, was sie sieht. »Einen Stock, ich brauche einen Stock!«, ruft sie herrisch. Dann wiederholt sie den Satz auf Englisch. Sofort springt eines der schwarz gelockten Kinder auf die Beine und bringt ihr den langen Stab, der normalerweise die Wäscheleine abstützt. Nun dient er als viel zu großer Blindenstock, mit dem
Kleo sich langsam einen Weg zu uns erklopft. Alle Anwesenden, Leila eingeschlossen, die eigentlich nie still stehen kann, verharren wie in Stein gehauene Statuen und starren Kleo an. Nur die Hühner rennen eilig zwischen den Tellern hin und her, picken die Brot- und Zwiebelkrumen auf. »Jojo«, ruft meine Freundin in seine Richtung, »bist du es?« Wir haben seit unserem Eintritt nicht mehr als »Guten Tag« gesagt, doch sie muss ihn gehört oder gespürt haben. Jojo geht schweigend auf Kleo zu, ergreift ihre Hände, schließt sie in die Arme. Mein Herz überzieht sich mit einer hauchdünnen Schicht aus Eis. Bald schon rät mir mein Verstand, mich abzuwenden, nicht hinzuschauen, mit welcher Zärtlichkeit Kleos Fingerkuppen über sein Gesicht gleiten, wie sie an der Nase verweilen, an den Ohrläppchen ziehen, die Linie des Mundes nachfahren. Doch ich starre trotzdem hin, bin fasziniert von dem Schauspiel, das eine Vertrautheit zeigt, die ich nie begreifen werde. "Willkommen«, singt Kleo, singt wirklich mit weicher Stimme. »Es tut so gut, dich wiederzusehen.« Und ich denke: Habe ich diese Worte gestern überhört oder hat sie sie mir gegenüber vergessen? Endlich wendet sie sich mir zu. »Entschuldige bitte, Eve, ich weiß, was du für mich getan hast, aber ich musste ihn einfach zuerst begrüßen, verstehst du? Kommt, lasst uns reingehen, ich bin die grelle
Sonne nicht mehr gewöhnt.« Verstehen? Verstehen kann ich ihr Verhalten nicht und ich will es auch gar nicht. Gleichzeitig ärgere ich mich über meine idiotische Eifersucht. »Meine Tante kam in das Krankenhaus, in dem ich nach dem Unfall lag. Es war so schlimm für mich, wieder alleine zu sein, dass ich mich richtig gefreut habe.« Kleo hat mit sichtlichem Appetit zwei Brötchen, die ich ihr mitgebracht habe, verschlungen und fühlt sich nun stark genug, uns die Ereignisse während und nach ihrer zweiten Entführung zu schildern. »Weil Maria und ich uns im Streit getrennt hatten, hatte ich sie kein einziges Mal angerufen, und nach den Enthüllungen dachte ich, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde. Doch dann stand sie vor mir und mir ging es so dreckig, dass ich nur das Gute in ihr sehen wollte. Ich wollte ihr alles verzeihen für ein einziges ehrliches Wort. Doch wieder kamen nur Lügen aus ihrem Mund. Ich weiß inzwischen, dass sie sich die ganze Zeit über in meiner Nähe aufgehalten haben muss.« Kleo schluckt. »Viel später erst habe ich gemerkt, dass sie mich in ein anderes Krankenhaus gebracht haben, zu Kathy.« »Du meinst Nofrure«, unterbreche ich sie. »Nenn sie Kathy!«, zischt Kleo. »Sie hat wie ich oder Jojo ein Recht auf einen eigenen Namen, einen Namen, der mit
unserer Herkunft nichts zu tun hat.« In ruhigerem Ton fährt sie fort: »Kathy und ich sind nicht besonders gut miteinander ausgekommen, ich habe um ein eigenes Zimmer gebeten. Jetzt, da ich weiß, wer sie ist, tut mir mein Verhalten Leid. Natürlich habe ich gespürt, dass wir uns kennen. Trotzdem war sie mir zuwider, ihr Verfolgungswahn hat mich abgestoßen. Kathy lebt schon sehr lange in der Klinik. Nicht weil sie blind und auf Hilfe angewiesen ist, sondern weil sie die Erste war, die verstanden hat, was los ist. Es hat sie verrückt gemacht.« »Vielleicht sind wir auch schon verrückt und wissen es nur nicht.« Jojo wirft den Satz in die eingetretene Stille hinein. Dann legt er den Kopf auf die Schulter, grinst mich an. Immer wenn er das tut, denke ich, dass wir ein Traumpaar sind und bestimmt fünfzig Jahre oder so glücklich zusammenleben werden. J+E schreibe ich in den weichen Sand, der sich auf den Fußbodenmatten niedergelassen hat, umrande die Buchstaben mit einem großen Herz. Es ist mir egal, ob er das sieht oder nicht. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, bei null anfangen. Aber wo ist null? Unter welchen Bedingungen hätte ich Jojo kennen lernen müssen, damit er sich in mich verliebt? Natürlich weiß ich, dass das Teenagerträume sind. Jojo mag mich, aber er scheint mich als reinen Kumpel zu betrachten und da sind die Umstände des Kennenlernens nebensächlich. Mit schnellen Bewegungen verwische ich das Herz, richte mich auf. Kleo und Jojo sind erneut in ein tiefes Schweigen versunken.
»Mein Vater meint, ihr sollt vorläufig in Ägypten bleiben, denn nur hier kann er euch helfen. Er ist dabei, Informationen zusammenzutragen, Leute wachzurütteln, seine Fühler nach Hilfe auszustrecken. Vor allem aber sucht er nach Beweisen. Erst dann kann er an die Öffentlichkeit gehen und euch den nötigen Schutz in Deutschland garantieren.« Jojo knetet nachdenklich seine Fingerknöchel. Kleo beißt sich auf die Lippen, zieht die Luft geräuschvoll durch die Nase ein. »Das kann Jahre dauern«, sagt sie schließlich. Doch dann findet sie es so komisch, dass sie lauthals losbrüllt. »Ich wollte schon immer auf einem Friedhof leben und tut man das nicht sowieso für etliche Jahre oder Jahrzehnte? Unser Leben ist eh keinen Heller mehr wert.« »He, wann bist du geboren, ich meine, welches Geburtsdatum steht in deinem Pass?«, fällt Jojo plötzlich ein. »Der 14. Februar, warum?«, entgegnet Kleo. »Dann bist du älter als ich«, stellt Jojo fest. »Ich habe am 16. April Geburtstag. Was auch immer du bist, du bist die Erste. Und was haben sie dir über deine Eltern erzählt?« »Nicht viel«, erwidert Kleo. »Aber es gibt Fotos von ihnen, wie sie als Touristen vor den Pyramiden stehen. Meine Mutter ... ahm, ich meine, die Frau auf dem Foto war schwanger. Kurz nach meiner Geburt sind sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ein Bus hat sie
übersehen. Sie waren sofort tot. Ich war zufällig nicht bei ihnen. Schöne Geschichte, nicht wahr? Wenn man bedenkt, dass sie mich hergestellt haben wie das Klonschaf Dolly. Bestimmt haben sie dem auch was Hübsches vorgelogen.« »Geklont, du meinst geklont«, korrigiert Jojo und lacht albern. »Wir sind Schafe, du und ich, mäh, mäh ... dir haben sie erzählt, dass deine Eltern überfahren wurden, mir, dass meine Eltern überfahren wurden, Dolly haben sie erzählt, dass ihre Eltern überfahren wurden! Mäh, mäh ...«Wieder lachen die beiden, schlagen sich auf die Schenkel, und weil Kleo nicht aufpasst, kippt sie nach hinten und bleibt wie ein Käfer mit wackelnden Beinen und Armen auf dem Rücken liegen. »In Hurghada«, kichert Kleo, »in Hurghada habe ich gelogen und behauptet, ich hätte eine richtige Familie, mit Mutter, Vater, Geschwistern, allem, was dazugehört. Das habe ich erzählt, weil ich mich schämte zuzugeben, dass meine Eltern tot sind. Jetzt habe ich nicht einmal tote Eltern, jetzt habe ich gar nichts mehr. Außer einer Leihmutter vielleicht, die ihren Körper wie ein Gefäß zur Verfügung gestellt hat.« Kleo verstummt, seufzt hörbar, fährt mit leiser Stimme fort: »Maria ist nicht meine Tante, war nie meine Tante. Von ihr habe ich das Lügen gelernt. Wie kann man ein Kind jeden Tag anlügen, wie kann man das? Sie war in Hurghada und hat mich zusammen mit diesen Männern beobachtet, wie man einen Affen beobachtet. Zusätzlich hat sie Lars, vielleicht auch Oliver und Sven als Spürhunde auf uns angesetzt. Zum Totlachen komisch finde ich das, ehrlich.« Doch Kleos Stimme ist bitter geworden, sie hat sich aufgerichtet, ihre Hände tasten
sich durch die Dunkelheit, finden mich und kurze Zeit später halte ich ein weinendes Bündel in den Armen. »Ich hab das immer schon gespürt«, schluchzt Kleo, »mein Leben war falsch, von Anfang an. Ich gehöre nicht in diese Zeit und an keinen Ort der Welt. Nie habe ich Freunde gehabt, immer fühlte ich mich schuldig. Schuldig, ohne zu wissen, wofür. Jetzt weiß ich es. Der natürliche Kreislauf des Lebens wurde unterbrochen. Wenn jemand stirbt, macht er Platz. Da, wo er war, kann neues Leben entstehen und das ist gut so. Okay, die Pharaonen haben sich einbalsamieren lassen, sie wollten ewig leben, aber das, was diese Möchtegerngötter in Weiß mit uns gemacht haben, ist ekelhaft und widernatürlich.« Jojo greift energisch nach Kleo, schüttelt sie erst sanft, dann stärker, dreht sie zu sich um. »He, was ist los, schöne Prinzessin? Schon vergessen, wir sind etwas Besonderes. Wir werden nicht nur bald ebenso berühmt sein wie Dolly, wir werden so richtig auf die Kacke hauen. Du und ich, wir haben zusammen ein Weltreich regiert. Was spricht dagegen, das wieder zu tun? Echt, in den letzten Tagen habe ich viel über uns gelesen, das waren geile Zeiten!« »Sei still!«, zischt Kleo, richtet sich stolz auf, wischt sich die Tränen mit einer ungeduldigen Geste aus dem Gesicht. »Wir sind und bleiben Jussuf und Johanna. Ganz egal, was sie dir einreden wollen oder was du dir selber einredest, du bist das Kind der Gesellschaft, in der du aufwächst. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, nie! Seit ich in Ägypten bin, vor allem aber seit ich hier auf diesem Friedhof hause, habe ich viel nachgedacht und noch mehr geträumt. Ich
habe geträumt, ich würde in Der el-Bahri als Priesterin, als Seherin meinen Platz finden. Alles Blödsinn. Wir müssen vergessen, von wem unsere DNA stammt. Dieses Leben ist ein neues Leben. - Natürlich tragen wir die Geschichte unserer Vorfahren und unsere eigene in uns, ich erinnere mich an so viele Dinge aus der Vergangenheit, doch ich muss mich dazu zwingen, das nicht überzubewerten, und das solltest du auch tun.« Auf der Heimfahrt im Bus bin ich still und in mich gekehrt. Die vielen Menschen um mich herum nehme ich gar nicht wahr. Kleo kann ekelhaft gemein sein. Durch einen einzigen Satz hat sie Jojos Überschwang gebremst, ihn wie einen Schuljungen zurechtgewiesen. Sie ist viel zu ernst, viel zu vernünftig. Sie wird es schwerer haben als Jojo, selbst wenn sie unter neuem Namen weiterlebt. Mein Vater muss den beiden helfen, so viel steht fest. Hoffentlich bald. Ich könnte nicht geduldig auf dem Friedhof leben, wochen-, monatelang, ohne Klo, ohne Bad, ohne gleichaltrige Freunde, ohne Schule. Es muss doch weitergehen, irgendwie. Was ist mit den ganzen Fragen, die sich stellen. Nicht in ein paar Jahren, sondern jetzt! Wozu ist diese Klonzüchterei gut? Warum sollten die ägyptischen Klone sich ausgerechnet im Alter von fünfzehn Jahren kennen lernen? Was hatten sie mit ihnen vor? Sind die drei vielleicht gezüchtet worden, um die Demokratie in Ägypten zu stürzen? Und was wird mit ihren Augen geschehen? Sind die Pilze wirklich ansteckend? Wenn Papa mich ernst nehmen und sich helfen lassen
würde, könnten wir schneller vorankommen. Stattdessen hat er absolute Geheimhaltungsstufe verhängt. Jeden Tag schließt er sich in seinem Zimmer ein, brütet bis spät in der Nacht über dem Computer. Trotzig blicke ich zu Leila hoch, die keinen Sitzplatz ergattert hat, beobachte, wie sie verstohlen einen jungen Mann mustert und schnell zu Boden schaut, als er den Blick bemerkt. Ihn dann wieder anstarrt. Von arabischer Zurückhaltung keine Spur. Ich muss grinsen. Dann kehren meine Gedanken wieder zu meinem Vater zurück. Wenn er mir nicht sagt, was er herausgefunden hat, dann muss ich mir eben selbst etwas einfallen lassen. Zu Hause angekommen rufe ich Frau Pahl an. Die Telefonnummer hat Papa herausbekommen. Sie meldet sich auch gleich, doch sie redet unzusammenhängendes Zeug. Ich merke, dass sie nicht allein ist. »Ich ruf morgen an, Paul!«, wispert sie, dann knackt es in der Leitung.
Sechzehn Ich sitze beim Frühstück, als das Telefon klingelt. Sofort springe ich auf, eile durch den Flur, doch Mama ist schneller. Ihr langer Arm greift aus dem Bad nach dem Hörer. »Wie bitte?«, fragt meine Mutter immer wieder. »Wer sind Sie? Sagen Sie mir erst Ihren Namen.« »Mama, das ist bestimmt für mich!«, rufe ich, doch sie
klebt am Apparat wie eine Klette, und als sie mir endlich den Hörer reicht, erklingt nur ein Tuten. »Mist!«, schimpfe ich. »Das hast du vermasselt.« »Nun mal langsam!« Mama ist rot vor Zorn. »Die Frau hat nicht nach dir gefragt und schließlich bin immer noch ich die Hausherrin.« »Bist du. Herrin wie Herrscherin«, fauche ich zurück. »Vielleicht solltest du mir endlich sagen, was hier los ist«, schlägt Mama mit weit aufgerissenen Augen vor. »Du verheimlichst schon wieder was, das spüre ich.« »Was hat sie denn gesagt, die Frau?«, lenke ich ab und versuche ein harmloses Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. »Nichts hat sie gesagt. Also doch, ich meine ... sie hat das Ägyptische Museum erwähnt und dass ich in der Mittagspause ins Auditorium kommen soll ... aber wenn sie mir nicht einmal ihren Namen nennt, werde ich ...« »Mama, du wirst sowieso nichts tun. Der Anruf war nicht für dich, kapier das endlich.« Ich drehe mich um, will ihr beleidigtes Gesicht nicht sehen, will nicht erklären müssen, warum man manche Dinge alleine durchziehen muss, doch sie lässt nicht locker. »Eve, du wirst diese Wohnung nicht verlassen, bevor du mir nicht sagst, was das zu bedeuten hat. Bestimmt hat es etwas mit Kleo zu tun. Ich dachte, du und dein Vater, ihr seid
übereingekommen, heraushält.«
dass
er
dich
aus
der
Geschichte
Daher also weht der Wind. Vielleicht ist mein Vater gar nicht so gemein und verbohrt, wie ich dachte, sondern meine Mutter steckt dahinter. Doch die nötigen Informationen werde ich mir schon besorgen. Vielleicht schaffe ich es sogar, die Beweise aufzutreiben, von denen mein Vater immerzu redet. Frau Pahl ist am Ende, sie ist krank, aus dem Projekt entlassen worden. Was hat sie zu verlieren, wenn sie mir weiterhilft? Dass sie mich heute zurückgerufen hat, ist ein gutes Zeichen. Doch wie erkläre ich das Mama? Eigentlich habe ich keinen Nerv, ihr irgendetwas vorzulügen. Deshalb probiere ich es mal wieder mit der dosierten Halbwahrheit für misstrauische Mütter. Sanft ergreife ich Mamas Arm, erzähle ihr, dass ich den Anruf erwartet habe und zwar von der Assistentin von Frau Dr. Pahl. Bei dem Namen zieht Mama scharf die Luft ein und ich gratuliere mir dazu, dass ich die wahre Anruferin verschwiegen habe. »Da diese Frau selbst an dem Pilz erkrankt ist, hat sie sich dazu bereit erklärt, mir Unterlagen zu überreichen. Mama, das ist meine Chance. Ich muss da hin!« »Nichts dergleichen wirst du tun«, unterbricht mich meine Mutter, springt auf. »Sie kann ja die Unterlagen hierher bringen, aber du gehst ganz bestimmt nicht alleine ins Ägyptische Museum.« Sie sieht mein verzweifeltes Gesicht und lenkt ein. »Wir können deinen Vater hinschicken. Ich rufe
ihn an.« »Mama ...«, keuche ich, weiß nicht weiter. »Mama, das ... das geht nicht!«, stottere ich, »du hast doch selbst gehört, wie aufgeregt die Frau ist, sie ist krank, vielleicht hat sie auch ein bisschen Angst. Sie wird dichtmachen, wenn Papa vor ihr steht. Der hat's doch auch schon probiert. Mir vertraut sie, weil ich eine Freundin von Kleo und Jojo bin. Sie mag Jojo ...« »Das spielt doch keine Rolle«, antwortet meine Mutter und sie hat ja Recht, mir fallen einfach keine stichhaltigen Argumente ein. Und dann denke ich: Warum eigentlich nicht? Warum soll sich nicht mein Vater in die Höhle des Löwen begeben? Er wird sich zwar wieder als der tolle Retter und Entdecker feiern lassen, doch so ganz wohl ist mir bei dem Gedanken sowieso nicht, dieser verrückten Frau Pahl gegenüberzustehen. Soll er die Kastanien aus dem Feuer holen. Ruhig lehne ich mich zurück, schaue zu, wie meine Mutter die Nummer von Papas Büro wählt. Sie lässt es lange klingeln, versucht es dann unter seiner Handynummer. Vergebens. Ganz egal, wo Papa gerade steckt, was er gerade tut, er lässt sich nicht stören. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es bereits nach elf ist. Mama schaut mich an, trommelt nervös mit dem Hörer gegen ihre Hand. Auch sie weiß, wir müssen Kleo und Jojo helfen. Plötzlich fällt mir ein, wie ich meine Mutter
doch noch herumkriegen kann. »Ich werde Leila mitnehmen.« Dass Frau Pahl sich mit mir in der Mittagspause treffen will, kann nur bedeuten, sie erwartet von mir, dass ich mich wieder in der Toilette einschließen lasse. Natürlich bricht mir bei dem Gedanken der Angstschweiß aus. Möglicherweise will sie keine Beweise herausrücken, sondern Informationen aus mir herauspressen. Mich knebeln, einsperren, den Aufenthaltsort von Jojo und Kleo erpressen. Bestimmt ist es gut, Leila dabeizuhaben. Sie ist groß, schwarz und stark und wird mich vor allen Widrigkeiten beschützen. Leila und ich sitzen stumm in einer der Kabinen, teilen uns eine Kloschüssel. Doch schon bald wird's mir zu eng, ich bitte sie auf einer eigenen Kloschüssel Platz zu nehmen. Die Beine angezogen starre ich auf die Kritzeleien an Tür und Wänden. Plötzlich fliegt die Tür auf, eine hohe Frauenstimme ruft Anweisungen in ägyptischer und englischer Sprache. Aha, die Lautsprecher sind wohl defekt. Ich versuche mich zu entspannen, locker zu bleiben, schließlich gehört »verstecken spielen auf der Damentoilette« zu einer meiner leichtesten Übungen. Wenige Minuten später geht das Licht aus, doch im gleichen Augenblick höre ich Schritte vor unserer Tür, das
rhythmische Aufschlagen eines Stockes, und weiß sofort: Da draußen geht ein Blinder. Oder eine Blinde. Kann das Frau Pahl sein? Wohl kaum. So viel weiß ich inzwischen über den Verlauf der Krankheit, dass die Erblindung in Schüben und über Jahre erfolgt. Also Kleo, wer sonst. Aber wie kommt sie hierher? Unmöglich, dass meine Mutter oder sonst jemand sie informiert hat. Leila beginnt in der Nachbarkabine hastig zu atmen, sie scheint das Gleiche zu denken wie ich. Könnte auch eine Falle sein. Auf jeden Fall muss jemand nachsehen. »Please«, fordere ich Leila durch die Trennwand hindurch auf, »geh und schau, ob es Kleo ist.« »Und wenn es nicht Kleo ist'« »Dann ... dann ruf mich.« Die Taschenlampe in meiner Hand zittert, als Leila den Raum verlässt und ich ein kleines Stoßgebet Richtung Decke schicke. Laute Stimmen reißen mich aus den Gedanken, die Tür wird polternd geöffnet und mir bleibt gerade noch Zeit, die Taschenlampe auszuknipsen. Doch das ist gar nicht nötig. Kleos spitze Stimme ist unverkennbar. »Eve, komm raus, du bist entdeckt.« Die hat Nerven, denke ich kopfschüttelnd, in dieser Situation Witze zu reißen. Erleichtert atme ich aus, komme aus
meinem Versteck. Zu viert stehen wir uns im dunklen Flur gegenüber. Leila, Kleo, Jojo und ich. Klar, dass auch er dabei ist. Wo Kleo ist, ist auch Jojo. »Woher wisst ihr, dass wir hier sind?«, frage ich überrascht. »Die gleiche Frage kann ich dir stellen«, kontert Kleo und lacht. »Das kann doch kein Zufall sein«, beharre ich, »dass ihr ausgerechnet heute auf die Idee kommt, euch hier einschließen zu lassen.« »Ist es auch nicht. Deine Mutter hat mit Jojo telefoniert...« «... und ihn gebeten, auf die kleine Eve aufzupassen«, vollende ich den Satz. »Damit hat sie euch unnötig in Gefahr gebracht. So dumm kann sie doch gar nicht sein.« Leila starrt von einem zum anderen. Dass Kleo und Jojo sich hierher gewagt haben, scheint sie sehr zu beunruhigen. Mürrisch macht sie die beiden darauf aufmerksam, dass gute Leute - »poor, but very, very good«, betont sie -sie versteckt hätten und dafür ein großes Risiko eingegangen wären. Wie konnten sie es wagen, hierher zu kommen und sich und andere in Gefahr zu bringen? »He, wie spricht die mit uns?«, meckert Kleo, doch
dann wird ihr bewusst, dass Leilas Einwände gerechtfertigt sind. »Du bist ja da«, erwidert sie versöhnlich, sucht nach Leilas Arm, drückt ihn. »It is half past twelve«, erkläre ich und werfe Leila einen ratlosen Blick zu. »Okay. Let's go to the auditorium«, befiehlt sie, schlägt sofort den richtigen Weg ein. Auf Zehenspitzen schleichen wir durch den Flur, steigen die Treppe nach oben und stehen mit klopfenden Herzen vor dem Raum, der für Vorträge und für die Mitarbeiter reserviert ist. Hier kam Dr. Pahl heraus, als ich ihr das zweite Mal begegnet bin. Während die anderen noch angespannt auf Stimmen oder sonstige Geräusche lauschen, beschließe ich, nicht anzuklopfen, sondern mutig einzutreten, aber die Tür ist verschlossen. Jojo drängt sich nach vorne, will zur Tat schreiten, doch ich hole den Dietrich heraus, der mir bereits im Mumiensaal gute Dienste geleistet hat, und knacke das Schloss. Das geht nicht auf Anhieb, beim zweiten Versuch knackt es, die Tür öffnet sich mit einem leisen Seufzer. Jojo grinst mich anerkennend an und ich spüre unsere alte Verbundenheit aufkeimen. Drinnen ist alles ruhig. Ich leuchte mit der Taschenlampe hinein, doch genau in dem Augenblick zuckt Kleo neben mir zusammen und zischt eine Warnung: »Ist das Licht an? Macht es aus, sofort!« Zuerst denke ich, sie hat jemanden in dem Saal
gerochen oder erahnt, jemanden, den ich übersehen habe, doch dann höre ich es auch. Im Erdgeschoss ist das Hauptportal ins Schloss gefallen. Jemand hat das Museum verlassen oder betreten. Könnte Frau Pahl sein, die zu spät zu unserer Verabredung kommt, könnte aber auch ... In Sekundenschnelle müssen wir entscheiden, was zu tun ist. Kleo zischt ein zweites Mal und diesmal klingt es wie der Warnruf einer Klapperschlange. Jojo schiebt uns in den Saal, fragt leise, wo ich den Dietrich habe, und verschließt die Tür von innen. »Mist, Mist«, fluche ich, »wir müssen uns verstecken, aber es ist so dunkel hier.« »Sei doch froh. Kleo und ich haben vorhin extra die Sicherungen herausgedreht. Nur zur Vorsicht. Ich hätte nicht gedacht, dass ...«Mehr verstehe ich nicht von seinem Flüstern, denn Kleo zieht mich mit sich. »Kümmere dich um Leila«, befiehlt sie Jojo. Kleo sucht sich einen Weg durch den Raum, stößt mit ihrem Stock mal da, mal dort an, doch kein einziges Mal bleiben wir an einer Tisch- oder Stuhlkante hängen. Sie hat die Führung übernommen und ich bin zur Blinden geworden, tappe unsicher neben ihr her. Endlich scheinen wir unser Ziel erreicht zu haben, Kleo bleibt stehen, tastet die Wand mit den Händen ab und gibt mir dann zu verstehen, dass ich mich hinhocken soll. »Und bleib hier, bis ich dich hole«, zischt sie, tastet sich
an mir vorbei zurück Richtung Tür. Neben mir fühle ich einen Widerstand, meine Hände ertasten einen Holzschrank und ich ahne, was Kleo von mir will. Ich soll mich ganz dicht an den Schrank lehnen, dann kann man mich zumindest von der Tür aus nicht sehen. Und wo die Tür sich befindet, weiß ich deshalb so genau, weil von dort gedämpfte Stimmen zu mir dringen. Wenn das Frau Pahl ist, dann ist sie nicht alleine. Ein aufgeregtes Scharren beginnt und bald schon höre ich, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Auch von Jojo, Leila und Kleo ist kein Piepser zu hören. Ich mache mich noch kleiner, verschmelze sozusagen mit der Wand. Nur mein Herz pocht wie wild. Die Tür geht auf und Schritte sind zu hören. Mehrere, wohlgemerkt. Instinktiv reiße ich die Augen auf, will sehen, wohin der Lichtkegel der Taschenlampe gleitet, will wissen, ob ich aufspringen und fliehen soll, doch ich sehe kein Licht. Tiefe Dunkelheit umfängt die Gestalten, die tastend und fluchend neben dem Eingang stehen. »Licht«, krächzt eine Männerstimme auf Deutsch. »Mach das verdammte Licht an.« Eine kurze Diskussion entbrennt darüber, wieso das Licht nicht angeht. Nun erkenne ich auch die zweite Stimme, denn sie hat einen ausländischen Akzent, gehört einem der Männer, die mich bereits in Hurghada in Angst und Schrecken versetzt haben. Diese beiden also sind hinter uns her, haben uns in eine Falle gelockt. Doch sie sind auf ein Problem gestoßen, auf das sie nicht vorbereitet waren. Es wird
zumindest eine Weile dauern, bis sie uns finden. »Geh runter und schau nach dem Hauptschalter!«, sagt einer von ihnen, doch kurz danach höre ich einen Aufschrei und die gleiche Stimme fragt hysterisch: »Was ist los? Theo, bist du noch da?« Wieder ist ein Aufschrei zu hören, diesmal gedämpft, als käme er von weit her. Nun sagt niemand mehr was. Ist das ein gutes Zeichen? Das Schlimme ist, dass ich nichts sehe, meiner Phantasie also keine Grenzen gesetzt sind. Vorsichtig schiebe ich mich bis an den Rand des Schrankes, will wissen, was da los ist. Wo sind die anderen? Plötzlich spüre ich neben mir eine Bewegung und zucke zusammen. »Pst«, erklingt Kleos Stimme, sie zieht mich hoch und gemeinsam tappen wir zur Tür. Endlich knipst jemand eine Taschenlampe an und ich kann sehen, was passiert ist. Jojo und Leila stehen dicht nebeneinander, blicken auf zwei dunkel gefleckte Mumien herab. Natürlich handelt es sich um keine echten Mumien, sondern um die beiden Männer, die äußerst professionell in Teppiche eingerollt worden sind. Wie haben Kleo und Jojo das hingekriegt? An Leilas empörtem Gesicht kann ich erkennen, dass sie mit der Geschichte nichts zu tun hat. »Wir müssen uns beeilen«, zischt Kleo, »ich weiß nicht, wie lange das Chloroform wirkt.« Mit diesen Worten packt sie einen der Männer, versucht ihn nach draußen zu zerren. »Nein, nicht in den Flur«, ermahnt sie Jojo. »Hinter mir ist eine Besenkammer oder so was. Die können wir abschließen.«
Chloroform, Besenkammer, abschließen? In welchem Drehbuch steht das? »Warum hauen wir nicht einfach ab?«, frage ich. »Das ist doch eindeutig eine Falle.« »Vielleicht«, bestätigt Kleo, »doch die Falle ist nicht zugeschnappt. Sollen wir gehen, bevor wir die Akten gefunden haben?« »Die müssen nicht hier sein.« Meine Stimme zittert, zittert immer noch vor Angst, aber auch vor Entrüstung. Ich bin bereit, für Jojo und Kleo durch dick und dünn zu gehen, doch ich bin nicht bereit, Männer zusammenzuschlagen, sie zu betäuben und zu verstecken. Jojo spürt meine Ablehnung, lacht mich aus. Sein gesundes Auge strahlt, er ist wieder ganz der Alte, scheint die Aufregung zu genießen. »Du hast mehr zu verlieren als wir«, gibt er zu. »Deshalb bin ich dir auch nicht böse, wenn du gehst. Doch lass Leila da, sie soll Wache halten.« So nicht. Entschlossen bücke ich mich, umfasse einen der großen Schuhe und zerre daran. Neben mir zieht Jojo, Leila hält die Taschenlampe. Als wir den zweiten Mann gerade über den Boden schleifen, beginnt er zu stöhnen und sich unruhig hin und her zu werfen. Kleo hat zu wenig Betäubungsmittel benutzt. Ich möchte nur wissen, wie sie an das Zeug gekommen ist und wie sie es geschafft hat, sich unbemerkt an die Männer heranzuschleichen.
»Woher hast du das Chloroform?« »Von Leila.« Verwundert frage ich Leila, wieso sie Chloroform mit sich herumträgt, doch sie überhört meine Frage, macht den Vorschlag, die Sicherung wieder reinzudrehen. Sie ist echt der Hammer. Wirkt ruhig und gefasst, als würde sie solche Dinge täglich machen. Jojo ist vorsichtiger, widerspricht Leila, denn er hält es für möglich, dass noch mehr Männer oder Frauen auf uns angesetzt sind. »Wir müssen aufpassen«, ermahnt er uns. »Wer weiß, wo diese Doktor Pahl steckt. Bestimmt hat sie die Falle gelegt und treibt sich hier irgendwo herum. Deshalb müssen wir uns mit der Suche beeilen.« Mit diesen Worten geht er voran, schreitet den Saal ab, guckt in alle Schränke, unter die Pulte, doch nirgends finden sich irgendwelche Unterlagen. »Lasst mich überlegen«, sage ich, »es muss einen oder mehrere Räume geben, in denen ägyptische und ausländische Wissenschaftler zusammenarbeiten. Frau Doktor Pahl hat erzählt, dass sie die Mittagspause gerne zum Arbeiten nutzt. Aber außer der Besenkammer gibt es keine ...« »Pst, ich höre was«, unterbricht Kleo meinen Redestrom. Ihr Kopf wackelt hin und her. »Ich habe die ganze Zeit über etwas gehört, doch ich war so mit den beiden Männern beschäftigt, dass ich nicht darauf geachtet habe.« Sie ergreift den Stock und bahnt sich zielstrebig einen
Weg zu der Besenkammer. Daneben befindet sich ein etwas größerer Raum, der durch einen Vorhang abgetrennt ist. Jojo hat vorhin hineingeleuchtet, einen Projektor, Karten und Ähnliches entdeckt und Entwarnung gegeben. Jetzt schiebt Kleo den Vorhang zur Seite, betritt zielsicher den länglichen Raum, lauscht erneut. Wir blicken ihr neugierig über die Schulter. Da ist ein Klopfen und Rufen, doch stammt das nicht von den eingesperrten Männern? Kleo geht bis zum Ende des Raumes durch, tastet die Wand ab und stößt auf eine Tür. »Wer ist da?«, ruft Kleo. »Aufmachen!«, krächzt es. Uns allen sitzt die Angst immer noch im Nacken, keiner traut sich die Tür zu öffnen. Jojo hat sich eine Eisenstange geschnappt. Plötzlich schiebt Leila mich zur Seite. Sie sollte eigentlich draußen Schmiere stehen, doch jetzt ist sie da, drängt sich an mir vorbei, rüttelt an der Tür. Die Tür ist verschlossen. »It's Mrs Pahl, open please«, weist sie Jojo an. Nachdem er nicht reagiert, wird sie noch zappliger. »Please«, wiederholt sie in einem drängenden Tonfall. Ich schlucke meine Verwunderung herunter, ahne erneut, dass Leila nicht so harmlos ist, wie sie tut, und hole den Dietrich heraus. Sie reißt ihn mir förmlich aus der Hand. Die Tür schwingt auf und gleißend helles Licht flutet uns entgegen. Vor uns erstreckt sich ein lang gezogener Raum, der zur Hälfte wie ein Büro eingerichtet ist, mit Akten-
schränken und Schreibtischen, auf denen Monitore stehen. Im hinteren Bereich erkenne ich Laborgeräte, Medizinschränke, Mikroskope. Das helle Licht flutet durch zwei vergitterte Fenster. Leila stürmt herein und wir sehen verdutzt zu, wie sie sich auf den Boden kauert, um Frau Pahl, die an Armen und Beinen gefesselt ist, zu helfen. Ich starre die Frau mit den rot entzündeten Augen an, starre Jojo an, lasse meinen Blick gehetzt durch den Büroraum wandern und weiß, dass wir gefunden haben, wonach wir suchten. Jetzt müssen wir nur noch die Situation in den Griff kriegen. »Kann mir einer mal sagen, was hier los ist?«, fordert Kleo, doch ich bin zu verdattert, um zu reagieren. Erst jetzt entdecke ich an einer der Seitenwände eine große Pinnwand, an der Fotos und Stadtpläne geheftet sind. Sieht aus wie in dem Überwachungsraum, den ich im Hotel entdeckt habe. Mir wird klar, dass einige von uns auch in Kairo überwacht wurden. Kleo in einem Krankenhausbett, Kleo zusammen mit Nofrure, Kleo während ihrer Hochzeit und da bin auch ich, in einem Bus sitzend und wie ich vor der Universität warte. »Leila«, frage ich in scharfem Ton, »can you tell me, where the photos come from?« »Sprich deutsch«, unterbricht mich Kleo, der alles über den Kopf zu wachsen scheint. »Warum ...?«, beginne ich den Satz, werde aber von Frau Pahl unterbrochen. Leila hat sie in der Zwischenzeit von ihren Fesseln befreit und ihr geholfen, sich auf einen Stuhl zu setzen. Die kleine Frau reibt sich die geschwollenen
Handgelenke, wirft Leila einen dankbaren Blick zu. Fasziniert starre ich Frau Pahl an und auch Jojo kann seine Augen nicht von ihr abwenden. Ihre entzündeten Augen und ihre Hilflosigkeit zeigen uns, dass sie genauso von Krankheit und Verfolgung bedroht ist wie ihre ehemaligen Testobjekte. »Leila versteht uns«, sagt Frau Pahl matt und mir bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Du heimtückisches Biest, denke ich, doch immer noch blickt sie freundlich zurück, scheint sich ihres Verrats nicht bewusst zu sein. »Setzt euch«, fordert Frau Pahl uns auf. »Ich habe gehört, dass ihr die beiden Männer überwältigt habt. Ich hoffe, von denen droht uns keine Gefahr mehr.« »Nein, aber von ihnen«, zische ich und werfe Jojo einen abschätzenden Blick zu. Auch er scheint der veränderten Situation nicht zu trauen, immer noch hält er die Eisenstange mit beiden Händen umklammert und starrt Frau Pahl finster an. Gleichzeitig dreht er sich verstohlen um, betrachtet neugierig die Fotos, die an den Wänden hängen. »Ich muss euch etwas erklären«, beginnt Frau Pahl, »Leila arbeitet für mich. Ich habe dafür gesorgt, dass sie bei Eve als Dienstmädchen unterkommt. Offiziell sollte sie Informationen über euch sammeln, indirekt hat sie aber mitgeholfen, Johanna, ich meine Kleo, zu befreien und zu verstecken.« Das stimmt, gebe ich zu, aber war das ein Auftrag oder
hat sie eigenmächtig gehandelt? Ein Blick in Leilas kummervolles Gesicht lässt mich eher an die zweite Variante glauben. »Es ist klar, dass ihr im Augenblick nicht wisst, wem ihr trauen könnt und wem nicht«, fährt Frau Pahl fort. »Ich habe schließlich lange genug dieses Spiel mitgespielt, habe Johanna, Jussuf und Kathy überwacht und untersucht und all das.« »Warum?«, fragen Kleo und Jojo wie aus einem Mund. »Also, das kann ich euch so schnell nicht erklären. Wir sollten versuchen, heil aus der Geschichte herauszukommen und das bedeutet, dass ...« »Heil, haben sie heil gesagt?«, belle ich empört. Doch Frau Pahl überhört meinen Einwand, erzählt mit unbeteiligter Stimme weiter, als ginge es um die Berichterstattung in den Tagesthemen: »Ich war der Lockvogel, der Eve hierher locken sollte. Dass ihr nun alle hier seid, ist eher eine unangenehme Überraschung. Aber ihr habt die beiden Männer überwältigt, was ich nie für möglich gehalten hätte. Trotzdem müssen wir so schnell wie möglich von hier verschwinden.« »He, mal langsam«, stelle ich mich ihr in den Weg. »Wer sind die Männer, für wen arbeiten sie?« Frau Pahl stülpt die Lippen vor, blickt mich finster an. Es ist klar, dass sie sich nicht mehr länger mit uns auseinander setzen will. Sie hat Kleo und Jojo wie heiße Kartoffeln fallen
gelassen. Will jetzt nur noch ihre Haut retten. Doch so einfach kommt sie mir nicht davon, denke ich wütend. Diesmal lasse ich sie nicht gehen, bevor sie nicht alles gesagt hat. Immer noch stehe ich vor ihr, bin gut einen Kopf größer und längst nicht mehr das verschüchterte kleine Mädchen, das sie mit der Erwähnung eines Lehrernamens in die Flucht schlagen konnte. Trotzdem versucht sie sich an mir vorbeizudrängeln, ihre Handtasche hält sie fest umklammert. Doch ich weiche keinen Zentimeter und neben mir steht Jojo mit der Eisenstange. »Leila hat Johanna ohne mein Wissen versteckt«, gibt sie zu. »Ich wäre nicht so mutig gewesen. Aber ich habe sie gedeckt, niemandem von meiner Vermutung erzählt, sonst wäre Leila verhört worden und diesem Verhör hätte sie nicht standhalten können.« Zum ersten Mal zeigt Frau Pahl so etwas wie Schwäche oder Unsicherheit, ihre Stimme zittert, als sie fortfährt: »Mir war klar, dass wir dieses Versteckspiel nicht mehr aufrechterhalten können. Ich habe mit Abdul darüber ...« »Wer ist Abdul?«, will Kleo wissen. »... mit Doktor Hassan darüber gesprochen. Er zeigte sich erstaunlich einsichtig, sicherte mir zu, dass die Versuche abgebrochen würden und alle zur Behandlung nach Deutschland fliegen dürften. Ich war ja schon so gut wie unterwegs, da hat er mich hier einsperren lassen. Ich musste dich anrufen, Eve ... er hat mich gezwungen.« Ihre Stimme bricht ab, doch nicht aus Kummer oder Scham, sondern weil sie wütend auf ihren Kollegen ist. Verärgert schimpft sie: »Er hatte immer schon schwache Nerven, doch seit der Pilz
entdeckt wurde, dreht er durch. Er hat nicht nur Angst um seine Gesundheit, er hat auch Angst vor Eves Vater, vor euch, selbst vor mir.« »Sie lügt«, unterbricht Kleo diese peinliche Komödie. Ihre Stimme verrät Sie, Frau Pahl. Sie sind nicht die kleine, unschuldige Mitläuferin, als die Sie sich darstellen wollen. Ich habe mit Doktor Hassan gesprochen. Nicht lange und nicht oft, denn ich bekam sehr viele Schlaf- oder Beruhigungsmittel, aber seine Stimme war klar, seine Ziele einfach. Sie sind ihm übergeordnet und in Ihnen kämpfen mehrere Ziele um die Vorherrschaft, Ihre Stimme klingt hinterhältig und verlogen.« He, mach langsam, Kleo. Besänftigend tätschle ich meiner Freundin den Arm. »Die Tante wird dichtmachen und uns nichts mehr verraten«, flüstere ich ihr leise zu. Doch genau das Gegenteil passiert. Frau Pahl wird erst weiß, dann knallrot, sie muss nach Luft schnappen, doch dann legt sie wie eine Furie los: »Du undankbares, freches Gör. Du warst immer schon schlimm, doch seit du blind bist oder seit du in dieses bestimmte Alter gekommen bist, bist du nicht mehr zu ertragen. Seit frühster Kindheit tust du nur, was dir passt. Du akzeptierst keine Autorität, setzt dich über alle Pflichten und guten Ratschläge hinweg. Wir mussten Maria zuletzt zwingen, bei dir zu bleiben. Sie fürchtete deine Launen, hasste dein selbstherrliches Auftreten. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ohne mich wärst du tot, verstehst du das? Mausetot. Verwest, vergammelt. Ich habe dich zum Leben erweckt. Ich hatte große Pläne mit dir, ich ...« Mit
ängstlich aufgerissenen Augen bricht sie den Satz ab, ihr scheint bewusst zu werden, dass sie in ihrer Erregung viel zu viel preisgegeben hat. Verärgert beißt sie sich auf die Lippen, verknotet ihre kurzen Finger ineinander, beginnt hysterisch zu lachen. »Ihr seid meine Babys«, kichert sie, »mein ganzer Kummer, aber auch meine ganze Freude.« Jojo und ich starren uns entgeistert an, schütteln die Köpfe. Kleo zuckt nervös mit den Augenlidern. Ihre schmale Hand, die sie zur Orientierung an den Türrahmen gelegt hat, ist angespannt, die Knöchel treten weiß hervor. Das, was wir seit Tagen wie eine dunkle Vermutung mit uns herumgetragen haben, scheint sich durch Frau Pahls Worte als grausame Wahrheit zu bestätigen. Sie ist Biologin oder Biochemikerin und hat tote Materie zu neuem Leben erweckt. Diese Gewissheit schnürt uns die Luft ab, macht uns stumm und starr. Leila reagiert als Erste, greift Kleo unter die Arme, zieht sie zu einem Stuhl und lässt sie darauf Platz nehmen. Ihrer Arbeitgeberin wirft sie einen entrüsteten Blick zu, in dem sich Verachtung, aber auch tiefer Kummer spiegeln. »Ich will wissen, warum!«, sagt Kleo plötzlich laut, richtet sich stolz auf und an ihrem Tonfall kann man hören, dass auch sie diesen Ort nicht verlassen wird, bevor sie nicht die ganze Wahrheit erfahren hat. Frau Pahl hat wie ein kleines, bockiges Kind die Knie angezogen, den Kopf darauf gelegt. Ihr schmaler Körper zuckt rhythmisch auf und ab. Doch sie lacht nicht mehr, sie weint.
Ihre Worte sind kaum zu verstehen: »Das ist doch nebensächlich«, schluchzt sie, schaut jeden von uns aus entzündeten Augen an. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen. Heute Abend findet ein Treffen bei Doktor Hassan statt. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen Achim und Theo, die beiden Männer da draußen, ihren Auftrag ausgeführt haben. Wenn sie nicht in der Klinik auftauchen, wird man sie suchen, wird man uns suchen.« »Ihre Augen sind entzündet«, stellt Jojo ungerührt fest. »Seit wann wissen Sie, dass Sie erkrankt sind?« Verwundert dreht Frau Pahl sich zu Jojo, schaut ihn voller Zuneigung an. Doch ihr Mund verzieht sich zu einer Fratze, als sie erklärt: »Noch nicht lange. Aber ich habe damit gerechnet, dass es passieren könnte. Als Ursache für die Sporenübertragung kommen nur die zahlreichen Laborversuche infrage, die wir vornehmen mussten. Und da ich bei allen wichtigen Versuchen direkt beteiligt war, war die Wahrscheinlichkeit gegeben ...« An dieser Stelle schweigt sie. Es ist klar, dass sie sich trotz ihrer vernünftig klingenden Worte noch nicht daran gewöhnt hat, selbst bald blind zu sein. Plötzlich kommt mir ein erschreckender Gedanke. »Sind die Pilzsporen direkt übertragbar?« »Nein«, entgegnet Frau Pahl. »Zumindest nehme ich das nicht an. Trotzdem möchte Doktor Hassan euch loswerden.«
Siebzehn � »Ich will zuerst meine Akte!« Kleo steht auf, tritt einen Schritt auf Frau Pahl zu. »Und ich will wissen, wer die Hauptverantwortlichen sind, welche Rolle Maria gespielt hat, welchem Ziel die Versuche dienten, wie es mit uns weitergehen soll.« Frau Pahl duckt sich auf ihrem Stuhl, als würde sie mit einem Angriff rechnen, doch ihrem Gesichtsausdruck nach ist sie fest entschlossen, nicht nachzugeben. »Die Unterlagen sind nicht hier«, stammelt sie. «Die Zentrale befindet sich in der Universität.« »Das kaufe ich Ihnen nicht ab«, lacht Kleo, lacht wie über einen guten Witz. »Ihre Stimme zittert wieder. Ich weiß, dass Sie lügen.« Kleo hat sich langsam an ihre Gegnerin herangetastet, ihre langen Arme rudern hilflos durch die Luft, doch plötzlich packt sie zu. Packt den Kopf von Frau Pahl, krallt sich in die blonden Haare. »Kleo«, mische ich mich ein, »lass gut sein, wir werden danach suchen.« Auch Leila unterstützt mich mit einem warnenden Aufschrei. Kleo lockert ihren Griff, lässt aber nicht los. Leila ist bedrohlich dicht an sie herangetreten. Wie wir alle ist auch sie reichlich nervös. Ihr zumeist fröhliches Gesicht wirkt ernst und zuckt angespannt. Zu wem wird sie im Zweifelsfall
halten? Um das Hin und Her abzukürzen, beginne ich mit der Suche nach den Akten, krame hektisch in den Schubladen, reiße Schränke auf, durchwühle die Regale. Die Blonde beteuert indessen immer wieder, dass wir nichts finden werden. Wir sollten lieber so schnell wie möglich verschwinden. Ich lasse sie reden, behalte Leila im Auge. Aus irgendeinem Grund vertraue ich ihr immer noch, sie wird mich warnen, wenn wir zu weit gehen. Da fällt es mir plötzlich ein. In Hurghada habe ich Akten zu Gesicht bekommen, doch normalerweise macht sich niemand mehr die Mühe, Papierakten anzulegen. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen, Daten werden im Computer gespeichert. Rasch trete ich an einen der Computer heran, schalte ihn ein und begegne der ersten Hürde. Bitte geben Sie das Kennwort ein! »Lass das!«, befiehlt Frau Pahl, die von ihrem Stuhl aus die Szene beobachtet. Kleo hat sie inzwischen losgelassen, steht aber immer noch dicht neben ihr. »Ihr macht euch unglücklich.« »Mach weiter!«, sagt Kleo entschlossen. »Es ist unser Leben, mit dem sie gespielt hat. Ich will wissen warum. Frau Pahl, Sie haben jedes Recht auf Einspruch verwirkt.« »Warum ignorierst du nicht einfach das Kennwort«, schlägt Jojo vor.
Das mache ich und der Computer startet tatsächlich durch. »Und jetzt den Datei-Manager!« Jojo steht dicht hinter mir, lehnt sich über meine Schulter und ich überlege, ob ich ihm Platz machen soll. So viel Ahnung habe ich nicht von Computerprogrammen, doch schließlich war es meine Idee und deshalb bleibe ich sitzen. Das nervöse Zischen von Frau Pahl in einem und die ungeduldigen An-feuerungsrufe von Jojo im anderen Ohr rolle ich mit der Maus das Register rauf und runter, stoße auf Anhieb auf den Namen Pahl, öffne den Ordner und dort die Datei Hatschepsut. Doch dann bin ich restlos enttäuscht, denn da steht der Lebenslauf der Pharaonin, mit genauen Jahreszahlen, Angaben über Regierungszeiten, Bautätigkeiten und so weiter. Ich überfliege Seite um Seite. Endlich, nachdem ausführlich beschrieben wurde, wo und wann die Mumie der Hatschepsut gefunden wurde, fällt der Name Johanna. »Lies laut«, mahnt Kleo, die zu spüren scheint, dass ich auf etwas gestoßen bin. »Das geht nicht, viel zu ausführlich. Ich lese die Überschriften, okay? Also, passt auf: Gewebeproben aus der Mumie Hatschepsut entnommen Zellkerne isoliert und in entleerte Eizellen schottischer Kühe impliziert Teilung durch Elektroschocks angeregt 261 Embryonen hergestellt
Zwei überlebende Embryonen
Ein Embryo eingefroren
Ein Embryo im Blastozysten-Stadium in GM übertragen.«
»Was ist denn GM und was sind Blastozysten?«, fragt Jojo erschreckt. »Warte auf den nächsten Absatz«, flüstere ich, lese weiter: »Uterus der Leihmutter optimal vorbereitet, Embryo zeigt gute Entwicklung, gesundes Mädchen geboren am 14.2.« »Mein Geburtstag!«, schreit Kleo entsetzt. »Ja, hier steht es schwarz auf weiß.« Wie gebannt überfliege ich die folgenden Zeilen: »Benannt nach meiner Assistentin Johanna, Adoption durch Frau M. Beer, ehemalige Mitarbeiterin der Caritas Berlin.« Nun werden detailliert die Entwicklungsschritte von Kleo beschrieben, vom Baby über das Kleinkind bis zum Teenager, daher rolle ich ungeduldig bis zum Ende der Aufzeichnungen und lese: »Zur Gegenüberstellung mit den anderen Probanden (vergleiche Datei Nofrure und Thutmosis) nach Ägypten gebracht.« »Steht da, warum?«, unterbricht mich Kleo. »Ziel der Zusammenführung soll es sein, die Paarbeziehung
zwischen der Pharaonin Hatschepsut und Thutmosis zu untersuchen. In Klammer ist vermerkt: Werden sie sich ineinander verlieben, obwohl beide von anderen Jugendlichen abgelenkt und kontaktiert werden? Nofrure soll, trotz zu erwartender Probleme, ebenfalls in den Versuch eingebunden werden.« Hilflos blicke ich mich um, sehe Jojo an, der kreideweiß im Gesicht ist, sehe zu Kleo hinüber, die in dem Stuhl zusammengesunken ist und dumpf vor sich hinbrütet, sehe Frau Pahl an, die nervös auf und ab wippt, an den Fingernägeln kaut, lächelt. Da niemand ein Wort sagt, frage ich: »Diese drei Menschen wurden nur geklont, um Ihre Theorie zu unterstützen, dass Thutmosis und Hatschepsut ein Liebespaar waren? Das kann doch nicht sein.« Zunächst ein zaghaftes Nicken, dann sagt sie trotzig: »Warum nicht?« Das ist doch der glatte Wahnsinn. Ich kann's nicht glauben. Die hat so etwas Unmenschliches getan, nur um ihre Doktorarbeit beweisen zu können. Ungläubig starre ich sie an, suche nach Worten. »Haben Sie auch nur einen Augenblick daran geglaubt, dass Sie als Wissenschaftlerin damit auftrumpfen könnten?« Ich verhaspele mich beim Sprechen, bin schockiert darüber, dass diese erwachsene Frau, eine Professorin, nicht aufsteht und mir sagt, dass ich mich irre,
dass alles ganz anders, viel komplizierter ist. Doch Frau Pahl steht nicht auf, verschränkt nur die Hände vor dem Körper, drückt ihre Handtasche an die magere Brust und presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, als wolle sie nie mehr etwas sagen. Kleo indessen ist aufgesprungen, tastet sich zu mir, fegt zum ersten Mal, seit ich sie kenne, eine Tasse zu Boden, hält sich schließlich mit vor Aufregung zitternden Fingern an meinem Stuhl fest. »Wovon redest du?« Auch ihre Stimme überschlägt sich. Rasch erkläre ich ihr die Zusammenhänge, berichte von der Doktorarbeit, beobachte dabei die vor Wut schnaubende Frau Pahl und versuche herauszufinden, ob ich mit meinen Vermutungen tatsächlich ins Schwarze getroffen habe. Mit einer theatralischen Geste zeigt sie auf Jojo. »Der Held unseres jahrelangen Streites steht vor uns, Thutmosis III. höchstpersönlich. Ist er nicht schön? Bildschön. Doch das war nicht die Frage. Wen liebte er, warum benahm er sich nach dem Tod der Königin Hatschepsut wie ein Wahnsinniger, zerstörte ihr Andenken, flüchtete sich in Kriege? Aus Kummer, nur aus Kummer, das kann ich beweisen! Jahrzehntelang wurde die Pharaonin als die böse Stiefmutter beschrieben, die sich unrechtmäßig auf den Thron des jungen Prinzen gesetzt hatte. Nofrure galt als die schöne Geliebte. In Wirklichkeit aber waren Thutmosis und Hatschepsut ein Paar, trotz des Altersunterschieds. Und sie haben zwanzig Jahre lang gemeinsam regiert, in bestem Einverständnis. Es ist ganz klar, welche Frau er meinte, als er das Lied schrieb:
Nütze die Zeit, denn das Leben ist nur ein Traum. Und alles geht dahin und auch unsere Liebe muss sterben. Ich hatte Beweise für diese Behauptungen, doch Prof. Reinhart behauptete, die Papyrusrollen wären Fälschungen und leider fand er genügend Fachleute, die ihn unterstützten. Vielleicht war auch dein Vater dabei. Auch er hat in seinen Büchern nicht hinterfragte Meinungen veröffentlicht. Die mächtigen Herren wollten mir die Doktorarbeit nicht anerkennen, weil sie dann hätten zugeben müssen, dass ihre Veröffentlichungen das Papier, auf dem sie gedruckt wurden, nicht wert wären. Ich hätte ihnen beweisen können, wer die Strophen des Liedes nach wie vor auswendig aufsagen kann. Es ist Johanna, ich meine, die Hatschepsut. Sie war und ist mit Thutmosis stark verbunden. Ich hatte Recht, ich hatte Recht!« Der letzte Satz gleicht einem Schrei, und noch bevor wir reagieren können, stürzt sich Frau Pahl auf Jojo, klammert sich an ihm fest, hängt sich schwer an seinen Hals. Jojo starrt verwundert auf die Frau herunter, weiß nicht, was er sagen oder tun soll. Die Eisenstange ist ihm aus der Hand gerutscht, fällt mit einem lauten Klirren auf die Fliesen. »Aber jetzt ist alles umsonst, denn ihr seid krank geworden. Erblindet, noch bevor ihr das Erwachsenenalter erreicht habt«, jammert Frau Pahl. »Ein kleiner, unbekannter Pilz frisst sich durch eure Netzhaut. Schon immer haben wir
uns darüber gewundert, warum einige Mitglieder der Königsfamilie zugenähte Augen haben. Jetzt wissen wir es. Sie waren blind, als sie starben. Jahrelange Inzucht muss dazu geführt haben, dass sie anfällig für diesen Pilz wurden. Aber warum musste es mich treffen? Ich werde nie mehr forschen können.« »Das können wir alle nur hoffen«, höre ich mich im tiefsten Brustton der Überzeugung sagen. Frau Pahl wacht wie aus einem Traum auf, starrt zuerst Jojo, dann mich an. »Ach, sei du doch still. Dich hat niemand gefragt. Wer bist du, dass du dir anmaßt, über meine Arbeit zu urteilen?« Was antwortet man auf einen solchen Vorwurf? Dass diese Erde uns allen gehört und dass man sich einmischen muss? Weil jeder die Verpflichtung hat, gegen Verantwortungslosigkeit vorzugehen? Ich kaue an diesen Sätzen, doch längst hat sich Kleo hinter mir gestrafft und sagt laut, dass der Raum von ihrer Stimme widerhallt: »Arbeit? Was für eine Arbeit soll das sein, Menschen zu erschaffen und sie dann sich selbst zu überlassen? Wo sind Sie gewesen, als ich nachts nach einer Mutter gerufen habe? Warum haben Sie uns aus der Ferne beobachtet, statt uns in den Arm zu nehmen, zu wiegen, wenn wir traurig waren? Wer zur Befriedigung seiner eigenen Machtgelüste oder um spätes Recht einzufordern mit Menschenleben jongliert, der muss sich Fragen stellen und Kritik einstecken.« Kleos Stimme verliert an Festigkeit, ich merke, wie sie mit den Tränen
kämpft. Ihr Gesicht wirkt angespannt, gleicht dem von Jojo, der auf den Bildschirm starrt. »Sie sind ein Opfer Ihrer eigenen Machtgier. Und dass ich dieses Lied kenne, ist nicht die Spur eines Beweises. Einfach lächerlich, dass eine Wissenschaftlerin annimmt, mit solchen Nichtfakten Eindruck zu schinden. In Jojo muss ich mich nicht verlieben, ich liebe ihn bereits. Er ist ein Bindeglied zu meiner Vergangenheit. Unsere Gefühle füreinander sind also nicht schwer zu verstehen. Ihre Idee war und ist von vorneherein absurd. Sie müssen wahnsinnig sein und deshalb ist klar, wo Ihr Platz in Zukunft sein wird. Ich frage mich nur, wie Sie es geschafft haben, die Geldgeber von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Warum haben die die jahrelangen Beobachtungen finanziert? Welche Lügen haben Sie denen aufgetischt?« »Das kann ich dir sagen«, meldet sich Jojo zu Wort. »Ich lese gerade den wahren Grund unserer Existenz. Frau Pahl war nur ein Werkzeug. Sie verfolgte ihre eigenen Interessen, aber die sind unbedeutend im Vergleich zu dem, was hier steht.« Jojo räuspert sich, dann legt er los: »Frau Pahl mag ihre Gründe gehabt haben, warum sie uns erschaffen wollte, doch die Geldgeber hatten etwas ganz anderes im Sinn. Wenn das stimmt, was hier steht, dann sind Kleo, Nofrure und ich nur drei von vielen Klonen, die diesen Planeten bevölkern. Wir gehören der ersten Generation absolut künstlich hergestellter Menschen an. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren wurde ein weltweit operierendes Netz von Wissenschaftlern aufgebaut, die, wie soll ich sagen ... die Produktion, Vermarktung und Analyse von künstlichem Leben zum Ziel
haben. Bei allen Klonen handelt es sich um .. .«Jojo hat sich vom Bildschirm abgewendet, schlägt die Hände vors Gesicht. »Ehemalige Könige und Kaiser«, helfe ich ihm auf die Sprünge, weiß genau, dass er diese Art der Hilfe nicht braucht, sondern verzweifelt ist. »Quatsch!« Jojo bringt mich mit einer einzigen Handbewegung zum Schweigen. »Es geht einfach um Persönlichkeiten ersten Ranges. Da sind Schauspieler darunter, Mathematiker, Physiker und natürlich viele, viele Politiker.« »Aber die sind doch nicht mumifiziert worden, ich meine ...« »Ich weiß, was du meinst. Scheiß drauf, die haben die Mausoleen und Kühltruhen geplündert, so sieht's aus.« Absolutes Schweigen umgibt mich, niemand im Raum scheint zu atmen. Nach und nach wird mir das ganze Ausmaß bewusst. Die Wörter »künstlich hergestellte Menschen« und »Prototypen für eine neue Erdbevölkerung« bohren sich in mein Bewusstsein. Das heißt, dass in naher Zukunft nichts mehr der Natur und dem Zufall überlassen werden soll. Das ist der reinste Wahnsinn, gleichzeitig faszinierend. Eine Elitegruppe wird hergestellt, nach und nach vergrößert und soll schließlich die herrschende Schicht bilden. Und Kleo und Jojo sind Teil dieses Zukunftsplans. Was ist mit den normalen Menschen? Wird man ihnen irgendwann verbieten, sich zu vermehren? Verwirrend, sich das auch nur ansatzweise
vorzustellen. Wird es irgendwann keine Familien mehr geben, werden nur noch Kens und Barbies und Einsteins unseren Planeten bevölkern? Sind nur noch Hoch- und Spitzenleistungen gefragt? Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, schaue Kleo an, Jojo, der wieder am Bildschirm liest, und starre schließlich auf Frau Pahl. Ihr Gesicht zeigt keine Regung, die Augen sind geschlossen, als würde sie schlafen, doch ihre Mundwinkel zucken. Wie durch einen dichten Nebel höre ich Jojos Worte: »Sie wollen einen Menschenpool anlegen, aus dem sie sich in Zukunft nach Belieben bedienen können. Wir sind das Eigentum von Pharmakonzernen. Nachzüchtungen, Kreuzungen, genetische Aufrüstung, hier steht die ganze Palette der Verbesserungsmöglichkeiten, die sie für uns geplant haben. Wir sind keine freien Menschen, lediglich der Rohstoff für wissenschaftliche Hirngespinste. Sie wollen den perfekten, intelligenten, wunderschönen Supermenschen. Das Ganze läuft unter dem Namen ››Genetic Initiation«. Klingt gut, nicht wahr? Wir sind echte Superstars, stehen in einer Reihe mit Nixon, Stalin, Marilyn Monroe ...« »Jojo, ich will das nicht wissen, nicht jetzt!«, bestimmt Kleo. Ihre Stimme ist laut, aber nicht schrill. »Zieh eine Diskette, ich will gehen!« Hastig beginnt sie den Tisch neben mir nach Disketten abzutasten. Ich kann mich nur wundern. Wie können die beiden so cool bleiben? Ich würde schreien, wenn sie über mich so etwas erzählen würden.
»Halt, setzt euch alle hin!«, höre ich wenige Sekunden später eine mir fremde Stimme rufen. Kleo muss die Anwesenheit dieser fremden Person schon vorher gespürt haben. Hinter uns hat sich die Tür lautlos geöffnet und eine Ägypterin in langer dunkelbrauner Mileya ist eingetreten. Eine Frau mit sehr großen, stark geschminkten Augen. Ihre Handtasche hat sie fallen gelassen, in der Hand hält sie einen kleinen Revolver. Noch nie habe ich so ein Ding gesehen, weder von weitem noch aus der Nähe. Doch nun weiß ich, wie die Angst schmeckt, die sich beim Anblick einer so gefährlichen Waffe in einem breit macht. »No!«, schreit Leila, die bislang stumm unsere Unterhaltung verfolgte. »No, no ...!«Mit wenigen Schritten ist sie bei der Frau, will nach der Waffe greifen, doch Kleo hat sich ihr in den Weg gestellt, unabsichtlich wohl. »Maria, was machst du hier?« Genau in dem Augenblick löst sich ein Schuss. Wie erstarrt blicke ich auf Leila, sehe ihre Hand, sehe das Blut. Rot und schwer tropft es auf den Boden. Dann geht alles sehr schnell. Jojo ist mit zwei Schritten bei Maria, entreißt ihr die Waffe, schlägt ihr mit der geballten Faust ins Gesicht. Wo hat er das gelernt? Maria taumelt, hält sich am Türrahmen fest. Ihre großen Pupillen weiten sich noch mehr, sie dreht sich um, sucht einen Fluchtweg, doch Jojo lässt einen zweiten Schlag folgen. Diesmal noch kräftiger. Ein stummer Klagelaut entweicht Marias Lippen, sie knickt in den Knien ein und geht zu Boden. Dabei schlägt ihr Kopf gegen den Türrahmen. Ich
halte die Luft an, verschließe meine Ohren mit den Händen, will nichts mehr hören. Jojos Gesichtshaut hat sich dunkel verfärbt, seine Augen leuchten wie helle Sterne. Keine Spur von Mitleid ist darin zu erkennen. Frau Pahl fängt an zu lachen, erst zaghaft, dann in immer höheren Tönen. Lacht und lacht, bis ich es nicht mehr aushalte, zu ihr gehe und ihr eine Ohrfeige verpasse. »Was ist los? Ist jemand verletzt?«, stöhnt Kleo neben mir. »Leilas Hand wurde getroffen. Und deine Tante liegt auf dem Boden, bewusstlos.« Leila, leichenblass im Gesicht, steht immer noch am gleichen Fleck, hält ihren Arm nach oben, stützt ihn mit der gesunden Hand, starrt Frau Pahl an. Ich kann keine Gedanken lesen so wie Kleo, doch ich sehe, dass in Leilas Blick Hass und Unverständnis liegen. Auch für sie ist jetzt eine Grenze überschritten worden. Welche Gefühle sie Frau Pahl gegenüber auch gehabt haben mag, ihre Treue scheint ins Wanken geraten zu sein. Wie um das deutlich zu machen stellt sie sich neben ihre Arbeitgeberin, doch diesmal will sie sie nicht vor uns beschützen, sondern an einer Flucht hindern. »Everything's okay. I don't need a doctor.« »Dann soll Jojo so schnell wie möglich die Disketten ziehen!«, befiehlt Kleo. »Du passt auf Maria auf, und wenn du mir ein Telefon gibst, dann rufe ich Volker an. Er soll uns abholen!« Ihre Stimme besitzt den typischen Befehlston, doch da schwingt noch etwas anderes mit, etwas, das ich nicht
benennen kann. Aber allein die Tatsache, dass sie den Vornamen meines Vaters verwendet, bewirkt, dass sich meine Nackenhaare aufstellen.
Epilog Ich komme aus der Schule nach Hause, begrüße Leila und gehe sofort in mein Zimmer. Seit Papa in Amerika ist, habe ich das Zimmer für mich alleine. Das ist auch gut so, denn mit Lisa in einem Zimmer kriege ich die Krise. Der Altersunterschied zwischen uns beiden ist einfach zu groß. Ich werfe die neue CD von Shakira ein, lege mich aufs Bett und schließe die Augen. Doch bald schon werde ich unruhig, stehe auf und wandere in der Wohnung herum. »Wo sind Mama und Lisa?«, will ich wissen. »Die sind bei Kleo, sie wollten zusammen einkaufen gehen«, antwortet Leila, schnalzt mit der Zunge und verdreht die Augen, wie um mir zu zeigen: Das ist bestimmt keine leichte Aufgabe für deine Mama. »Hm.« Ich hole mir aus der Küche ein Glas Orangensaft, gehe
damit ins Schlafzimmer meiner Eltern und setze mich vor den Rechner. Ich überlege, wem ich eine E-Mail schicken könnte. Michi fällt mir ein und dass ich ihn immer noch mag. Als ich ihm geschrieben habe, dass ich für ein Jahr in Kairo bleiben würde, hat er super reagiert, mir keine Vorwürfe gemacht und gesagt, dass er mich in den nächsten Ferien besuchen kommen wird. Dann wird Jojo nicht mehr da sein. Das war mein erster Gedanke. Und mein zweiter war: Lieber als mit Michi möchte ich mit Jojo zusammen sein. Aber wer fragt mich schon, was ich will? Seit die Ferien vorbei sind und ich in die Schule gehen muss, entspricht meine Stellung in diesem Haus wieder der eines Kindes. Es ist zum Verrücktwerden. Mein Vater treibt sich in der Welt herum, redet mit Anwälten, besucht Kongressmitglieder, sucht Verbündete für »unsere Sache«, wie er es nennt, und ich sitze hier herum und lerne unsinnige Fakten über Kohlenwasserstoffatome und französische Schriftsteller. Mama ist ebenfalls stinkig und nervös, behauptet, das läge an dem mörderischen Klima. Den wahren Grund ihrer üblen Laune versucht sie vor uns zu verbergen. Als ob ich nicht wüsste, was in ihr vorgeht. So hat sie sich das bestimmt nicht vorgestellt: in Afrika zu sitzen, ohne Job, ohne Mann, ohne Freundinnen, in einer total kleinen Wohnung. Und warum sitzt sie hier? Weil Papa für eine gewisse Zeit sesshaft werden wollte. Daraus ist nichts geworden, und so wie ich das
sehe, wird daraus auch nie was werden. Er kann einfach nicht anders. Ohne Koffer in der Hand und Flugkarte in der Jackettasche fühlt er sich nicht wohl. In ein paar Wochen sollen Jojo und Kleo ihn in Berlin treffen. Das ist der letzte Stand der Dinge. Dort erhalten sie Polizeischutz und ein Gerichtsverfahren soll eröffnet werden. Papa hat sich stundenlang hier im Schlafzimmer eingesperrt und einen Artikel nach dem anderen geschrieben. Ich glaube, wir werden reich sein, ich meine, so richtig reich, wenn das hier zu Ende ist. Mein Blick fällt auf die handgeschriebenen Zettel, die in einer Ablage auf dem Schreibtisch liegen. Sie stammen von meinem Vater. Überschriften, kurze Notizen und Anmerkungen, von denen viele durchgestrichen und überschrieben wurden. Mama hat sie vor Tagen aus dem Müll gefischt und glatt gestrichen. Als ich ins Zimmer kam und sie fragte, was sie da macht, konnte sie mir nicht antworten. Dicke Tränen standen in ihren Augen. Ich habe nicht gefragt, wem oder was die Tränen galten. Ich lasse den Rechner ausgeschaltet, greife stattdessen zu den Blättern und lese: Genetic Initiation Das Erbgut der Reichen und Mächtigen wird aufgerüstet Als Vorbereitung für eine genetische Revolution und die Bildung eines neuen »Menschenpools« werden seit 1995
hochrangige Persönlichkeiten durch die Klontechnik wieder ins Lehen gerufen. Unter dem klangvollen Namen »Genetic Initiation« haben sich Politiker und Wissenschaftler zu einem bislang geheim gehaltenen Projekt zusammengeschlossen, mit dem erklärten Ziel, vor allem den zögernden und hinterwäldlerischen Europäern eine Heerschar von elternlosen Kindern zu bescheren, die als »Zuchtobjekte« für die neue Gesellschaft herangezogen werden. In einem zweiten Schritt soll das Erbgut dieser Klone gentechnisch aufgerüstet werden. Wissenschaftler wie Einstein, Marie Curie, Politiker wie Lenin, Mao, ehemalige Herrscher wie Thutmosis III. und die Pharaonin Hatschepsut, Schauspielerinnen wie Greta Garbo und Marilyn Monroe, Schriftsteller und Philosophen wie Hermann Hesse und Sartre ... (es sind bislang nicht alle Namen bekannt) sollen, so sieht es der Plan des amerikanischen Wissenschaftlers H. E. Watson vor, das »Saatgut« darstellen, um die sagenhafte Revolution des »Guten« einzuleiten. »Zucht statt Erziehung« lautet sein Schlagwort und dabei beruft er sich auf Platon, der bereits 375 vor Christus die Menschenzucht vorgeschlagen hat. »Wenn wir bessere Menschen durch das Hinzufügen von Genen herstellen können, warum sollen wir das nicht tun?«, fragte Watson 1999 auf einem Ethik-Kongress in Genfund die Öffentlichkeit ahnte nicht, dass die Politiker zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Klone für das ehrgeizigste »Zuchtprojekt« aller Zeiten in Auftrag gegeben hatten. Diese Zeilen lese ich nicht zum ersten Mal. Zum Teil
habe ich Papa sogar dabei geholfen, das Material zusammenzutragen, habe alte Veröffentlichungen zum Thema Klonen durchgesehen und Definitionen herausgesucht. Trotzdem erschüttert mich der tiefere Sinn, die unglaublichen Möglichkeiten, die hinter den Worten stecken, immer wieder. Mein Blick bleibt bei der Überschrift »Genetic Initiation« hängen. So werden Papa und sein Freund die Artikelserie nennen. Damit ist das Projekt gemeint, das unter höchster Geheimhaltungsstufe seit über fünfzehn Jahren weltweit läuft und dem Kleo, Nofrure und Jojo ihr Leben verdanken. Doch sollen sie dankbar sein für dieses Leben? Tagelang habe ich darüber nachgegrübelt und keine Antwort auf diese und andere Fragen gefunden. Ohne echte Lust lese ich weiter: Beteiligt sind nicht herausragende, international anerkannte Wissenschaftler, sondern solche, die nur mittelmäßige Leistungen hervorgebracht haben, deren verletztes Ego und deren Habgier sie jede ethische Schranke vergessen lässt. Die Ziele des zwanzigsten Jahrhunderts, der solidarische Schulterschluss der Reichen und Armen, der Mächtigen und Machtlosen, der Kranken und Gesunden, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Die Aufdeckung des von vielen Ländern finanzierten und von zahlreichen Politikern unterstützten Zuchtprojektes beweist, dass die Zukunft elitären, antidemokratischen und antiliberalen Gesellschaften gehören wird. Auch wenn die Zellbiologie und Gentechnik noch so hehre Ziele wie die Ausrottung aller Krankheiten und die Glückseligkeit der gesamten Menschheit verfolgt, darf sie nicht ohne breite Diskussion
und allgemein gültige Richtlinien eingesetzt werden, denn die Zukunft der Menschheit unterliegt unter diesen Umständen nicht mehr den››zufälligen Fehlern« der Natur, sondern wird durch »menschliche Fehler«, die sich zwangsläufig in Laboren häufen werden, bestimmt. Die Opfer sind in jedem Fall die Klone, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Die nicht einmal wissen, wer sie sind und ob sie eine Daseinsberechtigung haben. Die möglicherweise ankämpfen und siegen können gegen einen äußeren Feind, aber niemals Frieden schließen werden mit dem inneren Feind, dem fremden »Ich«. Ich lege die Blätter nicht wieder auf den Schreibtisch, sondern zerreiße eins nach dem anderen in winzig kleine Fetzen, auch die, die ich noch nicht gelesen habe. Mein Vater, das kann ich voller Stolz behaupten, bezieht in seinen Artikeln eindeutig Position gegen die nur wenig hinterfragte und noch lange nicht ausdiskutierte Anwendung der Molekulargenetik und Gentechnik. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass diese Artikel zu spät kommen. Wer so viel Geld und Macht eingesetzt hat, um ein bestimmtes Projekt voranzutreiben, der lässt sich durch ein paar aufgebrachte Journalisten, mögen sie kurzfristig auch noch so viel Staub aufwirbeln, nicht in seinem Ziel beirren. Aber wenn man so denkt, hat man schon aufgegeben. Ich bin so vertieft in meine Gedanken, dass ich erst beim zweiten Klopfen reagiere. Ich erwarte Leila. »Come in!« Doch als die Tür geöffnet wird und ich weder ihre laute Stimme noch ihr Lachen höre, drehe ich mich um.
Jojo steht in der Tür. Jojo in Jeans, mit seinem zitronenfarbenen Sweatshirt und ohne Sonnenbrille. Seine Augen sind kein bisschen gerötet, sondern klar und strahlend, wie ich sie noch nie gesehen habe. Allerdings ist eine Pupille immer noch deutlich größer als die andere. »Wo hast du deine Galabiya gelassen?«, frage ich lachend, doch gleich danach rufe ich: »Mensch, bist du wahnsinnig geworden, hier aufzutauchen? Du weißt doch, dass ihr immer noch nicht in Sicherheit seid.« »Kein Problem«, beruhigt er mich, kommt näher, setzt sich auf das Bett meiner Eltern. »Ich habe Leila vorher angerufen und sie hat mich durch den Hintereingang gelotst.« Sein Blick fällt auf die zahlreichen Papierschnipsel, von denen nur wenige im Mülleimer gelandet sind. Der überwiegende Teil befindet sich auf meiner Hose, auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden. Jojo und Kleo wissen inzwischen alle Hintergründe, die Notizen meines Vaters hätten ihm keine neuen Erkenntnisse geliefert. Trotzdem tut es mir Leid, dass ich sie zerrissen habe. Jetzt wird er wohl warten müssen, bis »unser Fall« als große Serie im »Spiegel« erscheint. Jojo sagt nichts und auch ich bleibe stumm sitzen, weiß nicht, wie ich diesen unerwarteten Besuch deuten soll. Gestern Abend haben wir uns in der Innenstadt getroffen, sind gemeinsam mit Kleo durch die hell erleuchteten Straßen von Kairo gezogen, doch er hat mit keinem Wort verraten, dass er
mich heute besuchen kommen will. »Wolltest du mal sehen, wie wir wohnen?«, versuche ich ihm eine Brücke zu bauen. Doch er schüttelt den Kopf, grinst mich aus seinen schönen Augen an. Mir wird immer mulmiger zumute unter diesem ungewohnten Lächeln, unter dem ungewohnten Schweigen. Was ist los mit ihm? Er sieht so glücklich aus, als hätte er im Lotto gewonnen. Doch warum sagt er nichts? Sein Blick trifft auf meinen, er grinst belustigt. »Deine Augen sind nicht mehr entzündet«, stelle ich fest, versuche ein Thema anzuschneiden, das ihn immer aus der Reserve gelockt hat, meistens in Form eines Wutausbruchs. Aber heute bleibt die gewohnte Reaktion aus, er klimpert lediglich mit den Wimpern, zieht die Augenbrauen nach oben, wie um zu sagen: Nicht wahr, die sind schön! »Die Salbe hat also geholfen«, führe ich unser einseitiges Gespräch fort und denke, vielleicht ist er jetzt zur Abwechslung stumm geworden, weil seine Augen genesen sind. »Warum hast du gestern die Sonnenbrille getragen? Große Überraschung oder was? Sag mal, wartest du auf jemanden?«, wundere ich mich, drehe mich zur Tür, wo sein neugieriger Blick jetzt ruht. Er hat die Tür offen stehen gelassen, ich kann den Flur überblicken. »Nein, wieso? Also gut, ich warte auf niemanden, aber ich warte darauf, dass wir in dein Zimmer gehen. Du hast doch ein Zimmer?« Zauberworte! Habe ich richtig gehört? Habe ich richtig
verstanden? Hat er gerade verschlüsselt »Ich liebe dich« oder wenigstens »Ich will dich« gesagt? Mein Ärger verfliegt ebenso rasch, wie er entstanden ist, und mir ist nur noch rosarot zumute. Unglücklicherweise fällt mir ein, dass sich mein Zimmer in einem erbarmungswürdigen Zustand befindet. Ich fühle mich ja zwischen alten Bananenschalen, herausgerissenen Zeitungsartikeln und leeren Jogurtbechern pudelwohl, doch er vielleicht nicht. Und er soll sich wohl fühlen, so wohl wie nur möglich. Für ihn würde ich sogar ordentlich werden. »Tja«, sage ich schlapp und stehe umständlich auf, versuche ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern und so gelassen wie möglich zu wirken. »Ich habe ein eigenes Zimmer, solange Papa weg ist.« »Deshalb bin ich gekommen«, klärt Jojo mich auf, reicht mir die Hand und gemeinsam huschen wir über den Flur, verschwinden in meinem Zimmer. Aus den Augenwinkeln fange ich einen interessierten Blick von Leila auf, sehe, dass ihre Augenbrauen steil in die Höhe gerichtet sind. Hastig beginne ich mein Zimmer aufzuräumen, schaufle Klamotten und Bücher vom Fußboden und vom Bett. Dann mustere ich Jojo. Er gefällt mir, er gefällt mir immer noch, er gefällt mir immer besser. Weil er sich verändert hat. Ruhiger ist er geworden, weniger aufschneiderisch. Ich spüre, dass er etwas loswerden will. »Dein Vater hat uns mitgeteilt, dass wir schon nächste Woche die Pässe bekommen und nach Berlin…«
»Was?« Das geht mir alles zu schnell. »Mich hat keiner gefragt, aber Kleo hat es eilig. Du weißt doch, dass sie täglich mit ihm telefoniert«, fährt Jojo fort. »Er hat ihr ein Handy besorgt, damit sie ihn zu jeder Tages und Nachtzeit erreichen kann. Und umgekehrt.« Jojo grinst, während sich in meinem Hals ein Kloß bildet. Natürlich weiß ich, dass Kleo und mein Vater täglich miteinander telefonieren, natürlich weiß ich, dass sie sich näher stehen, als das sein sollte, mein Vater ist schließlich ein alter Mann, Kleo nur ein Jahr älter als ich. Warum schmiert Jojo mir ihr merkwürdiges Verhältnis aufs Brot? Ist er wirklich so taktlos? Ich ahne längst, dass meine Eltern eine lockere Ehe führen, immer geführt haben. Wahrscheinlich hat mein Vater schon öfters Freundinnen gehabt, von denen wir Kinder nichts wussten. Trotzdem ist es diesmal anders. Weil Kleo meine Freundin ist, weil Kleo so jung ist und weil ich meine Mutter zum ersten Mal traurig erlebe. Mit Kleo kann ich nicht darüber reden, die weicht meinen Fragen aus, aber von Jojo habe ich mehr Mitgefühl erwartet. »Warum grinst du?«, frage ich geradeheraus. »Habe ich gegrinst?« »Ja, hast du.« »Das sah nur so aus«, windet sich Jojo. »Ich bin wohl eifersüchtig. Nein, es ist der pure Neid«, korrigiert er sich. »Wenn sie nach Berlin zurückkehrt, hat sie deinen Vater, der sich um sie kümmert. Ich habe niemanden mehr. Zu wem soll
ich gehen? Klaus ist verhaftet worden und wer weiß, wie lange die Wohnung noch bezahlt wird.« »Mein Vater kümmert sich auch um dich, bestimmt!« »Klar kümmert er sich, aber aus anderen Gründen und wer weiß, wie lange die anhalten. Ich habe mit Kleo darüber gesprochen und ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht gut finde, was zwischen ihr und deinem Vater läuft. Aber sie macht, was sie will, sie hört nicht auf mich.« »Das kann ich mir gut vorstellen. Sie sieht in dir nur den kleinen Jungen.« »Der ich auch bin.« »Ich mag Kleo wirklich«, kehre ich zum Thema zurück, »aber sie macht mir Angst. Sie nimmt sich alles, was sie will, und sie ist so stark, dass ihr alle zu Füßen liegen.« »Du übertreibst.« Er macht einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück. Er bleibt stehen, steckt die Hände enttäuscht in die Hosentaschen, als hätte er keine Verwendung mehr für sie. »Weil mich das anstinkt«, antworte ich. »Es ist alles so kompliziert geworden und ich blicke nicht mehr durch. Ich will, dass alles so bleibt, wie es war.« Noch während ich das ausspreche, merke ich, dass ich absoluten Blödsinn rede. Nichts bleibt je so, wie es ist, weil sich alle Dinge, auch die Gefühle und Reaktionen der Menschen, verändern, ständig, jede Minute. Mir geht es doch gar nicht um meine Eltern oder
ihre Ehe oder ihr Glück, mir geht's nur um mich. Ich will, dass alles so läuft, wie ich mir das wünsche. So gesehen bin ich kein bisschen anders als Kleo. Habe ich nicht Michi auf Eis gelegt, um möglichst lange mit Jojo und Kleo zusammen zu sein? »Ich werde dich vermissen, weißt du?« Jojo holt mich aus meinen Gedanken zurück, zeigt mir mit wenigen Worten, dass man einen Verlust erleiden und zur gleichen Zeit etwas Neues geschenkt bekommen kann. Man muss es nur sehen und zugreifen. Doch will ich zugreifen, wenn dieses Neue auch bald wieder verschwindet? »Du musst ja nicht fahren«, erwidere ich fast trotzig. »Und was soll aus mir werden? Ich kann nicht ewig bei Fuad wohnen. Außerdem, dieses Thema haben wir in den letzten Wochen oft genug durchgekaut.« »Du redest wie mein Vater.« »Danke, das Kompliment ist angekommen.« Jetzt lacht er wieder, lacht mich an und ich nehme all meinen Mut zusammen, gehe auf ihn zu. »Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?«, frage ich leise. »Du bist der Länge nach hingefallen.« »Das meine ich nicht. Ich meine in Kleos Zimmer. Es war stockdunkel. Als jemand an der Tür vorbeilief, hast du mir die Hand auf den Mund gelegt, so ...« Ich trete um ihn
herum, lege meine linke Hand um seinen Körper, die rechte auf seine Lippen. Zuerst ganz locker, dann fester. »Erinnerst du dich? Du hast mir Angst eingejagt. Ich war fuchsteufelswild, doch dann hat mir die Berührung gefallen und ich wünschte, wir würden immer so stehen bleiben.« Jojo will etwas erwidern, greift nach meiner Hand, will seinen Mund freibekommen, doch ich lasse nicht locker, schmiege mich noch enger an seinen Körper, verstärke den Druck, habe Angst, er könnte etwas Falsches sagen und wieder alles zerstören. Schon oft hat er mich so angelächelt wie gerade, doch noch nie hat er meinen Körper so dicht an seinem geduldet. »Hmm«, macht er wie jemand, der geknebelt ist, und das ist er ja auch. Doch wir können nicht ewig so dastehen, sein Rücken gegen meine Brust gepresst. Ich will ihn ansehen, also drehe ich ihn langsam zu mir um, schaue ihm in die Augen, will wissen, wie das mit uns weitergehen soll. »Du bist ganz schön stark«, sagt er, hebt mich wie zum Zeichen seiner eigenen Stärke in die Luft, setzt mich lachend wieder ab. »Dabei bist du federleicht, weil du dich von Kaugummis ernährst, wie jeder weiß.« »Ernährte. Vergangenheitsform.« Ich grinse ihn an, doch nachdem er das Wort »Kaugummi« immer wieder wiederholt, bilden sich Falten auf meiner Stirn und ich komme ins Grübeln. »Tust du die Dinger selbst beim Küssen nicht raus?«
Fragend blickt er mich an, scheint genauso aufgeregt wie ich, weiß nicht, wo er hingucken, was er machen soll. Mein Kopf schwillt an, verfärbt sich rot. Ich stottere eine Entschuldigung, suche nach einem Stück Papier. Ganz weich fühlt sich mein Körper an und gleichzeitig gespannt wie die Sehne eines Bogens. Als ich mich vom Schreibtisch ab- und ihm wieder zuwende, hat Jojo bereits sein Sweatshirt ausgezogen. Achtlos flattert es zu Boden. Ich sehe seine Muskeln unter dem dünnen T-Shirt hervortreten, möchte sie sofort berühren. Ich liebe ihn ist mein erster Gedanke. Mein zweiter: Mir geht alles zu schnell. Obwohl wir uns sehr gut kennen, haben wir nie über Sex gesprochen. Warum auch, er hat mir stets zu verstehen gegeben, dass ich nur ein prima Kumpel bin. Was, wenn er mit mir schlafen will, und ich spüre, dass er will. Noch während ich auf diesem Gedanken herumkaue, kommt er auf mich zu, beginnt damit, mich auszuziehen. Ich trage immer noch meine Schuluniform, eine weiß-blau gestreifte Bluse, einen dazu passenden dunkelblauen Faltenrock, furchtbares Zeug. Aber heute finde ich das richtig gut. Die Bluse hat tausend Knöpfe, dementsprechend lange wird er beschäftigt sein. Und ich brauche Zeit. Es wäre schön, wenn er mich jetzt küssen würde, damit ich ein bisschen in Stimmung komme, doch ich weiß nicht, wie ich ihn darum bitten soll, und er scheint es vergessen zu haben. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf die Bluse gerichtet, er müht sich ab, wird bereits unruhig.
Ich werde ihm nicht helfen. In meinen Fingerspitzen erwacht das Leben, sanft streiche ich ihm über die dunklen Haare, fahre die Linie seines Nackens nach, kann nicht fassen, dass er mir so nahe ist. Mein ganzer Körper ist wie elektrisiert. Wie soll das erst werden, wenn ich ausgezogen bin? Jetzt die Zeit anhalten, nie mehr denken, nie mehr Angst haben, nie mehr alleine sein. Endlich hat er's geschafft, er öffnet die Bluse, öffnet sie weit wie Fensterflügel, stiert auf den BH und meine kleinen Brüste. Dann schaut er mir in die Augen, als müsste er sich bei mir für das Angebot bedanken oder prüfen, mit wem er es zu tun hat. Vielleicht hat er mich längst vergessen, sieht nur meinen Körper. Das ist so eine uralte Angst von mir. Michi hat mir ab und zu das Gefühl gegeben, dass er vor allem meinen Körper mochte. Doch vielleicht erwarte ich auch zu viel und schließlich gehört mein Körper zu mir. Ich bin er und umgekehrt. Aber ich bin eben auch mehr. »Jetzt sag ja nicht, die sind aber niedlich«, wehre ich meine Gedanken ab und fahre ihm mit der Hand erneut durch die kurzen Haare. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er seine lange Mähne opfern musste, um möglichst wenig aufzufallen. Jojo will zu meinen Brüsten zurückkehren, doch ich fange ihn mitten in der Bewegung ab, greife mir sein Gesicht und küsse ihn, wie ich noch nie einen Jungen geküsst habe. Dein Vater hat uns mitgeteilt, dass wir nächste Woche schon die Pässe bekommen und nach Berlin ... fliegen sollen, vollende ich den Satz in Gedanken. Nächste Woche also wird er Kairo verlassen und vielleicht nie mehr zurückkehren.
Niemand weiß, wie es mit Kleo und Jojo und all den anderen Klonen weitergehen wird. Allein Nofrures Schicksal scheint besiegelt, sie wird die Klinik wahrscheinlich nie mehr verlassen, sich lediglich an einen anderen Arzt gewöhnen müssen. Dr. Hassan und Frau Pahl wurden beide verhaftet, sitzen in Untersuchungshaft. Gibt Jojo meinem Drängen nach, weil er weiß, dass ich ihm nicht hinterherlaufen kann? »Ich möchte, dass du die Vorhänge aufziehst, geht das?«, flüstert Jojo in meine Gedanken hinein, und wie um mich zu beschämen, fügt er hinzu: »Ich möchte dich richtig sehen und ich möchte, dass auch du mich siehst. Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet.« Wie er das sagt, unsicher und selbstbewusst zugleich, und weil seine Stimme ganz und gar nicht überheblich, sondern nur lieb klingt, verstehe ich endlich. Er hat mich zurückgewiesen, weil er sich seiner rot geschwollenen Augen schämte. Plötzlich liebe ich ihn noch mehr, und obwohl ich seine Bitte gehört und sogar verstanden habe, kann ich ihn nicht stehen lassen, um an einem dämlichen Vorhang zu ziehen. Ich lasse mich stattdessen aufs Bett fallen, ziehe ihn mit mir. Unsere Lippen finden sich wieder und bald schon versinken wir in einem Rauschzustand. Seine Zunge, am Anfang schüchtern und suchend, bohrt sich immer tiefer in meinen Mund, er saugt und kitzelt und erregt mich derart, dass ich fast den Verstand verliere. Ich setze mich auf, streife meinen Rock ab und diese Pause nutzt auch Jojo, um sein T-Shirt und seine Jeans auszuziehen. Noch während Jojo sich mit meinem BH abmüht,
ziehe ich den Slip aus, schmiege mich ganz dicht an ihn und erschauere. Noch nie habe ich meinen eigenen Körper so intensiv wahrgenommen. Es ist nicht nur Jojos Körper, seine weiche, warme Haut, es ist auch meine Haut, die ich plötzlich ganz anders wahrnehme, weil sie sich an seiner reibt. Verrückt werden könnte ich vor Glück. »Hast du einen Gummi?«, will ich wissen, und nachdem er ungeduldig eine Packung aufgerissen und sich ein Kondom übergestülpt hat, mit etwas Mühe, und ich denke, wahrscheinlich ist es auch für ihn das erste Mal, versinke ich erneut in einen Rauschzustand, tauche wie ein Wal unter Wasser, vergesse zu atmen und zu denken, löse mich sozusagen in winzig kleine Partikel auf. Jojos Lippen wandern über meinen ganzen Körper, er fängt oben an der Stirn an, fährt meinen langen Hals hinunter zu den Armen, verweilt an meinen Brüsten und in meinem Nabel und hört erst auf, als er unten an den Zehen angelangt ist und ich lachen muss. Ich beuge mich vor und ziehe seinen Kopf zu mir hoch, will, dass er endlich das tut, wovon auch ich so lange geträumt habe und das jetzt einfach passieren muss. Ich will ihn tief in mir spüren. »Ist es für dich das erste Mal?«, frage ich geradeheraus. Doch ich ernte einen verärgerten Blick und bin verunsichert. »Habe ich etwas falsch gemacht?«, will er wissen. »Nein, wie kommst du darauf?« Erst als ich ihm sage, wie süß ich ihn finde und dass ich richtig scharf auf ihn bin, entspannt er sich wieder und wir
können weitermachen. Ich suche seine Lippen, küsse ihn, sauge mich richtig an ihm fest, während Jojo sich auf mich legt. Doch ich muss ihm ein bisschen helfen, das Becken anheben und seinen Penis vorsichtig dirigieren. Plötzlich ziept und zwickt es und ich merke, wie ich mich ver-krampfe. Eine Sekunde später ist es bereits geschehen. Jojo stöhnt wie jemand, dem man auf den Fuß getreten ist, dann sackt er über mir zusammen. Im gleichen Augenblick reißt Lisa die Tür zu meinem Zimmer auf und ich schreie: »Raus!« Jojo starrt mich entgeistert an. Die Tür fällt laut ins Schloss, aufgeregte Stimmen und Schritte sind draußen zu hören, ich beginne zu lachen. »Ich meine nicht dich«, kichere ich. »Eve, es tut mir so Leid. Ich glaube, ich bin viel zu früh ... aber ... aber ich konnte nicht anders. Ich habe alles um mich herum vergessen. Ich war noch nie so glücklich. Und ich habe mir so sehr gewünscht, dass du mich magst, denn du kennst die Wahrheit. Aber du hast mir nie das Gefühl gegeben, dass es dich stört, dass ...« »Was soll mich stören?«, unterbreche ich ihn, grinse, denn natürlich weiß ich, von welcher Wahrheit er redet. »Tagelang bin ich vor dem Spiegel gestanden«, fährt Jojo mit stockender Stimme fort und ich verstehe, dass es endlich aus ihm herausbricht, »und habe diesen anderen, diesen Thutmosis in mir gesucht. Ich habe ihn nicht gefunden. Für mich ist er ein Vater oder Zwillingsbruder, den ich nie kennen gelernt habe. Ach, ich weiß auch nicht. Im Gegensatz
zu Kleo habe ich überhaupt keine Erinnerung, auch kein Gefühl für die Vergangenheit. Was haben diese ScheißWissenschaftler sich dabei gedacht. Soll ich so werden wie Thutmosis, ein Kriegsheld? Gegen wen oder was soll ich in den Krieg ziehen?« »Ich glaube, du hast dir die Antwort gerade selbst gegeben. Scheiß-Wissenschaftler. Vielleicht ist es deine Aufgabe, gegen eure medizinischen Väter anzutreten, gegen die Politiker und Wissenschaftler, die euch in Auftrag gegeben und geklont haben, ohne euch nach eurer Meinung zu fragen. Kleo wird dagegen ankämpfen, das weiß ich ganz genau.« »Ich bin nicht so wie Kleo.« »Niemand ist so wie sie.« »Kleo lebt mehrere Leben. Sie ist ein bisschen die Hatschepsut und ganz viel sie selbst. Immer wieder, wenn sie sich an einem besonderen Ort aufhält, driftet sie in die Vergangenheit, selbst wenn sie das nicht zugibt. Ich bin nur ich.« »Darüber bin ich sehr froh.« Jojo stützt die Arme auf, legt seine großen Hände wie einen Rahmen um mein Gesicht, schiebt meine langen Haare zur Seite und schaut mich ernst und trotzdem verträumt an. Ich liebe seine dunklen Augen und das sage ich ihm auch. Wenn er Glück hat, so erzählt er mir im Gegenzug, dann wurde der Pilz durch eine pflanzliche Salbe vollständig
abgetötet. »Dieser Arzt ist ein Freund von Fuad. Er stellt alle Salben und Tinkturen selbst her. Er hat sich überhaupt nicht gewundert, dass die Ärzte in Deutschland kein Mittel gefunden haben.« Jojo verstummt, schaut beschämt zur Seite. »Nur schade, dass für Kleo und Nofrure diese Hilfe zu spät kommt.« Wir schweigen beide eine ganze Weile, halten uns eng umschlungen, fühlen uns nahe und trotzdem fremd, weil wir doch nicht wissen, was der andere denkt und fühlt. Lisa hämmert von draußen gegen die Tür und betont lautstark, dass ich ihre CD habe. Wir lachen lauthals los und ich zische: »Wag es ja nicht, hereinzukommen, du kleine Kröte.« Dann schiebe ich mich unter Jojos Arm durch, lege mich auf ihn drauf und grinse ihn besitzergreifend an. Seine warme Brust fühlt sich wunderschön weich und vertraut an und durch meinen Körper flutet ein sehnsüchtiges Zittern, als würde ich Jojo erst jetzt richtig wahrnehmen. Wie kann es sein, dass allein die Berührung von nackter Haut einen völlig aus dem Gleichgewicht bringt? Noch nie habe ich mich einem Menschen so nahe gefühlt, aber ich war auch noch nie so verletzlich. Jojo lacht mich an, legt den Kopf schief, sagt, er würde gerne wissen, was ich denke. Meine Gedanken kann ich ihm nicht anvertrauen, bestimmt findet er mich albern.
»Ich bin froh, dass ich nach Ägypten gekommen bin, ich bin froh, dass ich dich und Kleo kennen gelernt habe.« Und im Stillen füge ich hinzu: Denn ich ahne, dass gerade in diesem Augenblick eine neue Geschichte anfängt, meine Geschichte, unsere gemeinsame Geschichte. ENDE