Das Schutzfeld über dem ganzen Kontinent war unsichtbar, und doch konnte Barry Shane die Wand nicht durchdringen. Drübe...
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Das Schutzfeld über dem ganzen Kontinent war unsichtbar, und doch konnte Barry Shane die Wand nicht durchdringen. Drüben lagen Dinge, die ihn tief erschütterten. Sie waren braun, vertrocknet und tot. Eine verkrampfte Hand hielt noch eine Zeitung. Der Himmel draußen war schwarz, denn es gab keine Luft mehr. Vor langer Zeit hatte eine Katastrophe die Erde heimgesucht. Nur ein geringer Teil der Menschheit hatte sich unter die Energiekuppel retten können. Doch auch dem Schutzfeld drohte nun Gefahr von außen ...
Ullstein Buch Nr. 3528 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: DOME AROUND AMERICA Aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ernsting Umschlagillustration: Young Artists Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © by Jack Williamson Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 03528 0
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Williamson, Jack: Die Energie-Kuppel: Science-fictionRoman /Jack Williamson. Hrsg. von Walter Spiegl. [Aus d. Amerik. übers. von Walter Ernsting]. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1978. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 3528: Ullstein 2000) Einheitssacht.: Dome around America ISBN 3-548-03528-0
Jack Williamson
Die Energie-Kuppel SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Barry Shane sah den Ring zum erstenmal mit neun Jahren. Er sah aus wie eine riesige Glasglocke über dem Kontinent. Fünfzehn Meter diesseits der unsichtbaren Wand endeten die Felder. An einem hohen Drahtzaun hingen Schilder: HALT! WEITERGEHEN VERBOTEN! Die Ring-Polizei Auf der anderen Seite des Zaunes lag eine staubige Straße – noch innerhalb des Rings. Von einem Hügel aus beobachtete Barry einen lautlosen elektrischen Streifenwagen, der sich auf der Straße entfernte. Als er außer Sicht war, schlüpfte der Junge unter dem Zaun hindurch und lief über die Straße. Jenseits der Straße wucherte Unkraut bis an den Ring. Barry blickte gebannt auf den Wall. Der Ring war klarer als Glas, vollkommen unsichtbar. Nicht einmal ein Staubfleck war darauf. Er fühlte sich härter und glatter an als Glas und war weder kalt noch heiß. Die Spitze seines Taschenmessers wurde stumpf, als er die Fläche zu ritzen suchte, obgleich er sehen konnte, daß die Wand keine meßbare Dicke hatte.
Draußen lagen – Dinge. Sie waren braun und vertrocknet und tot, hingestreckt auf verblichenem Gras. Es dauerte einen Augenblick, bis Barry erkannte, daß es die Leichen von Männern und Frauen waren, von Kindern und Maultieren. Eine braune verschrumpfte Hand hielt noch eine Zeitung umkrampft. »La Stella Negra«, buchstabierte Barry, das Gesicht gegen den harten unsichtbaren Wall gepreßt. Das mußte spanisch sein – und diese Menschen waren aus Mexiko heraufgekommen, um hinter dem Ring Schutz zu suchen. Sie waren zu spät gekommen. Barry wandte sich ab und dem Meer zu. Innerhalb des Ringes glitzerte blaues Wasser im Licht der Sonne; weitab konnte er die winzigen weißen Segel von Fischerbooten erkennen. Aber draußen, jenseits des Walls, erstreckte sich eine schreckliche Wüste, dunkle baumlose Hügel und gelbbraune Ebenen trockenen, von dunklen Rissen zerfurchten Meeresschlammes. Der Himmel draußen war schwarz; denn es gab keine Atmosphäre mehr. Die Schatten waren scharf; das tote Land streckte sich weiter und weiter hinab bis zu jenem trockenen, geheimnisvollen Abgrund, den einst der jetzt verschwundene Pazifik überdeckt hatte. Was lag auf dem Grund jenes Höllenschlundes? Eines Tages, schwor sich Barry, werde ich es herausfinden!
Er fuhr auf. Jenseits des Zaunes stand ein alter Mann und winkte Barry mit ernster Miene zu. »Ich war auch einmal jung«, sagte er, als Barry schwer atmend und verlegen vor ihm stand, »ich kann verstehen, wie es dir gegangen ist. Aber es ist besser, du kehrst auf diese Seite des Zaunes zurück, ehe wieder eine Streife kommt.« Der Junge sah bewundernd auf den glänzenden Orden der Ring-Polizei, den der Alte trug. »Können Sie mir erzählen«, fragte er unsicher, »wie es vorher war? Ich meine, bevor es den Ring gab?« Der alte Mann nickte nachdenklich. »Es geschah vor fast zweihundertfünfzig Jahren. Vorher gab es überall Luft; die Ozeane waren voll Wasser, und auf allen Kontinenten lebten Menschen. Dann begründete ein Gelehrter namens Victor Barry eine neue Wissenschaft: die Ultraelektronik. Er baute das erste Weltraumschiff mit Ultradynantrieb.« Barrys Augen leuchteten auf. »Das war mein Urururgroßvater! Ich heiße Barry – nach ihm.« Der alte Mann sah den Jungen mit neuem Respekt an. Während er eine Pfeife zu stopfen begann, fuhr er fort: »Zusammen mit dem Astronomen Tyne erreichte er den Mond.« »Den Mond? Erzählen Sie mir noch mehr davon!«
»Ja, das ist auch eines der Dinge, die die Erde zusammen mit ihrer Atmosphäre und ihrem Wasser verloren hat. Der Mond war eine andere, kleinere Welt – er kreiste um die Erde. Barry und Tyne stellten ein Teleskop auf dem Mond auf; die Sicht war besser dort, weil er keine Lufthülle hatte. Bald darauf entdeckte Tyne den Zwerg.« »Was war das?« »Eine kleine, schwere, dunkle Welt – eine tote Sonne aus jener zerfallenen Materie, die man Neutronium nennt. Sie war kleiner als der Mond, aber noch schwerer als der große Jupiter. Die beiden Männer kehrten mit ihrer Warnung noch rechtzeitig zur Erde zurück. Tyne sagte voraus, daß der Zwerg an der Erde vorbeiziehen würde – er würde nicht einmal ihre Bahn um die Sonne stark ändern; aber seine gewaltige Anziehungskraft würde die Lufthülle und die Wassermassen wegreißen – wie die Schale einer Apfelsine!« Barry Shane starrte atemlos hinaus in den leblosen kahlen Abgrund. Es fiel ihm schwer, sich das Land ohne den Ring vorzustellen – eine Welt ohne »Draußen«. Gespannt wartete er, bis der alte Mann seine Pfeife angesteckt hatte und fortfuhr. »Vic Barry fand ein Mittel, den nordamerikanischen Kontinent zu schützen. Er erfand einen Ultradyngenerator, der einen statischen Wall ultraelektro-
nischer Schwingungen erzeugte – eben den Ring. Er läßt Licht und Radiowellen durch, aber gegen Druck ist er widerstandsfähiger als jede Materie, weil die Raumkrümmung, die er erzeugt – sagen die Techniker – jeden Druck gegen sich selbst zurückwendet! Barry baute einen Ultradyngenerator, der groß genug war, ganz Amerika zu schützen. Er stellte ihn im Ringturm auf, der heute in der Wildwest-Corporation steht. Sie wurde knapp ein paar Wochen vorher fertig, ehe der Zwerg kam. Freilich – die Anziehungskraft des Zwerges wirkte durch den Ring hindurch. Man kann zwar auch die Schwerkraft durch einen solchen Wall ausschalten – aber das heißt, den Generator tausendfach überlasten; niemand hätte gewußt, ob er das aushielte und wie lange. So gab es also Sturmfluten, Stürme und Erdbeben auch innerhalb des Ringes; aber er hielt die große Flutwelle zurück, die den Rest der Erde überschwemmte, und bewahrte unsere Luft vor dem Entweichen. Die meisten Küstenstädte wurden zerstört – aber das Land lebte weiter.« Barry sah hinaus, wo jene braunen toten Dinge lagen, die das Unkraut verbarg. Er unterdrückte ein Zittern. »Und die anderen Menschen draußen?« flüsterte er. »Sie kamen alle um. Barry versuchte, sie zu retten. Er baute viele Ultradyngeneratoren und schickte sie mit
seinen Technikern in die anderen Erdteile. Aber – es herrschte Krieg. Einige der Maschinen fielen U-Booten zum Opfer, andere wurden durch Bomben vernichtet; als endlich Waffenstillstand geschlossen wurde, waren die Industrien aller Länder zu sehr zerstört, um die Generatoren noch rechtzeitig installieren zu können. Freilich, einige Flüchtlinge erreichten Amerika. Barry hielt den Ring bis zum letzten Moment offen.« Der Alte nickte ernst in die Richtung jenseits des Walls. »Diese dort kamen zu spät.« Sie waren beide aufgestanden und gingen über die Wiesen zurück. »Der Zwerg zog vorbei«, fuhr der Alte fort. »Die Erde verlor Meere und Luft. Selbst das Polareis barst und wurde mitgerissen. Der Mond wurde vom Schwerefeld des Zwerges eingefangen und folgte ihm ins Weltall. Das Zeitalter des Ringes begann. Du wirst darüber in den Geschichtsbüchern lesen. Amerika war schwer getroffen. Millionen waren tot – Städte zerstört – wertvolle Rohstoffe durch den Ring abgeschnitten. Erst langsam fanden Wissenschaft und Wirtschaft sich mit dem neuen Zustand zurecht. Die achtundvierzig Einzelstaaten wurden durch ein Dutzend Corporationen ersetzt, die allen Menschen ein Maximum an Freiheit und Sicherheit geben sollten. Du wirst lesen, wie das System der Einschienenbahn entstand, und warum die Ring-Polizei gegründet wurde.«
»Warum?« fragte Barry gespannt. Der Alte sah ihn ernst an. »Bedenke, dieser unsichtbare Wall allein sorgt dafür, daß Amerika nicht so verödet ist wie die Welt draußen. Auf jeden Quadratzentimeter des Walls drückt die Luft von innen mit der Kraft von einem Kilogramm – hier auf der Höhe des Meeresspiegels, und wenn dieser Druck den Ring je durchbricht, wird auch Amerika sterben. Immer wieder haben Männer versucht, durch den Wall nach draußen zu gelangen; Metalle, Erdöl und Kohle, Uran für unsere Kraftwerke – all das liegt draußen und lockt sie. Aber bei jedem Versuch, den Wall zu durchbrechen, wäre es, als schössest du eine Kugel durch Glas: es bleibt nicht bei einer kleinen Öffnung – der ganze Wall zerbricht. Es ist nicht einmal schwer, das zu erreichen – man braucht nur die Elemente der Ultraelektronik zu kennen und anzuwenden. Und gerade deshalb ist es so unendlich gefährlich! Die Polizei muß jeden Versuch, am Wall zu experimentieren, verhindern – unser aller Leben hängt davon ab!« Barry schwieg. Er verstand den Alten. Er verstand die Ring-Polizei – und eines Tages werde ich trotzdem hinübergehen, dachte er verbissen. »Nicht nur das ist die Aufgabe der Ring-Polizei«, fuhr der Alte fort. »Sie muß außerdem Ausschau
nach Gefahren halten, die von draußen drohen können.« »Was für Gefahren?« fragte Barry. »Keine, soweit wir wissen – es gibt kein Anzeichen dafür, daß draußen irgend etwas Lebendiges existiert; aber wenn etwas so wichtig ist wie der Ring, dann darf man nichts dem Zufall überlassen. Es könnte sich eine unbekannte Lebensform entwickeln – und uns vielleicht angreifen. Ich weiß, das klingt phantastisch – aber darf man es darauf ankommen lassen!« Die Sonne begann zu sinken, und der Alte wandte sich zum Gehen. »Jedenfalls, Barry«, sagte er zum Abschied, »verstehst du jetzt, warum auch du dich an die Gesetze der Ring-Polizei halten mußt.« Barry nickte. Aber nach drei Jahren kehrte er wieder zu jener Stelle des Walls zurück – wieder wartete er, bis die Streife verschwunden war – wieder kroch er durch den Zaun und lief über die Straße – aber diesmal verwischte er seine Spuren mit dem Taschentuch. Er hatte ein spanisches Wörterbuch gekauft – er wollte versuchen, etwas aus jener uralten Zeitung jenseits des Walls zu entziffern. Er ließ sich ins Unkraut fallen, das Gesicht gegen den Ring gepreßt. Er sah die gleichen braunen, vertrockneten Mumien wie damals
vor drei Jahren. Aber als er nach dem zerrissenen Zeitungsblatt suchte, ließ ihn der eiskalte Hauch des Geheimnisvollen erschauern. Die Zeitung, an die er sich so gut erinnerte, war verschwunden!
2 Barry Shane vergaß diese Zeitung nie. Er dachte daran, als er in Ring City die schweren Aufnahmeprüfungen für die Akademie der Ring-Polizei bestand – und als er nach fünf Jahren als schlanker Mann die Akademie verließ, hatte er sie noch nicht vergessen. Vielleicht ein Meteor, hatte General Whitehall, der Kommandeur der Ring-Polizei, vermutet, als Shane einmal von jener verschwundenen Zeitung erzählte. Die Dinge dort draußen seien trocken und brüchig – Meteore seien sehr häufig, weil keine Lufthülle sie mehr verdampfen ließe – und bei der geringsten Erschütterung müsse das Blatt zu Staub zerfallen sein. Barry hatte genickt – zufrieden war er mit der Erklärung nicht gewesen. Seinem Traum von einer Expedition in die Außenwelt war er um keinen Schritt näher gekommen. Früher, hatte Whitehall erklärt, habe man noch an diesem Problem arbeiten können – heute, wo die Verwaltung die Zuwendungen Jahr um Jahr kürze, finde man kaum genug Menschen, um die Kontrollflüge durchzuführen. Und damit hatte Whitehall nur zu recht. Das Flugzeug, mit dem Barry jetzt Patrouille flog, war für zwei Menschen eingerichtet – Pilot und Beobachter – aber nach den letzten Kürzungen be-
stand die Raum-Polizei nur noch aus hundertsechzig Mann; Barry flog allein. Die Monate vergingen. Er machte Hunderte von Flügen. Die Außenwelt schien sich trotz ihrer passiven Feindseligkeit nie zu ändern. Jenseits der endlosen Wölbung des Rings erstreckte sich der tote Meeresboden, langsam abfallend, von Rissen durchzogene Ebenen alterstrockenen Schlammes und Ketten gezackter Berge, die einst unter Wasser gelegen hatten. Die Außenwelt konnte, so schien es ihm, keine Gefahr bergen, solange der Ring standhielt. Er wurde müde, über das Rätsel der verschwundenen Zeitung nachzudenken. Dann sah er plötzlich den wandernden Felsen. Es war sein hundertundvierter Flug nach Norden. Die Morgensonne stand hell über der schaumfleckigen See unter ihm. Jenseits des Ringes brannte sie gnadenlos aus einem schwarzen Himmel hernieder. Jede Felsspitze glitzerte im brennenden Licht und warf einen kilometerlangen Schatten. Plötzlich bemerkte Barry eine leichte Bewegung. Überrascht hielt er Ausschau. Er sah einen kantigen braunen Felsbrocken, der draußen durch eine Schlucht in der entfernten Kette der schwarzen Hügel glitt. Er riß den Feldstecher an die Augen. In diesem
Augenblick hörte der Fels auf, sich zu bewegen. Er sah so harmlos aus, wie irgendein verwitterter Stein, aber Shane wußte genau, daß er sich bewegt hatte. Sein Schatten hatte sich mit ihm bewegt. Das Flugzeug war wegen der Unfallgefahr für zwei Mann vorgesehen. Patrouillen mußten ziemlich nahe am Ring entlangfliegen, und die unsichtbare Barriere war bei einem Zusammenstoß so tödlich wie eine Betonmauer. Plötzlich bemerkte Shane, daß der Himmel vor ihm schwarz wurde. Ohne nachzudenken, hatte er das Flugzeug in die Richtung gesteuert, in die er sah. Er flog auf den Ring zu! Verzweifelt riß er den Steuerknüppel zurück und suchte das Flugzeug in eine Schleife zu legen. Die Reaktion kam einen Augenblick zu spät. Im flachen Winkel stieß die Maschine gegen den unsichtbaren Wall. Die Streben brachen, die elektrischen Motoren heulten auf und verstummten. Steuerlos trudelte die Maschine auf das Meer hinab. Shane spürte zuerst kaum einen Schmerz. Er wußte, daß sein Gesicht gegen die Kanzel geschlagen war. Er fühlte sich unwohl, aber dennoch war er wütend auf sich selbst – und ihm saß der Schock über das Geschehene noch in den Gliedern. Blut blendete ihn. Er wischte es aus den Augen und schaltete das Sprechgerät ein. Sein Gesicht fühlte sich taub an, und im Mund spürte er die salzige Süße des Blutes.
»Patrouille Achtzehn ruft Basis Key West!« stieß er hervor. »Hier Shane.« »Patrouille Achtzehn, bitte kommen«, antwortete eine gelangweilte Stimme. »Patrouille meldet draußen sich bewegendes Objekt!« keuchte Shane. »Ist als Felsblock getarnt – bewegte sich aber, als ich es sah. Sektor 41 B.« Diese Meldung schien ihm das Wichtigste. Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Maschine flugunfähig. Prallte gegen den Ring. Ich stürze – hört ihr, Basis Key West? Patrouille Achtzehn meldet Objekt –« »Hör auf mit deinem Objekt!« Die Stimme im Empfänger klang kühl und ungläubig. »Wir schicken ein Rettungsflugzeug!« In dem kleinen Spiegel auf der Schutzscheibe sah Shane eine seltsame rote Maske, die sein Gesicht sein mußte. Er erkannte es nicht mehr. Wange und Schläfe waren bis zum Knochen aufgeplatzt, Hautfetzen hingen über das eine Auge, und seine Nase hatte auch etwas abbekommen. Aber er konnte sich nicht dazu bringen, über seinen Zustand nachzudenken. Er mußte Meldung über einen Felsen machen, der sich bewegte. Man mußte ihm glauben. Als das Flugzeug ins Meer stürzte, verlor Barry die Besinnung. Er spürte undeutlich die Kühle des Wassers.
Draußen war ein Fels, der sich bewegte. Hände packten ihn. Männer legten ihn auf eine Bahre. Er versuchte, ihnen etwas über den Felsen zu sagen, der sich bewegte. Dann war er wieder in einem Flugzeug. Es war sein Patrouillenflugzeug, und er mußte den Felsen finden, der sich bewegte. Sein Gesicht war von dicken Bandagen bedeckt, und er konnte mit niemandem sprechen. Die Krankenschwester konnte ihn nur mit Mühe zurückhalten. Es vergingen Tage, bis General Whitehall ihn besuchte. Der alte Soldat lächelte. »Ich weiß, Sie sind sich Ihrer Sache sicher – aber es haben auch andere Sinnestäuschungen gehabt. Die Außenwelt ist seltsam, geheimnisvoll, feindselig. Es kommt vor, daß man beginnt, Dinge zu sehen ...« »Aber«, beharrte Shane, »er hat sich bewegt!« »Seien Sie beruhigt, Shane: Ich habe angeordnet, die Nordpatrouille bei Key West zu verstärken.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche seiner blauen Uniform. »Und hier sind Aufnahmen, die heute morgen von den Bergen draußen in Sektor 41 B gemacht wurden.« Gespannt betrachtete Shane die Fotos. Da waren die grell beleuchteten schwarzen Berge. Da war der gewundene Paß. Aber der Felsblock war nicht mehr da!
»Sie müssen mir glauben!« protestierte er. »Es ist die Pflicht der Polizei, jede mögliche Gefährdung des Ringes zu erkennen – möge sie von innen oder von außen kommen«, erwiderte der General. »Ich habe fünfzig Jahre bei der Polizei gedient. In dieser Zeit hat es mehrere ähnliche Berichte gegeben, aber nie war eine wirkliche Bedrohung des Ringes von außen gekommen. Ich persönlich glaube, Ihre Einbildung hat Ihnen einen Streich gespielt.« Er erhob sich. »Das heißt nicht, daß Ihre Meldung nicht beachtet werden wird«, fügte er hinzu. »Aber ich werde Ihre Vorgesetzten anweisen, Sie für drei Monate vom aktiven Flugdienst zu entbinden. Key West ist keine schlechte Gegend für einen Erholungsurlaub. Dr. Rand hat Ihr Gesicht erstaunlich gut wieder zurechtgeflickt. Trotzdem wird es eine Zeit dauern, bis Sie sich wieder ganz erholt haben. Die Ruhe wird Ihnen guttun!« »Jawohl, General«, sagte Barry mühsam. Tränen des Zorns standen in seinen Augen. In Key West mußte sich Barry manchen gutmütigen Spott über wandernde Felsen anhören. Man hatte nichts Ungewöhnliches mehr beobachtet. Er mietete sich ein kleines Boot und lernte segeln; was sollte er sonst tun, wenn er nicht fliegen durfte?
Langsam begannen ihm selbst Zweifel zu kommen, ob der General nicht doch recht gehabt hatte. Aber es trieb ihn immer wieder in die Nähe des Ringes. Es war seltsam, am Rande jenes steilen Abgrundes entlangzusegeln und den Blick über die trockene Wüste schweifen zu lassen, wo die Hügel lagen, die einst Kuba gewesen waren. Nirgends war etwas zu sehen, was sich bewegte. Er segelte an der Barriere entlang. Dann wendete er das Boot zur Küste zurück und überquerte eine unter Wasser liegende Korallenbank. Das Wasser war klar wie Glas. Und auf dem weißen Korallensand sah er einen dunklen, kantigen Felsbrocken, der stetig auf das Land zukroch. Der wandernde Fels – innerhalb des Ringes! Es verschlug Shane den Atem. Sein sonnengebräunter Körper schien plötzlich eiskalt zu werden, und seine Hände zitterten. Der wandernde Brocken bewegte sich jetzt in tieferem Wasser, und Shane sah genau, daß es der gleiche Fels war, den er durch die Berge im Sektor 41 B hatte kriechen sehen. Es war eine getarnte Maschine! Jemand hatte das schwierige Problem gelöst. Jemand hatte seinen größten Traum verwirklicht, hatte einen Weg gefunden, nach Belieben durch den Ring zu dringen, ohne ihn zu zerstören. Oder war es kein Jemand? Es lief ihm kalt über den
Rücken. War es vielleicht – ein Etwas? Die Außenwelt war ein Abgrund voller undurchdringlicher Geheimnisse. Auf dem Zwergstern konnten irgendwelche Wesen gelebt haben ... Es war ein phantastischer Gedanke! Er vergaß ihn wieder; denn plötzlich erinnerte er sich an die verschwundene Zeitung. Hier war das Geheimnis, das er gesucht hatte. Die Schauer verschwanden – er fühlte sich plötzlich seltsam ruhig. Er schätzte die Richtung ab, in der sich der wandernde Fels bewegte, und zog eine Linie auf seiner Karte. Dort, wo sie das Land erreichte, würde er warten. Freilich, er besaß keine Waffe. Er lächelte. Schließlich wußte er auch nicht, was für eine Waffe er vielleicht gebraucht hätte. Vielleicht genügte seine Kamera? Jedenfalls konnte man einen Film keiner Sinnestäuschung beschuldigen! Es war eine lange Wacht. Die Nacht brach herein, und fast begann er wieder zu zweifeln. Da – eine gedämpfte Stimme über dem Wasser. Es plätscherte. Dann glitt ein dunkler, unregelmäßiger Schatten aus dem Wasser und erhob sich über den Strand, um im finsteren Dickicht der Mangroven zu verschwinden. Die Kamera zitterte in Shanes Hand. Der Film war ultrasensitiv – vielleicht hatte er trotz der Dunkelheit etwas festgehalten. Aber er mußte mehr sehen. In dem weißen Sand fand er die unverkennbaren Spuren von Raupenketten.
War diese getarnte Maschine von Menschen bemannt? Hatten Ringbewohner sie gebaut, um durch den Ring zu den Bodenschätzen der Außenwelt vorzudringen? Oder stammte sie von fremdartigen, unvorstellbaren Eindringlingen? Ein anderer Gedanke kam ihm. Sollten draußen noch Menschen leben? Das schien unmöglich. Seit zweihundert Jahren, erinnerte er sich, hatte es keine Spur von Leben draußen gegeben. Shane beschloß, dem Felsblock in den Dschungel zu folgen. Auf die Fotos wollte er sich nicht verlassen – und er lief Gefahr, daß die Maschine wieder im Meer verschwand, ehe er die Antwort auf eine seiner verzweifelten Fragen gefunden hatte. Tiefgebeugt setzte er den Fuß auf den Weg, den die schwarzen Raupenketten gebahnt hatten. Ein Blitz – ein violetter Schein blendete ihn und verschwand. Er war nicht hell, doch er schmerzte in den Augen. Sein Körper kribbelte, und seine Muskeln wurden schlaff. Eine Hand schien sich mit vernichtendem Druck um sein Herz zu legen. Er konnte nicht mehr atmen. Die Kamera fiel ihm aus der Hand, und er stürzte nieder.
3 Shane hatte das Bewußtsein nicht verloren. Aber der violette Blitz hatte ihn völlig gelähmt. Er spürte, wie kräftige Hände seinen schlaffen Körper aufhoben, doch er besaß nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren; er konnte nicht einmal verhindern, daß sein Kopf schmerzhaft gegen die Kante des niedrigen Eingangs stieß, durch den man ihn in die als Felsblock getarnte Maschine trug und in eine schmale, harte Koje warf. Die Luft roch schwach nach Chemikalien. Als die Tür sich schloß, gab es einen metallischen Klang; die Schuhe des Mannes, der ihn hereingetragen hatte, knirschten auf einem Metallboden. Shane hörte keine Stimme und schloß daraus, daß der andere allein sein mußte. Bläuliches Licht flammte auf, aber Shane konnte den anderen nicht sehen. Eine kahle Metallwand und ein Gewirr von Kabeln über ihm war alles, was er erkennen konnte. Er versuchte zu sprechen, aber seine gelähmten Stimmbänder brachten keinen Laut hervor; er brauchte all seine Kraft, um überhaupt atmen zu können. »Leutnant Barry Shane.« Er war verblüfft, bis ihm klar wurde, daß der andere von dem Ausweis ablas, den er ihm abgenommen hatte.
»Ring-Polizei, 7. Division, Basis Key West.« Etwas an dieser harten Stimme kam Barry seltsam vor. Die Aussprache war gewollt korrekt. Plötzlich begriff er – und ein eisiger Schreck erfaßte ihn. Diesen Akzent – dessen war er sicher – gab es nicht in Amerika. Der Mann, der ihn gefangengenommen hatte, kam von draußen! Seine Gedanken wirbelten, als er nachzudenken versuchte. Das Unmögliche war Wahrheit. Irgendwie – irgendwo – hatten Menschen draußen die Katastrophe überlebt. Aber was für Menschen waren das – jetzt nach zwei Jahrhunderten? War dies ein freundlicher Besuch – oder eine Invasion? Die Schritte entfernten sich. Motoren brummten auf, und die Maschine setzte sich in Bewegung. Ein Rundfunkgerät summte, und dann erklang die Stimme eines Nachrichtensprechers. Shane mußte darüber nachdenken, was alles ein Feind, dessen Vorhandensein niemand ahnte, über Amerika, seine Verteidigung und seine Sprache erfahren konnte – nur indem er Rundfunksendungen abhörte! Wasser klatschte gegen den Rumpf. Das Radio verstummte. Shane wußte, daß die Maschine wieder ins Wasser zurückgeglitten war. Er suchte die bleierne Lähmung zu überwinden. Die verzweifelte Notwendigkeit spornte ihn an. Er mußte herausfinden, wer die Eindringlinge waren
und was sie planten. Er mußte mit seiner Warnung entkommen. Er kämpfte darum, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, und langsam verging die Lähmung. Er konnte den Kopf bewegen und ein wenig mehr vom Innern der Maschine sehen. Sie bestand ganz aus Metall – es gab kein Holz, keinen Kunststoff. Die Nieten und Schrauben hatten seltsame, dreieckige Köpfe. Es war offensichtlich, daß die Erbauer dieser Maschine lange Zeit keinen Kontakt mit Amerika gehabt hatten. Schritte dröhnten über den Metallboden. Starke Hände rollten seinen Körper auf die Seite. Dann sah er zum erstenmal seinen Gegner. Der Eindringling war genauso groß wie Shane. Er trug enge Hosen und einen enggerafften Überwurf aus einem unbekannten, grauschimmernden Stoff. Seine Haltung war straff und militärisch; er hatte kupferfarbenes Haar und einen borstigen, rötlichen Schnurrbart. Sein gebräuntes Gesicht sah nicht schlecht aus; Shane mußte unwillkürlich daran denken, daß der Mann gut in die blaue Uniform der Ring-Polizei passen würde. »Sind Sie wieder bei Bewußtsein?« fragte er mit scharfer Stimme. »Ich glaube, Sie sind genau einer von den Leuten, derentwegen ich kam. Ich möchte mit Ihnen sprechen, Leutnant.«
Er hob Shanes Kopf fast sanft empor und schob ein Kissen darunter. »Können Sie sprechen?« Shane öffnete den Mund und gab vor, eine vergebliche Anstrengung zu machen. Noch immer waren seine Füße und Hände gelähmt – er mußte Zeit gewinnen. »Keine Sorge«, sagte der große Mann. »Ihre Bewegungsnerven sind gelähmt, aber der Strahl hat nicht Ihr Herz oder ein anderes lebenswichtiges Organ erreicht. Dieser Kurzschluß beruht auf einer zeitweiligen Lähmung im Myelin der Nervenscheiben. Sie werden sich bald besser fühlen.« Er rückte Shanes Arm in eine bessere Lage. »Bequemer so? Darf ich mich vorstellen? Ich bin Hauptmann Glenn Clayton. Sobald Sie in der Lage sind zu sprechen, werde ich gewisse Informationen von Ihnen verlangen. Falls Sie sie mir geben, werden Sie mit all der Achtung behandelt werden, die ein Soldat verdient.« Hauptmann Clayton sagte nicht, was geschehen würde, wenn er die Informationen nicht bekommen würde. Seine ganze Art drückte aus, daß er nicht daran zweifelte, sie früher oder später zu erhalten. Bei welcher Truppe, überlegte Shane, mochte Clayton Hauptmann sein? Wahrscheinlich war er selbst mindestens ebenso gespannt auf Informationen wie der Eindringling; aber seine Hände und Füße waren
noch immer nicht zu gebrauchen, und Clayton sah hart, unerbittlich und wachsam aus. »Sie werden bald sprechen können«, sagte Clayton. »Ich will Ihnen jetzt sagen, was ich wissen möchte: alles über Amerika. Besonders aber über die Barriere – den Ring, wie Sie es nennen. Die Lage und die Verteidigung des Ringturmes und die Stärke, Verteilung und Ausrüstung der Ring-Polizei. Es war ein sehr glücklicher Zufall, daß ich gerade Sie gefangennehmen konnte, Leutnant.« Er verschwand aus Shanes Gesichtskreis und kehrte mit zwei glänzenden, klirrenden Handschellen und einer großen, seltsamen Schußwaffe zurück. »Ich muß Sie bitten, diese Fesseln anzulegen«, sagte er. »Sie werden sich bald erholt haben, und zu häufiger Gebrauch des Lähmungsstrahlers würde Ihre Nerven für die Dauer schädigen. Wenn Sie die Handschellen angelegt haben, werden wir in Ruhe über Ihren Ring und die Polizei sprechen können.« Er beugte sich vor und packte Shanes Schultern. Barry vergaß die seltsame Maschine. Er sprang aus der Koje. Sein Kopf schoß vor und stieß die Waffe beiseite. Seine Zähne packten unnachgiebig Fleisch und Haut über Claytons Handgelenk. Seine Füße trugen ihn nicht, so daß er auf die Knie niedergehen mußte, aber das brachte ihn unter seinen Gegner. Er senkte den Kopf und griff Clayton an.
Der andere versuchte sich zu wehren. Seine linke Faust mit den klirrenden Fesseln schlug schmerzhaft gegen die Seite von Shanes Kopf. Aber Barry spürte den Schmerz kaum – überdies war seine Haut noch immer zu taub, um viel zu empfinden. Im Bruchteil einer Sekunde war es vorbei. Clayton überschlug sich und stieß gegen die Wand hinter der Koje, stürzte, rollte ein Stück über den Boden und blieb liegen. Was folgte, war schwieriger. Mit Ellbogen und Knien zerrte Shane die Fesseln unter Clayton hervor; mit den Zähnen zog er die offenen Schellen um Claytons Handgelenke und schloß sie mit dem Druck seiner Knie. Mit dem zweiten Paar schloß er Claytons Fußgelenke an die Umrandung der Koje. Als er damit fertig war, konnte Shane gerade wieder auf seinen kribbelnden Füßen stehen; auch in seine Hände begann Leben zurückzukehren. Er hob die Waffe auf, die Clayton fallen gelassen hatte, und drückte sie versuchsweise gegen die Wand ab. Ein dünner violetter Strahl schoß heraus, als er auf den Daumenknopf drückte. Es war der Lähmungsstrahler! Mit steifen Fingern durchsuchte er Claytons Taschen. Er fand ein Schlüsselbund, ein Messer mit Metallgriff und ein flaches Platinkästchen, das offenbar als Brieftasche diente. Er hatte nichts aus Leder an
sich; Schuhe und Gürtel bestanden aus einem grauen, biegsamen Kunststoff. Sein einziger Schmuck war ein schwerer Platinring. Shane gelang es, das Kästchen zu öffnen. Eine Stofftasche enthielt ein Dutzend Platinmünzen. Shane las die Inschrift: »Neu-Britannien – 161 – zehn Pfund«. Auf der Rückseite stand neben einem kauernden Löwen: »England über alles.« Shane pfiff leise und sah auf den hochgewachsenen Offizier hinab. Das war erstaunlich. Die sauber geprägten Münzen und diese Maschine bedeuteten, daß draußen eine starke, geordnete Kultur existierte. Wenn Neu-Britannien, wo es auch immer liegen mochte, stark genug war, um draußen weiterzuleben, dann war es auch stark genug, um möglicherweise eine Bedrohung für den Ring darzustellen. Claytons Besuch hatte weiß Gott nicht die Formen einer friedlichen Expedition. Unter dem Münztäschchen war ein Bild. Beinahe hätte er wieder gepfiffen; er vergaß seinen Gefangenen und starrte das Bild an. Es war in Emaillefarben auf der Innenseite des Deckels ausgeführt und zeigte ein Mädchen mit violetten Augen und rotbraunem Haar. Die roten Lippen lächelten, aber die Augen blickten ernst. Es war ein ausgezeichnetes Bild – ein Kunstwerk. Die fast unwirkliche Schönheit des Mädchens kam ihm schmerzhaft zu Bewußtsein.
Er las die Inschrift: Glenn von Atlantis. War das ihr Name, ihr Wohnort oder eine Andeutung, die nur sein Gefangener und diese Frau verstanden? Shane warf wieder einen Blick auf Hauptmann Clayton. Selbst jetzt, bewußtlos und in Fesseln, sah er gut, schneidig und gefährlich aus. Die nächste und alarmierende Entdeckung machte Shane durch einen Zufall. Als er das Platinkästchen umdrehen wollte, entglitt es seinen noch immer ungelenken Fingern. Beim Versuch, es noch zu erhaschen, flog es laut klappernd auf den Metallboden. Als er es wieder aufhob, fand er, daß sich das Bild des verwirrend schönen Mädchens von der Unterlage gelöst hatte. Unter dem Bild war ein schmales Geheimfach zum Vorschein gekommen, in dem sich einige gefaltete Blätter aus dunkler, zäher Metallfolie befanden. Gespannt faltete Shane sie auseinander. Sie waren mit Schrift in weißer Farbe bedeckt; auf der einen Folie stand: »Der Träger dieses Schreibens, Hauptmann Glenn Clayton, handelt im Einverständnis mit dem Schwarzen Stern. Unsere Feinde müssen vernichtet werden.« Darunter stand, als Unterschrift oder Siegel, ein sternförmiges Zeichen; schimmernd schwarz schien
es in dem grauen Metall selbst zu liegen, nicht auf ihm. Shane fragte sich, wie es wohl entstanden sein mochte. Er las die Worte noch einmal mit zusammengekniffenen Augen. Alarmierende Fragen durchzuckten sein Hirn. Wer war der Schwarze Stern? Hatten die Menschen draußen einen wahnwitzigen Angriff gegen den Ring geplant? Der Wortlaut des Schriftstückes klang unheilverkündend. Er legte die beiden Folien in die flache Höhlung zurück und schob das Bild wieder darüber. Fragend schaute er auf das ernst lächelnde Mädchen. Sie war zu schön, um an einem solchen Plan beteiligt zu sein. Unvermittelt ließ ihn Claytons Stimme auffahren. »Meinen Glückwunsch, Leutnant!«
4 »Weiß der Teufel!« Clayton grinste. »Ich dachte, die Amerikaner wären vom leichten Leben hinter dem Ring fett und weichlich geworden!« Die klugen grünen Augen musterten Shane, aber sie zeigten keine Unruhe. Er fühlte, daß sein Gegner noch immer zuversichtlich und gefährlich war. Clayton lachte. »Ich sehe, daß Sie eine Erklärung erwarten«, sagte er. »In der Tat habe ich die Vorsicht vielleicht etwas zu weit getrieben und muß Ihnen recht unfreundlich erschienen sein. Ich möchte aber, daß Sie verstehen, Shane, daß die Absichten, mit denen ich durch den Ring kam, durchaus ehrlich und friedlich sind. Ich habe nur das Wohl Amerikas und meiner Nation im Auge.« Shane kniff die Lider zusammen. Das paßte nicht ganz zu der Botschaft, die mit dem Schwarzen Stern unterzeichnet war. Er hielt die Lähmungspistole griffbereit. »Ja«, sagte er grimmig, »ich finde, Sie sollten mir das einmal gründlich erklären! Erzählen Sie mir von Neu-Britannien!« Claytons hartes Gesicht zeigte Verblüffung. »Ach so – die Münzen!« sagte er dann. »Sie haben
meine Taschen durchsucht. Die Geschichte NeuBritanniens begann vor zweihundert Jahren, als Amerika den Ring errichtete, um sich zu schützen, und den Rest der Welt vor die Hunde gehen ließ –« »Das ist nicht wahr«, sagte Shane heftig. »Alle Erdteile bekamen Ultradyngeneratoren. Es ist nicht Amerikas Schuld, daß sie alle zerstört wurden. Unser eigener Ring wurde bis zur letzten Minute offengehalten.« »Das ist Ihre Auslegung«, sagte Clayton. »Ich nahm an, Sie wollten die meine hören.« »Verzeihung – fahren Sie fort.« »Als der Zwergplanet sich näherte, suchten die Menschen Zuflucht in Bergwerken, Tiefbunkern und Unterseebooten. Trotzdem überlebten nur wenige Briten die Katastrophe; und sie hatten eine furchtbare Aufgabe vor sich. Sie können sich die Schwierigkeiten ausmalen, in einer Welt ohne Luft und ohne Oberflächenwasser zu existieren?« Shane nickte. »Ich habe die Welt draußen gesehen.« »Unsere Leute waren zäh«, fuhr Clayton fort, und aus seiner Stimme sprach Stolz. »Jede Gefahr stärkte sie so, daß sie der nächsten entgegentreten konnten. Sie schrieben das Hohelied des technischen Fortschritts. Sie bauten Druckanzüge aus Gasmasken. Sie errichteten kleine Druckkuppeln und suchten ganz England nach Mitteln ab, um weiterleben zu können.
Sauerstoff war ihre größte Not – denn der Gasflaschenvorrat in den Bunkern ging zu Ende. Sie benutzten Chemikalien, um die Luft zu erneuern, später elektrische Zersetzung des Wassers. Dazu brauchte man Elektrizität. Alle Verbrennungskraftmaschinen waren natürlich unbrauchbar, nachdem die Luft verschwunden war. Das Material für elektrische Batterien war bald verbraucht. Eine Zeitlang standen die Dinge auf des Messers Schneide. Kaum hundert Briten waren noch übrig, als Sanders die Goldfilmzelle erfand, die die Energie des Sonnenlichtes aufnimmt und speichert – mit einem Wirkungsgrad von achtzig Prozent. Nach ein paar Jahren brach neues Unglück herein. Der Grundwasserspiegel sank, und die Brunnen trockneten aus – die Brunnen, die neben Wasser den lebenswichtigen Sauerstoff lieferten. Die Briten mußten dem Wasser folgen – sie zogen nach Südwesten, auf den Grund des ausgetrockneten Atlantiks. Es war ein seltsamer Zug.« Triumph klang in Claytons Stimme mit. »Einige der Fahrzeuge waren umgebaute Panzer mit riesigen Flügelflächen, die die Sonnenenergie aufnahmen. Schließlich erreichten sie Neu-Britannien, dreitausend Meilen östlich von hier. Sie bohrten neue Brunnen und errichteten neue Kraftwerke unter der subtropischen Sonne. Sie bauten die Kuppel von
Neu-Dover. Sie überwanden zahlreiche Schwierigkeiten. Ihre Zahl wuchs. Heute gibt es ein Dutzend Kuppelstädte.« Er hielt inne, und sein Blick fiel auf die Waffe in Shanes Hand. Plötzlich kam etwas Herausforderndes in seine Haltung. »Das ist die Geschichte Neu-Britanniens!« stieß er hervor. »Eine glänzende Geschichte«, gab Shane zu. »Aber warum hat sich Ihr Volk nicht schon vor langer Zeit mit Amerika verständigt. Wir hätten Ihnen helfen können.« »Vielleicht.« Clayton schien skeptisch und bitter. »Bis nach Neu-Britannien sind es dreitausend Meilen. Bevor – vor fünfzehn Jahren – die Ionenstrahlrakete entwickelt wurde, hatten wir keine Möglichkeit, eine solche Strecke zu überbrücken. Amerika war nur eine Sage. Unsere ersten Erkundungsfahrer waren erstaunt, als sie fanden, daß es die Barriere wirklich gab.« »Und das Radio?« fragte Shane. »Radiowellen durchdringen den Ring. Haben Sie unsere Sendungen nicht empfangen?« Clayton verzog den Mund. »Draußen herrschen andere Bedingungen, selbst für Radiowellen. Hier, innerhalb der Barriere, besteht eine isolierte Schicht in der oberen Atmosphäre, die die Wellen zurückwirft,
so daß sie auch jenseits des Horizonts aufgefangen werden können. Draußen gibt es keine echte Ionosphäre, sondern Spuren atmosphärischer Gase, die zuweilen ionisiert sind. Die Sonne verursacht Störungen, die tagsüber jede Verständigung unmöglich machen – und selbst nachts kommt man nicht über den Horizont hinaus.« »Ich verstehe. Und was wollen Sie in Amerika?« Shane hatte das Gefühl, als flackerten Claytons Augen. »Ich bitte um Hilfe«, sagte der Gefangene. »Das alte Unglück wiederholt sich. Es gibt keinen Regen, um unsere Brunnen aufzufüllen – sie beginnen wieder auszutrocknen. Ich bin gekommen, um Sie um Wasser zu bitten, um das nackte Leben! Wir haben genug zum Tausch zu bieten. Unsere Erzlager und Ölquellen sind reich.« Shane kniff die Augen zusammen. »Amerika könnte diese Rohstoffe gebrauchen«, stimmte er zu. »Aber warum haben Sie so lange gewartet, wenn Sie Amerika bereits vor fünfzehn Jahren entdeckt haben? Und warum diese Heimlichkeit?« »Die Männer, die die Barriere entdeckten, haben sich lieber nicht sehen lassen. Sie fanden Leichen außerhalb des Ringes«, sagte Clayton mit bitterem Tonfall. Shane fuhr auf. »Sie fanden Leichen, dort, wo der
Ring an die Küste stößt? Und – sie nahmen die Zeitung mit?« »Ich glaube, ja«, sagte Clayton. »Sie war in einer Sprache gedruckt, die niemand lesen konnte. Es war dumm genug, sie überhaupt mitzunehmen.« »Was war der Grund dafür?« Claytons malachitgrüne Augen blitzten. »Eine naheliegende Vorsichtsmaßregel. Es gab eine Überlieferung, nach der Amerika ziemlich skrupellos verfahren sein soll, um den Rest der Menschheit aus dem Ring auszuschließen. Die Mumien schienen das zu bestätigen. Sie haben selbst innerhalb der Barriere keinen Überfluß an Wasser; wir hatten keinen Grund, Großzügigkeit von Ihnen zu erwarten.« »Ich glaube, daß Amerika Ihnen das Wasser überlassen wird, das Sie brauchen«, erwiderte Shane. »Selbst ohne Gegenleistung. Aber ich wünschte, Sie hätten auf diese Heimlichtuerei verzichtet.« »Vielleicht glauben Sie mir nicht«, sagte Clayton herausfordernd. »Dann werfen Sie einen Blick auf den Brief, den ich Ihrer Regierung von der unsrigen überbringen soll. Er liegt im Safe unter der Steuerkonsole.« Der enge Raum der Steuerkabine war mit unbekannten Instrumenten vollgestopft. Shane fand einen Umschlag aus grauem Metall in dem Fach und kehrte hastig zurück, um seinen Gefangenen weiter im Auge
zu behalten. Er faltete das Blatt zähen, biegsamen Metalls auseinander und las: »An die Regierung Amerikas Unsere Grüße! Hauptmann Clayton, Überbringer dieses Schreibens, bringt Ihnen auch unsere Wünsche für Frieden und Freundschaft. Er wird Ihnen im einzelnen unsere verzweifelte Lage schildern. Bitte, betrachten Sie sie mit dem Großmut des Starken für die dem Untergang Geweihten. Atlantis Lee, Sekretärin des Neu-Britannischen Bundes, Neu-Dover.« Shane faltete das Metallblatt zusammen und schob es in den Umschlag zurück. Es schien fast überzeugend – aber die unheilverkündende Notiz in dem Geheimfach, die das sternförmige Siegel trug, war noch nicht geklärt. Und zudem zeigte Claytons ganzes Wesen eine unterdrückte Feindseligkeit. »Wer ist Atlantis Lee?« fragte Shane. Die Handfesseln klirrten, als Clayton eine ungeduldige Bewegung machte. »Sie haben sie gerade bewundert.« Die harte Stimme klang verärgert. »Wie der Brief sagt, ist sie Sekretärin von Neu-Britannien.« »Eine Herrscherin?«
»Keine Herrscherin«, verneinte Clayton. »Ihr Vater, der letzte Sekretär, war das Haupt eines demokratischen Zusammenschlusses der Kuppelstädte. Aber seitdem die Barriere entdeckt wurde, hat sich das politische Bild geändert. Eine alte und lange unterdrückte Partei, der Schwarze Stern, ist wieder an die Macht gekommen. Der Führer des Schwarzen Sterns hat die wirkliche Macht in Neu-Britannien.« Shane bemühte sich, seine Erregung zu verbergen. »Und wer ist das?« fragte er. Clayton gähnte ostentativ. »Der Schwarze Stern ist eine geheime Partei. Obgleich sie Macht gewonnen hat, gibt es noch immer andere Parteien, die ihr Ärger genug machen. Die wirkliche Person des Führers soll überhaupt niemandem bekannt sein.« »Und wie übt so ein geheimer Führer sein Amt aus?« »Der Führer besitzt das Siegel des Schwarzen Sterns«, erklärte Clayton. »Dieses Siegel soll aus einem künstlich radioaktiven Kristall bestehen. Es erzeugt ein eigenartig feines Muster auf den Metallfolien, die für offizielle Dokumente verwendet werden – eine Markierung, die man nicht nachahmen kann. Der Inhaber des Schwarzen Sternes, sagt man, soll seinen Nachfolger selbst wählen und ihm das Siegel übergeben.« Das war also die Bedeutung des sternförmigen Zeichens!
»Offenbar«, sagte Shane, »sind Sie Mitglied des Schwarzen Sterns.« Die verborgene Notiz, die Clayton Vollmacht gab, gegen alle Feinde des Schwarzen Sterns vorzugehen, schien Beweis genug dafür. »Wenn es so wäre, könnte ich es Ihnen nicht sagen«, meinte der hochgewachsene Eindringling leichthin. Shane beschloß, seinen Fund nicht zu erwähnen. »Etwas anderes«, sagte er, das Thema wechselnd. »Wie gelangten Sie durch den Ring?« »Das Gerät heißt Polarisator«, erklärte Clayton. »Ich habe zwei davon, falls einer versagt. Ich weiß nicht, wie er arbeitet – aber man zieht einen Hebel, und die ›Freundschaft‹ fliegt einfach hindurch, als gäbe es den Ring gar nicht.« »Dies ist die ›Freundschaft‹?« Shane war erstaunt. »Und sie kann fliegen?« »Klar!« Clayton nickte. »Ionenstrahlraketen, über Goldfilmzellen angetrieben. Es wäre schwierig, die Barriere ohne sie zu durchdringen, wegen des Drucks Ihrer Atmosphäre. Die Raketen tragen uns leicht darüber hinweg.« Shane holte tief Atem. »Eine bemerkenswerte Maschine«, stellte er fest, »bemerkenswert für etwas, das aussieht wie ein gewöhnlicher Felsblock!« »Vielen Dank, Leutnant«, sagte Clayton höflich. »Darf ich nach Ihren Plänen fragen?«
»Ich werde Sie meinen Vorgesetzten übergeben«, sagte Shane. »Zweifellos werden sie das Schreiben von Atlantis Lee gebührend beachten.« Er überlegte. »Sind Sie bereit, die Maschine zu steuern?« Er traute Clayton nicht, aber die »Freundschaft« lag auf dem Boden des Meeres. Ein Blick auf die komplizierte Steuerkonsole zeigte ihm, daß er nicht hoffen konnte, die Maschine ohne Erläuterungen in Gang zu setzen, und – wenn Clayton willens war, die »Freundschaft« freiwillig in die Hände der Ring-Polizei zu geben, war das ein Beweis für die Ehrlichkeit seiner Absichten. »Sicherlich«, stimmte Clayton zu. »Und vielen Dank, alter Junge!« Er hob die Handschellen, um sie öffnen zu lassen. »Behalten Sie die lieber an«, sagte Shane lächelnd. »Ich glaube, Sie kommen auch so zurecht.« Er löste die Fußkette und folgte Clayton in den engen Pilotenraum. Den Lauf des Lähmungsstrahlers richtete er auf Claytons Hinterkopf. »Ich kenne mich mit dieser Waffe aus«, warnte er. Claytons schlanke, braune Hände hantierten schnell und sicher. »Ich nehme Ihnen das nicht übel, Leutnant«, sagte er. »Ich war Ihnen gegenüber auch mißtrauisch – allerdings nicht mißtrauisch genug.« Er lachte.
5 Es war besser, beschloß Shane, die Maschine direkt zu General Whitehall zu bringen. Clayton war ein wenig zu gerissen, ein wenig zu gefährlich, um ihn Kapitän Steadmann in Key West zu übergeben. Shane spürte eine wachsende Bewunderung für die Geschicklichkeit des Fremden bei der Steuerung der Maschine und für sein eisernes Selbstbewußtsein. Er konnte Clayton nicht trauen, aber irgendwie gefiel ihm der Mann. Er war gefaßt darauf, daß der andere eine Waffe aus einem Versteck hervorholen oder die Maschine in einem selbstmörderischen Sturzflug ins Meer stürzen würde. Vielleicht steuerte er sie auch in die Außenwelt. Aber Clayton tat nichts dergleichen. Er folgte dem Kurs, den Shane ihm angab. Die »Freundschaft« stieg in die Stratosphäre auf; das Heulen der Raketen verklang, und der Himmel wurde dunkel. Claytons hartes Gesicht schien freundlich. In seinen großen Metallsitz zurückgelehnt, machte er gelegentlich Bemerkungen über die Funktion der Maschine. Wenn Clayton tatsächlich friedfertig war, dachte Shane, dann könnte es möglich sein, mit dem hochgewachsenen Mann einen Besuch in Neu-Britannien zu machen.
Clayton breitete eine Karte aus, und Shane zeigte ihm die Lage des Hauptquartiers der Raum-Polizei. Er sah einen kleinen roten Punkt, wo der Ringturm lag. »Dies ist das mathematische Zentrum des Ringes«, bemerkte Clayton dann. »Ich vermute, dort steht der Ringturm.« Langsam neigte sich die »Freundschaft« nach unten. Der graue Dunst verging, und gerade voraus, umgeben von Weizenfeldern, sah Shane die dunkle, gepanzerte Masse des Ringturms. Ring City umgab ihn mit ihren Straßen und Plätzen, und das Landefeld des Hauptquartiers zeigte sich als dunkles Rechteck. »Das ist das Hauptquartier«, sagte er. »Wenden!« »Vielen Dank, Shane!« Claytons hartes, kurzes Lachen hatte einen spöttischen Beiklang. Er berührte einen Hebel, und das Heulen der Raketen wurde zu einem dämonischen Kreischen. Eine heftige Beschleunigung ließ die »Freundschaft« in den Sturzflug übergehen. Der Metallsitz war dazu gedacht, den Piloten vor dieser Beschleunigung zu schützen. Aber Shane wurde durch den unerwarteten Schwung gegen das Schott geschleudert. Sein Ellbogen schlug gegen die Metallwand, und die Pistole entglitt seiner Hand. Der erbarmungslose Druck hielt ihn wie festgenagelt. Ein viereckiger schwarzer Kasten klappte vor Claytons Kopf herunter und rastete auf dem Armaturen-
brett ein. Clayton blickte durch abgeschirmte Augenöffnungen. Fast betäubt von der Erkenntnis sah Shane, daß der schwarze Kasten ein Zielgerät war. Clayton war im Begriff, einen Sturzangriff auf den Ringturm zu fliegen! Trotz des betäubenden Druckes klammerte sich Shane mit grimmiger Verzweiflung an den Rest seines Bewußtseins. Er wußte, was die Zerstörung des Ringzylinders bedeutete. In dem Augenblick, da jener unsichtbare Wall ultraelektronischer Schwingungen aufhörte zu existieren, würden die aufgestauten Wassermassen rund um Amerika in die trockenen Meeresbecken niederbrausen. Noch verheerender würde sich die eingeschlossene Atmosphäre ausdehnen und die gräßlichste Explosion auslösen, die dieser Planet je erlebt hatte. Nichts Lebendiges, kein Menschenwerk in ganz Amerika würde diesem unvorstellbaren Sturm standhalten können. Wenn alles vorbei war, würde es ein paar Salzseen in den Tiefen der alten Ozeane geben, einen Hauch dünner, nutzloser Atmosphäre darüber. Vielleicht würden die Städte draußen unter ihren gepanzerten Kuppeln unbeschädigt bleiben – die Flutwelle würde ihnen vielleicht sogar das Wasser bringen, das sie brauchten. Aber Amerika würde für immer tot sein. Die Ungeheuerlichkeit dieses Anschlags war für
Shane fast noch betäubender als der Anprall seines Schädels an das stählerne Schott. Wie konnte ein Mensch beabsichtigen, gleichgültig aus welchen Beweggründen, mit einem Handgriff sechzig Millionen Menschen umzubringen? Aber Hauptmann Clayton war ein ungewöhnlicher Mensch. Spöttisch klang seine harte Stimme zu Shane herüber: »Ein Sturzflug, Leutnant, ist keine Sache, bei der man den Piloten stören sollte!« Vielleicht hatte er recht. Wenn die Bomben den Ultradyngenerator im Turm zerstörten, konnte die »Freundschaft« – erst jetzt erkannte Shane die grimmige Ironie des Namens! – die Katastrophe dennoch überstehen. Shane wäre dann der einzige überlebende Amerikaner! Ein erfolgreicher Angriff auf Clayton aber würde wahrscheinlich Tod für sie beide bedeuten, aber Millionen würden leben! Clayton befand sich im Irrtum, wenn er annahm, der Tod würde für Shane unter diesen Umständen ein zu großes Opfer sein! Einen Augenblick lang schien es Shane, als gebe es nichts, was er tun könnte. Er konnte – wegen des grausamen Beschleunigungsdrucks – Clayton nicht erreichen. Er hatte keine Zeit, nach der zu Boden gefallenen Waffe zu suchen. Seine tastenden Finger hatten sich bereits automatisch um das kleine, schwere
Platinkästchen geschlossen, das er Clayton abgenommen hatte, aber die Lehne des Pilotensitzes schützte den Eindringling gegen alles, was man von hinten hätte schleudern können. Mit verzweifelter Anstrengung, die ihm den Arm aus der Schulter zu reißen schien, warf Shane das Platinkästchen. Die gleiche erbarmungslose Beschleunigung, die ihn gegen das Schott preßte, konnte auch zur Waffe gegen Clayton werden! Langsam flog das weiße, längliche Metallstück an Clayton vorbei in den Bug der stürzenden Rakete, schien einen Augenblick reglos in der Luft zu hängen – dann schleuderte es der mächtige Andruck zurück in Claytons Gesicht. Das Heulen der Raketen schwoll wieder an. Eine furchtbare Besorgnis ergriff Shane. Hatte er trotzdem verloren? Selbst wenn Clayton daran gehindert wurde, die Bomben abzuwerfen, konnte die Maschine weiter stürzen und den Zylinder wie ein gewaltiger Raketentorpedo treffen. Wieder begann ihn das Dunkel zu umhüllen, und wieder klammerte sich Shane verzweifelt an den Rest Bewußtsein – einen Augenblick später wußte er, daß die »Freundschaft« durch die automatische Steuerung aus dem Sturzflug abgefangen wurde. Clayton war seitwärts in den Sitz gesunken. Die eine Seite seines Gesichts war rot von Blut.
Der Bumerang aus Platin war unter gewaltiger Beschleunigung mit noch größerer Kraft zurückgekehrt, als Shane es erwartet hatte. Clayton war wieder betäubt. Von dem übermächtigen Druck erlöst, zerrte Shane den Bewußtlosen aus dem Sitz, ließ ihn auf den Boden fallen und nahm seinen Platz am Steuer ein. Drei Stunden lang hatte er zugesehen, wie Clayton das Schiff bediente – seine ersten Versuche endeten allerdings in einem alarmierenden Trudeln, aber er stellte fest, daß die automatische Steuerung ihn stets zum Horizontalflug zurückführte. Nach einigen Schleifen gelang es ihm, die »Freundschaft« auf dem langen Feld zwischen dem Viereck der Akademie und den alten, niedrigen Betonbauten des Ring-PolizeiHauptquartiers aufzusetzen. Er wußte nicht, wie er die Landestreben ausfahren sollte. Das Schiff, nur von einem plötzlichen Strahl aus den Bremsraketen gebremst, ging senkrecht nieder. Shane wurde ziemlich durchgeschüttelt, stellte aber fest, daß keiner seiner Knochen gebrochen war. Offenbar war die »Freundschaft« so gebaut, daß sie dergleichen aushielt. Er öffnete die Luftschleuse und zerrte Clayton hinaus in den Krater, den die Raketen in die Erde gerissen hatten. Das Schiff erinnerte wirklich an einen Meteor. Die Metallplatten waren so geformt und bemalt, daß sie
die unregelmäßigen Umrisse eines großen Felsblokkes darstellten. Nur die geöffnete Tür und die Raketenmündungen und Raupenketten verrieten die wirkliche Bestimmung. Ein lautloses Elektroauto kam vom Hauptquartier her über das Feld. General Whitehall sprang heraus, begleitet von einigen Offizieren. »Aber – das ist ja gar kein Meteor!« stammelte ein Adjutant. General Whitehall faßte sich als erster. »Meinen Glückwunsch, Leutnant!« Seine klugen blauen Augen leuchteten verständnisvoll. »Also gab es doch einen wandernden Felsen! Bitte, verzeihen Sie einem Vorgesetzten seine Skepsis. Fühlen Sie sich in der Lage, gleich Meldung zu machen?« »Ich will es versuchen, General.« Nachdem er seinen Bericht abgeschlossen hatte, brachte ein Krankenwagen ihn und Hauptmann Clayton ins Lazarett des Hauptquartiers, wo seine Verletzungen behandelt wurden. Clayton, der eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, erlangte erst am nächsten Tag das Bewußtsein zurück. Als Shane ihn besuchte, saß er in seinem Bett, und seine Augen lächelten unter den Verbänden. Sie verrieten eine spöttische Herausforderung. »Meinen Glückwunsch, Shane!« sagte er mit spröder Stimme. »Wie haben Sie das geschafft?«
Als Shane es ihm erklärte, lachte er nur. »Clayton – ich kann Sie nicht verstehen!« Shane ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett nieder. »Sie sind tapfer, Sie sind klug, Sie gefallen mir –« »Danke, Leutnant!« Clayton lächelte wieder unter seinen Verbänden. »Ich kann das gleiche von Ihnen sagen.« »Aber ich kann Sie nicht verstehen«, wiederholte Shane ernsthaft. »Gestern haben Sie versucht, Amerika zu zerstören und sechzig Millionen Männer, Frauen und Kinder umzubringen – den Hauptteil der menschlichen Bevölkerung, der auf diesem Planeten erhalten blieb, denke ich. Wie konnten Sie so etwas tun? Und warum?« Claytons Auflachen klang kurz und hart. »Natürlich können Sie das nicht verstehen. Kein Amerikaner könnte es. Aber einige Leute draußen können es. Der Schwarze Stern hat es zweihundert Jahre lang verstanden. Ich sage Ihnen, daß einige von uns es nie vergaßen, daß Sie uns aus dem Ring ausgesperrt haben –« »Ich erklärte Ihnen, daß das nicht stimmt!« Claytons Augen waren hart wie Malachit. »Ich habe diese Erklärung zurückgewiesen.« Shane versuchte es auf andere Art. »Was hat der Schwarze Stern – diese geheime Partei in Neu-Britannien – mit Ihrer Anwesenheit in Amerika zu tun?«
»Es gibt einige Dinge, die ich Ihnen sagen werde«, antwortete Clayton mit undurchdringlicher Selbstbeherrschung. »Und einige Dinge, die ich Ihnen nicht sagen werde. Ich verweigere die Antwort auf jede Frage nach dem Schwarzen Stern.« Shane verhörte ihn zwei Stunden lang – ohne befriedigendes Ergebnis. Claytons Antworten waren spöttisch und ausweichend. Am späten Abend berichtete er in General Whitehalls Arbeitszimmer im alten grauen Gebäude des Hauptquartiers über seinen Mißerfolg. Sorge überschattete die blauen Augen des alten Generals. »Er muß sprechen, Shane! Wir kennen nicht den wirklichen Grund für seinen Versuch, den Ringturm zu bombardieren. Wir wissen nicht, wie viele Feinde Amerika draußen hat, wann sie angreifen wollen oder was für unbekannte Waffen sie einsetzen könnten. Wir müssen diese Informationen bekommen, um Amerika zu retten!« Shane schüttelte den Kopf. »Hauptmann Clayton ist ein ungewöhnlicher Mann. Ich glaube, er würde eher unter der Folter sterben, als eine Tatsache preisgeben, die er nicht verraten will. Und ich glaube, er ist so klug, um zu wissen, daß wir ihm nichts glauben können, bis es wirklich bewiesen ist.« Er zögerte, dann fuhr er hastig fort: »Aber ich habe nachgedacht, General. Ich glaube, wir müssen die Eindringlinge
mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich habe einen Plan.« Whitehalls Augen leuchteten auf. »Und der wäre?« »Wir müssen jemand in die Außenwelt schicken.« Whitehall sah ihn eine Sekunde lang prüfend an. »Und dieser Jemand möchten Sie sein?« Shane holte tief Atem und schluckte. »Ja, General. Hören Sie bitte meinen Plan. Es ist der einzige, den ich sehe, um die Informationen zu erhalten, die Amerika so nötig braucht.« Seine Stimme wurde rauh vor Erregung. »Ich möchte hinausgehen, General, nach NeuBritannien – an Claytons Stelle!«
6 Hinter seinem Schreibtisch runzelte General Whitehall die Stirn, schüttelte den Kopf und begann dann seine Einwände zu äußern. »Sie meinen, Sie wollen in der Maske Claytons in die Außenwelt gehen? Das wäre doch Selbstmord! Sie sehen ihm nicht einmal ähnlich!« Shane beugte sich erregt über den Schreibtisch. »Ich bin fast genauso groß«, sagte er eindringlich. »Und Dr. Rand hat mein Gesicht trotz der Verletzungen nach Fotos wieder zusammengeflickt, ohne daß eine Narbe zurückblieb. Man kann mein Gesicht in das von Clayton verwandeln. Ich kann seine Stimme und sein Wesen studieren.« »Das wäre möglich«, gab Whitehall zu. »Aber wir wissen so gut wie nichts über Neu-Britannien und Claytons Leben dort, und er scheint nicht geneigt, uns darüber Aufschluß zu geben.« »Aber wir können seine eigenen Methoden benutzen«, beharrte Shane. »Ich bin eben in den Werkstätten gewesen und habe mit den Ingenieuren gesprochen, die die ›Freundschaft‹ untersucht haben. Dabei kam mir ein Gedanke. Sie haben weitere Notizen Claytons auf Metallfolien gefunden und auch Karten von Neu-Britannien. Ein paar persönliche Briefe. Fo-
lienrollen, in mikroskopisch kleinen Lettern gedruckt, die unseren Zeitungen und Zeitschriften zu entsprechen scheinen. Ich kann mir einen guten Wortschatz erwerben, wenn ich sie studiere.« »Die Aussprache wird anders sein«, wandte Whitehall ein. »Ich kann Radio hören«, sagte Shane, »wenn ich nahe genug an Neu-Britannien herangekommen bin, um Sendungen zu empfangen. Vielleicht kann ich auch vorgeben, verletzt oder erschöpft zu sein, wenn ich dort ankomme, um etwas Zeit zu gewinnen.« Der General nickte langsam. »Ich sehe, Sie haben die Sache gut durchdacht, Shane. Vielleicht haben Sie wirklich die Lösung gefunden.« Dann schüttelte er den Kopf. »Aber Sie würden die ›Freundschaft‹ benutzen müssen. Sie ist jedoch zu wertvoll, um sie den Fremden zurückzugeben – zumindest so lange, bis unsere Techniker Zeit gefunden haben, ihre Untersuchungen abzuschließen.« »Das ist mir klar, General!« Shanes Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. Er fühlte, daß er im Begriff war, seine Sache zum Sieg zu führen. »Ich wäre nicht auf die ›Freundschaft‹ angewiesen. Die Techniker haben eine Rettungsausrüstung gefunden, die in einer Kabine neben der Luftschleuse verstaut war. Offenbar sollte sie dazu dienen, Clayton zu retten, falls der
›Freundschaft‹ selbst etwas zustieß. Diese Entdekkung war der Ausgangspunkt meines Planes, General!« »Was für eine Ausrüstung?« fragte Whitehall. »Ein Schutzanzug«, sagte Shane. »Er sieht nicht gerade bequem aus, aber er ist so ausgerüstet, daß er einen Menschen tagelang draußen am Leben halten kann. Und dazu ein leichtes elektrisches Motorrad, das über Goldfilmzellen angetrieben wird. Der Helm des Schutzanzugs enthält ein Funksprechgerät.« Der Sieg war fast errungen. Shane holte tief Atem und fuhr zuversichtlich fort: »Sie sehen, ich kann das Sprechgerät benutzen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich werde melden, daß die ›Freundschaft‹ zerstört worden sei – durch eine Waffe, die auf jeden anderen Eindringling wartet, der sich zeigen sollte.« General Whitehall stand auf. »Das ist möglich! Sie können berichten, daß Sie von der Ring-Polizei gefangengenommen und wieder freigelassen wurden, um eine Botschaft zurückzubringen. Wir werden eine Antwort auf den Brief der Sekretärin von Neu-Britannien verfassen, in der wir Ihnen das Wasser, das sie brauchen, in friedlichem Austausch anbieten.« Dann dämpfte ein anderes Problem den Enthusiasmus des alten Generals.
»Aber – wie wollen Sie hinauskommen«, fragte er, »wenn Sie nicht die ›Freundschaft‹ benutzen?« »Ich habe darüber mit den Ingenieuren gesprochen. Sie haben die Polarisatoren der ›Freundschaft‹ entdeckt und bereits eine ganze Menge über sie herausgefunden. Offenbar, erklärten sie mir, erzeugen sie ein Feld im gleichen ultraelektronischen Bereich wie die Schwingungen des Ringes selbst. Die Atome in diesem Feld sind polarisiert – ihre Achsen richten sich parallel zur Achse des Ringes aus. Die Wirkung ist wahrscheinlich nur vorübergehend, aber offenbar dringt polarisierte Materie durch den Ring wie das Licht, ohne irgendwelche Störungen zu hinterlassen. Die Techniker sagen, sie können eine der Polarisatoreinheiten aus der ›Freundschaft‹ ausbauen und benutzen, um mich durch den Ring zu befördern – zusammen mit dem Schutzanzug und dem Motorrad –, wann immer ich soweit bin.« »Ich verstehe.« Whitehall nickte. »Aber wie wollen Sie wieder zurückkommen.« Shane lächelte. »Bis dahin werden die Techniker wahrscheinlich mit ihrer Untersuchung der ›Freundschaft‹ fertig sein und sie betriebsbereit haben. Sie könnten damit in die Außenwelt fliegen und mich abholen.« Der alte General lächelte nachdenklich. »Sie scheinen auf alle meine Einwürfe eine Antwort
zu wissen. Die Sache muß natürlich noch mit meinem Stab besprochen werden. Aber ich glaube, wir werden Sie gehen lassen müssen.« »Ich danke Ihnen, General«, sagte Shane glücklich. Dr. Rand kam am nächsten Tag, herbeigerufen durch eine dringende Botschaft General Whitehalls, auf der Einschienenbahn-Station der schläfrigen kleinen Stadt an. Shane wartete dort, aber als der berühmte Chirurg aus dem Aufzug des Stationsturmes trat, stockte sein Herz einen Augenblick. Es war überraschend genug, daß Dr. Rand eine Frau war, aber daß es eine so schöne Frau war, schien einen Augenblick fast zuviel für sein in den letzten Tagen ohnehin arg beanspruchtes Fassungsvermögen. Doch seltsam – einen Augenblick später schob sich vor dieses Bild der liebenswürdigen Schönheit Della Rands ein anderes: das Bild eines Mädchens mit violetten Augen und dem eigenartig verheißungsvollen Namen Atlantis Lee, weit draußen in Neu-Britannien. »General Whitehall ließ mich kommen?« fragte die Ärztin. »Was will er von mir?« Shane lächelte. »Es ist eine Art Staatsgeheimnis«, sagte er. »Sie sollen mein Gesicht operieren.« Die Chirurgin sah ihn mit großen Augen erstaunt an.
»Was ist denn mit Ihnen los?« Er berichtete ihr über den Plan und über die Umstände, die ihn notwendig machten. Die rasche Auffassungsgabe der Ärztin setzte sich überraschend schnell mit der Tatsache auseinander, daß es auch draußen Menschen gab. Sie betrachtete Shanes Gesicht noch einmal gründlich, als habe sie es nie zuvor gesehen. Dann sagte sie mit leiser, veränderter Stimme: »Ist dieser Plan, den Sie da gefaßt haben, nicht sehr gefährlich?« »Jetzt«, sagte Shane kurz, »ist nichts zu gefährlich!« Sie sprachen mit General Whitehall im Hauptquartier. »Clayton darf nicht wissen, was wir vorhaben«, erklärte der alte Kommandeur. »Wir beabsichtigen Bandaufnahmen seiner Stimme zu machen und seine Angewohnheiten zu studieren. Er wäre gerissen genug, uns zu täuschen, wenn er es wüßte. Aber sein Gesicht wurde verletzt, als Leutnant Shane ihn gefangennahm. Diese Verletzung ist nicht gründlich verheilt, deshalb kann ich es einrichten, daß Sie ihn sofort operieren werden. Damit wird Ihnen Gelegenheit gegeben, sein Gesicht eingehend zu studieren.« »Ich glaube auch«, schlug die Ärztin vor, »daß wir einige psychologische Tests mit ihm anstellen sollten. Das ist ebenfalls eine meiner Spezialitäten.«
Shane war dabei, als Clayton Della Rand zum erstenmal sah – im Operationssaal des Lazaretts. Die Augen des Gefangenen leuchteten auf. »Sie sind im Begriff, meine Aufgabe komplizierter zu machen«, sagte er lächelnd. »Ich kam her, um Krieg gegen Amerika zu führen; jetzt sehe ich, daß ich außerdem noch Ihr Leben schonen und Sie mit mir zurück nach Neu-Britannien nehmen muß!« Della Rand schien es den Atem zu verschlagen. Zum erstenmal sah Shane, daß die Atmosphäre kühler Geschäftsmäßigkeit, die sie sonst umgab, erschüttert war. Er hatte das Gefühl, daß sie ebenso geschmeichelt wie verwirrt schien. Nun ja – einer Frau mußte Clayton wohl kühn und romantisch erscheinen, dachte er. Einen Augenblick später jedoch kehrte ihre Fassung zurück. »Also«, sagte sie knapp, »zeigen Sie mir Ihr Gesicht!« Shane beobachtete die Operation. Die zierlichen Instrumente aus blankem Stahl schienen in Della Rands geschickten Händen Leben zu gewinnen. Ein neuentwickelter Klebstoff hielt Nerven-, Muskelund Hautgewebe zusammen, so daß Nähte unnötig waren. Nachdem Della Rand ihr Werk vollendet hatte, zeigte nur eine feine Linie, wo Shanes Wurfgeschoß seine Spur hinterlassen hatte; und auch sie würde langsam verschwinden.
Am nächsten Morgen stand Shane dem hochgewachsenen Eindringling wieder in seinem Zimmer im Lazarett gegenüber. »Wir werden Sie jetzt in eine Zelle bringen müssen – wenn Sie nicht auf Ehrenwort hierbleiben wollen. Sie würden dann natürlich bewacht werden, aber es wäre angenehmer für Sie.« »Sicher!« sagte Clayton bereitwillig. »Dann geben Sie mir also Ihr Wort, keinen Fluchtversuch zu unternehmen?« Für den Bruchteil einer Sekunde schien Clayton zu zögern. Shane glaubte seine Augen aufleuchten zu sehen wie bei einem heimlichen, tollkühnen Spaß. »Ich gebe es Ihnen«, sagte Clayton. Shane verbrachte viele Stunden mit den Technikern an Bord der »Freundschaft«. Er lernte jeden Mechanismus bedienen und studierte jede Einzelheit der Anordnung, des Materials und der Konstruktion. Er lernte jedes Wort der Metallfolien und -briefe auswendig, jede Linie der Landkarten. Er fand nie heraus, wann Clayton den Plan durchschaute. Als die Wachen ihn an dem Morgen des Tages, an dem Della Rand mit den Operationen an seinem Gesicht beginnen wollte, in den Raum des Lazarettes eingelassen hatten, bat er Clayton um den schweren Platinring.
»Ich würde ihn gern behalten«, protestierte Clayton und bedeckte den Ring, der nicht einmal ein Monogramm trug, mit der Hand. »Er ist ein Andenken.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie Andenken sammeln«, sagte Shane kurz angebunden. »Geben Sie den Ring her!« Clayton zog den Ring ab und warf ihn Shane zu. »Ich habe schon überlegt, ob Sie daran denken würden«, sagte er. »Nicht, daß er Ihnen viel helfen würde.« Ein kühler, warnender Unterton lag in seiner Stimme. »Sie sind ein Narr, so etwas zu versuchen, Shane. Nur um Ihnen eine Vorstellung von dem zu geben, was Sie erwartet: Stellen Sie sich die umgekehrte Situation vor. Nehmen Sie an, ich hätte es fertiggebracht, bei meinem ersten Besuch in Amerika an Ihrer Stelle aufzutauchen. Denken Sie an die Leute, die ich hätte täuschen müssen – Ihre Freunde, Ihre Verwandten, Ihre Kameraden. Sicherlich hätte ich, der ich überhaupt nichts über Sie wußte, irgendeinen Fehler gemacht. Und schon ein Fehler, denken Sie daran, kann für einen Spion den Tod bedeuten.« Seine herausfordernd leuchtenden grünen Augen schienen Shane zu verspotten. »Es mag sein, daß Della Ihnen eine Kopie meines Gesichts geben kann«, fuhr er fort. »Aber die Narben werden sichtbar sein – für Leute, die mein Gesicht genau kennen. Ich bin fast einen Zentimeter größer
als Sie. Meine Augen, meine Stimme, meine Haare sind anders. Sie könnten eine meiner Angewohnheiten, die Sie sorgsam studiert haben, vergessen und sich mit einer Ihrer eigenen verraten. Denken Sie daran, Shane, das Leben draußen ist hart. Es ist leicht, sich in Amerika am Leben zu erhalten. Aber man braucht Geschick und Ausrüstung, um draußen zu leben.« Er lachte kurz und hart auf. »Sehen Sie nicht ein, daß Sie ein Narr sind?« »Vielen Dank für die Hinweise«, sagte Shane. »Aber lassen wir es bei der umgekehrten Situation. Angenommen, Sie wären an meiner Stelle – würden Sie nicht alle diese Gefahren auf sich nehmen, um Ihrem Volk zu helfen?« Claytons hageres Gesicht hellte sich auf. In diesem Augenblick waren Shanes Sympathie und Bewunderung für den Eindringling größer als je zuvor. »Bestimmt würde ich das tun«, sagte Clayton. Dann kamen die Wachen und Krankenschwestern, um sie in den Operationssaal zu bringen.
7 In Shanes Zimmer im Lazarett entfernte Della Rand die Verbände. Ihr dunkler Lockenkopf nickte zufrieden. General Whitehall, der hinter ihr stand, spitzte seine dünnen Lippen zu einem unhörbaren Pfiff des Erstaunens. Dann gab Della Shane einen Spiegel. Er atmete schwer – fast unfähig zu glauben, was er sah. Es war unheimlich. Es jagte ihm einen kühlen Schauer den Rücken hinab. Er fühlte sich wie immer, außer daß sein neues Gesicht noch steif war und ein wenig schmerzte. Aber die harten Züge, die ihm aus dem Spiegel entgegensahen, waren die Hauptmann Claytons! Sein dunkles Haar war gebleicht und auf den rötlichen Bronzeton Claytons umgefärbt worden. Biochemische Zauberei hatte seine Haut in Claytons rötliches Braun verwandelt. Seine grauen Augen hatten durch die sorgfältige Einspritzung besonderer Farben den grünlichen Schimmer von Claytons Augen angenommen. »Ich kann es kaum fassen!« Selbst seine Stimme ließ ihn zusammenfahren. Geschickte chirurgische Eingriffe am Kehlkopf hatten ihr den Klang von Claytons Stimme gegeben. Er be-
trachtete seine Hände. Auch sie hatten Dellas Messer zu spüren bekommen, aber die Fingerspitzen waren in der charakteristischen Weise gegeneinandergelegt, wie es seine Gewohnheit war. »Das ist nicht Clayton!« warnte ihn der General. »Vergessen Sie diese kleine Angewohnheit. Selbst eine solch winzige Sache kann Sie und die Hoffnungen Amerikas vernichten!« Am Tage seiner Abreise konnte Shane der Versuchung nicht widerstehen, Clayton in seinem bewachten Raum zu besuchen. Er trug Claytons enge graue Hosen und seinen Umhang und, um sich an sie zu gewöhnen, die Lähmungspistole an der Hüfte. Es überraschte ihn, Della Rand dort zu finden – an einem kleinen Tisch mit Testgeräten. Clayton, der Della gegenüber saß – die Handflächen auf zwei Elektroden gelegt –, starrte Shane an. Einen Augenblick schien er sprachlos vor Erstaunen zu sein; dann legte sich ein bewunderndes Lächeln über sein gutgeschnittenes Gesicht. »Ausgezeichnet, Shane!« rief er. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich das sehen ließen.« Seine spöttischen grünen Augen wanderten zurück zu Della. »Ihr Apparat muß eben etwas angezeigt haben, schöne Frau.« »Überraschung«, sagte Dellas kühle Stimme. Claytons kühnes braunes Gesicht wandte sich wieder Shane zu.
»Sie nimmt an, daß sie auf diese Weise etwas von mir erfährt.« Seine Stimme hatte einen schadenfrohen Beiklang. »Aber ich brauche kein Labor, um zu sagen, daß sie verliebt ist.« Dellas Antlitz wurde von Röte überflutet. »Seien Sie still«, befahl sie barsch, »sonst rufe ich die Wache!« Aber Shane begannen Zweifel zu kommen, ob Clayton nicht die Wahrheit gesprochen hatte. Clayton grinste. »Ausgezeichnet, Shane«, wiederholte er spöttisch. »Sie sehen genauso aus wie ich – für jemand, der mich nicht kennt. Es gibt tausend Dinge, die einen Betrüger verraten können – in einer Welt, die er nie zuvor gesehen hat. Vielleicht haben Sie an hundert dieser Dinge gedacht, aber es gibt noch neunhundert andere.« Shane winkte abschiednehmend und verließ den Raum. Dies war der Moment, den Clayton gewählt hatte, um sein Ehrenwort zu brechen. Jetzt, da Barry Shane so aussah wie er, sah auch er genauso aus wie Barry Shane. Er wäre ein Narr gewesen, wenn er von einer so günstigen Gelegenheit keinen Gebrauch gemacht hätte. Auch hatte er Angewohnheiten und Stimmfall beobachtet – und er hatte seine eigene Maskerade geplant. Als Shane ging, ließ er Clayton allein mit Della
Rand zurück. Das hatte Clayton leicht erreichen können, da er ja auf Ehrenwort festgehalten wurde. Alle Reaktionstests der Ärztin hatten seinen Plan nicht enthüllt, obwohl er sie dazu angespornt hatte, damit fortzufahren, indem er ab und zu ein paar unwichtige Details über Neu-Britannien verriet. Aber er hatte sich geweigert, sich diesen Tests zu unterziehen, wenn Wachen dabei waren. Acht Sekunden, nachdem Shane gegangen war, folgte ihm Clayton. Della Rand blieb auf dem Bett liegend zurück; sie war mit einem Anästhetikum aus ihrer eigenen Medikamententasche betäubt. Clayton hatte den Bademantel, den er trug, abgeworfen, seine Unterwäsche zerrissen und sein Haar zerzaust; Della hatte sein Gesicht zerkratzt – ihr eigenes Werk zerstörend –, aber selbst das unterstützte seinen Plan. In der Halle draußen traf er auf eine Wache, die ihn verblüfft anstarrte. »Wo ist er?« Die atemlos hervorgestoßenen Worte waren eine hervorragende Nachahmung der veränderten Stimme Shanes. »Er hat mich überwältigt – meine Kleidung und die Pistole genommen. Er sieht jetzt aus wie ich! Wo ist Clayton?« Der Wächter schluckte und zeigte automatisch den Gang hinunter.
»Leutnant Shane – ich dachte, es sei Shane – ging gerade hinaus.« »Trottel – das war Clayton!« Die ärgerliche Stimme Claytons traf die verwirrte Wache wie ein Peitschenschlag. »Er entkommt! Geben Sie Alarm! Und – geben Sie mir Ihre Pistole!« »Jawohl, Sir!« murmelte der verstörte Wachmann. Es war ein einfacher Plan – von jener verwegenen Einfachheit, die Claytons abenteuerlichem Leben die Würze gab. Er grinste, als er mit der Pistole in der Hand den gewundenen Gang entlangstürmte – in der Richtung, die ihm die Wache gewiesen hatte. Es war eine runde Sache. Wenn nichts schiefging, würde Shane als der Eindringling begraben werden, der auf der Flucht erschossen worden war. Clayton selbst dagegen, seine Maskerade ruhig weiterführend, würde zum Ring geleitet und sicher hindurchbefördert werden – von denselben Männern, die ihn bewachen sollten! Der erste Hinweis auf den wahren Sachverhalt würde der unerwartete Angriff einer Flotte von Raketenbombern des Schwarzen Sterns auf den Ringturm sein. Freilich gab es eine ganze Menge Dinge, die schiefgehen konnten, aber Clayton war an Wagnisse gewöhnt – und er liebte sie. Sein Versuch, fand er, war keineswegs verzweifelter als Shanes Plan. Nur eine Phase der ganzen Sache gab es, die Clay-
ton bedauerte. Er wünschte, es wäre möglich gewesen, Della Rand mitzunehmen. Er hatte sie von Anfang an bewundert, aber es war ihm nie richtig bewußt geworden, wie sehr er sie begehrte – bis zu jenem kurzen Augenblick, als er ihren geschmeidigen, schlanken Körper in den Armen hielt, bis das Betäubungsmittel zu wirken begann. Er bog um eine Ecke und sah Shane am Ende des Ganges. Clayton hob die Waffe – eine tödlichere Waffe als die Lähmungspistole, die Shane ihm abgenommen hatte. Shanes Hinterkopf lag im Visier, aber die Waffe zitterte in Claytons Hand, und er drückte nicht ab. Shane trug seine Kleider, Shane ging mit seinem eigenen lebhaften Schritt. Dieses bronzefarbenes Haar war sein eigenes – der ganze Mann vor ihm war er selbst! Clayton schob dieses unheimliche Gefühl beiseite. Er suchte eine plötzliche ungewollte Sympathie für Shane zu unterdrücken. Gefühle durften jetzt keine Rolle spielen. Der langgeplante endgültige Sieg des Schwarzen Sterns war in Sicht! Er faßte die Waffe fester. Aber Shane hatte jetzt die Halle betreten, und Clayton sah den langen Spiegel an ihrem Ende. Im selben Augenblick sah Shane das vorgebeugte Spiegelbild seines Doppelgängers, der gerade im Begriff war, abzudrücken.
Claytons Kugel zerschmetterte den Spiegel – aber Shane hatte sich zur Seite geworfen. Er hatte keine Zeit, sich umzudrehen und zu zielen, aber er reagierte blitzschnell. Noch bevor der Spiegel zerbrach, hatte er die Lähmungspistole auf das Spiegelbild des anderen abgefeuert. Der dünne violette Strahl wurde auf Clayton zurückgeworfen. Sein Arm mit der Waffe sank schlaff herab; die Pistole polterte zu Boden. Selbst dann behauptete Clayton noch, er wäre der echte Shane. Doch Shane schlug den herbeieilenden Wachen vor, sie beide festzuhalten. General Whitehall erschien; Della Rand, aus der Betäubung erwacht, gab ihren Bericht über die Ereignisse. Diese Richter konnte Clayton nicht täuschen. Shane ging weiter seinem Abenteuer draußen entgegen. Um Claytons Handgelenke wurden Fesseln gelegt, und man führte ihn in seinen Raum zurück. Die Versuchsgeräte Della Rands waren fortgebracht worden, und das Zimmer sah kahl aus wie eine Zelle. Den Rest des Tages verbrachte er in Gesellschaft von sechs Wächtern. Am nächsten Morgen kam General Whitehall, um ihn zu besuchen. Sein schmales Gesicht war ernst, und seine Stimme klang leise und traurig. »Clayton«, sagte er ernst, »Sie haben Ihr Ehrenwort gebrochen.«
Die Ketten klirrten, als Clayton sich auf der Matratze in der Ecke aufrichtete. Sein hartes, immer noch lächelndes Gesicht, das die Spuren von Dellas Kratzern zeigte, wirkte finster. »Das habe ich getan«, gab er zu. »Sie sind mir ein Rätsel, Clayton.« Der alte General schüttelte müde den Kopf. »Sie gefallen mir. Aber nach dem, was Sie gestern getan haben, kann ich die Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen, daß Sie ein skrupelloser und raffinierter Feind sind.« »Nein, General.« Claytons Stimme hatte einen bitteren Beiklang. »Sie können mich nicht verstehen. Aber wenn Sie draußen gelebt hätten, wenn Ihre Vorfahren zweihundert Jahre lang draußen gelebt hätten – dann würden Sie es können. Wenn Sie Menschen hätten sterben sehen, weil ihnen der Sauerstoff oder eine Tasse Wasser fehlte – während sie wußten, daß riesige Wassermengen jenseits der Barriere unerreichbar lagen –, dann würden Sie mich verstehen können.« »Aber«, protestierte Whitehall, »wir wollen Ihnen doch Wasser geben!« »Vielleicht jetzt – um ein wenig für euch selbst zu retten!« gab Clayton zurück. »Aber Sie haben versäumt, das vor zweihundert Jahren zu tun. Amerika sollte sich beglückwünschen, General, für zweihundert Jahre geborgter Zeit – zweihundert Jahre gestohlenes Leben!«
Whitehalls Züge wurden hart. »Ihre Einstellung ist bedauerlich«, sagte er. »Sie ist bedauerlich sowohl für Amerika als auch für NeuBritannien. Aber sie ist nun einmal da, und man muß sich mit ihr auseinandersetzen.« Seine Augen waren eiskalt, als er Clayton jetzt betrachtete. »Hauptmann Clayton, wir sind bereit, Sie vor die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zu stellen.« »Nur zwei?« spottete Clayton. »Sie haben immer noch Zeit, Ihre Einstellung zu ändern«, stellte Whitehall fest. »Sie können unsere Fragen aufrichtig beantworten. Sie können ehrlich an unserer Bemühung mithelfen, freundschaftliche Beziehungen und friedlichen Handel mit NeuBritannien anzuknüpfen.« Clayton grinste. »Die andere Möglichkeit?« »Euthanasie«, antwortete Whitehall ernst. Nach einem Augenblick der Verblüffung leuchteten Claytons grüne Augen verstehend auf. »Oh«, sagte er leise. »Ein leichter Tod – Ihre höfliche und wissenschaftliche Bezeichnung für Mord.« »Wenn Sie es so nennen wollen! Sie haben versucht, den Ringturm zu zerstören. Gestern haben Sie versucht, Leutnant Shane zu töten. Hauptmann Clayton, ich bedaure das tief, aber wir haben den Eindruck, daß Sie zu gefährlich für Amerika sind, um es
Ihnen zu erlauben, weiterzuleben und uns weiter zu bedrohen.« Claytons Gesicht leuchtete vor unbekümmerter Heiterkeit. »Ihr Bedauern ist unnötig. Ich versichere Ihnen, daß ich an Ihrer Stelle genau das gleiche tun würde – ohne jedes Bedauern. Ihr Amerikaner seid bessere Männer, als ich glaubte.« Whitehall schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit leiser Stimme: »Sie sind ein seltsamer Mensch, Clayton. Und all das ist schmerzlicher für mich, als Sie es sich vorstellen können.« Er gab sich einen Ruck. »Unser Arzt wird die – Operation sofort vorbereiten müssen. Ich kann Ihnen versichern, daß sie völlig schmerzlos sein wird.« »Ich danke Ihnen, General«, sagte Clayton, »obgleich das nicht wichtig ist.« Und dennoch glitt ein schmerzliches Lächeln über seine Züge, als er darüber nachdachte, wer wohl dieser Arzt sein würde.
8 General Whitehall schüttelte Barry Shane die Hand, bevor der junge Offizier zum Ring aufbrach. Seine scharfen blauen Augen musterten das Gesicht, die Haltung und die eigenartige graue Uniform, die Clayton gehört hatte. »Es kommt mir fast so vor, als seien Sie wirklich Hauptmann Clayton, der schließlich seinen eigenen Plan doch noch ausführt!« Seine Stimme wurde plötzlich ernst. »Es ist ein wahnwitziges Abenteuer, Shane, aber es kann – es darf nicht fehlschlagen. Zuviel hängt davon ab.« Shane lächelte; es war das harte Lächeln Claytons. »Ich werde mein Bestes tun«, versprach er. »Ich habe gerade mit den Ingenieuren über unsere Waffen gesprochen. Sie schlagen einen ›Dekohärer‹ vor – einen Energiestrahl, der den molekularen Aufbau eines Metalls auflöst, so daß guter Stahl zu nutzlosem Staub zerfällt. General, gibt es eine solche Waffe?« General Whitehall schüttelte müde den Kopf. »Ich fürchte, nein. Man hat die Verteidigung Amerikas zweihundert Jahre lang vernachlässigt. Wir haben uns auf den Ring verlassen. Wir haben nicht einmal die Werkzeugmaschinen und Fachkräfte, um jene Waffen zu schaffen, die Amerika vor zweihun-
dert Jahren hatte. Freilich bereiten wir uns mit verzweifelter Anstrengung auf Zwischenfälle vor. Wir rekrutieren junge Menschen für die Ring-Polizei, und unsere Arsenale arbeiten Tag und Nacht, um sie zu bewaffnen.« Aus seinen Augen sprach die Sorge. »Aber wir haben überhaupt keinen Schutz gegen Bombenangriffe auf unsere Städte oder den Ringturm selbst durch solche Raketenbomber wie die ›Freundschaft‹. Deshalb ist Ihre Mission von lebenswichtiger Bedeutung.« Ein Sonderwagen der Einschienenbahn, der mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern über das hohe Stahlgerüst dahinjagte, brachte Shane nach Key West. Zwei Techniker der Patrouille begleiteten ihn und führten eines der Polarisatorengeräte mit, das man aus der »Freundschaft« ausgebaut hatte. In der Nacht brachte sie ein Amphibienfahrzeug der Patrouille von der Basis zu einem flachen, öden Koralleneiland, das halb innerhalb des Ringes lag und halb draußen. Shane schüttelte den Technikern die Hand und kletterte dann in das ungefüge Gehäuse des Schutzanzugs. Unbeholfen stieg er auf das lautlose Motorrad und probierte es auf dem harten Strand innerhalb des Rings aus.
Die Ingenieure bauten indessen rasch den Polarisator auf. Sie verankerten ihn mit langen Stahlbolzen in den Korallen und legten Drähte zu den Schaltern, dreißig Meter weit vom Ring entfernt. Einer von ihnen lehnte das Motorrad gegen die unsichtbare Wand des Rings neben den Polarisator. Er trat zurück und rief: »In Ordnung, Joe!« Eine unsichtbare Kraft stieß das Motorrad durch den Ring. »Also los, Leutnant!« sagte der Techniker. »Jetzt sind Sie dran.« Schwerfällig ging Shane über den Korallensand. Er preßte seinen gepanzerten Körper flach gegen den unsichtbaren Wall ultraelektronischer Schwingungen. Während er auf die Techniker wartete, die an den Schaltern hantierten, mußte er eine momentane Panik niederkämpfen. Die Kunst der Ärzte hatte ihm Claytons Gesicht und Claytons Stimme gegeben. Er hatte versucht zu lernen, wie Clayton sprach, wie er sich benahm und selbst, wie er dachte. Dennoch war er nicht Clayton. Ein winziger Fehlgriff konnte ihn und Amerika vernichten. »Hals- und Beinbruch, Leutnant!« Er war glücklich, diese Stimme zu hören, die den Bann der Furcht brach.
Er gab mit der Hand das Signal. Etwas klickte, eine kleine Röhre leuchtete bläulich auf – und die Ringwand existierte an dieser Stelle nicht mehr. Der Luftdruck schleuderte ihn wie eine mächtige Hand hinaus. Benommen holte Shane unter dem schweren Helm Atem und stand stolpernd auf. Er schlurfte auf die Techniker zu, aber der Ring war wieder entstanden, und er stieß gegen eine unsichtbare Wand. Die Techniker bewegten sich, und er wußte, daß sie sprachen – aber kein Laut drang heraus. Einen Augenblick lang spürte er die Einsamkeit fast schmerzhaft. Dann schaltete er auf dem Brustschild des Schutzanzuges das Radio ein. Er unterdrückte einen Impuls, die Basis Key West zu rufen. Er wußte aus Claytons Karten, daß die fremden Vorposten wenige hundert Kilometer jenseits des Rings errichtet worden waren. Einen von ihnen, der auf der Karte als »Punkt Vierzehn« bezeichnet war, hoffte er zu erreichen. Möglicherweise würde man auch im Schutz der Nacht Patrouillenraketen noch näher an den Ring heranschicken – denn die Fremden würden nun allmählich beunruhigt darüber sein, daß Clayton nicht zurückkehrte. So bestand die Gefahr, daß jeder Funkverkehr überwacht wurde. Er stellte das Motorrad auf und bestieg es mit steifen Bewegungen. Mit einem letzten Winken zu den
Technikern wandte er sich dem Abhang zu, der in den Abgrund führte, den der Ozean einst ausgefüllt hatte. Jetzt war er ganz allein und auf sich gestellt. Das flache Koralleneiland hinter ihm wurde zu einem dunkel aufragenden Hügel, und die beiden Männer entschwanden seinen Blicken. Die Atmosphäre unter dem Ring zeichnete sich als neblige Trübung gegen den Horizont ab, aber die Sterne, die den schwarzen Himmel draußen beherrschten, strahlten grausam hell hernieder. Das elektrische Fahrzeug fuhr lautlos dahin, denn es gab keine Luft, in der sich der Schall fortpflanzen konnte. Der Scheinwerfer sandte einen winzigen Strahl in das übermächtige Dunkel rings um ihn; unter den Reifen aus synthetischem Gummi zerfielen vertrocknete Pflanzen und Muscheln zu Staub. Die Räder holperten über die grotesken Arme toter Korallengewächse immer tiefer hinab in die Abgründe des ausgetrockneten Atlantiks. Shane steigerte die Geschwindigkeit und wurde auch im Nehmen von Unebenheiten mutiger. Ein Hochgefühl überkam ihn. Das war der Traum seiner Kindheit! Immer hatte er sich gewünscht, in die Außenwelt zu gehen, den Grund der verschwundenen Meere zu erforschen und in all die Geheimnisse einzudringen, die ihn als Jungen gefangengenommen hatten.
Sein Herz begann zu klopfen. Er beugte sich weiter vor auf dem dahinholpernden Motorrad, und seine Hände in den dicken Schutzhandschuhen schlossen sich fester um die Lenkstange. Er übersprang eine schwarze Grube im trockenen Meeresboden und schlingerte um einen Felsblock herum. Dann stürzte er mitsamt dem Rad in die nächste Vertiefung. Benommen mühte er sich ab, wieder auf die Beine zu kommen. Er fühlte sich heiß und fiebrig. Plötzlich erkannte er, was mit ihm los war. Er atmete so viel Sauerstoff, daß er trunken davon wurde. Er stellte die Ventile genauer ein, und das berauschende Gefühl legte sich. Wieder einmal erkannte er die lähmenden Gefahren, die vor ihm lagen. Er schloß die Ventile noch ein wenig mehr. Ein paar Liter Sauerstoff konnten sein Leben bedeuten, ehe er Punkt Vierzehn erreicht hatte. Er richtete das Motorrad wieder auf. Von ein paar gebrochenen Speichen im Vorderrad abgesehen, schien es unversehrt. Er setzte sich wieder in den Sattel und fuhr weiter, wenn auch langsamer. Der Schutzanzug mit seiner Last von Sauerstofftanks und Ausrüstungsgegenständen begann bereits schwer und unbequem zu werden. Es war ein kleines Kunstwerk der Technik. Eine winzige chemische Anlage, mit Goldfilmzellen betrieben, erzeugte Trinkwasser, Sauerstoff und Traubenzucker aus der Feuchtigkeit und Kohlensäure der ausgeatmeten Luft; Ta-
schen im Innern enthielten Ausrüstung und Päckchen mit Nahrungsmitteln, die er erreichen konnte, wenn er die Arme aus den schweren Ärmeln zog. Selbst ein Ventil zum Ausstoßen von Abfällen war vorgesehen – aber keine Kunstfertigkeit konnte das Ding bequem für einen so langen Marsch machen. Die Sonne ging auf. Unvermittelt verwandelte sich die kalte Nacht in blendenden Tag; die Sonnenstrahlen trafen ihn durch den Gesichtsschild mit brennender Kraft. Trotz seines reflektierenden Silberbeschlags wurde der Schutzanzug unangenehm warm, obgleich es in den tintenschwarzen Schatten zwischen den Felsen noch immer bitter kalt war. Er fuhr den ganzen glühenden Tag hindurch mit nur kurzen Ruhepausen – auch in der folgenden Nacht. Der Sauerstoff und die Goldfilmzellen würden nur wenige Wochen vorhalten – bis dahin mußte er Punkt Vierzehn erreicht haben. Seit langem schon war die neblige Trübung, die den Ring kennzeichnete, hinter ihm verschwunden. Das lautlos dahinholpernde Fahrzeug trug ihn über trockene Schlammebenen und tote Hügelketten, immer tiefer hinein in die weite Einsamkeit des verschwundenen Atlantiks. Kurz vor der Dämmerung des zweiten Tages brach plötzlich das beschädigte Vorderrad. Von der Maschine abgeworfen, rollte er einen felsigen Abhang
hinunter; er mußte in aller Eile ein Flickpflaster über ein Loch kleben, das eine gebrochene Speiche in das Material des Anzugs gerissen hatte. Durchgeschüttelt und atemlos hantierte er an den Trümmern, obgleich er auf den ersten Blick gesehen hatte, daß eine Reparatur der Maschine nicht in Frage kam. Schließlich verließ er sie und ging zu Fuß weiter. Von da an verlor er jedes Gefühl für Zeit. Er lebte und kämpfte von Augenblick zu Augenblick. Er hatte eine Aufgabe, und er versuchte, sie zu erfüllen. Es machte nicht viel aus, ob es Nacht oder Tag war; der Himmel war immer dunkel. Und so seltsam die Wüsten trokkenen schwarzen Seeschlamms, so wild die Spitzen der unverwitterten Bergketten auch sein mochten, es war unmöglich, sich zu verirren. Er kannte die Richtung nach Punkt Vierzehn. Er konnte sie stets wiederfinden, wenn er sich nach den bekannten Sternbildern richtete. Das war alles, was er zu tun brauchte – nur den Sternen zu folgen. Der kleine Scheinwerfer an seinem Helm half ihm, den Weg zu finden. Es kam nicht darauf an, wie sein Körper von der Anstrengung schmerzte, wie ihn der Druck des schweren Anzugs wundrieb, oder wie schal die Luft geworden war, oder wie ihn lähmende Ermüdung dazu bringen wollte, anzuhalten. Es gab keine andere Wahl, als weiterzugehen.
Er wußte nicht, wie lange er gebraucht hatte, um jene letzte schwarze vulkanische Hügelkette zu erklimmen, die einst unter der Meeresoberfläche gelegen hatte. Schroffe Abhänge stellten sich ihm entgegen; scharfe Lavazacken hemmten seinen Weg, ließen ihn stolpern. Er öffnete die Ventile, um sich neue Energie zu geben. Es war fast Sonnenuntergang, als er den Kamm der Kette erreichte. Hoffnungsvoll schaute er über den zackigen Rand. Nach Claytons Karte sollte Punkt Vierzehn von hier aus sichtbar sein, auf dem Kamm einer anderen Kette in sechzig Kilometer Entfernung. Die Schatten zu seinen Füßen waren Abgründe eisiger Mitternacht. Zögernd ließ er seinen Blick weiter schweifen. Jenseits der schwarzen Schatten lag eine andere Wüste, breiter noch als alle, die er bisher durchquert hatte. Ein neuer Wall schroffer Felsenzakken unterbrach sie in schier unendlicher Entfernung. Aber er sah keine schimmernde Kuppel, keine Rakete. Kein Werk von Menschenhand. Ermattet ließ er sich auf einem Lavavorsprung nieder. Einmal auf seinem Marsch hatte er ein paar rostige Stahlplatten gesehen. Sie mußten Teile eines Schiffes gewesen sein, das gesunken war, lange bevor der Zwergstern die Ozeane mit sich fortgerissen hatte. Aber es waren die einzigen Zeugen, daß Menschen draußen gelebt hatten.
Eine dumpfe Verzweiflung überkam ihn. Würde er Neu-Britannien je finden? Er begann an den Radioeinstellknöpfen auf der Brustplatte des Schutzanzuges zu hantieren, angestrengt auf eine menschliche Stimme lauschend. Aber er hörte nur das Rauschen und Knattern elektrischer Störungen. Die Sonne ging unter. Wie eine schwarze Todesflut stiegen frostkalte Schatten den Paß herauf. Barry fröstelte in seinem Schutzanzug und drehte weiter an den Einstellknöpfen. Langsam verschwand das Rauschen der Sonnenstörungen. Eine Stunde später drang die erste Stimme an sein Ohr. In dem Kopfhörer klangen die Worte grell und näselnd; zuerst hielt er es für eine völlig fremde Sprache. Erst als sie dreimal wiederholt worden waren, gelang es ihm, die Worte zu verstehen. »Punkt Vierzehn ruft Rakete Rächer.« Dann kam die Antwort. Es war ein verwirrendes Gemisch schneidender Kehllaute, aber dann konnte er ein paar Worte auffangen: »Patrouille – Barriere – Keine Spur – Ganze Nacht.« Der letzte Satz war klar. »Kapitän Barlow, ich breche ab.« Shane lauschte die ganze Nacht über auf die Fetzen von Gesprächen, die er auffangen konnte. Verstohlen in seinem Helm vor sich hinflüsternd, übte er den
harten Akzent. Er war leichter zu erlernen, als er erwartet hatte. Zum Teil mußte die seltsame Härte davon herrühren, daß die Fremden unter einem Druck von nur einem Drittel Atmosphäre in einem Gasgemisch lebten und sprachen, das zu drei Viertel aus Sauerstoff bestand, anstatt unter einem Druck von einer Atmosphäre bei zwanzig Prozent Sauerstoff, wie bei normaler Luft. Diese Tatsachen hatten die Ingenieure beim Studium der »Freundschaft« herausgefunden. Ein Drittel Atmosphäre Innendruck erforderte ein luftdicht abgeschlossenes Schiff – oder eine Kugelstadt – erheblich weniger als eine ganze Atmosphäre Druck. Helium und andere Edelgase der Mischung waren ungefährlicher, wenn ein Unfall Druckänderungen hervorrief. Vor allem gab es keinen Stickstoff, der tödliche Bläschen im Blut bilden konnte. Aber die Schallfortpflanzung in der künstlichen Gasmischung war anders. Spät in der dritten Nacht rief Shane um Hilfe, obgleich er wußte, daß seine Aussprache noch nicht perfekt war. Alle seine Vorbereitungen waren zu überstürzt gewesen. Clayton hatte Jahre damit verbracht, sich auf die Invasion vorzubereiten – und hatte doch keinen Erfolg gehabt. Aber der nachlassende Druck in den Sauerstofftanks beschnitt Shanes Zeit. Er schaltete den winzigen Kurzwellensender ein,
der im Helm eingebaut war. »Punkt Vierzehn – Punkt Vierzehn«, hauchte er schwach in das Mikrophon. »Kapitän Clayton von der ›Freundschaft‹ ruft Punkt Vierzehn. Punkt Vierzehn ...« Die schnelle Antwort überraschte ihn. »Clayton – wo sind Sie?« Die rauhe Stimme schien überrascht und erregt. »Hier Punkt Vierzehn – sprechen Sie, Clayton!« Shane sprach absichtlich leise. »Freundschaft verloren«, stieß er hervor. »Bin – im Schutzanzug, sechzig Meilen westlich – Punkt Vierzehn. Holt mich. Botschaft von Amerika – kann nicht mehr atmen – Strom geht aus – werde aber das Licht anlassen ...« »Aushalten, Clayton!« krächzte es im Hörer. »Wir schicken jemand. Ich glaube, der ›Rächer‹ ist startbereit!« »Beeilt euch«, schluckte Shane. »Kann kaum mehr atmen.« Er ließ den Scheinwerfer weiter nach Osten leuchten. Bald darauf erschien unter den Sternen der blaue Schein einer Rakete. Das Schiff landete fünfzig Meter von ihm entfernt, die Lavaspitzen mit weißer Glut übergießend. Der »Rächer« war größer als die »Freundschaft« und trug keine Tarnung, die ihm das Aussehen eines Felsbrockens verliehen hätte. Die glatten, schnittigen Linien seines grauen Rumpfes zeug-
ten von der ausgezeichneten Manövrierbarkeit des Schiffes. Shane gab vor, nur halb bei Bewußtsein zu sein, was ihm eigentlich gar nicht so schwerfiel. Er hatte schon fast zu lange gewartet, ehe er seinen Notruf aussandte. Der Sauerstoffdruck war niedrig, und die chemische Lufterneuerung hatte wegen Strommangels ausgesetzt. Der blendende Schein der Bremsdüsen verblaßte, aber der Strahl eines Scheinwerfers tauchte ihn in blendende Helle. Lichter blitzen an der Schleuse auf, die sich am Fuß des aufrechtstehenden Schiffes öffnete, und Lichtpunkte näherten sich ihm.
9 Männerhände richteten Shane auf. Rauhe Stimmen drangen schwach an sein Ohr, aber sein Radio war zusammen mit den Fotozellen ausgefallen. Er konnte die dumpfen Laute, die durch den Schutzanzug drangen, nicht verstehen. Er bewegte sich, um zu zeigen, daß er noch am Leben war, und ließ dann seinen Körper schlaff werden. Sie trugen ihn durch die Schleuse der Rakete und zogen ihm den Schutzanzug aus. Die frische Luft tat gut, aber er atmete nur schwach und hielt die Augen geschlossen, Ohnmacht vorschützend. Ein Aufzug brachte ihn in die oberen Stockwerke des Schiffes. Man legte ihn auf ein Bett. Ein mächtiger Andruck preßte ihn nieder, und er wußte, daß die Rakete wieder flog. Er hörte Stimmen neben sich. »Hauptmann Clayton, können Sie sprechen?« Shane murmelte vor sich hin und öffnete die Augen halb. Männer standen um ihn herum. Er bemühte sich, mit ausdruckslosen Augen vor sich hinzustarren, und es gelang ihm, eine Menge zu erkennen, ohne zu zeigen, daß er schon bei Bewußtsein war. Diese Männer – zweifellos Offiziere des Schiffes »Rächer« – trugen braune Uniformen mit schwarzen Sternen auf den Ärmeln.
Bedeutete das, daß sie Mitglieder des Schwarzen Sterns waren? Sie begannen ihn mit Fragen zu überhäufen. »Was ist Ihnen in Amerika zugestoßen? Fühlen Sie sich wieder wohl? Was geschah mit der ›Freundschaft‹? Haben die Amerikaner Verteidigungswaffen außer der Barriere? Werden Sie Admiral Gluck vorschlagen, anzugreifen?« Shane hörte zu und murmelte unverständlich vor sich hin; er übte noch immer die richtige Aussprache. Sollte man glauben, daß er noch nicht recht bei sich sei! Trotz der ungeduldigen Fragen zeigten die anderen Respekt; Clayton mußte eine wichtige Persönlichkeit sein. Schließlich verstummten die Raketenmotoren, das Schiff neigte sich und kam zur Ruhe. Shane wußte, daß sie gelandet waren. Er suchte alle seine Kräfte für die nächste Prüfung seiner Maskerade zu sammeln; denn er war zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht ratsam sei, sich weiterhin halb bewußtlos zu stellen. Er wollte nicht, daß sich Ärzte um ihn kümmerten – sie hätten zu leicht die Narben von seiner Gesichtsoperationen entdecken können. Er versuchte schwach, sich im Bett aufzurichten. »Hallo«, murmelte er. »Also habt ihr mich gefunden, was?« Er hatte das Gefühl, daß seine Aussprache gar nicht
schlecht war, und hoffte, daß die halb absichtliche Schwächung seiner Stimme alle Fehler verbergen würde. Ein vierschrötig gebauter Mann in Braun trat rasch an die Seite seines Bettes. »Erkennen Sie mich nicht, Clayton? Kapitän Barlow vom ›Rächer‹. Es scheint, als seien wir gerade noch im letzten Moment gekommen.« »Meinen Dank, Barlow.« Shane versuchte Claytons Grinsen nachzuahmen. »Schätze, ich war ziemlich am Ende. Wo sind wir?« Der Vierschrötige sah ihn befremdet an. »Sie müssen Schweres durchgemacht haben, Clayton. Ich sehe, wie Sie sich anstrengen. Sie müssen sich zusammenreißen. Wir sind gerade bei Punkt Vierzehn gelandet. Admiral Gluck hat melden lassen, wir sollen Sie an Bord der ›Nemesis‹ bringen, damit Sie sofort Meldung machen können. Können Sie aufstehen?« »Ich denke«, murmelte Shane. »Schonen Sie Ihre Stimme. Wir werden sie schon wieder hinkriegen!« Braun uniformierte Ordonnanzen stützten ihn und brachten ihn in einen kleinen Baderaum. Der schwache Wasserstrahl enttäuschte ihn, bis er sich erinnerte, wie kostbar Wasser hier draußen sein mußte; Zweifellos wurde es destilliert und immer wieder benutzt. Die Brause erfrischte seinen vor Ermüdung be-
täubten Körper – verdeutlichte ihm aber auch die Größe der Gefahren, die vor ihm lagen. Die Bartstoppeln seines Gesichts waren ein wenig zu dunkel, und er war froh, Gelegenheit zu haben, sie mit einem Rasierapparat zu entfernen; den kleinen Schnurrbart ließ er stehen. Er sah in den Spiegel – er zeigte Claytons furchtlos lachende, grünen Augen. Barry Shane verlor fast den Mut, als er sich die endlosen Gefahren seines verzweifelten Spiels vorstellte – aber das war nur eines jener Abenteuer, die Clayton erst die rechte Freude am Leben gaben. So half es Shane, indem er sich vorstellte, er wäre wirklich dieser kühne Kämpfer, dessen Züge er trug. Die Ordonnanzen hatten eine braune Uniform zurechtgelegt, die ihm ausgezeichnet paßte; er steckte Claytons Platinkästchen und den Brief des Kontrollausschusses der Amerikanischen Korporationen an Atlantis Lee in die Taschen. Ein Aufzug brachte ihn und Kapitän Barlow zum Fuß der Rakete. Ordonnanzen halfen ihnen in die Schutzanzüge. Als sie die Schleuse betraten, begannen Luftpumpen zu arbeiten, und das Außentor öffnete sich mit metallischem Klang. Beim Anblick von Punkt Vierzehn erschauerte Shane in seinem Schutzanzug. Es war wieder Tag. Die blendende Sonne stand am dunklen, eintönigen Himmel über der zackigen Berg-
kette, die sich tintenschwarz am östlichen Horizont erstreckte. Punkt Vierzehn war eine eingeebnete Fläche, die mit Kuppeln aus grauem Metall übersät war – und auf diesem Plateau stand eine Raketenflotte, Symbole des Todes – Dutzende von Kampfraketen. Eine kalte Hand griff nach Shanes Herz. Amerika hatte keine Waffe, die diese unheildrohenden Maschinen daran hindern konnte, den Ringturm zu zerstören – und keine Hoffnung, eine solche Waffe noch zu bauen, und dies, sagte er sich grimmig, war nur Punkt Vierzehn. Nach allem, was er wußte, gab es dreizehn weitere solche Raketenflotten – oder dreißig. Er hielt unter seinem Schutzhelm den Atem an. Er durfte nicht versagen! Er mußte dieses Spiel gewinnen! An der Luftschleuse wartete ein gepanzerter Wagen. Shane und Barlow stiegen ein, und er rollte davon – durch die drohenden Säulenreihen der Raketen. Der Wagen holperte heftig über den Felsboden, aber kein Laut war zu hören. Die Schleusen der »Nemesis« öffneten sich, und ein Aufzug brachte sie hinauf zu den Räumen von Admiral Gluck. Braungekleidete Wachen führten sie in einen Raum, dessen Wände eine Sammlung barbarischer Waffen schmückte – vom hölzernen Bumerang bis zu einem Gegenstück von Claytons Lähmungspistole.
»Nun, Clayton?« Die scharfe, ungeduldige Stimme klang seltsam hoch, fast schrill. Sie kam von einem dünnen kleinen Mann, der hinter einem Schreibtisch stand. Als er seltsam steifarmig mit übertriebener mechanischer Präzision salutierte, klirrten die Orden auf seiner Brust. Shane ahmte den Gruß nach. Das also war Admiral Gluck? Er hatte struppiges graues Haar, buschige weiße Brauen über scharfen, dunklen, tiefliegenden Augen und einen üppigen gelbgesprenkelten Schnurrbart. Sein Gesicht war scharf geschnitten und ernst – und so braun wie seine Uniform. »Bitte, rühren, Hauptmann.« Er setzte sich, und wieder klirrten seine Orden. »Ihr Bericht?« Shane holte tief Luft und versuchte sich an all das zu erinnern, was er über diese harte gaumige Sprache gelernt hatte. Er gab seiner echten Erschöpfung nach und ließ seinen Körper ein wenig zusammensinken; er brauchte sich keine Mühe zu geben, seine Stimme schwach und rauh klingen zu lassen. »Die ›Freundschaft‹ durchbrach die Barriere wie befohlen, Admiral. Auf einer kleinen Insel der Korporation Florida versuchte ich, ein Mitglied der amerikanischen Verteidigungsstreitkräfte, die sie die RingPolizei nennen, gefangenzunehmen.« Admiral Glucks funkelnde Augen zogen sich zusammen.
»Was ist mit Ihrer Stimme los?« sagte er schrill und ungeduldig. »Ich kann Sie kaum verstehen!« Shane gab ein rauhes, entschuldigendes Lachen von sich. »Tut mir leid, Admiral, Schutzanzugkatarrh«, berichtete Shane. »Er hatte eine Handfeuerwaffe.« Gluck öffnete vor Verblüffung den Mund so weit, daß man seine gelben Zähne sah. »Welche Handfeuerwaffe kann eine gepanzerte Rakete zerstören?« stieß er fassungslos hervor. »Sie sah fast wie eine Lähmungspistole aus«, sagte Shane. »Sie erzeugte keinen sichtbaren Strahl, aber die Rakete zerfiel regelrecht zu Staub. Der harte Stahl wurde zu feinem grauem Staub. Ich hörte, daß man die Waffe Dekohärer nannte.« »Dekohärer – so«, stammelte Gluck. Sein dunkles Gesicht wurde vor Wut noch dunkler. »Die vollgefressenen Ratten glauben, sie könnten den Schwarzen Stern herausfordern, was?« Seine kleinen Augen glitzerten. »Wie ist der Barrierengenerator geschützt?« Shane schüttelte den Kopf und machte ein ernstes Gesicht. »Der Ringturm, so heißt die Anlage, ist von getarnten Dekohärerbatterien umgeben – keinen Handgeräten, sondern schweren Projektoren, die ihre Strahlen zweitausend Kilometer weit senden können – bis an den Ring – die Barriere.« Gluck schlug mit der knochigen Faust auf den
Tisch. »Der Schwarze Stern wird sie dennoch zerschmettern!« »Das wird er gewiß, Admiral?« »Weiter!« drängte der Admiral mit scharfer Stimme. »Wie sind Sie entkommen?« »Gar nicht!« Shane ahmte Claytons Grinsen nach. Es war ihm wirklich nicht zum Grinsen zumute, aber er wußte, daß Clayton diese Situation Spaß gemacht haben würde. »Die Amerikaner ließen mich frei!« Gluck lächelte grimmig. »Also haben Sie sie doch hereingelegt?« »Nein – ich habe sie nicht hereingelegt«, sagte Shane ruhig. »Es war genug von der ›Freundschaft‹ übrig, woraus sie erkennen konnten, daß ich gekommen war, um die Barriere zu vernichten. Aber ihre Verteidigung ist unzerstörbar, so daß sie keine Angst hatten, mich laufenzulassen.« Er ließ Claytons zorniges Lachen erklingen. »Sie fanden den Brief von Atlantis Lee und übergaben ihn ihrer Regierung. Den Schwarzen Stern kennen sie nicht.« Shane ahmte Claytons boshaftes Grinsen nach. »Sie schicken mich mit einer Friedensbotschaft zurück!« Er zeigte den grauen Umschlag, der an Atlantis Lee adressiert war. »Sie wissen, was er enthält?« fragte Gluck. »Der Kontrollausschuß der Amerikanischen Kor-
porationen ist gewillt, freundschaftliche Beziehungen mit uns anzuknüpfen. Er schlägt einen Austausch von Gesandten vor. Er ist gewillt, eine gemischte Kommission einzurichten, die klären soll, wie man Wasser im Austausch gegen unsere Öle, Metalle und Fotozellen liefern kann.« »Fette Idioten!« sagte Gluck schrill und bösartig. »Sie kennen den Schwarzen Stern nicht!« grinste Shane, obwohl er nicht wußte, was der Schwarze Stern denn nun in Wirklichkeit war. Er hob den Umschlag. »Wollen Sie ihn haben?« »Liefern Sie ihn ab!« erwiderte Gluck scharf und ungeduldig. »Lassen Sie Ihre kleine Freundin ruhig für uns arbeiten. Vielleicht sollten wir wirklich einen Gesandten schicken, um einen Weg für unsere Bomber durch diese verdammten De – Dekohärer zu finden.« »Jawohl, Admiral«, sagte Shane. »Ihre Befehle?« Shane war ein wenig überrascht über sich selbst. Das war zwar eines jener Abenteuer, die der Tollkühnheit Hauptmann Claytons entsprochen haben würden, aber diesmal war seine eigene Freude daran echt. Es lag etwas Besonderes in jenem Bild der rothaarigen Atlantis Lee mit den violetten Augen. Admiral Glucks Worte ernüchterten ihn. »Ich werde eine Sitzung des Generalstabs auf die ›Nemesis‹ einberufen. Es wird notwendig sein, daß
Sie einen ausführlichen Bericht über Ihre Expedition durch die Barriere geben und alle Fragen über die Verteidigung Amerikas beantworten.« »Jawohl, Admiral!« Bedeutete das, daß der Admiral bereits Verdacht geschöpft hatte? Ein Kreuzverhör durch Männer, die zweifellos den wirklichen Clayton kannten, würde eine schwere Probe sein. Vielleicht würde er Atlantis Lee nie zu sehen bekommen. Glucks wachsame Augen blickten ihn erstaunt an. Shane wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Clayton würde nicht nach Befehlen gefragt haben. Er grinste und versuchte zu lachen, um das Ganze als einen Scherz hinzustellen. Aber Glucks Gesicht blieb kalt und grimmig. »Der ›Rächer‹ steht bereit, um Sie morgen nach Neu-Dover zu bringen«, sagte er. »Sie können diese Botschaft der Amerikaner Atlantis Lee überbringen. Zweifellos werden Sie die Zeit dazu verwenden, sich von den Strapazen ihrer Expedition zu erholen.« Die buschigen Augenbrauen hoben sich. »Danke, Admiral«, erwiderte Shane und grinste noch breiter. Wieder machte er die steifarmige Ehrenbezeigung, aber er war verwirrt und beunruhigt. Offenbar gab es etwas in den Beziehungen zwischen Clayton und Gluck, was er nicht wußte – irgendwie
hatte er einen Fehler gemacht. Er brannte darauf, Atlantis Lee kennenzulernen, obgleich dieses Zusammentreffen die schwerste Probe für seine Maskerade werden konnte – wenn, wie er vermutete, Clayton in engen Beziehungen zu dem schönen Mädchen auf dem Bild gestanden hatte.
10 Ein plötzliches Schweigen hatte sich über Whitehalls Zimmer im alten Hauptquartier der Ring-Polizei gelegt. Selbst die Uhr an der kahlen Wand schien ihr leises Ticken unterbrochen zu haben. Dr. Della Rand versuchte wieder zu atmen. Aber sie konnte nur den alten General anstarren, der so sachlich und straff hinter seinem Schreibtisch stand. Sie hatte geglaubt, er sei gütig, aber jetzt stand sie entsetzt vor seiner ernsten Entschlossenheit. Das unheimliche Heulen der Raketen brach das fast schmerzhafte Schweigen. Benommen schaute sie aus dem Fenster. Ein Gegenstand, der wie ein brauner Felsblock aussah, sank auf das Startfeld nieder, auf einem Polster heißer, blauflammender Bremsstrahlen. Er landete leicht und sicher, und das Heulen der Raketen verstummte. »Claytons Maschine«, erläuterte Whitehall. »Die Techniker probieren sie heute aus.« Er blickte Della Rand wieder an. »Es tut mir leid, Dr. Rand. Es ist lange her, daß die Todesstrafe im zivilisierten Amerika angewandt werden mußte, aber wir haben es beschlossen. In einem solchen Fall, wo es um die Sicherheit des Ringes geht, ist keine Berufung mehr möglich.«
Della holte tief Atem. »Vielleicht muß er getötet werden.« Ihre Stimme klang halb erstickt. »Aber warum muß ich es sein, der es tut?« Sie spürte, wie unwohl sich der alte Haudegen hinter seiner starren Maske fühlen mußte. »Geheimhaltung ist notwendig«, erklärte er. »Es ist zumindest möglich, daß der Gegner einen weiteren Spion durch den Ring geschickt hat, um zu erfahren, was aus Clayton geworden ist. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Wenn man draußen erfährt, daß Clayton tot ist, würde es das Ende von Leutnant Shanes Maskerade bedeuten.« Della nickte. »Sie sind der einzige Arzt, der bis jetzt über die ganze Sache unterrichtet ist«, fuhr Whitehall fort. »Ich möchte nicht noch einen anderen hinzuziehen. Ich bitte Sie, die Euthanasie durchzuführen. Natürlich haben Sie ein Recht, die Aufgabe abzulehnen. In diesem Fall muß ich ein Exekutionskommando für Clayton bestellen.« Dellas Hände verkrampften sich. »Können Sie mir Zeit geben – es mir noch einmal zu überlegen?« Er schüttelte den Kopf. »Das Urteil muß sofort vollstreckt werden. Ich habe bereits einen Krankenwagen
angefordert, der Claytons Leiche zum Krematorium bringen soll. Wenn Sie ablehnen wollen – Sie brauchen es nur zu sagen.« Della suchte den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuwürgen. Mit Mühe schob sie das Bild der lachenden grünen Augen beiseite. Ihre Pflicht schien ihr klar. Sie flüsterte rauh und fast unhörbar: »Ich werde es tun!« Whitehall lächelte ernst und zustimmend. »Wenn Sie im Krematorium ankommen«, fügte er hinzu, »schreiben Sie nicht Claytons Namen auf den Totenschein. Bezeichnen Sie ihn einfach als einen – Feind es Rings. Ich werde die Behörden verständigen.« Auf dem Weg zu dem weißen Bau des Lazaretts hielt Della inne, um die »Freundschaft« zu betrachten. Die Versuchsmannschaft kam gerade aus der Luftschleuse, stieg in ein wartendes Auto und fuhr davon. Drei oder vier Wachen blieben bei dem getarnten Raketenbomber zurück. Della spürte einen schmerzenden Knoten im Hals. Obwohl sie wußte, wie vernichtend diese Rakete wirken konnte – sie war das Symbol ungebrochener Kraft, ein Symbol für Claytons ganzes Wesen. Und sie war im Begriff, Clayton zu töten – als einen erbitterten Feind des Rings. Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Der Krankenwagen, mit elektrischer Kraft getrieben, war laut-
los herangekommen, aber jetzt kreischten die Reifen auf dem Pflaster, als er am Seiteneingang des Lazaretts anhielt. Zwei Männer trugen eine Bahre in das Gebäude und warteten dort auf Claytons Leiche. Sie eilte weiter. Die Morgensonne schien plötzlich all ihre Wärme verloren zu haben. Ihr Körper fühlte sich taub an, und ein Schauder schüttelte sie. Die Welt schien nicht mehr wirklich – ihre Bewegungen waren steif und mechanisch. Sie holte ihre Tasche und ging in das Lazarett, um die Tropfen des Todes zu mischen. Sie füllte die Spritze mit Händen, die wie Maschinen arbeiteten, als wären sie nicht Teil ihres Körpers. Die Wachen ließen sie in Claytons Raum. Durch die dicken Vitroid-Fenster schien das Startfeld mit der braunen, plumpen »Freundschaft« quälend nahe. Aber die Scheiben waren stärker als Panzerplatten – sie bedurften keines Gitters. Clayton lag auf einer Matratze am Boden. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, und von den Knöcheln führte eine Kette zu einem in der Wand verankerten Ring. Sechs Wachen standen in einer Reihe an der gegenüberliegenden Wand – waffenlos, damit der Gefangene sich nicht einer Waffe bemächtigen konnte. Aber draußen auf dem Flur standen sechs weitere Männer mit Pistolen. Die RingPolizei ließ es nun nicht mehr auf Zufälle ankommen.
»Hallo, schöne Frau!« Die Ketten klirrten leise, als sich Clayton auf der Matratze aufsetzte. Er lachte sie mit seinen harten grünen Augen an. Seine Stimme war so leicht und ruhig wie immer. Della stand regungslos. Sie sah nichts – nur Claytons lachendes Gesicht. »Leben Sie wohl«, sagte Clayton. »Es war nett von Ihnen, noch einmal zu kommen.« Sie klammerte sich an seine Worte, richtete sich an ihnen auf. Clayton wußte, daß er getötet werden würde, er hatte keine Angst davor. »Was ist mit Ihnen, schöne Frau?« fragte er. »Wollen Sie nicht mit mir sprechen?« Sie konnte nicht sprechen. Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht zu der schwarzen Tasche in ihren Händen. »Oh«, sagte er leise, »Sie sind das Exekutionskommando?« Sie nickte lautlos. Erstaunt sah sie, daß er wieder lachte. Die Ketten klirrten, als er heiter die Achseln zuckte. Seine Stimme war weicher, als sie es je gehört hatte. »Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen«, beruhigte er sie. »Ich nehme das Gift lieber von Ihnen, schöne Frau, als von irgendeinem anderen unbekannten Mädchen.«
In diesem Augenblick wurde der tödliche Schmerz des Kampfes in ihrer Seele fürchterlicher, als sie es ertragen konnte. Claytons furchtloses Lachen und die Milde seiner Stimme ließen etwas in ihr umschlagen. Der Kampf war entschieden. Es war kein Werk nüchterner Überlegungen. Klar denken konnte ihr gequältes Hirn nicht mehr. Es war ein Widerstreit der Gefühle gewesen – und jetzt, bei Claytons Lachen, gewann eines der Gefühle die Oberhand. Das andere war, für den Augenblick zumindest, völlig ausgeschaltet. Plötzlich wußte sie, was sie zu tun hatte. Das taube Gefühl verließ sie; ihre Sinne und ihr Geist waren schärfer als je zuvor. Blitzschnell war der Plan geboren. Ihre Hände waren schnell und sicher. Sie öffnete die schwarze Tasche. Die Spritze beiseite schiebend, die sie bereits mit schnellem und schmerzlosem Tod gefüllt hatte, füllte sie eine neue Nadel. Clayton beobachtete sie von seiner Matratze am Boden aus. »Auch ein Genuß«, spottete seine harte Stimme, »Ihre eigenen schönen Hände den Todesbecher mischen zu sehen.« Aber sie glaubte, daß ein anderer Ton seine Stimme beherrschte, den nur sie verstand – der ihr sagte, daß auch er verstanden hatte, daß er ihr für das dankte,
was sie tat; der sagte, daß sie nun Kameraden waren – Gefährten in einem verzweifelten Spiel. »Sie sind kaltblütig, schöne Frau!« Bewunderung klang in seiner Stimme mit. »So gefallen Sie mir.« Stahl klirrte, als er ihr eine Kußhand zuwarf. »Leben Sie wohl. Ich bin bereit, wenn Sie es sind.« General Whitehall stand in der Tür und sah schweigend zu. Clayton schob grinsend trotz seiner Fesseln den Ärmel hoch und streckte den Arm aus, um die Spritze zu erwarten. Ihre Hände waren ruhig und sicher. Sie schob die Nadel in die Vene und drückte den Kolben nieder. »Auf Wiedersehen, schöne Frau«, murmelte Clayton. Das harte Grinsen verging. Eine Welle von Zärtlichkeit überschwemmte Dellas Herz, als sich Claytons spöttische Miene in die eines müden, erstaunten Kindes verwandelte. Er sank zurück. Die Fesseln klirrten, als der Körper auf die Matratze niederfiel. Della legte die Spritze beiseite und ergriff das Stethoskop. Claytons Herz machte zwei schwache Schläge und verstummte. Sie gab General Whitehall das Instrument. Er horchte und nickte dann den Wachen zu. Sie lösten die Fesseln. Die Männer aus dem Krematorium traten ein und stellten die Bahre ab. Die Wachen hoben Claytons schlaffen Körper auf die Tragbahre.
Della folgte ihnen die Treppe hinab zum wartenden Auto. Der Weg schien ihr tausend Jahre zu dauern. Sie verging fast vor Angst, daß sich Clayton zu früh wieder rühren könnte. Die Einspritzung, die sie gewählt hatte, sollte seinen Herzschlag und Atem für einige Minuten verlangsamen, so daß sie nicht mehr zu spüren waren, aber danach ... Sie fuhr auf, als Whitehall mit ruhiger Stimme sagte: »Ich danke Ihnen, Dr. Rand. Denken Sie an den Totenschein.« »Sicher, General.« Sie fragte den Fahrer des Krankenwagens, der an der offenen Hecktür des Wagens wartete: »Kann ich mit Ihnen zum Krematorium fahren?« »Klar, Frau Doktor«, nickte er. »Steigen Sie nur ein.« Sie beobachtete, wie man die Bahre hinter ihr in den Wagen schob. Unhörbar glitt sie hinter das Steuerrad und drehte den Zündschlüssel. Ihr Fuß tastete nach dem Anlasser. Dann wartete sie. Sie konnte kaum atmen. Endlich schlossen sich die Türen. Der Fahrer und die beiden anderen kamen um den Wagen herum. »Bleiben Sie dabei«, hörte sie Whitehall halblaut zu den Wachen sagen, »bis er im Ofen verschwunden ist. Wir dürfen keine –«
Sie trat hart auf den Anlasser. Die Reifen kreischten unter dem plötzlichen Schwung elektrischer Kraft auf. Der Krankenwagen schoß aus der verblüfften Gruppe heraus. Ein erschreckter Ruf verwehte hinter ihr. Der Wagen wendete auf zwei Rädern, holperte über den Rasen vor dem Lazarett und durchbrach einen weißen Holzzaun. Schlingernd und schwankend jagte er über den Flugplatz – auf den braunen Rumpf der »Freundschaft« zu. Della schaltete die Sirene ein. Ein Krankenwagen, der über die Startbahnen jagte, war kein ungewohnter Anblick. Die Wachen, die neben dem Raketenbomber standen, sahen sich nach einem abstürzenden Flugzeug um. »Danke, schöne Frau.« Claytons Stimme war immer noch atemlos von der Wirkung des Medikaments. Ein wenig blaß stieg er auf den Sitz neben ihr, doch das alte Grinsen lag schon wieder um seinen Mund, als er die verwirrten und erstaunten Wachen neben der »Freundschaft« sah. »Saubere Arbeit.« Im Handschuhfach fand er einen Revolver. Aber sie brauchten ihn nicht und hatten auch keine Zeit, ihn zu benutzen. Eine der Wachen machte eine Geste und wies zur Seite. Eine Kugel schlug durch die
Windschutzscheibe. Dann mußten sich die Wächter vor dem heranrasenden Wagen in Sicherheit bringen. Della trat erst auf die Bremsen, als sie bis auf wenige Meter an die »Freundschaft« heran waren. Clayton hatte die Wagentür aufgerissen. Sie rannten auf die Luftschleuse zu. Wachen kamen über den Platz. Kugeln schlugen klirrend gegen den Stahl des Rumpfes – aber eine Sekunde später waren sie an Bord. Clayton schloß die Schleusentür zu und eilte zum Steuerraum. »Sie haben Panzerwagen«, stieß Della hervor. »Drei Stück – unten den Planen in den Hallen – mit Kanonen.« »Keine Sorge, schöne Frau!« Claytons Stimme übertönte noch das Aufheulen der Raketen. »Wir werden hundert Meilen in der Luft sein, bevor sie die Dinger abdecken können. Und wir werden den Ringturm bombardieren, bevor sie wissen, was ihnen geschieht!«
11 Es schien Barry Shane, als habe er tausend Stunden an der langen metallenen Tafel in der Offiziersmesse der »Nemesis« verbracht, umgeben von den Stabsoffizieren Admiral Glucks. Nach der langen Wanderung über den ausgetrockneten Meeresboden und der letzten Belastung bei der Unterhaltung mit dem Admiral war Shane am Ende seiner Kräfte – und er versuchte auch nicht, das zu verbergen. Es gab ihm eine gewisse Entschuldigung dafür, daß er keine Namen nannte und viele Gesichter nicht »wiedererkannte«. Aber diese Erschöpfung war echt. Sie legte sich lähmend und abstumpfend auf alle seine Fähigkeiten. Es widerfuhr ihm nochmals, daß er die Barriere als den Ring bezeichnete, und der vierschrötige Kapitän Barlow stellte ihn scharf zur Rede. »Vergeben Sie es mir, Barlow«, erwiderte Barry ein wenig lahm. »Ich habe mich seit Jahren darin geübt, wie ein Amerikaner zu denken. Das war notwendig, um unbewußte Fehler zu vermeiden.« Die Fragen kamen wie Gewehrsalven. Es war leicht genug, über Amerika zu sprechen – die wirkliche Gefahr lag darin, daß er zuweitgehende Kenntnisse zeigen könnte. So antwortete er auf die Hälfte aller Fragen, er wisse es nicht; auf viele sagte er die Wahrheit.
Je mehr diese Leute darauf achteten, was er sagte, desto weniger würden sie sich um ihn selbst kümmern. Er versuchte nicht zu lügen, außer bei dem Versuch, sie glauben zu machen, der Ringturm sei unverwundbar. Schließlich war es überstanden. »Ausgezeichnete Arbeit!« applaudierte Kapitän Barlow. »Der Schwarze Stern wird Ihnen dafür zukommen lassen, was Sie verdienen.« Shane spürte einen winzigen Schauer im Rücken. Barlows kleine Schweinsaugen gefielen ihm nicht. Meinte Barlow, daß Shane sich schon irgendwie verraten hatte? Aber der vierschrötige Offizier schien plötzlich freundlich. »Sollen wir zum ›Rächer‹ zurückkehren, Clayton? Ich sehe, daß Sie ziemlich fertig sind – und ich denke, Sie werden wieder richtig lebendig werden wollen, bis wir morgen in Neu-Dover ankommen – bei ihr, was?« Er stieß Shane den Ellbogen in die Rippen. »Da haben Sie recht, Barlow.« Shane folgte ihm zum Aufzug. Sein Leben und das Schicksal Amerikas konnten davon abhängen, was geschah, wenn er Atlantis Lee gegenüberstand. Nach seinen Begriffen, dachte er, konnte der wirkliche Clayton auch nicht gespannter auf dieses Zusammentreffen sein. Als er wieder an Bord des »Rächers« war, nahm er
in seiner Kabine das Platinkästchen hervor und betrachtete, bevor er einschlief, noch einmal ihr Bild. Ihre violetten Augen lächelten ihn an – nur, ermahnte er sich selbst, sie lächelte für den wirklichen Clayton; und je mehr sie Clayton liebte, desto eher würde sie die Maskerade durchschauen – und desto mehr würde sie ihn hassen, wenn sie ihn entlarvt hatte! Er schloß das Kästchen und legte sich schlafen. Der Ruck der Beschleunigung weckte ihn, und er wußte, daß der »Rächer« Kurs auf Neu-Dover genommen hatte. Er stand auf und legte die braune Uniform an. Eine Ordonnanz brachte ihm das Frühstück – eine große Schüssel süßlichen gelben Schleimes. Die Neu-Britannier mußten wenig Haustiere haben und wahrscheinlich auch nur eine begrenzte Zahl eßbarer Pflanzen. Sicherlich war dieses Zeug synthetisch hergestellt – es hatte einen schwachen Beigeschmack von Chemikalien. Solche Nahrung war sicher auch ein Grund für den Neid auf das Paradies jenseits der Barriere. Der Aufzug brachte ihn zum Steuermann im Bug der Rakete. Kapitän Barlow war nicht zu sehen. Der braungekleidete Steuermann nickte ihm zu und wies auf das komplizierte Instrumentenbrett. »Hallo, Clay«, rief er kameradschaftlich. »Willst du mich ablösen?«
Shane wußte, daß er jetzt mit dem Namen des Piloten hätte antworten müssen. »Danke«, sagte er, »ich bin heute nicht richtig in Form.« Der Pilot sah ihn an. »Dich muß es ziemlich mitgenommen haben, Clay«, sagte er. »Du benimmst dich gar nicht wie der eiserne Clayton. Es ist das erste Mal, daß du eine Gelegenheit ausläßt, eine Rakete unter die Finger zu bekommen!« Shane ahmte Claytons Achselzucken nach. »Es war schon ganz hübsch was los!« Er versuchte das Thema zu wechseln. »Wann kommen wir in NeuDover an?« »Fünf Minuten Verspätung.« Offenbar nahm der Pilot an, daß er die Route kenne, denn er lächelte ihn herausfordernd an. »Das heißt – wenn du nicht doch noch versuchen willst, die Verspätung wieder herauszuschinden. Ich schätze, du bist ganz scharf darauf, Atlantis zu sehen?« Shane nickte und grinste dazu, wie er es oft bei Clayton gesehen hatte. »Glückspilz«, sagte der Pilot und fügte dann ernst und mit gedämpfter Stimme hinzu: »Wenn der Schwarze Stern dich läßt ...« Shane wagte nicht zu fragen, was der andere damit meinte. Es tat ihm ohnehin schon leid, daß er hier he-
raufgekommen war. Schließlich hätte er all das kennen müssen – und jedes Zeichen von Neugierde konnte ihn verraten. Er war froh, als der Pilot sich wieder seinen Instrumenten zuwenden mußte. Shane sah aus der Beobachtungsluke. Der Ausblick war überwältigend und schrecklich zugleich. Die Gefahr vergessend, holte Shane mit hörbarem Erstaunen tief Atem. »Du hast dich wirklich schön verändert, Clay«, ließ ihn die Stimme des Piloten auffahren. »Starrst die Landschaft an wie ein grüner Junge! Atlantis scheint dir ganz schön in den Knochen zu stecken!« Shane zuckte die Achseln und versuchte zu grinsen. Er bekam immer mehr das Gefühl, daß er sich früher oder später verraten würde. »Da sind wir!« Durchs Fernrohr sah Shane zum erstenmal NeuDover. Die Stadt lag am Ende eines hohen, zackigen, dunklen Plateaus. Das grauweiße Metall, das sie gegen die Außenwelt abschirmte, war wahrscheinlich eine Aluminiumlegierung. Genaugenommen war Neu-Dover mehr eine flache Scheibe als eine Kuppel – umgeben von einer Reihe kleiner Kuppelbauten. Jenseits der Stadt lagen gelbe Felder; das ganze Plateau war Meile um Meile mit dichtgedrängten Rechtecken übersät. Einen Augenblick lang war Shane völlig verblüfft – dann fielen ihm die Goldfilmzellen der
»Freundschaft« ein. Das waren SonnenenergieSpeicher, die die Strahlenenergie des Tagesgestirns auffingen. Die lachende Stimme des Piloten unterbrach seine Gedanken. »Man sollte meinen, du hättest Neu-Dover noch nie gesehen. Na, jedenfalls triffst du deine Atlantis in einer Stunde. Übrigens – meinst du, daß wir uns heute abend bei Dins treffen?« »Sicher.« Shane verließ widerstrebend das Fernrohr – aber er fand, daß er besser gehen sollte, ehe er sich verriet. »Wir sehen uns bei Dins. Ich muß erst meinen Bericht schreiben.« Er kehrte in seine Kabine zurück. Ein paar Minuten später erschien Kapitän Barlow, um weitere Fragen über Amerika zu stellen. Der Offizier schien eifrig und freundlich – ein wenig zu eifrig und zu freundlich. Shane hatte Mühe, seine Erleichterung zu verbergen, als der »Rächer« landete. Das Schiff ließ sich auf dem flachen Dach der Metallkuppel nieder. Es fuhr die Räder aus, nachdem die Landestreben den ersten Stoß abgefangen hatten, und wurde vom Bodenpersonal in Schutzanzügen zu einer Luftschleuse in dem Kuppeldach der Stadt gerollt. Die Bodenschleuse schloß luftdicht mit der Öff-
nung ab, so daß der Aufzug des Schiffes durch das Dach bis zum obersten Stockwerk der Stadt durchfahren konnte. An der Seite Kapitän Barlows trat Shane aus der Kabine. Er durfte nicht allzu interessiert oder erstaunt erscheinen – aber sein Leben konnte davon abhängen, was er in der kurzen Zeit sah und begriff. Draußen sah er durch einen breiten Torbogen eine der Straßen von Neu-Dover. Sie war überdacht und eng – eigentlich eine Art Korridor. Der Boden des Korridors bewegte sich vorwärts. Vielleicht, dachte Shane, bewegte sich die ein Stockwerk tiefer liegende Straße in der entgegengesetzten Richtung. Die Menschen, die er sah, machten einen harten und lebenstüchtigen Eindruck. Ihre Kleidung war aus metallisch schimmerndem Material und ziemlich spärlich. Die warme, von Klimaanlagen konditionierte Luft verlangte nicht viel Kleidung, und wahrscheinlich war Stoff sowieso rar und teuer. Shane war etwas überrascht über die Anzeichen von Leben und Industrialisierung. Neu-Dover sah aus wie eine Stadt, die bald an Wassermangel sterben würde. Vielleicht hatte Clayton gelogen. »Da ist sie, Clayton!« Das war Barlows Stimme. Wieder hatte Shane das Gefühl, daß er viel zu freundlich sei – seine kleinen Augen blitzten unter den schweren Lidern verdächtig
wachsam. Einen Augenblick darauf aber vergaß Shane all seine Besorgnisse – denn er sah Atlantis Lee. Shane hatte sich auf die Zeremonie eines offiziellen Empfangs vorbereitet, der der Bedeutung einer »Sekretärin von Neu-Britannien« entsprach. Er hatte Militärkapellen – oder das, was hier an ihre Stelle trat – erwartet. Aber das Mädchen kam ganz allein durch die Halle auf sie zu. Er hatte noch ein paar Sekunden, um sie näher anzusehen und zu versuchen, sich auszumalen, wie der wirkliche Clayton sie begrüßt haben würde. Sie war ein wenig größer, als er erwartet hatte. Ihr rötliches Haar besaß einen Schimmer, den das Bild nur hatte andeuten können. Sie trug eine Art Tunika von stumpfem und dennoch leuchtendem Grün. Ihr Gang war langsam und stolz. Sie hatte das Wesen einer Herrscherin – und sie war wirklich schön. Shane wußte, daß er ihr atemlos entgegenstarrte. Und er wußte, daß der echte Clayton das nicht tun würde. Clayton würde vor der Schönheit Atlantis' nicht die Waffen strecken. Er würde sein kühles Lächeln zeigen und ... Plötzlich war sich Shane nicht mehr sicher, was Clayton tun würde. Als das Mädchen auf ihn zutrat, erfaßte ihn Panik. Er erkannte, daß ein Unglück drohte, aber er stand wie gelähmt. Er konnte nicht denken, er konnte sich nicht bewegen.
»Hallo, Glenn!« Sie blieb vor ihm stehen. Ihre violetten Augen schienen zu lächeln. Sie war noch lieblicher, als das Bild gezeigt hatte – der Anblick ihrer Schönheit hinterließ in seinem Herzen einen seltsam angenehmen Schmerz. Dann ergriff eine bittere Eifersucht auf Clayton von ihm Besitz. Sie sprach weiter. Er konnte die Worte kaum verstehen – er wußte nur, daß ihre Stimme leise und melodisch war und daß ihr ganz die gaumige Härte fehlte, die sonst die Sprache Neu-Britanniens kennzeichnete. »Ich freue mich, daß du gut zurückgekommen bist«, sagte sie. »Hast du eine Antwort von den Amerikanern, Glenn?« Die Spannung war ihrer Stimme anzumerken – und ein kleiner Unterton von Verachtung. »Oder hat der Schwarze Stern sich geweigert, dich unsere Friedensbotschaft nach Amerika bringen zu lassen?« Shane sah den Schmerz in ihren violetten Augen. Verzweifelt mühte sie sich, die lähmende Panik zu überwinden. Er holte Atem und suchte sich wieder vorzustellen, er sei der echte Clayton. Er bemühte sich, Claytons verwegenes Lächeln nachzuahmen. »Du bist so schön, daß ich für einen Augenblick nicht denken konnte.« Kapitän Barlow stand nahe dabei. Seine kleinen
Knopfaugen waren wachsam. Shane glaubte, daß der Mann unmerklich aufgefahren war, als das Mädchen den Schwarzen Stern erwähnte. Er war fast sicher, daß Barlow Verdacht geschöpft hatte, aber er suchte den Schwarzen Stern jetzt zu vergessen. Er tat das, wovon er sicher war, daß es auch der echte Glenn Clayton getan hätte. Er zog das Mädchen in seine kräftigen Arme. Ihr duftendes Haar streifte sein Gesicht, und er küßte durstig ihre weichen, erstaunten Lippen. Im nächsten Augenblick wußte Shane, daß er einen Fehler gemacht hatte.
12 Die Flugabwehrbatterien um den Ringturm und das Hauptquartier übersäten den Himmel mit weißen Explosionswölkchen – aber die fliehende »Freundschaft« war viel zu schnell für ihre Zielgeräte. Das Heulen der Raketen verklang, als sie durch die Stratosphäre immer weiter nach oben stiegen. Della Rands dunkle Augen sahen den verwegen grinsenden Clayton an. »Sie werden den Ringturm nicht bombardieren können!« Ihre Stimme war leise und unsicher. »Daran habe ich gedacht, bevor ich Ihnen half, zu entkommen. Ich wußte, daß alle Bomben aus der ›Freundschaft‹ entfernt worden sind – als Sicherheitsmaßnahme, bevor die Probeflüge begannen.« »Trotzdem – besten Dank, schöne Frau.« Glenn Clayton schaltete die automatische Steuerung ein und wandte sich Della Rand zu. Seine grünen Augen leuchteten. Er nahm sie in seine starken Arme und küßte sie. Trotz der ungeheuren Erregung, die seine Worte in ihr ausgelöst hatten, gab sie sich dem verwegenen Kuß hin. »Es macht nichts«, sagte er. »In drei Stunden werden wir in Punkt Vierzehn sein. Dort werden sie unsere Bombenschächte neu laden – und wir können
den Patrouillenraketen Bescheid geben, sich um Leutnant Shane zu kümmern.« Della Rand löste sich schroff aus seinen Armen. »Glauben Sie, ich werde das zulassen?« Ihr Gesicht war blaß geworden, aber ihre Augen blitzten. »Glauben Sie, ich würde Sie Amerika vernichten lassen?« Clayton grinste. »Was haben Sie sich denn dabei gedacht, als Sie mich befreiten?« »Ich – ich hatte keine Zeit, nachzudenken. Ich wußte nur, daß ich Sie nicht töten konnte.« Sie starrte in sein braunes Gesicht und biß sich auf die zitternde Unterlippe. »Vielleicht könnten wir das Schiff irgendwo verstecken? Sie dürfen diesen wahnwitzigen Angriff auf den Ring nicht fortsetzen!« Sein Gesicht wurde hart. »Der Schwarze Stern schuldet Amerika nichts. Die Zerstörung der Barriere wird uns das Wasser bringen, das wir brauchen – das ist beschlossen; beschlossen schon seit der Zeit, da Amerika nur eine Sage war. All unsere Städte wurden an Stellen gebaut, wo sie nicht überflutet werden – wenn euer kostbares bißchen Ozean wegschwimmt.« Della Rand bemüht sich, einen Schauder zu unterdrücken. »Sie schulden zumindest einem Menschen etwas«, erinnert sie ihn mit leiser Stimme. »Sie schulden mir Ihr Leben.«
Seine grünen Augen lachten sie an. »Machen Sie sich keine Sorgen, schöne Frau«, sagte er. »Diese Schuld werde ich Ihnen selbst bezahlen.« Seine kräftigen Finger zogen sie fast grob in seine Arme. »So!« Sie überließ sich seinem Kuß, aber zugleich plante sie, was sie tun mußte. Sie hatte Clayton unmöglich töten können – aber es war ihr genauso unmöglich zuzulassen, daß Clayton ihr Land vernichtete. »Ich danke dir, Liebste«, flüsterte er. »Du wirst es nie zu bereuen brauchen.« Aber sie konnte sehen, daß seine grünen Augen scharf und wachsam blieben. Vielleicht hatte sie eine kleine Chance, aber sie wußte, daß es nicht leicht sein würde. Als das Heulen der Raketen verstummte, erkannte sie, daß sie sich im luftleeren Raum über der Atmosphäre befanden. Der Himmel über ihnen war von einem düsteren Purpur, und die graue, nebelige Wölbung des Landes drehte sich unter ihnen. Als Clayton sich wieder der Steuerung zuwandte, trat sie einen Schritt von ihm zurück. »Warten Sie«, sagte er. »Bleiben Sie lieber da, wo ich Sie im Auge behalten kann.« Die Waffe, die er im Krankenwagen gefunden hatte, steckte in seinem Gürtel. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, als sie erkannte, daß er die Waffe oh-
ne zu zögern benutzen würde – auch gegen sie. Sie beobachtete seine braunen Hände, die die Steuerung bedienten. Er unterhielt sich weiter mit ihr, als seien sie sich völlig einig. Aber sie wußte, daß es unmöglich war, jetzt irgend etwas zu unternehmen. Sie konnte nur warten und hoffen, daß die Gelegenheit kam. Die undeutliche Kontur der Atlantikküste blieb unter ihnen zurück, und Della Rand stellte fest, daß sie sich dem unsichtbaren Wall des Rings näherten. Als Clayton den Polarisator ausprobierte, beobachtete er sie mit erneuter Wachsamkeit. Ihre Chance kam nicht. Sie wußte nicht genau, wann sie den Ring durchstießen; aber sie sah, daß der Atlantik hinter ihnen zurückblieb. Unter ihnen lag jetzt die öde Bergwüste, die einst der Meeresgrund des Atlantiks gewesen war. Claytons Spannung schien nachzulassen. Er grinste zu ihr hinüber und begann ein Gerät auszuprobieren. »Wir sind durch die Barriere. In einer halben Stunde können wir Punkt Vierzehn auf dem Funkwege erreichen und sie bitten, sich um Leutnant Shane zu kümmern.« Eine halbe Stunde – noch war nicht alles verloren! »Küß mich, Liebste«, sagte Clayton. »Du wirst es nie bereuen.« Die ganze Kraft und Schnelligkeit des Chirurgen
war in ihren Fingern, als sie den Revolver aus Claytons Gürtel riß. Sie nahm sich nicht die Zeit, ihn zu bedrohen – denn Clayton hätte sich durch keine Drohung einschüchtern lassen. Er würde jede Verzögerung nur dazu ausgenutzt haben, zu versuchen, wieder in den Besitz der Waffe zu gelangen. Sie schoß ohne zu zaudern – doch mit der Überlegung des Arztes. Sie wollte ihn nicht töten. Was immer er auch war – nie würde sie das übers Herz bringen können. Der Knall des Schusses bellte auf. Der Rückstoß riß ihr fast die Waffe aus der Hand. Heißer Rauch wehte ihr ins Gesicht. Claytons Körper zuckte unter dem Einschlag der Kugel zusammen; sie fühlte den Stich des Schmerzes wie in ihrem eigenen Fleisch, aber sie hielt an ihrem Entschluß fest. Sie schnellte sich aus Claytons Reichweite, ehe er Kraft sammeln konnte, und jagte eine zweite Kugel in den Sender, damit er nie mehr die Nachricht geben konnte, die Shane verraten sollte. »Du gewinnst, schöne Frau!« Claytons Stimme schien keinen Ärger zu zeigen – nur Bewunderung. Die Kugel hatte ihn in die Seite getroffen. Sie mußte tiefer eingedrungen sein, als sie es beabsichtigt hatte. Das Blut floß in Strömen, aber Claytons bleiches, angespanntes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
»Ich muß die Rakete auf den Boden steuern«, flüsterte er. »Das schaffe ich schon noch.« Er klammerte sich einen Augenblick an das Instrumentenbrett und ließ sich dann vorsichtig in den metallenen Sitz sinken. Das Schiff drehte sich, und Della spürte den mächtigen Druck der Bremsraketen. Sie lag auf den Knien neben ihm und suchte die Blutung zu stillen. Der unbarmherzige Druck machte es schwierig, aber trotz der vielfachen Überbelastung seines Herzens hielt Clayton grimmig an seiner Aufgabe fest, die Rakete sicher zu landen. Mit betäubender Wucht stieß die Rakete gegen die Flanke eines vulkanischen Berggipfels, den einst das Meer überspült hatte. Aber der starke Rumpf hielt dem Aufprall stand – kein unheilverkündendes Pfeifen entweichender Luft war zu hören. »So, Liebste«, sagte Clayton schwer atmend, »da wären wir.« Das Bewußtsein verließ ihn, aber Della gelang es, ihn aus dem Sitz zu zerren. Mit einer Kraft, der sie sich nie fähig geglaubt hätte, trug sie ihn zur Koje, fand einen Verbandskasten und verband die Wunde. Clayton würde leben. In zwei Wochen, schätzte sie, würde er wieder gehen können. Sie war noch nicht sicher, daß sie den Sender völlig zerstört hatte. Aber kurz darauf war sie davon überzeugt – und auch die sechs Ionenstrahlenröhren der
Raketen und ihre sechs Ersatzstücke hatte sie in Trümmer verwandelt. Damit war die »Freundschaft« so gut wie hilflos. Die Raupenketten, mit denen sich die Maschine wie ein kriechender Felsblock über den Boden bewegen konnte, waren völlig zertrümmert worden, als Barry Shane mit ihr beim Hauptquartier gelandet war. Man hatte sie bei der Reparatur entfernt und noch nicht wieder angebracht. Ebensowenig konnte einer von ihnen die Maschine verlassen – denn der Schutzanzug, den Barry Shane mitgenommen hatte, war die einzige Rettungsausrüstung gewesen. Doch die Ladung der Goldfilmzellen würde, das wußte Della, beliebig lange vorhalten. Diese Zellen würden die Lufterneuerungsanlage in Betrieb halten, die ausgeatmete Feuchtigkeit kondensieren und Sauerstoff freimachen. Die Nahrungsmittelvorräte würden für etliche Monate reichen, und überdies stellte die Luftanlage auch Stärke und Traubenzucker her. Della Rand kehrte zu Clayton zurück. Die verwegene Härte war aus seinem Gesicht gewichen. Sein ungeheuerlicher Plan, den Ring zu zerstören und Amerika zu verwüsten, schien völlig unglaubhaft. Sie lächelte ein wenig und streichelte seine Stirn. Sie hatte ihre Sache nicht schlecht gemacht. Clayton in Amerika zu verbergen, wäre sehr schwer für sie gewesen; hier dagegen, fand sie, gab es wenig Gefahr.
Auf dem Kamm dieses Bergzuges würde ein Felsblock kaum auffallen. Sie vergaß, daß sie eine energische, tüchtige Chirurgin war, und erlaubte es sich, ein wenig zu träumen. Der getarnte Rumpf der abgestürzten Rakete war eine kleine Welt für sich, sicher vor jedem Eindringling. Sie und der hochgewachsene Fremde konnten hier ihr eigenes Glück finden. Selbst – so träumte sie weiter – wenn trotz Shanes Bemühungen, sie abzuwenden, eine Katastrophe über Amerika hereinbräche, würden sie und Clayton am Leben bleiben. Die Zerstörung des Ringes würde in dem Tal zu ihren Füßen einen neuen See entstehen lassen – vielleicht würde es sogar genug Luft geben, um im Freien zu atmen. Eines Tages könnten sie die »Freundschaft« verlassen. Della beugte sich über ihn, und ihre Lippen berührten die seinen. »Danke, Liebste!« Sein schwaches Flüstern ließ sie zusammenfahren. »Bist du sehr böse, Glenn?« fragte sie. »Fällt es dir sehr schwer?« »Keine Sorge, meine Schöne.« Er versuchte zu lächeln. »Ich muß nicht unbedingt zurück. Euer kühner Spion wird auch ganz ohne meine Hilfe zur Strecke gebracht werden.« »Wie meinst du das?« flüsterte sie erregt.
»Ein Mann namens Barlow möchte meinen Platz beim Schwarzen Stern einnehmen«, erklärte er. »Ich habe sein Spiel mitgemacht, bis ich seine Pläne genau kannte.« Claytons blasse Lippen lächelten, als sei die tödliche Intrige nur ein spannendes Spiel gewesen. »Barlow wird zweifellos mit Shane fertig werden. Sie werden sich gegenseitig ans Messer liefern.« Della biß sich auf die Lippen. »Oh – wenn ich die Raketen nicht zerstört hätte –« »Aber du hast es getan, meine Schöne!« Claytons grüne Augen verspotteten sie. »Jetzt sitzen wir hier zusammen fest. Shane könnte auf einem anderen Planeten sein – was die Warnung betrifft, die du ihm geben möchtest.« Er grinste. »Fällt es dir so schwer?« Della beugte sich statt einer Antwort über ihn und küßte seine Lippen. »Danke, meine Schöne«, flüsterte er. Er schloß die Augen und überlegte. Wenn die Zeit gekommen war, die »Freundschaft« zu verlassen, würde er es schaffen. Irgendeine Rakete würde einmal in Sichtweite vorbeikommen. Er brauchte keinen Sender – ein Lichtsignal würde genügen. Er lächelte wieder, als er daran dachte, was für Augen Barlow machen würde, wenn er feststellen mußte, daß er den falschen Clayton ermordet hatte.
13 In der Halle unter dem metallenen Dach Neu-Dovers spürte Barry Shane, wie der Körper Atlantis Lees sich seiner Umarmung entzog. Ihre Lippen blieben kalt, und sie sagte ruhig: »Laß mich los, Glenn!« Mehr sagte sie nicht – aber die eisige Zurückhaltung in ihrer Stimme schien mehr zu verdecken als nur Schmerz und Ärger. Der ruhige Ton war wie ein Schlag ins Gesicht. Shane ließ sie los und trat zurück. Er spürte, daß sich die harten, braunen Gesichtszüge, die ihm Della Rands Kunst verliehen hatten, mit einer ungewohnten Röte der Verwirrung überzogen hatten – aber er vergaß darüber nachzudenken, was Clayton getan haben mochte. »Ich – es tut mir leid«, stammelte er. »Bitte ...« »Das Bedauern kommt ein wenig zu spät.« Ihre Stimme klang scharf wie ein Peitschenschlag. »Ich konnte dich nie verstehen, Glenn. Und ich werde es bestimmt niemals wieder versuchen.« Auch sie trat zurück, so daß der vierschrötige Kapitän Barlow fast zwischen ihnen stand. Ihr Antlitz war kalt wie Marmor, und über ihren violetten Augen lag der dunkle Schatten eines alten Schmerzes.
Auch Shane konnte Clayton nicht verstehen. Er war erstaunt und zornig über das, was Clayton getan haben mußte, daß ihn dieses Mädchen so verachtete. Aber diese Gedanken halfen ihm nicht weiter. Er mußte an seine Maskerade denken, an sein Leben und die Sicherheit Amerikas. »Es tut mir leid.« Er versuchte Claytons hartes, verwegenes Grinsen. »Du pflegtest mir sonst zu verzeihen.« Es schmerzte ihn, die Entrüstung in ihrem Gesicht zu sehen – aber er wußte, daß es Clayton Spaß gemacht hätte, und grinste weiter. Sie schüttelte zornig den Kopf. Er sah, wie sie schluckte und offenbar versuchte, ihren Schmerz und Zorn zu überwinden. »Zorn steht dir gut, meine Schöne«, bemerkte er leichthin. »Wie deine Augen dabei funkeln!« »Bitte, Glenn!« Ihre Stimme war leise und ernst. Mit einem Neigen des Kopfes schien sie alles beiseite zu schieben, was geschehen war. Ihre violetten Augen leuchteten in stolzer Bescheidenheit. Shane spürte einen schmerzenden Knoten im Hals. Er wünschte verzweifelt, Frieden mit ihr zu schließen, ihre Vergebung zu erlangen und alles beiseite zu schaffen, was sie schmerzte – aber er mußte seiner Rolle treu bleiben. »Okay, meine Schöne.« Er warf ihr den schweren
grauen Umschlag zu, der Amerikas Friedensangebot enthielt. Er fiel zu Boden. Shane hob ihn auf und reichte ihn lässig Atlantis. »Das sollte dich glücklich machen.« Er bewunderte die unbewußte Grazie ihrer Hände, als sie den grauen Umschlag aufriß und gespannt den Bogen des Kontrollausschusses der Amerikanischen Korporationen entfaltete. Ihre violetten Augen starrten gespannt auf die Botschaft – sie machte sie glücklich! »Glenn – das ist wunderbar! Ich wußte es, die Menschen konnten nicht so schlecht sein, wie es der Schwarze Stern behauptet. Ich wußte, daß sie großmütig sein würden – wenn wir ihnen nur die Gelegenheit dazu geben.« Tränen traten in ihre Augen. »Glenn – ich möchte dich küssen!« »Hier bin ich«, sagte er. Und sie küßte ihn wirklich. Sie lachte, und ihre Lippen streiften seine Wangen. Er wagte es, sie wieder in die Arme zu nehmen. »Glenn, ich konnte dich nie verstehen«, wiederholte sie und forschte mit erstaunten Augen in seinem Gesicht. »Du wußtest – du mußt es gewußt haben –, was dieser Brief enthält; und dennoch hast du ihn mir gebracht.« Dann erschienen Zweifel auf ihrem Gesicht. »Oder ist das nur einer von deinen Späßen?« Shane vergaß zu grinsen. »Es ist kein Spaß«, beteuerte er ernst.
»Die Amerikaner sind wirklich willens, Freundschaft zu schließen?« »Freilich sind sie das«, erklärte er. »Ich glaube, sie würden uns Wasser ohne jede Bezahlung geben, um unsere jetzige Notlage zu mildern. Aber sie brauchen Erdöl, Metalle und Energie. Sie sind an Handelsbeziehungen interessiert.« Neben ihnen machte Kapitän Barlow plötzlich eine ärgerliche Geste. Er sagte nichts, aber sein grobschlächtiges, feistes Gesicht wurde finster. Shane wäre es lieber gewesen, wenn Barlow nicht zugehört hätte. Er grübelte darüber nach, was der andere wollte, worauf er wartete. Das Mädchen sah ihn überrascht an. »Ist das dein Ernst, Glenn? Du willst mich nicht nur wieder kränken?« »Freilich ist es mein Ernst, meine Schöne.« Er erinnerte sich, daß er ja Clayton war, und grinste. »Hieltest du mich für ein Ungeheuer?« »Vielleicht«, sagte sie ernst. Wieder forschten ihre Augen in seinem Gesicht. Der Brief in ihrer Hand zitterte. »Ich kann es nicht glauben. Wirst du zur Bundessitzung kommen? Wirst du es ihnen sagen?« Sie wartete gespannt auf seine Antwort. Kapitän Barlow an Shanes Seite räusperte sich – es klang wie ein warnendes Bellen. Shane zögerte. Hatte Barlow denn nichts anderes
zu tun? Ein anderer Gedanke ließ ihn erschauern. Die Art, wie Barlow sich an ihn hängte, gefiel ihm nicht. Nun glaubte er die Absicht des anderen erraten zu haben. Es schien seltsam, daß Admiral Gluck Shane so bereitwillig zwei Wochen Urlaub zugestanden hatte. Der unerwartete Bericht über den Dekohärer mußte die Pläne des Schwarzen Sterns, wie immer sie auch aussehen mochten, in eine Krise gestürzt haben. Und es war ein wenig eigenartig, daß man ausgerechnet Clayton, den Mann, der das meiste über Amerika und seine angebliche Waffe wußte, so leicht entbehren konnte. Ob Admiral Gluck nicht Verdacht geschöpft hatte? Shane bemühte sich, sein Zittern zu verbergen, als er Barlows Gesicht sah. Gab man ihm gerade soviel Leine, daß er sich daran aufhängen konnte? War Barlow dazu da, um ihn zu beschatten, all seine Fehler und Irrtümer zu Protokoll zu nehmen, bis die Indizien ausreichten? Langsam wandte sich Shane wieder Atlantis Lee zu. Sie war eine Verbündete. Und zudem – sie war schön. Sein Herz schlug schneller, wenn er sie nur ansah. Er wußte, daß er sie jetzt schon liebte. Er hätte ihr am liebsten gesagt, wer er wirklich war, aber er wagte es nicht. Vielleicht wünschte sie Frieden mit Amerika – aber sie war noch immer eine Bürgerin
Neu-Britanniens; und er zweifelte, ob sie nicht immer noch, unbewußt und gegen ihren Willen, Clayton liebte. Er konnte nicht erwarten, daß sie einem amerikanischen Spion helfen würde. Er würde ihr berichten müssen, daß er es gewesen war, der Clayton gefangengenommen hatte – und daß die Ring-Polizei beschlossen hatte, der Gefangene müsse sterben, bevor Shane Amerika verließ. Er war verantwortlich für Claytons Tod; er konnte es ihr nicht sagen. »Wirst du kommen, Glenn?« fragte sie wieder eindringlich. »Wirst du vor dem Bund sprechen?« »Sicher.« Er grinste. »Ich werde ihnen alles erzählen, was du willst.« Es war nicht das, was er gern gesagt hätte – aber er mußte seiner Rolle treu bleiben. Solange er seine Maskerade durchhalten konnte – dazu war er entschlossen –, wollte er alles tun, was er konnte, um der Sache des Friedens zu dienen. Wenn die Handelsgespräche erst einmal begonnen hatten, noch bevor man Amerikas einzige Verteidigungswaffe als Lüge durchschaute, konnte das Unheil abgewendet werden. Atlantis biß sich auf die Lippe. »Ich werde den Delegierten telegraphieren«, sagte sie schließlich. »Der Bund wird morgen um zwölf Uhr zusammentreten.« Ihre Schultern strafften sich
unter der grünen Tunika. »Vielleicht hat der Schwarze Stern wirklich die Macht ergriffen – vielleicht ist der Bund nur eine Komödie; aber noch besitzt er Autorität. Diesmal will ich es wagen, sie zu nutzen.« Ihre violetten Augen sahen ihn bittend an. »Wenn du wirklich kommen willst, Glenn?« »Ich werde kommen«, versprach Shane. Sie lächelte und reichte ihm die Hand. Ihr Druck war fest und kühl und ließ sein Herz schneller schlagen. Dann verließ sie ihn. Shane sah ihr mit dumpfem Schmerz nach. Plötzlich wurde ihm unangenehm bewußt, daß Kapitän Barlow neben ihm wartete – darauf wartete, wie Shane argwöhnte, um ihn bei einem verhängnisvollen Fehltritt zu ertappen. Shane wußte nicht, was er jetzt tun sollte. Er wußte nicht, wohin Clayton in Neu-Dover gehen würde. Er wußte nicht einmal, wo der Bund morgen zusammentreten würde. Und immer noch wartete Barlow mit wachsamen Augen. »Kommen Sie mit?« fragte Shane verzweifelt. »In Ordnung.« Das blauwangige Gesicht war eine undurchdringliche Maske, die keinen Gedanken verriet. »Wenn Sie in Ihrer Wohnung was zu trinken haben.« Zumindest wußte er jetzt, daß Clayton eine Wohnung hatte. Eine erfreuliche Neuigkeit – wenn Barlow ihn dorthin fahren würde. Dort würde er Gelegenheit
haben, sich zu entspannen, wenn nicht unerwarteterweise zu viele Freunde Claytons auftauchten. Nachdem er dann Barlow losgeworden war, würde er einiges aus Claytons Papieren entnehmen können. »Es sollte was da sein.« Er machte eine müde Geste. »Schön, daß Sie mitkommen, Barlow. Ich bin ziemlich fertig.« »Man erkennt sie kaum wieder«, stimmte der andere zu. Wieder mußte sich Shane zwingen, nicht zu erschauern. Er suchte sich an die Hoffnung zu klammem, daß seine Furcht unbegründet war – aber der Doppelsinn von Barlows Worten schien deutlich genug. Ein Aufzug brachte sie vier Stockwerke in die Tiefe. Sie traten auf den rollenden Boden einer der Korridorstraßen und stiegen an einer Ecke auf eine andere um, die im rechten Winkel zur ersten weiterführte. Schließlich trat Barlow vor einem Tor vom Rollband und wartete, daß Shane es öffnete. Shane besaß Claytons Schlüsselbund. Glücklicherweise paßte zufällig schon der zweite Schlüssel, aber er hatte das Gefühl, daß Barlows wachsamen Augen nichts entgangen war. Die Wohnung war größer und luxuriöser, als er erwartet hatte. Ein halbes Dutzend geräumiger Zimmer, in denen die ungemütliche Kühle der Metall-
wände hinter geschmackvollen Behängen verborgen war. Dicke Teppiche – wahrscheinlich aus einer Mineralfaser gewebt – bedeckten den Boden. Shane wußte nicht, wo er sich etwas zu trinken suchen sollte. »Bedienen Sie sich«, sagte er zu Barlow, »wenn Sie etwas finden. Ich möchte nichts weiter, als mich ausruhen.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und stellte fest, daß er die Erschöpfung nicht zu spielen brauchte. Barlow verschwand in einem Nebenraum und kam bald darauf mit zwei großen Gläsern zurück. Er räusperte sich und sagte: »Finden Sie nicht, daß Sie zu weit gehen?« Shane blinzelte und zwang sich, nicht zu zittern. Es gelang ihm, das Glas mit ruhiger Hand anzunehmen. »Was meinen Sie damit?« fragte er. »Sie werden es heute nacht erfahren.« Es klang wie eine Drohung. Mit düsterem Blick leerte Barlow sein Glas und wischte sich die dicken Lippen mit dem Handrücken ab. Er stapfte aus dem Zimmer. Verwirrt und beunruhigt schloß Shane die Tür hinter ihm. Dann begann er eine fieberhafte Suche nach Informationsmaterial. Im Schlafzimmer fand er Bilder von mehreren Frauen; sie trugen alle liebevolle Widmungen. Das war schwer zu verstehen, wenn er an Atlantis Lee dachte.
Er unterbrach seinen Rundgang im Ankleidezimmer, um einige Sachen Claytons anzuprobieren. Sie paßten nicht ganz – der andere war ein wenig größer und schlanker gewesen. In Ring City hatte Barry Shane kaum über die Kleidung nachgedacht; jetzt, als er grübelte, was er anziehen sollte, wenn er morgen auf der Bundessitzung sprach, begann diese Frage eine alarmiere Wichtigkeit anzunehmen. Die Briefe und andere Folien-Dokumente in dem großen Schreibtisch verrieten Shane nichts Neues. Clayton mußte alle wichtigen Schriftstücke verborgen oder vernichtet haben, ehe er sich zu seinem Abenteuer aufmachte. Schließlich fand Shane hinter einer Wandbespannung die Tür eines verborgenen Wandsafes. Er holte tief Atem. Vielleicht enthielt er die Indizien, die Claytons Beziehungen zum Schwarzen Stern – oder etwas anderes von gleicher Bedeutung – enthüllen würden. Doch er konnte das Kombinationsschloß nicht öffnen. Er ließ sich nieder, um eine der Zeitungsrollen aus Metallfolie zu studieren. Die Anzeigen verrieten ihm die Namen von Straßen und Plätzen, von Läden und Versammlungsorten – tausend Dinge, die er vielleicht verzweifelt nötig brauchen würde. Ein lautes Klopfen unterbrach ihn. Sich für eine neue Probe stählend, legte Shane die Rolle und die Lupe beiseite und öffnete die Tür.
Barlow drängte sich ins Zimmer, gefolgt von vier nervösen Männern in Braun. Sie alle trugen Lähmungspistolen. Barlows blauwangiges Gesicht war feucht vom Schweiß. »Tut mir leid, Sie zu stören.« Seine Stimme war rauh und unsicher. »Nur eine Routinesache.« Seine zitternden Hände rollten eine Metallfolie auseinander. »Wenn Sie das Siegel des Schwarzen Sterns auf diesen Haftbefehl setzen wollen ...« Shane war völlig erstaunt. »Das Siegel?« Er fing sich und bemühte sich, sein Staunen zu verbergen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die schwitzenden Männer von neuem. »Für eine Routinesache seht ihr alle ganz hübsch aufgeregt aus.« Barlow hielt ihm das Blatt entgegen. »Es ist kein Geheimnis, daß Sie der Führer des Schwarzen Sterns sind – kein Geheimnis für uns.« Seine Augen glitzerten aufgeregt. »Haben Sie das Siegel hier?« Shane schluckte wieder und bemühte sich, einen leichten Schwindel zu überwinden. Das war unfaßlich: Clayton selbst war der Führer des Schwarzen Sterns! Einen Augenblick schien es ihm unglaublich. Wenn Clayton solche Macht besaß, warum hatte er dann nicht jemand anders auf die gefährliche Mission nach
Amerika geschickt? Die Antwort lag in Claytons eigenem Charakter – überdies war es möglich, daß gerade die Anerkennung, die ihm seine früheren erfolgreichen Versuchsexpeditionen gebracht hatten, ihm den Weg zur Führerschaft geebnet hatten. Shane biß sich auf die Lippen. Es war kein Wunder, daß Clayton sich geweigert hatte, über den Schwarzen Stern zu sprechen. Wenn Shane dies gewußt hätte – er hätte Claytons Macht für sich nutzen können. Jetzt, da er den Mienen der braungekleideten Männer gegenüberstand, schien es zu spät dafür. »Wo ist das Siegel?« fragte Barlow fordernd. Das hätte Shane auch gern gewußt. Bei allen Durchsuchungen der Wohnung, der »Freundschaft« und Claytons eigener Person hatte er nichts gefunden, das wie ein Siegel aussah. Natürlich konnte es in diesem Safe liegen – aber wahrscheinlich hatte es Clayton so geschickt verborgen, daß er es nie in der Zeit finden konnte, die ihm diese Männer zu geben gewillt waren. Shane blickte Barlow herausfordernd an. »Es scheint mir, als seien Sie ein wenig zu neugierig, wo ich das Siegel aufbewahrt habe. Das Ganze sieht mehr wie eine List aus, um es in Ihre Hände zu bringen.« Er warf einen kurzen Blick auf das metallene Dokument. »Was ist das?« Barlow befeuchtete seine Lippen. Zwei der Männer
traten an seine Seite; die anderen beiden traten hinter Shane, die Hände an den Waffen. »Wir erhielten Informationen, daß Atlantis Lee eine Sondersitzung des Bundes einberufen will.« Barlows Stimme war ausdruckslos, aber unheilverkündend. »Sie plant, mit unseren Feinden in Amerika zu verhandeln – im Gegensatz zur Politik des Schwarzen Sterns.« »Im Gegenteil«, sagte Shane. »Sie berichtete mir von dieser geplanten Sitzung. Ich selbst werde teilnehmen. Was ist das für ein Dokument?« Barlow funkelte ihn an. »Dies ist ein Haftbefehl für Atlantis Lee – unter dem Verdacht des Hochverrats.« Das Metallblatt raschelte, als er hinzufügte: »Die Zeit ist gekommen, daß der Schwarze Stern auch die letzten Reste des Bundes vernichtet.« Shane trat vor. »Sie wußten genau, daß ich darauf kein Siegel setzen würde!« Er legte Schärfe in seine Stimme. »Sie wußten, daß ich auf dieser Sitzung sprechen würde. Und lassen Sie sich etwas sagen«, stieß Shane hervor. »Die Politik des Schwarzen Sterns wird eine Änderung erfahren müssen. Ich habe festgestellt, daß die Amerikaner sich freundlich verhalten wollen. Wir können weit mehr mit friedlichem Handel erreichen als mit Krieg. Ich werde niemals einen weiteren Angriff auf die Barriere befehlen oder zulassen.«
Barlow knüllte den Haftbefehl zusammen und warf ihn auf den Boden. »Das war es, was wir wissen wollten.« Seine Stimme war ein scharfes, hastiges Krächzen. »Das Ziel des Schwarzen Sterns ist es von Anfang an gewesen, die Barriere zu vernichten. Es ist ebenso wichtig für uns, Rache an denen zu nehmen, die uns verbannten, wie unsere Seen wieder mit Wasser zu füllen. Jeder, der sich diesem Ziel widersetzt, ist ein Verräter am Schwarzen Stern.« Sein schwitzendes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich habe von Anfang an geplant, Sie kaltzustellen, Clayton«, stieß er hervor. »Seit Sie mich beim Kampf um die Führung geschlagen haben. Aber ich habe nie gehofft, daß Sie sich so leicht in meine Hände begeben würden! Ich habe Sie für klüger gehalten – aber jetzt ist Ihre Zeit um, Verräter!«
14 Die Wunde heilte rasch. Früher als sie erwartet hatte, konnte Clayton seine Koje verlassen und kleine Rundgänge durch die Rakete unternehmen. Er zeigte keine große Erregung über die zerstörten Raketendüsen. »Nun, du bist gründlich«, lobte er sie. Sein Gesicht, noch immer ein wenig bleich und hohlwangig, zeigte wieder das alte Grinsen. »Du mußt meine Gesellschaft sehr schätzen, wenn du solche Vorsichtsmaßregeln triffst.« Er legte seine Arme um sie, und sie bemühte sich, seine heilende Wunde nicht zu berühren. Sie spürte die harten Stoppeln seines Kinnes, als er sie küßte. Sie schloß die Augen und träumte von dem neuen Adam und seiner Eva. Glenn Clayton ließ sie träumen. Er hatte seine Rolle zu spielen und sein Geheimnis zu wahren – und er war entschlossen, keinen Fehler zu begehen. Er küßte sie, und sie fuhren fort, ein Inventar der Vorräte aufzunehmen, die sie an Bord der Rakete hatten. »Die Luftanlage stellt Kohlehydrate her«, sagte er. »Allein davon können wir zwei Jahre leben. Wie gefallen dir diese Aussichten?« Sie gefielen ihr – und sie zeigte es ihm. Zwei Jahre
mit ihm schienen ihr eine paradiesische Ewigkeit. Sie brauchte eigentlich gar nicht über diese Zeit hinaus zu denken – aber sie träumte gern von dem Tag, da sie beide die Rakete verlassen würden, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen. Clayton störte sie nicht in diesem Traum. Della machte keine Einwände, als er das Teleskop aufstellte. Es war ein kleines Instrument, denn die Sicht war durch keine Luft behindert, und ein elektronisches Verstärkersystem machte große Linsen und Reflektoren überflüssig. Das Bild wurde auf einem Schirm wiedergegeben. »Die Zeit wird uns lang werden«, sagte er, »selbst für dich und mich. Wir müssen unser Leben in dieser kleinen Welt planen, müssen etwas zu tun haben. Also – schauen wir uns die Sterne an!« Della erriet seine Absicht nicht. Sie gab gern jedem seiner Wünsche nach und war glücklich, daß er die Situation mit solch offenbarer Freude trug. So wurde der Steuerraum der havarierten Rakete zum Observatorium. Glenn Clayton erwies sich als ausgezeichneter Astronom. Die Neu-Britannier hatten zweihundert Jahre lang unter idealen astronomischen Bedingungen gelebt, und die Katastrophe, die der vorbeiziehende Zwergstern ausgelöst hatte, war wohl Grund genug dafür gewesen, daß sie den Geheimnissen des
grenzenlosen Weltraums ein großes, wenn auch nicht ganz uneigennütziges Interesse entgegenbrachten. Der kleine Bildschirm war schwarz, zuweilen grau von kosmischen Nebelwolken, je nachdem wie Clayton die Bedienungsknöpfe drehte. Er plauderte dabei mit Della, die neben ihm auf der Lehne des Pilotensessels saß, über die Wunder der südlichen Konstellationen, die sie gerade betrachteten. Er fuhr auf, als er das Objekt sah. »Da!« flüsterte er. Dann, als er die Erregung spürte, die er in Della ausgelöst hatte, fügte er abschwächend hinzu: »Ein Komet.« Er wies auf einen winzigen weißen Punkt, den Della bald wieder unter den funkelnden Sternen verlor. »Es muß ein Komet sein, denn vorige Nacht war er noch nicht da. Wir sind Entdecker.« Einen Augenblick lang spürte sie nur Bewunderung für sein fotografisches Gedächtnis für die Konstellationen. Dann berührte sie zärtlich seine Schulter und wurde von einem plötzlichen Zweifel erfaßt: Seine Schulter war angespannt, sie fühlte seine verborgene Erregung. »Was ist so wichtig an einem Kometen?« fragte sie. »Nichts, meine Schöne!« Er grinste. »Aber es ist die erste Neuigkeit, die wir heute erfahren.« »Ist es ein Schiff?« flüsterte sie plötzlich. Clayton hatte geglaubt, es sei der leuchtende
Schweif eines Patrouillenschiffes. Das war es, was ihn erregt hatte. Aber einen Moment später wußte er, daß es eine falsche Hoffnung gewesen war. »Kein solches Glück! Ein Schiff wäre viel schneller.« Ihre Stimme wurde kalt vor Erregung. »Ein Schiff würde die ›Freundschaft‹ nicht sehen«, erklärte sie ihm. »Wir sehen aus wie ein Felsblock. Und du wirst ihnen keine Zeichen geben, Glenn. Ich bin stärker als du, bis deine Wunde verheilt ist.« Sein Grinsen schien sie zu verspotten. »Aber auch nur so lange!« Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Jedenfalls haben wir einen ganz neuen Kometen zu unserer Unterhaltung.« Sie suchte seiner Arbeit zu folgen. Er verstärkte die Vergrößerung immer mehr, bis der winzige Fleck des Kometen deutlich sichtbar über den Schirm kroch. Mit Instrumenten hielt er seine Geschwindigkeit fest. Er las die Instrumente ab und übertrug die Zahlen auf eine kleine Rechenmaschine. Das erste Ergebnis ließ sein Grinsen verschwinden. Er wandte sich rasch dem Schirm zu und wiederholte seine Beobachtungen. »Was hast du entdeckt?« wollte Della wissen. »Nichts«, sagte er, »nichts, was wahr sein könnte.« Das war alles, was er ihr sagen wollte. Aber er arbeitete die ganze Nacht hindurch, bis die Erdrotation den seltsamen Körper unter dem Horizont ver-
schwinden ließ. Selbst dann wartete er noch, um die Positionen von Venus und Mars festzuhalten, bevor er schlafen ging. Die ganze nächste Nacht hindurch arbeitete er wieder schweigsam und geistesabwesend. Schließlich sagte er es ihr. »Du hättest dir deine Kugel sparen können, meine Schöne.« Sein Gesicht schien von der langen Anstrengung wie abgemagert. »Dieser Komet wird die Barriere und dein kostbares Land weit gründlicher zerstören, als all unsere Raketenbomber es hätten tun können.« Sie mußte sich auf die Lehne stützen. »Aber«, protestierte sie, »der Ring ist stark! Er ist stark genug, um die schwersten Meteore aufzuhalten!« Atemlos gespannt wartete sie darauf, daß er fortfuhr. Selbst jetzt klang seine Stimme leicht. Es schien ihr, als liebe Clayton jede Gefahr. Sie hatte ihn nie ängstlich gesehen. »Dies ist auch mehr als ein Komet. Er ist rund und fest und hat keinen Schweif. Er ist immer noch so weit entfernt, daß ich ihn nicht sehr genau messen kann. Ich habe auch seine Masse noch nicht aus der Ablenkung der anderen Planeten schätzen können.« Seine grünen Augen schienen boshaft aufzuleuchten. »Aber ich kann raten, Liebste!« Sie mußte zweimal ansetzen, bevor sie flüsternd herausbrachte:
»Was kannst du – raten?« »Er kommt aus der gleichen Gegend des Himmels, in der vor mehr als zweihundert Jahren der Zwerg verschwand, nachdem er der Erde die Luft und die Meere fortgerissen hatte – außer unter eurem kostbaren Ring.« »Du glaubst – du meinst, dies ist der Zwerg?« »Warum nicht?« fragte er. »Er hat dieselbe Größe. Er kommt aus der gleichen Richtung. Freilich haben die Astronomen vor zweihundert Jahren ausgerechnet, daß der Zwerg im Weltraum verschwinden und nie wieder zurückkehren wird. Aber schließlich war die Astronomie ziemlich desorganisiert, als der Zwerg vorübergezogen war. Nehmen wir an, man hat sich damals geirrt. Seine Masse betrug nur einen Bruchteil der Sonnenmasse. Nehmen wir an, daß er auf eine lange Kometenbahn gezwungen wurde, nehmen wir an, daß er jetzt zurückkommt, um uns einen zweiten Besuch abzustatten. Jedenfalls, Liebling, ist das meine Vermutung.« Sie starrte in sein braunes, lächelndes Gesicht. Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Vielleicht war das alles nur ein Scherz – oder eine List, damit sie ihm erlaubte, einem Schiff zu signalisieren. »Wie nahe wird er uns diesmal kommen?« fragte sie leise. »Diesmal scheint er besser zu zielen.« Ein Schatten
schien über das verwegene Leuchten seiner Augen zu fallen. »Daran habe ich die vergangenen zwei Nächte gearbeitet.« Sein bronzefarbenes Gesicht neigte sich ein wenig. »Diesmal, Liebste, wird der Zwerg nicht an uns vorüberziehen.« Sie trat ein wenig zurück, und ihre Stimme wurde scharf: »Glenn, ist das ein Scherz?« Er schüttelte den Kopf. »Jedenfalls keiner von mir, Liebste. Wenn die Kräfte, die den Kosmos beherrschen, einen Sinn für Humor haben, mag es ihnen als Witz erscheinen – aber dieser Körper kommt geradewegs auf die Erdbahn zu. Ein Zusammenstoß ist unvermeidbar. Und es wird nicht viel übrigbleiben.« Dellas Atem entwich mit einem kleinen Schluchzen. »Selbst eure kostbare Barriere wird nicht viel wert sein«, fuhr er fort, »nachdem der ganze Planet in weißglühenden Dampf zerstäubt ist. Wenn das ein Witz ist – dann sind die Betroffenen diesmal alle Menschen, der Schwarze Stern ebenso wie dein Land.«
15 In Claytons Wohnung griff Barry Shane nach Kapitän Barlows Drohung nach der Lähmungspistole an seiner Hüfte. Die zwei Männer hinter ihm packten seine Arme, ehe er ziehen konnte. »Haltet ihn!« Barlow trat näher, als Shane entwaffnet war; auf seinem breiten Gesicht lag ein triumphierendes Grinsen. »Nun, Clayton, wo ist es?« »Wo ist was?« wich Shane aus. Während die zwei Männer Shane hielten, bedrohte ihn Barlow mit dem Lauf seiner Lähmungspistole. »Du weißt, was ich meine!« knurrte er. »Ich will das Siegel des Schwarzen Sterns. Du weißt, daß die Regel für jeden Führer des Schwarzen Sterns gilt, das Siegel und seine Autorität einem anderen zu übergeben – bevor er stirbt.« Seine Stimme wurde drohend hart. »Wo ist das Siegel?« »Ich habe keine Ahnung!« Das war die Wahrheit, aber Shane brachte Claytons spöttisches Grinsen zuwege. Er versuchte, die Verzweiflung nicht zu zeigen, die er fühlte. Barlow wollte ihn offenbar umbringen; selbst wenn er das Zeichen der Macht besäße, würde es ihm jetzt nichts nützen. Er fügte hinzu: »Aber schaut euch ruhig um!«
»Das werden wir tun«, sagte Barlow mit bösartigem Blick. Auf ein gebieterisches Nicken hin traten die zwei Männer hinter Shane hervor, um seine Taschen zu untersuchen. Sie fanden nur das kleine Platinkästchen. »Das Siegel könnte zu groß sein, um es bei sich zu tragen«, sagte Barlow. »Oder er könnte Angst haben, es mit sich zu führen. Durchsucht die Räume!« Er schnaufte hörbar. »Und beeilt euch! Steht nicht herum wie die Idioten!« Bleich und unruhig machten sich die beiden auf und begannen hastig, die Räume zu durchwühlen. Shane beobachtete sie, während er versuchte, Claytons verwegenes Grinsen beizubehalten. »Offen gesagt, Barlow«, sagte er mit einer Stimme, die er dem echten Clayton zugetraut hätte, »ich glaube nicht, daß Sie Freude daran haben werden. Sie scheinen sich jetzt schon nicht recht wohl in Ihrer Haut zu fühlen, und je länger Sie das Siegel in Händen haben, desto mehr Dinge wird es geben, wovor Sie Angst haben müssen.« »Der Teufel hole dich, Clayton«, knurrte der dicke Mann. »Wo ist es?« »Hinter der Wandbespannung im zweiten Zimmer ist ein Wandsafe«, erklärte Shane. »Sie könnten es dort mal probieren.«
Die Männer fanden den Safe sofort, aber Barlow hatte Angst, sie daran hantieren zu lassen. »Laßt ihn in Ruhe«, warnte er. »Es könnte eine Bombe oder eine Alarmvorrichtung sein. Er war ein wenig zu bereitwillig, uns davon zu erzählen.« Seine wachsamen Augen wandten sich wieder Shane zu. »Clayton, ich glaube, wir werden dich besser ohne weitere Verzögerung beiseite schaffen.« »Immer zu!« Shane zuckte die Achseln und versuchte, die prickelnde, tödliche Spannung in seinem Rückgrat nicht zu beachten. Barlows offensichtliche Angst machte den dicken Mann nur noch gefährlicher – noch mehr bemüht, ihn aus dem Weg zu schaffen. Er versuchte zu grinsen. »Was haben Sie für Pläne?« Die Männer brachten ihre Waffen in Anschlag. Die Lähmungspistolen waren, wie Shane erkannte, ideal für solch eine Gelegenheit. Mit voller Energie auf die Nervenzentren abgefeuert, wirkten sie sofort tödlich – und sie verursachten kein Geräusch. Shane wartete auf den tödlichen Schlag. »Nein – noch nicht!« Barlow hielt sie zurück und wandte sich Shane zu. »Clayton – ich will dir die Wahl lassen. Gib das Siegel her, ohne Tricks und ohne Lärm, und du kannst einen schmerzlosen, leichten Tod sterben. Man sagt, daß man den Strahl im Gehirn nicht einmal fühlt.«
Shane mußte schlucken, ehe er seiner Stimme wieder trauen konnte. »Und – wenn ich mich weigere?« »Wir werden dich in die Vakuumzelle bringen. Das paßt sowieso besser in unsere Pläne. In den Annalen des Schwarzen Sterns wird stehen, daß du vom Parteigerichtshof verurteilt und in der Vakuumzelle wegen Verrats hingerichtet wurdest. In der Zelle ist es nicht angenehm für einen lebenden Mann.« Er schob sein breites Gesicht vor. »Was wählst du, Clayton?« Shane zuckte die Achseln. »Ich möchte Ihnen die Freude nicht verderben, das Siegel selbst zu finden.« Seine Stimme klang leicht und klar, doch sein Körper fühlte sich taub und kalt. Seine eigenen Worte schienen aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. »Sie werden mich in die Zelle bringen müssen.« Barlows dicke Lippen bebten vor Zorn. »Wir wollen dein Grinsen in der Vakuumzelle sehen!« Die drohende Mündung seiner Waffe wies zur Tür. »Los!« Barlows Plan schien besser durchgedacht, als Shane gehofft hatte – der Weg zur Zelle bot ihm keine Gelegenheit zur Flucht. Die schwarze Metalltür öffnete sich, und ein Stoß ließ ihn in die Zelle taumeln. »Die letzte Chance, Clayton!« krächzte Barlow. Shane wischte sich – wie es Clayton wohl getan hätte – die Nase. Die luftdichte Tür schloß sich mit einem dumpfen Dröhnen. Der Riegel fiel ins Schloß.
Shane war allein in der kahlen, fensterlosen Zelle. Durch eine kleine Glasplatte in der Decke drang trübes blaues Licht. Shane sah sich aufmerksam um. Die Metallwände und der metallene Boden waren völlig glatt. Das einzige, was seine Aufmerksamkeit erregte, war eine Metallschleuse – oben an der gegenüberliegenden Wand. Das mußte die Außenwand der Kuppelstadt sein. Und durch diese Schleuse sollte die Luft aus seiner Todeszelle entweichen. Barry Shane ging hinüber, um sie näher zu untersuchen. Sie hatte etwas mehr als einen halben Meter Durchmesser – genug, um seinen Körper hindurchzuzwängen, wenn nicht die Gitterstäbe gewesen wären. Und diese Stäbe schienen stark genug. Überdies – welchen Nutzen hätte es, hinauszugelangen? Dort draußen mußte ein Mensch genauso schnell sterben wie in dieser Todeszelle. Shane fühlte sich schwach und übel. Er setzte sich auf den Metallboden und wischte sich den kalten Schweiß aus dem Gesicht. Er hatte versagt. Diese Erkenntnis war schmerzlicher für ihn als die Gefahr für sein Leben. Clayton hatte ihn schließlich doch geschlagen – weil er über die Gefahr von Barlows Rivalität und das Siegel des Schwarzen Sterns geschwiegen hatte. Wo war nur das Siegel?
Auf dem Boden hockend, begann Shane zu grübeln, was Clayton mit dem Siegel angefangen haben mochte. Das lenkte ihn ab, darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn Barlow die Schleuse öffnete. Weil es offenbar der einzige Beweis für seine Macht und Stellung als Herr des Schwarzen Sterns war, würde Clayton das Siegel schwerlich einem anderen anvertraut haben. Ebensowenig würde er es an einem so offensichtlichen Ort wie in dem Safe in seiner Wohnung versteckt haben. Logisch wäre es gewesen, es immer bei sich zu tragen. Aber Shane hatte den Fremden durchsucht, als er ihn gefangennahm. Er hatte nur das flache Platinkästchen mit dem Bild Atlantis Lees und ein paar andere Schmuckstücke gefunden, darunter einen schweren Platinring. Nachdenklich drehte Shane den Ring an seinem Finger. Er war auch sicher, daß das Siegel nicht an Bord der »Freundschaft« versteckt gewesen sein konnte – wenn es nicht sehr geschickt getarnt war. Er holte Atem und stand plötzlich auf. Mit zitternden Fingern streifte er den schweren Ring ab. Er erinnerte sich an Claytons Weigerung, ihn herzugeben. Der Gedanke schien phantastisch. Barlow und seine Leute hatten offenbar nach etwas Größerem gesucht, denn sie hatten dem Ring keinen zweiten Blick
geschenkt. Aber schließlich hatten sie das Siegel noch nie gesehen. Mit fliegenden Fingern drehte er an der Verbreiterung. Er lachte bitter. Er hatte wirklich keinen Grund, sich aufzuregen. Selbst wenn er das Siegel fand, würde es ihm jetzt nichts mehr nützen. Unter dem Schild des Ringes fand er einen kleinen Vorsprung. Er drückte darauf. Das Schild schnappte nach oben – es war nur ein Platindeckel. Darunter kam ein sternförmiger Edelstein zum Vorschein. Es war ein schwarzer Kristall, in dem winzige Punkte wie Diamanten leuchteten. Seine zitternden Finger wühlten in seinen Taschen, bis er ein Stück grauer Metallfolie gefunden hatte. Als er es gegen das schimmernde Juwel gepreßt hatte, löste es sich wieder – gezeichnet mit jener unnachahmlichen geäderten Markierung. Es besaß das Siegel des Schwarzen Sterns! Mit einem müden Seufzer klappte Shane das Metallschild herab und steckte den Ring wieder an den Finger. Er nützte ihm jetzt nichts mehr. Er hoffte nur, daß Barlow nicht so klug war, das Siegel zu entdekken, wenn er seine Leiche durchsuchte. Shane hatte Clayton bewundert, aber an Barlow gab es wenig Erfreuliches. S-s-s-s-s! Shane fuhr auf. Ihn überlief es kalt, als er dieses
tödliche Zischen vernahm. Er sah, daß die Schleusentür geöffnet wurde. Der Raum wurde kalt, und ein Nebel kondensierter Feuchtigkeit wirbelte geisterhaft unter dem blauen Licht. Die Luft strömte aus. Barlow würde die Schleuse vielleicht langsam öffnen, um seine Qualen zu verlängern. Das bedeutete auch nicht viel – das Ende würde der Tod sein. Das Siegel des Schwarzen Sterns half ihm nichts mehr. Dann geschah etwas mit der Schleuse. Erst hörte er ein Klopfen. Dann den dumpfen Laut einer Explosion. Die Luft war bereits zu dünn, um den Schall zu leiten. Das Tor wurde weggerissen, und Shane sah Sterne am dunklen Himmel draußen stehen. Whuff! Die Luft war ausgeströmt. Shane wußte, daß Barlow und seine Leute nicht für diese Explosion verantwortlich sein konnten. Jemand anders mußte sie verursacht haben, aber er hatte keine Zeit, Rätsel zu lösen. Er öffnete den Mund, warf den Kopf zurück und atmete rasch aus, um Lunge und Trommelfell vor dem Platzen zu bewahren. Aber er sah die lange Brechstange, die man durch die Schleuse geworfen hatte. Sie fiel auf den Boden. Er spürte das Metall unter seinen Füßen zittern, aber seine rauschenden Ohren hörten im Vakuum keinen Laut. Jemand war draußen. Jemand war gekommen, um ihm zu helfen. Das schien unglaublich, aber er hatte
weder Zeit noch Kraft, um nachzudenken. Er hob die Brechstange auf. Sie schien für solche Arbeiten gemacht. Eine scharfe Schneide aus einem hellen Metall und Klauen, die als Hebel wirkten. Er setzte die Schneide gegen die Basis eines Glitterstabes und legte sein ganzes Gewicht auf die Stange. Die Schneide drang durch das Metall, aber seine Kräfte schwanden. Seine schmerzende Lunge versuchte zu atmen und bekam keine Luft. Ein Schaum von Blut und herausdrängendem Sauerstoff drohte ihn zu ersticken. Die Metallwand schien zurückzuweichen. Schwarze Flecke tanzten vor seinen Augen. Er arbeitete blindlings weiter. Er versuchte Claytons hartes Grinsen aufzusetzen – obgleich er kein Publikum dafür hatte. Er hob das Werkzeug und drückte es einmal und noch einmal nieder. Ein Stab gab nach – ein zweiter. Die Brechstange fiel ihm aus den Händen, aber vielleicht war die Lükke bereits groß genug. Er warf sich hindurch. Dunkel erkannte er, daß Hände nach ihm gegriffen hatten. Mit all der Kraft, die ihm noch geblieben war, stieß, wand und drückte er sich vorwärts. Er glitt durch die Schleuse. Mit einem Gefühl dumpfen Staunens überkam ihn die Erkenntnis, daß er draußen war – wo kein ungeschütztes menschliches Wesen leben konnte!
16 Ein scharfes Husten schnitt ihm den Atem ab. Er spürte keinen Schmerz mehr – nur ein Staunen war zurückgeblieben, und ein seltsames Gefühl der Ruhe überkam ihn. Er versuchte zu sehen, aber seine Augen versagten ihm fast den Dienst. Über den grausamen toten Bergen, die einst der Grund des Meeres gewesen waren, hing schwarz der Himmel. Neben ihm schien ein niedriges schlittenartiges Fahrzeug zu stehen. Es mußte Nacht sein, denn die Maschine war nicht viel mehr als ein dunkler Schatten; neben ihr waren zwei unförmige Gestalten in Schutzanzügen. Wer konnte das sein? Diese Frage beherrschte sein schwindendes Bewußtsein, selbst nachdem er die Atemnot vergessen hatte, aber es war zu dunkel, oder seine Augen waren zu getrübt, um noch zu sehen. Er spürte, daß sie einen Schutzhelm über seinen Kopf schoben – er fühlte, wie sie ihn in das steife Material eines Schutzanzuges hüllten. Sauerstoff strömte in seinen Mund, versengte seine Kehle und brannte wie Feuer in der Lunge, doch er konnte wieder atmen. Dann lag er in einem weißen Bett. Durch kleine, dicke Fenster konnte er eine felsige Landschaft er-
kennen, die seltsam hell unter dem dunklen Himmel schimmert. Zwei oder drei Meilen entfernt lag die flache Kuppel Neu-Dovers. Er erkannte, daß er sich in einem der kleineren Gebäude außerhalb der Kuppelstadt befand. Er bewegte sich ein wenig, und Atlantis Lee trat lautlos an sein Bett. Ein Sonnenstrahl ließ ihr Haar im Vorübergehen wie eine rote Gloriole aufleuchten. Doch ihr Gesicht war angespannt und bleich und ihr Lächeln ernst. »Geht es Ihnen besser?« fragte sie mit leiser, melodischer Stimme. Shane versuchte zu sprechen, doch seine Kehle fühlte sich an, als sei sie von eisernen Haken zerrissen. »Sprechen Sie nicht, wenn es weh tut«, beruhigte sie ihn. »Sie werden sich in wenigen Minuten besser fühlen. Dr. Wolf hat Sie gerade untersucht. Sie haben nichts davongetragen, was Ruhe nicht beheben könnte.« Er brachte ein schwaches, schmerzhaftes Flüstern zustande. »Wußte nicht – daß Mensch – leben kann – draußen.« »Der im Blut gebundene Sauerstoff reicht aus, um das Leben für einige Minuten zu erhalten; die Hauptgefahr ist eine Schädigung der Lunge oder der Blutgefäße. Dr. Wolf sagte, daß Sie keine solchen Schäden
erlitten haben.« Ihr Lächeln spiegelte Bewunderung wider. »Es muß Kraft gebraucht haben, diese Gitterstäbe zu durchbrechen – und Mut.« »Danke«, flüsterte er. »Sie haben mich herausgeholt?« »Mit Hilfe einiger Freunde.« »Woher wußten Sie –« Ein neues Husten schnitt seine Frage ab, und sein Hals brannte wieder mit stechendem Schmerz. »Dr. Wolf ließ dies für Sie hier.« Sie hielt ihm ein Glas an die Lippen; es schmeckte scharf und brennend, aber er fühlte sich sofort besser. »Einer unserer Freunde wußte von Barlows Besuch. Er erfuhr von dem Haftbefehl für mich und Ihrer Weigerung zu unterzeichnen. Den Ausbruch haben wir schon lange vorbereitet – falls einer von uns in die Vakuumzelle gebracht werden sollte.« »Uns?« fragte Shane. »Nur eine Handvoll«, sagte sie. »Alles, was von der alten demokratischen Opposition gegen den Schwarzen Stern übriggeblieben ist. Wir haben zusammen eine kleine Untergrundorganisation aufrechterhalten – in der Hoffnung, die Zerstörung der Barriere zu verhindern und Frieden zwischen Amerika und NeuBritannien zu schaffen.« »Wo befinden wir uns?« fragte Shane mit einem Blick über die meilenweite Einöde bis Neu-Dover.
»Im Lee-Observatorium«, sagte sie mit wachsamen Augen. »Danke, meine Schöne.« Shane erinnerte sich, daß er Glenn Clayton war, und versuchte zu grinsen. »Nett von Ihnen, einem alten Feind zu helfen.« »Seien Sie kein Narr!« Sie trat an sein Bett und sah ihn besorgt an. »Wenn Sie sprechen können – sagen Sie mir, wer Sie sind!« Shane versuchte sein Staunen zu verbergen. »Konntest du mich denn vergessen, meine Schöne?« »Ich habe Clayton nicht vergessen.« Ihre Stimme schien anzudeuten, daß sie wünschte, sie könnte es. »Sie sehen so aus – fast –, aber Sie haben einen Fehler nach dem anderen begangen. Der schlimmste war, sich von Barlow erwischen zu lassen. Clayton hatte Barlow zwei Jahre lang zugesehen, wie er seine Falle aufstellte – um ihn dann selbst darin zu fangen.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster. »Und Clayton würde nicht gefragt haben, wo wir sind.« »Gut.« Shane grinste. Aber Claytons Grinsen schien jetzt auch ihm natürlich. »Ich bin Barry Shane. Wir setzten Clayton gefangen, bevor er die Barriere zerstören konnte. Ich kehrte an seiner Stelle zurück.« »Das war ein Narrenstück.« Ihre ernsten Augen schienen wieder zu lächeln. »Aber – es gefällt mir an Ihnen.« Shane beobachtete sie. »Wollen Sie nicht wissen,
was mit ihm geschah?« Er mußte tief Atem holen, bevor er fortfahren konnte. »Ich war es, der ihn gefangennahm. Als ich Amerika verließ, sah er seiner Hinrichtung entgegen – wegen eines Fluchtversuchs.« Eine lange Zeit sah sie an ihm vorbei. Dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Früher einmal – würde es mir etwas bedeutet haben«, sagte sie leise. »Aber jetzt ist alles anders.« Shane fühlte die Erleichterung fast körperlich. »Ich – fürchtete, Sie würden mich für seinen Tod verantwortlich machen. Sehen Sie – er trug Ihr Bild bei sich.« »Das glaubten Sie – und sagten es mir dennoch?« Wieder lächelte sie. »Glenn wollte mich heiraten. Ich hätte es vielleicht getan – wenn er nicht darauf bestanden hätte, daß ich dem Schwarzen Stern beitreten und unsere Oppositionspartei verlassen müsse.« »Ich bin glücklich, daß Sie es nicht getan haben. Wußten Sie, daß er der Führer des Schwarzen Sterns war?« Sie nickte. »Er sagte es mir, als er mich bat, ihn zu heiraten. In der Tat wußten es noch eine ganze Menge Leute außer Barlow und seinen Kreaturen. Clayton hatte wenig vertrauenswürdige Helfer – und es ist unmöglich, so etwas wirklich geheim zu halten. Jemand muß schließlich wissen, woher die Befehle des Schwarzen Sterns kommen.« Shane richtete sich im Bett auf.
»Wie ist die Lage jetzt?« fragte er. »Barlow wird verzweifelte Maßnahmen ergreifen, wenn er erfährt, daß ich befreit wurde. Nachdem er seine Karten aufgedeckt hat, muß er jetzt siegen – oder sterben. Kann er mich hier finden?« »Wahrscheinlich. Die meisten Gegner des Schwarzen Sterns finden sich unter Wissenschaftlern und Ingenieuren, und das Observatorium ist eine Art Hauptquartier für uns gewesen. Eine Rakete – wahrscheinlich Barlows ›Rächer‹ – hat die Stadt vor Sonnenaufgang verlassen.« »Können wir uns verteidigen?« fragte Shane. Atlantis schüttelte den Kopf. »Im Observatorium sind zwei Dutzend Menschen: Astronomen, Ingenieure und Abgeordnete des Bundes. Dr. Winston hat sie zu einer geheimen Sitzung des Bundes zusammengerufen, um ihnen über eine Entdeckung zu berichten.« Ihr Gesicht war ernst, als sie das sagte. »Aber wir haben keine Waffen«, fuhr sie fort, »und könnten uns gegen den Schwarzen Stern nicht verteidigen. Hätte Clayton seine Freunde nicht wegen seiner Zuneigung zu mir zurückgehalten, wären wir alle längst beseitigt worden.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was wir tun können. Admiral Gluck kann das Observatorium und uns alle mit einer einzigen Rakete vernichten.«
»Admiral Gluck?« fragte Shane. »Gehört er auch zu den Verschwörern?« »Ich glaube nicht. Unsere Freunde beim Schwarzen Stern sind sicher, daß er nichts davon wußte. Er ist der Partei treu. Und wenn er einen Befehl erhält, der mit dem Siegel des Schwarzen Sterns gezeichnet ist, wird er ihn ohne Widerrede befolgen. Barlow wird die Vernichtung des Observatoriums befehlen – und Gluck wird gehorchen!« Shane grinste. Er ergriff den Arm des Mädchens, zog sie zu sich und küßte die Verblüffte. Sein triumphierender Ruf wurde durch den Schmerz in seiner Kehle erstickt. »Dann ist alles in Ordnung!« krächzte er. »Wir werden Admiral Gluck einen Befehl schicken – und Barlow und seine Leute als die Verräter festsetzen lassen, die sie ja auch sind!« Er zog den Ring vom Finger, drückte den kleinen Knopf und zeigte ihr den schwarzen funkelnden Kristall. »Das ist es. Ich habe das Siegel des Schwarzen Sterns – noch immer!« Doch ihre Augen zeigten keinen Widerschein seiner eigenen Begeisterung. Der Schatten der Furcht lag über ihren Augen. »Was ist?« fragte er. »Glaubst du, Barlow würde angreifen, bevor wir Admiral Gluck Nachricht geben können?«
»Das ist möglich«, gab sie zu. »Barlow und seine Leute sind verzweifelt und werden jede Minute nützen. Andere, von denen wir nichts wissen, können unsere Pläne stören. Aber da ist noch etwas – etwas viel Ernsteres.« Shane holte tief Atem. »Ich wußte, daß noch etwas sein mußte«, flüsterte er. »Du siehst so bleich und erregt aus.« Er ergriff ihre Hand – sie war eiskalt. »Sag mir, was es ist.« Sie wandte den Kopf. »Wenn du dich stark genug fühlst, eine furchtbare Nachricht zu hören«, sagte sie. »Ich erwähnte, daß Dr. Winston eine wichtige Entdeckung gemacht hat. Ich rief unsere Leute zusammen, damit sie davon erfahren. Er wird seinen Bericht in wenigen Minuten geben.« »Was wird er sagen?« fragte Shane. »Dr. Winston wird es dir selbst sagen.« Ihre Stimme war leise und hatte einen Unterton nahenden Unheils. »Wenn du ihn gehört hast, wird dir der Schwarze Stern und Kapitän Barlows Anschlag nicht mehr so sehr wichtig erscheinen.«
17 Atlantis stellte ihn den Wartenden vor, ehe sie sich setzten. »Dies ist Hauptmann Clayton, gerade zurück aus Amerika.« Feindseligkeit leuchtete auf einigen Gesichtern auf. »Wir wollen keinen Führer des Schwarzen Sterns unter uns!« sagte einer der Männer zornig. »Hauptmann Claytons Ansichten haben sich geändert – nachdem er die Welt jenseits der Barriere besuchte«, sagte das Mädchen. »Er ist jetzt ein Freund unserer Pläne.« »Das ist richtig«, fügte Shane mit seiner rauhen, schmerzenden Stimme hinzu. »Ich werde versuchen, meinen Einfluß auf den Schwarzen Stern zu nutzen, um jeden Angriff auf Amerika oder einen von dort abzuwenden. Aber ich habe Feinde innerhalb des Schwarzen Sterns. Miss Lee hat eben erst mein Leben retten müssen. Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen.« Ein bärtiger Mann schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, wie unruhig die Zeiten sein werden, Clayton, ehe Sie Dr. Winston gehört haben werden.« Ein unheilschwangeres, erwartungsvolles Schweigen legte sich über den Raum, als ein großer, bleicher
Mann durch die Tür hinter dem Rednerpult eintrat. Er sah sich mit sorgenvollem, geistesabwesendem Blick um. »Dr. Winston«, hauchte Atlantis Lee. Der große Mann räusperte sich, und seine bleichen, nervösen Hände entnahmen einer Mappe einige Metallfolien-Dokumente. Mit leiser Stimme begann er: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Einige von Ihnen haben schon Andeutungen über meine Entdeckung erfahren – aber ich habe mit der offiziellen Bekanntgabe gewartet, bis zwei meiner Mitarbeiter meine Berechnungen überprüft hatten. Diese Prüfung wurde soeben abgeschlossen. Es gibt kein Ausweichen mehr vor der Wahrheit.« Eine Welle atemloser Bewegung ging durch den Raum. Jemand gab einen unterdrückten Ausruf von sich – ein anderer erhob sich und verließ den Saal schweigend und blaß. »Fahren Sie fort!« flüsterte Shane rauh. »Vor einigen Tagen«, erklärte der Astronom, »entdeckte unser großes Teleskop ein neues Objekt am südlichen Himmel – fast an der gleichen Stelle, an der der Zwergstern vor mehr als zweihundert Jahren verschwunden war, nachdem er der Erde Luft und Meere geraubt hatte. Die Beobachtungen ergaben nicht den erwarteten Kometen; das Objekt war fest und hatte die Größe eines Planeten.
Obgleich die Astronomen seinerzeit behauptet hatten, eine Rückkehr des Zwergsterns sei unmöglich, nahmen wir eine Zeitlang an, sie seien im Irrtum gewesen. Wir glaubten, der Zwerg kehre zurück. Das ist die Nachricht, die einige von Ihnen gehört haben – eine alarmierende Nachricht, denn das Objekt steuert direkt auf eine Kollision mit der Erde zu. In der letzten Nacht jedoch machte ich eine zweite Entdeckung. Offenbar hatten die alten Astronomen recht. Das Objekt, das sich uns nähert, ist nicht der Zwerg.« Wieder lief eine Welle der Erregung durch den kleinen Raum. Die Hälfte der Männer war aufgesprungen – auch Shane, obgleich er sich auf den Tisch stützen mußte. »Was aber sonst?« rief jemand. »War es ein Irrtum mit dem Zusammenstoß?« Der Astronom hob die Hand, und atemloses Schweigen legte sich über den Raum. »Es ist nicht der Zwerg«, wiederholte er leise. »Es ist der Mond, der alte Satellit der Erde, der dem Zwerg in den Weltraum folgte. Offenbar wurde er auf eine langgestreckte Kometenbahn gerissen, entging aber am Ende doch der Anziehungskraft des Zwerges. Er ist immer noch ein Teil des Sonnensystems. Jetzt, nach zweihundert Jahren, kommt er wieder in Sonnennähe zurück.«
»Und der Zusammenstoß?« fragte Shane. Winstons graue, nervöse Hand hob einen Packen Metallfolien. »Prüfen Sie sie, wenn Sie wollen. Sie ergeben, daß der Zusammenstoß in zweiundzwanzig Tagen stattfinden wird.« Die meisten Männer saßen regungslos in gelähmtem Schweigen. Einer murmelte vor sich hin: »Zweiundzwanzig Tage – zweiundzwanzig Tage!« Shane ging schwankend den Mittelgang entlang bis zum Tisch, an dem Winston stand. Er schob die Metallfolie beiseite. »Was wollen Sie tun?« Der Astronom schüttelte den Kopf. »Was können wir tun?« Er zuckte die Achseln. »Wenn wir Jahre Zeit hätten, wäre es möglich, eine Expedition zum Mars oder zur Venus zu schicken und sie zu kolonisieren. Unsere Raketen haben zwar noch nie solche Strecken zurückgelegt – aber jetzt ist ohnehin keine Zeit dafür.« Andere Männer traten mit Fragen heran. Shane ergriff die grauen Folienblätter und begann sie zu überfliegen. Atlantis Lee sagte leise neben ihm: »Dr. Winston ist unser bester Wissenschaftler. Wenn er aufgibt, dann heißt es, daß wir geschlagen sind. Neu-Britannien kann nichts tun, um dieses Unheil abzuwenden.« Ihre Stimme sank zum drängenden Flüstern herab: »Barry Shane, kann Amerika helfen?«
Barry sah von den grauen Blättern auf in ihre fragenden Augen. »Ich bin davon überzeugt, daß mein Land allein nichts tun kann«, sagte er rauh. »Aber ich überlege gerade –« Mit gefurchter Stirn sah er wieder auf Winstons Berechnungen. Neben ihm drängte das Mädchen leise: »Was überlegst du, Barry?« »Neu-Britannien kann nichts tun«, sagte er. »Ich bin sicher, daß auch Amerika nichts tun kann – aus Mangel an Energiequellen und industrieller Organisation. Aber ich überlege, was beide zusammen tun könnten.« Ihre Augen leuchteten auf. »Du hast einen Plan?« »Noch keinen Plan.« Er sah wieder auf die grauen Blätter. »Sag – könnte eine eurer Raketen dem Mond entgegenfliegen und ihn in einer Entfernung von – sagen wir – einigen Millionen Kilometern treffen?« »Ich glaube schon.« Ihre Finger schlossen sich um seinen Arm. »Sag es mir, Barry! Hast du einen Weg gefunden?« »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Laß mich eine Frage stellen.« Seine heisere Stimme wandte sich an Dr. Winston. »Angenommen, der Mond könnte von allen Gravitationskräften abgeschirmt werden, während er die letzten Millionen Kilometer seines Weges zurücklegt – was wäre das Ergebnis?«
Das hagere Gesicht des Astronomen verzog sich zu einem dünnen Lächeln. »Bitte, Dr. Winston«, sagte Atlantis Lee dringlich, »die Frage ist ernst gemeint.« Winston sah Shane scharf an. »Niemand kann Gravitationskräfte abschirmen«, sagte er. »Aber wenn Sie im Ernst eine solche phantastische Frage stellen wollen: Freilich würde seine Bahn dann gerade werden – denn die Sonne zöge ihn nicht länger an. Folglich würde er außerhalb der Erdbahn vorüberziehen.« »Wie weit außerhalb?« fragte Shane gespannt. »Das hängt davon ab, wie lange Sie die Schwerkraft ausschalten wollen.« »Angenommen, es könnte in zehn Tagen geschehen – würde der Zusammenstoß verhindert werden?« Ungeduldig warf Winston Formeln auf seine grauen Metallblätter. »Haarscharf – ja!« Er wandte sich plötzlich zu Shane und sah ihn mit durchdringenden Augen an. Mit veränderter, atemloser Stimme fragte er: »Gibt es einen Weg, die Schwerkraft abzuschirmen?« »Es wäre zu schaffen«, sagte Shane. »Wenn alle Menschen zusammenarbeiten.« In diesem Augenblick stürzte ein hagerer, sommer-
sprossiger junger Mann in den Raum. Er atmete schnell und sah erregt aus. »Das ist Tony«, sagte Atlantis Lee, »mein Bruder. Er hat mir geholfen, dich aus der Vakuumzelle zu holen. Jetzt hielt er Wache im Funkturm oben – falls Barlow etwas unternimmt. Was ist, Tony?« Der schweratmende Junge drückte ihr ein Stück Metallfolie in die Hand. »Funkspruch«, stieß er hervor. »Nahm ihn vor zwei Stunden auf – gerade vor Sonnenaufgang. Wußte nicht, daß er wichtig war, bis ich ihn entschlüsselt hatte. Lies, Lan!« Die klare Stimme des Mädchens las laut: »Dringend und vertraulich. Kapitän Barlow, Patrouillenrakete ›Rächer‹, an Admiral Gluck, Raketenkreuzer ›Nemesis‹. Offener Aufstand gegen den Schwarzen Stern, angeführt von Atlantis Lee, Hauptquartier im Lee-Observatorium. Dr. Winston verbreitet Unruhe durch Propagandagerüchte über Gefahr aus dem Weltraum. Zu den Rebellen stieß ein Mann, der vorgibt, Hauptmann Clayton zu sein. Habe Beweise, daß dieser Mann ein Betrüger und Verräter am Schwarzen Stern ist. Er besitzt nicht, wie behauptet, das Siegel des Schwarzen Sterns. Empfehle sofortigen Angriff auf Observatorium, bevor Aufständische Autorität des Schwarzen Sterns durch Propagandalügen über kommende Katastrophe erschüttern.«
Shane fühlte sich kalt und schwach, als dringe die Kälte des Weltraums in sein Blut. Dies war ein raffinierterer Gegenschlag, als er erwartet hatte. Seine feuchten Hände schlossen sich um die Kante des Tisches. »Können Sie mich zum Funkgerät bringen?« fragte er. »Ich möchte mit Admiral Gluck sprechen.« Er wußte, daß er mit Gluck sprechen mußte – aber was sollte er sagen? »Sicher.« Tony Lees blaue Augen leuchteten. Er schien völlig ohne Furcht. »Wir können es versuchen, aber die Sonne ist aufgegangen, und die Funkverbindung wird nicht weit reichen. Barlows Nachricht kam gerade zurecht, um die Relaisstationen zu erreichen. Jetzt stört die Sonnenstrahlung alles.« »Wir müssen es versuchen!« sagte Shane. Er folgte dem Jungen über eine metallene Wendeltreppe in den Funkturm. Zuversichtlich drehte Tony an den Knöpfen. »Lee-Observatorium an Raketenkreuzer ›Nemesis‹!« sprach er in das Mikrophon. »Hauptmann Glenn Clayton ruft Admiral Gluck!« Seine atemlose Stimme brach ab, als der Boden sich zu heben und zu wanken schien. Irgendwo klirrte zerbrochenes Glas. Ein großer weißer Rauchpilz wuchs neben dem Observatorium in die Höhe. »Das war eine Rakete. Die Flotte muß jetzt über uns sein – aber vielleicht kann man uns nicht hören.«
18 Als der Hagel von Splittern und Trümmern vorbei war, wandte sich Shane wieder an den Jungen: »Versuch's noch einmal, Tony. Ruf den Admiral!« Erregt, aber ohne Furcht, wandte sich der Junge wieder dem Apparat zu. »Lee-Observatorium«, sprach er ruhig, »an Raketenkreuzer ›Nemesis‹, Hauptmann Glenn Clayton ruft Admiral Gluck!« Barry Shane beobachtete den schwarzen Himmel. Ein flüchtiger Blick zu der niedrig stehenden Sonne blendete ihn – er konnte die Raketenflotte nicht entdecken. Admiral Glucks schrille Stimme ließ ihn zusammenfahren. »Hallo, Clayton!« Die Stimme verschwand immer wieder unter Zischen statischer Störungen. »Übergeben Sie das Observatorium und stellen Sie sich einem Parteigericht auf Grund der Anklagen, die man gegen Sie erhoben hat! Oder wollen Sie noch eine Bombe – und diesmal eine stärkere?« »Es fällt mir nicht ein, mich zu ergeben!« stieß er in Claytons hartem Ton heraus. »Ich bin kein Verräter. Die wirklichen Verräter sind Barlow und seine Helfershelfer; ich habe ihnen nur Gelegenheit gegeben, sich bloßzustellen.«
Glucks Stimme, die durch das Rauschen drang, schien unsicher geworden. »Können Sie Ihren Umgang mit den Feinden des Schwarzen Sterns erklären?« »Ich kann erklären, was immer ich will!« Shane bemühte sich, so scharf wie der Führer des Schwarzen Sterns zu sprechen. »Senden Sie ein Schiff, das eine vertrauliche Nachricht entgegennehmen kann. Sie wird mit dem Siegel des Schwarzen Sterns gezeichnet sein.« Glucks dünne Stimme wurde merklich verstört. »Das Siegel? Aber Barlow sagte mir – es wird sofort ein Schiff abgesandt werden, Sir.« Atlantis half ihm, die Botschaft aufzusetzen, und schrieb sie auf eine der grauen Metallfolien. Shane siegelte sie mit dem funkelnden Kristall aus Claytons Ring. »Eine schwere Notlage ist eingetreten. Der Angriff auf die Barriere muß aufgegeben werden. Die Flotte und alle Hilfsmittel des Schwarzen Sterns werden Hauptmann Clayton zur Verfügung gestellt, um das Unglück abzuwenden. Mit Ihren eigenen Teleskopen können Sie Dr. Winstons Entdeckung bestätigen, daß der Mond zu einem Zusammenstoß mit der Erde zurückkehrt. Danach kommen Sie mit Ihrem Stab zum Lee-Observatorium.«
Ein Raketenschiff landete am Rande des Bombenkraters neben dem Observatorium. Tony Lee, eine schwarze Flagge schwenkend, brachte in einem Schutzanzug die Botschaft zur Schleuse. Eine lange Stunde verging. Shane sprach ein wenig mit Atlantis Lee. Sie war genauso unerschrocken wie ihr Bruder. Shane wußte auf einmal, daß er sie liebte – aber es war jetzt nicht die Zeit, davon zu sprechen. Zwei Raketen landeten neben dem Observatorium: Glucks »Nemesis« und Barlows »Rächer«. Ein Dutzend Männer kamen durch die Schleusen ins Observatorium. Shane ging ihnen entgegen. Der kleine Admiral schien erregt und mißtrauisch. Barlows mürrisches Gesicht war ängstlich, aber dennoch herausfordernd. »Sie haben Dr. Winstons Beobachtungen geprüft?« fragte Shane. »Wir haben im Süden ein seltsames Objekt gesichtet.« Glucks kluge Augen sahen ihn durchdringend an. »Aber Ihr Verhalten war höchst verdächtig, Clayton. Schwere Anschuldigungen sind gegen Sie erhoben worden. Ich bin nur hier, weil ich den Befehlen des Schwarzen Sterns folge.« »Dr. Winston wartet im Lehrsaal«, sagte Shane. »Ich wünsche, daß Sie ihn hören. Prüfen Sie seine Berechnungen, soviel Sie wollen. Überzeugen Sie sich, daß die Gefahr wirklich besteht. Dann werden wir darüber sprechen, was zu tun ist.«
Barlow blickte finster und zeigte mit seinem dicken Finger auf Shane. »Admiral! Trauen Sie diesem Mann nicht! Dies alles sieht aus wie eine Falle. Wollen Sie hineintappen? Der Umgang dieses Mannes mit den Feinden des Schwarzen Sterns ist offensichtlicher Verrat. Warum verhaften Sie ihn nicht?« Der kleine Admiral ließ seine prüfenden Augen nicht von Shane. »Der Schwarze Stern«, wiederholte er, »befahl mich hierher.« Barlow trat vor und legte seine Hand an den Griff der Pistole. Sein breites Gesicht zeigte boshaften Triumph. »Admiral, sehen Sie diesen Mann an!« knurrte seine dünne Stimme. »Ist er Hauptmann Clayton? Ist er wirklich unser Führer? Ich habe Beweise, daß er es nicht ist. Als er von Amerika zurückkehrte, wußte er nicht einmal, wo Clayton in Neu-Dover wohnte!« Der dicke Finger stieß vor. »Sehen Sie ihn an! Sie können sehen, daß er ein anderer ist. Sein Haar ist ein wenig zu dunkel, und er ist etwas zu klein. Sehen Sie, Claytons Kleidung paßt ihm nicht ganz. Sehen Sie!« Barlow kam noch näher, seine Stimme wurde rauh vor Erregung. »Sehen Sie die Narben in seinem Gesicht. Ich habe
sie vorher nicht bemerkt, aber das sind Spuren von Hautchirurgie!« Er zog die Pistole, als er triumphierend schloß: »Dieser Mann ist ein Doppelgänger Claytons!« Shane zeigte Claytons hartes Grinsen. »Stecken Sie Ihre Pistole lieber wieder fort«, riet er Barlow. Dann wandte er sich an Gluck. »Admiral, ich wünsche, daß Sie Dr. Winston anhören. Dann habe ich Ihnen etwas zu eröffnen.« »Warten Sie, Admiral!« stieß Barlow hervor. »Wollen Sie diesen Betrüger –« »Befehl des Schwarzen Sterns!« sagte Gluck schrill. »Stecken Sie die Pistole ein, Barlow!« Eine Stunde später trat Gluck mit seinem Stab aus Winstons Lehrsaal. Die Männer sahen bleich aus. Selbst Barlow schien verstört, und seine blassen Lippen bewegten sich. »Zweiundzwanzig Tage!« murmelte er. »Nur zweiundzwanzig Tage!« »Admiral, haben Sie sich von der Gefahr überzeugt?« Der kleine harte Mann zerrte heftig an seinem gelben Schnurrbart. »Ich bin überzeugt.« Seine dünne Stimme was heiser und zitternd. »Ich habe alles überprüft. Es ist mehr als eine Gefahr – es ist ein Todesurteil.« Seine
Orden klirrten, als er hoffnungslos die Achseln zuckte. »Was wollen Sie mir noch sagen, Hauptmann? Was kann der Schwarze Stern tun?« »Der Schwarze Stern allein kann nichts tun«, sagte Shane ernst. »Aber ich glaube, daß wir alle, wenn wir zusammenarbeiten, noch eine Chance haben.« Er grinste Barlow an und bekannte: »Es ist wahr – ich bin nicht Clayton.« Die Männer starrten ihn an. »Ich bin Barry Shane – ein Amerikaner.« Unter den erstaunten Blicken der Offiziere zog er Claytons Ring vom Finger und ließ das Versteck aufschnappen, das den glitzernden, sternenförmigen Kristall enthüllte. Barlow gab einen Laut der Wut und der Enttäuschung von sich. Shane grinste ihn an und gab Gluck den Ring. »Das Siegel des Schwarzen Sterns«, sagte er zu dem erstaunten Admiral. »Ich brauche es nicht mehr. Wollen Sie es für die Partei aufbewahren?« Stolz ließ Glucks schmales, altes Gesicht aufleuchten. Das Mißtrauen schwand aus seinen scharfen Augen. Er steckte den Ring an den knochigen Finger seiner Rechten und sah Shane verwirrt an. »Sie sind Amerikaner«, stieß er hoffnungsvoll hervor. »Sie kennen die Wissenschaft, die die Barriere schuf.« Er hielt inne, und seine Augen suchten die
Shanes. »Wissen Sie, wie man den Mond aufhalten kann?« »Aufhalten kann man ihn nicht«, gab Shane ohne Zögern zu. »Aber es gibt einen Weg, ihn wenigstens abzulenken – wenn wir mit den nötigen Geräten rechtzeitig dort ankommen können!« »Wie?« fragte der Admiral gespannt. »Wenn genügend Energie zur Verfügung steht«, erklärte Shane, »kann der Raumkrümmungswall, den ein Ultradyngenerator erzeugt, auch für die Schwerkraft undurchlässig werden. Wir müssen eine neue Barriere um den Mond errichten, um ihn vor der Anziehung der Sonne zu schützen. Das wird seine Bahn ändern – wenn wir es rechtzeitig tun –, und ihn an der Erde vorbeilenken.« »Aber wir haben keinen solchen Generator«, wandte Gluck ein. »Es gibt ein Ersatzgerät in Amerika – im Ringturm«, erwiderte Shane. »Denken Sie daran – der Krieg ist vorbei. Es wird all unsere vereinten Kräfte brauchen, die Vernichtung abzuwenden. Die Amerikaner können allein nichts tun. Sie haben nicht die Schiffe, um den Mond zu erreichen – und nicht die Goldfilmzellen, um die gewaltige Energie zu erzeugen, die nötig sein wird. Aber Amerika kann den Generator stellen.« Admiral Gluck zupfte verzweifelt an seinem gel-
ben Schnurrbart. Er mußte sich erst an die Vorstellung gewöhnen, daß Amerika ein Verbündeter sein sollte. Zwei Tage später landete die »Nemesis« in Ring City. Shane stellte den kleinen Admiral General Whitehall vor. Die mächtigen Kisten, die die Teile des UltradynReservegenerators enthielten, wurden ohne Verzögerung verladen. »Der Generator ist nicht als Gravitationsschild gedacht«, warnte Whitehall. »Sie werden ihn hundertfach überlasten müssen. Ich weiß nicht, wie lange er das aushalten wird – vielleicht ein paar Minuten, vielleicht lange genug. Wenn wir nur Zeit hätten, einen anderen Generator zu bauen –« Aber dazu war keine Zeit. Die »Nemesis« schoß davon, den Ring von neuem durchbrechend, und überholte die Raketenflotte, die sich bereits, mit Goldfilmzellen beladen, zum Mond aufgemacht hatten. Nach sechs Tagen erreichten sie den zurückkehrenden Satelliten. Die Raketen landeten im Kreis auf dem Grund eines riesigen Kraters.
19 Ein Mann und eine Frau, allein in einer nutzlosen Maschine in der toten Wüste, die einst der Grund des Meeres gewesen war, erwarten das Ende der Welt. Unter Della Rands geschickter Pflege hatte sich Clayton von den Wunden erholt, die ihre Kugel gerissen hatte. Er setzte seine Beobachtungen des nahenden Objekts fort und stellte fest, daß es nicht der Zwerg war. Es war der alte Mond der Erde – doch das schien keinen Unterschied mehr zu machen. Nacht für Nacht drohte der zurückkehrende Satellit größer und größer – und unheilvoller – vom leuchtenden Schirm des elektronischen Teleskops. Clayton suchte den Himmel auch nach den Ionenwolken einer vorbeikommenden Rakete ab. »Ich will einem Schiff signalisieren«, sagte er zu Della, »wann immer eines in Sicht kommt. Die Lichter unseres Schiffes sollten genug Aufmerksamkeit erregen, wenn wir alle Luken öffnen und blinken.« Dellas Blick war durchdringend, beinahe feindselig. »Warum?« fragte sie mit vor Entrüstung kalter Stimme. »Willst du zurückgehen zu deinen Freunden vom Schwarzen Stern? Willst du Barry Shane entlar-
ven und einen neuen Angriff auf den Ring unternehmen?« Clayton lachte und legte den Arm um sie. »Willst du wieder Streit anfangen, meine Schöne?« »Ich werde dich nicht fortlassen, wenn du so etwas vorhast!« »Verzeih mir, Liebste«, sagte er, und sein Gesicht wurde ernst und seltsam zärtlich. »Ich kann dich nicht tadeln, wenn du so von mir denkst. Ich habe dir Grund genug dazu gegeben. Aber die Dinge liegen jetzt anders, meine Schöne. Du hast sie anders gemacht.« Sie betrachtete zweifelnd seine Züge. Er lächelte ihr zu – ein kleines Lächeln, das seltsam beschämt und schüchtern aussah. Das harte, skrupellose Licht in seinen grünen Augen war verschwunden – war sanft geworden. Sie wartete erstaunt, schweigend in seine Arme geschmiegt. »Ich erinnere mich an etwas, das ich in einem alten Buch gelesen habe«, sagte er langsam. »In einem der alten Bücher, die gerettet wurden, nachdem der Zwerg vorbeigezogen war. Dort stand etwas über ein Tor zur Zukunft, ein Tor zum Paradies. Wir vom Schwarzen Stern haben an das falsche Tor geklopft. Du hast mir geholfen, das richtige Tor zu finden, Liebste.« Er zog sie näher zu sich und küßte sie zart. »Ich möchte zurückkehren und Barry Shane hel-
fen«, fuhr er fort. »Ich wußte, daß Barlow bereits die Falle gestellt hatte. Es war unterhaltsam zu sehen, wie er hineinlief – damals war es unterhaltsam, denn du hattest mir noch nicht das rechte Tor gezeigt. Ich fürchte zwar, es wird jetzt wenig Unterschied mehr machen, aber ich würde gern tun, was ich kann, um ein wenig das Unheil wiedergutzumachen, das ich Shane zugefügt habe, und außerdem –« Er lachte, und das harte Glitzern kam wieder in seine Augen. »Außerdem«, wiederholte er, »wenn Barlow seine Falle bereits hat zuschnappen lassen, würde es mir Spaß machen, ihn Angesicht zu Angesicht vor dem Mann stehen zu sehen, den er ermordet hat!« »Ich weiß nicht – bist du wirklich anders geworden?« flüsterte Della Rand. Sie suchten den dunklen Himmel nach dem Feuerschein einer Rakete ab, aber kein Schiff kam in ihre Nähe. Langsam breitete sich Enttäuschung über Claytons Gesicht. »Es scheint keine Patrouillenflüge mehr zu geben«, sagte er schließlich. »Gluck muß seine Flotte von Punkt Vierzehn abgezogen haben.« Er grinste ihr zu. »Ich schätze, wir werden das Ende doch zusammen erleben, meine Schöne!« »Ich bin glücklich«, flüsterte sie in seinen Armen.
Nacht für Nacht beobachteten sie den Mond. Dann kam ein Tag, an dem kein Teleskop mehr nötig war. Der Himmelskörper wurde größer als die Sonne. Seine Gebirge waren mit bloßem Auge zu erkennen. Della Rand suchte kleine Arbeiten in den beengten Räumen der »Freundschaft« zu finden, um sich abzulenken – aber all das hatte jetzt seine Bedeutung verloren. Sie war glücklich, daß sie bei Clayton sein konnte. Doch all ihre Liebe drohte sich stets in die Angst vor dem Augenblick zu verwandeln, wenn er mit der dem Untergang geweihten Welt verschwunden sein würde. Sie sah stumpf auf, als er in die Kombüse trat. Sein braunes Gesicht zeigte Verblüffung. Dieses eine Mal schien er sogar zu verwirrt, um zu grinsen. »Ich sagte, daß alles ein Narrenstreich ist – und jetzt spielt der Mond schon wieder einen neuen Streich: Er hat seine Bahn verlassen!« Ihre dunklen Augen wurden schwarz, als sie ihn anstarrte. Ihre schlanken Hände fuhren plötzlich zum Hals. Dieser Hoffnungsstrahl schien noch schmerzhafter, als es die Verzweiflung gewesen war. »Was – meinst du?« stieß sie hervor. Clayton fand sein Grinsen wieder. »Der Mond folgt nicht ganz der Bahn, die ich vorausgesagt habe«, erklärte er, »obwohl der Unterschied nicht groß ist. Wahrscheinlich ein Irrtum in
meinen Berechnungen – aber ich finde ihn nicht. Ich habe sie schon ein dutzendmal überprüft.« Mit einer Mannschaft in Schutzanzügen hatte Barry Shane den Ultradyngenerator in der Mitte des Ringes aufgestellt, den die Raketen bildeten. Dicke Kabel verbanden sie mit den Kraftstationen der Raketen ringsum. Schließlich, nach sechzig schlaflosen Stunden ununterbrochener Arbeit, hatten sie es geschafft. Vor Ermattung schwankend, gab Shane das Signal – und ein Energiestrom floß durch die Kabel. Die dunkle Pracht des Weltraums über der Mondlandschaft blieb unverändert. Die Erde war wie ein seltsamer Mond – braun und kalt, mit Ausnahme des scharfumgrenzten grünlichen Kreises, den Amerika unter dem Ring bildete. Doch dann kam ein Signal aus dem Navigationsraum der »Nemesis«. Der Mond hatte seine Bewegung auf die Sonne zu eingestellt – und damit seine Bewegung zur Erde hin. Tage höchster Spannung vergingen. Die Erde wurde immer größer, und noch immer hielt der überlastete Generator stand. Der Mond erreichte den Punkt größter Erdnähe. Die kahle Kugel erfüllte fast den ganzen Himmel.
In wenigen Stunden würde der Mond vorübergezogen sein. Doch die Reaktion auf die Gravitationskräfte der Erde verstärkte die Überlastung noch. Der Generator fiel aus. Der unsichtbare Wall gegen die Schwerkraft löste sich auf. Die Gewalt der Gravitation erreichte den vorbeiziehenden Satelliten und nahm ihn in ihre unerbittlichen Krallen. Ungeheure Mondbeben erschütterten die Fläche, auf der die Raketenflotte gelandet war. Die Raketen flohen von dem untergehenden Satelliten in den Weltraum. Sie sahen das Ende einer Welt. Unvorstellbar groß, mit grausamen Bergzähnen aus glitzerndem Eis, füllte der Mond den südlichen Himmel. Der Kampf kosmischer Energien wurde zu einem Schauspiel, wie es Menschen noch nie gesehen hatten. Della fühlte sich taub und krank vor Furcht, aber Claytons grüne Augen waren hell, und auf seinem braunen Gesicht lag ein leichtes, gespanntes Lächeln. Sprünge begannen sich über die Fläche des Mondes zu ziehen. Die Gezeitenkräfte zogen neue, schwere Spalten durch die Krater – breiter und länger als die Sprünge, die einst ihr geheimnisvolles Netz um den meteorzerschmetterten Krater Tycho gezogen hatten.
Der Mond löste sich in ein Chaos auf. Der ganze Satellit zitterte und drehte sich. Leuchtende weiße Fahnen von Trümmerstücken zogen sich über den schwarzen Himmel – und dennoch hatte der Zusammenbruch die lange Stetigkeit, die dem Tod eines Weltkörpers zu gebühren schien. Es war wie ein Zeitlupenfilm. Die Zeit schien stillzustehen. Die Augen schmerzten, die Nackenmuskeln schienen wie gelähmt, und dennoch wagten die beiden nicht, den Blick abzuwenden, denn sie sahen, was noch kein Mensch je gesehen hatte: den Untergang einer Welt. Sie hatten den Sinn für die Zeit verloren. Stunden mußten vergangen sein. Die Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die ersten Trümmer der zersprungenen Welt aufleuchten, die in ihrer Nähe herabstürzten. Clayton zeigte auf sie und faßte Dellas eiskalte Hand. Sie sahen schweigend zu. Das Trümmerstück schlug auf eine entfernte Bergkette. Das trockene Bett des Ozeans hob sich unter der Wucht des Aufpralls. Dellas Tablett stürzte herab, und die Teller zerbrachen auf dem Boden. Von der Einschlagstelle erhob sich eine Dampffontäne – weiße Wolken füllten den ganzen Himmel und verhüllten den zerbröckelnden Mond. »Was wird nun mit der Erde geschehen?« Dellas
Hand schloß sich um die Claytons. Ihre dunklen Augen suchten in seinem Gesicht. »Und mit uns?« »Zu früh, um etwas zu sagen, meine Schöne. Wir werden warten müssen – und es erleben!« Es dauerte zwei Tage, bis die Flotte zur Erde zurückkehren konnte. Zu dieser Zeit hatten sich die Wolken von den seenüberstreuten Landstrichen gehoben – doch immer noch lag ein leichter Dunst über den braunen Bergen, die so hart und kahl erschienen waren. »Das ist mehr als Wasserdampf!« sagte Shane zu Admiral Gluck. »Der Mond muß einen Teil des Wassers und unseres Planeten eingefangen haben, als er zwischen die Erde und den Zwerg geriet.« Wieder mußte Shane die bange Frage unterdrükken, wie die Kuppelstädte Neu-Britanniens das kosmische Bombardement überstanden haben würden. Zwar hatten sich viele der Trümmer in neuen Bahnen um die Erde gehalten, die nun wie von einem weißen Doppelring umgeben schien – aber was abgestürzt war, mußte mit unverminderter Wucht aufgeschlagen sein, während Amerika unter dem Schutz des Ringes lag. Der Wachoffizier der »Nemesis« meldete ein Signalblinklicht. Als man niederging, um Nachforschungen anzustellen, entdeckten sie die braune Hül-
le der »Freundschaft« am Strand eines neuen, flachen Sees. Della Rand und Clayton stürmten Hand in Hand auf ihre Retter zu. Sie atmeten schnell in der dünnen Luft, aber sie brauchten keine Schutzanzüge mehr. Clayton trat Shane mit seinem harten, grünäugigen Grinsen entgegen. »Meinen Glückwunsch, Hauptmann Clayton!« sagte Clayton. »Gute Arbeit! Sie können den Namen behalten, wenn Sie wollen. Ich habe etwas anderes gefunden.« Er sah das dunkelhaarige Mädchen an, und sein Lächeln verlor die Härte. »Wir haben etwas anderes gefunden«, wiederholte er leise. »Ich habe ein Tor gefunden – und Della einen Traum!« Zwei Stunden später sank die Rakete durch den dünner werdenden weißen Nebel über Neu-Dover. Barry Shane fand es in diesen letzten Minuten schwer, das harte Grinsen beizubehalten, das er einst so bereitwillig angenommen hatte. Nun wurde die graue Stadtkuppel am Ende der langgestreckten, trümmerübersäten Hochebene sichtbar. Ein neuer See umspülte die tieferen Klippen. Die »Nemesis« landete auf dem flachen Dach einer Kuppel. Die Stadt war unbeschädigt. Eine jubelnde Menge umringte die arg mitgenommene Rakete. Shane sah einen roten Haarschopf-Atlantis Lee! Er stürmte hinaus, ihr entgegen.
»Barry!« rief sie schon von weitem. Der Himmel hatte sich geklärt – und über ihn zog sich der weiße, ewige Bogen des neuen Ringes der Erde. Es war der Triumphbogen des Menschen für einen Sieg in der Schlacht mit dem Kosmos. »Sieh, Barry!« Atlantis Lee wendete sich sanft in Shanes Armen und zeigte auf die emporstrebenden Säulen des doppelten Ringes. »Sind sie nicht wie ein leuchtendes Tor – ein Tor zur Zukunft?«