1.
Dragon schauderte. Über die Hochfläche fuhr ein schneidender Windstoß und wirbelte die Nebelfetzen durcheinander. ...
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1.
Dragon schauderte. Über die Hochfläche fuhr ein schneidender Windstoß und wirbelte die Nebelfetzen durcheinander. Grell heulend brach sich der Wind an den Felsen des Heiligen Berges. Der Mond warf bleiches Licht auf das Hochplateau und verwandelte die Steine des fingerähnlichen Gipfels in ein dämonisches Muster von silbernem Licht und pechschwarzen Schatten. Hinter Dragon bewegten sich unruhig und aufgeregt die Krieger. Ihre Waffen schlugen gegen das Leder und gegen die Schilde. Das stählerne Schott stand offen. Scheinwerfer brannten; künstliche Lichter, die alle zehn Sommer einmal eingeschaltet wurden. Dragon wußte, daß er eigentlich hätte in dieser Überlebensstation liegen sollen und nicht dort, wo ihn Amee aufgeweckt hatte. Fürst Hingis, der grauäugige Herrscher über einige Hundertschaften Krieger, sagte aufmunternd: »Ich weiß, daß du dich nicht vor Gefahren fürchtest, Dragon. Warum gehst du nicht weiter?« Er deutete auf das klaffende Tor, auf den Raum dahinter, der dunkel war und nur von wenigen Scheinwerfern halb aus der Dunkelheit herausgerissen.
Langsam ging Dragon geradeaus. Er ahnte, was auf ihn zukam, deswegen zögerte er. Die Erinnerungen an Atlantis, an Tobos und an Mura hatten ihn überfallen. Das Wissen, das er dadurch gewonnen hatte, mußte er mit den Schmerzen an diese vergangene Zeit teuer bezahlen. »Ich gehe!« sagte Dragon. Eine geradezu unheimliche Spannung erfüllte ihn. Unwillkürlich faßte er an den kalten Griff des Schwertes. Er durchschritt die Grenze zwischen der Felsplatte und dem dämmerigen Höhleninnern. Das Scheinwerferlicht brach sich an vier langen Glassärgen. Es waren jene Überlebensschreine, von denen einer ihm zugedacht gewesen war. Damals ... Von rechts und links kamen klirrende, knirschende Geräusche. »Die eisernen Diener!« flüsterte gebannt ein stämmiger Krieger im Wolfspelz. Einige andere Scheinwerfer schalteten sich ein. Sie beleuchteten einen breiten Streifen dicht hinter dem Tor. Die beiden Roboter, die sich jetzt schräg vor Dragon aufbauten, sagten in der alten atlantischen Sprache: »Nur du, das Mädchen und die drei Männer. Allen anderen ist es nicht gestattet, die Station zu betreten!« »Ich habe verstanden!« sagte Dragon und drehte sich um. Hinter ihm standen das Mädchen aus der anderen Welt, Danila, und Hingis, Ubali und Arric, der
Rothaarige. Sie gingen weiter, auf den unsichtbaren Hintergrund der geräumigen Höhle zu. Hier drinnen war es gemäßigt warm. Aber das änderte nichts daran, daß sich Dragon in einer äußerst angespannten Stimmung befand. Er wurde nicht nur mit der Erinnerung konfrontiert, sondern auch mit seiner ersten großen Leidenschaft, mit Mura, seiner Geliebten aus dieser Zeit. Es war ein Abenteuer der Gefühle, nicht ein solches des Schwertes. Vor dem Eingang bildete sich eine dichte Mauer aus Menschenleibern, sechs oder acht Glieder tief. Leder knarrte, verwunderte Stimmen mischten sich in scharfe Atemzüge. Steine knirschten unter den Sohlen der Reiterstiefel. Sie hätten sich alle, selbst die kühnsten Krieger, ohnehin gescheut, das Heiligtum der Weisen Frau oder der Eiskönigin zu betreten. »Noch bin ich nicht sicher!« knurrte Dragon und ging auf den mittleren Glasschrein zu, in dem er undeutlich eine weißgekleidete Gestalt erkannte. »Was macht dich unsicher, Herr?« murmelte Ubali. Auch ihm, dem muskelbepackten Schwarzen, schien diese Höhle nicht geheuer zu sein. Regungslos standen die eisernen Diener da, und man erkannte viele Seitengänge der Höhle. Überall war der saubere Boden hell wie ein rauher Stein, aber als sich Arric einmal bückte und mit den Fingerspitzen den Boden berührte, merkte er, daß es sich um eine Masse handelte, die
nachgiebig wie Erdpech und weich wie eine Decke war. »Ich glaube, zu wissen, wer dort im Schrein schläft!« erklärte Dragon und deutete nach vorn. Seine Begleiter waren gespannt und etwas ängstlich. Dragon verstand, warum diese einfachen Menschen sich ängstigten, aber seine eigene Furcht und Unruhe mußten andere Gründe haben. Er blieb drei Schritte vor dem gläsernen Sarg stehen und drehte sich um. Er befand sich in einer Felsenhöhle, die etwa fünfzehn bis zwanzig Mannslängen durchmaß. Die Decke und die Wände waren an einigen Stellen künstlich geglättet und mit einem scharfen Werkzeug bearbeitet worden. Aus der Decke wuchsen einige Säulen nach unten, an denen mit breiten Metallbändern fremd und doch vertraut aussehende Scheinwerfer befestigt waren. Einige von ihnen brannten, die anderen waren ausgefallen. »Es ist die Eiskönigin, so nennen wir sie wenigstens!« sagte Fürst Hingis laut. Seine Worte hallten als Echo durch den Raum. An mindestens einem Dutzend Stellen waren die Wände unterbrochen. Von dort aus führten Gänge oder schräge Flächen in andere, vermutlich kleinere Nebenhöhlen. Aus einem dieser Stollen kam ein leises Brummen. Sicher das Energieaggregat, dachte Dragon, das diese uralte Überlebensstation mit lebenswichtigem Strom versorgt.
Sonst war nichts zu sehen. »Ich nenne sie anders«, sagte er entschlossen und ging bis dicht neben die gläserne Röhre. »Ich nenne sie Mura! Jetzt erkenne ich sie.« Obwohl, setzte er in Gedanken hinzu, sie damals wie ein Mädchen von zwanzig Sommern aussah und heute eine Frau von fünfzig ist. Alle seine Ahnungen waren richtig gewesen! Drei der durchsichtigen Schreine waren leer. Nicht einmal eine Staubschicht war zu sehen. In einem der mittleren Schreine lag die Eiskönigin. Sie ähnelte nur noch schwach der Mura, die Dragon geliebt hatte. Erfahrung, einige Geburten, viel Arbeit und dieselben Enttäuschungen, die er bereits kannte, hatten ihre Runen in das Antlitz gegraben. Eine Welle flüchtiger Zärtlichkeit überschwemmte den Atlanter und verging, als sie abermals das Rasseln alter Metalldiener hörten, der wenigen Roboter, die in dieser Station den Untergang der Insel überlebt hatten. Vier Stück waren es, und sie kamen aus vier verschiedenen Richtungen auf Dragon und seine Gruppe zu. In den Stirnen der Maschinen schalteten sich lichtstarke Scheinwerfer ein und rissen die Gestalten aus dem Dunkel. Eine rostige Stimme schnarrte: »Legt die Waffen ab. In diesem Raum hantiert niemand mit Waffen. Legt sie auf einen Haufen.« Arric zuckte zusammen und rief:
»Niemals habe ich mich von meinem Schwert getrennt! Und auch das Schwert Edils, meines Vaters, werde ich nicht aus den Händen geben!« Dragon drehte sich herum und fuhr ihn zornig an: »Die Eiskönigin will nicht, daß man ihr mit Waffen gegenübertritt, wenn sie erwacht. Wenn wir hinausgehen, nehmen wir das Zeug wieder mit. Los, keine Widerrede!« Er schnallte seine Waffen ab und legte sie neben den Metallfüßen eines Roboters nieder. Auch Hingis, Ubali und sogar Danila folgten, die einen Dolch auf den Haufen warf. Zuletzt klirrten die Schwerter Arrics auf den Metallberg. Wieder wandten sie sich dem Schrein mit der leblosen Frau darinnen zu. Aus der versammelten Menge erschollen einige Rufe. »Wecke sie auf, Dragon!« »Wir brauchen, ihren Rat und ihre Hilfe!« »Die Eiskönigin wird uns helfen!« Dragon hob den Arm und rief laut: »Das alles wird geschehen! Laßt mir etwas Zeit, Freunde!« Es gab in diesem Höhlengewirr keine Menschen außer den fünf Personen, die eingetreten waren, nachdem Dragon die Kennworte in der Alten Sprache gemurmelt hatte. Diese Menschen standen jetzt am Kopfende und an beiden Seiten des Schreins. Das Licht
war hell und ließ alle Einzelheiten erkennen. Die Eiskönigin trug nichts als ein langes, weißes Hemd, das flach auf ihrem Körper anlag, auf dem Leib einer Frau von etwa fünfzig Sommern. Aber jeder konnte deutlich sehen, daß diese Frau noch immer einen Teil ihrer Schönheit besaß. Mura, die Tochter des alten Tobos und die unvergeßliche Geliebte Dragons ... er starrte auf sie herunter und fühlte, wie seine Gedanken wieder einmal zu wirbeln begannen. Fürst Hingis murmelte: »Du wirst sie aufwecken, Dragon, ja?« »Natürlich!« erwiderte er und bückte sich. Er sah an allen Überlebenseinrichtungen die gleiche Art der Automatik. Die Maschine im Sockel von Muras Schrein war auf eine Zahl von zehn Sommern – also zehn Jahren – eingestellt. Die einfachen Uhren und Skalen sagten aus, daß die automatische Anlage Mura noch drei Sommer lang schlafen lassen würde. Dragon studierte die Schalter und nickte. Er hatte den Mechanismus begriffen. »Es wird einen halben Tag dauern, bis sie vollkommen wach ist, ein paar Stunden hin oder her«, sagte er und bewegte den Schalter. Er stellte ihn so ein, daß er auf den Punkt deutete, der sofortiges Aufwecken bedeutete. Ein paar klickende und schnappende Geräusche ertönten. »Er hat es tatsächlich gewagt!« murmelte Arric. Er war von seinen zwiespältigen Gefühlen innerlich halb
zerrissen, aber noch beherrschte er sich. Am liebsten hätte er Dragon von hinten erschlagen. Wieder begann sein Arm zu schmerzen; von dem Kampf auf der Insel Kyraces war nichts mehr übrig als eine Narbe. Und der Haß auf Dragon, den überlegenen Sieger. »Es mußte sein!« sagte Dragon. »Nur Mura, die Eiskönigin, weiß genau, wie wir das Weltentor schließen können.« »Das ist richtig.« Als das Summen aus dem Unterteil des Schreins lauter wurde, kamen wieder die Roboter, die eisernen Diener. Einer von ihnen schnarrte hart: »Verlaßt jetzt die Höhle. Wartet draußen. Die Eiskönigin wird euch rufen lassen. Wie ist dein Name, Fremder?« Dragon holte tief Atem und überlegte fieberhaft, ob er seinen Namen deutlich nennen sollte, dann aber konnte er sich vorstellen, daß rund drei Jahrzehnte bewußt erlebtes Leben – denn so oft und so lange mußte die Eiskönigin ihren Schrein verlassen haben – seinen Namen bedeutungslos gemacht haben würden. Er sagte mit rauher, belegter Stimme: »Sage ihr, ich bin Dragon. Nichts sonst.« »Es wird ausgerichtet werden!« knarrte der alte Roboter. Es war ein Wunder, daß diese Maschinen noch lebten und arbeiteten. Sie schienen die einzigen Wesen zu sein, die jene unfaßbar lange Zeit wirklich
bewußt durchgestanden hatten. Die kleine Gruppe wandte sich um, holte ihre Waffen und verließ die Haupthöhle. Der eiserne Torflügel aber schloß sich nicht. Aufgeregtes Murmeln und hastig geflüsterte Fragen empfingen sie, aber Dragon winkte nur Ubali und schob sich durch die Menge. »Du willst allein sein, Herr?« fragte der Schwarze. »So ist es. Vieles muß bedacht werden!« Während sich um den Schrein, der sich jetzt öffnete, ein Ring aus eisernen Dienern schloß und die Sicht gegen die Wartenden hin versperrte, lösten sich die kleinen Gruppen auf. Dragon und Ubali gingen langsam zu ihrer Unterkunft und blieben vor dem Feuer sitzen. Später kam Danila und brachte ihnen Essen und Wein. In diesen Stunden schienen die letzten Bestien aus der anderen Welt ebenfalls zu schweigen. Dragon saß auf einem einfachen Schemel, hielt ein Stück Braten in der einen und einen Holzbecher voll Wein in der anderen Hand. Es war tiefe Nacht, aber er würde nicht mehr lange zu warten haben. Mura und er, er und Mura – sie beide stammten aus derselben Kultur und aus derselben Zeit. Wenn sie sich trafen, dann war dies etwas grundlegend anderes als ein Treffen mit jedem anderen Menschen auf diesem Planeten. Er hatte zwei Jahrtausende lang geschlafen, Mura hatte zwei Jahrtausende weniger dreißig Sommer
geschlafen. In diesen dreißig Sommern hatte sie einem kleinen Volksstamm die Kultur gebracht und war dabei gealtert. Sie hatte sich mehrmals – die Leute hier sagten, alle zehn Sommer habe sich der Felsen geöffnet – von der Automatik wecken lassen. Mura war zur Legende geworden, überlegte Dragon. In wenigen Stunden würde er ihr gegenüberstehen. Wenn er den Erzählungen aus den Reihen des Eisvolkes glauben konnte, dann war Mura jeweils einige Jahre diejenige Frau gewesen, die den Leuten Kultur gebracht hatte und sich mit Männern verheiratet hatte. Zuletzt mit Edils Vater – Arric der Rothaarige war der Sohn Edils; sein Gegner, der sich aber noch immer recht vernünftig verhielt. Für ihn, Dragon, würde das Zusammentreffen mit der legendären Eiskönigin schwer und bedeutungsvoll werden. Sein Gedächtnis zog die Zeit zusammen – denn erst vor kurzer Zeit waren ihm alle Dinge rund um Atlantis wieder eingefallen, also auch seine Liebe zu Mura. Für ihn existierte dieser gewaltige Zeitraum praktisch nicht. Was für Mura durch die lange Zeit verändert worden war, ganz ohne Zweifel, war für ihn so frisch, als sei es vor einem Jahr geschehen. Er trank den Wein aus und stand auf. »Du gehst zurück?« fragte Ubali leise. »Ja. Ich will allein sein!« sagte Dragon und schob sich aus dem runden Zelt hinaus.
Die Nacht wechselte unmerklich in den frühesten Morgen. Tief in den Tälern breitete sich der Nebel aus. Die Sterne verblaßten, und ein vager Streifen grauer Helligkeit zeichnete sich im Osten ab. Dragon legte seine Waffen ab, schob sie ins Zelt zurück und hüllte sich fester in seinen Mantel. Dann ging er allein auf die Höhle zu, vorbei an verglimmenden Feuern und kleinen Gruppen schlafender Krieger. Die viereckige Öffnung war noch immer erhellt und bildete ein gelbes Viereck in den dunklen Felswänden. »Mura!« flüsterte Dragon nachdenklich, als er die Höhle betrat. Ein eiserner Diener näherte sich ihm. »Die Eiskönigin erwartet dich, Dragon!« sagte er mit blecherner Stimme. »Folge mir.« Er drehte sich um und ging quer durch die Höhle auf einen der Nebenausgänge zu. Mit unsicheren Schritten und durcheinanderwirbelnden Gedanken folgte Dragon. Die Höhle war kühl, aber je tiefer er in den schräg aufwärts führenden Stollen kam, desto wärmer wurde es. Aber die Luft war gut und sauber. Der Roboter blieb stehen und deutete in den Raum hinein.
Dragon stutzte und blieb stehen, als halte ihn eine riesige Faust auf. Er sah in einen Raum, der hell und prunkvoll eingerichtet war. Dicke Teppiche bedeckten den Boden. Handgearbeitete Sessel standen darauf. Tische, ein riesiges Bett, Leuchter und einige Zeichen atlantischer Kultur. Vor einer großen Tischplatte, einer kostbar geschliffenen Steinplatte auf zwei gemeißelten Steinblöcken, stand Mura. Sie war groß, schlank, und ein einfaches Gewand bedeckte ihren Körper. Schweigend ging Dragon auf sie zu und musterte sie. Das milde Licht machte die Frau jünger. Sie flüsterte ungläubig und fast erschrocken: »Du bist Dragon? Komm näher!« »Ich bin Dragon«, murmelte er. »Bei dem Gedanken, daß du Mura bist, wird mir schwindlig.« Mura lachte leise, aber sie hob den Arm und streckte
die Hand aus. In einer Welt wie dieser schien alles möglich zu sein, selbst dieses fast wunderbare Zusammentreffen. Sie konnte es nicht glauben, aber sie mußte sich wohl mit diesem Schwindler beschäftigen. »Woher weißt du meinen Namen?« fragte sie und stieß gegen die Tischkante, als sie zurückwich. Mura! Niemand kannte sie unter diesem Namen. Konnte es denn sein, daß dies wirklich Dragon war? Sie starrte ihn herausfordernd an. »Ich muß mich wohl erst ausweisen. Verständlich, ich begreife es. Einer dieser Überlebensschreine dort sollte für mich bereit gewesen sein. Aber ich erreichte ihn nicht, aus Gründen, die ich dir später erklären werde. Vor etwa zwei Sommern – oder Jahren – wurde ich mehr durch Zufall geweckt. Ich fand eine sehr veränderte Welt wieder. Erst vor ganz kurzer Zeit erfuhr ich alles. Ich kämpfte gegen Cnossos, den Balamiter.« Mura atmete tief ein und aus. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem weißen Gewand. »Du siehst so aus wie der Dragon, den ich gekannt habe ... vor einigen Ewigkeiten. Du sprichst wie er, ein wenig schärfer, härter. Du sprichst die Alte Sprache etwas verändert.« »Es ist eine lange Geschichte!« begann Dragon. Jetzt standen sie nur noch wenige Handbreit voneinander entfernt. Mura breitete die Arme aus und legte sie
Dragon um die Schultern. Sie begann zu zittern. »Dragon!« flüsterte sie. »Ich habe dich Jahrhunderte lang immer wieder gesucht!« »Erst vor einigen Monden«, erwiderte er leise, »habe ich meine Erinnerungen an dich wiederbekommen.« Zwischen ihnen lagen rund zweieinhalb Jahrzehnte an Lebensjahren und Lebenserfahrungen. Aber sie hatten einander erkannt. Dieser Mann war kein Schwindler, es war Dragon, nur ein kleines bißchen gegenüber den letzten Tagen von Atlantis verändert. Er war härter und entschlossener geworden. Sie würden sich eine Unmenge erzählen müssen. »Wir haben alles versäumt. Die Welt ist nur noch eine ferne Erinnerung an Atlantis«, sagte er leise. »Alle unsere Freunde von den Sternen sind degeneriert oder gestorben.« »Sprich nicht davon!« murmelte Mura an seiner Schulter. »Sprich nicht davon, was dieser Cnossos mit seinem Gefolge angerichtet hat.« Sie zog ihn in die Richtung einer steinernen Bank, die mit dicken Kissen und Fellen ausgelegt war. Auf dem niedrigen Tisch, dessen Platte aus wertvoller Einlegearbeit bestand, funkelten die Reflexe von vielen Ölflammen. Die große Öllampe war aus edlen Metallen getrieben. Mura goß mit unsicheren Fingern Wein in zwei Pokale. »Du hast das Tor geöffnet und die Automatik
abgeschaltet?« fragte sie mit dem schwachen Versuch, sich selbst von den schmerzlichen Erinnerungen abzulenken. Dragon war ihre erste Liebe gewesen, und keiner der Männer, die sie geliebt und denen sie Kinder geschenkt hatte, konnte ihn erreichen. »Ja. Die eisernen Diener haben es sicher berichtet. Ich sprach einige Worte in der Alten Sprache und sah dich dann im Schrein liegen. Diese Welt braucht deine Hilfe.« »Ich ahne es. Was ist es?« »Ein Tor zu einer Parallelwelt«, erwiderte er. »Dorther kommen gräßliche Wesen, gegen die wir gekämpft haben und noch kämpfen müssen. Aber vergessen wir das für die nächste Zeit.« Dragon lehnte sich zurück und hob den Pokal. Über den Rand hinweg blickte er Mura an. Was soll ich tun? Was kann ich tun? dachte er fast verzweifelt. Es war tragisch. Hier saßen er und seine große Liebe, getrennt durch einen Abgrund von Zeit, die nicht mehr zurückzudrehen war. Konnte er sie noch lieben? Oder konnte er es vor sich und vor ihr ermöglichen, aus dieser Liebe so etwas wie Verehrung oder Freundschaft machen? Und wenn er ihr Liebe vorheucheln würde, müßte sie, Mura, ihn durchschauen und verachten. Unausgesprochen hatte er das Gefühl, an einer Wende seines zweiten Lebens
angekommen zu sein. Hier gab es den einzigen Menschen außer ihm, der Erinnerungen an Atlantis hatte. »Mein Volk«, sagte Mura leise. »Es scheint in Gefahr zu sein?« »So ist es. In großer Gefahr!« stimmte Dragon zu. »Hätte ich dich nicht wecken sollen?« »Doch. Das war richtig!« meinte sie. Ihre großen Augen, die noch immer schön und voll inneren Feuers waren, sahen ihn an. Sie forschten in seinem Gesicht und glitten über seinen Körper. Dann, nach einem längeren Schweigen, schien sich Mura entschlossen zu haben. Sie stand auf und sagte: »Widmen wir uns erst einmal den vordringlichen Problemen. Ich werde euch allen helfen, wie immer bisher.« Sie mußte sich ablenken, denn der Schmerz dieses Wiedersehens drohte sie zu überwältigen.
2.
Sie
ritten
auf
kleinen,
zottigen
Pferden,
die
unermüdlich und hart waren. Eine kleine Gruppe von Spähern, schwer bewaffnet, gut ausgerüstet und in dicke Pelze gehüllt. Man konnte sie in dem schneidenden Wind, der selbst jetzt, nach der Mittagsstunde, aus der langen und tiefen Bodenspalte zu kommen schien, für ein Häuflein Versprengter halten, aber die sieben Männer waren schnelle und kühne Meldereiter der verschiedenen Stämme. »Dieses verdammte Weltentor!« stieß einer von ihnen zwischen seinem mächtigen Bart hervor. »Aesyr möge es vereisen!« knurrte der andere Mann. Es war Angar, der Reiter, der zum Stamm Hingis‘ gehörte. »Diese Bestien, die daraus hervorkriechen ... brr!« Sieben Männer mit drei zusätzlichen Packpferden. Ihre Aufgabe war nicht der Kampf, sondern die Warnung. Die vielen Kämpfe gegen die Ungeheuer hatten einwandfrei ergeben, daß die Gefahr aus dieser Bodenspalte gekommen war. Noch jetzt spie dieser Spalt in der Erde bisweilen kleinere Gruppen von Ungeheuern aus, die sich auf das umliegende Land verteilten. »Man müßte diese Spalte zuschütten!« schrie Angar gegen den Wind, der einen merkwürdigen Geruch mit sich trug. Es stank nach Moor oder nach Verwesendem. »Tausendmal fünfzig Wagenladungen Erde und Steine könnten die Schlucht nicht füllen!« gab sein
Nachbar zurück. Sie ritten in einem langsamen Trab auf die Schlucht zu. Sie saßen dicht hinter den Hälsen, genau über den Vorderfüßen der stämmigen Pferde. Unter den Hufen der Tiere war graues Geröll aus kleinen, dunkel gesprenkelten Kieseln und schwarzem Erdreich, auf dem sich schütteres Moos in mehreren Farben ausbreitete. Das Gelände war nicht völlig eben. Abgerundete Hügel und schmale Täler, durch die sich meist Wasserläufe wanden, hohes Gestrüpp und halbhohe Bäume. Es war kein gutes Land. Nicht einmal jagdbares Wild gab es hier, seit die Bestien durchgezogen waren. »Man könnte einen Bach umleiten!« schlug ein anderer Reiter vor und zog den Kopf zwischen die schützenden Pelze. »Das ist sinnlos!« »Warum?« »Weil das Wasser versickert. Es geht in dieses fremde Land, aus dem die Bestien kommen.« »Solange dieser Spalt dort offen ist, werden immer wieder Bestien daraus hervorkommen und uns überfallen!« »So ist es. Aber vielleicht kann der Fremde aus dem Süden helfen. Oder die Weise Frau.« »Vielleicht ...!« Sie ritten entlang der Spalte. Sie begann hier auf
einem flachen Stück des Landes. Zunächst sah sie wie ein kleines Tal zwischen zwei bewaldeten Hügeln aus, dann schlängelte sie sich, tiefer werdend und von feuchtigkeits-liebenden Pflanzen bedeckt, nach Norden. Überall war der Boden in einer Anzahl von Pfaden aufgewühlt und zertrampelt. Dies waren die Spuren der Bestien aus der unbekannten und abschreckenden Welt unter dem Loch im Boden. Die Pferde wurden unruhig, je mehr sich die sieben Reiter der Spalte näherten. Einmal sahen sie ein menschliches Skelett, dann wieder zerstreute Knochen von wilden Tieren, oder waren es Überreste von gerissenem und verschlepptem Vieh? Sie konnten es nicht erkennen und wagten sich auch nicht näher heran. Aber bisher hatten sie keine einzige Bestie gesehen. Die hochstehende Sonne leuchtete die Bodenspalte aus. Nun änderte sich die Landschaft ziemlich schnell. Das Gras wich zurück, und aus dem dunklen Sand und Staub ragten einzelne Steinbrocken hervor. Die Schlucht fiel ziemlich stark ab. Sie sah aus wie ein Bachbett eines reißenden Gebirgsbaches. Helle und dunkle Steinbrocken führten in einer fünfmal mannsbreiten Bahn steil abwärts. Die Flanken der Schlucht waren vielleicht für geübte Kletterer und jene Spinnenwesen zu besteigen, aber nicht für Pferde und
normale Krieger. Die Gruppe wich weiter seitlich aus und wurde schneller. Sie hatten zu sprechen aufgehört; trotz des grellen Sonnenscheins breitete sich eine unbehagliche, gespenstische Stimmung aus. Die Hälfte einer Stunde verging. Schließlich hielt die kleine, schnelle Karawane neben einem großen Felsen an. Von hier aus und aus den Sätteln sahen die Männer schräg in die Schlucht hinein und bis auf den Boden. »Was hast du vor?« schrie der letzte Reiter dem Anführer der Späher zu. »Wir warten hier bis zur Dämmerung. Dann ziehen wir uns zurück!« Sie kletterten mit steifen Gliedern aus den Sätteln und vertraten sich die Füße. Die Pferde wurden mit den Zügeln an den Felsen gebunden. Man gab ihnen Wasser und Futter. Die Männer zogen aus den Satteltaschen trockenes Brot, fetten Schinken, der lange im Rauch gehangen hatte, und klobige Flaschen voll hellem Wein. Sie bildeten, indem sie sich auf große Steinbrocken niederkauerten, einen großen Kreis. Jeder konnte also sehen, was im Rücken seines Gegenübers vorging. Die Waffen lagen griffbereit. Schweigend aßen und tranken die Männer. Sie waren seit Tagen unterwegs und waren sehr unruhig geworden. Überall gab es Spuren der Bestien, besonders natürlich hier auf der gegenüberliegenden Seite des Eisflusses.
»He!« brummte ein bärtiger Reiter und griff nach der halbvollen Flasche. »Was gibt‘s?« »Ob wir es schaffen, die Bestien zu töten und zurückzutreiben?« Immer wieder gingen die Blicke der sieben Männer hinunter in die Schlucht. Aber sie konnten kein Anzeichen erkennen, das für einen neuen Überfall der Bestien sprach. »Ich habe gehört, daß Hingis versuchen wird, die Eiskönigin zu wecken!« »Ob es ihm gelingt?« Sie zuckten mit den Schultern. Viele Menschen waren getötet worden. Eine sehr große Menge war mehr oder weniger schwer verwundet. Die verschiedenen Stämme unter ihren zehn Fürsten hatten den Zuugs und den Bestien wütende Kämpfe geliefert und waren zerstreut worden. Das Vieh und die Ernte hatten gelitten. Je früher die Dörfer, die kleinen Städtchen und die Arbeiter gewarnt werden konnten, desto schneller und besser konnten sie sich wehren. Und es würden mehr Bestien als Menschen sterben. Einige Stunden vergingen. Hin und wieder ging einer der Späher bis zum äußersten Punkt des Abhangs und starrte hinunter. Sie sahen nur die tiefe Bodenspalte, die keinen Grund zu haben schien. Noch
hatte sich nicht ein einziger Mann dort hinunter gewagt. Angar preßte sich gegen die Felsen und versuchte, im schwindenden Licht genauer sehen zu können. Irgend etwas tat sich dort unten. Er sah undeutliche Bewegungen und winkte hinter sich, ohne die Augen von dem Bild zu lassen. »Schnell!« flüsterte er. »Sieh hinunter! Kannst du etwas erkennen?« Der Anführer der Späher klammerte sich an Angars Schulter. Er hatte die schärfsten Augen. Es dauerte fast zu lange, ehe er antwortete: »Wie immer! Die Nacht kommt, und die Bestien dringen vor. Sie sind es!« Zu zweit starrten sie hinunter. Auf dem breiten Band, das etwas heller war als die Flanken der Spalte, schob sich eine breite Prozession vorwärts. Man konnte keine Einzelheiten unterscheiden, aber es konnten nur Zuugs, Riesenspinnen und gewaltige Ratten sein. Nichts anderes. Angar murmelte: »Also doch. Heute trifft es mich, ich weiß!« »Dich und Lorsan!« bestätigte der Anführer. »Reitet zu Genol und Hadrek. Ihr kennt den Weg, aber ihr werdet es alles andere als leicht haben.« Sie sahen sich an, nickten sich zu. Sie kannten die
Gefahren. Noch einmal sahen sie hinunter in den abwegigen Schlund des Weltentor-Tales und schätzten die Menge der vorrückenden Bestien aus der rätselhaften Welt hinter dem Tor. Dann zuckte Angar mit seinen breiten Schultern und sagte: »Ich reite los. Aesyr sei Dank – wir haben Mondlicht!« »Wenn nicht die Wolken aufziehen!« warnte der Späher. Er begleitete Angar zu den Pferden und berichtete leise und in schnellen Worten, was sie gesehen hatten. Die Freunde halfen zusammen und rüsteten die beiden Reiter aus. Angar und Lorsan schwangen sich in die Sättel. »Viel Glück!« wünschte ihnen der Anführer. »Ihr werdet nicht weniger Glück brauchen!« brummte Angar und beugte sich über den kurzen Hals des Pferdes. Das Tier schien zu wissen, worum es ging. Fast gleichzeitig galoppierten die beiden Tiere an und bewegten sich über die Hochfläche nach Süden. Angar und Lorsan nahmen den direkten Weg. Erst kurz vor dem Fluß würden sich ihre Wege trennen. Auch der Rest der Gruppe, also die fünf Späher mit den Packtieren, zerrten die Sattelgurte fester. Ebenfalls war ihre Aufgabe genau umrissen. Sie mußten in einem sicheren Abstand zu der größten Menge der Bestien reiten und genau registrieren, wohin der Hauptast der
Prozession des Grauens steuerte. Langsam ritten die Späher den Weg zurück, den sie gekommen waren. Leise, in einem langsamen Trab, hintereinander, die Waffen fest in den Händen. Das Mondlicht war schwach und warf aus jeder Erhebung, jedem Felsbrocken, jeder Pflanze, lange, gespenstische Schatten. Die Späher waren eindeutig schneller als die sich schiebenden und drängenden Bestien. Niemand wußte, wie es jenseits des Weltentores aussah, und warum ausgerechnet in der beginnenden Nacht sich die Ströme der Riesenspinnen und der Ratten in das Eisland ergossen. »Schneller und leiser!« zischte der Anführer. Ohne den Spalt, der sich jetzt wieder abflachte, aus den Augen zu lassen, galoppierten sie nach Südwesten, schräg fort vom Ausgang der Schlucht und von den Spitzen der Bestien. Die Reiter wußten, daß der Tod ihnen folgte und daß keiner von ihnen zurückbleiben durfte. Die »Spitzohren« witterten sie mit geradezu überirdischer Sicherheit. Die Hufe der Pferde klapperten auf den Steinen und erzeugten auf den moosbedeckten Flächen dumpfe Trommelwirbel. Stoßweise ging der keuchende Atem der Tiere. Die Männer hingen nach vorn übergebeugt in den Sätteln und hielten die Schwerter oder Speere in den Händen. Wieder kam das Verhängnis über das Eisland.
Sie ritten, so schnell sie konnten, aber nicht unverantwortlich schnell. Die Tiere waren ausgeruht, aber sie durften nicht überfordert werden. Brach sich eines der Pferde ein Bein, dann war auch der Reiter verloren. Es war sehr weit bis zum Fluß und zum Palisadenlager. Lorsan fluchte, als ihm Zweige ins Gesicht schlugen und die Haut aufschürften. Er riß den Schwertarm hoch. Das bleiche Mondlicht funkelte auf der frisch abgezogenen Klinge. »Was ist los?« Angar beugte sich zurück, zog am Zügel und spähte nach hinten. Er sah, wie Lorsan zwischen den kahlen Weidenbüschen hervorsprengte und wieder auf den kaum sichtbaren Pfad zurückritt. »Nichts! Nur Zweige und Dornen!« keuchte Lorsan. »Wir haben noch bis Mittag zu reiten, ehe wir Fürst Hadrek in seinem Palisadendorf erreichen!« sagte Angar laut. »Vergeude deine Kraft nicht mit Fluchen, Mann!« Lorsan ritt an ihm vorbei. Sein Gesicht blutete aus vielen kleinen Wunden. Angar ritt wieder an und folgte dem anderen Späher durch die vom Mondlicht und den wilden Schatten verzauberte Landschaft. »Du kennst den Weg?« schrie Lorsan nach einer Weile.
»Ja, noch immer. Aber jenseits des Tales verlasse ich mich nur auf dich. Ich bin aus einer anderen Richtung gekommen.« Vom Heiligen Berg, dessen fingerähnlichen Gipfel man in der Ferne gerade noch erahnen konnte, bis zu der rätselhaften Erdspalte waren es zwei knappe Tagesritte, wenn es keinerlei Zwischenfälle gab. Jetzt, im Mond des Wolfes, würde auch die einzige bekannte Furt passierbar sein, wenn Angar Glück hatte und das Pferd nicht in dem eiskalten Wasser strauchelte und ausglitt. Bis morgen in der Nacht konnte er seinen Weg bis zu Fürst Hingis schaffen. Unter ihm zermalmte der Pferdehuf einige Knochen, die wie dürres Holz zerbrachen. Ein Tritt schleuderte einen Totenschädel auf den Weg. »Ich werde dich sicher zum Fluß bringen!« rief Lorsan zurück. »Wenn wir nicht auf Bestien stoßen.« Sie hatten sich oft genug im Kampf mit diesen drei verschiedenen Bestienarten befunden. Die Ratten, so groß wie gutgenährte Hunde, waren zu besiegen, aber sie sprangen jedermann mit einer selbstmörderischen Wut an, den sie sahen. Die mörderischen Spinnen hingegen waren langsamer und heimtückischer. Überall konnten sie lauern; sowohl auf den Ästen der Baumgruppe dort vorn oder in kleinen Gruben, im Gebüsch neben dem Tierpfad, unter überhängenden
Felsen. Angar fühlte, wie sich seine Muskeln versteiften, wie seine Haut rauh und eiskalt wurde. Die schlimmsten Feinde aber waren die Zuugs, diese übermannsgroßen und haarigen Wesen, die wie entartete Menschen aussahen und doch keine waren. Alle drei Gruppen waren keine besonders klugen Kämpfer, aber ein geradezu verblüffender Hunger auf frisches, blutendes Fleisch war allen eigen. Jeden Augenblick erwartete Angar rechts oder links des Weges einen der spitzohrigen Zuugs auftauchen. Aber der Mond stieg zwischen den Sternen hoch, die kleinen Wolken trieben vorbei, die beiden Pferde schienen unermüdlich zu sein ... nichts geschah. Sie ritten die ganze Nacht hindurch, einmal schneller, dann wieder langsamer. Sie gönnten sich und den Pferden drei kurze Pausen, in denen sie mit ihren Fellumhängen die Tiere trockenrieben. »Verdammt kalt heute, Späher!« sagte Lorsan und schleuderte die leere Flasche ins Gebüsch. Es gab ein helles, splitterndes Klirren, als das Glasgefäß einen Stein traf. »Vielleicht lähmt die Kälte auch die Bestien!« gab Angar zurück und fühlte, wie der gewaltige Schluck Wein den Magen warm, den Körper aber müde machte. Er rieb mit dem Rücken des Handschuhs seine Augen. »Vielleicht. Aber in zwei Stunden geht die Sonne
auf!« murmelte Lorsan und hob seinen Fuß in den Steigbügel. »Ja, sie macht keinen Unterschied zwischen uns und diesen Monstren!« fauchte Angar und schwang sich ebenfalls in den Sattel. »Ab dort vorn, dem einzelnen Baum, mußt du führen. Ich bin den Nebenweg gekommen!« »Ich habe verstanden, Angar.« Mit dem feinen, geschulten und geübten Instinkt des Jägers und Kämpfers merkten sie beide, daß sie mitten in die Gefahr hineinritten. Sie wußten und sahen nichts, sie hörten nicht einmal etwas, aber jeder weitere Schritt, der sie den nördlichen Ufern des Eisflusses näherbrachte, führte sie in eine Zone, die mit einiger Sicherheit voll von Bestien war. Nur dann, wenn es ihnen in der Zwischenzeit gelungen sein sollte, über die Palisaden zu kommen und Hadreks Getreue auszurotten, würde das Gelände frei sein. Jetzt ritten Angar und Lorsan dicht nebeneinander. Sie spürten die Gefahr und drängten sich zusammen. Ihre Unruhe teilte sich auch den Tieren mit. Sie alle wurden müde. Gerade diese Zeit zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Nacht und Tag, machte sie willenlos und schwach. Aber immer wieder rissen sie sich hoch. Sie öffneten die Augen, spannten die Brustmuskeln und atmeten tief ein und aus, standen in den Sätteln
auf und spähten umher. Als die Sonne zwei Handbreit über dem Wald und den Hügeln stand, sahen sie die Rauchfahnen aus dem Palisadendorf. Dahinter, in der Tiefebene, floß er dahin, der Eisfluß, der aussah wie ein Band aus schmutzigem Schnee. Das Gelände fiel von hier aus, von der Hügelkuppe aus, ungleichmäßig ab. Überall waren bearbeitete, aber teilweise verwüstete Felder zu sehen. Die wenigen Hütten waren zerstört oder verfallen. Und jetzt ... Angar deutete mit der Schwertspitze nach vorn. »Dort sind sie. Verdammt! Es sind zu viele, Lorsan!« Sie zogen die Zügel straff und beugten sich vor. Es waren kleine Gruppen von Monstren und »Menschenbestien«. Jeweils zwanzig oder dreißig aller drei Bestien bildeten eine Gruppe. Sie näherten sich langsam und von allen Richtungen dem Palisadendorf. Zwischen ihnen – soweit dies die beiden Reiter sehen konnten – gab es große Zwischenräume, die vollkommen leer waren. »Kampf? Niemals, Angar. Wir müssen durchbrechen. Schnell und nach Möglichkeit, ohne mit ihnen zusammenzukommen. Wir sind schneller, das ist unser Vorteil.« »Frag einmal dein Pferd, warum es den Kopf so hängenläßt!« murmelte Angar und zuckte die
Schultern. Die Tiere waren ebenso erschöpft wie sie selbst. »Langsam hinunter. Erst dann schneller werden, wenn sie uns erkannt haben und angreifen!« schlug Lorsan vor, »Das ist die einzige Möglichkeit. Also bleiben wir, so gut es geht, in der Deckung.« »Uns bleibt keine andere Wahl, Späher!« Sie ritten los. Sie mußten in den Tälern und entlang der Baumreihen bleiben, in den eiskalten Bächen waten und die Köpfe einziehen. Sie bohrten die Sporen in die Weichen, lösten die Zügel und ritten langsam hangabwärts. Ein Stundenritt entfernt drehten sich die Rauchsäulen der Morgenfeuer hinter den Palisaden in die Höhe. Die Sonne wurde zunehmend wärmer, und jedesmal, wenn sie in einen Schatten eintauchten, war es wie der Schlag einer flachen Hand. Von ihnen hing alles ab. Vor ihnen, hinter ihnen und an allen Seiten lauerten die Bestien. Es würde ein Ritt werden, den nur ein Teufel überstehen konnte. Sie nickten sich zu und sprengten dann auf eine zertrampelte Wiese hinaus.
3.
Mura trug jetzt eines der Gewänder, denen man ansah, daß sie Geschenke des Eisvolkes waren. Kostbare Stoffe, von Händlern aus dem Süden gekauft oder eingetauscht, nicht weniger kostbare Pelze und Verzierungen und sorgsam geschmiedeter Schmuck machten sie nicht jünger, aber sie ließen Mura bedeutungsvoller erscheinen. Jedes Stück schien hier in der Nebenhöhle eine Geschichte erzählen zu können. Mura lehnte sich in ihren Sessel und nahm den Pokal in die Finger. Eben hatte Dragon seine lange Geschichte beendet. Sie wußte jetzt, was geschehen war, und warum sie ihn auf ihrer verzweifelten Suche niemals gefunden hatte. Die Weisen der Berge hatten ihn zu spät gefunden und zu lange versteckt. »Ich habe einen Teil meines Lebens und alle meine Schönheit geopfert«, sagte sie düster und starrte auf ihre Finger. »Ich glaube nicht, daß du sie geopfert hast, Mura«, sagte er nachdenklich. »Immerhin haben mehrere Generationen dieses Volkes hier von dir gelernt, was sie tun können, um ihr Leben zu verbessern.« »Das stimmt auch«, sagte sie. »Ich habe mehrere Männer geheiratet – durch die lange Zeit hindurch. Ich habe eine Anzahl Kinder bekommen, aus denen niemals etwas Besonderes geworden ist. Jedenfalls ist kein ›schlafender Gott‹ darunter gewesen und kein
König von Myranien. Aber es waren einige ganz vernünftige Fürsten unter ihnen, und sehr schöne Mädchen, die später heirateten und bedeutungslos wurden.« »Edil, der im Kampf gegen die Bestien gefallen ist, war dein Sohn?« »Richtig.« Mura nickte. »Und also ist Arric der Rote mein Enkel. Ich bin seine Großmutter. Er hat, sagst du, keinen guten Charakter?« Dragon lachte kurz. »Jedenfalls behauptet das Ubali, mein treuer Helfer und Schlachtengefährte. Er ist auch der festen Meinung, daß Arric auf uns mehrere Mordanschläge hat durchführen lassen. Aber das sind keine Dinge, über die wir uns unterhalten sollten. Ich hätte es nicht gewagt, deine Ruhe zu unterbrechen, wenn nicht das Eisvolk von einer großen Gefahr bedroht wäre. Es ist eine Gefahr, die wir alle allein nicht besiegen können. Indirekt hängt sie mit Cnossos, dem Balamiter, zusammen.« »Berichte, Dragon!« sagte Mura leise. Sie wartete. In den rund zwölf Stunden, in denen sie wach war, hatten ihre Roboter ihr geholfen. Die Überlebensstation war sehr gut ausgerüstet, aber immer mehr Kleinigkeiten versagten und fielen für immer aus. Wieder ein Stück des atlantischen Erbes ausgefallen, wieder eine winzige Möglichkeit weniger,
Atlantis und alles, was damals gut und erstrebenswert gewesen war, in einer anderen Form auferstehen lassen zu können. Mura hatte sich gebadet, hatte gegessen und getrunken und ihren Kreislauf mit Medikamenten stabilisiert. Nachdem sie ein Gewand ausgesucht hatte, war der Schock gekommen – sieben Jahre und die darin stattgefundenen Änderungen mußten von ihrem Verstand geklärt werden. Und natürlich zuerst die Nachricht, daß Dragon sie geweckt hatte. »Etwa zwei Tagesritte von hier, nördlich des Eisflusses, ist ein Weltentor aufgebrochen.« »Ein Weltentor also. Ein Zugang in eine Parallelwelt!« murmelte sie. »Das ist eine schlimme Sache, Dragon.« »Ich weiß es, deswegen habe ich dich erweckt, nachdem ich die Koordinaten der Überlebensstation auf diesem ›Himmelswagen‹ gefunden hatte. Nur du kannst dem Eisvolk und diesem Planeten helfen.« »Ich habe noch einen einzigen Gleiter, der auch nicht mehr sehr gut ist«, erwiderte sie. »Aber meine Möglichkeiten, beziehungsweise die Möglichkeiten dieser Überlebensstation, sind noch immer bemerkenswert.« Dragon wußte dies. Mit seinen Erinnerungen, die von Tag zu Tag besser geworden waren und genauer, kam auch das Wissen über die Ausstattung der
wenigen Stationen. Sie mußten sogar einen Elementwandler hier haben, ein funktionierendes Modell des »Kasten-der-alles-kann« der Weisen vom Berg. »Wir müssen sie alle einsetzen, alle Möglichkeiten, um dieses Weltentor zu verstopfen. Ich bin mir darüber klar, daß ein Zugang zu einer Parallelwelt nicht zu schließen, wohl aber zu blockieren ist!« sagte Dragon. Mura nickte schweigend und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an. Der Blick war schwer zu deuten – oder sehr leicht zu deuten. Dragon war plötzlich aus dem Nebel der fernen Vergangenheit aufgetaucht. Aus einer glücklichen Zeit, den Tagen ihrer Liebe. Er hatte sich aus dem Schatten, zu dem er durch die lange Zeit geworden war, plötzlich verdichtet und war hervorgetreten. Er selbst war eine Sagengestalt, die zu Fleisch und Blut geworden war. Wieder musterte sie ihn genau. Zwischen ihnen stand die unendlich tiefe Vertrautheit zweier Menschen aus dem gleichen Kultur- und Zivilisationskreis. Sie befanden sich, bildlich gesprochen, auf einer winzigen Insel. Ringsherum war die einförmige Wildnis der Barbarei, an einigen Stellen gemildert, an anderen Stellen sehr drastisch und erbarmungslos. Dragon aber war wie eine Art Wunder.
Dragons Körper, der eigentlich längst zu Staub zerfallen sein mußte, war höchst lebendig. Er war so, wie sie ihn in Erinnerung hatte – und doch ganz anders. Dragon hatte in der kurzen Zeit zwischen seinem Erwachen aus dem Überlebensschrein und heute an Männlichkeit und Reife gewonnen. Er war reifer und reizvoller geworden. In ihr regte sich ein Begehren, über das sie eigentlich schon längst hinaus sein mußte; wieder narrten sie ihre Gefühle, die zugleich mit den Erinnerungen an Atlantis zurückgekommen waren. Es war hoffnungslos. Ein verwegener, gefährlicher Gedanke blitzte durch ihren Verstand, der immer schneller und besser zu funktionieren begann. Auch sie mußte sich erst wieder daran gewöhnen, daß sie aktiv handelte und nicht länger mehr schlief. »Wir können das Weltentor blockieren«, sagte Mura. »Aber nach allem, was ich gehört habe, sollten zuerst diese blutgierigen Bestien vernichtet werden, ehe sie meinem Volk noch mehr schaden können. Laß mich überlegen, Dragon.« Er stand auf und warf seinen langen Mantel über eine Sessellehne. Dann näherte er sich dem Tisch, auf dem die Weinflasche stand und sein Pokal. Also hatte Mura den Handwerkern des Eisvolkes auch beigebracht, daß Sand alles andere als wertlos war. Sie verstanden die
Kunst des Glasblasens, jedenfalls gab es hier Flaschen und schöne Gläser. Dragon warf einen schnellen Blick auf die beiden Roboter, die bewegungslos neben dem Ausgang in die Haupthöhle standen. Merkwürdig, dachte er, ich erkenne sie wieder, die Maschinen, aber sie sagen mir nichts. »Was kannst du tun, Mura? Welche Möglichkeiten hat diese Station?« Sie sagte nach kurzem Nachdenken: »Auf keinen Fall können wir kämpfen. Wir müssen mit List vorgehen. Keine Sorge, in einigen Stunden ist mir allerhand eingefallen!« Sie blickte fast bewundernd auf die Gestalt, die sich vor ihr unruhig hin und her bewegte. Mura hatte ihre Jugend unwiderruflich verloren. Dragon war jung geblieben. Sein wilder Haarschopf, das gebräunte Gesicht, das bereits jetzt, in der Jugend, erkennen ließ, daß er jedes Jahr besser aussehen würde. Seine Schultern schienen breiter und seine Muskeln schienen mächtiger geworden zu sein. Die Kleidung war die eines Barbaren, aber Dragon bewegte sich ganz anders. Vor allem sprach aus jeder Geste, aus jeder der kraftvollen Bewegungen die Schulung von Atlantis. Ein junger, kluger Mann, der jedes Jahr besser, klüger und kraftvoller werden würde. Er war hinreißend, und wieder spürte Mura – denn das waren ihre Gedanken
gewesen – ihre eigene Position. Sie war unansehnlich und alt geworden. Sie würde die anderen Frauen, jene Amee, Maratha und Kyrace nicht zur Seite drängen können. Nicht mehr heute. »Ich möchte«, sagte Dragon leise, »dich weder in deinen Gedanken unterbrechen, noch möchte ich dich drängen. Was kannst du tun, was können wir tun?« Mura erwiderte zögernd: »Tobos hätte gesagt ...« »Tobos? Konnte er hierher flüchten?« fuhr Dragon auf. »Lebt er noch? Aber die Schreine waren leer!« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Tobos, einem jungen Wissenschaftler und mir gelang die Flucht aus dem untergehenden Atlantis. Der vierte Überlebensschrein war für dich bestimmt. Aber Tobos starb vor einem halben Jahrtausend an einer geheimnisvollen Krankheit. Ich glaube, eigentlich starb er vor Enttäuschung. Er gab sich selbst auf.« »Ich verstehe«, entgegnete Dragon. »Und der dritte Flüchtling?« »Er wurde eine Wachperiode später von einem Mann des Eisvolkes erschlagen. Ein Fall von Blutrache.« »Also sind wir allein übriggeblieben«, sinnierte Dragon. »Zwei Menschen, von einer großen, blühenden Kultur. Ich glaube, wir sollten die Mittel der Station schnell einsetzen. Wie groß ist der Gleiter?« Mura antwortete schnell:
»Er faßt vier Personen und eine Menge Ladung. Es ist eine Art Expeditionsfahrzeug. Aber sein Zustand ist nicht mehr gerade das, was man ausgezeichnet nennen könnte.« »Gleichgültig. Zuerst müssen wir die Bestien zusammentreiben und ausrotten. Mit einem Gift. Kannst du so etwas herstellen?« »Ja«, sagte sie. »Und du wirst mir helfen müssen. Dabei kannst du gleich alle noch funktionierenden Anlagen der Überlebensstation kennenlernen. Wieviel Stunden sind es noch bis zum Morgengrauen?« »Nur noch eine Stunde!« erwiderte einer der eisernen Diener. Für Dragon und Mura war die Arbeit, die sie jetzt begannen, nicht nur ein Mittel, das große Eisvolk zu retten, sondern auch eine vorzügliche Gelegenheit, durch Tätigkeit von den quälenden und lastenden Erinnerungen abzulenken. Sie begannen augenblicklich mit ihrem Plan und einem Teil seiner Ausführung. Am frühen Vormittag winkte Dragon, der blinzelnd aus dem Tor herauskam, seinem Kampfgefährten. »Ubali, bringe mir Fürst Hingis hierher, bitte. Er wird beweisen müssen, daß er seinen Beinamen ›der Kluge‹ zu Recht trägt.« »Was brauchen wir? Wird sie helfen, die Eiskönigin?«
»Natürlich!« sagte Dragon und schlug Ubali kräftig auf die Schulter. »Sage Hingis, wir haben es eilig.« »Ich renne, Herr!« Die Sonne war aufgegangen und überschüttete das Land mit ihrem Licht. Dragon ließ seine Augen umherwandern und sah jetzt zum erstenmal deutlich und mit Überlegung, wie sehr sich diese Landschaft jenseits der Eisbarriere von den Ländern im Süden unterschied. Sie war grün und saftig, voller Nadelbäume und Äcker und Wiesen. Die Tiere waren größer und schienen fetter, aber auch weniger beweglich zu sein. Die kleinen Dörfer, die weit verstreut im Gelände lagen, waren jetzt zumeist ausgestorben, denn die Bewohner hatten sich in den befestigten Lagern zusammengefunden. Schnelle Schritte rissen Dragon aus seinen Gedanken. Er erhob sich von dem runden Holzklotz, auf dem er gesessen hatte, und hob den Arm. »Fürst Hingis!« sagte er. »In wenigen Tagen wird der Spuk der Bestien vergangen sein.« Hingis kratzte sich an seinem rasierten Kinn. Er runzelte die Stirn und sagte: »Mein Freund, danach sieht es nicht aus. Wir haben in aller Frühe Rauchzeichen aufgefangen, die vom Palisadenlager am Fluß weitergegeben worden sind. Ein neuer Zug Bestien ist in der vergangenen Nacht aus der Spalte hervorgekrochen und nähert sich dem
nördlichen Ufer des Eisflusses.« »Auch diese Bestien werden wir vernichten«, murmelte Dragon. »Wir brauchen aber die Hilfe deiner Leute. Und, so leid es mir tut, wir brauchen auch zwei Dutzend eurer Tiere.« Hingis dachte nach. »Wozu?« »Wir müssen sie schlachten und in Stücke hauen. Die Eiskönigin bereitet gerade ein ganz besonderes Gift vor. Dieses Gift wird auf das rohe Fleisch gestreut und in das Blut. Aber das wird sie dir alles erklären. Kommt am frühen Nachmittag alle hierher, vor das eiserne Tor ohne Rost.« »Einverstanden. Meine Leute werden dieses Opfer nicht gern bringen!« sagte der Fürst. »Lieber schlachten wir alle Bullen und Kühe, ehe noch ein Mensch von den Bestien zerfleischt wird.« »Ich weiß, daß du recht hast. Ich sage es ihnen!« Sie wechselten einen harten Händedruck. Hingis vertraute Dragon uneingeschränkt, seit er gesehen hatte, wie die eiserne Platte sich knirschend geöffnet hatte. Dragon war der Freund der Eiskönigin, und die Eiskönigin war die beste Freundin der Menschen des Eislandes. Langsam ging Hingis von der freien Fläche hinunter in das befestigte Lager. Dragon warf noch einen letzten Blick auf die Landschaft, die nicht erkennen ließ, daß der vielfüßige Tod in ihr herrschte.
Dann wandte er sich ab und ging zurück in den Felsendom mit seinen vier leeren Überlebensschreinen. Die Roboter kümmerten sich bereits um den Gleiter, den sie aus einer der vielen Nebenhöhlen herausgebracht hatten. Dragon sah die Konstruktion an. Sie ähnelte stark dem alten Gerät, mit dem er hierher geflogen war, und das inzwischen restlos unbrauchbar war. Von rechts näherte sich jemand. Dragon richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und erkannte Mura. Sie trug jetzt eine Art Männerkleidung. Es waren verzierte Stiefel, eine Hose und darüber eine dreiviertellange Pelzjacke. Ihr Haar war offen und fiel weich aus den dunklen Pelzkragen der Schultern. »Das Gift ist fertig!« sagte sie. »Wir können beginnen. Hat Hingis eingewilligt?« »Ja. Er versucht gerade, seine Leute für diese Idee zu gewinnen. Sie werden natürlich ihre wertvollen Tiere nur ungern schlachten.« »Ich werde es ihnen erklären!« Zwei Stunden später stand der Gleiter auf der Felsterrasse vor dem Höhleneingang. Auf der Ladefläche standen drei große Kanister, die mit einer einfachen Sprühmechanik ausgestattet waren. Weitere Behälter des Giftes, das Mura mit dem alten Elementumformer hergestellt hatte, befanden sich in
der Höhle. Die Menschen, die sich hier gegen die Bestien verschanzt hatten, kamen langsam zusammen. Nur die Wächter und die Posten an den einfachen Wällen und den Palisaden blieben dort, wo sie gebraucht wurden. Deutlich hörte man die Schreie der Tiere, die man zusammentrieb und erstach. Selbst das Blut wurde in hölzernen Eimern gesammelt. Das erste Erscheinen der Eiskönigin im hellen Licht des Tages wurde mit einem Jubel begrüßt, der lauter und begeisterter wurde, je mehr Leute aus dem Stamm Hingis‘ zusammenkamen. Schließlich bildeten sie wieder einen dichten Ring auf der Terrasse und auf dem abfallenden Hang. Die Weise Frau begann zu sprechen. Sie erklärte, wie Dragon und sie zusammen die Bestien besiegen und schließlich das Weltentor verschließen würden. Angar blickte zurück und wußte, daß er dem Tod so nahe war wie noch niemals zuvor in seinem Leben, das siebenundzwanzig Sommer zählte. Er war müde bis zum Zusammenbruch. Sein Schwertarm schmerzte bei jeder Bewegung und bei jedem Stoß, der den Körper des frischen Pferdes durchlief. In einem halsbrecherischen Galopp ritt Angar, der Späher, von dem Palisadenwall fort auf die Furt zu. Und die Bestien waren hinter ihm her. Mindestens fünfzig von ihnen waren unter den wütenden, verzweifelten Schwerthieben von Lorsan
und ihm gefallen. Hinter ihm schwebten die Rauchwolken der Feuerzeichen in die Luft des Morgens. Die Meldung war kurz und ließ kaum Erklärungen zu. Deswegen mußte er versuchen, die Flüchtlinge zu erreichen, die sich um Fürst Genol am anderen Ufer geschart hatten. Er mußte ihnen berichten, was genau geschehen war. Hinter ihm rannten in grotesken Sprüngen vier Ratten her. Sie waren verdammt schnell und würden ihn nach kurzer Zeit eingeholt haben. Er durfte es nicht zulassen, daß sie ihre breiten Reißzähne in die Läufe des Pferdes vergruben, denn das war sein Ende. Der feuchte Boden war schwer und erschöpfte die Kräfte des Tieres viel zu rasch. Die Erdbrocken flogen nach allen Seiten. »Verflucht sei das Weltentor!« knirschte Angar. Das Gelände fiel zum Flußufer, bis zu den flachen Wirbeln hinter den Steinen im Wasser, leicht ab. Es gab nur wenige Gebüsche und noch weniger Bäume. Aber der Boden war überall weich und schwierig. In der warmen Jahreszeit weideten hier die Herden. Es gab kein Geröll und nur einen hartgefrorenen Pfad, der zwar leer war, aber sich in unvernünftigen Windungen zum Fluß hinunterschlängelte. Die zischenden, pfeifenden Laute der Ratten scheuchten Angar wieder
aus seinen Gedanken auf. Er riß einen der kurzen Wurfspeere aus der röhrenförmigen Halterung am Sattel und wog den Schaft in der Hand. Der Schwertgriff schlug gegen seine Rippen. Angar rammte die Sporen in die Weichen des Tieres, das erschreckt aufwieherte und dann unter dem erbarmungslosen Druck des Zügels auf eine winzige Anhöhe hinaufgaloppierte. Dort brachte es Angar zum Stehen und wartete einige Augenblicke, ehe er mit aller Kraft seinen Speer schleuderte. Das Geschoß fauchte durch die kalte Luft und traf die erste Ratte dicht hinter dem dicken Nacken. Die Bestie kreischte pfeifend auf und drehte sich auf der Stelle. Sofort stürzten sich die anderen Tiere auf den verendenden Artgenossen und begannen ihn zu zerreißen, noch während er lebte. Sie waren blind vor Hunger und vor Wut. Wieder galoppierte Angar weiter. Das Pferd stob den kleinen Hügel abwärts, über einen schweren, tiefen Acker und hinaus auf das kieserfüllte Flußbett. Aber jetzt, von beiden Seiten des Ufers, kamen die »Menschenbestien« mit den spitzen Ohren auf ihn zugerannt. Sie schrien und grölten. Die Kiesel spritzten nach allen Seiten, als das Pferd, selbst halb wahnsinnig vor Angst, auf das Wasser zu rannte. »Schneller!« keuchte Angar auf. Er riß einen zweiten Speer aus dem Behälter und zielte nach links. Die
kleinen, gluckernden Wellen am Ufer kamen immer näher. Das Pferd wieherte dumpf vor Furcht auf. Angar stand in den Steigbügeln und schleuderte den Speer. Er traf nach einem Flug, der nur fünf Mannslängen betrug, in die Brust des bestienhaften Fremden, der eben einen Stein hochgerissen hatte und schleudern wollte. Aufkreischend brach die Bestie zusammen. Dann wirbelten die Hufe des Pferdes das eiskalte Wasser auf. Ein Regen aus Tropfen, der auf der Haut wie Glassplitter schnitt, überschüttete Pferd und Reiter. Aber Angar trieb das Tier vorwärts, durch das knietiefe Wasser auf die Steine zu, die die Furt kennzeichneten. Hinter ihm heulten die Bestien enttäuscht auf. Steine flogen durch die Luft. Einer traf ihn schmerzhaft an der Schulter, der andere prallte am Schild ab, ein dritter traf das Pferd. Das Wasser wurde tiefer und brach sich an den Reiterstiefeln und an der breiten Brust des keuchenden Pferdes. Verfolgt vom Heulen der enttäuschten, vor Blutgier fast besinnungslos wütenden Bestien, in einem Steinhagel, der schlecht gezielt war, voller Angst und mit neu erwachender Hoffnung dirigierte Angar das Pferd im Strömungsschatten der Steine und Felsen auf das jenseitige Ufer zu. Dort rotteten sich inzwischen kleine Gruppen von Menschen zusammen. Sie alle waren bewaffnet und sahen zu, wie er gegen das Wasser kämpfte. Sie hatten
die Bedeutung der Rauchsignale erfaßt und warteten auf den Boten, der ihnen den Rest der Botschaft berichten würde. In der Mitte des Eisflusses wurde die Strömung zu stark. Das Pferd verlor den Boden unter den Füßen. Eine riesige Welle tauchte das Pferd und den Reiter unter. Das Tier begann prustend und keuchend Schwimmbewegungen auszuführen. Sie trieben mit dem Strom schräg dem südlichen Ufer zu. Das südliche Ufer war die Rettung. Die Kälte sickerte durch die nassen Kleider und die Pelze, machte sie klamm und schwer. Auch das Tier litt, aber es kämpfte weiter, ebenso wie Angar.
4.
Dragon zog seine Handschuhe straff. Es war wichtig, daß keiner von ihnen mit dem Gift in Berührung kam. »An welcher Stelle ist es am wichtigsten und am meisten nötig, Fürst Hingis?« fragte er. Sie sahen aus wie Schlächter. Auf der Ladefläche, zwischen den Behältern mit dem Duftgift, lagen blutige, dampfende Fleischbrocken, Knochenstücke und Fellfetzen. Sie hatten die kranken, schwachen und
ältesten Tiere ausgesondert und sie buchstäblich zerstückelt. »Fürst Hadrek überwintert in einem Palisadendorf an der Nordseite des Flusses«, sagte Hingis drängend. »Es sind Rauchsignale weitergegeben worden. Meldereiter sind zu uns her unterwegs.« »Also sollen wir die Gefahr zuerst rund um das Palisadendorf beseitigen?« erkundigte sich Arric. Sein Gesicht, grobschlächtig und weißhäutig, ließ nicht erkennen, was er dachte. Er hatte sich sofort zur Verfügung gestellt, Dragon zu helfen. Aber auch Ubali hatte es sich nicht nehmen lassen, Dragon zu helfen, der am Steuer des Himmelswagens sitzen würde. Es waren nur wenige Stunden Flug bis zu dem Dorf jenseits des Flusses. »So ist es. Die Rauchsignale sagen, daß neue Bestien aus dem Weltentor gekommen sind. Mehr wissen wir nicht.« Dragon blieb neben dem Gleiter stehen und deutete auf den blutigen Haufen der Fleischstücke. »Wir werden tun, was wir können, Hingis. Ubali, Arric – los jetzt!« Sie schwangen sich in die Sitze. Ihnen würde das Gift nur schaden, hatte Mura vorhin erklärt, wenn sie es direkt aufnahmen. Hingis rief: »Dragon! Fliege niedrig mit deinem Himmelswagen!
Dann werden sich die Bestien auf euch stürzen, und ihr seht sie genau. Dann werft das Gift aus dem Wagen!« »Das werden wir tun, Fürst. Erwartet uns zurück, wenn es dunkelt!« sagte Dragon, schob den Arm aus dem Seitenfenster und winkte zurück zu Mura, die zwischen den eisernen Dienern stand und ihnen zusah. Arric blickte wild um sich und betrachtete jedes mögliche Versteck unter ihnen. Sie sahen Einödhöfe, die verwüstet und leer waren. Hin und wieder lag ein auseinandergerissenes Tiergerippe unter ihnen. Schneereste lagen in geschützten Winkeln. Sie waren grau und abgelagert. »Wo sind die Bestien!« knirschte Arric. »Sei froh, daß du keine zu sehen bekommst!« sagte Ubali laut. Aber auch er suchte nach ihnen. Die Landschaft huschte an ihnen vorbei. Überall sahen sie, wie schon auf dem Weg hierher, die Spuren der unzähligen Überfälle. Sie hatten noch etwa vier Stunden Tageslicht. Mehr und mehr blieb der fingerähnliche Berg hinter ihnen zurück. Sie kamen in das flache Tal, das der Strom im Lauf seiner Geschichte in die Landschaft geschnitten hatte. Einmal hatten sie einen einzelnen Reiter gesehen, der nach Süden ritt, als wären alle Teufel hinter ihm her. »Dort drüben! Am Südufer! Das müssen die Leute von Genol sein!« sagte etwas später Arric und deutete
auf rund angelegte Erdwälle, die mit Baumstämmen und Steinwällen verstärkt waren. Feuer brannten, Rauch stieg auf, und die Menschen liefen durcheinander. »Wir landen heute nicht bei Genol!« sagte Dragon entschlossen. »Nicht heute.« Das Fleisch roch süßlich, das Blut daran war geronnen. Der Gleiter schwebte auf den Fluß zu, ging dann wieder auf Nordkurs, und die drei Männer spähten umher. Sie wurden von den Zufluchtsorten der rund vierzigtausend Flüchtlinge aus beobachtet. »Und dort drüben werden wir erwartet. Das ist deutlich!« sagte Arric. »So sieht es aus.« Nördlich des Flusses, ein ganzes Stück davon entfernt, erhoben sich die Palisaden. Sie waren an den oberen Enden zugespitzt oder einfach abgebrochen. Das weiße Innere des Holzes hob sich scharf gegen die dunkle Rinde ab. Auf der Innenseite waren Wälle und Anschüttungen zu sehen. Krieger standen darauf, schlugen gegen die Schilde und schwangen ihre Waffen durch die Luft. »Fürst Hadrek wird sich vermutlich freuen!« murmelte Dragon und steuerte den Gleiter in einer leichten Kurve auf das runde Dorf zu. Er konnte sehen, daß sich vor den Palisaden verwesende und in Stücke gerissene Bestien häuften.
Der Gleiter hob sich über die Zähne des Palisadenwalles, dann setzte er dort auf, wo sich eine Menge Männer um einen prächtig gekleideten und schwer bewaffneten Mann scharten. Dragon sprang heraus und rief: »Fürst Hadrek!« Mit klirrenden Waffen stapfte der Mann auf den Gleiter zu. Er schien, im Gegensatz zu den meisten seiner Gefolgsleute, nicht besonders verwundert zu sein, Dragon wiederzusehen. »Du kommst, um uns zu helfen, nicht wahr? Wir haben einen Späher hier, der Neuigkeiten gebracht hat.« Dragon sah nach der schwindenden Sonne und erwiderte, nachdem sie Händedrücke gewechselt und sich gegenseitig auf die Schultern geschlagen hatten: »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das Dorf ist von Bestien umzingelt?« »So ist es, Dragon!« Fürst Hadrek nickte mit gesträubtem Bart. »Dann werden wir möglich machen, daß ihr die Tore öffnen könnt.« »Können wir euch helfen?« »Ja«, sagte Arric. »Beim Schwert meines Vaters Edil! Geht nicht an die Kadaver der toten Bestien!« »Gift?« murmelten die Krieger überrascht. »Jawohl«, sagte Ubali. »Gift, das die Eiskönigin und
ihr Freund hier, mein Herr, gebraut haben. Es wird die Bestien magisch anziehen und töten. Sie werden aus allen Winkeln und Verstecken kommen.« »Recht so. Wir werden von den Wällen zusehen. Kommt ihr wieder?« Dragon versicherte: »Sobald alle Bestien vertrieben sind. Wenn wir zurückkommen, möchte ich mit dem Späher sprechen. Bringe ihn wieder hierher, ja?« »Es wird so geschehen!« versprach Hadrek. Dragon setzte sich sofort wieder hinter die Steuerung des Gleiters, ließ die Maschine hochschweben und steuerte sie hinunter vor die aufrecht in den Boden gerammten Baumstämme. Ubali zog seine Handschuhe an und zwängte sich nach hinten zur Ladefläche. Er ergriff, während Dragon die Maschine auf ein Gebüsch zusteuerte, die eiserne Gabel und schleuderte einen Fleischbrocken, an dem Knochenstücke und Fellreste hingen, hinunter in den schütteren Schnee. Dann griff der Schwarze zu der Düse, die an einem langen Stiel befestigt war und mit einem Schlauch am Kanister hing. Zischend bewegte sich die Pumpe. Aus der Düse kam ein Nebel des flüssigen Giftes, benetzte den Fleischbrocken und zog eine breite Spur über den Schnee und den aufgerissenen Boden. Augenblicklich breitete sich ein unbeschreiblicher Geruch aus.
»Jetzt verstehe ich!« sagte Arric und blickte Dragon von der Seite an. »Es ist der Geruch, der die Bestien zusammentreiben wird!« »So war es geplant!« Der Gleiter umrundete einmal die Palisaden. Fünfzig Fleischfetzen ungefähr markierten den Weg. Der Wind trieb die Geruchswolke nach Osten ab, sehr langsam, aber sehr wirksam. Es war ein merkwürdig stechender Geruch. Er roch nach Tod, gleichzeitig süß und verlockend, auch für menschliche Sinne. Sehr durchdringend, ganz anders als alle gewohnten Gerüche, zog er über die Schneereste, über das nasse Gras, das dicht am Boden klebte, durch die Furchen der zertrampelten Äcker und zwischen den kahlen Zweigen der Gebüsche hindurch. Als der Gleiter seinen zweiten Kreis um die Siedlung zog, nachdem der Schwarze das geronnene Blut aus den Eimern gekippt und ebenfalls mit dem Gift besprüht hatte, zeigte sich die erste Wirkung. Sie war durchschlagend. In einem gewaltigen Halbkreis, der östlich des Palisadendorfes lag, begann es sich überall zu rühren und zu bewegen. Ratten schlüpften quiekend zwischen den Laubhaufen hervor, sprangen aus Erdspalten und rannten von allen Seiten auf die Fleischbrocken zu. Dabei gerieten sie von Schritt zu Schritt, mit jedem
Sprung mehr und mehr, in eine unfaßbare Erregung. Sie rannten und sprangen auf das rohe Fleisch zu, gerieten in den Nebel des Giftgeruchs und gebärdeten sich wie verrückt. Sie schnappten gierig nach den Fleischfetzen, stritten sich darum und begannen dann wild um sich zu beißen. Sie griffen einander an, bildeten Knäuel wütender und kämpfender Leiber und kämpften miteinander. Das Reißen der Zähne in den schwarzen Fellen, das Scharren der Füße und das Schnappen der mächtigen Kiefer wurde lauter und widerlicher. Dragon zog den Gleiter wieder höher und wandte sich um. Die Ladefläche war noch halb voll Fleisch. Ubali winkte geradezu fröhlich nach vorn und begann wieder Luft in den Tank zu pumpen. Die ersten Riesenratten, die mit dem Gift in Berührung gekommen waren, schlugen mit den Läufen und fielen um. Ihre Artgenossen stürzten sich darauf und begannen zu fressen und zu schlingen, aber auch sie starben wenige Augenblicke später. Arric schrie auf: »Es werden immer mehr, Dragon! Das ist gespenstisch!« Der rotblonde, breitschultrige Krieger schien sich zu fürchten. Aber es war auch ein Anblick, der selbst hartgesottenen Kriegern das Grausen lehren konnte. Aus allen Richtungen tauchten die schwarzen Tiere
auf, fletschten die Zähne und stürzten sich, irrsinnig gemacht von dem Giftgeruch, auf die Köder und auf ihre Artgenossen. Es waren Tausende, die nach und nach unter den Augen der staunenden Dorfbewohner aus den Löchern und Verstecken krochen, über die freien Flächen rannten und riesige Gruppen bildeten, deren Mittelpunkt die Köder waren. Der Gestank der Bestien und der Geruch des Giftes vermischten sich zu einer quälenden Dunstwolke, die den drei Männern im Gleiter den Atem verschlug. Von hinten brüllte Ubali: »Wohin jetzt, Dragon?« Ohne sich umzudrehen, schrie der Atlanter zurück: »Wir ziehen einen zweiten und dritten Kreis um die Siedlung, aber in größerer Entfernung.« »Ich habe verstanden! Schnell, das Licht schwindet, Herr!« Der Gleiter schwebte fünf oder mehr Mannshöhen über dem Boden und wurde jetzt von Dragon nach Osten gesteuert. Unter ihnen rannten die Ratten, aber jetzt kamen die Spinnen aus den Zweigen und aus den alten Gemäuern hervor, gefolgt von den menschenähnlichen Bestien. Auch sie strebten, halb besinnungslos von dem Gift, auf die deutlich erkennbaren Köder, um die ein infernalischer Kampf tobte. Die Sonne bewegte sich dem Horizont zu. Alle
Dinge warfen lange, schmutzige Schatten. Dragon steuerte den Gleiter etwa die Strecke weit, die ein Pferd in einer Stunde brauchte. Dann hielt er an, winkte Ubali und Arric zu, die jetzt nebeneinander auf der Ladefläche standen und die eisernen Gabeln handhabten und die Giftdüsen. »Wir verteilen die Brocken in einem größeren Abstand, Freunde!« »Mit Vergnügen!« donnerte Arric, aber Ubali, der ihm heute weniger denn je zu trauen schien, nickte nur schweigend. Der Gleiter schwebte nach Norden, und in langen Abständen fielen die Fleischstücke hinunter. Ein Nebel aus Gift senkte sich, durch die Löcher der Düse gepreßt, auf den Köder und die nähere Umgebung. Einzelne Tropfen fielen über die Bordwände und markierten den Weg des Götterfahrzeugs, das ohne jeden Ausfall arbeitete und funktionierte. Auch auf diesem Weg zeigte sich, daß die Landschaft in diesem Gebiet, in einer weit größeren Entfernung vom Weltentor, als Dragon angenommen und befürchtet hatte, von den Bestien verseucht war. Sie waren überall! Überall, tatsächlich. Unter jedem Busch, in jedem Gehölz, im Windschatten von Grenzmauern ebenso wie in Erdlöchern oder in den Ästen von Nadelbäumen. Spinnen, Ratten und aufrecht gehende Wesen stürzten sich, brüllend, kreischend,
quiekend und pfeifend, auf die Köder und begannen ihre Kämpfe. Sie waren wie von Sinnen. Unbeirrbar zog der Gleiter seine Spur. Sie verteilten die Fleischfetzen bis zum letzten Rest und sprühten dann auch die letzten Kanister leer. Als die Ladefläche leer war, hatte die Maschine den weiten Kreis rund um die Palisadensiedlung beendet und raste auf den Wall zu. Dragon blickte Fürst Hadrek nachdenklich an. Im Licht von dreißig Fackeln standen sie da, hinter den zersplitterten und zugespitzten Brüstungen der Baumstämme. Dragon, mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, mit bloßen Händen – seine giftgetränkten Handschuhe hatte er weggeworfen, wie auch Arric und Ubali. Er war ausgeschlafen und vibrierte förmlich vor Energie. Diese Ausstrahlung beeindruckte den bärtigen, in kostbare Pelze gekleideten Fürsten sichtlich. Hinter ihm stand Ubali, die Arme über dem breiten Brustkasten verschränkt, mit verschlossenem Gesicht, wachsamen Augen und einem Grinsen, das von Zeit zu Zeit seine weißen Zähne sehen ließ. Neben ihm bewegte sich unruhig der rotblonde Hüne, der immer wieder mit der blaugefrorenen Hand nach dem eiskalten Schwertgriff an seiner Seite langte.
Dragon holte Atem und sagte: »Es wird einige Tage lang stinken, Fürst. Geht nicht hinaus, und um Aesyrs willen, berührt keinen Kadaver, kein Fleisch und auch nicht den Boden. Dort draußen sterben Tausende und aber Tausende der Bestien. Sie werden in der Nacht und in den nächsten Tagen aus allen Winkeln kommen und sterben.« »Ich weiß, was du meinst, Dragon«, knurrte der Fürst. »Wird uns die Eiskönigin besuchen? Wir schulden ihr vieles!« »Nicht morgen und nicht übermorgen«, sagte Dragon. »Aber vielleicht kommt sie, wenn alle Gefahren vorbei sind. Nun, die Zeit drängt, es herrscht das verderbliche Zwielicht. Wo ist der tapfere Meldereiter?« Der Fürst schob einen Mann in den Lichtkreis hinein. Dragon sah mit einem Blick, daß dieser Mann ununterbrochen gekämpft haben und geritten sein mußte. Er war ausgemergelt und erschöpft und brauchte zwei Nächte Schlaf, um wieder zu sich zu kommen. Er richtete an ihn die Frage: »Du kommst vom Weltentor?« »Ja. Ich und Angar sind geritten wie die Nachtgespenster. Auch haben wir mit den Bestien gekämpft. Vom Weltentor nähert sich ein breiter Zug von Bestien. Sie werden morgen oder übermorgen hier sein.«
»Sprich von den anderen!« Hadrek rammte ihm den Ellbogen in die Rippen. Lorsan berichtete, was vorgefallen war. Er sagte, daß seine Gruppe den Zug in achtungsvoller Entfernung begleiten würde, und daß Angar wohl das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte. Auch über die Rauchsignale erfuhren Dragon und die beiden Männer alles. Als sie sich von den Kriegern verabschiedeten, wußten sie alles, was zwischenzeitlich geschehen war. Dragon hob den Arm und sagte laut: »Wir sind morgen kurz nach dem ersten Sonnenlicht wieder hier und werden versuchen, den Zug der Bestien aufzuhalten. Eines Tages werden wir auch das Weltentor versperren, Fürst. Und jetzt – unsere Zeit wird knapp!« »Geht, oder vielmehr fliegt. Glück sei mit euch, und Aesyr wache über eure Leben und die Waffen.« Aesyr war einer der wenigen Götter des Eisvolkes. Er war der Gott des Krieges und des Kampfes. Er stand auf der Seite aller ehrlichen Krieger und bestrafte diejenigen, die sich schmutziger Tricks bedienten oder unehrlich dachten und kämpften. Dragon lächelte ingrimmig. »Aesyr ist auf unserer Seite!« bestätigte er. Die Bewohner des Palisadendorfes, rund tausend Männer mit ihren Frauen und Familien, sahen dem Gleiter nach, der mit zwei eingeschalteten
Scheinwerfern über den Fluß zurück nach Süden schwebte. Sie schwenkten die Fackeln und schrien begeistert, denn sie fühlten, daß dieser junge, entschlossene Fremde – dem die Gerüchte und Nachrichten bereits vorangeeilt waren in diesem kleinen Land auf beiden Seiten des Eisflusses – sie alle retten würde. Und da er die Himmelswagen der Eiskönigin benutzte, war es undenkbar, daß er versagte. Während Dragon zurück zur Höhle raste und zu dem Stamm von Fürst Hingis, starben ununterbrochen gewaltige Massen von Bestien. Es genügte, wenn sie das Gift berührten. Entweder nahmen sie es mit dem vergifteten Fleisch auf, oder mit dem Blut der Artgenossen, die sie angefallen hatten, oder sie atmeten es ein, oder sie berührten die Tropfen oder Flecken, die von den drei Männern hinterlassen worden waren. So wurde ein breiter Kreis rund um das Palisadendorf befreit. Die Männer horchten in die Dunkelheit hinein, aus der die Geräusche der Kämpfe kamen. Das Summen hörte auf. Die Türen des Gleiters schoben sich zur Seite, und die drei Männer stiegen aus. Die Eiskönigin erwartete sie bereits. Neben ihr stand ein Mann, der über und über mit Dreck bespritzt und dicht vor dem Zusammenbrechen war. Er blieb vor Dragon stehen und sagte:
»Ich bin Meldereiter und Späher. Ich habe zwei Pferde zuschanden geritten. Höre, was ich zu sagen habe!« Dragon lachte ihn an und erwiderte: »Aesyr ist dein Freund. Wo sind die Bestien?« Am Ende seiner Kraft, stotternd und keuchend, berichtete der Späher, was er wußte. Dann stützten ihn drei Krieger und brachten ihn über eine primitive Treppe hinunter in eines der warmen Zelte. Dragon sah Mura an und nickte: »Ich denke, wir waren erfolgreich«, sagte er. »Morgen bei Sonnenaufgang machen wir weiter.« Mura deutete auf Hingis und ordnete an: »Bis morgen früh, mein Freund Hingis, muß der Götterwagen wieder voll mit frischem Fleisch beladen sein.« Hingis versicherte förmlich: »Weise Frau, Freundin der Menschen – es wird geschehen, was du gesagt hast. Mit deiner Hilfe werden wir alle Feinde besiegen!« Sie nickte und wandte sich an Dragon. »Für dich stehen frische Kleider, ein Bad und ein gutes Essen bereit. Folge mir bitte. Wir haben vieles zu besprechen, bevor es Mitternacht wird.« Dragon zeigte ein jungenhaftes Grinsen. »Ich sehe und höre, daß du eine Frau von übergroßer Klugheit bist«, sagte er und folgte ihr in die
Höhle hinein. Während Dragon sich Kleidung anzog, die unzweifelhaft aus dem Arsenal der Überlebensstation stammte, überlegte er, was er gesehen und innerhalb der Höhlen entdeckt hatte. Viele Räume waren mit typisch weiblicher Sorgfalt und mit Liebe zum Detail ausgestattet. Mura hatte die Nebenhöhlen so wohnlich wie nur denkbar ausgestattet. Uraltes mischte sich mit dem Neuen, das die von ihr unterrichteten Menschen des Eislandes hergestellt hatten. Jetzt saßen sie in einem kleinen Raum, der sich in zwei verschieden hohe Ebenen gliederte. In der Höhlenwand, zwei Mannslängen von dem Tisch entfernt, loderte in einem kunstvoll ausgemeißelten Kamin ein Feuer aus mächtigen Scheitern. »Du hast also erkannt, worum es sich handelt?« sagte Mura und legte Braten und Früchte auf Dragons Teller. »Ja, natürlich. Heute nacht werden viele Bestien sterben. Aber morgen müssen wir den Zug der Bestien aufhalten und es ihnen künftig unmöglich machen, diese Welt zu betreten.« »Wie geht es den Leuten unten am Fluß?« »Nicht schlecht, denke ich. Fürst Hadrek mit seinen dreitausend jedenfalls ist die größten Sorgen los.« Dragon berichtete, was am späten Nachmittag alles
vorgefallen war. Noch einige Tage Arbeit mit dem Gleiter, und die Eingeschlossenen konnten an ihre Heimatorte zurückkehren und mit der Aufbauarbeit beginnen. Mura sagte: »Ich habe ein großes Vorratslager, das mit Paketen aus Konzentratnahrung aus Atlantis voll gefüllt ist. Wir können, wenn die Bedrohung vorbei ist, Karawanen ausrüsten und diese Nahrungsmittel verteilen. Ich werde sie nicht mehr brauchen.« »Auch mit dem Gleiter können sie verteilt werden!« stimmte Dragon zu. Er war ein wenig verwirrt. Die Wärme, die flackernden Kerzen, die zum Teil ungewohnten Speisen und eine Musik, die aus verborgenen Schallquellen kam, schufen hier tief in den Felsen eine Zone der Gemütlichkeit und Ruhe. Er erkannte die Musik. Sie stammte aus Atlantis. Er kannte weder die Instrumente noch die Komponisten oder die Ausführenden, aber er erinnerte sich an die Abspielgeräte. Wieder blickte er hoch und sah den prüfenden, abwägenden Blick Muras. »Du scheinst verlegen zu sein?« flüsterte sie und hob das Weinglas. »Ich bin verlegen«, erwiderte Dragon. »Du kannst von keinem Menschen angesichts eines solchen Zusammentreffens Unbefangenheit erwarten. Wie hast
du es eigentlich fertiggebracht, rund zweihundertmal aufzuwachen und zu sehen, wie sich diese barbarische Welt nicht veränderte. Wie war es eigentlich, zehn Jahre nach der Katastrophe?« Mura nahm einen tiefen Schluck und sagte: »Dort hinten ist für dich ein Lager bereitet. Wir werden wieder viel zu erzählen haben.« »Ja«, meinte er. In dieser ersten Hälfte der Nacht hörte er eine fast unglaubliche Geschichte. Sie enthielt fast all das, was in seinen Erinnerungen noch fehlte. Mura, Tobos und der Wissenschaftler, ihre Flucht hierher, ihr Warten auf Dragon, das erste Verschließen der Überlebensstation, das erste Aufwachen und die Suche nach Dragon, die Verzweiflung und der Entschluß, sich den neuen Aufgaben zu stellen ... eine lange und traurige Geschichte. Mitten in Muras Worten fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.
5.
Der Hufschlag der zweiten Spähergruppe verhallte zwischen den Felsen. Die fünfzehn Männer führten Reservetiere mit sich und waren mit vergifteten Fleischbrocken ausgerüstet. Sie würden überall dort,
wo Zusammenstöße und Kämpfe mit Bestien erfolgt waren, ihre tödlichen Köder ausstreuen. Fürst Hingis kam heran, als sich Ubali und Dragon fertigmachten. »Dragon! Ich möchte mit euch fliegen! Ich möchte das Weltentor mit eigenen Augen sehen!« sagte er nachdrücklich. »Hast du mit Arric gesprochen?« erkundigte sich Dragon. Wieder war der Gleiter voll ausgerüstet. Der süßliche, stechende Geruch des Duftgifts erfüllte die Morgenluft. »Ja. Ich fliege an seiner Statt!« meinte der Fürst. »Einverstanden!« antwortete Dragon. »Setz dich in den Götterwagen.« Noch immer schwirrte ihm der Kopf von Muras Erzählungen. Verglichen mit ihr hatte er es leicht gehabt, trotz der tausend lebensgefährlichen Abenteuer seiner kurzen Zeit. Sie aber war rund zweihundertmal erwacht, hatte immer wieder gegen die Barbarei und die Primitivität gekämpft und viele große Niederlagen und viele kleine Siege erlebt. Dragon hob fröstelnd die Schultern und stieg in den Gleiter. Etwas unbehaglich bewegte sich Fürst Hingis im Nebensitz. Ubali kauerte hinter ihnen. »Auf zum Weltentor und zu dem Zug der Bestien!« sagte Dragon entschlossen und startete die Maschine. Sie flogen schnell nach Süden, überflogen das
Wehrdorf Hadreks und sahen die riesigen Flächen, die aus getrocknetem Blut, zerwühlter Erde und toten Bestien bestanden. Es waren, rund um einen der vielen Köder, kreisförmige Flächen. Die Einwohner des Palisadendorfes bewegten sich bereits außerhalb ihrer Umzäunung, hüteten sich aber, den Leichenhaufen zu nahe zu kommen. Der Geruch des Giftes lag noch immer über der Landschaft. Als eine Gruppe der Leute Fürst Hadreks den Gleiter erblickte, stießen sie Jubelschreie aus und winkten begeistert nach oben. Dragon schob den Arm durch die Fensteröffnung und winkte zurück. Der Flug ging weiter. Dragon orientierte sich an den Geländemerkmalen. Er hatte in den vergangenen Tagen unablässig Späher, Hirten und die Fürsten befragt und wußte ziemlich genau, wo sich das Weltentor befand. Alle drei Männer spähten nach vorn und nach unten. Der Gleiter flog in etwa fünfzig Mannshöhen Entfernung vom Boden. Mehr und mehr entfernten sie sich vom nördlichen Ufer. Eine Stunde verging. Die Sonne begann, nachdem sie den Dunst und den Nebel zerstreut hatte, intensiv aus einem stahlblauen Himmel zu strahlen. »Dragon! Ist das nicht eine Reitergruppe, dort, bei der langen Reihe von schwarzen Bäumen?« rief Hingis plötzlich.
Dragons Blick folgte der Richtung des ausgestreckten Armes. Tatsächlich! Dort ritten fünf Männer in ziemlich scharfem Galopp nach Süden. Die Tiere waren erschöpft und stolperten immer wieder. »Sie flüchten!« murmelte Dragon und sah sich um. Jetzt erkannte er auch, wovor die Reiter flohen. Es mußten die Späher sein, von denen Lorsan und Angar gesprochen hatten. »Ja. Sie fliehen vor den Bestien. Dort!« Wie ein plattgetretener Wurm bewegte sich eine breite Bahn aus dunklen Körpern aus einem Einschnitt hervor, der genau mit der Horizontlinie abschnitt. Zwei, drei Stundenritte lang, fünf Mannslängen breit, schwarz und drohend und nicht sehr schnell kamen dort die Bestien, die aus dem Weltentor hervorgekrochen waren. »Jetzt kennen wir unser Ziel! Zuerst sagen wir den Männern, daß sie nicht mehr zu flüchten brauchen!« ordnete Dragon an und steuerte den Gleiter in eine scharfe Kurve. Er flog schräg dem Boden zu und lenkte die Maschine auf einen Punkt zu, den er und die Reiter etwa zur gleichen Zeit erreichen würden. Es war ein kleiner Hügel, von einem riesigen, blattlosen Baum bestanden. Dort landete Dragon den Gleiter. Hingis und er sprangen in den dünnen Schnee hinaus. »Kennen Sie dich, Fürst?« fragte Dragon unruhig und blickte hinüber zur Spitze des Bestienzugs.
»Das will ich meinen!« sagte Hingis. »Das ist gut.« Die Reiter hatten sie jetzt gesehen, änderten geringfügig ihre Richtung und galoppierten auf die Maschine zu. Als sie den Fuß des Hanges erreicht hatten, stutzten sie vor dem fremden, unbekannten Gefährt. Hingis hob beide Hände an den Mund und brüllte: »Ich bin Fürst Hingis der Kluge. Kommt herauf! Wir sind da, um die Bestien zu töten!« Die schwer bewaffneten Reiter sprengten den Hang hinauf. Von den Mäulern der Pferde flockte gelber Schaum. Der Anführer sprang mit einem Satz aus dem Sattel und blieb vor Hingis stehen. Sein Blick ging verwirrt von dem Gesicht des schwarzhäutigen Mannes zu Dragon, dessen Kleidung fremd war. »Dies ist ein König aus dem Süden und der Freund der Eiskönigin. Das dort ist Ubali, sein Kampfgefährte. Dragon wird die Bestien umbringen. Was wißt ihr über die Bestien?« Der Anführer erwiderte stoßweise: »Wir haben sie begleitet, in weitem Abstand. Es ist ein langer Zug, aber hinter ihnen kam niemand mehr aus dem Weltentor. Sie ziehen ziemlich genau nach Süden. Zum Fluß. Es sind Tausende und aber Tausende. Wie wollt ihr sie töten?« »Mit vergiftetem Fleisch«, sagte Dragon. Die Augen
des Mannes lagen tief in den Höhlen. Er war von oben bis zu den Spitzen der Reiterstiefel mit Schmutz und Laub bedeckt. »Haben sich vom Hauptzug kleinere Gruppen abgesondert?« »Nein. Nur einmal, als sie einen der Männer verfolgten.« Ubali rief aus dem Gleiter: »Herr! Sie kommen näher!« Dragon grinste breit, schüttelte die Hand des Späherführers und sagte: »Ihr könnt hier auf dem Hügel warten und dann langsam zu Hadrek weiterreiten. Wir säubern das Gebiet. Seht genau zu, wie wir es machen – vielleicht müßt ihr mithelfen.« »Wir tun alles, wenn es nur uns hilft und das Land von dieser Plage befreit!« schrien die Männer. Dragon und Hingis sprangen wieder in den Gleiter hinein, der augenblicklich hochschwebte und startete. Die Pferde und Lasttiere waren dermaßen erschöpft, daß sie nicht einmal richtig scheuten. »Ubali!« »Ja, Herr?« »Geh mit Hingis auf die Ladefläche, haltet euch gut fest, wir fangen an.« Dragon zog den Gleiter nach unten. Er wurde langsamer und schwebte fünf Mannshöhen über dem
Boden. Der Gleiter schob sich dem Anfang des Zuges entgegen. Dort sah Dragon die anführenden, menschenähnlichen Bestien. Haarig wie verwilderte Ziegen, mit langen Ohren und weit aufgerissenen Rachen. Sie rannten langsam vor dem Zug und an beiden Seiten. Spinnen und Ratten schoben sich durcheinander. Sie alle wurden von dem gleichen unerklärlichen Drang getrieben. Sie rannten nach Süden und suchten Blut und Beute, Fleisch und andere Wesen, die sie zerreißen konnten, um ihren Hunger zu stillen. »Los! Werft die Brocken hinunter!« schrie Dragon. Eine Welle von Wut durchflutete ihn. Auch an diesem Strom der Bestien war Cnossos schuld, dessen Versuch vor zwei Jahrtausenden die Weltentore aufgerissen hatte. Hingis schleuderte mit der eisernen Gabel den ersten Fleischbrocken genau in die Spur des Zuges. Ubali bediente die einfache Pumpe und blies einen Nebel Gift nach unten. Langsam flog der Gleiter über den Zug hinweg. Beim ersten Tropfen Gift, der den Boden berührte, bemächtigte sich der Bestien eine gewaltige Aufregung. Sie wurden schneller, stürzten sich von allen Seiten auf das Fleisch. Der zweite Fleischbrocken wurde aus dem Gleiter geschleudert. Wieder bildete sich augenblicklich ein Kreis darum. Eine Spinne erwischte den Brocken und
wollte damit davonrennen. Mehrere Ratten stürzten sich, verrückt vor Freßgier, auf dieses Untier. Andere Ratten kamen herbei und griffen die erste Gruppe an. Von mehreren Richtungen rannten Menschenbestien heran, aber sie waren unfähig, das Chaos zu steuern. Wieder sprühte das Gift nach unten. Und abermals verwandelte sich ein Abschnitt des Zuges in eine Gruppe aus Wut und teuflischen Mordtrieb. Von allen Seiten kamen die Bestien und zerfleischten sich gegenseitig. Der Gleiter flog langsam nach Norden, direkt über dem Zug, der jetzt in erhebliche Unordnung geraten war. Tausende von Spinnen, Ratten und Bestien gerieten in eine Art Taumel. Ein Brocken nach dem anderen, mit Gift getränkt, verließ die Ladefläche, An der Spitze des Zuges starben die ersten Bestien bereits, die sich infiziert hatten. Todesgeruch legte sich über diesen Teil der Landschaft. Das Blut aus den furchtbaren Wunden der Fremdlinge dampfte in der kalten Luft. »Weiter!« sagte Dragon. »Wir werden in die Schlucht vorstoßen und dort die letzten Brocken auslegen.« Nach weiteren fünf Fleischfetzen erreichten sie das Ende des Zuges, der sich bereits in voller Auflösung befand. Immer wieder bildeten sich kreisförmige
Gruppen um die einzelnen Köder. Dann war die Landschaft wieder frei. Nur ein zerwühlter und zerstampfter Streifen zeigte an, daß hier die Bestien vorbeigezogen waren. Der Gleiter wurde schneller und stieß über dem leicht bergigen Gelände weiter nach Norden vor. Dragon brauchte sich nicht mehr an Baumgruppen oder Hügeln zu orientieren, er mußte nur der breiten Spur folgen. »Wir werden sie in einigen Tagen alle ausgerottet haben!« rief Hingis von der Ladefläche her. »Ja, aber denke daran, daß wir ein riesiges Gebiet überfliegen müssen. Bisher haben wir nur einige Geländeteile von ihnen befreit.« »Wir werden alle zusammen helfen!« »Das ist sicher.« Etwas später erblickte Dragon am Steuer der Maschine das Ende der breiten schwarzen Spur. Sie verschwand in einer Bodenspalte und wurde von den verschiedenfarbigen Steinen abgelöst. Es sah unter dem Gleiter aus, als begänne hier im Nichts ein Bachbett. Vorsichtig steuerte Dragon den Gleiter abwärts und befahl, wieder einige Giftköder auszulegen. Sie riegelten mit einigen Fleischbrocken, im Halbkreis ausgelegt, den Taleinschnitt ab. Dann bohrte der Gleiter wieder seine Nase abwärts und flog langsam auf den tieferen Teil der Schlucht zu. Hin und wieder zischten die Düsen auf.
Ab und zu flog ein Köder von der Ladefläche und blieb liegen. Aber keine Untiere tauchten mehr auf. Ubali und Hingis krochen wieder nach vorn. »Du wagst es, Dragon?« flüsterte der Fürst. Er war ein mutiger Mann und ein schneller, erbarmungsloser Kämpfer, wenn es sein mußte, aber dieses geheimnisvolle Tor zwischen den Welten ängstigte ihn. »Ich muß es wagen. Wir wollen dieses Tor ein für allemal schließen!« antwortete Dragon. Die Seitenwände wurden höher, jedes Grün verschwand. Steine und Schutt lösten die Büsche und Bäume ab. Unter dem Gleiter zeigten sich große Felsbrocken und dazwischen Kies. Die Sonne brannte senkrecht in die Schlucht hinein und zeigte den drei Männern den Weg. Langsam und summend schwebte der Gleiter abwärts. Totenstille breitete sich aus. Die Schlucht verlief jetzt nicht mehr geradeaus von Süden nach Norden, sondern sie begann sich zu schlängeln. Das Gestein trat an den Seitenwänden hervor und bildete überhängende Formen, von denen Wasser tropfte. Hin und wieder löste sich ein Stein und fiel senkrecht herunter. Das Krachen zerriß die Stille und ließ die Männer zusammenzucken. Der Gleiter folgte, eine Mannshöhe über dem Geröll schwebend, den Biegungen der Schlucht, die immer tiefer wurde. »Gespenstisch!« murmelte Dragon. Es war eine Schlucht wie viele andere, die er kannte, aber am Ende
der Schlucht wartete ein Geheimnis. Wieder verging eine Zeitspanne. Dann hielt Dragon den Gleiter an. Unter sich sah er die Spuren der Bestien, ihren Kot, ausgefallenes Haar, eine zusammengekrümmte Spinne und zwei verendete Riesenratten. Die Stille zerrte an den Nerven der drei Männer, die sich immer wieder umblickten, als erwarteten sie einen Überfall. »Es ist richtig! Tausende Wagenladungen können die Schlucht nicht verstopfen!« meinte Fürst Hingis leise. »Schon allein deswegen, weil dort vorn das Loch ist!« sagte Dragon. Der Gleiter schwebte um einen Felsbrocken herum. Jetzt blickten sie in die andere Welt hinein. Mitten zwischen dem geäderten, nassen Fels, an dem sich kleine Nebelfetzen bildeten, gab es einen Spalt. Er führte ins Nichts, ins Dunkel. Zwischen den Wänden war ein ovales Loch, das hochkant stand. Dahinter war nichts, nur eine Schwärze, die das Licht zu schlucken schien. Leise und nachdenklich knurrte der Atlanter: »Hier seht ihr dieses verdammte Loch, das in eine andere Welt führt. Das Weltentor!« »Willst du dort hinein, Herr?« murmelte ängstlich der Schwarze. »Wir haben keine Möglichkeit, diesen Riß zu
verstopfen, Ubali. Wenn wir mit dem Donnerstoff der Eiskönigin die Hänge dort sprengen, dann rollen die Brocken durch das Weltentor. Wir müssen hindurch. Nicht heute, Hingis!« Der Fürst starrte düster durch die Frontscheibe des Gleiters. Er schüttelte sich und sagte dann: »Du willst tatsächlich durch das Tor, Dragon?« »Ja«, sagte Dragon. »Ich muß wissen, was dahinter ist. Nur ein Berg, der auf dieses gewaltige Loch gestürzt wird, kann den Durchgang versperren. Machen wir, daß wir zurückkommen. Es gefällt mir hier nicht.« »Damit bist du nicht allein!« stöhnte Ubali und verdrehte die Augen. Er wußte genau, daß Dragon durch diesen riesigen Spalt gehen würde. Da er selbst Dragons Kampfgefährte war und ihn beschützen mußte, würde er wohl mitgehen müssen. Davor graute ihm. Der Gleiter drehte auf der Stelle, beschleunigte und schoß aus der Erdspalte hervor. Eine breite Spur aus Gift und Fleischbrocken, die sich bis zum Eingang der fremden Welt hinzog, versperrte anderen, neuen Bestien den Weg in die Eisländer. »Zurück, Dragon?« fragte Hingis der Kluge. »Nicht ganz. Wir fliegen einige Plätze an und verteilen dort den Rest der Köder.« Sie kehrten erst wieder am Abend zurück. Ein riesiger Streifen, der von dem Weltentor bis zum
nördlichen Flußufer führte und fast einen Tagesritt breit war, wurde von ihnen mit den Ködern und dem restlichen Gift von den Bestien gesäubert. Überall lagen die Fleischfetzen, und das Gift verbreitete seinen unwiderstehlichen Geruch nach allen Seiten. Die letzten Bestien in diesem Gebiet verließen ihre Schlupfwinkel und stürzten sich auf das Fleisch. Fast gleichzeitig waren die ersten Späher zurückgekommen. Sie waren mindestens drei dutzendmal angegriffen worden, aber es hatte jedesmal nur ein einziger vergifteter Fleischbrocken genügt, um die Angreifer in eine wilde Horde von Selbstmördern zu verwandeln. »Erst zwei Tage, Dragon, und schon solche Erfolge!« sagte Mura weich und legte ihre Hand auf Dragons Arm. Die Stimmung aller Menschen, die hier rund um den Heiligen Berg lagerten, hatte sich binnen eines einzigen Tages fühlbar entspannt und gebessert. Dort unten in der Ebene, so weit man sehen konnte, brachten sich die Bestien selbst um. »Du hast recht, Mura«, erwiderte er. Er war todmüde und sehnte sich nach Ruhe. »Es wird jede Menge an Arbeit geben. Wir müssen noch weitere Flüge unternehmen, um das Gesindel endgültig auszurotten. Ohne dein Gift hätten wir es niemals geschafft.« Er dachte einen Augenblick lang an die Folgen
dieser Flüge. Die Kälte und der Schnee würden die Kadaver zudecken und zersetzen. In diesem Gebiet gab es wenig Wild, und die Reste der Herden befanden sich in den geschützten Bereichen hinter den Wällen und Palisaden. Sie würden nicht an das Gift herankommen. Aber für die Raben und für Aasfresser würde es eine schlechte Zeit werden. Sie verdarben sich nicht nur den Magen. »Und das Weltentor muß auch noch verschlossen werden.« »Dabei«, sagte Dragon hart, »wird es die meisten Schwierigkeiten geben. Ich werde sprengen müssen, und zwar mit einiger Sicherheit von der Parallelwelt aus. Auf dieser Seite sehe ich keine Chance.« Zuerst würden sie den Stämmen, die an den Ufern des Eisflusses lebten, den Bau einer Brücke erklären müssen. Gleichzeitig mußten sie den vierzigtausend Menschen entlang des südlichen Ufers sagen, daß die Gefahr so gut wie vorbei war. Schließlich kamen die Karawanen und die Flüge mit den konzentrierten Nahrungsmitteln. Viele Menschen würden in diesem Winter verhungern müssen, wenn sie nicht auf die Vorräte zurückgreifen konnten, die vor zwei Jahrtausenden unter anderem dafür eingelagert worden waren, um Dragon zu retten. Es war so sinnlos oder so sinnvoll wie das Leben mit allen
unberechenbaren Zufällen. »Vermutlich hat dich der kluge Hingis das schon gefragt«, sagte Mura erschrocken. »Aber ... du willst tatsächlich durch das Weltentor?« »Es geht nicht anders.« »Also werde ich auch hochwertigen Sprengstoff herstellen müssen«, meinte Mura bekümmert. »Aber gehen wir hinein,« Fürst Hingis, Arric und Danila blieben stehen und warteten. Worauf, konnte Dragon nicht sagen. Er drehte sich zu ihnen um und sah sie der Reihe nach an. »Danila«, sagte er leise. »Ich muß morgen mit dir reden. Wichtige Dinge. Aber nicht mehr heute. Alte Freunde wie wir beide«, er deutete auf Mura und sich, »haben sich viel zu sagen.« Mura stimmte laut mit ein: »Wenn wir unsere Aufgaben gelöst haben, dann wird es ein großes Fest für uns alle geben. Drinnen, in meiner Höhle.« Fürst Hingis sagte in donnernder Lautstärke: »Du wirst viele vergnügte Gäste haben, selbst mitten im Winter, Eiskönigin!« Er entsann sich deutlich der Zeit vor sieben Jahren, als sie das letztemal aus den Felsen gekommen und ihr Volk viele Dinge gelehrt hatte. Ubali lehnte an der Felswand und starrte finster auf
Arric. Der Rothaarige hatte in den letzten Tagen keinerlei Gelegenheit gehabt, sich mit Hingis oder anderen über seinen Anspruch auf die Fürstenwürde zu streiten, aber er trug das Schwert von Fürst Edil auffällig zur Schau. Auch jetzt lagen seine Finger um den verzierten Schwertgriff, und er blickte herausfordernd in die Runde. Ubali betrachtete ihn mit rätselhaften Blicken. »Gehen wir jetzt!« drängte Mura. »Ja, natürlich.« Wieder folgte er ihr langsam in eine der kleineren Höhlen. Auch heute war ein Tisch gedeckt, auch heute halfen ihm die eisernen Diener, von denen noch ein halbes Dutzend funktionierte, sich umzuziehen und zu baden. Neben seinem Platz entdeckte Dragon eine Kassette. Als er sie nach dem Essen öffnete, erlebte er eine weitere Überraschung.
6.
Es waren nur noch winzige Einzelheiten aus der
Vergangenheit seiner Erinnerungen, die ihm fehlten. Winzige Mosaiksteinchen, die das klare Gesamtbild nicht entscheidend verändern konnten. So zum Beispiel wußte er, daß er den Namen des Komponisten gewußt hatte, von dem diese Musik stammte. Es war ein Außerirdischer gewesen, aber von welchem Sternenvolk ... er wußte es nicht mehr. Aber den leuchtenden Gegenstand, der sich in der flachen Kassette befand – den erkannte er auf einen Blick. »Ein neues Amulett?« fragte er verblüfft. »Ja. Ich brauche dir nichts mehr über den Gebrauch dieses Gerätes zu sagen«, meinte Mura. »Du kennst es. Du hast mir erzählt, daß du mit diesem GedankenSprechgerät auf der Brust aufgewacht bist. Dieses hier wird besser funktionieren und eine größere Reichweite haben. Alles andere findest du am besten selbst heraus, mein Freund.« Zum drittenmal fühlte Dragon sehr deutlich, daß er in einer eigentümlichen Umgebung gefangen war, in einer geglückten, aber eindringlichen Mischung zwischen der hohen Kultur von Atlantis und den einfachen Bestandteilen des Eisvolks. Er befand sich im privaten Bereich Muras, einer sehr klugen Frau, die deutlich resigniert hatte. Er war es sich selbst schuldig gewesen, nach Entdeckung der Koordinaten im Gleiter unbedingt die Überlebensstation zu suchen und zu erfahren, was aus
Tobos und Mura geworden war. Jetzt, nach einer riesigen Strecke Weges und einer Anzahl gefährlicher Kämpfe, wußte er es. Das deutliche Gefühl, daß in der nächsten Zeit Unheil drohte, hatte ihn mitten während dieses ruhigen Essens gepackt. »Ich danke dir, Mura«, sagte er und blickte in ihre Augen. Die Augen waren noch immer schön und ausdrucksvoll. Aber sie ließen erkennen, daß die Frau vor ihm zu viel gesehen und erlebt hatte. Sie hatte viel von sich selbst weggegeben in der selbstlosen Aufgabe, dem Volk zwischen der Großen Eiswand und der Gegend um das Weltentor zu helfen. Sie war müde geworden, das war es. Und trotzdem besaß sie noch immer viel von dem Glanz, den sie dreißig oder zweitausend Jahre vorher ausgestrahlt hatte. »Morgen werden wir Nahrungsmittel und Giftköder zwischen der Großen Eiswand und dem Südufer des Flusses unter das Volk bringen, beziehungsweise versuchen, die Bestien weiter auszurotten!« sagte er und sah in die Flammen des Kamins. Die wohlige Wärme und der sieben Jahre alte Wein machten ihn schläfrig. »Wie sieht das Weltentor aus?« fragte Mura. »Ein ovaler Riß oder Spalt in den Felsen. Vor ganz kurzer Zeit muß er voller Eis und Schnee gewesen sein. Wie lange brauchst du noch, um mit dem
Elementwandler den Sprengstoff zu erzeugen?« »Ich bin bereits an der Arbeit. Es wird alles bis zum Ende dieses Mondes fertig sein.« »Gut so. Ich werde mit Danila noch einmal das Weltentor ansehen. Ich bin müde, Mura. Der Wein, die Wärme ... und hauptsächlich die Ruhe hier in diesem Raum voller Erinnerungen.« Es war wie eine Szene von damals ... Die Kerzen brannten mit langen, ruhigen Flammen. Die Wärme und die rote Glut aus dem Kamin erfüllten den Raum mit einem intensiven Licht. Die Musik, mehr als zwei Jahrtausende alt, schwang durch die Felsenhöhle. Felle und handgeknüpfte Teppiche dämpften die verschwimmenden Klänge. Er saß hier, hielt einen Pokal voller Wein in den Fingern und versuchte, klare Gedanken zu fassen. »Wie lange wirst du diesmal wach bleiben, Mura? Oder was hast du vor, was planst du für diese Zeit?« Mura zögerte. Dragon konnte fast genau erraten, was sie dachte. Es waren dieselben Gedanken über ihr persönliches Verhältnis, die auch er hatte. Zu spät hatten sie sich wieder getroffen. »Ich weiß es nicht. Noch nicht«, sagte sie. »Ich bin alt geworden, und jedem der Fürsten ist es klar, daß meine Herrschaft hier in den Eisländern enden wird, früher oder später.« »Du willst resignieren?« erkundigte er sich und
trank das Glas leer, schüttelte aber den Kopf, als Mura nachschenken wollte. »Ich bin zu alt und zu müde zum Kämpfen. Jeder Versuch, den Menschen hier und an den vielen anderen Stellen Frieden und Kultur zu bringen, ist ein Kampf. Du weißt es selbst, Dragon.« »Ich habe es erlebt!« sagte er leise. »Aber ich werde es immer wieder versuchen. Aus den ersten Anfängen wird hoffentlich das werden, wovon wir immer geträumt haben.« »Hoffentlich. Ich bin skeptisch, aber ich werde dich mit allem unterstützen, was ich habe!« »Gut. Und ich werde jetzt ausschlafen!« sagte Dragon. »Morgen sehen wir weiter.« Er wußte, daß die Bedrohung nicht nur dieses Gebietes, sondern des gesamten Planeten solange nicht vorbei sein würde, solange das Weltentor offen war. Als er am nächsten Morgen aus der Höhle trat, schneite es. Das gesamte Land, so weit er sehen konnte, war mit einer fußhohen Schicht aus Schnee bedeckt. Strahlend hell leuchtete die Sonne auf diese riesige weiße Fläche. Weit unter ihnen raste der schlanke Schatten des Gleiters über den Schnee und das Eis. Die Sonne riß funkelnde Strahlen aus den zugefrorenen Tümpeln und Wasserflächen. Nur die Bäume bildeten in der gleichmäßig weißen Fläche dunkle Punkte und Striche.
Hingis deutete hinunter und sagte erleichtert und stolz: »Sieh, Dragon! Dort kannst du die ersten Karawanen erkennen. Sie bringen die Nahrungsmittel und die Nachrichten zu allen Gruppen, die sich verbarrikadiert haben.« »Im Frühjahr«, erwiderte Dragon, »wird der Schrecken vergessen sein. Schon jetzt hat die Natur alle Schäden unter einer Schneedecke versteckt.« Am vergangenen Tag waren sie mit dem Gleiter kreuz und quer durch das riesige Land geflogen. Mura, Fürst Hingis und Dragon waren die Insassen. Sie hatten ebenso Fürst Hadrek besucht wie auch Fürst Genol. »Ein großes Aufatmen geht über das Land, Dragon«, sagte Hingis. »Und dir verdanken wir alles. Nur du hast es geschafft, das eiserne Tor zu öffnen und die Eiskönigin zu wecken.« »Jemand, der tausend Abenteuer durchfochten hat«, schränkte Mura wohlwollend ein, »besteht auch das tausendeinste Abenteuer.« »Du sagst es!« murmelte Dragon. Zwanzig Karawanen, deren Richtungen und Ziele genau festlagen, hatten sämtliche Vorräte aus der Überlebensstation auf die Packtiere geladen und waren in schnellen Märschen unterwegs. Arric und Ubali sortierten die vielen Meldungen aus allen Teilen des
Landes. Es waren Meldereiter, die ihre Berichte und ihre persönlichen Erfahrungen schilderten. In der klaren Luft sah man Rauchzeichen und in den Nächten Feuerzeichen. Die ersten Spähertrupps, die ihre Giftköder in Eilmärschen überall ausgelegt hatten, kamen zurück und berichteten. Langsam zeichnete sich ein deutliches Bild ab. Nur noch an wenigen Stellen gab es Bestien, gegen die mit Schwert und Gift erbittert gekämpft wurde. An vielen Orten aber waren Not und Hunger ausgebrochen. Man mußte versuchen, die Herden zu teilen und einander auszuhelfen. Sternförmig ritten die Männer vom Heiligen Berg aus in alle Richtungen und würden in einigen Tagen die Grenzen des Gebietes erreicht haben. »Wohin fliegen wir?« fragte Mura. »Ich habe drei oder vier Orte genannt bekommen«, erwiderte Dragon, »an denen es noch Bestien geben soll. Außerdem müssen wir neue Köder auf dem Schnee auslegen, nämlich in der Erdspalte. Die Drohung aus der anderen Welt existiert noch immer.« Nacheinander flogen sie vier Punkte an. Hin und wieder ging Dragon mit dem Gleiter nieder und hielt bei einer Gruppe von Flüchtenden oder einer kleinen Späherschar. Er sagte ihnen, was zu tun war,
und welche Nachrichten sie weitergeben sollten. Fürst Hingis tat das Seine dazu und beschwor die Männer, sich und den anderen zu helfen. Die drei im Gleiter verteilten Nahrungsmittelkonzentrate, und als die Männer die Eiskönigin erkannten, wußten sie, daß die schlimme Zeit sich ihrem Ende entgegenneigte. Schließlich, gegen Abend, flogen Dragon und Ubali zum Weltentor. Sie verteilten Gift, Fleischbrocken und Köder rund um den Eingang und sahen keinerlei neue Spuren der Bestien. Es schien, als ob diese Gefahr vorbei wäre. Mitten auf dem Rückflug sagte Ubali: »Herr, dieser Arric, der dich als Agon-Dra kennenlernte und dem du den Arm gebrochen hast ... er sinnt nach, was er dir antun kann. Du erinnerst dich des Mannes, der in unser Zelt eindrang und von dir getötet wurde?« Dragon warf Ubali einen beunruhigen Blick zu. In den letzten Tagen hatte er an alles, aber nur nicht an Arric den Roten gedacht, diesen Enkel der Weisen Frau. »Ja.« »Ich habe Arric immer und überall hin begleitet. Und ich habe mich umgehört. Er hat diesen Mann, so sagen sie, zum Mord angestiftet.« »Ist das sicher?« Ubali hob seine breiten Schultern und brummte
etwas Unverständliches. »Ich mag ihn auch nicht«, sagte Dragon endlich. »Ich finde, daß er nicht in der Lage ist, das Erbe von Fürst Edil anzutreten, trotz des Schwertes. Aber ich fürchte, wir haben anderes zu tun, als uns um Arric zu kümmern.« Ubali schwieg eine Weile, dann begann er erneut. »Hast du ihn schon einmal beobachtet, wenn er dich anschaut, Herr?« »Nein.« »Ich sage dir, er plant Böses. Ich kann ihm nicht trauen. Er wird den ersten Augenblick, an dem er dir schaden kann, ausnutzen. Hüte dich vor ihm, Dragon!« »Ich werde es tun, Ubali«, bestätigte der Atlanter. »Nimm es nicht leicht, Herr! Er kann Niederlagen nicht ertragen, dieser Rothaarige, aber er ist auch nicht der Mann, sich einem überlegenen Gegner im freien Kampf zu stellen. Und daß du überlegen bist, hat ihm der Kampf auf der Insel der Kyrace gezeigt.« »Richtig. Ich werde ein wachsames Auge auf ihn haben, mein Freund.« »Tue dies, Herr, und du wirst überleben.« Der Gleiter raste im schwindenden Licht zurück zum Heiligen Berg. Am nächsten Tag plante Dragon, sich das Weltentor ganz besonders genau anzusehen. Wieder hatte er die richtige Zeit abgepaßt.
Die Sonne schien fast senkrecht in die lange Schlucht hinein. Es hatte in den vergangenen Nächten wieder geschneit, so daß überall eine dicke Schneeschicht lag. Es gab kaum Spuren, und wenn das Mädchen Danila und Dragon welche sahen, dann waren es solche von kleinen Herden, den Karawanen der zurückkehrenden Siedler oder der Späher und Meldereiter. Oder kleine Wildtiere, die das lange Massaker der Bestien überstanden hatten. In der Schlucht, vor dem Weltentor selbst, gab es jedenfalls keinerlei Spuren. Dragon drehte den Gleiter herum, öffnete die Türen und ließ die Antriebsmaschinen im Leerlauf. Er deutete in den Schnee hinaus und sagte: »Wir steigen aus, Danila.« Sie hatte ihn längst als das akzeptiert, was er war. Auch der Zaubermantel, den er in den letzten neun Tagen getragen hatte, erschreckte sie nicht mehr. Sie wußte, daß er diesen Menschen hier helfen wollte und auch ihr helfen würde; sie hatten in Ruhe darüber gesprochen. »Du befürchtest keine Bestien, Dragon?« fragte sie. Dragon wies auf seine Waffen und auf die Fleischbrocken voller Gift, die er von der Ladefläche holte. Sie waren mit kurzen Schnüren versehen, so daß sie leicht zu schleudern waren. »Nein. Aber ich habe dir versprochen, daß ich dich in deine stille Zone jenseits des Tores zurückbringe.
Deswegen – auch deswegen – sind wir hier.« »Ich weiß.« Sie gingen nebeneinander auf die Felsspalte zu, die sich jetzt verkleinert hatte. Riesige Tropfgebilde aus milchigem Eis hingen an beiden Seiten und von oben herunter und rahmten das ovale Loch in den Felsen ein. Es gab fast keine Felsen mehr, alles war unter Schnee und Eis verborgen. Bis zu den Knien sanken sie ein, als sie auf dieses Tor zugingen. Dragon lauschte, spannte seine Muskeln und sah sich sorgfältig um. »Du suchst nach Gegnern? Ich glaube nicht, daß jemand den Bestien folgen wird. Wann wirst du mich zurückbringen?« »Noch bevor der Mond zu Ende ist!« versprach er. Nur die Geräusche ihrer Schritte waren zu hören und hallten vom Eis wider. Vom Gleiter führte eine tiefe Doppelspur runder Krater im unberührten Schnee hierher. Ihr Atem stand als kleine Wolken in der eisigen Luft. Die Sonne war in ihrem Rücken, ihre Schatten bewegten sich vor ihnen. Wieder blieb Dragon stehen und sah in die pechschwarze Dunkelheit des Weltentores hinein. Dann beugte er sich entschlossen nach vorn und nahm das schwarzhaarige Mädchen an der Hand. Sie stapften geradeaus und bewegten sich zwischen den Eiswänden. Sie verließen das Licht und kamen in den Bereich der Nacht in der »anderen Welt«. »Morgen«, sagte Dragon leise, »werden hier Wachen
aufziehen und eine ununterbrochene Kette bis zum Heiligen Berg bilden. Dann werden wir vor jeder Überraschung sicher sein können.« Es wurde immer dunkler. Der Schnee hörte auf, die Schicht der hineingewehten Flocken wurde dünner. Sie kamen schneller voran. Im Licht, das aus Dragons Welt eindrang, sahen sie rechts und links hochragende Felsen. Der Stein, vielfach gebrochen und gekantet, war heller als der dunkle Himmel, an dem weder Wolken, noch Mond oder Sterne zu sehen waren. Hin und wieder rollte ein Stein von den Schroffen und polterte hell und krachend nach unten. Dragon murmelte: »Du sagst, daß die Natur und die Landschaft deiner Welt, abgesehen von den stillen Zonen, ständig verändert wird?« Danila nickte unter ihrer schweren Kapuze. »Das ist richtig. Wieso fragst du?« »Gilt diese Veränderung auch für die Felsen hier?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, diese Felsen sind noch am stabilsten. Ich kenne ein Felsgebirge in der Nähe unserer Wohnstätte, und das ist heute noch so wie nach meiner Geburt.« Dragon nickte. Er hoffte, daß nicht ausgerechnet jetzt einer der rätselhaften »Wanderwolken« herandriften und ihn mitreißen würde. Er wagte
abermals einige Dutzend Schritte nach vorn. Jetzt konnte er sehen, daß sich der breite Pfad aus der Schlucht hier fortsetzte und ebenfalls den Boden einer Schlucht bildete. Aber diese Schlucht war ganz anders. Hohe, fast senkrechte Felswände türmten sich mit Zacken und Kanzeln nach oben, dem pechschwarzen Himmel entgegen. Der Himmel bildete einen handbreiten Spalt zwischen den Felsenspitzen. Hier würde eine Sprengung einen kleinen Berg zerfetzen und dieses Tor verschließen – keine menschliche Kraft würde es mehr öffnen können. »Hast du genug gesehen, Dragon?« »Ja«, sagte der Atlanter und ging noch etwas weiter vorwärts, aber er sah und hörte nichts und niemanden. Er legte sicherheitshalber die vergifteten Köder quer über den Pfad, der aus Geröll in allen Größen bestand. Dann drehte er sich um, schob das Mädchen langsam an und begann auf die Grenze zwischen Hell und Dunkel zuzulaufen. Diese Dunkelheit gefiel ihm nicht. Er würde mit Ubali und Danila wiederkommen, wenn in seiner Welt Nacht war. Dann würden sie hier mit einiger Sicherheit den Tag erleben. »Auch Arric und Hingis werden mit ihren Kriegern, den Frauen und den Herden zurückgehen«, sagte Danila, als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten. »Hat Hingis dies gesagt?«
»Ja. Er läßt die Leute packen und die Schlitten und Wagen wieder beladen. Diejenigen, die noch nicht zerschlagen oder verbrannt worden sind.« »Das ist richtig so«, sagte Dragon und half ihr in den Beifahrersitz und verriegelte die Tür. Dann ging er um den Bug herum, setzte sich und trat den Schnee von den Stiefeln und der Hose. »Zurück zu Mura, der Eiskönigin!« sagte er leise. Der Gleiter startete, hob sich höher und höher und raste dann über das riesige, weiße Land in großer Höhe dem mahnenden Finger des Berges zu. Als Dragon dort auf der Plattform landete, sah er dicht neben dem Felsen Stapel, die sorgfältig verpackt waren. Außerdem registrierte er die neuen Aktivitäten im Lager, das langsam wieder abgebrochen wurde. Mura wartete auf ihn, als er den Gleiter wendete und im Eingang der Höhle abstellte. Sie eilte auf ihn zu und griff nach seinen Händen. »Was hast du gesehen? Ich war in Sorge um dich, Dragon.« Dragon berichtete ihr, wie er vorgehen würde. Sie deutete auf die gestapelten Bündel und sagte, daß der Sprengstoff genügen würde, um drei Berge zu zertrümmern. »Arric und Hingis und alle ihre Leute wollen in zwei Tagen oder drei Tagen aufbrechen. Ich habe ihnen versprochen, ein Fest zu geben.«
Dragon schluckte und starrte sie an. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen war Mura geradezu ausgelassen und fröhlich. Eine deutliche Heiterkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Keine Spur mehr von Resignation oder innerer Müdigkeit. »Ein Fest?« fragte er gedehnt und nahm von einem eisernen Diener einen Becher voll heißen Getränks entgegen. »Ein Fest zum Abschied!« bestätigte sie. »Schließlich habe ich viele Vorräte, die sonst verderben würden. Und schließlich kann ich mit meinem Elementewandler sogar hochwertige, exotische Alkohole herstellen.« »Das verspricht einiges«, stimmte Dragon zu und blickte sich langsam um. Er sah nichts, was ihn hätte mißtrauisch machen können. Trotzdem schien aus den Worten der Eiskönigin eine verborgene Bedeutung zu sprechen. »Ich werde Tische und Sitze hier in der großen Höhle aufstellen lassen. Feuerschalen werden die Höhle wärmen. Es wird ein gewaltiges Festmahl werden, auch zum Abschied für dich und das Mädchen, das ihr in ihre Heimat zurückbringen wollt.« »Gut so. Hat Arric Schwierigkeiten gemacht?« Mura schüttelte den Kopf. »Ich habe mit dem weisen Hingis gesprochen. Auf dem Thing, der großen Fürstenversammlung im Frühling, werden sie alle gegen Arric stimmen. Er ist
nicht fähig, Fürst Edils Nachfolge anzutreten. Ja ... Edil war einer meiner Söhne, der recht vielversprechend begann. Und er endete im Kampf gegen die Bestien.« Dragon erinnerte sich deutlich der Flüchtlingsströme, die ihnen entgegengekommen waren, nachdem sie die Große Eiswand überflogen hatte. Er trank das warme Zeug aus dem Becher und warf das leere Gefäß einem Roboter zu, der danach griff, den Becher aber verfehlte. Auch die Maschinen funktionierten nicht mehr so gut wie vor zwei Jahrtausenden. Dragon beschäftigte sich noch einige Zeit mit den Boten und den Befehlen, die nichts anderem als der Wiederherstellung der Ordnung galten. Es sah alles sehr gut aus. Nicht ein einziger Angriff der Bestien war bekannt geworden. Dann ging er zurück in die Höhle. Dragon erinnerte sich an die Vorfälle der letzten zehn Tage und glaubte, daß er durch nichts mehr zu überraschen wäre. Aber er irrte sich gründlich.
7.
Zwischen dem Heiligen Berg und dem Weltentor war die Signalkette der Späher lückenlos geschlossen. Aber die Männer konnten nur berichten, daß sie keine Bestien sahen und auch nichts Gefährliches, das aus der anderen Welt kam. Überall, an allen verbarrikadierten Plätzen, brachen die Menschen auf. Sie gingen mit allem, was sie gerettet hatten, wieder zurück an ihre gewohnten Plätze, in die kleinen Dörfer, die ohne Menschen und ohne Tiere waren und voller Gerippe. Unterwegs trafen sie vielfach die Karawanen und bekamen von den Männern Konzentratnahrungsmittel, die ihnen helfen würden, den Rest des Winters zu überstehen. Die eisernen Diener der Eiskönigin rüsteten das Fest. Sie stellten lange Tische und viele Sitze auf. Feuerschalen, Leuchter und fackelähnliche Leuchtkörper wurden von ihnen in Ringe an den Wänden gesteckt oder auf niedrige Tische gesetzt. Andere Roboter rollten Weinfässer heran und öffneten die Weinflaschen. Die kleine, halbautomatische Küche der Überlebensstation arbeitete auf Hochtouren. Fleisch wurde aus den Gefrierfächern geholt und zubereitet. Trockennahrung wurde eingeweicht. Die Roboter arbeiteten nach einem genauen Plan, der von Mura stammte. Danila half der Eiskönigin und sah mit
staunenden Augen auf die Maschinen. Teller, Becher und Pokale bedeckten die farbigen Leinentücher auf den Tischen. In den Lautsprechern knackte es. Mura suchte einige Musikbänder aus und ließ von den Maschinen ein Paket nach dem anderen vor die Höhle schaffen. Der Elementewandler arbeitete und produzierte kaltes, schäumendes Bier und viele Weinsorten. Erlesene Kostbarkeiten aus den Vorratsfächern erschienen in der hellen Haupthöhle. »Es sind dreißig Sitze, Eiskönigin«, sagte Danila und blieb am Kopfende der Tafel stehen. Vor Danila, die verwundert die große Menge der Sitze abgezählt hatte, befanden sich zwei Sessel, mit weißen Fellen ausgelegt, dicht nebeneinander. »Alle, die sich besonders ausgezeichnet haben, sind zu diesem Abschiedsfest eingeladen.« Mura betrachtete das junge Mädchen mit einem schmerzlichen Ausdruck. Sie war auch einmal so schön gewesen und so jung. Aber es blieb ihr noch immer die letzte Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und zurückzudrehen. Eine Möglichkeit, vor der sie zurückschauderte. »Abschiedsfest?« erkundigte sich das Mädchen aus der anderen Welt verwundert. »Ja. Unter anderem auch für dich! Ubali und Dragon werden dich schon in den nächsten Tagen zurückbringen. Und dann wird Dragon das Weltentor
sprengen.« »Kann ich dir noch helfen?« »Selbstverständlich. In der Küche ist noch viel zu tun, Mädchen!« Danila warf einen letzten Blick auf diese schimmernde, leuchtende Pracht, die sich in der Felsenhöhle entfaltete. Die Tische standen auf großen Teppichen. Das alles wirkte wie eine lichterfüllte Insel in einer großen Dämmerung. Ununterbrochen spielte die unsichtbare Musik. Danila hatte eine Reihe von Tagen voller wunderbarer Abenteuer erlebt, aber das, was sie hier sah und nur zu einem kleinen Teil begriff, überstieg alles Dagewesene. Auch die Frau, die so alt wie ihre Mutter war und dennoch schlanker und schöner war. Während Mura und Danila an den arbeitenden eisernen Dienern vorbei in eine der Nebenhöhlen gingen, blickte das junge Mädchen die Frau immer wieder von der Seite an. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff sie. Die Frau wirkte wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hatte und lächelnd in den Tod ging. Das aber war ausgeschlossen, nach allem, was Danila von den Frauen der Krieger von Fürst Hingis erfahren hatte und von Parsala, dem Mädchen, das sein Lager teilte. Mura würde die Höhlen wieder schließen und zehn Sommer lang warten, ehe sie wieder erschien und den
Menschen weitere Dinge und Kenntnisse lehrte. Sie betraten die Küche. Blitzende Kästen, in denen geheimnisvolle Lichter glühten, bräunten große Stücke Fleisch. In wuchtigen Töpfen schmorten andere Gerichte. Blasenwerfend kochten dicke Soßen. Es roch nach Wein und nach schäumendem Bier. Die Diener hantierten schnell und schweigend. Ein betäubender Duft breitete sich aus und durchzog die gesamte Höhle. »Wann beginnt das Fest, Eiskönigin?« fragte Danila leise. Sie war verwirrt von allem, was sie sah und erlebte. »Heute, nach der Dämmerung. Gehst du lieber in deine stille Zone des fremden Landes zurück, oder willst du lieber hierbleiben?« Danila schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Hier ist alles fremd und ganz anders als auf meiner Welt. Ich will zurück. Dragon hat mir dieselbe Frage gestellt.« Mura lächelte sie an. »Begreiflich, daß er dich gefragt hat. Nun, du wirst dich weiterhin um die Tafel kümmern!« »Gern, Weise Frau!« Es waren Szenen aus einem Märchen, wie Danila es in ihrer Kindheit gehört hatte. Draußen lagen Schnee, Eis und bittere Kälte über dem Land, das weiß war, so weit man sehen konnte. Hier aber, in diesem warmen
Palast im Felsen des Heiligen Berges, war eine ganz andere Welt entstanden. Farben, Wärme, Gerüche und Klänge verwandelten alles. Es war eine Zauberei, aber ein wohltuender Zauber, vor dem sich niemand zu fürchten brauchte. Trotzdem war es Danila nicht geheuer. Eine besondere Heiterkeit hatte sie alle befallen. Vor den dreißig Mädchen, Frauen und Männern standen gefüllte Teller und geleerte Gläser. Es ging hoch her, hauptsächlich an den unteren zwei Dritteln der Tafel. Eine wilde, stark rhythmische Musik kam aus den unsichtbaren Schallquellen. Es war tiefe Nacht. Dragon räkelte sich in seinem Sessel und blickte geradeaus, ein großes Glas voller herben roten Weines in der Hand. »Sie sind alle da!« sagte er leise zu Mura, die rechts von ihm saß und sich gegen seine Schulter lehnte. Dragon fühlte sich in Hochstimmung. Er war bester Laune – denn alle Aufgaben in diesem Land waren gelöst. Nach der Sprengung würde er Zeit haben, mit Mura in aller Ruhe zu beraten, was die beiden Überlebenden von Atlantis auf dieser Welt tun konnten. »Ich brauche nur zu rufen, und alle kommen. Ich gebe meine Herrschaft freiwillig ab, in der Höhe meiner sogenannten Kunst!« sagte Mura und lachte
laut und hell. Fürst Hingis, glatt rasiert und ohne Felle und Waffen, saß einige Plätze weiter unten, auf der rechten Seite. Neben ihm saß Parsala neben Angar, dem Meldereiter. Selbst die Fürsten Hadrek und Genol waren gekommen. Dragon hatte versprechen müssen, sie mit dem Gleiter morgen wieder zurückzufliegen. Auch Lorsan war da und schüttete Bier in sich hinein. Ubali saß gegenüber von Arric und aß viel, trank aber wenig. Scherze gingen hin und her. Das dröhnende Lachen der Männer war lauter als die Musik. Ausgelassene Stimmung herrschte überall. Bisher hatte es nicht einen einzigen Mißton gegeben. Selbst Arric, der immer wieder mit seinem Nachfolgeanspruch die Harmonie im Lager gestört hatte, schwieg. Er erzählte seinen Nachbarn, zwei besonders kühnen Kämpfern, die mehrere schwere Angriffe der Bestien vor den Palisaden abgewehrt hatten, spannende Geschichten von der Fahrt seines Langschiffes von der Insel der Zauberin bis hierher. »Ein solches Fest haben sie noch niemals erlebt!« sagte Mura nach einer Weile, das Gelächter und das Klirren der Gläser und Becher durchbrechend. »Mein Elementewandler ist am Ausgang des Festes nicht unbeteiligt.« »Du hast deine Vorratskammern völlig ausgeräumt!« sagte Dragon verwundert.
»Es gibt keinen besseren Zweck für diese Dinge als den, der hier gerade lautstark vorgeführt wird!« Zehn Frauen oder Mädchen und zwanzig Männer aßen und zechten. Sie redeten wild durcheinander und hatten jegliche Scheu vor der Eiskönigin verloren. Die Botschaft der Späherkette, daß bis zur Stunde keine weiteren Bestien gesehen worden waren, trug ebenfalls zu der Beruhigung bei. Morgen und am Tag danach würden die Leute von Fürst Hingis den Heiligen Berg verlassen. Mura sagte halblaut, dicht an Dragons Ohr: »In zwei Tagen wird hier wieder alles ausgestorben sein.« »Ja«, erwiderte Dragon. »Und wir können endlich ohne Unterbrechung miteinander beraten.« Mura gab keine Antwort. Dragon fühlte sich noch immer entspannt und auf seltsame Weise erregt. Die geradezu kostbaren Dinge, die Mura aus ihren Speichern geholt und aufgetischt hatte, prickelten auf seinem Gaumen. Fürst Hingis stand auf und hob seinen Pokal hoch. Er warf Mura einen Blick voller Bewunderung und Ehrfurcht zu. Dann dröhnte seine Stimme durch das Lärmen und über die Klänge der Musik: »Ich hebe meinen Pokal und trinke auf die Weise Frau, die Eiskönigin, ohne die wir selbst mit aller Kraft
und mit der Hilfe solcher unerschrockener Kämpfer wie Dragon die Gefahr aus der anderen Welt nicht besiegt hätten.« Auch Fürst Genol sprang auf und riß seinen Arm in die Höhe. Ein Schwall Wein tropfte auf den Tisch und hinterließ eine Spur blutroter Tropfen. »Auch ich stehe nicht an, dich zu loben und dir zu danken, Eiskönigin. Deine wunderbaren Maschinen und deine Klugheit waren es, die Tausende von tödlichen Bestien umgebracht haben. Du hast uns seit Beginn unserer Geschichte geholfen, und wir wissen, daß du uns auch weiterhin helfen wirst.« Mura griff nach ihrem Glas und lächelte. Sie nickte und sagte: »Ihr alle werdet, wenn ihr solche Fürsten habt wie Genol, Hadrek und Hingis, und natürlich auch Männer wie Edil, meine Hilfe nicht mehr brauchen. Ihr seid reif für die nächsten Jahrtausende!« Als Dragon aufstand und in übermütiger Laune sein Glas hob, standen auch alle anderen Gäste auf. Hurtig räumten die eisernen Diener die gebrauchten Teller und Schüsseln ab und brachten eine Reihe anderer Gerichte, die ebenfalls nicht nur einen aufreizenden Geruch ausströmten, sondern beim bloßen Anblick den Gaumen kitzelten und den Mund wäßrig machten. »Trinken wir alle auf unsere Herrscherin, auf die klügste Frau, die je mit uns gesprochen hat!« schrie
Fürst Hingis. »Danke, ihr Tapferen!« gab Mura zurück. Die Pokale leerten sich. Die Trunkenheit hatte ihren höchsten Grad noch lange nicht erreicht. Wieder fielen die Frauen und Männer über die Gerichte her. Ein Kauen und Schmatzen begann erneut. Es war ein barbarisches, aber eindrucksvolles Fest. Mischungen verschiedener Früchte und Gemüse, in einer leckeren, weißen Soße gemischt, wurden mit den glänzenden Löffeln gegessen. In den Bärten der Männer hingen die Speisereste. Aus den Mundwinkeln floß das Fett, und immer wieder tauchten die Gäste ihre Hände in das warme, parfümierte Wasser und wischten sie an flauschigen Tüchern ab. Die Mädchen kicherten auf und wehrten sich nur scheinbar gegen die derben Liebkosungen der Männer. Sie alle wußten, daß dies eine nicht mehr wiederholbare Angelegenheit war, ausgelassen und kurze Zeit ohne Sorgen neben der Eiskönigin zu sitzen und mit ihr zu zechen und zu schmausen. Ein Abschiedsfest für Danila und die Krieger, die sich hier verschanzt hatten! Dragon drehte den Kopf. Er blickte Mura an. Er besaß noch immer die völlige Kontrolle über sich selbst, obwohl er innerlich völlig gelöst und heiter war. Alle Sorgen und Probleme waren vorübergehend vergessen. Er dachte flüchtig an
genossene Leidenschaften und an Liebesnächte mit Amee und Kyrace, dann verengten sich seine Augen. Sah er nicht mehr richtig, oder hatte das Licht Mura verändert? Ihr Haar! Es war bis vor kurzer Zeit matt gewesen und stumpf. Jetzt fiel es in seidenweichen und schimmernden Wellen über ihre Schultern. Mura sah ihn an und lächelte selbstbewußt. »Du scheinst verblüfft zu sein, mein Freund?« fragte sie. Täuschte er sich abermals, oder lang wirklich ein herausforderndes Lächeln um ihre roten Lippen? Er zuckte nicht einmal zusammen, als er einen scharfen Blick in ihr Gesicht warf. Die Lippen! Sie waren frisch und köstlich wie die eines jungen Mädchens. Auch die Haut des Gesichts schien sich verändert zu haben. Frischer, straffer, ohne die geringste Falte, ohne jeden Makel. Das war nicht länger mehr die Frau von fünfzig Sommern, die neben ihm saß. Er fühlte sich verzaubert, aber mit der gleichen Gewißheit war ihm klar, der er keinerlei Sinnestäuschungen unterlag. Sein Begehren wuchs. Immer mehr kam das alte, längst vergessene Bild Muras zum Vorschein. Die Weise Frau verwandelte sich vor seinen Augen. Die Barbaren des Eislands lärmten und leerten die
Platten. Der Roboter, der die Krüge voller Bier und verschiedener Weine herumtrug und die Gläser und Becher vollschüttete, eilte um den Tisch herum, um den grölenden Rufen der Männer nachzukommen. Dragon wandte langsam den Kopf. Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Er aß einen Brocken Fleisch, etwas von dem leckeren Salat, dann trank er einen Schluck. Er hatte bisher keine zwei Pokale Wein getrunken, das wußte er genau. Ich bin nicht betrunken, sagte er sich und griff unwillkürlich an das neue, strahlende Amulett, das er über dem dicken Hemd trug, das ebenfalls aus den Lagern dieser Station stammte. Er setzte das Glas ab und sah wieder Mura an. »Mura?« fragte er vorsichtig, als fürchte er, eine Illusion zu zerstören. »Ich bin noch immer hier!« sagte sie. Auch ihre Stimme hatte sich geändert. Wieder schlug die Erinnerung zu. Ihre Stimme! Die Stimme der zwanzigjährigen Mura aus Atlantis. »Du hast dich verändert, glaube ich«, stieß er hervor. »Lassen mich meine Augen im Stich, oder hast du einen deiner Zauber angewandt?« »Deine Augen sind scharf und sehen richtig!« sagte sie leise. Sie waren plötzlich wie durch ein Wunder von der lärmenden, ausgelassenen Gesellschaft ausgeschlossen.
Nur Parsala, die sich vorbeugte und Mura und Dragon ansah, merkte, daß sich etwas Entscheidendes verändert hatte. Aber sie vergaß ihren Gedanken sofort wieder, denn sie war stark angeheitert und fühlte die Hand Fürst Hingis an ihrem Schenkel. Dragon lehnte sich seitlich zurück und starrte Mura an, als sähe er zum erstenmal eine Frau. »Du siehst plötzlich aus wie eine Zwanzigjährige, Mura!« brachte er mühsam hervor. »Ich sehe nicht nur so aus, sondern, für dich bin ich eine Zwanzigjährige geworden«, sagte sie. »Wir sollten die Zeit nützen und unsere Freunde verlassen. Arric fällt ohnehin gleich aus dem Sessel.« Dragon erhob sich halb. Er wußte jetzt, daß die Träume der letzten Tage und Stunden Wahrheit geworden waren. Etwas war geschehen, das Mura zurückverwandelt hatte. Kurz ließ er seinen Blick über die übrige Tischgesellschaft gleiten. Die Gegensätze zwischen den atlantischen Robotern, die ununterbrochen servierten und nachschenkten, und den bärtigen Barbaren, die mit der Hingabe von Besessenen die Reste des Gastmahls in sich hineinschlangen und mit gewaltigen Schlucken herunterspülten, konnte nicht größer sein. »Arric interessiert mich nicht!« sagte er und stand entschlossen auf. Er streckte den Arm aus und fühlte die kühle, geschmeidige Hand eines Mädchens in
seinen Fingern. Als Mura aufgestanden und ein paar Schritte gegangen war, sah Dragon erst deutlich, daß sie sich nicht nur an den Händen und im Gesicht verändert hatte, sondern am ganzen Körper. Das Kleid, das sie trug, unterstrich diese erstaunliche Wandlung. »Ich begreife nichts!« sagte Dragon. Er fühlte sich mehr als wohl. Was immer vor seinen Augen geschehen war, es interessierte ihn nicht besonders. Wichtig war, daß Mura jetzt so aussah – nein, sie sah nicht so aus, sie war es wirklich! – wie an dem Tag, als sie einander zum letztenmal in den Armen gehalten hatten. »Du sollst auch nicht begreifen, sondern handeln«, sagte sie und schob sich an ihn heran. »Das werde ich tun. Es gibt für alles eine Erklärung, aber ich werde sie erst später verlangen.« Er legte seinen rechten Arm um sie und zog sie eng an sich heran. Ihre Körper berührten sich. Sie beide durchfuhr im selben Augenblick etwas wie ein elektrischer Schlag. Ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie auf den dunklen Eingang der Nebenhöhle zu. »Es ist, als ob nicht eine Minute vergangen ist!« sagte Dragon. »In Wirklichkeit ist auch keine Zeit vergangen«, meinte sie und küßte ihn. Er erwiderte ihren Kuß, und eine Ewigkeit lang blieben sie in dem dunklen Teil der Haupthöhle stehen. Niemand beachtete sie.
»Wir sind allein, Dragon!« flüsterte sie an seinem Ohr. Ihre Körper schienen zu glühen. »Wir haben die Zeit besiegt!« Sie gingen, eng aneinandergepreßt, durch den dunklen Korridor. Hinter ihnen schob sich, ohne daß Dragon es merkte, ein Stahlschott aus der Wand und versperrte den Gang. Nach einigen Schritten lag ein Raum vor ihnen, den Dragon erst einmal flüchtig gesehen hatte. Auch hier brannte das Feuer in einem Kamin, auch hier gab es einen niedrigen Tisch voller Köstlichkeiten, Weingläser und ein riesiges, fellbedecktes Lager. Einige Sekunden später standen sie sich gegenüber. Sie sahen sich schweigend an, halbvolle Weingläser in den Händen. »Du bist schön«, sagte er. »Nach zweitausend Jahren habe ich dich gefunden. Wir werden uns lieben.« »Ich habe mich nur für dich verwandeln lassen«, sagte Mura. »Und jetzt bin ich eine Frau mit fünfzig Jahren Erfahrung im Körper eines jungen Mädchens.« Sie tranken, ohne daß ihre Augen abirrten, einen Schluck des köstlichen Weines. Dragon fühlte nicht nur seine Begierde, sondern auch etwas, das für ihn neu war. Die Liebe zu jemandem, der ihm in allem ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Er stellte das Glas ab und streckte die Arme aus. Muras Kleid raschelte zu Boden. Ihre Finger tasteten über seine
Haut und streiften das Amulett über seinen Kopf. Es fiel geräuschlos auf den weichen Fellbelag. Dann glitt das Hemd über seine Schultern. Stille breitete sich aus. Nur das Knacken der riesigen Scheite im Kamin und die Atemzüge von Mura und Dragon waren zu hören. Das stählerne Schott sperrte die lärmende Fröhlichkeit der Barbaren aus, die betrunkener wurden, je mehr die Nacht fortschritt. Mura und Dragon lagen auf dem riesigen Fell und küßten sich voller Leidenschaft. Einmal lehnte sich Dragon zurück, tastete unsicher nach dem Weinpokal und flüsterte: »Du bist tatsächlich jung und unendlich begehrenswert, Mura. Was ist geschehen?« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Später, Liebster. Später.« Dragon verschlang die strahlende Schönheit, die sich auf dem weißen Fell dehnte, mit den Augen. Es war, wie Mura gesagt hatte: im Körper eines jungen Mädchens steckte der Verstand einer reifen, erfahrenen Frau. Ihre Liebe war betäubend und erschöpfend, wie der Ausbruch eines Vulkans. Schlagartig wurden sogar die Erinnerungen an Kyrace ausgelöscht, diese Zauberin der Liebe. Dragon faßte nach ihren Fingern und küßte sie, dann ließ er sich wieder neben ihr nieder. Die Zeit schien stillzustehen.
8.
Einige Stunden oder einige Ewigkeiten später stand Mura auf und warf sich ein dünnes Gewand um die Schultern. »Jetzt«, sagte sie mit feierlichem Ernst, »muß ich dir ein Versprechen abnehmen, Liebster. Du mußt bei unserer Liebe schwören.« Dragon blinzelte in die roten und gelben Flammen des Kamins. »Ich bin im Augenblick bereit, alles zu versprechen. Aber ich glaube, du wirst nichts Unmögliches verlangen, Liebste.« »Nein. Es ist unendlich schwierig, aber nicht unmöglich.« »Gut. Sprich, Mura.« Jetzt erklang auch in dieser kleinen Höhle Musik. Sie war sehr leise und unaufdringlich. Mura sagte nachdrücklich, mit langen Pausen des Überlegens zwischen den Worten: »Ich verlange von dir das heilige Versprechen, daß du von jetzt ab und für den Rest deines Lebens
versuchen wirst, auf diesem Planeten die Zustände zurückzubringen, die in Atlantis geherrscht haben. Wir wollten es damals beginnen, aber Cnossos ließ Atlantis untergehen. Du muß versuchen, dieses Goldene Zeitalter wieder hervorzubringen.« Dragon hob den Kopf und sagte leicht verwundert: »Nichts anderes versuche ich seit dem Moment, an dem ich wieder zu mir kam. Es ist ein verdammt weiter und schwerer Weg bis zu diesem Goldenen Zeitalter, das weißt du genauso gut wie ich. Und da ich über keinerlei Hilfsmittel verfüge, weder über Maschinen noch sonstige Unterstützung, glaube ich, daß ich es höchstens für kleine Teilgebiete schaffen kann.« »Aus der kleinsten Zelle können sich die Dinge entwickeln und auf den Rest der Welt ausstrahlen. Ich werde dir mit allen meinen Möglichkeiten helfen!« sagte Mura. In ihr schien, als sie dies sagte, ein Feuer des Sendungsbewußtseins zu glühen. »Es ist ein fast unerreichbares Ziel«, meinte Dragon nach einigen Sekunden. »Aber ich werde tun, was immer ich vermag. Sollte ich es tatsächlich schaffen, so wird es ein anderes Atlantis werden. Nicht das, von dem wir träumen, Mura.« »Das ist gleichgültig. Aber der Planet kann nicht weiterhin in der Barbarei verharren, ausgeliefert dem Unglauben und solchen Kreaturen wie Cnossos und noch schlimmeren Fürsten der Dunkelheit.«
Dragon zuckte seine breiten Schultern und entgegnete: »Wir brauchen Raumfahrt und Raumschiffe. Ein anderes Sternenvolk müßte die Erde wiederfinden. In zwei Jahrtausenden ist alles vergessen worden. Sogar die Drachen sind degeneriert.« »Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr rückgängig machen«, schränkte Mura ein. »Aber du schwörst bei unserer Liebe, alles zu tun, was du kannst?« »Ich schwöre es«, bestätigte Dragon. »Zumal sich deine Forderungen mit meinen Wünschen und Zielrichtungen decken.« »Ich habe nichts anderes erwartet. Komm – und liebe mich!« Sie lächelten sich an, im Bann der einzigartigen Situation gefangen. Wieder erwachte die Leidenschaft und löschte alle anderen Überlegungen aus. Dragon wußte nicht, wie spät es war. Die Zeit stand für ihn still. Als er zurückkam, noch feucht von der duftenden Dusche, saß Mura in einem der prächtigen Sessel. Sie war vollständig angezogen. Langsam schlüpfte auch Dragon in seine Kleider. Mura deutete auf den Sessel, der ihr gegenüber stand. »Setz dich bitte, Liebster!« sagte sie. Von ihm unbemerkt waren zwei Roboter
hereingekommen und standen rechts und links des schweren Vorhangs, der die Höhle von dem Korridor im Felsen abtrennte. Verwundert und erschöpft setzte sich Dragon. Ein unbestimmtes Gefühl der Furcht, das er seit einem halben Tag völlig vergessen hatte, schlich wieder in seine Überlegungen. »Ja?« »Alle Dinge haben ihre Erklärung. Ich bin keine Zauberin«, sagte Mura. Ihr Gesicht trug einen angestrengten Ausdruck. »Ich bin dir eine Erklärung schuldig, mein Geliebter.« »Ich höre.« »Ich habe vor Anbruch des Festes eine Droge eingenommen. Es ist eine Art Gift, das ich vor zweitausend Jahren von einem Sternenfahrer bekam. Ich wußte bis heute nicht, ob sie wirken würde.« Dragon begann zu begreifen. »Sie wirkte, Mura!« murmelte er zerbrochen. »Wir nannten sie das schnelle Leben«, erklärte Mura, nur mühsam ihre Erregung zügelnd. »Das schnelle Leben bewirkt, daß der Alterungsprozeß rapid umgekehrt wird, und daß man innerhalb von drei, vier Stunden seine Jugend zurückfindet. Ich war sieben Stunden lang für dich jung und begehrenswert. Allerdings muß ich dafür bezahlen, Dragon.« Er nickte schweigend. Er fühlte, daß seine Befürchtungen alle zutreffen würden. Er kannte die
volle Bedeutung dieses Ausdrucks. »Das schnelle Leben« war eine tödliche Droge. Nachdem ihre Wirkung verflogen war, erfolgte innerhalb von drei Stunden ein qualvoller Tod. Langsam hob Dragon den Kopf und starrte verwirrt in Muras Augen. Mura saß schweigend da, die Hände im Schoß gefaltet und weinte. »Warum hast du das getan?« fragte er heiser und stockend. Sie hob die Schultern und erwiderte: »Ich wollte noch einmal ... ich habe vor meinem Tod noch einmal meine Jugend heraufbeschworen und alle die schönen Erinnerungen. Ich wollte dich noch einmal lieben, und noch einmal von dir geliebt werden. Ich kann es dir nicht beschreiben, was ich empfand, als meine Robots mir sagten, daß vor dem Stahltor ein Mann namens Dragon wartete. Und als du es dann wirklich warst – zuerst glaubte ich, einen Schwindler vor mir zu haben oder jemanden, der zufällig diesen Namen trägt –, stand mein Entschluß fest. Ich trete ab und überlasse diese Welt dir, Dragon!« Dragon murmelte: »Es ist wohl nichts mehr zu ändern. Ich sehe die Robots – du willst nicht, daß ich bei dir bleibe?« »Nein. Sie werden dich hinausbringen, auch wenn du Widerstand leisten solltest. Du kennst die Wirkung
dieser Droge.« »Ich kenne sie.« Mura hatte also vor dem Fest, und wenn er jedem ihrer Worte glauben durfte, schon kurz nach dem Erwachen diesen Plan gehabt. Sie gab die Herrschaft über das Eisland an die Fürsten ab und an die Ratschlüsse des Things. Sie hatte vor, in Schönheit und nach dem letzten gewaltigen Auflodern der Leidenschaft zu sterben. »Wann beginnt die Droge ihr tödliches Wirken?« fragte er leise. »In ganz kurzer Zeit. Du mußt jetzt gehen, Liebster.« Innerhalb kurzer Zeit hatte ihr Körper seine gesamt Energie geopfert und hatte sich nicht nur scheinbar verjüngt. Dieser Zustand hielt kurz an, dann begann der schnelle Zerfall. Dragon kannte Mura gut genug und wußte, daß sie es nicht dulden würde, wenn er versuchte, bei ihr zu bleiben. Er stand auf und hängte das Amulett über seinen Kopf. »Du sollst mich so in Erinnerung behalten, Liebster, wie ich bin. Jung, begehrenswert und schön. So werde ich in deiner Erinnerung immer ein junges, schönes Mädchen bleiben.« Mura erhob sich aus dem Sessel. Noch hatte der Verfall nicht begonnen. Sie kam auf ihn zu und legte ihre Arme um seine Schultern. Noch einmal küßten sie sich lange und hungrig.
»Geh jetzt!« sagte sie dann entschieden. Dragon wollte noch etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Der Schmerz übermannte ihn und machte ihn sprachlos. Er drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten auf den Vorhang zu. Die beiden eisernen Diener drehten sich zu ihm herum und setzten sich in Bewegung. Sie führten ihn langsam hinaus, vorbei an dem geöffneten Schott, hinein in die Haupthöhle. Das Schott schob sich, kaum daß sie es passiert hatten, wieder in die Felswand hinein und versperrte den Zugang zu der Nebenhöhle. Dragon blieb stehen, ebenso die beiden Roboter. Er sah sich um und nahm die Veränderung wahr, ohne sie wirklich zu sehen. Die Höhle war vollkommen leer und gesäubert. Keine Tische, keine Sitze, keine betrunkenen Gäste mehr. Es roch noch schwach nach abgestandenem Wein und nach Reinigungsmitteln. »Alles ist vorbei!« flüsterte Dragon. Mit stockenden Schritten näherte er sich dem metallgefaßten Spalt im Boden, in dem das schwere stählerne Schott hing. Im Windschatten standen und lagen auf der dünnen, teilweise geschmolzenen Schneeschicht direkt vor dem Portal der Überlebensstation der Gleiter und eine lange Reihe kleinerer und größerer Pakete, die alle gut verpackt und verschnürt waren. Ein Roboter ergriff Dragon am
Oberarm und führte ihn einige Schritte weiter hinaus. Die Morgendämmerung breitete sich gerade aus, zwei vermummte Männer stapften den Hang hinauf, und der zweite eiserne Diener brachte Dragons restliche Ausrüstung, die Waffen und seinen dicken Pelzmantel, aus der Höhle heraus. Dragon zog sich an und schnallte das Schwert um. Auf seiner Brust leuchtete das große Amulett an der starken Kette mit den feinen Gliedern. Der zweite Robot trat zurück. Die andere Maschine führte Dragon, der es willenlos mit sich geschehen ließ, zum Gleiter. Dann ertönten einige scharfe, klickende Geräusche. Langsam schloß sich, von einem Grollen und Summen begleitet, das stählerne Tor. Dragon bemerkte, abermals erschrocken, daß einer der Robots neben ihm stand. Die Maschine erriet offensichtlich seine kommende Frage und sagte: »Ich bin da, um den letzten Wunsch der Eiskönigin auszusprechen.« Dragon zuckte die Schultern, setzte sich auf die Ladefläche des Gleiters und wartete auf die beiden Männer, die jetzt das Plateau betraten. Er erkannte Ubali und Arric, die beide sichtlich unter den Nachwirkungen des Gastmahls litten. Sie näherten sich ihm schwankend und stolpernd. Beide verströmten einen durchdringenden Geruch nach Alkohol und
Bratenduft. Arric sah als erster, daß sich hier die Szene entscheidend geändert hatte. »Was ist los? Was soll das bedeuten?« stieß er mit schwerer Zunge hervor. »Die Eiskönigin ist tot!« sagte der Robot deutlich und langsam. Seine Stimme knarrte und krächzte. Er bewegte sich schwerfällig auf die zwei Männer zu, die ihn anstarrten und nichts begriffen. Er wiederholte: »Die Eiskönigin ist vor kurzer Zeit gestorben. Sie hat ihre Herrschaft an die Fürsten und an das Thing abgegeben. Ihr alle sollt sie in guter Erinnerung behalten.« Arric warf Dragon einen Blick voller Bosheit und Überraschung zu. Müde bestätigte Dragon: »Der eiserne Diener spricht die Wahrheit. Es stimmt. Ich war mit ihr zusammen, und sie wies mich aus der Höhle.« Arric keuchte auf: »Du hast sie umgebracht, Agon-Dra!« Während Dragon abwinkte und Arric ein kaltes Grinsen schenkte, sagte die alte Stimme der Maschine: »Dragon hat sie nicht umgebracht. Er ist der letzte Freund, den sie fand. Er soll ihr Erbe weiterführen.« Ubali ging auf seinen Herrn zu und lehnte sich gegen die Maschine. Er deutete erschöpft auf die Ballen
und Pakete, die im Halbrund um den Gleiter standen. »Ist es richtig, was der Diener sagt, Herr?« fragte er. »Ja, Ubali. Alles stimmt. Es war furchtbar. Ich kann jetzt nicht darüber reden. Wir werden morgen diesen Ort verlassen und das verdammte Weltentor in die Luft sprengen.« Im Lager, das praktisch nur noch aus halb abgebrochenen Zelten und Hütten bestand, aus einer Unzahl von Packen und Tragelasten, schienen die Menschen auf unergründliche Weise erfahren zu haben, daß hier etwas geschehen war. Immer mehr Köpfe tauchten auf, immer mehr Gruppen kamen die steilen, festgetretenen Stufen herauf. Schließlich umstanden die drei Fürsten, Danila und Ubali samt Arric den Gleiter, Dragon und den eisernen Diener. Mit müden Worten erklärte Dragon, was vorgefallen war. Er verschwieg allerdings alles, was in seinen Erinnerungen ewig aufbewahrt werden würde. Er berichtete nur, daß er einen deutlichen Auftrag von Mura, der Eiskönigin erhalten hatte, der ihn und die Fürsten verpflichtete, und dann habe ihn Mura durch die Roboter aus der Höhle bringen lassen. Fürst Hingis kratzte sich an seinem stacheligen Kinn und murmelte unausgeschlafen: »Es war nicht nur ein Abschiedsfest für Danila und euch, sondern ein Fest des endgültigen Abschieds von der Eiskönigin, unserer Weisen Frau!«
»Das war es, was sie sagte!« stimmte Dragon zu. Langsam ließ seine Verwirrung nach. Er fluchte innerlich und erkannte abermals, wie eng Hochstimmung und abgrundtiefe Verzweiflung nebeneinander lagen. Der eiserne Diener hob einen Arm. Die eisernen Gelenke quietschten und knarrten. »Die Höhle bleibt für immer geschlossen!« sagte er. »Die Eiskönigin hat dies so bestimmt. Sie will weder in ihrem Sterben noch nach ihrem Tod jemals gestört werden.« Er machte eine Pause. Offensichtlich schien auch die Energie dieser Maschine zur Neige zu gehen. »Wir, die eisernen Diener, haben auf Geheiß der Herrscherin alles aus der Höhle herausgebracht!« Er deutete auf den Gleiter und die gestapelten Pakete. »Es ist das Donnerpulver, mit dem das Weltentor verschlossen werden muß, und zahlreiche Geschenke für Dragon, der ihr Freund und Nachfolger ist, wie jedermann weiß!« Wieder stockte und schwieg er. Inzwischen umgaben Hunderte von Menschen die kleine Gruppe, die in der Mitte der Hochfläche stand. Von Augenblick zu Augenblick wurde es heller. Sonnenstrahlen schossen hinter dem Horizont hervor und erhellten die Landschaft. »Meine Großmutter!« zischte Arric und sah Dragon
haßerfüllt an. »Wärst du nicht gekommen, dann würde sie noch heute dort drinnen schlafen!« Ubali gab Arric einen Stoß vor die Brust, der ihn gegen die zurückweichenden Zuschauer warf. »Wäre Dragon nicht gekommen, hätten sie uns alle umgebracht und zerrissen, die Bestien!« schrie er aufgebracht. »Hört auf! Ruhe!« donnerte Fürst Hingis. Die Zuschauer murmelten überrascht. Arric griff an sein Schwert, aber eine herrische Bewegung von Hingis hielt ihn auf. Langsam, aber drohend, kam der Fürst näher und blieb dich vor dem hünenhaften Krieger stehen. Er legte seine Rechte an den Schwertgriff. »Du wirst nichts tun, Arric. Beim Thing werden wir über alles entscheiden. Vorher wirst du mit deinem Haß gegen unseren Retter nichts erreichen können. Ich warne dich! Sonst trifft dich meine Wut, und du wirst von uns anders behandelt, als du es willst.« Arric spuckte aus und wandte sich ab. »Schon gut«, sagte er und schob sich durch die Menschenmenge. Fürst Hingis beriet sich leise mit Genol und Hadrek, dann wandte er sich an Dragon. »Dragon!« sagte er deutlich, so daß es alle Umstehenden genau hören konnten, »wir haben beschlossen, für die Eiskönigin eine Begräbnisfeier zu bereiten.« »Meinetwegen.«
Eine Trauerfeier! Dragon stieß sich vom Gleiter ab und ging auf Hingis und die beiden anderen Fürsten zu. Er sagte nachdenklich: »Es ist ein guter Einfall von euch, Fürst. Eine Trauerfeier. Ein riesiges Feuer hier vor dem eisernen Tor. Mura, die Eiskönigin, ist freiwillig aus dem Leben geschieden. Wir werden ihr einen riesigen Scheiterhaufen errichten. Das große Feuer des Eisvolkes wird auflodern. Fragt die Leute!« »Das werden wir tun!« versprachen die Fürsten. Hingis holte tief Atem und sprang auf einen dicken Baumstamm. Er ruderte ein wenig mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu behalten, dann rief er laut: »Freunde, Krieger, Kämpfer! Bevor wir diesen Ort endgültig verlassen, werden wir auf unsere Art der Eiskönigin eine Art Begräbnis bereiten. Es soll die Weise Frau ehren und für sie ein Zeichen unserer Dankbarkeit sein. Tragt alles Holz und alles Brennbare hierher zusammen. Werft und stapelt es aufeinander. Und stellvertretend für alle Bewohner der Eisländer wird jeder von uns das wertvollste Gut auf diesen riesigen Scheiterhaufen legen. Fangt an!« Ein gedämpfter Schrei durchlief das Lager. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, aber sie wärmte nicht. Die Menschen gerieten in Bewegung und stimmten zu. Sie handelten sofort und begannen, die Reste des Lagers von unten hier herauf zu schaffen.
Dragon winkte Ubali und zwei Krieger heran. »Helft mir!« sagte er. Sie begannen, die Pakete und Ballen auf die Ladefläche des Gleiters zu schichten. Dragon mußte noch die Fürsten zu ihren Plätzen zurückbringen, aber das hatte Zeit. Etwas erstaunt betrachtete er den Eifer der Frauen und Männer, die Baumstämme und Strohbündel schleppten, Holz und Teile von Schlitten und Wagen. Der Gleiter schwebte ein wenig später hinunter ins Lager und wurde dort abgestellt. Plötzlich stieß Ubali Dragon mit dem Ellbogen an und deutete hinüber zu einer Stelle des Palisadenwalls, der teilweise abgebrochen wurde. »Was gibt es?« »Dort drüben. Arric der Rote. Er sinnt wieder auf Rache!« »Lasse ihn sinnen«, sagte Dragon ruhig. Er hatte nur den Wunsch, alles möge vorbei sein, und er könne wieder ausschlafen. Arric saß auf einem Felsen, hatte das Schwert seines Vaters zwischen seinen Knien in den frostharten Boden gerammt und stützte sich schwer auf den Griff und die breiten Parierstangen. Er sah unter seinen buschigen Brauen hervor und vergaß die arbeitenden Menschen. Er war müde, vollgegessen und noch etwas betrunken, aber er spürte förmlich, daß seine Pläne nicht
aufgingen. Dragon stand zwischen ihm und der Herrschaft über das Eisvolk! Je länger er darüber nachdachte, wie sehr er auch diesen Gedanken drehte und wendete, es blieb immer dieselbe Aussage. Dragon! Oder Agon-Dra. Er war der Mörder seiner Großmutter, die ihn in den Herrschersessel gehoben hätte. Jetzt war sie tot – und seine Chancen schwanden dahin wie der Schnee in der Sonne des Frühlings. »Pah! Das Frühjahresthing!« knurrte er und spuckte abermals aus. Wenn er beweisen konnte, was er wirklich vermochte, dann konnten sich auch die Fürsten nicht gegen ihn stellen. Er mußte etwas tun, ein deutliches Signal geben, etwas Großes vollbringen. Im Augenblick würde es gefahrvoll und dumm sein, einen weiteren Mordanschlag auf Dragon zu unternehmen. Arric fühlte den Dämon des Alkohols in seinem Kopf herumspuken und stand auf. »Diese Narren!« knurrte er verächtlich, als die Leute weiterhin Holz und Stroh hinaufschleppten, als gelte es ihr Leben. Der Scheiterhaufen wuchs in beträchtliche Höhe. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Oben am Hang war der eiserne Diener aufgetaucht. Er stand da, hob beide Eisenarme und rief laut: »Bringt mehr Holz! Türmt den Haufen höher und höher! Die Eiskönigin ist tot!«
Erschrocken hielten die arbeitenden Menschen inne. Der Diener rannte einmal um den Scheiterhaufen herum und jagte Kinder und Männer auseinander. Seine Füße wirbelten Schnee, Stroh und Rindenstücke hoch. Alles blickte diese Maschine an, dann plötzlich fuhren aus den Ohrenöffnungen Flammen. Der eiserne Körper bäumte sich auf und zuckte mehrmals zusammen. Dann krachte er zu Boden und blieb liegen. An einigen Stellen glühte er auf, der Schnee schmolz und verwandelte sich jäh in Dampf. Arric setzte sich wieder und schloß die Augen. Er verstand die Welt nicht mehr. Dragon ging zu dem ausgeglühten und leblosen Körper des eisernen Dieners hin und bewegte ein Bein mit seiner Stiefelspitze. Er fühlte die Hitze durch das Leder. »Hingis?« »Ja, Dragon?« Hingis eilte herbei und sah auf diesen nutzlosen Haufen Metall nieder. »Es war ein Zeichen der Eiskönigin. Nehmt dieses eiserne Gerippe, kleidet es in Felle und legt es zuoberst auf den Scheiterhaufen. Der Diener soll den Platz einnehmen, den eigentlich die Weise Frau hätte haben sollen.« »Es wird so geschehen, Dragon!« murmelte Hingis. »Alles ist so furchtbar und unverständlich.«
Dragon legte ihm schwer seinen Arm um die Schultern und erwiderte ernst: »Nicht nur für dich, Hingis, den man den Klugen nennt. Auch für mich. Für mich besonders!« »Ich verstehe dich. Du glaubst, etwas zu erleben, aber du denkst nicht, kannst nichts fühlen und verstehst nur einen Teil. Ist es das?« Dragon nickte schwer. »Genau das ist es«, erwiderte er. Bis zum frühen Nachmittag war der Holzstapel fertig. Einige Krüge Öl wurden herangebracht und über das Stroh und das feuchte Holz geschüttet. Die Familien waren marschbereit, aber sie warteten noch. Der Scheiterhaufen sollte in der Nacht oder wenigstens in der Dämmerung brennen, damit man dieses Zeichen weit im Land sehen konnte. Es herrschte eine unbehagliche Stimmung. Niemand wußte etwas Rechtes mit sich und der Zeit anzufangen. Dragon sehnte sich danach, endlich das Weltentor zu sprengen und in die Länder des Südens zurückzukehren, in die Wärme, weg vom Schnee und vom Eis. Die Menschen warteten fiebernd darauf, sich zu langen Zügen zu formieren und in ihre Dörfer und zu ihren Besitztümern zurückzukehren. Arric der Rote wartete darauf, daß endlich die Flammen loderten. Er wußte nun, was er zu tun hatte.
Es würde Dragon das Leben kosten und ihm den Sieg und den Ruhm bringen.
9.
Zuerst züngelten die Flammen von zwanzig oder mehr verschiedenen Stellen durch das trockene Stroh. Dann ergriffen sie Ästchen, Rindenstücke und Äste. Schließlich kamen sie an das Öl und wurden stärker. Sie wuchsen an, es knisterte und knackte, es begann zu dampfen und zu zischen, dann begann sich die Hitze nach allen Seiten auszubreiten. Es gab zunächst sehr viel Rauch, dann, ganz plötzlich, hörten sie alle einige puffende Geräusche, und der Rauch schwebte in einer riesigen Wolke in den Nachthimmel. Der Wind fuhr unter das Holz, der Sog der aufsteigenden warmen Luft riß die Flammen hoch, die sich schließlich zu vier großen Feuerzungen vereinigten und flatternd, knatternd und heulend sich nach oben drehten. Dragon stand zwischen Ubali und Fürst Hingis und sah durch den Schleier aus Hitze und Rauch die
regungslose Gestalt des eisernen Dieners, die waagrecht auf der obersten Lage Palisadenstämmen lag. »Ein würdiges Totenzeichen!« murmelte Hingis. »Vor allem ein heißes!« sagte Dragon und rieb sich die Hände. Von unten kam ein dumpfer Gesang. Die Menschen hatten sich zu einem langen Zug zusammengeschlossen. Danila kam herbei und ließ es zu, daß der riesige Ubali seinen Arm schützend um ihre Schulter legte. Dragon knotete seinen Zaubermantel von seinen Hüften. »Wir haben Arric überzeugt, daß auch er das Teuerste, das er besitzt, zu opfern hat!« sagte Fürst Hadrek. »Er war sehr unwillig!« »Das glaube ich gern!« antwortete der Atlanter. Er war zu müde, um noch viel denken zu können. Er ballte den Mantel zusammen und schleuderte ihn in die Flammen. Ein Totenlied in der Alten Sprache, erstaunlich klar und verständlich, brach sich als dumpfes Echo an der Felswand. Die Menschen kamen heran, umrundeten den riesigen, brennenden Stoß und warfen Gegenstände ins Feuer. Kinder opferten ihr Spielzeug, einige Jungtiere wurden verbrannt, die Frauen schleuderten mit langsamen Gesten teuere Kämme und Schmuck in die Flammen. Waffen klirrten, als sie gegen den Körper des Dieners prallten, der zu glühen,
begann und immer wieder von kleinen Explosionen zerrissen wurde. Der Brand verbreitete mehr und mehr stechende Hitze. Der Schnee schmolz im weiten Bereich. Wasser begann von den Felsen zu tropfen, und der entstehende Dampf wirbelte mit den Flammen und dem Rauch himmelan. Hunderte von Familien waren schon vorbeigezogen. Dragon und fast alle Gäste des Abschiedsfestes standen in einer langen Reihe vor dem Eisentor und sahen schweigend zu. Die Gedanken eines jeden weilten irgendwo – nur nicht in der Gegenwart. Dann, als in der Menschenmenge eine Stockung auftrat, erschien Arric. Er hielt Edils Schwert in beiden Händen und trug es samt der Scheide und dem Gehänge waagrecht. Seine Augen schienen zu leuchten. Schweiß rann über sein Gesicht, als er zwischen Dragons Freunden und dem Scheiterhaufen stehenblieb. Deutlich hörte Dragon, wie Arric Luft holte. Dann schrie er mit sich überschlagender Stimme: »Ihr alle! Hört alle her! Hört, was Arric der Rote, der nächste Verwandte der Eiskönigin euch zu sagen hat! Merkt es euch und berichtet es überall in den Eisländern! Ich opfere das Schwert meines Vaters Edil, der ein Sohn der Weisen Frau war. Ich übergebe es den Flammen!« Mit einer Weit ausholenden Gebärde schleuderte er
das Schwert schräg in die Höhe. Es wirbelte herum und fiel dann mitten in die Flammen. Ein Funkenregen stob aufwärts. Dann schrie er weiter. »Ich werde mich dem Rat im nächsten Thing stellen. Aber vorher tue ich den feierlichen Schwur, bei meinem Leben und meiner Ehre ...« Ubali spie die Worte fast aus, als er einwarf: »Seiner zweifelhaften Ehre!« »... bei meiner Ehre, daß ich das letzte Vermächtnis der Eiskönigin erfüllen werde. Zusammen mit Dragon, dem König aus fernen Ländern, werde ich mit meinen eigenen Händen das Weltentor verschließen! Ich will damit künftigen Schaden vom Eisvolk abwenden, das mein Volk ist, und über das ich später herrschen werde. Aus diesem Tor ist Unheil über mein Volk gekommen. Dies wird nicht wieder geschehen, so lange ich lebe! Das schwöre ich bei meiner Ehre und beim Schwert meines Vaters und bei der Güte und Klugheit meiner Großmutter!« Er trat zurück, senkte den Kopf und reihte sich wieder in den Zug der Trauernden ein. Ubali sagte leise zu Dragon: »Nun bleibt dir nichts anderes übrig, als auch Arric mitzunehmen. Aber ich werde auf ihn aufpassen. Jeden Augenblick!« »Du hast recht«, gab Dragon ebenso leise zurück, »es war ein guter Zug in seinem Spiel.«
Hingis schaltete sich ein und sagte: »Er wird unter den Leuten verbreiten, daß jeder, der ihn an diesem Vorhaben hindern würde, mit ihm kämpfen und ihn töten müsse!« »Ich will ihn eigentlich nicht bei mir haben«, sagte Dragon, »aber morgen am späten Abend bin ich ihn ein für allemal los, Fürst Hingis.« »Hoffentlich!« meinte der Fürst zweifelnd. Der gewaltige Stoß war zusammengesackt und bildete jetzt einen spitzen Kegel aus weißer und hellroter Glut. Nur noch die schwarzen Kerne der dicksten Holzstämme brannten. Die letzten aus dem Trauerzug schwitzten vor der ungeheuren Hitze. Hin und wieder zischte es auf, wenn bestimmte Gegenstände in die Glut fielen und dort verbrannten. Selbst die Felsen und das eiserne Tor waren warm geworden. Weit nach Mitternacht war der letzte aus dem Volk des Fürsten Hingis an dem Scheiterhaufen vorbeigezogen. Dragon und Ubali holten Decken und Felle und legten sich zwischen Felswand und Boden zum Schlafen nieder. Hier war es selbst am nächsten Morgen noch warm, als sie erwachten. Zuerst flog Dragon die Fürsten Hadrek und Genol zurück, dann landete er den Gleiter wieder auf dem kleinen Platz der provisorischen Siedlung. Von oben hatte er die acht langen Züge gesehen, die sich in drei verschiedene Richtungen fortbewegten.
Berittene Krieger an der Spitze, dahinter Zugtiere mit vollbeladenen Schlitten und Wagen, unter deren Räder man Bretter befestigt hatte. Schließlich die Familien mit ihrem Hab und Gut. Den Schluß der Züge bildeten wieder berittene Späher und Krieger. Nur diese letzten Gruppen hielten sich noch in der Siedlung auf. Und Fürst Hingis. »Die Stunde des Abschieds, Dragon!« sagte er leise und schüttelte Dragons Hand. »Wir alle werden es durch die Kurierkette erfahren, wenn du das Weltentor geschlossen hast. Ich wünschte, es gäbe mehr Männer wie dich.« Dragon war leidlich ausgeschlafen und musterte Danila, Ubali und Arric, die voll ausgerüstet und bewaffnet auf ihn gewartet hatten. »Ich wünsche dies auch! Viel Glück, Hingis, und wir alle hoffen, daß wir keine Fehler gemacht haben!« »Es wird ein harter Winter werden für uns alle!« sagte Hingis. »Reise gut mit dem Götterwagen, Dragon!« Ubali und Danila saßen auf den rückwärtigen Sitzen des schwer beladenen Gleiters. Arric zwängte sich neben Dragon. Die Maschine schwebte hoch, wurde schneller und drehte eine große Runde über den nach Süden davonziehenden Menschen des Eislands. Diejenigen, die den Gleiter sahen, winkten und schrien
nach oben. Dragon und Arric winkten zurück. Der Sprengstoff war die schwerste Last des Götterbootes. Während er den Apparat nach Norden steuerte und dann in westliche Richtung abbog, konnte Dragon wieder klar überlegen. Auch die räumliche Trennung von der Toten und dem Heiligen Berg machte ihn frei, schuf genügend Abstand zum Erlebten. Es war gleichermaßen zauberhaft und grauenvoll gewesen. Aus den zwei Tagesritten Entfernung zwischen dem Berg und der Bodenspalte wurde im langsam fliegenden Gleiter eine gute halbe Stunde. Plötzlich fragte Danila: »Ist es dir eine große Last, dein Versprechen einzuhalten, Freund Dragon? Ich meine das Versprechen, mich nach Hause zu bringen?« Dragon schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Mit dem Götterwagen wird es eine Kleinigkeit. Nachdem wir dich zurückgebracht haben, sprengen wir das Weltentor. Ubali und Arric werden warten!« »Gut!« brummte der Schwarzhäutige. Der Gleiter ging langsam tiefer. Direkt vor ihnen breitete sich die Bodenspalte aus. Abgesehen von dem kleinen Lager der Wachen und einigen Spuren der Tiere und Männer war nichts zu sehen. Dragon, der
den Weg inzwischen gut kannte, steuerte auf die drei Zelte und das kleine Feuer zu und erkundigte sich, ohne auszusteigen, bei den Männern. »Es ist nichts geschehen, Herr!« sagten sie. »Wann können wir zurück zu unserem Stamm?« Dragon lachte kurz und erklärte: »Wenn ihr ein fürchterliches Krachen hört und sich das Weltentor mit Felsbrocken füllt.« Es war Abend, als sie endlich durch den Spalt aus Schnee, Eis und Felsen flogen. Vor ihnen war dieses Mal keine Finsternis ohne Wolken, sondern ein heller Tag. Tiefhängende Wolken und ein Hochnebel ließen weder die Sonne noch Geländemerkmale erkennen, aber die schroffen, senkrechten Felswände sahen sie deutlich. Dreißig Schritte, nachdem sie dicht über dem Boden dahingeflogen waren, versagte der Gleiter. Blitzschnell schaltete Dragon in den Rückwärtsgang, und der Götterwagen stieß, schneller werdend und sich vom Boden erhebend, zurück. Arric und Dragon wechselten einen überraschten Blick. »Der Götterwagen fliegt in dieser Welt nicht!« sagte Arric mit beträchtlichem Scharfsinn. »So scheint es!« gab Dragon zurück und wagte, innerlich fast vor Spannung berstend, einen zweiten Versuch. Dann stand es endgültig fest: Kurz nach
Durchfliegen des Weltentores schienen andere physikalische Gesetze zu gelten. Dragon steuerte den Gleiter vorsichtig in eine Art halber Höhle hinein, dann kippte er sämtliche Schalter. »Wir müssen gehen, Danila. Aber zuerst bringe ich die Sprengladungen an!« Sie stiegen aus und entluden den Gleiter zur Hälfte. Nur der Sprengstoff blieb auf der Ladefläche. Dragon steuerte den Gleiter stark aufwärts und suchte eine Weile nach geeigneten Punkten, an denen er die Pakete anbringen konnte. Er arbeitete schnell und umsichtig. Etwa zwanzig große Pakete formbaren Sprengstoffs preßte er in breite Felsspalten oder in kleine Auswaschungen. Mit kleinen Steinen und größeren Steinbrocken verdämmte er die Ladungen und schaltete dann vorsichtig die einzelnen Zündelemente ein. Innerhalb des sehr schmalen Bereiches, in dem der Gleiter noch funktionierte, waren beide Felswände von oben bis unten voller Sprengladungen. Selbst wenn nur die Hälfte detonierte, würde sich diese Stelle dadurch verbarrikadieren, daß ein kleiner Berg nicht nur zusammenbrach, sondern auch weil seine Trümmer durch den Spalt hinaus in die andere, in Dragons Welt fliegen und fallen würden. Zufrieden mit seiner Leistung landete er den Gleiter wieder an derselben Stelle und stieg aus. Er fragte Danila:
»Wie lange, glaubst du, bleibt es heute noch hell?« Sie zögerte mit der Antwort. Endlich sagte sie abschätzend: »Wir sind über die erste Hälfte des Tages.« »Wie weit ist es bis zu deiner stillen Zone?« »Ich weiß es nicht. Es kann sich soviel verändert haben.« Dragon setzte sich und suchte aus den Vorräten mit der Erfahrung langer Märsche und Ritte Nahrungsmittelkonzentrate, Getränke und alles andere aus, das sie brauchen würden. Er tat es nicht gern, aber er hatte sein Wort verpfändet, Danila heimzubringen. Also mußte er zu Fuß gehen. Nichts anderes blieb ihm übrig. Er wandte sich an Arric und starrte ihm in die Augen. »Arric!« sagte er warnend. »Du und Ubali, ihr bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle, bis ich zurück bin. Geht auch nicht durch das Tor, sondern bleibt hier und schlaft euch aus. Ich bin bald wieder zurück. Diese Sprengung des Weltentors ist so wichtig für beide Welten, daß ich es noch einmal sagen muß: Wenn er nicht tut, was ich befohlen habe, Ubali, dann kannst du ihn niederschlagen und fesseln. Habt ihr beide das verstanden?« »Ja!« murmelte Arric mürrisch und wandte sich ab. Er konnte Dragon nicht in die Augen sehen. »Du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst,
Herr!« sagte Ubali und faßte an seinen Schwertgriff. Dragon schlug ihm auf die Schulter, nahm die Waffen und das Gepäck und ging neben dem Mädchen den schmalen Weg entlang, in das fremde Land hinein, ins Innere der anderen Welt ... Zwei Tage, nachdem der Götterwagen bei ihnen gelandet war, schreckten die Späher und Wächter aus ihrer Ruhe auf. Die Hunde und die Pferde spürten oder merkten es zuerst. Sie wurden unruhig, dann verkrochen sich die Hunde, und die Reittiere stiegen hoch und gerieten in Panik. Schließlich wußten auch die Männer, die mit den erschrockenen Tieren kämpften, was geschah. Ein langgezogenes unterirdisches Grollen war zu spüren, dann bewegte sich die Erde. Schnee fiel von den Ästen der Bäume, die sich schüttelten. Geröllmassen rutschten an den schrägen Hängen der Erdspalte herunter und rissen Schneelawinen mit sich. Aus dem Spalt, dessen Eisvorhang splitterte und in langen, speerähnlichen Stücken davonflog, donnerte eine gewaltige Rauchwolke. Krachend schoben sich Felsbrocken übereinander, wirbelten durch die Luft, als wären sie Hagelkörner, schlugen in die Hänge ein und polterten wieder zurück. Dann schob sich eine Masse Felsen, Trümmer, Geröll
und schwarzer Staub wie eine Flutwelle aus dem Spalt. Sie wurde größer und größer. Ungeheure, unheimliche Kräfte drückten mehr und mehr Gestein durch das Loch und füllten es unterirdisch zu einem Berg auf, der das Weltentor bedeckte. Ein Berg, nicht viel kleiner als das oberste Drittel des Heiligen Berges. Wieder bebte die Erde, dann beruhigte sie sich langsam. Die Männer wagten sich erst viel später an die Hangwände heran und spähten hinunter. Sie sahen, daß keine Kraft dieser Welt imstande war, diesen Berg wegzuräumen. Der Staub, der sich wie ein gewaltiger Pilz in die Luft erhoben hatte, sank nun wie schwarzer Schnee langsam herunter und legte sich auf alles, auf Tiere, Menschen, Bäume und den weißen Schnee. Die Späher konnten zurückkehren zu ihren Stämmen. Das Weltentor war verschlossen. Von Dragon und dem Götterboot aber sahen sie keine Spur. Mit dieser traurigen Botschaft ritten sie davon. Vor dem verschlossenen Eisentor des Heiligen Berges breitete sich ein Glutkreis aus, der von einer dicken Ascheschicht bedeckt war. Geschmolzenes und ausgeglühtes Eisen und unkenntliche Reste bildeten schwarze Muster. Der Wind kam und trug die weiße Asche in feinen
Stäubchen und in großen Blättern mit sich. Er fachte die Glut an, aber die Flammen fanden keine Nahrung und starben wieder. In der Mitte des fast gleichmäßig runden Kreises lag etwas, das wie ein Mantel aussah, ein dünner Mantel. Die Flammen berührten ihn wieder und immer wieder, aber auch die Glut schien ihm nichts anhaben zu können. Es war Dragons Opfer an die Eiskönigin, sein Zaubermantel. Er durfte ihn nicht mitnehmen auf seinem Weg durch die Fremden Täler der anderen Welt, »dieses schändliche Erzeugnis des verfluchten Namenlosen«, wie Danila es ausgedrückt hatte. Der Zaubermantel war nicht verbrannt ... Zwei Tage, nachdem Dragon mit den drei Menschen das Weltentor passiert hatte, erschütterte ein gewaltiger Wind den Rest der Asche, die ungleichmäßig nach allen Seiten davongetrieben wurde. Das Schwirren riesiger Flügel war in der Luft, und mitten in die Asche senkte sich Hotch, der große Drache. Es war ein Tag voller Nebel und klammer Kälte. Maratha kletterte mit steifen Gliedern vom Rücken des Drachen. Sie war durch und durch gefroren. »Nichts!« krähte Erbolix, der Troll. Er schien sich in seinem winzigen Pelz wohl zu fühlen und sprang zu
Boden, als der Drache seinen Kopf senkte. Seine Gedanken erreichten die blinde Seherin. Hier ist Dragon nicht zu finden! »Nein«, erwiderte Maratha mit blaugefrorenen Lippen. »Hier ist er nicht zu finden. Er ist auf dieser unserer Welt nicht mehr zu finden!« Bisher war Maratha im Palast zu Myra gewesen. Immer wieder hatte sie die Bilder gesehen, die auch Dragon um sich sah. Sie hatte förmlich jeden Schritt Dragons durch das Eisland verfolgt und seine zahlreichen Abenteuer. Mehr als einmal war er dem Tod so nahe gewesen wie selten zuvor. Sie hatte berichtet, was sie berichten durfte. Vieles hatte sie verschwiegen, um Amee nicht zu verletzen. Sie hatte auch miterlebt, wie Dragon neben diesem Feuer gestanden war und etwas durch die Luft warf. »Troll!« sagte sie. »Ja? Was willst du?« fragte Erbolix mürrisch und hüpfte durch die Asche. Der Boden war noch immer wärmer als die Umgebung. »Suche einmal unter den breiten Beinen deines flügelschlagenden Freundes. Vielleicht findest du etwas.« »Sofort, Maratha!« Mit ihren seherischen Fähigkeiten, die ihr die sichtbare Welt weit besser erschlossen, als es normale Menschenaugen gekonnt hätten, sah sie auch, wie
Dragon zum Weltentor startete und darin verschwand. Aber in dem Augenblick, als der Götterwagen dieses Tor passierte, riß ihr Kontakt ab! Sie war völlig blind! Immer wieder versuchte sie, durch den Spalt im Eis und Felsen vorzustoßen. Vergeblich. Dragon und seine drei Begleiter verschwanden aus ihrem geistigen Auge und blieben verschwunden. Sofort hatte sie den Drachen Hotch gerufen, dessen telepathische Fähigkeiten ihn sofort verstehen und kommen ließen, mit Erbolix als Drachenbegleiter. In einem rasenden Flug hoch über den Wolken waren sie hierher gekommen. Eiseskälte und blendendes Sonnenlicht waren die Begleiter dieses Fluges gewesen. »He! Ich hab was!« Der fußgroße Troll schlenderte durch die Asche, die aufstob. Hinter sich zog und zerrte er ein dünnes Kleidungsstück. Gerade, als sich Maratha bücken und den Fund untersuchen wollte, schrie der Troll: »Das ist Dragons Tarnmantel. Ich kenne ihn schließlich am besten von euch allen!« Das will ich meinen, dachte der Drache. Auch er litt unter der Kälte und sehnte sich wieder nach dem warmen Land. Maratha sagte laut, während sie die Asche aus dem Tarnmantel schüttelte und sich das Kleidungsstück um den Gürtel band und knüpfte:
»König Dragon ging durch das Weltentor. Er ist verschwunden, wie ich es gesehen habe. Wir werden diesen Mantel Königin Amee übergeben. Mehr können wir nicht tun.« »Zurück?« fragte der große grüne Drache. »Ja. In die Wärme. In die Sonne.« Maratha wußte, daß eine weitere Suche sinnlose Zeitverschwendung sein würde. Immer wieder hatte sie dieses Gebiet abgesucht, auch während des Fluges. Sie hatte auch den Berg gesehen, der seit kurzer Zeit vor dem Weltentor lag. Dahinter war Dragon ausgesperrt. Konnte er zurückkehren? Ich glaube nicht! schaltete sich der Drache in ihre Überlegungen ein. Komm auf meinen Rücken, Ich werde dicht über den Wolken fliegen, damit wir etwas Sonne bekommen. Maratha stemmte sich gegen die Erkenntnis, die sich ihr aufdrängte, je mehr die Zeit fortschritt. Dragon war verschwunden und verloren. Er hatte, sicher ohne es zu wollen, seine Freunde und sein Königreich verlassen. Maratha ahnte, daß der Schmerz Amee umbringen würde, aber sie hatte keine andere Botschaft. »Erbolix – ich habe keine Hoffnung mehr. Unser Freund ist verschwunden und hinter einem Berg begraben.« Der Drache versprach, zum Weltentor zu fliegen, damit sie es mit eigenen Augen sehen konnten, der
Troll und er. Maratha willigte ein. Dann, nachdem sie über der Landschaft gekreist waren, richtete Hotch seinen Kopf nach Süden und schlug mit seinen riesigen Schwingen, um die Wolkendecke durchstoßen zu können und in den Bereich der wärmenden Sonnenstrahlen zu kommen. Der Flug hierher war trübselig und traurig gewesen, aber der Flug zurück nach Myra verlief in hoffnungsloser Stimmung. Die einzige Erinnerung, die es an Dragon gab, existierte in den Herzen seiner Freunde. Nur der Tarnmantel zeugte davon, daß es ihn gegeben hatte ... ENDE Dragons neues Glück mit Mura, der Frau, die in den Tagen von Atlantis seine Gefährtin war, war nur von kurzer Dauer. Mura starb von eigener Hand, weil ihr das Weiterleben sinnlos erschien. Der Atlanter aber hat sich verpflichtet, Muras Vermächtnis zu erfüllen – und zu diesem Vermächtnis gehört auch das Eindringen in DANILAS WELT ... DANILAS WELT so lautet auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist Peter Terrid.