Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 579 Zone-X
Die Dunkelwelt von Hans Kneifel Mit dem Atlan-Team auf Krymoran In den me...
12 downloads
522 Views
767KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 579 Zone-X
Die Dunkelwelt von Hans Kneifel Mit dem Atlan-Team auf Krymoran In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL mannigfaltige Gefahren und Abenteuer bestehen müssen. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit der Zeit ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangt ist, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern nicht mehr um interne Machtkämpfe, sondern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. In der Zone-X, die man inzwischen angeflogen hat, hofft man, den großen Gegenspieler endgültig stellen zu können. Allerdings ist man eingedenk der Macht von Hidden-X vorsichtig, und so dringt nicht die SOL zum Zentrum der Zone-X vor, sondern der HORT, mit Oggar, Atlan und dessen Team. Die Erkunder von der SOL besuchen DIE DUNKELWELT …
Die Hauptpersonen des Romans: Hidden-X - Es stellt den Solanern eine neue Falle. Atlan - Der Arkonide und sein Team landen auf einer Dunkelwelt. Sanny, Oserfan, Hage Nockemann und Hreila Morszek - Einige Mitglieder von Atlans Team. Harre'Arfl und Cryss'Narm - Zwei Krymoraner.
1. Ein starkes Gefühl packte den Arkoniden genau in dem Moment, als der HORT von der SOL ablegte. Dieses Gefühl, zusammengemischt aus Panik, unterdrückter Existenzangst, zahllosen Erfahrungen, einer Unmenge von Erinnerungen an Kämpfe, aus Selbstzweifeln und Niederlagen ergriff Atlan nicht gerade häufig. Aber fast immer, wenn sich sein Verstand an eine solche Woge erinnerte, waren seine bösen Ahnungen berechtigt gewesen. Schweigend saß Atlan da und versuchte durch kaltes, rationales Nachdenken seine Ängste zu unterdrücken. Die Aufgabe, die vor den Teilnehmern des Kommandounternehmens lag, erforderte weitaus mehr als kühle Überlegungen. Und natürlich rissen kurz vor dem Abdriften der SOL sämtliche Funkverbindungen ab. Sie hatten damit gerechnet …
* Zwei weitere Tage der längsten Odyssee waren vergangen, die je ein Raumschiff unternommen hatte. Jedenfalls wußte Atlan von keiner anderen derartigen Geschichte. Die Ortungsabteilungen arbeiteten ununterbrochen. Man sondierte die einzelnen Aspekte der Aufgabe, die sich die Solaner selbst gestellt hatten. Die SOL, die außerhalb der Zone-X schwebte,
versuchte, mehr über die unbekannten Gefahren dort herauszufinden, um nicht unvorbereitet in eine neue Falle zu tappen. Die Maßnahmen, die Hidden-X zum Schutz des Flekto-Yns geschaffen hatte, waren nur teilweise bekannt. Hundert Milliarden Kilometer vom Zentrum der Geheimniszone entfernt, war die mentale Barriere so abgeschwächt, daß man sie praktisch nicht mehr spürte. Stimmten Breckcrowns Vermutungen, daß sich das FlektoYn in dem Versteck einer anderen Existenzebene befand? Jedenfalls war ein weiteres Eindringen der SOL in die Richtung des Zentrums ebenso sinnlos wie gefährlich. Um sich abzulenken, erinnerte sich Atlan an die letzten Stunden an Bord der SOL. Nach einer langen Pause des Nachdenkens, in der er die Unterlagen studierte, erklärte vor mehr als sechsunddreißig Stunden der High Sideryt: »Wir wissen noch viel zu wenig von dem, das auf uns lauert.« »Und daß Hidden-X nur darauf wartet, daß wir einen Fehler begehen, ist uns allen klar«, hatte Atlan geantwortet. »Also werden wir nicht riskieren, mit der SOL dort einzufliegen!« entschied Hayes. »Es ist sicherer, Oggars HORT zu benutzen«, meinte Stabsspezialistin Lyta Kunduran. Der High Sideryt nickte schweigend. Während in der Zentrale der SOL das weitere Vorgehen diskutiert worden war, rüsteten die Techniker den HORT aus. Sie versuchten, nichts zu übersehen: für jeden Teilnehmer sollten individuelle Schutzmaßnahmen vorhanden sein. Nicht weniger wichtig war es, die technischen Mittel bereitzustellen, die einen Vorstoß in das Reich des Dunkelplaneten ermöglichten. Die Zone-X, geheimnisvoll und sonnenlos, schien so gut wie leer zu sein. Leer, das bedeutete: ohne Sonnen, Planeten, Monde und Asteroiden. Von der Ortung war mittlerweile ein Kugelausschnitt erforscht worden, der von eigenartiger Beschaffenheit war.
Planetengroße Körper bildeten um diese Zone eine Art Kugelschale. Jeder der angemessenen Körper war von einem Energieschirm, ebenfalls in Kugelform, umgeben. Über die wahre Natur dieses Schutzschildes war man sich noch nicht klar; jedenfalls vermochte er die Ortungsimpulse zu schlucken. Breckcrown Hayes stand auf, schichtete seine Unterlagen mit methodischen Bewegungen zusammen und meinte: »Wir können die Startzeit bestimmen, Atlan.« »Zu große Eile ist ebenso schädlich wie zu langes Zögern«, ließ sich Sanny, die Molaatin, vernehmen. »Und wenn wir die unhörbare Stimme in unseren Gedanken vernehmen«, sagte Atlan, »werden wir wissen, daß wir uns HiddenX nähern.« Die Bildschirme, die noch vor wenigen Minuten ein sichtbares Zeichen der Kommunikation zwischen der SOL und dem HORT bedeuteten, waren leer und stumpfgrau. Aus wenigen Lautsprechern drangen nur winzige Störungsgeräusche. Bjo lag entspannt in seinem Sessel und hielt den Kontakt zu Federspiel aufrecht. Ganz plötzlich, rund zwölf Lichtjahre vom Zentrum der Zone-X entfernt, hörten sie die dröhnende Stimme ihres unsichtbaren Gegners. Versucht es nur, ihr winzigen Eindringlinge, hämmerten die Impulse, versucht nur, das Flekto-Yn zu finden! Schlagartig richteten sich die Wesen im HORT auf. Sie konzentrierten sich auf den Wortlaut der Botschaft ebenso wie auf den Sinn, den sie zwischen den Worten zu entdecken hofften. Ihr habt alle Zeit zur Verfügung, die ich euch gewähre! donnerte Hidden-X. Sucht nur das Flekto-Yn! Sucht mich! Versucht ruhig, herauszufinden, wer ich bin und wie ich aussehe! Ihr werdet es nicht schaffen! Niemand von euch wird es erleben, denn meine Helfer vernichten jeden, der es riskiert, eines meiner Teilreiche zu betreten. Für euch verwandelt
sich jeder dunkle Planet in eine tödliche Falle. Nach den ersten Sätzen spürten die Mitglieder des Kommandounternehmens, wie der mentale Druck entstand, sich aufbaute und verstärkte, derjenige Druck, der so stark sein konnte, daß er schmerzte und das Leben zur Qual machte. Alle Insassen waren mentalstabilisiert und konnten der Botschaft widerstehen, obwohl sie von ihnen klar verstanden wurde. Kehrt um! Durch die Stille der Steuerkanzel ertönte das Flüstern der Molaatin: »Es befürchtet, wir könnten einen wichtigen Dunkelplaneten entdecken und auf ihm landen.« Als habe Hidden-X den Einwurf gehört, schickte er eine neue Welle des mentalen Druckes aus und dröhnte weiter: Ich bin der Unsichtbare. Ich bin überall und nirgends. Ihr werdet weiterhin hartnäckig nach mir suchen – ich weiß es. Ich wiederhole nicht mehr, was ich euch versprochen habe, denn die Folgen eures Eindringungsversuchs werdet ihr selbst tragen müssen. Eure Anstrengungen sind vergeblich, und nur der qualvolle Tod wird eure Suche belohnen. Der grauenhafte Klang der Stimme hörte abrupt auf. Bjo Breiskoll hob in einer geschmeidigen Bewegung den Arm und meinte niedergeschlagen: »Der telepathische Kontakt zwischen Federspiel und mir ist abgebrochen. Nichts mehr zu machen. Die SOL wird erst dann etwas erfahren, wenn wir lebend zurückkehren.« »Was nach allem, was wir hören durften, zumindest zweifelhaft ist«, erklärte Hage Nockemann verdrossen. Oggar bestätigte Breiskolls Wahrnehmung. »Auch ich kann Federspiel nicht mehr erreichen. Offensichtlich befinden wir uns in einer für unseren Gegner gefährlichen Zone.« Die Bildschirme zeigten es deutlicher. Neunzehn mehr oder weniger scharfe Echos zeichneten sich ab.
Die Charakteristika ließen die präzise Deutung zu, daß es sich um einen Cluster von Planeten handelte, deren Größe von der kugelförmigen Ausdehnung des jeweiligen Ortungsschutz-Schirmes bestimmt wurde. Schwarze Kugeln in der Schwärze eines sternenlosen Raumes, für menschliche Augen unsichtbar gemacht. Oggar, mit dem zusätzlichen technischen Instrumentarium der SOLOrtungsfachleute versehen, führte eine Reihe von Schaltungen und Messungen durch, die weitere Klarheit schaffen sollten. Der HORT schlug einen neuen Kurs ein. Er flog nicht mehr auf das rechnerisch ermittelte Zentrum zu, sondern näherte sich dem ersten Dunkelplaneten, der auf dem Abflugkurs lag. Der haarlose, weißhäutige Kopf des Androiden drehte sich blitzschnell hierhin und dorthin. Lichtreflexe huschten über die hellblaue Kombination, als Oggar eine Serie von Leuchtbojen abfeuerte, nachdem er ihren Kurs programmiert hatte. Jedes Projektil hatte ein anderes Ziel und schlug sofort einen Kurs auf einen Dunkelplaneten ein. Es erreichte ihn mit einem einzigen, ultrakurzen Linearmanöver. Dann schalteten sich die Kraftquellen der Sonden ein. Minuten nach dem Aufdröhnen der ersten Abschüsse erreichte das Licht der ersten aufgleißenden Projektile die Empfänger des HORTs. »Ein ausgezeichneter Effekt«, sagte Lyta zufrieden. »Endlich kommt etwas Licht in das ewige Dunkel. Hidden-X wird sich grämen.« »Und deswegen wird es, weil wir es wütend gemacht haben, noch härter zurückschlagen«, knurrte Insider. »Mit jedem dieser Schläge erfahren wir mehr von der wahren Natur des Gegners«, beschied ihn Atlan. Atlan beobachtete voll anerkennendem Staunen, wie die kleinen, stechend grellen Kunstsonnen den Raum um das Zentrum herum auf merkwürdige Weise zu erhellen begannen; sie bewegten sich auf weit auseinanderliegenden Bahnen, die in scheinbar wahllosen Kurvenausschnitten durch die Schwärze des Zentrums führten. Hin
und wieder schoben sie sich hinter die Rundungen der Dunkelplaneten, wie Monde, die hinter ihren Planeten verschwinden und wieder auftauchen. Auf den Kugelschalen der Schutzschirme bildeten sich dann hellere Flächen. Scharf zeichneten sich Rundungen ab. Insider hielt sich mit einer Hand an der Sessellehne fest und zeigte auf das zusammengefaßte Bild von insgesamt elf festgestellten Dunkelplaneten. »Fabelhafte Sache, diese Leuchtbojen. War ein guter Einfall von mir!« Seine Hände und Arme bewegten sich auf der Tastatur eines Rechengeräts der Ortung mit faszinierender Schnelligkeit. Auf einen anderen Bildschirm wurden Zahlenkolonnen eingespiegelt. »Niemand verkennt deine Leistung, Zwo!« sagte Atlan. »Haben die Dunkelplaneten Eigenbewegungen?« Die Planeten befanden sich zwischen vier und einundvierzig Lichtminuten vom Zentrum entfernt. Sie hatten keinerlei Eigenbewegungen. Ihre Verteilung war wahllos. Lyta wandte sich an Sanny und fragte: »Siehst du ein Schema in der Aufteilung der Planeten? Ich kann keines erkennen.« Der HORT bewegte sich mit zwei Vierteln der Lichtgeschwindigkeit auf einem annähernd spiraligen Kurs nahe dem Mittelpunkt. Dieses Kreuzen hatte immerhin den Erfolg, daß die Solaner wieder und immer wieder jene Durchgänge der Planeten vor den Sonnen – oder umgekehrt die Bedeckungen – sahen und die unterschiedlichen Informationen verifizieren konnten. »Dieses Schiff von Vasterstat ist gut eingerichtet«, fügte die rechte Hand Solanias von Terras hinzu. »Was sagt dein kosmischer Spürsinn, Bjo?« »Wenig. Ich brauche noch mehr Eindrücke!« lautete die kurze Antwort.
Aber die kleine Molaatin erklärte mit ihrer melodischen Stimme voller Selbstsicherheit: »Das Verfahren der Ermittlung ist mühselig. Ich habe vermutet, daß es nicht nur die elf für uns sichtbaren Planeten gibt.« »Sondern …?« fragte Atlan gedehnt. »Ich berechne insgesamt neunzehn Planeten. Aber ihre Anordnung ist trotz der angewandten Paramathematik noch immer regellos und willkürlich. Ich erkenne kein Muster. Offensichtlich handelt es sich bei Hidden-X um einen Charakter, der eine andere Art der Logik verwendet als ich.« Insider kratzte sich mit zwanzig Fingern gleichzeitig an beiden Schultern; eine Geste der Ratlosigkeit. »Auf welche dieser pechschwarzen Welten landen wir? Hat jemand einen Hinweis?« »Die Antwort ist keineswegs einfach«, sagte Atlan. »Neunzehn Welten stehen zur Auswahl. Für mich ist die eine so wichtig wie die andere.« »Trotzdem! Es wird auch in diesem 'System' einen besonders wichtigen Planeten geben«, meinte Oserfan. »Ich kann nichts berechnen!« schränkte Sanny ein. Das Team hatte sich nicht ganz freiwillig zusammengefunden. Daß sie alle mentalstabilisiert waren, spielte als Auswahlpunkt eine wichtige Rolle. Dazu kamen persönliche Bindungen. Jeder hatte mit einem anderen oder mehreren schon gefährliche Missionen durchgestanden. Bisher jedoch hatten sich zwei Teammitglieder schweigend verhalten. Hreila und Tristan, beide waren Buhrlos, sie Biologin, er Waffentechniker. Während der zurückliegenden Stunden hatten sie verständlicherweise nichts zu tun gehabt. Obwohl Tristan Bessborg als vorlauter, besserwisserischer Typ bekannt war, schien ihn die Anwesenheit Atlans und der Stabsspezialisten gebremst zu haben. Der Katzer strich mehrmals mit beiden Händen über das kurze,
rotbraune Haar seines Schädels, als könne er die Schwingungen der Mentalstrahlung dadurch förmlich neutralisieren. Mit großer Zurückhaltung warf er seine nächsten Worte in die Diskussion. »Meine telepathischen Fähigkeiten sind im Augenblick gleich Null«, murmelte er. »Aber mein Gefühl sagt mir, daß einer der Dunkelplaneten eine positive Aura ausstrahlt. Es könnte dieser hier sein.« Er stand auf, ging zum Steuerpult und deutete an Oggars Schulter vorbei auf eines der Echos. Absolut nichts zeichnete diesen Dunkelplaneten vor den anderen aus. Er wirkte ebenso schwarz und rund wie die anderen. Auch aus seiner Stellung zu den weniger weit entfernten Körpern konnte niemand an Bord auf eine besondere Bedeutung schließen. Der Androide warf ein: »Selbst mein Mnemodukt kann uns nicht weiterhelfen.« »Was nun?« murmelte Argan U. »Abwarten. Vielleicht kann ich euch bald etwas Genaueres sagen«, meinte Breiskoll. Atlan ging unruhig in der Zentrale auf und ab, warf immer wieder Blicke auf die Instrumente und die Ortungsschirme und sagte schließlich in nachdenklichem Tonfall: »Ich gebe zwei Dinge zu bedenken! Erstens nehme ich an, daß Hidden-X uns nicht nur beobachtet, sondern auch auf irgendeine Weise belauscht. Er wird also bald wissen, für welchen Weg wir uns entschieden haben. Und zweitens kann natürlich genau jene positive und anlockende Aura eine gezielte Falle unseres unsichtbaren Gegners sein. Das sollten wir einkalkulieren, bevor wir einen der in Frage kommenden Planeten ansteuern.« »Längst bedacht!« knurrte Insider. Oggar wandte sich um und verzog sein weißhäutiges Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse. »Das Mnemodukt hat einen Namen für den Planeten
herausgesucht. Krymoran. Das bedeutet etwa: dunkler Punkt, schwarze Masse in der Sprache von pers-oggarisch. Einverstanden?« Tristan Bessborg richtete sich mit seinen einhundertdreiundvierzig Zentimetern aus dem Sessel auf, zuckte mit den Schultern und meinte mit aggressiver Stimme: »Nicht gerade sonderlich originell.« »Sei nicht so vorlaut, Tris!« wies ihn seine Lebenspartnerin zurecht. Sie war elf Jahre jünger und nur einen Meter und zwölf Zentimeter groß. Als Spezialistin für die Psychologie fremder Sternenvölker hatte sie sich unter den Buhrlos und anderen Gruppen einen guten Ruf erworben, der bis zu den Stabsspezialisten in der SOL-Zentrale gedrungen war. Deshalb befand sie sich an Bord des HORTs. »Krymoran ist wirklich ein guter Name.« Ohne sich um das Wortgeplänkel zu kümmern, zeigte Bjo Breiskoll auf einen der neunzehn Planeten. »Wenn dieser hier Krymoran ist, wenn Krymoran vielleicht auch eine Falle für uns darstellt, sollten wir trotzdem dort landen. Ich empfange eindeutig eine Ausstrahlung. Sie ist zwar aus vielen, einander widersprechenden Komponenten zusammengesetzt, scheint aber vorzugsweise positiv zu sein. Positiv, das meine ich in dem Sinn, daß dort nicht ein mächtiger Feind auf uns lauert.« Mit weniger als halber Lichtgeschwindigkeit driftete der HORT auf den Planeten zu. Vor dem Raumschiff wichen die punktförmigen Echos der Dunkelwelten in alle Richtungen auseinander und verschwanden schließlich jenseits der Ränder der Monitoren. Im Mittelpunkt vergrößerte sich unentwegt die große Masse des unsichtbaren Planeten, geschützt durch den dunklen Ortungsschirm, kenntlich gemacht nur durch die künstlich erzeugten Farbunterschiede der Bildwiedergabe. Der kugelförmige Körper schwoll an, nahm an Dichte zu und zeigte sich schließlich nur noch als Kugelausschnitt, als Kalotte. Die künstliche Sonne der Leuchtboje zog auf ihrer Bahn wieder
zwischen den Planeten und das Schiff. Das grelle Licht erzeugte auf dem schwarzen Schutzschirm einen runden, gleißenden Fleck. »Das also ist die Grenze zwischen Krymoran und dem Weltall«, stellte Oggar fest. Obwohl sie etwas Ähnliches hatten erwarten müssen, wurden die Insassen von der Plötzlichkeit der neuerlichen Drohung überrascht. Die donnerartige Stimme von Hidden-X erfüllte die Gedanken der Solaner: Ihr laßt euch nicht abschrecken und verfolgt also unbeirrbar eure Absichten, schrie der unheimliche Feind. Ebenso, wie ich es tue, euch gegenüber und allen anderen Gegnern! Atlan preßte die Fingerspitzen gegen seine Stirn. Er konzentrierte sich darauf, eine neue Bedeutung zwischen den Worten und Begriffen zu finden. Noch ist für euch Zeit genug, umzukehren! ertönte die Drohung. Eure Überlebenschancen sind noch nicht gleich Null. Die Falle des Planeten habe ich für euch weit geöffnet. Der Augenblick eurer Landung wird für euch der Anfang des Verderbens sein! Ihr setzt euch über jedes Verbot hinweg, das ich aus guten Gründen aufgestellt habe. Ihr werdet, wie viele andere vor euch, euer Ende auf der Welt finden, die von euch Krymoran genannt wird. Ihr habt die letzte Warnung gehört! Die Stimme schwieg. Unverkennbar wurde der mentale Druck wieder verstärkt spürbar. Der Arkonide bemühte sich, die Ruhe wiederzufinden, und sagte: »Es war nicht erkennbar, ob uns Hidden-X mit dieser seltsamen Drohung weiter anlocken oder endgültig abschrecken wollte. Was meint ihr?« »In beiden Fällen sind wir keineswegs unvorbereitet«, erklärte Oggar selbstbewußt. »An eine Landung denke ich allerdings im Augenblick noch nicht.«
»Erst einmal«, fügte Insider knapp hinzu, »sollten wir uns den Planeten einmal genauer ansehen.« Sämtliche Ortungssysteme wurden neu justiert, als sich der HORT dem Schutzschirm näherte und schließlich durch ihn hindurchglitt. Vierhundert Kilometer über dem Planetenboden wurden die Bildschirme plötzlich von der Helligkeit des »normalen« Lichts erfüllt. Die Scanner summten und projizierten ununterbrochen Bilder auf die Monitore. Mehr und mehr Einzelheiten der Planetenoberfläche, zeichneten sich ab. Atemlos starrten die Teammitglieder darauf. Die Planetenkruste schien aus dem Nichts zu entstehen. Und schließlich sahen sie alle das Licht einer rasend schnellen Sonne. Licht, Strahlen und Schatten wanderten wie in Zeitrafferprojektion über Krymoran.
2. Am Ort der Gebrochenen Steine, den Harre'Arft auch Kyrm-Shartt nannte, verwandelten sich die Schriftzüge bereits in hart hervortretende Linien und Punkte. Die Felswand war erst zu einem Viertel mit Harre'Arfts Glyphen und Runen bedeckt. Jeder, der die Stadt betrat oder verließ, kam hier vorbei. Jeder konnte und würde die Chronik von Kyrm-Shartt lesen. Harre hatte einen ausreichenden Vorrat an Fyll-Stengeln und Wurzelstücken mitgebracht, als er vor wenigen Umläufen zum letztenmal die Außenwelt betreten und dort die Folgen der Invasion gesehen hatte. Nur dort oben, wo sie die unschönen Hütten und Verschlage bauten und dabei die Pflanzenwelt verwüsteten, wuchs der Fyll-Strauch mit seinen triefenden Ästen und dem Wurzelwerk, dessen Ausscheidungen Stein verwandeln konnte. Harre'Arft nahm ein Wurzelstück, biß die verharzte Schnittfläche auf und fing zu schreiben an. Er führte weiter, was er vor einer
langen Anzahl von Umläufen angefangen hatte. »Nichts ändert sich auf unserer namenlosen Welt«, schrieb er. »Die Kleinen und die Raubtierhaft-Spitzköpfigen leben noch immer in ihren primitiven Behausungen. Sie bekriegen einander wegen einer Frucht oder wegen eines Tagesvogels, den sie mit Steinwürfen getötet haben. Niemand weiß, wie sie auf unsere Welt gekommen sind. Es sind arme, geistig verwirrte Invasoren. Niemand kann sagen, woher sie gekommen sind, und wohin sie gehen. Aber das ist schon seit undenkbarer Zeit so, und es ist eigentlich überflüssig für mich, kostbare Schriftfläche am Felsen zu verschwenden. Dennoch muß ich es abermals betonen. Es ist an der Zeit, daß wir wieder die Sehnen auf unsere Bögen spannen. Wir müssen wieder die steinernen Pfeilspitzen mit unseren scharfen Zähnen spitzen und die Feuerrohre laden und mit rundgebissenen Projektilen versehen. Nahe dem Eingang zu KyrmShartt wachsen neue Reihen und Gruppen von Behausungen aus dem Boden, und in nicht allzu langer Zeit umgibt ein Ring der kleinen, schnatternden und der großen, fauchenden Fremden unseren sorgsam gehüteten Einstieg in unseren Lebensbereich.« Unter den krallenbewehrten kurzen Fingern des schwarzpelzigen Harre'Arft, der einer aus dem Volk des Planeten war, das sich schon immer hier befunden hatte, glühten phosphoreszierend die Kurven, Linien und Schnörkel der Schrift. Der klebrige Pflanzensaft leuchtete dort auf, wo er auf den glatten Fels aufgebracht wurde. Aber schon fingen die ersten Linien der Anfangsworte an, den Stein blasenwerfend zu zerfressen. Noch leuchteten sie in einem optischen Bereich, über den selbst Tiere verfügten. Aber schon sandten sie Wellen in einer Farbe aus, die von den Augen der meisten normalen Wesen nicht erfaßt werden konnte, nur von den angepaßten Organen Harre'Arfts und seiner Artgenossen. Von der Arbeit ein wenig erschöpft, ließ sich das vier Fuß große Wesen auf alle Gliedmaßen zurücksinken und atmete schwer. Die pinselartigen
Haarbüschel an den Spitzen der Ohren schwankten und zitterten. Sie fingen die Geräusche und Vibrationen der entstehenden Schriftzeichen in jeder Einzelheit auf. Harre'Arft und seine vielen Artgenossen lebten in den unterplanetarischen Städten. Schon immer, seit einer Ewigkeit, so weit das Volk ohne Namen sich überhaupt erinnern konnte. »Es ist unmöglich, daß die Fremden auf der Oberfläche unserer Welt entstanden sind. Sie kommen irgendwoher.« Harre'Arft dachte sorgfältig über die nächsten Worte des Textes nach. Die Eingänge zu den weitverzweigten Höhlensystemen waren sorgfältig versteckt. Sie befanden sich entweder in den steilen Wänden schmaler Schluchten, oder waren verborgen zwischen Gewächsen und Felsblöcken oder unter überhängenden Felsen. Die Eingänge und Kamine der Frischluftkanäle waren ebenso meisterhaft getarnt. Aus unsichtbaren Spalten sickerte Wasser tief herunter und wurde in riesigen Zisternen aufgefangen. In vielen Ebenen wuchsen Flechten, Pilse und Rankengewächse, von denen sich die Ureinwohner der Welt ernährten. Aber in bestimmten Abständen mußten sie hinaus an die Außenwelt, und dort trafen sie auf die ungebetenen Gäste. Harre'Arft formulierte schweigend und nachdenklich seine nächsten Sätze. Er nahm einen frischen Schreibstengel und berührte mit dessen tropfendem Ende wieder die Felswand. »Einige Denker unseres Volkes sagen, saß wir aus Furcht vor den Fremden handeln und alles Fremde und Unbekannte schließlich so hassen, daß wir es bekämpfen. Dies mag nicht der Klugheit letzte Blüte sein, aber es trifft für die letzte Anzahl von Helligkeitsumläufen zu. Jemand, der viel mehr vermag als wir alle zusammen, hat diese Fremden auf unsere Welt gebracht. Wir wurden nicht gefragt. Tausendmal fünfzig – mindestens! – der kleinen Fellträger kamen hierher und plünderten unsere Wälder. Von einem Umlauf zum
anderen waren sie da und rissen Äste ab, um sich Hütten bauen zu können. Und dann erst diese Elendsgestalten mit ihrem räudigen Fell! Nichts haben sie, keinerlei Werkzeuge, keine Waffen, keinen Besitz!« Nicht ohne Wohlgefallen strich Harre'Arft über sein schwarzes, seidig glänzendes Fell. Sie besaßen eine Heimat, die es zu schützen und zu verteidigen lohnte. »Es müssen Flüchtlinge von einer Ebene des Daseins sein, die wir nicht erkennen können.« Und sie selbst wohl auch nicht, fügte Harre'Arft in Gedanken hinzu. Tief unter der zerklüfteten Oberfläche des runden Weltenkörpers lagen die ausgedehnten Kavernen der Städte. In unermüdlicher Arbeit hatten die wachsenden Familien neue Gänge, Kammern, Versammlungsräume und Hallen, Nahrungsebenen und Zisternen angelegt, sie hatten Wasser in tiefen Rinnen herbeigeleitet und dafür gesorgt, daß die natürlichen Spalten im Fels zu Luftkanälen erweitert wurden. Kein einziges fremdes Wesen war jemals hier eingedrungen. Der arbeitsreiche Frieden war niemals gestört worden – aber jetzt war er in Gefahr. Die Gefahren wuchsen mit jeder neuen Hütte, die nahe einem Eingang oder Luftkamin zusammengeflochten wurde. »Aber«, beschrieben die leuchtenden Schriftzeichen den Anfang eines neuen Kapitels der Chronik, »jenseits aller Probleme, jenseits allen Verstehens muß es einen anderen Kosmos geben. Andere Welten. Ein anderes Universum, in das wir nicht hineinsehen können. Die Steppen und Wälder, die Klüfte und Savannen werden von einer Sonne beleuchtet, die unsere Augen blendet und uns zwingt, die Schirmhäute fest zu schließen. Die Sonne rast über einen blaubraun gefleckten Himmel, in dem in den periodisch kurzen Nächten nur unergründliche Schwärze leuchtet.«
Harre'Arft stieß mit diesen Überlegungen in einen Bereich des Denkens vor, den ihm die klugen Mitglieder seines Volkes aufgezeigt hatten. Jener Kosmos existierte nur in Gedankenmodellen und abstrakten Überlegungen. Sein Aussehen, seine gesamte Existenz waren von logischen Schlüssen und Beweisketten abgeleitet. »Aus jenem dunklen Bereich müssen die unerwünschten Fremden kommen«, schrieb er weiter. »Bisher kennen wir nur zwei Völker, die nicht auf unserer Welt entstanden sind. Es mag sein, daß andere Völker hierher kommen oder von einer gewaltigen, versteckten Macht abgesetzt werden. Warum wird von uns niemand abgeholt und auf eine andere Welt versetzt? Vielleicht deshalb, weil wir tief unterhalb der Savannen und der schmalen Flußläufe leben?« Der Weg an die Außenwelt führte durch sorgfältig gemeißelte und mit pflanzlichen Säuren aus dem Fels geätzte Bogengänge, die von den Bildhauern mit stilisierten Blüten, Ranken und Abbildungen der frei lebenden Tiere geschmückt worden waren. Immer wieder tauchten zwischen dem Rankenwerk die Gesichter phantastischer Wesen auf, zusammengesetzt aus verschiedenen Charakteristika unterschiedlicher Wesen. Szenen von Jagden waren an den Geländern der Rampen zu sehen, die schräg nach unten führten. Harre'Arfts Artgenossen und er selbst unternahmen von Zeit zu Zeit Ausflüge, um sich mit Beute zu versorgen; nicht nur das Fleisch der Wildtiere war wichtig für sie, sondern auch die geringsten Bestandteile der Beute wurden verarbeitet. Während der Jagden hallten die Wälder wider von den schrillen Stimmen der Jäger, die an den Tagen und besonders in der Dunkelheit jagten, vom Zischen der Bogensehnen und dem Heulen der Pfeile, von dem krachenden Donner der Feuerbüchsen. Die schwarzen Wesen, die sich mit ihrer Beute schnell wieder zurückzogen in das schützende Halbdunkel ihrer unterplanetarischen Städte, hatten seit eh und je ein ganz
besonderes, schwer auszudrückendes Verständnis und Verhältnis zur Oberfläche. Sie wußten, daß ihr Leben ohne das Oberflächenleben nicht denkbar war, aber sie vermochten sich nicht vorzustellen, auch nur eine Helligkeitsperiode lang dort zu leben. »Fragen über Fragen, die uns niemand beantwortet«, schrieb Harre'Arft und entschloß sich, für diese Periode aufzuhören mit seinem kritischen Text. »Aber jetzt ist es wichtig, die Invasoren auf der Oberfläche zu vertreiben, hinaus in die Savannen, wo es keine Eingänge zu unseren Lebensräumen gibt.« Die Wesen, die sich mit ihrer Beute an den kleinen Dörfern der Fremden vorbeischleichen mußten, wenn sie nicht in Auseinandersetzungen verwickelt werden wollten, waren nicht nur für das Leben in der Düsternis hervorragend ausgestattet. Das Dunkel war für sie ein ganz besonderes Medium. Sie sahen, wie manche Felswände in dunklem Rot glühten, andere wieder in hellerem Braun, in Gelb oder anderen gebrochenen Planetenfarben. Den Fremden an der Oberfläche aber war das Sehen in diesen Teilen des Spektrums verwehrt. Während der Jagden und der gelegentlichen Kämpfe gegen die Fremden rannten Harre'Arft und seine Jagdkameraden, wenn sie auf allen vier Gliedmaßen liefen, schneller als die meisten Wildtiere. Ihre Zahnreihen waren mühelos in der Lage, fingerdicke Steine mit einem Biß zersplittern zu lassen. Mit den sensorischen Haaren an ihren Ohrspitzen fingen sie Vibrationen über ferne Distanzen hinweg auf. Ihre riesigen Augen aber wurden im Licht der schnellen Sonne gezwungen, sich zu schließen, und durch die milchige Schutzhaut nahmen sie die Umwelt in einem System »verkehrter« Farben wahr, die weitaus dunkler waren. Für den Aufenthalt in den kurzen Dämmerungen und den Nächten aber, das hatten die Klugen ermittelt, waren die Urbewohner aus der Tiefe ausgerüstet wie niemand sonst. Ihre Welt hatte keinen Namen. Sie selbst empfanden sich als Volk, wagten es aber nicht, sich
selbst einen Gattungsnamen zu geben. Auch das, sagte sich Harre'Arft, war eine weitere Eigentümlichkeit. Er hob den nächsten Wurzelstrunk und schrieb seinen vorläufig letzten Satz. »In den Augenblicken der Gefahren und Bedrohungen aber vereinen sich alle Individuen unseres großen Volkes und kämpfen: einer für alle und die Gemeinschaft für den einzelnen.« Harre'Arft ließ sich auf die weichen Ballen seiner Endglieder nieder, drehte sich herum und trottete über das schmale Felssims. Kurze Zeit später schlug ihm der vertraute Geruch des Höhlensystems entgegen, indem er und seine große Familie lebten.
3. Vor dem HORT und auf sämtlichen Monitoren breitete sich die seltsame Landschaft von Krymoran aus. Sie schien sich in rasender Geschwindigkeit, in einem verwirrenden Prozeß aus bewegten Schatten, zu verändern. Insider meinte ruhig: »Abstand zur Planetenoberfläche knapp dreihundertfünfzig Kilometer.« Der HORT ließ die Innenseite des Ortungsschutzschirms hinter sich. Wie an der Oberfläche einer schwarzbraun geäderten Schüssel entlang bewegte sich ein lodernd greller Feuerball. Krymorans Sonne. Das künstliche Gestirn war bis vor wenigen Sekunden nur als Helligkeitseffekt zu sehen gewesen. Jetzt raste er in geringer Entfernung von rechts auf den HORT zu und über die Oberfläche dieser fremden Welt hinweg. »Dreihundert Kilometer!« lautete die nächste Meldung. Sämtliche Schatten weit unter dem Schiff wanderten langsam von einer Richtung zur anderen. Sehr schnell errechneten Oggars Instrumente die Geschwindigkeit des künstlichen Gestirns, extrapolierten den Umfang und Durchmesser von Krymoran und
kamen zu dem rechnerischen Ergebnis, daß der Tag dieses Planeten zweihundertvierzig Minuten lang dauerte. Im harten Licht der Kunstsonne, deren Geschwindigkeit zumindest als vordergründigen Effekt einen ungewöhnlich schnellen Tag- und Nachtwechsel zur Folge hatte, wurden die ersten Ausschnitte der Planetenoberfläche sichtbar. Der HORT senkte sich abermals um rund hundert Kilometer tiefer und schlug einen Orbit um Krymoran ein. Ausgedehnte Savannen, von schmalen Erdspalten durchzogen, breiteten sich aus. Das Leben dort unten würde ohne jeden Zweifel von den kurzen Tagen und Nächten gezeichnet sein, logischerweise selbst in der Evolution der Gewächse. Nur wenige schmale Wasserläufe wanden sich in weit ausholenden Mäanderlinien durch das Land, das aus hohen Gräsern und einzelnen, teilweise waldgroßen Baumgruppen bestand. Jenseits des Savannengebiets, hinter einer Reihe erloschener Vulkane mit verschütteten Kratern, schob sich ein langgezogenes Wüstengebiet ins Bild. »Bisher haben wir nichts erkennen können«, sagte Oggar, »das auf eine tödliche Falle von Hidden-X hindeutet.« »Es ist eine wesentliche Eigenschaft gefährlicher Fallen«, schaltete sich Hage Nockemann ein, »unsichtbar zu sein. Nicht wahr, Blödel?« Sein Roboter machte mit seinem Arm eine Geste von großartiger Weitschweifigkeit. »Du hast recht«, antwortete Atlan. Farbige Wüsten dehnten sich aus. Immer wieder erschienen Vergrößerungen von besonders auffallenden Geländemerkmalen. Die Ränder der Vulkane schienen ebenso zu leben wie alles andere; die Schatten wanderten. Die sandigen Bereiche vermittelten einen Anblick von öder Trostlosigkeit. Daran änderten auch die Flußtäler nichts, die faseriges Grün zeigten. Schweigend musterten die Mitglieder dieses Kommandounternehmens die rasch wechselnden
Abbildungen. »Bisher habe ich nichts erkennen können«, meinte Insider fast enttäuscht, »das auf Besiedlung hindeutet.« »Auch große Tiere scheint es hier nicht zu geben«, stellte Argan U fest. »Ich sehe keine Spuren, keine Pfade oder Tränken an den wenigen Wasserläufen«, bekräftigte Breiskoll. Sie versuchten sich vorzustellen, welche Lebensbedingungen sie hier vorfinden würden. Die ersten Analysen bestätigten, daß die Luft der normalen SOL-Atmosphäre entsprach. Die schnell wandernde Sonne ließ die Grate, Schroffen und Hänge einiger Gebirgszüge überscharf hervortreten. Die tiefen Täler waren von dunkelgrünem Pflanzenwuchs erfüllt. Einmal brachte eine extreme Vergrößerung einen Schwarm adlergroßer schwarzer Vögel auf die Bildschirme. Immer noch waren weder Straßen, Brücken oder Siedlungen zu erkennen. »Vor diesem unbelebten Dunkelplaneten soll uns Hidden-X ernsthaft gewarnt haben?« fragte sich der Buhrlo laut und im Tonfall der Enttäuschung. Oggar hob in einer durchaus menschlich wirkenden Bewegung die Schultern. »Der Planet mag unbewohnt sein – aber möglicherweise verbirgt sich unter jedem zweiten Baum eine Falle. Unterschätzt Hidden-X nicht eine Sekunde lang!« warnte Atlan. »Landen wir?« fragte Lyta Kunduran. »Noch nicht«, gab Oggar entschieden zurück. Der HORT folgte, sehr weit abgebremst, der dahin jagenden Sonne nach Westen. Ein kleines Meer tauchte unter den Solanern auf; es war mehr der Rest einer Wasserfläche, die sich einst sehr viel weiter ausgebreitet hatte. Fünf oder sechs Wasserläufe hatten sich tief in den gelbweißen Untergrund eingekerbt. Die Ufer rückten gleichmäßig mit minderem Pflanzenwuchs auf die Ränder des blau schimmernden Wassers zu. An den Grenzlinien zwischen Land und
Wasser tranken Scharen kleiner, rotwildartiger Tiere. »Immerhin!« stellte Sanny fest. »Echtes Leben.« Inzwischen hatte sich eine Datenflut angesammelt. Aber in dieser Ansammlung fehlte jede Form von Energieemissionen. Es waren auch jetzt, nach rund zwei Stunden ununterbrochener Beobachtungen, keine Anzeichen von größeren oder systematischen Bebauungen zu entdecken gewesen. Dort, wo die einfließenden Flüsse sumpfige Delta-Gebiete hinterlassen hatten, stakten seltsame Vogelwesen mit langen Beinen im Schlick und Schlamm. Abermals verringerte Oggar den Abstand des HORTs zum Planetenboden. Die Unruhe unter den Teammitgliedern nahm zu. Sie warteten auf einen Trick, den sie Hidden-X zutrauten … irgend etwas wie die Landschaft im Nichts mit all ihren widersprüchlichen Erscheinungsbildern. »Eigentlich haben wir einen ganz anderen Planeten erwartet, nicht wahr?« Die Vorstellung, daß dieses seltsame Wesen den Dunkelplaneten und alle seine unsichtbaren Nachbarn in diesem Bereich des Alls hergestellt oder zumindest nach seinen Überlegungen gestaltet hatte, war keineswegs neu. Sie lag nahe, denn sicherlich hatte alles, was sie sahen, einen bestimmten Sinn. Aber angesichts der seltsamen Bilder drängte sich den Solanern die Vorstellung auf, daß Hidden-X mit seiner Macht hier sehr seltsam umging. »Es ist wirklich seltsam«, bestätigte selbst die Molaatin. Etwa fünfundneunzig Minuten später sagte Hage Nockemann scharf: »Halt. Da war etwas auf dem C-Monitor …« Oggar reagierte mit gewohnter Schnelligkeit. Die Bildschirme zeigten eine Waldzone. Sie war an beiden Seiten von schmalen Wüstenstreifen eingegrenzt und schloß sich an ein Bergmassiv an. Die Baumgruppen verteilten sich zwischen Schluchten und schattenerfüllten Sprüngen in der Planetenkruste. Ein winziger Bach stürzte sich in einen Erdspalt und hinterließ einen
weiß aufstäubenden Wasserfall. »Da ist tatsächlich etwas. Wie ein Muster!« sagte Hreila. Der HORT schlug einen Kreis ein, und sämtliche Ortungsantennen richteten sich auf die betreffende Stelle. Wieder störten die Effekte der wandernden Schatten, aber sie ließen auch undeutlich die Reihen kleiner Bauwerke hervortreten. Nur die scheinbare Symmetrie einiger Reihen fiel auf, nicht die Höhe, Größe oder Schönheit der Bauten. Die halbautomatischen Geräte, von den rasend schnell arbeitenden Fingern Insiders bewegt, lieferten Serien unterschiedlicher Aufnahmen, fast alle gestochen scharf. »Das muß tatsächlich so etwas wie eine Stadt sein«, mutmaßte Tristan. »Kleine Hütten aus Zweigen, Ästen, Pflanzenstücken und Grasbüscheln. Auf keinen Fall die Bauwerke technisch hochstehender Wesen.« »Ich sehe es ebenso«, sagte Atlan. »Und ich spüre die Ausstrahlungen denkender Wesen. Sie scheinen nicht sehr fröhlich zu sein. Eine Welle der Niedergeschlagenheit!« »Eine Falle? Wenn Hidden-X an unser Mitleid appelliert?« »Eher an unsere Neugierde!« brummte Oserfan. »Stadt, Siedlung … das ist sicher zuviel gesagt«, schränkte Bjo nach einer Weile ein. »Es sind einfache Behausungen von einfachen Wesen. Es gibt außer einigen ausgetretenen Pfaden nichts, das diesen Ausdruck rechtfertigen würde.« Schweigend versuchten sie, die Bilder richtig zu deuten. In diesem Augenblick sprang Sanny von ihrem Sessel hoch und schrie aufgeregt: »Es sind Molaaten! Seht doch hin!« Eine Gruppe kleiner Wesen mit lindgrünem Fell, kaum einen halben Meter groß, bewegte sich langsam zwischen den primitiven Hütten. Plötzlich war das Team an Bord des HORTs alarmiert. »Das kann … das Geheimnis des Planeten sein!« rief Atlan unterdrückt.
Der HORT wurde in eine andere Position gebracht und schwebte auf die kleinen Hütten zu. Im Augenblick herrschte über diesem Ausschnitt des Planeten der Sonnenstand eines Mittags, der sich, noch während das Team die Bildschirme anstarrte, langsam in den Nachmittag zu verwandeln begann. Es waren tatsächlich Molaaten. Als ob das Annäherungsmanöver des Schiffes ein Signal gewesen wäre, zeigten sich mehr und mehr von ihnen. Die Fellumhänge, die viele von ihnen trugen, waren verschmutzt und abgerissen. Einige der kleinen Wesen trugen Holzknüppel in den zierlichen Händen. »Es sind ziemlich viele. Hunderte. Vielleicht Tausende von Molaaten«, murmelte Oserfan. »Was haben die Angehörigen meines Volkes hier verloren?« »Sie sind unglücklich!« stellte Breiskoll fest. »Wie …?« fragte Sanny in heller Aufregung, dann begriff sie. Bjo spürte, daß ihre Artgenossen bedrückt waren. Noch immer hatten sie den HORT nicht entdeckt. Sie redeten aufgeregt miteinander, viele deuteten in eine bestimmte Richtung. Immer mehr Molaaten trafen zusammen. Atlan stand auf, warf einen langen Blick auf Sanny und einen ebensolchen auf Oserfan, dann sagte er: »Es gibt keine andere Wahl, Oggar! Bringe deinen HORT in eine günstige Position. Ich denke, wir müssen mit den Molaaten sprechen.« »Aber nur eine kleine Gruppe von uns«, warnte Insider. »Und entsprechend gut und schlagkräftig ausgerüstet.« »Einverstanden.« Während sich Atlan, Nockemann, Breiskoll, Sanny und Oserfan fertig machten, führten die anderen Teammitglieder die Beobachtungen fort. Einige Molaaten sonderten sich von der Gruppe ab und schleppten allerlei Dinge mit sich: Früchte, handgroße, abgesplitterte Steine und anderes, das aussah, als wären es eingewickelte Nahrungsmittel. »Noch nicht hinunter«, meinte Tristan, der plötzlich völlig ernst
geworden war. »Das hat etwas zu bedeuten.« »Zweifellos.« Die Objekte eines Beobachtungsgeräts richteten sich auf die langsame Prozession von etwa einem Dutzend Molaaten. Die Wesen verließen diesen einzelnen Teil der Hüttensiedlung und bewegten sich zielstrebig auf eine Art Gestrüpp zu, das am Rand des Waldes aus größeren Bäumen lag. »Was haben sie dort zu suchen?« fragte jemand leise. Sie sahen es einige Minuten später. Atlan und die anderen Mitglieder, bereits in den schweren Einsatzanzügen, kamen zurück in den Steuerraum und sahen gerade noch, wie die komplizierte Optik die Molaaten erfaßte, die in das dichte Gebüsch eindrangen und einem kaum sichtbaren Pfad folgten. »Sie haben etwas Bestimmtes vor«, kommentierte Atlan. Er aktivierte seinen Translator. Die molaatische Instinktmathematikerin schüttelte verwundert ihren bronzefarbenen Kopf. »Sie sind hilfreich. Sie versorgen jemanden …«, meinte sie. Der HORT veränderte seinen Standort, um eine bessere Position zu bekommen. Inzwischen waren die Schatten und somit die Dunkelheit zwischen den Stämmen und Wipfeln stärker geworden. Wieder wechselten die Bilder. Oggar und Insider arbeiteten hervorragend zusammen und schafften es schließlich, die Kameras auf das Zentrum einer Lichtung im Gebüsch zu richten. Dort tauchten jetzt die ersten Molaaten auf. Und auch dort waren Hütten zu erkennen, noch armseligere Konstruktionen als diejenigen der Molaaten. Aus den Unterkünften stürzten fellige, struppige Wesen hervor. Die Solaner erkannten sie auf den ersten Blick. »Roxharen! Ausgerechnet hier!« stöhnte Oserfan auf. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte der Arkonide. Sein Logiksektor wisperte: Hidden-X hat hier ein Lager für überschüssige Hilfsvölker eingerichtet!
Zwei Dutzend Roxharen mit spitzen Köpfen, Fellen in allen bekannten Farbschattierungen, mit ruckhaften Bewegungen der mäuseähnlichen Ohren, überragten die Molaaten um das Vierfache. Sie wirkten verhungert und verzweifelt, wie ihre Bewegungen bewiesen. Sie hoben ihre zierlichen Hände und die dünnen, muskulösen Arme und signalisierten Friedfertigkeit. Aber dennoch stürzten sie sich auf die Molaaten und rissen ihnen die Flaschenkürbisse aus den Händen, balgten sich um die Nahrung und überrannten in ihrer Gier zwei der kleinen Gestalten. »Jetzt wird mir vieles klarer«, bekannte Oggar. »Keine der beiden Gruppen verfügt über technische Hilfsmittel. Atlan?« »Ich denke, wir schweben mit einem Gleiter hinunter, und du bringst den HORT in Sicherheit.« »Einverstanden.« Einige Minuten später glitt das Schott der Schleuse auf. Atlan saß am Steuer des kleinen Gleiters. Hinter ihm fieberten Oserfan und Sanny dem ersten Kontakt mit ihren unglücklichen Artgenossen entgegen.
4. Der Gleiter schraubte sich lautlos in der ersten Dämmerung des Abends tiefer. Die künstliche Sonne näherte sich dem Horizont. Zahlreiche Vögel, die neugierig aufgestiegen waren und die Maschine umschwirrt hatten, suchten die Zweige auf und verschwanden in der grünen Wildnis. Das Licht wurde etwas dunkler, eine Art Nebel erhob sich im Norden und breitete sich aus. Der Gleiter wand sich zwischen den Wipfeln hindurch und näherte sich dem Boden. Atlan schaltete die Scheinwerfer ein und sagte: »Hoffentlich ruft unser Auftauchen keine unsinnigen Reaktionen hervor. Wir wissen nicht, welche Erfahrungen die Molaaten haben.
Von den verwahrlosten Roxharen haben wir wohl nichts zu befürchten.« »Wenn wir sie ansprechen, gibt es keine Probleme«, sagte Oserfan. Erschrecken und Neugierde vermischten sich in seinen Gedanken und riefen eine düstere Stimmung hervor. Zwei Meter über dem am breitesten ausgetretenen Pfad, der zu einer Quelle oder einem Bachlauf führte, steuerte der Arkonide den Gleiter auf die ersten Hütten des Lagers zu. Längst befanden sie sich im Bereich der tiefen Schatten, die übergangslos in schwärzeste Nacht wechseln würden. In wenigen Minuten war es soweit. Die Molaaten sahen die vergleichsweise gewaltige Lichtflut und kamen aus ihren zeltähnlichen Zweigenhütten hervor. Unruhig sahen sie ins Licht und schirmten ihre großen Augen ab. Ein Lautsprecher knackte, und Sannys Stimme ertönte, mehrfach verstärkt und im Ton der Besorgnis. »Keine Furcht. Hier sind zwei Molaaten. Zwei aus unserem Volk. Wir bringen Freunde mit. Wir müssen mit euch sprechen.« Es waren, stellte Atlan schweigend fest und steuerte unter den Bäumen auf die größte Lichtung zu, die er im Licht der Frontscheinwerfer erkennen konnte, Tausende. Zwei bis drei tausend, schätzte er, allein in diesem seltsam unorganisierten Dorf. Unter den Molaaten breitete sich ein leises Murmeln aus, das immer stärker anschwoll. Das Dach des Gleiters faltete sich zusammen. Oserfan und Sanny standen auf und winkten. Ihre Köpfe streckten sich aus den Halsblenden der Anzüge hervor. Ein Handscheinwerfer richtete sich auf die beiden Gesichter. Zunächst verhielten sich die vielen Molaaten erstaunlich ruhig. Sie starrten bewegungslos den Gleiter und die beiden Artgenossen an, während sie miteinander verwundert sprachen. Dann näherten sie sich mit zögernden Schritten dem schwebenden Gleiter. Vor wenigen ihrer Hütten brannten winzige Feuer. Einige Molaaten hielten primitive Fackeln in den Händen. Vor dem Gleiter bis zur
Lichtung bildete sich ein schmaler Durchlaß, hinter der Maschine schloß sich die Lücke, und alle Molaaten versammelten sich rund um den Landeplatz. Atlan setzte den Gleiter auf, während Sanny sagte: »Wir kommen aus dem Weltraum. Das sind meine Freunde Atlan, Bjo und Hage Nockemann. Oserfan hier ist der Anführer einer kleinen Gruppe Molaaten, die bei den Freunden in einem riesigen Raumschiff sind. Wie seid ihr auf diesen Planeten gekommen?« Eine merkwürdige Szene: Tausende Molaaten drängten sich von allen Seiten heran. Es herrschte fast undurchdringliches Dunkel. Die wenigen Leuchtpunkte der Fackeln schufen gelbrot glimmende, zuckende Helligkeitsinseln, die sich in den großen, blauen Augen der Wesen spiegelten. Vor dem Gleiter war eine keilförmige Zone grellen Lichts entstanden. Dort schirmten die Molaaten ihre Augen mit Händen und Armen ab. Die Wesen rochen dumpf und ungepflegt. Einer, der neben der Gleitertür stand und immer wieder die Gesichter der Ankömmlinge musterte, stieß aufgeregt hervor: »Wir wissen nichts. Wir waren plötzlich hier.« »Bedeutet das«, erkundigte sich Oserfan mit steigender Verwunderung, »daß ihr aus unserer Heimat einfach hierher versetzt worden seid?« »Von einer Sekunde zur anderen!« Atlan sagte halblaut: »Es war Hidden-X!« Oserfan fragte weiter: »Ihr lebt einfach hier, tut nichts und wartet? Was wißt ihr noch?« Es war für ihn und Sanny mehr als schmerzlich, mit dieser riesigen Gruppe Artgenossen konfrontiert zu werden, die nichts anderes zu sein schienen als hilflose und willenlose Werkzeuge von Hidden-X. Zorn wallte in ihm hoch und erstickte fast seine Stimme. Einige Molaaten schrien: »Wir wissen nichts. Plötzlich waren wir hier; es kamen immer wieder große Gruppen auf einmal an. Wir haben buchstäblich
nichts, diese Welt gibt nichts her.« »Weiter!« drängte Sanny. »Natürlich werden wir alles versuchen, um euch hier wegzubringen.« »Ihr werdet es nicht schaffen. Ab und zu verschwinden auch wieder viele von uns.« »Verschwinden …?« »In den Jahren bisher ruft hin und wieder der BEFEHL. Immer hört ihn nur eine Gruppe. Sie verschwindet in der nächsten Nachtperiode.« »Was ist dieser BEFEHL?« fragte Atlan voller Spannung. Auch diese Antwort wurde hastig hervorgestoßen, in einer Mischung zwischen Haß und Resignation. »Eine geistige Anweisung. Ein Befehl, dem jeder gehorchen muß, der ihn hört. Er verschwindet spurlos. Niemals haben wir jemals etwas von den Verschwundenen gehört oder gesehen.« »Ganz eindeutig: Hidden-X und sein Wirken!« sagte Nockemann. Auch sein Translator war eingeschaltet. »Welche Meinung habt ihr über den BEFEHL?« wollte Oserfan wissen. Er und Sanny saßen inzwischen auf dem Heck des Gleiters und ließen ihren Blick über die Menge gehen. »Wir wissen nicht, ob man sich darüber freuen soll, oder ob der BEFEHL noch mehr Elend über uns bringt. Woher kommt ihr?« Atlan deutete nach oben und antwortete wahrheitsgemäß: »Von den Sternen. Unser Schiff durchstieß eine dunkle Schicht, die um diesen Planeten liegt. Es gibt in näherer Entfernung keine Sterne, nur solche versteckten Welten wie diese hier, die wir ›Krymoran‹ genannt haben.« »Ein treffender Name!« schrie ein Molaate höhnisch. »Diejenigen, die der BEFEHL erreicht, sagen uns nur, daß sie gehen müssen. Nicht mehr. Wir, die zurückbleiben, versuchen zu überleben. Und da sind noch die Roxharen, die noch übler dran sind als wir.« Bjo Breiskoll sprach in sein Übersetzungsgerät und erkundigte sich:
»Die Roxharen. Sind es viele?« »Nein. Ein paar hundert in der Nähe unserer Ansiedlung. Wir können uns mit ihnen kaum verständigen. Sie sind arm, heruntergekommen und wie geistig ausgesogen. Wir helfen ihnen, weil wir und sie nur Opfer sind. Mehr können wir nicht tun.« »Wir sehen, daß die Lage der Roxharen und die von euch ausgesprochen schlecht ist. Wir sind sicher«, entschied die junge Molaatin schließlich zu sagen, »daß wir diejenige Macht kennen, die euch in diese schauerliche Lage gebracht hat. Es ist auch unser Feind. Für den Augenblick können wir kaum helfen; aus dem Raumschiff werden wir Nahrungsmittel, einige Werkzeuge und ein paar Waffen holen können. Wißt ihr, weiß jemand von euch, seit wieviel dieser falschen Tag- und Nachtwechsel ihr auf Krymoran seid?« »Es müssen Tausende sein. Das entspricht vielen unserer Jahre, Sanny!« kam die Antwort aus einer der hintersten Reihen. »Was müssen wir sonst noch wissen?« »Ihr sollt wissen, daß uns andere Bewohner des Planeten bekämpfen. Es sind schwarzbepelzte Wesen mit spitzen Schnauzen, die Steine zerbeißen können und Feuerrohre haben. Wir wehren uns mit geschleuderten Steinen. Es gab viele Verletzte und einige Tote.« »Mehr darüber!« rief der Arkonide. »Es müssen die eigentlichen Bewohner Krymorans sein.« Die Solaner erfuhren, daß die schwarzen Wesen überraschend dicht neben dem Lager auftauchten und jagten. Sie kamen völlig überraschend, meist am späten Nachmittag, in der Abenddämmerung oder in den Dunkelperioden. Sie verwandelten den Wald in einen Bereich, in dem die Tiere flüchteten, in dem Schreie gellten und der Donner der Feuerrohre echote. Sie zerstörten bei ihren hitzigen Verfolgungsjagden die Hütten der Molaaten, und wenn diese sich wehrten, wurden sie mit Pfeilen oder den großen Projektilen der Donnerrohre beschossen.
Tiere und Molaaten flüchteten in alle Richtungen, und meist noch vor der nächsten Dämmerung war der Spuk vorbei. Die Krymoraner verschwanden spurlos und nahmen ihre Beute mit, ließen die verwunderten Fremden aber achtlos liegen. »Also doch – sie scheinen unter dem Boden zu leben, auf dem wir stehen«, erklärte Bjo. »Aber ich kann sie nicht spüren, Atlan. Nichts.« Er machte eine ratlose Geste. Atlan nickte und erklärte seine Vermutungen. »Hidden-X braucht Hilfsvölker. Wir wissen es inzwischen genau. Sie bauen und konstruieren für ihn, nach seinen Anweisungen. Ich glaube, daß wir auf eine Art Reservelager aus Molaaten gestoßen sind. Es war doch richtig, Bjo, deiner Empfehlung zu gehorchen. Vielleicht haben wir die Molaaten gefunden, mit deren Hilfe HiddenX das Flekto-Yn erbaut oder ausgebaut hat …« »Du kannst durchaus recht haben, Atlan!« kam über Funk die Stimme Oggars. Im HORT hatten sie jedes Wort mithören und jedes Bild sehen können. »Frage sie, wieviele von ihnen auf Krymoran leben.« Atlan richtete die Frage an den Molaaten. »Allein hier sind wir mehr als siebentausend. Wir wissen von zwei anderen Lagern. Dort hausen zweimal fünftausend oder etwas mehr. Aber sicher gibt es noch andere Stellen, an denen Molaaten leben.« »Chaotische Situation«, knurrte Nockemann. »Wie können wir ihnen helfen, Atlan?« »Jedenfalls nicht sofort, und auch nicht mit unseren Mitteln.« Atlan rechnete mit einer Anzahl zwischen zwanzigtausend und hunderttausend Molaaten und einigen wenigen Roxharen. Die gutmütigen Molaaten unterstützten die Roxharen, so gut es ging. Aber dieser Umstand änderte nichts an der absolut trostlosen Situation, in der sich die Fremdlinge befanden. Von Zeit zu Zeit rief Hidden-X eine Gruppe zu sich und sorgte dafür, daß sie spurlos verschwanden. Jeder der Übriggebliebenen versuchte
logischerweise zu überleben und sein Dasein zu sichern; es war mit den wenigen Möglichkeiten ungeheuer schwierig. »Viele von uns haben sich aufgegeben«, schrien einige Molaaten. »Sie erkennen keinen Sinn mehr. Sie bringen sich um. Oder sie werden wahnsinnig und versuchen, andere zu töten. Es ist alles hoffnungslos.« Atlan drückte eine Taste seines Funkgeräts und sagte: »Oggar? Hörst du mich?« Augenblicklich meldete sich der Androide. »Wir haben alles verstanden. Was willst du?« »Es kann auf keinen Fall mehr sein als eine psychologische Aufmunterung. Wir können den Molaaten sozusagen nur neuen Lebensmut zusprechen und sie kurzfristig ablenken. Stellt eine Lieferung aus Bordmitteln zusammen und legt sie ab. Ihr wißt, was sie brauchen, klar?« »Klar«, meldete Oggar sich. »Aber es wird nicht mehr sein können als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.« »Es wird seinen Zweck nicht verfehlen«, meinte Atlan. »Zufrieden, Sanny und Oserfan?« »Mehr als das. Danke, Atlan.« Die Krymoraner also, deren Siedlungen tief unter der Planetenkruste versteckt waren, kamen aus perfekt getarnten Ausgängen und jagten. Das bedeutete, daß sie dem nächtlichen Leben gut angepaßt waren. Für die hilflosen Molaaten und erst recht für die Roxharen waren sie eine ernste Gefahr. Verständlicherweise brach jedesmal, wenn eine Jagdgruppe auftauchte, das Chaos aus. Sanny wandte sich an die Nächststehenden und blickte auf die Ziffern des Gleiterchronometers. »In wenigen Stunden ist es wieder hell. Wir werden uns weiter umsehen. Ich verspreche euch, daß wir euch nicht im Stich lassen. Schickt einige Patrouillen aus; sie werden einen Container finden, den wir abgeworfen haben. Es sind kleine Geschenke, die euer Leben nur kurze Zeit verbessern werden.
Wir kommen zurück. So bald wie möglich, meine Freunde.« Oserfan fügte hinzu: »Aber vorher müßt ihr uns noch zu den Roxharen bringen.« »Es ist nicht weit. Kommt!« Wieder öffnete sich vor dem Bug des Gleiters eine schmale Gasse. Atlan kippte den Schalter für die Fernbeleuchtung. Einige Molaaten rannten vor der Maschine her, im harten Licht tanzten ihre langen Schatten vor ihnen her. Langsam brummte der Gleiter in die vorgegebene Richtung, schob sich durch die zurückschnellenden Zweige, und schon bevor Atlan die ersten Roxharen sah, schaltete er den Translator auf die Sprache der Roxharen um. Er bemühte sich, langsam und beruhigend zu sprechen, obwohl er wußte, daß die für menschliche Kehlen unmöglich zu sprechenden tiefen Zwitschertöne nur wenig Modulation zuließen. Er entsann sich der Bedeutung der roxharischen Gestik und erhob seine Hände, senkte den Kopf. Er deutete damit Friedfertigkeit an. Seine Stimme kam aus dem Lautsprecher des Translators. »Wir kommen in Frieden, Roxharen. Wir kennen andere Mitglieder eures Volkes, die uns sagten, daß sie viele ihrer Artgenossen vermissen. Ihr müßt zu diesen Verschwundenen gehören. Zeigt euch, damit wir miteinander sprechen können.« Kleine schwarze Mäuseaugen funkelten im Licht der Scheinwerferbatterie, als die verwahrlosten Wesen aus dem Gestrüpp krochen und sich aufrichteten. Die Gürtel, die um ihre Körper und Gliedmaßen geschlungen waren, trugen keinerlei Ausrüstungsgegenstände mehr. Die Felle in unterschiedlichen Farben waren trostlos verschmutzt und verfilzt. Atlan zuckte zusammen und warf einen hilfesuchenden Blick zu den Molaaten, von denen sie hierhergebracht worden waren. »Wer seid ihr?« kam die zaghafte Stimme eines hellfarbenen Roxharen von nicht weniger als zweieinhalb Metern Größe. »Wir sind Solaner. Wir kennen eure Probleme. Hat man auch euch
die Erinnerung an die Heimat genommen?« »Niemand von uns erinnert sich an mehr als nur an den Namen Roxha.« »Wo wart ihr vorher? Bevor ihr hierher gebracht wurdet?« »Wir wissen es nicht.« »Ihr habt keine Erinnerung mehr daran, was eure Aufgabe war, was ihr zu tun hattet?« »Wir wissen es nicht mehr.« Ein Roxhare mit bläulichem Fell antwortete zusätzlich: »Wir erinnern uns nur an einen großen Bau. An ein riesiges Ding, an dem viele von uns arbeiten mußten.« »Keinen Namen?« »Oder war es das Mächtige Ding?« »Oder das Gigantische Machwerk? Wir erinnern uns nur noch nebelhaft.« Atlan zuckte die Schultern. Hidden-X riskierte nicht, daß seine Geheimnisse bekannt wurden. Rücksichtslos entledigte er sich seiner versklavten Geschöpfe. War Hidden-X die Verkörperung des Bösen, oder bewegte sich sein Denken in fremden, gänzlich anderen Bahnen und Kategorien? Trotz aller Erfahrungen mit diesem Gegner wußten es Atlan und die Solaner noch immer nicht genau. Aber sie mußten wohl Hidden-X als ihren unmittelbaren Gegner auch weiterhin betrachten und sich nach dieser Erkenntnis richten. Sanny winkte einen der Molaaten zu sich heran und nahm ihm das Versprechen ab, aus der Hilfssendung des HORTs auch den Roxharen etwas abzugeben. Die Molaaten stimmten zu, obwohl sie nicht wissen konnten, was die Sendung wirklich enthielt. »Helft ihr uns auch gegen die Schwarzen aus der Unterwelt?« jammerte ein graufelliger Roxhare. »Wenn sie euch angreifen, und wenn wir zur Stelle sind – natürlich helfen wir euch!« »Könnt ihr euch an die Begriffe geistiger Faktor oder Hidden-X erinnern?« fragte Oserfan.
Die Schneidezähne wurden gefletscht, ein unbestimmter Laut wurde ausgestoßen – das Zeichen für ein eindeutiges »Nein!« »Die Begriffe wurden mit Sicherheit gelöscht«, sagte Nockemann abwertend. »Also«, entschied Atlan. »Wir fliegen zurück zum HORT. Dort erledigen wir unsere Verpflichtungen, und dann sehen wir uns weiter auf dem Planeten um. Ich vermag mir nicht vorzustellen, daß unser geheimnisvoller Freund die Molaaten per Teleportation verschwinden läßt. Und die Kraftquelle für den Ortungsschirm wird sich auch finden lassen. Bereitest du unser Einschleusen vor, Oggar?« »Ihr könnt kommen. Alles klar.« Atlan hob abermals beide Arme und rief den unschlüssig wartenden Roxharen zu: »Wir kommen wieder. Versucht euch zu erinnern. Ruft uns um Hilfe, wenn die Krymoraner euch wieder angreifen. Die Molaaten werden euch Funkgeräte geben, wenn es wieder hell wird.« »Wir versprechen es.« Atlan ließ sich in den Sitz zurückgleiten, hob den Gleiter um mehrere Meter und steuerte ihn dann in die Richtung, aus der die Peilsignale des HORTs kamen. Das Dach schloß sich, als die Angehörigen des Teams langsam zum Raumschiff zurückschwebten. Keiner von ihnen sprach; sie waren alle in tiefes Nachdenken versunken. Wieder hatte Hidden-X ihnen ein schauerliches Beispiel seiner Macht gegeben und ihnen gezeigt, daß die Barriere vor dem Weiterflug der SOL unverändert mächtig war. Atlan knurrte: »Schritt um Schritt. Wir entlocken ihm nach und nach alles. Aber es wird ein verdammt harter Kampf bleiben, Freunde.« Der HORT schwebte in dreitausend Metern Höhe unbeweglich am Hang eines Berges und würde auf diese Weise noch schwer auszumachen sein, wenn die Sonne in gut zwei Stunden wieder
erscheinen würde. Nach einer kurzen Pause der Erholung und Besinnung würden Oggar und Atlan eine planmäßige Suche organisieren.
* Hidden-X: Die Solaner lassen sich nicht entmutigen. Sie sind stur und hartnäckig. Ich muß mir eine Maßnahme einfallen lassen, um die frechen Eindringlinge jederzeit ausschalten zu können. Ein interessanter Gesichtspunkt: Es erfüllt einen jeden Kämpfer mit Freude, einem fähigen Gegner gegenüberzustehen und sich mit dessen Fähigkeiten zu messen. So ergeht es mir. Trotzdem sind die Eindringlinge kein wirklich ernstzunehmender Gegner. Ich werde einen von ihnen mit einem besonders raffinierten Gift versehen, und dieses Gift wird sie alle dahinraffen, als unbekannte, nicht zu bekämpfende Seuche, wenn die Versuchsperson in die SOL zurückgekehrt sein wird. Ich muß davon ausgehen, daß es diesem Fremdling Atlan gelingt, auch wenn nur mit unendlichen Schwierigkeiten, mich zu finden. Ich befinde mich in der glücklichen Lage, ihnen bei jeder Operation zuzusehen. Für mich sind sie nichts als winzige, hierarchisch orientierte Insekten, die so reagieren, als hätte ich ihren Bau zerstört. Ich betrachte ihr Umherirren und jeden der Versuche dieser homogen zusammengesetzten Wesen aus einem unbekannten Bezirk des Raumes mit fasziniertem Interesse. Ja. So wird es geschehen. Bei passender Gelegenheit werden meine Helfer eins der Besatzungsmitglieder der SOL verschwinden lassen und ihm das Gift einflößen. Zudem muß dieses Individuum geschützt werden, denn es soll die
Rückkehr in die SOL sicher erleben können. Die nutzlosen Kriecher aus der Planetenkruste sollen zeigen, was sie können. Sie kennen ihre Dunkelpflanzen und vermögen es, ein Gift zu entwickeln und der Versuchsperson unterzuschmuggeln. Der Körper des Solaners muß vorher getestet werden – auch das können die Felsenbeißer gut. Ich werde jeden einzelnen Schritt genau überwachen. Andererseits ist es für mich ohne Zweifel ein unterhaltsames Spiel. Ich bin als einziger in der Lage, das riesige und vielschichtige Spielfeld zu überblicken, und nur ich setze die einzelnen Figuren. Ich führe jeden Zug aus. Die Fremden müssen sich verteidigen, die Eindringlinge haben auf meine Schritte zu antworten. Eines Tages werde ich des Spiels wohl müde geworden sein. Dann vernichte ich diese scheinbar unausrottbaren Insekten, auch wenn ich erleben muß, daß meine Helfer versagen. Unzählige Völker kennen mich unter unzähligen Namen und Bezeichnungen … ich bin der Herrscher. Ich entscheide, was geschieht. Ich werde auch zu gegebener Zeit diesen weißhaarigen Fremdling auslöschen. Ich. Der Herrscher. Derjenige, der die letzten Entscheidungen trifft und unbesiegbar ist. Ich … den man auch Hidden-X nennt.
* Cryss'Narm lag ausgestreckt zwischen den Granitblöcken. Sie waren blauschwarz und glänzten, weil sich der Morgennebel zu kondensieren begann und an ihren Flanken als Tropfen herunterrann. Der Krymoraner fühlte an seinem Körper und an den vier Gliedmaßen die Futterale aus Leder, in denen die Dolche steckten, die Pfeile und der Bogen und das mehrläufige, mit Pulver
geladene Feuerrohr. Cryss hatte seine großen Augen weit geöffnet. Die Schutzhaut lag noch zusammengefaltet am oberen Rand der Lider. Das Licht der aus dem Osten heranrasenden Sonne wurde vom Nebel zerstreut und war milchig. Cryss beobachtete die Wesen, von denen er jetzt auch die Namen oder Gattungsbezeichnungen kannte. Sie taten ihm leid. Schon lange. Und nicht nur ihm. Roxharen. Molaaten. Und ich, sagte er sich und sah zu, wie die Molaaten einen großen Behälter auspackten und sogar die Verpackungseinheiten mitnahmen, bin seit neuestem ein Angehöriger eines Volkes, das Krymoraner genannt wird. Um es ganz genau zu sagen, bin ich so etwas wie ein höchst ungewöhnlicher Krymoraner. Elf seiner Freunde lagen hinter und links und rechts von ihm und beobachteten die Molaaten. Es waren Oppositionelle. Abermals war dies nicht ganz zutreffend. Cryss und seine Freunde, nicht nur dieses Dutzend, waren mit einigen aus der Tradition geborenen Denk- und Handlungsweisen ihres Volkes nicht einverstanden. Es ging um folgendes: Warum breitet sich Haß gegen die Fremden aus, die an ihrem Schicksal mit Sicherheit unschuldig waren? Wem konnten sie ernstlich schaden? Warum waren die Jagdgruppen derart rücksichtslos, daß sie sogar einige der Fremden getötet und viele ernsthaft verwundet hatten? Und warum dachte niemand darüber nach, aus welchem Grund die Situation auf Krymoran so und nicht anders war? Warum änderte sie niemand? Warum lernte man nicht von den Fremden? Viele Fragen. Auf keine davon wußten die Klugen oder die Allgemeinheit auch nur eine einzige befriedigende Antwort. Cryss und seine Freunde sahen die beiden »Dinger«, die schwebenden, glatt polierten Steinkeilen glichen und sich aus dem
Hochnebel hervorschoben. Sie summten leise und kamen ohne jedes Zeichen der Drohung in weit auseinandergezogenen Spiralen herunter. Sie landeten weit entfernt von der langen Schlange der Molaaten, die mit den Paketen des Inhalts sich auf das Lager zurückbewegten. Dort hatten gestern nacht, in der letzten Dunkelperiode, die Späher der jungen Rebellen versucht, die Unterhaltung der Fremden untereinander zu belauschen und ihre Bedeutung zu erkennen. Sie hatten sehr viel vom Sinn, aber wenig von den Worten verstanden. Cryss drehte sich halb herum und sagte leise: »Sie bilden zwei Gruppen. Vielleicht finden sie den Eingang zu dem Ort der Gebrochenen Steine.« »Wenn sie ihn entdecken«, sagte Cerrt'Forw erregt, »müssen wir sie vor einem Angriff der Unseren schützen.« »Oder ablenken …!« »Richtig.« »Aber noch sieht es nicht so aus. Sie suchen etwas ganz anderes.« »Gebt acht«, warnte Cryss mit Nachdruck. »Diese neuen Fremden sind besser ausgerüstet als wir mit unserer traditionellen Waffentechnik. Beobachtet ganz genau. Handelt nicht vorschnell – und denkt daran, daß bald das Licht greller wird und uns selbst beeinträchtigt.« »Begriffen.« Die beiden Gleiter starteten und verschwanden zunächst wieder im dünner werdenden Nebel. Eine Maschine tauchte erst viel später wieder auf, an einer ganz anderen Stelle und unter gänzlich anderen Umständen. Aber die zweite Maschine schoß wieder aus dem fahlen Gelbgrau hervor, beschrieb eine letzte Schleife und landete etwa einen Stundenlauf vom versteckten Eingang entfernt. »Sie steigen aus!« stellte Cryss fest. Er sah vier Wesen und ein Ding, das sich von ihnen erheblich unterschied. Die vier Fremden trugen Anzüge mit vielen Taschen, breiten Gürteln und dunkelgrauen Waffen oder
Ausrüstungsgegenständen. Ihre Köpfe waren frei; ihre Gesichter waren deutlich zu sehen. Jemand, der einen weißen Pelz mit langem Haar auf der Oberseite des Kopfes trug. Die Strähnen fielen bis fast zum Gürtel, der den Hals umschloß. Er war der größte von allen und bewegte sich, wie die anderen auch, auf den Hintergliedern, die verblüffend lang waren und muskulös sein mußten. Neben ihm trippelte ein Molaate. Unverkennbar gehörte er zu dem Volk, das hier lagerte und zu überleben versuchte. Auch dieser Molaate – oder gehörte er etwa dem anderen Geschlecht an? – trug diesen geschickt gestalteten Ausrüstungsanzug. Cryss schauderte, als er sich nur einen Teil der kämpferischen Möglichkeiten vorstellte, über die die Fremden verfügten. Dann bewegte sich mit weichen, schnellen und erstaunlich leicht wirkenden Bewegungen schräg hinter dem mit dem weißen Fellhaar ein anderer, der schräggestellte Augen hatte, und von dem eine seltsame Wirkung ausging. Er trug einen bräunlichen Pelz, kurz wie Cryss' Fell, auf dem Kopf. Seine Augen bewegten sich schnell und suchend. Etwas kleiner als der mit der unvergleichlichen Körperbeherrschung und der Weißfellige war ein anderer Fremder. Seine fahle, zerknitterte Kopfhaut vermittelte Cryss den Eindruck, als gehöre er zu den Klugen, Alten. Seltsame Haarbüschel, ähnlich denen an den Ohrenden der »Krymoraner« teilten sein Vordergesicht in zwei Hälften. Der fünfte war möglicherweise ein Kunstwesen. Es war so groß wie der mit den Gesichtshaaren, hatte einen zylindrisch abgerundeten Kopf und einen sehr viel längeren, ebensolchen Körper, zwei kurze Beine, ähnlich denen der Krymoraner, und eine Unmenge von angedeuteten Klappen und Laden, die sich an dem langen Körper abzeichneten. Aber er hatte nur ein Auge!
»Ich weiß nicht, ob ich ihn fürchten oder ernst nehmen soll«, meinte der Nachbar zur Linken. »Diese Gestalt, die aus Metall besteht wie unsere Feuerrohre, und trotzdem beweglich ist wie unsere Körper.« »Solange wir nicht wissen, was er kann, sollten wir ihn fürchten«, entschied Cryss, der Anführer. »Sie kommen in unsere Richtung.« Sie warteten regungslos weiter. Die Fremden bildeten nach einer Weile eine Kette, entfernten sich mehr und mehr voneinander und gingen auf den ersten Hang zu, der den Beginn der Berge und gleichzeitig die Grenze zu der mehr oder weniger ebenen und dicht bewaldeten Landschaft kennzeichnete. Immer wieder sprachen sie in kleine Geräte, die sie an den Handgelenken der Anzüge befestigt hatten. Dann streckten die Sucher seltsame Ruten aus, schwenkten sie hierhin und dorthin und riefen sich halblaute Bemerkungen zu. Langsam, aber mit ruhiger Sicherheit kamen sie näher. »Was suchen sie?« fragte ein Krymoraner. »Keine Ahnung.« Der Nebel löste sich auf, das Licht wurde stärker. Als sich die schützenden Häute über die Augen der Krymoraner schoben, sahen sie plötzlich, zum erstenmal, völlig fremde Strukturen. Unterhalb des Bodens schienen irgendwelche Linien oder Kanäle zu verlaufen. Fächerförmig liefen sie aus der Ebene auf den ersten Berghang zu und vereinigten sich außerhalb des Sichtbereiches. Die Fremden würden früher oder später über diese Linien stolpern oder an ihnen, über ihnen entlanggehen. Aber der Molaate, der ganz links ging und soeben eine andere Entdeckung gemacht hatte, umrundete einen Felsbrocken, bahnte sich einen Weg durch ein Dickicht und kam mit kurzen, aber energischen Schritten auf die Gruppe der lauernden Krymoraner zu. Nach einiger Zeit sagte Cryss: »Noch eine halbe Stunde, und er steht genau vor dem getarnten
Nebeneingang zur Stadt.« »Was tun wir in diesem Fall?« Cryss'Narm und seine Kameraden waren über alle Ereignisse der letzten Zeit orientiert. Spätestens als sie die letzten Schriftzeichen des selbsternannten Chronisten Harre'Arft gelesen hatten, waren sie verstärkt aufmerksam geworden. Der Umstand, daß ausgerechnet Fremde von jenseits der Dunkelheit die statische Ruhe unterbrochen hatten, konnte mehr bedeuten, als sie jetzt in ihren kühnsten Gedanken ahnten. »Ich glaube, ich habe soeben eine hervorragende Idee gehabt«, sagte er plötzlich. Der Einfall hatte ihn tatsächlich übermannt und sprachlos werden lassen. »Dann sprich sie aus.« »Die Fremden«, fing er an. »Sie wissen mehr als wir. Schon allein deswegen, weil sie von irgendwoher außerhalb dieses Planeten kommen. Es ist undenkbar, was wir von ihnen erfahren können, wenn wir sie fragen.« »Du hast recht. Sie sind weiter gereist als je einer von uns«, warf ein anderer Rebell ein. »Und …?« »Keiner von uns ist je durch die finstere Schale gedrungen, außer in seinen Gedanken. Wir werden die Überlegungen unserer Artgenossen verändern, wenn wir plötzlich zahllose Fragen beantworten können.« Varrm'Casd bewegte zustimmend seine Ohren und brummte: »Cryss hat recht. Das kann die Lösung sein. Wir werden sie überraschen und verblüffen, alle jene mit traditionellen Gedanken.« »Also! Wen werden wir befragen?« »Denjenigen, den wir am leichtesten fangen können.« »Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Außerdem sind wir mit der Kampfweise schon mehr vertraut als er mit unserer.« »Einverstanden.«
Nur ein außerordentlich guter Beobachter mit sehr scharfen Augen, der zudem wußte, wo sich die Rebellen aufhielten, würde ihre schnellen Bewegungen wahrgenommen haben. Die Rebellen verließen, sich wie die Schlangen bewegend, ihre Deckung zwischen den Steinbrocken. Sie wanden sich robbend durch niedrige Büsche und dunkelbraunes Gras. Auf einem schmalen Felsband kamen sie bis in die Nähe des Gewirrs aus Geröll, riesigen Felsen, dem versickernden Quellstrahl und den knorrigen Wurzeln der uralten, bizarr verformten Bäume. Hin und wieder schrammten die Rohre der Feuerbüchsen über das Gestein und erzeugten auffallende Geräusche. Der Fremde schien sie nicht wahrzunehmen. Und falls er sie hörte, maß er ihnen eine ganz andere Bedeutung zu. Aber Cryss merkte etwas, das ihn sehr nachdenklich machte. Der Fremde sprach. Und er bekam Antwort. Magie? Der Rebell glaubte nicht daran, daß sich ausgerechnet hier und jetzt die Legende und Erzählungen seines Volkes bewahrheiten würden. Wenn dieser schwer ausgerüstete Molaate sich mit jemandem unterhielt, so war es vermutlich ein Effekt wie bei den Flüstergalerien in manchen Städten, wo man unschwer jedes Geräusch aus weit entfernten Kammern hörte – hier funktionierte es aber ohne einen hohlen Felskanal. Wieder wandte sich Cryss an seine Jagdkameraden. »Wir müssen ihn ganz schnell packen. Er darf seine Ausrüstung nicht anfassen können.« Varrm fragte zurück: »Hiermit?« Er hob das Feuerrohr von seiner Schulter und deutete darauf. Cryss machte die Geste der Verneinung. »Auf welche Weise dann?« »Ablenken und überraschen!« ordnete Cryss'Narm an. »Es muß rasend schnell gehen, sonst warnt er die anderen. Damit würde es
zum Kampf kommen. Alle unsere ehrenhaften Anstrengungen würden zum Scheitern verdammt sein.« »Ich glaube, du hast recht.« Wieder bewegten sich die Krymoraner fast lautlos und mit überraschender Schnelligkeit. Sie verteilten sich, glitten auseinander und näherten sich von allen Seiten, hervorragend gedeckt, dem einzelnen Fremden. Er schien jetzt den andersfarbigen Kanal aufgespürt zu haben, denn er bewegte sich zielbewußt genau über dieser verborgenen Linie und zufällig auf den Nebenausgang zu. Geschickt umrundete er Felsen und Büsche eines Stückes Landschaft, das ohne jeden ausgetretenen Pfad war. Noch immer nahm die Grelle der Sonne zu. Die Schatten standen jetzt fast senkrecht. Auch die Hitze steigerte sich. Für die Krymoraner nahmen alle Gegenstände eine andere Farbe und ganz andere Strukturen an. Aber dieses andere Bild war ebenso scharf wie das normaloptische. Nur hin und wieder ertönte ein leises Rascheln, das für den kleinen Molaaten mit den schnellen, großen Augen nichts anderes als ein Laut der umgebenden Natur zu sein schien. Zwei Dutzend seiner Schritte war er noch von der drehbaren Steinplatte entfernt, die, mit Moos und Flechten bewachsen, den Eingang darstellte. Ein schriller Pfiff ertönte. Von allen. Seiten stürzten sich die schwarzen, langgestreckten Körper der Rebellen auf ihn. Cryss' Narms Krallenfinger schossen vor und rissen nacheinander alle Verbindungsschnüre, Ruten und Einrichtungen ab, die er für die unbekannte Form der Unterhaltung verantwortlich machen konnte. Die Arme des Kleinen wurden nach hinten gedreht. Ein Krymoraner stülpte ihm einen Beutesack aus schwarzem Fell über den Kopf. Zwei andere hoben ihn auf, während der Rest der Jägergruppe die Mündungen der Feuerrohre herumschwenkte und sicherte. Mit leisem Knirschen – die Drehflächen waren mit tierischem Fett dick bestrichen worden – drehte sich der Stein.
Blitzschnell und ohne miteinander zu sprechen schleppten die Rebellen ihren Gefangenen mit sich. Schnell verschwanden sie durch die schwarze Öffnung und drehten den Stein wieder in die ursprüngliche Lage zurück. Nach hundert Schritten durch einen Querstollen, der ebenfalls durch zwei drehbare Felszylinder gesichert war, sprach Cryss'Narm wieder. »Wir haben unseren Gesprächspartner, Freunde. Geht vorsichtig mit ihm um.« »Ohne Zweifel. Wir machen es ihm so bequem wie nur möglich. Aber ob er sich im Dunkel wohl fühlt?« »Auch das läßt sich schnell ändern.« Der Querstollen wurde gesichert und verschlossen. Die Rebellen schafften ihren Gefangenen, der sich nicht rührte und nicht einmal schrie, in eine der kleinen Kammern, die dicht unter der Oberfläche lagen. Für sie war es keineswegs dunkel, und deshalb fiel es ihnen leicht, sämtliche Ausrüstungsgegenstände von den Gurten des Anzugs und aus den Taschen an sich zu nehmen. Dann ließen sie den Molaaten los. Er wirkte erstaunlich gefaßt, deutete auf sich selbst und sagte klar: »Molaate. Oserfan.« Der Krymoraner untersuchte ein scheibenförmiges Gerät, das sich am Arm des Molaaten befunden hatte, dann gab er es zurück. »Cryss'Narm«, sagte er langsam. »Krymoraner.« Die Scheibe gab undeutliche Laute von sich. Der Krymoraner betrachtete die perforierten Teile des Geräts und hoffte, daß es keine Waffe sein möge wie viele der anderen Stücke, die vor den Hinterpfoten der wartenden Rebellen lagen und gefährlich oder zumindest rätselhaft aussahen. »Krymoraner«, gab die Scheibe von sich, in einer Stimme, die der des Molaaten glich. Dann: »Warum gefangen?« Cryss erwiderte: »Wir wissen nichts. Du weißt viel. Wir fragen. Du antwortest.« Erstaunt hörten sie zu, wie die Scheibe unverständliche Laute und
lange Pausen produzierte. Nach einer Weile kam es aus dem Gerät: »Ihr lebt unter … Oberfläche. Warum ihr … Kampf … Molaaten und Roxharen?« Cryss versuchte, beruhigend zu wirken. Er machte ausgewogene Bewegungen. Der Blick des Molaaten bohrte sich in seine Augen; es verwirrte ihn, denn er wußte, daß er im Dunkeln mehr sah als Oserfan, der Molaate. Oserfan bewegte sich langsam, streckte einen Arm aus und ergriff betont langsam ein rundes Gerät mit einem spiraligen Kabel. Ungehindert steckte er ein Ende des Kabels in den Gürtel, kippte die helle, runde Scheibe nach oben und tat etwas mit einem Finger. Ein breiter Lichtstrahl flammte auf und wurde von einem Teil der Felsendecke widergespiegelt. Dann sagte der Molaate etwas. Während er zu sprechen anfing, hörte schlagartig die Unterhaltung der Rebellen untereinander auf. »Ich bin euer Gefangener?« »Du bist unser Gast. Eingeschränkt«, kam die Übersetzung Cryss'Narms aus der Scheibe. Ein Ding, das die unterschiedlichen Sprachen sprach! dachte Cryss voller Verwirrung. Es lernte schneller als er selbst. Also fügte er hinzu: »Wir töten dich nicht.« »Ich muß zurück nach oben«, sagte Oserfan. »Später.« »Warum?« wollte der »Gast« wissen. Er schien sich nicht zu fürchten. »Wir sind Rebellen. Wir wollen nicht kämpfen. Wir suchen Wissen. Antworten. Wenn wir alles wissen, kannst du zurück zu … Freunden.« Mit jedem Wort und jeder Wortverbindung, die er verarbeitete, vermochte dieser erstaunliche Kasten mehr zu leisten. Langsam breitete sich in der Felskammer eine entspannte Stimmung aus. Es
war ein vorsichtiges Kennenlernen, ein Abtasten zwischen zwei völlig fremden Wesen. Cryss sagte sich, daß die Idee, einen Fremden zu fangen und ihn auszufragen, hervorragend gewesen war. Mit dem Material, mit der Zusammenfassung aller Antworten also, würden die Rebellen den Rest der Bewohner überzeugen können. Was würden sie nicht alles von den Molaaten lernen können, wenn sie erst einmal die Sprache kannten! »Wie lange dauert es?« fragte der Fremde. »Das kann niemand sagen.« »Aber um euch alle Fragen beantworten zu können, muß ich meinen Freunden oben bei der Suche helfen. Sie suchen nicht weniger als die zwei wichtigsten Geheimnisse dieser eurer Welt.« »Nichts zu machen«, entschied Cryss. »Ein Problem: Was ißt du? Und genügt dir klares Quellwasser zum Trinken?« »Für einige Dutzend Lichtwechsel«, kam die Stimme des Fremden aus dem sprachkundigen Ding, »habe ich genug eigenen Vorrat. Ich esse all das, was auch die anderen Molaaten in den Hütten dort draußen essen. Und was passiert mit mir, wenn ihr Rebellen von den anderen Krymoranern gejagt oder festgenommen werdet?« »Auch das ist schwer vorherzusagen«, erklärte der Krymoraner. »Wir alle sind am Anfang unserer Auseinandersetzungen. Ich sage es noch einmal: du bist nicht gefährdet. Wir haben als Ziel, in Frieden und unter Ausnutzung aller Kräfte zusammenzuleben. Mit Roxharen, Molaaten und auch deinen zweibeinigen, hochgewachsenen Fremden.« »Euren friedlichen Willen zeigt ihr am besten, wenn ihr mit mir hinausgeht zu meinen Freunden.« »Nein!« »Warum nicht?« »Wir sind hier sicher. Hier leben wir. An der Außenwelt sind wir die Fremden.« »Unentschieden«, erklärte Oserfan resignierend. Er drosselte die Lichtstärke seines flammenlosen Leuchtkörpers,
lehnte sich gegen die mit steinernen Ranken und Linien verzierte Felswand und sagte: »Stellt eure Fragen. Ich werde beantworten, was ich kann.« Oserfan hoffte, auf dieselbe Art, wie er seinen Handscheinwerfer zurückerhalten hatte, auch die wichtigen Teile des Funkgeräts an sich bringen zu können; früher oder später würde es ihm gelingen. Er wußte, daß seine neue, keineswegs uninteressante Mission wichtig war. Aber er konnte sich die Sorge und Aufregung der Freunde aus dem HORT deutlich vorstellen. Cryss stellte die erste Frage. Sie schien ganz einfach – für Oserfan. »Woher kommt ihr?« »Von den Sternen«, antwortete er. Und dann versuchte er das Problem zu lösen, einem Angehörigen eines Volkes den Begriff Stern oder Sonne zu erklären, – einem Wesen, das in zweifacher Hinsicht im Dunkeln lebte. Nein. In dreifacher Hinsicht: unter der Planetenkruste, unter dem schwarzen Ortungsschirm und im Dunkel einer Zivilisation, die dem Mittelalter auf dem Heimatplaneten der Solaner entsprach.
5. Tristan Bessborg zog langsam seine Waffe aus der Schutzhülle, kontrollierte sorgfältig sämtliche Einstellungen, brummte etwas Unverständliches und steckte den Kombistrahler wieder zurück. Hreila, die neben ihm einen Felsbrocken erklettert hatte, zeigte nach links. »Tris! Dort drüben ist auch ein Lager. Ich denke, es sind Molaaten.« Bessborg hob das Fernglas an die Augen und sah zwischen den einzelnen Erhebungen des Hanges, unter Bäumen und entlang eines Bachlaufes, der mit weißem Geröll gefüllt war, die flüchtig zusammengeflochtenen Hütten aus Zweigen und dürrem Gestrüpp.
Er murmelte: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Behausungen ernsthaft vor Regen, Kälte und Hitze schützen.« »Von uns weiß noch niemand, ob es derartige Temperaturunterschiede hier überhaupt gibt«, widersprach Sanny. »Wir haben vergessen, zu fragen. Gehen wir hinunter.« »Bisher sind wie von Hidden-X nicht mehr belästigt worden«, warf Lyta ein. »Du kannst sicher sein, Stabsspezialistin, daß es jeden Schritt von uns genau beobachtet und seine Gegenzüge ausrechnet.« »Genau das versuche ich auch«, rief Sanny herausfordernd. Hreila bewegte einen Kontakt und meldete zu Oggar in den HORT, was sie vorhatten, bestätigte die Position und erhielt die beruhigende Antwort, daß auch Atlans Gruppe nichts Auffallendes meldete. Zwei Impulse, sagten Insider und Oggar, waren angemessen worden. Sie waren aber zu schwach und ungenau, um als Ziel einer organisierten Suche dienen zu können. »Vielleicht erfahren wir etwas, das uns die Suche erleichtert«, meinte die Molaatin und sprang hinunter ins hohe Gras. Seit Sanny die trostlosen Lager ihrer Artgenossen gesehen, mit ihnen gesprochen und vom BEFEHL, der ohne jeden Zweifel von Hidden-X kam, gehört hatte, überlegte, analysierte und rechnete sie auf ihre eigentümliche Art. Noch hatte sie die Ergebnisse niemandem mitgeteilt, nicht einmal ihrem bewunderten Freund Atlan. Hidden-X hatte die Molaaten selbst verschleppt. Der BEFEHL bedeutete für die Artgenossen, daß sie am Flekto-Yn weiterbauten. Sanny kannte das Abbild des Flekto-Yns aus dem Zentralkegel der Landschaft im Nichts. Die Molaaten waren die Baumeister; eine Tätigkeit, für die sie wie geschaffen waren. Hier, auf Krymoran, befand sich ein Depot dieser kleinen Baumeister, wie Sanny ihre Schicksalsgenossen im stillen nannte. Und die Roxharen?
Sie schienen, was Hidden-X betraf, ihre Schuldigkeit getan zu haben. Sie waren bedeutungslos. Vermutlich hatte Hidden-X sie nicht töten wollen und meinte, sie würden ohnehin auf diesem Planeten aussterben. Das war die wahrscheinlichste Erklärung für das Vorhandensein einer so großen Menge von Molaaten und einer geringeren Anzahl von Roxharen. »Achtung. Hier verläuft ein Pfad.« Sanny nickte Hreila Morszek zu, die ihr deswegen sympathisch war, weil sie nur knapp einen Meter länger war als die Molaatin. Hintereinander gingen sie auf einem schmalen Pfad auf die Siedlung zu. Molaaten hatten diesen Weg ausgetreten, denn er führte zwischen Büschen mit gelben Früchten, einer kleinen Quelle und riesigen Rankengewächsen hindurch, die voller blauschimmernder Beeren hingen. Lyta Kunduran meinte nach etwa zwei Dutzend Schritten: »Ich wundere mich, daß wir noch nicht einmal eine Spur der gefürchteten Krymoraner gefunden haben. Nach den Erzählungen der Molaaten und der Roxharen mußten wir annehmen, daß sie bei jeder passenden Gelegenheit auftauchen und sich auf die Fremden stürzen. Nicht ein einziger Schuß ist gefallen.« »Vielleicht sahen sie uns und unsere vorzügliche Bewaffnung?« mutmaßte Tristan. »Durchaus möglich.« Seit sie sich auf dem Boden des Planeten bewegten, waren sie sicher, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Entweder von Hidden-X selbst oder von seinen Werkzeugen, wer immer es war. Aus den nächstliegenden Hütten kamen ein paar Molaaten. Die Solaner hatten Zeit und helles Licht genug, um sie genau zu beobachten, während sie näher herangingen. Trotzdem lagen ihre Hände auf den Kolben der Waffen. »Das alles ergibt für mich keinen rechten Sinn, Freunde«, brummte der Buhrlo. »An Bord stellten wir uns vor, daß riesige Werke und
mächtige Projektoren nötig sind, den Ortungsschutzschirm zu schaffen und stabil zu halten. Nicht einmal die künstliche Sonne gibt entsprechende Impulse ab.« »Die Technik, die Hidden-X verwendet«, widersprach seine Freundin und turnte hinter ihm den gewundenen Pfad abwärts, »ist nicht mit derjenigen zu vergleichen, die wir von der SOL gewohnt sind.« »Du meinst«, fragte Lyta, »daß sich nicht nur unterplanetarische Städte verbergen, sondern womöglich auch riesige Energiestationen?« »Durchaus wahrscheinlich. Schließlich haben wir diese gleichmäßigen Kanäle entdeckt.« Sanny fing plötzlich an zu rennen, lief über die freie Fläche am Ende des Pfades und schrie: »Neemie! Starv!« Zwei Molaaten blieben stehen, sahen sich verwirrt um und erkannten dann, daß es eine Molaatin war, die auf sie zugerannt kam. Zuerst erschraken sie vor der ungewöhnlichen Ausrüstung, dann setzten sie sich in Bewegung und schrien begeistert und halb ungläubig auf: »Sanny! Das darf nicht wahr sein.« Etwas langsamer kamen die anderen Solaner hinter der Molaatin her und erlebten in leichter Verlegenheit die Begrüßung mit. Das Geschrei und das Gelächter riefen andere Ausgesetzte aus den Hütten heraus. Bald waren die Solaner von einem dichten Ring aufgeregter Molaaten umgeben, und mußten zahllose Fragen beantworten. Sowohl die Unterkünfte als auch der Zustand der Molaaten entsprachen jenem ersten Eindruck, den die Insassen des HORTs gehabt hatten. Unterernährt, ungepflegt und verzweifelt, im Augenblick von einer trügerischen Freude überlagert, aber ohne jedes Ziel und ohne Aufgabe – mehrere Tausend Molaaten fristeten hier ihr Dasein.
Sanny wandte sich um und erklärte freudestrahlend: »Starv und Neemie – wir kennen uns von Heimat-Eins. Wir erinnern uns an eine Zeit, die hoffnungslos weit zurückliegt.« »Wir erinnern uns nur schwach«, bestätigte Starv traurig. »Aber der Ausdruck Heimat-Eins sagt mir etwas.« »Wir werden alles versuchen«, meinte Lyta, »um auch euch zu helfen. Wir haben uns das Ziel gesetzt, alle Molaaten auf diesem unwirklichen Planeten zu befreien.« »Auch die Roxharen?« wollte Neemie wissen. »Auch diese Ärmsten der Armen. Ihr seid alle Opfer von HiddenX«, bekräftigte die Stabsspezialistin. »Aber es übersteigt unsere Möglichkeiten, schon jetzt eine Rettungsaktion einzuleiten. Wir haben noch nicht genügend Informationen. Erkundigst du dich, Sanny, über ihre Erlebnisse?« »Bin schon dabei.« Auf den Böden der Hütten lagen die Reste von Früchten. Einige Feuerstellen, längst erkaltet, waren zu sehen. An geschwärzten Ästen hingen die Reste von gebratenen Vögeln und kleinen Tieren. Knöchelchen und Fellstücke lagen unter dem Abfall und im Gestrüpp. Die Molaaten verströmten einen durchdringenden Geruch, als hätten sie sich seit Wochen nicht mehr waschen können. Sanny und die Molaaten unterhielten sich schnell und aufgeregt. Fragen und Antworten gingen hin und her. Die Solaner konzentrierten sich auf die Übersetzungen aus den Translatoren. Schließlich deutete Neemie auf einen steinigen Hügel. »Dort hinten hausen die Roxharen. Es sind nicht mehr als vierhundert. Immerhin besitzen sie Steinschleudern, Steinbeile und ähnliche Waffen. Sie verteidigen sich gegen die aus dem Bodenversteck.« »Wir haben noch nicht einen einzigen Krymoraner gesehen«, meinte Tristan kopfschüttelnd und versuchte, alle Eindrücke, die er hier auffing, in ein System zu bringen. Nach einer Stunde stand es für diese Gruppe fest, daß auch diese
Masse beschäftigungsloser Molaaten von ihrem ehemaligen Schicksal und von der nahen Zukunft nicht die geringste Ahnung hatte. Hidden-X hatte sie perfekt manipuliert. Tristan brummte: »Zurück zum Gleiter? Wir haben nicht mehr lange Tageslicht.« »Ja. Wir können noch ein gutes Stück Gelände absuchen«, sagte Lyta. Noch etwa neunzig Minuten lang würde die Kunstsonne ihren gleichmäßigen Weg beschreiben. Die Schatten waren längst länger und schwärzer geworden. Der HORT beschrieb ebenfalls hoch über der Planetenoberfläche seine Suchkurven. Bis zur Sekunde war außer den rätselhaften Kanälen nichts gefunden worden, das auf verborgene Kraftwerke, Stationen oder Projektoren schließen ließ, und noch weniger auf ein Versteck von Hidden-X. Die Molaaten wollten Sanny gar nicht gehen lassen. Eine starke Erregung hatte sie alle gepackt. Sie fühlten, daß sich ihre Lage binnen kurzer Zeit ändern würde. Alles hing davon ab, was die Fremden herausfinden konnten. Hreila hob den Arm und machte einen Vorschlag. »Ich hole den Gleiter, und ihr geht hinüber zu den Roxharen. Die Translatoren sind auf deren Sprache programmiert. Ich komme mit der Maschine nach und verständige während des Fluges Oggar und Insider. Klar?« »Abgemacht«, stimmten Sanny und Tristan zu. Hreila Morszek hatte sich sämtliche Einzelheiten des Gebietes gemerkt und fürchtete nicht, sich zu verirren. Sie bahnte sich einen Weg durch die aufgeregten Molaaten und lief zurück zum Pfad, der aufwärts führte. Der Rückweg würde etwa zwanzig Minuten dauern. Hreila warf einen flüchtigen Blick nach der Sonne, die mehr als drei Handbreit über dem Horizont schwebte und von hier aus, über einigen langgezogenen Wolken, nur als eine scharf kondensierte,
grell strahlende Wolke zu erkennen war. Irgendwo dort hinten schien es zu regnen. Ein schwacher Wind wehte aus der Ebene auf die Bergrücken zu. Geschickt kletterte die kleine Buhrlofrau über die Steine, hielt sich an einem harten, harzigen Ast fest und sah schräg unter sich den offenen Gleiter stehen. Zwischen der Maschine und ihrem Standort bewegte sich etwas … Sie sah aus dem Augenwinkel einen schwarzen Schatten zwischen den rostroten Blättern verschwinden. Ein Tier. Ihre Hand glitt an den Kolben der Waffe. Hreila ging weiter und suchte über sich die Silhouette des HORTs zu entdecken. Hinter ihr ertönte ein schriller Pfiff, der in den Ohren schmerzte. Noch ehe sie reagieren konnte, glitt sie aus. Unter ihren Sohlen kippte eine Felsplatte in die Senkrechte. Zahllose Hände mit scharfen Klauen griffen nach ihr. Sie stieß einen Schrei der Überraschung aus und schlug wild um sich, aber jede ihrer Bewegungen wurde sofort abgefangen. Ein Sack wurde ruckartig über ihren Kopf gezogen. Dann fühlte sich Hreila aufgehoben, herumgewirbelt und in rasender Geschwindigkeit davongeschleppt. Sie erreichte weder die Waffe, noch konnte sie mehr als murmeln oder keuchen. Niemand würde sie hören. Klauen und Finger zerrten an ihr und an der Ausrüstung ihres Anzugs. Die Wesen, die sie trugen, rannten eine schräge Fläche abwärts. Krymoraner haben mich überfallen, dachte Hreila. Handeln sie auf Befehl dieses verdammten Hidden-X? Oder stimmt das, was die Roxharen uns berichteten? Hreila konzentrierte sich auf das, was sie spürte. Zuerst merkte sie, daß es kühler und stiller wurde. Die Krallen der Krymoraner kratzten über Fels. Irgend etwas knirschte leise. Das Kratzen wurde intensiver, also scharrten viele Gliedmaßen über den Stein. Hreila war sicher, daß man sie in eine der unterplanetarischen Städte brachte. Für die Krymoraner war das Erscheinen einer neuen Gruppe von Lebewesen zweifellos eine Sensation. Also würden sie
versuchen, herauszufinden, wer die Eindringlinge waren. Was aber, wenn der Befehl zur Entführung von dem unbekannten Gegner kam? Auf jeden Fall hatten die Krymoraner die Solaner beobachtet, ohne daß diese es bemerkt hatten. Hreila Morszek war ratlos. Sie beschloß, noch abzuwarten. Bei der Vorstellung, Gefangene in dunklen, schimmeligen Höhlen zu sein, schauderte sie.
6. Hidden-X: Sie sind tatsächlich findig und schnell, diese kleinen, emsigen Eindringlinge. Die Grenzen meines Machtgebiets haben sie durchbrochen. Ohne besondere Schwierigkeiten, ohne großen Aufwand. Sie werden lästig. Sie schnüffeln zu viel, und weil sie dies ununterbrochen tun, werden sie auch in Kürze die verborgenen Einrichtungen dieser Welt entdecken. Selbst wenn sie meine Geheimnisse aufdecken, was soll's. Sie bewegen sich noch immer weit entfernt von den wirklich wichtigen Einrichtungen. Trotzdem: ich mache den nächsten Zug. Ich fange an, sie zu vertreiben. Die blinden Tunnelgräber haben schnell und mit Entschlossenheit gehandelt, wie ich es befohlen habe. Die Versuchsperson ist von ihnen gefangen worden, und dieser Teil meiner Strategie wird ohne jeden störenden Zwischenfall zu dem von mir gewünschten Ende gebracht werden. Ich werde die Solaner vertreiben. Meine Werkzeuge stehen bereit; jene Roxharen, von denen ich keinen einzigen mehr benötige. Sie werden genau das tun, was ich von ihnen verlange, und dies mit
selbstmörderischer Präzision. Von allen Seiten wird der Angriff auf die Solaner hereinbrechen. Ich bin es, der das Signal gibt: noch ist es nicht an der Zeit. Ich denke, daß die Dunkelheit den tödlichen Effekt noch verstärkt. Bald gebe ich das Signal. Sie werden sich gegenseitig vernichten, diese frechen Insekten.
* Atlan fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden. In seinem Magen bildete sich ein harter Klumpen. Das Extrahirn meldete sich drängend: Tu etwas, und unternimm es schnell! Hidden-X reagiert mit ersten Gegenangriffen! »Keine Spuren?« stieß Atlan hervor. »Nein. Nichts. Wir sind sicher, daß Oserfan verschwunden ist. Ich meine, daß ihn die Krymoraner gekidnappt haben.« Atlan drückte die Ruftaste des Gleiterfunkgeräts und rief drängend: »Sanny! Lyta! Meldet euch. Es ist wichtig.« »Verdammt«, murmelte Nockemann. »Ich habe schon seit Stunden ein ungutes Gefühl gehabt.« »Das habe ich immer, wenn du in der Nähe bist«, erwiderte der Roboter gereizt. Nockemann winkte ärgerlich ab. »Hat Oggar nichts gesehen?« Der Lautsprecher knackte, und die Stimme des Androiden sagte deutlich: »Wir haben unsere Suche auf die vermuteten Großanlagen konzentriert. Wenn Oserfan eine Chance für sich sieht, wird er handeln, zweifellos.« »Wir haben uns nicht auf einen Daueraufenthalt hier eingerichtet«, erwiderte Atlan ärgerlich. »Lyta! Sanny! Seid ihr unterwegs?«
Augenblicklich kam die Antwort: »Wir sind auf dem Weg. Aber wir suchen im Moment nach Hreila Morszek. Sie ist verschwunden.« Atlan und Breiskoll stöhnten gleichzeitig auf. »Das ist kein Zufall.« »Schon allein deshalb nicht, weil zwischen den beiden Landeplätzen mehr als vierhundert Kilometer Abstand besteht. Beeilt euch, Lyta!« »Wir tun, was möglich ist.« Atlan rief den HORT und bat Oggar, mit dem Raumschiff zum gemeinsamen Treffpunkt zu kommen, aber noch nicht zu landen. Er setzte hinzu: »In weniger als einer Stunde ist es wieder dunkel. Wir müssen annehmen, daß sich die Krymoraner in der Finsternis weitaus besser zurechtfinden als wir mit allen unseren technischen Hilfsmitteln.« Atlan deutete auf den Gleiter. Breiskoll, Blödel und Nockemann stiegen langsam ein. Langsam und nachdenklich sprach Atlan seine Gedanken und wohl auch die Überlegungen seiner Freunde aus. »Meine Erfahrung sagt mir, daß Hreila und Oserfan sich in den Händen der Krymoraner befinden. Wir brauchen uns gar nicht zu fragen, wer dahintersteckt. Ich denke nicht, daß sie in Lebensgefahr sind, obwohl ich natürlich mit üblen Tricks von Hidden-X rechne. Wir scheinen von der Weiterverfolgung unserer Suche abgelenkt werden zu sollen, Freunde! Also sind wir auf der richtigen Spur.« »Ein schwacher Trost für den Verlust der beiden.« Bjo Breiskoll lehnte sich nach vorn, schloß die Augen und preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Wie in Trance murmelte der Katzer: »Atlan! Ich kann keinen der beiden spüren. Ich empfange nicht einmal so geringe Ausstrahlungen, daß ich sagen könnte, einer von beiden lebt.«
»Schon gut«, antwortete der Arkonide. Sie erkannten, daß er versuchte, sich und sie zu beruhigen. »Keine Panik. So schnell kann selbst Hidden-X, uns nicht umbringen.« Atlan schwang sich in den Pilotensessel und ließ den Gleiter aufsteigen. Auf den kleinen Monitoren sahen die Insassen, daß sich der HORT näherte. Gleichzeitig bewiesen weitere Peilsignale, daß der andere Gleiter auf dem direkten Weg hierher war. Die Zeit drängte; es lief wohl auf ein Wettrennen gegen die Dunkelheit und die Zeit hinaus. »Was wird Hidden-X tun?« brummte Nockemann und zupfte nervös an den Enden seines zerrupften Schnurrbarts. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall sollten wir uns darauf gefaßt machen, von ihm angegriffen zu werden.« »Von ihm selbst etwa?« fragte Lyta Kunduran erregt über Funk. »Nein. Von seinen Helfern oder Knechten. Die Auswahl auf Krymoran ist nicht sehr groß. Entweder greifen uns die Molaaten, die Roxharen oder die unterplanetarisch lebenden Ureinwohner an. Sie haben ja bereits damit angefangen.« Atlan entsann sich an zurückliegende Erlebnisse. Der Extrasinn sagte: Pathos, die Steinerne Intelligenz! Im Asteroidenring von Taucher hatte eine Stimme mit ihm gesprochen, die aus seinem eigenen Unterbewußtsein zu stammen schien. Erst als Pathos erklärte, erfuhr Atlan Dinge, die er erst später richtig verstehen konnte … Pathos hatte Bruchstücke der Überlegungen und Gedanken von Hidden-X aufgefangen. Traumartige Visionen hatten den Arkoniden umgaukelt, von denen Schatten auf, vor und über spiegelnden Flächen die hauptsächlichen und besonders starken Erinnerungen bildeten. Aber vielleicht hatte ihn damals auch eine ganz andere Macht informieren wollen. Oder alles war ein Zufall gewesen, trotz der visionären Anwesenheit von Roxharen. Was allerdings Hidden-X betraf, so vermochte Atlan längst nicht mehr an Zufälle glauben.
Er kam wieder in die aufregende Gegenwart zurück und registrierte ein weiteres Signal des zweiten Gleiters. »Noch fünfzehn Minuten«, erklärte Blödel. Atlan schob den Fahrthebel vor und brachte den Gleiter höher hinauf. Er flog der anderen Maschine entgegen und nahm gleichzeitig zur Kenntnis, daß sich der HORT mit weit offener Hangarschleuse näherte. »In dieser Flughöhe«, unterbrach Breiskoll schließlich die trüben Gedanken der Solaner, »sind zumindest wir sicher. Was können wir tun, um unsere Freunde herauszuholen? Für ein weiteres Kommandounternehmen in die Unterwelt des Planeten sind wir zu wenige Teilnehmer und auch sonst schlecht genug ausgerüstet.« »Das ist das Fatale«, bekannte Atlan. Schweigend flogen sie weiter und trafen sich in einigen hundert Metern Höhe mit dem anderen Gleiter, schwebten nebeneinander auf den HORT zu und schleusten sich ein. Kurze Zeit später befanden sie sich in der Zentrale, legten einen Teil ihrer Ausrüstung ab und nahmen, während sie miteinander sprachen und die nächsten Schritte abzusprechen versuchten, einen Imbiß zu sich. Insider faßte die Beratungen zusammen und sagte gähnend: »Es gibt keine Alternative. – Wir müssen hinunter. Die Frage ist nur, ob bei Tag oder bei Nacht.« »Vier Stunden lang herrscht jetzt Dunkelheit!« sagte Lyta und hob den Becher mit heißem Kaffee. »Was vier Stunden Vorteil für die Krymoraner bedeutet.« Sie hatten erkannt, daß Hidden-X in gewissem Sinn mit ihnen spielte. In der Umlaufbahn, die der HORT jetzt beschrieb, waren sie in Sicherheit vor Roxharen, Molaaten und Krymoranern. Diese Position aber machte es ihnen unmöglich, in irgendeiner Form einzugreifen. Aus dem langsamen und niedrigen Orbit vermochten sie Oserfan und Hreila nicht zu helfen. Der kleine Buhrlo wandte sich an Atlan. »Mit den Möglichkeiten des HORTs können wir ein solch großes Loch in den Planetenboden brennen, daß alle Krymoraner wie
aufgestörte Ameisen hervorstürzen. Dann haben wir genügend Licht, um nach Hreila zu suchen. Sie ist meine Gefährtin, falls das jemand übersehen haben sollte.« Atlan legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und brummte halblaut: »Niemand hat das vergessen. Wenn wir das tun, was du vorgeschlagen hast, bringen wir unschuldige Wesen um. Und nur deswegen, weil uns Hidden-X zu dieser Überlegung zwingen will.« »Verstanden. Aber was können wir tun?« »Hinunter!« sagte Insider. »Und dann?« »Versuchen, an der Stelle einzudringen, an der Hreila verschwunden ist. Ihr wißt, wo das war, Lyta?« fragte Atlan. »Ja. Wir haben Reihenaufnahmen gemacht. Es kommt meines Erachtens nur eine Stelle, nicht größer als tausend Quadratmeter, in Frage.« »Dann kennst du unser Ziel, Tristan«, nickte Oggar. »Wann?« »Eine Stunde vor Anbruch der nächsten Helligkeitsphase«, schlug Breiskoll vor. »Und diesmal mit voller Ausrüstung und eingeschalteten Schutzschirmen und so weiter.« »Das versteht sich von selbst«, schloß Atlan. »Also: für jeden, der bei diesem Kommando mitmacht, zwei Stunden Pause. Versucht zu schlafen, denn ich habe den Eindruck, daß uns harte Auseinandersetzungen bevorstehen. Nicht mehr und nicht weniger.« »Verstanden!« Atlan sah zu, wie die Mitglieder seines Teams die Zentrale verließen, dann lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Ratlos, Arkonide, fragte der Logiksektor. Atlan stöhnte. »Ja«, antwortete er flüsternd.
7. Die Dunkelheit herrschte jetzt über dem Planeten. Aus großer Höhe fiel feiner, aber durchdringender Regen. Wind kam von unterschiedlichen Richtungen und erzeugte nicht nur Kälte, sondern in den zahllosen Gewächsen schauerlich klingende Geräusche und drohende Bewegungen. Die Feuchtigkeit sickerte schnell durch die löchrigen Dächer der unzähligen Unterstände und Hütten, unter denen sich Molaaten und Roxharen fröstelnd zusammenkauerten. Leise sprachen die verstörten Molaaten miteinander. Sie wüßten nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Der Wind steigerte sich im ersten Drittel der Dunkelperiode zu einem fauchenden Sturm. Unbehagen erfaßte die Molaaten. Sie drängten sich aneinander, um sich zu wärmen. Aber dann spürten sie, daß sich etwas änderte. Sie entdeckten plötzlich bei ihren Freunden und Nachbarn abstoßende Eigenschaften. Sie begannen einander zu hassen, und einige wurden handgreiflich. »Was geht mit uns vor?« schrie ein Molaate gellend. »Hört auf! Das sind nicht wir …« »Eine fremde Macht packt uns!« In einigen Hütten brach offener Streit aus. Keulen und Stöcke wurden geschwungen. Gestalten überschlugen sich, als sie, ineinander verkrallt und verbissen, aus den zusammenbrechenden Behausungen fielen. Nur der herunterrauschende Regen kühlte die Kämpfenden ab. »Uns packt der Wahnsinn: reißt euch zusammen!« hörte man die Stimme von Starv. »Also doch eine fremde Macht!« schrie Neemie. »Sanny? Wo bist du? Wir drehen durch, wir brauchen Hilfe.« Die Molaaten stürzten aus den Hütten und blieben voller
Verwirrung in der nassen Kälte stehen. Der Regen hörte auf, aber nicht der schneidende Sturm. Hinter dem Hügel ertönte Lärm. Einige Fackeln verbreiteten trübes Licht, und ihre Flammen endeten in langgezogenen Qualmwolken. Die Roxharen kamen aus ihren Hütten! »Was haben sie vor?« »Derselbe Wahnsinn hat sie gepackt!« Als der Wind schwieg, hörten die Molaaten die wütenden Schreie und das heisere Bellen und Fauchen der riesigen, dürren Lebewesen. Noch mehr Fackeln erschienen zwischen den nassen Zweigen, an deren Blättern dicke Tropfen hingen. Die Büsche schüttelten sich, als einige Roxharen hervorbrachen und ihre primitiven Waffen schwangen. Die Molaaten sprangen auseinander, aber die meisten von ihnen spürten erst jetzt eine Schwingung, die wie ein unhörbarer Wind über den Boden des Planeten dahinfuhr. Haß! Wahnsinn! Raserei! Neemie flüsterte fassungslos: »Ich weiß, warum die Roxharen kämpfen wollen, und warum wir uns gegenseitig prügelten.« »Ich weiß es nicht – sage es mir!« »Eine Strahlung des Wahnsinns geht über uns hinweg.« Eine keilförmige Gruppe von Roxharen kam näher. Die Molaaten rannten davon und versteckten sich. Starv packte Neemies Hand und lief mit der Freundin hinüber zwischen die knorrigen, nassen Wurzeln eines weit ausladenden Baumes. Die ersten Roxharen rannten an den Molaaten und am zusammenbrechenden Lager vorbei, ohne beides zu beachten. Sie waren wild und rasend vor Zorn und Wahnsinn. Also hatten sie nicht vor, die Molaaten anzugreifen. Wen also wollten sie bekämpfen? Neemie murmelte: »Sanny hat von einer Macht gesprochen, die sie Hidden-X nennt.
Dieser Gegner macht sie wohl alle verrückt.« »Das mag so sein – oder auch nicht. Vielleicht halten sie es nicht mehr aus.« Die erste Gruppe der spitzgesichtigen, halbverhungerten Wesen war am Lager der Molaaten vorbeigerannt und verschwand in der Finsternis. Der kalte Wind hatte aufgehört; jetzt wehte aus der Richtung des kommenden Sonnenaufgangs eine warme Bodenströmung die Berghänge herunter. Plötzlich waren sämtliche Roxharen verschwunden. So schnell und lautlos, als habe sie es niemals gegeben. Verwundert starrten die Molaaten einander an. Dann meinte Starv erschrocken: »Es kann gar nicht anders sein. Sanny und ihre Freunde haben recht. Es war die Wahnsinnsstrahlung, die Hidden-X ausgeschickt hat. Haß und der Zwang andere zu töten, ist in dieser Strahlung enthalten. Und gegen wen werden sich die Kämpfe dieser armen Geschöpfe richten?« Neemie antwortete: »Gegen Sanny und ihre Freunde. Also gegen diejenigen, die uns vielleicht hätten helfen können.« Fassungslos blickten sie in die Richtung des Roxharen-Lagers und versuchten zu erkennen, was dort vor sich ging.
* Der HORT schwebte fast lautlos in der Finsternis. Wieder zeigten sämtliche Bildschirme nur die unwirkliche Wiedergabe in Falschfarben und Infrarot und anderen Ausschnitten des Spektrums außerhalb des normaloptischen Fensters. Schräg unterhalb des Raumschiffes lag die Stelle, an der die Freundin des Waffentechnikers, Hreila Morszek, spurlos verschwunden war – als Beute der rätselhaften Krymoraner. Atlan wandte sich an Oggar und deutete auf das Chronometer.
»Unter uns wird es in weniger als einer Stunde hell. Riskieren wir es, Freunde?« »Einverstanden. Sofern wir uns auf die flankierenden Maßnahmen Oggars verlassen können.« Tristan Bessborg kauerte dicht vor einem Monitor und studierte die Falschfarbenwiedergabe. Auch er hatte bisher nicht vermocht, mehr als die Gegebenheiten an der dunklen, nassen Oberfläche zu erkennen. Die Teilnehmer dieses neuen Versuchs, hinter das Geheimnis zu kommen und vielleicht sogar Oserfan und Hreila zurückzuholen, waren hervorragend ausgerüstet, aber natürlich wußte niemand, welche zusätzlichen Überraschungen drohten. Bjo Breiskoll blieb plötzlich stehen, atmete schwer und sagte dann alarmiert: »Atlan! Auf dem Planeten geht etwas vor!« Es konnte sich logischerweise nur um etwas handeln, das Bjo mit seinen telepathischen Fähigkeiten spürte. »Ja? Was ist los, Bjo?« schnappte Tristan in aufkommender Hoffnung. »Ich spüre, daß die Molaaten und Roxharen aufgeregt sind. Sie kämpfen miteinander. Ich registriere eine haßerfüllte, fast wahnsinnige Stimmung.« »Das kann nur bedeuten«, rief Sanny aufgebracht, »daß sich Hidden-X seiner unnützen Werkzeuge entledigen will. Sie sollen sich gegenseitig ausrotten.« »Für uns also fast ein Befehl, hinunterzugehen und uns einzumischen.« Atlan war entschlossen, diesmal mit Nachdruck vorzugehen. Zwar konnte er keine Prognose abgeben, aber er rief sich ähnliche Unternehmungen in die Erinnerung zurück. Er zog den Handschuh des Kampfanzugs straff und sagte zu Oggar: »Du mußt praktisch jeden unserer Schritte genau beobachten und sofort eingreifen, wenn es nötig ist. Ich weiß, das ist eine überflüssige Bemerkung. Ich wiederhole es trotzdem.«
Diesmal würde das Team nicht mit den Gleitern den HORT verlassen, sondern direkt aussteigen und eingreifen. Weit im Osten zeigten die Bildschirme den ersten, haarfeinen Lichtschimmer des kommenden kurzen Tages. Atlan nickte Oserfan zu und ließ seinen Blick über das Team gleiten. Die Gesichter waren ernst. Der Schnurrbart des Roboters sah aus, als gehörte er einem aufgeregten Walroß. »Fertig?« »Bringen wir es hinter uns«, brummte Hage Nockemann und winkte seinem Robot. Blödel bewegte sich schnell hinter ihm her. Der HORT schwebte schräg abwärts und näherte sich der Bergwand, die dicht bewachsen war und nur eine geringe Steigung aufwies. Bisher hatte Oggar noch nicht ein einziges Mal die Schutzschirme des HORTs aufbauen müssen. Auch jetzt waren selbst Atlan und Insider sicher, daß kein großangelegter Angriff von Hidden-X drohte. »Und ich werde meine Thermogeschütze klarmachen. Für alle Fälle«, versprach Oggar. Der HORT berührte mit einem Teil der Außenschale den nassen Boden. Tiefstrahler und das Flutlicht aus Landescheinwerfern badeten das Gelände in grelle Helligkeit. Vögel schüttelten die Nässe aus dem Gefieder und flüchteten kreischend durch die aufkommenden Nebelschwaden. Kleine Tiere huschten davon. Mit einem federnden Satz sprang Atlan aus der schmalen Schleuse. Seine Stiefel versanken bis zu den Knöcheln in feuchtem Sand. Bjo überholte den Arkoniden mit einigen Sprüngen, die unangestrengt wirkten und ihn weit den Hang hinauf trugen. Er hielt einen schweren Scheinwerfer und die Waffe in den Händen. Blödel und Nockemann folgten, und schon jetzt fingen sie an, jeden Handbreit Boden genau abzusuchen. In den Lautsprechern der Anzüge hörten sie Oggars Stimmen: »Ich werde mit dem HORT hier warten, aber in sicherer Position, einige Meter über dem Boden. Achtet darauf.«
Einige Scheinwerfer schalteten sich ab. Lyta, Tristan, Bessborg und Insider schwärmten nach links und rechts aus. Sie schalteten die Abwehrfelder der Anzüge ein und vergewisserten sich ständig darüber, ob sie beobachtet oder verfolgt wurden, indem sie mit Oggar sprachen. »Wir werden deine Hilfe sicher brauchen, Oggar«, meinte der Arkonide. Nach einigen Minuten befanden sich die sieben Solaner genau an der Stelle, an der Hreila verschwunden war. Hinter ihnen lichteten sich die Gewächse. Die Lichtkegel der Scheinwerfer schwenkten hin und her. Nicht einmal die Sensoren des Robots konnten irgendwelche auffallenden Hohlräume entdecken. »Nichts«, rief Sanny. »Hört ihr etwas?« Sie meinte zweifellos die Aufregung, die Breiskoll festgestellt hatte. Aber nicht einmal Oggar konnte irgendwelche größeren Bewegungen in ihrer Nähe anmessen. »Noch nichts zu hören. Wo sind die Roxharen und deine Freunde, Sanny?« »Ich hoffe nicht, sie hier zu sehen«, gab die Molaatin zurück und kippte einen flachen Stein. Zwischen einigen Wurzeln entdeckte sie darunter so etwas wie einen hölzernen Stein. »Hilf mir, Insider«, bat sie. Insider leuchtete das Loch mit zwei Scheinwerfern aus, griff mit einer der rechten Hände zu und zog an dem Hebel. Dann richteten sich Sanny und er auf. Ein dumpfes Rumpeln ertönte. Einige Meter vor ihnen kippte langsam ein großer Felsblock aus seiner Lage, drehte sich und gab ein Loch frei, das größer als etwa drei Quadratmeter war. Die Kegel der Scheinwerfer zeigten eine schräg abwärts führende Rampe, deren Boden rauh und schmutzig war. Über die Rillen und die Geländer der Rampe zogen sich die schwarzen Flächen der Nässe. »Atlan«, sagte Insider aufgeregt, »wir haben den Eingang zu einer unterplanetarischen Siedlung gefunden. Oder zumindest einen der
Eingänge. Komm schnell her. Wir sind hier drüben, rechts …« »Verstanden.« Insider, Sanny und Nockemann umstanden das Loch. Die Lichtflut ihrer Scheinwerfer ließ eine lange, gekrümmte Rampe und die seitlichen Begrenzungen erkennen. Als Sanny die Schritte des heranrennenden Arkoniden hörte, wirbelte sie herum und schrie: »Sie kommen!« Von allen Seiten ertönte jetzt ein eigentümlicher Lärm. Unzählige Füße bewegten sich in rasender Eile durch die Gräser und Ranken und durch das Gebüsch. Einige schwelende Fackeln schwankten hin und her und wurden durch schnelle Bewegungen immer wieder angefacht und glühten auf. Ein dumpfes, langgezogenes Trillern oder Zwitschern ertönte, dazwischen Schreie und gespenstische Laute. Hin und wieder sah man in dem ungewissen Licht die spitzgesichtigen Köpfe von Roxharen. »Roxharen greifen uns an«, erklärte Blödel mit lauter Stimme. »Wir sollten die Paralysatoren entsichern und uns wehren.« Die Handscheinwerfer blendeten auf und richteten sich im Halbkreis nach außen. Es waren tatsächlich Hunderte und aber Hunderte von rasenden Roxharen, die von, drei Seiten herankamen, nur nicht aus der Richtung des Berges. Sie rannten, als wären sie rasend vor Wut. Insider gab mehrere Schüsse aus dem schweren Lähmstrahler ab, als die ersten Angreifer mit Steinbeilen und spitzen Knochenwaffen sich bis auf fünfzehn Schritte genähert hatten. Die vordersten Roxharen brachen aufschreiend zusammen. »Oggar. Wir brauchen Hilfe.« Atlans Stimme klang unnatürlich ruhig. In das vage Licht der Fackeln und in die rötlichen Flammen im Gras, die durch Funkenflug und heruntergefallene Teile der Fackeln entzündet worden waren, mischte sich ein weiterer Lichtschimmer, der die Helligkeitsperiode ankündigte. Aber die schwankenden Handscheinwerfer beherrschten mit ihrer kalkigweißen Grelle noch immer die Umgebung. Fluchend stolperte Nockemann heran und
eröffnete das Feuer auf eine andere Gruppe halb hysterischer Roxharen. »Das ist …«, stöhnte er, »… das Werk dieses unsichtbaren Verbrechers …« Der HORT schwebte brummend heran und öffnete die Schleuse. Atlan schrie Insider zu: »Bringt euch in Sicherheit. Zurück ins Schiff.« Immer mehr Roxharen tauchten auf. Im Augenblick bot der strategische Vorteil den Solanern etwas Schutz. Die meisten Roxharen kamen von unten und mußten die Steigung heraufklettern. Ununterbrochen dröhnten und fauchten die Paralysatoren. Die Angreifer kletterten ohne sichtliche Regungen über die Wälle und Haufen der bewegungslosen Körper hinweg. Lyta Kunduran schwenkte den Strahler hin und her und gab Dauerfeuer. Langsam bahnte sie sich einen Weg auf das Schiff zu. Zweimal dröhnten die Schiffsgeschütze auf und brannten einen tiefen, kochenden Graben zwischen die Roxharen und die Solaner. Tristan stand bereits in der Schleuse und gab gezielte Schüsse ab. Gegen die metallenen Wände prasselte plötzlich ein Hagel aus geschleuderten Waffen aller Art. Steine zerplatzten mit dröhnenden Geräuschen am Stahl. Breite Rauchwolken drehten sich zwischen den beiden Gruppen. »Blödel! Kümmere dich um deinen Herrn!« schrie jemand. »Schon gut.« Die Roxharen waren von der Wahnsinnsstrahlung zu besinnungslosen Befehlsempfängern gemacht worden. Sie kannten nur ein einziges Ziel, nämlich die anderen Fremden zu töten. Sie schleuderten Steine, die durch die Blätter zischten und mit schwirrenden Geräuschen über die Köpfe der Mitglieder des AtlanTeams hinwegheulten. Breiskoll rettete sich mit einer Serie von geschickten Sprüngen, wild und treffsicher um sich feuernd, in die Schleuse und gab den anderen von dort Feuerschutz. Atlan, Blödel und Sanny zogen sich
vor dem Ansturm einer neuen Riesenmenge Roxharen zwischen den Felsblöcken schrittweise zurück. Es waren inzwischen Tausende. Eine riesige Flut von pelzigen Leibern, die im ersten Dämmerungslicht vor Nässe glänzten, wälzte sich von allen Seiten heran. Sanny duckte sich unter einem Hagel von Steinen und Steinbeilen und schrie schrill: »Es hilft nichts. Wir können Hreila nicht helfen.« Atlan drehte sich kurz herum und sah, daß wenigstens seine Gruppe im Augenblick zwischen den Felsen Rückendeckung hatte. Die unregelmäßig großen Felsen bildeten einen dreieckigen Wall vor dem untersten Eingang zu einer Schlucht. Das Extrahirn meldete sich für einen verwirrenden Augenblick und schrie warnend: Hidden-X hat alle Roxharen dieses Planeten hierher transportiert! Atlan knurrte: »Das ist die Erklärung.« Die Gruppe war auseinandergesprengt worden. Ununterbrochen feuerten sie alle. Zwischen den Wurzeln, Baumstämmen und dem Geröll lagen riesige Mengen von bewußtlosen Roxharen. Atlan und Sanny versuchten, rechts und links einen Fluchtweg freizuschießen. An dieser Stelle konnte das Schiff nicht näher herankommen. Der Rest des Kommandos war in Sicherheit oder befand sich dicht vor der offenen Schleuse, aus der Insider und Breiskoll schossen. Oggar rief über Funk: »Ich sehe euch genau, Atlan. Zieht euch weiter zurück. Ich versuche, euch weiter oben zu treffen. Wir schleusen den Gleiter aus …« »Verstanden, Oggar«, gab der Arkonide zurück. Rückwärts tappten sie langsam, Schritt um Schritt, in die flache Einmündung der Schlucht hinein. Ein letzter Blick Atlans zeigte ihm, daß sich plötzlich aus dem Eingang der unterirdischen Stadt schwarze, zylindrische Gestalten schnellten. Sie sahen wie riesige terranische
Maulwürfe aus, aber weitaus langgestreckter, schlanker und beweglicher. Sie trugen mattschwarze Metallrohre und mischten sich sofort in den Kampf. Mit zwei Handbewegungen machte Atlan Sanny und Blödel darauf aufmerksam. »Auch ein Werk von Hidden-X«, bestätigte Blödel. Kein einziger der ausgesetzten Molaaten war zu sehen. Die Krymoraner wußten in den ersten Minuten nicht, wen sie angreifen sollten. Hintereinander, in rasend schneller Folge, huschten sie mit scharrenden Klauen aus dem Loch hervor, robbten und sprangen in alle Richtungen und feuerten dabei ihre Schußwaffen ab. In das Schreien und Zwitschern der Roxharen mischten sich jetzt die ohrenbetäubenden Donnerschläge der Detonationen. Die Geschosse, die eine beträchtliche Größe zu haben schienen, jaulten durch die Dämmerung und rissen kleine Löcher in den Nebel. Langsam hob sich der HORT von seiner Position und schwebte aufwärts, noch immer mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern. »Zielt auf die Krymoraner«, schrie Insider aus der Schleuse und schoß. Pausenlos krachten die Feuerrohre, dröhnten und fauchten die Paralysatoren. Aus den Mündungen der einfachen Waffen drangen unterarmlange Feuerzungen von gelbblauer Farbe, dazu entluden sich graue Rauchwolken der verbrannten Pul vergase. Auch die schwarzen Körper der Ureinwohner überschlugen sich, wenn sie von den Lähmstrahlen getroffen wurden. Die drei Solaner erkannten, daß sie in der schmalen Schlucht deshalb in Sicherheit waren, weil die Angreifer nicht in breiter Front, sondern nur von einer Seite vorrücken konnten. Atlan blieb stehen, lehnte sich gegen einen mannshohen Geröllblock und zielte sorgfältig. Mit einer Serie von einem Dutzend Paralysatorschüssen erreichte er, daß der Eingang der Schlucht fast völlig von den regungslosen Körpern von Roxharen und Krymoranern versperrt war.
»Wir müssen weiter hinauf«, rief er keuchend. »Hier kann kein Gleiter landen.« Oggar verabscheute ebenso wie jeder andere von ihnen nackte Gewalt. Der HORT hätte mit seinen Geschützen diesem Spuk ein schnelles Ende bereiten können. Aber das hätte das Leben von unzähligen Wesen gekostet, die absolut unschuldig waren. Also versuchten die Solaner, sich ohne den Einsatz von tödlichen Waffen aus dieser Klemme zu befreien. Die Geschosse der Krymoraner aus ihren riesigen, vorsintflutlichen Waffen heulten als Querschläger von den Bäumen weg oder lösten sich an den Felsen in einen Hagel winziger Bruchstücke auf. Aber die Krymoraner feuerten auch auf die Roxharen. Sie verwundeten und töteten ohne jeden Sinn. Beide Gruppen schien ein wahrer Vernichtungsrausch gepackt zu haben. Wütend kämpften sie gegeneinander und versuchten trotzdem, die Solaner zu töten. Inzwischen hatten sich Atlan, Blödel und Sanny fast hundert Meter weit in die aufwärts führende Schlucht zurückgezogen. Vor Jahrhunderten oder noch früher war dies ein Gebirgsbach oder der Ausgang eines Gletschers oder Urflusses gewesen. Das Wasser hatte in diesen Teil des Bergmassivs eine tiefe Rinne gefräst. Geröll in allen Größen lag hier und füllte die Sohle der Schlucht aus. Zwischen den Steinen hatte sich Erdreich abgelagert, und Pflanzen hatten Wurzeln gefaßt. So kam es, daß man sich auf dem Boden dieses Geländeeinschnitts, der hier nicht breiter als zehn Meter war, relativ gut fortbewegen konnte, obwohl er ständig aufwärts führte. Jenseits dieses Berges erhob sich eines der höheren Gebirge. Über dessen Gipfel kamen jetzt ein warmer Wind und die ersten waagrechten Strahlen der künstlichen Sonne. Die Angreifer und die Umgebung waren wegen des aufsteigenden Nebels in ein fahles Zwielicht getaucht. Offensichtlich bildete sich jeden Abend und jeden Morgen mehr oder weniger dichter Nebel. Atlan, Sanny und der Robot stolperten und tappten durch die
Schwaden, blieben immer wieder stehen und feuerten gezielte Schüsse ab, versuchten, den Verfolgern zu entkommen und gleichzeitig einen Platz zu erreichen, an dem sie gefahrlos vom Gleiter aufgenommen werden konnten. Jetzt standen sie vor einer senkrechten Felsplatte, in die von der schleifenden und modellierenden Wirkung des Wassers und Sandes seltsame Streifenmuster hineingeschürft worden waren. Eine Gruppe schwarzer Körper sprang im Zickzack zwischen den regungslosen Gestalten hin und her, nützte blitzschnell jede nur denkbare Deckung aus und näherte sich den drei Flüchtenden. Atlan und Sanny zielten sorgfältig und feuerten einen Schuß nach dem anderen auf die Krymoraner ab. Die Wesen hoben sich immer wieder auf die Hinterbeine, spannten ihre kurzen Bögen und feuerten Pfeile auf die Solaner ab. Die Projektile waren ausgezeichnet gezielt. Es schienen hervorragende Jäger zu sein. Unter dem jaulenden Hagel der Pfeile, deren Spitzen an den Steinen barsten, von den Abwehrschirmen zur Seite gelenkt oder mit Wucht in das Holz oder die Rinde geschmettert wurden, duckten sich die Solaner. Aus dem Augenwinkel sah die Molaatin plötzlich, wie ein Teil der Felswand aufklappte und abermals einen dunklen Eingang freigab. Sanny tastete am Gürtel nach dem Scheinwerfer und registrierte voller Verblüffung, daß sie ihn nicht verloren hatte. »Atlan – hier kommen andere Krymora …«, schrie sie und riß im letzten Sekundenbruchteil die Waffe nach oben. Der Lichtkegel des Scheinwerfers traf nicht eine Horde schwarzfelliger Krymoraner, sondern eine kleine Gestalt im Kampfanzug. »Hreila!« rief der Arkonide voller Verblüffung, streckte den Arm aus und versuchte, die Hand der Buhrlofrau zu packen. »Ich bin ihnen entkommen«, stotterte Hreila aufgeregt. »Plötzlich rannten sie alle weg, und ich lief hinterher.« »Sie sind also weggerannt«, erwiderte Atlan und schoß auf zwei
heranspringende Roxharen, hinter denen sich die schwarzen Körper der Krymoraner bewegten. »Deshalb sind sie davongerannt, weil sie den Auftrag haben, uns zu töten.« Blödel öffnete ein Fach seines Körpers, nahm daraus eine mittelgroße Waffe und gab sie der Buhrlofrau. »Damit du echte Chancen hast, bis uns der Gleiter abholt«, erklärte er und stimmte ein hohles Gelächter an. »Was haben sie mit dir gemacht, Hreila?« fragte Atlan laut. »Sie brachten mich ziemlich tief hinunter«, erklärte sie und versuchte, sich zu wehren. Diesmal war es eine Gruppe von etwa dreißig Roxharen, denen es gelungen war, zwischen dem Geröll und den Bergen von unbeweglichen Körpern hindurchzukommen. Sie schwangen Steinschleudern, die aus den Fellen von Beutetieren geschnitten waren. Die faustgroßen Projektile summten durch die Schlucht. Erste Sonnenstrahlen erreichten den tiefergelegenen Teil des Geländeeinschnitts und zeigten den Solanern, daß sie im Augenblick wirklich auf verlorenen Posten standen. Immer mehr Roxharen drängten sich dort vorn zusammen und waren entschlossen, ihren Auftrag zu Ende zu führen, obwohl sie nicht einmal wußten, wer ihnen diese selbstmörderischen Befehle gegeben hatte. Sie boten einen erbarmungswürdigen Anblick. Die Felle waren schmutzig und hatten Löcher, als wären sie räudig. Die Geschöpfe bestanden nur noch aus Fell, Muskeln und Sehnen und Knochen. Die großen Schneidezähne waren gelb und meistens zersplittert. Die runden Ohren waren in ständiger Bewegung. Der erste aus der Gruppe stolperte, fiel und überschlug sich, als ihn der Schuß des Arkoniden traf. »Es werden immer mehr«, stöhnte die Molaatin auf und umrundete einen verkrüppelten Baum. Der Eingang zur unterplanetarischen Stadt, durch den Hreila gekommen war, lag jetzt etwa hundert Meter weit zurück und schloß sich, nachdem ein
Pulk von etwa zwei Dutzend Krymoranern daraus hervorgetappt war. »Es sieht nur so aus. Alle Roxharen wurden hier versammelt«, wiederholte Atlan. Er hob die Waffe, blickte die Ladekontrollanzeige an und sah, daß das Magazin sich alarmierend schnell leerte. »Und ein Großteil der Krymoraner«, fügte Sanny hinzu und schoß auf die vordersten Angreifer der nächsten Gruppe. Jetzt sahen sie zum ersten Mal die wirklichen Bewohner des Planeten. Es waren rund zwei Meter große, schlanke Wesen, die sich sehr schnell auf allen vieren, weniger geschickt auf den Hinterfüßen fortbewegten. Ihre Bewaffnung bestand aus Pfeilen und Bögen und aus Feuerrohren, die offensichtlich von vorn geladen wurden. Hin und wieder blieben einzelne Jäger stehen, lösten von den breiten Gurten Beutel mit Pulver und Geschossen und luden die Rohre neu. Kleine Ohren, auffallend große dunkle Augen, ein kräftiges Bibergebiß und ein runder Kopf mit angedeuteten Brauen und Jochbeinen. Sie wirkten nicht im mindesten abstoßend, sondern nur ein wenig exotisch; eine entfernte Ähnlichkeit mit Molaaten bestand tatsächlich. Jetzt aber, als sie sich mit lauten, eindringlichen Stimmen Befehle und Kommandos zuriefen, stellten sie nichts anderes als eine unmittelbare Gefahr dar. Wieder zogen sich die Solaner einige Dutzend Schritte zurück. Die Wände der Schlucht wuchsen an, der Boden verbreiterte sich nur geringfügig. Hreila entdeckte zwischen den Steinbrocken einen Pfad. Er schien oft benutzt worden zu sein, denn sämtliche Pflanzen waren niedergetreten. »Hier entlang. Vielleicht führt der Pfad in ein Versteck«, drängte sie und schoß aus der kleinen Waffe über die Köpfe der anderen hinweg. Blödel und Sanny folgten ihr, und schon wieder quoll ein Schwall der schwarzen Körper über die Felsen und schob sich zwischen den Gewächsen hindurch. Das Licht der Kunstsonne lag voll auf der rechten, Felswand und vertrieb die letzten Reste des
Nebels aus der Schlucht. »Sie haben mich überfallen«, berichtete Hreila scheinbar zusammenhanglos. »Es ging rasend schnell. Sack über den Kopf, Funkgerät halb zerstört, deshalb konnte ich auch nichts mehr an euch melden.« »Sie haben auch Oserfan entführt«, warf Sanny traurig ein. »Was haben sie mit dir gemacht, Hreila?« »Sie brachten mich sehr tief hinunter in ihre Stadt. Es riecht dort nach Pilzen, nach Pflanzen. Schließlich müssen sie mich betäubt haben, oder ich atmete irgendein Gas ein. Jedenfalls kam ich zu mir, als ich ohne Anzug auf einer harten Unterlage ausgestreckt war.« Etwa zweihundert Roxharen und hundert Krymoraner füllten jetzt das Gelände der Schlucht aus. Sie näherten sich weniger schnell als noch vor ein paar Minuten, aber sie kamen unaufhaltsam näher. Wieder schossen die Solaner auf die vordersten Angreifer, aber die stürzenden Körper hielten die Rasenden nicht lange auf. »Wir kommen. Ihr müßt noch einige Minuten aushalten«, kam die Stimme Bjo Breiskolls aus den Anzuglautsprechern. »Es wird knapp«, erwiderte Atlan. »Und was geschah dann, Hreila?« fragte Sanny und betäubte zwei Krymoraner, deren Vorderlader sich auf die Solaner richteten. Einer der Schüsse ging los und ließ einen Steinbrocken dicht neben Blödel zerplatzen. »Keine Ahnung. Plötzlich war ich wieder in diesem Anzug. Aber alle wichtigen Ausrüstungsgegenstände fehlten. Auch der Translator.« »Ja?« »Dann wurden sie alle unruhig, liefen weg, und ich rannte hinter ihnen her. Aufwärts. Schließlich entdeckte ich den Hebel und öffnete den Ausgang. Da wart ihr.« »Sie wollten nur sehen, wer wir sind«, warf Atlan ein, hob Sanny vom Boden auf und rannte mit ihr etwa hundertfünfzig Meter weiter in die Schlucht hinein. Der Pfad wurde immer deutlicher und
breiter. Die Einkerbung in der Flanke des Berges machte eine scharfe Biegung um neunzig Grad und lag plötzlich im grellen Licht des Kunstgestirns. Über der Schlucht tauchte jetzt der Gleiter auf. Bjo Breiskoll steuerte mit der Linken und hielt in der rechten Hand einen schweren Strahler der ununterbrochen feuerte. Die Maschine kam in riskanten Kurven tiefer und wich im letzten Augenblick den Felsen und Vorsprüngen aus. Bjo schoß hervorragend und mähte die Verfolger förmlich nieder. Die Roxharen und die Krymoraner waren jetzt keine Gegner mehr und beachteten einander nicht. Sie rannten und sprangen Seite an Seite. Ihr Ziel war klar: die vier Solaner in der Schlucht. Daß über ihnen ein Gleiter schwebte, schienen sie nicht wahrzunehmen. Atlan und seine Freunde verschwanden hinter der Biegung der Schlucht. Der Arkonide steckte die fast leergeschossene Waffe in den Gürtel, riß den Blaster aus der Halterung und zielte flüchtig. Der röhrende Glutstrahl traf unterhalb einer großen Felskanzel in das überwucherte Gestein. Der Block wurde losgesprengt, kippte und fiel nach unten, riß anderes loses Geröll mit sich und blieb zwischen den Felswänden liegen. Krachend, polternd und prasselnd senkte sich ein kleiner Felsrutsch in den halb versperrten Einschnitt. Eine riesige Staubwolke stob auf, während sich noch mehr lockeres Gestein und herunterhängende Gewächse lösten. »Das wird sie einige Zeit aufhalten«, rief Atlan und winkte hinauf zu Breiskoll. Bjo steuerte die Maschine in einer engen Kurve durch die gelbe Staubwolke und geriet außer Sicht. Im Rücken der vier Flüchtenden, die sich einige Momente ausruhen konnten, endete die Schlucht in einer einigermaßen glatten, hohen Wand, die an beiden Seiten bis zu den oberen Kanten des Einschnitts von gerundeten und gezackten Steinen abgesperrt war. Zwei annähernd dreieckige Geröllflächen schwangen sich mindestens fünfhundert Meter steil aufwärts. Aber auch dort oben
waren Roxharen und die huschenden schwarzen Schatten der Krymoraner zu sehen. Die Verfolger machten sich bereits an den Abstieg und versuchten, die winzigen Gestalten im Zentrum der Schlucht mit Pfeilen, geschleuderten Steinbrocken und den Geschossen aus den Vorderladern zu treffen. Sanny setzte sich, nachdem Atlan sie zu Boden gelassen hatte, auf einen Felsbrocken, holte tief Luft und nahm ein paar Schlucke aus der flachen Flasche des Anzugs. Dann stand die Molaatin auf und ging langsam auf die Felswand zu. Ihre Augen hefteten sich auf den Boden. Was sie sah, war höchst eigentümlich. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und winkte Atlan herbei. »Fällt dir nichts auf?« fragte sie halblaut. »Der Pfad endet unmittelbar vor der Felswand«, sagte Atlan. »Das kann etwas bedeuten …« Sanny machte noch ein paar Schritte auf die eigentümlich glatte Fläche zu. Die Trennlinie zwischen Licht und Schatten bewegte sich sichtbar schnell über die senkrechte Wand. Noch ein Schritt. In der Fläche öffnete sich ein schmaler Spalt, etwa sieben Meter lang und genau senkrecht. Ein scharfes Summen ertönte. »Wieder ein Eingang zur unterplanetarischen Siedlung«, keuchte Hreila auf und hob ihre kurzläufige Waffe. Zwei große Portale, scheinbar aus wuchtigen Felsplatten, schwangen summend nach innen auf. Vor den Solanern lag ein Boden, der aus hochpoliertem Stein zu bestehen schien. Dahinter erblickten sie ein riesenhaftes Gewölbe, in das ein kurzes Stück Korridor führte. Er wirkte wie eine hellerleuchtete Schleuse. Atlan sagte überrascht: »Das muß die Zentrale der Ortungsschutzeinrichtung sein.« Einige Schüsse aus den Vorderladern jaulten in den Talkessel hinein. Aber sie richteten keinen Schaden an. »Nein. Du irrst!«
Atlan, Blödel und Hreila kamen näher und blieben hinter dem Rücken der kleinen Molaatin stehen. Die riesigen Torflügel kamen nach einer Drehung von neunzig Grad zur Ruhe. Jenseits des Bogens, den die Decke und die Wände des Korridors aus bearbeitetem Fels bildeten, sahen die Solaner eine riesige Menge technischer Einrichtungen. Die Anlage glänzte vor Sauberkeit. »Warum irre ich? Was meinst du?« fragte Atlan rasch. »Ich bin eine Molaatin. Das Portal hat sich geöffnet, weil eine Molaatin davor stand. Also ist der Öffnungsmechanismus auf Molaaten programmiert.« »Zutreffend, Partner«, meldete sich Blödel. Sie gingen noch ein paar Schritte weiter auf das offene Portal zu. Der Gleiter blieb verschwunden. Die Verfolger waren noch zu weit entfernt, um gefährlich werden zu können. »Das bedeutet«, sagte der Arkonide nach kurzem Nachdenken, »daß die verschwundenen Molaaten hier hineingegangen sind.« »… nachdem sie den BEFEHL von Hidden-X erhalten haben«, pflichtete Sanny ihm bei. »Ist es vielleicht eine Schleuse in jene Daseinsebene, in der wir Hidden-X und das Flekto-Yn vermuten?« fragte der Robot sachlich. Sie überschritten die Trennungslinie zwischen dem Talboden und dem Korridor. Noch bewegten sich die Torflügel nicht. Sannys Gesicht nahm den bekannten Ausdruck an; sie wandte ihre rätselhaften Berechnungs-Fähigkeiten an, um aus Vorhandenem und Spekulativem etwas auszurechnen, das den Solanern weiterhalf. »Es ist ein Dimensionstransmitter in eurer Sprache, Atlan«, sagte sie. »In Wirklichkeit handelt es sich um eine große, vielverzweigte Maschine.« Sie schienen etwas zu lange gewartet zu haben. Die Verfolger waren nähergekommen. Viele Roxharen hatten sich bei der Kletterei über die Felsbrocken verletzt. Ihre Wunden schienen sie weder zu stören noch zu schmerzen; sie sprangen und
rannten weiter. Einige lagen bewußtlos oder tot zwischen den Steinen. Die Krymoraner hingegen schlängelten sich blitzschnell und auf eine Weise, die vermuten ließ, sie hätten keine Knochen, über die riesigen Brocken des Geröllfeldes. Hreila und Sanny feuerten ein rundes Dutzend Schüsse ab und zogen sich dabei immer mehr in den Korridor zurück. Atlans Blaster donnerte auf und ließ vor den Verfolgern eine Wand aus Glut, Flammen und Rauch entstehen. »Zumindest ein guter Schlupfwinkel, bis sich die Wut der Verfolger erschöpft hat.« »Hinein in diesen Schlupfwinkel«, rief Hreila. Auch Atlans Logiksektor bestätigte die Überlegungen der Molaatin oder besser ihre Para-Berechnungen. Das Tor war auf die Annäherung von Molaaten kodiert. Spürten die Ausgesetzten den lautlosen Ruf von Hidden-X, dann fanden sie sich zu Gruppen zusammen, wanderten hierher und verschwanden im Gewölbe. Der nächste Schritt war ebenso logisch. Die Molaaten gingen durch den Transmitter und tauchten dort auf, wo Hidden-X sie brauchte. Wo war das? »Verdammt«, murmelte Atlan, mehr zu sich selbst, »was ist mit Bjo los? Wir halten nicht mehr lange durch.« Während die anderen mit den Lähmwaffen feuerten, setzte Atlan seinen Blaster ein und versuchte, durch gezielte Schüsse zwischen den Roxharen und dem Eingang zum Transmitter eine Wand aus Feuer und Rauch aufzubauen. Aber die rasenden Krymoraner und Roxharen sprangen durch die Flammen. Als die ersten Geschosse aus den Feuerrohren gegen die Portale krachten, sprangen die Solaner abermals einige Meter zurück. »Die Torflügel …!« schrie Hreila. Es gab keine sichtbaren Teile, von denen die schweren Platten bewegt wurden. Beide Flügel schwangen fast lautlos wieder zurück in ihre frühere Position und schlossen sich. Es war sinnlos, zu
versuchen, die Bewegung aufzuhalten – zu große Kräfte wurden hier eingesetzt. Als nur noch ein winziger Spalt von oben nach unten verlief, seufzte Hreila und sagte halb erleichtert: »Wir sind wieder eingeschlossen.« »Immerhin in Sicherheit vor diesen Tobsüchtigen dort draußen«, antwortete Atlan und schaltete das Schirmfeld seines Anzugs aus. Sanny steckte ihre Waffe zurück und drehte sich herum, um die Anlage genauer zu betrachten. Als sie das eigentliche Gewölbe betrat, sah sie erst die wirklichen Ausmaße des Felsendoms. Es war keine Riesenkuppel, sondern eine Ansammlung von mehreren riesigen Räumen, deren Deckeln und Wände ineinander übergingen und von verblüffend schlanken Säulen aus Metall und Stein abgefangen wurden. Die Transmitteranlage arbeitete im Moment nicht. Die Schritte der Eindringlinge klangen überlaut und riefen hallende Echos zwischen den Rohren, Kabelsträngen und Pulten und allen anderen Komponenten dieser vergleichsweise gigantischen Anlage hervor. Kein einziges Lebewesen befand sich hier, außer den Solanern. Atlan drückte einen Schalter und versuchte, Oggar zu rufen oder Funkverbindung zu Bjo herzustellen. »Keine Verbindung.« »Wir hätten es uns denken können«, entgegnete Hreila. »Hidden-X darf sich keine Blöße geben.« Niemand von ihnen hatte es gemerkt: die Roxharen und die Krymoraner hatten Hreila Morszek nicht ein einziges Mal angegriffen. Aber selbst wenn Atlan eine solche Beobachtung hätte machen können, würde sie in der Aufregung der Flucht und der Verteidigungsversuche untergegangen sein. »Was jetzt?« fragte Blödel. »Eine gute Frage«, sagte Atlan und grinste humorlos. »Ihr kennt unser Ziel ebenso gut wie ich.« Der Dimensionstransmitter war zweifellos eine Herausforderung, denn nichts anderes hatten die Solaner gesucht. Diese Brücke zu
Hidden-X und die Einrichtungen, mit denen die dunklen Welten vor Besuchern aus anderen Teilen des Universums geschützt werden sollten, diese beiden Dinge waren deutliche Hinweise und mögliche Wege zum unsichtbaren Gegner. Atlan begegnete einem neugierigen Blick der Molaatin und ging dann allein und tief in Gedanken versunken auf das Herzstück der verwirrenden Anlage zu. Er wußte im Augenblick wirklich nicht, was er zu tun hatte. Der Logiksektor wisperte: Aber bald mußt du dich entscheiden, Arkonide! Atlan hingegen hoffte, daß Oggars Suche bald Erfolg haben würde. In diesem Fall brauchte er, Atlan, keine Entscheidung zu treffen. Er und die drei Solaner gegen Hidden-X? Sie waren zu wenige – und völlig ohne Macht.
8. Bjo Breiskoll versuchte, gegen die dreifache Belastung seines Verstandes und seiner Empfindungen anzukämpfen, gleichzeitig die Steuerung des Gleiters richtig zu handhaben und außerdem noch mit dem Paralysator zielsicher zu schießen. Die Wahnsinnsstrahlung, als deren Urheber er Hidden-X annahm, wogte mit unregelmäßigen Wellen über der Planetenoberfläche hin. Von den Roxharen wurden die Impulse aufgefangen, aber ihre ausschließliche Sucht, die Fremden verfolgen und töten zu müssen, erzeugte so etwas wie einen Echoeffekt. Dasselbe geschah mit den Krymoranern, deren Bewußtseine noch schärfer und kräftiger waren. Deshalb trafen die von ihnen reflektierten Impulse den Katzer um so härter. Und da war noch immer ein deutlicher Rest jener Ausstrahlung, mit der ihr Gegner hatte verhindern wollen, daß sie sich den Dunkelplaneten näherten.
Als Bjo mit dem Gleiter ansetzte, um schräg abwärts zu schweben und die Freunde aus der Schlucht zu holen, schlugen die Impulsstrahlen der Arkonidenwaffe vor ihm in die Felsen. Geröll stürzte nach unten, und eine gewaltige Wolke aus Staub, Rauch und Gasen wölbte sich direkt vor dem Gleiter in die Höhe. Bjo stieß einen unterdrückten Fluch aus und riß gleichzeitig den Arm mit der schweren Paralysatorwaffe in die Höhe. Der Gleiter schwebte mitten in die Wolke hinein. Bjo bewegte die Steuerung und kippte die Maschine nach links, um von der Schlucht wegzukommen. Er sah nichts; der Staub schlug in sein Gesicht, blendete ihn und legte sich um seine Schleimhäute. Die Maschine heulte auf und schoß schräg aus der Wolke hervor, raste auf eine Gruppierung von einzeln stehenden Felstrümmern zu und wurde wieder abgefangen. Ihr Kiel setzte schwer auf und schrammte über das Gestein. Bjo duckte sich, wurde nach rechts und links geworfen und merkte, wie der Gleiter an Höhe verlor und mehrmals schwer mit dem Bodenteil in die Büsche krachte. Bjo trat den Geschwindigkeitsregler durch und zog die Höhensteuerung. Der Gleiter wurde schneller und schoß, nachdem er schlingernd und schwankend den Hang hinuntergerast war, wieder in die Höhe. »Verdammt! Das hat uns gerade noch gefehlt«, stöhnte der Katzer auf und sah vor sich die riesige Konstruktion des HORTs. Er versuchte, auf die geöffnete Schleuse zuzusteuern. Unter dem Armaturenbrett quoll ein schmaler grauer Rauchstreifen hoch. Es stank nach schmorenden Verbindungen. Aber der Gleiter flog noch immer. »Oggar. Ich brauche Hilfe«, meldete er sich und versuchte, den bockenden Flugkörper unter Kontrolle zu bringen. »Ich bringe den HORT näher heran, klar?« »In Ordnung.« Der Gleiter zog eine dünne Rauchwolke hinter sich her. Aus der
Unterschale hingen einige zerfetzte Trümmer heraus. Die Maschinen heulten auf und verstummten wieder. Bjo umklammerte die Griffe der Steuerung und spürte, wie das Gerät bockte und immer tiefer sank. Noch fünfhundert Meter etwa bis zum HORT. Unter ihm rannten und sprangen tausende Roxharen zwischen den Gewächsen und dem Geröll auf die Ränder der Schlucht zu. Sie kamen von allen Seiten und beachteten den riesigen und den kleinen Flugkörper nicht. Falls Breiskoll zwischen ihnen notlandete, würden sie ihn aber ebenso angreifen wie Atlan und Sanny. Wieder machte der Gleiter einen Satz, geriet aus dem Kurs und raste mit ständig steigender Geschwindigkeit schräg auf einen Punkt neben dem HORT zu. Bjo versuchte mit allen Mitteln, den Mechanismus wieder unter Kontrolle zu bekommen. Zufällig gehorchte der Gleiter kurze Zeit später wieder seinen Steuerversuchen. Bjo fing den rasenden Flug ab und lenkte den Apparat auf die Schleuse zu, die sich ihm entgegenschob. Der Gleiter machte eine harte Landung, die Breiskoll fast aus dem Sitz schleuderte. Er kippte den Zentralschalter und sprang mit zwei weiten Sätzen aus dem Pilotensessel. Insider fing ihn auf und stieß hervor: »Was ist mit Atlan und den anderen los?« »Sie sind noch dort unten. Verdammt. Es wimmelt von verrückten Roxharen. Und die Krymoraner benehmen sich womöglich noch schlimmer.« Insider drehte sich vom inneren Schleusentor weg und deutete auf sein Funkgerät. »Sie melden sich nicht, Bjo!« »Wie? Ich habe sie doch eben noch gesehen.« »Glaube ich. Aber auch Oggar hat es mit der Schiffsanlage versucht. Wir müssen gleich über der Schlucht sein.« »Los. Komm!« Während sich die äußere Schleusentür schloß, rannten sie in die
Zentrale. Oggar steuerte den HORT genau dorthin, wo Atlan und Sanny eben noch gewesen waren. Die Zentrale füllte sich, die Solaner rannten auf die Bildschirme zu und versuchten, genügend Einzelheiten zu erkennen. Die Abbildungen der Schlucht tauchten auf, deutlich herausmodelliert durch Schatten und Licht. »Da ist ein schmaler Pfad«, murmelte Oggar. »Er schlängelt sich über den Boden der Schlucht und endet genau vor der glatten Felsplatte.« Insider wandte sich an Breiskoll, nickte und hörte, wie Bjo sagte: »Aber von den drei Freunden keine Spur. Doch! Hier liegt ein Beutel mit Essensrationen.« Tristan schüttelte den Kopf und rief verzweifelt: »Sie sind verschwunden. Genau wie Hreila und Oserfan.« »Ein Planet, den wir nicht hätten betreten sollen«, schaltete sich Argan U ein. »Fünf Mitglieder des Teams sind verschwunden.« »Sie sind verschwunden. Aber das heißt nicht, daß sie verwundet oder gar tot sind«, bemerkte Hage Nockemann. »Ihr wißt, daß sie ein hohes Überlebenspotential haben.« »Angesichts dieser riesigen Mengen Roxharen nützt das größte Potential nicht viel«, murmelte Lyta bekümmert. »Sanny, Atlan …« Der HORT beschrieb langsame Kreise über der Schlucht, die ein Drittel des Berghangs in zwei Teile zerschnitt. Die Masse der Krymoraner und Roxharen flutete von mehreren Seiten über die steil abfallenden Flächen in den Talkessel hinunter und wurde in ihren Bewegungen langsamer. Die Krymoraner bekämpften die Roxharen nicht mehr. »Sie sind ebenso ratlos wie wir«, sagte Oggar. »Ich brauche, denke ich, einen Rat.« »Noch eine Weile lang versuchen, Atlan mit Richtfunk zu finden, dann wieder in einen sicheren Orbit gehen«, schlug Insider vor. »Und Hidden-X?« »Er sieht ohnehin alles, was wir unternehmen. Aber die Gefahren scheinen mir in Bodennähe größer zu sein«, meinte Lyta Kunduran.
»Bjo! Spürst du denn nichts von Sanny und Atlan und den anderen?« Bjo schüttelte niedergeschlagen den Kopf und begann, die Verschlüsse seines Anzugs zu öffnen. »Nein. Ich würde uns alle erbarmungslos nach unten jagen, wenn ich auch nur die geringsten Beobachtungen gemacht hätte.« Sämtliche Ortungsinstrumente, Kameras und Scanner richteten sich auf das fragliche Gebiet. Der präzise ausgerichtete Sender schrie seine Rufe mit voller Energie nach unten. Niemand antwortete. Es gab nicht einmal statische Impulse, die bewiesen, daß dort unten die Funkgeräte eingeschaltet waren. Oggar brachte den HORT nach einer Stunde Suche und unzähligen Beobachtungen aus dem Suchkreis schräg nach oben und schlug einen Orbit in dreihundert Kilometern Höhe ein. »Wir kommen alle vier Stunden, zugleich mit der Helligkeit, an den fraglichen Stellen vorbei«, sagte der Androide. »Hoffentlich haben wir Glück«, meinte Bjo, aber er sagte dies nur, um die anderen ein wenig optimistischer zu stimmen. Fünf Mitglieder des Teams waren verschwunden – vier Freunde und ein Roboter.
* Hidden-X: Mein Spielzug hat zu einem Erfolg geführt, den ich so und nicht anders haben wollte. Ich habe einen Angehörigen der frechen Eindringlinge in die Gefangenschaft der Felsenbeißer gebracht. Sie gehorchen meinen Befehlen und taten, was ich ihnen aufgetragen habe. Ich weiß, daß der Solaner infiziert ist. An mir liegt es, wann die Seuche ausgelöst werden wird. Ich gebe die Befehle und die Signale.
Trotzdem haben sie sich wacker geschlagen, die winzigen Geschöpfe mit ihren unscheinbaren Möglichkeiten. Sie zogen sich taktisch geschickt zurück und warten jetzt. So wie ich. Ich habe alle Zeit des Universums … meines Universums. Die Roxharen, jene felligen Kreaturen am entfernten Ende ihrer Lebenslinien, haben große Verluste hinnehmen müssen. In ihrer Begeisterung, für mich zu jagen, zu verfolgen und zu töten, haben sie es nicht einmal gemerkt. Viele von ihnen werden die nächsten Helligkeitsperioden nicht mehr erleben. So war es geplant. Die Steinschürfer werden sich wieder zurückziehen und ihr Leben in der Dunkelheit weiterführen. Kann sein, daß ich sie brauche, um auch den Rest der Fremden auszurotten. Aber bald brauche ich wieder die kleinen mit den geschickten Fingern und dem Baumeisterverstand. Im Augenblick ist die Situation statisch: ich warte auf den nächsten Zug, den die Winzlinge machen. Es wird eine immer spannendere Auseinandersetzung. Aber ich werde siegen, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Denn ich, der mit den vielen Namen, bin der Herrscher.
* Die grelle, heiße Kugel, die in Ermangelung eines anderen Begriffs auch hier »Sonne« genannt wurde, obwohl jeder wußte, daß es sich nicht um einen fernen Stern handelte, bewegte sich immer schneller auf den Augenblick der nächtlichen Dämmerung zu. Neemie, beide Hände voller Beeren, wandte sich halb herum und sagte mit heiserer Stimme zu ihrem Freund: »Die Strahlung hat aufgehört.« »Vielleicht auch deshalb, weil es bald wieder dunkel sein wird«,
lautete die unsichere Antwort. Die Molaaten dieses Lagers hatten sich beruhigt. In ihren Köpfen tobte nicht mehr dieses schmerzende, zwingende Brausen, das sie dazu verleiten sollte, unglaubliche Dinge zu tun. »Nein. Deswegen, weil der Feind von Sanny und Oserfan sein Ziel erreicht hat.« »Das darfst du nicht sagen, Starv.« »Und wenn es die bittere Wahrheit ist?« »Ich glaube es einfach nicht.« Starv aß ein paar Beeren und reichte Neemie den hohlen Kürbis, der voller frischem Quellwasser war. Sie trank und deutete dann in die Richtung des verlassenen Roxharen-Lagers. »Unsere Leute sagen, daß es dort keinen Roxharen mehr gibt. Sie sind alle weggerannt. Keiner ist zurückgekommen.« In kurzer Zeit würden sie sich wieder in den fragwürdigen Schutz der Hütten und zeltähnlichen Konstruktionen schleichen und versuchen, die kurze Zeit zu schlafen. Der Lärm und die Aufregung hatte alle Jagdtiere für die nächsten Perioden verscheucht. Nur ein paar Vögel waren zurückgekommen und hatten ihre Nester aufgesucht. Einige Gruppen von Molaaten, die sich nach anfänglicher Unsicherheit in das Lager hinter dem Hügel hineingewagt hatten, sagten übereinstimmend aus, daß die Roxharen die zusammengebrochenen Hütten mit allen ihren Waffen verlassen hatten. Nur faulende Essensreste und kaputte Geräte waren zurückgeblieben. Ein breiter Pfad der Zerstörung lief vom Lager quer durch die Siedlung der Molaaten und auf die Berge und Bergwälder zu. »Vielleicht kommen sie dennoch zurück.« »Nachdem sie von den anderen umgebracht worden sind? Das glaubst du selbst nicht, Starv.« Ratlosigkeit herrschte unter den Molaaten. Immer wieder hatten sie über die Ereignisse gesprochen. Sie wußten nicht, was sie davon
zu halten hatten. Der geistige Druck hatte aufgehört, aber sie hatten keine Informationen. Sie wußten nur, daß zwischen Krymoranern und Roxharen gekämpft und getötet wurde, und daß zumindest die Roxharen die Freunde Sannys und Oserfan verfolgten und töten wollten. Traurig sagte Neemie, während sie einige Äste abriß und ein Loch im Dach ihrer winzigen Hütte flickte: »Sanny hatte versprochen, uns hier wegzuholen. Uns alle. Wie soll sie das schaffen?« »Ich weiß es nicht.« »Und auch wann es passiert, hat sie nicht zu erkennen gegeben.« »Sie wird es selbst nicht wissen.« Neemie schloß voll inneren Schmerzes ihre Augen und flüsterte, während sie sich an Starv lehnte: »Niemand weiß etwas. Nur dann, wenn wir den BEFEHL hören, müssen wir ihm folgen. Wohin?« »Ich weiß es auch nicht.« Die Dunkelheit fiel über das Land. Die Vögel schwiegen, und wieder breiteten sich dünne Nebelschleier aus, die in der Finsternis so gut wie unsichtbar waren. Aber einige Zeit später kamen aus der Richtung der Quelle und der Schlucht einzelne Lichter durch die Düsternis. Neemie wurde wach und setzte sich auf ihrem Lager aus Blättern und weichen Nadeln auf. Sie spähte durch die Öffnung der Hütte hinaus. Die Roxharen kamen zurück. Die riesigen Gestalten gingen gebückt und langsam. Viele von ihnen hinkten und stützten sich auf die Schultern der Nebenmänner. Einige von ihnen trugen schwelende Fackeln. Neemie sah in den zerfetzten Fellen Flecken geronnenen Blutes. Die schlanken Beine der Roxharen waren voller verkrustetem Lehm. Im Lager hatten einige hundert ihr Dasein gefristet. Im düsteren roten Licht unter den stinkenden Rauchwolken versuchte die junge Molaatin die zurückkehrenden Roxharen zu
zählen. Mehr als hundertfünfzig konnten es nicht sein, die hier in einer langen, schweigenden Prozession vorbeikamen. Einige stöhnten, andere stolperten und blieben tot liegen, mitten auf dem Pfad. Nicht ein einziger Krymoraner war zu sehen. Die Roxharen hatten alle ihre Waffen verloren oder während der Kämpfe zerbrochen. Sie trugen nicht einmal Wasser in hohlen, getrockneten Kürbissen bei sich, keine Beutetiere und keine Früchte. Sie schienen sich in einer anderen Form von Wahnsinnsstrahlung zu befinden, denn keiner von ihnen sprach in jener unverständlichen, tiefen Zwitschersprache. Gruppenweise tappten und schwankten sie vorbei, die kleinen Augen fest auf die roten Glutkerne der Fackeln gerichtet, bis auch der letzte dieses traurigen Zuges an der entsetzten Molaatin vorbei war. Hinter ihnen hing ein stechender Geruch in der unbeweglichen Luft der Nacht. Neemie schauderte und verkroch sich wieder an der Seite Starvs in ihrem raschelnden Lager. Hunderte anderer Molaaten hatten diesen traurigen Zug ebenso wie sie gesehen und fanden, wie sie, keinen Schlaf mehr, bis wieder die Helligkeit herankam und einen weiteren der unzähligen kurzen Tage einleitete.
* Inzwischen hatte der Translator die wichtigsten Ausdrücke und fast alle grammatikalischen Regeln der Sprache gespeichert und wandte sie in beiden Richtungen an. Cryss'Narm stellte abermals eine Frage. »Gibt es in deiner Welt ebenso wie hier verschiedene Gruppen von Fremden, die urplötzlich da waren und niemals wieder weggehen?« »Nein«, sagte Oserfan. »Dort, woher ich komme, kennen wir zwar andere Sternenvölker, aber niemand manipuliert sie so wie hier.«
»Sage uns, was wir von den Roxharen – wie du sie nennst – lernen können.« »Nun«, begann Oserfan, »das ist einigermaßen schwierig zu beantworten.« »Warum?« »Weil auch ich die Roxharen kaum kenne. Sie sind geschickte Handwerker. Aber diejenigen, die hier hausen, sind nur noch die Schatten ihrer selbst. Sie sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Eine innere Stimme scheint ihnen bisher die Befehle gegeben zu haben. Jetzt schweigt die Stimme, und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Beantworte du mir jetzt eine Frage.« »Wenn ich es kann?« Oserfan wußte nicht mehr, wie lange er sich bereits hier befand. Es konnten Tage nach der SOL-Rechnung sein. Er wurde sehr gut behandelt. Man brachte ihm Essen, von dem er das meiste ohne Schwierigkeiten essen konnte. Zusammen mit Teilen seiner Rationen schmeckte es sogar recht annehmbar. Frisches Wasser war immer vorhanden. Der Raum, in dem er sich befand, wurde saubergehalten. Für ihn gab es sogar eine Liege, die mit hellen Fellen bedeckt war und aus geflochtenen Pflanzenfasern bestand. Sie ließen ihn schlafen, wann immer er erklärte, er sei müde. »Du kannst es, denke ich.« »Frage.« »Ich habe bemerkt, daß vor kurzer Zeit viele Krymoraner aus der Tiefe der Stadt gekommen sind.« »Das ist richtig. Jäger.« »Sie machten den Eindruck, als würden auch sie von einer inneren Stimme geleitet werden.« Cryss zögerte, dann lachte Oserfan kurz auf und fügte hinzu: »So genau kenne ich euch inzwischen. Warum hatten sie es so eilig?« Sie waren in der Zelle allein. Aber vom Vorraum dieses Raumes aus hatte Oserfan die zahlreichen Gruppen von kräftigen
Krymoranern gesehen, die nach oben über die Rampen gelaufen waren. Sie alle waren, was er als »schwerbewaffnet« bezeichnen würde. »Ein Befehl rief sie nach oben.« »Welcher Befehl?« »Ein Drang, dem keiner von uns widerstehen kann. Deshalb frage ich dich so intensiv. Wir wollen von euch lernen, wie wir diesen unhörbaren Befehlen widerstehen können.« »Auch das ist höllisch schwierig«, erklärte Oserfan. Cryss'Narm und seine Rebellen kannten inzwischen eine Kurzfassung der SOL-Odyssee und waren darüber unterrichtet worden, wie es sich mit Sonnen, Planeten, Raumschiffen und interstellaren Entfernungen verhielt. Es hatte keine große Mühe bereitet, ihnen klarzumachen, daß es ganz andere Weltmodelle gab. Weitaus schwieriger hatte sich der Versuch gestaltet, den Rebellen zu erklären, was Hidden-X war, und aus welchem Grund es ausgerechnet die SOL und die Solaner mit seinem Haß und seiner Vernichtungswut verfolgte, und warum es nichts anderes als Sklavenvölker beschäftigte. Da Oserfan es selbst nicht genau wußte, halfen auch seine Analogien nicht viel. Schließlich hatte er sich in die Mythenwelt der Legenden geflüchtet, und von da an schien Cryss'Narm zu verstehen. Oder er tat wenigstens so. »Versuche es trotzdem«, bat Cryss. Oserfan wurde von den Vorstellungen und den Gedanken gemartert, was Oggar, Atlan und die anderen denken und, vor allem, was sie tun würden. Natürlich hatten sie schon längst bemerkt, daß er verschwunden war. Daß ihn die Krymoraner gekidnappt hatten, lag für die Frauen und Männer im HORT deshalb nahe, weil sie sonst seine Funksignale hätten anmessen können, und selbst ein defektes Funkgerät würden Insider und Oggar orten können. Also befand er sich weit unter dem Planetenboden, irgendwo tief in einer Stadt.
Flogen sie weg und ließen ihn zurück? Oder suchten sie wie die Wahnsinnigen und gerieten immer mehr in den Einflußbereich von Hidden-X? Der Translator gab einen undeutlichen Laut von sich, als Oserfan kurz hustete, dann übersetzte das Gerät: »Ihr werdet nur dann diesen Befehlen widerstehen können, wenn ein ganz bestimmtes geistiges Training stattgefunden hat. Es ist eine uralte Technik, die von Fachleuten angewendet wird. Maschinen unterstützen diese Prozedur. Wir alle …« »Kannst du der inneren Stimme und ihren Befehlen widerstehen?« »Ja.« »Man hat also das, wovon du sprichst, bei dir angewendet.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja.« »Dann wirst du uns helfen, diese Technik zu erlernen. Wir wollen, daß unser Volk selbständig wird und das tut, was es selbst will.« Oserfan machte eine Geste, die Cryss bereits kannte. »Das ist vollkommen unmöglich. Es ist leichter, denke ich, diesen unsichtbaren Befehlsgeber zu vernichten, als euch diese Fähigkeit anzutrainieren. Du mußt mir das glauben – außerdem würde es Tausende von Helligkeitswechseln dauern. Mindestens.« Cryss senkte seinen runden Schädel und scharrte ungeduldig kleine Rillen in den Stein. Ein anderer Krymoraner kam herein, starrte Oserfan mißtrauisch an und sagte dann leise mit einem derart merkwürdigen Unterton, daß sogar der Translator die Unterschiede auffing und wiedergab: »An der Oberfläche der Außenwelt herrschen Kampf und Verwirrung. Seine Freunde haben Hunderte oder noch viel mehr getötet. Sie liegen da und bewegen sich nicht, aber nur wenige verströmen ihren Lebenssaft.« Oserfan hob die Hand und sagte schroff: »Meine Freunde töten nicht ohne Not.« »Was dann?«
»Sie wehren sich nur, wenn sie angegriffen werden. Sage mir genau, was dort vorgefallen ist.« Cryss stimmte zu. Oserfan erhielt eine Schilderung der Vorgänge in den letzten Zeitspannen der Dunkelheit bis jetzt (also herrschte oben im Augenblick die künstliche Helligkeit). Schweigend und mit steigendem Entsetzen hörte er, daß an der Oberfläche der Wahnsinn herrschte, und daß tausende Roxharen seine Freunde jagten, und daß sich an der Jagd auch Krymoraner beteiligten. Als der Bote geendet hatte, sagte Cryss voller Ernst: »Wir sind abhängig, du hast es gehört. Du bist hier, um uns zu lehren, wie wir frei werden können.« »Das kann ich nicht«, stöhnte Oserfan und war sich seiner schwachen Kräfte bewußt. »Du mußt es versuchen. Erst eine kleine Gruppe. Erst uns, die Rebellen, wie du uns nennst.« Der Molaate schüttelte sich und hob beide Arme hoch. Er brauchte nur wenig Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie es an der Oberfläche aussah. Schaudernd dachte er an Hidden-X und dessen erbarmungsloses Handeln. Auch wenn die Krymoraner selbständig wurden, würden sie nicht helfen können, dieses versteckte Wesen zu entthronen. Es war hoffnungslos. Er blickte verzweifelt die beiden Jäger an, die in voller Ausrüstung vor ihm standen und von den lautlosen Befehlen des Gegners nicht ergriffen worden waren wie viele der anderen. »Ich kann euch zeigen, wie man Waffen baut. Ich zeige euch, wie man Gleiter baut, vielleicht. Aber ich verfüge nicht über die Fähigkeiten, euren Geist immun zu machen. Ich würde es gern tun«, sagte er drängend. »Aber ich kann nicht.« Cryss schwieg. Nach einer Weile erwiderte er schroff: »Ich sehe, daß du dir alle Mühe gibst. Viele Fragen sind beantwortet. Alles ist notiert. Du wirst jetzt eine Weile lang Ruhe haben – wir haben andere Aufgaben.«
Übergangslos ließ er Oserfan allein. Hinter dem Anführer der Rebellen schlossen sich die schweren Felsquadern. Oserfan war nicht in der Lage, sie zu öffnen, und man hatte ihm alles abgenommen, was sich als Waffe verwenden ließ. Er seufzte tief, streckte sich auf dem kargen Lager aus und dachte an seine Freunde im HORT und an die Molaaten auf Krymoran. Am Ort der Gebrochenen Steine kehrte endlich wieder Ruhe ein. Harre'Arft hatte Hunderte und aber Hunderte seiner Artgenossen gesehen, die in rasender Eile, schwer bewaffnet und völlig blind für die mahnenden Worte seiner letzten Schriftreihen an ihm vorbeigehastet waren. Es kam selten vor, aber ein kollektiver Drang hatte sie alle gepackt. Und sie gehorchten. Wenn sie wieder von der Oberfläche zurückkamen, würden sie seine Worte lesen.
* Harre brauchte nicht lange zu überlegen. Er biß einen Fyll-Stengel zurecht und schrieb: »Während dieser Dunkelperiode erreichte viele von uns ein Ruf, wie er nur selten ertönt. Es ist eine Anordnung, die lautlos gegeben wird und nur in den Köpfen und im Verstand zu hören ist. Ich habe allein aus Kyrm'Shartt vierhundert meiner Artgenossen gezählt, die an die Außenwelt hasteten. Ich selbst brauchte dem Ruf nicht zu gehorchen; ich hörte keinen Befehl. Dennoch ging ich an die Oberfläche, um zu sehen und zu berichten. Zum erstenmal während der Dauer meiner Existenz sah ich das Chaos.« Harre'Arft dachte nur noch mit Ekel und Abscheu daran, was seine Augen in den Farben der Dunkelheit gesehen hatten. Jene großen, dürren Fellträger hatten zu rasen angefangen. Die kleinen, deren Zahl mehrere zehntausend betrug, waren entsetzt geflüchtet.
Die Ausgänge der unterplanetarischen Städte öffneten sich, und Scharen von Jägern sprangen hinaus in den Finsternisnebel. Sie rasten ebenso wie die spitzgesichtigen Wesen. Donnerrohre krachten unaufhörlich. Ungewohnt grelles Licht, das flammenlos leuchtete, ging von seltsamen, vielgestalteten Fremden aus, die vor dem Ansturm der beiden Gruppen flüchteten. »Wir haben Besuch aus einer anderen Welt bekommen«, schrieb Harre nachdenklich an den Fels. »Ein Ereignis, das zum drittenmal in unserer gelebten Geschichte eingetreten ist. Fremde, die jenen anderen nicht ähneln. Ich habe einen riesigen schwebenden Gegenstand gesehen, groß wie ein Hügel und in Licht eingehüllt. Aus diesem schwebenden Ding, das sich bewegte, kamen zweibeinige Wesen und suchten etwas auf dem Boden der Oberflächenwelt. Unsere Jäger aber schossen auf die Fremden und vertrieben sie, anstatt sie zu fragen, woher sie kommen.« Harre'Arft sah zu, wie sich die Schrift veränderte. Alle seine Gedanken und Empfindungen waren aufgewühlt. Er spürte, ohne es noch in Worte kleiden zu können, daß sein Volk möglicherweise an einem Schnittpunkt der Geschichte angelangt war. »Meine Freunde, die Nachtjäger, werden zurückkommen«, schrieb er weiter und versuchte, sich möglichst deutlich auszudrücken. »Dann werden sie lesen, was geschehen ist. Sie werden feststellen, daß sie blind und ohne eigene Gedanken gehandelt haben. Werden sie sich schämen? Auf jeden Fall werden sie merken, daß sie sich in der Macht eines fremden Wesens befanden. Und, das hoffe ich, sie werden versuchen, dieser Macht das nächstemal, wenn sich die Frage stellt, nicht mehr zu gehorchen. Die Frage: warum ist die Antwort auf das Erscheinen von Fremden, Weitgereisten nur tödlicher Kampf? Warum lernen sie nicht von uns, wie man Stein bearbeitet, um Kunstwerke zu schaffen?
Warum lernen wir nicht von ihnen, wie sie es schaffen, von der Außenwelt eines Planeten zu einem anderen zu kommen? Denn wir mit unseren Dunkelheitsaugen könnten ihnen dabei helfen …« Unter sich bemerkte Harre'Arft Bewegungen. Er hörte zu schreiben auf und sah im Licht der strahlenden Felswände, wie die geheimen Eingänge aufglitten und eine Prozession von Artgenossen zeigten. Schweigend und erschrocken, halb gelähmt vor Schrecken, betrachtete Harre die Jäger, die sich in die Stadt zurückschleppten. Sie hatten viel von ihrer wertvollen Ausrüstung verloren. Ihre Felle waren schweißnaß, schmutzig und aufgeschürft. Tiefe Wunden, deren Umgebung dunkel getrocknet war, zeigten sich in den Körpern und Gliedmaßen. Einige Felle ließen schwere Brandwunden erkennen. Schweigend tappten die Freunde die Rampe hinunter. Ihre Gesichter waren vor Erschöpfung und innerer Qual gezeichnet. Nach den ersten Jägern kamen die Verwundeten. Sie wurden von ihren Freunden gestützt oder auf den Schultern geschleppt. Spuren aus tropfendem Körpersaft zeichneten sich auf dem Boden der Rampe ab. Ein scheußlicher Geruch, zusammengesetzt aus Schweiß, erkaltetem Rauch, scharfen Ausdünstungen und verschiedenen Außenwelt-Gerüchen, zog in Harres Nüstern. Er fühlte, daß ihm schlecht zu werden begann. Vier Jäger blieben stehen und setzten ihre Last ab. Ein toter Jäger. Sie hatten ihn auf den Läufen geschwärzter, verbogener Feuerrohre getragen und blieben stehen. Hinter den Trägern erkannte Harre noch mehr bewegungslose Körper, also noch mehr getötete Artgenossen. Die Blicke eines Jägers richteten sich auf die Schriftwand. Er sah Harre mit dem tropfenden Fyll-Stengel in den Klauen. Sein Nachbar wurde aufmerksam und hob ebenso den Kopf. Müde starrten sie auf die Schrift und lasen die letzten Worte der Botschaft.
Die ersten Jäger gingen erschöpft weiter. Aus den höher gelegenen Bezirken der Stadt kamen undeutliche, aufgeregte Geräusche. Der schweigende Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die erschöpften, die hinkenden und blutenden Jäger blieben immer wieder stehen und versuchten zu lesen, was Harre geschrieben hatte. Wieder brachten die Gruppen tote Jäger herein, deren Körper bereits erstarrt waren. Harre rief zu ihnen hinunter: »Seid ihr noch immer im Bann des verdammten Befehls? Seht, was ihr angerichtet habt!« Einer der Jäger entgegnete mit einer Stimme, aus der Erschöpfung und tiefe Niedergeschlagenheit klangen. »Wir spüren ihn nicht mehr, den Befehl. Alles ist vorbei. Es war furchtbar. Viele sind gestorben.« »Ihr habt die Fremden, von denen wir lernen können, auch getötet?« »Nein.« »Sondern …?« »Sie sind entkommen. Der Fels öffnete sich, und sie sind verschwunden. Draußen liegen Hunderte von Spitzgesichtigen. Auch sie sind tot.« »Und warum erfolgte diese Jagd?« fragte Harre laut und anklägerisch. Er bekam keine Antwort. Der Elendszug schlich lautlos an ihm vorbei und verlor sich in den unteren Bezirken der Siedlung. Einer der letzten Jäger schloß den verborgenen Eingang zum Ort der Gebrochenen Steine. Harre'Arft blieb allein zurück. Er wußte nicht, was er schreiben sollte. Er war völlig ratlos. Aber ganz tief in seinen Gedanken zeigte sich ein schwacher Funken Hoffnung. Als ob nach einer Dunkelperiode endlich sich die erste Helligkeit zeigte. Er ließ den Fyll-Stengel fallen und verließ seinen Platz. Die Klugen würden ihm sagen, was das alles zu bedeuten hatte.
ENDE
Für Atlan und sein Team hatte Krymoran eine ganze Reihe von Gefahren parat, obwohl es zuerst gar nicht danach aussah. Nun aber, nach wilder Flucht vor den Sklaven des Hidden-X und fast ganz auf sich allein gestellt, entdeckt Atlan das Tor zum Flekto-Yn. Dieses Tor ist DER DIMENSIONSTRANSMITTER … DER DIMENSIONSTRANSMITTER – das ist auch der Titel des nächsten Atlan-Bandes. Der Roman wurde von H. G. Francis geschrieben.