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Kurzbeschreibung: Justus sitzt in der Falle! Orientierungslos und ohne Erinnerung erwacht er in einer dunklen, kalten, verschlossenen Kammer. Wurde der Erste Detektiv™ entführt und in ein geheimes Versteck gebracht? Und wer ist der junge Mann, der mit ihm zusammen eingeschlossen ist? Kann er sich tatsächlich auch an nichts erinnern? Oder weiß er mehr, als er Justus verraten will? ®
Die drei??? werden in einen höchst mysteriösen Fall verwickelt, in dem sie scharf kombinieren müssen, um dem Gegner auf die Spur zu kommen. Und dieser schreckt vor nichts zurück …
Die drei ???® Spur ins Nichts erzählt von André Marx
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin Umschlaggestaltung von Aiga Rasch, Leinfelden-Echterdingen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieses Buch folgt den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung.
© 2005, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart Based on characters by Robert Arthur. This work published by arrangement with Random House, Inc. Alle Rechte vorbehalten. ISBN 3-440-10209-2 Redaktion: Silke Arnold / Martina Zierold Produktion: DOPPELPUNKT Auch & Grätzbach GbR, Leonberg Printed in the Czech Republic / Imprimé en République tchèque
Erwachen
7
Hilferufe
14
Rohrpost
20
Kontakt
26
Unter Beobachtung
34
Spur ins Nichts
42
Die Verrückte
50
Kimberly Lloyd
57
Verschollene Vergangenheit
72
Lasoma
78
Der direkte Weg
84
Freier Fall
91
Thorndikes Projekt
99
Manipulation
105
Der Verräter
112
Im falschen Film
117
Das Geheimnis der Axt
124
Zurück auf Anfang
133
Crash
140
Erwachen Es war dunkel. Es war kalt. Etwas schmerzte. Die Knochen? Der Kopf? Irgendetwas. Justus Jonas erwachte so langsam wie noch nie zuvor in seinem Leben. Minute um Minute dämmerte er dem Bewusstsein entgegen, tastete sich an seinen eigenen Körper heran, als gehörte er nicht zu ihm, und schüttelte mühsam die verschwommenen Traumbilder ab. Traumbilder … Da war eine Lagerhalle. Ein Scheinwerfer. Eine braune Insel in einem weißen Meer. Ein junger Mann mit hellblondem Haar. Eine wichtige Nachricht auf einem Notizzettel. Ein Versteck … Doch mit jeder Sekunde verblasste die Erinnerung mehr. Und als Justus endlich die Augen öffnete, hatte er den Traum so gut wie vergessen. Es war immer noch dunkel. Wie spät mochte es sein? Ein Blick auf den Wecker … Es gab keinen Wecker. Keinen Nachttisch, auf dem er hätte stehen können. Es gab nicht einmal ein Bett. Justus lag auf glattem, hartem Boden. Deshalb tat ihm alles weh. Deshalb fror er so. Er richtete sich auf. Er sah nicht einmal die Hand vor Augen. Wo war er? Es dauerte eine Weile, doch dann löste diese Frage einen schieren Adrenalinschub aus, der Justus vollends aus dem Schlaf katapultierte. Dies war nicht sein Zimmer! Licht! Er brauchte Licht! Justus stemmte sich hoch und kam langsam auf die wackligen Füße. Er ertastete eine kalte, gekachelte Wand. Vorsichtig bewegte sich Justus einen Schritt nach vorn. Dann weiter, die Wand immer an seiner Seite. Hier 7
musste es doch irgendwo eine Tür geben! Oder wenigstens einen Lichtschalter! Die Angst griff nach Justus wie eine eisige Hand. Etwas lief hier völlig verkehrt. Die Wirklichkeit war aus den Fugen geraten. Und er hatte keine Ahnung wieso. Ihm brach der Schweiß aus. Er brauchte jetzt endlich Licht! Da! Seine Finger ertasteten etwas Quadratisches. Er drückte darauf. Es blitzte. Es blitzte noch einmal. Und dann flackerte mit einem elektrischen Summen grelles, kaltes Neonlicht auf. Es blendete Justus so sehr, dass er die Hand vor die Augen legte. Vorsichtig wagte er einen zweiten Blick. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Doch das, was er sah, beruhigte ihn kein bisschen. Im Gegenteil. Der Raum sah aus wie ein ehemaliger Operationssaal. Er war fensterlos und bis zur Decke weiß gefliest. Die Kacheln waren schmutzig, da und dort zeichneten sich dunkle Umrisse von Dingen ab, die einmal hier gestanden oder gehangen hatten. Unter der Decke waren zwei Neonröhren befestigt, an einer Wand gab es eine graue Stahltür. Ansonsten war der Raum leer. Leer bis auf ein dunkles Knäuel auf dem Boden in der Ecke. Justus zuckte zusammen. Dort lag jemand! Und dieser Jemand wachte gerade auf. Justus eilte zu ihm, einem jungen Mann Anfang zwanzig, mit strubbeligem schwarzem Haar und ebenso schwarzen Augen. Er blinzelte verwirrt gegen das Neonlicht. Als er Justus bemerkte, schreckte er auf. »Hallo«, sagte Justus schnell. »Erschrick nicht. Ich … äh … bin ganz harmlos.« 8
Es dauerte einen Moment, bis der junge Mann zu sich kam und sich aufrichtete. Er drückte sich in die Ecke und nahm eine abwehrende Körperhaltung ein. »Wer bist du?«, fragte er mit rauer Stimme. »Mein Name ist Justus Jonas. Ich bin selbst gerade erst aufgewacht und habe nur das Licht angemacht.« Der Mann sah Justus an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Justus konnte es ihm nicht verdenken. Er war sich in Bezug auf seinen Geisteszustand selbst nicht ganz sicher. »Wir verlassen diesen unangenehmen Ort besser erst mal«, schlug er vor, um irgendetwas Konstruktives zu sagen. Der Mann zeigte keine Reaktion. Justus ging zur Tür und drückte die Klinke. Verschlossen. »Tja, das … läuft weniger optimal als erhofft.« »Was bist du für ein Spinner?«, fragte der Fremde drohend. »Ich bin kein Spinner. Wie ich schon sagte, mein Name ist Justus Jonas, und –« »Hast du uns hier eingesperrt?« »Eingesperrt? Nein! Ich … ich habe keine Ahnung, wer …« »Wo sind wir hier?« »Ich weiß es nicht.« »Ich warne dich, du Freak!«, drohte sein Gegenüber. »Erzähl mir keinen Mist! Wie bist du hierher gekommen?« »Ich …«, begann Justus und schluckte schwer. »Ich weiß es nicht. Und das ist leider kein Mist, sondern die Wahrheit. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich hierher gekommen bin oder wo wir sind. Ich kann mich an nichts erinnern.«
9
Der Schnee war blendend hell und hüllte die Berge in traumhaftes Weiß. Der Wind war eisig und fegte die Wärme aus seinem Körper. Peter sah an sich herab. Er trug abgeschnittene Jeans und ein dünnes T-Shirt. Kein Wunder, dass er fror. Was hatte er sich nur dabei gedacht, in diesen Klamotten in den Skiurlaub zu fahren? Seine Freundin Kelly, die neben ihm stand, lachte ihn aus. Warum auch nicht? Sie hatte schließlich an alles gedacht und stand in einem mollig warm aussehenden rosa Skianzug vor ihm, die Augen durch eine dunkle Skibrille vor der Helligkeit geschützt. Sie biss herzhaft in irgendetwas, das intensiv nach Fisch roch. Ein Fisch-Burger? Plötzlich packte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Was sollte das denn? Glaubte sie etwa, dadurch würde ihm warm werden? »He!«, rief Kelly und schüttelte ihn weiter. »He du! He! Heeee!« »Was soll denn das?«, protestierte Peter. »Was tust du denn da?« Das Schütteln wurde immer heftiger. »Nun wach schon auf!« Aufwachen? Was meinte sie denn bloß mit Aufwachen? Er stand doch hellwach vor ihr! Oder etwa nicht? Oder war es vielleicht möglich, dass er träumte? Dass das der Grund war, warum er ausgerechnet in Shorts mitten im Schnee … »He!« Peter wachte auf. »Schon gut, schon gut!«, murmelte er. »Ich bin wach.« Er öffnete die Augen. Es war immer noch gleißend hell um ihn herum. Und auch die Kälte war nicht verschwunden. Also doch kein Traum? Er sah an sich herunter. Abgeschnittene Jeans und ein dünnes T-Shirt. Zumindest dieser Teil des Traums war real. Peter wandte den 10
Kopf. Da war tatsächlich ein Mädchen, das neben ihm hockte und ihn wachgerüttelt hatte. Aber es war nicht Kelly. Das Mädchen hatte braune, wilde Locken und Sommersprossen und trug Jeans und ein weißes Kapuzenshirt. Peter hatte sie noch nie gesehen. »Was … was ist passiert?« »Wenn ich das wüsste. Endlich bist du wach! Ich dachte schon, du liegst im Koma oder so!« »Koma? Ich …« Peter brach ab. Verdammt, er war überhaupt nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte also geträumt, okay. Trotzdem war es weiß um ihn herum und es war kalt. Und es roch immer noch nach Fisch, obwohl weit und breit kein Fisch-Burger zu sehen war. Und da war ein fremdes Mädchen, das sich über ihn beugte. Weiß? Koma? Mädchen? Vielleicht war er in einem Krankenhaus. Aber wieso stank es hier dann so erbärmlich? »Hatte ich einen Unfall?« »Was? Nein. Das heißt, ich weiß nicht.« Das Mädchen war sichtlich nervös. »Ich weiß ja nicht mal, wer du bist.« »Peter«, sagte Peter. »Peter Shaw. Wo bin ich?« »Das … das weißt du nicht?« Sie sah ihn aus großen braunen Augen an. Dann rutschte sie ein Stück zur Seite, um den Blick auf den Raum freizugeben. Peter richtete sich irritiert auf. Was er sah, erinnerte ihn an einen Operationssaal im Krankenhaus. Allerdings war es nicht besonders sauber. Und die Einrichtung bestand lediglich aus einigen Neonröhren unter der Decke, die das blendend helle Licht erzeugten. Es gab eine Tür. Keine Fenster. »Erkennst du es wieder?«, fragte das Mädchen hoffnungsvoll. »Wiedererkennen? Nein. Ich war noch nie hier. Wie bin ich hierher gekommen?« 11
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ich – weiß – es – nicht. Ich bin vor einer Viertelstunde hier aufgewacht und habe nicht den geringsten Schimmer, wo wir sind. Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen!« »Ich? Wieso …« Peter brach ab. Er versuchte sich zu erinnern. Wieso war er hier? Wie war er hierher gekommen? Doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Was vor seinem Schlaf gewesen war … war weg. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was für ein Tag heute war. Peter warf einen Blick auf seine Digitaluhr. Samstag, der vierte Oktober. Drei Uhr zwölf am Nachmittag. Okay, ganz langsam jetzt. Er fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht geschlafen. Was war dann also gestern gewesen? Gestern, am Freitag? Was hatte er da getan? Wo war er gewesen? Mit wem? Warum? »Hallo!«, rief das Mädchen halb verärgert, halb ängstlich und wedelte ihm mit der Hand vor dem Gesicht herum. »Bist du noch da? Geht’s dir gut?« Wieder eine Frage, die Peter kaum beantworten konnte. Ging es ihm gut? Wie fühlte er sich? Er hatte absolut keine Ahnung. Er fühlte sich irgendwie … gar nicht. Nur seinem Magen ging es nicht besonders gut. Er war leer. Und der intensive Fischgeruch machte ihm zu schaffen. Trotzdem sagte er: »Ja, alles bestens. Glaube ich. Sag mal, wer bist du eigentlich?« »Jolene Sprague.« »Und du bist selbst gerade erst –« »Aufgewacht, ja. Und ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Was … was geht hier vor sich? Sind wir entführt worden? 12
Von wem? Was wollen die von uns? Ich …« Jolene brach ab. Atmete tief durch. Und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Du musst doch irgendetwas wissen!« »Ich weiß aber nichts!«, gab Peter ein wenig schärfer zurück, als er gewollt hatte. »Ich … ich muss erst zu mir kommen, verstehst du? Wach werden. Klar werden im Kopf.« Jolene sah ihn an, als hätte er vorgeschlagen, erst mal eine Runde Karten zu spielen. Sie stand auf und lief händeringend im Raum auf und ab. Schließlich blieb sie an der grauen Tür stehen und trat dagegen. »Mist!« »Die Tür ist wohl –« »Verschlossen, ganz genau«, fiel ihm Jolene erneut ins Wort. »Ich habe vorhin schon hundertmal versucht, sie aufzukriegen.« »Jolene«, begann Peter und stemmte sich mühsam hoch, »ich bin mir nicht sicher, ob ich das gerade alles richtig verstanden habe, aber … kannst du dich an irgendetwas erinnern, was mit diesem Ort zusammenhängt? Oder damit, wie du hierher gekommen bist? Ich habe nämlich offenbar … Probleme mit meinem Gedächtnis.« Jolene blieb stehen und blickte ihn bestürzt an. »Da bist du nicht der Einzige.« »Soll das heißen –« »Dass ich mich ebenfalls nichts erinnere? Genau das heißt es.«
13
Hilferufe Shawn, so hieß der junge Mann, wie Justus inzwischen herausgefunden hatte, hatte sich etwas beruhigt. Noch immer starrte er Justus finster aus seinen kohlschwarzen Augen an, aber immerhin machte er nicht mehr den Eindruck, als wollte er ihm jeden Moment an die Kehle springen. Unruhig liefen beide im Raum auf und ab. Justus war in eine Nachdenklichkeit verfallen, die Shawn nervös zu machen schien. »Was zupfst du denn ständig an deiner Unterlippe?«, fauchte er ihn an. »Das macht mich ganz irre!« »Ich denke nach«, murmelte Justus. »Ach was! Was glaubst du, was ich tue? Ich denke auch nach! Ich denke darüber nach, wie wir hier rauskommen!« »Ich beschäftige mich eher mit der Frage, wie wir hier reingekommen sind. Was sind deine letzten Erinnerungen?« »Erinnerungen? Woran?« »Überhaupt. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?« Shawn blieb für einen Moment stehen. »Ich war in einem neuen Club in L.A. Gestern Abend. Und dann …« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich einen Filmriss.« »Hast du Alkohol getrunken?« »Kann schon sein. Ich weiß nicht. Nicht viel jedenfalls, ich war mit dem Auto dort.« »Also scheint erhöhter Alkoholkonsum nicht der Grund für deine Amnesie zu sein«, stellte Justus fest. »Wie bitte? Sag mal, wie redest du denn?« 14
Justus errötete leicht. »Verzeihung. Ich … rede nun mal so. Ich kann nichts dafür. Shawn, bist du sicher, dass dein Besuch im Club gestern stattgefunden hat?« »Was willst du damit sagen?« »Wenn du dich nicht erinnern kannst, woher weißt du dann, dass es nicht schon länger her ist?« »Was weiß ich, es fühlt sich so an, als wäre es gestern gewesen, okay? Was ist mit dir?«, wollte Shawn nun wissen. »Woran genau erinnerst du dich?« »An nichts Besonderes«, antwortete Justus zögerlich. »An einen ganz normalen Schultag. Ich kam nach Hause, habe etwas gegessen, mich auf dem Schrottplatz herumgetrieben …« »Schrottplatz?« »Meinem Onkel gehört ein Gebrauchtwarenhandel. Der Schrottplatz. Da ich bei meinem Onkel und meiner Tante lebe, verbringe ich den Tag meistens dort. Ich habe jedenfalls für meinen Onkel gearbeitet, zusammen mit meinem Kollegen Peter. Und ab da … beginnt alles zu verschwimmen. Meine Erinnerungen verlieren sich irgendwie im Nichts. Ich kann nicht einmal mehr sagen, was ich am Abend gemacht habe.« Er blickte an sich hinunter. Er trug immer noch die gleiche alte Jeans, das nicht mehr ganz saubere T-Shirt und die Turnschuhe, deren Sohlen schon fast durchgelaufen und an einer Stelle sogar gebrochen waren. Die Schuhe irritierten ihn besonders, ohne dass er sagen konnte warum. »Umgezogen habe ich mich seitdem jedenfalls nicht. Sonderbar. Wirklich höchst sonderbar.« »Sonderbar«, äffte Shawn ihn nach, verdrehte die Augen und setzte seine Wanderung durch den Raum fort. »Hör zu, Shawn: Ich weiß, du bist verwirrt und verunsichert. 15
Mir geht es nicht anders. Aber trotzdem sollten wir uns Mühe geben, zusammenzuarbeiten. Vielleicht können wir rekonstruieren, was passiert ist. Wen hast du zum Beispiel in diesem Club getroffen? Vielleicht bringt uns das weiter.« »Pass auf, Junge: Das Gelaber nervt. Ich will hier einfach nur raus, okay? Dein Interview kannst du auch später führen.« Shawn stapfte zur Tür und trat wütend dagegen, bevor er frustriert mit dem Rücken daran herabrutschte und sich das zerzauste Haar raufte. »Bitte sehr«, sagte Justus beleidigt. »Du kannst ja versuchen, die Tür einzutreten. Ich bin gespannt, wie weit du kommst.« Shawn knurrte etwas Unverständliches, ohne aufzusehen. Justus seufzte. Im Moment hatte es wohl wenig Sinn, auf Shawns Kooperation zu bauen. Er musste also allein einen Plan entwickeln. Die Stahltür war massiv und verschlossen, das Schloss kompliziert. Was gab es noch für Möglichkeiten? Justus ließ seinen Blick wandern. Knapp unter der Decke verlief ein etwa armdickes, rostiges Wasserrohr, das aus der Wand kam und am anderen Ende des Raumes wieder in der Wand verschwand. Vielleicht konnte er eine der Schrauben, mit denen die einzelnen Rohrstücke verbunden waren, als Werkzeug für die Tür benutzen … nein, das würde nicht funktionieren. Die Neonröhren waren fleckig und staubig. Einer der Flecken, der vage die Form einer Axt hatte, erinnerte Justus an etwas. Es war wie ein Traumbild, das für einen Sekundenbruchteil in seiner Erinnerung emporstieg. Eine Insel. Eine braune Insel, die wie eine Axt aussah, in einem weißen Meer … Doch bevor Justus den Gedanken wirklich greifen konnte, 16
wurde er von einem Geräusch abgelenkt. In weiter Ferne erklang ein dumpfes, hallendes Stampfen. »Hörst du das auch?« »Was denn?« »Schhht!« Justus schlich zur Tür und legte sein Ohr an den kalten Stahl. Da war es wieder: Ein gedämpftes Hämmern wie von Straßenbauarbeiten, die fünf Blocks entfernt waren. Nur dass sich ein seltsamer, unterirdischer Hall dazumischte. Das Geräusch kam aus einem Gebäude. Aus diesem Gebäude. Dann hatte er es: »Jemand hämmert gegen eine Tür!« Jolene redete und redete ohne Punkt und Komma. Sie erzählte Peter haarklein von ihrem gestrigen Abend, den sie mit ihrer kleinen Schwester vor dem Fernseher verbracht hatte. Welches Programm sie gesehen hatten. Welche Geschmacksrichtung die Chips gehabt hatten. Wann sie in ihr Zimmer gegangen war. Welches Buch sie noch gelesen hatte. Und wie lange. Dass sie sich noch nicht ausgezogen hatte und vermutlich irgendwann einfach eingeschlafen war. Peter hörte nur mit halbem Ohr zu. Dafür wurde er langsam klarer im Kopf. Er wusste immer noch nicht, wie er hierher gekommen war. Aber immerhin waren das benommene Gefühl und die Übelkeit beinahe verschwunden. Blieb nur noch die Kälte, die ihm nach und nach unter die Haut kroch. »Ich habe irgendeinen Mist geträumt. Ich weiß nicht mehr … über meine Mutter. Ich saß in einem Bus und … Ist ja auch egal. Jedenfalls wachte ich auf. Und war hier. Einfach so. Das … das ist doch verrückt, oder? Bin ich vielleicht 17
schizophren oder wie das heißt? Ist das eine Gummizelle? Oder was sonst? Peter!« »Ich weiß es nicht! Ich bin genauso ratlos wie du!« »Aber es muss doch eine Erklärung geben!« »Gibt es auch.« »Und welche?« »Keine Ahnung. Viel wichtiger ist, dass wir erst mal hier rauskommen. Ich mag diesen Raum nicht.« »Was du nicht sagst.« »Hast du schon irgendwas versucht, während ich geschlafen habe?«, fragte Peter. »Was meinst du?« »Um Hilfe gerufen zum Beispiel.« Jolene schüttelte den Kopf. Sogleich stand Peter auf, ging zur Stahltür und hämmerte mit der Faust drei-, viermal dagegen. Das blecherne Trommeln war in diesem kahlen Raum unangenehm laut. Peter hoffte, dass es hinter der Tür ebenso laut zu hören war. Er lauschte. Nichts. Nach ein paar Sekunden hämmerte er erneut, länger diesmal. Doch wieder gab es von der anderen Seite keine Reaktion. Da hieß es durchhalten. Irgendwann würde ihn auf der anderen Seite schon jemand bemerken. Jolene gesellte sich zu ihm, und gemeinsam hämmerten sie, so laut sie konnten, bis ihre Fäuste taub und gerötet waren. Erschöpft legten sie eine Pause ein. Wenigstens war die Kälte für einen Moment aus Peters Körper verschwunden. »Meinst du, uns hat jemand gehört?« »Wenn jemand in der Nähe ist, bestimmt. Die Frage ist nur: Kann uns derjenige auch helfen?« »Will uns derjenige helfen?«, fügte Jolene hinzu. »Wenn wir wirklich entführt wurden …« Sie schauderte. 18
Ein Pochen. Weit entfernt. »Da war was!«, flüsterte Peter. Das Pochen wiederholte sich. »Jemand antwortet uns!«, rief Jolene so aufgeregt, dass ihre Stimme kippte. Sofort stürzte sie zurück zur Tür und brüllte: »Hilfe! Hiiilfeee!« Sie begann wieder zu hämmern, diesmal allerdings mit einer Inbrunst, die Peter richtig Angst machte. »Hilfe!!!« »Jolene!«, rief Peter und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Jolene, beruhige dich!« »Ich will hier raus!«, schrie sie und hämmerte weiter. »Jolene!« Peter ergriff ihre Arme und hielt sie fest. »Was soll das? Spinnst du? Lass mich los!« »Jolene! Wenn du weiter so ein Spektakel veranstaltest, werden wir nie rauskriegen, was da draußen vor sich geht!« Sie schäumte vor Zorn. »Was vor sich geht? Da ist jemand, der uns helfen kann!« »Da ist jemand, der uns gehört hat, ja«, stimmte Peter zu. »Du brauchst also nicht weiterzuhämmern. Aber wir müssen ihn oder sie ebenfalls hören, verstehst du? Also reiß dich zusammen und sei still!« Jolene funkelte ihn wütend an, gab ihren Widerstand jedoch auf. Gemeinsam hielten sie den Atem an. Ja, da klopfte jemand, ohne Zweifel. Aber es war weit entfernt. Und es kam auch nicht näher. Und es klang ähnlich verzweifelt wie ihr eigener Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen. Nach einer Weile sagte Peter: »Ich weiß nicht, ob ich jetzt beruhigt oder entsetzt sein soll. Aber es scheint, als seien wir nicht die einzigen Gefangenen hier.« 19
Rohrpost »Wow, das bringt uns echt weiter«, spottete Shawn, nachdem Justus auf die Tür eingehämmert hatte. »Ich bin beeindruckt.« Justus beschloss, sich von Shawn nicht provozieren zu lassen. Die Situation war zu ernst, um sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Er wollte nur eines: hier raus. Und offenbar gab es irgendwo da draußen jemanden, der das ebenfalls wollte. Ein vages Gefühl von Hoffnung breitete sich in seiner Magengegend aus. Sie waren nicht allein. Das war gut. Denn mit etwas Glück bedeutete es, dass Bob und Peter in der Nähe waren. Diese Idee war Justus schon kurz nach dem Aufwachen gekommen. Denn wie auch immer Justus in diese Lage geraten war – sie roch verdammt nach einem Fall, in den er mit seinen Freunden gestolpert war. Er konnte sich zwar nicht erinnern, aber … wenn Bob und Peter in der Nähe waren, würde alles gut werden. Ganz bestimmt. »Wir müssen uns mit demjenigen, der da draußen klopft, irgendwie verständigen«, sagte Justus schließlich. »Na, dann brüll dir mal schön die Kehle aus dem Leib. Das wird kaum was bringen. Viel zu weit entfernt.« »Ich dachte auch eher an Klopfzeichen«, antwortete Justus. Shawn lachte verächtlich. »Willst du mir jetzt weismachen, du könntest das Morsealphabet?« »Ganz genau.« 20
»Ha! Wer’s glaubt. Bist du etwa bei der Armee? Du bist doch noch nicht mal achtzehn!« Justus ging nicht darauf ein. »Das Problem wird sein, dass der Nachhall der Klopfzeichen so dumpf ist, dass man kaum einzelne Signale voneinander unterscheiden kann. Es wird also ziemlich schwierig werden, eine Nachricht zu übermitteln.« »Soll ich dir sagen, was schwierig wird, du Schlauberger? Außer dir kann kein Mensch Morsezeichen! Das nützt dir also überhaupt nichts.« Justus schüttelte den Kopf. »Ich gebe zu, ich habe keinerlei Indizien für meine Vermutung, aber ich glaube trotzdem, dass meine Freunde in der Nähe sind. Und die könnten meine Nachricht entschlüsseln.« Augenblicklich bereute Justus seine Worte. Denn Shawns Spott verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere zurück in kalte Wut. »Du weißt also doch was!«, zischte er. Justus trat unwillkürlich zwei Schritte zurück. »Wie bitte? Nein, ich –« »Natürlich weißt du was! Wie kämst du sonst darauf, dass deine Freunde hier sind? Hör auf, mich zu verarschen, und erzähl mir endlich, was hier gespielt wird! Wie sind wir hierher gekommen? Wer bist du?« »Das ist ein Missverständnis! Ich weiß wirklich nicht, wo wir sind und wie wir hierher kamen. Meine Vermutung, dass meine Freunde hier sein könnten, beruht ausschließlich auf der Tatsache, dass wir schon häufig in unberechenbare, beängstigende und bedrohliche Situationen geraten sind. Wir sind Detektive.« »Erzähl keinen Mist!« »Das ist die Wahrheit. Ich habe eine Visitenkarte in meiner Hosentasche. Moment …« Justus wühlte in seiner Ta21
sche. Doch er fand weder seine Karte noch sonst etwas. Alle Taschen waren komplett leer. »Meine Geldbörse! Mein Ausweis! Jemand muss mir alles abgenommen haben.« Shawn sah zögernd in seinen eigenen Taschen nach. »Mir auch. Aber deswegen brauchst du nicht zu glauben, dass ich dir deine Geschichte abnehme.« »Jetzt hör mir mal zu«, sagte Justus wütend und trat entschlossen wieder einen Schritt vor. »Meine Freunde und ich haben ein Detektivunternehmen. Wir haben schon eine Reihe von mysteriösen Fällen lösen können. Das kannst du mir glauben oder auch nicht, mir ist es ehrlich gesagt gleich. Tatsache ist aber, dass ich eine gewisse Erfahrung im Umgang mit befremdlichen Situationen habe. Daher wäre es nett, wenn du mir hilfst. Gemeinsam kommen wir schneller hier raus. Aber wenn du dich weigern willst – bitte sehr. Irgendwie wird es auch ohne dich gehen.« Shawn sah ihn schweigend an. Es war offensichtlich, dass sich seine Grundhaltung gegenüber Justus nicht geändert hatte. Aber langsam schien er einzusehen, dass ihm sein Misstrauen auch nicht viel brachte. »Was hast du vor?« »Ich will mich mit meinen Freunden verständigen, wenn sie da draußen sind. Über Klopfzeichen an der Tür wird das nichts werden, die Akustik ist einfach zu schlecht. Aber ich dachte gerade daran, dieses Wasserrohr dort oben zu verwenden. Metall leitet das Signal deutlicher und besser weiter als Luft. Mit etwas Glück führt das Rohr in die richtige Richtung. Aber ich komme alleine nicht dran. Du musst mir helfen.« Shawn runzelte die Stirn, sah erst zu Justus, dann zu dem Wasserrohr und schließlich wieder zu Justus. »Wie soll das gehen?« 22
»Nimm mich auf deine Schultern und ich –« »Auf meine Schultern? Dich?« Shawn lachte zum ersten Mal und zeigte blitzweiße Zähne. »Wie soll das funktionieren? Du wiegst doch bestimmt …« »Zu viel für dich?«, ließ Justus den Spott an sich abtropfen. »Ich hatte dich eigentlich für einen sportlichen, kräftigen Typen gehalten. Aber da muss ich mich wohl getäuscht haben. Doch nichts weiter als heiße Luft unter deinem TShirt, hm?« Die Heiterkeit verschwand so schnell aus Shawns Gesicht, wie sie gekommen war. »Also schön. Steig auf. Aber beeil dich!« Shawn ging in die Hocke und Justus kletterte auf seine Schultern. Ächzend stemmte sich Shawn in den Höhe. Seine Beine zitterten und er lief rot an, bis er endlich gerade stand und sich ein wenig entspannen konnte. »Jetzt fang schon an!« Justus klopfte an das Rohr. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. Pause. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. Währenddessen stellte er sich vor, wie der Schall durch das Rohr getragen wurde, weiter und weiter, wie es sich verzweigte und in alle Richtungen weiterführte, durch verschiedene Räume und Gebäude, bis sein Notsignal schließlich überall zu hören war. Eine recht unrealistische Vorstellung, aber sie machte ihm Mut. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. »Du klopfst ja immer das Gleiche!«, beschwerte sich Shawn. »Was ist das, SOS? Geht das nicht irgendwie anders?« »SOS wäre dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz«, antwortete Justus und klopfte unentwegt weiter. »Aber 23
SOS ist so gut bekannt, dass auch jemand, der das Morsealphabet nicht beherrscht, es erkennen würde. Ich möchte keine Aufmerksamkeit bei den falschen Leuten erregen.« »Also, was ist es dann?« »Fragezeichen. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz ist das Fragezeichen.« »Wie bitte? Das Fragezeichen? Kannst du mir bitte verraten, wie zur Hölle uns ein Fragezeichen weiterhelfen soll?« »Wart’s ab«, antwortete Justus und klopfte weiter. »Abwarten? Hör mal zu! Du bist nicht gerade ein Fliegengewicht, Justus!« Shawn geriet plötzlich ins Wanken. Justus versuchte, sich an dem Rohr festzuhalten, doch Shawn trat zwei Schritte zur Seite, und Justus musste loslassen. Das brachte beide komplett aus dem Gleichgewicht, und plötzlich befand sich Justus im freien Fall. Hart schlug er auf den kalten Kacheln auf. »Mann! Was soll denn das?« »Ich habe keine Lust mehr«, gab Shawn zurück. »Fragezeichen, so ein Blödsinn! Ich glaube dir kein einziges Wort! Du verheimlichst mir etwas. Ich bin doch nicht bescheuert! Was soll das werden, irgend so ein Psychospielchen? Aber weißt du was? Spiel allein weiter! Ich mache nicht mehr mit!« Shawn kehrte in die Ecke zurück, in der Justus ihn vor einer Stunde zum ersten Mal gesehen hatte, setzte sich hin und funkelte ihn düster an. Justus seufzte. Wie sollte er Shawn nur überzeugen? Was immer Justus tat oder sagte, schien sein Misstrauen nur zu verstärken. Vielleicht sollte er wirklich allein weitermachen und so tun, als existiere Shawn gar nicht. Dann lief er wenigstens nicht mehr Gefahr, ein weiteres Mal abzustürzen. Doch noch bevor Justus zu einem Schluss kam, wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Ein hohles, metallisches 24
Klacken durchbrach die Stille. Justus und Shawn wandten gleichzeitig den Blick zum Wasserrohr. Das Signal war nicht sehr laut, aber dafür umso deutlicher. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. Justus lächelte. »Ich glaube, wir haben Rohrpost.«
25
Kontakt Einmal kurz, viermal lang. Pause. Kurz, lang, kurz, lang, kurz, lang. Pause. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. Peter ließ das Wasserrohr los und kam federnd auf dem Boden auf. Er grinste bis über beide Ohren. »Was war das jetzt?«, fragte Jolene. »Eins, Punkt, Fragezeichen«, übersetzte Peter das Signal, das er gerade übermittelt hatte. »Eins, Punkt, Fragezeichen? Was soll das bedeuten?« Peter hockte sich hin und malte die Zeichen in den Schmierfilm, der den Boden bedeckte: 1.? »Erstens?«, überlegte Jolene laut. »Erster?«, korrigierte Peter. »Ich habe gerade gefragt, ob ich mit Justus spreche. Er ist nämlich der Erste Detektiv, weißt du. ›Erster, bist du’s?‹ So ungefähr war mein Signal gemeint. Ich bin mir sicher, er wird es verstehen. Wenn er es ist.« »Detektiv?«, fragte Jolene verständnislos. Bevor Peter antworten konnte, kam schon die Antwort: Einmal kurz, dreimal lang. Pause. Einmal kurz, einmal lang. – ja. – Peter machte einen Luftsprung. »Es ist Justus! Es ist wirklich Justus! Jolene, wir sind gerettet!« »Ich … ich verstehe nicht. Wer ist Justus?« »Justus ist der schlauste Mensch unter der Sonne. Und er ist irgendwo in der Nähe. Er wird uns hier rausholen. Ganz sicher.« Sogleich sprang Peter hinauf zum Wasserrohr, hielt sich mit einer Hand fest und übermittelte mit der anderen eine neue Nachricht. Dann ließ er sich wieder fallen und wartete 26
gespannt auf die Antwort. So ging es hin und her. Wegen der Mühseligkeit der Übermittlung fand der Austausch im Telegrammstil statt. Klack. Klack. Klack. Pause. Klack. Klack. Klack. Pause. Klack. Klackklackklack. Pause. Klackklack. Pause. Klackklackklack. Pause. Klack. Pause. Klack. Klackklack. Pause. Klackklack. Klack. Emsig wie ein Specht am Baumstamm klopfte Peter eine Nachricht nach der nächsten und übersetzte der gespannten Jolene die zähe Unterhaltung Stück für Stück. Und so stetig, wie ein Specht das Holz aushöhlt, höhlten die Antworten des Ersten Detektivs Peters Hoffnung aus, bis sie schließlich wie fein zerbröselte Späne am Boden lag. – peter hier, wo bist du? – – gefangen, keine fenster. tür zu. – –ich auch, weisser raum, zu zweit. – – ebenfalls, bob? – – nein, bei dir? – – nein, wo ist er? – – k. a. – (Das stand für »keine Ahnung«.) – was ist passiert? – – k. a. – – erinnerung weg? – – ja. – ebenfalls. – – fluchtmöglichkeit – – nein, dein dietrichset? – – futsch. was nun? – – k. a. – Wieder begann Shawn zu taumeln. »Wirf mich nicht noch mal ab!«, warnte Justus. »Dann beeil dich gefälligst!«, stöhnte Shawn. »Ich kann dich nicht mehr lange halten!« 27
»Moment noch«, erwiderte Justus und klopfte eine letzte Nachricht. – Werkzeug in der nä– Shawns Beine knickten ein. Justus klammerte sich an das Rohr und hing plötzlich in der Luft, das Gesicht an die schmierige weiße Kachelwand gedrückt. »Sorry«, murmelte Shawn. »Deine Entschuldigung nützt mir nichts«, ächzte Justus und überlegte, was uneleganter war: sich fallen zu lassen wie ein nasser Sack oder hängen zu bleiben wie ein Stück Fleisch am Haken, bis Shawn ihm aus der Patsche half. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn plötzlich knarrte und knackte es, und mit einem Regen aus Staub und Putz riss eine Verankerung aus Wand. Das Rohr brach durch und stürzte mitsamt dem Ersten Detektiv ab. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten schlug er äußerst unsanft auf. Faulig stinkendes, braunes Wasser plätscherte für einige Sekunden aus dem Loch in der Wand, bevor es versiegte. Mühsam rappelte sich Justus auf. Shawn sah ihn nur schweigend an. Er grinste nicht einmal hämisch. Er überließ Justus ganz allein seiner Schmach, was den Ersten Detektiv noch wütender machte. »Nichts passiert, danke der Nachfrage.« Er blickte hinauf. Ein Teil des Rohres ragte noch aus der Wand. Es dürfte kein Problem darstellen, weiter mit Peter zu kommunizieren. Im Gegenteil: Justus konnte nun das abgebrochene Stück zum Klopfen verwenden und war somit nicht mehr auf Shawns Unterstützung angewiesen. Doch als er sich umwandte, um seine Nachricht zu beenden, stutzte er. An der Decke hing etwas. Ein schwarzer Kasten. Weder 28
Justus noch Shawn hatten ihn vorher bemerkt, da der Schatten des Wasserrohrs ihn verborgen hatte. Doch nun, da das Rohr abgebrochen war, war er kaum zu übersehen. Justus ging näher heran und kniff die Augen zusammen. Das Ding war etwa halb so groß wie ein Schuhkarton, mattschwarz und aus Metall. Dann erkannte er, was es war. Die Angst, die er nach seinem Erwachen verspürt hatte, war schlagartig wieder da. Kalte, fast greifbare Angst, die sich wie langsam gefrierendes Wasser von seinem Magen aus im ganzen Körper ausbreitete. Plötzlich wurde er sich der Kälte im Raum wieder bewusst, er bekam eine Gänsehaut. Mit zitternder Hand wies er auf das Objekt an der Decke. Jetzt entdeckte es auch Shawn. Und Justus sah in seinem Gesicht, wie in ihm die gleiche Wandlung stattfand. »Das … das kann nicht sein.« »Es gibt leider kaum einen Zweifel«, antwortete der Erste Detektiv mit belegter Stimme. »Entweder das alles hier, dieser Raum, die ganze Situation ist ein großer Scherz, den ich leider nicht verstehe. Oder die Lage ist viel gefährlicher und unberechenbarer, als wir bisher überhaupt ahnen konnten.« Peter sprang hoch, hielt sich mit einer Hand am Wasserrohr fest und klopfte mit der anderen eine Botschaft. – noch da? – Dann ließ er sich fallen und blickte besorgt empor. Justus hatte mitten im Satz abgebrochen. Dann hatte es ein beunruhigend lautes Geräusch gegeben. Seitdem herrschte Totenstille. Gebannt warteten sie auf eine Antwort. Schließlich, nach einigen Minuten, kehrte das Klopfen zurück. Peter atmete auf. 29
»Was ist?«, fragte Jolene ungeduldig. »Was sagt er?« Peter konzentrierte sich auf die Morsezeichen und übersetzte schließlich: »›Sorry. War abgelenkt. Raum durchsucht?‹ Raum durchsucht? Was meint er denn damit?« »Na, ob wir den Raum durchsucht haben.« »Aber hier gibt es nichts zu durchsuchen. Er ist leer.« Peter schwang sich erneut nach oben und klopfte ein kurzes – ja. – Die Antwort kam prompt: – über dem rohr? – Peter runzelte die Stirn und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Was ist los?« »Justus meint, wir sollten über dem Rohr nachsehen.« Er trat ein paar Schritte zurück und sprang in die Höhe, um einen Blick in den dunklen Bereich zu werfen, der zwischen Rohr und Decke lag. Doch da war nichts. Peter ging rückwärts, bis er mit dem Rücken an die kalten, schmierigen Fliesen stieß, und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dann sah er es. Ganz hinten rechts hing etwas direkt unter der Decke. Ein Kasten. Schwarz und matt und mit einer winzigen roten Lampe versehen, deren Licht langsam pulsierte. An der Vorderseite des Kastens befand sich ein rundes, glänzendes Etwas. Eine Linse. Der Schock war so groß, dass Peter entsetzt den Atem anhielt. »Was ist denn?«, fragte Jolene besorgt und folgte Peters Blick. Dann sah sie es auch. »Eine Kamera!«, rief Peter. »Wir … wir werden gefilmt! Das gibt’s doch gar nicht!« Die Überwachungskamera war so ausgerichtet, dass sie 30
etwa drei Viertel des Raumes im Bild hatte. Als Peter den ersten Schock überwunden hatte, bewegte er sich augenblicklich aus dem Aufnahmewinkel des Objektivs hinaus. »Jolene!«, flüsterte er und winkte das Mädchen zu sich. »Komm her!« Jolene war sichtlich irritiert, folgte ihm dann aber. »Wir werden schon die ganze Zeit beobachtet«, raunte Peter. »Womöglich sogar belauscht! Die Kamera ist bestimmt mit einem Mikrofon ausgestattet. Ich fasse es einfach nicht! Was hat das zu bedeuten?« »Was …? Ich … ich weiß nicht.« Peter überlegte fieberhaft. Sie wurden überwacht. Von wem? Warum? Was ging hier vor? Was sollte er jetzt tun? Mit demjenigen reden, der am anderen Ende saß und ihnen zuschaute? Falls da überhaupt jemand saß. Vielleicht wurde auch bloß alles aufgezeichnet. Das Klopfen des Rohres riss ihn aus seinen Gedanken. – alles klar? – übersetzte Peter und beeilte sich, seine Entdeckung Justus mitzuteilen. – Kamera gefunden! – – Nicht nur du. – –??? – –!!! – – was nun? – – schalt sie aus! – Ausschalten. Natürlich. Darauf hätte Peter auch selbst kommen können. Er hatte um die Kamera einen Bogen gemacht, als handelte es sich um eine Bombe. Es war, als sei der Feind, den Peter irgendwo dort draußen vermutet hatte, plötzlich hereingekommen. Identität und Motiv waren so rätselhaft wie zuvor, aber nun stand fest: Da war jemand. 31
Jemand, der sie beobachtete. Der bisher jeden ihrer Schritte verfolgt hatte. Eine unbekannte Präsenz, die durch die Kamera ihre Überlegenheit zur Schau stellte. Der Täter wusste, wer sie waren, was sie taten und was sie sagten. Peter und Jolene hingegen wussten nichts. Der Zweite Detektiv löste sich aus seiner Starre. Er lief auf die Kamera zu und sprang hoch. Seine Finger streiften den Kasten. Doch das reichte nicht. »Peter, was … was machst du denn da?« »Das fragst du noch? Jolene, wir werden beobachtet!« »Ja, aber …« »Aber was?« Jolene antwortete nicht. Peter runzelte die Stirn. Was für Einwände konnte sie haben? Der Zweite Detektiv wollte keine Sekunde länger beobachtet und belauscht werden! Kopfschüttelnd wandte er sich wieder der Kamera zu. Sie hing zu hoch, um sie mit einem Klimmzug am Rohr erreichen zu können. Aber nicht unerreichbar hoch. Nicht umsonst war er in der Basketballmannschaft der Schule einer der besten Spieler. Peter ging in die hinterste Ecke des Raumes. Das Kameraauge hatte ihn nun genau im Blick. Peter funkelte sie wütend an. »Hasta la vista, baby«, knurrte er und nahm Anlauf. Zwei, drei lange Schritte, dann der Sprung. Peter flog durch die Luft, holte aus und schlug mit der geballten Faust auf die Linse. Die Überwachungskamera löste sich aus ihrer Befestigung und baumelte dann an einem Kabel von der Decke. Nun 32
konnte Peter sie problemlos erreichen. Er versetzte ihr einen weiteren Schlag und die Kamera segelte quer durch den Raum. Mit einem hässlichen Splittern hauchte sie ihr Leben aus. Das rote Blinklicht erlosch.
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Unter Beobachtung Justus wog die Kamera prüfend in der Hand. Sie sah aus wie eine Überwachungskamera, wie man sie aus Banken oder Kaufhäusern kannte, nur etwas weniger klobig. Es war dem Ersten Detektiv gelungen, sie abzumontieren, ohne sie dabei zu beschädigen. Lediglich das Kabel, das von der Kamera in die Wand geführt hatte, hatte er abreißen müssen. Die Übertragung war damit unterbrochen. Wer immer sie in der letzten Stunde beobachtet hatte – er sah jetzt nichts mehr. Shawn trat heran und betrachtete erst die Kamera, dann Justus’ Gesicht. Sein Ausdruck war schwer zu deuten. »Nun hat Big Brother ein Problem«, meinte Justus. »Hoffentlich wird sein Problem nicht unseres.« »Wie meinst du das?« Wieder blickte Shawn Justus an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Was hast du?«, fragte Justus. Shawn schüttelte wortlos den Kopf und wandte sich ab. Doch Justus war hellhörig geworden. Shawn verhielt sich seltsam. Irgendetwas ging vor sich. Justus wusste nur nicht was. »Wärst du so freundlich mir zu antworten?« »Was ist denn?«, fragte Shawn gereizt. »Was willst du wissen?« »Ich will wissen, was du von der Sache hältst. Von der Kamera, meine ich. Von der Tatsache, dass jemand uns während der letzten Stunde beobachtet hat.« »Ist der Hammer, ja«, war die leidenschaftslose Antwort. 34
»Und?« »Na ja, nun wissen wir doch, dass wir hier nicht zufällig hineingeraten sind!« »Nicht zufällig! Was du nicht sagst! Man gerät selten zufällig in ein Lagerhaus und kann sich an nichts erinnern!« Justus runzelte die Stirn. »In ein Lagerhaus? Wie kommst du darauf, dass wir in einem Lagerhaus sind?« »Was weiß ich! Habe ich mir halt gedacht! Sieht doch aus wie ein Lagerhaus, oder? Jetzt geh mir nicht auf die Nerven! Sieh lieber zu, wie wir hier rauskommen! Ich denke, du bist ein so toller Detektiv! Was ist mit deinem Freund auf der anderen Seite? Auf Wasserrohre hämmern bringt uns nicht weiter!« Justus nickte und wandte sich wieder dem Rohr zu. Shawn verheimlichte ihm etwas, da war er sicher. Doch es war besser, wenn er nichts von Justus’ Verdacht ahnte. Der Erste Detektiv konzentrierte sich und klopfte die nächste Nachricht an Peter. »Was sagt dein Freund?«, wollte Jolene wissen. Doch Peter zögerte mit der Übersetzung. Hatte er das richtig verstanden? – vertraue niemandem! – Damit konnte Justus eigentlich nur Jolene meinen. Was bedeutete, dass Peter diese Nachricht vielleicht besser nicht übersetzen sollte. »Er … er fragt, ob ich erfolgreich war«, antwortete Peter zögernd und klopfte ein schnelles – ok – zurück. Dann betrachtete er die Reste der Kamera, die noch unangetastet in der Ecke lagen. Er hatte eine Idee. »Diese Kamera …«, murmelte er und hob sie auf. »Was ist damit?« »Sie besteht aus Metall.« 35
»Ja. Klar.« »Und sie ist sowieso schon kaputt.« »Richtig. Und was weiter?« Peter ließ die Kamera fallen. Dann hob er den rechten Fuß und ließ den Absatz seines Turnschuhs mit aller Gewalt auf das schwarze Gehäuse niedersausen. Mit einem in den Ohren schmerzenden Knirschen ging das teure Stück Technik zu Bruch. Peter trat noch einmal zu. Und noch mal. Nach dem vierten Tritt lag das Gehäuse schließlich nur noch in Bruchstücken vor ihm und gab sein Inneres frei. Wie das Skelett eines toten Tieres ragten Kabel und Platinen aus dem Wrack heraus. Jolene war fassungslos. »Bist du völlig bescheuert? Was soll denn das? Das Ding hätte man doch noch gebrauchen können!« »Ja klar. Wir machen es uns so richtig gemütlich hier drinnen und drehen ein kleines Heimvideo.« »So meine ich das nicht! Aber kannst du mir erklären, was das jetzt für einen Sinn hatte?« »Ja«, sagte Peter und beugte sich zu den Einzelteilen der Kamera hinunter. »Kann ich.« Schicht für Schicht legte er das Innere der Kamera frei und wühlte sich durch den Kabelsalat, bis er schließlich gefunden hatte, was er suchte: einen kleinen Metallbügel, der die Platine an ihrem Platz im Gehäuse gehalten hatte. Auf der anderen Seite fand er ein zweites, sehr ähnliches Metallstück. Triumphierend hielt er beides in die Höhe. »Mit etwas Glück ist das unser Weg nach draußen.« Hoffnung und Zweifel spiegelten sich in Jolenes Blick. »Wie ist das nun wieder gemeint?« Peter ging zur Stahltür und nahm das Schloss näher unter die Lupe. Probeweise steckte er den Metallbügel in das 36
Schlüsselloch, tastete darin herum, zog den Bügel wieder heraus und verbog mit den Zähnen ein kleines Stück im rechten Winkel. »Moment mal! Kriegst du etwa dieses Schloss auf?« »Wie ich schon sagte: mit etwas Glück.« »Das ist … das ist super! Aber wieso kannst du denn so was? Erst Morsezeichen und jetzt auch noch das! Hat das auch mit diesem Detektivkram zu tun?« »Na ja, ein bisschen«, antwortete Peter. Er hatte Jolene inzwischen ein wenig von den drei??? erzählt. Während er nun die beiden Metallspangen für seine Zwecke zurechtbog und ausprobierte, fuhr er fort: »Unser Hauptquartier, die Zentrale, steht auf dem Schrottplatz von Justus’ Onkel. Und da liegen immer jede Menge alte Türen und ausgebaute Schlösser herum. Irgendwann habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen.« »Womit?« »Schlösser zu knacken. Ist gar nicht so schwierig, wenn man erst mal weiß, wie es geht. Aha … jetzt habe ich dich!« »Kriegst du es auf?«, fragte Jolene hoffnungsvoll. »Noch nicht. Aber ich weiß jetzt wenigstens, wie der Mechanismus aufgebaut ist. Kann noch eine Weile dauern.« »Meinst du, du schaffst es?« »Wir werden sehen.« Peter machte sich an die Arbeit. »Dieser dritte Detektiv, von dem du erzählt hast«, fuhr Jolene neugierig fort. »Meinst du, der ist auch hier?« »Bob«, sagte Peter. »Ich weiß es nicht. Bei Justus scheint er nicht zu sein. Ich habe ihn in den letzten Tagen gar nicht gesehen, daher weiß ich nicht, ob … Ich kann mich einfach nicht erinnern, verstehst du? Ich hoffe, er ist wohlauf.« Peter wurde bei dem Gedanken an Bob mulmig. Er war so erleichtert gewesen, ein Lebenszeichen von Justus zu bekom37
men! Dass er von Bob noch keines hatte, konnte ein gutes Zeichen sein. Oder ein verdammt schlechtes. Klack. Peter hielt inne. Der Schließmechanismus im Innern des Schlosses hatte nachgegeben. »Was ist?«, fragte Jolene aufgeregt. Peter senkte unwillkürlich seine Stimme. »Ich glaube … die Tür ist offen!« Die Sonne brannte an diesem Nachmittag so stark, dass Bob Andrews froh war, als er mit dem Rad auf das Gelände von Titus Jonas’ Gebrauchtwarencenter biegen und in den kühlen Schatten des hohen Bretterzauns eintauchen konnte. Sein sonnengelber VW Käfer, den er Justus und Peter geliehen hatte, weil Peters Wagen kaputt war, stand ganz in der Nähe. Die beiden waren also vermutlich hier. Er war gerade vom Sattel gestiegen, als Mathilda Jonas, Justus’ Tante, in heller Aufregung auf ihn zugerannt kam. »Bob! Bob Andrews! Gott sei Dank, da bist du ja endlich! Bob!« Bob drehte sich verwundert zu Tante Mathilda um. »Was gibt es denn, Mrs Jonas?« »Bob!« Tante Mathilda erreichte ihn atemlos. »Weißt du, wo Justus steckt?« »Justus? Nein. Ich hatte gehofft, er wäre hier.« »Und Peter?« »Ich habe absolut keine Ahnung. Wieso? Ist etwas passiert?« »Ob etwas passiert ist?« Tante Mathildas Stimme kippte ins Hysterische. Sie packte ihn bei den Schultern. »Du weißt also wirklich nicht, wovon ich rede? Ist das dein Ernst? Treib keine Scherze mit mir, Bob Andrews!« 38
Jetzt bekam Bob es langsam mit der Angst zu tun. »Das ist kein Scherz. Ich war mit meinen Eltern drei Tage lang bei meiner Tante in Idaho. Wir sind erst vor einer halben Stunde zurückgekommen. Ich habe mich gleich aufs Rad gesetzt und bin hierher gefahren, um zu sehen, ob es etwas Neues gibt.« »Es gibt etwas Neues, allerdings!«, rief Tante Mathilda. »Justus ist verschwunden! Und Peter auch!« »Verschwunden? Was soll das heißen?« »Dass sie weg sind! Heute Morgen wunderte ich mich, dass Justus gar nicht aufstehen wollte. Also bin ich in sein Zimmer gegangen, um ihn zu wecken. Aber er war nicht da! Er ist die ganze Nacht nicht da gewesen!« »Vielleicht ist er einfach nur früh aufgestanden.« Doch Tante Mathilda schüttelte entschieden den Kopf. »Sein Bett war gemacht. Justus macht nie sein Bett. Das mache immer ich. Das heißt, er hat seit gestern gar nicht drin gelegen. Ich habe sofort bei den Shaws und bei deinen Eltern angerufen. Bei euch war niemand zu Hause, aber Mrs Shaw habe ich erreicht. Und jetzt rate! Peter ist auch verschwunden! Bitte, Bob, wenn du was weißt, dann musst du es mir sagen!« Bevor Bob antworten konnte, eilte Onkel Titus heran, nicht minder aufgeregt als seine Frau. »Und?«, rief er. »Was ist? Weißt du, wo sie stecken, Bob?« »Nein, ich … es tut mir Leid, Mr Jonas, ich bin völlig ratlos. Ich kann mir nicht erklären, was passiert ist.« »Aber das hat doch etwas mit eurer Detektivspielerei zu tun!«, ereiferte sich Tante Mathilda. »Mach mir doch nichts vor!« 39
»Wir hatten überhaupt keinen Fall in Arbeit, als ich nach Idaho gefahren bin. Als ich Justus und Peter am Mittwoch das letzte Mal gesehen habe, haben wir lediglich Computer gespielt. Alles war in bester Ordnung.« »Aber das kann doch nicht sein!«, sagte Onkel Titus und zwirbelte nervös seinen gewaltigen schwarzen Schnauzbart. »Wo können sie denn nur stecken?« »Was war denn gestern Abend?«, fragte Bob. »Hat Justus irgendwas gesagt?« »Es war alles wie immer!«, versicherte Tante Mathilda. »Titus und ich haben uns einen Krimi angesehen und Justus hat gute Nacht gesagt. Das war so gegen zehn. Dann ist er in sein Zimmer gegangen.« »Haben Sie danach noch mal nach ihm gesehen?« »Ich bitte dich!«, sagte Tante Mathilda entrüstet. »Glaubst du, ich schaue jeden Abend nach, ob er auch richtig zugedeckt ist? Er ist doch kein Baby mehr! Außerdem geht er ja meistens nach uns ins Bett. Nur eben gestern nicht.« »Wissen Sie was«, sagte Bob und zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich wird sich alles ganz einfach aufklären. Ich bin mir sicher, dass Justus heute sehr früh aufgestanden ist, um etwas völlig Harmloses zu erledigen. Und um Ihnen eine Freude zu machen, hat er sein Bett selbst in Ordnung gebracht.« »Er hat nicht gefrühstückt!«, widersprach Tante Mathilda energisch. »Das habe ich an der Orangensaftflasche gesehen. Sie ist genauso voll wie gestern. Und Justus ohne Frühstück? Das ist vollkommen unmöglich. Also war er in der Nacht nicht zu Hause. Das ist … eine logische Schlussfolgerung, oder? Ein bisschen was habe ich von eurem Detektivkram gelernt.« 40
»Bob, du musst etwas wissen! Wo steckt unser Junge? Wir wollten schon in eurem Wohnwagen nachsehen, aber wir haben keinen Schlüssel.« »Beruhigen Sie sich!«, sagte Bob so eindringlich wie möglich. »Justus und Peter wird schon nichts passiert sein, da bin ich ganz sicher. Ich werde jetzt in die Zentrale gehen und sehen, ob ich eine Nachricht oder dergleichen finde. Machen Sie sich keine Sorgen!« Er lächelte aufmunternd. Das Lächeln verschwand erst aus Bobs Gesicht, als er sich umgedreht hatte und die Zentrale ansteuerte. Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Nur in einem Punkt war er sich relativ sicher: Tante Mathilda hatte Recht mit ihren Vermutungen. Justus hatte die letzte Nacht nicht in seinem Bett verbracht. Und dafür gab es nur eine logische Erklärung: Justus und Peter waren auf einer nächtlichen Erkundungstour gewesen. Nur leider hatte Bob absolut keine Ahnung, warum und wieso. Das bedeutete, dass etwas passiert sein musste, während er in Idaho gewesen war. Justus und Peter waren in einen neuen Fall hineingeschlittert, hatten die letzte Nacht mit Ermittlungen verbracht – und dabei war etwas schief gelaufen. Ganz gewaltig schief.
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Spur ins Nichts Der Schreibtisch quoll über vor Papier. Auf dem Fußboden häuften sich Zeitschriftenberge. In der winzigen Spüle stapelte sich dreckiges Geschirr. Leere Pizzakartons lagen auf den Stühlen und Sessellehnen. Die Zentrale sah also aus wie immer. Auf den ersten Blick deutete nichts darauf hin, dass in den drei Tagen von Bobs Abwesenheit etwas Außergewöhnliches geschehen war. Aber warum auch? Der Anrufbeantworter blinkte und zeigte sieben entgegengenommene Anrufe an. Na also! Bob rief die Nachrichten ab. Doch die Ausbeute war enttäuschend: Sieben Mal hatte niemand auf das Band gesprochen, sondern gleich wieder aufgelegt. »Und?«, sagte eine Stimme hinter ihm. Bob fuhr zusammen. Tante Mathilda und Onkel Titus standen in der Tür und beobachteten ihn hoffnungsvoll. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt waren. »Also, auf den ersten Blick sehe ich nichts Ungewöhnliches. Ich werde schauen, ob ich irgendwo eine Nachricht finde.« Bob wandte sich wieder um. Das Ehepaar Jonas machte keine Anstalten, zu verschwinden. »Das kann eine Weile dauern«, fügte Bob hinzu, doch noch immer gab es keine Reaktion von den beiden. Bob hob halbherzig ein paar Papierstapel hoch und verschob Zettel auf dem Schreibtisch, doch die Anwesenheit von Tante Mathilda und Onkel Titus machte ihn so nervös, dass er sich nicht konzentrieren konnte. 42
»Wir helfen dir«, sagte Tante Mathilda und setzte einen Fuß in die Zentrale. »Nein!«, rief Bob lauter, als er gewollt hatte. »Ich meine, besser nicht. Sehen Sie, die Zentrale ist …« … Unser Heiligtum, in dem Erwachsene nichts zu suchen haben, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das konnte er natürlich nicht sagen. »Sie ist wie ein empfindliches Biotop. Alles hat seinen Platz und darf nicht weggeräumt werden. Ich komme am besten allein zurecht. Danke.« Enttäuscht zog Tante Mathilda sich zurück. »Aber du sagst sofort Bescheid, wenn du etwas gefunden hast!«, ermahnte sie ihn. Bob nickte lächelnd. »Ja, natürlich.« Endlich trottete das Ehepaar Jonas von dannen. Erleichtert schloss Bob die Tür und atmete tief durch. Dann ließ er seinen Blick über das Chaos schweifen. Der Schreibtisch. Wenn es Notizen gab, die Justus oder Peter gemacht hatten, dann würde er sie am ehesten dort finden. Der dritte Detektiv setzte sich auf den Bürostuhl und begann, die Zettel zu durchforsten. Nach dem Schreibtisch waren die auf dem Boden liegenden Papiere und Bücher dran. Dann das im hinteren Teil des Wohnwagens befindliche Labor. Und schließlich die Dateien auf dem Computer. Bob checkte alles, was in den letzten drei Tagen benutzt worden war, inklusive der Internetzugriffe. Nichts davon brachte ihn irgendwie weiter. Außer einer krakeligen Notiz in Justus’ Handschrift auf einem Zettel. Eine Adresse und eine Telefonnummer, die ihm beide unbekannt waren. Bob betrachtete das Papier nachdenklich. Hatte es überhaupt etwas mit Justus’ und Peters Verschwinden zu tun? 43
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Bob griff nach dem Telefonhörer und wählte die fremde Nummer. Es tutete drei Mal, dann meldete sich eine männliche Stimme. »Guten Tag, hier ist das Büro von William Boyd.« »Ah, hallo, hier spricht Bob An–« »Zurzeit bin ich nicht am Platz. Sie erreichen mich vormittags zwischen zehn und zwölf Uhr. In dringenden Fällen hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Signal.« Piep. »Ah … hi, hier spricht Bob Andrews. Wir kennen uns nicht, aber …« Bob hielt inne. Was tat er hier eigentlich? Er konnte diesem Unbekannten doch nicht erzählen, dass er auf der Suche nach Justus Jonas und Peter Shaw war! Was, wenn dieser William Boyd für ihr Verschwinden verantwortlich war? Bob hatte ja keine Ahnung, in was für eine Sache seine Freunde verstrickt waren. »… aber es wäre nett, wenn Sie mich zurückriefen.« Bob gab die Nummer der Zentrale durch und legte auf. Er stöhnte. Das war ein Fehler gewesen, er wusste es. Doch bevor er genauer darüber nachdenken konnte, klingelte das Telefon. Bobs Herz tat einen kleinen Sprung. William Boyd? Vielleicht war er gerade ins Büro gekommen und rief sofort zurück. Aber was sollte er ihm sagen? Doch vielleicht war es auch Justus! Ja, genau! Der Erste Detektiv hatte geahnt, dass Bob in der Zentrale war, und rief ihn jetzt an, um alles aufzuklären. Bob riss den Hörer hoch. »Hallo?« »Bob! Hi! Du bist wieder da!« Es war nicht Justus. Auch nicht William Boyd. Es war Jelena, eine Freundin der drei???. Genau genommen eine Freundin von Bob. 44
»Jelena«, stöhnte der dritte Detektiv. »Du bist’s. Sag mal, hast du heute sieben Mal hier angerufen?« »Das ist ja eine Begrüßung«, maulte Jelena. »Nein, habe ich nicht. Sonst noch was?« »Tut mir Leid. Nimm’s nicht persönlich. Ich hatte gehofft, du wärst Justus.« »Natürlich. Ein Anruf deines Chefs, den du durchschnittlich sechzehn Stunden täglich siehst, ist wichtiger als alles andere. Bob Andrews, du solltest wirklich mal ernsthaft über euer Abhängigkeitsverhältnis nachdenken.« »Du verstehst nicht, Jelena. Justus ist verschwunden. Und Peter auch. Seit gestern Abend schon. Keiner weiß, wo sie stecken. Inklusive mir. Ich bin nämlich erst heute aus Idaho zurückgekommen.« »Verschwunden?«, fragte Jelena überrascht. »Das ist ja ein Ding. Dabei habe ich gestern noch mit Justus telefoniert.« »Du hast was?« »Ja. Natürlich wollte ich eigentlich dich sprechen, nicht Justus. Aber du warst ja nicht da.« »Wann genau war das, Jelena? Und was hat Justus gesagt?« Jelena überlegte einen Moment. »Das muss so gegen vier Uhr nachmittags gewesen sein. Justus hat mir nur erzählt, dass du auf Verwandtenbesuch seiest, und wollte schon wieder auflegen, um sich bloß keine Sekunde länger als nötig mit mir zu unterhalten. Aber um ihn zu ärgern, habe ich ihn in ein Gespräch verwickelt. Ich fragte ihn also, ob ihr gerade einen neuen Fall in Arbeit hättet und so weiter.« 45
»Und was hat er gesagt?« »In der Tat, das haben wir«, ahmte Jelena den Tonfall des Ersten Detektivs nach. »Und deshalb ist es mir nun leider nicht möglich, unsere Konversation fortzusetzen, Jelena. Wir müssen nämlich ein verdächtiges Individuum beschatten.« »Ein verdächtiges Individuum? Wen?« »Das hat er mir natürlich nicht verraten.« »Weißt du, worum es ging?« »Nein, keine Ahnung. Du weißt ja, Justus verrät ungern Details. Und schon gar nicht mir. Du machst dir wirklich Sorgen, stimmt’s?« »Natürlich mache ich mir Sorgen! Seine Tante und sein Onkel haben mich gerade belagert. Sie sind völlig verzweifelt. Ich muss irgendwas tun. Aber ich weiß nicht was.« »Hast du schon die Zentrale durchsucht?« »Bin gerade fertig geworden.« »Und?« Bob seufzte. »Ich habe einen Notizzettel gefunden. Mit einer Telefonnummer und einer Adresse. Die Nummer habe ich schon angerufen, da meldet sich der Anrufbeantworter eines gewissen William Boyd, von dem ich noch nie etwas gehört habe.« »Und was ist das für eine Adresse?« »32, Richmond Road.« »Und? Sagt dir das was?« »Nein. Die Richmond Road liegt in West Hollywood. Schicke Gegend. Aber ich habe keine Ahnung, wer da wohnen soll.« »Na, worauf wartest du dann noch? Find’s raus!« 32, Richmond Road war ein in spanischem Stil erbautes Apartmenthaus mit hellgelber Fassade und einem rotbrau46
nen Schindeldach. Es lag in einer von Königspalmen gesäumten Straße direkt neben einem Park. Neben dem Eingangsbereich, einem gitterversperrten Torbogen, der zum Innenhof führte, leuchtete ein buntes Blumenbeet. Die Balkone zur Straße waren verwaist. Nur im ersten Stock saß eine Frau im leopardengemusterten Badeanzug und mit Sonnenbrille und hielt ihre anscheinend frisch lackierten Fingernägel zum Trocknen in die Sonne. Bob, der an der Straße gehalten hatte, warf einen skeptischen Blick aus dem Seitenfenster seines alten VW Käfers. Er hatte gehofft, dass sich hinter der Adresse auf Justus’ Notizzettel etwas anderes verbergen würde – ein Geschäft zum Beispiel. Ein Restaurant, eine Firma, ein Büro, was auch immer. Aber dies war ein ganz gewöhnliches Apartmenthaus. Ein schönes und teures zwar, zugegeben, aber nichtsdestotrotz nur ein Wohnhaus. Wie sollte Bob herausfinden, was Justus und Peter hier gewollt hatten? Wenn sie überhaupt je hier gewesen waren. Er hatte bereits eine Runde um den Block gedreht und die Namen auf den Klingelschildern gelesen, ohne auf etwas zu stoßen. Nun saß er wieder im Wagen und überlegte, wie es weitergehen sollte. Bob war völlig in Gedanken versunken, als plötzlich eine Hand an das Seitenfenster der Fahrertür klatschte! »Jelena!« »Hi. Komme ich zu spät?« »Was tust du denn hier?« »Was wohl? Ich unterstütze dich bei deiner detektivischen Tätigkeit. Aber müssen wir das durch die Scheibe besprechen oder darf ich reinkommen?« Bob nickte verdattert und öffnete die Beifahrertür. Jelena 47
umrundete den Wagen und machte sich daran, hineinzuklettern. Das Mädchen war seit einem Unfall in der Kindheit querschnittsgelähmt und saß im Rollstuhl, aber das Umsteigen in das Auto war für Jelena kein Problem. »Wie bist du denn hierher gekommen?« »Wie schon? Gefahren!« Bob warf einen Blick auf den Rollstuhl, der draußen auf dem Bürgersteig stand. »Nicht damit. Mit dem Taxi natürlich. Ich hatte doch die Adresse. Hast du schon was herausgefunden? Irgendwelche Spuren von William Boyd?« Bob schüttelte den Kopf. »Es ist nett von dir, dass du mir helfen willst. Aber ich fürchte, es gibt nichts, wobei ich Hilfe brauche. Dies hier ist die Richmond Road, schön, aber hier ist nichts, was uns weiterbringt.« »Und wenn wir mal die Bewohner des Hauses nach Justus und Peter fragen?« »Einfach so? Da drin gibt es mindestens ein Dutzend Apartments. Sollen wir etwa bei allen klingeln? Das ist keine gute Idee, Jelena. Wir könnten damit alles nur noch schlimmer machen.« »Was meinst du, was passiert ist? Sind die beiden entführt worden?« »Wenn ich das wüsste! Ich habe absolut keinen Schimmer. Aber Tante Mathilda und Peters Eltern werden spätestens heute Abend die Polizei einschalten, wenn ich bis dahin nichts herausfinde. Ich –« Bonk! Bob zuckte zusammen. Das dumpfe, metallische Geräusch 48
war ganz nahe gewesen. Er blickte sich um. Ein Junge fuhr gerade mit einem Skateboard vorbei. Ansonsten war die Straße menschenleer. »Hast du das auch gehört?« »Bin ja nicht taub«, antwortete Jelena. »Das klang, als hätte jemand –« Bonk! »Auf mein Autodach geschlagen!«, beendete Bob den Satz und blickte zornig durch die Windschutzscheibe nach oben. Es war nichts zu sehen. »Aber wie kann das –« Bonk! Eine angefaulte, zermatschte Orange rutschte, eine schmierig-nasse Spur hinterlassend, vom Dach die Scheibe hinunter.
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Die Verrückte In null komma nichts war Bob aus dem Wagen gestiegen. Auf dem Autodach lagen zwei weitere Orangen, deren schimmelgraue Schalen aufgeplatzt waren. Bob sah sich wütend um, doch noch immer konnte er niemanden entdecken. Flatsch! Die nächste Orange schlug auf dem heißen Asphalt auf und verfehlte den VW und seinen Fahrer nur knapp. Doch diesmal hatte Bob ausmachen können, woher das Geschoss gekommen war. Er sah nach oben. Die Frau im Leopardendress, die sich auf ihrem Balkon gesonnt hatte, hielt eine Schale mit Apfelsinen in der Hand und zielte bereits mit der nächsten. »He! Hören Sie auf damit!« »Werdet ihr wohl endlich verschwinden!«, keifte sie mit seltsam singender Stimme. »Los, macht dass ihr wegkommt, ihr furchtbaren Paparazzi! Hier gibt es nichts zu sehen! Und nehmt den Rollstuhl mit, klar!« Bob war über die Unverschämtheiten dieser Frau so verdutzt, dass er sekundenlang kein Wort herausbrachte. Jelena war dafür umso schneller. Sie kurbelte das Fenster herunter und rief: »Geht’s Ihnen noch gut, junge Frau? Oder hat die Sonne Ihr Gehirn getoastet?« »Ich bin es leid, dass ihr ständig vor meinem Haus herumlungert!« »Ihr Haus?«, antwortete Bob. »Ja, mein Haus, wessen denn sonst? Ich bin nicht pleite, egal was die Zeitungen schreiben! Dass ihr Reporter einen Star wie mich aber auch nie in Ruhe lassen könnt! Und jetzt 50
geht endlich, sonst rufe ich die Polizei!« »Erstens stehen wir auf einer öffentlichen Straße, und hier können wir bleiben, solange wir wollen. Und zweitens … weiß ich überhaupt nicht, wer Sie sind.« »Ha!«, stieß die Frau hysterisch aus. Es klang fast wie ein Lachen. »Und das soll ich glauben? Ich weiß genau, was ihr vorhabt! Ihr werdet wieder stundenlang hier rumstehen, um mich zu beobachten und heimlich Fotos zu schießen! Um sie dann an die Zeitungen zu verkaufen!« »Tut mir Leid, aber Sie müssen uns verwechseln. Wir wollen keine Fotos schießen. Wir haben nicht einmal eine Kamera bei uns.« »Ach nein?«, rief die Frau und lehnte sich so weit über die Balkonbrüstung, dass sie in diesem Moment ein ausgezeichnetes Fotomotiv abgegeben hätte. Fast sah es so aus, als wartete sie darauf, dass Bob eine Kamera zückte und abdrückte. »Und gestern hattet ihr wohl auch keine Kamera dabei, was?« »Gestern?« »Ja, gestern. Oder glaubst du, ich erkenne deinen Wagen nicht wieder?« In diesem Augenblick dämmerte es Bob. »Der Wagen!«, raunte er Jelena zu. »Was ist mit dem Wagen?«, flüsterte sie zurück. »Ich habe den VW Justus und Peter für die Zeit, in der ich weg war, geliehen, weil Peters MG in der Werkstatt ist. Diese Verrückte da oben hat den Wagen wiedererkannt! Das bedeutet …« Bob führte den Gedanken nicht zu Ende, sondern wandte sich nun wieder lauter an die Frau auf dem Balkon, die sich bereits in eine neue Pose geworfen hatte. »Wann sollen wir denn Ihrer Meinung nach hier gestanden haben?« 51
»Na, gestern Nachmittag, du Schlauberger! Stundenlang! Und dann seid ihr auch noch dem armen Jonathan hinterhergefahren! Aber die Fotoredaktion war wohl nicht zufrieden mit den Bildern, was? Ich habe sie heute jedenfalls in keiner Zeitung entdecken können. Und jetzt seid ihr hier, um neue zu machen. Aber nicht mit mir!« Sie warf ihre blonden Locken über die Schulter und schob ihre Sonnenbrille ins Haar. »Jonathan?«, fragte Bob so beiläufig wie möglich. »Ja, Jonathan!«, gab die Frau wütend zurück. »Jonathan Thorndike, nun tu nicht so scheinheilig! Was ist nun, verschwindet ihr freiwillig, oder soll ich die Polizei rufen?« »Wir gehen ja schon«, antwortete Bob. »Aber Sie können froh sein, dass ich nicht wegen Ihnen die Polizei rufe. Zum Glück haben die Orangen keine Beulen in meinem Dach hinterlassen.« »Ihr … ihr wollt wirklich gehen?« Die Verrückte versuchte nicht einmal, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. Dann wurde sie plötzlich wütend. »Ihr verdammten Gören! Macht ein Foto von mir! Bringt mich in die Zeitung! Los!« Sie griff nach einem weiteren Stück Obst, mit dem sie drohend ausholte. Bob beeilte sich, in den Wagen zu steigen. »Die Alte hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!« Er startete den Motor. »He, mein Rollstuhl!«, rief Jelena und öffnete die Tür. »Wir treffen uns hinter dem Haus, okay?« Jelena nickte und kletterte aus dem Wagen. Sobald sie sicher im Rollstuhl saß, gab Bob Gas. Er fuhr bis zur nächsten Straßenecke und bog rechts ab. Auf der anderen Seite des Blocks traf er Jelena wieder. »Mannomann, Hollywood! Hier wohnen wirklich nur bekloppte Stars, Ex-Stars und solche, die sich dafür halten. 52
Diese Dame scheint zur dritten Kategorie zu gehören.« »Trotzdem glaube ich nicht, dass sie gelogen hat. Sie hat meinen Wagen gestern vor dem Haus gesehen. Justus und Peter müssen hier gewesen sein! Und wir wissen auch, was sie hier wollten: Jonathan Thorndike beobachten, sonst wären sie ihm nicht hinterhergefahren. Ich habe seinen Namen vorhin auf dem Klingelschild gesehen, Jelena: Dieser Thorndike wohnt hier!« »Und wer ist er? Auch so ein Pseudostar?« »Ich habe keine Ahnung. Aber wir werden es herausfinden!« Doch so einfach, wie Bob sich das Unternehmen vorgestellt hatte, war es nicht. Es gab nur einen Zugang zum Haus. Und der war zum einen versperrt und zum anderen von der Verrückten bewacht. »Da gibt es nur eine Möglichkeit«, sagte der dritte Detektiv, als sie auf der Rückseite des Gebäudes an der Mauer standen, die das Grundstück umgab. »Ich muss rüberklettern.« Bob vermied es, seinen Blick auf den Rollstuhl zu richten. »Rüberklettern?«, echote Jelena. »Na toll! Und was ist mit mir?« »Du bleibst hier. Schließlich –« »Wir könnten einfach bei Thorndike klingeln und auf dem normalen Weg das Haus betreten!«, unterbrach Jelena ihn schroff. »Diese blöde Kuh auf dem Balkon kann mich mal!« »Das ist zu gefährlich, Jelena. Wir wissen überhaupt nicht, wer dieser Thorndike ist und was er mit Justus’ und Peters Verschwinden zu tun hat. Und solange wir nicht –« »Ach, Blödsinn! Die Wahrheit ist doch, dass die arme, behinderte Jelena mit ihrem Rollstuhl wieder mal im Weg steht, wenn der große Detektiv an seine Ermittlungsarbeit 53
geht. Super, Bob! Aber weißt du was? Ich bin nicht deine Sklavin. Ich kann machen, was ich will. Und ich will dabei sein, wenn –« »Schhh!«, machte Bob, legte beschwörend den Finger an die Lippen, packte kurzerhand Jelenas Rollstuhl und schob sie ein paar Meter von der Mauer fort. »Sag mal, spinnst du!«, empörte sich Jelena, doch Bob ging nicht darauf ein. »Also, erstens«, flüsterte er eindringlich, »nicht so laut! Zweitens: Du weißt, dass du Blödsinn redest, Jelena. Du stehst nicht im Weg. Aber solange die Situation undurchsichtig ist, ist es besser, wenn sich nur einer in Gefahr begibt. Und das sollte derjenige sein, der im Notfall schneller abhauen kann. Du bleibst zur Sicherheit zurück und holst Hilfe, wenn was schief geht.« »Du redest schon wie Justus«, knurrte Jelena und verschränkte zornig die Arme. »Und du solltest dir abgewöhnen, immer wieder deine Rollstuhl-Mitleids-Karte auszuspielen, um deinen Willen durchzusetzen.« Bob biss sich auf die Lippen. Das hätte er vielleicht doch besser für sich behalten, obwohl er es genau so gemeint hatte. Jelena konnte sehr wütend werden, geradezu jähzornig. Gespannt und ängstlich wartete er auf ihre Reaktion. Einen Moment lang funkelte sie ihn böse an. Doch dann verzog sich ihr Mund zu einem schmalen Grinsen. »Das saß«, meinte sie. »Wenn Justus das gesagt hätte, würde ich jetzt einen ganzen Berg gepfefferter, giftiger und strahlenverseuchter Antworten über ihn auskippen. Aber weil du es bist … lasse ich diese Unverschämtheit ausnahmsweise durchgehen. Und jetzt hau schon ab! Wenn ich deine Todesschreie höre, werde ich dir mit meinem Schlachtross aus 54
Aluminium, Stahl und glasfaserverstärktem Kunststoff zu Hilfe eilen und alle Gegner platt walzen.« Sie zwinkerte ihm zu. Bob lächelte erleichtert. »So machen wir’s.« Er kehrte zur Mauer zurück, nahm Schwung und kletterte problemlos auf die andere Seite. Glücklicherweise waren dort einige Büsche gepflanzt, hinter denen Bob sich erst mal verstecken konnte, um die Lage zu sondieren. Er befand sich im Innenhof der Apartmentanlage, dessen Herzstück ein von Palmen umgebener Pool war. Direkt daneben plätscherte ein kleiner Brunnen. Die üppige Begrünung machte aus dem Hof eine Oase der Ruhe. Wer hier wohnte, fast im Herzen der Filmstadt und dennoch so idyllisch, der hatte Geld, da war Bob sicher. Der Pool und die Balkone waren, soweit der dritte Detektiv von seinem Versteck aus sehen konnte, verlassen, doch aus irgendeinem der offenen Fenster drang Radiomusik und woanders lief der Fernseher. Bob kämpfte sich aus dem Gestrüpp heraus und schlich um den Pool herum zu einer großen, metallbeschlagenen Holztür, die ins Haus führte. Sie stand offen. Bob betrat einen kühlen, mit Marmorplatten gefliesten Gang, der zu einem Treppenhaus und einem Fahrstuhl führte. Wenn Bob das Klingelschild richtig interpretiert hatte, wohnte Jonathan Thorndike im zweiten Stock. Er eilte die Treppe empor und stand kurze Zeit später in einem Flur, von dem aus vier Apartments erreichbar waren. An einer der Türen hing ein Schild: Jonathan Thorndike, Kimberly Lloyd. Der mysteriöse Mr Thorndike wohnte also nicht allein hier. Bob war unschlüssig, was er tun sollte. Doch bevor er ei55
nen Plan entwickeln konnte, drang plötzlich eine schrille weibliche Stimme aus dem Apartment: »Glaubst du im Ernst, das nehme ich dir ab, Jim? Ich habe dich gesehen! Du hast direkt vor ihr gestanden, und plötzlich … plötzlich … ist sie zusammengebrochen! Ah, nein, du kannst mir erzählen, was du willst. Sie ist gestürzt! Und da war Blut! So viel Blut! Du hast sie doch nicht etwa umgebracht, Jim! Du hast sie doch nicht etwa umgebracht! Ich … Jim! Jim, warum siehst du mich so an? Du machst mir Angst! Was tust du da? Was … Jim! Jim, hör auf! Ich … aaaaaaahhhh! Hiiilfeee!«
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Kimberly Lloyd Bob handelte, ohne zu überlegen. Es war keine Zeit mehr für einen Plan. Die Frau war in Gefahr! Wild entschlossen griff er nach dem Türknauf. Die Tür war verschlossen. Er rüttelte daran. Und pochte schließlich dagegen. »Aufmachen!«, brüllte er. »Machen Sie sofort die Tür auf! Ich rufe die Polizei!« Drinnen war es still geworden. War es schon zu spät? Doch dann regte sich plötzlich etwas hinter der Tür. Und wenige Sekunden später wurde sie von einer schlanken Frau im Morgenmantel geöffnet. Ihr langes, braunes Haar war zerzaust und sie blickte ihn verwirrt an. »Um Himmels willen«, sagte sie und lachte leise. »Du … hast doch nicht etwa gelauscht?« »Wo ist dieser Kerl?«, fragte Bob forsch und schob sich an der Frau vorbei ins Apartment. »Hat er Sie bedroht? Soll ich die Polizei rufen?« Die Apartmentwohnung war groß und sonnendurchflutet. Bunte Teppiche und Kissen lagen überall auf dem hellen Parkettboden, es gab nur wenige Möbel. Bob sah nach links, sah nach rechts – und stutzte. Hier war niemand. Die Frau kam auf ihn zu. Sie grinste. Und wirkte kein bisschen, als wäre sie noch vor wenigen Sekunden von jemandem bedroht worden. »Kann ich dir irgendwie helfen?« »Ich … ich dachte … Haben Sie nicht um Hilfe gerufen?« Sie schüttelte den Kopf und hielt einen kleinen Stapel gehefteter Blätter in die Höhe. »Das war Catherine.« »Catherine?« 57
»Die Rolle, für die ich gerade den Text lerne. Ich bin nämlich Schauspielerin. Kimberly Lloyd.« »Sie … Sie haben das nur gespielt?« Statt zu antworten, hielt Kimberly ihm das Drehbuch unter die Nase. Bob überflog ein paar Sätze: Und da war Blut! So viel Blut! Du hast sie doch nicht etwa umgebracht, Jim! Der dritte Detektiv spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst. »Ich … ich … es tut mir Leid, Mrs Lloyd, ich wusste ja nicht …« »Miss Lloyd«, korrigierte sie ihn und brach dann in glockenhelles Lachen aus. »Mach dir nichts draus. Es bedeutet ja schließlich, dass ich überzeugend gespielt haben muss, oder?« »Sehr überzeugend«, griff Bob dankbar nach dem Strohhalm, an dem er sich zumindest ein Stückchen aus dem Sumpf der Peinlichkeit ziehen konnte. »Wirklich, das war … große Klasse. Spielen … spielen Sie Theater?« »Film. Catherine wird mich ganz groß rausbringen. Und nun zu dir: Warum lauschst du an meiner Tür? Du wohnst doch nicht hier. Ich habe dich noch nie gesehen.« »Ich … habe nicht gelauscht. Ich bin bloß vorbeigekommen.« »Hast du jemanden besucht?« »Ja.« »Wen?« Bob schluckte. Fieberhaft versuchte er, sich an einen Namen auf den Klingelschildern zu erinnern. Ohne Erfolg. »Ich … Es war niemand da.« »Wer war nicht da?« Bob verfluchte sich innerlich. Warum war er denn bloß so nervös! Sein heldenhafter Versuch, Kimberly Lloyd zu retten, hatte ihn völlig durcheinander gebracht. Warum war er hier? Wegen Jonathan Thorndike! 58
»Na ja, um ehrlich zu sein: Ich wollte zu Mr Thorndike.« Kimberly Lloyd hob überrascht die Augenbrauen. »Zu Jonathan? Der ist nicht da. Was willst du denn von ihm?« »Das ist eine private Angelegenheit«, antwortete Bob und versuchte, den Verlegenen zu spielen – was ihm nicht weiter schwer fiel. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?« »Er ist im Moment ziemlich beschäftigt. Aber vielleicht kann ich dir weiterhelfen.« »Nein, das ist leider nicht möglich. Ich muss ihn persönlich sprechen. Es ist wirklich sehr dringend.« »Geht es um den Film?« »Um den … Film?« »Um den Film. Im Moment wollen alle Leute Jonathan wegen des Films sprechen. Schließlich ist übermorgen Drehstart.« »Das heißt, ich finde ihn vermutlich im Studio?«, fragte Bob. Er hatte seine Frage eigentlich für ziemlich brillant gehalten, schließlich zwang sie Kimberly beinahe dazu, Jonathan Thorndikes Aufenthaltsort preiszugeben. Doch aus irgendeinem Grund veränderte sich Kimberlys Gesichtsausdruck schlagartig. Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Im Studio? Sag mal, wie war doch gleich dein Name?« »Robert«, sagte Bob schnell, und das war nicht einmal gelogen. »Robert. Und weiter?« »Robert … Miller«, antwortete Bob und hoffte, dass Kimberly das winzige Zögern nicht bemerkt hatte. »Nie gehört. Woher kennst du Jonathan?« »Das spielt jetzt überhaupt keine Rolle«, sagte Bob, der plötzlich das ungute Gefühl hatte, in eine Falle getappt zu 59
sein. Er strebte zur Tür. »Wenn er nicht hier ist, werde ich später wiederkommen, okay?« Doch bevor Bob die Tür erreichen konnte, hatte Kimberly ihm schon den Weg versperrt. »Ich finde, du solltest noch ein bisschen bleiben, Robert. Ich glaube dir nämlich kein einziges Wort.« Mit diesen Worten griff sie hinter sich, schloss die Apartmenttür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche ihres Morgenmantels. Dann zog sie ein Handy hervor und wählte eine Nummer. »Hi Vince. Hier ist Kimberly. Komm doch mal kurz rüber. Hier ist ein Typ, der Ärger machen will. Erkläre ich dir später. Beeil dich! Bis gleich!« Mit einem süßlichen Lächeln wandte sie sich wieder Bob zu: »Vince ist mein Fitnesstrainer. Eine beeindruckende Erscheinung. Er wird dich schon zum Reden bringen!« Peters Hand zitterte leicht, als er sie nach der Klinke ausstreckte. Er schloss die Augen und drückte sie hinunter. Die Tür … blieb geschlossen. Peter seufzte. Er hatte es doch nicht geschafft, das Schloss zu knacken. Dabei war er so sicher gewesen! Enttäuscht rüttelte er an der Tür – und plötzlich schwang sie auf. Ein Schwall kalter Luft drang zu ihnen herein. Dahinter lag absolute Dunkelheit. Sekundenlang waren Peter und Jolene sprachlos vor Überraschung. »Es hat geklappt!«, wisperte Jolene. »Ja.« Peter streckte vorsichtig seinen Kopf durch die Tür. Einen winzigen Augenblick lang hatte er die Hoffnung gehegt, sie würde nach draußen führen, in die Freiheit. Doch die eisige Luft machte diese Hoffnung zunichte. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bestätigte 60
sich seine Befürchtung: Vor der Tür lag ein Gang. Ein langer, dunkler Gang, fünf oder sechs Meter breit, mit rauem Betonboden, auf den ein Rechteck aus Licht fiel, in dem sich Peters Silhouette abzeichnete. Der Gang endete links nach wenigen Metern an einer fensterlosen Wand. Rechts verlor er sich bald in der Dunkelheit. Dazwischen reihten sich zu beiden Seiten unzählige geschlossene Stahltüren. Jolene streckte nun ihrerseits den Kopf hinaus. »Und jetzt?« »Jetzt hauen wir ab.« »Abhauen? Aber wie –« »Der Gang muss irgendwo enden. Und einen Weg nach draußen gibt es auch, wir müssen ihn nur finden.« Peter trat einen Schritt hinaus. »Komm schon, Jolene!« Jolene zögerte einen kurzen Moment, dann folgte sie ihm. Den dunklen Gang entlang zu laufen, an den weißen Türen links und rechts vorbei, war wie eine Vision aus einem Alptraum, in dem man rennt und rennt, ohne je sein Ziel zu erreichen. Für einen kurzen Augenblick überlegte Peter, ob er vielleicht tatsächlich träumte. Doch dann riss ihn ein Geräusch zurück in die Wirklichkeit. »Da war was!«, wisperte Jolene, die ebenso wie Peter stehen geblieben war und angestrengt lauschte. »Ja, ich hab’s auch gehört. Ein Klacken.« »Vielleicht sollten wir doch besser umkehren!« »Ach was!«, widersprach Peter und musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um cool und lässig zu klingen. »Das war wahrscheinlich Justus, der hinter einer dieser Türen steckt. Justus!« Peters Stimme hallte endlos wider und klang so schaurig, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Sekunden später hörte er ein unheimliches, dumpfes Pochen. 61
»Da schlägt jemand gegen die Tür!« »Das ist er!«, seufzte Peter und setzte sich wieder in Bewegung. Es dauerte nicht lang, bis sie die Tür gefunden hatten, hinter der immer noch jemand hämmerte. Peter ließ sich auf die Knie nieder. Das Licht reichte gerade noch aus, um das Schloss zu bearbeiten. Nach einer Minute hatte der Zweite Detektiv es geknackt. Er erhob sich und riss die Tür auf. Vor ihm stand eine junge Frau, kaum älter als Peter, klein und schmal und vor Kälte zitternd. Sie blickte verängstigt von Peter zu Jolene und wieder zurück, offensichtlich überlegend, ob sie gerade Freund oder Feind gegenüberstand. Peter wusste nicht, wer überraschter war – sie oder er. »Wer … wer seid ihr? Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Ich verstehe das alles nicht!«
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Der V.B.l.M.k.b.M.W.H. Es klingelte. Kimberly Lloyds Lächeln wurde noch etwas süßlicher und sie drückte auf den Summer. Bob brach der Schweiß aus. Er musste hier raus! So schnell wie möglich! Jede Sekunde würde dieser ominöse Vince hier auftauchen, und dann war es zu spät. Doch Kimberly Lloyd stand immer noch ungerührt vor ihm und dachte nicht einmal daran, den Weg freizugeben, geschweige denn die Tür aufzuschließen. Natürlich konnte Bob versuchen, mit Gewalt zu fliehen. Doch wenn er dann Vince in die Arme lief, war er geliefert. Wenn er hingegen ruhig blieb, hatte er immerhin noch die Chance, sich geschickt aus der Affäre zu reden. Vielleicht. Es klopfte. Kimberly trat rückwärts zur Tür, schloss sie auf und öffnete, ohne hinzusehen. »Das ging aber schnell, Vince. Komm rein! Dieser Bursche hat mich belästigt. Ich dachte, du könntest ihm vielleicht ein paar Manieren beibringen.« »Das will ich gerne versuchen. Verdient hätte er es. Aber mein Name ist nicht Vince, sondern Jelena. Und ich bin hier, um Unterschriften zu sammeln. Wie Ihnen sicher nicht entgangen ist, befindet sich der Aufzug in Ihrem Haus in katastrophalem Zustand. Für eine Rollstuhlfahrerin ist es nahezu unmöglich, sich ohne fremde Hilfe hineinzubegeben. Der Verein zur Beseitigung von lebenserschwerenden Missständen für körperlich beeinträchtigte Mitbürger in West Hollywood, kurz V.B.l.M.k.b.M.W.H., dessen Vorstand und bisher einziges Mitglied ich bin, hat es sich zur Aufgabe gemacht, gegen diese skandalösen Umstände vorzugehen. Sie können kostenlos Mitglied werden und erhal63
ten dafür vierteljährlich den Vereinsnewsletter. Eine kleine Spende würde dem Verein jedoch auch schon weiterhelfen. Die Beseitigung von lebenserschwerenden Missständen für körperlich beeinträchtigte Mitbürger in West Hollywood geht alle etwas an, auch Sie.« Während ihres Vortrags hatte Jelena kaum Luft geholt. Stattdessen war sie, ohne zu fragen, einfach Stück für Stück in das Apartment gerollt, und hatte die völlig verdatterte Kimberly immer weiter zurückgedrängt, bis sie schließlich am anderen Ende des Raums stand und zwischen Balkontür und Jelena eingekeilt war. »Sag mal, bist du völlig verrückt geworden?«, brachte sie hervor und gewann langsam die Fassung zurück. »Entnehme ich Ihrer Frage, dass Sie kein Interesse haben, Mitglied zu werden?« »Allerdings! Und jetzt raus hier, du geisteskranke Kuh!« »Okay. Wiedersehen.« Jelena drehte und beeilte sich, das Apartment zu verlassen. Bob hatte selbstverständlich die Gelegenheit genutzt zu verschwinden. Er wartete auf dem Flur auf sie. »Weg hier!«, raunte er, packte den Rollstuhl und rannte los. »He! Bleibt stehen!«, rief Kimberly, aber Bob war schon um die nächste Ecke verschwunden und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihm, dass die Kabine nach unten gerufen worden war. »Vince!«, raunte Bob. »Er kommt rauf!« Er sah sich panisch um. Es wäre kein Problem gewesen, die Treppe zu nehmen, aber mit dem Rollstuhl … Jelena riss sich los und steuerte auf eine schmale Tür direkt gegenüber dem Fahrstuhl zu. Sie stieß sie auf. Dahinter lag eine kleine, dunkle Besenkammer, in der Eimer, Staub64
sauger und Putzzeug aufbewahrt wurden. Ohne Rücksicht auf Verluste schob sie ihren Rollstuhl hinein. Besen und Eimer fielen um, eine Flasche Essigreiniger kippte aus einem Regal und verfehlte nur haarscharf ihren Kopf. »Nun komm schon!« Das ließ Bob sich nicht zweimal sagen. Er sprang in die Kammer, stellte mit einem letzten Blick auf die Anzeige fest, dass der Fahrstuhl bereits auf dem Weg nach oben war, und schloss die Tür. Augenblicklich umfing ihn die Dunkelheit. Mit angehaltenem Atem lauschte er. Die Kabinentür glitt auf. Schwere Schritte traten heraus auf den Gang. Dann erklang Kimberlys Stimme von weitem: »Vince! Hast du sie erwischt?« »Erwischt?«, dröhnte ein lauter Bass. »Wen?« »Na, diesen Jungen und seine Freundin im Rollstuhl. Sie müssen dir doch entgegen gekommen sein!« »Mir ist niemand begegnet. Was ist denn überhaupt los?« »Ich weiß nicht. Da war dieser Junge. Robert Miller heißt er angeblich. Er wollte was von Jonathan. Aber etwas stimmte nicht mit dem Burschen. Ich glaube, er wollte mich ausspionieren.« »Ausspionieren? Meinst du etwa, es hat jemand was mitbekommen?« »Ich habe keine Ahnung!« »Wo steckt Jonathan denn überhaupt?« »Ich weiß es nicht! Das macht mir ja solche Sorge. Ich habe heute Morgen das letzte Mal mit ihm telefoniert, da sagte er, dass etwas schief gelaufen sei und er dringend zur Lasoma müsse. Und dass ich ihn später wahrscheinlich nicht mehr erreichen könne, weil sein Handy dort unten nicht funktioniert.« »Dort unten? Was meinte er damit?« 65
»Ich weiß nicht. Ich habe nur ganz kurz mit ihm geredet, er war furchtbar in Eile.« »Und was will er in der Lasoma?« »Ich habe keine Ahnung.« Die Stimmen entfernten sich langsam. Bob wagte wieder zu atmen. Kimberlys Stimme war nur noch ganz leise zu hören: »Aber dieser Bursche, dieser Robert … wenn er dir nicht entgegen gekommen ist – dann muss er ja noch irgendwo hier stecken.« »Wo denn?« Kimberly schwieg. Und Bob rutschte das Herz in die Hose. »Wenn sie nicht völlig bescheuert ist, wird sie jeden Moment drauf kommen, wo wir stecken!«, raunte Jelena. »Wir müssen abhauen!« Sie stieß Bob unsanft in die Kniekehlen. Bob verlor den Halt, stolperte nach vorn und fiel aus der Besenkammer in den Flur. »Da war was!«, rief Kimberly. Sie war mit Vince bereits um die Ecke verschwunden. Doch nun näherten sich ihre schnellen Schritte. Bob rappelte sich auf und hämmerte auf den Fahrstuhlknopf. Unendlich langsam glitt die Tür auf. Sie schlüpften in die Kabine und Jelena drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss. Kimberly und ein zwei Meter großer Kerl, breit wie ein Schrank und mit Unterarmen so dick wie Bobs Oberschenkel, rannten auf sie zu. Die Schiebetür dachte gar nicht daran, sich zu schließen. Dann, als Vince sie schon fast erreicht hatte, tat sie es doch. Er schlug noch mit der Faust gegen das Stahlblech, doch es war schon zu spät. »Ciao, Vince!«, rief Bob und die Kabine setzte sich in Bewegung.
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Die junge Frau hieß Leah. Das herauszukriegen, war nicht weiter schwierig gewesen. Für alles andere brauchten Peter und Jolene erheblich länger. Leah war verschwiegen. Nach der Erleichterung, nicht mehr eingesperrt zu sein, hatte sie erst die ganze Geschichte von Jolene und Peter hören wollen, bevor sie das erste Wort über sich selbst verlor. Im Gegensatz zu ihnen war sie vor einer halben Stunde ganz allein in diesem Raum aufgewacht. Der Rest deckte sich beunruhigend genau mit Peters und Jolenes Erfahrungen: Leah wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie hierher gekommen war. Schnell war sie panisch geworden. Doch nun, in Jolenes und Peters Gesellschaft, beruhigte sie sich erstaunlich schnell und strahlte schon bald eine kühle Gelassenheit aus, die den Zweiten Detektiv nachhaltig beeindruckte. »Das ist eine sehr verworrene Geschichte.« »Das kannst du laut sagen«, stimmte Jolene zu. »Was habt ihr nun vor?« »Justus muss irgendwo in der Nähe sein«, antwortete Peter. »Wir müssen ihn finden und befreien! Mit seiner Hilfe werden wir schon hier herauskommen, da bin ich ganz sicher.« Leah nickte sachlich. »Gut. Dann los!« Nachdem die beiden jungen Frauen den Raum verlassen hatten, sah Peter sich noch einmal um. Hier war es genauso kahl und weiß wie in ihrem eigenen Gefängnis, die Räume waren beinahe identisch. Allerdings fehlten die Wasserrohre an den Wänden. Und damit gab es keine Möglichkeit, eine Kamera zu verstecken. »Kommst du?«, fragte Jolene. Peter drehte sich um und trat zurück in den Gang. Es wurde Zeit, dass er sich um den Ersten Detektiv kümmerte.
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Seit einer halben Stunde herrschte eisiges Schweigen. Justus ging in ihrem kalten Gefängnis auf und ab, um sich vom Frieren abzulenken, während sich Shawn wieder in seine Ecke verkrochen hatte und den Ersten Detektiv unentwegt beobachtete. Justus tat so, als würde er es nicht merken. Doch Shawns bohrende Blicke aus seinen fast schwarzen Augen waren beinahe körperlich zu spüren. Justus konnte sich nicht konzentrieren. Shawn brachte ihn allein durch seine Anwesenheit und sein Schweigen völlig aus dem Konzept. Sein düsterer Blick schien alle Gedanken aus Justus’ Gehirn zu saugen. Schließlich blieb er frustriert und wütend stehen und wandte sich an Shawn: »Was soll das?« »Was soll was?« »Warum starrst du mich an?« »Ich starre nicht.« »Du verfolgst mich mit deinem Blick. Meinst du, ich merke das nicht?« »Wohin soll ich denn sonst sehen? Hier ist ja nicht viel.« »Das macht mich nervös. Ich kann nicht denken.« »Du Ärmster. Aber falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Denken hat uns bis jetzt noch keinen Schritt weiter gebracht.« »Ach nein?«, begehrte Justus auf. »Und was ist mit Peter? Und der Kamera?« »Toll, Justus, wirklich toll! Und was bringt es uns, dass dein dubioser Kumpel auch irgendwo hier unten festsitzt? Gar nichts! Wir sind immer noch eingesperrt. Also hör auf, dich wichtig zu machen.« »Dann hör du endlich auf zu lügen!«, fauchte Justus und biss sich auf die Lippe. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, das Gesagte abzuschwächen oder in eine an68
dere Richtung zu lenken. Doch ein Blick in Shawns Gesicht machte ihm klar, dass Shawn bereits Lunte gerochen hatte. Er wusste jetzt, dass Justus ihm nicht traute. Schlimmer noch: dass er einen konkreten Verdacht hegte. »Was willst du damit sagen?«, fragte Shawn drohend. Justus blieb nur noch die Flucht nach vorn: »Du verheimlichst mir etwas. Ich weiß es. Es hat keinen Sinn, es zu leugnen.« »Ich verheimliche dir etwas«, wiederholte Shawn bemüht gelassen. »Verrätst du mir auch, was das sein könnte und wie du darauf kommst?« »Gerne. Du sagtest gerade, dass wir hier unten festsitzen. Hier unten. Wie kommst du darauf, dass wir irgendwo unten sind?« Shawn verdrehte die Augen. »Weil hier keine Fenster sind, du Superdetektiv.« »Und was ist mit dem Lagerhaus?«, fuhr Justus unbeirrt fort. »Vorhin sprachst du von einem Lagerhaus. Schließt du das auch aus der Tatsache, dass es keine Fenster gibt?« »Das war geraten, Mann!« »Geraten. Shawn, niemand wäre einfach so auf ein Lagerhaus gekommen. Und was war dein verdammtes Problem mit der Kamera?« »Wovon redest du überhaupt?« »Als ich die Kamera entdeckte und abmontierte, warst du wenig begeistert. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, es wäre dir lieber gewesen, wenn ich sie nicht gefunden hätte. Kannst du mir glaubhaft machen, dass ich unter Wahnvorstellungen leide und mir das alles nur einbilde, oder bist du bereit, mir endlich die Wahrheit zu sagen?« 69
Shawn verschloss sein Gesicht, blickte ihn ausdruckslos an und gab nicht das kleinste Fünkchen von dem preis, was in ihm vorging. Als er schließlich antwortete, war auch seine Stimme völlig emotionslos: »Ich weiß nicht, wovon du redest. Ein kalter, kahler Raum ohne Fenster – sieht für mich nach einer unterirdischen Lagermöglichkeit für beispielsweise tiefgekühlte Lebensmittel aus. Oder sonst was. Ist dir der Fischgeruch noch nicht aufgefallen? Fische werden nach dem Fang auf Eis gelegt und vor oder nach der Weiterverarbeitung gelagert. Wir könnten in einer Fischfabrik sein.« Justus verkniff sich eine Zustimmung. Shawn hatte Recht. Diese Theorie war tatsächlich stimmig. Und er hätte selbst daraufkommen können. War er aber nicht. »Und was ist mit der Kamera?« Shawn lächelte dünn. »Nur weil ich nicht so ein Wichtigtuer bin wie du, der meint, all seine Erkenntnisse sofort in gedrechselte Worte fassen zu müssen, heißt das nicht, dass ich etwas zu verbergen habe. Es ist mir nur egal, verstehst du. Ich will nicht dumm rumlabern und so tun, als könnte ich mich durch bloßes Reden durch diese Tür beamen. Ich will einzig und allein hier raus.« »Dann haben wir das gleiche Ziel. Und trotzdem bremst du jede meiner Bemühungen, uns zu befreien, aus. Ich –« Shawn sprang blitzschnell auf. Die Maske der Gleichgültigkeit war innerhalb eines Augenblicks zu Staub zerfallen. Jetzt war sein Gesicht wutverzerrt. »Jetzt hör mir mal zu! Ich habe dein Gequatsche langsam satt! Es bringt uns nichts, verstanden! Also lass mich endlich in Ruhe mit deinen albernen Verschwörungstheorien! Wenn du meinst, du kannst uns hier rausholen, dann tu es gefälligst, anstatt dich aufzuplustern! Ansonsten halt die Klappe! Und unterstell 70
mir nie wieder, ich hätte irgendwas mit dieser beknackten Kamera oder sonst was zu tun! Im Gegenteil: Sollte ich rauskriegen, dass du irgendein Spielchen spielst und hinter der Sache steckst, dann mache ich Kleinholz aus dir. Verstanden?« Während Shawn ihn angebrüllt hatte, war er immer weiter auf Justus zu gelaufen. Nun waren ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Justus spürte seinen warmen Atem. Etwas knackte. Das Geräusch kam von der Tür. Shawn und Justus wandten ihre Blicke. Plötzlich schwang die Tür auf und Peter streckte den Kopf herein. »Tag«, sagte er und schlenderte lässig in den Raum. »Na, Just? Alles fit?«
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Verschollene Vergangenheit Nachdem Justus seine Sprache wiedergefunden hatte, gab es kein Halten mehr. Er und Peter redeten unablässig aufeinander ein. Auch Jolene, Shawn und Leah stellten sich vor und berichteten einander, was passiert war. Minutenlang waren Peter und Justus so erleichtert, sich gefunden zu haben, dass sie die Situation, in der sie sich befanden, komplett vergaßen. Nach einer Weile war es Shawn, der den Redeschwall unterbrach. »Ist ja super, dass wir jetzt alle Freunde sind, aber können wir endlich hier verschwinden?« Justus verkniff sich eine bissige Bemerkung und nickte. »Shawn hat Recht. Um die Frage, wie wir hierher gekommen sind, können wir uns später kümmern. Jetzt sollten wir erst mal versuchen, einen Ausgang zu finden.« Er trat hinaus auf den Gang und blickte links und rechts in die Dunkelheit. »Wie weit seid ihr gekommen?«, fragte er Peter flüsternd. »Unser Gefängnis war dahinten«, antwortete der Zweite Detektiv und wies nach links. »Und Leahs dort. Was auf der anderen Seite ist, wissen wir noch nicht.« »Dann los!« Shawn drängelte sich an den beiden Detektiven vorbei und übernahm die Führung. Justus ließ ihn widerspruchslos gewähren. Shawn hatte ihm oft genug vorgeworfen, sich wichtig zu machen. Dies war die Gelegenheit ihm zu beweisen, dass er sich getäuscht hatte und es Justus nicht darum ging, um jeden Preis der Anführer zu sein. Das Licht fiel schnell hinter ihnen zurück. Schon bald tappten die fünf durch eine bläulich-kalte Dunkelheit. Mit 72
jedem Schritt wurde das Licht schwächer. Bis Shawn stehen blieb und auf einen Schalter an der Wand drückte. Ein blau-weißer Blitz zuckte durch die Dunkelheit, und einen Augenblick später flammte eine Neonröhre an der Decke auf. Dann eine zweite. Und wie eine zuckende, summende Welle setzte sich das Licht in beide Richtungen des Ganges fort und beleuchtete schmutzig-weiße Betonwände und matte Stahltüren, von denen die graue Farbe abblätterte. Justus, Peter und Jolene verharrten in der Bewegung wie Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Mach’s wieder aus!«, raunte Peter. »Wieso denn?«, gab Shawn in normaler Lautstärke zurück. »Wir haben fast nichts mehr gesehen.« Auch Leah blieb gelassen. »Wollt ihr euch im Dunkeln verstecken? Vor wem denn? Es ist doch niemand hier.« »Aber …« Peter verstummte. Natürlich hatten die beiden Recht. Trotzdem blieb das mulmige Gefühl, sich plötzlich auf dem Präsentierteller zu bewegen und einer unbekannten Macht ausgeliefert zu sein. Der Gang endete nach fünf oder sechs weiteren Türen an einem etwa drei Meter breiten Rolltor aus verschrammtem Aluminium. Es war verschlossen, wie Peter mit einem schnellen Blick auf den Mechanismus im Boden. »Kriegst du es auf?«, fragte Shawn. »Mit Rolltoren kenne ich mich nicht so aus. Außerdem fehlt mir das passende Werkzeug. Aber ich werde es versuchen.« »Was ist mit den anderen Türen?«, warf Leah ein. »Es wäre doch gut möglich, dass noch mehr Leute hier unten sind. Die vielleicht noch nicht aufgewacht sind oder sich nicht trauen, auf sich aufmerksam zu machen?« 73
»Du hast Recht«, sagte Justus. »Es wäre unverantwortlich, jemanden hilflos zurückzulassen. Wir sollten erst alle anderen Räume überprüfen, bevor wir uns an das Rolltor wagen.« »Bevor ich mich an das Rolltor wage«, korrigierte Peter, nickte dann aber und blickte den Gang zurück. »Das sind bestimmt zwanzig Türen auf jeder Seite. Das wird eine Weile dauern.« Der Zweite Detektiv wandte sich der ersten Tür auf der rechten Seite zu und bearbeitete das Schloss. Schon bald hatte er Erfolg. Der Raum dahinter unterschied sich in nichts von den drei Räumen, die sie bereits kannten. Tür für Tür arbeitete er sich nun durch den Gang vor, wobei Justus, Shawn, Jolene und Leah ihn begleiteten und ihre Lage ausführlicher besprachen. »Wir sollten die Zeit nutzen und uns fragen, warum wir überhaupt hier sind«, sagte Justus. »Ich meine: Warum ausgerechnet wir? Es muss eine Gemeinsamkeit zwischen uns geben.« »Wir sind alle etwa im gleichen Alter«, meinte Jolene. »Na ja, Peter und du seid ein paar Jahre jünger. Und wir kommen aus der gleichen Gegend. Aber sonst … Was wir so treiben und woran wir uns erinnern, haben wir ja schon besprochen. Da sehe ich keine Gemeinsamkeiten.« »Wirklich nicht?«, fragte Leah. »Was sind die letzten Bilder in eurem Gedächtnis?« Justus, Shawn und Jolene berichteten nacheinander von ihren Erinnerungen. »Bei mir ist es ganz ähnlich«, sagte Peter. »Ich weiß noch, dass wir auf dem Schrottplatz waren. Deine Tante wollte irgendwas von uns. Aber ich habe keine Ahnung mehr, was 74
es war. Die Erinnerung … wird immer dünner. Als ob man nicht ganz sicher ist, ob man etwas geträumt oder wirklich erlebt hat.« »Genau wie bei mir«, meinte Leah. »Ich saß mit meinem Bruder im Auto. Wir waren gemeinsam einkaufen. Und dann … wird es blasser, bis schließlich nichts mehr da ist.« »Gar nichts mehr?«, hakte Justus nach. »Gar nichts mehr. Und bei dir?« Justus dachte an das Bild der axtförmigen Insel, das ihm durch den Kopf geschossen war. Und da war noch etwas gewesen, als er aufgewacht war. Ein Traum. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, worum es gegangen war. Oder ob er überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Aber zumindest können wir festhalten, dass die Amnesie bei uns allen etwa zur gleichen Zeit einsetzt, nämlich gestern Nachmittag. Also, wenn wir Peters Uhr Glauben schenken dürfen, vor ungefähr vierundzwanzig Stunden.« »Aber wie?«, fragte Jolene. »Wie kann es sein, dass fünf Menschen vollkommen unabhängig voneinander das Gedächtnis verlieren und sich hier wiederfinden? Ich meine, sind wir hier wegen des Gedächtnisverlusts – oder haben wir das Gedächtnis verloren, weil wir hier sind? Und wie ist das überhaupt möglich – dass die Erinnerungen plötzlich aufhören?« Justus seufzte. »Ich habe natürlich keine Beweise, aber je länger ich über das Phänomen unserer kollektiven Amnesie nachdenke, desto sicherer bin ich, eine Erklärung dafür zu haben.« »Eine Erklärung?« Jolene blickte verblüfft zu den anderen. Leah wirkte ähnlich gespannt wie sie, während Shawn 75
den Ersten Detektiv misstrauisch beäugte. »Was für eine Erklärung?« »Die ganze Geschichte erinnert mich an einen Fall, in den wir mal verwickelt waren. Wir begegneten ein paar Leuten, die ebenfalls ihr Gedächtnis verloren hatten. Am Ende stellte sich heraus, dass ihnen etwas verabreicht worden war: eine flüssige Substanz, die ihnen die Erinnerung raubte.« ∗ »Just!«, rief Peter entsetzt. »Aber natürlich! Diese Leute wurden doch auch von Kameras beobachtet!« Und an Jolene, Leah und Shawn gewandt fuhr er fort: »Ein paar Bekloppte, die zu viel Zeit und zu viel Geld hatten, fanden es lustig, Wetten darauf abzuschließen, wie ihre Versuchspersonen in bestimmten Situationen reagierten. Das waren Leute vom Fernsehen. Just, meinst du etwa … mit uns passiert gerade genau das Gleiche?« »Ich glaube nicht, Zweiter. Es würde keinen Sinn ergeben, denn wir befinden uns ja immer noch in einer absurden Situation, obwohl wir die Kameras längst entdeckt haben. Außerdem waren nur in eurem und in unserem Raum Kameras. Bei Leah und in den anderen gibt es keine. Und hier auf dem Gang auch nicht, ich habe mich schon genau umgesehen. Fragt mich nicht, was das zu bedeuten hat, aber eines ist sicher: Der Fall liegt definitiv anders als damals im Tal des Schreckens, auch wenn ich die Zusammenhänge noch nicht durchschaue.« »Und was ist mit den Opfern passiert?«, fragte Leah gespannt. »Haben sie ihr Gedächtnis wiedererlangt?« »Nein. Die Stunden, auf die sich der Verlust ihres Erinnerungsvermögens ausweitete, waren unwiederbringlich ver∗
siehe »Die drei ??? – Tal des Schreckens« 76
loren. Sie konnten sich nur manchmal ganz verschwommen an kurze Szenen erinnern, die ihnen jedoch wie ein Traum vorkamen. Ich muss zugeben, auch ich habe das unbestimmte Gefühl, dass es irgendwelche Traumbilder in meinem Kopf gibt. Aber ich komme nicht an sie heran. So wie man manchmal nach dem Aufwachen weiß, dass man einen Alptraum hatte, ohne sich daran erinnern zu können, was genau es war. Aber wie dem auch sei, die einzig logische Erklärung für die Situation, in der wir uns befinden, ist diese oder eine sehr ähnliche Substanz, die uns irgendjemand verabreicht haben muss. Vermutlich die gleiche Person, die uns hier eingesperrt hat.« Für eine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen, während Peter von der rechten auf die linke Seite des Ganges wechselte und sich nun Tür für Tür wieder Richtung Rolltor bewegte. »Na schön«, murmelte Jolene schließlich. »Jemand hat uns also etwas eingeflößt. Aber wer? Und warum? Was soll das alles?« »Was das soll?«, fragte Shawn, der sich bisher auffällig zurückgehalten hatte, grimmig. »Das kann ich dir sagen, Jolene.« Ohne Vorwarnung rannte Shawn auf den Ersten Detektiv zu, packte ihn am Kragen und stieß ihn hart gegen die Wand. »Das heißt, dass Justus ein ganz übles Spiel spielt!«
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Lasoma Erst als bereits eine Meile zwischen dem gelben VW Käfer und der Richmond Road lag, wagte Bob aufzuatmen und sich ein wenig zu entspannen. Bis zur letzten Sekunde hatte er gedacht, Kimberly und Vince würden die Verfolgung aufnehmen. Doch so brenzlig die Situation auch gewesen war – Bob und Jelena waren offenbar nicht wichtig genug gewesen. »Du hast noch gar nichts gesagt«, brach Jelena das Schweigen. »Wozu?« »Zu meinem Auftritt. War der nicht klasse?« »Doch.« Bob lächelte zum ersten Mal seit ihrer Flucht. »War er. Danke. Woher wusstest du, dass ich Hilfe brauchte?« »Ich wusste es nicht. Ich hatte nur den Eindruck, du seiest schon viel zu lange in diesem Apartment. Also habe ich einfach geklingelt.« »Jelena, ich war höchstens fünf Minuten da drin.« »Sag ich doch: zu lange.« »Und die Verrückte?« Sie lachte. »Die hat rumkrakeelt, aber das war mir herzlich egal.« Bob seufzte. »Auf jeden Fall hast du mich gerettet. Vince hätte noch verdammt unangenehm werden können. Das Dumme ist: Ich konnte kaum etwas herausfinden. Jonathan Thorndike hat etwas mit Film zu tun und ist gerade schwer beschäftigt. Aber ob und wie Justus und Peter in diese Geschichte passen – keine Ahnung.« 78
»Trotzdem ist dieser Thorndike unsere einzige Spur. Was hat Kimberly zu Vince gesagt, wo er hinwollte?« »Zur Lasoma«, antwortete Bob. »Was immer das ist. Ich habe noch nie davon gehört.« »Zur Lasoma«, wiederholte Jelena nachdenklich, und fast erwartete Bob, sie würde jeden Moment an ihrer Unterlippe zupfen. »Das klingt nicht nach einem Namen, eher nach einer Abkürzung. Wofür könnte die stehen?« Bob hatte einen Geistesblitz: »La könnte L.A. sein. Los Angeles.« »Gute Idee! Und der Rest?« Anstatt weiter über den Rest der Abkürzung nachzudenken, wandte Bob den Blick aus dem Seitenfenster und fuhr etwas langsamer. »Was suchst du?« »Jemanden, der uns weiterhelfen kann.« Drei Blocks weiter wurde Bob fündig. Er trat auf die Bremse, parkte am Straßenrand und stieg aus. »Bin gleich wieder da!« Ein Reisebüro, in dessen Schaufenster Plakate für Stadtrundfahrten und Besichtigungstouren hingen, hatte Bobs Aufmerksamkeit erregt. Die Dame am Tresen wusste zwar auf Anhieb nichts mit Lasoma anzufangen, doch sie hatte umfangreiches Material über Los Angeles vorliegen, und nachdem sie eine Weile in Adressbüchern und langen Listen städtischer Organisationen geblättert hatte, wurde sie fündig. Bob strahlte, bedankte sich und kehrte aufgeregt zurück zum Wagen. »L.A.S.O.M.A.!«, rief er beim Einsteigen. »Los Angeles School Of Method Acting. Eine Schauspielschule!« »Wow!« Jelena war beeindruckt. »Dieser Thorndike hat etwas mit Filmen zu tun, ja? Das passt. Aber was genau will er in einer Schauspielschule? Und was kann das alles 79
mit einem Fall zu tun haben?« »Das werden wir schon rauskriegen. Auf zur Lasoma!« »He!«, röchelte Justus. »Bist du völlig verrückt –« »Schnauze, Jonas! Sobald du den Mund aufmachst, lügst du!« »Shawn!«, flehte Jolene. »Lass ihn los!« »Was soll denn das jetzt?«, rief Leah ärgerlich. »Jetzt spuck’s endlich aus, Justus! Was läuft hier?« »Ich weiß es nicht!«, beteuerte Justus. »Ich glaub dir kein Wort!« Plötzlich wurde Shawn gepackt und herumgerissen. Peter war seinem Freund zu Hilfe geeilt. »Hör auf damit!« Shawn schien einen Moment lang mit sich zu ringen, ob er auch Peter angreifen sollte, doch dann wurde ihm wohl bewusst, dass er gegen den sportlichen Zweiten Detektiv und Justus keine Chance hatte. Schwer atmend trat er ein paar Schritte zurück und funkelte beide abwechselnd wütend an. »Ihr könnt mir nichts mehr erzählen! Ich weiß, dass ihr hinter der Sache steckt!« »Aber Shawn, das ist absoluter Blödsinn!«, widersprach Justus. »Ich finde auch, Shawn, Justus hat doch nur versucht –«, begann Jolene, doch sie wurde schroff von Shawn unterbrochen. »Justus hat von Anfang an versucht, uns ein Märchen nach dem nächsten aufzutischen! Vergessenstrank! Dass ich nicht lache! Ganz zufällig ist unser werter Mitgefangener Justus Jonas der Einzige, der jemals davon gehört hat. Genauso, wie er zufällig das Morsealphabet beherrscht. Und sein Kollege es zufällig draufhat, Schlösser zu knacken. 80
Fällt dir nichts auf, Jolene? Sie sind die beiden Einzigen, die sich schon vorher kannten. Die Burschen wollen uns auf den Arm nehmen! Die wissen genau, was hier läuft. Nämlich irgendein hinterhältiges Psycho-Spielchen. Ich habe dir von Anfang an nicht getraut, Justus Jonas. Aber mit deinem komischen Trank hast du dich gerade endgültig selbst entlarvt.« »Shawn, ich habe dir schon tausend Mal erklärt –« »Ich glaube dir kein einziges Wort mehr!« »Jetzt beruhige dich doch, Shawn«, versuchte es Peter, doch es war sinnlos. Shawn schäumte vor Wut. »Wisst ihr was? Ich würde die Wahrheit aus euch herausprügeln, aber ich weiß, dass ich gegen euch beide keine Chance habe. Ab jetzt könnt ihr machen, was ihr wollt. Ich spiele euer Spiel nicht mehr mit.« »Aber –« Shawn drehte sich um und verließ die Gruppe. Er marschierte den Gang hinunter in die Richtung, die vom Rolltor wegführte. An der Wand angekommen, hockte er sich auf den Boden und starrte finster zu den anderen herüber. »Sag mal, spinnt der?«, fragte Peter. Justus winkte ab. »Lass ihn, Peter. In gewisser Weise kann ich ihn sogar verstehen. Wenn sich mir gegenüber jemand so verhielte, wäre ich auch skeptisch. Aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Machen wir einfach weiter wie geplant!« Peter kehrte an seine Arbeit zurück. Zehn Minuten später hatte er alle Türen geöffnet. Überall mit dem gleichen Ergebnis: Die Räume waren kalt, dunkel und leer. Es gab keine weiteren Gefangenen. Nur der alles durchdringende Fischgeruch war noch penetranter geworden. Der Zweite Detektiv rümpfte die Nase. 81
»Hier muss tonnenweise Fisch gelagert worden sein. Es ist ekelhaft!« »Leider bringt uns diese Erkenntnis nicht weiter«, antwortete Justus und bewegte sich auf das Rolltor zu. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.« »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Leah. »Wie meinst du das?« »Naja, immerhin wissen wir nicht, was uns hinter dem Tor erwartet. Hier sind wir in relativer Sicherheit. Hinter dem Rolltor jedoch … könnte alles Mögliche auf uns lauern.« Justus schüttelte lächelnd den Kopf. »Was immer hinter diesem Tor ist – es wird uns den Antworten auf unsere Fragen näher bringen. Peter, mach dich ans Werk!« Doch so einfach war es nicht. Sosehr sich Peter auch bemühte, er schaffte es nicht, mit seinem behelfsmäßigen Werkzeug das Schloss zu knacken. Nach einer Viertelstunde gab er erschöpft auf. »Sorry, Justus, aber es geht nicht. Dieses Schloss ist einfach zu kompliziert für zwei simple Metallbügel. Wir müssen etwas anderes versuchen.« »Etwas anderes?«, fragte Leah. »Willst du das Tor etwa aufbrechen? Das wird nie klappen.« Justus zupfte an seiner Unterlippe. »Wieso eigentlich nicht? Wenn wir einen Hebel benutzen würde …« Er brach ab, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. »Das ist die Idee! In ein paar Räumen habe ich dünne, stabile Heizungsrohre gesehen! Wenn wir die irgendwie aus der Wand reißen, dann könnte das mit dem Hebel klappen! Komm mit, Peter!« Sie eilten von Raum zu Raum, bis sie schließlich ein Rohr fanden, das sofort nachgab, als Peter sich mit seinem ganzen Gewicht dranhängte. Aufgeregt kehrten sie damit zu82
rück, schoben es zu einem Drittel unter dem Spalt des Tores hindurch und packten das andere Ende fest mit beiden Händen. »Auf mein Kommando, Zweiter. Eins, zwei, drei!« Peter und Justus zogen mit aller Kraft. Wie Spitzensportler, die versuchten, ein Gewicht zu heben, stemmten sie sich dagegen, bis die Gesichter vor Anstrengung glühten. Justus wollte schon aufgeben, da knirschte plötzlich das Schloss. Er mobilisierte die letzten Kräfte und riss ein letztes Mal an der Stange. Es gab ein berstendes Geräusch und schon ratterte das Rolltor mit einem Höllenlärm nach oben. Der Krach hallte endlos durch den langen Gang und wieder zurück und es dauerte vier, fünf Atemzüge, bis das Echo endgültig verklungen war. Das Tor war offen.
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Der direkte Weg Die Los Angeles School Of Method Acting lag am Rande von West Hollywood auf einem Hügel, von dem aus man freien Blick auf die berühmten weißen HollywoodBuchstaben hatte. In Zusammenhang mit der Schauspielschule wirkten sie wie ein Versprechen. Das Gebäude selbst fand Bob furchtbar. Es wirkte klobig, eng und verwinkelt und stach durch braune Plastikverkleidungen an der Fassade und getönte Scheiben ins Auge. »Hübsch«, urteilte Jelena ironisch und bewegte sich auf den Haupteingang zu, wo reges Treiben herrschte. Die Studenten liefen hektisch rein und raus, alle hatten Papiere, Instrumente oder Sporttaschen bei sich, und auf einer kleinen Grünfläche in der Nähe hatte sich ein Grüppchen versammelt, das sich im Atmen und Tonleitersingen übte. Im Inneren sah es nicht viel anders aus: Auch in der Eingangshalle, die farblich ähnlich schlimm wie die Außenfassade gestaltet war, herrschte Hektik. Und auf kleinen Bänken, Tischen und Sitzgruppen saßen die Schauspielschüler und rezitierten leise vor sich hin, fragten sich gegenseitig ab oder dehnten und lockerten ihre Muskeln für den Tanzunterricht. Niemand nahm Notiz von Bob und Jelena. »Und was jetzt?«, fragte Jelena. Bob sah sich unschlüssig um und steuerte dann auf das schwarze Brett zu, eine riesige Pinnwand, vor der mindestens zehn Schüler standen. Sie beanspruchte die gesamte Länge der linken Wand und war übersät mit kleinen und großen, offiziell und weniger offiziell aussehenden, schlichten und knallbunten Zetteln. Hier wurden Lehrveranstal84
tungen angekündigt, Partys und private Lerngruppen, es wurden Apartments und Zimmer gesucht oder angeboten, Kursplätze getauscht und gebrauchte Bücher verkauft. Bob versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Er hatte die absurde Hoffnung, irgendwo in diesem Zettelwald den Namen Jonathan Thorndike zu entdecken. Aber warum sollte Thorndike hier etwas ans schwarze Brett gepinnt haben? »So ein Mist«, knurrte Bob. »Wir haben die Lasoma gefunden, aber das bringt uns überhaupt nichts. Selbst wenn Jonathan Thorndike hier ist, wir würden ihn ja nicht mal erkennen! Was sollen wir jetzt machen?« Er sah zu Jelena. Die war beschäftigt. Sie hatte einen großen Zettel einfach abgerissen. Nun beschrieb sie mit einem Kugelschreiber die leere Rückseite. Als Bob entzifferte, was sie da schrieb, geriet er fast in Panik. Suche Jonathan Thorndike! »Sag mal, spinnst du?«, japste er. »Nein. Du?« Bob blickte sich hektisch um und stellte sich so vor Jelena, dass möglichst niemand den Zettel sehen konnte. »Was soll denn das werden?« »Ich löse unser Problem«, antwortete sie gelassen, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. »Willst du den Zettel etwa aufhängen?« »Was glaubst du denn? Dass ich ihn in den Müll schmeiße, wenn er fertig ist?« »Aber das kannst du doch nicht machen!« »Was, in den Müll schmeißen?« »Aufhängen! Ich meine … ich meine …« Bob brach ab. Ihm wurde plötzlich klar, dass er gar nicht wusste, was er meinte. »Ja?«, fragte Jelena und grinste. »Ich kann mir schon vor85
stellen, was du meinst, Bob. Du meinst, als Detektiv müsse man immer heimlich von A nach B schleichen und ständig auf der Hut sein. Bloß nicht bemerkt werden! Bloß nichts Offensichtliches tun! Aber in diesem Fall bringt uns Heimlichtuerei nichts.« »Aber was ist, wenn dieser Thorndike gemeingefährlich ist und sofort ausrastet, sobald er den Zettel sieht?« »Bob, wenn du einen besseren Plan hast: nur zu! Aber ich fürchte, uns fehlt die Zeit, um irgendwas auszutüfteln. Justus und Peter sind vielleicht in Gefahr! Glaub mir, hier ist der direkte Weg der beste. Also, hilf mir, diesen Zettel aufzuhängen!« Sie drückte ihm das Blatt in die Hand. Bob starrte unsicher darauf. Dann gab er sich einen Ruck, blickte sich um, wartete so lange, bis er das Gefühl hatte, dass niemand in seine Richtung sah, und hängte den Zettel blitzschnell auf, wobei er drei kleinere Aushänge überdeckte. Eilig packte er Jelenas Rollstuhl und begab sich in sichere Entfernung. Dann hockte er sich auf eine freie Bank und beobachtete aus den Augenwinkeln das schwarze Brett. »Und jetzt?« »Jetzt schauen wir, ob jemand auf den Zettel reagiert. Genügend Leute sind ja da. Aber zu diesem Zweck müssen wir ein klein wenig näher heran.« Jelena griff entschlossen in die Räder ihres Rollstuhls und suchte sich eine Position, die einerseits unauffällig war, von der aus sie andererseits jedoch den Aushang bestens im Blick hatten und sogar hören konnten, was die Leute am schwarzen Brett sagten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Reaktionen kamen. Die meisten Studenten sahen den Zettel und schmunzelten. Andere schüttelten den Kopf. »Ich gebe zu, ich hatte mir etwas aussagekräftigere Resonanz erhofft«, raunte Jelena nach fünf Minuten. 86
Bob unterdrückte ein Grinsen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag verhielt Jelena sich genau so, wie Justus es normalerweise tat. Doch das behielt er lieber für sich. Was ihm nicht weiter schwer fiel, denn in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt: Ein junges Pärchen war vor dem Zettel stehen geblieben. »Jonathan Thorndike?«, fragte ein Junge mit schulterlangem Haar und Kinnbart seine Freundin, deren Gesicht halb hinter einer dichten Lockenpracht verborgen war. »Der war doch heute Morgen hier! Ob das wohl –« Mehr bekam Bob nicht mit, denn schon bewegte sich Jelena auf die beiden zu. »Hallo? Könnte ich euch kurz sprechen?« Hinter dem Rolltor lag ein quadratischer Raum, so breit wie der Gang, in dem sie sich befanden. Das Licht, das vom Gang aus hineinfiel, reichte aus, um zu erkennen, dass er abgesehen von einer breiten, zweiflügeligen Schiebetür vollkommen leer war. Die Tür war aus weiß lackiertem Metall und hatte zwei kleine Fenster, in deren Glas Metallgitter eingelassen waren. Die Wände waren aus grauem, ungestrichenem Beton und vollkommen schmucklos. Peter wusste nicht, ob er enttäuscht sein sollte oder nicht. Dies war nicht die Freiheit, auf die er gehofft hatte. Andererseits gab es da diese Tür … »Ein Lastenaufzug!«, unterbrach Justus Peters Gedanken. »Das ist ein Lastenaufzug, mit dem man große Sachen nach oben und unten transportiert.« »Fisch«, bemerkte Peter, der das Gefühl hatte, dass der Geruch nach Öffnen des Rolltors noch intensiver geworden war. »Ich tippe auf Fisch.« »Ob Fisch oder nicht, wir sind bald draußen«, sagte Justus erfreut und ging direkt auf die Tür zu. Hinter den 87
Scheiben herrschte Dunkelheit. Justus drückte auf den Aufzugknopf. Nichts rührte sich. Das Lämpchen neben dem Schalter blieb dunkel. Und so angestrengt Justus auch lauschte, kein Summen oder Rattern war zu hören. Er drückte noch ein paar Mal auf den Knopf, aber es blieb still. »Oder auch nicht«, murmelte er. »Das Ding scheint überhaupt nicht mehr zu funktionieren.« »Was du nicht sagst«, meinte Peter bitter. Er rüttelte probeweise an der Tür. Zu seinem Erstaunen gab sie mit einem rostigen Quietschen nach. Schnell zog er sie ganz auf und blickte in den finsteren Fahrstuhlschacht, in dem es neben Fisch auch nach Maschinenöl roch. Abwärts endete der Schacht nach etwa eineinhalb Metern in einem Gewimmel aus Kabeln, Drahtseilen und Rädern. Dann blickte Peter nach oben. Etwa fünf Meter über ihm hing die Aufzugkabine, die den Ausgang blockierte. »Hm … da raufzuklettern wäre kein Problem …« »Raufklettern?«, unterbrach ihn Leah. »Meinst du das im Ernst? Das schaffst du doch nie!« »Ach was. Ich bin gut im Klettern. Und so hoch ist es ja nicht.« »Aber wenn du abstürzt, landest du zwischen den ganzen Kabeln und Drähten!« »Ich habe ja nicht vor abzustürzen.« »So mutig heute, Zweiter?«, wunderte sich Justus. »Ich will hier einfach raus, Just. Und wenn ich das richtig sehe, gibt es da oben eine Notausstiegsluke. Ich werde sie einfach zur Noteinstiegsluke umfunktionieren, euch raufziehen, und dann verschwinden wir von hier.« »Glaubst du wirklich, du kriegst diese Luke auf?«, fragte Jolene hoffnungsvoll. 88
»Das werde ich sehen, wenn ich oben bin.« »Da bin ich aber sehr gespannt!«, sagte eine überhebliche Stimme hinter ihnen. Die vier drehten sich um. Shawn war aufgetaucht, ohne dass es jemand bemerkt hatte, und lehnte lässig im Durchgang. »Nur zu, Peter, klettere rauf!« Peter runzelte die Stirn. Er verstand nicht ganz, was Shawn ihm sagen wollte. Aber es war ihm auch egal. Entschlossen griff er in den Schacht und prüfte das Drahtseil, an dem das Gegengewicht für den Aufzug hing. Es war straff gespannt. Zwar hatte das Öl es etwas rutschig gemacht, aber für die paar Meter würde es funktionieren. Er nahm Schwung und zog sich daran empor. Plötzlich kletterte Leah in den Schacht hinunter. »Was machst du denn da?«, fragte Jolene überrascht. »Wenn er sich schon nicht vom Klettern abbringen lässt, will ich wenigstens dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt, falls er doch abstürzt. Zusammen können wir ihn auffangen!« Justus folgte ihrem Beispiel sofort. »Gute Idee, Leah. Auf uns landet er allemal weicher als auf dem Beton.« Ein Kichern erklang von oben. »Ja, besonders auf dir, Just!«, hallte es den Schacht hinunter. Justus spürte, wie er rot wurde, doch die anderen waren so nett, die Bemerkung des Zweiten Detektivs zu überhören. Jolene kletterte ebenfalls hinab und blickte Shawn, der immer noch oben stand, auffordernd an. »Mach schon, Shawn! Je mehr wir sind, desto besser!« Justus hätte nicht gedacht, dass Shawn sich überreden lassen würde, doch er gesellte sich kommentarlos zu ihnen. Inzwischen war Peter oben angekommen und sah zum ersten Mal hinab. »Doch ganz schön hoch!« 89
»Wie sieht es aus?«, fragte Justus. »Ist da wirklich eine Luke?« »Ja. Aber ich weiß nicht, wie ich sie aufbekommen soll. Ich brauchte eine dritte Hand. Moment!« Peter versuchte, sich mit den Füßen an der Wand abzustützen, um sicheren Halt zu bekommen. Plötzlich ertönte ein lautes Brummen. Eine Sekunde später setzte sich die Kabine in Bewegung. Es gab nur einen winzigen Ruck, nicht länger als ein Blinzeln, dann blieb sie wieder stehen. Doch dieser Moment reichte. Peter erschrak so sehr, dass er das Seil losließ. Seine Füße rutschten ab. Er stürzte in die Tiefe.
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Freier Fall Die Sekunde, in der er frei fiel, kam ihm wie in Zeitlupe vor, gleichzeitig aber auch rasend schnell. Er hatte keine Möglichkeit zu reagieren. Ihm schoss der Witz, den er über Justus’ Leibesfülle gemacht hatte, durch den Kopf, dann riss plötzlich etwas an seinem Arm. Der Ruck war so stark, dass er sich im Fall drehte. Er sah Justus’ entsetztes Gesicht auf sich zu rasen. Peter warf den Ersten Detektiv glatt von den Füßen. Ihre Köpfe prallten unsanft zusammen. Für einen kurzen Moment war Peter wie in Nebel eingehüllt. Als er wieder zu sich kam, knieten Leah und Jolene besorgt neben ihm. »Peter!«, rief Jolene. »Ist alles in Ordnung?« Schwierige Frage, dachte Peter und sagte vorsichtshalber erst mal: »Aua.« »Oh, Gott! Du blutest ja!« »Ich … was?« Peter drehte sich in eine angenehmere Lage, und ein heißer Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm. Entsetzt blickte er auf den etwa zehn Zentimeter langen Riss an seinem Unterarm, aus dem langsam das Blut floss. Er sah nach oben. Die scharfen Enden eines losen Drahtseiles, das in den Schacht ragte, hatten seine Haut aufgeschlitzt. Die Wunde sah schlimm aus. Peter wurde etwas schwummerig. »Geht schon«, behauptete er und blickte zu Justus. »Und bei dir?« »Du meinst, abgesehen davon, dass du mir den Ellbogen in die Magenkuhle gerammt hast? Und dass ich unser kleines Schädel-Duell verloren habe? Alles bestens. Aber wir sollten so schnell wie möglich aus diesem Schacht klettern. 91
Vielleicht setzt sich die Kabine gleich noch mal in Bewegung. Und zwar nach unten.« Drei Minuten später saßen sie an die Wand gelehnt neben dem Aufzugschacht. Justus, Jolene und Leah begutachteten besorgt Peters Arm. Er blutete noch immer. Der Zweite Detektiv war blass geworden. Mit der Linken hielt er den Unterarm fest umklammert, als könnte er den Schmerz dadurch kontrollieren. »Das sieht gar nicht gut aus«, murmelte Jolene. »Ich habe doch gesagt, es ist zu gefährlich«, antwortete Leah. »Es wäre überhaupt nicht gefährlich gewesen, wenn sich nicht plötzlich die Kabine bewegt hätte«, sagte Peter. »Wieso hat sie sich überhaupt bewegt?« »Dafür gibt es eigentlich nur eine logische Erklärung«, meinte Justus und blickte besorgt in den Schacht. »Und welche?«, wollte Peter wissen. »Da oben ist jemand. Jemand sitzt in der Kabine oder davor und hat uns belauscht. Er hat mitbekommen, dass wir fliehen wollten, und hat den Fahrstuhl in Gang gesetzt, um uns abzuschrecken. Mit Erfolg. Denn es ist definitiv zu riskant, es noch einmal auf diesem Weg zu versuchen.« »Na, so ein Zufall«, meldete sich Shawn aus der anderen Ecke des Raumes. Er hatte bisher geschwiegen und Peter nicht einmal beim Klettern aus dem Schacht geholfen. »Halt du dich da raus!«, zischte Justus. »Glaubst du immer noch, dass wir das alles hier inszenieren?«, fragte Peter wütend. »Meinst du, ich habe mir absichtlich den Arm aufgeschlitzt?« »Völlig egal, was ich glaube«, gab Shawn zurück und wandte sich demonstrativ ab. 92
Peter zwang sich, ihn zu ignorieren. »Du meinst also wirklich, da oben ist jemand, der uns belauscht, Just?« Der Erste Detektiv nickte. »Aber … aber dann müssen wir doch versuchen, Kontakt aufzunehmen!« »Kontakt aufnehmen?« Justus lachte. »Wer immer da oben steckt, hatte schon tausend Gelegenheiten, Kontakt zu uns aufzunehmen. Glaub mir, Zweiter, wir bekämen keine Antwort.« »Aber … aber wir können doch nicht einfach hier sitzen bleiben, während dieser Typ …« Peter wollte aufstehen, doch als er seinen Arm bewegte, kam der Schmerz, der zu einem dumpfen Pochen abgeflacht war, mit Gewalt zurück. »He!«, rief Peter nun Richtung Schacht. »He, Sie! Lassen Sie uns hier raus! Es reicht, verstanden? Wenn Sie uns jetzt freilassen, dann finde ich die Geschichte vielleicht noch irgendwie witzig, aber so langsam verliere ich wirklich die Geduld!« Es kam keine Antwort. Niemand hatte damit gerechnet. »Jetzt hören Sie mir mal zu!«, probierte Peter es erneut, wesentlich energischer. »Sie kriegen einen Riesenärger, wenn wir hier rauskommen! Nicht nur mit mir, sondern auch mit der Polizei!« »Peter«, sagte Justus beruhigend. »Spar dir die Luft. Das bringt nichts, glaub mir.« »Aber … aber wir müssen doch irgendwas tun!« Der Erste Detektiv nickte. »Da hast du Recht. Ich überlege ja schon die ganze Zeit. Aber mir fällt nichts ein.« Auf seltsame Weise entmutigte dieser Satz Peter mehr als alles andere. Wenn Justus schon nichts mehr einfiel, dann war die Lage wirklich hoffnungslos. Der Erste Detektiv erhob sich und wanderte langsam auf 93
und ab. Nach kurzer Zeit gesellte sich Jolene zu ihm. Als die beiden knapp außer Hörweite von Peter, Leah und Shawn waren, raunte Jolene: »Wir müssen wirklich etwas unternehmen, Justus! Peters Wunde blutet immer noch. Zwar nicht stark, aber … sie wird auch nicht so ohne weiteres aufhören. Wir haben nichts zum Verbinden. Wenn wir nicht bald hier rauskommen, dann …« Justus nickte. Ihm war der Ernst der Lage nicht entgangen. Er zerbrach sich ja selbst schon den Kopf, wie er seinem Freund helfen konnte. Besorgt blickte er zum Zweiten Detektiv hinüber. Peter hatte angefangen zu zittern. Jetzt, da er nur in der Ecke saß und auf seinen blutenden Arm starrte, schlug die Kälte, die hier unten herrschte, noch gnadenloser zu. »Ich weiß, Jolene. Aber was sollen wir tun? Der Schacht ist zu gefährlich. Reden können wir auch nicht mit denen da oben. Was bleibt also?« Jolene biss sich auf die Lippen. Sie schien mit sich zu ringen. Sie sah Justus an, als wollte sie etwas sagen, dann sah sie wieder weg. Sie öffnete den Mund – und schwieg. Dann sprach sie es endlich aus, leise jedoch, so dass Justus ihre gemurmelten Worte kaum verstehen konnte: »Wir könnten die Notbremse ziehen.« »Die Notbremse?« »Ja. Du weißt schon.« Justus runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung, wovon Jolene sprach. »Nein. Was meinst du?« Jolene blickte sich um und bewegte sich noch ein paar Meter weiter von Leah und Peter weg. Kaum hörbar raunte sie, ohne Justus dabei anzusehen: »Wir könnten das Experiment abbrechen. So langsam ist es ja kein Spaß mehr. Ich 94
meine, Peter ist verletzt! Er blutet! Das war bestimmt nicht vorgesehen.« Justus fühlte sich, als befände er sich im freien Fall. Plötzlich gab es nur noch ihn, Jolene und drei Worte, die in seinem Kopf nachhallten. Experiment. Spaß. Vorgesehen. Das konnte nicht sein. Justus verstand etwas falsch, ja, natürlich, so musste es sein. Jolene machte einen Witz oder so. »Nein, das war bestimmt nicht vorgesehen«, murmelte Justus vorsichtig. »Aber wie sollten wir das Experiment abbrechen?« Jolene runzelte die Stirn und antwortete wieder mit gesenkter Stimme: »Na, indem wir dem da oben sagen, dass jetzt Schluss ist. Dass wir einen Verletzten haben. Dass es ganz lustig war, aber Peter wirklich ärztliche Hilfe benötigt. Das wird er ja wohl verstehen, oder? Ich meine, so wichtig kann dieses Projekt ja nicht sein, dass er Peter einfach verbluten lässt. Heißt er eigentlich wirklich Peter? Oder ist das nur sein Rollenname? Was ist denn los mit dir, Justus? Warum guckst du denn so komisch?« Die beiden Schauspielschüler drehten sich zu Jelena und Bob um. »Könnte ich euch kurz sprechen?«, wiederholte Jelena. »Was gibt’s denn?«, fragte der Junge. »Kennt ihr diesen Jonathan Thorndike?« »Nicht persönlich. Obwohl er angeblich heute Morgen hier war. Ich hab’s leider verpasst. Jedenfalls hat er wohl eine Menge Wirbel veranstaltet.« »Wirbel?«, hakte Bob nach. »Inwiefern?« »Na ja, er kreuzte auf und fragte die Leute, ob jemand 95
spontan Zeit und Lust auf ein Filmprojekt hat«, antwortete das Mädchen. »Ein Filmprojekt?« »Ja«, fuhr ihr Freund fort. »Irgendwas Experimentelles. Er erzählte, dass ihm zwei Schauspieler abgesprungen seien und er ganz dringend Ersatz brauchte. Sofort. Da waren natürlich alle Feuer und Flamme. Aber ihr kommt zu spät, die Rollen sind schon vergeben.« »Nein, nein, darum geht es gar nicht«, winkte Jelena ab. »Wir interessieren uns aus anderen Gründen dafür. Wisst ihr noch mehr über das Projekt? Habt ihr mit ihm gesprochen?« »Leider nicht«, antwortete der Junge. »Obwohl ich das gerne getan hätte. Immerhin ist Thorndike nicht ganz unbekannt.« »Ach«, sagte Bob. »Ist er nicht?« »Willst du damit sagen, du kennst ihn nicht?« »Ähm … na ja …« »Thorndike ist Regisseur. Zugegeben, so berühmt ist er nicht, aber er hat schon ein paar tolle kleine Filme gemacht.« Bob warf Jelena einen viel sagenden Blick zu. Das war endlich mal eine Information. Auch wenn er noch nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte. Der Junge wandte sich an seine Freundin. »Deine Freundin hat doch da mitgemacht, stimmt’s?« Sie nickte. »Jolene. Sie ist eigentlich bloß eine Bekannte. Aber sie hat mir kurz davon erzählt. Thorndike brauchte jemanden, der gut im schauspielerischen Improvisieren ist. Und zwar für heute. Den ganzen Tag. Über das Projekt selbst wusste sie allerdings kaum etwas. Sehr geheimnisvoll, das Ganze.« 96
Jelena und Bob sahen sich stirnrunzelnd an. Sie konnten sich auf diese Geschichte überhaupt keinen Reim machen. Justus und Peter hatten einen Regisseur verfolgt, der einen experimentellen Film inszenieren wollte? Bob hatte das bestimmte Gefühl, gerade mal die Spitze des Eisbergs vor sich zu haben. Aber darunter verbarg sich eine ganz andere Geschichte, von der er bis jetzt noch keine Ahnung hatte. »Weißt du, wo dieses Projekt stattfinden soll?« »Hm.« Das Mädchen überlegte. »Irgendwo am Hafen, glaube ich. In einer Lagerhalle oder so.« »Welcher Hafen?«, hakte Jelena nach. »Was für eine Halle?« »Ich glaube, sie hat gesagt, sie müsse nach Long Beach.« »Long Beach?«, wiederholte Bob. »Der Hafen von Long Beach ist riesig!« »Ich weiß. Aber irgendwo da muss es sein. Frag mich nicht, wo genau. Ich habe keine Ahnung.« »Stalkers«, sagte der Junge. »Stalkers Fischfabrik. Da wollte sie hin.« Seine Freundin sah ihn überrascht an. »Woher weißt du denn das?« »Sie hat es mir erzählt.« »Sie hat es dir erzählt?« »Ja.« »Aber du kennst Jolene doch gar nicht.« »Natürlich kenne ich sie.« Sie kniff die Augen zusammen und zischte: »Also doch!« »Also doch?« »Du triffst dich heimlich mit ihr!« Der Junge war völlig verdattert. »Ich … was? Nein! Nein, du hast da was missverstanden! Ich –« 97
»Ach, hör doch auf! Mir kannst du nichts vormachen!« »Ähem«, machte Jelena, doch niemand schenkte ihr mehr Aufmerksamkeit. Sie und Bob schienen von einer Sekunde auf die andere Luft für die beiden geworden zu sein. Fragend blickte sie zu Bob. »Wir gehen vielleicht besser, oder?« Bob nickte. »Mehr erfahren wir sowieso nicht.« Etwas lauter fuhr er fort: »Vielen Dank für eure Hilfe!« Von dem Pärchen kam keine Reaktion. Was kein Wunder war, denn inzwischen schrien sie sich lauthals an.
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Thorndikes Projekt »Rollenname?« Justus hatte vorgehabt, Jolene geschickt auszuhorchen, ohne dass sie es merkte. Aber jetzt änderte er seine Taktik kurzerhand: Er schlug alle Vorsicht in den Wind. »Wovon redest du überhaupt?« »Schhhh!«, machte Jolene. »Es sind bestimmt noch irgendwo Kameras oder Mikrofone! Wir …« »Kameras?«, rief Justus nun extra laut, so dass Peter, Leah und Shawn neugierig zu ihnen rübersahen. Er wollte nicht länger mit Jolene allein sein. Er brauchte Zeugen für die Ungeheuerlichkeiten, die sie von sich gab. »Was ist denn los mit dir!«, zischte Jolene wütend und senkte den Blick, als redete sie mit dem Fußboden. »Jolene, ich …« Justus schluckte. »Willst du damit sagen, wir werden immer noch gefilmt?« »Na, was denkst du denn! Sonst hätte er uns doch schon längst hier rausgeholt!« »Wer – er?« »Jonathan Thorndike! Der Regisseur, der das Projekt leitet!« »Jolene.« Justus rang um Fassung. »Was für ein Projekt?« »Sag mal, spinnst du jetzt komplett?« Jolene war wütend. Ganz anders, als sie bisher gewesen war. Sogar ihre Stimme klang anders. Als hätte sie sich plötzlich in einen neuen Menschen verwandelt. »Willst du alles ruinieren?« »Was für ein Projekt?«, schrie Justus so laut, dass seine Stimme sekundenlang von den kalten Betonwänden widerhallte. Alle sahen erschrocken zu ihm rüber. Jolene starrte ihn an, als hätte er gerade eine ungeheure Wahrheit preisgegeben. 99
»Ist das dein Ernst? Du … willst behaupten, du weißt gar nichts von dem Projekt?« »Von welchem Projekt, Jolene?« »Von dem Filmprojekt.« »Nein. Ich weiß nichts von einem Filmprojekt.« »Und du willst mich nicht auf den Arm nehmen?« Justus konnte seine Wut kaum zügeln. »Sehe ich so aus?« Jolene schluckte. Dann wandte sie sich um. »Shawn! Shawn, ich glaube, wir haben ein Problem!« Wider Erwarten setzte sich Shawn sofort in Bewegung. Nun wurde Peter so neugierig, dass er sich mit Leahs Hilfe aufrappelte und zu der Gruppe stieß. »Was ist denn hier los?« »Das wüsste ich auch gern«, sagte Justus und blickte abwechselnd von Jolene zu Shawn und wieder zurück. Auch Shawn wirkte plötzlich ganz anders als sonst. Sein ewig misstrauischer Gesichtsausdruck, der immer wie in Stein gemeißelt gewirkt hatte, war verschwunden. Jetzt sah er richtig nett aus, was Justus nur noch mehr in Verwirrung stürzte. »Wir müssen abbrechen«, sagte Jolene zu Shawn. »Peter ist zu stark verletzt, das können wir nicht weiter verantworten.« Shawn nickte. »Genau das dachte ich auch gerade.« »Was abbrechen?« Jolene und Shawn tauschten besorgte Blicke aus. »Soll das heißen, du weißt nicht, was hier vor sich geht?«, fragte Shawn ungläubig. »Das behauptet er jedenfalls«, antwortete Jolene für Justus. »Ich behaupte es nicht nur. Ich weiß nichts von einem Projekt! Und Peter auch nicht!« 100
»Leah?«, fragte Jolene. Leah nickte stumm. »Ich weiß Bescheid.« »Na, wenigstens etwas.« »Jetzt sagt schon, was überhaupt los ist!«, forderte Peter wütend. »Was los ist?«, fragte Shawn. »Wir befinden uns mitten in einem Film, das ist los.« »In einem Film? Sag mal, spinnst du? So wie auf dem Holodeck der Enterprise oder wie? Alles um mich herum ist nicht real?« »Doch, natürlich ist es real. Aber wir sind es nicht. Jolene, Leah und ich – wir sind Schauspieler. Angehende jedenfalls. Von Leah kann ich es nur vermuten, wir sind uns vorher noch nicht begegnet.« Er sah sie fragend an. Leah nickte erneut. »Ich bin im zweiten Jahr auf der Schauspielschule.« »Schauspieler? Das … das heißt, ihr habt gar nicht das Gedächtnis verloren? Und ihr wisst, wo wir sind und wer uns hierher gebracht hat?«, fragte Peter weiter. »So ist es. Aber eurem Staunen entnehme ich, dass ihr nicht …« »Da entnimmst du verdammt richtig!«, rief Peter wütend. »Wir sind keine Schauspieler! Wir sind echt!« »Und im Gegensatz zu euch wissen wir tatsächlich nicht, wie wir hierher kamen«, fügte Justus hinzu. Langsam begann sich der Nebel um ihn herum zu lichten. Er war zwar immer noch über alle Maßen verwirrt, aber er spürte, wie er die Kontrolle über seinen Denkapparat zurückgewann. Er begriff langsam, in was für einer Situation er sich tatsächlich befand. Jetzt musste er nur noch herauskriegen, wie er da hineingeraten war. »Hört zu, wir hatten keine Ahnung, dass ihr beide nicht 101
zum Team gehört«, sagte Jolene. »Wir dachten, ihr würdet auch bloß eure Rollen spielen. Sonst hätten wir natürlich längst –« »Jolene«, sagte Justus, »wie wäre es, wenn du uns die Geschichte von Anfang an erzählst? Und in der richtigen Reihenfolge?« Jolene nickte. »Okay. Also: Shawn und ich sind Schauspielschüler an der Los Angeles School Of Method Acting. Heute Morgen kam Jonathan Thorndike in die Schule, der händeringend zwei Schauspieler suchte für ein Projekt, das sofort starten und vierundzwanzig Stunden dauern sollte und bei dem ihm zwei Leute abgesprungen waren.« »Wer ist Jonathan Thorndike?« »Ein Regisseur. Er erzählte uns, dass er einen Film drehen wollte, in dem die Schauspieler einer ihnen vorher völlig unbekannten Situation ausgesetzt werden. Thorndike meinte, es gebe bereits einen Drehort und alles, und der Film würde in einem abgeschlossenen Gebäude spielen, in dem überall Kameras installiert sind, damit die Schauspieler ganz mit sich allein sind und keine Kameraleute das Spiel stören.« »Thorndike gab uns nur eine Regieanweisung«, fuhr Shawn fort. »Wir sollten so tun, als hätten wir das Gedächtnis verloren und könnten uns nicht erinnern, was wir in den letzten vierundzwanzig Stunden getan haben und wie wir an diesen Ort gekommen sind. Alles andere wollte er unserem Zusammenspiel und dem Zufall überlassen. Wir konnten uns die Rolle selbst erarbeiten, die wir spielen wollten. Ob wir nun eher ruhig oder aufbrausend, eher ängstlich oder mutig sind, das war alles unsere Entscheidung. Ihm war nur eines wichtig: Wir sollten niemals unsere Rolle verlassen!« 102
Leah nickte. »Das hat er immer wieder betont. Er sagte, dass wir im Laufe des Experiments auf andere Schauspieler treffen würden, die ebenfalls Menschen mit Gedächtnisverlust spielen. Aber egal was geschieht, wir sollten immer daran denken, dass es nur ein Film ist, und unbedingt weiterspielen.« »Ihn interessierte die Interaktion zwischen Schauspielern, die sich vorher noch nie gesehen haben und die sich nicht absprechen konnten«, fuhr Shawn fort. »Aus dem fertigen Material wollte er dann, sofern es brauchbar sein würde, einen Film zusammenschneiden. So ähnlich wie damals bei ›Blair Witch Project‹ wisst ihr? Da hat der Regisseur seine Schauspieler doch auch einfach mit einer Videokamera in den Wald geschickt, ohne dass sie wussten, was sie erwarten würde. Ich fand das ungeheuer spannend und habe sofort zugesagt.« »Bei mir war es genauso«, sagte Leah. »Ich wusste allerdings schon vor ein paar Tagen von dem Projekt. Deshalb hat Mr Thorndike mich in den Einzelraum gesteckt. Er wollte euch Zeit geben, euch mit der Situation vertraut zu machen.« »Ihr … ihr dachtet also die ganze Zeit, Justus und ich wären auch Schauspieler, die nur so tun, als hätten sie keine Ahnung, wie ihnen geschieht?«, fragte Peter ungläubig. Jolene nickte. »So war es. Das hatte uns Mr Thorndike schließlich angekündigt. Was meinst du, was für eine Panik ich bekommen habe, als du plötzlich die Videokamera entdecktest und gleich darauf zertrümmert hast! Ich dachte: Was macht der denn da? Das ist doch die Filmkamera! Aber dann fielen mir Thorndikes Worte wieder ein, dass wir das Spiel unter gar keinen Umständen unterbrechen sollten. Also überlegte ich, dass die Entdeckung der Kameras viel103
leicht Absicht war und zum Film gehörte. Und dass es noch weitere Kameras gab, die besser versteckt waren und die uns weiterhin filmten.« »So ähnlich ging es mir auch«, meinte Shawn. »Aber ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen.« »Das erklärt dein merkwürdiges Verhalten, nachdem ich die Kamera entdeckt hatte«, sagte Justus. »Aber warum hast du die ganze Zeit gegen mich gearbeitet, anstatt mir zu helfen?« »Das war alles Teil meiner Rolle. Ich hatte mir im Vorfeld überlegt, dass ich jemanden spiele, der allem und jedem gegenüber misstrauisch ist und erst mal nichts von dem glaubt, was man ihm erzählt. Und das habe ich durchgezogen. In jeder Situation. Ich wusste ja nicht, dass du wirklich du bist.« Justus schüttelte fassungslos den Kopf. »Es ist unglaublich. Weder Peter noch ich haben jemals von diesem Jonathan Thorndike gehört! Was immer er euch erzählt hat – er hat euch da einen ganz wesentlichen Teil verschwiegen.«
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Manipulation Bob und Jelena brauchten fast eine Stunde über den Freeway, um Long Beach Harbor zu erreichen. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte den Hafen in einen goldenen Schimmer. Die Luft roch nach Öl, Salz und Fisch. Ein beständiges Knattern von Tankern, Booten und Kuttern und das Kreischen unzähliger Möwen wehte vom Meer zu ihnen herüber. Anders als der Hafen in der Nähe von Rocky Beach war Long Beach Harbor ein wahres Monstrum, das sich über eine Insel, mehrere Halbinseln und ein verwirrendes System aus Kanälen und Docks auf die Größe eines Stadtbezirks ausdehnte. Kräne ragten über flache Lagerhäuser hinaus, und jenseits der Hauptstraßen waren die Wege gesäumt von großen und kleinen Stahlcontainern mit den verschiedensten Aufschriften. Teilweise war Bob nicht mehr sicher, ob er noch eine öffentliche Straße befuhr oder sich bereits auf einem Betriebsgelände befand. Je weiter sie in das Hafengebiet fuhren, desto mehr verloren sie die Orientierung. Sie überquerten kleine und große Brücken und Parkplätze, fuhren an Piers und Stegen vorbei, die Blicke ständig nach links und rechts gewandt, in der Hoffnung, irgendwo ein Schild mit der Aufschrift ›Stalkers‹ zu entdecken. Doch nach zwanzig Minuten musste sich Bob eingestehen, dass er sich hoffnungslos verfahren hatte. Er hielt an. »Was machst du?« »Das hat keinen Sinn, Jelena. Wir haben überhaupt keine Ahnung, wo wir sind. Der Hafen ist riesig! Wie sollen wir jemals diese Fischfabrik finden?« 105
»Bestimmt nicht, indem wir hier stehen bleiben«, maulte Jelena. »Nein. Aber …« Bob brach ab, gab wieder Gas und fuhr ein paar Meter weiter. Er hatte einen Hafenarbeiter entdeckt, der gerade aus seinem Lkw gestiegen war. »Verzeihung!«, rief er aus dem offenen Fenster. »Wissen Sie zufällig, wo Stalkers Fischfabrik liegt?« Der schnauzbärtige Mann im blauen Overall schien einen Moment lang zu überlegen, ob er überhaupt reagieren oder einfach weitergehen sollte. Schließlich blieb er jedoch stehen, drehte sich zu Bob um und knurrte mürrisch etwas, das Bob nicht verstand. »Wie bitte?« Nun sagte der Mann gar nichts mehr, sondern zeigte mit seiner behandschuhten Hand die Straße hinunter. »Da entlang?«, versuchte Bob die Geste zu übersetzen. Der Mann nickte. »Und dann?« Er machte noch einmal die gleiche Geste, bestimmter diesmal. »Einfach geradeaus?« Wieder ein Nicken. »Und dann finde ich sie?« Das dritte Nicken. Und schon drehte er sich um und ging seiner Wege. Der dritte Detektiv blickte Jelena mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Netter Mann.« Bob konnte es kaum glauben, doch drei Minuten später hatten sie die Fischfabrik tatsächlich gefunden. Jetzt, da er das rotweiße Logo von Stalkers auf einem riesigen, sehr neu wirkenden Schild vor sich sah, konnte er sich daran erinnern, den Dosenfisch dieser Firma schon das eine oder ande106
re Mal gegessen zu haben. »Da wären wir«, sagte Bob und parkte ein Stück entfernt von der Umzäunung, die das Fabrikgelände umschloss, im Schatten eines Frachtcontainers. »Sieht nicht so aus, als würde hier gerade ein Film gedreht«, sagte Jelena, während sie die Lkws und Gabelstapler beobachteten, die auf dem Gelände herumfuhren. »Nein«, stimmte Bob zu. »Aber ich wette, dass dieser Jonathan Thorndike entweder dort drinnen ist oder uns zumindest jemand sagen kann, wo wir ihn finden. Ich werde mich mal unauffällig umsehen.« Jelena musterte ihn von oben bis unten. »Unauffällig? Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass du in diesen Klamotten nicht auffällst. Sieh doch, die Leute, die da rumlaufen, tragen entweder blaue Overalls oder weiße Kittel.« Bob schürzte die Lippen. »Da hast du allerdings Recht. Aber ich habe eine Idee!« Er stieg aus, öffnete den Kofferraum und zog etwas hervor, das er besaß, seit er den Wagen gekauft hatte: einen nagelneuen, blauen Overall. »Den habe ich mir mal zugelegt, falls ich am Auto was reparieren muss. Ist allerdings noch nie vorgekommen, denn wenn was kaputt ist, repariert es Peter.« Er grinste und zog den Overall über. »Todschick«, sagte Jelena und reckte den Daumen in die Höhe. »Die perfekte Tarnung.« »Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin –« »Rette ich dich ein weiteres Mal«, führte Jelena den Satz zu Ende. »Eine meiner leichtesten Übungen. Sei vorsichtig!« Bob nickte ihr zu, dann ging er in einem großen Bogen auf die Fischfabrik zu. Sie bestand im Wesentlichen aus einer großen Halle, einem Parkplatz, auf dem Privatautos und firmeneigene Lastwagen standen, und einer Anlegestel107
le für große Fischkutter. Hinter der Halle trennte ein grasbewachsener Hügel mit einem hohen Maschendrahtzaun das Gelände vom benachbarten Grundstück ab. Bob beschloss, sich von dieser Seite aus zu nähern. Auf dem Hof herrschte reger Betrieb. Zahllose Arbeiter fuhren mit Gabelstaplern zwischen Fischkuttern, Lastwagen und der Fabrikhalle hin und her, mindestens ebenso viele liefen geschäftig herum. Bob marschierte so selbstverständlich wie möglich auf das Gelände und begab sich zielstrebig zur Rückseite der Halle, so dass jeder glauben musste, er habe dort etwas Dringendes zu erledigen. Doch es nahm ohnehin niemand Notiz von ihm. Schließlich stand er vor einer Reihe von Stahlcontainern, die dicht an dicht im Schatten der Halle lagen. Die perfekte Deckung. Der dritte Detektiv duckte sich dahinter, um seine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Viel zu sehen gab es nicht. Einige Arbeiter liefen vorbei, aber sie waren zu weit entfernt, um ihn zu bemerken. Es gab eine Stahltür, die in die Halle führte. Eine einfache Tür, kein Tor für Gabelstapler oder Container. Alle paar Minuten ging jemand hinein oder kam heraus. Hier konnte er es riskieren. Doch was dann? Jelena hatte Recht: Hier wurde definitiv kein Film gedreht. Was sollte ein Regisseur hier zu suchen haben? Dies war eine ganz normale Fischfabrik. Bob dachte nach und versuchte, alle Informationen, die er hatte, in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Da war etwas, das Kimberly zu Vince gesagt hatte und das Bob nun wieder in den Sinn kam: Sie konnte nicht mit Jonathan Thorndike telefonieren, da sein Handy dort unten nicht funktionierte. Dort unten. »Er ist irgendwo unterirdisch!«, murmelte der dritte Detektiv. 108
»In einem Keller!« Natürlich! Warum sollte diese Fabrik nicht unterkellert sein? Das war es, wonach Bob suchen musste! Er passte einen Moment ab, in dem sich niemand in der Nähe aufhielt, verließ seine Deckung und lief auf den Hintereingang der Fabrik zu. Er holte noch einmal tief Luft. Dann öffnete er die Tür. Justus sah sich um. Zum mindestens zehnten Mal glitt sein Blick über die Wände, die Decke, den Fußboden. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen in die dunklen Ecken und Schattenfelder des Raumes, untersuchte die Aufzugtür und das Rolltor. Nichts. Seit Jolene, Shawn und Leah die Wahrheit enthüllt hatten, hatte Justus den Fahrstuhlraum und den Gang abgesucht, ohne das zu finden, was hier sein musste, wenn die Geschichte, die die drei erzählt hatten, wirklich stimmte. Es gab nur einen Ort, an dem er noch nicht nachgesehen hatte: der Fahrstuhlschacht. Unbemerkt von den anderen ging er in die Hocke und kletterte hinunter. Ängstlich blickte er zur Kabine, die nur fünf Meter über ihm schwebte. Wenn sie sich wieder in Bewegung setzen sollte, blieben ihm nur wenige Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, bevor sie ihn zerquetschte. Andererseits würde, solange er leise war, nur dann jemand seine Anwesenheit im Schacht bemerken, wenn es tatsächlich eine versteckte Kamera gab. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Wände und den Boden. Viele Möglichkeiten, etwas zu verstecken, gab es nicht. Und so wunderte es ihn nicht, dass er keine Kamera fand. Dafür entdeckte er etwas anderes: In Bodennähe war eine kleine Schalttafel an die Wand montiert, die beinahe in einem Wust aus Kabeln ver109
schwand. Es gab vier Kippschalter, die wie Sicherungen aussahen. Drei zeigten nach unten. Einer nach oben. Justus runzelte die Stirn. Ohne sich im Geringsten mit Aufzügen und deren Stromversorgung auszukennen, wunderte es ihn dennoch, dass nicht alle Schalter in die gleiche Richtung zeigten. Der Erste Detektiv überlegte nicht lange und legte den vierten Schalter um. Mit einem metallischen Quietschen und Rumpeln setzte sich die Kabine über ihm in Bewegung. Einen Herzschlag lang war Justus so entsetzt, das tonnenschwere Monstrum auf sich zu gleiten zu sehen, dass er vollkommen erstarrte. Dann betätigte er den Schalter ein zweites Mal. Die Kabine hielt knirschend an. Innerhalb von Sekunden standen alle am Rand des Schachtes und blickten Justus schockiert an. »Was ist passiert?«, rief Jolene. »Was machst du da unten?« »Ich … äh … ermittle.« »Komm da raus, oder willst du zerquetscht werden!« Jolene reichte ihm hektisch die Hand und Justus ließ sich dankbar aus dem Schacht ziehen. »Die Fahrstuhlkabine hat sich wieder bewegt«, erklärte er. »Das haben wir gehört«, gab Shawn zurück. »Warum bist du auch so leichtsinnig, noch mal da runter zu steigen?« »Ich habe etwas gesucht.« »Was denn?«, wollte Leah wissen. »Eine Kamera.« »Und?« »Es gibt keine. Ebenso wenig irgendwo sonst hier unten. Ich habe wirklich alles abgesucht.« Peter runzelte die Stirn. »Aber das heißt ja …« »Dass wir unbeobachtet sind, seit wir die Kameras in un110
seren Gefängnissen zerstört haben. Dieser Jonathan Thorndike da oben dürfte noch gar nicht begriffen haben, dass sein Projekt beendet ist. Weil er uns nämlich nicht mehr zusehen kann. Die alles entscheidende Frage ist: Warum hat er uns dann nicht schon längst hier rausgeholt?« Justus warf einen herausfordernden Blick in die Runde. »Na, hat jemand eine Idee?« »Wieso fragst du uns das?«, wollte Leah wissen. »Weil ihr diesen Thorndike kennt!«, rief Justus wütend. »Ihr wart von Anfang an eingeweiht, im Gegensatz zu uns! Kann es sein, dass vielleicht noch mehr hinter der ganzen Geschichte steckt?« »Was meinst du?« »Ich weiß nicht.« Justus kniff wütend die Augen zusammen und sah Leah, Shawn und Jolene nacheinander scharf an. »Aber einer von euch weiß es.« »Wie bitte?«, fragte Jolene. Auch Peter hatte keine Ahnung, wovon Justus sprach. »Just, was –« »Ich habe dort unten keine Kamera entdeckt, dafür aber etwas anderes«, erwiderte Justus wütend. »Einen Sicherungsschalter! Ich habe die Fahrstuhlkabine in Bewegung gesetzt und wieder zum Stillstand gebracht!« Sekundenlang sprach niemand ein Wort. »Aber …«, begann der Zweite Detektiv schließlich, »… aber das heißt ja, dass der Fahrstuhl funktioniert!« »Es heißt noch viel mehr, Peter: Er wurde von hier aus manipuliert, als du abgestürzt bist, nicht von dort oben. Und das bedeutet drittens …« Er machte eine Kunstpause und blickte langsam von Shawn zu Jolene zu Leah und wieder zurück. »Dass es einer von uns gewesen sein muss.« 111
Der Verräter Bobs Herz schlug bis zum Hals, als er die Hintertür zur Haupthalle der Fischfabrik öffnete. Penetranter Fischgeruch schlug ihm entgegen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Die Halle war kühl und in blaues Neonlicht getaucht. Trotzdem stank es, als läge der angelieferte Fisch bei dreißig Grad in der prallen Sonne. Schnell verschaffte sich Bob einen Überblick: Er befand sich im hinteren Teil der Halle, in der eine überwältigend große und hämmernd laute Maschinenstraße auf Hochtouren liefen, um den frischen Fisch so schnell wie möglich zu verarbeiten. Dutzende von Mitarbeitern standen an Fließbändern oder fuhren mit kleinen Lastenfahrzeugen durch die Halle. Einige von ihnen waren nicht viel älter als Bob, vermutlich Schüler oder Studenten, die sich in der Fabrik etwas dazuverdienten. Niemand achtete auf den dritten Detektiv. Sein Tarnanzug funktionierte hervorragend. Bob musste den Zugang zum Keller finden. Eine Rampe, eine Treppe oder einen Aufzug. Er marschierte durch die Fabrikhalle. Nachdem er sie halb durchquert hatte, entdeckte er auf der linken Seite die weiße Doppeltür eines Lastenaufzugs. Sie war geschlossen und niemand war in der Nähe, der ihn in nächster Zeit benutzen wollte. Mit klopfendem Herzen näherte er sich dem Lift, nahm all seinen Mut zusammen und tastete nach dem großen, gelben Knopf, der die Kabine rufen sollte. Doch so weit kam er nicht. Denn plötzlich rief jemand hinter ihm: »He! Was hast du hier zu suchen?« 112
»Einer von uns«, wiederholte Shawn tonlos, nachdem Justus seinen Verdacht laut ausgesprochen hatte. »Das meinst du doch nicht im Ernst?« »Ich habe keinen Beweis, aber Tatsache ist, dass wir alle nach oben gesehen haben, als Peter am Drahtseil hochkletterte. Niemand achtete darauf, was die anderen taten. Einer von uns hätte ohne weiteres für eine halbe Sekunde den Sicherungsschalter betätigen können. Und das legt den Verdacht nahe, dass einer von uns ein Verräter ist, der auch die anderen Fragen beantworten kann: Warum können Peter und ich uns an nichts erinnern? Wie passt das mit diesem Filmprojekt zusammen? Warum hat Thorndike uns noch nicht hier herausgeholt?« »Es gibt also einen Verräter«, sagte Shawn. »So weit stimme ich dir zu. Denn irgendetwas stimmt hier nicht. Aber wer sagt, dass es einer von uns dreien sein muss? Warum kannst du nicht derjenige sein, der uns an der Nase herumführt?« »Du musst nicht mehr den Misstrauischen spielen, Shawn, das war nur Teil deiner Rolle, schon vergessen?« »Diesmal ist es kein Spiel, Mr Schlauberger. Ich habe genauso wenig wie du eine Ahnung, was hier vor sich geht. Und genauso viele Gründe, dir nicht zu trauen.« »Beruhigt euch, Leute«, sagte Leah. »Es macht keinen Sinn, sich gegenseitig Anschuldigungen an den Kopf zu werfen. Justus und Shawn haben auf jeden Fall Recht: Hier ist etwas faul. Und deshalb bin ich dafür, dass wir gemeinsam überlegen, wer ein falsches Spiel spielt und warum. Wir sollten keine weiteren Schritte unternehmen, bevor wir nicht herausgefunden haben, wer der Verräter ist.« Sie sah 113
in die Runde. Jolene, Shawn und Peter nickten zustimmend. Justus schüttelte den Kopf. »Eben nicht, Leah! Genau das werden wir nicht tun!« »Was soll das heißen?« »Verstehst du denn nicht? Wir können uns gegenseitig erzählen, was wir wollen, wir werden nie herausfinden, wer die Wahrheit sagt und wer lügt, weil es einfach keine gemeinsame Grundlage gibt. Ich habe das Gedächtnis verloren, Peter ebenfalls, ihr drei nicht. Ihr könnt mir also alles verkaufen, ich habe keine Möglichkeit, eure Aussagen zu verifizieren.« »Wenn diese Geschichte mit dem Gedächtnisverlust überhaupt stimmt«, warf Leah ein. »Siehst du, genau davon rede ich«, fuhr Justus fort. »Wir drehen uns im Kreis. Wir können uns noch stundenlang streiten, es wird uns nicht weiterbringen. Deshalb werde ich jetzt diese Fahrstuhlkabine in Bewegung setzen und hoffen, dass wir damit nach oben kommen.« »Damit du deinen Kopf aus der Schlinge ziehen kannst?«, rief Leah erregt. »Leah!«, rief Justus wütend. »Siehst du nicht, was hier passiert? Wir kommen nicht vorwärts! Hätten wir von Anfang an zusammengearbeitet, wären wir schon längst geflohen! Aber ständig kam etwas dazwischen! Und nun willst du auch noch alles ausdiskutieren, bevor wir einen weiteren Fluchtversuch unternehmen! So wichtig mir das Entschlüsseln dieses Rätsels auch ist – es wird mich nicht daran hindern, hier zu verschwinden! Ich werde jetzt den Fahrstuhl holen.« Justus gab den anderen keine Gelegenheit zu widersprechen oder ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Geschickter, als er es sich selbst zugetraut hätte, kletterte er in den 114
Schacht, beugte sich zum Sicherungskasten hinunter, holte noch einmal tief Atem und legte den Schalter um. Bob zuckte zusammen, als hinter ihm jemand gebrüllt hatte. Er schloss die Augen. Jetzt war alles aus. Man hatte ihn entdeckt, noch bevor er die Kühlräume unter der Lagerhalle betreten hatte! Was sollte er jetzt tun? Wie konnte er sich rausreden? Was – »Du solltest doch die Paletten stapeln und keine Kartons falten!« Bob runzelte die Stirn und drehte sich um. Ein großer, breitschultriger Mann in einem weißen Kittel war direkt hinter ihm vorbei auf eine Aushilfe zugegangen, die es wohl in die falsche Abteilung verschlagen hatte. »Verzeihung, Sir, ich dachte –« »Mir egal, was du dachtest«, knurrte der Mann. »Los, zurück zu den Paletten!« Der Junge beeilte sich, aus dem Blickfeld seines Chefs zu verschwinden. Und Bob, dessen Herz nun wie ein Presslufthammer schlug, beeilte sich, auf den Knopf zu drücken. Nichts rührte sich. Unruhig auf den Zehenspitzen wippend wartete Bob eine Weile, dann drückte er noch mal auf den Knopf. Ohne Erfolg. Das war doch nicht möglich! Wieso kam denn dieser verflixte Fahrstuhl nicht? Bob rüttelte ungeduldig an der Doppeltür – die plötzlich aufschwang. Die Kabine war die ganze Zeit auf seiner Etage gewesen! Bob hatte nur nicht gewusst, dass die Türen sich nicht automatisch öffneten. Ein letztes Mal blickte er über die Schulter zurück, dann schlüpfte er in die geräumige Kabine, schloss die Tür und drückte auf den Knopf für das Untergeschoss.
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Der Lastenaufzug setzte sich in Bewegung. In Windeseile sprang Justus hoch, ergriff Peters helfende Hand und wand sich aus dem Schacht. Der Fahrstuhl glitt ratternd und brummend herab, schon kam der Kabinenboden in Sicht. Da die Kabine selbst keine Tür hatte, konnten sie direkt hineinsehen. Justus erstarrte. Der Aufzug war nicht leer. Jemand fuhr mit, eine einzelne Person, deren Beine nun in Sicht kamen. Und nach und nach, während die Kabine immer langsamer wurde, sah er mehr von dieser Person. Die schlanken Beine in hellen Jeans, das weiße T-Shirt und schließlich das Gesicht.
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Im falschen Film Der Mann war jünger, als Justus erwartet hatte. Ein kleines bisschen sah er Shawn ähnlich: groß, schlank, sportlich, ein wenig verwegen. Nur mit dem Unterschied, dass alles an ihm hell war: Sein strubbeliges Haar war blond, seine Haut fast unnatürlich blass, seine Augen hellgrün. Justus starrte ihn an, und für den Bruchteil einer Sekunde war alles wieder da: Eine Lagerhalle. Ein Scheinwerfer. Eine braune, axtförmige Insel in einem weißen Meer. Eine wichtige Nachricht auf einem Notizzettel, den Justus versteckt hatte. Irgendwo in der Nähe. Das alles schoss ihm in blitzartigen Erinnerungsbruchstücken durch den Kopf – und verschwand wieder. Zurück blieb das unangenehme Gefühl, sich beinahe erinnert zu haben. Verzweifelt versuchte Justus, die Bilder in einen sinnvollen Zusammenhang zu zwingen, bevor sie wieder in sein Unterbewusstsein absanken, aber da war es schon zu spät. Der Fahrstuhl stoppte und der junge Mann trat langsam heraus. Er lächelte sie an und sagte mit weicher Stimme: »Einen schönen guten Tag, Justus Jonas und Peter Shaw. Erinnert ihr euch?« Nachdem der Aufzug zum Stillstand kam und Bob die Tür aufgedrückt hatte, fand er sich in einem langen, hell erleuchteten und vor allem eiskalten Gang wieder. Links und rechts gab es eine Hand voll Türen, von deren matten Stahloberflächen es vor Kälte dampfte. Bob fröstelte. Und augenblicklich schwanden seine Hoffnungen. Es war so eisig, dass sich kein Mensch freiwillig länger als nötig hier aufhielt. Es sollte ihn 117
sehr wundern, wenn er hier jemanden antreffen würde. Trotzdem musste er nach einer Spur suchen. Bob trat auf die nächstbeste Tür zu und versuchte, sie zu öffnen, was nicht ganz einfach war, da es weder einen Knauf noch eine Klinke gab, sondern einen Hebel, wie er ihn von altmodischen Kühlschränken kannte. Doch schließlich schwang sie mit einem Zischen auf, und ein Schwall noch kälterer Luft kam ihm in weißen Wolken entgegen. Mit Öffnen der Tür flackerten im Inneren des Kühlraums automatisch Neonlampen auf. Fisch. In wäschekorbgroßen Styroporbehältern, die zu Hunderten in bis unter die Decke ragenden Stahlregalen untergebracht waren, lagerte in einem Bett aus Eis frisch gefangener Fisch. Obwohl es so kalt war, war der Gestank erbärmlich. Trotz seiner Größe war der Lagerraum sehr übersichtlich. Bob erfasste auf einen Blick, dass es hier wirklich nur Fisch gab und keine Gefangenen. Schnell schloss er die Tür wieder und eilte zur nächsten. Nach und nach betrat er jeden Raum, ohne dabei einem Menschen zu begegnen. Weder einem Fabrikarbeiter noch Justus oder Peter. Nach fünf Minuten, als er vor dem letzten Raum stand, war er so durchgefroren, dass seine Ohren, seine Nase und seine Fingerspitzen schon taub waren. Nur noch mit Mühe konnte er den Türhebel betätigen. Als er die Tür öffnete, stand ein Mann in weißem Overall mit Kapuze vor ihm, der gerade damit beschäftigt war, etwas auf seinem Klemmbrett zu notieren. Er sah überrascht auf. »Ja bitte?«, fragte der Mann irritiert. »Was machst du hier?« »Ich … äh … ich suche jemanden.« »Du suchst jemanden? Nun, dann kannst du nur mich 118
meinen, denn außer mir ist niemand hier unten.« Der Mann lächelte. »Nein, ich …« Bob wusste nicht, was er sagen sollte. Er dachte an Jelena. Daran, wie sie ihm gesagt hatte, dass der direkte Weg manchmal der Beste ist. Dieser Mann sah nicht aus, als führte er irgendetwas im Schilde. Er sah aus, als würde er die Qualität des Fisches prüfen, nichts weiter. Bob warf alle Vorsicht über Bord. »Ich suche Jonathan Thorndike. Sind Sie das zufällig?« »Thorndike? Nie gehört.« »Gibt es … gibt es hier noch andere Kellerräume? In denen kein Fisch gelagert wird?« Der Mann lachte. »Was sollte denn sonst gelagert werden? Wir sind hier in einer Fischfabrik, Junge!« Bob dachte nach. Es war natürlich möglich, dass seine Schlussfolgerung vollkommen falsch war. Dass Kimberlys Bemerkung über den Handyempfang absolut nichts mit unterirdischen Räumen zu tun hatte. Aber so oder so, irgendeine Spur musste er finden! Sein Gegenüber hatte wohl den Eindruck, noch etwas sagen zu müssen, da Bob nicht antwortete. »Aber du hast natürlich Recht: Theoretisch könnte es Räume für Paletten und leere Boxen geben, wie es in der alten Fabrik der Fall war. Aber wegen der leistungsstärkeren Kühlaggregate in der neuen Halle will sich niemand länger als nötig hier unten aufhalten.« »In der alten Fabrik? Was für eine alte Fabrik?« »Na, die bei Dock fünfzehn. Du arbeitest wohl noch nicht lange bei Stalker, was? Die Firma ist doch erst vor drei Monaten umgezogen.« »Und … und vorher war sie bei Dock fünfzehn?«, vergewisserte sich Bob aufgeregt. 119
»Genau. Aber die Halle war zu klein und die Kühlräume nicht kalt genug, deshalb –« »Was ist mit der alten Fabrik passiert?« Der Mann zuckte mit den Schultern, offenbar irritiert von Bobs plötzlichem Interesse. »Sie steht leer, glaube ich. Das heißt, Moment, ich glaube, eine Filmfirma hat sie für einige Wochen gemietet, um dort etwas zu drehen. Wieso –« Der dritte Detektiv machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zurück zum Lastenaufzug. Der junge Mann trat lächelnd auf Justus und Peter zu. Er kannte ihre Namen! Er wusste, wer sie waren! Justus hingegen hatte immer noch keinen Schimmer, und ein Blick in Peters Gesicht verriet ihm, dass es dem Zweiten Detektiv nicht anders erging. Doch bevor er auf die Frage, ob er sich erinnerte, antworten konnte, rief Jolene: »Mr Thorndike! Endlich! Ich dachte schon, Sie lassen uns ewig hier unten! Peter ist verletzt. Er muss zu einem Arzt.« »Geht schon, Jolene«, murmelte Peter, der viel zu neugierig war und seinen schmerzenden Arm darüber völlig vergessen hatte. »Sie sind Jonathan Thorndike?«, fragte Justus. Sein Gegenüber nickte. »Du erinnerst dich also doch?« »Nein. Aber Leah, Jolene und Shawn haben uns von Ihnen erzählt. Eine nicht ganz lückenlose Geschichte, wie mir scheint.« Thorndike nickte entschuldigend. »Es tut mir Leid. Ihr habt sicherlich viele Fragen. Ich … muss euch einiges erklären.« »Das glaube ich allerdings auch.« Justus verschränkte abwartend die Arme. »Zunächst einmal: Ihr habt euch nie in Gefahr befunden, das müsst ihr mir glauben. Peters Sturz war ein Unfall, der 120
nicht hätte passieren dürfen, das gebe ich zu. Aber nichtsdestotrotz –« »Nichtsdestotrotz haben Sie uns gegen unseren Willen hier eingesperrt!«, rief Peter zornig. Er konnte nicht begreifen, wie dieser Thorndike freundlich lächelnd vor ihnen stehen und sich milde entschuldigen konnte! Doch Jonathan Thorndike schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Peter. Aber ich will es euch gerne erklären.« »Ich bitte darum«, knurrte der Zweite Detektiv und nahm sich fest vor, ihm kein Wort zu glauben. »Es ist so: Ich bin Regisseur und arbeite gerade an einem Film für ein großes Hollywoodstudio. Wir mieteten eine verlassene Fabrikhalle für die Dreharbeiten an. Aber der Drehstart hat sich um ein paar Tage verzögert. Also kam ich auf die Idee, diese Zeit zu nutzen und mithilfe der Räumlichkeiten und der Ausrüstung, die mir zur Verfügung stehen, eine Idee zu verwirklichen, die mir schon lange im Kopf herumspukt. Ein Experimentalfilm: Fünf Menschen wachen in verschiedenen leeren Räumen auf und können sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen sind. Die anderen haben euch das Konzept ja bereits erklärt.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Justus lauernd. »Weil ich euch belauscht habe. Der Fahrstuhlschacht hat eine erstklassige Akustik. Man konnte von der Kabine aus jedes Wort verstehen. Ich habe die Filmidee mit ein paar Kollegen zusammen entwickelt, die ich ursprünglich als Darsteller einsetzen wollte. Doch ich war mit meinem Konzept noch nicht ganz zufrieden. Ich wollte, dass die Schauspieler wirklich überzeugend agieren, als hätten sie absolut keine Ahnung, was um sie herum geschieht. Also warf ich in letzter Sekunde alles über den Haufen: Ich engagierte neue, unverbrauchte Darsteller von der Schauspielschule: 121
Shawn, Jolene und Leah, denen ich im Vorfeld so wenig Informationen wie möglich gab. Ich erzählte ihnen nur die Grundidee, damit sie hier unten so spontan und lebensnah wie möglich agieren konnten.« »Schön und gut«, sagte Peter ungeduldig. »Aber Justus und ich sind keine Schauspieler, oder habe ich das etwa auch vergessen? Wie erklären Sie mir das?« Aus Jonathans Dauerlächeln wurde ein Strahlen. »Das war die großartigste Idee, die ich je hatte! Sie kam mir erst vor wenigen Tagen. Ich überlegte, dass ich nur dann ein vollkommen realistisches Szenario hinbekomme, wenn ich Schauspieler in der Gruppe habe, die noch weniger wissen. Die gar nichts wissen. Nicht einmal, dass sie in einem Film mitwirken. Am liebsten hätte ich nur solche Leute genommen, aber das wäre zu gefährlich gewesen. Es mussten einige Menschen dabei sein, die wussten, dass alles nur ein Spiel ist. Sonst hätte eine Panik unter den Teilnehmern des Experiments ausbrechen können.« »Es ist eine Panik ausgebrochen!«, rief Peter wütend. »Zumindest bei mir! Experiment! Sie haben uns gegen unseren Willen hierher verschleppt und uns wer-weiß-was eingeflößt, damit wir alles vergessen!« Sanft schüttelte Jonathan den Kopf. »Nicht gegen euren Willen.« Und damit zog er zwei zusammengefaltete Stücke Papier aus der Tasche und reichte eines Justus, eines Peter. Zornig faltete der Zweite Detektiv es auseinander und las den ausgedruckten Text. Und mit jedem Wort verwandelte sich seine Wut immer mehr in Unglauben und Verblüffung. Hiermit erkläre ich, Peter Shaw, mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte dazu bereit, absolut freiwillig und in Ei122
genverantwortung beim Filmprojekt »Spur ins Nichts« von Jonathan Thorndike mitzuwirken. Zu diesem Zweck werde ich ebenfalls freiwillig und eigenverantwortlich eine chemische Substanz einnehmen, die meine Erinnerung an die letzten vierundzwanzig Stunden löscht. Die Substanz ist vollkommen ungefährlich. Studien haben ergeben, dass keine nennenswerten Nebenwirkungen oder Langzeitschäden zu erwarten sind. Ich werde mich mit großer Wahrscheinlichkeit später nicht daran erinnern, diesem Projekt zugestimmt zu haben. Diese Tatsache nehme ich in Kauf. Für die Mitwirkung an »Spur ins Nichts« erhalte ich eine Kopie des fertigen Films. Ich habe kein Mitspracherecht, was die Umsetzung des Filmmaterials angeht, kann jedoch entscheiden, ob ich im Abspann mit meinem Namen genannt werden möchte. Peter Shaw
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Das Geheimnis der Axt Bob war völlig außer Atem, als er seinen Wagen erreichte. Jelena sah ihn besorgt durch das offene Fenster an. »Was ist los? Ist was passiert?« »Falsche … Firma!«, keuchte Bob und ließ sich erschöpft auf den Fahrersitz fallen. »Das da ist die … falsche Fabrik! Es gibt noch eine … andere. Die leer steht.« »Na, dann nichts wie los!«, drängte Jelena. Bob nickte. »Sag ich ja.« Doch er kam nicht mehr dazu, den Zündschlüssel umzudrehen, denn plötzlich schob sich ein schwarzer Schatten in sein Gesichtsfeld. Er wandte den Kopf. Neben der Fahrertür stand ein Mann. Er war groß, hatte eine Halbglatze und trug trotz des warmen Wetters einen schwarzen Mantel. Er starrte Bob unverwandt an, dann klopfte er an die Scheibe. Bob hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war. Einen Augenblick lang überlegte er, einfach loszufahren und ihn stehen zu lassen. Aber wahrscheinlich war es bloß ein harmloser Passant, der nach dem Weg fragen wollte. Bob kurbelte die Scheibe herunter. »Guten Tag. Du bist doch Bob Andrews, oder?«, fragte der Mann und beugte sich zu ihm herab. »Ich … äh … ja.« »Bin ich froh, dich zu treffen! Was ist passiert? Ist etwas schief gelaufen? Wo ist Jonathan?« Bob schüttelte verwirrt den Kopf. »Verzeihung, wer sind Sie überhaupt?« Sein Gegenüber runzelte die Stirn, dann lachte er. 124
»Stimmt, wir sind uns ja nie begegnet. Mein Name ist Boyd. William Boyd.« Peter starrte auf die Unterschrift, die ohne jeden Zweifel seine eigene war. Dann sah er zu Justus hinüber, der das gleiche Schriftstück mit seinem Namen und seiner Unterschrift in den Händen hielt. Der Erste Detektiv hatte bereits alles zweimal gelesen und blickte ebenso ungläubig zu Peter. »Das … das ist meine Unterschrift!« »Natürlich ist es deine Unterschrift!«, lachte Thorndike. »Du konntest es gestern gar nicht abwarten, deinen Namen darunter zu setzen!« »Aber … aber wenn das wirklich alles wahr ist … wie sind Sie auf uns gekommen?« »Ihr seid auf mich gekommen«, antwortete Thorndike. »Ich hatte eine Anzeige in die Zeitung gesetzt. ›Suche junge Menschen für ein kurzfristiges Filmprojekt.‹ Daraufhin rieft ihr gestern bei mir an. Ich erklärte euch, dass ihr vierundzwanzig Stunden für dieses Projekt opfern müsst und dass es gleich am nächsten Tag sein muss. Denn der Witz war ja, dass ihr euch nicht einmal daran erinnern durftet, diese Anzeige gelesen und bei mir angerufen zu haben. Die Substanz, die euer Gedächtnis löscht, wirkt ja nur rückwirkend auf die letzten vierundzwanzig Stunden. Wir trafen uns, ich erläuterte die Einzelheiten, und ihr wart begeistert!« »Begeistert?« Peter schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir kaum vorstellen.« »Ich schon«, murmelte Justus leise. »In der Tat, Justus«, meinte Jonathan und lächelte wieder. »Du warst Feuer und Flamme. Du sprachst von einer 125
großen Herausforderung und warst der Meinung, dass du trotz deines Gedächtnisverlusts hinter das Geheimnis kommen würdest. Du warst so überzeugt, dass es dir auch ohne Erinnerung gelingen würde, das Rätsel, wie du hierher gekommen bist, lösen zu können. Du wolltest unbedingt mitmachen. Die Zeit drängte, also hast du Peter schließlich überredet. Am nächsten Tag, also heute, haben wir uns hier in der Lagerhalle getroffen und ihr habt die Papiere unterschrieben. Ich gab euch das Mittel, das in der ersten Stunde nach Einnahme sehr müde macht, und ihr habt euch in den Raum zum Schlafen gelegt. Später dann habe ich Jolene, Shawn und Leah reingeführt, die ich natürlich erst in letzter Sekunde engagieren konnte, da ich ja nicht wusste, wann jemand auf meine Anzeige antworten und wirklich zusagen würde. Sie wussten nicht, dass ihr beide keine Schauspieler seid. Shawn stellte sich schlafend und wartete, bis du aufwachtest, während Jolene Peter irgendwann einfach geweckt hat. Als ihr beide wach wart, wusstet ihr von nichts mehr.« »Und … und Leah?«, fragte Justus mechanisch, obwohl er nicht sicher war, schon alle Informationen verarbeitet zu haben. »Warum war sie nicht von Anfang an dabei?« »Ich wollte Leah erst später ins Spiel bringen, um den Film interessanter zu gestalten«, erklärte Jonathan. »Wisst ihr, es war gar nicht geplant gewesen, dass ihr euch befreit. Das sollte Leahs Aufgabe werden. Sie war die Einzige, die etwas mehr über das Projekt wusste als die anderen. Aber ihr habt den Spieß umgedreht. Auch gut. Das machte es für mich als Regisseur spannender.« »Das heißt, Sie saßen irgendwo oben und haben uns die ganze Zeit mithilfe der Kamera beobachtet«, sagte Justus. 126
»Ganz genau. An die Kameras heranzukommen, war für mich natürlich nicht weiter schwierig. Und ich hatte sie absichtlich nicht so gut versteckt, damit ihr sie früher oder später entdeckt. Auch das gehörte zum Plan.« »Aber … aber dann war es doch aus mit dem Projekt!«, meinte Peter. »Nein. Denn es gibt noch weitere Kameras. Eine ganze Menge sogar.« »Gibt es nicht«, widersprach Justus. »Ich habe alles abgesucht. Hier unten sind keine Kameras.« »Doch. So gut versteckt, dass ihr sie unmöglich finden konntet.« »Wo?«, fragte Justus prompt, der sich sogleich in seiner Ehre verletzt fühlte. Wie sollten ihm als erfahrenem Detektiv diese Kameras entgangen sein? Jonathan lächelte wissend. »Das kann ich euch leider nicht verraten. Es ist sozusagen ein Berufsgeheimnis, eine eigene Erfindung, die ich sehr bald patentieren lassen und teuer verkaufen werde.« Justus runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Haben Sie weiße Fliesen erfunden, die von einer Seite durchsichtig sind, und dahinter die Kameras versteckt?« »So ähnlich. Gib dir keine Mühe, Justus, du wirst es nicht herausfinden. Und ich kann es dir wirklich nicht sagen, da bin ich sehr eigen.« Justus war unzufrieden mit dieser Antwort, ging aber vorerst nicht weiter darauf ein. Es gab zu viel anderes, was er erst mal verdauen musste. Dass er vor vierundzwanzig Stunden tatsächlich gewusst haben sollte, was vor sich ging, war unglaublich. 127
Und doch sprach alles dafür, dass Thorndike ihnen die Wahrheit sagte. Die ganze Geschichte machte plötzlich Sinn. »Als Peter sich schließlich verletzte, habe ich lange überlegt, ob ich ›Spur ins Nichts‹ abbrechen sollte. Es tut mir Leid, Peter, ich hätte es sofort tun sollen. Da ist meine Gier nach packenden Bildern und einer guten Story mit mir durchgegangen. Das war nicht fair von mir. Ich hoffe, du verzeihst mir.« »Und als Jolene uns schließlich die Wahrheit erzählte?«, fragte Justus weiter. »Wieso haben Sie da nicht sofort alles aufgelöst?« »Weil mir plötzlich klar wurde, dass auch diese überraschende Wendung sich ausgezeichnet in meinem Film machen würde. Ich wollte euch noch ein bisschen zappeln lassen. Glaubt mir, ich habe euch immer beobachtet. Ihr wart nie wirklich in Gefahr.« »Na ja«, murmelte Peter und betrachtete seinen Arm, der endlich zu bluten aufgehört hatte, aber immer noch dumpf pochte. »Wie man’s nimmt.« Jonathan nickte. »Du hast Recht. Ich schlage vor, wir sollten dich nun verarzten und diesen ungemütlichen Ort verlassen.« Er deutete zum Fahrstuhl. Peter nickte grimmig. »Ich bin unbedingt dafür.« Eine halbe Stunde später betrachtete Peter seinen frisch verbunden Arm. Nachdem sie den Lastenaufzug nach oben genommen hatten, hatten sie sich in einer alten Fabrikhalle wiedergefunden, in der schon einiges für die geplanten 128
Dreharbeiten, von denen Jonathan Thorndike gesprochen hatte, aufgebaut war. Doch sie hatten keine Zeit gehabt, sich umzusehen, sondern waren gleich zu Thorndikes Wagen gegangen, der draußen auf dem verlassenen Gelände geparkt gewesen war. Das Tageslicht und die wärmenden Sonnenstrahlen hatten gut getan und die letzten Stunden in ihrem unterirdischen Gefängnis wie einen bösen Traum verblassen lassen. Schon nach wenigen Minuten erschien es Peter absolut unwirklich, dass er sich tatsächlich stundenlang in den Kühlräumen einer verlassenen Fischfabrik befunden hatte. Auf dem Parkplatz hatten sie sich von Jolene, Shawn und Leah verabschiedet und vereinbart, sich spätestens zur Filmpremiere wieder zu treffen. Danach hatte Thorndike sie zu einem Arzt in der Nähe gefahren, der sich sogleich um Peters Verletzung kümmerte, die zum Glück nicht so schlimm war, wie sie zwischenzeitlich ausgesehen hatte. Nun waren es nur noch der strahlend weiße Verband und das dumpfe Pochen, die Peter bestätigten, dass das alles wirklich passiert war. »Ich bin immer noch total durcheinander«, murmelte er. »Wegen dieser kleinen Verletzung?«, fragte der Arzt lachend und klopfte ihm auf die Schulter. »Nana, ein sportlicher junger Mann wie du hat doch sicherlich schon Schlimmeres erlebt.« Peter winkte ab. Natürlich hatte er nicht die Verletzung gemeint, sondern alles andere. Aber er hatte dem Arzt nichts von seinen Erlebnissen erzählt, sondern ihm irgendeine Geschichte über einen Skateboardunfall aufgetischt, um anstrengende Fragen zu vermeiden. Er stand von der Pritsche auf, bedankte sich und verließ zusammen mit Thorndike und Justus die Praxis. 129
»Tja«, sagte Thorndike, als sie an der Straße standen. »Was für ein Tag.« »Allerdings«, meinte Peter. »Ich bin wirklich gespannt auf diesen Film.« »Nicht nur du, Peter, nicht nur du. Ich werde mich bei euch melden, sobald ich das Material gesichtet habe.« »Ehrlich gesagt wäre ich gern dabei, wenn Sie sich die Bänder ansehen«, sagte Justus schnell, da es ihn brennend interessierte, aus welchen Perspektiven das alles gefilmt worden war. Vielleicht gab das Aufschluss darüber, wo und wie die Kameras versteckt gewesen waren. Dass er dieses Rätsel beim besten Willen nicht lösen konnte, wurmte den Ersten Detektiv ungemein. »Tut mir Leid, aber du hast unterschrieben, dass du auf die Umsetzung und den Schnitt keinen Einfluss nehmen kannst«, erwiderte Thorndike mit einem Lachen, stieg in seinen Wagen und kurbelte das Fenster runter. »Also dann, ihr beiden, vielen Dank noch mal. Es war ein unvergessliches Erlebnis. Wird bestimmt ein toller Film.« »Moment mal, Sie fahren jetzt einfach?«, wunderte sich Justus. »Sorry, aber ich muss. Ich habe heute noch viel zu tun. Ihr wisst ja: Der nächste Film wartet. Mein Experiment mit euch war schließlich nur ein kleines Intermezzo. Ich rufe euch an, wenn es Neues gibt, okay?« »Wir haben gar nicht Ihre Nummer!«, rief Justus. Ihm ging das alles entschieden zu schnell. »Doch, in der Zeitungsanzeige steht sie. Die müsste ja noch irgendwo bei euch herumliegen. Ruft mich einfach an, vielleicht treffen wir uns mal auf eine Cola oder so! Bis dann!« Jonathan zündete den Motor. »Der hat’s aber plötzlich eilig«, meinte Peter. 130
»Ja, nicht wahr? Fast so, als wollte er vermeiden, dass wir ihm weitere Fragen stellen. Aber wart’s ab, ich werde schon rauskriegen, wie er das mit den Kameras gemacht hat. So schnell gibt ein Justus Jonas nicht auf.« Jonathan Thorndike streckte noch einmal seinen blassen Arm aus dem Fenster, winkte und gab Gas. Justus blickte auf den Arm und erstarrte. Beim Winken war der Ärmel des T-Shirts hochgerutscht. Darunter war ein auffälliges Muttermal zum Vorschein gekommen. Ein brauner Fleck, der ungefähr die Form einer Axt hatte. Eine braune Insel im weißen Meer. Eine Fabrikhalle. Ein Scheinwerfer. Ein junger Mann mit hellblondem Haar – Thorndike. Eine wichtige Nachricht auf einem Notizzettel, der irgendwo in der Nähe versteckt war. Sehr nahe. »Oh, mein Gott!«, flüsterte Justus. »Was hast du, Just?«, fragte Peter besorgt. »Ich … ich erinnere mich!« »Was? Du erinnerst dich? Woran?« »An … an kaum etwas«, antwortete Justus verwirrt. »Eigentlich an gar nichts. Es … es sind nur Bilder. Da war eine Halle. Die Fischfabrik! Und ein Scheinwerfer. Und Thorndike. Er hat dieses Muttermal, das aussieht wie eine Axt, hast du gesehen?« »Ah, ja. Und weiter?« »Ich habe etwas aufgeschrieben. Eine kurze Notiz, mehr Zeit blieb nicht. Und die habe ich versteckt.« »Du hast eine Notiz versteckt? Wann? Wo?« »Ich weiß nicht wann. Ich weiß nur …« Justus konzentrierte sich. Er konzentrierte sich mit aller Kraft. Er durfte diese Erinnerung nicht wieder verlieren, wie es ihm schon zweimal passiert war. Er musste die Bilder im Kopf behal131
ten! Die Halle, der Scheinwerfer, der Zettel. Wo war der Zettel? »Ich weiß es!«, rief er fast hysterisch. »Ich weiß es!« Er bückte sich und zog seinen rechten Schuh aus. »Aber Just, was machst du denn da?« Justus achtete gar nicht auf Peter. Er hatte einen Notizzettel versteckt, und ihm war gerade wieder eingefallen wo! Er nahm den Turnschuh zur Hand und bog ihn. Er war uralt und zerfiel fast in seine Einzelteile. Da war ein Riss, der quer durch den Sohlenabsatz ging. Und in diesem Riss steckte ein Zettel. Aufgeregt zog er ihn hervor und faltete ihn auseinander. Auf dem Zettel standen nur vier Worte in seiner Handschrift: Glaub Thorndike kein Wort!
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Zurück auf Anfang »Peter! Wir müssen zurück! Sofort!« Justus hielt dem Zweiten Detektiv den Zettel unter die Nase. »Aber … aber was hat das zu bedeuten?« »Das bedeutet, dass Jonathan uns einen Haufen Mist erzählt hat! Und ich wusste, dass er das tun würde, deshalb habe ich diese Notiz versteckt.« »Wann hast du diese Notiz versteckt?« »Irgendwann in der Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann.« »Das heißt, jetzt kannst du dich erinnern?« »Nein, ich kann mich nur an den Zettel erinnern. Und an die Fabrikhalle und an einen Scheinwerfer. Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt, Peter, ich weiß nur, dass Thorndike uns angelogen hat! Ich habe diesen Zettel in meinem Schuh versteckt, damit ich ihn später wiederfinde. Die kaputte Sohle war wahrscheinlich der sicherste Ort, der mir auf die Schnelle einfiel, denn die Hosentaschen hat Thorndike bestimmt durchsucht. Er hat uns ja alle Papiere und so weiter abgenommen!« »Stimmt! Meine Brieftasche! Meine Schlüssel! Die sind ja immer noch verschwunden! Das hatte ich ganz vergessen! Und du meinst, Thorndike hat sie?« »Ja, hat er. Und er hat noch eine ganze Menge mehr, nämlich die Wahrheit, die hinter dieser ganzen Geschichte steckt! Komm schon, Peter, wir müssen sofort zurück zur Fischfabrik!« Der Zweite Detektiv hatte zwar noch nicht begriffen, was los war, aber es reichte ihm, dass Justus den Durchblick hatte. 133
Schon war er auf der Straße und hielt das nächste Taxi an. Glücklicherweise konnten sich die beiden Detektive erinnern, wo genau die Fischfabrik lag. So war es für sie kein Problem, dem Taxifahrer den Weg zu weisen. Zehn Minuten später standen sie an der Straße vor dem verlassenen Fabrikgelände. Der Fahrer nannte den Preis. »Oh, Mist!«, entfuhr es Peter. »Unsere Geldbörsen!« »Oh.« Auch Justus hatte keine Sekunde lang daran gedacht, dass sie gar kein Geld dabeihatten. »Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?«, knurrte der Taxifahrer. »Das könnt ihr vergessen. Wenn ihr nicht bezahlen könnt –« »Warten Sie!«, rief Justus. »Da … da ist Bob!« »Bob?«, wiederholte der Fahrer. »Wer ist Bob? Ist mir doch egal. Hört mal, Jungs, wenn ihr nicht sofort –« »Bob!«, schrie Peter, sprang aus dem Taxi und rannte auf den gelben VW zu, der gerade aus der anderen Richtung gefahren kam und langsamer wurde. »Bob!« Der VW hielt. Bob stieg aus. »Peter! Peter, Gott sei Dank! Was ist passiert? Was … was ist überhaupt los? Wo wart ihr?« »Warum bist du hier?«, entgegnete Peter ebenso aufgeregt. »Das ist eine lange Geschichte. Also, ich – he, was ist denn mit deinem Arm passiert?« »Später. Hast du Geld? Wir müssen das Taxi bezahlen.« »Ich … was? Geld? Ja, habe ich.« Eilig bezahlte Peter das Taxi und kehrte mit Justus zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass noch zwei Leute in Bobs Wagen saßen. 134
Ein großer Mann mit Halbglatze hatte sich auf den Rücksitz gequetscht und fand kaum Platz neben dem zusammengeklappten Rollstuhl von … »Jelena! Also, so langsam verstehe ich überhaupt nichts mehr.« »Ich auch nicht«, mischte sich Justus ein. »Aber das ist im Moment völlig zweitrangig. Da vorne steht Thorndikes Wagen. Er ist also noch hier! Kommt, Kollegen, wir müssen ihn schnappen, bevor er abhaut.« »Thorndike?«, fragte Bob. »Jonathan Thorndike? Wegen dem sind wir auch hier. Und wegen euch natürlich.« »Na, so ein Zufall. Los, beeilt euch!« Der Mann, den Bob schnell als William Boyd vorstellte, kletterte aus dem Wagen. Dann klappten sie den Rollstuhl auseinander und alle fünf eilten auf die Lagerhalle zu. »Justus, Peter, ich bin’s, William Boyd! Erinnert ihr euch denn nicht an mich?«, fragte Mr Boyd auf dem Weg. Peter verdrehte die Augen. »Wir kennen uns? Wundert mich nicht. Ich habe so einiges vergessen.« Als Justus, Peter, Bob und Jelena durch das weit offen stehende Tor der verwaisten Halle stürmten, waren Jolene und Shawn bereits verschwunden. Jonathan Thorndike stand auf einer Leiter und schraubte an einem Stahlgerüst herum, das unter der Decke hing und an dem mehrere große Scheinwerfer befestigt waren. Wieder schossen Justus Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Irgendetwas war mit diesen Scheinwerfern … Doch bevor er darüber nachdenken konnte, stieß Leah, die neben der Leiter stand und den unerwarteten Besuch gerade bemerkte, einen spitzen Schrei aus. Thorndike sah auf und kletterte in Windeseile von der Leiter. 135
Für einen langen Moment bröckelte seine freundliche Fassade, doch dann hatte er sich wieder im Griff. »Was … he, da seid ihr ja schon wieder. Habt ihr was vergessen?« »Allerdings«, knurrte Peter. »Unsere Brieftaschen.« »Ach ja, stimmt. Die hattet ihr mir zur Verwahrung gegeben.« »Zur Verwahrung, soso«, wiederholte Justus und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihm nicht ein Wort glaubte. »Ich denke, Sie sind uns noch eine Erklärung schuldig, Mr Thorndike.« »Noch mehr Erklärungen?« Thorndike lachte. »Ich dachte, ihr hättet mit denen von eben noch genug zu tun.« »Ihre Geschichte über den Film können Sie sonst wem erzählen. Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Ach. Und warum nicht?« Justus trat auf Thorndike zu und hielt ihm den Notizzettel direkt vor die Augen. »Darum nicht.« »›Glaub Thorndike kein Wort.‹ Was soll das sein, Justus?« »Das ist eine Nachricht aus der Vergangenheit. Von mir an mich. Und ehrlich gesagt bin ich geneigt, mir selbst mehr Glauben zu schenken als Ihnen.« »Und damit hat er absolut Recht«, sagte plötzlich eine Stimme von hinten. William Boyd, der sich versteckt gehalten hatte, trat nun mit ruhigen Schritten in die Halle. Justus konnte beobachten, wie Thorndike noch ein bisschen bleicher wurde. »William! Was tun Sie denn hier?« »Dasselbe könnte ich Sie fragen, Jonathan.« »Ich … nun das sehen Sie ja. Ich bereite noch ein paar Kleinigkeiten für den Drehstart übermorgen vor.« »Soso. Sie bereiten etwas vor. Und bei diesen Vorberei136
tungen haben Justus und Peter Sie überrascht, was Sie dazu veranlasste, die beiden einzusperren, sehe ich das richtig?« »Mr Boyd«, mischte Justus sich ein. »Ich weiß, wir sind uns schon einmal begegnet. Nur leider kann ich mich überhaupt nicht daran erinnern. Jonathan Thorndike hat uns ein Mittel verabreicht, das die letzten vierundzwanzig Stunden unserer Erinnerung gelöscht hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns Ihre Version der Geschichte schildern könnten.« Mr Boyd nickte. »Ich bin Filmproduzent. Und damit Jonathans Chef für die nächste Produktion, die zum Teil hier in dieser Halle gedreht werden soll. Aber Jonathan und ich hatten von Anfang an … Differenzen. Er wollte einen völlig anderen Film machen als das Studio. Er wollte das Drehbuch ändern, mehr Geld haben und nicht zuletzt die Hauptdarstellerin Carrie Porter in der Rolle der Catherine ersetzen. Aber das war absolut unmöglich. Ich halte Mrs Porter für eine herausragende Darstellerin. Außerdem haben wir bereits einen Vertrag mit ihr. Über diesen Punkt gerieten Jonathan und ich uns ziemlich in die Haare. Schließlich hegte ich sogar den Verdacht, dass Jonathan die Produktion sabotieren würde, um seine Forderungen durchzusetzen. Das war der Punkt, an dem ich euch angerufen habe, die drei Detektive.« »Ach, tatsächlich?« Justus musste sich noch daran gewöhnen, dass alle anderen besser über die vergangenen vierundzwanzig Stunden Bescheid wussten als er. »Woher kannten Sie uns?« »Nun, um ehrlich zu sein, bin ich ein großer Fan von euch. Ich verfolge eure Detektivkarriere schon seit Jahren in der Presse und wollte immer schon mal Kontakt zu euch aufnehmen. 137
Gestern war es dann so weit. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Jonathan etwas plante. Also beauftragte ich euch, ihn zu beschatten. Er kannte euch schließlich nicht, daher hielt ich das Unternehmen für ungefährlich. Doch das war es offenbar nicht. Denn ihr wart plötzlich verschwunden. Ich machte mir große Sorgen, da ich euch weder in der Zentrale noch über das Handy erreichen konnte.« »Dann haben Sie also x-mal in der Zentrale angerufen und nicht auf den Anrufbeantworter gesprochen?«, sagte Bob. »Ja, das war wohl ich. Ich wollte ja nur hören, ob Justus und Peter wieder zurück sind. Doch sie blieben verschollen. Schließlich bin ich zur Fischfabrik gefahren, um zu sehen, ob ich Jonathan hier antreffe. Auf dem Weg dorthin kam ich an der neuen Fabrik vorbei und begegnete dir, Bob. Dein Bild kannte ich ja aus der Zeitung.« »Und wie bist du auf die Fischfabrik gekommen?«, fragte Peter. Nun erzählten Bob und Jelena abwechselnd ihre Version der Geschichte. »Aber ich weiß immer noch nicht so recht, worum es geht«, beendete Bob den Bericht. »Um Sabotage, nehme ich an«, sagte Mr Boyd. »Ihr beiden müsst gestern während eurer Beschattung irgendwie herausgefunden haben, dass Jonathan hier in der Fabrikhalle etwas Verbotenes plant. Wahrscheinlich letzte Nacht. Also seid ihr hierher gefahren, habt ihn beobachtet …« »Und sind dann von ihm ertappt worden«, führte Justus den Gedanken zu Ende und wandte sich damit an Jonathan Thorndike. »Wir haben etwas gesehen oder gehört, das wir niemals hätten erfahren dürfen, nicht wahr? Sie erwischten uns, und Ihnen war klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, wie Sie Ihren Kopf aus der Schlinge ziehen können: Sie mussten irgendwie dafür sorgen, dass wir alles, was wir er138
fahren haben, vergessen. Also flößten Sie uns dieses Mittel ein. Sie konnten sich jedoch nicht sicher sein, ob wir uns tatsächlich an nichts mehr erinnern würden. Also sperrten Sie uns ein, installierten die Kameras und beobachteten, wie wir uns nach dem Aufwachen verhalten. Ob wir uns erinnern oder nicht.« Jonathan Thorndike blickte Justus ausdruckslos an. Sehr lange, ohne ein Wort zu sagen. »Aber was?«, fragte Peter. »Was haben wir beobachtet, Justus? Was war es, das wir vergessen haben?« Ratlos blickten sie einander an. Um Thorndikes Mund spielte ein mildes Lächeln. »Das ist wirklich eine tolle Geschichte. Und bestimmt lässt sich daraus ein gutes Drehbuch stricken, nicht wahr, William? Aber zum Glück auch nicht mehr. Ich habe euch gesagt, was wirklich geschehen ist. Eure Mutmaßungen sind faszinierend, aber da sich niemand von euch erinnern kann, werden es wohl Mutmaßungen bleiben.« Peter nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Unter der Hallendecke wackelte etwas. Er blickte nach oben und sah gerade noch, wie sich einer der riesigen Scheinwerfer, der direkt aber Leahs Kopf hing, mit eine hässlichen Knarren vom Gerüst löste – und abstürzte!
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Crash Der Zweite Detektiv brüllte eine Warnung, sprang vor und schubste Leah in letzter Sekunde beiseite. Mit einem lauten Krachen schlug der Scheinwerfer auf dem Betonboden auf, und Tausende Glassplitter spritzten wie Wassertropfen durch die Luft. Sekundenlang waren alle so erschrocken, dass niemand ein Wort sagte. Und in dieser Stille stiegen Erinnerungen wie riesige Blasen im Kopf des Ersten Detektivs auf. Der Scheinwerfer! Er erinnerte sich! »Das … das …«, stammelte er, um die Erinnerung in Worte zu fassen, bevor sie wieder verschwand. »Das ist schon einmal passiert!«, fiel Peter ihm ins Wort. »Letzte Nacht! Genau hier! Und wir haben es beobachtet!« »Du erinnerst dich?«, fragte Justus verblüfft. »Ja! Jetzt gerade! Wir … wir waren dort hinten, hinter der Betonsäule und haben beobachtet, wie Mr Thorndike und Leah sich an den Scheinwerfern zu schaffen machten. Einer krachte herunter, wohl versehentlich, und Thorndike sagte …« »Er sagte: ›Wenn dieses Ding auf Carrie Porters Kopf landet, sind wir sie endgültig los!‹« Justus starrte Jonathan Thorndike an. »Sie hatten vor, die Hauptdarstellerin Ihres Films umzubringen!« »Damit Ihre Freundin die Rolle kriegt!«, rief Bob. »Aber klar! Ihre Freundin Kimberly Lloyd! Ich habe mitbekommen, wie sie den Text für die Rolle der Catherine gelernt hat!« Alle blickten fassungslos zu Jonathan Thorndike. Mr 140
Boyd war schließlich der Erste, der einen Ton herausbrachte. »Ist das wirklich wahr, Jonathan?« Thorndike antwortete nicht. Doch dann meldete sich Leah zu Wort. »Es stimmt«, sagte sie zerknirscht. »Leah!«, rief Thorndike. »Es hat keinen Sinn, Jonathan. Die fünf haben doch sowieso schon fast alles herausgefunden.« Sie wandte sich wieder an die drei Detektive, Jelena und Mr Boyd: »Wir wollten Carrie Porter natürlich nicht umbringen. Nur außer Gefecht setzen, damit Kimberly die Rolle bekommt. Sie wissen, wie eng der Drehplan ist. Wäre die Hauptdarstellerin für längere Zeit ausgefallen, wäre die Rolle sicher neu besetzt worden. Mit Kimberly. Also trafen wir uns nachts hier in der Halle und haben die Scheinwerferhalterungen sabotiert, damit sie im richtigen Moment … Na ja, jedenfalls ist ein Scheinwerfer versehentlich schon gestern abgestürzt. Und ihr beiden habt das beobachtet. Wir ertappten euch und stellten fest, dass ihr alles mitbekommen hattet. Also mussten wir etwas unternehmen, sonst wären wir unseren Job los gewesen.« »Ihr?«, fragte Justus. »Das heißt, du bist keine Schauspielschülerin?« Leah schüttelte den Kopf. »Ich bin Jonathans Regieassistentin. Und Kimberlys Freundin. Die letzte Nacht war ein Alptraum! Wir hatten euch in den Keller gesperrt, wussten aber nicht, was wir weiter mit euch tun sollten. Dann kam Jonathan auf den genialen Plan mit dem Vergessenstrank. Er hatte über einen Freund aus der Filmbranche von dieser Substanz gehört. Ein paar Fernsehleute hatten wohl mal Ärger deswegen.« Justus grinste schief. »Ja. Wir haben davon gehört. Um genau zu sein, hatten diese Filmleute damals Ärger mit uns. Die Welt ist klein.« 141
»Jedenfalls hatte Jonathan noch Kontakt zu diesen Leuten und konnte den Trank beschaffen. Dann zwangen wir euch, ihn einzunehmen.« »Kurz vorher muss ich eine Möglichkeit gefunden haben, unbemerkt diesen Zettel zu schreiben und ihn in meiner Schuhsohle zu verstecken«, murmelte Justus nachdenklich. »Aber was hatte es nun mit Jolene und Shawn auf sich? Die beiden kamen doch wirklich von der Schauspielschule, oder?« Leah nickte. »Jonathan wollte auf Nummer sicher gehen, deshalb ist er gleich heute Morgen zur Schauspielschule gefahren und hat die beiden engagiert und ihnen die Story mit dem Experimentalfilm erzählt. In Wirklichkeit brauchte er nur zwei Leute, die sich mit euch unterhalten, weil er ja nur so herausfinden konnte, ob ihr euch erinnern könnt oder nicht. Und mithilfe der Kameras und der integrierten Mikrofone hat er euch beobachtet und belauscht.« »Warum hat er uns nicht gleich in ein und denselben Raum gesperrt und sich die Sache mit den Schauspielern erspart?«, wollte Justus wissen. »Weil er befürchtete, dass ihr euch gegenseitig in eurer Erinnerung auf die Sprünge helfen könntet. Er wollte euch unbedingt getrennt halten, und zwar so lange wie möglich, bis er sicher sein konnte, dass ihr wirklich alles vergessen hattet. Aber das klappte nicht, da Peter ziemlich schnell die Tür öffnen konnte.« »Und dann kamst du ins Spiel«, vermutete Justus. »Richtig. Als ihr die beiden Kameras zerstört hattet, brauchte Jonathan eine Möglichkeit, euch weiter zu belauschen. Also hat er mich runtergeschickt.« »Jolene und ich haben dich gehört!«, fiel es Peter ein. »Als wir gerade die Tür geknackt hatten, war da ein Geräusch. Das warst du, stimmt’s?« 142
Leah nickte. »Ich konnte mich in letzter Sekunde in dem Raum verstecken, aus dem ihr mich dann ›befreit‹ habt. Ab da war ich immer auf dem Laufenden und konnte außerdem versuchen, euch von einem Fluchtversuch abzuhalten.« »Also hast du den Fahrstuhl in Bewegung gesetzt und meinen Absturz verursacht!«, rief Peter empört. Leah nickte schuldbewusst. »Ja. Ich konnte ja nicht zulassen, dass ihr abhaut! Aber dann ließ Jolene die Bombe platzen und erzählte von dem Film. Jonathan hat alles von der Fahrstuhlkabine aus belauscht und sah, dass er das Spiel nicht weiterspielen konnte. Also hat er rasend schnell die beiden Verträge getippt und eure Unterschriften mithilfe eurer gestohlenen Ausweise gefälscht. Damit ist er dann zu uns runtergekommen und hat versucht, die Lüge über den Film aufrechtzuerhalten.« »Dann gab es also keine weiteren versteckten Kameras«, schloss Justus. »Wusste ich es doch! Das kam mir gleich komisch vor!« »Tja«, sagte Peter grinsend. »Was Justus sich nicht erklären kann, kann es auch nicht geben, so einfach ist das.« »Nachdem wir nun also den Tathergang geklärt haben«, meldete sich Mr Boyd wieder zu Wort, »ist es wohl an der Zeit, meine Pflicht zu tun: Jonathan, Leah – Sie sind gefeuert. Und jetzt rufe ich die Polizei.« Während Mr Boyd sich ein paar Schritte zurückzog, um zu telefonieren, wandte sich Justus an den Regisseur: »Ich muss schon sagen, Mr Thorndike: Hochachtung! In so kurzer Zeit einen so guten Plan zu entwickeln und die ganze Zeit flexibel zu bleiben, damit das Lügengebilde nicht einstürzt – das erfordert schon eine Menge Grips. Beinahe hätten Sie uns reingelegt.« »Aber eben nur beinahe«, fügte Bob selbstzufrieden hinzu. 143
»Da wäre noch was«, sagte Peter grimmig und streckte die Hand aus. »Unsere Sachen!« Niedergeschlagen gab Thorndike den beiden ihren Besitz zurück. Peter öffnete seine Brieftasche, sah nach, ob auch nichts fehlte, und zog schließlich eine Visitenkarte hervor, die er Thorndike triumphierend in die Hand drückte. »Falls Sie nach Ihrem Gefängnisaufenthalt mal detektivische Hilfe benötigen.«
Zwei Tage später saßen Justus, Peter, Bob, William Boyd und Jelena im Sonnenuntergang auf der Veranda des Hauses Jonas und aßen Tante Mathildas Kirschkuchen, den sie aus Freude und Erleichterung über die wohlbehaltene Rückkehr ihres Neffen gleich in doppelter Ausführung gebacken hatte. Gemeinsam sprachen sie noch einmal über alle Details ihres jüngsten bestandenen Abenteuers. »Was ich immer noch nicht ganz verstanden habe«, sagte Bob schmatzend. »Wieso habt ihr nicht meinen Wagen benutzt, um zur Fischfabrik zu fahren? Am Nachmittag standet ihr damit noch vor Thorndikes Apartment, für die Fahrt zur Fischfabrik habt ihr ihn aber nicht mehr benutzt. Warum?« »Tja«, seufzte Justus. »Obwohl ich mich an den Vorfall 144
mit dem Scheinwerfer wieder erinnern kann – alles andere ist immer noch im Nebel der Amnesie verborgen. Und wird es wohl auch bleiben. Ich bin mir sicher, dass wir einen Grund hatten, nicht den VW zu nehmen. Vielleicht hatten wir Angst, dass Thorndike ihn wieder erkennt. Aber mit Sicherheit werden wir das nie wissen.« Peter runzelte die Stirn. »Es ist ein ziemlich beunruhigendes Gefühl, sich immer noch nicht erinnern zu können, kann ich euch sagen. In diesen vierundzwanzig Stunden kann alles Mögliche passiert sein! Wir werden es nie erfahren!« »Ein paar offen gebliebene Fragen tun euch mal ganz gut«, fand Jelena und erntete dafür einen bösen Blick vom Ersten Detektiv. »Es wird ziemlich schwierig werden, zu diesem Fall einen Bericht zu schreiben, wenn ihr mir nicht sagen könnt, was passiert ist«, meinte Bob. »Soll das heißen, dass es zu allen euren Fällen Berichte gibt?«, fragte Mr Boyd interessiert. »Natürlich«, antwortete Bob nicht ohne Stolz. Schließlich hatte er diese Berichte verfasst. »Alles ist genauestens protokolliert. Warum fragen Sie?« »Na ja, wie ich schon sagte: Ich verfolge eure Karriere bereits seit längerem. Und das nicht ganz ohne Hintergedanken.« Justus wurde hellhörig. »Wie meinen Sie das?« »Ich finde, ihr habt schon eine Menge spannender Abenteuer erlebt. Und wenn es darüber genaue Aufzeichnungen gibt, ist das für mich natürlich sehr praktisch. Denn ich überlege seit geraumer Zeit, ob es sich nicht lohnen würde, einen Film über euch zu machen.« 145
Peter verschluckte sich und prustete einen Regen aus Kuchenbröseln über den Tisch. »Einen Film?« »Ja. Einen Spielfilm. Fürs Kino. Vielleicht sogar eine Fernsehserie. Natürlich brauche ich dafür euer Einverständnis. Was meint ihr?« Die drei??? sahen einander sprachlos an. Schließlich antwortete Justus mit einem verschmitzten Grinsen: »Ich denke, wenn Sie mich mit Brad Pitt oder Keanu Reeves besetzen, dann haben Sie meine Zustimmung, Mr Boyd.« Die drei Detektive, Jelena und William Boyd brachen in schallendes Gelächter aus.
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