Johann Schmid Die Dialektik von Angriff und Verteidigung
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausge...
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Johann Schmid Die Dialektik von Angriff und Verteidigung
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeben von Thomas Jäger
Johann Schmid
Die Dialektik von Angriff und Verteidigung Clausewitz und die stärkere Form des Kriegführens
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18085-4
Inhalt
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Inhalt
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
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1 2 3 4 5
19 20 20 22 23
Hintergrund Ziel Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik Stand der Forschung Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis
I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
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32 33 34 35 37
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Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu (ca. 500 - 300 v. Chr.) 1.1 Hintergrund 1.2 Vorteile der Verteidigung 1.3 Vorteile des Angriffs 1.4 Abschließende Bewertung Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung (1712 - 1786) 2.1 Hintergrund 2.2 Offensive Grundausrichtung 2.3 Betrachtung der Defensive 2.4 Abschließende Bewertung Napoleon Bonaparte und die französische Revolutionskriegführung (1769 - 1821) 3.1 Hintergrund 3.2 Dominanz des Offensivdenkens 3.3 Abschließende Bewertung Ergänzende Betrachtung 4.1 Hintergrund: Kriegführung in der Renaissance 4.2 Hintergrund: Französische Revolutionskriegführung 4.3 Hintergrund: Engels Militärische Schriften 4.4 Hintergrund: Deutsche Einigungskriege 4.5 Hintergrund: I. Weltkrieg 4.6 Hintergrund: II. Weltkrieg 4.7 Hintergrund: Golfkrieg 1991 4.8 Hintergrund: Cyber War
38 39 40 42 44 46 46 48 55 56 56 57 57 58 59 60 60 62
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Inhalt
4.9 Hintergrund: Schach 4.10Hintergrund: Terrorismus, das offensive Kampfmittel des Schwachen Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
II. Kapitel: Verständnis der Clausewitzschen These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 1
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Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung 1.1 Angriffs- / Verteidigungsmittel 1.2 Begriff und Merkmal 1.3 Zwecksetzung 1.4 Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz 2.1 Logik 2.2 Dialektik 2.3 Interpretationsproblem Grad der Verbindlichkeit 3.1 Unverbindliche Meinungsäußerung 3.2 Gesetzescharakter 3.3 Häufigkeit des Sieges 3.4 Grundsatzcharakter 3.5 Ergebnis Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 4.1 Vermeintliche Aktualität 4.2 Selbstverständnis seiner These 4.3 Zeitgebundenheit 4.4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 4.5 Inhalt und Methode 4.6 Ergebnis Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik) 5.1 Taktische / Strategische Ebene 5.2 Politische Ebene Ätiologie der Clausewitzschen These 6.1 Politische Herausforderung 6.2 Eigene Kriegserfahrung und Auswertung des historischen Erfahrungsraumes 6.3 Kritische Distanz zum herrschenden Denken seiner Zeit 6.4 Theoretische Hintergründe
63 64 65 67 68 69 70 72 78 88 88 92 95 96 96 98 100 100 104 105 105 107 108 113 115 116 117 117 119 121 122 122 123 125
Inhalt
7 8
Mögliche Auswirkungen der Tatsache, dass das Werk „Vom Kriege“ unvollendet blieb Verständnis der Clausewitzschen These: Zusammenfassung des Ergebnisses 8.1 Begriffsbestimmung 8.2 Methode 8.3 Hintergrund
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung der Clausewitzschen These 1
2
3
Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917 1.1 Ein Sieg 1.2 Der Entschluss 1.3 Der Widerspruch 1.4 Angriff als die stärkere Form 1.5 Mögliche Einwände 1.5.1 Der Kulminationspunkt im Angriff 1.5.2 Deutsche Verstärkung 1.5.3 Resultat Besser „Praevenire als Praeveniri“: Der Sechstagekrieg 1967 2.1 Der Präventivangriff als Widerspruch zur Clausewitzschen Theorie 2.2 Israels Präventivangriff 2.3 Angriff als die stärkere Form 2.4 Ergebnis 2.5 Mögliche Einwände 2.5.1 Geostrategische Lage 2.5.2 Politische Zwecksetzung 2.5.3 Abwarten als Möglichkeit? 2.5.4 Resultat Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses
IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung der Clausewitzschen Argumentation 1
„Natur der Sache“ 1.1 Der negative Zweck als Stärke 1.1.1 Großer Zweck erfordert mehr Kraftaufwand 1.1.2 Erhalten leichter als Gewinnen? 1.1.3 Negative Zwecksetzung nur in der Verteidigung?
7
126 128 129 131 133 135 137 137 138 141 143 147 147 149 150 152 152 154 155 159 160 160 161 162 162 163 167 168 168 169 170 172
8
Inhalt
1.1.4
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Verteidigung, die sich nicht mit der Zwecksetzung des Erhaltens begnügt 173 1.2 Vorteil des Abwartens 175 1.2.1 „beati sunt possidentes“ 176 1.2.2 Zeitgewinn 178 1.2.2.a Verteidigung in der Offensive 178 1.2.2.b „Abwarten“ als Vorteil des Angriffs 179 1.2.2.c Zukunft 180 1.2.2.d Überraschung 181 1.2.3 Einseitige Betrachtungsweise 181 1.2.4 Mangelnde Entschlossenheit 183 1.2.5 Entschleunigung / Siegverweigerung 185 1.2.6 Fazit 186 1.3 Zusammenfassung / Ergebnis 186 Logik 190 2.1 Mangelnde Folgerichtigkeit des Schlusses 191 2.2 Fehlerhaftigkeit einer Prämisse 192 2.3 Angriff als die zu bevorzugende Form des Kriegführens? 192 2.4 Zusammenfassung / Ergebnis 194 Die „Prinzipe des Sieges“ 196 3.1 Die „Prinzipe des Sieges“ als Begründung der „größeren Stärke der Verteidigung“ 196 3.2 Gesamtstruktur der Argumentation / Dogmatismus 197 3.2.1 Erstes Auswahlkriterium: „Willkür des Feldherrn“ 198 3.2.2 Zweites Auswahlkriterium: Besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung 199 3.2.2.a „Überlegenheit der Zahl“ und „Übung“ 200 3.2.2.b Initiative 202 3.2.3 Zusammenfassung / Ergebnis 205 3.3 Überraschung 206 3.3.1 Überraschung als das erste „Prinzip des Sieges” 206 3.3.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 208 3.3.3 Zusammenfassung / Ergebnis 211 3.4 Vorteil der Gegend 212 3.4.1 Vorteil der Gegend als das wichtigste Prinzip des Sieges 212 3.4.2 Erste Voraussetzung 214 3.4.3 Zweite Voraussetzung 216 3.4.4 Hindernis des Zugangs 217 3.4.5 Nutzung des Beistands der örtlichen Lage 219 3.4.5.a Auswahl des Geländes 219
Inhalt
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3.4.5.b Vorbereitung des Geländes 220 3.4.6 Zusammenfassung / Ergebnis 222 3.5 Anfall von mehreren Seiten 226 3.5.1 Der Anfall von mehreren Seiten als das dritte Prinzip des Sieges 3.5.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 226 3.5.3 Zusammenfassung / Ergebnis 229 3.6 Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes und Benutzung großer moralischer Kräfte 230 3.6.1 Die drei Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit 230 3.6.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 231 3.6.3 Zusammenfassung / Ergebnis 237 3.7 Die Prinzipe des Sieges: Zusammenfassung des Gesamtergebnisses 239 Der Gegenangriff 239 4.1 Unvorteilhafte Verteidigung als Hauptnachteil des Angriffs 239 4.2 Erster Einwand: Gegenangriff als Stärke der Verteidigung? 241 4.3 Zweiter Einwand: „Unvorteilhafte Verteidigung“ als potenzielle Stärke des Angriffs! 241 4.4 Gegenangriff ist Angriff 242 4.5 Zusammenfassung / Ergebnis 243
Schlusswort: Zusammenfassung / Ergebnis / Thesen
245
1 2 3
245 250 252
Zusammenfassung Ergebnis Thesen
Literaturverzeichnis
258
Anhang
272
Inhalt
11
„Daß die Verteidigung leichter sei als der Angriff, ist schon im allgemeinen bemerkt, da aber die Verteidigung einen negativen Zweck hat, das Erhalten, und der Angriff einen positiven, das Erobern, und da dieser die eigenen Kriegsmittel vermehrt, das Erhalten aber nicht, so muß man, um sich bestimmt auszudrücken, sagen: die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. VI, 1, Mit historisch kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 615)
„Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben.“ (Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, Bd. VII, Berlin 1835, S.361; vgl. Dietmar Schössler: Carl von Clausewitz. Hamburg 1991, S. 136)
„... denn mein Ehrgeiz war, ein Buch zu schreiben, was nicht nach zwei oder drei Jahren vergessen wäre, und was derjenige, welcher sich für den Gegenstand interessiert, allenfalls mehr als einmal in die Hand nehmen könnte.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Vorrede, S. 175)
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
Als ich vor gut zwei Jahrzehnten, zu Beginn meiner Offizierausbildung, erstmals eine Ausgabe des Werkes „Vom Kriege“ erstand, war mir der Name „Clausewitz“ nur durch Zitate und Bezugnahmen auf seine Theorien in verschiedenen militärischen Publikationen bekannt. Ich erstand das Werk des preußischen Generals und Kriegsphilosophen eher beiläufig, da ich es zufällig im Regal einer Buchhandlung stehen sah, und der Meinung war, dass man so etwas als angehender Offizieranwärter gelesen haben sollte. Während ich zunächst, eher skeptisch nur einzelne Kapitel des Werkes, die mir besonders interessant erschienen, las, entwickelte ich sehr bald ein großes Interesse für den Autor, seine Theorie und Methode, welches sich, je mehr ich mich in seine Gedankengänge vertiefte, zunehmend weiter festigte. Ein Buch über den Krieg von dieser Art und Qualität hatte ich bis dahin, nicht kennen gelernt. Da ich mich seit geraumer Zeit mit Geschichte und Theorie des Krieges beschäftigt hatte, begann ich Clausewitz systematisch durchzuarbeiten und seine Theorien mit den erworbenen Kenntnissen zu vergleichen. Dadurch sind mir eine Vielzahl von Gedanken und Überlegungen im Kontext von Krieg und Politik verständlicher geworden, und ich entdeckte Zusammenhänge, die mir bisher nicht bewusst waren. Einer dieser Zusammenhänge war die dialektische Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung. Hierbei stieß ich insbesondere auf die von Clausewitz formulierte These, wonach die Verteidigung die an sich „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ich hatte den Eindruck, dass Clausewitz dieser These große Bedeutung beimaß, da er sie häufig wiederholte und auf unterschiedliche Art und Weise zu begründen versuchte. So sehr ich mich auch darum bemühte, konnte ich diese Behauptung dennoch nicht nachvollziehen und meinte, in der Begründung derselben einzelne argumentative Unschärfen entdeckt zu haben. Zudem stellte ich mir die Frage, ob der preußische Kriegsphilosoph in diesem Zusammenhang seiner eigenen so charakteristischen, antidogmatischen Methode treu geblieben sei. Ohne hierauf zunächst eine Antwort zu finden, setzten sich diese Überlegungen mit einem großen Fragezeichen versehen bei mir fest. Einen neuen überraschenden Aufschwung erhielt der Gedanke, als ich mich etwa anderthalb Jahre später, meine künftige Verwendung als Zugführer in der Kampftruppe vor Augen, mit Erwin Rommels Kriegserfahrungen aus dem I.
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
Weltkrieg, die er unter dem Titel „Infanterie greift an“ veröffentlicht hatte, beschäftigte.1 Dabei untersuchte ich unter anderem die Zwölfte Isonzooffensive an der Alpenfront des Ersten Weltkrieges. Die Entscheidung der deutschösterreichischen Führung im Oktober 1917 zum Angriff überzugehen, weil sie glaubte für eine Verteidigung zu schwach zu sein, schien mir mit der Theorie von Clausewitz nicht nur nicht erklärbar, sondern in klarem Widerspruch zu dieser zu stehen. Wie kann sich eine Krieg führende Partei, die gemäß der Überlegungen von Clausewitz die Verteidigung als die „stärkere Form des Kriegführens“ betrachtet, sinnvoller Weise für die „schwächere Form“ - den Angriff - entscheiden und damit durchschlagende Erfolge erzielen, wenn sie andererseits für die vermeintlich „stärkere Form“ - die Verteidigung - zu schwach ist? Oder, um es aus dem entgegen gesetzten Blickwinkel zu betrachten: Wer stark genug ist, sich der „schwächeren Form des Kriegführens“ mit Erfolg zu bedienen, müsste gemäß Clausewitz erst recht stark genug sein, wenn er gleichzeitig auch noch die „stärkere Form“ wählte. Durch diese Entdeckung verstärkten sich meine ursprünglichen Zweifel an der Clausewitzschen Argumentation, und die praktische Relevanz der Fragestellung wurde mir bewusst. Ich begann daher die Ansichten anderer bedeutender Kriegstheoretiker und Feldherren hinsichtlich ihrer Vorstellungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung zu untersuchen. Hierbei stellte ich fest, dass sich in dieser Frage selbst die Vorstellungen namhafter Autoritäten zum Teil diametral entgegenstehen. Ich entdeckte unter ihnen nicht wenige, die, ganz im Gegensatz zu Clausewitz, den Angriff als die grundsätzlich „stärkere Form des Kriegführens“ betrachteten und mit Nachdruck für diese Vorstellung eintraten. Jedoch fehlt diesen Gedanken in der Regel eine umfassende, theoretisch fundierte Begründung. Dies alles überzeugte mich von der Notwendigkeit einer systematischen Klärung dieser Frage. Auch eine Untersuchung der verschiedenen Clausewitzinterpretationen brachte keinen endgültigen Aufschluss. Selbst angesehene Clausewitzrezensenten hatten sich dieser Frage allenfalls oberflächlich angenommen, ohne auf die diesbezügliche Argumentation des Kriegsphilosophen in ihrem Kern einzugehen oder diese gar kritisch zu hinterfragen. Daher vermutete ich, auf eine Lücke sowohl in der Clausewitzforschung als auch in der Theorie des Krieges insgesamt gestoßen zu sein. Nach diesen umfassenden Recherchen erkannte ich aber auch, welche Bedeutung dem preußischen Kriegsphilosophen in dieser Frage zukommt. Er war der erste und bisher einzige, der sich überhaupt umfassend und systematisch mit dieser Fragestellung beschäftigt und dabei eine theoretisch fundierte Begründung angestrebt hatte. Auch wenn diese nach meinem Dafürhalten eine Reihe von 1
Rommel, Erwin.: Infanterie greift an. Potsdam 1941
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Unschärfen enthält, schmälert dies in keiner Weise das Verdienst von Clausewitz, diese Frage überhaupt erst aufgeworfen und dazu eine Reihe von Argumenten zur Diskussion gestellt zu haben. Inspiriert von dem Gedanken, auf eine noch offene Frage gestoßen zu sein, und im Bewusstsein der Tatsache, dass Clausewitz selbst sein Werk als eine noch „ziemlich unförmige Masse“ bezeichnet hatte, die durchaus noch einmal umgearbeitet werden sollte2, hoffte ich von da an, möglicherweise einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Clausewitzschen Überlegungen, ganz in dessen eigenem Sinne, leisten zu können. Eine neue Qualität erhielten meine Bemühungen, als ich während meines Studiums Gelegenheit erhielt, mit Professor Dr. Schössler in Gedankenaustausch zu treten. Da ich bei ihm stets ein offenes Ohr für meine Überlegungen fand, er diese jedoch sehr kritisch hinterfragte, war ich ständig gezwungen, meine Argumente zu verbessern, und es entwickelten sich eine Reihe neuer, sehr fruchtbarer Gedanken. Ich begann die Clausewitzsche Argumentation nicht nur genauestens auf ihre Schlüssigkeit hin zu untersuchen, sondern darüber hinaus auch einen Ansatz zu entwickeln, um der Frage, inwiefern man von einer stärkeren oder schwächeren Form des Kriegführens überhaupt sprechen kann, näher zu kommen. Eine Bestätigung, in diesen Bemühungen möglicherweise auf einer richtigen Fährte zu sein, erhielt ich durch einen Aufsatz des Generals von Bernhardi, welcher in einer Schrift aus dem Jahre 1911 die Behauptung von Clausewitz hinsichtlich der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ zu widerlegen versuchte.3 Obwohl diese Schrift aus meiner Sicht nicht tiefschürfend genug war, und letztendlich zu einem Ergebnis führte, das mir nicht akzeptabel erschien4, war sie für mich dennoch sehr bedeutend, da ich mich in einigen zentralen Kritikpunkten an der Clausewitzschen Argumentation durch seine Überlegungen bestätigt fand. Durch zwei weitere Entdeckungen wurde ich in meinen Überlegungen bestärkt. Ich stellte mir zum einen die Frage, ob es neben dem Beispiel der Zwölf2 Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Mit historisch-kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 179. Bei sämtlichen Bezugnahmen auf das Werk „Vom Kriege“ wird diese Ausgabe seines Werkes verwendet. Das jeweilige Buch in „Vom Kriege“ wird dabei durch römische, die Kapitel durch arabische Ziffern gekennzeichnet. Bezugnahmen auf Werner Hahlweg stammen aus nämlicher Ausgabe. 3 Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911 4 Bernhardi kam zu der Schlussfolgerung, dass der Angriff eindeutig die stärkere Form des Kämpfens und Kriegführens sei. Aus Sicht eines Kavallerieführers der damaligen Zeit ist diese Schlussfolgerung insofern nachvollziehbar als sich Kavallerie als Truppengattung grundsätzlich nur eingeschränkt zur Verteidigung eignet und ihre eigentliche Wirkung erst im Angriff richtig zur Geltung bringen kann.
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
ten Isonzooffensive noch weitere Ereignisse in der Kriegsgeschichte gäbe, die mit den Theorien von Clausewitz nicht zu vereinbaren sind. Dabei stieß ich auf das Phänomen des Präventivangriffes, welches ich am Beispiel des Sechs-TageKrieges von 1967 näher untersuchte. Welchen Sinn konnte die Entscheidung Israels haben, einen Präventivangriff - mit all seinen negativen politischen Implikationen - in dem sicheren Bewusstsein zu führen, andernfalls innerhalb kürzester Zeit selbst angegriffen zu werden, und damit den Vorteil zu erhalten, sich der vermeintlich „stärkeren Form des Kriegführens“ bedienen zu können? Meine zweite Entdeckung wurde ausgelöst durch den Clausewitzschen Vergleich des Krieges mit dem Zweikampf.5 Dieser veranlasste mich, einige persönliche Erfahrungen aus dem Bereich des Kampfsports mit in die Überlegungen einzubeziehen. Dabei schien mir ein Sachverhalt von besonderem Interesse. Ich hatte wiederholt die Erfahrung gemacht, gegen bestimmte „Gegner“, solange ich mich selbst einer defensiven Vorgehensweise bediente, wenig Chancen auf Erfolg zu haben, obwohl gerade dieses Verhalten in anderen Fällen äußerst effektiv war. Es zeigte sich jedoch, dass diese „Gegner“ häufig relativ schwach waren, wenn sie selbst aktiv angegriffen und zur Verteidigung gezwungen wurden. Hier drängte sich mir die Vermutung auf, es könne möglicherweise vom jeweiligen Einzelfall abhängig sein, ob Angriff oder Verteidigung die „stärkere Form des Kämpfens“ sei, womit eine pauschale Antwort in dieser Frage - wie sie von so vielen, sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung, versucht wurde gar nicht möglich wäre. Diese Vermutung leitete von da an meine Bestrebungen, und ich bemühte mich, dieselbe auf eine theoretische Grundlage zu stellen oder, falls dies nicht möglich wäre, sie zu falsifizieren. Als sich mir im Rahmen meines Studiums die Frage eines Themas für eine Diplomarbeit stellte, entschloss ich mich sofort, diese Thematik weiter zu vertiefen. Ich sah darin eine willkommene Gelegenheit, meine Überlegungen einer kritischen Prüfung unterziehen zu können, weil ich gezwungen war, diese schriftlich auszuformulieren. Zudem stellte es eine Herausforderung für mich dar, eine noch weitgehend offene Fragestellung zu bearbeiten, und dabei meine eigenen Gedanken weiterzuentwickeln. Obwohl ich in den darauf folgenden Jahren auf Grund meiner militärischen Verwendungen zunächst nur wenig Gelegenheit hatte mich mit der Thematik weiterhin intensiv zu befassen, verfolgte ich die Fragestellung dennoch weiter und versuchte, auch mit einem gewissen zeitlichen Abstand und einem erweiterten Erfahrungshorizont, meine Argumentation immer wieder aufs Neue zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Dies führte neben sprachlichen und stilistischen Anpassungen auch zu einer Entschärfung einzelner in „Eifer des Gefechts“ ab5
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S.191
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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gegebener Bewertungen. Am Kern meiner Argumentation glaubte ich jedoch unverändert festhalten zu können. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und einer Verwendung im Bereich der Sicherheitspolitik und Militärstrategie erhielten meine Überlegungen einen kräftigen neuen Impuls. Zu meinen Kernaufträgen gehörten hierbei unter anderem die Analyse und Bewertung aktueller Kriegs- und Konfliktbilder. Hierbei hatte ich mich unter anderem mit Terrorismus und anderen Formen asymmetrischer Kriegs- und Konfliktformen auseinanderzusetzen. Das gleiche galt für entsprechende politisch/militärische Gegenreaktionen Seitens staatlicher Akteure. Hierbei erkannte ich, dass Terrorismus als offensive Form gewaltsamer Auseinandersetzung, insbesondere Seitens des Schwachen, einen geradezu exzellenten Beleg dafür liefert, dass Angriff in dem betrachteten Fall selbst für den schwächsten Akteur zu der für ihn stärkeren Form der Auseinandersetzung werden kann. Der von schwachen i.d.R. nichtstaatlichen Akteuren (bis hin zu Einzeltätern) betriebene Terrorismus verdeutlicht dies besonders anschaulich, da derartige Akteure für jede andere Form der Auseinandersetzung viel zu schwach sind und sich - analog zur deutsch-österreichischen Führung an der Isonzofront 1917 gerade auf Grund dieser Schwäche, des Angriffs als der für sie stärkeren Form des Kämpfens bedienen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Gegenreaktion auf die terroristische Herausforderung neben defensiven Schutzmaßnahmen zunehmend auf offensives Vorgehen setzt. Präemptives und proaktives Handeln wurde hierbei zum Kernelement US-amerikanischer Antiterrorstrategie. Damit erschien mein Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund tragischer weltpolitischer Ereignisse plötzlich hoch aktuell und von unmittelbar praktischer Relevanz zu sein. Neben dieser inhaltlichen Befassung ermöglichte mir diese Verwendung die Verbindung und den Gedankenaustausch mit der deutschen aber auch internationalen sicherheitspolitischen Gemeinschaft. Hierbei konnte ich feststellen, dass sich das Interesse an Kriegstheorie und damit an Clausewitz´ Werk, welches im Ausland, insbesondere in der angelsächsischen Welt immer gegeben war, sich allmählich auch in Deutschland wieder entwickelt. Damit verbunden ist die Bereitschaft sich auch auf intellektuelle Auseinandersetzungen zu kriegstheoretischen Fragestellungen einzulassen. Dies hat mich ermutigt, meine Arbeit weiter fortzusetzen um damit einen Beitrag im Rahmen dieser aufkeimenden Diskussion zu leisten. Die Gelegenheit hierfür bot sich mir am Lehrstuhl für Politikwissenschaften der Universität zu Köln bei Herrn Professor Dr. Jäger, dem ich für seine anregenden inhaltlichen Impulse, wie auch für die im Rahmen des Doktorandencolloquiums praktizierte kreative Methode der Selbstreflexion und die hieraus zu ziehenden Erkenntnisse sehr dankbar bin.
1 Hintergrund
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
1
Hintergrund
Die Dialektik von Angriff und Verteidigung und die Frage, welche der beiden „Hauptformen“ des Kriegführens und Kämpfens die „stärkere“ ist, beschäftigt politisch-militärische Denker und Entscheidungsträger zu nahezu allen Zeiten und ist eine der grundlegenden Fragestellungen in Krieg und Konflikt. Sie erfordert eine permanente Beurteilung auf allen Entscheidungsebenen und wird damit zum zwingenden Bestandteil einer jeden politisch-militärischen Lagebeurteilung und daraus resultierender Entscheidungen für praktisches Handeln. Selbst in Fachkreisen herrschen in dieser Frage jedoch die unterschiedlichsten Ansichten vor. Nicht selten wird hierbei gerade dem Angriff eine grundsätzlich größere Stärke unterstellt. Der erste und bisher einzige, der diese Frage ihrem Wesen nach, systematisch und theoretisch fundiert zu beantworten suchte, war der preußische General und Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz. In seinem Werk „Vom Kriege“ vertritt er sehr nachhaltig die Überzeugung, dass die Verteidigung die „stärkere Form des Kriegführens“ sei.6 Diese mache einen Sieg nicht nur leichter, sondern auch wahrscheinlicher, erfordere weniger Kräfte als der Angriff und stelle damit einen sehr wesentlichen Faktor im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung dar.7 Wer für den Angriff stark genug sei, behaupt er, sei es erst recht für die Verteidigung.8 Daraus folgert Clausewitz, dass der Angriff nur bei eigener physisch/moralischer Überlegenheit9 motiviert und Erfolg versprechend sei, während sich der Schwächere grundsätzlich der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe.10 Diese Vorstellung steht im Widerspruch zu den Ansichten namhafter Autoritäten verschiedener Epochen insbesondere auch aus der Zeit des Kriegsphilosophen selbst. Die Verabsolutierung des Angriffsdenkens durch Napoleon Bonaparte ist hier im besonderen zu nennen. Gleichzeitig steht die Clausewitzsche Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung im Widerspruch zu bestimmten, wiederkehrenden Phänomenen der Kriegswirklichkeit. Der Angriff aus 6
Vom Kriege. VI, 1, S. 615, 616 Vom Kriege. VI, 8, S. 649; VI, 9, S. 669 8 Vom Kriege. VII, 5, S. 880 9 Gemeint ist das Produkt aus physischer und moralischer Stärke. Der Begriff Moral ist hier im Sinne von Wille, Motivation und psychischer Stärke zu verstehen. 10 Vom Kriege. VII, 15, S. 615, 903, 904 7
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
Schwäche wie auch der Präventivangriff sind mit dieser Theorie nicht erklärbar und liefern einen klaren Beleg für die Unvereinbarkeit dieser Clausewitzschen These mit der Wirklichkeit des Krieges. Im Folgenden wird aufgezeigt, was mit dieser Arbeit erreicht werden soll, wie sich die Vorgehensweise hierbei inhaltlich und methodisch gestaltet und wozu die Studie letztendlich dienen kann. In den Worten von Clausewitz ist ersteres Ziel, zweiteres Mittel und letzteres Zweck der Arbeit.
2
Ziel
Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Stärkeverhältnis der beiden Hauptformen des Kriegführens und Kämpfens, dem Angriff und der Verteidigung. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist hierbei die These des preußischen Generals und Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, wonach die Verteidigung die an sich, das heißt ihrem Wesen nach, „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ziel der Arbeit ist es, die Stimmigkeit dieser These zu überprüfen, um festzustellen inwiefern die Verteidigung tatsächlich ihrem Wesen nach die stärkere Form des Kriegführens darstellt. Dazu soll der von Clausewitz entwickelte Theorieansatz sowohl im Lichte der Kriegswirklichkeit als auch hinsichtlich seiner argumentativen Logik untersucht und bewertet werden.
3
Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik
Das Vorgehen zur Untersuchung dieser Fragestellung gliedert sich in vier Schritte, welche aufeinander aufbauen und den einzelnen Kapiteln der Arbeit entsprechen. Erstes Kapitel: Mit dem ersten Kapitel wird der eigentlichen Argumentation des Kriegsphilosophen ein Ausschnitt aus der zum Teil sehr kontroversen Diskussion in der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens vorangestellt. Selbst führende militärische Denker vertreten in dieser Frage Auffassungen, die sich untereinander stark widersprechen und häufig im völligen Gegensatz zu den Theorien Carls von Clausewitz stehen. Zweck dieser Untersuchung ist es, die Notwendigkeit einer umfassenden, theoretisch fundierten Klärung dieser Frage zu verdeutlichen, sowie auf deren praktische Relevanz hinzuweisen. Gleichzeitig sollen Vergleichsmöglichkeiten hinsichtlich der Clausewitzschen Argumentation geschaffen werden, um deren Einordnung und Bewertung zu erleichtern. Zu betonen ist, dass an dieser Stelle noch keine Klärung der aufgezeigten Fragestellung und auch noch keine Beurteilung der Clausewitzschen Argumentation ange-
3 Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik
21
strebt wird. Auch kann und soll es sich nicht um eine umfassende Darstellung der in dieser Frage geführten Diskussion handeln. Es kommt darauf an, die Vorstellungen einzelner, sehr bedeutender militärischer Führer und Denker, deren Sachkompetenz über jeden Zweifel erhaben scheint, und die zudem in einer gewissen Beziehung zu Clausewitz stehen, herauszuarbeiten. Unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlich/historischen Kontexts sollen ihre jeweiligen Vorstellungen verdeutlicht, und dabei insbesondere die Argumente, welche sie zur Begründung ihrer Theorien verwenden, hervorgehoben werden. Zweites Kapitel: Im zweiten Kapitel wird die Frage untersucht, wie Clausewitz seine Theorie von der stärkeren Form des Kriegführens überhaupt verstanden wissen wollte. Was meinte er damit, wenn er behauptet, die Verteidigung sei an sich die stärkere Form des Kriegführens? Eine Beantwortung dieser Frage ist notwendige Voraussetzung für jede weitergehende Untersuchung und Bewertung seiner These und der diesbezüglich von ihm entwickelten Argumentation. Unter Bezugnahme auf die Methode, derer sich Clausewitz bedient, soll daher versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Die Betrachtung seiner Methode schafft zudem die Voraussetzung, um überprüfen zu können, inwiefern der Kriegsphilosoph bei der Begründung seiner Theorie den Forderungen, die er an sich und seine Methode stellt, selbst gerecht wird. Drittes Kapitel: Im dritten Kapitel wird die Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ im Lichte der Kriegswirklichkeit betrachtet und bewertet. Dazu sollen zwei kriegstheoretische Phänomene - der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff - die mit der Theorie von Clausewitz nicht erklärbar sind und mit dieser im Widerspruch stehen, aufgezeigt und anhand kriegsgeschichtlich-empirischer Beispiele näher untersucht werden. Hierdurch soll die Clausewitzsche Theorievorstellung an der Wirklichkeit des Krieges gemessen und gleichzeitig die praktische Relevanz der Fragestellung verdeutlicht werden. Viertes Kapitel: Ausgehend von dem im zweiten Kapitel geschaffenen grundlegenden Verständnis der Clausewitzschen Theorie und der im dritten Kapitel aufgezeigten Unverträglichkeit seiner These mit bestimmten Phänomenen der empirischen Wirklichkeit des Krieges, wird im vierten Kapitel die Clausewitzsche Argumentation als solche kritisch hinterfragt. Hierin ist gleichzeitig der Schwerpunkt der Studie zu sehen. Die unterschiedlichen Begründungsansätze, welche Clausewitz zur Herleitung und Verteidigung seiner These verwendet, sollen dabei systematisch herausgearbeitet, untersucht und bewertet werden. Dabei soll seine Argumentation insbesondere im Hinblick auf logische Konsistenz, Treue zu seiner eigenen Methode und Vereinbarkeit mit den Erfahrungen der Kriegsgeschichte untersucht werden. Die Arbeit stützt sich hierbei in erster Linie auf das Werk „Vom Kriege“ selbst, da die vorhandenen Clausewitz-
22
Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
interpretationen hinsichtlich der zu untersuchenden Fragestellung kaum weiterführen.
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Stand der Forschung
Was den Stand der Forschung in der zu untersuchenden Fragestellung anbelangt, so ist festzuhalten, dass sich militärische Denker beinahe zu allen Zeiten mit dieser Frage beschäftigt und hinsichtlich des wechselseitigen Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung die unterschiedlichsten Ansichten vertreten haben. Auf drei der bedeutendsten, nämlich Sun Tsu, Friedrich II. und Napoleon Bonaparte wird im Rahmen dieser Studie genauer eingegangen. Der erste und bisher einzige, der sich jedoch umfassend und systematisch mit dieser Frage auseinandergesetzt und dabei eine theoretisch fundierte Begründung angestrebt hatte, war Clausewitz. Seine These, wonach die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens sei, löste zum Teil heftige Widersprüche aus und führte dazu, dass seither auch eine Reihe von Clausewitzinterpreten auf diese Problematik eingegangen ist. Hierbei wird der Kern der vorliegenden Fragestellung i.d.R. jedoch nur am Rande gestreift und kaum der Versuch einer tiefergehenden Untersuchung oder gar Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedankengänge unternommen. Die beinahe einzige Ausnahme hiervon bildet Friedrich von Bernhardi, welcher in einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 die These des Kriegsphilosophen zu widerlegen versuchte.11 Obwohl auch diese Schrift nicht tiefschürfend genug war und letztendlich zu einem nicht zu akzeptierenden Ergebnis führte, stellt sie dennoch eine der bisher ergiebigste Auseinandersetzung mit der Clausewitzschen Argumentation dar. Einzelne konstruktive Beiträge zu dieser Frage (auf die an entsprechender Stelle eingegangen wird) finden sich u.a. bei Gat, Aron, Wallach und Fuller. Was die Funktion der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Fußnoten betrifft, so erwies es sich als zweckmäßig, diese nicht nur zur Angabe von Quellenbelegen einzusetzen, sondern darin auch einzelne Sachverhalte zu erklären oder weiter zu vertiefen, ohne allzu häufig die zentrale Gedankenführung unterbrechen zu müssen.
11 Vgl.: Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911
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Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis
Wozu kann die Untersuchung einer theoretischen Fragestellung, wie sie der vorliegenden Studie zugrunde liegt, dienen? Handelt es sich um eine bloße Spielerei, welche bestenfalls Unterhaltungswert besitzt und für die sicherheitspolitische und militärische Praxis irrelevant ist? Oder kann vielleicht auch der politisch Verantwortliche bei der Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften oder der militärische Führer bei der Führung seiner Truppen im Einsatz Nutzen daraus ziehen? Damit stellt sich die grundlegende Frage, ob für das praktische Handeln in Krieg und Konflikt eine Theorie überhaupt möglich, notwendig oder nützlich sein kann. Es soll hier kein Nachweis über den Einfluss von Theorien auf die Kriegführung angestrebt werden. Dieser wurde bereits von anderen Autoren erfolgreich geführt.12 Es soll an dieser Stelle genügen darauf hinzuweisen, dass gerade die in der Praxis erfolgreichsten militärischen Führer und Feldherrn besonders deutlich die Notwendigkeit von Theorie hervorhoben. Der preußische Generalleutnant von Scharnhorst hat dies auf sehr anschauliche Art und Weise getan: „Diejenigen, die alles von der Praxis erwarten, sind den stolzen Menschen zu vergleichen, die alles durch sich selbst wissen wollen. Bringt sie denn nicht schon die bloße Vernunft darauf, daß die Theorie, d.h. ein auf Erfahrung und Beurteilung der größten Krieger gegründeter Unterricht des militärischen Verhaltens, den Krieg richtiger und geschwinder als die eigene Erfahrung lehre. Von diesem Standpunkt aus erscheint sie notwendiger als die Erfahrung.“13
General Friedrich von Bernhardi betont die Notwendigkeit einer Theorie für die Praxis folgendermaßen: „Der bloße Routinier scheitert und muß scheitern, sobald die großen und schwierigen Aufgaben moderner Kriegführung an ihn herantreten. Er wird sie immer mit den unzulänglichen Mitteln zu lösen suchen, die sich ihm aus seiner beschränkten Erfahrung bieten. Auch der Hofgeneral, der sein Leben in Nichtigkeiten zuzubringen gezwungen ist, und keine Zeit hat für ernste militärische Studien, kann den Anforderungen der Zukunft niemals genügen. Das sollten alle beherzigen, die berufen sein können, vor dem Feinde zu befehligen. Nachholen läßt sich im Kriege die Denkarbeit nicht, die im Frieden versäumt wurde. Die Zeiten des Paradegenerals sind un-
12 Vgl. hierzu Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Frankfurt am Main 1967. Wallach weist in dieser Studie den Einfluss der Theorien von Clausewitz und Schlieffen auf die Führung der deutschen Seite in den beiden Weltkriegen nach. 13 Vgl. Militärische Gedankensplitter aus vergangener Zeit. In: Österreichische Militärische Zeitschrift. 80. Jg., I.Bd. (1903), S. 26
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen wiederbringlich vorüber, und auch in niederen Stellungen wird der bloße Draufgänger dem bewußt Wagenden unterliegen.“14
Dass auch Clausewitz selbst überzeugt davon war, dass es möglich sein müsse, eine „gute, d.h. der Praxis nützliche Theorie“15 aufzustellen, wird u.a. in einem Brief aus dem Jahre 1807 deutlich, worin er Bezug auf die preußische Niederlage von Jena und Auerstedt nimmt: „...Von allem dem, was ich in der Kriegskunst erlebt habe, habe ich unsererseits nicht das Mindeste ausführen sehen; überall aber habe ich in der Wirklichkeit die Wahrheit dessen erkannt, was die Theorie mich gelehrt hat, und überall mich von der Wirksamkeit ihrer Mittel überzeugt...“16
Diese Äußerung verdeutlicht die Grundeinstellung, mit welcher Clausewitz an die Ausarbeitung seiner Theorie heranging. Zu beachten ist, dass, wie Malmsten Schering formuliert, eine Theorie nur dann als gut bezeichnet werden könne, wenn sie der Praxis nütze, weshalb Clausewitz die Wiedervereinigung von Theorie und Praxis unter Anerkennung des Primats des praktischen Handelns anstrebe.17 Der Beginn der Theorie sei die Wirklichkeit des Krieges, betont Jehuda L. Wallach.18 Die Praxis unterziehe dabei die Theorie einer genauen Prüfung, und letztere leite die Praxis. Nach diesen Überlegungen kann man es als die erste und allen anderen übergeordnete Aufgabe der Theorie bezeichnen, dass sie dem Handeln zu dienen hat.19 Dieses „Dienen“ besteht unter anderem darin, die Vergangenheit zu analysieren und verständlicher zu machen, um somit das Urteil des Handelnden für die Bewertung von Fragen der Gegenwart und Zukunft zu schulen. Es sei die Theorie, welche der Geschichte oder vielmehr der aus ihr zu ziehenden Belehrung diene, so Clausewitz.20 Erfahrungen der Kriegsgeschichte 14
Friedrich von Bernhardi: Vom heutigen Kriege. Berlin 1912, Bd. II, S.221 Vgl. Walther Malmsten Schering: Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Eine Untersuchung über ihren systematischen Aufbau, Hamburg 1935, S. 19 16 Brief vom 2. April 1807 aus Paris, zitiert in Karl Schwarz: Leben des Generals Carl von Clausewitz und der Frau Marie von Clausewitz. Berlin 1878, Bd. I, S.261 17 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19, 24 18 Vgl. Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt am Main 1967, S. 5 19 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19 20 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 Vgl. auch Wallach: a.a.O., S. 5, 9: "Eine vernünftig begründete Theorie ist deshalb ebenso für das Verständnis vergangener Kriege wie für die erfolgreiche Durchführung eines kommenden Krieges unerläßlich." "Um eine Theorie aufzustellen, die dem Ansturm des wirklichen Krieges gerecht werden kann, muß die Theorie in zwei Richtungen wirken: sie untersucht die Vergangenheit - mit Hilfe der Kriegsgeschichte - und trennt das Wesentliche, das dauernden Wert besitzt, vom Zufälligen und kristallisiert auf diese Weise das Grundsätzliche heraus. Auf der anderen Seite legt sie diese Prinzipien immer wieder auf den grausamen Prüfstand des Krieges und trennt so die immer gültigen Grundsätze von 15
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können dadurch weitervermittelt und nutzbar gemacht werden, ohne dass sie stets von neuem mit dem Blut von Soldaten erkauft werden müssen. Dabei ist es Aufgabe der Theorie, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung des kriegerischen Geschehens deutlich zu machen und zu begründen. Dies bezeichnet Clausewitz als besonders schwierig, da die Wirkungen im Kriege selten aus einfachen Ursachen hervorgingen, sondern aus mehreren gemeinschaftlichen.21 An anderer Stelle fasst er zusammen, worin seiner Meinung nach die Aufgaben einer Theorie liegen: „Untersucht die Theorie die Gegenstände, welche den Krieg ausmachen, unterscheidet sie schärfer, was auf den ersten Blick zusammenzufließen scheint, gibt sie die Eigenschaften der Mittel vollständig an, zeigt sie die wahrscheinlichen Wirkungen derselben, bestimmt sie klar die Natur der Zwecke, trägt sie überall das Licht einer verweilenden kritischen Betrachtung in das Feld des Krieges, so hat sie den Hauptgegenstand ihrer Aufgabe erfüllt. Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, erleichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen.“22
Ein Beitrag zur Erziehung des Urteils muss nach diesen Überlegungen auch in der Bewertung des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung gesehen werden. Ob in dieser Frage die Clausewitzschen Theorien aber vor Abwegen bewahren oder gerade zu diesen führen, ist Hauptgegenstand der vorliegenden Studie. Sicher ist, dass, wenn richtige theoretische Vorstellungen der Praxis nützen können - was wohl nicht ernsthaft bezweifelt werden darf - unzutreffende Theorien in gleicher Weise Schaden anrichten. Falsche Doktrinen hätten den Untergang ganzer Staaten verursacht, betont Jehuda Wallach und verweist dabei auf die preußische Niederlage von 1806.23 Dass die Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens für die militärische Praxis von großer Bedeutung sein kann, scheint bereits aus dem gesunden Menschenverstand hervorzugehen. Wer von der Vorstellung ausgeht, die Verteidigung sei grundsätzlich die stärkere Form des Kriegführens, wird sich in bestimmten Situationen anders verhalten, als jemand, der die gegenteilige Auffassung vertritt. Auch die Tatsache, dass sich viele bedeutende, erfahrene und erfolgreiche Feldherrn und Soldaten zu verschiedenen Zeiten, von Friedrich dem Großen, Clausewitz und Jomini über Moltke, Schlieffen, Foch bis hin zu Beck und Manstein mit dieser Frage beschäf-
dem, was vergänglich ist. Auf diese Art leiten die Erfahrungen der Vergangenheit die Überlegungen über die Gegenwart und die Zukunft, und das ist es, woraus die geistige Arbeit eines Feldherrn besteht." 21 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 22 Vom Kriege. II, 2, S. 291 23 Vgl. Wallach a.a.O., S. 7
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
tigten, woraus ein Streit entstand, der nach Malmsten Schering das militärische Publikum lange Jahre in zwei feindliche Lager getrennt habe24, unterstreicht zusätzlich die praktische Relevanz dieser Frage. Die Auswirkungen dessen, was Clausewitz über die stärkere Form des Kriegführens gesagt hat, reichen dabei bis in unsere Tage, und schlagen sich u.a. in den Dienstvorschriften verschiedener Armeen nieder. So heißt es im U.S. Army Field Manual 100-5, der grundlegenden Vorschrift der amerikanischen Armee: „The defense is the less decisive form of war. The defense may nonetheless be stronger than the offense, thus METT-T may necessitate defense in a campaign for a force-projection army prior to conducting offense operations. The advantage of cover and concealment, advance siting of weapons, shorter LOCs, and operations over familiar terrain among a friendly population generally favour the defender.“25
Auch die ehemals sowjetischen Auffassungen zum Verhältnis von Angriff und Verteidigung lassen sich nach Pellicia größtenteils auf die Vorstellungen von Clausewitz zurückführen.26 Die ausgehend von den USA und Großbritannien auch auf Deutschland übergreifende Renaissance Clausewitzscher Gedanken, bringt es mit sich, dass der Name des preußischen Kriegsphilosophen wieder in aller Munde ist, und häufig auf seine Werke Bezug genommen und aus ihnen zitiert wird. Clausewitz sei eine Autorität, die zur Legitimation politisch und militärisch relevanter Positionen angeführt wird, betont Hartmann.27 So erfreulich diese Tatsache auf der einen Seite ist, so muss doch vor den Gefahren gewarnt werden, welche damit verbunden sein können. Die erste besteht in einer leichtfertigen unkritischen Wiedergabe aus dem Zusammenhang gerissener Äußerungen von Clausewitz, womit sein Werk zu einem bloßen Zitatensteinbruch herabgewürdigt wird.28 Seinen Namen führten 24
Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 15 U.S. Army Field Manual 100-5. Fighting future wars, published with the Institute of Land Warfare Association of the U.S. Army, Washington 1994, S. 6 - 19 (vgl. METT-T: mission, enemy, troops, terrain and weather, and time available; LOC: line of communication) 26 Vgl. W. Hahlweg: Nachrede zur 19. Auflage. Weiterentwicklung und Differenzierung des Clausewitzbildes seit 1972, Bonn 1980, S. 1278. Vgl. auch Alfred Ernst: Die Konzeption der schweizerischen Landesverteidigung 1815-1966, Bern 1972. Der schweizerische Oberstkorpskommandant betont dabei, dass für die Landesverteidigung der Schweiz der Satz von Clausewitz, die Verteidigung sei die stärkere Kampfform als der Angriff, auch heute noch gelte. 27 Vgl. Hartmann, Uwe: Carl von Clausewitz. Erkenntnis, Bildung, Generalstabsausbildung, München 1998, S. 12 28 Vgl. dazu die Benutzung von Clausewitz durch Adolf Hitler verdeutlicht von W. Hahlweg: "Hitler arbeitete Clausewitz kaum systematisch-kritisch durch, sondern benutzte ihn nach der Art Halbgebildeter eher als Zitatenschatz,..." Werner Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkritischen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 108 25
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viele im Munde, seine Gedanken seien aber von zu wenigen verstanden worden, betont Ulrich Marwedel.29 Eine zweite noch weitaus größere Gefahr geht von einer allzu wörtlichen, rezepthaften Interpretation der Clausewitzschen Gedanken im Sinne einer positiven Lehre aus, mit der Neigung, seine Theorien zum unantastbaren Dogma zu erheben. Dies scheint überhaupt die schlimmste Art der Verunglimpfung Clausewitzscher Gedanken zu sein, widerspricht sie doch völlig seiner ureigensten Intention und Methode. Liddell Hart verdeutlicht dies folgendermaßen: „Wie so oft in der Geschichte, haben auch die Schüler von Clausewitz dessen Lehren in ein Extrem gesteigert, wie es der Meister selbst nicht beabsichtigt hatte. Mißverstanden zu werden, ist das übliche Schicksal der meisten Propheten gleich welchen Gebiets. Ergebene, aber nicht tiefschürfende Schüler haben der ursprünglichen Konzeption mehr Schaden zugefügt als von Vorurteilen und blinder Abneigung getriebene Gegner:“30
Es muss an dieser Stelle betont werden, dass eine Dogmatisierung der Clausewitzschen Gedanken eine kritische Analyse derselben verhindert, und damit ein Verständnis seines Werkes unmöglich macht. Konstruktive Kritik wird dabei häufig durch bloße Lobeshymnen ersetzt. Des weiteren wird eine gehaltvolle inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Werken, insbesondere auch mit spezifisch militärischen Fragen, zunehmend vernachlässigt, wodurch sich die Clausewitzforschung immer mehr auf eine bloße Beschäftigung mit dem Lebenslauf und der Person des Kriegsphilosophen (so wichtig diese für das Verständnis seiner Werke natürlich sind) und ein dogmatisches Wiedergeben einzelner Formulierungen des „Meisters“ reduziert. Der englische Gruppenkapitän der Luftstreitkräfte R. A. Mason verweist auf einen sehr wichtigen Punkt, wenn er betont, dass Clausewitz` Bedeutung für uns nicht daran gemessen werde, wie tief wir über ihn dächten, als vielmehr daran, wie tief er uns überhaupt selbst veranlassen würde, über die Dinge nachzudenken.31 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass der tiefere Sinn der Clausewitzschen Theorien nur durch kritisches Lesen und Hinterfragen seiner Gedankengänge möglich ist.32 Immer wieder muss die 29
Vgl. Ulrich Marwedel: Carl von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918. Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abt. Militärgeschichtliche Studien, Bd. 25 (1979), S. 230 30 B. H. Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden 1935, S. 416 f 31 Vgl. R. A. Mason: The challenge of Clausewitz. In: Air University Review. March-April 1979, Vol. XXX, Nr. 3, S. 75 ff. Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1278 32 W. Hahlweg verdeutlicht die richtige Herangehensweise an das Werk "Vom Kriege" folgendermaßen: "Freilich dürfte die Kenntnis selbst des besten Fachschrifttums niemals ein planmäßiges eigenes, kritisches Durcharbeiten des Werkes "Vom Kriege" überflüssig machen. Grundsätzlich sollte man Genauigkeit und Sorgfalt beim Lesen walten lassen: über jede These des Autors meditieren, sich ganz in seine Ausführungen hineinversenken und sich jeweils der gesellschaftspolitischen Be-
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
Frage nach dem „Warum“ seiner Argumente gestellt werden.33 Ein bloßes Hinnehmen seiner Behauptungen führt nicht weiter und wird zur Gefahr, wenn es sich mit Dogmatismus verbindet. Auch eine Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedanken in seinem eigenen Sinne, die wohl größte Herausforderung, welche sich der Clausewitzforschung heute stellt, würde durch ein solches Herangehen an sein Werk unmöglich gemacht. Mit der vorliegenden Arbeit soll daher auch ein Beitrag dazu geleistet werden, den aufgezeigten Fehlentwicklungen der Clausewitzrezension entgegenzusteuern. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, vor einseitigen Extremvorstellungen zu seinen Theorien, wie sie so häufig die Diskussion beherrschen, zu warnen. Weder eine völlige Nichtbeachtung (Eisenhower: „Ich habe niemals Clausewitz gelesen.“34) oder eine vorschnelle Verurteilung (Stalin: „Es ist geradezu lächerlich, heute bei Clausewitz in die Schule zu gehen.“35), noch ein oberflächliches unkritisches Hinnehmen oder gar eine Dogmatisierung seiner Gedanken kann dem Werk des Kriegsphilosophen gerecht werden. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass mit der dieser Studie zugrunde liegenden kritisch-analytischen Betrachtungsweise der Clausewitzschen Gedanken auch zu einem besseren Verständnis seines Werkes insgesamt beigetragen werden kann. Der Schlüssel zu einem solchen Verständnis muss insbesondere in der Methode von Clausewitz gesehen werden. Es sei die von ihm entwickelte Denkmethode, welche den eigentlichen bleibenden Wert seiner Theorie und damit den des Werkes „Vom Kriege“ ausmache, betont Hahlweg.36 Das Wesen dieser Methode gründet im Verständnis der Theorie, nicht als einer „notwendig positiven Lehre, d.i. Anweisung zum Handeln“37, im Sinne von „Gesetzen“38, sondern im Verständnis der
dingtheiten bewußt sein. Clausewitz` Werk "Vom Kriege" ist kein Zitatenschatz. Man muß vielmehr geradezu mit dem Stoff ringen, um den letzten Sinn der dort enthaltenen Gedanken in ihrer Realität zu erfassen." Werner Hahlweg: Schrifttum zur Geschichte und zum Studium des Werkes "Vom Kriege". Bonn 1980, S. 1359 f 33 Diese Forderung ergibt sich bereits aus der Methode, welche Clausewitz seinen theoretischen Betrachtungen zugrunde legt. Es kommt ihm darauf an, dass eine Theorie nicht in erster Linie angibt, wie man sich zu verhalten habe, sondern vielmehr ergründet, warum man sich so verhalten muss. In diesem Sinne will er auch sein Werk verstanden wissen. Es macht keinen Sinn, darin nach positiven Handlungsanweisungen zu suchen, ohne die Begründung derselben zu hinterfragen und sich kritisch mit seinen Argumenten auseinander zu setzen. Vgl. auch Malmsten Schering a.a.O., S. 39, 43 34 Vgl. Christ und Welt. 4. Jg. Nr. 15, v. 12. 4. 1951, "Eisenhower - ein seltsamer Mann". Vgl. W. Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkritischen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 104 35 Vgl. General A. Guillaume. Warum siegte die Rote Armee? (Baden-Baden 1950), S. 154. Vgl. W. Hahlweg: a.a.O., S. 100 36 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 26 37 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 38 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 306 f. Der Begriff des Gesetzes könne in der Theorie der Kriegführung weder im Bezug auf das Erkennen, noch im Bezug auf das Handeln gebraucht werden, betont Clau-
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Theorie als „Betrachtung“39, als „Anhalt für das Urteil“40 bzw. als Mittel zur Schulung desselben. Mit dem so geschulten Urteil aber begibt sich der Feldherr (unter Zurücklassung der Theorie) ins Gefecht. Somit wird das geschulte Urteil (als Ergebnis der Theorie) zum Bindeglied zwischen Theorie und Praxis, und verdeutlicht damit die praktische Relevanz der Theorie. Clausewitz selbst verdeutlicht seine Methode folgendermaßen: „Sie (die Theorie) soll den Geist des künftigen Führers im Kriege erziehen oder vielmehr ihn bei seiner Selbsterziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten; so wie ein weiser Erzieher die Geistesentwicklung eines Jünglings lenkt und erleichtert, ohne ihn darum das ganze Leben hindurch am Gängelbande zu führen. Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grundsätze und Regeln, schließt die Wahrheit selbst in dieser Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird vielmehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervorheben. Aber sie tut dies nur, um dem philosophischen Gesetz des Denkens zu genügen, um den Punkt deutlich zu machen, nach welchem die Linien alle hinlaufen, nicht um daraus eine algebraische Formel für das Schlachtfeld zu bilden;“41
sewitz. Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden aber seien für die Theorie der Kriegführung unentbehrliche Begriffe, insoweit sie zu positiven Lehren führten,... An dieser Stelle muss vor einer weitverbreiteten Fehlinterpretation von Clausewitz gewarnt werden. Es wird ihm häufig, so auch von W. Hahlweg (vgl. Hahlweg a.a.O., S. 8), unterstellt, er habe im Hinblick auf die Theorie des Krieges eine positive Lehre für unmöglich gehalten. Zu beachten ist jedoch, dass er eine positive Lehre nur im Sinne von Gesetzen für unmöglich und unsinnig hielt, während er eine solche, gebildet durch Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden, als unentbehrlich bezeichnete. 39 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 40 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 315 41 Vom Kriege. II, 2, S. 291
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Mit dem vorliegenden Kapitel wird der Untersuchung der Clausewitzschen Argumentation, ein Ausschnitt aus der breiten und äußerst kontroversen Diskussion hinsichtlich der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens vorangestellt. Diese Diskussion, die beinahe so alt ist wie die Kriegsgeschichte selbst, hat von jeher Militärs und Feldherrn aber auch politische Herrscher und Führer bewegt. Ihre jeweiligen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnisse könnten dabei jedoch unterschiedlicher kaum sein. Exemplarisch sollen daher einleitend drei bedeutende Autoritäten militärischen Denkens und Handelns ausgewählt und ihre jeweiligen Vorstellungen in dieser Frage aufgezeigt werden. Zweck dieses Kapitels ist es zum einen, die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der in dieser Frage vorherrschenden Ansichten aufzuzeigen und die Notwendigkeit einer theoretisch fundierten Befassung mit dieser Frage zu verdeutlichen. Zum anderen soll die Auseinandersetzung mit der Clausewitzschen Theorie durch die Schaffung von Vergleichsmöglichkeiten vorbereitet werden. Als erstes wird dabei auf die Theoreme des chinesischen Kriegerphilosophen Sun Tsu eingegangen. Seine Bedeutung für die vorliegende Arbeit ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass seine Überlegungen trotz eines zeitlichen Abstandes von knapp zwei Jahrtausenden in vielerlei Hinsicht Parallelen zur Argumentation von Clausewitz aufweisen.42 Zudem verdeutlicht das Werk dieses wahrscheinlich ersten Kriegsphilosophen, wie alt und grundlegend die Frage nach dem Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung tatsächlich ist. Im Anschluss daran werden die Vorstellungen Friedrichs II. und Napoleon Bonapartes betrachtet. Die Ansichten dieser beiden Feldherrn und Staatslenker sind für die vorliegende Studie besonders deshalb interessant, weil es die von ihnen geführten Kriege, Feldzüge und Schlachten sind, welche Clausewitz (vor allen anderen) als historisch-empirische Grundlage für die Entwicklung seiner Theorie des Krieges nutzte. Zudem nimmt Clausewitz häufig auf diese Bezug, um seine theoretischen Überlegungen zu veranschaulichen. Als Zeitgenossen des preußischen Kriegsphilosophen, mit einem ähnlichen, und was Napoleon betrifft, zum Teil identischen Erfahrungshintergrund43, ist die Vergleichbarkeit ihrer 42
Vgl. dazu Shu Kono: Europäische Militärkonzeption und „Sun Tsu“. In: Revue Internationale d’Histoire Militaire, No. 38 (1978), S. 117 ff. Vgl. auch Hahlweg a.a.o., S. 1321 Die Teilnahme von Clausewitz an der Schlacht bei Borodino (1812) auf russischer Seite macht diesen identischen Erfahrungshintergrund besonderes deutlich. Vgl. dazu: Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Göttingen 2006, S. 75 ff 43
J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
theoretischen Vorstellungen mit denen von Clausewitz in besonderem Maße gegeben. Die Betrachtung Friedrichs II. erhält zudem Relevanz durch die Tatsache, dass jener „nicht nur ein bedeutender Feldherr, sondern darüber hinaus auch ein anerkannter Kriegstheoretiker“44 war, bei dem Theorie und Praxis in unmittelbare Verbindung treten. Hervorzuheben ist, dass Clausewitz trotz dieses gemeinsamen Hintergrundes und trotz seiner grundsätzlichen Anerkennung für beide Feldherrn, in der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung eine gänzlich andere Auffassung vertritt als jene und damit eine direkte Gegenposition zu den bedeutendsten militärischen Autoritäten seiner Zeit entwickelt. Im Unterschied zu jenen strebt Clausewitz danach, das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung im Bezug auf das Wesen, nicht nur hinsichtlich singulärer Erscheinungsformen, des Krieges zu erklären. Er löst sich damit weitgehend aus der Zeit- und Situationsgebundenheit der Überlegungen Friedrichs II. und Napoleons und entwickelt, ein umfassendes und systematisch angelegtes Theoriegebäude mit dem Anspruch auf allgemeine und zeitlose Gültigkeit. Die am Ende eines jeden Unterpunktes grafisch zusammengefassten Argumentationsansätze sollen dazu dienen, einen Vergleich mit den Gedankengängen von Clausewitz zu erleichtern. 1 1
Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu (ca. 500 - 300 v. Chr.) Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu „Vergleiche die Stärke des Gegners mit deiner eigenen und du wirst wissen, was ausreichend vorhanden ist und woran es mangelt. Danach kannst du die Vorteile eines Angriffes gegen die einer Verteidigung abwägen.“ Wang Xi45
44
Vgl. Volkmar Regling: Grundzüge der Landkriegführung zur Zeit des Absolutismus und im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939, Band 6: Grundzüge der militärischen Landkriegführung, München 1983, S. 113. Friedrich II. betrachtete beispielsweise den Zweiten Schlesischen Krieg (1744/45) als eine "Schule der Kriegskunst", deren Lehren er in seinen Schriften theoretisch ausarbeitete. Die so gewonnenen Erkenntnisse setzte er wiederum im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) erfolgreich in die militärische Praxis um. 45 Sun Tsu: Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft. (Die Kunst der richtigen Strategie), bearbeitet von Thomas Cleary. Freiburg im Breisgau 1990, S. 144. Wang Xi soll Gelehrter an der kaiserlichen Akademie zur Zeit der Song-Dynastie des frühen elften Jahrhunderts gewesen sein und dabei Kommentare zu den Schriften von Sun Tsu verfasst haben. Auf die Frage nach der realen Existenz Sun Tsus bzw. seiner diversen Kommentatoren soll im Rahmen der vorliegenden Studie nicht näher eingegangen werden. Vgl. auch Michael Handel: Masters of War. Classical Strategic Thought, US Naval War College, 1996.
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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1.1 Hintergrund Sun Tsus Werk „Die Kunst des Krieges“ stammt vermutlich aus der Zeit der „Streitenden Reiche“ des chinesischen Altertums um 500 bis 300 v. Chr.46 Diese Epoche war geprägt durch den Zerfall der Zhou-Dynastie, den Zusammenbruch alter Ordnungsstrukturen und mit diesen einhergehenden Kriegen. Das Werk des Kriegerphilosophen besteht aus einer Reihe von Aphorismen und ist maßgeblich geprägt von den Ideen des Taoismus, welcher als Wurzel aller chinesischen Kampfkünste bezeichnet werden kann. Sun Tsus Werk gilt als Klassiker und ist noch heute eines der weltweit einflussreichsten und am meisten geschätzten Bücher über Kriegsphilosophie und Strategie. Der Stil des chinesischen Kriegerphilosophen ist jedoch aus heutiger und zudem westlicher Sichtweise nicht immer ganz unproblematisch. Zudem formuliert Sun Tsu häufig auch sehr trivial anmutende „allgemeine Wahrheiten“. Dennoch liefern seine Gedankengänge hinsichtlich der Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung einige sehr anregende Impulse und weisen interessante Parallelen zu den Theorien von Clausewitz auf. Eine erste grundlegende Parallele besteht darin, dass bereits Sun Tsu die Kriegführung ihrer Form nach in Angriff und Verteidigung unterteilt hat. Eine Gemeinsamkeit, die bei einem zeitlichen Abstand von mehr als zwei Jahrtausenden und einem völlig anderen räumlichen, gesellschaftlichen und technologischen Kontext keineswegs als selbstverständlich anzusehen ist. Hinzu kommt die Tatsachen, dass sich Sun Tsu primär an den asymmetrischen Bürger- und Imperialkriegsszenarien im Reich der Mitte zu seiner Zeit orientierte, während für Clausewitz, wenn auch nicht ausschließlich, die europäischen Staatenkriege als empirische Grundlage im Vordergrund standen. Welche Bedeutung bereits Sun Tsu den beiden Hauptformen des Kriegführens, Angriff und Verteidigung, beimaß, verdeutlicht er mit der Feststellung, dass derjenige, der weder die „Künste der Verteidigung“ noch die „Künste des Angriffs“ kenne, im Kampf verlieren werde.47 An keiner Stelle seines Werkes drückt Sun Tsu explizit aus, ob er eine der beiden Formen des Kriegführens als die grundsätzlich stärkere betrachtet. Es wird jedoch sehr deutlich, wie er das Verhältnis von Angriff und Verteidigung grundsätzlich bewertet und insbesondere, worin er Stärken der einen bzw. der anderen Form sieht. Bei der Untersuchung seines Werkes lassen sich fünf Kategorien von Aussagen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung fest46
Vgl. u.a. Martin, Van Creveld: The Art of War. Sun Tsu a.a.O., S. 111. Diese Anmerkung zu Sun Tsu stammt von Zhang Yu. Er lebte zur Zeit der Song-Dynastie (960-1278 n. Chr.) und wurde bekannt durch seine Kommentare zu „Die Kunst des Krieges“. 47
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
stellen. Je zwei dieser Kategorien beziehen sich auf Stärken der Verteidigung bzw. des Angriffs, während die fünfte Kategorie auf das unmittelbare Wechselverhältnis dieser beiden Formen der Kriegführung eingeht. 1.2 Vorteile der Verteidigung Einen ersten Vorteil, den der Verteidiger insbesondere auf der taktischen und operativen Ebene besitzt, erkennt Sun Tsu in der Möglichkeit den Angriff des Gegners abwarten zu können und sich nicht auf jenen zu bewegen zu müssen. Er verdeutlicht diesen Zusammenhang, indem er darauf verweist dass jene, die sich als erste am Schlachtfeld einfänden und den Gegner erwarteten, entspannt seien; während sich jene, die als letzte am Schlachtfeld einträfen und sich übereilt in den Kampf stürzten, sich verausgaben würden.48 Deshalb, so folgert er, veranlassten begabte Krieger die anderen, auf sie zuzukommen und gingen nicht von sich auf andere zu.49 Einen weiteren Teilaspekt bringt der Kommentator Jia Lin ins Spiel, wenn er schreibt, dass jene, die als erste an einem vorteilhaften Ort Stellung beziehen und den Gegner dort erwarteten, vorbereitet und daher ihre Truppen entspannt seien.50 Hier wird deutlich, dass Sun Tsu neben der Möglichkeit, den Angriff des Gegners abwarten zu können, einen weiteren Vorteil des Verteidigers darin erkennt, dass er den Kampf in einer von ihm gewählten und durch das Gelände begünstigten Stellung, in der er sich entsprechend vorbereitet hat, führen kann. Sun Tsu unterstreicht die Bedeutung des Geländes durch den Hinweis, dass ein geschickter Krieger eine Stellung auf einem Terrain beziehen würde, auf dem er unbesiegbar sei,51 und man den Gegner sogar mit weichen, schwachen Truppen besiegen könne, wenn man den Vorteil des Geländes auf seiner Seite hätte.52 Bei der Untersuchung der Frage, in welchen Situationen anzugreifen und in welchen zu verteidigen sei, kommt Sun Tsu zum Ergebnis, dass die Verteidigung in Zeiten des Mangels; der Angriff in Zeiten des Überflusses angezeigt sei.53 Verdeutlicht wird diese Haltung durch eine Reihe von Äußerungen seiner Kommentatoren „Wenn wir in der Defensive sind dann deswegen, weil es uns an etwas mangelt und wir daher den Sieg nicht erringen können. So warten wir auf das, was wir brauchen. 48
Ebenda, S. 131 Ebenda, S. 131 50 Ebenda, S. 131. Jia Lin lebte zur Zeit der Tang-Dynastie (618-906 n. Chr.) und wurde bekannt durch seine Kommentare zu Sun Tsu’s Werk. 51 Ebenda, S. 119 52 Vgl. dazu den Kommentator Zhang Yu: Ebenda, S. 195 53 Ebenda, S 115 49
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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Wenn wir in der Offensive sind, dann deshalb, weil wir mehr als genug von dem haben, was wir brauchen, um den Gegner in die Knie zu zwingen. So gehen wir zum Angriff über. Dies bedeutet, daß wir uns nicht auf einen Kampf einlassen werden, wenn wir uns des vollständigen Sieges nicht sicher sind; wir werden nicht kämpfen, solange wir nicht Gewißheit haben, daß wir kein Risiko eingehen.“54
Diese Äußerungen könnten den Schluss nahe legen, Sun Tsu vertrete wie Clausewitz die Meinung, die Verteidigung sei die stärkere Form des Kriegführens, da mit ihr „Mangel“ bzw. „unzureichende Stärke“ ausgeglichen werden könne. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Sun Tsu an dieser Stelle unter „Verteidigung“ nicht primär eine kämpfende Verteidigung versteht, sondern ein defensives Verhalten, bei dem es darauf ankommt, die Entscheidung durch Kampf nach Möglichkeit zu vermeiden. So setzt der Kommentator Cao Cao „defensives Verhalten“ gleich mit „sich auf keinen Kampf einlassen“. Wang Xi betont, dass jene, die sich in der Defensive befänden, dies täten, weil sie nicht „genug“ hätten, um zu gewinnen. Er schreibt nicht, dass sie nicht „genug“ hätten, um angreifen zu können, was natürlich einen fundamentalen Unterschied ausmacht. Deutlich wird dies auch bei Zhang Yus Kommentaren. Er betont, dass man sich auf keinen Kampf, das bedeutet natürlich weder auf einen (kämpfenden) Angriff noch auf eine (kämpfende) Verteidigung einlassen solle, solange man sich des vollständigen Sieges nicht sicher sei. Es kann daher als eine zentrale Überzeugung und Botschaft Sun Tsus festgehalten werden, dass der Schwächere, der, dem es an etwas mangelt, am besten überhaupt jeglichen Kampf vermeiden sollte. Ob er für den Fall, dass dies nicht möglich ist, besser die Verteidigung oder besser den Angriff wählen sollte, geht aus seinen diesbezüglichen Überlegungen nicht hervor. 1.3 Vorteile des Angriffs Aus einer dritten Kategorie von Aussagen lassen sich verschiedene Vorteile des Angriffs ableiten: 54 Ebenda, S. 115 f. Es handelt sich um ein Zitat von Zhang Yu. Vgl. auch Wang Xi, ebenda, S. 115.: "Jene, die sich in der Defensive befinden, tun dies, weil sie nicht genug haben, um zu gewinnen. Jene, die sich in der Offensive befinden, tun dies, weil sie mehr als genug haben, um zu gewinnen.“ Vgl. auch Li Quan, ebenda, S. 115.: "Jene, deren Stärke unzureichend ist, sollten sich verteidigen, jene deren Stärke im Überfluß vorhanden ist, sollten angreifen." Li Quan lebte zur Zeit der TangDynastie (618-906 n.Chr.), war Anhänger des Taoismus und wurde berühmt für sein Wissen über Militärstrategie. Vgl. darüber hinaus Cau Cau, ebenda, S. 102: "Sind deine Kräfte denen des Feindes gleichwertig solltest du, auch wenn du gut bist, aus dem Hinterhalt angreifen und Überraschungsattacken durchführen, damit du die Oberhand über den Gegner behältst. Sonst verhalte dich defensiv und lass dich auf keinen Kampf ein." Cau Cau (155-200 n. Chr.) war ein erfolgreicher General, der sich in seinen Feldzügen im Wesentlichen an die Lehren Sun Tsu’s hielt.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion „Sind die Formationen des Gegners verwundbar, dann ist es an der Zeit, hervorzutreten und anzugreifen.“55 „Eine Lücke anzugreifen bedeutet nicht nur, eine Stelle anzugreifen, die der Feind nicht verteidigt. Solange die Verteidigung nicht lückenlos und die Stellung nicht scharf bewacht ist; solange die Generäle schwach und die Truppen ungeordnet sind; solange der Nachschub unzureichend ist und die Streitkräfte isoliert sind, werden die Reihen deiner Gegner vor dir in Auflösung geraten, wenn du ihnen nur mit einer geordneten wohlvorbereiteten Armee entgegentrittst.“56
Ein Vorteil des Angriffs lässt sich in diesen Äußerungen insofern erkennen, als eine gegenwärtige Schwäche beim Gegner nur durch Angriff, nicht aber durch Verteidigung zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden kann. Nur durch Angriff kann der Gegner zu einem für ihn ungünstigen Zeitpunkt zum Kampfe gezwungen werden. Verstärkt wird dieser Vorteil dadurch, dass der Angreifer, da er die Initiative besitzt, durch eine für den Verteidiger unvorhergesehene Wahl von Ort und Zeit des Kampfes in der Lage ist, diesen unvorbereitet zu treffen und damit zu überraschen. Der Kommentator Meng Shi merkt dazu an, dass man immer siegreich sein könne, wenn man seinem Gegner Ort und Zeit des Kampfes nicht wissen lasse.57 Letzteres fällt natürlicherweise dem Angreifer leichter als dem Verteidiger, da er (in der Regel) im Besitz der Initiative ist. Wang Xi verdeutlicht dies durch die Forderung beim Angriff überaus flink zu sein und Nutzen daraus zu ziehen, dass man vom Gegner nicht erwartet werde.58 Eine vierte Kategorie von Aussagen bezieht sich auf die psychologisch / moralische Ebene und impliziert eine weitere Stärke des Angriffs. Sun Tsu schreibt: „Im allgemeinen besteht das Prinzip einer Invasion darin, daß die Eindringlinge um so geeinter sind, je tiefer sie ins gegnerische Gebiet vordringen. Dann kann die sich verteidigende Führung sie nicht mehr bezwingen.“59 „Führe sie in Stellungen, die keinen Ausweg offen lassen, und sie werden nicht fliehen, auch wenn sie sterben müssen.“60 55 Ebenda, S. 115. Diese Äußerung stammt von Du Mu (803-852 n. Chr.). Du Mu war Ritter, erreichte einen hohen akademischen Grad und diente in verschiedenen Positionen am Kaiserhof. 56 Ebenda, S. 134. Anmerkung von Chen Hau. Er war Staatsbeamter zur Zeit der Song-Dynastie (frühes zwölftes Jahrhundert). 57 Ebenda, S. 142. Meng Shi lebte zur Zeit der Liang-Dynastie (502-556 n. Chr.). Er verfasste Kommentare zu Sun Tsu’s Werk "Die Kunst des Krieges". 58 Ebenda, S. 116 59 Ebenda, S. 191 60 Ebenda, S. 192
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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Cao Cao verdeutlicht diesen Sachverhalt durch die Feststellung, dass Streitkräfte leicht zerfallen würden, wenn die Soldaten dem Land verbunden seien und nahe der Heimat eingesetzt würden.61 Sun Tsu erkennt demnach einen weiteren Vorteil des Angriffs, insbesondere wenn es sich dabei um einen tiefen Vorstoß auf feindliches Gebiet handelt, darin, dass durch diesen Vorstoß die angreifende Streitmacht zusätzlich geeint wird und an Entschlossenheit gewinnt. Dies führt er darauf zurück, dass in diesem Falle den Soldaten jeglicher Ausweg, beispielsweise in Form von Fluchtmöglichkeiten, verwehrt ist. So kann seiner Meinung nach eine angreifende Armee an moralischer Stärke gewinnen, wenn sie tief in Feindesland eindringt. Dieser insbesondere psychologischen Bewertung steht Clausewitz These von der „abnehmenden Kraft im Angriff“62, die er insbesondere als Folge räumlicher und logistischer Überdehnung betrachtet, in dialektischer Weise entgegen. Ein praktisches Anschauungsbeispiel dazu liefert Napoleons Russlandfeldzug von 1812, den Clausewitz in russischen Diensten stehend persönlich miterlebte. Eine anschauliche praktische Bestätigung für die prinzipielle Richtigkeit von Sun Tsus These bietet ebenfalls Bonaparte mit Blick auf seinen ägyptischsyrischen Feldzug von 1799. Er betont diesbezüglich die stark disziplinierende Wirkung auf seine Armee, die von den sie permanent verfolgenden und bedrängenden Beduinen ausgegangen sei.63 1.4 Abschließende Bewertung Die Betrachtung und Untersuchung der Theoreme Sun Tsus zeigt, dass er sowohl dem Angriff als auch der Verteidigung bestimmte Vorteile bzw. Stärken zuordnet, wobei ihm die Überlegung fern ist, eine der beiden Formen des Kriegführens als die grundsätzlich stärkere zu bezeichnen. Diese Haltung wird besonders in der fünften Kategorie von Aussagen deutlich, die Sun Tsu zum Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung macht. Dazu ein Beispiel: „Vergleiche die Stärke des Gegners mit deiner eigenen und du wirst wissen, was ausreichend vorhanden ist und woran es mangelt. Danach kannst Du die Vorteile eines Angriffes gegen die einer Verteidigung abwägen.“64
Sun Tsu verdeutlicht hier, dass für ihn die Frage nach der stärkeren bzw. schwächeren Form des Kriegführens nur im Einzelfall bestimmt werden kann, und eine 61
Ebenda, S. 186 Vgl. Vom Kriege. VII, 4, S. 877 Napoleon Bonaparte: Napoleon I., Mein Leben, Gesamtausgabe der Autobiographie, Band 2, Meine ersten Siege, Der Ägyptisch-Syrische Krieg. Mundus 1999, S. 88 ff 64 Sun Tsu a.a.O., S. 144 62 63
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
pauschale Antwort in dieser Frage nicht möglich ist. Hierin kann zusammenfassend die grundsätzliche Haltung Sun Tsus zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung gesehen werden. Tabelle 1: Sun Tsu: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung Angriff 1. 2. 3. 4.
Initiative: BestimmungvonOrtundZeiteiner Auseinandersetzung, AngriffaufLücken/Schwachstellen desGegners Überraschung: MöglichkeitdenGegnerinderWahl vonOrtundZeitdesKampfesunvorbeͲ reitetzutreffen Schwächenausnutzung: MöglichkeitdieSchwächendesGegͲ nersaktivauszunutzen Moral: MoralischeFestigungdurchtiefen VorstoßauffeindlichesGebiet! KeineFluchtmöglichkeitfüreigene Kräfte
Verteidigung 1. Abwarten: Verteidigerkannabwartenundist dadurchphysischentspannt 2. Gelände: MöglichkeitdasGeländezum eigenenVorteilauszuwählen 3. Stellung: NutzungvorbereiteterStellungen 4. Täuschung: Kräfteleichterzuverbergen
Gesamtergebnis: Situationsabhängigkeit des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung. Eine entsprechende Bewertung ist daher nur im Einzelfall möglich. 2
Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung (1712 - 1786)
2
Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung „Aber wie alle großen Feldherren war auch er (Friedrich II.) der Ansicht, daß die Offensive der Verteidigung stets überlegen und daher gerade für den numerisch Schwächeren geboten sei.“ Friedrich von Bernhardi65
65
Friedrich von Bernhardi: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911, S. 412
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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2.1 Hintergrund Die Epoche Friedrichs II. war geprägt von einer absolutistischen Staats- und Herrschaftsordnung und der damit einhergehenden begrenzten Kriegführung. Kennzeichnend für diese Zeit war eine weitgehende Trennung des zivilen Lebens vom Kriegsgeschehen, eine auf Operationen in geschlossener Ordnung beschränkte Taktik66 und eine Strategie, die häufig das Manövrieren in den Mittelpunkt stellte.67 Bei dieser so genannten „Manöverstrategie“, als deren Schöpfer der französische Feldherr Turenne (1611 - 1657) gilt, wurde die Forderung, das operative Ziel mit möglichst geringen eigenen Verlusten zu erreichen, zur obersten Maxime, da die teuer zu bezahlenden Söldner schwer zu ersetzen waren.68 Obwohl sich Friedrich II. in der Endphase des Siebenjährigen Krieges dieser Vorstellung tendenziell annäherte, wäre es falsch, ihn als „Manöverstrategen“ zu bezeichnen, da er häufig sehr wohl die Schlachtentscheidung angestrebt hatte.69 Da es ihm die besonderen Umstände des Kriegswesens seiner Zeit und die begrenzten Mittel Preußens nicht ermöglichten, auch nur einen seiner Gegner gänzlich niederringen zu können, kann Friedrich II., mit Hans Delbrück zu Recht als „Ermattungsstratege“ bezeichnet werden.70 In dieser Hinsicht ist er mehr „Vollender“ einer Kriegführung des 18. Jahrhunderts denn Wegbereiter der Napoleonischen „Niederwerfungsstrategie“.71 Zu bedenken ist jedoch, dass Friedrich II. auch nicht die Möglichkeit hatte, zwischen diesen beiden strategischen Methoden wählen zu können, da ihm die gegebenen Mittel und Möglichkeiten eine Niederwerfung seiner Gegner nicht erlaubten. 66
Nicht zuletzt, um die Desertion aus den eigenen Reihen in Grenzen zu halten. Vgl. J. F. C. Fuller: Die entartete Kunst Krieg zu führen. Köln 1964, S. 20 f 68 Vgl. Regling a. a. O., S. 49 ff 69 Vgl. Delbrück, Hans: Geschichte der Kriegskunst: Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Sonderauflage, Berlin 2003, S. 493 70 Ebenda S. 496, 553. Diese Feststellung Delbrücks löste den sogenannten „Strategiestreit“ aus, bei dem es im Wesentlichen um die Frage ging, ob die Kriegführung Friedrich II. als Ermattungs- oder als Niederwerfungsstrategie zu betrachten sei. Interessant ist hierbei der Bezug zu Clausewitz, den beide Parteien als Autorität für sich zu vereinnahmen suchten. In seiner „Nachricht“ aus dem Jahr 1827 hegte der preußische Kriegsphilosoph den Wunsch, sein Werk vom Kriege u.a. hinsichtlich der „doppelten Art des Krieges“ noch einmal umzuarbeiten. Er unterscheidet hierbei zwischen den Kriegen, „wo der Zweck das Niederwerfen des Gegners ist“ und denjenigen „wo man bloß an den Grenzen des Reiches einige Eroberungen machen will“. Vgl. Ebenda S. 599. Hieraus leitet Delbrück die Existenz zweier „großer strategischer Prinzipien“ nämlich der „Niederwerfung“ und der „Ermattung“ ab und erhebt den Anspruch in dieser Hinsicht Clausewitz weiterentwickelt zu haben. Vgl. Ebenda S. 609. Vgl. auch Sven Lange: Hans Delbrück und der Strategiestreit. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1814, Freiburg im Breisgau 1995, Einzelschriften zur Militärgeschichte, 40, S. 95-97. Vgl. auch Raimond Aron: Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1980 71 Ebenda S. 558, 566 67
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
2.2 Offensive Grundausrichtung Die Kriegführung Friedrichs II. war in starkem Maße von der Offensive geprägt. Das gilt sowohl für die strategische als auch für die taktische Ebene. So spricht beispielsweise Clausewitz von den „durch Bewegung und Offensivmittel errungenen Siegen Friedrichs des Großen“.72 Der Preußenkönig selbst verdeutlicht seine Haltung folgendermaßen: „Die ganze Stärke unserer Truppen liegt im Angriff; wir würden töricht handeln, wenn wir freiwillig darauf verzichteten.“73
An anderer Stelle äußert er: „Eines der falschesten Prinzipien im Kriege ist, in der Defensive zu bleiben und den Feind offensiv handeln zu lassen; auf lange Sicht muß derjenige, der sich defensiv verhält, unweigerlich verlieren.“74
Auch für die strategische Verteidigung fordert Friedrich II., im Gegensatz zur herrschenden Auffassung seiner Zeit, offensives Handeln.75 Er distanziert sich außerdem von der durch die Kriegstheorie Montecuccolis (1609 - 1680) geprägten Vorstellung, wonach für einen Angriffskrieg die eigene Überlegenheit vorauszusetzen sei.76 Von ganz besonderer Bedeutung war für Friedrich die Offensive zu Beginn eines Feldzuges. Hier kam es ihm darauf an, gleich mit dem ersten Angriff eine entscheidende Überlegenheit über den Feind zu bekommen, um damit den Krieg möglichst schnell beenden zu können.77 Diese Betrachtungen legen den Schluss nahe, dass die von Bernhardi vertretene Meinung, Friedrich II. habe die Offensive stets für die überlegene und damit stärkere Form des Kriegführens gehalten, dessen Ansichten gerecht würde. Hier muss jedoch ein einschränkender Zusatz gemacht werden. Wenn Friedrich II. diese Vorstellung vertritt, so hat er dabei stets die besondere Situation Preußens vor Augen. Da ein länger andauernder Krieg die wirtschaftlichen Kräfte des Landes überfordert hätte, kam es für Preußen darauf an, jeden Krieg durch eine schnelle Entscheidung möglichst bald zu beenden.78 Dies führte zwangsläufig dazu, dass Friedrich II. im Hinblick auf seine konkrete Situation, nicht jedoch als 72
Vom Kriege. VII, 10, S. 891 Fiedrich der Große: Militärische Schriften. In: Die Werke Friedrichs des Großen, Sechster Band, Berlin 1913, S. 68 74 Dieses Zitat stammt aus einem Brief Friedrichs an den Erbprinzen von Braunschweig vom 8. Januar 1779. Vgl. Christopher Duffy: Friedrich der Große, Ein Soldatenleben. London 1985, S. 430 75 Vgl. Regling a.a.O., S. 116, 122 76 Ebenda, S. 91 77 Ebenda, S. 121 78 Vgl. Regling a.a.O., S. 118, 122, 135 73
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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allgemein gültige Regel, den Angriff als die stärkere Form des Kriegführens betrachtete, da nur durch ihn ein der Entscheidung ausweichender Feind zur Schlacht gezwungen werden konnte. Eng damit verbunden war die Tatsache, dass die „hervorragende Qualität und taktische Überlegenheit der preußischen Infanterie“79, insbesondere in der entscheidungssuchenden Feldschlacht, nicht aber in einem langwierigen Kleinkrieg zur Geltung gebracht werden konnte. Friedrich schreibt dazu: „Für uns Preußen ist es sehr schwer, einen solchen Defensivkrieg gegen die Österreicher zu führen, und zwar wegen ihrer großen Überlegenheit an leichten Truppen zu Fuß wie zu Pferde. Unsere Infanterie gleicht den römischen Legionen: sie ist für Schlachten geschaffen und ausgebildet; Ihre Stärke liegt in ihrem Zusammenhalt und ihrer Widerstandskraft.“80
Neben den speziell aus preußischer Sicht sich ergebenden Vorzügen der Offensive, hebt Friedrich eine Reihe allgemein geltender Stärken derselben hervor. So macht er darauf aufmerksam, dass Fehler bzw. augenblickliche Schwächen des Feindes nur durch Angriff zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden könnten. Ein Grundgedanke, den bereits Sun Tsu betont hatte. Friedrich merkt in diesem Zusammenhang an, dass man sich nie völlig auf die Defensive beschränken, noch sich des Vorteils begeben dürfe, aus den Fehlern des Feindes Nutzen zu ziehen.81 Diese theoretischen Vorstellungen setzte Friedrich eindrucksvoll in die Praxis um, als er 1756 zu Beginn des Siebenjährigen Krieges der Einkreisung durch seine Gegner (Österreich, Russland, Frankreich, Sachsen-Polen) mit einem Präventivangriff zuvorkam.82 Mit der handstreichartigen Eroberung Sachsens schuf er die logistische und finanzielle Basis seiner weiteren Kriegführung.83 Er nutzte dabei die Schwäche seiner Gegner aus, ihre Truppen nicht so schnell mobilisieren zu können wie Preußen.84 Damit einher ging der Vorteil, nicht der geballten Macht aller seiner Gegner auf einmal gegenüber zu stehen, sondern, diese jeweils einzeln unter maximaler Konzentration der eigenen Kräfte schlagen zu
79
Ebenda, S. 115 Friedrich der Große a.a.O., S. 109 Ebenda, S. 109 82 An dieser Stelle könnte die Frage vertieft werden, ob es sich hierbei um einen Angriff unter dem Haupttitel der politischen Verteidigung handelte oder ob der Krieg primär offensiv im Kontext der politischen Großmachtambitionen Preußens zu sehen ist. Dass die Antwort hierauf in erster Linie vom jeweiligen politischen Standpunkt abhängig ist, liegt auf der Hand. 83 Vgl. Klaus-Jürgen Bremm: Preußens Einmarsch in Sachsen 1756 – Präventives Vabanque oder geniale Strategie? In: Österreichische Militärische Zeitschrift, XLV. Jahrgang, Heft 1, Wien, Jänner/Februar 2007, S. 58 ff 84 Vgl. Olaf Groehler: Die Kriege Friedrichs II. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1986 80 81
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können. Ein Vorteil, auf den Friedrich bei defensiver Kriegführung völlig hätte verzichten müssen. Dies erkannte auch Clausewitz indem er schreibt: „Wenn Friedrich der Große im Jahre 1756 den Krieg als unvermeidlich ansah, und seinem Untergang nur entgehen konnte, wenn er seinen Feinden zuvor kam, so war es notwendig, den Krieg selbst anzufangen [...].“85
Damit unterstreicht Clausewitz die Richtigkeit der Entscheidung Friedrichs für den Präventivangriff. Als Friedrich II. im Verlauf des Krieges zunehmend in Bedrängnis geriet, bediente er sich einer Defensivstrategie, deren entscheidendes Element aus kontrollierten Offensivstößen bestand. Die hierbei gelieferten Angriffsschlachten sollten seine Gegner binden, abnutzen, vor allem aber Schrecken verbreiten und ihnen den Mut zur weiteren Fortsetzung der Kampfhandlungen nehmen.86 Dies verdeutlicht, wie wichtig für den Preußenkönig die Offensive selbst im Rahmen übergeordneter Defensivoperationen war. Einen weiteren Vorzug der Offensive, insbesondere auf der strategischen Ebene, erkannte Friedrich in der Möglichkeit, dass der Angreifer sich aus dem Lande des Gegners ernähren und damit den Krieg auf dessen Kosten führen kann. In seiner kriegstheoretischen Auswertung des Siebenjährigen Krieges spricht er sich daher für den Fall einer künftigen Auseinandersetzung mit Österreich dafür aus, die Kriegshandlungen möglichst weit an die Donau vorzutragen, um damit die „Armee auf Feindeskosten zu ernähren“.87 2.3 Betrachtung der Defensive Neben all den Vorzügen des Angriffs, erkannte Friedrich aber auch die Stärke der taktischen Defensive, die sich für ihn insbesondere aus vorbereiteten Stellungen in unzugänglichem Gelände ergab. Dazu merkt er an: 85
Vom Kriege. III, 6, S. 368 Vgl. Bremm a.a.O. S. 58 ff Vgl. Regling a.a.O., S. 136. Vgl. auch Fuller a.a.O., S. 24. Fuller zitiert Anmerkungen von Sir John Fortescues über die Kriegführung des 18. Jahrhunderts: "In jenen Tagen war das Ziel eines Feldzuges nicht unbedingt, einen Gegner aufzuspüren und ihn zu schlagen. Die maßgeblichen Fachleute schrieben als Alternative vor: entweder zu kämpfen, wenn man überlegen war, oder seine Kräfte auf bequeme Weise zu erhalten. Das bedeutete im günstigsten Falle, daß man auf Kosten seines Gegners lebte. Ein Feldzug, bei dem das Heer aus dem Land des Gegners lebte, ... war überaus erfolgreich, selbst wenn kein einziger Schuß fiel. Den Feind zu zwingen, von seinen eigenen Vorräten zu zehren, war schon viel; ihn zu zwingen den Gegner zu versorgen, war mehr, und am meisten schätzte man, sein Winterquartier auf gegnerischem Gebiet zu beziehen. Wenn man es fertig brachte, nach Überschreiten der Grenze den Gegner wochenlang hin und her marschieren zu lassen, ohne ihm die Möglichkeit zu einem Angriff zu bieten, so war das an sich schon ein Erfolg. Auf diese Weise wurden weniger befähigte Heerführer, wie Wilhelm von Oranien, zur Verzweiflung und ins Unglück getrieben."
86 87
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„Angriffe auf starke Stellungen darf man nur im äußersten Notfalle unternehmen. Warum? Weil alle Nachteile auf Seiten des Angreifers sind.“ „[...] Denn eine feste Stellung läßt sich nur mit großen Opfern erobern, [...].“88
Angriffe gegen Anhöhen bezeichnet Friedrich als das „Allerschwierigste im Kriege“.89 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die seit Beginn der Neuzeit zunehmende Feuerkraft der Heere, welche nach Regling auf taktischer Ebene die Wirksamkeit der Verteidigung gegenüber dem Angriff erhöhte.90 Das trifft vornehmlich für die relativ unbewegliche Artillerie zu, die zur Zeit Friedrichs besonders in der Gefechtsart Verteidigung ihre Stärken zur Geltung bringen konnte. Das Beziehen starker Defensivstellungen ist nach Friedrich für denjenigen zweckmäßig, der den Kampf zu vermeiden sucht und durch das Einnehmen einer solchen Position den Gegner von einem Angriff abhalten will. Das Lager von Bunzelwitz, welches Friedrich im Sommer 1761 bezog, ist ein vollendetes Beispiel für diesen Zusammenhang. Es gilt als strategische Meisterleistung des Preußenherrschers und entschied militärisch den Siebenjährigen Krieg zu seinen Gunsten, indem es die zahlenmäßig überlegenen Gegner Preußens zur Selbstlähmung verurteilte, während es ihm die Reorganisation seiner Armee und den erneuten Übergang zur Offensive ermöglichte.91 Dieses defensivstrategische Bravourstück muss jedoch als Ausnahme in der ansonsten stark angriffsbetonten strategischen Handlungsweise Friedrichs verstanden werden. Welche Bedeutung Friedrich II. der Ausnutzung des Geländes beimaß, wird im Folgenden deutlich: „Jetzt will ich von den Defensivlagern reden. Ihre Stärke liegt allein in dem Gelände. Sie haben keinen anderen Zweck, als einen Angriff des Feindes zu verhindern.“92 „Ein Feind, der den Kampf vermeiden will, sucht seinen Vorteil in einem schwer zugänglichen Gelände, das von Schluchten und Hohlwegen durchschnitten, von Wäldern oder Flüssen beengt ist. Er lagert sich auf den Gipfeln von Bergen oder Anhöhen, besetzt Dörfer, errichtet Batterien, befestigt sein Gelände je nach dessen Beschaffenheit, stellt jede Waffe an den geeigneten Fleck, ... deckt sich durch spanische Reiter, Schanzen und Befestigungen.“93
88 Friedrich der Große: Die Politischen Testamente. Übersetzt von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski, München 1941, S. 171 89 Friedrich der Große: Militärische Schriften. a.a.O., S. 158 90 Vgl. Regling a.a.O., S. 76 91 Venohr, Wolfgang: Der große König. Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg, Bergisch Gladbach 1995, S. 294 f, 358 f 92 Friedrich der Große: Militärische Schriften. a.a.O., S. 26 93 Ebenda, S. 91
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Trotz der taktischen Vorzüge derartiger Defensivstellungen lehnte Friedrich II. diese für seine Kriegführung weitgehend ab. „Ich habe schon gesagt und ich wiederhole es: ich möchte meine Armeen nie verschanzen, außer bei einer Belagerung; und auch dann wäre es besser, dem feindlichen Entsatzheere entgegenzurücken.“94
Der Grund für diese Ablehnung ist darin zu sehen, dass zur Zeit Friedrichs eine Verteidigungsstellung in den seltensten Fällen so an das Gelände angelehnt werden konnte, dass eine Umgehung derselben auszuschließen war. Die meisten Verschanzungen würden erobert, weil sie nicht hinreichend angelehnt seien, betont er.95 Somit verliert selbst die taktisch stärkste Defensivstellung jeglichen Wert, da sie in der Regel operativ/strategisch umgangen werden kann. Eine Ausdehnung der Verteidigungsstellungen zu langen Verteidigungslinien, um damit einer Umgehung vorzubeugen, lehnt Friedrich gänzlich ab. „Sind schon die Verschanzungen mit so vielen Mißständen verknüpft, so ergibt sich naturgemäß, daß die Verteidigungslinien noch viel weniger taugen ... denn sie nehmen mehr Gelände ein, als man Truppen zu ihrer Besetzung hat.“96
Damit verdeutlicht Friedrich das Raum-Kräfte-Verhältnis seiner Zeit, welches sich erst 1914 an der Westfront grundsätzlich ändern sollte.97 2.4 Abschließende Bewertung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Friedrich II. sowohl auf strategischer als auch auf taktischer Ebene den Angriff als die stärkere Form des Kriegführens betrachtete, wobei ihm die taktischen Vorzüge vorbereiteter Defensivstellungen in günstigem Gelände durchaus bewusst waren. Zu beachten ist allerdings, dass er bei seinen Überlegungen immer und ganz bewusst die spezifische Situation Preußens vor Augen hatte.
94
Ebenda, S. 46 Ebenda, S. 60. Vgl. auch S. 64 f: "Die meisten Verschanzungen werden gestürmt, weil sie nicht nach den Regeln angelegt sind, weil der Verteidiger umgangen wird, oder die Truppen feig sind, und weil der Angreifer in seinen Bewegungen freier und kühner ist. Überdies haben Beispiele gezeigt, daß, wenn eine Verschanzung an einer Stelle gestürmt ist, die ganze Armee den Mut verliert und sie verläßt." 96 Ebenda, S. 64 97 Erst 1914 waren die Heere so groß und ihre Feuerkraft hatte sich derart gesteigert, dass eine die ganze Frontbreite umspannende Verteidigungslinie von den Alpen im Süden bis zum Kanal im Norden errichtet werden konnte, welche nicht zu umgehen und nur schwer zu durchbrechen war. 95
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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Tabelle 2: Friedrich II.: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung Angriff Verteidigung 1. Entscheidung: 1. Geländeauswahl: KannEntscheidungerzwingen(umKrieg MöglichkeitderAuswahldesGeländes schnellzubeenden/wirtschaftlicheBeͲ zumeigenenVorteil(Anhöhen,WälͲ lastungenzureduzieren) der,Sümpfe,...) 2. Kosten: 2. Geländeverstärkung: MöglichkeitdenKrieginFeindesland MöglichkeitderVerstärkungdesGeͲ aufKostendesGegnerszuführen ländesdurchStellungsbau,VerschanͲ zungenundHindernisse 3. Schwächenausnutzung: 3. VorbereiteteStellungen: MöglichkeitdieSchwächenundFehler Artillerieeingeschossen,vertrautes desGegnersaktivauszunutzen Gelände,Führungerleichtert 4. Umgehungsmöglichkeit: 4. Artillerie: MöglichkeiteinenGegnerinstarkerPoͲ EffektivereNutzungderArtillerie sitionzuumgehen 5. Bewegungsfreiheit: KühnerundfreierinderBewegung 6. Psychologisch/moralische Überlegenheit: u.a.durchdas„Schockprinzip“(vgl.BaͲ jonettangriff) 7. QualitätderTruppe: NutzungderbesonderenQualitätder preußischenTruppen:Ausbildungsstand undAngriffsgeist
Gesamtergebnis: Die Stärken und Vorzüge des Angriffs dominieren eindeutig, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Situation Preußens.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Napoleon Bonaparte und die französische Revolutionskriegführung (1769 - 1821) „Ich bin mit Friedrich II. der Ansicht, daß man immer als erster angreifen sollte. ... Es ist ein sehr schwerer Fehler, zuzulassen, daß man angegriffen wird. ... führt den Krieg offensiv wie Alexander, Hannibal, Caesar, Gustav Adolf, Turenne, Prinz Eugen, Friedrich II. ...“ Napoleon I.98
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution 3.1 Hintergrund Mit der Französischen Revolution und dem durch sie hervorgerufenen gesellschaftlichen Umbruch veränderten sich ausgehend von Frankreich Charakter und Erscheinungsform des Krieges grundlegend. Die entscheidendste Neuerung dieser Zeit war die Ausrufung der „levèe en masse“ am 23. August 1793 durch den Konvent in Frankreich. Grundlage für die Schaffung dieser durch den revolutionären Geist beflügelten bürgerlichen Massenarmee war ein Erlass, dessen erster Artikel wie folgt lautete: „Von diesem Augenblick an bis zu jenem, da wir unsere Feinde vom Gebiet der Republik vertrieben haben, werden alle Franzosen ständig für den Dienst in der Armee herangezogen.“99
Damit stand dem revolutionären Frankreich ein riesiges „Menschenreservoir“ für den Militärdienst zur Verfügung. Bisher waren Soldaten teuer, analysiert der britische General Fuller, von nun an sind sie billig. Man hatte (in der Vergangenheit) Schlachten vermieden, nun suchte man sie.100 Hierin ist das zentrale Merkmale napoleonischer Kriegführung zu sehen. Die revolutionäre Begeisterung des Volkes in Verbindung mit der Wehrpflicht führte aber nicht nur zu Massenarmeen von bisher ungekannter Größe, sie veränderte darüber hinaus auch die Taktik derselben. Diese Entwicklung von der Lineartaktik im friederizianischen Sinne hin zur Tirailleur- und Kolonnentaktik war zum einen bedingt, zum anderen aber auch erst ermöglicht durch den revolutionären Wandel. Liddell Hart macht dies folgendermaßen deutlich: „Der revolutionäre Geist, der die französischen Bürgerarmeen beherrschte, schuf sowohl die Voraussetzung als auch gleichzeitig den Impuls. Der übliche Drill (notwendig für das Funktionieren der Lineartaktik) war nicht möglich, doch zum 98
Fuller a.a.O., S. 51 f Ebenda, S. 33 100 Ebenda, S. 36 99
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution
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Ausgleich dafür brachte dieser revolutionäre Geist das taktische Gefühl (als Voraussetzung für das Tirailleurgefecht, d.h. das Kämpfen in lockeren Schützenschwärmen unter Ausnutzung des Geländes) und die Initiative des Individuums (als Grundbedingung des auf seine psychologische Schockwirkung setzenden Kolonnenangriffes) zur Wirkung.“101
Zwei weitere Neuerungen kennzeichnen die Kriegführung zur Zeit Napoleons. Zum einen die Aufteilung der Armee in selbständige, aus allen Waffengattungen (Infanterie, Kavallerie, Artillerie) bestehende Korps bzw. Divisionen, und zum anderen das sich auf Requisitionen aus dem Lande stützende Verpflegungswesen (womit ein großer Teil des schwerfälligen Trosses eingespart werden konnte).102 Beide Faktoren förderten die Schnelligkeit und Reichweite der Revolutionsheere sowohl in taktischer als auch in strategischer Hinsicht.103 Durch die revolutionär veränderten gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Kriegführung wurde möglich, was Friedrich II. noch verwehrt geblieben war, die Niederwerfung des Gegners. Napoleon strebte diese i.d.R. mit einem direkten Angriff auf die gegnerische Hauptstadt an, mit dem Ziel, auf dem Weg dorthin die Hauptmacht des Feindes zur Entscheidungsschlacht zu stellen und zu schlagen.104 Insofern kann von einer grundsätzlichen Verschiedenartigkeit zwischen der Kriegführung Friedrichs II. und Napoleons gesprochen werden.105 Napoleon kann daher zu Recht als „Schöpfer“106 einer neuzeitlichen Niederwerfungsstrategie bezeichnet werden, die in der Folge u.a. von Gneisenau und später von Moltke aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Zum eigentlichen Problem der Napoleonischen Strategie wurde der Feldzug von 1812. Obwohl Napoleon bei Borodino einen taktischen Erfolg gegen die russische Armee erzielte und in der Folge sein strategisches Ziel, die Einnahme Moskaus, realisieren konnte, verlor er durch die Verweigerungshaltung des russischen Zaren und seine eigene logistische Überdehnung nicht nur fast seine gesamte Armee und damit den Feldzug, sondern auch den Nimbus seiner Unbesiegbarkeit. Auch vor dem Hintergrund
101
Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden 1953, S. 134. Vgl. auch: Bernard Law Viscount Montgomery of Alamain: Weltgeschichte der Schlachten und Kriegszüge, Band 1, München 1975, S. 364 f: "Die Gefechtstaktik war einfach und verlustreich, aber sie paßte zu zahlenmäßig starken und begeisterten Truppen, die von jungen Offizieren geführt wurden, die mehr Energie und Mut besaßen als Erfahrung und militärisches Geschick. ..." 102 Vgl. Liddell Hart a.a.O., S. 135 103 Vgl. Fuller a.a.O., S. 37 104 Vgl. Delbrück a. a. O., S. 551 105 Vgl. Ebenda, (Kommentar von Otto Haintz) S. 602 106 Vgl. Ebenda, S. 566
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
der ihm zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel war die offensive Niederwerfungsstrategie an ihre Grenzen gelangt.107 3.2 Dominanz des Offensivdenkens Napoleons Kriegführung war wie keine andere beherrscht vom Offensivdenken. Er hat, laut Fuller, beginnend mit seinem ersten Einsatz bei der Belagerung von Toulon (1793) bis zum Verlassen des Schlachtfeldes von Waterloo niemals eine rein defensive Schlacht geschlagen.108 Aber nicht nur auf der taktischen Ebene der Schlachtentscheidung, sondern auch auf strategischer Ebene bei der Führung seiner Feldzüge war Napoleon stets offensiv.109 Hier drängt sich der Gedanke auf, Napoleon habe den Angriff grundsätzlich als die vorteilhaftere oder stärkere Form des Kriegführens betrachtet. Auch eine Reihe von Äußerungen des Kaisers weisen in diese Richtung. So betont er, es sei ein sehr schwerer Fehler, zuzulassen, dass man angegriffen werde, und fordert dazu auf, den Krieg offensiv zu führen und immer als erster anzugreifen.110 Es könnte aufgrund derartiger Äußerungen noch weiter vermutet werden, er habe es sogar als einen Grundsatz der Kriegführung betrachtet, möglichst immer als erster die Offensive zu ergreifen. Napoleon ging davon aus, dass es im Krieg bestimmte Grundsätze gebe. Diese seien auch von dem nach „innerer Eingebung“ handelnden Genie als „Achsen“ zu betrachten, um welche sich eine „Bewegung“ zu vollziehen habe. Weiter betont er: „Man hat meine großen Erfolge meist dem Glück zugeschrieben, man wird nicht verfehlen, bei Mißerfolgen von meinen Fehlern zu sprechen. Liest man die Geschichte meiner Feldzüge, so wird man nicht wenig erstaunen, zu erfahren, daß in beiden Fällen, überhaupt immer, meine Vernunft und meine Fähigkeiten nur in Übereinstimmung mit gewissen Grundideen oder Prinzipien in Tätigkeiten kamen.“111
Da Napoleon selbst keine eigene Kriegstheorie entwickelt hat112, und auch das von ihm mehrfach ins Auge gefasste Werk über die Grundsätze des Krieges 107
Vgl. Ebenda, S. 576 Vgl. Fuller a.a.O., S. 54 109 Vgl. Montgomery a.a.O., S. 367 110 Vgl. Fuller a.a.O., S. 51 f 111 Napoleon I.: Kaiser von Frankreich, Berühmte Aussprüche und Worte Napoleons von Corsika bis St. Helena. hrsg. v. Robert Rehlen, Leipzig 1927, S. 178, 192 112 Liddell Hart a.a.O., S. 136-139. Es muss jedoch betont werden, dass Napoleon die kriegstheoretischen Werke seiner Zeit intensiv studierte. Hier verdienen insbesondere die Schriften von Robins, Bourcet, du Teil, Gribeauval, Guibert und Friedrich dem Großen Erwähnung. Diesen Überlegungen fügte Napoleon nur wenige theoretische Erkenntnisse bei, belebte sie aber durch ihre Umsetzung in die Praxis.Vgl. auch Craig a.a.O., S. 91, sowie Montgomery a.a.O., S. 365 108
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution
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seiner Nachwelt schuldig geblieben ist113, müssen die Gründe für sein stets offensives Handeln anhand der Praxis seiner Kriegführung untersucht werden.114 Was die strategische Ebene anbelangt, so ergab sich schon allein aus den politischen Zielsetzungen Bonapartes die Notwendigkeit zu offensiver Kriegführung. Die Verbreitung der Ideale der französischen Revolution, wie auch sein Vorherrschaftsstreben über Europa, war nur durch aktive Niederwerfung seiner Gegner zu erreichen und erforderte daher die strategische Offensive. Diese Zielsetzung in Verbindung mit dem ungestümen Geist Napoleons115 kann auf der Ebene der Strategie als Hauptgrund für seine offensive Kriegführung betrachtet werden. Daneben kann ein weiterer Grund für seine Bevorzugung einer offensiven Strategie, der bereits andeutet, dass Bonaparte sich von der Wahl derselben auch gewisse Vorteile versprach, darin gesehen werden, dass er nur durch Angriff einen der größten Schwachpunkte seiner Gegner zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. Dieser lag in der Uneinigkeit, Schwerfälligkeit und der mangelnden Koordination seiner aus wechselnden Koalitionen bestehenden Gegner.116 Durch schnelle energische Angriffe und das Behaupten der Initiative hatte er die Möglichkeit, diesen stets zuvorzukommen, sie einzeln zu schlagen und damit ein geschlossenes politisch wie militärisch koordiniertes Vorgehen der jeweiligen
113
Der Gedanke Napoleons, ein Buch mit den Grundsätzen der Kriegführung zusammenzustellen, wird in verschiedenen seiner Äußerungen deutlich: "Wenn ich einmal die Zeit dazu haben werde, möchte ich in einem Buch die Grundsätze des Krieges so genau darlegen, dass sie allen Soldaten zugänglich werden und wie eine Wissenschaft zu erlernen sind." Vgl. Fuller a.a.O., S. 51. An anderer Stelle äußert er: "Friedrich von Preußen hat in seinen "Instruktionen" nicht alles sagen wollen; er hätte sie besser machen können, aber er hat es nicht gewollt. Ich hätte Lust, über diesen Gegenstand zu schreiben; aber hinterher sagen die Generäle, wenn sie geschlagen sind, sie hätten nur die Grundsätze befolgt, die man ihnen eingeprägt hätte. Es handelt sich im Kriege um so viele verschiedene Elemente." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 191 114 Eine treffende und prägnante Schilderung der Kriegführung Bonapartes liefert Gneisenau in einem Brief an Alexander I. von Russland vom 2. Juni 1812: "Alle Feldzüge des Kaisers Napoleon waren auf eine kurze Dauer berechnet. Sich rasch bewegen, den Feind durch Bewegungen umfassen, ihn im einzelnen schlagen, durch den Schrecken lähmen und einen kurzen Krieg durch einen raschen Frieden endigen, der dem französischen Soldaten den Stolz des Sieges sichert, seiner Willkür die von ihm überschwemmten Länder überliefert, das ist die Art des Krieges, worauf der französische Kaiser ausgeht. Aber sobald man ihn zwingt, einen langsamen Krieg zu führen, sobald man dem französischen Soldaten die Möglichkeit nimmt, auf Kosten eines unterdrückten Volkes zu leben, sobald man ihm einen langen und harten Kampf in Aussicht stellt, dann kann man sich schmeicheln, ihn bereits geistig besiegt zu haben, und selbst erfochtene Siege können ihn zu rückgängigen Bewegungen zwingen." Neidhardt von Gneisenau: Ausgewählte militärische Schriften. in: Schriften des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR, herausgegeben von G. Förster und C. Gudzent. Berlin 1984, S. 223 f 115 Vgl. dazu John Keegan: Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und der Somme 1916. Frankfurt 1991, S. 141 116 Vgl. dazu: Frhr. v. Freytag-Loringhoven: Die Heerführung Napoleons. Berlin 1910, S. 426
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Koalitionspartner zu verhindern.117 Aus diesem wiederkehrenden Muster seines praktischen Handelns kann gefolgert werden, dass Napoleon eine wesentliche Stärke der Offensive darin sah, hierdurch die Schwächen seiner Gegner besser zum eigenen Vorteil ausnutzen zu können, als dies in der Verteidigung möglich gewesen wäre. Im Bestreben Napoleons, seine Gegner durch schnelle Bewegungen und unerwartete Kräftekonzentrationen strategisch zu überraschen, wird ein weiterer Vorteil deutlich, welchen er in einer offensiven Kriegsführung sieht. Fuller spricht von einem „unabänderlichen Vertrauen“ Napoleons zum Angriff und zur Schnelligkeit, mit welcher die Zeit genutzt und strategische Überraschung erzielt werden konnte. Er betont dabei, dass Napoleons Überraschungsmanöver selten taktischer, vielmehr fast ausschließlich strategischer Art gewesen seien, wie etwa die Schlachten von Marengo (1800), Ulm (1805), Jena (1806) sowie der erste Teil der Schlacht von Waterloo (1815).118 Hervorzuheben ist die große Bedeutung, welche Napoleon dem Faktor Zeit beimaß: „Im Krieg ist der Verlust an Zeit nicht wieder gutzumachen. Gründe, die für den Zeitverlust angeführt werden, sind wertlos, denn Operationen schlagen nur durch Verzögerungen fehl.“
117
Der Feldzug von Ulm (1805) ist ein vollendetes Beispiel dieser Vorgehensweise. Montgomery liefert dazu folgende Beschreibung: "Wenn Napoleon nicht die Initiative ergriff und als erster zuschlug, mußte er damit rechnen, daß der Gegner 140.000 Mann am Oberlauf der Donau bei Ulm versammelte, um von dort gegen Frankreich zu marschieren. Napoleon rechnete, die Entfernung von Boulogne, wo er seine Armee versammelt hatte, nach Ulm sei geringer als die von Rußland in den gleichen Raum. Er entschloss sich daher, frühzeitig und schnell zuzuschlagen und seine Gegner einzeln zu erledigen. Dabei wollte er zunächst die österreichische Armee bei Ulm angreifen und dann donauabwärts marschieren, um den Kampf mit den Russen aufzunehmen." Montgomery a.a.O., S. 371. Auch in seinem letzten Feldzug, dem von 1815, ergriff Napoleon genau aus diesem Grunde die strategische Offensive. Er hoffte, die Armeen Wellingtons und Blüchers schlagen zu können, bevor die Österreicher mit 200.000 und die Russen mit weiteren 150.000 Mann gegen ihn aufmarschiert wären. Nur eine rasche Offensive bot ihm die Möglichkeit, seine Gegner einzeln, d.h. unter für ihn günstigeren Zahlenverhältnissen, zu schlagen und außerdem einen Krieg im eigenen Lande zu verhindern. Der Anfang des Feldzuges verlief strategisch brillant. Es gelingt Napoleon durch einen schnellen überraschenden Vorstoß entlang der Grenze zwischen der britischen und der preußischen Armee, letztere isoliert bei Ligny zur Schlacht zu stellen und zu schlagen. Nur dem Entschluss Gneisenaus, trotz der Niederlage und obwohl die Briten ihre Unterstützung für Blücher bei Ligny versagten, Wellington zu Hilfe zu eilen, ist der Sieg über Napoleon bei Waterloo zu verdanken. Damit wurde erstmals der ewige Zwiespalt zwischen den Koalitionspartnern überwunden. Vgl. Keegan a.a.O., S. 140 ff. 118 Vgl. Fuller a.a.O., S. 51-53. Vgl auch Montgomery a.a.O., S. 365-367, sowie Elmar Dinter: Nie wieder Verdun. Überlegungen zum Kriegsbild der 90er Jahre, Herford 1985, S. 60. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Äußerung Bonapartes über den Feldzug von Ulm (1805): "Da hätten wir also die erste Schlacht mit unseren Beinen gewonnen,..." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 186. Damit unterstreicht er die Bedeutung schneller Bewegungen für seine Feldzüge.
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„Raum läßt sich wiedergewinnen, verlorene Zeit niemals.“119
Aus dieser Einstellung wird deutlich, dass Napoleon dem Angriff eine weitere, für ihn ganz entscheidende Stärke zuordnet, nämlich die Fähigkeit, über die Zeit in weit größerem Maße bestimmen zu können als die Verteidigung. Dies ergibt sich daraus, dass der Angreifer aller Regel nach die Initiative besitzt und damit einen wesentlich stärkeren Einfluss auf den Zeitpunkt eines Gefechts und damit auf den Verlauf eines Feldzuges nehmen kann als der Verteidiger.120 Ein potenzieller Angreifer, der zu einem bestimmten Zeitpunkt noch kein Gefecht führen will, braucht nicht anzugreifen. Natürlich sind auch Gründe denkbar, die einen Akteur dazu veranlassen können, zu einem für ihn ungünstigen Zeitpunkt offensiv zu werden. Dabei hat er jedoch immer die Wahl, dies zu unterlassen, wenn ihm die Umstände für einen Kampf zu ungünstig erscheinen. Der Verteidiger dagegen ist in seinen Möglichkeiten, ein Gefecht zu vermeiden, weitaus stärker eingeschränkt, da er von der Initiative des Angreifers getrieben wird. Er hat zwar die Möglichkeit, einem Angriff auszuweichen oder schwer angreifbare Positionen zu beziehen, aber ersteres ist nicht unbegrenzt möglich, wenn er das zu schützende Objekt dem Angreifer nicht kampflos überlassen will, und im zweiten Fall besteht für den Angreifer i.d.R. die Möglichkeit, derartige Stellungen zu umgehen, oder, entgegen der Erwartung des Verteidigers, doch anzugreifen. Ein Gefecht zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt erzwingen kann der Verteidiger im Gegensatz zum Angreifer nur sehr begrenzt. Wenn er dies anstrebt, muss er demnach selbst die Initiative ergreifen und offensiv werden. Somit wird klar, warum nach Napoleons Vorstellungen der Angreifer in der Regel in weit stärkerem Maße als der Verteidiger über den Faktor Zeit gebieten kann. Dass er dies als eine Stärke des Angriffs betrachtete, liegt auf der Hand. Anzumerken bleibt, dass dieser aktiven entscheidungssuchenden Nutzung der Zeit ein passiver entscheidungsvermeidender Gebrauch derselben entgegengestellt werden kann. Clausewitz spricht hierbei vom „Borgen von Zeit“ der Verteidigung. Hierbei wird Raum gegen Zeit eingetauscht die Entscheidung bewusst vermieden und der Krieg in die Länge gezogen. Abhängig vom jeweiligen Raum-KräfteVerhältnis können auch durch einen derartigen strategischen Gebrauch der Zeit Feldzüge, Schlachten und Kriege gewonnen werden, wie Napoleons gescheiterter Russlandfeldzug von 1812 beweist. Dieser Entschleunigung der Kriegführung nicht gewachsen gewesen zu sein, kann als einer der größten Schwachpunkte napoleonischer Kriegführung betrachtet werden. Gleichzeitig wird hierin eine der größten Schwächen des 119
Vgl. Fuller a.a.O., S. 53 Dass der Angreifer diesen Vorteil nicht immer auf seiner Seite hat, ist klar. Ebenso die Tatsache, dass im Einzelfall auch der Verteidiger denselben für sich beanspruchen kann.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Angriffs im Allgemeinen deutlich. Diese ist darin zu sehen, dass der Angreifer, wenn er den Angriff erst einmal begonnen hat, i.d.R. zum Erfolg gezwungen ist, während es für den Verteidiger oftmals genügt durchzuhalten und dem Angreifer den Erfolg zu verwehren. Der Faktor Zeit in seiner entschleunigten Dimension kann in diesem Sinne insbesondere von der Verteidigung zum eigenen Vorteil genutzt werden und sich daher als eine eindeutige Stärke derselben erweisen. Um in der Clausewitzschen Terminologie zu bleiben lässt sich sagen: Nicht „Erhalten ist leichter als „Erobern“, aber es ist oftmals leichter einen Erfolg des Gegners zu verhindern als selbst aktiv einen Erfolg zu erzielen. Hinzu kommt, dass einer der bedeutendste Faktoren für das Erzielen von Überraschung in der Wahl eines für den Gegner unerwarteten Zeitpunktes für den Kampf liegt.121 Unter Berücksichtigung der größeren Verfügungsgewalt des Angreifers über den Faktors Zeit folgt daraus, dass dieser das Überraschungsmoment in weit größerem Umfang für sich nutzen kann als der Verteidiger, was Napoleon zu Recht als Vorteil der Offensive betrachtet. Der praktische Wert des Überraschungsmoments für den militärischen Erfolg bedarf keiner näheren Erläuterung. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch der Verteidiger die Möglichkeit zur Überraschung besitzt. Clausewitz geht sogar soweit zu behaupten, dass Überraschung als ein „Prinzip des Sieges“ zum „größeren Teil“ dem Verteidiger zu Gebote stünde.122 Ein weiterer Grund für das fast immer offensive Verhalten des Kaisers liegt darin, dass er sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene seine Kampfweise und Kriegführung auf das so genannte „Schockprinzip“ ausrichtete und darin einen ganz wesentlichen Schlüssel seiner Erfolge sah. Das Schockprinzip Napoleons kann vereinfacht ausgedrückt als ein Produkt aus Masse (Konzentration), Bewegung (Schnelligkeit, Überraschung, Zeit) und moralischer Wirkung betrachtet werden.123 Insbesondere letzterem ordnet er hierbei größte Bedeutung bei, während er die Elemente Masse und Bewegung hauptsächlich dazu benutzte, die moralisch-psychologische Wirkung des Schocks zu verstärken. Eine Reihe seiner Äußerungen zeigen dies sehr deutlich: „Zwei Armeen sind zwei Korps, die sich bewegen und sich Grauen einjagen, und es kommt ein Augenblick panischen Schreckens, ihn muß man zu benutzen verstehen; es beruht alles auf einem mechanischen und auf einem moralischen Prinzip.“ 121
Andere Faktoren Überraschung zu erzielen, können unter anderem in der Bildung unerwarteter Schwerpunkte, der Verwendung neuartiger Waffensysteme oder in der Variation von Kampftaktiken und Methoden gesehen werden. 122 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 618 f 123 Vgl. dazu Dinter a.a.O., S. 60. Dinter spricht hier nur von den Faktoren Masse und Bewegung und übersieht dabei die moralische Komponente als das zentrale Element des napoleonischen Schockprinzips.
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„Die moralische Kraft mehr als die Zahl, entscheidet den Sieg.“124
Zentral ist hierbei, dass die drei Elemente des Schockprinzips nur im Angriff ihre volle Stärke entfalten können, und der „Schock“ somit in erster Linie vom Angreifer zu dessen Gunsten genutzt werden kann. Was das Element Bewegung betrifft, so ergibt sich schon aus der Definition von Angriff und Verteidigung, dass es dem Angreifer in erster Linie zukommt. Ohne „Bewegung“ kein Angriff und ohne „Abwarten“ keine Verteidigung. Dass beispielsweise ein statisch eingesetzter Kavallerieverband auf einen Gegner weniger furchteinflößend und schockierend wirkt, als eine im Galopp vorgetragene Attacke desselben Verbandes, scheint schon in der Natur der Sache und in der psychischen Konstitution des Menschen zu liegen. Somit ist Bewegung eine notwendige Voraussetzung des Angriffs und damit Angriff eine Notwendigkeit, um aktiv Schock zu erzielen. Auch die einzige bedeutende taktische Neuerung, die Napoleon einführte, der schwerpunktmäßige Einsatz der Artillerie (in der Vergangenheit wurde die Artillerie weitgehend gleichmäßig auf die gesamte Schlachtreihe verteilt), war ganz auf den Angriff ausgerichtet und diente dazu, durch zusammengefasstes Feuer riesiger Batterien die feindlichen Linien oder Karrees sturmreif zu schießen. 125 Da einzelne auf eine geschlossene Verteidigung anstürmende Angreifer noch keine nachhaltige psychologische Wirkung beim Gegner auszulösen vermögen, muss auch der Faktor Masse oder Konzentration als notwendiger Bestandteil des Schockprinzips angesehen werden. Konzentration aber lässt sich im Angriff in der Regel leichter erzielen als in der Verteidigung. Das liegt daran, dass der Angreifer, weil er im Besitz der Initiative ist, Ort, Zeit und Schwerpunkt des Kampfes in weit stärkerem Maße bestimmen kann als der Verteidiger. Jenem bleibt (weil er Ort und Zeitpunkt des Angriffs in der Regel nicht genau kennt) häufig keine andere Möglichkeit, als auf die Kräftekonzentration des Angreifers zu reagieren, mit der Gefahr, dass dieser inzwischen die Oberhand gewinnt. Die napoleonische Kolonnentaktik, ein reines Offensivmittel (denn in der Verteidigung sind Kolonnen aufgrund ihrer nur geringen Feuerkraft unzweckmäßig), war geradezu ideal dafür geeignet, auf taktischer Ebene ein Höchstmaß an physischer Konzentration zu erreichen.126 124
Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 179-181 Vgl. dazu Liddell Hart a.a.O., S. 152, sowie Montgomery a.a.O., S. 368, und Keegan a.a.O., S. 185 ff. Die Tatsache, dass es in der Kriegsgeschichte kaum einen verbürgten Fall des direkten Bajonettkampfes zweier Armeen miteinander gibt, unterstreicht diese Tatsache nur allzu gut. Vgl. Keegan a.a.O., S. 233, sowie Dinter a.a.O., S. 60 f 126 Welche Bedeutung Napoleon den Faktoren Konzentration und Initiative beimaß, drückt er selbst sehr eindeutig aus: "Der Krieg ist nichts anderes, als an einem gewissen Punkt mehr Kräfte als der Feind zu vereinigen." "Die beste Art sich zu verteidigen, ist oft die anzugreifen, und die Kunst der 125
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Was die moralisch-psychologische Wirkung des Schocks betrifft, so wird deutlich, dass diese bei defensiver Kriegführung und Kampfweise weitgehend verloren gehen würde. Nur in Verbindung mit einer offensiven Strategie konnte Bonaparte seine Gegner allein durch den Schrecken und den Ruf seiner Unbesiegbarkeit lähmen. Gleiches gilt auch auf taktischer Ebene. Nur mit einem schwungvoll vorgetragenen Bajonettangriff, nicht aber mit einem Abwarten in der Verteidigung, konnte er darauf hoffen, den Gegner allein durch den Anblick des „blanken Stahls“ in Furcht und Schrecken zu versetzen, und ihn ohne dass es tatsächlich zum Kampfe kommt, in die Flucht zu schlagen. Somit kann festgehalten werden, dass Napoleon im „Schockprinzip“ eine weitere wesentliche Stärke des Angriffs sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene gesehen hat, welche er zeitweise sehr erfolgreich zu nutzen verstand. Eine zusätzliche Stärke des Angriffs liegt für Bonaparte darin, dass in der Ausrichtung auf Angriff und Schockprinzip die besonderen Stärken der französischen Armee zur Geltung gebracht werden konnten, welche in der Defensive ungenutzt geblieben wären. Der revolutionäre Enthusiasmus des französischen Soldaten127 war beispielsweise ideale Voraussetzung für die in erster Linie auf psychologische Schockwirkung setzenden Kolonnenangriffe der napoleonischen Heere. Auch die Gliederung der Armee in selbständige Divisionen, sowie die neue Art des Verpflegungswesens wirkten sich, da sie die Schnelligkeit und Reichweite der Armee erhöhten, besonders vorteilhaft im Angriff aus. Im Sinne paradoxer Logik kann die Frage gestellt werden, ob die wenig ausgebildeten Soldaten des revolutionären Frankreich zu einer geordneten Verteidigung überhaupt in der Lage gewesen wären. Ein durch Schützenschwärme (Tirailleure) vorbereiteter Kolonnenangriff ist, bei entsprechender Motivation der Soldaten, leichter zu organisieren und erfordert weniger Ausbildung und Disziplin als Verteidigung und Feuerkampf in geschlossener Formation (Linie oder Karree). Es kann daher vermutet werden, dass Napoleons angriffsbetonte Kampfweise auch daher rührte, dass er sich auf Grund des mangelnden Ausbildungsstandes seiner Soldaten in der linearen Fechtweise für eine Verteidigung als zu schwach betrachtete.
Kriegführung besteht hauptsächlich darin, die Initiative zu ergreifen, wenn man sie durch die ersten Erfolge des Feindes verloren hat." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S.178 127 So spricht beispielsweise Lazare Carnot, der von 1792 bis 1797 dem Komitee für öffentliche Sicherheiten angehörte und dabei maßgeblich die französische Strategie beeinflusste, davon, dass es dem Nationalcharakter der Franzosen entspräche, immer und überall anzugreifen. Vgl. Montgomery a.a.O., S. 364. Hier lässt sich ein Einfluss auf die Haltung Napoleons vermuten, der diesbezüglich die gleiche Meinung vertrat. Vgl. auch Regling a.a.O., S. 203
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3.3 Abschließende Bewertung Zusammenfassend ergibt sich aus der Betrachtung seiner Kriegführung, dass Napoleon im Angriff so große Vorteile und Stärken sah, dass er sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene fast ausschließlich offensiv handelte. Die Vorteile und Stärken des Angriffs resultierten für ihn u.a. aus den spezifischen Eigenarten der französischen Revolutionsarmeen und wurden begünstigt durch den offensiven Geist des Kaisers. Es kann festgehalten werden, dass Napoleon den Angriff eindeutig als die für ihn stärkere Form des Kriegführens betrachtete. Zu bedenken ist, ob nicht gerade in dieser Überbewertung der Offensive einer der Gründe für das letztendliche Scheitern Napoleons gesehen werden muss. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung von Gordon A. Craig besonders interessant: „Napoleon had succeeded by breaking the stupid rules of custom and adhering to the sensible rules of nature and reason. But he had gone on to break a few of the rules of nature and reason also, ...“128
Ein Brechen dieser sog. „rules of nature and reason“ durch Napoleon kann in der absoluten Überbewertung der angriffsweisen Form des Kriegführens gesehen werden, weil damit der beständigen Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung, den wechselseitigen Vor- und Nachteilen und damit der Natur des Krieges, nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Tabelle 3: Napoleon Bonaparte: Vorteile / Stärken des Angriffs Angriff 1. Schwächenausnutzung: SchwächendesGegnerskönnenbesserzumeigenenVorteilausgenutztwerden MöglichkeitgegnerischeStreitkräftegetrenntvoneinanderzuschlagen DamitAusgleichzahlenmäßigerUnterlegenheit 2. Überraschung: Zeitfaktor 3. Psychologisch/moralischeÜberlegenheit: Psychologisch/moralischeWirkungdes„Schockprinzips“resultierendauseiner KombinationvonBewegung,MasseundMoral
128 Gordon A. Craig: The Classics of the Nineteenth Century. Interpreters of Napoleon, in: Makers of Modern Strategy (Military Thought from Machiavelli to Hitler), Princeton 1973, S. 91.
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4. BesondereStärkenderfranzösischenArmee: kommenbesondersimAngriffzurGeltung WäreninderVerteidigungvonweitgeringererBedeutung RevolutionäreBegeisterung TirailleurͲundKolonnentaktik Divisionsgliederung BeweglicheLogistik SchwerpunktmäßigerArtillerieeinsatz 5. KonzentrationderKräfte: DadurchörtlicheÜberlegenheitzuerreichen(auchbeigegnerischerGesamtüberleͲ genheit) LeichterzuerreichenfürdenAngreifer,dadieseri.d.R.imBesitzderInitiativeist WichtigfürDurchbruch 6. Initiative: 7. Kosten: VermeidungvonKriegimeigenenLand 8. VermeidungeigenerSchwächen: Verteidigung,KampfimeigenenLand
Gesamtergebnis: Stark einseitige Hervorhebung der Stärken des Angriffs! 4
Ergänzende Betrachtung
Da es sich bei dieser Untersuchung lediglich um einen Ausschnitt aus der kontroversen Debatte hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung insgesamt handeln kann, soll im Folgenden ein kurzer Ausblick auf den Umfang der Diskussion angedeutet werden: 4.1 Hintergrund: Kriegführung in der Renaissance Niccolo Machiavelli (1469-1527) untersucht in seinen „Discorsi“ die Frage, ob es besser sei, bei einem befürchteten Angriff selbst loszuschlagen oder den Krieg abzuwarten. Er hat dabei die strategische Ebene im Blick, bei der er zwischen einem eigenen Angriff und der Möglichkeit, den Krieg im eigenen Land abzuwarten, differenziert. Er betont hierbei die vielen Vorteile, die eine Kriegführung im eigenen Land hätte, sofern ein Herrscher über ein „gut bewaffnetes und kriegstüchtiges Volk“ verfüge (vgl. Schweiz).129 Im Falle eines „unbewaffneten Volkes“ und einem „zum Krieg ungeeigneten Land“ rät er hingegen dazu, den 129
Vgl. Machiavelli, Niccolo: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Deutsche Gesamtausgabe übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, Stuttgart 1977, S. 197 ff
4 Ergänzende Betrachtung
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Krieg möglichst weit von den eigenen Grenzen entfernt zu halten (vgl. Karthago). Grundsätzliche Überlegungen zu Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung trifft er hierbei nicht. 4.2 Hintergrund: Französische Revolutionskriegführung Der Schweizer Kriegstheoretiker Antoine Henry Jomini (1779-1869), ein Zeitgenosse von Clausewitz, der u.a. die Kriegführung Napoleons analysierte, kommt zu der Auffassung: „..., daß in der Taktik sich Angriff und Verteidigung die Waage halten“, während er in der Strategie den Angriff als „... fast immer vorteilhaft.“ bezeichnet.130 4.3 Hintergrund: Engels Militärische Schriften Für Friedrich Engels bedeutet Angriff im allgemein strategischen Sinne das Ergreifen der Initiative in einem Scharmützel, einem Gefecht, einem Treffen oder in einer regelrechten Schlacht. Dabei müsse notwendigerweise immer eine Seite mit offensiven, die andere mit defensiven Operationen beginnen. Der Angriff, so betont er, gelte allgemein als die erfolgreichere Operation. Deswegen leiteten Armeen, die in der Defensive handelten, oft offensive Operationen ein und lieferten selbst in defensiven Kampagnen offensive Aktionen. Hiermit, so führt er weiter aus, solle erreicht werden, dass die verteidigende Armee durch Wechsel von Ort und Schauplatz der Kampfhandlung die Berechnungen des Feindes störe, ihn von seiner Operationsbasis wegzieht und ihn zwinge, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu kämpfen, als er erwartet und in seinen Vorbereitungen berücksichtigt hätte, was vielleicht sehr stark zu seinen Ungunsten ausfalle.131 Die Formulierung „Angriff als die erfolgreichere Operation“ lässt hierbei eine Gedankenverwandtschaft mit den Clausewitzschen Überlegungen vom „positiven Zweck“ des Angriffs erkennen. Die Betonung der Initiative als entscheidendem Kennzeichen des Angriffs mit der Möglichkeit und wesentlichen Stärke des Angriffs, den Gegner unter für ihn ungünstigen Bedingungen zum Kampf zu zwingen findet, sich in dieser Deutlichkeit bei Clausewitz nicht. Bezüglich der Art, wie eine Verteidigung zu führen sei, erläutert Engels, dass die Geschichte der größten Schlachten der Welt zu beweisen scheine, dass die defensive Aktion, die sicherste ist, wenn die angegriffene Armee eine genügend feste und hartnäckige Ausdauer besitze, um ungebrochen Widerstand zu leisten, bis sich Erschöpfung und Depression beim Angreifer einstellten, und sie 130
Vgl. Antoine Henry Jomini: Abriß der Kriegskunst. Übersetzt und erläutert durch von Boguslawski, Berlin 1881, S. 77 f 131 Engels, Friedrich: Ausgewählte Militärische Schriften. Band I, Berlin 1958, S. 687
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dann ihrerseits zur Offensive und zum Angriff übergehen könne.132 Diese Überlegungen sind deckungsgleich mit dem Clausewitzschen Verständnis von der Bedeutung des Gegenangriffs, „dem blitzenden Vergeltungsschwert“ als dem Wesenselement einer guten Verteidigung. Zur Bedeutung von Angriff und Verteidigung im Aufstand äußert sich Engels Folgendermaßen: „Hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstandes; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feind gemessen hat.“133 Diese Überlegung hat insbesondere in den zahlreichen Aufstandsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts eine vielfache Bestätigung erfahren und zeigt, dass dem Schwächeren gerade auf Grund seiner Schwäche nur die Offensive als einzig möglicher Option verbleibt und er sich gerade wegen seiner Schwäche eine Verteidigung nicht leisten kann. Eine Vorstellung, die mit Clausewitz Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung nicht zu vereinbaren ist. 4.4 Hintergrund: Deutsche Einigungskriege Helmuth Graf von Moltke (1800-1891), der Feldherr zweier siegreicher Kriege, deren Erfolg auf kühner Offensive beruhte, formulierte seine Ansichten zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung folgendermaßen: „Meiner Überzeugung nach hat durch die Verbesserung der Feuerwaffen die taktische Defensive einen großen Vorteil über die taktische Offensive gewonnen.“134 Weiter präzisiert er, dass die Verteidigung die materiellen Vorteile auf ihrer Seite habe, während der Angriff über die moralischen Vorteile verfüge. Auf den Punkt bringt der Feldherr, seine Auffassung in der Formulierung: „Die taktische Defensive ist die stärkere Form; die strategische Offensive die wirksamere, welche allein zum Ziel führt.“135 Mit der Formulierung „Die beste Verteidigung ist der Angriff“136 macht Generalfeldmarschall Graf Alfred von Schlieffens (1833-1913) seine Haltung zum Wechselverhältnis der beiden Hauptformen des Kriegführens und Kämp-
132
Engels a.a.O., S. 688 Engels a.a.O., S. 198 Moltke: Feldherr und Kriegslehrmeister. In: Ausgewählte Werke, Berlin 1925, S. 335 135 Vgl. Oertzen, K. v.: Angriff und Verteidigung. In: Wissen und Wehr, Monatshefte, Neunter Jahrgang, Berlin 1928, S. 472 136 Vgl. Schlieffen, Graf Alfred von: Cannae. Mit einer Auswahl von Aufsätzen und Reden des Feldmarschalls sowie einer Einführung und Lebensbeschreibung von General der Infanterie Freiherr von Loringhoven, Berlin 1925, S. 281 133 134
4 Ergänzende Betrachtung
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fens deutlich. Weiter fordert er, dass der Unterlegene oder sogar nur der Unterlegene immer und überall angreifen müsse.137 4.5 Hintergrund: I. Weltkrieg General Friedrich von Bernhardi (1849-1930) vertritt in einer Studie aus dem Jahre 1912 folgende Auffassung: „... ich bin dabei zu der Überzeugung gelangt, daß gerade im modernen Waffenkriege die Offensive die weitaus überlegene Form des kriegerischen Verfahrens ist.“138 Erich Ludendorff (1865-1935) bringt seine diesbezügliche Einstellung auf folgende Art zum Ausdruck: „... so vermag ich z.B. der Ansicht, die im Werke „Vom Kriege“ ausgesprochen ist, daß die verteidigende Form des Kriegführens an sich stärker als die angreifende ist, nicht zuzustimmen.“139 Generalleutnant Konrad Krafft von Dellmensingen (1862-1953), Gründervater der bayerischen Gebirgstruppen und Kommandeur des Deutschen Alpenkorps im I. Weltkrieges, betont mit Bezug auf die Kriegführung im Gebirge: „Der Angriff bleibt daher im Gebirge noch in höherem Grad die stärkere Form des Kampfes wie im flachen Lande.“140 Der französische Marschall Ferdinand Foch (1851-1929), der den Offensivgedanken schon beinahe zum Fetisch erhob, betont, dass allein der Angriff mit allen Mitteln den Sieg herbeiführen könne.141 Der britische General und Historiker John C. Fuller (1878-1966) verdeutlicht seine diesbezügliche Haltung folgendermaßen: „Weder die Verteidigung noch der Angriff sind ihrer Natur nach stärker oder schwächer; sie sind Wirkungen, die einander bedingen. Ob Angriff oder Verteidigung geeigneter sind, hängt immer von den Umständen ab.“142 Von Oertzen untersucht in einer Studie aus dem Jahre 1928 die Frage, inwiefern die Aussagen Moltkes d. Ä. zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung vor dem Hintergrund der Erfahrungen des I. Weltkrieges bestätigt werden könnten. Hierbei stellt er fest, dass die „Abneigung gegen die Verteidigung verhinderte, dass ihre materielle Kraft richtig bewertet wurde“, was zu einer Unterschätzung der in ihr liegenden Kraft führte.143 Er konstatiert der Ver137
Vgl. Wallach a.a.O., S. 121 Bernhardi a.a.O., S. 399 139 Vgl. Wallach a.a.O., S. 348 140 Konrad Krafft von Dellmensingen: Der Durchbruch am Isonzo. Teil I, In: Schlachten des Weltkrieges, Berlin 1926, S. 178. Krafft von Dellmensingen war Chef des Generalstabes der 14. Armee, welche im Oktober 1917 den Angriff gegen die Italiener am Isonzo führte. 141 Vgl. dazu Fuller a.a.O., S. 132 142 Fuller a.a.O., S. 78 143 Vgl. Oertzen, a.a.O., S. 474 f 138
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teidigung, insbesondere mit Blick auf „verstärkte Stellungen“, eine „außerordentliche Stärke“, betont jedoch auch, dass der Verteidiger nicht die Vorteile finden konnte, die gemäß Clausewitz mit ihr verbunden sein sollen: „Die Überraschung und der Anfall von mehreren Seiten“.144 Insgesamt betrachtet er den „alten Grundsatz von der Überlegenheit des Angriffs“ als noch immer gültig.145 4.6 Hintergrund: II. Weltkrieg Generaloberst Ludwig Beck (1880-1944) verdeutlicht seine Vorstellungen von Offensive und Defensive folgendermaßen: „Es ist bedauerlich, daß unsere militärischen Theoretiker, selbst die, welche Clausewitz für sein Verständnis der Größe Napoleons loben, den Teil seines Werkes ablehnen, in dem er zugunsten der Defensive spricht. Wenn Clausewitz zu einer Zeit, in welcher der napoleonische Offensivgedanke seine glänzendsten Erfolge gefeiert hat, trotzdem der Verteidigung den Vorzug einräumt, so geschieht es, weil er eine tragische Periode, aus der ein unbefangener Geist die verschiedensten Lehren ziehen kann, mit weitem Blick übersehen hat.“146 4.7 Hintergrund: Golfkrieg 1991 Bei Norman Schwarzkopf, dem siegreichen Feldherrn des ersten amerikanischen Golfkrieges gegen Saddam Hussein finden sich verschiedene Anmerkungen mit Bezug auf das Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung. Nach dem Aufmarsch zu „Desert Shield“, der Operation zur Verteidigung Saudi Arabiens gegen einen möglichen Angriff Saddam Husseins, beurteilte er die Erfordernisse hinsichtlich einer möglichen Bodenoffensive mit dem Ziel der Rückeroberung Kuwaits folgendermaßen: „Verteidigungsplan solide. Wie wir dem Präsidenten in der ersten Augustwoche versprochen, sind die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nun in der Lage, SaudiArabien zu verteidigen und eine Vielzahl von Gegenschlägen gegen den Irak zu führen.“147 „Mein Stab und ich waren ratlos, denn wie wir es drehten und wendeten, wir sahen keine Lösung, wie wir mit den Streitkräften, über die wir verfügten, eine siegreiche Offensive zustande bringen könnten.“148 144
Vgl. Oertzen: a.a.O., S. 477 Vgl. Oertzen, a.a.O., S. 477 146 Ludwig Beck: Studien. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Speidel, Stuttgart 1955, S. 189 147 Vgl. Schwarzkopf, Norman H.: Man muß kein Held sein. Die Autobiographie, Aus dem Amerikanischen von Hans-Jürgen Baron von Koskull und Stephen Tree, München 1991, S. 474 148 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 467 145
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„Sie als Inspekteur des Heeres sollten dem Präsidenten sagen, dass wir keinesfalls in der Lage sind, in die Offensive zu gehen, solange wir nicht mehr Streitkräfte haben.“149 „Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass wir nicht über genügend Truppen für eine Bodenoffensive verfügen.“150 „Wenn wir in die Offensive gehen müssen, brauche ich mehr Truppen.“151
Schwarzkopf macht mit diesen Äußerungen deutlich, dass er die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Kräfte zwar für eine Verteidigung Saudi-Arabiens gegen einen Angriff Saddam Husseins für stark genug hält, dass er für einen eigenen Angriff zur Rückeroberung Kuwaits jedoch ein erheblich stärkeres Kräftedispositiv für erforderlich hält. Eine generelle Schlussfolgerung hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung läst sich aus diesen Überlegungen jedoch nicht ableiten. Zum einen ist es im Kriege zumeist besser mehr Truppen zu haben als weniger und die Forderung des verantwortliche Feldherrn danach (zumal wenn jene verfügbar sind) nur allzu verständlich. In dieser Hinsicht folgt Schwarzkopf dem Clausewitzschen Gedanken von der Bedeutung der Überlegenheit der Zahl als einem der zentralen Prinzipe des Sieges. Zum anderen lässt auch der erfolgreiche Feldzugsverlauf keinen direkten Rückschluss auf die tatsächliche Notwendigkeit der gestellten Forderung zu. Die letztendlich relativ geringe Widerstandskraft der irakischen Streitkräfte lässt, aus der komfortablen ex post Betrachtung heraus, zumindest vermuten, dass auch zahlenmäßig deutlich schwächere Angriffskräfte ein ähnliches Resultat hätten erreichen können. Entscheidend ist jedoch ein anderer Punkt, der gleichzeitig deutlich macht, dass Schwarzkopf nicht so ohne weiteres, wie man es vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte, in die Reihe der Verfechter der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung einzuordnen ist. Die Verteidigung Saudi-Arabiens einerseits und die Rückeroberung Kuwaits inklusive der Ausschaltung des irakischen Bedrohungspotenzials andererseits waren fundamental unterschiedliche politische Zwecksetzungen, die wiederum völlig unterschiedliche militärische Zielsetzungen erforderlich machten. Im ersten Falle ging es um die Erhaltung des Status quo und um lediglich eine politische Zwecksetzung, nämlich die Verteidigung Saudi-Arabiens gegen einen zwar denkbaren, wenn auch nicht besonders wahrscheinlichen, Angriff des Irak. Im zweiten Fall ging es um eine aktive Veränderung des Status quo bei der drei politische Zwecksetzungen kombiniert wurden, nämlich die Verteidigung Saudi-Arabiens (wie auch im 149
Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 473 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 475 151 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 483 150
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
ersten Fall), die Rückeroberung Kuwaits sowie die Ausschaltung des irakischen Bedrohungspotenzials durch die Zerschlagung der irakischen Invasionstruppen. Dass eine ambitionierte politische Zwecksetzung i.d.R. stärkere Kraftanstrengungen erfordert als eine weniger ambitionierte sollte hierbei nicht weiter verwundern, wobei die größere Ambitioniertheit in diesem Fall nicht so sehr in der Tatsache des Angriffs sondern in der „Verdreifachung“ der politischen Zwecksetzungen zu sehen war. Dies jedenfalls kann als Resultat einer zeitpunktbezogenen Betrachtung auf der kurzen Zeitachse gesehen werden. Eine interessante Perspektive eröffnet sich bei einer Langfristbetrachtung dieser Frage: Eine Verteidigung Saudi-Arabiens und der kleineren Golfstaaten gegen einen potenziellen Angriff des Irak auf unbestimmte Zeit (das heißt über Jahre oder Jahrzehnte) sicherzustellen war auf der langen Zeitachse betrachtet eine möglicherweise schwierigere Zielsetzung, die mehr Kraftanstrengungen erfordern würde als die einmalige angriffsweise Ausschaltung des irakischen militärischen Bedrohungspotenzials. Diese wurde 1991 eingeleitet und mit der amerikanischen Intervention 2003 vollendet. Insofern kann der Angriff in diesem Zusammenhang, in Übereinstimmung mit Clausewitz, als die entscheidendere Form des Kriegführens mit dem „positiven Zweck“ bezeichnet werden, während er gleichzeitig, dies jedoch im Gegensatz zu Clausewitz, als die „leichtere“ und damit stärkere Form des Kriegführens anzusehen wäre. 4.8 Hintergrund: Cyber War Vor dem Hintergrund des Kampfes um Informationsüberlegenheit und der Einbeziehung des elektromagnetischen Spektrums und elektronischer Kommunikationssysteme in die Kriegführung stechen insbesondere die Vorteile und Stärken, die der Angreifer („Cyber Attacker“) gegenüber dem Verteidiger („Defender“) auf diesem Feld besitzt, hervor. Der Hauptvorteil des „Cyber Attackers“ kann hierbei in dessen Entscheidungshoheit über die Angriffsmethoden und die zu treffenden Schwachstellen des Gegners gesehen werden, die er gemäß seiner übergeordneten Zielsetzug entsprechend frei wählen kann. Der Verteidiger hingegen muss ständig auf alle denkbaren Möglichkeiten eines Angriffs eingestellt sein, wobei die Vielzahl verwundbarer Stellen und die Vielfalt denkbarer Angriffsmethoden eine Verteidigung, welche beständig versucht auf alles vorbereitet zu sein, sehr leicht zu praktischer Ineffizienz verurteilen kann. Zwei weitere Aspekte unterstreichen die besondere Stärke des Angreifers im Bereich der Cyber-Kriegführung. Zum einen ist ein Cyberangriff nicht mit den menschlichen, materiellen, moralischen und legitimativen Risiken verbunden, die in der Regel mit einem Angriff durch militärische Streitkräfte einhergehen. Zum anderen ist der „Cyber Attacker“ in der Regel nicht direkt fassbar und häufig noch nicht
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einmal erkennbar. Beide Aspekte in Kombination bedeuten, dass ein Cyberangriff viel leichter unternommen werden kann, erheblich geringeren Risiken ausgesetzt ist (auch im Falle eines Scheiterns) und seine Basis sich einer Fassbarkeit und damit der Möglichkeit zu ihrer Ausschaltung weitgehend entzieht. Dass das Stärkeverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung im Bereich der Cyberkriegführung natürlich in starkem Maße vom Stand der technologischen Entwicklung abhängig und damit grundsätzlich wandelbar ist, bedarf keiner weiteren Erklärung. 4.9 Hintergrund: Schach Der langjährige Schachweltmeister Garri Kasparow betont in seinem Werk „Strategie und die Kunst zu leben“ dass er seine besten Erfolge seiner Angriffshaltung zu verdanken habe und dass Aggressivität in vielen Lebensbereichen ähnlich erfolgreich sei wie im Schach.152 Hierbei hebt er insbesondere die Bedeutung der Initiative hervor, die es zu ergreifen und durch Druck und Drohung in Gang zu halten gelte. Die Vorteile des Agierens (dem Gegner einen Schritt voraus zu sein) erkennt er insbesondere in der Möglichkeit, den Spielfluss zu kontrollieren, wodurch die Züge des Gegners beschränkter und damit vorhersagbarer würden. Dadurch ließen sich eine bessere eigene Position aufbauen und Schwächen des Gegners provozieren, wodurch jener, da er gezwungen sei die entstandenen „Löcher zu stopfen“, aus dem Gleichgewicht gebracht werden könne. Weiter weist Kasparow darauf hin, dass man in der Defensive eher einen Fehler machen würde als im Angriff, da derjenige, der das Geschehen selbst bestimme mehr Handlungsoptionen besitze und sein Schicksal fester im Griff habe, was gleichzeitig positive moralische Kräfte freisetzen würde. Kasparow verdeutlicht einen interessanten Zusammenhang, indem er darauf verweist, dass in einem veränderlichen Umfeld und mit zunehmendem Tempo des Agierens der Vorteil der Initiative sich immer stärker der angreifenden Seite zuwende. Über das Feld des Schachspiels hinausgehend betont er, dass in der heutigen „beschleunigten High-Tech-Welt“ die Verteidigung an Bedeutung eingebüßt habe und der Angriff einträglicher geworden sei. Ohne die Risiken eines Angriffs zu verkennen, hebt er insbesondere die Risiken des nicht Agierens, Abwartens und „Nichtangreifens“ hervor. Mit Blick auf die militärische Ebene betont er, dass (auf Grund des technischen Fortschritts) die Kunst der militärischen Verteidigung heutzutage fast obsolet geworden sei, und es daher insbesondere darauf ankäme als erster zuzuschlagen und das möglichst hart. 152 Kasparow, Garri: Strategie und die Kunst zu leben. Von einem Schachgenie lernen, München 2008, S. 225 - 239
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4.10 Hintergrund: Terrorismus, das offensive Kampfmittel des Schwache Wie kein anderes Ereignis verdeutlichen die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 auf die Machtzentralen der einzig verbleibenden Supermacht, die enormen Möglichkeiten offensiver Methoden der Gewaltanwendung. Selbst schwächste Einzelakteure können durch dieses Offensivmittel eine Stärke und Handlungsreichweite entwickeln, die ansonsten nur Staaten und deren Streitkräften zur Verfügung steht. Bezeichnend ist, dass es gerade die Schwäche dieser Akteure ist, die sie zum Mittel des terroristischen Angriffs greifen lässt. Auf Grund ihrer Schwäche sind sie zu keiner anderen Kampfesweise fähig. Dies gilt insbesondere für jede Form der Verteidigung, da es hierzu notwendig wäre, Position zu beziehen und sich damit fassbar zu machen. Nichtfassbarkeit stellt die einzig wirksame „Verteidigung“ terroristischer Akteure dar und wird somit gleichsam zum entscheidenden Kriterium der Bestimmung des asymmetrischen Momentums aktueller Konfliktszenare. Kriegstheoretisch betrachtet, handelt es sich um das Phänomen eines Angriffs aus Schwäche durch einen Akteur, für den Angriff in Form terroristischer Anschläge nicht nur die stärkere sondern auf Grund seiner Schwäche, auch die einzig mögliche Form der Auseinandersetzung ist. Die besondere Stärke dieses „Offensivmittels“ ergibt sich dabei wesentlich aus seiner destruktiven, auf Zerstörung und die Verbreitung von Angst und Schrecken ausgerichteten Zielsetzung. Damit werden sämtliche Glieder und Elemente eines Akteurs - im Falle eines Staates die gesamte Bevölkerung, staatlichen Institutionen, Infrastruktur, Gesellschaftsordnung und psychisch moralische Verfasstheit einer Nation - zum potenziellen Angriffsziel. Schutz-/ Verteidigungsmaßnahmen gegen eine solche Art der Bedrohung sind nur in begrenztem Umfang möglich und erfordern einen Kräfte- und Mittelansatz, der mit dem Aufwand für die Durchführung von Terroranschlägen in keinem Verhältnis steht. Die Verteidigung wird hierbei, auf Grund des enormen Kräfte- und Mitteleinsatzes, den sie erfordert und der Unmöglichkeit sämtliche verwundbare Stellen schützen zu können, zur eindeutig schwächeren Form der Auseinandersetzung. Aus diesem Grund erfordert auch die „Bekämpfung“ von Terrorakteuren eine starke aktiv-offensive Komponente, um den terroristischen Kreislauf aus ideologischer Indoktrinierung, Rekrutierung, Planung, Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen frühzeitig erkennen und bereits im Vorfeld unterbrechen zu können. Sowohl für den Terrorakteur als (bis zu einem gewissen Grad) auch für seinen „Bekämpfer“ wird damit die Offensive zur stärkeren Form der Auseinandersetzung.
5 Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
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Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
Als wichtigste Ergebnisse dieses Kapitels sind insbesondere fünf Punkte festzuhalten: Erstens: In der Frage hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung bestehen in der Fachwelt zum Teil sehr unterschiedliche, bisweilen auch völlig gegensätzliche Ansichten. Das gilt selbst für militärisch/strategische Denker und Führer ein und derselben Epoche mit gemeinsamem Erfahrungshintergrund. Besonders augenfällig wird dies, wenn man die diesbezüglich völlig gegensätzlichen Vorstellungen Napoleons mit denen von Clausewitz vergleicht. Trotz identischem Erfahrungshintergrund gelangten beide zu völlig unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich des Wechselverhältnisses von Angriff und Verteidigung. Zweitens: Obwohl sich alle drei hier betrachteten Autoritäten mit der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung Gedanken befassten und sich dazu auch äußerten, ist in keinem Fall ein systematisch theoretischer Ansatz zur Klärung dieser Frage auf der Wesensebene erkennbar. Es kommt daher Clausewitz der Verdienst zu, sich als erster systematisch und umfassend mit dieser Frage auseinandergesetzt und eine Beantwortung derselben auf der Wesensebene angestrengt zu haben. Drittens: Sowohl bei Friedrich II. als auch bei Napoleon ist eine sehr große Übereinstimmung ihrer jeweiligen theoretischen Vorstellungen mit der Praxis ihrer Kriegführung erkennbar. Dies unterstreicht die Bedeutung zutreffender Theorien für die militärische Praxis, verdeutlicht aber auch die Relevanz praktischer Erfahrung für die Theoriebildung. Viertens: Was die Begründung ihrer jeweiligen Thesen anbelangt, sind in den hier betrachteten Fällen einzelne argumentative Übereinstimmungen erkennbar. So weisen beispielsweise alle drei untersuchten Autoritäten auf die moralische Überlegenheit des Angriffs hin. Fünftens: Insgesamt macht das Ergebnis deutlich, dass hinsichtlich der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens, erheblicher Klärungsbedarf besteht und eine umfassende theoretisch fundierte Problematisierung dieser Fragestellung ihrem Wesen nach geboten erscheint.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Tabelle 4: Vergleichende Gesamtübersicht: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung SunTsu
FriedrichII.
Napoleon
Clausewitz
1.
Initiative
2.
Entscheidung erzwingen Überraschung
3. 4. 5. 6. 7.
SchwächenͲ ausnutzung Moral Konzentration Zahl Kosten
Qualitätder Truppe 9. BewegungsͲ freiheit 10. Vermeidungfdl. Stärken 11. Abwarten
A
V
A
V
A
V
A
V
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X
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x
8.
12. Gelände 13. Stellung 14. Täuschung 15. Artillerie 16. BeistandKriegsͲ theater 17. BeistandVolk 18. Anfallvon mehrerenSeiten Ergebnis:
4:4
7:3
8:0
4:7,5
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