William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst S...
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William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst Schauspieler, bevor er selbst erfolgreich Theaterstücke und Drehbuchtexte zu schreiben begann. Seit den 70er-Jahren veröffentlicht er Jugendromane, die vielfach ausgezeichnet wurden, und ist inzwischen auch als Autor belletristischer Romane bekannt. Seine Serie ›Das Haus des Magiers‹ hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
dtv junior 70.703 Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung 3. Auflage Oktober 2004 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1992 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: ›The Bridge in the Clouds‹, erschienen 1993 bei Red Fox, a division of Random House UK Ltd. erstmals erschienen 1992 bei The Bodley Head Children’s Books © für die deutschsprachige Ausgabe: 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Ludvik Glazer-Naude Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Baskerville 11/13/14 Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany • ISBN 3-423-70714-3
Für Mary
Herbstferien im Golden Valley. Endlich kommen die Geschwister William, Mary und Alice wieder zurück nach Golden House, jenem wilden und idyllischen Ort an der walisischen Grenze, an dem Tante Phoebe und Onkel Jack leben. Und dorthin, wo auch Stephen Tyler zu Hause ist. Durch ihn konnten die Geschwister erfahren, was Magie bedeutet. Hier, in einer Umgebung voller Wälder, Moore und Geheimnisse, scheint alles denkbar und nichts unmöglich. Denn mit Vernunft lässt sich nicht erklären, wie es sein kann, plötzlich in einem Tierkörper zu stecken, so wahrzunehmen, zu fühlen und zu schmecken wie Spot, der Hund, Cinnabar, der Fuchs, und Jasper, die Eule. Schon viele Abenteuer haben William, Mary und Alice hier bestanden und lernen allmählich, mit ihren magischen Kräften umzugehen. Aber diesmal braucht der Magier ihre Hilfe in der alles entscheidenden und verzweifelten Auseinandersetzung zwischen den guten und den bösen Kräften im Golden Valley…
1 Rückkehr nach Golden House Gleich als sie zum Haus kamen, spürte Mary, dass etwas nicht stimmte. Das Haus war weiter renoviert worden und im Flügel aus dem 16. Jahrhundert fiel Licht aus ein paar Fenstern, die vorher immer dunkel gewesen waren. Außer diesen kleineren Veränderungen schien alles so zu sein wie immer. Trotzdem fühlte sie Unbehagen, als sie das Haus sah. Es dämmerte schon, als Mr. Jenkins sein Auto auf der Einfahrt zum Stehen brachte. Die Bäume stachen dunkel gegen den bewölkten Himmel ab und von den Hügeln hinter Golden Water blies ein leichter Wind. »Westwind«, stellte Mr. Jenkins fest, als er die Koffer aus dem Auto hob. »Der Winter kommt bald. Habt ihr jetzt alles? Grüßt euren Onkel und eure Tante. Ich komme nicht mit rein. Ich muss heute Abend noch zu einer Versammlung des Bauernverbandes. Und wenn ich jetzt nicht losfahre, komme ich noch zu spät. Manchmal denke ich, das ganze Leben besteht nur noch aus diesen verwünschten Versammlungen. Schön, dass ihr wieder da seid. Kommt uns doch mal besuchen, wenn ihr Zeit habt. Tschüs und macht’s gut…« Damit fuhr er in die Dunkelheit und William, Mary und Alice sahen die roten Rücklichter des Autos in einer Kurve verschwinden. Als Mary ins Haus trat, fühlte sie sich plötzlich sehr traurig, obwohl ein Feuer im Kamin brannte und aus der Küche ein köstlicher Duft nach Essen kam. »Wo seid ihr alle?«, rief Alice und lief voraus. »Hallo? Wir sind da!« Sogar Spot schien seltsam bedrückt zu sein, als er sie begrüßte, und Meg, die mit ausgebreiteten Armen hinter ihm in der Küchentür erschien, war trotz ihres freundlichen Empfangs offensichtlich nervös. »Da seid ihr ja endlich!«, sagte sie, lief geschäftig um sie herum und trocknete sich dabei die Hände an ihrer Schürze ab. »Euer Onkel kommt jeden Augenblick zurück. Phoebe musste sich leider hinlegen. Am besten stört ihr sie nicht, bis sie euch ruft. Sie fühlt sich
nicht sehr wohl…« Fröhlich plappernd bugsierte sie die Kinder zum warmen Kamin und schloss die Tür wegen der kalten Luft. Mary kam es so vor, als beobachte sie ein Theaterstück, bei dem alles glaubhaft aussehen soll, aber gleichzeitig weiß jeder, dass nichts davon wahr ist. Meg sagte, dass das Abendessen fast fertig sei, und so verzichteten die Kinder auf ihren Tee. Als sie oben in ihren Zimmern die Koffer auspackten, vertraute Mary ihre Gefühle William und Alice an. »Ich fand es schon komisch, dass Mr. Jenkins uns am Bahnhof abgeholt hat«, stimmte William zu. »Nein, das war gar nicht komisch!«, widersprach Alice. »Wenn Phoebe sich doch nicht wohl fühlt und Onkel Jack in die Stadt fahren musste! Wirklich, ihr beiden! Dauernd seht ihr überall Probleme. Ich freue mich einfach, dass ich wieder hier bin. Bis jetzt war das Schuljahr nur blöd. Ich wäre die ganze Zeit am liebsten hier gewesen.« Sie saß auf dem Boden und hatte einen Arm um Spot gelegt, der sie mit traurigen Augen ansah. »Ich bin sicher, dass irgendwas passiert ist«, sagte Mary. Sie betrachtete sich im Spiegel über der Kommode und zupfte an ihrem Pony herum. »Ist es doch, oder, Spot?«, fragte sie. Sie drehte sich um und hockte sich vor den Hund, der sie weiter schweigend anstarrte und sein ›hochmütiges‹ Gesicht aufgesetzt hatte. »Es ist doch immer schwierig, ihn zum Reden zu bringen, wenn wir gerade angekommen sind«, sagte William und setzte sich auf Marys Bett. »Erinnert ihr euch noch an das letzte Mal? Wir dachten, die Magie hätte völlig aufgehört.« »Das war nicht letztes Mal, das war in den Osterferien«, sagte Alice, »und natürlich hatte die Magie nicht aufgehört. Es lag nur an dir. Ich wusste, dass alles in Ordnung war. Das ist es immer, nicht wahr, Spot?« Sie gab dem Hund einen Kuss auf den Kopf. »Trotzdem braucht es Zeit«, beharrte William. »Es ist so, als müssten wir uns erst wieder neu an die Magie gewöhnen. Als ob wir in die richtige Stimmung kommen müssten.« »Aber da bin ich doch schon drin!«, beklagte sich Alice. »Die ganze Zeit in der Schule habe ich an nichts anderes gedacht, als wieder hier zu sein. Deshalb habe ich so schlechte Noten bekommen. Ich habe mich einfach nicht auf was anderes konzentrieren können. Es ist alles so langweilig ohne die Magie.« »Ja, ich weiß«, stimmte William zu. »Aber trotzdem müssen wir irgendwie auf eine Wellenlänge mit dem Magier kommen. Irgendwie
so was.« »Lasst euch aber nicht zu viel Zeit damit«, knurrte Spot zur Überraschung der Kinder. »Spot!«, rief Alice. »Es klappt!« Sie drückte den Hund an sich. »Ich habe dich so vermisst. Die Simpsons haben einen Welpen, die kleine Tess. Aber sie hat nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen. Sie hat nur dauernd gejault und gekratzt und war nicht sehr geduldig mit mir. Ich habe es wirklich versucht. Ich habe versucht nicht mehr zu denken… und das alles… Aber es hat nichts genutzt. Sie dachte bestimmt, ich wäre total verrückt.« »Nicht alle Tiere sind wie wir«, sagte Spot verächtlich. »Du kannst nicht erwarten, dass jeder Welpe sofort mit dir redet. Wir sind es, die anders sind. Wir sind es, die sprechen.« »Wir auch«, beharrte Alice. »Wir sprechen auch mit euch.« »Tiere können die Menschen schon seit Ewigkeiten verstehen«, erklärte er. »Aber die Menschen haben sich bis jetzt nie die Mühe gemacht, uns zuzuhören. Das ist der Unterschied.« Er stand auf und im Hinauslaufen sagte er: »Ich bin gleich wieder da!«, und verschwand die Treppe hinunter. »Nein! Warte mal, Spot!« William lief hinter ihm her. »Geh nicht weg! Wir müssen furchtbar viel bereden…« »Was schreist du denn so?« Jack stand plötzlich vor ihm auf dem Treppenabsatz. »Tut mir Leid«, sagte er und folgte William in das Zimmer der Mädchen. Er war außer Atem, als wäre er die Treppe hinaufgerannt. »Ich musste in die Stadt fahren. Ich dachte, Phoebe hätte euch abgeholt – aber dieser Bazillus hat sie anscheinend doch erwischt.« Er drückte Mary an sich und hob Alice vom Boden hoch, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Es ist schön, euch wieder hier zu haben! Gott sei Dank war Mr. Jenkins zu Hause. Wenn Meg ihn nicht erreicht hätte, würdet ihr immer noch am Bahnhof in Druce Coven hocken!« »Wie hat sie das geschafft?«, fragte William plötzlich. »Wer hat was geschafft?«, fragte Jack und nahm William auch in den Arm. »Wie hat Meg Mr. Jenkins bitten können uns abzuholen? Wenn du schon in der Stadt warst?« »Ah! Das große Ereignis! Natürlich, ihr wisst ja gar nichts davon. Na, was sagt euch 314?« »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Onkel Jack«, sagte Alice und unterdrückte ein Gähnen. Die Reise war lang gewesen. Ma-
ry und sie waren von London gekommen und hatten in Bristol umsteigen müssen. Und als sie in Druce Coven ankamen, erfuhren sie, dass Williams Zug aus Manchester Verspätung hatte. Sie mussten fast eine halbe Stunde in Mr. Jenkins Auto auf ihn warten. Alice war hungrig und müde. Sie wollte ihr Abendessen und dann ins Bett. »Kommt schon! Denkt nach!«, sagte Jack. »314. Was ist das?« »Irgendeine Nummer«, sagte Mary und versuchte nicht allzu gelangweilt zu klingen. Sie hatte vergessen, dass Jack sie manchmal gerne wie kleine Kinder behandelte. »Und wofür ist eine Nummer gut?« »Ihr habt Telefon«, sagte William. »Brillant, William! Du hast offenbar die Intelligenz der gesamten Familie geerbt!« »Onkel Jack! Bitte!«, sagte Mary, als spräche sie mit einem einfältigen Kind. Dann fügte sie hinzu: »Das ist aber eine ziemlich kurze Nummer. Bist du sicher, dass es nicht noch mehr Zahlen gibt?« »Jede Menge!«, sagte Jack. »Es gibt ja noch die ganze Vorwahl – aber die kann ich noch nicht auswendig. Immerhin haben wir endlich Telefon. Letzte Woche wurde es angeschlossen. Und niemand hat uns seitdem angerufen – nicht eine Menschenseele! Wir sitzen da und starren das Ding an, damit es endlich klingelt… und nichts passiert!« »Das liegt vielleicht daran, weil niemand weiß, dass ihr Telefon habt«, sagte William. »Sicher«, sagte Jack lachend, »damit könnte es zu tun haben. Ach, ich freue mich, dass ihr wieder da seid! Wir haben euch wirklich vermisst.« »Wir sind aber nicht lange hier«, seufzte Alice. »Die Herbstferien sind viel zu kurz.« »Macht nichts. Eine Woche ist besser als nichts.« »Eigentlich sind es sogar zwei«, sagte Mary. »Noch besser! Also – Abendessen in fünf Minuten! Meg hat heute gekocht…« »Ist Phoebe sehr krank?«, fragte Mary. »Nein«, antwortete Jack fröhlich. Dann runzelte er die Stirn. »Es ist nur ein Bazillus, glaube ich. Sie wird im Nu wieder gesund sein, jetzt, da ihr wieder hier seid. Kommt gleich runter, wenn ihr fertig seid.« Jack ging hinaus auf den Treppenabsatz und die Kinder hörten,
wie er mit Spot sprach, als sich die beiden auf der engen Wendeltreppe aneinander vorbei drückten. Einen Augenblick später sprang der Hund ins Zimmer. Er trug etwas im Maul, das im Schein der Lampe glitzerte. »Das war knapp!«, rief er und ließ den Gegenstand vor Mary auf den Boden fallen. »Gut, dass Jack das hier nicht gesehen hat, sonst hätte er wissen wollen, woher ich es habe.« »Das Pendel!«, rief Mary und hob ein Stück pures Gold an einer dünnen Kette auf. Der Magier hatte es ihnen in den Sommerferien überlassen und sie hatten es Spot zur sicheren Verwahrung gegeben, als sie wieder zur Schule gehen mussten. »Seht mal! Es ist das Pendel des Magiers. Wo hattest du es versteckt, Spot?« »Ich verrate meine Verstecke nie!«, erwiderte Spot. »Wenn man das ein Mal tut, dann sind sie nichts mehr wert.« »Wie geht es Mr. Tyler?«, fragte William. Als er das Pendel in Marys Hand sah, spürte er ein aufgeregtes Kribbeln. »Weiß ich nicht«, gestand Spot. »Wir haben ihn nicht gesehen, seit ihr letztes Mal hier wart.« »Er wird sich bestimmt zeigen, jetzt sind wir ja wieder da«, sagte Alice. »Das hoffe ich«, grollte der Hund leise. »Wir brauchen ihn im Moment wirklich dringend. Jasper wird später zu euch kommen. Das soll ich euch von ihm sagen.« »Was ist mit Cinnabar?«, fragte William erwartungsvoll. »Weiß er, dass wir hier sind?« »Wahrscheinlich. Jasper wird die Neuigkeit schon im Wald verbreitet haben«, sagte Spot. »Aber jetzt ist keine gute Zeit für Füchse. Die Jäger treffen sich bald. Er muss vorsichtig sein!« »Was ist passiert, während wir weg waren, Spot?«, fragte Mary. »Ich habe das schreckliche Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmt.« »Es sind die Menschen«, erklärte Spot. »Welche Menschen?« William war plötzlich besorgt. »Jack und Phoebe.« »Was ist mit ihnen?«, fragte Mary. »Sie mögen sich nicht mehr«, knurrte Spot, aber bevor sie noch weiter fragen konnten, schlich er mit eingeklemmtem Schwanz aus dem Zimmer.
2 Rindfleischeintopf Als die Kinder in die Küche herunterkamen, rührte Meg in einem Topf auf dem Herd und Jack breitete ein Tuch über den Tisch. »Wo ist Stephanie?«, fragte Mary, als sie das leere Laufgitter sah. »Sie ist oben bei ihrer Mutter«, antwortete Meg, ohne sich umzusehen. »Aber sie ist doch sicher noch nicht ins Bett gegangen?«, fragte Jack. »Ich habe sie vor einer halben Stunde nach oben gebracht«, erwiderte Meg. Jack runzelte die Stirn. »Nein, ich meinte Phoebe. Kommt sie nicht zum Essen herunter?« »Das weiß ich nicht. Ich bin nach oben gegangen, um nach ihr zu sehen, und da hat sie mich gebeten das Baby heraufzubringen. Das habe ich auch getan. Mehr weiß ich nicht.« »Aber wenn Stephanie jetzt schon schlafen soll, dann ist sie wieder die halbe Nacht wach und brüllt das Haus zusammen. Du weißt doch, wie sie in letzter Zeit gewesen ist.« »Sie bekommt wohl die ersten Zähne«, sagte Meg. »Babys sind ja eigentlich ein Rätsel für mich, aber ich lerne schnell!« »Ja, ich weiß, dass sie Zähne bekommt – aber trotzdem!«, fuhr Jack sie an. »Wenn sie wenigstens einen Teil der Nacht durchschlafen soll, dann ist es doch Blödsinn, sie so früh ins Bett zu stecken.« »Erzähl das Phoebe«, sagte Meg genauso hitzig wie Jack. »Ich halte mich da raus. Ich bin nicht die Mutter.« Jack seufzte und ging zur Tür. »Könnt ihr den Tisch zu Ende decken?«, fragte er die Kinder. »Ich bin gleich wieder da.« Und er warf die Tür hinter sich zu. Meg blickte bei dem Knall über ihre Schulter und ging in die Vorratskammer. Sobald sie allein waren, schnitt William eine Grimasse, als ob er seinen Schwestern sagen wollte sich besser aus allem herauszuhalten. Aber die Warnung wirkte nicht auf Alice. »Warum sind alle so böse, Meg?«, fragte sie und legte Messer und Gabeln zu jedem Platz am Tisch.
»Du musst dir deswegen keine Sorgen machen, Herzchen«, sagte Meg und trug ein Brett mit einem Brot zum Tisch. »Aber was ist mit Phoebe los?«, fragte Mary. Meg blickte sie an und zog die Augenbrauen hoch, aber sie sagte nichts. »Onkel Jack meinte, sie hätte einen Bazillus«, half William nach. »Ich hoffe, es ist nicht ansteckend«, sagte Alice und stellte Salz und Pfeffer auf den Tisch. »Ich will keinen Bazillus – nicht wenn wir nur so kurz hier sind.« »Was gibt’s zu essen, Meg?«, fragte William und kniete sich wieder vor den Schrank. »Welche Teller brauchen wir?« »Eintopf, Herzchen. Rindfleischeintopf«, antwortete Meg. Alice drehte sich mit offenem Mund herum. »Rindfleisch?«, sagte sie. »Aber wir essen hier nie Fleisch!« »Also heute Abend schon. Das hat Phoebe so geregelt.« »Aber sie ist ein Gemüseesser!«, sagte Alice entrüstet. »Gemüseesser mögen kein Fleisch.« »Ich tue nur, was man mir aufgetragen hat, Herzchen. Ich sollte das Rindfleisch aus der Vorratskammer holen und einen Eintopf damit kochen, und das habe ich getan.« »Aber – woher kommt das Fleisch?«, fragte William erstaunt. »Vom Metzger, Herzchen. Woher denn sonst?« »Du meinst, Phoebe hat es gekauft?« »Ich glaube nicht, dass sie es geschenkt bekommen hat!« »Aber das verstehe ich nicht«, rief William. »Sie kauft niemals Fleisch.« »Nein, aber jetzt hat sie es getan. Natürlich wird sie es nicht selbst essen. Sie konnte sich auch nicht dazu durchringen, es zu kochen. Das ist vielleicht der Grund, warum sie sich ins Bett gelegt hat. Allein der Gedanke, dass rohes Fleisch im Haus ist, war zu viel für sie.« »Aber wenn es sie krank macht – warum kauft sie es dann erst?«, fragte William. »Wir sind doch an ihr vegetarisches Essen gewöhnt. Wir mögen es sogar gerne.« »Das müsst ihr sie selber fragen. Es geht mich nichts an. Ich mache hier nur meine Arbeit.« Es folgte eine bedrückende Stille. Meg hatte ihnen den Rücken zugekehrt und stach mit einem Messer in die Pellkartoffeln, um zu sehen, ob sie schon gar waren. »Oje, Meg!«, seufzte Mary nach einer Weile. »Ich will dir ja nicht
auf die Nerven gehen, aber ich kann kein Fleisch mehr essen.« »Wieso kannst du das nicht?« Meg drehte sich verwundert um. Mary zog die Schultern hoch. »Mir wird schlecht davon«, antwortete sie. »Ich weiß nicht genau, warum. Mir ist jetzt schon ein bisschen komisch, wenn ich nur daran denke.« »Seit wann denn das?«, wollte Meg wissen und klang schon wieder ärgerlich. »Also eigentlich, seitdem wir hierher kommen«, sagte Mary nervös. Es sah Meg gar nicht ähnlich, so mürrisch zu sein. »In dem Fall musst du eben mit Eiern zufrieden sein. Mit Gemüse und Eiern. Überspannter Unsinn!« Damit humpelte sie zur Vorratskammer zurück. »Kann ich auch Eier haben, Meg?«, rief Alice. Sie warf Mary einen bedrückten Blick zu. »Du kannst essen, was du willst!«, fuhr Meg sie an. Dann drehte sie sich zu William um. »Und ich vermute, du möchtest dasselbe?« William schüttelte überrascht den Kopf. »Nein, ich habe nichts gegen Eintopf«, sagte er verunsichert. »Das ist aber wirklich nett von dir! Sehr entgegenkommend. Ich muss schon sagen!«, schimpfte Meg. Zum Erstaunen der Kinder warf sie den Topflappen, den sie in der Hand hielt, einfach hin und humpelte zur Tür. »Ich gehe in mein Zimmer«, sagte sie. »Dieser ganze Aufruhr! Das bin ich nicht gewöhnt!« Sie schimpfte immer noch vor sich hin, als sie aus der Küche ging. »Mist!«, rief Alice, als sie allein waren. »Was ist hier eigentlich los?«, fragte William. Mary runzelte die Stirn. »Es muss was damit zu tun haben, was Spot gesagt hat. Dass Jack und Phoebe sich nicht mehr mögen.« »Ich verstehe sowieso nicht, wie er sie überhaupt mal mögen konnte«, verkündete Alice. »Das ist nicht fair, Alice!«, sagte Mary. »Sie ist schon in Ordnung. Sogar du mochtest sie doch schließlich.« »Kann sein«, sagte Alice gleichgültig. »Aber… was ist dann hier los? Warum haben alle so schlechte Laune? Wo ist Spot? Er kann es uns sagen.« Der Hund war nicht mit ihnen in die Küche gegangen, und als sie nach ihm in der Halle suchten, war er nirgendwo zu sehen. »Meint ihr, ich soll mich bei ihr entschuldigen?«, fragte Mary, als sie wieder in die Küche kamen. Sie ging zum Herd, um sich aufzu-
wärmen. »Für was?«, fragte Alice. »Dafür, dass ich keinen Eintopf essen wollte.« »Ich werde mich nicht entschuldigen.« »Ich verstehe nicht, warum du keinen Eintopf isst, Alice«, sagte William. »Du bist keine Vegetarierin.« »Bin ich doch, wenn ich hier bin.« »Ich hoffe, sie lassen sich nicht scheiden«, bemerkte Mary und rieb die Hände über dem heißen Herd. Dann schauderte sie zusammen. »Mir ist plötzlich so kalt!« Einen Augenblick lang waren alle still und dachten darüber nach, was Mary gerade gesagt hatte. »Wie können sie sich denn scheiden lassen?«, fragte Alice. »Sie sind ja noch nicht mal verheiratet.« »Du weißt, was ich meine…«, erwiderte Mary nachdenklich. »Aber warum dieser ganze Zirkus mit dem Fleisch für uns?«, wunderte sich William. »Ach, darauf kommt es doch gar nicht an, William«, beklagte sich Mary. »Du hältst dich immer mit den unwichtigen Dingen auf.« »Es ist nur… Es passt überhaupt nicht zu Phoebe. Ich meine, auch wenn Jack und sie nicht gut miteinander auskommen, erklärt das nicht, warum sie plötzlich loszieht und Fleisch kauft. Das ist gegen ihre Grundsätze.« »Wenn sie sich trennen«, fragte Alice aus heiterem Himmel, »was passiert dann mit Golden House?« »Weiß ich nicht«, sagte William. Dann wurde er nachdenklich, als ihm die Tragweite dessen bewusst wurde, was Alice gerade gesagt hatte. »Sie würden das Haus verkaufen, nicht wahr?«, sagte Mary leise und blickte die anderen beiden an. »Nicht unbedingt«, warf Alice schnell ein. »Vielleicht würde ja einer von ihnen hier bleiben.« »Wer denn?«, fragte Mary. »Jack würde bestimmt nicht allein hier wohnen. Und Phoebe mit Sicherheit auch nicht. Sie hasst das Haus.« »Nein, tut sie nicht«, protestierte Alice. »Sie liebt es. Das hat sie mir gesagt.« »Ja gut, aber sie würde nicht ganz allein hier bleiben wollen, oder?«, sagte Mary. »Und wenn sie ginge, dann würde sie Stephanie mitnehmen. Sie bekommt wohl eher das Sorgerecht für das Kind -
Jack könnte sich ja auch gar nicht um Stephanie kümmern.« »Er hätte jedenfalls ganz schön zu tun, sie durchzufüttern, so viel steht fest!«, sagte Alice feierlich und fing fast an zu kichern. »Ach, halt die Klappe, Alice!«, fuhr William sie an. »Das hier ist ernst. Wenn sie Stephanie mitnehmen würde – was heißt das dann für den Plan des Magiers?« »Wie sollen wir das wissen?«, fragte Mary. »Er hat uns nie wirklich erklärt, was sein Plan ist.« »Aber unsere erste Aufgabe war, dabei zu helfen, dass Stephanie geboren wurde. Wir wissen auch, dass der Magier einen Erben in unserer Zeit will und dass Phoebe eine echte Tyler ist, obwohl sie jetzt Taylor heißt. So viel wissen wir«, sagte William, »aber wohin führt uns das? Was soll das alles heißen? Ich hoffe, ihr versteht es, denn für mich ist es ein völliges Rätsel.« »Wir fragen einfach den Magier.« Alice war ganz aufgeregt. »Er erklärt uns alles, wir müssen ihn bloß fragen.« »Spot sagt, er ist seit Ewigkeiten nicht hier gewesen«, sagte William bedrückt. »Und nachdem wir den Vertrag zwischen Lewis und Crawden gerettet hatten… war er auch nicht mehr zu uns gekommen. Obwohl wir ihn damals dringend gebraucht hätten. Wenn ihr darüber nachdenkt, dann haben wir ihn das letzte Mal im Tunnel hinter dem Wasserfall gesehen, und sogar da hat er uns nicht genau gesagt, was wir tun sollen.« »Das hätte er vielleicht schon getan, wenn wir ihm die richtigen Fragen gestellt hätten«, sagte Mary nachdenklich. »Das Problem ist, dass einem die wirklich wichtigen Fragen immer erst hinterher einfallen. Wie jetzt. Wir wollen ihn sehr viel fragen, weil jede Menge passiert ist, was wir verstehen müssen.« »Vielleicht ist er deshalb überhaupt durch die Zeit gereist«, sagte William. »Wir wissen, dass man die Vergangenheit nicht verändern darf, aber vielleicht kann man die Gegenwart beeinflussen, wenn man die Zukunft kennt.« »Aber wenn du die Gegenwart änderst, dann veränderst du doch auch die Zukunft«, sagte Mary. »Und wäre es nicht genauso gefährlich, die Zukunft zu verändern wie die Vergangenheit?« »Ich weiß es nicht«, gab William zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich habe euch doch gesagt, ich kann keine einzige Frage beantworten.« »Es gibt nur einen, der das kann«, sagte Mary, »und das ist der Magier.« Dann fügte sie bitter hinzu: »Aber er ist nie da, wenn wir
ihn brauchen.« »Also?«, fragte Alice. »Wie du am Ende der Sommerferien gesagt hast, Mary – dann müssen wir eben zu ihm gehen.« »Das haben wir doch schon alles versucht«, stöhnte William. »Wir wissen nicht, wie!« »Vielleicht hilft uns das hier«, sagte Mary und holte das Pendel des Magiers aus ihrer Hosentasche. Sie starrten nachdenklich auf das Stück Gold, das von der Kette in Marys Hand baumelte. »Wisst ihr«, sagte William bedrückt, »nach allem, was wir erlebt haben, und nach allem, was wir getan haben, fühle ich mich kein Stückchen weiter als an dem Tag, an dem wir die Stufen im Kamin entdeckt haben. Wir wissen immer noch nicht genau, warum wir all das tun mussten, was wir getan haben. Wir kennen immer noch nicht den Grund oder den Zweck… für irgendetwas.« »Außer für die Rettung der Dachse«, sagte Alice. »Damals war es klar gewesen, warum wir das tun mussten. Aber das war ja sowieso unsere Idee… Die Dachse gehörten eigentlich nicht zu Mr. Tylers Plan, oder?« »Er hat ihnen doch geholfen!«, warf Mary ein. »Aber Golden Water vor den Immobilienhaien zu retten – worum ging es da eigentlich?«, fragte William. »Ich habe seitdem so oft darüber nachgedacht, aber ich habe keinen blassen Schimmer, warum es für ihn so wichtig war. Okay, wir wollten nicht, dass die Gegend ruiniert wird – aber warum sollte ihm das etwas ausmachen? Er ist seit vierhundert Jahren tot! Ich bin sicher, dass das Land in vierhundert Jahren völlig anders aussieht – aber das heißt doch nicht, dass ich versuche etwas dagegen zu tun. Warum tut er das also?« »Weil er ein Magier ist – und du nicht«, sagte Mary. Dann fuhr sie nachdenklich fort: »Du könntest gar nichts machen, auch wenn du das wolltest. Aber er kann es. Und es muss einen Grund dafür geben – es muss einfach!« »Also ich wünschte, er würde ihn uns einfach sagen«, seufzte Alice. »Es macht mir nichts aus, mein Leben zu riskieren, aber ich wüsste schon gerne, warum.« Dann kicherte sie wieder. »Es ist so anstrengend, dauernd die Heldin zu spielen!« »Wenn Jack Golden House verkaufen würde«, sagte William, immer noch tief in Gedanken, »was würde dann wohl mit dem Land geschehen?« »Es gehört Jack sowieso nicht«, stellte Mary fest. »Es gehört
Meg.« »Meinetwegen stellt euch vor, Meg fällt tot um oder so, was passiert dann mit dem Land?« »Das hängt davon ab, wem sie es vererbt«, erklärte Mary. »Ich dachte, sie wollte es Jack vererben«, sagte Alice. »Sie hätte Four Fields uns gegeben, wenn es nicht abgebrannt wäre…« »Aber wenn Jack das Haus verkauft«, beharrte William, »was wird Meg dann mit dem Land machen? Sie könnte nirgendwo mehr leben. Sie lebt nur hier, weil sie mit Jack und Phoebe befreundet ist. Wenn sie verkaufen würden… müsste sie irgendwo anders hin. Damit sie das tun kann, braucht sie Geld, und der einzige Weg, an Geld zu kommen, wäre für sie, das Land zu verkaufen…« »Und jetzt ratet mal, wer es kaufen würde!«, sagte Mary grimmig. »Wer?«, kreischte Alice. »Was glaubst du denn, Alice?«, fragte Mary müde. »Das ist doch wohl klar.« »Der kriecherische Crawden?«, fragte Alice. »Aber dann hätten wir ja gar nichts gewonnen. Wir wären wieder genau da, wo wir angefangen haben, als diese gemeinen Männer gekommen sind, um Golden Water zu einem Vergnügungspark zu machen – oder was sie auch immer da wollten. Alles, was wir getan haben, wäre ja umsonst!« »Und Morten würde doch noch gewinnen«, sagte William. Der Name Morten hing in der Luft wie ein dunkler Schatten, aber bevor sie weiterreden konnten, kam Jack mit energischem Schritt in die Küche. »Okay!«, sagte er. »Abendessen! Phoebe fühlt sich nicht so gut, also müsst ihr bis morgen warten, damit ihr sie sehen könnt. Jetzt kümmern wir uns mal um das Essen. Dieser Eintopf ist ein Fehler, fürchte ich. Ein kleines Missverständnis…« Er holte eine Pfanne vom obersten Küchenregal. »Pellkartoffeln mit Gemüse und Spiegeleiern. Wie hört sich das an?« Mary stopfte das Pendel wieder in die Tasche und William deckte weiter den Tisch. »Alice«, rief Jack aus der Vorratskammer, »kannst du bitte Meg sagen, dass wir in fünf Minuten essen?« Jack lief geschäftig hin und her und bereitete das Abendessen vor, als wäre nichts geschehen. Und als Meg mit Alice zurückkam, schien auch sie ihre schlechte Laune, die sie den Kindern noch vor ein paar Minuten gezeigt hatte, völlig vergessen zu haben. Der Rindfleisch-
eintopf wurde nicht wieder erwähnt. Es war so, als hätte es ihn nie gegeben. Meg bot sofort an, die Eier für Jack zu braten, und er stimmte begeistert zu. »Phoebe möchte nur ein bisschen Brot mit Butter und Tee«, sagte er strahlend. »Ich bringe das Tablett nach oben, sobald das Wasser kocht…« Mary beobachtete die Betriebsamkeit und das fröhliche Geplapper mit wachsendem Argwohn. Es bedrückte sie und wieder kam ihr der Gedanke, dass alles wie ein Theaterstück wirkte. Ein Theaterstück, von Meg und Jack extra für William, Alice und sie in Szene gesetzt. Aber sie können keinen von uns täuschen, dachte sie. Und das Schlimmste ist, sie wissen, dass sie es nicht können. Nicht zum ersten Mal, seit sie wieder in Golden House waren, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Diesmal ist es ernst«, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf. »Diesmal wird es am schwierigsten sein.«
3 Treffen um Mitternacht Das erste Geräusch, das Mary beim Aufwachen hörte, war der Regen. Draußen goss es in Strömen. Sie hörte, wie das Wasser über ihr auf das Dach trommelte und über die Ziegel plätscherte. Zuerst glaubte sie, dass diese Geräusche sie aus dem tiefen, behaglichen Schlaf geholt hatten, in den sie gefallen war, sobald ihr Kopf das Kissen berührt hatte. Aber da war noch ein anderes Geräusch, das jetzt wieder, leise und nachdrücklich, durch den dunklen Raum drang. Es war ein seltsames, hohes Pfeifen, eines dieser bekannten Geräusche, über die man sich aber erst klar werden muss, wenn man sie unerwartet hört. Ein Geräusch, das man gut kennt, ohne ihm einen Namen geben zu können… »Jasper!«, flüsterte Mary, als sie endlich die Eule an ihrem Rufen erkannte. Sie sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und stieß es auf. Kalter Wind fuhr durch das Zimmer und peitschte ihr Regenschauer ins Gesicht und über die Haare, so dass sie im Nu bis auf die Haut durchnässt war. »Wo bist du?«, rief sie. »Jasper!« Der Nachtwind jaulte und stöhnte um das Haus und verschluckte ihre Rufe. »Was ist los?«, fragte eine schläfrige Stimme hinter ihr. »Mach das Fenster zu, Mary! Es ist eiskalt!« Mary zog den Kopf wieder ins Zimmer und schloss das kleine Gaubenfenster. Dann schüttelte sie das Wasser aus ihren Haaren und lief zum Treppenabsatz, um sich ein Handtuch aus dem Bad zu holen. »Es war Jasper«, erklärte sie. »Komm, Alice! Ich glaube, er braucht uns.« »Nicht jetzt!«, grummelte Alice. »Ich schlafe!« Aber natürlich war sie schon wach, und als Mary wieder aus dem Bad zurückkam, William geweckt hatte und sich mit einem Handtuch das Gesicht trocknete, zog Alice sich schon ihre Jeans an. »Wie spät ist es?«, wisperte sie. »Fast Mitternacht«, antwortete Mary und zog sich auch an. »Warum können wir das, was immer wir tun sollen, nicht morgen
früh tun?«, seufzte Alice. »Warum muss es immer mitten in der Nacht sein? Also, ich putze mir jetzt nicht noch mal die Zähne, das habe ich gerade erst gemacht. Also ehrlich! Ich war mitten in einem fantastischen Traum und… brrr, es ist so kalt hier!« »Sei still, Alice!«, flüsterte Mary und zog sich einen dicken Pullover über. »Du musst ja nicht mitkommen. Niemand zwingt dich. Geh doch wieder ins Bett, wenn du das lieber willst!« Aber Alice hatte nicht die Absicht, Mary ein Abenteuer ohne sie erleben zu lassen. Also folgte sie ihr auf den Treppenabsatz, wo William mit einer Taschenlampe in der Hand Sekunden später auch auftauchte. »Bist du sicher, dass du Jasper gehört hast?«, gähnte er. »Ziemlich sicher«, antwortete Mary. »Aber jetzt sind wir schon mal alle wach, da können wir genauso gut nach oben ins Geheimzimmer gehen. Tagsüber ist es ja jetzt noch schwieriger hinzugehen, weil Meg im Haus wohnt.« »Stimmt«, sagte William und ging zur Treppe. Dann blieb er wieder stehen. »Obwohl ich genau darüber nachgedacht habe. Wir sollten mit Meg reden. Sie weiß doch sowieso eher, was hier vor sich geht, als Jack und Phoebe – und sie kennt das Geheimzimmer schon, weil ihr Großvater Jonas Lewis immer Pläne vom Haus gezeichnet hat – und er hat auch alles darüber gewusst…« »Und sie hat gesagt, sie wird uns so gut helfen, wie sie kann. Im Sommer, als wir gegen die Crawdens gekämpft haben. Hat sie doch, oder?«, fügte Alice eifrig hinzu. »Sie weiß von dem Magier und sonst allem. Ich glaube, William hat Recht, sie verrät uns nicht. Sie ist unsere Freundin…« »Also heute Abend war sie nicht sehr freundlich«, sagte Mary zerknirscht. »Sie hatte eigentlich richtig schlechte Laune.« »Danach müssen wir sie auch fragen«, sagte William. »Wir müssen rausbekommen, was hier passiert ist, während wir nicht da waren.« »Können wir jetzt vielleicht bitte woanders weiterreden?«, bat Alice. »Ich erfriere noch auf der Treppe, und wenn es Jasper war, den Mary gehört hat, dann wartet er auf uns – und er hasst es, warten zu müssen.« Unter Jacks und Phoebes Schlafzimmertür drang Licht auf den Flur, und als sie auf Zehenspitzen über die Galerie schlichen, hörten sie Stephanie weinen. Jeden Moment konnte die Tür aufgehen und Jack oder Phoebe konnten herauskommen. Also rannten sie schnell
die Treppe herunter und auf den großen Kamin zu, in dem die Feuerscheite noch glühten. »Moment«, wisperte Alice, als sie an der Küchentür vorbeikamen. »Ich muss Spot holen. Er würde uns nie verzeihen, wenn wir ohne ihn gingen.« Kaum hatte sie die Tür geöffnet, sprang der Hund schwanzwedelnd hinaus. Er flitzte schnurstracks durch die Halle zu William und Mary in den Kamin, als hätte er auf sie gewartet. »Komm schon!«, drängte er und warf Alice einen Blick über die Schulter zu. »Es könnte sein, dass Meg hier plötzlich auftaucht. Sie wandert meistens die ganze Nacht umher.« Im Kamin roch es rauchig und süß nach Tanne und Apfelbaum. Jack hatte den Obstbaumschnitt aus dem Küchengarten und die Tannenzapfen aus dem Wald zum Anzünden des Feuers genommen und der Geruch hing immer noch in der Luft, obwohl die großen Scheite nicht mehr brannten. William führte sie über die Vorsprünge in der Wand zum steinernen Sims und hielt die Taschenlampe so, dass jeder von ihnen die Stufen sehen konnte. Dann schob er sich zur Rückseite des Kamins und verschwand hinter der vorstehenden Wand, wo die Stufen der Wendeltreppe im Kamin begannen. Mary folgte ihm, Spot und Alice dicht hinter ihr. William stieg zur Holztür hinauf und dann weiter bis zur Spitze des mittelalterlichen Turms in das Geheimzimmer unter den Dachtraufen des Hauses. Das Zimmer lag im Dunkeln. Als William die letzten Stufen für Alice mit der Taschenlampe beleuchtete, ging Mary an ihm vorbei und tastete sich vorsichtig durch das Zimmer. Sie öffnete die Läden des hinteren runden Fensters, durch das man den Küchengarten und die Hügel dahinter sehen konnte. Mitten in der Nacht waren sie jedoch in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Sie entriegelte das Fenster und stieß es auf. Sofort prasselte der Regen herein. Auf dieser Seite des Hauses war der Wind sehr viel stärker als auf der Seite, wo die Mädchen ihre Zimmer hatten. Er fuhr mit feuchten Böen in den Raum und schmetterte die Tür zur Treppe so heftig zu, dass das Getöse das ganze Haus erschütterte. »Mary!«, wisperte William. »Du weckst noch alle auf!« »Wen denn?«, fragte Mary und sah ihn an. »Niemand kann uns hier oben hören und außerdem habe ich es nicht absichtlich getan. Warum kommandierst du uns immer herum, William?« Als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schnappte sie
nach Luft. »Was ist denn hier passiert?« William ließ den hellen Lichtstrahl der Taschenlampe langsam durch den Raum gleiten. Mörtelbrocken bedeckten den Boden und die Balken des steilen Daches waren voller Schmutz und Spinnweben. »Was für ein Dreck!«, sagte Alice. »Eigentlich ist es doch hier oben ziemlich sauber.« »Was ist hier passiert?«, fragte Mary wieder. Williams Taschenlampe fuhr über den Spiegel in der Ecke. Er ging quer durch den Raum darauf zu. »Seht euch das an!«, sagte er und beleuchtete den Spiegel mit der Taschenlampe. »Es sieht so aus, als ob ihn jemand blank poliert hätte, während der Rest des Zimmers völlig uninteressant für ihn war.« »Nicht einfach uninteressant, William. Sieh dir doch das ganze Durcheinander an!«, stellte Mary fest. »Als ob jemand absichtlich überall Schmutz verteilt hätte.« Das stimmte. Der Boden war übersät mit der Sorte Schmutz, die sich nach Jahren unter Bodenbrettern und neben Abflussrohren sammelt. Schwarzer, schmieriger Dreck, an manchen Stellen trocken wie Staub, an anderen feucht und klebrig. »Und wie das stinkt!«, fügte Alice hinzu. Da bemerkten die beiden anderen auch einen ziemlich eigenartigen Geruch, scharf und modrig. Alice zog die Nase kraus. »Widerlich!«, sagte sie. »Was ist passiert?«, sagte William zu Spot. Der Hund war mucksmäuschenstill gewesen, seit sie in das Zimmer gekommen waren. Er stand mit hängendem Kopf da, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Als William ihn jetzt ansprach, reagierte er nicht. Er schien ihn kaum gehört zu haben. Er sah so verloren und elend aus, dass Alice zu ihm lief, sich neben ihn auf den schmutzigen Boden kniete und die Arme um ihn legte. »O Spot!«, wisperte sie. »Sei nicht traurig. Wir sind ja hier. Wir kümmern uns um dich.« Der Hund setzte sich hin und sah sie bekümmert an. »Es geht um den Magier, nicht wahr?« Marys Stimme kam aus der Dunkelheit hinter ihnen. »Etwas ist mit ihm geschehen. Er ist doch nicht…?« Sie brachte es nicht über sich, das nächste Wort auszusprechen. Sie hatte solche Angst, dass ihre Befürchtung sich bestätigen könnte. Also schüttelte sie nur den Kopf und beendete den
Satz nicht. »Ist doch nicht was?« Alices Stimme klang dünn und ängstlich. »Was meinst du damit, Mary?« Mary schüttelte wieder den Kopf. Sie hätte nur mit fürchterlich zittriger Stimme sprechen können. »Du glaubst, dass er tot ist, oder?«, wisperte Alice. »Das ist es!« »Ich weiß nicht«, erwiderte Mary ruhig. »Aber irgendwas sehr Schlimmes ist passiert. Ich wusste es sofort, als wir hier ankamen. Und jetzt sieht das Zimmer hier so aus… Wo ist überhaupt Jasper?«, sagte sie fast ärgerlich. »Wir brauchen ihn.« »Ich bin hier«, rief eine klagende Stimme. Die Kinder blickten zum offenen Fenster und sahen die große Eule auf dem Kerzenleuchter sitzen und hinaus in den strömenden Regen starren. »Wir haben dich gar nicht kommen hören«, sagte William und beleuchtete den Vogel mit seiner Taschenlampe. »Nein«, sagte Jasper. »Aber jetzt bin ich hier und ihr seid hier…« Das letzte Wort endete in einem traurigen, langen Seufzer. »Ist er tot, Jasper?«, fragte William mit zitternder Stimme. »Mr. Tyler? Ich meine, ich weiß schon, dass er es in Wirklichkeit ist, aber – in seiner Zeit – ist er jetzt gestorben?« »Noch nicht, glaube ich«, antwortete der Vogel. »Wie sollen wir das wissen?«, jaulte Spot kläglich. »Ich würde es wissen«, erwiderte die Eule. »Ich würde… es spüren. Wenn der Meister… geht… dann würde ich es… sicherlich spüren. Die Wälder werden es wissen. Merula und Falco, Lutra, Cinnabar, Bawson… die große Gemeinschaft seiner Freunde, seiner Begleiter… Du, kleiner Junge, und deine Schwestern… wir werden es alle wissen… irgendwie. Aber trotzdem glaube ich, dass sein Tod sehr nahe ist… Er wird bald sterben. Ich spüre es… Ich weiß es…« Sie schwiegen, als sie die Worte der Eule langsam begriffen. Die Wirklichkeit war schrecklicher als alles, was sie sich überhaupt vorstellen konnten. Jeder von ihnen gab sich seinem eigenen Kummer hin. Sie wollten ihn nicht miteinander teilen. Es war ein persönlicher Schmerz, für jeden von ihnen. Alice klammerte sich an Spot, der sich an sie schmiegte. Die Eule starrte weiter hinaus in die Nacht. William schaltete seine Taschenlampe aus, weniger, um Batterien zu sparen, sondern weil er in der Dunkelheit Trost suchte. Nur Mary konnte einfach nicht glauben, was sie alle dachten, obwohl sie von ihrem Kummer überwältigt war.
»Wir müssen zu ihm gehen«, sagte sie fest. »Wir müssen!.« Sie spürte, wie sich ein Gefühl von Energie und Entschlossenheit in ihr ausbreitete. »Wir wissen nicht, wie«, sagte William müde. »Wir müssen gar nicht wissen, wie, William«, sagte sie mürrisch. »Wir müssen es einfach nur wollen… genug wollen. Wir können ihn nicht sterben lassen, ganz allein in diesem Haus, und wir sind nicht bei ihm. Wir müssen ihm sagen, dass alles in Ordnung ist. Wir müssen ihm sagen, dass wir ihn nie vergessen werden. Wir müssen ihm sagen, dass er – was immer auch geschieht – eine Nachfahrin hat, die von ihm wissen wird und von all den wunderbaren Dingen, die er tun konnte. Er muss erfahren, dass wir Stephanie beibringen werden die Tiere zu verstehen und all das zu lieben, was er liebte und was er uns zu lieben gelehrt hat. Ich weiß nicht, wie, William…. Aber wir werden zu ihm gehen, weil wir müssen und weil wir wollen…. Oder wenigstens ich… ich will…« Sie schluchzte laut auf, Tränen liefen ihr über die Wangen und sie zitterte so sehr, dass sie sich gegen die Dachschräge lehnen musste, um nicht zusammenzubrechen. William ging durch den dunklen Raum langsam zu ihr, tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Also, das ist es dann wohl«, sagte er und versuchte seine Stimme fröhlich klingen zu lassen. »Wenn wir zu ihm gehen wollen, Jasper, kannst du uns dabei helfen?« Er knipste die Taschenlampe wieder an und leuchtete in die Richtung des Vogels. »Helfen?«, flötete die Eule und starrte sie blinzelnd an. »Vielleicht. Vielleicht können wir zusammen erreichen, was ihr vorhabt. Ich… weiß nicht sehr viel. Aber ich kann… manchmal… verstehen. Mit meinem Verstehen und eurem Wissen könnten wir zusammen vielleicht… das Unmögliche möglich machen. Es ist einen Versuch wert. Wir müssen die Gemeinschaft der Freunde einberufen. Dieses Vorhaben braucht die Anstrengung jedes Einzelnen von uns. Ihr habt jetzt die Leitung. Ihr drei. So wollte es der Meister. Er sagte es uns, als er uns an dem geheimen Ort getroffen hat…« »Meinst du das Treffen damals am…«, begann William, aber Spot sprang auf ihn zu und zwickte ihn in die Hand. »Au! Spot!«, rief William. »Das tut weh!« »Sprich nicht über geheime Dinge, kleiner Junge«, schrie die Eule. »Niemals. Dieser Ort ist nicht mehr sicher. Kannst du es nicht riechen?« »Was ist das für ein Geruch?«, fragte Mary.
»Der Geruch nach Verfall«, erwiderte die Eule. »Der Geruch nach Gift«, knurrte Spot. »Es riecht wie Futter, das schlecht geworden ist.« »Aber woher kommt das?«, fragte Alice. »Ratten«, antwortete Jasper. »Sie sind jetzt überall«, sagte Spot. »Jack stellt Fallen auf, aber es gibt mehr, als er fangen kann. Wahrscheinlich hören sie uns jetzt gerade zu. Könnt ihr sie nicht fühlen? Sie sind in den Wänden und unter den Dachsparren.« »Hör auf! Bitte!«, sagte Alice mit dünner Stimme. »Ich will hier nicht mehr sein. Ich hasse Ratten. Sie machen mich ganz kribbelig.« »Was ist passiert?«, flüsterte Mary. »Warum sind die Ratten zurückgekommen?« »Sie haben etwas vor, aber wir wissen nicht, was«, sagte Spot. »Ich hätte diese erste Ratte töten sollen, damals an Weihnachten. Die herumgeschnüffelt hat, als das Baby geboren wurde. Ich hätte es wirklich tun sollen, aber ich habe es nicht getan.« »Ich habe das verhindert, nicht wahr?«, sagte Alice. »Ich war in dir… Ich erinnere mich an den Geruch… Ich wusste, dass du springen wolltest… aber ich hatte solche Angst!« »Naja«, sagte Spot und stupste sie mit der Nase an, »ihr Menschen seid eben nicht daran gewöhnt, wie man mit Ratten umgeht. Ein netter, kurzer Sprung, wenn sie es nicht erwarten. Das bringt es normalerweise.« »Bitte, sprich nicht mehr darüber, Spot!«, bat Mary. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie in Jasper geflogen war, und an die Maus, die sie zum Abendessen verspeisten. »Kein Wunder, dass ich Vegetarierin geworden bin«, murmelte sie schaudernd vor sich hin. »Ist Morten hier gewesen?«, unterbrach William sie. Er hatte plötzlich eine Idee. »Ich glaube, noch nicht«, antwortete Jasper. »Also, wir müssen in seine Zeit, bevor er hierher in unsere kommt«, sagte William »Warum?«, fragte Mary. »Woran denkst du, William?« »Ich bin nicht sicher, aber ich vermute, wenn er erst einmal durch die Zeit reisen kann, wird er sehr mächtig. Und wenn der Magier wirklich krank ist, kann er ihn nicht kontrollieren…« »Also meinst du, wir müssen das tun?«, fragte Mary. »Irgendwie schon«, antwortete William. Dann blickte er sich um und fügte mit lauterer Stimme hinzu: »Wenn irgendeiner von seinen
Spionen jetzt zuhört, kann er Morten ausrichten, dass wir ihn in seiner Zeit besuchen werden, bevor er es in unsere schafft!« Die Eule blinzelte. »Nun gut«, sagte Jasper. »Ich rufe die Freunde für kurz nach Sonnenaufgang zusammen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, breitete er seine Flügel aus und schwang sich hinaus in die dunkle, regennasse Nacht. »Kommt«, sagte Mary, »wir schlafen besser noch ein bisschen. Wir müssen früh aufstehen. Diesmal habe ich auch meinen Wecker dabei.« »Aber wir können doch nicht einfach so weggehen, ohne irgendwas zu sagen«, meinte Alice. »Jack und Phoebe drehen durch, wenn wir nicht zum Frühstück kommen.« »Ist nicht zu ändern«, sagte Mary. »Dies ist zu wichtig, als dass wir uns auch noch um Kleinigkeiten kümmern könnten.« Mit einem entschlossenen Kopfnicken lief sie zur Tür und die Treppe hinunter, ohne auf William und seine Taschenlampe zu warten. »Komm, Alice!«, sagte William. Er schloss das Fenster wieder und verriegelte die Läden. »Sie hat Recht. Wir sollten ruhig noch mal ins Bett gehen, hier oben können wir sowieso nichts mehr tun. Es sieht so aus, als ob Mr. Tyler seit Ewigkeiten nicht hier gewesen ist.« Dann fügte er traurig hinzu: »Fast so, als wäre er nie hier gewesen.« »Ist er aber«, sagte Alice fest. »Wir wissen, dass er hier war – und nur das ist wichtig. Wir haben ihn gesehen. Wir wissen, dass es ihn gibt. Wir kennen seine Magie. Und… und Mary hat Recht! Wenn er nicht zu uns kommen kann, gehen wir eben zu ihm, das ist alles.« Sie verließ das Zimmer hinter William, froh über das Licht der Taschenlampe auf der dunklen Wendeltreppe.
4 Die morgendliche Versammlung Als sie den Tunnel hinter dem Wasserfall erreichten, fiel gerade das erste Morgenlicht auf die fernen Hügel und der Wald trat allmählich aus der Dunkelheit der Nacht hervor. Noch im Dunkeln hatten sie sich durch die Küchentür hinausgeschlichen, dank Spot, der sie führte, und Williams Taschenlampe, hatten sie doch den schmalen Pfad entdeckt, der vom Waldweg abbog und über den Steilhang nach Golden Water führte. In der Nähe der Eibe, deren dicke Äste das Baumhaus in ihrem Innern völlig verbargen, trafen sie Bawson, den Dachs. Er eilte zur Versammlung und begrüßte sie mit einem leisen Bellen, war aber zu schüchtern und zu nervös, um sich länger mit ihnen zu unterhalten. »Eigentlich geht er jetzt schlafen«, erklärte Spot. »Viele der Lebewesen haben ein bisschen Angst, wenn es Tag wird.« »Wovor haben sie denn Angst?«, fragte Alice, ganz atemlos vom Laufen. »Meistens vor Menschen«, grollte Spot. Dann bemerkte er, wie schwer es ihr fiel, mit seinem Tempo Schritt zu halten. Er blieb stehen und starrte sie mit heraushängender Zunge und langsam wedelndem Schwanz an. Alices Herz schlug schneller. Spots große, braune Augen schienen direkt in sie hineinzublicken. Sie streckte die Hand nach ihm aus und wollte das weiche Fell auf seinem Kopf streicheln, aber sie sah nicht ihre Hand, sondern eine Vorderpfote vor sich. Diese Pfote berührte den Boden und sie und der Hund sprangen als ein Wesen das letzte Stück des steilen Weges hinauf zu dem Stück Flachland, in das die Hügel mündeten. Das stille Ufer von Golden Water glitzerte in der Ferne schwarz und glatt unter dem Nachthimmel. »O Spot!«, flüsterte sie in ihrem Kopf. »So geht es besser. Wir Menschen können einfach nicht so schnell laufen wie du…« »Stimmt!«, sagte der Hund und sie wusste, dass er sie auslachte. Mary war schon am Ufer des Sees angekommen, als sie das raue Schwatzen von Pica, der Elster, hörte. »Wo bist du?«, rief Mary und suchte den Himmel nach ihr ab.
»Hier!«, krächzte eine Stimme in ihrem Kopf und sie fühlte, wie sie sich vom Boden in die kalte Luft erhob. »Oh!«, keuchte sie völlig überrascht. »Hör zu!«, sagte die Vogelstimme. »Ich fliege!«, wisperte sie. »Hör einfach zu!«, wiederholte die Stimme. Zuerst konnte sie nicht mehr hören als das Rausehen des Windes in den Bäumen unter ihnen. Aber plötzlich wurde die Stille von jubelndem Gesang erfüllt. Wenn man Geräusche mit fließendem Wasser vergleichen könnte, dachte Mary, dann hörte sie gerade die klare Musik eines Gebirgsbaches. »Was ist das?«, wisperte sie. »Alauda, die Lerche. Während des Sommers begrüßt sie immer als Erste die Morgendämmerung. Aber so spät im Jahr singt sie eigentlich nicht mehr. Wir leben in seltsamen Zeiten!« »Es ist herrlich!«, wisperte Mary und hörte dem fröhlichen und verzaubernden Gesang zu. »Und lecker«, sagte Pica. »Was?«, rief Mary, denn sie glaubte nicht, dass sie den Vogel richtig verstanden hatte. »Eine junge Lerche ist ein netter kleiner Imbiss«, bemerkte die Elster. Dann senkte sie die Flügel und segelte langsam einen Bogen zur Mitte des Sees. Hinter ihnen erhellte das erste Licht den Himmel im Osten und immer mehr Vögel stimmten in den Morgengesang ein. William sah Cinnabar zuerst. In den Schatten zwischen den Bäumen blitzte kurz der rotbraune Schwanz des Fuchses auf. Er lief neben dem Reitweg nach Four Fields in Richtung Ende des Sees. »Cinnabar!«, wisperte William aufgeregt. Sofort blieb der Fuchs stehen. »Zu hastig und zu unvorsichtig!«, hörte William die bekannte Stimme ausrufen. »Ich bin hier!«, rief William. »Ich weiß, wo du bist«, sagte der Fuchs fast ärgerlich. »Im Moment ist nicht die beste Zeit für eine Versammlung!« »Tut mir Leid!«, sagte William, sichtlich enttäuscht, dass ihr Treffen schon gleich mit einer Streiterei begann. »Ich mag die Morgendämmerung nicht«, erklärte Cinnabar. »Nicht diese Dämmerung. Nicht in dieser Jahreszeit.« Er blickte nervös über seine Schulter. »Die Jagd beginnt bald. Wir Füchse
müssen umdenken. Der Winter mag hart sein, aber die Hunde und die Jäger sind eine größere Gefahr.« Er trottete neben William her und sein Atem dampfte in der kalten Luft. Um sie herum sangen Vögel, das Licht wurde heller, funkelte auf dem See und färbte die Wolken rosa und violett. »Was für ein hartes Leben du hast«, sagte William traurig. »Und die Dämmerung sieht so schön aus.« »Schön?«, bellte Cinnabar. »Schönheit kann man nicht essen! Wozu soll Schönheit dann gut sein? Komm mit!«, sagte er und sprang vorwärts. »Bei dieser Geschwindigkeit sind wir noch die Letzten.« Und zusammen mit William jagte er davon zum fernen Wasserfall. Die Höhle am Ende des Tunnels war überfüllt, als Cinnabar und William hineinkamen. Sie konnten Alice neben Spot stehen sehen und auf einem vorstehenden Felsen saß Mary mit Pica auf der Schulter. Alle möglichen Vogelarten klammerten sich an Felsnasen und duckten sich in Nischen. Manche von ihnen kannten die Kinder. Da waren Merula, die Amsel, und Falco, der Turmfalke… Die Schwalben und Mauersegler hatten sich schon in wärmere Länder aufgemacht. Lutra, der Otter, war mit ein paar Enten da, Kaninchen und Marder, Bawson, der Dachs, ein paar Eichhörnchen, eine Wühlmaus… sogar eine Spinne in ihrem Netz. Sie alle kehrten dem Eingang den Rücken zu und sahen Jasper an. Die Eule saß auf einem Felsvorsprung, vor ihr war ein freier Platz. »Da bist du ja endlich!«, schrie Jasper, als William hereinkam. »Nun mach schon! Komm her! Trödel nicht rum! Wir sind alle da. Du auch, Mary! Und du, Alice! Schließlich sind wir auf euer Geheiß hier!« Er flötete ungeduldig und plusterte blinzelnd seine Federn auf. »Du gehst besser hin und stellst dich zu ihm«, wisperte Cinnabar. »Er kann sehr böse werden, wenn erwarten muss.« »Aber… aber… wir haben nicht um die Versammlung gebeten!«, protestierte William. »Ihr habt jetzt die Leitung!«, schrie die Eule. »Wenn der Meister nicht hier ist, hängt alles von euch dreien ab.« »Von uns?«, sagte Mary. »Aber wir wissen doch nichts!« Die Stockente neben ihr quakte zornig. »Ich habe noch nicht gefrühstückt«, sagte sie und beäugte einen Frosch. Wahrscheinlich hätte sie sich auf ihn gestürzt, wenn der Frosch nicht die Geistesgegenwart besessen hätte, sich rasch davonzumachen. Dann stellte sich Bawson, der Dachs, auf seine Hinterbeine.
»Sagt uns, was wir tun sollen«, brummte er. »Der Meister ist so lange nicht hier gewesen, dass wir nicht wissen, ob wir noch einmal mit ihm rechnen können oder nicht. Die Wälder sind voll seltsamer Gerüchte. Mein Volk fürchtet sich davor, dass die Fänger zurückkommen…« »Die Jagd beginnt bald«, sagte Cinnabar. »Man hat mir erzählt, dass das Wasser von Golden Spring vergiftet wird. Das habe ich gehört«, sagte Lutra, der Otter, und starrte William mit glänzenden Augen an, als ob der wüsste, ob die Gerüchte stimmten oder nicht. »Man hat mir erzählt, dass die Quellen austrocknen und es kein frisches Wasser mehr gibt, wenn noch ein heißer Sommer kommt. Was passiert dann? Was passiert mit den Fischen? Und mit uns? Uns allen? Alle Lebewesen brauchen frisches Wasser. Wasser ist Leben.« Jetzt wurden immer mehr Klagen laut. Die Vögel sagten, dass sie noch nie mit so wenig Nahrung auskommen mussten wie jetzt. Ein Marder hatte gehört, dass die Bauern Gift auslegten »…an allen Hecken. Was sollen wir fressen, wenn sie das Land vergiften?«, beklagte er sich. »Ruhe!«, donnerte Jasper und versuchte die Versammlung wieder zur Ordnung zu rufen. »Du kannst uns nicht zum Schweigen bringen!«, grummelte Bawson. »Wir sind verzweifelt. Jemand muss die Leitung übernehmen. Der Meister ist ein alter Mann. Er hat viel für uns getan, ich weiß das. Ohne ihn und diese Kinder hier wäre ich tot und meine Familie auseinander gerissen. Und ohne die alte Frau, natürlich – die alte Meg. Sie ist unsere Beschützerin gewesen, aber jetzt kommt sie nicht mehr so oft… und diese Kinder gehen fort… Und der Meister… er hat uns versprochen, dass er Nachfolger hat, wenn seine Zeit kommt und er abberufen wird. Er hat uns versprochen, dass wir nicht allein und verlassen sind.« »Warum kommt er nicht?«, bellte Cinnabar. »Wo ist er? Ist er krank? Stimmt das alles? Oder hat der andere ihn jetzt doch besiegt? Das will ich wissen. Es gibt Marder und Wiesel, die das gerne hätten. Immer mehr wilde Tiere wenden sich Morten zu. Ich habe gehört, dass neue Lebewesen an die Ufer des Flusses kommen – Wesen von jenseits des Wassers, von Menschen in Gefangenschaft aufgezogen und jetzt geflohen. Böse und stark und gerissen. Sie versuchen an unser Land zu kommen. Sie haben noch nicht einmal vom Meister
gehört. Morten könnte sie schnell für sich gewinnen. Und er hätte dann hundert Mal so viel auf seiner Seite wie wir. Es wird bald Krieg geben.« »Sei still, Cinnabar!«, knurrte Spot. »Dieses Gerede macht alles nur noch schlimmer. Es sind alles bloß Gerüchte.« »Ich habe gehört, dass das Haus des Meisters voller Ratten ist«, sagte ein Kaninchen. »Oder ist das auch bloß ein Gerücht?« »Es gibt sehr viele Ratten«, gab Spot unbehaglich zu. »Aber gab es die nicht immer dort? Von deiner Sorte gab es auch sehr viele – bis zum Großen Tod.« »Oh!«, schluchzte das Kaninchen. »Und wer hat uns den Großen Tod gebracht?« »Menschen«, sagte Jasper und alle Augen blickten auf die drei Kinder. »Aber keine Menschen wie wir!«, rief Mary. »Ich weiß, was ihr mit dem Großen Tod meint. Sie haben es uns erzählt… eine tödliche Seuche… Myxomatose…« »Ein langes Wort für ein grausames Schicksal«, seufzte das Kaninchen. »Warum haben die Menschen meine Rasse bestraft? Warum? Was haben wir euch jemals getan?« »Es ist schon sehr lange her«, murmelte Mary. »Es ist sogar jetzt noch nicht vorbei«, empörte sich das Kaninchen. »Der Große Tod wird niemals ganz vorbei sein.« »Warum jagen sie mein Volk?«, fragte Cinnabar. »Warum quälen sie mein Volk?«, fragte der Dachs. Wieder fühlten die Kinder, wie durch das dämmrige Licht der Höhle alle Augen auf ihnen ruhten. »Vielleicht«, sagte William, als er die Stille nicht länger ertragen konnte, »vielleicht gibt es auf manche Fragen keine Antworten…« Ein verächtliches Grollen, Zischen, Piepsen und Schnattern lief durch die Versammlung. »Das ist keine Antwort!«, sagte Jasper von oben herab. »Das weiß ich!«, empörte sich William. »Ich wollte damit ja nur sagen… manche Dinge haben keine einfachen Antworten. Zum Beispiel… hat das Kaninchen uns nach dem Großen Tod gefragt. Aber was ist mit den Ratten in Golden House? Dürfen sie weiterleben?« »Das ist was ganz anderes!«, sagte ein Marder ungeduldig. »Wieso?«, fragte William. »Warum denn das?« »Weil die Ratten in Golden House Mortens Geschöpfe sind.«
»Und alle Kaninchen, die am Großen Tod starben, waren die Kaninchen des Meisters?«, wollte William wissen. »Willst du das sagen?« Er bekam keine Antwort. »Und überhaupt, warum darf man Mortens Geschöpfe töten, aber nicht die des Meisters? Das finde ich nicht gerecht…« »Kleiner Junge!«, unterbrach Jasper ihn schulmeisternd. »Sprich nicht über Dinge, die du nicht verstehst…« »Aber ich verstehe doch nichts von allem!«, rief William mit vor Ungeduld so lauter Stimme, dass alle um ihn herum schwiegen. »Das behaupte ich ja noch nicht mal. Ihr stellt doch ständig die Fragen. Wenn ihr es unbedingt wissen wollt – die Kaninchen wurden mit Myxomatoseviren infiziert, weil sie einfach überhand nahmen… Ich weiß…«, schnitt er den schrillen Protest des Kaninchens ab, »ich weiß, dass es schrecklich war – ich weiß, dass es falsch war… aber deshalb ist es passiert. Die Menschen haben es getan – aber nicht nur aus Böswilligkeit. Und die Ratten in Golden House – wenn sie nicht aufgehalten werden, dann werden sie auch überhand nehmen. Sie müssen getötet werden. Sogar die Jagd, Cinnabar… Ich weiß, dass sie grausam ist. Ich mag sie nicht… Aber ihr Füchse tötet die Hühner der Bauern und die Hähne und die Enten. Deshalb hassen sie euch…« »Und die Menschen?«, fragte Jasper von oben herab. »Nehmen sie nicht auch ›überhand‹, wie du es ausdrückst? Töten sie nicht auch Hühner und Enten? Gibt es ein Gesetz für Menschen und ein anderes für uns hier, William? Meinst du das?« »Nun«, entgegnete William, »habt ihr nicht gerade behauptet, dass es ein Gesetz für die Geschöpfe des Meisters und eins für Mortens Geschöpfe gibt? Es scheint euch nichts auszumachen, wenn Mortens Ratten getötet werden, oder?« Eine schreckliche, lang anhaltende Stille folgte. William ließ den Kopf hängen. Er hatte das Gefühl, alles verdorben zu haben. Er wusste, dass er die Versammlung gegen sich aufgebracht hatte. Er konnte die Enttäuschung und Feindseligkeit um sich herum spüren. Er war noch nicht mal sicher, ob sie nicht von Mary und Alice genauso ausging wie von den Tieren und Vögeln. Alice hatte der Versammlung schweigend zugehört. Jetzt streckte sie die Hand nach Spot aus. Er sah sie bekümmert an, aber er kam nicht zu ihr, um sie zu trösten. Mary, die neben ihr stand, legte einen Arm um sie. Alice fühlte, wie ihr bei dieser Anteilnahme Tränen in die Augen stiegen. Um nicht vor aller Augen zu weinen anzufangen,
drehte sie sich um und verbarg ihr Gesicht an Marys Schulter. »Vielleicht nicht«, sagte Cinnabar. »Sehe ich dich am Wochenende, kleiner Junge?« »Ja!« William nickte eifrig. Er hoffte alles wieder gutmachen zu können. »Du wirst wohl zweifellos mit den Jägern reiten?«, schnarrte der Fuchs, drehte sich mit einem Schlag seines Schwanzes um und huschte durch den Tunnel zum fernen Gebrüll des Wasserfalls. »Cinnabar!«, schrie William. »Das ist nicht fair, Cinnabar!« Verzweifelt rief er hinter dem Fuchs her. »Schlechte Zeiten für Füchse im Moment«, sagte Bawson traurig. »Schlechte Zeiten für uns alle.« Als ob seine Worte das Signal zum Aufbruch gewesen wären, hüpften und glitten, huschten und flogen sie aus der Höhle, bis nur noch Jasper, Spot und die Kinder übrig waren. »Jasper!«, bat William. »Bitte hilf mir!« »Ohhh!«, schrie die Eule klagend. »Hilf uns allen!« Ohne auf eine Antwort zu warten, breitete Jasper die Flügel aus und flog in den Tunnel. »Spot!«, sagte Mary. »Bitte verlass uns nicht auch, Spot!« »Sie sind nur wilde Tiere, weißt du«, antwortete der Hund ruhig. Dann seufzte er. »Nur? Habe ich nur gesagt? Wir Hunde sind schon so lange zahm, wir wissen schon gar nicht mehr, wer wir sind.« »Ich hab dich lieb, Spot«, sagte Alice und weinte. Der Hund sah sie forschend an. Dann schien er zu nicken und eine Entscheidung zu treffen. »Liebe«, sagte er. »Das ist es, was ihr Menschen uns gegeben habt. Wusstet ihr das? Wilde Tiere lieben nicht. Sie beschützen, sie verteidigen, sie hegen und pflegen ihre eigene Art. Aber wenn sie nicht auf Menschen treffen, lieben sie nicht.« »Aber Liebe ist doch gut?«, rief Mary. »Gut?«, sagte Spot schroff. »Ja, natürlich. Aber schwierig. Denn wenn du liebst, kannst du auch hassen. Wilde Tiere kennen auch keinen Hass. Sie jagen und töten und haben bestimmte Feinde. Aber das sind natürliche Feinde. Wenn man Liebe nicht kennt, kennt man auch keinen Hass. Oder Schmerz. Cinnabar ist jetzt verletzt, weil er einen Menschen kennen gelernt hat und der Mensch nicht so handelt, wie er es von ihm erwartet. Ihr Menschen mit eurer Liebe und eurem Hass… ihr macht das Leben sehr kompliziert.« Dann leckte Spot plötzlich über Alices Hand. Sie kniete sich so-
fort vor ihn und legte ihre Arme um ihn. Aber fast gleichzeitig schüttelte der Hund sie ab und machte mit tiefem Knurren und gesträubten Nackenhaaren einen Satz nach vorne. »Was ist jetzt los?«, rief Alice weinend. Sie glaubte fest, dass sie wieder etwas falsch gemacht hatte. »Ich weiß nicht. Etwas…« Spots Nase zuckte, als er in die Richtung einer dunklen Ecke der Höhle schnupperte. »Etwas… etwas wie Ratte.« »Eine Ratte?«, japste Alice. Sie floh in den Schutz der Wand zurück. »Und trotzdem…«, sagte Spot mit schief gelegtem Kopf, »es ist nicht Morten… Eine Ratte, aber nicht…« Ein plötzliches Zischen unterbrach ihn mitten im Satz. Alice schlug sofort die Hände über die Augen, was sie immer tat, wenn sie Angst hatte. »Wer ist sie?«, stieß Mary hervor. »Wo ist sie?«, wisperte William. »Auf den Felsen da oben«, bellte Spot, sprang vorwärts und stützte sich mit den Vorderpfoten am steil aufsteigenden Felsen ab. »Ich kann nichts erkennen.« William starrte angestrengt durch das Dämmerlicht. »Aber sie ist da, ich kann sie riechen«, brummte der Hund. »Rattengeruch, aber anders. Wer bist du?«, bellte er. »Zeig dich und sag uns, wer du bist! Du! Ratte! Wer bist du? Woher kommst du?« Einen quälenden Augenblick lang war es absolut still. Dann sprang eine geschmeidige, schwarze Gestalt aus der Dunkelheit auf sie zu. Mary schrie auf und William wich einen Schritt zurück. Das Wesen landete zu ihren Füßen in einem Lichtstrahl, der durch die Öffnung hoch oben in der Höhlendecke fiel. Sie sahen einen glatten, schwarzen Körper und einen langen, wurmartigen Schwanz. Spot blickte das Tier mit gesträubtem Fell an, aber er stürzte sich nicht darauf. Irgendwie schien er verwirrt zu sein. »Wer bist du?«, fragte er noch einmal. »Mein Name ist Rattus Rattus«, antwortete das Wesen. »Ich habe dich noch nie gesehen«, knurrte Spot. »Ich wohne nicht hier«, erwiderte die Ratte. »Woher kommst du dann?«, fragte William. »Aber William!«, rief Rattus Rattus. »Weißt du das nicht?« »Mr. Tyler?«, keuchte Mary erleichtert und hoffnungsvoll. »Naja, nicht persönlich«, antwortete die Ratte. »Aber ja, ich bin
die Ratte des Magiers.« »Ich glaube dir kein Wort«, sagte Alice, die Hände immer noch über den Augen. »Mr. Tyler hätte bestimmt keine Ratte.« »Alice!«, zischte die Ratte. »Schäm dich! Warum sollen nur die dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln haben? Du wirst merken, dass ich euch sehr nützlich sein kann. Wirklich sehr nützlich.« »Nützlich?«, fragte Mary und war plötzlich wieder nervös. »Wie – nützlich?« »Wie könntet ihr wohl ohne mich das feindliche Lager unterwandern?«, sagte Rattus Rattus und quietschte vor Lachen.
5 Rattus Rattus Entsetztes Schweigen folgte auf die Worte der Ratte. Alice hatte immer noch die Hände über den Augen, aber sie spreizte die Finger ein wenig und konnte einen schnellen Blick auf das Tier werfen. »Hallo!«, sagte die Ratte und ihre pechschwarzen Augen glitzerten in der Dämmerung. Sie grinste Alice breit an. Alice streckte die Hand aus und zog Spot näher an sich heran. »Der Meister hat mir gesagt, dass du mutig bist, Alice. Was für eine Sorte Mut ist das jetzt?« »Ich mag keine Ratten«, wisperte sie. »Das ist nicht sehr nett von dir, oder?«, sagte die Ratte. »Und wie viele Ratten kennst du, wenn ich fragen darf? Bist du mit einer Ratte eng befreundet? Hast du schon mal mit einer zu tun gehabt? Hast du jemals in deinem kurzen Leben versucht eine Ratte kennen zu lernen? Ja? Hast du das?« Als die Ratte die letzte Frage ausspuckte, sprang sie mit zuckendem Schwanz und gebleckten Zähnen auf Alice zu. Alice stieß einen Schrei aus und versteckte sich hinter Mary. »Geh weg!«, keuchte sie. »Spot, tu doch was!« Der Hund knurrte und wich nicht von der Stelle. Er stand jetzt zwischen der Ratte und den Kindern. Die beiden Tiere maßen sich mit Blicken. »Du wärst mir nicht gewachsen, Sirius«, sagte die Ratte kalt und drohend. »Du solltest noch nicht mal denken, was du gerade denkst. Eine falsche Bewegung und ich springe dir an die Kehle. Ich bin berühmt im Zweikampf. Ich habe die Kunst auf einer portugiesischen Galeere gelernt, die gegen spanische Piraten segelte. Wenn ich kämpfe, dann gewinne ich. Ich halte nichts von euren höflichen Plänkeleien. Wenn ich kämpfe, dann töte ich.« Spot knurrte lange und tief. Aber er hatte seinen Schwanz zwischen die Beine geklemmt und wich einen Schritt zurück. »Woher sollen wir wissen, ob du überhaupt etwas mit dem Magier zu tun hast?«, fragte er. »Du könntest ein Spion sein. Du könntest Mortens Ratte sein.«
»Könnte ich«, stimmte die Ratte zu. »Deshalb bin ich ja so nützlich für euch.« »Nützlich?«, knurrte Spot. »Wie könnte eine Ratte nützlich sein?« »Vielleicht, indem sie andere Ratten glauben lässt, dass sie eine von ihnen ist?« »Was du wahrscheinlich sowieso bist«, sagte Spot. »Vielleicht sagt sie tatsächlich die Wahrheit.« William versuchte mutiger zu klingen, als er sich fühlte. »Sie weiß alle unsere Namen.« »Das ist kein Beweis«, sagte die Ratte verächtlich. »Glaubt ihr wirklich, dass Mortens Geschöpfe eure Namen nicht kennen? Sie kennen eure Namen, sie wissen, wohin ihr geht, sie beobachten euch ununterbrochen.« »Sie wissen nicht, dass wir hier sind«, sagte Spot. »Sie kennen diesen Ort nicht. Sie haben die Höhle der Träume noch nicht gefunden.« »Noch nicht, nein«, räumte die Ratte ein. »Aber sie werden es bald. Deshalb müssen wir sie zuerst angreifen. Wir müssen ihnen um eine Nasenlänge voraus sein. Deshalb bin ich hier.« »Der Magier würde nie eine Ratte benutzen«, beharrte Alice. »Der Magier würde jedes Tier oder jedes Ding benutzen, das ihm helfen kann«, sagte die Ratte. »Er benutzt sogar kleine Mädchen, die vor Tieren Angst haben, auch wenn die Tiere kaum größer sind als einer ihrer Füße.« Dabei wich sie Spot geschickt aus, sprang auf Alice zu und landete mit einem Plumps auf ihrem Fuß, wo sie sich grinsend und mit zuckendem Schwanz festhielt. »Spot!«, schrie Alice. Sie schüttelte heftig ihren Fuß, um das schreckliche Wesen loszuwerden. Sofort sträubte Spot die Nackenhaare und bellte wie wild. Mit kreischendem Gelächter sprang die Ratte fort und sauste wie der Blitz die raue Felswand bis zu einem Vorsprung hoch. »Iiiiiihhh!«, schluchzte Alice hysterisch. »Nehmt sie weg! Nehmt sie weg!« Und immer noch schluchzend und zitternd fing sie laut zu weinen an. »Es ist gut, Alice! Es ist gut! Sie ist weg!« William musste schreien, um sich über dem ganzen Lärm bemerkbar zu machen. Spot stand aufgeregt bellend unter dem Felsvorsprung. Alice weinte. Die Ratte fiepte schadenfroh. »Seid still!«, brüllte Mary. »Seid alle still, sofort!« Ihre Stimme war so laut und kam so unerwartet, dass es ihr tatsächlich gelang: Alice hielt mitten in einem neuen Schluchzer den Atem an, Spot
hörte auf zu bellen und die Ratte zischte noch einmal. Dann schwieg sie. »So ist es besser!«, sagte Mary in die Stille. »Noch mehr von solchem Krach und Mortens Spione müssen uns ja finden.« »Also glaubst du nicht mehr, dass ich ein Spion sein könnte?«, zischte die Ratte. »Das wissen wir nicht«, gab William zurück. »Aber wenn du wirklich auf unserer Seite bist, wie du behauptest, dann hast du schon eine seltsame Art, das zu zeigen.« »Es ist verwirrend, William, nicht wahr?«, wisperte die Ratte. »Der Magier hat uns ein Geschenk gegeben«, sagte Mary. »Wenn du der bist, für den du dich ausgibst, dann musst du wissen, was es ist.« »Das ist leicht«, antwortete die Ratte. »Sein Pendel. Sein goldenes Pendel.« »Das stimmt!«, japste Mary. »Aber das beweist gar nichts, Mary«, sagte die Ratte. »Schließlich hat Mortens Krähe versucht es euch wegzunehmen. Morten hat selbst gesehen, dass du, William, es hattest. Was beweist das also?« »Aber es ist verloren gegangen. Es fiel in den See.« »Ja. Und die Krähe hat gesehen, wie es passierte. Sie hätte es natürlich ihrem Meister erzählt.« »Aber die Krähe hat nicht gesehen, was danach passiert ist«, beharrte Mary. »Du hast es wiedergefunden und jetzt ist es in deiner Tasche«, gab die Ratte schlagfertig zurück. »Ach, so bringt das doch nichts!«, schluchzte Mary. »Sieht so aus, als müsstet ihr mir vertrauen«, fiepte die Ratte. »Schließlich sind Taten mehr wert als Worte.« »Was soll das heißen?«, fragte William. Die Ratte zuckte die Schultern und setzte sich auf ihre Hinterbeine. »Wenn ich euch gut diene, bin ich ein Freund. Wenn nicht, bin ich ein Feind.« »Aber dann kann es schon zu spät sein«, sagte William ärgerlich. »Dann kannst du uns schon in alle möglichen Gefahren gebracht haben… oder noch schlimmer. Wir könnten alles an Morten verlieren, wenn wir dir vertrauen.« »Du scheinst nicht viel Vertrauen in dich selbst zu haben, William. Bist du so unfähig, dass du das ganze Unternehmen durch eine
kleine Ratte gefährden lässt?« »Eine kleine Ratte!«, rief Alice. »Du bist eine schreckliche, große, fiese Ratte. Und natürlich haben wir Angst vor dir. Wir springen schließlich nicht aus dem Dunkeln Leute an und versuchen sie zu erschrecken. Wir fiepen nicht… und… und…« Vor lauter Angst und Enttäuschung fand sie keine Worte. »Geh weg…« Sie hob einen Stein auf und warf ihn mit ganzer Kraft. Er traf die Felswand knapp über dem Kopf der Ratte und polterte dann auf den Boden. Die Ratte krümmte zischend den Rücken. »Nicht, Alice!«, grollte Spot. »Reiz sie nicht!« »Spot, du musst doch wissen, ob der Magier eine Ratte hat«, sagte William. »Ich habe noch nie davon gehört«, antwortete Spot. »Aber du warst auch noch nie in der Zeit des Magiers, oder, Hund?«, zischte die Ratte. »Du meinst… du kommst von damals?«, fragte William überrascht. »Natürlich. Habe ich euch das nicht erzählt?« »Du hast nur gesagt, du wärst nicht von hier.« »Bin ich auch nicht…« »Wie geht es ihm?«, unterbrach Mary besorgt und vergaß ihre Furcht völlig. »Dem Meister geht es gar nicht gut«, erwiderte die Ratte. »Liegt er im…?« »Sterben?«, beendete die Ratte Spots Frage. »Das habe ich ihn gefragt.« »Und? Was hat er gesagt?«, wisperte Mary und fürchtete sich schon vor der möglichen Antwort. »Er sagte, dass wir alle schon zu sterben beginnen, kaum dass wir auf der Welt sind«, antwortete die Ratte. »Warum hat er dich geschickt?«, fragte William. »Weil er nicht selbst kommen kann. Diesmal nicht. Vielleicht nie mehr. Er hat mich geschickt, weil er nicht wollte, dass ihr allein seid.« »Er will, dass eine Ratte uns Gesellschaft leistet?«, sagte Alice ungläubig. »Alice! Alice, hör jetzt auf damit!«, sagte die Ratte und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich bin Rattus Rattus. Ich bin ehrenwert. Ich bin berühmt. Ich stehe dem Meister sehr nahe und ich habe dein Verhalten überaus satt. Ich bin Rattus Rattus! Ich habe auf
dem ganzen Erdball Schlachten geschlagen. Die sieben Weltmeere habe ich bereist und die Sonne über fernen Ländern aufgehen sehen. Aber als ich den Meister traf, habe ich beschlossen bei ihm zu bleiben. Ich kenne den Ruf meiner Sippe. Seit unserer Erschaffung sind wir gesteinigt worden. Der Stein, den du geworfen hast, war nur einer in einer langen Reihe von Steinen, Alice. Obwohl ich nicht gedacht habe, dass einer der Freunde des Meisters mich so behandeln würde. Vielleicht bin ich eine Ratte, aber der Meister hat nur das Gute in mir gesehen und es gefördert. Er machte mich zu Gold.« In der Stimme der Ratte schwang Erstaunen mit. »Der Meister hat Möglichkeiten in mir gesehen, die gewöhnliche Menschen nie erkennen werden. Ich bin Rattus Rattus. Ich werde nicht aufhören die Ratte zu sein, die ich bei meiner Geburt war. Ich werde immer eine Ratte sein – genauso wie ihr immer Menschen sein werdet und Sirius immer ein Hund. Wir können unserer Gestalt nicht entkommen. Aber wenn wir die Alchimie wirken lassen, befreien wir uns von unserem unedleren Selbst und gestatten uns zu leuchten. Vielleicht bin ich eine Ratte. Vielleicht kämpfe ich wie eine Ratte und denke wie eine Ratte und sehe aus wie eine Ratte. Aber bis jetzt bin ich das einzige Gold in dieser Höhle.« Diese Worte sagte die Ratte so schlicht, dass es sich nicht nach Angeberei anhörte. Mary hatte schweigend zugesehen und zugehört. Nun blickte sie die anderen an. Sie starrten alle ernst hinauf zum Felsvorsprung, wo Rattus Rattus hockte. Jeder von ihnen bemühte sich angestrengt ihn dort oben zu erkennen und sah dabei selbst klein und verwundbar aus. Jeder von ihnen hatte einen gespannten und erwartungsvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Alice hatte aufgehört zu weinen und William runzelte nicht mehr die Stirn, wie er das normalerweise tat, wenn er etwas verstehen wollte. Spots gesträubtes Fell war wieder glatt und er wedelte langsam mit dem Schwanz. »Wir brauchen deine Hilfe.« Mary sprach für sie alle. »Wenn du aus der Zeit des Meisters gekommen bist… kannst du uns mit dahin zurücknehmen?« »Ah!«, sagte Rattus Rattus traurig. »Der Meister hat mir schon gesagt, dass ihr das vorhabt. Aber er hält es für viel zu gefährlich, viel zu schwierig. Deshalb hat er an seiner Stelle mich geschickt. Damit ich euch hier helfe, in eurer Zeit.« »Aber wir müssen zu ihm gehen«, bat Mary die Ratte inständig. »Wir möchten ihn so gerne sehen.«
»Und er… er will euch auch sehen. Aber er hält das für die Laune eines alten Mannes. Die Eitelkeit eines alten Mannes…« »Könnten wir es schaffen?«, fragte William. »Mit deiner Hilfe?« »Zeitreisen? Ich weiß nicht«, antwortete die Ratte. »Diese Gabe kann man nicht leihen oder lernen. Es ist eine Kunst… nein, mehr als eine Kunst. Es ist in eurem Sein. Wenn ihr es genug wollt… könnt ihr es erreichen. Wenn ihr etwas aus dem richtigen Grund wollt, könnt ihr alles erreichen. Aber denkt daran… wenn ihr in unsere Zeit reist, müsst ihr auch wissen, wie ihr wieder zurückkommt.« »Aber Morten versucht hierher zu kommen«, sagte William. »Und der Magier hat uns erzählt, dass er dicht davor steht. Aber er ist selbstsüchtig und gierig und er tut es aus den falschen Gründen…« »So ist es«, zischte die Ratte. »Also wieso kann er es tun?« »Er will es genug. Er will es so sehr, dass er an kaum etwas anderes denkt. Sein Geist konzentriert sich immer auf eure Zeit. In dieser Zukunft sieht er seine Bestimmung, seine Erlösung, die Erfüllung all seiner Träume.« »Aber er ist schrecklich«, sagte Mary. »Er bringt alles Schlechte mit. Ich glaube nicht, dass er durch die Zeit reisen kann, aber wir können es auch nicht. Wie ist das möglich?« »Genauso wie gierige Leute unedles Metall in Gold verwandeln können, Mary, wenn sie wirklich hart arbeiten und mit großem Eifer ihre Begierde verfolgen…« »Dann kann das Böse gewinnen«, sagte William kopfschüttelnd. »Es scheint keinen Zweck zu haben, weiterzumachen.« »Sie machen Narrengold, William. Wie Jonas Lewis. Aber sein Fehler war nur klein im Vergleich zu dem, wovon Morten träumt. Es ist eine Sache, wenn sich ein bisschen Gold zurückverwandelt… aber stellt euch vor, ihr unternehmt eine Zeitreise aus den falschen Gründen und dann verlässt euch plötzlich die Magie.« Rattus Rattus machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Stellt euch vor, ihr reist in eine andere Zeit und seid nicht in der Lage, wieder zurückzukehren. Wo würdet ihr dann sein? Verloren. Verloren in der Zeit. Nirgendwo. Vergessen. Glaubt mir, hört auf mich, Zeitreisen kann man nur unternehmen, wenn man viel darüber nachdenkt. Ein Fehler, und ihr seid für immer verloren.« »Ich verstehe das nicht«, seufzte William. »Macht nichts«, sagte Rattus Rattus freundlich. »Eigentlich glau-
be ich auch nicht, dass euch so ein Schicksal treffen könnte. Jetzt müsst ihr aber zum Haus zurückgehen, bevor eure Abwesenheit von unserem Feind bemerkt wird. Ich komme zu euch in eure Zimmer oben im Turm. Die Erwachsenen – Jack und auch Phoebe Tyler –, sie brauchen Hilfe. Sie könnten alles kaputtmachen. Es gibt viel zu tun. Erwartet mich…« Und mitten im Satz verschwand er vor ihren Augen. »Genau wie Stephen Tyler«, wisperte Mary.
6 Das Gespräch mit Meg Meg war in der Küche, als sie zum Haus zurückkamen. Sie saß dicht beim offenen Herdfeuer und trank Tee. »Da seid ihr ja«, brummelte sie, als die Kinder eintraten. »Ihr hättet nicht ohne Frühstück losgehen sollen. Ihr macht mir nur Ärger.« Aber sie stand nicht auf, um ihnen etwas zu essen zu holen. Sie wirkte niedergeschlagen und abweisend. »Ist was schief gegangen, Meg?«, fragte Mary und ging zum Feuer. Ihr war jetzt kalt. Als sie von der Höhle zurückgelaufen waren, hatte sie das gar nicht gemerkt. »Schief gegangen?«, fragte Meg und sah sie verständnislos an. »Ja«, sagte Mary. »Wir sind doch nicht blöd! Es ist ganz klar, dass hier etwas passiert ist… Irgendetwas Schlimmes.« »Phoebe hat eine kleine Erkältung, das ist alles«, antwortete Meg und versuchte fröhlich zu klingen, konnte Mary aber dabei nicht in die Augen sehen. »Meg«, bat Mary und hockte sich neben sie, »bitte sag es uns. Wir wollen doch nur helfen.« »Ihr seid doch noch Kinder«, sagte Meg. »Ja, und?«, fragte William ungeduldig. »Vielleicht sind wir noch jung, aber wir haben schon ein Hirn zum Denken! Wir haben Augen im Kopf! Wir können sehen, dass hier etwas vor sich geht.« »Wenn ihr so clever seid, warum fragt ihr dann überhaupt?«, fauchte Meg. »Ach, Meg!«, rief William, gleichzeitig gekränkt und enttäuscht. »Du hast gesagt, du wolltest uns helfen.« Mary hockte immer noch neben der alten Frau und fühlte die Wärme des Feuers auf ihrem Gesicht. »Letzten Sommer, als die Crawdens dich ausbezahlen wollten. Wir haben dir damals geholfen und du hast gesagt, du würdest uns auch helfen.« »Hab ich doch, oder nicht?«, gab Meg zurück. »Ich habe euch geholfen. Ich habe nicht an sie verkauft. Das war doch, was ihr wolltet, oder nicht? Das habe ich für euch getan! Ich habe Henry und seinem Sohn das Land um Golden Water nicht verkauft, als ich es konnte.
Wenn ich ehrlich bin, wusste ich noch nicht mal, dass es mir gehörte. Aber offensichtlich gehörte es mir. Mir und meiner Familie. Die ganze Zeit!« Sie rieb nachdenklich über ihre Hand und schüttelte den Kopf. »Wie habt ihr das bloß gewusst, frage ich mich? Oder frage ich mich das wirklich?« Sie drehte sich um und sah jeden von ihnen prüfend an. Alice saß am Tisch und aß ein dickes Butterbrot, das sie sich gemacht hatte, während die anderen sprachen. William lehnte am Küchenschrank, die Hände in den Hosentaschen, und starrte auf den Boden. Mary hatte sich weiter weg von der Hitze des Herds auf den Boden gesetzt und stützte das Kinn auf die Knie. »Ich hätte nicht auf euch hören sollen«, beklagte Meg sich bitter. »Ich hätte das Land verkaufen und wegziehen können. Irgendwohin, ganz weit weg. Wenn ich Henry das Land verkauft hätte, wäre die ganze Geschichte hier vorbei, ein für alle Mal.« Jetzt war es mehr so, als spräche sie mit sich selbst. Ihre Stimme klang fern und verwirrt, als ob sie Gedanken ausspräche, die sie quälten. »Es war ein Fehler, wieder hierher zurückzukommen. Eine Lewis in Golden House! Ich hätte wissen müssen, dass das nur Kummer bringt.« Sie schauderte, als ob ihr plötzlich kalt wäre, obwohl der Herd große Hitze ausstrahlte. Dann schwieg sie wieder, und als Mary sie anblickte, sah sie, dass der alten Frau Tränen über die Wangen liefen. »O Meg!«, sagte Mary, glitt zu ihr und legte beide Arme um sie. »Nicht weinen! Bitte, nicht weinen! Es wird schon alles wieder gut, ich verspreche es dir. Irgendwie! Wir sind jetzt hier. Wir lassen nicht zu, dass alles verdorben wird…« Dann wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte, und sah verzweifelt über ihre Schulter zu Alice und William, damit sie ihr zu Hilfe kämen. William stellte sich auf die andere Seite neben Meg und Alice kniete sich vor sie. »Wein doch nicht!«, sagte Alice, nachdem sie einen Bissen Brot hinuntergeschluckt hatte. »Bitte, Meg!« »Erzähl uns einfach, was passiert ist«, meinte William. »Wir müssen es wirklich wissen, Meg.« Die alte Frau sah jeden von ihnen an und nickte dann mit dem Kopf. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Herzchen«, sagte sie ruhig. Sie starrte auf die glühenden Scheite im Herd und ihre Stimme wurde immer sicherer, während sie den Kindern alles erzählte, was sie wissen wollten. »Es fing alles an, bald nachdem ihr zurück in die Schule gegangen wart – und wenn ich mich richtig besinne, nicht
sehr lange, nachdem ich hier eingezogen war. Aber zuerst schien alles sehr gut zu gehen. Ich dachte, alles würde sich zum Besten entwickeln. Mein Bein heilte sehr gut. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten zum Dachsbau zu gehen, aber Dan, der jüngere von den Bauarbeitern, die Jack helfen, warf für mich ein Auge auf die Dachse. Seit dem Theater im Frühling haben wir keine Probleme mehr gehabt und Bob Parker, mein Freund von der Polizei, hält mich über alles auf dem Laufenden, also würde ich wissen, wenn die Fänger wieder da wären. Um euch die Wahrheit zu sagen – ich fing an mich hier richtig wohl zu fühlen. Ich wusste, dass ich Jack und Phoebe in Ruhe lassen musste. Es ist nicht einfach, wenn noch jemand im Haus lebt, erst recht nicht für eine junge Familie. Also blieb ich in meinem Zimmer, wenn ich nicht Hausarbeit erledigte – eben alles, was Phoebe ein bisschen entlastete –, waschen und bügeln, nur kochen durfte ich nicht. Aber ich habe ein paar Wände gestrichen für sie und ein paar Mal auf das Baby aufgepasst, wenn sie abends mal in die Stadt wollten. Einmal sind sie mit dieser Frau vom Museum Essen gegangen und ein anderes Mal ins Theater. Alles schien sehr gut zu gehen. Ich war nützlich für sie und für mich war es schön, nach all den einsamen Jahren ein paar Menschen um mich zu haben. Phoebe war nur nicht glücklich. Das konnte ich sehen. Es gibt Menschen, die nie richtig glücklich sind. Ich glaube, Phoebe gehört dazu. Sie grübelt. Natürlich bekommen beide auch nicht genug Schlaf. Das Baby schreit die ganze Nacht und manchmal auch noch tagsüber, wenn es bei mir ist, obwohl ich es oft für eine Weile zum Schlafen bringen kann. Es muss schwierig für sie sein. Ich könnte es nicht aushalten! Jetzt nicht mehr! Es gab eine Zeit, da wollte ich eigene Kinder… Aber jetzt…« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf, dann zwang sie sich ihre Gedanken wieder zu konzentrieren. »Nein«, fuhr sie fort, »zwischen Phoebe und Jack herrscht dicke Luft… schon seit längerem, wie ich annehme. Aber die Ratten haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich dachte, sie wären mir hierher gefolgt. In meinem Häuschen in Four Fields hatte ich eine Rattenplage«, erinnerte sie sich schaudernd. »Ich dachte damals, ich würde nie wieder so viele auf einmal sehen. Wie man sich doch irren kann! Die Ratten haben mich aus meinem eigenen Haus vertrieben. Aber als ich das erste Mal eine hier sah«, sie nickte mit dem Kopf in Richtung Halle, »da dachte ich – was macht schon eine kleine Ratte? Wisst ihr – ich meine, das Haus ist alt und über Wasser gebaut, da hat man einfach Ratten… Also habe ich nicht weiter darüber nachgedacht.
Gypsy – ich meine euren Spot, ich denke immer noch an ihn mit dem Namen, den ich ihm damals gegeben habe – er hat das eklige Tier bald fortgejagt. Aber das nächste Mal waren schon zwei oder drei in der Halle und da begann ich mir Sorgen zu machen. Ich habe es Jack erzählt, aber er schien kaum Notiz davon zu nehmen. Dann, an diesem besonderen Morgen – es scheint gestern gewesen zu sein, aber es ist schon ein oder zwei Wochen her – ging ich den Flur hinunter…«, sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf, als ob sie sich von ihrer Erinnerung befreien wollte. Mary konnte fühlen, wie sie zitterte. Als sie fortfuhr, brachte sie nur ein Flüstern zustande. »Da war ein ganzer Schwarm von diesen Biestern. Sie krochen alle um den Kamin in der Halle herum. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Ratten gesehen. Viel mehr als in Four Fields. Es waren… Hunderte. Ich schrie, das gebe ich gerne zu. Ich habe das ganze Haus zusammengeschrien! Jack kam aus seinem Zimmer angelaufen. Er muss sich gefragt haben, was um Himmels willen passiert war. Aber als er die Ratten sah, war er ziemlich entsetzt, das war nicht zu übersehen. Aber mir ging es genauso. Sie liefen natürlich weg, als er kam…« Sie unterbrach sich wieder stirnrunzelnd. »Aber davor… war es so, als wäre ich ihnen zufällig begegnet – hätte sie überrascht…« Die Angst ließ ihre Stimme hoch und schrill klingen. »Vor mir liefen sie nicht weg. Jetzt im Nachhinein denke ich, dass sie… mich stellen wollten. Wenn ich hier allein gewesen wäre…«, ihre Stimme wurde wieder zu einem Wispern, »… dann weiß ich nicht, was geschehen wäre. Sogar als Jack kam, schienen sie ein bisschen… anmaßend, ein bisschen… selbstgefällig zu sein. Aber wenigstens vor ihm sind sie davongelaufen… sie sind tatsächlich verschwunden. Danach habe ich Jack von den Stufen im Kamin erzählt…« »Du hast es ihm erzählt?«, fragte William. »Warum?« »Ich musste es tun, Herzchen. Ich hatte keine Wahl«, sagte Meg. »Dahin sind sie doch gegangen, wisst ihr? Direkt hinauf auf den Vorsprung und dann weiter hinter die versteckte Wand – sie flossen weg wie Wasser aus einer Badewanne. Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas gesehen…« »Ist er hinaufgegangen?« »O ja! Jack hat wirklich Mut! Er ging schnurstracks bis nach oben. Freute sich wie ein Schneekönig darüber! Er kannte den Raum, aber er hatte keine Ahnung von den Stufen. Eine echte Geheimtreppe! Aber er war nicht sehr glücklich über das, was er da oben vor-
fand.« »Was hat er denn gefunden, Meg?«, fragte Mary, während ihr ein Schauer über den Rücken lief. »So viele Ratten, Herzchen, dass der Raum von ihnen überquoll, wie er sagte. Es ist ein Wunder, dass er lebend wieder herausgekommen ist. Ich habe hier unten gewartet. Gypsy war hereingekommen, nachdem ich geschrien hatte und folgte Jack nach oben. Aber ich nicht. Ich hatte, zu viel Angst. Und ich hatte Recht damit, glaube ich. Sie kamen nur um Haaresbreite aus dem Raum heraus! Sie waren ziemlich mitgenommen, alle beide. Jack sagte, ich solle es Phoebe nicht sagen, es würde ihr nur Angst machen, er würde es ihr im richtigen Moment beibringen. Also habe ich nichts gesagt. Nicht ein Wort. Ich habe es gerne ihm überlassen. Es ist nicht so, dass wir uns nicht vertragen, sie und ich, aber ich finde sie manchmal schwierig. Wie auch immer, er hat nicht lange gewartet. Am nächsten Tag hörte ich, wie die beiden sich furchtbar stritten. Sie schrien und brüllten. Ich habe sie noch nie so miteinander umgehen hören. Sie ist immer schon ein bisschen launisch gewesen, wie ich schon sagte, aber er hat sie noch nie angebrüllt. Das tat er aber an diesem Tag – und sie gab es ihm direkt zurück! Sie waren völlig aus dem Häuschen! Es war ganz schön peinlich. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich war hier in der Küche und sie draußen in der Halle. Ich konnte gar nicht anders, ich musste sie einfach hören…« »Worum ging der Streit?«, fragte William. »Um die Ratten, Herzchen. Jack sagte, sie sollten Mr. Jenkins holen. Sie könnten Gift im Geheimzimmer auslegen… so, dass das Baby und die Hunde und Katzen nicht drankommen. Er sagte, das wäre am besten und so würde er es machen. Aber da fing sie an zu schreien! Es war, als ob die Hölle losbräche! Sie wollte nicht, dass die Ratten vergiftet würden! Sie wollte es einfach nicht. In ihrem Haus würde sie das Töten von Tieren nicht dulden. Das hat sie gesagt. Dann fing es erst so richtig an. Er meinte, es wäre genauso sein Haus wie ihres. Sie warf ihm vor, sie würde ihn nicht mehr wiedererkennen, er wäre nicht mehr der Mann, mit dem sie zusammengelebt hätte. Sie sagte ihm, wie sehr sie Golden House hasste. Sie sagte, es wäre verflucht, ein übler Ort. Er behauptete, sie wäre kindisch, sie wäre doch die Erste gewesen, die hier hätte leben wollen. Es ging immer weiter. Alles, was sich bei ihnen aufgestaut hatte, kam heraus, bitter und grausam. Ich wollte sie aufhalten, aber ich wusste nicht, wie. Ich blieb einfach hier drin. Ich hielt dem Baby die Ohren zu –
albern, ich weiß! Aber ich wollte nicht, dass sie hörte, wie ihre Mutter und ihr Vater sich ihren Hass ins Gesicht schrien. Schließlich gingen beide auseinander und knallten mit den Türen. Am nächsten Tag fuhr Jack in die Stadt und kam mit einer Ladung Rattenfallen wieder. Schreckliche Dinger! Eine Rattenfalle ist schrecklich. Aber er fürchtete, wenn er Gift auslegte, dass sie zum Sterben überall hinkriechen würden und sich dann Vögel und andere Tiere auch vergiften könnten. Er tat es gar nicht gerne, aber er dachte, er müsste es tun. Ich verstand das! Es war eine schwierige Entscheidung, aber man konnte sie ja nicht einfach in Ruhe lassen und zusehen, wie sie das Haus in Beschlag nahmen. Schließlich waren sie unheimlich viele. Na ja, er sagte Phoebe nichts davon und bat mich es auch nicht zu erzählen. Als ob ich das getan hätte! Ich wollte einfach nur, dass die Ratten hier verschwinden. Und ich gebe gerne zu, dass mir das alles sehr Angst machte. Er fragte sich sogar, ob er euch davon abhalten sollte, in den Ferien hierher zu kommen… Aber er entschied sich abzuwarten, ob die Ratten weggingen. Das kann passieren – sie wandern manchmal einfach weiter, als ob sie etwas Besseres zum Leben gefunden hätten. Inzwischen stellte Jack regelmäßig die Fallen auf. Er fing ziemlich viele und nach einer Weile sah man nichts mehr von ihnen… Es gibt noch ein paar, aber das ist nicht so schlimm, solange man sie nicht sieht. Jack fängt immer noch mal eine in der Falle – aber wenigstens gibt es keine Schwärme mehr wie vorher. Phoebe und er sind sich aber weiter sehr fremd. Es kommt mir so vor, als ob sie wüsste, was vor sich geht, aber ohne Beweise braucht sie gar nicht erst versuchen Widerstand zu leisten – und vielleicht ist sie in Wirklichkeit genauso froh darüber wie ich, dass die Ratten unter Kontrolle sind. Das habe ich jedenfalls gedacht, aber vor drei Tagen ging sie hinüber zum Schuppen, um Feuerholz für den Küchenherd zu holen – den ich angeblich hatte ausgehen lassen! Ich? Ich sagte, ich hätte nicht gewusst, dass Feuerüberwachung zu meinen Pflichten gehörte… na ja, wir sind eben manchmal wie Feuer und Wasser. Obwohl ich mich bemühe. Wenn ich das Gefühl habe, dass mir gleich der Kragen platzt, gehe ich einfach woanders hin. Aber sie macht mich manchmal so wütend… Jedenfalls hat sie im Schuppen eine der Fallen mit einer toten Ratte gefunden. Sie kam wieder hier hereingestürmt. Ob ich davon gewusst hätte? Sie tobte und schimpfte auf mich. Was sollte ich da sagen? Ich sagte, wenn sie die Menge Ratten gesehen hätte, wäre sie wahrscheinlich sofort ausgezogen – ohne auch nur eine Falle aufzu-
stellen. Das war zu viel! ›Ausziehen?‹, schrie sie. ›Ausziehen? Ich würde liebend gern für immer aus diesem Haus ausziehen und so lange ich lebe nie mehr einen Fuß hineinsetzen!‹ Oder etwas in der Art. Dann stürzte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Sie hat seitdem kein freundliches Wort mit mir gewechselt und jedes Gespräch, das sie mit Jack führt, scheint in einem Streit zu enden. Sie bleibt auf ihrem Zimmer und kommt nur heraus, um für sich und das Baby etwas zu essen zu holen… das heißt, bis gestern Morgen. Plötzlich schien sie bessere Laune zu haben. Sie verabredete mit Jack, dass sie euch vom Bahnhof abholen würde. Er war froh – weil er sagte, er hätte etwas in der Stadt zu tun. Ich weiß nie, was einer von den beiden vorhat. Was immer er auch erledigen musste, es muss eine plötzliche Entscheidung gewesen sein. Er hatte ganz bestimmt gesagt, dass er zum Bahnhof fahren würde… Aber egal, sie war zuckersüß. Sie würde euch holen fahren. Es wäre schön, mal wieder aus dem Haus herauszukommen… aber zuerst würde sie einkaufen gehen… Nichts war ihr zu viel… Nun, als sie wiederkam, schien die gute Laune wie weggeblasen! Sie kam zurück, nachdem Jack schon weggefahren war. Er hat jetzt ein Motorrad, hat er euch das erzählt? Schrecklich gefährliche Dinger! Sie müssen auf der Straße aneinander vorbeigefahren sein, aber wenn es so war, hat sie es mir jedenfalls nicht gesagt. Sie kam beladen mit Einkäufen vom Hof herein. Unter den Tüten war eine vom Metzger. Ich konnte es gar nicht glauben! Ich meine, um die Wahrheit zu sagen, ich habe schon ein bisschen vermisst, Fleisch zu essen, seit ich hier eingezogen bin. Aber ich habe mich damit abgefunden und ich muss zugeben, dass sie gut kocht. Aber warum knallt sie mir plötzlich aus heiterem Himmel eine Tüte mit Rindfleisch vor die Nase? ›Koch das!‹, sagt sie. ›Dies ist jetzt sowieso ein Haus des Todes, da kannst du genauso gut tote Tiere für sie kochen.‹ Euch hat sie damit gemeint. Dann lief sie weinend hinaus, hinauf in ihr Zimmer und überließ es mir, nach Stephanie zu sehen – die, muss ich hinzufügen, friedlich wie ein Engel in ihrem Bettchen schlief! Naja, ich dachte, ich lasse Phoebe einfach eine Weile in Ruhe und hoffe, dass sie sich beruhigt. Aber es wurde allmählich Zeit, euch abzuholen. Ich habe bis zur letzten Minute gewartet, aber es gab immer noch kein Zeichen von ihr… Also ging ich hinauf und klopfte an ihre Tür. Sie sagte einfach, ich solle weggehen. Sie wollte mir nicht zuhören. Sie schien gar nicht mehr zu wissen, dass ihr überhaupt erwartet wurdet. Ich glaube, sie ist verrückt geworden! Wirklich! Ich glaube, sie ist
geistesgestört! Schließlich habe ich Mr. Jenkins angerufen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, obwohl ich diese Apparate wirklich hasse und nicht an sie gewöhnt bin. Gott sei Dank war er zu Hause… Aber was soll aus uns allen werden? Ich weiß es nicht. Dies war schon immer ein Unglückshaus. Aber ich habe mich bis jetzt von ihm ferngehalten…« Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, die ihr leise die Wangen hinunterliefen. »Ich hätte nicht zurückkommen sollen«, wisperte sie. »Ist das alles mein Fehler? Ist es eine Art Fluch? Der Fluch der Familie Lewis? Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich wünschte, ich wäre bei meinen Dachsen geblieben. Dachse sind nicht so kompliziert.«
7 Ein Experiment Nachdem Meg geendet hatte, sprach lange Zeit niemand. Sie blieb so nahe am Herdfeuer sitzen, wie sie konnte, ohne sich zu verbrennen. »Ich werde einfach nicht warm«, murmelte sie. »Mir ist hier immer kalt.« Als ob sie sich daran erinnerte, dass die Kinder bei ihr waren, stellte sie dann ihre Tasse hin und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. »Was denke ich mir eigentlich?«, sagte sie. »Ich sollte euch besser mal Frühstück machen…« »Nein, Meg«, unterbrach William und hielt sie an der Schulter zurück. »Bleib du sitzen. Wir machen das schon.« Draußen vor dem Fenster sah der Morgen bewölkt und grau aus. Er passte genau zur Stimmung im Haus. Als sie am Tisch saßen, kam Phoebe mit Stephanie auf dem Arm herein. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass die Kinder die beiden sahen. Aber wegen all der Dinge, die sie erzählt bekommen hatten, waren sie in Phoebes Gegenwart schüchtern und nervös. Auch sie verhielt sich schweigsam und gezwungen ihnen gegenüber. Sie trug einen Morgenrock und sah blass und kränklich aus. Nach einer verlegenen Begrüßung standen die Kinder um Stephanie herum, froh darüber, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken konnten. Wenigstens das Baby schien sich aufrichtig darüber zu freuen, dass sie da waren. Mary nahm sie aus Phoebes Armen, und als sie sie hielt, strahlte Stephanie sie an und blubberte fröhlich – was Alice mit Kennermiene als »Luft im Bauch« bezeichnete. »Babys lachen nie«, erklärte sie. »Sie rülpsen.« Phoebe war inzwischen zur Tür zurückgegangen. Dort blieb sie zögernd stehen, unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte. »Wo ist Jack?«, fragte sie. »Draußen«, sagte Meg gleichgültig. Sie hatte kaum vom Feuer aufgesehen, als Phoebe die Küche betrat, und es hatte auch keine Begrüßung zwischen ihnen gegeben. »Wo?«, fragte Phoebe. »Das weiß ich nicht«, erwiderte Meg. Auf diesen kurzen Wortwechsel folgte ein weiteres verlegenes
Schweigen. William dachte schließlich, dass jemand den Anfang machen müsste, und erkundigte sich danach, wie es Phoebe ging. »Mir geht es gut«, antwortete sie. »Ich bin nur dauernd so müde. Wenn Jack nach Hause kommt, sagt ihr ihm bitte, dass ich ihn sehen möchte? Und Meg, kannst du dich eine Weile um das Baby kümmern? Ich muss versuchen ein bisschen zu schlafen…« »Natürlich«, sagte Meg, stand auf und nahm Mary das Baby ab. »Kümmere ich mich nicht immer um sie?« Sie gurrte und machte viel Aufhebens um das Kind, das ihr fröhlich glucksend antwortete und mit seiner kleinen Hand ihre Wange berührte. Ohne ein weiteres Wort ging Phoebe aus dem Raum. Mary beobachtete stirnrunzelnd, wie sie fortging. »Sie sieht so krank aus«, sagte sie, als sich die Tür geschlossen hatte. »Sie sähe um einiges besser aus, wenn sie sich was anziehen und herunterkommen würde und hier ein bisschen arbeitete«, brummte Meg. »Natürlich sieht sie krank aus, wenn sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer hockt. Sie braucht ein bisschen frische Luft um die Nase.« Dann legte sie Stephanie in ihren Wagen, setzte sich daneben und schaukelte ihn sanft hin und her. Kurz darauf war das Baby eingeschlafen. »Armes kleines Ding! Sie ist genauso müde wie ihre Eltern. Sie wird jetzt ein Weilchen schlafen. Es tut weh, wenn Zähne wachsen. Sie kann nichts dafür, dass sie weint.« Nachdem das wenige Geschirr, das sie zum Frühstücken benutzt hatten, gespült war, schlüpften die Kinder mit der Entschuldigung aus der Küche, dass sie Hausaufgaben machen müssten. »Sie geben euch über die Ferien Hausaufgaben auf?«, fragte Meg. »Das ist ja ungerecht.« Vielleicht wusste sie, dass sie logen. Aber sie sagte nichts. Erst als die Kinder aus dem Zimmer gingen, sagte sie fest: »Hört zu, geht nicht hinauf in das Geheimzimmer. Es ist nicht mehr sicher. Versprecht ihr mir das?« Alice wollte gerade den Mund aufmachen, da kam William ihr zuvor. »Wir können nichts versprechen, Meg«, sagte er. »Das weißt du genau.« »Na gut«, brummelte Meg. »Ich habe euch auf jeden Fall gewarnt.« Sobald die drei aus der Küche waren, stießen sie Seufzer der Er-
leichterung aus. »Alles ist so düster«, sagte Alice. »Ich habe mich darauf gefreut, hier zu sein, aber jetzt…« Sie ging hinüber zum Kamin und starrte ihn an. »Es liegt bestimmt daran, dass Mr. Tyler nicht mehr kommt«, stellte sie fest. »Aber er ist schon seit Hunderten von Jahren tot!«, rief William. »Nein!«, widersprach Alice. »Er ist noch nicht tot. Ratti Ratti – oder wie immer das dumme Vieh hieß – hat uns das doch erzählt.« »Alice«, beharrte William. »Er ist jetzt seit vierhundert Jahren tot.« »Warum machen wir uns dann Sorgen, dass er sterben könnte?«, fragte sie. William runzelte die Stirn. »Naja, wenn er einmal tot ist – in seiner eigenen Zeit –, dann können wir ihn auch nicht mehr Wiedersehen.« »Warum nicht?« Alice ließ nicht locker. »Wir könnten doch einfach in eine noch frühere Zeit zurückkehren, bevor er starb.« »Ich glaube, dass unsere Zeit und seine irgendwie parallel verlaufen. Wie zwei gerade Linien.« Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht…«, seufzte er. Mary hatte die ganze Zeit geschwiegen, aber plötzlich schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie ging mit entschlossenem Gesichtsausdruck hinüber zum Kamin. »Ich gehe jetzt da hoch«, sagte sie. »Zum Geheimzimmer?«, fragte Alice. »Aber das können wir nicht! Bitte, bitte, Mary, lass uns nicht da raufgehen! Du hast doch gehört, was Meg gesagt hat, dass jetzt die Ratten da oben sind!« »Ich gehe trotzdem«, sagte ihre Schwester und verschwand im Kamin. »Warum?«, fragte William. Er schien ihr auch nicht folgen zu wollen. »Weil wir da Stephen Tyler am nächsten sind und ihn jetzt dringend nötig haben«, antwortete Mary. »Hast du keine Angst?«, flüsterte Alice. »Natürlich habe ich Angst!«, fauchte Mary ungeduldig. Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, lief sie die Wendeltreppe hinauf in die Dunkelheit. Sie ließ sich keine Zeit, über mögliche Folgen einer so übereilten Entscheidung nachzudenken. Bei Tageslicht sah der Raum noch verwüsteter aus. Mary öffnete
beide runden Fenster und ließ die frische Morgenluft herein. Dann drehte sie sich um und wartete auf die anderen beiden. »Am meisten hasse ich den Gestank«, sagte Alice, die William in das Zimmer folgte und nahe bei der Tür stehen blieb für den Fall, dass sie plötzlich fliehen musste. William ging hinüber zum Spiegel, dem einzigen Einrichtungsgegenstand, und stellte sich vor ihn. »Das Spiegelglas des Magiers«, sagte Mary und ging langsam zu ihm. »Hat er ihn nicht so genannt? Oder habe ich das gerade erfunden?« »Nein, du hast Recht«, sagte William. »Und er sagte so etwas, dass der Spiegel in seiner Zeit andersherum wäre. Konkav statt konvex.« »Heißt es konkav, wenn das Glas nach innen gewölbt ist?«, fragte Mary. »Konkav sieht aus wie eine Schüssel von innen, konvex sieht so aus wie der Spiegel jetzt, wie eine Schüssel von außen. Mr. Tyler hat gesagt, dass der Spiegel in seinem Zimmer sich selbst hin und her reflektiert… wahrscheinlich von einer Spiegelkante zur anderen. Der Spiegel reflektiert den Spiegel, der wiederum den Spiegel auch reflektiert… und so weiter.« »Wie der bei den Simpsons im Badezimmer«, sagte Alice eifrig. »Erinnerst du dich, Mary?« Dann erklärte sie William, was sie meinte. »Die Simpsons haben zwei große Spiegel in ihrem Badezimmer, die sich gegenüber hängen. Und wenn man zwischen ihnen steht, dann ist es so, als würde man einen langen Flur hinuntersehen. Die Spiegel reflektieren sich einfach gegenseitig dauernd weiter – für immer.« »Wirklich – für immer?«, fragte William. »Naja, das Bild wird immer kleiner«, versuchte sich Mary zu erinnern. »Und der Flur biegt sich irgendwie.« »Biegt sich?«, sagte William nachdenklich. »Warum sollte er das tun?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Mary. »Ich frage mich immer, was hinter der Biegung ist…« »Das ist es!«, rief William plötzlich. »Das ist es!« »Was ist was?« »Er biegt sich! Licht… biegt sich. Ich bin sicher, das haben sie uns in Physik erzählt. Licht… biegt sich. Und eine Reflexion ist nur ein Bild, das irgendwie durch Licht weitergetragen wird…« Er run-
zelte die Stirn. »Deshalb sieht es wie eine Biegung aus, glaube ich… Weil nichts ganz gerade ist.« Noch mehr halb vergessene Informationen strömten in seinen Kopf und er wurde ganz aufgeregt. »So wie… wenn eine Rakete ins All geschossen wird… Sie geht in Wirklichkeit nicht gerade hoch… Sie beschreibt einen Bogen… sie folgt einem riesigen Kreis…« »Würde sie dann nicht irgendwann wieder dahin zurückkommen, wo sie gestartet ist?«, fragte Mary. »Ja, aber erst Millionen oder Milliarden Jahre später…« »Wie ein Sciencefiction-Bumerang«, sagte Alice. »Das ist es!«, rief William wieder. Er war so aufgeregt, dass er am liebsten in die Luft gesprungen wäre. »Was ist was?«, rief Mary gereizt. »In Mr. Tylers Arbeitszimmer… also eigentlich in diesem Zimmer, aber in seiner Zeit, nicht in unserer… ist dieser Spiegel wie eine Glasschüssel von innen. Richtig? Das hat er uns erzählt… Dass er sich selbst hin und her reflektiert…« »›Bis zum unendlichen Nichts‹, das hat er gesagt«, erinnerte sich Mary. »Wie die Badezimmerspiegel bei unseren Freunden.« »Wohin bringt uns das jetzt?«, fragte Alice. »Zeit«, sagte William. »Ich bin sicher, es hat etwas mit Zeit zu tun. Ihr habt das doch bestimmt auch schon gehört: Wenn man Millionen von Kilometern hinaus ins All fliegt und dann zurückkommt… dann ist man nicht so gealtert, wie die Menschen auf der Erde.« »Aber das ist doch bloß eine Geschichte, William«, widersprach Alice. »Wirklich? Woher kommt dann diese Vorstellung?« »Ich weiß nicht. Da hatte wohl jemand Fantasie«, sagte Mary. »Mr. Tyler hat doch gesagt, wir sollten unsere Fantasie benutzen, nicht wahr? Also gut – dann machen wir das auch! Wir brauchen noch einen Spiegel«, fuhr William fort, in Gedanken schon zwei Schritte weiter. »Wofür?«, fragte Alice. »Wenn wir einen Spiegel gegenüber von diesem hier aufhängen und die richtige Stelle erwischen…« »Es würde nicht klappen, William«, sagte Mary. »O Mary!«, unterbrach William sie gereizt. »Jetzt mach doch nicht schon vorher alles kaputt! Wir können es doch wenigstens
versuchen…« »Nein! Warte mal! Lass mich zu Ende reden! Es würde nicht klappen, weil dieser Spiegel das Äußere der Schüssel ist… wie immer das Wort heißt?« »Konvex«, sagte William nachdenklich und verstand, worauf sie hinauswollte. »Wahrscheinlich kommt dieser Effekt mit der Biegung nur mit zwei flachen Spiegeln zustande, die sich gegenüber hängen.« »Es muss aber trotzdem einen Punkt geben, genau in der Mitte dieses Spiegels, wo er flach ist. Und wenn wir den anderen in genau den richtigen Winkel bringen, müssten die beiden flachen Oberflächen direkt gegenüber sein.« Er versank wieder in seine Gedanken. »Was wir brauchen ist ein zweiter Spiegel«, sagte er. »Gibt es irgendwo noch einen Spiegel? Einen großen?« »Es gibt einen in unserem Badezimmer«, sagte Alice. »Der ist an der Wand festgemacht.« »In unserem Schlafzimmer gibt es eine Kommode mit einem Spiegel«, sagte Mary. »Er ist aber nicht sehr groß.« »Wir brauchen aber etwas Riesiges…« William zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. »Wir versuchen es mit dem aus eurem Zimmer. Ich bin gleich wieder da!« Er rannte aus dem Zimmer und kurz darauf hörten sie ihn die Treppe hinunterpoltern. Als er weg war, herrschte düsteres, bedrücktes Schweigen im Geheimzimmer. Mary ging ans Fenster und blickte hinüber zum Küchengarten und dem bewaldeten Steilhang dahinter. Obwohl die Fensterbank sehr hoch war, konnte sie gerade noch darüber sehen. Das trübe Licht dämpfte die herbstlichen Farben der Blätter und nach dem vielen Regen der vergangenen Nacht wehte ein feuchter Wind. Nur ein paar Vögel sangen in den Bäumen und die Wolken türmten sich am Himmel wie graue Wollknäuel. Alice hatte sich hinter Mary in der Nähe der Tür auf den Boden gekauert. Sie schwiegen beide nachdenklich. Mary erinnerte sich, wie sicher sie am Ende der Sommerferien gewesen war, dass sie bei ihrem nächsten Besuch in Golden House zurück in Stephen Tylers Zeit reisen würden. Sie hatte geglaubt, dass sie es nur genug zu wollen brauchten. Aber jetzt, wo es so dringend nötig war, schien es eine unlösbare Aufgabe zu sein. Alice wünschte sich, dass ein bisschen Magie passierte, egal wie. Sie fand es zwecklos, die Dinge verstehen zu wollen, wie William
das immer versuchte. Sie wollte einfach bloß ein Abenteuer. Sie seufzte trübselig. Wir sind doch bloß ein paar Tage hier, dachte sie, und nichts geht so, wie es soll. William lief die Stufen zum Treppenabsatz hoch. Die Aufregung darüber, dass er tatsächlich mit seinen Überlegungen weiterkam, versetzte ihn in Hochstimmung. Der Spiegel im Zimmer der Mädchen war in einen rechteckigen Rahmen aus geschnitztem Holz gefaßt und stand wie ein übergroßes Foto oben auf der Kommode, von einer Stütze auf der Rückseite gehalten. Als er ihn anhob, merkte er, dass es nicht einfach sein würde, ihn für das Experiment zu benutzen, das ihm vorschwebte. Jemand müsste ihn festhalten, was hieß, dass sie nicht alle drei gleichzeitig zwischen den beiden Reflexionen sein könnten. Aber es war besser als nichts. Wenigstens würde der Spiegel ihm helfen seine Theorie auszuarbeiten. Er nahm ihn ab und rannte die Wendeltreppe zur Galerie hinunter. Gerade als er über die Haupttreppe in die Halle laufen wollte, öffnete sich plötzlich eine Tür auf der Galerie und Phoebe kam heraus. »Wohin gehst du?«, fragte sie, als sie William auf der Treppe sah. William blieb wie angewurzelt stehen. Der Spiegel war zu groß, um ihn zu verstecken, obwohl er versuchte seinen Körper zwischen ihn und Phoebe zu bringen, die sich über das Geländer gebeugt hatte und zu ihm hinunterschaute. »Was machst du mit dem Spiegel, William?« »Nichts… Ich habe ihn bloß… Ich wollte ihn für eine Minute ausleihen.« »Ausleihen?«, fragte Phoebe erstaunt. »Wofür denn, um Himmels willen?« »Nur für… ein Experiment, das ich gerade mache«, sagte er strahlend. »Ich weiß nie, was ihr Kinder gerade wieder ausheckt«, sagte Phoebe besorgt. »Wir hecken gar nichts aus«, sagte William und schüttelte unsicher den Kopf. »Es ist nur… ein kleines Experiment.« »Aber zerbrich ihn nicht«, sagte sie und ging zurück in ihr Zimmer. William wartete einen Augenblick, und als Phoebe nicht zurückkam, lief er schnell weiter die Treppe hinunter und durch die Halle. Als er in den Schutz des Kamins trat, seufzte er vor Erleichterung.
Aber wenn er noch kurz einen Blick auf die Galerie geworfen hätte, bevor er über die steinernen Vorsprünge nach oben kletterte, dann hätte er sehen können, dass Phoebe oben im Schatten der Galerie stand und ihn mit wachsendem Argwohn beobachtete. Als William im Geheimzimmer ankam, warteten die beiden Mädchen immer noch schweigend auf ihn. »Das war knapp!«, sagte er. »Ich bin Phoebe über den Weg gelaufen. Sie wollte wissen, was ich mit dem hier vorhabe.« Er hielt den Spiegel mit beiden Händen vor sich. »Was hast du gesagt?«, fragte Alice. »Ich habe ihr die Wahrheit gesagt«, antwortete William. »Ich sagte, dass ich ihn für ein Experiment brauche. Und jetzt…« Er stellte sich vor den Spiegel an der Wand und hielt den aus dem Zimmer der Mädchen hoch. Er begann ihn auszurichten, so dass die beiden Reflexionen sich perfekt gegenüberlagen. Mary und Alice beobachteten ihn fasziniert und kamen langsam näher. »So ist es nicht sehr gut«, sagte William zu sich selbst. »Man kann es kaum erkennen. Wenn eine von euch sich vielleicht dazwischen stellen könnte…« Alice stellte sich vor den Spiegel an der Wand, William stand hinter ihr. »Was kannst du sehen?«, fragte William. »Mich!«, sagte sie. »Ich kann den anderen Spiegel überhaupt nicht sehen, weil ich davor stehe.« »Ach, es hat keinen Zweck«, sagte William enttäuscht. »Lass es mich versuchen«, sagte Mary und nahm William den Spiegel ab. Sie spähte am Rahmen vorbei, um die Reflexion im Wandspiegel zu sehen. »Geh weg, Alice! Ich kann überhaupt nichts erkennen, wenn du im Weg stehst!« Sobald Alice zur Seite trat, konnte Mary sich selbst und ihren Spiegel in dem Spiegel an der Wand reflektiert sehen. Sie konzentrierte sich auf die Reflexion und sagte: »Da ist eine Art Flur, wenn man direkt in die Mitte schaut. Aber die Spiegel sind beide zu klein, damit es wirklich funktioniert.« Alice drehte sich um und sah Mary an. Dann schrie sie auf! Das Geräusch überraschte Mary und William so sehr, dass Mary fast den Spiegel fallen ließ und William herumwirbelte, weil er sofort dachte, Alice hätte eine Ratte gesehen. »Oh!«, keuchte er und starrte wie Alice in Marys Richtung. »Was? Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Mary panisch vor Angst. »Morten!«, wisperte William.
»Wo?«, fragte Mary verzweifelt. »Im Spiegel«, sagte William. »Kann er uns sehen?«, flüsterte Alice und schaute immer weiter das Gesicht des Mannes an, der aus Marys Spiegel auf sie herunterstarrte. »Ich weiß nicht«, sagte William. Er bewegte beim Sprechen kaum die Lippen. Das Gesicht im Spiegel war so deutlich, wie eine ihrer eigenen Reflexionen gewesen wären. Der Mann hatte schulterlanges, schwarzes Haar, das an den Schläfen zurückwich, so dass der Haaransatz eine seltsame Spitze auf der Stirn bildete. Sein Gesicht war sehr bleich und seine Augen sehr dunkel. Man konnte auch noch seinen Hals und seine Schultern erkennen. Er trug ein weißes, am Hals offenes Hemd mit einem breiten, spitzenbesetzten Kragen. Er starrte angespannt zu ihnen heraus, ohne die Augen zu bewegen oder auch nur zu blinzeln. Er schien sich so sehr zu konzentrieren, dass er nichts sah, obwohl seine Augen offen waren. »Ist er das?«, wisperte Alice. William nickte, ohne auch nur einen Moment das Gesicht im Spiegel aus den Augen zu lassen. »Das ist der Mann, den ich im Sommer oben am See gesehen habe. Als die Krähe mir das Pendel abgenommen hat.« »William, ich kann das nicht viel länger festhalten«, bat Mary. Sie fing an zu zittern und ihre Finger hielten den Rahmen so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Warte noch…«, drängte William leise. »Warte noch…« Der Mann, Morten, hob eine Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein Stück Gold an einer dünnen Kette. »Das Pendel!«, wisperte William. »Er hat das Pendel!« »Nein!«, sagte Mary mit zittriger Stimme, aber sicherer als vorher. »Er kann es nicht haben. Es ist in meiner Tasche.« »Dann muss er selbst eins besitzen«, antwortete William. »Er kann uns nicht sehen«, sagte Alice. »Ich bin mir ganz sicher.« Während sie ihn weiter beobachteten, begann das Pendel langsam hin- und herzuschwingen. Mortens Augen folgten der Bewegung, von links nach rechts, von rechts nach links. Aber plötzlich und offensichtlich, ohne dass er es beeinflusste, wurde die langsame, rhythmische Bewegung schneller. Morten beobachtete mit sichtlich wachsender Verwunderung, wie das Stück Gold sich immer schneller wie ein Propeller im Kreis drehte und dabei an der Kette von
seinen Fingern weg nach vorne schwang, bis es so schnell vor ihm kreiste, dass es nur noch wie ein Kranz aus Licht aussah, der sein erschrockenes Gesicht einrahmte. »William!«, rief Alice entsetzt. »Er kann mich jetzt sehen! Ich bin ganz sicher! Er starrt mich an!« »Was ist los?«, schrie Mary und ihre Arme begannen so heftig zu zittern, dass der Spiegel hin- und herkippte. Der Ausdruck auf dem Gesicht im Spiegel, auf Mortens Gesicht, das über vierhundert Jahre hinwegblickte, änderte sich von großer Konzentration zu völliger Überraschung, dann Schock und schließlich Entsetzen. Er öffnete seinen Mund und einen Moment später zerschnitt ein solcher Schreckensschrei die Stille im Zimmer, dass William und Alice sich unwillkürlich die Ohren zuhielten. Dann geschahen zwei Dinge so blitzartig nacheinander, dass nicht klar war, welches zuerst passierte. Das Glas des Spiegels, den Mary immer noch umklammert hielt, zersplitterte mit einem ohrenbetäubenden Krach in tausend glitzernde Teilchen und in der Tür hinter Mary erschien im selben Augenblick Phoebe mit abwehrend ausgestreckten Händen und blankem Entsetzen in den Augen. »Um Himmels willen!«, rief sie. »Was zum Teufel geht hier vor?«
8 Jacks Neuigkeiten Die Kinder mussten den ganzen Vormittag in ihren Zimmern verbringen, bis Jack kurz vor dem Mittagessen aus der Stadt zurück sein würde. Phoebe hatte ihnen verboten runterzukommen. »Als wären wir ungezogene, kleine Kinder«, schimpfte Mary und stampfte ins Bad, um sich die Haare zu kämmen, weil ihr Spiegel völlig zerbrochen war. »Sie könnte uns genausogut ohne Essen ins Bett schicken. Lächerlich! Was glaubt sie denn, wer sie ist?« »Meinst du, sie war schon mal im Geheimzimmer?«, fragte William. Er saß auf Alices Bett, die Hände in den Taschen, und starrte aus dem Fenster. »Woher soll ich das wissen?«, fauchte Alice. Sie stand immer noch unter Schock und das machte sie gereizter und übellauniger. William warf ihr einen Blick zu, aber er erwiderte nichts. Manchmal war es am klügsten, sie in Ruhe zu lassen, wenn sie eine ihrer Launen hatte, sonst bestand die Gefahr, sie noch mehr zu reizen. Die schlechte Laune hielt dann stundenlang an und konnte immer schlimmer werden, bis es in ihrer Nähe nicht mehr auszuhalten war. »Vielleicht war sie zu sauer, um etwas mitzukriegen«, meinte Mary, als sie ins Zimmer zurückkam. »Wer?«, fragte William überrascht, weil sie offenbar seine Gedanken lesen konnte. »Phoebe natürlich!«, fauchte Mary ihn an und warf sich auf ihr Bett. »Ach, Phoebe! Ich dachte, du meintest Alice!« »Also entschuldige bitte, William, aber ich bin nicht sauer«, sagte Alice. »Ich bin wütend! Wie kann sie es wagen, uns so zu behandeln? Wie kann sie es wagen? Am liebsten würde ich runtergehen und ihr sagen, was ich wirklich von ihr halte…« »Alice!«, sagte Mary gelangweilt. »Hör einfach auf.« »Tja«, meinte William und fuhr mit dem eigentlichen Thema fort. »Sie hat mit Sicherheit den zerbrochenen Spiegel mitgekriegt! Ich dachte schon, sie bekäme einen Anfall.«
»Sie hatte doch eigentlich einen«, sagte Mary mit einem Lachen. »Jetzt haltet doch beide einfach die Klappe!«, schrie Alice. »Was kümmert uns Phoebe überhaupt? Ich habe sie nie gemocht. Sie hat immer schlechte Laune. Es ist viel wichtiger, was passiert ist, bevor sie heraufkam.« »Stimmt, Alice«, sagte William. »Wir haben diesen schrecklichen Morten tatsächlich gesehen. Er hat uns aus Marys Spiegel heraus angesehen. Aber wie?« »Ich weiß nicht«, sagte William, aber seine Gedanken waren ganz woanders. »Durch die Reflexion«, sagte Mary. »Ich habe den Spiegel so gehalten, dass er den Spiegel an der Wand reflektierte. Was du also in meinem Spiegel gesehen hast, muss im Spiegel hinter dir gewesen sein.« »Aber im Spiegel an der Wand war nichts zu sehen«, widersprach Alice. Mary zuckte die Schultern. »Es ist trotzdem die einzige Erklärung. Morten muss im Arbeitszimmer des Magiers in den Spiegel geschaut haben und irgendwie hat unser Spiegel die Reflexion aufgenommen.« »Und dann hat er uns gesehen. Das ist es, was mir Angst gemacht hat«, sagte Alice leise. »Plötzlich hat er mich direkt angesehen!« »Also hat er wegen dir so geschrien!«, sagte Mary. Sie lag kichernd auf ihrem Bett. »Ich wünschte, wir wüssten, wie viel Phoebe wirklich weiß«, sagte William ruhig. Seine Sorge war verständlich. Als Phoebe sie bei ihrem Experiment überraschte, hatte sie gekocht vor Wut. Sie hatte sie so eilig aus dem Zimmer und die Wendeltreppe hinunter befördert, dass noch nicht einmal Zeit geblieben war, die Fenster wieder zu schließen. Als sie wieder in der Halle standen, hatte sie die Kinder hinauf in ihre Zimmer geschickt und angeordnet, dass sie dort warteten, bis sie gerufen würden. Sie war so zornig mit ihnen gewesen, dass keiner von ihnen es für klug gehalten hatte, ihr zu widersprechen. »Sie hat das Gesicht im Spiegel nicht sehen können«, sagte Mary. »Ich meine, ich habe es ja auch nicht sehen können, weil ich in die falsche Richtung geschaut habe, und sie kam ja hinter mir herein.« »Wovor hatte sie dann solche Angst?«, fragte William verwirrt und starrte wieder aus dem Fenster. »Das hatte sie nämlich. Du konntest ihr Gesicht nicht sehen, Mary, weil du mit dem Rücken zu
ihr standst, aber sie sah absolut entsetzt aus, als sie hereinkam. Fast so, als hätte sie ein Gespenst oder so was gesehen.« Als William das sagte, wurde Mary nachdenklich. Seine Worte hatten ein Stückchen Erinnerung wachgerufen. Es war so schwach, dass sie sich normalerweise kaum daran erinnert hätte. »Komisch«, sagte sie und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. »Was?«, fragte William. »Mir ist gerade eingefallen… Als der Spiegel in meinen Händen zersprungen ist und Phoebe hinter mir ihre Tirade losließ…« Dann schüttelte sie den Kopf. »Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.« »Was denn?«, schrie William. Es machte ihn manchmal verrückt, dass Mary nie zur Sache kam. »Na ja… als ihr vom Spiegel zur Tür und zu Phoebe geschaut habt, da war hinter euch beiden so ein… ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll… ein…« – sie zuckte die Schultern –, »fast so was wie Nebel, eine Art Schatten.« William, der aus dem Fenster gestarrt hatte, drehte sich jetzt langsam zu seiner Schwester um. »Was?«, keuchte er. »Ein Schatten – irgendwie«, erwiderte Mary schwach. »Oder… mehr als ein Schatten… Nebel. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es hielt sich nicht lange. Es wehte… irgendwie fort.« »Wie ein Gespenst?«, wisperte Alice. Sie fror plötzlich sehr und zitterte. »Nein! Nur…« Mary runzelte die Stirn und strengte sich an genau zu erinnern, was sie gesehen hatte. »Wie ich gesagt habe… Nebel.« Sie versuchten gerade zu begreifen, was Mary ihnen beschrieb, als Jack von unten etwas rief. Sie verstummten. »Was ist los gewesen?«, fragte Jack und kam mit großen Schritten ins Zimmer. »Warum seid ihr alle hier oben?« »Phoebe hat gesagt, wir sollen hier bleiben«, sagte Alice bockig. »Genau!«, gab Jack zurück. »Aber warum? Sie wollte mir nicht erzählen, was ihr angestellt habt.« »Sie hat uns oben im Geheimzimmer gefunden«, sagte William. »Ah, ja«, sagte Jack und lehnte sich gegen die Kommode, um die drei genauer zu betrachten. »Wie lange kennt ihr die Treppe im Kamin schon?« »Ewigkeiten«, antwortete Alice mit vernichtendem Unterton. Im Moment war sie gegen jeden und sogar Jack blieb von ihrer gereiz-
ten Stimmung nicht verschont. »Ihr hättet mir schon davon erzählen können«, sagte er bekümmert. »Ich wette, ihr wisst eine Menge über dieses Haus.« »Sie war wirklich böse mit uns, Onkel Jack«, sagte Mary. »Geht es ihr wieder besser? Ich meine Phoebe. Sie sieht so… krank aus.« »Nein, es geht ihr nicht gut«, seufzte Jack. Er ging langsam zu dem kleinen Fenster, lehnte sich auf die Fensterbank und blickte hinaus. Einen Augenblick lang schwieg er, und als er zu sprechen begann, starrte er mit dem Rücken zu ihnen weiter nach draußen. »Ihr könnt es ruhig wissen. Ich war bei einem Makler in der Stadt. Ich habe Golden House zum Verkauf angeboten.« »Was?«, stieß William hervor. »Das kannst du nicht machen!« »Meinst du… du verkaufst Golden House?«, sagte Alice schockiert. »Ja! Genau das meine ich«, antwortete Jack, drehte sich um und sah sie an. »Der Typ hatte schon alle Einzelheiten über das Haus. Es ist dieselbe Firma, von der wir es damals gekauft haben. Aber er schickt am Montag jemanden heraus zu uns, der die Verbesserungen am Haus feststellen soll. Schließlich haben wir viel instand gesetzt – was den Preis erhöhen sollte…« »Aber… das kannst du nicht!«, sagte Mary genau im selben Ton wie William. »Du bist doch so gerne hier!« Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. »Ja, das bin ich«, stimmte Jack zu. »Aber vielleicht ist das selbstsüchtig von mir gedacht. Ich liebe Phoebe und Stephanie mehr als das Haus und ihr Glück liegt mir viel mehr am Herzen.« »Will die das so?«, fragte Alice. Jack runzelte die Stirn. »Wen genau meinst du mit ›die‹, Alice? Wenn du Phoebe meinst, dann ist das keine sehr höfliche Art, von ihr zu sprechen, oder? Also, sprichst du von Phoebe?«, fügte er jetzt wirklich zornig hinzu. »Tut mir Leid«, sagte Alice schmollend. »Aber Onkel Jack, du kannst doch Golden House nicht verkaufen!«, bettelte William. »Doch, das kann ich«, versicherte Jack ihm milde. »Wo wollt ihr denn hinziehen?« »Das weiß ich nicht.« »Was passiert mit dem Hotel und eurem Plan für den Erholungsort?«, fragte Mary. »Vielleicht verwirklichen wir den irgendwo anders«, sagte Jack gleichgültig.
»Aber ihr werdet nirgendwo ein Haus finden, das auch nur annähernd so schön ist wie dieses.« »Nicht, Mary!«, sagte Jack. »Ich fange noch an zu heulen, wenn du so weiterredest.« Er grinste sie aufmunternd an. »Hast du es Phoebe schon erzählt?«, fragte William. »Nein, noch nicht«, antwortete Jack. »Aber ich sage es ihr bei passender Gelegenheit.« »Onkel Jack, bitte mach das nicht. Bitte nicht!«, bat Mary inständig. »Sei nicht traurig«, sagte Jack und legte einen Arm um Marys Schultern. »Es ist doch nur ein Haus! Ein baufälliges Haus! Ich nehme an, man braucht Ewigkeiten, um es zu verkaufen. Obwohl der Makler sagte, dass er vielleicht einen Interessenten habe.« »Was geschieht mit Meg?«, fragte William, der nach jedem Strohhalm griff, mit dem er Jacks Entschluss vielleicht ändern konnte. »Sie findet schon eine andere Wohnung. Dank euch kann sie schließlich ihr ganzes Land bis zum See verkaufen!« »Aber die Crawdens werden es kaufen!«, rief William. »Und sie werden ihren Vergnügungspark bauen«, fügte Mary hinzu. »Und wenn sie das tun, werden eine Menge Leute in dieser Gegend sehr erfreut sein«, sagte Jack und ging zur Tür. »Wir haben uns nicht gerade beliebt gemacht, als wir versucht haben das zu verhindern.« »Willst du deshalb verkaufen?«, fragte William sehr enttäuscht. »Weil du dich unbeliebt gemacht hast?« »Nein, William«, erwiderte Jack und sah ihn dabei direkt an. »Ich verkaufe das Haus, weil Phoebe hier unglücklich ist und ich fürchte, dass sie mich verlässt, wenn ich es nicht tue, und mit Stephanie woanders hingeht. Ich glaube nicht, dass ein Haus das alles wert ist, wisst ihr?« »Dieses Haus schon«, sagte Mary fest, »und alles, was ihr damit vorhattet. Das war doch so gut!« »Naja«, sagte Jack mit einem traurigen Lächeln, »das ist jetzt alles vorbei. Je eher wir hier wegkommen und wieder irgendwo richtig wohnen können, desto besser für uns.« Er ging hinaus auf den Treppenabsatz. »Es ist besser für uns alle…« Dann hörten sie, wie seine Schritte die Steintreppe hinunter verschwanden. Als sie allein waren, starrten sich die Kinder ungläubig an und
sprachlose Stille herrschte im Zimmer. In ihren Köpfen überschlugen sich die Gedanken. »Das darf er nicht«, flüsterte Alice vor sich hin. »Er darf es einfach nicht!« »Aber er wird es trotzdem tun«, seufzte William. »Wir müssen ihn aufhalten«, meinte Mary. »Wie denn?«, fragte Alice. »Indem wir sie dazu bekommen, dass sie hier bleiben will«, antwortete Mary gedankenverloren. »Und wie sollen wir das wohl anstellen?«, fragte William mit Spott und Zweifel in der Stimme. »Indem wir Morten ein für alle Mal aufhalten«, erwiderte Mary, holte das Pendel des Magiers aus ihrer Hosentasche und starrte es nachdenklich an. »Morten? Du meinst, das ist Mortens Werk?« »Ich bin mir ganz sicher«, antwortete Mary. »In seiner eigenen Zeit wird er bald Herr dieses Hauses sein. Er muss sich wohl wirklich freuen, dass Mr. Tyler im Sterben liegt… Ja, wir müssen es beim Namen nennen. Er liegt im Sterben… und bald wird Morten dieses Hauses übernehmen. Wir wissen, dass das geschehen wird. Miss Prewett hat es uns gesagt und Sir Henry Crawden auch. Das ist ein Teil der Geschichte. Er kann nicht verändert werden. Morten wird der Herr hier sein und nach seinem Tod wird seine Familie diesen Ort bis zum heutigen Tag weiter beherrschen. Aber was er nicht wissen konnte ist, dass Phoebe in unserer Zeit hier lebt… Weil Phoebe auch eine Tyler ist und Stephanie die neue Generation, und weil Stephen Tyler hoffte, dass Stephanie eines Tages, wenn sie erwachsen ist, irgendwie seine Arbeit fortführt… und weiter in Golden House lebt…« »Du meinst, Stephanie wird eine Magierin?«, fragte Alice. »Das ist ein bisschen weit hergeholt, Mary«, sagte William. »Aber darum geht es doch nur, oder nicht?«, fuhr Mary sie beide aufgebracht an. »Aber es gibt heute keine Magier mehr, Mary«, spottete William. »Und überhaupt sind Magier alle Männer«, fügte Alice hinzu. »Willst du damit sagen, dass Stephanie irgendwann mal eine Hexe ist?« Bei dem Gedanken musste sie kichern. »Deshalb wollte Stephen Tyler, dass sie ein Junge wird«, sagte Mary immer noch verärgert. »Und das ist eine ziemlich sexistische Bemerkung, Alice, damit du es weißt. Wenn Männer Magier sein
können, warum sollen Frauen keine sein können? Und was heißt ›ein Magier sein‹? Was Stephen Tyler betrifft, bedeutet es nicht irgendwelche Zaubersprüche oder so…« »Aber was bedeutet es dann?«, fragte William. Als Mary seufzte und auf ihre Füße schaute, fuhr er fort: »Er hat es uns nicht gesagt, oder? Wir wissen gar nicht richtig, worum es bei all dem hier geht. Und bis wir das wissen, tappen wir weiter im Dunkeln.« »Deshalb müssen wir zu ihm gehen«, sagte Mary und starrte auf das Pendel, das von ihrer Hand hing und sanft von einer Seite zur anderen schwang. »Sehr richtig!«, bemerkte eine Stimme plötzlich, so dass sie vor Schreck zusammenfuhren. »Wer war das?«, wisperte Alice. »Ich, kleines Mädchen!«, verkündete Rattus Rattus und lief leise den Dachbalken dicht über ihren Köpfen entlang. »Oh! Du hast mich vielleicht erschreckt!«, rief Mary. »Der Schreck, den ihr allen in meiner Zeit eingejagt habt, war größer«, zischte die Ratte auf sie hinunter. »Haben wir das?«, fragte William. »Was haben wir getan?« »Nur Matthew Morten, den Assistenten des Magiers, in eure Zeit geholt.« »Was?«, rief William. »Wo ist er?« »Irgendwo im Haus, denke ich«, erwiderte Rattus Rattus. »Der Meister will euch unbedingt sehen. Jetzt ist für euch der Moment gekommen, denke ich, dass ihr selbst mal eine kleine Zeitreise unternehmt. Trefft mich morgen beim Stehenden Stein am Golden Water.« »Aber was ist mit Morten?«, rief Alice. »Ist es nicht gefährlich, wenn er hier herumwandert?« »Es ist noch komplizierter als das«, zischte die Ratte. »Es sieht so aus, als ob sein Körper immer noch in seiner Zeit ist, aber sein Geist jetzt… wandert.« »Was heißt das?«, fragte William. »Einfach, dass… sein Geist hier ist und sein Körper da. Es könnte vielleicht schwierig werden, die beiden wieder zusammenzubekommen! Der Meister wird es erklären.« »Aber sollten wir nicht sofort zu ihm gehen?«, drängte Mary. »Nein. Ich muss noch viel erledigen, bevor ich euch mit zurücknehmen kann. Trefft mich zur zweiten Stunde am Nachmittag. Seid dort! Die Dinge sind dabei, außer Kontrolle zu geraten. Wir haben
nicht viel Zeit. Bis dahin macht bitte keiner von euch weitere Experimente! Ihr seid näher am Verstehen der Dinge, als ihr wisst, und Verstehen ohne wirkliches Wissen kann eine gefährliche Waffe sein. Ihr könnt sie auf euren Gegner richten, wie man mit einer Kanone auf den Feind zielt, aber sie feuert in eure eigenen Gesichter zurück, wenn ihr nicht sehr vorsichtig seid!«
9 Geisterjagd Die Nacht war pechschwarz. Es schien kein Mond und der Wind stöhnte um das Haus. Oben in den Dachzimmern wurde das tiefe Atmen der schlafenden Kinder vom Knarren der Dachbalken begleitet. Eine Etage darunter in Jacks und Phoebes Zimmer brannte Licht. Jack ging in seinem Morgenmantel auf und ab und wiegte die leise wimmernde Stephanie in seinen Armen. Phoebe lag im großen Doppelbett und beobachtete ihn. Ihr Gesicht war verheult, aber sie weinte nicht mehr. »Ich wünschte, es wäre alles nicht passiert!«, sagte sie. »Ganz ehrlich. Jack, du kannst dieses Haus nicht verkaufen. Du hängst zu sehr daran.« »Wir können so nicht weitermachen.« »Es ist nur meine Schuld…« »Es ist niemandes Schuld. Es hat nur einfach nicht geklappt, wie wir es wollten. Hier zu leben, meine ich. Wir finden ein anderes Haus…« »Trotzdem… Ich habe das Gefühl, dass wir davonlaufen und dass das meine Schuld ist, was immer du sagst.« Mit gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf, als ob sie ihren eigenen Gedanken nicht glauben könnte. »Ich habe wirklich gedacht, ich käme heim, als wir dieses Haus fanden. Ich fühlte mich hier so… ruhig und sicher. Das war natürlich ganz am Anfang. Jetzt ist es so, als ob jemand oder wahrscheinlich wohl etwas versucht mich zu vertreiben. Ich fühle mich… die ganze Zeit beobachtet. Ich fühle mich… nicht erwünscht. Als mein Vater noch lebte, hat er immer davon gesprochen, in einem Haus wie diesem zu wohnen. Es war sein Traum. Er hatte so eine Theorie, dass unsere Familie irgendwann in der Vergangenheit von Rang war… Weißt du, was ich meine? Dass wir ›wer waren‹. Papa war ein guter Mensch. Ich wünschte, du hättest ihn gekannt. Er war überzeugt davon, dass wir aus einer besonderen Familienlinie kommen! Mutter und ich haben uns oft über ihn lustig gemacht. Offenbar waren die Taylors vor Jahren kleine Gutsbesitzer irgendwo in der Nähe von Stratford. Aber unsere Familie lebte in einem Gemeinde-
eigenen Haus in Coventry. Ich möchte mal wissen, was daran so besonderes ist.« »Jeder ist etwas Besonderes, Phoebe. Häuser machen keine Leute. Leute machen Häuser.« »Ich weiß, ich weiß. Aber als wir dieses Haus gefunden haben, als wir ausgerechnet hatten, dass wir es uns… gerade so… leisten konnten«, erinnerte sie sich lächelnd, »da war ich so… aufgeregt! Ich habe tatsächlich gedacht, es wäre so eine Art Wink des Schicksals – dass wir absichtlich hierher geführt wurden! Du musst doch zugeben, dass die Art, wie wir es gefunden haben, ganz schön seltsam war.« »Du hast noch nie gut Karten lesen können!«, sagte Jack sanft. »Aber einfach aus Versehen hier anzukommen und das Haus steht sogar noch leer…! Und dann in die Stadt zu gehen und zu entdecken, dass es tatsächlich zum Verkauf steht…!« Sie schauderte und schüttelte den Kopf. »Siehst du«, wisperte Jack, »sie schläft jetzt.« Er legte Stephanie sanft auf die Seite in ihr Bettchen, zog seinen Morgenmantel aus und kletterte wieder ins Bett. Dann knipste er die Lampe aus. »Versuch ein bisschen zu schlafen«, sagte er und kuschelte sich unter die Decke. »Das brauchen wir beide. Wir sind mit unseren Nerven am Ende, weil wir kaum Schlaf bekommen.« »Jack«, wisperte Phoebes Stimme im Dunkeln. »Als ich die Kinder da oben in dem Zimmer gefunden habe… Ich weiß, dass ich da die Nerven verloren habe. Das ist noch einer von meinen Fehlern. Ich habe diese furchtbaren Zornesausbrüche… Aber ich hatte solche Angst um sie, Jack. Irgendetwas Böses ist hier…« »Deine Fantasie geht mit dir durch, das ist das Problem. Jetzt schlaf, Liebling.« Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. Draußen auf dem Flur knackte ein Dielenbrett. In der Küche darunter hob Spot seinen Kopf und spitzte die Ohren. Leise erhob er sich aus seinem Korb neben dem Herd und tapste zur Tür. Er blieb stehen, die Nase am Boden, und schnüffelte aufmerksam unter dem Türschlitz. Er konnte undeutlich einen fremden Geruch feststellen, zum Teil menschlich, zum Teil erdig. Ein saurer, bitterer Geruch. »Morten?«, knurrte er. Die Tür war zu. Er hatte das schon immer für eine lächerliche Vorsichtsmaßnahme gehalten. Wie sollte er auf das Haus und auf das Baby aufpassen, wenn ein dickes Eichenbrett zwischen ihm und dem Rest des Hauses stand? Die Hintertür dagegen machte ihm keine
Probleme. Hier konnte er den Riegel mit der Pfote hochheben. Er hatte das schon viele Male getan. Manchmal drehten die Menschen den Schlüssel um, bevor sie ins Bett gingen, aber normalerweise machten sie sich nicht die Mühe. Sie wussten, dass es jeder Eindringling zuallererst einmal mit ihm zu tun bekam. Spot entriegelte die Tür mit der Pfote und schlich hinaus in die dunkle Nacht. Sobald er im Hof war, trottete er zum Küchengarten und lief schnell auf dem mittleren Weg zum Taubenhaus. Er bellte einmal: »Jasper!«. Jasper knabberte gerade an einem delikaten Stückchen Wühlmaus hoch oben auf einem Vorsprung am Taubenhaus. Das war einer seiner liebsten Futterplätze. Als er den Hund bellen hörte, war er zuerst verärgert. Die Nacht war noch lang. Er hatte vor in die Gegend von Four Fields zu fliegen. Seit Meg ihr Haus da oben verlassen hatte, hatten Kaninchen und Mäuse den Ort in Besitz genommen. Jasper hatte die Absicht, so viel wie möglich zu fressen, bevor der Winter einbrach. Der Wind brachte schon den Geruch von Schnee mit sich und der morgendliche Tau sah immer häufiger wie Raureif aus. »Was ist?«, schrie er. »Ich weiß nicht«, grollte Spot. »Etwas… Morten. Im Haus.« »Im Haus?«, flötete die Eule klagend. »Wieder seine Ratten?« »Nein«, bellte Spot. »Stärker als das! Menschlich!« Plötzlich war Jasper hellwach. Er setzte sich gerade, zog die Schultern hoch und blinzelte mit seinen großen Augen von links nach rechts. »Menschlich?«, schrie er. »Er ist hier?« »Ich glaube schon«, grollte Spot. »Trotzdem ist es nicht sehr stark. Komisch! Hier und doch nicht hier«, knurrte er leise. »Ich verstehe das nicht und ich kann auch nicht nachsehen. Ich komme nicht ins Haus, weil die Türe zu ist.« Jasper betrachtete den dunklen Umriss des Hauses gegen den Nachthimmel jenseits der Gartenmauer. »Das runde Fenster ist offen«, murmelte er zu sich selbst. »Seltsam! Normalerweise ist es zu, wenn der Meister nicht hier ist.« »Du könntest da hineinkommen«, rief Spot. »Aber weck zuerst die Kinder! Sie sollen mir die Küchentür aufmachen.« Mary wachte mit einem Schreck auf. Ein Geräusch hatte sie mitten in einem Traum gestört, den sie sofort vergaß, als sie die Augen öffnete. Das Zimmer war dunkel. Sie hob den Kopf vom Kissen und
spähte hinüber zum Fenster. Da war es wieder! Ein seltsames, nachdrückliches Klopfen von der anderen Seite der Fensterscheibe. Dann sagte ihr ein leises Flöten, dass es Jasper war. Sie kroch aus dem Bett und lief zum Fenster. Kaum war es offen, erschien Jasper und setzte sich auf die Fensterbank. »Etwas ist passiert!«, flötete er leise. »Spot kann Morten hier im Haus riechen.« »Das wissen wir«, wisperte Mary. »Ihr wisst das?« Die Eule blinzelte missbilligend. »Rattus Rattus hat es uns erzählt.« »Er hätte es mir erzählen sollen. Warum hat er es mir nicht erzählt? Das ist gegen die Regeln. Wo ist sie jetzt – diese Ratte?« »Ich weiß nicht«, sagte Mary ziemlich schuldbewusst. »Wir dachten, er hätte es euch allen erzählt.« »Also mir hat er es ganz bestimmt nicht erzählt!«, antwortete Jasper und setzte eine überhebliche Miene auf. Er war ganz offensichtlich nicht erfreut. »Er sagte, er hätte eine Menge zu tun«, berichtete Mary. »Ohne mich? Wenn der Meister kommt, bin ich der Erste, dem das gesagt werden muss. Wer ist dieser Rattus Rattus?« »Die Ratte des Magiers«, sagte Mary. »Ja! Das hat Sirius mir erzählt. Soweit ich weiß, hat der Meister keine Ratte. Ich fresse Ratten. Und ich würde mich sehr freuen, diese Ratte kennen zu lernen. Im Übrigen halte ich die ganze Sache für hochgradig verdächtig.« »Tut mir Leid«, sagte Mary und wünschte Jasper würde sich nicht so aufregen. »Mir auch! Hat er gesagt, wie Morten hierher gekommen ist?« Mary erklärte es so kurz wie möglich. Als sie Jasper die Geschichte erzählte, fühlte sie sich furchtbar schuldig für alles, was passiert war. »Sein Geist ist hier? Nur sein Geist?« »Das hat Rattus Rattus gesagt.« »Aber sein Geist ist schon oft in seinen Geschöpfen hier gewesen.« »Aber es ist mehr wie… ein Gespenst, glaube ich«, sagte Mary. »Ein Gespenst?«, klagte Jasper. »Dann müssen wir dieses Gespenst verjagen. Ich sehe mal im Geheimzimmer nach. Die Fenster sind offen.« »Das ist unsere Schuld, fürchte ich«, sagte Mary und wollte es ge-
rade erklären, aber Jasper unterbrach sie. »Du liebe Zeit!«, sagte er. »Wenn man nicht ständig auf euch aufpasst! Weck die anderen auf und geht runter zu Sirius in die Küche. Ein Gespenst… also wirklich!«, schrie er und flog über das Dach zum runden Fenster des Geheimzimmers. Nachdem die Kinder sich angezogen hatten, gingen sie in die Küche hinunter. Sie mussten über die Galerie schleichen, aber sie hatten es doch so eilig, dass sie den blassen Schatten in der Ecke neben Jacks und Phoebes Tür nicht bemerkten. Nur Mary, die dicht an diesem Phantom vorbeiging, bevor sie die Treppe hinunterlief, schauderte kurz. Sie spürte große Kälte. Aber sie hielt es für Nachtluft und dachte in dem Augenblick nicht weiter darüber nach. Spot sprang sofort zu ihnen heraus, als sie die Tür öffneten. Er blieb mit erhobener Vorderpfote stehen und schnupperte in die Luft. Dann schwang sein Kopf in Richtung Treppe herum, und ohne die Kinder zu beachten, rannte er an ihnen vorbei und lief leise die Treppe hinauf. Im selben Augenblick kam Jasper vom Geheimzimmer herunter aus dem Kamin geflogen. Als er durch die Halle segelte, sah er die blasse, nebelhafte Erscheinung des Mannes oben auf der Galerie. »Mary!«, flötete er. Mary blickte nach oben und im selben Augenblick fühlte sie, wie sie sich vom Boden in die Luft erhob. Jetzt sah sie durch Jaspers Augen und sofort konnte sie Mortens Gestalt erkennen. »Er ist ziemlich jung«, wisperte sie und starrte auf sein erschrecktes Gesicht, das ängstlich beobachtete, wie die Eule aus dem Dunkeln auf ihn zuflog. »Aber gefährlich!«, schrie Jasper und streckte seine Krallen aus. Im letzten Moment, als die Klauen schon nach der Wange des Mannes hackten, wurde das Bild schwächer und nichts als wirbelnder Nebel und eine schreckliche Kälte, die Mary ins Herz traf, blieb zurück. »Ein Gespenst«, wisperte sie. Spot spürte die Kälte wie einen leichten Wind über seinen Rücken streichen. Er wirbelte herum und folgte dem Geruch von einem Ende der Galerie zum anderen. Als der Geruch die Tür zum ersten der beiden Räume im neueren Flügel des Hauses erreichte, verflüchtigte er sich. »Hier durch«, grummelte Spot. Alice und William hatten sich die Treppe hochgehangelt. Sie wa-
ren beide ängstlich und aufgeregt zugleich, aber sie trauten sich nicht zu nahe heran. Als Spot sie jetzt ungeduldig antrieb, lief William weiter und öffnete ihm die Tür. Jasper und Mary kamen kurz vor dem Hund an. Das Zimmer war leer. Es war vor kurzem gestrichen worden und der Farbgeruch überdeckte den seltsam erdigen Geruch des Gespenstes. »Weg!«, klagte Jasper. »Wohin?«, wisperte Mary. Spot beschnupperte die Wandvertäfelung. »Ratte!«, grollte er schlecht gelaunt. »Ich kann Ratten nicht ausstehen!« »Ich auch nicht«, sagte Alice nachdrücklich in sicherer Entfernung von der Türe aus. Die Ratte erschien einen Augenblick später oben auf dem Kaminsims. Ihr Schwanz zuckte und ihre kleinen Augen bohrten sich in die Dunkelheit. »Da!«, kreischte Jasper und flog auf sie zu. Die Ratte rettete sich mit einem Sprung auf den Boden und wich dann Spot geschickt aus, der bellend mit gespreizten Krallen und gesträubten Nackenhaaren vorsprang. Alice sah, wie die Ratte auf sie zu rannte, und schnappte nach Luft. Im selben Augenblick flog Jacks und Phoebes Tür auf der anderen Seite der Halle auf und in dem Licht, das aus dem Zimmer fiel, erschien Jacks Gestalt. »Was zur Hölle geht hier vor?«, schrie er. »Wir versuchen zu schlafen!« Stephanie begann im Zimmer lauthals zu weinen. Die Ratte lief die Treppe hinunter, Spot dicht auf ihren Fersen. Jasper segelte über das Geländer zum großen Kamin. Die drei Kinder zogen sich in das leere Zimmer zurück und ließen die Tür einen Spalt offen, so dass sie gerade noch sehen konnten, wie Jack sich über das Geländer beugte. »Was ist los?«, fragte Phoebe, die hinter ihm im Türrahmen auftauchte. »Dieser verdammte Hund ist irgendwie aus der Küche entwischt!«, erwiderte Jack. »Aber – was macht er?«, fragte Phoebe. Unten in der Halle war die Ratte durch einen Spalt in der Wandvertäfelung neben der Küchentür entkommen. Spot bellte wütend und zerkratzte den Steinboden, als wollte er ihn aufreißen.
»Sei still!«, schrie Jack. »Sei jetzt still, Spot! Was zum Teufel ist mit dir los?« »Jack!«, flüsterte Phoebe. »Du weckst die Kinder auf.« »Geh sofort in die Küche zurück«, sagte Jack, ging mit großen Schritten die Treppe hinunter und knallte die Tür auf. »Du elendes Vieh!« Mit eingeklemmtem Schwanz schlich Spot in die Küche. Oben auf der Galerie fing Phoebe an zu frieren. Sie spürte wieder diese schreckliche Kälte. Die Ratte kroch geräuschlos durch schmale Spalten zwischen Steinwänden und Fußleisten, bis sie zum Kamin kam. Dann kletterte sie rasch zum Kaminsims hinauf. Sie erreichte den Holzbalken, der den Sims trug und eilte zur hinteren Wand der Halle und durch das Gewirr von Tunneln in den Steinwänden, aus denen ihre eigene geheime Welt bestand. »Ich danke dir, meine Ratte«, wisperte Mortens Geist in ihrem Kopf. Aber seine Stimme war verzweifelt. »Ich muss irgendwie zurück«, seufzte er. Die Ratte blieb in einem dunklen Tunnel stehen und kratzte sich. Nichts leichter als das!, dachte sie. Wir tricksen einfach eins der Kinder aus. Vielleicht die Kleine. Sie reagiert am empfindlichsten auf Ratten wie mich. »Aber sie weiß nichts über Zeitreisen. Niemand weiß etwas darüber außer dem alten Mann.« »Und doch bist du hier.« »Nur teilweise. Ich habe… daran gearbeitet, die Fähigkeit zu bekommen. Und ich habe es fast geschafft. Es sind diese Kinder! Sie mischen sich in Dinge, über die sie nichts wissen.« »Sie sind die Geschöpfe des alten Mannes«, zischte die Ratte. »Sie werden bald lernen, wie man durch die Zeit reist! Und wenn sie es lernen, werden wir sie benutzen. Wir werden sie begleiten.«
10 Die erste Reise Am nächsten Tag strahlte die Sonne vom Himmel, aber ein scharfer Wind blies aus Westen. Die Kinder waren froh über ihre warmen Anoraks, als sie den steilen Hang durch den Wald zur Eibe und weiter zum Golden Water hochstiegen. Die Bäume um sie herum leuchteten in den schönsten Herbstfarben. Der Wind wehte die Blätter wie einen goldenen Regen durch die Luft und sie bedeckten in kräftigen Rot- und Brauntönen den Boden wie ein Teppich. Es tat so gut, draußen in der frischen, klaren Luft zu sein! Als die Kinder am Dachsbau vorbeigingen und die Spitzen der Eibe sehen konnten, waren sie in bester Stimmung. Sie hatten den Morgen damit verbracht, Feuerholz für den kommenden Winter zu sammeln. »Wir glauben nicht, dass wir das Haus vor dem Frühling verkaufen können«, hatte Jack ihnen gesagt, »und wenn diesmal noch so ein Winter kommt wie letztes Jahr, brauchen wir alles zum Feuern, was wir kriegen können.« Spot schien nach der ganzen Aufregung der vergangenen Nacht erschöpft zu sein und hatte sich in der Halle einen Schlafplatz gesucht. Von hier aus konnte er fast alles, was im Haus geschah, im Auge behalten. Er konnte immer noch die Ratte in der Holzvertäfelung der Wand riechen und war auf der Hut, falls das Tier zurückkam. »Noch mal entwischt er mir nicht«, brummte er vor sich hin. Phoebe war mit Stephanie auf dem Arm heruntergekommen. Obwohl sie immer noch blass und angespannt aussah, hatte sie sichtlich bessere Laune und sagte zu Meg, sie würde ein schnelles Mittagessen machen und abends ein besonderes Essen kochen, um den Besuch der Kinder zu feiern. Das Mittagessen entpuppte sich als eine köstliche Suppe mit warmem Brot aus dem Ofen, gefolgt von einem Nachtisch aus Aprikosentorte und süßer, goldgelber Vanillesoße, die perfekt zu den säuerlichen Früchten passte. Die Kinder nahmen sich zweimal von allem und Alice sagte zu
Phoebe, sie dürfe nie wieder krank sein, denn sie sei die beste Köchin der Welt, und eins der besten Dinge an Golden House sei das Essen, das sie koche. Als sie merkte, wie Meg sie ansah, wurde sie rot und sagte schnell, dass Meg bestimmt auch eine gute Köchin sei, aber Phoebe koche nun eben ganz besonders gut. Meg lachte und stimmte ihr von ganzem Herzen zu. »Ich koche die normalen Sachen, Herzchen! Nicht diesen modernen Kram. Würstchen und Kartoffelbrei kann ich am besten.« »Alices Lieblingsessen!«, sagte Phoebe lächelnd. »Nein, das stimmt nicht mehr«, meinte Alice und kratzte die letzte Vanillesoße von ihrem Teller. »Ich bin jetzt auch fast schon ein Gemüseesser.« Es war ein fröhliches Mahl. Jack und Phoebe schienen viel entspannter zu sein und Stephanie weinte nicht ein einziges Mal, sondern schlug ihren Löffel so laut auf den Tisch, dass sie alle darüber lachen mussten. Als sie fertig waren, verkündete Mary, dass sie und William und Alice spazieren gehen würden und dass sie vielleicht erst später als sonst zurückkämen. Phoebe schien ganz froh darüber zu sein, bat sie aber vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukommen, Tee und Lebkuchen würden dann schon auf sie warten. Nachdem sie ihre Anoraks und Schuhe angezogen hatten, machten sich die Kinder schnell auf den Weg. Es war schon halb zwei und sie hatten versprochen Rattus Rattus um zwei Uhr zu treffen. Sie erreichten den Stehenden Stein, als die Sonnenstrahlen gerade durch die über den Himmel jagenden Wolken brachen und die Oberfläche des Sees in glitzerndes Licht verwandelten. Der honiggelbe und kaffeebraune Laubwald auf der rechten Seeseite Richtung Four Fields bildete einen starken Kontrast zu dem dunkelgrünen Tannenwald auf der anderen Seite des Sees. In der Ferne funkelte der Wasserfall durch die Zweige der Bäume und Büsche, die auf dem Hügel bis zu dem v-förmigen Einschnitt und den höheren Bergen dahinter wuchsen. »Ist es nicht himmlisch?«, rief Mary und blickte sich um. »Ich liebe diesen Ort. Hier ist es für mich wie zu Hause.« »Aber wir sind hier nicht zu Hause!«, sagte Alice traurig. »Wenn Mama und Papa aus Afrika wiederkommen, sind wir in den Ferien in London, und wenn Onkel Jack Golden House verkauft, kommen wir nie wieder hierher.« »Vielleicht sind wir jetzt zum letzten Mal hier«, stellte William
fest. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und kickte einen Stein den Hügel zum Wasser hinunter. Bei diesem Gedanken blickten sie sich mit neuem Eifer um, als ob sie sich alle Einzelheiten der Landschaft, die sie lieben gelernt hatten, für alle Zeiten einprägen wollten. »Ich glaube, ich kann bestimmt nicht aufhören zu weinen, wenn sie das Haus verkaufen«, sagte Alice ruhig, und obwohl das eine übertriebene Feststellung war, widersprachen ihr die beiden anderen nicht. Ihre Hochstimmung, in die sie die frische Luft und die Anstrengung versetzt hatten, verwandelte sich in Trauer und Nachdenklichkeit. William schlenderte zum Ufer und schlitterte halbherzig Kiesel über den See. Mary steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich gegen den Stehenden Stein und Alice hockte sich erst hin und kauerte sich dann auf den Boden, die Knie bis zum Kinn gezogen. »So«, zischte eine Stimme, »da seid ihr ja alle!« Rattus Rattus saß auf seinen Hinterbeinen oben auf dem Stehenden Stein. Er war so hoch über ihnen, dass sie ihn nur aus einiger Entfernung zum Stein sehen konnten. William drehte sich als Erster um und kam vom Seeufer zurückgelaufen. Alice blickte über ihre Schulter, stand auf und stellte sich neben ihren Bruder. Nur Mary, die direkt unterhalb von Rattus Rattus stand, konnte ihn nicht sehen. »Wo ist er?«, wisperte sie. »Hier!«, sagte er, sprang hinunter und landete mit einem Plumps auf ihrer Schulter. »Igitt!«, rief Alice und schlug sich dann die Hand vor den Mund. »Tut mir Leid«, murmelte sie. Mary wagte vorsichtig einen Blick zur Seite. Die Augen der Ratte sahen geradewegs in ihre. Das Tier war so nah, dass sie fühlte, wie seine Schnurrbarthaare ihre Nase kitzelten. Sie schluckte beunruhigt. »Hallo!«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Guten Tag, Mary!«, erwiderte Rattus Rattus. Mary konnte die scharfen Krallen auf ihrer Schulter spüren. »Hast du das Pendel des Meisters mitgebracht?« »Ja«, flüsterte sie nervös. »Gut! Gib es mir bitte.« Er hielt ihr eine Pfote entgegen. Mary zögerte, denn einen Augenblick lang wusste sie nicht, was das Klügste wäre. Sie warf einen Blick auf William und Alice, als ob sie ihr bei ihrer Entscheidung helfen könnten. Ihre Erinnerungen an den Kampf um Golden Water im Sommer waren noch zu frisch, als
Mortens Krähe das Pendel gestohlen hatte und sie geglaubt hatten, es sei für immer verloren. »Mary!«, sagte Rattus Rattus gefährlich ruhig. »Wenn du mir nicht vertraust, kommen wir nie ans Ziel. Wenn du mir nicht vertraust, können wir genauso gut nach Hause gehen und dem Assistenten des Magiers die Welt überlassen. Wenn du mir nicht vertraust, werde ich sehr böse sein. Jetzt gib mir das Pendel! Schließlich ist es nicht dein Eigentum. Du hast es nur leihweise.« »Hier«, sagte Mary, ohne noch einmal William und Alice anzusehen. Sie holte das Stück Gold aus ihrer Hosentasche und hielt es an der Kette der ausgestreckten Pfote entgegen. Rattus Rattus beobachtete, wie das Pendel vor seinen Augen hinund herschwang. »So ist es besser«, sagte er. »Jetzt wissen wir, wer unsere Freunde sind! Du kannst es jetzt wieder einstecken.« »Du willst es gar nicht haben?«, fragte Mary überrascht. »Ganz sicher nicht! Wo sollte ich es denn hintun? Du hast wenigstens Taschen!« Rattus Rattus grinste. »Und jetzt fangen wir an, ja? Für eure erste Reise müsst ihr natürlich den Körper und das Bewusstsein anderer Geschöpfe ausleihen. Um den eigenen Körper zu transportieren, braucht man sehr viel Konzentration. Allerdings ist es leichter, sich vorwärts durch die Zeit zu bewegen, als zurückzugehen. Und ihr wollt ja zurück! Ihr braucht also die Körper von Geschöpfen aus der Zeit, in die ihr reisen wollt. Natürlich habt ihr mich«, sagte er und verbeugte sich formvollendet vor ihnen wie ein Gentleman. »Jetzt möchte ich euch zwei weitere sehr gute Freunde des Meisters vorstellen.« Er sprang von Marys Schulter und verschwand hinter dem Stehenden Stein. Einen Augenblick später tauchte ein Eichhörnchen aus dem Nichts auf und huschte fröhlich keckernd den Stein hinauf. »Dies«, sagte Rattus Rattus und erschien wieder schwungvoll wie ein Zauberer, der einen Trick vorführt, »dies ist Rus, das Eichhörnchen des Meisters.« Das Eichhörnchen drehte sich herum und grinste die Kinder an. Es sah ganz anders aus als die Eichhörnchen, die sie im Wald gesehen hatten. Sie waren hier alle grau, aber Rus hatte ein wunderschönes Fell in einem warmen Braunrot. Wie die Haare des Magiers!, dachte Mary. »Und jetzt«, fuhr Rattus Rattus fort, »stelle ich euch ein ganz besonderes Tier vor.« Eine große, elegante Hirschkuh trat hinter dem
stehenden Stein hervor. »Dies ist Cervus, die Hirschkuh des Meisters. Wie ihr sicher bemerkt habt, hat sie kein Geweih – weil sie weiblich ist. Der Meister liebt sie, glaube ich, mehr als alle anderen Geschöpfe des Waldes.« Cervus trug um ihren Hals ein breites Halfter aus goldenem Metall. »Das goldene Band«, erklärte Rattus Rattus mit leiser Stimme, als ob er ein Geheimnis weitergäbe, »soll die Jäger vertreiben. Wehe, wenn jemand – und sei es die Königin selbst – Cervus bei einer Jagd tötet.« »Kommt die Königin hierher?«, fragte Mary eifrig. Ihre Vorliebe für Geschichte überwand einen Moment lang alle anderen Dinge. »O ja!«, erwiderte Rattus Rattus. »Als sie noch jünger war, kam sie sehr oft. Aber jetzt nicht mehr. Es ist eine lange Reise von London hierher, und obwohl sie immer noch eine der besten Reiterinnen im Land ist, muss es schon einen guten Grund geben, damit sie heutzutage solch eine Strecke zurücklegt. Und natürlich dauert es auch viele Tage, mit einer Kutsche hierher zu kommen.« »Ich würde Elizabeth I. wirklich gerne kennen lernen«, sagte Mary. »Ich hätte eine Menge Fragen an sie.« »Eine Meinung, die von vielen ihrer Untertanen geteilt wird, vermute ich! Aber man fragt Königin Elizabeth nichts, Mary, man wartet, bis etwas kundgetan wird!«, sagte die Ratte augenzwinkernd. »Was haltet ihr jetzt von einem Wettlauf?«, wechselte er das Thema. »Wer ist zuerst am Golden House?« Noch während die Ratte sprach, drehte Mary sich um und flitzte durch das hohe Gras. Ihre winzigen Pfoten berührten kaum den Boden, als sie zum Rand der Böschung lief. Die Gräser um sie herum waren so hoch wie Bäume. Sie schlossen sich über ihrem Kopf und sperrten fast das Tageslicht aus. »Ich kenne eine Abkürzung«, wisperte Rattus Rattus in ihrem Kopf. »Wir werden lange vor den anderen da sein!« Vor ihnen sah Mary eine runde Öffnung im Hügel. Der Tunnel, in den sie liefen, war dunkel und führte steil hinab. Mary spürte, wie Erde und spitze Steine sie von allen Seiten bedrängten, als Rattus Rattus sich einen Weg durch die Dunkelheit bahnte. »Wo sind wir?«, fragte sie nervös. »Kaninchenbau«, antwortete die Ratte atemlos. »Kaninchen sind nicht meine Freunde. Zumindest halten sie mich für einen Feind.
Aber wenn wir uns beeilen, sind wir durch, bevor sie merken, dass wir hier sind.« Wohin führt der Tunnel?, dachte Mary. »Direkt durch den Hügelkamm!«, sagte Rattus Rattus triumphierend. »Armer Cervus! So abhängig von Wegen über der Erde zu sein! Unterirdische Tunnel können Entfernungen sehr effektiv verkürzen.« Die Ratte bog scharf um eine Ecke und sie kamen in einen breiteren Gang. Hier war der Boden mit Glasstückchen und Stroh bedeckt. Es roch unangenehm stark nach feuchter Erde und Wasser tropfte aus der Tunneldecke über ihnen. Hier gefällt es mir nicht, dachte Mary. Rattus Rattus blieb stehen und drehte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Durch den Halbschatten konnte Mary vor ihnen drei verschiedene Öffnungen sehen. »Das Problem mit Kaninchen ist«, beklagte sich Rattus, »dass sie ihren Bau dauernd vergrößern! Wohin jetzt? Das ist die Frage.« Mit zuckender Nase schnupperte er in jede Öffnung hinein. Aus der ersten kam ein warmer, milchiger und fast süßlicher Geruch, unangenehm, aber nicht unerträglich. »Kaninchennest«, verkündete er. Er drehte sich schnell weiter und untersuchte die zweite Öffnung. Hier roch es eindeutig nach feuchter Erde, wie eine Mischung aus Schlamm und fauligen Blättern. »Maulwurf!«, sagte Rattus angeekelt. »Maulwürfe sind schon in Ordnung, aber sie blockieren einen ganzen Durchgang, bewegen sich jämmerlich langsam und wenn man sie verärgert, haben sie scharfe Krallen und sehr schlechte Laune. Ein Maulwurf ist ein guter Verbündeter, aber nur, wenn man einen langen Feldzug plant. Maulwürfe lassen sich Zeit. Solches Verhalten finde ich sehr ärgerlich. Aber schließlich sind wir Ratten dafür bekannt, dass wir nicht trödeln!« Er wandte seine Aufmerksamkeit der dritten Öffnung zu. Mary nahm sofort den Hauch eines bekannten, aber zuerst nicht erkennbaren Geruchs wahr. Ein strenger, beißender Geruch, der sich in der Kehle festsetzte, so dass man husten musste. »Hier ist es!«, rief Rattus und rannte in den Tunnel. »Dachsgeruch! Der Gang führt zum Dachsbau, und wenn wir da einmal durch sind, haben wir die Hälfte des Hügels auf der anderen Seite hinter uns und sind auf dem Weg nach Golden House!« Mit fröhlichem und aufgeregtem Piepsen drängten sich Mary und Rattus durch die feuchte, süßlich riechende Erde und waren bald in einer weitläufigen, unterirdischen Höhle angelangt. Vor ihnen lag ein
Dachs, der fest schlief. Rattus legte eine Vorderpfote an die Schnauze und ohne einen Mucks schlichen sie auf Zehenspitzen an dem riesigen, langsam atmenden Tier vorbei. Sie waren schon fast aus dem Schlafzimmer des Dachses heraus, als eine tief grollende Stimme ziemlich nah an ihrem Ohr sagte: »Rattus Rattus, ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst fragen, bevor du in unseren Bau kommst. Du bist vielleicht die Ratte des Meisters, aber es ist trotzdem eine Unverschämtheit…« Dann zögerte die Stimme und man hörte heftiges und prüfendes Schnüffeln. Es folgte eine feuchte Nase, die aus der Dunkelheit auftauchte und direkt in das Gesicht der Ratte stieß. »Wen hast du da bei dir?«, grollte der Dachs. »Einen Freund des Meisters, unterwegs in dringenden Geschäften!«, zischte Rattus Rattus, und bevor der Dachs Zeit hatte, weitere Fragen zu stellen, wich er der Nase aus, sprang über den Kopf und lief gewandt über den dicken, haarigen Körper. Er glitt die plumpe Hinterseite hinunter und rannte durch einen abschüssigen Tunnel zum fernen Tageslicht. »Uff!«, rief die Ratte, als sie durch einen ziemlich ausgetretenen Eingangstunnel hinaufrannten und auf der anderen Seite in das helle Tageslicht rutschten. »Das war knapp! Meles kann manchmal ganz schön empfindlich sein!« Und unter fröhlichem Lachen lief die Ratte durch die Farne und Gräser den Hügel hinunter zum Waldweg hinter Golden House. Kaum hatte die Ratte sie zum Wettlauf herausgefordert, sprang Rus, das Eichhörnchen, vom Stehenden Stein herunter und wandte sich zur Eibe auf der Spitze des Hügels. »Wer kommt mit mir?«, schrie er. »Du, kleines Mädchen, komm schon! Du willst doch gewinnen, oder nicht?« »Ja«, erwiderte Alice, »ich glaube schon!« Alles passierte so schnell, dass sie gerade noch so eben mit den Ereignissen mithalten konnte. »Armer Rattus!«, wisperte Rus in ihrem Kopf. »Er denkt, er hätte einen Vorteil, weil er sich unter der Erde auskennt! Wir werden schon sehen!« Noch während er sprach, sah Alice, wie ihre Vorderpfoten vor ihr über den Boden trappelten. Sie jagten den Hügel hinauf und liefen links an der Eibe vorbei. »Ein guter Baum!«, sagte Rus. »Manchmal geht der Meister dorthin und lebt wie einer von uns!«
»Ich war auch schon im Baumhaus«, sagte Alice außer Atem. Sie liefen so schnell, dass sie kaum sprechen konnte. »Gut! Gut! Spar deinen Atem! Wir haben noch gar nicht angefangen!«, sagte das Eichhörnchen. Sie glitten den Steilhang auf der anderen Seite der Eibe hinunter und waren bald bei dem vertrauten Dachsbau. Als sie an einem Eingang vorbeikamen, streckte ein Dachs überrascht seinen Kopf heraus. »Was ist los?«, fragte er. »Gerade ist die Ratte des Meisters durch mein Schlafzimmer gerannt! Was ist das für ein Theater?« »Keine Zeit, Meles!«, keckerte das Eichhörnchen. »Wenn Rattus schon vorbeigekommen ist, müssen wir einen Spurt hinlegen!« Und erjagte davon, den Hügel hinunter. »Albernes Ding!«, gähnte der Dachs und zog sich wieder in seinen Bau zurück. »Am helllichten Tag herumzurennen, wenn alle anständigen Tiere fest im Bett liegen!« »Wir holen ihn nie ein«, rief Alice. »Er wird schon halb da sein.« »Ja!«, stimmte Rus zu. »Aber der arme Wicht muss auf dem Boden laufen!« Und damit schoss das Eichhörnchen schnurstracks einen Baumstamm hinauf. »Ohhh!«, schrie Alice. Sie blickte hinunter und sah, wie der Boden unter ihr verschwand. »Jetzt dauert es nicht mehr lange!«, rief das Eichhörnchen. »Von hier zum Fuß des Hügels sind es nur noch ein oder zwei Sprünge!« Rus lief hinaus auf einen hohen Ast, der im Wind schaukelte und seine Blätter in alle Richtungen wirbelte. Von der äußersten Spitze des Astes, wo er nur noch aus einem Büschel vertrockneter Blätter bestand, sprang Rus zur nächsten Baumkrone. Er klammerte sich mit seinen starken Vorderfüßen an einen Zweig und schwang sich weiter von Ast zu Ast und von Baum zu Baum den Hügel hinunter. Die Bewegung war ungewöhnlich. Der Wind blies ihnen um die Ohren und ließ die Bäume schwanken. Es war, als ob sie gleichzeitig flögen und kletterten und schaukelten. Als wären sie ein Teil des Windes, als wären sie ein Herbstblatt, als wären sie nicht einfach nur ein kleines Mädchen, durch Magie mit einem Eichhörnchen zusammengefügt, sondern als wären sie durch dieselbe Magie mit dem ganzen Wald und der Luft und dem Licht, das sie umgab, verbunden. Alice wünschte sich, dass diese Reise niemals endete. Sie war so aufgeregt, so froh zu leben! »Da!«, kreischte das Eichhörnchen. »Der Waldweg. Wer ist das schnellste aller Geschöpfe des Meisters?«
»Das sind wir!«, rief Alice. »Das sind wir, Rus! Das ist das Schönste, was ich jemals erlebt habe. Ihr könnt eure Achterbahnen behalten!« Cervus sah William mit traurigen Augen an. Dann drehte sie sich seufzend um und begann, den Hügel zur Eibe hinaufzutraben. William lief ein paar Schritte hinter ihr her und spürte mit einem Ausschlagen der Hinterbeine, wie die Kraft ihres Körpers auf ihn überging. Jetzt geht es los, dachte er, als er ihre donnernden Hufe auf der harten Erde hörte. Im Nu erreichten sie die Eibe, dann bogen sie ab und galoppierten den schmalen Pfad zum Dachsbau hinunter. Vor ihnen sah William Rus, das Eichhörnchen, wie einen roten Strich in den weiter unten stehenden Bäumen verschwinden. Cervus folgte einem ausgetretenen Pfad. Es war der Weg, den die Kinder immer vom Tal hinauf zum Golden Water kletterten. Aber auf halber Strecke verließ sie den Pfad und lief wie eine Tänzerin mit zierlichen Schritten einen fast steil abfallenden Hang hinunter und weiter durch ein Birkenwäldchen. Vor ihnen versperrte ein undurchdringliches Gestrüpp aus dornigem Stechginster den Weg. Aber William spürte, wie Cervus und er sich mit zusätzlicher Energie mit den Hinterbeinen nach vorne abstießen, über die Sträucher flogen und leichtfüßig auf der anderen Seite landeten. Während der ganzen Reise sprach Cervus nicht ein Wort mit William, obwohl er mehrmals Bemerkungen machte, auf die er eine Antwort erwartet hätte. Schließlich erreichten sie das Tal und kamen auf dem Waldweg an. Vor ihnen konnten sie Rattus Rattus sehr schnell laufen sehen. Cervus beschleunigte ihre Schritte, und weil sie größer war, holte sie die Ratte bald ein. Als das Tor des Küchengartens von Golden House vor ihnen auftauchte, ließ sich Rus, das Eichhörnchen, von einem überhängenden Ast auf Cervus’ Schultern fallen. »Betrug!«, rief William. Als die Hirschkuh die Ratte eingeholt hatte, war Mary überrascht, dass Rattus nicht schneller lief, sondern seine letzte Kraft für einen komplizierten Sprung zur Seite nutzte. Ihr Körper drehte sich im Flug. Mary dachte schon, sie sprängen einen Salto, aber stattdessen landeten sie mit einem Plumps genau hinter Rus auf Cervus’ Rücken.
»Tja!«, rief Rattus Rattus. »Wettläufe sind wirklich albern!« Und als Cervus beim Tor zum Küchengarten zum Halt kam, fügte er hinzu: »Wir haben alle gewonnen!«
11 Im herbstlichen Garten Der Garten war in goldenes Sonnenlicht getaucht. Im fernen Wald krächzten Saatkrähen und entlang der Wege standen Obstbäume, an deren Zweigen hier und da immer noch Äpfel hingen. Niedrige, sauber geschnittene Buchsbaumhecken rahmten alle Beete ein, in denen Blumen mit ihren braunen und weißen Samenständen im leichten Wind nickten. In einiger Entfernung rankten spät blühende Rosen an ein paar Stangen in die Höhe, die eine Laube entlang der Gartenmauer bildeten. Sie stand in vollem Sonnenlicht gegenüber dem Taubenhaus und über der Mauer hinter ihr war gerade noch die Rückseite des Hauses zu sehen. Cervus trabte mit Rattus und Rus auf dem Rücken den Weg entlang und die Kinder sahen einen alten Mann, eingehüllt in eine dicke Felldecke, in der Laube sitzen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, als ob er schliefe. Als sie näherkamen, erkannten sie den Magier. »Mr. Tyler!«, rief Mary erfreut. Sie ließ sich, losgelöst von Rattus, von Cervus’ Rücken gleiten und lief ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre Stimme ließ den alten Mann mit einem erschreckten Gesichtsausdruck aufblicken. Er runzelte die Stirn und spähte angestrengt geradeaus, dann schüttelte er seinen Kopf und schloss seufzend wieder die Augen. Cervus drängte sich an Mary vorbei und ging ruhig zum Magier. Sie ließ sich zu seinen Füßen nieder und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Rattus Rattus wühlte geschäftig in den Büschen neben dem Pfad herum und Rus sprang vom Rücken der Hirschkuh, kletterte eine der Laubenstreben hoch und setzte sich oben auf die Spitze in das warme Sonnenlicht. William und Alice waren jetzt auch wieder von ihren Tieren getrennt und gingen hinüber zu Mary, die immer noch in einiger Entfernung von der Laube stand und den Magier beobachtete. Es war, als ob sie sich alle instinktiv als Außenseiter fühlten und die Szene vor sich nicht stören wollten.
Der alte Mann streckte eine Hand aus und streichelte liebevoll den Kopf der Hirschkuh. »Wie geht es dir, meine Süße?«, murmelte er. »Meine Cervus! Meine Gute!« Die Hirschkuh stieß einen Seufzer völliger Zufriedenheit aus und streckte sich zu Füßen des alten Mannes in der Sonne aus. »Rus! Bist du das da oben?«, fragte er. »Bald ist es Zeit für deinen langen Schlaf, mein Eichhörnchen. Obwohl dein Winterschlaf kürzer sein wird als meiner, möchte ich meinen! Rattus? Was hast du mir Neues zu berichten? Was geht draußen vor, meine Ratte?« »Sie sind hier, Meister«, sagte die Ratte, die gerade genüsslich einen Regenwurm verspeiste. »Die Kinder?«, sagte der alte Mann. Er hörte sich überrascht, fast angstvoll an. »Wo?« »Wir sind hier!«, rief Alice und trat vor den Magier, so dass er sie sehen musste. Aber Stephen Tyler blickte durch sie hindurch und suchte die weiter entfernten Winkel des Gartens mit seinen Augen ab. »Er kann mich nicht sehen«, sagte Alice traurig und blickte zurück zu William und Mary. Mary folgte einer plötzlichen Eingebung, zog das Pendel aus ihrer Jeanstasche und hielt es hoch. Es glitzerte und funkelte im Sonnenlicht. Sofort schützte der Magier seine Augen, als ob er geblendet würde. Dann hielt er den Atem an und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Meine lieben Kinder!«, sagte er erfreut. »Wir dachten, Sie kämen nie mehr zu uns«, erklärte Mary und ging auf ihn zu. Dann blieb sie stehen und sah sich um. Der Garten war sauber und gepflegt. Der Duft von Rosen mischte sich mit dem Geruch rauchiger Holzfeuer und der letzten Lavendelblüten. »Irgendwie ist alles anders«, stellte sie verwirrt fest. Sie blickte erst zu William und Alice, die mit dem Rücken zur Sonne standen und von Licht umgeben waren, und dann zu dem alten Mann, der in seinem Stuhl saß und das Gesicht in die Sonne hielt. Sie stieß einen langen Seufzer aus. »Wir sind hier, nicht wahr?«, fragte sie leise. »Ihr seid ganz sicher hier«, erwiderte der Magier lächelnd. »Ich meine, in Ihrer Zeit. Wir sind zu Ihnen zurück gekommen!« »Sagen wir, dass ihr mir näher seid, als ihr es jemals zuvor wart!« Er streckte seine Arme aus, als ob er sie und den ganzen Garten umarmen wollte. »Dies ist meine Welt, mein Garten, mein Leben.« Die letzten Worte klangen wehmütig. »Liebe Kinder, ich habe euch
so vermisst! Ich bin so verdammt altersschwach, dass ich euch nicht besuchen konnte. Obwohl ich Nachrichten über euch hatte und ihr immerzu in meinen Gedanken wart. Aber jetzt seid ihr hier! Ihr seid sehr herzlich willkommen!« »Kann er uns jetzt sehen?«, flüsterte Alice. »Minimus«, gab der alte Mann flüsternd zurück, »ich kann jeden Zentimeter von dir sehen.« Mit einem Freudenschrei rannte Alice auf ihn zu und warf ihre Arme um seinen Hals. »Wir haben Sie so vermisst!«, rief sie und küsste ihn auf die Wange. »Alice, sei vorsichtig!«, wies Mary sie zurecht. »Es geht ihm nicht gut.« Sie konnte ganz hinten im Hals einen Tränenkloß fühlen. »Mir geht es sehr gut, jetzt, da ihr alle hier seid!«, sagte der alte Mann mit festerer Stimme. »Aber ihr dürft nicht lange bleiben. In eurem jungen Alter in der Zeit zu reisen, wenngleich mit der Hilfe der Tiere, ist bemerkenswert. Aber wir sollten euch nicht zu sehr ermüden.« »Ich fühle mich überhaupt nicht müde.« Alice schnappte nach Luft. »Ich bin mit Rus gekommen, nur über die Bäume. Es war Wahnsinn. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das war.« »Rattus und ich sind durch einen Kaninchenbau gelaufen und mitten durch den Dachsbau«, sagte Mary, die ihr in nichts nachstehen wollte. »Und du, William?«, fragte Stephen Tyler. »Du bist ungewöhnlich still, mein kleiner Denker.« William zuckte mit den Schultern. Plötzlich fühlte er sich schüchtern und fehl am Platz. Er wusste nicht, warum. »Ich war mit Cervus zusammen«, sagte er. »Sie hat nicht einmal mit mir gesprochen. Ich glaube, sie wollte mich gar nicht bei sich haben.« »Meine Cervus«, sagte der alte Mann liebevoll. Sofort hob die Hirschkuh den Kopf und legte ihn wieder auf seinen Schoß. Stephen Tyler streichelte ihr Ohr. »Ich habe Cervus in einem Dickicht gefunden, als sie nur ein paar Monate alt war. Sie hatte mit angesehen, wie die Jagdhunde ihre Mutter eingekreist und die Jäger ihr die Kehle durchgeschnitten hatten. Cervus war in einem jämmerlichen Zustand. Es war schrecklich mit anzusehen. Der Rest der Herde kam zu ihr zurück und hätte sie mitgenommen, aber sie war zu verschreckt und konnte sich nicht bewegen. In den ersten Wochen trug ich das
Futter zu ihr und nach und nach fasste sie Vertrauen zu mir. Schließlich folgte sie mir hierhin. Seitdem ist sie immer bei mir gewesen. Sie ist meine treue und sehr liebe Freundin. Meine Cervus, wer wird sich um dich kümmern, wenn ich aus dieser Welt gehe?«, fragte er traurig und seufzte noch einmal. »Wir alle tun es, Meister«, piepste Rattus Rattus. »Das habt Ihr uns doch gelehrt – dass wie alle zuerst für uns und dann füreinander verantwortlich sind.« »Aber…«, fing der alte Mann an, schüttelte aber dann den Kopf, als ob er zu müde oder vielleicht zu traurig zum Sprechen wäre. »Ich kümmere mich um sie«, sagte William, lief zu der Hirschkuh und kniete sich neben sie. Er legte einen Arm um sie und sie drehte sich um und sah ihn prüfend an, wich ihm aber nicht aus. »Ihr beide gehört in verschiedene Zeiten, meine Lieben!«, sagte Stephen Tyler und legte seine andere Hand auf Williams Kopf. »Verschiedene Zeiten?«, fragte William stirnrunzelnd. »Sie meinen…« »Ja, William!«, rief Mary. »Ich habe es doch gerade gesagt!« William drehte sich um und betrachtete langsam den Garten. »Ich habe… dir nicht geglaubt«, sagte er ruhig. »Ich dachte…« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir wüssten es, wenn es passiert.« »Es ist oben beim Stehenden Stein geschehen«, verkündete Rattus Rattus fast gereizt. Dann sprang er auf die Armlehne am Stuhl des Magiers und sah die Kinder an. »Aber wie?«, fragte William in dem verzweifelten Wunsch, alles zu verstehen. »Die Energielinie, William«, sagte der alte Mann. »Erinnerst du dich? Ich habe sie einmal erwähnt. Um den Stehenden Stein herum ist sie am stärksten. Das müsst ihr behalten. Es könnte eines Tages von größter Wichtigkeit für euch sein. Die Linie läuft schnurgerade durch die Mitte dieses Tales: vom Aussichtspunkt im Westen bis zum Aussichtspunkt im Osten. Sie führt durch den Tunnel hinter dem Wasserfall, hinunter in das Zentrum von Golden Water, durch das Baumhaus und den Taubenschlag da drüben.« Er nickte mit dem Kopf in die Richtung des Taubenhauses in der Mitte des Gartens, das lange Schatten über die Beete und Beerenstauden warf. »Wir sind auch jetzt auf der Linie«, fuhr der Magier fort. »Und sie teilt mein Haus in zwei Hälften! Deshalb habe ich die beiden runden Fenster in meinem Arbeitszimmer oben am Kamin nach vorne und hinten angebracht.
Sie sind ein Symbol dafür, dass die Erdenergie durch das Haus geht und ein Hinweis für den wandernden Pilger, der den wahren Weg sucht, damit er oder sie den Ort erkennt und weiß, dass er am richtigen Ort angekommen ist. Schließlich führt die Energielinie im Osten aus Golden Valley heraus, wo die Sonne bei der Tag- und Nachtgleiche im Herbst zuerst die Hügelkämme berührt, genau in dem Augenblick im späten September, wenn Tag und Nacht die gleiche Länge haben und Licht und Dunkelheit in vollkommenem Gleichgewicht sind.« »Der Silberne Pfad und der Goldene Pfad!«, erinnerte sich Mary. »Das ist richtig«, erwiderte Stephen Tyler begeistert. »Ihr seid gute Schüler! Und was ist ein Schüler? Ein Lernender und gleichzeitig so etwas wie die geheimnisvolle, schwarze Mitte des Auges, durch das Licht in den Verstand dringt!« Vor Freude überwältigt lachte er vergnügt. »Wir verstehen so viel auf der Welt, wenn wir nur in vollkommener Harmonie mit ihr sind – wie die Saiten einer Viola in den richtigen Harmonien gestimmt sind.« Er schüttelte den Kopf und lachte glücklich in sich hinein. Dann runzelte er die Stirn. »Jetzt habe ich den Faden verloren«, sagte er. »Worüber haben wir gesprochen?« »Sie haben uns von der Energielinie erzählt«, half William ihm weiter. »Ah ja! Die Lage der Linie. Wie ich schon sagte, sie durchschneidet den Besitz hier. Deshalb ist Golden Valley so wesentlich für meine Arbeit! Aber an dem Ort, wo die großen Vorfahren – die Menschen, die ursprünglich im Tal lebten, die Schöpfer und Träumer all dieser Harmonie – an dem Ort also, wo sie den Stehenden Stein errichteten, da ist die Energie am mächtigsten. Dort kann man eher als irgendwo anders in diesem magischen Gebiet wie über eine Brücke durch die Wolken der Zeit, von einer Schicht des Lebens in eine andere hinübergehen.« »Also – das ist der Trick?«, fragte William. »Man muss nur über die Linie gehen?« »Nein, William! Nein!«, rief der Magier. »Nicht bloß über die Linie gehen. Nein, nein! Man muss vollkommen im Einklang sein, während man auf ihr ist.« »So wie bei unserem Experiment mit den beiden Spiegeln oben im Geheimzimmer…?«, fragte William weiter in dem verzweifelten Versuch, alles richtig zu verstehen. »Als ihr das getan habt«, sagte Stephen Tyler, »seid ihr in der Tat
zufällig auf ein sehr mächtiges Symbol gestoßen. Durch die mehrfachen Spiegelungen habt ihr die gleichen Zeitschichten gesehen, über die wir gerade gesprochen haben. Und als ihr das Pendel hervorgeholt habt, war die Kraft so groß, dass der Geist des armen Morten aus der Sicherheit seines Heute in euer gefährliches Morgen gezogen wurde.« »Gefährlich?«, fragte Mary beunruhigt. »Ist unsere Zeit so gefährlich?« »Sie ist es mit Sicherheit für Morten! Er gehört nicht dorthin und ist durch Zufall dorthin verschlagen worden – oder um es weniger freundlich auszudrücken, durch eure Einmischung –, und weil er keine Ahnung hat, wie er wieder hierher zurückkehren kann, ist er in einem wirklich gefährlichen Zustand.« »Aber wir haben es doch nicht absichtlich getan!«, beteuerte Mary. »Wir wussten nicht, dass er da war… irgendwie auf der anderen Seite des Spiegels, wenn Sie verstehen, was ich meine… Wir haben versucht Sie zu erreichen, das ist alles.« »Niemand macht euch einen Vorwurf, Mary«, sagte Stephen Tyler freundlicher. »Ich erzähle euch einfach nur, was passiert ist.« »Und außerdem ist Morten ein schrecklicher Mensch!«, sagte Alice. »Er verdient, was mit ihm passiert. Er lässt Ratten erscheinen und ich hasse Ratten!« Rattus Rattus drehte seinen Kopf zu ihr und zischte und spuckte böse. »Ach, dich doch nicht«, sagte sie ärgerlich. »Du bist anders. Du bist nicht so scheußlich und gemein wie Mortens Ratten.« »Warte nur«, zischte Rattus Rattus. »Wenn die Zeit kommt, wirst du feststellen, dass ich noch viel gemeiner sein kann als Mortens sämtliche Ratten zusammengenommen! Ich bin schließlich der Inbegriff einer Ratte! Ich bin die Ratte des Meisters!« Alice lief ein Schauer über den Rücken. Sie wich einen Schritt zurück, so dass sie sich halb hinter Mary verstecken konnte. »Du glaubst, dass den armen Morten alle Schuld trifft, Minimus. Tust du das?«, fragte Stephen Tyler und sah sie prüfend an. »Ja!«, antwortete sie fest. »Er tut die ganze Zeit gemeine Dinge. Er hat Phoebe so unglücklich gemacht, dass sie Golden House verlassen will – und sie wird das Baby mitnehmen. Er hat alles verdorben.« »Unser Baby!«, rief der Magier und etwas von seiner alten Energie und seinem unberechenbaren Zorn brach wieder hervor. »Sie
nehmen uns unser Baby fort? Das darf nicht passieren! Er gehört nach Golden House!« »Sie!«, verbesserte Mary. »Nun gut, dann eben sie!«, sagte der alte Mann verdrießlich. »Sie fortnehmen? Was für ein Unsinn! Das Kind wird in Golden House bleiben und eines Tages wird sie heiraten und eigene Kinder haben und sie werden dort aufwachsen und das Blut der Tylers wird wieder durch die Adern der Bewohner fließen. Dann werden Weisheit und Verstehen und Harmonie wieder in das Tal zurückkehren. Der Silberne Pfad und der Goldene Pfad werden durch den Pilgerpfad an ihrem Ort gehalten, die Sonne und der Mond werden durch den Stab des Wissens getrennt und sich gegenseitig in vollkommener Harmonie widerspiegeln. Das ist eure Aufgabe! Das ist immer eure Aufgabe gewesen! Das Gleichgewicht wieder herzustellen und das Tal für die kommenden Zeiten zu schützen. Deshalb habe ich euch besucht und euch gefunden. Wie heißt ihr?« Er bellte ihnen diese Frage so laut entgegen, dass sie erschreckt auffuhren. »William, Mary und Alice«, erwiderte Mary nervös. »Nein, nicht diese Namen. Wie ist euer Familienname? Heißt ihr nicht Constant? Nun, dann seid auch konstant, seid beständig! Beständig und wahrhaftig! Werdet eurer Bestimmung gerecht!« Sie schwiegen alle. Die Kinder fühlten sich zurechtgewiesen, aber sie wussten nicht so genau, was sie falsch gemacht hatten. Rattus Rattus stocherte mit einer Kralle in seinen Zähnen herum. Cervus rollte sich zu Füßen des alten Mannes mit geschlossenen Augen zusammen und Rus knabberte an seinem buschigen Schwanz. »Wo ist Morten jetzt?«, fragte William nach einer Weile. »In seinem Zimmer«, antwortete der alte Mann. »Und was macht er?« »Er sitzt da. Er starrt vor sich hin. Er schüttelt den Kopf.« »Weiß er, was mit ihm passiert ist?« »Er hat nicht mehr den Verstand, es zu wissen, William. Er ist nicht bei Sinnen. Oder um es genauer zu sagen, sein Geist hat ihn verlassen!« »Geschieht das mit jemandem, der verrückt wird?«, fragte Mary. »Verrückt?« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sind wir alle ein bisschen verrückt. Nein, Morten ist nicht verrückt, wie ihr es nennt. In gewisser Hinsicht ist er sogar vernünftiger als die meisten. Es ist nur so, dass sein Geist ihn verlassen hat und er nicht weiß, wie er ihn zurückbekommen soll.«
»Wird er dann für immer ohne ihn leben müssen?«, fragte Alice. »Für immer ist eine lange Zeit.« »Es ist nur, dass er in unserer Zeit wie ein Gespenst in Golden House herumspukt«, sagte Mary. »Und ich glaube nicht, dass das unserer Aufgabe irgendwie weiterhilft.« »Ich vermute, dass es auch Morten nicht viel weiterhilft!«, bemerkte der Magier ruhig. »Aber er ist ein böser Mensch«, beharrte Alice. »Warum müssen wir ihm helfen?« »Ihm nicht zu helfen, Minimus, hieße, ihn zu einem Leben ewiger ›Bosheit‹, wie du es nennst, zu verdammen. Seine einzige Hoffnung ist eure Hilfe.« »Aber ich will ihm nicht helfen.« »Minimus«, flüsterte Stephen Tyler und beugte sich vor. »Ihm zu helfen wird eine große Gnade für euch sein. Vergesst nie die Macht der wahren Barmherzigkeit! Barmherzigkeit ist Liebe! Es ist sehr leicht, die zu lieben, die man mag. Aber die Macht der Liebe, die gewaltige, verwandelnde Energie der Liebe entsteht, wenn es keine persönlichen Vorlieben gibt. Mit dieser Energie kannst du selbst vielleicht verwandelt werden.« »Sie meinen«, sagte William, der den Magier plötzlich verstand, »dass Morten das… wie immer Sie es nennen… das Zinn ist, der Abfall…« »Die Schlacke«, half der Magier ihm ruhig weiter. »Dass Morten die Schlacke ist, die durch die Alchimie in Gold verwandelt werden kann?« »Genau das ist es, William. Habe ich euch nicht gesagt, dass Morten wichtig für das Vorhaben ist? Es gibt kein Licht ohne Dunkelheit, kein Gold ohne Schlacke. Keiner von beiden ist besser, weder Dunkelheit noch Licht, weder Schlacke noch Gold…« »Aber er ist schlecht!« Mary schrie die Worte fast, weil sie so enttäuscht war von dem, was gesagt wurde. »Und er tut die ganze Zeit schreckliche Dinge«, fügte Alice fast gleichzeitig hinzu. »Ausgezeichnet!«, rief Stephen Tyler. »Das gibt der Umwandlung noch mehr Kraft!« »Wir wissen, was ihm bei seinem Tod passiert«, sagte Alice schnell. Es war ein letzter verzweifelter Versuch, den Magier die Dinge mit ihren Augen sehen zu lassen. »Wirklich?«, fragte der Magier ruhig mit zerfurchter Stirn.
»Er ist so schlecht, dass seine Familie ihren Namen ändern muss – von Morten zu Crawden. Und er wird hingerichtet, stimmt doch, Mary? Das hat man uns erzählt, oder?« »Das stimmt«, bestätigte Mary. »Armer Matthew Morten! Es wird schrecklich sein, wenn er vergeblich stirbt. Denn sterben wird er, und genau so, wie ihr es sagt. Eure Geschichte kann nicht geändert werden. Aber, wisst ihr, Heilige werden genauso hingerichtet wie Sünder. Mit eurer Hilfe kann er als guter Mensch sterben, was immer die Welt auch aus ihm machen wird.« »Aber er ist nicht gut!«, mischte sich jetzt auch William ein. »Sie wissen, dass er nicht gut ist.« »Gut? Oder Gold?«, fragte der alte Mann. »Mit eurer Hilfe kann er verwandelt werden.« Dann fügte er sehr viel geschäftsmäßiger hinzu: »Aber zuerst werdet ihr seinen Geist wieder hierher und in seinen Körper bringen müssen.« »Müssen wir das?«, rief William. »Aber sicher. Schließlich habt ihr sie auch getrennt, oder nicht?« »Wie denn?«, fragte William. Stephen Tyler zog die Schultern hoch und zuckte dann zusammen. »Oh, dieser verdammte Arm!«, stöhnte er. »Das habt ihr mir auch eingebrockt! Ihr und eure Dachse!« Dann lächelte er. »Wenn ihr Morten hier in seiner Zeit wieder zur Vernunft gebracht habt, dann seid ihr fast am Ziel! Der nächste Schritt wird die Herstellung von Gold sein!« »Aber wie?«, wiederholte William mit schrecklicher Unsicherheit in seiner Stimme. »Normalerweise muss man nur sehr wenig tun. Denkt daran! Ich habe oft festgestellt, dass man kein gutes Ergebnis erzielt, wenn man zu viel tut. Wenn ihr Zweifel habt, tut einfach nichts!« Wieder schwiegen alle lange. Die Sonne versank langsam hinter den Bäumen oben im Wald hinter ihnen. Je mehr sie verschwand, desto kühler wurde der Wind und das Licht im Garten verlor seinen Glanz. »Mir ist jetzt kalt«, sagte der alte Mann. »Ich muss mich drinnen ans Feuer setzen und ihr müsst in eure Zeit zurückkehren. Ich habe mich sehr gefreut euch hier zu sehen. Nächstes Mal zeige ich euch das Haus.« »Werden wir wiederkommen?«, fragte Alice.
»Das hoffe ich. Aber kommt bald. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Die Zeit ist ein Stoff von dauerhafter Art… sie hat einen Anfang und ein Ende… sie kann zu Ende gehen!« Er sah sie traurig an, dann lächelte er. »Also kommt bald wieder! Aber denkt daran, reist niemals ohne das Pendel. Ihr müsst es immer dabeihaben. Das Pendel ist wie ein Magnet. Es zieht die Energie an und bündelt sie zu einem winzigen Punkt der Kraft. Das ist sehr wichtig. Das Bündeln der Energie ist das grundlegende Geheimnis der Alchimie. Die Energie tut die Arbeit. Die Energie konzentriert den Geist und erzeugt die Magie. Das Pendel ist der Leiter, der Zauberstab der Märchen. Wenn das Pendel in den richtigen Händen ist, dann ist alles möglich.« »Woher kommt es?«, fragte William nachdenklich. »Aus der Erde meines Landes!«, erwiderte Stephen Tyler lächelnd. »Es ist das einzige Stück festen Goldes, das mir gelungen ist, welches ich auch behalten habe. Das Gold des Alchimisten ist nicht zum Weggeben gemacht. Es stellt nur einen Schritt des Weges dar. Die Reise ist das Wichtige. Aber das Pendel ist mächtig. Es ist ein großes Geschenk, das ich euch gemacht habe.« »Werden Sie es nicht selbst brauchen?«, fragte Mary, die näher kam und sich neben den alten Mann setzte. »Meine Tage des Reisens sind vorbei, Mary. Meine Zeit kommt bald. Aber seid nicht traurig. Wir werden bis dahin noch ein paar Abenteuer erleben!« Während er ihr leise über den Kopf strich, wechselte seine Stimmung und er sagte entschieden: »Rattus, du und Rus müsst mit ihnen gehen. Aber Cervus, du bleibst hier und tröstest einen alten Mann! Ich fühle mich einsam, wenn ihr alle weg seid. Du bleibst auf dieser Seite des Stehenden Steines, meine Gute, und lässt die Ratte und das Eichhörnchen weitergehen. Gut! Und jetzt fort mich euch! Es ist fast Zeit für das Abendessen!« Als die Kinder gingen, saß der Magier in der Dämmerung, und als sie sich noch einmal umdrehten, bevor sie hinter dem Taubenhaus verschwanden, sahen sie eine alte Frau in einem langen schwarzen Kleid und einer Schürze, die vom Hof aus in den Garten gehumpelt kam. »Master Tyler!«, hörten sie sie rufen. »Kommt herein! Kommt herein! Wollt Ihr Euch zu allem Überfluss auch noch Rheuma holen?«
12 Zweifel und Zerwürfnisse In der Nacht nach ihrer ersten Reise durch die Zeit schliefen die Kinder tief und fest. Sie hatten Rattus und Rus oben beim Stehenden Stein verlassen. Aber Cervus war schon verschwunden, bevor sie Zeit hatten, sich von ihr zu verabschieden, was besonders William zu kränken schien, der in ihr gereist war und sehr an ihr hing. »Wo ist Cervus?«, hatte er gefragt und sich umgeblickt, als sie alle hinter dem Stehenden Stein hervorkamen. »Sie ist nicht mit uns gekommen«, antwortete Rattus. »Der Meister hat dir das doch gesagt.« Er und Rus hatten sie auch bald verlassen. Sie hatten noch, wie Rattus erklärte, eine Menge zu tun, bevor sie sich alle wiederträfen. »Wenn diese Zeit kommt«, sagte er, »dann wird es einen großen Kampf im Golden Valley geben, wie ihn niemand je zuvor erlebt hat! Aber denkt daran: Bis ich zu euch komme, dürft ihr nichts unternehmen. Wir können nicht zwei Kapitäne auf unserem Schiff haben, also muss ich im Augenblick die Befehle geben! Keine Angst, eure Zeit wird kommen! Ruht euch bis dahin aus! Wartet! Aber unternehmt nichts!« Dann waren er und Rus durch das Unterholz in Richtung Four Fields gehuscht. Der nächste Tag war trüb, und obwohl es nicht regnete, war die Atmosphäre bedrückend. Eine Frau vom Büro des Maklers kam zu ihnen heraus, um die Einzelheiten des Hauses neu aufzunehmen. Sie verbrachte lange Zeit damit, mit Jack zusammen das Haus zu begutachten. Dann ging sie nach draußen und fotografierte es aus verschiedenen Blickwinkeln. »Schade, dass kein sonnigerer Tag ist«, sagte die Frau zu Mary, die auf der vorderen Wiese vorbeikam. Mary erwiderte nichts, war aber insgeheim froh, dass die Sonne nicht schien. Sie hoffte, dass alle Fotografien unbrauchbar waren und dass sie die Leute eher davon abschrecken würden, das Haus zu kaufen. Aber sie hatte auch den Verdacht, dass jeder, der Golden House in echt ansehen würde, es auf der Stelle mögen würde, genau wie sie, als sie es das erste Mal gesehen hatte.
Später ging die Maklerin mit Jack zu Meg, die schon in ihrem Zimmer im Flügel aus dem 16. Jahrhundert auf sie wartete. Offenbar sollte Meg ihr Land verkaufen – Golden Water und die Wälder bis zum Berg jenseits von Golden Spring, Four Fields und den ganzen Wald zwischen dem Land der Forstverwaltung im Süden und dem Stück Waldland im Norden, das Mr. Jenkins gehörte –, und zwar zur gleichen Zeit, wie Jack das Haus verkaufte. Danach würden sie das Geld dann untereinander aufteilen. Die Kinder waren in der Halle, als die Maklerin mit Jack aus Megs Zimmer zurückkam und zur Tür ging. »Für den richtigen Käufer«, sagte die Maklerin, »wird der Besitz unwiderstehlich sein. Mit dem ganzen Land dazu ist es ein ziemlich großes Anwesen. Schon einige meiner Klienten haben sich nach einem Anwesen dieser Art erkundigt. Aber wie auch immer, ich bin sicher, es wird von großem Interesse sein. Wo ist das nächste Jagdrevier, Mr. Green? Wissen Sie das? Ich denke, der Ort wäre von besonderem Interesse für eine Familie, die an Jagdsport Gefallen findet. Jagen mit einheimischen Hunden, Schießen in den eigenen Wäldern und Fischen im eigenen See! Ideal! Für die richtige Person in der Tat absolut idyllisch, würde ich sagen!« »O ja!«, schäumte William, als die Tür sich hinter ihnen schloss. »Es ist genau der richtige Ort, wo Mörder sich wohl fühlen.« »Wie können wir sie jemals aufhalten?«, stöhnte Mary. »Wir könnten das Haus in Brand setzen«, meinte Alice nachdenklich. »Ach, Alice! Bleib auf dem Boden! Was sollte das nützen?« »Na ja, mir wäre es lieber, wenn niemand hier wohnt, als solche Leute«, erwiderte Alice. »Was habt ihr Kinder heute vor?«, fragte Phoebe, die oben auf der Treppe erschien und zu ihnen herunterkam. Obwohl sie immer noch blass aussah, schien sie ruhiger zu sein, seit die Entscheidung getroffen war, das Haus zu verkaufen. »Phoebe«, bat Mary und ging zu ihr. »Bitte! Du darfst das nicht zulassen. Du kannst nicht zulassen, dass Golden House verkauft wird. Nicht nach all der Arbeit, die du und Jack hineingesteckt habt, und all den Plänen, die ihr mit dem Haus hattet. Bitte, Phoebe, bitte!« »Es ist zu groß für uns, Mary«, erwiderte Phoebe sanft, aber bestimmt. »Aber nicht, wenn ihr ein Hotel daraus macht – wie ihr das woll-
tet«, widersprach Alice. »Und wie lange wird es noch dauern, bis wir dieses berühmte Hotel eröffnen, geschweige denn zahlende Gäste anwerben können, von denen wir auch mal leben können? Es stehen immer noch jede Menge Bauarbeiten an… Wir haben noch nicht einmal damit angefangen, die Gästezimmer zu möblieren… und wir haben jetzt schon zu wenig Geld. Bald würde nichts mehr zum Leben übrig sein. Als wir das Haus gekauft haben, ahnten wir nicht, wie schwierig die finanzielle Lage sein würde. Es hat keinen Zweck. Wir können es uns nicht leisten, hierzubleiben, sogar wenn wir es wollten.« »Das ist nicht der Grund!«, explodierte Alice. »Es liegt daran, weil du nicht gerne hier bist. Es hat nichts mit Geld zu tun. Es liegt nur an dir!« »Alice!«, wies Phoebe sie mit schärferer Stimme zurecht. »Ich will nicht die Beherrschung mit dir verlieren.« »Geh doch einfach weg, Phoebe, und lass Onkel Jack hier!«, schrie Alice. »Und Stephanie. Onkel Jack hat genauso viel Recht auf sie wie du. Und sie ist gerne hier. Dies ist ihr Zuhause. Sie gehört hierhin. Aber das ist dir wohl ganz egal. Also lass sie einfach bei Onkel Jack. Sie brauchen dich hier nicht. Jack mag dieses Haus – und du zwingst ihn dazu, wegzugehen. Das ist unfair…« Sie weinte fast und konnte kaum noch sprechen. »Wenn du das Haus nicht magst – geh doch alleine weg«, schluchzte sie. »Warum musst du auch noch allen anderen das Leben schwer machen!« »Alice!«, zischte William. »Hör auf!« »Es ist mir egal! Ich hasse sie!«, schrie Alice. »Ich meine dich, Phoebe! Ich hasse dich!« Sie stieß die anderen beiseite und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Während dieses Ausbruchs hatte Phoebe im hinteren Teil der Halle gestanden. Ihr Gesicht war erschreckt und schmerzverzerrt. Jetzt drehte sie sich um und lief zur Küche, ohne William oder Mary anzusehen. Als sie in der Küche war und die Türe geschlossen hatte, hätten die Kinder – wären sie da gewesen – sehen können, wie sie sich gegen die Türe lehnte und leise und bitterlich weinend die Tränen über ihr Gesicht laufen ließ. Alice tat es inzwischen Leid, was sie alles gesagt hatte, aber sie konnte nicht zu Phoebe gehen, um sich zu entschuldigen. »Ich kann nichts dafür«, sagte sie. »Eigentlich habe ich nur die Wahrheit gesagt. Ich habe sie nie gemocht.« Am Nachmittag führte sie alle das ungewohnte Klingeln des Tele-
fons in die Halle. Jack, der komplizierte Berechnungen am Küchentisch angestellt hatte, nahm eilig den Hörer ab. Seine Stimme hörte sich überrascht an, als er mit wem auch immer am anderen Ende sprach. Als er den Hörer wieder auflegte, sah er wirklich verblüfft aus. »Das war Jenny Minton, die Maklerin! Jemand kommt und sieht sich morgen das Haus an!« »So schnell?« rief Phoebe. »Das ist wunderbar, Jack!« Aber die Kinder waren über diese Neuigkeit überhaupt nicht begeistert. Am gleichen Abend, als alle ins Bett gingen, kam William herüber ins Zimmer der Mädchen. »Können wir nicht irgendwas tun?«, fragte er zum hundertsten Mal seit dem Telefonanruf. »Nein«, schüttelte Mary den Kopf. »Rattus hat uns gesagt, dass wir auf ihn warten sollen.« »Aber wo ist er? Sollten wir nicht wenigstens versuchen ihn zu finden? Er weiß doch gar nicht, was passiert ist. Wenn diese Person morgen kommt und ihr das Haus gefällt, verkauft Onkel Jack es vielleicht sofort… Und wenn Rattus kommt, ist es dann womöglich schon zu spät…« Mary und Alice hatten William noch nie so aufgeregt gesehen. Er war überhaupt nicht mehr er selbst. »Wer hat überhaupt gesagt, dass er die Befehle gibt? Ich kann mich nicht erinnern, dass Stephen Tyler ihm die Leitung anvertraut hat. Ich bin nicht sicher, ob ich dieser Ratte vertrauen soll.« »Ich weiß genau, was William meint«, sagte Alice. »Vielleicht sollten wir Spot und Jasper fragen. Sie sind schließlich unsere wirklichen Freunde. Ich war mir von Anfang an nicht sicher, ob ich mit einer Ratte zusammenarbeiten soll.« »Nein!«, beharrte Mary laut. »Wir müssen warten.« »Ach, Mary!«, fuhr William sie an. »Also, du kannst ruhig warten, wenn du willst, aber ich werde das ganz sicher nicht tun.« Damit lief er aus dem Zimmer. »Was willst du machen, Will?«, rief Alice und rannte hinter ihm her. William saß in seinem Zimmer auf dem Bett, die Stirn gerunzelt, die Hände in den Hosentaschen. »Das ist es ja. Ich weiß es eigentlich nicht«, gab er zu. »Ich gehe jetzt und hole Spot«, sagte Alice. »Er wird es uns schon sagen.« Sie lief schnell aus Williams Zimmer und die Wendeltreppe hinunter.
»Wohin ist Alice gegangen?«, fragte Mary, als sie in Williams Zimmer kam. »Sie holt Spot.« »Der kann uns auch nicht helfen.« »Warum sagst du das? Es sieht so aus, als kehrtest du allen unseren Freunden den Rücken.« »Das tue ich nicht, Will. Nur hat uns der Magier gesagt, was wir tun sollen…« »Was denn?«, rief William und seine ganze Enttäuschung und Wut kochten wieder hoch. »Nichts!«, erwiderte Mary. »Er hat uns gesagt, dass wir im Zweifelsfall gar nichts tun sollen. Rattus hat das auch gesagt.« »Na, wunderbar!«, machte sich William über sie lustig. »Während du damit beschäftigt bist, nichts zu tun, wird das Haus wahrscheinlich verkauft und Morten wird gewinnen und Phoebe wird irgendwo hingehen und Stephanie mitnehmen. So viel also zum Nichtstun, Mary! Wir verlieren alles – und wir haben noch nicht einmal versucht, es zu verhindern.« »Gut, William Constant!«, griff Mary ihn an. Sie verlor jetzt allmählich auch die Geduld. »Wenn du so schlau bist, sag mir, was wir tun sollen. Mach schon! Was schlägst du vor, wie wir Jack überzeugen sollen, das Haus nicht zu verkaufen, und Phoebe, doch hier wohnen zu bleiben, und wie wir Morten aufhalten sollen, der diesen ganzen Ärger verursacht? Bitte? Mach schon, sag es mir! Ich warte, William!« »Wir könnten das Pendel benutzen.« »Was machen wir damit?« »Weiß ich auch nicht«, gab William zu. »Ein bisschen Magie.« »Das letzte Mal, als wir ein bisschen Magie gemacht haben – wie du es nennst – ohne wirklich zu wissen, was wir tun, haben wir Morten hierher gebracht.« »Haben wir nicht. Nur seinen Geist«, gab William beleidigt zurück. »Sei doch nicht so spitzfindig! Du weißt genau, was ich meine. Na gut, wir haben also nur seinen Geist hierher gebracht, William. Aber wir haben es getan – durch unsere Einmischung, wie der Magier es genannt hat. Es war unsere Schuld – und jetzt liegt es an uns, ihn und seinen Geist wieder zusammenzubringen. Daran solltest du denken, wenn du unbedingt etwas tun willst – wie bekommen wir seinen Geist zurück? Das sollte nämlich unsere nächste Aufgabe
sein.« »Ich denke, wir müssen ihn erst einmal finden«, sagte William ruhiger. Offensichtlich dachte er wieder klarer über das Problem nach. Sie hörten beide auf zu sprechen und ein unsicheres Schweigen senkte sich über das Zimmer. Als Spot hereinkam, dicht gefolgt von Alice, saßen alle beide mit bedrückten Gesichtern auf dem Bett. »Hier sind wir!«, sagte Alice strahlend, als sie sich neben dem Hund auf den Boden plumpsen ließ und einen Arm um seinen Hals legte. »Und jetzt, Spot«, fuhr sie fort, »erwarten wir von dir, weil du zweifellos der intelligenteste Hund der Welt bist, dass du uns sagst, was wir tun sollen.« »Wobei?«, fragte Spot. Dann gähnte er und kratzte sich mit einer Hinterpfote am Ohr. »Wobei!«, explodierte William und regte sich schon wieder auf. »Ich weiß doch gar nicht, worüber ihr die ganze Zeit geredet habt, oder?«, knurrte der Hund und gähnte noch einmal. »Ich habe fest geschlafen, als Alice mich holen kam.« »Spot!«, rief Mary gereizt. »Du weißt, worüber wir reden! Jemand kommt morgen und sieht sich das Haus an. Er kauft es vielleicht sogar. Dann müssen wir alle hier weg. Wir müssen sie aufhalten…« »Ich denke, du hast gesagt, wir sollen nichts tun, Mary«, sagte William immer noch spitz und gereizt. »Ja«, griff Mary ihren Bruder wieder an. »Besser nichts, als etwas, das nicht durchdacht ist und alles schlimmer macht, so wie beim letzten Mal.« »Was meinst du, Spot?«, sagte Alice und drückte ihn fest an sich. »Ich meine«, sagte der Hund, »dass ihr nicht damit zu rechnen braucht, irgendetwas zu erreichen, wenn ihr euch dauernd streitet. Aber Mary hat Recht. Lieber nichts tun, als das Falsche tun.« »Aber was ist mit dem Richtigen?«, rief William. »Lohnt es sich nicht, das Richtige zu tun?« »Doch. Wenn du weißt, was das ist«, sagte der Hund. »Wir werden es nie wissen, wenn wir nicht versuchen es herauszufinden«, erwiderte William. »Also, wenn ihr mich fragt«, sagte Spot langsam, »dann gebe ich zu, wenn man mir nicht sagt, was ich tun soll – normalerweise tut das der Meister –, dann bin ich einfach nur ein Hund. So bin ich nun einmal.« »Das stimmt nicht«, rief Alice. »Du warst doch so tapfer, als die
Dachsfänger im Tal waren. Mr. Tyler war überhaupt nicht da, aber du hast nicht gewartet, bis er dir etwas gesagt hat.« »Da wusste ich auch schon, was zu tun war«, sagte Spot. »Woher?« »Der Meister hatte uns gesagt, dass wir euch helfen sollen. Er hat euch nicht wirklich im Stich gelassen. Das tut er nie. Und überhaupt sind die Dachse unsere Freunde. Natürlich mussten wir ihnen helfen.« »Aber meinst du wirklich, dass du nichts tust, bis man dir sagt, was du tun sollst?«, fragte William. »Bei großen Dingen, ja«, antwortete Spot. »Ich jage Kaninchen, ohne viel darüber nachzudenken. Oder so etwas in der Art. Aber bei großen Dingen warte ich lieber, bis man mir etwas sagt.« »Aber wie bekommst du es gesagt?«, fragte Mary. Der Hund betrachtete langsam alle drei Gesichter. »Das«, meinte er, »ist eine sehr gute Frage!« »Und wie lautet die Antwort?«, fragte Alice. Sogar sie fand seine Haltung allmählich ein bisschen ärgerlich. Der Hund drehte den Kopf auf eine Seite und dann auf die andere. Offenbar dachte er angestrengt nach. »Mein Herz sagt es mir«, behauptete er schließlich. »Dein Herz?«, rief William. »Ich glaube, dass Folgendes passiert, obwohl ich noch nie richtig darüber nachgedacht habe. Aber ich glaube, wenn irgendetwas getan werden muss, dann kommt der Gedanke daran aus meinem Herzen.« Der Hund gähnte wieder und strich mit einer Pfote über seine Nase. Dann nieste er und schüttelte seinen Kopf ein paar Mal. »Wenn ihr keine Fragen mehr habt«, meinte er, »sollten wir vielleicht ein bisschen schlafen. Wenn die Ratte wieder zu uns kommt, brauchen wir wahrscheinlich unsere ganze Kraft. Jasper hat gesagt, die Ratte ist überall herumgerannt und hat alle unsere Freunde besucht.« »Was?«, rief William. »Warum hast du uns das nicht gesagt?« »Ihr habt nicht danach gefragt«, grollte der Hund. »Ich habe bloß gedacht, dass überhaupt niemand etwas unternimmt«, rechtfertigte sich William. »Warum hast du das gedacht?«, wollte Spot wissen. »Ich weiß es nicht«, gestand William. »Soll ich dir sagen, warum? Weil du nur glaubst, dass etwas getan wird, wenn du selbst es tust. Stimmt doch, oder nicht? Aber auch andere Leute sind betroffen, weißt du, William?«
William seufzte und blickte auf seine Füße. »Sei nicht böse mit ihm, Spot«, sagte Mary. »Wir versuchen alle nur, das Richtige zu tun.« »Dann macht es doch so wie Alice«, meinte der Hund, »und geht schlafen!« William und Mary drehten sich um und sahen, dass Alice sich auf dem Bett hinter ihnen zusammengerollt hatte und fest schlief.
13 Ein möglicher Käufer Am folgenden Nachmittag waren die Kinder und Spot draußen auf der vorderen Wiese und spielten ein lautes und sehr heftiges Spiel, das in der Familie als »Constants Tod« bekannt war. Es war eine Mischung aus Nachlaufen und Fußball – das Ziel war, Tore zu schießen, während die Gegner versuchten einem den Ball wegzunehmen, um selbst Tore zu bekommen. Es war für jede Anzahl von Spielern geeignet, denen es nichts ausmachte, dass man ihnen ein Bein stellte, sie umwarf oder auf andere Arten misshandelte. Spot hatte das Spiel sofort gemocht und war bei weitem der beste Spieler, weil es so gut wie unmöglich war, ihm ein Bein zu stellen oder ihn umzuwerfen. Sie spielten es zum dritten Mal in diesen Herbstferien, und obwohl die Kinder eigentlich nicht in der Stimmung für Spiele waren, hatte Spot sie überzeugt, indem er ihnen klarmachte, sie würden dann wenigstens aufhören zu grübeln. Aber sein aufgeregtes Kläffen und Bellen zeigte, dass er hauptsächlich zu seinem eigenen Vergnügen spielen wollte. »Wie kannst du nur, Spot!«, sagte Alice. Sie rappelte sich wieder aus dem feuchten Gras auf und rieb über eine Schramme auf ihrem Knie. »Wir müssen uns um wichtigere Dinge Sorgen machen! Und überhaupt hat das jetzt wirklich wehgetan!« »Hat keinen Zweck, sich Sorgen zu machen«, bellte Spot. »Wozu sollen Sorgen gut sein?« Dann wich er Mary aus, die ihn abfangen wollte, und verlor den Ball an William, der von der anderen Seite kam und ein Tor schoss. »Das ist mein viertes«, jubelte er und hob den Ball auf. »Stimmt nicht, William! Es ist dein drittes!«, rief Alice, rannte zur Mitte der Wiese zurück und wartete darauf, dass er den Ball schoss. »Na gut«, gab William nach. »Obwohl ich immer noch glaube, dass das vorhin auch ein Tor war.« Er nahm einen kurzen Anlauf und schoss den Ball so, dass er in hohem Bogen über Marys und Alices Köpfe wegflog. Spot beobachtete ihn gespannt, berechnete genau, wo er landen würde, und sauste über die Wiese. Gerade als
der Ball vor ihm aufprallte, sprang er in die Luft und traf ihn mit seinem Kopf. Der Ball schoss schräg in Richtung Haus davon. Alice lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, wurde aber durch das Geräusch eines Autos abgelenkt, das die Auffahrt herauffuhr. »Da kommt jemand«, schrie sie und sie beobachteten alle, wie ein alter, aber glänzend polierter Rolls-Royce heranglitt. Als er nahe bei ihnen an der Eingangstür zum Stehen kam, erinnerten sie sich im gleichen Augenblick, wo und wann sie ihn schon einmal gesehen hatten. »Es ist der Wagen, in dem die Crawdens letzten Sommer nach Four Fields zu Meg und uns gekommen sind«, wisperte Mary. Die Kinder ahnten nichts Gutes und rückten Schutz suchend enger zusammen. Im gleichen Augenblick verdunkelten Wolken aus Westen den Himmel, als wollten sie die veränderte Stimmung auf der Wiese widerspiegeln, so dass der Tag auf einmal bedrohlich und gefährlich wirkte. Der Wagen wurde von einem Chauffeur gefahren. Auf dem Rücksitz saßen ein alter Mann und ein kleines Kind. Die Kinder erkannten den Mann als Sir Henry Crawden, aber das Kind – als es aus dem Wagen kletterte, sahen sie, dass es ein kleiner Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren war – hatten sie vorher noch nie gesehen. Sobald der Junge bemerkte, wie die Kinder ihn anstarrten, blieb er stehen und ließ mit schuldbewusstem Gesicht den Kopf hängen, als ob er bei etwas Unerlaubtem erwischt worden wäre. Hinter ihm holte der Chauffeur einen zusammengeklappten Rollstuhl vom Beifahrersitz. Er stellte ihn neben der hinteren Tür auf, nahm eine Decke von den Knien des alten Mannes und half ihm aus dem Wagen in den Rollstuhl. »Was ist los, Mark?«, rief Sir Henry dem Jungen zu. »Da sind Leute, Großvater«, antwortete der Junge. »Dann sag ihnen Guten Tag, du Stoffel!«, sagte der alte Mann und winkte den Kindern zu. »Ihr müsst meinem Enkel verzeihen! Die Leute denken, er ist unhöflich, aber in Wahrheit ist er nur schüchtern. Wir kennen uns schon, glaube ich. Du bist der junge, aufstrebende Rechtsanwalt, nicht wahr?« »Er meint dich, William«, flüsterte Alice. »Sag was!« »Wir haben uns im Sommer oben in Four Fields getroffen«, sagte William und versuchte seine Stimme fest klingen zu lassen, um seine Nervosität zu verbergen. »Ja, ja! Ich erinnere mich! Mein Sohn war ziemlich verärgert über
deine juristischen Schachzüge. Sie haben seine üblen Absichten vereitelt! Seine Pläne ruiniert! Egal. Also«, sagte er mit strahlendem Lächeln, »Golden House ist wieder zu haben! Wir hätten es nie verkaufen dürfen. Jetzt wird es mich zweifellos Geld kosten, es zurückzubekommen! Läuten Sie, Summers. Wir werden erwartet, glaube ich.« Er bewegte die Räder des Rollstuhls, so dass er herumschwenkte, und drehte den Kindern den Rücken zu. Sie beobachteten weiter schweigend, wie der Chauffeur zum Eingang ging und an der Klingel zog. Der Junge lief schnell zu seinem Großvater, drehte sich aber vorher noch einmal zu den Kindern auf der Wiese um und streckte ihnen zu ihrer Überraschung die Zunge heraus. »So ein freches Gör!«, empörte sich Mary. Alice streckte sofort ihre Zunge heraus und schnitt eine so furchtbar böse Grimasse, dass der Junge offensichtlich erschrak, seine Zunge wieder im Mund verstaute und schnell wegsah. Auf der Wiese neben ihnen knurrte Spot still vor sich hin. Gebannt warteten der Junge am Eingang und William, Mary, Alice und Spot auf der Wiese, bis sich nach einer schier endlosen Zeit die Tür öffnete und Meg herauskam. Sie war überrascht. »Du?«, fragte sie. »Guten Tag, Miss Lewis«, sagte der alte Mann mit klarer Stimme. »Wir sind hier, um das Haus zu begutachten.« »Du, Henry?«, fragte Meg. »Aber…« Sie war ganz deutlich von ihren Gefühlen überwältigt und fast sah es so aus, als wolle sie in Ohnmacht fallen. Sie musste sich an die Steinwand lehnen. »Ich höre, dass das Haus wieder zum Verkauf steht. Das ist doch richtig, oder nicht?«, fragte Sir Henry. »Doch sicher. Aber…« »Aber, Meg?«, fragte er in sanfterem Ton. »Aber nicht für mich? Willst du das sagen?« »Ich habe nie gedacht… Deine Familie hat es doch an Mr. Green verkauft. Warum um Himmels willen kaufst du es jetzt zurück?« »Stammsitz der Familie, meine Liebe! Sentimentale Bindung! Wir Crawdens gehen hier bis auf das 16. Jahrhundert zurück. Ich hoffe, dass mein Enkelsohn eines Tages der Herr von Golden House sein wird.« Meg sah den kleinen Jungen an, der mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen vor ihr stand. »Du hast Enkel, Henry?«, sagte sie ruhig.
»Drei! Dies ist der jüngste. Er ist aus der zweiten Ehe meines Sohnes. Die anderen beiden, ein Mädchen und ein Junge, bekomme ich nie zu Gesicht. Ihre Mutter hat sie mitgenommen, als sie vor den Crawdens davonlief! Armes Mädchen! Ich glaube, sie hat uns für eine schwierige Familie gehalten!« Während er sprach, blickte der alte Mann Meg die ganze Zeit aufmerksam an. Seine Worte schienen nur ein Ersatz für das zu sein, was er wirklich sagen wollte. »Aber Mark hier, Mark sehe ich ziemlich oft. Seine Mutter – die zweite Frau meines Sohnes – reist sehr viel. Ich muss zugeben, dass die Zeichen nicht gut stehen! Sie ist eine Frau, die eine Fluchtmöglichkeit sucht! Während ihr Mann – mein Sohn, Marks Vater – Geschäfte macht und kaum zu Hause ist. Folglich ist Mark genauso einsam wie ich. Wir trösten uns gegenseitig. Nicht wahr, Kind?« Sir Henry strubbelte dem Jungen durchs Haar. Mark wich ihm aus und starrte weiter auf den Boden. »Du bist einsam, Henry?«, sagte Meg ohne Bitterkeit. »Du hättest mich nie abweisen dürfen«, sagte Sir Henry langsam und bedächtig. »Das ist schon eine lange Zeit her, Henry«, erwiderte Meg. »Es ist ein Zeichen des Alters, in der Vergangenheit zu leben. Ich gehe Mr. Green holen. Er kümmert sich um alles Geschäftliche.« Sie wollte gerade zurück in die Halle gehen, als der alte Mann wieder anfing zu sprechen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich wieder in Golden House einziehe, Miss Lewis?« »Es kann mir gar nichts ausmachen, weil ich nicht mehr hier sein werde!« »Wohin wirst du gehen?« »Sehr weit weg.« »Aber mit dem Geld aus dem Verkauf könntest du das Haus in Four Fields reparieren lassen…« Meg sah ihn lächelnd an. »Wenn ich diesen Ort verlasse, Henry, gehe ich so weit von ihm weg, wie ich nur kann. Da bin ich ganz sicher. Du sagst, du bist einsam?« Jetzt begann ihre Stimme zu zittern und die Kinder, die aus der Entfernung zuhörten und beobachteten, merkten, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Du bist einsam?« Sie betonte die Worte kopfschüttelnd. »Ich bin den größten Teil meines Lebens einsam gewesen.« Dann eilte sie mit einem »Augenblick, bitte!« zurück in die Halle. Die Kinder warfen sich einen Blick zu. Es war ihnen peinlich,
dass sie eine Szene beobachtet hatten, die sie eigentlich nichts anging. Sie war zu persönlich und zu schmerzlich. Der alte Mann an der Eingangstür war offenbar aufgewühlt von dem, was geschehen war. »Bringen Sie mich wieder zum Wagen, Summers«, hörten sie ihn sagen. »Mark, steig ein! Wir fahren!« Der Junge drehte sich um und sah die Constant-Kinder kurz an. »Wohnt ihr hier?«, rief er. »Sie sind nur zu Besuch, Mark. Steig jetzt in den Wagen!«, sagte Sir Henry. Der Chauffeur half dem alten Mann auf den Rücksitz. »Kommen sie uns auch besuchen, wenn wir hier wohnen, Großvater?«, hörten sie Mark fragen. In diesem Augenblick erschien Jack in der Eingangstür. Er hatte im Hof Holz gehackt und sah verschwitzt und zerzaust aus. »Es tut mir Leid, Sir Henry. Ich habe die Klingel nicht gehört«, sagte er und eilte zum Wagen. Summers, der Chauffeur, hatte jetzt den alten Mann auf den Sitz gehoben und legte ihm eine Decke über die Beine. »Ich werde mit jedem Angebot mithalten, das Ihnen gemacht wird, Mr. Green. Golden House kehrt in das Eigentum der Crawdens zurück! Es war ein Fehler, es jemals zu verkaufen.« »Ich verstehe… aber…« Jack war offensichtlich sehr erstaunt über diese Worte. »Aber? Sie haben ein Aber für mich? Es gibt kein Aber! Entweder steht das Haus zum Verkauf oder nicht! Wenn ja – dann werde ich es kaufen. Sie sollen wissen, dass dieses Haus meiner Familie gehört, seit Matthew Morten, mein Vorfahr, es 1590 von einem gewissen Stephen Tyler erwarb. Ich habe, denke ich, ein Vorkaufsrecht. Was ist jetzt mit Ihrem Aber?« »Ich wollte nur sagen…«, begann Jack, aber Sir Henry unterbrach ihn wieder ungeduldig. »Steht das Haus nun zum Verkauf oder nicht?«, fauchte er. »Doch«, sagte Jack mit schon leicht verärgerter Stimme, »aber…« »Aber was?«, schrie der alte Mann und verlor völlig die Fassung. »Es wird verkauft, wenn wir dazu bereit sind«, erwiderte Jack, wieder kontrolliert und gelassen. »Wir haben uns gerade erst mit dem Makler in Verbindung gesetzt. Wir haben bis jetzt noch nicht einmal einen Preis festgelegt. Wir haben keine Einzelheiten mit unserem Notar besprochen und wir müssen noch entscheiden, wohin
wir selbst ziehen wollen. Sie sind zu früh gekommen, Sir Henry.« »Nun gut, aber nehmen Sie sich nicht zu viel Zeit, ich bin ein sehr alter Mann.« »Ich werde Sie sicher auf die Liste der möglichen Käufer setzen…« »Ich bin kein möglicher Käufer. Ich werde dieses Haus haben… Verstehen Sie mich? Ich muss es haben – und ich sage Ihnen auch, warum.« Er beugte sich zum Fenster. »Dies ist kein glücklicher Ort. Aber das Unglück ist ein Vermächtnis der Crawdens. Wir können damit umgehen. Wir können damit leben. Es gehört zu uns. Vielleicht werden wir es eines Tages sogar verbreiten.« »Ich kann Ihnen da nicht zustimmen, Sir Henry«, sagte Jack fest. »Ich finde, es ist ein völlig glückliches Haus.« »Warum ziehen Sie dann aus, Junge?«, fragte Sir Henry. »Beantworten Sie mir das! Warum ziehen Sie aus?« Jack und der alte Mann starrten sich an. Aber das Gespräch war beendet. »Fahren Sie, Summers!«, rief Sir Henry. Der Wagen fuhr langsam über die kreisförmige Auffahrt davon. Sir Henry blickte starr geradeaus, aber sein Enkel Mark drehte sich um und beobachtete die drei Kinder auf der Wiese, bis er sie nicht mehr sehen konnte. »Dieser Mann!«, schnaubte Jack. »Warum musste er hierher kommen?« »Du wirst es ihm nicht verkaufen, oder?«, fragte Mary. Die Kinder gingen auf ihn zu. »Wir sind noch gar nicht bereit für Verhandlungen«, sagte Jack verärgert. »Wir haben gerade erst darüber nachgedacht, es zum Verkauf anzubieten. Ich habe keine Ahnung, woher er so schnell wusste, dass es wieder verkauft würde. Ich muss diesem Makler auf den Zahn fühlen. Wir haben noch nicht einmal einen Preis ausgemacht.« Immer noch vor sich hin schimpfend ging er wieder ins Haus. »Die Crawdens!«, stöhnte William und sprach allen aus dem Herzen. »Wir müssen sofort etwas tun«, wisperte Mary. »Ich gehe die anderen suchen«, sagte Spot und jagte um das Haus herum zum Küchengarten und weiter in Richtung Golden Water.
14 Rattus kommt zurück Megs Zimmer lag im Erdgeschoss des Flügels aus dem 16. Jahrhundert. Eines Tages, wenn die Pläne, die Jack und Phoebe für das Haus entworfen hatten, verwirklicht würden, wäre es ein Teil des HotelSpeisesaals. Bis dahin lebte Meg hier. Sie war eingezogen, nachdem das Feuer in Four Fields ihr eigenes Haus zerstört hatte. Zwei ihrer Katzen, Cindy und Flanders, lebten mit ihr in dem Zimmer. Die anderen waren bei den Hunden im Schuppen auf dem Hof, den sie alle mehr als ihr Zuhause betrachteten. Meg kam an diesem Abend nicht zum Essen, also gingen die Kinder später zu ihr. Sie saß im Dunkeln, die Vorhänge waren immer noch offen. Cindy schlief auf ihrem Schoß und Flanders hatte sich auf dem Bett zusammengerollt. Als die Kinder an die Tür klopften, bekamen sie keine Antwort, und erst nachdem sie sie geöffnet und Licht gemacht hatten, bemerkten sie Meg. »Tut uns Leid, Meg!«, sagte William. »Stören wir dich?« »Du solltest etwas essen, Meg«, schlug Mary vor. »Sollen wir dir was bringen?« Meg blickte weiter schweigend in die Ferne. Es war fast so, als hätte sie noch nicht einmal gemerkt, dass die Kinder da waren. »Phoebe hat ein Gemüsecurry gekocht«, sagte Alice. »Es war wirklich gut. Wir hatten Reis und Chutney dazu und Nüsse und Bananen waren drin…« »Meg?«, sagte Mary lauter. »Meg, bitte, sag etwas…« Die alte Frau drehte langsam ihren Kopf und sah sie an. Dann lächelte sie traurig und wehmütig. »Nun«, sagte sie, »so wird also alles enden!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie?«, fragte Mary, eigentlich mehr, weil sie das Schweigen unterbrechen wollte. »Habt ihr es nicht gehört? Henry wird hier leben. Er wird wie sein Onkel vor ihm seine letzten Tage hier verbringen… und langsam verrückt werden. Das würde mich nicht wundern! Der einzige Unterschied wird sein, dass ich nicht oben im Baumhaus sitze und zusehe.
Hat er wirklich geglaubt, ich würde nach Four Fields zurückgehen? Was manche Männer doch für Narren sind! Ich vermute, er hat auch geglaubt, dass ich froh wäre, wenn er wieder da ist, dass ich die ganze Zeit auf ihn gewartet habe!« Sie schüttelte den Kopf und streichelte geistesabwesend die Katze auf ihrem Schoß. »Ich habe nicht auf ihn gewartet. Ich habe ihn beobachtet, wie er von unserer Tür weggegangen ist, nachdem mein Vater ihn hinausgeworfen hatte. Und ich habe ihn wieder beobachtet – ein zutiefst erschütterter Mann in Uniform – als er aus dem Krieg zurückkam und hoffte alles wieder gutzumachen.« Sie schüttelte ihren Kopf jetzt so heftig, als wollte sie versuchen die Bilder ihrer Erinnerung abzuschütteln. »Je eher dieses ganze Geschäft über die Bühne ist, desto besser. Desto eher sind wir alle von diesem Ort erlöst…« »Verkauf ihm dein Land nicht, bitte, Meg!«, drängte William sie. »Und lass Onkel Jack das Haus nicht verkaufen!« »Doch, Herzchen!«, erwiderte Meg. »Ich glaube, so ist es das Beste.« »Aber was wird aus Jack und Phoebe und dem Baby?«, rief Mary. »Wohin sollen sie gehen? Sie werden Schluss machen. Willst du das vielleicht?« »Schluss machen?«, fragte Meg bitter. »Was für hässliche Wörter ihr jungen Leute benutzt! Hässliche Wörter für hässliche Taten! Schluss machen! Dann lasst sie es doch einfach tun! Mir ist das auch passiert. Warum sollte mich das kümmern? Henry und ich… wir haben ›Schluss gemacht‹ – wenn man das tun kann, ohne jemals wirklich zuerst zusammen gewesen zu sein! Ich dachte, er würde mich lieben. Ich dachte, eines Tages würden wir heiraten und ich wäre seine Frau. Ich hoffte, dass wir Enkel haben würden, die uns im Alter trösten könnten! Aber nein! Er war nur hinter dem Land her. Die Crawdens wollten das Haus nicht ohne das Land. Ich vermute, dass es so war. Und beim ersten Anzeichen, dass das Haus und das Land wieder zusammen zum Verkauf stehen – wer kommt da wohl angelaufen? Henry!« Sie hörte sich zutiefst enttäuscht an. »Henry!« Dann drehte sie sich um und blickte die Kinder wieder direkt an. »Ich hätte ihn fast wiedergehabt!«, wisperte sie. »Ich hätte ihn einmal fast wiedergehabt. Er hätte sein Land bekommen… Oh! Ich muss aufhören daran zu denken… Ich habe das nicht alles durchgemacht, um wieder unglücklich zu sein.« Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Tut ihr mir einen Gefallen, bevor ihr am Ende der Woche wieder
wegfahrt? Ja?« »O Meg, natürlich tun wir das!«, sagte Mary und legte einen Arm um die alte Frau. »Nehmt mich mit hinauf zu meinen Dachsen«, sagte Meg mit Tränen in den Augen. »Sie waren in all den Jahren meine einzigen Freunde. Ich wünschte, dieser Mann wäre nicht zurückgekommen. Henry Crawden! Ich wünschte…« Sie war nicht zu beruhigen. Als die Kinder sie verließen, saß sie mit der Katze auf dem Schoß in ihrem Stuhl und alle Erinnerungen an ihre Vergangenheit kreisten immer wieder in ihrem Kopf. Als die Kinder hinausgingen, murmelte sie: »Macht das Licht aus, Herzchen, ja? Ich sitze lieber im Dunkeln. Hab mich nie an das elektrische Licht gewöhnen können…« Wieder draußen auf dem engen Flur wollten sie gerade in Richtung Halle gehen, als eine der Türen in der entgegengesetzten Richtung in den Angeln knarrte, so dass sie sich alle umdrehten. »Uff! Das hat mich fast zu Tode erschreckt!«, flüsterte Alice. »Komm, wir gehen zurück in die Halle, Will!«, sagte Mary. »Dieser Teil des Hauses ist so unheimlich.« »Es ist alles in Ordnung!«, antwortete William mit gespielter Tapferkeit. »Hier ist überall Licht.« »Ich weiß«, sagte Mary gleichgültig. Dann knarrte die Tür wieder. »Wieso tut sie das?«, fragte William und ging auf die Tür zu. »Hier ist kein Luftzug oder so was.« »Will!«, bat Mary. »Geht doch zurück, wenn ihr wollt«, meinte William. »Ich komme mit dir, Mary!«, sagte Alice. »Es ist die Tür, die zum Keller hinunter führt«, stellte William fest und öffnete sie. »Komisch!« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Hier ist Licht«, flüsterte er und drückte auf den Schalter an der Wand neben sich. Von weiter unten an der Treppe kam ein schwacher Schimmer, der sein Gesicht beleuchtete und Schatten auf die Flurwand hinter ihm warf. Die Mädchen sahen, wie er tief Luft holte, als ob er sich auf etwas Unerfreuliches vorbereitete. Dann blickte er zurück in die Richtung, wo sie immer noch bei Megs Tür standen. »Kommt mit mir, ja?«, sagte er und sie merkten, dass er genauso viel Angst hatte wie sie. »Wir müssen überhaupt nicht gehen«, sagte Mary. »Ich weiß«, stimmte William zu. »Nur…«
»Was?«, wisperte Mary. »Ich weiß nicht«, erwiderte William verwirrt. »Ich meine nur… Hört mal!« Er sagte es so eindringlich, dass Alice einen Schrei unterdrücken musste. »Was ist das, William?«, keuchte Mary. »Kommt schnell her!«, drängte er sie. »Mary, hast du das Pendel dabei?« Mary tastete in ihrer Hosentasche und schloss die Finger um das Stück Gold und die Kette. Neben sich spürte sie, wie Alice zitterte. Sie nahm sie beruhigend bei der Hand. »Komm mit«, flüsterte sie. »Wir gehen zurück in die Halle!« »Nein!«, jammerte Alice. »Wir bleiben besser bei ihm, sonst geht er doch nur allein.« Die beiden Mädchen bewegten sich langsam durch den Flur zu William an der offenen Tür. Vor ihnen führte eine Steintreppe hinunter in die Kellerräume. Eine einzige Glühbirne auf halbem Weg gab etwas Licht. Dahinter war wieder alles undurchdringlich dunkel. Jetzt konnten sie auch hören, was William aufmerksam gemacht hatte. Das Geräusch war so leicht wie ein Luftzug, obwohl kein Lüftchen wehte. Ein leises Schwatzen vieler Stimmen, die alle weit weg wie in einem entfernten Raum aufgeregt wisperten. »Was ist das?« Alice formte die Worte mit den Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. »Ich weiß nicht«, murmelte William. »Ich wünschte, ich hätte eine Taschenlampe.« Und damit ging er die ersten Stufen auf Zehenspitzen hinunter. »Wir könnten noch eine holen gehen«, zischte Mary. William wirbelte herum und legte den Finger auf die Lippen. Dann winkte er sie zu sich. Marys Finger umfassten das Pendel in ihrer Tasche fester. Dann folgte sie William mit Alice an der Hand die Treppe hinunter. Unten führte ein langer Steinflur an mehreren Türen vorbei zum Eingang in die unterirdische Krypta unterhalb der Halle von Golden House – dem ursprünglichen, mittelalterlichen Turm, um den herum das Haus gebaut worden war. Aus dieser Öffnung schien schwaches Licht auf den dunklen Gang, und als sie näher kamen, wurde das Geräusch, das William gehört hatte, deutlicher. Es hörte sich an, als hätte eine große Versammlung einen geheimen Singsang angestimmt. Und das Wort, das
einzige Wort, das die vielen Stimmen unablässig wiederholten, ließ die Kinder mit angehaltenem Atem stehen bleiben. »Morten! Morten! Morten!« »Lasst uns gehen!«, wisperte William und trat einen Schritt zurück. Im gleichen Augenblick flog eine der Türen im Gang auf. Eine Ratte rannte heraus und schwang vor ihnen herum. »Hier rein!«, befahl Rattus Rattus mit einer Stimme so leise wie ein Lufthauch, aber so gewaltig und eindringlich wie ein Schrei. Ohne zu zögern, drängten sich die Kinder in den Raum. Die Ratte folgte ihnen und lehnte mit ihrem Hinterteil die Türe an. »So!«, zischte Rattus Rattus. »Ihr kommt ja gerade recht! Und wo ihr schon da seid, könnt ihr auch gleich mitkommen!« »Wohin gehen wir?«, wisperte Alice entsetzt. »Ins feindliche Lager«, erwiderte er. »Wir müssen ihre Pläne kennen – und das scheint doch der beste Weg zu sein, sie auszukundschaften, oder nicht?« Alice schluckte heftig, gab aber keine Antwort.
15 Im feindlichen Lager Der Raum, in den sie traten, war stockdunkel. Zuerst konnten sie überhaupt nichts sehen. Aber nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an das wenige Licht, das vom Flur durch den Türspalt fiel, und sie konnten Umrisse erkennen. Rattus stand vor ihnen auf seinen Hinterbeinen und starrte sie an. Hinter ihm war eine Maus, die ausgesprochen klein und ängstlich aussah. »Alice«, zischte Rattus, »dies ist Zitterli – wie ich sie nenne! Sie ist ein liebes, kleines Geschöpf, aber ängstlich. Stärke ihr ein bisschen den Rücken, ja?« »Ich?«, fragte Alice, überrascht, dass sie das übernehmen sollte. »Wie? Was meinst du?« »Sorg einfach dafür, dass sie nicht vor Angst schlottert, wenn du in ihr bist.« »In ihr? Ich gehe in ihr?« »Sicherlich! Du glaubst doch wohl nicht, du kannst ohne Tarnung in Mortens Lager spazieren, oder?« »Aber…«, begann Alice. Sie wollte sagen, dass sie überhaupt nicht die Absicht hatte, in Mortens Lager zu gehen, egal in welcher Verkleidung. Aber bevor sie etwas sagen konnte, sprang Zitterli, die Maus, ihr entgegen und im nächsten Moment stand Alice auf vier winzigen Pfötchen und zuckte aufgeregt mit der Nase. »Ich will überhaupt nicht dahin gehen!«, fiepte Zitterli in ihrem Kopf. »Ich auch nicht!«, versicherte Alice. »Das Problem ist«, erklärte Zitterli, »sie brauchen mich. Ich kenne jeden Zentimeter in diesem Haus und bin bei den meisten Ratten bekannt. Sie werden diese anderen Tiere nur dulden, wenn ich bei ihnen bin. Jedenfalls hat die Ratte das gesagt.« Dann müssen wir also gehen, dachte Alice niedergeschlagen. »Was hältst du von der Sache?«, piepste Zitterli. »Die Ratte scheint zu wissen, was sie tut – nur kommandiert sie uns für mein Gefühl ein bisschen zu viel herum. Aber um ehrlich zu sein, ich hätte
sowieso hier ausziehen müssen, also kann ich ebenso gut mit Rattus gehen. Die Katzen der alten Frau waren kein Problem! Es ist ein großes Haus und ich kann mit Katzen umgehen – aber Mortens Ratten!« Die Maus schauderte. »Es ist die Hölle, seit sie wieder hier sind. So viele auch noch! Und das Problem ist, wenn du nicht bei ihnen mitmachst, ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert! Viele meiner Freunde haben auf ihre Seite gewechselt. Aus Angst! Aus purer Angst! Wenn du nicht bei ihnen mitmachst, dann denken sie, du hättest was gegen sie – und sie lassen dich nicht mehr in Ruhe. Also stelle ich mich gut mit ihnen. Es zahlt sich nicht aus, eine Ratte zum Feind zu haben. Aber ich gehöre ganz sicher nicht zu ihnen, was immer sie auch denken. Schrecklich ungehobelte Flegel! Sie werden alles für uns verderben, weißt du? Sie vertreiben die Menschen von hier – und ohne Menschen muss man für seinen Lebensunterhalt wirklich hart arbeiten…« »Sei still, Maus! Hör auf zu piepsen!«, zischte Mary und hielt dann die Luft an, weil sie merkte, dass Rattus durch sie gesprochen hatte. »Du bist besser bei mir«, erklärte Rattus in ihrem Kopf. »Du hast das Pendel. William, da drüben ist ein Wiesel. Es heißt Mustel. Also, ich habe nicht gerade eine Schwäche für Wiesel, aber wenn es zu Reibereien kommt, können sie gut kämpfen. Mustel?« »Was kann ich tun, Euer Ehren?«, sagte das Wiesel und wand sich aus der Dunkelheit zu ihnen. »Du hast gehört, was ich sagte«, fauchte Rattus. »Du übernimmst William!« »Übernehmen, Euer Ehren?« »Ja. Hört doch alle endlich mal zu, wenn ich rede! Ihr müsst das wirklich!«, seufzte Rattus. »Ich hätte viel mehr Zeit für die Vorbereitung gebraucht! Es hat lange gedauert, sie alle anzuwerben – aber dann brauchen sie eigentlich noch mehrere Wochen Training, bevor sie wirklich reif fürs Schlachtfeld sind.« Er und Mary zuckten die Schultern. Mary fand ziemlichen Gefallen an dieser ungewohnten Autorität. »Sind das alle?«, fragte sie und spähte durch das wenige Licht auf ein halbes Dutzend Mäuse, das Wiesel und eine fast weiße Ratte. »Die Ratte habe ich wegen ihrer Farbe Albus genannt«, erklärte Rattus. »Er kennt die Fluchtwege, und weil er so hell ist, fällt er in der Menge auf. Wenn wir Schwierigkeiten bekommen, werden wir ihm folgen. Er zeigt uns den nächsten Ausgang! Also los jetzt, Willi-
am!« »Was?«, fragte William. Er fühlte sich ausgeschlossen und seine Nerven machten ihn ziemlich schreckhaft. »Ich glaube, Euer Ehren«, zischte das Wiesel, »dass wir jetzt zusammen losgehen sollen!« Und kaum hatte es zu Ende gesprochen, drehte sich William wie eine Schlange aus Fell herum, stellte sich auf seine winzigen Hinterfüße und starrte mit glitzernden Augen Rattus an. »Wir sind bereit«, piepste das Wiesel. »Ich glaube, wir auch«, wisperte Zitterli zweifelnd. »Gut!«, zischte Rattus. »Wir drei müssen jetzt zusammenbleiben. Wir tragen die Kinder des Meisters. Es darf ihnen nichts geschehen. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten räumen wir das Feld. Ist das klar?« »Ich würde dann sowieso nicht bleiben wollen«, versicherte Zitterli ihm. »Ich bin gar nicht so erpicht darauf, überhaupt zu gehen.« »Nein, aber wir müssen«, sagte Alice fest. Die Feigheit der Maus begann sie zu ärgern. »Ich meine, wir haben alle Angst – aber wir sollten nicht dauernd drüber reden.« »Tut mir Leid!«, seufzte Zitterli. »Ist das unsere ganze Armee?«, fragte Mary. »Um Himmels willen, nein!«, antwortete Rattus. »Rus ist oben und sammelt die Truppen. Wir können uns sehen lassen. Jasper, die Eule, und Cinnabar, der Fuchs, sind feine Kerle. Ich habe den Meister oft über sie sprechen hören. Ich wollte sie schon immer mal kennen lernen…« »Das Ganze macht dir Spaß!«, rief William. »Kann es nicht leugnen«, sagte Rattus Rattus grinsend. »Ich bin ein Kämpfer! Bin zu lange auf dem Trockenen gewesen. Liebesgedichte und Philosophie sind schon in Ordnung, aber manchmal vermisse ich Trommelwirbel und Kanonendonner. Schade, dass ihr keine Seeleute seid. Am liebsten hätte ich den Südwestwind in meinen Barthaaren und den Duft von tropischen Stränden in der Nase. Egal!« Er schüttelte seinen Kopf und Mary wunderte sich über die starken Muskeln und die große Energie in ihrem Körper. »Und jetzt«, sagte Rattus, »wenn alles nach Plan läuft und – noch wichtiger – wenn die Schwachköpfe da drin Mortens Geist dazu bringen, zur Versammlung zu kommen, dann geht es darum, Morten in Albus hineinzulocken und danach zu viert blitzartig zum Meister zurückzulaufen.«
»Du meinst…« »Warte! Warte! Warte, William! Unterbrich mich nicht, Junge! Hierfür brauchen wir ein bisschen Planung. Wir haben das Pendel, mit dem wir durch die Zeit reisen können, und wenn Morten merkt, dass wir hier sind, wird ihn das anlocken. Vergesst nicht, er ist verzweifelt. Er wollte nie in diese Patsche geraten, in der er jetzt steckt! Ich glaube, er wird sehr leicht in Albus eintreten, weil der es ihm erlaubt… aber ob er auch in Albus bleibt, wenn er entdeckt, dass er eine Ratte des Meisters ist, das ist die andere Frage. Ihr beide, Alice und William, werdet ihn vielleicht dort halten müssen…« »Aber wie?«, rief William. Rattus zuckte nachdenklich mit dem Schwanz. »Albus, was sagst du dazu?« »Das ist alles völlig neu für mich«, antwortete die weiße Ratte. »Ich habe nur ganz vage vom Meister reden hören. Die Tiere, zu denen ich gehört habe, waren jenseits solcher Hoffnung. Deshalb bin ich weggelaufen…« »Von wo?«, fragte Alice. »Ich war in einem Zirkus. Die Attraktion des Beiprogramms! Ich habe Reifentricks und ein paar Balanceakte vorgeführt. Eigentlich war es ein Kinderspiel! Ich wurde gut gefüttert. Mein Mensch war nett zu mir… aber der Ruf der Freiheit ist eben sehr stark.« »Wir wollen jetzt nicht deine Lebensgeschichte hören, Albus!«, fauchte Rattus. »Mein Mensch hat mich immer ›Weißer‹ genannt…«, sagte die Ratte. »Menschen«, erwiderte Rattus, »sind nicht sehr poetisch! Kommt jetzt, oder wir verpassen den ganzen Spaß!« »Aber was machen wir, wenn wir Mortens Geist einmal in Albus haben?«, beharrte William. »Verschwinden! Abhauen! Au revoir, mes amis!«, antwortete Rattus grinsend. »Wir müssen zum Tunnel hinter dem Wasserfall kommen. Es ist ein Ort der Kraft – und wir brauchen alle Magie, die wir kriegen können.« »Aber was machen wir, wenn Morten nicht mit uns kommen will?«, versuchte William seine Meinung durchzusetzen. »Wir werden… improvisieren«, erwiderte Rattus. »Eine der größten Geheimwaffen ist die Improvisation! Sie besiegt das Unerwartete! Zitterli, du gehst voran!« »Du liebe Zeit!«, fiepte die Maus in Alices Kopf. »Na gut, gehen
wir!« »Und ihr folgt uns nach«, sagte Rattus zu den anderen Mäusen. »Und bleibt alle zusammen! Wenn wir einmal im Lager sind, will ich nicht, dass jemand herumstreunt! Wohin, Zitterli?« »Folgt mir einfach«, antwortete die Maus. Alice und Zitterli rannten schnell zur Tür und zwängten sich hinaus auf den Flur. Dann huschten sie in Richtung Krypta über die Steinfliesen. »Jetzt wird’s ein bisschen steil«, wisperte die Maus in Alices Kopf. Sie schwenkte nach links, lief an einem Türrahmen hoch und über den Türsturz. Vor ihnen konnte Alice zwischen zwei Steinen ein großes Loch im Mörtel sehen. Sie liefen hinein und befanden sich in einem Gewirr von Tunneln, die sich durch eine so große Dunkelheit wanden, dass sogar Zitterlis scharfe Augen nichts weiter als die unmittelbare Umgebung erkennen konnten. Das Geräusch des Singsangs war völlig verschwunden und Stille und Dunkelheit engten sie nun von allen Seiten ein. Alice fühlte, wie mit jedem Schritt ihre Panik größer wurde. »Wohin gehen wir?«, wisperte sie in ihrem Kopf. »Ich nenne diesen Weg die Teufelsreise!«, erwiderte die Maus. »Ich habe allen meinen Wegen Namen gegeben. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich diesen nicht oft benutze! Eigentlich hatte ich ziemlichen Dusel, dass ich ihn überhaupt gefunden habe. Ich war auf dem Heimweg von einem Ausflug und bin in einem Tunnel falsch abgebogen. Das Problem ist… dass es so viele von ihnen gibt…« Zitterli drosselte das Tempo, zuckte mit der Nase und spitzte die Ohren. »Was ist los?«, wisperte Rattus, der direkt hinter ihnen war. »Ich kontrolliere was!«, piepste die Maus. »Ah!«, rief sie und lief weiter. »Könnt ihr es riechen?« Alice bekam einen feuchten, modrigen Geruch in die Nase. »Was ist das?«, jammerte sie. »Es riecht widerlich!« »Die Abflüsse«, antwortete die Maus. »Keine Angst! Den Weg gehen wir nicht. Das war der Ausflug, von dem ich zurückkam, als ich diesen Weg entdeckt habe. Normalerweise gehe ich aus einer ganz anderen Richtung zu den Abflüssen.« »Du gehst dahin?«, rief Alice. »Warum denn das?« »Warum denn das?«, wisperte Zitterli aufgeregt. »Ihr Menschen seid schon komisch. Ihr verpasst die besten Dinge des Lebens! Komm schon! Jetzt wird ernsthaft geklettert!«
Aber nicht nach oben. Es ging hinunter in einer Serie von Stufen, Schrägen und senkrechten Abstürzen. Einmal verbreiterte sich der Tunnel. Hier gab es Metallrohre, die sich kalt anfühlten. »Aber nicht, wenn das heiße Wasser hindurchfließt«, erklärte Zitterli. »Dann kann es ein bisschen brenzlig werden. Ich habe schon ein paar böse Verbrennungen durch diese Rohre bekommen. Halt dich fest!« Und damit packte sie das Rohr und ließ sich fallen. Sie glitten immer tiefer nach unten und klammerten sich dabei mit den Vorderpfoten am Rohr fest. Hinter ihnen hörte Alice Rattus fröhlich kreischen. »Wunderbar!«, rief er. »Genau wie oben in der Takelage!« Unten angekommen, mussten sie sich durch ein unangenehmes Gewirr von Rohren und losen Steinen kämpfen. Hier war die Luft sehr viel kälter, und als sie sich einen Moment ausruhten, dachte Alice, sie könnte das Geräusch von fließendem Wasser hören. »Genau unter uns fließt ein Fluss«, erklärte Zitterli. »Er versorgt den Brunnen am Haus.« »Ich weiß. Wir waren da«, wisperte Alice. »So sind wir ins Laboratorium des Magiers gekommen.« »Ihr wart da?«, fragte Zitterli. »Warum habt ihr das nicht früher gesagt? Dann hättet ihr uns führen können.« »Gehen wir dahin?«, fragte Mary, als sie und Rattus auf gleicher Höhe waren und sie den Rest des Gesprächs hören konnte. »Ja«, wisperte Zitterli. »Mortens Leute nutzen den Raum als Treffpunkt. Das tun sie schon seit Jahren, glaube ich.« »Ruhe da vorn!«, kommandierte Rattus. »Wir müssen fast da sein.« »Es gibt da hinten einen Weg durch den blanken Felsen. Eigentlich ist es einfach nur eine Spalte im Boden«, sagte Zitterli. »Sie führt in den hinteren Teil des Raumes.« »Gut. Ich gehe jetzt voran«, verkündete Rattus und er und Mary drängten sich an der Maus vorbei an die Spitze. »Albus, du als Nächster! Und Mustel, du und William bildet die Nachhut! Ihr anderen Mäuse, bleibt in einer Reihe hinter Mustel…! Und wenn wir im Raum sind, bleibt alle zusammen! Albus, wenn wir drin sind, führst du uns! Die Maus kennt den Wasserweg nicht… und das wird unser Fluchtweg sein…« »Moment mal!«, unterbrach William ihn. »Darf ich was fragen?« »Was ist denn jetzt noch?«, rief Rattus. »Nur, dass ich wissen will, ob Mustel schwimmen kann, wenn wir
den Wasserweg nehmen.« »Macht Euch keine Sorgen, Euer Ehren!«, sagte das Wiesel. »Ich schwimme wie ein Fisch, wenn ich muss. Ich klettere nicht gerne auf Bäume – aber Wasser ist überhaupt kein Problem…« Er schüttelte immer noch den Kopf, als er die Maus hinter sich witterte und sich die Lippen leckte… »Nein! Mustel, nein!«, rief William. »Wir dürfen diese Maus nicht fressen – sie ist ein Freund.« »Na gut, Euer Ehren!«, sagte das Wiesel widerwillig. »Aber Ihr solltet sie warnen – wenn wir das hier hinter uns haben, brauche ich etwas Leckeres zu fressen…« »Gut! Wenn jetzt jeder seinen Spaß hatte – können wir dann endlich weitergehen?«, fragte Rattus ärgerlich. »Je eher es vorbei ist, desto eher können wir alle was fressen.« Mary schauderte. Sie nahm sich vor sich von Rattus zu trennen, bevor er auf Futtersuche ging. Vor ihnen konnte sie die Felsspalte sehen, die Zitterli beschrieben hatte. Es war nicht mehr als eine schmale Öffnung durch die Felswand. Mit einem raschen Blick über die Schulter liefen Rattus und sie hinein. Der Weg durch die Felsspalte war lang und schwierig. Er führte immer tiefer in den Felsen. Mary konnte spüren, wie ihr Körper sich an den kalten Steinen stieß. Sie hoffte, dass Albus nicht zu groß für den Gang war und dass Alice und Zitterli keine Angst bekamen. Schließlich hielt Rattus wieder an und hob eine Pfote, damit die Kolonne der Tiere hinter ihm stehen blieb. Das Geräusch des Wassers war jetzt gedämpft, aber stattdessen hörten sie alle wieder den leisen, ununterbrochenen Singsang, den sie zuerst im Kellerflur wahrgenommen hatten. »Morten! Morten! Morten!«, wiederholten die Stimmen immer wieder. Das Geräusch kam aus dem Dunkel von irgendwo über ihnen. »Wir sind fast da!«, wisperte Rattus. »Zuerst kommt man zur Wand des Raumes«, wisperte Zitterli der Ratte ins Ohr. »Dann folgt fast sofort ein Holzbalken. Er ist irgendwann nahezu verbrannt, aber man kann noch über ihn laufen. Er führt zu einem großen, flachen Stein auf halber Höhe an der anderen Seite der Wand. Da ist man dann im Raum. Der versperrte Eingang zum Brunnenschacht ist genau gegenüber…« Rattus nickte bestätigend zu dem, was die Maus ihm einflüsterte, und winkte dann allen mit der Pfote ihm zu folgen. Er und Mary
machten sich wieder auf den Weg durch die Dunkelheit. »Morten! Morten! Morten!«, ging der Singsang weiter und wurde mit jedem Schritt lauter. Zentimeter für Zentimeter schoben sich Rattus und Mary über den Holzbalken, der Rest ihrer Truppe dicht hinter ihnen. »Morten! Morten! Morten!« Das vereinte Piepsen von hundert Ratten und anderen unbekannten Tieren schwoll an zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Plötzlich folgte das schreckliche »Ahhh!« einer aufgeregten, freudigen Begrüßung und der Singsang hörte auf. Im gleichen Augenblick trat Rattus aus der Wand auf den großen, flachen Stein, gefolgt von Zitterli, Albus, Mustel und den anderen. Der ganze dunkle, unterirdische Raum vor ihnen war angefüllt mit Ratten, Mardern, Frettchen, Wieseln, ein paar Stinktieren und sogar ein paar fremdartigen Tieren – Nerzen und Sumpfbibern. Sie alle blickten auf den flachen Stein, auf dem Rattus und die anderen erschienen waren. Da drängte sich eine große braune Ratte in die vorderen Reihen, stellte sich mit zuckenden Barthaaren auf die Hinterbeine und starrte zu ihnen hoch. »Ihr da!«, rief sie. »Was zum Teufel macht ihr da?«
16 Die Stimme im Dunkeln »Hier sind noch mehr Mitglieder der Gruppe«, zischte Rattus und trat vor. »Ich habe sie hinten in den Tunneln gefunden. Sie hatten sich verlaufen.« »Das ist absolut gegen die Regeln! Sie sind nicht durchsucht worden«, kreischte die braune Ratte. »Sie hätten durch den Tunnel im Hof kommen müssen.« »Wir kennen die Maus«, rief eine der anderen Ratten. »Du, Maus!«, brüllte die braune Ratte. »Name? Rang?« »Ich bin nur eine arme Hausmaus«, wimmerte Zitterli. »Aber wie lautet dein Name und deine Nummer?«, beharrte die braune Ratte und gab mit ihrem Kopf ruckartig ein Zeichen. Sofort sprangen mehrere große Ratten aus der Menge und umzingelten Rattus und seine Gruppe. »Mein N-n-name und meine N-n-nummer?«, stammelte Zitterli. »Ach du liebe Zeit!« Ein großer, gemein aussehender Marder drängte sich durch die Menge nach vorne zu der braunen Ratte. »Wir verschwenden Zeit!«, bellte der Marder. »Übernehmen wir jetzt das Haus oder nicht? Ich könnte meine Zeit viel nützlicher oben in den Wäldern verbringen…« »Ihr da, kommt hier runter!«, kommandierte die braune Ratte und ihre Gefolgsleute drängten die Gruppe vom Stein hinunter auf den Boden des Raumes. »Und du, Marder«, fuhr die braune Ratte fort und wandte sich drohend an das Tier, »geh zurück in die Reihe und sprich nicht mehr, bis man dich dazu auffordert! « Rattus und Albus blieben eng zusammen, aber weil Zitterli so klein war, wurde sie schnell von ihnen getrennt. Mustel, das Wiesel, drehte sich absichtlich um und versuchte zur hinteren Wand durchzukommen. »Wohin gehen wir?«, wisperte William nervös. »Ich bin nicht gerne so weit vorne, Euer Ehren!«, erwiderte Mustel. »Ganz vorne wird man immer für irgendwas ausgesucht. Ich
ziehe ein bisschen Deckung vor, ein bisschen Sicherheit.« »Aber wir sollen doch alle zusammenbleiben«, wandte William ein. »Gut! Und jetzt alle mal herhören«, rief Mortens Ratte. Sie war auf den flachen Stein gesprungen und blickte auf ihre Truppen. »Wir wissen alle, warum wir hier sind, oder nicht?« »Ja!«, rief die Menge im Chor. »Ja!«, piepste Zitterli zu Alices Überraschung. »Ja!«, zischte Mustel, so dass William zusammenfuhr. »Mortens Zeit ist fast gekommen! Bald gehören uns das Tal und das Haus! Die Menschen werden mit ihrem reizenden Abfall und ihren Abflüssen kommen! Unser Leben wird sich verändern! Es wird genug Häuser für uns alle geben. Reiche Beute! Wir werden wie unsere Brüder in der Stadt leben können! Wir werden nicht mehr die armen, vergessenen Verwandten sein!« Ich muss schon sagen, das hört sich ziemlich gut an, wenn er es so sagt!, dachte Zitterli. Ich habe natürlich geglaubt, sie vertreiben nur die jetzigen Menschen und nie dran gedacht, dass andere kommen… stattdessen. Und noch viel mehr als jetzt! Das Leben könnte ganz nett sein… »Halt die Klappe!«, unterbrach Alice die Stimme in ihrem Kopf. »Versuch in die Nähe von Rattus und der weißen Ratte zurückzugehen, Zitterli!« »Ja, ja, schon gut!«, jammerte die Maus und begann sich durch die großen Ratten um sie herum zu drängen. »Aber damit dieser große Traum auch Wirklichkeit wird«, sagte Mortens Ratte gerade und fuhr mit ihrer Kundgebung fort, »müssen wir einen letzten großen Vorstoß wagen. Nicht nur hier im Haus, sondern auch oben in den Wäldern… Ein letzter Kampf! Ein Kampf auf Leben und Tod! Seid ihr dabei?« »Ja!«, brüllte die Menge. »Werden wir siegen?« »Ja!«, riefen sie. »Wer ist euer Führer?« »Morten!« »Wen ehren und wem gehorchen wir?« »Morten!« Und dann begann der Singsang wieder. Der ganze Raum hallte davon wider. Tief und bedrohlich dröhnte der unaufhörliche Ton in der Dunkelheit: »Morten! Morten! Morten!«
»Ich denke, wir sollten bei den anderen sein, Mustel!«, wisperte William. »Morten! Morten! Morten!«, murmelte Mustel, ergriffen vom Rhythmus und der Eindringlichkeit der Worte. »Hör auf!«, befahl William. »Womit, Euer Ehren?«, fragte Mustel, erstaunt über Williams Ton. »Nur seinen Namen zu sagen bindet dich schon ein bisschen an ihn. Komm mit!«, und ohne auf Mustels Zustimmung zu warten, schlängelte William seinen langen, pelzigen Körper zurück durch die Menge auf Albus zu, der nahe bei der versperrten Türe stand und dank seines weißen Fells leicht zu erkennen war. »Wo bleibt ihr denn?«, wisperte Rattus. »Tut mir Leid!«, erwiderte William. »Nur ein bisschen Ärger mit dem Wiesel.« »Morten! Morten! Morten!«, sang Mustel in seinem Kopf. »Hör auf!«, beharrte William. »Oh! Entschuldigung, Euer Ehren! Hab ich es schon wieder gemacht? Irgendwie packt es einen…« »Wo sind die anderen Mäuse?«, fragte Mary. »Sie sind alle hier neben mir«, sagte Albus. »Aber ich hoffe, wir müssen nicht mehr zu lange warten. Sie sind nicht gerade die Tapfersten!« Das stimmte. Die Mäuse drückten sich alle neben der weißen Ratte zu einem kleinen Häuflein aneinander und zitterten so sehr, dass ihre winzigen Zähne aufeinander schlugen. »Und was jetzt?«, fragte Albus. »Wir warten«, antwortete Rattus. »Auf was?«, fragten Zitterli und Alice im Chor. »Auf den Assistenten des Meisters!« »Morten! Morten! Morten!«, ging der Singsang weiter, bis die große braune Ratte, die immer noch auf dem flachen Stein stand, die Menge plötzlich mit einer Drehung ihres Körpers zum Schweigen brachte. »Helft mir!«, wisperte eine Stimme durch den Raum. »Worum bittest du?«, fragte die braune Ratte. »Eine sichere Reise…« »Wohin willst du?«, fragte die Ratte. »Zurück in meine Zeit«, erwiderte die Stimme. »Jetzt, Mary!«, zischte Rattus. »Das Pendel!«
Mary suchte in ihrer Tasche und holte das Stück Gold heraus. Aber dabei merkte sie plötzlich, dass sie nicht länger in der schwarzen Ratte war. Sie stand alleine in dem dunklen Raum mit all den Tieren, die um sie herumkrochen. »William! Alice!«, keuchte sie. »Ihr? Hier?«, rief Mortens Stimme. »Wo ist er?«, schrie William und erschien neben Mary. »Hier krabbeln überall Ratten über meine Füße!«, brüllte Alice und streckte Hilfe suchend eine Hand nach William und Mary aus. »Ich kann das nicht haben! Ich kann nicht…« »Ihr… kleine Kinder! Ihr habt mir das angetan!«, heulte Mortens Stimme. »Dann komm mit uns!«, rief Mary, mit den Nerven fast am Ende. »Aber komm… jetzt!« Als sie das Wort sagte, hielt sie das Pendel des Magiers in die Höhe, so dass es vor ihrem Gesicht baumelte und geheimnisvoll wie von innen heraus leuchtete. »Holt das Gold!«, kreischte die Stimme. Neben Mary sprang eine Ratte in die Höhe und streifte ihre Hand. Völlig überrascht schwenkte Mary ihren Arm zur Seite. Dabei glitt ihr die Kette aus den Fingern. Alice sah den goldenen Anhänger durch die Luft kreiseln, die Kette wie einen funkelnden Schweif hinter sich herziehend. Sie streckte eine Hand aus und fing sie auf. »Du, kleines Mädchen!«, schrie die Stimme. »Ich kriege dich!« »Rattus!«, bat William. »Tu was!« Alice holte tief Luft und packte das Pendel fester, damit es ihr Mut gab, und versuchte nicht weiter an das Ungeziefer zu ihren Füßen zu denken. »Mister Morten«, sagte sie. »Es tut uns wirklich Leid, was wir getan haben… und… wir sind gekommen, um Sie nach Hause zu bringen!« »Ihr?«, schluchzte die Stimme. »Ihr wollt mich nach Hause bringen?« »Nein!«, rief Albus, die Ratte. »Ich werde das tun!« Er sprang hoch und drehte einen Salto – ein Trick, den er im Zirkus gelernt hatte. Er schnappte sich das Pendel aus Alices Hand und flitzte in die Dunkelheit. »Kommt alle mit!«, befahl Rattus. »Wir dürfen ihn jetzt nicht verlieren!« Und sehr zu ihrer Erleichterung waren William, Mary und Alice wieder in ihren Tieren und folgten flink der weißen Gestalt
von Albus. Er verschwand gerade durch ein Loch tief unten in der Steinwand, die den Eingang zum Raum versperrte. »Bringt mir das Gold!«, hörten sie Mortens Stimme schreien und dann brach die Menge hinter ihnen lautstark in böses Kreischen und Zischen aus. »Hinterher!«, fauchte die braune Ratte. »Haltet sie auf!« Das Loch in der Wand führte in bodenlose Tiefe. Überall hörte man Wasser tropfen und rauschen. Alle Tiere schlidderten und fielen die glitschigen alten Steine hinunter, bis sie, unten angekommen, von dem eiskalten Fluss mitgerissen wurden, der durch die Dunkelheit toste. »Hast du ihn?«, fragte Rattus die weiße Ratte und rang nach Atem. »Noch nicht!«, antwortete Albus. »Aber ich habe das Gold, und hinter dem ist er ja wohl her.« »Bitte, beeil dich! Sie verfolgen uns«, sagten Zitterli und Alice zusammen. »Wohin jetzt, ehrenwerter Herr?«, fragte Mustel ungewöhnlich energisch. »Den Fluss hinauf und in die Minen!«, erwiderte Albus. »Die Minen?«, fragte William. Aber für weitere Diskussionen war keine Zeit. Albus führte sie durch das eisige Wasser. Es war harte Arbeit für sie alle, denn sie mussten gegen die Strömung ankämpfen. Zitterli war bald müde und Rattus steckte seinen Schwanz in ihr Maul und zog sie und Alice weiter. Ich habe nie geglaubt, ich könnte eine Ratte mögen, dachte Alice. Aber sie mochte Rattus in diesem Moment nicht nur, sie liebte ihn aufrichtig. Sie erreichten einen Wasserfall und Albus kletterte auf ein trockenes Felsstück. Dort wartete er, um den anderen aus dem Wasser zu helfen. Zwei Mäuse fehlten. »Schade!«, rief Rattus, aber er schien sich weniger um ihr Fehlen zu sorgen, als dass seine Pläne nun nicht aufgehen könnten. »Gut! Ich brauche zwei Freiwillige – dich und dich!« Er zeigte auf zwei der übrig gebliebenen Mäuse. »Ihr bleibt hier und sorgt dafür, dass die anderen uns folgen.« »Du willst, dass sie uns folgen?«, rief Alice. »Ich will, dass der Assistent des Magiers uns folgt, ja!«, erwiderte die Ratte.
»Aber was ist mit all den anderen?«, fragte William. »Keine Zeit! Kommt schon!«, wisperte Albus, und da sahen sie schon die erste von Mortens Ratten auf sie zuschwimmen. Sie jagten weiter in die Dunkelheit. »Was für eine schreckliche Hetzerei!«, rief Zitterli. Das Geräusch fließenden Wassers schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. »Was ist das?« Mary musste schreien, damit man sie verstehen konnte. »Die Blackwater Schleuse«, brüllte Albus. »Hier kann man nicht durch, fürchte ich. Die Strömung ist viel zu stark. Niemand kann sie überleben. Hier fließt das Wasser aus Golden Water heraus…« »Ja«, sagte William. »Wir waren schon mal hier.« Alice schauderte. Das habe ich auch nicht sehr gemocht, dachte sie. »Ihr habt aber viele Abenteuer erlebt!«, meinte Zitterli. »Das haben wir wohl!«, stimmte Alice zu. »Aber ich weiß nicht, ob das die Sorte Abenteuer ist, die ich wirklich mag. Ich sehe mir lieber was im Fernsehen an… Das kann man immer abschalten, wenn es zu schrecklich ist…« »Kannst du bitte mal ein bisschen ruhig sein?«, bat Zitterli. »Ich glaube, wir müssen uns konzentrieren…« Sie kletterten jetzt eine steile Klippe hinauf. Die Dunkelheit um sie herum war so schwarz, dass sogar ihre scharfen Tieraugen sie kaum durchdringen konnten. Ihre winzigen Pfoten krallten sich an Ritzen und Spalten im Felsen fest, manchmal hingen sie kopfüber unter Felsvorsprüngen, dann wieder balancierten sie über scharfkantige Schluchten. Es ist wohl besser, dass wir nichts sehen können, dachte William. Unsere Nerven würden das nicht aushalten. Manchmal mussten sie über einen Abgrund springen, manchmal durch winzige Löcher kriechen. Dann kamen sie durch eine Reihe von breiten und hohen Gängen. »Die alten Minen«, erklärte Albus. »Sogar ich kann mich hier verlaufen.« »In welche Richtung gehen wir?«, fragte Mary. »Zum Ort der Träume«, erwiderte Rattus. »Aber ich dachte, Mortens Tiere wüssten nicht, dass es ihn gibt«, meinte William. »Deshalb gehen wir ja dahin«, antwortete Rattus. »Wie weit noch,
Albus?« »Zum Tunnel hinter dem Wasserfall?«, fragte Albus, dann blieb er mit zuckender Nase stehen. »Fast da.« »Mary«, wisperte Rattus. »Was ist?« »Jemand muss auf Mortens Geist warten.« »Was?«, fragte sie und fühlte, wie sie in Panik geriet. »Das ist meine Aufgabe«, sagte Albus. »Aber wir brauchen dich, damit du uns den Weg zum Ort der Träume zeigst«, sagte die Ratte. »Kein Problem«, sagte Albus. »Ihr seid da.« »Wo?«, fragte Rattus verwirrt. »Hier runter!«, sagte Albus und zeigte auf eine schmale Felsspalte. »Wir sind darüber?«, fragte Rattus überrascht. »Wir sind fast ganz oben auf dem Berg«, sagte Albus. »Ich warte hier.« »Du kannst das Pendel nicht behalten. Mary und ich brauchen es für die Zeitreise.« »Er wird meinen, ich hätte es immer noch«, sagte die weiße Ratte und gab Rattus das Pendel. »Aber ich kann ihn nicht lange an der Nase herumführen. Sobald ich zu euch komme… müsst ihr sofort gehen!« Dann fröstelte er. »Wird er mir wehtun, Rattus?« »Nein, mein Alter! Hab keine Angst!«, erwiderte Rattus, aber niemand wollte ihm so recht glauben. »Ihr anderen Mäuse könnt jetzt abschwirren«, fuhr er fort. »Kommt mit, Kinder!« »Können wir dann gehen?«, fragte Zitterli. »Erst wenn ihr die Kinder des Meisters sicher am Ort der Träume abgeliefert habt. Sie wären ein bisschen zu groß für diese Felsspalte!«, sagte Rattus, nahm Mary mit sich und schlüpfte durch die schmale Öffnung im Felsen.
17 Die zweite Reise Das Geräusch des Wasserfalls am Ende des Tunnels dröhnte allen in den Ohren nach der bedrückenden Stille der unterirdischen Welt. Die Höhle lag im Dunkeln, aber als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, war ein schwacher Silberschein wahrzunehmen, der aus einer Öffnung im Felsdach hoch über ihren Köpfen in die Düsternis brach. »Der Mond!«, wisperte Rattus. »Phoebe ist auf ihrem Thron.« »Phoebe?«, fragte Alice verwirrt. »Phoebe! Der Mond des Saturn!«, erklärte Rattus. »Wisst ihr Kinder denn gar nichts?« »Ich dachte, du meinst unsere Phoebe!«, murmelte Alice. »Kann ich jetzt gehen?«, fragte Zitterli. Sie sah so klein aus, wie sie da neben Alices Füßen auf ihren Hinterbeinen saß. »Ja, dann lauf schon, Maus!«, rief Rattus. »Gutgemacht! Du hast uns sehr geholfen.« »Oh, danke schön!«, piepste Zitterli erfreut und huschte zum Ausgang des Tunnels und dem Wasserfall dahinter. »Armes Geschöpf!«, sagte Rattus, der ihr nachblickte. »Es muss schrecklich sein, mit so viel Angst auf die Welt zu kommen.« »Euer Ehren?«, jammerte das Wiesel und drehte sich um eins von Williams Beinen. »Ja, du auch«, sagte Rattus, weil er die Frage schon ahnte. »Danke, Euer Ehren!«, verbeugte sich das Wiesel. »Stets gern zu Diensten!« »Gut!«, meinte Rattus. »Dann erwarte ich dich an der Eibe, wenn wir zum großen Kampf blasen…« Aber Mustel hörte ihn nicht mehr. Er war schon in größter Eile halb durch den Tunnel gerannt. »Man sagt doch, die Ratten verlassen das sinkende Schiff!«, brummelte Rattus vor sich hin. »Sieht mir so aus, als wären wir die Einzigen, auf die hier Verlass ist!« »Was machen wir jetzt, Rattus?«, fragte William. »Wir warten«, erwiderte die Ratte. »Du hast das Pendel, Mary?« Mary fingerte in ihrer Hosentasche herum und war überrascht das
bekannte Stück Gold an seiner Kette zu fühlen. »Ja«, sagte sie. »Gut«, nickte Rattus. »Wenn alles nach Plan läuft, werden wir es brauchen.« Dann schwiegen sie alle. Rattus lief unruhig auf und ab, sein langer Schwanz zuckte ungeduldig. William hockte sich auf den Boden, den Rücken an die Höhlenwand gelehnt, und Mary setzte sich neben ihn auf einen Felsblock. Alice ging zum Tunneleingang und spähte durch die Dunkelheit zum fernen Wasserfall. Es war bitterkalt und keiner von ihnen hatte eine Jacke dabei, weil sie nicht damit gerechnet hatten, hinauszugehen. »Wir waren nur kurz bei Meg, um mit ihr zu reden«, sprach Mary ihre Gedanken laut aus. Es schien Ewigkeiten her zu sein und sie konnte kaum glauben, dass es immer noch dieselbe Nacht war. »Ich erfriere!«, sagte Alice und schlang gegen die Kälte ihre Arme um sich. »Ich auch«, stimmte Mary kläglich zu. Rattus seufzte. Er war in Gedanken weit fort. Dann drehte er sich um, blickte sie mit schief gelegtem Kopf an und lächelte. »Seid nicht so niedergeschlagen«, sagte er. »Was wir jetzt brauchen ist ein bisschen Musik.« Er stellte sich auf seine Hinterbeine, spuckte in die Vorderpfoten und rieb sie aneinander. »Nichts hebt die Stimmung besser als ein Lied!«, fügte er hinzu. Er holte tief Luft und fing an zu singen: »Ich bin ’ne Ratte aus Bristol-Stadt, War mein Leben auf hoher See. Und wenn mein Herz genug davon hat, Dann setze ich Anker, jucheh… Ich bin meines Meisters Ratte, ’Ne bessere Ratte gab’s nimmer. Ich teil meines Meisters Matte Und bleib bei ihm für i-hi-himmer Ja, ich bleib bei ihm für immer!« Dann hüpfte er weiter die Melodie summend über den Boden und blickte zu den Kindern hoch. Alice gähnte. »Wie spät ist es wohl?«, fragte sie.
William hielt seine Uhr in das fahle Licht des Mondes, damit das Zifferblatt beleuchtet wurde. Dann legte er sie an sein Ohr und lauschte. »Stehen geblieben!«, sagte er zu sich selbst. »Hab wohl vergessen sie aufzuziehen.« Dann gähnte er auch. Es kam ihm vor, als wäre es schon lange Zeit zum Schlafengehen, und er sehnte sich plötzlich nach einer warmen Decke und einem Kissen unter dem Kopf. »Ich bin ein berühmter Streiter«, sang Rattus, »Ich kämpfe in jeder Schlacht. Aber meist kommt man viel weiter, Wenn man dem Feind einfach sagt: Ihr Lumpenpack, ihr Flegel, Was macht ihr denn noch hier? Ihr streicht jetzt mal die Segel, Sonst zahlt ihr teuer dafü-hü-hür, Sonst zahlt ihr teuer dafür!« Plötzlich kam aus dem Nichts das Geräusch von Hunderten von winzigen, trippelnden Füßen. Rattus hörte auf zu singen und sein Körper straffte sich. »Da kommen sie!«, wisperte er eindringlich. »Nehmt euch jetzt an den Händen, und Mary, wenn ich das Zeichen gebe, hältst du das Pendel so hoch, dass wir es alle sehen können…! Dann konzentriert euch darauf, ihr alle! Konzentriert euch darauf, als ginge es um euer Leben!« Das Ende seiner Rede musste er brüllen, denn der Lärm der herankommenden Horden hatte sich zu einem Furcht erregenden Getöse gesteigert, das nicht nur seine Stimme übertönte, sondern auch den brausenden Wasserfall. Durch die versteckte Öffnung in der Felswand stürzte jetzt ein Strom von Ratten und Mardern und Frettchen, Wieseln, Spinnen und Fliegen herein. Ein Frosch glitt am Felsen hinab, eine verschlafene Natter fiel zu Boden. Und mitten in diesem sich windenden, piepsenden und zischenden Gewühl erschien Albus, so dicht gefolgt von Mortens scheußlicher brauner Ratte, dass das Tier sich tatsächlich mit seinen Vorderpfoten an Albus’ rosafarbenem Schwanz festklammerte. »Ahhh!«, kreischte die weiße Ratte und sprang auf sie zu. »Hilf mir, Rattus! Hilf mir!«
»Bleib stehen, Ratte!«, schrie Mortens Stimme. Sie schien aus Albus’ Maul zu kommen. »Ich will Genugtuung!« »Nimm meine Pfote, Albus!«, rief Rattus und streckte ein Vorderbein aus. Aber in dem Augenblick fiel eine Meute Ratten mit blitzenden Augen und gebleckten Zähnen über ihn her. Sie drängten sich zwischen Rattus und Albus und brachten die beiden noch weiter auseinander. »Jetzt haben wir dich«, zischte eine von Mortens Ratten, leckte sich die Lippen und starrte Rattus kalt an. Inzwischen wurden auch die Kinder von allen Seiten angegriffen. »Rattus!«, schrie William, als ein Marder an seinem Bein hochkroch. Mary wehrte sich mit Fußtritten gegen eine Schar kleiner Mäuse mit sehr spitzen Zähnen. Und Alice sprang auf und ab, um einem besonders hässlichen Frettchen auszuweichen, das sie mit böse funkelnden Augen grausam angrinste. Plötzlich ließ ein Geräusch sie über die Schulter blicken. »Mary! William! Hinter uns!«, rief sie. Mary und William drehten sich um und sahen, was Alice so erschreckt hatte: Aus dem Tunnel hinter dem Wasserfall flogen Schwärme von Krähen und Staren in die Höhle, unter ihnen sogar ein großer Graureiher. »Verstärkung!«, prahlte Mortens Ratte und ließ von Albus ab. »Jetzt seid ihr völlig umzingelt! Ergebt euch! Gebt auf! Wo sind denn eure Freunde? Wo ist eure Armee? Gebt es zu, Morten ist der Sieger!« »Morten! Morten! Morten!«, sangen seine Geschöpfe, während sie die Kinder, Rattus und Albus langsam umkreisten. Ihr Atem dampfte in dem blassen Licht und sie grinsten und piepsten erfreut, als ob sie sich auf etwas Besonderes freuten. »Werden sie uns fressen?«, wisperte Alice. Ihre Kehle war vor Angst so zugeschnürt, dass sie auch nur noch piepsen konnte. »Wer weiß, kleines Mädchen?«, antwortete Mortens Ratte mit einem abscheulichen Grinsen. »Wer weiß, was wir mit euch anstellen werden?« Dann sprang sie mit gebleckten Zähnen und leuchtenden Augen auf die Kinder zu. »Rattus!«, schrie Alice. »Rattus, hilf mir!« »Jetzt, Mary!«, brüllte Rattus und Mary zog sofort das Pendel aus der Tasche. Sie hielt es sehr fest, die Kette um einen Finger gewickelt, und ließ es vor sich hin- und herschwingen, so dass alle es sehen konnten.
Mortens Ratte kam vor ihnen zum Stehen. »Das Gold des Magiers!«, heulte Mortens Stimme durch die Höhle und im gleichen Moment wurde Albus in die Höhe geschleudert, als hätte man ihn getreten. Dann fiel er zitternd zu Boden… »Wo ist er, Albus?«, rief Rattus. »Ich weiß es nicht«, keuchte die weiße Ratte. »Ich weiß es nicht. Aber er hat mich Gott sei Dank verlassen. Lass ihn um Himmels willen nicht wieder in mich hinein, Rattus…« »Jetzt, kleines Mädchen«, wisperte die schreckliche Stimme in Alices Kopf, »tust du, was ich dir sage, dann geschieht dir nichts. Wenn du mir nicht gehorchst…« »Oh!«, heulte Alice auf, als ein stechender Schmerz durch eines ihrer Augen fuhr. »Was ist los, Alice?«, keuchte William. »Nichts«, antwortete Alice schnell, denn sie wusste, wenn sie ihnen sagen würde, was passiert war, dann käme der Schmerz wieder. »Mary«, fügte sie hinzu und wandte sich mit einer ganz neuen Gerissenheit in der Stimme an ihre Schwester. »Gib mir das Pendel! Ich kümmere mich darum. Bitte, Mary…« »Schnell jetzt!«, fuhr Rattus dazwischen, bevor Mary Zeit hatte, ihrer Schwester zu antworten. »Ihr wisst, was zu tun ist…« »Alice!«, zischte die Stimme in ihrem Kopf. »Tu, was ich dir sage! Hol mir das Pendel! Ich will das Gold! Sofort, Alice… sonst…« Da war wieder der schreckliche Schmerz in ihrem Kopf, aber Alice zwang sich, nicht auf die Stimme zu hören und den Schmerz nicht zu spüren, und starrte mit ihrer ganzen Konzentration auf das goldene Pendel, das an seiner glitzernden Kette an Marys ausgestreckter Hand baumelte. »Alice!«, rief die Stimme. »Man hat mir zu gehorchen, Kind…!« »Nein, Morten«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe keine Angst vor dir. Tu mir nicht mehr weh…! Es ist wirklich nicht nötig… Wir nehmen dich mit…Jetzt!« »Jetzt!«, rief Rattus. »Jetzt!«, sagten Mary und William im Chor. »Jetzt?«, fragte Mortens Stimme überrascht durch Alices Lippen. »Folgt mir«, flüsterte Rattus Rattus, und als sie langsam durch den Tunnel zum Wasserfall gingen, bemerkte keiner von ihnen, dass alle Vögel und Insekten und die schrecklich brodelnden Massen an Ratten und Mardern und anderen Geschöpfen wie vom Erdboden verschluckt waren.
Mondlicht fiel auf das schäumende Wasser und ließ es funkeln. Die Luft war frisch und roch nach Torf, feuchter Erde und verfaulten Blättern. Irgendwo nicht weit entfernt schrie eine Eule. Als sie sich über den Felsvorsprung auf den steilen, schwammigen Boden neben dem Wasserfall schoben, trat plötzlich eine Hirschkuh aus dem Schatten und trottete auf sie zu. Ein goldenes Band blitzte an ihrem Hals. »Cervus kommt uns begrüßen!«, piepste Rattus froh. »Aber ich dachte, sie käme niemals in unsere Zeit!«, sagte William. »Das tut sie auch nicht, William!«, erwiderte die Ratte. »Aber stattdessen müssen wir euch in unserer Zeit willkommen heißen!« »Du meinst… wir sind durch die Zeit zurückgereist?«, fragte William verblüfft. »Aber wie…?« »Keine Diskussionen jetzt!«, kommandierte Rattus. »Wir müssen uns beeilen. Cervus wird die Kleine tragen.« Alice protestierte nicht dagegen und kletterte gerne auf den Rücken der Hirschkuh. Sobald sie sicher saß, eilte Cervus den steilen Abhang hinunter zum See und weiter am Ufer entlang in Richtung Golden Valley. William, Mary und Rattus liefen neben ihr her. Am dunklen Himmel stand der Mond, fasrige, silbrig glänzende Wolken umgaben ihn wie Silberfäden. Die Sterne funkelten, es waren Lichtpunkte aus den Tiefen des Weltalls. Golden Water reflektierte den Himmel und die Bäume am Ufer in seiner spiegelglatten Oberfläche. Irgendwo schrie eine Eule. Dann kreischte eine zweite und flog auf der Suche nach Nahrung dicht über dem Boden dahin. Am anderen Ende des Sees trottete Cervus den Hügel zur Eibe hinauf, die sich dunkel gegen den Himmel abhob. Sie kamen am Stehenden Stein vorbei und fühlten sich durch die Vertrautheit der Dinge, die sie sahen, wieder sicher. Aber als sie einen Moment lang am Abhang zum Tal stehen blieben, bevor sie den steilen Weg hinuntergingen, stieß Mary vor ihnen einen leisen Schrei aus. »Das Haus!«, rief sie. »Seht euch das Haus an!« Im Tal unter ihnen stand Golden House im silbrigen Licht des Mondes. »Es ist anders!«, sagte Mary. »Es hat noch nicht den neuen Teil.« Rechts vom Mittelturm, wo in ihrer Zeit die neueren Anbauten standen, war ein schwarzweißes Fachwerkgebäude, das genauso aussah, wie der Flügel aus dem 16. Jahrhundert auf der linken Seite. »So sieht es viel besser aus!«, sagte William. »Wer das auch im-
mer verändert hat, muss verrückt gewesen sein!« Aus dem runden Fenster am Schornstein kam ein sanfter Lichtschein und auf halbem Weg zwischen ihnen und dem Haus fing sich in den silbernen Scheiben der Wetterfahne auf dem Taubenhaus das Mondlicht. »Wir sind wirklich durch die Zeit zurückgegangen«, sagte William zu sich selbst. »Wir sind wirklich da!« »Na, na, na, William!«, zischte Rattus aus dem Dunkeln. »Hast du etwa an meinen Worten gezweifelt?« Dann verschwand das Haus hinter den Bäumen, während sie ihren Weg durch den Wald und am Dachsbau vorbei fortsetzten. Alice blieb die ganze Zeit über still. Ihre Gedanken befanden sich in einem fürchterlichen Aufruhr. Manche waren ihre eigenen, aber andere gehörten zu Morten. Es waren dunkle, verwirrte Bilder, an die sie sich später nur mit Schwierigkeiten erinnern sollte. »Du bist jetzt zu Hause«, versuchte sie ihn in ihrem Kopf zu beruhigen. Aber man konnte Morten nicht trösten. »Dafür werde ich büßen«, wisperte er vor sich hin. »Der alte Mann wird mich dafür büßen lassen.« »Nein!«, sagte Alice zu ihm. »Ich werde für dich eintreten. Ich bitte Mr. Tyler, nicht böse mit dir zu sein.« »Das willst du tun?«, höhnte Morten. »Warum solltest du für mich sprechen wollen, kleines Mädchen?« »Weil es nicht dein Fehler war, dass du in unsere Zeit gekommen bist. Wir haben dir das angetan.« »Ihr? Wie könntet ihr, unwissende Kinder, etwas erreichen, das ich nach jahrelangen Versuchen selbst nicht tun kann?«, höhnte er. »Wie sonst sollten wohl dein Geist und dein Körper getrennt worden sein?«, fragte Alice ihn. »Ein Irrtum meinerseits, Kind. Es hatte nichts mit euch zu tun.« »Na gut!«, sagte Alice achselzuckend. »Dann glaub, was du willst, wenn du dich dann besser fühlst!« Sie ließ das Fell der Hirschkuh los und wischte mit der Hand an ihrer Nase entlang. Sie erreichten Golden House in dem Moment, als der Mond hinter den Bäumen versank. Cervus ging direkt um das Haus herum auf die Vorderseite. Es gab keine Auffahrt, stattdessen war der Boden vor dem Haus in eine Reihe kleiner Blumenbeete unterteilt, die mit niedrigen Hecken eingefasst waren. Die Beete hatten alle verschiedene Formen und Größen und schmale Pfade führten in einem komplizierten Muster durch sie hindurch. Im Sommer hätten in diesen Beeten
süß duftende Blumen geblüht, aber jetzt nahte der Winter und die Pflanzen waren verschwunden. Die Erde sah geharkt aus, als wären die Beete erst vor kurzem gepflegt worden. Rattus ging hinauf zur Eingangstür und blieb stehen. »Wir sind da!«, wisperte er. »Der Meister erwartet euch. Du, Alice, bist ein tapferer Soldat gewesen. Wirklich sehr tapfer.« »Alice?«, fragte Mary überrascht, dass ihre Schwester als Einzige gelobt wurde. »Was hat sie denn so Besonderes getan?« »Nun, Mary!«, erwiderte die Ratte. »Du weißt es also nicht? Sag es ihnen, Alice.« »Ich habe Morten in mir«, sagte Alice mit leiser Stimme. Aber bevor sie noch weiterreden konnte, öffnete sich die Tür und Stephen Tyler trat aus dem beleuchteten Flur hinaus in die Dunkelheit. »Da seid ihr ja alle!«, rief er und streichelte liebevoll über die Nase der Hirschkuh. »Herzlich willkommen in meinem Haus.«
18 Wie es war »Master Tyler! Master Tyler! Kommt sofort herein«, rief eine Stimme hinter ihm. »Ich komme schon, Kate«, sagte der alte Mann, ohne die Kinder aus den Augen zu lassen. Dann legte er einen Finger an die Lippen und führte sie in die Halle. Ein riesiges Feuer loderte im Kamin und die Luft war dick vor Rauch. Viele Kerzen brannten in ihren Leuchtern, aber der Raum war trotzdem voller Schatten und dunkler Winkel. Stephen Tyler ging schwer und langsam und stützte sich dabei mit einer Hand auf einen Stock. Den anderen Arm trug er in einer Schlinge. Sein langer, schwarzer Mantel war übersät mit Flecken. Sein rotes Haar war von silbernen Fäden durchzogen und an seinem Kinn spross ein Stoppelbart. Die Kinder traten hinter ihm ein und im gleichen Augenblick kam eine Frau aus den Schatten und schlug die Tür zu. »Da lässt er die Nachtluft herein!«, brummelte sie. »Was denkt Ihr Euch dabei? Das Rheuma wird Euch noch dahinraffen – und wer bekommt dann die Schuld?« »Niemand wird dir die Schuld geben, Kate, das verspreche ich dir.« »Wenn Ihr nichts mehr wünscht, Master…« »Geh zu Bett, Kate! Schlaf tief und fest! Wir sehen uns morgen früh…« »So Gott will!«, sagte die alte Frau und verschwand wieder in den Schatten und durch die Tür, die in der Zeit der Kinder zur Küche führte. Sobald sie gegangen war, wandte sich Stephen Tyler an die Kinder. »Habt ihr mitgebracht, was ich wünschte?« Rattus sprang auf einen Tisch neben dem alten Mann. »Die Jüngste hat es«, sagte er. »Mein Minimus!«, sagte der Magier. »Die Tapferste der Tapferen. Kommt! Wir müssen sofort gehen! Ich brauche jetzt für jede
Bewegung so verwünscht lange, dass die kleinste Entfernung wie eine Weltreise für mich ist! Die Treppe hinauf, kommt jetzt!« Während er noch sprach, schleppte er sich die Treppe zur Galerie hinauf. Morten lag in einem der Räume, die später zu dem neuen Anbau des Hauses verändert worden waren. Aber jetzt traten sie in eine kleine, niedrige Kammer, spärlich möbliert mit einem Bett, einem Schemel und einem großen Schrank an der Wand. Durch ein bleiverglastes Fenster ohne Vorhänge sah man hinaus in die schwarze Nacht. Auf dem Schemel neben dem Bett brannte eine Kerze. Das Gesicht des jungen Mannes, der in dem Bett lag, war totenblass und mit offenen Augen starrte er, ohne wirklich zu sehen, in die Ferne. »So sieht er aus, seit es passiert ist«, erklärte Stephen Tyler den Kindern. »Manchmal murmelt er unverständliche Worte. Armer Junge!« Der alte Mann tupfte sanft über die Stirn des jüngeren Mannes. »Ich wusste, dass unsere Arbeit gefährlich ist. Aber dazu hätte ich es nie kommen lassen dürfen!« Dann drehte er sich um und sah Alice an. »Nun, Minimus«, sagte er ruhig. »Befreie dich von deiner Last!« »Wie?«, fragte Alice. Der alte Mann zuckte mit den Schultern und lehnte sich an den Fußteil des Bettes. »Du bist die Trägerin!«, sagte er. »Ich habe gehofft, du würdest es wissen.« »Aber ich habe mir das nicht ausgesucht«, erklärte Alice. »Ich wurde… ausgewählt.« »Was sagt der Geist?«, fragte der alte Mann. Alice hob die Schultern. »Er sagt gar nichts«, erklärte sie. »Er ist noch da – aber er ist… irgendwie… durcheinander. Sie müssen nicht böse mit ihm sein…«, begann sie. Dann schüttelte sie den Kopf und musste plötzlich aus unerfindlichen Gründen fast weinen. Mary legte einen Arm um ihre Schultern. Der junge Mann auf dem Bett bewegte sich leicht. »Hilf ihm!«, wisperte Alice. »Ich weiß nicht, wie«, sagte Mary. »Will?«, fragte sie und sah ihren Bruder an. »Was?«, fragte William. Seine Hände steckten tief in seinen Hosentaschen vergraben und er starrte auf den Boden. Aus irgendeinem Grund war er verlegen. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen.« »Vielleicht weiß Morten es?«, sagte Mary, ging hinüber zum Bett
und kniete sich vor den jungen Mann. »Der arme Mann!«, sagte sie und betrachtete sein Gesicht. »Er sieht so verloren aus und…« Feine Schweißperlen bedeckten Mortens Gesicht. Sein schwarzes Haar war an der Stirn verfilzt und seine Augen blickten leer. »Ich dachte, er wäre schrecklich und hässlich«, sagte Mary ruhig. »Das ist er gar nicht!« Sie blickte zu Stephen Tyler. »Er sieht nicht böse aus.« »Nein?« Sie schüttelte den Kopf. »Er sieht aus, als ob er Angst hat.« »Vielleicht«, sagte der alte Mann, »hast du gerade das Wichtigste überhaupt gelernt. Furcht kann uns an dunkle Orte führen. Und was meinst du, bringt wohl Licht in das Dunkel, Mary?« Mary schüttelte den Kopf, ohne den Blick des alten Mannes loslassen zu können. »Von allen meinen Constant-Kindern solltest du die Antwort wissen. Alice hat den Mut, William hat die Intelligenz. Was ist deine Gabe, Mary?« »Ich habe keine«, murmelte sie. »Nein?«, fragte der alte Mann sanft. »Bist du da so sicher?« »Ziemlich«, antwortete sie. Sie kam sich albern vor, von ihm so angestarrt und über so persönliche Dinge ausgefragt zu werden, während die anderen dabei standen. Sie wollte, dass er damit aufhörte. »Sie hätten ihm helfen können«, sagte sie, blickte vom Magier weg wieder auf seinen traurigen, leidenden Assistenten. »Sie hätten uns allen helfen können.« »Willst du mich angreifen, Mary?«, fragte der alte Mann flüsternd. »Nein, Mary, tu das nicht!«, sagte Alice aus der Dunkelheit hinter ihr. »Aber seht euch doch den armen Morten an!«, rief Mary mit lauterer und festerer Stimme. »Er ist kein schrecklicher Mensch… er ist einfach nur… ein Mensch. Ich meine, er sieht sogar eigentlich ganz nett aus. Er sieht so aus, als ob er verstanden werden wollte. Ja, ich weiß, dass das immer als eine Entschuldigung benutzt wird – dass die anderen einen nicht verstehen –, aber manchmal stimmt es. Und das ist so schrecklich! Nicht alle sind so clever wie William! Oder so tapfer wie Alice! Ich weiß das. Ich weiß, dass sie bei all dem hier besser sind als ich. Ich kann nichts dafür. So bin ich… Und vielleicht ist Morten ja auch so. Vielleicht will er… sich nur nicht… allein und
ausgeschlossen und… dauernd verloren fühlen. Ich weiß genau, dass er gierig und ehrgeizig ist… Aber vielleicht machen wir ihn alle dazu. Sie haben gesagt, Mr. Tyler, dass er das Dunkel zu Ihrem Licht ist… Vielleicht will er selbst das Licht sein – und Sie halten ihn davon ab. Vielleicht ist es Ihr Licht, das ihn dunkel macht. Vielleicht…« Und sie fing an zu weinen. Die Tränen liefen ihr heiß über die Wangen und Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper. Sie blieb neben dem Bett vor Morten knien und verbarg ihren Kopf in den Armen. William starrte auf seine Füße und Alice verschränkte die Arme. Sie wollte zu Mary und sie trösten, aber als sie auch nur daran dachte, hob Stephen Tyler eine Hand und bedeutete ihr stehen zu bleiben. Die ganze Zeit über lehnte der alte Mann am Fußende des Bettes. Er war Mary so nah, dass er nur seine Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren, aber er tat es nicht. Alice und William beobachteten ihn fasziniert, wie gelähmt von dem intensiven Blick, den er auf Mary ruhen ließ. Es war schwer, daneben zu stehen und nichts zu tun, während Mary zitternd vor ihnen auf dem Boden kniete und leise schluchzte »Es ist mir egal, was ihr alle denkt«, fuhr sie fort. »Ich glaube, dass es unser Fehler und Mr. Tylers Fehler ist, was mit Morten passiert ist, und ich glaube, dass Morten deshalb in unserer Zeit all die schrecklichen Dinge tut… die Ratten und das ganze Elend, die Crawdens, dass Jack und Phoebe nicht miteinander sprechen… Das ist genauso unser Fehler wie seiner… weil wir immer jemand anderem die Schuld geben müssen, damit wir uns was auf uns einbilden können…« Vor lauter Tränen und Schluchzern, die ihren Körper schüttelten, musste sie nach Atem ringen. »Hör auf, Mary! Hör auf!«, sagte William ruhig. Er konnte es nicht mehr ertragen, ihr länger zuzuhören und zuzusehen. Aber Stephen Tyler machte ihm ein ungeduldiges Zeichen zu schweigen. »O Morten! Es tut mir Leid. Es tut mir im Namen von uns allen Leid«, wisperte Mary. »Du hast ein wirklich nettes Gesicht und ich wette, dass dich jemand eines Tages sehr lieben wird. Dann wirst du uns vergessen können. Es tut mir so Leid!«, sagte sie und fing wieder an zu weinen. »Ich kann mich noch nicht mal an deinen anderen Namen erinnern«, schluchzte sie. »Matthew«, flüsterte eine Stimme. »Ich heiße Matthew.« Als Mary aufblickte, sahen auch die andern, wie die Gestalt auf dem Bett anfing sich zu bewegen. Langsam streckte Morten eine Hand aus
und wischte die Tränen von Marys Wange fort. »Weine nicht, fremdes Mädchen. Mir geht es jetzt gut. Es ist wie ein Traum, aus dem ich aufgewacht bin. Weine nicht mehr…« »Alice?«, fragte Mary mit fester Stimme, ohne sich umzublicken. »Geht es dir jetzt wieder gut?« »Ja«, sagte Alice und legte einen Arm um ihre Schwester. »Das hast du gemacht. Du hast seinen Geist befreit.« »Wirklich?«, fragte Mary überrascht. »Hat sie doch, oder nicht, Mr. Tyler?«, sagte Alice. »Kommt jetzt«, sagte der alte Mann ruhig. »Wir müssen Matthew in Ruhe schlafen lassen. Er war auf einer langen Reise… und er wird müde sein.« Nach diesen Worten seines Meisters holte Matthew Morten tief Luft und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. »Gute Nacht, Matthew!«, flüsterte Mary. Dann kam William zu ihr und half ihr vom Boden auf. »Mir geht es gut«, sagte sie und lächelte schüchtern. »Und wer heult sich mal wieder die Augen aus dem Kopf? Tut mir Leid!« Sie zog die Nase hoch und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. »Ihr müsst zurück«, sagte der Magier. Mary hatte sich umgedreht, als wollte sie nach oben ins Bett gehen. »Ich bin müde«, seufzte sie. »Ihr seid bald zu Hause«, sagte der alte Mann sanft und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Aber ihr müsst von meinem Arbeitszimmer aus gehen. Ihr werdet für eure Rückkehr alle meine magischen Kräfte brauchen. Es ist schon für eine Person ein Wunder, durch die Zeit zu reisen, aber für drei… Kommt!« Er führte sie langsam die Treppe hinunter in die erleuchtete Halle. »Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?«, fragte William. »Es gibt so viel, was ich sehen möchte, wo wir schon mal hier sind.« »Zeitreisen erfordern große Aufmerksamkeit, William. Man kann sie nicht leichtfertig unternehmen.« Aber William hörte gar nicht richtig zu. »Seht mal!«, rief er und zeigte auf den Sturz über dem Kamin. Er bestand wie in ihrer eigenen Zeit aus hellen Backsteinen. Aber jetzt hob sich deutlich eine Reihe von Backsteinen von der glatten Oberfläche ab und zeigte ein seltsames Bild oder vielleicht eher eine Zeichnung. Unten sah man zwei Drachen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen, und zwischen ihnen wanden sich zwei Schlangen einen Stab hoch, der die Drachen voneinander trennte. Auf der einen
Seite des Stabes war eine große, runde Sonne und auf der anderen Seite eine Mondsichel. »Das ist die Zeichnung, die ich gesehen habe, als ich die Stufen im Kamin entdeckt habe. Also war sie wirklich einmal auf der Wand?« »Jetzt!«, sagte der Magier lächelnd. »Sie ist jetzt auf der Wand – in eurer Zeit ist sie schon entfernt worden.« »Ich frage mich, wer sie loswerden wollte.« »Mortens Familie. Sie werden keinen Magier in ihrer Vergangenheit haben wollen. Sie werden das Haus eines Magiers nicht billigen. Sie werden versuchen alle Spuren unserer Kunst zu verwischen. Und sie werden gierig und böse sein und die Wahrheit fälschen… Alles im Namen der Rechtschaffenheit und der Frömmelei von Kirchgängern!« »Sie wissen das alles?«, fragte Mary. »So wird es sein«, erwiderte der alte Mann. Sie hatten endlich die Halle erreicht und er lehnte sich erschöpft an eine große Eichentruhe. »Und dies hier ist mein Haus, so wie es – für euch – war. Und das«, er zeigte wieder auf die Zeichnung über dem Kamin, »das ist meine Kunst. Es ist nicht nur ein alchimistisches Symbol – vergib mir, Minimus, ich muss diese Worte benutzen!«, sagte er und streckte lächelnd die Hand nach Alice aus. »Sie sind nicht so lang, dass du sie nicht verstehen kannst, wenn du es wirklich versuchst.« »Ist schon gut«, zuckte Alice die Schultern. »Normalerweise reime ich es mir später immer zusammen.« »Seht euch die Zeichnung an. Seht sie an!« Die Stimme des alten Mannes zitterte vor Aufregung und Nachdrücklichkeit. »Und hört mir zu! Die Drachen sind die Natur, die natürliche Welt, Leben und Tod, der ewige Kreislauf. Die Schlangen sind die Energie, der quecksilbrige Geist, der sich dreht und windet und in beide Richtungen blickt. Die Sonne und der Mond bedeuten das ewige Gleichgewicht, die Dunkelheit und das Licht, die endlose Zweiheit. Und in der Mitte, vom Himmel bis zur Erde, der schweigende, stille, vereinende Geist. Das Ich. Das Eine. Das Jetzt.« Dann seufzte er, als ob er plötzlich sehr müde wäre. »Dieses Bild enthält alles, was ihr wissen müsst. Es ist unsere Arbeit. Es ist unser Tal. Deshalb seid ihr ausgewählt worden. Finis corruptionis et principio generationis. Versteht ihr Latein? ›Das Ende der Unreinheit und der Beginn der Läuterung‹. Sehr viel Unlauteres ist hier begonnen worden – und eine geläuterte, neue Generation kann daraus hervorgehen. Phoebe, der Mond, heira-
tet Phoebus, die Sonne. Die große Hochzeit. Ein neuer Anfang. Dies hier«, er zeigte wieder auf die Halle, »ist so, wie es war. Ihr geht jetzt dahin, wie es sein wird.« Er richtete sich auf und ging langsam zum Kamin. »Jetzt ist es Zeit, mein Arbeitszimmer zu sehen! Zeit, nach Hause zu gehen!«
19 Die Glaskugel des Magiers Stephen Tyler nahm eine Laterne vom Tisch in der Mitte der Halle und gab sie William zu tragen. Dann führte er die Kinder in den rauchigen Kamin und stieg langsam die Steinvorsprünge bis zum Sims an der Innenseite hoch. »Ich gehe voraus«, sagte er. »Du, William, folgst mir mit dem Licht. Ich brauche es nicht. Diese Stufen sind mir so vertraut wie mein eigener Körper.« Damit verschwand er um die Ecke und begann den langen Aufstieg über die Wendeltreppe, durch die Holztür bis zum Zimmer oben im Kamin. Die Kinder folgten ihm nacheinander und William leuchtete ihnen den Weg. Niemand sprach. Alle waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. In Williams Kopf überschlugen sich unfertige Ideen und Gedanken. Durch das, was Stephen Tyler ihnen in der Halle gezählt hatte, war es so, als hätte er kurz einen Blick auf das fertige Bild eines Puzzles werfen dürfen, das er bis zu diesem Augenblick ganz ohne Hilfe zu lösen versucht hatte. Jetzt passten die Teile, die so lange bedeutungslos und unwichtig ausgesehen hatten, plötzlich zusammen. Aber er wusste, dass er so lange nicht völlig verstehen würde, woran er arbeitete, bis das letzte Teil an seinem Platz und das Bild fertig war. Alice, für die das meiste, was der Magier gesagt hatte, unverständlich war, überließ es gern ihrem Bruder, alles herausfinden. Sie beschäftigte sich vielmehr damit, was passieren würde, wenn sie in ihre eigene Zeit zurückkehrten. Würden die Geschöpfe Mortens auf sie warten? Würden sie in den Tunnel hinter dem Wasserfall zurückkehren? Oder würden sie im Geheimzimmer ankommen? Sie dachte, es wäre das Beste, wenn sie alle sicher und warm im Bett landeten. Sie stellte fest, dass sie unglaublich müde war. So müde, dass sie kaum noch die Kraft hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, als sie hinter dem schwachen, tropfenden Licht der Laterne die Steinstufen hinaufstieg. Mary kam als Letzte und dachte über Morten nach. Jetzt war sein
Geist wieder in seinem Körper und es hatte so ausgesehen, als ob er sich mit ihnen anfreunden wollte. Würde jetzt die Bedrohung, die er in ihrer Zeit darstellte, aufhören? Vielleicht hatten sie ihre Arbeit getan? Vielleicht war die Aufgabe, die der Magier ihnen vor vielen Monaten in den Weihnachtsferien gestellt hatte, erfüllt? Vielleicht würden sie, wenn sie in ihre eigene Zeit zurückkehrten, herausfinden, dass Phoebe und Jack wieder glücklich waren und dass Jack und Meg das Haus und das Land nicht an Henry Crawden verkaufen würden? Vielleicht wären die Ratten und die anderen schrecklichen Geschöpfe verschwunden…? Vielleicht? Vielleicht? Aber als sie ins Arbeitszimmer des Magiers traten, kamen alle ihre Hoffnungen und Befürchtungen, alle ihre Fragen und Vermutungen schnell zu einem Ende. Der Raum sah überhaupt nicht so aus, wie sie ihn zuvor schon gesehen hatten. Ein kleines Feuer brannte im Kamin und die Kerzen in den Haltern vor den beiden gegenüberliegenden runden Fenstern waren entzündet. Der Raum selbst war mit Gegenständen voll gestopft. Bücher stapelten sich in den Regalen und lagen aufgeschlagen auf einem großen Tisch. Pläne, Karten und Diagramme hingen von den Dachbalken oder lagerten in großen Haufen auf dem Boden. Manche waren in dunkle Ecken geworfen worden, als ob sie nicht mehr zu gebrauchen und seitdem in Vergessenheit geraten waren. Krüge und seltsame Instrumente standen auf jeder verfügbaren Fläche. Den Steinboden bedeckten Binsen und Zweige von Pflanzen, die süß nach Lavendel und Rosmarin dufteten, wenn man darauf trat. Ein Teil der hinteren Wand war von einem gewebten Wandteppich verhängt und eine dicke wollene Decke lag auf dem Boden vor einem Sessel nahe am Feuer. Alte Wollschals und ein langer Umhang, Handschuhe und Spazierstöcke, ein Paar Stiefel, ein Hut, verwegen über eine Stuhllehne gestülpt, ein halb aufgegessener Apfel, ein Becher, ein Messstab… Der Raum war bis zum Überquellen angefüllt mit den Besitztümern des alten Mannes, so dass man fast keinen Platz hatte, sich darin zu bewegen. »Dies«, sagte er zu den Kindern, die an der Tür standen, und wies in die Runde, »dies ist mein Zimmer! Ein Raum wie dieser spiegelt den Geist seines Besitzers wider! Seht euch an, wie durcheinander und unordentlich mein alter Geist geworden ist! Matthew versucht manchmal Ordnung zu schaffen, aber ich hindere ihn daran. Ich sage ihm dann, ich wüsste, wo alles ist. Wenn auch nur das kleinste Ding
bewegt wird, folgt die Verwirrung auf dem Fuße! Dieses Chaos ist mein Recht, ist meine Ordnung! Keiner soll es wagen, daran zu rühren! Aber jetzt kommt schnell, Kinder!« Er winkte sie heran. »Seht hier mein Glas!« Er führte sie durch den Raum zu der Wand, wo an genau der Stelle, an der in ihrer eigenen Zeit der Spiegel hing, jetzt eine runde Glaskugel angebracht war. Sie war in mattes, dunkles Eichenholz eingefasst und das Spiegelglas war alt und blind. Es war so verstaubt und fleckig, dass es kaum etwas reflektierte. Aber als sie näher kamen, nahm Stephen Tyler einen Kerzenleuchter und hielt ihn an das Glas, so dass das Licht mehrerer Kerzen auf die Oberfläche des Spiegels fiel. Das Innere der Kugel schien bis tief in die Unendlichkeit zu reichen. Das gebogene Glas reflektierte die Leere hin und her und ließ sie wie einen endlosen Raum erscheinen. Der Rand, wo es an den Holzrahmen stieß, hob sich dunkel und klar ab, wie ein gezeichneter Kreis auf einem weißen Blatt Papier. »Erinnert ihr euch an die Zeichnungen auf der Höhlenwand am Ort der Träume?«, wisperte Stephen Tyler. »Erschaffen aus dem Nirgends, aus dem Nichts, aus dem puren Bedürfnis und der Freude des Künstlers, sich auszudrücken? Dies ist die Glaskugel der Philosophen. Hiermit kann jeder von uns seine Träume erschaffen, seine einzigartige, noch nie gedachte, noch nie gesehene Vision. Hiermit könnte uns aus den Tiefen unseres Wesens unsere eigene Schöpfungserfahrung gelingen. Jeder in diesem großen Universum, ob Mann, Frau oder Kind, trägt sein ganz persönliches Talent in sich. Es ist die höchste Gabe. Es ist die kostbare Perle. Es ist das ruhige Zentrum, um das die beiden Schlangen des Geistes sich drehen und winden. Dieses Spiegelglas ist Quecksilber, das mitten in der Bewegung zum Stillstand gebracht wird. Dieses Spiegelglas ist das höchste meiner Besitztümer.« Die Kinder starrten dicht aneinander gedrängt in die graugrünen Tiefen der Glaskugel. Sie selbst wurden nicht reflektiert. Aber stattdessen überkam jeden von ihnen beim Anblick des fließenden, endlosen Raumes in der Kugel ein Gefühl großer Ruhe, stillen Innehaltens, unendlicher Möglichkeiten. »Es ist Magie, nicht wahr?«, wisperte Alice. »Ja, kleines Mädchen! Mein Minimus… meine Minima!«, murmelte Stephen Tyler. »Es ist zweifellos Magie.« Jetzt wurde seine Stimme fester und nahm einen belehrenden Klang an. »Ich wünsche,
dass ihr alle sehr hart arbeitet. Ich wünsche, dass ihr euren Geist frei und klar haltet und egal, wie gerne ihr euch nach mir umdrehen möchtet, egal, wie gerne ihr noch etwas sagen möchtet, widersteht der Versuchung. Versteht ihr?« »Bevor wir anfangen…«, sagte William schnell, aber der Magier unterbrach ihn. »Nein, William!«, sagte er so bestimmt, dass er fast ärgerlich klang. »Sprich nicht mehr! Hört mir zu! Vielleicht sehen wir uns nicht wieder…« »O Mr. Tyler!«, stöhnte Mary. »Sei still, Mary!«, befahl der alte Mann. »Hört zu! Wir sehen uns vielleicht nicht wieder. Ihr habt ein Vorrecht genossen, das nicht vielen anderen zuteil wird. Nutzt es gut. Ich war sehr glücklich in eurer Gesellschaft. Und jetzt naht die Zeit heran«, die Stimme des alten Mannes versagte, »in der ich fürchten muss, dass ich dieses Vergnügen nicht noch einmal haben werde. Tut euer Bestes in eurer eigenen Zeit! Das ist alles, was man von euch verlangen kann oder was ihr von euch selbst verlangen könnt. Wenn wir am Ende sicher und wahrhaftig von uns sagen können, dass wir das Beste getan haben, was wir konnten, dann werden wir diese große Aufgabe, dieses große Geschenk erfüllt haben, das wir ›Leben‹ nennen. Denkt daran: Finis corruptionis et principio generationis. Lasst das Unreine, das Unlautere enden. Es liegt an euch allen. Bewirkt, dass eine neue, eine geläuterte Generation heranwachsen kann. Das Kind, das kleine Mädchen, Stephanie. Übrigens: Ich habe euch nie dafür gedankt, sie nach mir zu nennen. Das hole ich jetzt nach. Sie ist eine Tyler! Mein Herz jubelt darüber. Sie und ihre Mutter, alle beide. Tylers leben wieder in Golden House. Das ist so eine Freude für mich! Eines Tages – wer weiß? – wird Stephanie vielleicht auch diese große Aufgabe in Angriff nehmen, das Tal gegen die zu schützen, die es ausbeuten und seine besonderen und einzigartigen Eigenschaften zerstören wollen. Wenn es dazu kommt, dass Stephanie mit der großen Aufgabe fortfahrt, dann wird sie es unter eurer Anleitung tun, ihr Constant-Kinder. Meine guten Freunde für alle Zeit! Stephanie Tyler! Das Kind aus meiner Zukunft. Ich habe einmal bedauert, dass sie nicht als Junge geboren wurde. Ich bedaure jetzt, dass ich sie nicht persönlich kennen gelernt habe… Was für ein alter Narr ich geworden bin! Bei dieser Arbeit gibt es nichts zu bedauern. Es gibt nur das Streben.« Er schwieg einen Moment. »Und jetzt«, fuhr er in sanfterem Ton fort, »habt ihr all das Wissen, das ihr braucht…«
Jedes der Kinder hätte ihn gerne angesehen, aber es war etwas so Beruhigendes an der blassen, endlosen, wesenlosen Leere, auf die sie sich konzentrierten, dass sie den Wunsch verdrängen konnten. Vielleicht wird es mir später Leid tun, dachte Alice. Aber im Moment nicht… »Mary«, wisperte Stephen Tylers Stimme in ihrem Kopf, »nimm das Pendel in die Hand.« Mary gehorchte sofort und zog das inzwischen so vertraute Stück Gold an der Kette aus ihrer Tasche. »Halt es vor dir hoch. Sieh hin!« Als er das letzte Wort sprach, begann sich das Pendel langsam von Marys zusammengepressten Fingern aus im Kreis zu drehen. Plötzlich erschien in den Tiefen der Glaskugel des Magiers, in die die Kinder immer noch starrten, ein golden leuchtender Kreis. Das Pendel drehte sich immer schneller, die goldene Linie im Glas pulsierte immer heftiger und wurde immer strahlender, bis ihr Licht so hell war, dass es in ihren Augen brannte. Das ganze Glas schien von goldenem Leuchten durchdrungen zu sein, das die Leere wie mit Sonnenstrahlen füllte. Es trat heraus, umgab sie, ließ die dunklen Orte erglühen und die Schatten fliehen. Wie am Anfang der Zeit verjagte es das Dunkel und zog sie in sich hinein. Sie waren das Licht. Sie waren das Gold. Sein Leuchten durchdrang sie völlig und umhüllte sie wie seidene Kleidung. »Ihr wisst alles, was es zu wissen gibt«, rief Stephen Tylers Stimme ihnen zu. »Meine Vormundschaft ist zu Ende!« Sie wussten, dass nun die Trennung vollzogen war, weil seine Stimme von weit weg aus einem Korridor zu kommen schien, aus einem anderen Zimmer und einer anderen Zeit. Sie hallte nach, verblasste und verlor sich in dem goldenen Licht. Jetzt bildete sich über der großen goldenen Kugel, die sie umgab, langsam ein Bogen aus Farben. Oben dunkelviolett, dann in blauen, grünen und gelben Farbtönen und unten in einem strahlenden Rot, schien der Farbenbogen endlose Horizonte ihrer goldenen Welt zu überspannen. »Wie eine Brücke«, wisperte William. Und als das Gold blasser wurde und das Licht in der Glaskugel erlosch, blieben die leuchtenden Farben des Bogens noch kurz über der jetzt wolkigen Glaskugel bestehen. »Eine Brücke in den Wolken«, murmelte Alice. »Mr. Tyler«, rief Mary traurig, aber sie wusste, dass sie keine
Antwort bekommen würde. Der Raum, in dem sie standen, war kalt und dunkel und leer. »Wir sind zurück«, sagte sie. Und da hörte das Pendel auf zu schwingen.
20 Der Anfang vom Ende Als Mary aufwachte, dachte sie als Erstes an das Baby. Während sie schlief, schien irgendeine Befürchtung sie gequält zu haben und erst jetzt konnte sie richtig darüber nachdenken. »Es passt nicht zusammen«, sagte sie laut. »Was passt nicht?«, fragte eine Stimme, und als Mary die Augen öffnete, sah sie Alice im Schneidersitz auf dem Bett sitzen und aus dem Fenster blicken. Es war helllichter Tag und die Sonne strahlte ins Zimmer. »Wie spät ist es?«, fragte Mary. »Fast zehn«, antwortete ihre Schwester. »Du hättest mich wecken sollen«, sagte Mary und setzte sich im Bett auf. Sie fröstelte in der kalten Luft. »Das wollte ich gerade«, sagte Alice, runzelte die Stirn und blickte wieder aus dem Fenster. »Es ist eiskalt hier«, meinte Mary, kletterte aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Es kann nicht stimmen, beharrte eine Stimme in ihren Gedanken. Als sie zum Schlafzimmer zurückkam, war William da. Er und Alice sprachen leise miteinander und blickten mit besorgten Gesichtern auf, als sie hereinkam. »Wisst ihr, da ist was, das passt nicht zusammen«, sagte sie, warf ihr Handtuch aufs Bett und zog sich an. »Mr. Tyler sagt, dass jetzt wieder Tylers in Golden House leben, weil Phoebe und Stephanie da sind. Aber das heißt doch nicht viel, oder? Phoebes Name ist Taylor und war mal Tyler – aber sie kann keine Nachfahrin des Magiers sein –, weil wir wissen, dass seine Frau damals bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist. Er hat uns das vor Ewigkeiten erzählt, also muss seine Familienlinie doch mit ihm ausgestorben sein, oder nicht?« William und Alice starrten sie ausdruckslos an, als ob sie nicht ein Wort von dem gehört hätten, was sie gesagt hatte. »Aber das ist doch komisch«, sagte Mary und zog ihre Jeans an. »Wir müssen ihn fragen, wenn wir ihn das nächste Mal…« Sie
stockte mitten im Satz, als sie sich an die schreckliche Wahrheit der vergangenen Nacht erinnerte, und schüttelte den Kopf. »Wir werden ihn nicht Wiedersehen, nicht wahr?«, sagte sie traurig und die gedrückte Stimmung, in der sie gewesen waren, als sie sich müde ins Bett geschleppt hatten, überfiel sie wieder. »Es gibt etwas viel Wichtigeres, um das wir uns Sorgen machen müssen«, sagte William nachdrücklich. »Was?«, fragte Mary und merkte zum ersten Mal, wie grimmig und ernst die anderen beiden aussahen. »Phoebe ist weg!« Alice platzte mit der Neuigkeit heraus, als ob sie sie nicht länger für sich behalten könnte. Mary sah sie verständnislos an. »Weg?«, sagte sie. »Was meinst du mit weg? Wohin?« William zog die Schultern hoch. »Das weiß keiner. Sie hat den Landrover genommen…« »Was ist mit Stephanie?« »Die hat sie mitgenommen«, flüsterte Alice aufgeregt. »Onkel Jack ist völlig aus dem Häuschen. Er meint, er hätte merken müssen, dass so was passiert. Er sagt, Phoebe wäre… wie gewesen, William?« »Irrational«, erwiderte William. »Egal«, fuhr Alice fort, »was immer das heißt, er macht sich Vorwürfe, dass er Phoebe nicht besser zugehört hat… Armer Onkel Jack! Ich weiß nicht, warum er sich Vorwürfe machen muss, wenn Phoebe durchdreht. Aber das tut er. Er hat überall herumtelefoniert und die Leute nach ihr gefragt, zu denen sie gegangen sein könnte…« »Es sind ja nicht viele«, fügte William hinzu. »Ihre Familie lebt nicht mehr – und offenbar hat sie auch nicht viele Freunde.« »Das überrascht mich gar nicht«, sagte Alice. »Ich hätte Phoebe auch nicht gerne als Freundin.« »Aber… wie? Wann?«, fragte Mary. Ihre Gedanken überstürzten sich. »Als Jack aufgewacht ist, war sie einfach nicht mehr da«, erklärte William. »Er dachte, sie wäre hinuntergegangen, um Stephanies Frühstück zu machen… aber als er sie suchte, waren beide einfach verschwunden. Er ging dann auf den Hof und entdeckte, dass der Landrover auch fehlte…« »Hat sie keine Nachricht dagelassen, oder irgendetwas sonst?« »Nein«, antwortete William kopfschüttelnd.
»Aber… das ist das Schlimmste, was passieren konnte!«, rief Mary. »Eigentlich nicht«, sagte Alice. »Ich bin an sich ganz froh darüber. Ich glaube, Onkel Jack wird sehr viel glücklicher ohne sie…« »Ach, jetzt halt doch mal eine Minute die Klappe, Alice!«, fauchte Mary, worauf ihre Schwester ein beleidigtes Gesicht zog. »Ich meine nicht Phoebe und Jack, ich meine Stephanie! Der ganze Zweck unserer Aufgabe war doch, Stephanie auf ihre Zukunft hier in Golden House vorzubereiten… Aber das können wir nicht, wenn sie weg ist, oder?« Plötzlich überkam sie eine große Wut. Es war alles Phoebes Schuld! Sie dachte mal wieder nur an sich selbst. »Warum? Warum ist sie gegangen?«, rief sie zornig. »Weil sie es hier nicht aushält«, fauchte Alice, fest entschlossen, dass man sie nicht übersah. »Aber sie hat sich doch als Erste in das Haus verliebt«, stellte Mary klar. »Sie war es, die dachte, sie käme nach Hause… was irgendwie ja auch stimmt – wenn sie wirklich eine Tyler ist. Vielleicht hatte Stephen Tyler einen Bruder – dann könnte Phoebe seine Nachfahrin sein…« »Das ist jetzt nicht wichtig, Mary!«, rief William. »Du wirst genauso schlimm wie William«, stellte Alice fest. »Was meinst du damit?«, rief William empört. »Das weißt du doch«, trumpfte sie strahlend auf. »Die Art, wie du immer rumfaselst und dich um die falschen Sachen kümmerst…!« »Das tue ich nicht!«, brauste William auf. »Tust du doch, William«, sagte Alice selbstgefällig. »Das weiß doch jeder…!« »Jetzt hört doch endlich auf!«, rief Mary. »Das hier ist kein Spaß!« »Genau!«, sagte William. »Das versuche ich euch schon die ganze Zeit zu erklären! Das einzig Wichtige ist, dass Phoebe weg ist und«, fügte er stirnrunzelnd hinzu, »Stephanie mitgenommen hat…« »Nein, William!«, fauchte Mary, verärgert darüber, dass er sie unterbrochen hatte. »Das Wichtige ist, dass wir die Aufgabe nicht zu Ende führen können, wenn sie nicht hier ist…« »Nein!«, schrie William. »Viel wichtiger ist, was mit Stephanie passieren kann. Wir sind hier im wirklichen Leben, Mary!« »Und du meinst, die Aufgabe ist nicht wirklich?«, fragte Mary und ging auf ihn los. »Du meinst, Mr. Tyler und die Magie sind nicht wirklich? Willst du das sagen, William?«
»Stephanie ist nur ein Baby«, erwiderte ihr Bruder. »Sie ist noch nicht mal ein Jahr alt. Ihr Leben ist doch bestimmt wichtiger als alles andere, oder? Sie könnte in Gefahr sein. Phoebe ist offensichtlich durchgedreht. Wir wissen nicht, wohin sie Stephanie bringt… du solltest Onkel Jack sehen… er ist absolut krank vor Sorgen…« »Also ist der Magier nicht wichtig«, wiederholte Mary. »Das ist es doch, was du sagst.« »Das stimmt nicht! Aber… ach, ich weiß es nicht!«, schrie William. »Ich weiß es nicht! Ich glaube, wir sind so in alles verwickelt, dass wir die wirklichen Dinge nicht mehr sehen. Wozu sollten wir uns Sorgen machen, ob sich Stephanie eines Tages um dieses Tal kümmert oder nicht? Wozu sollten wir uns um die Zukunft sorgen? Nur die Gegenwart zählt. Sie ist nämlich jetzt!« Sie schwiegen alle einen Augenblick. Alice rieb sich die Wange und starrte auf ihre Füße. Mary saß mit den Händen in den Taschen auf dem Bett und William ging zum Fenster und öffnete es. Er lehnte sich hinaus, als ob ihm zu warm geworden wäre und er die frische Luft auf seinem Gesicht spüren wollte. »Es ist genau wie bei den Nachrichten…«, sagte Mary schließlich zu sich selbst, »wenn ein Kind von einem Elternteil entführt wird und der andere versucht es zurückzubekommen… und alles endet vor Gericht… Tauziehen um das Kind oder wie immer das auch heißt.« Dann hatte sie noch eine Idee. »Wenn Phoebe und Jack nicht verheiratet sind…« »Was sie nicht sind«, unterbrach Alice. »… wer hat dann das Sorgerecht für das Kind?«, fragte Mary. Sie dachten alle eine Weile über diese Frage nach. »Ich glaube, es muss bei seiner Mutter bleiben«, meinte Alice schließlich. »Warum?«, wollte William wissen. »Weil eine Frau weiß, wie sie sich um das Kind kümmern muss.« »Ein Mann könnte das auch wissen.« »Also, Onkel Jack könnte sie mit Sicherheit nicht stillen«, sagte Alice als Beweis für ihre Meinung, »weil er keine Brüste hat!« Dann wurde sie rot und wünschte, sie hätte so etwas Unanständiges nicht gesagt. »Die Stillzeit dauert nicht ewig, Alice«, gab William mit seiner besserwisserischen Stimme zurück, so dass sie schon wieder rot wurde. Dann setzte er sich auf Marys Bett und fragte: »Oder, Mary?«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Mary ohne ihnen wirklich zuzuhören. »Ich hoffe nicht!«, murmelte Alice und rieb wieder ihre Wange. »Es ist genauso wie damals, als wir das erste Mal hier waren, nicht?«, sagte Mary, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und blickte aus dem Fenster. »Hier gab es nur Arger, seit Stephanie geboren wurde… Ich meine, sogar das wäre fast nicht geschehen…« Sie runzelte die Stirn. »Glaubt ihr nicht…« In dem Moment sahen die anderen beiden sie an. Sie hatten alle gleichzeitig denselben Einfall. »Morten!«, sagte William. »Das muss alles Mortens Werk sein.« »Oder das seiner widerlichen Ratte«, sagte Mary. »Vielleicht hat sie Phoebe so sehr geängstigt, dass sie deshalb gegangen ist.« »Aber ich dachte, Morten hätte sich jetzt gebessert?«, warf Alice dazwischen. »Ich dachte, er wäre uns dankbar und… na ja, er schien ziemlich nett zu sein, als wir ihn getroffen haben…« »Morten wünscht sich jetzt vielleicht, dass er nie mit allem angefangen hätte«, stimmte Mary zu. »Vielleicht wünscht er sogar, dass er alles wieder in Ordnung bringen könnte… Aber das heißt nicht, dass alles einfach wieder so wie früher wird. Ich meine – es ist wie… wenn man mit einer Pistole schießt und sofort wünscht, man hätte es nicht getan…« »… aber wenn du deine Meinung änderst, trifft die Kugel doch ins Ziel«, sagte William ruhig. »Genau!«, sagte Mary. »Manche Menschen ändern ihre Meinung zu spät.« »Morten!«, wiederholte William. »Also geht der Kampf immer noch weiter…«, fügte Mary nachdenklich hinzu. »… und wir scheinen ihn haushoch zu verlieren«, schrie eine klagende Stimme von irgendwo außerhalb des Zimmers. »Jasper!«, rief Mary und rannte zum offenen Fenster. Ein Stück entfernt davon balancierte die Eule gefährlich auf dem steilen Dach. Als sie Mary sah, flatterte sie zu ihr und hockte sich auf die Fensterbank. »Da seid ihr ja«, sagte Jasper. Seine Stimme hörte sich trauriger als gewöhnlich an. Er hüpfte von einem Fuß auf den anderen und strich dann zerstreut mit dem Schnabel durch seine Brustfedern. »Was ist los, Jasper?«, fragte Mary und sah ihn scharf an. Er sah gar nicht wie die Eule aus, die sie kannte. All sein Dünkel, all seine
Überheblichkeit und sein Stolz schienen von ihm abgefallen zu sein. Er sah… demütig aus. »Ohhh!«, flötete er und zwinkerte mit den Augen, als ob er sie nicht ansehen wollte. »Jasper?«, flüsterte Mary. Ein Schauer rieselte ihr den Rücken hinunter und sie fröstelte. »Was ist passiert?« »Die Welt ist verrückt geworden, glaube ich«, erwiderte der große Vogel. »Ich fürchte, ihr könnt nichts tun. Nicht jetzt, wo der Meister nie mehr kommt. Ich vermute, es war leichtsinnig, sich auf ihn zu verlassen. Er hat uns immer gesagt, dass wir uns eines Tages um uns selbst kümmern müssen… aber dass es jetzt sein muss! Jetzt… wo wir ihn so sehr brauchen…« »Was ist passiert?«, fragte William und zwängte sich neben Mary ans Fenster. »Was ist nicht passiert wäre eine bessere Frage!«, antwortete die Eule. »Im Wald ist der Teufel los. Niemand von uns ist sicher.« »Also – hat es nicht aufgehört?«, fragte Mary. Ihr schöner Traum von einem guten Ende zerplatzte wie eine Seifenblase. »Aufgehört?«, flötete die Eule. »Nein, es hat ganz sicher nicht aufgehört. In gewisser Hinsicht hat es noch kaum angefangen. Die Tiere bekämpfen sich gegenseitig. Und ich spreche da nicht nur von Mortens Truppe – wir bekämpfen uns sogar untereinander. Ich hatte gerade eine entschieden unangenehmen Auseinandersetzung mit diesem hochnäsigen… Ohhh!« Er schüttelte sich vor unterdrückter Wut. »Ich bin wirklich für ein ruhiges Leben! Es ist halt so! Viel zu viele meiner Verwandten sind ausgerottet worden. Ich glaube daran, sich ruhig zu verhalten… und zu überleben. Aber er nicht! O nein!« »Wer denn?«, wollte William wissen. »Er ist ganz wild darauf, den Widerstand zu organisieren! Widerstand! Sie sind dreimal so viel wie wir, wenn ich mich nicht irre.« »Wen meinst du überhaupt, Jasper?«, fragte Mary. »Diese Ratte!«, antwortete Jasper entrüstet. »Die behauptet das Geschöpf des Meisters zu sein. Ich kann nur sagen, dass ich mich nicht daran erinnere, den Meister je über eine Ratte sprechen gehört zu haben! Warum sollte er auch eine Ratte haben? Die können ja doch bloß nur kämpfen…« »Dann wäre das doch ein Grund, eine zu haben, oder nicht?«, fragte William. Ein hoffnungsvoller Ton lag in seiner Stimme. »Ist Rattus Rattus zurück?« »O ja!«, flötete die Eule. »Er ist tatsächlich zurück. Und er
scheint zu denken, dass er hier die Befehle gibt. Ich war immer der Liebling des Meisters…« »Und das bist du immer noch, da bin ich ganz sicher!«, sagte Mary und streichelte sanft seine Brustfedern. »Aber ich glaube nicht, dass er nur einen einzigen Liebling hat… ich glaube, er hat viele unter uns.« »Ja!«, sagte Jasper und blinzelte sie an. »Ich hatte erwartet, dass du genau das dazu sagen würdest, und wahrscheinlich trifft es für dich auch zu. Aber du bist einfach nur eine Sterbliche. Ich bin anders. Der Meister und ich haben eine ganz besondere Beziehung… Uns verbindet ein gemeinsames Band. Der Meister hat sich nie für das Kämpfen interessiert. Ein gutes Gespräch ist eher sein Stil…« »Aber«, unterbrach William Jaspers lange, traurige Klage, »Gespräche bringen uns nichts bei Mortens Geschöpfen, oder, Jasper? An Diskussionen sind sie nicht interessiert! Stärke ist das einzige Argument, mit dem man bei ihnen weiterkommt…« »Erzähl uns einfach, was passiert ist«, sagte Mary. »Und dann sehen wir, ob wir irgendwas tun können.« »Ganze Scharen von Mardern und Frettchen wühlen im Wald herum. Zwei unserer Dachse sind von Staren und Krähen angegriffen worden – mitten in der Nacht! Ich bitte euch! Gibt es denn gar keine Ordnung mehr? Eins unserer Kaninchen hat ein paar Frettchen dabei erwischt, wie sie tatsächlich über einen der Hunde auf dem Bauernhof herfielen! Ein Tier der Menschen wird so angegriffen! Das hat es noch nie gegeben! Sirius will herausfinden, ob es wahr ist. Aber das wird es wohl sein! Mit Sicherheit! Es sind unnatürliche Zeiten… Ich habe Cinnabar getroffen. Aber er hält sich leider völlig raus. Dieser Fuchs wäre eine große Hilfe. Aber er rechnet täglich damit, dass die Jagd der Menschen beginnt. Da kann man einem Tier keinen Vorwurf daraus machen, dass es schreckhaft ist…« »Du weißt nicht zufällig, wohin Phoebe und das Baby gefahren sind, oder?«, fragte William. »Das Auto ist heute früh am Morgen von Pica, der Elster des Magiers, oben auf der Straße zum Moor gesehen worden. Ich weiß nicht, wohin sie gefahren sind…« »Auf der Straße zum Moor?«, fragte Mary. »In Richtung Stadt?« »Nein«, flötete die Eule. »Zum Weg nach Four Fields…« »Was will sie denn da oben?«, sagte William und lief zur Tür. »Wohin gehst du, William?«, fragte Alice. »Ich will es Jack sagen«, antwortete William und verschwand im
Flur. »Was willst du ihm sagen?«, rief Mary und rannte hinter ihm her. »Dass eine freundliche Eule uns gerade gesagt hat, wo Phoebe sein könnte?« Sie hörten, wie Williams Schritte unten auf der Wendeltreppe sich verlangsamten. »Komm zurück!«, sagte Mary. »Diesmal müssen wir einen richtigen Plan machen.« William machte kehrt und kam wieder ins Zimmer. Mary wandte sich erneut an Jasper und meinte: »Wo beruft Rattus die Versammlung ein?« »Woher weißt du, dass er das tun wollte?«, flötete Jasper. »Das ist doch sonnenklar. Er ist zurückgekommen, um uns in den Kampf zu führen, oder nicht?« »Eine entsetzliche Vorstellung!«, seufzte die Eule. »Aber ja, das scheint der Plan zu sein. Er sagt, dass wir uns bis dahin ruhig verhalten und aus Scherereien heraushalten sollen! Was exakt das ist, was ich tun werde!« Damit stieß er sich von der Fensterbank ab und segelte über das Dach davon in Richtung Taubenhaus, seinem Lieblingsschlafplatz. »Gut!«, sagte Mary. »Jetzt haben wir den Rest des Tages Zeit, das Problem mit Phoebe und Jack zu lösen…« »Und was schlägst du vor, wie wir das wohl machen sollen?«, wollte William wissen. »Zuerst, indem wir sie finden, denke ich«, erwiderte Mary. »Wir fangen am besten oben in Four Fields an.« »Und dann?«, fragte Alice. »Sprechen wir mit ihr. Wir sagen, dass sie Golden Valley nicht verlassen kann. Wir sagen ihr, dass Stephanie ein Geburtsrecht auf diesen Ort besitzt.« Und obwohl William und Alice bezweifelten, dass sie Phoebe dazu bewegen könnten, ihnen zuzuhören und ihnen zu glauben, sagte keiner von beiden etwas. Mary hatte ihnen mit einem Blick zu verstehen gegeben, dass sie Einwände, von wem auch immer, nicht dulden würde. »Also!«, sagte sie laut, als ob sie Gedanken lesen könnte. »Wir haben doch nicht bis hierher durchgehalten, um uns jetzt wegen Phoebe geschlagen zu geben. Oder?« Alice und William schüttelten schweigend die Köpfe.
21 Die Feinde sammeln sich Jack war mit seinem Motorrad auf der Suche nach Phoebe, als sie in die Küche kamen. Aber Meg war da, und während Mary sich eine Scheibe Brot mit Marmelade und ein Glas Milch nahm, redete sie ununterbrochen aufgeregt auf die Kinder ein. »Die Dinge sind immer schlimmer geworden… Ich hätte es merken müssen… Was wird nur aus diesem armen kleinen Baby?« Wann immer eines der Kinder versuchte, sie zu unterbrechen, sie zu trösten oder vernünftig mit ihr zu reden, hörte sie ihnen einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen zu und fing dann mit einem neuen Wortschwall an. »Sie hätten schon vor Ewigkeiten verkaufen sollen… Golden House ist nicht der Ort für eine junge Familie… Ich gebe Jack genauso viel Schuld wie ihr… Welcher Teufel hat ihn geritten, dass er es überhaupt gekauft hat? Es war immer schon ein Unglückshaus. Immer. Ich müsste es eigentlich wissen. Ich habe nicht übel Lust, Henry Crawden jetzt sofort anzurufen und ihm zu sagen, dass er es haben kann… Dann sind wir es alle los…« »Nein, Meg!«, rief Mary. »Du musst uns versprechen das nicht zu tun. Lass uns zuerst Phoebe finden… und dann solche Entscheidungen fällen…« »Ja, Herzchen! Natürlich, Herzchen!«, sagte Meg, als ob sie zustimmte, aber ihre Augen hatten immer noch einen fernen Blick und ihr Verstand jagte schon in eine andere Richtung. »Ich dachte, wir sollten die Polizei rufen, aber Jack meinte, dass wir im Moment nur sagen könnten, Phoebe sei mit dem Auto weggefahren… Ich verstehe schon, dass das nicht wie ein Notfall klingt… aber es sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, ohne ein Wort zu gehen. Wo ist sie? Warum ist sie so weggegangen? Was für eine Erklärung gibt es dafür? Das würde ich gerne wissen…« Sobald sie konnten, machten sich die Kinder aus dem Staub. Sie streiften ihre Anoraks über, während sie aus der Tür gingen, und liefen über den Hof durch den Küchengarten zum Tor und in den Wald dahinter.
Die Sonne strahlte vom Himmel und nach dem Regen roch der Wald rein und würzig. Ein frischer Wind wehte und blies kalt auf ihre Wangen, aber unter freiem Himmel fühlten sie sich sofort besser. Rasch liefen sie über den Waldweg und bogen dann ab auf den schmalen, gewundenen Pfad, der zum Dachsbau und zu der Eibe oben auf den Felsen führte. Als sie auf der Hälfte des Weges kurz stehen blieben, um Luft zu holen, merkte Mary, wie still es war. »Hört mal!«, sagte sie und machte William und Alice auf die seltsame, gedämpfte Ruhe aufmerksam, die trotz des starken Windes in den Bäumen um sie herum herrschte. »Was ist?«, wisperte Alice. »Nichts!«, antwortete Mary stirnrunzelnd. »Das ist es ja gerade. Nichts! Kein Vogelzwitschern… kein Tiergeräusch… kein Hundebeilen… Es ist so ruhig!« Sie alle lauschten angestrengt. »Vielleicht singen die Vögel im Herbst nicht mehr so viel?«, schlug William vor. »Aber es ist mehr als das«, sagte Mary und blickte zu den Bäumen, die sie einkreisten. »Es ist, als ob alles den Atem anhält und… wartet.« Alice fröstelte. »Ich wünschte, Spot wäre mit uns gekommen«, sagte sie. Sie warf einen nervösen Blick über die Schulter, als ob sie von jedem Zweig und jedem Busch beobachtet würde. »Ich mag es hier nicht«, wisperte sie. »Lasst uns ganz nach oben gehen! Dieser Wald ist irgendwie gespenstisch.« Damit ging sie wieder los und machte sich daran, über den steilen Abhang hinauf auf die Spitze des Hügels zu klettern, die sie gerade durch die Zweige vor sich erkennen konnte. »Ich weiß, was sie meint«, gab Mary zu, als sie und William ihr folgten. »Es ist unheimlich, findest du nicht? Es ist so ein strahlender Morgen… und trotzdem ist überall eine Art Dunkelheit…« Sie warf einen argwöhnischen Blick auf die Schatten, die sie von allen Seiten einschlossen. Sie holten Alice ein, als sie gerade die Eibe erreichte, deren immergrüne Zweige vom Wind durchgeschüttelt wurden. Er war jetzt viel stärker, seit sie das schützende Tal verlassen hatten. Wolken jagten über den Himmel hoch über ihnen und gaben die Sonne frei und ließen sie wieder verschwinden, so dass die langen Schatten vor ihnen auf dem Boden tanzten.
»Können wir nicht eine kurze Pause machen?«, keuchte Mary, atemlos nach der anstrengenden Kletterei. »Besser nicht«, sagte William und warf einen Blick auf die Spitze der Eibe. »Meinst du, es bringt was, ins Baumhaus hinaufzugehen?« »Sie ist bestimmt nicht da raufgeklettert«, sagte Mary. »Ich glaube nicht, dass sie schon mal da war. Jack ist einmal mit uns gekommen, aber damals ist Phoebe mit Stephanie unten geblieben… und sie hat Stephanie jetzt dabei… Es ist unmöglich, den Baum mit einem Baby auf dem Arm hochzuklettern.« »Falls sie Stephanie immer noch bei sich hat«, sagte William grimmig. »Sie würde sie niemals alleine lassen«, widersprach Mary. »Normalerweise nicht, das weiß ich«, stimmte William zu. »Aber ich glaube irgendwie nicht, dass im Moment alles so normal ist!« Sie schwiegen alle und begriffen langsam, was er gesagt hatte. Dann schauderte Mary und schlang gegen die Kälte die Arme um sich. »Wir müssen sie finden«, sagte sie. »Wir müssen. Es hat keinen Zweck, hier nur trübsinnig rumzustehen!« »Wir wissen noch nicht mal, ob sie wirklich nach Four Fields gegangen ist«, meinte Alice. »Nein, natürlich wissen wir das nicht!«, fauchte Mary. »Aber wo sollen wir denn sonst anfangen zu suchen?« Als sie am Stehenden Stein vorbeikamen, fragte William, ob Mary das Pendel dabeihatte. »Ja«, sagte sie und tastete ihre Tasche ab. »Warum?« William zog die Schultern hoch. »Wir könnten immer noch versuchen zurückzugehen und Mr. Tyler zu fragen…« »Nein. Zuerst müssen wir Phoebe und Stephanie finden«, widersprach Mary. »Ich könnte nicht ertragen, ihm zu erzählen, was passiert ist. Ich glaube, die Nachricht würde ihn umbringen…« »Aber es ist doch gar nicht so schlimm, oder?«, fragte Alice. »Natürlich ist es das!«, rief Mary. »Für Mr. Tyler könnte es nicht schlimmer sein. Es würde jeden einzelnen seiner Pläne zerstören…« Am Ufer von Golden Water tanzten die bunten Herbstblätter im Wind und bedeckten den Rand des Sees mit einem rotgoldenen Teppich. In der gekräuselten Oberfläche des Wassers brach sich glitzernd das Licht. Der flache Stein am Ufer schimmerte wie Metall. Aber obwohl das Wasser plätscherte und die Zweige raschelten,
herrschte überall eine erdrückende Stille, die den schönen Tag zu ersticken schien und jede Fröhlichkeit in tiefe Niedergeschlagenheit verwandelte. Die Kinder erreichten die Gabelung, wandten sich vom See ab und nahmen den Pfad durch den Wald, der zu der schützenden Hecke um die vier Felder führte, die einmal zu Megs Bauernhof gehört hatten, bevor ihr Haus niedergebrannt war. Sie waren gerade am Gatter angekommen und wollten darüberklettern, Alice den anderen ein wenig voraus, als sie ein huschendes Geräusch hörten und sich umdrehten. »Was war das?«, wisperte Alice mit nervös zitternder Stimme. William ging achselzuckend auf einen Hügel aus abgestorbenem Adlerfarn, Efeu und dornigen Brombeerranken zu. Als er näher kam, hob er einen toten Ast auf, den der Wind heruntergeworfen hatte. Mit ihm in der Hand fühlte er sich ein bisschen mutiger, obwohl er nicht sicher war, wie oder gegen was er ihn benutzen würde. Aber er war entschlossen den anderen beiden nicht zu zeigen, wie viel Angst er hatte, also stieß er ein paar Mal in den Pflanzenhügel hinein. Als nichts geschah, drehte er sich sehr erleichtert um und wollte zu den Mädchen zurückgehen. »William!«, schrie Mary. »Hinter dir! William!« Er wirbelte herum und sah gerade noch ein großes, graues Eichhörnchen mit weit gespreizten Krallen auf sich zuspringen. Völlig überrascht duckte William sich und schlug mit dem Ast in seiner Hand wie mit einem Kricketschläger. Er traf das Eichhörnchen mit einem heftigen Schlag an der Seite, so dass es durch die Luft wirbelte. Es landete in einiger Entfernung auf den Füßen, drehte sich um die eigene Achse, stolperte in die dichten Büsche zurück und war im Nu verschwunden. »Ich hoffe, ich habe es nicht verletzt«, murmelte William. »Es hat mich so erschreckt.« »Es ist direkt auf dich losgegangen!«, keuchte Alice. »Ich glaube nicht, dass es das wollte«, sagte William, aber als er über das Gatter klettern wollte, merkte er, dass seine Beine zitterten. »Natürlich wollte es das!«, wisperte Mary mit dem Ausdruck völligen Entsetzens auf dem Gesicht. »Was wollte es dir tun?« »Nichts!«, sagte William und versuchte möglichst gelassen zu klingen. »Ich glaube, ich habe es erschreckt, weil ich in den Pflanzen herumgestochert habe, und es ist einfach in die falsche Richtung gesprungen.«
Aber das schien nur eine schwache Ausrede zu sein. Sie gingen schweigend weiter über das offene Feld, froh darüber, von all den Bäumen und Büschen fort zu sein. Wenigstens würden sie jetzt jedes Tier sehen können, das sich ihnen näherte. »Es hatte so riesige Krallen«, sagte Alice vor sich hin. »Sie benutzen sie nur, um auf Bäume zu klettern, Alice!«, sagte William und wollte sich damit ebenso beruhigen wie Alice. Als sie das nächste Gatter erreichten, konnten sie die Ecke des Feldes sehen, wo Megs Haus stand. Die Fenster und die Tür waren rauchgeschwärzt und jetzt fast verdeckt von Kletterpflanzen und Büschen, die in Hülle und Fülle gewachsen waren, seit sie das Haus das letzte Mal gesehen hatten. Niemand hatte sie geschnitten oder sie irgendwie im Zaum gehalten. »Als wir das erste Mal hierher gekommen sind«, erinnerte sich Alice, »da war ich überrascht, dass hier überhaupt ein Haus stand.« Das Feuer hatte das Haus verwüstet und die meisten Holzbalken und die Möbel verbrannt. Aber die steinernen Wände standen immer noch und auch das Dach war an manchen Stellen noch in Ordnung. Sogar die Eingangstür, schwarz und verkohlt durch die Hitze der Flammen, hing immer noch schief in ihrer Angel. »Es sieht so traurig aus«, sagte Mary. Sie blieb zurück, weil sie nicht hineingehen wollte. »Sie ist nicht hier, oder?«, fragte Alice. »Wir gehen besser rein und gucken nach«, meinte William. Aber er zögerte auch. Es war so, als ob irgendetwas Böses hinter der Türschwelle auf sie lauerte. »Ich wünschte, Mr. Tyler wäre jetzt hier«, sagte Alice kleinlaut. »Ich wünsche es mir mehr als jemals zuvor.« »Das Pendel, Mary«, flüsterte William. »Vielleicht gibt es uns ein bisschen… Kraft, wenn du es einfach hoch hältst?« Mary griff in ihre Tasche, nahm die Kette fest in die Hand und zog das Goldstück heraus. Sie hielt es hoch, so dass es glitzernd im Morgenlicht hing. Augenblicklich durchbrach überall um sie herum das Geräusch von kreischenden und klagenden Vögeln die tiefe Stille. Die Kinder wirbelten herum, Mary hielt das Pendel immer noch vor sich. Alle Zweige der Bäume waren mit Vögeln besetzt, hauptsächlich mit Krähen und Staren, einigen Elstern und ein paar grimmig aussehenden Sperbern. Am Feldrain saßen unzählige Kaninchen und Ratten, Marder und Wiesel. Eichhörnchen klammerten sich an
die Hecken. Ein Fuchs hockte in etwas längerem Gras. Nichts regte sich. Die Kinder waren von einer Wand starrender Augen umgeben. Das Geräusch, das die Tiere machten, war zu einem unheilvollen Grollen angewachsen. Aber sie bewegten sich nicht. Sie saßen einfach auf ihren Plätzen, starrten die Kinder an und knurrten leise und bedrohlich. »Habt ihr sie gesehen?«, fragte eine Stimme hinter ihnen und als sie sich schnell umdrehten, sahen sie Phoebe im Flur der Hausruine stehen. Sie hielt Stephanie fest in ihren Armen »Phoebe!«, zischte William. »Du solltest nicht hier sein! Und ganz bestimmt nicht mit Stephanie!« »Sie sind mir gefolgt«, sagte Phoebe ruhig. »Als ich aufgestanden und in die Küche gegangen bin, habe ich Geräusche auf dem Hof gehört. Ich dachte, ihr wärt es. Die Schlüssel für den Landrover lagen auf dem Küchenschrank. Ich habe sie mitgenommen, als ich zur Tür ging. Ich weiß nicht, warum. Irgendwie kam mir die Idee… Ich ging hinaus in den Hof… und zum Landrover. Ich wollte gar nicht weg. Ich wollte nur…« Sie zuckte mit den Schultern. »Es war wie im Traum, als würde ich schlafwandeln… ich habe Stephanie in ihren Sitz hinten im Wagen geschnallt und ging zurück, um meinen Mantel zu holen. Aber… als ich mich umdrehte… war der Hof voller Ratten…« Tränen und Panik erstickten ihre Stimme. »Also bin ich eingestiegen und… weggefahren. Ich dachte, ich fahre bis zur Telefonzelle an der Straße zum Moor und rufe Jack an… um euch alle zu warnen. Aber als ich hinkam, war eine Ratte in der Telefonzelle… Ich hatte solche Angst…« Sie fing an heftig zu zittern, drückte Stephanie an sich und verbarg ihr Gesicht an ihrer Schulter. »Ist schon gut! Ist schon gut, Phoebe«, sagte Mary und legte einen Arm um sie. »Du musst tapfer sein – für Stephanie. Das müssen wir alle!« »Sie sitzen nur da«, sagte Phoebe, blickte auf und starrte auf die Tiere. »Ich wollte eigentlich in den Landrover… aber ich traue mich einfach nicht.« »Kein Wunder«, sagte William grimmig. »Aber wir sind ja jetzt hier.« »Was könnt ihr schon tun? Was kann überhaupt jemand tun? Seit Monaten versuche ich Jack zu warnen… aber er will mir einfach nicht glauben.« »Ihn zu warnen?«, fragte William.
»Irgendetwas sehr Seltsames geht vor. Die Ratten im Haus… die Atmosphäre dort. Was können wir nur tun?«, klagte Phoebe. »Sehr viel«, sagte Mary entschlossen und blickte auf das Pendel, das sie immer noch in der Hand hielt. »Wir können sie besiegen… irgendwie. Wir können hier die Ordnung wiederherstellen. Da drüben ist nicht ein einziges Tier, das wirklich böse ist. Das Böse liegt in der Art, wie sie sich verhalten…« »Aber was können wir dagegen tun?«, wisperte Phoebe. »Ich wollte nicht, dass Jack sie tötet… Das will ich immer noch nicht…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe solche Angst…«, wisperte sie. Während sie miteinander sprachen, sahen sie sich nicht an. Ihre Augen waren die ganze Zeit auf die Unmenge von wilden Tieren vor ihnen auf dem Feld geheftet. »Wenn nur Spot hier wäre«, seufzte Alice. »Und Rattus«, sagte Mary. William runzelte die Stirn. »Einer von uns muss hier raus…« Kaum hatte er das gesagt, erschien ein winziges Tier im harten Gras zu seinen Füßen. Es kam so leise, dass es einen Moment dauerte, bis einer von ihnen es überhaupt wahrnahm. Es saß geduldig da und starrte zu ihnen hoch. Dann warf Phoebe einen Blick nach unten und stieß ein überraschtes Keuchen aus. »Was ist los?«, fragte Alice. »Eine Spitzmaus«, sagte Phoebe und ging einen Schritt zurück. »Hier wimmelt es von Tieren. Es sind mindestens zehn Mal mehr als wir. Wir haben keine Chance…« »Aber sie ist so winzig«, wisperte Alice. »Ja«, räumte William zweifelnd ein, »aber gehört sie zu uns oder zu ihnen?« »Sie starrt uns immer an…«, sagte Mary und dann hielt sie den Atem an. Das Pendel zog an ihrer Hand. »Oh!«, rief sie. »Was ist, Mary?«, fragte Phoebe mit neuer Panik in der Stimme. »Was ist passiert? Was hast du da für eine Kette? Was geht hier vor?« »Alles in Ordnung, Phoebe, ganz ehrlich«, sagte Mary und schloss schnell die Hand über dem Pendel. »Hm… Alice, sollten Phoebe und du nicht ins Haus gehen…« »Was?«, entrüstete sich Alice. »Warum denn das?« »Ich dachte nur, es wäre eine gute Idee, sich irgendwo hinzusetzen… wo der Wind nicht so kalt ist… wegen des Babys…« Mary
warf Alice einen wütenden Blick zu, damit sie verstand und keine weiteren Fragen stellte. »Ich gehe da nicht rein!«, sagte Alice. »Doch, das tust du!«, verkündete William plötzlich, weil er begriff, dass Mary Phoebe loswerden wollte. Er schubste Alice zum Eingang und flüsterte ihr dabei zu: »Versuch, sie mit reinzunehmen, Alice! Sie muss hier weg.« »Ach so!«, rief Alice und grinste plötzlich. »Ja natürlich! Komm mit, Phoebe! Ich erfriere!« Sie nahm Phoebe in den Arm und führte sie und Stephanie in den Flur zurück. »Will«, sagte Mary, sobald sie allein waren. »Du bist der Schnellste. Du musst gehen. Du musst zur Telefonzelle an der Straße zum Moor laufen. Ruf Meg im Haus an und erklär ihr, was passiert ist. Dann kann sie Jack sagen, wo wir sind, wenn er zurückkommt. Vielleicht solltest du sie bitten Mr. Jenkins anzurufen und es ihm auch zu sagen. Er kann uns abholen kommen, falls Jack noch weg ist… und seine Hunde könnten auch nützlich sein. Wenn nur Spot hier wäre… Egal! Hast du Geld für das Telefon? « »Ja, aber – was soll ich sagen?«, protestierte William. »Sag ihr einfach, was passiert ist. Meg wird dir glauben – es liegt dann an ihr, die anderen zu überzeugen. Sag ihr, dass die Tiere und Vögel sich seltsam verhalten. Sag ihr, dass wir oben in Four Fields sind – und ganz krank vor Angst…« »Auch wenn Meg uns glaubt, lachen die anderen sich doch bloß kaputt!« »Dann lass sie doch lachen«, rief Mary zitternd vor Nervosität. »Mach ihr nur klar, dass sie schnell kommen müssen…« Bei ihren letzten Worten gab sie ihrem Bruder das Pendel des Magiers. »Du wirst es brauchen. Die Spitzmaus nimmt dich mit…« »Ich kann nicht…«, sagte William verzweifelt. »Jetzt sei doch nicht so ein Waschlappen, William!« »Nein! Ich meine… Ich kann euch doch nicht hier allein lassen.« »Doch, du kannst! Du musst sogar! Jetzt beeil dich…!« Dabei warf sie der Spitzmaus, die immer noch geduldig zu ihren Füßen saß, einen Blick zu. Plötzlich sprang sie in die Luft und machte eine Kehrtwende. Ohne sich noch einmal umzublicken, sauste sie in das hohe Gras der Wiese, und als Mary sich nach William umdrehte, war er verschwunden. Sie suchte schnell die fernen Bäume mit den Augen ab, aber keiner der wartenden Vögel, keines der Eichhörnchen und auch nicht die anderen Tiere auf dem Boden schienen sein Ver-
schwinden bemerkt zu haben. Sie starrten sie weiter an und knurrten, zischten und kreischten bedrohlich, rückten aber bis jetzt nicht näher an das Haus heran. »Viel Glück, Will!«, flüsterte Mary in Richtung der Wiese. Dann zog sie sich in Zeitlupe, Schritt für Schritt ins Haus zurück, weil sie befürchtete, dass die kleinste Bewegung von ihr den Angriff auslösen könnte.
22 Vorbereitungen zum Kampf William und die Spitzmaus flitzten durch einen Dschungel aus dichtem, feuchtem Gras, das sich haushoch über ihrem Kopf zu einem Dach formte, hinter dem der Himmel verschwand. Die Spitzmaus war merkwürdig schweigsam. William konnte überhaupt nicht in ihren Kopf eintreten. Er stellte ihr ein paar Fragen, aber die einzige Antwort, die er bekam, war ein hohes, aufgeregtes Fiepen. Also sagte er dem Tier nur, dass er zur Straße am Moor wollte, und entschied, seine Energie für den Weg aufzusparen. Sie bewegten sich so leicht fort, dass ihre Füße den Boden kaum zu berühren schienen. Es war fast so, als liefen sie nicht, sondern flögen durch das Gras. Einmal blieb die Spitzmaus plötzlich stehen und William merkte, wie ihr Herz ängstlich pochte. Er horchte aufmerksam und konnte neben ihnen etwas in den Büschen rascheln hören. Was immer es war, es schien schwer und groß zu sein. Die Spitzmaus hielt den Atem an, wartete und lauschte und einen Augenblick später kroch ein Igel an ihnen vorbei. »Gehört er zu uns oder zu ihnen?«, fragte William. Die Spitzmaus antwortete nicht, sondern drehte um und rannte sehr schnell und nervös weiter durch den Dschungel. Manchmal kamen sie zu so dichten und verfilzten Grasbüscheln, dass sie einen Umweg laufen mussten. Ein paar Mal hatte William das böse Gefühl, dass sie in genau die entgegengesetzte Richtung rannten, in die er eigentlich wollte. Aber sie waren so viele Umwege und Kurven gelaufen, dass er die Orientierung verloren hatte. Das einzige lebende Tier, das sie trafen, war ein Regenwurm. Einen Moment lang war William zu seinem Entsetzen versucht den Wurm zu fressen, aber dann merkten entweder er oder die Spitzmaus, dass die Zeit knapp wurde. Obwohl ihnen tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief, ließen sie ihn mit einem sehnsüchtigen Blick vorbeigleiten und zwangen ihre vier Pfoten noch schneller zu laufen, bis sie fast flogen. Das Gras vor ihnen teilte sich, als würde es umgepflügt, und raschelte hinter ihnen wieder zusammen.
Schließlich übersprangen sie einen breiten Wassergraben, kletterten eine holperige Böschung hinauf und fanden sich auf dem Waldweg wieder. »Bis hierher!«, fiepte die Spitzmaus. Das waren die einzigen Worte, die William sie jemals sagen hörte. Denn einen Augenblick später geschahen zwei Dinge schnell hintereinander. Zuerst sah William das Pendel des Magiers in seiner Hand aufblinken und er merkte, dass die Spitzmaus und er wieder getrennt waren. Und direkt danach stürzte eine Elster aus dem Himmel und ihr Schnabel ergriff die Spitzmaus mit einem widerlichen Knirschen. »Köstlich!«, krächzte eine raue, kehlige Stimme und William schluckte heftig, wobei er fühlte, wie das winzige Tier durch seinen Rachen rutschte. »Ihhh!«, rief er. »Das ist ekelhaft!« »Nicht für mich«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. William streckte seine Flügel aus und flog mit dem schwarzweißen Vogel. »Nett, dich kennen zu lernen, William!«, wisperte die Stimme. »Ich bin Pica, die Elster des Magiers. Ich hatte gehofft, dass Mary kommen würde. Mary und ich sind gut miteinander ausgekommen. Sie war eine mutige Kämpferin in diesem Kampf um Golden Water damals im Sommer. Aber ich fürchte, dass der heutige Zusammenstoß noch heftiger sein wird.« »Warte mal eine Minute!«, rief William. »Diese Spitzmaus war auf unserer Seite!« »Sie wollte eigentlich auf gar keiner Seite sein«, sagte Pica. »Sie wurde dazu überredet, dich zu holen…« »Wie, überredet?« »Ich habe ihr versprochen sie nicht zu fressen.« »Aber das hast du doch! Gerade eben!« »Ich habe ihr nicht gesagt, für wie lange!« »Du bist schrecklich!« »Wohin willst du, kleiner Junge?«, krächzte die Elster. »Zur Telefonzelle auf der Straße am Moor… und dann zu Rattus.« »Stets zu Diensten!«, spottete die Elster. Sie drehte eine Kurve und William und sie flogen zusammen durch die Bäume neben dem Waldweg. »Ich möchte im Moment lieber in Deckung bleiben«, wisperte Pica. »Die Feinde sind überall. Es war pures Glück, dass ich dich ge-
sehen habe…« »Wie hast du mich entdeckt?«, fragte William. »Durch das Pendel! Im ganzen Gebiet sind Kundschafter unterwegs, die dich suchen. Sogar Cinnabar ist überredet worden sich zu zeigen.« »Cinnabar?«, sagte William, froh darüber, Neuigkeiten über seinen Freund zu erfahren. »Geht es ihm gut?« »So gut, wie es einem Fuchs in dieser Jahreszeit gehen kann… So! Hier ist die Straße am Moor…« »Und da ist auch die Telefonzelle«, wisperte William, als Pica und er die Deckung der Bäume verließen und geräuschlos die Straße entlangflogen. »Bis jetzt ist noch niemand da«, stellte Pica fest und ruckte den Kopf hin und her. »Ich warte da drüben in den Bäumen auf dich.« Damit landeten sie auf dem harten Asphalt in der Nähe der Telefonzelle und hüpften flügelschlagend ein paar Schritte. »Danke, Pica!«, sagte William, rappelte sich auf und rannte zur Telefonzelle. Er suchte in seiner Tasche nach ein paar Münzen. »Ich denke immer noch, dass das mit der Spitzmaus gemein von dir war.« »Ich neige dazu, dir zuzustimmen«, erwiderte die Elster. »Ich habe sie zu schnell verschluckt. Jetzt bekomme ich bestimmt Verdauungsstörungen!« Sie krächzte ein grausames Lachen und flog dicht über dem Boden in die nächsten dichten Nadelbäume am Straßenrand. Als Mary das abgebrannte Haus betrat, waren Phoebe und Alice in dem Raum, der einmal Megs Küche gewesen war. Phoebe trug immer noch Stephanie auf dem Arm, die jämmerlich weinte. Der Raum war damals mit Megs Habseligkeiten angefüllt gewesen, aber jetzt waren der Tisch, der alte Sessel, die Schränke und Schemel, die unzähligen Schachteln und Kästen nur noch verkohlte Reste. Denn hier hatte das Feuer am heftigsten gewütet, nachdem eine Ratte mit einem Streichholz das Petroleum entzündet hatte. »Igitt! Hier riecht es immer noch scheußlich, was?«, sagte Mary, als sie durch den offenen Eingang kam. »Und ich glaube nicht, dass es hier sehr sicher ist«, fügte Phoebe hinzu und blickte hinauf zu der durchhängenden Decke. »Wenn das Dach herunterkommt…« »Wohin sollen wir denn sonst gehen!«, sagte Alice ungeduldig. »Wir müssen hier warten…«, sagte Mary. »Wo ist William?«, fragte Phoebe.
»Er holt Hilfe«, erwiderte Mary. »Aber – wenn er es geschafft hat wegzukommen, dann können wir das doch alle!«, rief Phoebe und drängte sich mit Stephanie an Mary vorbei in den Flur. »Nein, Phoebe!«, sagte Mary und lief schnell hinter ihr her, dicht gefolgt von Alice. Phoebe hatte schon die Eingangstür erreicht. Sie trat hinaus in den strahlenden Sonnenschein. »Draußen ist es sowieso besser!«, meinte sie und suchte mit den Augen die fernen Heckenreihen und die Bäume dahinter ab. »Worauf warten wir noch?« »Ich weiß nicht«, sagte Mary mit einem Blick auf die unzähligen Tiere und Vögel. »Es ist wegen mir, oder nicht?«, sagte Phoebe. »Es hat alles irgendetwas mit mir zu tun.« »Irgendwie schon«, nickte Mary. »Worum geht es denn?«, fragte Phoebe. »Du musst es mir sagen.« »Es ist ein bisschen schwierig, Phoebe«, erwiderte Mary. »Du musst es versuchen«, bat Phoebe und drückte Stephanie an sich, um sie zu beruhigen und zu trösten. Das Baby wandte ihr das Gesicht zu. Seine Wangen waren tränenverschmiert und seine Nase lief… dann streckte es seine kleine Hand aus und hielt die Kette fest, die um Phoebes Hals hing. Es war der Anhänger, den Jack im Kamin in der Halle von Golden House gefunden und ihr an Weihnachten geschenkt hatte. Ein ovaler Rahmen aus dunkelrotem Metall umschloss eine goldene Sonne und einen silbernen Mond. »Natürlich!«, flüsterte Mary. »Was ist, Mary?«, fragte Alice. »Phoebes Kette!«, sagte Mary. »Was ist damit?«, fragte Alice. »Ja, was ist damit?«, wollte auch Phoebe wissen. »Du nimmst sie nie ab, oder?«, fragte Mary. »Nur nachts. Ich trage sie so gern…« »Hast du dich jemals über sie gewundert?«, fragte Mary. »Oft«, erwiderte Phoebe. »Wir haben sie auch untersuchen lassen. Sie ist aus Gold und Silber gemacht. Aber das rote Metall ist ein ziemliches Rätsel. Offenbar ist es eine Art Amalgam… obwohl Amalgam normalerweise silbern oder weiß ist… wisst ihr, wie das, was man für Zahnfüllungen benutzt! « »Zahnfüllungen?«, rief Alice und verbarg nicht, dass sie Phoebe
nun endgültig für verrückt geworden hielt. »Ich weiß!«, sagte Phoebe lachend. »Aber der Juwelier, der sie für uns analysieren ließ, sagte, dass Amalgam dem Metall am nächsten käme. Das Zeug für die Zahnfüllungen ist anscheinend ein Gemisch aus Quecksilber und Silber… oder das war es wenigstens. Ich will nicht hoffen, dass es immer noch so ist! Aber egal, dieses rote Metall enthält auch Quecksilber zusammen mit Gold und Silber… aber die rote Farbe ist nicht zu erklären… Es ist wohl mit Cinnabar, also Zinnober, eingefärbt…« »Cinnabar?«, rief Alice. »So heißt unser Fuchs!« »Euer Fuchs?« Phoebe klang erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass ihr einen habt.« »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Alice ernst. »Was ist Zinnober?« »Das müsst ihr Jack fragen – er hat die chemische Ausbildung!«, antwortete Phoebe. »Es ist eine Art Pigment, glaube ich, aus einem Mineral… Ich weiß es nicht!« »Kann ich ihn mal ansehen?«, fragte Mary plötzlich. »Ansehen? Wen?«, fragte Phoebe überrascht. »Den Anhänger, darf ich?« »Jetzt?« »Ich möchte ihn mir nur ansehen. Das darf ich doch, oder?« Sie reichte um Phoebe herum und löste den Verschluss der Kette in ihrem Nacken. Die Kette glitt von Phoebes Hals, aber Stephanie hielt sie mit ihrer winzigen Hand fest. Mary nahm sie ihr ab und das Baby wehrte sich nicht. Dann hielt sie die feine Kette fest und ließ den Anhänger vor sich hin- und herschwingen. Sofort begannen die Vögel auf dem Feld zu kreischen und mit den Flügeln zu schlagen, die Tiere in den Hecken reagierten mit ungeduldigem Auf- und Abspringen. »Natürlich!«, sagte Mary und starrte auf den Anhänger. »Was? Was denn? Sag mir, wovon du redest!«, rief Phoebe. »Dieser Anhänger wurde von Stephen Tyler gemacht«, erklärte Mary. »Stephen wer?«, fragte Phoebe. »Tyler«, antwortete Mary und ärgerte sich, wie begriffsstutzig Phoebe war. »Du hast schon oft von ihm gehört. Er hat einmal in Golden House gelebt. Er war ein…«, sie vermied das Wort ›Magier‹, »eine Art Chemiker.«
»Ein Alchimist«, nickte Phoebe. »Ich erinnere mich jetzt. Miss Prewett hat ihn erwähnt…« »Und er war einer deiner Vorfahren, nicht wahr?«, sagte Mary und blickte Phoebe an. »War er das? Vielleicht. Ja, ich glaube, unsere Familie hat den Namen einmal anders geschrieben. Papa hat darüber gesprochen. Er hat sich lebhaft für unseren Stammbaum interessiert. Aber mir machte das keinen Spaß, deshalb habe ich ihm nie richtig zugehört. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan… Jetzt ist es zu spät. Aber ich bin sicher, dass unsere Familie nie in dieser Gegend gelebt hat. Wir sind vermutlich Pächter eines Bauerngutes… aus Warwickshire.« »Ja – aber die waren irgendwie mit dem Mann verwandt, der in Golden House gelebt hat, mit Stephen Tyler. Als er starb, vermachte er seinen Besitz Matthew Morten, seinem Assistenten. Vielleicht wollten deine Vorfahren ihr Bauerngut nicht aufgeben… oder noch wahrscheinlicher – Mr. Tyler hat gemeint, dass Golden House an Morten gehen sollte…« »Woher weißt du das alles?«, fragte Phoebe verwirrt. Mary zog die Schultern hoch und wich der Frage aus. »Ein Menge davon steht in dem Buch, das Jack von Miss Prewett geliehen hat«, sagte sie. »O ja! Natürlich!« Phoebe nickte. »Aber jetzt, Phoebe, lebt in Golden House wieder eine Tyler. Stephanie hat ein Geburtsrecht auf diesen Ort. Du darfst sie nicht von hier fortbringen und die Crawdens wieder hier leben lassen. Das darfst du nicht, Phoebe!« Phoebe schien von Marys Worten sehr gerührt zu sein. Sie schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf. »Das will ich auch ganz ehrlich nicht. Ich liebe den Ort. Du weißt, dass ich das tue. Ich war es, die zuerst hier einziehen wollte. Nur jetzt – nach allem, was passiert ist… fühle ich mich so bedroht. Es ist, als ob etwas… Böses… oder als ob jemand… uns nicht hier haben will.« »Das wird sich alles ändern«, sagte Mary fest. »Während ihr beide hier rumschnattert«, sagte Alice eindringlich, »scheint dahinten was los zu sein…« Sie blickten wieder in Richtung Wald. Vögel stiegen jetzt in Schwärmen aus den Bäumen auf und flogen krächzend und kreischend langsame Kreise. »Hilfe!«, sagte Mary ruhig. »Ich glaube, es geht los!«
»Ich wünschte Spot würde kommen«, wisperte Alice. »Ich würde mich viel sicherer fühlen.« »Ich wünschte Mr. Tyler wäre hier«, sagte Mary und ließ die Vögel nicht aus den Augen. »Und ich wünschte nur, dass Jack und Stephanie und ich zusammen zu Hause wären«, sagte Phoebe und wusste tief drinnen genau, dass sie mit Zuhause Golden House meinte. Jack bog in die Einfahrt ein und brachte das Motorrad vor der Eingangstür knirschend zum Stehen. Er war erschöpft und in größter Sorge. Er wusste, dass es nun an der Zeit war, die Polizei anzurufen. Bis zur Stadt war er gefahren und hatte dann gemerkt, dass seine Mühe völlig vergeblich war. Phoebe und Stephanie konnten schon wer weiß wo sein. Sie konnten auf einer der Autobahnen sein. Sie konnten vom Bahnhof Druce Coven mit einem Zug weggefahren sein. Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte, weil er einfach nicht wusste, wohin oder warum sie überhaupt gegangen war. Er gab sich die Schuld an allem, was passiert war. Seit Monaten hatte Phoebe versucht ihm zu sagen, ihn sogar zu warnen, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten, und er hatte sich geweigert auf sie zu hören. Die Ratten im Haus hätten sie eigentlich vereinen müssen. Phoebe hatte immer wieder gesagt, dass eine Ratte im Haus war, seitdem sie eingezogen waren, aber zuerst hatte er sie nicht ernst genommen. Als sie dann vor kurzem gesagt hatte, es seien mehr als eine, hatte er immer noch nicht auf sie gehört. Und als er dann selbst feststellen musste, dass sie Recht hatte, erzählte er ihr nichts davon, er verheimlichte es sogar vor ihr. Kein Wunder, dass sie nicht gemeinsam mit dem Problem hatten fertig werden können. Kein Wunder, dass sie zornig war. Kein Wunder, dass sie dachte, er behandele sie schlecht. Die Streitereien waren schlimmer geworden… und es war alles sein Fehler. Sicher hatte Stephanie ihnen in letzter Zeit nicht viel Ruhe gegönnt; sicher hatte er Geldsorgen; sicher waren die Dinge ihm über den Kopf gewachsen, aber: »Es ist alles meine Schuld«, sagte er sich, »weil ich die Probleme nicht mit ihr geteilt habe. Ich habe sie ausgeschlossen. Ich habe gehofft, dass die Probleme von selbst verschwinden, wenn ich die Augen vor ihnen verschließe. Jetzt habe ich sie zu weit getrieben. Und sie ist weg und hat Stephanie mitgenommen…« Er öffnete die Eingangstür und ging ins Haus. Im selben Moment
klingelte das Telefon und Meg kam aus der Küche, um den Hörer abzunehmen. »Hallo?«, sagte sie nervös ins Telefon und blickte gleichzeitig zur Tür. »Ist sie es?«, fragte Jack und rannte durch die Halle. »William?«, rief Meg, als ob sie meinte, er könne sie nur verstehen, wenn sie laut sprach. »Wo bist du?« Jack nahm Meg den Hörer aus der Hand. »William?«, sagte er. »Was ist passiert? Wo bist du? Ich kann dich nicht hören! Will? Bist du da? William?« Er schüttelte den Hörer und rüttelte an der Gabel. »Es ist tot«, sagte er. Dann hob er den Hörer wieder hoch und brüllte »William! William! Er ist unterbrochen worden!«, sagte er enttäuscht. »Die Leitung ist tot. Was hat er gesagt, Meg?« »Tja, er hatte kaum angefangen zu reden. Ich habe diesen komischen Apparat bedient… und seine Stimme gehört. Er sagte: ›Wir haben sie gefunden…‹, und dann habe ich ihn nicht mehr gehört und du hast mir den Apparat aus der Hand genommen.« »Er hat sie gefunden?«, sagte Jack voller Erleichterung. »Gott sei Dank! Aber wo? Wohin wollten die Kinder gehen?« »Das weiß ich nicht, mein Lieber. Sie sind einfach nur rausgegangen. Ich glaube nicht, dass sie gesagt haben, wohin…« »Sie sind nicht einfach nur raus. Sie müssen nach Phoebe und Stephanie gesucht haben. Wo ist die nächste Telefonzelle?« »Das hängt davon ab, in welche Richtung man geht. Es gibt eine bei Mr. Jenkins’ Hof und eine in der Nähe von meinem Waldweg… Ich kenne keine anderen.« »Ich muss sofort zu beiden Stellen fahren«, sagte Jack und lief zurück zur Eingangs tür. »Ich versuche zuerst die bei Jenkins.« Als er durch die Tür hinausging, hörte Meg ihn rufen: »Was zur Hölle macht der denn hier?« »Wer denn?«, rief Meg und eilte hinter ihm her. »Darum musst du dich kümmern, Meg. Ich kann jetzt nicht hier bleiben.« Als Meg an der Haustür angekommen war, saß Jack schon auf seinem Motorrad und ließ den Motor aufheulen. »Nein, warte…«, rief sie hinter ihm her. Angst und Aufregung übermannten sie, denn da kam der Rolls-Royce der Crawdens die Einfahrt hochgefahren, und das Letzte, was sie wollte, war Henry Crawden allein gegenübertreten zu müssen. Aber Jack hatte sein Motorrad schon gewendet, fuhr einen großen Bogen um den Wagen
und schoss davon. »Nichts!«, rief William. »Nichts!« Er konnte einen Tränenkloß im Hals fühlen, der ihm die Stimme abschnürte. »Die Leitung ist tot! Was mache ich denn jetzt?« »Wir suchen Rattus Rattus«, krächzte Pica, die Elster des Magiers und hüpfte vor ihm auf die Straße. »Nein!«, William kämpfte mit den Tränen. Er war kurz davor, die Nerven zu verlieren. »Ich wollte, dass Jack weiß…« »Wir suchen Rattus Rattus«, beharrte Pica. »Er schmeißt hier den Laden. Er wird fuchsteufelswild, wenn wir nicht zu ihm gehen. Schluss jetzt mit den Diskussionen, kleiner Junge! Vertrau mir! Komm schon!« Bevor William eine Chance hatte, zu protestieren, wurde er von der Elster überwältigt und gezwungen seine Flügel auszubreiten. »Ist es weit weg?«, wisperte er. »Luftlinie nicht!«, antwortete Pica und krächzte ein hartes Lachen. Die Ratte, die an der Fußleiste gehorcht hatte, entspannte sich. Es war ein Kinderspiel gewesen, die Kabel durchzubeißen. Jetzt konnten die Menschen nicht mehr miteinander sprechen. Menschen verließen sich auf das Sprechen, es schien die einzige Art für sie zu sein, sich mitzuteilen. Arme Menschen! Je eher sie unterworfen würden, desto besser. Als sie über den Boden zur Tür schlich, konnte sie die alte Frau in der Eingangstür stehen sehen. Sie sprach mit einem Mann im Rollstuhl. Die Ratte blieb stehen, schätzte die Entfernung ab und schoss dann mit großer Kraft zur Tür und durch die Beine der alten Frau. Ihr gegenüber stand ein kleiner Junge neben dem Rollstuhl des alten Mannes. Das Kind fing an zu schreien. »Eine Ratte!«, heulte es. »Sie ist zwischen Ihren Beinen durchgelaufen!« »Nimm dich zusammen, Mark!«, sagte der alte Mann. »Summers«, rief er. Der Chauffeur, der an der Seite des Wagens lehnte, kam angerannt. »Fahren Sie mich zurück! Und du, Meg, komm mit uns. Wir müssen sie finden…« »Nein«, sagte Meg und trat einen Schritt zurück. Aber der alte Mann hielt sie mit einem Blick auf. »Meg«, sagte er sanft. »Lass uns die Vergangenheit begraben!
Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir müssen nicht den Rest unseres Lebens in seinem Schatten verbringen, oder?« Meg starrte Henry Crawden ernst an. Einen Augenblick lang konnte sie sein junges Gesicht sehen, das Gesicht, das ihr das Herz gebrochen hatte, das Gesicht, das sie immer noch liebte. »Wir haben nicht mehr viel von unserem Leben übrig, du und ich, Henry!«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Dann lass uns das Beste aus dem machen, was wir haben«, sagte Henry Crawden. Dann nahm seine Stimme einen sehr geschäftlichen Ton an. »Aber lass uns zuerst diese Geschichte hier klären.« »Wie?«, fragte Meg. »Wir finden die Kinder und sagen Mr. Green und seiner Frau, dass ein paar Ratten sie nicht von diesem Ort vertreiben sollten. Golden House braucht eine junge Familie. Es braucht Liebe und Pflege… es braucht sie. Summers! Holen Sie mich aus diesem verdammten Stuhl, Mann, und helfen Sie mir ins Auto!« Während der Chauffeur und der alte Mann die komplizierte, aber vertraute Übung meisterten, wandte sich der kleine Junge an Meg. »Kann ich manchmal kommen und mit ihnen spielen?«, fragte er. »Die Kinder sind nicht oft hier, Herzchen. Sie müssen zur Schule gehen.« »Ich meinte auch während der Ferien«, sagte Mark Crawden. »Ich denke schon, Herzchen«, sagte Meg und folgte ihm ins Auto. »Aber das musst du sie selbst fragen.« »Wohin, Meg?«, fragte Henry Crawden. »Four Fields«, sagte Meg ruhig. »Wir fangen oben in Four Fields an.« Als der Rolls-Royce auf der Einfahrt wendete, lief die Ratte auf dem Weg zu ihrer Armee schon zum Steilhang hinter dem Haus. Rattus Rattus hatte sich schwer verschätzt. Alle Zeichen deuteten daraufhin, dass der Feind bei Tageslicht angreifen würde. Er hatte nicht geglaubt, dass er das wagen würde. Er hatte den Befehl herausgegeben, dass die Truppen sich am Spätnachmittag bei der Eibe sammeln sollten. Jetzt musste er Kundschafter aussenden, die sie früher zusammenriefen. Die Situation war aussichtslos – und es war alles sein Fehler. Wütend und gereizt marschierte er auf und ab. Er wartete immer noch auf Nachrichten von den Kindern. Der Hund Sirius hatte ge-
meldet, dass Mutter und Kind vermisst würden. Alles geriet außer Kontrolle. Ich muss mich beruhigen, dachte er. Mit Panik im Herzen kann man keine Armee in die Schlacht führen! Den ganzen Morgen über hatte er unheilvolle Gerüchte gehört. Ein Igel war gesichtet worden. Ein Igel in dieser Jahreszeit! Er sollte seinen Winterschlaf halten und nicht draußen rumlaufen. Zwei Eichhörnchen hatten auf Leben und Tod gekämpft -Eichhörnchen gegen Eichhörnchen! Das ist Bürgerkrieg!, dachte er, machte kehrt und marschierte in die andere Richtung. Bürgerkrieg von der schlimmsten Sorte. Wenn ein Bruder gegen den anderen ist, wem soll man dann trauen? Er drehte wieder um und setzte seinen Marsch fort. »Du läufst noch einen Graben in meinen Fußboden«, sagte Trish, die Dächsin, zu ihm. Die Dachse hatten Rattus vorübergehend in ihrem Bau einquartiert. Obwohl sie sich eigentlich vor Ratten fürchteten, war er immerhin die Ratte des Meisters. »Wenn nur der Meister kommen würde«, sagte Trish. »Nicht möglich«, sagte Rattus ernst. »Diesen einen Kampf müssen wir alleine bestehen.« »Oje!«, sagte Trish und wunderte sich im Stillen, warum er so nervös war, wenn er doch die Leitung hatte. »Weil ich«, beantwortete die Ratte ihre Gedanken streng, »eigentlich eine Ratte zur See bin, Dachs. Gib mir ein paar Leute zum Entern eines Schiffes und du findest keinen besseren Führer.« »Naja«, sagte Trish, »dann tu doch einfach so, als ob du auf See wärst. Was immer ›See‹ ist!« Trish hatte noch nie ein Gewässer gesehen, das größer war als Golden Water, und war noch nie weiter als bis zum Blackscar Steinbruch gekommen. »Hast du nichts zu tun, das dringend erledigt werden müsste?«, fragte Rattus mit unterdrücktem Zorn. Die Dächsin schloss die Augen. »Ich könnte wohl ein bisschen schlafen«, sagte sie. »Schließlich ist es Tag. Eigentlich hält mich nur deine Herumlauferei wach.« »Dann schlaf, gutes Tier!«, sagte Rattus freundlicher. »Nur der Kapitän schläft nie! Und ich bin der Kapitän dieses Schiffs…« In seiner Fantasie fühlte er die salzige Gischt auf seinen Schnurrbarthaaren, hörte die Planken knarren und die Segel knattern. Für einen Moment stand er am Bug der »Revenge«, den Sturm im Rücken, und
Gottes mächtiger Wind blies die spanische Flotte um die Eddystone Felsen bis hinauf nach Start Point. Sein Kapitän, der große Drake, mit Hawkins auf der »Victory« und Frobisher auf der »Triumph«, holte die »San Juan de Portugal« ein und die erste Wunde war in die spanische Armada geschlagen. »Glückliche Tage!«, seufzte Rattus und begann leise zu singen: »Drake in seiner Hängematt’ ist tausend Meilen fort…« Und seine Schritte wurden leichter, bis er fast hüpfte vor Vergnügen und vor Aufregung herumwirbelte. Trish, die Dächsin, öffnete halb ihre Augen und sah ihm eine Weile zu. Dann lächelte sie. Ich lasse ihn besser in Ruhe, dachte sie, er hat einen großen Tag vor sich. Cinnabar sah den schwarzweißen Vogel aus dem Himmel auf sich zu stürzen, als er den steilen Abhang zum Dachsbau hochjagte. »Der Kampf beginnt!«, rief Pica. »Wir können sehen, dass der Feind sich in Four Fields sammelt! Dahin ist die Frau mit dem Baby gegangen und die Mädchen…« »Wo ist der Junge?«, fragte Cinnabar. »Ich bin hier, Cinnabar«, wisperte William. Dabei trennte er sich von Pica und stand vor dem Fuchs. Sie sahen sich lange an. Die Augen des Fuchses glommen wie Bernstein, unergründlich und durchdringend. »Hallo, kleiner Junge!«, sagte er. »Hallo, Cinnabar!« »Ich sage jetzt Rattus Rattus, wo der Kampf stattfinden wird«, krächzte Pica. »Trefft uns in Four Fields. Wir brauchen jeden, den wir auf treiben können…« Damit flog die Elster in Richtung Eibe und Dachsbau davon. »Ich dachte, du wolltest mein Freund sein«, sagte Cinnabar. Sein Atem dampfte in der kalten Luft. »Das bin ich«, keuchte William. »Du kommst nie zu mir«, sagte der Fuchs. »Ich habe immer so viel zu tun«, murmelte William. »Ich hatte noch nie einen Menschen zum Freund. Kann Menschen eigentlich nicht leiden. Außer dem Meister – aber er ist etwas anderes. Ich dachte, du und ich… Weißt du noch, wie wir durch den Schnee gerannt sind? Als das Baby auf die Welt kam?«
»Natürlich weiß ich das!«, sagte William. »Du hast an dem Tag mein Leben gerettet.« »Hab ich nicht.« »Doch. Ich wäre im Sturm erfroren.« »Ich dachte…« Der Fuchs hörte plötzlich auf zu sprechen und hob seinen Kopf. »Hör mal!« »Was?«, fragte William. »Hör hin!« William spitzte die Ohren und versuchte angestrengt das Geräusch zu hören, das Cinnabar so offensichtlich beeindruckt hatte. »Ich kann nichts hören«, sagte er schließlich… aber dann wusste er einen Moment später, was die Aufmerksamkeit des Fuchses gefesselt hatte. Der lange, klare Ton eines Horns. »Die Jagd beginnt!«, sagte Cinnabar. Dann drehte er sich wieder um und blickte tief in Williams Augen. »Nun, Junge. Willst du dich mit mir zusammen jagen lassen oder müssen wir uns wieder trennen?« »Ich bleibe bei dir«, sagte William, ohne zu zögern. »Gut!«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. »Wir führen diese Hunde an der Nase herum, ja? Du und ich? Wir zeigen ihnen Golden Valley!« Mit einem trotzigen Bellen stürzten er und William zusammen den Hügel hinunter auf das Geräusch des Jagdhorns zu. »Aber du läufst ja zu ihnen!«, keuchte William. »Aber sicher!«, kläffte Cinnabar. »Sie müssen doch wissen, wo wir sind, damit sie uns jagen können, oder nicht?« »Wollen wir denn gejagt werden?« »Wart’s ab!«, wisperte Cinnabar.
23 Der große Kampf Mary lief schnell durch das hohe Gras voran. Phoebe folgte ihr etwas langsamer, weil sie fürchtete, das Baby fallen zu lassen. Alice bildete die Nachhut, wie sie es vereinbart hatten, bevor sie losgelaufen waren. Es war ein einfacher Plan. Mary würde den Landrover als Erste erreichen, die Türe öffnen und den Schlüssel ins Zündschloss stecken. Dann würde sie auf den Rücksitz klettern, so dass sie Phoebe das Baby abnehmen und auf dem Sitz festschnallen konnte. Phoebe würde den Motor starten, während Alice zur Beifahrerseite laufen und sich neben sie setzen würde. Das war der Plan und sie versuchten nun ihn auszuführen. Aber als sie einmal den Schutz des Hauses verlassen hatten, schien er auf wackeligen Füßen zu stehen. Sobald Mary auftauchte, wuchs der Lärm der Vögel zu einem ohrenbetäubenden Getöse und das Kreischen und Piepsen der Tiere auf dem Boden bildete eine seltsame und unheilvolle Gegenstimme dazu. Dann löste sich eine Krähe vom Hauptschwarm und stürzte mit einem schrecklichen, wilden Krächzen kreischend und flügelschlagend vom Himmel. Mary warf die Arme über ihren Kopf und rannte ohne zu zögern weiter, aber Phoebe hinter ihr wurde langsamer, als sie ungläubig beobachtete, wie der Vogel mit aufgerissenem Schnabel und ausgestreckten Krallen auf Mary zuflog. »Pass auf!«, keuchte sie und stolperte, aber Alices verzweifelte Stimme hinter ihr trieb sie vorwärts. »Weiter, Phoebe!«, schrie Alice. »Lauf! Wir können jetzt nicht mehr zurück! Sie haben uns den Weg abgeschnitten…« »Was?«, japste Phoebe und blickte sich um. Das Gras hinter Alice wogte, als sauste eine Sense hindurch. Als Phoebe in Alices verzweifelt entschlossenes Gesicht sah, wandte sie sich wieder in Richtung Waldweg. »Mary ist schon fast da!«, rief Alice, um Phoebe und sich selbst Mut zu machen. Sie konnten sehen, wie Mary vor ihnen mit den Armen um sich
schlug, um die Angriffe des Vogels abzuwehren. »Hau ab, Krähe!«, knurrte sie. »Du und ich haben keinen Streit. Hau einfach ab!« Der Landrover kam jetzt in Sicht. Aber rechts von sich konnte Mary ein Eichhörnchen sehen, das leichtfüßig über den Boden auf sie zugetänzelt kam. Es war viel schneller als sie und schnitt ihr den Fluchtweg ab. »Verdammt!«, rief sie laut. »Was?«, fragte Phoebe. »Ist schon gut!«, antwortete Mary atemlos. »Sie kommen!«, rief Alice mit Panik in der Stimme. Ihr Aufschrei galt einer ganzen Schar bissiger Marder, die auf sie zustürzten und dabei vor lauter Aufregung übereinander purzelten. »Lauf, Mary! Bitte! Lauf!«, schrie Alice, als die japsende und kreischende Horde näher kam. Das Eichhörnchen drehte sich um und stellte sich Mary in den Weg. Es stand zwischen ihr und dem Landrover und blockierte ihr den Durchgang. Es hatte seine Vorderpfoten erhoben und schlug drohend mit dem Schwanz. Ach, komm schon!, dachte Mary. Es ist nur ein Eichhörnchen! Und als das bösartige Geschöpf sie ansprang, duckte sie sich schnell zur Seite, wich geschickt aus und rannte zum Landrover. Das Eichhörnchen landete direkt vor Phoebe und dem Baby auf dem Boden. Phoebe hielt Stephanie mit beiden Händen fest. Falls das Tier sie anspringen sollte, würde sie es nicht abwehren können. Sie schrie auf, bedeckte instinktiv den Kopf des Babys und lief einen Bogen, um dem Eichhörnchen auszuweichen. »Lauf weiter, Phoebe!«, zischte eine angespannte Stimme hinter ihr. »Ich habe es gesehen!« Und als das Eichhörnchen wieder losstürzte, sprang Alice mit einem Furcht erregenden Schrei, der sie selbst überraschte, darauf zu und schickte damit das zu Tode erschrockene Tier zurück in den Schutz seiner Freunde. »Gut gemacht, Alice!«, rief Phoebe und lief wieder weiter. »Also, wirklich!«, rief Alice. »Jetzt reicht es mir aber…« Sie drehte um und rannte direkt auf die Armee von Mardern zu, in der Hoffnung, sie auf die gleiche Art zu erschrecken. Aber in der Gruppe fühlten sich die Nager sicher. Es waren so viele, dass sie Alice noch nicht einmal zu bemerken schienen. Stattdessen sprangen sie um ihre Beine und schnappten nach ihr. »Mist!«, rief Alice. »Das war falsch!« Sie drehte um, trat mit den
Beinen aus und rannte so schnell sie konnte hinter Phoebe her. Dabei sprang der Marder an der Spitze der Meute an ihrem Arm hoch und versenkte seine Zähne und Krallen tief in den Stoff ihres Anoraks. »Geh runter!«, schrie sie und versuchte, ihn abzuschütteln. »Geh runter von mir! Geh runter!« Gerade als es so aussah, als ob dieser letzte Angriff Alice den Mut rauben würde, nahm sie neben sich eine Bewegung im Gras wahr. Mit einem schrecklich wilden Knurren erschien ein schwarzweißer Hund. »Spot!«, rief Alice. »Gott sei Dank!« »Nicht jetzt, Alice!«, bellte der Hund. »Spar dir deine Worte für später. Lauf zum Landrover und überlass das hier mir…« Seine Worte mündeten in wütendem Gebell und als Alice sich das nächste Mal umdrehte, wälzte er sich mitten in der Horde der Marder wild um sich beißend hin und her. Als Mary den Landrover erreichte, hörte sie Phoebe hinter sich ihren Namen rufen. Sie holte den Autoschlüssel aus der Tasche und streckte die andere Hand nach der Frau und dem Kind aus, um sie zu sich zu ziehen. »Nichts wie rein!«, drängte sie und schob sie beide in den Landrover. Sie knallte die Tür zu und rannte zurück zu Alice, die auf sie zugelaufen kam und immer noch versuchte den Marder von ihrem Ärmel zu schütteln. »Lass mich mal versuchen, Alice!«, schrie sie, packte das zappelnde und kreischende Geschöpf mit den bloßen Händen und zerrte es fort. »O Mary!«, jammerte Alice. »Es ist so widerlich!« »Reiß dich jetzt zusammen!«, rief Mary, schleuderte das Tier ins Gras und packte Alices Hand. Zusammen rannten sie den kurzen Weg zum Landrover und kletterten auf den Beifahrersitz. Sie knallten die Tür zu und ließen sich erschöpft keuchend zurückfallen. »Gib mir den Schlüssel, Mary!«, sagte Phoebe angespannt. »Der Schlüssel!«, jammerte Mary. Ihre Hände waren leer. »Ich hatte ihn noch, als ich dieses schreckliche Tier von Alice fortgezogen habe… O nein!«, stöhnte sie. »Was?«, schluchzte Alice. »Ich habe ihn nicht mehr. Ich muss ihn wohl… ich muss ihn wohl…« Sie starrte verzweifelt aus dem Fenster. »Muss ihn wohl was?«, flüsterte Alice.
»Mit weggeworfen haben, als ich den Marder von dir fortgerissen habe«, sagte Mary leise. »Was machen wir jetzt?«, wisperte Phoebe und wiegte die jämmerlich schreiende Stephanie in ihren Armen. »Wir müssen einfach warten«, sagte Mary. »Es tut mir Leid…« »War nicht dein Fehler«, sagte Alice, schob ihren Arm unter Marys und zog sie tröstend an sich. »Wenigstens können sie hier nicht rein. Oder doch?« »Wohl nicht«, antwortete Mary und durchwühlte weiter ihre Taschen in der Hoffnung, den Schlüssel zu finden. Dabei stießen ihre Finger auf einen Gegenstand. »Ich habe immer noch deine Kette, Phoebe«, sagte sie und holte den Anhänger hervor. »Mach dir jetzt darum keine Sorgen«, sagte Phoebe. »Heb sie einfach für mich auf.« O Mr. Tyler!, dachte Mary und hielt den Anhänger fest in der Hand. Ich wünschte, Sie wären jetzt hier! »Cervus!«, rief der alte Mann. »Komm zu mir, meine Gute. Wir müssen es noch ein letztes Mal versuchen.« Er stand am Tor zum Wald. Der erste Winterfrost hing noch in den Zweigen. Die Luft knisterte vor Kälte. »Master Tyler!«, rief Kate vom Haus. »Kommt herein! Kommt herein!« »Einen Augenblick, Kate«, rief der alte Mann. »Es ist so ein… herrlicher Morgen. Noch einen Augenblick! Wer weiß, wann ich wieder einen solchen Morgen erleben werde!« »Nun gut!«, hörte er die Stimme antworten. »Aber nicht zu lange!« »Liebe Kate!«, murmelte er. Dann erschien Cervus, ihr goldenes Band leuchtete im Herbstlicht. »Meine Cervus«, seufzte er und streichelte die Nase der Hirschkuh liebevoll. »Wir müssen gehen, meine Liebe«, wisperte er. »Die letzte große Schlacht wird geschlagen. Unser Platz ist dort, neben unseren guten Freunden.« Jack läutete bei den Jenkins’, nachdem er Phoebe und die Kinder nicht an der Telefonzelle gefunden hatte. Mrs. Jenkins war zu Hause, aber ihr Mann war draußen auf den Feldern. »Hat immer schlechte Laune, wenn die Hetzjagd losgeht. Einmal liefen die Hunde über unser Land. Wohlgemerkt, nur ein Mal! Aber ich habe noch nie jemanden so böse werden sehen wie Thomas! Er
schießt auch Füchse, aber schnell und sauber! Und diese Hunde, dieses Hetzen. Das ist wirklich schrecklich. Und überall machen sie so ein Durcheinander…« Jack erklärte, warum er gekommen war; dass Phoebe und die Kinder vermisst wurden… »Gleich, wenn Thomas zurück ist, suchen wir mit«, versicherte Mrs. Jenkins. Jack sagte ihr, dass er oben an der Telefonzelle bei Four Fields nach William suchen würde. Er war ziemlich sicher, dass William von dort angerufen haben musste, da er nicht bei den Jenkins war. »Sie finden sie sicher«, sagte Mrs. Jenkins auf dem Weg über den Hof zu seinem Motorrad. »Die Welt spielt im Moment verrückt. Meine Hennen greifen sich gegenseitig an. Ich habe so was noch nie gesehen! Ich musste die Hälfte von ihnen aussperren. Hab sie in einen anderen Pferch gesteckt. Sie waren wie besessen! Ein altes Bantamhuhn ging sogar auf mich los. Sehen Sie mal!«, sagte sie und zeigte Jack ihren Handrücken, über den ein von Jodsalbe glänzender, hässlich roter Kratzer lief. Jack versprach sie wissen zu lassen, wenn Phoebe und die Kinder wieder auftauchten, stieg auf sein Motorrad und startete es. »Jetzt sehen Sie sich das an!«, rief Mrs. Jenkins und zeigte auf den fernen Wald. Schwarze Wolken von Vögeln kreisten am Himmel, stiegen auf und ließen sich fallen. »Ich glaube wirklich, sie kämpfen miteinander! Irgendetwas Seltsames geht hier vor. Bestimmt die Umweltverschmutzung. Auch hier in Golden Valley leiden wir unter dem ganzen Dreck, mit dem sie die Luft verpesten!« Jack wendete sein Motorrad Richtung Wald und blickte grimmig in den Himmel. Mrs. Jenkins hat Recht, dachte er. Irgendetwas sehr Seltsames ging hier vor. Aber nicht nur Golden House war davon betroffen. Es war auch hier auf dem Hof der Jenkins’. Irgendwie tröstete ihn das. Pica blutete an einem Flügel und Falco, der Turmfalke, war am Kopf verletzt, aber sie hatten beide ihre Luftstreitkräfte in eine Art Ordnung gebracht und der Kampf lief gut für sie. Das lag teilweise am Mut ihrer Vögel, einem Erfolg des jahrelangen Trainings durch den Meister. Aber es war auch ein strategischer Schachzug, durch den sie die Oberhand gewannen, und es ärgerte Pica und Falco, zugeben zu müssen, dass Rattus Rattus (den die beiden unter normalen Umständen innerhalb von Sekunden gefressen hätten) dies schon vorausgesagt hatte. Ihre bloße Zahl würde für sie arbeiten, das hatte
er auch gesagt, und es sah so aus, als behielte er Recht. Denn die meisten Vögel des Meisters waren klein: Meisen, Finken, Amseln, Drosseln und ein paar Eulen und Graureiher. Allein hätten die meisten von ihnen keine Chance im Kampf gegen Mortens Truppen gehabt. Mortens Vögel waren große Schlägertypen: Krähen und Elstern, Tauben, ein paar abtrünnige Turmfalken und eine hartnäckige Hilfstruppe aus Staren. Aber in einem Gefecht dieser Größenordnung erwiesen sich die kleineren Vögel als viel erfolgreicher. Sie konnten unter die Flügel ihrer Gegner fliegen, waren viel beweglicher als die großen Vögel und konnten sich besser in Sicherheit bringen. Ihre Schnäbel waren zwar nicht annähernd so stark und ihre Krallen nicht so groß wie die ihrer Gegenspieler, aber dafür waren sie in der Lage, nahe an die Feinde heranzufliegen und sie zu überwältigen, indem sie ihre empfindlichsten Stellen trafen. Rattus hatte Pica und Falco gesagt, dass es so sein würde, nachdem er den beiden Vögeln gemeinsam die Führung der Luftstreitkräfte überlassen hatte und ihnen letzte Anweisungen gab. »Eure Schlacht kommt am nächsten an die Art Kampf heran, die ich gewöhnt bin«, sagte er. »Fliegen muss so ähnlich wie Segeln sein, nehme ich an. Einer der Gründe, warum wir die Spanier geschlagen haben, war, dass ihre Galeonen zu groß und unbeweglich waren. Die englischen Schiffe schlüpften unter ihren Kanonen durch. Die Spanier feuerten sie zu hoch. Wir kamen heran, nahmen sie unter Beschuss und verschwanden wieder. So wird es für euch sein. Lasst euch das gesagt sein! Wartet mal ab, ob ich Recht behalte! Aber, Jungs, vergesst niemals – unten auf dem Boden wird es ganz anders aussehen…« Und so war es auch. Mortens Landstreitkräfte waren zahlenmäßig zehnfach überlegen und übertrafen die des Meisters. Die Ratten bildeten den Kern von Mortens Armee, aber auch die Frettchen, Marder und Wiesel waren in großer Zahl zu seinem Lager übergelaufen. Mustel, das Wiesel, hatte Rattus erzählt, dass seine Schwestern und Brüder alle für Morten kämpften. »Sie wollten so etwas immer schon tun, Euer Ehren«, sagte er. »Sie sind ein gewissenloser Haufen, aber bis jetzt haben sie noch keine Gelegenheit gehabt, Farbe zu bekennen.« Rattus war es zusammen mit Rus, dem roten Eichhörnchen des Meisters, gelungen, ein paar Eichhörnchen für ihre Seite zu gewinnen, aber ebenso viele hatten sich auf Mortens Seite geschlagen. Die
seltsamen, fremden Tiere, die Nerze und Sumpfbiber – von denen es in der Gegend einige gab –, beteiligten sich bei Morten mit der Begründung, dass sie ja schon Außenseiter wären, und wenn sie diesen Kampf gewännen, dann könnten sie das Land als ihr eigenes fordern. »Das hat dieser Schuft von Ratte ihnen erzählt!« Rattus schäumte. »Ein Haufen Lügen! Ihnen Gott weiß was für Vorteile zu versprechen, nur, damit sie unter seiner Fahne kämpfen! Ich habe braune Ratten noch nie leiden können, aber die hier ist wirklich das Allerletzte! Der Assistent des Meisters hat sie trainiert – kein Wunder, dass sie jetzt zum Abschaum gehört.« Als Rattus Rattus Four Fields erreichte, war der Kampf schon in vollem Gang und es sah so aus, als ob Mortens Seite gewinnen würde. »Es ging los, als die Menschen das Haus verließen«, erzählte Mustel ihm. »Wir konnten die andere Seite nicht aufhalten. Sie waren sofort da. Wir haben uns zurückgehalten, weil wir auf dich gewartet haben, aber irgendwann mussten wir doch eingreifen.« »Wo sind die Menschen jetzt?«, fragte Rattus. »In dem Motording«, erwiderte Mustel. »Sirius, der Hund, bewacht sie und ein paar Eichhörnchen und Dachse helfen ihm dabei. Verdammt gute Kämpfer, diese Dachse! Ich bin wirklich beeindruckt!« »Ich wäre noch beeindruckter, wenn du damit anfangen würdest, selbst etwas zu tun, Mustel!«, fauchte Rattus. »Ja, Euer Ehren«, sagte das Wiesel etwas gekränkt. Es hatte schon drei Marder getötet und sich selbst höchstpersönlich das Eichhörnchen vorgeknöpft, das die Kinder angegriffen hatte. »Das ist so mies an dieser Welt!«, grummelte es. »Da tut man was und nichts als Undank ist der Lohn dafür… Undank…« Aber Rattus Rattus hörte nicht zu. Tatsächlich war er gar nicht mehr da. Er war mitten im Gefecht und wehrte von rechts und links Angriffe ab. Mortens Ratte war tief beunruhigt. Der Kampf auf dem Boden schien gut zu verlaufen – was jedoch ein bisschen schwierig abzuschätzen war, weil ein höchst unerfreulicher Mangel an Ordnung herrschte. Der Luftkampf dagegen, der bei ihren haushoch überlegenen Truppen ein leichter Sieg hätte sein müssen, lief überhaupt nicht nach Plan. Überall um sie herum wälzten sich verwundete oder fast tote Krähen und Stare flügelschlagend auf dem Boden. Und der Graureiher, den er überredet hatte mitzumachen, hatte sich schnells-
tens aus dem Staub gemacht, dieser Erzfeigling. Voll Zorn biss die Ratte den Kopf einer Wühlmaus ab und stellte erst danach fest, dass sie zu seinen Leuten gehört hatte. »Typisch!«, explodierte sie und wollte sich gerade wieder an der Schlägerei beteiligen, als vor ihr endlich das Tier auftauchte, das sie sich als ihre Trophäe des Tages auserkoren hatte. »Du, Ratte!«, schrie Mortens braune Ratte. »Du schwarzer Abschaum! Hier bin ich! Komm her, wenn du es wagst!« Rattus Rattus wirbelte herum. Er war an der linken Schulter verwundet, wo ein Kaninchen ihn gebissen hatte, und blutete über dem Auge aus einem Kratzer, den eine Frettchenkralle gerissen hatte. Er zwinkerte, um etwas zu sehen. Mortens Ratte stand nicht weit von ihm entfernt, offenbar unversehrt, und sein braunes Fell glänzte im Herbstlicht. »Du verlierst diesen Kampftag!«, rief Rattus. »Zieh deine Truppen zurück. Ergib dich, Ratte! Gib deine Niederlage zu!« »Niemals!«, zischte Mortens Ratte. »Wir haben euch. Sieh dich um. Ich kann deine Leute an einer Pfote abzählen. Wir sind Hunderte. Du wirst nie gewinnen. Ergib du dich…« In dem Moment rannte einer der Nerze mit gebleckten Zähnen auf Rattus zu. »Zurück, Tier!«, schrie die braune Ratte. »Der gehört mir!« Und ohne ein weiteres Wort warf sie sich auf Rattus und trat, biss und kratzte ihn wie verrückt. Rattus drehte und wandte sich. Er kämpfte um sein Leben. Als er tief in den Hals der anderen Ratte biss, fühlte er gleichzeitig einen Schmerz in einem seiner Vorderbeine. Aus ihren beiden Körpern begann Blut zu fließen und mischte sich, als sie sich in tödlichem Kampf auf der Erde wälzten. »Da sind sie!«, rief Meg, als der Rolls-Royce über den Waldweg holperte und der Landrover in Sicht kam. »Was macht der Hund da?«, fragte Henry Crawden. »Es ist mein Gypsy!«, rief Meg. »Er blutet überall…« Spot war erschöpft. Er hatte den Landrover von dem Moment an bewacht, als Alice und die anderen sicher darin saßen. Er hatte gegen Eichhörnchen und eine ganze Menge Marder und Wiesel gekämpft. Manche hatte er getötet, andere nur verwundet. Sie hatten ihn angegriffen, an seinem Fell gezerrt und ganze Büschel herausgerissen. Er war müde und schrecklich durstig. Mehr als alles in der Welt sehnte
er sich danach, sich hinzulegen… »Da kommt ein Auto!«, rief Phoebe aufgeregt. »Es ist Henry Crawden«, sagte Mary empört. »Er will wohl gaffen…« »Meg ist bei ihm«, flüsterte Alice, als das Auto neben ihrem zum Halten kam. »Ist alles in Ordnung?«, rief Henry Crawden, nachdem er das Fenster heruntergekurbelt hatte. »Endlich!«, rief Phoebe und die Tränen liefen ihr einfach so über das Gesicht, als sie aus dem Auto stieg. »Gott sei Dank, dass Sie da sind!« Im selben Augenblick begann Spot aufgeregt zu bellen. Im Arbeitszimmer des Meisters starrte Morten unaufhörlich in das Spiegelglas und versuchte seinen Geist stillstehen und seinen Körper durch die Zeit reisen zu lassen. »Ich will dort sein!«, flüsterte er eindringlich. »Ich will dabei sein!« Dann hielt er ein Stück Gold an einer feinen Kette hoch und zwang all seine Aufmerksamkeit auf die glänzende Oberfläche. Er hatte das Gold gemacht. Es war seine geheime Leistung. Es war ihm gelungen, Gold zu machen – also konnte er doch jetzt sicher durch die Zeit reisen…? »Ich will es! Ich will es!«, wisperte sein Geist gierig, aber das Pendel hing schwer und unbeweglich vor ihm. »Hör auf zu denken, Geist!«, rief Morten bitter enttäuscht. »Soll es mir denn nie gelingen?« »Ich will es! Ich will es«, wisperte sein Geist immer wieder. Morten ließ das Pendel auf den Boden fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich habe etwas begonnen, das ich nicht aufhalten kann«, rief er. »Gott im Himmel, vergib mir und schütze mich!« Sein Körper wurde von schmerzlichem Schluchzen geschüttelt. Cinnabar und William jagten die steile Böschung hinauf. Die Hunde waren schrecklich nahe. William konnte sie in den Bäumen hinter ihnen bellen und hecheln hören. »Die Jäger werden wütend sein!«, wisperte Cinnabar. »Sie hetzen uns lieber über die offenen Felder.« »Wohin laufen wir?«, keuchte William. Sie waren schon er-
schöpft und das Atmen schmerzte in den Lungen. »Zu einer Schlacht«, keuchte Cinnabar. »Wir kämpfen bei einer Schlacht mit.« Als Jack von der Straße in den Waldweg bog, hörte er den Lärm der Vögel und plötzlich packte ihn eine schreckliche Angst vor dem, was er entdecken würde. »Lass ihnen nichts passiert sein«, wisperte er in seinem Herzen. »Alle anderen Probleme kann man lösen. Aber bitte, lass Stephanie und Phoebe und den Kindern nichts passiert sein…« Als er um die Kurve raste, musste er das Motorrad herumreißen, damit er nicht mit dem Rolls-Royce und dem Landrover zusammenstieß. Rattus stemmte sich unter dem Gewicht des toten Rattenkörpers heraus. Der besiegte Gegner rollte zur Seite und zuckte noch einmal. An seiner Kehle klaffte eine blutende Wunde. »Arme Ratte«, sagte Rattus Rattus ruhig. »Vergib mir! Aber einen von uns musste es…« Mitten im Satz blickte er auf und horchte. Um ihn herum tobte der Kampf in der Luft und auf dem Boden weiter. Aber nicht der Kampflärm hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sondern der Ton eines Jagdhorns, und eine Sekunde später sprang Cinnabar, der Fuchs, über ein Gatter und landete auf der weichen Erde von Four Fields. »Sie kommen!«, rief er. »Die Hunde…« Dann endete Cinnabars scharfes, abgehacktes Bellen in einem überraschten Schrei. Denn plötzlich und völlig unerwartet lief eine rote Hirschkuh mit hoch erhobenem Kopf aus dem Wald, ihr glänzendes Fell vom Sonnenlicht beschienen. Ein seltsames, erwartungsvolles Schweigen senkte sich über das Feld. Das Bellen und Jaulen, Brummen und Kreischen der unzähligen Tiere ebbte nach und nach ab, als jedes von ihnen verwundert und ungläubig diesen Neuankömmling anstarrte. Sogar die Menschen schienen seine außergewöhnliche Anwesenheit zu spüren. Da streckte Stephanie, das jüngste und unschuldigste Wesen von allen, seine Hände zu der Hirschkuh aus und stieß ein hohes, seltsames und fröhliches Glucksen aus. Wie auf ein Signal hin setzte sofort der wilde und schreckliche Kampf wieder ein. Die Hirschkuh lief zu Phoebe und Stephanie, und im selben Au-
genblick ergossen sich die Hunde aus der schmalen Öffnung des Reitweges und sprangen über das Gatter, dicht gefolgt vom ersten Jäger, der schnell auf einem schwitzenden Pferd hinterhergaloppierte. Die Hirschkuh schwang herum, stellte sich der Meute entgegen und schnitt ihr den Weg zu Phoebe und Stephanie ab. Einen Moment lang sah es so aus, als würden die Hunde es nicht wagen weiterzulaufen. Sie standen mit erhobenen Köpfen dicht beisammen, bellten und knurrten. Dann erschien Cinnabar, William jagte hinter ihm her. »Nein, Cinnabar!«, schrie William. Aber der Fuchs stellte sich taub. Er lief pfeilgerade auf die Hundemeute zu und pflügte sich einen Weg hindurch, so dass sie nach ihm schnappten und bissen, während er sie von der Hirschkuh und den Menschen ablenkte. Nicht alle Hunde griffen den Fuchs an. Einige witterten die wilden Tiere um sich herum und verfolgten Kaninchen, Marder, Ratten und all die anderen Teilnehmer des Kampfes. Four Fields wurde der Schauplatz eines noch größeren Tumultes und Blutbades, als die Hunde durch Gras und Unterholz hetzten und jedes lebende Wesen, das sie trafen, packten und zerrissen. Der Jäger blies vergeblich in sein Horn. Manche der Hunde stürzten sich wild auf die Hirschkuh und zerrten mit Zähnen und Krallen an ihr. Aber sie war ihnen gewachsen. Sie wich zurück und lockte sie immer weiter weg von dem Ort, wo Phoebe mit Stephanie in den Armen stand. Als die Entfernung zwischen Hunden und Menschen groß genug war, schwenkte Cervus herum, sprang über einen Zaun und führte die Hunde vom Schlachtfeld fort. William stand inzwischen mitten in der Hundemeute und wehrte die Tiere mit beiden Händen ab. Vor sich konnte er den Fuchs sehen, einen Hund auf dem Rücken und einen anderen an seiner Kehle. »Lauf, Cinnabar! Lauf!«, schrie William. Aber als er sich wieder umdrehte, um seinen Freund zu verteidigen und eine neue Angriffswelle abzuwehren, peitschte ein einzelner Gewehrschuss durch den Tumult, so dass die Vögel aus den Bäumen aufstiegen und die Kaninchen in Deckung liefen. Ein überraschtes, schmerzliches Jaulen ließ William herumwirbeln. Cinnabar lag ausgestreckt auf dem rauen Gras. William sah, wie er aufhörte zu atmen und ein hässlicher roter Blutfleck auf seinem
Nacken entstand. Mr. Jenkins, der Farmer, stand mit noch rauchendem Gewehr über ihm und blickte den Meuteführer an. »Verschwinden Sie von diesem Land!«, brüllte er. »Ihr so genannter Sport ist vorbei. Der Fuchs ist tot. Also gehen Sie – und nehmen Sie Ihre Hunde mit! Gehen Sie!« »Cinnabar!«, schluchzte William. »Cinnabar! Sie haben dich getötet!« »Da oben ist noch die verwundete Hirschkuh«, rief der Meuteführer. »Wir können sie nicht einfach dalassen.« »Verschwinden Sie von diesem Land – jetzt!«, wiederholte Mr. Jenkins zornig. »William!«, rief Mary, lief zu ihm und warf die Arme um ihn. »Cinnabar«, schluchzte William und kniete sich neben seinen toten Freund. »Es ist vorbei«, flüsterte seine Schwester und hielt ihn fest in den Armen. »Die Hunde haben die Tiere vertrieben. Der Kampf ist vorbei, Will.« »Cinnabar!«, schluchzte William mit vor Kummer erstickter Stimme. »Komm, Herzchen«, sagte Meg sanft und nahm ihn in den Arm. »Alles vorbei. Ein schneller Tod! Ein schneller Tod!« »Er kam hierher«, keuchte William, »damit die Hunde ihm folgten. Er wusste, sie würden die anderen Tiere auseinander treiben. Er hätte leicht davonlaufen können. Er hätte… Wir hätten… Wir hätten davonlaufen können.« Meg und Mary hielten ihn beide fest. Alice stand ein wenig abseits, die Hände in den Taschen. Sie konnte es nicht ertragen, seinen Schmerz mit anzusehen. Jack kam zu ihnen und stellte sich neben Mr. Jenkins. Mark Crawden rannte erst voraus, blieb aber dann hinter Phoebe stehen, als sei er zu schüchtern. »Komische Sache, das Ganze«, sagte Mr. Jenkins zu Jack. »Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine Hirschkuh in diesen Wäldern gesehen habe. Das nächste Rudel ist auf der anderen Seite vom Wald, drüben in Wales. Aber wenn ich so drüber nachdenke, muss sie wohl irgendjemand gehört haben. Haben Sie es gemerkt? Sie hatte ein Band um ihren Hals. Ein goldenes Band! Das ist ziemlich seltsam.« Die Kinder wandten sich langsam um und hörten ihm zu. »Sind Sie sicher?«, fragte Mary.
»Absolut«, erwiderte Mr. Jenkins. »Hab es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich gehe sie mal besser suchen. Die meisten Hunde, die hinter ihr her waren, sind wohl zurückgekommen – aber Gott weiß, in was für einem Zustand sie ist. Ich muss sie erschießen, wenn es ihr schlecht geht…« »Komm mit, William!«, rief Mary. »Wohin geht ihr?«, rief Jack, als alle drei Kinder schnell auf das Gatter in der Hecke zurannten. »Die Hirschkuh retten«, rief Alice. Sie blickte zurück und sah, wie Spot hinter ihr herhumpelte. »Komm mit uns, Spot«, rief sie. Mach ich, dachte der Hund, aber ich hoffe, es ist nicht weit. »Stadtkinder!«, stellte Mr. Jenkins fest. »Haben ein zu weiches Herz. Wenn ein Tier verwundet ist, dann ist ein schneller Tod das Freundlichste, was man tun kann.« Die Erwachsenen gingen langsam zu ihren Autos auf dem Waldweg zurück. »Wie heißt das Baby?«, fragte Mark Crawden Phoebe schüchtern. »Sie heißt Stephanie«, antwortete Phoebe. »Stephanie«, sagte der kleine Junge und genoss den Klang des Wortes. »Das ist ein ulkiger Name!« »Ziemlicher Aufstand heute hier!«, brummte Mr. Jenkins. »Hab so was noch nie gesehen! Die Hetzjagd, die sind wir gewöhnt, aber all dieses andere…« »Es ist jetzt vorbei«, sagte Meg ruhig. Phoebe warf ihr einen Blick zu. »Ja«, sagte sie. »Ich spüre es auch! Als ob wir plötzlich befreit wären!« Und sie rückte Stephanie auf ihrem Arm zurecht und fühlte Jacks Hand in ihrem Nacken. »Bist du in Ordnung?«, flüsterte er. Sie nickte, sagte aber kein Wort, weil sie sonst vor Erleichterung sofort in Tränen ausgebrochen wäre. »Es ist alles vorbei«, wiederholte Meg flüsternd. Als sie aufblickte, sah sie Henry Crawdens Augen auf sich gerichtet. Sie lächelte ihn an und nach einem kurzen Moment lächelte er zurück. »Lasst uns nach Hause gehen«, sagte Jack. »Die Kinder…«, widersprach Phoebe und blickte zurück. »Sie kommen, wenn sie bereit sind«, sagte Jack. »Es geht ihnen gut.« Die Jäger waren verschwunden, die Hunde auch. Überall auf dem Feld lagen tote Tiere.
»Sehen Sie sich diese riesige, braune Ratte an!«, rief Mr. Jenkins. »Haben Sie schon mal so eine große gesehen? Ich gehe jetzt auch mal besser. Was immer die Kinder sagen, diese Hirschkuh wird mir dankbar sein, wenn ich sie erlöse. Wiedersehen!« Er winkte ihnen zu und ging steifbeinig über das Feld in die Richtung, die die Kinder genommen hatten.
24 Der Energiekreis Spot lief mit der Nase am Boden schnüffelnd voraus. Obwohl sein Körper an so vielen Stellen schmerzte, tat es ihm gut, sich wieder frei zu bewegen und sich nicht mehr verteidigen zu müssen. Es half ihm dabei, nicht mehr über die Freunde nachzudenken, die jetzt nicht mehr da waren. Er jaulte kurz auf, als er sich daran erinnerte, wie Cinnabar auf der Erde gelegen hatte. So schnell war er kalt und tot gewesen! »Hierher!«, rief er und wischte das Bild aus seinem Kopf. Die Spur führte nach Golden Water. Aber in seinem Herzen wusste Spot, dass dieser Weg auch zum Silbernen Pfad führte, diesem dunklen und schrecklichen Pfad, auf den sich seine Freunde und Verwandten zu ihrer letzten Ruhe begaben. Der Boden roch hier nach Tod und er fürchtete sich davor, was er am Ende finden würde. »Cervus kann nicht weit gegangen sein«, sagte Mary. »Die Hunde haben sie übel zugerichtet.« William warf einen Blick über seine Schulter und Alice, die direkt hinter ihm lief, holte schnell auf und legte einen Arm um ihn. »Geht es?«, flüsterte sie. William schüttelte den Kopf. »Warum musste das passieren?«, fragte er. »Warum? Und warum Cinnabar?« »Ich weiß nicht«, sagte Alice. »Es war nicht nur Cinnabar… Wie viele von uns sind noch getötet worden? Wenigstens hast du versucht zu helfen, Will. Mary und ich haben bloß in diesem Landrover gesessen… und zugeguckt. Sieh dir Spot an – wie schlimm er aussieht! Aber ich habe nichts getan, um ihm zu helfen. Ich hatte zu viel Angst. Ich habe bloß dagesessen…« »Hört auf damit, alle beide!«, sagte Mary streng. »Das ist vorbei. Wir müssen uns jetzt um wichtigere Dinge kümmern.« Vor ihnen blieb Spot plötzlich stehen, hob seinen Kopf und richtete den Blick in die Ferne. »Was ist los, Spot?«, fragte Mary und lief zu ihm. »Mehr Blut«, sagte der Hund nachdenklich. »Da vorne ist nicht
nur ein Tier. Kommt mit!« Er schwenkte nach links und lief am Seeufer entlang zum Stehenden Stein. Um sie herum strahlte der Tag. Das Licht glitzerte auf der Wasseroberfläche und der Himmel spannte sich blau und wolkenlos darüber. Die Luft roch nach Holzfeuern und feuchter Erde. Herbstblätter glühten in Rostrot, Braun und Orange an den Zweigen und lagen in großen Hügeln unter den Bäumen. Die Sonne schien warm vom Himmel. Dünne Nebelschwaden schwebten über dem Wasser und winzige Wellen plätscherten gegen die glänzenden Felsen. »Es ist so ein wunderschöner Tag!«, sagte Mary traurig. »Und so ein wunderschöner Ort!«, fügte Alice hinzu. Aber William starrte nur über den See und schüttelte den Kopf. Sein Herz war so voll Kummer, dass er nicht sprechen konnte. Wenn er es getan hätte, dann hätte er die Sonne verflucht, weil sie schien, und den Morgen, weil er so strahlend war. Irgendwie verstand Alice sein Schweigen. Sie legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihn an sich. Vor ihnen bellte Spot ein Mal. Ein scharfes, aufgeregtes Bellen. Mary lief zu ihm. Der Hund stand da mit gesenktem Kopf und eingeklemmtem Schwanz. »Was ist los?«, rief sie. Als sie bei ihm ankam, sah sie ein Eichhörnchen auf dem Boden liegen. Einen Augenblick lang fühlte sie Panik in sich aufsteigen, denn sie erinnerte sich an das Geschöpf, das sie auf dem Weg zum Landrover überfallen hatte. Als sie aber näher hinsah, erkannte sie, dass dieses Tier anders aussah. Sein Fell glänzte braunrot. »Es ist Rus!«, rief sie den andern zu, während sie zu ihm lief. Das Eichhörnchen des Magiers war in schlechtem Zustand. Von einem großen Kaninchen war es böse zugerichtet worden und eine Krähe hatte mit ihrem scharfen Schnabel seinen halben Schweif abgehackt. Ein Wunde klaffte an der Seite und es hatte viel Blut verloren. Als Mary es aufhob, fühlte sie, wie sein Körper sich versteifte, als ob es sich auf noch einen weiteren Kampf einstellte. Aber als es Mary erkannte, seufzte es und lag regungslos in ihren Armen. »Wir müssen uns beeilen!«, sagte Spot. Er zwang seinen müden Körper rasch weiter. Sie erreichten das Ende des Sees und begannen den Hügel zum Stehenden Stein und der Eibe dahinter hinaufzuklettern. Cervus hatte den Stein fast erreicht, war aber dann zusammen-
gebrochen. Die Hunde hatten mit Klauen und Zähnen so gierig an ihr gerissen, dass sie am ganzen Körper offene Wunden hatte. Sie lag verzweifelt hechelnd am Boden und hatte ihren Kopf zwischen die ausgestreckten Vorderbeine gelegt. Stephen Tyler, der Magier, saß neben ihr auf der Erde, hatte einen Arm um ihren Nacken gelegt und mit dem anderen abgestützt. Er konnte jede ihrer Wunden an seinem eigenen Körper spüren und fühlte sich so kraftlos wie sie. »Meine Gute«, flüsterte er. »Ist das unser Ende? Hört hier alles auf? Lass uns nach Hause gehen, Cervus. Komm, meine Gute… Steh auf! Steh auf!« Aber der Magier hatte nicht mehr die Kraft, selbst aufzustehen, und die Hirschkuh blieb regungslos liegen. »Wir müssen nach Hause gehen«, wisperte er. »Wenn wir hier in einer anderen Zeit sterben, werden wir zu Geistern. Komm, meine Cervus! Ich werde dich nicht verlassen. Komm jetzt…« Mary dachte zuerst, es läge am Licht, ein Schatten würde auf den Boden geworfen. Ein unwirklicher Schatten, fast ein Traum… »Mr. Tyler?«, wisperte sie. »Wo?«, fragte Alice und dann sah sie ihn auch. »Sieh mal, Will!«, rief sie und zeigte auf den Stein. Die Kinder und Spot rannten los. Zuerst schien Mr. Tyler sie nicht sehen zu können. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und seine Augen starrten ins Leere. »Mr. Tyler!«, rief Mary, als sie ihn fast erreicht hatte. »Komm, Cervus! Komm!«, hörten sie den alten Mann murmeln. Er versuchte wieder aufzustehen, fiel aber stöhnend zurück auf den Boden. Die Kinder sahen kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn hervortreten. Seine Augenlider zitterten, als ob er gleich einschlafen würde. »Spot«, flüsterte Alice, »hilf ihm bitte!« Vor lauter Tränen konnte sie kaum mehr sprechen. Aber Spot war selbst völlig erschöpft auf dem Gras zusammengebrochen und konnte keinen Schritt mehr weiter. Also ging Mary, die immer noch Rus in ihren Armen trug, auf den alten Mann zu. »Wir müssen uns beeilen!«, sagte sie fest. »Wenn Mr. Jenkins uns findet, dann erschießt er Cervus.« Sie legte Rus nahe bei Stephen Tyler auf den Boden. Diese Bewegung schien ihn zu wecken. Er öffnete seine Augen, streckte die Hand aus und fühlte den steifen, kleinen Körper neben sich. »Rus?«, wisperte er. »Bist du das?« Das Eichhörnchen robbte voran, bis es dicht neben dem alten
Mann lag. »So viele Verwundete!«, seufzte Stephen Tyler. »Was müssen wir tun?«, fragte Mary und kniete sich vor ihn hin. Er öffnete wieder die Augen und blinzelte sie an, als ob das helle Licht ihn blendete. »Wer ist da?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Mary sanft. »Wir sind es, William, Alice und ich. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.« »Ah!«, seufzte der alte Mann und nickte. »Gut! Gut!«, wisperte er. »Ihr wisst, was zu tun ist, ihr Constant-Kinder.« Dann riss er seine Augen auf und starrte sie grimmig an. »Lasst uns nicht in eurer Zeit sterben, was immer auch geschieht! Wir wollen nicht für den Rest der Ewigkeit in Golden Valley herumspuken. Hört ihr mich? Bringt uns jetzt nach Hause! Das ist eure Aufgabe! Ihr wisst, was zu tun ist!« »Wir müssen ihn irgendwie zurückbringen«, sagte Mary nachdenklich zu sich selbst. »Sie alle«, stimmte William zu und holte das Pendel aus seiner Tasche. Als die Sonne auf das Gold schien, ließ ein Schrei sie aufblicken. »Wartet!«, rief eine Stimme aufgeregt. »Geht noch nicht!« Mary blickte überrascht hoch. »Jasper?«, rief sie. Die große Eule stürzte flügelschlagend und mit den Klauen voran aus dem Himmel. Zwischen ihren Krallen hielt sie gut sichtbar eine schwarze Ratte, deren Farbe man noch erkennen konnte, obwohl ihr Körper von Wunden übersät war. »Er hat Rattus bei sich!«, rief Alice. »Habe dieses arme Geschöpf langsam wie eine Schnecke herumhumpeln sehen«, verkündete Jasper und legte die Ratte neben Stephen Tyler auf die Erde. »Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, hätte wer weiß was passieren können…« »Schuft!«, piepste die Ratte. »Rüpel! Unerhörter Feigling! Wo warst du, Eule, als deine Freunde dich brauchten? Wo warst du, als Pica den Angriff befehligte und Falco die Truppen sammelte?« »Da hab ich meine Pflicht getan«, erwiderte Jasper, schloss seine Augen zur Hälfte und zog geringschätzig die Schultern hoch. »Was hast du denn getan?«, fragte Rattus. Er krabbelte auf seine vier Füße und baute sich vor dem Vogel auf. »Den ganzen Tag Tote und Sterbende von den Lebenden und
Verwundeten getrennt, wenn du es unbedingt wissen willst!«, antwortete Jasper gereizt. »Sanitäterdienst! Arbeit für das Rote Kreuz!« »Was ist das für ein Geschwafel?«, donnerte die Ratte. »Du bist ein Feigling, mein Guter! Du hattest zu viel Angst, um mitzumachen. Und das ist die Wahrheit…« »Rattus«, sagte Stephen Tyler ruhig. »Jetzt ist es genug! Wir können nicht alle die geborenen Kämpfer sein, so wie du zum Beispiel.« »Ich bin kein geborener Kämpfer«, erwiderte Rattus. »Wenn ich noch mal die Wahl hätte, dann würde ich Schauspieler. Donnernder Applaus aus dem Parkett und von den Rängen… gleißendes Licht… Obwohl ich mich zweifellos immer nach dem Geruch des Meeres gesehnt habe… Aber egal wie, ich habe heute wenigstens meine Pflicht getan…« »Ihr habt alle eure Pflicht getan«, beteuerte der alte Mann. »Und wenn ich nicht da gewesen wäre, Ratte«, fuhr Jasper hastig dazwischen, »würdest du immer noch völlig beduselt herumirren und nach dem dunklen und schrecklichen Pfad suchen.« »Ich bin nicht herumgeirrt!«, rief Rattus Rattus. »Ich gebe zu, ich war erschöpft. Ich war zerschlagen und verwundet, das gebe ich auch zu. Aber ich wusste genau, wo ich war…« »Also, du wärst jetzt nicht hier, wenn ich dich nicht gesehen und aufgesammelt hätte – statt dich zu fressen, was ich sehr wohl hätte machen können!« »Ja, genau!«, kreischte Rattus. »Das hätten wir ja auch gar nicht anders von dir erwartet, was? Dieser ganze Tag war mehr ein netter Ausflug für dich, was…?« »Wenn du das noch mal sagst«, schrie die Eule wütend, »werde ich…« »Jetzt hört sofort auf!«, rief Mary. »Alle beide! Wir haben genug Zank und Streit gehabt! Hört sofort beide damit auf, bitte!« »Also, ich habe bestimmt nicht damit angefangen«, zischte Jasper. »Mary, mein Kind«, murmelte der Magier, »bringst du uns jetzt nach Hause oder lässt du uns hier langsam sterben?« »Wir bringen Sie nach Hause«, antwortete Mary. »Wir brauchen nur ein bisschen Hilfe.« »Du weißt, dass ich euch helfen werde«, flüsterte der alte Mann. »Dann sagen Sie uns«, bat Mary, »was wir tun sollen.« »Was ihr immer tun müsst«, erwiderte er. »Alle Kraft für die bevorstehende Aufgabe sammeln und auf nichts anderes achten.«
William stand auf und blickte mit dem Pendel des Magiers in der Hand auf den Stehenden Stein. »Wenn ich den Stein berühre«, sagte er nachdenklich, »und du, Alice, hältst meine Hand und streckst deinen anderen Arm, so weit du kannst… Kannst du dann Cervus erreichen?« »Gerade so eben!«, sagte Alice, die es sofort ausprobierte. »Wenn dann Mr. Tyler wie jetzt Cervus mit einer Hand berührt und Rus mit der anderen… Und Rattus, wenn Rus sich an deinem Schwanz festhält…« »Stets zu Diensten!«, sagte die Ratte, drehte sich um und streckte dem Eichhörnchen ihren Schwanz entgegen. »Und… Mary«, fuhr William fort und streckte seine Arme zwischen dem Stein und Alice so weit aus, wie er konnte, »wenn du Rattus’ Vorderpfote anfasst… kommst du dann noch mit der anderen Hand bis an den Stehenden Stein hier neben mir?« Mary versuchte es, aber es war unmöglich. Sie konnte sich noch so sehr strecken, den Stehenden Stein erreichte sie nicht. »Warum machen wir das überhaupt?«, fragte Alice, die ihre Arme zwischen William und Cervus weit ausbreitete. »Ich dachte, wenn wir mit dem Stehenden Stein einen Kreis bildeten, könnten wir… irgendwie… die Energie bündeln, damit sie uns bei der Zeitreise hilft…«, erwiderte ihr Bruder. »Sehr gut, William!«, murmelte der Magier. »Eine exzellente Idee. Es wird nicht gehen, aber es ist ein großartiger Versuch!« »Warum wird es nicht gehen?«, fragte William. »Du versuchst zu viele Wesen auf einmal durch die Zeit reisen zu lassen«, antwortete der alte Mann. »Die Erdenergie, die durch diesen Stein geht, ist sehr stark, das kann ich dir versichern. Aber meine Kräfte lassen nach und du wirst eine viel größere Magnetkraft brauchen, als das Pendel bieten kann…« »Wenn ich mich auf den Boden lege«, verkündete Mary, »und wenn du, Rattus, meinen Fuß berührst…« »Wird sofort erledigt«, piepste die Ratte. »… dann kann ich… ihn gerade erreichen!«, rief Mary triumphierend. Sie streckte sich aus und ihre Fingerspitzen streiften die raue Oberfläche des Steins. »So!«, sagte der Magier fast amüsiert. »Der Kreis ist vollkommen! Aber es wird immer noch nicht gehen, fürchte ich. Es wäre perfekt, wenn wir zu zweit oder zu dritt wären. Aber wir sind zu viele…«
Da erinnerte sich Mary an Phoebes Halskette, die sie immer noch sicher in ihrer Hosentasche verwahrte. »Aber wenn wir zwei Pendel hätten«, sagte sie und holte den Anhänger aus ihrer Jeans. »Ah!«, sagte der Magier. »Das wäre etwas ganz anderes!« »Was ist mit uns?«, schrie Jasper und nickte hinüber zu Spot, der sie mit schief gelegtem Kopf aus einiger Entfernung beobachtete. Aber Jasper hätte genauso gut mit sich selbst reden können, denn der Kreis der Freunde war verschwunden und er und Spot saßen auf einmal allein im glänzenden Gras am Seeufer.
25 Ein Spaziergang durch den Wald Der Tag war kalt. Es fror nicht mehr, aber der Boden war immer noch hart und das Gras knirschte unter ihren Schritten. Der alte Mann konnte laufen, wenn auch nur langsam, aber Cervus mussten sie am See zurücklassen. Rus wollte auch dort bleiben. Seine Kraft kehrte nach und nach zurück und er wollte irgendwie sein eigenes Nest erreichen. »Ich fühle mich oben in einem Baum wohler«, erklärte er. »Ich schicke später jemanden, der nach dir sieht«, flüsterte Stephen Tyler seiner geliebten Hirschkuh ins Ohr und streichelte ihren Kopf. Nur widerwillig ließ er sich von den Kindern weiterdrängen. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Mary. »Sie haben selbst nicht viel Kraft.« »Kraft genug«, sagte der alte Mann, richtete sich auf und sog die kalte Luft tief ein, während er sich auf ihre Schulter stützte. Rattus humpelte neben ihnen her, bis Alice seinen Zustand nicht mehr übersehen konnte. Sie beugte sich hinunter und fragte ihn mit ihrer höflichsten Stimme, ob er sich gerne von ihr tragen lassen wollte. »Das wäre sehr freundlich«, erwiderte die Ratte. »Und überraschend großzügig von dir!« Also hob Alice ihn ziemlich nervös hoch und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg. »Warum legst du mich nicht an deine Schulter?«, fragte Rattus. Und als sie das getan hatte, kuschelte er sich an sie und sie konnte seine Barthaare an ihrer Wange kitzeln spüren. »Das Leben ist schon eine komische Sache«, piepste er ihr ins Ohr. »Früher hast du mein Volk missverstanden. Früher hast du Ratten noch nicht mal gemocht. Und jetzt… sind wir die besten Kumpel!« Alice ging unverdrossen weiter, ohne ihn anzusehen. Es stimmte schon, sie mochte Rattus Rattus jetzt, aber sie konnte nicht völlig vergessen, dass er eine Ratte war, und als solche ängstigte er sie immer noch. William und Mary stützten Stephen Tyler. Während sie langsam
durch den herbstlichen Wald bis zur Eibe und weiter zum Waldrand gingen, blieb der Magier immer wieder stehen und betrachtete alles genau. Später erinnerte sich Mary, dass es schien, als wollte er alles noch ein letztes Mal sehen, die Schönheit um ihn herum aufsaugen, die warme Sonne und die kalte Luft auf seiner Haut fühlen, den Geruch der feuchten Erde und der faulenden Blätter riechen, die Vögel aus voller Kehle den Tag bejubeln hören. Oben auf dem Hügel bei der Eibe machte er eine längere Rast. »Welchen unserer magischen Plätze in unserem magischen Tal mögt ihr am liebsten?«, fragte er sie. Alice antwortete, ohne zu zögern. »Das Baumhaus«, sagte sie. »Ich mag es, weil es darauf wartet, dass man es entdeckt, und weil es so gut versteckt ist. Ich bin gerne oben, wenn es ganz leicht im Wind schaukelt. Ich mag es, wenn die Fenster offen sind und man den Himmel durch die Zweige sehen kann. Ich mag die Aussicht und die Sicherheit da oben. Ich liebe das Baumhaus einfach«, beendete sie ihre Rede atemlos. Der alte Mann nickte und strich ihr mit der Hand über die Wange. »Minima!«, sagte er sanft. »Als ich dich zuerst kennen lernte, habe ich dich Minimus genannt! Ich habe dich beleidigt. Ich gab dir die männliche Form des Wortes – weil ich glaubte, ein Mädchen wäre für mich nicht von Nutzen! Auch noch zwei Mädchen! Nun, ich bin ein dummer, eigensinniger alter Mann und ihr habt mir alle eine Menge beigebracht! Du bist ein Teil von mir, Minima. Und du bist mir sehr lieb und teuer.« Alice schluckte und machte einen Schritt zurück. Sie kam sich ein bisschen dumm vor. Das ging ihr immer so, wenn sie besonders herausgestellt wurde und aller Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war. »Ich glaube, ich mag die Gegend um den See am liebsten«, sagte William leise, »und die Höhle hinter Golden Spring am allermeisten. Sie ist so versteckt, und als Sie uns die Zeichnungen an der Wand gezeigt haben… war sie irgendwie etwas Besonderes.« »Sie ist etwas Besonderes«, stimmte der Magier zu. »Und nur die, die selbst etwas Besonderes sind, werden sie jemals finden. Ich halte den See auch für einen ausgesprochen guten Ort. Wasser ist eins der ursprünglichsten Wunder. Wasser ist der Lebensspender. Wasser ist sich offenbarende Lebensenergie. Versucht Wasser in den Händen zu halten, und es wird euch durch die Finger rinnen. Versucht das mit dem Leben und das Gleiche wird geschehen. Man kann Wasser
nicht festhalten. Man kann das Leben nicht festhalten. Ohne Wasser gäbe es keine Schöpfung – und die Schöpfung währt. Auch jetzt. Seht euch um! All eure Erinnerungen an das Gestern sind nur Träume von heute. All euer Hoffen und Streben für das Morgen sind nur Fantasien von heute. Dieser Augenblick… ist schon vorbei…«, sagte er und winkte ihn mit der Hand fort. »Den kommenden Augenblick… gibt es noch gar nicht. Was bleibt uns also übrig, William?« William zuckte die Schultern. »Komm schon, Junge! Du weißt die Antwort. Wenn die Vergangenheit nicht mehr da ist und die Zukunft immer erst noch kommt… Was bleibt uns dann übrig?« »Die Gegenwart«, sagte William ruhig. »Das Jetzt.« »Jetzt!«, rief Stephen Tyler. »Das ist die einzige Zeit, die es gibt. Jetzt! Wie lange ist ein Augenblick? Wie lange ist das Jetzt? Ein Bruchteil einer Sekunde? Vielleicht sogar kürzer? Jetzt… ist vorbei. Jetzt ist… jetzt! Jetzt… ist wieder vorbei! Wie lange ist das Jetzt, William?« William zuckte wieder die Schultern. »Wenn Sie es so sagen«, meinte er, »klingt es, als ob es nur das Jetzt gibt. Als ob es so lange wie für immer ist…« »So lange wie die Ewigkeit!«, rief Stephen Tyler. »So kurz wie die Zeit! Das ist richtig. Es gibt nur das Jetzt. Macht euch nicht zu viel Sorgen um die Zukunft. Bedauert nicht zu sehr die Vergangenheit. Erinnert euch mit Freude und blickt mit Interesse nach vorn. Seht, fühlt und seid hier… im Jetzt!« Er betonte das Wort plötzlich nachdrücklich. Der Klang seiner Stimme war laut und klar und ließ jedes der Kinder überrascht aufblicken. Der alte Mann lächelte sie an und nickte. »Seht ihr? Jetzt! Und ihr seid… unsterblich! Jetzt! Und ihr seid… unbesiegbar! Jetzt! Und ihr seid… in Harmonie mit dem Tag, mit der Welt der Natur, mit der ganzen Menschheit. Das ist das einzige Geheimnis, das ihr braucht. Damit kann man durch die Zeit reisen. Damit kann man Berge versetzen. Damit kann man Gold machen… Gold… sein. Konzentriert eure Aufmerksamkeit immer dichter auf das Zentrum des Jetzt und ihr werdet riesige Räume und grenzenlose Horizonte finden. Seid nur hier – im Jetzt – und ihr werdet alle drei Gold sein! Dann ist die Alchimie vollendet. Die Schlacke löst sich und die Wahrheit, die Reinheit im tiefsten Innern eines jeden Einzelnen von uns kann enthüllt werden. Das ist alles. Das ist die Arbeit, mit der wir uns beschäftigen. Berührt nur immer weiter das wahre Zentrum… das Gold…« Er senkte seine Stimme zu
einem so leisen Flüstern, dass es fast wie ein Ausatmen klang, und sagte noch einmal: »Jetzt!« Die Vögel sangen laut und das Sonnenlicht blinkte durch die spärlichen Blätter und die schwankenden Zweige. Aber jetzt schien es, als ob die lebendige, atmende Welt nicht draußen war, sondern ein Teil von jedem von ihnen, und dass auch sie ein Teil von dem waren, was sie sehen und fühlen konnten. Was sie sahen, war in jedem von ihnen, aber genauso auch da draußen. Es gab weder Anfang noch Ende für Williams Geist oder Marys Geist oder Alices Geist. »Alle zusammengefügt!«, sagte der alte Mann, der ihre Gedanken hörte. »Keine Trennung! Alle sind eins!« Dann lachte er leise. »Was für eine wundervolle Sache ist es doch, wenn dieser kleine Geist still wird und wir hören, sehen, riechen, fühlen und schmecken können…Jetzt!« Wieder schwiegen sie für eine Weile. »Also, Mary«, sagte der alte Mann zu ihr, »welches ist dein Lieblingsort?« Mary hatte sich davor gefürchtet, dass er sie fragen würde, weil sie keine Antwort darauf wusste. Sie fühlte, wie ihre Wangen rot und heiß wurden, und wandte ihr Gesicht von ihm ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Wir sind noch nicht überall gewesen«, sagte sie. Über das Tal hinweg auf der anderen Seite von Golden House konnte sie den seltsamen v-förmigen Einschnitt zwischen den Bäumen sehen, wo die mittlere, geheimnisvolle Energielinie das Tal verließ. »Zum Beispiel waren wir noch nicht da hinten«, sagte sie. »Es muss immer etwas geben, wohin man noch gehen kann«, sagte der alte Mann ruhig. »Wenn du schon überall warst und schon alles getan hast, besteht die Gefahr, dass du vor deiner Zeit stirbst!« »Was ist da hinten, frage ich mich?«, sagte Mary zu sich selbst. »Größere Wunder, als du jemals erträumt hast!«, sagte Stephen Tyler, und als Mary ihn ansah, merkte sie, dass er sie anlächelte. »Wo ist dein Lieblingsort?«, wiederholte er sanft. Er sah sie so freundlich an. Sein Gesicht war faltig und liebevoll, seine Augen weniger strahlend, als sie erwartet hatte, sein rotes Haar von Silber durchzogen. Sie merkte plötzlich, dass er ein sehr alter Mann war. Diese Entdeckung ließ sie den Atem anhalten. Es war fast so, als sähe sie ihn das erste Mal an, als ob sie ihn vorher nie wirklich gesehen hatte. Er war kein Traum und auch keine Vision. Er war aus Fleisch und Blut. Und sie hielt den Atem an, als ihr das klar
wurde. Es war so, als ob das einfache Sehen eine völlig neue Erfahrung für sie war, als ob ihre Augen sich das erste Mal geöffnet hätten. Sie sah die Beschaffenheit seiner Haut, und wo jedes Haar aus dem Kopf wuchs. Sie sah seine Wimpern, seine feinen, gebogenen Brauen, seine dünnen Lippen. Eine Ader klopfte an seiner Schläfe und sie konnte hören, wie er durch halb geöffnete Lippen ausatmete. »Ich finde es da am schönsten, wo Sie sind«, sagte sie still. »Und ich finde es am schönsten, wenn du da bist«, erwiderte er leise. »Meine Mary, die mich daran erinnert hat, dass die Liebe ein Teil der Ewigkeit ist, dass sie nicht sterben kann, dass sie nicht fortgehen kann. Wenn wir noch Atem in den Lungen haben, werden wir auch Liebe im Herzen haben! Und wenn der Atem selbst aufhört zu sein, dann ist die Liebe befreit und ist… überall.« Dann wandte sich dieser alte Mann um, den sie mit neuen Augen sah, und blickte selbst hinaus auf die Landschaft. »Es war ein gutes Leben«, sagte er still. »So schnell vorbei! Liebe Kinder! Jeder von euch hat mich… angerührt…« Und da merkten sie, dass er leise weinte. »Nicht weinen«, flüsterte Alice. »Bitte, nicht weinen.« »Keine Angst, Minima! Mit Tränen zeigt das Herz nur, dass es loslässt. Und das ist etwas, was wir am Ende alle lernen müssen… Loszulassen! Kommt! Lasst uns weitergehen. Wenn wir noch länger stehen bleiben, dann schlagen wir neben dieser alten Eibe noch Wurzeln!« Er streckte eine Hand aus und streichelte die niedrigsten Zweige des Baumes, die neben ihm über dem Boden hingen. »Dieser Baum war schon alt, als er geschaffen wurde, glaube ich! Er wurde alt geboren!« Langsam stiegen sie den gewundenen Weg über den steilen Abhang hinunter, am Dachsbau vorbei und in den Schatten des Waldes. Stephen Tylers Hand zitterte manchmal, wenn er sich schwer auf Williams Arm und Marys Schulter stützte. Hinter ihnen bewegte Alice sich vorsichtig, weil sie Rattus Rattus von seinem Platz an ihrer Schulter nicht vertreiben wollte. Er war seltsam still geworden, und als sie ihm einen Blick zuwarf, sah sie ihn mit zwinkernden Augen und zuckender Nase vor sich hinstarren. »Woran denkst du?«, fragte sie ihn. »Ich denke darüber nach, wie angenehm es ist, von dir getragen zu werden«, erwiderte er und grinste, wobei er seine scharfen, weißen Zähne zeigte. »Ich denke darüber nach, dass es mir sehr viel besser geht und dass ich vielleicht jeden Augenblick herunterspringe,
um mir ein Häppchen zu fressen zu holen. Ich denke darüber nach, dass wir uns bald verabschieden müssen.« »Wir alle«, fügte Stephen Tyler hinzu, der vor der Ratte herging, sich aber nicht umblickte, wenn er auch offensichtlich an dem Gespräch teilnahm. »Wir müssen alle sehr tapfer sein und uns Lebewohl sagen.« »Noch nicht!«, stöhnte Mary. »Noch nicht jetzt. Aber bald, liebe Kinder. Bald! Wenn das Jetzt, das kommen wird, jetzt ist und dieses Jetzt zu damals wird!« Sie gingen schweigend weiter, manchmal stolperten sie über den rauen Untergrund. Einige Male ging William voraus und hielt Stephen Tylers Hand, um ihm über besonders steile Stellen des Weges zu helfen. Einmal fiel der alte Mann beinahe hin und Mary musste ihn mit ihrer anderen Hand fester anfassen. »O meine Kinder!«, lachte er. »Was für eine Prüfung ist doch das Alter! Der Geist bleibt jung, aber der Körper wird langsam.« Dann schüttelte er den Kopf. »Stimmt nicht, alter Narr! Auch der Geist wird langsamer. Wahrscheinlich werde ich bald ein Buch für einen Krug und eine Nachtigall für eine Erbsenschote ansehen. Alte Leute sollten lernen den Mund zu halten…!« »Bitte nicht! Sie nicht!«, rief William. »Es gibt noch so viel, was Sie uns beibringen müssen.« »Noch nicht mal die kleinste Kleinigkeit, mein lieber Junge. Du weißt so viel wie ich. So viel, wie man wissen kann. Hört auf eure Herzen. Bleibt euch selbst treu. Handelt mutig – im Jetzt. Das ist das ganze Wissen, das ihr braucht.« »Aber warum musste es in unserer Zeit einen Krieg geben?«, rief Alice. »Warum wollte Morten alles zerstören?« »Er hat es nicht getan… er tut es nicht. Er will nur die Macht und den Ruhm und den Reichtum und… das Gold – für sich selbst. Das ist alles. Hört mir ein letztes Mal zu!« Der Magier blieb wieder stehen und drehte sich um, damit er auch Alice mit einschloss. »Der gerade und schmale Weg führt zum Verstehen. Weicht ihr auch nur um Haaresbreite von ihm ab, wird Chaos folgen. Morten ist ein guter Gelehrter. Er könnte ein weiser Meister werden. Aber er muss immer noch seinen wahren Wert finden. Er macht Gold, das sich wieder auflöst – wie Jonas Lewis. Aber mit eurer Hilfe, eurem Einfluss könnte er in den kommenden Jahren schließlich den großen Sprung schaffen. Ihr seid sein Licht. Er ist eure Dunkelheit. Ihr braucht euch alle gegenseitig. Die Arbeit endet nie, bis… bis…« Der alte Mann
schüttelte den Kopf. »Morten muss nur seine Gier bezwingen.« »Nur!«, rief Mary. »Nur? Das sieht für mich ziemlich schwer aus. Wie können wir sicher sein, dass wir nicht auch alle wie Morten sind? Ich will auch Dinge für mich selbst. Ich will, dass die Menschen mich lieben. Ich will bewundert werden. Ich will… nicht genau Macht… aber… ich will überlegen sein, ich will reich und berühmt sein… Ich bin selbst nicht anders als Morten!« »Gut!«, rief Stephen Tyler. »Wünsch dir, so viel du willst und mehr, als du jemals erreichen kannst. Suche die Dunkelheit. Wie soll ein Mensch wissen, ob er wach ist – wenn er nie geschlafen hat? Wie soll ein Mensch den Tag erkennen – wenn er noch nie die Nacht gesehen hat? Es gibt nichts Richtiges – wenn es nicht auch das Falsche gibt, nichts Positives – ohne das Negative, keine Hoffnung – ohne die Verzweiflung. Aber jedes Mal, wenn du merkst, dass du vom mittleren Weg abgewichen bist – kehr zu ihm zurück! Kehr zurück! Nur das ist verlangt. Jedes Mal, wenn du die Dunkelheit siehst, suche nach dem Licht.« »Aber – während des Kampfes in Four Fields sind Tiere gestorben«, rief William. »Sie waren nicht da. Sie wissen das nicht.« Ein Tränenkloß saß in seiner Kehle und eine schreckliche Wut schüttelte seinen Körper. »Das hier ist doch alles nur Gerede. Aber da… da… war Angst und Grausamkeit. Schmerz und Leid. Cinnabar ist gestorben. Rus ist fast tot. Cervus liegt da hinten und kämpft um ihr Leben… Und Sie waren nicht da.« »William«, sagte der Magier streng. »Wo warst du, als die Hunde sich in meinen Körper verbissen haben? Hattest du die Augen verschlossen? Hast du nicht gesehen?« »Ihr Körper?«, keuchte William. »Denkst du vielleicht, ich würde meine Cervus allein ins Schlachtfeld schicken? Denkst du, ich würde euch alle mit dem Kampf allein lassen? Schäm dich, William! Ich dachte, du würdest mich besser kennen!« »Sie waren in Cervus?«, fragte Mary. »Natürlich«, erwiderte der alte Mann. »Aber trotzdem«, rief William zitternd und mit gebrochener Stimme, »warum musste Cinnabar sterben? Warum?« »Ah!«, seufzte der alte Mann und strich William sanft über den Kopf. »Der große Schrei der Menschheit: Warum? Es ist eine Frage ohne Antwort, mein Lieber! Wenn die Antwort nicht nur lautet: Weil…!«
Sie stiegen schweigend bis hinunter ins Tal. Dann gingen sie langsam den Waldweg bis zum Tor in der Backsteinmauer, die den Garten hinter Golden House umschloss. »Von hier bin ich heute Morgen losgegangen. Und hier müssen wir uns auch trennen. Die alte Kate wird böse mit mir sein, weil ich so lange draußen war. Sie wird schimpfen und ich möchte nicht, dass ihr das miterlebt! Ihr denkt, ich sei der Meister? Ihr solltet mich mit Mistress Kate sehen! Dann bin ich nicht mehr als ein kleines Kind, das zu spät von der Schule nach Hause kommt und im Wald herumgetrödelt hat! Und ihr müsst euch jetzt auch beeilen! Die einzige Möglichkeit, wie ihr in eure eigene Zeit zurückkehren könnt, ist mit Hilfe meines Spiegelglases. Geht in mein Arbeitszimmer. Benutzt das Pendel und den Anhänger. Reist vorsichtig!« Während er sprach, schob er sie vor sich her durch das Tor. Rattus Rattus sprang von Alices Schulter herunter, stellte sich neben den alten Mann auf den Boden und beobachtete die Kinder schweigend. »Werden wir Sie nicht Wiedersehen?«, rief William, als sie über den sauberen Pfad durch den Garten zum Hoftor liefen. »Nein«, rief der alte Mann. »Wir werden uns nicht Wiedersehen. Lebt wohl, meine Constant-Kinder…!« Alice, die als Letzte durch das Tor lief, war gerade auf halbem Weg zum Taubenhaus, als sie plötzlich stehen blieb. »Nein!«, keuchte sie. »Nein!« Und sie fing an zu weinen. »Wir können nicht einfach so gehen!« Sie drehte sich um, rannte zurück zum Magier und warf beide Arme um ihn. Sie klammerte sich weinend an ihn. William und Mary drehten sich auch um und warteten mit hängenden Köpfen auf ihre Schwester. »Alice!«, sagte der alte Man sanft und nahm ihren Kopf in seine Hände. »Meine Minima! Was ist das denn? Tränen von meinem tapferen Mädchen? Hör jetzt auf zu weinen! Hör auf! Oder ich vergieße auch noch Tränen!« »Sie werden sterben, nicht wahr?«, klagte Alice. »Wir werden Sie nie Wiedersehen.« »Alice, hör zu! Ihr alle drei. Kommt her!« Er winkte die anderen beiden heran, und als sie zu ihm zurückgekommen waren, legte er Mary und William die Hände auf die Schultern. Alice hielt immer noch fest ihre Arme um seine Taille geschlungen. »Hört zu!«, sagte er wieder sanft. »Wenn ich euch ein Geschenk geben würde – etwas Seltenes und Besonderes, etwas sehr Kostbares
und unvergleichlich Einzigartiges, etwas, das ihr nie verlieren könnt, etwas, das euch für immer gehört – und wenn ich dieses Geschenk in einen Kasten gepackt hätte, damit es wichtiger aussieht… Was würdet ihr für wertvoller halten? Das Geschenk oder den Kasten?« »Das Geschenk«, murmelte Mary und schluckte ihre Tränen hinunter. »Das Geschenk!«, sagte der alte Mann leise. »Dieser Körper ist nur ein Kasten. Lasst ihn gehen! Behaltet das Geschenk! Ich werde immer bei euch sein. Wir haben gelernt uns zu lieben. Wir können uns nicht mehr verlieren. Wann immer ihr durch die Wälder von Golden Valley geht – werde ich da sein. Wenn der Regen fällt oder die Sonne scheint, wenn die Schwalben kommen und die Eule schreit – ich werde da sein. Wenn die Dunkelheit euren Geist erfüllt und die Tage endlos und langweilig scheinen – erinnert euch an mich! Wenn die Wolken aufziehen, die Sonne verdecken und es kein Ziel, keine Hoffnung mehr zu geben scheint… haltet Ausschau nach einer Brücke – der Brücke in den Wolken! Ich werde auf der anderen Seite sein und auf euch warten. Meine lieben Kinder! Wenn Stephanie heiratet – falls sie das eines Tages tut –, werde ich da sein! Erinnert euch dann, an diesem Tag, dass ich bei euch bin… Erinnert euch an mich! Jetzt geht, meine Kinder! Seid tapfer für uns alle! Seid tapfer für Jasper und für meinen Sirius, euren Spot! Seid tapfer für Lutra und Falco und Pica und Merula, die Amsel! Seid stark für Jack Green und Phoebe – sie müssen dabei ihren Part übernehmen! Lasst die Sonne auf den Mond scheinen und der Mond wird leuchten! Verbergt das eine vor dem anderen und es herrscht Dunkelheit. Geht! Geht! Geht, meine Kinder! Ihr nehmt mich mit euch…« »Master Tyler!«, rief eine Stimme und die alte Frau erschien am Hoftor. »Schnell jetzt«, zischte Stephen Tyler und schob die Kinder auf einen Seitenpfad. »Master Tyler, ich suche Euch schon überall! Euer Neffe aus Warwickshire ist hier. Er möchte mit Euch sprechen…« »Ich komme, Kate, ich komme!«
26 Ankunft und Abreise Die Kinder hielten sich auf dem Seitenpfad versteckt, während Mr. Tyler und die Frau scheltend und schwatzend langsam durch den Garten zurückgingen. Sobald sie außer Sicht waren, übernahm William die Führung. Sie bewegten sich so leise und unauffällig wie möglich für den Fall, dass das alte Paar sich noch im Hof aufhielt. Dann schlüpften sie durch das Tor. Das Haus, vor dem sie standen, sah völlig anders aus als jenes, das sie kannten. Die Küchentür war verschwunden und der neuere Flügel, den es in ihrer Zeit gab, bestand aus einem Durcheinander von niedrigen Traufen und schwarzen Balken. »Ich bin nicht sicher, wie wir hier reinkommen«, bemerkte William überrascht und verwirrt. »Wir gehen besser nach vorne.« Aber als sie um die Ecke kamen, sahen sie ein paar Pferde, die beim Eingang festgemacht waren, und aus der Halle konnten sie die Stimmen von mehreren Leuten hören. »Was machen wir jetzt?«, fragte William, der sich schnell zurückzog. »Meinst du, sie können uns sehen?«, fragte Mary. »Ich weiß nicht«, gab William zu. »Phoebe konnte Mr. Tyler nicht sehen, als er einmal auf der Wiese vor dem Haus mit uns sprach und sie uns vom Haus aus gerufen hat«, sagte Mary nachdenklich. »Wann war das?«, fragte Alice. »Erinnerst du dich nicht daran?«, begann Mary. »Es war, nachdem das Baby geboren war und…« »Das ist doch jetzt egal!«, unterbrach William sie ärgerlich. »Wir müssen irgendwie zu den Stufen im Kamin kommen.« »In dem Fall«, sagte eine Stimme, »kommt ihr besser alle mit mir!« Rattus Rattus zwängte sich aus einem Nesselgestrüpp hervor und winkte sie alle drei in sich hinein. Die Ratte führte sie über einen dunklen, unebenen Weg. Sie liefen durch unzählige verwinkelte Tunnel und kletterten über rohe Holzbalken. Sie sprangen über gähnende Abgründe, die ihnen ihre verein-
ten Kräfte abverlangten, und sie zwängten sich durch Öffnungen, durch die ihr Körper unmöglich passen konnte. Einmal, als sie gerade in völliger Dunkelheit einen besonders breiten Spalt zwischen zwei Balken übersprungen hatten, verlor Rattus seinen Halt, und sie begannen in die gähnende Leere unter ihnen abzurutschen. Aber die Ratte sammelte ihre letzten Reserven für die Rettung und irgendwie brachten sie es fertig, wieder einen Halt zu finden und sich auf den Balken hinaufzuziehen. »Puh!«, rief Rattus und wischte mit den Vorderpfoten an seinen Schnurrbarthaaren entlang. »Das war ein bisschen unangenehm!« Schließlich kamen sie zu einem flachen, keilförmigen Stein, und als die Kinder sich von der Ratte lösten, erkannten sie die Stufen im Kamin. Sie waren ein kleines Stück oberhalb der Holztür auf der Wendeltreppe rausgekommen. »Nur noch ein paar Schritte und ihr seid im Arbeitszimmer des Meisters«, sagte Rattus zu ihnen. Er stand ein paar Stufen über Mary, die Alice und William voranging. »Ich verlasse euch jetzt«, fuhr er schwungvoll fort. »Das Schlimmste sollte überstanden sein – wenn die Zeitreise für euch nicht noch heikel wird, aber dabei kann ich euch nicht helfen –, also sage ich jetzt Lebewohl. Ich will zum Meister zurück. Es wird ein trauriges Haus sein, egal, was er sagt. Wenn seine Zeit kommt, gebe ich euch durch die Eule Bescheid. Obwohl ich bezweifle, dass es ein Lebewesen in Golden Valley gibt, das nicht sofort wüsste, wenn es passiert. Ich habe mich sehr gefreut euch kennen zu lernen! Und bestellt den Truppen herzliche Grüße. Wir haben uns gut geschlagen, findet ihr nicht auch? Wenn ihr jemals nach Bristol kommt, besucht meine Familie. Natürlich nur, wenn es sie in eurer Zeit noch gibt. Fragt einfach in der Kneipe am Hafen nach. Die Rattus-Familie ist an den Kais ziemlich bekannt. Wir sind für unsere Tapferkeit berühmt und haben, obwohl ich es nicht sagen sollte, ein ziemlich großes Gefolge unter den seefahrenden Ratten! Und nun lebt wohl!« Mit einer tiefen Verbeugung schnippte er ein Mal mit seinem Schwanz und verschwand in einer Spalte zwischen zwei Steinen. Sobald sie allein waren, stieg Mary weiter die Treppe hoch und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer des Magiers. Matthew Morten saß in einem Lehnstuhl und brütete über einem alten Dokument, das er vor sich auf dem voll gepackten Tisch ausgebreitet hatte. Als Mary hereinkam, blickte er überrascht auf und
schien einen Augenblick lang unfähig zu sein seine Augen auf das zu konzentrieren, was er zu sehen meinte. William und Alice drängten sich hinter Mary in den Raum und alle drei blieben an der Tür stehen, weil sie nicht wussten, was sie jetzt tun sollten. »Wer ist da?«, fragte Morten und spähte in das dämmrige Licht der Kerzen. »Matthew! Wir sind es«, sagte Mary und machte einen Schritt nach vorn. Mortens Reaktion kam völlig überraschend. Er hob die Hände und hielt sie vor sein Gesicht, als ob er eine ganze Serie von Schlägen abwehren wollte. »Ihr?«, keuchte er. »Was macht ihr hier?« »Wir haben Mr. Tyler aus unserer Zeit zurückgebracht«, erklärte William und stellte sich hinter Mary. »Bleibt mir vom Leib!«, rief Morten. »Was seid ihr? Wie kommt ihr hierher? Spukgestalten meiner Träume – schert euch fort!« Er sprang hastig von seinem Stuhl auf und stieß ihn dabei um. »Matthew, alles ist in Ordnung!«, sagte Mary sanft und ging langsam auf ihn zu. Aber Morten fuhr zurück, tastete mit seiner Hand nach einem Spazierstock, der neben dem Tisch lehnte, an dem er gearbeitet hatte, und ergriff ihn. »Zurück, sage ich!«, knurrte er, hob den Stock und schwang ihn drohend vor sich her, als ob er sie damit schlagen wollte. »Pass auf!«, zischte Alice. »Jetzt ist er tatsächlich völlig durchgeknallt!« »Matthew«, bat Mary. »Das ist nicht nötig. Wir sind deine Freunde. Erinnerst du dich? Wir haben deinen Geist zurück in deine Zeit gebracht. Wir haben dir geholfen…« »Ahhh!«, heulte der arme Mann, ließ den Stock fallen und bedeckte seine Ohren mit beiden Händen, als plage ihn ein großes Leid, als triebe ein schrecklicher Schmerz in seinem Kopf ihn zum Wahnsinn und es bestünde die Gefahr, dass er aus seinem Schädel hervorbräche. »Bleibt mir vom Leib, Wesen meines Wahnsinns, Dämonen meines Geistes!«, klagte er, warf seinen Kopf hin und her und wich mit verzweifelt in die Leere starrenden Augen noch weiter vor ihnen zurück. »Wir müssen zum Spiegelglas gehen«, flüsterte William seinen Schwestern zu. So weit wie möglich von Morten entfernt, schob er sich langsam durch den Raum bis zu der Spiegelkugel, die hinter
Morten in ihrem Holzrahmen an der Wand hing. »Bleibt mir vom Leib!«, hörten sie den Mann schluchzen und dann sprang er plötzlich vorwärts, hob den Stock wieder auf und hielt ihn wie eine Waffe vor sich. »William!«, stieß Alice hervor und drängte sich am Tisch vorbei. »Was jetzt?« »Gib mir deine Hand«, wisperte ihr Bruder. »Mary, nimm du ihre andere Hand.« Mary streckte ihre Hand nach Alice aus, ohne Morten einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Die drei standen jetzt Hand in Hand in einer Reihe vor dem runden Spiegelglas. In seinem Zentrum leuchtete schwach ein winziger Lichtpunkt, die Reflexion einer der Kerzen im Raum. »Wir müssen uns alle auf das Zentrum konzentrieren«, wisperte William. »Und Mary, wenn ich das Zeichen gebe, dann nimm Phoebes Anhänger in die Hand. Ich nehme dann gleichzeitig das Pendel…« »Klappt das?«, keuchte Alice. »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte William. »Und was ist dann?«, wisperte sie. »Wir hoffen einfach das Beste«, antwortete William und schluckte nervös. Hinter ihnen ging Morten im Zimmer auf und ab und murmelte vor sich hin. Er konnte offensichtlich nicht glauben, dass sie da waren. Seltsamerweise dachte er, sie seien nur ein Trugbild seines Geistes. »Bleibt mir vom Leib!«, wisperte er ununterbrochen. »Das ist alles mein Werk! Das ist meine Schöpfung! Dahin bringt einen die gefährliche Kunst. Ich bin wahnsinnig!« Er schrie und heulte das letzte Wort, so dass es im Zimmer widerhallte. »Jetzt, Mary! Jetzt!«, rief William und im selben Augenblick holten beide das Pendel und den Anhänger aus ihren Hosentaschen. »Das Gold des Meisters!«, schrie Morten und machte einen Satz nach vorn, als ob er William das Pendel aus der Hand reißen wollte. Gerade noch rechtzeitig schwenkte William den Arm zur Seite, so dass Morten stolperte und gegen die Wand fiel. Gleichzeitig zwang William sich dazu, seine Aufmerksamkeit auf den Lichtpunkt tief im Innern des Spiegelglases zu konzentrieren. Die ganze Kugel schien von herumwirbelnden Wolken erfüllt zu sein. Dunkel und drohend wogten sie hin und her und saugten die
Kinder in sich auf. Mit einem Gefühl ähnlich wie auf einer Achterbahn spürten sie, wie sie in die Glaskugel gezogen wurden, bis die Wolken sie umgaben und das gewaltige Brausen eines Sturms sie von allen Seiten einschloss. Aus einer fernen, anderen Zeit hörten sie Matthew Morten rufen: »Ich will Genugtuung. Ich will das Gold…« Dann brach der Lärm plötzlich ab und es herrschte eine tödliche Stille. Die Wolken vor ihnen hoben sich etwas und zu ihrer Überraschung sahen sie zwei Gesichter, die sie von der anderen Seite des Spiegels her erschrocken und erstaunt anstarrten. »Was passiert da, Mark?«, keuchte die Stimme eines Mädchens. »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Stimme des Jungen. »Stephanie, bist du in Ordnung?« »Ich habe Angst«, schluchzte das Mädchen. Sie war groß und offenbar noch sehr jung, vielleicht nicht mehr als zehn Jahre alt. Lange, rotgoldene Locken fielen wie ein Vorhang über ihren Rücken. Ihr Freund war ein Teenager, wahrscheinlich älter, als er aussah, mit kurz geschnittenem Haar und heller Haut. »Wir müssen das aufhalten«, wisperte er. Mary wusste sofort, was passiert war. »Wir sind zu weit gereist!«, rief sie. »Wir sind unserer Zeit voraus. Wir müssen zurück!« »Wie?«, hörte sie Alice schreien. »Denkt – zurück!«, rief William und einen Augenblick später fühlten sie, wie sie zurücksausten, als fielen sie aus einer großen Höhe. »Ich werde euch jetzt ein Ende machen!«, schrie eine Stimme hinter ihnen. Unwillkürlich drehten sie sich um und sahen Matthew Morten seinen Stock heben und auf sie zurennen. »Jetzt!«, schrie William. »Jetzt«, sprach Alice ihm nach. »O Mr. Tyler, helfen Sie uns jetzt! Bitte helfen Sie uns jetzt…«, schluchzte sie, während sie sich wieder auf das Zentrum des Glases konzentrierte. »Ja«, wiederholte Mary die Worte feierlich wie ein Gebet, »bitte, Mr. Tyler, helfen Sie uns!« Die Wolken im Glas teilten sich und gaben den Blick auf schwaches Nachmittagslicht frei. Die Kinder wandten sich ab und gingen in einen staubigen, dämmrigen Raum. Da ließ sie ein lautes, splitterndes Geräusch herumwirbeln. Sie sahen den gewölbten Spiegel an
der Wand in Tausende von glitzernden Scherben zerspringen. »Ich werde von euch befreit sein!«, heulte Matthew Morten durch die Jahrhunderte. Dann war Stille. »Sind wir in der richtigen Zeit?«, flüsterte Mary. »Ich weiß es nicht«, gab William zu. »Jetzt ist es sowieso zu spät. Wir können den Spiegel nie wieder benutzen…« Er stockte mitten im Satz, weil er draußen vor dem Fenster Jack rufen hörte: »Kinder? Wo seid ihr, Kinder?« William lief zum Fenster. Unten auf der Wiese konnte er seinen Onkel sehen, der den Hügel gegenüber mit den Augen absuchte. Der Spätnachmittag leuchtete in blass goldenem Licht. Alles sah ganz normal aus. »Wir sind zu Hause«, sagte William ruhig. Irgendwie fühlte er sich fast niedergeschlagen. Mary ging langsam zurück zu dem zerbrochenen Spiegel und starrte ihn an. »Ich frage mich, wo hinein sie geschaut haben«, sagte sie nachdenklich. »Wer?«, fragte Alice. »Stephanie und dieser Junge«, antwortete Mary. »Es kann nicht dieser Spiegel gewesen sein – weil… seht ihn euch doch an! Er ist völlig zerstört.« »War es wirklich unsere Stephanie?«, fragte Alice. »Ich denke schon. Ich bin sogar sicher. Sie sah genau wie Phoebe aus, findet ihr nicht auch?« »Ich habe kaum gewagt hinzusehen«, erwiderte Alice. »Wie hieß der Junge?« »Mark, glaube ich«, sagte Mary. »Wer ist Mark?«, fragte sich Alice. Mary zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Ein Freund von ihr, denke ich. Vielleicht jemand, den sie noch gar nicht kennen gelernt hat. Er sah Stephen Tyler eigentlich auch sehr ähnlich!« »Also wird Stephanie eines Tages in all das hineingezogen«, sagte William nachdenklich. »In dem Fall müssen wir dies hier irgendwo sicher für sie aufheben.« Er hob das Pendel hoch. »Sie wird eines Tages ein eigenes besitzen«, sagte Mary und hielt die Halskette hoch. »Ich glaube, dass Phoebe es ihr später geben wird.«
»Wenigstens wissen wir, dass Jack und Phoebe hier wohnen bleiben«, sagte Alice. »Stephanie sah fast wie ein Teenager aus.« Dann fiel ihr nachträglich etwas ein. »Dieser unmögliche kleine Enkel von Henry Crawden heißt doch Mark, oder?« Sie schwiegen einen Moment. Dann lächelte Mary. »Das würde wirklich allem ein Ende machen, oder?«, sagte sie. »Was?«, fragte Alice. »Wenn Stephanie schließlich Mark Crawden heiraten würde«, erwiderte Mary. »Die Tylers und die Mortens… vereint. Und wenn sie Kinder haben, fließt das Blut von beiden Familien durch ihre Adern!« »Wir müssen einfach abwarten, was passiert«, sagte William und ging zur Treppe voraus. »Kommt! Wir gehen besser hinunter.« Phoebe stand mitten in der Halle, als sie aus dem Kamin traten. »Da seid ihr ja!«, rief sie. »Wir haben überall nach euch gesucht. Es gibt so aufregende Neuigkeiten!« Sie hielt ihnen ein Papier entgegen. »Seht mal, was hier gekommen ist! Ein Brief von euren Eltern. Offensichtlich schon seit Ewigkeiten in der Post. Sie sind auf dem Weg nach Hause! Sie sollten schon am Wochenende hier sein!«
27 Die Brücke in den Wolken Irgendwann kurz vor Tagesanbruch wachte Mary aus einem unruhigen Schlaf auf. Das Zimmer war dunkel, aber gegen den Nachthimmel draußen zeichnete sich schwach die Gestalt von Alice ab, die am Fußende ihres Bettes kniete. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Hör mal!«, wisperte Alice. In dem Moment öffnete sich die Tür und William kam auf bloßen Füßen leise hereingeschlichen. »Habt ihr es gehört?«, sagte er. »Was?«, fragte Mary. Alice glitt von ihrem Bett und öffnete das kleine Fenster weit. Draußen nieselte es und der Wind blies die Feuchtigkeit ins Zimmer. Aber keiner von ihnen bemerkte die Kälte oder die Nässe. Der dunkle Wald draußen war voller Geräusche. Langes, schmerzliches Heulen und klagend flötendes Pfeifen. Traurige Laute, voller Schmerz und Wehmut. Irgendwo winselte ein Hund und ein Fuchs jaulte endlos und unglücklich. »Das ist schon seit ein paar Minuten so«, wisperte William. »Es fing einfach plötzlich an.« »Seinetwegen nicht?«, sagte Alice mit dünner Stimme. »Es ist wegen Mr. Tyler. Sie wissen alle…« Dann verstummte sie und das traurige Konzert der Laute hallte weiter durch die Nacht, erfüllte das Zimmer und jedes ihrer Herzen mit seiner Botschaft von Verlust und Verlassenheit. Als im Osten das erste Licht des Morgens schimmerte, gingen die Kinder durch die Küchentür hinaus. Spot war nicht da, also mussten sie ohne ihn gehen. Sie liefen über den mittleren Weg durch den Küchengarten in dem seltsamen Zwielicht zwischen Tag und Nacht, das kurz vor Sonnenaufgang herrscht. Dann erreichten sie das Tor zum Wald und gingen auf den dunklen Pfad hinaus. Hier waren die Geräusche lauter. Eine Totenmesse aus Schmerz und Leid in lang abfallenden Tonfolgen der Trauer und des Verlustes, die zwischen den dunklen Bäumen widerhallten, immer weiter, scheinbar endlos.
Die Kinder dachten gar nicht darüber nach, welchen Weg sie nehmen sollten. Es war eine automatische und einmütige Entscheidung. Es sah tatsächlich so aus, als hätten sie gar keine Wahl, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft gezogen. Mit schweren Schritten kletterten sie langsam durch das Dämmerlicht bis hinauf zu der Eibe auf der Spitze des Hügels. Als sie am Dachsbau vorbeikamen, schreckten sie eine Dächsin auf, die immer noch unterwegs war. Sie blickte sie überrascht an, begrüßte sie aber nicht, sondern sprang in den Eingang zum Bau und verschwand. Nieselregen fiel vom Himmel, als sie den flachen Boden um die Eibe erreichten, und ein trübseliges Morgengrauen kündigte langsam einen neuen Tag über den fernen Hügeln im Osten an. Dunklere Wolken türmten sich im Westen auf und verbreiteten sich am Himmel über Golden Water und dem Wasserfall dahinter. William drehte dem See den Rücken zu und hockte sich auf den Boden. Der See trug so viele Erinnerungen für ihn. In jedem Anblick, in jeder einzelnen Erinnerung, war Mr. Tyler. Mr. Tyler im Boot. Mr. Tyler am Stehenden Stein. Mr. Tyler… überall. Er hatte gesagt, es würde so sein. Aber warum tat es so weh? Ganz in Williams Nähe hielt sich Alice mit einer Hand den Mund zu und rieb sich mit der anderen die Wange. Sie fürchtete – wenn sie es zuließe –, dass aus ihrem Mund ein Schrei so großer Qual hervorbräche, dass sie vielleicht nie wieder aufhören könnte und nie wieder in der Lage wäre, normal zu sprechen oder zu handeln. Also presste sie ihre Lippen mit der Hand zusammen und starrte in die endlose Weite auf der anderen Seite von Golden Valley. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie vor so vielen Monaten sein Gesicht auf sie herunterlächelte, als sie ihm von dem Mondlicht erzählte, das den Dunklen und Schrecklichen Pfad erleuchtet hatte, nachdem sie allein gegen die Dachsfänger im Blackscar Steinbruch losgezogen war. Und wie er gejubelt und gesagt hatte, sie hätte ihnen allen den Silbernen Pfad wiedergegeben. »Mr. Tyler«, wisperte sie und eine Träne lief ihr über das Gesicht. Mary ging ein Stück von beiden weg. Sie war plötzlich wütend. Sie wollte aufschreien. Sie wollte schreien und brüllen. »Warum?«, schluchzte sie. Und sie konnte ihn die einzig mögliche Antwort wispern hören: » Weil…!« Der Regen wurde stärker. Er fiel schräg aus Westen, tropfte aus den Zweigen der Eibe und durchnässte sie alle drei.
Ein plötzliches Bellen weiter unten vom Hügel ließ Alice hoffnungsvoll vorwärts laufen. »Spot«, rief sie, und als der Hund erschien, rannte sie mit offenen Armen auf ihn zu und warf sich vor ihn auf den nassen Boden. »O Spot«, schluchzte sie. »Ich bin so froh, dass du da bist. Er ist tot, nicht wahr? Mr. Tyler ist wirklich gestorben?« »In der Nacht«, grollte Spot. »Er ging in der Nacht.« »Die Ratte hat uns informiert«, schrie eine Stimme aus den Zweigen der Eibe. Mary blickte nach oben und sah Jasper. »Aber sie hätte sich nicht die Mühe zu machen brauchen. Wir wussten es alle sofort«, fuhr die Eule klagend fort. »Es wird eine seltsame Welt sein – ohne den Meister!« Dann versagte ihr die Stimme. »O Jasper!«, schluchzte Mary und große Tränen mischten sich mit dem Regen auf ihrem Gesicht. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich war so allein…« Dann wünschte sie sofort, sie hätte das nicht gesagt, denn vor ihr hockte William auf dem Boden und starrte vor sich hin. Sie lief schnell zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Will«, wisperte sie, »es tut mir Leid.« »Ist schon in Ordnung«, sagte William und wandte sich ab, damit sie seine Tränen nicht sah. Dabei bemerkte er, wie tiefer unten hinter dem Dachsbau etwas Rotes aufblitzte. Er stand auf und lief vorwärts mit einer plötzlichen, lächerlichen Hoffnung in seinem Herzen. »Cinnabar?«, rief er. Ein junger Fuchs kam aus der Deckung, lief auf die Lichtung und blieb dann mit erhobener Pfote und halb geöffneter Schnauze stehen. »Er ist eines von Cinnabars Jungen«, sagte Spot. Das Junge blickte William mit fragenden Augen an. »Hat er einen Namen?«, fragte William. »Glaub ich nicht«, erwiderte Spot. »Der Meister hat uns Namen gegeben. Jetzt müsst ihr drei das machen.« »Wir nennen ihn Büschel!«, sagte Alice plötzlich. »Nein!«, rief William. »Das tun wir ganz sicher nicht!« »Wegen seines buschigen Schwanzes«, erklärte Alice. »Er wird nicht Büschel heißen«, sagte William fest. »Wie heißt er dann?«, fragte Alice schmollend. »Er soll Cinnabar heißen«, verkündete William nach einer Weile, »zu Ehren und zur Erinnerung an seinen Vater!« »Cinnabar!«, bellte Spot. »Cinnabar!«, schrie die Eule.
Und das Junge machte einen schüchternen Schritt auf William zu und blickte ihn mit Bernsteinaugen an. »William! Alice! Seht mal!«, keuchte Mary und zeigte hinüber nach Golden Valley. Es regnete jetzt in Strömen, aber ein einzelner Sonnenstrahl war durch die Wolken gebrochen und leuchtend und schillernd überspannte ein vollkommener Regenbogen das Tal. »Eine Brücke in den Wolken!«, rief Mary. Bei ihren Worten durchflutete Stephen Tylers Gegenwart alles um sie herum. Er war in den Bäumen und in den Gräsern, im Wind und im Regen. Überall. Das Sonnenlicht wurde stärker, war fast gleißend gegen die schwarzen Wolken. Es splitterte den Regen in Tausende von Farbprismen auf. Die Brücke in den Wolken überspannte das Tal vor ihnen und sie wussten ohne jeden Zweifel, dass er auf der anderen Seite immer auf sie warten würde. Und dass er sie nie verlassen würde. Und dass er ein Teil des Tales war, so wie das Tal ein Teil von ihm. Da trottete der kleine Cinnabar, der Erste einer neuen Generation, den Hügel hinauf und blickte zu den drei Kindern hoch. »Und jetzt?«, schien er zu fragen. »Wo sollen wir anfangen?«