Eigentlich kann Alfred Kropp keiner Fliege etwas zuleide tun. Er sieht zwar geradezu bedrohlich groß und kräftig aus, a...
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Eigentlich kann Alfred Kropp keiner Fliege etwas zuleide tun. Er sieht zwar geradezu bedrohlich groß und kräftig aus, aber im Football ist er eine Niete und am liebsten hört er den ganzen Tag zu Hause auf seinem Bett Musik. Kurz, er ist ein ziemlicher Außenseiter. Doch dann gerät sein eintöniges Leben völlig aus der Bahn, als sein Onkel ihn in einen zwielichtigen Deal mit hineinzieht. Als Alfred herausfindet, dass es darum geht, Excalibur, die legendäre Wunderwaffe von König Artus, zu stehlen, ist es bereits zu spät. Skrupellose Gangster haben das Schwert schon in ihrer Gewalt und sind dabei, ihre Spuren zu verwischen. Alfred sieht nur noch einen Weg, die drohende Katastrophe zu verhindern: Er selbst muss das magische Schwert zurückerobern, koste es, was es wolle. Zusammen mit dem letzten überlebenden Ritter des Ordens der Tafelrunde begibt er sich auf eine atemberaubende Jagd …
RICK YANCEY Die außergewöhnlichen Abenteuer des
ALFRED KROPP Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher
Für Sandy und – natürlich – für die Jungs Jonathan, Joshua & Jacob
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel The Extraordinary Adventures of Alfred Kropp bei Bloomsbury Publishing Plc, London und New York │ Copyright © 2005 Rick Yancey │ Für die deutsche Ausgabe © 2005 Berlin Verlag GmbH, Berlin │ Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin │ Alle Rechte vorbehalten │ Scan by Brrazo 04/2006 │ Umschlaggestaltung: Ian Butterworth │ Typografie: Renate Stefan, Berlin │ Gesetzt aus der Stempel Garamond durch Greiner & Reichel, Köln │ Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck │ Printed in Germany 2005 │ ISBN 3-8270-5103-7
Die Schwester schwieg, ihr Schleier weiß und blau, Zwischen den Espen, vor sich mit tonloser Flöte Den Gartengott. Sie neigte den Kopf, gab das Zeichen, Ohne ein Wort. T. S. Eliot, Aschermittwoch
KAPITEL EINS
I
ch hätte nie gedacht, dass ich einmal die Welt retten und dabei sterben würde. Ich glaubte auch nicht an Engel oder Wunder, und für einen Helden hielt ich mich schon gar nicht. Niemand hätte das, auch du nicht, wenn du mich gekannt hättest, bevor ich die mächtigste Waffe dieser Welt klaute und sie einem Irren überließ. Vielleicht denkst du sowieso nicht, dass ich ein Held bin, wenn du meine Geschichte gelesen hast, schließlich sind die meisten meiner so genannten Heldentaten nur zustande gekommen, weil ich zunächst mal was verbockt habe. Eine Menge Leute haben wegen mir ihr Leben verloren – mich eingeschlossen –, aber alles der Reihe nach. Am besten fange ich ganz am Anfang an. Es ging damit los, dass mein Onkel Farrell reich werden wollte. Von Kind auf hatte er nie viel Geld gehabt, und als Mr. Arthur Myers mit seinem Geschäft daherkam (»wie es so was nur einmal im Leben gibt«), da war mein Onkel schon vierzig und hatte die Nase voll davon, kein Geld zu haben. Arm zu sein gehört nicht zu den Dingen, an die man sich ge7
wöhnt, auch wenn man nichts anderes kennt. Deswegen gab es, als Mr. Myers mit den Geldbündeln winkte, kein langes Überlegen – zum Beispiel, ob die Sache irgendwas Ungesetzliches war. Natürlich konnte Onkel Farrell unmöglich wissen, wer Mr. Arthur Myers war und dass er einen falschen Namen benutzte. Aber jetzt bin ich meiner Geschichte schon wieder voraus. Vielleicht erzähle ich erst mal, wer ich bin. Geboren wurde ich in Salina, Ohio, als das erste und letzte – also das einzige – Kind von Annabelle Kropp. Meinen Vater bekam ich nie zu Gesicht. Der hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor ich auf die Welt kam. Moms Schwangerschaft war schwierig und dauerte ewig. Nach fast zehneinhalb Monaten entschied sich der Doktor endlich, mich da rauszuholen, bevor ich aus ihrem Bauch rausplatzen würde wie die Brut eines Alien. Ich war ein ziemlicher Brummer, als ich auf die Welt kam, und nahm von Anfang immer nur zu. Bei meiner Geburt wog ich fast sechs Kilo, und mein Kopf war etwa so groß wie eine Wassermelone. Also gut, vielleicht nicht wie eine Wassermelone, aber ganz bestimmt so groß wie die Dinger aus Südamerika, die Kantalup-Melonen. In Kalifornien gibt’s die auch, aber da sind sie kleiner. Mit fünf hatte ich bereits die Vierzig-Kilo-Grenze 8
überschritten und maß gut ein Meter zwanzig. Mit zehn kam ich auf eins achtzig und wog über neunzig Kilo. Auf die Tabellen des Kinderarztes passte ich längst nicht mehr, und meine Mom machte sich ganz schön Sorgen. Sie setzte mich auf eine Spezialdiät und fing an, mit mir zu trainieren. Weil ich so einen großen Kopf hatte, so große Hände und Füße und ziemlich schüchtern war, glaubten viele Leute, ich wäre geistig behindert. Mom muss das auch Sorgen gemacht haben, denn sie ließ meinen IQ, meinen Intelligenzquotienten, testen. Was dabei herauskam, hat sie mir nie erzählt. Als ich sie fragte, sagte sie, dass mit mir eindeutig alles in Ordnung sei. »Du bist einfach ein großer Kerl, der mal etwas Großes leisten wird«, sagte sie. Ich glaubte ihr. Weniger das mit dem für Großes geschaffen zu sein, als dass ich nicht zurückgeblieben war. Die Testergebnisse habe ich zwar nie gesehen, aber es gibt eben Dinge, die man seinen Eltern einfach glaubt. Wir lebten in einer kleinen Wohnung, nicht weit von dem Supermarkt, in dem sie als stellvertretende Marktleiterin arbeitete. Mom hatte nie geheiratet, auch wenn sie manchmal einen Freund mit nach Hause brachte. Neben ihrem Job führte sie noch die Bücher für ein paar Tante-Emma-Läden. Ich erinnere mich, wie oft ich beim Einschlafen ihren Taschenrechner in der Küche piepsen hörte. 9
Als ich zwölf war, starb sie an Krebs. Eines Morgens hatte sie eine Stelle an ihrer linken Schläfe entdeckt. Vier Monate später war sie tot, und ich war allein. Ein paar Jahre lang kam ich von einer Pflegefamilie in die andere, bis mich der Bruder von Mom, mein Onkel Farrell, zu sich nach Knoxville, Tennessee, holte. Ich war gerade fünfzehn geworden. Häufig sah ich Onkel Farrell nicht: Er arbeitete als Nachtwächter in einem Bürogebäude im Zentrum von Knoxville und schlief fast den ganzen Tag. Er hatte eine schwarze Uniform mit einem auf die Schulter aufgestickten goldenen Wappen. Eine Pistole hatte er nicht, aber einen Gummiknüppel, und er kam sich ziemlich wichtig vor. Ich verbrachte viel Zeit in meinem Zimmer, hörte Musik oder las. Das störte Onkel Farrell irgendwie, denn er hielt sich für einen »Mann der Tat«, auch wenn er jede Nacht acht Stunden auf seinem Hintern saß und nichts weiter machte, als die Überwachungsmonitore anzustarren. Er fragte mich, ob ich über den Tod meiner Mutter sprechen wolle. Nein, sagte ich, einfach nur in Ruhe gelassen werden. »Alfred«, sagte er. »Sieh dich um. Sieh dir die Leute an, die in dieser Welt etwas bewegen. Meinst du, die haben es so weit gebracht, weil sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer gelegen und gelesen und Rap-Musik gehört haben?« 10
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Könnte aber doch sein.« Meine Antwort gefiel ihm nicht, und so musste ich zur Schulpsychologin. Sie hieß Dr. Francine Peddicott, war sehr alt, hatte eine lange spitze Nase, und ihr Büro roch nach Vanille. Dr. Peddicott stellte gern Fragen. Ich kann mich an nichts erinnern, das keine Frage gewesen wäre, abgesehen von »Hallo, Alfred« und »Auf Wiedersehen, Alfred«. »Vermisst du deine Mutter?«, fragte sie bei meinem ersten Besuch, nachdem sie mich gefragt hatte, ob ich lieber sitzen oder auf dem Sofa liegen möchte. Ich saß lieber. »Klar. Sie war doch meine Mom.« »Was vermisst du am meisten, wenn du an sie denkst?« »Sie hat toll gekocht.« »Wirklich? Du vermisst am meisten, wie sie gekocht hat?« »Also, ich weiß nicht. Sie haben gefragt, was ich am meisten vermisse, und das kam mir gleich in den Kopf. Vielleicht weil gleich Essenszeit ist. Und Onkel Farrell kann überhaupt nicht kochen. Ich meine, er kocht, aber was dabei rauskommt, würde ich nicht mal ’nem verhungernden Hund anbieten. Meist gibt es bei uns Tiefkühlessen und Sachen aus der Dose.« Etwa eine Minute lang kritzelte sie etwas in ihr kleines Notizbuch. 11
»Aber deine Mutter – die war eine gute Köchin?« »Sie war eine super Köchin.« Dr. Peddicott seufzte schwer. Vielleicht gab ich ihr nicht die Antworten, die sie wollte. »Hasst du sie manchmal?« »Weswegen das denn?« »Hasst du deine Mutter, weil sie gestorben ist?« »Oh, Mann, das war doch nicht ihr Fehler.« »Aber manchmal bist du wütend auf sie, nicht wahr? Weil sie dich allein gelassen hat?« »Auf den Krebs hab ich eine Wut, weil der sie umgebracht hat. Auf die Ärzte und … Wissen Sie, den gibt’s schon Jahrhunderte, und trotzdem werden sie ihn nicht los. Den Krebs, meine ich. Und ich glaube, wenn wir alles Geld, das wir für teure Regierungsprojekte und so was verplempern, wenn wir das in die Krebsforschung steckten, wissen Sie … so was.« »Und deinen Vater?« »Was soll mit dem sein?« »Hasst du den?« »Den kenne ich ja nicht mal.« »Hasst du ihn, weil er dich und deine Mom verlassen hat?« Die Frau machte mich ganz kirre. Jetzt wollte sie mich dazu bringen, dass ich meinen Vater hasste, wo ich ihn doch gar nicht kannte. Und vorher sogar meine tote Mutter. 12
»Kann schon sein, aber ich weiß nicht genau, was damals passiert ist«, sagte ich. »Deine Mutter hat es dir nicht erzählt?« »Sie sagte nur, er hätte Bindungsängste gehabt.« »Und was heißt das für dich?« »Dass er kein Kind wollte.« »Dass er wen nicht wollte?« »Mich. Mich, denke ich. Natürlich mich.« Ich fragte mich, wen ich wohl als Nächstes hassen sollte. »Wie gefällt dir die Schule?« »Ich hasse sie.« »Warum?« »Ich kenne da keinen.« »Du hast keine Freunde?« »Sie nennen mich Frankenstein.« »Wer?« »Die anderen Kinder in der Schule. Weil ich so groß bin. Und wegen meinem Kopf.« »Was ist mit Mädchen?«, fragte sie. »Ob die mich auch Frankenstein nennen?« »Hast du eine Freundin?« Also, da war dieses eine Mädchen. Sie hieß Amy Pouchard und saß in Mathe nur zwei Plätze von mir entfernt. Sie hatte langes blondes Haar und ganz dunkle Augen, was komisch schien, weil die Haare, soweit ich das sagen konnte, nicht gefärbt waren. In der ersten Woche dachte ich einmal, dass sie mich 13
vielleicht angelächelt hätte. Vielleicht hatte sie aber auch den Jungen links von mir gemeint. Oder gar nicht gelächelt, und ich hatte es mir nur eingebildet. »Nein. Keine Freundin«, sagte ich. Das Gespräch zwischen Onkel Farrell und Dr. Peddicott hinterher dauerte ewig. Er sagte mir, sie wolle mich an einen Psychiater überweisen, der mir Pillen gegen meine Depressionen verschreiben könnte. Dr. Peddicott glaubte, ich sei schwer deprimiert, und empfahl, dass ich mich noch mit etwas anderem beschäftigte als nur mit Fernsehen und Musik – zusätzlich zum Psychodoktor und den bunten Pillen. Onkel Farrell dachte an Football, was angesichts meiner Größe nicht überraschend war. Aber Football war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. »Onkel Farrell«, erklärte ich ihm, »ich will kein Football spielen.« »Du bist ein absoluter Risikokandidat«, antwortete Onkel Farrell. »Du trägst alle Risikofaktoren in dir, die zu einer schweren Psychose führen können. Erstens hast du keinen Vater. Zweitens keine Mutter. Drittens kümmert sich einer um dich – nämlich ich –, der nie da ist, und viertens lebst du in einer fremden Stadt und hast keine Freunde … Halt, da war noch was. O ja: Du bist fünfzehn.« »Ich will meinen Führerschein machen«, sagte ich. »Deinen Führerschein?« »Ja. Meinen vorläufigen Führerschein. Damit ich 14
mit dir herumfahren darf.« »Ich erkläre dir gerade, dass du kurz vor dem Zusammenbruch stehst, und du erzählst mir, dass du deinen Führerschein machen willst?« »Du hast mich dran erinnert: dass ich schon fünfzehn bin.« »Dr. Peddicott meinte, es wäre eine prima Idee«, sagte Onkel Farrell. »Der Führerschein?« »Nein! Dass du in die Footballmannschaft einsteigst! Erstens brauchst du Bewegung. Zweitens ist es eine prima Möglichkeit, dein Selbstvertrauen aufzumöbeln und Freunde zu finden. Und drittens, sieh dich doch nur an! Bei der Liebe der Heiligen Jungfrau Maria, du bist so etwas wie eine Naturgewalt! Jeder Trainer würde dich in seiner Mannschaft wollen.« »Ich mag Football nicht«, sagte ich. »Du magst Football nicht? Wie kannst du Football nicht mögen? So was gibt’s doch gar nicht! Welcher amerikanische Junge mag kein Football? Wahrscheinlich sagst du mir als Nächstes, dass du Tanzunterricht nehmen willst.« »Ich will keinen Tanzunterricht.« »Sehr gut, Al. Ausgezeichnet. Wenn du mir sagen würdest, du wolltest tanzen lernen, wüsste ich nicht, was ich täte. Wahrscheinlich würde ich mich irgendwo von den Klippen stürzen.« 15
»Ich mag keine Schmerzen.« »Ach, komm schon. Deine Gegner werden von dir abprallen wie … wie Pygmäen! Wie Mücken! Wie Pygmäen-Mücken-Winzlinge!« »Onkel Farrell, ich fange schon an zu heulen, wenn ich einen Splitter im Finger hab. Wenn ich Blut sehe, wird mir schwindlig. Und ich krieg immer sofort blaue Flecken.« Aber Onkel Farrell wollte mein Nein nicht gelten lassen. Am Ende bestach er mich. Er sagte, den Schüler-Führerschein bekäme ich nur, wenn ich es wenigstens einmal mit der Footballmannschaft versuchte. Und sowieso, wenn ich’s nicht täte, verspräche er mir, mich so mit bunten Pillen voll zu stopfen, dass ich nicht mal mehr dran denken würde, mich zum – ’tschuldigung – Scheißen hinzusetzen. Onkel Farrell konnte ganz schön krass sein. Den Führerschein wünschte ich mir wirklich, und ich wollte auch nicht so gedopt werden, dass ich vergaß, mich aufs Klo zu setzen – also ging ich zum Football.
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KAPITEL ZWEI
I
ch wurde die zweite Besetzung für den Right Guard, das ist ein Angriffsspieler, und damit so etwas wie der Übungs-Dummy für unsere erste Verteidigung. Trainer Harvey war ein kleiner runder Typ mit einem Bauch, der ihm über den Gürtel hing, und Waden, die so dick waren wie mein Kopf, und mein Kopf hatte ganz schöne Ausmaße. Wie viele andere seiner Kollegen schrie auch Trainer Harvey gerne. Besonders gerne schrie er mich an. Aber das war noch gar nichts gegen den Nachmittag, ungefähr einen Monat bevor Onkel Farrell seinen Handel mit dem Hauptagenten der Finsternis abschloss. Ich hatte gerade einen Linebacker an mir vorbeischießen und in den loslaufenden Quarterback rennen lassen, den beliebtesten Jungen der Schule, Barry Lancaster. Das hatte ich nicht gewollt, aber ich hatte Schwierigkeiten, mir die Abläufe aus dem Playbook zu merken. Die waren ungeheuer kompliziert, besonders wenn man bedenkt, dass sie für Sportskanonen gedacht waren, von denen die meisten ja kaum lesen können. Egal, ich hatte gedacht, 17
Barry hätte Dog Right gerufen, in Wirklichkeit aber war es Hog Right gewesen. Dieser eine Buchstabe macht einen großen Unterschied, und Barry lag auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerz. Trainer Harvey kam vom Spielfeldrand angestürmt, die silberne Pfeife zwischen den fetten Lippen, und flippte völlig aus. »Kropp!« Pfeifen. »Kropp!« Pfeifen. »Kropp!« »Tut mir Leid, Trainer«, sagte ich. »Ich hab Dog statt Hog verstanden.« »Dog statt Hog!« Er drehte den Kopf zu Barry, der sich immer noch auf dem Boden krümmte. Den Körper hielt er weiter mir zugewandt. »Lancaster! Hast du dich verletzt?« »Ich bin okay, Trainer«, keuchte Barry. Für mich sah er alles andere als okay aus. Sein Gesicht war so weiß wie die Linien auf dem Feld. »Was sollte das sein, Kropp?«, fuhr Trainer Harvey mich an. »Hmm, Dog Right!«, sagte ich. »Dog! Dog! Du dachtest Hog wäre Dog! Wie kann Dog bloß Hog sein, Kropp? Häh? Na los!« Die ganze Mannschaft hatte sich um uns versammelt, wie Gaffer bei einem schrecklichen Autounfall. Trainer Harvey hob den Arm und schlug mir auf den Helm. »Was ist los mit dir, Junge?« Wieder schlug er mir auf den Helm. Nach jeder seiner Fragen bekam ich 18
einen Schlag auf den Kopf. »Bist du blöd?« Klatsch. »Bist du blöd, Kropp?« Klatsch. »Du hast sie nicht alle, oder, Kropp?« Klatsch. Klatsch. »Nein, Sir, das bin ich nicht.« »Nein, Sir, was bin ich nicht?« »Blöd, Sir.« »Bist du sicher, dass du nicht blöd bist, Kropp? Schließlich verhältst du dich so. Spielst blöde, redest blöde. Bist du ganz sicher, Kropp, dass du nicht blöde bist?« Klatsch. Klatsch. Klatsch. »Ja, Sir, das weiß ich!« Wieder schlug er mich. Ich schrie: »Meine Mutter hat meinen IQ testen lassen, und ich bin nicht blöd, Sir!« Jetzt brüllten alle los und wollten die nächsten drei Wochen gar nicht mehr aufhören zu lachen. Überall hörte ich es: »Meine Mommy hat meinen IQ testen lassen, und ich bin nicht blöd!« – und zwar nicht nur in der Umkleide (wo ich’s ständig zu hören bekam). Es verbreitete sich in der ganzen Schule: »Meine Mommy hat meinen IQ testen lassen …« Es war furchtbar. Abends nach dem Training fragte mich Onkel Farrell, wie es voranging. »Ich will nicht mehr Football spielen«, sagte ich. 19
»Du spielst, Alfred.« »Es ist nicht nur wegen mir, Onkel Alfred. Ich tu auch anderen weh.« »Entweder du spielst«, sagte er, »oder es gibt keinen Führerschein.« »Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Was ist so schlimm daran, nicht Football zu spielen? Ich find’s ziemlich blöde, dass ich Football spielen soll, bloß weil ich groß bin.« »Okay, Alfred«, sagte er. »Dann sag du was. Was willst du? Willst du in die Marschkapelle?« »Ich kann kein Instrument.« »Wir reden von einer High-School-Truppe, Alfred, nicht von den New Yorker Philharmonikern.« »Trotzdem, ein paar Grundkenntnisse wird man brauchen. Notenlesen und so.« »Auf jeden Fall wirst du nicht den ganzen Tag in deinem Zimmer liegen, Musik hören und vor dich hin dösen. Und ich bin’s leid, ständig mit neuen Vorschlägen kommen zu müssen. Also los: Was kannst du? Was machst du gern?« »In meinem Zimmer liegen und Musik hören.« »Ich rede davon, was du kannst, Schlaumeier, von deinen Talenten, besonderen Fähigkeiten – du weißt schon, das, wo du besser bist als andere.« Ich dachte nach. Mir fiel nichts ein. »Gott nochmal, Al, jeder ist in irgendwas gut«, sagte Onkel Farrell. 20
»Was ist so falsch daran, Durchschnitt zu sein? Sind das nicht die meisten Leute?« »Sind sie das? Ist das alles, was du von dir erwartest, Alfred?« Sein Gesicht lief langsam rot an. Ich rechnete schon damit, dass er mir wieder einen seiner Vorträge über die Männer halten würde, die was in dieser Welt bewegten, und wie jeder mit etwas Glück Erfolg haben konnte, wenn er sich nur darum bemühte. Aber das tat er nicht. Stattdessen zog er mich mit sich zum Auto, und wir fuhren in die Stadt. »Wo fahren wir hin?«, fragte ich. »Ich nehme dich mit auf eine magische Reise, Alfred.« »Eine magische Reise? Wohin?« »In die Zukunft.« Wir fuhren über eine Brücke und näherten uns einem riesigen gläsernen Gebäude, das alles überragte. Das Glas war dunkel getönt, so dass sich die Silhouette wie ein riesiger, schwarz glänzender Daumen in den Abendhimmel reckte. »Weißt du, was das ist?«, fragte Onkel Farrell. »Da arbeite ich, Alfred. Das ist Samson Towers. Dreiunddreißig Stockwerke hoch und drei Blocks breit. Sieh es dir gut an, mein Junge.« »Onkel Farrell, das ist nicht der erste Wolkenkratzer, den ich sehe.« Er sagte nichts, aber sein schmales Gesicht wirkte 21
verärgert. Onkel Farrell war vierzig und so klein und dürr, wie ich groß und fleischig war, nur sein Kopf war so mächtig wie meiner. Wenn er seine Uniform anhatte, erinnerte er mich an Barney Fife aus der alten Andy-Griffith-Show, oder besser gesagt, an einen PEZ-Spender mit Barney-Kopf, ihr wisst schon, die Pfefferminzspender mit den großen Köpfen und dem dünnen Unterteil. Ihn mit so einem vertrottelten Versager wie Barney Fife zu vergleichen, machte mir ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte nicht anders. Er hatte sogar die feuchten, wulstigen Lippen wie Barney. Onkel Farrell bog in die Tiefgarage ein und steckte eine Plastikkarte in den Automaten am Eingang. Das Tor öffnete sich, und er fuhr langsam auf das fast leere Parkdeck. »Wem gehört Samson Towers, Alfred?«, fragte er. »Einem Mann namens Samson?«, riet ich. »Einem Mann namens Bernard Samson«, sagte er. »Du hast wahrscheinlich nie von ihm gehört. Bernard Samson hat sich von ganz unten hochgearbeitet. Mit sechzehn kam er ohne einen Cent in der Tasche nach Knoxville, und heute gehört er zu den reichsten Männern Amerikas. Willst du wissen, wie er das geschafft hat?« »Hat er den i-Pod erfunden?« »Hart gearbeitet hat er, Alfred. Und zur harten Arbeit kamen Stärke, Mut, Weitsicht und Leidenschaft. 22
Denn eins musst du wissen: Talent und Intelligenz reichen in dieser Welt nicht aus. Es gibt reichlich intelligente, talentierte Versager. Willst du wissen, wem die Welt gehört, Alfred?« »Microsoft?« »Mach du nur deine Witze, Schlaumeier. Nein. Die Welt gehört den Menschen, die nicht aufgeben. Die wieder aufstehen, wenn es sie aus den Schuhen haut, und den Kopf noch einmal hinhalten.« »Okay, Onkel Farrell«, sagte ich. »Ich hab’s kapiert. Aber was ist mit der Zukunft?« »Richtig«, sagte er. »Die Zukunft! Komm, Alfred. Hier in der Garage werden wir sie nicht finden.« Wir fuhren mit dem Aufzug in die Eingangshalle. Onkel Farrell führte mich zu einer hufeisenförmigen Theke, von der man die zwei Stockwerke hohe Halle gut im Blick hatte. Etwa auf halbem Weg zwischen der Theke und den Türen zur Straße donnerte ein riesiger Wasserfall aus zehn Metern Höhe auf ein paar Felsen. Die stammten aus dem Pigeon River in den Smokies, und es hatte einiges gekostet, sie herzuschaffen, wie Onkel Farrell mir erklärte. Man musste sich fast anschreien bei dem Lärm. »Das Komische am Leben ist, dass du nie weißt, wo es dich hinspült!«, rief mir Onkel Farrell ins Ohr. »Als Bernard Samson in unsere Karosseriewerkstatt schlenderte, war ich gerade bei der Arbeit. Er fing ein Gespräch an, und ehe ich mich versah, saß ich 23
hier und verdiente das Doppelte. Fürs Dasitzen, für nichts! Das Doppelte für nichts, einfach nur, weil der reichste Mann von Knoxville mir einen Job geben wollte!« Hinter der Theke reihten sich Dutzende von Monitoren aneinander, mit denen man jeden Winkel von Samson Towers im Blick hatte. »Technisch gibt’s nichts Besseres, Alfred. Ich sage dir, das Gebäude ist sicherer als Fort Knox. Lasersensoren, Geräuschdetektoren – alles, was du dir vorstellen kannst.« »Das ist echt cool, Onkel Farrell.« »Echt cool«, wiederholte er. »Darauf kannst du wetten. Und hier sitze ich, sechs Nächte die Woche, acht Stunden lang, und starre auf die Monitore. Beobachte. Und was, glaubst du, beobachte ich, Alfred?« »Hast du nicht gerade gesagt, die Monitore?« »Ich beobachte das Nichts, Alfred. Sechs Nächte die Woche, acht Stunden lang, sitze ich genau hier auf diesem kleinen Stuhl und beobachte das Nichts.« Er beugte sich jetzt nahe zu mir hin, so nahe, dass mir sein nicht sehr gut riechender Atem in die Nase stieg. »Das ist die Zukunft, Alfred. Deine Zukunft – so oder ähnlich –, wenn du keine Leidenschaft entwikkelst. Nicht herausfindest, weshalb du auf der Welt bist. Dann wartet ein Leben voller Nichts auf dich.« 24
KAPITEL DREI
I
ch paukte ziemlich für meine Fahrprüfung, trotzdem fiel ich durch. Auch beim zweiten Versuch schaffte ich es nicht, machte aber nicht mehr so viele Fehler. Wenigstens war ich damit ein besserer Versager. Für Onkel Farrell bewiesen meine Ergebnisse, dass ich nicht den Mumm hatte, mich durchzubeißen, nicht mal bei so etwas Einfachem wie dem Schüler-Führerschein. In der Schule ging es nicht viel besser. Barry Lancasters Handgelenk war immer noch übel verstaucht, weswegen er genau wie ich auf der Ersatzbank saß. Barry war darüber nicht glücklich. Er lief überall herum und verkündete, dass er den »Kropp schon noch kriegen« würde, und ich war auf der Hut und wartete darauf, dass er mit dem Kriegen anfing. Ich wurde echt schreckhaft. Kaum krachte es irgendwo oder eine Tür schlug zu, machte ich mir fast in die Hose. Eines Nachmittags in den ersten Frühlingstagen war Onkel Farrell bereits aufgestanden, als ich nach Hause kam. 25
»Was ist?«, fragte ich. »Was ist was?« »Warum bist du schon auf?« »Hört ihn an, den König der Zwanzig Fragen.« »Das waren nur zwei Fragen, Onkel Farrell, und dann gehörten sie auch noch zusammen, das heißt, sie würden wahrscheinlich nur als eineinhalb gelten.« »Weißt du, Alfred, Leute, die sich für witzig halten, sind es in Wirklichkeit nur selten.« »Ich halte mich nicht für witzig. Ich bin zu groß, zu fett, zu langsam und ein ziemlicher Versager, aber witzig bin ich sicher nicht. Warum bist du schon auf, Onkel Farrell?« »Wir bekommen Besuch«, sagte er und befeuchtete seine wulstigen Lippen mit der Zunge. »Besuch?« Zu uns kam nie jemand. »Wer denn?« »Jemand, der sehr wichtig ist, Alfred. Zieh dir saubere Sachen an und komm in die Küche. Wir essen heute früher.« Ich zog mich um, und mein tiefgefrorener Hamburger kam gerade frisch aus der Mikrowelle, als ich mich an meinen Platz am Küchentisch setzte. Onkel Farrell trank ein Bier, was ungewöhnlich war. Er trank sonst nie Bier zum Essen. »Alfred, wie würde es dir gefallen, wenn wir aus diesem Loch in eine der großen Villen in Sequoia Hills ziehen würden?« »Häh?« 26
»Du weißt schon: Wo die Reichen leben.« Ich dachte darüber nach. »Das wäre toll, Onkel Farrell. Aber seit wann sind wir reich?« »Wir sind nicht reich. Aber vielleicht werden wir es. Eines Tages.« Er lächelte geheimnisvoll, während er auf seinem Hamburger herumkaute. »Nächste Woche machst du deine Führerscheinprüfung nochmal. Wie würde dir ein Enzo Ferrari als erstes Auto gefallen?« »Oh, Mann, das wäre der Wahnsinn, Onkel Farrell«, sagte ich. Er war manchmal so. Es ist kein großes Geheimnis, dass es bescheuert ist, arm zu sein, aber arm und arm ist noch ein Unterschied, und wirklich arm waren wir nicht. Ich meine, ich musste nie hungrig ins Bett, und es gab immer Strom, aber es war sicher nicht einfach, jede Nacht so völlig einsam und allein für den reichsten Mann von Knoxville zu arbeiten. Onkel Farrell hatte in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen, und das kann einen schon mal auf verrückte Ideen bringen. »Aber noch lieber hätte ich einen Hummer.« »In Ordnung, einen Hummer. Was für ein Auto, ist egal, Al. Der Mann, der uns heute Abend besucht, ist sehr reich, und er hat diesen Vorschlag gemacht… Nun, wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann haben wir, du und ich, für immer ausgesorgt.« »Ehrlich, Onkel Farrell, ich wusste nicht, dass wir uns deswegen gerade Sorgen machen.« 27
»Er heißt Arthur Myers, und ihm gehört Tintagel International. Hast du je von Tintagel International gehört?« »Nein.« »Nun, es ist eines der größten internationalen Konglomerate, die es gibt, vielleicht sogar noch größer als Samson Industries.« »Okay.« »Das Geschäft ist Folgendes, Al: Eines Nachts, als ich wie alle anderen Nächte ganz mutterseelenallein auf meinem Platz hockte und nichts tat, klingelte plötzlich das Telefon, und rate mal, wer da am anderen Ende war?« »Mr Myers.« »Genau!« »Was ist ein Konglomerat?« »Das ist eine Firma, der andere Firmen gehören. Oder so ähnlich. Darum geht es aber nicht, Alfred. Hör auf, mich zu unterbrechen, und konzentrier dich. Okay?« »Ich werd’s versuchen, Onkel Farrell.« »Also kurz und gut, Mr Arthur Myers sagt, er hat einen Geschäftsvorschlag für mich.« »Der Besitzer eines der größten Konglomerate dieser Welt will ein Geschäft mit dir machen?«, fragte ich. »Es ist verrückt!« »So hört es sich an.« 28
»Das habe ich auch gedacht!« Onkel Farrell klopfte mit der Gabel auf seinen Teller und redete plötzlich sehr schnell. »Was bin ich denn schon? Ein kleiner unwichtiger Nachtwächter. Aber ich habe mich mit ihm getroffen, und wie sich herausstellt, war er es wirklich, und er braucht meine Hilfe. Unsere Hilfe, Alfred.« »Unsere Hilfe?« Je mehr er über sein seltsames Geschäft erzählte, desto komischer kam es mir vor. »Myers und Bernard Samson kennen sich seit ewigen Zeiten, musst du wissen. Die waren schon, ich weiß nicht, damals drüben in ihrer alten Heimat Kumpel. Egal, Myers hat Samson davon überzeugt, in ein Riesengeschäft zu investieren – ich habe keine Ahnung, worum es dabei genau ging, aber ganz offenbar war eine Menge Geld im Spiel, und die Sache scheiterte. Vollkommen. Samson hat übel bluten müssen und Myers daran die Schuld gegeben.« »Warum Myers?« »Ich weiß es nicht. Hör zu und unterbrich mich nicht, Alfred. Wir haben nicht viel Zeit.« »Warum haben wir nicht viel Zeit?« »Darauf komme ich noch.« »Worauf?« »Auf den Grund, warum wir nicht viel Zeit haben.« Er holte tief Luft. »Mr Samson gab Mr Myers die Schuld daran, dass 29
das Geschäft gescheitert war. Er kam nicht drüber weg – Mr Samson, meine ich – und machte was Schreckliches.« »Was hat er gemacht?« »Er hat etwas gestohlen.« »Von Myers?« »Nein, aus dem Louvre in Paris. Natürlich von Myers! Samson hat es gestohlen und in seinem Büro weggeschlossen.« Langsam begriff ich. »In seinem Büro in Samson Towers?« »Genau richtig. Verstehst du? Samson Towers und der Nachtwächter, der bewacht, was ganz allein Myers gehört.« »Und jetzt will er es zurück.« »Genau. So ist es und …« »Was ist es?« »Was ist was?« »Das, was Samson gestohlen hat.« »Oh. Das weiß ich nicht.« »Das weißt du nicht?« Onkel Farrell schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.« »Onkel Farrell, wie willst du es da rausholen, wenn du nicht weißt, was es ist?« »Das ist ein Detail, Alfred. Nur ein Detail. Die Sache ist die…« »Ein echt wichtiges Detail, wenn du mich fragst.« 30
»Willst du nicht wissen, was die Sache ist?« »Klar.« Sein Mund bewegte sich, aber es kam kein Ton heraus. »Ständig unterbrichst du mich, und ich verliere den Faden. Wusch, weg ist er! Wo war ich stehen geblieben?« »Du wolltest mir sagen, was die Sache ist.« »Die Sache? Oh. Ja! Die Sache ist die, dass er mir eine Million Dollar zahlt, um es zurückzubekommen.« Ich starrte ihn an. »Sagtest du ›eine Million Dollar‹?« »Nun, ganz sicher nicht eine Million Pesos!« Ich dachte darüber nach. »Es ist illegal.« »Nein, ist es nicht.« »Aber wenn Mr Samson es geklaut hat, warum geht Myers dann nicht zur Polizei?« Onkel Farrell benetzte sich die Lippen. »Er sagt, er will nicht, dass die Polizei da mit reingezogen wird.« »Wieso nicht?« »Er sagt, er will das alles im Stillen regeln. Er will damit nicht vor Gericht, weil dann die Zeitungen und das Fernsehen darüber berichten würden, und das will er nicht.« »Vielleicht gehört das Ding ja Mr Samson, und Mr Myers lügt. Vielleicht benutzt er dich einfach, weil du der Mann mit den Schlüsseln bist.« »Genau, ich bin der Mann mit den Schlüsseln, des31
halb braucht er mich. Aber ich bin kein Dieb, Al. Hör zu, ich erzähle das nicht, um mir deine Erlaubnis zu holen, sondern weil ich dich um deine Hilfe bitten möchte.« »Meine Hilfe?« »Genau«, sagte Onkel Farrell. »Ich kann das nicht alleine, Al. Und da habe ich mir gedacht, wer könnte mir besser helfen als du, wo du doch am Ende von der Sache mit profitierst. Eine Million Dollar! Stell dir vor, Al, du bist erst fünfzehn und noch nicht so lange auf der Welt. Nicht so lange wie ich, und Gelegenheiten wie diese, die bekommt man nur einmal im Leben!« »Ich muss drüber nachdenken«, sagte ich. Er hörte auf zu kauen, und der Mund stand ihm leicht offen, so dass man den MikrowellenHamburger-Brei sehen konnte. »Was soll das heißen, dass du darüber nachdenken musst? Worüber nachdenken? Ich bin dein Onkel, der Rest deiner Familie, nachdem sich dein Taugenichts von einem Vater davongemacht hat und deine Mutter an Krebs gestorben ist. Gott schenke ihrer armen Seele Ruhe und Frieden. So eine Gelegenheit bietet sich wahrscheinlich nie wieder, eine leckerleichte Million Dollar für eine Stunde Arbeit, und du sagst mir, du musst darüber nachdenken!« »Da gibt’s jede Menge zu überlegen, Onkel Farrell.« 32
Er schnaufte. »Dann würde ich sagen, du beeilst dich besser damit, Alfred, weil …« Es klingelte. Onkel Farrell zuckte zusammen und zeigte mir seine Zähne. Er hatte sehr große Zähne. »Das ist er. Er ist da.« »Wer ist da?« »Myers! Ich habe dir doch gesagt, wir haben nicht viel Zeit.« »Mr Myers steht draußen vor der Tür?« »Weißt du was, Alfred? Wenn einer so einen großen Kopf hat wie du, sollte man glauben, dass er schneller denken kann. Räum den Tisch ab und komm dann zu uns ins Wohnzimmer, verstanden? Einen Mann wie Arthur Myers lässt man nicht warten.« Und schon war er im Flur. Ich hörte, wie er die Haustür öffnete und sagte: »Hallo, Mr. Myers! Auf die Minute. Kommen Sie herein und fühlen Sie sich wie zu Hause. Alfred! Alfred ist der Junge, von dem ich Ihnen erzählt habe.« Ich hörte die Stimme eines Mannes, konnte aber nicht verstehen, was er sagte, er sprach sehr leise. Ich trug die Teller zur Spüle und wischte den Küchentisch ab. Im Wohnzimmer sagte Onkel Farrell: »Würden Sie gern etwas trinken, Mr. Myers?« Und gleich darauf rief er zu mir herüber: »Alfred! Kochst du bitte einen Kaffee?« 33
Ich setzte also die Kaffeemaschine in Gang, stand neben der Spüle und kaute auf meinem Daumennagel herum. Onkel Farrell wollte mich diesem Arthur Myers vorstellen, aber aus irgendeinem Grund hatte ich Angst. Die Sache schien mir ziemlich zwielichtig. Warum sollte jemand mit so viel Geld und so viel Macht wie Arthur Myers Onkel Farrell eine Million Dollar geben, damit er ihm etwas »wiederbeschaffte«? Was in Samson Towers war so wertvoll? Aber meine größte Sorge war, was geschehen würde, wenn sie Onkel Farrell dabei erwischten, wie er in Bernard Samsons Büro einbrach. Wenn er ins Gefängnis kam, musste ich zurück in eine Pflegefamilie. Ich wartete, bis der Kaffee fertig war, schenkte zwei Tassen ein und trug sie ins Wohnzimmer hinüber. Onkel Farrell saß auf der Kante des Sofas und beugte sich in Richtung des Sessels, in dem Arthur Myers saß. Auf dem Boden neben Myers stand eine große lederne Tasche mit goldenen Verschlüssen. Arthur Myers war dünn und hatte langes braunes, zu einem Zopf zusammengebundenes Haar. Der Zopf hing ihm bis auf den Rücken hinunter. Sein Seidenanzug hatte eine komische Farbe, er war fast bunt: Wenn er sich bewegte, ließ das Licht den Stoff schimmern, erst blau, dann weiß, dann rot. Am bemerkenswertesten an ihm waren jedoch die Augen, die ihm unter 34
vorwuchernden Brauen tief im Kopf saßen. Sie waren dunkelbraun, man konnte fast denken schwarz. Als er diese Augen auf mich richtete, erfasste mich ein Schauder, als ginge ich über ein Grab. »Alfred!«, sagte Onkel Farrell. »Kaffee! Wunderbar! Wie trinken Sie Ihren Kaffee, Mr. Myers?« »Schwarz, danke«, sagte Mr. Myers und nahm mir die Tasse ab. Er klang ein bisschen wie ein Franzose, aber dann auch wieder nicht. Ich weiß nicht, ich kenn mich nicht gut aus mit Akzenten. »Sie sind also Alfred Kropp«, sagte er jetzt. »Ihr Onkel hält große Stücke auf Sie.« »Wirklich?« Ich drehte mich zu Onkel Farrell um. »Mit Sahne und zwei Löffeln Zucker«, sagte ich und gab ihm die Tasse. »Ja, das tut er«, sagte Myers. »Aber er hat mir nichts von deinen beeindruckenden… Proportionen erzählt. Spielst du in der Footballmannschaft deiner Schule?« »Ich hab’s probiert«, sagte ich, »als zweite Besetzung für den Right Guard, aber der Trainer hat mich kaum eingesetzt, weil ich mir die Spielzüge nicht merken kann. Ich bin nur reingekommen, wenn wir weit in Führung lagen. Beim Training habe ich dann Mist gebaut und unseren Quarterback verletzt. Kann sein, dass ich ihm damit die Chance verdorben habe, aufs College zu kommen. Ich glaube, der bringt mich deswegen noch um.« 35
»Komm her, Al, und mach’s dir bequem«, sagte Onkel Farrell und klopfte neben sich aufs Sofa. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wandte sich wieder an Mr. Myers. »Ich habe Al bereits in die Einzelheiten der Operation eingeweiht.« »Mir war erst nicht ganz wohl dabei, wie Sie wissen«, sagte Mr. Myers. »Aber ich verstehe, dass Sie einen Komplizen brauchen. Solange ihm zu trauen ist.« »Oh«, sagte Onkel Farrell. »Absolut.« »Ich bin nicht sicher, ob ich mitmachen kann«, sagte ich. Die beiden Männer starrten mich an. »Ich meine, ich bin nicht gerade der Schnellste… Ich kann mir ja nicht mal einen Footballspielzug merken. Und dann kommt mir das Ganze irgendwie verdächtig vor.« Arthur Myers schlug die langen Beinen übereinander, legte die Ellbogen auf die Armlehnen und formte mit seinen dünnen Fingern einen kleinen Turm. »In welcher Hinsicht kommt Ihnen das ›irgendwie verdächtig‹ vor, Mr. Kropp?« »Zum Beispiel, Mr. Myers, haben Sie eben das Wort ›Komplize‹ gebraucht. Das klingt, als verwikkelten Sie Onkel Farrell in eine krumme Sache.« »Da habe ich wohl das falsche Wort benutzt. Wie wäre es mit ›Partner‹? Würde Ihnen das besser gefallen?« »He, das klingt wunderbar«, sagte Onkel Farrell. 36
»Die andere Sache ist«, sagte ich, »woher wissen wir eigentlich, dass dieses Wie-soll-ich-es-Nennen in Mr. Samsons Büro auch wirklich Ihnen gehört? Vielleicht gehört es Mr. Samson, und Sie haben die ganze Geschichte erfunden, damit wir es für Sie stehlen.« »Alfred!«, rief Onkel Farrell und hauchte mit den Lippen die Worte. »Kebein Webort vebon Stebehleben!« Mr. Myers hob die Hand. »Das ist schon in Ordnung, Mr. Kropp. Der Junge hat Ehrgefühl. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, besonders nicht bei jemandem, der noch so jung ist.« Damit richtete er seine dunklen Augen wieder auf mich, und ich spürte einen Druck auf der Brust, als quetschte mir eine riesige Faust die Rippen zusammen. »Was hätten Sie gerne, Mr. Kropp? Bestätigungen? Zeugenaussagen? Eine Besitzurkunde oder eine Kaufquittung wie für eine Packung Müsli? Es handelt sich um ein Familienerbstück, einen Schatz, der von einer Generation an die nächste weitergereicht wurde. Bernard Samson hat mir dieses Erbstück weggenommen, weil er Vergeltung für ein schief gegangenes Geschäft wollte, eine unglückliche Fügung, an der ich keine Schuld trug. Würden Sie Samson kennen, würden Sie glauben, dass er es mir gestohlen hat.« »Ich kenne ihn aber nicht«, sagte ich. »Ich habe ihn nie gesehen. Warum hat er es Ihnen gestohlen?« »Aus Rache.« 37
»Haben Sie ihn gebeten, es Ihnen zurückzugeben, was immer es auch ist?« Mr. Myers starrte mich eine Sekunde lang an, bevor Onkel Farrell sagte: »Ja, das ist eine gute Frage, Mr. Myers. Ich meine, was ist es eigentlich, was wir Ihnen wiederbeschaffen sollen?« »Das hier«, sagte Mr. Myers, zog einen langen braunen Umschlag aus der Tasche und gab ihn Onkel Farrell. Dabei sah er mich immer noch an. »Ich dachte nur, vielleicht brauchen Sie gar keine Million Dollar zahlen, um es zurückzubekommen«, sagte ich. »Vielleicht könnten Sie und Mr. Samson sich einfach wieder vertragen, und dann gibt er es Ihnen zurück.« »Was Sie nicht sagen, Mr. Kropp.« Mr. Myers lächelte mich an. Mein Gesicht glühte, aber ich machte weiter. »Ich weiß zwar nicht, wie es in der Welt der großen Geschäfte und Konglomerationen zugeht, aber wenn ich einen Streit mit einem Freund hätte oder ihm was geborgt hätte und plötzlich wollte er es nicht zurückgeben, würde ich ihn zu mir nach Hause einladen, vielleicht ein paar Videospiele mit ihm spielen – Sie würden wahrscheinlich Martinis mit ihm trinken –, und dann täte ich ein bisschen nett und würde ihn am Ende bitten, mir das Geborgte zurückzugeben. ›He, Bernie‹, würde ich sagen – oder Bernard, oder wie Sie ihn nennen –, ›ich weiß, du bist 38
stinksauer, aber was du mir da geklaut hast, das bedeutet mir sehr viel, das ist schon seit Generationen in der Familie, und vielleicht können wir ja eine Lösung finden, weil, ich würde nur sehr ungern zur Polizei gehen …‹ So was in der Art würde ich sagen. Haben Sie nie darüber nachgedacht?« »Sie haben Recht, Mr. Kropp«, sagte Mr. Myers und trug immer noch dasselbe starre Lächeln auf den Lippen. »Sie wissen nicht, wie ›Konglomerationen‹ arbeiten. Lehnen Sie und Ihr Onkel den Auftrag also ab? Die Zeit drängt.« »Warum?« »Nun, Mr. Kropp«, sagte Arthur Myers zu Onkel Farrell, »wie stolz Sie auf diesen Jungen sein müssen. Er ist so direkt! Besonnen! So… wissbegierig!« »Ich bin seine ganze Familie«, sagte Onkel Farrell. »Und er ist so viel allein, wissen Sie, weil ich tagsüber schlafe und die ganze Nacht weg bin. Es ist ein Wunder, dass er nicht längst vor dem Jugendgericht gelandet ist, wenn Sie mich fragen.« Onkel Farrell hatte den Umschlag geöffnet und zog ein großes Glanzfoto hervor, das er mir gleich hinhielt. Ich betrachtete es. »Es ist ein Schwert«, sagte ich. »Ja.« Aus irgendeinem Grund lachte Mr. Myers. »Und die große Pyramide im Tal der Könige ist nichts als ein Grabstein.« 39
Das Schwert lag in einer gläsernen Vitrine, genau wie in einem Museum. Es glänzte mattsilbern und hatte einen kunstvollen Griff. Aber »Griff« war nicht das richtige Wort. Gab es nicht ein extra Wort für den Griff von einem Schwert? Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, darauf zu kommen. Unten auf dem flachen Teil der Klinge stand etwas eingraviert, vielleicht war es aber auch nur eine verschlungene Verzierung. Ich konnte es nicht erkennen. »Ich habe dieses Foto vor Jahren gemacht«, sagte Mr Myers, während ich das Schwert immer noch anstarrte. »Für die Versicherung. Für Samson war es Liebe auf den ersten Blick, er war vom allerersten Moment an von unserem Familienstück fasziniert und wollte es gleich kaufen. Er bot mir einen fantastischen Preis dafür, aber ich lehnte natürlich ab. Das Schwert war zwar weit weniger wert, als er mir bot, aber für mich ist es unbezahlbar.« »Ich weiß, wie das ist«, sagte Onkel Farrell. »Ich habe einen Baseball von den Cubs von 1932, der…« »Ich habe ihn in der Tat gebeten, es zurückzugeben«, sagte Mr Myers. »Ich habe ihm sogar Geld dafür geboten, ohne Erfolg. Und so sehe ich keinen anderen Ausweg mehr, als es ihm heimlich wegzunehmen.« »Ich würde sagen, der alte Schlawiner verdient es nicht anders«, sagte Onkel Farrell. »Natürlich kann ich es nicht selbst tun, und ich se40
he durchaus, dass ich den Job Ihres Onkels damit in Gefahr bringe. Deshalb biete ich diese Belohnung an. Und wo wir schon davon reden …«, mit diesen Worten schob er die lederne Tasche zu Onkel Farrell hinüber, »hier ist die Anzahlung. Den Rest gibt es bei Ablieferung des Schwertes.« Onkel Farrells Hände zitterten, als er die goldenen Verschlüsse der Tasche öffnete. Drinnen waren lauter Bündel Zwanzigdollarnoten. »Oh, heilige Mutter Maria!«, flüsterte Onkel Farrell. »Fünfhunderttausend Dollar«, sagte Mr. Myers mit sanfter Stimme. »Zählen Sie nach, wenn Sie wollen.« »Oh, ich vertraue Ihnen voll und ganz, Mr. Myers!«, sagte Onkel Farrell. »Sieh dir das an, Alfred!« Aber ich sah nicht nach dem Geld. Ich sah auf das Bild von dem Schwert in der gläsernen Vitrine. Hundert Fragen rasten mir durch den Kopf, aber sie wirbelten so wild durcheinander, dass ich keine einzige von ihnen richtig zu fassen kriegte. »Wie ich es Ihrem Onkel erklärt habe, Mr. Kropp«, sagte Mr. Myers, »brauche ich jemanden, der mir das Schwert zurückholt. Jemanden von größter Tauglichkeit und Umsicht. Er muss unbestechlich sein und unberührt von den Versuchungen des Bösen. Ich brauche jemanden, der unermüdlich ist, Mr. Kropp. Einen Mann, der auch dann nicht aufgibt oder 41
zögert, wenn sich alles gegen ihn wendet. Jemanden, der sein Leben dafür einsetzt, einen Schatz wiederzubeschaffen, der weit mehr wert ist, als je ein Sterblicher dafür bieten mag.« »Sein Leben dafür einsetzt?«, fragte ich. »Onkel Farrell, er sagt, dass du vielleicht dein Leben dafür einsetzen musst.« »Er will nur etwas klar machen, Alfred. Manche Leute übertreiben, um verständlich zu machen, was sie sagen wollen. Damit du wirklich aufpasst, verstehst du? Er meint das Sein-Leben-Einsetzen nicht wörtlich. Nicht wahr, Mr. Myers? Häh? Wir sollen nicht wirklich unser Leben einsetzen?« Mr. Myers antwortete nicht. Onkel Farrell fuhr sich mit der Zunge über die großen Lippen und sagte zu mir: »Du solltest Mr. Myers genau zuhören. Von so einem Mann kannst du etwas lernen.« »Ich könnte mich in der Sache auch an … skrupellosere Männer wenden«, sagte Mr. Myers. »Ich kenne durchaus welche. Aber ich traue ihnen nicht. Genau das, was sie skrupellos macht, nimmt ihnen auch die Vertrauenswürdigkeit. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann. Jemanden, der mich nicht betrügt.« »Nun, da sind Sie bei uns genau an der richtigen Adresse, Mr. Myers!«, sagte Onkel Farrell. »Uns können Sie vertrauen. Ihr schönes Schwert ist bereits wieder so gut wie in Ihrem Besitz.« 42
»Ausgezeichnet«, sagte Mr. Myers. »Wie ich schon sagte, die Zeit drängt. Samson bricht heute Abend nach Europa auf und kommt in zwei Tagen zurück.« »Wir holen es heute Nacht«, sagte Onkel Farrell mit fester Stimme. »Oder morgen Nacht. Heute oder morgen, eins von beidem, aber vielleicht muss Al noch Hausaufgaben machen, ich weiß es nicht.« Er sah mich an. »Jedenfalls sehr bald, in einer der beiden Nächte. Heute oder morgen Nacht, nicht wahr, Al?« »Woher wissen Sie, dass das Schwert in seinem Büro ist?«, fragte ich Mr. Myers. »Ich weiß es nicht sicher, aber ich weiß, dass er es nicht zu Hause hat.« »Wir müssen nicht wissen, woher Sie das wissen«, sagte Onkel Farrell. »Nicht wahr, Alfred?« »Was passiert, wenn es nicht da ist?«, fragte ich. »Müssen wir Ihnen dann die fünfhunderttausend Dollar zurückgeben?« »He«, sagte Onkel Farrell, »das ist eine sehr gute Frage!« Er hielt die Tasche vor den Bauch gepresst, als hätte er Angst, Mr. Myers könnte die Hand ausstrecken und sie ihm wieder wegnehmen. »Natürlich können Sie das Geld behalten«, sagte Mr. Myers. »Es ist für Ihre Bemühungen. Die zweite Hälfte ist für das Schwert.« Nachdem Mr. Myers gegangen war, hatten wir ei43
nen heftigen Streit. Obwohl das Geld da auf dem Sofa lag und wir es behalten konnten, ob wir das Schwert nun fanden oder nicht, hatte ich noch immer ein echt eigenartiges Gefühl im Bauch. Es schien einfach nicht richtig. Vielleicht hatte Mr. Samson das Schwert tatsächlich gestohlen und versteckte es in seinem Büro – trotzdem kam mir der Einbruch nicht richtig vor. »Es ist doch nicht so, als sollten wir jemanden umbringen oder was wirklich Übles tun. Und denk an die Million, Alfred! Wenn wir die haben, können wir machen, was wir wollen, wohnen, wo wir wollen, und uns kaufen, was wir wollen!« Was ich auch an Einwänden vorbrachte, das Geld übertrumpfte für Onkel Farrell am Ende alles. »Tu, was du willst, Al«, sagte er sogar, »aber ich fange langsam an drüber nachzudenken, ob wir nicht vielleicht unser ganzes Arrangement ändern müssen … Ich meine, vielleicht bist du einfach zu viel für mich, und ich sollte dich zurück in Pflege geben …« Damit war der Streit beendet. Er wusste, dass ich nicht zurück zu Pflegeeltern wollte.
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KAPITEL VIER
A
m nächsten Tag erklärte mir mein Mathelehrer, dass ich auf dem besten Wege sei durchzurasseln. Das war schlimm genug, aber immer noch nicht so schlimm wie der Tutor, den sie mir zuteilten, damit ich es doch noch schaffte. Es war Amy Pouchard. Wir trafen uns nach dem Unterricht für eine halbe Stunde, nur ich, Alfred Kropp, und Amy Pouchard, die mit dem langen goldenen Haar und den dunklen Augen. Ich saß direkt neben ihr und konnte ihr Parfüm riechen. »Wo kommst du her?«, fragte sie mich mit ihrem harten Ost-Tennessee-Akzent. »Du klingst so komisch.« »Ohio«, sagte ich. »Bist du ein Förderschüler?« Förderschüler waren entweder geistig, nun ja, etwas zurückgeblieben oder kamen aus echt schlimmen Verhältnissen. Oder natürlich beides. Ich glaube, bei mir hätten einige gesagt: Beides. »Nein, ich bin nur in Mathe nicht gut.« 45
»He«, sagte sie, »Kropp! Du bist doch der, dem sie den IQ getestet haben!« »So was in der Art.« »Und du hast Barry Lancaster den Arm gebrochen.« »Der ist nicht gebrochen, und ich war es auch nicht. Aber es war meine Schuld, und damit kommt es wahrscheinlich aufs Gleiche raus.« »Ich hasse es, Nachhilfe zu geben«, sagte sie. »Warum machst du es dann?« »Weil ich dafür Punkte kriege.« »Also, ich bin dir dankbar dafür«, sagte ich. »Ernsthaft. Es ist schwer für mich – Mathe, meine ich –, aber es war auch schwer, mich an die neue Stadt, die neue Schule und das alles zu gewöhnen.« Sie steckte sich einen Kaugummistreifen in den Mund, und der Pfefferminzgeruch vermischte sich mit dem Moschus von ihrem Parfüm. »Ich gehe zu einem Psychiater«, gestand ich ihr und war mir nicht sicher, warum ich das sagte. »Nicht, dass ich gehen wollte, aber mein Onkel schickt mich. Die Frau ist ungefähr tausend Jahre alt und wollte wissen, ob ich eine Freundin habe.« Sie zerbiss ihren Kaugummi und sah mich an. Nichts hätte sie weniger interessieren können. Der Bleistift in ihrer Hand trommelte leise auf den Tisch, und wirklich alles an ihr schien sagen zu wollen, dass sie nichts von alldem interessierte. 46
»Ich habe ihr gesagt, nein, hätte ich nicht… Eine Freundin, meine ich. Weil, wenn man neu an eine Schule kommt, äh, dann ist es schwer, welche kennen zu lernen. Mädchen. Und dann bin ich auch noch schüchtern und hab Probleme mit meiner Größe.« »Stimmt, du bist ganz schön riesig«, sagte sie und hörte kurz auf zu kauen. »Vielleicht machen wir besser ein paar Aufgaben.« »Ich frage mich zum Beispiel«, sagte ich, und mein Mund war so knochentrocken, dass ich sie für einen Streifen Kaugummi hätte würgen können, »was du davon halten würdest, mit jemandem auszugehen, der so eine Figur hat wie ich.« »Ich habe einen Freund.« »Ich meinte das nur so im Prinzip.« »Barry Lancaster.« »Barry Lancaster ist dein Freund?« Sie warf sich das Haar über die rechte Schulter und nickte, und der Kaugummi in ihrem Mund machte knietsch, knatsch, knietsch. »Manche Jungs ziehen einfach ein großes Los nach dem anderen«, sagte ich und meinte damit Barry Lancaster und auf ulkige Weise auch mich. Onkel Farrell musste mich an dem Nachmittag abholen, weil ich den Bus verpasst hatte. Wir fuhren gleich zur Prüfungsstelle für den Führerschein, wo ich es ein drittes Mal versuchte. Dieses Mal kam ich durch, mit vier verpatzten Fragen, einer weniger als 47
noch erlaubt. Um den Erfolg zu feiern, fuhr ich uns zum Essen zu Denny’s. Ich bestellte mir ein TuttiFrutti-Frisch-und-Fruchtig, und Onkel Farrell nahm den Hamburger mit Roggenbrot und Käse. Er trug seine schwarze Uniform und leckte sich noch öfter als sonst über die Lippen. »Also wie hast du dich entschieden, Alfred?« »Was meinst du?« »Was die Unternehmung für Mr. Myers angeht.« »Ich finde es ziemlich unfair von dir, mir mit Pflegeeltern zu drohen, damit ich mitmache.« »Rede nicht von unfair! Ist es etwa fair von dir, dass du dein eigen Fleisch und Blut im Stich lassen willst?« »Erst sagst du mir, ich soll nicht von unfair reden, und dann fragst du mich, ob ich fair bin.« »Also?« »Das ist nicht fair.« »Manchmal denke ich, du willst mich zum Narren halten, Alfred, was ganz schön dreist ist für jemanden in deiner Lage. Zum letzten Mal, deine letzte Chance – friss oder stirb: Hilfst du mir heute Nacht oder nicht?« »Heute Nacht? Du willst es heute Nacht machen?« Er nickte. Er war bei seiner dritten Tasse Kaffee, und sein Nicken kam schnell und knapp, wie bei einer stramm eingestellten Wackelpuppe. »Ich muss. Samson ist noch weg, und Myers will sein Schwert 48
so schnell wie möglich. Jetzt oder nie. Wir sind im letzten Viertel und haben noch zehn Sekunden.« »Du machst es also, ob ich dir nun helfe oder nicht?« »Ich habe ihm mein Wort gegeben, Alfred. Ein Versprechen«, betonte er, als wollte er mich daran erinnern, meines zu halten, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, überhaupt etwas versprochen zu haben. »Die einzige Frage ist also … Wirst du mir helfen?« Als ich nicht gleich antwortete, beugte er sich dicht zu mir und flüsterte: »Du glaubst, ich werd’s nicht machen? Du glaubst, ich schick dich nicht wieder zurück?« Ich wischte mir mit der Serviette den Mund ab. Aber auf der Serviette war Sirup, und der war ganz klebrig. »Vielleicht sag ich ihnen dann, dass du das Schwert gestohlen hast.« »Sprich leise, um Himmels willen! Ich stehle nichts. Ich gebe es dem Bestohlenen zurück. Das ist eine gute Tat, Al. Ich frage dich jetzt zum letzten Mal. Hilfst du mir?« Ich betupfte mir den Mund noch einmal mit der klebrigen Serviette und musste aus irgendeinem Grund an Amy Pouchard denken. Barry Lancaster würde mich wahrscheinlich wirklich umbringen, wenn er herausfand, dass sie mir Nachhilfe gab. Und 49
dann dachte ich an meine Mom, die gestorben war, und meinen Dad, den ich nie kennen gelernt hatte. Der einzige Mensch, der mir geblieben war, saß mir am Tisch gegenüber, kippte seinen Kaffee hinunter, fuhr sich nervös über die Lippen und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Okay«, sagte ich. »Aber ich bin noch nicht volljährig, und was immer da oben passiert, werden sie dir anhängen.« »Was immer da oben passiert«, sagte er, »wird dein und mein Leben für immer verändern.« An diese Worte sollte ich mich erinnern, als sich Onkel Farrell keine fünf Stunden später zu mir umdrehte. »Alfred«, flüsterte er. Dann starb er.
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KAPITEL FÜNF
I
m Auto auf dem Weg zu Samson Towers fragte ich ihn: »Onkel Farrell, hast du dir überlegt, wie du es machen willst?« »Was machen?« »Das Schwert holen. Was ist mit den Sicherheitskameras?« »Wir stellen einfach den Strom ab.« »Für das ganze Gebäude?« »Nein, nur den Strom für das Sicherheitssystem. Der fällt hin und wieder schon mal aus.« »Gibt es kein Notstromsystem?« »Das kann man auch ausschalten. Aber dann geht nach zehn Minuten automatisch ein Telefonanruf ans Polizeipräsidium.« Ich überlegte. »Okay, damit haben wir also zehn Minuten, bis die Polizei alarmiert wird. Von dem Moment an, wenn du den Strom abdrehst.« »Ja. Und dazu kommen nochmal fünf oder sogar zehn Minuten, bis die ersten Polizisten da sind.« »Woher weißt du das?« »Wir haben etliche Übungen gemacht, Alfred.« Er 51
seufzte, und wieder wackelte sein Kopf vor und zurück. »Okay. Sagen wir also, wir haben ein Zeitfenster von fünfzehn Minuten.« »Ein ›Fenster‹? Du guckst zu viele Filme, Alfred.« »Was ist, wenn unten einer auftaucht, während wir noch in Mr. Samsons Büro sind?« »Während du in Mr. Samsons Büro bist.« »Ich?« »Nun, ich kann’s nicht machen, Alfred. Warum, glaubst du, brauche ich dich? Ich muss die Aktion unten decken. Ich bring dich rein, du holst das Schwert, und wir verschwinden. Dann ruf ich Myers an, und wir tauschen das Schwert gegen die zweite halbe Million.« Eine Weile lang fuhren wir schweigend weiter. Samson Towers reckte sich vor uns in den Abendhimmel. »Du bleibst erst mal im Auto, Alfred«, sagte Onkel Farrell und bog in die Tiefgarage. »Ich komme runter und hole dich, wenn der Schichtwechsel vorüber ist.« Er ließ mich zusammengekauert auf meinem Sitz zurück. Meine Uhr zeigte Viertel vor elf. Die Sache kam mir zwar immer noch fürchterlich faul vor, trotzdem muss ich zugeben, dass ich eine Art Jagdfieber in mir spürte. Es war fast so wie in einem Spionagefilm, nur dass wir keine Spione waren und das 52
Ganze auch kein Film. Also war es vielleicht kein Spionagefilm, sondern eher so was wie: Ein fünfzehnjähriger Junge und sein Onkel versuchen ein Schwert zu klauen, und dafür zahlt ihnen der, dem es eigentlich gehört – oder auch nicht – eine ganze Wagenladung Geld. Onkel Farrell kam wieder nach unten, und ich stieg aus dem Auto. »Alles klar«, flüsterte er. »Ich habe den Strom schon unterbrochen. Beeil dich, Alfred!« Er machte den Kofferraum auf und holte eine alte verschlissene Stofftasche heraus. »Wofür ist die?«, flüsterte ich. Die Tiefgarage war leer, und ich war nicht sicher, warum wir flüsterten. »Willst du, dass die Leute sehen, wie wir ein großes Schwert zu uns ins Haus tragen? Nimm«, sagte er und gab mir die Tasche. Wir fuhren mit dem Aufzug aus der Garage in die Eingangshalle, wo der Brunnen plätscherte und gurgelte und unsere Schritte unheimlich durch die große Leere hallten. Ich folgte Onkel Farrell zu seinem Überwachungsplatz mit den Überwachungsmonitoren. Sie waren alle dunkel. Auf Onkel Farrells Stirn standen winzige Schweißperlen. »Okay, Alfred, gehen wir.« Wir stiegen in den Aufzug. Onkel Farrell zog den Schlüssel für die Chefetage heraus. Er schwitzte jetzt 53
ziemlich stark. Auch mir lief der Schweiß herunter, und meine Zunge fühlte sich unwirklich dick an. Wir sagten kein Wort. Insgeheim wünschte ich, dass bei unserer Unternehmung am Ende eine dicke, fette Null herauskam. Dann konnten wir Mr. Myers sagen, dass wir es nicht gefunden hatten, und waren dennoch eine halbe Million reicher, statt etwas mitnehmen zu müssen, das uns nicht gehörte und vielleicht nicht einmal ihm. Die Aufzugstüren öffneten sich, und wir traten hinaus. Das Herz raste mir in der Brust, und jeder Atemzug schmerzte. Ich holte nur ganz vorsichtig Luft, um den Schmerz zu verringern. Die Doppeltür zu Mr. Samsons Büroräumen lag direkt vor uns. Onkel Farrell sah auf seine Uhr, ich hatte auch schon auf meine gesehen. »Okay, vier Minuten sind herum, wir liegen gut in der Zeit«, sagte er. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, und die Türen öffneten sich geräuschlos. Ich tastete nach dem Lichtschalter. »Kein Licht«, fuhr mich Onkel Farrell an. Er zog seine Taschenlampe aus dem Gürtel. »Die könnte auch jemand sehen«, sagte ich. »Also, äh, tut mir Leid, Alfred, ich habe meine Infrarot-Nachtsicht-Brille zu Hause gelassen, das heißt, uns bleibt keine Wahl.« Er schaltete die Taschenlampe ein, und der Licht54
kegel fiel auf den dunklen Mahagonischreibtisch der Sekretärin. »Wo ist es?«, fragte ich. »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht?« »Ich glaube nicht, dass es hier draußen ist.« Mit diesen Worten zog er ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche. »Sind so Handschuhe nicht zum Geschirrspülen?« »Die sind aus dem Schrank des Hausmeisters. Hier, zieh sie an.« »Wo sind deine?«, fragte ich. »Ich arbeite hier, Al«, erinnerte er mich. »Meine Fingerabdrücke sind ohne Bedeutung.« »Aber wird sich die Polizei nicht wundern, wenn deine Abdrücke überall auf Mr. Samsons Sachen sind?« Er starrte mich sekundenlang an. »Wir haben nur ein Paar.« Ich zog den linken Handschuh aus und gab ihn ihm. »Ich bin Rechtshänder«, sagte er. »Ich auch.« Wieder starrten wir einander an. Weitere Sekunden verstrichen. »Was?«, sagte er. »Ich kann schließlich nicht an alles denken.« Er schwenkte die Taschenlampe nach links, wo ein 55
vergoldeter Türknopf aufleuchtete, der in Samsons Büro führte. »Wenn es hier im Gebäude ist«, hauchte er mir zu, »dann ist es da drin. Halt mal die Lampe, Al.« Ich leuchtete auf Onkel Farrells Schlüsselbund, während er mit zittrigen Fingern nach dem richtigen Schlüssel suchte. Ich versuchte, nach der Zeit zu sehen, aber es war zu dunkel, und Onkel Farrell brauchte das Licht. Endlich fand er den Schlüssel, den er für den richtigen hielt, hatte sich aber geirrt. Fluchend suchte er weiter. Der nächste Schlüssel passte perfekt, und wir traten in Mr. Samsons Büro. Gegenüber der Tür stand ein mächtiger Schreibtisch und daneben ein Ledersofa. Drei der Wände waren mit Bücherregalen voll gestellt. Der Raum war riesig, ungefähr doppelt so groß wie Onkel Farrells Wohnung, und links vom Schreibtisch befand sich eine weitere Tür. »Okay«, sagte Onkel Farrell. »Wo könnte es sein?« Ich überlegte. »Es ist ein Schwert und muss ziemlich groß sein. Er kann es also nicht überall versteckt haben.« »Vielleicht gibt es hinter einem der Bücherregale ein Geheimzimmer«, sagte Onkel Farrell. »Genau wie in Scooby-Doo!« »Du guckst Scooby-Doo!« 56
»Als Kind habe ich es geguckt. Die Sendung gibt es schon ewig, Al.« »In Scooby-Doo wärst du der Böse«, sagte ich. »Der Böse ist da immer der Hausmeister oder der Nachtwächter.« »Wie gut, Al, dass das hier was anderes ist.« Die Wand hinter dem Schreibtisch war ein einziges großes Fenster, durch das man einen tollen Blick auf die Stadt unten hatte. Durch die riesige Scheibe fiel gerade genug Licht herein, dass Onkel Farrell seine Taschenlampe ausschalten konnte und wir noch was sahen. Er ging zu der Tür links vom Schreibtisch und verschwand dahinter. Ich hörte, wie er einen kleinen Schrei ausstieß. »Liebe Lise!« Er kam zurück. »Ein Bad. Ich glaube, die Wasserhähne sind aus purem Gold.« Ich sah auf die Uhr. »Neun Minuten sind schon um. Wir müssen uns beeilen.« Ich wusste nicht, wo wir in dem großen noblen Büro suchen sollten. Alles, was ich sah, waren Bücherregale voller Kleinkram und Bilder, eine Topfpalme, ein Sofa, ein Kaffeetisch, der Schreibtisch mit dem Schreibtischstuhl – und das war es auch schon. Ich zog an einer Schublade, aber sie war verschlossen. Natürlich hätte er sowieso kein ausgewachsenes Schwert in einer Schreibtischschublade verstecken können. Vielleicht hatte Onkel Farrell Recht, und wir sollten nach einem Geheimversteck suchen. Viel57
leicht gab es einen Safe hinter dem großen Aquarell über dem Sofa. In Filmen war es immer so. Onkel Farrell stand bei der Tür zum Empfangsraum und schien völlig durcheinander zu sein. »Was stehst du da so rum und tust nichts?«, fuhr er mich an. »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll«, gab ich zu. »Vielleicht hatte Mr. Myers Unrecht, und es ist doch nicht hier.« »Es ist hier.« »Woher weißt du das?« »Nirgendwoher. Ich weiß es einfach.« »Du weißt es nirgendwoher, nur einfach so?« »Halt den Mund, Alfred. Ich versuche nachzudenken.« Ich setzte mich auf Mr. Samsons ledernen Schreibtischstuhl. Nie in meinem Leben hatte ich auf so einem bequemen Stuhl gesessen. Es fühlte sich an, als umarmte er mich. Wie viel musste so ein Stuhl kosten? »Was machst du denn jetzt?« »Ich denke nach«, sagte ich. »Alfred, dazu haben wir keine Zeit.« Bernard Samsons Schreibtisch war aufgeräumt. Die Schreibunterlage war leer. Rechts hinten stand ein gerahmtes Foto von Mr. Samson mit einem großen weißen Hund, der aussah wie eine Mischung aus einem Wolf und einem Bernhardiner. Ich fragte 58
mich, ob Mr. Samson so einen Hund hatte, weil er selbst so ähnlich hieß. Neben dem Foto stand ein Stifthalter und ein Namensschild für den Fall, dass einer vergaß, wer da in dem großen bequemen, seinen Besitzer umarmenden Stuhl saß. Mein Blick fiel wieder auf das Bild. Ich hatte Samson nie vorher gesehen. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern, einem mächtigen Schädel und dichtem goldbraunem Haar, das er aus der hohen Stirn gekämmt hatte. Es wirkte wie eine Löwenmähne. Vorsichtig hob ich die Schreibunterlage ein paar Zentimeter an, was mit Spülhandschuhen gar nicht so einfach war. Manchmal versteckten die Leute da was drunter. »Onkel Farrell, wenn du ein unbezahlbares Schwert hättest, wo würdest du es verstecken?« »In meinem unbezahlbaren Hintern.« Onkel Farrell linste in den Vorraum, als rechnete er damit, dass jeden Moment die Polizei hereinstürmte. Er war mit seinen Nerven völlig am Ende. »Vielleicht ist es hinter dem Bild über dem Sofa?«, sagte ich. »Vielleicht ist es hinter dem Bild über dem Sofa«, äffte er mich nach, kniete sich aber trotzdem hin und hob behutsam den Rahmen an. Ich kannte die Antwort, bevor er sie aussprach. »Nichts.« Er ließ sich ganz auf das Sofa fallen und rieb sich die Stirn. 59
Ich fuhr mit dem Stuhl an den Schreibtisch heran und stützte die Ellbogen auf die Schreibunterlage. »Ich glaube nicht, dass es hier ist«, sagte ich. »Halt den Mund, Al. Ich versuche nachzudenken.« »Oder vielleicht war es hier, und Mr. Samson hat es wo anders hingebracht.« »Warum sollte er es woanders hinbringen?« »Vielleicht hat ihm einer verraten, was Mr. Myers vorhat.« »Vielleicht, vielleicht, vielleicht«, sagte Onkel Farrell. »Wenn deine Vielleichts Gewürzgurken wären, könnten wir ein Picknick machen.« »Vielleicht ist er zu schlau für uns«, sagte ich und meinte Mr. Samson. »Schlau?« Onkel Farrell hob den Kopf und sah durch den Raum zu mir herüber. »Was erkläre ich dir immer wieder? Schlau zu sein ist nicht so wichtig, wie die Leute denken. Weißt du, was wichtiger ist? Sturheit. Sturheit und Energie, Alfred. Das ist es, was dich in dieser Welt weiterbringt.« Er ließ sich auf die Knie herunter und leuchtete mit der Taschenlampe unter das Sofa. Ich sah auf die Uhr. Unsere Zeit war um. »Onkel Farrell, wir müssen hier raus.« »Ich gehe hier nicht raus.« »Sie werden uns erwischen.« »Ich lasse hier keine halbe Million Dollar zurück!« 60
Ich hob mich aus dem Stuhl, und irgendwie verhakte sich meine Gürtelschnalle unter der Schreibtischplatte. Die Platte hob sich um ein, zwei Zentimeter und knallte zurück nach unten. Onkel Farrell war noch immer auf den Knien und starrte zu mir herüber. »Mich laust der Affe«, flüsterte er.
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KAPITEL SECHS
S
ie ist schwer«, sagte ich. »Nimm du die Seite.« Ich hatte den Tisch abgeräumt und alles auf das Regal daneben gestellt. »Liebe Lise, schwer ist kein Ausdruck.« Er machte ganz dicke Backen, als wir die Platte anhoben. »Schnell jetzt, Alfred. Ich muss nach unten, um die Polizei in Empfang zu nehmen. Du bleibst hier, bis sie wieder weg sind.« Das machte mich nervös. Ich wollte nicht allein im Dunkeln bleiben, wusste aber keinen anderen Ausweg. Die Platte hatte vorne Scharniere, wie der Deckel der größten Musikbox, die man je gebaut hatte. Onkel Farrell holte tief Luft, als wir uns beide vorlehnten, um genauer hineinzusehen. »Ach du heiliger Strohsack!«, keuchte er. »Hast du Töne?« In der versteckten Öffnung war eine silberne Tastatur wie für einen Geldautomaten oder einen Taschenrechner. Sie war fest in den Tisch eingebaut. »Man braucht einen Code«, sagte ich. »Da gibt 62
man einen Code ein, und dann öffnet sich was.« »Und wie lautet der Code?«, fragte er. Er sah aus, als wollte er gleich anfangen loszuheulen. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Natürlich hast du keine Ahnung, Alfred! Ich hab nun wirklich nicht gedacht, dass gerade du den Code kennst.« Er sah auf die Uhr und biss sich auf die Unterlippe. »Okay, Al, ist schon okay«, sagte er in dem falschen aufmunternden Ton, den Erwachsene manchmal Kindern gegenüber anschlagen. »Ich fahre jetzt nach unten, um die Polizei in Empfang zu nehmen, und du bleibst hier oben.« »Ich bleibe hier oben, und was?« »Du knackst den Code.« Er klopfte mir ermutigend auf die Schulter und steuerte die Tür an. »Onkel Farrell!«, rief ich ihm nach, aber er beachtete mich nicht. Ich hörte noch das Ping! des Aufzugs, dann füllte sich der Raum mit der lautesten Stille, die ich je gehört hatte. Ich starrte auf die Eingabetastatur. Die Geheimnummer war wahrscheinlich Mr. Samsons Geburtsdatum oder das Jahr, in dem er die Firma gegründet hatte. Vielleicht war es aber auch eine Zufallsziffer, die mit nichts zu tun hatte. Da ich sowieso keine der Zahlen kannte, fing ich einfach an, wild was einzugeben. Nichts passierte, und ich sah ein, dass ich 63
so bis zum Jüngsten Tag weitertippen konnte, ohne etwas zu erreichen. Ich gab auf, ließ mich zurück auf den Stuhl sinken und sah auf die Uhr. Was, wenn die Polizei Mr. Samsons Räume sehen wollte und Onkel Farrell sie gerade heraufbrachte? Wir hätten an Walkie-Talkies denken sollen. Gleichzeitig nervös und gelangweilt zu sein ist eine komische Sache. Ich konnte nicht still sitzen, und so lehnte ich mich vor und sah wieder in die geheime Öffnung. Eine Stimme in meinem Kopf flüsterte: Telefon, und gleich noch einmal: Telefon, und ich fragte mich, warum mein kleiner Mann im Ohr plötzlich Telefon flüsterte. Dann kapierte ich. »Buchstaben«, flüsterte ich. Mr. Samsons Telefon stand jetzt auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Ich nahm es hoch und stellte es mir auf den Schoß. Wie bei vielen Telefonen standen unter den Nummern jeweils drei Buchstaben. Mit der 2 fing es an: ABC. Also probierte ich es nochmal. 7-2-6-7-6-6 hieß SAMSON, 2-3-7-6-2-7-3 BERNARD. Nichts. Wie hieß der Hund auf dem Bild? Ich tippte 9-6-5-3 ein – WOLF. Nichts passierte. Ich seufzte und sah auf die Uhr. Onkel Farrell war jetzt fünf Minuten weg. Er hatte gesagt, schlau zu sein sei nicht so wichtig, aber jetzt hätte es mir sicher 64
geholfen. Aus purer Verzweiflung gab ich ein, was mir gerade in den Sinn kam: 2-5-3-7-3-3Unter meinen Füßen war ein Surren wie von einem Motor zu hören, der sich langsam in Bewegung setzte, und der ganze Boden begann zu zittern. Mit einem leisen Schrei stieß ich mich vom Tisch zurück, der wie von der Hand eines unsichtbaren Magiers verzaubert in die Höhe stieg. Ein baumstammdicker silberner Pfahl wuchs aus dem Teppich, bis der Tisch kaum noch fünf Zentimeter von der Decke entfernt zur Ruhe kam. Der Pfahl hatte eine Öffnung, und darin hing an zwei silbernen Haken, mit der Klinge nach unten, das Schwert. Ich hatte das Bild mitgebracht, um sicherzugehen, dass ich das richtige Schwert erwischte, aber jetzt wusste ich auch so, dass ich es gefunden hatte. Im bläulichen Licht der Stadt draußen schimmerte es wie die Oberfläche eines Sees an einem wolkigen Tag. Ich holte tief Luft und fasste den Griff des Schwertes. Es flog mir praktisch entgegen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass es so leicht wäre. Statt der Tonne, die ich erwartet hatte, wog es kaum mehr als ein Kugelschreiber. Es mag komisch klingen, aber es fühlte sich wie ein Teil von mir an. Wie eine anderthalb Meter lange Verlängerung meines rechten 65
Arms. Mit dem Grinsen eines Kindes, das Pirat spielt, schwang ich es ein paar Mal um mich herum. Es pfiff, als es durch die leere Luft schnitt. Ich hielt es zum Fenster hin, und das Licht von draußen glitzerte auf dem Metall. Mit dem linken Daumen fuhr ich über die Klinge, und sofort rann ein haarfeiner Streifen Blut aus der Wunde. Ich hatte es nicht einmal gefühlt. Das Blut brachte mich jedoch wieder zur Besinnung. Ich steckte das Schwert in die Stofftasche und den Daumen in den Mund: Ich wollte meine DNA nicht unbedingt überall in Mr. Samsons Büro verteilen, während ich mich davonmachte. Ich ging zur Tür, aber halt! Was, wenn die Polizei tatsächlich Mr. Samsons Büro sehen wollte? Sollte ich mich nicht lieber verstecken, bis Onkel Farrell zurückkam? Ich stand an der Tür und zögerte, drückte mir die Tasche gegen die Brust und saugte nervös an meinem Daumen, den Blutgeschmack im Mund. Da ich nicht wusste, wie ich den Tisch wieder herunterlassen konnte, ließ ich ihn, wie er war, und trat hinaus auf den Flur. Ich zog die Tür hinter mir zu, überprüfte das Schloss und ging zum Aufzug, um auf Onkel Farrell zu warten. Gegen die Wand gelehnt, fühlte ich, wie mir das Herz wild in der Brust klopfte. Schweiß rann mir Rücken und Bauch herunter. Die Stofftasche kam 66
mir mit einem Mal sehr schwer vor, und ich zog den Daumen aus dem Mund. Die Blutung hatte aufgehört, aber der Daumen prickelte, als wäre er eingeschlafen, und für einen Moment überfiel mich Panik, denn vielleicht war die Klinge ja vergiftet und ich würde hier im Halbdunkel des Flurs sterben. Dann hörte ich, wie sich der Aufzug näherte. Es muss Onkel Farrell einiges gekostet haben, die Polizei abzuwimmeln, dachte ich und stieß mich von der Wand ab. Ich fühlte mich immer noch etwas benommen, aber die Tasche kam mir nicht mehr so schwer vor. Die Aufzugstüren schoben sich zur Seite, und ich sagte: »Warum hast du so lange gebraucht, Onkel Farrell?«, als zwei große braune Umrisse hervortraten. Ich wich in den Flur zurück, in Richtung des Notausgangs, der über eine Treppe nach unten führte. Zwei große, wie Mönche in wallende braune Kutten gekleidete Männer traten aus dem Aufzug. Die Kapuzen hatten sie weit nach vorn gezogen, um die Gesichter zu verbergen. Einer trat vor den anderen und sagte so leise, dass ich ihn kaum hören konnte: »Wir wollen dir nicht wehtun. Wir wollen nur das Schwert.« Der Mönch streckte die Hand aus. Seine Stimme klang so nett und vernünftig, dass ich ihm das Schwert fast gegeben hätte. Vielleicht hätte ich es tatsächlich getan, aber in dem Moment 67
stieß der andere hinter ihm ein bedrohliches Fauchen aus und griff mich an. Die rechte Hand kam aus den Falten seiner Kutte hervor, und in ihr hielt er ein langes schmales, zweischneidiges schwarzes Schwert. Der erste Mönch machte eine Bewegung, um ihn aufzuhalten, aber es war zu spät. Ohne nachzudenken, hatte ich schon in die Tasche gegriffen und das Schwert herausgezogen. Mein Angreifer zögerte, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er war fast über mir, als ich das Schwert in meiner Hand über meinem Kopf zischen hörte – ich erinnerte mich nicht einmal, den Arm gehoben zu haben –, und dann beobachtete ich, wie mein Arm es herunterfahren ließ und direkt auf die Stirn des Mannes zielte. Der schrie auf und brachte in letzter Sekunde das eigene Schwert nach oben. Das Geräusch der beiden aufeinander krachenden Schwerter dröhnte wie Donnerhall über den engen Flur. Er fiel ein Stück zurück, wie betäubt von dem Schlag. Das Kribbeln in meinem Daumen zog mir bis in den Arm, ich wirbelte das Schwert ein weiteres Mal über dem Kopf herum, und der erste Mönch trat wieder vor, um zu verhandeln. Der andere fiel zurück und griff sich ans Handgelenk seiner Kampfhand. Ich wich ebenfalls weiter zurück. Der erste, größere Mönch bewegte sich langsamer als sein Freund, er schien überlegter vorzugehen. Ich wich so weit zurück, bis ich mit dem Rük68
ken an die Tür der Feuertreppe stieß. »Gib uns das Schwert«, tönte die Stimme unter der braunen Kapuze hervor. Eine bleiche Hand reckte sich in meine Richtung, während die andere nun ebenfalls ein schwarzes Schwert hielt. Ich langte mit der linken Hand hinter mich, öffnete die Tür und trat sie mit dem Fuß auf. Gleichzeitig pfiff mein Schwert auf das linke Ohr meines neuen Angreifers zu. Der wehrte den Schlag mit seinem schwarzklingigen Schwert ab. Ich packte sein linkes Handgelenk, riss ihn auf mich zu, trat aber im selben Moment nach rechts, und so flog er an mir vorbei Richtung Feuertreppe. Ich hörte ihn vor Schmerzen aufschreien, als er die Treppe hinunterstürzte. Der kleinere Mönch hatte sich erholt und griff wieder an. Er schwang seine Waffe so schnell, dass sie nur noch ein verwischter dunkler Schatten war – aber mein Schwert parierte jeden Hieb und jeden Stoß, als hätte es ein eigenes Leben. Ich wusste nicht, wie ich diesem Mann widerstehen konnte, der ganz offenbar ein erfahrener Schwertkämpfer war. Das Schwert in meiner Hand schien absolut kein Gewicht zu haben, und ich konnte alles verlangsamt wie in einem traumgleichen Tanz sehen: Sein Schwert schien sich jedes Mal wie aus großer Entfernung zu nähern. Noch einmal griff er verzweifelt an, aber ich wehrte seine Klinge problemlos ab, und meine linke Faust 69
traf ihn hart am Kopf. Er sank auf die Knie. »Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich will niemandem wehtun. Ich will nur meinem Onkel helfen, damit er mich nicht wieder in Pflege gibt. Wer sind Sie?« Aber noch bevor der Mönch antworten konnte, packte mich von hinten eine Hand und riss mich rückwärts ins Treppenhaus. Es war der Größere der beiden, der mich zuerst angesprochen hatte. Er wirbelte mich herum, rammte seinen Körper in meinen und warf mich gegen die Wand. Dabei fasste er mein rechtes Handgelenk und drückte es gegen den Beton. Die Klinge meines Schwertes schlug gegen den Stein, und schon hatte ich die Spitze seines schwarzen Schwertes an der Kehle. »Lass es fallen, wenn du nicht sterben willst«, flüsterte er. »Okay.« Ich ließ das Schwert fallen. Eine Sekunde lang bewegte sich keiner von uns. Offenbar waren wir beide überrascht, dass ich tatsächlich losgelassen hatte. Aber im nächsten Moment schon, ohne darüber nachzudenken, rammte ich dem Kerl mit aller Kraft mein Knie zwischen die Beine. Er klappte zusammen und kam erst mal nicht wieder hoch. Mit einem Satz war ich über ihn hinweg, hob mein Schwert auf und stellte mich dem anderen Mönch entgegen, der gerade durch die Tür kam. Als er seinen Begleiter auf dem Boden liegen sah, stieß er ei70
nen leisen Schrei aus. Ich packte ihn bei seiner Kutte und warf ihn hinter mich. »Halt ihn auf!«, hustete der Große auf dem Boden. Ich raste den Flur entlang in Richtung Aufzug, und die Spitze des Schwertes stieß dabei immer wieder auf den Boden. Ich drückte den Knopf. Wenn niemand den Aufzug benutzt hatte, seit meine beiden Angreifer damit hochgefahren waren, musste er für mich bereitstehen. Die Türen glitten zur Seite, und Onkel Farrell stand mit einem dritten Mönch in brauner Kutte darin, der die schwarze Klinge seines Schwertes an seiner Kehle hatte.
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KAPITEL SIEBEN
A
lfred!«, schrie Onkel Farrell. Lass das Schwert fallen«, sagte der dritte Mönch. »Lass es fallen, oder er stirbt.« »Oh, Alfred«, keuchte Onkel Farrell. »Ich glaube, du tust besser, was er sagt.« Hinter mir öffnete sich die Tür zum Treppenhaus. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter und sah die beiden anderen herankommen, der Größere – der mein Knie zu spüren gekriegt hatte – hinkte etwas hinterher. »Ihr entkommt uns nicht«, rief der große Mönch. »Aber wenn ihr uns jetzt das Schwert gebt, lassen wir euch leben.« »Wenn ihr meinen Onkel tötet«, sagte ich zu dem Mönch im Aufzug, »töte ich euch alle.« Das klang sehr viel mutiger, als ich mich fühlte. Keinen Einzigen von ihnen hätte ich töten können, aber das wussten die Kerle nicht. »Wir wollen niemanden verletzen«, sagte der große Mönch. »Wir wollen nur das Schwert.« »Gib es ihnen, Al«, sagte Onkel Farrell. »Und hör 72
mit dem Theater auf.« In dem Moment verlor der kleinere Mönch hinter mir offenbar die Geduld. Mit einem Schrei hob er sein Schwert über den Kopf und ging auf mich los. »Nein!«, schrie der große Mönch. Ich wehrte den Überkopfschlag mit einem Aufwärtsstoß (oder wie man das nennt, ich kenne mich in der Fechtsprache nicht aus) meines größeren Schwertes ab. Laut krachend prallten die Klingen aufeinander. Es klang wie ein Auto, das in ein anderes hineinraste. Seine Klinge zersprang unter dem Aufschlag. Ich packte den Mönch am Arm und schleuderte ihn in den Aufzug, während die Einzelteile des schwarz schimmernden Metalls noch auf uns herabregneten. Er flog in Onkel Farrell und den dritten Mönch und brachte die beiden aus dem Gleichgewicht. Ich machte einen Schritt in den Aufzug, bekam Onkel Farrell zu fassen und zog ihn nach draußen. Ein paar Schritte in Richtung der Treppe stellte sich uns der große Mönch in den Weg. »Bei meiner Ehre«, sagte er. »Wir wollen nur das Schwert. Bitte. Du weißt nicht, was du tust.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir das Schwert, und euch wird kein Haar gekrümmt. Ihr habt mein Wort.« Ich ging auf ihn zu und zog Onkel Farrell hinter mir her. Die Spitze meines Schwertes deutete auf den Leib des Mönchs. Ich wusste zwar nicht, was ich da 73
tat, aber bis jetzt tat ich es ziemlich gut. »Gehen Sie aus dem Weg«, sagte ich. »Wir wollen hinaus.« »Ihr werdet nicht weit kommen«, sagte er. Unter der Kapuze konnte ich seine Augen leuchten sehen, aber nicht rot wie die eines Dämons oder so, sondern in einem sanften Blau, fast wie das Licht einer Nachttischlampe. »Wir werden es uns holen«, sagte er. »Wir wissen, wer ihr seid.« Und dann tat der große Mönch etwas, das mich völlig überraschte: Er trat zur Seite. Einer der anderen Mönche hinter uns stieß einen leisen Schrei aus, und der große Mönch, der eindeutig ihr Anführer war, hob die Hand, die sehr blass war, die Finger lang und zart, fast wie die einer Frau. »Nein«, sagte er ruhig, und zu mir: »Wir werden uns bald schon wieder sehen.« Wir liefen ins Treppenhaus, und die schwere Tür fiel hinter uns ins Schloss. Ihr Echo hallte wie ein Pistolenschuss durch das Treppenhaus.
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KAPITEL ACHT
I
ch nahm immer zwei Stufen auf einmal und zog Onkel Farrell hinter mir her. Nach zwei Etagen machte ich eine Pause und lauschte, aber es war nichts zu hören. »Noch dreißig Etagen«, sagte ich. »Schaffst du das?« »Der Lastenaufzug – den können wir nehmen«, keuchte Onkel Farrell. Ich drückte die Etagentür auf und schob Onkel Farrell vor mir her in den dunklen Flur. Auf dem Weg zum Lastenaufzug fingerte er an seinen Schlüsseln herum und redete unablässig auf mich ein: Was denn bloß mit mir los sei, dass ich mich mit einem Trupp Säbel schwingender Mönche einließ? Alles hätte ich verdorben, sein ganzes Leben ruiniert. Ich musste an die Stofftasche denken, die oben vor Samsons Büro im Flur lag. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Polizei mittlerweile schon auf Stoff Fingerabdrücke sicherstellen konnte. Onkel Farrell hatte Recht: Ich hatte alles verdorben und sein und mein Leben ruiniert. 75
Endlich fand er den richtigen Schlüssel, und als der Aufzug kam, ließen wir uns hineinfallen und drückten den Knopf für die Eingangshalle. An die Wand des Aufzugs gelehnt, versuchten wir zu Atem zu kommen. Endlich öffneten sich die Türen des Aufzugs wieder. »Mr. Myers hat Recht«, sagte ich. »Das Ding ist kein gewöhnliches Schwert.« Wir traten in die Eingangshalle. »Wo hast du überhaupt gelernt, so mit einem Schwert umzugehen?«, fragte Onkel Farrell, wartete aber gar nicht erst auf eine Antwort, was gut war, denn ich hätte ihm keine geben können. »Du hast also den Code geknackt?«, fragte er. Ich nickte. »Du bist ein Junge mit verborgenen Talenten. Wie lautete der Code?« »Zwei-fünf-drei-sieben-drei-drei.« »Wie bist du denn darauf gekommen?« »Das ist mein Name«, sagte ich. Er starrte mich an. »Es könnte auch ALEPEE heißen, aber das hätte keinen Sinn ergeben.« »Dein Name auch nicht«, sagte er. »Jemand hat uns verraten, Alfred.« »Vielleicht hat der Tisch auch eine extra Alarmanlage.« »Genau. Im Kloster geht ein Alarm los, die Mönche vergessen ihre abendlichen Gebete und sammeln 76
sich zum Kampf.« Die Eingangshalle war unheimlich ruhig, nur das Plätschern des Wasserfalls war zu hören. »Was war mit der Polizei?«, fragte ich. »Das würde ich auch gerne wissen«, knurrte er. »Es stimmt schon, die sind nie da, wenn man sie braucht.« Er erzählte mir, dass der dritte Mönch unten vorm Aufzug auf ihn gewartet hatte. Der Kerl hatte ihm gleich sein Schwert an den Hals gelegt und war mit ihm wieder hoch ins Penthouse gefahren. Onkel Farrell ging an seinen Tisch und drückte ein paar Schalter. Die Monitore erwachten zum Leben. Der Flur oben war leer. Ich sah auf die Zahlenreihen über den sechs Aufzügen, die anzeigten, wo sie sich gerade befanden. Unser Aufzug war immer noch ganz oben. »Sie müssen die Treppe genommen haben«, sagte ich. »Was machen wir jetzt?«, fragte Onkel Farrell. Es war so, als hätte ich mit dem Schwert das Kommando übernommen. Ich überlegte. »Ruf die Polizei.« »Bitte?« »Vielleicht haben die Mönche, oder wer immer sie sind, die automatische Verbindung unterbrochen. Ruf die Polizei an, Onkel Farrell.« »Und was soll ich denen sagen?« »Sag ihnen, dass hier drei oder sogar noch mehr 77
Männer mit Schwertern herumrennen.« Ich griff an ihm vorbei und drückte auf einen Knopf, auf dem ALARM stand. Auf der Anzeigetafel fing ein rotes Licht an zu blinken. »Okay, und während ich auf die Polizei warte, besorge ich einen kleinen Imbiss für mich und die Mönche, falls sie wieder auftauchen. Was redest du da nur, Alfred?« »Hinter dir sind sie nicht her«, sagte ich und meinte damit die Männer in den braunen Kutten. »Sie wollen das Schwert, und das wird nicht mehr hier sein.« »Du willst allein damit weg? Al, du kannst nicht einfach so allein damit verschwinden.« »Aber sicher kann ich das, Onkel. Gib mir die Autoschlüssel.« »Mein Auto kriegst du nicht!« »Sie werden dich rauswerfen, wenn du mit davonläufst.« »Alfred, ich werde Millionär. Glaubst du wirklich, da stört es mich, wenn sie mich rauswerfen? Wir verschwinden jetzt von hier!« Wir liefen hinunter in die Tiefgarage. Onkel Farrell fuhr, und ich saß hinten, das Schwert auf dem Schoß. Auf der Straße kamen uns drei Polizeiwagen entgegen, die mit heulenden Sirenen Richtung Samson Towers rasten. Als wir in sicherer Entfernung waren, stieg plötz78
lich verspätet Panik in mir auf. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und ich musste mich schwer zusammenreißen, dass ich nicht zu heulen anfing. »Okay, Onkel Farrell, jetzt erzähl mir bitte, was wirklich los ist.« »Ich weiß es nicht.« »Woher kamen diese Männer?« »Ich weiß es nicht.« »Wie sind sie ins Gebäude gekommen?« »Ich weiß es nicht.« »Warum war mein Name der Code für das Versteck?« »Ich weiß es nicht.« Offenbar wusste mein Onkel absolut nichts, und der Gedanke, dass ich am Ende der eigentliche Kopf der Operation war, machte alles nur noch schlimmer. Er fuhr direkt zu unserer Wohnung und parkte in der zweiten Reihe. Es war fast drei Uhr morgens, und auf der Treppe war niemand zu sehen. Onkel Farrell ging als Erster in die Wohnung, damit ich noch einmal Treppenhaus und Flur überprüfen konnte. In der Wohnung war es immer noch dunkel, und ich fragte in die Dunkelheit hinein: »Onkel Farrell, ist alles in Ordnung?« Ich schaltete das Licht an und hörte, wie Onkel Farrell nach Luft schnappte. Er stand etwa vier Meter entfernt, beim Sofa. Hinter ihm stand Arthur Myers. 79
Er hatte den Unterarm um Onkel Farrells Kehle gelegt. »Selbstverständlich ist alles in Ordnung, Mr. Kropp«, sagte Arthur Myers.
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KAPITEL NEUN
A
lfred«, winselte Onkel Farrell, »ich kriege keine Luft.« »Er hat Schwierigkeiten zu atmen, Mr Kropp«, sagte Myers. »Lassen Sie das Schwert fallen und treten Sie zur Seite.« Ich ließ das Schwert los. Mit einem dumpfen Klirren fiel es zu Boden. »Sehr gut. Gehen Sie da hinüber zum Fenster, bitte.« Ich trat zum Fenster und behielt ihn dabei im Blick. Mr. Myers ließ Onkel Farrell los, der rückwärts aufs Sofa sank. Schnell lief er zum Schwert, hob es auf und betrachtete es von allen Seiten. »Okay«, sagte ich. »Jetzt haben Sie Ihr Schwert und können uns in Ruhe lassen, Mr. Myers.« »Einen Moment«, sagte Onkel Farrell und rieb sich den Hals. »Erst hab ich noch ein paar Fragen. Was für ein Schwert ist das, in drei Teufels Namen, und wer waren diese komischen Mönche, die es uns wegnehmen wollten?« »Sie wollten es Ihnen nicht wegnehmen«, sagte 81
Mr. Myers und starrte das Schwert dabei mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. »Sie wollten verhindern, dass Sie es wegnahmen.« Er richtete die Augen auf mich, und etwas Dunkles strich ihm dabei übers Gesicht. »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, Mr. Kropp«, sagte er zu Onkel Farrell, sah aber nach wie vor mich dabei an. »Ich werde mich dafür erkenntlich zeigen.« »Das ist gut«, sagte Onkel Farrell. »Wir hatten eine Abmachung, und ich wäre fast umgebracht worden.« »O ja. Die hätten Sie ohne Frage für das Schwert getötet. Sie haben geschworen, es gegen alle Gefahren zu verteidigen, und es sind unbarmherzige Männer mit einem eisernen Willen, Mr. Kropp. Unbarmherzigkeit ist mit den Jahren in einen schlechten Ruf geraten, dennoch hat sie auch etwas Ehrenhaftes, Reines, oder meinen Sie nicht?« Mr. Myers hatte das Schwert, aber er wollte uns noch etwas Wichtiges sagen, etwas, das wir begreifen sollten, bevor er ging. »In gewisser Weise sind es meine Feinde, da wir unterschiedliche Ziele verfolgen, aber ich bewundere sie«, sagte Mr. Myers. »Wir können viel von ihnen über die Bedeutung des Willens lernen.« Er wandte sich wieder mir zu und lächelte jetzt. Es war ein Lächeln der unangenehmsten Sorte. 82
»Der Wille der meisten Männer ist schwach, Alfred Kropp. Er beugt sich dem geringsten Widerstand und schwindet, sobald sich ihm etwas in den Weg stellt. Er fragt nicht, ob etwas notwendig ist. Vermögen Sie mir zu folgen, Mr. Kropp?« »Nicht wirklich«, sagte ich. »Sie haben das Schwert, Mr, Myers. Können Sie uns jetzt das Geld geben?« »Ich werde Ihnen etwas weit Wertvolleres geben als Geld, Mr, Kropp. Sie bekommen eine wichtige Lehre für Ihr Leben von mir. Ich werde Sie lehren, was passiert, wenn Ihr Wille mit einem stärkeren in Konflikt gerät.« Noch während er dies sagte, ging er zum Sofa und stieß meinem Onkel das Schwert in die Brust. Ich sah, wie es sich hinter ihm in die Sofakissen bohrte. Onkel Farrells Augen glitten in meine Richtung, und er flüsterte: »Alfred«, bevor er starb.
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KAPITEL ZEHN
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yers kam auf mich zu. Ich erstarrte und wartete darauf, dass er auch mir das Schwert in die Brust stechen würde, aber stattdessen legte er einen Finger auf meine Lippen, sagte: »Pssst!« und ging ohne ein weiteres Wort. Mir war sofort klar, dass hier Erwachsene gefragt waren, und da Onkel Farrell als einziger Erwachsener im Raum tot war, wählte ich die Nummer vom Notruf. Die Polizei kam, erst ein paar uniformierte Beamte, dann Detectives mit knittrigen Jacketts und schief sitzenden Krawatten. Ein Fotograf machte Fotos von meinem toten Onkel, eine Frau von der Staatsanwaltschaft befragte mich und schließlich noch eine, die sagte, sie sei Sozialarbeiterin. Ich sagte ihr, dass ich vor allem zuerst mal ein Glas Wasser brauchte. Einer der Polizisten brachte mir eins. Ich erzählte ihnen alles, von der Nacht, in der Mr. Myers uns in der Wohnung besucht und das Foto von dem Schwert mitgebracht hatte, und meinem Kampf mit den Mönchen in ihren braunen Kutten und mit 84
ihren Schwertern bis zu dem Moment, wo Mr. Myers Onkel Farrell erstochen und mich gewarnt hatte, den Mund zu halten, weil er mich sonst auch umbringen würde. Keiner schien mir zu glauben. Onkel Farrell packten sie in einen schwarzen Plastiksack und trugen ihn in den Flur, wo die Nachbarn standen und gafften. Einer der Detectives bat mich, Mr. Myers zu beschreiben, und ich erzählte ihm von dem langen Haar, das er zu einem Zopf gebunden hatte, und dem schimmernden Anzug. Ein anderer bekam einen Anruf auf seinem Handy und flüsterte ewig in das kleine Ding hinein. Ich weiß nicht, wie spät es war, aber es muss kurz vor Tagesanbruch gewesen sein, als sich schließlich die Tür öffnete und ein großer Mann mit einer wilden Löwenmähne, begleitet von zwei kräftigen Männern in dunklen Anzügen, ins Zimmer kam. »Sind Sie fertig?«, fragte einer der beiden Männer in den dunklen Anzügen. »Wir sind fertig.« Sie ließen uns allein, und die beiden dunklen Anzüge bezogen links und rechts von der Tür Stellung und starrten ins Nichts. Der große Mann mit dem goldenen Haar zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu mir ans Fenster. Die aufgehende Sonne sandte ihre Strahlen durchs Fenster und brachte seine Haarspitzen zum Glim85
men. Er legte eine Hand auf meinen Arm. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Mann mit dem goldenen Haar. Seine Stimme klang nett, aber sehr tief. »Ich habe ein Bild von Ihnen gesehen«, sagte ich. »Sie sind Bernard Samson.« »Es tut mir Leid, Alfred«, sagte er mit sanfter Stimme und blickte zu den durchlöcherten Sofakissen. »Woher wissen Sie meinen Namen?«, fragte ich. Er lächelte. »Du wirst dich wundern, was ich alles weiß, Alfred.« »Können Sie mir bitte erklären, was hier vorgeht, Mr. Samson?« »Ja, Alfred, das werde ich«, sagte er immer noch so sanft. »Möchtest du irgendetwas?« »Einer der Polizisten hat mir ein Glas Wasser gebracht«, sagte ich. »Durst habe ich keinen mehr, aber ich könnte etwas schlafen. Ich bin seit vierundzwanzig Stunden wach. Trotzdem würde ich gern erst noch ein paar Dinge erklärt bekommen.« Er lächelte. »Dann frage.« »Wer sind diese Männer?«, fragte ich und nickte zu den beiden dunklen Anzügen bei der Tür hin. »Das sind Agenten.« »Was für Agenten?« »Agenten einer Organisation, von der du nie gehört hast. Nur sehr wenige Menschen kennen sie. Es 86
ist eine Organisation, die eigens dazu geschaffen wurde, sich mit Notfällen wie diesem zu befassen.« »Es ist ein Notfall?« »Mehr eine Krise. Siehst du, Alfred, was da verloren gegangen ist, ist äußerst wichtig.« »Sie meinen das Schwert?« Er nickte. »Es gehört Mr. Myers nicht wirklich, oder?«, fragte ich. »Nein.« »Ich wusste es«, sagte ich. »Ich habe versucht, es Onkel Farrell auszureden, aber er wollte nicht auf mich hören.« »Ja«, sagte er und sonst nichts. »Wer ist Arthur Myers?«, fragte ich. »Er ist vieles auf einmal.« »Sie reden zwar mit mir, aber Sie sagen mir nicht wirklich, was los ist, Mr. Samson. Ich dachte, Sie wären in Europa.« »Ich bin gerade zurückgekommen.« Er strich mir über den Arm, stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. Die Hände hielt er dabei auf dem Rücken verschränkt. »Wer ist Arthur Myers?«, wiederholte er. »Ich habe den Namen noch nie gehört. Aber ich kenne ihn. Er versteckt sich hinter vielen Namen und Identitäten, überall auf der Welt. Als Bartholomew in England, Vandenburg in Deutschland, Lutsky in Russ87
land. Wer weiß schon, wie sein wirklicher Name lautet? Meinen Freunden hier«, und er nickte zur Tür hin, »ist er unter seinem Codenamen bekannt: Dragon – der Drache. Als ich ihn zum ersten Mal traf, vor Jahren in Paris, nannte er sich Mogart, deshalb ist und bleibt er für mich immer Mogart.« Mr. Samson schüttelte seinen mächtigen Kopf und lachte bitter. »Mogart! Was kann ich dir zu Mogart sagen? Er ist vieles und doch nichts. Söldner, Provokateur, Attentäter, Zerstörer – und Mörder, aber das brauche ich dir nicht erst zu erklären. Er liebt die Finsternis. Ja! Die Finsternis. Wenn ein Mann das ist, was er tut, Alfred, dann stelle ihn dir als einen Agenten der Finsternis vor.« Sein Handy klingelte. Ich zuckte zusammen. Ich weiß nicht, ob es mein Zusammenzucken war oder das Klingeln des Telefons, auf jeden Fall stieß einer der Männer an der Tür eine Hand in die Tasche und zog sie langsam wieder heraus, als Mr. Samson sprach. »Ja. Wann? Sind Sie sicher?« Dann hörte er lange zu. Im frühen Licht sah sein Gesicht alt aus, voller tiefer, schattengefüllter Falten. Wie alt war dieser Mr. Samson? Sagte er mir die Wahrheit? Was genau sagte er mir überhaupt? »Sehr gut«, sagte er in sein Telefon, klappte es zusammen und setzte sich wieder zu mir. 88
»Ich fürchte, ich habe nicht mehr viel Zeit, Alfred. Die Dinge entwickeln sich schnell, und die Zeit ist gegen uns. Wir haben alles in Bewegung gesetzt, alles, was uns zur Verfügung steht, aber er hatte Zeit, zu viel Zeit, und ist uns durchs Netz gegangen. Frag bitte schnell, was du noch zu fragen hast.« »Ich möchte nur wissen, was an diesem Schwert so besonders ist und warum mich die drei Mönche mit ihren schwarzen Schwertern dafür töten wollten. Aber vor allem will ich wissen, warum dieser Myers oder Mogart meinen Onkel umgebracht hat.« »Der Tod deines Onkels ist eine Nachricht, Alfred. An mich und dich. Und an die Männer, die du letzte Nacht getroffen hast. Sein Tod ist eine Warnung und das Versprechen, dass noch mehr Menschen sterben werden, sollten wir uns Mogart widersetzen, und ich fürchte, dass er dieses Versprechen einlösen wird. Bis diese Sache vorüber ist, Alfred, werden noch mehr Menschen sterben.« »Bis was vorüber ist? Warum sagen Sie mir nicht einfach, was hier vorgeht, Mr. Samson? Ich bin echt müde und fühle mich hundeelend. Seit mir Onkel Farrell von seinem Geschäft erzählt hat, von Anfang an geht das so. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber er wollte nicht auf mich hören. Jetzt bin ich am Ende.« Er klopfte mir auf die Hand, sah auf seine Uhr und sagte: 89
»Ist dir an dem Schwert, das du aus meinem Büro geholt hast, etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« Ich antwortete nicht. »Du hast mit diesen Männern gekämpft. Hast du je vorher mit einem Schwert gekämpft, Alfred?« »Nicht mit einem richtigen. Mit einem zum Spielen, als ich klein war.« »Und doch hast du ohne alle Erfahrung drei ausgezeichnete Schwertkämpfer besiegt, stimmt’s?« »Ja. Wer waren diese Männer? Sie arbeiten doch nicht für Mr. Myers oder Mogart oder wie der heißt, oder?« »Nein.« »Das heißt, sie arbeiten für Sie.« »Sie arbeiten für niemanden, Alfred. Sie gehören einem alten geheimen Orden an und haben das heilige Gelübde abgelegt, das Schwert zu hüten, bis sein Meister kommt und es an sich nimmt. Ja, sie hätten dich töten sollen, weil du dich ihnen widersetzt hast und es ihnen nicht geben wolltest, aber sie sind keine Mörder oder Diebe.« »Das sind wohl eher Mr. Mogart und ich.« »Die Männer waren Ritter, Alfred, oder zumindest würden wir sie so nennen, wenn es in diesen dunklen Zeiten noch so etwas gäbe.« »Mr. Samson, werden Sie mir je klar sagen, was hier vorgeht? Ich dachte, Sie müssten weg?« Ich hatte das Gefühl, gleich losheulen zu müssen. Als 90
schrumpfte ich auf Daumengröße, was für jemanden von meinen Ausmaßen nicht unbedingt angenehm ist. »Vor langer Zeit, Alfred«, sagte Mr. Samson, »vor langer Zeit gab es einen Mann, der das bedeutendste Königreich regierte, das die Welt je gesehen hat. Bedeutend war nicht seine Größe oder die Stärke seiner Armeen, bedeutend war die Vision, die er der Menschheit schenkte. Die Vision, dass Gerechtigkeit, Ehre und Wahrheit in Reichweite lägen, und zwar nicht erst in irgendeiner zukünftigen Welt, sondern hier, in der Welt von uns Sterblichen. Diese Vision lebte auch nach dem Tod des Königs weiter. Und ich und diese Männer, mit denen du heute Nacht gekämpft hast, wir sind die Hüter dieser Vision, und was wir beschützen, ist das Letzte, was davon übrig blieb.« »Sie meinen das Schwert?« »Das Schwert ist in dieser Welt, Alfred, aber es ist nicht von dieser Welt. Noch vor der Entstehung der Erde wurde es geschmiedet, und zwar nicht von sterblichen Händen. Es ist das eine, wahre Schwert, Alfred, das Schwert der Könige. In einer früheren Zeit war es bekannt als Caliburn. Du wirst es vielleicht unter einem anderen Namen kennen: das Schwert Excalibur.« »Sie sprechen von König Artus, richtig?« »Ja, König Artus.« 91
»Aber das ist eine Legende, nichts als eine Geschichte, Mr. Samson.« »Ich habe nicht die Zeit, dich zu überzeugen, Alfred. Du hast das Schwert heute Nacht in deinen unerfahrenen Händen gehalten und mit ihm drei der besten Schwertkämpfer dieser Welt besiegt. Doch darin zeigt sich nur ein Bruchteil seiner Kraft. Das Schwert der Könige hat göttliche Fähigkeiten, Alfred, die Macht zu erschaffen und zu zerstören. Alle Waffen dieser Welt sind machtlos gegen dieses Schwert, auch der menschliche Wille kann seiner Macht nicht widerstehen.« Ich musste daran denken, wie der große Mönch zur Seite getreten war, um mich und Onkel Farrell vorbeizulassen, als ich das Schwert in der Hand hielt. Der menschliche Wille kann seiner Macht nicht widerstehen. Mr. Samsons Augen glänzten. Er war wie entrückt und schien in weite Fernen zu blicken, wo er Dinge sah, die für mich unerreichbar waren – große Schlachten und Männer in funkelnden Rüstungen, die auf ihren Pferden über wogende Felder preschten. »Du fragst, wer die Männer heute Nacht waren. Nur noch zwölf sind von uns übrig, und sie sind, genau wie ich, Nachkommen der Ritter der Tafelrunde. Das Schwert steht seit Jahrhunderten unter unserem Schutz, und soweit ich weiß, ist dies das erste Mal, dass es uns nicht gelungen ist, es von den Händen 92
des Bösen fern zu halten.« »Sie sind ein Ritter?«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Sie wollen mir erzählen, dass Sie echte Ritter sind, so wie die von König Artus?« »Die beiden Männer da nicht«, sagte Mr. Samson und zeigte auf die beiden dunklen Anzüge bei der Tür. »Bis heute Nacht wusste deren Organisation nicht einmal von der Existenz des Schwertes. Aber die Umstände verlangen, dass wir jede mögliche Hilfe in Anspruch nehmen. Mr, Mogart hat viele mächtige Freunde, Alfred. Freunde, die jeden Preis für eine Waffe bezahlen würden, gegen die es keine Verteidigung gibt. Und die Freunde Mogarts sind keine Freunde der Menschheit. Es sind Despoten und Diktatoren, die wirklich alles dafür gäben, das Schwert zu besitzen. Begreifst du langsam? Keine von Menschenhand gefertigte Waffe, keine Armee, keine Nation und kein Völkerbund auf dieser Welt kann der Macht des Schwertes widerstehen.« »Hat Mr. Myers meinen Onkel dafür bezahlt, das Schwert zu stehlen, damit er es jemand anderem verkaufen kann?« »Dem Höchstbietenden, und du kannst dir vorstellen, wie hoch die Gebote liegen werden.« Wieder berührte er meinen Arm, und es überraschte mich, Tränen in seinen haselnussbraunen Augen zu sehen. »Was glaubst du wohl, was für Menschen dafür 93
bieten werden. Alfred«, sagte er, »jede Armee ist mit diesem Schwert unbesiegbar.«
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KAPITEL ELF
D
er Preis geht ins Unermessliche, Alfred«, sagte Mr. Samson. »Mogart kann Milliarden dafür erwarten. Hunderte und aberhunderte von Milliarden. Und wenn wir ihn nicht finden, bevor das Schwert in die Hände der falschen Menschen fällt, wird die Welt in eine Zeit furchtbarer Grausamkeit und allgegenwärtigen Schreckens stürzen. Stelle dir die Gräuel in Nazi-Deutschland vor, im Russland der Stalinzeit und nimm das alles mal zehn, dann wirst du eine Ahnung davon bekommen, was der Verlust des Schwertes bedeutet.« Die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, hatten sein Gesicht jetzt ganz erfasst und lagen auf seinen scharfen Zügen. »Wir müssen das Schwert zurückholen, bevor es so weit kommen kann. Vielleicht beschließt er auch, es selbst zu behalten, aber das wäre am Ende nicht viel besser.« »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte ich. »Ich weiß, wohin er unterwegs ist. Er hat sich lange auf diesen Tag vorbereitet. Im Moment überquert 95
er den Atlantik, zu seinem Unterschlupf in Jâtiva.« Er sah meinen verwirrten Ausdruck. »Das liegt in Spanien, Alfred.« Jetzt lächelte er wieder. »Du hast noch tausend weitere Fragen, aber ich bin schon viel zu lange hier. Ich muss gehen.« »Noch nicht«, bettelte ich. »Lassen Sie mich nicht allein.« Er tätschelte meine Hand, und sein Lächeln verschwand. »Das scheint mein Schicksal zu sein – und deines, Alfred.« Damit wandte er sich zur Tür. Ich sprang auf und folgte ihm. »Es muss doch etwas geben, was ich tun kann«, sagte ich. »Nehmen Sie mich mit. Ich könnte doch helfen. Ich habe das Schwert verloren, also muss ich helfen, es zurückzuholen.« Ich erwartete, dass er etwas sagen würde wie: Ich finde, du hast schon genug getan, aber stattdessen beugte er sich zu mir und flüsterte: »Bete.« Er ging zur Treppe, und ich rief ihm hinterher: »Nur noch eine Frage, Mr. Samson! Warum hat er mich nicht auch getötet?« Samson blieb stehen, drehte sich noch einmal zu mir um und lächelte erneut sein trauriges Lächeln. »Ich denke, es gibt zwei Gründe. Erstens ist es grausamer, deinen Onkel zu töten und dich leben zu lassen. Und zweitens gibt es auch unter Dieben so etwas wie Ehre.« 96
Damit verschwand er die Treppe hinunter, gefolgt von den beiden Agenten. Dass er mich einen Dieb genannt hatte, traf mich hart. Aber ich glaube nicht, dass er meine Gefühle verletzen wollte. Meine Gefühle waren das Letzte, was ihn interessierte.
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KAPITEL ZWÖLF
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etzt, ohne Onkel Farrell, war ich ein Mündel des Staates. Ein Paar namens Horace und Betty Tuttle bot an, mich bei sich aufzunehmen, bis mich jemand adoptieren wollte, was nicht gerade wahrscheinlich war. Die Tuttles wohnten in einem winzigen Haus im Norden von Knoxville. Dennoch hatten sie bereits fünf andere Pflegekinder bei sich aufgenommen. Ich habe Horace Tuttle nie zur Arbeit gehen sehen, aber ich weiß, dass sie alle möglichen Schecks vom Staat und der Bundesregierung für die Kinder bekamen. Ich glaube, sie lebten von uns. Horace Tuttle war klein und rundlich und machte ständig irgendwelche Bemerkungen über meine Größe, besonders über meinen Kopf. Ich glaube, ich machte ihm Angst oder meine Größe ärgerte ihn, weil er selbst so fürchterlich klein war. Seine Frau Betty war genauso klein und rund und hatte den gleichen spitz nach oben zulaufenden Kopf. Die beiden erinnerten mich an Schildkröten. Ich teilte mir mein Zimmer mit zwei anderen Pfle98
gekindern, die aus schwierigen Verhältnissen stammten, und gleich in der ersten Nacht drohte mir der Altere von ihnen, mich im Schlaf umzubringen. Ich fühlte mich so beschissen, dass ich ihm sagte, ich hätte nichts dagegen. Ich hatte immer schon Schwierigkeiten gehabt, mich in der Schule zu konzentrieren, aber versuch das mal, wenn jemand gerade vor deinen Augen deinen Onkel ermordet hat und du weißt, dass das Ende der Welt naht. Versuch mal zu lernen, wenn der dritte Weltkrieg vor der Tür steht und du bist schuld. Nach wie vor hatte ich zweimal in der Woche Nachhilfe bei Amy Pouchard. Sie fragte mich, warum ich so lange nicht in der Schule gewesen sei, und ich erklärte es ihr. »Mein Onkel ist ermordet worden.« »O mein Gott!«, rief sie. »Und wer hat ihn ermordet?« Ich überlegte, was ich sagen sollte. »Ein Agent der Finsternis.« »Haben sie ihn erwischt?« »Zumindest versuchen sie es.« »Sag mal, ist deine Mom nicht auch ermordet worden oder so was?« »Nicht ganz. Sie ist an Krebs gestorben.« »Du musst der unglücklichste Mensch der Welt sein«, sagte sie und rutschte ein Stück von mir weg, wahrscheinlich ohne es zu merken. »Ich meine, erst 99
deine Mom, jetzt dein Onkel und dann noch, was du Barry angetan hast.« »Ich rede mir ein, dass die Sachen alle nichts mit mir zu tun haben und dass ich okay bin und so«, sagte ich, »aber das wird immer schwieriger.« Ich war Onkel Farrells einziger Erbe, aber ich behielt nur den Fernseher und den Videorekorder, die ich in meinem Zimmer aufstellte. Was ich nicht kriegte, war die halbe Million Dollar. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mogart die braune Ledertasche mitgenommen hätte, aber sie war nicht unter Onkel Farrells Bett, wo er sie verstaut hatte, und die Polizei fand sie auch nicht, wahrscheinlich weil ich ihnen nicht davon erzählt habe. Das mit dem Geld wäre schwer zu erklären gewesen, es hätte mir noch mehr Schwierigkeiten gemacht, als ich ohnehin schon hatte. Trotzdem fing ich an, mir zu wünschen, dass ich das Geld noch hätte. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich mich schnellstens damit aus dem Staub gemacht. Keine Ahnung, wohin, aber alles erschien mir besser als die Tuttles und das Pack, das bei ihnen wohnte. Während der nächsten Tage schnappte ich mir morgens Horace’ Zeitung, nahm sie mit in die Schule und las sie, statt zu lernen, von der ersten bis zur letzten Seite, immer auf der Suche nach Hinweisen auf Mr. Samsons Aktion. Ich fragte mich, wozu eine Milliarde Dollar gut sein sollte, wenn die Welt ringsum in unvorstellbaren Grausamkeiten und Schrecken 100
versank, aber Männer wie Mogart dachten offenbar anders. Zum Beispiel wäre ich an Mogarts Stelle sicher nicht auf die Idee gekommen, jemanden wie meinen Onkel anzuheuern, um die mächtigste Waffe der Welt zu stehlen. Ich vermisste meinen Onkel Farrell, seine kleine Wohnung und das Tiefkühlessen. Ich vermisste die Art, wie er seine großen Lippen anfeuchtete, und sogar seine Vorträge, wie man es in der Welt zu was bringen konnte. Er hatte mir nur helfen wollen, damit ich nicht einmal so endete wie er. Plötzlich wurde mir klar, dass er mich geliebt hatte; ich war ja auch seine ganze Familie gewesen. Um mich abzulenken, besorgte ich mir ein Buch aus der Bibliothek, Der König auf Camelot, über König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Ich kam aber nicht voran mit dem Buch, und so holte ich mir den Film. Er hieß Excalibur und war ein paar Jahre vorher mit lauter englischen Schauspielern gedreht worden, von denen ich noch nie gehört hatte. Artus war darin ein eher vertrottelter Kerl, der mit seinem Bruder Fey herumzog, dessen Schwert schleppte und sich um sein Pferd und seine Rüstung kümmerte. Er war mehr eine Art Diener und sicher kein Ritter. Kein Mensch hätte gedacht, dass dieser Typ das Schwert aus dem Stein ziehen könnte, bis er es tat und ihnen sagte: »Wenn ihr Ritter seid und einem König folgen wollt, folgt mir!« 101
Dann wurde er König, baute Camelot und versammelte seine Ritter an seinem Tisch, seiner Tafel, wie man damals sagte. Alles war toll, bis Lancelot, sein bester Ritter, eines Tages was mit Guinevère, der Königin, anfing und Artus’ unehelicher Sohn Mordred auftauchte, um die Macht an sich zu reißen. Am Ende gibt es eine riesige blutige Schlacht. Artus tötet Mordred, der dann auch Artus tötet, aber das Ganze erschien mir irgendwie unlogisch, weil sie zeigen, wie Artus von drei engelgleichen Frauen in weißen Gewändern aufs Meer hinausgetragen wird. Einer der Ritter nimmt das Schwert Excalibur, wirft es ins Wasser, und die Herrin des Sees taucht auf und holt es sich. Der letzte Teil verwirrte mich. Wie kamen Mr. Samson und seine Ritter an das Schwert, wenn es doch zuletzt die Herrin des Sees gehabt hatte? Sollte ich Samson je noch einmal sehen, würde ich ihn danach fragen. Ich weiß nicht, ob es an dem Film lag, den ich etwa neunundvierzigmal gesehen habe, dass ich diese Träume hatte. Während des Abspanns schlief ich immer ein und träumte von einer weiß glänzenden Burg auf einem Berg. Auf ihren Befestigungsanlagen flatterten dreieckige schwarzgoldene Fahnen, und hinter der äußeren Mauer hatten tausend Ritter in voller Rüstung Stellung bezogen. Sie trugen lange schwarze Schwerter, hatten geschwärzte, Furcht er102
regende Gesichter und kämpften gegen einzelne Männer in braunen Kutten, denen es gelungen war, die äußere Mauer zu überwinden. Die Eindringlinge hatten sich die Gesichter mit Lehm verschmiert, und sie folgten einem Mann mit goldenem Haar, und irgendwie wusste ich, dieser Mann war Bernard Samson, obwohl er in meinem Traum anders aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sie waren etwa zehn gegen tausend und hatten keine Chance, aber sie kämpften, bis auch der letzte Mann gefallen war, und dieser Letzte war der Ritter mit dem goldenen Haar. Als ich aufwachte, hatte ich das Wort Jâtiva auf den Lippen, und so ging ich in die Schulbibliothek und suchte die Stadt in einem Atlas. Sie lag in Spanien, wie Mr. Samson gesagt hatte, gleich bei einem Berg namens Monte Bernisa. Ich hatte auch noch einen anderen schrecklichen Traum, einen von denen, wo man sich wünscht, man würde aufwachen. In diesem Traum schwebte ich hoch über einer großen Ebene oder einem Feld und sah auf eine riesige Armee hinab, Reihen um Reihen ausdrucksloser marschierender Soldaten, so weit das Auge reichte, eine Million oder noch mehr Männer, und das Trampeln ihrer Füße klang wie Donnerhall. Kriegsflugzeuge heulten über mir, Panzerkolonnen rumpelten neben den Soldaten her, und der Nachthimmel wurde von den Explosionen einschlagender Langstreckenraketen erhellt. Dieser Heerschar ent103
gegen ritt eine mächtige Gestalt auf einem schwarzen Pferd, und sie hielt Excalibur in Händen. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten verborgen, und während die Jagdbomber über ihn hinwegheulten, hob er herausfordernd das Schwert, und die Armee der Männer stieß einen Schrei aus, der das Getöse der Bomben schluckte. Der Mann sprang vom Pferd, hob das Schwert hoch über den Kopf und stieß es mit aller Kraft in die Erde. Gleißend weißes Licht explodierte aus dem Boden, die Flugzeuge fielen brennend vom Himmel, Panzer gingen in Flammen auf, und ganze Divisionen wurden von der Feuerwalze vernichtet oder flohen vor der Flut tödlichen Lichts. Endlich versiegte das Licht, und ich wanderte durch eine Wüste aufgerissenen Betons, entwurzelter, blattloser Bäume, verdrehter, zerquetschter Autogerippe mit hier und da noch rot blinkenden Lichtern. Die Luft war voller Asche, die sich in meinen Haaren verfing und mich zum Husten brachte. Ich suchte nach jemandem, rief einen Namen, konnte in meinem Traum aber nicht hören, wen ich da rief. Dennoch versuchte ich verzweifelt, diesen einen Menschen zu finden – wenn es mir gelang, würde alles wieder in Ordnung kommen. Aber immer wachte ich auf, ohne dass meine Suche Erfolg gehabt hätte. 104
KAPITEL DREIZEHN
S
eit Mogart mit dem Schwert verschwunden war, folgte mein Leben dem immer gleichen Muster. Abends blieb ich lange wach, sah die Nachrichten oder Excalibur, stolperte morgens nach nur zwei, drei Stunden Schlaf voller Albträume in die Schule, las im Unterricht Zeitung und ging dann wieder nach Hause in mein Zimmer, um auf den Anfang vom Ende der Welt zu warten. Beim Abendessen gingen die Tuttles wie immer auf mich los. »Sieh dich nur einmal an!«, rief Horace. »Du schläfst nicht, du isst nicht, hängst den ganzen Tag herum und klebst mit der Nase am Fernseher oder in der Zeitung. Was ist denn bloß mit dir los, du großköpfiger Trampel?« »Ach, ich weiß auch nicht«, sagte ich. »Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Onkel gestorben ist.« »Schatz«, sagte Betty zu Horace, »vielleicht solltest du besser nicht vom Onkel unseres kleinen Alfred sprechen.« »Zuerst mal ist der Junge alles andere als klein, 105
und dann habe ich nicht ein Wort über seinen Onkel gesagt! Er hat selbst von ihm angefangen!« Schon schrie er, und sein verkniffenes Gesicht wurde ganz fleckig vor Wut: »Du steckst voller Selbstmitleid! Glaubst du, du bist der einzige Junge auf dieser Welt, der je einen Menschen verloren hat? Die Welt ist voller Schmerz, Alfred, voller Schmerz und Verlierer, und du solltest dir endlich überlegen, ob du nicht zu den Gewinnern gehören willst!« »Wie du?«, fragte ich. »Oh«, keuchte Betty. »Oh, oh, oh!« »Das ist dein anderes Problem!«, schrie Horace. »Du kennst keine Dankbarkeit! Immerhin hast du ein Dach über dem Kopf und kannst deinen übergroßen Wanst füttern! Viele Menschen auf dieser Welt können das nicht von sich sagen!« Mehr ertrug ich nicht. Ich ließ ihn mit seinen schmalen, bebenden Lippen am Tisch sitzen und schloss mich in meinem Zimmer ein. Das brachte nun wieder meine Zimmergenossen auf die Palme, den dreizehnjährigen fetthaarigen Schläger namens Dexter und seinen zehn Jahre alten Bruder Lester, der um keinen Deut besser war, nur auf der nach oben offenen Schlägerskala noch nicht ganz so viele Punkte hatte. Die beiden trommelten gegen die Tür und brüllten, dass das auch ihr Zimmer sei. Worauf ich einfach den Nachrichtensprecher lauter drehte 106
und so tat, als hörte ich nichts. Da fing Dexter an zu schreien, er werde mich aufschlitzen, und zwar übel aufschlitzen, und das erinnerte mich an die Narbe an meinem Daumen, die gut zwei Zentimeter lang und weiß wie Zahnseide war. Manchmal tat sie weh und brannte, dann wieder klopfte und zwickte es in ihr. Ich gewöhnte mir an, mit dem Zeigefinger darüberzufahren und dabei die kleine Rinne zu spüren, besonders wenn ich nervös war und dachte, ich müsse durchdrehen. Ich fing an, die Schule zu schwänzen. Was nützte schon das ganze Lernen, wenn die Welt sowieso unterging? Morgens ging ich aus dem Haus, als wollte ich zur Bushaltestelle, bog dann aber in eine Seitenstraße Richtung Broadway, den ich bis ganz hinunter in die Altstadt ging, den historischen Teil von Knoxville. Ich trieb mich in Cafés herum, streifte durch Antiquariate und lief die Jackson Street hinauf und hinunter, sah mir die Obdachlosen an und die Jungs vom College, die in den Straßencafes herumhingen. Eines späten Nachmittags schließlich beschloss ich, dass ich die Tuttles nicht mehr ertrug, und ging in eine Kneipe namens McCallister’s, um etwas zu essen. Es war ungefähr fünf Uhr, und da es noch nicht Abendessenszeit war, hatte ich die Kneipe so gut wie für mich. Allerdings nicht ganz. Auf der anderen Seite des Raums saß ein großer Mann mit schneeweißem lan107
gem Haar. Er aß sehr langsam, schnitt sein Steak in hauchdünne Scheiben und kaute endlos darauf herum. Zwischendurch sah er zu mir herüber. Irgendwie kam er mir bekannt vor, ich wusste aber nicht, wo ich ihn schon gesehen hatte. Die Finger, die sich um sein Weinglas schlossen, waren schlank und zart. Er hatte große Hände, wie ein Basketballspieler oder Pianist. Als er aufstand, sah ich erst, wie groß er tatsächlich war. Plötzlich musste er laut niesen und zog ein weißes Taschentuch aus der Brusttasche. Er verließ die Kneipe, ohne noch einmal in meine Richtung zu sehen, und ich fragte mich, wie ein alter Mann, der sein Abendbrot aß, mich so nervös machen konnte. Mittlerweile war es nach sechs, und ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Tuttles, die wahrscheinlich beim Essen saßen. Horace würde brüllen: Wo ist Kropp? Wo bleibt dieser großköpfige Trampel? Also rief ich sie von einem Münzfernsprecher aus an. Betty ging ans Telefon. »Oh, Alfred, wo bist du denn? Was machst du? Wir kommen ja um vor Sorge! Wir wollten schon die Polizei anrufen, obwohl Horace sagt, das sollte man nur im Notfall, und er meint, du bist keiner, weil du schon fast sechzehn und alt genug bist, für dich selbst zu sorgen, aber ich habe ihm gesagt, dass du noch ein Junge bist, wenn auch ein großer. Wir kommen ja fast um vor Sorge.« 108
»Keine Angst, Betty«, sagte ich. »Mir geht’s gut.« »Wo bist du?« »Ich brauche noch eine Weile. Ich wollte nur sagen, dass alles okay ist.« »Oh, Alfred«, sagte sie. »Komm bitte nach Hause, Alfred, bitte.« Sie weinte. »Ich habe kein Zuhause mehr«, sagte ich und legte auf. Es gab noch jemanden, den ich anrufen wollte, aber es dauerte lange, bis ich den Mut dazu fand. Ihre Nummer bekam ich von der Auskunft, und fast hätte ich aufgelegt, als jemand ranging, der sich wie ihr Vater anhörte. »Ist Amy da?«, fragte ich. Es kam mir wie Jahre vor, bis ich ihre näselnde Stimme hörte. »Wer ist da?«, fragte sie. »Ich bin’s. Alfred. Alfred Kropp.« »Wer?« »Der Typ, dem du Nachhilfe gibst. In Mathe.« »Oh! Der mit dem toten Onkel«, sagte sie. »Genau«, sagte ich. »Der mit dem toten Onkel. Hör zu, ich wollte nur sagen …« »Ich wusste, dass es keiner ist, den ich kenne«, sagte sie. »Weil du diese Nummer angerufen hast. Wer mich kennt, ruft mich auf dem Handy an.« »Okay«, sagte ich. »Hör zu, ich rufe an, weil ich… weil ich glaube, ich komme morgen nicht zur Nach109
hilfe. Oder überhaupt nochmal. Ich glaube nicht, dass ich nochmal komme.« Schweigen. Um überhaupt etwas zu sagen, wiederholte ich: »Ich habe gesagt, ich glaube nicht, dass ich nochmal komme.« »Ich hab’s gehört. Hör zu, ich weiß, dass du im Moment ziemlich fertig bist. Ich kenne das. Als ich zwölf war, hat mein großer Bruder meinen Hund überfahren. Da bin ich eine ganze Woche nicht aus dem Bett gekommen.« Warum hatte ich gedacht, es würde ihr etwas ausmachen? Warum dachte ich, ich wäre irgendwem wichtig? Mein eigener Vater hatte mich nicht gewollt. Ich war ein Unfall, unter dem alle litten, wie Barry mit seinem kaputten Handgelenk. Ich verabschiedete mich von Amy Pouchard und lief los. Es wurde dunkel, und es waren jede Menge Leute unterwegs, hauptsächlich Pärchen, und ich sah ihnen zu, wie sie Arm in Arm an mir vorbeispazierten. Irgendwann fühlte ich etwas hinter mir und sah mich um, und da war er, der große Mann mit dem weißen Haar, knapp eine Querstraße hinter mir. Er stand an einem Kiosk und tat so, als läse er die Schlagzeilen. Ich ging weiter zur Kreuzung von Western und Central Street und bog links ab. Ein Stück die Straße hinunter gab es das Café Damals, gleich neben der JFG-Kaffeerösterei. Ich ging rein, bestellte mir einen großen Kaffee 110
mit extra Sahne und Zucker, setzte mich an die lange Theke direkt am Fenster und beobachtete die Pärchen, die draußen vorbeigingen. Als ich meinen Kaffee fast ausgetrunken hatte, sah ich ihn plötzlich am anderen Ende der Theke gleich bei der Toilette sitzen. Ich nahm meinen Becher, ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Schweigend tranken wir unseren Kaffee. Seine Nase war gerötet und tropfte, er hatte Schnupfen. Nach einer Weile zog er sein weißes Taschentuch heraus, auf dem ein Pferd mit Reiter abgebildet war. Der Reiter war ein Ritter, der ein rotes Banner trug. Damit war es für mich klar. »Wie geht’s Mr. Samson?«, fragte ich ihn. »Er ist tot.« Ich dachte an meinen Traum und fragte: »Wann ist es passiert?« »Vor zwei Tagen.« »Mr. Mogart… Hat er ihn umgebracht?« »Sprich den Namen nicht aus.« Er faltete sein Taschentuch zu einem perfekten Quadrat und steckte es zurück in seine Brusttasche. »Wer sind Sie?«, fragte ich. »Nenn mich Bennacio.« »Ich heiße Alfred Kropp.« »Ich weiß, wer du bist.« »Wir haben uns schon mal gesehen«, sagte ich. »In Samson Towers. Ich habe Sie ohne Ihre Kutte 111
erst nicht wieder erkannt. Aber jetzt erkenne ich Ihre Hände. Und Ihre Stimme.« Er nickte. »Der Mann, den du als Bernard Samson kennst, ist vor zwei Tagen in Jâtiva getötet worden, auf den Hängen des Monte Bernisa.« Er nippte an seinem Kaffee. Er hatte den Deckel heruntergenommen, und ich sah, dass er ihn schwarz trank. »Ich habe den Auftrag, dich im Falle seines Todes aufzuspüren.« Ich dachte nach. Das alles ergab keinen Sinn, aber seit Mom gestorben und ich zu Onkel Farrell gekommen war, hatte fast alles keinen Sinn mehr ergeben. »Warum?« »Um dir von seinem Schicksal zu berichten.« »Ist es wichtig, dass ich davon erfahre?« Er zuckte mit den Schultern, als könnte er absolut nicht beurteilen, wie wichtig es war, Alfred Kropp auf dem Laufenden zu halten. »Was ist in Spanien passiert?« Bennacio sah stur aus dem Fenster. »Er ist gefallen. Vier unseres Ordens sind mit ihm gefallen. Nur ich konnte fliehen, um dir diese Nachricht zu bringen, Kropp. Es war sein letzter Wunsch, dass du es erfährst.« Wieder nippte er an seinem Kaffee. Er hatte eine spitze Nase und dunkle, tief sitzende Augen unter dichten grau melierten Brauen. Sein weißes Haar hatte er sich aus der Stirn gekämmt. 112
»Zwei unseres Ordens sind in Toronto gefallen«, sagte er. »Die beiden waren die Ersten. Samson hatte sie ausgesandt, um den Feind aufzuhalten, bevor er Nordamerika verlassen konnte. Dann einer in London und zwei in Pau, bevor der Rest von uns ankam.« Ich rechnete. Mr. Samson hatte mir gesagt, dass es noch zwölf Ritter gebe. »Damit sind Sie noch zu zweit.« Bennacio schüttelte den Kopf. »Windimar ist in der Nähe von Bayonne gefallen, in der Nacht, bevor wir unseren Feind in Jâtiva entdeckten. Ich bin der Letzte des Ordens.« Eine ganze Weile lang sagte er nichts mehr. Wir tranken unseren Kaffee aus. Endlich sagte ich: »Es tut mir Leid, Mr. Bennacio.« »Einfach nur Bennacio«, sagte er. Ich glaube nicht, dass es ihn interessierte, ob es mir Leid tat oder nicht. Ich fuhr fort: »Aber da mischen doch noch eine Menge andere Leute mit, oder? Mr. Samson hat doch diese Geheimagentur engagiert, Spione oder Söldner oder so was. Ich weiß nicht, wie sie heißen …« »Du meinst BIPAP.« »Ja?« Er nickte. »BIPAP«, und dabei machte er ein Gesicht, als produzierte der Name einen schlechten Geschmack in seinem Mund. 113
»Was heißt das, BIPAP?« »Hast du nicht gerade gesagt, Mr. Samson hat dir davon erzählt?« »Also, es war wie bei allem anderen: Er hat mir was erklärt, dann aber auch wieder nicht. Und ich bin sowieso nicht der Schnellste. Was genau ist BIPAP?« Bennacio sah sich im Café um. »Das ist hier nicht der Ort, um über BIPAP zu reden, Kropp.« Er stand auf. Ich weiß nicht, warum, aber ich folgte ihm aus dem Café in die Dunkelheit. Die Frühlingsluft war weich und warm. Wieder putzte er sich die Nase mit seinem weißen Taschentuch. »Nur ein Narr kann darauf hoffen«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Worauf?«, fragte ich. Er antwortete mir nicht direkt, genau wie Mr. Samson mir keine klare Antwort gegeben hatte. Vielleicht war das bei Rittern so. »Niemand kann Mogart aufhalten. Nicht, solange er das Schwert hat. Und doch muss ich es versuchen, solange ich lebe.« Er drehte sich zu mir um und sah mich zum ersten Mal richtig an. Seine dunklen Augen waren voller Traurigkeit. »Jetzt ist die Stunde gekommen«, sagte er leise. »Unser Verhängnis ist nahe.« Ohne noch etwas hinzuzufügen, ging er davon, und ich beobachtete ihn, wie er die Straße überquer114
te. Ich sah zwei große Männer aus dem Türeingang eines Antiquitätenladens treten und ihm folgen. Beide trugen lange graue Umhänge, die viel zu schwer für das warme Wetter waren. Bennacio schien sie nicht zu bemerken. Mit gebeugtem Kopf schritt er dahin, als sei er tief in Gedanken. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagte: Geh nach Hause, Alfred. Aber ich hatte kein Zuhause mehr. Mr. Samson war tot und bis auf diesen Bennacio auch all die anderen Ritter, und alles war meine Schuld. Ich hätte Onkel Farrell sagen können – sagen müssen –, dass ich ihm mit dem Schwert nicht helfen würde. Von Anfang an hatte ich gewusst, dass es falsch war, und wäre ich standhaft geblieben, würden alle noch leben, und ich hätte noch ein Zuhause. Zwar hatte ich die kleine Wohnung mit den alten Möbeln und dem fischigen Geruch gehasst und jeden Tag aufs Neue gewünscht, dass meine Mutter noch leben würde und mein Onkel reich wäre wie Donald Trump und nicht arm wie Farrell Kropp, aber jetzt kam mir das alles wie der Himmel vor. Jetzt hätte ich alles gegeben, um das zurückzubekommen. Bennacio ging nördlich die Central Street hinauf, und die beiden Männer hielten mit ihm Schritt. Aus einem Grund, den ich bis heute nicht verstehe, folgte ich ihnen. Als ich um die Ecke kam, hatten sie ihn gegen die Wand gestellt und droschen auf ihn ein. Einer der 115
beiden hielt ihn fest, während der andere ihm die Fäuste in den Leib rammte. Sie waren viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken. Jetzt wandte sich der eine dem anderen zu und sagte mit ausländischem Akzent: »Bring ihn um.« Der Angesprochene holte etwas langes Schwarzes unter seinem Umhang hervor. »He!«, rief ich. Sie sahen zu mir herüber. Alle standen wir einen Moment lang bewegungslos da, dann stieß der eine Bennacio seinen Dolch in die Seite, der andere ließ ihn los, und während Bennacio langsam an der Mauer nach unten glitt, machten sich seine Angreifer über die Bahngleise Richtung Osten davon. Ich rannte zu Bennacio. Seine Augen waren offen, und er atmete. Mit beiden Händen umklammerte er das weiße Taschentuch. Ich legte meine Hand an seine Seite, und als ich sie zurückzog, war sie voller Blut. »Lass mich«, sagte er. Ich hievte ihn auf die Beine, legte mir seinen Arm um die Schulter und schaffte ihn zurück zur Central Street. »Sie sind verletzt«, sagte ich. »Ich bringe Sie ins Krankenhaus.« »Kein Krankenhaus. Kein Krankenhaus«, keuchte er. An der Ecke stand ein gelbes Taxi. Ich schob Ben116
nacio auf den Rücksitz. »Wohin?«, fragte der Fahrer. »Wohin?«, fragte ich Bennacio. »Ins Hyatt…«, keuchte Bennacio. »Zum Hyatt Regency«, erklärte ich dem Fahrer. Bennacio lehnte sich gegen mich. Ich zog ihm das Taschentuch aus den Händen und drückte es ihm auf die schlimm blutende Wunde. »Oh, Mann«, flüsterte ich. »Mann, Sie bluten ziemlich übel, Bennacio.« »He«, sagte der Taxifahrer und starrte uns in seinem Rückspiegel an. »Ist dein Freund okay, Junge?« »Kein Krankenhaus, kein Krankenhaus«, flüsterte Bennacio immer wieder. Sein Gesicht war sehr blass, und seine Augen rollten in ihren Höhlen, während er immer schwerer auf mir lastete. Ich nahm an, dass er starb.
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KAPITEL VIERZEHN
E
s gelang mir, Bennacio aus dem Taxi und in die Hotelhalle zu bekommen. Er hing schwer an mir. Der Angestellte hinter der Rezeption sah mich argwöhnisch an. »Mein Onkel«, sagte ich. »Hat ’n bisschen zu viel Wein abgekriegt.« Bennacio sagte mir seine Zimmernummer, und irgendwie schaffte ich es mit ihm in den Aufzug, hinauf in die fünfte Etage und in sein Zimmer, wo ich ihn auf sein Bett legte. Er hatte die Augen geschlossen und atmete mit kurzen, harten Zügen. Ich öffnete ihm das Jackett und legte die Wunde frei, einen Schnitt direkt unter den Rippen auf der linken Seite. Ich holte ein paar Handtücher aus dem Bad, drückte ihm eines auf die Wunde und sah, wie es sich voll Blut saugte. Ich warf es auf den Boden und nahm das nächste. Die Wunde wollte nicht aufhören zu bluten. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte ich. »Sie werden verbluten, wenn wir keinen Arzt holen.« Er öffnete die Augen und sah mich an. »Die Klin118
ge war vergiftet«, sagte er. »Die Blutung wird nicht aufhören.« Es hob den Kopf ein wenig und betrachtete meine Hand, die das Handtuch auf seine Wunde presste. Er musste die Narbe auf meinem Daumen entdeckt haben, denn er flüsterte: »Du hast dich mit dem Schwert verletzt.« »Ja.« »Im Bad«, röchelte er. »Mein Rasiermesser. Bring es mir.« Ich fand es in einer kleinen schwarzen Ledertasche auf der Ablage. Das Messer hatte eine lange aufklappbare Klinge, die ganz im Griff verschwand. Ich hatte nicht gedacht, dass sich immer noch jemand mit so einem Messer rasierte. Woher wusste ich, dass dieser Bennacio nicht log? Vielleicht war er einer von Mogarts Leuten und gekommen, um mich umzubringen? Aber selbst wenn er log und einer von den Agenten der Finsternis war, wie konnte ich ihn verbluten lassen? Ich brachte ihm das Rasiermesser. Er setzte sich etwas auf, stöhnte unter der Anstrengung, griff nach meinem Handgelenk und hielt es fest. »He«, sagte ich. »Was soll das?« Er nahm das Rasiermesser, hielt es neben meine Narbe und schnitt gerade tief genug in die Haut, dass sie anfing zu bluten. »O Gott!«, krächzte ich und versuchte, meine 119
Hand wegzuziehen. Mit der anderen Hand stieß er jetzt das Handtuch weg, zog meinen blutenden Daumen an seine Seite und drückte ihn sich in die Wunde. »Was machen Sie da?« »Das Schwert hat die Macht zu heilen, genau wie es zerstört«, sagte er. Nach ein paar Minuten ließ er meine Hand los. Ich nahm das Handtuch und drückte es wieder auf die Wunde, aber die Blutung ließ bereits nach. Bennacio schloss die Augen. Sein Atem beruhigte sich, und einen Moment lang glaubte ich, er sei eingeschlafen. »Wer waren diese Männer, Bennacio?«, fragte ich und hielt meinen pochenden Daumen. »Diener des Feindes … Seit meiner Rückkehr nach Amerika sind sie hinter mir her.« Was bedeutete, dass er wegen mir verwundet worden war. Warum hatte ihn Mr. Samson zu mir geschickt? Als würde es ihnen helfen, das Schwert zurückzubekommen, wenn ich alles erfuhr. Ich setzte mich neben ihn und war den Tränen nahe, wollte aber vor Bennacio nicht heulen. Alle um mich herum schienen sterben zu müssen, und das nur, weil ich etwas genommen hatte, das ich nicht hätte anrühren dürfen. Ich war wie ein trampeliger, unbeholfener, großkopfiger Todesengel. »Brauchen Sie etwas, Bennacio?«, fragte ich. Er antwortete nicht. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. 120
Ich meine, ich habe solche Angst. Warum hat Sie Mr. Samson zu mir geschickt? Was soll jetzt werden, wo alle Ritter tot sind? Ich werde auch nicht überleben, oder? Keiner von uns. Sie haben gesagt, unser Verhängnis sei nahe. Ich habe Durst. Wollen Sie etwas Wasser?« Er antwortete nicht. Jetzt war er wirklich eingeschlafen.
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KAPITEL FÜNFZEHN
L
ange betrachtete ich den schlafenden Bennacio. Bis ich selbst müde wurde. Im Vorraum stand ein Sofa, auf das ich mich für eine Weile legte, aber es machte mich nervös, dass ich ihn von dort nicht sehen konnte. Ich ging also zurück in sein Zimmer und setzte mich zu ihm aufs Bett. Am Ende muss ich auch eingeschlafen sein. Als der Morgen dämmerte, wachte ich auf. Wie ein großer treuer Hund lag ich zusammengerollt am Fußende des Betts. Bennacio schlief immer noch, und ich bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen: einen Bagel ohne alles (schließlich wusste ich nicht, wie er sie am liebsten mochte) und einen mit allem, Kaffee und Orangensaft. Es klopfte, und ich nahm das Frühstück in Empfang. Als ich zurück ins Zimmer kam, war Bennacio wach. Ich half ihm, sich aufzusetzen, damit er essen konnte. Er nahm den Bagel mit allem, den ich für mich bestellt hatte, aber schließlich war er derjenige mit der Stichwunde, und so sagte ich nichts. 122
»Was ist in Jâtiva passiert?«, fragte ich. »Samson glaubte, unsere einzige Hoffnung bestünde darin, den Feind mit allen Kräften zu attackieren. Ich war dagegen, aber er war das Oberhaupt des Ordens, und am Ende gab ich nach. Wir spürten den Feind in seinem Unterschlupf in Jâtiva auf, einer alten Burg über der Stadt, die Mogart für diesen Tag neu aufgebaut und befestigt hatte. Samson verbreitete über eine englische Zeitung, dass er in London auf einer internationalen Wirtschaftskonferenz sei. So hoffte er, Mogart in Sicherheit zu wiegen.« »Aber es hat nicht funktioniert.« »Sie warteten, bis wir auf dem inneren Burghof waren, und fielen aus dem Hinterhalt über uns her. Wenigstens fünfzig Mann. Beilot fiel, Cambon, und doch hätten wir gewinnen können. Wir überwanden die Wachen und hatten den Hof unter Kontrolle, als sich das Schicksal gegen uns wandte und Mogart mit dem Schwert erschien.« Er holte tief Luft. »Als wir einer nach dem anderen fielen, fingen die Engel selbst an zu klagen und schlugen sich an die Brust. Für solch ein Werk war das Schwert nicht gedacht. Es wurde nicht geschmiedet, um das Blut seiner Hüter zu vergießen. Wir zogen uns zurück, die Herzen voller Furcht, aber der Feind hatte neue Kräfte in unserem Rücken gesammelt und schnitt uns den Weg ab.« »Wurden alle … alle getötet?« 123
»Es war ein Massaker, Kropp. Ich fiel beim Tor, verwundet, aber nicht tödlich, und so wurde ich zum einzigen Überlebenden, der Mogarts Verrat und den Tod unseres Oberhaupts miterlebt hat, des Mannes, den du Bernard Samson nennst. Was Mogart mit ihm gemacht hat, will ich nicht erzählen – aber es war schrecklich, Kropp. Schrecklich! Und doch fand Samson die Kraft, mir aufzutragen, dir die Nachricht zu überbringen, dass er gefallen und das Schwert noch nicht wieder in Sicherheit ist. Kurz, dass es die Ritter vom Orden des Heiligen Schwertes nicht mehr gibt.« Ich legte meinen halb gegessenen Bagel hin. Mir war der Appetit vergangen. Ich musste an meinen Traum denken: die tapferen Ritter, die in einer grauen Burg überwältigt wurden, der Tod des Mannes mit dem goldenen Haar. »Stundenlang lag ich halbtot im blutgetränkten Schlamm von Mogarts Unterschlupf«, fuhr Bennacio fort. »Endlich brach die Nacht herein, und ich konnte fliehen. Aber natürlich blieb meine Flucht nicht unbemerkt, und so verfolgten sie mich bis hierher nach Amerika. Ich hatte zwar gedacht, ich hätte sie abgeschüttelt, aber offensichtlich habe ich mich getäuscht.« Er stellte seine Tasse auf den Nachttisch neben den Teller mit dem Bagel, den er nun doch nicht angerührt hatte. 124
»Sie werden nicht ruhen, bis ich tot bin. Denn ich bin der letzte Ritter, die einzige Hoffnung für die Wiederbeschaffung des Schwertes. Die anderen, die Unbeteiligten, die Samson für unsere Sache angeworben hat, diese … BIPAP kann gegen Mogart nicht bestehen. Nur ein Ritter des Ordens hat die – wenn auch winzige – Chance, das Schwert zurückzugewinnen. Das weiß auch Mogart.« Er rollte sich an den Rand des Betts, hielt sich die Seite und zuckte unter dem Schmerz zusammen. »Was haben Sie vor?«, fragte ich. »Ich muss los.« »Sie können so nicht gehen, Bennacio. Sie haben sehr viel Blut verloren. Sie müssen wenigstens ein paar Tage…« »Hör zu!«, sagte er mit scharfer Stimme. »Sie werden nicht aufhören, mich zu jagen, Kropp. Vielleicht sind sie in diesem Moment schon hier im Hotel. Und jetzt, da mein letztes Versprechen Samson gegenüber erfüllt ist, muss ich zurück nach Europa und Mogarts Fährte aufnehmen, bevor es zur Katastrophe kommt und jemand mit dem Schwert die Welt ins Verderben stürzt.« Er stemmte sich vom Bett hoch, wankte einen Moment und fiel zurück. Ich fing ihn auf und legte ihn vorsichtig wieder hin, während er nach Luft schnappte. »Ich bin der letzte Ritter«, keuchte er. »Gebunden 125
durch meinen heiligen Eid, das zurückzugewinnen, was niemals hätte verloren gehen dürfen.« Ich weiß nicht, ob diese Worte mir galten: was niemals hätte verloren gehen dürfen, aber ich verstand sie so. »Was kann ich tun?«, fragte ich. Er zog eine seiner dichten Augenbrauen hoch, und ich fühlte mich wieder klein und schwach wie ein Däumling. »Bitte, Bennacio, lassen Sie mich etwas tun. Lassen Sie mich helfen. Ich gehe auf keinen Fall mehr zurück. Ich will nicht wieder zu den Tuttles, und ich habe auch sonst nichts und niemanden, wohin ich könnte. Und das alles… das alles ist meine Schuld. Ja, es war auch die meines Onkels, aber wenn ich Nein gesagt hätte, wäre es nicht so weit gekommen. Ohne mich hätte er es nicht geschafft. Aber jetzt ist er tot, und ich bin der Einzige, der noch was tun kann, ich meine, was Mogart und das Schwert angeht. Ich weiß zwar nicht, was ich tun kann, aber Sie sind in ziemlich schlechter Verfassung. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Bitte. Bitte, nehmen Sie mich mit, Bennacio.« Er lächelte fast. Fast. Er hielt sich die Seite und krümmte sich vor Schmerz. »Kannst du Auto fahren, Kropp?«
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KAPITEL SECHZEHN
N
atürlich sagte ich, ich könne fahren, allerdings hätte ich gerade erst angefangen und noch nicht viel Erfahrung. Das schien ihn nicht weiter zu stören. Ich half ihm, sich anzuziehen, und er lehnte sich auf mich, als wir zum Parkplatz gingen. Er führte mich zu einem nagelneuen silbernen Mercedes, der gleich beim Eingang stand. »Ist das Ihrer?«, fragte ich. »Ja.« »Cooler Schlitten.« Ich half ihm auf den Beifahrersitz. Ich selbst setzte mich hinters Steuer, und er gab mir die Schlüssel. »Das ist ein echt tolles Auto, Bennacio«, sagte ich. »Sind Sie sicher, dass Sie mich damit fahren lassen wollen?« »Hast du eben nicht gesagt, dass du fahren kannst?« »Klar. Aber ich habe meinen Schüler-Führerschein erst vor sechs Monaten gemacht und noch nicht oft hinterm Steuer gesessen.« Er machte eine kleine Geste mit der Hand, die mir 127
sehr europäisch vorkam. »Wir müssen mit den Werkzeugen auskommen, die uns gegeben sind, Kropp.« »Klar«, sagte ich. »Sicher.« Schnurrend startete der Motor, und ich spürte ein Kribbeln unter der Kopfhaut. Wäre das alles nicht so ernst gewesen, hätte ich mich vor Freude kaum halten können. Bennacio dirigierte mich auf die Interstate. Ich fragte, wohin wir wollten, weil ich gedacht hatte, ich sollte ihn zum Flughafen fahren. Aber alles, was er sagte, war: »Nach Norden«, und der Flughafen von Knoxville lag im Süden. Ich hatte keine Ahnung, wohin es ging, ich wusste nur, dass ich mit von der Partie war. Immer wieder sah ich in den Rückspiegel, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken, nur Autos und große Trucks. Wie würde ein verdächtiger Wagen aussehen? Da ich es nicht wusste, sahen plötzlich alle Wagen verdächtig aus. Als Anfänger in dichtem Verkehr die Interstate entlangzufahren ist schon schwer genug, aber stellt euch vor, es sind auch noch ein paar mittelalterliche Schurken inkognito in irgendeinem Auto hinter euch her. Wir waren ungefähr eine Stunde aus der Stadt, als Bennacio fragte: »Warum hast du das Schwert genommen?« »Das war die Idee meines Onkels«, sagte ich. »Das heißt, Mr. Myers hat ihn dazu gebracht – ich meine, Mr. Mogart.« 128
»Und warum hat dein Onkel eingewilligt?« »Mogart hat ihm fünfhunderttausend Dollar dafür gegeben.« »Du hast es also für Geld getan.« Er sprach das Wort Geld aus, als sei es etwas Schmutziges. »Nein. Nicht wirklich. Ich bin nicht geldgierig, wenn Sie das meinen.« »Warum denn dann?« »Hören Sie, Bennacio, ich hatte keine Ahnung, wer Mr. Samson wirklich war und um was es bei dem Schwert ging. Wie hätte ich das wissen sollen? Ich wollte nur Onkel Farrell helfen. Außerdem hat er mir gedroht, dass er mich wieder in Pflege geben würde, wenn ich mich weigerte. Ich sagte, wir sollten es nicht tun. Dass ich ein schlechtes Gefühl dabei hätte und es nicht richtig sei, aber er war mein Onkel. Ich bin noch ein Kind. Und in einer Pflegefamilie bin ich sowieso wieder gelandet.« Aber das waren alles Entschuldigungen. Spätestens wenn du zehn oder elf Jahre alt bist, zählt »Ich bin noch ein Kind« nicht mehr, was so grundsätzliche Dinge wie die Unterscheidung von Richtig und Falsch angeht. Eine Weile sagte keiner was. Er starrte auf die Straße und vermied es, mich anzusehen. »Wohin fahre ich Sie, Bennacio?«, fragte ich. Er antwortete nicht. Ich sah zu ihm hinüber, wie er immer noch auf die Straße starrte. 129
»Wie wollen Sie Mogart und das Schwert finden, wenn Sie wieder in Europa sind?« Er antwortete nicht. Ich holte tief Luft, atmete ganz langsam wieder aus und versuchte es nochmal. »Mr. Samson hat mir erzählt, dass Sie alle von den Rittern der Tafelrunde abstammen«, sagte ich. »Welcher war Ihr Vorfahre?« Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Vielleicht war es ihm verboten, darüber zu sprechen. »Bedivère«, sagte er endlich. »He, war das nicht der, der den Heiligen Gral gefunden hat?« »Nein, Galahad fand den Gral.« »Ich habe diesen Film gesehen, Excalibur, kennen Sie den?« Er antwortete nicht. »Ich habe ihn sicher vierzigmal gesehen. Es gibt da allerdings ein paar Stellen, die ich nicht ganz verstehe. Zum Beispiel nimmt Percival am Ende das Schwert und wirft es in den großen See, dessen Herrin es sich dann schnappt.« »Artus hat das Schwert nicht Percival, sondern Bedivère gegeben.« »Also im Film ist es Percival.« Er zog die Brauen zusammen. Ich räusperte mich. »Dann… dann gehört das Schwert also Ihnen?«, fragte ich. »Das Schwert gehört niemandem.« Er seufzte. 130
»Artus fiel auf den Feldern von Salisbury, tödlich getroffen in seinem Kampf gegen Mordred. Bevor er seinen letzten Atemzug tat, vertraute er das Schwert meinem Ahnen Bedivère an, der es zurück zum Wasser bringen sollte, woher es stammte: Damit es nicht zu der Katastrophe käme, der wir jetzt entgegensehen.« »Also im Film war es Percival, und der hat es ins Wasser geworfen. Wie konnte es da am Ende zu Samson kommen?« »Es ist nur ein Film, Kropp.« »Ist Artus wirklich gestorben?« »Alle Menschen sterben.« »Mr. Samson sagte, Sie würden das Schwert hüten, bis sein Meister komme, um es zurückzufordern. Wer ist dieser Meister, wenn Artus tot ist?« »Der Meister ist der, der es zurückfordert«, sagte Bennacio. »Und wer sollte das sein?«, fragte ich. »Der Meister des Schwertes«, sagte er. »Ich meine, wissen Sie, wer das ist?«, fragte ich. »Ich muss es nicht wissen.« »Wieso nicht?« »Das Schwert weiß es«, sagte er. »Das Schwert hat auch Artus gewählt.« »Wie kann ein Schwert jemanden wählen?« Darauf sagte er nichts. »Wie können Sie wissen, dass sich das Schwert 131
nicht Mogart ausgesucht hat?«, fragte ich. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Wahrscheinlich wollte er mir so zeigen, dass er immer noch wütend auf mich war oder einfach nicht sprechen wollte. Vielleicht hatte er auch Schmerzen. Gegen Mittag fuhr ich von der Interstate herunter, um zu tanken und weil wir etwas essen mussten. Alles, was ich in den Magen gekriegt hatte, war ein halber Bagel, und Bennacio hatte sein Frühstück nicht mal angerührt. Bevor ich ausstieg, sah ich mich um. An der Zapfsäule nebenan stand ein Mann und füllte den Tank seines Vans auf. Das Auto wackelte hin und her, und ich konnte ein paar Kinder sehen, die sich drinnen prügelten. Ich bezahlte das Benzin und kaufte zwei Corndogs, eine Tüte Kartoffelchips und Sprudel. Als ich wieder im Auto saß, gab ich Bennacio einen der Corndogs. »Was ist das?«, fragte er. »Ein Corndog.« »Ein Kornhund?« »Ein Wiener Würstchen in einem Vollkornbrötchen.« »Warum steckt da ein Spieß drin?« »Das ist eine Art Griff.« Er betrachtete den Corndog argwöhnisch. Ich fuhr bis ganz ans Ende der Tankstelle und parkte bei der 132
Prüfstation für den Reifendruck. »Was hast du vor, Kropp?« »Ich muss mir Ihre Wunde mal ansehen. Ziehen Sie das Hemd ein Stück hoch, Bennacio.« »Die Wunde ist in Ordnung. Wir müssen weiter.« Ich sah ihn nur an. Er seufzte, legte sich den Corndog, der immer noch in seinem gelben Einwickelpapier steckte, auf den Schoß und zog sein Hemd hoch. Ich hob den Verband vorsichtig an und staunte, dass sich die Wunde bereits geschlossen hatte. Ich war zwar kein Arzt, aber sie sah fast verheilt aus. »Fahren wir, Kropp«, sagte Bennacio trocken und steckte sich das Hemd wieder in die Hose. Ich fuhr zurück auf die Interstate. Bennacio aß seinen Corndog nicht. Zwanzig Meilen weiter lag er immer noch auf seinem Schoß. Bennacio starrte aus dem Fenster. »Ihr Corndog wird kalt«, sagte ich. Er reagierte nicht. Ich langte hinüber, nahm ihn von seinem Schoß, riss das Papier herunter und aß ihn. Seit Bennacio mir am Abend zuvor im Restaurant aufgefallen war, hatte ich ihn nicht mehr essen sehen. »Vielleicht hätte ich Sie vorher fragen sollen, ob Sie einen Corndog wollen«, sagte ich. »Aber wer mag schon keinen Corndog?« »Ich habe keinen Hunger.« »Sie müssen aber etwas essen, Bennacio. Sagen Sie mir, was Sie wollen, und ich halte nochmal an 133
und besorge es Ihnen.« »Nein, nein. Fahr weiter.« »Wohin fahre ich jetzt eigentlich?« »Nach Kanada.« Ich warf einen Blick zu ihm hinüber. »Nach Kanada?« Er seufzte. »Nach Halifax in Neuschottland. Ich habe da Freunde.« »Gott, Bennacio! Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich Sie bis nach Kanada bringen soll! Wäre es nicht leichter gewesen, gleich nach Spanien zu fliegen?« »Die Flughäfen werden überwacht.« »In Halifax nicht? Ich meine, ist das für die zu weit weg?« Ich fragte mich, wo in Neuschottland Halifax wohl lag. Und wo lag Neuschottland überhaupt? Aber ich sagte nichts. So wie er mit mir sprach, hatte ich den Eindruck, dass er mir nur aus Höflichkeit antwortete und sich eigentlich nicht mit mir unterhalten wollte. »Wer sind diese Freunde in Halifax? Sind es die – wie heißen sie noch? – BIPAP-Leute?« »Das sind keine Freunde«, sagte er. »Was heißt BIPAP eigentlich? Was bedeutet es?« Er antwortete nicht, und so versuchte ich die Abkürzung selbst zu entschlüsseln: Bundesinstitution Paranormaler Psychologie. Aber das ergab keinen Sinn. »Die Ritter waren nicht die Einzigen, die von der 134
Existenz des Schwertes wussten«, sagte Bennacio. »Wir waren seine Hüter, Kropp, aber das Schwert selbst hat viele Freunde.« »Oh. Nun, das ist gut so. Es ist gut, Freunde zu haben. Mein bester Freund lebt in Salina, wo ich aufgewachsen bin. Er heißt Nick. Was passiert also, wenn wir in Halifax ankommen? Wollen Sie mit dem Schiff über den Atlantik?« Wieder sagte er nichts. »Wie bitte?«, fragte ich. »Wäre das zu langsam? Ihre Freunde haben wahrscheinlich eigene Überschallflugzeuge oder so was zur Verfügung.« Eine Zeit lang fuhren wir, ohne ein Wort zu wechseln, so wie es Bennacio am liebsten zu sein schien. Es fing an zu regnen. Bennacio nahm Schlückchen von seinem Sprudel. Er hielt den Strohhalm fest zwischen den Lippen, bog ihn gegen das Kinn und saugte nicht daran, sondern schlürfte bedächtig Tropfen um Tropfen. Lange Zeit waren das sanfte Trommeln des Regens auf dem Dach und Bennacios Schlürfen die einzigen Geräusche um mich herum, und sie machten mich nervös. »Ich habe mich schon oft gefragt«, sagte ich, »von wem Mr. Samson abstammte.« Bennacio seufzte. »Lancelot«, sagte er müde. Ich beschloss, mir keine Gedanken darüber zu machen, ob ich ihm auf die Nerven ging. Ich war sein altherrschaftliches Überlegenheitsgetue satt, er be135
handelte mich wie einen kleinen Jungen oder als hätte ich einen Gehirnschaden. Außerdem wurde ich langsam müde, und mochte es auch noch so ’n tolles Auto sein, so lange Fahrten war ich nicht gewöhnt. Ich war überhaupt nicht ans Fahren gewöhnt. Punkt. »Das war doch der, der König Artus seine Guinevère abspenstig gemacht hat, oder?«, sagte ich und tat dabei so, als wäre Bennacio dieses kleine Detail womöglich fremd. »Wahrscheinlich wäre das alles nicht passiert, wenn er sich besser im Griff gehabt hätte. Sind Sie verheiratet, Bennacio?« »Nein. Viele von uns heiraten nur heimlich oder gar nicht, dadurch sind wir über die Zeiten so wenige geworden.« »Warum?« »Denk daran, Kropp, wir haben geschworen, das Schwert zu hüten. Einander zu lieben, Blutsbande zu flechten – das macht erpressbar. Es kommt zu Betrug. Du sprichst von Lancelot. Samson selbst hat niemals geheiratet, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, einen anderen Menschen in Gefahr zu bringen.« »Was ich mich sonst noch gefragt habe«, sagte ich. »Wie hat Mogart überhaupt von dem Schwert erfahren?« »Alle Ritter des Heiligen Ordens wissen davon.« Ich sah zu ihm hinüber. Er blickte hinaus in den Regen, der auf die Scheibe prasselte. Sein Gesicht 136
war ausdruckslos. »Mogart ist ein Ritter?« »Früher einmal war er einer.« »Und dann?« »Samson jagte ihn davon.« Er seufzte. »Was Mogart nicht gefiel, wie man sich vorstellen kann. Samson hatte ihn zu seinem Erben bestimmt, verstehst du.« »Warum hat er ihn dann verjagt?« Bennacio zögerte mit seiner Antwort. »Das war eine Sache zwischen Samson und Mogart.« Er warf mir einen kurzen Blick zu und sah wieder weg. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Mann wie Mogart unter uns auftauchen musste. Jahrhundertelang hatten wir Glück, aber die alten Blutlinien verwässerten mit der Zeit. Unser Blut vermischte sich mit weniger wertvollem Blut, und unser Heldenmut wurde durch die Sehnsüchte dieser Welt getrübt. Ihre Stimmen verblichen, und in die entstandene Leere drangen die Stimmen der Verderbtheit.« »Stimmen? Was für Stimmen?« »Die Stimmen der Engel.« »Was für Engel?« »Es gab einige in meinem Orden, Kropp, die glaubten, das Schwert sei die Waffe des Erzengel Michael, der es Artus überlassen habe, um die Menschheit zu einen.« Ich erinnerte mich, dass Mr. Samson mir erklärt 137
hatte, das Schwert sei nicht von Menschen geschaffen worden. »Das hat aber nicht ganz geklappt, oder?«, fragte ich. »Es ist sicher nicht das erste Mal, dass wir den Himmel enttäuschen«, antwortete Bennacio.
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KAPITEL SIEBZEHN
I
ch hielt außerhalb einer kleinen Stadt namens Edinburg im Shenandoah Valley, um zur Toilette zu gehen und Bennacio etwas anderes als einen Corndog zum Essen zu besorgen. Der Regen war zu grauem Nebel geworden, und es war mindestens zehn Grad kälter als am Morgen. Ich hatte Knoxville nur mit dem verlassen, was ich am Leibe trug, ohne Jacke oder Schirm, und beides hätte ich in Neuschottland sicher gut brauchen können. Da oben musste es nass, stürmisch und einsam sein. Ob die Tuttles zu Hause in Knoxville nach mir suchten? Oder machten sie sich gar nicht erst die Mühe? Ich dachte an die Schule und an Amy Pouchard, und das alles zusammen, die Tuttles, Amy und die Schule, kam mir vor wie aus dem Leben eines anderen, als gehörten diese Erinnerungen gar nicht zu mir, sondern jemandem, dem ich sie gestohlen hatte. Es war, als ließe ich mehr zurück als meine wenigen Besitztümer. Das Ich, das mich zu mir machte, schien in Knoxville geblieben zu sein. Wir schlichen uns in einen McDonald’s, und Ben139
nacio bestellte sich einen Big Mac und eine Cola. Er bat um Plastikbesteck, und ich fragte mich, wie er seinen Big Mac wohl mit einer Plastikgabel essen wollte. Ich bestellte eine große Cola und ein Fischsandwich und wartete mit dem Essen im Wagen, während Bennacio den Münzfernsprecher draußen vor dem Restaurant benutzte. Er sprach etwa fünf Minuten. Seine Wunde behinderte ihn beim Gehen, und er bewegte sich so langsam, als koste ihn jeder einzelne Schritt große Mühe. Er glitt auf den Beifahrersitz, zog die Tür hinter sich zu und sagte: »Schließ ab, Kropp.« Ich wollte gerade fragen, warum, als die hinteren Türen aufgerissen wurden und sich zwei große Männer zu uns ins Auto setzten. »Zu spät«, sagte Bennacio. Etwas Scharfes drückte sich seitlich gegen meinen Hals, und eine Stimme flüsterte: »Fahr los.« Ich stieß rückwärts aus der Parklücke und sah dabei in den Rückspiegel. Direkt hinter mir konnte ich die Seite eines bulligen Kopfes und eine große Hand mit einem schwarzen Dolch erkennen. Die Haut kribbelte mir am ganzen Leib. Der zweite Mann saß zurückgelehnt da, als kümmerte ihn nichts auf dieser Welt. »Da vorne rechts.« Ich verließ den Parkplatz und bog rechts ab, weg von der Auffahrt zur Interstate. 140
»Wohin fahren wir?«, fragte ich. »Was glaubst du?«, knarzte der Mann hinter mir, als wollte er sagen: Ins Grab oder zur Hölle. Wahrscheinlich zur Hölle, nachdem schon so viele Menschen wegen mir ihr Leben verloren hatten. »Überlegt euch gut, was ihr tut«, sagte Bennacio. »Ich möchte euch nicht töten.« »Schnauze«, sagte der Mann hinter ihm. »Noch ist Zeit«, sagte Bennacio. »Wenn ihr euch reuig zeigt, mag es noch einen Platz im Himmel für euch geben.« Der Kerl, der mir den Dolch gegen den Hals drückte, lachte. »Was immer Mogart euch angeboten hat – ist es so viel wert wie eine unsterbliche Seele?«, fragte Bennacio ruhig. Er hätte genauso gut über das Wetter reden können. Der hinter mir sagte etwas zu seinem Kollegen. Es klang französisch. Der andere grunzte und sagte: »Repos!« »Denkt an eure Frauen und Kinder«, sagte Bennacio. »Wollt ihr sie zu Witwen machen, ihnen den Vater nehmen? Wenn euch schon euer eigenes Leben nichts wert ist, denkt wenigstens an eure Familien!« »Noch ein Wort, und der Fettklops hier ist tot«, sagte der Kerl hinter mir. Ich sah im Rückspiegel, wie seine Hand leicht zitterte. Bennacio machte ihn nervös. Ich dachte an das, was Mogart mir erklärt 141
hatte: Dass die meisten Männer nur einen schwachen Willen hätten. Und ich dachte auch, dass man jemanden mit einem großen Kopf und einem kräftigen Körper nicht gleich einen Fettklops nennen sollte. Wir fuhren ein paar Kilometer, bis wir an einem Schild vorbeikamen, auf dem »George-WashingtonNationalforst« stand. Sie dirigierten mich auf eine Zufahrtsstraße mit einem Gesperrtschild und dem Zusatz: »Nur für Forstbedienstete«. Die Straße verengte sich zu einem schmalen Weg, der sich tief in den Wald wand. »Hier«, sagte der Mann mit dem Dolch an meinem Hals. »Halt hier an.« »Ich werde euch beide töten«, sagte Bennacio immer noch mit dieser seltsam ruhigen Stimme. »Zuerst dich mit dem Messer. Deine eigene Hand werde ich dir an die Kehle setzen und dir damit den Kopf vom Leib schneiden. Dann kommst du dran.« Damit nickte er zu dem Mann hinter sich. »Wie ein Schwein im Schlachthof werde ich dich ausweiden, deine Innereien auf der Erde verstreuen und damit den Aasfressern ein Festmahl bereiten.« Der Mann sagte etwas zu dem Mann hinter mir. Ich weiß nicht, was es war, aber es klang ziemlich dringlich. »Fou!«, fuhr ihn der Kerl mit dem Dolch an. »Ihr zwei solltet besser auf Bennacio hören«, sagte ich. »Er ist ein Ritter, und die lügen nicht.« 142
»Aussteigen«, sagte der mit dem Dolch. »Ave Maria, gratia plena …«, fing Bennacio an zu beten. Der Mann hinter ihm stieg aus dem Wagen, öffnete Bennacios Tür und riss ihn nach draußen. »Aussteigen«, sagte der Mann hinter mir noch einmal. Ich stieg aus. Sie zerrten uns unter die Bäume. »Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus …« Der Boden war mit einem Teppich aus Kiefernnadeln und toten Blättern bedeckt, Nebel hing in der Luft, und es herrschte tiefe Stille, nicht einmal ein Vogel war zu hören. Ich sah zu Bennacio hinüber, der mittlerweile auf dem Boden kniete, die Arme wie leblos an den Seiten herunterhängend. »Et benedictus fructus ventris tui Jesus… « Seine Augen waren halb geschlossen. Der Mann, der vor ihm stand, war kräftig und hatte breite Schultern, sein schwarzes Haar war kurz geschoren, und die Brauen sprangen vor. Der Mann bei mir war schmaler und kleiner, und ich war sicher ein paar Kilo schwerer als er. Er hatte zerzaustes blondes Haar und eine hässliche Narbe, die von seinem rechten Auge über die Wange bis zum Unterkiefer reichte. Auch seinen schwarzen Dolch konnte ich jetzt besser sehen. Er war gut einen halben Meter lang, mit zweiseitiger Schneide, und in das Heft war ein Drachenkopf eingraviert. Der Dolch sah aus wie eine Miniaturausgabe der Schwerter, mit denen Bennacio und die anderen Ritter in den Samson Towers auf 143
uns losgegangen waren. Wahrscheinlich kauften sie alle im selben Laden. »Sancta Maria mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc, et in hora mortis nostrae…« »Ich möchte auch beten«, sagte ich. Ich weiß nicht, warum ich das sagte, aber Bennacio betete, und er schien mir ein Mann, der genau wusste, was in so einer Situation zu tun war. Ich kniete mich hin, beugte den Kopf und begann ein »Gegrüßet seist du, Maria«, allerdings nicht auf Latein, aber als ich zu dem Teil mit »bitte für uns Sünder« kam, stockte mir die Stimme, denn ich hörte einen Schrei und ein lautes Knacken, als bräche ein kräftiger Ast. Jetzt ist es so weit, dachte ich. Sie haben Bennacio umgebracht. Doch als ich nach rechts guckte, sah ich, wie Bennacio auf den Mann vor mir losging. Der hob den Dolch. Aber er bewegte sich wie in Zeitlupe. Bennacio nicht. Er packte ihn am Arm, und wieder hörte ich ein Knackgeräusch, wenn es auch nicht ganz so laut war wie das erste. Mit der anderen Hand fasste Bennacio sein Opfer bei den zerzausten Haaren und zwang den Dolch in Richtung Kehle. Ich wollte nicht sehen, was weiter geschah, sondern sprang auf und stolperte durchs Unterholz in den Wald hinein. Dort sah ich den größeren Mann sich auf dem Boden winden, hörte einen dumpfen Aufschlag hinter mir und wusste, 144
dass Bennacio den ersten Teil seines Versprechens aus dem Auto wahr gemacht hatte. Einen Moment darauf hörte ich die flehende Stimme des größeren Mannes, als Bennacio sich ihm erneut zuwandte und auch den zweiten Teil wahr machte. Ich lief hinter einen Baum und übergab mich. Noch bevor ich mich wieder aufrichten konnte, hörte ich Bennacio mit ruhiger Stimme hinter mir rufen. »Kropp! Alfred! Komm!« Nicht hinsehen. Sieh nur nicht hin. Halte den Kopf aufrecht und sieh starr zu Bennacio hinüber, sagte ich mir, als ich zurück zum Auto ging. Bennacio saß längst wieder auf dem Beifahrersitz. Er hatte einen der Big Macs auseinander genommen und aß das Fleisch, indem er Handteller und Serviette als Teller benutzte und mit der Seite seiner Plastikgabel einzelne Stücke abtrennte. Nicht hinsehen, nicht hinsehen, sagte ich mir, aber ich musste gucken, wenn ich auf dem Weg zum Auto nicht auf irgendwas drauftreten wollte. Ich sah also hinunter. Bennacio hatte beide Versprechen gehalten.
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KAPITEL ACHTZEHN
I
ch fuhr zurück zur Interstate, und Bennacio wollte noch einmal auf den Parkplatz beim McDonald’s. Erst dachte ich, er wolle sich säubern, aber dann konnte ich nichts auf seinen Kleidern entdecken, nicht mal einen Spritzer Blut. Er ließ mich das Gebäude einmal umkreisen, dirigierte mich zurück auf die Straße und dann links auf den Parkplatz der Tankstelle gleich bei der Interstate. »Da ist er. Halt an, Kropp.« Ich fuhr neben ein Auto, das hinter der Tankstelle parkte. Bennacio betupfte sich die Mundwinkel mit seiner Papierserviette und stieg aus, während ich sitzen blieb und ihn durch seine geöffnete Tür beobachtete. Er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und drückte den Türentriegelungsknopf. Ich stieg aus. »He«, sagte ich, »das ist ein Enzo Ferrari.« Bennacio antwortete nicht. Er durchsuchte den Wagen, durchstöberte die zentrale Konsole, sah hinter die Sonnenblenden, unter Fußmatten und Sitze und zog schließlich ein flaches schwarzes Handy aus dem Handschuhfach. 146
»Wissen Sie«, sagte ich, »es ist schon komisch. So ein Auto habe ich mir immer gewünscht.« Ich musste an Onkel Farrell denken, der mir praktisch einen versprochen hatte, wenn wir erst unseren kleinen Wiederbeschaffungsjob für Myers/Mogart erledigt hätten, und plötzlich hatte ich das Gefühl, losheulen zu müssen. »Park unseren Wagen, Kropp«, sagte Bennacio mit einem kleinen Kopfrucken zu unserem Mercedes hin. »Da drüben.« Er deutete auf die äußerste Ecke des Parkplatzes. Ich gehorchte und kam zurück zu dem Ferrari. Bennacio durchsuchte gerade den Kofferraum. Er warf mir die Schlüssel zu. »Was, fahren wir mit dem weiter?«, fragte ich. »Beeilung, Kropp«, sagte er. »Sie wissen jetzt, wo wir sind und wohin wir wollen. Da kommen noch mehr.« Ich ließ mich auf den Fahrersitz gleiten und sagte zu Bennacio: »Ihr Ritter fahrt echt stilvoll durch die Gegend.« Bennacio sagte: »Los jetzt, Kropp.« Ich fuhr zurück auf den Highway, und der Ferrari war in null Komma nichts auf hundertzwanzig, obwohl es sich anfühlte, als bummelten wir durch ein Wohnviertel. Bennacio sagte, ich solle mehr Gas geben. Hundertfünfzig waren ihm immer noch nicht genug. Bei hundertachtzig sagte ich ihm, schneller fahre ich nicht, weil sich mir sonst gleich der Magen 147
auf links drehen würde. Da sagte er nichts mehr. Nach einer Stunde etwa klingelte das schwarze Handy. Bennacio klappte es auf, hörte kurz zu und sagte: »Zu spät, die beiden sind tot.« Damit klappte er es wieder zu und warf es aus dem Fenster. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich muss mich ausruhen«, sagte er. »Weck mich auf, wenn du müde wirst. Ich löse dich dann ab.« »Ich kapier das alles nicht«, sagte ich. Ich kam mir vor wie im falschen Film. Hier flog schließlich mehr Blut in der Gegend rum als in jedem Horrorfilm, und ich war immer noch ziemlich aufgewühlt. »Ich versteh das alles nicht, Bennacio, zum Beispiel, warum wir mit diesem heißen Schlitten nach Neuschottland fahren. Oder warum uns irgendwelche Männer umzubringen versuchen. Was zum Teufel dieses BIPAP bedeutet und wie die in der Sache mit drinhängen. Wie Mogart oder sonst einer mit einem Schwert, so mächtig es auch sein mag, die ganze Welt unter seine Gewalt bringen kann. Und warum ich in die Geschichte mit reingezogen worden bin. Aber vor allem kapiere ich nicht, warum Sie die beiden Männer so zurichten mussten.« »Sonst hätten die uns so zugerichtet.« »Aber sind Sie damit nicht genauso schlimm wie die?« »Die beiden waren Diener des Feindes…« »Und?« 148
»… Leibeigene des Drachen. Sollte ich sie am Leben lassen, damit sie uns bis an unser Ende verfolgen?« »Ich kapier’s einfach nicht, das ist alles. Leuten ihren Kopf abzuschneiden, ihnen den Bauch aufzuschlitzen…« »Du würdest sie nicht bemitleiden, wenn du sie kennen würdest.« »Ich kenne niemanden, der so was verdient.« »Du hast Angst. Ich verstehe das.« Seine Augen waren immer noch geschlossen. Er sprach freundlich zu mir, wie es ein Vater getan hätte. Oder wie ich mir vorstellte, dass es ein Vater täte, denn schließlich hatte ich meinen nie kennen gelernt. »Du kannst vom Highway herunterfahren und den nächsten Busbahnhof suchen, wenn du willst, Kropp. Ich gebe dir das Geld. Mir geht es wieder gut genug, um den Rest selbst zu fahren.« Ich dachte darüber nach. Ich dachte ernsthaft darüber nach. Sein Angebot klang verlockend, nur wo sollte ich hin? Zu den Tuttles wollte ich nicht, aber wenn ich zurück nach Knoxville ging, blieb mir nichts anderes übrig. Plötzlich musste ich an den kleinen Badeort in Florida denken, in den ich jeden Sommer mit Mom gefahren war. Vielleicht könnte ich dahin, mir einen Job besorgen und am Strand leben, bis die Welt unterging. Es gab schlechtere Plätze, um das Ende der Welt zu erwarten. 149
Und mal ehrlich, was dachte ich mir eigentlich – ausgerechnet ich, Alfred Kropp –, hier mit hundertachtzig Sachen und einer Art modernem Ritter neben mir in einem Enzo Ferrari über den Highway zu brettern? Für was zum Teufel hielt ich mich eigentlich? »Es war wegen dem, was Mogart mit Mr. Samson gemacht hat, oder?«, fragte ich endlich. »Deswegen haben Sie die Männer so zugerichtet.« »Samson war mein Captain, Kropp«, sagte Bennacio. »Und es gibt ein paar Schulden, die der Himmel nicht unbezahlt lassen kann.«
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KAPITEL NEUNZEHN
W
ir waren etwa vierzig Kilometer nördlich von Harrisburg, Pennsylvania, als Bennacio mir sagte, ich solle die nächste Ausfahrt nehmen. Wir fuhren bereits seit über sechzehn Stunden, und vielleicht war ihm aufgefallen, wie viel ich mittlerweile gähnte und mir die Augen rieb. Seit Edinburg hatten wir nicht mehr getankt oder waren auf der Toilette gewesen. Ich wollte hinter der Abfahrt gleich in einen Super 8 biegen, aber Bennacio schüttelte den Kopf, und so fuhr ich westlich über den Highway 501, der direkt am Swatara State Park entlangführt. Links und rechts von der Straße ragten Bäume auf, und es gab keine Laternen. Man hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu fahren. Ob er hier im Wald irgendwo parken und schlafen wollte? Wir kamen an einem Schild vorbei, auf dem »Suedberg 3,5 Kilometer« stand. Knapp zwei Kilometer weiter dirigierte mich Bennacio auf einen schmalen Feldweg, der sich einen kleinen Berg hochwand und dann durch eine dichte Baumgruppe. Hinter den Bäumen ging es auf einer 151
Brücke über einen Bach, wonach der Weg noch schmaler wurde, bis er bei einem Haus endete, das zwischen Bäumen versteckt lag. Das Haus erinnerte mich an alte schaurige Kindergeschichten. Es kam mir vor wie das Hexenhaus in Hänsel und Gretel. Vielleicht handelte es sich ja um so etwas wie ein »Safe-House« für Ritter, einen sicheren Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, wenn ein Abenteuer sie in diese Gegend verschlug. Ich hielt an, und Bennacio sagte: »Kropp, du bleibst erst einmal hier.« Er stieg aus, und ich konnte gerade noch »Warum?« fragen, bevor er die Tür zuschlug. »Ich weiß nicht, wie du hier aufgenommen wirst.« Er stieg die Stufen zum Eingang hoch. Die Tür öffnete sich, und vor dem Licht, das nach draußen fiel, zeichnete sich ein dunkler Umriss ab. Die Person trug ein Kleid, offenbar war es eine Frau. Sie umarmte Bennacio und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wangen zu küssen. Als er ihr etwas ins Ohr flüsterte, neigte sie den Kopf, der sich schließlich wieder hob und zu mir herblickte. Vielleicht sagte sie auch etwas zu Bennacio, denn er winkte mir mit der Hand, und die beiden verschwanden nach drinnen. Ich stieg aus und verschloss den Wagen: Das Haus lag einsam, aber man wusste nie, wer sich hier im Wald herumtrieb. Unser Zusammentreffen mit Mo152
garts Freunden in Edinburg saß mir immer noch in den Knochen, und jeder Schatten schien einen langen schwarzen Dolch in Händen zu halten. Ich lernte gerade auf die harte Tour, dass die Welt immer gefährlicher ist, als man denkt. Sie hatten die Tür hinter sich zugemacht, und ich zögerte eine Sekunde, bevor ich hineinging. Sollte ich klopfen? Vielleicht hatte Bennacios Winken gar nicht bedeutet: Komm her, Kropp. Vielleicht hieß es: Bleib im Auto, oder dein Leben ist verwirkt! Als jetzt aber der Geruch von frisch gebackenem Brot an meine Nase drang, entschied mein Magen für mich. Seit dem Corndog hatte ich nichts mehr gegessen. Nach einem schnellen leisen Klopfen – was so was wie ein Kompromiss zwischen Klopfen und Nichtklopfen war – öffnete ich die Tür und trat ein. Das Wohnzimmer gleich rechts war leer, aber ich konnte Stimmen vom anderen Ende des Flurs hören, woher auch der Brotgeruch zu kommen schien. Ich trat ein. Ein kleines Feuer flackerte im Kamin, und auf einem hölzernen Ständer in der Ecke brannte eine Kerze. Dahinter hing das Bild von einem Jungen etwa in meinem Alter. Er hatte langes blondes Haar und große hellblaue Augen, trug einen lila Umhang, dazu ein silbernes Stirnband und blickte leicht grimmig in die Kamera. Eine einzelne weiße Rose lag vor dem Bild. Es war eine Art Altar, nahm ich an, und ohne zu wissen, warum, war ich sicher, dass ich das 153
Bild eines der Ritter von Mr. Samson betrachtete. »Kropp.« Bennacio stand in der Tür. Ich deutete auf das Bild. »Ein Ritter?«, fragte ich. Er nickte. »Windimar.« »Ist das hier sein Haus?« »Das Haus seiner Mutter. Wir bleiben über Nacht.« »Ich dachte, wir hätten es eilig.« »Richtig, aber auch Ritter müssen essen und ruhen, und ich möchte ihren Rat. Miriam ist eine Wahrsagerin, Kropp.« »Wirklich? Wow. Sie meinen, sie kann in die Zukunft sehen?« Er antwortete nicht. Ich folgte ihm den Flur hinunter in die Küche, die fast ganz von einem großen Eichentisch eingenommen wurde. Es war ein robuster, grob gezimmerter Tisch mit dicken, kräftigen Beinen und einer Platte, die gut zehn Zentimeter dick war. Darauf standen lauter dampfende Schüsseln: ein Eintopf in einer Tonkasserolle, Kartoffeln und Gemüse, Früchte auf einem Holzteller und fünf frisch gebakkene kleine Brotlaibe auf einem Sägebrett, das die Form eines Fisches hatte. Windimars Mutter bewegte sich um den Tisch und verteilte Teller und Krüge, die mich an Piratenfilme und Rum trinkende Matrosen erinnerten. Ich stand 154
da, weil auch Bennacio stand, fühlte mich groß und unbeholfen, als nähme ich zu viel Raum ein, und war wie benommen vor Hunger und aus irgendeinem Grund auch nervös. Vielleicht lag es daran, dass niemand etwas sagte und die Frau ziemlich grimmig guckte, während sie die Teller verteilte. Sie trug ein schwarzes bodenlanges Kleid, und ihr stahlgraues Haar war so fest zurückgebunden, dass es aussah, als müsse es ihr wehtun. Ihre Augen waren genauso hellblau wie die ihres Sohnes, die Nase völlig ebenmäßig, und die Lippen wirkten für eine Frau ihres Alters fast zu voll. Die einzigen Falten, die ich sah, rankten sich seitlich um ihre Augen, die leicht geschwollen schienen. Sie musste geweint haben. Sie deckte für zwei, zu beiden Seiten des Tisches. Bennacio setzte sich, und erleichtert sank ich auf den Stuhl ihm gegenüber. Er murmelte etwas, das wie Latein klang, und wir fingen an zu essen, während sie an der Spüle stand und abwusch. Es war eines der besten Essen, das ich je bekommen hatte. Der Rindfleischeintopf war dick und heiß, das Brot so buttrig, dass es mir auf der Zunge zerging, und selbst das Getränk, das es dazu gab, war etwas Besonderes und von einer Süße, die an Honig erinnerte, etwa so wie warmer Apfelsaft, aber ohne Äpfel … Ich weiß nicht, was es war. Aber es schmeckte unglaublich gut. Miriam stapelte die Töpfe auf dem Abtropfgestell 155
und setzte sich neben Bennacio. Mit gedämpfter Stimme unterhielten sie sich in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es klang nicht richtig französisch und auch nicht richtig spanisch, und Deutsch war es schon gar nicht. Vielleicht war es Latein, oder was immer man zu Zeiten von König Artus gesprochen hatte, so was wie Keltisch. Ich war bei meiner dritten Portion Eintopf und dem zweiten Stück Brot, als ihre Stimmen plötzlich lauter wurden. Sie schienen zu streiten, und ich nahm an, dass es um mich ging, weil die Frau immer wieder zu mir herübersah und einmal auch mit dem Finger in meine Richtung zeigte. Ich fühlte mich verdammt unwohl, wie sie da so vor mir saßen und über mich redeten, und ich glaube, Bennacio spürte das, weil er ins Englische wechselte. »Vergessen Sie nicht«, sagte er, »dass ich ohne ihn nicht hier wäre.« Sie antwortete mit einem starken Akzent. »Und vergessen Sie nicht, Lord Bennacio, dass ohne ihn mein Sohn noch hier wäre.« Es ging also darum, dass ich das Schwert genommen hatte, mit dem die Ritter – und auch ihr Sohn – getötet worden waren. Ich ließ meinen Löffel fallen. Mir war der Appetit vergangen. »Windimar ist nicht wegen Kropp gestorben. Er folgte einem heiligen Gelübde, Miriam.« »Das wäre aber nicht auf die Probe gestellt wor156
den, wenn es den nicht gäbe.« Wieder streckte sie ihren Finger in meine Richtung. »Vielleicht. Zumindest ist unserer Generation die Prüfung auferlegt worden, ob nun aus göttlichem oder teuflischem Ratschluss, wer kann das schon sagen? Wir müssen uns damit trösten, Miriam, dass der Himmel schon befremdlichere Mittel gewählt hat.« »Der da ist ein Mittel der Zerstörung«, schimpfte sie. »Wenn es darauf ankommt, wird er dich enttäuschen, Bennacio. Wenn du fällst, wird er wegsehen.« »Das stimmt nicht, Ma’am!«, sagte ich. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. »Ich habe einen riesigen Fehler gemacht, ja, aber seitdem versuche ich, das Richtige zu tun. Vielleicht wissen Sie nicht, dass Mogart auch meinen Onkel umgebracht hat. Vielleicht bin ich mitverantwortlich für diese schreckliche Situation: dass das Schwert verloren ist und die Ritter … Und was den Rittern zugestoßen ist. Das, äh, stimmt, aber ich kann nur etwas wieder gutmachen, wenn ich Bennacio jetzt helfe.« »Nein«, sagte sie. »Ich habe es gesehen. Du wirst ihn im Stich lassen, und der letzte Ritter wird fallen.« Ihre Augen zogen sich zusammen, und irgendwie schien auch der Raum um uns herum kleiner zu werden. Sie starrte mich vom anderen Ende eines langen, dunkler werdenden Tunnels her an, und ihr gekrümmter Finger deutete auf meine Nase. »Und auch du wirst umkommen, Alfred Kropp, allein in der Fin157
sternis, wo kein Tag graut und kein Abend dämmert. Der Finstere wird dein Herz durchbohren, auf sein Kommando wirst du sterben.«
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KAPITEL ZWANZIG
N
ach dem Essen saßen Bennacio und ich im Wohnzimmer. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht, und Bennacio sagte, wir müssten bei Tagesanbruch weiter, aber keiner von uns fühlte sich müde. Mein Sessel stand gleich neben Windimars Altar, und seine großen blauen Augen sahen anklagend auf mich herunter. Bennacio war nicht gerade in redseliger Stimmung. Die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt und die schlanken Finger ineinander verschränkt, starrte er ins Feuer. Ich bekam Miriams Worte einfach nicht aus dem Kopf, und Bennacios Schweigen half mir in meiner schauerlichen Stimmung auch nicht weiter. Also fragte ich etwas. »Wie sind Sie eigentlich Ritter geworden? Ich meine, klar, Sie stammen von einem der ersten Ritter ab, aber man wird doch nicht geboren und weiß gleich, wie man mit einem Schwert umgeht und so weiter. Wie lernt man das alles? Auf einer Ritterschule?« Wenn er den Witz verstanden hatte, ließ er es sich 159
jedenfalls nicht anmerken. »Unsere Väter haben uns alles Nötige beigebracht. Manch einer wurde auch von einem anderen Ritter angelernt, wenn der eigene Vater es nicht konnte.« »Was ist mit Windimars Vater?« Nach dem goldgerahmten Bild zu urteilen, war er jung genug, um noch einen Vater zu haben. »Sein Vater starb, bevor er Windimars Ausbildung beenden konnte.« »Das haben Sie dann übernommen, oder, Bennacio?« Wieder einmal antwortete er nicht. Miriam kam mit einem großen Glas Brandy für ihn herein. Sie fragte mich, ob ich auch etwas wollte, und es musste sie einiges kosten, so nett zu mir zu sein, aber ich sagte Nein. Jetzt sagte sie etwas in der komisch klingenden Sprache, und Bennacio schüttelte den Kopf, aber sie schien nicht nachgeben zu wollen, und endlich zuckte er mit den Achseln, schüttelte dabei den Kopf und machte eine Geste mit der Hand, als wollte er sagen: Ich bin zu müde, um deswegen zu streiten. Sie ging hinaus. »Wie ist sein Vater gestorben?«, fragte ich und erwartete eine Geschichte von einem Ritterturnier oder so was. »Er ist unter seinen eigenen Rasenmäher gekommen.« 160
»Sie machen Witze.« »Auch Ritter sind nicht vor einem absurden Ende gefeit, Kropp.« Miriam kam zurück ins Wohnzimmer und brachte einen langen schwarzen Kasten mit, der aussah, als wäre ein Musikinstrument darin. Vielleicht erwartete sie, dass Bennacio ein Totenlied spielte, auf einer Oboe oder so. Sie legte ihm den Kasten zu Füßen und redete in der fremden Sprache auf ihn ein, bis er schließlich auf Englisch antwortete: »Also gut, Miriam.« »Er würde wollen, dass Sie ihn nehmen.« Ganz offensichtlich konnte sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Ich nehme ihn an, in seinem Gedenken. Ich bete dafür, dass ich ihn nie benutzen muss.« »Sie werden ihn benutzen, Lord Bennacio. Noch bevor die Sonne des neuen Tages untergeht.« Damit ließ sie uns allein. Ich räusperte mich. »Trifft alles ein, was sie voraussagt?«, fragte ich, denn wer will schon allein in der Finsternis sterben, wo kein Tag graut und kein Abend dämmert, das Herz vom Finsteren, wer das auch sein mochte, durchbohrt? »Ich habe ihre Begabung nie in Frage gestellt«, sagte er. »Aber du musst verstehen, Kropp, sie vergeht fast vor Trauer, und Trauer trübt den Blick, selbst den Blick der Klarsehenden. Seit seiner Geburt 161
wusste sie, dass Windimar eines blutigen Todes sterben würde. Stell dir nur vor, was das bedeutet.« »Ich nehme an, das kann einen verrückt machen. Wenn ich daran denke, wie mir meine Mom erklärt hat, dass sie an Krebs sterben würde …« Ich konnte nicht weitersprechen. Bennacio nickte, als verstehe er, was in mir vorging, und strich mir über den Arm. Als er seinen Brandy ausgetrunken hatte, verkündete Bennacio, dass es Zeit sei, schlafen zu gehen, weil er am nächsten Tag bis nach Kanada kommen wolle. Es gab dann noch eine weitere Diskussion oder auch einen Streit mit Miriam darüber, wer wo schlafen sollte, und ich weiß nicht, wer am Ende gewann, aber ich glaube, es war Bennacio, wenn ich an Miriams versteinertes Gesicht denke und wie sie vor mir her den Flur hinunter zu meinem Zimmer stampfte. Es war Windimars Zimmer. Es gab kein Bad, aber einen alten Waschtisch mit einer Schüssel und einen Krug mit dampfendem Wasser. Ich wusch mir das Gesicht, putzte mir die Zähne mit dem warmen Wasser aus dem Krug und sah mich im Zimmer um. Ein Schaukelstuhl stand neben dem kleinen Kamin gegenüber vom Bett, über dessen Kopfende ein Kreuz aus Silber und Gold hing. An einer anderen Wand hing ein Teppich, der sehr alt aussah, aber nicht so alt sein konnte, denn Mr. Samson war auf ihm abgebildet, auf einem großen weißen Pferd und 162
in voller Rüstung, um ihn herum zwölf Männer in Purpur und mit Schilden, auf die ein Pferd mit einem Reiter gemalt war. Zumindest sah der Mann wie Mr. Samson aus – er hatte den gleichen großen Kopf und das wallende goldene Haar. Unter den zwölf Männern um ihn herum entdeckte ich einen großen Ritter, der gut Bennacio sein konnte, und einen mit hellblauen Augen – Windimar, nahm ich an –, der mich unverwandt anstarrte und sehr gut aussah, ein bisschen wie Brad Pitt, dachte ich, bis auf diese leuchtend blauen Augen. Neid tat niemandem gut, und eigentlich war ich auch nicht der Typ dafür, aber dieser Junge hatte fechten gelernt und wusste, wie man ein Pferd ritt, und er hatte seine heilige Ehre für eine edle Sache verpfändet, während sie mir beim Football die Seele aus dem Leib droschen und ich im Krankenhaus an Moms Bett saß und zusah, wie sie starb. Ich öffnete den Schrank. Drinnen hing eine komplette Rüstung, die spiegelblank poliert war, und daneben lehnte eine etwa eins achtzig große Lanze. Ich stieß einen leisen Schrei aus, weil ich schon glaubte, in einen mittelalterlichen Hinterhalt geraten zu sein. Lange Zeit konnte ich den Blick nicht von der Rüstung wenden. Sie war so makellos poliert, dass ich einzelne Teile von mir darin gespiegelt sehen konnte, wenigstens fünfundzwanzig Kropps, verzerrt wie die Bilder in einem Spiegelkabinett. Wirres braunes 163
Haar, braune Augen, die mittelgroße Nase, Kinn, Ohren, Zähne. Wenn die Ritter auf dem Teppich eines gemeinsam hatten, dann, dass keiner von ihnen gewöhnlich aussah. Nicht alle waren so schön wie Windimar, so stattlich wie Samson oder beeindrukkend wie Bennacio, aber in der Art, wie sie ihr Kinn hielten, und in ihrem Blick lag etwas, das allen gemeinsam war. Ich fragte mich, ob mit mir etwas Ähnliches geschähe, wenn ich die Rüstung aus dem Schrank anlegte, so wie selbst die dämlichsten Typen in der Schule was hermachten, wenn sie die JugendUniform der Army trugen. Ich verspürte den völlig verrückten Drang, die Rüstung aus dem Schrank zu holen und sie anzulegen, aber das wäre wohl ziemlich respektlos gewesen – in die Rüstung dessen zu steigen, der wegen mir getötet worden war. Also schloss ich die Schranktür wieder. Ich schaltete das Licht aus und kroch vollständig angezogen ins Bett. Aber es störte mich, dass mich der Christus über mir anschaute, als wollte er sagen: Was um alles in der Welt machst du hier? Ich brauchte ewig, bis ich endlich einschlief. Außerdem hörte ich ein paar Zimmer weiter Miriam weinen, leise und klagend. Einen verrückten Moment lang überlegte ich, ob ich zu ihr gehen und ihr sagen sollte, wie Leid mir alles tue, was ich aber irgendwie schon getan hatte. Miriam wollte nichts von meiner Reue hören, sie wollte ihren Sohn zurück. Wenn ich 164
zu ihr ging, würde sie wahrscheinlich nach was Schwerem greifen und es mir über den Kopf ziehen. Ihr Weinen wollte nicht aufhören. Ich hatte um meine Mom geweint, als sie gestorben war, aber nicht so wie Miriam um Windimar. Und während ich ihr noch zuhörte, begriff ich, dass das, was ich getan hatte, weit über Onkel Farrell, Mr. Samson und die Ritter, Bennacio und Windimar hinausreichte. Ich hatte auch das Leben von Menschen wie Miriam zerstört, die ich damals noch nicht einmal kannte, und die Schockwellen meiner Dummheit zogen immer größere Kreise, wie ein Felsbrocken von der Größe Montanas, der in den Ozean platschte, oder der riesige Meteorit, der vor Jahrmillionen auf der Erde einschlug und sämtliche Saurier vernichtete. Endlich schlief ich ein und träumte, ich kletterte einen steinigen Abhang hinauf, nicht wirklich einen Berg, mehr eine Halde zertrümmerter Felsen und winziger glitzernder Quarzsplitter oder Höhlenkristalle, die wie nasse Zähne im Mondlicht schimmerten. Immer wieder rutschte ich nach unten weg, obwohl ich doch die Spitze erreichen wollte. Meine Hände und Knie waren aufgescheuert und bluteten, und jedes Mal, wenn ich ein Stück weiter gekommen war, ging es wieder abwärts. Aber es schien sehr wichtig, dass ich bis ganz nach oben kam. Endlich kriegte ich einen großen Brocken zu fassen und konnte mich an ihm weiter hochziehen. 165
Ich ruhte eine Weile aus und betrachtete die schimmernden Scherben, die den Hügel unter mir bedeckten. Stolz erfüllte mich, dass ich es so weit gebracht hatte. Ich stand auf, drehte mich um und sprang das letzte Stück. Der Hügel war oben vollkommen flach und mit hohem Gras bewachsen, dessen Spitzen meine schmerzenden Beine streichelten, während ich auf diese Espe zuging. Unter dem Baum saß eine Frau in einem weißen Kleid. Ihr Haar war lang und dunkel und ihr Gesicht fast so bleich wie ihr Kleid. Ich weiß nicht, warum, aber sie war mir vertraut, und als ich näher kam, hob sie den Kopf und lächelte. Mit ihren traurigen dunklen Augen sah sie mich an, als würde sie mich kennen und etwas, das ich getan oder nicht getan hatte, hätte sie enttäuscht. Dann fragte sie mich etwas, und ich wachte auf. »Du hast geträumt«, sagte eine Stimme. Ich schoss in meinem Bett hoch und sah Bennacio im Schaukelstuhl beim Kamin sitzen. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, und als ich sie wieder wegnahm, war sie nass. Ich hatte geweint. »Da war diese … Frau«, sagte ich. Ich räusperte mich. »Ganz in Weiß, mit dunklem Haar.« »Hat sie etwas gesagt?« 166
»Ja.« »Was hat sie gesagt?« »Sie hat mich etwas gefragt.« Ich wollte nicht darüber sprechen. Bennacio hatte einen amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht, als wüsste er, was ich geträumt hatte. »Was hat sie dich gefragt?« »Sie hat mich gefragt… Sie fragte, wer der Meister des Schwertes sei.« »Und was hast du geantwortet?« »Ich hatte keine Antwort.« »Hmm.« Er lächelte mir zu. Es war kein breites, tiefes, sondern ein verstecktes, leises Lächeln, als wüsste er, was ich hätte antworten sollen, und dass ich es vielleicht auch selbst wusste, aber was mir im Weg stand, war meine Weigerung, alles bis zum Ende zu durchdenken. »Wer war sie, Bennacio?« »Das kann ich dir nicht sagen.« »Warum?« »Sie ist dir im Traum erschienen.« Ich dachte daran, wie er von Engeln gesprochen hatte, als gäbe es sie wirklich, und fragte mich, ob die weiße Frau womöglich einer war. Aber warum sollte ein Engel zu mir sprechen? »Ich habe nie an Engel, Heilige oder Gott geglaubt«, erklärte ich. »Das macht nichts«, sagte er. »Zu unserem Glück 167
brauchen die Engel unsere Zustimmung nicht, um existieren zu können.« Alles an Bennacio unterstrich, wie unbedeutend ich selbst war. Obwohl ich nicht glaube, dass er mich das spüren lassen wollte. Er war lange bevor wir zusammengetroffen waren, in eine ganz andere Sphäre eingetreten, und es war nicht sein Fehler, dass ich immer noch unten auf der Halde herumkrebste. »Ich habe mich nie um solche Sachen gekümmert«, sagte ich. »Wahrscheinlich besteht mein größtes Problem darin, dass ich mir nie die Zeit nehme, die Dinge richtig zu durchdenken. Wenn ich es getan hätte, wäre das Schwert noch immer unter Mr. Samsons Tisch, und auch Onkel Farrell lebte noch. Alle lebten noch, und Miriam müsste nicht weinen, sondern würde vielleicht an einem Teppich arbeiten. Hat sie den da gemacht? Der muss sie viel Zeit gekostet haben. Was ist mit Windimar passiert, Bennacio?« »Ich habe es dir gesagt. Er fiel in der Nähe von Bayonne.« »Nein, ich meine, was ihm da passiert ist?« »Willst du das wirklich wissen?« Er betrachtete mich eine Weile, und ich fragte mich, warum er zu mir hereingekommen war, während ich schlief. Es war so, als hätte er gewusst, dass ich aufwachen würde, und wollte dabei sein. »Also gut. Er saß im Zug nach Barcelona, wo wir uns zum Kampf gegen Mogart in Jâtiva sammeln 168
wollten, als er von sieben Dienern des Drachen überfallen wurde. Er hätte fliehen können, entschied sich aber zu kämpfen. Er war der Jüngste unseres Ordens, ungestüm, idealistisch – und eitel. Er hat nie geglaubt, dass unsere Sache scheitern könnte. Sein Stolz hat ihn zu Fall gebracht, Alfred. Denn auch wenn er gut und tapfer kämpfte und fünf von ihnen besiegte, bevor er überwältigt wurde, blieben am Ende doch zwei, die ihn bei lebendigem Leibe verstümmelten.« Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden, und er sah mich nicht mehr an, sondern fixierte einen Punkt über meinem Kopf. »Er wurde ohne Augen gefunden, Alfred. Sie töteten ihn und stachen ihm die Augen aus.« Sein grauer harter Blick senkte sich auf mich. »Seit nunmehr zwei Jahren sammelt der Feind solche Männer um sich, Alfred. Seit Samson ihn aus dem Orden geworfen hat. Du bist noch nicht sehr alt, aber sicher hast du von solchen Menschen gehört. Ach, die Welt ist voll von ihnen. Es sind Männer ohne Gewissen, die Herzen voller Gier und Lust auf Macht, das Denken so verdreht, dass man die Menschen in ihnen nicht mehr erkennt. Sie haben vergessen, was Liebe, Mitleid, Ehre und Erbarmen, Würde und Gnade sind. Sie sind kaum mehr als Schatten, ihre Menschlichkeit ist zu einer fernen Erinnerung verblichen. Mogart hat ihnen Reichtümer verspro169
chen jenseits aller menschlichen Vorstellungskraft, und dafür sind sie in die Barbarei hinabgestiegen, jenseits aller göttlichen Vorstellungskraft. Denke daran, bevor du mich verurteilst für das, was ich in Edinburg getan habe. Denke an Jâtiva. Denke an Windimars Augen. Erst dann sollst du dein Urteil fällen.«
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KAPITEL EINUNDZWANZIG
B
ei Sonnenaufgang stolperte ich in die Küche, wo Miriam den Tisch mit Blaubeermuffins und kleinen Butterhörnchen gedeckt hatte, die einem wie Zuckerwatte auf der Zunge zergingen. Bennacio war nirgends zu sehen, und Miriam tat so, als wäre ich Luft, eine große Blase, die in ihrer Küche herumtrieb. Ich hätte mich nicht hingesetzt, um zu frühstücken, aber die Hörnchen sahen einfach zu köstlich aus, und die Muffins waren groß wie meine Faust. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fragte mit lauter Stimme: »Wo ist Bennacio?«, schließlich war es ihm wichtig gewesen, früh aufzubrechen. Ich sprach so laut, weil ich nervös war so allein mit Miriam, und sie konnte nicht gut Englisch, und in solchen Fällen spricht man automatisch lauter. Sie deutete mit dem Kopf auf das kleine Fenster über der Spüle, was heißen musste, dass er draußen war, und schon durchfuhr mich der Gedanke, er sei nicht bei einem Morgenspaziergang, sondern einfach ohne mich weitergefahren. Ich rannte zur Tür und war erleichtert, dass der Ferrari noch da war. 171
Über Nacht hatte sich Nebel herabgesenkt, und das frühe Morgenlicht hing rot und geisterhaft in der Feuchtigkeit zwischen den Bäumen um Miriams Haus. Rechts im Wald hörte ich jetzt ein Trampelgeräusch, das schnell lauter wurde, und ich wusste, was es war, noch bevor es zwischen den Bäumen hervorbrach. Mit aller Macht kämpfte ich gegen den Impuls an, zurück nach drinnen zu fliehen. Da schoss Bennacio aus dem Wald, tief über den mächtigen Hals eines großen weißen Pferdes gebeugt, in den Händen einen Strick, den er dem Pferd um den Hals gebunden hatte. Zügel oder eine Art Zaumzeug gab es nicht. Sie kamen zu mir. Die dunklen Nüstern des Pferdes blähten sich, sein Schweif schlug nach links und rechts, und Bennacio lächelte zu mir herab. »Reiten wir nach Kanada?«, fragte ich. »Wäre das nicht prächtig?«, lachte er. »Die Stunde kommt, und wir müssen uns beeilen, einem letzten Ritt konnte ich trotzdem nicht widerstehen.« Damit streckte er mir die Hand hin. »Ich habe Angst vor Pferden«, sagte ich. »Da haben wir ja Glück, dass es mir anders geht«, sagte er, ergriff meinen Arm und schwang meinen massigen Körper so leicht auf den Pferderücken, als würde er sich einen Mantel über die Schulter werfen. Dann beugte er sich vor, flüsterte dem Pferd etwas ins Ohr, und los ging’s. 172
Es war erst Stunden her, dass ich mit hundertachtzig über die Interstate gerast war, aber verglichen mit diesem Ritt durch die Landschaft von Pennsylvania war das ein Kriechen gewesen. Die Bäume pfiffen an meinen Ohren vorbei, während ich die Arme fest um Bennacios Brust geschlungen hielt. Mein Gesicht hielt ich gegen seinen Rücken gedrückt, die Augen fest geschlossen. Nach rechts und links wurde ich geschleudert und presste die Zähne fest aufeinander, weil ich fürchterliche Angst hatte, mir die Zunge abzubeißen. Ich weiß nicht, wie lange wir so ritten, bevor der Druck in meiner Brust nachließ und mich eine Leichtigkeit erfüllte, die mich die Augen öffnen, meinen panischen Griff um Bennacios Brust lockern und etwas zurücklehnen ließ – vielleicht zehn, fünfzehn Minuten, aber es kam mir wie Stunden vor. Ich lehnte mich noch ein Stück weiter zurück und öffnete die Augen jetzt ganz. Ich spürte die milde Frühlingsluft im Gesicht, und das Trommeln der Hufe klang wie gedämpfter Donner in meinen Ohren. Lautes Lachen brach aus mir hervor, wie ein Kind auf einem Karussell keuchte ich es heraus, während Bennacio das Tier weiter antrieb. Bennacio, der letzte Ritter der Tafelrunde, unterwegs auf dem Rücken eines weißen Hengstes, um die ganze verflixte Welt zu retten, und ich, Alfred Kropp, halte ihn und mein Leben gepackt, jubele und weine gleichzeitig, voller Glück, 173
mit ihm reiten zu dürfen.
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KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
I
ch wartete neben dem Ferrari, während Miriam sich auf den Eingangsstufen von Bennacio verabschiedete. Ihr Haar hing ihr auf die Schultern, und sie sah so viel jünger aus. Sie hielt Bennacios Hände und redete auf ihn ein, und was sie sagte, machte ihn betroffen. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf, nein, nein, und auch wenn ich nicht sehr viel Zeit mit den beiden verbracht hatte, konnte ich doch sagen, dass ihre Beziehung ganz schön kompliziert sein musste. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wangen, dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und sah ihn lange wortlos an. Bennacio kam die Stufen herunter und streckte den Arm aus. »Die Schlüssel, Kropp. Ich werde fahren. Wir müssen die Grenze bei Saint Stephen erreichen, bevor die Dunkelheit anbricht.« Ich gab ihm den Schlüssel und setzte mich auf den Beifahrersitz. Bennacio legte Miriams Kasten auf den Rücksitz und rutschte hinter das Steuer. Ich hatte mich so darauf gefreut, den Ferrari zu fahren, aber 175
ich stritt nicht mit ihm. »Glauben Sie nicht, dass der Wagen mittlerweile gestohlen gemeldet ist und man uns verhaften wird?«, fragte ich, als wir auf die Interstate kamen. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« »Vielleicht sollten Sie es.« »Wir werden sehen.« Ich hatte vergessen, was für einen Tag wir hatten, aber ich denke, es war ein Samstag. Der Highway war praktisch leer, nur hier und da fuhr ein großer Truck, an denen Bennacio vorbeisegelte, als ständen sie still. Wir waren irgendwo zwischen Hazelton und Scranton in Pennsylvania. »War das Windimars Pferd?«, fragte ich. Er antwortete nicht, wahrscheinlich weil die Frage zu dumm war. Wer eine dumme Frage beantwortet, fordert noch mehr dumme Fragen heraus. Ich überlegte mir, in Zukunft mehr auf die Qualität meiner Fragen zu achten. »Ist man als Ritter viel unterwegs, Bennacio?« »Manchmal.« »Ich hab mich schon gefragt. Ich meine, ich weiß, Ihr Hauptjob ist es, das Schwert zu hüten, aber ist das alles? Machen Sie noch andere Ritterdinge?« »Nicht so, wie du dir das vorstellst. Aber ja, wir sind Ritter und haben geschworen, die Schwachen und Unschuldigen zu beschützen und zu verteidigen.« 176
»Das heißt dann also ja, oder?« »Ist das so wichtig, Kropp? Mir hat es immer genügt, mit dem Schutz des Heiligen Schwertes betraut zu sein.« »Aber bedeutet das nicht, vor allem viel herumzusitzen?« Darauf sagte er nichts. Ich fuhr fort: »Klingt ein bisschen wie mein Leben. Nur dass ich nichts Heiliges gehütet habe. Hab einfach dagesessen, Chips gegessen, Cola getrunken und Musik gehört. Ich wette, der Wagen hier hat ein irres Soundsystem. Wollen Sie’s mal ausprobieren? Was für Musik mögen Sie? Sicher gregorianische Gesänge oder so was. Vielleicht Sinatra. Obwohl Sinatra kein Mönch war. In der Nacht in den Samson Towers, als ich das Schwert gestohlen habe, dachte ich, Sie wären Mönche. Meine Mom mochte Sinatra. Rede ich zu viel? Ich glaube, mein Kopf ist ein bisschen überlastet und versucht, alles gleichzeitig zu verarbeiten. Heilige Schwerter und moderne Ritter und dass die Welt gerade auf ihre totale Vernichtung zuschlittert. Dafür bin ich eigentlich noch ziemlich okay. Ich bin nie viel rumgekommen. Schon gar nicht, seit Mom tot ist. Wir zwei sind im Sommer immer zusammen nach Florida ans Meer gefahren, und kaum waren wir ein paar Kilometer von zu Hause weg, kriegte ich Hunger. Was ist übrigens in dem Kasten hinten?« 177
»Ein Geschenk.« »Oh, ich hatte schon gedacht, diese Miriam hätte uns ein paar Sandwiches für die Reise mitgegeben. Auf dem Weg nach Florida kriegte ich immer einen wahren Heißhunger auf Pecannuss-Stangen und Tüten mit Erdnüssen, die sie an der Straße verkauften.« »Was sind Pecannuss-Stangen?« »Diese süßen Nussriegel mit ganz vielen Pecannüssen drum rum. Mom hat immer an Läden gehalten, die Stuckey’s hießen, und da gab’s PecannussStangen und Pecan-Schildkröten, natürlich nicht richtige Schildkröten, sondern die sahen so ’n bisschen so aus, mit viel Schokolade und Pecannüssen. Ich weiß nicht, woraus sie gemacht werden, mit Schokolade, Vanille, jedenfalls sind sie sehr süß, und zusammen mit den knusprigen Pecannüssen schmeckt das echt gut.« »Man könnte sie mit einem in Brot gewickelten Würstchen essen.« »Einem Corndog.« »Ja, einem Corndog.« Seine Augen bewegten sich zwischen Straße, Rückspiegel und mir hin und her. Plötzlich trat er das Gas bis zum Anschlag durch, und mein Kopf wurde gegen den Sitz gedrückt. Ein paar Sekunden später waren wir bei knapp zweihundert, und er drückte den Knopf für den Tempomaten und sagte: »Halt mal das Steuer, Alfred.« 178
»Bitte?« »Lenk du einen Moment.« Damit ließ er das Steuer los, und mir blieb nichts anderes übrig, als es mit meiner Linken zu packen, während er sich nach hinten drehte und an den Schlössern des schwarzen Kastens herumhantierte. »Bennacio…!« Er setzte sich wieder richtig hin und sagte: »Halt das Steuer fest. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit von der Straße abkommen, könnte das unser Ende sein.« Er zog zwei gebogene Stücke Holz aus dem schwarzen Kasten und steckte das eine Stück in das andere, was nicht ganz einfach war, denn zusammen waren sie sicher anderthalb Meter lang. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie das Sonnenlicht auf der ganzen Breite der Fahrbahn von einer Masse schwarzen Metalls und Chroms reflektiert wurde, die schnell näher kam. »Was ist das da hinter uns, Bennacio?« »Das sind Suzuki Hayabusas.« »Die holen auf.« »Kein Zweifel«, sagte er. »Das sind die schnellsten Straßenmotorräder der Welt.« Er holte eine weiße Kordel aus dem Kasten, die an beiden Enden einen Haken hatte. Einen dieser Haken steckte er in die kleine Metallöse am Ende des gebogenen Stocks und drehte ihn um. Als er die zweite 179
Öse so weit herunterzwang, dass er auch den anderen Haken einhängen konnte, traten seine Nackenmuskeln hervor. »Was machen Sie da?«, fragte ich. Mit seiner immer gleichen ruhigen Stimme antwortete er: »Ich spanne meinen Bogen, Kropp.« Er ließ sein Fenster herunter, und der Wind fegte in den Wagen und verwirbelte sein Haar zu einem weißen Tornado. Ich sah wieder in den Rückspiegel. Die Motorradfahrer hatten sich stärker voneinander getrennt – Diener des Drachen hatte Bennacio sie genannt – und holten immer weiter auf. Ich zählte sechs, musste aber sehr schnell zählen, sonst hätte ich riskiert, von der Straße abzukommen. »Pass auf, dass wir nicht von der Straße abkommen, Alfred!«, rief Bennacio. »Lenk mit der rechten Hand und halte mich mit der linken fest!« Er griff noch einmal in den Kasten und holte einen Köcher voller Pfeile heraus. »Ich glaube nicht, dass ich das kann!« »Du hast keine Wahl.« Damit warf er sich den Köcher über den Rücken und schob sich rückwärts aus dem Fenster, bis er auf der Tür saß und nur noch mit dem halben Hintern und den langen Beinen im Wagen steckte. Ich fasste mit meiner Linken sein Hosenbein. Das raue, kehlige Röhren der Motorräder drang ins 180
Wageninnere, als fünf von ihnen wie wütende Wespen zu uns aufschlossen. Das sechste blieb ein paar Wagenlängen hinter uns. Die Fahrer waren alle ganz schwarz gekleidet, selbst die Visiere ihrer Helme waren schwarz. Als sie zum Überholen ansetzten, schoss Bennacio. Ich hört das Schschsch-Pffft eines Pfeiles, der den Bogen verließ, und sah, wie das erste Motorrad außer Kontrolle geriet: Bennacio hatte den Fahrer seitlich in den Hals getroffen, eine ziemliche Leistung, wenn man bedachte, dass er aus einem Enzo Ferrari schoss, der mit zweihundert Sachen pro Stunde über die Interstate raste. Zwei der anderen Motorräder konnten nicht mehr ausweichen und fuhren in das erste hinein. Sie überschlugen sich und schleuderten ihre Fahrer nach vorn, deren Körper bereits steif wie Stoffpuppen wirkten, noch bevor sie auf den Asphalt aufschlugen. Damit blieben noch zwei übrig, plus das eine hinter uns, und ich konnte jetzt von links Explosionen hören. Die Pistolen, mit denen sie auf uns schossen, schienen ganz schön groß zu sein, Genaueres konnte ich aber nicht erkennen, da Bennacio mir den Blick versperrte und ich mich auf die Straße konzentrieren musste. Etwas traf uns links über der Stoßstange, und ich schätzte, dass sie auf die Reifen zielten und vielleicht auch auf den Tank. Der Schlag trieb uns nach rechts ab, und beinahe hätte ich die Kontrolle verloren. Ich 181
steuerte zu sehr gegen, und der Wagen zog nach links über die Mittellinie. Das brachte mich auf eine Idee, und während Bennacio einen Pfeil nach dem anderen abschoss, scbschsch-pffft, schschsch-pffft, schschsch-pffft, schoss, nachlud (oder wie immer Bogenschützen das nennen) und wieder schoss, schneller, als ich gucken konnte, stieß ich mit dem Wagen stärker auf die linke Spur, so dass die Motorräder sich entscheiden mussten, uns entweder zu überholen oder zurückzubleiben, wollten sie nicht auf den Mittelstreifen gedrückt werden. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie eine der Suzukis explodierte und meterhoch in die Luft geschleudert wurde – Bennacio hatte wahrscheinlich einen der Reifen erwischt. Wenn man mit zweihundert einen Pfeil in den Motorradreifen verpasst kriegt, ist das offenbar das Ergebnis. Damit blieb nur noch ein Fahrer links von uns übrig, der nun beschleunigte, bis er etwa auf Höhe unserer vorderen Stoßstange war. Jetzt konnte ich erkennen, dass sie mit abgesägten Gewehren auf uns schossen. Bennacio drehte sich um, und ich fragte mich, warum wir mit Pfeil und Bogen gegen sechs aus vollen Rohren feuernde Verrückte auf Suzuki Hayabusas antreten mussten. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah den bisher zurückgebliebenen Fahrer ebenfalls mit 182
einem abgesägten Gewehr auf dem Schoß näher kommen. Der kurze schwarze Lauf zeigte leicht nach oben und schimmerte in der höher steigenden Sonne. Dem Mann neben uns gelang es immer noch, auf Kurs zu bleiben, auch als er sich jetzt nach rechts wandte und erneut feuerte. Ich sah einen orangefarbenen Blitz, dann explodierte die Windschutzscheibe, und überall flogen Scherben herum. Womöglich habe ich geschrieen, aber meine Schreie wurden vom Dröhnen des Windes verschluckt, der durch die kaputte Scheibe fegte. Plötzlich befand ich mich in einem schmalen, äußerst kräftigen Windkanal, und es trieb mir die Tränen in die Augen. Der Fahrer ging mit dem Gas herunter und näherte sich unserem Wagen. Bevor ich noch reagieren konnte, sprang er von seinem Motorrad auf die Haube unseres Ferrari, und seine fahrerlose Suzuki driftete nach links ab, wo sie auf dem Mittelstreifen aufschlug. Der schwarze Anzug des Mannes peitschte um seinen Körper. Sein Gewehr hielt er immer noch in der Hand. Ich spürte, wie Bennacios Schenkel sich anspannten, als er sich zur Motorhaube vorbeugte, um seinen nächsten Pfeil abzufeuern, bevor der Angreifer mir den Kopf wegschießen konnte. Er war zu spät. Wieder blitzte es orangefarben, und das Rückfenster explodierte. 183
Ich riss das Steuer scharf nach rechts und überraschte unseren Passagier damit – er flog von der Haube, und sein Schrei riss plötzlich ab, als er auf die Straße schlug. Bennacio rutschte mit leeren Händen zurück auf den Fahrersitz. Er musste den Bogen auf die Straße geworfen haben. Vielleicht war sein Köcher leer gewesen, oder mit Pfeilen gegen Gewehre zu kämpfen war ihm zu langweilig geworden. Ich fiel zurück auf meinen Sitz und versuchte, zu Atem zu kommen, aber es ging nicht, und ich fragte mich, ob ich mir vielleicht sogar vor Angst in die Hose gemacht hatte. Überall waren kleine Glassplitter, auf meinem Schoß, in meinem Hemd und in meinen Haaren. Ich drehte mich nach links und sah nach hinten. »Was ist mit ihm passiert?«, schrie ich in Bennacios Ohr. »Kopf runter, Kropp!« Ich starrte ihn nur dumm an, als seine Hand auch schon zu mir herüberfuhr und meinen Kopf nach unten drückte. Das Fenster neben mir explodierte, und wieder regnete es Glas auf mich herab. Ohne nachzudenken, richtete ich mich auf, drehte mich um und sah in den Lauf eines Gewehrs. Ich packte den Lauf mit beiden Händen und schrie den Kerl auf dem Motorrad durch das kaputte Fenster an: »Lass los!«, als würde er mir gehorchen, wenn ich nur laut genug schrie. Er ließ nicht los. 184
Ich riss mit aller Kraft, bevor er wieder feuern konnte, und er musste sich entscheiden, ob er lieber das Gleichgewicht oder sein Gewehr verlieren wollte; und so ließ er los und verschwand in Richtung Standspur. »Lehn dich zurück, Kropp«, sagte Bennacio. Seine Stimme war laut, aber ruhig, als sprächen wir immer noch über Corndogs. Er nahm mir das Gewehr ab und richtete es auf das Motorrad neben uns. Ich zuckte zurück und presste mich in meinen Sitz, als das Gewehr praktisch vor meiner Nase losging. Die Kugel schoss durchs Fenster und landete direkt im Benzintank der Suzuki Hayabusa. Ich spürte die Hitze des Feuerballs auf meinem Gesicht, und die Druckwelle der Explosion erschütterte den Ferrari derartig, dass Bennacio das Gewehr in meinen Schoß fallen lassen musste, um das Steuer mit beiden Händen festzuhalten, sonst hätte er die Kontrolle über den Wagen verloren. »Ich glaube, ich muss mich übergeben!«, schrie ich gegen das Dröhnen des Windes an. Er sagte nichts. Er lächelte, und ich glaube nicht, dass er das tat, weil mir schlecht war.
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KAPITEL DREIUNDZWANZIG
B
ennacio bremste auf hundertfünfzig Kilometer herunter, aber der Wind schlug mir nach wie vor ins Gesicht, und so kauerte ich mich noch tiefer in meinen Sitz. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und fragte mich, wann der Drache Verstärkung schicken würde. Ich weiß nicht, wie lange ich da so hockte und völlig durchgefroren im kalten Wind zitterte. Knie und Zähne schlugen gegeneinander, und es kam mir sehr lange vor, bis der Motor endlich ruhiger wurde und der Wind seine Kraft verlor. Ich nahm die Hände vom Gesicht und sah, wie Bennacio auf die Standspur lenkte. Ein Sattelschlepper hupte laut hinter uns, und Bennacio winkte dem Trucker freundlich zu, als er an uns vorbeifuhr. »Was ist los?«, fragte ich. »Wir haben kein Benzin mehr«, antwortete er, während das Auto langsam zum Stehen kam. »Sie machen Witze, oder?« »Leider nicht. Komm, Kropp, wir müssen laufen.« »Laufen?« 186
»Wir haben keine Wahl.« »Das sagen Sie immer. Wie kommt es, dass wir nie eine Wahl haben?« »Manchmal ist es leichter so.« Wir stiegen aus und betrachteten den Wagen, der ganz und gar nicht mehr cool aussah. Ich langte durchs Fenster und nahm das Gewehr. »Nein, Kropp, lass es da.« Ich seufzte und ließ es zurück auf den Sitz fallen. »Ich möchte Sie was fragen, Bennacio. Was soll das mit den Schwertern, Dolchen, Pfeilen und Bögen und all den mittelalterlichen Waffen? Dürfen Sie als Ritter keine Gewehre oder Pistolen benutzen?« »Verbote gibt es da nicht.« »Warum tun Sie’s dann nicht?« »Es ist hauptsächlich eine Frage des Stolzes. Vielleicht siehst du es anders, aber Gewehre sind weit barbarischer als Schwerter. Eine Feuerwaffe hat keine Eleganz, Alfred.« Er lächelte. »Und es macht so auch mehr Spaß.« Wir gingen los und waren noch nicht weit gekommen, vielleicht eine Viertelmeile, als ich stehen blieb. Bennacio hielt den Kopf gesenkt. Er war tief in Gedanken versunken, und es brauchte ein paar Meter, bis er spürte, dass ich nicht mehr neben ihm war. Er blieb stehen und sah zu mir zurück, während ich mich hinsetzte und die Arme um die Knie schlang. Es war ein schöner Tag geworden, mit nur weni187
gen Wolkentupfern und einer angenehmen leichten südlichen Brise. Ich hob das Gesicht in die Sonne. Bennacio kam zu mir und setzte sich neben mich. »Um ehrlich zu sein, Bennacio. Ich kann kaum noch. Für Sie als Ritter ist so was wie eben wahrscheinlich ganz normal, aber ich hatte wirklich Angst. Was sage ich. Ich wäre fast wahnsinnig geworden. Ständig sieht man im Kino wilde Verfolgungsjagden und Schießereien, und man denkt, he, das könnte ich auch. Ich meine, man sitzt da im Dunklen und wünscht sich irgendwie, den Schurken selbst eine Lektion erteilen zu können. Aber in Wirklichkeit ist es nicht so, auch wenn sich alles längst viel mehr wie ein Film und nicht wie mein richtiges Leben anfühlt. Das ist echt komisch: Ich fange tatsächlich langsam an, mein richtiges Leben zu vermissen, obwohl es so beschissen war. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.« »Verstehe.« Er seufzte, und ich konnte in seinen Augen eine Spur Traurigkeit entdecken. »Unglücklicherweise können wir aber nicht lange hier bleiben, Alfred. Die Polizei wird gleich kommen. Oder schlimmer noch…« »Noch mehr ADFs?« »ADFs?« »Agenten der Finsternis.« Er lächelte. »Ja. ADFs. Genau.« »Ich will Sie nicht aufhalten, Bennacio. Sie haben 188
eine wichtige Aufgabe – die Welt retten und so, und es ist egoistisch von mir, mich an Sie zu hängen. Besonders wo ich nicht mal weiß, ob ich es überhaupt will.« »Mach dich nicht kleiner, als du bist, Alfred. Ohne dich hätte ich den heutigen Morgen nicht überlebt.« Das sagte er offenbar, um mich aufzumuntern, trotzdem dachte ich, dass er es tatsächlich glaubte. »Musik vom Broadway«, sagte er plötzlich. »Was?« Er lächelte. »Du hast mich gefragt, was für Musik ich mag. Ich mag Musical-Melodien und große Shows.« Ich weiß nicht, warum, aber ich musste laut loslachen. »Ganz besonders mag ich Lerner und Loewe. Camelot. Hast du davon gehört?« Er fing leise an zu singen. »Kurz gesagt gibt’s einfach keinen/wirklich bessren Spot/für ein glückliches Ende/als Camelot! Ich weiß, das ist nicht sehr einfallsreich.« Ich konnte nicht mehr vor Lachen. Es half. »Wir müssen trampen, Bennacio«, sagte ich, als ich wieder zu Atem kam. »Wir können nicht das ganze Stück bis Halifax zu Fuß gehen.« Bennacio stand auf. »Nein, das können wir nicht. Steh auf, Kropp, und halt die Hände unten.« Er starrte die Straße hinunter, und ich stand neben 189
ihm und starrte ebenfalls. Zuerst hörte ich die Sirene, und dann sah ich den Wagen mit dem blitzenden Blaulicht. »Na toll«, sagte ich. »Polizei.« Der Streifenwagen fuhr auf die Standspur, stellte die Sirene aus, ließ aber das Blaulicht an. Ein Polizist stieg aus dem Wagen, die Hand an der Pistole. »Hinknien und Hände hinter den Kopf!«, brüllte er. »Sofort!« »Tu, was er sagt«, sagte Bennacio ruhig. Wir knieten uns hin, und ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die Schuhe des Polizisten kratzten über den Beton, als er auf uns zukam. »Wisst ihr, was da hinten passiert ist, Leute?«, fragte er. »Wir hatten kein Benzin mehr«, sagte Bennacio. »Sieht aber nach mehr aus«, sagte der Polizist. Er blieb ungefähr einen Meter vor Bennacio stehen und richtete seine Pistole auf Bennacios hohe Stirn. »Ich habe eine Waffe«, sagte Bennacio ruhig, als machte er eine Bemerkung über das Wetter. »Hinter meinem Rücken.« »Keine Bewegung!«, sagte der Polizist und befeuchtete sich die Lippen. Er war kaum älter als ich, vielleicht neunzehn oder zwanzig, und sah mit seinem großen braunen Hut irgendwie albern aus, wie ein Kind, das sich verkleidet hatte. Er beugte sich vor, den Lauf der Pistole eine Handbreit von Benna190
cios Nase entfernt, und suchte hinter dessen Rücken nach der Waffe, die gar nicht da war. In diesem Moment schoss Bennacios Hand vor, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt, und stieß gegen den Hals des Polizisten. Der fiel gleich um und blieb reglos liegen. »Sie haben ihn umgebracht«, sagte ich. »Gott, Bennacio!« »Er ist nicht tot«, sagte Bennacio. »Komm, Alfred!« Damit war er auch schon auf den Beinen und lief auf den Streifenwagen zu. »Wir nehmen seinen Wagen?« »Ja.« »Weil wir keine Wahl haben?« »Ja.« »Ich will nach Hause, Bennacio.« Er war bereits an der Tür, als er sich umdrehte. »Was für ein Zuhause, Alfred?« Er wollte nicht gemein sein. Er wusste nur nicht, was ich mit »nach Hause« meinte. Und – was meinte ich damit? Die Tuttles? Knoxville? Er wusste es nicht und ich erst recht nicht. Ich hatte kein wirkliches Zuhause mehr. Ich stieg ein.
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KAPITEL VIERUNDZWANZIG
E
r stellte das Blaulicht aus, trat aufs Gas, und bald schon hatte er den Crown Victoria auf hundertsiebzig. Die Autofahrer ließen uns alle vorbei, weil sie dachten, dass wir einen ziemlich wichtigen Polizeijob zu erledigen hätten. Ich konnte nur daneben sitzen. Neben ihm und der Waffe des Polizisten. Würde ich uns damit verteidigen müssen, falls wir wieder angegriffen wurden, weil Bennacio keinen Bogen und keine Pfeile mehr hatte und ihm eine normale Pistole nicht elegant genug war? Wir waren jetzt in Wyoming Valley, und zu meiner Rechten konnte ich die Poconos aufsteigen sehen. Ich war nie zuvor so weit mit einem Auto gefahren, wenn man die Reisen mit Mom nach Florida nicht zählte, das waren schließlich Familienurlaube gewesen. Einen Urlaub konnte man das hier sicher nicht nennen, denn Urlaube waren etwas, das Spaß machen sollte. Bennacio drehte am Funkgerät und hörte die Gespräche mit, aber keiner sagte etwas von einem gestohlenen Streifenwagen – im Moment wenigstens noch nicht, aber wir wussten beide, dass es 192
nicht mehr lange dauern konnte. »Was jetzt?«, sagte ich. »Wir müssen ein anderes Transportmittel finden.« »Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Weiße Hengste.« »Ich dachte eigentlich eher an eine schnelle Katze.« Bennacio stellte das Blaulicht auf unserem Dach wieder an, und der Wagen vor uns wechselte auf die rechte Spur. Bennacio folgte ihm und fuhr dabei sehr nah auf. »Ein Jaguar«, sagte ich. »Das ist eine schnelle Katze. Wie witzig. Aber darf ein Ritter Autos stehlen?« Er antwortete nicht, sondern streckte den Arm nach dem Knopf für die Sirene aus. »Darf ich?«, fragte ich. »Wenn du willst.« Ich drückte den Knopf, die Sirene heulte los, und Bennacio blinkte den Wagen vor uns mit der Lichthupe an, der daraufhin rechts ranfuhr. Bennacio hielt etwa zehn Meter hinter ihm, nahm die Pistole und drückte sie mir in die Hand. »Ich dachte, Pistolen wären barbarisch?« »Genau, aber du bist kein Ritter.« »Ich werde auf niemanden schießen, Bennacio.« »Das wird auch nicht nötig sein.« Er langte in seine Brusttasche und zog einen schmalen ledergebundenen Umschlag hervor. Ein 193
Scheckbuch. Auf dem obersten Scheck stand in goldenen Buchstaben: »SAMSON INDUSTRIES«. Er zog ihn heraus und unterschrieb ihn, ohne eine Summe einzutragen. »Um deine Frage zu beantworten: Nein, wir stehlen nicht. Wir nehmen uns Autos nicht einfach so. Nur gibt es manchmal Leute, die ihren Wagen nicht verkaufen wollen. Komm, Kropp.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, war er bereits ausgestiegen und ging zu dem Jaguar. Ich öffnete die Tür und folgte ihm, die Pistole quer vor den Körper haltend. Hinter dem Steuer des kleinen Sportwagens klemmte ein dicker Mann in einem dunklen Mantel. Sein Gesichtsausdruck zeigte klar, dass er nicht mit zwei Leuten wie Bennacio und mir gerechnet hatte, nachdem er von einem Streifenwagen angehalten worden war. »Was ist los?«, wollte er wissen. »Haben Sie keine Angst«, sagte Bennacio. Er machte eine Bewegung zu mir hin, und als ich näher herantrat, nahm er mir die Pistole aus der Hand und richtete sie auf die Nase des Mannes. »Das ist leichter gesagt als getan!«, rief der Mann und hob instinktiv die Arme. »Steigen Sie bitte aus«, sagte Bennacio. »Sicher. Natürlich. Bitte nicht schießen.« Er hatte einige Schwierigkeiten, seinen massigen Körper aus dem Auto zu hieven, und seine Nervosi194
tät erschwerte die Sache noch. »Das ist für Ihre Umstände«, sagte Bennacio und gab ihm den Scheck. »Ich vertraue auf Ihre Ehre, einen Betrag einzusetzen, den Sie für angemessen halten. Komm, Kropp«, sagte er und warf mir die Pistole zu. Ich fing sie und richtete sie halbherzig auf den ungläubig dastehenden Mann, der nicht wusste, wo er zuerst hinschauen sollte: Bennacio, der sich hinter das Steuer seines Wagens setzte, mich mit meiner Pistole oder den Scheck, den er zitternd in der Hand hielt. Ich ging auf die Beifahrerseite hinüber und sagte, um ihm zu helfen: »Die Schlüssel haben wir stekken lassen …«, dabei machte ich eine Geste zu dem Streifenwagen hin, »aber es wäre wahrscheinlich keine gute Idee, uns zu verfolgen.« Ich kletterte in den Wagen, und Bennacio trat voll aufs Gas, bevor ich noch den Gurt anlegen konnte. »Sie haben ein irres Vertrauen in den Mann, Bennacio«, sagte ich, nachdem wir ein paar Kilometer hinter uns gebracht hatten und klar war, dass er uns nicht mit dem ausgeliehenen Streifenwagen folgen würde. »Woher wissen Sie, dass er den Scheck nicht einfach auf eine Million ausstellt?« »Die meisten Leute sind ehrlich, Kropp. Sie sind gut und entscheiden richtig, wenn sie die Wahl haben. Wenn wir das nicht glauben würden, was für einen Sinn hätte es dann, Ritter zu werden?« Er sah mich an, griff mit der rechten Hand nach 195
der Pistole auf meinem Schoß und warf sie aus dem offenen Fenster.
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KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
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ir fuhren weiter durch Pennsylvania, New York, Massachusetts, über den 95er die Küste Neuenglands hinauf und nach Maine hinein. Zwischendurch hielten wir nur an, um zu tanken (der Jaguar schluckte ganz schön), zur Toilette zu gehen und in einem Drive-Thru-McDonald’s ein Hummersandwich zu kaufen. Ich hatte nicht gewusst, dass es bei McDonald’s Hummersandwiches gab. Die ganze Fahrt über sah ich immer wieder zurück und rechnete damit, plötzlich ein Dutzend Streifenwagen zu entdecken, die hinter uns her waren. Oder mehr ADFs, diesmal vielleicht auf Harleys, nicht so schnell, aber stark. Dreißig Kilometer noch bis zur kanadischen Grenze. Wir waren mit fast hundertachtzig auf der State Road 9 unterwegs, und in unsere Richtung, also nördlich, fuhr so gut wie keiner, Richtung Süden jedoch staute sich der Verkehr über Kilometer. »Da stimmt was nicht«, sagte ich. »Alles flieht aus Kanada.« Wobei schwer vorstellbar war, dass der Weltuntergang ausgerechnet in Kanada anfangen sollte. 197
»Wahrscheinlich haben sie die Grenze geschlossen.« »Was sollen wir tun?« »Wir haben keine Wahl. Wir müssen nach Kanada hinein.« Ich stellte mir vor, wie wir mit hundertachtzig durch die Barrikaden brachen und die berittene kanadische Polizei unsere Verfolgung aufnahm. In meine Gedanken hinein zuckte es plötzlich blau und rot hinter uns aus dem Dunkel. Und aus dem einen Streifenwagen wurden schnell drei und vier, und ich konnte die Sirenen bis zu uns in den Wagen hören. Bennacio reagierte darauf, indem er noch mehr Gas gab und die Tachonadel auf die Zweihundert klettern ließ. Wir donnerten an einer elektronischen Anzeige mit einem Blinklicht vorbei, das »GRENZE GESCHLOSSEN« verkündete. »So geht das nicht, Bennacio«, sagte ich. »Wir müssen den Jaguar zurücklassen und zu Fuß über die Grenze.« Das war nicht gerade der tollste Vorschlag, wenn man daran dachte, dass etwa die Hälfte aller Streifenwagen aus Maine hinter uns her war. Bennacio antwortete nicht. Er behielt die Geschwindigkeit bei, bis er ein knappes Bataillon der Nationalgarde mit Sturmgewehren auf der Grenzlinie angetreten sah. Die erste Reihe Soldaten hatte sich bereits hingekniet und uns ins Visier genommen. Endlich trat er voll auf die Bremse, und wir schlit198
terten mit heulenden Reifen über den Teer, bis der Wagen zum Stillstand kam. »Steig aus, Alfred«, sagte Bennacio. »Und halte auf jeden Fall die Hände hoch.« Ich stieg aus und reckte die Hände in die Luft. Vor uns schrie einer in sein Megafon: »STEIGEN SIE AUS DEM WAGEN AUS! SOFORT! UND HALTEN SIE DIE HÄNDE SO, DASS WIR SIE SEHEN KÖNNEN!« Hinter uns rollten die Polizeiwagen mit wild zukkenden Lichtern heran, und ein Dutzend brauner Uniformen ging hinter ihren geöffneten Türen in Deckung. Ich fragte mich, wie Bennacio aus dieser Situation wieder herauskommen wollte. »LEGEN SIE SICH MIT HINTER DEM KOPF VERSCHRÄNKTEN HÄNDEN AUF DEN BODEN!« Bennacio nickte mir zu, und wir legten uns nebeneinander auf den Asphalt. Dieses letzte Stückchen Amerika war sehr, sehr kalt. Jemand kam und stand direkt über uns. Ich konnte mein Spiegelbild in seinem blank polierten schwarzen Schuh sehen. »Hallo. Ich frage Sie jetzt, warum Sie heute Abend nach Kanada hineinwollen«, sagte der Eigentümer des glänzenden Schuhs. »In der Tasche meines Jacketts ist eine Karte«, sagte Bennacio. »Bevor Sie etwas Unüberlegtes tun, würde ich vorschlagen, Sie kontaktieren die Person, 199
deren Name auf dieser Karte steht.« Ich konnte nicht sehen, ob Mister Glänzender Schuh die Karte fand oder nicht, aber er ging davon und blieb eine Weile verschwunden. »Was soll das bedeuten, Bennacio?«, flüsterte ich. »Ich fordere einen Gefallen ein.« »Mir ist kalt«, sagte ich. Bennacio blieb stumm. Endlich packte mich jemand beim Kragen und zog mich hoch. Ein Mann in einer blauen Windjacke – der mit den polierten Schuhen – gab Bennacio die Karte zurück und sagte: »Das ist heute Ihr Glückstag.« »Mit Glück hat das nichts zu tun«, sagte Bennacio. »Es ist eine Notwendigkeit.« Wir stiegen zurück in den Jaguar. Der Typ in der Windjacke und den hübsch polierten Schuhen winkte dem Grenzbeamten, der daraufhin einen Code in eine Tastatur eingab und die Grenze öffnete. Die Windjacke trat zurück und winkte uns durch. »Viel Glück«, rief er uns hinterher, als wir unter der Schranke durch nach Kanada hineinrollten. »Eine Notwendigkeit«, murmelte Bennacio.
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KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
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ch war noch nie in Kanada gewesen, und auch jetzt sah ich nicht viel davon, weil es bereits dunkel war und Bennacio kleinere Landstraßen nahm. Er raste durch die Nacht, als wären sämtliche Höllenhunde hinter uns her. Ich wusste, dass Halifax an der Küste lag, und wahrscheinlich wartete dort bereits ein Flugzeug auf ihn, aber was sollte das nützen, wenn alle Flüge gestrichen waren? Schließlich waren ja die Grenzen dicht… Ich versuchte zu schlafen, aber versuch mal, in einem Jaguar zu schlafen, der mit hundertneunzig nachts durch ein fremdes Land rast. Um drei Uhr morgens kamen wir über eine lange Brücke, und Bennacio erklärte mir, dass wir jetzt in Neuschottland seien. Was mich betraf, hätten wir auch über die Nachtseite des Mondes brettern können. Schweigend fuhren wir weiter, bis am Horizont ein schwaches orangefarbenes Glimmen zu erkennen war. Erst dachte ich schon, die Sonne ginge auf, aber dann fiel mir ein, dass es drei Uhr nachts war. »Kann sein, dass wir zu spät kommen«, sagte 201
Bennacio. Er bremste auf hundertdreißig ab, und während wir uns dem riesigen Feuer vor uns näherten, sah ich, dass wir an einem privaten Flughafen entlangfuhren. Auf der Startbahn brannte ein Flugzeugwrack. Bennacio bog in eine Straße, die direkt auf den Flughafen führte. An ihrem Ende standen drei Männer in langen braunen Umhängen, genau wie Bennacio einen getragen hatte, als wir zum ersten Mal aufeinander getroffen waren. »Ich dachte, Sie wären der letzte Ritter?«, sagte ich. »Das bin ich auch. Aber wie ich dir doch erklärt habe, Alfred, hat das Schwert viele Freunde.« Er hielt an, und wir stiegen aus. Leichter eiskalter Regen fiel. Ich konnte den Ozean hören und schmeckte Salz auf der Zunge. Bennacio hatte die Scheinwerfer angelassen, ihr Licht tanzte über die winzigen Regentropfen, und die Luft schien zu glitzern. Einer der Männer trat zu Bennacio, und die beiden küssten sich auf die Wangen, dann umarmte der Mann Bennacio und sah zu mir. »Cabiri, das ist Kropp«, sagte Bennacio. »Ist er ein Freund?«, fragte Cabiri und musterte mich. »Ein Freund und ein Kämpfer.« »Tatsächlich! Dann ist er auch mein Freund«, sag202
te Cabiri, küsste auch mich auf die Wangen und umarmte mich wie vorher schon Bennacio, dem er sich anschließend wieder zuwandte. »Wir hatten hier etwas Ärger, wie Sie sehen können.« Cabiri nickte zu dem brennenden Wrack hinüber. »Die Kerle waren offenbar zu Fuß, und wir hatten mit einem Angriff aus der Luft gerechnet. Das Ding hier haben sie dazu benutzt.« Er machte eine Geste zu einem der Männer hinter sich, der etwas in der Hand hielt, das wie eine übergroße Panzerfaust aussah, aber ich nahm an, es war ein Raketenwerfer. »Derieux?«, fragte Bennacio. »Er war im Flugzeug, Lord Bennacio.« Bennacio schloss die Augen. Ich sah, wie mich die beiden anderen Männer anstarrten, und blickte zur Seite. »Diablo«, murmelte Bennacio. »Sind sie entkommen?« Cabiri lächelte bitter. Er reckte den Kopf zu dem brennenden Flugzeug hinüber. »Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.« Wir folgten ihm über die Rollbahn an dem brennenden verdrehten Gerippe des Flugzeugs vorbei, auf das der Regen niederzischte und aus dem dichte Rauchwolken aufstiegen. Am Ende des Asphalts lagen drei Männer in schwarzen Kutten, die mit leeren Gesichtern in den Regen hinaufsahen. Bennacio zog 203
ihnen die Kapuzen herunter und studierte ausgiebig jeden Einzelnen von ihnen. Er deutete auf den in der Mitte, den Größten, der eine breite, platte Nase hatte und schwarze Schlitze als Augen.0 »Das ist Kaczmarczyk«, sagte er. »Die anderen beiden kenne ich nicht.« Cabiri drehte den Kopf weg und spuckte aus. »Fischer hier aus der Gegend, nehme ich an«, sagte er. »Von Kaczmarczyk angeheuert.« »Vielleicht.« Bennacio wandte sich von den Toten ab und sah zum brennenden Flugzeug hinüber. Das Licht der Flammen tanzte in seinen grauen Augen. »Wir können hier nicht bleiben, Bennacio«, sagte Cabiri. »Bald schon werden mehr von ihnen kommen, wenn Kaczmarczyk sich nicht mehr meldet. Viel mehr, fürchte ich, als dass wir zu viert mit ihnen fertig werden könnten.« Eigentlich waren wir zu fünft, aber Cabiri schien mich nicht mitzuzählen. »Kommt mit in mein Haus. Es ist nicht weit von hier. Dort ruhen Sie sich aus, und dann entscheiden wir, wie wir weiter vorgehen wollen.« »Unser Pilot Derieux ist tot«, sagte Bennacio. »Selbst wenn wir uns ein anderes Flugzeug beschaffen können, haben wir doch niemanden, der es fliegen könnte.« Cabiri legte seine schwere Hand auf Bennacios Schulter. »Kommen Sie, Lord Bennacio«, sagte er mit ruhiger Stimme, aber seine Augen standen voller 204
Tränen. »Ein heißes Essen, ein warmes Bett, und morgen früh sieht alles ganz anders aus.« Er sah zu den beiden anderen hinüber. »Und da ist noch jemand, der Sie unbedingt sehen möchte.«
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KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
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ir ließen die Toten an der Rollbahn zurück. Bennacio bedeckte die Gesichter der Männer, die er nicht kannte, das von Kaczmarczyk jedoch ließ er weiter in den Regen starren. Ich war mir nicht sicher, warum er das tat, dachte aber, es müsse irgendwas Symbolisches für ihn sein. Wir stiegen in einen Van. Den Jaguar ließen wir auf dem Flugplatz zurück, und keiner verlor auch nur ein Wort darüber. Bennacio, Jules, der Mann mit der Panzerfaust, und ich saßen hinten, Cabiri und Milo, der andere Braungekleidete, vorn. Jules roch irgendwie nach Lakritz und hatte eine lange Nase mit einer nach unten gedrehten Spitze. Milo hatte langes blondes Haar, das er zu einem Zopf gebunden trug, und stechend blaue Augen wie Windimar. Der Gedanke an Windimar erinnerte mich schmerzlich an meine Rolle in der Geschichte und dass ich mit diesen mit Panzerfäusten hantierenden Kriegern im Grunde nichts gemein hatte. 206
Schweigend fuhren wir ein paar Minuten, dann fragte Cabiri: »Die Außenseiter haben gestern Mogarts Unterschlupf in Jâtiva gestürmt, aber natürlich nichts gefunden.« »Wo ist Mogart?«, fragte Bennacio. Cabiri schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wir haben nichts gehört, Lord Bennacio.« Sein ganzes Verhalten Bennacio gegenüber war warmherzig und respektvoll, als sei es eine große Ehre, in seiner Nähe sein zu dürfen. Hätte er gewusst, dass ich letztlich für das ganze Durcheinander verantwortlich war, hätte Jules wahrscheinlich befohlen, mich mit der Panzerfaust zu durchlöchern. »Und es gibt keinen Weg über den Atlantik«, fuhr Bennacio fort. »Die Grenze ist geschlossen, und trotzdem sind Sie hier. Verzweifeln Sie nicht, Lord Bennacio. Ich weiß, Sie verabscheuen diese Leute, aber uns bleibt keine andere Wahl.« Bennacio seufzte. »Ich werde darüber nachdenken.« Ich fragte mich, wen Bennacio verabscheute. »Wer sind die Außenseiter?«, fragte ich. »BIPAP?« »BIPAP!«, sagte Cabiri höhnisch und tat so, als spuckte er aus. »Was heißt BIPAP überhaupt?«, fragte ich. »Das Beste, was mir einfällt, wäre Büro für internationale 207
politische Apokalypse-Prävention.« »Haha!«, dröhnte Cabiri. »Da haben Sie sich ja einen Witzbold ausgesucht, Lord Bennacio!« Die letzten dreißig Minuten der Fahrt schwiegen wir. Schließlich kamen wir in ein kleines Dorf mit Holzhäusern wie in einem Ferienort am Meer, die an engen verwinkelten Straßen lagen. War das jetzt Halifax oder nicht? Ich hatte keine Ahnung, wie groß Halifax war oder wie weit es vom Flughafen entfernt lag. Wir gingen in ein blau gestrichenes Haus mit weißen Fensterläden. Im Kamin knisterte ein kleines Feuerchen, und auf den Tischen standen Petroleumlampen. Ich fragte mich, warum es keinen Strom gab. Ob diese Diener des Schwertes ein so schmales Budget hatten? Aber Bennacio hatte dem Mann auf dem Highway einen Blankoscheck von Samson Industries gegeben. Vielleicht hatten die Ritter ein Extrakonto, die Freunde aber nicht. Oder es war einfach eine Frage der Lebenseinstellung, im Fernsehen hatte ich auch schon mal gesehen, dass sich Leute genauso wie vor langer Zeit einrichteten. »Hier sind wir sicher, Lord Bennacio«, sagte Cabiri. »Wenigstens für ein paar Stunden. Jules, besorg Lord Bennacio etwas zu essen.« Dass Jules auch mir etwas zu essen besorgen sollte, sagte er nicht. »Milo, sag ihr, dass Lord Bennacio angekommen ist.« Er lächelte Bennacio an. »Sie war sehr besorgt.« 208
Bennacio antwortete nicht. Er ließ sich in einen Sessel beim Feuer sinken und drückte die Fingerspitzen auf die Augen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und so setzte ich mich auf die kleine Bank neben Bennacio und wünschte, ich hätte ein paar trockene Socken. Meine Füße fingen an zu jucken. Ich überlegte, ob es unhöflich wäre, wenn ich mir die Schuhe auszog. Cabiri schlüpfte aus seiner braunen Robe. Darunter trug er ein kariertes Flanellhemd und WranglerJeans. Er hatte kurzes, sehr lockiges Haar, wie ein Pudel, und erinnerte mich an jemanden, den ich aus einem Werbespot für Küchenpapier kannte. Jules trug ein Tablett herein, das voll war mit geräuchertem Lachs, großen Käsestücken, dicken Weintrauben und kleinen Klumpen fettglänzender schwarzer Kügelchen auf dünnen Crackern, was wahrscheinlich Kaviar war. Ich hatte noch nie Kaviar gegessen und wollte auf leeren Magen keine Experimente machen, weshalb ich mir etwas Lachs und Käse nahm. Die Weintrauben waren sehr gut. Sie waren ganz knackig, und als ich auf eine draufbiss, spritzte mir der Saft in den Mund. Jules verschwand noch einmal und kam mit einer Flasche Wein und ein paar Gläsern zurück, aber ich bin kein Weintrinker und hielt mich an die saftigen Trauben. Vielleicht hätten sie mehr Geld für Strom, dachte ich, wenn sie nicht alles für Kaviar und teuren französischen Wein 209
ausgeben würden. Cabiri war ein schwerer Mann, ähnlich gebaut wie ich und mit entsprechendem Appetit. Das Tablett blieb nicht lange voll. »Sie müssen sie anrufen«, sagte Cabiri zu Bennacio. »Der Gedanke geht mir gegen den Strich«, antwortete Bennacio. Dann kam ein Mädchen ins Zimmer, und Cabiri stand auf und Jules stand auf, also stand auch ich auf, und die Krümel von meinem Schoß fielen auf den Teppich. Sie war groß, fast eins achtzig, barfuß und trug ein ärmelloses grünes Kleid, das bis auf den Boden reichte. Ihr kastanienbraunes Haar war aus dem Gesicht gekämmt, und ihre helle Haut glühte im Licht des Feuers. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Sie ging direkt zu Bennacio, der sich ebenfalls erhoben hatte, nahm seine Hand, küsste sie und drückte sie sich gegen die Wange. »Mylord«, sagte sie sanft. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und sagte: »Natalia, du solltest nicht hier sein.« »Du auch nicht«, sagte sie. Er hatte sich vom Feuer weggedreht, und ich sah sein Gesicht im Licht, als er sagte: »Ich habe keine Wahl.« Dabei klang er traurig, genau wie in Knoxville, als er gesagt hatte: »Unser Verhängnis ist nahe.« Dann wandte er sich mir zu und sagte: »Das ist Alfred Kropp.« 210
»Ich weiß, wer Kropp ist«, sagte Natalia, würdigte mich aber keines Blickes. Ihre Stimme war so klar wie das Läuten ferner Glocken. Obwohl sie nur leise sprach, konnte man sie im ganzen Raum verstehen. »Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte Bennacio, wobei ich nicht wusste, warum er das sagte. Vielleicht wollte er, dass sie mich mochte. Aber ich konnte sehen, dass das nicht einfach sein würde. »Damit du es opfern kannst«, sagte sie zu Bennacio. »Damit ich mein Versprechen halten kann.« Ich sah zu Cabiri hinüber, der die Lichtreflexe in seinem Weinglas beobachtete, und zu Milo, der wie ein Wachsoldat neben der Eingangstür stand. Was mit Jules war, wusste ich nicht. Bennacio und Natalia unterhielten sich, als wären sie allein im Raum, und ich fühlte mich ganz schön unwohl. »Dein Versprechen?«, sagte sie. »Es ist nicht dein Versprechen, sondern das eines anderen, das vor tausend Jahren jemandem gegeben wurde, dessen Knochen längst zu Staub zerfallen sind. Dein Versprechen ist ein Mythos. Du traust dem Wort der Toten mehr als den Gelübden der Lebenden.« »Ich traue der Reinheit meines Ordens.« »Deinen teuren Orden gibt es nicht mehr, Mylord. Die Ritter sind verschwunden.« »Alle bis auf einen.« »Und auch du wirst bald sterben, und ich bleibe al211
lein zurück.« »Bist du deshalb gekommen?«, fragte Bennacio. »Um mich zu quälen? Ich kann meinen Eid für keinen Menschen brechen, ganz gleich, wer es ist. Ich kann die Welt nicht zum Wohle eines einzelnen Menschen opfern.« »Die Welt verdient es nicht, gerettet zu werden, wenn es nicht auch ein Mensch in ihr verdient«, sagte sie. Wieder berührte er ihre Wange. »Ich liebe dich mehr als alles und würde lieber vergehen, als dich leiden zu sehen. Aber du verstehst nicht, worum du mich bittest, Natalia. Ich kann Gott nicht den Rücken kehren. Ich werde mich nicht in Verdammnis stürzen, nicht einmal aus Liebe.« »Du verstehst nicht«, erwiderte sie, aber dann fielen ihre Schultern zusammen, und alle Kampfeslust wich aus ihr. Sie lehnte sich an ihn, und er nahm sie in die Arme. Während sie leise an seiner Schulter weinte, murmelte er ihren Namen in ihr Haar und blickte zu mir herüber. Schnell sah ich weg. Ich konnte den Blick aus diesen Augen nicht ertragen.
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KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
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s wird spät«, sagte Cabiri. »Sie müssen sich entscheiden, Bennacio. Wir haben unser Flugzeug und unseren Piloten verloren. Als Sie über die Grenzen mussten, haben Sie auch nicht gezögert, die Außenseiter zu benutzen. Sie müssen sie jetzt anrufen.« Bevor Bennacio antworten konnte, sagte Milo: »Da ist jemand.« Das Fenster neben ihm zerbarst, Glasscherben flogen durch die Luft. Etwas landete auf dem Boden und rollte in unsere Richtung. Erst vor Cabiris Fuß kam es zur Ruhe. Es war Jules’ Kopf. »Licht aus!«, brüllte Cabiri. Er und Milo beeilten sich, alle Lampen auszublasen. Bennacio schob Natalia in meine Richtung, griff nach einem Eimer, der neben dem Feuer stand, und goss Wasser über die brennenden Scheite. Es zischte scharf, und weißer Rauch wallte auf. »Den Flur hinunter, Alfred«, sagte Bennacio. »Die letzte Tür links. Schnell!« 213
Ich griff nach Natalias Arm und zog sie in den Flur, wobei ich mich mit der rechten Hand an der Wand entlangtastete. Sie machte es mir in der völligen Finsternis nicht gerade leicht, sondern versuchte, sich loszumachen. Sie war groß und für jemanden, der so dünn war, erstaunlich kräftig. Hinter uns konnte ich hören, wie heftig gekämpft wurde, Glas splitterte, Schreie ertönten, Springen, Treten, das Bersten von Möbelstücken. Am Ende des Flurs fand ich die Tür und schob Natalia in das Zimmer dahinter. Was sollten wir tun? Uns im Schrank verstecken? Unter dem Bett? Direkt über uns erklang ein dröhnendes Geräusch, es war das beständige Wummern eines Hubschraubers, und dann das Popp-Popp-Popp von Gewehrfeuer und die Schreie von Männern. Ich ließ sie los. »Vielleicht sollten wir …«, fing ich an, aber sie ließ mich nicht ausreden. Aus dem Dunkel landete ein Knie zwischen meinen Beinen, und ich schlug hin und krümmte mich auf dem Boden. Wenn man solch einen Schlag einstecken muss, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich dem Schmerz hinzugeben und darauf zu warten, dass er nachlässt. »Das war dafür, dass du das Schwert gestohlen und ihn zum Tode verurteilt hast«, fauchte sie mich an. Durch meine Tränen hindurch sah ich, wie sich die Tür öffnete und ihre Silhouette sich vor dem et214
was helleren Dunkel des Flurs abzeichnete. In ihrer Rechten hielt sie einen spitzen Dolch. Schon war sie weg, und ich war mit meinem Schmerz und mir allein. Ich zog mich am Bettrand hoch, und der Schmerz hielt mit dem Schlagen meines Herzens Schritt, als der Lichtkegel einer starken Lampe in den Raum stach. Ohne lange zu überlegen, rammte ich dem hereinkommenden Mann meine Schulter mit aller Kraft gegen die Brust, dass er zurück durch die Tür in den Flur geschleudert wurde. Dabei verlor er seine Lampe. Ich stürzte mich auf ihn und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein, bis er mein rechtes Handgelenk zu fassen bekam, es mir hinter den Rükken drehte und mich zu Boden zwang. Er presste mir sein Knie unten in den Rücken und zog meine Hand so hoch, dass ich mit den Fingern an meinen Hals kam. Gleich würde er mir den Arm auskugeln. Dazu wurde mir jetzt etwas Kaltes hinter das Ohr gedrückt. Mit einem Mal war es sehr still. Der Mann auf mir atmete schwer, und sein Atem und das tiefe Wummern des Hubschraubers waren die einzigen Dinge, die ich hören konnte. Dann rief Bennacio: »Nein! Er gehört zu uns!« Der Mann ließ von mir ab und nahm seine Lampe. Er drehte mich mit dem Fuß auf den Rücken und leuchtete mir direkt in die Augen. »Wer bist du?«, fragte er. »Alfred Kropp!« 215
»Alfred Kropp! He, war mein Fehler, aber du bist auf mich losgegangen, Junge.« Eine Hand kam aus dem Dunkel und zog mich auf die Beine. Ich konnte sein Rasierwasser riechen und hörte, wie er ein Kaugummi bearbeitete. Jemand trat auf uns zu und hielt eine Petroleumlampe. Es war Bennacio. Der Kerl mit der Taschenlampe schüttelte mir zweimal die Hand, sehr fest. Er trug Dockers und ein Polohemd, darüber eine blaue Windjacke. Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig oder dreißig sein. Sein Haar war schulterlang und mit einer Art Gel nach hinten gekämmt. »Mike Arnold«, sagte er. »Alles klar?« Er drehte sich zu Bennacio. »War knapp, Benny, was? Sie können mir später danken. Im Moment müssen wir dringend hier weg. Da sind noch mehr im Anmarsch.« Er schob uns zurück ins Wohnzimmer. Cabiri stand am Kamin, und vor ihm auf dem Boden lagen ein paar schwarz gekleidete Leichen. Ein anderer Mann in Schwarz lag auf dem Bauch in der Küche, und Blut rann unter seinem Kopf vor. Natalia stand schwer atmend über ihm und hielt ihren Dolch in der Hand. »Was ist mit Milo?«, fragte Bennacio. Cabiri schüttelte langsam den Kopf und deutete zum Sofa hinüber. Ich wollte Milo nicht sehen, guckte aber 216
trotzdem und bereute es gleich. »Sind alle hier?«, fragte Mike Arnold. »Alle vollzählig? Super. Besser geht’s nicht. Lasst alles liegen, wir schicken einen zum Aufräumen.« »Wie haben Sie uns gefunden?«, fragte Bennacio. »Dafür ist jetzt keine Zeit, nehmen Sie mit, was immer Sie brauchen, und ab durch die Mitte.« Mike ging zur Haustür und öffnete sie. Draußen auf der Straße stand ein großer schwarzer Hubschrauber und pumpte kalte Luft ins Haus. Cabiri trat zu Bennacio und sagte so leise, als wollte er nicht, dass Mike ihn hörte: »Kommen Sie, Lord Bennacio, damit ist die Entscheidung gefallen. Vertrauen wir dieser Wendung des Schicksals.« »Oh, yeah, dem Schicksal muss man vertrauen, wenn es sich wendet«, sagte Mike Arnold und ließ sein Kaugummi platzen, und ich fragte mich, wer zum Teufel dieser Kerl bloß war.
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KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
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ir drängten uns in den Hubschrauber. Es war ein großer Militärhubschrauber, in dem sieben Personen Platz hatten und dazu noch auf beiden Seiten extra Schützen. Ich saß neben Bennacio und Natalia auf der Bank ganz hinten. Beim Start hatte ich noch halb gestanden, und der Hubschrauber kippte gleich so scharf nach links weg, dass mir saurer Käsegeschmack in den Mund stieg. Natalia war immer noch barfuß, und ich dachte, dass ihre Füße eiskalt sein mussten, schließlich saßen wir fast im Freien, und die Luft wirbelte nur so um uns herum. Cabiri und Mike Arnold saßen uns gegenüber, und Mike lächelte mit großen weißen Zähnen zu mir herüber, die durch das Kaugummikauen gut zu sehen waren. Er beugte sich vor und rief zu mir herüber. »Du bist also Alfred Kropp, Mann! He, was für ’n Schnitzer, das Schwert einfach so zu nehmen! Bist die Pandora unseres Jahrhunderts! Lernst du in der Schule griechische Sagen? Die Büchse der Pandora? Mann, wie du dich fühlen musst! Hau mir eins rein!« Er 218
lachte und knatschte an seinem Kaugummi – schmatz – schmatz – schmatz –, als wäre er wütend auf ihn. Jetzt sah er zu Natalia. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Mike Arnold – wie geht’s?« Natalia starrte ihn nur an. Das brachte ihn jedoch nicht aus der Ruhe. Er blinzelte ihr zu und wandte sich an Bennacio. »Also, Sie fragten … Nun, wir wussten ja, wann und wo Sie über die Grenze sind. Dazu bekamen wir vor ein paar Stunden die Info zu der kleinen Nummer, die Ihre Leute mit Kaczmarczyk veranstaltet haben, das heißt, wir mussten uns nicht lange die Hirne zermartern, dass Sie wahrscheinlich zusammen mit Cabiri in die Enge geraten würden.« »Ihre Ankunft war ein wahrer… Zufall«, sagte Bennacio. »Dankt mir später.« »Wohin bringen Sie uns?«, fragte Bennacio. »Wir helfen Ihnen über den Großen Teich, Benny. Wissen Sie, es hat eine Entwicklung gegeben.« »Was für eine Entwicklung?« Er warf mir einen Blick zu und sagte: »Das ist Verschlusssache.« »Mogart ist mit Ihnen in Verbindung getreten«, sagte Bennacio. Das war keine Frage. »Verschlusssache, Benny. Ver-schluss-sa-che.« Gleichzeitig schickte er ein bedeutungsloses Lächeln 219
in meine Richtung. »Sie haben ihm ein Angebot für das Schwert gemacht, und er hat es angenommen.« »Ich glaube langsam, dass wir ein Kommunikationsproblem haben«, rief Mike ihm über den Maschinenlärm hinweg zu. »Wir haben diese Sache ganz in unsere Zuständigkeit gebracht, und ich bin nicht autorisiert, Ihnen mehr dazu zu sagen!« Cabiri drehte den Kopf weg und tat so, als spuckte er aus. Das hatte ich schon einmal gesehen, und während ich den Blick zurück auf Mike Arnold richtete, begriff ich plötzlich, dass ich da einen BIPAPAgenten vor mir hatte. Wir waren höchstens zwanzig Minuten in der Luft gewesen, als der Hubschrauber eine weite Schleife beschrieb und zur Landung ansetzte. Mike sah auf seine Uhr, zog eine Pistole aus der Tasche seiner Windjacke und legte sie sich auf den Schoß. Er bemerkte, wie ich darauf starrte. »Eine 9 Millimeter Glock! Willst du sie mal halten?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. Arnold lächelte und schmatzte auf seinem Kaugummi herum. Dieser Mann war ganz klar nicht Bennacios Meinung, dass Pistolen barbarisch waren. Mike Arnold mochte Pistolen, und zwar sehr. Als wir aufsetzten, lugte die Morgensonne gerade unter der Wolkendecke hervor. Es hätte schneien können, so kalt war es, und der Wind wurde stärker. 220
Wir waren auf einem anderen Flugplatz. Ungefähr hundert Meter entfernt stand eine militärische Transportmaschine auf der Rollbahn. Die Ladeklappe hinten war weit geöffnet, wie ein gigantischer Mund, in dem nur Schwärze zu erkennen war. Ich folgte Mike und Cabiri aus dem Hubschrauber, Bennacio und Natalia blieben drinnen. Es sah ganz so aus, als wollten sie miteinander streiten, und Natalias Augen standen voller Tränen. Bennacios versuchte aufzustehen, aber Natalia legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. Es war ziemlich klar, dass sie ihn bat, nicht zu gehen. Er schüttelte jedoch den Kopf, küsste sie auf die Wange und kam zu uns heraus in den Wirbelsturm unter den Rotoren des Hubschraubers. »Alles klar dann?«, fragte Mike. »Wunderbar!« Er lief über den Teer auf die Transportmaschine zu, aber niemand folgte ihm. Bennacio wandte sich an Cabiri. »Ich komme mit Ihnen!«, rief Cabin. »Nein. Sie müssen bei Natalia bleiben. Solange ich lebe, ist sie in Gefahr. Beschützen Sie Natalia, Cabiri!« Damit wandte er sich mir zu. »Ich werde mich jetzt von dir verabschieden, Kropp. Wenn er auch kein Ritter sein mag, so ist Cabiri doch ein Freund des Schwertes und wird dir helfen, nach Hause zu kommen.« 221
Tiefe Schatten krochen ihm um den Mund und die tief liegenden grauen Augen. Er sah sehr alt und müde aus. »Mein Pfad ist dunkel, und nur der Himmel weiß, wo er enden wird. Bete für mich, Alfred. Auf Wiedersehen.« Er drückte mir die Schulter, drehte sich um und ging mit eiligem Schritt hinüber zu Mike, der an der Klappe der Transportmaschine stand. Ich sah ihm hinterher, bis er das Flugzeug fast erreicht hatte, dann rannte ich ihm nach und schrie: »Bennacio! Bennacio! Warten Sie! Warten Sie auf mich, Bennacio!« »Bennacio!« Ich blieb neben der Ladeklappe stehen und schnappte nach Luft. Ich war schwer und kein großer Renner und hatte gerade erst einen üblen Schlag zwischen die Beine bekommen. »Nehmen Sie mich mit!« »Du weißt nicht, worum du da bittest«, sagte er. »Ich könnte helfen. Ich könnte …« Ich wusste absolut nicht, was ich sagen sollte. »Ich könnte Ihr Knappe oder Diener sein, oder wie immer das heißt. Bitte lassen Sie mich nicht hier zurück, Bennacio. Ich muss… Sie müssen mir eine Chance geben, wieder gutzumachen, was ich getan habe.« Er warf Mike einen Blick zu, der mich wie ein Jungbuddha angrinste. Endlich fragte Bennacio: »Und was hast du getan, Alfred?« »Ich habe das Schwert genommen«, stammelte 222
ich. Wieder war er wie der strenge Vater, und ich war der kleine Junge, der mit der Hand in der Keksdose erwischt worden war. »Deswegen ist Onkel Farrell tot, Mr. Samson und der Rest der Ritter, Jules und Milo, und Gott allein weiß, wer noch alles sterben muss, bloß weil ich nicht wieder in Pflege wollte. Ich kann jetzt nicht zurück, Bennacio, verstehen Sie das nicht? Ich kann nicht.« »Mag schon sein«, sagte Mike Arnold. »Aber mit uns kannst du auch nicht. Du bist nicht überprüft und hast keine Freigabe, und ich habe keine Zuständigkeit für so was.« Ich achtete nicht auf ihn. »Sie schulden mir noch was«, erklärte ich Bennacio. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet, und Sie schulden mir was.« »Ich habe deines auch gerettet«, erinnerte er mich. »Hören Sie, Mr. Samson hat Sie den ganzen Weg zurückgeschickt, damit Sie mir sagen, was passiert ist«, sagte ich. »Warum, glauben Sie, hat er das getan? Da muss es doch einen Grund geben. Ich kenne ihn zwar nicht, aber für ihn war es so wichtig, dass Sie deswegen alles stehen und liegen lassen mussten. Sie wissen, dass er gesagt hätte, ich könnte mitkommen. Das wissen Sie, Bennacio.« Er sagte nichts, sondern drehte sich weg und ging die Rampe ins Flugzeug hoch. »Mann, was für ein Auftritt, Al«, sagte Mike. »Aber du hast schon irre Glück gehabt, überhaupt bis 223
hierhin gekommen zu sein.« Damit wandte auch er sich ab und drückte einen Knopf. Langsam begann sich die Rampe zu heben. Dann aber sah er etwas hinter mir und sagte plötzlich: »Super, Mann! Gesellschaft!« Und schon beugte er sich vor, bekam meinen Arm zu fassen und hob mich mit auf die Rampe. Ich drehte mich um und sah drei dunkle Umrisse am Horizont, die schnell näher kamen, entweder Hubschrauber oder tief fliegende Flugzeuge. Mike stieß mich zur Seite und rannte nach vorn ins Flugzeug, wobei er gleichzeitig in ein Walkie-Talkie schrie: »Hier ist Mutter Gans, wir haben das Ei gelegt, und jetzt nähern sich drei Babydrachen dem Nest! Ich wiederhole, wir sitzen noch auf dem Nest! Brauchen sofort Luftunterstützung!« Mit einem Sprung war er vorn im Cockpit. Die Rampe war immer noch nicht ganz geschlossen, als sich die Maschine bereits in Gang setzte und ich nach hinten geschleudert wurde. Ich wäre womöglich noch nach draußen gefallen, hätte Bennacio mich nicht festgehalten. Zusammen verfolgten wir durch den sich schließenden Spalt, wie die Umrisse näher kamen – sie sahen aus wie der Kampfhubschrauber, der uns hergebracht hatte und der in diesem Moment vom Boden abhob. Einer der Babydrachen, wie Mike sie genannt hatte, löste sich aus dem Verband und setzte ihm nach. Dann war die Rampe zu, und ich konnte nichts 224
mehr sehen. Bennacio griff neben mich, legte den Verschlusshebel um und sagte: »Komm, Alfred.« Ich folgte ihm zu einer kleinen Bank an der Außenwand, und wir setzten uns, während die Maschine zum Starten immer schneller wurde. »Es gibt keine Sicherheitsgurte!«, brüllte ich Bennacio über das Getöse der Motoren zu. Er reagierte nicht darauf und schob die kleine Plastikklappe vor dem Fenster hinter uns hoch. Er verdrehte den Hals, schnaubte aber enttäuscht, weil er nichts sehen konnte, wie ich annahm. Schon hoben wir ab und schwenkten scharf nach rechts. Bennacio hatte sich vom Fenster weggedreht und saß mit geschlossenen Augen da. Vielleicht hatte er Flugangst, so wie ich. Ich blickte hinaus und sah zwei Hubschrauber, von denen der eine den anderen verfolgte, aber da sie genau gleich waren, konnte ich nicht sagen, wer nun unserer und wer ihrer war. Kleine Lichtexplosionen kamen aus dem hinteren Hubschrauber, während der vordere hochschoss, absackte und sich nach links und rechts wand, um dem Feuer zu entgehen. Wir gewannen immer mehr an Höhe, bis die Hubschrauber nur noch fingernagelgroß unter uns zu sehen waren. Plötzlich wurde einer von ihnen zu einem Feuerball, und eine große schwarze Rauchwolke breitete sich aus. Ich fragte mich, wo die beiden anderen Babydrachen waren. Ob unser Flugzeug wohl gepanzert war? Hoffentlich. 225
Bennacio hielt die Augen noch immer geschlossen. Vielleicht drei- oder vierhundert Meter unter uns waren jetzt Kampfflugzeuge zu sehen, auf jeden Fall sahen sie so aus, wie F-16 oder was die Kanadier stattdessen haben mochten. Die Jets waren hinter zwei Hubschraubern her, den dritten konnte ich nicht sehen, was hieß, dass der, der explodiert war, möglicherweise nicht der mit Cabiri und Natalia an Bord gewesen war. Ich hoffte es. Als ich Bennacio erzählen wollte, was ich gesehen hatte, war er eingeschlafen.
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KAPITEL DREISSIG
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ennacio und ich waren allein im Laderaum. Seine Augen waren immer noch geschlossen. Er muss etwas wissen, das ich nicht weiß, dachte ich. Ich an seiner Stelle wäre außer mir vor Sorge gewesen. Lebten Cabiri und Natalia noch? Würden sie es schaffen? Ich betrachtete die schlanken Finger auf seinem Schoß. Er trug keinen Ehering, was nicht heißen musste, dass er nicht verheiratet war. Trotzdem kam sie mir schrecklich jung für ihn vor. Ich hatte den Eindruck, dass viele der Männer aus der Alten Welt jüngere Frauen hatten, aber wie fast alle meine Eindrücke beruhte auch dieser nicht auf eigener Erfahrung. Bennacio war ein Ritter, sehr traditionsbewusst – vielleicht war es eine »arrangierte« Hochzeit gewesen. Aber Natalia liebte ihn, das sah man gleich. Wenn nicht, hätte sie mir ihr Knie sicher nicht so zwischen die Beine gerammt. Ich legte den Kopf gegen die harte Außenwand des Flugzeugs. Mit dem Dröhnen der Motoren im Hintergrund und Bennacios leisem Schnarchen neben mir war auch ich bald eingeschlafen. 227
Im Traum sah ich mich wieder unter der Espe, hoch oben auf dem Gipfel der Halde, und mein Kopf lag auf dem Schoß der weißen Frau. Sie strich mir über die Stirn, und eine sanfte warme Brise wehte ihr durch das dunkle Haar. Sie sang etwas, aber ich konnte ihre Worte nicht verstehen, vielleicht sang sie auch in einer fremden Sprache. Ich unterbrach sie, um zu fragen, wo ich sei. Weißt du das nicht?, sagte sie. Bist du nicht schon hier gewesen? »Einmal, aber da wusste ich auch nicht, wo ich war.« Was glaubst du, was das hier ist, Alfred? »Der Himmel?« Sie lächelte, als hätte ich etwas Niedliches gesagt. Und wer hin ich? »Ein Engel?« Ich bin die, die wartet. Und das hier ist der Ort, an dem man wartet. »Worauf warten Sie?« Du weißt, worauf ich warte. Eigentlich hatte ich gedacht, dass sie die Herrin des Sees aus der Artus-Geschichte war und darauf wartete, dass wir Menschen aufhörten, mit Excalibur herumzumachen, und es ihr zurückgaben – nur gab es in diesem Traum nirgends einen See. Während ich also mit dem Kopf in ihrem Schoß dalag und geradewegs hinauf in die Espe sah, deren 228
Blätter in einem nicht spürbaren Wind flatterten, fiel mir etwas Komisches an ihnen auf: Die Blätter des Baums hatten alle möglichen Farben, waren rot, schwarz, weiß, und dann sah ich, dass die Äste tatsächlich ganz nackt waren, und was da flatterte, waren keine Blätter, sondern die Flügel von Tausenden von Schmetterlingen, und jeder einzelne von ihnen war mit einer langen silbernen Nadel an den Baum gesteckt. Das machte mich ganz verrückt, ich wollte schon eine der Nadeln aus dem Baum ziehen, um den Schmetterling freizulassen, aber die Frau drückte meine Hand sanft nach unten. Es ist noch nicht an der Zeit. »Für was?« Ihre Augen blickten traurig in die Ferne. Sie waren dunkel wie ihr Haar und glitzerten, als wollte sie gleich zu weinen anfangen. Wenn der Meister kommt, wird er sie befreien. »Der Meister«, sagte ich. »Wer ist der Meister?« Der, der sich erinnert. »Woran?« An das Vergessene. Ich starrte zu den Schmetterlingen hinauf, die hilflos über meinem Kopf mit den Flügeln schlugen, und dachte, genau das sei mein Problem: dass ich vergessen wollte, es aber nicht konnte. »Was ist vergessen worden?« Sie beugte sich vor und drückte mir ihre kühlen 229
Lippen auf die Stirn. Ein Duft von Jasmin stieg mir in die Nase. Wenn die Stunde kommt, wirst du dich erinnern.
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KAPITEL EINUNDDREISSIG
I
ch wachte auf und rieb mir den Nacken. Diese Militärflugzeuge waren nicht gerade bequem zum Reisen. Bennacio war wach und starrte aus dem Fenster. »Du hast wieder von ihr geträumt, nicht wahr?«, fragte er. »Ist sie die Herrin des Sees?« »Ich weiß es nicht. Sie ist wichtig, wer immer sie ist, sei es auch nur für dich.« »Es war einer von den Träumen, aus denen man nie aufwachen möchte. Sie glauben doch nicht, dass sie eine Art Geist meiner Mutter ist? Meine Mutter ist tot, wissen Sie.« »Ich kann dir das nicht beantworten, Kropp.« »Nur dass meine Mutter nie so hübsch war, selbst als junges Mädchen nicht. Ich glaube nicht, dass es der Himmel war. Ich meine, wer stellt sich den Himmel schon als den Gipfel einer Halde vor. Wo sind wir jetzt?« »Noch ungefähr eine Stunde von unserem Ziel entfernt, schätze ich. Du hast sehr lange geschlafen.« 231
»Was ist unser Ziel?« »Frankreich.« »Ich war noch nie in Frankreich«, sagte ich. »Ich habe weder einen Pass noch ein Visum oder so was.« »Das macht nichts.« »Ist Mogart in Frankreich?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber es sieht so aus, als hätte Mogart BIPAP das Schwert von sich aus zum Kauf angeboten. BIPAP hat ein Safe-House, ein sicheres Haus, in Frankreich, wo wir auf Mogarts letzte Instruktionen warten werden, wie das Geld übergeben werden soll.« »Bennacio, ich weiß, es geht mich nichts an, aber wem gehört dieses Flugzeug, und wer ist dieser Mike?« »Das hast du doch mittlerweile erraten, Kropp.« Er griff in seine Tasche und zeigte mir die gleiche Visitenkarte, die er dem Mann an der Grenze gezeigt hatte. Mike Arnolds Name stand darauf. Darüber war in Großbuchstaben »BIPAP« zu lesen. Neben Arnolds Name stand eine gebührenfreie Telefonnummer. »Bennacio, werden Sie mir je sagen, was BIPAP ist?« Er lächelte mich an. »Was glaubst du, was es ist?« »Mr. Samson sagte so etwas wie, dass es eine supergeheime Agentenorganisation sei. Sie trauen denen nicht, oder?« 232
»Ich traue niemandem zu, dass er der Versuchung widersteht, die mächtigste aller Waffen in seine Gewalt zu bringen.« »Das ist also das Geschäft? Mogart bietet das Schwert BIPAP an?« »Vielleicht.« »Sie nehmen das schrecklich gelassen, Bennacio.« »Ich bin ein Mann des Glaubens, Alfred.« »Was soll das denn jetzt bedeuten?« »Dass alles einen Sinn hat.« »Vielleicht«, sagte ich. »Trotzdem kapiere ich das jetzt nicht.« »Nicht viele tun das, wenn die Prüfung naht.« »Ich glaube, ich bin durchgerasselt.« »Meinst du? Vielleicht. Aber es kann auch sein, dass die wahre Prüfung erst noch kommt. Wer kann das sagen? Ich habe lange über das nachgedacht, was du in Halifax gesagt hast. Es stimmt, Samson hat es für sehr wichtig gehalten, dass du von unserer Niederlage erfährst.« »Vielleicht wollte er einfach nur, dass ich weiß, was für schreckliche Dinge ich angerichtet habe.« »Hast du so wenig über uns gelernt, Kropp, dass du so etwas glaubst? Diese schrecklichen Dinge, wie du es nennst, sind nicht allein dein Tun, sondern mindestens genauso sehr meines. Belaste dich nicht mit Schuld und Reue, Alfred. Mit Schuldgefühlen und Reue ist noch nie eine Schlacht gewonnen oder 233
eine große Tat vollbracht worden.« Er tätschelte meine Hand und stand auf. »Entschuldige mich, ich muss einen Moment mit Mr. Arnold sprechen.« Er verschwand im Cockpit. Ich gähnte und blickte aus dem Fenster, sah aber nichts als Himmel, Wasser und etwas, das im verbleichenden Sonnenlicht hinter unserem Flügel schimmerte. Wahrscheinlich eine F16. Ich gähnte wieder. Nun hatte ich stundenlang geschlafen und fühlte mich immer noch schläfrig. Bennacio blieb lange weg. Als er zurückkam, lächelte er. »Was ist?«, fragte ich. »Sie lebt«, sagte er einfach nur und setzte sich wieder neben mich. »Wie gut«, sagte ich. »Ich muss mich noch entschuldigen, Bennacio. Ich sollte hinten in dem Zimmer auf sie aufpassen, aber sie hat mich mit dem Knie zwischen den Beinen erwischt.« Mein Gesicht glühte, als ich ihm das erzählte. Ein schöner Knappe würde ich sein. Er machte eine kleine Handbewegung, die ich nicht verstand. »Ist sie Ihre Frau?« »Meine Tochter.« »Oh.« Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. »Ah, sie ist hübsch.« Er antwortete nicht, sondern sah wieder aus dem 234
Fenster. »Ich glaube, wir setzen zur Landung an, Kropp. Erzähl Mike nichts von dem, was du über das Schwert weißt.« »Das wird mir nicht schwer fallen, denn ich weiß nicht viel darüber.« »Er ist unser Verbündeter in dieser Sache, aber wir sind merkwürdige Kampfgenossen.« »Was heißt das?« »Sicher ist dir schon aufgefallen, dass nicht nur böse Menschen das Schwert haben wollen. Es ist die mächtigste Waffe der Welt. Gegen sie gibt es keine Verteidigung.« »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte ich. »Mr. Samson sagte, mit dem Schwert sei jede Armee unbesiegbar. Aber könnte nicht einfach einer eine Atombombe draufwerfen?« »Das Schwert lässt sich mit keiner menschlichen Waffe vernichten«, sagte Bennacio. »Egal wie schrecklich sie ist. Ich weiß nicht genau, was geschehen würde, Alfred. Alles, was ich weiß, ist: Das Schwert kann nicht besiegt oder zerstört werden.« »Nach dem Tod von Onkel Farrell hatte ich diesen Traum, das heißt, es war ein Albtraum.« Ich erzählte ihm von der gesichtslosen Armee und dem Reiter mit dem schwarzen Pferd und wie er das Schwert in den rauchenden Boden stieß, wie die Flugzeuge vom Himmel stürzten, die Panzer explodierten und die Soldaten schreiend vor dem gleißenden Licht des 235
Schwertes davonliefen. Bennacio sah mich lange schweigend an, nachdem ich mit meiner Erzählung fertig war. »Was für interessante Träume du hast, Alfred Kropp«, sagte er. »Lass uns beten, dass sie nicht wahr werden.«
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KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
Z
wei schwarze Autos erwarteten uns am Rand des privaten Flughafens, auf dem wir in Frankreich gelandet waren. Drei Männer in dunklen Anzügen und mit Sonnenbrillen standen daneben. Als wir die Stufen hinuntergingen, donnerten zwei F-16 tief über uns hinweg. »Sie beide müssen todmüde sein«, sagte Mike. »Kommen Sie, es ist nicht weit. Versprochen.« Er öffnete die hintere Tür eines der schwarzen Wagen, und ich sah Bennacio an. Der nickte, und ich stieg ein. Bennacio rutschte neben mich, und einer der dunklen Anzüge setzte sich hinter das Steuer. Mike stieg auf der Beifahrerseite ein, und schon fuhren wir los. Die anderen beiden dunklen Männer folgten uns im zweiten Wagen. Mike öffnete das Handschuhfach und zog etwas Schwarzes heraus. Es sah aus wie ein Tuch. »Al«, sagte er. »Ich tu das wirklich nicht gerne, aber es ist ein Safe-House, verstehst du?« Er beugte sich nach hinten über den Sitz, und bevor ich noch meine Hände heben konnte, hatte er mir 237
das Tuch schon über den Kopf gestülpt. Es war eine vorn geschlossene Kapuze. Ich konnte nichts mehr sehen und wollte sie mir wieder herunterziehen, aber da fühlte ich eine Hand auf meinem Arm. Bennacio. Er klopfte mir sanft aufs Handgelenk, als wollte er sagen: Das ist schon in Ordnung so. »Ich hoffe, ihr habt reichlich Hunger«, sagte Mike. »Jeff ist gestern aus Istanbul angekommen, und er ist ein verdammt guter Koch. Wir werden was essen, und ihr könnt duschen und was Frisches anziehen. Al, du siehst aus, als hätte dich einer durchgekaut und ausgespuckt.« »Wo ist Mogart?«, fragte Bennacio. »Keine Ahnung, Meister.« Er klang nicht gerade besorgt deswegen, aber das konnte auch an seinem Kaugummi liegen. »Wir wissen, wo er nicht ist, und zwar in Jâtiva. Unsere Jungs waren gestern da und haben alles auseinander genommen, aber Mogart und seine Leute waren längst weg. Samson haben wir gefunden. Oder was noch von ihm übrig war. Mann, sah der aus. Na ja, ihr Ritter seid da wohl ein bisschen anders drauf, was? Keine Ahnung, was das sollte.« Bennacio antwortete nicht. Ich fragte mich, was Mike meinte. Was hatte Mogart mit Samson gemacht? Ich bekam unter meiner Kapuze nicht viel Luft und musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, sie 238
mir nicht vom Kopf zu ziehen. Was würde Mike machen, wenn ich es täte? Vielleicht würde er mich erschießen. Ganz locker, so wie er redete und Kaugummi kaute – als hätten wir einen schönen Sommernachmittag und guckten uns ein Baseballspiel an. Der Stoff dämpfte meine Stimme, als ich sagte: »Samson war Bennacios Captain. Sie sollten nicht so darüber sprechen.« Er beachtete mich nicht. »Wir glauben, er könnte nach Marokko ausgewichen sein, oder auch Algerien. Im Moment sind zwar alle Grenzen der freien Welt geschlossen, aber die sind ganz schön lang, und nicht jeder ist ein Freund von Wahrheit, Gerechtigkeit und dem American Way of Life, wenn Sie verstehen, was ich meine. Gestern haben wir jedenfalls einen Anruf von ihm bekommen, dass er so weit ist, einen Handel zu machen. Wir sollen ruhig abwarten, bis er sich wieder meldet und uns die endgültige Summe und den Übergabeort nennt. Keine Ahnung, wo das sein wird und was er am Ende verlangt – so was erzählen sie unsereinem natürlich nicht, aber wir haben eine Wette laufen, falls Sie mitmachen wollen. Es geht das Gerücht – unbestätigt und streng geheim –, dass es hundert Milliarden Dollar sein sollen. Milliarden, und davon gleich hundert. Wollen Sie wissen, was ich glaube? Der Kerl will ganz oben auf die Liste der reichsten Männer der Welt.« Ein Handy klingelte, und Mike redete leise mit 239
jemandem. Es kam mir vor, als wären wir schon ewig unterwegs, aber mit der Kapuze über dem Kopf war das schwer zu schätzen, die Zeit vergeht anders, wenn man nichts sieht. Wir fuhren schnell, langsam und wieder schnell, als wechselten wir zwischen Landstraßen und Schnellstraßen. Schließlich heulte der Motor auf, als wir eine ziemliche Steigung hinauffuhren. Nachdem wir offenbar auf irgendwas oben angekommen waren, hielt der Wagen, und meine Tür öffnete sich. Eine Hand fuhr zu mir herein, fasste mich beim Arm und zog mich nach draußen. Jemand sagte: »Zieh den Kopf ein« und führte mich einen steinigen Weg entlang. Die Steine – oder war es Kies? – knirschten unter meinen Füßen, und ich musste an meinen Traum denken, in dem ich diese komische Halde hinaufkletterte und oben die weiße Frau mit dem langen dunklen Haar fand, die traurig in die Ferne starrte und auf den Meister wartete. »Vorsicht, Stufe«, sagte die Stimme neben mir, und es ging weiter über Holzplanken. Ich zitterte, so kalt war mir, aber plötzlich wurde die Luft um mich herum wärmer. Wir waren in einem Haus. Jemand zog mir die Kapuze herunter, und ich blinzelte ins Licht, auch wenn es gar nicht so hell war. Wir standen in der Eingangsdiele einer mächtigen Hütte, oder vielleicht nannte man so was in Frankreich auch ein »chateau«. Der Boden war aus Holz, die Decke hatte was Kirchenartiges, und es gab einen 240
riesigen Kamin. Ungefähr ein Dutzend Leute lief hin und her, und es roch, als würde irgendwo Speck gebraten. Plötzlich war ich so hungrig wie nie zuvor. Ich hatte schon ganz weiche Knie. »Also was zuerst, Leute? Duschen oder frühstükken?« »Alfred muss etwas essen«, sagte Bennacio. »Außer Käse und Weintrauben hab ich heute noch nichts gehabt«, sagte ich, aber es schien keinen besonders zu interessieren.
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KAPITEL DREIUNDDREISSIG
E
in Agent namens Jeff lud den Tisch voller Essen: Schinken und Speck, Brot und Eier, Kekse und zuckrige Dinger, die jemand »beignets« nannte (so was wie französische Donuts, ich aß sechs davon), sogar Steaks, Kaffee und Saft, Tee und heiße Schokolade. Mike war ein großer Fan der Chicago-Cubs, und er fachsimpelte mit diesem Jeff über ihre Chancen in der laufenden Saison und dass ihr Problem, wie auch früher schon oft, die zweite Besetzung der Pitcher sei. Bennacio saß neben mir, aß seinen Toast mit Erdbeermarmelade, trank dazu Kaffee und sagte nichts. Nach dem Frühstück brachte uns Mike in den ersten Stock und zeigte uns, wo wir duschen konnten. Ich zog mich aus und legte meine Sachen vor die Tür. Jemand würde sie schnell waschen, während ich mir den Schmutz herunterspülte, hatte Mike gesagt. Ich stand lange unter der heißen Dusche. Ich glaube, ich litt unter der Zeitverschiebung zwischen Kanada und Frankreich. Immer wieder ließ ich die Seife fallen, und alles dauerte unglaublich lange. Allein 242
schon das Haarewaschen kostete mich Stunden. Als meine Finger endgültig wie verschrumpelte Backpflaumen aussahen, trocknete ich mich ab und zog den weißen Bademantel an, der an einem Haken neben der Duschkabine hing. Mein Bad war sehr klein, und ich stieß immer wieder ans Waschbecken und schlug mit den Ellbogen gegen die Wand, aber nach dem Essen und der Dusche fühlte ich mich trotzdem besser. Ich fand eine Zahnbürste, und als ich sie benutzte, musste ich an meine Mutter denken, die echt pedantisch gewesen war, was die Zähne anging – deshalb hatte ich noch nie eine Füllung gebraucht. Ich kam erst spät wieder nach unten, wo die anderen schon ohne mich mit einer Lagebesprechung angefangen hatten. Mike, Jeff und Paul saßen auf dem Sofa im großen Raum, Bennacio ganz für sich auf dem grob gezimmerten Schaukelstuhl beim Kamin. Für mich war kein Platz, und einen Moment lang stellte ich mir vor, wie ich mich wie ein treuer Hund zu Bennacios Füßen zusammenrollte. Neben Mike saß eine Frau. Sie hatte sehr große Lippen, die im Licht des Feuers rot und feucht leuchteten. Ihr hellblondes Haar war zu einem Knoten oben auf dem Kopf zusammengebunden. Sie trug einen Nadelstreifenanzug und hochhackige schwarze Schuhe. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und kam 243
mir irgendwie blöd vor in meinem Bademantel, mit bloßen Füßen und den nassen Haaren. Bennacio war voll angezogen. Niemand schenkte mir Beachtung. Mike sprach gerade. »Damit wäre alles geklärt«, sagte er. »Letzte Nacht habe ich das Okay aus der Zentrale bekommen. Ich kann nicht sagen, wie viel es ist, das ist Verschlusssache, aber ich will doch sagen, dass wir glauben, das höchste Gebot um mindestens eine halbe Milliarde übertroffen zu haben.« Er machte eine Pause, fast so, als wartete er auf eine Antwort Bennacios. Er kriegte aber keine. Bennacio sagte nichts. Er starrte ins Feuer. Mike zog ein Stück Silberpapier hervor, wickelte seinen Kaugummi sorgfältig darin ein und steckte ihn zurück in die Tasche. Gleich darauf schob er sich einen neuen Streifen Kaugummi in den Mund und verstaute das Silberpapier ebenso sorgfältig wieder in seiner Tasche. Die Frau mit dem blonden Haar sagte jetzt etwas. Sie hatte einen britischen Akzent. »Wir glauben ernsthaft, dass es von Anfang an sein Plan war, uns das Schwert zu verkaufen.« »Wirklich?«, sagte Bennacio. »Da gehen Sie aber ziemlich weit.« »An wen sonst könnte er sich wenden?«, fragte sie. »Wir repräsentieren die reichsten Länder dieser Welt, und er kann uns trauen. Nicht mal der Drache 244
will die ganze Welt in Flammen aufgehen sehen.« »Genau, Benny, genau das ist es!«, sagte Mike. »Ich meine, wie sollte er all das Geld in einer nuklear verseuchten Einöde genießen? Er wusste von Anfang an, dass er das Schwert den Guten verkaufen muss.« »Ich habe es Ihnen bereits erklärt«, sagte Bennacio. »Mogart hat nicht vor, Ihnen das Schwert zu geben. Er wird sich niemals davon trennen.« »Warum?« Mike lächelte Bennacio hart und unfreundlich an. »Würden Sie es tun?« »Ha, kommen Sie, Benny. Wir sind die Guten hier, denken Sie dran. Wir sind alle auf derselben Seite, oder?« »Er wird Ihr Geld nehmen und das Schwert behalten.« »Die Herrschaft über die Welt, was? König Mogart. Nun, wir werden das Risiko eingehen, Benny.« »Sie sind ein Narr«, sagte Bennacio, wandte sich jetzt endlich vom Feuer ab und blickte Mike an. »Er wird Sie hintergehen.« »Aus genau diesem Grund haben wir Sie mit ins Boot geholt.« Mike wandte sich der Engländerin zu. »Stimmt’s, Abby?« »Wir werden den Austausch nicht vornehmen«, sagte Abby, »solange Sie nicht die Echtheit des Schwertes bestätigt haben.« »Und anschließend wird BIPAP das Schwert der 245
Rechtschaffenheit uns, seinen Freunden, zurückgeben«, sagte Bennacio. Jetzt war er derjenige, der hart und unfreundlich lächelte. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Benny«, sagte Mike. »Das ist nicht unser Auftrag. Ich meine, es ist schließlich eine Tatsache, dass ihr nicht besonders gut auf das Schwert aufgepasst habt.« »Tausend Jahre lang haben wir es behütet«, sagte Bennacio, »und nur durch ein idiotisches Missgeschick konnte es verloren gehen.« Mike sah über die Schulter zu mir herüber, dem idiotischen Missgeschick. Dann richtete er den Blick wieder auf Bennacio, lächelte und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Du konntest es ja nicht mal vor dem Kasper da drüben beschützen. »Bennacio«, sagte Abby mit freundlicher Stimme. »Wir sind voller Bewunderung für das, was Ihr Orden geleistet hat. Aber vielleicht ist die Zeit reif, das Schwert von anderen beschützen zu lassen. Warum sonst hätte Bernard Samson uns mit in die Sache einbezogen?« »Abby legt den Finger auf die Wunde, Benny«, sagte Mike. »Auf unserem Planeten gibt es niemanden, der das Schwert besser schützen könnte.« Bennacio ging nicht darauf ein. »Ich werde nichts tun, wenn Sie mir nicht versichern, dass Sie das Schwert an mich zurückgeben.« »Wie gesagt, Benny. Das können wir nicht ver246
sprechen«, sagte Mike. »Ich war Ihnen gegenüber immer offen, und ich habe verdammt viel Respekt vor Ihnen und Ihren Ritterkumpeln. Wir würden auch nicht im Traum daran denken, Ihnen in die Quere zu kommen. Und lassen Sie mich Ihnen eine persönliche Garantie geben: Unsere Firma hat keinerlei Absicht, das Schwert zu irgendeinem Zweck einzusetzen. Wir wollen exakt das Gleiche wie Sie: dafür sorgen, dass es nicht in die Hände von Verbrechern und Wahnsinnigen fällt.« »Ich kann nicht gegen meinen heiligen Eid handeln«, sagte Bennacio. »Ich werde mein Leben dafür geben, es zurückzubekommen und zu hüten. Nicht weniger. Wenn Mogart Ihnen das Schwert tatsächlich übergibt, werden Sie mich töten müssen, um mich zurückzuhalten.« »Niemand will das«, sagte Abby. Sie sagte allerdings nicht, dass sie Bennacio nicht töten würden. »Benny«, sagte Mike. »Wir ziehen die Sache durch, ob Sie nun mitmachen oder nicht. Wir warten nur noch darauf, dass der Drache uns Ort und Zeit der Übergabe nennt. Wir, und ich ganz besonders, wir möchten natürlich, dass Sie dabei sind, und wenn wir das Schwert erst einmal in Händen halten, lässt sich über alles reden. Gehen wir Schritt für Schritt vor.« Bennacio seufzte. Lange Zeit sagte niemand mehr etwas. Paul kratzte an einem Polsternagel, Jeff strich 247
nicht vorhandene Falten auf seiner Hose glatt, und Mike schmatzte auf seinem Kaugummi herum. Abby war die Einzige, die Bennacio ansah. Endlich setze er sich aufrecht hin und sagte: »Unter einer Bedingung werde ich mitkommen.« »Und zwar?« »Die Rache ist mein.« »… sprach der Herr«, witzelte Mike, aber niemand lachte.
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KAPITEL VIERUNDDREISSIG
I
ch ging zurück nach oben und sah, dass jemand meine Sachen gewaschen und auf das schmale Bett unter dem Fenster gelegt hatte. Ich zog die Vorhänge zurück, um hinauszusehen, aber da gab es nichts zu sehen: Das Fenster war mit Brettern vernagelt. Ein sicheres Haus. Als könnte ich mit einem Blick aus dem Fenster erkennen, wo in Frankreich wir waren. Das wäre nur möglich gewesen, wenn ich den Eiffelturm im Garten entdeckt hätte. Ich zog mich an und setzte mich aufs Bett. Was sonst sollte ich tun? Wieder nach unten wollte ich nicht. Bei Mike und seiner Agententruppe, oder was immer das für Leute waren, fühlte ich mich unwohl. Es klopfte leise an der Tür, und Bennacio kam herein. Er schloss die Tür und setzte sich neben mich. »Trauen Sie denen?«, fragte ich. »Würdest du es an meiner Stelle?« Ich überlegte. »Wir haben keine Wahl?« »Wir müssen die Werkzeuge benutzen, die uns gegeben sind, selbst wenn sie zweischneidig sind.« 249
»Woher wissen die überhaupt von dem Schwert?« »Als es verloren ging, erkannte Samson sofort, dass wir ihre Hilfe benötigen würden. Ich war dagegen, aber jetzt verstehe ich, dass es notwendig war, auch wenn es den größten Verlust seit Bestehen unseres Ordens verursacht hat.« »Ich dachte, ich wäre der Grund dafür.« Er zog die Brauen zusammen. »Ich spreche nicht vom Schwert.« »Sie werden es Ihnen nicht geben, oder?« »Ich glaube nicht.« »Wie werden Sie es dann bekommen?« »Ich werde das tun, was ich immer getan habe: Alles, was getan werden muss, um es zu beschützen.« »Sie können die nicht alle umbringen, Bennacio.« Er seufzte. »Vor langer Zeit, Alfred, habe ich einen heiligen Eid geleistet, der mich genauso bindet, wie mich die Schwerkraft auf der Erde hält. Ich weiß keinen anderen Weg.« »Also, ich verstehe nicht ganz, was Sie damit sagen wollen, Bennacio. Vielleicht, weil ich nie so einen Eid geleistet habe. Genauer gesagt, habe ich überhaupt noch keinen Eid geleistet.« Er sah mich eindringlich mit seinen tief liegenden Augen an. »Warum nicht?« »Wahrscheinlich, weil ich nie die Gelegenheit dazu hatte.« 250
»Jedem bietet sich irgendwann die Gelegenheit. Aber entweder ziehen wir es vor, sie nicht zu erkennen, oder sie bleibt uns aus anderen Gründen verborgen. Als ich dir im Flugzeug erklärt habe, dass ich glaube, alles hat einen Zweck, musstest du an den Tod deines Onkels denken und hast dich gefragt, was etwas offenbar so Sinnloses für einen Zweck haben kann. Früher, Alfred, haben die Menschen nach Gründen gesucht, die sie an etwas glauben ließen. Heute suchen wir nach Gründen dagegen.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Bennacio.« »Die Menschheit ist überheblich geworden und nimmt in ihrer Überheblichkeit an, nichts ginge über ihre Vernunft. Wenn wir den Sinn von etwas nicht sehen, folgern wir, dass es keinen Sinn hat. Das ist der große Trugschluss unserer Zeit.« »Bennacio«, sagte ich. »Sie können die nicht einfach umbringen. Für jeden, den Sie töten, kommen zwölf Neue. Früher oder später kriegen die Sie, und egal, wie mächtig das Schwert auch sein mag, am Ende nehmen sie es Ihnen wieder ab. Und dann töten sie Sie.« »Vielleicht«, antwortete er. »Aber Gnade kostet genauso viel. Wenn ich dich in den Samson Towers getötet hätte, würden deine und meine Freunde noch leben, und das Schwert wäre in Sicherheit.« »Ja, aber ich wäre tot.« Er lachte, tätschelte mir das Knie und stand auf. 251
»Ich glaube, ich werde dich vermissen, Kropp, wenn das alles hier vorbei ist.« Er ließ mich allein, und ich blieb noch eine Weile sitzen und dachte nach. Hauptsächlich darüber, dass der letzte Ritter bald tot sein würde. Entweder brachte Mogart ihn um oder einer der BIPAP-Leute. Ich war überzeugt, dass es Mikes Plan war, Bennacio dazu zu benutzen, das Schwert zu bekommen, und ihn dann zu töten (und wahrscheinlich auch mich). Das hatte Natalia gemeint, als sie sagte, ich hätte ihn zum Tode verurteilt. Beim Gedanken an Natalia fühlte ich mich besonders schlecht; keine Ahnung, warum. Es ist nicht leicht, gehasst zu werden, aber besonders schwer, wenn dich ausgerechnet das schönste Mädchen, das du je gesehen hast, verachtet.
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KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
S
päter lag ich auf dem Bett, als ich draußen das dumpfe Wummern eines Hubschraubers hörte, das immer lauter wurde. Unten im Haus schlugen Türen und hallten Schritte, während die Agenten panisch hin und her liefen, sich anschrieen und nach ihren Waffen suchten. Ich hörte Mike brüllen: »Durchbrochen! Sie haben unsere Linien durchbrochen!« Ich sprang vom Bett und rannte auf den Flur hinaus, wo ich mit Bennacio zusammenstieß. Er trug die braune Kutte und hielt sein Schwert in der Hand. »Mogart?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Schlimmer, fürchte ich.« Ich versuchte mir etwas Schlimmeres als Mogart vorzustellen und folgte Bennacio nach unten in den großen Raum. Jeff und Paul streckten die Arme aus und machten uns Zeichen, wir sollten zurückbleiben. Mike und Abby liefen zur Eingangstür und rissen sie auf. Über ihre Schultern hinweg konnte ich einen schwarzen Kampfhubschrauber auf dem abschüssigen Gelände vor dem Haus landen sehen. Ein breit253
schultriger Mann in einem schwarzen Pullover sprang heraus, streckte die Hand in den Hubschrauber und half einer kleineren Person nach draußen. Mikes Schultern entspannten sich, und er steckte seine Pistole zurück unter die Windjacke, als die beiden Ankömmlinge den Kiespfad zur Tür heraufkamen. Abby sah Bennacio an. »Haben Sie eine Erklärung hierfür?«, fragte sie. Mike trat einen Schritt zurück. Cabiri kam herein, und direkt hinter ihm Natalia. Sie schenkte weder Mike noch Abby die geringste Beachtung und lief direkt auf Bennacio zu. Als sie an mir vorbeikam, konnte ich ihr Haar riechen – Pfirsichduft. »Hallo!«, sagte Cabiri allgemein in die Runde. »Hallo! Wie geht’s uns denn? Wie geht’s meinen geliebten Geheimagenten?« Mike schlug die Tür zu, schob den Riegel vor und wirbelte zu Bennacio hinüber. »Haben Sie eine Erklärung hierfür?«, rief er. »Das habe ich ihn auch schon gefragt, Michael«, sagte Abby frostig. »Bitte, machen Sie Lord Bennacio nicht dafür verantwortlich«, sagte Cabiri. »Das alles habe ganz allein ich organisiert.« Er lächelte entschuldigend. »Scusi.« »Sparen Sie sich Ihre ›Scusis‹, Kumpel«, fuhr Mike ihn an, während der Lärm des Hubschraubers 254
immer leiser wurde. »Wie haben Sie uns gefunden?« »Oh«, sagte Cabiri. »Wie findet der Fuchs das Huhn? Wie der Vogel den Wurm?« Er lächelte Bennacio an. »Sie haben sie gerufen«, sagte Mike und wandte sich an Bennacio. »Wie hätte ich das tun sollen?«, fragte Bennacio. »Ich habe kein Telefon.« »Ich bin ein Freund des Schwertes«, sagte Cabiri zu Mike, und seine Stimme verlor dabei den scherzenden Unterton. »Und Freunde des Schwertes haben Freunde, die Freunde haben. Glauben Sie, Ihre Anwesenheit hier in Saint Etienne ist niemandem aufgefallen?« Mike schien nicht zuzuhören. Er rannte an Cabiri vorbei, nahm die Treppe mit zwei, drei großen Sätzen und wählte gleichzeitig eine Nummer auf seinem Handy. Sekunden später schlug oben eine Tür, und ich konnte Mike jemanden durchs Telefon anschreien hören, auch wenn seine Worte nicht zu verstehen waren. Abby seufzte. »Vergeben Sie mir, Mylord«, sagte Cabiri zu Bennacio. »Es war nicht meine Entscheidung herzukommen.« Er sah Natalia an. Natalia sah Bennacio an. »Ich komme mit dir«, sagte sie mit trotzig erhobenem Kinn. »Du weißt, das geht nicht«, sagte Bennacio, aber 255
seine Stimme klang dabei nicht unfreundlich. »Und ich auch«, sagte Cabiri. »Nein.« »Wer sonst soll dir beistehen, wenn die Prüfung kommt?«, fragte Natalia. »Sie?« Damit ließ sie den Kopf zu Abby hinüberzucken. »Ich heiße Abigail«, sagte Abby. »Und wer sind Sie?« »Oder er?« Damit war ich an der Reihe. »Unterschätze meinen Freund Alfred Kropp nicht«, sagte Bennacio. »In ihm steckt mehr, als man sieht.« »Das muss dann ja eine ganz schöne Menge sein!«, sagte Cabiri herzlich und schlug mir mit der Hand auf den Rücken. Mike kam die Treppe heruntergerannt und streckte den Finger in Richtung von Cabiris Nase. »Sie mischen sich in eine Sache, die für die internationale Sicherheit von Belang ist, Mister!« »Vielleicht sollten Sie mich erschießen.« »Genug!«, sagte Bennacio, und alle verstummten und sahen ihn an. »Sie hätten nicht kommen dürfen, aber nun sind sie da, und wir sollten das Beste daraus machen. Wenn Mogart sich meldet, wird Cabiri mit meiner Tochter hier bleiben. Ich hole die beiden, sobald wir das Schwert haben.« Damit war die Diskussion beendet. Keiner der BIPAP-Leute schien damit glücklich zu sein, aber ih256
nen fiel auch kein wirklicher Grund ein, warum sie Cabiri und Natalia sofort wieder wegschicken sollten. Es gab ein paar Diskussionen darüber, wer wo schlafen sollte, da alle Zimmer belegt waren, aber dann bot Jeff an, das Sofa unten zu nehmen, und damit war Natalia versorgt. Cabiri entschied sich, mit bei mir zu schlafen. »Denn wir beide sind hier die einzigen Freunde«, erklärte er mir. »Es wird uns ein Vergnügen sein, Alfred Kropp! Obwohl ich dich vor meinem Schnarchen und meinen Blähungen warnen muss.« Mit Cabiri in einem Zimmer zu schlafen war alles andere als ein Vergnügen. Er hatte die Wahrheit gesagt, was sein Schnarchen und Furzen betraf. Natalia und ihr Vater verschanzten sich stundenlang in Bennacios Zimmer, und immer wieder konnte ich ihre Stimmen hören, wenn sie stritten. Manchmal weinte Natalia auch. Wenn sie nicht oben war, saß sie unten im Schaukelstuhl beim Kamin und starrte in die Flammen. Die Knie hatte sie dabei meist bis an die Brust hochgezogen, und der Schein des Feuers spiegelte sich in ihren dunklen Augen. Manchmal begegnete sie mir auf dem Flur oder zur Essenszeit in der Küche, und jedes Mal konnte ich ihr Pfirsichhaar riechen und fühlte mich wieder wie als kleines Kind, als ich die Kurbel der Eismaschine drehte, und Mom saß neben mir und ließ frisch geschnittene Pfirsichstücke hineinfallen. 257
Natalia sprach kaum ein Wort mit mir, aber manchmal erwischte ich sie dabei, dass sie mich anstarrte, worauf sie schnell den Blick abwandte. Eines Nachts trieb mich Cabiris Furzerei aus dem Zimmer (seine Fürze schienen sich unter der Decke zu sammeln und gingen zur Attacke über, wann immer ich mich drehte). Ich tappte nach unten und dachte daran, Jeff zu wecken, um mit ihm eine Partie Poker zu spielen. Aber Jeff lag nicht auf dem Sofa. Natalia hatte sich unter der Decke zusammengerollt und starrte hellwach in die verglühende Asche des Kamins. Einen Moment lang stand ich an der Treppe und überlegte, ob ich in die Küche gehen sollte, um etwas zu essen, aber das schien mir wie eine Entschuldigung dafür, sie gestört zu haben, was absolut nicht cool war. »Hi«, brachte ich endlich heraus. Sie antwortete nicht. »Ich, äh, ich konnte nicht schlafen. Cabiri hört einfach nicht auf zu furzen.« Sie sagte immer noch nichts. »Hör zu«, sagte ich und machte einen Schritt in den Raum hinein. »Was in Halifax passiert ist, das … ist schon okay.« Sie ließ ihre dunklen Augen in meine Richtung gleiten. Ich fühlte mich wie ein Käfer auf einer Nadel. 258
»Was ist okay?«, fragte sie. »Du weißt schon, dass du mich mit dem Knie…« »Ich hätte dich erstechen sollen.« »Klar, ich verstehe schon.« Ich ließ mich in den Schaukelstuhl ihr gegenüber sinken. Sie starrte wieder ins Feuer. »Wer bist du?«, fragte sie dann leise und drehte mir das Gesicht zu, wobei sie sich das lange dunkle Haar über die rechte Schulter warf. »Wer bist du, dass du so etwas getan hast?« »Nur ein Junge, der seinem Onkel helfen wollte.« »Du bist ein Dieb.« »Hmm. Wie sich später herausgestellt hat.« »Wenn du in der Nacht nicht das Schwert gehabt hättest, hätte mein Vater dich umgebracht«, sagte sie. »Denkst du?« »Er hätte dich umbringen sollen. Ich hätte es getan.« »Findest du nicht, das Leben ist komisch, so wie es ist?«, fragte ich. Sie sah mich an, als spräche ich eine Sprache, die sie nicht verstünde. »Ich meine, hier ist nicht viel zu tun. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange ich hier bin, obwohl’s mir irre lang vorkommt, und alles, was man tun kann, ist Essen, Schlafen und Grübeln. Und worüber ich so nachgegrübelt habe, ist, was alles passieren musste, damit es so weit kommen konnte. Mein Gott, wenn nur mein Dad meiner Mom nicht davongelaufen wäre. Wenn 259
meine Mom nicht an Krebs gestorben wäre. Wenn sich Onkel Farrell nicht bereit erklärt hätte, mich zu sich zu nehmen. Wenn Mr. Samson meinen Onkel nicht als Nachtwächter in Samson Towers angestellt hätte. Wenn Onkel Farrell zu Mogart Nein gesagt hätte, wie er es hätte tun sollen. Wenn ich zu Onkel Farrell Nein gesagt hätte, wie ich es hätte tun sollen. Ich könnte noch eine Menge andere Wenns aufzählen, aber ich glaube, du weißt, was ich meine. Dein Vater spricht viel von Schicksal und Verhängnis, woran ich nie wirklich geglaubt habe, aber mittlerweile denke ich, dass uns vielleicht echt einer führt oder für was Größeres benutzt… Was denkst du?« »Was ich denke?«, fragte sie. »Ich denke, du bist ein Idiot.« »Da bist du nicht die Erste«, sagte ich. »Deine Gefühle für meinen Vater kotzen mich an.« »Also«, sagte ich, »vielleicht solltest du nicht ganz so hart mit mir sein, Natalia. Ich weiß, wie sich so was anfühlt.« »Wie sich was anfühlt?« »Einen Elternteil zu verlieren.« Sie sah mich lange an. So lange, dass ich anfing, mich unwohl zu fühlen, noch unwohler als gewöhnlich. »Wenigstens hat er die Chance, nicht zu sterben«, fuhr ich fort. »Meine Mom hatte absolut keine.« 260
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
N
ach dieser Nacht änderten sich die Dinge zwischen mir und Natalia. Ich will nicht sagen, dass es viel besser wurde, aber es war so, als hätten wir eine Art gegenseitiges Einverständnis erreicht. Immer noch erwischte ich sie dabei, dass sie mich anstarrte, und ich glaube, Mike fiel es auch ein- oder zweimal auf. Einmal beim Abendessen sah ich von meinem Teller auf, und sie sah mich an, und ich sah hinüber zu Mike, und er sah sie an, wie sie mich ansah, und grinste. Eines Morgens, nachdem ich geduscht hatte, kam ich an Bennacios Tür vorbei und hörte Natalias Stimme, die auf das dumpfe Brummen von Bennacio antwortete. Es klang so, als würden sie heftig streiten, und ich nahm an, dass es darum ging, ob Natalia ihn zum Treffen mit Mogart begleiten sollte. Ich ging in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Nach einer Weile hörte ich Bennacios Tür knallen und die leichten Schritte Natalias den Flur entlanggehen. Ich ging zu Bennacio und klopfte leise. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke. Die Tür war unver261
schlossen. Ich trat ein. Das Licht war aus, aber zwei Kerzen brannten auf dem kleinen Tisch, der gegen die rückwärtige Wand gerückt war. Zwischen den beiden Kerzen stand ein kleines Bild in einem vergoldeten Rahmen, auf dem ein Mann in einer weißen Kutte zu sehen war, die vor dem schwarzen Hintergrund zu schweben schien. Die Arme steckten in weiten, flügelgleichen Ärmeln, und in seiner Rechten hielt der Mann ein Schwert. Bennacio kniete vor dem Bild. Er hob nicht den Kopf und rührte sich nicht, als ich rein kam. Es war mir peinlich, fast so, als hätte ich ihn nackt erwischt. Er wirkte unheimlich klein, wie er da vor dem Bild kniete, unheimlich klein und einsam. »Ja, Kropp?«, fragte er, ohne sich umzudrehen oder aufzustehen. »Sie sollten sie mitnehmen«, sagte ich. Er rührte sich nicht. »Nehmen Sie Ihre Tochter mit, Bennacio«, sagte ich. »Du weißt nicht, was du da verlangst«, sagte er schließlich. »Vielleicht nicht«, sagte ich. »Ich verstehe so vieles nicht, und das meiste werde ich wahrscheinlich auch nie kapieren, aber bei dieser einen Sache bin ich mir ziemlich sicher, Bennacio.« Seine Schultern sackten nach unten, der Kopf fiel 262
nach vorn, und als er dann aufstand, kam er mir wirklich wie ein alter Mann vor, wie ein Großvater. Er drehte sich um und sah mich scharf an. Mir fiel auf, wie ähnlich sie ihm sah. »Wessen bist du dir ziemlich sicher, Kropp?« »Hören Sie, Bennacio. Als meine Mutter krank wurde, hat sie ständig auf mich eingeredet, nicht zu viel zu ihr ins Krankenhaus zu kommen. Sie machte sich Sorgen, dass ich in der Schule zu viel verpassen würde, nicht genug Schlaf oder zu essen bekäme, aber sie lag im Sterben. Es gab keine Hoffnung mehr für sie. Ich kümmerte mich nicht um das, was sie sagte. Jeden Tag habe ich sie besucht, mehr als einen Monat lang, und jedes Mal habe ich stundenlang an ihrem Bett gesessen, selbst wenn sie gar nicht wusste, dass ich bei ihr war.« Plötzlich kamen all die Erinnerungen hoch, wie sie zusammengeschrumpft in ihrem Krankenhausbett gelegen hatte, kaum mehr so groß wie ein Pygmäe, von der Chemotherapie waren ihr die Haare ausgefallen, und um die Augen hatte sie große schwarze Ringe. Ihre Zähne schienen riesig hinter den dünn gewordenen Lippen und hohlen Wangen. Und wie sie wimmerte: »Bitte, bitte, Alfred, mach, dass es weggeht. Mach, dass die Schmerzen weggehen.« »Vielleicht hat es nichts genutzt, dass ich da war. Vielleicht konnte ich nichts tun, aber wo sonst hätte ich sein sollen? Sie sagen, Sie haben keine Wahl, 263
und glauben, bei ihr ist es anders. Aber womöglich hat sie genauso wenig eine Wahl wie Sie. Wenn Sie mich fragen, ist es irgendwie heuchlerisch zu sagen, Sie hätten keine Wahl, Natalia aber schon.« Ich weiß nicht, ob auch nur etwas von dem, was ich sagte, verständlich war, aber er hörte mir zu. Glaub ich zumindest. Er sagte nichts, starrte mich nur an. »Okay«, sagte ich. »Das war’s, was ich loswerden wollte.« Ich ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu, da stand Natalia vor mir. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht, schob mich schnell an ihr vorbei und murmelte dabei: »Es gibt keine Zufälle.« Warum ich das sagte, weiß ich nicht.
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KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
I
ch ging in mein Zimmer, und nach einer ganzen Weile, vielleicht ein paar Stunden später, klopfte es. Bennacio kam herein und trug immer noch die braune Kutte. Er hatte eine lange Schachtel dabei, setzte sich neben mich und legte die Schachtel hinter uns aufs Bett. »Kropp«, sagte er. »Bennacio«, sagte ich. »Ich kann sie nicht mitnehmen.« »Das sollten Sie aber«, sagte ich. »Eines Tages wirst du vielleicht auch ein Kind haben, dann wirst du mich verstehen.« »Wie Sie meinen«, sagte ich. »Denk nicht zu bitter über mich.« »Okay«, sagte ich, als wäre es tatsächlich wichtig, was ich über Lord Bennacio, den letzten Ritter vom Orden des Heiligen Schwertes, dachte. Bennacio strahlte tiefe Traurigkeit aus, wie er da so neben mir saß, als läge ein unsichtbarer Sorgenmantel um seine Schultern. »Das Bild in Ihrem Zimmer«, sagte ich. »Ist das 265
der heilige Michael?« »Der Erzengel Michael, ja.« »Ich habe darüber nachgedacht. Mr. Samson sprach vom Meister des Schwertes, genau wie die Frau in meinem Traum. Der heilige Michael ist der Meister des Schwertes, auf den Sie warten, stimmt’s?« Langsam schüttelte er den Kopf und lächelte. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Hatte ich nun Recht oder nicht? »Als ich dreizehn war«, erzählte Bennacio, »nahm mich mein Vater beiseite und erklärte mir, dass wir zum Haus Bedivère gehörten. Ich kannte die Geschichte des Schwertes natürlich, hatte sie aber wie du immer für eine Legende gehalten. Mein Vater nahm mich mit zum Obersten des Ordens, dem Vater von Mr. Samson, der gerade nach Amerika gezogen war. Ich sah das Schwert und glaubte daran. Auf seinem Totenbett schließlich hat mir mein Vater von Bedivères Versagen berichtet.« Bennacio seufzte. »Bedivère sollte das Schwert tatsächlich im See versenken, das war der direkte Befehl von Artus, stattdessen jedoch entschied er sich, es zu behalten, und unser Orden wurde gegründet. Von allen Rittern war er derjenige, der den König am meisten geliebt hatte, und aus dieser Liebe entstand der Glaube, dass eines Tages ein neuer Meister kommen und das Schwert holen würde.« 266
Wieder seufzte er, und es war ein langer trauriger Seufzer. »Es ist eine ganz besondere Last, dem Haus Bedivère zu entstammen, Alfred. In unserem Orden hat es immer Ritter gegeben, die das, was die Bedivères aus großer Liebe zum König getan haben, als Bruch des königlichen Vertrauens verstanden. Viele glaubten, das Schwert sollte dem Wasser zurückgegeben werden, aus dem es einst aufgestiegen war, damit es auf keinen Fall in die Hände des Bösen geraten könnte. Sollte ich je das Schwert zurückgewinnen, das gelobe ich bei meiner Ehre als letzter Ritter und letzter Nachfahre des Hauses Bedivère, will ich für die Sünde meines Urahnen büßen, obwohl er aus Liebe gesündigt hat.« Er griff nach der Schachtel, nahm sie auf den Schoß und öffnete den Deckel. Auf dem purpurfarbenen Samt, mit dem sie ausgeschlagen war, lag ein dünnes Schwert mit schwarzer Klinge. Es sah aus wie die Schwerter, die er und die anderen Ritter in der Nacht benutzt hatten, als ich mit Excalibur gegen sie kämpfte. Er hob es hoch. »Das ist das Schwert meines Vaters. BIPAP hat es gefunden, als sie Mogarts Unterschlupf stürmten. An dem Tag, als mein Vater starb, schwor ich mit der Hand auf diesem Schwert den uralten Eid unseres Ordens.« Er drehte sich zu mir. »Es mag mein Schicksal sein, durch Mogarts Hand zu fallen, wenn die Stunde 267
kommt. Wenn es so ist, wirst du dann denselben Eid leisten und dieses Schwert übernehmen?« »Oh, Bennacio«, sagte ich. Ich war geschockt. »Das ist eine große Ehre, und ich bin echt stolz, dass Sie mich das fragen, aber ich glaube, ich bin da nicht der Richtige. Vielleicht sollten Sie besser Mike oder Paul oder einen von denen fragen… Selbst diese Abby wäre sicher eine besser geeignete Wahl. Ich denke, sie ist die Härteste von allen. Sogar Mike hat offenbar Angst vor ihr.« »Diese Leute, Kropp? Sie sind überheblich und viel zu sehr von sich überzeugt. Narren sind das.« »Na ja, viele Leute würden sagen, dass ich nicht gerade der reifste Apfel am Baum der Erkenntnis bin, Bennacio. Man sollte seine Grenzen kennen, und was Sie mir da vorschlagen, geht weit über meine Fähigkeiten. Ich bin und bleibe ein Verlierer.« Er sah mich ernst an. »Was sagst du da?«, fragte er mich. »Zunächst mal habe ich das Schwert verloren. Und dann gibt’s auch sonst nichts, worin ich besonders gut wäre. Die meisten Leute haben irgendwelche Talente, oder? Manche sind sportlich, andere lernen leicht und haben gute Noten in Mathe, den Naturwissenschaften und so weiter. Aber ich bin in nichts gut. Ich hab’s mit Football probiert – Fehlanzeige. Meine Noten sind gerade mal Durchschnitt. Ich bin nun mal, na ja … Durchschnitt.« 268
»Durchschnitt«, sagte er. »Ja. Ein absoluter… äh, Durchschnitts-Kropp. Wobei ich in letzter Zeit besonders viel vermasselt habe. Dass ich Ihr Schwert nehmen und so ’ne Art Held werden soll – das kommt mir irgendwie lächerlich vor.« Bennacio legte mir eine Hand auf die Schulter. »Aber wir fallen nur, um wieder aufzustehen, Alfred. Wir alle straucheln, wir alle vermasseln Dinge, wie du es nennst. Das Straucheln ist nicht wichtig. Ob wir danach wieder aufstehen, darauf kommt es an.« Er tätschelte mir die Schulter. »Und was das Heldentum angeht – wer kann schon sagen, was in einem steckt, solange er nicht auf die Probe gestellt wird? In jedem Herzen schlummert ein Held, Alfred, der darauf wartet, dass der Drache erscheint.«
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KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
B
ennacio nahm meine Hand und legte sie auf die flache Seite der Klinge. »Ich werde Sie nur enttäuschen«, sagte ich. Ich war nahe daran zu heulen. Vielleicht sollte ich heulen, dachte ich. Das wird seine Meinung über den Helden, der in meinem Herzen lebt, ändern. »Vielleicht. Unser Wille kann sich oft nicht durchsetzen. Mein Verstand sagt mir, dass du ein schwacher junger Mann bist, ängstlich und unsicher, aber mein Herz sagt etwas völlig anderes. Bei allen Fehlern, die du haben magst, Alfred – du bist ohne Arglist, täuschst nichts vor. Das Schwert wird niemals durch Schwindel und Hinterlist gewonnen werden, und auch das Böse lässt sich nicht so bekämpfen, wie die unten im Haus es glauben. Willst du den Eid nicht jetzt schon sprechen, da es noch Hoffnung gibt?« Ich sah weg. Sein Gesicht war so voller Verzweiflung, dass ich ihn nicht angucken konnte. Schlimmer konnte es ja wohl nicht kommen, wenn ein Ritter wie Bennacio schon Alfred Kropp um Hilfe bitten musste. 270
»Alfred«, sagte er leise. »Da gibt es noch etwas. Etwas, von dem du nichts weißt, das dir aber bei deiner Entscheidung helfen könnte.« Ich drehte mich zurück zu ihm. »Was?« »Du hast mich gefragt, ob ich Windimars Lehrer gewesen bin. Ja, das war ich tatsächlich, was nicht ungewöhnlich ist, wie ich dir schon erklärt habe. Auch Samson hat persönlich einen Ritter ausgebildet, als der nach ihrem ersten Treffen in Frankreich dem Orden beigetreten war. Rate einmal, wer dieser Ritter war.« Er wartete geduldig, dass mein Kropp-Hirn endlich begriff, was er sagte. »Mogart?« »Genau, Mogart war Samsons Knappe. Aber nicht nur das. Samson ernannte ihn zu seinem Erben.« Mein Kropp-Hirn kapierte das nicht gleich. »Warum hat sich Mogart dann gegen ihn gewandt?« Seine dunklen Augen glitzerten unter den zottigen Brauen, genau wie damals oben in Samson Towers. »Hast du dich wirklich nie gefragt, Alfred, warum dein Name der Code war, mit dem sich die geheime Kammer unter Samsons Schreibtisch öffnen ließ? Hast du dich nie gefragt, warum Samson mich in der Stunde höchster Verzweiflung zurück nach Amerika beordert hat, um dich zu suchen? Warum er Farrell Kropp, einen kleinen Mechaniker, zum Nachtwächter von Samson Towers gemacht hat? Vor zwei Jah271
ren erfuhr Bernard Samson, dass er einen anderen Erben hatte, einen echten Erben, und er wollte dafür sorgen, dass sein Sohn versorgt war, bis er alt genug sein würde, um seine Erbschaft als Ritter des Ordens anzutreten.« »Onkel Farrell war Samsons Sohn? Wäre ich dann nicht…« Ich überlegte. »Wäre ich dann nicht sein Großneffe oder so was?« »Alfred, Bernard Samson war dein Vater.« Ich starrte ihn lange an. »Ich verstehe nicht, Bennacio.« »Vor sechzehn Jahren verliebte sich der Mann, den du als Bernard Samson kennst, auf einer Geschäftsreise in eine junge Frau. In Salina, Ohio, Alfred, und diese Frau hieß Annabelle Kropp.« Ich schüttelte langsam den Kopf, der zwar groß war, aber doch nicht groß genug, um zu verarbeiten, was Bennacio mir da erzählte. »Samson wollte Mogart nicht aus dem Orden vertreiben. In vieler Hinsicht war Mogart der Beste von uns: unerschrocken, geschickt, intelligent. Im Umgang mit Schwert und Lanze konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Aber Mogart wollte mehr als nur ein einfacher Ritter sein. Er wollte Samsons Platz einnehmen, aber jetzt war da plötzlich ein richtiger Erbe, der ihm diesen streitig machte.« »Ja klar! Super, Bennacio! Jetzt soll das auch noch mein Fehler gewesen sein oder was?« 272
»Keiner ist schuld daran, Alfred. Es ist einfach eine Tatsache. Du bist der letzte Nachfahre Lancelots, des größten Ritters, der je gelebt hat.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Von allem, was mir seit dem Tod meiner Mutter passiert war, war das jetzt wahrscheinlich das Verrückteste und Schlimmste zugleich. »Sie haben sich das alles ausgedacht, damit ich dieses dumme Gelübde ablege, diesen Eid. Aber ich bin nicht sein… Er ist nicht mein Vater…« Ich konnte nicht weiterreden, und Bennacio drängte mich nicht. Er saß still neben mir, während mir die Tränen herunterliefen. »Warum hat er meine Mom verlassen?«, gelang es mir schließlich zu fragen. »Weil er sie nicht in Gefahr bringen wollte.« »Das hat ja wohl nicht ganz geklappt, oder?« »Nicht alles, was gut gemeint ist, funktioniert auch so.« »Ich kann es immer noch nicht glauben.« »Wie bei den Engeln, Alfred, ändert das kaum etwas.« Ich senkte den Blick und sah das Schwert auf meinem Schoß liegen. »Warum haben Sie mir das nicht früher erzählt, Bennacio? Warum haben Sie bis heute damit gewartet?« »Ich hatte gehofft, ich müsste es nicht.« 273
Bennacio beugte sich jetzt näher zu mir und flüsterte: »Sprich mir die folgenden Worte nach, Alfred Kropp. Sprich, Sohn meines Captains, Erbe Lancelots: ›Ich, Alfred Kropp, schwöre im Namen des Erzengels Michael, meinem Hüter und Beschützer, dass ich mein Leben dafür geben werde, das Schwert der Rechtschaffenheit zu verteidigen, dass ich es im Leben wie im Tod vor den Dienern der Finsternis verteidigen werde.‹« Ich wiederholte die Worte und wartete darauf, dass mich ein Gefühl heldenhafter Tapferkeit durchströmen würde. Aber ich spürte nichts, nur eine ziehende Übelkeit im Bauch. Bennacio lächelte, schlug mir wieder auf die Schulter und legte das Schwert zurück in die Schachtel. In diesem Moment hörten wir unten Mikes Handy klingeln. Ich wusste, dass es Mikes war, weil die Melodie von »Annie Get Your Gun« erklang. »Ah«, sagte Bennacio. »Endlich kommt der Anruf. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.« »Bin ich jetzt ein Ritter?« »Es gibt nur noch einen Ritter, und der Tag seiner Prüfung steht kurz bevor.«
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KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
M
ike klopfte laut an die Tür und steckte seinen Kopf herein. Er kaute auf seinem Kaugummi und grinste. »Gute Nachrichten, Cowboys. Die Sache läuft. Jetzt kann’s losgehen.« Er klatschte in die Hände und polterte in seinen schweren Bergstiefeln, die er immer trug, den Flur hinunter. Bennacio legte das Schwert zurück in die Schachtel und schloss den Deckel. »Sie wollen, dass ich das Schwert übernehme, aber ich weiß nicht einmal, wie man damit kämpft.« »Es bleibt keine Zeit, es dir zu zeigen, Kropp. Außerdem glaube ich, dass der Kampf dieses Tages nicht mit dem Schwert entschieden wird.« Damit ging er nach unten. Jeff hatte Sandwiches bereitgelegt. Er sagte, Mike habe Befehl gegeben, vor dem Aufbruch noch zu essen. »Wohin fahren wir?«, fragte ich Mike. »Das ist Verschlusssache.« Bennacio und ich nahmen unsere Sandwiches mit ins große Zimmer und aßen sie beim Feuer. Abby 275
stand abseits, sprach leise in ihr Handy und sah auf die Uhr. Cabiri war da, natürlich auch Natalia, aber die beiden aßen nichts. Cabiri war sehr schweigsam, nicht so aufgekratzt wie sonst, und Natalia schien jeden Moment in Tränen ausbrechen zu wollen. Alle sammelten sich bei der Tür. »Okay, das ist der Plan«, verkündete Mike. »Jeff, Paul, Bennacio und moi brechen zum Treffpunkt auf. Alle anderen bleiben hier, bis wir zurückkommen.« Er grinste in Abbys Richtung. »Ich begleite Bennacio«, sagte Cabiri. »Keine Chance, Kumpel«, sagte Mike gut gelaunt. Jetzt, wo das Spiel in Gang kam, fühlte er sich sichtlich wohler als vorher. »Sie haben keine Starterlaubnis.« »Ich bin nicht auf Ihre ›Starterlaubnis‹ angewiesen«, sagte Cabiri. »Ich habe Sie schon einmal aufgespürt…« »Wenn Sie versuchen, dieses château hier zu verlassen, fangen Sie sich eine Kugel ein«, sagte Mike lächelnd. »Ich habe den entsprechenden Befehl bereits gegeben.« Cabiri drehte sich weg und ließ wieder mal sein Spuckgeräusch hören. »Cabiri«, sagte Bennacio, und seine Stimme und seine Augen wirkten so entrückt, als wäre er bereits am Treffpunkt und sähe das Schwert der Könige vor sich. »Bleiben Sie.« 276
»Mann, das geht einem ja richtig zu Herzen«, sagte Mike. »Schmalztriefendes Abschiednehmen und so weiter, aber wir haben’s eilig, Leute.« Er öffnete die Tür und winkte Bennacio zu. Ich trat zusammen mit ihm vor. »Du bleibst hier, Al«, sagte Mike. »Kropp kommt mit«, sagte Bennacio, »er ist mein Stellvertreter.« »Ihr was!«, fragte Mike. »Er wird mein Schwert übernehmen, wenn ich falle.« »Nichts für ungut, Benny«, sagte Mike, »aber da würde ich doch eher Cabiri mitnehmen.« »Aber ich habe keine ›Starterlaubnis‹, sagte Cabiri sarkastisch. »Hören Sie, Ben«, sagte Mike in einem Ton, in dem man normalerweise mit kleinen Kindern spricht. »Der Junge kann nicht mitkommen.« »Michael!« Das war Abby. »Wir haben keine Zeit mehr. Lass ihn den Jungen mitnehmen.« Mikes Lippen bewegten sich, aber er sagte keinen Ton. Sein Gesicht lief rot an. »Die Zentrale wird davon in meinem Bericht erfahren«, sagte er. »Die Zentrale wird von vielen Dingen erfahren«, gab Abby wie aus der Pistole geschossen zurück. Sie nickte zu Jeff hinüber, der meinen Kopf wieder unter der schwarzen Kapuze verschwinden ließ. 277
Als wir durch die Tür traten, hörte ich Bennacio sagen: »Nein, ich werde ihn führen«, worauf ich spürte, wie eine Hand meinen Ellbogen losließ und eine andere ihren Platz einnahm. Bennacio half mir hinten in den Wagen und schloss die Tür. Eine Sekunde später ging sie wieder auf, und ich hörte Cabiri, der sagte: »Nein, nein, nein, Natalia…« Und ich roch Pfirsiche. »Auf Wiedersehen, Kropp«, sagte sie. »Beschütze meinen Vater.« Über meiner rechten Wange wurde die schwarze Kapuze angehoben, und ich fühlte, wie sich etwas Warmes, Feuchtes auf meine Haut drückte. Mike, der vorne saß, ließ ein Pfeifen und ein lautes »Hui!« hören. »Love is in the air!«, sang er. Meine Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Kies knirschte unter den Rädern, als wir von unserer Anhöhe herunterfuhren. Wenn man den Kopf unter einem Tuch hat, verliert man das Zeitgefühl, aber ich nahm an, dass wir mindestens eine Stunde gefahren waren, als wir endlich stehen blieben. Ich konnte hören, wie dicht neben uns ein Düsentriebwerk anlief. Die Kapuze wurde mir vom Kopf gezogen, und ich blinzelte ins grelle Licht. Als ich das Flugzeug direkt vor uns sah, sank mir der Mut. Mike wandte sich mir zu. 278
»Es ist noch nicht zu spät, Alfred. In zehn Minuten haben wir noch ein Flugzeug hier.« Ich sah zu Bennacio, der sich neben mich gestellt hatte. »Ist schon okay«, sagte ich. »Ich komme mit.« Wir gingen die Treppe hoch und nahmen unsere Plätze ein. Ich setzte mich an den Gang, weil ich nicht aus dem Fenster sehen wollte. Mike stülpte sich ein Paar große Kopfhörer über die Ohren. Er sagte etwas in ein Mikrofon, und die Maschine rollte Richtung Startbahn. »Also dann, los geht’s!«, sagte Mike. Sein Gesicht war gerötet. »Das erinnert mich daran, wie uns das US-Verteidigungsministerium zu Hilfe rief, als sie ein kleines Kontrollproblem im Bereich 51 hatten! Mann, war das ein Chaos! Aber ich habe nichts gesagt, das ist alles Verschlusssache!« Er schrie jetzt, während das Flugzeug beschleunigte und mich in meinen Sitz drückte. Ich hatte vergessen, mich anzuschnallen, und war noch mit meinem Sicherheitsgurt beschäftigt. »Oder die sechs Tage, als wir im Bermuda-Dreieck verloren gegangen waren! Total abgefahren, sag ich euch! Ich hab da Sachen gesehen, davon hättet ihr schlagartig graue Haare bekommen!« Er grinste Bennacio an. »Aber Ihre sind ja längst grau, also was soll’s!« Bennacio sagte nichts, aber er sah angewidert aus. Ich war ziemlich sicher, dass er ihn töten würde, be279
vor alles vorüber war. Ob Mike das wusste und es seinerseits auf Bennacio abgesehen hatte? Fast tat Mike mir Leid; er hatte keine Ahnung, mit wem er sich da seine komischen Scherze erlaubte. Jetzt erklärte er, dass wir vom Landeflughafen direkt zum Treffpunkt weiterfahren würden, wo der Austausch Geld gegen Schwert stattfinden sollte. Er wollte uns nicht genau sagen, wo der Treffpunkt war, sagte aber, dass wir mit ein paar Agenten der BIPAP, der »Firma«, wie er es nannte, zusammentreffen würden. BIPAP-Agenten sagten nie »BIPAP«. Vielleicht hieß es ja »Bullen im peinlichen Angeber-Protzmodus«. »Überlassen Sie uns das Reden«, sagte Mike. »Sie müssen sich nur im Hintergrund halten und abwarten, Benny. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie kommen sollen, um abzuchecken, ob wir den wahren Jakob erwischt haben.« »Und dann?«, fragte Bennacio ruhig. »Dann gehört er Ihnen. Viel Spaß bei der Rache.« »Und das Schwert?« »Eins nach dem anderen, Benny. Lassen Sie es uns erst mal haben, okay? Dann können Sie und meine Vorgesetzten darüber reden.« Bennacio nickte, aber mir war klar, dass er damit nicht glücklich war. Mein Magen verknotete sich, und ich griff nach der Spucktüte. Als wir gelandet waren, dachte ich, dass sie mir 280
die schwarze Kapuze wieder über den Kopf ziehen würden, aber Mike stand Kaugummi schmatzend an der Tür, grinste zu mir herüber und nickte nach draußen. Die Sonne war untergegangen, und dichter kalter Nebel war aufgezogen. Ich fragte mich, was wir für ein Datum hatten. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Mike führte uns zu zwei Bentleys, die neben der Rollbahn geparkt waren. Bennacio drehte sein Schwert so, dass er sich setzen konnte. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Eine Minute später begannen sich seine Lippen zu bewegen, als betete er. Wahrscheinlich war es tatsächlich ein Gebet. Nach einer Weile bogen wir von der großen Straße auf einen schmalen Weg, der sich durch den Wald wand. Die Scheinwerfer durchdrangen den Nebel kaum, und ich hatte Angst, dass wir vor einem Baum landen und unser Ziel gar nicht erst erreichen würden. Unser dünner Fahrer fuhr viel zu schnell für den Nebel, aber ich hatte gehört, dass Europäer sowieso immer zu schnell fahren. Nach weiteren fünfzehn Minuten hörten die Bäume auf, und wir fuhren durch eine offene Hügellandschaft. In der Ferne strahlten Flutlichter schwarze Umrisse an, die wie kräftige Daumen in den Himmel ragten. Ich hatte diesen Ort schon einmal gesehen, aber erst als unser Wagen langsamer wurde, verstand 281
ich, dass Mogart Stonehenge als Übergabeort ausgewählt hatte. Hier sollte sich das Schicksal der Welt entscheiden.
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KAPITEL VIERZIG
W
ir parkten etwa hundert Meter von den hell erleuchteten Steinen entfernt. Riesige Scheinwerfer waren außerhalb des Rings aufgestellt worden, und im Nebel konnte man die verschiedenen Lichtkegel, die das Zentrum erhellten, deutlich unterscheiden. Die Luft war so kalt, dass mein Atem dichte Wolken bildete. Männer in dunklen Anzügen erwarteten uns vor dem äußeren Ring, und einer von ihnen kam uns entgegen und sagte mit englischem Akzent zu Mike: »Noch kein Anzeichen von unserem Zielobjekt, Mike. Wir haben Stellung bezogen, und sobald er auf zehn Kilometer herankommt, haben wir ihn im Visier.« Mike nickte und klopfte dem Engländer auf den Rücken, aber Bennacio sagte ruhig: »Er ist längst hier.« »Ich fürchte, das ist ziemlich unmög…« Der Engländer brach mitten im Wort ab, weil in diesem Moment eine Gruppe Männer in Umhängen hinter einem der größeren Steine hervortrat, die das Zentrum umgaben. Sechs von ihnen waren in Schwarz, der große Mann in der Mitte trug eine weiße Kutte – die 283
Kapuze hing ihm hinten auf dem Rücken. Mogart. Wir traten ihm gegenüber in den Kreis. Die Leute von BIPAP, insgesamt sieben, standen vor mir und Bennacio. Das Spiel war ausgeglichen, nur dass Mogart das Schwert hatte, dem keine Armee der Welt widerstehen konnte. Mike machte einen Schritt auf Mogart zu und hob die Hand. »Sie sind äußerst pünktlich, Mr. Mogart! So was beeindruckt mich immer besonders!« »Und Sie kommen zu spät, Mr. Arnold«, antwortete Mogart. »Ich sehe, Sie haben unerwartete Gäste mitgebracht. Wie gut, dich wiederzusehen, mein Ritterbruder.« Er machte eine Verbeugung zu Bennacio hin und sah mich dann an. »Und Sie, Mr. Kropp! Wie außerordentlich erfreulich, auch Sie hier zu sehen! Bitte nehmen Sie meine Dankbarkeit dafür entgegen, dass Sie mir das Schwert überlassen haben!« »Fahr zur Hölle!«, murmelte ich, und Bennacio fasste mich beim Arm, als wollte er sagen: Schweig. »Also gut«, sagte Mike. »Nachdem wir die Freundlichkeiten hinter uns gebracht haben, könnten wir eigentlich zum Geschäftlichen kommen, was meinen Sie?« »Ihr Amerikaner«, lachte Mogart. »Ihr habt’s immer so eilig.« 284
Mike winkte Paul heran, der in seinen Mantel griff und einen langen weißen Umschlag hervorholte. Mike warf ihn zu Mogart hinüber. Der Umschlag landete vor ihm auf dem Boden, und einer von Mogarts Männern hob ihn auf und gab ihn ihm. »Darauf steht die Bank und die Kontonummer«, rief Mike. »Sobald wir das Objekt haben, geben wir Ihnen auch den Zugangscode.« Mogart warf einen Blick in den Umschlag, und ein durchtriebenes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er gab den Umschlag dem Mann rechts von ihm und nickte dem links von ihm zu. Der trat in den Kreis. In der Hand hielt er etwas Langes, Schmales, das in ein goldenes Tuch gehüllt war und im Licht der Schweinwerfer funkelte. Er legte es mitten im Kreis auf den Boden und ging zurück zu Mogart. »Okay, Benny«, sagte Mike leise. »Sie sind dran.« Bennacio ging langsam an Mike vorbei. Ich wollte schon mitgehen, aber er flüsterte mir zu: »Nein, Alfred. Nur wenn ich rufe.« Er trat allein in die Mitte des von den Steinen beschriebenen Kreises und kniete sich neben das Bündel auf den Boden. Das Tuch leuchtete und glitzerte, als er es aufschlug. Er machte eine Bewegung mit der rechten Hand, die ich von meinem Platz aus nicht genau erkennen konnte, aber es sah aus, als schlüge er ein Kreuz. Ich kann nicht mehr genau sagen, was als Näch285
stes passierte, weil alles auf einmal losbrach, obwohl ich es wie bei einem Autounfall in Zeitlupe unaufhaltsam auf mich zukommen sah. Plötzlich kamen von allen Seiten Männer in schwarzen Unhängen angestürmt und stürzten mit hoch über den Kopf erhobenen Schwertern auf Bennacio los. Paul schrie etwas neben mir, ich drehte mich zu ihm und sah das Wirbeln von schwarzem Stoff und eine lange Klinge aufblitzen, bevor sie tief in Pauls Rücken versank. Von der anderen Seite knallten Pistolenschüsse herüber. Ein Kopf flog mir an der Nase vorbei. Es war der von Jeff. Einer der englischen Agenten hatte eine schwarze Gestalt im Schwitzkasten und schleuderte sie herum, wurde aber von dem Vermummten zurückgedrängt und gegen einen der Steine gerammt, worauf der Agent losließ – und schon steckte ihm ein Schwert bis zum Heft im Leib. In diesem Moment zwang mich jemand zu Boden und zischte mir ins Ohr: »Runter!« Direkt neben meinem Ohr ging eine Pistole los, und mein Schädel dröhnte und schmerzte von der Explosion. Ein Körper fiel auf mich. Ich rollte mich unter ihm vor und sah das Einschussloch mitten in seiner Stirn. Ich blickte nach rechts und sah Mike flach auf dem Boden liegen. Er starrte mit der Pistole in der Hand in die Mitte des Kreises. Seine linke Hand lag unten auf meinem Rücken, wahrscheinlich, damit ich 286
liegen blieb. Ich ließ den Blick schweifen. Bis auf Mogart und Bennacio stand niemand mehr. Um Bennacio herum lagen vier oder fünf schwarz gewandete ADFs, fast alle ohne Kopf, bei einigen zuckten die Beine noch. Seitlich auf Bennacios Gesicht konnte ich ein kleines Rinnsal Blut erkennen, wo ihn einer der ADFs erwischt haben musste, als er neben dem Schwert kniete. Ich suchte das Schwert in Bennacios Hand, aber da war es nicht. Mogart hatte es. Beide sagten lange nichts und bewegten sich auch nicht. Sie sahen sich nur an, kaum zwei Meter voneinander entfernt, holten tief Luft und stießen kleine Dampfwolken aus. Endlich sagte Bennacio: »Gib mir das Schwert, Mogart.« Er klang sehr ruhig. »Übergib es mir, und ich werde Gnade walten lassen.« »O ja, wie sehr ich mich nach deiner Gnade sehne!«, spottete Mogart. »Sir Bennacio! Der edle Bennacio! Der gütigste und tapferste der Ritter! Der letzte Ritter!« Jetzt wich der spottende Ausdruck von seinem Gesicht, und ein Schatten senkte sich darüber. »Ich bin der letzte Ritter, Bennacio. Ich bin der Erbe Lancelots, des Meisters des Schwertes!« Ich beugte mich zu Mike und flüsterte ihm ins Ohr: »Erschießen Sie ihn.« Mike schüttelte den Kopf. Ich hätte ihm die Pistole 287
wegnehmen und selbst schießen können, aber ich hatte noch nie in meinem Leben eine Pistole benutzt. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich Angst vor Pistolen. Mike kaute langsam auf seinem Kaugummi und biss dabei so fest zu, dass seine Kiefergelenke knackten. Bennacio zog sein schwarzes Schwert aus dem braunen Umhang und hielt es locker wie einen Regenschirm neben sich. »Du hattest schon immer einen schlechten Geschmack, was deine Freunde anging«, sagte Mogart. »Feiglinge und Idioten. Aber was für eine bewundernswerte Wahl hast du bei deinem Knappen getroffen, Lord Bennacio! Einen fetten, unbeholfenen Einfaltspinsel, der kaum genug Grips hat, sich die Schuhe zu binden. Da hast du dich wirklich selbst übertroffen, Bennacio.« »Das Schwert gehört uns beiden nicht, Mogart.« Bennacio sprach genauso mit Mogart, wie er auch mit mir manchmal sprach, wie ein Vater, der seinem zurückgebliebenen Sohn geduldig etwas erklärt. »Und tief in deinem Herzen weißt du das, wenn du nicht völlig verkommen bist. Du kannst gegen deinen heiligen Eid verstoßen, aber an der Wahrheit kannst du nichts ändern. Du forderst etwas, das dir nicht gehört. Beende den Wahnsinn und rette dein Leben!« »Weise Worte von einem Mann, dessen einziges Ziel darin besteht, mich zu töten.« 288
»Ich will niemanden verletzen, Mogart. Ich fordere dich jetzt ein letztes Mal auf. Gib das Schwert preis und rette dein Leben. Antworte: ja oder nein.« Bennacio hob sein Schwert, hielt es mit beiden Händen, den Griff in Brusthöhe, die Klinge vor dem Gesicht, etwa fünf Zentimeter von seiner spitzen Nase entfernt. Mogart lächelte, hob Excalibur und hielt es mit beiden Händen wie Bennacio, einer das Spiegelbild des anderen, Bennacio in seinem braunen Umhang mit dem schwarzen Schwert, Mogart in Weiß und mit dem viel längeren, breiteren Schwert der Könige. »Hier ist meine Antwort«, sagte Mogart und stürzte sich auf Bennacio.
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KAPITEL EINUNDVIERZIG
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mmer wieder sah ich Bennacios Klinge im Licht der Scheinwerfer aufblitzen. Er wirbelte durch den Kreis, wand sich, wich aus, stieß vor, und sein brauner Umhang schlug um ihn herum. Bennacio war größer als Mogart, und er war schneller. Sie hielten ihre Schwerter mit beiden Händen, und jedesmal, wenn Excalibur Bennacios Schwert traf, stoben schwarze Funken von der Klinge, die vor dem Dunkelgrau der mächtigen Steine aufblitzten. Die Klingen schnitten pfeifend durch die kalte Luft, und ich weiß nicht, ob es noch das Summen des Schusses in meinen Ohren war, auf jeden Fall war da ein leises Geräusch wie das Singen eines Chores, und ich erinnerte mich, dass Bennacio mir von den Engeln erzählt hatte, die in Klagen ausgebrochen waren, als er und Mogart das letzte Mal aufeinander getroffen waren. Ich erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, als ich mit dem Schwert kämpfte – als wäre es Teil von mir gewesen, oder gar ich Teil von ihm. Ich erinnerte mich, wie Bennacio mir erklärt hatte, dass es nicht 290
besiegt oder zerstört werden könne, und endlich begriff ich, was er die ganze Zeit über gewusst hatte: Keiner konnte gegen das Schwert gewinnen. Bennacio war verloren. Diese Erkenntnis versetzte mir einen Stich. Es gab keine Hoffnung für Bennacio – und doch gab er nicht auf. Er konnte nicht gewinnen, aber er kämpfte weiter. Mogart wurde ungeduldig. Bennacio hätte längst tot sein müssen. Excaliburs Schläge kamen schneller, und Bennacios Abwehr wurde langsamer, bis Mogart sein Schwert schließlich hoch über den Kopf hob und in einem kraftvollen Bogen auf Bennacios Kopf niedersausen ließ. Bennacio hob sein Schwert, um den Schlag abzuwehren, und als es mit Excalibur zusammentraf, flog es ihm aus den Händen und schlitterte davon in die Dunkelheit. Die Gewalt des Schlages zwang Bennacio in die Knie. Und dann tat er etwas Merkwürdiges, etwas Schreckliches, das Merkwürdigste, Schrecklichste, das ich je einen Menschen habe tun sehen: Bennacio hob den Kopf und streckte die Arme weit zu beiden Seiten aus, sehr langsam, mit den Handflächen nach oben. Er opferte sich! Mogart zögerte, die Spitze des Schwertes verharrte vor Bennacios bebender Brust. »Nein«, flüsterte ich. Doch Mogart stieß das Schwert in die Brust des letzten Ritters, und Bennacio fiel ohne ein Wort zu 291
Boden, die Augen noch geöffnet.
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KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
J
emand schrie so laut, dass ich das hohe Singen, Klingen oder was immer das für ein Geräusch in meinem Kopf war, nicht mehr hörte, und ich brauchte eine Sekunde, bis ich merkte, dass ich es selbst war, der schrie. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich direkt in den Kreis auf Mogart zurannte und Mike hinter mir herrief: »Kropp! Kropp! Kropp!« Als ich noch etwa fünf, sechs Meter von ihm entfernt war, zog Mogart das Schwert aus Bennacios Brust, und der letzte Ritter rollte zur Seite. Seine Augen waren weit geöffnet und starrten mich an, während ich auf Mogart zustürmte. Noch drei Meter, und Mogart drehte sich zu mir. Noch zwei, und er hob die Spitze des Schwertes, die Klinge glänzte feucht von Bennacios Blut. Noch einen Meter, und er fing tatsächlich an zu lächeln. Ich ließ ihn nicht zu Ende lächeln, sondern rammte ihm meinen Unterarm ins Gesicht, und er stolperte rückwärts. Zusammen fielen wir ins Gras, und ich 293
landete auf ihm, und das nahm ihm für einen Moment den Atem. Er wollte das Schwert erheben, aber ich schlug ihm mit aller Kraft aufs Handgelenk. Seine Hand knallte auf den Boden, ich zog das Schwert heraus und stand auf. Ich wich zurück und schnappte nach Luft. Mogart setzte sich langsam auf, keuchend. Eine Stimme hinter mir sagte: »Alfred.« Ich drehte mich um, und das Schwert hob sich, ohne dass ich darüber nachdachte. Mike kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu, hielt immer noch die Pistole in der Hand und streckte mir die Linke entgegen. »Irre, Mann! Absolut irre!«, sagte Mike. »Willst du bei uns anfangen?« »Das ist das Footballtraining«, schnaufte ich. »Endlich macht es sich bezahlt.« »Mr. Kropp«, sagte Mogart. »Ich bitte Sie, noch einmal zu überlegen.« Ich machte noch ein paar Schritte zurück, damit ich beide im Blick hatte. Mogart lächelte jetzt. »Sie haben kein Anrecht darauf«, sagte Mogart. »Sie auch nicht«, sagte ich. Meine Stimme kam mir sehr leise und zittrig vor. »Gehören tut’s mir«, sagte Mike. »Ich meine, es gehört der Firma. Wir haben es fair und anständig gekauft. Alfred, ich gebe Monsieur Mogart jetzt den Zugangscode zu dem Schweizer Konto, damit er sein 294
Geld bekommt, und du und ich, wir machen, dass wir mit dem Schwert von hier wegkommen. Wie hört sich das an?« »Gar nicht gut, Mike«, sagte ich und rannte los.
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KAPITEL DREIUNDVIERZIG
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atürlich war es dunkel und neblig, und ich war in einem fremden Land, aber als ich so vorwärts stürmte, dachte ich, ich sollte wohl am besten versuchen, in den Wald zurückzufinden, durch den wir hergefahren waren. Mein Nacken kribbelte, und die Haare standen mir zu Berge, während ich auf Mikes Kugel wartete. Keine Sekunde hätte er gezögert, Mogart für das Schwert zu töten, und ich dachte, auch bei mir würde er nicht zweimal nachdenken. Ich bin kein schneller Läufer, und das Schwert half mir auch nicht gerade. Das lange nasse Gras schlang sich um meine Füße, und im Dunkeln wäre ich womöglich im Kreis gelaufen. Aber zum Glück konnte ich mich an den Flutlichtern orientieren. Ich drehte mich immer wieder um und kontrollierte, ob sie kleiner wurden. Ich lauschte auf Mogarts Armee, die mir nachsetzen würde, aber da war nur mein eigenes Keuchen und das nasse Gras unter meinen Sohlen. Ich stolperte auf eine befestigte Straße. Wenn das 296
die Straße war, über die wir gekommen waren, würde ich auf ihr in den Wald gelangen. Immer noch konnte ich keine Verfolger hören, und ich war zu erschöpft, um noch lange so weiterzurennen, also lief ich langsamer. Nebel und Schweiß pappten mir die Haare klatschnass an den Kopf, und ich musste mir immer wieder das Gesicht trockenwischen. Das Hemd klebte mir an der Brust, und ich fing an zu zittern. Ich spürte, dass ich eine üble Erkältung kriegte. Aus irgendeinem Grund pochte die Narbe an meiner Hand wie verrückt. Vielleicht lag das am Schwert. Vom Wald war nichts zu sehen, nur Hügel, die im Nebel versanken. Dann hörte ich hinter mir einen Wagen. Ich sprang von der Straße, warf mich auf die Erde und machte mich so flach, wie ein fetter, unbeholfener Einfaltspinsel es eben konnte. Es reichte nicht. Der Wagen hielt, und eine Stimme rief: »Alfred! Alfred Kropp, komm hier herüber!« Ich hob den Kopf. Mike saß am Steuer, lächelte, kaute und winkte mir eindringlich mit der Hand zu. »Komm schon! Wir haben nicht viel Zeit…« Damit hatte er wahrscheinlich Recht, und ich hatte keine große Wahl. Ich kroch also die Böschung hoch und sprang auf den Rücksitz. Mike trat so aufs Gas, dass die Hinterräder des Bentleys auf dem nassen Asphalt quietschten wie ein verwundetes Tier. »Willkommen an Bord, Junge!«, rief Mike. »Das 297
war knapp, hä? Hat uns ’ne Menge Leute gekostet, aber damit hatten wir gerechnet, stimmt’s? Hauptsache, wir haben das Schwert. Haben das Schwert gekriegt und die Welt gerettet, nicht schlecht für eine Nachtschicht, oder?« Ich lehnte mich zurück, das Schwert vor der Brust, und atmete immer noch heftig. »Hast ganz schön schnell geschaltet, Al«, sagte Mike. »Hatten Benny und du das so geplant, oder war das ganz deine Idee?« Ich antwortete nicht, aber das schien Mike nichts auszumachen. Er redete einfach weiter. »Verflucht, hab mein Handy im Gewühl verloren. Aber was soll’s, die sind sowieso alle in Bereitschaft. Ich und Jeff, wir waren seit Kairo zusammen – seit dieser abgefahrenen Totenkultgeschichte im Tal der Könige. Aber lassen wir das, das ist alles Verschlusssache. Trotzdem, ich werde den Teufelskerl vermissen, und was für eine verfluchte Schande ist das mit Benny, hä? Irrer Typ. Absolut irrer Typ. Wenn ich mein Handy noch hätte, würde ich ein paar StealthBomber bestellen und mal so richtig zeigen, wo’s langgeht. Da würde auch keiner der alten Steine tausend Jahre mehr stehen bleiben, sage ich dir. Wär’s doch wert, oder?« »Haben Sie ihn umgebracht?«, fragte ich. Er lachte. »Was glaubst du, Al?« »Ich glaube nicht.« Ich setzte mich auf und drück298
te Mike die Spitze des Schwertes in den Nacken. Er reagierte nicht, nur dass seine Hände das Steuer etwas fester packten. »Halten Sie an, Mike.« »He, Al. Ally, mein Junge. Was zum Teufel hast du vor?« »Halten Sie an, Mike.« Er wurde langsamer und hielt am Straßenrand. »Okay, und jetzt? Red mit mir, Al. Was soll das alles?« Ich wusste auch nicht recht. Mir war das gerade so eingefallen. »Geben Sie mir Ihre Waffe. Nein, Mike, mit der linken Hand. Lassen Sie die rechte am Steuer. Langsam, Mike.« Ich nahm seine Pistole, die er mir über die linke Schulter hinhielt, und steckte sie mir hinter den Gürtel. »Okay«, sagte ich. »Und jetzt die linke Hand wieder ans Steuer.« »Al, ich bin einer von den Guten, erinnerst du dich?« Seine Stimme klang ruhig, aber er kaute heftig auf seinem Kaugummi herum. »Hör zu, keinem tut das mit Benny mehr Leid als mir. Das war eine verdammte Schande, aber du warst doch da, du hast es gesehen – was hätte ich denn tun sollen?« »Sie hatten das von Anfang an so geplant.« »Ach, Al, komm schon!« »Von Anfang an. Mogart wollte nicht einfach nur das Geld. Er wollte auch Bennacio.« 299
Mike sagte nichts. Er sah mich im Rückspiegel an, und als er stumm blieb, wusste ich, dass ich Recht hatte. »Und Mr. Samson und den Rest der Ritter haben Sie in Spanien ins Messer laufen lassen. Sie haben Mogart gesteckt, dass Sie kommen würden.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Warum sollte ich so was tun, Alfred?« »Weil Ihnen beiden eines klar war: Solange die Ritter lebten, hätten sie keine Ruhe gegeben, bis sie das Schwert zurückgehabt hätten. Deshalb waren sie Ihnen und Mogart im Weg und mussten weg.« »Mann, das ist eine verflucht interessante Theorie, Al.« »Mr. Samson hat Ihnen vertraut«, sagte ich. »Er hätte Ihnen nicht vom Schwert zu erzählen brauchen, und Sie haben ihn betrogen. Bennacio wusste, dass Sie heute das Gleiche mit uns vorhatten, aber er glaubte, er hätte keine andere Wahl. Er hatte einen Eid geschworen, verstehen Sie … Er hatte sein Wort gegeben…« »Hör mal, Al, nichts für ungut, ich weiß, du willst nur das Beste und alles, aber die Sache wächst dir über den Kopf. Nimm das Schwert runter, Kumpel. Wir reden im Flugzeug darüber, okay? Willst du nicht wieder nach Hause?« »Ich habe kein Zuhause mehr.« »Ernsthaft?« Er pfiff durch die Zähne. »Das wird 300
hart. Tut mir echt Leid, Al. Wir können dich hinbringen, wohin du willst. Natalia zum Beispiel. Sie ist immer noch im château. Willst du zu ihr? Du hast was für sie übrig, oder?« Ich antwortete nicht, aber ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde. Mike Arnold sah, dass ich rot wurde, und lächelte. »Aus dem Wagen«, sagte ich. Mein Stimme klang kehlig. »Al…« Ich drückte die Spitze des Schwertes fester in seinen Nacken. »Okay, bin schon draußen.« Er stieg aus und stellte sich auf die Straße. Ich folgte ihm und richtete die Pistole auf seinen Kopf. »Legen Sie sich auf den Bauch und verschränken Sie die Hände im Nacken.« »Du leistest dir da gerade einen großen Fehler, Al. Einen ganz üblen Schnitzer…« »Auf den Boden, Mike. Ich schieße, wenn Sie sich nicht hinlegen.« »Glaubst du? Tut mir Leid, Al, aber ich denke wirklich nicht, dass du das kannst.« Er machte einen Schritt auf mich zu, und die Pistole ging los. Wir zuckten beide zusammen. Keiner von uns hatte das erwartet. Ich hätte nicht mal sagen können, ob ich den Abzug gedrückt hatte. »Schon gut, schon gut«, sagte Mike leise und legte 301
sich hin. »Hände in den Nacken«, befahl ich. Er gehorchte. »Wohin willst du denn gehen, Alfred? Aus dem Land kommst du nicht, und was willst du überhaupt mit dem Schwert machen? Die Weltherrschaft ergreifen? Es einem Museum vermachen? Du hast dir das alles nicht überlegt, Junge.« »Bis dann, Mike«, sagte ich, stieg in den Wagen und fuhr davon. Immer wieder blickte ich in den Rückspiegel, sah aber nicht, dass Mike aufstand.
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KAPITEL VIERUNDVIERZIG
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as Steuer war auf der falschen Seite, und ich hatte Schwierigkeiten, den Wagen auf der Straße zu halten. Ständig geriet ich rechts auf den Seitenstreifen, bis mir wieder einfiel, dass ich ja links auf der Straße fahren musste. So ging es etwas besser, war aber immer noch komisch. Im Übrigen war mir klar, dass ich den Wagen so bald wie möglich wieder loswerden musste: Ein Bentley ist für einen Fluchtwagen ein bisschen zu auffällig. Ich fuhr ziellos durch die englische Landschaft und wusste nicht mal, in welcher Richtung ich unterwegs war. Ich fuhr einfach immer weiter, bis ich auf eine größere Straße kam, die ich nahm, und so landete ich am Ende auf einer Art Highway. Nach einer Weile kam ich an einem Schild vorbei, auf dem stand: »London 65 Meilen«. Der Verkehr wurde dichter, als ich mich der Stadt näherte. Ich hatte beide Hände am Steuer, meine Fingerknöchel waren weiß, das Schwert lag neben mir auf dem Beifahrersitz. Immer wieder musste ich gähnen, und eigentlich wollte ich nur an den Straßen303
rand fahren und schlafen, aber ich fuhr weiter. Die Sonne ging bereits auf, als ich die Londoner Vororte erreichte. Auf keinen Fall wollte ich mit dem heißen Bentley in die Innenstadt. Ich nahm also die nächste Abfahrt und kam in einen Ort namens Slough, wo ich vor dem erstbesten Hotel hielt. Ich zog meine Jacke aus und wickelte das Schwert darin ein, aber so konnte man den Griff der Pistole hinter meinem Gürtel sehen. Ich überlegte, was ich tun sollte und was sich der Hotelangestellte wohl denken würde, wenn ein Fünfzehnjähriger ohne Gepäck und Eltern ein Zimmer wollte. Würde er sich fragen, warum die Jacke dieses Jungen wie ein großes Schwert aussah? Aber an manchen Dingen lässt sich nun mal nichts ändern, und so schob ich mir die Pistole einfach bis runter in die Unterhose. Das kalte Metall des Laufs drückte mir in die Leiste. Das Hotel sah alt aus, so als wäre es etwas anderes gewesen, bevor es zum Hotel wurde, vielleicht der Landsitz eines Adligen. Die Hotelhalle war sehr klein und wirkte im Vergleich zu den amerikanischen Hotels, in denen ich schon gewesen war, echt alt. Der Mann an der Rezeption sagte nichts zu meiner schwertförmigen Jacke. Er gab mir ein Zimmer im zweiten Stock und sagte, ich müsse die Treppe nehmen, da es keinen Aufzug gebe. Wie lange ich denn zu bleiben gedenke? Ich sagte ihm, dass ich durch England wandern wolle und es noch nicht 304
wüsste. Sonst fragte er nichts. Er lächelte kein einziges Mal, und ich dachte, dass er vielleicht schlechte Zähne hätte. Irgendwo hatte ich gelesen, das sei in England ein Problem. Auf der Treppe zog ich die Pistole aus der Unterhose und klemmte sie mir unter den Arm. Der Flur war eng, und unten an den Wänden konnte ich Wasserflecken erkennen. Der letzte Anstrich lag sicher zehn Jahre zurück, und ähnlich runtergekommen sah auch der Teppich aus, der leicht nach Schimmel roch. Mein Zimmer lag ganz am Ende des Flurs, neben der Toilette. Das Bett war schmal, etwa eins achtzig lang und wackelte, als ich mich draufsetzte. Ich hatte Angst, dass es zusammenbrechen würde, und fast hätte ich unten angerufen, um zu fragen, ob sie nicht Zimmer mit größeren Betten hätten. Ich legte die Pistole auf den Nachttisch und das Schwert neben mich aufs Bett, zog die Schuhe aus, pellte mir die nassen Sokken herunter und streckte mich auf der Tagesdecke aus. Was sollte ich jetzt mit dem Schwert machen? Mike hatte ganz Recht gehabt. Sie würden das gesamte Land auf den Kopf stellen und, wenn nötig, an jeder einzelnen Tür klingeln. Der Bentley war leicht vorne auf dem Parkplatz zu entdecken, und ich hatte mich nicht einmal unter einem falschen Namen eingetragen. 305
Ich rechnete damit, dass es jeden Augenblick an der Tür klopfte, aber wahrscheinlich würden sie gar nicht erst anklopfen, sondern wild feuernd hereinbrechen, denn schließlich hatte ich das Schwert der Könige, mit dem ich die Welt in meine Gewalt bringen konnte. Ich gähnte. Ich musste dringend schlafen, aber mein Instinkt sagte mir, dass Schlafen sicher das Letzte war, was ich jetzt tun sollte. Mühsam hievte ich mich vom Bett hoch. An der Wand neben dem Fernseher hing ein Spiegel, und nach einem Blick hinein entschied ich, dass mein nächster Tagesordnungspunkt wohl erst einmal eine Dusche wäre. Aber dazu musste ich aus dem Zimmer, und ich wollte das Schwert weder mit in die Dusche nehmen noch allein im Zimmer lassen. Ich sah noch einmal in den Spiegel und dachte daran, dass Mogart mich fett genannt hatte. Ich war nicht fett, sondern einfach nur massig. Das war ich immer schon gewesen, wie die großen Steine in Stonehenge, breit und eckig, die langweiligste Form gleich nach einem Würfel. Ich setzte mich wieder aufs Bett und versuchte zu überlegen, was ich als Nächstes tun sollte. Ich konnte hier nicht lange bleiben, nicht länger als ein paar Stunden. Ich sollte duschen, mir die Zähne putzen und wieder verschwinden, nur dass ich keine Zahnbürste hatte. Ich hatte nichts, nur die mächtigste Waffe der Welt. Ich konnte mich zum Kaiser Kropp aus306
rufen, König Alfred I. Herr der Welt, aber im Moment wollte ich vor allem eine Zahnbürste. Wenn ich mich zum König machte, könnte ich alle Führer der Welt nach Slough bestellen und den allgemeinen Weltfrieden ausrufen. Ich könnte verlangen, dass alle Panzer, Bomben und Gewehre eingeschmolzen und daraus Klettergerüste für Spielplätze gebaut würden. Den reichen Ländern könnte ich befehlen, mit den armen Ländern zu teilen, jeden Krieg verbieten und anordnen, dass jeder Penny, der bisher für Waffen ausgegeben worden war, ab sofort für die Entwicklung von neuen Heilmethoden verwendet wird und von Autos, die mit sauberem Brennstoff fahren. Das Ende alles Bösen unter der Sonne könnte ich verlangen. Keine Kriege mehr, keine Krankheiten, kein Hunger. Ich könnte den Wunsch erfüllen, mit dem der Erzengel Michael König Artus einst das Schwert gegeben hatte: die Menschheit zu vereinen. Könnte beenden, was Artus angefangen hatte. Das würde zwar Bennacio nicht zurückbringen, und auch Samson und die Ritter oder Onkel Farrell nicht – keinen von denen, die wegen mir ihr Leben verloren hatten –, aber ansonsten mochte es wieder gutmachen, was ich angestellt hatte. Vielleicht würde mich sogar Natalia dann nicht mehr hassen. Vielleicht war es ja mein Schicksal, der schwertschwingende Retter dieser Welt zu sein, dann würde sich Amy Pouchard grün und blau ärgern, mir nicht 307
ihre Handynummer gegeben zu haben! Ich sah mich auf einem großen Thron sitzen, mit einer großen Krone auf meinem großen, massigen Kopf. Die Erkältung, die ich vorher schon gespürt hatte, kam jetzt plötzlich mit aller Kraft: Mein Kopf brummte, die Nase lief, und meine Stirn war heiß. Ich legte mich zurück aufs Bett und nahm mir vor, in einer Minute wieder aufzustehen und kühl zu duschen, um das Fieber zu senken und klarer denken zu können. Es ist schon ziemlich traurig, wenn man einen Zeitplan für das Fassen von klaren Gedanken machen muss. »Genau so wird’s gemacht, so geht es, Kropp«, sagte ich mir. Ich hatte bereits ziemlich hohes Fieber. »Der Ritter des Heiligen Ordens hat das Schwert tausend Jahre gehütet und auf Alfred Kropp gewartet, der die Welt damit rettet. Genau! Keinem von denen, angefangen mit Bedivère, ist es je in den Sinn gekommen, selbst das Schwert in die Hand zu nehmen und dieser verkommenen Welt den Frieden zu bringen. Auf dich haben sie alle gewartet, Mr. Schulversager mit dem großen Kopf, dass du die Dinge in die Hand nimmst.« Ich berührte das Metall der Klinge – wie glatt und vollkommen die nach tausend Jahren noch war! Sie einfach nur zu berühren machte mich glücklich und traurig zugleich. Irgendwann schlief ich dann doch ein und landete 308
wieder in dem Traum mit dem dunklen Reiter auf dem fürchterlichen Schlachtfeld. Er hielt das Schwert in der Hand, und in dem Augenblick, als er es in den Boden rammen wollte, um seine Feinde zu vernichten, hob er den Kopf, und ich konnte sein Gesicht sehen. Es war mein Gesicht. Nicht Kropp der Gütige, sondern Kropp der Eroberer, Kropp der Schreckliche. Als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel im Zimmer, und das Telefon klingelte. Ich knipste das Licht an und fragte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte. Wer rief mich da an? Vielleicht die Rezeption unten, um mir zu sagen, dass ein paar Herren in Schwarz in der Halle auf mich warteten? Ich nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Bonjour, Mr Kropp.« Ich nahm Mikes Pistole vom Nachttisch und hielt sie auf dem Schoß. »Mr. Mogart.« »Sehen Sie gerade fern?« »Entschuldigung?« »Haben Sie einen Fernsehapparat auf Ihrem Zimmer? Wenn ja, würde ich vorschlagen, einmal den ersten Kanal einzuschalten.« »Jetzt gleich?« »Sofort.« »Dazu muss ich den Hörer ablegen.« »Das ist in Ordnung.« 309
Ich legte Mogart also zur Seite und schaltete den Fernseher ein. Die BBC-Nachrichten hatten gerade angefangen. Nach ein paar Minuten kam ein Bericht über eine Pressekonferenz des amerikanischen Generalstaatsanwalts von heute Nachmittag. Er kündete eine neue Ausgabe der FBI-Liste mit den meistgesuchten Männern und Frauen an. Bevor noch das Foto auf dem Bildschirm erschien, wusste ich, was kommen würde. Es war das Bild aus meinem Führerschein. Der Generalstaatsanwalt erklärte, ich würde international gesucht, hätte Verbindungen zu Terroristen und sei verantwortlich für den Tod von sechzehn britischen und amerikanischen Beamten, die meinen Versuch vereitelt hätten, eine der berühmtesten nationalen englischen Kulturstätten zu zerstören. Dem folgte die Bekanntgabe, das Justizministerium habe sechs Millionen Dollar für Informationen ausgesetzt, die zu meiner Verhaftung und Verurteilung führten. Der großköpfige Verlierer stand endlich mal ganz oben: Ich war der meistgesuchte Mensch der Welt, aber alles, woran ich denken konnte, war, wie schwer es nun sein würde, ein Gipfeltreffen mit allen Führern dieser Welt zusammenzurufen und die Gründung des Königreichs von Kropptopia zu verkünden. Ich schaltete den Fernseher wieder aus und ging zurück ans Telefon. »Da bin ich wieder«, sagte ich. 310
»Meine Gratulation, Mr. Kropp. Sie sind eine Berühmtheit. Wahrscheinlich kommen Sie sogar vorne auf die großen Zeitschriften.« »Wie… Wie haben Sie mich gefunden, Mr. Mogart?« Ich ging mit dem Telefon in der Hand hinüber zum Fenster, zog den Vorhang zurück und erwartete schon, ein amerikanisches oder englisches Spezialeinsatzkommando zu sehen, das dabei war, das Hotel zu stürmen. Aber da war nur der leere Parkplatz und weiter hinten ein kleiner Wald. Links erhellten die schmutzig gelben Lichter Londons den Horizont. »Ein fünfzehnjähriger Junge, der für sein Alter nicht gerade clever ist, allein in einem fremden Land, ängstlich und ohne Freunde, und dazu auch noch mit einem Wagen unterwegs, der mit einem Satellitenortungssystem ausgestattet ist – was glaubst du, wie schwer es ist, den zu finden?« »Ich würde sagen, nicht besonders«, sagte ich und setzte mich wieder auf das Bett. »Ich weiß, was Sie wollen, Mr. Mogart. Aber verstehen Sie doch, wenn ich es Ihnen gebe, bedeutet das das Ende der Welt. Ich bin erst fünfzehn, wie Sie sagen, und ich find’s echt wichtig, dass mir die Welt noch eine Weile erhalten bleibt, wenigstens bis ich vierzig bin. Oder vielleicht sogar fünfzig.« »Ah, aber du redest an der Sache vorbei, Alfred«, sagte Mogart. Es war das erste Mal, dass er mich 311
beim Vornamen nannte und duzte. »Ob du fünfzig wirst, ist mir ziemlich egal. Ich will nur eines, und siehst du, irgendwie sind wir da beide in der gleichen Lage: Du hast etwas, das ich will, und ich habe etwas, das du willst.« »Was?«, fragte ich, da mir nichts einfallen wollte, das mir noch wichtig war. Alle waren tot. Aber das stimmte nicht, und das Komische war, dass Mogart im Moment der Einzige von uns war, der das wusste. »Kropp.« Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Stimme am anderen Ende nicht die von Mogart war. Es war keine Männerstimme. »Kropp«, flüsterte sie. »Natalia?« Ich hörte einen leisen hellen Schrei, dann war Mogarts Stimme wieder dran. »Verstehen Sie, Mr. Kropp, dass das, was ich da habe, für mich ohne Bedeutung ist. Aber für das, was Sie besitzen, würde ich mein Leben geben, genau wie Sie für das Mädchen. In meinen Augen gibt es nur einen Weg, unser beider Verlangen zu befriedigen. Können Sie mir folgen, Mr. Kropp?« »Wäre es nicht leichter für Sie, einfach herzukommen und es mir wegzunehmen?« Meine Stimme zitterte ganz schrecklich. »Warum sollte ich es holen, Mr. Kropp, wenn Sie es mir doch bringen werden?« 312
In diesem Moment hörte ich ein scharfes Klopfen an der Tür. Ich zuckte zusammen und winselte leise auf. »Jemand ist an Ihrer Tür«, sagte Mogart. »Machen Sie auf.« »Ich habe eine Pistole«, sagte ich. »Ich werde schießen.« »Wenn Sie das tun, stirbt sie.« Das Klopfen hielt an. »Wer ist da an der Tür?«, fragte ich. »Sehen Sie nach. Ich warte.« Ich ging zur Tür und rief: »Wer ist da?« »Ihre Begleitung, Mr. Kropp«, kam eine Stimme von draußen. Ich schloss die Tür auf, ging ein paar Schritte zurück und hob die Pistole. Als er eintrat, zielte sie genau auf seinen Kopf. »Bleiben Sie auf jeden Fall vom Bett weg«, erklärte ich ihm. Er nickte. Er war groß und hatte etwa meine Statur. Er trug einen grauen Umhang um die Schultern, der von einer drachenförmigen Schnalle genau unter seinem Adamsapfel zusammengehalten wurde. Unter dem Umhang trug er einen teuren maßgeschneiderten Anzug. Sein langes Haar war eingefettet und aus dem Gesicht gekämmt. »Bleiben Sie da stehen«, sagte ich und ging rückwärts zum Bett. Wieder nickte er. »Keine plötzlichen Bewegungen!« Er nickte ein drittes Mal. Mit der 313
Linken nahm ich den Hörer wieder hoch und hielt ihn an mein Ohr. »Mr. Kropp«, sagte Mogart leise. »Ich glaube, ich habe Ihnen vor einiger Zeit erklärt, dass der Wille der meisten Menschen schwach ist. So zerfallen ganze Nationen und verlieren ihre Macht, große Unternehmungen scheitern, und es kommt zu nutzlosen Leiden und Erniedrigungen. Ich denke, ich habe Ihnen auf sehr deutliche Weise demonstriert, was geschieht, wenn Sie sich meinem Willen widersetzen. Sie werden nun mit meinem Mitarbeiter zu einem kleinen Treffen mit mir kommen, oder das Mädchen wird sterben.« Meine Knie versagten, und ich setzte mich aufs Bett. Die Pistole fiel zu Boden. Wenn ich den Eid, den ich geschworen hatte, einhielt, würde Natalia sterben. Ich fühlte mich plötzlich so elend, dass ich beinahe das Schwert genommen und es meinem Abholer gegeben hätte. Der Mann stand immer noch an der Tür und lächelte. Mogarts Stimme verlor jetzt alle Leichtigkeit und wurde hart wie Stein. »Hör gut zu, Kropp. Was du da versuchst, geht über deine Kräfte. Du bist ein kleiner Junge, der ein Männerspiel spielt. Vielleicht gefällt es dir, so zu tun, als wärst du ein Held, aber du hast wirklich Glück, dass ich dich als Erster gefunden habe.« »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden!« Auf ein314
mal schrie ich ins Telefon. »Ich hab noch nie ein Held sein wollen! Nichts von alldem hier habe ich je gewollt!« »Sie kommen, Mr. Kropp. Denken Sie an das, was Sie eben im Fernsehen gesehen haben. Das BIPAP ist hinter Ihnen her und wird Sie finden. Und wenn die Sie finden, nehmen sie Ihnen das Schwert ab, und ich töte das Mädchen. Dann haben Sie beides verloren. Ihnen bleibt keine andere Wahl, als es mir zu bringen.« »Aber wenn ich es Ihnen bringe, töten Sie Natalia trotzdem.« »Sie verletzen meine Gefühle, Mr. Kropp.« »Sie werden sie töten, wie Sie das letzte Mal, als ich Ihnen das Schwert gegeben habe, Onkel Farrell getötet haben, und dabei hatten Sie überhaupt keinen Grund dafür.« Er seufzte. »Stimmt. Ich hätte deinen Onkel nicht töten sollen. Dich hätte ich töten sollen.« »Das werden Sie auch noch tun«, sagte ich in den Hörer. »Dann ist Ihre Antwort also nein?« »Sie wissen längst, was meine Antwort ist.« »Jetzt ja«, sagte Mogart.
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KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
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ch legte auf. Meine Begleitung, wie Mogart ihn nannte, stand immer noch lächelnd in der Tür. »Komm«, sagte er. »Der Meister erwartet uns.« »Ich habe das Schwert jetzt«, sagte ich. »Bin dann nicht ich der Meister?« »Glaubst du, dass es wirklich dir gehört?«, sagte er spöttisch. Ich sah auf das Schwert neben mir. »Nein. Aber darum geht es nicht. Es gehört keinem. Tausend Jahre könnten Sie warten, zehntausend sogar, ohne dass es jemand für sich in Anspruch nehmen könnte. Ich glaube, genau da liegt Ihr Boss falsch. Genau deshalb haben die Ritter es die ganze Zeit gehütet, und vielleicht musste auch König Artus deswegen sterben. Es kann einem nicht gehören.« Er kapierte es nicht. »Wohin fahren wir?«, fragte ich. »Hat dir der Meister das nicht gesagt? Nach Dundagel, heute heißt es Tintagel.« »Oh. Was ist in Tintagel?« »Camelot liegt in Tintagel, und die Höhlen des Merlin.« 316
»Klar«, sagte ich. »Das passt.« Ich hob die Pistole und schoss ihm in die linke Kniescheibe. Er schrie auf, knallte nach vorn auf den Boden und legte die Arme um sein Knie. Ich griff nach Excalibur. »Im Namen des heiligen Michael!«, rief ich und ließ das Schwert durch die Luft zischen. Er sah es nicht mal kommen. Ich traf den Kopf mit der flachen Seite, und er verlor das Bewusstsein. Ich kniete mich neben ihn und fühlte ihm den Puls. Er lebte noch. Ich erinnerte mich an das, was Bennacio mir gesagt hatte, nachdem er die beiden Verfolger im Wald drüben in Amerika ausgeschaltet hatte: »Du würdest sie nicht bemitleiden, wenn du sie so kennen würdest wie ich.« »Nun, Bennacio«, murmelte ich, während ich die Drachenspange löste, um den grauen Umhang zu nehmen. »Ich weiß, was sie mit meinem Vater gemacht haben, und ich weiß auch, was sie mit dir und den anderen Rittern gemacht haben, aber irgendwann muss jemand sagen: Genug. Irgendwann muss das ganze vergossene Blut trocknen.« Unter dem Umhang hatte meine Begleitung eines der schwarzklingigen Schwerter stecken, und in seiner Tasche fand ich den Autoschlüssel. Ich zog ihm seinen Anzug aus, stieg selbst hinein, hängte mir das schwarze Schwert um die Hüfte und 317
drehte den Gürtel so, dass es an meiner rechten Seite hing. Excalibur schob ich mir auf der linken Seite hinter den Gürtel. Dann warf ich mir den grauen Umhang um die Schultern, befestigte ihn mit der Drachenschnalle und betrachtete mich im Spiegel: Sir Alfred vom Geschlecht »der Ober-Loser«. Mit einem großen Schritt stieg ich über meinen Begleiter, sah vorsichtig auf den Flur hinaus, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Ich nahm die hintere Treppe hinunter ins Erdgeschoss und wünschte mir sehnsüchtig, dass es eine Hintertür nach draußen gab. Das Schwert beulte den Umhang auf der linken Seite aus, und sein Umriss war mehr oder weniger klar zu erkennen. Die Treppe führte direkt zu einer Glastür, durch die es auf den Parkplatz ging. Ich schlüpfte nach draußen und suchte nach dem Wagen meines Begleiters. Auf dem Behindertenparkplatz gleich beim Eingang stand ein schwarzer Lamborghini Murciélago, und ich wusste, das war er, noch bevor ich den Schlüssel probiert hatte. Diese Leute waren verrückt nach Autos. Ich konnte mich mit den Schwertern an der Seite nicht hinsetzen, also zog ich sie aus dem Gürtel, legte sie auf den kleinen Rücksitz und breitete den grauen Umhang darüber. Bevor ich wegfuhr, drehte ich noch eine Runde über den Parkplatz, um zu sehen, ob noch andere Geister oder Schwarzröcke zu sehen 318
waren, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Ich hatte keine Ahnung, wo Tintagel lag, und so fuhr ich an der ersten Tankstelle ab. Der Mann im Kassenhäuschen sah mich etwas komisch an, als ich in meinem grauen Umhang und dem schlecht sitzenden Maßanzug mit dem Einschussloch am linken Knie hereinkam. »Wen soll denn diese Verkleidung darstellen?«, fragte er. »Den Erben Lancelots, des größten Ritters aller Zeiten.« Eine seiner Augenbrauen fuhr hoch, und ich sagte: »Ja, ist schwer zu glauben. Macht aber echt Spaß.« »Wenn du Lancelot bist, würde ich gern mal Guinevère sehen.« »Ich hab nicht gesagt, dass ich Lancelot bin. Ich bin sein Nachfahre.« »Oh, okay. Und ich bin die Königin von Saba.« Ich erklärte dem Mann, dass ich eine Englandkarte brauchte, und fragte ihn, wo Tintagel liegt. »Tintagel? Das ist in Cornwall.« »Und wie weit ist das?« »Etwa dreihundert Kilometer.« Er lachte, als er sah, was für ein Gesicht ich darauf machte. »Zweihundert Meilen. Junge.« Er breitete die Karte auf der Kassentheke aus und zeigte mir Tintagel. Es lag an der Küste, ganz im Südwesten. 319
»Das hier ist Tintagel Head«, sagte er und zeigte auf einen Punkt gleich am Atlantik. »Die Amis fahren da alle hin. Der Ausblick ist fantastisch. Ganz oben auf der Klippe, von der es hundert Meter tief ins Wasser geht.« »Gibt’s da auch ’ne Burg?« »Ein paar Mauerreste, ja. Ist aber nicht viel von übrig geblieben. Der Legende nach war’s mal die Burg von König Artus, aber das weißt du als Erbe Lancelots sicher längst. Weißt du auch, dass der gar kein Engländer war, sondern Franzose?« »Echt? Nun … très magnifique. Und es gibt nur noch Mauerreste?« »Oben ja. Aber in den Klippen direkt drunter ist etwas, das sie das Heiligtum Merlins nennen, des Zauberers des Königs. Manche Leute sagen, wenn bei Ebbe der Wind vom Meer hereinbläst, kann man den Geist Merlins um das verlorene Königreich klagen hören. Wenn du an so was glaubst.« »Oh«, sagte ich. »Darauf können Sie wetten, Mister.« »Natürlich, Herr Ritter«, sagte er. »Hab ich mir schon gedacht.«
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KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
I
ch fuhr also mit hundertsechzig Sachen Richtung Tintagel und rechnete jede Minute damit, auf eine Straßensperre zu stoßen oder einen Kampfhubschrauber aus dem Nachthimmel stoßen zu sehen, der mir die Reifen zerschoss. Aber nichts passierte. Ich versuchte nachzudenken, denn ich brauchte nun wirklich so etwas wie einen Plan. Und wahrscheinlich war das jetzt die letzte Möglichkeit, sich einen zu überlegen, aber mir fiel nichts ein. Ich fühlte mich einfach nur nackt, als wäre ich von einem Wirbelsturm überrascht worden, der mir auch noch den letzten Fetzen vom Leib gerissen hatte – nackt in der Finsternis, ohne etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Ich weiß nicht, wie lange ich gefahren war, als ich plötzlich das Meer riechen konnte. Ich fuhr langsamer, weil die Straßenschilder anders waren und ich sie nicht so gut lesen konnte. Irgendwann kam ich an ein Schild nach Tintagel, ich bog ab und fuhr Richtung Tintagel Head, das extra ausgeschildert war. Ich öffnete mein Fenster und konnte das Meer jetzt auch hören. 321
Irgendwann kam ich an eine Straßensperre, einfach nur ein paar rot gestrichene Böcke, die quer auf die Fahrbahn gestellt worden waren. Ein Schild stand an einen von ihnen gelehnt, auf dem stand: »Zugang verboten. Archäologische Grabungen«. Ich setzte ein Stück zurück, schaltete wieder in den Vorwärtsgang und trat das Gas durch. Einer der Böcke flog hoch in die Luft und krachte auf die Windschutzscheibe, wo er ein Netz fein verwobener Risse hinterließ, wie ein Spinnennetz. Ich schaltete das Licht aus und fuhr den Pfad im Schritttempo weiter hoch. Jeden Moment konnten mir schwarz gekleidete Männer auf die Motorhaube springen. Der Weg endete etwa fünfzig Meter vor dem Rand des Kliffs. Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Eiskalter Wind blies mir vom Meer her ins Gesicht. Einen Moment lang stand ich in dem eisigen Sturm, und die Tränen strömten mir nur so aus den Augen und wurden mir nach hinten ins Haar geblasen. Eigentlich hätte ich mir die Schwerter in den Gürtel stecken und wie Bennacio meinem Schicksal entgegenschreiten sollen – das auch das Schicksal der Welt war, denn wenn Excalibur jetzt verloren ging, gab es niemanden mehr, der versuchen würde, es zurückzubekommen. Außer BIPAP vielleicht. Aber darauf konnte man sich nicht verlassen. Mike Arnold war ein Trottel, und was Abigail anging, 322
wusste ich auch nicht recht, außer dass sie nett zu sein schien und Mike nicht mochte, was ein Punkt für sie war. Aber statt die Schwerter zu nehmen, setzte ich mich zurück in den Wagen und fragte mich: Okay, Kropp, was ist jetzt – Natalia oder das Schwert?, worauf ich wieder ausstieg und die Autoschlüssel, so weit ich konnte, in die Dunkelheit warf. Ich steckte mir die Schwerter zurück in den Gürtel, das schwarze rechts und Excalibur links, und warf mir den Umhang um die Schultern. Ich suchte in meinen Taschen nach meiner Pistole, aber da fiel mir ein, dass ich sie auf dem Bett im Hotel hatte liegen lassen. Das alles war mir ’ne Nummer zu groß. Genau. Mehrere Nummern. Oben auf der Klippe sah ich ein paar dunkle Umrisse vor dem mondlosen Sternenhimmel, die am Boden zu kauern schienen. Ich kletterte auf sie zu, aber sie bewegten sich nicht. Es waren einfach ein paar mächtige, weißlich wirkende Blöcke, die wie gigantische Zähne vom Boden aufragten. Ich konnte mir das Ganze nur schwer als ein weiß glänzendes Schloss am Meer vorstellen. In der Dunkelheit war ein mit großen weißen Steinen gepflasterter Pfad auszumachen, der von der Ruine das Kliff hinunterführte. Es gab weder ein Seil noch ein Geländer, an dem man sich auf dem Weg nach unten festhalten konnte. Auf allen vieren schlit323
terte und rutschte ich über die nassen Steine. Regen und die Gischt des Meeres spritzten auf meinen grauen Umhang. An der tiefsten Stelle des Pfads blieb ich stehen und fragte mich, wo Mogart und seine Leute wohl sein mochten. Eigentlich hätten sie schon längst hier sein müssen. Etwa dreißig Meter entfernt leuchtete ein schwaches Licht in einer Öffnung der Klippe. Merlins Höhle. Ich arbeitete mich weiter auf dem Pfad vor und klammerte mich dabei an die Felsen der steil aufragenden Klippe. Die Steine unter meinen Füßen waren über Jahrhunderte ausgewaschen vom Ansturm des Meeres. Als ich an der Öffnung ankam, ließ ich die aufgestaute Luft aus meiner Lunge entweichen. Aus der Höhle waren Männerstimmen zu hören, die zwischen den Wänden hin und her hallten. Darüber lag eine Art hohes Pfeifen, was, wie ich annahm, das Pfeifen des Windes in den Spalten der Klippe war. Die Schreie Merlins. Ich hatte immer noch keinen Plan. Ich hatte noch nie den Unterschlupf eines Verbrechers gestürmt, und alles, was ich darüber wusste, stammte aus Filmen und Büchern, und die hatten kaum was mit der Wirklichkeit zu tun. Ich stand rechts vom zerklüfteten Höhleneingang und drückte mich mit dem Rükken an die Felswand. Die Felswand mir gegenüber 324
reckte sich ein Stück vor, so dass ich das Meer nicht mehr sehen konnte. Aber die Brandung war unüberhörbar, und ich schmeckte das Salz auf der Zunge. Man sollte meinen, dass einem die mächtigste Waffe der Welt Mut geben würde, aber ich fühlte mich klein und schwach. Endlich holte ich tief Luft und sagte laut: »Jetzt werde ich sterben.« Damit löste ich mich vom Fels und trat in die Höhle.
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KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
G
ut fünf Meter vom Höhleneingang entfernt saßen zwei Männer an einem kleinen Feuer. Sie starrten mich eine Sekunde lang an, dann stand einer von ihnen auf. Er trug einen schwarzen Umhang und hielt eines der kleinen schwarzen Schwerter in der Hand, von denen ich selbst eines rechts im Gürtel stecken hatte. »Wo ist der Junge?«, fuhr er mich an. »Wo ist das Schwert?« Er dachte offensichtlich, ich wäre mein Begleiter. »Wir sind beide hier«, sagte ich und zog Excalibur hervor. Es dauerte einen Moment, bis er begriff; dann stürzte er mit einem lauten Schrei auf mich los. Er fiel mir vor die Füße. Ich sah erstaunt auf ihn hinunter, weil er dort einfach so zusammengebrochen war. Er hatte nicht einmal die Chance gehabt, sein Schwert einzusetzen. Ich stieg über ihn hinweg und kämpfte dabei gegen das Gefühl an, mich übergeben zu müssen. Der zweite Mann drehte sich jetzt weg und versuchte, 326
nach hinten in die Höhle zu entkommen. Er rannte los, rutschte aber auf den nassen Steinen aus und fiel hin. Statt eines schwarzen Umhangs trug er eine blaugraue Windjacke, Jeans und New-BalanceLaufschuhe, dazu eine Baseballkappe von den Chicago Cubs. Hinten in der Höhle erwischte ich ihn. Die Höhle war nicht sehr tief, vielleicht zwanzig Meter. Ich packte ihn, riss ihn herum und drückte ihn mit dem linken Arm gegen den Fels. Die Spitze des Schwertes legte ich an seinen Adamsapfel. »Hallo, Mike«, sagte ich. »Hi, Al.« Er kaute sein Kaugummi und zeigte lächelnd seine großen weißen Zähne. »Wo ist Mogart?« »Keine Ahnung.« Ich gab ein bisschen mehr Druck mit der Spitze des Schwertes. Seine Augen weiteten sich, und er sagte: »Hör zu, Junge, ich schwöre, du hast gerade den einzigen Mann gekillt, der wusste, wo er ist. Er hätte uns zu ihm geführt, wenn du hier mit deiner Begleitung aufgetaucht wärst. Ich schwöre bei Gott, ich weiß es nicht!« »Sie haben ihm Natalia ausgeliefert.« Er sagte nichts. Sein Lächeln war kalt. »Sagen Sie mir, wo sie ist«, sagte ich. »Selbst wenn ich es wüsste, was willst du tun, Al? Ihm das Schwert geben? Er bringt sie sowieso um. 327
Wenn du versuchst, ihn zu erwischen, bringt er sie um, bevor du ihn töten kannst. Kapier endlich, dass du nicht gewinnen kannst. Es ist an der Zeit, dass du deine Verluste herunterfährst. Mach mal ’n Schritt rückwärts und sieh dir das Ganze an. Wir reden hier über das Schicksal der ganzen großen Welt, Al! Willst du die Menschheit für ein einziges Mädchen opfern? Ich meine, du solltest langsam vernünftig werden!« »Okay, Mike, werde ich also vernünftig. Ich mache ein Geschäft mit Ihnen: Sie bringen mich zu Mogart, und wenn das vorbei ist, gebe ich Ihnen das Schwert.« Er starrte mich an und kaute langsamer. »Deswegen sind Sie doch hier, oder?«, sagte ich. »Geben Sie mir Mogart, und es gehört Ihnen.« Mike überlegte. »Woher soll ich wissen, dass du mich nicht hereinlegst?« »Das können Sie nicht wissen. Aber wie Mogart schon zu mir gesagt hat: Sie haben keine Wahl.« Ich trat einen Schritt zurück, hielt das Schwert aber weiter an seinen Hals. »Geben Sie mir Ihre Pistole.« Er fasste in die Tasche seiner Windjacke und reichte sie mir, den Finger um den Abzugschutz. Ich nahm sie und ließ sie in meine Tasche gleiten. »Noch was?«, fragte er. Er tat so, als müsste er sich anstrengen, nicht zu lachen. 328
»Nein«, sagte ich, aber dann fiel mir etwas ein: »Doch. Was heißt BIPAP eigentlich?« ›»Besondere Idioten Produzieren Außerordentliche Patzern« Er lachte wider Willen und schmatzte mit dem Kaugummi. »Okay? War’s das jetzt?« »Noch eins«, sagte ich und streckte die Hand aus. »Den Kaugummi.« Wieder lachte er, sah dann aber, dass ich es ernst meinte. Er nahm den Kaugummi aus dem Mund und ließ ihn in meine Hand fallen. Die Hälfte seiner Persönlichkeit löste sich damit in Luft auf. Ich warf den nassen Klumpen ins Dunkel. Er machte ein paar Schritte nach links, und ich folgte ihm, an der Rückwand der Höhle entlang, die glatt und leicht nach innen gewölbt war. Nahe der südlichen Ecke war ein Spalt, bei dem er stehen blieb. Der Spalt war kaum breit genug für einen Menschen und reichte vom Boden bis zur Decke. »Sie zuerst«, sagte ich. Nachdem wir durch die Öffnung geschlüpft waren, klang das Meeresrauschen nur noch gedämpft zu uns, das Wassertropfen und Merlins Klagen wurden dafür etwas lauter. Der Boden war rau, lag voller Steine und führte leicht nach unten. Erst ging es nach rechts, dann nach links und schließlich steil hinab, und ich musste mit meiner freien Hand Halt an den Felszacken der Wand suchen, um das Gleichgewicht zu halten. Wir kamen nur sehr langsam voran. Lose 329
Steinbrocken und messerscharfe vorstehende Felskanten hielten uns immer wieder auf. Nach und nach wurde der Gang jedoch breiter und der Boden ebener und glatter. In der Ferne leuchtete ein Lichtkreis. Als wir noch etwa hundert Meter davon entfernt waren, drehte sich Mike zu mir um und flüsterte. »Al, du musst mir meine Kanone zurückgeben.« »Warum?« »Er wird denken, dass ich ihn betrogen habe, und du hast gesehen, was er mit solchen Leuten macht.« Ich überlegte. »Okay«, sagte ich, nahm die Pistole aus meiner Tasche und schlug ihm, so fest ich konnte, mit dem Griff auf den Kopf. Er fiel um wie ein Stein. Ich steckte die Pistole zurück in die Tasche, stieg über ihn hinweg und ging die letzten hundert Meter zu dem erleuchteten Portal allein.
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KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
E
s war der Eingang zu einer riesigen Höhle, deren Wände und Decke hinter mächtigen Schattenbögen verschwanden. Der Boden war eben und dunkel wie ein zugefrorener See. Meine Schritte hallten von den in der Finsternis verborgenen Wänden wider, als ich vorsichtig ein Stück in den Raum hineinging. Sonst war kein Geräusch zu hören und auch niemand zu sehen. Ich hielt das Schwert vor mich hin und dachte, dass es vielleicht noch einen weiteren Durchgang gab und ich Mike zu früh ausgeschaltet hatte. Dann hörte ich seine Stimme. Sie schien von überall und nirgends zu kommen. »Mr. Kropp. Sie überraschen mich immer wieder.« Ich blieb stehen, zog langsam die Pistole aus der Tasche und hielt sie locker in der linken Hand, mehr um mich zu beruhigen als aus irgendeinem anderen Grund. »Dass Sie so weit gekommen sind, mit so wenig Erfahrung und noch weniger Intelligenz… Ich heiße Sie willkommen, Sir.« 331
»Wo ist Natalia?« Meine Stimme klang dünn und unsicher, fast wie die eines kleinen Kindes. »Hier.« Seine Stimme war jetzt dicht an meinem Ohr. Ich wirbelte herum und sah die beiden auf mich zukommen. Natalia ging vor ihm. Seine linke Hand lag in ihrem Nacken, in der rechten hielt er einen spitzen Dolch. Etwa sechs, sieben Meter entfernt blieben sie stehen, und Mogart lächelte. »Schön, dass Sie sich bereits um Mr. Arnold gekümmert haben«, sagte er und nickte zu meiner Pistole hin. »Der Mann hat mir nie gefallen.« Natalias Augen waren trocken, aber ziemlich rot. Sie musste viel geweint haben. Ihr dunkles Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und oben am Haaransatz war ein großer blauer Fleck zu erkennen. »Es tut mir Leid«, sagte ich zu ihr. »Bist du in Ordnung?« Sie nickte und sah Mogart dabei nicht an. »Ich habe Ihnen das Schwert gebracht, Mr. Mogart«, sagte ich. »Lassen Sie Natalia gehen.« »Erst die Pistole, okay? Sie werden sie kaum brauchen, Mr. Kropp, und Sie könnten einen schrecklichen Fehler machen, indem Sie den Falschen damit treffen.« Ich dachte nach. Wenn ich ablehnte, würde er Natalia womöglich erstechen, bevor ich schießen konn332
te. Treffen würde ich wahrscheinlich sowieso nicht. Im Übrigen hatte ich immer noch das Schwert, und er wusste, wenn er ihr etwas antat, gab es für mich keinen Grund, ihn leben zu lassen. Aber wenn Natalia tot wäre, wäre mir sowieso alles egal. Ich warf die Pistole weg. Sie schlitterte über den Boden ins Dunkle. »Sehr gut«, sagte Mogart. »Und jetzt bitte das Schwert.« »Lassen Sie erst Natalia gehen.« Er lachte. »Himmel, wie dreist wir geworden sind! Aber Dreistigkeit, Mr. Kropp, kann niemals ein Ersatz für Intelligenz sein.« Der Dolch drückte sich tiefer in Natalias Seite. Ihre Augen weiteten sich, und sie schrie: »Kropp!« Mogart sagte: »Entscheide dich, Alfred Kropp. Wirf das Schwert hin, oder sieh zu, wie sie stirbt.« Natalia war nur ein Mensch, und was zählte schon, wie Mike gesagt hatte, ein einzelner Mensch, wenn das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel stand? Wenn ich mich weigerte, ihm das Schwert zu geben, würde er Natalia töten. Wenn ich es ihm gab, tat er es wahrscheinlich auch, und ich hätte meinen heiligen Eid gebrochen. Den einzigen Eid, den ich je abgelegt hatte. Welche Entscheidung ich auch traf, am Ende würde sie falsch sein, so falsch wie alle anderen Entscheidungen, die ich seit Beginn dieser Geschichte 333
getroffen hatte. Ich vermasselte sowieso immer alles. Vielleicht sollte ich einfach überlegen, was ich für das Beste hielt, und dann das Gegenteil tun. Ich sah Mogart an und begriff, dass er gar nicht mein größter Feind war. Mein größter Feind war ich selbst, der fünfzehnjährige heimatlose Loser mit dem Schwert der Könige in der Hand. »Entscheiden Sie sich, Mr. Kropp«, zischte Mogart. Ich entschied mich. Ich warf das Schwert in seine Richtung. Es blieb auf halbem Weg zwischen uns liegen. Ich hatte damit gerechnet, dass er sofort Natalia zur Seite stoßen und sich auf Excalibur stürzen würde, aber er bewegte sich nicht. Er sah nicht mal zu ihm hin. Stattdessen sah er mich an, und mich überkam das gleiche schreckliche Gefühl wie in Onkel Farrells Wohnung, kurz bevor er ihm das Schwert in den Leib gerammt hatte. »Bitte nicht, Mr. Mogart«, bettelte ich. »Sie müssen das jetzt nicht tun. Bitte tun Sie ihr nichts.« »Oh, Mr, Kropp«, antwortete Mogart. »Nach all dem, was passiert ist, wie können Sie da nur so wenig gelernt haben?« Und mit diesen Worten stach er Natalia den Dolch in die Seite.
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KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
S
ie sank lautlos zu Boden. Ich erstarrte für eine Sekunde und sah, wie sie fiel, bevor ich auf das Schwert zuschnellte, aber ich kam zu spät. Mogart war schneller gewesen und rollte zur Seite, als ich mich auf ihn stürzte. Ich rappelte mich wieder hoch, zog das schwarze Schwert aus dem Gürtel und wollte es gerade in meine rechte Hand nehmen, als Mogart angriff. Das Schwert der Könige pfiff auf meinen Kopf zu. Ich bekam meine Klinge gerade noch rechtzeitig in die Höhe und schrie auf, als Excalibur laut dröhnend darauf traf. Die Kraft des Schlages brach mir fast das Handgelenk. Ich wich zurück und schlug mit meinem schwarzen Schwert um mich, während Mogart mich fast wie nebenbei mit Schlägen eindeckte. Er lächelte. Es machte ihm offenbar Spaß, und er sagte Dinge wie: »Gut, Mr. Kropp! Ausgezeichnet! Sehr schön pariert, Sir! Immer auf den Fußballen bleiben, immer in Bewegung, und das Schwert dabei hochhalten!« Er drang weiter vor, und ich wich zurück. Ein 335
Schlag kam von rechts, dann einer von links und wieder einer von rechts, ungeheuer schnell und schließlich so hart, dass ich mein Schultergelenk knacken hörte. Mit seiner freien Hand erwischte er schließlich das Handgelenk meiner Schwerthand, und sein Griff war hart und kalt. Ich fühlte die Spitze von Excalibur unter meinem Kinn. Mogart kam mit dem Gesicht ganz nahe an meines und flüsterte mit eindringlicher Stimme: »Eins musst du mir erklären, Alfred Kropp: Warum machst du immer weiter? Ich töte deinen Onkel, und du schließt dich Bennacio an. Ich töte Bennacio, und du kämpfst allein weiter. Ich töte Natalia, und du hörst immer noch nicht auf. Sag mir, Junge, sag mir, warum du immer weitermachst?« »Ich habe… Ich habe einen Eid abgelegt«, stammelte ich. Er neigte den Kopf zur Seite, und seine Augen funkelten, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Einen Eid! Alfred Kropp hat einen Eid abgelegt!« Er lachte hart auf. »Lord Bennacio gegenüber, nehme ich an.« »Nein«, antwortete ich. »Gegenüber dem Himmel.« Damit rammte ich ihm mit aller Kraft mein Knie zwischen die Beine, riss meinen rechten Arm frei und wich einen Schritt zurück, als Mogart auf den 336
Steinboden schlug. Das war die Gelegenheit! Los, Kropp, solange er am Boden liegt – töte ihn mit deinem Schwert! Aber etwas hielt mich zurück. Statt ihn zu töten, stand ich einfach nur da, schnappte nach Luft und wartete, dass er wieder aufstand. »Es gehört Ihnen nicht, Mogart«, sagte ich. »Kapieren Sie das nicht? Es gehört niemandem.« Mogart rappelte sich auf, das Gesicht schmerzverzerrt. In seinem Blick lag eine Mischung aus Zorn und Traurigkeit, wie bei einem eingeschnappten kleinen Jungen, der gerade erfahren hatte, dass er seine Lieblingssüßigkeit nicht kriegt. »Wer bist du?«, keuchte er. »Wer bist du, Alfred Kropp? Wie kommt es, dass ich immer wieder auf dich stoße und du mir an jeder Ecke wie ein fetter Brocken im Weg liegst?« Mit jeder neuen Frage machte er einen weiteren Schritt auf mich zu. »Was wollte Bennacio nach Samsons Tod von dir?« Ein Schritt. »Und warum hat er dich hergebracht?« Noch ein Schritt. »Warum hat er ein Gelübde von dir verlangt?« Und wieder ein Schritt. »Wer bist du, Alfred Kropp?« »Ich bin Bernard Samsons Sohn, der Erbe Lancelots.« Er blieb stehen und sah mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Dann verschwand alle Furcht und Traurigkeit aus seinem Gesicht und ließ nichts als blanke Wut darin zurück. 337
Mit einem fürchterlichen Brüllen stürzte er sich auf mich. Ich konnte mein schwarzes Schwert gerade noch in die Höhe recken, um den nach unten zielenden Bogen Excaliburs zu stoppen. Der Schmerz, den mir der Schlag verursachte, brachte meinen Kopf fast zum Platzen. Mogarts Augen funkelten vor Wut, und er schlug so schnell auf mich ein, dass Excalibur von allen Seiten zugleich auf mich zuwirbelte. Unter Mogarts wütendem Ansturm wich ich immer weiter zurück, bis ich mit dem Rücken an der Felswand stand. Damit blieben mir zwei Möglichkeiten: entweder Widerstand zu leisten und zu kämpfen oder aufzugeben und zu sterben. Ich bewegte mich ganz instinktiv und hielt das Schwert mit beiden Händen, während Mogarts Schultern auf und nieder fuhren, vorschossen und nach links und rechts wirbelten. Das Aufeinandertreffen der Klingen produzierte ein schrecklich lautes metallenes Geräusch. In meinem Rücken spürte ich, wie mir eine scharfe Felsspitze durch den grauen Umhang hindurch kleine Stücke Fleisch aus dem Körper riss. So laut ich konnte, schrie ich Bennacios Namen aus mir heraus. Das machte Mogart aber nur noch wütender, und er rammte mir seine freie Faust gegen die rechte Schulter. Die Kraft des Schlages entriss mir mein Schwert, das scheppernd zu Boden fiel. Mogart presste mir den Arm gegen den Hals, und 338
während ich nach Luft rang, begriff ich, dass der Kampf vorüber war. »Der Erbe Samsons!«, fauchte er mir ins Gesicht. Ich spürte, wie sich die Spitze Excaliburs in meinen Leib bohrte, langsam den grauen Umhang durchstach und durch das weiße Hemd darunter schnitt. »Der Erbe Lancelots! Der Grund für meine Vertreibung! Wie sich der Kreis am Ende doch schließt, Kropp!« »Bitte, Mr. Mogart…«, wisperte ich. Aber ich wusste gar nicht, worum ich ihn eigentlich bat. »Hat dir der edle Bennacio erzählt, wie sich das Schicksal deines Vaters erfüllt hat? Hat dir irgendeiner erzählt, Kropp, wie dein Daddy zu Tode gekommen ist?« Ich fühlte, wie mir der Stahl die Haut durchschnitt und warmes Blut meinen Bauch hinunterlief. Mein Magen verkrampfte sich. »Bitte«, wisperte ich. »Bitte.« »Ich habe ihn gefoltert. Tausendmal auf ihn eingestochen, bis er mich auf Knien angefleht hat, aufzuhören und sein elendes Leben zu beenden. Genauso, wie du mich jetzt anbettelst.« Sein Arm stieß nach vorne, und die Klinge drang tiefer in mich, vielleicht zehn, zwölf Zentimeter. Ich schmeckte das Blut in meinem Mund. »Und als er keinen Atem mehr hatte, um zu betteln, habe ich ihm seinen erbärmlichen Kopf abgeschnitten.« 339
Sein rechter Arm stieß noch weiter vor, mit noch mehr Gewalt. Das Schwert steckte jetzt halb in mir, und mein Mund war voller Blut. Sein Gesicht verschwamm, und seine Stimme wurde schwächer. »Ich habe Bernard Samsons Kopf genommen, ihn auf eine eiserne Lanze gesteckt und am Eingang zu meinem Unterschlupf aufgepflanzt, wo sich die Aaskäfer an ihm geweidet und ihm die Krähen Augen und Zunge herausgefressen haben. Damit sind wir tatsächlich am Ende der Geschichte angekommen, Mr. Kropp. Es ist Zeit, dass wir uns voneinander verabschieden. Zeit, dass Sie mich verlassen und sich zu Ihrem Vater gesellen.« Mit diesen Worten rammte er mir das Schwert bis ans Heft in den Körper, und ich hörte, wie der graue Umhang in meinem Rücken riss und sich die Klinge in den Fels bohrte, als wäre es Sand. Mogart ließ los und trat zurück. Er lächelte wieder. »Stirb«, sagte er. »Stirb, Alfred Kropp.« Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, als er das sagte, starb ich wirklich.
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KAPITEL FÜNFZIG
N
ach meinem Tod sah ich ein paar Dinge. Zunächst schwebte ich unter der Höhlendecke und sah mich unten an die Felswand genagelt. Mogart hatte beide Hände am Griff des Schwertes und zog mit aller Kraft, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Sein zorniges, frustriertes Brüllen hallte von den Wänden wider. Er zog und zog, bekam das Schwert aber nicht mehr aus dem Fels. Er stolperte zurück, drehte sich um und sah den langen Dolch, den er hatte fallen lassen, als er sich auf das Schwert stürzte. Ich nehme an, er wollte meinen Körper vom Schwert schneiden, um sich beim Ziehen gegen den Fels stemmen zu können. Mein Körper bot ihm nicht genug Halt. Aber dann verblich das Bild. Alles war still, und ich hörte das Flüstern des Windes im Laub der Bäume. Plötzlich saß ich im Krankenhaus am Bett meiner Mutter, und sie sagte: Mach, dass es weggeht. Mach, dass die Schmerzen weggehen. 341
Ich konnte es nicht ertragen, drehte mich weg und sah Onkel Farrell auf dem Sofa sitzen, der sich das Schwert aus dem Leib zog und in meine Richtung hielt: Nimm es, Al. Bring es weg. Ich drehte mich auch von Onkel Farrell weg, und mit einem Mal war Bernard Samson, mein Vater, neben mir und sagte: Sie gehören einem alten geheimen Orden an und haben das heilige Gelübde abgelegt, das Schwert zu hüten, bis sein Meister kommt und es für sich einfordert. Noch eine Drehung, und ich sah Bennacio. Ich hörte uns sprechen, aber es war mehr wie eine Erinnerung an ein Gespräch. Wer ist der Meister, wenn Artus tot ist? Der Meister ist der, der es für sich fordert. Und wer wird das sein? Der Meister des Schwertes. Damit wandte sich Bennacio ab, und darüber war ich traurig, denn ihn vermisste ich, glaube ich, am meisten. Dann sah ich die weiße Frau unter der Espe, und obwohl ich keinen Wind spürte, wehte ihr dunkles Haar nach hinten, und die Falten ihres weißen Kleides kräuselten sich wie kleine Wellen. Sie sah mich nicht an, als ich neben sie unter den Baum trat. Ihre Wangen waren nass. »Bin ich tot?«, fragte ich. Möchtest du das? 342
»Ich glaube, ja. Ich bin so schrecklich müde.« Mehr als alles andere wollte ich ihr meinen Kopf in den Schoß legen und spüren, wie sie mir übers Haar strich. Eine Träne floss ihr über die Wange, und ich sagte: »Bitte weine nicht. Es ist nicht so, als hätte ich mir keine Mühe gegeben. Von Anfang an habe ich getan, was von mir verlangt wurde. Onkel Farrell bat mich, ihm zu helfen, das Schwert zu bekommen, und ich tat es. Bennacio bat mich, ihm zu helfen, es zurückzubekommen, und ich tat es. Mogart sagte mir, ich solle es ihm bringen, und ich tat es. Aber jedesmal, wenn ich tat, worum man mich bat, wurde jemand getötet. Onkel Farrell, Bennacio und jetzt auch Natalia. Wie du siehst, weiße Frau, bleibt mir keiner mehr. Keiner, dem ich helfen könnte, aber auch keiner, der sterben könnte, weil ich versuchte, ihm zu helfen. Es gibt keinen Grund, noch einmal zurückzugehen.« Ich wandte mich von ihr ab, weil ich es nicht ertrug, sie weinen zu sehen. Sie war immer noch da, nur dass ich sie nicht mehr im Blick hatte, aber meine Erinnerung an sie stand mir klar vor Augen, meine Erinnerung an die Espe, das lange Gras und die wie Zähne glitzernden Scherben in der Halde unter ihr. Über meinem Kopf die Schmetterlinge. Die Stunde ist gekommen. Erinnerst du dich jetzt, Alfred Kropp, was vergessen wurde? 343
Dann nichts mehr. Selbst das Schwarze war nicht mehr schwarz, denn meine Erinnerung an Schwarz existierte nicht mehr. Kein Licht, kein Ton, kein Gefühl, keine Erinnerung – es gab nicht mal mehr mein Ich. Alfred Kropp war verschwunden. Und jetzt, wo sich das Letzte von mir aufgelöst hatte, fiel mir ein, was vergessen worden war. Ich griff in die Espe und zog die silberne Nadel aus dem Körper eines Schmetterlings. Befreit flog er los, gelb, rot und schwarz vor dem leuchtend blauen Himmel, flog höher und höher, bis er nicht mehr zu sehen war. Die Finsternis kam zurück, aber dieses Mal hatte ich nur die Augen geschlossen. Also öffnete ich sie wieder. Ich war wieder in Merlins Höhle, und das silberne Schwert der Könige ragte mir aus dem Bauch. Und endlich wusste ich es, endlich wusste ich, wer der Meister des Schwertes war.
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KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
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ogart kam auf mich zu, den schwarzen Dolch in der Hand, aber er blieb stehen, als er meine Stimme hörte. »Der Meister…«, keuchte ich. »Der Meister des Schwertes ist… der…« Ich hustete, Blut sprudelte mir in den Mund und rann mir das Kinn herunter. »Der… der es für sich einfordert.« Ich hob die Arme und umschloss den Griff des Schwertes mit meinen Händen. Hinter mir kratzte das Metall im Fels, als ich mir das Schwert aus dem Körper zog. Mogart öffnete den Mund, weil er entweder schreien oder etwas sagen wollte – welches von beidem, werde ich nie erfahren. Vom Schwert befreit, oder das Schwert von mir, schwang ich es in einem gigantischen Bogen durch die Luft, mein eigenes Blut spritzte von der Klinge, und ich schlug Mogart mit einem einzigen Hieb seinen verdammten Kopf ab. Ich fiel auf den kalten Felsboden und begriff, dass ich vielleicht wieder sterben würde, aber ich war ja bereits einmal gestorben, und so machte es mir keine 345
Angst mehr, zumindest nicht, wenn ich zu Ende bringen konnte, was ich angefangen hatte. Ich wollte zu Natalia kriechen, aber meine Arme gaben nach, und ich schlug mit dem Bauch flach auf den kalten Stein. Ich ließ das Schwert los, denn ich brauchte beide Hände, um mich über den Boden zu ziehen. Um Natalia herum war ein sanftes weißes Leuchten, und durch meine Tränen, in einer Spiegelung des Lichts, glaubte ich einen Schatten zu sehen, der über ihr schwebte, und so etwas wie Flügel. Mein Kopf fühlte sich hohl an, und ich sah schwarze Sterne vor meinen Augen. Nie würde ich rechtzeitig bei ihr sein; dennoch sagte ich mir, ein paar Zentimeter könnte ich noch schaffen. Ein paar Zentimeter, Kropp, sagte ich mir. Ein paar Zentimeter. Und danach noch ein paar Zentimeter. Meine Zähne klapperten, und mir war fürchterlich kalt. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir je so kalt gewesen war. Das sanfte Licht um sie herum brannte mir in den Augen, also schloss ich sie und spürte Wärme um mich herum, als hätte mich jemand in eine Decke gehüllt. Ein Rauschen setzte ein, und ich dachte an einen großen Fluss, der ins Meer strömt. Hunderte von Jahren, ganze Jahrtausende vergingen, und ich wusste immer noch nicht, wie nah ich ihr war oder ob ich ihr überhaupt näher gekommen war. 346
Dann roch ich den Duft von Pfirsichen. Ich öffnete die Augen und sah in das Gesicht des schönsten Mädchens, das mir je begegnet war. Ich flüsterte ihr ins Ohr: »Bei der Macht des Schwertes, Natalia… Im Namen des Erzengels Michael…« Ich tauchte die Finger in die Wunde in meinem Bauch und rieb ihr das Blut in die Seite, wo Mogart sie verletzt hatte. Ich wusch ihre Wunde mit meinem Blut und flüsterte ihr ins Ohr: »Siehst du, ich habe mich erinnert. Mir ist wieder eingefallen, was ich vergessen hatte. Ich wollte schon tot bleiben, weil ich doch so hundemüde war, aber dann ist mir wieder eingefallen, was ich vergessen hatte: die Kraft zu heilen und zu zerstören – steh auf, Natalia, steh auf, weil ich jetzt der Meister bin und du tun musst, was ich sage.« Ich strich ihr das Haar glatt und streichelte ihr mit der anderen Hand über die Stirn. »Komm zurück!«, sagte ich. »Komm zurück!« Nach einiger Zeit, mir kam es wie eine Ewigkeit vor, öffnete sie die Augen und atmete tief, tief ein, und ich wusste, ich hatte sie gerettet.
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KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
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ormalerweise wäre ich nach alldem sicher verblutet, aber Mike kam und fand uns in der Höhle. Bald schon lagen wir auf Bahren, und Männer trugen uns den Pfad oben aufs Kliff hinauf, wo ein Hubschrauber wartete, der uns direkt nach London ins Krankenhaus brachte. Nach ein paar Wochen war ich wieder in der Lage, aufrecht zu sitzen und richtiges Essen zu mir zu nehmen – auch wenn Krankenhausessen allgemein nicht das beste ist und man insbesondere das in England echt vergessen konnte. Sie operierten mich zweimal, um mir einen Teil meines Gedärms zu entfernen und meinen linken Lungenflügel zu reparieren, den Mogart mit einem letzten Stoß eingerissen hatte. Noch ein paar Wochen später konnte ich wieder herumlaufen, und manchmal ging Natalia mit mir über die Gänge spazieren. Wir redeten bei unseren gemeinsamen Spaziergängen nicht viel. Aber sie dankte mir dafür, dass ich ihr Leben gerettet hatte. Einmal fragte ich sie, ob sie an Engel glaube. 348
»Als kleines Mädchen glaubte ich, dass ich einen Schutzengel hätte.« »Das zählt nicht«, sagte ich zu ihr. »Kleine Kinder glauben auch an den Nikolaus. Dein Vater sagte, Engel gibt es, ob wir nun an sie glauben oder nicht.« Da sah sie weg. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, dass ich ihren Vater erwähnt hatte. Endlich hatte sie einmal mit mir gesprochen, als wäre ich ein halbwegs normaler Mensch. »Wahrscheinlich ist es zu schwer für dich, mir zu vergeben«, sagte ich. »Ich schaffe es ja selbst nicht, sosehr ich es auch versuche.« »Warum hast du mich nicht sterben lassen?«, fragte sie. »Das wäre besser gewesen. Warum hast du mich nicht sterben lassen?« Sie begann zu weinen. Ich hatte mich entschuldigt, aber das machte es nur noch schlimmer für sie. Genau das schien meine spezielle Begabung zu sein: was sowieso schon schlimm war, noch schlimmer zu machen. Ich versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber sie wandte sich ab. Ihr Leben hatte ich ihr zurückgeben können, aber ihr Herz blieb gebrochen. Als Natalia gegangen war, fühlte ich mich schlechter, als ich mich je in dieser ganzen Geschichte gefühlt hatte. Vielleicht glaubst du, die Welt zu retten würde einem die Stimmung heben, bei mir war es nicht so. Ich konnte die Welt dreimal retten, Onkel Farrell wurde dadurch nicht wieder lebendig. Und 349
auch mein Vater nicht. Oder Bennacio. Immer wieder sah ich vor mir, wie er fiel; wie er Mogart mit erhobenen Armen in sich hineinrennen ließ. Warum hatte Bennacio nicht gekämpft? Er hätte nach vorn schnellen und Mogart bei den Beinen packen können. Warum hatte er einfach aufgegeben? Wie konnte er so sein kostbares Gelübde halten? Ich war deswegen ganz schön sauer auf ihn. Hätte er nicht aufgegeben, wäre die Sache nicht an mir hängen geblieben, er lebte noch und Natalias Herz wäre nicht gebrochen. Ein Schatten fiel ins Zimmer, aber ich bemerkte ihn kaum. Ich hatte von allem genug: vom Krankenhaus, von London, von meinen Erinnerungen und von mir selbst. Ich wollte mit nichts mehr etwas zu tun haben. Der Schatten kam näher, und ich hörte, wie sie leise fragte: »Alfred, warum weinst du?« »Es funktioniert bei allen anderen, Natalia«, sagte ich. »Nur bei mir nicht. Alle kann ich heilen, nur mich nicht.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Sie hatte sich umgezogen und trug einen langen roten Mantel und darunter ein graues Kleid mit einem dieser weichen hohen Kragen. Ihre Ohrringe waren schwere Diamanten von der Größe grüner Oliven. Das rotgoldene Haar floss ihr offen über die Schultern. Sie sah aus wie eine mittelalterliche Prinzessin, 350
wunderschön und sehr fremd. Als ich sah, dass sie so angezogen war, begriff ich, dass sie das Krankenhaus verlassen wollte. »Du vergisst etwas«, sagte sie. »Ich vergesse nichts«, sagte ich. »Das ist das Problem.« »Du vergisst, dass du die Welt gerettet hast.« Ich antwortete nicht. Ich fragte mich, warum sie zurückgekommen war. Irgendwie ahnte ich es auch, nur konnte ich es nicht in Worte fassen. Dann sagte sie: »Ich gehe, Alfred.« »Wann?« »Heute Abend.« »Geh nicht.« »Ich muss.« Sie atmete tief ein und saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl. »Aber bevor ich gehe«, fuhr sie fort, »wollte ich dem Meister die Ehre erweisen.« Sie sah hinunter in mein verheultes Gesicht. »Ich bin der Meister von gar nichts«, sagte ich. »Alfred«, sagte sie sanft. »Wie mein Vater habe ich sehr lange auf dich gewartet. Mein Vater hat mir Geschichten erzählt über unseren Vorfahren Bedivère und wie er den König betrog, indem er sich weigerte, das Schwert dem Wasser zurückzugeben, aus dem es gekommen war. Stunden habe ich damit verbracht, mir vorzustellen, wie der Meister sein würde. Groß, gut aussehend, tapfer, ehrlich, rein, beschei351
den, der Ritter aller Ritter – kurz, alles das, was ich glaubte, in meinem Vater zu sehen.« Sie sah mich von der Seite her an, und ich war eindeutig nicht der, den sie sich als den Meister des Schwertes vorgestellt hatte. »Ich habe ihm sogar, als ich noch sehr jung war, gesagt, dass er doch der Meister sein könne, dass es womöglich sein Schicksal sei, das Schwert für sich zu fordern und so der Schande der Bedivères ein Ende zu setzen.« »Was hat er dazu gesagt?« »Er erzählte mir, was Merlin prophezeit hat, als er die Welt der Menschen verließ. Er sagte, dass der Meister nicht kommen werde, bevor nicht der letzte männliche Nachfahre des Hauses Bedivère umgekommen sei. Und mein Vater glaubte an diese Prophezeiung, Alfred. Er glaubte an sie, weil er an ihre Gerechtigkeit glaubte. Es war der Preis für das Versagen Bedivères, unsere Sühne für seine Schuld.« Ich dachte daran, wie Bennacio vor Mogart gekniet hatte, und jetzt verstand ich, warum er die Arme so ausgestreckt hatte, als wollte er sagen: Hier bin ich. Hier bin ich. »Oh, Mann«, sagte ich. »Als wenn ich mich nicht schon schlecht genug fühlte, Natalia. Was soll ich denn jetzt tun? Ich habe einfach nur meinem Onkel geholfen. Ich wusste nichts von meinem Vater und ganz sicher nicht, dass ich das Schwert der Könige für einen schwarzen Ritter oder einen Diener der 352
Finsternis stahl, oder was immer er war. Ich meine, welcher vernünftige Mensch glaubt denn heute noch an diese Sachen, an Merlin und König Artus, magische Schwerter und Engel und Prophezeiungen – wer glaubt so was heute noch? Ich weiß nicht, was du von mir willst, Natalia. Kannst du mir sagen, was ich tun soll? Irgendwer sollte mir einen Tipp geben, und zwar schnell, denn ich weiß absolut nicht mehr weiter.« Sie beugte sich über mein Bett, und ihr Haar fiel mir über das Gesicht. »Er hat seinen Frieden gefunden, Alfred«, flüsterte sie. »Sein Traum hat sich erfüllt, und er hat seinen Frieden. Jetzt musst auch du ihn finden.« Dann küsste sie mich auf die Stirn, und ihre Haare waren die Wände einer Kathedrale über mir, ein Heiligtum, und noch einmal murmelte sie in mein Ohr: »Finde deinen Frieden, Meister Alfred.«
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KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
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ngefähr eine Woche bevor ich entlassen werden sollte, öffnete sich die Tür und ein Mann in einem dunklen Anzug kam in mein Zimmer. Er war groß und erinnerte mich mit seinen hängenden Schultern, seinem Hundegesicht und den ungeheuer langen Ohrläppchen an einen traurig dreinblickenden Basset. Er schloss die Tür hinter sich, und ich setzte mich im Bett auf und dachte: Was kommt denn jetzt? Er sagte kein Wort und sah mich kaum an, ging zum Fenster und warf einen Blick durch die Vorhänge, ging zum Bad und sah auch dort hinein. Dann öffnete er die Tür wieder und sagte leise etwas zu jemandem draußen auf dem Flur. Endlich trat er zurück, und eine Frau kam herein. Sie trug einen Nadelstreifenanzug und glänzende schwarze Stöckelschuhe, die über das Linoleum klackerten. Ihr hellblondes Haar war zu einem Knoten gebunden. Sie hatte ein in weißen Satin gewickeltes Bündel dabei. »Abigail?«, sagte ich. »Alfred.« Sie lächelte, und ich war erstaunt, wie 354
gut ihre Zähne waren. »Wie schön, dass du dich an mich erinnerst.« Nachdem sie ihrem hundegesichtigen Begleiter das Bündel gegeben hatte, setzte sie sich zu mir ans Bett. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie. »Ziemlich mies«, sagte ich. »Körperlich geht’s schon. Aber ansonsten bin ich ziemlich durch den Wind.« »Du hast einiges durchgemacht«, sagte sie. Es folgte ein unangenehmes Schweigen. »Ich hab’s nicht«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Was hast du nicht, mein Lieber?« »Sie wissen schon. Ich hab’s nicht. Und ich weiß auch nicht, wo es ist, obwohl ich eine Vermutung habe.« »Und die wäre?« Ich biss mir auf die Lippe. Das Lächeln wich nicht aus ihrem Gesicht, und ihre blauen Augen glitzerten und strahlten. »Du traust mir nicht«, sagte sie ruhig, »und ich kann es dir nicht mal verübeln, Alfred. Wir haben nicht viel dafür getan, dein Vertrauen zu gewinnen. Wie auch immer, du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich glaube, ich weiß es schon. Das Geschenk ist dem Schenkenden zurückgegeben worden.« Ich sagte darauf nichts, und sie senkte die Stimme. »Der Meister fordert das Schwert ein und lernt dabei, dass es sich nicht einfordern lässt.« 355
Ihr ganzes Gesicht strahlte jetzt. »Wir haben die Höhle völlig auf den Kopf gestellt, Alfred, und das Unterste zuoberst gekehrt. Das Schwert ist verschwunden, was gleichzeitig ein großer Verlust und ein großes Glück ist. Seine Zeit auf Erden ist verstrichen, und es gibt heute ein Wunder weniger in unserer Welt. Vielleicht ist das der Preis, den wir für… für unser Erwachsenwerden bezahlen müssen.« Ich starrte sie an. »Wer sind Sie eigentlich?« »Ich dachte, das wüsstest du, mein Lieber.« »Alles, was ich weiß, ist, dass Sie ein doppeltes Spiel mit Mr. Samson gespielt haben, genau wie mit Bennacio und seiner Tochter, die es fast das Leben gekostet hätte, und mich haben Sie umgebracht und…« »BIPAP hat mit niemandem ein doppeltes Spiel gespielt, Alfred. Das war Mike Arnold.« Sie verzog das Gesicht, als fiele es ihr schwer, den Namen auszusprechen. »Du weißt genau, was für eine Wirkung das Schwert auf… schwächere Menschen haben kann. Mike war von Anfang an völlig verrückt danach. Ohne unser Wissen nahm er Kontakt mit dem Drachen auf und verriet Samsons Plan, den Unterschlupf in Spanien zu stürmen. Er war bereit, Bennacio zu opfern, nur um das Schwert zu bekommen. Am Ende verriet er Mogart sogar, wo er Natalia finden könne, natürlich ohne unser Wissen. Er hat uns alle hintergangen, aber das ist vorbei.« 356
»Sie haben Mike Arnold getötet?« Sie lächelte. »Er ist nicht länger bei der Firma.« »Die Firma«, sagte ich. »Was ist das für eine Firma? Was heißt BIPAP, und warum ist Ihnen das Schwert so wichtig?« »Es ist unser Auftrag, uns um solche Dinge zu kümmern.« Ich sah sie eine Sekunde lang an und sagte dann, weil ich in der Zwischenzeit doch einiges gelernt hatte: »Entschuldigen Sie, das war jetzt mein Fehler: Ich habe Ihnen zwei Fragen gestellt, und Sie haben sich die ausgesucht, die Sie beantworten wollten.« Sie lachte mit einem leisen Trillern, so wie man es von sehr kultivierten Leuten oder von Engländern erwartet. »Unsere Organisation widmet sich der Erforschung und dem Erhalt der großen Geheimnisse dieser Welt«, sagte sie. »Wirklich? Und ich habe die ganze Zeit gedacht, Sie wären eine supergeheime Truppe von Spionen, die Leute umbringen, die sie nicht mögen.« »Wir sind keine Spione, Alfred. Jedenfalls nicht so, wie du denkst. Und geheim sind wir nur insofern, als dass kaum jemand von unserer Existenz weiß. Es stimmt, wir verfügen über gewisse … Technologien, die noch nicht offiziell bekannt sind, aber trotzdem findest du bei uns eher Tintenflecken in Hemdtaschen und Laptops als schusssichere Westen und Pistolen. 357
BIPAP beschäftigt mehr Wissenschaftler, Historiker und Theoretiker als Feldagenten wie Mike Arnold. Der Chef meiner Abteilung ist Doktor der Thaumatologie. Ich selbst habe in Eschatologie promoviert.« »Was ist das denn?«, fragte ich. Sie war genau wie Bennacio – je mehr sie erklärte, umso verwirrter wurde ich. »Die Eschatologie ist die Lehre von den letzten Dingen. Der Tod. Das Leben danach. Das Ende der Welt.« »Ah, verstehe.« »Und die Thaumatologie ist die Wissenschaft der Wunder. Es war also nur normal, dass Samson sich an uns wandte, als das Schwert verloren gegangen war.« Abigail stand auf, ging zu dem Mann mit dem Hundegesicht und den großen Händen, und er gab ihr das lange in Satin gewickelte Ding. Sie legte es mir auf den Schoß. »Was ist das?«, fragte ich, erriet es aber, bevor sie etwas sagen konnte. Ich zog an einer Ecke des Tuchs, die schwarze Klinge kam zum Vorschein. »Bennacios Schwert«, sagte sie. »Wir haben es in Stonehenge sichergestellt und dachten, dass du es vielleicht gerne hättest.« Ich starrte auf das schwarz schimmernde Metall. »Danke«, flüsterte ich. »Vielen, vielen Dank.« »Da ist noch etwas, bevor ich wieder gehe«, sagte Abigail. »Ich wollte dir sagen, dass die Firma ziem358
lich beeindruckt ist, Alfred.« »Wovon beeindruckt?«, fragte ich. »Von dir«, sagte sie. »Das war absolut außergewöhnlich.« »Was?« »Dass du nicht nur diese ganze Tortur überlebt hast, sondern dir auch noch das gelungen ist, was wir trotz all unserer Möglichkeiten nicht geschafft haben.« »Nun«, sagte ich. »Das Ganze war ja doch eigentlich mein Fehler, und deshalb dachte ich, es wäre schon richtig, was zu unternehmen.« »Sei nicht so hart mit dir. Du bist noch sehr jung. Du weißt ja gar nicht, wie selten das ist.« »Jung zu sein?« »Das Richtige zu tun. Und es nicht nur zu tun, sondern überhaupt erst einmal zu begreifen, was das Richtige ist.« »Oh«, sagte ich. »Das stimmt.« Ich war allerdings nicht ganz sicher, worauf sie hinauswollte oder warum wir überhaupt so ein philosophisches Gespräch führten. »Wir werden dich im Auge behalten, Alfred Kropp«, sagte sie. »Ja?« Das klang gar nicht gut. »Wir sind sehr an deiner… Entwicklung interessiert.« Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Hören Sie, 359
Abby… Abigail… Ma’am … Ich habe absolut nicht die Absicht, nochmal was mit dem Schwert zu tun zu kriegen. Wenn Sie sich also Sorgen machen…« Sie hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Natürlich geht es auch darum, ja, aber vor allem um etwas anderes. Von Zeit zu Zeit entwickeln sich Situationen, die… äh…« Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. Es war so, als wollte sie mir etwas erklären, ohne es wirklich auszusprechen, so wie Erwachsene irgendwann anfangen, von Bienchen und Blumen zu reden. »Wie auch immer, ich wollte dir das hier geben, für den Fall, dass du einmal mehr über die Firma erfahren willst. Wir suchen ständig gute Nachwuchskräfte – das Außergewöhnliche, wenn du so willst.« Damit ließ sie eine Visitenkarte in meinen Schoß fallen, stand von ihrem Stuhl auf, nickte dem Mann an der Tür zu und ließ mich allein. Ich nahm die Karte und las, was darauf stand: Büro Interdimensionaler Paradoxa & Außergewöhnlicher Phänomene (BIPAP) Dr. Dipl-Theo. Abigail Smith MD, MBA Leitende Spezialagentin Abteilung für Feldoperationen Washington · London · Paris · Tokio · Brüssel · Rom · Moskau · Sydney 360
KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
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eine Pflegeeltern, die Tuttles, kamen am nächsten Tag nach London, um mich zurück nach Amerika zu holen. Ich wusste nicht, dass sie kommen würden. Plötzlich standen sie in der Tür, und Horace Tuttle rief: »Alfred Kropp, großköpfiger Schrecken der Meere! Was in drei Teufels Namen machst du im englischen London?« »Wenn du noch einmal wegläufst, müssen wir dich wieder abgeben, Alfred«, sagte Betty Tuttle mit Tränen in den Augen. »Müssen wir vielleicht sowieso«, schnaufte Horace. »Du hast uns eine ganze Menge zu erklären, junger Mann!« »Um es gleich zu sagen«, erklärte ich ihnen. »Ich habe die Welt vor der völligen Auslöschung gerettet.« »Natürlich hast du das!«, rief Horace. »Und ich bin Tarzan, der Herr der Affen!« »Ruhig, Horace«, sagte Betty. »Du weißt, was uns der Sozialarbeiter gesagt hat: Alfred ist ein schwieriger Jugendlicher.« »Schwierigkeiten haben wir alle«, grummelte Horace. 361
»Ich bin sicher, Alfred will zurück in die Schule und sich als fleißiger Schüler zu einem nützlichen Mitglied unserer Gesellschaft entwickeln«, sagte Betty und tätschelte mir dabei den Arm. »Stimmt’s nicht, mein Junge?« »Genau«, sagte ich. »Stimmt genau.« »Nun, ich bin nicht das ganze Stück über den Atlantik in dieses gottvergessene ausländische England geflogen, um lange Reden zu halten«, sagte Horace. »Wo sind deine Sachen, Alfred? Wir hauen ab.« »Ich habe nichts«, sagte ich. »Nur das.« Ich zeigte Horace das schwarze Schwert. Er wollte gleich danach greifen, aber ich sagte ihm, das solle er lieber lassen, die Klinge sei äußerst scharf. Schon der Gedanke, dass Horace Tuttle die Waffe des letzten Ritters vom Orden des Heiligen Schwertes berühren könnte, drehte mir den Magen um. »Damit kommen wir nie durch die Kontrolle«, sagte er. »Dann gehe ich nicht«, erklärte ich. »Ohne das Schwert gehe ich nicht.« Das musste ich auch nicht. Ich steckte das Schwert in Horace’ Tasche, und als die Leute am Durchleuchtungsapparat deswegen ausflippen wollten, zeigte ich ihrem Chef die Karte von Abigail Smith. Ein Telefonanruf genügte, und fünf Minuten später waren wir durch die Sperre. 362
KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
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o landete ich also wieder in Knoxville, Tennessee, nachdem ich die Welt und alle ihre Bewohner, einschließlich der Tuttles, vor dem sicheren Untergang gerettet hatte. Eine Woche später ging ich auch wieder in die Schule. Mein Bild war nach der Sache in Stonehenge um den ganzen Globus gegangen, und ich war zu so etwas wie einer Berühmtheit geworden. Trotzdem – ich weiß nicht, wer da wen angerufen und was er ihm erzählt hatte, aber alles lief so, als wäre nichts geschehen. Es gab zwar ein Gerücht, dass ich ein internationaler Terrorist sei, weil sie das im Fernsehen über mich gesagt hatten, aber ich denke, es gibt einfach Menschen, die keinen Sinn für die kleinen Unterschiede haben. Gleich am ersten Tag nahm mich Amy Pouchard nach dem Matheunterricht beiseite. Sie knatschte auf einem frischen Stück Kaugummi, was mich an Mike Arnold erinnerte, und plötzlich mochte ich Amy Pouchard nicht mehr so gern, wie ich gedacht hatte. »Du bist verschwunden, hast was in die Luft ge363
jagt, und jetzt bist du wieder da«, sagte sie. »Ich hab nichts in die Luft gejagt«, sagte ich. »Ich hab aber jemanden umgebracht.« Ihre Augen weiteten sich. »Hör auf!« »Er wollte es nicht anders.« »War er ein Terrorist oder so was?« »Nein, aber du könntest ihn einen Diener der Finsternis nennen.« »Wow. Das ist echt cool!« Sie berührte meinen Arm mit ihrer Hand, die sehr kalt war, und ich fragte mich, ob sie Durchblutungsstörungen hatte. »Hast du ihn erschossen?« »Ich habe ihm mit einem Schwert den Kopf abgeschlagen.« Ihr Mund öffnete sich leicht, und ich konnte das hellgrüne Stück Kaugummi zwischen Zunge und Zähnen sehen. »Kropp! He! Kropp!« Das war Barry Lancaster, der die Leute vor sich zur Seite stieß, um sich einen Weg durch den überfüllten Flur zu bahnen. »Bist du immer noch seine Freundin?«, fragte ich Amy Pouchard. »Irgendwie schon. Aber nicht wirklich. Ich meine, er hat noch nie einen geköpft oder so was. Willst du meine Handynummer?« Mittlerweile hatte Barry mich erreicht und stieß mir ruppig gegen die rechte Schulter. »Was machst 364
du denn hier, Kropp?«, sagte er. »Solltest du nicht im Knast hocken oder so?« »Ehrlich gesagt«, antwortete ich, »sollte ich längst im Sozialkundeunterricht sein.« »Aber stattdessen unterhältst du dich mit meiner Freundin. Echt, Kropp.« »Sie ist nicht deine Freundin, Barry.« »Du musst es ja wissen.« Wieder schubste er mich. »Schubs mich nicht noch einmal, Barry.« »Nein? Was sollte dann wohl passieren, Kropp?« Noch ein Schubser. »Barry«, sagte Amy Pouchard. »Lass das.« Um uns herum hatte sich eine Gruppe gebildet. Es klingelte zur nächsten Stunde, aber keiner achtete darauf. »Vielleicht ist das jetzt eine ganz gute Gelegenheit, dir zu sagen, dass der letzte Kerl, der mich so geschubst hat, heute ohne Kopf rumläuft«, sagte ich zu Barry. »Kotz dich aus«, fauchte er und stürzte sich auf mich. Er hatte echt keine Chance. Ich machte einen Ausfallschritt, und als er an mir vorbeiflog, verpasste ich ihm einen Schwinger auf seinen Blondschopf. Barry ging zu Boden und blieb erst mal liegen. Wäre ich Barry gewesen, hätte ich ihm jetzt noch zusätzlich einen Tritt in die Rippen verpasst, aber ich war nicht 365
Barry Lancaster. Ich war Alfred Kropp, nicht direkt ein Ritter, der an den Ritterkodex gebunden war, aber doch ein Nachfahre des größten Ritters aller Zeiten. Und schon mal gestorben zu sein, denke ich, gibt einem sowieso eine neue Vorstellung davon, worum sich zu streiten lohnt. Ich hielt ihm meine Hand hin. »Sei nicht blöd, Barry«, sagte ich. »Auf die Weise fliegen wir nur beide von der Schule.« »Das war ein reiner Glückstreffer«, keuchte er und schlug meine Hand weg. »Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen«, sagte ich. »Glück habe ich noch nie viel gehabt.« Ich zog ihn auf die Beine, und er spuckte vor mir aus: »Du bist doch nicht normal.« Aber er schubste mich nicht mehr oder versuchte mich zu schlagen. Überhaupt machte von da an keiner mehr blöde Bemerkungen über meine Ausmaße oder lästerte über meinen Intelligenzquotienten. Die Leute machten einen Bogen um mich. Selbst meine Lehrer hielten Abstand und ließen mich in Ruhe. Natürlich machte es schnell die Runde, dass ich zugegeben hatte, jemanden umgebracht zu haben, und so hielt sich auch das Gerücht, ich sei ein Terrorist. Meine Nachmittage verbrachte ich meist in der Altstadt, ich lief durch die Gegend oder ging ins Café Damals, wo ich Bennacio getroffen hatte. Ich setzte mich immer ganz hinten auf den letzten Hocker, 366
nippte an meinem Milchkaffee und beobachtete die Leute, die draußen vorbeigingen. Manchmal holte ich die Karte von Abigail Smith heraus und starrte sie an. Meist jedoch blickte ich aus dem Fenster. Und immer hatte ich Angst davor, »nach Hause« zu den Tuttles zu gehen. Im Café zu sitzen gab mir das Gefühl, bei Bennacio zu sein, der für mich mehr als jeder andere so etwas wie ein Vater gewesen war, und manchmal konnte ich seine Stimme hören: Belaste dich nicht mit Schuld und Reue, Alfred. Mit Schuldgefühlen und Reue ist noch nie eine Schlacht gewonnen oder eine große Tat vollbracht worden. Ich begann zu begreifen, dass ich in Merlins Höhle nicht nur das Schwert der Könige eingefordert hatte. Es ging um etwas weit Mächtigeres und Erschrekkenderes: um mich selbst. Eines Nachmittags, als ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es fast schon sechs war. Wenn ich bei den Tuttles ankäme, würde das Abendessen längst abgeräumt sein, und Betty würde wieder ein Riesentheater machen und fragen, wo ich mich denn nur jeden Nachmittag herumtriebe, statt nach Hause zu kommen und wie ein guter Junge meine Hausaufgaben zu machen. Horace würde stampfen und schreien, dass die dünnen Wände des Hauses zu zittern anfingen. Nachdem ich gegessen hätte, was übrig geblieben war, würde 367
ich mich in das Zimmer zurückziehen, das ich mir mit Lester und Dexter teilte, und am nächsten Morgen wäre wieder Schule. Das sollte jetzt mein Leben sein, das Leben von Alfred Kropp, Erbe des Lancelot, Sohn des Heiligen Ordens, Meister des Schwertes der Könige und außergewöhnlicher Abenteurer? Ich verließ das Café Damals und ging die Central Street Richtung Jackson Street hinunter, aber statt zur Bushaltestelle zu gehen, lief ich zum Münzfernsprecher eine Querstraße weiter und wählte die gebührenfreie Nummer auf ihrer Karte. Als sie antwortete, klang sie überhaupt nicht überrascht. »Hier ist Alfred Kropp, Abby … Abigail … Ms Smith, Doktor Smith, Ma’am«, sagte ich. »Ich hab nochmal drüber nachgedacht, was Sie gesagt haben. Dass Sie, äh, immer Nachwuchskräfte gebrauchen können …«
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