Dan Shocker Die Angst erwacht im Todesschloß Ein erregender Grusel-Krimi mit X-RAY-3 und dem internationalen Psycho-Spe...
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Dan Shocker Die Angst erwacht im Todesschloß Ein erregender Grusel-Krimi mit X-RAY-3 und dem internationalen Psycho-Spezialteam der PSA Die Stimme war eiskalt. Jedes Wort ritzte wie ein Messer die Haut. »Ihr Name ist Larry Brent. Sie gehören der PSA an. Sie sind in New York zu Hause ...« Larry saß auf dem harten Stuhl, der inmitten des kahlen, düsteren, schmucklosen Raumes stand. Vor ihm stand, wie ein breiter, wuchtiger Altar, das Pult, hinter dem seine drei Richter saßen. Sie hatten dunkle Kapuzen übergestülpt. Er konnte ihre Gesichtszüge nicht erkennen. Das Kerzenlicht flackerte, und der schwache rötliche Lichtschein riß die schemenhaften Umrisse der vermummten Gestalten aus dem Dunkel. Bis vor wenigen Minuten hatte Larry noch geglaubt, daß alles nur ein böser Traum war. Spätestens als man ihn mit Gewalt auf den Stuhl zerrte, und die dünnen Nylonschnüre, mit denen man ihm Hände und Füße band, in sein Fleisch schnitten, war ihm klar geworden, daß dies alles andere als ein böser Traum war. Man hatte versucht, ihn einem geheimnisvollen Verhör zu unterziehen. Seine rätselhaften Gegner wollten Näheres über die PSA wissen. Larrys Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich.
Wieso war in diesem Kreis dieser Begriff überhaupt bekannt? Die Geheimorganisation, der er angehörte, war neu, und nur der Tatsache, daß kaum ein Mensch von ihrer Existenz wußte, hatte sie ihre ungewöhnliche Schlagkraft zu verdanken. Hartnäckig hatte er jede Auskunft verweigert, er hatte es geleugnet, eine Organisation zu kennen, die sich PSA nannte. Die Männer hinter den dunklen Kapuzen unter den dunklen Umhängen jedoch schienen mehr zu wissen. Man hatte ihn geschlagen und getreten, ihm den Tod angedroht. Larry hatte geschwiegen. Er schwieg noch immer, jetzt, wo er genau wußte, was ihn erwartete. Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er schluckte mehrmals heftig. Sie hatten ihn fertiggemacht, aber sie hatten es nicht fertig gebracht, ihm das wenige Wissen, über das auch er nur verfügte, zu entlocken. »Sie sind sehr jung, Brent. Ein bißchen früh, um schon zu sterben, finden Sie nicht auch? Dabei ist alles ganz einfach. Sie nennen uns den Zugang zum Hauptquartier der PSA – und sind im gleichen Augenblick frei ...« »Ich weiß nicht, was Sie mit der PSA meinen.« Larry gab seiner Stimme einen erstaunlich festen, sicheren Klang. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt. Er zerrte verzweifelt an den Fesseln. Er wußte, daß man in diesem Halbdunkel seine Bewegungen nicht kontrollieren konnte. Doch seine Versuche waren vergebens. Wie hauchdünner Stahl schnitten die Nylonschnüre in seine Haut ein, schienen nur noch fester, straffer zu werden. Er fühlte, wie das warme Blut an seinen Handgelenken herunterlief. Einer der Vermummten erhob sich. Es war der Sprecher, der das Verhör und die merkwürdige Verhandlung die ganze Zeit geleitet hatte. »Sie gehören der PSA an, Brent, daran gibt es für uns keinen Zweifel. Wir haben dieser Organisation den Kampf angesagt,
weil sie gefährlicher ist als das FBI und die CIA zusammengenommen.« Für einige Sekunden entstand eine kurze Pause. Die Ruhe legte sich wie ein erdrückender Ballast auf Larry. Und dann wieder die harte, kalte Stimme des Vermummten. »Jeder Agent der PSA ist unser Feind. Also muß er ausgelöscht werden. Sie sind der sechste. Sie werden zum Erhängen verurteilt. Das Urteil wird bei Morgengrauen vollstreckt, unwiderruflich ...« * Der Duke of Huntingdon, ein Mann Anfang fünfzig, mit schütterem Haar und einem ovalen, bleichen Gesicht, ging mit nervösen Schritten in der kostbar ausgestatteten Bibliothek auf und ab. Er näherte sich mehr als einmal dem anschließenden Bibliotheksraum, in dem ein kleiner Schreibtisch stand, ein mit rotem Samt bezogener Stuhl davor. Der Raum endete in einem halbrunden Erker. Das Glas in den Fensterrahmen war rauchgrau. Der Blick des Duke ging in die Ferne der weiten, flachen Landschaft von Suffolk. Er sah den gewundenen Lauf des Waveney, dessen dunkelbraunes Wasser träge flußabwärts strömte. Links, wo die letzten Meter eines seitlichen Anbaus des Schlosses sichtbar waren, zeichneten sich am Horizont die sanften Hügel der Gog Magog Hills ab. Das Schloß des Duke lag weitab von jeder menschlichen Ansiedlung. Es war eine einsame, menschenleere Gegend. Die nächste Ortschaft lag mehr als siebzig Meilen entfernt. Der Duke warf einen letzten Blick auf die weiten Felder der tückischen Moorlandschaft, die sich bis zum Horizont hin zu erstrecken schien. Büsche und Sträucher zogen sich in dichten Ketten über die Ebene hin, vereinzelt ragten ein paar Bäume aus dem grauen, moosigen Boden, reckten ihre kahlen Äste gegen den verwaschenen Himmel. Es war ein trüber, regneri-
scher Tag, der sich seinem Ende zuneigte. Der Abend senkte sich über die einsame, schwermütige Landschaft. Ein tiefer Atemzug hob und senkte die schmale Brust des Duke. Er wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über sein blasses Gesicht, und ein leiser Seufzer kam über seine etwas bläulichen Lappen. Mit einem Ruck wandte er sich plötzlich um. Er mußte es tun. Die beiden Gäste konnten nicht länger im Schloß bleiben. Er konnte einer Verlängerung ihres Aufenthalts nicht zustimmen. Heute war der 23. Oktober. Der Duke ging mit raschen Schritten durch die geräumige Bibliothek. Die Bücherschränke waren zum Bersten gefüllt. Die kostbaren, goldbeschrifteten Bände und goldbeschlagenen Einbände schimmerten hinter den Glaswänden der Schränke. Mehr als dreißigtausend Bände umfaßte diese Bibliothek, die das Herz eines jeden Sammlers höher schlagen ließ. Es waren besonders seltene und kostbare Stücke aus dem frühen fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert darunter, mehr als dreihundert Bibeln aus dem Mittelalter, von denen einige die Größe eines kleinen Schreibtischs hatten. Die Bibliothek war insgesamt in sechs verschiedene Räume unterteilt. Jeder Raum zeugte vom einstigen Reichtum der Familie des Duke. Die alten Möbel, kostbare Sessel und Stühle, mit farbenprächtigen teuren Stoffen bespannt, ein breiter, wuchtiger Schrank aus dem 16. Jahrhundert mit wertvollen Intarsienarbeiten. Die Szenen in den Schranktüren zeigten Ausschnitte aus dem bewegten Leben der Vorfahren des Duke, der seinen Stammbaum bis in das frühe 14. Jahrhundert nachweisen konnte. Der Duke durcheilte die sechs Räume. Im Kamin des letzten Bibliothekszimmer brannten noch ein paar dicke Holzscheite. Die Lampe neben dem Lesetischchen war noch nicht angeknipst. Der Duke hatte in den frühen Nachmittagsstunden hier
gesessen und gelesen. Er machte sich jetzt, als er den Raum verließ, nicht die Mühe, die Lampe auszuschalten. Die Tür klappte hinter ihm ins Schloß. Mit raschen Schritten eilte der Duke of Huntingdon, einer der letzten Nachkommen dieses Namens, die einem Bruder des berühmt-berüchtigten Edward of Huntingdon entstammten, der zur Zeit Heinrich VIII. lebte, und der, wie sein berühmter Zeitgenosse, wegen seiner Weibergeschichten in die Annalen der Familiengeschichte eingegangen war, durch den weiträumigen Gang, in den zahlreiche Zimmer mündeten. Viele dieser Zimmer trugen noch deutlich erkennbare, moderne Ziffern. Dieser Flügel des Schlosses war eine Zeitlang den Touristen und Gästen vorbehalten, gewesen, die aus und nach England kamen und vielleicht eine Nacht unter mittelalterlichen Utensilien verbrachten, um später erzählen zu können, wirklich in einem der ältesten Schlösser Englands übernachtet zu haben. Das Schloß des Duke war sehr groß. Es verfügte über fast achtzig Zimmer. Ein Großteil dieser Zimmer wurde nicht mehr gereinigt und gepflegt. Die Einrichtung verkam. Der Duke lebte mit seinen beiden Töchtern, einer ältlichen Hausdame und einem irischen Diener allein in diesem großen Gebäude, das fünfzig Familien dieser Größe hätte beherbergen können, ohne daß man sich gegenseitig gestört hätte. Touristen und Gäste kamen nicht mehr in dieses Schloß, und so war auch dieser Flügel der allgemeinen Verschmutzung und dem langsamen Verfall preisgegeben. Die Hausdame und der Diener hatten ihre Mühe, gerade die Räume sauber zu halten und zu pflegen, die vom Duke bewohnt wurden. Früher, als der Touristenstrom noch herrschte, waren viele Angestellte in diesem Schloß. Doch dann kam es zu einigen rätselhaften Vorfällen, die den Touristenstrom versiegen ließen. Einige Übernachtungsgäste wurden ermordet. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durch ganz England. Scotland Yard schaltete sich ein. Peinliche Verhöre und Untersuchungen
folgten. Sie verliefen ergebnislos im Sand. Das Schloß wurde verrufen, man nannte es allgemein das »Todesschloß«. Der Duke entließ seine Angestellten, außer der Hausdame und dem Diener. Der Duke zog sich aus dem gesellschaftlichen Leben in London zurück. Es wurde ruhig um ihn und seine Familie. Man mied ihn, sein Schloß, seine Gesellschaft. Man munkelte, daß er vielleicht selbst etwas mit den rätselhaften Mordfällen zu tun haben könnte. Doch eine Schuld war ihm niemals nachgewiesen worden. In unregelmäßigen Abständen – mal nach einem Vierteljahr, mal nach sieben oder acht Monaten – tauchte jedoch immer wieder einmal ein Beamter von Scotland Yard auf, unterhielt sich mit dem Duke, stellte einige Fragen, sah sich auch im Schloß um und verschwand wieder. Der Yard hatte es längst aufgegeben, Licht in die dunkle Angelegenheit zu bringen. Kommissar Hafther, der diesen Fall bearbeitete, hatte keine Hoffnung mehr, die Akte jemals als erledigt in das Archiv zu legen. Daß er hier und da einen Beamten hinschickte, war mehr eine Routinesache, um zu zeigen, daß er die Angelegenheit nicht ganz vergessen hatte. Und vielleicht spielte der Zufall doch eines Tages noch einmal eine große Rolle ... Der Duke ging in das große Gesellschaftszimmer. Farbenfrohe, kostbare Teppiche bedeckten den Boden. Die Wände und Regale waren angefüllt mit wertvollen Kunstgegenständen und Gemälden. Vier Kristallüster, venezianische Arbeiten, die im 16. Jahrhundert angefertigt worden waren, hingen schwer von der Decke herab. Der Gesellschaftsraum war leer. Der Duke betätigte die Klingel. Er brauchte keine Minute zu warten. Eine Seitentür öffnete sich fast lautlos. Der irische Diener John, ein schwerer Mann mit breiten Schultern, einem ruhigen, ausgeglichenen Gesicht, betrat das Zimmer. »Sie haben geläutet, Sir?« John sprach fast flüsternd. Er zupf-
te mechanisch seine Livree zurecht und blickte den Duke aufmerksam an. John, der Ire, versah stets treu seinen Dienst. Er lebte bereits seit mehr als zwölf Jahren in diesem Haus. Die Vorfälle, die vor drei Jahren ganz England schockierten, hatten den Iren nicht bewogen, den Duke zu verlassen, wie viele andere Angestellte im Schloß das spontan getan hatten. »Wo sind meine Töchter, John? Die beiden Gäste, Ellen und ihr Verlobter?« fragte der Duke, während er zwei Schritte auf den Diener zuging. »Im Blauen Salon, Sir.« John verbeugte sich leicht. »Die Herrschaften und die Gäste spielten bis vor einer Viertelstunde hier im Gesellschaftszimmer noch eine Bridgepartie. Dann entschloß man sich plötzlich, sich die Aquarell- und Ölgemäldesammlung in dem Blauen Salon noch näher anzusehen. Der Verlobte Ihrer verehrten Nichte, Sir, scheint ein sehr großer Kunstkenner und auch Kunstfreund zu sein. Ich glaube, daß die Besucher noch eine Nacht länger bleiben wollen, Sir«, fügte John unvermittelt hinzu. Der Duke hob kaum merklich die dichten schwarzen Augenbrauen. »Ja, ich weiß, John«, murmelte er leise. »Gerade deswegen möchte ich Sie sprechen. Vielen Dank!« Er ging an dem Diener vorbei, hochaufgerichtet, die Lippen fest zusammengepreßt. Die Backenmuskeln des Duke zuckten. Er mußte seine Besucher davon überzeugen. Es war der dreiundzwanzigste. Der Gast, der an diesem Abend in das Schloß kommen würde, liebte es nicht, wenn andere Gäste da waren. Der Duke ging in den Blauen Salon. Noch bevor er die Tür öffnete, hörte er das Stimmengewirr, eine klare, freundliche Stimme, ein leises Lachen. Harry Banning, der Verlobte seiner Nichte Ellen, ließ sich ausführlich über die Arbeit eines alten englischen Meisters aus. Der Duke klopfte an, wartete auf das »Herein«, und drückte dann die schwere Klinke herunter.
Er wurde begeistert empfangen, er war im Nu von seinen beiden Töchtern und von seinen beiden Besuchern umringt. »Harry ist ein ausgezeichneter Kommentator, Vater«, sagte Margarete, seine jüngste Tochter. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und studierte Archäologie. Der Duke fand, daß Margarete ihrer leider allzu früh verstorbenen Mutter immer ähnlicher wurde. Sie hatte die großen dunklen Augen geerbt, das schwere, schwarze Haar und den zarten, bronzefarbenen Teint, der ihre Schönheit hervorhob und ihr etwas Exotisches verlieh. Der Duke lächelte kaum merklich, doch seine Augen lächelten nicht mit. »Ja, ja, ich weiß«, sagte er abwesend, während seine Gedanken ganz woanders weilten. »Er ist ein Kunstkenner, wie wir lange keinen mehr im Schloß hatten.« Margarete war begeistert. »Er sieht Dinge darin, die mir noch gar nicht aufgefallen sind. Er sagt, daß die Schafherde, die sich um ihren Hirten versammelt, sich scheu und angsterfüllt in seiner Nähe ordnet, nicht vor den Hunden flüchtet, die in großen Sätzen die versprengten Schafe zusammentreiben, sondern ganz offensichtlich von allein in seine Nähe kamen, weil sie das Unwetter spüren, das hinter den Bergen aufkommt. Und das stimmt, Vater! Sieh dir den Himmel an, die drohenden Wolken, die eine weitaus stärkere Aussagekraft haben als die herumjagenden Hunde, und die Farben, Vater ...« Mit einer ruhigen Geste brachte der Duke seine Tochter zum Schweigen. Sein Blick wanderte zu Ellen, seiner Nichte. Ellen war im Vergleich zu Margarete ein zartes, beinahe zerbrechliches Geschöpf. Sie war schlank, groß gewachsen. Das lange, blonde Haar fiel wie eine Flut auf ihre zarten Schultern. »Ich muß dich sprechen, Ellen«, sagte der Duke. Und während er diese Worte sprach, verschwand das Lächeln auf den Lippen seiner Tochter Margarete, als würde ein eisiger Hauch es hinwegwischen. Er begegnete dem Blick seiner anderen Tochter, Patricia, und er sah die Sorge und die Angst in ihren Augen aufsteigen.
Margarete schluckte, ihre Lippen zitterten. »Ist es wegen ...« Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Mit einem kaum merklichen Kopfnicken unterbrach der Duke die flüsternde Bemerkung seiner Tochter. Der Duke wandte sich an Harry Banning. »Nutzen Sie die Zeit, die Sie noch im Schloß sind, junger Mann! Sehen Sie sich die Aquarelle hier im Blauen Salon gut an. Ich bringe Ihnen Ellen gleich zurück.« Harry Banning lachte. Er brach abrupt ab, als er sah, daß seine Heiterkeit nicht angebracht war. Er sah die ernsten, sorgenvollen Mienen von Margarete und Patricia, er zuckte nichtverstehend die Achseln und wandte sich wortlos wieder den Bildern zu ... Der Duke verließ den Blauen Salon. Er ging ernst neben Ellen her. »Ihr wolltet noch eine weitere Nacht bleiben, Ellen«, begann der Hausherr leise. »Ich habe vor etwa zehn Minuten einen Anruf bekommen. Drei Geschäftsfreunde kommen am späten Abend an. Ich werde mich nicht um euch kümmern können, und ...« »Aber das macht doch nichts, Onkel George«, sagte Ellen mit ihrer hellen, klaren Stimme. »Harry und ich haben noch so vieles nicht gesehen, es wird uns nicht langweilig werden. Wir werden dich nicht stören, und Margarete und Patricia können ...« Sie verhielt im Sprechen, als der Duke ihr die Hand auf die Schulter legte. »Nicht nur allein darum geht es, Ellen. Eure Zimmer ... die beiden Zimmer, in denen du und Mister Banning während der letzten drei Tage untergebracht wart – sie werden gebraucht.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Es tut mir leid, Ellen. Ich war auf drei Tage eingerichtet, ich konnte den Herren nicht absagen. Ihr habt euch ziemlich kurzfristig entschieden, länger zu bleiben, da war es schon zu spät, um die Besprechung noch
hinauszuschieben.« Der Duke wußte, daß diese Worte praktisch einem Hinauswurf gleichkamen, doch er wußte auch, daß er so hart sein mußte, um Schlimmeres zu verhüten. Er erwartete, daß Ellen scharf reagieren würde, doch dieses grazile Wesen schüttelte nur erstaunt den Kopf und lächelte leicht. »Aber Onkel George, darum brauchst du dir doch keine Sorgen zu machen. Harry und ich – wir nehmen zwei Zimmer im Gästeflügel des Schlosses. Ich weiß, daß immer zwei oder drei Zimmer in Ordnung gehalten werden, für unverhofft auftauchende Wanderer oder Touristen, die doch noch gelegentlich ins Schloß kommen.« Der Duke blickte seine hübsche Nichte ernst an. »Das stimmt nicht ganz, Ellen. Zwei Zimmer werden höchstens sauber gehalten, eben für den einen oder anderen Gast. Aber diese zwei Zimmer werden gebraucht, für den Besuch.« »Harry und ich könnten uns zwei Zimmer zurechtmachen, Onkel George.« Der Duke schüttelte den Kopf. »In die anderen Zimmer hat seit drei Jahren kein Mensch mehr einen Fuß gesetzt, Ellen. Ich könnte euch das nicht zumuten. Und noch etwas ...«, fügte er nun schnell hinzu, als er bemerkte, daß Ellen eine Erwiderung auf der Zunge hatte, »ich könnte nicht für eure Sicherheit garantieren, Ellen! Diese Zimmer – du weißt, was vor drei Jahren geschehen ist ...« »Ich glaube, daß du nichts mit diesen Dingen zu tun hast, Onkel. Vergiß nicht, daß wir trotz des Widerstands meiner Mutter hier sind! Meine Besuche sind selten bei dir, ich weiß. Aber ich komme immer wieder mal, während alle anderen Verwandten jeglichen Kontakt abgebrochen haben. Ich bin gekommen, um dir meinen Verlobten vorzustellen, Onkel George, und nun ...« Sie führte die Entgegnung nicht weiter aus. Erst jetzt schien ihr zu Bewußtsein zu kommen, daß der letzten Bemerkung des Duke noch andere Elemente anhafteten.
»Und was die anderen Zimmer anbelangt, Onkel George, weder Harry noch ich fürchten uns vor Geistern. Glaubst du denn wirklich, daß wir den Unsinn glauben, die Gästezimmer, in denen die Morde passierten, seien verhext? Außer dem Klopfgeist des seligen Sir Ronald Ivanhoe of Huntingdon hat es doch nie gespukt, nicht wahr? Und Klopfgeister sind bis jetzt noch niemand gefährlich geworden.« Für den Bruchteil eines Augenblicks huschte ein Lächeln über das bleiche Gesicht des Duke, als der Klopfgeist des Sir Ronald Ivanhoe of Huntingdon erwähnt wurde. Vor langen Jahren, bis vor drei Jahren genau genommen, hatte es in diesem Schloß wirklich und wahrhaftig einen Klopfgeist gegeben. Parapsychologen und Psychologische Institute aus der ganzen Welt hatten ihre Untersuchungsteams nach hier geschickt, um den Klopfgeist als Schwindel zu entlarven. Doch sie mußten sich geschlagen geben und eingestehen, daß dieses wahrhaftig von einem Klopfgeist heimgesucht wurde. Jegliche natürliche Erklärung versagte. Das Schloß des Duke of Huntingdon wurde zu einem der raren englischen Spukschlösser ernannt und der Touristenstrom war dementsprechend. Manch einer kam, um sich zu gruseln. Bis die Dinge sich dann schlagartig veränderten, als innerhalb von zehn Tagen Nacht für Nacht ein Gast des Schlosses sein Leben verlor. Ellen spürte aus den Worten ihres Onkels, daß er offenbar den größten Wert darauf legte, sie und Harry loszuwerden. Sie wußte, daß der Duke – zumindest seit den Vorfällen damals – zu einem weltfremden Sonderling geworden war. Er selbst hatte seit jener Zeit das Schloß nicht mehr verlassen. Seine Töchter waren nur noch gelegentlich in London und in der näheren Umgebung zu sehen. Und sie waren immer allein. »Es tut mir leid, Ellen«, sagte der Duke. »Glaub mir, es ist aber das Beste für euch – und für uns«, fügte er mit veränderter Stimme hinzu. Ellen nickte mechanisch. Ihr Gesicht wurde hart. »Wir sind
ungelegen gekommen, wir kamen ohne Anmeldung, ganz überraschend. Dennoch hast du uns aufgenommen. Wir werden das Schloß verlassen und dir keinen Tag länger zur Last fallen.« Ihre Stimme klang bedrückt. Der Duke erwiderte nichts darauf. Mit einer mechanischen Bewegung zog er den Gürtel seines dunkelblauen Hausmantels enger um seine Hüften. Ellen warf noch einen letzten Blick auf ihren Onkel, dann wandte sie sich abrupt ab. »Ich werde John beauftragen, euren Wagen in Ordnung zu bringen, Ellen«, tönte die Stimme des Duke hinter ihr her. »Zum Supper jedoch bitte ich euch noch zu bleiben.« Die letzten Worte erreichten sie kaum noch. Sie schloß die Tür zum Blauen Salon. Ohne einen Blick auf Margarete und Patricia zu werfen, ging sie auf Harry Banning zu, faßte ihn am Arm und zog ihn beiseite. Harry fühlte sofort die Erregung Ellens. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich muß mit dir sprechen, Harry.« Im Zimmer Ellens besprachen sie die Dinge. Harry hörte aufmerksam zu. »Ich hatte plötzlich Angst vor ihm, Harry«, flüsterte sie, und ihre Augen suchten seinen Blick. »Ich fürchtete mich in seiner Nähe. Dieses Schloß ist mir auf einmal unheimlich. Wir werden abreisen, Harry, auf dem schnellsten Weg! Sein Verhalten, seine Art zu sprechen, die Veränderung seiner Stimme, seine Augen – er ist wahnsinnig, Harry! Von Anfang an hatte ich das Gefühl, daß unser unerwarteter Besuch nicht willkommen war. Doch ich wollte es nicht wahrhaben, die Freude Margaretes und Patricias schien mir so echt.« Harry Banning nickte kaum merklich. Sein volles, gutgeschnittenes Gesicht wurde sehr nachdenklich. »Der Hinauswurf – falls wir ihn wirklich so bezeichnen können, Ellen – kommt für mich nicht überraschend. Fast habe ich damit gerechnet.«
Ellen starrte ihren Verlobten an. Langsam erhob sie sich aus dem schweren Clubsessel, wich wie unter dem Druck einer unsichtbaren Hand an die Wand zurück. »Du hast damit gerechnet?« stammelte sie flüsternd. Ihre Augen waren weit geöffnet. Sie faßte unwillkürlich nach dem Arm einer mannshohen, holzgeschnitzten Statue, die die dunkle Wandnische neben ihr ausfüllte. »Mein Entschluß, länger zu bleiben, kam nicht von ungefähr, Ellen.« Harry Banning zündete sich eine Zigarette an. »Offiziell begründete ich es damit, daß ich mir die zahlreichen Kunstschätze noch ansehen wolle, die es hier zu sehen gibt. In Wirklichkeit aber habe ich eine Entdeckung gemacht. Ich möchte mir das noch genauer ansehen, Ellen. Doch dazu brauche ich Zeit, mindestens diesen Tag noch.« Er senkte die Stimme und kam langsam auf sie zu. »Dieses Schloß birgt ein Geheimnis, Ellen. Ich war von Anfang an neugierig auf dieses ›Todesschloß‹. Man erzählt sich so vieles darüber, und doch weiß kein Mensch etwas Genaues. Was ging hier wirklich vor, Ellen – und vor allen Dingen: was geht noch immer vor?« Harry Banning fuhr mit gedämpfter Stimme fort, während er immer wieder einen Blick in die Runde warf, als erwartete er, einen stillen Beobachter zu entdecken. »Hältst du es für möglich, daß es außer dem Duke, seinen Töchtern und den beiden Bediensteten noch andere Bewohner des Schlosses gibt?« »Ausgeschlossen, Harry!« Er schüttelte den Kopf. »Für so ausgeschlossen halte ich das nicht, Ellen. Ich habe die Lebensspuren anderer Menschen entdeckt! Während du mit Margarete und Patricia im Park warst, während ihr gemeinsam Karten spieltet oder ein Gespräch geführt habt – da war ich im Schloß unterwegs. Ich habe mir manche Räumlichkeit angesehen, von der der Duke keine Ahnung hat. Ich war in den Gewölben unten, im Weinkeller, in den Vorratsräumen. Und ich habe Geräusche gehört, Ellen, Geräusche, die von Menschen stammten!«
Ellen hielt den Atem an. Sie fühlte, wie es ihr plötzlich siedendheiß wurde. »Laß uns gehen, Harry! Laß uns gleich aufbrechen! Ich möchte jetzt selbst nicht mehr länger in diesen Räumen bleiben.« Das Gefühl einer Ungewissen Vorahnung stieg in ihr auf. Der Raum, in dem sie sich befanden, schien ihr zu klein zu werden. Die Wände rückten auf sie zu, sie sah plötzlich hinter jedem der schweren seidenen Vorhänge einen Schatten. Das Knistern und Flackern der Holzscheite im offenen Kamin wurde zu einem Rauschen in ihren Ohren, und das gespenstische Licht- und Schattenspiel der flackernden Scheite auf den Wänden und Bildern, auf Harry Bannings Gesicht, dem Tisch und der mannshohen Holzfigur steigerten ihre Erregung. Harry wollte etwas sagen, doch er verhielt im Ansatz des Sprechens. Er hörte das leise Geräusch von der Tür zu ihrem Zimmer. Ellen zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Harry ging auf Zehenspitzen zur Tür und legte lauschend das Ohr an. Er hörte die schlurfenden Schritte. Leise drückte er die Klinke herab und spähte vorsichtig durch den geöffneten Türspalt. Im halbdunklen Flur sah er die magere Gestalt der Hausdame, die sich langsam durch den langen Gang bewegte, und einen flachen, handkarrenähnlichen Wagen vor sich herschob, in dem sie ihre Putzutensilien untergebracht hatte. Harry sah, wie sie staubwischend über die zahlreichen Gemälde fuhr, die zu beiden Seiten die Wände bedeckten. Sie warf nicht einen einzigen Blick zurück. Harry Banning schloß die Tür. »Was geht hier vor? Und was wissen der Duke, seine Töchter und die Bediensteten, Ellen?« Er drückte mit einer fahrigen Bewegung die halbgerauchte Zigarette aus. »Ich muß es wissen, ich muß wenigstens einen begründeten Verdacht haben.« Er warf einen raschen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »In einer Stunde wird das Supper serviert. Bis dahin können wir zurück sein. Komm mit, Ellen! Ich will dir etwas zeigen, und ich möchte wissen, was du davon hältst.«
Ellen löste sich langsam aus dem Dunkel der Nische. »Ich möchte, daß wir noch vor dem Supper gehen. Was hast du vor, Harry?« Wortlos nahm ihr Verlobter sie an der Hand, ohne ihr eine Antwort zu geben. Er öffnete die Tür und spähte hinaus auf den langen Gang. Die Hausdame war verschwunden. Offenbar hatte sie in einem Salon zu tun, von denen es insgesamt drei in diesem Trakt des Schlosses gab. Der düstere Gang wurde durch zwei Wandleuchten nur schwach erhellt. Die Fenster auf der linken Seite vermittelten einen Blick in die finstere Umwelt. Schwarz, mit schweren Regenwolken verhangen war der Himmel. Es war draußen kalt und naß, ein starker Wind peitschte die langen, nackten Äste der Weiden, die im Hof unten standen. Ein Zweig flog gegen das Fenster. Harry und Ellen huschten durch den langen Gang. Ellen fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Je mehr sie über die Worte Harrys nachdachte, und sie im Zusammenhang mit den Ausführungen ihres Onkels, des Duke of Huntingdon, sah, desto merkwürdiger erschien ihr alles. Eines jedoch mußte selbst einem Tölpel klar werden: der Duke versuchte irgend etwas vor ihnen zu verbergen. Oder – und Ellen preßte ihre Lippen so fest zusammen, daß jegliches Blut daraus entwich – er hatte bemerkt, daß Harry Banning sich an Orten im Schloß zu schaffen machte, die ihm nicht paßten. Er wollte Ellen und Harry loshaben, er fürchtete eine Entdeckung, er wollte verhindern, daß über eine bestimmte Sache außerhalb des Schlosses gesprochen werden konnte. Ellen stöhnte unterdrückt. Wenn die Dinge so lagen, dann befanden sie sich beide in höchster Gefahr! Sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. Sie hatte plötzlich das Gefühl, einen Alptraum zu erleben. Die Welt schien sich während der letzten Stunde um einhundertachtzig Grad gedreht zu haben.
Sie bewegten sich verhältnismäßig rasch durch den Gang, der eine Länge von fast achtzig Metern hatte. Der Gang wurde in regelmäßigen Abständen von körperdicken Sandsteinsäulen unterbrochen. Es war farbiger Sandstein, blau, grün und dunkelrot. Mit einer im 17. Jahrhundert noch gebräuchlichen Technik waren von den Vorfahren des Duke Künstler ihres Fachs in das Schloß eingeladen worden, um diese Sandsteinsäulen einzufärben. Eine breite Treppe führte ein Stockwerk tiefer, in eine große Halle, in der eine alte Kanone, mehrere Bronzestatuen standen. Die Halle war dunkel. Nur die Umrisse der Gegenstände waren praktisch wahrzunehmen. Harry ließ die Treppe links liegen. Er bog rechts ab und stieg eine etwas schmalere Treppe hoch, auf der er und Ellen gerade nebeneinander hergehen konnten. Sie erreichten den Seitenflügel, ohne daß ihnen jemand begegnet wäre. Ruhe hüllte sie ein. Und eine fast undurchdringliche Finsternis. Ellen sah immer nur die mächtigen Säulen wie schattenhafte Gestalten vor sich auftauchen. Die Fensterreihen waren tote, leere Rechtecke, die den Blick in die Finsternis des regnerischen Abends lenkten. Harry erreichte das Ende des Seitengangs. Eine große Tür zeichnete sich aus dem Dunkel ab. Ein großer Schlüssel steckte in dem mit Silber beschlagenen Schloß. Harry drehte den Schlüssel um. Es knirschte und knackte leise in der Mechanik, dann sprang die Tür quietschend auf. Harry zog die stumme, überraschte Ellen in den dahinterliegenden Raum. Ellen hörte und fühlte, wie ihr Herz bis zum Hals emporschlug. Wo befanden sie sich? »Das ist das berühmte Musikzimmer aus dem 16. Jahrhundert«, flüsterte Harry. »Eine Zeitlang war es eine Touristensen-
sation, dann wurde das Zimmer aus den allgemeinen Führungen herausgenommen. Kostbare Instrumente waren beschädigt worden, einige wertvolle, handgeschriebene Notenblätter, zum Teil den Vorfahren des Duke persönlich von den Künstlern gewidmet, gingen verloren. – Durch dieses Zimmer müssen wir hindurch, um dahin zu kommen, wo ich dich gern hinführen möchte.« Das Zimmer war schon mehr ein Saal von fast dreißig Metern Länge und zehn Metern Breite. Zu beiden Seiten hohe Fensterreihen. Zwischen den Fenstern hingen die lebensgroßen Darstellungen von Personen aus der Familie des Duke oder von berühmten Zeitgenossen, die in diesem Schloß übernachtet hatten. Die Farben der Gemälde waren sehr stark, sie leuchteten teilweise aus der Düsternis heraus. Die Mitte des Saals war vollkommen leer. Sie war von einem einzigen, farbenfrohen Teppich bedeckt, der von einem Ende zum anderen reichte. Die beiden Enden des großen Raums wurden von zwei gewaltigen Kaminen eingenommen, die ein Drittel der Raumhöhe hatten. Unter den lebensgroßen Darstellungen zwischen den Fensterreihen standen hochlehnige Stühle, mit Samt und Seide bezogen. Hier hatten die Besucher und die Gäste aus der Vergangenheit gesessen und den Klängen des Spinetts und der Geigen gelauscht, hier hatten sie gezecht und getanzt. Unwillkürlich auf Zehenspitzen gehend, näherten sich die beiden Menschen dem anderen Ende des Musikzimmers. Ellen warf hin und wieder einen Blick auf eines der lebensgroßen Gemälde, das immer nur eine einzelne Person aus einer bestimmten Epoche darstellte. Sie erreichten die hintere Tür. Neben dieser Tür hing auch ein Bild. Es zeigte den seligen Sir Edward of Huntingdon, eine prachtvolle Darstellung. Der längst verblichene Duke präsen-
tierte sich in einer goldfarbenen Rüstung. Sein schmales, bleiches Gesicht drückte Stolz und Triumph aus. Da riß für den Bruchteil eines Augenblicks der Himmel auf. Die bleiche Sichel des Mondes wurde sichtbar. Ein breiter, bleicher Lichtstreifen fiel durch eines der Fenster genau auf das große Bild des Edward of Huntingdon. Ellen sah den dünnen Backenbart, der das fahle Gesicht einrahmte, warf einen Blick in die etwas hervorquellenden Basedowaugen – und schrie in der gleichen Sekunde entsetzt auf. Das rechte Auge bewegte sich! Ihr Schrei gellte durch den riesigen Saal. Dann legte sich eine feste Hand auf ihren Mund. »Ellen, um Gottes willen!« Harry Bannings Lippen zitterten. »Man darf nicht wissen, daß wir hier sind!« Er fühlte den zitternden Mädchenkörper in seinen Armen und löste langsam die Hand von Ellens Mund. »Die Augen, Harry, die Augen dieses Bildes – sie haben sich bewegt.« Ellens Stimme war nur ein Hauch. Wie unter einem Zwang drehte sie sich langsam um und starrte abermals auf das Bildnis, auf den noch ein fahler Hauch des verschwindenden Mondlichts lag. Sie konnte nichts Verdächtiges erkennen. Eine dicke Regenwolke schob sich über die Sichel, schluckte den fahlen Lichtstreifen und hüllte sie wieder in Finsternis. »Deine Nerven haben dir einen Streich gespielt, Ellen«, erwiderte Harry Banning ruhig. »Das eine Auge – es hat sich bewegt, ich habe es genau gesehen«, stieß sie abermals hervor. »Das Auge hat sich bewegt, und es hat mich angesehen.« »Du bist etwas überreizt, Ellen.« Harry Banning versuchte seine Verlobte zu beruhigen. »All diese Bilder hier sind so gemalt, daß der Betrachter das Gefühl hat, der Dargestellte würde ihn ansehen. Wenn zehn Menschen ein solches Gemälde gleichzeitig betrachten, dann glauben alle zehn, daß die Augen genau auf ihren Bück ausgerichtet sind. Das ist eine optische
Täuschung, Ellen. Und das Mondlicht, das für einen kurzen Augenblick auf dieses Gesicht fiel, hat dir einen völlig falschen Eindruck vermittelt.« Sie verließen das Musikzimmer, in dem ihre Füße in dem zentimeterdicken Staub, der auf dem Boden lag, ihre Eindrücke hinterlassen hatten. Nach einem schmalen Gang, in dem zahlreiche Nischen eingelassen waren, die früher offenbar Statuen und Bronzefiguren enthielten, folgte eine ebenso schmale, in die Tiefe führende Treppe. Sie stiegen hinab. Ellen hielt ständig die Hand ihres Verlobten fest. Mehr als einmal bat sie zurückzukehren. »Vielleicht ist es besser so, Harry. Ich bin nicht neugierig. Komm, laß uns gehen!« Doch Harry Banning schien von seinem Gedanken besessen zu sein. »Es wird dich interessieren, Ellen. Und ich bin sicher, daß wir das finden, was wir suchen – dann ist auch die Handlungsweise deines Onkels klar zu verstehen. Du brauchst keine Angst zu haben.« Doch sie hatte Angst, selbst in der Gegenwart Harrys. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. In den Gewölben der nachfolgenden Kellerräume war es empfindlich kalt. Sie hatte beim Weggehen eine Wolljacke über das hellblaue Kleid gezogen, doch die Jacke schien so gut wie nicht vorhanden. Sie atmete die feuchte Luft. Sie passierten einen Gang, der aus nacktem Felsengestein zu bestehen schien. Große Steinbrocken lagen auf dem Boden. Sie stiegen darüber hinweg. Mehr als einmal blieb Harry Banning stehen, um ein Streichholz anzuzünden, um sich zu vergewissern, ob er auch den richtigen Weg ging. Es war so still hier unten, daß sie deutlich das Rauschen eines unter dem Schloß gelegenen Bachs vernahmen, der direkt zum Waveney floß, einem Fluß, der südlich hinter dem »To-
desschloß« begann und zur Nordsee strömte. Noch ein paar Schritte, dann machte der Gang einen Knick, und sie gelangten in eine Art unterirdische Waffen- und Folterkammer. Riesige Langschwerte hingen an den groben Steinwänden, verrostete Schilde und Schwerter lagen am Boden, halbzerfallene Ritterausrüstungen baumelten an den Wänden neben Rüstungen, die noch recht gut erhalten waren. Ein feuchter Luftzug strich über das erhitzte Gesicht Ellens. Irgendwo mußte es hier einen Schacht oder einen Ausgang ins Freie geben. »Hier ist es jetzt, Ellen«, sagte Harry Banning wispernd. »Wenn wir diese Rumpelkammer hinter uns haben, dann sind wir gleich dort.« Im gleichen Augenblick fühlte Ellen die Bewegung zwischen ihren Füßen. Mit einem Aufschrei riß sie sich von Harry los und wich zwei, drei Schritte zurück. »Ratten, Ellen, es sind Ratten«, hörte sie Harry Bannings Stimme aus der Dunkelheit, während sie schweratmend auf die Wand zuwankte und sich dort abstützte. »Laß uns gehen, Harry«, flehte sie noch einmal und ihre Stimme klang völlig verändert. »Mir ist egal, welches Geheimnis du mir zeigen willst, welches Geheimnis du entdeckt zu haben glaubst. Ich habe nur den einen Wunsch: nach Hause zu gehen, nach Hause, Harry. Ich habe Angst! Ich fürchte mich, Harry, und ich weiß nicht einmal wovor. Kannst du mich denn nicht verstehen? Ich hätte nicht mit dir kommen sollen!« Sie hörte das leise, dumpfe Geräusch, aber sie schenkte ihm keine besondere Beachtung. Sie lauschte ihrer eigenen Stimme nach, mit der sie zu Harry Banning sprach. »Sei mir nicht böse, Harry.« Sie lachte plötzlich. »Meine Nerven, weißt du – die Aufregung vorhin wegen des Bildes – das merkwürdige Verhalten meines Onkels – und schließlich deine Bemerkung, daß du etwas entdeckt hast, was du mir unbedingt zeigen müßtest. Vielleicht ist es doch gut, daß du nach hier gekommen bist,
sicher, jetzt finde ich es gut. Vielleicht bist du durch einen Zufall auf das gestoßen, wonach Scotland Yard schon seit Jahren vergebens sucht!« Sie löste ihre Hände von der kalten, feuchten Mauer und wandte sich langsam um. Ihre fiebrig glänzenden Augen versuchten das Dunkel zu durchbohren. »Harry?« Sie rief den Namen ihres Verlobten zum zweiten Mal. Sie lauschte. Sie schluckte. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. »Warum antwortest du nicht, Harry?« fragte sie heiser. »Bitte, erschrecke mich nicht, bitte nicht hier! Gib mir Antwort, Harry!« Sie machte vorsichtig zwei, drei Schritte nach vorn. Instinktiv behielt sie die Richtung bei. Ihre Augen suchten in der Dunkelheit nach dem Verlobten. Sie ging einen weiteren Schritt nach vorn. Sie sah die schemenhaften Umrisse der riesigen Langschwerter, der Schilde und der Ritterrüstungen, sie sah auch die zahlreichen großen und kleinen Folterinstrumente, die man im Mittelalter an unglücklichen Opfern angewendet hatte. Und sie ging noch einen Schritt vor. Da stieß ihr Fuß gegen etwas Weiches. Sie zuckte zusammen und wich sofort zurück. »Harry!« Ihre Stimme überschlug sich plötzlich. Wie unter hypnotischer Gewalt bückte sie sich und zwang sich, auf den Boden zu sehen. Sie riß den Mund zum Schreien auf, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie sah die dunkle, reglose Gestalt vor sich am Boden liegen. Harry!« Fahrig tasteten ihre Hände über den reglosen Körper. Sie fühlte die klebrige Flüssigkeit zwischen ihren Fingern, als ihre Hand auf die Brust Harry Bannings zu liegen kam. »Harry«, stammelte sie. »O Harry, nein ...« Wie von Sinnen warf sie den Kopf in die Höhe. War da nicht ein Geräusch gewesen? Der Mörder Harry Bannings, er mußte
sich doch noch hier aufhalten, hier in dieser unterirdischen Folterkammer. Doch alles war totenstill. Sie sah ganz dicht neben sich eine der Ritterrüstungen stehen und in der gepanzerten Rechten eines der wuchtigen Breitschwerter. Und dann bemerkte sie, daß dieses Schwert blutbesudelt war, und daß dieses Schwert im gleichen Augenblick sich blitzschnell hob und auf sie herabsauste. * Larry Brent war allein. Die Vermummten hatten sich durch eine Geheimtür zurückgezogen. Zwei Kerzen hatten sie gelöscht. Nur eine brannte noch. Der flackernde Lichtschein spielte auf den kahlen, schmucklosen Wänden. Wie war er in diese Lage gekommen? Larry hatte das Gefühl, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an seine Erinnerung ausgesetzt hatte. Er zermarterte sich das Gehirn. Er brauchte einen einzigen Anhaltspunkt, um seine Gedanken weiterspinnen zu können. Und er fand diesen Anhaltspunkt. Er ging Schritt für Schritt diesen Tag zurück, bis er sich daran erinnerte, daß man heute den 23. Oktober schrieb. Er war am Morgen dieses Tages zu einem Intelligenztest in das Hauptquartier der PSA gegangen. Wie es hieß, sollten dies die letzten Formalitäten sein, ehe er als PSA-Agent vereidigt wurde. Das FBI hatte einen seiner fähigsten Agenten verloren, an eine Organisation, die in ihrem Aufbau und dem Einsatz ihrer Mittel einmalig in der Welt war. Nur wenige Menschen wußten überhaupt etwas von der PSA, und den geheimnisvollen Chef dieser neuen Sonderabteilung, der als X-RAY-1 bezeichnet wurde, schien überhaupt niemand zu kennen. Nicht einmal die Agenten, die unter ihm arbeiteten,
seine Befehle ausführten und ihre Berichte im Hauptquartier ablieferten, kannten ihn. Seit etwas mehr als acht Wochen lebte Larry in New York. Vor dieser Zeit war er in Washington zu Hause gewesen. In diesen acht Wochen hatte Larry Brent eine schwere und intensive Ausbildung durchgemacht. Schon während seiner Zeit als FBI-Agent hatte er manches schwere Härtetraining durchstehen müssen, doch das, was in den Trainingsschulen der PSA geschah, stellte alles bisher Erlebte in den Schatten. In Blitzkursen hatte man ihm bereits die notwendigsten Griffe der modernsten und härtesten Kampfsportarten beigebracht. Bisher beherrschte er Judo und Karate, doch jetzt hatte man ihn auch in Aikido und in den wohl härtesten koreanischen Kampfsport Teak-won-do eingeführt. Ein Gegner, der sich mit einem PSAAgenten anlegte, mußte den kürzeren ziehen. Larry fühlte, wie seine Gedanken immer wieder vom wesentlichen abschweiften. Es schien, als sei ein Loch in seiner Erinnerung, das er nicht stopfen konnte. Dieses seltsame Vergessen – hatte man ihm eine Droge gegeben? Wie war das nur gewesen, heute vormittag, als er das Hauptquartier verließ, um in seinen Mercedes 230 SE zu steigen? Das Gas! Wie ein Aufschrei schien es plötzlich in seinem Bewußtsein aufzutönen. Jemand hatte Gas in sein Gesicht gesprüht – und was dann geschehen war, wußte er nicht mehr. Von der anschließenden Fahrt, die er nur vermuten konnte, war nichts in seiner Erinnerung zurückgeblieben. Er war erst hier, auf diesem Stuhl in dem dunklen, kahlen Raum vor seinen drei vermummten Richtern wieder zu sich gekommen. Er war in die Hände eines Geheimbundes, ähnlich dem KuKlux-Klan, gefallen. Dieser Geheimbund wollte die PSA ausmerzen ... Seine Mundwinkel zuckten, als er daran dachte, daß er praktisch noch kein vereidigter PSA-Agent war, daß er noch nicht
für diese Organisation etwas wirklich Produktives hatte leisten können – und ihr doch schon zum Opfer fiel. Mit aller Verzweiflung riß er an seinen Fesseln. Er spürte schon nicht mehr den brennenden Schmerz, der durch seine Glieder raste, als die Schnüre in seine Haut eindrangen. Er mußte hier heraus. Er mußte alles daransetzen, um die PSA zu warnen. Wieviel Zeit ihm noch zur Verfügung stand, vermochte er nicht zu sagen. Jeglicher Zeitbegriff war ihm verlorengegangen. Es konnte ebensogut Nachmittag wie später Abend sein. Im Morgengrauen aber war seine Uhr abgelaufen. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß diese seltsame Bande ihn durch den Strang hinrichten würde. Eine merkwürdige, erschreckende Vorstellung! Mit glänzenden Augen starrte er zu der Kerze auf dem schmalen Pult hinüber. Die Kerze brannte immer mehr herunter. Die Zeit verging. Diese Kerze – sie hätte ihm jetzt einen großen Dienst erweisen können, wenn es ihm möglich gewesen wäre, sie zu erreichen. Mit der Flamme wäre es ihm ein leichtes gewesen, die Schnüre durchzubrennen, doch er konnte sich unmöglich bis zum Pult vorarbeiten. Selbst wenn ihm das gelungen wäre, mußte das Erreichen der Kerze unmöglich bleiben. Er biß die Zähne aufeinander, und er begann – zunächst langsam und rhythmisch – seine Armgelenke hoch- und runterzuschieben, dabei immer einen stärkeren Druck auf das kantige Holz der Stuhllehne ausübend. Es war eine mühselige, qualvolle Arbeit, und Larry wußte das. Er würde unter Umständen drei oder vier Stunden brauchen, um dieses elastische, widerstandsfähige Nylonmaterial zum Zerreißen zu bringen. Falls es ihm überhaupt gelang. Doch auf den Versuch mußte er es ankommen lassen ... Er arbeitete schließlich mit dem Rhythmus einer Maschine. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, rollte über seine Augen-
wimpern und über seine Wangen. Sein Gesicht schien zu glühen. Das blonde Haar klebte auf seiner Stirn. Larry Brent starrte wie gebannt auf die herabbrennende Kerze. Sie war jetzt nur noch halb so groß wie vorhin, als er begann, seine Befreiungsversuche einzuleiten. Und die herabbrennende Kerze gab ihm einen ungefähren Eindruck von der Zeit, die verstrich. Jeden Augenblick konnte es so weit sein, daß seine Gegner auftauchten, um ihn zur Hinrichtungsstätte zu führen. Mit dem Mut der Verzweiflung setzte er seine Arbeit fort. Er achtete schon nicht mehr auf das Blut, das er zwischen seinen Fingern spürte. Er fühlte überhaupt keinen Schmerz mehr. Er merkte nur, wie seine Arme immer schwerer wurden, bleischwer, wie die Bewegung nur noch ruckartig und verkantet erfolgte. Und die Kerze brannte weiter herab. Sie war jetzt nur noch ein kleiner, etwa ein Zentimeter großer Stummel. Und sie war fast noch zehn Zentimeter groß gewesen! Waren drei Stunden vergangen, vier, fünf? In dieser dunklen, kahlen Umgebung schien die Zeit stillzustehen. Und noch immer gab Larry nicht auf. Er fühlte, daß durch das ständige Reiben und Dehnen der Spielraum zwischen seinen zerschundenen, rohen Armgelenken größer geworden war. Er hatte mehr Bewegungsfreiheit! Das Erkennen stachelte ihn zu vergrößerter Anstrengung an, obwohl er kaum noch konnte. Er fühlte sich müde und zerschlagen. Doch es ging hier um Tod und Leben. Er dachte mit keinem Gedanken daran, was auf ihn wartete, wenn er sich wirklich befreien konnte. Was kam dann? Konnte er überhaupt aus diesem düsteren, kahlen Gefängnis entrinnen? Es verwunderte Larry nicht, als er seine rechte Hand plötzlich umdrehen konnte. Die Fessel auf dieser Seite hatte sich gelockert. Er konnte die Hand herausziehen. Drei, vier Minuten später hatte er auch die Linke frei. Das
Lösen der Fußfesseln war die Arbeit eines Augenblicks. Er konnte sich wieder bewegen. Er konnte es kaum fassen, als er sich langsam vom Stuhl erhob, seine schmerzenden Glieder dehnte und reckte. Es knackte in seinen Gelenken und seine Muskeln waren spröde und schienen während des langen Sitzens eingeschrumpft zu sein. Larry Brent trocknete mit einem Taschentuch seine blutenden Armgelenke ab, während er rasch auf den Tisch zuging, auf dem die Kerzenflamme erlöschend aufzuckte. Er gelang ihm gerade noch, den Docht einer anderen Kerze in die ersterbende Flamme zu halten und zu entzünden, ehe die andere völlig erlosch. Larrys Atem ging rasch. Er sah sich um, suchte nach einem Ausgang, und er fand diesen Ausgang links hinter dem Pult. Es war eine Tapetentür, die sich kaum merklich von der übrigen Wand abhob. Im Schein der Kerzenflamme entdeckte Larry jedoch die Umrisse der Tür. Er suchte nach einem verborgenen Kontakt, der diese Tür vielleicht öffnete, aber er entdeckte keinen. Larry biß fest die Zähne zusammen. Mit einer raschen Bewegung strich er sich die blonden Haare aus der Stirn, während er fieberhaft überlegte, wie er die nachfolgende Situation am besten meistern konnte. Er hatte keine andere Möglichkeit, als das Risiko auf sich zu nehmen. Dies war offensichtlich der einzige Ausgang. Wenn er gesichert war, dann mußte er damit rechnen, daß Alarm ausgelöst wurde. Vorsichtig drückte er gegen die äußerste Kante der schmalen Tür. Zu seiner Überraschung wich sie lautlos zurück. Ein langer, finsterer Gang lag vor ihm. Larry lauschte. Keine Bewegung weit und breit, kein Geräusch. Vorsichtig trat er zwei Schritte nach vorn und ging auf den Gang hinaus. Mit der Kerze leuchtete er den Weg ab. Er sah
die unverputzten Steine, die rot und fleckig seinen Weg säumten, er sah die unsauberen Zementrillen, die die roten Backsteine umschlossen. Der Weg war lang, und er führte in die Finsternis. Die schwache Kerzenflamme schaffte nur eine kleine, gelblich-rote Lichtoase. Immer wieder leuchtete Larry die nahe Umgebung ab. Er hatte das Gefühl, auf einem Berg von Eiern zu gehen. Seine Bewegungen waren unsicher und schwach, doch seine Sinne waren aufs äußerste gespannt. Er rechnete damit, daß er jeden Augenblick mit einer Situation konfrontiert werden konnte, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Dann sah er die verrosteten Eisenklammern in den Backsteinen. Es waren mehrere über- und nebeneinander. Sie sahen aus wie Klammern, wie sie von Bauarbeitern beim Aufstellen eines Gerüstes benutzt wurden. Larry begriff den Sinn dieses Gangs nicht. Wohin führte der Weg? Gab es am anderen Ende eine Tür in die Freiheit? Er drehte sich herum. Das Licht der flackernden Kerze riß die glatte hohe Steinmauer aus der Finsternis, die den Gang abschloß. Er hatte das Ende des Wegs erreicht! Und er fand hier keine Tür. Der Gang war eine Sackgasse. Und dann hörte er plötzlich das dumpfe, knirschende Rollen. Was war das? Larry hielt den Atem an, er ließ die Kerze kreisen. Er sah nichts, doch er hörte alles. Er stürzte mit weiten Sätzen nach vorn. Ein furchtbarer Gedanke kam ihm plötzlich. Das knirschende, rollende Geräusch, das so klang, als ob Steine zermahlen würden, drang wie ein Orkan in sein Bewußtsein. Er erreichte das vordere Ende des Gangs, er suchte die Tapetentür. Er fand sie nicht mehr. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn.
Und das Knirschen kam von der Vorderwand! Sie bewegte sich, langsam, aber mit stoischer Beständigkeit. Der Schweiß brach aus seinen Poren. Er begriff, warum man keinen Wächter aufgestellt hatte, warum kein Alarm ausgelöst worden war. Seine Feinde hatten das nicht nötig gehabt. Er war von allein in die geschickt aufgestellte Falle gelaufen, in eine tödliche Falle! Links und rechts rückten die Wände auf ihn zu, der Gang verengte sich mit jeder Sekunde, die verstrich. Er würde genau zwischen diese beiden Mühlsteine geraten, und es gab nicht die geringste Rettung mehr für ihn. * Sie hörte, wie das Schwert durch die Luft zischte. Im Bruchteil eines Augenblicks erkannte sie die tödliche Gefahr. Ellen hatte das Gefühl, von mächtigen Händen auf die Seite gerissen zu werden. Sie begriff nicht, daß es ihr eigener Instinkt war, der sie diese Bewegung machen ließ. Sie warf sich herum und kroch auf allen vieren in das Dunkel hinein. Hinter ihr krachte das mächtige Schwert zu Boden. Auf dem grobgepflasterten Untergrund sprühten die Funken. Schreiend, stöhnend, von Angst und Entsetzen gepackt kam Ellen taumelnd auf die Beine. Sie rannte wie von Furien gehetzt auf den Gang zu, dessen Zentrum sich wie ein dunkel gähnendes Loch in der Wand abzeichnete. Sie hörte das Rasseln der Rüstung hinter sich. Der kalte Schweiß trat auf ihre Stirn. Ihre Kleidung klebte am ganzen Körper. Das Blut pochte in ihren Schläfen. Sie war nicht mehr in der Lage, noch laut zu schreien. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wimmerte leise vor sich hin und rannte in der Hoffnung, das andere Ende des Gangs zu
erreichen. Sie warf nicht einen einzigen Blick zurück. Sie hörte kein Geräusch mehr, das Rasseln war verstummt. Aber dann erkannte sie, daß sie sich getäuscht hatte. Es war doch etwas hinter ihr. Sie hörte Atmen, jemand rannte, wie sie – dumpf klangen die Schritte auf dem harten, staubigen Boden. Der Schweiß rann in Bächen über ihr Gesicht. Ihre Lippen zitterten. Sie starrte mit brennenden, weit aufgerissenen Augen in das Dunkel. Von hier waren sie gekommen. Wenn sie sich nicht täuschte, dann mußte der Gang jetzt gleich nach links abbiegen. Noch zehn Schritte, noch fünfzehn - sie hatte das Gefühl, seit einer Ewigkeit unterwegs zu sein, und der Weg schien sich immer mehr in die Länge zu ziehen. Das lange, blonde Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her, dichte Strähnen hingen auf ihrem verschwitzten Gesicht. Sie machte sich nicht die Mühe, die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Sie taumelte und stolperte nach links. Im gleichen Augenblick glaubte sie die seltsame Bewegung im Dunkel vor sich zu erkennen. Eine schemenhafte, farbige Gestalt kam ihr entgegen. Ellen prallte zurück. »Nein«, entrang es sich ihren bleichen, zitternden Lippen. Alles in ihr sträubte sich gegen das, was sie sah. Die Gestalt, die ihr fast lautlos entgegenkam, streckte die Hände nach ihr aus. Sie steckte in einer leichten, goldblitzenden Rüstung. Ellen erkannte das ovale, bleiche Gesicht, die hervorquellenden Basedowaugen, die etwas rötliche Nase, die dieser Miene einen etwas krankhaften Ausdruck verlieh. Und sie hörte die Stimme. »Ja, so ist's recht. Komm, komm zu mir!« Sir Edward of Huntingdon! Ein Vorfahre des jetzigen Duke!
Edward of Huntingdon, der Berühmt-Berüchtigte, der Anfang des 17. Jahrhunderts in diesem Schloß lebte ... Ellen schluckte. Ein gellender Aufschrei entrang sich ihrer wie abgeschnürten Kehle. Zwei, drei Sekunden lang war sie wie gelähmt, unfähig, sich zu rühren. Geister, Spuk? Sie glaubte nicht daran, so etwas gab es doch nicht! Dann lösten sich ihre Beine wie unter einem hypnotischen Zwang. Sie fing mechanisch an zu rennen. Die Schritte waren nähergekommen, die Schritte, die sie schon seit Verlassen der Folterkammer verfolgten. Sie rannte den langen Gang hinab, von dem sie nicht wußte, wohin er führte. Sie stolperte und stürzte über einen scharfkantigen Stein. Brennend rasten die Schmerzen durch ihren Körper. Ihre Knie platzten auf, die breiten Wunden begannen sofort zu bluten. Zitternd kam sie wieder auf die Beine, stieg über den Steinbrocken hinweg, rannte und taumelte weiter. Dann sah sie die steilaufwärts führende Wendeltreppe. Sie hetzte die Stufen hoch, ihre Hände schleiften über das verstaubte, verrostete Geländer. Erd- und Sandbrocken lösten sich unter ihren Füßen. Es ging steil aufwärts. Die Treppe war schmal und eng gewunden. Ellen wurde schwindelig, sie wollte stehenbleiben, doch sie wagte es nicht. Unruhe, Angst, Verzweiflung und Entsetzen trieben sie vorwärts. Sie war am Ende ihrer Kraft, und doch konnte sie nicht aufgeben. Sie hoffte, daß am Ende dieser Treppe eine direkte Tür zum bewohnten Teil des Schlosses führte. Sie warf einmal einen Blick in die finstere, schwindelnde Tiefe. Die Treppe schien vor ihren Augen zu rotieren. Hätte sie wirklich gesehen, wie tief das Dunkel unter ihr reichte, sie wäre schaudernd zusammengefahren.
Die Treppe war zu Ende. Sie sah einen schmalen Treppenabsatz, kreisrund, der sich um einen turmähnlichen Anbau bewegte. Zwei, drei dicke, massive Holztüren führten in die Turmzimmer hinein. Sie war am Ende angelangt. Es blieb ihr keine andere Wahl, als eine der Türen zu öffnen. Knarrend bewegte sie sich in den verrosteten Scharnieren. Sie starrte in die kleine, runde Rumpelkammer, in der alte Kleider hingen, altes, kaputtes Spielzeug lag dort, die Reste eines Rasenmähers. Rechts vor sich erkannte sie unter den weit herabhängenden Kleidungsstücken eine alte, wuchtige Truhe. Sie hielt den Atem an, lauschte und hörte, wie die Schritte sich von der Tiefe der Wendeltreppe näherten. Sie hatte keine andere Wahl. Fest drückte sie die schwere Holztür ins Schloß. Dann huschte sie auf die Truhe zu, deren Umrisse sich in der Dunkelheit abzeichneten. Sie bückte sich, schlüpfte unter die alten Kleider und verbarg sich hinter der Truhe. Es war genügend Spielraum vorhanden. Sie schloß die zitternden Augenlider und versuchte innerlich zur Ruhe zu kommen. Dann öffnete sie die Augen wieder spaltbreit. Durch einen schmalen Spalt zwischen den tiefherabhängenden Kleidern und dem wie ein Hügel vor ihr aufragenden Truhendeckel konnte sie einen Teil der Tür übersehen. Würde sich diese Tür öffnen? Sie bangte, sie hoffte, daß es nicht geschehen möchte. Und dann hörte sie die Geräusche draußen. Jemand war auf dem Treppenabsatz! Ellen schluckte. Ihr Mund war trocken und staubig. Sie fühlte den brennenden Durst, aber sie hätte jetzt nicht trinken können, selbst wenn ein Gefäß mit quellfrischem Wasser neben ihr gestanden hätte. Was würde geschehen? Jetzt war er vor der Tür! Plötzlich krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie hörte das
häßliche Krachen in dem verrosteten Schloß, als der Schlüssel umgedreht wurde. Ein dumpfes Stöhnen kam über Ellens Lippen. Sie wußte, daß ihr Schicksal besiegelt war. Man hatte sie eingesperrt in einem abgelegenen, einsamen Tower. Sie hörte, wie die Schritte sich entfernten. Sie war allein und lauschte in die Stille, die ihr immer unheimlicher wurde. Und dann kam das Grauen, als diese Stille und die Dunkelheit um sie herum plötzlich anfingen zu leben. * Das Telefon rasselte. Der irische Diener John meldete sich mit ruhiger Stimme. Dann gab er seinem Herrn, der still und abwesend am Fenster des Speisezimmers stand, mit einer Geste zu verstehen, daß das Gespräch für ihn sei. Der Duke wandte sich um. Sein Gesicht schien bleicher als gewöhnlich, die Augen lagen tief in den Höhlen. Der Duke warf keinen Blick auf seine beiden Töchter, die stumm und bedrückt an zwei kleinen Tischen saßen. Margarete las in einem Buch, Patricia saß still über der Skizze einer von ihr gezeichneten Landschaft. Aber Margarete las nicht, und Patricia zeichnete nicht. Eine seltsame Spannung lag beinahe körperlich fühlbar in der Luft. Bedrückung, Angst vor dem, was jeder befürchtete, was niemand wahrhaben wollte, was jeder von ihnen wußte, und worüber niemand zu sprechen wagte. Nicht in diesen Räumen und nicht außerhalb des Schlosses. Der Duke nahm den Hörer. Er meldete sich und lauschte mit ernstem, verschlossenem Gesicht der kurzen Mitteilung. Zum Schluß sagte er nur: »Ja – ja, es ist alles in Ordnung, wie gewöhnlich. Ich erwarte Sie, Mister Crawley.« Wie ein Zentnergewicht legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Mit einer nervösen Bewegung zog der Duke den Gürtel
seines Hausmantels straffer, obwohl das völlig unsinnig war. Der Gürtel saß so fest, daß man ihn nicht strammer ziehen konnte. Ohne einen Blick auf seine beiden Töchter zu werfen, ging er wieder zum Fenster und starrte hinaus in die dunkle, unruhige Nacht. Das Moor lag wie ein schwarzer, aus einem einzigen Stück gewebter Teppich vor ihm. Die kahlen Äste und Zweige der Weiden und Sträucher befanden sich in heftiger Bewegung. Der Wind heulte und pfiff, und trieb die schwarzen, schweren Regenwolken rasch vor sich her. Der Tisch im Speisezimmer war gepflegt gedeckt. Die Teller und Bestecke waren noch sauber, die Speisen unberührt. Es schien, als warteten der Duke und seine Töchter noch auf Gäste. Doch eine Ungewisse Ahnung sagte ihnen, daß diese Gäste nicht mehr kommen würden – nicht mehr kommen konnten ... Der Duke, Margarete und auch John hatten im bewohnten Trakt des Schlosses nach Harry Banning und seiner Verlobten Ellen gesucht und gerufen. In ihren Zimmern hatte man sie nicht finden können. War die Warnung abzureisen zu spät erfolgt? Der Duke zuckte zusammen, als seine jüngste Tochter Margarete plötzlich mit einem dumpfen Knall ihr Buch zusammenschlug und sich abrupt erhob. »Es ist nicht mehr zum Aushalten«, kam es über Margaretes Lippen, während sie zur Tür eilte. Ich ...« »Keine Unbesonnenheit, Margie«, warnte der Duke. Seine Augen flackerten in einem wilden Licht. »Wenn es geschehen ist, dann kann niemand von uns daran etwas ändern, niemand, verstehst du ...« Er näherte sich seiner jüngsten Tochter, während seine älteste Tochter, Patricia, wie leblos in ihrem Sessel saß und gedankenverloren auf ihre Skizze starrte. Patricia war schon als Kind sehr still und zurückgezogen gewesen, doch ihr stilles Wesen, ihre Apathie schienen in der letzten Zeit zuge-
nommen zu haben. Sie litt wie alle unter den Ereignissen, die dieses Schloß beherrschten, und die auch über ihr Leben und ihren Tod bestimmten ... Margarete schluchzte leise vor sich hin. Ihr Vater beruhigte sie. Er konnte sie schließlich dazu überreden, ihr Zimmer aufzusuchen, und ein wenig auszuruhen. »Aber keine Unbesonnenheit, Margie«, kam es noch einmal warnend über die bleichen, schmalen Lippen des Duke. »Wir werden nichts dadurch gewinnen, im Gegenteil ...« Sie nickte. Sie wußte nur zu gut, wie sie die Worte ihres Vaters auslegen mußte. Der Duke drückte leise die Tür hinter ihr ins Schloß. Es geschah im gleichen Augenblick, als draußen vor dem Schloß das Motorengeräusch hörbar wurde. Der Duke trat zum Fenster. Er sah den schwarzen Ford, der mit abgeblendeten Scheinwerfern den breiten Weg entlangkam und das Schloßtor passierte, das von John geöffnet worden war. Der Wagen fuhr in den großen, dunklen Innenhof. Der Duke sah, wie sein Diener wenig später im Kernschatten des Südflügelanbaus verschwand. Gleich darauf hörte der Duke seinen Diener draußen auf dem Gang, als er seinen Regenumhang ablegte. Der Schloßherr warf noch einen letzten Blick auf den Hof. Die Tür am Ford wurde zugeschlagen. Eine schlanke, flinke Gestalt huschte auf das Hauptportal zu. Der Ankömmling war in einen dunklen Mantel gehüllt. Ein breitkrempiger Hut war tief in das Gesicht gezogen. Der Duke ging hinaus. Die schattige Gestalt seines Dieners zeichnete sich am Treppenabsatz ab. »Er ist da«, flüsterte John unnötigerweise. Auch er litt offensichtlich unter der Nervosität, die alle in diesem Haus ergriff, wenn eine Woche vergangen war. Regelmäßig alle sieben Tage pflegte Mister Crawley hier aufzutauchen. Der Duke starrte wortlos in das Halbdunkel. Er sah Mister Crawley durch den Haupteingang kommen. Für
einen Augenblick blieb der geheimnisvolle Gast unten an der Treppe stehen und hob den Blick. Der Duke sah die spitze Nase in dem schattigen Gesicht. Crawley hob die behandschuhte Rechte, als wolle er den Duke durch diese Geste grüßen. »Ich hoffe, daß ich alles wie sonst vorfinde«, klang es zu dem Duke und zu dem Diener herauf. Crawley wartete erst gar keine Antwort ab. Er wandte sich um und verschwand im Dunkel einer Nische, die zum Westteil des Schlosses führte. So war es immer. Mehr als jetzt hatte der Duke noch niemals von seinem rätselhaften Gast gesehen. Er wußte nur, daß er sich Crawley nannte, daß er regelmäßig in Abständen von sieben Tagen hier im Schloß auftauchte, eine Nacht blieb, und im Morgengrauen wieder ging. Crawley war der Mann, dessen Anordnungen er Folge zu leisten hatte, wollte er nicht alles verlieren. Crawley war ein Fremder, und doch verfügte er in diesem Schloß über mehr Rechte als der Besitzer. Er konnte sich ungehindert in allen Trakten bewegen, niemand hinderte ihn daran. Für den Duke und seine Töchter, für den Diener und die Hausdame aber gab es eine unsichtbare, gefährliche Grenze. Sie durften sich nicht dem Trakt nähern, in dem das Musikzimmer aus dem 16. Jahrhundert lag. Und niemand wagte, dieses Verbot zu umgehen. Der Duke wurde in seinem eigenen Schloß wie ein Sklave gehalten, er hielt sich streng an die Anordnungen Crawleys, jeden Hinweis genau beachtend. Denn er wußte: jede Vernachlässigung zog gefährliche Konsequenzen nach sich. Crawley hatte keine Möglichkeit zu kontrollieren, ob der Duke peinlich genau die Verbote einhielt, und doch war er dauernd über jedes Ereignis im Schloß unterrichtet. Tausend Augen gleichzeitig schienen jede Bewegung, jede Handlung genau zu verfolgen und zu registrieren. Der Duke wandte sich an John, seinen Diener. »Servieren Sie
bitte ab, John! Heute abend wird wohl niemand mehr einen Bissen zu sich nehmen.« Mit diesen Worten ging er in sein. Zimmer. »Jawohl, Sir«, murmelte der Ire mit dumpfer Stimme hinter seinem Herrn. * Ihr Gesicht zuckte, und in ihren Augen flackerte der Wahnsinn. Sie hörte das Rascheln, das von Mäusen und Ratten verursacht wurde, und sie hörte den Wind, der in die Ritzen fuhr, und den Sand und den Staub im morschen Gebälk über ihr aufwirbelte. Die Dunkelheit und die Einsamkeit peinigten sie wie ein glühendes Schwert. Ellen sprang schreiend auf. Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen die verschlossene, massive Holztür und rief nach Margarete und Patricia. Doch sie wußte, daß man sie nicht hören konnte, in diesem Trakt des Schlosses hielt sich keine Menschenseele auf. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper. Sie begriff die Welt nicht mehr und begann an ihrem Verstand zu zweifeln. Wie im Rausch grellten noch einmal die Bilder in ihrem Geist auf, von denen sie glaubte, daß sie einem schlechten Traum entstammten ... Harry – tot? Das blutbesudelte Schwert in der Hand einer kalten, leblosen Ritterrüstung, die schließlich doch zu einem erschreckenden Leben erwacht war – und die Begegnung mit der Gestalt Sir Edward of Huntingdons! Die Begegnung mit einem Geist, einem Spuk? Die Dunkelheit ängstigte sie. Sie mußte raus aus diesem Gefängnis, das sie zu erdrücken schien. Sie suchte tausend ver-
zweifelte Auswege zu entfliehen, und fand doch keinen. Plötzlich riß der Himmel auf, und sie konnte das fahle Mondlicht durch die winzigen quadratisch vergitterten Fenster über sich fallen sehen. Riesige Schatten zeichneten sich an der Wand vor ihr ab, die alten Kleider, die Gefäße und die Stangen, das Gerümpel, der Torso einer Schneiderpuppe – das alles wurde unter dem bleichen, weißen Licht zu einer Silhouette des Grauens. Ellen wandte sich ab. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie faßte an ihren Hals, und sie fühlte das dünne Kettchen. Im gleichen Augenblick nahm ein ungeheuerlicher Gedanke von ihr Besitz. Vielleicht konnte sie doch noch auf sich aufmerksam machen, vielleicht doch noch ... Sie riß das Kettchen einfach ab und betrachtete in ihren zitternden, vom Mondlicht überfluteten Händen das münzgroße Amulett. Sie öffnete es: ihr Bildnis lag vor ihr, eine feine Arbeit, die Harry selbst gemalt und ihr geschenkt hatte. Zitternd löste sie das Bild und drückte es mit der Rückseite nach oben wieder in den Rahmen hinein. Im Licht des Mondes suchte sie verzweifelt nach einem spitzen Gegenstand, nach einem verrosteten Nagel, nach einem morschen Stück Holz, das sie zuspitzen konnte. Sie brauchte etwas, womit sie schreiben konnte. Sie fand ein spitzes Stück Holz, das sie von einem alten, verarbeiteten Besenstiel lösen konnte. Wie im Rausch flogen die nächsten Minuten an ihr vorüber. Sie bemerkte nicht, daß sie sich heftig in den Finger biß und jeden Blutstropfen, der hervorquoll, mit dem Holzstückchen auffing. Sie suchte nach Worten, und sie schrieb einen kurzen, knappen Vermerk auf die Rückseite ihres Bildes. Dann klappte sie das Amulett wieder zu. Wie in Trance warf sie das Kettchen mit dem Amulett immer wieder in die Höhe, in der Hoffnung, das winzige Viereck zu treffen. Sie wußte
nicht, wohin das Kettchen fallen würde, wenn es ihr wirklich gelang, es durch das Quadrat zu werfen. Sie mußte alles dem Schicksal überlassen. Sie konnte keine Entscheidung herbeiführen ... Und dann flog das Kettchen durch eines der quadratischen Fenster. Sie konnte nicht sehen, wie es steil den Tower hinabfiel, wie eine Windboe seine Richtung veränderte und es auf einen kahlen Busch zutrieb, wo es sich in einem Ast verfing. Es wickelte sich mehrmals um einen Zweig, wackelte wie ein Uhrenpendel hin und her und machte jede Luftbewegung mit. Ellen fuhr sich über ihr verschwitztes, verstaubtes Gesicht. Es war, als ob plötzlich eine Zentnerlast von ihren Schultern genommen sei. Dann kam die Müdigkeit über sie. Die Anspannung der letzten Stunden forderte ihren Tribut. Ihr völlig ausgepumpter Körper verlor von einem Augenblick zum anderen jegliche Spannkraft. Es war, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggerissen würde. Sie stürzte über der Truhe zusammen. Der letzte Gedanke, den sie fassen konnte, war das Kettchen, mit der Nachricht, die sie darin untergebracht hatte. * Larry lief von einem Ende zum anderen, und je öfter er die Bewegung wiederholte, je kürzer wurde die Entfernung zwischen den beiden Wänden. Es knirschte, es krachte und polterte in allen Ecken. Ein Bersten lag in der Luft, daß Larry glaubte, die Wände an allen vier Seiten müßten jeden Augenblick zusammenfallen. Er stemmte sich gegen die Wand, um ihre Bewegung aufzuhalten. Doch er wurde mit unbarmherziger Gewalt nach vorn gedrückt. Er verlor millimeterweise, zentimeterweise an Boden und mit jeder Sekunde kamen sich die beiden Wände, die
beiden überdimensionalen Mühlsteine näher. Ein metallisches Knirschen, dann ein heller, peitschenähnlicher Knall, als eine der Metallklammern aus der Mauerfuge gerissen wurde. Das gleiche Geräusch noch einmal, als eine zweite Klammer heraussprang. Eine dritte, vollkommen verrostete, wurde einfach auf die Seite gedrückt und umgebogen – und schließlich auch aus der Wand herausgerissen, als die Wand so weit nach vorn gedrückt war, daß sie jeden Widerstand gewaltsam beiseite drückte. Für den Bruchteil eines Augenblicks leuchtete ein eigenwilliges Licht in Larrys Augen auf. Seine Muskeln und Sehnen spannten sich wie unter einem inneren Zwang. Er sah die Klammern am Boden liegen, sah die spitzen, hakenähnlichen Enden, und ein verzweifelter Gedanke schoß durch sein Gehirn. Von vorn und von hinten schoben die gewaltigen Mühlsteine Dreck und Mörtelbrocken auf ihn zu und würden bald auch ihn zermalmen. Aber links und rechts, da standen die unverputzten Backsteinwände, und der bröckelige Putz zwischen den einzelnen Steinen in den Rillen schien Larry plötzlich wie ein Fanal seines Schicksals. Er zögerte keine Sekunde. Wieder einmal zeigte sich, daß er selbst in einer scheinbar ausweglosen Situation seinen klaren Kopf behielt. Solange ein Mensch lebt, solange soll er nicht aufgeben! Wer hatte das nur einmal gesagt? Ehe Larry sich versah, hielt er eine der schweren Metallklammern in der Hand. Er sprang zur Mitte des Gangs und hieb die Metallspitze gegen die Fuge über einem Sandstein. Mörtel spritzte auf ihn zu und rieselte auf seine Schuhe. Er arbeitete wie ein Berserker. Im Nu hatte er den ersten Stein freigelegt. Er riß ihn heraus. Mörtel bröckelte zu Boden, roter Backsteinstaub lag fingerdick auf seinen Schuhen, verschmutzte
seine Hosen, seine Hände und brachte ihn zum Husten. Wie eine Maschine hieb er immer wieder das spitze Ende der Metallklammer in den Mörtel und lockerte einen Stein nach dem anderen. Er stellte zu seinem Erschrecken fest, daß die Mauer doppelt hochgezogen war! Das erschwerte seine Situation, denn die Zeit drängte. Zu beiden Seiten trennten ihn nur noch zwei Meter von den herangleitenden Wänden. Schon hatte Larry zehn Steine gelockert. Er kratzte den Mörtel des inneren Steins ab und stieß ihn dann nach der anderen Seite hinaus. Zu seiner Freude erkannte er, daß der Stein nach außen plumpste, und in der rechteckigen Öffnung zeigte sich ein trübes Licht. Es schien, als ob in dem dahinterliegenden Raum irgendwo Tageslicht einsickerte! Für einige Sekunden verschnaufte er, wischte sich gewohnheitsmäßig die widerspenstig-weichen Haare aus der Stirn. Dann hackte und riß er weiter. Schon hatte er ein Loch geschaffen, durch das er bequem seinen Kopf stecken konnte. Er sah in die andere Seite des Raums, auch dort ein unverputzter, kahler Kellerraum. Doch er hatte sich nicht getäuscht. Durch ein verbarrikadiertes, schmales Fenster fiel ein leichter Lichtschimmer. Das Licht war schwach. Es schien durch eine besonders dicke und milchige oder zumindest stark verschmutzte Scheibe zu fallen. Doch eine Gefahr bestand offensichtlich für ihn noch nicht. Er sah sich um. Er hoffte, daß seine Bemühungen nicht vergebens waren. Einen Stein nach dem anderen hob er heraus. Es ging jetzt leichter. Er konnte mehr als einmal dagegentreten, und vier, fünf Steine plumpsten gleichzeitig aus dem Mauerwerk. Der Mörtel war nicht besonders hart. Immer wieder warf er im Schein der Kerze einen Blick zu beiden Seiten. Die Mauern waren bedrohlich nähergekommen. Wenn er die Arme ausstreckte, dann berührten seine Fingerspitzen die kahlen, kalten Wände.
Er war jetzt so weit, daß nur noch wenige Steine fehlten, um die Flucht auf die rettende andere Seite anzutreten. Es donnerte und grollte, als würde ein Gewitter über ihn herziehen. Die Wände schoben die Mörtelbrocken und Backsteine vor sich her, in den unsichtbaren Kugellagern, die diese Steinkolosse vorantrieben, knirschte und krachte es. Larry Brent schwitzte am ganzen Körper. Noch ein Stein! Dumpf krachte er auf den Berg, der vor ihm entstanden war. Es war geschafft! Im Überschwang der ersten Freude nahm er die Metallklammer und schleuderte sie machtvoll gegen eine der näher rückenden Wände. Ein helles Klingen mischte sich unter das Krachen und Bersten. Larry wischte über sein von rotem Staub bedecktes Gesicht. Er verschmierte es mit dem Schweiß, und er sah aus, als sei er in Tomatensoße geraten. Doch wie er aussah, das interessierte ihn im Moment wenig. Die Hauptsache war, daß er einen Weg gefunden hatte, diesen beiden überdimensionalen Mühlsteinen zu entgehen. Er stieg durch die Öffnung, erreichte aufatmend die andere Seite. Er sah an der gegenüberliegenden Wand eine dunkelgraue, verkratzte und etwas zerschundene Tür. Er ging darauf zu. Da hörte er das Geräusch schräg hinter sich! Larry wirbelte herum. Im gleichen Augenblick zuckten von mehreren Seiten zahlreiche Scheinwerfer auf. Der Kellerraum wurde bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Larry Brent schloß geblendet die Augen. Es dauerte eine geraume Weile, ehe er sich an das Licht gewöhnt hatte, und er warf sich im ersten Augenblick instinktiv zu Boden, um einem eventuellen Angriff auszuweichen. Dann öffnete er die Augen. Er sah die dunklen Fußspitzen vor
sich, die Beine, die in einem gutgeschnittenen, dunkelgrauen Anzug steckten. Larry sprang auf die Füße. Er starrte auf sein Gegenüber. Der andere grinste von einem Ohr zum anderen, während er die Hände in die Hüfte stützte. »Sie haben es geschafft, Towarischtsch«, sagte der Mann mit einem etwas harten, für Larrys Ohren ungewöhnlichen Akzent. Ein Russe? Da wurde sein Blick von einem seltsamen Gegenstand beinahe hypnotisch angezogen. Am Ringfinger der linken Hand trug der andere einen Ring, wie er nicht alltäglich war. In einer schweren goldenen Fassung ruhte eine erhabene Weltkugel, durch die stilisiert das Gesicht eines Menschen schimmerte. Larrys Miene wurde hart. Diesen Ring trugen nur sehr wenige Leute, er war ein untrügliches Zeichen für eine bestimmte Gruppe von Menschen. Larry hatte einen solchen Ring zum erstenmal in Frankreich gesehen, bei einem Agenten, der der PSA angehörte. Und auch dieser Mann vor ihm, dieser Russe, war ein Agent der PSA! Larry konnte es später nicht mehr sagen, er glaubte jedoch, ein ziemlich dummes Gesicht gemacht zu haben, als sein Gegenüber ihm erklärte, daß er nun wirklich alles überstanden habe. »Überstanden?« Larry lauschte den Worten nach. Er hatte plötzlich eine sehr eigenartige Vermutung. Sein Gegenüber sah nicht so aus, als gehöre er einer Gang an, und seine ganze Erscheinung, sein Grinsen, ließen darauf schließen, daß er sich köstlich zu amüsieren schien. »Mein Name ist Kunaritschew, Iwan Kunaritschew, Mister Brent«, stellte der Russe sich vor. Seine Stimme klang ganz anders als bei der ersten Bemerkung. Larry Brent gewann den Eindruck, daß Kunaritschew ohne weiteres in der Lage war, ein akzentfreies Englisch zu sprechen.
Der Russe reichte Larry die Hand und sagte: »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Towarischtsch.« Er schien sich aufrichtig zu freuen, diesem neuen Kollegen, der noch ganz benommen aus seinem verdreckten und verschmierten Anzug herausblickte, auf diese etwas merkwürdige Weise begrüßen zu können. Larry brauchte einige Sekunden, ehe sein Gehirn wieder klar funktionierte. Der Wechsel um 180 Grad war zu rasch und konsequent erfolgt, um ihn von einem Augenblick zum anderen zu begreifen. Doch langsam kam er dahinter. Eben noch der Kampf auf Tod und Leben, der offensichtlich eine Farce war, und jetzt die Begegnung mit einem PSA-Agenten, der nur darauf gewartet zu haben schien, daß er, Larry, in diesem Kellerraum zum Vorschein kam. »Ich werde Ihnen alles erklären, Towarischtsch. Aber zunächst ist es einmal wichtig, daß Sie sich frisch machen. Hier, gleich nebenan ist ein Waschraum. Dort hängen auch frische Kleider.« Iwan Kunaritschew trat zur Seite und stieß eine schmale Tür auf. Larry blickte in einen sauberen, dunkelblau gekachelten Waschraum. Auf einem Ständer hingen ein blauer Anzug, ein frisches Hemd und eine hellblau gemusterte Krawatte. Larry ging mit mechanischen Schritten auf die Tür zum Waschraum zu. Kunaritschew erklärte ihm in knappen Worten das, was Larry bereits zu ahnen begonnen hatte. »... die bisherigen Tests waren alle so eingerichtet, daß Sie immer wußten, daß es sich um einen Test handelt, Towarischtsch.« Die dunklen Augen des Russen funkelten amüsiert. »Sie wurden in Aikido und Teak-won-do eingeführt, Sie bestanden Härte- und Kräftetests, Sie wurden einem Intelligenztest unterzogen. Wie aber würden Sie sich verhalten, wenn unter realen Bedingungen, wo ihre Angst nicht ausgeschaltet ist, ein Test an Ihnen vorgenommen wird? Unsere Aqua- und Astronauten haben in besonderen Simulatoranlagen schon
einiges auszuhalten, aber ein PSA-Agent, der täglich im Einsatz steht, darf nicht minder hart angepackt werden. Unter gefährlichen Bedingungen, die Sie oft an den Rand des Todes bringen, müssen Sie Ihre Arbeit verrichten. Da kommt es auf eine klare, vernünftige Überlegung an. Wie würden Sie in einer solchen Situation reagieren?« Während Iwan Kunaritschew sprach, knöpfte Larry langsam sein halbzerrissenes Hemd auf. Er zuckte zusammen, als er die zahlreichen, runden Punkte entdeckte, die wie Flitter seinen Oberkörper übersäten. Der Russe lachte. »Das waren Ihre Wächter, Towarischtsch. Und Ihre Beobachter. Mit diesen Flachsonden wurde der Schweißausbruch bei Ihnen gemessen, die Zahl Ihrer Herzschläge, Ihre Atmung kontrolliert. Mit diesen Flachsonden hat man sogar Ihre Gehirnströme aufgezeichnet. In der Zentrale von X-RAY-1 hat man jetzt ein genaues Bild von Ihnen, Towarischtsch. Ich habe das Gefühl, Sie haben recht gut abgeschnitten. Ich habe spaßeshalber mitgestoppt. Sie brauchten eine knappe halbe Stunde, um die Wand zu durchbrechen. Die Idee, sich eine der Metallklammern zunutze zu machen, ist Ihnen sehr schnell gekommen. Alle Achtung, Towarischtsch! Ich muß gestehen, daß ich seinerzeit gut zehn Minuten brauchte, um überhaupt zu begreifen, daß mit den Metallklammern, als sie aus dem Mauerwerk herausbrachen, etwas anzufangen war.« Larry Brent fing plötzlich an zu lachen. Er war nicht eine einzige Sekunde lang in wirklicher Todesgefahr gewesen! Die fiktive Verhandlung: eine Farce, um ihn zur Handlung zu zwingen, um zu sehen, wie weit er bereit war, Schmerzen und Qualen auf sich zu nehmen, um einen Ausweg zu suchen. Die auf ihn zurückenden Mauern, sie wären garantiert zum Stillstand gekommen, wenn er keine Möglichkeit gefunden hätte auszubrechen. Jede Reaktion war kontrolliert und durch infrarotempfindliche Kameras festgehalten worden. Man wußte, wie
er reagierte, man kannte seinen Körper und seinen Geist. Und wenn man ihn akzeptierte, dann würde man jetzt auch wissen, wie und wo und bei welchen Fällen er am besten einzusetzen war und welche Chance bestand, daß er sie durchstehen und bearbeiten konnte. »Sie gehören zum Ausbildungs-Team?« erkundigte sich Larry, während er einen langen Blick auf Iwan Kunaritschew warf. Der Russe war ihm vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Kunaritschew war ein Mann wie ein Bär, kräftig und mit breiten Schultern. Sein etwas rötliches Gesicht erinnerte an die Farbe eines jungen Ferkels. Iwan sah gutmütig und freundlich aus. Aber Larry hatte im gleichen Augenblick auch das Gefühl, daß dieser gutmütige Bursche die Gefährlichkeit einer Bombe besaß, wenn es darum ging, Unrecht auszumerzen, und dem Gesetz zu seinem Recht zu verhelfen. Kunaritschew hob abwehrend die Hände. »Nein, Towarischtsch, davor sollen mich die Götter bewahren. Ein derart langweiliger Job wäre nichts für mich. Ich bin PSA-Agent. Deckbezeichnung X-RAY-7. Ich bin im Augenblick der einzige, der hier im Land ist. Ich bin vor knapp vierundzwanzig Stunden aus China zurückgekehrt. Ich helfe praktisch im Moment nur hier ein wenig aus. Die PSA ist noch klein, jede Hand wird gebraucht. Die Ausbilder, mit denen Sie während der vergangenen Wochen zu tun hatten, sind in den Trainingsschulen, um neue Kandidaten unter die Lupe zu nehmen. Das Auswahlprinzip ist sehr streng. Von hundert Kandidaten schaffen es vielleicht drei oder vier. Nur die Besten erhalten den Ring. Eine weitere Schwierigkeit ist, daß man, um PSA-Agent zu werden, zumindest die betreffende Vorbildung mitbringen muß. Am besten sind einige Semester Medizin und Psychologie. Hier wird eine vollkommen neue Art des Kriminalbeamten herangebildet, Towarischtsch! Aber das alles wissen Sie ja
selbst. Sie haben einige Semester Medizin und Psychologie studiert, bevor Sie zum FBI gingen. Dann wurde man auf Sie aufmerksam, nicht wahr?« Larry war erstaunt. »Sie wissen recht gut Bescheid«, meinte er, während er anfing, die Flachsonden von seinem Körper zu picken. Kunaritschew winkte ab. »Das ist nicht nötig, Towarischtsch. Sie lösen sich unter der warmen Dusche auf. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich sehr schnell fertig zu machen. Solange die Auswertung noch läuft, sind Sie ein freier Mann, Towarischtsch. Wenn man Sie erst einmal ins Hauptquartier zurückruft, dann fangen die Schwierigkeiten an, lassen Sie sich das von einem alten PSA-Hasen sagen! Ich hätte Lust, mit Ihnen noch einen Drink zu nehmen, Towarischtsch. Wie wär's damit? Nach der staubigen Arbeit als Maurer können Sie gewiß auch einen Schluck vertragen.« Brent kleidete sich aus, wahrend Kunaritschew draußen in dem Kellerraum umherwanderte und eine seiner selbstgedrehten schwarzen Zigaretten rauchte, daß Larry im Waschraum anfangen mußte zu husten. »Was rauchen Sie da für ein Kraut, Brüderchen?« rief Larry, während er sich erst heiß und dann kalt abduschte, nachdem er sich gründlich eingeseift hatte. Kunaritschew hob die buschigen Augenbrauen. »Geheimnis, Towarischtsch! Diesen Tabak gibt's in ganz New York, in den ganzen Staaten nicht. Sie möchten wohl gern wissen, woher ich ihn hab, was?« Larry trocknete sich ab und kleidete sich neu an. Man hatte sogar ein Wundspray bereitgestellt, womit er seine zerschundenen Armgelenke behandeln konnte. Das erfrischende, desinfizierende und mit Heilwirkstoffen versehene Spray tat ihm merklich gut. Als er die breiten Manschetten ein wenig nach vorn zog, sah man kaum noch die aufgekratzten Armgelenke. Fünf Minuten später war Larry Brent fix und fertig. Sie ver-
ließen den Kellerraum und gelangten durch eine Geheimtür in einen offiziellen Turnsaal. Kunaritschew und Brent warfen einen Blick zurück auf die Mauer, die Larry durchbrochen hatte. Larry Brent grinste. »Auf diese Weise kurbelt man die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten an. So haben wenigstens ein paar Maurer morgen wieder zu tun.« Sie passierten die Geheimtür. Kunaritschew betätigte einen verborgenen Kontakt und eine zum Hintergrund passende Tapetenwand glitt vor, die die Geheimtür verbarg. Zwei Minuten später verließen sie den Turnsaal durch den Haupteingang und gingen auf die Straße hinaus. Es war etwas frisch, ein kühler Wind ging. Es war Nachmittag, durch die luftigen Wolken fiel heller Sonnenschein. Der Verkehr brandete durch die Straßen. Hupen ertönten, Menschen hetzten an ihnen vorüber, Verkehrsampeln wechselten von Rot auf Grün, ein Zeitungsjunge rief die neueste Schlagzeile in das Gewirr der Hetze und der Stimmen. Sie waren in der 17. Straße. Am Ende der Straßenecke führte Kunaritschew Larry Brent in eines seiner Lieblingslokale. Während des Wegs nach dort versuchte Larry immer wieder, etwas über den dunklen, geheimnisvollen Tabak herauszufinden, den Kunaritschew rauchte, und der selbst einem starken Raucher Halsschmerzen verursachen konnte. Doch Kunaritschew grinste nur still vor sich hin und schwieg beharrlich. Larry sollte feststellen, daß sein neuer Freund noch einige andere erstaunliche Eigenschaften besaß. * Der Morgen dämmerte. Schwer stiegen die dichten Nebelschwaden über dem Suffolk-Moorgebiet in die Höhe. Die Büsche und kahlen Bäume, die Umrisse des Schlosses waren kaum wahrnehmbar. Die Nebel wallten wie unter einem ge-
heimnisvollen Hauch. Eine seltsame, geisterhafte Stille erfüllte die Landschaft. Und dann war in dieser Stille das ferne, monotone Brummen eines Motors zu hören. Das Geräusch näherte sich von Nordosten, es schien die Luft zum Erzittern zu bringen, die Nebelschwaden schienen heftiger zu wallen – und dann tauchten in dieser grauen, brodelnden Milchsuppe zwei gelbe, verschwommene Scheinwerfer auf. Aus Richtung Thetford näherte sich ein schwarzer Ford. Der Fahrer fuhr nur im Schrittempo. Er hatte die Augen aufmerksam auf den Fahrbahnrand gerichtet. Der Händler Finnigan kannte hier zwar jeden Fußbreit Boden, dennoch wagte er es nicht, bei dieser Milchsuppe schneller zu fahren. Zu leicht konnte man vom Fahrdamm abkommen. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er durch die feuchte Windschutzscheibe. Er hoffte, jeden Augenblick das Schild zu sehen, das ihm die Abzweigung zum Schloß zeigte. Rein gefühlsmäßig wußte er, daß diese Abzweigung gleich kommen mußte. Außer Finnigan war noch jemand im Wagen. Sein Sohn Bobby. Der Junge saß schweigend neben ihm und starrte hinaus in den grauen, brodelnden Nebel. Er entdeckte als erster das Schild. »Da ist es, Dad!« Finnigan lenkte den Wagen vorsichtig herum. Der Nebel war so dicht, daß er nicht einmal eine Sichtweite von einem Meter hatte. Der Wegrand war mehr zu ahnen als zu sehen. Finnigan brauchte noch eine halbe Stunde, um die wenigen hundert Meter bis zum Schloßtor zurückzulegen. Dann tauchten die dunklen Streifen hinter den Nebelwänden auf. Es war der Eisenzaun, der den Park und das Schloßgebiet begrenzte. Aufatmend lehnte Finnigan sich zurück. Das war geschafft! Es war gut, daß er nur einmal in der Woche geschäftlich von Thetford nach London mußte. Er machte bei dieser Gelegen-
heit einen kleinen Umweg, um die bestellten Waren, die der Duke und seine Töchter zu kaufen pflegten, abzuliefern und neue Bestellungen entgegenzunehmen. Finnigan war schon um drei Uhr morgens in Thetford aufgebrochen, um rechtzeitig in London zu sein. Er wollte spätestens nach dem Lunch dort ankommen. Doch der Nebel war dichter, als er zunächst geglaubt hatte. Es konnte gut möglich sein, daß er aufgrund der Witterungsbedingungen erst nachmittags in London ankam. Finnigan betätigte die Glocke und wartete, bis der Diener erschien, um das Tor zu öffnen. John, der Ire, grüßte wie immer den Händler freundlich. »Die Fahrt dürfte heute kein Vergnügen gemacht haben, Mister Finnigan«, meinte er, während er neben dem langsam rollenden Wagen auf den breiten Eingang des Hauptportals zuging. »Sie sind sicher sehr früh abgefahren? Ich bin erstaunt, daß Bobby aus den Federn kam.« Finnigan lachte leise. »Wenn es nach London geht, dann ist er zu jedem Opfer bereit, John. Er hat sich schon beschwert, daß er viel zu wenig mitkönne. Die Schule, das Wetter – meistens ist immer etwas anderes. Im Augenblick sind die Schulen in Thetford wegen einer Grippe-Epidemie geschlossen. Ich hatte ihm letztesmal versprochen, daß er diesmal auf jeden Fall mitdürfe, und ich konnte ihn nicht enttäuschen. Bei diesem Nebel hätte er normalerweise zu Hause bleiben dürfen.« Bobby, ein kräftiger, aufgeweckter , Junge, grinste von einem Ohr zum anderen, aber er sagte noch immer kein Wort. Er hörte gern zu. Finnigan steuerte den Ford direkt neben die breiten Sandsteinstufen und schaltete dann den Motor aus. Durch den sich ständig bewegenden Nebel hindurch erkannte er die mächtigen Sandsteinsäulen, die eine menschliche Form hatten und mit ausgestreckten Armen das Portal stützten. In einigen Zimmern erkannte Finnigan den schwachen Licht-
schein, und es schien, als würden diese schwach erleuchteten Fenster vollkommen frei vor ihm in der grauen, wallenden Luft schweben. Die Wände des Schlosses wurden von den Nebelbänken verschluckt. John stieg die breiten Stufen hinauf. Finnigan öffnete die Tür des Kombiwagens. Der Händler wandte sich an seinen Sohn, als er sah, daß auch Bobby aussteigen wollte. »Heute nicht, Bobby. Bleib im Wagen«, sagte Finnigan leise. »Der Nebel ist zu dicht. Du könntest dich allzuleicht im Park verirren.« Die Enttäuschung spiegelte sich im Gesicht des Dreizehnjährigen. »Oh, Dad! Ich habe mich so darauf gefreut. Laß mich doch bitte in den Kinder-Pavillon gehen, bitte.« Finnigan schüttelte den Kopf. »Ein andermal, Bobby. Ich verspreche es dir.« »Ich habe mich so darauf gefreut, Dad«, sagte der Junge noch einmal. »Ich verirr' mich bestimmt nicht, ich kenn' den Weg doch genau. Ich brauche von hier aus nur geradeaus zu gehen, dann stoße ich auf den Seitenflügel mit dem Turmanbau. Und ein paar Schritte weiter rechts – da steht der Pavillon schon!« Finnigan gab nach, nachdem Bobby noch mehr als einmal seine Vorsicht beteuert hatte. Finnigan wußte, daß er viel zu ängstlich war. Bobby war ein aufmerksamer Bursche. »Aber du mußt mir versprechen, dich ganz dicht am Schloßbau zu halten, damit du dich ja nicht verirrst, Bobby. Ich möchte dich nachher nicht suchen müssen!« fügte er noch einmal hinzu. »Ich beeile mich, wir müssen sehr schnell wieder losfahren. Ich möchte nicht zu spät in London sein. In spätestens einer Viertelstunde bist du wieder am Wagen.« Bobby warf einen Blick auf seine Uhr. »Okay, Dad!« Mit diesen Worten riß er die Tür auf und sprang in den Nebel hinein. Finnigan sah die schattengleiche Gestalt in der Höhe des Schlosses verschwinden. Er hielt sich dicht an der Schloßwand und tastete sich von dort aus zum Seitenflügel.
Während der Händler Finnigan die Kisten und Kästen hinten aus dem Wagen herausholte und nach und nach die Stufen hochschleppte, rannte der Junge über den Rasen. Seine feuchten Schuhe glänzten, als wären sie mit einem besonderen Wachs eingefettet. Bobby rannte auf den schemenhaften, verwaschenen Seitenflügel zu. Von dort aus wandte er sich nach links. Er sah die runden, groben Mauern des Towers vor sich aufragen. Die Spitze des Turms verschwand im Nebel. Bobby ging jetzt nach rechts. Noch zehn Schritte, und er erblickte den runden Kinderpavillon. Das dunkelgraue, ein wenig ungepflegt wirkende runde Häuschen zog den Jungen wie ein Magnet an. Er kannte die Geschichte dieses Kinderpavillons. Vor einhundert Jahren war ein russischer Fürst zu Besuch in diesem Schloß. In der Nacht träumte ihm, daß Feen und Elfen einen Pavillon im Schloßpark errichteten, einen Pavillon ganz allein für ihn, den jungen Fürsten, der damals zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein mußte. Er erzählte seinen Traum. Sein Vater, Fürst Igor, hörte von diesem Traum. Nach der Abreise seines Sohns veranlaßte er, daß in diesem Park, genau an der Stelle, wo sein Sohn es geträumt hatte, der genau beschriebene Kinderpavillon errichtet wurde. Der russische Fürst machte den Kinderpavillon dem damaligen Besitzer des Huntingdon-Schlosses zum Geschenk unter der Bedingung, daß alle Kinder, die jemals in dieses Schloß kamen, im Kinderzimmerpavillon spielen dürften. Der Kinderpavillon bestand aus vier kleinen Zimmern. Und jedes Zimmer war genauso eingerichtet, wie der junge Fürst es geträumt hatte. Es waren die kleinen, farbigen, etwas verspielt wirkenden Möbel, Tische und Stühle vorhanden, mit denen die Kinder vor einhundert Jahren schon gespielt hatten. Bobby war von dieser stillen, fremden Kinderwelt fasziniert. Er setzte sich auf einen Stuhl, er öffnete die verzierten, handgeschnitzten farbigen Schränkchen, wühlte in dem Reichtum von
Kinderbildern und Kinderbüchern, und konnte sich nicht sattsehen an den Dingen, die es hier zu sehen gab. Jedesmal, wenn er hierher kam, entdeckte er etwas Neues. Es war nur schade, daß sein Vater immer so schnell wieder abfahren mußte. Er hielt sich niemals lange im Schloß auf. Bobby warf einen Blick auf seine Uhr. Er erschrak. Es waren schon zehn Minuten vergangen. Er mußte zurück. Er brauchte gut fünf Minuten, um wieder beim Auto zu sein. Bobby stieß die Tür des Kinderpavillons auf. Er rannte in den Nebel hinaus. Seine Wolljacke verfing sich an einem der kahlen Äste. Bobby drehte sich um, löste die Maschen von dem Zweig – und erblickte das goldene Kettchen. Im ersten Augenblick stand er wie erstarrt. Gold? Ob es wirklich Gold war? Es war so neu, es glänzte. Er löste es von dem Zweig, und im gleichen Moment sah er, daß das Amulett daran nicht ganz geschlossen war. Das Schloß war nicht eingeschnappt. Er hielt die beiden geöffneten Teile in den Händen, blickte auf das ovale Papier, das fleckig und runzelig von der Feuchtigkeit war, und er sah die mit rotbrauner Tinte geschriebene Nachricht. Mord im Todesschloß Und darunter stand ein Datum: 23.10. Bobby drehte das Papier in den Händen. Er sah das Gesicht einer hübschen jungen Frau auf der anderen Seite. Plötzlich fühlte Bobby, wie eine seltsame Erregung ihn packte. Hatte er etwas Wichtiges gefunden? Ein Mord, war gestern ein Mord geschehen, und hatte jemand eine Nachricht aus dem Schloß schmuggeln wollen, aber derjenige war nicht mehr dazu gekommen? Seine kindliche Phantasie spielte ihm die verrücktesten Überlegungen zu. Und doch war da einiges, was auch ein dreizehnjähriger Junge begriff. Die Polizei mußte von diesem Kettchen erfahren. Die Nachricht war für sie bestimmt! Mit zitternden Händen steckte er das Kettchen mit dem Amulett in seine Tasche und zog den Reißverschluß zu. Dann rannte
er auf den verwaschenen Schatten des Towers zu, hielt sich ganz links, und eilte dann am Seitenflügel des Schlosses entlang. Er erreichte das Hauptportal. Er sah die schemenhaften Umrisse von drei Personen am Eingang stehen: seinen Vater, den Diener John und die dunkle, hagere Gestalt der Hausdame. Sein Vater verabschiedete sich von den Bediensteten. Er nahm den Scheck entgegen, und Bobby hörte, wie er versprach, die neue Bestellung ebenfalls zur Zufriedenheit des Schloßherrn auszuführen. Bobby huschte in den Fond. Er wischte sich über die Stirn. Er war in Schweiß geraten und fühlte, wie sein Herz schneller und heftiger pochte als je zuvor. Sein Vater freute sich, daß er so pünktlich zurückgekommen war. Bobby nickte wortlos. Finnigan merkte, daß etwas mit seinem Sohn nicht stimmte. Die Aufregung, die Bobby ausstrahlte, war fast körperlich zu spüren. »Ich muß dir etwas sagen, Vater«, stammelte der Junge, noch ehe Finnigan eine diesbezügliche Frage stellte. »Finnigan warf einen Blick zur Seite. »Hast du etwas ausgefressen? Ich hoffe, du hast im Pavillon nichts kaputtgemacht? Wir müßten es ersetzen, Bobby.« »Nein, nein, es ist nichts von alledem!« schrie der Junge leise auf, als er merkte, daß sein Vater nicht weiterfahren wollte. »Fahr weiter, Dad, bitte, sonst durchsuchen sie uns vielleicht noch!« »Hast du etwas gestohlen, Bobby?« Finnigans Stimme wurde hart. Der Junge schüttelte den Kopf. Er konnte kaum noch reden. »Ich werde es dir sagen, Vater. Aber fahr weiter! Ich werde es dir zeigen, wenn das Schloß hinter uns liegt. Wir müssen zur Polizei, ich glaube, es ist etwas Schreckliches hier im Schloß passiert. Gestern, am 23. Oktober.« Finnigan kniff die Augen zusammen. Was redete der Junge da für einen Unsinn? Natürlich, man erzählte sich so allerlei
über dieses Schloß. Und er selbst fühlte sich niemals ganz wohl in seiner Haut, wenn er unten in der Empfangshalle wartete, wenn er die schwarzgekleidete, dürre Gestalt der Hausdame hantieren sah, wenn er die bedrückte Gestalt des Duke und seine stillen Töchter beobachtete. Das alles war schon recht merkwürdig und unheimlich. Aber der Verdienst war gut. Er war darauf angewiesen, daß er einmal wöchentlich von Thetford nach hier kam. Der Duke ersetzte ihm sogar das Fahrgeld. Sie waren gut einen Kilometer vom Schloß entfernt, als Bobby mit dem Kettchen herausrückte. Finnigan betrachtete das Amulett eingehend. Seine Miene verfinsterte sich. »Es ist wichtig, nicht wahr, Dad?« Bobbys Stimme klang noch immer aufgeregt. »Es ist ein Mord passiert, gestern, nicht wahr?« Es war erschreckend, welche Phantasie ein so kleiner Bursche schon entwickeln konnte. »Und die rote Tinte – ist gar keine Tinte, es könnte Blut sein, Dad, richtiges Menschenblut ...« Finnigan unterbrach den Redeschwall seines Sohns. Ja, es konnte Blut sein! Wie recht Bobby hat! Finnigan schluckte. »Vielleicht bekommen wir eine Belohnung, wenn wir bei der Aufklärung eines Verbrechens mithelfen, Dad«, begann Bobby schon wieder. »Vielleicht ist es ganz gut, daß wir ausgerechnet heute nach London fahren ...« Finnigan nickte mechanisch, während er das Kettchen in seiner Tasche verschwinden ließ. »Ja«, murmelte er kaum hörbar, »vielleicht ist es ganz gut, Bobby. Zufälle haben der Polizei schon oft weitergeholfen. Scotland Yard wird wissen, wie wichtig dieses Kettchen ist.« * Kommissar Hafther begriff im ersten Augenblick, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte.
Er ließ das Bild im Amulett sofort untersuchen. Der Laborbefund war eindeutig: die Nachricht war mit Blut geschrieben worden! Die Formulierung »Mord im Todesschloß« erregte Hafther eigenartig. Der Platz auf der Rückseite des Bilds war äußerst knapp, die Schreiberin – es stand eindeutig fest, daß es die Handschrift einer Frau war, hatte sich mit einer knappen und doch aussagekräftigen Nachricht begnügen müssen. Das Datum war noch daruntergezwängt worden. Hafther starrte auf das kleine Bild. Er wußte, wer die hübsche junge Frau war. Ihr Bild erschien oft in den Klatschspalten der Illustrierten, das Foto von »Ellen« – wie sie auch im Volksmund genannt wurde – war ebenso bekannt wie eine Darstellung von Königin Elisabeth oder dem Herzog von Windsor. Während der nächsten halben Stunde kam das Telefon in seinem Büro nicht zur Ruhe. Hafther nahm Gespräche entgegen, und er meldete selbst eine Reihe von Telefongesprächen an. Er versuchte sich mit der Familie Ellens in Verbindung zu setzen. Er traf die Mutter zu Hause an. Er erfuhr, daß Ellen und ihr Verlobter vor drei Tagen einen Besuch im Schloß des Duke of Huntingdon abstatteten. Gegen ihren Willen. Sie wollten zwei Tage bleiben. »Sie sind noch nicht zurückgekehrt?« fragte Hafther mit ruhiger Stimme. »Nein, Kommissar. – Ich hoffe, Ihre Frage birgt nichts Schlimmes für uns?« Die Stimme am anderen Ende der Strippe klang plötzlich besorgt. Hafther biß sich auf die Lippen. »Ich kann noch nichts sagen, Lady Shalling. Wir führen eine Routineuntersuchung durch. Ich glaube, daß wir durch Ihre Tochter einen Tip erhalten haben. Ich melde mich im Lauf des Tages noch einmal bei Ihnen ...« Hafther trommelte nervös auf die Tischplatte. Er hatte ein weiteres Gespräch, diesmal zu Duke of Huntingdon, angemel-
det. Er hatte ein paar ganz bestimmte Fragen auf dem Herzen. Während er auf die Verbindung wartete, stellte er eine Reihe von Überlegungen an. Er hoffte, daß er Lady Shalling keine unangenehme Nachricht überbringen mußte. Wenn Ellen im Schloß gewesen war – dann mußte sie auf irgend etwas gestoßen sein, was sie dazu veranlaßte, die Nachricht zu schreiben. Eines war klar: sie wußte etwas! Sie hatte ihr Wissen aber nicht so weitergeben können, wie es notwendig gewesen wäre, damit man sich ein klares Bild von den Dingen machen konnte. War Ellen in tödlicher Gefahr? Lebte sie überhaupt noch? Waren die Blutspuren und die mit Blut geschriebene Nachricht Blut von ihr selbst? Fragen, Fragen ... Aber sie alle würde man klären können. Ein detaillierter Schlachtplan entstand in Hafthers Gehirn. Es kam jetzt nur noch darauf an, wie das Gespräch mit dem Duke ausfiel. Hafther strich sich mit einer nervösen Bewegung sein dunkelblondes Lippenbärtchen zurecht. Er konnte es kaum erwarten, nach dem Hörer zu greifen. Dann war es soweit. Das Telefon klingelte. Hafther meldete sich. Die Verbindung zu dem Duke of Huntingdon! Der Diener John rief den Duke an das Telefon. Hafther erkundigte sich nach Ellen Shalling und Harry Banning. »Sie waren Gast in Ihrem Schloß, Sir«, endete er. »Es ist für uns wichtig zu erfahren, ob die Herrschaften abgereist sind oder ob sie noch immer Ihre Gäste sind.« Die Stimme des Duke klang ruhig, als er jetzt sprach. Hafther lauschte auf jedes einzelne Wort. Er preßte den Hörer instinktiv fester ans Ohr, als er dies normalerweise schon zu tun pflegte. »Ellen Shalling, meine Nichte – und ihr Verlobter, Harry Banning, Kommissar, sind gestern abend nach dem Supper abgereist!« Hafther stellte noch einige scheinbar harmlose Fragen, die der
Duke ruhig und besonnen beantwortete. Dann bedankte Hafther sich und legte auf. Er hatte seine Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Wenn er es genau nahm, dann stimmte in dieser Angelegenheit jetzt nach diesem Gespräch überhaupt nichts mehr. Er entschloß sich, dem wichtigsten Indiz Glauben zu schenken: dem Amulett. Irgend etwas stimmte hier nicht. Der 23. Oktober schien ein bemerkenswertes Datum zu sein. Ellen Shalling hatte dieses Datum nicht umsonst auf ihrer Nachricht vermerkt. Ob es wirklich ihre Schrift war, das würde er schon bald wissen. Er würde zu Lady Shalling fahren. Ein persönliches Gespräch war jetzt nicht mehr zu umgehen, es war auch nicht mehr zu umgehen, daß er der Lady mitteilen mußte, daß Ellen – höchstwahrscheinlich – nicht mehr am Leben war. Und er mußte das Schloß durchsuchen lassen. Doch – hatte das viel Sinn? In den zurückliegenden Jahren, nach den rätselhaften zehn Todesfällen, die ganz England erschütterten, war das Schloß immer wieder aufgesucht worden. Direkt nach den Todesfällen hatte man das Schloß durchsucht, aber vergebens. Die rätselhaften Vorfälle hatten keine Aufklärung gefunden ... Hafther drückte die Sprechtaste und bat darum, daß man Inspektor Diggins zu ihm schickte. Diggins war einer seiner fähigsten Beamten. Hafthers Gehirn arbeitete in diesen Minuten mit der Präzision eines Uhrwerks. Er hatte im Fall »Todesschloß« bisher wenig Erfolg gehabt, und er zweifelte auch nicht daran, daß es auch weiterhin so sein würde. Er hatte es mit einem übermächtigen Gegner zu tun – in manchen Teilen des Landes glaubte man sogar fest daran, daß dieses rätselhafte »Todesschloß« verhext war, daß es darin spukte ... Das jedoch fand bei Hafther, dem Mann mit dem harten, energischen Kinn und dem scharfgeschliffenen Verstand, keinen Anklang. Hafther war bereit, diesmal alles einzusetzen. Als einer der wenigen führenden Köpfe innerhalb von Scotland Yard wußte
er von der Existenz der PSA, einer geheimen Sonderabteilung, deren Hauptquartier in New York war. Die PSA bearbeitete Sonderfälle, an denen sich die normalen Polizeiinstitutionen die Zähne ausbissen. Seit einiger Zeit gab es auch für Scotland Yard ein ungeschriebenes Gesetz: alle Unterlagen – über jeden Fall, der in diesem großen Haus bearbeitet wurde – gingen zur Datenspeicherung an die PSA. Hafther hatte die Absicht, den Fall »Todesschloß« mit einer neuen Sondermeldung an die PSA einzureichen, die Umstände klar zu schildern, und auch das Kettchen und das Amulett mit der seltsamen Nachricht mitzuschicken. Die PSA wurde auf Anforderung und bei besonderen Anlässen, je nach Entscheidung der Computeranlagen und des Leiters der Abteilung, X-RAY-1, tätig. Hafther bewunderte die Männer, die in der PSA dienten, und er ärgerte sich ein wenig darüber, daß er selbst schon zu alt war, um noch PSA-Agent zu werden. In drei Jahren würde er bereits pensioniert. In der PSA arbeiteten die Besten der Welt – für die Welt. Erfolgsmeldungen aus China, aus Rußland und aus Europa lagen vor. Erfolgsmeldungen auch aus Indien, aus Frankreich und Amerika. Überall waren die Agenten im Einsatz. Sie waren Männer einer neuen Zeit. Fünf Minuten später führte Hafther ein Gespräch mit Diggins und besprach mit ihm seinen Plan. Daß er jedoch die PSA einschalten wollte, davon sagte er kein Wort. Diggins war Inspektor, und als solcher wußte er nicht, daß es eine Einrichtung wie die PSA überhaupt gab. Hafther machte die Sendung für die PSA nach dem Weggehen Diggins' fertig. Er ließ von der Automatik eine Fotokopie des Kettchens und des Amuletts anfertigen, fügte einen genauen Labor- und Fundbericht bei und versiegelte die Sendung. Das versiegelte Kuvert wurde der Botschaft der Vereinigten Staaten zugestellt. Von dort aus sollte es direkt der PSA übermittelt werden. Hafther hatte alles Notwendige in die Wege geleitet, und er
machte sich jetzt fertig, um Lady Shalling, die Mutter Ellens, aufzusuchen. Es waren noch einige wichtige Fragen zu klären, ehe er ins Schloß gehen wollte ... Hafther hatte mit der ihm eigenen Aufmerksamkeit und Vorsicht seine Mission eingeleitet. Und doch war es diesmal etwas anderes. Die Übergabe des versiegelten Sonderkuverts an den Boten, der es der Botschaft überbringen sollte, war fotografiert worden. Ein geheimnisvoller Gegner geriet dadurch in den Besitz der Anschrift der PSA. Die Verwicklungen und Gefahren, die dadurch entstehen sollten, konnte Hafther in diesem Augenblick nicht ahnen ... * Larry Brent öffnete blinzelnd die Augen. Er hatte das Gefühl, daß seine Augendeckel aus Blei bestanden. Sein Schädel dröhnte, als würde jemand darinsitzen und ständig gegen einen überdimensionalen Gong schlagen. Stöhnend richtete Larry Brent sich auf. Er stellte fest, daß er noch halb angekleidet war. Nach und nach kehrte seine Erinnerung zurück. Das helle Tageslicht, das durch das weitgeöffnete Fenster fiel, und die frische Luft munterten ihn schnell auf. Er hatte mit Iwan Kunaritschew, X-RAY-Agent-7, wie seine offizielle Bezeichnung innerhalb der PSA lautete, die Nacht durchgezecht! Wie war er nur nach Hause gekommen? Er konnte sich kaum mehr an Einzelheiten erinnern. Kunaritschew und er hatten den hervorragenden Testausgang gefeiert. Der Russe hatte sich in seinem Stammlokal – Larry hatte ihn im Verdacht, daß Kunaritschew mehr als ein Stammlokal in New York hatte –, als recht trinkfester Bursche erwiesen ... Während Larry sich frisch machte, sich duschte und neu ankleidete, fielen ihm immer mehr Einzelheiten ein.
Mit einer etwas leidenden Miene bereitete er sich ein herzhaftes Frühstück: ham and eggs. Zu einer Zeit, als die braven Bürger New Yorks bereits ihre Mittagspause hinter sich hatten. Larry trank mehrere Gläser Soda hintereinander. Er verspürte einen brennenden Durst. Der pelzige Geschmack in seinem Mund wollte nicht weichen. Nach dem vierten Glas und der ersten Portion Eier fühlte er sich schon besser. Das flaue Gefühl im Magen verschwand. Larry hatte immer geglaubt mithalten zu können, doch gegen Kunaritschew war er offenbar ein Waisenknabe. Es war erstaunlich, daß man ihn vom Hauptquartier aus noch nicht angefordert hatte. Er war gespannt auf das Testergebnis und auf das, was jetzt nachkommen mußte. Entweder akzeptierte man ihn jetzt endgültig als vollwertigen PSA-Agenten – oder man schickte ihn zum FBI zurück. Als er den Türgriff in der Hand hielt, hörte er das leise, dunkle Summen, das von seinem Schlafraum her ertönte. Mit drei, vier raschen Sätzen war Larry dort. Das Summen ertönte aus dem Elektro-Wecker, der auf dem kleinen Abstelltisch neben der modernen Liege stand. Doch was als Elektro-Wecker getarnt war – war in Wirklichkeit eine Rufanlage, die einen direkten Kontakt zum Hauptquartier der PSA ermöglichte. Schon zwei Tage nach seinem Einzug in dieses ApartmentHochhaus in der 125. Straße waren Techniker der PSA gekommen und hatten diese geheime Anlage installiert. Ein Außenstehender konnte diese Tarnung unmöglich durchschauen. Larry drückte einen Kontakt und meldete sich mit leiser Stimme. X-RAY-1 antwortete am anderen Ende der Leitung. Larry hatte diesen rätselhaften Mann, in dessen Händen alle Fäden zusammenliefen, bis zur Stunde noch nicht gesehen. Er kannte nur die Stimme. »Wir erwarten Sie umgehend im Hauptquartier, Mister Brent!
Alles weitere dort!« Die Stimme klang ruhig und selbstbewußt. »Verstanden! Ich komme, Sir!« Larry ließ den Kontaktknopf los. Zwei Minuten später stand er im Aufzug, der ihn rasch nach unten trug. Das Hochhaus hatte achtzehn Stockwerke. Larry wohnte in der zehnten Etage. Er unterhielt dort eine kleine, gemütlich eingerichtete 2-Zimmerwohnung. Larry holte seinen Mercedes 220 SE aus der Tiefgarage, fuhr an der breiten Automatenstraße vorüber, in der es vom vorgegrillten Hähnchen bis zum viergängigen Mittagessen alles gab, und fädelte sich in den Verkehr ein. Bis zum Hauptquartier war es nicht weit. Er hatte seine Wohnung so nahe wie möglich gewählt, um jeder Situation gerecht zu werden. Er brauchte gut fünf Minuten Fahrzeit. Dann befand er sich praktisch im Herzen Manhattans. Der Central Park dehnte sich vor ihm aus. Larry stellte seinen Wagen auf einen geräumigen Parkplatz und eilte dann in eines der zahlreichen Speiserestaurants, die wie eine bunte Kette am Rand dieses riesigen Vergnügungszentrums standen. Eines der Populärsten war das »Tavern on the Green«. Hier spielte sich auch das große Nachtleben ab. Das »Tavern on the Green« verpflichtete die berühmten Tanzorchester, und mit Anbruch der Dunkelheit drehten sich auf den Tanzflächen im Freien und unter den mit Säulen abgestützten Glasdächern die Paare. Bei schönem Wetter wurde im Park getanzt und gegessen. Um diese Jahreszeit aber war der Hauptbetrieb in den Innenräumen. Stimmengemurmel drang Larry Brent entgegen, als er die breite Schwingtür aufstieß. Viele Tische waren besetzt. In dem sauberen Lokal huschten die Kellner und Serviermädchen mit hochbeladenen Tabletts zwischen den Tischreihen entlang, um die Bestellungen auszuführen. Larry steuerte auf einen der hintersten Tische in einer dunklen Ecke zu.
Daß das »Tavern on the Green« mehr war als ein Eldorado für Feinschmecker und Tanzlustige, wußten wohl außer den PSA-Agenten nur der Oberbürgermeister von New York und der Besitzer des »Tavern on the Green«-Restaurants. Er war in Wirklichkeit auch ein Angestellter der PSA. Vor drei oder vier Jahren hatte man damit begonnen, unter dem bekannten Restaurant noch zwei Etagen in die Tiefe der Erde hineinzubauen. Larry ging links um den Tisch herum, streifte einen Garderobenhaken, und drückte dann die Klinke einer Tür, die hinaus auf den Gang führte, von dem es zu den Wirtschaftsräumen und zu den Toiletten ging. Eine Tür führte in eine Art Rumpelkammer. Und von dort aus gab es einen zweiten Einlaß, der zu einem verborgenen Aufzug führte. Der Lift, in dem höchstens zwei Menschen Platz hatten, glitt in die Tiefe. Die Tür öffnete sich vor Larry und gab den Weg in einen hellerleuchteten, dunkelgrauen Gang frei. Larry berührte einen Kontakt, und die Tür zum Aufzug glitt hinter ihm wieder zu. Brent ging durch den Gang. Verborgene Leuchtstoffröhren tauchten diese fremde, versteckte Welt in taghelles Licht. Larry hatte – wie immer – das Gefühl, durch deu weißen, sterilen Gang eines Krankenhauses zu gehen. Ein leises, kaum wahrnehmbares Surren lag in der Luft. Ein Zeichen dafür, daß die gewaltige Computeranlage, die einmalig in der Welt war, arbeitete. Das Hauptquartier der PSA war hier vollkommen sicher, und es war vor allen Dingen auch abgesichert. Schon den ersten Schritt, den Larry in den Flur hinter den Restaurantsraum setzte, hatte man registriert. Verborgene, ultraschallempfindliche Mikrofone und infrarotempfindliche Kameras nahmen alles auf. Ein ungebetener Ankömmling wäre sofort erkannt und abgefangen worden. Um Larry kümmerte sich niemand. Er konnte hier ein- und ausgehen.
Er bog um die Ecke, als ein Techniker im weißen Anzug mit dem PSA-Zeichen auf der Brust – der Weltkugel, durch die stilisiert das Menschengesicht schimmerte – auf ihn zukam. »Ah, Mister Brent! Gerade komme ich aus Ihrem Büro. Ich hatte Sie eigentlich schon früher erwartet.« Larry zog kaum merklich die Augenbrauen hoch. Seine rauchgrauen Augen veränderten etwas die Farbe. »Büro?« fragte er überrascht. Bis zur Stunde hatte es kein Büro für ihn gegeben. Dann hatte also ... Er dachte nicht zu Ende. Der Techniker wies den Gang hinunter. »Ich habe alle Installationen noch einmal überprüft. Es ist alles okay! Sehen Sie sich's an!« Grinsend ging der Techniker weiter. Er verschwand links um die Biegung. Larry bewegte sich in dem Gang weiter, in dem die Türen der PSA-Büros mündeten. Jeder Agent hatte sein eigenes Büro, in dem er seine Berichte über einen anliegenden Fall entgegennahm oder über einen Fall abschloß. Schreibtischarbeit war Inbegriffen. Sie ließ sich nicht ganz vermeiden. Larry beschleunigte seine Schritte unwillkürlich. Er kam am Büro von X-RAY-20 vorüber, am Büro von X-RAY-19 ... Er sah sich aufmerksam um, las die Ziffern und die Namensschilder. Er mußte fast bis zum Ende des Gangs gehen, nachdem er einen Augenblick vor der Tür von X-RAY-7 alias Iwan Kunaritschew gestanden hatte. Er fand seinen Namen und seine neue Bezeichnung auf der drittletzten Tür. X-RAY-3 – Larry Brent, stand darauf. Er war X-RAY-3? Unwillkürlich ging er noch ein paar Schritte weiter. Die Tür neben seinem Büro war unbeschriftet. Er wußte, daß es bisher keinen Agenten mit der Bezeichnung X-RAY-2 gab. Und die letzte Tür war nur eine Atrappe. Die Tür Nummer eins in diesem Gang gab es nicht. Sie war nur in die Wand eingezeichnet, ein schmales, hohes Rechteck, ohne Klinke, ohne
Schloß. Ein Schild: X-RAY-1. Kein Name darunter. Hinter dieser Wand residierte der allmächtige Chef, dessen Verbindungen um den ganzen Erdball reichten, und den doch keiner kannte. Larry fühlte, wie eine brennende Neugierde in ihm aufstieg. Wer war der Mann, dem er gehorchte, der die Einsatzbefehle erteilte? Würde er es jemals erfahren? Zu diesem geheimnisvollen Raum, der mit einer aufgemalten Tür gekennzeichnet war, gab es einen geheimen Zugang. Auch XRAY-1 mußte irgendwie in das Hauptquartier kommen. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, er war kein Geist. Hinter der Tür von X-RAY-1 war das Geräusch der arbeitenden Computer deutlicher zu hören als sonstwo. Hier schlug das Herz der PSA, hier wurden Daten gespeichert, wurden Informationen aus allen Teilen der Welt ausgewertet und verglichen, wurden Schlüsse gezogen und Entscheidungen getroffen. Larry fühlte, wie ihm urplötzlich eine Gänsehaut über den Rücken lief. War X-RAY-1 – vielleicht – eine Maschine, ein Computer, ein Elektronengehirn? Aber das konnte nicht sein. Er selbst hatte die Stimme von X-RAY-1 schon gehört, er selbst hatte schon mit ihm gesprochen. Larry ging auf die Tür zu, die seinen Namen trug. Er trat in den Raum ein. Stille und Freundlichkeit umgaben ihn. Ein breites Fenster lenkte den Blick auf eine weite, blaue Meeresfläche hinaus. Im Hintergrund ein ferner, palmenbewachsener Horizont. Die Vorderseite der Wand wurde völlig von den zwei Hälften der Erdkugel eingenommen. Alle Kontinente waren zu sehen, die großen Städte waren eingezeichnet und die Flughäfen. Rote und grüne Pfeile zeigten den Ort an, an dem sich in diesem Moment dieser oder jener PSA-Agent aufhielt. Mit einem Blick konnte Larry erkennen, daß sechzehn Agenten im Einsatz waren. Das bedeutete, daß es jetzt, mit ihm, siebzehn waren. Er und Kunaritschew, dem man nach der Bearbeitung eines besonders schwierigen Falls ein paar Tage
Ruhe gönnte, hielten sich im Hauptquartier auf. Auf dem glatten, modernen Schreibtisch waren eine Sprechfunkanlage und ein Telefon installiert. Ein kleines Tonbandgerät, eine schriftliche Mitteilung, eine Schulterhalfter, eine Smith & Wesson-Laser – und ein Ring lagen auf dem Tisch. Larry überflog die Mitteilung. Man teilte ihm seine Ernennung als X-RAY-3 mit und bat ihn, den Ring anzulegen. Als er das Papier aus der Hand legte, schrumpfte es zusammen und löste sich in einer milchigen Gaswolke auf. Das Papier war auf seinen Körpermagnetismus präpariert gewesen. Er hatte es in der Hand gehalten, er hatte die Nachricht also entgegengenommen, und ein geheimnisvoller, chemischer Vorgang nahm seinen Lauf. Merkwürdig berührt griff Larry nach dem PSA-Ring. In der schmalen Fassung des massiven Rings ruhte eine Weltkugel, durchschimmernd das Gesicht eines Menschen. In die Fassung war der Text eingraviert: »Im Dienst der Menschheit« »X-RAY-3« Larry steckte den Ring an den Ringfinger der Unken Hand. Dann zog er sein Jackett aus und legte die Schulterhalfter an. Bedächtig wog er die leichte Smith & Wesson-Laser in der Hand. Die Waffe hatte eine klare, moderne Form, sie erinnerte ein wenig an die Strahler, wie sie in Zukunftsromanen oft beschrieben wurden. Die Firma Smith & Wesson hatte im Auftrag der PSA eine Laserwaffe entwickelt, die nur im Dienst der PSA eingesetzt wurde. Die neue Waffe war vielseitiger, leichter und handlicher. Larry hatte sich schon damit eingeschossen. Während der ersten, harten Ausbildungstage war er mit der Laser bereits vertrautgemacht worden. Es war ein eigenartiges Gefühl, mit einer Strahlwaffe zu schießen. Doch Laser war das Prinzip der Zukunft. Auf der schriftlichen Mitteilung hatte gestanden, daß er das
Tonbandgerät einschalten sollte. Larry drückte den Einschaltknopf und die Spule drehte sich. »... mit Mut, Tapferkeit und einem großen Maß an äußerster Einsatzbereitschaft haben Sie unter Beweis gestellt, daß Sie, Mister Brent, würdig sind, in die PSA aufgenommen zu werden.« Die Stimme auf dem Band war die Stimme von X-RAY1. »Sie sind von dieser Stunde an X-RAY-3, das ist die Bezeichnung, hinter der Ihr Name steckt. X-RAY-3, ein großartiger, ein unerwarteter Erfolg – für Sie wie für uns. Ihr Intelligenzquotient war ausschlaggebend für die Bezeichnung, die Sie jetzt tragen. Sie haben einen sehr hohen Intelligenzquotienten. Jetzt, nachdem Sie einer der unseren sind, haben Sie das Recht, ein wenig mehr über die PSA zu erfahren. Die Tests sind so gestaffelt, daß ein Prüfling unbedingt einen Intelligenzquotienten haben muß, der ihn von vornherein unter die ersten zwanzig X-RAY-Agenten einreiht. Unter den ersten zwanzig zu sein bedeutet, zu den Besten zu gehören. In der PSA wird es immer nur zwanzig Agenten geben, zwanzig Agenten, die eine Auslese darstellen, wie das bisher niemals der Fall war. Ich ...« In diesem Augenblick summte die Rufanlage. Larry stoppte das Band und nahm die Meldung entgegen. X-RAY-1 sprach zu ihm. »Sie sind noch keine Viertelstunde im Hauptquartier, und schon hat sich die Situation wieder gewandelt, Mister Brent. Wir haben eine Sondermeldung erhalten. Die Computer sind mit der Auswertung fertig. Aufgrund der Konstellation haben die Computer entschieden, daß die größte Erfolgsquote in Ihren Händen liegen würde. Noch keine halbe Stunde sind Sie X-RAY-3, und schon geht der Tanz los, das mögen Sie doch eben gedacht haben, nicht wahr?« Larry zuckte zusammen. Er fühlte förmlich, wie seine Haut sich verfärbte. Ja, das hatte er gedacht. Konnte X-RAY-1 Gedanken lesen? X-RAY-1 konnte keine Gedanken lesen. Er konnte Stimmungen und Gefühle wahrnehmen und daraus seine Schlüsse zie-
hen. Doch das wußte Larry nicht, er wußte überhaupt nichts über seinen geheimnisvollen Chef. X-RAY-1 fuhr fort: »Für Erklärungen haben wir wenig Zeit. Sie werden unterwegs in Ihre Aufgabe eingeweiht. Ihre Maschine startet in zwanzig Minuten. Ein Taxi bringt Sie zum Kennedy Airport. Sie fliegen nach London, X-RAY-3. Ein dundelblauer Morris steht dort zu Ihrer Verfügung. In diesem Wagen finden Sie im Handschuhfach ein Tonbandgerät und weitere Unterlagen. Das wäre alles. Machen Sie sich auf den Weg! Der Fall ist dringend! Die Computer haben höchste Eile geboten!« * Die Maschine landete gegen Mitternacht auf dem Londoner Flughafen. Larry Brent hatte es sehr eilig, zur Zollkontrolle zu kommen. Der Beamte stellte die üblichen Fragen. Das Gepäck, das nur aus einem leichten Flugkoffer bestand, wurde kontrolliert. Brent wurde nach dem Zweck seines Aufenthalts in London gefragt, und der PSA-Agent antwortete, daß er dort geschäftlich zu tun hätte. Der Zollbeamte musterte ihn. »Sie kommen direkt aus New York?« fragte er so nebenbei, während er den Koffer zurückschob. Larry nickte. »Direkt aus New York.« »Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt und recht gute geschäftliche Abschlüsse in London, Sir«, sagte der Beamte und legte grüßend die Hand an die Mütze. Larry Brent bedankte sich, nahm seinen Koffer und eilte zum Ausgang. Die sich automatisch öffnende und schließende Tür war noch nicht richtig hinter ihm zugeglitten, als der Zollbeamte, der noch eben mit Larry gesprochen hatte, in seiner Dienstkabine verschwand, nach dem Telefonhörer griff und mit
fahrigen Fingern eine Nummer wählte. Das Tutzeichen erklang nur einmal, dann wurde schon abgehoben. Eine dumpfe Stimme meldete sich einfach mit: »Ja!« Der Zollbeamte berichtete stockend von dem Amerikaner: »Er heißt Larry Brent. Er ist groß, blond, Alter sechsundzwanzig Jahre. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug. Maßarbeit, hellblaue Krawatte mit einer feinen, dünnen Strichmusterung. Er ist der einzige Passagier, der in der eben gelandeten Maschine aus New York ankam.« »Wir werden sehen, Collins!« Die Stimme am anderen Ende der Strippe klang gelangweilt. »Vor einer halben Stunde haben Sie uns schon zwei Amerikaner gemeldet. Sie stammten aus New York … Aller guter Dinge sind drei. Vielleicht ist der, der jetzt aus dem Flughafengebäude herauskommt, der richtige.« Der mit Collins angesprochene Zollbeamte wischte sich über seine schweißnasse Stirn. »Aber – aber – ich habe doch nichts falsch gemacht«, stammelte er, und in seinen Augen stand die nackte Angst zu lesen. »Ich hatte den Auftrag, jeden aus New York kommenden Passagier zu melden. Das war alles. Das habe ich gemacht.« Er versuchte, seiner Stimme mehr Festigkeit zu geben, doch es wurde nur ein klägliches Wimmern daraus. Die Stimme am anderen Ende lachte. »Schon gut, Collins. Ich hoffe, Sie haben keinen übersehen, auch das wäre peinlich – peinlich für Sie und Ihre Familie! – Ah, da kommt Mister Brent über die Straße.« Der Sprecher am anderen Ende der Strippe schien das Flughafengebäude genau im Auge zu haben. »Etwa 1.80 groß, schlank, blonde Haare. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug.« Collins nickte unwillkürlich zu diesen Worten. »Ja, das ist er.« »Wir werden uns um ihn kümmern, Collins. Er nähert sich jetzt einem dunkelblauen Morris, spricht mit einem Mann. Der andere drückt ihm die Hand. Ah, er hat ihm die Autoschlüssel
zugesteckt. Interessant! Collins, ich habe das Gefühl, daß Sie uns diesmal den richtigen Tip gegeben haben. Aber trotzdem: bleiben Sie weiter auf dem Posten!« * Larry Brent drückte das Gaspedal weit herunter. Er befand sich an der Peripherie Londons. Der dunkelblaue Morris reagierte auf die kleinste Bewegung. Die Lichterketten der Außenbezirke Londons fielen zurück und verschwanden wie Schemen hinter den zitternden Nebelschleiern. Larry fuhr in das Gebiet des Suffolk-Moores. Er hatte das Gefühl, vor wenigen Sekunden noch in New York gewesen zu sein. Alles war so schnell gegangen, so unfaßbar schnell. Doch besondere Situationen erforderten besondere Reaktionen. Der Chef der PSA mußte wissen, weshalb seine Entscheidung so blitzartig gefallen war. Larry hatte einen Mittelsmann getroffen, genau wie abgesprochen. Dieser Mittelsmann war vom Innenministerium benachrichtigt worden. Er hatte den Auftrag gehabt, Larry Brent entgegenzugehen, ihm die Schlüssel für den Morris zu übergeben und sich wieder abzusetzen. Weitere Instruktionen enthielt dieser Wagen. Mit einem Druck auf den Knopf öffnete Larry Brent das Handschuhfach. Lautlos glitt das flache Tonbandgerät nach vorn. Die Spule begann sich zu drehen. Eine leise Stimme berichtete von den Vorfällen im »Todesschloß«, und dann von den letzten Ereignissen, die die PSA veranlaßten einzugreifen. Ein Pärchen war im Schloß verschwunden. Man hatte eine Nachricht gefunden, von Ellen Shalling. Larry fand durch den Hinweis auf dem Tonband weitere wichtige Unterlagen, die in einem schmalen Geheim-
fach unmittelbar unter dem Instrumentenbrett steckten. Larry betrachtete sich die Bilder, während das Tonband ständig weiterlief und die Stimme ihn mit seiner Aufgabe vertraut machte. Die Fotografien zeigten den Duke und seine beiden Töchter. Auf einer anderen Fotografie hatte man Harry Banning und Ellen Shalling vereinigt. Auf einer zusammengefalteten Karte fand er eine Skizze des Schlosses. Ein weiterer Bogen trug eine Landkarte, die klar und deutlich das Suffolk-Moorgebiet zeigte und den genauen Standort des »Todesschlosses«. Larry wurde darauf hingewiesen, daß er sich unter allen Umständen auf dem genau eingezeichneten Weg halten sollte. »... denn der Weg durch das Moor ist lebensgefährlich, überhaupt um diese Jahreszeit, X-RAY-3«, warnte die Stimme auf dem Band. »Zweigen Sie nicht ab! Viele kleine Feldwege führen direkt in das Moor hinaus. Bleiben Sie auf dem Hauptweg! Sie kommen genau an Ihr Ziel. – Das Schloß war früher zum Teil als Gästehaus eingerichtet. Noch heute nimmt der Duke für einen oder mehrere Tage einen Gast auf. Das ist Ihre Chance, X-RAY-3! Man wird Sie aufnehmen, am besten in der Nacht, wenn Sie erklären, daß Sie einen Motorenschaden hatten und nicht weiterkönnen. Der Wagen ist so präpariert, daß Sie diesen Schaden leicht herbeiführen können, und man wird ihn dann wirklich nicht im Handumdrehen reparieren können. Sehen Sie im Schloß nach dem Rechten, versuchen Sie auf jeden Fall die Spur von Ellen Shalling und Harry Banning zu finden! Ein Verbrechen ist nicht ausgeschlossen!« Larry Brent hielt jetzt eine Fotokopie des Amuletts in der Hand, das ein zwölfjähriger Knabe im Park des Schlosses gefunden hatte. Immer wieder warf Larry einen Blick auf die farbige, vergrößerte Nachricht, die man von Ellen Shallings Handschrift angefertigt hatte. Larry fuhr nicht sonderlich schnell, und er brauchte sich auch
nicht sehr auf die Fahrt zu konzentrieren. Die menschenleere Straße, die von beiden Seiten von kahlen Bäumen eingerahmt wurde, führte kerzengerade in die Tiefe des Moores und des Nebels. Kein Auto hinter ihm, keines vor ihm. »... Sie haben Zeit, das Wichtigste zu studieren. Doch Sie dürfen nichts von alledem mit in das Schloß nehmen. Prägen Sie sich die Unterlagen ein! Vernichten Sie sie dann! Vernichten Sie auch dieses Tonband«, fuhr die Stimme ruhig und gelassen fort. »Mit einem einfachen Knopfdruck können Sie es aus der Halterung lösen, werfen Sie es dann aus dem Wagen! Es wird sich, sobald es auf den Boden auftrifft, von selbst vernichten. Wir wünschen Ihnen für Ihre Aufgabe viel Erfolg, X-RAY-3! Es ist Ihr erster Einsatz, wir wissen nicht, wohin er Sie führen wird. Sie haben während der vergangenen Wochen in der PSA sehr viel dazu gelernt. Nutzen Sie Ihr Wissen, Ihren Mut und Ihre Einsatzbereitschaft! Und denken Sie immer daran, daß ungewöhnliche, außergewöhnliche und manchmal auch recht unwahrscheinliche Fälle das Gebiet sind, auf dem wir tätig werden müssen. Scotland Yard wünscht Ihnen einen vollen Erfolg. – Vernichten Sie das Band, X-RAY-3! Die Hinweise sind zu Ende.« Ein leises Rauschen folgte nach, dann verstummte auch das. Das Band schaltete sich automatisch ab. Mit der Linken steuerte Larry den Morris sicher, während er mit einem Knopfdruck die Halterung löste und das Tonbandgerät dann mit der Rechten langsam aus dem Handschuhfach herauszog. Er war seit fast einer dreiviertel Stunde unterwegs. Der Nebel war dichter geworden. Larry konnte kaum noch die kahlen, schwarzen Bäume am Straßenrand erkennen. Larry kurbelte das Fenster ein wenig herunter und warf das Tonbandgerät einfach nach draußen. Er fuhr sehr langsam, um zu sehen, ob die Selbstzündung wirklich funktionierte. Das Gerät berührte kaum den harten feuchten Boden, als eine laut-
lose Stichflamme in die Höhe schoß. Das Gerät schrumpfte zusammen. In einer ebenso lautlosen Explosion verging es. Larry beschleunigte seine Fahrt trotz des Nebels. Er hielt den Morris sehr stark am rechten Fahrbahnrand. Plötzlich sah er die gelben Scheinwerfer eines anderen Wagens hinter sich auftauchen. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks. Dann fiel der Wagen wieder zurück, und die dichte Nebelwand schluckte jedes Licht. Larrys Miene wurde hart. Es konnte ein harmloser Fahrer sein, der zufällig die gleiche Richtung hatte wie er, doch es konnte auch ebensogut ... Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er fühlte plötzlich eine leichte Unruhe in sich aufsteigen. Sein Gefühl hatte ihn noch niemals getrogen. Er mußte vorsichtig sein. Obwohl er daran dachte, daß praktisch niemand wissen konnte, mit welchem Auftrag er in England war, konnte er das einmal aufgetauchte Mißtrauen nicht mehr abstreifen. Er stopfte die Unterlagen, die er sich während des Tonbandgesprächs und der Fahrt eingeprägt hatte, in die dafür vorgesehene präparierte Tüte, warf auch sie aus dem Fenster hinaus. Es geschah das gleiche wie mit dem Tonbandgerät. Ein Blitz, eine lautlose Explosion, und ein schmaler Feuerstreifen blieben sekundenlang auf der Straße zurück und wurden zu einem kleinen Aschehaufen, den der Wind und der nachfolgende Wagen davontrieben. Ruhig, doch jede Muskelfaser aufmerksam angespannt, saß Larry hinter dem Steuer des Morris'. Die grauen Nebel hüllten seinen Wagen ein, die kahlen schwarzen Bäume an der rechten Straßenseite, von denen er gelegentlich den einen oder anderen zu Gesicht bekam, wurden zu verwaschenen, gespenstischen Schemen, die ständig ihre Formen zu wechseln schienen. Die weit herausragenden dürren Äste schienen Geisterfinger zu sein, die nach dem Morris griffen, und der plötzliche Schlag auf sein Dach ließ Larry wie
unter einem Peitschenhieb zusammenfahren. Ein Ast war heruntergefallen. Unwillkürlich schüttelte Larry den Kopf und ein leises Lachen kam über seine Lippen. Doch der PSA-Agent fühlte auf einmal beinahe körperlich die Drohung, die ihn von allen Seiten umgab, und er wußte einfach, daß jeden Augenblick etwas geschehen würde. * Inspektor Diggins weilte seit Stunden in der Nähe des Schlosses. Er stand an einen Baum gelehnt. Sein bleiches Gesicht wirkte ein wenig müde. Er hatte Kommissar Hafther und seine Mannschaft aus dem »Todesschloß« zurückkehren sehen. Seit dieser Zeit war er auf dem Posten und ließ das Schloß und die umliegende Umgebung nicht aus den Augen. Wie eine Burg türmte sich der mächtige Besitz des Duke of Huntingdon hinter den brodelnden Nebelwänden auf. Finsternis umgab, das Schloß. Nirgends brannte Licht. Die letzte Lampe war vor etwa einer halben Stunde erloschen, im Schlafzimmer Patricias, der ältesten Tochter des Duke. Inspektor Diggins trat von einem Bein aufs andere. Er hörte das leise Säuseln des Winds, der manchmal zu einer Böe wurde. Äste knackten unter seinen Füßen, in den nahestehenden Büschen und Sträuchern fing sich der Wind. Ein Nachtvogel streifte mit mächtigen Flügelschlägen über Diggins hinweg, irgendwo schrie ein Kauz. Und dann war die Luft um ihn herum plötzlich mit anderen Geräuschen erfüllt: Ein eigenartiges Wehklagen, ein Wimmern, seltsame Töne und Laute, die aus einer unendlichen Ferne zu ihm herübergetragen zu werden schienen ... Unwillkürlich griff Diggins nach seiner Waffe. Er schluckte, er sah sich um. Nichts ... oder doch. War da nicht ein Schatten gewesen, eine Bewegung?
Die Töne verstärkten sich, schienen jeden Busch, jeden Strauch um ihn herum auszufüllen. Diggins fühlte, wie eine eiskalte Hand plötzlich nach seinem Herzen griff. Seine Einsamkeit, seine Verlorenheit wurden ihm mit einem Mal bewußt. Und dann sah er wieder den Schatten. Sekundenlang stand die Gestalt neben einem dürren, hohen Baum, dann löste sie sich langsam und huschte lautlos in den Nebel hinein. Mit brennenden Augen starrte Diggins auf die dunkle, schemenhafte Gestalt. Er durfte sie nicht mehr aus den Augen verlieren. Für einen Augenblick verhielt er zitternd in der Bewegung, als er die Wegmarkierung erblickte. Diggins preßte die blutleeren Lippen aufeinander, und ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Das konnte nicht wahr sein: Die Gestalt bewegte sich auf dem Moor! Er, Diggins, kannte hier jeden Fußbreit Boden. Er war mit dieser gefährlichen Gegend vertraut wie kein Zweiter. Außerhalb dieses ihm bekannten schmalen Pfads gab es keinen zweiten Weg! Er schluckte. Er sah, wie die dunkle Gestalt um einen Busch herumkam, sie trug etwas in den Händen, sie verschwand hinter einem Strauch, bückte sich ... Verbarg sie etwas? Diggins ging leise nach rechts. Er war entschlossen, der Sache nachzugehen. Er prüfte den Boden unter seinen Füßen, er gab etwas nach. Doch Diggins glaubte zu wissen, daß er mit drei, vier Sätzen in der Nähe des Fremden sein konnte, und dann mußte er einfach wieder festen Boden unter den Füßen haben. Denn der andere bewegte sich ja auch sicher und gewandt, ohne daß der Boden unter seinen Füßen nachgab ... Diggins sprang nach vorn. Zwei – drei Sätze und dann ... »Hände hoch! Bleiben Sie stehen!« brüllte der Inspektor. Die Gestalt sprang auf die Beine. Diggins hatte alle seine Sinne so sehr auf den Fremden gerichtet, daß ihm nicht bewußt wurde, wie seine beiden Füße zentimetertief im Schlick ver-
schwanden, wie seine Schuhe sich mit Schlamm bedeckten. »Keine Bewegung«, sagte Diggins mit fester Stimme. Da wandte sich die dunkle Gestalt um. Zwei Dinge gleichzeitig bemerkte Diggins. Er sah, daß der Boden unter seinen Füßen nachgab, daß der rätselhafte Fremde aber einige Millimeter über dem Boden zu schweben schien. »Aber, ich ...«, kam es röchelnd über die Lippen des Inspektors, als ihm die tödliche Falle bewußt wurde. Sein Blick irrte in die Höhe, und ein gellender Aufschrei kam über seine zitternden Lippen und verlor sich in der Weite des nebelgeschwängerten Moores. Das vor ihm war kein Mensch ... Er starrte in die großen, leeren Augenhöhlen eines Totenschädels! Mit Schwung warf er sich herum, vielmehr, er wollte sich herumwerfen, doch er stürzte schwer zu Boden. Seine Beine steckten im Moor! Im ersten Augenblick reagierte er mit heftigen, zappelnden Bewegungen – und sackte noch tiefer. Der Schlick schwappte über seine Knie und spannte sich mit Titanengewalt um seine Schenkel. Er fühlte die tödliche Kälte, die seine Beine hinaufkroch. Diggins zitterte am ganzen Körper. Er starrte auf die dunkle Totenkopf gestalt und drückte mehrmals seine Pistole ab. Die Kugeln durchschlugen den Unbekannten und klatschten irgendwo im Nebel ins Moor. Ein gespenstisches Kichern erfüllte Diggins' Ohren, dann löste sich die unheimliche Gestalt vor seinen Augen auf ... Diggins stöhnte. Er versuchte freizukommen, doch mit jeder Bewegung, die er machte, sank er nur noch tiefer. Der Schweiß brach ihm aus, Angst und Schrecken ergriffen ihn, und Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen. Er würde nicht freikommen, nicht aus eigener Kraft. Er brauchte Hilfe. Doch niemand konnte ihm diese Hilfe bringen. Er war allein in dieser verlassenen, menschenleeren Gegend.
Er mußte Hafther unterrichten. Doch selbst dazu war er nicht mehr fähig. Das Funkgerät steckte in seiner Manteltasche. Er konnte nicht mehr hineinfassen. Der glitschige Schlamm reichte bis zu seinen Hüften und die Bewegung schien immer schneller zu erfolgen. Er wagte kaum mehr zu atmen, sich nicht mehr zu rühren. Wenn er es aushielt, vielleicht kam doch noch jemand vorbei, der ihn rettete. Vielleicht, vielleicht ... Diggins begann, an seinem Verstand zu zweifeln. Er durfte sich nicht vorstellen, welcher Grund ihn dazu veranlaßt hatte, das Moor zu betreten. Der Totenkopfschädel unter dem dunklen, breitkrempigen Hut ... Schauer rieselten über seinen Rücken, ließen ihn aufstöhnen. Das Moor gab ihn nicht mehr frei, Zentimeter um Zentimeter sackte der Mann tiefer. Die Kälte schnürte seine Brust ein, das Atmen wurde zur Qual. Er fror und schwitzte zur gleichen Zeit. Er stemmte sich mit beiden Händen in das Moor und versuchte mit letzter Kraft, mit letzter Verzweiflung seinen Körper freizubekommen. Doch seine Hände versanken im Moor ... Inspektor Diggins schrie aus Leibeskräften. Vielleicht hörte ihn jemand, vielleicht war jemand in der Nähe? Doch der Wind streifte über ihn hinweg und säuselte in den kahlen Büschen und Sträuchern. Der Wind trug kein Geräusch zu ihm herüber, das von einem lebenden Wesen stammte. Der Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht, als der Schlamm Schulterhöhe erreichte. Die Nebel stiegen vor ihm aus dem Moor hoch wie weiße Gestalten aus der Unterwelt, formten sich zu bizarren Gebilden, wurden vom Wind zerrissen und bildeten sich erneut ... Der Inspektor wehrte sich ein letztes Mal verzweifelt gegen sein Schicksal, obwohl er wußte, daß es keine Rettung mehr für ihn gab. Der glatte, glitschige Schlamm berührte sein Gesicht und drang ihm in Nase und Mund. Mit weitaufgerissenen Augen starrte Diggins hinüber zum Schloß. Obwohl seine Sinne schon
schwanden, sah er, daß dort plötzlich ein heller Lichtfleck zu erkennen war. Eines der Fenster war beleuchtet. Es war das Schlafzimmer von Patricia, der ältesten Tochter des Duke. Dann bedeckte der Schlamm sein Haupt. Das Moor hatte sein Opfer ... * Larry war ein wenig überrascht, daß nicht das eintraf, was er erwartet hatte. Man ließ ihn in Ruhe. Hatte er sich getäuscht, hatte seine Vorahnung ihn getrogen? Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er links im Nebel eine Kette von roten Rücklichtern erblickte. Sein Herzschlag stockte. Hatte er sich verfahren? War er vom Weg abgekommen? Er hatte doch aufmerksam die Markierungen beachtet. Der Fahrtweg hatte sich wie mit Brenneisen in sein Bewußtsein eingeprägt. Doch dieser ungewohnt dicke Nebel, der aus dem Boden stieg, der die Straße, die Bäume, den Himmel ... der alles bis zum Horizont in sich hineinzuschlingen schien – dieser Nebel konnte ihn irritiert haben. Das war nicht ausgeschlossen. Larry bremste vorsichtig. Er ließ den Wagen langsam ausrollen. Nach dem Plan mußte diese Straße weiter geradeaus führen, ehe ein Wegweiser auf das Schloß des Duke of Huntingdon aufmerksam machte. Er hatte nach diesem Wegweiser Ausschau gehalten, ihn aber bisher nicht gesehen. Hatte er ihn übersehen? Er starrte auf die Kette der roten Lichter, die sich langsam in der Ferne verloren und hörte das Geräusch von Automotoren. Er zählte drei Wagen. Er wußte, daß es eine fast parallel führende Seitenstraße gab. Und von dort aus gab es ebenfalls eine Abzweigung, die zum Schloß führte. War diese Strecke stärker befahren? Larry Brent wartete darauf, daß der Wagen, den er die ganze
Zeit hinter sich gemerkt hatte, jetzt, nachdem er hielt, aufrückte. Doch der Wagen kam nicht näher. Einmal glaubte Larry die gelben Scheinwerfer kurz hinter sich in dem brodelnden Nebelmeer aufleuchten zu sehen, doch dann entschied er sich dafür, daß er sich getäuscht hatte. Wieder einmal! Halluzinationen schienen während der letzten Stunde öfter aufgetaucht zu sein. Er hörte ganz nahe das Motorengeräusch eines Lastwagens. Er sah, wie sich zwei große Scheinwerfer durch den Nebel fraßen. Dann stand der Lkw an der Kreuzung, sekundenlang. Der Motor röhrte, als das gewaltige, vollbeladene Fahrzeug sich wieder in Bewegung setzte und nach links abbog. Die roten Rücklichter wurden vom Nebel geschluckt. Larry preßte die Lippen zusammen. Zum Teufel, er hatte sich wahrhaftig verfahren! Die Gegend war ihm fremd, und sie hatte ihre Tücken. Er mußte froh sein, daß er auf die Seitenstraße rechtzeitig aufmerksam geworden war, obwohl er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, am Abzweigschild bereits vorbeigefahren zu sein. Doch der fremde Wagen war auch nicht mehr hinter ihm. Das war der Beweis. Der andere Fahrer war an einer anderen Seitenstraße auf diese Parallelstraße abgebogen, daran gab es für ihn jetzt keinen Zweifel mehr. Larry bemerkte, wie sich seine Stirn unwillkürlich mit einer dünnen Schweißschicht bedeckte. Wenn er weiter geradeausgefahren wäre – dann wäre er mitten im Moor gelandet! Die Straße mußte nach ein paar Metern zu Ende sein ... Er starrte mit glänzenden Augen in die Finsternis und in die milchige Nebelwand, die vor ihm hin- und herschwankte. Larry kurbelte das Fenster herunter und lenkte den Morris langsam nach links. Im Schrittempo rollte er über die Straße. Er sah den dunklen, moosbewachsenen Boden – wo war die Straße? Da war es auch schon zu spät! Der Morris streifte mit den Vorderrädern das Moor. Larry hatte die Straße verfehlt!
Die kleinen Räder drehten sich sofort im Schlamm fest. Im Nu staken sie bis zur Hälfte im Schlick ... Larry Brent riß die Tür auf. Er blickte sich um. Er konnte keine andere Straße sehen, da war nur das dunkle, gewundene Band, auf dem er die ganze Zeit gefahren war – aber der Lastwagen, die anderen Autos ...? Larry wischte sich über die Augen. Hier hatte der Lastwagen gestanden, genau hier ... Narrte ihn ein Spuk? Er begann an seinem Verstand zu zweifeln ... Doch ihm blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Er mußte hier weg! Der Morris saß fest. Schon saugten sich die Kotflügel im Schlamm fest. Larry stand noch immer auf dem Trittbrett, die dunkle Masse unter ihm schien zu leben. Das Moor, dieses Meer aus Schlick und Schlamm ... Larry stieß sich ab. Mit einem Sprung überwand er fast die zwei Meter bis zum Straßenrand. Er stürzte zu Boden, seine Fußspitzen klatschten auf das Moor. Larry zog sich nach vorn. Sein Gesicht verzerrte sich, als er fühlte, welche Kraft in diesem saugenden Schlamm steckte. Er erreichte den Straßenrand und zog sich vollends auf den festen Boden. Seine Kleidung war verdreckt und naß. Er fror. Was war hier geschehen? Wer hatte ihm diese Suppe eingebrockt? Er hatte geahnt, daß etwas geschehen würde – daß es jedoch auf diese Weise passierte, das hätte er sich nicht träumen lassen. Man wußte, daß er nach hier kommen würde. Jemand war gewarnt worden! Doch X-RAY-1 hatte ihm gegenüber ausdrücklich erwähnt, daß seine Mission geheim war! Ein Widerspruch – hier stimmte etwas nicht! Da hörte er das Geräusch. Unwillkürlich wandte er den Kopf. Im gleichen Augenblick sah er es im Nebel vor sich aufblitzen. Er warf sich zu Boden. Wo er noch eben gestanden hatte, zischte eine Kugel über ihn hinweg. Eine Kugel, deren Luftzug er noch zu spüren bekam. Keine Halluzination! Die war echt,
echter als die fiktiven Bilder der Autos und des Lastwagens, mit dem man ihn auf das Moor hinausgelockt hatte. Larry riß sofort die Smith & Wesson-Laser aus der Halfter. Auf dem Boden liegend starrte er in den wirbelnden Nebel, in die Finsternis der Nacht. Er hörte nichts, er sah nichts – doch jetzt, Schritte auf der Straße. Larry Brent hielt den Atem an. Er hörte, wie zwei, drei Männer miteinander sprachen – die Stimme einer Frau war auch darunter. Einer sagte ganz deutlich: »Es hat ihn nicht erwischt! Wir müssen vorsichtig sein!« Zwei, drei Schüsse bellten trocken durch die Nacht. Eine Kugel krachte auf die Karosserie des Morris, der mit der Motorhaube schon zur Hälfte im Moor steckte. Der Querschläger zwitscherte über Larry hinweg. Der PSA-Agent rollte sich langsam zur Seite. Er mußte sich in Sicherheit bringen. Er berührte einen Ast, es gab ein helles, knackendes Geräusch. »Vorsicht!« brüllte eine Stimme im Nebel. Und dann begann der Tanz. Schüsse zerrissen die Nacht. Die Kugeln umschwirrten Larry wie wütende Hornissen. Dreck und Steinsplitter spritzten ihm ins Gesicht. Die Burschen zielten wahllos, doch einer ihrer Schüsse konnte ins Schwarze treffen. Larry Brent reagierte. Es ging um sein Leben. Er drückte die Smith-Wesson-Laser ab. Der grelle Lichtstrahl, nadelfein, raste blitzschnell durch den Nebel. Larry zielte tief. Er kannte die Wirkung dieses vernichtenden Strahls. Er hörte im Dunkel einen Aufschrei. Eine Kugel krachte als Antwort unmittelbar neben Larrys Schädel in den Boden. Larry hörte, wie es in seinen Ohren summte. Eine zweite Kugel verfehlte ihn um Haaresbreite, und dann spürte er einen stechenden, reißenden Schmerz in der linken Schulter. Er wurde wie von der Faust eines Giganten herumgewirbelt. Im ersten Augenblick preßte er die rechte Hand automatisch
auf die schmerzende Wunde, und er fühlte den Strahl des warmen Bluts. Dann löste er seine Hand, nahm die Smith-Wesson-Laser in den Griff und schoß zurück. Vier-, fünfmal krachte die tödliche Waffe. Dann grellte ein riesiger Lichtberg vor ihm auf. Eine ungeheure Detonation erschütterte die Luft. Glühende Metallteile zischten durch den Nebel und klatschten in das feuchte Moor, ein Aufschrei hallte durch die plötzlich lichtüberflutete Finsternis. Ein Laserstrahl hatte den Tank des Autos seiner Gegner getroffen! Zahlreiche kleinere Explosionen ließen den milchigen Nebelwall erzittern. Larry drückte sich eng auf den Boden herab. Flammen knisterten und wurden kleiner ... Minuten verstrichen, wurden zu einer Viertelstunde, zu einer halben Stunde. Larrys Arm blutete in dieser Zeit ununterbrochen. Er hatte die Wunde notdürftig mit einem Taschentuch verbunden. Larry kam auf die Beine zu stehen, doch er schwankte wie unter einem permanenten Windstoß. Er fühlte ein leichtes Schwindelgefühl. Er sah sich um, und war trotz der Schwäche gespannte Aufmerksamkeit. Das Autowrack war noch deutlich sichtbar. Ein Haufen aus verkohltem Blech. Larry wankte darauf zu. Er sah mehrere Blutspuren auf dem Boden. Jemand war verletzt worden. Doch niemand hielt sich mehr in der Gegend auf. Seine geheimnisvollen Gegner, die ihm den Garaus hatten machen wollen, hatten sich verdrückt. Der PSA-Agent lehnte sich gegen einen Baumstamm am Straßenrand. Er drückte den winzigen Kontaktknopf unter der Weltkugel in der Fassung des schweren goldenen PSA-Rings. Er sagte: »Bericht an X-RAY-1. Ankunft in London normal. Wenig später Berührung mit einem unbekannten Gegner. Meine Ankunft sollte geheim sein – doch sie ist bekannt ge-
worden. Etwas ist durchgesickert!« Er ließ den Knopf los. Ein Mikrospeicher nahm die phonetischen Werte auf und strahlte sie lautlos als Funkimpulse in den nebelbedeckten Himmel. Larry konnte mit dem Ring zu jeder Zeit einen Funkimpuls absetzen, der wenig später über einen geheimen PSA-eigenen Satelliten zum Hauptquartier der PSA in New York abgestrahlt wurde. X-RAY-1 erfuhr so über jede Aktion, über jede Veränderung sofort. Er selbst konnte sich mit seinen Agenten über diese Funkbrücke nicht in Verbindung setzen. Die Ringe waren bisher nur als Sender ausgestattet. Larry lief die Straße entlang. Er hielt sich ziemlich weit rechts und richtete sich nach den dicht am Straßenrand stehenden Bäumen. Er ging den Weg, den er normalerweise gefahren wäre. Er mußte auf das Schloß stoßen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Stille, Nebel und Finsternis umgaben ihn. Larry Brent fühlte die zunehmende Schwäche, die sich wie Gift in seinen Gliedern ausbreitete. Er hatte viel Blut verloren. Die Kugel, die direkt durch das Fleisch geschlagen war, mußte eine Arterie getroffen haben. Er wankte durch den Nebel und sah schließlich die schattengleichen Umrisse der Parkmauer und des Eisentors und die wuchtigen Wände des dunklen Schlosses. Larry stützte sich gegen den massiven Sandsteinpfosten, in dem die Scharniere der einen Torhälfte verankert waren. Er drückte den Klingelknopf. Müde legte er den Kopf gegen das kühle, feuchte Gestein. Dann hörte er die Stimme aus den Rillen der Sprechanlage. Er glaubte, eine Ewigkeit gewartet zu haben. Larry schilderte sein Mißgeschick. »Ich brauche dringend eine Unterkunft und Hilfe. Ich bin vom Weg abgekommen, ich hatte einen Unfall.« »Einen Moment, Sir«, sagte die ruhige Stimme. »Ich werde Ihnen öffnen.«
Larry wandte den Blick. Zwei, drei Lichter erhellten das Schloß. Der gelbe Lichtschein wirkte verschwommen hinter den dichten Nebelfeldern. Dann öffnete sich eine Tür. Eine Gestalt im Hausmantel eilte über den breiten, gepflegten Weg. Der Kegel einer Taschenlampe blendete seine Augen. Der Mann vor ihm betrachtete ihn genau, ehe er das Tor auf schloß. Dann ließ er den Scheinwerfer kreisen, als vergewissere er sich, ob sonst noch jemand in der Nähe sei. Wortlos führte der Diener ihn zum Hauptportal. »Sie sind fremd hier?« fragte er so nebenbei, als sie die oberste Treppenstufe erreicht hatten. Larry nickte. Er hatte sein Gegenüber längst erkannt. Es war John, der irische Diener. Auch von John hatte er eine Fotografie studieren müssen. Der Ire machte einen ruhigen, besonnenen Eindruck. Er warf einen besorgten Blick auf Larrys blutdurchtränkten Ärmel. »Ich hoffe, daß Ihre Verletzung nicht sehr schlimm ist, daß wir sie selbst behandeln können. Ich bin verpflichtet Ihnen zu sagen, daß wir wohl kaum einen Arzt finden werden, der bereit ist, das Schloß zu betreten. Das Schloß des Duke hat keinen sehr guten Ruf. Ich wollte Ihnen dies gesagt haben, ehe Sie eine Entscheidung treffen. Wenn Sie es vorziehen, zur nächsten Ortschaft weiterzureisen, dann werde ich Ihnen gern behilflich sein, Mister ...« »Brent, Larry Brent!« »... Mister Brent. Ich werde Sie gern nach Thetford fahren, das ist die nächstgelegene Ortschaft.« Larry lächelte leicht. »Das ist sehr nett, vielen Dank! Aber die Wunde sieht schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit ist. Ich bin vom Weg abgekommen und mein Wagen knallte gegen einen Baum. Die Tür war verklemmt, ich mußte mich durch einen Spalt hindurchzwängen, ich habe mir dabei die Schulter aufgerissen.« Er sagte kein Wort von dem Überfall, von dem Schußwechsel, er wußte noch nicht, wie weit diese Dinge mit
den Ereignissen zu tun hatten, die er im Schloß nachprüfen wollte. »Ich werde die Wunde allein versorgen können. Etwas warmes Wasser, Verbandstoff – und vor allen Dingen ein ruhiges Zimmer, ein warmes Bett.« Der Ire nickte lächelnd. »Damit werden wir Ihnen dienen können, Sir.« Er stieß die Tür auf und ließ Larry in die geräumige Empfangshalle vorangehen. Eine schwere Clubsesselgarnitur stand unterhalb des Treppenabsatzes neben einem gewaltigen Aquarium. Ritterrüstungen, blankpoliert, mit Säbeln und Hellebarden bewaffnet, nahmen fast völlig die eine Wandfläche an der Seite ein. Der Geruch eines schweren Parfüms stieg Larry in die Nase. Unwillkürlich hob er den Blick, und er sah oben an der Brüstung zur ersten Etage eine Gestalt im blauen Morgenmantel. Eine junge Frau. Sie wich etwas in den Schatten zurück, als sie Larrys Blick auf sich gerichtet fühlte. Der Diener führte den PSA-Agenten in den Trakt, in dem die drei Gästezimmer lagen, die für unerwartet eintreffende Gäste immer hergerichtet waren. Larry bekam das vorderste. John versprach, gleich wieder zurück zu sein, er wollte Verbandzeug und ein antiseptisches Wundmittel besorgen. Larry sah sich in seinem Zimmer um. Es gab darin ein großes, breites Bett mit einem mächtigen Federkissen. An der Wand hingen zwei sehr große Ölgemälde mit schweren, goldenen Rahmen. In einer dunklen Nische neben dem Kamin stand eine mannsgroße Bronzestatue. Auf der anderen Seite des Kamins thronte ein vergoldeter Kerzenständer mit einer dicken, fast armstarken Kerze, die zur Hälfte heruntergebrannt war. Ein großer handgeschnitzter Kleiderschrank, zwei Bücherborde und ein Rauchtischchen, um das zwei kleinere Sessel standen, vervollständigten die Einrichtung. Hinter einem schweren, roten Seidenvorhang fand Larry den Zugang zur
Toilette und zum Bad. Zum erstenmal betrachtete er sich im Spiegel, und er fand, daß er ein wenig ramponiert aussah. Der Anzug war reif für die Müllabfuhr. Es war nur gut, daß er seinen Koffer aus dem Morris mitgenommen hatte. So konnte er wenigstens die Kleidung wechseln. Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln. John, der Diener, war ins Zimmer zurückgekommen. Er verabschiedete sich sehr freundlich von Larry, wünschte ihm eine gute Nacht. »Ich bin Ihnen gern behilflich, Mister Brent. Wenn Sie irgend etwas brauchen, bitte klingeln Sie!« Larry nickte. Als John gegangen war, wusch er seine Wunde ab, behandelte sie mit dem antiseptischen Mittel und legte dann den Verband an. Er war kaum damit fertig, als es an die Tür klopfte. Rasch zog Larry ein frisches Hemd über. Er öffnete. Margarete, die jüngste Tochter des Duke, stand vor ihm. Auf einem Tablett trug sie eine dampfende Schüssel, aus der es verführerisch nach Fleischbrühe roch. Die junge Dame trug einen blauen Morgenmantel. Sie hatte oben an der Brüstung gestanden und seine Ankunft beobachtet. »John hat mir alles erzählt«, sagte sie leise. »Ich habe Ihnen rasch eine gute Fleischbrühe zubereitet, Mister Brent. Mehr kann ich im Augenblick leider nicht für Sie tun.« » Larry sagte etwas davon, daß diese Umstände nicht nötig gewesen wären, doch er war dankbar für diese unerwartete Stärkung. Er fühlte sich, nachdem er die Schüssel geleert hatte, merklich wohler. Er wechselte ein paar Worte mit Margarete, die sofort erkannte, daß er Amerikaner war. »Was führt Sie in das alte England?« fragte sie nachdenklich. Sie stand immer noch an der Tür, sie hatte sich nicht hingesetzt. »Sie werden es nicht glauben, Miß«, erwiderte Larry, während er das Tablett zurückreichte. »Ich war eigentlich neugierig
auf Ihr Schloß. Wir Amerikaner haben den Spleen, daß alte Burgen und alte englische Schlösser von Geistern bewohnt werden. Ich mache einen Trip durch Schottland, Wales und auch noch nach Irland. Ich bin Reporter. Ich will über alte Schlösser schreiben.« Er merkte, wie sich ihre Augen ein wenig verengten. »Von diesem Schloß gibt es bestimmt sehr viel zu schreiben, Mister Brent«, meinte sie leise. »Vielleicht – vielleicht auch von Geistern, wer weiß?« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Sie wünschte ihm eine gute Nacht, gute Besserung und zog dann die Tür hinter sich zu. Larry Brent war allein. Er hatte nicht die Absicht zu schlafen. Er wollte ein wenig ruhen, um sich von den Strapazen der letzten Stunde zu erholen. Angezogen legte er sich auf das Bett. Er hatte alle Lichter gelöscht, schloß ein wenig die Augen und ließ vor seinem geistigen Auge den Plan abrollen, den er vom Schloß in sich aufgenommen hatte. Das Amulett war in einem Busch in der Nähe des Kinderpavillons gefunden worden. Alles wies darauf hin, daß es hoch aus einem Fenster geworfen worden war. In der Nähe des Pavillons befand sich ein Tower. Ob er zuerst einmal da ...? Er mußte noch ein wenig abwarten, und sich ruhig verhalten, bis im Schloß alles wieder schlief. Er selbst döste vor sich hin und zuckte immer wieder zusammen, als er unerwartet einschlief, es aber noch rechtzeitig bemerkte. Was er jedoch nicht bemerkte, war, daß sich in der Dunkelheit lautlos eines der großen Ölgemälde an der Wand bewegte und langsam zur Seite glitt. Ein Schatten wurde in der quadratischen Öffnung in der Wand sichtbar. * Iwan Kunaritschew wollte gerade sein Büro verlassen, als die
Rufanlage ertönte. Der Russe meldete sich. X-RAY-1 sprach zu ihm. Die Stimme des rätselhaften Leiters der PSA klang besorgt. »X-RAY-3 ist in Gefahr. Soeben traf eine Funkbotschaft ein. Seine Ankunft ist bekanntgeworden. Der Einsatz eines PSAAgenten im Schloß des Duke jedoch ist nur Scotland Yard in London bekannt gewesen. Von dort aus muß etwas durchgesickert sein. Es tut mir leid, X-RAY-7, daß Sie Ihren letzten Urlaubstag abbrechen müssen. Sie haben sich Ihre Ruhe verdient – doch jetzt ist alles anders gekommen. Ich möchte Sie als zweiten Agenten ins Schloß schicken, auf einem anderen Weg jedoch, und ohne daß eine Mitteilung an Scotland Yard erfolgt. – Eine Sondermaschine wird Sie an Englands Küste absetzen. Von dort aus werden Sie über den Waveney zum Schloß vorstoßen und versuchen, mit X-RAY-3 Kontakt aufzunehmen. Äußerste Vorsicht und größtes Fingerspitzengefühl sind geboten.« Im kräftigen, etwas geröteten Gesicht des Russen zuckte kein Muskel. »Okay, Sir«, sagte er einfach. * Larry Brent merkte, wie seine Augenlider bleischwer wurden. Seine Muskeln zuckten, seine Atemzüge wurden tiefer. Doch plötzlich schien es, als ob ein eisiger Hauch sein Gesicht streifte. Larry war sofort hellwach. Er war eingeschlafen und fühlte förmlich, daß irgend etwas in seiner Nähe war. Er spürte die Blicke, die ihn musterten und ... da handelte er auch schon, ohne noch eine Sekunde zu überlegen. Instinktiv warf Larry Brent sich herum und aus dem Bett heraus. Keine Sekunde zu früh. Er fühlte den Luftzug über sich. Ein Pfeil bohrte sich surrend in die Wand. Er sah die Gestalt in
der Öffnung der Wand hocken und beobachtete, wie sie mit fahrigen Fingern eine Armbrust spannte und den Bolzen einlegte. Da war Larry auf den Beinen. Wie ein Panther schnellte er durch die Luft. Seine Hände griffen in die Öffnung – und er fühlte den glatten Stoff. Sein Gegner war durch diesen plötzlichen Angriff so überrascht, daß er eine Sekunde zu spät reagierte. Mit einem leisen Aufschrei wollte er zurückweichen. Doch Larrys Finger spannten sich wie Stahlklammern um die Armgelenke des rätselhaften Angreifers und zogen ihn förmlich aus der quadratischen Wandnische heraus. Der andere versuchte sich loszureißen. Die Armbrust entfiel seinen Händen, der Bolzen löste sich, zischte gegen die Bronzestatue, prallte klirrend ab und blieb in der Wand stecken. Larry Brent biß sich auf die Lippen. Wie ein Höllenfeuer brannte die Wunde in seiner Schulter. Doch er durfte jetzt nicht schlappmachen, nicht jetzt! Seine Rechte kam hoch, er konnte seinen Gegner abwehren. Ehe der andere recht begriff, was geschah, wandte Larry einen Griff aus der Aikido-Technik an. Ein gellender Aufschrei hallte durch den halbdunklen Raum, in dem sich diese gespenstische, unwirkliche Szene abspielte. Der Fremde krachte zu Boden, daß die Dielen ächzten. Larry griff ihn am Kragen, riß ihn in die Höhe und knallte ihn auf das Bett. Schwer atmend und stöhnend seine schmerzenden Arme reibend, blieb der andere liegen. Larry Brent drückte gegen den Lichtschalter, und der helle Schein durchflutete das Zimmer. Larry warf einen flüchtigen Blick auf den eckigen Geheimstollen, der tief in die Wand führte und neben dem jetzt das große Ölgemälde hing. Dann ging sein Blick zu dem jungen Burschen, der eine dunkelgraue Cordhose und ein blaues Leinenhemd trug. Der Fremde war höchstens zwanzig Jahre alt. Er hatte dicke, buschige Augenbrauen und dunkle, stechende Augen. Sein Gesicht hatte einen etwas brutalen Zug.
»Ich glaube, Sie haben mir etwas zu erzählen«, sagte Larry mit scharfer Stimme. »Nicht, daß ich wüßte. Normalerweise reden Tote nicht mehr, Mister! Schade, daß ich Sie verfehlt habe. Diese unangenehme Begegnung hätte ich mir ersparen können.« Larry hielt die Smith & Wesson-Laser in der Hand, er steckte sie jetzt weg. Mit einem schnellen Griff zog er den Burschen aus dem Bett hoch und stellte ihn gegen die Wand. Der andere war durch den Aikido-Griff noch immer kampfunfähig. Beide Arme hingen an den Seiten herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Er war unfähig sie anzuheben. »Ich habe Zeit«, sagte Larry hart, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. »Ich habe die ganze Nacht Zeit. Und dann werde ich doch wissen, was ich wollte. Ich habe nicht das Gefühl, daß es mir so ergehen wird wie Harry Banning und seiner Verlobten Ellen.« Larry bluffte. Doch sein Bluff wirkte. Er sah, wie der andere förmlich zusammenzuckte. »Banning und seine Verlobte?« fragte sein Gegenüber mit dumpfer Stimme. »Was wissen Sie davon?« Doch sofort hatte er sich wieder unter Kontrolle und gab eine freche, ausweichende Antwort, die Larry verletzen sollte. Doch Brent reagierte nicht darauf. Pausenlos schoß er seine Fragen ab. Er lockte den anderen förmlich heraus zu antworten. Doch die Antworten ergaben nicht viel. »Es ist vergebens, Brent«, sagte der andere, und Larry war nicht einmal überrascht, daß man seinen Namen kannte. Man schien hier erstaunlich gut über einige Dinge unterrichtet zu sein. »Sie kriegen kein Wort aus mir heraus. Geben Sie es auf!« Larry schüttelte den Kopf. »Ich kriege alles heraus, mehr als Ihnen lieb ist und...« Da sah er, wie es für den Bruchteil einer Sekunde in den Augen seines Gegenübers aufblitzte. Instinktiv warf Larry sich herum, gleichzeitig sein Gegenüber mitherumreißend. Der
andere kam für einen Augenblick an die Stelle zu stehen, wo Larry Brent noch eben gestanden hatte. Ein gellender Aufschrei kam über seine Lippen, dann wurde sein Körper unter Larrys Händen schlaff. Larry sah die Bewegung im quadratischen Stollen in der Wand, sah den Schatten, riß seine Smith & Wesson-Laser heraus und drückte ab. Der nadelfeine Strahl zuckte in die Nische und Larry hörte einen dumpfen Aufprall. Sand und Gestein rieselten von der Decke des Stollens herab. Eine Armbrust kippte über den Rand des dunklen Quadrats, Larry hörte Geräusche im Stollen und eilte darauf zu. Er drückte noch zwei-, dreimal ab und sah im Schein des dünnen Laserstrahls die kahlen, unverputzten Stollenmauern, aber keinen Menschen weit und breit. Larry ging zu dem Verletzten zurück. Das Gesicht des Burschen war bleich, die Augen lagen tief in den Höhlen. Er schien während der letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. Der andere, dessen Namen er noch immer nicht kannte, lag mit der rechten Gesichtshälfte auf dem Boden. Der Bolzen, der Larry gelten sollte, steckte ihm genau zwischen den Schulterblättern. Blut tränkte das Hemd und tropfte zu Boden. Larry kümmerte sich um den Verletzten. Der andere schluckte. »Ich glaube – Sie behalten doch recht, Brent«, kam es wie ein Hauch über seine Lippen. Ein Zucken lief durch den Körper des Verwundeten. »Ich habe Ihnen einiges zu sagen, Brent. Diese Hunde, sie haben mich – im Stich gelassen – Banning ist tot. Walker hat ihm in der Waffenkammer aufgelauert. Banning schien etwas bemerkt zu haben, Walker wollte verhindern, daß etwas bekannt wurde. Er hat den ganzen Laden hier aufgezogen. Walker hat auch Ellen Shalling in den Tower gesperrt, sie ist längst tot. In diesem Eiskeller hält es keiner acht Tage lang aus.« Die Stimme wurde immer leiser. Larry bettete den Kopf des Verletzten etwas höher. Er sah, daß er nichts mehr tun konnte. Selbst der beste Arzt konnte hier
nichts mehr ausrichten. Ein dünner Blutfaden rann aus dem rechten Mundwinkel des Verletzten. »Woher wißt ihr, daß ich in das Schloß kommen würde?« fragte Larry deutlich und mit fester Stimme. »Walker weiß alles! Ihm entgeht nichts! Er hat seine Verbindungen überall!« Ein Hustenkrampf schüttelte den Körper des Schwerverletzten. Ein Blutschwall ergoß sich über seine Brust. Er röchelte. »Walker, der Boß ... er ...« »Wer ist Walker? Wo ist Walker?« Larry hatte tausend Fragen auf dem Herzen, doch er wußte, wie sehr er sich bescheiden mußte. »Walker?« Der Verletzte öffnete die Augen, er hob den Kopf. »Walker ist doch ...« Die beiden letzten Wörter waren nur noch ein Röcheln. Dann sank der Kopf zurück. Der Fremde, der den Auftrag gehabt hatte, Larry Brent zu töten, war tot! Larry richtete sich auf. Eine feine Schweißschicht bedeckte seine Stirn. Sein Blick ging zu dem quadratischen Geheimstollen, der hier in sein Zimmer mündete. Waren auf diese Weise auch die anderen zehn Gäste vor drei Jahren ums Leben gekommen? Auf dem Tonbandbericht war erwähnt worden, daß auch sie durch Bolzen von einer Armbrust getötet wurden. Die merkwürdigen Morde wurden bösen Geistern und Dämonen zugeschrieben, die es in diesem alten, seltsamen Schloß geben sollte ... Larry wollte diesen Dämonen auf den Leib rücken. Er stieg in die quadratische Öffnung und ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Der Stollen war gerade so hoch, daß man geduckt hindurchkam. Die Smith & Wesson-Laser in der Rechten, die Taschenlampe in der Linken, so ging Larry durch den kühlen, finsteren Stollen, bereit, sofort zu reagieren, wenn es den geringsten Anlaß dazu geben sollte. Doch nichts geschah. Er erreichte unbehelligt das Ende des Stollens. Dann hörte er ein Geräusch. Irgendwo vor ihm in der
Dunkelheit wurde leise eine Tür ins Schloß gezogen. Larry ließ den Scheinwerferkegel kreisen. Er starrte in einen großen, vollkommen leeren Raum, der total verstaubt war. Spinngewebe hingen in langen Fäden von der Decke herab. Sie bewegten sich leise unter einem leichten Luftzug, der von der Tür gekommen war. Larry sah Fußspuren auf dem dicken Staubteppich zu seinen Füßen, einen Bolzen, den sein geheimnisvoller Gegner verloren hatte. Der PSA-Agent huschte auf die Tür zu und öffnete sie, während er gleichzeitig hinter der Tür in Deckung blieb. Nichts geschah. Er spähte vorsichtig um die Ecke herum – und er starrte zu seiner Verwunderung hinaus auf den Gang, über den er selbst gekommen war, als man ihm sein Zimmer zuwies. Leise Schritte, Atmen, dann klappte eine Tür. Larry Brent rannte durch die Dunkelheit, den Kegel der Taschenlampe über Boden und Wände führend. Der Gang machte einen Knick nach rechts. Hier herum mußte derjenige gekommen sein, dessen Bolzen ihn verfehlt hatte. Es war ein Seitenanbau, der in einen völlig anderen Trakt des Schlosses führte. Larry begann zu laufen. Da hörte er die Stimme hinter sich. »Bitte, bleiben Sie stehen!« Brent wirbelte herum. Er sah am anderen Ende des Gangs einen Mann im dunkelblauen Hausmantel. In der rechten Hand einen dreikerzigen Leuchter. Der Duke of Huntingdon! Larry ging langsam zurück. Er senkte den Strahl der Lampe und starrte auf den bleichen Schloßherrn. »Sie sind Gast meines Hauses, Sir. Ich liebe es nicht, wenn Fremde in der Nacht in meinem Schloß herumstrolchen. Bitte, suchen Sie Ihr Zimmer wieder auf.« Larry ließ den Duke ruhig zu Ende sprechen. »Ich werde nicht in mein Zimmer zurückkehren, Sir«, erwiderte der Agent
dann. »Man hat mich überfallen, man wollte mich ermorden!« Larry Brent sah, daß der Duke zusammenzuckte. Er ließ ihn diesmal erst gar nicht zu einer Entgegnung kommen. »Wohin führt die Tür am Ende dieses Gangs?« fragte er einfach. »In das Musikzimmer«, erwiderte der Duke of Huntingdon. »In ein Musikzimmer aus dem 16. Jahrhundert. Warum? Was wollen Sie dort?« »Und wo ist die Waffenkammer?« fragte Larry. Er hatte keine Zeit zu verlieren, alles eilte. Eine geheimnisvolle Gruppe interessierte sich brennend für ihn und setzte alles daran, um ihn aus dem Weg zu räumen. »Was wollen Sie in der Waffenkammer?« Die Frage des Duke klang dumpf und kraftlos. »Man hat dort Harry Banning getötet, Sir.« Larry achtete genau auf die Reaktion seines Gegenübers. In dem bleichen, vom Licht der flackernden Kerzen etwas verzerrt wirkenden Gesicht des Duke war nichts als Erstaunen zu lesen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mister Brent«, sagte der Schloßbesitzer, und seine Stimme klang merkwürdig verändert. »Mister Banning hat das Schloß verlassen.« Er starrte auf Larry Brent. »Wie kommen Sie überhaupt auf Mister Banning zu sprechen? Sie sind Amerikaner, Sie ...« Larry ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Woher wissen Sie, Sir, daß ich Amerikaner bin?« »Ich habe mit John gesprochen, gleich nach Ihrer Ankunft. Ich muß immer wissen, wen ich unter meinem Dach beherberge.« »Kann ich die Waffenkammer durch das Musikzimmer erreichen?« Larry stellte diese Frage, obwohl er sie nicht beantwortet zu haben brauchte. Er kannte den Weg in die Waffenkammer aufgrund des Plans, den er sich eingeprägt hatte. »Ja, natürlich. Aber was wollen Sie dort, was ...«
Zugluft strich vom Ende des Gangs über die beiden Männer hinweg. Zwei Kerzen wurden ausgeblasen. Der Duke zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag. Larry Brent wirbelte herum. Er hörte das leise Geräusch, das die Tür des Musikzimmers verursachte, als sie immer wieder gegen das Schloß schlug, ohne sich darin zu verankern. Sein geheimnisvoller Gegner war diesen Weg gegangen, daran gab es keinen Zweifel. Er hatte dort hinten Unterschlupf gesucht. »Was ich dort will?« fragte Larry leise, indem er Antwort auf die letzte Frage des Duke gab. »Ich will dort nach Mister Walker sehen, vielleicht treffe ich ihn unten.« Mißverständnis glaubte Larry in den dunklen Augen des letzten Sprosses der Huntingdons zu erkennen. »Ich gehe, Sir. Und ich werde dort nachsehen.« »Bleiben Sie hier, Mister Brent, um Himmels willen, bleiben Sie hier.« Der Duke schien plötzlich von einer unerklärlichen Angst erfüllt. Seine Stimme zitterte, sie war wie ein Hauch. »Gehen Sie nicht diesen Weg, verlassen Sie diesen Trakt!« Der Duke sprach so leise, daß Larry es kaum verstehen konnte. »Gehen Sie zurück in Ihr Zimmer, Mister Brent! Ich warne Sie vor Ihrem Vorhaben, weil ich weiß, was geschehen wird! Ich habe schon viel zuviel gesagt, ich ...« Der Duke blickte sich plötzlich gehetzt um, als fürchte er, von jemand gehört zu werden. Wenn dieser Mann vor ihm wirklich etwas wußte, dann stand er entweder unter dem unfaßbaren Druck eines mächtigen Gegners – oder er war ein Schauspieler erster Klasse. Larry war entschlossen, sich nicht abhalten zu lassen. Die Begegnung mit dem Duke hatte ihn sowieso schon aufgehalten. »Ich gehe, Sir!« Ohne einen weiteren Blick auf den Duke zu werfen, wandte Larry sich ab und eilte in das Dunkel, in das nur der Lichtkegel seiner Taschenlampe stach. Er sah die spaltbreit geöffnete Tür vor sich, die in das Musikzimmer aus dem 16. Jahrhundert führte ...
Larry war, während er auf die Tür zuging, darauf gefaßt, daß der Duke einen Anschlag auf ihn verüben würde. Doch nichts geschah. Die Gefahr und das Grauen kamen von einer ganz anderen Seite, noch ehe er die Türklinke in die Hand nahm. Unheimliche Gestalten tauchten plötzlich aus dem Dunkel um ihn herum auf, sie kamen aus den Wänden, schienen sich von den Deckengemälden über ihm zu lösen und näherten sich ihm vom Rücken her. Es waren zehn – zwanzig – und direkt neben ihm erschien eine dunkle Gestalt mit einem breitkrempigen, schwarzen Hut. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Leere, dunkle Augen gähnten ihm aus einem Totenschädel entgegen. Ein unheimliches Lachen und verworrene Stimmen erfüllten die Luft. Der Reigen der Gespenster! Larry war sekundenlang wie gelähmt. Die spukhaften Gestalten kreisten ihn ein. Einige von ihnen trugen eine Kleidung, die aus den vergangenen Jahrhunderten zu stammen schien. Larry Brent glaubte, Gesichter wiederzusehen, die ihm auf einigen Gemälden in der Empfangshalle schon begegnet waren. Vorfahren des Duke. Geister aus der Vergangenheit! Larrys Augen weiteten sich. Er versuchte seinen klaren Menschenverstand vorzuschieben. Er wußte, daß er als PSA-Agent mit unwahrscheinlichen und ungeheuerlichen Tatsachen konfrontiert werden würde, doch das, was sich hier abspielte, waren Bilder aus einem Alptraum. Die Gestalt des Todes streckte die Hand nach ihm aus. Die knochige Hand näherte sich seiner Schulter. Larry wich zurück. Dabei kam er mit einer bleichen Gestalt in Berührung, die einen feuerroten Umhang trug, in der Rechten ein riesiges Breitschwert. Das Schwert hob sich – und da stieß Larry durch die Gestalt hindurch. Sie war wie ein Nebel, ein Bild aus Licht und Farbe, ein Bild das lebte, und das doch nicht aus Fleisch und Blut war. Blitzschnell reihten sich einige Überlegungen in seinem Be-
wußtsein zu einem fertigen Bild. Die Autos und der Lkw im Moor, die Straße, die man ihm vorgegaukelt hatte – das alles wiederholte sich jetzt, nur unter anderen Bedingungen. Er konnte durch die Gestalten hindurchfassen, und doch hatte er das Gefühl, daß sie wirklich vor ihm standen und ihn gegen die Wand drücken wollten, so echt, so eindrucksvoll waren diese fiktiven Bilder, mit denen man ihn in Schrecken versetzen wollte. Larry öffnete die Tür zum Musikzimmer. Die wütenden, säbel- und schwerterschwingenden Gestalten verfolgten ihn. Und dann tauchten noch mehr Personen auf. Der riesige Saal, durch den er eilte, erfüllte sich mit Leben, Stühle wurden gerückt, neben dem Kamin stand ein Mann, der eine Armbrust auf ihn anlegte. Unwillkürlich wandte Larry Brent den Kopf, als ein Henker sein riesiges Beil schwang, um ihm den Schädel zu spalten. Und diese Bewegung rettete ihm das Leben. Der Mann mit der Armbrust – war kein fiktives Bild. Der Bolzen zischte haarscharf an Larrys Ohr vorbei und krachte in den schweren Rahmen eines Gemäldes, das einen Pfosten zwischen zwei Fenstern zierte. Der PSA-Agent reagierte sofort. Seine Laser blitzte auf. Der Strahl durchschlug das Gestein des Kamins und drang dem Mann, der dahinter stand und einen neuen Bolzen in die Armbrust legte, mitten in die Brust. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte der Getroffene in die Knie. Larry schwitzte. Er konnte die Fiktivbilder nicht von wirklichen Menschen unterscheiden. Sie glichen sich zu sehr, es gab keinen Unterschied zwischen ihnen. Und er konnte es sich nicht leisten, erst jede Gestalt anzufassen, um zu sehen, ob sie wirklich oder nur vorgespielt war. Holografie! Er ahnte, wie dieser Gespensterreigen zustande kam. Er hatte einmal eine Demonstrationsausstellung in Washington erlebt. Holografie war ein in der Entwicklung befind-
liches Fernsehsystem, das zukunftweisend war. Mit Hilfe von Laserkameras wurden Aufnahmen gemacht, die dreidimensional und ohne das Vorhandensein eines Bildschirms frei in den Raum projiziert werden konnten ... Damit erschreckte man ihn, damit irritierte man ihn, damit konnte man ihm den Garaus machen, wenn er auch nur eine Zehntelsekunde zu spät begriff, daß er ein Fiktivbild und einen wirklichen Gegner verwechselte. Larry Brent konzentrierte sich auf die Personen, die ihn umringten,und achtete auf die Geräusche. Er hatte das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein, einen Alptraum durchzumachen. Mehrmals drückte er die Laser ab, doch der Strahl zuckte durch die Fiktivgestalten hindurch und bohrte sich in die Decke über ihm in die Wand. Er erreichte das Ende des Musikzimmers und knallte die Tür zu. Doch die Spukgestalten schienen durch die Türen und Wände zu kriechen. Sie blieben ihm auf den Fersen. Larry leuchtete in die seitliche Nische hinein und sah die schmalen Sandsteintreppen, die in die Tiefe führten. Der Weg zur Waffenkammer! Gab es dort etwas Besonderes? Er war auf der richtigen Spur, er ahnte es. Larry stürzte auf die Treppe zu. Im gleichen Augenblick fühlte er den Schlag auf die rechte Schulter. Larry wirbelte herum. Zwei kräftige Arme griffen nach ihm, schlugen ihm die Laser aus der Hand, ehe er sie abdrücken konnte. Im gleichen Augenblick war ein zweiter Gegner über ihm und tauchte wie eine Spukgestalt zwischen den Fiktivbildern unter. Larry kämpfte, doch als sein verletzter linker Arm einen Messerstich abbekam, fuhr ein schmerzhafter Aufschrei über seine Lippen, und es wurde ihm bewußt, daß die Rollen sehr ungleich verteilt waren. Er konnte einen seiner Gegner über die Schulter werfen. Doch der andere trat in Aktion, ehe Larry noch ein zweites Mal tätig werden konnte. Etwas Hartes krachte auf seinen Schädel. Larry Brent sackte
sofort in die Knie und blieb regungslos liegen. Seine beiden Gegner verloren keinen Augenblick. Die Fiktivbilder rundum lösten sich auf, die Geräusche, das Gelächter und Gekicher verebbte, eine unheimliche Stille breitete sich aus, eine Stille, die nur von dem Geräusch unterbrochen wurde, als man Larry Brents reglosen Körper die ausgetretenen Treppenstufen hinunterschleifte. Wortlos zerrten ihn die beiden Männer seitlich in eine Nische hinein, in der sich die Umrisse eines alten Brunnens abzeichneten. Einer der beiden drückte die schwere hölzerne Abdeckplatte zur Seite. Dann griffen sie Larry, hoben ihn in die Höhe und warfen ihn in die dunkel gähnende Tiefe. Der schlaffe Körper stürzte in den feuchten, gähnenden Abgrund, in dem leise das kalte Wasser gegen die moosbewachsene Brunnenwand plätscherte. * Eine eiskalte Hand schien ihn erdrücken zu wollen. Ein leiser Aufschrei kam über seine Lippen, als das Wasser seine Hüften einzuschnüren schien, als es höher stieg, als seine Brust darin verschwand – und dann versank sein Kopf darin. Larry Brent wurde durch das eiskalte Wasser sofort in die Wirklichkeit zurückgerissen. Prustend stieg er an die Wasseroberfläche, er starrte in die dunkle Höhle, ohne etwas wahrnehmen zu können. Sie hatten ihn in einen Brunnen geworfen. Wie tief war er gefallen? Zehn Meter? Zwanzig Meter? Der Wasserspiegel mußte beträchtlich sein, sonst wäre er am Boden zerschmettert worden. Larry schwamm im Kreis herum. Er fror entsetzlich. Seine Zähne klapperten aufeinander, und er konnte diese Reaktion seines Körpers nicht unterdrücken. Das Wasser stand nicht still, soviel erkannte er in den ersten
Minuten. Es gab einen Zu- und einen Abfluß. Ein unterirdischer Bach floß durch dieses künstliche Bassin, natürlich! Er erinnerte sich genau des Plans, den er vom Schloß studiert hatte. Dieser Brunnen war bereits im frühen 13. Jahrhundert erbaut worden. Man konnte ihn mit einem modernen Ausdruck als Müllschlucker bezeichnen. Die Bewohner des Schlosses warfen die Abfälle und Speisereste in diesen Brunnen, und der ständige Zufluß des Baches schleppte die Abfälle aus dem Schloß heraus und trug sie zum Waveney. Larry verhielt den Atem. Minuten vergingen. Er fand, was er gesucht hatte. Es gab zwei tunnelartige Einschnitte in die Brunnenwand. Er tauchte und stieß durch eine hindurch. Die Öffnungen waren so groß, daß zwei ausgewachsene Männer nebeneinander durch diesen Tunnel hatten schwimmen können. Fast anderthalb Minuten lang mußte er den Atem anhalten, dann fühlte er, daß die Decke über ihm verschwunden war. Er befand sich außerhalb des kurzen Tunnels, er befand sich im Bach, und dieser Bach wurde schließlich so flach, daß er nicht mehr darin schwimmen, sondern neben ihm gehen konnte. Einmal mußte dieser Bach ans Tageslicht treten und dann war auch er gerettet. Es gab hier unten einen Ausgang, dessen war sich Larry sicher. Während er scheinbar stur und mechanisch dem Lauf des Bachs folgte, arbeiteten seine Gedanken ununterbrochen. Die Auswertungen, die Scotland Yard bisher erstellt hatte, die Reaktion des Duke, die Mordanschläge auf ihn, schon bei der Herfahrt – das alles fügte sich jetzt schon einigermaßen zusammen. Jemand wehrte sich, jemand fürchtete sich! »Walker? Der Sterbende hatte von Walker gesprochen. Wer war Walker? Wußte es der Duke? Er hatte jedenfalls nicht darauf reagiert. Je mehr Larry Brent über die Dinge nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß er einer ungeheuer wichtigen Sache auf der Spur war, sie mußte so wichtig sein, daß man selbst zwei harm-
lose Besucher des Schlosses einfach ermordete, um ganz sicher zu gehen, daß nichts an die Öffentlichkeit drang. Plötzlich fühlte Larry frische Luft auf seinem Gesicht. Das Ende des Tunnels. Er sah die nebelgeschwängerte Finsternis vor sich, dahinter mächtige Steinquader, die still und drohend vor ihm aufragten. Larry blickte sich um. Er stand vor einem Friedhof. Die steinernen Gräber der Huntingdons, stumme Zeugen der Vergangenheit. Auf den breiten Grabplatten standen die Namen derer gemeißelt, die längst vergangen waren. Zehn, fünfzehn, zwanzig von diesen steinernen, in die Erde eingemauerten Gräbern zählte Larry. Er befand sich auf der Rückseite des Schlosses. Links ragte der Tower in die Höhe und verlor sich in den dichten Nebelschwaden. Das Schloß lag in tiefer Ruhe und in völliger Finsternis. Larry ging zwischen den Steingräbern hindurch und ahnte nicht, daß dieser private Familienfriedhof noch eine schaurige Überraschung barg. * Der Duke fuhr immer wieder mit einem seidenen Taschentuch über seine Stirn. Er saß in seinem Zimmer, unfähig, das Erlebnis der letzten Stunden zu verdauen. Und er hörte sie im Zimmer seines Gastes rumoren. Sie durchsuchten alles. Sogar Crawley war gekommen, außerplanmäßig. Diesmal hatte er nicht den Seitenausgang benutzt. Er war nach oben gekommen. Und der Duke hatte ihn zum erstenmal aus der Nähe gesehen. Schritte näherten sich dem Raum. Der Letzte der Huntingdons hielt den Atem an. Die Tür wurde aufgerissen. Crawley und seine beiden Begleiter standen auf der Schwelle. Crawley hatte wie immer den dunklen Hut auf, der halb über seine Stirn gerutscht war.
Was der Duke von Crawley sah, waren die spitze, etwas lange Nase und die dünnen, scharfgeschnittenen Lippen. Crawley trat einfach in den Raum ein. Er hatte die Hände in den Manteltaschen verborgen. »Er ist von der Polizei, daran gibt es keinen Zweifel. Ich hoffe nur – in Ihrem eigenen Interesse –, daß Sie nichts mit der Sache zu tun haben.« Der Duke schüttelte den Kopf. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Ich habe immer alles getan, was man von mir verlangt hat.« Seine Stimme klang kläglich, bedrückt. Er schien immer mehr in seinem Sessel zu verschwinden. Crawley antwortete: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Bedingungen, unter denen wir zusammenarbeiten, noch schärfer werden. Sie müssen künftighin jeden Besucher abwimmeln. Gäste im Schloß des Duke – das gibt es ab heute nicht mehr. Vorerst jedoch bleibt abzuwarten, welche Verwicklungen das Erscheinen dieses Mannes namens Brent auslösen wird. Wir haben ihn beseitigt. Sollten sich Schwierigkeiten ergeben, dann werden Sie die Konsequenzen zu tragen haben!« Ein leiser Aufschrei war an der Tür zu hören. Crawley wirbelte herum. Er und seine beiden Begleiter, zwei wuchtige Burschen, die Larry Brent niedergeschlagen hatten, hielten sofort ihre Schußwaffen in der Hand. Margarete, die jüngste Tochter des Duke, hatte sich unbemerkt genähert. »Was machen sie mit dir, Dad?« fragte sie angsterfüllt. Sie huschte in das Zimmer. Crawley fluchte. »Das nächste Mal sind Sie vorsichtiger, Miß. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte geschossen. Ich bin heute nacht ein bißchen nervös. Gehen Sie und trösten Sie Ihren Dad. Er hat es nötig. Sein Kopf sitzt auf sehr schwachen Schultern.« Die Männer lachten, dann gingen sie. Der Duke und Margarete waren allein. Der Duke erhob sich. »Die Lage ist sehr ernst, Margarete.
Doch ich bin an einem Punkt angelangt, wo Gleichgültigkeit anfängt sich breitzumachen. Ich fürchte nur noch um euch – um dich und Patricia. Ich möchte mit euch zusammen sein. Wir gehen in die Bibliothek.« Margarete weinte leise. Der Duke strich tröstend über ihr seidiges Haar. »Vielleicht wird auch alles gut. Sie sind nervös, sie sind in Verwirrung geraten, vielleicht sollten wir diese Verwirrung nutzen ...« »Aber Dad ...« Margaretes Worte waren ein einziger, leiser Aufschrei. »Wir haben vieles falsch gemacht, Margie. Doch vielleicht können wir jetzt manches wieder gutmachen. Wir müssen die Verwirrung nützen. Komm!« Sie gingen in den stillen Gang hinaus. Der Duke öffnete Patricias Zimmer und rief ihren Namen. Niemand rührte sich. Angsterfüllt schaltete er das Licht an. Sein Herzschlag stockte. Patricia war nicht da. Das Bett war unberührt ... * Das Flugzeug glitt über die bewegte Wasseroberfläche und näherte sich mit abgeblendeten Lichtern der Küste. Der Pilot gab seinem einzigen Passagier das verabredete Zeichen. Ein Plastikboot mit Außenbordmotor wurde ausgesetzt. Wenig später folgte Iwan Kunaritschew. Er bemühte sich in das Boot. Alles klappte wie am Schnürchen. Kunaritschew alias X-RAY-7 warf den Außenbordmotor an und entfernte sich von dem Wasserflugzeug, das ebenfalls langsam Fahrt aufnahm. Es kam zu keinem Zwischenfall. Die Küstenwache registrierte die Vorfälle, aber sie reagierte nicht darauf. Eine Sondermeldung des britischen Innenministeriums hatte darauf hingewiesen, daß noch vor Morgengrauen ein Flugzeug in Küstennähe wassern würde. Nähere Angaben waren nicht
erfolgt. Kunaritschew war dick angezogen. Er beugte sich tief hinter die gebogene Schutzscheibe, die den Wind abhielt. Es nieselte etwas und dichte Nebelschleier zogen über ihn hinweg. Kurz vor der Landung war Kunaritschew auf eine gut beleuchtete Yacht aufmerksam geworden, die außerhalb der DreiMeilen-Zone vor Anker lag. Er hatte noch bei sich gedacht, daß es jetzt schön wäre, dort mitzufeiern, denn dieses festlich beleuchtete Schiff machte den Eindruck, als ob irgendeine Feierlichkeit an Bord abgehalten würde. Der Russe grinste still vor sich hin. Das Plastikboot schoß wie ein Pfeil über die Wellen. Einmal glaubte Kunaritschew, daß es außer dem Geräusch seines eigenen Außenbordmotors noch ein zweites gab. Er lauschte. Hatte er sich getäuscht? Er schaltete seinen Motor ab und ließ das Boot ohne Antrieb weitergleiten. Ja, da war es! Er hörte es ganz deutlich. Einen tuckernden Außenbordmotor. Er starrte in den Nebel hinter sich. Das Geräusch kam aus Richtung der Yacht. War auch seine Ankunft bekanntgeworden? Er wurde mißtrauisch. Er mußte vorsichtig sein! Er warf den Motor wieder an und steuerte auf die Mündung des Waveney zu. Das Geräusch blieb hinter ihm und kam näher. Sie hielten die gleiche Richtung wie er. Zufall oder Absicht? Kunaritschew befand sich auf dem Waveney, als die schnellen Motorboote hinter ihm auftauchten. Er sah die langen, durch den Nebel verzerrten Scheinwerfer hinter sich, dann verlöschten sie wieder. X-RAY-7 stoppte seinen Motor und steuerte sein Boot auf die rechte Uferseite, wo sich Schilfstauden aus der Wasseroberfläche emporreckten. Das Wasser plätscherte gegen die Außenwand des Plastikboots. Iwan Kunaritschew warf einen Blick zurück. Er sah die Umrisse eines Motorboots und hörte das laute Tuckern des Außen-
bordmotors. In einer Entfernung von nur zwanzig Metern raste das Boot an ihm vorbei. Kunaritschew erkannte die Umrisse von drei Männern. Aber es war nicht nur ein Boot, es waren zwei, drei, die den Waveney hinaufschossen. Ein Boot schaltete kurz die Scheinwerfer ein, so als wolle es dem vorausrasenden Boot ein Signal geben. Das helle Licht war so ausgerichtet, daß der Strahl genau die Richtung erfaßte, in der Kunaritschew sich zu verstecken suchte. Gerade wollte er sich unter den tief im Nebel und Schatten liegenden Schilfstauden verbergen, als der Lichtstrahl ihn erfaßte. »Achtung!« brüllte eine Stimme durch die Nacht. »Da ist einer!« Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Kunaritschew hörte Kommandos. Schüsse bellten auf. Drei, vier Kugeln durchschlugen die dünnen Plastikwände seines Boots. Wasser drang ein, füllte im Nu den Boden und stieg rasch an. Man fragte nicht lange, weshalb und wieso da jemand war, man handelte ... Kunaritschew riß seine Smith & Wesson-Laser aus dem Halfter. Die nadelfeinen Strahlen zuckten wie Blitze durch die Nacht. Er schoß in zwei Boote mehrere Löcher. Doch dann hatte er sich auch schon gegen die ersten Angreifer zu wehren. Sie tauchten wie Schemen aus der Nacht auf. Es waren mehr als fünf, mehr als sechs Boote, die aus dem Nebel auf ihn zuschossen. Kunaritschew sprang ins Wasser, mit kräftigen Armbewegungen versuchte er das Ufer zu erreichen. Eine Kugel klatschte surrend neben ihm ins Wasser. Dann fühlte er eine Hand, zwei – plötzlich waren vier, fünf Gestalten in seiner Nähe. Kunaritschew teilte seine gefürchteten Hiebe aus. Innerhalb von fünf Minuten wimmelte er vier Gegner ab. Doch dann unterlag er der Übermacht. Ein Pistolenknauf sauste
auf seinen harten Schädel. Kunaritschew fand noch Gelegenheit, dem Übeltäter einen saftigen Kinnhaken zu verpassen, doch gegen den zweiten Schlag konnte er nichts mehr ausrichten, der aus einer ganz anderen Richtung kam. Kunaritschew trat für kurze Zeit geistig ab. Er merkte nicht, wie er in eines der Boote gezogen wurde. Man fesselte ihn und warf ihn wie einen nassen Sack in die äußerste Ecke des größten Boots, wo er zwischen hohen, mit einer wasserabstoßenden Haut überzogene Kisten zu liegen kam. Die robuste Natur des Russen war dafür verantwortlich zu machen, daß Kunaritschew rasch wieder zu sich kam. Er erkannte seine Lage, ohne sie zu begreifen. Doch sein aufnahmefähiger Geist begann wieder zu funktionieren, und er lauschte auf die Stimmen der Männer, die im Boot waren, und sich offensichtlich über ihn unterhielten. »... wir hätten ihn erledigen sollen«, sagte eine Stimme. »Unsinn«, meinte eine andere. »Der Teufel mag wissen, was ihn hierhergelockt hat. Er muß etwas wissen. Es ist besser, wenn wir ihn mitnehmen. Walker soll ihn sich vorknöpfen, vielleicht kann er ihn ausquetschen ...« Kunaritschew hörte aufmerksam zu und erkannte, daß er praktisch in die Höhle des Löwen geraten war. Während alle im Schiff fest daran glaubten, daß er wohl noch eine gute Stunde brauchte, um wieder zu sich zu kommen, begann der widerstandsfähige Russe bereits seine Fesseln an den scharfen Kanten der Kiste zu bearbeiten ... * PSA-Agent Larry Brent ging zwischen den großen, steinernen Gräbern hindurch. Er fror und klapperte mit den Zähnen. Seine völlig durchnäßte Kleidung lag wie eine zweite Haut auf seinem Körper.
Da hörte er das Geräusch. Es war direkt neben ihm. Ein hartes Kratzen auf einem harten Gegenstand, so, als ob Stein sich gegen Stein riebe. Larry blickte zu Boden und verhielt im Schritt. Da war es wieder! Leise, aber eindringlich. Und dann sah er, wie sich eine der schweren Grabplatten um einige Millimeter verschob. Brent starrte auf die Platte. Der Name des jetzigen, noch lebenden Duke war darin eingemeißelt. Darunter der Geburtstag. Der Todestag fehlte noch. Diese Gruft war für den Schloßherrn vorgesehen. Larry trat mit dem Fuß dagegen. Er fühlte schmerzhaften Widerstand. Kein Trugbild, diese Gruft war Wirklichkeit! Plötzlich hörte er Geräusche aus der Tiefe des Grabs. Es kratzte, rumorte und wimmerte, als hätte man darin ein wildes Tier gefangen. Larry Brent handelte. Er drückte die Platte mit beiden Händen zur Seite. Sie war leichter, als er vermutet hatte. Knirschend schob sich die Platte herum. Und dann sah Larry die dunkle, stöhnende Gestalt, die langsam aus der Tiefe der niedrigen Gruft hervorzukriechen versuchte. Eine bis zum Skelett abgemagerte Frau lag halb über die Graböffnung gebeugt. Das lange Haar fiel in Strähnen über ihr totenbleiches Gesicht, die dunklen Augen glühten wie im Fieber in den tief eingefallenen Höhlen. Larry Brents Herzschlag stockte. Diese Frau, die aussah, als wäre sie von den Toten auferstanden – hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einer jungen hübschen Frau, deren Bild er vor kurzem noch gesehen hatte. Aus der Gruft kroch – Ellen Shalling. Sie rutschte ab und fiel zurück. Sie war so kraftlos, daß sie kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Dennoch hatte sie mit dem letzten Mut der Verzweiflung versucht, die Grabplatte wegzudrücken, um in die Freiheit zu kommen. Larry verlor keine Sekunde. Er holte Ellen Shalling aus der
Gruft heraus. Sie wimmerte und sie schluchzte. Ihr Körper wog kaum in seinen Armen. Ellen Shalling sprach wie im Fieber. Eine Kette unzusammenhängender Worte sprudelte über ihre Lippen. Immer wieder war darin die Rede von Harry Banning, von dem Tower, und daß man sie eingeschlossen hatte. Aus dem Gestammel entnahm Larry, was vorgefallen war. Ellen Shalling hatte verzweifelt nach einem Ausweg aus dem Tower gesucht. Dann hatte sie die Falltür unter der Truhe gefunden. Eine steile, schmale Treppe hatte sie bis zum Ende des Towers geführt. Sie irrte durch die unterirdischen Gänge und Tunnel, niemand sah sie, niemand hörte sie. Einer der Stollen mündete in der Gruft des Familienfriedhofs. Hier war der Weg zu Ende, sie war in eine Sackgasse geraten. Acht Tage lang in Finsternis, Kälte, ohne Essen und Trinken! Ellen Shalling war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Larry Brent fürchtete das Schlimmste. Mit der leichten Gestalt auf den Armen näherte X-RAY-3 sich der Pforte, öffnete sie und ging durch den Park auf das Hauptportal zu. Er klingelte, und es dauerte noch keine zwei Minuten, bis der Diener an der Tür war. Als er die Ankömmlinge erblickte, wich er unwillkürlich zurück. Der Ire wurde bleich. Er wußte nicht, ob er zuerst auf Larry Brent oder auf die reglose Gestalt blicken sollte, die der Amerikaner auf seinen Armen trug. »Rufen Sie einen Arzt, John«, rief Larry, während er in die hellerleuchtete Empfangshalle wankte. »Sie braucht Hilfe, auf dem schnellsten Weg!« Der Diener schluckte. Sein bleiches Gesicht zuckte. »Aber es wird kein Arzt kommen, Sir, ich sagte es Ihnen bereits.« »Wo ist das Telefon?« Larry Brent ließ sich nicht beirren. Er legte Ellen Shalling vorsichtig auf die weichen Kissen einer Couch, als er zusammenzuckte. Ellen atmete nicht mehr. Er fühlte ihren Puls und legte sein Ohr auf ihre Brust. Kein Pulsschlag, kein Herzschlag mehr ...!
Ellen Shalling war an Entkräftung gestorben. Sie war zu spät gefunden worden. »Den Arzt können wir uns sparen«, murmelte Larry dumpf. »Damit sind die Bewohner dieses Irrenhauses ihrer Sorgen entledigt, John. Aber es wird einiges nachkommen, sagen Sie das Ihrem Herrn, dem Duke! Ich möchte ihn sofort sprechen! Holen Sie ihn! Ich bin in meinem Zimmer!« Larry Brent eilte, so schnell es ihm möglich war, die breiten Treppenstufen hoch. Er ging in sein Zimmer. Er mußte unbedingt die nasse, verdreckte Kleidung ablegen. Und dann wollte er sich den Duke vorknöpfen. Daß die erste Nacht in diesem Schloß so ereignisreich werden würde, damit hatte er wahrhaftig nicht gerechnet. Er war gerade dabei, sein klitschnasses Jackett abzustreifen, als er die Schüsse hörte. Unruhe entstand auf den Gängen, Schritte, Schreie ... Er riß die Tür auf. Aus den unten gelegenen Etagen erklangen die Schüsse, ein langgezogener Aufschrei verebbte irgendwo in der Finsternis. Die Ganglichter flammten auf, am anderen Ende des Gangs wurde eine Tür zugeschlagen. Der Duke rief irgend etwas, es galt offensichtlich seiner Tochter. Noch ehe Larry Brent die Dinge richtig einordnen und selbst aktiv werden konnte, überstürzten sich die Ereignisse. Larry wollte den Dingen auf den Grund gehen. Er stürzte auf die Tür des Musikzimmers zu, um von dort aus in die tiefergelegene Etage vorzudringen. Doch so weit kam er nicht. Ein Schrei, markerschütternd, und ein Stöhnen ließen ihn in der Bewegung erstarren. »Mister Brent!« Das war die Stimme von John. Der Diener war in Bedrängnis, und Larry riß, ohne zu überlegen, die Tür zum Dienerzimmer auf. In dem halbdunklen Raum bot sich ihm ein grausiges Schauspiel. John, der Ire, wälzte sich in seinem Blut. In seinem Rücken
steckte ein blinkendes Breitschwert. »Mister Brent?!« Der Ire streckte die Hand nach ihm aus. Larry beugte sich herab, um sie zu ergreifen. Da fiel der Schatten von der Seite über ihn. John, der Ire – stand neben ihm! Die Szene vor seinen Füßen – war eine Projektion! Die Holografie verschwand fast im gleichen Augenblick, als er die Falle bemerkte. Der Diener richtete einen schweren fünfundvierziger Colt auf Larry Brent. »Überrascht, Brent?« fragte er spöttisch. »Es tut mir leid, ich hätte das Theater gern noch etwas weitergespielt, aber die Dinge haben sich geändert. – Es ist einiges in Verwirrung geraten, seit Sie im Schloß sind. Von Anfang an spürte ich Ihre Gefährlichkeit. Als einer meiner Männer den Umschlag fotografieren konnte, in dem Geheimunterlagen über das › Todesschloß‹ über die Botschaft der Vereinigten Staaten an die PSA zugestellt wurden, ahnte ich bereits, daß ich einer neuen Situation begegnen würde. Ich ließ den Flughafen überwachen. Jeder Amerikaner, der aus New York kam, wurde in der letzten Nacht kontrolliert. Sie blieben übrig. Was ist die PSA, Brent? Eine besondere Verbrecherbekämpfungs-Organisation? Besser als das FBI?« John lachte. Es schien ihm Freude zu bereiten, seinen Triumph auszukosten. Larry sagte unbewegt: »Ich bin noch keine zehn Stunden hier – aber ich wäre auf Sie von ganz allein gekommen. Sie sind Walker! Jetzt ist mir alles klar! Es ist schade, daß mir so wenig Zeit zur Verfügung stand. Ich war bis vor einer halben Minute noch auf der falschen Spur. Der Duke hat mit den Vorfällen hier nichts zu tun. Er weiß vielleicht selbst nicht einmal, worum es geht. Doch er mußte gehorchen, er mußte sein Schloß einer Gang zur Verfügung stellen, die einen unmenschlichen Druck auf ihn ausübte. Wenn er nicht gehorchte – quälte oder tötete man seine Töchter, das wollte er nicht riskieren. War es nicht so?« John lachte rauh. »Ich bin erstaunt, Brent! Für die kurze Zeit,
in der Sie hier sind, haben Sie erstaunlich viel begriffen! – Schade, daß Sie für die falsche Seite arbeiten, solche Leute wie Sie könnte ich gebrauchen! Es brennt Ihnen auf den Nägeln, zu erfahren, was hier gespielt wird, Brent, nicht wahr? Ich sehe es Ihnen an. Und Sie sollen es erfahren. Denn leider, leider – gibt es keine Gelegenheit mehr für Sie, daß Sie es weitersagen können. Nicht einmal die Verstärkung, die Sie offensichtlich erhalten haben, wird etwas davon sagen können.« Larry Brent begriff diese Bemerkung nicht ganz. »Verstärkung? Die Schießerei unten, wie kam sie zustande?« Eine Vermutung stieg in ihm auf. Hatte X-RAY-1 vielleicht ...? Da sprach John. »Am Anfang war ich hier nur der Diener, obwohl ich vom ersten Tag an mit einem Plan diese Anstellung annahm. Ich trat mit falschem Namen auf, niemand kannte meinen wirklichen Namen – Patrick Walker! Ich sah, daß ich mit diesem Schloß einiges anfangen konnte. Ich mußte nur dafür sorgen, daß es weltabgelegen blieb, daß der Tourismus versiegte und daß es in Verruf kam. Mein erster Coup war, ein Holografiegerät aus einer Demonstrationsausstellung in London zu rauben. Die beiden Techniker entführten wir der Einfachheit halber gleich mit. Ich ließ › Geister‹ auftreten, Angst machte sich breit. Die ganz Hartgesottenen mußten wir anders erschrecken. Es kam zu Mordfällen, zu insgesamt zehn. Danach standen mir alle Wege offen. Das Schloß wurde gemieden. Ich konnte meine Männer zur vollen Aktivität einsetzen. Wir handelten mit Rauschgift. Die Ware wurde von einer Yacht in der Nordsee geholt und über den Waveney und den unterirdischen Flußlauf nach hier ins Schloß geschafft. Hier sorgte Crawley für den Weitertransport. Sie hätten also, wenn alles gutgegangen wäre, Brent, einen recht umfangreichen Rauschgiftring auffliegen lassen. Das Schicksal aber meint es nicht besonders gut mit Ihnen!« Die Schießerei unten steigerte sich. Die Schüsse kamen nä-
her. Der Diener John, alias Patrick Walker, hob den Colt. »Ich habe keine Zeit mehr, ich muß nach dem Rechten sehen, Brent. Zuvor aber wollte ich doch noch die Angelegenheit mit Ihnen bereinigen. Auf Wiedersehen in der Hölle!« Larry sah, wie der Zeigefinger Walkers sich um den Hahn spannte. Im gleichen Augenblick ließ er sich zu Boden fallen. Ein, zwei, drei Schüsse krachten. Larry warf sich auf Walker zu. Er zuckte zusammen. Er wollte nach der Gestalt greifen, sie schwankte und kippte vornüber ... Ein einziger Schuß löste sich aus Patrick Walkers Colt. Die Kugel klatschte in die Decke. Der Schütze ... Wer war der andere Schütze? Wer hatte Walker niedergeschossen? Blitzschnell riß Larry die Waffe Walkers an sich und rollte sich zur Seite. Der Vorhang an der gegenüberliegenden Wandseite teilte sich. Patricia, die älteste Tochter des Duke, trat hervor, in der Rechten den rauchenden Revolver. Patricia war bleich. Ihre Hand zitterte. Larry Brent sprang auf die Beine. »Sie haben mir das Leben gerettet! Ich danke Ihnen!« Seine Stimme klang leise. Sie nickte mechanisch. »Ich habe es geahnt, daß er es sein muß. Doch ich wollte Gewißheit haben. Ich bin die einzige, die es hier im Schloß gemerkt hat. Unser Diener, der Kopf einer Bande! Ich hätte früher darauf kommen müssen, dann wäre uns manches erspart geblieben – und Ellen und Harry – wären jetzt noch am Leben. Heute abend habe ich mir vorgenommen, jeden Schritt von ihm zu kontrollieren, sein Zimmer zu durchsuchen – und ich habe meine Vermutungen bestätigt gefunden. Er war unser Peiniger, er setzte uns unter Druck. Wenn Margarete in London war – mußte ich zu Hause bleiben als Geisel. War ich in London – hielt sich Margarete im Schloß auf. Niemand wagte etwas zu sagen. Wir hatten Angst, wir hatten alle
Angst ...!« Plötzlich fiel die Spannung von ihr ab wie eine zweite Haut. Larry führte sie zu einem Sessel, sie ließ sich hineinsinken und fing an zu weinen ...« »John! John!« erklang draußen auf dem Gang die Stimme des Schloßherrn. Die Tür wurde aufgerissen. Der Duke of Huntingdon stand auf der Schwelle. »John, ich ...« Er verhielt im Sprechen. Er sah seine Tochter, erblickte den etwas abgerissenen Larry Brent und sah seinen Diener am Boden liegen. Larry ging auf den Duke zu, ehe er noch irgend etwas sagen konnte. »Ihre Tochter wird Ihnen einiges zu erklären haben, Sir«, sagte er nur, während er nach draußen ging. Noch immer krachten vereinzelte Schüsse. Der Geruch von Pulverdampf zog durch den Gang. Eine dunkle Gestalt löste sich aus einer Nische und rannte in dem Augenblick auf das Zimmer des Dieners zu, als Larry auf der Bildfläche erschien. Der andere riß sofort seine Waffe hoch und legte auf Larry an. Doch der PSA-Agent reagierte mit einer blitzschnellen Bewegung. Seine Faust krachte auf das Kinn seines Kontrahenten, ehe der überhaupt begriff, was geschah. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte der Getroffene zu Boden. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um Crawley, einem der wichtigsten Zeugen dieses Falls. Larry hörte eine Stimme aus der Richtung des Musikzimmers. »Gut gemacht, Towarischtsch! Die Kugel konnte ich sparen – und außerdem wäre es auch ungerecht gewesen, wenn ich die ganze Arbeit allein gemacht hätte, nicht wahr?« Iwan Kunaritschew kam grinsend auf Larry zu, in beiden Händen zwei langläufige Berettas ... * In diesen frühen Morgenstunden gab es noch einiges zu tun.
Wie sich herausstellte, war der Russe wie ein Blitz in das Räubernest gefahren. Man fand vierzehn ausgeschlagene Zähne und drei Gangster, denen der Arm ausgekugelt war und die an Pfählen im Boden gefesselt waren. Zwei weitere Mitglieder der umfangreichen Gang steckten bewußtlos in zwei alten Ritterrüstungen. Drei Gangster waren tot. Kunaritschew sah etwas ramponiert aus, und außer zwei Streifschüssen am Kopf und am Oberarm war er mit dem Schrecken davongekommen. Die beiden Techniker, die das gestohlene Holografiegerät bedient hatten, wurden befreit. Scotland Yard wurde informiert. Die Untersuchungen begannen zu laufen. Unterlagen wurden gefunden, und die Aufklärung, soviel stand gleich zu Anfang fest, würde rasche Fortschritte machen. Der Duke lud seine beiden Gäste ein, noch ein paar Tage länger im Schloß zu bleiben, jetzt, wo alles vorüber war, wo er wieder der Herr im eigenen Haus war, wollte er dem Amerikaner und dem Russen ein paar erholsame Tage in seinem Schloß gönnen. Am Abend saßen sie bei einem guten Whisky, von dem Kunaritschew begeistert war. Man unterhielt sich, die Spannung hatte sich gelockert, und der Duke sprach die Hoffnung aus, daß das »Todesschloß« hoffentlich in Harry Banning und Ellen Shalling die letzten Opfer gefunden hatte. Da ertönte das Klopfen in den Wänden! Leise und rhythmisch, es pflanzte sich über die Decke und über das oben anschließende Zimmer fort. Larry Brent erhob sich langsam. Da packte ihn der Duke am Arm. »Nichts, es ist nichts«, flüsterte er, und in seine Augen trat ein merkwürdiger Glanz. »Es ist wirklich alles wieder so wie früher, Mister Brent. Dieses
Klopfen, diese Geräusche – sie gehören zum Schloß, seit eh und je. Sie blieben aus, seit drei Jahren, als die schrecklichen Ereignisse hier ihren Anfang nahmen. Da verstummten selbst die Geister. Dieses Klopfen aber ist der untrügliche Beweis dafür, daß alles wieder so ist wie einst. Der Geist des seligen Sir Ronald Ivanhoe of Huntingdon ist zurückgekehrt. »Der Klopfgeist ist wieder da!« ENDE